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1975
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Kern, Iso
Idee und Methode der Philosophie:
Leitgedanken f. e. Theorie d. Vernunft
ISBN 3-11-004843-4
©
1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlags-
buchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13.
Printed in Germany
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Ge-
nehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet,. dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem
Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen.
Satz und Druck: Saladruck, Berlin
Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
Eduard Marbach
in Freundschaft gewidmet
Vorbemerkung
einen „zweiten Band" versprechen, aber möchte doch sagen, daß ich an
jenen Fragen der Intersubjektivität weiterarbeite.
Der weitaus wichtigste Teil der vorliegenden Arbeit ist der zweite
Abschnitt „Vernunft und Sinnlichkeit". An ihm hängt alles, und wenn er
nicht, wenigstens grundsätzlich, wahr ist, sind die methodologischen Ge-
danken nichtig. Da alles auf diesem Abschnitt beruht, haben die ihm
vorangehenden Teile einen antizipativen Charakter. Dies ist besonders
im „Prolog" spürbar, von dessen behauptendem Ton ich befürchte, daß
er den Leser abschrecken könnte. Aber ich bitte ihn, sich doch nicht ab-
schrecken zu lassen. Denn er braucht dabei ja noch nichts zu„glauben",
sondern ich wollte ihm nur möglichst deutlich sagen, auf was er gefaßt
sein muß, wenn er diese Arbeit lesen will. Er braucht sich bei diesem
Prolog also nur in die Expektative zu versetzen und tut hier wohl besser,
in sich noch nicht gleich die mächtige Kritik aufsteigen zu lassen, die diese
noch schwächlichen vorläufigen Gestalten in ihm provozieren mögen.
Bemerkt sei auch noch, daß mich von der ganzen Arbeit das zweite Ka-
pitel des dritten Abschnittes, über „Wesenserkenntnis", gesamthaft am
wenigsten befriedigt. Ich lege es aber hier doch vor, weil es nicht aus dem
Zusammenhang weggelassen werden kann und es mir trotz seiner Unab-
geklärtheit echte Beiträge zur Förderung dieser philosophisch entscheiden-
den Problematik zu enthalten scheint.
Die vorliegenden Untersuchungen habe ich im wesentlichen in den
Wintermonaten 1968/69 und 1971/72 niedergeschrieben. Seitdem hatte
ich das Glück, sie Freunden, Lehrern und Kollegen vorlegen zu dürfen
? und sie dadurch verbessern und vertiefen zu lassen, so daß ich sie einer
weiteren Leserschaft nun eigentlich schon „in zweiter, verbesserter Auf-
lage" überreichen kann. In Dankbarkeit möchte ich hier diejenigen nen-
nen, die sich bisher in diese Überlegungen einließen und sie in gemeinsa-
mem Philosophieren zu Besserem drängten: Rudolf Bernet (Löwen), Ru-
dolf Boehm (Gent), Konrad Cramer (Heidelberg), Joseph Dopp (Lö-
wen), Konrad Eugster (Bern), Hans-Georg Gadamer (Heidelberg), Su-
sanne Mansion (Löwen), Michael Theunissen (Heidelberg), Ernst
Tugenclhat (Starnberg). Ganz besonderen Dank schulde ich meinem
Freund und ehemaligen Kollegen im Husserl-Archiv in Löwen, Eduard
Marbach: in zahlreichen Gesprächen mit ihm sind manche der hier ge-
schriebenen Gedanken herangereift, und er ist noch bis zum Schluß
dieser Arbeit beigestanden, indem er die Korrektur der Druck.proben
ausführte.
Vorbemerkung IX
Auch hier möchte ich noch meinen Dank der Holderbank-Stiftung
zur Förderung der wissenschaftlichen Fortbildung (Holderbank, Schweiz)
aussprechen, deren Stipendium es mir in den beiden Winterhalbjahren
1968/69 und 1971/72 ermöglichte, mich ganz dieser Arbeit zu widmen.
•
1
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
§ 1 Die Frage der Philosophie und ihre natürliche Unverständ-
lichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
§ 2 Forderung einer philosophischen Anfangsmethode der Gegen-
standsgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
§ 3 Die Aporie in der Idee der philosophischen Gegenstandsge-
bung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
§ 4 Die Angabe der philosophischen Anfangsmethode . . . . . . . . . 10
§ 5 Die Methode der philosophischen Darstellung . . . . . . . . . . . . 12
§ 6 Der Gang der folgenden methodischen Oberlegungen 16
I. Abschnitt
Vorläufiger Hinweis auf die philosophische Fundamentalmethode
(Zugangsmethode)
1. Kapitel: "Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion . . . . . . 21
§ 7 »Natürliche" Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
§ 8 Reflexion und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
§ 9 Die Aktreflexion im gewöhnlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . 29
§ 10 Die Forderung der philosophischen Ausschaltung oder Reduk-
tion der Phänomenalität. Die reine oder philosophische Re-
flexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2. Kapitel: Der transzendentale Grund der Phänomenalität . . . . . . 36
§ 11 Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit . . 36
§ 12 Phänomenaler und präphänomenaler (transzendentaler) Raum 43
§ 13 Pq.änomenale und präphänomenale (transzendentale) Leiblich-
keit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
§ 14 Die Kquivalenz von Phänomenalität und Präphänomenalität
Die Erscheinung des Transzendentalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
§ 15 Reine Aktreflexion, phänomenale Erkenntnis des Verhaltens,
transzendentale Interpretation des phänomenalen Verhaltens 49
XII Inhaltsverzeichnis
II. Abschnitt
III. Abschnitt
Philosophische Methodenlehre
Philosophie, sofern sie als ein Streben nach Erkenntnis und Wissen
verstanden wird, muß wie jede theoretische Untersuchung von einer
Frage geleitet sein, wobei diese Frage natürlich einen ganzen Fragekom-
plex. beinhalten kann. Im Gegensatz zu anderen theoretischen Unter-
suchungen befindet man sich in der Philosophie aber bekanntlich in größ-
ten Schwierigkeiten, wenn man die Frage angeben soll, nach deren Beant-
wortung sie strebt. Diese Schwierigkeiten haben ihren Grund nicht bloß
in den faktischen Meinungsdivergenzen der Philosophen, sondern vor
allem in der Sache der Philosophie selbst. Es wird etwa gesagt, daß sie
die Frage „Was bin ich selbst?" oder die Frage „Was ist der Mensch?"
zu beantworten trachte. Aber obschon diese Fragen sicher in die Frage-
richtung der Philosophie weisen, ist doch offensichtlich, daß damit noch
nicht ihre eigene, d. h. ihre spezifische Frage gestellt ist, denn es gibt ja
mancherlei echte Untersuchungen dessen, was ich bin oder was der
Mensch ist, die nicht als Philosophie angesprochen werden können.
Ich möchte in den folgenden Überlegungen als die grundlegende
Frage der Philosophie die Frage „Was ist Vernunft?" auszuarbeiten
versuchen. Dabei geht es mir primär nicht um eine empirische Chara~te-
risierung der im Verlauf unserer Geschichte faktisch entstandenen Unter-
suchungen und Theorien, die gemeinhin als philosophische angesprochen
werden. Natürlich sind diese geschichtlichen Gestalten alles andere als
belanglos für das, was wir selbst unter Philosophie verstehen können.
Aber meine grundlegende Absicht ist hier nicht historisch, sondern sie
zielt auf die Formulierung einer für uns selbst realisierbaren eigenstän-
digen Aufgabe, die uns die Philosophie als eine eigene haltbare Wissen-
schaft in Aussicht stellt und nicht unser dahingehendes Tun sich in ein
anderes, sei es in irgendeine positive Wissenschaft, Lebenserfahrung,
Religion, unbegründete Spekulation, bloße Ideologie oder sonst was
immer, auflösen läßt. Diese Aufgabe sollen wir dann aber auch in den
2 Prolog
bringen. Deshalb kann sie nicht Gegenstand einer positiven, auf sinn-
lichen Phänomenen beruhenden Wissenschaft sein.
Wenn es sich so verhält, so ist aber auch die Frage „Was ist Ver-
nunft?" in ihrem für die Philosophie konstitutiven Sinn demjenigen, der
nicht bereits grundlegende philosophische Einsichten gewonnen hat, nicht
eigentlich verständlich. Denn für ihre Verständlichkeit sind zwei Bedin-
gungen zu erfüllen: 1. Zuerst muß der Gegenstand, über den diese Frage
geht, nämlich die Vernunft in sich selbst als eigentümliche Tätigkeit,
irgendwie gegeben werden können; sonst ist die Frage gegenstandslos.
2. Ist der Gegenstand der philosophischen Frage gegeben, dann muß
weiter, damit die ganze Frage verständlich wird, auch 'das, was über den
Gegenstand gefragt wird, die Hinsicht der Frage deutlich sein; also in
unserer Frage das „was". Dieses „was" gibt allerdings insofern schon
rein sprachlich eine gewisse Hinsicht der Frage an, als es sich negativ von
anderen Fragerichtungen, wie etwa „wie?", ,, wo?" oder „ wann?" abhebt.
Aber es ist positiv als Fragerichtung erst eröffnet, wenn angegeben wird,
in welcher Weise überhaupt eine Antwort auf die Frage gefunden wer-
den kann, m. a. W., was für eine Art von Untersuchungen angestellt
werden muß, um eine Antwort zu ermöglichen. Diese zweite Bedingung,
die zu erfüllen ist, damit die philosophische Frage „Was ist Vernunft?"
verständlich wird, ist von der ersten abhängig. Der Gegenstand be-
stimmt, in wekh~r 'Weise er überhaupt untersucht werden kann. Die
Untersuchu11gsart :kann, d~h~r nur vom Gegenstande bzw. von der
Gegenstandsart her angegeben: und, damit die Hinsicht der Frage ver-
ständlich gemacht werden.
Nun ist aber schon die erste, fundamentale dieser Bedingungen für
die Verständlichkeit der philosophischen Frage innerhalb der vorphilo-
sophischen Erfahrung und Betrachtungsweise nicht zu erfüllen. In unse-
rem gewöhnlichen vernünftigen Leben ist uns gegeben die sinnliche Welt;
sie ist der universale Spielraum unseres vorphilosophischen. Erkennens
und Handelns. In ihr können wir auf Gegenstände hinweisen, aus ihr
können wir Gegenstände als Individuen oder als Exemplare, eventuell
mit sehr künstlichen Mitteln wie in manchen Wissenschaften, vorführen.
Zu dieser Welt gehören auch GebHde, die wir als Geschöpfe der Vernunft
ansprechen: Staatsgesetze, wissenschaftliche Theorien, Sätze, Begriffe,
Sprachen, aber auch Werkzeuge, Maschinen, Kunstwerke usw. Alle diese
Vernunftgeschöpfe erscheinen sinnlich in Lauten, Schriftzeichen, Texten
usw. und sind so vorgegeben und vorführbar. Auch wir vernünftigen
Menschen selbst und unser vernünftiges Verhalten erscheinen in dieser
Prolog
sinnlichen Welt. Wir sehen etwa, daß jemand an der ,Tafel ein mathe-
matisches Problem löst oder daß die Hausfrau vernünftig das Nacht-
essen zubereitet. Aber die Vernunfttätigkeit in sich selbst, das „Denken",
,;Ve_rgegenwärtigen" oder wie wir sorist diese Tätigkeit andeuten wollen,
ist· in der sinnlichen Welt, die deri Bereich unseres vorphilosophischen,
-natürlichen Lebens ausmacht, nicht als Gegenstand vorgegeben und in
ihr riicht ·als Gegenstand zu .geben._ Das „Denken" in sich selbst ist nicht
,sichtbar. Solange unsere Vernunft sich praktisch und theoretisch rnit
.Gegenständen in der sinnlichen Welt beschäftigt, solange nicht eine
'radikale Erschütterung, in der ihr· ihre eigene Tätigkeit. als solche. frag-
würdig<wird, sie auf sich selbst zurückwirft, bleibt der Vernunft ihre
Tätigkeit verborgen1 •
Versuch der totalen Beherrschung der sinnlichen, Welt der Erscheinungen in' eirien
,. Jln;vermeidlichen, trügerischen Schein, der sich als solcher in einem „natürlichen"
.- , Widerstreit der Vernunft mit sich selbst bemerkbar. macht. ,.Hierdurch wird aber' die
Vernunft genötigt;_ diesem Scheine nachzuspüren, woraus er entspringe; und wie er
.gehoben werden könne, welches nicht anders als durch eine vollständige Kritik des
• g~nzen i;einen.V:ernunftvermögens geschehen kann; so daß die Antinomie der reinen
· Vernunft, die fo ihrer Dialektik offenbar wird,_ in der Tat die_ wohltätigste V:er_-
irrung'· ist; in die die' ,riienschliche Vernunft je hat geraten können, indem sie uns
. zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukomriien,
, , der, wenn er_ gefunden -worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch
.·_ b~da4, näriilich ·eine _Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge,
in :der wir· ~chon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Vernunftbestim.-
:,niunli; gemäß fortzusetzen, wir durch bestimmte Vorschriften nunmehr angewiesen
, werden können.~ (Kritik der praktischen VetnunftAS.193) ,,Kritik"_bedeutet hier
-ganz :ursprünglich: Unterscheid1mg, nämlich die jene Antinomie auflösende Unter-
scheidung der „intelligiblen Welt" der Vernunft rein als solchen von der sinnlichen
Welt d'er Erscheinungen, also ebenfalls in Analogie zu Sokrates-Platon.
Forderung einer philosophischen Anfangsmethode der Gegenstandsgebung ;
3 Dem Leser könnte vielleicht einfallen, daß es sich bei der Unmöglichkeit, den
Gegenstand der philosophischen Frage und Untersuchung sinnlich vorzugeben,
eventuell analog verhalte wie mit den theoretischen Konstrukten empirischer Wissen-
schaften. Die theoretische Physik etwa spricht ja von Atomen und Elementarteilchen,
wie Elektronen, Positronen, Neutronen, Protonen und Antiprotonen, usw. oder von
elektromagnetischen Feldern und Wellen usw. All diese theoretischen Begriffe sind
nicht selbst in sinnlichen Beispielen vorzuführen, und zwar weder in der gewöhn-
lichen Beobachtung mit Hilfe allein unserer natürlichen Sinnesorgane, noch auch
in künstlicher Weise mit besonderen Instrumenten; diese Konstrukte der theore-
tischen Physik sind überhaupt nicht selbst zur Erscheinung zu bringen. M. a. W., es
handelt sich bei diesen Begriffen weder um sog. Beobachtungsbegriffe ( observation
terms); noch um Begriffe, die durch explizite (vollständige) Definitionen oder durch
konditionale Definitionen (sog. .,Reduktionssätze" im Sinne von Carnap) auf
Beobachtungsbegriffe zurückführbar sind. Dennoch handelt die theoretische Physik
keinesfalls von irgendwelchen Noumena, sondern von nichts anderem als der
phänomenalen Welt, wenn auch nicl1t einfach von der sinnlichen Welt, wie sie in
natiirlicher. Weise aufgrund allein der Betätigung unserer Sinnesorgane erfahren und
erfahrbar ist; sondern von der sinnlichen Welt, wie sie künstlich mittels z. T. höchst
raffinie'rtei· technischer Apparate und Operationen zur sinnlichen Erscheinung kommt.
Die "unsinnlichen" theoretischen Konstrukte der. Physik haben in ihrer vereinheit-
lichenden (systematisierenden) und heuristischen Funktion ihren physikalischen Sinn
ausschließlich durd1 ihre Verbindung mit dem durchaus sinnlichen, wenn auch
künstlich (technisch) sinnlichen und in Operations- und Beobachtungsbegriffen
beschreibbaren physikalischen Experiment. Diese Verbindung besteht in der sog.
,,empirischen Interpretation", in der die in jenen „unsinnlichen" Begriffen formu-
lierte Theorie Aussagen zugeordnet ist, die direkt durch das physikalische Experiment
„getestet" (verifiziert oder falsifiziert) werden können. Dies heißt weder, daß jeder
Die Aporie in der Idee der philosophischen Gegenstandsgebung 7
Die Forderung, daß sich die Philosophie durch eine reine Vernunft-
handl ung (durch die sog. philosophische Stiftungs- oder Fundamental-
methode) den Gegenstand ihrer Frage allererst zu geben habe, scheint
eine Aporie, die in der Form eines logischen Zirkels (eines 'Üo'-rtQ6v-
rc96n:9ov) auszudrücken ist, zu enthalten: Wie kann sich die Philosophie
selbst durch eine reine Vernunfthandlung den Gegenstand ihrer Unter-
suchung geben, ohne zu wissen, was sie sich so geben soll, und wie kann
sie wissen, was sie sich geben soll, wenn sie es nicht schon zum voraus
vorgegeben hat?
Diese Überlegung erinnert sogleich an den bekannten Einwand von
Platons Merlan: ,,Auf welche Weise willst du, Sokrates, denn dasjenige
suchen, von dem du überhaupt nicht weißt, was es ist? Wie beschaffen
unter dem, was du nicht kennst, stellst du es dir vor, wenn du es suchst?
einzelne theoretische Begriff direkt in die Empirie übersetzbar sein muß, noch daß
der Inbegriff der interpretierenden empirischen Aussagen mit der Theorie im Sinne
einer vollständigen Interpretation bedeutungsäquivalent sei. Aber dieses Plus der
Theorie besteht nicht in einem Bezug auf reine N oumena, sondern ausschließlich
in ihrer die Phänomcnalität systematisierenden und erschließenden Funktion (Vgl.
Carl G. Hempel, Fundamentals of Concept Formation in Empirical Science
(Chicago, 1952), eh. II). Mit dem Gegenstand der philosophischen· Frage steht es
prinzipiell anders: Er ist keine theoretische Konstruktion, die ihre Bedeutung allein
als Erklärungs- und Erforschungsprinzip sinnlicher Phänomene besitzt, sondern er
soll unabhängig von aller sinnlichen Erscheinung rein in sich selbst zur Gegebenheit
gebracht werden, seinen Sinn ausschließlich aus reiner Vernunft besitzen, also im
wahren Sinn ein Noumenon sein.
8 Prolog
degger hat nun den Sinn dieser zirkelhaften hermeneutischen Situation dadurch
verallgemeinert, daß er in ihren Begriffen Busserls sehr differenzierte Lehre von
der Borizontintentionalität der Erfahrung interpretierte und auf die „Existenz-
verfassung des Daseins" zurückführte. Nach Busserl geschieht die Erfahrung eines
einzelnen Gegenstandes in einem präsumptiven Horizont möglicher weiterer Erfah-
rungen, die im Sinn des erfahrenen Gegenstandes vorgezeichnet sind. In Heideggers
Interpretation bedeutet dies, daß jedes ursprüngliche Erfahren und Erkennen
wesensmäßig eine „Vorstruktur", d. h. einen „Entwnrfcharakter" besitzt und damit
den · ;;zur Struktur des Sinnes gehörigen Zirkel des Verstehens" in sich schließt.
Dieser Zirkel des Verstehens wird als „Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des
Daseins selbst« (Sein und Zeit, S. 153) aufgefaßt und aus dessen „Zeitlichkeit"
,.abgeleitet".
Es kann hier nur darum gehen, mögliche Mißverständnisse fernzuhalten, d. h. darauf
hinzuweisen, daß sich der von uns geltend gemachte „Zirkel" der philosophischen
Gegcnstandsgebung von der Idee des „hermeneutischen Zirkels" radikal unter-
scheidet: Es handelt sich bei jenem „Zirkel" nicht um eine Zirkelstruktur im Ver-
stehen eines einzelnen irgendwie vorgegebenen Gegenstandes, der nur auf eine
Totalität (sei es auch eine Totalität eines Sinnes) hin zu verstehen ist, während diese
Totalität ihrerseits nur in Einzelnen erfaßt werden kann, sondern um den Zirkel
iri der Idee einer Gegenstandsgebung, die nicht auf Grund eines schon Vorgegebenen,
d. h. im vora11s Gegebenen geschieht.
Die Aufgabe der philosophischen Anfangsmethode 11
der die Philosophie Lernende immer nur ein vages, offenes Verständnis
haben kann, gehört notwendig zu dem die Philosophie Lernenden die
Möglichkeit des Mißverständnisses. Zur Einleitung bzw. zum methodi-
schen Aufbau der positiven Wissenschaften gehört diese Möglichkeit nicht
notwendig; die Begriffe können methodisch eingeführt und die ver-
schiedenen Aussagen Schritt um Schritt, ohne Vorgriffe entwickelt wer-
den, so daß der ideale Leser oder Hörer, der nichts vom Vorangegange-
nen vergißt und mit seinem Verständnis im methodischen Gang immer
genau an dem Punkte ist, wo er etwa beim Lesen angelangt ist, immer
richtig und voll versteht. Der ideale Schüler der Philosophie dagegen
ist prinzipiell nie vor dem Mißverständnis gesichert, da er es notwendig
mit Antizipationen zu tun hat, die auf seiner Stufe gar nicht wirklich
verstanden werden können. Der ideale Schüler der Philosophie muß
aber immer wissen, daß er nicht voll versteht.
Deshalb muß im Lernen bzw. Lehren der Philosophie der Lernende
immer wieder fragen und der Lehrende, wie Platon sagt, ,,seinen Worten
zu Hilfe eilen" 8 können. M. a. W., die einzige wirksame Weise, die
Philosophie zu unterrichten, ist das Gespräch. Die Methode der Selbst-
darstellung, wodurch die Philosophie Allgemeinheit, d. h. Objektivität
(im Sinne der lntersubjektivität) und Wissenschaftlichkeit erreicht, ist
die Wechselrede.
Das haben bekanntlich die Philosophen seit dem Anfang gewußt;
man braucht nur an die Worte des alten Platon zu erinnern: ,,Das,
worum ich inich bemühe ..., ist nicht auszusagen wie andere Lerngegen-
stände, sondern aus langem, der Sache gewidmeten Verkehr und aus der
Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch
einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann
durch sich selbst. " 9 Eine philosophische Schrift oder ein philosophischer
Vortrag sei den Menschen nicht ersprießlich, ,,höchstens den wenigen, die
auf einen leisen Wink hin fähig sind, es selbst zu finden; die übrigen
l würden aber dadurch teils unpassend durch eine unrichtige Geringschät-
zung erfüllt, teils mit einer übertriebenen und hohlen Meinung, als wären
sie im Besitz einer weiß welch hohen Weisheit" 10 • Auch im Phaidros hat
Platon geschrieben, daß der Philosoph nicht zum Ernst seine Einsichten
in schriftliche Worte lege, ,,die unfähig sind, sich selbst mit Vernunft zu
helfen, und unfähig, hinreichend die Wahrheit zu lehren. "11 Platon gibt
im siebenten Brief auch den entscheidenden Grund an für die Unmög-
lichkeit, die Philosophie in einem Vortrag oder einer Schrift allgemein
zugänglich zu machen: Eine Erörterung, die sich mit sinnlichen Vor-
gegebenheiten begnügt, kann von den Kritikern nicht zu Unrecht lächer-
lich gemacht werden. Wo es aber um einen Verstandesgegenstand geht,
kann der Kritiker dafür die sinnlichen Erkenntnisbedingungen (die Wor-
te, Aussagen und Bilder) vorschieben und leicht durch die Sinne wider-
legen, so daß der Philosoph nichts von dem, worüber er redet oder
schreibt, zu verstehen scheint; dabei werde er aber nicht „in der Seele",
sondern nur in der Schwäche des Ausdrucks widerlegt12 •
Die Philosophie kann demnach ihre Objektivität nicht in einem Text,
sondern nur in der Wechselrede haben. Dies gehört zum Wesen der
philosophischen Erkenntnis selbst. Man kann nur alle wissenschafts-
theoretischen Konsequenzen aus dieser Situation ziehen, nicht aber der
Philosophie „endlich eine wissenschaftliche Grundlage verschaffen" wol-
len, wobei man sich das methodische Vorgehen der positiven Wissen-
schaft zum Vorbild nimmt. Wenn man auf solche Weise versucht, die
Philosophie „auf wissenschaftliche Füße zu stellen", mag man zu
„Füßen" kommen, heißen sie nun Logik, Sprachanalyse usw., aber sicher
nicht zu den „Füßen" der Philosophie. Damit soll aber keineswegs die
Idee der Philosophie zugunsten einer Philodoxie aufgegeben werden,
sondern es wird hier vielmehr die Forderung der Philosophie als Wissen-
schaft, und zwar als allgemein gültiger, strenger, d. h. sich bis ins letzte
rechtfertigender Wissenschaft aufrecht erhalten. Aber diese Rechtferti-
gung kann nur Rechtfertigung aus der Sache der Philosophie sein, in
einem von der zu erkennenden Sache geforderten Vorgehen, sonst geht
sie an dieser Sache vorbei.
Obschon die Philosophie ihre objektive (intersubjektive) Wirklich-
keit nicht in einem Text, sondern nur durch die Wechselrede (die in
gewissem Maße auch durch einen Briefwechsel vertretbar ist) hat, kann
es doch echte Motive geben, eine philosophische Schrift zu schreiben.
Platon sprach im Phaidros von der Nützlichkeit solcher Texte für das
Gedächtnis „im vergeßlichen Alter" 13 • In seinem großen Brief nimmt er
zwar diese Rechtfertigung zurück, indem er erklärt: ,,Es ist nicht zu
befürchten, daß einer es vergesse, wenn er es einmal ganz mit der Seele
11 Phaidros, 276 c.
12 VII. Brief, 343 b-d.
13 Phaidros, 275 c/d, 276 d.
16 Prolog
erfaßt hat, denn es liegt vor allem im Kürzesten" 14 • Dies mag zutreffen
für ein· oberstes philosophisches Prinzip, das Platon hier im Auge hat,
nicht aber für die Komplexität und den sprachlichen Ausdruck der unter
diesem Prinzip möglichen Erkenntnis, so daß die schriftliche Fixierung
doch die Funktion haben kann, Erkenntniszusammenhänge leichter
durchlaufbar und damit umfassender verfügbar und überprüfbar zu
machen. Vor allem aber kann ein Text oder Vortrag auch eine Funktion
für das Gespräch haben: als Vorbereitung dazu oder als Anhalt für eine
nachträgliche Reflexion und ein tieferes Eindringen in das im Gespräch
Mitgeteilte.
Keine philosophische Schrift bietet aber eine allgemein gültige Dar-
stellung der Philosophie, denn sie ist immer in eine besondere Situation
hinein geschrieben. So versucht der Autor etwa allen möglichen Mißver-
ständnissen zuvorzukommen, die sich aus einer bestimmten Situation
ergeben können. Für eine andere Situation müßte aber anders geschrieben
werden, da in ihr andere Mißverständnisse, deren Möglichkeit in· der
Philosophie prinzipiell immer besteht, wahrscheinlich sind. So ist jede
philosophische Schrift immer an eine bestimmte geschichtliche Situation
gebunden.
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I. Abschnitt
Vorläufiger Hinweis
auf die philosophische Fundamentalmethode
(Zugangsmethode)
1. Kapitel
„Natürliche" Reflexionen urid reine Reflexion
§ 7 „Natürliche" Reflexionen
nicht die Vernunf ttä tigkeit in sich selbst zum Gegenstand, sondern im
sinnlich.• Vorgebbaren ausgedrückte und dokumentierte Vernunftgebilde.
Diese angedeuteten Wissenschaften haben alle eine gewisse Nähe zur
Philosophie, da sie alle wie diese auf Reflexion im angegebenen wesent-
lichen Sinne beruhen. Sie sind aber nicht selbst schon Philosophie, da sie
nicht auf die Vernunfttätigkeit in sich selbst reflektieren. Ihre Reflexio-
nen stützen sich alle auf sinnlich Vorgebbares, und wir bezeichnen sie
in diesem Sinne als „natürliche" Reflexionen.
ihm selbst, daß die phänomenologische „Psychologie", wenn sie metho- . .,,,
,:,
disch konsequent ist, nicht mehr Psychologie sein kann, sondern Philo-
sophie werden muß 1 . Was allerdings Verhalten ist, d. h. mit welchem
allgemeinen Modell oder mit welchen Grundbegriffen es zu fassen wäre,
darüber sind sich die Psychologen, die das Verhalten erforschen, nicht
einig; nur darüber besteht Einigkeit, daß es nicht eine Sache der Intro-
spektion, sondern eine öffentlich beobachtbare „äußere" Gegebenheit sei.
Eine besondere theoretische Auffassung des Verhaltens hat jedoch
einige Psychologen dazu geführt, doch auch der Introspektion eine ge-
wisse Rolle in der Erforschung des äußerlich gegebenen Verhaltens einzu-
räumen2. Es dürfte aber zu zeigen sein, daß nur ein unzulängliches, ja
abwegiges Modell des äußerlich beobachtbaren Verhaltens diesen erneu-
ten Rekurs auf die Introspektion motiviert. Dieses abwegige Modell ist
dasjenige des Begründers des „Behaviorismus", J. B. Watson, das nach
physikalisch.:.mechanistischem Ideal das Verhalten auf das Schema Reiz-
(motorische) Reaktion reduziert. Da dieses Modell vielen Psychologen
für ihre Erforschung des Verhaltens, das sie nicht einfach als einen
mechanischen Prozeß betrachten konnten, nicht ausreichte, glaubten
einige, es aus der Introspektion ergänzen zu müssen.
Andere haben aber auch geltend gemacht, daß das alte „behavio-
ristische" Modell des Verhaltens gesprengt werden könne, ohne auf den
verborgenen Fonds der Introspektion zu rekurrieren. So führte etwa
E. C. Tolman die teleologischen Begriffe der Absicht und der Erwartung
ohne Verweis auf die Introspektion in das Modell des Verhaltens ein3•
Dabei scheinen aber diese immanenten Züge des Verhaltens nur vom
Beobachtenden aus erschließbar und nicht direkt beobachtbar zu sein;
jedoch wird diese Frage bei ihm nicht geklärt4 • Diese Frage der Gegeben-
heit von intentionalen Zügen des Verhaltens haben aber, im Anschluß
an Anregungen von Max Seheier, eine ganze Reihe von methodologisch
interessierten Psychologen erörtert: u. a. Helmuth Plessner, F; J. J. Buy,-
tendijk, Victor von Weizsäcker, Maurice Merleau-Ponty. Diese Forscher
heben hervor, daß das ·Verhalten unmittelbar anschaulich in „umwelt-
intentionalen Bewegungsgestalten" 5, in umweltbezogenen sinnhaften
;,Funktionen" 6 gegeben sei. Daß z. B. ein Tier etwas · angreife, fliehe,
suche, finde, rieche, daß es gehe, krieche usw. sei unmittelbar zu beobach-
ten, ohne jegliche Introspektion, aber auch ohne jeglichen Schluß. Es
wird zwar von dieser Seite betont, ,,daß wir das Leben nur erkennen
können, indem wir an ihm teilnehmen" 7, m. a. W., daß der verstehende
Beobachter des Verhaltens selbst ein sich verhaltendes Wesen sein müsse;
dies bedeute aber keineswegs, daß im Verständnis des Verhaltens Intro-
spektion und dann Projektion des innerlich Wahrgenommenen auf das
äußerlich wahrgenommene Verhalten stattfinde, sondern nur, daß das
verstehende Wahrnehmen des Verhaltens in sich selbst schon ein Deuten
sei8 • Tatsächlich wird, wenn man in psychologische Untersuchungen
menschlichen oder tierischen Verhaltens hineinschaut, schnell deutlich,
daß hier weder „Introspektion" getrieben, noch (es sei denn, es handle
sich um Physiologie) von bloßen mechanischen Prozessen gesprochen
wird, sondern von Verhaltensweisen wie wahrnehmen, erkunden, sehen,
horchen, suchen, finden, spielen, essen usw. die Rede ist, wie sie sich
unserer äußeren Beobachtung unmittelbar zeigen. Um etwa zu beobach-
ten, daß ein Tier angreift oder flieht, dazu benötigen wir keine Intro-
spektion oder Reflexion auf eigene Tätigkeiten, sondern wir sehen es
ihm unmittelbar an.
Auch wenn wir die Psychologie nicht nur auf die Beobachtung sich
verhaltender Lebewesen abstützen, sondern in Rechnung ziehen, daß der
Psychologe auch auf die Antworten seiner „Versuchspersonen" abstellt,
wie etwa in der Wahrnehmungspsychologie, so müssen wir uns erinnern,
daß auch hier eine Reflexion auf Akte gar keine Rolle spielt. Die „Ver-
suchsperson" muß etwa sagen, was sie sieht, hört oder auch, was sie
empfindet; dazu ist aber für sie überhaupt keine Reflexion (im wesent-
lichen Sinne) erforderlich, denn weder das Gesehene (irgendwelche Figu-
ren, kausales Geschehen etc.) noch die Empfindungen (Schmerz, Jucken
etc.) oder assoziierte Gegenstände oder Ereignisse sind wesentlich sekun-
däre Gegenstände. Für den Psychologen ist zwar das, als was (wie) die
Versuchsperson eine gewisse gegenständliche Konstellation sieht (z. B. als
Pokal oder zwei Köpfe in der Rubinschen Figur) ein wesentlicher Re-
flexionsgegenstand, aber es handelt sich nicht um eine Tätigkeit.
Zum selben Resultat kommen wir, wenn wir die Psychoanalyse
betrachten: auch hier wird keine „Introspektion" oder Reflexion (immer
im wesentlichen Sinne) auf Bewußtseinstätigkeiten durchgeführt; weder
7 Buytendijk, a. a. 0. S. 25.
8 Plessner, Zwischen Philosophie 1md Gesellschaft, S. 142.
Reflexion und Psychologie 27
9 Anstatt „Libido" würde Freud in den zwanziger und dreißiger Jahren hier „Es"
sagen, wenn auch nicht mit ganz ·gleicher Bedeutung.
10 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1915-1917), WW XI, S. 438.
11 Abriß der Psychoanalyse, WW XVII, S. 81~
12 A. a. 0., S. 67. ,,Was man bewußt heißen soll, brauchen wir nicht zu erörtern, es
ist jedem Zweifel entzogen." (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse, WW XV, 76/77).
13 A. a. 0., S. 79.
14 „Die Psychoanalyse erklärt die vorgeblichen somatischen Begleitvorgänge für das
eigentliche Psychische, sieht dabei zunächst von der Qualität des Bewußtseins ab."
(Abriß, S. 80) ,, .•• man muß sich ,daran erinnern, daß all unsere psychologischen
Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen."
(Zur Einführung des Narzißmus, WW X, S.143/44). ,,Während man in der
Bewußtseins-Psychologie nie über jene lückenhaften, offenbar von anderswo abhän-
gigen Reihen hinauskam, hat die andere Auffassung, das Psychische sei an sich
unbewußt, gestattet, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere
auszugestalten. Die Vorgänge, mit denen sie sich beschäftigt, sind an sich ebenso
28 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion
,,In dem Maße, als wir uns zu einer metapsychologischen (d. h. psycho-
analytisch vollendeten15) Betrachtung des Seelenlebens durchringen wol-
len, müssen wir lernen, uns von der Bedeutung des Symptoms ,Bewußt-
heit' zu emanzipieren. "16
Es liegt uns hier fern, die Methoden der verschiedenen Psychologien,
die sich als positive Wissenschaften etablieren wollen, ausreichend zu
beschreiben oder sie gar vorzuschreiben. Wir dürfen aber, immer im
Hinblick auf die Gewinnung der Spezifizität der philosophischen Er-
kenntnisaufgabe, ganz allgemein als Faktum feststellen, daß die Psycho-
logie als positive Wissenschaft ganz darauf tendiert, sich nur auf öffent-
lich beobachtbare und sinnlich vorgebbare Phänomene abzustützen und
darauf ihre Theorien aufzubauen, also sich nicht in der Reflexion auf
Bewußtseinstätigkeiten begründet. Sie untersucht zwar auch Tätigkeiten
und Handlungen, aber nicht in der Reflexion (im wesentlichen Sinn),
sondern als äußerlich beobachtbare Verhaltensweisen unter dem Ge-
sichtspunkt der Anpassung.
Wenn dem so ist, so folgt daraus, daß die Psychologie die Vernunft-
tätigkeit in sich selbst nicht erforschen und erkennen kann. Denn (wie
in der Einleitung angedeutet wurde) die Vernunfttätigkeit erscheint
nicht selbst; sie ist selbst kein leibliches Verhalten wie etwa das sinn-
liche Wahrnehmen, das auch äußerlich als „umweltintentionale Bewe-
gungsgestalt" erscheint. Die Vernunfttätigkeit erscheint, wie gesagt, nur
in ihren sinnlichen Bedingungen, in ihren sinnlichen „Mitteln" und in
ihren sinnlichen Resultaten, aber nicht selbst als Vernunfttätigkeit. Und
dies wird auch durch das Faktum bestätigt, denn man muß sagen: Die
Psychologie als positive Wissenschaft besitzt keinen Begriff der Vernunft
oder (was uns vorläufig gleichviel bedeuten soll) des Verstandes. Das
ist natürlich kein Vorwurf, denn die Psychologie kann aufgrund ihrer
Methode gar nicht zu einem solchen Begriff gelangen. Der Psychologe
17 Es ist vielleicht nützlich zu bemerken, daß "hybrid" sich nicht vpm gri~chischen
ilßtn; (Stolz), sondern vom lateinischen hybrida (von zweierlei Herkunft, •zwitter)
herleitet.
30 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion
quent und rein sich selbst, sie geht nicht ihren eigenen Weg, ihre eigene
Methode, sondern sie ist latent und hybrid, verdeckt und vermischt durch
fremde, d. h. nicht der Aktreflexion selbst entstammende sinnlich-phä-
nomenale Vorstellungen. Analog wie die Psychologie, um sich selbst, d. h.
positive Wissenschaft, zu werden, von den aktreflexiven Momenten
absehen muß, um sich rein auf das äußerlich beobachtbare, phänomenale
Verhalten zu stützen, so müßte das natürliche „Philosophieren", um
Philosophie zu werden, die phänomenalen Vorstellungen ausklammern,
um sich rein in der Aktreflexion zu halten.
Mehr noch, das Papier, auf das ich evtl. meine philosophischen Reflexio~
nen niederschreibe, und die Worte und Schriftzeichen, in denen ich sie sage
und festhalte, all dies gilt mir nicht nur während meiner philosophischen
Reflexion als sinnliche Realität, sondern ich benutze sie sogar als das
in meiner philosophischen Arbeit. Nichts wäre verfehlter, als sich die
für die Reinheit der philosophischen Reflexion notwendige Ausschaltung
der Phänomenalität als eine »Neutralisierung" der phänomenalen Welt,
als eine Art „ekstatischer" Hinwegsetzung über ihre Wirklichkeit vor-
zustellen. Diese Ausschaltung ändert nichts an der Existenz der phäno-
menalen Welt, sie modalisiert sie in keiner Weise. Wir können nicht
einfach durch eine methodische Direktive das Dasein der Welt für uns
,,neutralisieren", ,,dahingestellt sein lassen." Es wird im nächsten Ab-
schnitt zu zeigen sein, daß sich alle Vernunftreflexion notwendig auf
dem Boden der sinnlichen Position hält. Das bedeutet nun aber keines-
wegs, daß reine Aktreflexion nicht möglich wäre, daß diese ihr Thema
notwendig in den phänomenalen Raum-Zeit-Strukturen denken müßte.
Das raumzeitliche Außereinander kann sehr wohl vom Thema der
philosophischen Reflexion ferngehalten werden, und die geforderte Aus-
schaltung bedeutet nichts anderes als diese thematische Ausschaltung.
Wenn mir während der philosophischen Reflexion meine phänomenale
Umwelt, meine schriftlich ausgebreiteten Sätze etc. in ihrer Phänomenali-
tät voll gelten, so bedeutet das nicht, daß ich damit schon das Thema
meines philosophischen Interesses, die Bewußtseinstätigkeiten, durch die
raumzeitliche Phänomenalität affiziere. Die phänomenale Umwelt, die
Schriftzeichen etc. gehören ja als solche nicht in mein philosophisches
Thema. Daß die zur rein reflexiven Erfassung des Bewußtseins erfor-
derliche Reduktion der sinnlichen Vorgegebenheit nichts anderes als eine
thematische sein könne, dieser Gedanke drängt auch bei Busserl selbst
immer wieder durch, und er hat auch selbst die von ihm in seinen Ideen
vollzogene Parallelisierung von phänomenologischer Epoche und Neu-
tralitätsmodifikation der Welt zurückgezogen21 • Die von der Philosophie
geforderte Reduktion der phänomenalen Raumzeitlichkeit kann nichts
anderes sein als die Befreiung (Reinigung) ihres Forsdmngsgegenstandes
von der Oberlagerung des sinnlichen Scheins (sinnlichen Auffassung),
mit dem wir im natürlichen, den öffentlichen Phänomenen zugewandten
Leben unvermeidlich die in der Reflexion sich meldenden Akte ver-
decken. Sie bezweckt nichts anderes als eine unvermischte, reine Thema-
tik, eine unvermischte, reine Fragestellung.
Wenn wir in der Philosophie die phänomenale Raumzeitlichkeit aus-
schalten, so bedeutet das nun aber nicht, daß wir in ihr über diese über-
haupt nicht mehr sprechen. Auch die Philosophie spricht von der phäno-
menalen Welt, aber allerdings nur in ganz bestimmter Hinsicht: in Hin-
sicht auf ihren Forschungsgegenstand, die Vernunfttätigkeit. Die reflexiv
zu erfassende Bewußtseinstätigkeit nimmt ja die Phänomene wahr, er-
innert sich solcher, fällt Urteile über sie usw. Von der Bewußtseins-
tätigkeit ist reflexiv nicht zu reden ohne Bezugnahme auf die sinnlich
erscheinende Welt, mit der es jene zu tun hat. Diese Bezugnahme muß
aber nicht bedeuten, und darf in der philosophischen Reflexion nicht
bedeuten, daß die reflektierten Tätigkeiten selbst der Phänomenalität
eingeordnet, also selbst in der phänomenalen Form des Außereinander
gedacht werden. Um mit Busserl zu reden, der diesen Sachverhalt in
aller Deutlichkeit ausgesprochen hat, die Phänomenalität ist in der reinen
Reflexion nur „intentionales Korrelat" der Akte.
Wir haben in diesem Kapitel einen wesentlichen Begriff der Reflexion
angegeben, wir haben die Aktreflexion, die eine Art der wesentlichen
Reflexion ist, der „äußeren" phänomenalen Erfassung der Tätigkeit
gegenübergestellt und wir haben gefordert, daß in der reinen Akt-
reflexion die Phänomenalität „reduziert" werden müsse. Diese Aus-
schaltung ist nun aber nicht schon eine Bestimmung der reinen Akt-
reflexion selbst. Bis jetzt ist nicht positiv ausgemacht, was diese sei, bzw.
wie sie möglich sei. Da diese reine Reflexion ein Vernunftakt ist, können
wir nur aufgrund ihres Vollzugs erkennen, was sie ist. Bis jetzt ging es
nur darum, dem Leser diesen Vollzug nahezubringen. Erst im dritten
Abschnitt werden wir die reine Reflexion zum Gegenstand rein reflexiver
Untersuchungen machen.
2. Kapitel
Der transzendentale Grund der Phänomenalität
§ 11 Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit
Wir haben die Forderung gestellt, in der reinen Reflexion auf die
Akte, die in solcher Betrachtung als Bewußtsein angesprochen werden
können, die Phänomenalität (das räumliche und zeitliche Außereinan-
der) auszuschalten. Diese Ausschaltung durchzuhalten, ist nun aber
keineswegs leicht, denn sobald wir in der reinen Reflexion auf den so
freigelegten Gegenstand der Philosophie einzugehen versuchen, stoßen
wir auf Sachlagen, die uns nur allzuleicht verführen, ja, uns geradezu
suggerieren, jene vorerst ausgeschaltete phänomenale Form des Außer-
einander dem sich neu Zeigenden doch wiederum irgendwie, sei es auch
nur in einem verhüllten oder rudimentären Zustande, zu unterschieben.
Sowohl diese Verführungen als auch die ihnen zugrundeliegenden ver-
führerischen Sachlagen können wir uns am besten am Beispiel von
Busserls Denkweg vor Augen führen. Damit tun wir zugleich erste,
entscheidende Blicke in die Domäne, die uns die reine Aktreflexion ;f
eröffnet. Allerdings könnten diese sich mit Busserl auseinandersetzenden
Ausführungen im jetzigen Moment unserer Gedankenentwicklung einem :i
Leser, der mit der Zeitproblematik der neuen Phänomenologie nicht
einigermaßen vertraut ist, Verständnisschwierigkeiten bereiten. Solchen
Lesern kann ohne Gefahr, den Gedankenzusammenhang zu verlieren,
empfohlen werden, die Paragraphen dieses Kapitels (§§ 11-15) vor-
läufig zu überspringen und gleich mit dem II. Abschnitt weiterzufahren,
•
1
um dann erst nach dem 1. Kapitel des III. Abschnittes (nach dem Kapitel 1
über reine Reflexion, also an analoger Stelle im ausgearbeiteten Metho-
•
denabschnitt III wie in diesem ersten, vorläufigen Abschnitt) mit besserer
Vorbereitung diese, wie mir scheint, wichtigen, aber historisch etwas
belasteten§§ 11-15 nachzuholen.
In seinen Ideen und auch in anderen Texten schreibt Busserl dem
durch die „phlinomenologischen Reduktionen" gewonnenen „transzen-
dentalen Bewußtseinsstrom" die Form der objektiven Zeit, des „endlosen
-•
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.
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•
Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit 37
1 Ideen I, (H11sserliana III), S. 198: ,,Die Wesenseigenschaft, die der Titel Zeitlich-
keit für Erlebnisse überhaupt ausdrückt, bezeichnet nicht nur ein allgemein zu
jedem einzelnen Erlebnis Gehöriges, sondern eine Erlebnisse mit Erlebnissen ver-
bindende notwendige Form. Jedes wirkliche Erlebnis (wir vollziehen diese Evidenz
auf Grund der klaren Intuition einer Erlebniswirklichkeit) ist notwendig ein
dauerndes; und mit dieser Dauer ordnet es sich einem endlosen Kontinuum von
Dauern ein - einem erfüllten Kontinuum."
,,Wohl zu beachten ist der Unterschied dieser phänomenologischen Zeit, dieser .ein-
heitlichen Form aller Erlebnisse in einem Erlebnisstrome ( dem eines reinen Ich)
und der ,objektiven', d. i. kosmischen Zeit. Durch die phänomenologische Reduktion
hat das Bewußtsein nicht nur seine apperzeptive ,Anknüpfung' (was freilich ein
Bild ist) an die materielle Realität und seine, wenn auch sekundäre Einbeziehung in
den Raum eingebüßt, sondern auch seine Einordnung in die kosmische Zeit. Die-
jenige Zeit, die wescnsmäßig zum Erlebnis als solchem gehört, mit ihren Gegcbcn-
heitsmodis des Jetzt, Vorher, Nachher; des. durch sie modal bestimmten Zugleich,
Nacheinander usw., ist durch keinen Sonnenstand, durch keine Uhr, durch keine
physischen Mittel zu messen und überhaupt nicht zu messen." (a. a. O., S. 196/7).
3 Nämlich im Schematismuskapitel und besonders in den Analogien der Erfahrung.
4 Kritik der reinen Vernunft, B 39 ff. (Anm.) und 'B 274-279. Vgl. die Ausführung~n
in der transzendentalen Deduktion (2. Auflage), ,,daß wir die Zeit, die doch gar
kein Gegenstand äußerer Anschauung ist,. uns nicht anders vorstellig machen können,
38 Der transzendentale Grund der Phänomenalität
als. unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart
wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen können, imgleichen daß wir die
Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen für alle inneren Wahrnehmungen
immer. von· dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches dar-
stellen; folglich die Bestimmungen des inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als
Erscheinungen in. der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Raume
ordnen ••• " (B 156).
5 A. a. 0., B 39 (Anm.)
6 „Das transzendentale ,Absolute', das wir durch die Reduktionen herauspräpariert
haben, ist in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen
tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert und seine Urquelle in einem
letzten und wahrhaft Absoluten hat." (Ideen 1, S. 198) ,,Es ist übrigens zu beachten,
daß die Einheiten,. die wir hier überall betrachten, so z. B. das identische cogito,
als Einheiten einer Dauer, in ihr sich .so und so wandelnd, eben selbst schon
bewußtseinsmäßig konstituierte Einheiten sind, nämlich sich konstituierend in einem
tieferen, entsprechend mannigfaltigen ,Bewußtsein' eines anderen Sinnes, in dem all
das, was wir bisher ,Bewußtsein' oder Erlebnis nannten, nicht reell vorkommt,
Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit 39
absoluten Sinn hat nach Busserl nicht die Ausbreitung, das Außerein-
ander eines „ endlosen Kontinuums von Dauern". In seinen letzten
Jahren „radikalisierte" Busserl die Methode der transzendental-phäno-
menologischen Reduktion; sie führt nun nicht mehr auf den zeitlich aus-
gebreiteten Bewußtseinsstrom, sondern auf die „strömend-lebendige
Gegenwart" 7, auf die „urtümliche stehend-strömende Vorgegenwart" 8,
auf die „Urgegenwart, die keine Zeitmodalität ist" 9 ; nur diese „Gegen-
wart" ist nac,.1i dem späten Busserl „absolute, eigentlichste, urzeugende
Wirklichkeit" .10
Wie ist nun aber nach Busserl dieses Bewußtsein im absoluten Sinne,
in dem sich das Bewußtsein der Form eines Kontinuums von Dauern
konstituiert, zu denken? Einerseits unterliegt Busserl, allerdings nur in
früherer Zeit, dem phänomenalen Schein, indem er auch noch das Be-
wußtsein im absoluten Sinne der phänomenalen Zeitform einordnet: er
spricht von der „Gleichzeitigkeit" (im doppelten Sinn: ,,zugleich" und
,,zur gleichen Zeit gehörig") von zeitlich Konstituiertem und zeitkon-
stituierendem Bewußtsein; das zeitkonstituierende Bewußtsein scheint
selbst in der Zeit zu sein11 • Andererseits aber negiert Busserl auch eine
sondern als Einheit der ,immanenten Zeit', mit der es sich selbst konstituiert. Dieses
tiefste, die immanente Zeit und alle ihr eingeordneten Erlebniseinheiten, darunter
alles cogito konstituierende Bewußtsein, haben wir absichtlich in dieser Abhandlung
außer Betracht gelassen und unsere Untersuchung durchaus innerhalb der immanen-
ten Zeitlichkeit gehalten." (Ideen II, S. 102/3).
7 Im Ms. C 3, S. 3 a ff. (August 1930) identifiziert Husserl transzendentale Reduktion
und Reduktion auf die lebendig strömende Gegenwart.
8 Husserliana XV, S. 667/8.
0 Ebenda.
10 A. a. 0., S. 348.
11 „Ferner gehört zum apriorischen Wesen der Sachlage, daß Empfindung, Auffassung,
Stellungnahme, daß alles an demselben Zeitfluß mitbeteiligt ist und daß notwendig
die objektivierte absolute Zeit identisch dieselbe ist wie die Zeit, die zur Empfin-
dung und Auffassung gehört. Die vorobjektivierte Zeit, die zur Empfindung gehört,
fundiert notwendig die einzige Möglichkeit einer Zeitstellenobjektivation, die der
Modifikation der Empfindung und dem Grade dieser Modifikation entspricht. Dem
objektivierten Zeitpunkt etwa, in dem ein Glockengeläute beginnt, entspricht der
Zeitpunkt der entsprechenden Empfindung. Sie hat in der Anfangsphase dieselbe
Zeit, d. h. wird sie nachträglich zum Gegenstand gemacht, so erhält sie notwendig
die Zeitstelle, die mit der entsprechenden Zeitstelle des Glockengeläutes zusammen-
fällt. Ebenso ist die Zeit der Wahrnehmung und die Zeit des Wahrgenommenen
identisch dieselbe." (Husserliana X, S. 72 (1905)) ,,Schalten wir jetzt die tran-
szendenten Objekte aus und fragen wir, wie es in der immanenten Sphäre mit der
Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Wahrgenommenem steht. Fassen wir
\Y/ ahrnehmung hier auf als den Akt der Reflexion, in dem immanente Einheiten
40 Der transzendentale Grund der Phänomcnalität
zur Gegebenheit kommen, so setzt er voraus, daß bereits etwas konstituiert - und
retentional erhalten - ist, worauf er zurückblicken kann: dann folgt (!) also die
Wahrnehmung auf das Wahrgenommene und ist nicht mit ihm gleichzeitig. Nun
setzen aber - wie wir gesehen haben - Reflexion und Retention das impressionale
,innere Bewußtsein' des betreffenden immanenten Datums in seiner ursprünglichen
Konstitution voraus, und dieses ist mit den jeweiligen Urimpressionen konkret
eins, von ihnen untrennbar: Wollen wir auch das ,innere Bewußtsein' als ,Wahr-
nehmung' bezeichnen, so haben wir hier in der Tat strenge Gleichzeitigkeit von
Wahrnehmung und Wahrgenommenem~ (a. a. O,,. S. 110/11). ,,Im Gegenstands-
bewußtsein lebend blicke ich in die Vergangenheit vom Jetztpunkt aus zurück.
Andererseits kann ich das ganze Gegenstandsbewußtsein als ein Jetzt fassen und
sagen: Jetzt. Ich erhasche den Moment und fasse das ganze Bewußtsein als ein
Zusammen, als ein Zugleich. Ich höre soeben einen langen Pfiff. Er ist wie eine
gedehnte Linie. In dem Moment habe ich haltgemacht, und von da aus dehnt sich
die Linie. Der Blick dieses Moments umfaßt eine ganze Linie, und das Linienbewußt-
sein wird als gleichzeitig gefaßt mit dem Jetztpunkt des Pfiffs" (a. a. 0., S. 112). ,,Ein
erhaschender Blick kann, wie auf den Fluß der Tonphasen, so auf die Kontinuität
derselben im Jetzt des Erscheinens achten, in dem sich das Dinglich-Objektive dar-
stellt, und wieder auf die li.nderungskontinuität dieser Momentankontinuität. Und
die ·Zeit dieser ,li.nderung' ist dieselbe wie die Zeit des Objektiven. Handelt es sich
·z, B; um einen unveränderten Ton, so ist die subjektive Zeitdauer des immanenten
Tones identisch mit der Zeiterstreckung der Kontinuität der Erscheinungsänderung"
(a. a. 0., S. 113); Vgl. dazu auch, was R. Ingarden über seine Gespräche mit Busserl
in den Jahren 1917/18 berichtet: ,, ... eines Tages sagte er mir wörtlich: ,Ja, wissen
Sie, es ist eine tolle Geschichte. Es gibt da einen teuflischen Zirkel: die ursprüng-
lichen zeitkonstituierenden Erlebnisse sind selbst wiederum in der Zeit'." (Edmund
Husserl, Briefe an Roman lngarden, Phaenomenologica 25, Nijhoff 1968, S. 122)
12 "Wir sprechen aus sehr ernsten Gründen nicht von einer Zeit des Bewußtseins,
fassen die Urempfiridungen als Bewußtsein von einer Gleichzeitigkeit, nämlich des
Tones, der Farbe und was immer sei in einem und demselben ,aktuellen Jetzt',
nennen sie selbst aber nicht gleichzeitig, und erst recht nennen wir die Phasen des
Zeitstrecken-Zugleich nicht gleichzeitige Bewußtseinsphasen, ebensowenig wie wir
die Aufeinanderfolge des Bewußtseins eine zeitliche Folge nennen" (a. a. 0., S. 375/
76); »Liegt eine Absurdität darin, daß der Zeitfluß wie eine objektive Bewegung
angesehen wird? Ja! Andererseits ist dod1 Erinnerung etwas, das selbst sein Jetzt
hat, und dasselbe Jetzt etwa wie ein Ton. Nein. Da steckt der Grundfehler. Der
Fluß der Bewußtseinsmodi ist kein Vorgang, das Jetzt-Bewußtsein ist nicht selbst
jetzt. Das mit dem Jetzt-Bewußtsein ,zusammen' Seiende der Retention ist nicht
,jetzt', ist nicht gleichzeitig mit dem Jetzt, was vielmehr keinen Sinn gibt" (a. a. 0.,
s. 333).
13 A. a. 0., S. 369.
14 A. a. 0., S. 112, 334.
Phänomenale und präphänomenalc (transzendentale) Zeit 41
Gleichzeitigkeit und der zeitlichen Folge oder Dauer steht15 • Aber auch
diese Negation ist nicht Busserls letztes Wort. Denn er bezeichnet
schließlich das absolute Bewußtsein als „absoluten Übergang" oder „ab-
solutes übergehen" 16, als „ständigen Wandel" 17 oder in paradoxer Form
als eine Veränderung oder Knderungskontinuität, die keine Verände-
rung ist 18 , als „unzeitliche Aufeinanderfolge" 10 und gebraucht dafür das
Bild des „beständigen Flusses" 20 oder des stetigen Strömens. Dieser
„absolute Übergang" oder „Fluß" ist nichts zeitlich Objektives 21 , er ist
nicht selbst eine Gegenwart, ein Jetzt, das gegenübersteht22 , er geschieht
nicht in der immanenten Zeit, er ist überhaupt nicht zeitlich konstituiert.
In diesem Sinne ist er, möchte ich beifügen, kein Phänomen (im Kan-
tischen Sinne). Aber indem er für das Phänomen der Zeit konstitutiv
ist, ,,gehört" er beständig zu diesem Phänomen: Dieses konstituierende
„Dazugehören" ist ein stetiger Wandel, der selbst sein „Nicht-mehr" und
„Noch-nicht" impliziert23 und so in einem unerhörten Sinne selbst
„zeitlich" ist. Zu dieser „Zeitlichkeit" des Bewußtseins vorgestoßen zu
sein oder das Bewußtsein als letztlich ein in diesem ungewöhnlichen
Sinn „zeitliches" erwiesen zu haben, ist wohl das Tiefste, das Busserls
Zeituntersuchungen bieten.
Wenn wir in reiner Reflexion die Tätigkeit als Bewußtsein unter-
suchen, also alle sinnlich-phänomenale Zeitform von ihr fernhalten, so
werden wir dadurch überrascht, daß sich diese Tätigkeit in gewissem
Sinne doch als „zeitlich" erweist. Diese „Zeit" hat abe1" nicht mehr die
Form des Außereinander (partes extra partes). Die Aktualität des Be-
wußtseins ist nicht Gegenwart im gewöhnlichen Sinn als Gegenwart
neben (nach) den Vergangenheiten (die selbst eine Reihe ausmachen) und
neben (vor) den Zukünften. Vergangenheit und Zukunft gehören selbst
in die sich stetig wandelnde Aktualität, auch wenn durch diese keine
Wiedererinnerung und planmäßige Vorausnahme der Zukunft vollzogen
wird. Die beständig „vorwärts strebende" Aktivität enthält in sich selbst
ihre Zukunft und Vergangenheit, sie ist nur in der Vorhaltung ihrer
Zukunft und in der Erhaltung ihrer Herkunft und diese sind außer ihr
schlechterdings nicht. Es handelt sich nicht um ein „Kontinuum von
Dauern", dessen verschiedene herausgreifbaren Abschnitte objektiv sind,
was sie sind, unabhängig von den voranliegenden und nachfolgenden
Phasen.
Dasselbe gilt, wenn wir in reiner Reflexion eine Vergegenwärtigung,
z. B. die ·Wiedererinnerung betrachten. Meine Vergangenheit in ihrer
ursprünglichen Veranschaulichung und Heraushebung in der Wieder-
erinnerung ist gleichsam „Gegenwart", sie wird mir wieder lebendig, ich
fungiere wieder in ihr, sie ist vergegenwärtigt. Ich „wiederhole" z.B.
gleichsam nochmals den Spaziergang von gestern, gleichsam, denn ich
wiederhole ihn nicht wirklich, indem ich jetzt einen zweiten Spaziergang
durch dieselben Ortschaften unternehme, sondern der gestrige Spazier-
gang wird in der Wiedererinnerung durch eine Art zeitlicher Rückver-
setzung wieder lebendig gegenwärtig. Ich sitze gleichsam nochmals auf
jenem Hügel und betrachte die Aussicht, bin dabei noch nicht im unter-
halb liegenden Restaurant und bin noch müde vom soeben zurückgeleg-
ten Aufstieg durch den steilen Waldhang. Aber diese veranschaulichte
Vergangenheit ist nicht Gegenwart schlechthin, sondern vergangene
Gegenwart. Dieser Charakter oder diese Modifikation des „vergangen"
kommt ihr aber nicht absolut zu, sondern hat nur Sinn in der aktuell
erlebten Gegenwart, in der ich jetzt hier am Schreibtisch sitze. Ent-
schwindet mir diese Gegenwart, während ich mich an den vergangenen
Spaziergang erinnere, so verschwindet notwendigerweise auch dieser
Charakter des „vergangen": ich erinnere mich nicht mehr der Vergan-
genheit; sondern' ich träume eine schlichte Gegenwart. Bei meiner eigent-
lichen Vergangenheit ist es also nicht so wie ·bei einer objektiven Ver-
gangenheitsstrecke, wie z. B. beim Zeitalter des Perikles in Athen oder
der Zeit Deutschlands unter der Regierung Adenauers (die in meine
eigene Lebenszeit fällt), die eine in sich selbst bestehende objektive
Dauer ausmacht, ganz unabhängig von meiner aktuellen Gegenwart. ·
Meine Vergangenheit ist in ursprünglicher Veranschaulichung eigentlich
vergangene „Gegenwart", verlebendigt in aktueller Vergegenwärtigung
und hat als solche nur Sinn in und aus meiner Aktivität in der unmittel-
baren Gegenwart; außerhalb ihrer ist sie schlechterdings nicht.
Diese in reiner, durch keine sinnlich-phänomenalen Vorstellungen
getrübten Reflexion auf das Bewußtsein zur Geltung kommende
„innere" ,,Zeit" kann man im Gegensatz zur gegenübergestellten1
Phänomenaler und präphäuomenaler (transzendentaler) Raum 43
24 Wir übernehmen hier von Husserl nur das Wort (das also aus dem obigen Zusam-
menhang zu verstehen ist) und nicht seine dahinterstehende Theorie, die noch einer
Kritik zu unterziehen sein wird (siehe unten § 29). Die „präphänomenale, prä-
empirische Zeitlichkeit" (Husserliana X, S. 83) · ist nach Husserl die quasi-zeitliche
Ordnung des sich selbst erscheinenden zeitkonstituierenden Flusses, die sich in der
retentionalen „Längsintentionalität" durch einen „aufmerkenden" ,,reflektierenden
Blick" oder Strahl durch fixierende und identifizierende Leistungen konstituiert
(a. a. 0., S. 378-382, 113, 116). Diese quasi-zeitliche Ordnung scheint sich manch-
mal mit der immanenten Zeit (Kontinuum von Dauern) des Erlebnisstromes zu
decken (a. a. 0., S. 113). Husserl geht von dieser präphänomenalen quasi-zeitlichen
Ordnung nochmals zurück auf ein „letztes" (a. a. 0., S. 378, 382), ,,inneres" (S. 117)
,,Urbewußtsein" (S.119), in dem „Sein und Innerlich-bewußtsein zusammenfällt"
(S. 117);
25 Es geht m. E. nicht an, wie U. Claesges in seinem Buch Busserls Theorie der Raum-
konstitution ·(Den Haag, Nijhoff, 1964) bei Husserl prinzipiell zwischen transzen-
dentalem und kinästhetischem Bewußtsein zu scheiden. Natürlich muß nicht jedes
kinästhetische Bewußtsein schon rein transzendental verstanden werden, aber das
gilt für alles Bewußtsein. Für Husserl ist das transzendentale Bewußtsein als
44 Der transzendentale Grund der Phänomenalität
solches selbst kinästhetisch; siehe z.B. Husserliana' XV, S. 286: ,,••• der Leihkörper
hat die Eigenheit;·daß er notwendig ,immer da' ist, immerzu der Körper ist, ,in'
dem ich bin öder bei dem ,ich selbst' bin, was hier besagt: Ich, das transzendentale
Ich, mit meirien transzendentalen kinästhetisch-erscheinungsregierenden Aktivitäten
lebe hier allein in einer unmittelbaren Aktivität • ~ •".
20 'Krisis (HusserlianaVI), $; 108.
17 In der ersten Auflage. steht. noch: ,,Auf diese Frage - wie in einem denkenden
Subjekt überhaupt, äußere Anschauung, nämlich die des Raumes (einer Erfüllung
desselben Gestalt und .Bewegung) möglich sei - aber ist es keinem Menschen mög-
lich, eine Antwort zu ,finden, und man kann diese Lücke unseres Wissens niemals
ausfüllen, sondern nur dadurch bezeichnen, daß man die äußeren Erscheinungen
einem transzendentalen Gegenstande, zuschreibt, welcher die Ursache dieser Art
Vorstellungen ist, den wir aber gar nicht kennen, noch jemals einigen Begriff von
ihm bekommen werden: (A393) ,, .•. wer es auch sei, so weiß er,ebensowenig von
der absolui:eri. und inneren Ursache äußerer und körperlicher Erscheinungen wie ich
oder "jemand anderes" (A 394; nieine Hervorhebung).
18 Kritik der reinen Vernunft, B, S. 154.
29 . A. a. 0., S. 154/55.
Phänomenaler und präphänomenaler (transzendentaler) Raum 45
30 Ebenda, Anm.
31 Doch kommt die transzendentale »Räumlichkeit" in der Kantischen Bestimmung
der Subjektivität nicht wirklich zur Geltung. Ebensowenig wird bei ihm der Gedanke
einer transzendentalen (nicht phänomenalen) ,,Zeitlichkeit" voll entwickelt; auch er
ist in Ansätzen vorhanden, etwa in der These, daß wir den Begriff der Sukzession.
erst dadurch hervorbringen, daß wir „auf die Handlung Acht haben, dadurch wir
den inneren Sinn seiner Form nach bestimmen" (B 155), oder in den Ausführungen
im Schematismuskapitel über die Erzeugung der Zeit durch die sukzessive Addition
des Zählens (A 142/43; B 182). Die phänomenale Zeit und der phänomenale Raum
werden so zu „Bildern" (A 142; B 181) einer absoluten Wirklichkeit. Andererseits
spricht Kant doch Raum und Zeit jede absolute oder transzendentale Realität ab:
,,Ich kann zwar sagen: meine Vorstellungen folgen einander; aber das heißt nur:
wir sind uns ihrer als in einer Zeitfolge, d. i. nach der Form des inneren Sinnes
bewußt. Die Zeit ist darum nicht etwas an sich selbst." ,,Wenn aber ich selbst oder
ein ander Wesen mich ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit anschauen könnte, so
würden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt als Veränderungen vor-
stellen, eine Erkenntnis geben, in welcher die Vorstellung der Zeit, mithin auch der
Veränderung gar nicht vorkäme." (A 38; B 54)· Die ganze Problemati~ wird von
Kant noch dadurch verworren, daß er in der transzendentalen .i"i.sthetik Raum und
Zeit als „reine Anschauung" und damit als „reine Formen der Sinnlichkeit" bezeich-
net und sich nicht unterscheidend fragt, inwiefern diese Formen die Erscheinungs-
gegenstände und inwiefern sie die Gegenstandskonstitution betreffen. Diese not-
wendige Zweideutigkeit von konstituiertem (vorgestelltem) und konstituierendem
(vorstellendem) »Raum" (bzw. ,,Zeit") wird von ihm nicht geklärt. Im allgemeinen
denkt er wohl, wenn er von der „Form aller Erscheinungen äußerer Sinne." spricht,
an die Erscheinungsgegenstände, aber er bezeichnet· sie doch auch als „subjektive
Bedingung der Sinnlichkeit" (A 26; B 42), welche „macht, daß das Mannigfaltige
der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann" (B 34): als
„Form des Anschauens" (A 33; B 49, in bezug auf die Zeit). Dieselbe Unklarheit
besteht schon in der Dissertation von 1770, in der Kant erklärt, daß der Begriff
von Raum und Zeit nicht angeboren (connat11s), ·sondern erworben (acquisitm) s~i,
freilich nicht von der Sinnlichkeit der Objekte abstrahiert, sondern von der nach
immerwährenden Gesetzen ihr Sinnliches ordnenden Tätigkeit selbst des Geistes
(ab ipsa mentis actione, secundum perpetuas leges sensa sua coordinante), sozu-
sagen als unveränderlicher Typus, und daher anschaulich erkennbar. (Akad.-Ausg.
S. 406) Eine besondere Schwierigkeit, einen transzendentalen "Raum"begriff klar zu
fassen, liegt bei Kant noch darin, daß er die Sinnlichkeit, zu der er den Raum
rechnet, nur als "beständige Form der Rezeptivität" (Fähigkeit, affiziert zu werden)
auffaßt und daher in seine transzendentale Asthetik die Idee einer transzenden-
talen „Beweglichkeit" als Spontaneität des Subjekts nicht aufnehmen kann; ent-
sprechendes gilt auch von der Zeit. Raum und Zeit können daher in der tran~
szendentalen Asthetik nur Weisen der Affektion bedeuten. Erst in der transzenden-
talen Logik tritt unter dem Titel der Synthesis der Einbildungskraft eine. Spon-
taneität von Raum und Zeit zutage.
46 Der transzendentale Grund der Phänomenalität
In reiner Reflexion auf das Bewußtsein stoßen wir nicht bloß auf die
phänomenale Zeit und auf den präphänomenalen Raum, sondern auch
der „materielle", widerständige, kräftige Charakter der Phänomenalität
findet am Bewußtsein selbst eine transzendentale Entsprechung. Zu den
rein reflektierten Tätigkeiten gehört auch ein energisches Eingreifen in
ein widerständiges, bis zur Ohnmacht und Vernichtung bedrohliches
Umfeld, ein energisches, zur Selbsterhaltung notwendiges Beherrschen
dieses Umfeldes, ein energisches Aufzehren und Einverleiben (Essen)
von Waren daraus, andererseits aber auch ein energisches Hervorbringen
von phänomenalen Gebilden, etwa von Lauten im Schreien und Singen.
Dieses energische, ,,materielle" Tun bringt das phänomenale Umfeld in
seiner Realität oder Materialität zur Erscheinung, und diese Kraft des
Tuns hat als Bedingung der Möglichkeit der phänomenalen Energie
transzendentalen Charakter. Diese transzendentale Kraft oder Materia-
lität kann man als transzendentale Leiblichkeit bezeichnen. Sie ist nicht
der Leib in seiner sinnlichen Erscheinung als phänomenale widerständige
Bewegungsgestalt (Figur), sondern die präphänomenale Leiblichkeit des
in reiner Reflexion erfaßten Tuns. Eine Analyse dieses „energischen"
(und nicht bloß „zeitlichen" und „räumlichen") Charakters präphäno-
menalen Tuns würde hier zu weit führen.
Welches ist nun aber das Verhältnis zwischen phänomenaler und prä-
phänomenaler Leiblichkeit, zwischen phänomenaler und präphänomena-
ler raumzeitlicher Bewegung? Haben wir es hier mit inkommensurablen
Formen von zwei verschiedenen „Welten", der äußeren Welt der res
extensa und der inneren Welt der res cogitans, zu tun? Offensichtlich
nicht.
Phänomenale und transzendentale Leiblichkeit und Bewegung sind
in ihrer Wesensverschiedenheit äquivalent. Das phänomenale Außerein-
48 Der transzendentale Grund der Phänomenalität
88Auch im Spiegel komme ich für mich selbst nicht zur vollen (all mein transzen-
dental-leibliches Fungieren darstellen4en) und wirklichen Erscheinung: Ich sehe m~ch
im Spiegel nur, wie ich in den Spiegel gudte. Unmittelbar-sinnlich sehe ich mich
- im Spiegel als einen (phänomenalen) Fremden und nicht als mich selbst, Die
Identifikation kommt im mittelbaren Illusionsbewußtsein (im Bewußtsein, daß mich
meine unmittelbare Wahrnehmung. täuscht) zustande, wodurch die Erscheinung ihre
(phänomenale) Wirklichkeit verliert: das phänomenale Feld im Spiegel mit all
seinen Erscheinungen (darunter die Erscheinung meiner selbst) ist kein wirkliches,
in das ich eingreifen· oder eingehen kann, sondern ein illusionäres,
50 Der transzendentale Grund der Phänomenalität
für die Erkenntnis der Vernunft zu. Zwar erscheint die Vernunfttätig-
keit als solche im Gegensatz zur sinnlichen Tätigkeit nicht. Aber die Ver-
nunft kann in die Sinnlichkeit eingreifen (sie kultivieren), die sinnliche
Tätigkeit für sich selbst gebrauchen, in der Sinnlichkeit Werke hervor-
bringen, und daher vermögen gewisse Formen phänomenalen Verhaltens
auch der Erkenntnis der Vernunfttätigkeit etwas zu sagen. Auch in
dieser Hinsicht besteht die Möglichkeit einer transzendentalen Inter-
pretation. Aber hier genügt es nicht, einfach phänomenales Verhalten in
präphänomenales Bewußtsein zu übersetzen, sondern die Vernunfttätig-
keit, da sie selbst nicht erscheint, muß in der transzendentalen Inter-
pretation der Erscheinungen supponiert werden; das phänomenale Ver-
halten kann hier nicht als „Bild" des vernünftigen Bewußtseins auf-
gefaßt werden, sondern dieses wird von ihm nur angezeigt.
Es gibt also zwei Arten philosophischer Erkenntnis: Eine solche, die
nur auf reiner Reflexion beruht, und eine solche, die aufgrund der reinen
Reflexion die phänomenale Empirie interpretiert. Die transzendentale
Interpretation ist nur möglich aufgrund der reinen Reflexion, und zwar
aus einem doppelten Grunde: nicht nur deutet die transzendentale Inter-
pretation die empirischen Phänomene von den rein reflexiven Sachver-
halten her, sondern die rein :reflexive Erkenntnis, und nur diese, zeigt
auch, daß und inwiefern transzendentale Interpretation überhaupt mög-
lich ist, indem sie die Äquivalenz von reflexiv erfaßter sinnlicher Tätig-
keit und phänomenalem sinnlichem Verhalten aufweist. Reine Akt-
reflexion ist daher notwendig Erste Philosophie, transzendentale Inter-
pretation hingegen Zweite P hilosophie 34•
Durch die Möglichkeit der transzendentalen Interpretation der phä-
nomenalen Empirie sind der Philosophie neue Dimensionen eröffnet:
nicht nur ist dadurch das phänomenale Verhalten Anderer „konvertibel"
in fremdes reines Bewußtsein, sondern auch die Geschichte der Vernunft,
und zwar sowohl die individuelle in der Entwicklung des Kindes als
auch die Geschichte der Generationen und Kulturen können dadurch
philosophisches Verständnis gewinnen.
Zum Abschluß dieser ersten Etappe (ersten Abschnittes) möchte ich
noch bemerken: Der Leser wird sich über den bisherigen Gang der
Überlegungen wohl gewundert haben: Wir gingen von der Vorausset-
zung aus, daß die Vernunfttätigkeit, die die Philosophie zu erkennen
strebt, nicht erscheint, und sahen uns daher zu einer philosophischen
3·1 über das Verhältnis von Erster und Zweiter Philosophie handelt unten§ 52.
Aktreflexion, phänomenale Erkenntnis, transzendentale Interpretation 51
nicht etwa von meinem aktuellen Hier und Jetzt, von meinem Pult aus,
an dem ich jetzt sitze und mich erinnere, sondern vom Standort vor
dem Gemsgehege aus, an dem ich mich damals wahrnehmend befand.
In der Erinnerung transzendiere ich meine raumzeitliche Wahrneh-
mungsgegenwart (meine konkrete sinnliche „Weltperspektive"), ich ver-
setze mich gewissermaßen aus meiner gegenwärtigen Situation in die
vergegenwärtigte Situation, ich entgegenwärtige mich, indem ich ver-
gegenwärtige. In der notwendigen Allgemeinheit gilt dieses Verhältnis
von jedem anderes Bewußtsein vermittelnden Bewußtsein, also vom Ver-
stand überhaupt: jedes Bewußtsein von Bewußtsein kann als Vergegen-
wärtigung-Entgegenwärtigung (Entgegenwärtigung in der Vergegenwär-
tigung oder Vergegenwärtigung durch Entgegenwärtigung, was ein und
dasselbe ist) gekennzeichnet werden. Der Verstand geht über die unmit-
telbare Bewußtseinsgegenwart hinaus, indem er anderes Bewußtsein
,,spiegelt".
vorzustellen, schließe ich evtl. sogar die Augen. Lasse ich mir nun aber
meine sinnliche Gegenwart anschaulich werden, gucke ich auf Tisch,
Bücher, Lampe usw., so „verschwindet" die erinnerte Gemse „im Dun-
kel". Die beiden Anschauungen befinden sich also in einem gegenseitigen
Widerstreit; nur eine kann voll bestehen; je mehr die andere durch-
schimmert, desto mehr wird die erste von ihr ins Dunkel zurückgedrängt
und schließlich, wenn diese ganz klar geworden ist, völlig verdeckt.
Aufgrund dieser notwendigen gegenseitigen Verdeckung sinnlicher An-
schauungen (unmittelbarer und reflektierter) ist es auch nicht nur un-
möglich, ein Raumding von mehreren Seiten zugleich unmittelbar sinn-
lich anzuschauen, sondern auch, es sich in eins von mehreren Seiten
anschaulich zu vergegenwärtigen. Ich kann mir in der Vergegenwärti-
gung die Rückseite des vor mir stehenden Briefständers veranschaulichen,
sei es in einer Erinnerung an die zuvor wahrgenommene Rückseite, sei
es in einem Möglichkeitsbewußtsein (in der „Spiegelung" der Wahr-
nehmung, die ich hätte, wenn ich den Briefständer drehen würde) oder
in der Vergegenwärtigung der Wahrnehmung eines Zimmergenossen, der
nun auf die Rückseite dieses Dinges blickt, aber ich kann nie durch Ver-
gegenwärtigung zugleich mehrere Perspektiven voll anschaulich machen;
eine anschauliche Perspektive verdeckt immerzu die andere.
Obschon der Verstand den aktuellen Umfang der sinnlichen An-
schaulichkeit nicht erweitert, sondern durch jede anschauliche Spiegelung
sozusagen den verfügbaren „Raum" sinnlicher Anschauung besetzt, ist
er als solcher nicht, wie Kant dachte, schlechthin „leer'', so daß alle
Anschauung nur in der Sinnlichkeit läge. Die durch den Verstand „ge-
spiegelte" sinnliche Anschauung besteht nicht als Sinnlichkeit schlechthin,
sondern ist ganz und gar im Medium dieser Spiegelung aufgehobene
Sinnlichkeit. Es ist daher gegenüber Kant zu sagen1, daß der Verstand
die durch die Sinnlichkeit gegebenen Anschauungen „in sich aufnimmt";
diese Aufnahme bedeutet eine durchgängige Transposition, die sich in
sich selbst als Transposition ursprünglicher Sinnlichkeit bewußt ist.
Der Verstand hat allerdings eine ihm ganz spezifische Abwesenheit
von Anschauung oder „Leere", und es ist nur der Verstand, der sich
einer eigenen aktuellen „Leere" rein als solcher, als einer Abwesenheit
der Anschauung, bewußt sein kann; und zwar noch abgesehen von
Begriffen und anderen Zeichen, die wiederum ihre besondere Leere ha-
ben können. Zwar kann mit Busserl auch in Beziehung auf die unmittel-
In der Bestimmung des Wesens des Verstandes habe ich den Gedan-
ken ausgesprochen, daß sich Identität nur durch „reflektierende Wieder-
holung" im Bewußtsein konstituiert. Das ist leicht ganz allgemein ein-
sehbar, denn einer objektiven Identität kann ich überhaupt nur im
Bewußtsein eines anderen Bewußtseins, in dieser Differenz der allgemei-
nen Reflexivität, bewußt werden. Identität ist immer Einheit in einer
Differenz. Nur indem ein Gegenstand als Gegenstand anderer Vorstel-
lungen vorgestellt wird, besteht gegenständliche Identität. Vorausset-
zung für die Identifikationsleistung des Bewußtseins von Bewußtsein ist,
daß bereits im unmittelbaren (sinnlichen) Bewußtsein perzeptive Ein-
heiten abgehoben sind, die vom mittelbaren Bewußtsein identifizierend
„ wiederholt" werden können. Aber innerhalb des unmittelbaren, bloß
sinnlichen Umfeldes gibt es noch keine Identität2 • Die Identifikation des
Objektiven in der Differenz zwischen dem „spiegelnden" und „gespie-
gelten" Bewußtsein ist mit dem mittelbaren Bewußtsein eins. Dies bedeu-
tet, daß nicht etwa zum „spiegelnden" Bewußtsein ein besonderer Akt
der beziehenden Identifizierung hinzukommen müßte, um Identität be-
wußt zu machen, obschon ein solcher besonderer Akt natürlich prinzipiell
immer dazukommen kann. Dies läßt sich wiederum an unserem Erinne-
rungsbeispiel illustrieren: Indem ich mich an jenes Gemslein erinnere,
vollziehe ich nicht eo ipso schon die besondere Vorstellung, die sich in
den Worten ausdrückt, ,,die spielende Gemse, an die ich mich jetzt
erinnere, ist dieselbe wie die damals wahrgenommene", obschon ich in
einer höheren Reflexion auf die Erinnerung selbst ein solches identifi-
zierendes Urteil, in dem die Identität, die im Erinnerungsbewußtsein
gegeben ist, als solche gemeint oder gegenständlich (thematisch) wird,
immer fällen kann. Aber in der bloßen Erinnerung ist die Identität nicht
Gegenstand einer besonderen Reflexion, sondern ich weiß in diesem ver-
mittelnden Bewußtsein unmittelbar, daß ich jetzt die spielende Gemse
erinnernd „vor Augen" habe, die ich damals wahrnahm.
Nur durch dieses identifizierende Bewußtsein von Bewußtsein kon-
stituiert sich „im" Bewußtsein und ihm „gegenüber" eine objektive Tran-
szendenz. Dies hat Husserl deutlich gemacht: ,,Gäbe es keine Wieder-
erinnerung (falls ein Bewußtseinsleben ohne sie möglich wäre), so wäre
für das Ich nur die jeweilige wahrnehmungsmäßig konstituierte Gegen-
8 Husserliana XI, S. 326/27 (1920/21); vgl. a. a. 0., S.110/11 (bzw. 277/78): ,.Wo
wir von einem wahren Selbst sprechen und von einer Vorstellung, die sich end-
gültig bewährt, da greifen wir über das momentane Bewußtsein durch Wieder-
erinnerungen hinaus, in denen wir wiederholt auf dieselbe Vorstellung zurück-
kommen . und auf ihren selbigen vermeinten Gegenstand; und in denen wir uns
andererseits des bewährenden Selbst als eines identischen und undurchsireichbaren
wiederholt versichern ·können und evtl. versichern:. Das momentane Erleben z. B.
eines immanenten Empfindungsdatums, das wir in seinem gegenwärtigen Werden
erschauen, haben wir freilich in uridurchstreichbarer Gewißheit. Aber das Seiende,
das wir damit erfassen, ist als an sich seiend nur gemeint, wenn wir es nicht nur
als momentanes Datum im Modus Gegenwart nehmen, sondern als das identische
dabile, das in beliebig wiederholten Wiedererinnerungen gegeben sein könnte •••
Jede Rede von Gegenständen führt so auf Wiedererinnerungen zurück."
' Gegenstand ist hier noch nicht kategoriales Subjekt, Gegenstand der Prädikation.
1. Husserliana III, S. 398 (1929).
64 Der Verstand
Erlebnissen erlebt wird, kann er nicht reeller Teil eines Erlebnisses sein,
sondern ist gegenüber diesen Erlebnissen „an sich". Die hier spielende,
diese Transzendenz ausmachende Identität ist noch keine reale Identität
im Sinne des zeitlichen Verharrens eines Gegenstandes, sondern selbst
nicht zeitlich ausgedehnt und in diesem Sinne ideal zu nennen. Die in
Frage stehende Transzendenz ist also auch noch nicht die reale Tran-
szendenz der an sich seienden dauernden Individuen, der Dinge und
Personen, die mir gelten als raumzeitlich existierend, ob ich sie nun
wahrnehme oder nicht. Um wiederum in jenem Beispiel der Erinnerung
an die spielende Gemse zu sprechen, so meint die in diesem vermittelnden
Bewußtsein geltend gemachte Identität ja nicht, daß die kleine Gemse,
die ich damals wahrnahm, bis zum jetzigen Zeitpunkt der Erinnerung im
Tierpark real dieselbe geblieben ist (das könnte ich allerdings auch
meinen, aber das meine ich nicht in dieser Erinnerung), sie meint kein
reales „Verharren" des Gemsleins durch die vergangenen Tage hindurch,
sondern sie ist Identität eines wahrgenommenen Geschehnisses (jener
Kapriolen der Gemse), das als dasselbe jetzt erinnert ist und immer wie-
der erinnert werden kann. Obschon Identität eines realen Geschehnisses,
ist sie als Identität nichts Reales: das wahrgenommene und erinnerte
Geschehnis dauerte damals real eine Weile, aber seine Identität als
solche in der Erinnerung dauert schlechterdings nicht. Die Identität realer
Geschehnisse in ihrem Verhältnis zueinander macht ihre „unveränder-
liche" Stelle in der objektiven Zeit aus: Die objektive Zeit ist die ideale
Ordnung nach Sukzession und Gleichzeitigkeit solcher im Vergegen-
wärtigungsbewußtsein konstituierten und konstituierbaren identischen
Geschehnisse6•
Die durch das mittelbare Bewußtsein als solches konstituierte ideale
Identität bildet einen prinzipiellen Seinsbegriff: Was ist, ist das Iden-
tische. Dieses als ideale Identität ist das, was im allgemeinsten Sinn
„an sich" ist: es ist das eine und feste Sein gegenüber dem mannigfaltigen
wechselnden Bewußtsein, die Objektivität gegeniiber der Subjektivität.
Sein in diesem Sinne besteht nicht erst in der Aussage, sondern liegt in
jedem mittelbaren Bewußtsein. Nach diesem Seinsbegriff ist auch ein
Vergangenes und Künftiges, ein Fiktives (bloß Phantasiertes ), ein Mög-
liches, Fragliches, Nichtiges oder in seiner Existenz Dahingestelltes (bloß
Vorgestelltes), sofern es nur ein Identisches im Bewußtsein anderen
Bewußtseins ist. Dieser Seinsbegriff liegt allen anderen Seinsbegriffen
kann mich an die Gemse erinnern, ohne dabei mein Wahrnehmen gegen~
ständlich zu beachten, obschon dieses Wahrnehmen notwendig in der
Erinnerung gespiegelt ist. Demgegenüber ist das Ich immer nur als „ich
tat" (oder „ich werde tun", ,,ich würde tun" etc.) und kann nicht wie
der Gegenstand für sich (sozusagen als bloßes Ich) betrachtet werden.
Aber ein wichtigerer Unterschied ist noch dieser: Das Ich kann nie zum.
Gegenstand gemacht werden, auch nicht wie ein Akt in der reinen
Reflexion. Denn das Ich „umfaßt" als Einheit immer auch den aktuellen,
,,reflektierenden" Akt, der als aktueller nie Gegenstand sein kann, son-
dern nur in einem neuen Akt zu vergegenständlichen ist, der dann aber
seinerseits notwendig ungegenständlich bleibt. Das Ich hat in seiner Ein-
heit immer auch die Aktualität und ist daher immer auch „diesseits"
des vergegenständlichenden Meinens.
Das mittelbare Bewußtsein, dessen subjektive Einheit das Ich ist,
vollzieht sich beständig im Ausgang von der Unmittelbarkeit: als Hin-
austreten (Transzendenz) aus der sinnlich-,,leiblichen" Gegenwart. Diese
Gegenwart ist in sich selbst zwar ichlos, als beständiges Fundament der
Vergegenwärtigung liegt sie aber notwendig dem Ich zugrunde; ich als
Ich basiere notwendig auf dem „Hier und Jetzt" der sinnlich-,,leib-
lichen" Unmittelbarkeit.
Wenn das Ich in dieser Weise als subjektive Einheit des mittelbaren
Bewußtseins ist, so müssen folgende Vorstellungen, die sich im Philo-
sophieren gerne einschleichen, vom Ich ferngehalten werden: Das Ich ist
kein phänomenaler · Bewußtseinsinhalt wie etwa ein andauernder
Schmerz, also kein andauerndes „Ichgefühl". Denn eine Empfindung
kann unabhängig von Akten betrachtet und vergegenständlicht werden,
was für das Ich nicht zutrifft. Weiter hat eine Empfindung ihre Einheit
in der kontinuierlichen Dauer, sie fängt an und hört auf, und was dann
nach einer Zeitpause neu beginnt, ist evtl. eine der vorangegangenen
Empfindung sehr ähnliche oder gar gleid1e Empfindung, aber nicht indi-
viduell dieselbe. Das Ich dagegen beginnt nicht und hört nicht auf, und
eine Zeitpause tut nichts an seiner Identität. Die Unterbrechung des
Schlafes etwa berührt die Ichheit in keiner Weise; wenn ich mich eines Er-
eignisses in meiner J<,indheit erinnere, besteht die Icheinheit, ohne daß ich
eine Kontinuität geltend machen müßte. Das Ich dauert überhaupt nicht
in der Zeit wie ein realer, verharrender Gegenstand; es ist kein in zeit-
licher Ausdehnung sich veränderndes (entwickelndes) oder sich nicht ver-
änderndes Substrat. Während ein Dauerndes nicht mehr ist, wa.s es war,
bin icli unter anderem in meinem vergangenen Tun und Erleben und
Das „Subjekt" des Verstandes 67
§ 22 Verstandesformen
denken, dieser Gedanke hat sehr weite, bis in die griechische Philosophie
reichende Wurzeln, denen ich später noch etwas nachgehen möchte10 • Die
bestimmteste, und uns heute am stärksten prägende Gestalt hat dieser
Gedanke wohl durch Kant erfahren. Nach Kant ist der Verstand gegen-
über der Sinnlichkeit das Vermögen des Denkens des Gegenstandes durch
den Begriff, das „Vermögen zu urteilen". Mag damit für Kant auch noch
nicht die ganze Vernunft voll charakterisiert sein, so beruht doch für
ihn alle Vernunft auf Urteil bzw. Begriff. Die Urteilstafel ist für ihn
die „transzendentale Tafel aller Momente des Denkens" 11, ,,die voll-
ständige Tafel reiner Verstandesfunktionen" 12. Zwar bestimmt auch
Kant den Verstand formal als „mittelbare Vorstellung", d. h. als „Vor-
stellung einer Vorstellung" 13 , aber mittelbare Vorstellung ist für ihn
eo ipso kategorial (begrifflich). Diese Identifikation des Verstandes mit
dem Vermögen zu urteilen beruht auf einer ganz bestimmten Vorstel-
lung der Funktion des Verstandes gegenüber der Sinnlichkeit: Die
Funktion der mittelbaren Vorstellung besteht nach Kant in der Einheit
der Verbindung vieler Vorstellungen, und die Vielheit ist letztlich (evtl.
vermittelt durch andere mittelbare Vorstellungen) die Vielheit der un-
mittelbaren Vorstellungen, d. h. der sinnlichen Anschauungen. Die Viel-
heit wurzelt als bloße Vielheit allein im Sinnlichen, während der Ver-
stand aufgrund der Einheit des Begriffes die Verbindung (Synthesis)
herstellt. Die reinen Verstandesbegriffe sind „bloße Formen der Ver-
knüpfung"14, .,Arten der Zusammensetzung" 15. Die Verstandestätigkeit
besteht darin, ,,die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln zu bringen und
sie dadurch in einem Bewußtsein zu vereinigen "16, sie ist nichts anderes
als die tätige Zusammensetzung der sinnlichen Mannigfaltigkeit zur
Einheit des Bewußtseins17• Die Auffassung des Verstandes als bloße
18 Die Tätigkeit des Verstandes (tmderstanding) oder des Geistes (mind) besteht nach
Locke in nichts anderem als im „Wiederholen, Vergleichen und Verbinden" (repeat,
compare, and unite) der bloß passiv durch innere oder äußere Wahrnehmung
(sensation and reflection) empfangenen einfachen „Ideen" (Essay, II, eh. 2, § 2).
Andere Formulierungen der Tätigkeit des Geistes bei Locke: ,,combine, set by one
another, separate" (II, 12, § 1); ,,repeat and join together" (§ 2); ,,repeat, add
together, unite" (§ 8).
19 Es ist darauf hinzuweisen, daß auch bei Kant der vorkategoriale Verstand manch-
mal zur Geltung kommt, wenn auch in ungeklärter, Verschiedenes vermengender
Weise. Ein besonders eindrücklicher Text befindet sich schon in der Schrift aus dem
Jahre 1762, Die falsche Spitzfindigkeit der syllogistischen Figuren. Zwar wird auch
hier erklärt, ,,daß die obere Erkenntniskraft schlechterdings nur auf dem Vermögen
zu urteilen beruhe" (Ak.-Ausg., S. 59). Aber Kant geht dann daran, ,,dem wesent-
lichen Unterschiede der vernünftigen und vernunftlosen Thiere besser nachzudenken",
und schreibt: ,,Wenn man einzusehen vermag, was denn dasjenige für eine geheime
Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird, so wird man den Knoten auflösen.
Meine jetzige Meinung geht dahin, daß diese Kraft oder Fähigkeit nichts anderes
sei als das Vermögen des inneren Sinnes, d. i. seine eigenen Vorstellungen zum
Objekte seiner Gedanken zu machen. Dieses Vermögen ist nidit aus einem anderen
abzuleii:en, es ist ein Grundvermögen im eigentlichen Verstande und kann, wie ich
dafürhalte, bloß verntinftigen Wesen eigen sein. Auf demselben aber beruht die
ganze obere Erkenntniskraft." (S. 60) Dieser Gedanke kommt unserer Bestimmung
des Verstandes als allgemeine Reflexivität (,,Spiegelung") nahe. Allerdings bleibt
er viel zu vage und wird durch die Idee. des inneren Sinnes grundsätzlidi verdorben
(vgl. unten das 1. Kapitel des III. Abschnittes).
72 Der Verstand
Ich möchte an dieser Stelle noch besonders betonen, daß hier nicht
zur Diskussion steht, ob faktisch jemals ein Vergegenwärtigungsbewußt-
sein, etwa eine Erinnerung, ohne sprachliche (begriffliche) Elemente vor-
kommt, sondern nur, ob prinzipiell eine Vergegenwärtigung ohne solche
Elemente vorkommen kann, d. h. ob ein vorkategorialer, vorbegrifflicher
Verstand wesensmöglich ist. Mag faktisch der bloße Verstand immer
mit Vernunftelementen (im engeren Sinn) verbunden sein und mag, um
ein analoges Problem zu nennen, unser sinnliches (unmittelbares) Be-
wußtsein faktisch immer zusammen mit Verstand und Vernunft einher-
gehen, die Frage ist hier nur, ob mittelbares Bewußtsein (Verstand)
notwendig auf Sprache angewiesen ist oder eine wesensmäßige Selb-
ständigkeit besitzt, also für sich selbst denkbar ist, bzw. ob Sinnlichkeit
(vgl. das nächste Kapitel) gegenüber Verstand und Vernunft ein eigenes
Wesen ausmacht.
Die folgende Darstellung verschiedener Verstandesformen (§§ 23 bis
26) kann nicht den Anspruch einer vollständigen Systematik erheben.
Die sich hier ergebenden Möglichkeiten auszuschöpfen, müßte den Ge-
genstand einer eigenen großen Untersuchung bilden. Doch versuchen wir
hier gleichwohl systematisch vorzugehen, indem wir uns streng von der
Idee der Vergegenwärtigung leiten lassen und im Ausgang von ihren
einfachsten Gestalten zu immer komplexeren, neue Momente implizie-
renden Formen fortschreiten, ohne jedoch den Rahmen des bloßen Ver-
standes, der im Gegensatz zur Vernunft die unmittelbare Gegenwart
noch nicht zur Vergegenwärtigungsfunktion kultiviert, zu überschreiten.
Ob wir dabei die in diesem Rahmen liegenden Möglichkeiten auch nur
den obersten Gattungen nach ausschöpfen, bleibe dahingestellt.
der Erinnerung „sehe ich nochmals" die Gemse), spiegelt eine komplexere
Grundform der Vergegenwärtigung, die Refiexion im prägnanteren Sinn,
das wiederholte Bewußtsein nicht mehr „gleichsinnig", nicht mehr in
gleicher Interessenrichtung, sondern in einer Umwendung oder „Um-
orientierung", indem sie ihr Interesse nicht mehr auf das richtet, worauf
das vergegenwärtigte Bewußtsein, bzw. dessen bloße Reproduktion,
thematisch achtet, sondern ihre Intention auf irgendein im vergegen-
wärtigten Bewußtsein unthematisches Moment desselben zurückbiegt.
Sie erfaßt irgendein Moment im vergegenwärtigten Bewußtsein, das
zwar in dieses Bewußtsein gehört, aber in ihm selbst nicht gegenständlich
ist. Dieser .prägnantere Reflexionsbegriff unterscheidet sich also sowohl
von der bloßen „Rückkehr" zu vergangener Tätigkeit (s. oben § 7) als
auch von der allgemeinen Reflexivität oder Spiegelung (s. oben § 16).
Da das vergegenwärtigte Bewußtsein selbst ein vergegenwärtigendes,
und ein vergegenwärtigendes verschiedenster und kompliziertester Art
sein kann (Iteration der Vergegenwärtigung!), ist auch die hier in Frage
stehende Reflexion mannigfaltiger Art. Ganz allgemein zu differenzieren
wäre etwa zwischen: 1. der Reflexion auf Erscheinungen (Aspekte, An-
sichten, Perspektiven, auch Farbenperspektiven), 2. der Reflexion auf
die Sprache (Rede, aber nicht im Sinne des Redeaktes) und logische For-
men (eine Reflexion, die sich selbst aber nicht notwendig sprachlich
artikulieren muß), 3. der Aktreflexion, 4. der Reflexion auf den unbe-
achteten Hintergrund (Umgebung, Innen- und Außenhorizont) des im
vergegenwärtigten Bewußtsein thematischen Gegenstandes, 5. der Re-
flexion· auf die unthematischen Motive der vergegenwärtigten Tätigkeit.
Allgemein könnte man diese Reflexion als oblique Wiederholung von
Bewußtsein bezeichnen. Sie „weiß" sich selbst als eine solche, indem sie
sich des Unterschiedes zwischen der Interessenrichtung des „gespiegelten"
Bewußtseins und ihrer eigenen, ,,spiegelnden" Richtung inne ist.
Die oblique Wiederholung setzt die gerade (die bloße Reproduktion)
voraus. Nur aufgrund einer bloßen Wiederholung ist diese Umwendung
in ihr möglich; nur was erst geradewegs wiederholt ist, kann in der
Vergegenwärtigung selbst diese Umwendung erfahren. Die Reflexion 1st
keine schlichte Wahrnehmung (Gegenwärtigung) innerlich vorhandener
Vorstellungen, sondern geschieht nur in einer „Spiegelung" oder Verge-
genwärtigung von Bewußtsein20• Daher ist das aktuelle (nicht „wieder-
10 Mit diesen Fragen wird sich sehr eingehend das 1. Kapitel des III. Abschnittes
auseinandersetzen.
Die modalisierende Wiederholung 75
1 Kritik der reinen Vernunft: "' .. zuerst die Sinnlichkeit isolieren" (A 22 / B 36).
„In der transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand (so wie oben in der
transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit)" (A 62 / B 87).
80 Die Sinnlichkeit
Die Sinnlichkeit zeichnet sich in der Kritik der reinen Vernunft durch
folgendes aus:
1. Sie tut nichts. Sie ist bloße Rezeptivität (Empfänglichkeit) des
Subjekts, bloße Fähigkeit der Affektion oder Modifikation (affiziert oder
modifiziert zu werden), sie ist keine Fähigkeit der Funktion. '
2. Für sich genommen ist sie bloße (empirische, d. h. auf Empfindung
beruhende, oder reine, Raum und Zeit bedingende) Mannigfaltigkeit
und bietet überhaupt keine Einheit: keinen Zusammenhang, keine Kon-
figuration, keine Gestalt, keinen Kontext, keine Kontinuität, keine Affi-
nität von Inhalten2 ; sie bietet nicht einmal eine Mannigfaltigkeit als
solche, denn um eine solche bewußt zu haben, bedürfte es schon eines
einheitlichen Bewußtseins dieser Mannigfaltigkeit8• Die Sinnlichkeit
bringt in sich nicht etwa Raum- und Zeitvorstellungen hervor, sondern
enthält dazu nur formale apriorische Voraussetzungen, denn zu solchen
Anschauungen bedarf es der Synthesis, die als Spontaneität nicht sinn-
lich ist4• Für sich genommen sind die Momente der sinnlichen Mannig-
2 A. a. 0., A 113.
3 A. a. 0., A 99, 103.
' ,,Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde (wie etwa
in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltig-
keit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich
die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung
gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und
zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Syn-
thesis bewirken kann. Diese Synthesis der Apprehension muß nun auch a priori,
d. i. in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch sind, ausgeübt werden.
Denn ohne sie würden wir weder die Vorstellungen des Raumes, noch der Zeit
a priori haben können: da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen,
welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt
werden können" (a. a. 0., A 99/100). Aber nicht nur Synthesis der Apprehension,
sondern auch Synthesis der Reproduktion, mit der jene „unzertrennlich verbunden"
(A 102) ist, ist für die Raum- und Zeitanschauung notwendig: ,, Würde ich aber die
vorhergehenden (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden Teile der Zeit oder
die nacheinander vorgestellten Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren und sie
nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine
ganze Vorstellung und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die
reinste und erste Grundvorstellung von Raum und Zeit entspringen können."
(A 102) ,.Der Raum, als Gegenstand vorgestellt ... , enthält mehr als bloße Form
der Anschauung, nämlich Zusammen/assung des mannigfaltigen nach der Form der
Sinnlichkeit Gegebenen in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der
Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vor-
stellung gibt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik zur Sinnlichkeit gezählt, um
nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis,
die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit
möglich werden, voraussetzt" (B 161 Anm.).
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 81
s A. a. 0., A 97.
o A. a. 0., A 120.
1 A. a. 0., A 95.
s A. a. 0., A 97.
0 A. a. 0., A 99.
10 A. a. 0., A 167/8; B 209/10.
11 A. a. 0., A 116; vgl. A 111 und 112.
12 A. a. 0., A 111/12, 119, 127.
82 Die Sinnlichkeit
ein Gewühle von Erscheinungen unsere Seele erfüllete" 27• Ein solches
„blindes Spiel der Vorstellungen" wäre „weniger als ein Traum" 28, es
wäre für uns „so viel als gar nichts" 29, da es nicht in die Einheit des
Verstandes, in die Identität des ursprünglichen Selbstbewußtseins (Ap-
perzeption) aufgenommen werden kann: ,,Wollen wir nun den inneren
Grund dieser Verknüpfung der Vorstellungen bis auf denjenigen Punkt
verfolgen, in welchem sie alle zusammenlaufen müssen, um darin aller-
erst Einheit der Erkenntnis zu einer möglichen Erfahrung zu bekom-
men, so müssen wir von der reinen Apperzeption anfangen. Alle An-
schauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas
an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können, sie
mögen nun direkt oder indirekt darauf einfließen ... "30 Daß die sinn-
lichen Erscheinungen, wie Kant sagt, eine Affinität haben, aufgrund
derer sie nach Regeln reproduzierbar, d. h. assoziabel sind, beruht nicht
in der Sinnlichkeit, sondern auf dem Grundsatz der Apperzeption, d. h.
auf dem Verstand 31 • ,,Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald
leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische
Gestalt verändert werden, am längsten Tag bald das Land mit Früchten,
bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Ein-
bildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung
der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekom-
men ... "32 Ohne regelmäßigen Zusammenhang oder Affinität der Er-
scheinungen „würde es auch etwas ganz Zufälliges sein, daß sich Er-
scheinungen in einen Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisse
schickten. Denn ob wir gleich das Vermögen hätten, Wahrnehmungen zu
assoziieren, so bliebe es doch an sich ganz unbestimmt und zufällig, ob
sie auch assoziabel wären; und in dem Falle, daß sie es nicht wären, so
würde eine Menge Wahrnehmungen und auch wohl eine ganze Sinnlich-
keit möglich sein, in welcher viel empirisches Bewußtsein in meinem
Gemüt anzutreffen wäre, aber getrennt ... " 33 Die „durchgängige Affi-
nität der Erscheinungen" ist aber nur durch die Gesetzmäßigkeit,
die a priori im Verstande liegt (in der transzendentalen Apper-
27 A. a. 0., A 111.
28 A. a. 0., A 112.
2~ A. a. 0., A 111.
30 A. a. 0., A 116.
31 A. a. 0., A 122.
32 A. a. 0., A 100/101.
33 A. a. 0., A 121/22.
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 85
31 A. a. 0., A 113/14.
3 .1 A. a. 0., A 1~2.
3" A. a. 0., A 78/79; B 104, A 103 ff.
37 Vgl. z.B. A 111, 124.
38 Vgl. z.B. A 116 ff., 123.
86 Die Sinnlichkeit
„für uns so viel als gar nichts" 39 , ,,also überall nichts" 40 • In diesem Sinne
ist für Kant die empirische Affinität die „bloße Folge" der transzenden-
talen Affinit~it, die nirgends anders als in der transzendentalen Apper-
zeption anzutreffen ist 41 • Kants These, daß die Identität des transzen-
dentalen Selbstbewußtseins das einzige Prinzip der Bewußtseinseinheit
(Einheit der Vorstellungen) sei, kann auch objektiv gewendet werden
und besteht dann darin, daß die Identität des transzendentalen Gegen-
standes X (das Verstandesobjekt) den einzigen einheitlichen Zusammen-
hang von Erscheinungen begründen könne: ,, ... die Einheit, welche der
Gegenstand notwendig macht, ist nichts anderes als die formale Einheit
des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellun-
gen "42. ,,Also ist das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein seiner
selbst zugleich ein Bewußtsein einer ebenso notwendigen Einheit der
Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d. i. nach Regeln, die ...
ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d. i. den Begriff von
etwas, darin die Erscheinungen notwendig zusammenhängen. " 43
Wenn die an sich nicht-intellektuelle Einbildungskraft überhaupt nur
im Hinblick auf den Verstand sich sinnvoll betätigen kann und daher
nicht einfach zur Sinnlichkeit zu rechnen ist, so ist nun aber ihre Stellung
in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als ein ursprüng-
liches Grundvermögen der Seele problematisch: Könnte sich dieses Ver-
mögen nicht doch sinnlos oder „verrückt" gebärden? Warum muß es sich
in seinen Synthesen überhaupt nach der begrifflichen Einheit richten,
wie kann es überhaupt als blindes Vermögen diese Einheit „zur Absicht
haben" 44 ? Warum muß in der Synthesis der Einbildungskraft eine
begriffliche Identität der Funktion zur Geltung kommen, die alle Syn-
thesis der empirischen Apprehension einer transzendentalen Einheit
unterwirft und den Zusammenhang dieser Synthesis nach Regeln oder
Begriffen a priori möglich macht45 ? Was macht diese Teleologie not-
wendig, ja überhaupt möglich? Die Antwort, die Kant darauf in der
ersten Auflage zur Verfügung hat, ist nicht befriedigend: ,,Alle An-
schauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas
39 A. a. 0., A 120.
40 A. a. 0., A 120.
41 A. a. 0., A 113/14, 122.
42 A. a. 0., A 105.
43 A. a. 0., A 108 (meine Hervorhebung).
41 A. a. 0., A 123.
45 Vgl. a. a. 0., A 108.
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 87
an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können ...
Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in
Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntnis jemals gehö-
ren können, bewußt, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit
aller Vorstellungen (weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen,
daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin
wenigstens müssen verknüpft sein können). Dieses Prinzip steht a priori
fest und kann das transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannig-
faltigen unserer Vorstellungen (mithin auch in der Anschauung)
heißen. " 46 Die Synthesis der Einbildungskraft muß den Verstandes-
kategorien gehorchen, weil sonst ihre Vorstellungen gar nicht in der
durchgängigen Identität des Selbstbewußtseins bewußt werden könnten,
und „ohne das Verhältnis zu einem, wenigstens möglichen Bewußtsein
(seil. Selbstbewußtsein) würde Erscheinung ... überall nichts sein" 47•
Aber dieses "überall nichts" bedeutet doch nur jenes „für uns nichts", und
jenes „für uns nichts" ist nur der Verstand. Wenn aber die Einbildungs-
kraft wirklich ein ursprüngliches Grundvermögen unserer Seele ist, ist
nicht einzusehen, warum sie nicht ohne Rücksicht auf die durchgängige
Identität des Selbstbewußtseins (des Verstandes) in sich selbst in einem
eigenen Sinne für uns ein Bewußtsein ausmachen könnte, das allerdings
nach Kant mangels eines eigenen Einheitsprinzips wirr und letztlich
sinnlos sein müßte48•
In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hilft Kant
diesen Schwierigkeiten ab. Die Einbildungskraft ist kein eigenes Grund-
vermögen der Seele mehr. Die Stellen, in denen Sinn, Einbildungskraft
und Apperzeption als drei ursprüngliche Quellen der Seele exponiert
werden49, sind weggelassen; nur im Schematismuskapitel, das unver-
ändert in die zweite Auflage übernommen ist, obschon es eigentlich gar
nicht ihrer Grundkonzeption entspricht (und daher auch von den mei-
sten Neukantianern, die sich an die zweite Auflage hielten, beiseite-
geschoben wurde), wird noch beiläufig zweimal auf diese ursprüngliche
Dreiheit verwiesen50 • Die neue Konzeption der zweiten Auflage besteht
die in sidt nicht die Identität des Bewußtseins enthalten, nämlich von der Möglidt-
keit des „vielfärbigen Selbst" ( B134).
48 A. a. 0., A 94/95, 115.
50 A 115; B 194 und A 158; B 197.
88 Die Sinnlichkeit
51 B 130/31.
52 A. a. 0., B 134/35.
53 A. a. O., B 133.
54 A. a. 0., B 135/36.
65 A. a. 0., A 107.
M A. a. 0., A 108.
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 89
67 A. a. 0., A 118.
68 A.a.0.,A 119.
611 A. a. 0., A 123.
80 A. a. 0., B 131.
et A. a. 0., B 132, 157/58.
82 „Der Verstand ist selbst nichts weiter als das Vermögen, a priori zu verbinden
und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu
bringen ••• " (B 134/35; vgl. B 144, 145, 153).
aa A. a. 0., B 152.
" A. a. 0., B 154.
90 Die Sinnlichkeit
subjektiven Einheit (dem Ich), absehen, so bleiben vom Selbst nicht ein
unorganisierter Haufen oder an sich zerstreute und einzelne, einander
ganz fremde Augenblicke, die für uns nichts sind, sondern wir haben
dann schlichtes Bewußtsein reiner konkreter Gegenwart. Die Frage nach
der Sinnlichkeit ist die Frage nac.1. dem Bestand dieses Gegenwarts-
bewußtseins: Woraus besteht reine Gegenwart, wie organisiert oder bil-
det sie sich in und aus sich selbst als einheitliches Bewußtsein?
Sinnlichkeit ist Bewußtsein. Damit ist sie schon als Aktivität (Tätig-
keit) behauptet, denn ein Bewußtsein ohne Tätigkeit ist ein Widersinn.
Wenn man sich die Sinnlichkeit ohne jede Aktivität als Inbegriff bloßer
"Empfindungsdaten" (sense-data) vorstellt, die irgendwie in den „See-
lenraum" hineingekommen sind oder auf die „Seelentafel" aufgedrückt
wurden, verfälscht man den rein reflexiv zu denkenden Sachverhalt voll-
ständig durch ein phänomenales Phantasiebild. Empfindungen sind für
uns nichts, also überhaupt nichts, wenn wir uns ihnen nicht irgendwie,
sei es auch noch so unaufmerksam, zuwenden oder uns von ihnen abwen-
den. Wird eine Empfindung so, daß wir uns überhaupt nicht mehr zu
ihr irgendwie zuwendend oder widerstrebend verhalten können, z. B.,
überwältigt uns ein Schm.erz vollständig, so fallen wir in Ohnmacht,
werden bewußtlos. Oder umgekehrt, widerstreben wir einem Schmerz
in keiner Weise mehr, so hört er überhaupt auf, als Schmerz empfunden
zu sein. Es ist durchaus sinnvoll, von der Passivität des Bewußtseins
zu sprechen (wir werden dies auch noch tun), aber auch Leiden und
Passivität enthält notwendig Aktivität.
· Was ist aber Tätigkeit, elementarste, sozusagen minimale Tätigkeit,
oder genauer, was können wir als die notwendige und ausreichende
Bedingung betrachten, um etwas als Tätigkeit ansprechen zu können?
Tätigkeit ist wesentlich ein öffnen von Zukunft, ein „Sich-bestimmen"
von der Zukunft her, ein Sich-vorausspannen, ein Vorauslangen, ein
Sich-vorhalten eines Zukunftsraumes. Dadurch unterscheidet sich die
Tätigkeit vom Geschehen,. das nur durch die Vergangenheit bestimmt ist,
etwa von einem Reflex oder einem Automatismus. Während im Ge-
schehen nur bereits Seiendes wirkt, während ein bloßes Geschehen eigent-
lich schon geschehen ist (,,les jeux sont faits"), wirkt in der Tätigkeit
noch nicht Seiendes, Zukunft. Dieses •Sich-vorhalten von Zukunft ist
nicht etwa ein bloßer Drang, ein bloßer Impuls, eine bloße Tendenzi
diese sind noch keine Tätigkeiten, sie können auch bewußtlos sein. Eihe
Kugel, die man oben auf eine schiefe Ebene legt, hat die Tendenz
hinunterzurollen; Pflanzen haben Entwicklungs-:-,. Wachstumstendenzen,
Reine konkrete Gegenwart. Begriff der Tätigkeit
69 A. a. 0., S. 186.
70 „Wenn ich so für unmittelbare Antizipation oder Induktion, die im Aufbau der
Wahrnehmung Protention heißt, unmittelbare Kraft vindiziert habe, die aus der
unmittelbaren Fülle der momentanen Wahrnehmung und Retention stammt, so habe
ich nur noch beizufügen, daß diese Kraft eine Kraft der unmittelbaren Analogi-
sierung ist" (F I 32, Sommersemester 1927, S. 152 b).
71 Httsserliana XI, S. 287.
72 ,, ••• so projizier' sich jede einheitlich konstituierte Vergangenheit, also jede ein-
heitlich abfließenae Sukzession, möge sie auch schon leer vorstellig gewesen sein, als
Erwartung in die Zukunft" (a. a. 0., S. 186). ,,Und weiter kommt nun für uns
dazu das Gesetz der analogisierenden Protention, wonach ein Analogon der
assoziativ geweckten Vergangenheit in die Gegenwart und ein Analogon des ver-
gangenen Werdens, also der vergangenen Gewordenheiren (der vergangenen Vor-
gänge), die in der entsprechenden Bewußtseinslage im Verlauf des Werdens waren,
in die Gegenwart als quasi-werdende projiziert werden. Und so entspringt in der
Gegenwart ein Bewußtsein eines Analogons eines Werdens, das aber nicht ein
Erinnerungsbewußtsein, sondern ein Analogon eines Erinnerungsbewußtseins ist;
und andererseits, so wie die Erinnerung eines vergangenen Werdens vorgerichtet
ist in bekannte, weil schon in Kenntnis gekommene Zukunft, so ist das Analogon
vorgerichtet in eine Zukunft, die zwar nicht bekannte, aber Analogon einer
bekannten ist" (a. a. 0., S. 287/88).
73 A.a.O., S.119/20, 290.
74 A. a. 0., S. 156; vgl. Husserliana X, S. 106.
Reine konkrete Gegenwart. Begriff der Tätigkeit 95
das zurück, was im stetigen Wandel der Gegenwart immer neu als
Aktuelles auftritt, so daß· dieses in seinem Inhalt und affektiven Relief
nach Vordergrund und Hintergrund protentional geprägt, aber nie
schlechthin aus der Protention abzuleiten ist.
Im stetigen Gang des sinnlichen Bewußtseins ist alles Momentan-
Aktuelle stetig im Vergehen, es ist in der unmittelbaren Gegenwart nie
»Seiendes", sondern stetig Entwerdendes, Vergehendes. Aktuelles gibt es
nur mit "Vergangenheit", die ein weiteres notwendiges Moment der
konkreten unmittelbaren Gegenwart, bzw. des sinnlichen Bewußtseins
ausmacht. Die Erhaltung (Retention) des Vergangenen als solchen in der
unmittelbaren Gegenwart hängt von der Vorausspannung der sinnlichen
Tätigkeit ab:. Das· zeitliche Versinkende ist sinnlich in dem Maße noch
lebendig oder abgehoben ( = gegenwärtig), als es „zukunftsweisend", für
das Weiterleben noch von Bedeutung ist. Das sinnliche Bewußtsein er-
hält sich .das am Leben, woraus es seine Vorausspannung orientiere.q
kann und muß; läßt dieses Sich-vorausspannen nach, so schrumpft die
noch sinnlich gegenwärtig gehaltene· Vergangenheit zusammen, sie ent-
fällt umso schneller in das „unterschiedslose Dunkel" 78. Aber wie schon
gesagt, ist dieses Erhalten des Vergangenen in der sinnlichen Gegenwart
im unmittelbaren Bewußtsein niemals eine Zuwendung zum Vergan-
genen (in diesem Sinne niemals eine Intentionalität zum Vergangenen),
sondern das Vergangene bleibt der sinnlichen Ausrichtung immer »im
Rücken".
Wir haben damit auf die notwendige Zeitstruktur des unmittelbaren
Bewußtseins oder, was dasselbe ist, der unmittelbaren Gegenwart hin-
gewiesen79. Diese Gegenwart besitzt aber nicht nur einen zeitlichen,
18 Beispiel der Abhängigkeit der Retention von der Protention: Ich liege auf dem
Sofa und will der Siesta frönen. Plötzlich brummt eine dicke Fliege im Zimmer
herum und ärgert mich. Da hält sie endlich still, beginnt jedoch kurze Zeit darauf
wieder, gegen die Fensterscheiben anzuschlagen. So mehrmals. Wenn es still wird,
erwarte ich schon im unmittelbaren Bewußtsein des vergangenen Sausens d_en Neu-
beginn des Sausens (was mein Bewußtsein natürlich wach hält). Erwarte ich das
Sausen nicht mehr, dann fällt auch· die Retention dahin - und ich schlafe, wenn
ich nichts anderem nachgehe.
19 Obschon es wohl keinen Sinn gibt, irgendeinem notwendigen Moment der sinn.;.
Heben Gegenwart, die allein konkret besteht, einen Primat zuzuschreiben, wie
Heidegger dies in Sein und Zeit bezüglich der Zukunft tut (die Zeitigung „bestimmt
sich" nach ihm „primär" aus der Zukunft, sie ist „das primäre Phänomen der
ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit" (a. a. 0., S. 329)), so macht die Vor-
ausspannung doch die notwendige Richtung der unmittelbaren Gegenwart aus und
besitzt darin ihre Auszeichnung. Aber keineswegs darf daraus auf einen Vorzug der
Zukunft überhaupt, also auch der durch Vergegenwärtigung vermittelten Zukunft
Die Unmittelbarkeit der konkreten sinnlichen Gegenwart 97
geschlossen werden. Der hier vorliegende Unterschied wird von Heidegger nicht
zur Geltung gebracht; es wird von ihm eine das unmittelbare Bewußtsein (die
Sinnlichkeit) kennzeichnende Struktur als Struktur des „Daseins" überhaupt auf-
gefaßt. Hier geht es ja nicht um graduelle Differenzen mehr oder weniger ferner
Zukunft und Vergangenheit, sondern um den prinzipiellen Unterschied des
,.Zuki11ift" und „Vergangenheit" unmittelbar in sich schließenden sinnlichen Gegen-
wartsbewußtseins und .des mittelbaren, diese ganze sinnlich\? Gegenwart transzen-
dierenden und in der Anschauung verdeckenden Vergegenwärtigungsbewußtseins,
das als Erinnerung, Erwartung, Phantasie, Einfühlung usw. eine andere (vergangene,
künftige, eingebildete, fremde usw.), entgegenwärtigte „Gegenwart", die ihrerseits
ihre eigene unmittelbare „Vergangenheit" und „Zukunft" enthält, reflektiert (,.spie-
gelt"). Die sinnliche Gegenwart ist das beständige Fundament jeder Art von
Vergegenwärtigung. In dieser Hinsicht von einem Primat der Zukunft zu sprechen,
ist jedenfalls verkehrt.
98 Die Sinnlid1keit
Klanges (aber es gibt hier nicht den objektiven Klang) wandelt sich
zeitlich, ohne je in einem Augenblick zu stehen, in kontinuierlichem
Fortgang, bzw. in ihm wandelt sich zeitlich der Klang, der noch als ver-
klungener und immer weiter verklungener unmittelbar gegenwärtig ist.
Dieser rein zeitliche Wandel affiziert den Klang in sich selbst, d. h. es
ist diesem Wandel gegenüber kein identischer Klang bewußt, der sich
nur sukzessiv in verschiedenen Zeitperspektiven darstellen würde. Es
besteht in diesem Wandel des sinnlichen Bewußtseins keine Unterschei-
dung von identischem Gegenstand und seinen verschiedenen Erschei-
nungen. Der sinnliche Klang ist in seinem Entwerden diesseits dieses
Unterschiedes des festes Sein an fester Zeitstelle objektivierenden Ver-
standes; der zeitliche Wandel gehört ganz und gar in seine sinnliche
Realität, und diese Realität ist durch und durch Wandel. Dennoch ist
dieser Klang als dieser Wandel (der nicht homogen zu sein braucht,
sondern eine sinnhaft strukturierte Kontinuität sein kann 82 ) und ohne
jegliche Identität eine unmittelbare sinnliche Einheit. Erst in einem mit-
telbaren Bewußtsein können verschiedene Bewußtseinsweisen (,,Perspek-
tiven") bewußt werden und kann ihr Gegenstand als in ihnen identi-
scher dastehen. Der Grundfehler Kants besteht hier darin, unmittelbare
Retention, in der noch keine Identität besteht, und mittelbare Repro-
duktion nicht prinzipiell zu unterscheiden83 •
Auch Busserl ist es wohl nicht gelungen, das unmittelbare Bewußt-
sein wirklich rein als solches zu fassen, auch er verfällt einer Metabasis,
indem er in dieses Bewußtsein mittelbare Verstandesstrukturen proji-
82 Z.B. von einer gewissen zeitlichen Ferne an kann »der" Klang im unmittelbaren
Bewußtsein eine ganz andere Bedeutung haben als eben zuvor.
83 Ein Ansatz zu einer Unterscheidung findet sich vielleicht in der Anthropologie, wo
Kant zwischen »dem Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und
Künftigen durch die Einbildungskraft" und der „Assoziation der Vorstellungen des
vergangenen und künftigen Zustandes des Subjekts" zu differenzieren scheint:
„Das Vermögen sich vorsetzlich das Vergangene zu vergegenwärtigen ist das
Erinnerungsvermögen und das Vermögen sich etwas als zukünftig vorzustellen das
Vorhersehungsvermögen. Beide gründen sich, sofern sie sinnlich sind, auf die
Association der Vorstellungen des vergangenen und künftigen Zustandes des Sub-
jekts mit dem gegenwärtigen, und obgleich nicht selbst Wahrnehmungen, dienen sie
zur Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit, das, was nicht mehr ist, mit
dem, was noch nicht ist, durch das, was gegenwärtig ist, in einer zusammen-
hängenden Erfahrung zu verknüpfen. Sie heißen Erinnerungs- und Divinations-
vermögen der Respicienz und Prospicienz (wenn man sich diese Ausdrücke erlauben
darf), da man sich seiner Vorstellungen als solcher, die im vergangenen oder
künftigen Zustande anzutreffen wären, bewußt ist" (a. a. 0., Ak.-Ausg., S. 182).
Doch wird diese Unterscheidung nicht prinzipiell ausgearbeitet.
100 Die Sinnlichkeit
Wir versuchen, das sinnliche Bewußtsein als die Tätigkeit der reinen
Gegenwärtigung, als Hervorbringen unmittelbarer Gegenwart zu den-
ken. Zum Wesen jeder Tätigkeit gehört es, daß sie sich in einem Spiel-
raum der Potentialität vollzieht. Sie ist eine Aktualisierung auf einem
Untergrund der Vermöglichkeit, ist eine Verwirklichung in einer bestän-
digen Offenheit des Könnens. Für die unmittelbare Tätigkeit besteht
dieser Spielraum der Potentialität in Räumlichkeiten, die ihr verschie-
07 A. a. 0., S. 332/33.
08 Ideen I, S. 199.
99 Als ich im Winter 1968/69 diesen kritischen Paragraphen schrieb, fehlte im Husserl-
Archiv in Löwen noch ein großes Bündel von· Husserlschen Manuskripten, die
Beiträge zum Zeitproblem enthalten (die sog. ,,Bernauer Manuskripte" von 1918 bis
1921 ). Inzwischen sind diese aber von Herrn Prof. Eugen Fink dem Husserl-
Archiv übergeben worden. Jedoch konnte ich in. sie noch keine genauere Einsidi.t
nehmen, so daß die hier ausgeführte Kritik aufgrund dieser Manuskripte evtl.
zu modifizieren wäre. ·
104 Die Sinnlichkeit
100 Man hat versucht, die Tiefenwahrnehmung durch den binokularen Charakter des
· Sehens zu· begründen (vgl. z. B. J; Linschoten, Strukturanalyse der binokularen
Tiefenwahrnehmung, Groningen, 1956, S. 324 ff.). Aber die Binokularität. ist nicht
die Ursache, sondern nur ein vorzügliches Mittel der Tiefenwahrnehmung; sie macht
nicht das Sehen eines Außenfeldes aus. Auch ein doppeläugiges Wesen hätte ohne
selbstdirigiertes Sehen kein erscheinendes visuelles Umfeld, ein solches hätte für, es
überhaupt keinen Sinn, während ein einäugiges Wesen sehr wohl durch sehende
Selbstbewegung ein solches Feld konstituieren könnte, sofern es über andere Mittel
verfügt, die es zu „Indizien" der Tiefe gebrauchen kann.
106 Die Sinnlichkeit
nehmen verhält sich das sinnliche Subjekt zu seinem Umfeld und nicht
zu seinem Wahrnehmen oder Empfinden, und im Empfinden verhält es
sich zu seiner Passivität und nicht zu seinem Empfinden oder Wahr-
nehmen (im eigentlichen Wortsinn gibt es keine innere Wahrnehmung,
keine innere Wahrnehmung der Tätigkeit, sondern nur Reflexion der
Tätigkeit). Wahrnehmen und Empfinden sind im sinnlichen Bewußtsein
nicht selbst empfunden oder wahrgenommen, aber das sinnliche Subjekt
ist seiner Tätigkeit inne, m. a. W., seine Tätigkeit ist eben Bewußtsein,
nicht reflektierendes, aber unmittelbares Bewußtsein102 •
Auch die Affektionen des Subjekts haben ihre Art der Räumlichkeit,
z. B. Schmerzen haben eine Stelle, eine Ausbreitung, sie können mich
durchlaufen, und das Empfinden, in dem die Passivität gelebt wird, ist
reaktive Haltung und Selbstbewegung. Aber diese Empfindungsräum-
lichkeit ist kein äußerer Bereich, keine einheitliche nach nah und fern
orientierte Ordnung des freien Verfügens, sie ist kein Zugangsraum, in
den das Subjekt von sich aus spontan eingreifen könnte. Sie ist der
phänomenale Raum, der sich in den transzendentalen dispositionellen
„Raum" des Verfügens über die eigenen Selbstbeweglichkeiten hinein
,,breit macht" und in dem das Subjekt seine Affektion in ihrer Aus-
breitung erlebt. Obschon diese Empfindungsräumlichkeit kein Teil des
Zugangsraumes ist und eine von ihm wesentlich verschiedene Struktur
besitzt (z.B. auch keine festen Distanzen und Abgrenzungen), ist sie
doch nicht ohne innere Beziehung zu ihm, und zwar aufgrund der tran-
szendentalen Selbstbeweglid1keit des Subjekts, in der als mehr oder
weniger vollkommener organischer Einheit beide phänomenalen Räum-
lichkeiten wurzeln.
102 Husserls Gebrauch des Wortes Kinästhese für das sich selbst bewegende Bewußt-
sein ist eigentlich widersinnig, denn es bedeutet ja nach seiner psychologischen
Herkunft Bewegungsempfindung. Nun wird aber die Selbstbewegung gerade nicht
empfunden. Wohl können mit der Selbstbewegung Empfindungen verbunden sein;
die Selbstbewegung kann Passivität bewirken, Druck-, Spannungs- (Lage-), Schmerz-
oder Lustempfindungen zur Folge haben. Aber dieses Empfinden ist etwas ganz
anderes als das ursprüngliche Bewußtsein der Selbstbewegung. Die Selbstbewegung
kann als solche nicht „propriorezeptorisch" empfunden werden, denn das Emp-
finden kann das Selbstbewegen vom passiven Bewegtwerden gar nicht unterscheiden.
Daß sid1 das visuelle Bild verschiebt, wenn der Augapfel mit dem Finger passiv
bewegt wird (ein Phänomen, auf das schon Helmholtz hinwies), liegt daran, daß
wir dabei kein unmittelbares Bewußtsein der Selbstbewegung haben und daher die
Verschiebung im Bilde sehen; und daß bei gewissen muskulären Augenlähmungen
das visuelle Bild plötzlich in die Gegenrichtung springt, wenn der Kranke seinen
Blick zu drehen versucht, so darum, weil der krankhafte Versuch das irrtümliche
Bewußtsein der Selbstbewegung vortäuschen kann.
Die Transzendenz in der Sinnlichkeit 109
§ 32 Sinnliche Einheiten
sich auf sie konzentrieren, mit ihr beschäftigen. Von einer Einheit kann
es in ihre Umgebung auf eine andere Einheit übergehen, nun ihr sein
,,Interesse" schenken etc.
Eine in einer sinnlichen Situation wahrgenommene Einheit ist eine
sinnhafte Einheit, sie besteht in der Einheit eines Sinnes: Als den jewei-
ligen gegenwärtigen Sinn eines im Umfeld so oder so Erscheinenden
nimmt das sinnliche Subjekt für sich das wahr, was in seiner Situation
dieses so oder so Erscheinende unmittelbar zu tun ermöglicht oder
nötigt. Eine sinnlich wahrgenommene Sinneseinheit ist ein unmittelbar
motivierter einheitlicher „Entwurf" möglicher oder nötiger Tätigkeit in
der reinen Gegenwart. Die Einheit eines im sinnlichen Umfeld so oder so
Erscheinenden beruht also auf unmittelbarer Einheit sinnlicher Tätigkeit.
In dieser Einheit des so oder so Erscheinenden bzw. der ihm ent-
sprechenden sinnlichen Tätigkeit ist zu unterscheiden zwischen dem
vitalen oder zentralen Sinn, der den tendenziellen Kern des Gesamt-
sinnes der Einheit ausmacht, und diesem Gesamtsinn selbst, der außer
seinem vitalen oder zentralen Sinn auch noch die jeweilige Erscheinung
(erscheinungsmäßige Gegebenheitsweise) dieses Sinnes umfaßt. Der vitale
oder zentrale Sinn ist der Sinn, der sich in der Selbstgegebenheit des
,,Dinges" odet der Sinneseinheit realisiert: z.B. die Speise im Verspeisen,
der Feind im Kämpfen, überwinden oder Fliehen usw. Wo nun aber
dieser vitale Sinn nicht in der Selbstgegebenheit des „Dinges" verwirk-
licht wird, sondern das „Ding" durch Erscheinung gegeben ist, macht
diese Erscheinung selbst ein Sinnesmoment aus. Ein feiner Apfel im
Abbeißen und Kauen und ein Apfel weit oben auf dem Baum haben
nicht den·selben Gesamtsinn, wenn sie auch in ihrem vitalen Zentralsinn
zur Deckung gebracht werden können. Der Gesamtsinn, sofern er Er-
scheinung enthält, ist eine Abwandlung des Zentralsinnes. Zum Sinn des
in der Ferne erscheinenden Apfels gehört, daß ich irgendwie die Distanz
überwinden muß, um ihn zu erreichen. Also auch dieser Erscheinungssinn
ist Index einheitlicher vermöglicher Tätigkeit. Diese sinnlid1e Tätigkeit
ist aber eine Tätigkeit des wahrnehmenden sich Annäherns und zur
Gegebenheit Bringens des Zentral- oder Vitalsinnes, während die Tätig-
keit, in der sid1 der Zentralsinn realisiert, die Befriedigung eines vitalen
sinnlichen Bedürfnisses oder Triebes ausmacht. Die globale Sinneseinheit,
das so oder so Erscheinende, ist in ihrem Vitalsinn zentriert, sie ist ten-
denziell auf ihren Zentralsinn ausgerichtet. In der Selbstgegebenheit des
,,Dinges" fällt der Gesamtsinn mit dem Zentralsinn zusammen; im Ver-
J speisen ist die Speise nichts anderes als Speise. In dieser Weise spiegelt
Sinnliche Einheiten 115
selbst „vor" sich im Bereich seines Könnens. Es stellt sich selbst nicht
als an irgendeiner Stelle des Zugangsraumes seiend vor, denn dazu müßte
es den „Ort", an dem es sich gerade befindet, als denselben von einem
anderen Orte aus (sich „im Geiste" dorthin versetzend) vergegenwärti-
gen, oder es müßte sich vergegenwärtigend vorstellen, daß es sich an
irgendeiner Stelle des jetzt vor ihm liegenden Zugangsraumes befinden
würde. Das sind aber mittelbare, ,,übersinnliche" Bewußtseinsweisen.
Weiter bedeutet die anidentische Struktur des sinnlichen Zugangs-
raumes auch, daß es in ihm genau genommen kein Hier oder Dort im
Sinne eines Dies gibt. In diesen „Demonstrativa" liegt bereits Objekti-
vität, sie konstituieren sich im Zeigen, das kein bloß sinnliches Tun ist.
(Sie brauchen hier aber auch noch nicht als kategoriale Momente, als
Subjektsetzungen für Prädikationen oder als Adverbien verstanden zu
werden.) Im Zeigen meine ich hinweisend im mittelbaren Bewußtsein
einer bestimmten Orientierung (einer bestimmten Perspektive), und d. h.
eo ipso im mittelbaren Bewußtsein verschiedener Orientierungsmöglich-
keiten, eine identische Stelle und etabliere dadurch objektiven Raum. Ich
zeige immer nur für anderes Bewußtsein108 • Diese Feststellung erlaubt
uns eine prinzipielle Bemerkung zu Hegels Phänomenologie des Geistes,
die unsere eigene Absicht verdeutlichen kann.
Bekanntlich läßt Hegel gleich am Anfang seiner Phänomenologie die
sinnliche Gewißheit durch das Zeigen aus der Unmittelbarkeit heraus-
tos Es sei hier auf den berühmten Aufsatz von Kurt Goldstein, »Über Zeigen und
Greifen" (Nervenarzt 4 (1931), S. 453 ff., neu herausgegeben in Selected Papers,
Nijhoff, Den Haag, S. 263 ff.) hingewiesen. Dieser Aufsatz wurde in der phäno-
menologischen Literatur (Merleau-Ponty, Buytendijk, Linschoten) immer wieder
zitiert und erörtert, aber der von Goldstein darin festgehaltene prinzipielle Unter-
schied von Greifen und Zeigen wurde doch nirgends hinreichend, nämlich als
Differenz unmittelbaren und mittelbaren Bewußtseins, interpretiert, obschon die
Erklärungen Goldsteins auf diese Differenz hindrängen: ,,Der Ausdruck dieser
Grundstörung ,seil. der sog. Seelenblindheit, . . . ist das Fehlen eines dem Sub-
jekt gegenüberstehenden objektiven Raumes. Ein solcher Raum ist notwendig, damit
überhaupt die Einstellung auf Zeigen zustande kommen kann. Nur in einem sol-
chen gibt es Stellen, auf die man zeigen kann . . . Der Seelenblinde kann nicht
zeigen, weil er einen solchen Raum und solche ihm gegenüberstehende Raumstellen
nicht hat. Zum Greifen ist ein solcher Raum offenbar nicht notwendig ... Führen
wir die Analyse weiter, so zeigt sich, daß dieses Versagen bei räumlichen Verhält-
nissen wieder nur ein Ausdruck ist der Unfähigkeit, sich überhaupt Rechenschaft zu
geben, sich gegenständlich, kategorial zu verhalten, wie wir es genannt haben, oder,
wie man es auch ausdrücken kann, aus einem Gesamtgeschehen willkürlich eine
Einzelheit herauszuheben ... Das weist darauf hin, daß es sich um eine biologisch
sd1wierige, man kann wohl sagen, schwierigste, dem Menschen eigentümliche Lei-
stung handelt." ·
120 Die Sinnlichkeit
treten. Das Aufzeigen ist nach ihm das Erfahren, daß das Dies All-
gemeines ist; es ist die Bewegung zum Allgemeinen. Offenbar kann Hegel
nur dadurch die bloße sinnliche Meinung, das Wissen des Unmittelbaren,
zur Vernunft (zur Wahrnehmung in seinem Sinn) kommen lassen, daß·
er durch das Zeigen die Vernunft bereits in die sinnliche Gewißheit
hineinlegt und diese zur dialektischen Geschichte. des Aufzeigens macht:
Hegel betrachtet also das unmittelbare oder sinnliche Bewußtsein, das
selbst weder spricht. noch zeigt, nicht in sich· selbst. 'Dagegen könnte nichts
eingewendet werden, wenn sich Hegel dies am Anfang seiner Phänome-
nologie nicht gerade ausdrücklich zur Aufgabe machte109 • Sein Vorgehen
wird aber von der idealistischen These geleitet, daß das unmittelbare,
sinnliche Bewußtsein gar keinen eigenen Bestand in sich selbst haben
kann, also kein eigenes Wesen, sondern bloßes Moment der Vernunft
ist. Wir möchten zeigen, daß diese Auffassung nicht nur die Sinnlichkeit,
sondern auch die Vernunft verfälscht.
10' "Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein
anderes sein als dasjenige, welches selbst ·unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittel-
baren oder Seienden ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu
verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern und von dem Auf-
fassen das Begreifen abzuhalten" (Ausgabe Lasson, Meiner, S. 65).
Die Einheit des sinnlichen Bewußtseins 121
111 Es besteht aber keinerlei apriorische Notwendigkeit, daß im jeweiligen Tun diese
ganze Ausrüstung des Könnens nur in jeweils verschiedener "Variation" anwesend
sei, sondern es geschieht auch, daß das sinnliche Subjekt in Panik, Faszination,
Krankheit „außer sich" gerät, daß sein unmittelbarer „Horizont" Sinnesschichten
einbüßt, bzw. daß gewisse Dimensionen oder Linien der Potentialität in einer aus
dem Gesamtgefüge des Könnens gerückten Tätigkeit abgeblendet werden. Anderer~
seits scheinen sich nach neueren tierpsychologischen Auffassungen, die wir tran-
szendental interpretieren können, sog. ,,Instinkthandlungen" je in einem besonderen,
durch eine „Stimmung" bestimmten Funktionskreis abzuspielen, in dem alles
„gleichgültig" oder sinnlos ist, was nid1t zu ihm gehört, was aber dem Tier in
anderen Funktionen etwas bedeuten kann, so daß es als Subjekt im Obergang
von einem Funktionskreis zum anderen in seinem Typus sich verändert (vgl. z.B.
N. Tinbergen, Instinkt/ehre. Vergleichende Erforschrmg angeborenen Verhaltens,
4. Aufl., Berlin und Hamburg, 1966, S. 9, 26 ff.).
Husserl im Banne des Intellektualismus 123
112 A. a. 0., A 79; B 105. In der Krisis gibt Husserl dieser Idee, die er als „große
Entdedtung" wertet, folgende Formulierung: ,, ... der doppelt fungierende Ver-
stand: der in expliziter Selbstbesinnung sich in normativen Gesetzen auslegende,
und andererseits der verborgen waltende Verstand, nämlich waltend als konsti-
tuierender Verstand für die ständig gewordene und beweglich fortwerdende Sinn-
gestalt ,anschauliche Umwelt'" (S. 106, vgl. auch S. 97).
113 Husserliana XI, S. 498; Formale und transzendentale Logik, S. 256.
114 Titel der Vorlesung vqm Wintersemester 1925/26, die sich auf Texte stützte, die
werden müssen. Wir schweifen also nicht etwa ab, sondern wir sind
schon Logiker, ohne es zu wissen. " 115 Zwar versucht Husserl auch, in
Zusammenhängen, die nicht spezifisch von Logik handeln, der transzen-
dentalen Ästhetik eine Bedeutung zu geben, die sachlich eine gewisse
Eigenständigkeit zu besitzen scheint, aber zu einem prinzipiellen Begriff
ist er nirgends gelangt116• Man kann wohl ganz allgemein von Husserls
Idee einer »transzendentalen Ästhetik" sagen, was er selbst als Rand-
115 Husserliana XI, S. 319, Anm. Schon in den Logischen Untersuchungen zählt
Husserl die schlichte Wahrnehmung als objektivierenden Akt zur weiteren Sphäre
des Logischen (a. a. 0., 1. Aufl. II, S. 478/9, 511; 2. Aufl., II/2, S. 6/7, 39).
116 Husserl gebraucht recht oft den Terminus der transzendentalen i!i.sthetik. 'nicht nur
in den großen Freiburger Logikvorlesungen (siehe Husserliana XI), in Formale und
transzendentale Logik und in den Cartesianisd1en Meditationen, sondern auch in
zahlreichen Manuskripten aus den zwanziger und dreißiger Jahren. In den Frei-
burger Logikvorlesungen gebraucht er diesen Titel zur Bezeichnung der Sphäre der
Anschauung unter Ausschluß des gesamten Bereiches des bestimmenden und prädi-
zierenden Denkens (Husserliana XI, S. 295, 362, 498). Das kann übereinstimmen
mit der Erklärung der Formalen tmd transzendentalen Logik, daß die transzen-
dentale Pi.sthetik "das eidetische Problem einer möglichen Welt überhaupt als Welt
,reiner Erfahrung', wie sie allen Wissenschaften im höheren Sinn vorangeht, behan-
delt, also die eidetische Deskription des universalen Apriori, ohne welches- in
bloßer Erfahrung und vor den kategorialen Akten • • • einheitliche Objekte nicht
erscheinen und so überhaupt Einheit einer Natur, einer Welt sich als passive
synthetische Einheit nicht konstituieren könnte" (S. 256/7). Die Bestimmung· der
ästhetischen Sphäre durch vorkategoriale Anschauung und den Begriff der Passivität
enthält aber schon insofern einen Widerspruch, als zu einer in bloßer Anschauung
(Wahrnehmung und Erinnerung) konstituierten Welt auch thetische Stellungnahmen
(Entscheidungen) des Ich gehören, die nach jenen Vorlesungen als spontane (nicht
passive) Leistungen "aus dem Rahmen einer transzendentalen Pi.sthetik heraus-
fallen" (Husserliana XI, S. 361). In den Cartesianischen Meditationen gebraucht
Husserl den Terminus der transzendentalen Asthetik für den „Komplex der auf
die primordiale Welt bezüglichen Forschungen" und stellt »die Theorie der Fremd-
erfahrung, der sogenannten Einfühlung" als „das erste diese ,transzendentale
Asthetik' übersteigende Stodcwerk" hin (S. 173). Es handelt sich hier um einen
anderen Begriff als in jenem logischen Kontext, denn die „Welt reiner Erfahrung"
impliziert als intersubjektive auch Fremderfahrung, und andererseits wird in den
Cartesianischen Meditationen die Fremderfahrung in ihrer elementarsten Gestalt
als eine assoziative Übertragung, also als passive Leistung verstanden. Einerseits
scheint es ein engerer Begriff zu sein, der dadurch, daß er an einer nicht in._ der
Fremderfahrung fundierten „einheitlich zusammenhängenden Schicht des Phänomens
Welt" orientiert ist (S. 127), eine gewisse Selbständigkeit besitzt. Andererseits ist
aber der Begriff der Primordialität in einer Weise definiert {durch den Begriff der
Originalität), daß ihm Husserl nicht nur die Erlebnisse der Fremderfahrung (das
„Bewußtsein von Fremdem") unterordnen (S. 125, 131), sondern auch _die Frage
nach spezifisch logischen Leistungen in der Primordialität stellen muß. Auf den
Begriff der Primordialität werden wir noch ausführlich zurüdczukommen haben.
Zum Begriff der transzendentalen Pi.sthetik vgl •. meine Studie H usserl und Kant
(Nijhoff, 1964), S. 253-257.
126 Die Sinnlichkeit
117 Husserliana III, Textkrit. Anm., S. 481. Diese Anmerkung stammt aus der Zeit
zwischen 1923 und 1928.
118 Cartesianische Meditationen, S. 92.
119 Ideen 1, S. 213.
120 A. a. 0., S. 266.
121 A. a. 0., S. 214 und der ganze vierte Abschnitt.
129 A. a. o., S. 213.
ua A. a. 0., S. 214 und § 153.
m Cartesianische Meditationen, S. 91.
125 A. a. 0., S. 181.
Busserl im Banne des Intellektualismus 127
126 Ebenda.
1 27 Siehe Husserliana XI, S. 64.
12 8 Vgl. Ideen I, S. 212/13. Das von Busserl hier erörterte Moment der „Hyle" kann
nach ihm auch als zur konkreten Nocse gehörig betrachtet werden, und zwar als
ein reeller Bestandteil von ihr.
12 9 Cartesianische Meditationen, S. 79.
128 Die Sinnlichkeit
Theorie, sieht130 • Sein Begriff der Intentionalität ist von diesen Begriffen
her bestimmt: ,,Jedes Erlebnis ist intentionales, sofern es als Bewußtsein
von etwas in sich einen Pol hat, d. i. mit gewissen anderen und ideell
unendlich vielen in Synthesen der Identifizierung treten kann, wobei
im Einheitsbewußtsein, bzw. Identitätsbewußtsein dieser ideelle Pol als
Identisches, aber nicht als reell Identisches, sondern als Identisches der
Meinung, des Sinnes zur Deckungseinheit kommt. " 131 „Erst die Auf-
hellung der Eigenheit der Synthesis ... macht also die bedeutsame Ent-
deckung Franz Brentanos, daß die Intentionalität der deskriptive
Grundcharakter der psychischen Phänomene sei, fruchtbar und legt die
Methode einer deskriptiven - wie transzendental-philosophischen, so
natürlich auch psychologischen - Bewußtseinslehre frei. Betrachten wir
die Grundform der Synthesis, nämlich die der Identifikation, so tritt sie
uns zunächst als allwaltende, passiv verlaufende Synthesis gegenüber in
der Form des kontinuierlichen inneren Zeitbewußtseins. "132
Jedoch im 2. Abschnitt der 6. Logischen Untersuchung stellt Busserl
Sinnlichkeit und Verstand einander gegenüber und versucht die sinnliche
Wahrnehmung als schlichten Akt gegenüber dem Verstand (den er im-
mer als kategorialen denkt) als fundiertem, synthetischem Akt zu cha-
rakterisieren. Er schreibt: ,, ... der Wahrnehmungsakt ist allzeit eine
homogene Einheit, die den Gegenstand in einfacher und unmittelbarer
Weise gegenwärtigt. Die Einheit der Wahrnehmung erwächst also nicht
durch eigene synthetische Akte, als ob nur die Fom der Synthesis durch
fundierte Akte den Partialintentionen die Einheitlichkeit der gegenständ-
lichen Beziehung verschaffen könnte. Der Artikulierung und somit auch
der aktuellen Verknüpfung bedarf es nicht. Die Wahrnehmung kommt
als schlichte Einheit, als immittelbare Verschmelzung der Partialinten-
130 „Ein Allgemeinstes bleibt aber für jederlei Bewußtsein überhaupt als Bewußtsein
von etwas. Dieses Etwas, der in ihm jeweils intentionale Gegenstand als solcher
ist bewußt als identische Einheit noetisch-noematisch wechselnder Bewußtseins-
weisen ... " (a. a. 0., S. 79).
131 Ms. F I 29 (Vorlesung „Einleitung in die Philosophie" vom WS 1922/23),
S. 11 a. In der Krisis schreibt Busserl: ,,Das eigene Sein der Intentionalität ist
nichts anderes als Sinnbildung mit Sinnbildung zusammenfungierend, in der Syn-
thesis neuen Sinn ,konstituierend'." (S. 171) Die Intentionalanalyse besteht in der
vergegenwärtigenden Explikation der in den Bewußtseinsaktualitäten implizierten
synthetisch zum Bewußtsein des identischen Gegenstandes gehörigen Potentialitäten
(Cartesianische Meditationen, S. 84/5).
131 Cartesianische Meditationen, S. 79; ich überspringe in diesem Zitat den vom
damaligen Assistenten Busserls, Eugen Fink, eingefügten Titel.
Husserl im Banne des Intellektualismus 129
tionen und ohne Hinzutritt neuer Aktintentionen zustande. " 183 „Auch
der kontinuierliche Wahrnehmungsverlauf erweist sich bei genauerer
Analyse als eine Verschmelzung von Partialakten zu Einern Akt, nicht
als ein in den Partialakten fundierter Akt. "134 Von Synthesis ist in
diesem § 47 der 6. Untersuchung nicht die Rede, wohl aber von Identi-
fizierung. Husserl erklärt, daß im kontinuierlichen Wahrnehmungsver-
lauf „Identifizierung vollzogen" (wenn auch keine Identität gemeint)
sei, ,,denn der in den verschiedenen Akten des Wahrnehmungsverlaufes
gemeinte Gegenstand ist immerfort derselbe" 135. Husserl übersieht hier,
daß für das sinnliche Bewußtsein oder im sinnlichen Bewußtsein selbst
jeweils gar nicht verschiedene Akte da sind, die in bezug auf ihren
Gegenstand einer Identifizierung bedürften, sondern nur für den den
Wahrnehmungsgang reflektierenden und in Partialakte aufteilenden Ver-
stand. Immerhin beschreibt er aber diese nach ihm in der Sinnlichkeit
geschehende „Identifizierung" in einer Weise, die ihr den Charakter
einer wirklichen Identifizierung nimmt: nämlich als „Verschmelzung
durch Deckung der Intentionen" 136. Aber dennoch vermag Husserl nicht,
den hier zur Geltung gekommenen Sachverhalt in seiner Eigenart zu
fassen. Denn im 1. Abschnitt derselben Untersuchung hatte er schon den
schlichten Wahrnehmungsverlauf in genauer Analogie zum begrifflichen
Erkenntnisprozeß als Erfüllungssynthese unter Identifikation des Ge-
genstandes aufgefaßt und aufgrund dessen beide Bewußtseinsarten der-
selben Gattung, derjenigen der objektivierenden Akte, die nach ihm
die Bewußtseinsintentionalität als solche ausmachen, zugeordnet187. So
wird für ihn auch bloße Wahrnehmung zur Synthesis und Identifika-
tion138: ,,die Wahrnehmung erfüllt sich durch die Synthesis der sach-
lichen Identität, die Sache bestätigt sich durch sich ,selbst', indem sie sich
von verschiedenen Seiten zeigt und dabei immerfort die eine und selbe
ist. "189 „Und alle derartigen Erfüllungssynthesen sind durch einen ge-
meinsamen Charakter ausgezeichnet, eben als Identifizierungen von
133 Logische Untersuchzmgen, 1. Aufl., II, S. 620 (2. Aufl., II/2, S. 148).
1a. A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 621 (2. Aufl., '11/2, S. 149).
136 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 622 (2. Aufl., II/2, S. 150).
188 Ebenda.
187 Vgl.besonders die §§ 14 und 15 (2. Aufl.: §§ 13 und 14).
188 Husserl treibt die Analogie so weit, daß er hier sogar bei der bloßen Wahrnehmung
von signitiven Komponenten (Intentionen) spricht (1. Aufl. II, S. 529, 532; vgl.
S. 562, 565; 2. Aufl. S. 57, 60, vgl. S. 90, 93).
189 A. a .•0, 1. Aufl. II, S. 528 (2. Aufl., 11/2, S. 56).
130 Die Sinnlichkeit
m A. a. 0., S. 20.
132 Die Sinnlichkeit
150 In einem Text aus den zwanziger Jahren ist diese Gleichstellung ausdrücklich voll-
zogen: ,,Die kontinuierliche Synthesis ist Synthesis der Form der Deckung - wo-
durch sich der eine Gegenstand konstituiert. Auch diskrete Synthesen können den
Charakter der Deckungs-(Identitäts-)synthesen haben wir Synthesen der Form der
wiederholten Erinnerung an dasselbe" (Ms. A VI 26, S. 147 b).
1s1 Husserliana IV, S. 19, Anm.
152 Logische Untersuchungen, 1. Aufl. II, S. 622 (2. Aufl., II/2, S. 150).
153 Ms. A VI 26, S. 147 b ff., Hzmerliana X,§ 16.
154 Cf. auch oben, S. 100, Anm. 84, und Husserliana X,§ 27.
Husscrl im Banne des Intellektualismus 133
arten und Grundformen", zu170 • In den Ideen will er sie primär an der
,,Sphäre der bloßen sinnlichen Anschauung und ihren Abwandlungen" 171 ,
in den Logikvorlesungen der zwanziger Jahre sogar an der Wahrneh-
mung immanenter Daten exemplifizieren172 • Dabei ist aber, schon auf-
grund des soeben Angeführten, ganz offensichtlich, daß Busserl diese
Struktur aus der Betrachtung nicht bloß des Verstandes überhaupt,
sondern des kategorialen Verstandes, des mit einem identischen Begriff
(identischer Bedeutung) einen identischen Gegenstand bestimmenden Ur-
teils bezieht173 •
Dies gesteht Busserl auch in aller Offenheit zu: ,,Das Noema ist
nichts weiter als die Verallgemeinerung, der Idee der Bedeutung" 174 •
Analog wie sich der kategoriale Gegenstand durch identische prädika-
tive Bedeutungen auf den identischen Gegenstand bezieht, soll sich auch
die bloße Wahrnehmung durch ihren identischen Sinn auf ihren iden-
170 Siehe z.B. den Kontext der oben zitierten Sätze aus 1921 (Husserliana XIV, S. 26)
und auch besonders deutlich in Husserliana XI S. 254/5: ,,Es muß ein Studium des
Bewußtseins in seiner reinen Immanenz möglich sein, durch welches uns verständlich
werden muß, wie das Bewußtsein in sich selbst und nach allen Grundarten und
Grundformen gegenständliche Sinngebung vollzieht • • • Es muß sich Schritt für
Schritt verstehen lassen, und in dieser reinen Immanenz, wie mannigfaltige
Bewußtseinserlebnisse zur synthetischen Einheit kommen, wie so geartete Einheit
wesensmäßig und verständlich Identität des Sinnes durchhält, wie dann wieder in
mannigfaltigem Sinn ein identischer Gegenstand als Substrat wechselnder Bestim-
mung bewußt werden .kann und so als derselbe, aber verschieden bestimmte
bewußt werden kann."
171 Ideen I, S. 267.
172 Z.B. Husserliana XI, S. 321 ff.
173 Schon der Terminus „Noema" weist auf einen intellektuellen Ursprung. v6riµct
bedeutet bei Platon wie bei Aristoteles den Gedanken, die Vorstellung, den Begriff,
im Urteil (Parmenides, 132 b; Sophistes, 237 a; IIeQt 'EQµeveta; 16 a; IIeQt ,t,uicij;
430 a 27-28). Aristoteles unterscheidet zwischen 'VOflµct-rct, q:,ctv-r&.aµct-ra und
a.taitflµct-rct entsprechend der Unterscheidung von v6riat; (voü;), q:,av-raata und
afoitl'Jat; (IIeQt ,i,uxi'j;, III, 7). Daß die sinnliche Wahrnehmung (ataitriat;) als
solche noematisch sein soll, hätte für Platon wie Aristoteles höchst widersprüchlich
geklungen.
174 Ideen III (Htmerliana V), S. 89. Ebenso in Ideen I (Husserliana III), S. 304:
„Wir blicken ausschließlich auf ,Bedeuten' und ,Bedeutung' hin. Ursprünglich haben
diese Worte nur Beziehung auf die sprachliche Sphäre, auf die des ,Ausdrückens'.
Es ist aber nahezu unvermeidlich und zugleich ein wichtiger Erkenntnisschritt, die
Bedeutung dieser Worte zu erweitern und passend zu modifizieren, wodurch sie in
gewisser Art auf die ganze noetisch-noematische Sphäre Anwendung findet: also
auf alle Akte, mögen diese nun mit ausdrückenden Akten verflochten sein oder
nicht. So haben auch wir immerfort von ,Sinn' - ein Wort, das doch im all-
gemeinen gleichwertig mit ,Bedeutung' gebraucht wird - bei allen intentionalen
Erlebnissen gesprochen ••• Es stehe, um an ein Beispiel anzuknüpfen, in der Wahr-
nehmung ein Gegenstand da, mit einem bestimmten Sinn , .. "
Husserl im Banne des Intellektualismus 137
177 Logische Untersuchungen, II, S. 74. ȟberall unterscheiden wir von dem gemeh1ten -
dem bezeichneten, abgebildeten, wahrgenommenen - Gegenstand einen in der
Erscheinung aktuell gegebenen, aber nicht gemeinten Inhalt: den Zeicheninhalt auf
der einen Seite, die imaginative und perzeptive Abschattung des Gegenstandes auf
• der anderen Seite" (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 531; 2. Aufl., II/2, S. 59).
178 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 362; 2. Aufl., II/1, S. 384.
179 Vgl.. a. a. 0., II, 1. Unters., § 23 und 6. Unters ..§ 26. Husserl macht hier auch auf
den Unterschied aufmerksam, daß zwischen Empfindungsdatum und dem auf
seinem Grunde Wahrgenommenen eine „gattungsmäßige Verwandtschaft" bestehe,
da „der Inhalt der Empfindung sozusagen ein analogisches Baumaterial .für den
Inhalt des durch sie vorgestellten Gegenstandes abgibt", während diese Entsprechung
zwischen Wortzeichen und Bedeutung nicht statthabe, Dieser Unterschied betrifft
aber nicht die Bewußtseinsstruktur (das Aktgefüge), sondern die phänomenalen
Inhalte. · ·
180 Wie schon erwähnt, spricht Husserl bereits innerhalb der schlichten, äußeren Wahr-
nehmung von signitiven Intentionen (siehe in diesem Paragraphen, Anm. 138). Hier
entschwindet ihm jeder aktmäßige Unterschied zwischen Anschauen (Intuition) und
Bedeuten (Signifikation): ,.Fragt man nun schließlich, was es macht, daß derselbe
Inhalt im Sinne derselben Materie einmal in der Weise des intuitiven, das andere
Mal in der eines signitiven Repräsentanten aufgefaßt werden kann, oder worin die
verschiedene Eigenart der Auffassungsform besteht, so vermag ich darauf eine
weiterführende Antwort nicht zu geben. Es handelt sich wohl um einen phänomeno-
logisch irreduktiblen Unterschied" (Logische Untersuchungen, 1. Aufl., II, S. 565;
2. Aufl., II/2, S. 93).
Busserl im Banne des Intellektualismus 139
der Jdeen handelt es sich immer um eine durchgeistigte Noesis, die den
Sinn eines Gegenstandes konstituiert, und „Noesis" kann hier in ur-
sprünglicher, griechischer Bedeutung als intellektueller Akt verstanden
werden, den Busserl in die schlichte, sinnliche Wahrnehmung (Aisthesis)
projiziert.
\'vas Busserl dazu brachte (abgesehen von historischen Einflüssen),
das schlichte Wahrnehmen nach demselben Schema wie das logische
Bedeuten zu denken, war nicht bloß eine gewohnheitsmäßige Fixierung
auf die im logischen Bereich (von dem Busserl ja ausging) einmal gewon-
nenen Strukturen, sondern auch seine erkenntnistheoretische Idee der
Erfüllung des leere~ Bedeutens (der leeren Begriffe) durch das An-
schauen: ,,Wir erleben es, wie in der Anschauung dasselbe Gegenständ-
liche intuitiv vergegenwärtigt ist, welches im symbolischen Akt ,bloß
gedacht' war, und daß es gerade als das so und so Bestimmte anschaulich
wird, als was es zunächst bloß gedacht (bloß bedeutet) war. Es ist nur
ein anderer Ausdruck dafür, wenn wir sagen, das intentionale Wesen des
Anschauungsaktes passe sich (mehr oder minder vollkommen) dem be-
deutungsmäßigen Wesen des ausdrückenden Aktes an. " 181 „Sicherlich
bildet nun das Verhältnis zwischen Intention und Erfüllung die Grund-
lage für die Bildung des Begriffspaares Gedanke (enger gefaßt: Begriff)
und korrespondierender Anschauung. " 182 Da das Anschauen, das primär
Wahrnehmen ist, zum Bedeuten in dieses Verhältnis der erfüllenden
Deckungs- oder Identitätssynthese treten kann, paßt es Busserl dem.
Bedeuten an und denkt es als dieselbe Form: ,,Was ... zur Übertragung
derselben Termini {nämlich „Bedeutung" und „Sinn") von der Inten-
tion auf die Erfüllung geradezu hindrängt, ist die Eigenart der Erfül-
lungseinheit, als Einheit der Identifizierung oder Deckung ... " 183 Diese
Angleichung des Anschauens an das Bedeuten wurde schon in der fünften
Logischen Untersuchung durch die Verallgemeinerung des „bedeuti{ngs-
s Logische Untersuchungen, 1. Aufl., II, S. 504; 2. Aufl., II/2, S. 32. "Das intentionale
1 1
184 „Auch der in der letzten (fünften) Untersuchung als neuer gewonnene und
besonders merkwürdige Inhaltsbegriff, der des intentionalen Wesens, entbehrte
dieser Beziehung zum logischen Gebiete nicht; denn dieselbe Reihe von Identitäten,
die uns früher zur Illustrierung der Einheit der Bedeutung gedient hatte, ergab,
passend verallgemeinert, eine .gewisse auf beliebige Akte zu beziehende Identität
als die des ,intentionalen Wesens"' (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 474; 2. Aufl., II/2, S. 2).
185 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 717 (Zusatz zu S. 286 ff.).
188 A. a. 0., . 1. Aufl., II, S. 464. In der zweiten Auflage lautet der entsprechende
Satz: ,,Die Materie sagt gleichsam, welcher Gegenstand im Akt gemeint ist und
. mit welchem Sinn er hierbei gemeint ist" (S. 499). In der sechsten Untersuchung
rekapituliert Husserl: ,,Die Materie galt. uns als dasjenige Moment des objektivie-
renden Aktes, welches macht, daß der Akt gerade diesen Gegenstand und gerade in
dieser Weise, d. h. gerade in diesen Gliederungen und Formen, mit besonderer
Beziehung gerade auf diese Bestimmtheiten und Verhältnisse vorstellt. Vorstel-
lungen von übereinstimmender Materie stellen nicht nur überhaupt denselben Gegen-
.stand vor, sondern sie meinen ihn ganz und gar als denselben, nämlich als völlig
gleich bestimmten" (1. Aufl., S. 558; 2. Aufl., S. 86).
187 „Was mir für diese Begriffsbildung ursprünglich die Richtung gab, war das Iden-
tische im Aussagen und Verstehen eines und desselben Ausdruckes, wobei der eine
den Aussageinhalt ,glauben' und der andere ihn ,dahingestellt lassen' kann, ohne
diese Identität zu stören; wobei es ferner nicht darauf ankommt, ob sich das Aus-
drücken in Anmessung an korrespondierende Anschauungen vollzieht, und über-
haupt vollziehen kann, oder nicht. Daher könnte man sogar geneigt sein (und ich
selbst habe in diesem Punkte lange geschwankt), die Bedeutung geradezu als diese
,Materie' zu definieren; was aber die Unzuträglichkeit hätte, daß z.B. in der
prädizierenden Aussage das Moment des aktuellen Behauptens von der Bedeutung
ausgeschlossen wäre (jedenfalls könnte man den Bedeutungsbegriff zunächst so
beschränken und dann zwischen qualifizierten und unqualifizierten Bedeutungen
unterscheiden)" (a. a. 0., 1. Aufl. II, S. 559; 2. Aufl. II/2, S. 87).
Husserl im Banne des Intellektualismus 141
des einfachsten mit Worten bedeutenden Aktes sein kann 194 • Entgegen
dieser fundamentalen Einsicht hört Busserl aber nicht auf, der sinn-
lichen Wahrnehmung die im Grunde genommen kategoriale Struktur
des identischen Sinnes eines identischen Gegenstandes zuzuschreiben.
Auch in der direkten Analyse der Wahrnehmung löst sich Busserl das
kategoriale noematische Schema (identischer Sinn eines identischen Ge-
genstandes) auf, aber wiederum zieht er daraus nicht die vollen Konse-
quenzen. In den Logikvorlesungen von 1920/21 erklärt er, daß sich der
Sinn der Wahrnehmung in „beständigem Wandel" befinde, und bemerkt
dazu: ,,Es ist hier zu beachten, daß wir im Sinn einer einstimmig fort-
schreitenden Wahrnehmung immerfort unterscheiden können unaufhör-
lich wechselnden Sinn und einen durchgehenden identischen Sinn. Jede
Phase der Wahrnehmung hat insofern ihren Sinn, als sie den Gegenstand
im Wie der Bestimmung der originalen Darstellung und im Wie des
Horizontes gegeben hat. Dieser Sinn ist fließend, er ist in jeder Phase
ein neuer. Aber durch diesen fließenden Sinn, durch all die Modi ,Gegen-
stand im Wie der Bestimmung' geht die Einheit des sich in stetiger
Deckung durchhaltenden, sich immer reicher bestimmenden Substrates
X ... " 195 Wie Busserl beim Begriff der Synthesis gezwungen war, eine
Synthesis anzunehmen, die keine Synthesis ist, so muß er in der schlich-
ten Wahrnehmung von einem Sinn sprechen, der nicht identischer ist.
Aber er legt doch diesem fließenden Wahrnehmungssinn wieder einen
„durchgehenden identischen Sinn" unter: ,,die Einheit des sich immer
reicher bestimmenden Substrates X, des Gegenstandes selbst, der all das
ist, als was ihn der Prozeß der Wahrnehmung und alle weiteren mög-
lichen Wahrnehmungsprozesse zur Bestimmung bringen und bringen
würden " 196 • Es ist aber deutlich, daß ein solcher durchgehender iden-
tischer so und so bestimmter Gegenstand gar nicht Sinn der unmittel-
19~ ,,Das Verhältnis zwischen ,signitiv' (Bedeutungsintention von Worten) und ,intuitiv'
gehört also nicht zu den schlichten und eigentlichen Anschauungen, sondern zu den
aus ihnen geschaffenen intellektiven Bildungen. Diese erfahren ,Ausdruck', und das
Wort paßt insofern, als die Bedeutungsakte gleichsam Gegenbild sind der intuitiv
vollzogenen intellektiven Akte, Gegenbild, nämlich Akte gleichen Sinnes, allen
\\7 endungen und Formungen des Sinnes genau folgend." Dazu noch eine Rand-
bemerkung: ,,Deutlicher: Wenn wir von dem Verhältnis zwischen Bedeutung
(Signifikation) und Intuition sprechen oder von der den leeren Bedeutungen (den
leeren signifikativen Vorstellungen) entsprechenden Anschauung, so sind niemals
schlichte Anschauungen zu verstehen, sondern in solchen fundierte intellektive
Bildungen" (ebenda).
m H11sserliana XI, S. 20.
106 Ebenda.
Husscrl im Banne des Intellektualismus 143
204 Ulrich Claesges faßt in seiner Studie Busserls Theorie der Raumkonstitution
(Nijhoff, 1965) die Kinästhese als Noesis der Dingwahrnehmung (S. 64). Mir ist
zwar kein Text bekannt, in dem Husserl die Kinästhese mit diesem Begriff belegt,
und Claesges gibt auch keinen an. Es wäre auch sehr ungereimt, die sinnliche
Selbstbeweglichkeit als voü~ zu bezeichnen. Nach Husserl leistet allerdings bereits
die Kinästhese identische Räumlichkeit mit identischen Orten (siehe z.B. Husserliana
XVI, S. 275), so daß tatsächlich bereits in Hinsicht auf sie die Unterscheidung von
reellen und irreellen Bewußtseinsmomenten vollzogen werden müßte. Aber in
Wirklichkeit leistet die bloße sinnliche Selbstbeweglichkeit keine Identität (siehe
oben § 33). Sie ist in ihrer Potentialität reell eins mit dem sinnlichen Erscheinen
des Umfeldes. Das heißt nicht, daß für das unmittelbare Bewußtsein kein Unter-
schied zwisd1en Selbstbewegung (z.B. Hingehen) und der Bewegung einer Sinnes-
einheit im Umfeld (z.B. ihre Annäherung) bestehe, das sind vielmehr sinnhaft
verschiedene Situationen des unmittelbaren Bewußtseins, sondern nur, daß in der
jeweiligen unmittelbaren Situation (Gegenwart) kein „selbstbewegliches" Bewußt-
sein unterschieden ist von einem identischen (ruhigen oder sich bewegenden) Gegen-
stand.
146 Die Sinnlichkeit
Sinn darf nicht als „Erweiterung und passende Modifikation" 205 der
logischen Bedeutung gedacht werden: Im unmittelbaren Bewußtsein
selbst liegt kein von ihm selbst unterschiedener objektiver Sinn als Prädi-
kat eines logisch-transzendenten Seins, des „transzendentalen Gegen-
standes X".
Der Unterschied von Noema und Noesis als Unterschied zwischen
irreellen (ideellen, objektiven) und reellen (erlebniszeitlich gebundenen)
Bewußtseinsmomenten hat nur Bedeutung für das mittelbare Bewußt-
sein, und zwar bezeichnet die Noesis gerade die Mittelbarkeit, die all-
gemeine Reflexivität (,,Spiegelung"): Der Sinn, der wahrgenommen war,
ist jetzt als derselbe erinnert; derselbe, der fraglos war, ist jetzt in Frage;
der bloß leer gemeint war, ist jetzt evident; oder etwas ist begrifflich
als etwas eines identischen Sinnes „wiedererkannt": Bewußtsein ist sich
anderen, wirklichen oder möglichen, eigenen und fremden, Bewußtseins
bewußt, in dem derselbe Sinn „gemeint" ist, und scheidet demnach zwi-
schen identischem objektivem Sinn und verschiedenem subjektivem Be-
wußtsein von ihm. Busserl ist vom universalen Anspruch des noetisch-
noematischen Unterschiedes als Struktur alles Bewußtseins nie losgekom-
men. Für ihn bleibt alles intentionale Leben „nichts anderes als ständige
intentionale Modifikation " 206, wobei für ihn „Modifikation" Bewußtsein
von Bewußtsein (allgemeine Reflexivität) bedeutet. Dennoch aber drang
er zu den Sachverhalten vor, die ihn an jenem universalen Anspruch
zweifeln ließen 267 ~
Immer wieder möchte ich betonen, daß hier nicht in Frage steht, ob
unser sinnliches Bewußtsein faktisch „immer schon" von intellektuellen
oder sprachlichen Momenten durchdrungen sei, sondern nur, ob solche
Momente notwendig zum Wesen unmittelbaren Bewußtseins gehören,
d. h., ob sie Bedingungen der Möglichkeit desselben ausmachen. Nur
diese Frage beantworten wir hier negativ.
begriffe.
m Ideen I, S. 256, 267.
214 A. a. 0., S. 256-59.
215 A. a. 0., § 117.
216 A. a. 0., S. 290; vgl. S. 279, 287, 289, 299.
217 A. a. 0., S. 289.
2 t 8 A. a. 0., S. 290.
148 Die Sinnlichkeit
222 Dies ist aber nicht der einzige, nicht einmal der eigentliche Sinn dieser Reduktion
(vgl. oben, § 10).
223 A. a. 0,; S. 269/70. Das abbildende Moment hat nur Sinri als Bild, als Vergegen-
wärtigung. Es ist als solches nichts Unmittelbares; Auch 'in· einem Text aus den
zwanziger Jahren illustriert Husserl die Neutralisierung· der Wahrnehmung am
mittelbaren· Bildbewußtsein: ,,Auch W ahrnehmungsmäßiges kann neutralisiert, aus
dem Modus der Positionalität in den der Phantasie- oder Neutralität erhoben wer-
. den; wie :wenn ich in einem Wahrnehmungsmäßigen mir ein anderes verbildliche,
aber nicht das, was da wahrgenommen ist, in Gewißheit oder in einer Modalität
der Gewißheit im Vollzug setze, sondern es behandle wie ein Pha.ntasiebild der
••. Kunst. Das als gegenwärtig Erscheinende ist hier nichtig, aber das geht mich nichts
an, es läßt etwas doch erscheinen, als ob es wäre, und das ist dann" eine perzeptive
Phantasie. Die absichtliche Neutralisation: das Wirkliche, als ob es nicht wäre, als
wie• ein Bild, wie in ästhetischer Betrachtung einer .Landschaft. Also es isr· eine
durch alles Bewußtsein hindurchgehende Modifikation" (Husserliana XIV, S. 440).
124 „Zu jedem setzenden Akt gehört ein möglicher nichtsetzender Akt von derselben
Materie und umgekehrt" (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 435, vgl. S. 448;- 2. Aufl., 11/1,
S. 465, vgl. S. 480). ·
.150 Die Sinnlichkeit
22 "Anstatt „die imaginative Auffassung" steht in der zweiten Auflage (1913): ,,eine
Bildauffassung".
228 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 455/6; 2. Aufl., II/1, S. 491. Die Beispiele, die Husserl in
den Logischen Untersuchungen für qualitativ modifizierte (nicht setzende) Wahr-
nehmungen gibt, sind stereoskopische Phänomene (2. Aufl., II/1, S. 491), weiter „die
mit dem Zweifel an der Wirklichkeit des Erscheinenden auftretende Illusion"
(1. Aufl., Il/1, S. 435); die 2. Auflage korrigiert bedeutsamerweise: ,,die von aller
Stellungnahme zur Wirklichkeit des Erscheinenden freigehaltene Illusion" (a. a. 0.,
II/1, S. 465). Zum Teil handelt es sich hier um falsche Charakterisierungen (ein
Illusionsbewußtsein ist nicht frei von Stellungnahme, es „negiert"), nie aber sind
diese „neutralen Wahrnehmungen" unmittelbare schlichte Wahrnehmungen, son-
dern immer mittelbares Bewußtsein. Bezeichnend ist auch die Korrektur in der
2. Aufl., II/1, S. 454, wo die qualitative Gegenüberstellung Phantasie-Wahrnehmung
(1. Aufl., II, S. 425) ersetzt wird durch die im Rahmen des mittelbaren Bewußtseins
bleibende Gegenüberstellung Phantasie-Erinnerung. Manchmal behandelt Husserl die
bloße Einbildung als qualitativ modifiziertes Gegenstück der „Wahrnehmung oder
Erinnerung" (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 452, 485; 2. Aufl., S. 13).
227 Siehe Husserliana XI, § 14 (S. 51 ff.) und Beilage IV (S. 357 ff.). Im Ms. A V 21,
S. 62 b (wohl 1920) spricht Husserl auch von der passiven Setzung in der Wahr-
nehmung.
22s A. a. 0., S. 52/53.
220 A. a. 0., S. 55.
2ao A. a. 0., S. 52, 358.
Husserl im Banne des Intellektualismus 151
schwommen, weil sie nicht prinzipiell auf den Unterschied von unmittel-
barem und mittelbarem Bewußtsein zurückgeführt wird. So vermengen
sich denn im Grunde bei ihm doch wieder passive Doxa231 und aktive
Setzung, bzw. ,,schlichtes Sein" und „bleibende (identische) Geltung",
indem sich bereits in der passiven Doxa, in den Synthesen der Einstim-
migkeit und Unstimmigkeit, ,,Seinsmodalitäten unter Erhaltung des
identischen gegenständlichen Sinrtes" 232, das „seiend", ,,möglich", ,,nich-
tig" etc., als bleibende Geltungen konstituieren sollen233 • In der Aktivi-
tät des Urteils wird bei Husserl eigentlich prinzipiell nichts anderes
geleistet, als was bereits in der Passivität der Doxa „verborgen" ist234•
So wird bei ihm auch nicht prinzipiell unterschieden zwischen dem fließen-
den Sein der bloßen sinnlichen Gegenwart und dem objektiven identi-
schen Sein als Geltung der Vernunft, wie auch korrelativ sein Begriff der
Habitualität, trotz gewisser unterscheidender Andeutungen285, zugleich
das gewohnheitsmäßige, apperzeptiv gefestigte leibliche Verfügenkön-
nen über ein typisches sinnliches Umfeld und die Entschiedenheit der
Vernunft für ein objektives Universum identischer Geltungen deckt und
diese prinzipielle Differenz verdeckt236,
d) Das Ich
231 Man könnte sich auch· fragen, ob der Gebrauch des griechischen Wortes „Doxa"
für die Positionalität der sinnlichen Wahrnehmung glücklich ist. M;a bedeutet ja
in einem allgemeinen Sinn die bloße Meinung (im Gegensatz zur eigentlichen
Erkenntnis), in einem präziseren Sinn aber die Stellungnahme, das Urteil (vgl. etwa
Platons Sophistes, 263 e; bei Aristoteles ist M;a neben jener allgemeinen Bedeutung
eine Art der {111:6].'l'j'lj.1t; De an, III, 3, 427 b). Die M;a. ist zwar µs"t« a.toi}..,asoo;,
aber •innerhalb der bloßen a.ta-fr'l'ja~; würden die Griechen wohl noch . nicht von
M;a. gesprochen haben.
232 A. a. 0., S. 52.
233 A. a. 0., S. 53.
234 Vgl. Ideen I, § 124.
235 Husserliana XI, S. 360.
238 Vgl. Cartesianische Meditationen,§§ 32 und 38.
152 Die Sinnlichkeit
237 Eine solche Zweideutigkeit könnte nodt in mandten Grundbegriffen Husserls auf-
gezeigt werden. Z.B. werden zwar einerseits Gegenwärtigung und Vergegenwärti-
gung, Impression und Reproduktion als zwei prinzipiell verschiedene Bewußtseins-
arten geschieden; während andererseits dodt wieder von den reproduktiven· Ele-
menten in dendtlichten Dingapperzeption gesprodten (Ideen II, S. 75) und erklärt
wird:· ,,Wahrnehmung kann· nur dadurdt konkrete Gegenwärtigung sein, daß sie
notwendig audt Vergegenwärtigung ist" (Husserliana XI, S. 313), sie ist ein „Mit-
einander von dahinströmenden Gegenwärtigungen und Vergegenwärtigungen"
(a., a; · 0., S. 323);' ohne daß dabei klargemacht: würde, daß ,,Vergegenwärtigung"
im Sinne der ·Retention und Protention etwas. radikal anderes ist als eigentlidte
Vergegenwärtigung im Sinne von Erinnerung oder „Vorausholung" der Zukunft.
Oder um beispielhaft einen anderen widttigen phänomenologisdten Begriff zu
nennen:.> Als das ~Thematisdte im weitesten Sinne" bezeidtnet Husserl ,den „Vorder"'
grund"!, "des sinnlichen Wahrnehmungsfeldes (a. i. 0;, S. 167) und identifiziert audt
thematisdtes Interesse mit Aufmerksamkeit (a. a. 0., S. 151). Andererseits ist ·aber
bei Husserl der Begriff des Themas bestimmt durch die kategoriale Einstellung auf
eine.,-..;Seinsregion~. bestimmter kategorialer Struktur bzw.'·· auf einen . begrifflidt.
einigeri:Sachverhalt (als syil.taktisdtes,"'polythetisdtes Gebilddsiehe Ideen I, § 122)),
ohtie · daß dabei jeweils· das ganze· thematische· Gebiet in der •Aufmerksamkeit
stehen müßte.
23 R Zur Entwicklung von Husserls Ichbegriff siehe meine Studie Husserl und Kant,
§§ 26, 32.
239 Ideen I, §§ 57, 80, 122.
240 A. a. 0., S. 195.
241 Ebenda.
Husserl im Banne des Intellektualismus 153
zeitlich, es ist Pol von Ich-Verhaltungsweisen zu Zeitlichem, es ist das Subjekt, das
sich zu Zeitlichem verhält, das die unendliche Zeit unter sich hat als Rahmen für
alle seine Themen möglichen Verhaltens" (Ms. E III 2, S. 50 (1921)). ,,Jedes cogito
mit all seinen Bestandstücken entsteht oder vergeht im Fluß der Erlebnisse. Aber
das reine Subjekt entsteht nicht und vergeht nicht" (Ideen II, S. 103). ,,Es (das
Ich) ist wandelbar in seinen Betätigungen; in seinen Aktivitäten und Passivitäten,
in seinem Angezogensein und Abgestoßcnsein usw. Aber diese Wandlungen wandeln
es selbst nicht. In sich ist es vielmehr unwandelbar" (a. a. 0., S. 104).
Husserl im Banne des Intellektualismus 155
ziges, nämlich das Ich als den Quellpunkt des Strömens auffaßt260,
andererseits aber doch wieder vom „radikal Vor-Ichlichen" 261 und vom
Ich und dem urtümlichen Strom der Zeitigung als von zwei verschiede-
nen Urgründen sprechen kann: ,,Konstitution von Seiendem verschiede-
ner Stufe, von Welten, von Zeiten hat zwei Urvoraussetzungen, zwei
Urquellen, die zeitlich gesprochen (in jeder dieser Zeitlichkeiten) immer-
fort ihr zugrundeliegen: 1. mein urtümliches Ich als fungierendes Ur-
Ich in seinen Affektionen und Aktionen, mit allen Wesensgehalten an
zugehörigen Modis, 2. mein urtümliches Nicht-Ich als urtümlicher Strom
der Zeitigung und selbst als Urform der Zeit ein Zeitfeld, das der Ur-
sachlichkeit, konstituierend. Aber beide Urgründe sind einig, untrennbar
und so für sich betrachtet abstrakt. "262
Wenn Busserl in dieser zweiten Weise von zwei Urgründen der
Konstitution spricht, könnte man versucht sein, diese Urgründe in unse-
rem Sinn als Sinnlichkeit und Verstand (Verstandes-Ich) zu interpretie-
ren. Allerdings betrachtet Husserl diese Urgründe als „einig, untrennbar
und für sich betrachtet abstrakt", während wir die prinzipiell mögliche
Selbständigkeit des Sinnlichen behaupten. Zwar hat es auch für uns
einen guten Sinn zu sagen, Bewußtseinsstrom und Verstandes-Ich seien
untrennbar. Schon in den I deen 263 spricht Husserl von der „notwendi„
gen Bezogenheit des Erlebnisstromes auf das reine Ich" und erklärt:
,,Ein reines Ich - ein ... Erlebnisstrom sind notwendige Korrelate" 264•
Dem pflichten wir völlig bei, wenn unter „Erlebnisstrom" der repro-
duktiv, in Wiedererinnerung und Vorerwartung, konstituierte Strom
zeitlicher Erlebniseinheiten verstanden wird, wie dies in den Ideen tat-
sächlich auch der Fall ist. Ein solcher durch „Wiederholung" reflektierter
Strom von Erlebnissen ist Korrelat des Verstandes-Ich. Aber dies darf
keineswegs bedeuten, daß eine Erlebnisgegenwart nicht als reine sinn-
liche Gegenwart, ohne jede Vergegenwärtigung, in sich selbst bestehen
HO ~Dieses reine Ich als Pol ist aber nichts ohne seine Akte, ohne seinen Erlebnis-
strom, ohne das lebendige Leben, das ihm selbst gleichsam entströmt" (Ms. B III 10,
S. 9 (1921)). "Das ständige Ich ständig Urquelle, identisch nicht durch ein ,Identifi-
zieren', sondern als Ureinigsein, seiend im urtümlichsten Vorsein, das daraus ent-
quellende und entquollene Fungieren ein ständiges Strömen, in der Ständigkeit
wieder jetzt, der Strom der Selbstausquellungen des Urquellpunktes des Urselbst"
(Ms. A V 5, S. 5 (Jan. 1933)).
181 Ms. E III 9, S. 90 (1932).
282 Ms. C 10, S.15 b (Sept. 1931).
283 Ideen I, S. 184.
284 A. a. 0., S. 201; ebenso Husserliana XIV, S. 23: "Ein Ich ... ist bezogen auf einen
Erlebnisstrom, dem gegenüber es auch unselbständig ist, wie auch umgekehrt." ·
156 Die Sinnlichkeit
könne, sondern aus sich selbst jederzeit einen notwendigen Bezug zum
Verstandes-Ich haben müsse. Aber auch dies behauptet Busserl. In den
Ideen tut er dies vielleicht weniger, weil sich ihm als Ich auch ein sinn-
licher Subjektbegriff unterschiebt, sondern wohl wiederum primär durch
eine Subreption im Terminus der Potentialität. Die intentionalen Erleb-
nisse, die nicht die Form des cogito (Ich denke) besitzen, faßt Busserl
hier als „Hintergrunderlebnisse" 265 des Ich, die darum selbst schon eine
Ichstruktur haben266, ,, weil sie sich in aktuelle cogitationes verwandeln
oder in· solche immanent einbeziehen lassen müssen; in Kantischer Spra-
che: ,Das Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten kön-
nen"'267. ,,Die übrigen Erlebnisse, die für die Ichaktualität das allgemeine
Milieu bilden, entbehren freilich der ausgezeichneten Ichbezogenheit. Sie
,gehören' zu ihm als ,die seinen', sie sind sein Bewußtseinshintergrund,
sein Feld der Freiheit" 268 ; sie haben „Ichzugehörigkeit, insofern sie das
Feld der Potentialität für freie Akte des Ich sind" 269 ; ,,zu ihrem Wesen
als Hintergrundakte gehört es, in lebensvolle, vom aktuellen Ich voll-
zogene Akte verwandelt werden zu können. Die Ichferne ist auch ein
subjektiver Charakter, in der Potentialität liegt die Wesensbeziehung
zur Aktualität" 270• Was bedeutet diese Umwandlung der Hintergrund-
erlebnisse in eigentlich ichliche? ,,Prinzipiell kann sich das reine Ich in
alle unvollzogenen (in einem bestimmten Sinn unbewußten, unwachen)
intentionalen Erlebnisse hineinleben, es kann den in den Hintergrund
zurückgesunkenen, nicht mehr vollzogenen Edebnissen das Licht des
wachen Bewußtseins bringenJ' 271 Abgesehen davon, daß diese Antwort
nahelegt, daß alle Hintergrunderlebnisse ursprünglich ichlich vollzogen
waren, was aber sonst nicht Husserls Auffassung ist, scheint sie zu be-
deuten, daß das Ich diese Erlebnisse prinzipiell „wiederholen", ,,reflek-
tieren'\ ,,eririnern" kann. Dieses Können, diese Potentialität in. ihrer
Wesensbeziehung zur Aktualität, liegt aber nicht in diesen Erlebnissen
(verstanden als sinnliche, unmittelbare Erlebnisse) selbst, sondern aus-
schließlich
.. ,;·
im mittelbaren
,.,
,.
Bewußtsein, im Verstandes-Ich.
: ;
Die Sinnlich-
/
keit kann zwar gespiegelt werden, aber das heißt nicht, daß sie aus sich
selbst einen notwendigen immanenten Bezug zum Ich der „Reflexivität"
besitzt, daß sie virtueller Verstand ist. Man verstehe mich richtig, ich
will nicht etwa leugnen, daß das unmittelbare Bewußtsein vom Ver-
stande geprägt sein kann, sondern es ging mir vorläufig in diesen Para-
graphen nur darum, die Sinnlichkeit gegenüber allem Intellektualismus,
der sie letztlich in nichts auflöst oder als verborgene Vernunft hinstellt
und dadurch die Vernunft selbst verfälscht, als eigene Wirklichkeit zu
behaupten. Dabei ist es der Philosophie aber nicht primär um die Sinn-
lichkeit, sondern um die Vernunft zu tun272•
Mein Freund und Kollege Konrad Eugster, Bern, hat nach Lektüre des Manuskrip-
tes dieser Arbeit kritisch bemerkt, daß auch sie in der Verwendung des Terminus
,,Bewußtsein" für die Sinnlichkeit noch im Banne des Intellektualismus stehe; ,,Bewußt-
sein", ,,conscientia" seien Begriffe, die ursprünglich Selbstbewußtsein, allgemeine
Reflexivität, also Verstand meinten. Er schlug mir vor, in der Sinnlichkeit nicht von
,,Bewußtsein", sondern von „Erleben" zu sprechen. Dieser Kritik muß ich zustimmen,
es ist' tatsächlich intellektualistische Tradition, wenn ich mit Busserl schon unmittel-
bares Wahrnehmen, Empfinden, Tätigsein mit „Bewußtsein" bezeichne, aber ich glaube,
daß dadurch sachlich noch nichts verdorben ist, wenn man nur gegen diese Tradition
die Unmittelbarkeit dieses „Bewußtseins" festhält. Es ergeben sich dann zwei Möglich-
keiten: entweder auch das Wort durch ein anderes zu ersetzen - und dazu erschiene
mir „Erleben" sehr geeignet ;.._ oder aber ihm durch die in der Kritik zur Geltung
gebrachte Sachlage einen neuen Sinn zu geben. übrigens ist auch der Erlebnisbegriff
vom Gedanken ans Intellektuelle nicht frei. Etwa bei Dilthey: ,,Das Erleben schließt
in sich .die elementaren. Denkleistungen. Ich habe dies als seine Intellektualität be-
zeichnet" (WW, Bd. VII, S. 196). .
272 Die in diesem Abschnitt d) vorgelegte Skizze der Zweideutigkeit von Husserls
Ichbegriff wurde unterdessen durch die die Genesis von Husserls Ichproblematik im
ganzen Zusammenhang seiner Philosophie freilegende Studie von Eduard Marbach,
Das Problem des Ich in der Phänomenologie Busserls (Nijhoff, Den Haag 1974),
zugleich im großen und ganzen bestätigt und wesentlich vertieft und ergänzt.
3. Kapitel
Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand:
die Vernunft (die Kultur)
liches Mittel für eine andere Tätigkeit hergestellt wird, wird in ihr über-
haupt kein Mittel hergestellt. Denn ein Mittel wird hergestellt als Mittel
für etwas anderes, und ein Mittel wird gebraucht als ein bereits vor dem
Gebrauch .Vorhandenes. Es ist sowohl der herstellenden wie der ge-
brauchenden Tätigkeit äußerlich, da es nach der herstellenden und vor
der gebrauchenden Tätigkeit besteht. Gegenüber einer ein Mittel her-
stellenden Tätigkeit schafft ein bestimmtes künstlerisches Bewußtsein
sein Werk für sich selbst (nicht verstanden als individuelles Erlebnis,
sondern als ein Bewußtsein bestimmter Art), und gegenüber einer ein
Mittel gebrauchenden Tätigkeit hat dieses Bewußtsein sein Kunstwerk
nicht als ein vor ihm Vorhandenes, sondern schafft es selbst. Es ver-
wirklicht das Kunstwerk in ihm selbst und verwirklicht sich selbst im
Kunstwerk.
Ebenso steht es mit der Sprache. Die Sprache wird im Sprechen und
Verstehen geschaffen, und für nichts anderes als für das Sprechen und
Verstehen selbst. Und vor dem Sprechen und Verstehen gibt es keine
Sprache als Erzeugnis einer andersartigen Tätigkeit.
Das Entscheidende ist also dies. Während in der sinnlichen Kultur
von der Vernunft ein sinnliches Mittel für eine andersartige Tätigkeit
(mag diese vernünftig oder bloß sinnlich sein) hergestellt wird, ver-
wirklicht sich die Vernunft in der geistigen Kultur, durch die Gestaltung
des Sinnlichen, selbst. In der sinnlichen Kultur schafft die Vernunft nur
Sinnlichkeit (mag diese dann auch als Mittel vernünftiger Tätigkeit
dienen), während in der geistigen Kultur die Vernunft durch die Gestal-
tung des Sinnlichen Vernunft (Geist) schafft. Bei der geistigen Kultur
können wir von der Institution der Vernunft in der Sinnlichkeit
sprechen.
Sinnliche und geistige Kultur haben also eine ganz verschiedene
Wirksamkeit, und das heißt eo ipso eine ganz verschiedene Wirklichkeit.
Die geistige Kultur wirkt auf die Vernunft (bewirkt Vernunft) und
wirkt deshalb auch nicht als bloß Sinnliches, obschon sie, wie alle Kultur,
auch sinnlich ist, sondern sie wirkt und ist als in der Sinnlichkeit ver-
wirklichtes Vernünftiges: eben als Geistiges, als Ideelles. Während ein
Hammer dient, wirkt und ist als dieses Sinnlich-Reale, wirkt ein Kunst-
werk nicht als dieses Sinnlich-Reale, sondern als im Sinnlichen verwirk-
lichtes Ideelles. Dies zeigt sich darin, daß es dasselbe Kunstwerk ist,
welches in seinen verschiedenen sinnlichen Ausführungen wirkt und ist,
während es in der sinnlichen Kultur nicht z. B. den einen Hammer gibt,
sondern nur dieser und jener Hammer in ihrer verschiedenen Wirksam-
Sinnliche und geistige Kultur 163
keit Wirklidikeit haben. So wird etwa der eine und selbe Roman Don
Quidiote von Cervantes in den versdiiedenen Büdiern gelesen, die eine
und selbe 9. Symphonie Bruclmers in den versdiiedenen Partituren oder
Aufführungen vernommen, die eine und selbe Iphigenie Goethes in den
versd1iedenen Theatern gespielt, das eine und selbe deutsdie Wort Baum,
der eine und selbe Lehrsatz des Pythagoras unendlidi viele Male aus-
gesprochen oder gesdirieben. In diesem Sinne spridit man angesidi.ts
eines Buchbandes von dem Don Quidiote und nidit von einem Don
Quicli.ote, von der „Fillette au cli.apeau bleu" von Renoir bei all den
versdiiedenen Reproduktionen, während man nicli.t von dem Hammer
(überhaupt), von der Füllfeder, sondern von einem Hammer, einer Füll-
feder redet, da diese Instrumente nicli.t wirken und Wirklichkeit haben
als sinnlim verwirklicli.tes Ideelles, sondern als sinnlime Realitäten.
Es gibt zwar aum die Caravelle, die Dampfmasmine, aber so sprimt
man nimt von einem wirklimen Flugzeug oder einer wirklimen Dampf-
maschine, sondern von der Idee, der Konzeption oder dem Typus dieser
Masdiinen. Diese Konzeption besitzt ihre Wirklimkeit bereits als Plan
oder Modell, mit dem man aber nimt fliegen oder etwas antreiben kann,
ja, evtl. bereits in der Phantasie des Erfinders. Als solcli.e Konzeption hat
die Caravelle eine geistig-ideelle und nimt sinnlim-reale Wirklidikeit.
In diesem Sinne sagt man etwa, bereits Leonardo da Vinci habe die
Dampfmasmine erfunden, obsmon er nie eine solme (als braucli.bare)
ausgeführt hat.
Die ideelle Wirklimeit der geistigen Kulturprodukte erweist sim
auch darin, daß sie nicht nur in der unmittelbaren Sinnlicl1keit der
Gegenwart, sondern auch in der vom Verstand wiederholten (gespiegel-
ten) Sinnlichkeit der Phantasie wirksam sein können, während man etwa
mit einem phantasierten Werkzeug gar nichts anfangen kann. Man kann
eine Theorie oder ein Gedimt (als sprachliches Gebilde) in der Phantasie
entwerfen oder betramten, ein Musikstück oder ein Bild in der Phantasie
genießen oder in der Phantasie Scham spielen. Aum in dieser „geistigen
Sinnlichkeit" (,,Sinnlicl1keit" im Verstande) können geistige Kulturpro-
dukte wirksam sein, d. h. die entsprechenden geistigen Tätigkeiten kön-
nen sim in ihnen verwirklimen.
III Im folgenden mömte im die Vernunft in einigen Formen der geisti-
II gen Kultur analysieren: im Bild, im Spiel, im Zeichen, in der Sprache als
1 besondere Art von Zeimen und in der Sittlimkeit. Es handelt sich hier
um versdiiedenartige Selbstverwirkliclrnngen oder Institutionen der Ver-
II
nunft im Sinnlimen, bzw. um versmiedenartige Formen ideeller Bedeu-
II
II
164 Die Vernunft (die Kultur)
§ 38 Bilder
bzw. der Sprache zu kennzeichnen. Man muß sich sogar schon fragen, ob
alle \Y/ erke der sogenannten bildenden Künste als Bilder in dem hier
bestimmten Sinne angesprochen werden können, ob in ihnen ein Nicht-
gegenwärtiges zur gegenwärtigen Erscheinung gelangt. Ein „Bild", das
nichts Abwesendes zur gegenwärtigen Erscheinung bringt, hat keine
„Tiefe", es sagt oder drückt nichts aus, ,,es steckt nichts dahinter", es ist
bloß dekorativ. Dennoch kann es gefallen und wird als Kunst ange-
sprochen. Aber das eigentlich Bildhafte geht in der Kunst wohl viel
weiter, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. In der sog. abstrakten
Malerei kann es durchaus vorhanden sein. Auch in der eigentlich künstle-
rischen Architektur, man denke vor allem an die sakralen Bauten, ist es
anwesend, und sogar eine Naturlandschaft wird wohl dann in einem
tieferen Sinn als schön empfunden, wenn sie im Charakter der „Epi-
phanie", der gegenwärtigen Erscheinung eines Fernen, Abwesenden, nicht
Unmittelbaren erlebt wird, wenn in ihr „Erinnerungen" und Ahnungen
wach werden, oder wenn sie als Gleichnis auftritt3•
Zu beachten sind auch die „immanenten Erinnerungen" eines Kunst-
werkes, durch die jeder seiner Teile die anderen widerspiegelt und diese,
und damit auch einen einheitlichen „Gedanken", immer wieder neu zum
Erscheinen bringt. Besonders deutlich ist dies etwa im musikalischen
„Bild", das durch „\Y/iederholungen", ,,Variationen", ,,Durchführung
des Themas", ,,thematische" und „motivische Arbeit" aller Art und auf
verschiedenen Ebenen (innerhalb der Sätze, zwischen den Sätzen) eine
sich innerlich mannigfaltig reflektierende „Verstandeswelt" ausmacht.
Auch in der Architektur und Malerei (um von der Literatur zu schwei-
gen) sind solche immanenten Vergegenwärtigungen sehr oft vorhanden.
§ 39 Spiele
3 Es ist auffallend, daß etwa in der Naturlyrik Goethes, in der die Schönheit der
Natur zur Sprache kommt, der Natur sozusagen immer Erinnerungen, Ahnungen
anhaften oder daß sie als Gleichnis dasteht. Z.B. Ganymed (1774), Auf dem Sec
(1775), Gesang der Geister über den Wassern (1779), über allen Gipfeln (1780) etc.
Spiele 167
über das Puppenspiel, das Spielen mit der Eisenbahn, das Formen von
Kuchen, Bergen, Straßen im Sandkasten, wohl überhaupt fast alle Spiele,
die Kinder spontan spielen. Aber es gibt auch Spiele dieser Art bei
Erwachsenen: Gesellschaftsspiele verschiedenster Art, aber auch spiele-
risches Verhalten im Alltag, Theaterspiele, Kultspiele4 •
Diese Spiele haben, wie die Bilder, eine Abwesendes vergegenwärti-
gende Funktion, aber doch in anderer Weise als die Bilder. Beim Spielen
gehört das Subjekt mit ins Spiel, sein Verhalten und Tun selbst übt dar-
stellende Funktion, während der Bildschöpfer oder Bildbetrachter nicht
ins Bild gehört. Dadurch aber ist das Spiel nicht wie das Bild bloß
Erscheinung, da das fungierende Tun, das Leben, obschon in ihm Ab-
wesendes zur Gegenwart kommt, für den Spielenden selbst nicht Erschei-
nung ist. Im Spiel wird das Abwesende nicht bloß phänomenale, son-
dern fungierende, lebendige Gegenwart, nicht bloß Erscheinungsgegen-
wart, sondern Aktgegenwart. Im Spiel wird nicht bloß wie im Bild
zum Scheinen gebracht, es wird verlebendigt. Das Mädchen spielt nicht
einfach nur mit Puppen, sondern es spielt dabei die Mutter, und nur
dadurch "werden" die Puppen zu Kindern. Oder im Kultspiel wird
nicht einfach mit heiligen Gegenständen hantiert, sondern die Eingeweih-
ten und ihre Handlungen gehören selbst zum heiligen Spiel. Je nach der
Art des Spieles gehört der Spieler in ganz verschiedener Weise ins Spiel,
anders ins Schachspiel etwa als in ein Indianerspiel von Buben. Für einen
Zuschauer kann das Spiel bloß Bildcharakter haben, aber das Spiel als
solches bedarf durchaus ·nicht des Zuschauers. Die Gegenwart des unbe-
teiligten Zuschauers stört vielmehr das Spiel, weil diese Gegenwart die
Vergegenwärtigungsfunktion des Spieles durchbricht.
Dies gilt sogar in gewisser Weise für das ganz besondere Spiel, das
auf den Zuschauer hin angelegt ist: das Schauspiel. Dieses Spiel wird für
das Bild oder den Schein gespielt, es hat durchaus Bildcharakter, auch für
den Spieler (den Schauspieler) selbst, der sich im Spiel immer auch »mit
' Ob wir in allen spezi:fisd,, mensd,,lid,,en Spielen eine Vergegenwärtigung dieser Art
erkennen können, bleibe hier offen. Fraglid,, sd,,eint dies besonders bei den sehr
verbreiteten Spielen, die auf dem Wege reglementierter Handlungen auf einen
Sieg (das Gewinnen, das Sm.lagen des Gegners) ausgehen und im weitesten Sinne
als Wettkämpfe bezeim.net werden können (Fußballspiel, Ringkampf, Kartenspiele,
Sm.ad,,, Mah-jong). Aber aud,, diese Spiele dürften wohl mehr oder weniger offen-
kundig einen darstellenden Charakter besitzen. In ihnen spiegeln sid,, in freier,
,,nim.tiger" Weise die ernsten sozialen Lebenskämpfe. Ohne diesen ernsten Unter-
grund, von dem sid,, die Wettspiele repräsentierend ablösen, verlören wohl diese
Spiele ihren R.eiz.
Die Vcrnurifi: (die Kultur)
fremden Augen" sieht. Dennoch geht auch das Schauspiel nicht ins Bild
auf, es befindet sich vielmehr in einer zwiespältigen Situation: Einerseits
ist es für den Zuschauer da und insofern Schaubild, andererseits aber ist
es immer auch Spiel und hat von daher die Tendenz, den Zuschauer zum
Verschwinden zu bringen: entweder in die Dunkelheit (den dunklen
Zuschauerraum) oder dadurch, daß es den Zuschauer am Spiel beteiligt,
also zum Mitspieler macht (wie dies besonders im zeitgenössischen Thea-
ter zum Teil der Fall ist und auch beim ursprünglichen Theater der Fall
war). Reines Schaubild ist das Schauspiel nur im Film, der vom Spiel
eben nur das Bild festhält.
Der zwiespältige Charakter des Schauspiels läßt sich vielleicht auch
an seinem wohl doppelten· Ursprung verdeutlichen: Es scheint sowohl
aus dem K.ultspiel, das reines Spiel und nicht Bild, also nicht für bloße
Zuschauer ist, als auch aus der begleitenden mimischen Darstellung eines
von eiriem Erzähler berichteten Geschehens, die als reines Bild für die
Zuhörer und damit auch Zuschauer fungiert, entstanden zu sein. Dieser
doppelte Charakter des Schauspiels ist besonders deutlich in den mittel,-
a!terlichen Passionsspielen, die zugleich bildliche Darstellungen des vom
„Evangelisten" berichteten Passionsgeschehens für die Zuschauer und
Mysterienspiele sind, an denen auch das Volk als Kirche oder Gemeinde
mitspielt und dadurch am Heilsgeschehen teilnimmt! Auch im zeitgenös-
sischen Theater ist der Erzähler keine unbekannte Figur.
Im Spiel wird die Gegenwart weit eindringlicher und umfassender
vom Abwesenden absorbiert als in der Bildanschauung, da das leibliche
Subjekt, sein fungierendes Tun, in die vergegenwärtigende Funktion ein-
geschaltet ist. Diese Gegenwart darf aber im Spiel nicht im unmittel-
baren Sinne, als Wirklichkeit, genommen werden, sonst ist sie nicht mehr
Spiel, sondern Rausch, Ekstase, Verrücktheit. Zum Spiel gehört eine
Reflexivität, die sich des gegenwärtigen Tuns als in sich nichtigen
;,Scheins" eines anderen abwesenden Tuns bewußt ist. Dabei muß auch
„hinter" diesem gegenwärtigenden „Schein" (von ihm verdeckt) die
eigentliche Gegenwart, etwa im Theaterspiel die wirkliche Person des
Spielenden und der wirkliche Theaterraum in der .Stadt, noch lebendig
sein, sonst erhält die gespielte Gegenwart das Gewicht und den Ernst der
unmittelbaren. Mag in manchen Spielen, besonders in Kinderspielen und
in mystischen Kultspielen, diese Reflexivität nur ganz hintergründig
bestehen, bzw. die wirkliche Gegenwart fast ganz versunken sein, im
allgemeinen weiß das Mutter spielende Mädchen sehr wohl, daß. es ein
Mädchen und nicht Mut~er ist, und auch in einem eschatologischen Kult-
Zeichen 169
spiel mögen die Teilnehmer wissen, daß sie noch nicht „1m Para-
diese" sind.
In der Distanz zum Gespielten (im Spiel Vergegenwärtigten) besteht
eine Freiheit des Spiels, die der unmittelbaren Gegenwart nicht zu-
kommt. Das Spiel wie auch die bildliche Darstellung kann daher zur
Befreiung von unmittelbar lastenden affektiven Situationen und Kom-
plexen dienen. Man kann zu etwas ein freies Verhältnis gewinnen; indem
man es darstellt oder spielt - eine Einsicht, die sich die moderne
Psychotherapie, aber auch Richtungen der Kunst zu eigen gemacht ha-
ben. Umgekehrt hat die Psychoanalyse die große Bedeutung von »sy\.n-
bolischen Handlungen" zur Kenntnis gebracht, in denen etwas „gespielt"
wird, ohne daß dies aber dem Agieienderi bewußt wäre. Insofern han-
delt es sich gerade nicht um ein freies, wirkliches Spiel, sondern um
»Zwangshandlungen", die ihren Zwang erst verlieren, wenn sie vom
Agierenden in ihrer symbolischen Bedeutung durchschaut werden.
§ 40 Zeichen
während das Zeichen etwas Abwesendes anzeigt. Darum ist auch der
Gebrauch des Wortes „Zeigehandlungsschema" für Zeichen bei Kamlah
und Lorenzen sehr unglücklich6 •
Die Vergegenwärtigungsfunktion ist dem Zeichen wesentlich. Was
als Zeichen geschaffen ist, kann zwar diese Funktion einbüßen; z.B. das
Wertzeichen kann selbst zum Wert werden. Aber in diesem magischen
Fetischismus geht der eigentliche Zeichencharakter verloren. Ebenso steht
es, wenn etwa ein Zeichen, das als Verhaltensanweisung dient, nicht mehr
durch Vergegenwärtigung verstanden, sondern in bloßer Gewohnheit
unmittelbar aufgefaßt wird: Ein rotes Verkehrslicht kann z.B. in der
Routine ganz unmittelbar wirken, es stoppt sozusagen selbst und ist kein
Zeichen für das Stoppen mehr, ähnlich wie ein bestimmter Pfiff des
Meisters durch Dressur unmittelbar auf den Hund wirkt. Im bloß sinn-
lichen Umfeld stehen keine eigentlichen Zeichen, es gibt nichts, das etwas
anderes bezeichnet, wohl aber Sinneseinheiten, die durch Gewohnheit
etwas erwarten oder erstreben lassen und so das Verhalten unmittelbar
lenken.
§ 41 Sprache
Auch bei der Sprache haben wir es mit Zeichen zu tun: sie erfüllt
unsere allgemeine Bestimmung des Zeichens als Gegenwärtiges, das in
Vergegenwärtigungsfunktion steht, und zwar nicht dadurch, daß es als
bloßer Schein erscheinen läßt oder als Spiel verlebendigt, sondern auf-
grund einer bestimmten Verwendungsregel. Die Sprache besteht aber,
wenn man diesen Begriff nicht wo weit dehnen will, daß er überhaupt
alle eigentlichen Zeichen umfaßt, aus ganz besonderen Zeichen, d. h. ihre
Zeichen erfüllen eine ganz besondere Vergegenwärtigungsfunktion, die
sie vor allen andern, nicht-sprachlichen Zeichen auszeichnet. Welches ist
diese den sprachlichen Zeichen eigentümliche Funktion? Was kann nur
durch sie im Gegenwärtigen vergegenwärtigt werden?
standen werden soll. Die primären Einheiten der Sprache im ersten Sinn
sind, grob gesprochen, die Wörter, während die primären Einheiten der
Sprache in ihrer Funktion, in der Rede, die Sätze sind. Für die Philo-
sophie, in der es um die Vernunfthandlungen geht, ist der Gesichtspunkt
der Rede der entscheidende.
b) Die Subjektausdrücke
Aber kann man solche subjektlosen Sätze nicht einfach als Grenzfälle
der vollen Subjekt-Prädikat-Sätze betrachten, als elliptische oder dege-
nerierte Sätze, in denen der Subjektausdruck ausgefallen ist? Für ein-
zelne solcher Sätze mag dies zutreffen, aber nicht, wenn man die Satz-
struktur in ihrem prinzipiellen Aufbau nadi Unbedingtem und Bedin-
gendem, nadi Vorausgesetztem und Voraussetzendem betrachtet. Denn
ein bloßer Prädikatsatz (als Einheit von Inhalts- und Handlungszei-
chen) setzt nicht notwendig einen sprachlidien Subjektausdruck voraus,
während ein sprachlicher Subjektausdruck in sidi selbst bereits einen ein-
fachen Prädikatsatz voraussetzt. Solche Sätze sind also nidit das Degene-
rierte, sondern das generativ Primäre. Sie sind die Protosätze. Z.B. der
Subjektausdruck „dieser Hut ... " setzt die Prädikation voraus: ,,dies
ist ein Hut" oder einfach „ein Hut" oder „Hut". Wenn also allgemein
gelten sollte, daß eine sprachliche Subjektbezeidinung in sich bereits eine
„alte" Prädikation beschließt, tun wir gut daran, das die sprachlichen
Zeidien von allen andern eigentlichen Zeichen primär Unterscheidende
im Prädikat (verstanden als Satz) zu suchen. Es wäre dann eine weitere
Aufgabe, zu erkunden, ob die sprachlichen Subjektausdrücke über die in
ihnen abgelagerten Prädikatmomente hinaus eine Zeidienfunktion üben,
die ihnen durchaus eigentümlich ist, so daß an ihnen ein weiteres Charak-
teristikum der sprachlichen Zeidien gefaßt werden könnte.
Es geht aber aus dem Bisherigen noch nicht hervor, daß alle spradi-
lidien Subjektausdrücke prädikative Ablagerungen enthalten müssen, so
daß evtl. gewisse spradiliche Subjektausdrücke eine ebenso primitive ·
Leistung sprachlicher Zeichen darstellen könnten, wie dies bei den bloßen
Prädikatsätzen der Fall ist. Bei gewissen singulären Termini, nämlidi
bei Eigennamen und gewissen Pronomina, sdieint es sich um sprachlidie
Subjektausdrücke zu handeln, die in sidi keine prädikativen Momente
enthalten.
In „dieser" steckt zwar „dieser Mann" oder „dieser Gegenstand", in
,,jenes" kann „jenes Ding" stecken, wobei „Mann", ,,Gegenstand",
,,Ding" etc. auf eine Prädikation zuriickgehen. Aber in diesen Demon-
strativpronomina liegt audi ein deiktisches, zeigendes Moment, das nidit
aus einer Prädikation stammt und das auch für sich selbst als Subjekt-
ausdruck aufkommen kann, etwa in den Sätzen: ,,dies ist Silber, jenes
ist Gold", in denen „dies" und „jenes" rein deiktisdi und nicht als
„dieses Metall" oder „jenes Ding" verstanden zu werden braucht. Als
bloß deiktische Ausdrücke verstanden, sind diese Demonstrativa aber
nidits anderes als Zeigegesten oder vokale Unterstreidiungen und Surro-
176 Die Vernunft (die Kultur)
gate von Zeigegesten. Eine Zeigegeste ist nun aber kein spezifisch sprach-
licher Ausdruck, da. ·das Zeigen und die in ihm liegende Objektivierung
(Identifikation) von Raumstellen und von sinnlich abgehobenen Ein-'
heiten oder Konfigurationen auch unabhängig von der Sprache oder
vom Reden im prägnanten Sinne vollzogen werden kann. Man kann
jemandes Aufmerksamkeit durch Zeigen auf eine Erscheinung lenken,
ohne über diese Erscheinung etwas auszusagen7. Andererseits ist durch die
Zeigegeste bzw. durch das bloß deiktische „dies" oder „jenes" auch noch
nichts von der gezeigten Erscheinung gesagt, nicht einmal etwas über
seine allgemeinste ontologische Form, ob es sich etwa um ein Geschehnis,
ein verharrendes Ding oder eine Person handelt, wie dies bei den kom-
plexeren Demonstrativpronomen „dieser" oder „jene" schon angedeutet
sein kann. Diese komplexeren Demonstrativpronomen enthalten eben,
prädikative Momente, so daß sie selbst schon implizit etwas auszusagen
vermögen. Also die Betrachtung der Demonstrativpronomen bestätigt
uns darin, den primären Unterschied der sprachlichen gegenüber anderen
Zeichen im Prädikat (im vollen Sinne) anzusetzen, da der demonstrative
Subjektausdruck entweder bereits ein prädikatives Moment unterstellt
oder aber gar kein spezifisch sprachlicher Ausdruck ist8•
Bei den Eigennamen ist die Sachlage wohl viel komplexer. Einer-
seits kann man sagen, daß ein Eigenname eine Person oder ein Einzelnes·
nennt oder bezeichnet, ohne dabei schon irgendeine prädikative Bestim-
mung zu unterstellen, also ohne implizit irgend etwas über den genann-
ten. Gegenstand auszusagen. Aber dennoch vermag auch dieser Fall nicht
in'uberzeugender Weise einen Subjektausdruck zu liefern, der noch keine
prädikativen Momente. enthielte und dennoch spezifisch sprachlich wäre.
Denn Namen oder Bezeichnungen, die für ein Einzelnes stehen, kommen
auch außerhalb der Sprache vor, wie etwa Nummern für Banknoten, die
primär nicht für Reden, sondern in :finanziellen Transaktionen verwen-
det werden, oder Spielkartenbezeichnungen, mit denen im Spiel „ange-
geben" wird, ohne daß sie dabei als Subjektausdrücke für Prädikationen
fungieren.
Aber es gibt ein tieferes Verständnis der Eigennamen, das diese als
etwas spezifisch Sprachliches erweist, jedoch gerade dadurch, daß es sie
auf Prädikationen gründen läßt. Zwar nicht so, daß der Gebrauch von
Eigennamen prinzipiell an die Fähigkeit und Bereitschaft geknüpft wird,
Beschreibungen des Genannten vorzulegen 9, denn das gilt prinzipiell nur
für Namen, die nicht in Wahrnehmungssituationen gelernt werden10,
sondern dadurch, daß auf eine urtümliche Sprache zurückgegangen wird,
in der es noch .keinen Unterschied zwischen allgemeinen Namen .und
Eigennamen gibt, deren Prädikate aber als Fundamente für beide ange-
sehen werden können. In der primitiven Sprache der Kinder scheinen
Eigennamen und allgemeine Namen durchaus dieselbe Funktion zu er-
füllen und insofern noch ununterschieden zu sein11 : ,,Mama", ,,Papa",
„Onkel Fritz" usw. dienen zur Charakterisierung verschiedener, je
typisch einheitlicher Wahrnehmungsgegebenheiten und -situationen ge-
nauso wie „Löwe" oder „Ball" und nicht zur Bezeichnung eines Indivi..:
duums als eines solchen12 • Es handelt sich dabei um Prädikatoren, mit
denen in primitiven Prädikatsätzen jeweils unmittelbare Wahrneh-
mungssituationen oder -gegebenheiten in Hinsicht auf ihren allgemeinen
Charakter bestimmt werden. Diese archaischen Prädikatoren werden
nun aber funktional transformiert und diversifiziert, wenn nicht mehr
bloß unmittelbare Wahrnehmungssituationen oder rein perzeptiv abge-
hobene Gegebenheiten, sondern durch verschiedene solche Gegebenheiten
identisch hindurchgehende und als das wiedererkannte individuelle Ein-
heiten zu Subjekten der sprachlichen Bestimmung gemacht werden. Dann
kann sich. ein Teil der alten Prädikatoren genau mit diesen mittelbaren
Verstandeseinheiten als den neuen Subjekten der sprachlichen Bestim-
mung decken, rind sie können nicht mehr wie in der Ursprache dazu
verwandt werden, als allgemeine Prädikatoren diese neuen Einheiten
zu bestimmen, wohl aber dazu, als Eigennamen diese im Hinblick auf
9 Dies ist die Interpretation des Sinnes von Eigennamen, wie sie von J. R. Searle
(»Proper Names", Mind 67 (1958), S. 166-173) und von P. F. Strawson (lndivi-
duals (1959) S. 181,192 f.) vertreten wird.
10 Bezeichnenderweise halten sich Searle und Strawson an die Beispiele »Aristoteles"
bzw. ,,Sokrates".
11 Auf dieses archaische Sprachniveau der Kinder beziehen sich auch Quine in Word
and Object (1960) § 19 ff. und Strawson in Individ1'als (1959), Part II, Ch. 6.
12 Z.B. ,.Waldi" (für einen Erwachsenen ein Eigenname) und „Hund" können in
dieser Sprache dieselbe Bedeutung haben.
178 Die Vernunft (die Kultur)
senheit gehört. Dadurch verharrt für mich ein Ding oder eine Person
kontinuierlich durch verschiedene Wahrnehmungssituationen hindurd1,
daß ich sie vergegenwärtigend als abwesende gewissermaßen begleite,
daß sie, nachdem sie aus der Wahrnehmung ausgetreten sind, bewußt-
seinsmäßig als abwesend und als das für mögliche Wahrnehmung vor-
handen bestehen bleiben (etwa im Bewußtsein des zu ihnen Zurück-
kehren- oder ihres Zurückkommenkönnens und des sie Wahrnehmen-
könnens, wenn ich bei ihnen wäre).
selbe illocutionary act, im Hinblick auf seine Wirkung auf den Hörer,
im Zusammenhang verschiedener perlocutionary acts vorkommen; z. B.
indem ich etwas assertorisch aussage, kann ich den Zuhörer erschrecken,
ihn aufklären, ihn inspirieren, verblüffen usw. Das ganze Interesse der
genannten Philosophen geht auf den illocutionary act. Als Beispiele
solcher Akte werden gegeben: beschreiben, halten für, befehlen, bitten,
warnen, versprechen, vorhaben, sich verpflichten, danken, grüßen usw.
Es sind dies verschiedene Arten sprachlichen Tuns. Nach Austin hat die
Anzahl der englischen Verben, welche illocutionary acts bezeichnen, die
Größenordnung der dritten Potenz von 10.
Da es uns jetzt um verschiedene Arten sprachlicher Bestimmungen
geht, muß uns die sprachanalytische Theorie der illocutionary acts bzw.
der illocutionary /orce besonders interessieren, denn sie scheint genau
von dem zu handeln, worüber wir jetzt Klarheit wünschen. Allerdings
hat diese Theorie zwei große Mängel: Einmal ist es den Sprachanalyti-
kern nicht gelungen, eine befriedigende Systematik der illocutionary acts
zu geben. Weit wichtiger aber und die ganze Theorie radikal in Frage
stellend ist das paradoxe Verhältnis, daß der illocutionary act, der nach
Austin die Qualität und den eigentlichen Schwerpunkt des Sprechaktes
und nach Alston und Searle sogar den vollständigen Sprechakt ausmacht,
auch außerhalb der Sprache vorkommen soll. Austin erklärt: ,,wir kön-
nen z.B. durch nicht-sprachliche Mittel warnen oder befehlen oder er-
nennen oder geben oder protestieren oder uns entschuldigen, und dies
sind illocutionary acts ... Aber die Tatsache bleibt, daß viele illocu-
tionary acts nicht ohne etwas zu sagen vollzogen werden können "18•
Und Searle, der Austins Theorie der speech-acts auszubauen und in
gewissen Punkten zu verbessern versucht, kann schreiben: ,,Mein Hund
vermag gewisse einfache illocutionary acts zu vollziehen. Er kann Freude
ausdrücken und bitten, hinausgelassen zu werden. Aber sein Umfang
ist sehr begrenzt, und sogar für die Typen, die er zu vollziehen fähig ist,
empfindet man ihre Beschreibung als illocutionary acts zum Teil als
metaphorisch. "19 Auch Alston ist der Auffassung, daß illocutionary acts
außerhalb der Sprache vorkommen können, will ihre Ausübung aber
gegenüber den perlocutionary acts eher im Sinne Austins, bei dem dieser
Pu~kt allerdings nicht ganz klar ist20, und im Gegensatz zu Searle, an
1
182 Die Vernunft (die Kultur)
ist) usw. Es kann eben nicht eine Handlung zugleich zwei verschiedenen
Arten von Sprechakten angehören. Es handelt sich um verschiedene, sich
gegenseitig ausschließende Arten von Sprechakten, die als verschiedene
Arten nicht innerhalb ein und derselben Handlung realisiert sein können
(wie ein Tier nicht zugleich ein Pferd und eine Kuh sein kann). Daß ich
aber z. B. im Grüßen zugleich wünschen kann, diese Verträglichkeit zeigt,
daß es sich nicht um zwei verschiedene Arten von Sprechakten han-
deln kann.
Als verschiedene Arten von Sprechakten sind nur die verschiedenen
,, Qualitäten" objektiv ausgedrückter Bestimmungshandlungen (Bestim-
mung als assertorische Aussage, als Befehl, Wunsch usw.) anzusprechen,
sonst ergibt sich jene absurde Folgerung, daß ein Sprechakt zugleich auch
kein Sprechakt sein kann. Aber was differenziert denn die verschiedenen
Arten von Sprechakten, m. a. W., was macht ihre verschiedenen Quali-
täten aus? Daß eine sprachliche Bestimmung modalisiert werden kann,
impliziert, daß sie auf Erfüllung oder Entsprechung angewiesen ist, bzw.
daß eine Erfüllung ihr versagt sein · kann: eine assertorische Aussage
findet ihre Erfüllung in der Bewahrheitung durch Tatsachen oder an-
derer objektiver Sachlagen; ein Befehl in der Befolgung durch den im
Befehl Angesprochenen und Bestimmten, ein Wunsch durch das erhoffte
Eintreten des gewünschten Verhaltens. Nun sind aber die Bedingungen
dieser Erfüllungen ganz verschiedener Art: einem Befehl wird unter
ganz anderen Bedingungen entsprochen (bzw. nicht entsprochen) als einer
assertorischen Aussage: Im Befehl muß der im Befehl Angesprochene
und Bestimmte die Bedingungen der Erfüllung erst willentlich schaffen,
während in der assertorischen Aussage die Bedingungen der Erfüllung
als an sich bereits vorhanden, sei es als bereits realisiert oder als an sich
(durch den Lauf der Dinge, unabhängig vom Willen des Sprechenden
oder des Angesprochenen) garantiert, erklärt werden. Jede sprachliche
Bestimmung gibt in sich selbst die Art der Bedingungen ihrer Erfüllung
an, und diese in der Bestimmung selbst liegende Verschiedenheit der
Intention auf Erfüllung macht die Verschiedenheit der Qualität der
Sprechhandlungen aus.
Als Leitgedanke für eine Unterscheidung der verschiedenen Arten
oder Qualitäten von Sprechhandlungen kann vielleicht folgendes dienen:
Prinzipiell kann es vier verschiedene Grundarten von durd1 die Bestim-
mung intendierten und vorgezeichneten Erfüllungsbedingungen geben:
1. die Erfüllungsbedingungen werden als an sich, d. h. unabhängig vom
Willen des Redenden oder Angeredeten, bestehend oder garantiert hin-
Sprache 185
sein der allgemeinen Art oder des allgemeinen Typus, auf dem das
Bewußtsein der allgemeinen Anwendungsmöglichkeit des Wortes beruht,
ist ein mittelbares Bewußtsein, in dem das Allgemeine als Identisches
verschiedener Wahrnehmungsgegebenheiten erfaßt ist.
Das Wort (der Prädikator) ist selbst kein einzelner, momentaner
Laut oder eine sonstige momentane Geste, sondern ein lautliches oder
sonstiges gestuelles Schema, das als dasselbe in verschiedenen einzelnen
Verlautbarungen oder andersartigen Gesten wiederholbar ist; Nur so
kann es als dasselbe in verschiedenen Fällen angewandt werden. Aber
das Verhältnis dieses Aktionsschemas zu seinen verschiedenen Ausfüh-
rungen ist bewußtseinsmäßig nicht dasselbe wie das Verhältnis des all-
gemeinen Typus zu seinen einzelnen Fällen. Das Wort ist vielmehr ein
ideales Individuum, das in verschiedenen Ausführungen als dasselbe
wiederholt wird, und ist nicht als das Gemeinsame (Allgemeine) ver-
schiedener zu subsumierender Fälle bewußt (analog wie etwa die erste
Symphonie Bruckners in verschiedenen Aufführungen als dieselbe wie-
derholt wird und nicht als das Gemeinsame verschiedener Aufführungen
gesetzt ist).
Der Prädikator als ideales gestuelles Schema dient zur Bestimmung
von etwas hinsichtlich seines allgemeinen Typus, auf den seine Anwen-
dungsmöglichkeit festgelegt ist. Im Bewußtsein seiner allgemeinen An-
wendungsmöglichkeit vergegenwärtigt er also den allgemeinen Typus
des bestimmten Gegenstandes. Aber dieses Wort ist kein bloßes Mittel
zur Erreichung oder Vertretung der Erkenntnis des allgemeinen Typus,
das das Vernunftsubjekt ohne Verlust von sich schieben könnte, wenn es
den allgemeinen Typus selbst erfaßt; es ist kein bloßes Vehikel und kein
bloßer Ersatz. Die primäre Leistung dieser Worte besteht nicht darin,
zur Erkenntnis des Allgemeinen hinzuführen, die ja prinzipiell auch
ohne diese Worte inöglich ist, sondern sie besteht, noch ganz abgesehen
von einer kommunikativen Funktion, darin, die bloß verstandesmäßige
Erfassung des Allgemeinen dem sinnlich-geistigen, dem Vernunftsubjekt
einzuverleiben; sie besteht darin, jene bloß theoretische Erfassung in die
sinnlich-geistige Gestik, in das praktische Verfügen, in das sinnlich;.
geistige Beherrschen der Wirklichkeit überzuführen. Jene Worte als
Aktionsschemata dienen primär der Verwirklichung des· Verstandes in
der Sinnlichkeit, d. h. der Verwirklichung der Vernunft, in der der
Verstand sinnliche Macht (Wirksamkeit) gewinnt. In ihrer sprachlichen
Gestik verfügt die Verimnft habituell über das Allgemeine, sie hat es in
der Hand (in der „Praxis"), während es vom bloßen Verstand nur
188 Die Vernunft (die Kultur)
flüchtig in einzelnen Akten erspäht wird. Die den Worten primäre Be-
wegung ist also nicht die Hinführung zum Allgemeinen, sondern die
Inkarnation des Allgemeinen in der Einheit der sinnlichen Vernunft.
Diese Inkarnation besteht dann im praktischen Bewußtsein der fest-
gelegten allgemeinen Anwendungsmöglichkeit des Wortes, die seine
Bedeutung ausmacht, und in diesem praktischen Vernunftbewußtsein
besteht die Vergegenwärtigung dieses Wortes.
Wie steht es hinsichtlich der Vergegenwärtigungsfunktion mit dem
anderen Moment innerhalb des elementarsten selbständig fungierenden
Sprachzeichens: mit dem Zeichenmoment, in dem die Bestimmungshand-
lung instituiert ist? Dieser Faktor innerhalb des Satzes kann verschiedene
Gestalten haben: er kann nur als Betonung auftreten, im Modus des
Verbes liegen oder syntaktisch ausgedrückt sein. Wie gesagt, dieses Mo-
ment am Satz bedeutet die Bestimmungshandlung. Aber es bedeutet
diese Handlung nicht als einen subjektiven momentanen Akt, den ich
im Sagen oder Vernehmen des Satzes vollzogen habe; es ist kein Erinne-
rungsmal an einen einmal vollzogenen subjektiven Akt. Sondern, was
in diesem Zeichen instituiert ist und seine Bedeutung ausmacht, ist eine
identische und in diesem Sinn objektive und bleibende Bestimmungs-
handlung, die in einzelnen subjektiven Bestimmungsakten als dieselbe
vollziehbar und auch modalisierbar ist. Also die in einem besonderen
Moment des Satzes vergegenwärtigte Bestimmungshandlung ist nicht ein
einzelnes momentanes Aussagen, sondern die in unbegrenzt vielen sol-
chen subjektiven Einzelaussagen identisch bleibende Aussage, nicht ein
einzelnes momentanes Befehlen, sondern ein Befehl, nicht ein einzelnes
momentanes Wünschen, sondern ein Wunsch usw. Diese objektive Be-
stimmung ist nicht ein zeitlich Momentanes und zeitlich Ablaufendes wie
ein einzelner subjektiver Akt, sondern ein in verschiedenen Zeitmomen-
ten identisch vollziehbares Ideales. Aber obschon die im Satz instituierte
objektive Bestimmung sich von den momentanen Einzelakten, in denen
sie vollzogen und wiederholbar ist, unterscheidet, ist sie doch nicht von
ihnen lösbar wie ein äußeres Werk, sondern sie besteht überhaupt nur
als identisches dieser wirklichen und möglichen Mannigfaltigkeit von
subjektiven momentanen Akten. Umgekehrt aber bestehen diese subjek-
tiven Bestimmungsakte aud1 nur, indem sie sich im Zeichen als objektive
Handlung instituieren.
Der Handlungsausdruck des Satzes vermag eine objektive Handlung
zu vergegenwärtigen, weil er selbst als Zeichen in seiner sinnlich wahr-
nehmbaren Seite nichts Momentanes, sondern ein ideales, identisch wie-
Sprache 189
2ß Sophistes 263 e: ö ev-r;o~ i:i'j~ 'ljJUXfi~ nQo~ c,;öi:riv l\uU.oyo~ üvev cpcovi'j~ y,yv6~tevo;
27 Philosophische Untersuchungen § 243.
28 Nämlich unten, § 57.
192 Die Vernunft (die Kultur)
36 A. a. 0., § 268.
194 Die Vernunft (die Kultur)
f) ,, Wortloses Denken"
haupt nicht einfallen; u. dgl. " 42 In diesen Fällen soll nun nach Husserl
die „signitive Intention", die dem Wort die Bedeutung, die „gedankliche
Seite", verleiht, vorhanden sein, nicht aber der sinnliche Wortkörper
(dasLautschema): ,,Genetisch gesprochen, es wird durch die gegenwärtige
Anschauung (etwa des Drillbohrers) eine Assoziation dispositionell
erregt, die auf den bedeutenden Ausdruck (das Wort) gerichtet ist;
aber, die bloße Bedeutungskomponente desselben wird aktualisiert." 43
In Wirklichkeit ist das aber ein Widerspruch: Wie soll eine Bedeutungs.;.
funktion ohne dasjenige, das diese Funktion ausübt (nämlich das Wort),
vorhanden sein? Daß das Spielen einer Wortbedeutung (einer „signiti-
veri Intention") die Anwesenheit eines Wortes voraussetzt, ist Husserl
wohl erst nach den Logischen Untersuchungen bewußt geworden, und er
versucht jetzt für die „Fälle wortlosen Erkennens" eine Erklärung zu
geben, nach der das Wort nun doch irgendwie „da", also das wortlose
Erkennen eigentlich doch nicht wortlos ist: ,,Es scheint mir, daß im
inneren Sprechen, wenn ,die Worte fehlen', darum doch die Wortvorstel-
lungen als Leervorstellungen gegenwärtig sein können und in der Tat
auch.gegenwärtig sind." 44 . ,,Wenn wir eigene Denkakte in der Aussagen-
sphäre finden, und dann sprachlose Denkakte annehmen, so fragt es sich,
ob zur Sprachlosigkeit genügt, daß das ausdrückende Wort uns ,ent-
fallen' ist. Vielleicht;· daß ein sprachliches Phänomen noch sprachlich
bleibt, auch wenn sein sinnlicher ,Wortlaut' fehlt. Vielleicht, daß die
Wortlautkomponente noch da, wenn auch in ,leerer', in eigentümlich
modifizierter Weise da ist. " 45
Dieses „leere" Dasein,· diese Leervorstellung des Wortlautes, von der
Husserl hier spricht, könnte Verschiedenes bedeuten: Der Wortlaut kann
undeutlich artikuliert sein, wie· dies im äußerlich vernehmbaren, aber
wohl besonders im sog. ,;inneren Sprechen" oft der Fall ist; aber das
Wort als Schema ist dabei doch realisiert, bzw. erkannt und könnte
jederzeit auch deutlicher artikuliert werden. Anders steht es im Falle,
den Husserl hier im Auge hat: in dem das Wort entfallen ist, also nicht
zur Verfügung steht. Wir können uns dieses Verlustes bewußt sein und
nach dem Worte suchen, werin wir etwa auf einen Gegenstand stoßen;
auf den es zutreffen würde. Das Wort ist uns in diesem Suchen nicqt
unbekannt, wir haben von ihm eine »leere" Vorstellung, denn sobald
uns das Wort einfällt oder von jemandem ausgesprochen wird, erkennen
wir es sofort als das richtige: das Wort war zuvor „da" soztlsagen als
»Loch" C»da" mit negativem Vorzeichen), und dieses „Loch" wird nur
gefüllt.
Aber wie steht es nun, wenn wir einen Gegenstand seiner Art nach
erkennen, während uns das Wort nicht einfällt? Sehen wir vom Suchen
nach diesem Worte ab, denn ein solches Suchen gehört nicht zu jenem
Erkennen; Ich würde nicht wie Husserl sagen, daß die Bedeutungskom-
ponente des Wortes spielt, während das Wort im Sinne des Entfallen-
seins fehlt; denn was fehlt, was also nicht im eigentlichen Sinn da ist,
kann keine Vergegenwärtigungsfunktion üben, und darin besteht di~
„signitive Intention". Aber dennoch kann das fehlende Wort in jenem
Erkennen wirksam sein: Wir haben zwar zu erweisen versucht, daß eine
Art als Art auch völlig ohne Worte wiedererkannt werden kann46• Aber
es besteht kein Zweifel, daß Worte für die Herausbildung, Abgrenzung
und Differenzierung von Arten eine enorme Rolle spielen: Die Worte,
die wir im Erlernen der sozialen Sprache uns aneignen, lehren uns
Arten „sehen", in der Differenzierung der Sprache differenzieren sich
uns die Arten, und unsere ,;Systematik" der Arten ist von unserem
faktischen Sprachsystem abhängig. In. diesem· Sinne ist beim Erkennen
eines Gegenstandes der Art nach das entfallene Wort wirksam: insofern
es zur Bewußtseinsbildung dieser Art beigetragen hat.
Aber wenn uns auch die Sprache den Blick für Unterschiede von
Arten gibt und lenkt und daher auch dann noch wirkt, wenri riris das
betreffende Wort entfallen ist, so bedeutet das nur, daß wir in der
sozialen· Sprache von der.Unterscheidungskraft .derjenigen, die zu unse"."
rer Sprachgemeinschaft gehören (von den Lebenden und Toten) profi-
tieren. Aber das Erkennen der allgemeinen Art, des allgemeinen Typus
geht logisch dem Wort voraus, wenn auch für den einzelnen innerhalb
unserer Sprachtradition für die allermeisten Fälle das umgekehrte Ver-
hältnis statthat. Nur dort, wo wir sprachschöpferisch sind, wo etwa: ein
Naturforscher für ein neuentdecktes allgemeines Phänomen ein neues
Wort einführt oder wo ein Dichter sich eines Gefühls, einer Stimmung
als artmäßiger bewußt wird und dafür Worte prägt oder umprägt,
50 A. a. 0., S. 421.
51 A. a. 0., S. 394/5.
5~ A. a. 0., S. 395.
53 A. a. 0., S. 400.
200 Die Vernunft (die Kultur)
Hier bringt Husserl eine Typen- oder Arterfassung zur Geltung, die
sich deutlich von der »aktiven" Erfassung des Allgemeinen als solchen
abhebt. Aber auch diese „passive" Typenbildung interpretiert er wieder
in seiner von uns hervorgehobenen intellektualistischen Weise, so daß in
dieser Bildung im Grunde doch schon alles „ vor konstituiert" liegt, was
die eigentliche Erfassung des Allgemeinen zustande bringt: es liegt in ihr
nur „unthematisch", d. h. ,,unbeachtet", ungegenständlich, so daß eine
bloße Wendung des Blickes, der Aufmerksameit genügt, um die in jener
typisierenden Wahrnehmung vorkonstituierte Beziehung auf das Allge-
meine „anzuschauen".
Dennoch drängen in diesen Ausführungen Busserls Sachverhalte zur
Einsicht, die wir aufgrund unserer vorangegangenen überlegungen54 in
folgender Weise formulieren können: Im Hinblick auf das wortlose Er-
kennen ist prinzipiell zu scheiden zwischen dem typisierenden Charakter
der unmittelbar-sinnlichen Wahrnehmung, in der überhaupt kein All-
gemeines als solches liegt, auch nicht „ vorkonstituiert" oder „unthema-
tisch ", und andererseits dem Verstande, in dem als Bewußtsein von
Bewußtsein (mittelbares Bewußtsein) ein Typus als identisch Allgemeines
verschiedener Wahrnehmungen oder anderer Bewußtseinsweisen konsti-
tuiert ist.
Was den typisierenden Charakter der unmittelbaren Wahrnehmung
anbelangt, möchten· wir nur kurz folgendes wiederholen: Wenn ich z. B.
in ein mir bisher unbekanntes Zimmer trete (z.B. ein Hotelzimmer) und
von ihm: ,,Besitz nehme", mich in ihm einrichte, nehme ich im allgemei-
nen sofort die verschiedenen Dinge ihrem Typus nach wahr: ich sitze auf
den Stuhl, lege mein Aktenmäppchen auf den Tisch, hänge den Mantel in
den Schrank, öffne das Fenster, lege mich ins Bett usw. Diese Dinge sind
niir in ihrem Typus vertraut, ich gehe mit ihnen vertraut um: Ich „er-
kenne" sie typisch, aber weder benötige ich dabei Worte, noch braucht ein
Allgemeines von Vielen in irgendeinem Sinn bewußt zu sein. Auch ein
bloß sinnliches Wesen, ein Tier, bemächtigt sich seiner Umwelt in diesem
typisierenden Sinne. Es ist das sinnliche Verhalten selbst, das typisch ist
und sein jeweils neues Umfeld unmittelbar in diese Typik einzubeziehen
versucht. Beim Menschen können hier allerdings auch Worte auftauchen,
aber sie sind dabei nicht nötig, sie üben, wenn die sinnliche Ergreifung
des Umfeldes spielt, keine Funktion: Sie werden als sinnliche Gebilde
assoziativ durch das Wahrgenommene geweckt, ohne dabei zur vernunft-
mäßigen Bestimmung von etwas zu-dienen. Die Worte erlangen als sinn-
liche Gebilde gegenüber ihrem Ursprung aus der Vernunftinstitution eine
gewisse Selbständigkeit, ihre geistige Bedeutung kann in die Latenz ver;.
sinken, sie »sedimentieren" sich in der sinnlichen Umwelt und nehmen
teil an ihrem bloß assoziativen Spiel. Die sinnliche Umwelt der Vernunft
ist völlig überwoben von diesen "schlafenden" Vernunftinstitutiorlen, die
eine »sekundäre", als solche sinnlose Sinnlichkeit ausmachen.
Von diesem unmittelbaren, schematisierten Ergreifen des .Umfeldes,
in dem als solchen überhaupt kein Allgemeines bewußt ist, ist prinzipiell
das mittelbare „Erkennen von etwas seiner Art nach" zu unterscheiden:
Ich erkenne z. B. auf einer Bergwanderung eine Blume als der Art nach
dieselbe, die ich schon weiter unten sah und auch schon im Vorjahr in
einer anderen Gegend in zahlreichen Exemplaren antraf. Dabei spielt der
Name, den ich nie kannte, gar keine Rolle. Hier identifiziere ich im
Bewußtsein anderen Bewußtseins (nämlich früherer Wahrnehmungen)
ein Eines von Vielen: ein Allgemeines. Dieses mittelbare Bewußtsein, in
dem ein Allgemeines konstituiert ist, kann schon auftreten, wenn ich eine
Art zum ersten -Mal sehe: im Wissen, daß diese Art, die ich hier zum
ersten Mal sehe, auch noch anderwärts anzutreffen wäre. Wie ist nun
dieses mittelbare Bewußtsein eines Identischen an Vielem näher zu
kennzeichnen?
Husserl spricht von einem „Erschauen des Begriffs". Beide Worte er-
scheinen als fragwürdig. ,,Begriff" möchten wir in Anlehnung an ·den
üblichen Sprachgebrauch für die Bedeutung eines Wortes (ge11auer, eines
Prädikatots) bzw. für die eine Bedeutung verschiedener, aber synonymer
Worte gebrauchen. Ob wir weiter in unserem Falle von „Erschauen"
sprechen können, ist. schon schwieriger zu entscheiden. Husserl ·denkt sich
jenes Identifizieren des Allgemeinen als ein ,;geistiges Oberschieben":
Leitbild ist offensichtlich das geometrische -Zur-Deckung-bringen· .vori
Figuren, durch das ihre sich deckenden Teile „gleichsam verschmelzen";
in -dieser Deckung haben die verschiedenen Figuren ein Gemeinsames, an 0
dem sie alle teilhaben (Methexis). Die Frage ist, inwiefern man hier von
~schauen" sprechen kann, was hier geschaut bzw. erschaut ist. Wirklich
angeschaut ist die Figur, in der sich die verschiedenen Figuren decken.
Sidst gemeinsam~ weiLsie unter Festhaltung ihrer Identität als Teiho-
wohl der· einen wie der anderen Figur angeschaut werden kann; Aber
wenri sie wirklich als Teil der einen Figur angeschaut wird, ist'Sie aktuell
anschauungsmäßig der anderen entzogen, und umgekehrt. Aktuell ange-
schaut wird sie jeweils nur als Teil der einen Figur, jedoch im mittel-
202 Die Vernunft (die Kultur)
baren Bewußtsein, daß sie auch als Teil der anderen angeschaut wurde
oder werden kann. Für sich allein angeschaut ist sie eine dritte einzelne
Figur. Aktuell angeschaut ist also immer nur ein Einzelnes, an dem ein
Allgemeines nur im mittelbaren Bewußtsein anderer, inaktueller An-
schauung erfaßt wird. In diesem Sinne können wir hier mit Husserl von
einer Er-schauung des Allgemeinen sprechen: dieses wird nie aktuell
geschaut, aber aufgrund aktueller Anschauung von Einzelnen im mittel-
baren Bewußtsein inaktueller Anschauungen desselben an anderen Ein-
zelnen er-schaut.
Die Lage ist natürlich anderwärts nicht so einfach wie im Falle der
geometrischen Kongruenz. In unserem Beispiel der Blumen etwa gibt es
keine geometrische Gleichheit. Aber schon die unmittelbare Wahrneh-
mung hat ja einen typisierenden oder schematisierenden Charakter, und
es braucht ein besonderes Interesse und intensive Beobachtung, um die
„Individualität", die ganz besondere Gestalt und Färbung, der einzelnen
Blume zu sehen. Und so kann hier auf dem Grund des Schematismus der
unmittelbaren Wahrnehmung die Art im mittelbaren Bewußtsein identi-
fiziert werden. Aber auch hier ist das aktuell angeschaute Schema immer
nur Einzelnes, und nur im mittelbaren Bewußtsein der Identität dieses
Schemas in anderen Anschauungen von Einzelnem ist das Schema als All-
gemeines konstituiert. In anderen Fällen jedoch ist die Identifizierung
des Allgemeinen weit komplizierter; man denke an die wissenschaftliche
Systematik der Arten und Gattungen55 •
Das Allgemeine als das Eine im Vielen ist nicht wirklich angeschaut,
wenn man auch davon sprechen kann, daß es aufgrund der Anschauun-
gen von Einzelnen erschaut sei. Dieser Sachverhalt macht uns wieder auf
die fundamentalste Leistung des Wortes, das ini Protosatz den Bestim-
mungsgehalt vergegenwärtigt, aufmerksam: Dieses Wort ist ein Anschau;.
liches, dessen Sinn oder Funktion ganz darin besteht, ein Allgemeines zu
sein, d. h. auf die Fälle einer gewissen Art anwendbar zu sein. In diesem
Wort kommt also das Allgemeine als solches in der sinnlich-geistigen Ver;.
fügbarkeit zur anschaulichen Gegenwart; nicht zur unmittelbaren Gegen-
wart, sonst wäre das Allgemeine ein Sinnliches (ein hölzernes Eisen),
wohl aber zur sinnlichen Institution. Im Wort, und nur im Wort, ver-
wirklicht sich das Allgemeine in der sinnlichen Gegenwart, die damit
Vergegenwärtigungsfunktion annimmt, und wird vom unsichtbaren Ver-
standesprodukt zur „greifbaren" realen Vernunft. Das Wort (der Prä-
dikator) ist also nicht ein bloßes „Gegenbild" oder ein „sinnliches Kleid"
der allgemeinen Spezies; denn diese Gleichnisse geben die Spezies als ein
bereits in sich selbst, unabhängig vom Wort, Anschauliches aus, das sich
bloß in einem anderen Medium widerspiegelt oder mit einem fremden
Stoff bekleidet. Aber die allgemeine Spezies als reine Verstandesleistung
kann sich prinzipiell gar nicht abbilden oder bekleiden, sondern verwirk-
licht sich als Anschauliches und damit Abbildbares überhaupt erst im
Wort. Nur als Wort vermag sie ein Gegenbild zu haben, sei es in ande-
ren Worten, sei es, in ganz anderem Sinne, in der Schrift56 •
Wir wenden uns nun dem anderen Moment des minimalen selbstän-
dig fungierenden sprachlichen Zeichens (Satzes) zu, dem Moment, in dem
die Bestimmungshandlung vergegenwärtigt ist, und fragen, was das Wort
für sie leistet. Dies tun wir wiederum auf dem Wege einer Diskussion
mit Busserls Idee des wortlosen Denkens.
Bei Busserl halten wir uns dazu im wesentlichen an die Logischen
Untersuchungen. Er hat sich später von manchem des uns jetzt in diesem
Werk Interessierenden distanziert, aber es nicht durch eine kohärente
Theorie ersetzt. Busserls Position in diesem Werk ist hinsichtlich unserer
jetzigen Frage schneidend klar: Der eigentliche Denkakt (kategoriale
Akt) ist von der Sprache unabhängig, und zwar deshalb, weil er kate-
goriale Anschauung ist: ,,Die kategorialen Akte dachten wir uns in den
bisherigen Betrachtungen von allem signifikativen <d. h. zeichenhaften,
sprachlichen) Beiwerk frei, also vollzogen, aber keinerlei Akte der
Erkennung und Nennung fundierend. Und sicherlich wird jeder vor-
urteilsfreie Analyst zugestehen, daß wir z. B. Inbegriffe oder mancherlei
primitive Sachverhalte anschauen können, ohne sie zu nominalem oder
propositionalem Ausdruck zu bringen. "57 „Die fundierten <= katego-
rialen) Akte ... galten uns als Anschauungen. "58 Nur als kategoriale
Anschauung ist der Denkakt vollzogen und nicht schon im bedeutungs-
vollen Sprechen, in dem jene Anschauung bloß zum Ausdruck kommt:
Im „bloßen signitiven Urteilen", das durch die „an den Worten hängen-
den signitiven Intentionen" die U rteilssynthesis „ausdrückt (bzw. aus-
zudrücken prätendiert)", ist diese Synthesis „nicht ,eigentlich' vollzogen,
56 Diese Verkennung der fundamentalen Leistung des Wortes als sinnliche Verwir!?-
lichung findet sich bekanntlich schon bei Aristoteles und hat sich durch die Jahr-
hunderte halten können: »Die gesprochenen Worte sind Zeichen (cruµßo,.a) der Vor-
stellungen in der Seele (;;iiiv EV •U ,puxn naitriµ1i-ccov) und die geschriebenen Worte
sind Zeichen der gesprochenen" (De interpretatione, 16 a 3-4).
57 Logische Untersuchungen II, 6. Untersuchung, 1. Aufl., S. 663, 2. Aufl., S. 191.
58 A. a. 0., 1. Aufl., S. 637; 2. Aufl., S. 165.
204 Die Vernunft (die Kultur)
§ 42 Ethische Kultur
gen zugrunde legten. Die ethische Haltung oder Kultur des Handelnden
ist ein Vernunftprodukt. Diese ethische Ausrichtup.g kann nun aber, prin-
zipiell betrachtet, letztlich vernünftige Ausrichtung auf die Sinnlichkeit
und in diesem Sinne heteronom oder aber vernünftige Ausrichtung auf
die Vernunft selbst und in diesem Sinne autonom sein.
Eine vernünftige ethische Haltung kann letztlich ausgerichtet sein auf
die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse, Neigungen und Triebe, auf
die Erreichung von Stellung, Macht und Lust. Wohlverstanden, die
Handlungen, die in einer solchen Haltung entspringen, geschehen nicht
unmittelbar aus Leidenschaft oder Trieb, denn solche Handlungen wären
ohne ethische Haltung, sondern sie geschehen durch den Verstand und
in der Kultur (Vernunft), sie entstammen aus der vernunftmäßigen
Ausrichtung - auf die Sinnlichkeit. Es sind dies vernunftmäßig be-
herrschte Handlungen, die aber letztlich nur im Dienste der Sinnlichkeit
stehen. Vernunft ist hier letztlich nur Mittel für die Sinnlichkeit. Die
Sinnlichkeit schlechthin ist der unmittelbare partikuläre Standpunkt des
eigenen Bedürfnisses und Genusses, der eigenen Macht, und so ist die
ethische Haltung, in der als Ziel die Sinnlichkeit schlechthin verkörpert
ist, trotz aller vernünftigen Berücksichtigung und Berechnung, ,,Egois-
mus" oder „Selbstliebe". Allerdings ist dieses Eigene nicht notwendig
das bloß individuell Eigene, sondern kann auch das Eigene einer eigenen,
unmittelbar durch sinnliche Bedürfnisse und Triebe konstituierten
Gruppe sein.
Man könnte sich allerdings auch fremde Sinnlichkeit (das Leben von
Tieren oder das bloß sinnliche Leben von Mitmenschen) zum Ziele
setzen. Aber in diesem Falle ist das finale Tun, auf das die ethische Hal-
tung ausgerichtet ist, doch nicht Sinnlichkeit, sondern Vernunfttätigkeit,
denn Handeln in Rücksicht auf fremde Sinnlichkeit (in Vergegenwärti-
gung fremder Sinnlichkeit) ist selbst vernünftiges und nicht sinnliches
Tun: Meine finale Tätigkeit, auf die ich in fester Haltung in allen meinen
Tätigkeiten ausgerichtet bin, ist in diesem Fall Vernunft. Aber vom
fremden Standpunkt aus, der in der eigenen Vernunfttätigkeit vergegen-
wärtigt ist, ist diese nur Mittel zu Sinnlichkeit, und so ist die Vernunft
in dieser Weise doch nicht als Se.lbstzweck anerkannt. Allerdings kann
ich mir auch fremde Sinnlichkeit zum Ziele setzen, insofern diese Sinn-
lichkeit Voraussetzung (Bedingung) und Medium der fremden Vernunft-
tätigkeit ist. Aber gerade insofern steht die eigene Vernunfttätigkeit
wiederum unter der Herrschaft der Vernunft. Die finale Vernunfttätig-
keit (als Ziel meiner ethischen Haltung), die im Dienste fremder Sinn-
212 Die Vernunft (die Kultur)
lichkeit bloß als solcher steht, enthält in sich selbst einen Widerspruch.
Sie ist Vernunfttätigkeit, die sich als Endziel (eigener Tätigkeit) und
zugleich doch nur als Mittel für die bloße (fremde) Sinnlichkeit weiß.
Finale Vernunft ist nur dann mit sich selbst als Vernunft einstimmig,
wenn sie nicht bloß den fremden Standpunkt „vertritt" (versteht und
berücksichtigt), sondern diesen Standpunkt auch als Standpunkt der
Vernunft anerkennen kann.
In der autonomen ethischen Kultur ist die Vernunft auf sich selbst
ausgerichtet, in ihr übt die Vernunft als oberstes finales Prinzip die
Herrschaft, und der in diesem Ethos Handelnde weiß sich, wie Kant
sagt, einer „intelligibelen Ordnung oder Welt" zugehörig. In ihr setzt
sich die Vernunft nicht bloß als vorübergehendes Mittel, sondern als
bleibenden Zweck: sie bewahrt sich dadurch selbst „bis ans Ende" und
entspricht dadurch allein ihrem Verlangen zu sein. Dieses Verlangen der
Vernunft, selbst zu sein, ist die Grundlage und Voraussetzung aller
autonomen ethischen Kultur und auch aller einzelnen sittlichen Gesetze.
Solche Gesetze geben nur an, wie dieses Verlangen realisiert werden
kann, und wo es fehlt, bzw. wo es verschüttet ist, kommen die sittlichen
Gesetze nicht an, sie vermögen nichts zu sagen. Wer in sich nicht die
Vernunft realisieren will, ist von sittlichen Gesetzen nicht ansprechbar,
er ist durch nichts von ihnen zu überzeugen, sie gewinnen für ihn keine
Gültigkeit. Jede Erziehung zum Sittlichen muß dieses Verlangen voraus-
setzen.
Zwischen der autonomen und der heteronomen ethischen Kultur be-
steht ein Unterschied hinsichtlich der Freiheit. Es ist aber nicht so, daß
nur die autonome ethische Kultur, in der sich die Vernunft selbst ober-
ster Bestimmungsgrund ist, frei wäre, wie dies Kant meinte, so daß „ein
freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen ( = unter dem Ge-
setz der reinen Vernunft) einerlei" sein würde 67 • Auch die heteronome
Kultur ist frei, da sie vernünftig ist. Schon der bloße Verstand ist frei;
nämlich;" nicht eingeschlossen in den unmittelbaren Antrieb, in die un-
mittelbare Gegenwart: in die Sinnlichkeit. Aber diese Freiheit des bloßen
Verstandes ist bloß negativ: sie ist eine bloß vergegenwärtigende, ,,träu-
merische" (erinnernde, phantasierende etc.), ohnmächtige Freiheit, die
nur innerlich ist und sich noch nicht im gegenwärtig Realen auswirkt,
noch nicht in ihm handelt. Die Freiheit wird erst positiv, wenn sie Macht
über die unmittelbare Realität gewinnt, diese gestaltet, d. h. wenn die
68 Nik. Ethik, IX, 1166 a 16-17, 22-23; 1168 b 28-,35; X, 1178 a 2-3.
09 A. a. 0., X, 1177 a 15-16; Eudem. Ethik, VIII, 3 (ich folge dabei dcrCfotcr-
pretation von Arnims bzw. F. Dirlmeiers, also Oe6i; ist zu verstehen als der.. Gott
in uns, als uoiii;, als Subjekt der Oerogta.
1o De anima III, 429 b.
214 Die Vernunft (die Kultur)
Vernunft rein aus sich und für sich tätig ist, d. h. unabhängig vom Leibe,
unvermischt mit seiner Sinnlichkeit71, während in der praktischen Ver-
nunft der Mensch als ein „zusammengesetztes", nämlich sinnliche Leib-
lichkeit in sich schließendes Wesen handelt 72 • Die Theoria ist die höchste
Tätigkeit des Menschen, weil sie eigentlich die Tätigkeit Gottes, der
,,reinen Vernunft" ist73 •
Für uns ist der Verstand nicht von der leiblichen Sinnlichkeit loslös-
bar. Der Verstand als eigenes Prinzip, eben als Entgegenwärtigung oder
Vergegenwärtigung als solche, ist zwar nicht auf die Sinnlichkeit zurück-
zuführen, aber er setzt Sinnlichkeit sowohl als sein Fundament voraus,
wie er auch Sinnlichkeit zu seinem intentionalen Inhalt hat, nicht bloße
Sinnlichkeit, aber „reflektierte" (,,gespiegelte") Sinnlichkeit74 • So sah es
am Ende wohl auch Aristoteles, wenn er in spätesten Texten erklärt, daß
die Tätigkeit unserer Vernunft immer mit sinnlichen Phantasmen einher-
geht, daß die Vernunft, sofern sie rezeptiv, von der Sinnlichkeit ab-
hängig ist, das Schicksal des Leibes teilt 75 , und nur sofern sie „produktiv"
ist, also nm als Prinzip der Vernünftigkeit, Unabhängigkeit vom Leibe
besitzt76• Aber eben diese „produktive" Vernunft ist wohl auch in
Aristoteles' Verständnis noch gar keine konkrete Vernunftgestalt, son-
dern nur das vernünftige Prinzip innerhalb der konkreten, immer an die
Sinnlichkeit gebundenen Vernunfttätigkeit77 •
Der bloß „schauende" (die Sinnlichkeit nicht gestaltende) Verstand
ist zwar in gewisser Hinsicht die von der Sinnlichkeit am meisten distan-
zierte Vernunftform (,,Vernunft" hier im weiten Sinne verstanden),
dennoch kann er nicht das höchste Vernunftideal ausmachen. Denn er ist
von der Sinnlichkeit abhängig, ohne auf diese einzuwirken, ohne sie zu
beherrschen und sie damit in ihrer Gegenwart in eine Funktion für die
Vernunft aufzuheben. Der Verstand in seinen bloßen Spiegelungen ist
gegenüber der Sinnlichkeit ohnmächtig und läßt sie als solche in ihrer
Selbständigkeit bestehen. Eine Vernunft, die das Sinnliche ihrem eigenen
Leben dienstbar zu machen und so in sich aufzuheben vermag, ist schon
deshalb dem die Sinnlichkeit nicht berührenden Verstand vorzuziehen.
Auch hier finden wir uns schließlich wieder zu Aristoteles zurück: ,,Dies
ist die beste Bestimmung der Seele: sowenig wie möglich den vernunft-
losen Seelenteil auftreten zu lassen, und zwar den vernunftlosen Seelen-
teil als solchen (d. h., sofern er gegenüber der Vernunft selbständig ist)."
Das ist der Schlußsatz der Eudemischen Ethik. Aber es ist nicht nur dieser
Herrschaftsbezug als solcher, der die in die Sinnlichkeit praktisch ein-
greifende Vernunft höher stellt als den bloß reflektierenden Verstand,
sondern in diesem Eingreifen verwirklicht sich das Wesen der Vernunft,
als Vergegenwärtigung betrachtet, in vollerem Sinne als in der bloßen
Spiegelung. In Zeichen, Bildern, Sprachen, Spielen etc. erschließt sich die
Vernunft Gesichtspunkte, die ihr ohne diese ausdrückenden Institutionen
leer bleiben würden.
Aristoteles begründet noch mit einem weiteren schwerwiegenden
Gedanken das Primat der Theoria, den zu diskutieren für unsere Be-
stimmung des praktischen Zieles des autonomen Vernunftethos fruchtbar
ist. Er sagt, daß die Tätigkeit der Theoria allein um ihrer selbst willen
geliebt werde, während wir in einer praktischen Tätigkeit immer in
größerem oder geringerem Maße Dinge schaffen, die für etwas anderes
als für diese Tätigkeit selbst sind (außerhalb ihrer liegen, wie sich
Aristoteles ausdrückt) und denen sie demnach als dem Besseren unter-
geordnet ist78 • Es ist der Gedanke, daß allein die Theoria frei ist vom
Dienst an der Bereitstellung der notwendigen „Lebensmittel" und daher
allein einen reinen Selbstzweck ausmacht79 •
Diese Überlegung können wir uns in ihrem Grundgedanken für die
Bestimmung des Vernunftideals durchaus aneignen, aber das Resultat,
das wir daraus im Lichte unseres Vernunftbegriffes erzielen, sieht doch
etwas anders aus. Wir können festhalten, daß eine Vernunfttätigkeit,
die bloß Mittel für eine andere Tätigkeit (sei es eine bloß sinnliche oder
wiederum vernünftige) bereitstellt, nicht den obersten Vernunftzweck
ausmachen kann. Der ganze Bereich der materiellen oder sinnlichen Kul-
tur, wie wir ihn oben bestimmten (§ 37), ist als solche Mittelerzeugung
zu fassen. Aber nicht jede vernünftige Erzeugung im Sinnlichen ist in
sich Mittelerzeugung für eine andere Tätigkeit, sondern die Tätigkeit der
geistigen Kultur bildet Sinnliches für sich selbst als Milieu ihrer Selbst-
verwirklichung80. Das oberste Ziel der Vernunft kann also nicht in der
Aus unserem Zusammenhang ist aber wohl auch deutlich, daß das
praktische Ziel des autonomen Vernunftethos, auch rein wesensformal
betrachtet, in der intersubjektiven Allgemeinheit (Gesetzlichkeit) nicht
schon seinen adäquaten, das Ziel voll wiedergebenden Ausdruck finden
kann, wie dies Kant meinte. Die intersubjektive Allgemeinheit (die Form
der allgemeinen Gesetzgebung) ist zwar ein (immer zu relativierendes)
Moment des Vernunftideals, aber reicht bloß als solche zur Bestimmung
dieses Ideals nicht aus. Denn allgemein gesetzmäßig könnte auch eine
Handlungsordnung sein, die letztlich gar nicht sittlich ist. Das ethische
Prinzip der Gesetzmäßigkeit vermag bloß rein negativ solche Hand-
lungsvorhaben auszuschließen, die, wenn sie allgemein gesetzlich gedacht
werden, in sich einen Widerstreit oder Widerspruch enthalten. Tatsäch-
lich vermag Kant selbst in seiner Ableitung einzelner Pflichten nicht mit
dieser formalen Einstimmigkeit oder Einheit des allgemein gedachten
Willens (die er in Analogie zur Einheit des Bewußtseins als dem Prinzip
aller Theorie denkt85) auszukommen. Er erklärt: »Einige Handlungen
sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als
allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann ... Bei anderen ist zwar
jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich
zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes
erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde. "88
In dieser zweiten Art der Widersprüchlichkeit ist nicht einfach die Ein-
stimmigkeit allgemein gesetzmäßigen Handelns leitend, sondern Kant
muß für sie voraussetzen, daß ein vernünftiger Wille letztlich die Ver-
nunft wollen muß. Er kann sich also bei der Bestimmung des autonomen
Vernunftethos nicht mit der bloßen Form der Gesetzgebung begnügen,
sondern muß diese auf ein Ziel hin beziehen, das nicht einfach analytisch
in dieser Gesetzlichkeit als solcher zu finden ist, das er aber wegen seines
kargen Verhunftbegriffs (der sich im wesentlichen auf das Vermögen der
Regel oder des Gesetzes reduziert) nicht näher explizieren kann. Dieses
Ziel läßt sich schon rein formal aus dem Wesensbegriff der Vernunft weit
reicher artikulieren als durch bloße intersubjektive Allgemeinheit (oder
die homologen Formeln des „kategorischen Imperativs"), wie uns bereits
in unseren vorangegangenen Überlegungen über das Primat der sinnlich
gestaltenden Vernunft (gegenüber dem bloß „theoretisierenden" Ver-
stand) und das Primat der geistigen Kultur spürbar wurde.
Im Falle, in dem das Ethos sich die Vernunft selbst zum obersten Ziel
(Bestimmungsgrund) setzt, wie steht es dann mit seinem Verhältnis zur
Sinnlichkeit? Es ist interessant, diese Frage noch in einer anderen Hin-
sicht weiter in einer Gegenüberstellung zur Ethik Kants zu erörtern, da
sie im Zentrum dieser Ethik steht und eine solche Gegenüberstellung
unseren eigenen Gedanken verdeutlicht.
Der Grundtenor der Kantischen Ethik ist der prinzipielle Gegensatz
und die radikale Fremdheit zwischen der bloß auf reiner Vernunft be-
ruhenden sittlichen Gesinnung, die nur in der reinen Achtung für das
Sittengesetz besteht, und den sinnlichen Bedürfnissen und Neigungen, die
ihre Befriedigung (die „Glückseligkeit") zum Gegenstande haben. Die
Sittlichkeit hat zwar ein wirkliches Verhältnis zur Sinnlichkeit, dieses
wirkliche Verhältnis ist aber ein bloß negatives: Tugend ist „moralische
Gesinnung im Kampf" 87 , d. h. sie schränkt die Sinnlichkeit ein und tut
ihr als „Eigendünkel" ,,unendlichen" Abbruch. Gerade in dieser „De-
mütigung" der Sinnlichkeit, in der Mißachtung und Niederschlagung
ihrer eigenen Ansprüche, in der Wegräumung des Widerspiels ihrer Nei-
gungen, verschafft sich das Sittengesetz diejenige Achtung, die die sittliche
Gesinnung ausmacht88 • Aufgrund dieses bloß negativen Verhältnisses
kann Kant die Ethik als eine rein apriorische behaupten: Was in jed-
welcher Situation sittlich zu tun ist, ist rein aufgrund des apriorischen
Gesetzes der praktischen Vernunft zu erkennen, es bedarf dazu nicht der
geringsten Berücksichtigung der Erfahrung, die ja immer sinnlich ist89 ;
reine (apriorische) Vernunft langt für sich allein zur Bestimmung des
Willens zu, sie kann für sich selbst praktisch sein90 • Zwar scheint Kant
in seiner Idee der Bestimmung des Willens zur Tat durch das reine
Sittengesetz doch auch mit der Erfahrung zu rechnen: ,,Die Kausalität
in Ansehung der Handlungen der Sinnenwelt muß sie (die praktische
Vernunft) allerdings auf bestimmte Weise erkennen, denn sonst könnte
praktische Vernunft wirklich keine Tat hervorbringen. " 91 Andererseits
dient nach Kant der praktischen Urteilskraft die sinnliche Natur als
„Typus" oder „Symbol" für die sittliche Beurteilung einer Handlung
in concreto: ,,Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn
sie\nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest,
geschehen sollte, sie du ·wohl als durch deinen Willen möglich· ansehen
könntest. Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen,
ob sie sittlich gut oder böse sind. " 92 „Es ist also auch erlaubt, die Natur
der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu, brauclien ... " 93
Aber die empirische Sinnenwelt, die nach Kant in die reine praktische
Vernunft hin einspielt, ist nicht: die faktische Empirie, ist nicht ein· Er-
fahrungsinhalt, sondern bloß die „Form der Gesetzmäßigkeit über-
ha'.upt"94, also bloß die (apriorische) Form der Erfahrung. Auf ·den fak-
tischen Jnhalt der Erfahrung :koinmt es nach Kant der. sittlichen Bestim-
mung des Willens zur •Tat (der reinen praktischen Vernunft)'-überhaupt
nicht an, denn ihr ist es· ,,nicht üm die Möglichkeit der Handlung als
einer Begebenheit in der Sinnenwelt zu tun" 95 • Obschon das reine Sitten-
gesetz „der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen
Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen
Natur verschaffen sol1" 96, soll nach Kant der sittlichen Vernunft· ihre
Ausführbarkeit (die reale Vermöglichkeit ihrer Verwirklichung) in der
Sinnenwelt völlig gleichgültig sein: ,,Das Urteil,-ob etwas ein Gegenstand
der reirien praktischen Vernunft sei oder nicht, ist von der Vergleichung
mit uriserein physischen Vermögen ganz unabhängig. " 97 Daß subjektive~
sinnlich naturhafte Ursachen (,,pathologische~', wie Kant sagt)die Kuße-
rung (Wirkung) der praktischeri Vernunft in der Sinnenwelt evtl. ver-
hindern können, ist nicht die Sorge der reinen praktischen Vernunft,
denn sie darf sich nicht: uin die naturhaften praktischen Vermögen küm-
mern98. ·Während :Kant· gerade die Möglichkeit des Willens im· Sinne ·der
Widerspruchslosigkeit der von· ·diesem zur Allgemeinheit erhobenen
· 92 A., a. 0., S. 122 ·(Ak;i.~~-1\usg.. S~ 69); :vgl: die Jlörmel de~ kategorisch~n Imperativs
. ·iri ·der· Grun~legung: :"!ia:ndle so, als_ ob die_ Maxh~e deiner Handlu11g zum, a:II-
,. gemeinen Naturgesetz werden sollte" (Akad:-Ausg. S.:421). · · · ·
88 Kritik der praktischen Vernunft, S;124 (Akad.~Ausg. S. 70). ·
"am~ ,· ' ' . .
. 95 A. a. o., S. 121
(Akad'.~Ausg. S..68).
98 s;
A. a. O;, ·s. 74 (Akac:L-Ausg; 43). .
97 A. a. 0., S. 101 (Akad.-Ausg. S. 57).
98 „Ob die Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte zulange oder nicht,
bleibt den theoretischen Prinzipien: der Vernunft zu beurteilen überlassen, als
Untersuchung der Möglichkeit der Objekte des Wollens,· deren Anschauung also in
der praktischen Aufgabe gar kein , Moment derselben ausmacht. Nur auf die
„Willensbestimmung und, den•, Bestimmungsgrund der Maxime desselben' als·· eines
freien Willens kommt es hier an, nicht auf den Erfolg" (a. a. 0., S:78/79; Akad.-
Ausg. S. 45).
Ethische Kultur 221
Sinnlichkeit voraussetzt und damit für sich (die Vernunft) selbst fordern
muß. Für das geistige Ethos ist die Sinnlichkeit kein Selbstzweck (kein
letzter Bewegungsgrund), sie ist aber eine eigene Realität, auf die es als
der Bedingung seines eigenen Zieles, der Vernunft, einzugehen und
Rücksicht zu nehmen hat 104 •
Dadurch ist aber unser Gegensatz zu Kant noch nicht im innersten
Punkte deutlich geworden: Vernunft ist nicht bloß keine von der Sinn-
lichkeit ablösbare apriorische Idee, sondern sie ist in gewisser Hinsicht
ein empirisches Faktum bzw. ein nur empirisch zu verwirklichendes und
damit auch nur empirisch zu verfolgendes Ideal. Zwar ist Vernunfttätig-
keit als solche nicht empirisch erfahrbar, sie ist kein sinnliches Phänomen;
auch liegt in einer Vernunfttätigkeit als solcher ein Gesetz, ein Wesen,
das nicht durch Erfahrung zu erkennen ist. Aber daß Sinnlichkeit über-
haupt so ist, daß sich Verstand als Vernunft instituieren und damit ver-
wirklichen läßt, und überhaupt jede konkrete Vernunftgestalt ist als
sinnlich so und so verwirklichte ein empirisches Faktum, bzw. als sinnlich
so und so zu verwirklichende ein nur empirisch zu realisierendes Ideal.
Der letzte Bestimmungsgrund des geistigen Ethos, die Vernunft als
solche, enthält als formale Idee (nämlich als Verwirklichung des Ver-
standes in der Sinnlichkeit bzw. als Vergeistigung der Sinnlichkeit)
keinen empirischen Gehalt, aber diese Idee ist konkret überhaupt nur
aufgrund und in empirischer Erfahrung zu verwirklichen und zu ver-
folgen.
Obschon das Ziel des geistigen Ethos weder eine sinnliche Empfin-
dung (etwa Lust), noch ein bloßes empirisches Phänomen, sondern als
Vernunfttätigkeit nur rein reflexiv erfaßbar ist und eine apriorische
(wesensmäßige) Gesetzlichkeit in sich schließt, kann es aufgrund des
Wesens dieses Zieles selbst keine apriorische Ethik oder reine Praktik
geben. Die reine (apriorische) Vernunft kann für sich selbst nicht prak-
tisch sein, wie Kant meinte, sondern die formale Idee der Vernunft
selbst als Ziel der Praxis fordert die „Materialität" (den Inhalt) der
Erfahrung. Die Ethik ist nicht aus der bloßen Idee eines endlichen (sinn-
lichen) Vernunftwesens abzuleiten, sondern ist notwendig auf das empi-
sitzt. Wie schon das sinnliche Umfeld ein Relief des „Gewichts" in Rela-
tion zur Struktur der Triebe und Bedürfnisse aufweist, so hat auch die
Welt der Vernunft ihr mehr oder weniger bleibendes Relevanzrelief.
Dieses ist relativ zu den mehr oder weniger bleibenden Interessen des
Ich, die als Institution des Verstandes in der Trieblichkeit, als Ausrich-
tung von sinnlichen Tendenzen und Begierden auf die Verstandeswelt,
als Aufhebung dieser Tendenzen in das Leben der Vernunft betrachtet
werden können. Der Verstand identifiziert in Erinnerung, Wiedererken-
nen, Voraussicht Gegenstände aller Art, die aber nur flüchtige Gedanken
sind, wenn er sich nicht in der Sinnlichkeit habituell als vernünftiges
Interesse an diesen Gegenständen instituiert. Den Terminus des Inter-
esses würden wir in einem prägnanten Sinn für die vom Verstand her
vergeistigten Tendenzen gebrauchen, also beim bloßen sinnlichen Subjekt
noch nicht von Interessen, sondern nur von Tendenzen und Begierden
(wozu auch die Neugierde gehört) sprechen 126 •
Die Welt der Vernunft ist aber nicht nur die Welt des in Interessen
verleiblichten bloßen Verstandes (der bloßen Erinnerung, Voraussicht,
Einfühlung, Reflexion), sondern sie ist kulturelle Welt, Welt mit Kultur-
gebilden verschiedenster Art, die aus der sinnlichen Produktion der Ver-
nunft stammen. Diese Kulturgebilde, Werkzeuge, Sprachen, Theorien,
Kunstwerke, soziale Institutionen usw., haben für das Ich nur Bestand
und Zugänglichkeit aufgrund der geistigen Vermöglichkeiten des Ich,
aufgrund seiner Vermöglichkeit des Sprechens und Verstehens, des be-
grifflichen Erkennens, des instrumentalen Hantierens, aufgrund des gei-
stigen Auges, Ohres, überhaupt Sinnes für Kunstwerke usw. Diese Ver-
möglichkeit, die Institution des Verstandes in sinnlicher Vermöglichkeit
120 Diese Bestimmung des Terminus „Interesse" ist enger als der gewöhnliche Wort-
gebrauch, in dem man auch bei Tieren von Interesse spricht. Aber sie ist nicht
willkürlich, sondern besitzt durchaus einen Anhalt in der philosophischen Tradition:
Nach Kant hat weder ein bloß sinnliches Wesen, noch ein unsinnliches Vernunft-
wesen, sondern nur ein sinnliches, endliches Vernunftwesen „Interessen": ,,Die
Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung, und
diese-beweist also jederzeit ein Bedürfnis. Die Abhängigkeit eines zufällig bestimm-
baren Willens aber von Prinzipien der Vernunft heißt ein Interesse. Dieses findet
also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der ·
Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken"
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 413, Anm.). ,,Interesse
ist das, wodurch Vernunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ursache
wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran ein
Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe" (a. a. 0.,
S. 460, Anm.).
230 Die Vernunft (die Kultur)
ist, können wir als Bildung des Ich bezeichnen. Diese geistige Vermög-
lichkeit des Ich als eine weitere Art subjektiver Kultur oder subjektiven
Geistes ist ein anderer Faktor seines Wirklichkeitsverhältnisses, der mit
seinen Interessen und seiner ethischen Haltung zusammenwirkt.
Von der geistigen Vermöglichkeit oder Bildung sind als ein anderes
Moment dieses Verhältnisses die habituellen Überzeugungen oder geisti-
gen Auffassungen des Ich zu unterscheiden. Während die Bildung ein
savoir faire ist, das nicht notwendig in assertorischen Urteilen wurzelt,
betreffen die Oberzeugungen oder Auffassungen Urteilsinhalte, die, »in
Fleisch und Blut" übergegangen, zum habituellen „Weltbild" des Ich
geworden sind. Diese ichlichen Oberzeugungen oder Auffassungen, zu
denen auch Wertüberzeugungen gehören, sind eine Vergeistigung der
sinnlichen Umwelthabe, der sinnlichen "Gewißheiten" und Auffassungen.
Schließlich möchte ich in dieser Aufzählung noch die willentlichen
Festlegungen des eigenen Tuns erwähnen, die aus der vorausschauenden
Wahl von einzelnen faktischen Zielen oder Aufgaben, aus den Entschei-
dungen dafür, hervorgehen und bleibende Treue zu diesen bestimmten
Zielen oder Aufgaben verlangen. Es handelt sich um relativ bleibende
praktische Haltungen oder Ausrichtungen wie bei der ethischen Kultur,
die aber in ihrer Faktizität nicht durch diese bestimmt oder wenigstens
durch sie nicht eindeutig bestimmt sind. Diese relativ bleibenden Ent-
schiedenheiten oder Bindungen, die in Fixierungen des sinnlichen Stre-
bens verkörpert sind und von diesem her auch einen affektiven Charak.,.
ter erhalten, bilden ein weiteres konstitutives Moment der vernünftigen
Einstellung zur Wirklichkeit. Alle diese Momente sind natürlich eng
verflochten.
Die subjektive Kultur (subjektiver Geist) ist geistige oder ichliche
Habitualität, die nur besteht in-sinnlicher Verwirklichung. Sie macht die
Persönlichkeit des Ich aus. Der bloß sinnliche „Charakter" (das vitale
Temperament, die sinnliche Habitualität) ist also noch nicht Persönlich-
keit, sondern nur „Stoff" der Persönlichkeit, wird erst Persönlichkeit in
seiner Vergeistigung. Das Ich in seiner Persönlichkeit, also nicht das bloße
Verstandessubjekt, sondern das in seiner Sinnlichkeit verwirklichte Ver-
nunftsubjekt, möchte ich als Person bezeichnen. Wie der subjektive Leib
die Position im sinnlichen Umfeld ist, so bezeichnet die Persönlichkeit die
Position des Ich in der geistigen Welt. Die Person ist demnach das Ich in
seiner Position in der geistigen Welt.
Während von Veränderung des bloßen Verstandessubjekts (des Ich)
zu reden widersinnig ist, verändert sich sehr wohl die Person, genauer,
Persönlichkeit und Person 231
die Persönlichkeit des Ich. Eine Persönlichkeit ist ein Kulturprodukt, ein
mehr oder weniger schwaches oder starkes Gebilde, das seine Geschichte,
sein Werden, Sich-verändern, Verfallen und immer auch sein mögliches
Mißlingen hat. Da das sinnlich-leibliche Subjekt nicht nur die Grundlage,
sondern auch der Stoff ist, in dem sich die Persönlichkeit verwirklicht,
und zwar nicht nur ein charakterloser Stoff (eine unbestimmte, bloß be-
stimmbare Hyle), sondern ein Stoff eigener Wirklichkeit und Dynamik,
so ist die Persönlichkeit immer wesentlich vom Sinnlich-Leiblichen her
mitbestimmt und kann auch von dessen eigener Kraft her zerrüttet oder
gar zerstört bzw. durch seine eigene Schwäche zum Verfall gebracht
werden. Umgekehrt kann aber auch die sinnliche Struktur aufgrund
kultureller Ideen und Normen nicht bloß verändert und vergeistigt,
sondern auch zerrüttet werden, wodurch die Person selbst im Milieu ihrer
Verwirklichung in Leidenschaft gezogen wird. Mag aber auch die Per-
sönlichkeit in ihren Interessen, in ihrer geistigen Vermöglichkeit (etwa
des Sprechens), in ihren Überzeugungen, praktischen Festlegungen und in
ihrer ethischen Haltung zerfallen, auseinandergerissen oder gar verrückt
werden, so bleibt doch das bloße Verstandessubjekt (das Ich) selbst da-
von solange »unbehelligt" bestehen, als es überhaupt noch über die sinn-
liche Grundlage seiner allgemeinen Reflexivität verfügt; mit seiner Per-
sönlichkeit geht es nur seiner stabilen Wirklichkeit als Person bzw. der
stabilen Wirklichkeit der geistigen Welt verlustig127•
Während das Ich in sich Einheit ist, ist die Einheit der Persönlichkeit
eine von der Person zu leistende Aufgabe. Diese Aufgabe betrifft nicht
nur die Eindeutigkeit der ethischen Haltung und die Einstimmigkeit der
verschiedenen Interessen, Überzeugungen und praktischen Festlegungen,
sondern auch die Einheit der Persönlichkeit mit dem sinnlichen Sqbjekt,
in dem sie verkörpert ist, das sich aber seiner Vergeistigung auch wider-
127 Interessant ist in dieser Hinsicht eine Bemerkung Freuds in seinem Abriß der
Psychoanalyse: ,,Selbst von Zuständen, die sich von der Wirklichkeit der Außenwelt
so weit entfernt haben wie der einer halluzinatorischen Verworrenheit (Amentia),
erfährt man durch die Mitteilung der Kranken nach ihrer Genesung, daß damals
in einem Winkel ihrer Seele, wie sie sich ausdrücken, eine normale Person sich
verborgen hielt, die den Krankheitsspuk wie ein unbeteiligter Beobachter an sich
vorüberziehen ließ. Ich weiß nicht, ob man annehmen darf, es sei allgemein so, aber
ich kann über andere, weniger stürmisch verlaufende Psychosen ähnliches berichten"
(Gesammelte Werke XVII, S. 132). Der „unbeteiligte Beobachter" ist hier wohl als
das bloße Ich (in unserem Sinn) zu interpretieren, aufgrund dessen der Kranke
nach der Genesung aus sich selbst weiß, daß er selbst es war, dessen Persönlichkeit
verrückt war.
232 Die Vernunft (die Kultur)
setzen' ühd tun kann, was. die Pers'on nicht will, oder auch nicht tun kann,
was :die Person will. Der innerste, wenn auch nicht alles bestimmende
Kern der personalen Einheit wird wohl durch die ethische Haltung
gebildet, da diese das oberste, formale Ziel der Person betrifft128 • Aber
wohl ist nicht jede ethische Haltung zu dieser Einheit befähigt, sondern
nur die autonome, auf Vernunft selbst gerichtete, denn die bloßen sinn-
lichen Befriedigungen, sofern sie sich nicht bloß unmittelbar auswirken
(in einem bloßen sinnlichen Wesen), sondern mittelbar zu obersten Leit-
ptinzipien vernünftiger Wesen erhoben werden, scheinen auseinander
zu ·geraten und auch von den unmittelbaren Begierden widersprochen
zu werden; Doch lassen wir hier diese ethische Grundfrage offen.
Das Werden der Persönlichkeit wollen wir hier nur als bloße im
Wesen der Vernunft implizierte allgemeine Möglichkeit aussprechen.
Seine Wirklichkeit, der wirkliche Verlauf, ist eine Frage der Erfahrung,
der Empirie, und kann nicht von der Ersten, reinen (apriorischen) Philo--
sophie, sondern nur von der Zweiten, empirischen Philosophie, die sid1
vom Gesichtspunkt der Ersten Philosophie der Empirie bemächtigt (sie
von jener aus interpretiert}, erörtert werden129 • Dabei sind (für die wirk-
liche Geschichte der Persönlichkeit)' natürlich von entscheidender Bedeu-
tung die sozialen Beziehungen, in denen Interessen orientiert, ge1st1ge
Vermöglichkeiten erworben, Oberzeugungen übernommen und gewon-
nen werden usw.
Die Persönlichkeit als die Position des Ich in der geistigen Welt ist
nicht zu verwechseln mit der objektiven Position in einer Kulturgesell-
schaft. Die objektive soziale Position ist als solche auch keine Kornpo-
- nente der Persönlichkeit im soeben umrissenen Sinne. Die soziale Position
wird hauptsächlich durch- die gesellschaftlichen Rollen oder Funktionen
bestimmt, die in mehr oder weniger kohärenten und beständigen sozialen
Konstellationen oder „Systemen" gespielt werden. Soziale Rollen, bzw.
etabHerte „Wechselspiele" sozialer Rollen (Familie, wirtschaftliche und
politische Gesellschaft, Ver~ine, Bildungsanstalten usw.), sind objektive
128 Aristoteles( n• . . der Treffliche ist mit sich selbst einig und strebt mit seiner gänzen
Seele nach dem Selben. Und so will er für sich das Gute ••• und tut es •• ,, ·und
zwar um seines eigenen Selbst willen, denn er tut es um der Vernunft willen
(Öi.aVO'l'J"tL"OÜ XCXQLV), die jeder ZU sein scheint. Und er will leben und sich selbst
erhalten, und zwar .in erster Linie das, wodurch er vernünftig ist (cp cpeovet) ••• "
(Nik. Ethik IX, 1166 a). "Die Minderwertigen sind mit sich selbst uneins, ver-
schiedenes begehren sie, anderes wollen sie ••• " (a. a. 0., 1166 b).
119 ·zum Verhältnis von Erster und Zweiter Philosophie vgl. unten, 3. Teil, 2. Kapi-
tel§ 52.
Persönlichkeit und Person 233
130 Wobei das Wort hier etymologisch urspriinglicher als in dem von uns angenom-
menen (und der philosophischen Tradition näherliegenden) Sinn gebraucht wird,
da persona bekanntlich zuerst die bildhafte Rollenmaske im Theaterspiel bedeutete.
234 Die Vernunft (die Kultur)
143Das Ich und das Es, WW XIII, S. 268; Abriß, WW XVII, S. 68.
m Abriß, WW XVII, S. 128.
us A. a. 0., S. 68.
149 A. a. 0., S. 85. Freud betont zwar immer wieder, daß das Es ganz unbewußt sei
(Massenpsychologie und Ichanalyse, WW XIII, S. 79, Anm; Das Ich 1md das Es,
S. 251), andererseits aber kann er gleichzeitig erklären: ,,Das Es, von der Außen-
welt abgeschnitten, hat seine eigene Wahrnehmungswelt. Es verspürt mit außer-
ordentlicher Schärfe gewisse Veränderungen in seinem Inneren, besonders Schwan-
kungen in der Bedürfnisspannung seiner Triebe, die als Empfindungen der Reihe
Lust-Unlust bewußt werden. Es ist freilich schwer anzugeben, auf welchen Wegen
und mit Hilfe welcher sensiblen Endorgane diese Wahrnehmungen zustande kom-
men. Aber es steht fest, daß die Selbstwahrnehmungen - Allgemeingefühle und
Lust-Unlustempfindungen - die Abläufe im Es mit despotischer Gewalt beherr-
schen" (Abriß, S. 128/129). Freud scheint jedoch der Auffassung zu sein, daß Gefühle
und Empfindungen nur durch „Anlangen" an das Wahrnehmungssystem des Ich
bewußt werden (Das Ich und das Es, S. 250).
147 A. a. 0., S. 83; ,,an diesem Ich hängt das Bewußtsein" (Das Ich und das Es, S. 243).
148 Das Ich und das Es, S. 266; ebenso Abriß, S. 69.
m A. a. 0., S. 285.
160 Abriß, S. 129.
151 „Als Grenzwesen will das Ich zwischen der Welt und dem Es vermitteln, das Es der
Welt gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen dem Es-Wunsch
gerecht machen. • • Es ist nicht nur der Helfer des Es, auch sein unterwürfiger
Knecht, der um die Liebe seines Herrn wirbt. Es sucht, wo möglich im Einver-
nehmen mit dem Es zu bleiben, überzieht dessen unbewußte Gebote mit seinen
vorbewußten Rationalisierungen, spiegelt den Gehorsam des Es gegen die Mahnun-
gen der Realität vor, auch wo das Es starr und unnachgiebig geblieben ist, ver-
tuscht die Konflikte des Es mit der Realität und wo möglich auch mit dem
Ober-Ich" (Das Ich und das Es, WW XIII, S. 286). ,.Die Beziehung zur Außen-
236 Die Vernunft (die Kultur)
Tätigkeiten werden auf sinnliche zurückgeführt. Der Denkaufschub „ist als eine Probe-
aktion zu betrachten, ein mot0risches Tasten mit geringen Abfuhraufwänden" 152 • Die
Funktionen der Bejahung und der Verneinung (des Urteils) sind aus den Trieben des
Eros und der Destruktion entstanden153• Diese Auflösung der Vernunft in die Sinn-
lid1kcit kann uns bei Freud nicht überraschen, denn „das Ich ist vom Es nicht scharf
getrennt, es fließt nad1 unten hin mit ihm zusammen" 154, ja mehr noch, das Ich ist nur
der durd1 den Einfluß des Wahrnehmungssystems modifizierte (differenzierte) Anteil
des Es155 • ,, Ursprünglich war ja alles Es, das Ich ist nur durch den fortgesetzten Ein-
fluß der Außenwelt aus dem Es entwickelt worden." 150 Ursprünglich war das Ich
identisch mit dem Es 157 , das auch weiterhin den „Kern des Ich" 158, den „Kern unseres
Wcsens" 159 bildet und dem das Ich nur „gleichsam als Fassade dient" 100•
Da Ich und Es ursprünglich identisch sind, bleiben sie auch letztlid1 identisch, und
so kann Freud etwa als „das große Reservoir der Libido", der Energie des Eros, wozu
auch die Selbsterhaltungstriebe (die Freud vor 1920 als Ichinteressen der Libido ent-
gegensetzte) gehören, indifferent bald das Ich, bald das Es bezeichnen161 • Das Ich mit
all seinen Funktionen muß bei Freud letztlich auf die Sinnlichkeit zurückgeführt
werden, weil er es von Anfang an als etwas bloß Phänomenal-Leibliches denkt:
Das Ich ist ein „Stück", eine „Provinz", ein „Bezirk" des als „räumlich ausgedehnt
und zweckmäßig zusammengesetzt" gedachten psychischen Apparates162 : ,, ••• das Ich
hat sich aus der Rindenschicht des Es entwickelt, die durch ihre Einrichtung zur Reiz-
aufnahme und Reizabhaltung in direktem Kontakt mit der Außenwelt (Realität)
weh ist für das Ich entscheidend geworden, es hat die Aufgabe übernommen, sie
dem Es zu vertreten, zum Heil des Es, das ohne Rücksicht auf diese gewaltige
Außenmacht im blinden Streben nach Triebbefriedigung der Vernichtung nicht
entgehen würde" (Neue Folge, S. 82).
152 Die Verneinung, WW XIV, S. 14.
153 A. a. 0., S. 15.
154 Das Ich und das Es, S. 251.
155 A. a. 0., S. 252, 256, 267, 268. Neue Folge, S. 82, 83.
156 Abriß, S. 85; ,, Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein
Teil des Es eine besondere Entwiddung erfahren" (a. a. 0., S. 68).
157 A. a. 0., S. 130.
158 Massenpsychologie und Ichanalyse, S. 79 Anm.
150 Abriß, S. 128.
100 Das Unbehagen in der Kultur, WW XIV, S. 423.
161 ,, ••• das Ich ... als ein Reservoir von - narzißtisch genannter - Libido, aus
welchem die Libidobesetzungen der Objekte erfließen und in welches diese wieder
eingezogen werden können" (,,Psychoanalyse" und „Libidotheorie" (1923), WW
XIII, S. 224). ,, ... das Ich ... ein großes Libidoreservoir" (a. a. 0., S. 231). ,,Als
das große Reservoir der Libido, im Sinne der Einführung des Narzißmus, müssen
wir jetzt nach der Scheidung von Ich und Es das Es anerkennen" (Das Ich und
das Es (1923) S. 258 Anm.). ,,Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, wäh-
rend das Ich noch in Bildung begriffen oder schwächlich ist" (a. a. 0,, S. 275).
,, ... das Ich, in dem anfänglich der ganze verfügbare Betrag von Libido auf-
gespeichert ist ... " (Abriß (1938), S. 72). ,,über das ganze Leben bleibt das Ich das
große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie
auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudo-
podien verfährt" (a. a. 0., S. 73).
102 Das Ich und das Es, S. 252; Abriß, S. 67/68, 126.
Persönlichkeit und Person 237
steht."rn 3 Das bewußte Ich "ist vor allem ein Körper-Ich" 164, es ist nicht nur die
Rindenschicht des räumlich ausgedehnten psychischen Apparates, sondern die Projek-
tion der Leibesoberfläche in diesen Apparat165•
Aber wenn wir bei Freud das Vernünftige im Ich hervorgehoben sehen wollen,
müssen wir es dann nicht in Beziehung zum über-Ich oder Ich-Ideal, das ja selbst ein
,,Stück" oder „Bestandteil" 166 des Ich, eine „Stufe" im Ich ist, betrachten? Das über-
Ich steht ja bei Freud für alles „Höhere im Menschen": für die Kultur, für Moral,
Gewissen, Religion und soziales Empfinden167• In Freuds Idee des über-Ich kommt
tatsächlich ein grundwichtiger Charakter der Vernunft zur Geltung: es ist der Inbegriff
der objektiven sozialen Kultur, insofern diese dem Ich als konventionelle und tradierte
Normen des phänomenalen Verhaltens von der Gesellschaft zugemutet und von ihm,
als für es selbst gültig, einfach unbesehen übernommen wurde168• Das über-Ich ist das
ideale Ichbild, das die Gesellschaft dem Ich vorspiegelt und mit dem sich dieses
„identifiziert". Es ist eigentlich nichts dem Ich Eigenes, sondern ein allgemeiner, idealer
und normierender Verhaltenstypus169•
Die Vernunft, die in Freuds über-Ich zur Geltung kommt, ist die Vernunft in
ihrer Selbstentfremdung, und zwar in einem doppelten Sinne: Einmal ist das über-Ich:
ein Ichbild, es ist ein ideales Bild des Verhaltens, wie es den Andern sinnlich-phiino-
menal erscheint (wie sie es beobachten können) 170 und wie es dem Ich imaginativ als
sein „Aussehen" bewußt ist (gleichsam in der vergegenständlichenden Entfremdung des
163 Abriß, S. 129; vgl. a. a. 0., S. 68: "Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen
zur Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine
besondere Organisation hergestellt, die yon nun an zwischen Es und Außenwelt
vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs."
m Das Ich und das Es, S. 255.
165 „Auf die Entstehung des Ichs und seine Absonderung vom Es scheint noch ein
anderes Moment als der Einfluß des Systems W (des Wahrnehmungssystems)
hingewirkt zu haben ... Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein
Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche (nämlich der
leiblichen)" (a. a. 0., S. 253 ).
166 Massenpsychologie und Ichanalyse, S. 120, 125; Das Ich und das Es, S. 282.
167 Das Ich und das Es, S. 265.
rnB Das ganze Idtldeal oder über-Ich ist nach Freud' ,,von außen aufgenötigt" (Zur
Einführung des Narzißmus, \YI\YI X, S. 168), es' ist nichts anderes als der vom- Ich
in sich selbst aufgenommene (verinnerlichte, heute würde man sagen: internalisierte)
Einfluß des sozialen· Milieus, der Anforderungen und der Kritik der Autoritäten,
voran der Eltern (Zur Einführung des Narzißmus, S. 163; Massenpsychologie und
Ichanalyse, S. 121; Neue Folge, S. 68 ff.). Es ist „ein gelungener Fall der Identi-
fizierung mit der Elterninstanz" (Neue Folge, S. 70). Als solche „Repräsentanz
unserer Elternbeziehung" (Das Ich und das Es, S. 264) und der Beziehung zu den
sozialen Autoritäten überhaupt beruht es ausschließlich auf bloßer Übernahme, auf
bloßer Tradition, es bildete sich aufgrund der langen sozialen Abhängigkeit des
Kindes (vgl. Abriß, S. 69, 136).
169 „So wird das Ober-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern,
sondern des elterlichen über-Ichs aufgebaut" (Neue Folge, S. 73). Bringt man die
Forderungen des, über-Ichs zur bewußten Erkenntnis, ,,so zeigt sich, daß sie' mit
den Vorschriften des jeweiligen Kultur-über-Ichs zusammenfallen" (Das Vnbe;.
hagen in der Kultsir, S. 502).
170 über-Ich und "Beobachtungswahn sind nach Freud von derselben Natur _(Neue
Folge, S. 65 f. u. a.).
238 Die Vernunft (die Kultur)
eigenen Spiegelbildes), es ist keine Norm für die subjektiv in sich selbst bewußte
Tätigkeit als solche. So bezieht sich die gesellschaftliche Moral des Ober-Ich immer auf
das phänomenale objektive Verhalten und nicht auf die die Tätigkeit in ihrem letzten
Zweck bestimmende Gesinnung (ethische Haltung) 171 • Diese Selbstentfremdung der
Vernunft ist für das vernünftige soziale Leben durchaus notwendig, aber das Wesen
der Vernunft ist in der phänomenalen Vergegenständlichung nicht erkennbar.
Weiter ist das Ober-Ich Freuds eine Selbstentfremdung der Vernunft auch dadurch,
daß es aus bloßer Tradition, aus bloßer Übernahme und nicht aus ursprünglicher Ver-
nunfttätigkeit oder aus selbständig den ursprünglichen Sinn der Normen reaktivie-
render und überprüfender Aneignung entsteht. Die bloße kulturelle Tradition ist das
sinnliche Vehikel der Vernunft, das zwar von ihr geprägt, in dem sie aber nicht mehr
aktiv ist, sondern sich ganz von ihrem verselbständigten Gebilde leiten und evtl. auch
verleiten läßt. Auch ist Tradition als solche nichts spezifisch Vernünftiges, es gibt auch
sinnliche Tradition (Gewohnheit, unmittelbare Obernahme von Verhaltensweisen
anderer Individuen).
Da Freud in seiner Idee des Ober-Ich die Vernunft nur in dieser doppelten
sinnlichen Veräußerlichung erfahrt, ist es nicht erstaunlich, daß er in ihm gar nichts
spezifisch Vernünftiges erkennt, sondern es auch bei „höheren, dem Menschen seelisch
ähnlichen Tieren" ansetzt: ,,Ein Ober-Ich ist überall dort anzunehmen, wo es wie
beim Menschen eine längere Zeit kindlicher Abhängigkeit gegeben hat."172 Freud sieht
die Kulturentwicklung als einen Kampf zwischen verschiedenen sinnlichen Trieben,
zwischen Lebenstrieb oder Eros und Destruktions- oder Todestrieb173, und ist offenbar
bereit, auch bei Tieren (etwa bei „Insektenstaaten") von Kultur zu sprechen174•
Wir wollten hier, im Versuch einer gewissen Parallelisierung der Freudschen und
unserer eigenen Unterscheidung, illustrieren, wie unfähig eine äußerliche, nicht rein
reflexive Bewußtseinsbetrachtung ist, das Spezifische der Vernunft oder des Ich gegen-
über der Sinnlichkeit oder dem Es zu erfassen. Die Größe Freuds zeigt sich auch
gerade darin, daß er sich in seinem letzten Werk seine Unwissenheit über den eigent-
lichen, wesenhaften Unterschied zwischen Ich und Es eingesteht: ,, Wenn wir uns aber
zur topischen Zerlegung des psychischen Apparates in Ich und Es, mit der die Unter-
scheidung .der Qualität vorbewußt und unbewußt parallel läuft, entschlossen haben
und diese Qualität nur als ein Anzeichen des Unterschieds, nicht als das Wesen des-
selben, gelten lassen, worin besteht dann die eigentliche Natur des Zustandes, der sich
im Es durch die Qualität des Unbewußten, im Ich durch die des Vorbewußten verrät,
und worin liegt der Unterschied zwischen beiden? Nun, darüber wissen wir nichts und
von dem tiefdunklen Hintergrund dieser Unwissenheit heben sich unsere spärlichen
Einsichten kläglich genug ab. "175
Wenn wir auch bei Freud über das Wesen des Verstandes oder Vernunft kaum
etwas lernen können, wenn also die Erste oder reine Philosophie von ihm nicht
profitieren kann, so gibt es für die Zweite oder empirische Philosophie, die die
empirisch erfahrenen und erfahrbaren „Geschichten" der Vernunft von der Ersten her
interpretiert, wenig Material, das von selbem hohen Interesse wäre, .wie das durch
die Erfahrung Freuds zutage geförderte. Obschon die Freudsche Theorie das ver-
171 Dem widerspricht nicht, daß nach Freud das über-Ich nicht nur das tatsächliche
Verhalten, sondern auch die Absichten des Ich beurteilt. Die Absichten werden
beurteilt nach dem phänomenalen Verhalten, das sie intendieren.
178 Abriß, S. 69.
113 Das Unbehagen in der Kultur, S. 481.
m A. a 0., S. 482.
176 Abriss, S. 85/86.
Persönlichkeit und Person 239
nünftigc Ich als eine wesenslose Fassade des Es darstellt, als etwas, das nicht für sich,
kein Selbstzweck ist (der Zweck des Lebens ist nach Freud „das Programm des Lust-
prinzips", die Tricbbefriedigung 176), sondern sich in fremdem Dienst befindet, steht
die Freudsche Praxis ganz im Dienste dieses selben Ich, sie hat es nur darauf abgesehen,
,,das Ich zu stärken" 177, sie stellt sich unter den Leitsatz: ,, Wo Es war, soll Ich wer-
den"178, und leistet damit Kulturarbeit im Sinne der Selbstverwirklichung der Ver-
nunft. In dieser praktischen Ausrid1tung liegt wohl die tiefste Wurzel dafür, daß die
psychoanalytische Erfahrung für die philosophische Selbsterkenntnis der Vernunft
dieses große Interesse besitzen kann.
erhoben werden. Die Methode der Beantwortung bestimmt den Sinn der
Gültigkeit der Antwort, sie ist konstitutiv für ihren Wahrheitsanspruch,
so daß die Antwort wie entsprechend auch die Hinsicht der Frage (das
,,was?") ihrem allgemeinen Charakter nach erst in dieser methodologi-
schen Reflexion volle Klarheit erreichen kann. - Im 3. Kapitel dieser
Methodenlehre werden wir uns schließlich mit den vielschichtigen Pro-
blemen der philosophischen Sprache, so wie sie sich aus den methodischen
Anforderungen der philosophischen Erkenntnis ergeben, auseinander-
setzen.
1. Kapitel
Die reine Reflexion
5 Ich möchte hier nicht diskutieren, ob schon bei Aristoteles ein Ansatz zu dieser
Auffassung vorhanden ist. Auf alle Fälle wird bei ihm die Sache weder deutlich,
noch scheint sie einhellig: Während in De somno (455 a) ein besonderer Sinn für
die Wahrnehmung der Wahrnehmungstätigkeiten vorzukommen scheint (xugiov
alcr-011,{iQLOv), wird an anderen Stellen (besonders De anima III, 2, 425 b 12 ff.)
solches abgelehnt.
6 Essay, II., 1. Kap., §§ 2 und 4; 12 Kap., § 1.
7 Siehe Meditationes VI, A. et T., VII, S. 76/77, 83.
8 Vgl. unten § 51.
0 Ideen I (Husserliana III), S. 177; "unter den Begriff der Reflexion fallen alle Modi
immanenter Wesenserfassung und andererseits immanenter Erfahrung" (a. a. O.,
s. 181).
1o Siehe Husserliana VII, S. 94 ff.
Die Aktreflexion und „innere Wahrnehmung" 251
Leibniz, Berkeley und Kant. Aber dennoch ist es bei keinem dieser
Philosophen zu einer wirklichen Erfassung der Bewußtseinsstruktur der
Aktreflexion gekommen.
Leibniz fragt Locke: "Wie ist es möglich, daß der Geist hinsichtlich
der Perzeption aller einfachen Vorstellungen passiv ist, da es ja nach
Ihrem eigenen Zugeständnis einfache Vorstellungen gibt, deren Perzep-
tion aus der Reflexion kommt, und der Geist sich selbst die Reflexioris-
gedanken gibt, denn er ist es ja, der reflektiert?" 22 Leibniz faßt hier die
Reflexion als Gegenstandsgebung durch reine Selbsttätigkeit. Ja, bei ihm
kommt auch zur Geltung, daß die Reflexion nicht als wahrnehmende
Gegenwärtigung, sondern nur in der Vergegenwärtigung möglich ist. In
einem Kontext über die Identität der Person und die Gewißheit ver-
gangener eigener Tätigkeiten erklärt Leibniz: »Eine Erinnerung mit
einigem Abstand kann täuschen ..., aber die gegenwärtige oder so-
fortige Erinnerung oder die Erinnerung an das, was unmittelbar zuvor
geschah, d. h. das Bewußtsein oder die Reflexion, welche die innere
Tätigkeit begleitet, vermag nicht natürlicherweise zu täuschen; sonst
wäre nicht einmal sicher, daß man an dies oder jenes denkt, denn es ist
auch nur von der vergangenen Tätigkeit, von der man es in sich sagt,
und nicht von der Tätigkeit selbst, die es sagt. "23 Allerdings schafft
Leibniz keinen klaren Begriff der Aktreflexion, denn er vermengt sie
(als eine ganz besondere Weise des mittelbaren Bewußtseins) mit dem
Selbstbewußtsein, d. h. mit dem mittelbaren Bewußtsein überhaupt (je-
des mittelbare Bewußtsein ist Selbstbewußtsein oder Ichbewußtsein) 24•
So kann er denn auch wieder die Reflexion als Bewußtsein ( conscien-
22 »Comment cela se peut-il, qu'il ,l'esprit, soit passif a l'egard de toutes !es
idees simples, puisque selon votre propre aveu il y a des idees simples dont la
perception vient de 1a reflexion et que l'esprit se donne lui-meme les pensees de
reflexion, car c'est lui qui reflechit?" Nouveaux Essais II, 1. Kap. § 25.
23 »Un souvenir de quelque intervalle peut tromper ..., mais le souvenir present ou
immMiat, ou le souvenir de ce qui se passait immediatement auparavant, c'est-a-
dire la conscience ou la reflexion, qui accompagne l'action interne, ne saurait
tromper naturellement; autrement on ne serait pas meme certain qu'on pense a
telle ou telle chose, car ce n'est aussi que de l'action passee qu'on le dit en. soi et
nein pas de l'action m~me qui le dit" '(Nozeveaux Essais, II, 27. Kap.,.§ 13).
24 Sogar das Selbstbewußtsein und das bloße (unmittelbare) Bewußtsein sind bei
Leibniz nicht immer klar unterschieden, trotz seiner Gegenüberstellung von Perzep-
tion und Apperzeption. Diese Gegenüberstellung ist selbst nicht ganz klar (indem
die „Apperzeption" bei Leibniz nicht nur das Selbstbewußtsein, sondern auch
besonders deutliche Perzeptionen deckt), und Leibniz denkt sich jedes Bewußtsein
(jede Monade) ichhaft.
254 Die reine Reflexion
25 A. a. 0., §§ 9, 13 .
.26 Principles, § 89.
27 A. a. 0., §§ 27, 135-140.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 255
Obschon sich Kant in späterer Zeit, soweit mir bekannt ist, hütet,
solches zu sagen, vermöchte er es aufgrund seiner Bewußtseinstheorie
auch nicht zu verneinen. In dem bereits oben einmal zitierten Text von
1762 jedoch erklärt er aufs deutlichste, daß "die Kraft oder Fähigkeit,
wodurch das Urteilen möglich wird, nichts anderes sei als das Vermögen
des inneren Sinnes, d. i. seine eigenen Vorstellungen zum Objekt seiner
Gedanken zumachen" 86•
Uns muß hier vor allem Kants transzendentale Reflexion interessie-
ren. Um was für eine Bewußtseinsstruktur handelt es sich hier, die die
Vorstellungen auf die verschiedenen Erkenntnisquellen zurückführt? Die
Anschauung durch den inneren Sinn kann dafür nicht aufkommen: »In
der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des
inneren Sinnes; in der Logik (Kant meint hier die transzendentale
Logik) aber nach dem, was das intellektuelle Bewußtsein an die Hand
gibt. "37 Bevor wir genauer feststellen, was dieses intellektuelle Bewußt-
sein ist, auf dem die transzendentale Logik beruht, wollen wir uns
fragen, was nach Kant die Selbsterfahrung des Subjekts durch den
inneren Sinn an die Hand geben soll. Diese Selbsterfahrung oder
empirische Apperzeption beruht auf der inneren Wahrnehmung des
Mannigfaltigen im Gemüte, das durch die Affektion des inneren Sinnes
gegeben und hier gemäß dessen bloß subjektiven Form, der Zeit, bei-
sammen ist. Das Subjekt schaut sich so an, ,,nicht wie es sich unmittelbar
selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen
affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist" 88• Worin
besteht nach Kant dieses Mannigfaltige, das das Gemüt vermittelst des
inneren Sinnes als „seinen inneren Zustand" 89 wahrnimmt? Dazu gehö-
ren einmal bloße innere Empfindungen, so »das Gefühl der Lust und
Unlust als eine dem inneren Sinn angehörige Rezeptivität" 40• Den
»eigentlichen Stoff" der inneren Anschauung machen aber „die Vor-
stellungen äußerer Sinne . . . aus, womit wir unser Gemüt besetzen " 41 •
Wir nehmen also nach Kant durch den inneren Sinn äußere Wahrneh-
mungen wahr, also auch Akte, denn die Wahrnehmung oder »Apprehen-
sion" ist auch für Kant ein Akt 42 • So „nehmen wir", nach Kant, auch
„jederzeit" die figürliche Synthesis der Einbildungskraft (synthetischer
Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn), wodurch wir Raumge-
stalten beschreiben, als „reinen Aktus der sukzessiven Synthesis des
Mannigfaltigen" ,,in uns wahr" 43 • Also Gegenstände des inneren Sinnes
(der inneren Wahrnehmung) sind nach Kant sowohl Empfindungsinhalte
als auch Akte, und nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Denkakte44 •
Wir sehen also Kant einerseits ganz von der falschen Lockeschen Idee
der inneren Wahrnehmung befangen.
Aber andererseits sieht Kant, daß Wahrnehmung durch einen inneren
Sinn nur sinnliche Erscheinungen hergeben und daß eine transzendentale
Reflexion, die die Möglichkeit und die Quellen der Erkenntnis (aus
Sinnlichkeit und Vernunft) erfassen will, sich keineswegs in bloßen
sinnlichen Erscheinungen bewegen kann, wenn sie ihrem Anspruch genü-
gen soll. Kant greift selbst ausdrücklich das Bedenken auf, das aus der
Idee der inneren sinnlichen Anschauung des denkenden Subjekts er-
wachsen muß: ,,Der Satz, Ich denke, oder ich existiere denkend, ist ein
empirischer Satz. Einern solchen aber liegt empirische Anschauung, folg-
lich auch das gedachte Objekt als Erscheinung, zum Grunde, und so
scheint es, als wenn nach unserer Theorie die Seele ganz und gar, selbst
im Denken, in Erscheinung verwandelt würde, und auf solche Weise
unser Bewußtsein selbst, als bloßer Schein, in der Tat auf nichts gehen
müßte. " 45 Auf dieses Bedenken antwortet Kant bekanntlich durch die
Idee der reinen Apperzeption (des reinen, unsinnlichen Selbstbewußt-
seins); sie ist der „höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch,
selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie
heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst" 46 • In diesem
Sinne führt Kant aus: ,,Das Denken, für sich genommen, ist bloß die
42 Vgl. die „Synthesis der Apprehension in der Anschauung" in der 1. Aufl. der
Kritik der reinen Vernunft (A 98 ff.); ebenso Anthropologie, § 4, Akad.-Ausg. S. 134.
43 Kritik der reinen Vernunft, B 154/5.
4·1 ,, ••• unser denkendes Subjekt ... wird von uns als Gegenstand des inneren Sinnes
vorgestellt" (a. a. 0., A 357); ,, .•. wir können ihre Gedanken (der denkenden
Wesen), ihr Bewußtsein, ihre Begierden usw. nicht äußerlich anschauen; denn dieses
gehört alles vor den inneren Sinn" (ebenda); ,,Gedanken ..., die durch den eigenen
inneren Sinn mit Bewußtsein vorgestellt werden können" (a. a. 0., A 359); ,, .. .die
Vorstellung meiner Selbst, als des denkenden Subjekts, bloß auf den inneren Sinn
bezogen" (a. a. 0., A 371); ,, ..• der Gegenstand meines inneren Sinnes (meine
Gedanken)" (ebenda).
4" A. a. 0., B 428.
46 A. a. 0., B 134.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 259
47 A. a. 0., B 428/9.
48 Grundlegung zi.r Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., S. 451 (Hervorhebung z. T.
von uns); vgl. S. 457, 458, 461.
49 Kritik der reinen Vernunft, A 546/7; B 574/5.
260 Die reine Reflexion
52 Reflexion ist hier im Sinne der allgemeinen Reflexion als der Verstandestätigkeit
überhaupt zu verstehen, so wie »Apprehension" nicht die empirische Apperzeption,
sondern sinnliche Wahrnehmung überhaupt bedeutet.
53 Anthropologie, § 4, Akad.-Ausg. S. 134, Anm. In ähnlichem Sinne wird S. 133/34
erklärt, daß „die verschiedenen Akte der Vorstellungskraft in mir zu beobachten,
wenn ich sie herbeirufe ... für Logik und Metaphysik nötig und nützlich" sei, daß
aber dieselben Akte, "so wie sie auch ungerufen von selbst ins Gemüt kommen (das
geschieht durch das Spiel der unabsichtlich dichtenden Einbildungskraft)" nur
»innere Erfahrungen" ausmachen.
54 Anthropologie, § 7, Akad.-Ausg. S. 142.
55 Kritik der reinen Vernunft, A 345/6; B 404.
56 „Ich bin einfach, bedeutet aber nichts mehr, als daß die Vorstellung: Ich, nicht die
mindeste Mannigfaltigkeit in sich fasse und daß sie absolute (obzwar bloß logische)
Einheit sei" (a. a. 0., A 355).
262 Die reine Reflexion
51 A. a. 0., B 68.
ss A. a. 0., B 157/8, Anm. Vgl. .Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg.
S. 462: Von der Welt der Intelligenzen »habe ich eine Idee, die ihren guten Grund
hat, doch habe .ich von ihr nicht die mindeste Kenntnis und kann auch zu dieser
durch alle Bestrebungen meines natürlichen Vernunftvermögens niemals gelangen.
Sie bedeutet nur ein Etwas, das da übr.ig bleibt ••. ".
GD Siehe etwa a. a. 0., Akad.-Ausg., S. 458: ., ... das Bewußtsein seiner selbst als
Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende
Ursache .. ,".
°
1 Kritik der praktischen Vernunft, S. 72, 81/82, 128 u. a. (Akad.-Ausg. S. 42, 47,
72/73 u. a.); vgl. auch die Ausführungen und zitierten Stellen aus Kants Nachlaß
im ·Beitrag von D. Henrich, »Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre
vom Faktum der Vernunft" zur· Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Georg
Gadamer, Tübingen, 1960, S. 107-110.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 263
fährt nach der oben zitierten Stelle gleich fort: ,,Da das letztere gleich-
sam eine Aufsuchung der Ursache zu einer gegebenen Wirkung ist und
insofern etwas einer Hypothese Ähnliches an sich hat (ob es gleich, wie
ich bei anderer Gelegenheit zeigen werde, sich in der Tat nicht so ver-
hält), so scheint es, als sei hier der Fall, da ich mir die Erlaubnis nehme,
zu meinen, und dem Leser also auch freistehen müsse, anders zu meinen.
In Betracht dessen muß ich dem Leser mit der Erinnerung zuvorkommen,
daß, im Fall meine subjektive Deduktion nicht die ganze Überzeugung,
die ich erwarte, bei ihm gewirkt hätte, doch die objektive, um die es mir
hier vornehmlich zu tun ist, ihre ganze Stärke bekomme ... " 68 • Aber
für mich (auch ein Leser) ist es klar, daß das Ausweichen gegenüber
der „subjektiven" Frage, was Vernunft oder Verstand selbst sei, der
„objektiven" Frage der „Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe" den
philosophischen Boden und ein mögliches philosophisches Verständnis
entzieht. In der Deduktion der zweiten Auflage wird die „subjektive
Seite" der „größeren Faßlichkeit" willen fast völlig weggelassen, und es
tönt geradezu zynisch, wenn Kant diese Veränderung als einen „kleinen
Verlust" bezeichnet69•
3. Aus der Leere oder Unbestimmtheit der durch die intellektuelle
Apperzeption bewußten Spontaneität ergab sich für Kant schließlich
noch eine weitere Konsequenz: Da das reine „Ich denke" keine Erkennt-
nis ausmacht, bezeichnet es bloß ein unbekanntes und für uns immer
unerkennbares „transzendentales Subjekt der Gedanken = X", ,,einen
uns unbekannten Grund der Erscheinungen", den „transzendentalen
Gegenstand des inneren Sinnes" 70 • Da alles Mannigfaltige des Selbst-
bewußtseins nur Erscheinung in der inneren sinnlichen Anschauung ist,
os A. a. 0., A XVII.
a9 A. a. 0., B XLII.
70 „Durch dieses Ich ... , welches denkt, wird nun nichts weiter als ein transzendentales
Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine
Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten
Begriff haben können ... " (a. a. 0., A 346). ,,Es ist aber offenbar, daß das Subjekt
der Inhärenz durch das dem Gedanken anhängende Ich nur transzendental bezeich-
net werde, ohne die mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken oder überhaupt
etwas von ihm zu kennen oder zu wissen" (a. a. 0., A 355). ,,Der transzendentale
Gegenstand ist, sowohl in Ansehung der inneren als äußeren Anschauung, gleich
unbekannt" (a. a. 0., A 372). ,,Das transzendentale Objekt, welches den äußeren
Erscheinungen, im gleichen das, was der inneren Anschauung zum Grunde liegt, ist
weder Materie noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter
Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten sowohl als
zweiten Art an die Hand geben (a. a. 0., A 379/80). Analoges auch in der zweiten
Auflage: B 422 Anm., 426/27.
266 Die reine Reflexion
kann die intellektuelle Apperzeption nur völlig leer und unbestimmt ein
X „hinter" den Erscheinungen bezeichnen. Es wird damit hinter allem
durch das Selbstbewußtsein „als bloßer Erscheinung" Erkennbaren noch
ein unerkennbares „Etwas an sich" angesetzt. Dadurch wird die Ver-
nunft oder der Verstand selbst in eine unerkennbare „Oberwelt" er-
hoben, während sie doch nichts anderes und nicht mehr ist als das in
reiner Reflexion (und aufgrund dieser durch transzendentale Interpre-
tation) Erkennbare. Die großen Nachfolger Kants haben diesen „Hinter-
welt"-Gedanken nicht mitvollzogen, aber anstatt sich dabei auf die rein
reflexive Bewußtseinsanalyse abzustützen, die allein das Fundament für
eine prinzipiell von jedem Vernünftigen überprüfbare Philosophie als
Selbsterkenntnis der Vernunft abgeben kann, konstruierten sie· entweder
ingeniös, aber ohne direkten bewußtseinsanalytischen Ausweis aus der
reinen Apperzeption als dem „obersten Grundsatz" die erfahrene Wirk-
lichkeit (Fichtes frühe Wissenschaftslehre, Schellings System des tran-
szendentalen Idealismus) oder ließen überhaupt das reine Selbstbewußt-
sein als Grundlage der Philosophie zugunsten einer Objektivität (Hegels
dialektische Geistesgeschichte, ,,Bewegung des Begriffs") fallen.
Dieser unglücklichen Entwicklung der Philosophie, von der ich nur
die für alles weitere entscheidende Phase bei Kant umreißen wollte, liegt
Lockes Verfälschung der Aktreflexion zur inneren Wahrnehmung (,,In-
trospektion") zugrunde. Da die Aktreflexion die Grundmethode der
Philosophie darstellt, liegt in der theoretischen Auffassung der Reflexion
die „Entscheidung über Leben und Tod" der Philosophie als Selbst-
erkenntnis der Vernunft. Wenn in der heutigen Zeit von der sog.
,,sprachanalytischen Philosophie", vor allem von Wittgenstein und Gil-
bert Ryle, größter Vorbehalt, ja Ablehnung gegenüber der reflexiven
Bewußtseinsanalyse als philosophischer Methode an den Tag gelegt wird,
so wurzelt diese Ablehnung immer noch in der Lockeschen Verkennung
der Aktreflexion als „innere Wahrnehmung" oder „Introspektion" 71 •
die Motilität, die. im Gegensatz zu ihr auf die Veränderung der Außen-
welt gerichtet ist, in Beziehung auf die Triebregung als „Abfuhrak-
tion "77. Unbewußt sind also Triebe, Energien, Impulse, Wunschregungen,
Strebungen, die gerade dadurch unbewußt bleiben oder „ins Unbewußte
zurückgestoßen" werden, daß ihnen die Auswirkung in eine Tätigkeit
irgendwelcher. Art verhindert wird. Daß das verdrängende Ich gewisse
Wunschregungen nicht zum Bewußtsein kommen lassen will, heißt, daß
es sie nicht zur Tätigkeit kommen lassen will, und daß es sie nicht zur
Tätigkeit kommen· lassen will, heißt, daß es sie nicht zum Bewußtsein
kommen lassen will. Triebe, Energien, Impulse, Wunschregungen, Stre-
bungen selbst sirid noch keine Tätigkeiten, denri sie erithalten nicht wie
diese ein Sich.:öffnen von Zukunft und ein Sich-bestimmen von der
Zukunft her, sondern sind nur von der Vergangenheit her bestimmt.
Wie steht es nun aber z.B. mit den „unbewußten Vorstellungen", die
Freud auch als Akte bezeichnet? In Wirklichkeit handelt es sich dabei
weder um Vorstellungen noch um Akte. Bei diesen „unbewußten Vor-
stellungen" wird nichts vorgestellt, weder als Wahrnehmung, noch als
Phantasie, noch sonstwie, sondern mit diesem Ausdruck meint Freud
nur geprägte, qualitativ differenzierte, an gewisse Inhalte fixierte Ener-
gien im Gegensatz zu verschiebbaren, indifferenten Energien. Unbewußte
Vorstellungen sind „Besetzungen von Erinnerungsspuren", ,,Fixationen
von Triebregungen an Erinnerungsspuren" 78 • Dabei sind diese Erinne-
rungsspuren auch für Freud keineswegs Erinnerungen (Erinnerungsakte),
sondern bloß habituelle Niederschläge der Erlebnisvergangenheit79• Die
.,,unbewußte Vorstellung": bedeutet also nur die inhaltliche Qualifizie-
rung oder Prägung der Strebungen aus der Vergangenheit (,,Geschichte"),
die man nicht nur, wie das Wort „Erinnerungsspuren" nahelegen könnte,
als· individuelle, sondern auch als artmäßige (phylogenetische) Vergan-
genheit denken kann.
Es gibt nach Freud in Wirklichkeit auch keine unbewußten Affekte
(Empfindungen, Gefühle, die auch als Akte· angesehen werden müssen):
80 A. a. 0., S. 277.
81 Ebenda.
82 A. a. 0., S. 276.
83 Die Verdrängung, S. 248.
8• A. a. 0., S. 249/50.
85 Die Verdrängung, S. 253 ff.; Das Unbewußte, S. 279 ff.; Das Ich und das Es,
S. 243; Abriß der Psychoanalyse, WW XVII, S. 87.
86 Die Gegenbesetzung geht nach Freud vom System Bw (Vbw) aus.
270 Die reine Reflexion
81 Abriß, S. 79/80. Vgl. Das Unbewußte, S. 264/65: ,,Die Annahme des Unbewußten ist
notwendig, weil die Daten des Bewußtseins in hohem Grade lückenhaft sind; sowohl
bei Gesunden als bei Kranken kommen häufig psychische Akte vor, welche zu ihrer
Erklärung andere Akte (?) voraussetzen, für die aber das Bewußtsein nicht
zeugt. Solche Akte sind nicht nur die Fehlhandlungen und die Träume bei Gesunden,
alles, was man psychische Symptome und Zwangserscheinungen heißt, bei Kranken -
unsere persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren
Herkunft wir nicht kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns ver-
borgen geblieben ist. Alle diese bewußten Akte blieben zusammenhangslos und
unverständlich, wenn wir den Anspruch festhalten wollen, daß wir auch alles durchs
Bewußtsein erfahren müssen, was an seelischen Akten in uns vorgeht, und ordnen
sich in einen aufzeigbaren Zusammenhang ein, wenn wir die erschlossenen unbewuß-
ten Akte interpolieren."
Reflexive Selbsterkenntnis und das „Unbewußte" 271
Psychoanalyse ist weder bloß reine Philosophie noch bloß positive Wis-
senschaft, sondern eine philosophisch interpretierte sinnliche Erfahrung
von der menschlichen Vernunft: Empirische oder Zweite Philosophie,
Wissenschaft von der Vernunft91 , die durch solche Interpretation die
Konkretion der Erfahrung in sich aufgenommen hat.
Diese Zweite Philosophie ist Philosophie. Der Psychoanalytiker
würde sich evtl. für eine sold1e philosophische Interpretation seiner Er-
fahrung bedanken, nämlich insofern er als bloßer positiv-wissenschaft-
licher Psychoanalytiker von der reinen Reflexion überhaupt keine
Ahnung hat, während dem Philosophen von der reinen Philosophie her
die psychoanalytische Erfahrung als eine Erfahrung vom Menschen durch-
aus zugänglich ist, denn er weiß aus der reinen Reflexion, daß die Ver-
nunft· in der Sinnlichkeit notwendig fundiert und instituiert ist und
insofern (in ihren Bedingungen, ,,Mitteln" und Resultaten) als sinnlich
wahrnehmbares geschichtliches Verhalten des Menschen erscheint. Zwar
macht sich Freud auch anheischig, die „philosophische Introspektion"
psychoanalytisch zu erklären: Er bringt sie genetisch in eine Linie mit
dem Beobachtungswahn, der nach ihm eine Regression der Selbstkritik
(Gewissen) und Selbstbeobachtung auf ihre Herkunft: die elterliche
Kritik und überhaupt die Kritik der Autoritäten und der öffentlichen
Meinung, darstellt 92• Im Beobachtungswahn klagen die Kranken darüber,
daß man alle ihre Gedanken und Handlungen beobachtet und beauf-
sichtigt; sie hören die Stimmen, die in dritter Person zu ihnen sprechen:
,,Jetzt denkt sie wieder daran; jetzt geht er fort". Wir können sagen,
im Beobachtungswahn fühlen sid1 die Kranken beständig gesehen. Nun
ist aber gerade die philosophische Reflexion dadurch ausgezeichnet, daß
sie durch die Reduktion der Phänomenalität alles „sich selbst mit frem-
den Augen sehen", dem auch die natürliche Reflexion noch verhaftet ist,
ausschaltet und sich als reine Selbsttätigkeit des Verstandes vollzieht.
Die philosophische Reflexion kann in ihrem Wesen niemals auf das
Beobachtet-werden durch das äußere soziale Milieu zurückgeführt wer-
den, da sie in radikalem Gegensatz dazu ihren Ursprung rein im Ver-
stande selbst hat und sich von der „äußeren", phänomenalen Auffassung
der Tätigkeit (dem Gesehensein) ausdrücklich fernhält. Nur das „sich
selbst.mit fremden Augen sehen" kann allenfalls im Freudschen Sinn als
„Introjektion" des sozialen Milieus angesehen werden, aber gerade nicht
die reine Reflexion.
91 Zum Begriff der Zweiten Philosophie vgl. unten § 52.
92 Zur Einfiihrnng des Narzißmus, WW X, S. 162-164.
2. Kapitel
Wesenserkenntnis
1 Vgl. oben§ 2.
274 Wesenserkcnntnis
des Wortes »Erinnerung" als ein erster Hinweis; diese Bedeutung redu-
zieren wir aber auf ihren rein reflexiven Gehalt. Wir gehen von einer
beliebigen Erinnerung aus, das heißt, der besondere Erinnerungsgehalt
ist uns gleichgültig, wir nehmen irgendeine wirkliche oder auch nur er-
dachte (phantasierte) ,,mögliche" Erinnerung vor und interessieren uns
ausschließlich für diese Bewußtseinstätigkeit als solche. Jedoch, indem
wir in diesem Interesse von allem besonderen Inhalt des Erinnerungs-
beispieles absehen, erkennen wir damit noch nicht die Erinnerung in
ihrem Wesen, wir erkennen damit überhaupt noch nicht, was sie als
solche ist. Wir erkennen sie erst in ihrer Wesensform, wenn wir sie als
eine notwendige Einheit, genauer, als eine Mannigfaltigkeit in einer
notwendigen Einheit erfassen. Erst wenn wir analytisch verschiedene
Momente unterscheiden und sie synthetisch als einen notwendigen Ein-
heitszusammenhang erkennen, wollen wir von Wesenserkenntnis reden.
Als solche Momente haben wir bei der Erinnerung unterschieden: den
Erinnerungsakt, eine darin intentional unmittelbar (bei der einfachsten
Erinnerung) oder mittelbar (bei der komplizierten Erinnerung) impli-
zierte vergangene Wahrnehmung, gegenständliche Identität als objektive
Einheit dieser Akte, subjektive, ichliche Einheit dieser Akte und schließ-
lich ein mit dem Erinnerungsakt gleichzeitiges, diesen fundierendes
unmittelbares Bewußtsein (Wahrnehmung oder Empfindung).
Daß diese Momente einen notwendigen Einheitszusammenhang aus-
machen, soll folgendes besagen: Eine Notwendigkeit besteht schon darin,
daß Erinnerung als solche nur möglich ist, wenn alle diese aufgezählten
Momente vorhanden sind; alle diese Momente sind für die Erinnerung
konstitutiv, sie sind für sie notwendige Bedingungen ihrer Möglichkeit.
Weiter sind sie zusammen aber auch die ausreichenden Bedingungen:
wenn sie zusammen vorliegen, besteht eo ipso auch die Erinnerung. Aber
damit ist noch nicht die notwendige Einheit ausgesagt. Ein Septakkord
z.B. ist eine klangliche Einheit, die aus vier Tönen in Abständen von
kleinen oder großen Terzen besteht. Man kann sagen, alle vier Töne
seien notwendige Bedingungen der Möglichkeit des Septakkordes. Aber
dennoch ist der Septakkord keine notwendige Einheit, denn alle vier
Töne können auch für sich allein bestehen, oder es können nur einzelne
Terzen oder Dreiklänge erklingen. Alle diese Teile des Septakkordes
können selbständig, d. h. unabhängig von ihm auftreten. Damit soll
nicht gesagt sein, daß ein solcher Akkord eine bloße Summe oder ein
Agglomerat von Tönen sei; er besitzt akustisch durchaus, was man als
„Ganzheits-", ,,Komplex-" oder „Gestaltqualität" bezeichnet, aber er
276 Wesenserkenntnis
4 Metaphysik Z, 17.
Der Begriff des Wesens 279
was dieses Prinzip in sich selbst ist, hat es gar keinen Erkenntniswert, da
aus ihm ja auch gar nichts Bestimmtes ableitbar ist. Zwar identifiziert
Aristoteles im Zusammenhang der Bestimmung der sinnlichen Substanz
das Eidos mit dem festen Wasgehalt (dem i:t ~v stvm) einer Sache5 und
erklärt, daß die Bestimmung, der ÖQL<Jµoi; dieser Sache gerade das ·tt ~v
i;tvm oder slöoi; betreffe; demnach gäbe es also doch eine Erkenntnis
des Eidos selbst. In Wirklichkeit aber sind die ÖQLGµot durch Gattung und
Differenzen, die Aristoteles von den sinnlich erfahrbaren Substanzen
als solchen gibt, gar nicht Definitionen von Eide, sondern der GvvoJ.a, der
materiellen Ganzheiten. So ist etwa die Definition des Naturwesens
Mensch als tq:,ov öGtovi;6 keine Definition des Eidos des Menschen, son-
dern des GvvoJ.ov; das Eidos des Menschen ist nach Aristoteles ja die
Seele. Aristoteles erklärt selbst, daß Eide, welche Logoi oder Entelechien
eines Naturkörpers (einer sinnlichen Substanz) sind, nicht in sich selbst,
sondern nur als Logos in einem so und so beschaffenen Stoff (Myoi; ev
üJ.n ,:ouiat) bestimmt werden können7• Kann man nun aber in der
Naturforschung nicht sagen, was das betreffende Eidos als Einheitsprin-
zip in sich selbst ist, so ist die Supposition solcher „Essenzen" oder
„Entelechien" eine leere Erklärung und ist daher auch von der neuen
Naturwissenschaft als unnütz und für die Forschung schädlich verbannt
worden. Es scheint überhaupt keinen Sinn zu haben, hinsichtlich der
sinnlich erfahrbaren Natur von Eide zu sprechen, denn andere Erkennt-
nisse als faktische Zusammenhänge von Mannigfaltigem scheint es hier
nicht zu geben.
Wenn Aristoteles auch hauptsächlich das Eidos von den sinnlich er-
fahrbaren Substanzen aus als Prinzip oder Ursache von deren Einheit
(bzw. als Entelechie oder „Form" eines Körpers als „Verwirklichung"
(eVEQYELa) eines aufnahmefähigen Stoffes (öe,mx6v)) zu denken ver-
sucht, so ist ihm doch auch der Begriff eines reinen, von der sinnlich
erfahrbaren Materie abgelösten Eidos (slöoi; wcJ.roi; '.JCOlQLGi:ov) nicht un-
bekannt. Dieses Eidos ist nach Aristoteles der Verstand (voili;). Aber von
diesem Eidos (von diesem i:t eGn xai:a ,:o i:t ~v i;{vm) als einfacher
Substanz (o'ÖGta µit G'Uvfl-Erlj) ist nach ihm keine kategoriale Bestimmung,
kein Urteil (keine xa1:acpa<1ti;, in der• etwas als etwas n xai:a i:woi;
bestimmt wird) möglich, sondern für dieses Eidos gibt es nur ein bloßes
1 Z 7, 1032 b 1-2, 1032 b 14; 8, 1033 b 5-7; 10, 1035 b 32; H 4, 1044 a 36.
0 z 12.
7 De anima I, 1, 403 b 3.
280 Wesenserkenntnis
;,Sagen"' (cp&vm), also ein bloßes Hindeuten oder Bezeichnen, ein bloßes
geistiges „Berühren" (füysi:v), ein bloßes „Denken" (vos'i:v). Hinsicht-
lich dieses Einfachen (äcruvfürnv) ist keine Täuschung, kein Irrtum
(c:c-ra,11) möglich, sondern nur eine „Unkenntnis" (äyvow), die aber nicht
als Blindheit (-tucpA6r11,:;) verstanden werden kann, da Blindheit die
Privation des Sehens bedeutet, der Verstand aber in der „Unkenntnis"
seiner selbst noch immer Verstand ist8 • Auch nach dieser Vorstellung des
Eidos als völlig Einfachem ist keine eigentliche Erkenntnis oder Bestim-
mung des Wesens möglich, die sich nur in Urteilen vollziehen kann, son-
dern, wie Kant sagen würde, nur ein „bloßes Denken". ,,Bloßes Denken"
vermag kein Wissen auszumachen.
Von diesem Aristotelischen Gedanken des unbestimmbaren, weil völ-
lig einfachen Wesens des Verstandes führt ein direkter Weg zu Über-
legungen Kants, an denen wir uns die Bedingungen eines erkennbaren
Wesens und damit einer Wesenswissenschaft zur vollen Deutlichkeit brin-
gen können. Die Aristotelische Idee des bloß „berührbaren" oder „denk-
baren" reinen Verstandes als eines einfachen Wesens erinnert sofort an
Kants Idee der reinen Apperzeption des Verstandes; auch hier haben
wir es zunächst einmal mit einer völlig einfachen Vorstellung zu tun, in
der das Verstaridessubjekt nicht erkannt, sondern als „transzendentales
Subjekt = X" bloß „bezeichnet" oder „gedacht" wird 9• Mit einer völlig
einfachen (leeren) Vorstellung des Verstandes hätte Kant aber in seiner
Vernunftkritik gar nichts anfangen können. Daher erklärt Kant die
reine Apperzeption nicht bloß als völlig einfache Vorstellung des Ich,
sondern auch als „synthetische Einheit der Apperzeption". Als synthe-
tische Einheit läßt sich die reine Apperzeption aber nicht „bloß denken"
(sie „bezeichnet" nicht bloß das transzendentale Subjekt), sondern als
Urteil, als „Grundsatz" aussprechen. Dieser Grundsatz „erklärt eine
Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als not-
wendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbewußtseins
nicht gedacht werden kann" 10 • Nur so kann Kant sagen: ,,Und so ist
die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem
man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr,
die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der
Verstand selbst. " 11 Jener Grundsatz, der „der oberste im ganzen mensch-
12 A. a. 0., B 135.
13 „Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst
identisch, mithin ein analytischer Satz" (B 135). Zu dieser Erkenntnis sd1eint sich
Kant erst in der zweiten Auflage durchgerungen zu haben. In der ersten Auflage
steht noch: ,,Der synthetisdie Satz: daß alles versdiiedene empirisdie Bewußtsein
in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste
und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt" (A 117 Anm.). Ein Satz,
der eine Synthesis als notwendig erklärt, ist nidit dadurdi sdion selbst synthetisch.
Das scheint Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft übersehen
zu haben,
14 Metaphysik Z, 8, 1034 a 8.
rn Folgende Systematik der Viel-Einheiten (der intern auf eine Vielheit bezogenen
Einheiten) kann vielleidit dazu dienen, das Eigentümlidie der Wesenseinheit hervor-
treten zu lassen. Unter dem Gesiditspunkt des Verhältnisses zwisdien der Einheit
und den Vielen, die sidi irgendwie in Einheit befinden, ergeben sidi folgende drei
282 Wesenserkenntnis
Arten solcher Einheiten. Abgesehen ist einerseits von der bloßen Vielheit (der Viel-
heit außerhalb jeder Einheit betrachtet, dem „Haufen") und andererseits von der
bloßen (leeren) Einheit.
a) Die Vielen der Einheit sind, was sie sind, auch außerhalb der Einheit, und das
die Einheit Stiftende (die Vielheit Zusammenhaltende) ist selbst eines der Vielen.
Beispiele solcher Einheiten sind ein Korb Äpfel oder ein Bündel Spargeln: Die
Spargeln sind, was sie sind, auch außerhalb des Bündels, und das die Spargeln
zusammenhaltende Band ist selbst ein Einzelnes wie die einzelnen Spargeln und
besteht als Band oder Schnur auch ohne diese. Solche Viel-Einheiten kann man
allgemein Bündel nennen, die Vielen sollen Stücke heißen, und das die Einheit
zusammenhaltende Einzelne das Band.
b) Die Vielen der Einheit sind, was sie sind, nur innerhalb der Einheit; dennoch
können sie aus der Einheit herausgelöst, von ihr abgetrennt werden, aber nur unter
einer Alteration, d. h., sie sind außerhalb der Einheit nicht dasselbe, was sie
innerhalb der Einheit sind. Sie sind also nicht schlechthin selbständig, sondern nur
in ihrer „Materialität" unabhängig. Andererseits wird die Einheit als solche nicht
wie beim Bündel durch eine oder mehrere Einzelheiten bewirkt, sondern sie besteht
als Zusammenhang, Ordnung, Form oder Struktur der Vielen. Diese Struktur be-
steht nur in der Vielheit, ist losgelöst von ihr nicht denkbar, ist aber mit dem
Vielen nicht identisch. Beispiele solcher Einheiten sind der Organismus, aber auch
eine Einheit zusammenlebender Organismen (z.B. ein Bienenvolk, eine Dohlen-
kolonie), ein Kunstwerk, eine Sprache, ein musikalischer Akkord, eine mathema-
tische und logische Menge oder Klasse usw. Diese strukturierten Einen könnte man
allgemein als Komplexe oder Funktionszusammenhänge, ihre Vielen als Glieder oder
Elemente und ihr Einheitsprinzip als Struktur oder Ordnung oder Form bezeichnen.
Wie die Beispiele schon andeuten, gibt es natürlich ganz verschiedenartige Kom-
plexe bzw. Strukturen. Eigentümlich ist ihnen aber allen die „materielle", und zwar
bloß „materielle" Selbständigkeit der Vielen bzw. der Unterschied zwischen alien
Vielen und dem Einheitsprinzip (der Struktur, der Form, dem Funktionszusammen-
hang). Dies bedeutet auch, daß „materiell" dieselben Vielen zugleich verschiedenen
Komplexen angehören, in verschiedenen Funktionszusammenhängen stehen können:
Z. B. ,.materiell" dasselbe kann zugleich das Bein eines Tisches und Moleküle eines
molekularen Zusammenhanges sein; aber als Element eines Tisches und als Element
eines molekularen Zusammenhanges ist es nicht dasselbe, wie auch der Tisch und
der molekulare Zusammenhang als Strukturen, trotz der Identität ihrer „Materie"
(nicht der Elemente), gänzlich voneinander verschieden sind.
c) Die Vielen der Einheit oder mindestens einige der Vielen sind außerhalb der
Einheit schlechterdings nichts; sie sind überhaupt nur in dieser Einheit und folglich
auch nur in dieser Einheit erkennbar. Und die Einheit ist nichts anderes als die
Vielen, d. h. die Einheit unterscheidet sich selbst in ihre Vielheit. Diese einfache
(unauflösbare und unzusammensetzbare) Einheit ist das \Vesen, und ihre Vielen
sind bloß Momente ihrer selbst.
16 Vgl. Aristoteles Metaphysik A 987 b 3-4; M 1078 b.
Der Begriff des Wesens 283
. 1
§ 49 Wesenserkenntnis als Bedingung der Möglichkeit
reiner Vernun f terkenntnis
1::.
1
1:
Bedingung der reinen Vernunfterkenntnis
vergangen charakterisiert sei. Wäre dem so, dann wäre die Idee der
reinen Selbsterkenntnis der Vernunft ein völlig leeres Unterfangen. Ver-
nunft wäre nur in ihren phänomenalen Werken erkennbar.
Nach Kant ist das Bewußtsein oder Selbstbewußtsein als solches nur
eine leere Form. Eine eigentliche Bewußtseinswissenschaft als Erkenntnis
verschiedener subjektiver Bewußtseinsgestalten ist nach ihm, obschon er
de facto einige Ansätze dazu in der ersten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft (subjektive Seite der transzendentalen Deduktion) liefert, de
iure nicht möglich. Der Gnmd, den Kant für diese Unmöglichkeit angibt,
weist uns auf die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Wissen-
schaft hin.
In der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant, daß es eine reine
oder apriorische Seelenlehre als Parallele zur reinen Naturwissenschaft
nicht geben könne, denn nur die Erscheinungen vor dem äußeren Sinn
hätten als Raumgestalten etwas »Stehendes und Bleibendes", während
»in dem, was wir Seele nennen, alles im kontinuierlichen Flusse und
nichts Bleibendes ist, außer etwa (wenn man es durchaus will) das darum
so einfache Ich, weil diese Vorstellung keinen Inhalt, mithin kein Man-
nigfaltiges hat ... "19 Eine „reine Seelenlehre" (welche die Prinzipien
der Möglichkeit der „inneren Erfahrung" enthalten würde) ist also nach
Kant deshalb nicht möglich, weil im subjektiven Bewußtsein (im Gegen-
satz zur räumlichen Äußerlichkeit) keine festen Einheiten zu erfassen
seien. Das einzig Feste, das nach Kant im Bewußtsein selbst faßbar ist,
ist die „bloße Form" Ich, die aber keine Mannigfaltigkeit enthält und
darum keine Erkenntnis ausmachen, ja nicht einmal als wirklicher Begriff
betrachtet werden kann20•
In der Kritik der reinen Vernunft scheint Kant, wenn nicht an eine
apriorische, so doch an eine empirische, auf innerlich wahrgenommenen
19 A. a. 0., A 381. Vgl. A 107: ,,es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in
diesem Flusse innerer Erscheinungen geben." Wenn Kant in der „transzendentalen
Methodenlehre" der rationalen Psychologie im System der reinen Vernunfterkennt-
nis dennoch einen Platz einräumt (A 847/8; B 875/6), so scheint dies entweder um
der Symmetrie des Systems willen zu geschehen oder aber zeigt Kants Schwanken
und Unsicherheit hinsichtlich des methodischen Status der Selbsterkenntnis der
Vernunft.
20 ,, ••• die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von
der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes
Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich .•• wird nun nichts weiter
als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x ••• " (A 345/6;
B 404). ,.Allein dieses Ich ist sowenig Anschauung als Begriff von irgendeinem
Gegenstande, sondern die bloße Form des Bewußtseins .•." (A 382).
Bedingung der reinen Vernunfterkenntnis 287
21 A 347; B 405. Vgl. A 381/2: ,,Seelenlehre als die Physiologie des inneren Sinnes"
im Gegensatz zur „Körperlehre als einer Physiologie der Gegenstände äußerer
Sinne''; ,,in beiden kann vieles empirisch erkannt werden"; ,,es bleibt uns nichts
anderes übrig, als unsere Seele am Leitfaden der Erfahrung zu studieren und uns in
den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere
Erfahrung ihren Inhalt darlegen kann."
22 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A XI.
23 In Wirklichkeit scheint Kant die empirische Psychologie als Anthropologie, die den
Menschen gesamthaft in seinem Verhalten untersucht, zu betrachten. Schon in der
Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von
1765-66 steht: ,,Ich fange demnach nach einer kleinen Einleitung von der empi-
rischen Psychologie an, welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft
vom Menschen ist; denn was den Ausdruck der Seele betrifft, so ist es in dieser
Abteilung noch nicht erlaubt zu behaupten, daß er eine habe." Im weiteren ist
dann nur noch von der rationalen ( = apriorischen) Psychologie die Rede (Akad.-
Ausgabe, Bd. II, S. 309). In der „transzendentalen Methodenlehre" der Kritik der
reinen Vernunft wird die empirische Psychologie systematisch der Anthropologie
288 Wesenserkenntnis
Als feste und bleibende Einheiten, die Kant als Bedingungen der
Möglichkeit einer reinen subjektiven Bewußtseinswissenschaft vermißte,
kommen nun nichts anderes als unsere Wesenseinheiten in Frage; bzw.
die Weise. der noumenalen Begriffsbildung, die die Bedingung der reinen
Selbsterkenntnis der Vernunft ist, ist die oben erläuterte Wesenserkennt-
nis. Das "Band", das die feste und "bleibende" Einheit des Wesens aus-
macht, ist keine phänomenale räumliche oder zeitliche Verbindung partes
extra partes, sondern der allein durch den Verstand erfaßte notwendige
Zusammenhang von Momenten einer analytischen Einheit. Nur diese
Notwendigkeit vermag eine rein denkerische, eine rein noumenale Ein-
heit auszumachen, und nur auf Grund solcher Einheiten sind verschiedene
Tätigkeiten als Bewußtseinsweisen begrifflich unterscheidbar und be-
stimmbar.
Die These, daß Philosophie als reine Selbsterkenntnis der Vernunft,
und dadurch auch als reine Vernunfterkenntnis der Bewußtseinstätigkeit
überhaupt, nur als Wesenserkenntnis möglich ist, hat H usserl in seinem
letzten Werk, in der Krisis, in aller Deutlichkeit formuliert: ,,Das Analo-
gon einer empirischen Tatsachenwissenschaft, eine ,deskriptive' Wissen-
schaft· vom transzendentalen Sein und Leben, als induktive Wissenschaft
aus bloßer Erfahrung und mit dem Sinn einer Feststellung der indivi-
duellen transzendentalen Korrelationen, wie sie faktisch auftreten und
verschwinden, kann es nicht geben. Selbst der einzelne Philosoph in der
Epoche kann bei sich selbst nichts von diesem unfaßbar strömenden
Nachdem ich gesagt habe, was ich unter „Wesen" oder „Eidos" ver-
stehen will (§ 48), und die Wesenserkenntnis als eine Bedingung der
Möglichkeit der Philosophie darstellte (§ 49), möchte ich nun den Bereich
der Wesenserkenntnis abstecken. Ich möchte dabei den Gedanken zu
bewahrheiten versuchen, daß nur rein reflexiv erfaßte Arten von Tätig-
keiten Wesenseinheiten im angegebenen Sinn sein können, daß es also
Wesenserkenntnis nicht in allen möglichen Erkenntnisgebieten, sondern
nur in der reinen Vernunfterkenntnis, in der Philosophie, gibt.
Um positiv zu begründen, daß Eide nur reflexiv erfaßte Akteinhei-
ten (Bewußtseinsweisen) sein können, müßte ich auseinandersetzen, daß
das Eidos ein reines Noumenon sein muß und daß die reine Reflexion
die einzige noumenale Gegenstandsgebung ist, oder ich müßte nachwei-
17 Audi deshalb kann natürlich die umschriebene Weise der philosophisdJen Begriffs-
bildung nicht als Begriffsrekonstruktion bezeichnet werden, weil sie durchaus den
Kriterien der Wahrheit und Falschheit untersteht, während eine Begriffskonstruk-
tion im Sinne einer methodischen Festlegung von Wortbedeutungen weder wahr nodJ
falsdJ ist, sondern andersartigen Kriterien untersteht (Möglichkeit syntaktisdJ
genauer Neuformulierung der Aussage, in denen. die betreffenden Ausdrücke vor-
kommen, Eignung der rekonstruierten Begriffe für die Bildung einer umfassenden
Theorie).
292 \Y/esenserkenntnis
sen, daß nur die Vielheit in der Einheit eines Aktes jene Notwendigkeit
besitzt, die ein Wesen auszeichnet. Ich gehe vorläufig nun aber einen
negativen und wohl in sich nicht hinreichenden Weg, indem ich von einer
Reihe von anderen Einheiten, die z. T. für Eide gehalten wurden, zu
zeigen versuche, daß es sich jedenfalls hier nicht um Eide handeln kann.
Zuerst möchte ich von Einheiten sprechen, die als sinnliche Typen
bezeichnet werden können. Wir nehmen unsere Umwelt unmittelbar in
einer vertrauten Typik wahr, und weil diese Typik tatsächlich einen
schon „vorbekannten"' Rahmen unseres Wahrnehmens und in die Um-
welt Eingreifens abgibt, hat man sie für ein Apriori und damit gleich
auch für ein Eidos gehalten.
Beispiele für sinnliche Typen sind: Baum, Gebüsch, Hund, Fisch,
Vogel, Speise, Topf, Stuhl, laufen, schlafen, essen, wütend sein usw.,
insofern diese Begriffe unmittelbar wahrnehmbare, unmittelbar phäno-
menale Einheiten meinen. Solche sinnlichen Einheiten können wir auch
als apperzeptive Schemen oder Sinngestalten charakterisieren28• Sie
zeichnen sich einerseits durch ihre Augen- oder Sinnenfälligkeit aus: man
sieht einem Fisch unmittelbar an, daß es ein Fisch ist, bzw. er sieht
unmittelbar so aus, oder man sieht innerhalb einer bestimmten Situation
einem Lebewesen unmittelbar an, daß es flieht. Andererseits haben diese
sinnenfälligen Schemen keine festen Grenzen, sie fließen ineinander über,
sind unscharf, vage und wandelbar 29 • Die Einheit eines sinnlichen Be-
griffes, dem ein solches Apperzeptionsschema zugrunde liegt, kann sehr
wohl mit dem Wittgensteinschen Begriff der Familienähnlichkeit charak-
terisiert werden: ,,es ist <den) Erscheinungen gar nicht Eines gemein-
sam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, sondern sie
sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt ... Wirken-
nen die Grenzen nicht, weil keine solchen gezogen sind. " 30
Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß solche sinnlichen Typen bzw.
die ihnen entsprechenden rein sinnlichen Begriffe, unter dem Gesichts-
punkt der Allgemeinheit betrachtet, nur niederste Begriffe, ,,letzte Diffe-
renzen" oder, mit einem Worte Busserls (das wir natürlich hier nicht
übernehmen können), ,,eidetische Singularitäten" sein können. Damit
würden· wir uns im Grunde noch dem sensualistischen Vorurteil ver-
pflichten, daß eigentlich sinnlich wahrgenommen nur sense data seien.
Bewußtsein (Verstand) überhaupt, möglich sind. Das sinnliche Leben bedarf aus
sich selbst solcher Typisierung seines Umfeldes; nur in einem solchen typisch ver-
trauten Stil ist Selbsterhaltung in der Sinnlichkeit möglich. Die Frage, inwieweit
diese Wahrnehmungstypen im Sinne der „angeborenen Auslöserschemata" der Ver-
haltungsforschung vom Individuum ererbt oder inwieweit sie von ihm erlernt sind,
die Frage also, inwieweit es sich um eine individual- oder um eine stammesgeschicht-
liche „Gewohnheit" handelt, muß als eine empirische Frage zur Beantwortung
ganz der empirischen Psychologie überlassen werden und braucht uns hier nicht zu
beschäftigen. Wichtig aber ist für die philosophische Idee rein sinnlicher Begriffe,
daß diese ihrem Inhalt nach auf Wahrnehmungsschemen beruhen, die zur Faktizität
der Sinnlichkeit gehören, und daß die Frage, ob ein bestimmter Begriff ein bloß
sinnlicher sein könne, immer eine faktische Frage ist.
33 Andere Beispiele: Seepferdchen (wissenschaftlich ein Fisch!), Tintenfisch, Seehund,
Stachelschwein etc.
Eigentümlichkeit der reinen Vernunfterkenntnis 295
34 Anstelle des Begriffs des Säugetiers steht bei Aristoteles der Begriff des lebend-
gebärenden Vierfüßlers. Dieser ist aber mit jenem nicht äqnivalent (d. h. er bezeich-
net nicht dieselbe Klasse), nicht nur weil der Mensch davon ausgeschlossen ist,
sondern weil es lebendgebärende Vierfüßler gibt, die nicht Säugetiere sind (die
Salamander).
296 Wesenserkenntnis
85 „Je dis donc qu'une idee est claire lorsqu'elle suffit pour reconnahre la chose et
pour la distinguer ••. " (Nouvea1ex Essais, II, 29, § 2) ..Vgl. Meditationes de
Cognitione, Veritate et ldeis, Gerhardt, Philos. Schriften V, S. 236. - .,Ainsi quoi-
que selon nous les idees distinctes distinguent l'objet d'un autre, neanmoins comme
les claires et confuses en elles m@mes le font aussi, nous nommons distinctes non
pas toutes celles qui sont bien distinguantes ou qui distinguent les objets, mais
a
celles qui sont bien distinguees, c'est dire qui sont distinctes en elles-m@mes et
distinguent dans l'objet les marques qui le font connahre, ce qui en donne l'analyse
ou la definition; autrement nous les appelons confuses (Nouveaux Essais II,
29,§ 4).
Eigentümlichkeit der reinen Vernunfterkenntnis 299
das Wesen eines Aktes ausmacht, ist eine absolut unzeitliche und un-
räumliche Einheit, was riicht ausschließt, daß der Akt in dieser Einheit,
nicht die Einheit selbst, eine präphänomenale Zeitlichkeit und evtl.
Räumlichkeit besitzt. Ein Akt "dauert" in präphänomenalem Sinne,
aber in jedem Augenblick ist er in seiner vollen Vielheit in der Einheit,
in der er als besondere Bewußtseinsform besteht. Ein Akt läßt sich
geradezu als Vielheit in der Einfachheit oder Einheit kennzeichnen.
Schon die einfachste Tätigkeit besteht aktuell nur aus ihrer Zukunft her,
ist also nie bloß Resultat von Antezedentien wie ein Geschehen, z.B.
ein Reflex, und hält in sich selbst, in jedem Moment, notwendig seine
Herkunft fest, ist also nicht in sich geschichtslos wie die physikalische
Natur. Sie birgt in der einen, einfachen, unteilbaren Aktualität schon die
Vielheit der Zeit. Es ist nicht zufällig, daß die Leibnizische Formel .
multitude dans l'unite ou dans le simple, die wir für das Wesen ge-
brauchten, bei ihm selbst unmittelbar durch den Begriff der perception,
im weitesten Sinn der inneren Tätigkeit überhaupt der Monade, er-
füllt wird36•
Zu beachten ist aber, daß die Momente, die die Einheit eines Wesens
ausmachen, nicht bloß »Akte" sind. So haben wir im Wesen der Erinne-
rung nicht bloß die Momente der fundierenden Wahrnehmung, des
aktuellen Erinnerungsaktes und des darin intentional implizierten (wie-
derholten) Aktes unterschieden, sondern auch die Momente gegenständ-
licher Identität und ich.lieh.er Einheit, die keine Aktmomente, sind. Den-
noch bilden alle diese Momente zusammen das Wesen eines Aktes im
vollen, konkreten Sinn: das Wesen der Erinnerung. Dem entspricht, daß.
innerhalb dieses Wesensgefüges der Erinnerungs-,,a'.kt" (verstanden als
Moment der Erinnerung im vollen Sinn) sozusagen den Angelpunkt, von
dem aus das ganze Gefüge als notwendige Einheit zu verstehen ist, dar-
stellt. Aber im Wesen eines Aktes im konkreten Sinn liegen nicht nur
andererseits doch offensichtlich, daß Platon den Bereich der Eide als
Noumena nicht wie wir auf reine Reflexionsbegriffe einschränkt, son-
dern ihn viel weiter spannt, da bei ihm der Gedanke vorherrscht, daß
allen Gestalten der sinnlichen Welt Eide als rein intellektuelle Urbilder
zugrundeliegen. Aber dieser Gedanke bleibt bei Platon selbst problema-
tisch: ob es auch ein Eidos des Menschen, des Feuers und Wassers oder
etwa gar von Haar, Kot und Schmutz gebe, steht in seinem Parmenides
als unberuhigte Frage, und das Verhältnis von Eide und Zahlen, die er
ausdrücklich voneinander unterscheidet, bleibt unbestimmt. Unter den
Begriffen, die Platon unerschütterlich als Eide behauptet, haben ohne
Zweifel die ethischen Begriffe einen Vorrang, d. h. letztlich diejenigen
Begriffe, die Gegenstand des Sokratischen Philosophierens waren.
Was uns selbst "Wesen" bedeuten soll, haben wir in den Überlegun-
gen der vorangehenden Paragraphen in Relation zur Wesenserkenntnis
zu bestimmen versucht. Auch was eföo\; im prägnanten und philoso-
phisch relevanten Sinn bei Platon bedeutet, ist wohl dadurch auszu-
machen, daß wir uns fragen, wie nach Platon die Wesenserkenntnis aus-
sieht. Denn es besteht kein Zweifel, daß bei Platon der Eidos-Begriff aus
einer Besinnung über die Art und die Bedingungen des philosophischen
Fragens und Antwortens entspringt. Das Eidos ist ursprünglich nicht
irgendein Was, sondern das Was des philosophischen Fragens und Ant-
wortens. Nur in diesem ursprünglichen „Milieu" kann es genauer be-
griffen werden.
Die Erkenntnis der Eide nennt Platon Dialektik. Und die Dialektik
ist nach ihm ausschließlich Sache der Philosophen37 , sie ist die Fähigkeit
der philosophischen Unterredung38 • Der Dialektiker (ö Bux1.exnx6\;) ist
im fundamentalen Sinne derjenige, der „sich selbst und anderen" Rechen-
schaft darüber ablegen kann (A6yov Bouvm xal, cmoM~acr{}m), was
irgendein Gegenstand einer philosophischen Frage ist, d. h., der im Ge- 1
.1
spräch auf die Sokratische Frage „Was ist die Tugend usw.?" (-d,
fon ... ;) die Antwort, die Erklärung zu geben vermag 39 • Der Dialek-
tiker ist in diesem Sinne der ideale philosophische Unterredner und
damit auch der ideale philosophische Denker, da das Denken nichts
anderes als eine stille Unterredung der Seele mit sich selbst ist 40 • Das
Was, für das der Dialektiker Rechenschaft (A6yov) gibt, nennt Platon
37 Vgl. Staat, Ende des 6. und Anfang des 7. Buches; Sophistes 253 c-e.
38 ri,ou öm1.i\yecrfrm öuvaµt; (Philebos, 57 e).
89 Staat 510 c, 531 e-532 b, 533 b, 534 b; vgl. Phaidon 76 b, Symposion 202 a.
48 Sophistes 263 e, 264 a.
Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 303
Platon hier zwar, daß sie „jenseits des Wesens (oder des Seins) liege,
es an Rang und Macht übertreffend", aber er charakterisiert sie nicht
näher. Es muß dabei aber im Auge behalten werden, daß Platon von den
frühesten bis zu den spätesten Dialogen das Gute als Prinzip der Ord-
nung (-ra~Lc;), der Gesetzlichkeit (v6µoc;), des richtigen Verhältnisses
( cn.J~t~tETQla) betrachtet54 •
Wohlgemerkt, jenes aus bloßen Hypothesen folgernde Verfahren,
das im Staat als das Verfahren der Mathematiker hingestellt und dem
dialektischen Weg gegenübergesetzt wird, kann auch in der Philosophie
angewendet werden. Allerdings muß dabei von dem für die Mathematik
charakteristischen Verfahren mit „sinnlichen Hilfsmitteln" (Zeichen, Fi-
guren) abgesehen werden. Dafür bietet die Diskussion über die Lehr-
barkeit der Tugend im Menon ein gutes Beispiel: Der den Dialog ein-
leitenden Frage des Menon, ob die Tugend lehrbar sei, stellt Sokrates die
Frage gegenüber, was die Tugend sei, denn „wovon ich nicht weiß, was
es ist (-rl fonv), wie soll ich davon eine Eigenschaft (foroi:6v n) wis-
sen"55. Nachdem aber Menon verschiedene Versuche, das Was der Tu-
gend zu beantworten, mißlungen sind, zieht er sich wieder auf seine
ursprüngliche Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend zurück. Sokrates
antwortet, wenn es nach ihm ginge, ,,so würden wir nicht eher über-
legen, ob die Tugend lehrbar sei oder nicht, bis wir zuvor untersucht
hätten, was sie ist" 56 • Aber er gibt Menon dennoch nach, bedingt sich
jedoch aus, ,, von einer Voraussetzung aus" (V; v:rco{}ecrnroc;) die Sache zu
betrachten, ob sie lehrbar sei oder nicht 57 • Zur Erklärung dieses hypothe-
tischen Vorgehens weist Sokrates auf die Geometer. Die Hypothese, die
nun in bezug auf die Tugend gemacht wird, ist eine doppelte, nämlich
daß sie eine Erkenntnis (imcr,~µ11) sei bzw. daß sie keine Erkenntnis
sei, und es wird festgestellt, was unter diesen Voraussetzungen für ihre
Lehrbarkeit folgt 58 • Nach der Erörterung dieser Konsequenzen erklärt
Sokrates am Ende des Dialoges nochmals: ,,Das Sichere darüber werden
wir erst dann wissen, wenn wir, vor der Untersuchung der Art und
Weise, wie sie den Menschen zuteil wird, zuvor an und für sich unter-
suchen, was die Tugend ist. " 59 Obschon also dieses hypothetische Vor-
01 266 b.
02 Ebenda.
88 265 d.
M 265 e; vgl. 273 c: xa:-c' dllri n llmt()Ei:crltm ·dt. öv-m xat ~tl<;t llltiz. lluvai;o~ •.• xal}'
EY exo.cn;ov 11:E(>LA.a~tß&.vsw
65 Vgl. 270 d, 271 a.
00 277 b.
•1 Philebos 16 d-17 a.
308 Wesenserkenntnis
os Politikos 287 c.
09 Sophistes 227 a, 235 c.
70 Phaidros 265 d, 277 b.
71 Vor allem in „über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei
Platon", Philolog11s. Zeitschrift für klassisches Altertum, 110 (1966), S. 35-70.
72 Krämer weist dabei auf Metaphysik, 1021 a 9 ff.
Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 309
Soviel für eine solche Darstellung von Platons Dialektik als univer-
sale Gattungspyramide sprechen mag, sie ist doch nicht befriedigend:
Einmal kommt in einer solchen Pyramide das Prinzip (die äQ;,:~) nicht
so zur Geltung, wie es uns in den Dialogen Platons entgegentritt. Nicht
nur wird in dieser Darstellung nicht einleuchtend, daß sich die Spitze
der Pyramide, das Eine als Allgemeinstes oder alleroberste Gattung
jenseits (brbrnwa) des ihr Unterstehenden befinden soll73 , sondern in
ihr tritt vor allem das Eine nicht als das Gute auf. Es geht nicht an, bei
Platon das Gute nur als eine einzelne Facette des Einen in ganz beson-
deren axiologischen Zusammenhängen zu sehen 74• Das oberste Prinzip
ist nach Platon schlechthin das Gute; wenn wir aufgrund der Überliefe-
rung von Platons ungeschriebener Lehre „Über das Gute" das Gute als
das Eine betrachten dürfen, so nur unter der Voraussetzung, daß Platon
überhaupt das Eine unter dem Titel des Guten angeht. Es erscheint mir
nicht als gerechtfertigt, bei Platon das Gute nur als eine besondere Funk-
tion oder als einen Aspekt des Einen von diesem selbst zu unterscheiden,
denn was wir heute als „logisch" (oder „ontologisch") und „axiologisch"
zu unterscheiden gewohnt sind, steht bei Platon in voller Einheit. Aber
der Interpretation der Dialektik Platons als Gattungspyramide steht
noch ein weiteres Bedenken entgegen. Zwar entspricht das Bild der Gat-
tungspyramide bestens Platons Rede vom dialektischen Aufstieg zum
Unbedingten und Ausreichenden, aber soweit mir bekannt ist, denkt
Platon das Verhältnis der allgemeineren und spezifischeren Begriffe gar
nicht im vertikalen Bild der Pyramide mit nach oben immer inhalts-
leereren (schmaleren) Stufen, sondern als Verhältnis von Ganzem und
Teilen75 • Auch müßte im Bild der Gattungspyramide der Aufstieg das
Vereinigen und der Abstieg das Zerlegen ausmachen, während Platon
im Phaidon umgekehrt das Aufsteigen in den Hypothesen mit „aus-
reichend zerlegen" (bmv&i; fümQci:v) ausdrückt 76• Also kann Platons
73 In seinem Aufsatz 'EIIEKEINA TH~ OY~IA~, Archiv fiir Geschichte der Philo-
sophie 51 (1969), S. 1-30, macht Krämer primär historische Gründe dafür geltend:
die Auseinandersetzung Platons mit der eleatischen Gegenüberstellung von llv-öv
und :rroÄÄa-oux önu.. Aber das E1tEXELVC1. müßte auch sachlich einsichtig werden, was
beim Einen als dem Allgemeinsten kaum der Fall ist.
74 So sieht es Krämer vor allem in „Die grundsätzlichen Fragen der indirekten
Platonüberl1eferung", Idee und Zahl, hrsg. von H. G. Gadamer und W. Schade-
waldt, Heidelberg, Winter 1968, S. 141 ff.
75 Dafür manche Beispiele, hauptsächlich im Menon, Sophistes, Politikos, Phaidros,
Philebos.
70 Phaidon 107 b.
310 Wesenserkenntnis
wird nun folgendes angegeben: ,,Wohlan denn, wie wir uns über die
Eide und Buchstaben (ygaµµa,;a) 81 erklären <nämlich über ihre mög-
liche xotvcuv[a), auf diese Weise laß uns auch wegen der Worte nach-
sehen; denn auf diese Weise wird sich das jetzt Gesuchte zeigen. -
Worauf sollen wir bei den Worten achten? - Ob alle sich miteinander
zusammenfügen oder keines, oder die einen wohl, die anderen nicht. " 82
Die Antwort wird lauten, daß sich weder bloß Namen (ov6µm:a), noch
bloß Zeitwörter (§~µa,;a) zu einem Myor; verbinden lassen, sondern daß
sich Worte nur zusammenfügen, wenn man den Namen die Zeitwörter
beimischt, ,,und die erste Verknüpfung (ri n:g&:n:11 cruµn:Ao¼~) wird unmit-
telbar (dr3v;) Myor; ... " 83 • Die Antwort auf die Frage „Was ist der
Myo;?" wird also durch die Verbindung der notwendigen Momente des
Myo; gegeben, und zwar unter Berufung auf die zuvor entwickelte Idee
der Dialektik. Diese notwendigen Momente des Myor; sind keine Unter-
arten des 1.6yor; (keine Unterarten von Sätzen), bzw. der Myor; (Satz)
ist nicht das gattungsmäßig Allgemeine von Namen und Zeitwörtern,
sondern deren Einheit in ihrer Ganzheit.
Diese Vertiefung der Dialektik über bloße Begriffseinteilungen und
-zusammenfassungen in einem Allgemeinen hinaus finden wir auch im
Philebos. Nachdem Sokrates in diesem Dialog seine allgemeine Charak-
teristik der dialektischen Begriffseinteilung an zwei Beispielen illustriert
hat, die noch eher in die Richtung bloßer Begriffseinteilungen weisen,
wird er von Philebos nach dem Sinn dieser Ausführungen für das zur
Diskussion stehende Problem (der besten Lebensweise) gefragt. Sokrates
erwidert, daß er darauf eingehen werde, sobald er noch eine Kleinigkeit
(cr~uxg6v) in jener Sache der Dialektik durchgenommen habe84 • Wenn
nun aber Sokrates eine Kleinigkeit ankündigt, darf man mit größter
Sicherheit die Hauptsache erwarten85 • Und was er nun am Beispiel der
Laute oder Buchstaben andeutet, ist sicher mehr als eine bloße „Gat-
81 Mit den 'YQU.ftµcx,:cx wird auf den Vergleich der Dialektik mit der „Grammatik"
im Sinne einer Lehre möglicher Kombination von Buchstaben verwiesen (a. a. 0.
253).
82 261 d.
83 262 c.
84 Philebos 18 a.
85 Philebos hat die Ironie verstanden und erneuert 18 d seine Frage mit derselben
Wendung: ihm fehle noch die Kleinigkeit, den Zusammenhang dieser Ausführungen
über Dialektik mit dem zur Diskussion gestellten Problem zu sehen. In 20 c führt
Sokrates die Kriterien des Guten als eine „Kleinigkeit" ein. Auch im Protagoras
(328 e) kündigt Sokrates die Hauptfrage des ganzen Dialoges nach dem inneren
Verhältnis der Tugenden als eine „Kleinigkeit" an.
312 Wesenserkenntnis
tungspyramide". Es wird verlangt, daß man aus allen (bt :n:av.cov, was
ans öux ÖÄcov :n:oÄÄwv des Sophistes erinnert) ins Eine abschließe. Was
damit gemeint ist, wird in den Schlußsätzen dieses Passus verdeutlicht:
„Und da er (nämlich der Gott Theut oder sonst ein Gott oder göttlicher
Mensch, der die Buchstaben und Lautbezeichnungen erfunden hat) sah,
daß niemand von uns einen (Buchstaben) für sich selbst ohne alle (ilv
aut'o xa-3'afrro üvw :n:ancov) verstehen kann, dachte er dieses Band
(öe11µ6~) als eines seiend und alle zu Einem machend und sprach es daher
als Sprachkunst (yQaµµanx11) an, die zu diesen eine ist. "86 Auch hier ist
das Eine nicht bloß „von außen" umfassendes Allgemeines (etwa der
Oberbegriff „Laut" oder „Buchstabe"), sondern der innere Zusammen-
hang, das „eine Band" von verschiedenen Momenten, die nur im Zusam-
menhang von allen für den Zusammenhang konstitutiven Momenten
verstanden werden können.
Vieles spricht dafür, daß Platons Dialektik letztlich auf solche „Ein-
heitsbänder" abzielt. Das legt schon die Sokratische Hauptfrage nahe,
an der sich Platons Theorie der Dialektik entzündete, die Frage nämlich:
Was ist die Tugend? Das Hauptproblem war hier nicht, eine Definition
mit genus proximum und differentia specifica zu finden, sondern, wie
besonders der Protagoras und das IV. Buch des Staates zeigen, die innere
Einheit oder den inneren Zusammenhang der Tugenden zu erweisen.
Weiter wird nicht bloß in der Dialektik des Sophistes und des Philebos
der äußere Gegensatz von Einern und Vielem zur Einheit von Einern und
Alle überstiegen 87• Auch ist von diesem Gedanken aus die Eindringlich-
keit zu verstehen, mit der Platon im letzten Teil des Theaitet (in der
Erörterung des Ansatzes, daß Erkenntnis (em11t'llµ'I'}) wahre Meinung
mit Erklärung (aÄ'l'}-&r)~ M~a µet'a Äoyou) sei) die Probleme des Verhält-
nisses von Äoyo~ und den Elementen (11.mxei:a) einer Sache bzw. die
Idee des Äoyo~ als Weg durch die Elemente zum Ganzen (ri ÖLa 11.otxEtou
ööo~ erd t'o ÖÄov) 88 zur Diskussion bringt. Zwar sind diese Erörterun-
gen aporetisch, da die erörterten Ideen und auch der ganz an sinnlichen
Verhältnissen, an Buchstaben (was 11t'OLXELOV ja auch bedeutet) und
Tönen, orientierte Begriff des t1t'otxei:ov nicht ausreichen89, aber dieser
80 Philebos 18 c/d.
87 Staat 334 c: füs;tevm füa n:av,;wv, 7. Brief, 344 b: oÄfl ouata
es Theaitet 201 d-208 b.
89 Vgl. Politikos 285 e ff., wo erklärt wird, daß es von den größten und ehrwürdig-
sten Dingen kein handgreifliches Bild (etllwÄov) gibt, durch dessen sinnliche Vor•
gabe die Seele des Forschenden erfüllt werden könnte.
Philosophicgcschicht!ichcr Exkurs über Wesenserkenntnis 313
Dialog über das Wesen der emcr,:~µ'l'] erreicht doch in diesen Aporien
den Punkt, der diesem Wesen am nächsten zu kommen scheint. Platon
pflegt ja auch nach dem Theaitet in positivem Sinne seine Idee dei,,
Dialektik durch die Idee der „Grammatik" und „Musik" (Harmonie-
lehre, Komposition) zu erläutern, die er als Kombinationslehren von
Buchstaben bzw. von Tönen präsentiert90 • Daß Platon auch die bloß
diairetische und synoptische Begriffsbehandlung in Zusammenhang mit
der Dialektik bringt, läßt sich vielleicht derivativ aus dem tieferen Ver-
ständnis der Dialektik erklären: Ihm konnte wohl darum die Unter-
scheidung einer Gattung in Arten als dialektisch erscheinen, weil er dieses
Verhältnis in Analogie mit dialektischen Einheitszusammenhängen zu
denken versuchte, indem er die Arten als Teile oder Glieder der Gattung
und diese als ihr Ganzes auffaßte 91 •
In diesem tieferen Verständnis der Dialektik lassen sich auch die
Fragen einigermaßen beantworten, die bei der Auffassung der Dialektik
als bloße Gattungspyramide ungelöst blieben. Ist das Eine die Einheit
eines Zusammenhanges, so ist verständlich, warum es für Platon das
Gute bzw. warum das Gute das Eine ist. Denn das Eine tritt dann als
das den Zusammenhang Durchwaltende und insofern die verschiedenen
Momente gesetzlich Ordnende und ins Verhältnis Bringende auf. Auch
wird ersichtlich, daß die Einheit selbst nicht ein Moment neben den in
ihr geeinigten Momenten sein kann, sondern auf einer anderen Ebene
(e:n:s-x,nva.) liegen muß. Schließlich kann auch das Aufsteigen in Hypo-
thesen in diesen Einheitsverhältnissen ausgedrückt werden, indem das
Aufsteigen als Rückführung vereinzelter, abstrakter Begriffsverbindun-
gen in ihre ursprüngliche Einheit und vollständigen Zusammenhang, in
dem sie ausreichend einsichtig werden, begriffen wird.
Wenn wir auf solche Weise Platons Dialektik als Methode der Beant-
wortung der Sokratischen Was-Frage aus der ursprünglichen Einheit
ideeller Momente interpretieren und andererseits Platons eigentlichen
Begriff des Eidos von dieser Dialektik aus verstehen dürfen, so ist die
Verwandtschaft des von uns im § 48 entwickelten Wesensbegriffs mit
demjenigen Platons (bzw. die Verwandtschaft unserer Idee der Wesens-
erkenntnis mit der Dialektik Platons) offensichtlich. Wenn Platon im
Philebos die Wesen Einheiten (µovME;, sva5E;) nennt, dann wohl in
einem Sinn, dem wir nicht sehr entfernt sind, selbst dann, wenn er auch
oder Entelechie der Natur lassen sich nicht aus einer empirisch qualifi-
zierten Materie herausabstrahieren wie die Gegenstände der reinen
Mathematik, die etwa von Linien und Flächen rein für sich sprechen
kann, sondern „alle Naturgegenstände werden wie das Nasenhohle (to
<Hµ6v) ausgesagt", d. h. das Eidos ist immer mit einem empirisch so und
so beschaffenen Körper95 als dessen Prinzip und Ursache (&QX~ -xai
aMa) 96 verbunden, in sich selbst aber nicht erkennbar. Das Eidos, das
in der Aristotelischen Natur liegt, ist etwas ganz und gar Hybrides und
hat ohne die Platonische Voraussetzung einer die Natur gestaltenden
Vernunft (des Demiurgen) keinen Sinn. Das einzige reine Eidos ist nach
Aristoteles die Vernunft (vov~). Sie allein impliziert als solche kein
materielles Außereinander und ist daher selbständiges Wesen (xcoQwt6v) 97 •
Descartes unterschied die reinen Verstandesideen als eingeborene
Ideen (ideae innatae) von den dem Verstand äußerlich durch die Sinne
zugekommenen Ideen (ideae adventitiae) einerseits und den vom Ver-
stand mit sinnlichem Material irgendwie willentlich gemachten Ideen
(ideae factae oder factitiae) andererseits 98, eine Unterscheidung, die er
allerdings wegen seiner rein mechanistischen Auffassung der Sinne, bzw.
wegen seines psychophysischen Dualismus, nicht prinzipiell aufrechtzuer-
halten vermochte 99 • Die eingeborenen oder reinen Verstandesideen iden-
tifiziert Descartes mit der bloßen Fähigkeit des Denkens100 oder mit der
Verstandestätigkeit selbst101 . Diese Ideenart umfaßt „die Idee Gottes,
des Geistes, des Körpers, des Dreiecks und überhaupt alle, die irgend-
welche wahre, unveränderliche Wesenheiten vorstellen" 102 • Es sind die
Ideen „aller durch sich selbst bekannten Wahrheiten (veritates per se
no tae}" 103 •
Aber obschon nun Descartes die Idee der res extensa als dem Ver-
stande eingeboren betrachtet, so scheint, schon nach den Meditationen,
die distinkte Erfassung der res extensa nicht Sache des reinen Verstandes,
sondern der Einbildungskraft (imagination) zu sein104 • Während der
Verstand sich in der rein intellektuellen Erkenntnis in gewisser Weise
zu sich selbst wendet, wendet er sich in der imagination, die ihm nicht
wesentlich ist105 , dem Körper zu 106 • Viel deutlicher ist diese Position noch
im Brief an die Prinzessin Elisabeth vom 28. Juni 1643 ausgedrückt.
Descartes nimmt hier Bezug auf seine Unterscheidung der idees oder
notions primitives in die Idee der Seele, des Körpers und der Verbindung
von Seele und Körper und will nun „den Unterschied zwischen diesen
drei Arten von Begriffen und zwischen den seelischen Tätigkeiten, durch
100 „Non enim unquam scripsi vel judicavi, mentem indigere ideis innatis quae sint
aliquid diversum ab eius facultate cogitandi; sed cum adverterem, quasdam in me
esse cogitationes, quae non ab objectis externis, nec a voluntatis meae determina-
tione procedebant, sed a sola cogitandi facultate, quae in me est, ut ideas sive
notiones, quae sunt istarum cogitationum formae, ab aliis adventitiis aut factis
distinguerem, illas innatas vocavi. Eodem sensu, quo dicimus, generositatem esse
quibusdam familiis innatam, aliis vero quosdam morbos, ut podagram, vel calculum:
non quod ideo istarum familiarum infantes mobis istis in utero matris laborent, sed
quod nascantur cum quadam dispositione sive facultate ad illos contrahendos" (A.
T. VIII/2, S. 357/8).
101 ,, ••• nous ne saurions rien vouloir sans savoir que nous Je voulons ni le savoir que
par une idec; mais je nc mets point que cette idec soit differente de l'action m~me"
(an Mersenne, 28. Januar 1641; A. T. III, S. 295).
102 „Idea Dei, Mentis, Corporis, Trianguli, et generaliter omnes quae aliquas Essentias
veras, immutabiles et aeternas repraesentant" (an Mersenne, 16. Juni 1641; A. T.
III, S. 383).
103 In Foucher de Careil, Oeuvres inedites de Descartes I, S. 62.
104 „Idea distincta naturae corporeae quam in imaginatione mea invenio" (A. T.
VII, S. 73).
105 ,, ••• facultates imaginandi et sentiendi, sine quibus totum me possum clare et
distincte intelligere, sed non vice versa illas sine me, hoc est sine substantia
intelligente cui insint" (a. a. 0. S. 78; ebenso S. 73).
106 ,, ••• mens, dum intelligit, se ad seipsam quodammodo convertat, respiciatque aliquem
ex ideis quae illi ipsi insunt; dum autem imaginatur, se convertat ad corpus, et
aliquid in eo ideae vel a se intellectae vcl sensu perceptac conformc intncatur"
(A. T. VII, S. 73).
Philosophiegeschicht!icher Exkurs über Wesenserkenntnis 317
die wir sie besitzen, erklären und die Mittel nennen, durch die wir jede
von ihnen uns vertraut und leicht machen können" 107 • In diesem Sinne
führt er aus: ,,Ich bemerke einen großen Unterschied zwischen diesen
drei Arten von Begriffen darin, daß die Seele nur durch den reinen Ver-
stand begriffen werden kann; der Körper, d. h. die Ausdehnung, die
Figuren und die Bewegungen, können auch durch den Verstand allein,
aber weit besser durch den Verstand mit Hilfe der Einbildungskraft
erkannt werden; die Dinge schließlich, die zur Verbindung von Leib und
Seele gehören, lassen sich nur dunkel durch den bloßen Verstand erken-
nen und nicht einmal durch den Verstand unter Hilfe der Einbildungs-
kraft; aber sie werden sehr klar durch die Sinne erkannt. "108 Zwar sind
nach Descartes auch die physischen und psychophysischen Begriffe dem
Verstande eingeboren, aber das ist nicht entscheidend, denn letztlich
sind nach ihm, wie später auch nach Leibniz, alle Ideen dem Verstande
eingeboren; entscheidend ist vielmehr, daß nach Descartes nur die meta-
physischen Ideen, und das heißt für ihn, neben der Idee Gottes nur die
Begriffe der Seele, genauer „des Denkens, in welchem die Vorstellungen
des Verstandes und die Neigungen des Willens inbegriffen sind" 109, durch
den reinen Verstand klar erkannt werden und damit wirklich Noumena
sind 110 • Schon bei Descartes besteht also die Tendenz, die reine Ver-
standeserkenntnis „unveränderlicher Wesenheiten" in die Reflexion der
Vernunft auf das Bewußtsein zu situieren.
Durch den Umweg über Locke scheint sich bei Leibniz diese Tendenz
noch zu verstärken. Locke hatte unterschieden zwischen solchen einfachen
Ideen, die dem Geist von außen auf dem Wege der Wahrnehmung
(sensation) zukommen, und solchen, die er aufgrund der Reflexion
107 „Je devais expliquer la difference qui est entre ces trois sortes de notions, et entre
!es operations de l'ß.me par lesquelles nous !es avons, et dire les moyens de nous
rendre chacune d'elles familiere et facile ... (A. T. III, S. 691).
108 ,, ••• je remarque une grande difference entre ccs trois sortes de notions, en ce
a
que l'amc nc sc con9oit que par l'entendemcnt pur; le corps, c'est dirc l'extension,
les figures et !es mouvements, se peuvent aussi connahre par l'entendement seul,
mais bcaucoup mieux par l'entendement aide de l'imagination; et enfin, !es
a
choses qui apparticnnent l'union de l'amc et du corps, ne se connaissent qu'ob-
scurement par l'entcndement seul, ni meme par l'entendement aide de l'imagina-
tion; mais elles se connaissent tres clairement par les sens" (A. T. III, S. 691/2).
100 ,, ••• pour l'ß.me seule, nous n'avons que celle <la notion primitive, de la pensee,
en laquelle sont comprises les perceptions de l'entendement et les inclinations de la
volonte" (an Elisabeth, 21. Mai 1643; A. T. III, S. 665).
110 „Et les pensees Metaphysiques, qui exercent l'entendement pur, servent a nous
rendre la notion de l'ame familiere ... " (an Elisabeth, 28. Juni 1643; A. T. III,
s. 692).
318 Wesenserkenntnis
sondern sie haben eine objektive Bedeutung und meinen das Synthema
in seiner Gesetzlichkeit. Sogar die reinen Vernunftbegriffe, die auf der
Tätigkeit des Schließens beruhen, haben nach Kant notwendig einen
objektiven Sinn, der allerdings „transzendentaler Schein" ist. Und da
das Mannigfaltige der Synthesis sinnlichen Ursprungs ist, handelt es
sich bei den reinen Verstandesbegriffen nicht um noumenale Begriffe,
d. h. Begriffe noumenaler Erkenntnis, sondern um Begriffe, die ihre
Objektivität nur in der sinnlichen Erfahrung haben. Aber, so muß man
Kant fragen, wie steht es denn mit den Begriffen der Tätigkeit selbst,
den Begriffen der Synthesis der Apprehension, der Reproduktion, der
Rekognition, den Begriffen der Anschauung, der Einbildung, der Re-
flexion usw.? Hier befindet sich Kant in einem Widerspruch: Einerseits
muß er diese subjektiven Begriffe nad1 seiner verfehlten Theorie der im
„inneren Sinn" geschehenden „inneren Wahrnehmung" als sinnliche
Begriffe betrachten124, andererseits beruht aber seine Kritik der Ver-
nunft als „transzendentale Reflexion" auf diesen Begriffen. Und die
Kritik der Vernunft ist ja nach Kant reine Vernunfterkenntnis, ja sogar
die einzig mögliche reine Vernunfterkenntnis, die wahre Transzendental-
philosophie im Sinne (der bei Kant immer mitspielt, wenn auch in einer
Umwandlung gegenüber der dogmatischen Metaphysik125) noumenaler
Erkenntnis. So befinden sich doch bei Kant de facto Noumenon und
reiner Reflexionsbegriff in unserem Sinne im Verhältnis der Identität.
Der Satz: ,,im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich
das Wesen selbst" 126 hat in Wirklichkeit eine viel weitere Bedeutung,
'als ihm Kant explizit zugestehen kann; er vermag, von der Sache her
verstanden, nicht bloß den „obersten Grundsatz im ganzen menschlichen
Erkenntnis", der eine echte Wesenserkenntnis in unserem Sinn ausmacht,
zu tragen, sondern für die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit
aller Bewußtseinsweisen aufzukommen.
bedeutet, daß das Wesen oder Eidos die Existenz in sich schließt. Es
schließt die Existenz nicht im Sinne einer gegenständlichen Tatsache,
eines empirischen Faktums in sich, sondern die Existenz im Sinne des
ich-bin, des ,,sum". Denn ich, der ich zu jedem Wesen gehöre (sei es als
Wesensmoment, sei es als der das Wesen als das seinige Spiegelnde), bin
nicht irgendein durch eine allgemeine Bestimmung (Prädikat, Begriff)
gedachtes Mögliches; ,,ich" ist kein mögliches Prädikat, kein Begriff, ich
bin nicht „ein Ich", sondern ich bin schlechthin. Diese Existenz hat nicht
den Ausdruck „es gibt ein Ich", wobei es aber logisch auch keines geben
könnte, so daß ich bloß als ein Mögliches denkbar wäre, sie ist nicht.
durch ein Existentialurteil mit einer quantifizierten Variabel ausdrück-
bar (Ei ax), sondern der Ausdruck dieser Existenz lautet „ich-bin"; dem
»ego" folgt notwendigerweise das „sum", weil ego und sum dasselbe ist.
Ich, von dem hier schlechthin die Rede ist, bin ich, der ich jetzt
philosophiere; es gibt kein allgemeines Ich, ,,das Ich überhaupt", über
das man reden könnte wie über das Dreieck überhaupt und das einen
Umfang von einzelnen Ichen hätte. In diesem Sinne ist das Eidos kein
Allgemeines127 • Aber dennoch handelt die Philosophie als Wesenser-
kenntnis der Vernunft nicht bloß von mir selbst. Obschon, wie Kant
sagt, ,,es offenbar ist, daß, wenn man sich ein denkend Wesen vorstellen
will, man sich an seine Stelle setzen und also dem Objekte, welches man
erwägen wollte, sein eigenes Subjekt unterschieben müsse (welches in
keiner anderen Art der Nachforschung der Fall ist)" 128, so bin ich mir
doch eines Bewußtseins bewußt, das nicht-meines, sondern anderes ist,
das aber selbst wieder Bewußtsein von Bewußtsein ist und damit „ich"
sagen kann. Dieses Ich des Anderen ist nicht Ich für mich, sondern für
mich ist es: Ich für den Anderen, den ich in seinem Ich-Bewußtsein und
in seiner „ich"-Rede verstehen (verstehen, wenn der Andere „ich" sagt)
und evtl. durch das „du" ansprechen kann. Das Ich des Anderen ist
ebenso „einzig", ,,unwiederholbar" (kein Fall eines Allgemeinen) wie ich
selbst (und weil du „ich" sagen kannst, bist auch du einzig und giltst
mir als das). Und so kann ich auch erkennen, daß, was ich in reiner
Reflexion auf das Bewußtsein erkenne, auch dem Anderen für sich selbst
gelten kann (daß das Eidos, in dem oder mit dem die Ich-Einheit auf-
tritt, auch für den Anderen gilt) und ebenso dem Anderen gilt als auch
für mich geltend. Das Wesen ist kein allgemeiner Gegenstand, aber es
t!o In anderen, verwandten Geschehnissen seiner äußeren Geschichte spiegelt der Ver-
stand den Verfall seines Fundaments, gleichsam in Präfigurationen, die auf seine
Vernichtung hinweisen; Das Sterben ist als völliger Zerfall des sinnlichen Könnens,
des Vermögens der Selbstbeweglichkeit, durch das das Subjekt Gegenwart und
Zugriff auf ein Umfeld besitzt, präfiguriert im Einschlafen und in der Krankheit
(bzw. im leiblichen Altern, das auch als ein Erkranken betrachtet werden kann).
Im Einschlafen wird auf diese Macht „verzichtet", das Umfeld wird „fahren
gelassen", die Gegenwart erzeugende Tendenz auf das Kommende „desinteressiert";
324 Wesenserkenntnis
ren zu dieser äußeren Geschichte des Verstandes. Und all dieses Werden
kann nicht nur „ontogenetisch" im einzelnen Individuum, sondern auch
,,phylogenetisch" als Werden des Geschlechts der vernünftigen Lebe-
wesen betrachtet werden.
Aber der Verstand hat als Vernunft auch seine innere, von ihm
selbst geschaffene Geschichte. Die Vernunft gestaltet und instituiert sich
in der Sinnlichkeit und erzeugt dadurch die subjektive und objektive
Kultur. Sie erzeugt in ihrer Geschichte faktisch gewisse materielle Zweck.-
mittel und ideelle Gebilde, sie gestaltet das individuelle und soziale
Leben nach von ihr entworfenen und tradierten Vernunftideen, fest-
gelegten Normen und Gesetzen und verwirklicht sich dadurch selbst in
einer bestimmten faktischen Weise. All diesen faktischen Kulturgestalten,
zu denen auch unsere Wissenschaften und die verschiedenen Philoso-
pheme gehören, liegen einerseits unveränderliche Wesen der Vernunft
zugrunde, andererseits handelt es sich um innerhalb dieser Wesens-
formen faktisch gerade so Gewordenes und sich Veränderndes. Da-
durch, daß die Kultur ihre Wirklichkeit in der Sinnlichkeit hat, ist ihre
Geschichte nicht nur die Geschichte der frei schaffenden Vernunft, son-
dern sie ist hineingezogen in das Werden und Vergehen der sinnlichen
Natur.
Wir sagten, daß die Philosophie von der Frage „was ist Vernunft?"
geleitet sei und diese Frage durch rein reflexive Wesenserkenntnis beant-
worte. Das ist in der Tat ihre Erste, unüberspringbare Aufgabe, die
allein Philosophie hervorzubringen vermag. Aber wenn es der Philo-
sophie letztlich um die Vernunft überhaupt geht, so kann ihr auch das
Werden, die Geschichte der Vernunft nicht gleichgültig sein. ,,Geschichte
überhaupt", Geschichtlichkeit ist im Wesen der sinnlich bedingten und
sich in der Sinnlichkeit realisierenden Vernunft eingezeichnet. Geschicht-
lichkeit, Unterworfensein an eine Geschichte, gehört zur unveränder-
lichen Wesensverfassung der Vernunft. Aber die Erkenntnis der Ge-
schichtlichkeit als eines Wesenszuges der Vernunft in der reinen Philo-
sophie ist noch nicht Erkenntnis ihrer faktischen Geschichte und Ge-
schichten, ihres faktischen Werdens. Erkenntnis der wesentlichen „Pak-
in der Krankheit wird das Verfallen des Könnens, das Gleiten in die „Ohnmacht",
bzw. das Entwundenwerden des Umfeldes als Zerstörung der leiblich-sinnlichen
Position erlebt. Die völlige Auflösung dieser sinnlichen Machtposition kann sich
dem Verstand in diesen Geschehnissen andeuten. In dieser präfigurativen Weise
spiegelt der Verstand das Sterben seiner Grundlage und damit die Vernichtung
seiner eigenen Wirklichkeit.
Erste und Zweite Philosophie 325
tizität" ist noch nicht Erkenntnis der Fakten. Das Wesen der Vernunft
liefert die Vernunft faktischem Werden aus, ohne es aber in seinem
wirklichen Gange zu bestimmen.
Eine Erkenntnis des faktischen Werdens der Vernunft ist nicht mehr
als bloße Wesenserkenntnis in reiner Reflexion möglich. Sie hat es einer-
seits zu tun mit der faktischen Menschengeschichte, wie sie in der äußeren
historischen Empirie erfahren und erfahrbar ist. Aber diese Erfahrung
kann nur philosophische Erkenntnis werden aufgrund der Ersten Philo-
sophie: durch Anwendung der Ersten Philosophie auf diese Empirie, d. h.
durch Interpretation der empirischen Menschengeschichte und -geschich-
ten durch die rein reflexive Selbsterkenntnis der Vernunft. Die Erkennt-
nis des Werdens der Vernunft hat es andererseits aber auch zu tun mit
der durch die Faktizität bedingten, aber nie eindeutig bestimmten, son-
dern immer auch offenen freien zukünftigen Geschichte der Vernunft,
und hier wächst der Philosophie aufgrund ihrer Erkenntnis des Wesens
der Vernunft die praktische Aufgabe zu, der Kultur schaffenden Ver-
nunft jeweils in der faktischen menschlichen Situation konkrete Mög-
lichkeiten und notwendige Bedingungen der kulturellen Selbstverwirk-
lichung der Vernunft, d. h. der autonomen, auf Vernunft selbst aus-
gerichteten Vernunfttätigkeit vorzuhalten. Dies vermag die Philosophie
jedoch nicht rein aus sich selbst zu leisten, ihre formal-ethische Idee der
autonomen Selbstverwirklichung der Vernunft reicht dazu nicht aus,
sondern sie bedarf dazu der empirischen Erkenntnis der faktischen Be-
dingungen, der faktischen Situationen und der faktisch realen Möglich-
keiten der Vernunft. In dieser praktischen Sorge um das „Schicksal"
der menschlichen Vernunft wird die Philosophie zur Ethik, sie erreicht
damit ihren obersten Zweck, ihren „Weltbegriff, der das betrifft, was
jedermann notwendig interessiert" 130 • Aber empirische Philosophie der
werdenden menschlichen Vernunft, als Interpretation ihrer empirischen
Vergangenheit und ethische Bestimmung ihrer empirisch bedingten Zu-
kunft, kann nur Zweite Philosophie sein, da sie ohne Erste Philosophie,
d. h. ohne zu wissen, was Vernunft überhaupt ist, blind wäre und nichts
anderes als leeres Geschwätz oder höchstens eine gefühlsmäßige Richtig-
keit (richtige Meinung), nie aber wirkliches Wissen sein könnte. Solange
die Philosophie nicht in reiner Reflexion ihrer ersten Aufgabe nach-
gekommen ist (mag diese in sich scheinbar noch so unbedeutend sein),
darf sie sich nicht anmaßen, ihre zweite, wenn auch (nach ihrem· End-
Die Aufgabe der Philosophie hat sich uns als eine Erste und eine
Zweite ergeben. Im folgenden möchte ich diese Idee der Philosophie
mit Gestalten der Philosophie konfrontieren, wie sie uns durch die Ge~
schichte überliefert sind. Es geht uns dabei nicht um äußere GestaH:en
der Philosophie, sondern um ihre innere Verfassung, sofern sich in· ihr
die Aufgabe, die Grundlage und der Weg der Philosophie ausprägt.
Einerseits möchte ich daran erinnern, wie tief die zwiefältige Verfassung
der Philosophie in ihrer Geschichte verwurzelt ist. Platon und Aristo-
teles, Kant und Busserl sollen uns dafür als die wichtigsten Zeugen die-
nen. Andererseits aber stoßen wir auch auf eine ganz andersartige phi-:-
losophische Tradition, die die Philosophie als absolute Einheit zu ver-
wirklichen strebt. Diese Tradition beruht auf einer Grundlage und Idee
der Philosophie, die der von uns intendierten entgegengesetzt ist. Ind~r
Geschichte der Philosophie konkurrieren diese zwei grundverschiedenen
328 Wesenserkenntnis
a) Platon
181 Worauf bereits W. Jaeger in seinem Aristoteles von 192.3 (S. 399) aufmerksam
madite.
188 Philebos, 58 c-62 d.
Die Grundverfassung der Philosophie 329
zeichnenderweise nicht durch den Mund des Sokrates, der hier nur Hörer
ist, sondern durch denjenigen des Pythagoräers Timaios sein Wissen über
die empirische, werdende Welt. Der Bereich des Werdenden und sinn-
lich Sichtbaren wird hier dargestellt als Zweite Art (oEutEQOV dclo;),
nämlich als durch den vou; (den Demiurgen)1 33 gestaltete Nachahmung
(~tt~t'l'}µa.) oder Abbildung (E'lxrov) des immer gleich seienden, nur durch
die Vernunft erfaßbaren Vorbildes 134• Da die Auslegung dem Auszu-
legenden stammverwandt (cruyyEv~;) sein muß, ist die Rede vom Empi-
rischen als dem „Bild" oder Widerschein (Ei'.xrov) des rein Vernünftigen
selbst „bildlich" (Etx6;), sie ist nicht schlechthin Wahrheit, sondern
Wahrscheinlichkeit, sie ist ein Vermuten (Etxa~ELv), ein Etxw; µu{}0<; 135 •
Aber wenn diese Rede auch nicht reine Vernunfterkenntnis (v6ricrt;) und
damit schlechthin Wissen (imcrt~µ'I']) ist, so ist sie doch nicht bloßer
Schein, sondern kann wahre Meinung (M~a. &1cri{}~;) sein, und zwar
gerade insofern, als die werdende, sinnliche Welt auf Grund der ewigen
Vernunftwesen gestaltet ist. Weil es sich hier nur um „Widerschein",
bzw. nur um Wahrscheinlichkeit handelt, nennt Platon dieses Zweite,
empirische Wissen allerdings nicht Zweite Philosophie.
Aristoteles konnte diesen Ausdruck einführen, weil er das Wesen
und VO'l'}t6v als Ursache in die werdende, sinnliche Welt hineinlegte, aus
der es die erkennende Vernunft nach ihm dann nur herauszuholen
brauchte. Insofern würden wir uns Platon viel näher fühlen: Das Wesen
ist nicht aus dem sinnlich Erfahrenen herauszuholen, sondern nur auf-
grund der reinen Reflexion in es hineinzuinterpretieren. Aber von Platon
trennt uns doch ein weiter Unterschied: Wir können die Welt in ihrer
N aturhaftigkeit nicht als ein von der Vernunft (einem Demiurgen) ge-
staltetes „Abbild" von ewigen Vernunftwesen, als ein Vernunftgebilde
ansprechen. Jedoch brauchen wir den Platonischen Grundgedanken für
uns nur zu transponieren: Nachdem Platon im Timaios den Kosmos
durch den Demiurgen im Hinblick auf die ewigen Wesen gestalten ließ,
erklärt er: ,,Das bisher Gesagte hat außer wenigem das durch die Ver-
nunft Bewerkstelligte (ta clta vou clEB11µwuQY11µiva.) aufgezeigt. Man
muß aber der Rede auch das durch Notwendigkeit Werdende (,:a
5t' &vayxri; ytyv6µEva) hinzufügen. Denn das Werden dieses Kosmos
wurde als ein gemischtes aus der Vereinigung von Notwendigkeit und
Yefiiunft erzeugt." 136 Platon führt dann im Hinblick auf diese Not-
w~ndigkeit den »Raum" (xm(la) ein, in dem sich schon vor aller Ver-
nuriftgestaltung die „Spuren" (i'.xvri) der Naturelemente ohne Regel und
Maß (&l6yroi; xat äµh(lroi;) befanden, und entwickelt aus diesem Urzu-
stand nach rein geometrischen Prinzipien (Dreiecke, Polyeder) die sich
ineinander .verwandelnden Naturelemente137 • Diese notwendige Ursäch-
lichkeit im Werdenden, die im „Raume" (xcb(la) wurzelt, hatte Platon
schon vor dessen Einführung zur Geltung gebracht: Nach der physio-
logischen und physikalischen Beschreibung des Sehens sagt er: »Dies alles
gehört zu. den Mitursachen (ouvatna), deren sich Gott als Hilfsmittel
bedient; um die Idee des Besten nach Möglichkeit zu vollenden. Von den
meisten aber wird das Kältende und Erwärmende, das Verdichtende
und Auflösende und alles solches Bewirkende nicht als Mitursachen, son-
dern als Ursachen von allem angesehen. Solches ist aber weder ein Sinn
(Äoyov) noch Vernunft für etwas (voüv .di; ovMv) zu haben fähig,
denn dasjenige der Wirklichkeit, dem: Vernunft (voüi;) zu besitzen zu-
kommt, muß Seele genannt werden. Dies ist jedoch unsichtbar, währep.d
Feuer, Wasser, Luft und Erde sichtbare Körper sind. Der Liebhaber der
Vernunft (voiii;) und des Wissens (E:n:t<JTr}µ'f)) muß den Ursachen der 'i
verständigen Natur (ii'ji; eµ<p(lovoi; cp,'.,m;;roi;) als ersten nachgehen, den- '. j
jenigen aber, welche von anderen bewegt werden und aus Notwendig-
keit: (E; ävayxrii;) andere bewegen, als zweiten. Demnach müssen auch
wir verfahren. Es sind abgesondert beide Gattungen von Ursachen anzu-
geben, diejenigen, welche mit Vernunft (µe.a voü) Demiurgen des Schö-
nen und Guten sind, und diejenigen, welche stets ohne Überlegung (äveu
<p(lov*oeroi;) das ungeordnete Zufällige bewirken. " 138 Die notwendige
Ursächlichkeit ist die Bedingung der Vernunftursächlichkeit, nämlich das
()tJ'X. äveu, ohne .das die eigentliche Ursache (die Vernunftursache) nicht
Ursache sein kallll139• - In der·Betrachtung der empirischen Welt erfaßt
Platon im Timaios also eine Art vernunft- und seelenlos notw:endige
Ursächlichkeit140, die wir als „bloße Natur" bezeichnen würden, und
bezieht diese·Welt ·nur insofern auf Eide, als er sie als ein Zweckgebilde
der Vernunft. und selbst als ein beseeltes vernünftiges Lebewesen (~cpov
sµ'ljroxov evvovv) 141 ansieht. Auch nach unserer Ansicht ist eine eide-
ias Timaios, 47 e-48 a.
137 52 d ff.
46 d-e.
186
69 a; vgl. auch Phaidon, 99 b.
119
Im Phaidon wird das oöx li.vsu noch nicht als Ursächlichkeit betrachtet.
140
m Timaios, 30 b.
Die Grundverfassung der Philosophie
ß) Aristoteles
des Seins oder Bestehens ist, auch in den materiellen Substanzen, die
nicht deshalb entstehen und vergehen, weil sie ein Eidos in sich
schließen, sondern weil sie materiell sind. Gerade weil auch das Eidos
der vergänglichen Dinge Prinzip des Seins (des Bestehens und nicht des
Werdens) ist, kann Aristoteles beim Terminus der :rtQffit'l'} oüo-ta vom
engeren zum weiteren Begriff gleiten. Mit diesem Gedanken hängt auch
zusammen, warum bei Aristoteles die Erste Philosophie, die es nach
seiner eigenen Bestimmung ursprünglich nur mit den ewigen, unver-
änderlichen Eide zu tun hat, zur allgemeinen »Ontologie", zur Wissen-
n
schaft vom Seienden als solchen (öv öv) 150 werden kann. Aristoteles'
Begründung, warum die Erste Philosophie allgemeine Wissenschaft vom
Seienden als solchen ist, lautet bekanntlich: Die Erste Philosophie, die die
unbeweglichen Substanzen erörtert, ist deshalb allgemein und geht auf
n
das Seiende als solches (öv öv), weil sie die Erste ist151 • Diese lapidare
Begründung beruht aber auf dem lange entwickelten Gedankengang,
daß das Seiende als solches im ursprünglichen und allem zugrundelie-
genden Sinne die Substanz (oüota) sei, weiter, daß für dasjenige, was
die Substantialität jeglicher Substanz ausmache, das Eidos in Anspruch
genommen werden müsse, also dasjenige, das rein als solches (ohne
Materie und damit auch ohne Veränderlichkeit) den Gegenstand der
Ersten Philosophie ausmacht, so daß diese eigentlich ganz allgemein
Wissenschaft vom Seienden als Seienden überhaupt wäre.
Aristoteles will nun in diesem Gedankengang wie in seinem ganzen
Philosophieren die Erste Philosophie als Wissenschaft vom Unveränder-
lichen· nicht zum Ausgang nehmen; sie ist nicht die Erste im Gange der
philosophischen Erkenntnis, sondern nur Wissenschaft vom Ersten und
insofern auch Erste dem Range (Würde) nach. Er tut so, als ob sich
diese, bzw. ihr Gegenstand, irgendwie erst nach und aufgrund der
Erörterung der sinnlich-empirischen Natur ergeben würde. So will er
von denjenigen Substanzen ausgehen, die man im allgemeinen Verständ-
nis als Substanzen betrachtet, den sinnlichen, und erklärt mit dem An-
schein der Vorurteilslosigkeit: »Daraus wird vielleicht auch .offenbar
werden, wie es sich mit jener Substanz (o'flota) verhält, die von den t
sinnlichen Substanzen getrennt ist" 152, oder er beliebt rein hypothetisch
zu erklären, daß, wenn es keine unveränderlichen immateriellen Wesen-
r) Busserl
1815 Logik, S. 218 (geschrieben einige Monate vor den Cart. Medit., im Winter 1928/29).
188 Cartesianische Meditationen S. 181.
191 Husserliana IX. S. 298/99 (19~8).
Die Grundverfassung der Philosophie 337
gie der gegebenen Natur und Geisteswelt die Frage erregen, wie es zu verstehen sei,
daß das absolute Sein, das in allen empirischen und von allen Unklarheiten gerei-
nigten Wissenschaften zur Erkenntnis kommt, teleologisch sei, Wertideen gemäß sei"
(aus der Vorlesung „Logik als Theorie der Erkenntnis" WS 1910/11; Ms. F I 12,
S. 57 a). Vgl. auch die Ideen I, § 58.
173 Husserliana I, S. 182; so fast wörtlich in den „Pariser Vorträgen", a. a. 0., S. 39.
Ahnlich auch schon in einem Text aus 1921: ,,Nur der phänomenologische Idealis-
mus gibt dem Ich und gibt der absoluten kommunikativen Subjektivität (die das
,Absolute der Menschheit ist) die wahre Autonomie und gibt ihm Kraft und sinn-
volle Möglichkeit der absoluten Selbstgestaltung und der Gestaltung der Welt nach
seinem autonomen Willen. Und nur diese absolute Subjektivität ist dann das Thema
der weiteren absolut gerichteten Forschungen, so aller theologischen und teleolo-
gischen Forschungen, zu denen alle absoluten Fragen der Entwicklung und des
„Sinnes" - des transzendental-teleologischen - aller Geschichte gehören. Absolut
betrachtet, hat jedes ego seine Geschichte, und es ist nur als Subjekt einer, seiner
Geschichte. Und jede kommunikative Gemeinschaft von absoluten Ich, von abso-
luten Subjektivitäten - in voller Konkretion, zu der die Konstitution der Welt
gehört - hat ihre ,passive' und ,aktive' Geschichte und ist nur in dieser Geschichte.
Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins; und die letzten Fragen,
die letztmetaphysischen und -teleologischen, sind eins mit den (Fragen) nach dem
absoluten Sinn der Geschichte" (Husserliana VIII, S. 506; z. T. meine Hervor-
hebung).
340 Wesenserkenntnis
phie, sondern ihre »Grenzfragen", die auch uns als der »Skandal" der
Vernunft in den ethischen Überlegungen berührten174 • Für diese Fragen
weist Husserl auf die Postulate der praktischen Vernunft als „die viel-
leicht größte der Kantischen Entdeck.ungen" 175•
Doch konzentrieren wir uns nochmals auf das uns in diesem Para-
graphen leitende Problem der Unterscheidung zwischen Erster (reiner,
eidetischer) und Zweiter (empirischer) Philosophie! Busserl stellt in allen
diesbezüglichen Texten bis zu den im siebzigsten Altersjahr geschriebenen
Cartesianischen Meditationen die eidetische Philosophie ( = transzenden-
tale Phänomenologie als absolute Ontologie oder Logik) als Wissenschaft
reiner Möglichkeiten hin. Auch „das reine Ich", das Husserl seit den
Ideen (1913) als ins „Feld" der transzendentalen Phänomenologie ge-
hörig betrachtet, soll eine der Wirklichkeit vorausgehende reine Möglich-
keit, ,,Ich überhaupt", sein. Aber in seinen allerletzten Jahren stößt er
diese Auffassung völlig um und stellt dadurch allerdings auch seine an
der Priorität der reinen Möglichkeit vor der Wirklichkeit orientierte
Unterscheidung von Erster und Zweiter Philosophie überhaupt in Frage.
Ein Text aus dem Jahre 1931 erklärt vom Eidos transzendentales Ich:
„Wir haben hier einen merkwürdigen und einzigartigen Fall, nämlich
für das Verhältnis von Faktum und Eidos. Das Sein eines Eidos, das
Sein der eidetischen Möglichkeiten und das Universum dieser Möglich-
keiten ist frei vom Sein oder Nichtsein irgendeiner Verwirklichung sol-
cher Möglichkeiten, es ist seinsunabhängig von aller Wirklichkeit, näm-
lich entsprechender. Aber das Eidos transzendentales I eh ist undenkbar
ohne transzendentales Ich als faktisches. Solange ich, im Faktum meiner
transzendentalen Subjektivität und der mir geltenden Welt stehend,
abwandle und zum Eidos übergehend systematisch forsche, stehe ich in
der absoluten Ontologie und korrelativ in der mundanen Ontologie."
Nachdem von der vollen Ontologie als Teleologie und von der durch
diese vorausgesetzten Faktizität die Rede war, geht der Text weiter:
,,Wir kommen.auf letzte ,Tatsachen' - Urtatsachen, auf letzte Not-
wendigkeiten, die Urnotwendigkeiten. Aber ich denke sie, ich frage
zurück und komme auf sie schließlid1 von der Welt her, die ich schon
,habe'. Ich denke, ich übe Reduktion, ich, der ich bin, für mich in dieser
Horizonthaftigkeit bin. Ich bin das Urfaktum in diesem Gang, ich er-
kenne, daß zu meinem faktischen Vermögen der Wesensvariation etc.
in meinem faktischen Rückfragen sich die und die mir eigenen Urbe-
stände ergeben, als Urstrukturen meiner Faktizität. Und daß ich in mir
einen Kern von ,Urzufälligem' trage in Wesensformen, in Formen ver-
möglichen Funktionierens, in denen dann die weltlichen Wesensnotwendig-
keiten fundiert sind. Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten
und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also
die absolute Wirklichkeit. Das Absolute hat in sich selbst seinen Grund
und in seinem grundlosen Sein seine absolute Notwendigkeit als die eine
,absolute Substanz'. Seine Notwendigkeit ist nicht Wesensnotwendigkeit,
die ein Zufälliges offen ließe. Alle Wesensnotwendigkeiten sind Momente
seines Faktums, sind Weisen seines in bezug auf sich selbst Funktionie-
rens - seine Weisen, sich selbst zu verstehen oder verstehen zu kön-
nen. "176 Diese Überlegung steht in einem Kontext, der vom Faktum der
teleologischen Ausrichtung der vom göttlichen Willen getragenen tran-
szendentalen Intersubjektivität auf Vollkommenheit (,,wahres Sein")
ausgeht. Nicht nur das „Urfaktum" des Ich, sondern auch das Faktum
seiner historischen \Velt überhaupt scheint den Ausgangspunkt der „letz-
ten Philosophie" Busserls zu bilden 177, so daß hier manches an Hei-
deggers Hermeneutik der Faktizität erinnert. Jedoch ist es nach dieser
Wandlung bei Husserl nicht mehr zu einer systematischen und prinzipiel-
len Ausarbeitung des Verhältnisses zwischen Eidetik (an der er als
Bedingung der Möglichkeit transzendentaler Erkenntnis unerschüttert
festhält), Wirklichkeit und empirischem Faktum gekommen.
170 Husserliana XV, Nr. 22, S. 385/6. Vgl. den Text im Ms. D 17, S. 21 a (Mai 1934),
der veröffentlicht ist in Philosophical Essays in Memory of E. Busserl, cd. M.
Farbcr, Cambridge, Mass., Harvard University Press, 1940 (2. Aufl. 1970), S. 323:
„Das ego lebt und geht allem wirklichen und möglichen Seienden voran, und
Seienden jedes, ob realen oder irrealen Sinnes."
177 Siehe z.B. auch Httsserliana XV, Nr. 38, S. 666 ff.
342 Wesenserkenntnis
Nun kennt Hegels Philosophie aber auch den Begriff des Zufa!!s 182 •
Der Zufall besteht in der Ä1tßerlichkeit der Idee als Natur. Weil die
Natur das „Außersichsein des Begriffs" ist, besteht in ihr „der Wider-
spruch der einerseits durch den Begriff gezeugten Notwendigkeit ihrer
Gebilde und deren in der organischen Totalität vernünftigen Bestim-
mung, - und andererseits deren gleichgültigen Zufälligkeit und unbe-
stimmbaren Regellosigkeit" 183 • Sofern die Natur Idee oder Begriff ist,
ist sie notwendig, sofern sie aber wesenhaft Außersichsein oder Ent-
äußerung der Idee ist, ist sie zufällig. In diesem einseitigen Moment der
Kußerlichkeit besteht die „Ohnmacht der Natur, die Strenge des Be-
griffs nicht festhalten und darstellen zu können" 184 • Diese Kußerlichkeit
als solche ist nun aber keineswegs ein der Idee selbst radikal Fremdes,
sondern ein von ihr selbst notwendig gesetztes Anderes ihrer selbst (als
die von ihr selbst gesetzte Bedingung ihrer Entäußerung). Der Zufall
als solcher ist also notwendig, begrifflich einsehbar, aber nicht das viele
einzelne Zufällige, in das sich der Begriff als in sein Außersichsein ver-
läuft und in ihm seinen notwendigen Zusammenhang verliert. Hegel
anerkennt demnach das Zufällige, d. h. das nicht rein aus dem Begriff
oder der Vernunft Begreifliche, und zwar nicht nur in der bloßen Natur,
sondern auch in dem von Natur behafteten objektiven und subjektiven
Geist: ,,Die Rechtswissenschaft z.B. oder das System der direkten und
indirekten Abgaben erfordern letzte genaue Entscheidungen, die außer
dem An- und für sich Bestimmtsein des Begriffes liegen und daher eine
Breite für die Bestimmung zulassen, die nach einem Grunde so und nach
einem anderen anders gefaßt werden kann und keines sicheren Letzten
fähig ist. Ebenso verläuft sich die Idee der Natur in ihrer Vereinzelung
in Zufälligkeiten; und die Naturgeschichte, Erdbeschreibung, Medizin
usf. gerät in Bestimmungen der Existenz, in Arten und Unterschiede, die
von äußerlichem Zufall und vom Spiele, nicht durch Vernunft bestimmt
sind. Auch die Geschichte gehört hierher, insofern die Idee ihr Wesen,
deren Erscheinung aber in der Zufälligkeit und im Felde der Will-
kür ist." 185
Es gibt also nach Hegel geistige Gestalten und Ereignisse, die zufällig
sind. Für eine Einheitsphilosophie, die sich rein in der Vernunft oder im
182 Vgl. D. Henrich, ,,Hegels Theorie über den Zufall" (1958/59), neu erschienen in
Hegel im Kontext, Frankfurt, Suhrkamp 1971, S. 157-186.
183 Vgl. Logik, ed. Lasson, 1934, II, S. 247. Enzyklopädie, § 250.
184 Logik, II, S. 247 (ebenso Enzyklopädie,§ 250).
18 5 Enzyklopädie, § 16.
Die Grundverfassung der Philosophie 345
Begriff bewegt, muß nun aber dieses mannigfaltige Zufällige, wenn sie
es überhaupt wie Hegel im Prinzip anerkennt, ganz außerhalb der
Philosophie fallen. Es gibt für sie nur zwei Möglichkeiten: Sie muß
entweder etwas als ein sich aus dem Vernunftbegriff ergebendes notwen-
diges Moment oder aber als überhaupt nicht zum Gegenstand der Philo-
sophie gehörig erklären. Dem entspricht Hegel: ,, ... das Vernünftige,
was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich
in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von
Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor und umzieht seinen
Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußtsein zunächst haust,
welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und
ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen. Die
unendlich mannigfaltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Kußer-
lichkeit, durch das Scheinen des Wesens in sie, bilden, dieses unendliche
Material und seine Regulierung, ist nicht Gegenstand der Philosophie. " 186
Das Herausfallen dieser zufälligen Formen, Erscheinungen und Gestal-
tungen aus der Philosophie kann nach Hegel zwar keinen großen Ver-
lust bedeuten, denn sie sind nach ihm bloß das „Äußerliche", die
„Schale", das „Nichtige", das „Eitle", das „Wesenlose". ,,Alles, was
nicht ... durch den Begriff gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes
Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Un-
wahrheit, Täuschung usf. "187• Die Frage ist jedoch, ob dieses vorüber-
gehende und zufällige Dasein, insofern es sich um vorübergehendes und
zufälliges Dasein vernünftiger Wesen handelt, nicht doch für das In-
teresse an der Vernunft, das die Philosophie leitet, von Bedeutung ist,
auch wenn dieses Dasein nicht in der ewigen Vernunftidee als notwendi-
ges Moment eingeschrieben und insofern nichtig sein soll. Hegel gibt
auf diese Frage konsequenterweise eine negative Antwort: Die Philoso-
phie als „absolute Aufgabe, die Schöpfung der Welt als Begriff zu
fassen" 188, hat es mit der ewigen Idee, mit der Bewegung der ewigen
Wesenheit als sich immanent entwickelnder Totalität zu tun, die nach
ihm allein das Wirkliche in der Zeit ausmacht, und nicht mit der
bloßen Erscheinung der Idee, die „in der Zufälligkeit und im Felde der
Willkür" ist. Das Zeitliche als solches ist bloße, in sich eitle, unwahre
Erscheinung der wahren Idee als der „ewigen Schöpfung" 189• Aus dieser
188 Grundlinien der Philosophie des Rechts, Orig.-Ausg.- S. XX.
187 A. a. 0., § 1.
1ee A. a. O., ed. Lassen, S. 20 Anm.
1so Vgl. a. a. O., § 214, 257.
346 Wesenserkenntnis
180 Enzyklopädie, § 6.
Die Grundverfassung der Philosophie 347
digkeit zu erheben, - dieser Reiz reißt das Denken aus jener All-
gemeinheit und der nur an sich gewährten Befriedigung heraus und
treibt es zur Entwickelung von sich aus. Diese ist einerseits nur ein Auf-
nehmen des Inhalts und seiner vorgelegten Bestimmungen und gibt
demselben zugleich andererseits die Gestalt, frei im Sinne des ursprüng-
lichen Denkens nur nach der Notwendigkeit der Sache hervorzuge-
hen. " 191 Die Philosophie tritt also in einer zweiten Phase aus ihrer ersten
Abstraktheit des nur in sich seienden Denkens hinaus, indem sie den in
der Form des Zufälligen gebotenen Inhalt der Erfahrungswissenschaften
„aufnimmt", und d. h. sie „anerkennt", sich in sie „vertieft" und von
ihnen „lernt" 192 : ,,Das Verhältnis der spekulativen Wissenschaft zu den
anderen Wissenschaften ist insofern nur dieses, daß jene den empirischen
Inhalt der letzteren nicht etwa auf der Seite läßt, sondern ihn anerkennt
und gebraucht, daß sie ebenso das Allgemeine dieser Wissenschaften, die
Gesetze, die Gattung usf. anerkennt und zu ihrem eigenen Inhalte ver-
wendet, daß sie aber auch ferner in diese Kategorien andere einführt und
geltend macht. " 193 Es ist ganz offensichtlich, daß Hegel in dieser Diffe-
renzierung der Philosophie in eine Phase „der ersten abstrakten All-
gemeinheit des Denkens" und in eine nachfolgende Phase der Entwick-
lung un~ Besonderung aufgrund der Erfahrung seine Unterscheidung
der Philosophie in Logik und Realphilosophien, die die Philosophie der
Natur und die Philosophie des Geistes umfassen, zum Ausdruck bringt.
So gesehen scheinen wir in Hegels Unterscheidung von Logik und
Realphilosophie unsere Unterscheidung von Erster oder apriorischer und
Zweiter oder empirischer Philosophie wiedererkennen zu können. Hegels
Realphilosophie nimmt den als Zufälliges gebotenen Inhalt der Erfah-
rungswissenschaften auf und versteht ihn durch die Kategorien der Lo-
gik, d. h. durch die in dieser erkannten „reinen Wesenheiten", auf denen
„die Entwicklung alles natürlichen und geistigen Lebens beruht", wie
unsere Zweite Philosophie das empirisch festgestellte Werden der Ver:..
nunft durch die Wesensbegriffe der Ersten interpretiert. Doch von Hegels
Standpunkt der totalen Vernunft kann dieser Unterschied kein radikaler
und letzter sein, sondern muß sich in den Kreis einer höheren Einheit
aufheben. Hegel betont denn auch immer, daß das Aufnehmen der
Erfahrung „zugleich ein Entwickeln des Denkens aus sich selbst" 194 sei.
197 Vgl, Logik, ed. Lasson 1934, II, S. 247, wo das Zufällige als das „Begriffslose"
und „Vernunftlose" bezeichnet wird. Dies zwar in Hinsicht auf die Natur, aber
konsequenterweise wäre es auch von den Zufälligkeiten des endlichen, natürlichen
Geistes zu sagen.
19a Phänomenologie, ed. Lasson, S. 18.
109 Enzyklopädie, § 25.
350 Wesenserkenntnis
die es als solche gar nicht mehr nötig hat, gewahren kann. Denn das
gewöhnliche Bewußtsein kann die Notwendigkeit dieses Fortganges nicht
erkennen, sie geht „gleichsam hinter seinem Rücken vor" 200 ; nur das
absolute Wissen erkennt sie und ist in dieser Erkenntnis schon absolutes
Wissen. Die als dialektisch notwendig erkannte Fortbewegung des Be-'-
wußtseins ist „Zutat" der philosophischen Betrachtung, ,,wodurch sich
die Reihe der Erfahrungen des Bewußtsein zum wissenschaftlichen Gang
erhebt, und welche nicht für das Bewußtsein ist, das wir betrachten" 201 •
Die wissenschaftliche Erkenntnis des dialektischen Fortganges ist eo ipso
Erkenntnis des ins Unendliche erhobenen absoluten Wissens. Denn Dia-
lektik ist nach Hegel wesentlich Negation der Endlichkeit. Hegel hat
später die Konsequenz aus dieser Sachlage gezogen und die Phänomeno-
logie als „ersten Teil des Systems der Wissenschaft" bei der Abfassung
seiner großen Logik und dann noch offenkundiger in seinem System-
entwurf der Enzyklopädie fallen gelassen. Schon in der Vorrede von
1912 zur Logik ist gesagt, daß die Phänomenologie als Wissenschaft die
Logik als reines Wissen eigentlich voraussetze: die notwendige Fort-
bewegung des in der Kußerlichkeit befangenen Bewußtseins, die die
Phänomenologie zu ihrem Gegenstand hat, ,,beruht allein, wie die Ent-
wicklung alles natürlichen und geistigen Lebens, auf der Natur der rei-
nen Wesenheiten, die den Inhalt der Logik ausmachen" 202 • Was in Hegels
Philosophie der absoluten Vernunft klar wird und was er selbst auch
völlig anerkennt, ist dies: Es gibt keinen philosophischen Weg, keine
philosophische Methode in diese Philosophie. Alle philosophischen „Lei-
tern" in diese Philosophie, sowohl die Phänomenologie als auch Darstel-
lungen der Philosophiegeschichte (wie etwa die Abhandlung Die Stellung
des Gedankens zur Objektivität in der zweiten Auflage der Enzyklo-
pädie), die Hegel später gerne als „Einleitung" in seine Philosophie dar-
stellte, sind in Wirklichkeit gar keine Leitern, denn sie können in ihrer
Dialektik immer nur vom absoluten Standpunkt der totalen Vernunft
(der Identität vom Sein und Denken) aus, also immer nur im bloßen
Hinuntersehen im Geiste „begangen" werden. Es handelt sich hier nicht
etwa um dieselbe Situation wie bei der von uns dargestellten Zugangs-
methode zur Philosophie, der reinen Reflexion. Zwar kann diese Zu-
gangsmethode nur nach ihrem Vollzuge, in reiner Reflexion auf sie selbst,
des konkreten Begriffs. " 206 Die Philosophie ist nach Hegel die „Über-
setzung" der Religion in die Form des Gedankens (des konkreten Be-
griffs)207, so daß „die Philosophie nicht ohne Religion sein kann" 208 ;
die Philosophie ist die vom Denken bestimmte und durchdrungene
Religion, indem sie deren Gehalt anerkennt und ihn sowie das religiöse
Bewußtsein selbst in seiner inneren Notwendigkeit begreift209 . So er-
klärt Hegel auch, daß sein Gedanke der totalen Vernunft, der Ver-
nünftigkeit alles Wirklichen in der religiösen Lehre von der göttlichen
Weltregierung enthalten ist210 , und diese Vernunft heißt bei ihm „Geist,
der erhabenste Begriff, der der neueren Zeit und ihrer Religion ange-
hört"211, wie denn bekanntlich überhaupt mehrere der innersten Begriffe
seiner Philosophie religiöser Herkunft sind (,,Versöhnung", ,,Erhebung",
,,Eitelkeit" etc.).
Die eine absolute, totale Vernunft voraussetzende Einheitsphiloso-
phie Hegels steht in der Geschichte der Philosophie nicht isoliert da. Der
sie tragende Grundgedanke ist schon bei Spinoza in seiner Weise ent-
faltet. In seiner Karte Verhandeling schreibt Spinoza: ,, ... um unseren
Verstand in der Erkenntnis der Dinge gut zu gebrauchen, müssen wir
sie in ihrer Ursache erkennen: Da nun Gott von allen anderen Dingen
erste Ursache ist, so verhält es sich entsprechend mit der Erkenntnis
Gottes und sie steht der Natur der Sache gemäß (ex natura rerum)
voran, vor der Erkenntnis aller anderen Dinge: während die Erkenntnis
aller anderen Dinge aus der Erkenntnis der ersten Ursache folgen
muß. " 212 Diese Idee hat Spinoza in seinem Lebenswerk, der Ethik, aus-
geführt. Aber auch Spinoza hat in dieser Idee einen Vorläufer: Descar-
tes. Als § 24 steht im ersten Teil seiner Principia: ,,Da Gott allein die
wahre Ursache von allem ist, das ist oder sein kann, werden wir offen-
kundig in der Philosophie den besten Weg befolgen, wenn wir aus der
Erkenntnis Gottes selbst die Erklärung der von ihm geschaffenen Dinge
213 „Iam vero, quia Deus solus omnium quae sunt aut esse possunt vera est causa,
perspicuum est optimam philosophiae viam nos sequuturos, si ex ipsius Dei
cognitione rerum ab eo creatarum explicationem deducere conemur, ut ita scientiam
perfectissimam, quae est effectuum per causas acquiramus" (ed. Adam et Tannery,
VIII, p. 14).
214 Summa theologica, I, q. 1, 4.
216 A. a. O., q. 1, 5: ,.Doctrina sacra accepit sua principia immediate a Deo per
revelationem".
354 Wesenserkenntnis
fassungen lassen sich nicht versöhnen; wenn wir für uns selbst eine
kohärente Erkenntnisaufgabe gewinnen wollen, müssen wir uns ent-
weder für das eine oder das andere entscheiden. Bevor wir die Gründe
namhaft machen, die uns dafür zu sprechen scheinen, daß wir uns unter
dem Titel der Philosophie mit der reflexiv zugänglichen, bedingten Ver-
nunft befassen sollten und uns daher auch der Zwiefalt von Erster oder
apriorischer und Zweiter oder empirischer Philosophie unterziehen müs-
sen, möchten wir noch mit einem Philosophen diskutieren, der sich in
beiden Verfassungen der Philosophie zu halten versuchte: mit Leibniz.
Wie in keinem anderen Philosophen spiegelt sich· in Leibniz unsere
ganze europäische Philosophiegeschichte. Man darf, seine eigenen Worte
variierend, ihn wahrhaft als eine Konzentration unseres philosophischen
Universums bezeichnen und _von ihm wie von keinem anderen sagen,
daß er die philosophische Vergangenheit aufbewahrte und mit der
philosophischen Zukunft schwanger ging. So sind wir denn auch nicht
erstaunt, bei diesem alles in sich spiegelnden Genius sowohl die „end-
liche" Philosophie in ihrer Zwiefalt als auch die „unendliche" Philoso-
phie in ihrer absoluten Einheit zu finden. Und zwar finden wir bei ihm
dieses ,,sowohl als auch" in Form von .,,drei Philosophien", wenn wir so
sagen dürfen. Nämlich erstens als Philosophie, die reflexiv vom reflek-
tierenden .,,Ich" als endlicher Monade ausgeht, zweitens als Philosophie,
die die absolute Ursache alles Seienden, die absolute Vernunft Gottes
zu ihrem Erkenntnisgrund nimmt, und drittens als Philosophie, die auf-
grund der beiden vorangehenden die empirischen Phänomene interpre-
tiert. Diese drei _Philosophien _finden_ sich faktisch bei Leibniz, und ich
möchte im folgenden auch zu zeigen versuchen, daß sich Leibniz dieser
„Trilogie" völlig bewußt .war. Aber diese drei Philosophien sind in
ihrer Dreiheit systematisch unverträglich, und zwar schon in ihren Prin-
zipien, noch ganz abgesehen von faktischen Unstimmigkeiten im Detail.
Denn die an zweiter Stelle genannte Philosophie aus absoluter Vermmft
kann neben sich keine anderen Philosophien bestehen lassen, sondern
muß sie letztlich in sich absorbieren, so wie Hegels Logik die Realphilo~
sophien, die Natur- und Geistesphilosophie, als ihre eigenen Kreise her-
vorrufen muß. Wenn eine absolute Vernunft zum Erkenntnisprinzip
erhoben wird, so muß aus ihr selbst alles erfaßbar sein, sonst ist es.- keine
~bsolute Ve~nunft. .
Doch bevor wir uns in solche Erwägungen einlassen, möchten wir
ygre~st jene drei Leibnizischen. Philosophien zur genaueren Darstellung
bringen. Die an erster Stelle genannte Philosophie hat ihr Fundamen,t in
Die Grundverfassung der Philosophie 355
der Einheit des reflektiv erkannten Ich, die als Bedingung alles wahr-
haften Seins, aller wirklichen Substanz angesetzt wird: ,, ... es gibt eine
wahrhafte Einheit, die dem entspricht, was man Ich in uns nennt" 216 •
Jede eigentliche Substanz ist nach Leibniz ein Ich (moi) oder ein Selbst
(soi)2 11, wenn dieses Ich auch nicht immer sich selbst bewußt ist218• ,,Da
ich begreife, daß andere Wesen auch das Recht haben, Ich zu sagen, oder
daß man es für sie sagen könnte, begreife ich dadurch, was man die
Substanz im allgemeinen nennt" 219 • Diesem philosophischen Fundament
gibt Leibniz Ausdruck in seinem „Axiom": ,, Was nicht wahrhaft ein
Seiendes ist, ist auch nicht wahrhaft ein Seiendes" 220 • Die Begriffe dieses
„identischen" (analytischen) Satzes beruhen aber auf der Reflexion oder
,,inneren Erfahrung", denn nur in dieser kann ich nach Leibniz erken-
nen, was wahrhaft ein Seiendes und was wahrhaft eine Einheit ist 221 •
Aus dieser Reflexion auf das Ich, die er auch als „innere Erfahrung"
(experience interne) und „innerliche und unmittelbare Wahrnehmung"
(perception intime et immediate) bezeichnet222 , schöpft Leibniz dann
auch weitere fundamentale Begriffe seiner Philosophie: ,,und es ist auch
die Betrachtung meiner selbst, die mir andere metaphysische Begriffe
liefert, wie die der Ursache, der Wirkung, der Tätigkeit, der Khnlichkeit
216 ,, ••• il y a une veritable unite qui repond a ce qu'on appelle moi en nous"
(ed. Gerhardt, Philos. Schriften, IV, S. 482; vgl. S. 473). »L'unite substantielle
demande un estre accompli indivisible, et naturellement indestructible, ·puisque sa
notion enveloppe tout ce qui luy doit arriver, ce qu'on ne sc;:auroit trouver ny
dans la figure ny dans le mouvement, qui enveloppent m&mes toutes deux quelque
chose d'imaginaire, comme je pourrois demonstrer, mais bien dans une ame ou
forme substantielle a l'exemple de ce qu'on appelle moy" (Gerhardt, II, S. 76).
Siehe auch Gerhardt, II, S. 251.
21 7 Norweaux Essais, II, 27, §§ 6-7.
218 „Pour ce qui est du soy, il sera bon de le distinguer de l'apparence ·du soy et de la
conscienciosite" (a. a. 0., § 9).
219 „Et comme je conc;:ois que d'autres Estres peuvent aussi avoir le droit de dirc moy,
ou qu'on pourroit le dire pour eux, c'est par la que je conc;:ois ce qu'on appelle la
substance en generaL .. " (ed. Gerhardt, VI, S. 502).
229 ,, ••• ce qui n'est pas veritablement tm estre, n'est pas non plus veritablcment un
estre" (ed. Gerhardt, II, S. 97).
221 „J'ay deja dit que nous sommes, pour ainsi dire, innes a nous m~mes, et puisque
nous sommes des cstres, l'estre nous est inne; et Ja connaissancc de l'estre cst
enveloppee dans celle que nous avons de nous memes" (Nouvea11x Essais, I, 3,
§ 3). ,,Ne .quidem ideam unius substantiae habituri essemus, nisi tale quid in nobis
experiremur" (G. Mollat, Mitteilungen aus Leibnizens ungedmckten Schriften, Leip-
zig 1893). Das estre, um .das es hier geht, ist nicht bloß das Sein im Sinne des
Möglichen ( ens seu possibile), sondern das Seiende, das existiert, da es sich in der
inneren Erfahrung nach Leibniz um Erfahrung von Existenz handelt.
222 Discours, § 27; No11veaux Essais, I, 1, § 11; II, 27, § 9; vgl. oben S. 225.
356 Wesenserkenntnis
etc'., ja sogar diejenigen der Logik und der Moral" 223. Diese Selbster-
kenntnis der einfachen Substanz ist „der Schlüssel der inneren Philoso-
phie"224. Leibnizens ganze Lehre von der individuellen einfachen Sub-
stanz (Monade) als einem Prinzip von mannigfaltigen Tätigkeiten, die
nichts anderes sind als perceptions (wozu in diesem weiten Sinn auch die
apperceptions gehören) und als solche strebende Übergänge (appetitions)
zu neuen perceptions, beruht auf der »inneren Erfahrung" (reiner Re-
flexion), und wo er sich gegen Spinozas Auflösung der endlichen Wesen
in die unendliche Substanz Gottes wendet; beruft er sich auf diese Er-
kenntnisquelle225. Ein gutes Beispiel für einen philosophischen Entwurf
Leibnizens, der sich auf diesem Grunde aufbaut, gibt wohl das Nouveau
systeme von 1695.
Die Grundlage der an zweiter Stelle genannten Philosophie Leib-
nizens ist der sog. ,,Satz vom Grund", und zwar in seinem eigentlichen
und vollen Sinn verstanden, nämlich als theologisches Prinzip. Leibniz
nennt diesen Grundsatz in verschiedener Weise und gibt ihm verschie-
dene Formulierungen. In einfachster und universalster Weise nennt er
ihn „le grand principe de la raison" 226• ,,Raison" bedeutet dann den
Wahrheits.:. bzw. den Beweisgrund und in eins auch die Existenzursache.
Steht der erste Aspekt im Vordergrund, dann mag der Grundsatz etwa
„principium reddendae rationis" heißen 227 ; ist der zweite Aspekt primär
visiert, spricht Leibniz von „principe de la raison determinante« 228 ;
223 »C'est aussi la consideration de moy m~me, qui me fournit d'autres notions de
metaphysique, comme de cause, effect, action, similitude etc., et m~me celles de la
Logique et de la Morale" (ed. Gerhardt, VI, S. 502). ,,Mais de quelque maniere
qu'on le prenne, il est tousjours faux de dire que toutes nos notions viennent de
sens qu'on appelle exterieurs, car celle que j'ay de moy et de mes pensees, et par
consequent de l'estre, de la substance, de l'action, de l'identite, et de bien d'autres,
viennent d'une experience interne" (Discours, § 27). ,, ... nous sommes eleves aux
actes reflexifs, qui nous font penser a ce qui s'appelle moy et a considerer que
ceci ou cela est en nous: et c'est ainsi qu'en pensant a nous, nous pensons a
a a a
l'Etre, la Substance, au simple et au compose, l'immateriel et Dieu m~me ••. "
(Monadologie,§ 30).
224 Gehardt, III, S. 567.
225 Gerhardt, VI, S. 537.
226 Correspondance Leibniz-Clarke, ed. A. Robinet (Paris, Presses Universitaires de
France, 1957), S. 133.
227 ,, ••• principium reddendae racionis, quod. scilicet onmis propositio vera, quae per
se nota non est, probationem recipit a priori, sive quod omnis veritatis reddi ratio
potest, vel ut vulgo ajunt, quod nihil fit sine causa" (ed. Gerhardt, VII, S. 309).
228 ,, ••• l'autre principe est celuy de la raison determinante: c'est que jamais rien
n'arrive sans qu'il y ait une cause ou du moins une raison determinante, c'est a
dire quelque chose qui puisse servir a rendre raison a priori, pourquoy, cela est
Die Grundverfassung der Philosophie 357
bringt er beide Aspekte gleich zur Geltung, so kann es unter dem Titel
des „principe de la raison suffisante" gcschehen 229 • Zutiefst bedeutet
aber „raison" in jenem einfachsten und universalsten Namen des Grund-
satzes (,,le grand principe de la raison") die Vernunft, und zwar die
Vernunft Gottes. Denn der Grundsatz besagt, daß alle Wahrheit oder
daß alles, was ist oder geschieht, seinen ausreichenden Wahrheits- oder
Seinsgrund in der reinen (apriorischen) Vernunft, d. h. rein in der Ver-
nunft findet. Dieser Gedanke der vollständigen Bestimmtheit aller Wirk-
lichkeit rein durch die Vernunft hat aber überhaupt nur Sinn auf dem
Hintergrund der absoluten, göttlichen Vernunft230• In ursprünglichster
Weise nennt daher Leibniz sein grand principe de la raison das „große
Prinzip der höchsten Vernunft und Vollkommenheit Gottes" 231 • Zwar
unternimmt es Leibniz, Gott durch seinen „Satz vom Grund" erst zu
beweisen, aber dies ist eben dadurch möglich, daß er Gott schon enthält.
Eine gute Darstellung dieser Grundlage der theologischen Philosophie
Leibnizens gibt der folgende Anfang eines nicht datierten, auf dieser
Grundlage entwickelten Systementwurfes: ,, 1. Ratio ist in der Natur,
warum eher etwas existiert als nichts. Dies ist eine Folge jenes großen
Prinzips, daß nichts ohne Grund (sine ratione) geschieht, sowie es auch
einen Grund (ratio) geben muß, warum eher dieses als ein anderes
existiert. 2. Jene ratio muß in einem wirklichen Wesen oder in einer
Ursache sein. Denn die Ursache ist nichts anderes als ein wirklicher
existant plustost que non existant, et pourquoy cela est ainsi plustost que de toute
autre fas;on. Ce grand principe a lieu dans tous les evenements, et on nc
donnera jamais un exemple contraire: et quoyque le plus souvent ces raisons dctcr-
minantes ne nous soyent pas asses connues, nous ne laissons pas d'entrevoir qu'il y
en a" (Theodicee, I, § 44).
229 ,, ••• le principe de la raison suffisante, en vertu duquel nous considcrons qu'aucun
fait ne s,;:auroit se trouver vrai, ou existant, aucune enonciation veritable, sans
qu'il y ait une raison suffisante pour quoi il en soit ainsi et non pas autrement,
Quoi que ces raisons le plus souvent ne puissent point nous etre connues" (Monado-
logie, § 32).
230 Auch wenn Leibniz an gewisser, vor allem von Couturat hervorgehobener Stelle
seinen „Satz vom Grund" aus dem „logischen" Prinzip des Enthaltenseins des
Prädikates im Subjekt für jeden wahren Satz (praedicatum inest subjecto) ,,geboren
werden läßt" (Opuscules et fragments inedits, ed. L. Couturat, S. 519), so ist auch
hier der theologische Untergrund dieser Geburt unverkennbar. Denn für die kon-
tingenten Tatsachenwahrheiten hat das praedicatum inest subjecto nur Sinn in
Beziehung auf einen unendlichen Verstand, der der unendlichen Analyse (Schau)
dieser Wahrheiten fähig ist.
231 Mes opinions philosophiques „sont presque toutes liees avec le grand principe de
la supreme raison et perfection de Dieu" (Correspondance Leibniz-Clarke, cd. A.
Robinet, S. 79).
358 Wesenserkenntnis
Grund, und die Wahrheiten des Möglichen und Notwendigen ... wür-
den nichts tragen, wenn die Möglichkeiten nicht in einem aktuell existie-
renden Wesen begründet wären. 3. Dieses Wesen muß aber ein notwen-
diges sein, sonst müßte die. Ursache wiederum außerhalb seiner gesucht
werden, warum es eher existiert als nicht existiert, was gegen die Voraus-
setzung verstößt. Selbstverständlich ist jenes Wesen die ultima ratio der
Dinge und pflegt mit einem Wort ,Gott' genannt zu werden." 232
Auf dieser Grundlage entwid{elt Leibniz einen großen Teil seiner
Ideen (er sagt an einem Ort sogar: ,,fast alle" 233 ), wie den Satz von der
Identität des Ununterscheidbaren, die Idee der besten der möglichen
Welten, den Begriff der Substanz als notion complete, die prästabili-
sierte Harmonie der endlichen Substanzen, die unendliche aktuelle Ge-
teiltheit der Materie, die Nichtexistenz des absoluten und leeren Raumes
etc. Von dieser Philosophie kann er sagen: ,,die Metaphysik ist die
natürliche Theologie, und der selbe Gott, der Quelle aller Güter ist, ist
auch das Prinzip aller Erkenntnisse" 234 • Dabei beruft er sich übrigens
auf Descartes.
Die an dritter Stelle angeführte Philosophie Leibnizens stützt sich
auf die empirischen Phänomene, indem sie diese durch die apriorischen
Erkenntnisse interpretiert. Durch diese Übereinstimmung, nämlich durch
diese Tauglichkeit zur Interpretation der Empirie, gewinnen die aprio-
rischen Erkenntnisse zugleich eine gewisse Bestätigung. Des öfteren be-
ginnt Leibniz nach apriorischen Überlegungen einen neuen Abschnitt
etwa mit den Worten: ,,Und diese Lehre stimmt übrigens mit der Ord-
nung der Natur überein, wie sie durch Erfahrungen etabliert ist. " 235
232 „1) Ratio est in natura, cur aliquid potius existat quam nihil. Id consequens est
magni illius principii, quod nihil fiat. sine ratione, quemadmodum etiam cur hoc
potius existat quam aliud rationem esse opportet. 2) Ea ratio debet esse in aliquo
Ente Reali seu causa. Nihil aliud enim causa est, quam realis ratio, neque veritates
possibilitatum et necessitatum (seu negatarum in opposito possibilitatum) aliquid
efficerent nisi possibilitates fundarentur in re actu existente. 3) Hoc autem Ens
opportet necessarium esse, alioqui causa rursus extra ipsum quaerenda esset cur
ipsum cxistat potius quam non existat, contra Hypothesin. Est scilicet Ens illud
ultima ratio Reruni, et uno vocabulo solet appellari DEUS" (ed. Gerhardt,
VII, S. 289).
233 Siehe oben Anmerkung 231.
234 ,, ••• 1a Mctaphysique est la theologie naturelle, et le m~me Dicu qui est la source
de tous les biens, est aussi le principe de toutes les connoissances" (ed. Gerhardt,
IV, S. 292).
136 „Et cctte doctrine d'ailleurs est conforme a !'ordre de la nature, etabli sur les
experiences ... " (ed. Gerhardt, VI, S. 532). Vgl. Gerhardt II, S. 168-171 und 193
sowie N ouveaux Essais, IV, 8.
Die Grundverfassung der Philosophie 359
Die Erfahrungen, die Leibniz dabei heranzieht, sind eines Teils Alltags- '
erfahrungen, wie etwa, daß es im Park von Herrenhausen unmöglidi
war, zwei völlig gleidie Blätter zu finden, vor allem aber naturwissen-
sdiaftlidie Tatsadien seiner Zeit, wie etwa die mikroskopisdien Betradi-
tungen der Spermien (,,kleine Tiere") und tierisdien Metamorphosen
durdi Leeuwenhoeck, Huyghens, Swammerdamm und Malpighi, die
Experimente über den Durdigang von Liditstrahlen durdi das sog.
Vacuum von Toricelli oder Guericke, der durdi empirisdie Messungen
festgestellte Untersdiied zwisdien Kraft- und Bewegungsmenge etc. Im
Prinzip kommt diese auf empirischen Phänomenen fußende Philosophie
Leibnizens mit dem, was wir bisher als Zweite Philosophie kennen-
lernten, überein, nur daß sie bei Leibniz die dritte ist, da ihr gleidi
zwei vorangehen. .
Man wird diese drei Philosophien von Leibniz überall in seinen
Sdiriften gesondert oder kombiniert bzw. vermisdit finden .. Wenn man
diese unter jenem Gesiditspunkt liest, so erklären sidi in ihnen mandie
Gegensätze und Spannungen. Daß sidi aber Leibniz selbst dieser Trilogie
bewußt war, drückt aufs sdiönste die sog. Monadologie aus. Sie ist seine
sadilidi umfassendste und prinzipiellste Sdirift, sein eigentlidies philo-
sophisdies Testament. Ihr üblidier Titel ist unedit236, die Manuskripte
in Hannover tragen gar keine Titel, während die den Quellen am nädi-
sten stehende Absdirift von Wien mit »Principes de la philosophie"
übersdirieben ist237• Dieser Titel entspridit ohne Zweifel ganz dem In.,.
halt der Sdirift288• Sie ist für einen philosophisdi gebildeten und Leibniz
gewogenen Gelehrtenkreis gesdirieben239, so daß Leibniz in ihr nidit,
wie so oft, äußere Rücksiditen beaditen mußte, sondern sein eigentlidies
Denken unverzerrt hergeben konnte; Der Aufbau dieser Prinzipien der
Philosophie (Monadologie) entspricht nun genau den oben angeführten
„drei Philosophien": Sie umfassen 90 Paragraphen, die ersten dreißig
Paragraphen beruhen auf der in der Selbstreflexion zugänglichen ein-
238 Er geht auf Heinrich Köhler zurück, der sie 1720 ins Deutsche übersetzte {vgl. die
Ausgabe von A. Robinet, Paris 1954, S. 2).
237 Ausgabe von A. Robinet, S. 2.
238 Daß ·die Handschriften von Hannover keinen Titel tragen, darf als ein Indiz
dafür gewertet werden, daß es sich in ihnen um die Philosophie schlechthin und
nicht nur um einen bestimmten Aspekt handelt.
239 Sie würde 1714 {wohl nach den Principes de la nature et de la gräce, die eher als
allgemeinverständliche Einleitung für den Prinzen Eugen .verfaßt wurde) auf Bestel-
lung für den Gelehrtenkreis um den Duc d'Orleans (u. a. Remond de Monmort,
Hugony, Fraguier) geschrieben (s. A. Robinet, a. a. 0.).
360 Wesenserkenntnis
240 ,, ••• a
le bon arrangement tient souvent lieu de commentaire et sert epargner des
paroles" (ed. Gerhardt, VI, S. 18).
141 Das erste Drittel der Principes de la nature et de la grace (§§ 1-6) sind „phy-
sische" Betrachtungen; die beiden folgenden Drittel (§§ 7-18) ,,metaphysische".
Der Discours umfaßt 37 Paragraphen. Die ersten sieben (sieben ist die Zahl der
Unendlichkeit) handeln von Gott. (der unendlichen Substanz), die nächsten zehn
(§§ 8-17) von der endlichen Substanz, die folgenden zehn (§§ 18-27) enthalten
eine Erklärung der Phänomene und der menschlichen Erkenntnis und die letzten
zehn schließlich (§§ 28-37) Thesen über das Verhältnis von Mensch (Geist)
und Gott.
242 Vgl. Principes de la nature et de la gr,ke, § 17 und Gerhardt IV, S. 550.
Die Grundverfassung der Philosophie 361
vorangehenden auf bzw. durch die Empirie dar. Was uns jetzt aber
primär interessiert, ist das Verhältnis zwischen der an erster und der
an zweiter Stelle genannten, zwischen „reflexiver" und „theologischer"
Philosophie. Es dürfte zu zeigen sein, daß dieses Verhältnis bei Leibniz
ungelöst blieb, daß er diese beiden „Ersten" Philosophien nicht in ein
einstimmiges, systematisches Verhältnis bringen konnte, da es offenbar
nicht zwei Erste Philosophien geben kann.
In den Prinzipien der Philosophie ist zwar der Übergang von der
Philosophie der „in uns erfahrbaren" einfachen Substanz zur Philoso-
phie der absoluten Ratio nicht unvermittelt: In den §§ 29 und 30 (den
beiden letzten des ersten Teils) ist von der Erkenntnis der notwendigen
Wahrheiten und den reflektiven Akten als der Auszeichnung der geisti-
gen oder vernünftigen Seele die Rede. In den §§ 31 und 32 wird dann
der „Satz vom Grunde" (wie der Satz vom Widerspruch) als Prinzip
des Vernunftgebrauchs eingeführt. Der „Satz vom Grunde" wird also
scheinbar aus der reflexiv erkannten Vernunft als deren Prinzip ge-
wonnen. Aber es ist doch nicht ersichtlich, wie dieses totale Vernunft-
prinzip aus unserer reflexiv erkannten Vernunft herausentwickelt wer-
den könnte. Es wurzelt vielmehr in einem ganz anderen Boden, den es
dann auch alsbald zum Vorschein bringt: in Gott als der ultima ratio
aller Dinge. Wenn aber eine absolute Vernunft zum Boden der philoso-
phischen Erkenntnis genommen wird, müßte diese Erkenntnis eigentlich
auch gleich von diesem Boden anheben, denn eine davon unabhängige
philosophische Erkenntnis müßte dann nicht nur vorläufig, sondern auch
nutzlos sein, da doch alle philosophische Erkenntnis in vollkommener
Weise auf diesem Boden absoluter Vernunft begründbar sein sollte.
Dennoch hat Leibniz die auf „innerer Erfahrung" (Reflexion) beruhende
Philosophie der substantiellen Einheit' für sich stehen lassen, und zwar
wohl deshalb, weil ihm eine apriorische Deduktion der individuellen
endlichen Monade aus der absoluten Vernunft nicht wirklich dürchführ-
bar erschien 243 • Leibniz war wohl dessen inne geworden, daß die reflexiv
erkannte Bewußtseinseinheit (die „Einheit im Mannigfaltigen") nicht
aus absoluter Vernunft einholbar ist.
Ist schon das allgemeine Verhältnis zwischen „reflexiver" und „ theo-
logischer" Philosophie bei Leibniz ungelöst, so ergeben sich dann auch
im einzelnen manche Gegensätze, die hauptsächlich darin ihre Wurzeln
haben, daß vom Standpunkt absoluter Vernunft alles Werden und Sein
von allem erklärt habe245 • Er hat sich von dieser so große Hoffnung
weckenden Lehre abgewandt, nicht bloß weil er sie bei Anaxagoras nicht
ausgeführt sah, sondern weil er sich selbst als unfähig erachtete, das
Universum, Erde, Sonne, Mond und Sterne, von diesem Standpunkt
einer alles beherrschenden göttlichen Vernunft zu erklären, und unter-
nahm daher auf eigene Faust seine „zweitbeste Fahrt", eben seine Philo-
sophie, durch die „Flucht in die Logoi". Die Sokratische Philosophie
hat sich in einer Selbstbescheidung als ein „menschliches Wissen" (av{lgwnlvri
crocpla) 246 verstanden, das nicht auf jener „Vernunft" des Universums,
sondern auf der Vernunft in der Selbsterkenntnis der menschlichen
Seele beruht. Die universale Vernunft des Anaxagoras ist allerdings
immer eine „Verlockung" für die Philosophierenden gewesen, schon für
den späten Platon. Aber dieser hat sich doch nie in eine totale göttliche
Vernunft emporgeschwungen, sondern die Vernunft, von der er als Phi-
losophierender sprach, ist immer die bedingte Vernunft der Selbsterkennt-
nis geblieben, die nicht alles erklärt. Platons Nus ist nicht absolute Ver-
nunft: Er kann unmöglich ohne Seele sein, sondern ist notwendig mit der
Seele und ihren bewegenden Kräften verbunden 247 ; und er ist nie die
ganze Seele, sondern die Leistung ihres zur Führung berufenen Teils
(der x11ßEgv{yrric; im Phaidros). Es ist auch die Idee dieser bedingten,
in der Selbsterkenntnis erfaßten Vernunft, durch die er in einem dxwc;
µvi'toc; und als ein Zweites, das er nicht mehr als Philosophie bezeichnet,
das sinnlich sichtbare Universum interpretiert, selbst wenn er die kos-
mische Vernunft gegenüber der menschlichen idealisiert und insofern mit
dem Prädikat „göttlich" versieht. Wie den Staat, versucht Platon auch
das Universum sozusagen als „Menschen im großen" zu verstehen: als
~0ov li~njJUzov lvvovv. Seine Kosmologie ist im Grunde genommen, wie
besonders deutlich der Philebos zeigt, nicht Theologie, sondern Anthro-
pologie. Das Universum ist nicht total vernünftig, sondern ein „Gemisch"
aus Vernunftlosem und Vernunft; die ,demiurgische Vernunft muß die
„Notwendigkeit" ,,überreden", damit diese „soweit möglich" (xm:a
Mvaµw) ,,das Meiste" auf das von der Vernunft bezweckte Beste hin
tue 248 • Das Universum wie der Mensch werden sowohl von vernünftiger
wie auch von vernunftloser Seele bewegt, und die vernunftlose (sterb-
liehe) Seele ist nicht von der Vernunft geschaffen249• Zwar erkennt
Platon dem Vernunftlosen keine eigene Macht der Ordnung oder der
Organisation zu: ohne Vernunft verhält sich dieses vielmehr „ungeord-
net", ,, ungehörig", ,, verrückt", ,, unproportioniert" etc. (&:ra'X.i:wi;, :n:Ä:r1µ-
µ1,Äroi;, µavntroi;, äµei:Qroi;, aÄ.oyroi;), es ist in sich ein „Kunterbunt"
(:n:avi:o6a:n:6i;), ein „bloßes Gewühl" 250• Auf diesen Punkt, in dem Platon
Kants Bestimmung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand vor-
ausnimmt, werden wir noch zurückzukommen haben251 • Im jetzigen
Zusammenhang aber ist entscheidend, daß Platon immer die durch
das Vernunftlose als eine eigene Art Ursache (ahta, auvmi:ta) bedingte
Vernunft betrachtet und erklärt, daß wir als Philosophen dem Ver-
nünftigen nachspüren müssen, ,,um dessentwillen aber auch dem ,Not-
wendigen' (dem Vernunftlosen), angesichts dessen, daß es ohne dieses
nicht möglich ist, jenes; auf das wir es abgesehen haben, allein zu begrei-
fen, noch zu erfassen oder seiner sonstwie teilhaftig zu sein. "252
Die genuine Beschränkung der Philosophie auf unsere bedingte Ver-
nunft ist aber in ihrer Geschichte nicht festgehalten worden. In der in
Hegel gipfelnden Tradition ist wiederum die eigentlich theologische Idee
des Anaxagoras durchgebrochen. Bezeichnenderweise beruft sich Hegel
sowohl in der Vorrede zu seiner Phänomenologie als auch in der Ein-
leitung zu seiner großen Logik auf Anaxagoras als auf den Urheber
seines· Gedankens der Identität von Vernunft und Wirklichkeit, von
Denken und Sein: ,,Anaxagoras wird als derjenige gepriesen, der zuerst
den Gedanken ausgesprochen habe, daß der Nus, der Gedanke, das
Prinzip der Welt, daß das Wesen der Welt als der Gedanke zu bestim-
men ist. Er hat damit den Grund zu einer Intellektualansicht des Uni-
versums gelegt, deren reine Gestalt die Logik sein muß. "253 Diese Ab-
lenkung der Philosophie von der bedingten Vernunft unserer Selbst-
erkenntnis auf die theologische Idee einer absoluten „Vernunft" geschah
ohne Zweifel unter dem Einfluß der Religion und Theologie. In der
perfectissima scientia Descartes' oder in der Wissenschaft Hegels herrscht
weniger der Geist der menschlichen cpiÄ.ocrocp(a des Sokrates als vielmehr
derjenige der aocpta von Anaxagoras und der Idee .der scientia divina.
Diesen Einfluß der Theologie hat man noch bis in die säkularisierten
Formen der Hegelschen Dialektik, bis in die Geschichtsphilosophie von
Marx festgestellt. Andererseits aber hat es in der Neuzeit auch nicht an
Kritik gegen diese dogmatische Selbstentfremdung der Philosophie durch
das theologische Prinzip der absoluten „Vernunft" gefehlt. Die großen
Erneuerungen der Philosophie durch Kant und Busserl darf man als
Rückkehr der Philosophie zu sich selbst: auf ihren Boden der bedingten
Vernunft unserer Selbsterkenntnis werten. Der vorliegende Versuch ist
von dieser bisher wohl noch nicht genügend ernstgenommenen Neu-
besinnung der Philosophie auf ihren urspriinglichen Bereich getragen.
eigenen Ursprünge und sein eigenes Werden hat und das auch noch in
der Vergeistigung durch die Vernunft seine eigenen Kräfte des Werdens,
der Bildung und der Umbildung wirken läßt.
Die Geschichte der Sinnlichkeit ist bloße Tradition, die jeweils immer
nur als überkommenes aus ihrem Ursprung und ihrer Geschichte heraus
lebt, aber sie nicht als solche erkennt und bewahrt. Die Geschichte der
Sinnlichkeit ist in einem weiten Sinn Gewohnheit (sinnliche Habituali-
tät). Diese hält nicht an ihren Ursprüngen fest, sondern lebt nur als
deren Abkömmling; um zu funktionieren, braucht sich eine bloß gewohn-
heitsmäßige Tätigkeit nicht ihrer Entstehung zu vergewissern. Das sinn-
liche Leben ist ja von seiner Vergangenheit abgewendet, seine Vergan-
genheit als solche hat für es keine Bedeutung, alles Gewordene hat für
es nur Sinn in der jeweiligen Zukunft (Lebensmöglichkeit) eröffnenden
unmittelbaren Gegenwart. Ob dabei die gewohnheitsmäßige Tätigkeit
im Sinne ihres Ursprungs fungiert oder gegenüber diesem Ursprung
durch Assoziation mit einem anderen Sinnzusammenhang eine neue
Funktion ausübt, ist für das sinnliche Leben selbst ganz außer Frage.
Das Problem der Ursprungsechtheit (Ursprungsgerechtheit) der Tradi-
tion besteht für das sinnliche Leben überhaupt nicht, ihm kann nur der
unmittelbar gegenwärtige Sinn zählen. Indem das sinnliche Leben in
seiner Geschichte seine ausgebildeten Sinnesapperzeptionen und Verhal-
tensweisen assoziativ in neue Sinneszusammenhänge einbildet, entfallen
der sinnlichen Tradition in diesem Funktionswandel ihre faktischen
Ursprünge, aus denen sie entstand. So hat z.B. das Trinken eines abend-
lichen Biers, das ursprünglich den Durst löschen sollte, nun durch Asso-
ziation den Sinn einer Vorbereitung zum Schlaf (einer „Schlafzeremo-
nie") erhalten. Die sinnliche Habitualität hat aber ihren Ursprung nicht
nur in der Lebensgeschichte des Individuums, sondern sie kann auch
aufgrund „mitschwingender Resonanz" (,,sympathetischer Ansteckung")
von anderen Individuen übernommen sein oder auch schon zum gebore-
nen fungierenden Leib gehören und so ihren Ursprung in der Stammes-
geschichte haben.
Eine sinnlich-habituelle Tätigkeit kann ihre faktischen Ursprünge
wohl ganz und gar verlieren, so daß keine Analyse ihr selbst entnehmen
kann, woher sie stammt und wie sie geworden ist. So wie man in der
Anatomie z.B. den Gehörknöchelchen des Menschen nicht direkt ent-
nehmen kann, daß sie ursprünglich ein Kiefergelenk. waren, ebenso-
wenig ist wohl jede ausgebildete sinnliche Tätigkeit mit ihren in ihr
liegenden Sinnesapperzeptionen analytisch nach ihren Ursprüngen zu
370 Wesenserkenntnis
.· Ein weiterer Begriff des Ursprungs ergibt sich uns, wenn wir vom
Ursprung eines Kulturwerkes und von seiner ursprünglichen Bedeutung
sprechen. Der Ursprung eines Kulturwerkes ist die dieses stiftende Ver~
nunfttätigkeit, die ursprüngliche Bedeutung eines Kulturwerkes ist bei
der geistigen Kultur diese Tätigkeit selbst in ihrer Selbstverwirklichung
im Werk, bei der materiellen Kultur die Tätigkeit, für die die schöpfe,-
•rische Tätigkeit das Kulturwerk als sinnliches Mittel gestiftet hat256•
Die ursprüngliche Bedeutung ist einem Kulturwerk nie immanent, nie
in ihm als sinnlich Gegenwärtigem enthalten. Dieser Sachverhalt be-
stimmt die ganze Geschichte der Kultur. Ich möchte ihm im folgenden
für die geistige Kultur etwas genauer nachgehen und dabei den ent-
sprechenden Begriff der Ursprungsechtheit oder Ursprungsgerechtheit der
Kultur einführen. Indem die Vernunfttätigkeit sich in der Sinnlichkeit
instituiert, sie ihrem unmittelbaren Eigenleben entfremdet und eine Ver-
gegenwärtigungsfunktion .verleiht, wird die Sinnlichkeit nicht selbst
zur Vernunft. Die Vernunft ist der Kultur als „cultura culturata" nie-
mals immanent, sie läßt sich in ihr nicht einfangen. Gegenwart kann
nicht selbst Vergegenwärtigung werden, sondern ist es nur iri der Ver,-
riunft. Insofern ist die Rede von der sinnlichen Verkörperung der Ver-
nunft oder von der Beseelung des Sinnlichen durch die Vernunft irre-
führend. Die Vernunft ist in• der Kultur nicht körperlich, wie das sinn-
liche Bewußtsein den Körper beseelt. Leib und sinnliches Bewußtsein
sind im Grunde identisch: der fungierende Leib ist das sinriliche Be-
wußtsein in der Erscheinung. Das sinnliche Sehen, Tasten, Greifen usw.
ist selbst das betreffende leibliche Walten, es „geht"· in diesem Walten
„auf"; die sinnlich~affektiven Empfindungen und Gefühle (Zorn, Freude
etc.) sind selbst die entsprechenden leiblichen Erregungen und „Aus-
drum.sbewegungen". Dagegen liegt die geistige Bedeutung nicht selbstin
manch guten „Einfall" für neue Leistungen, und der Gebrauch von
bloßen übernommenen Formeln erleichtert den Fortschritt in den positi-
ven Wissenschaften. Kulturtradition ist aber nur in dem Maße echte
Vernunfttradition, als die Vernunft deren ursprüngliche Bedeutung, die
sie in ihrer Urstiftung besaß, beständig reaktiviert, d. h. sich selbsttätig
aneignet. Echte Kultur ist auf diese Reaktivierung angewiesen. Ur-
sprungsgerechte Vernunfttradition bedeutet aber in manchen Fällen
nicht nur Reaktivierung der ursprünglichen Bedeutung unter Wahrung
der sinnlichen Gestalt, sondern kann die Veränderung dieser Gestalt
selbst fordern, sofern diese unfähig oder in der aktuellen Situation un-
tauglich geworden ist, die ursprüngliche Bedeutung zu realisieren. Ur-
sprungsechte Tradition ist dann zugleich Neuformulierung oder Über-
setzung. Die ursprüngliche Bedeutung eines Werkes ist auch nicht immer
etwas fest Bestimmtes. Man denke etwa an philosophische Aussagen, in
denen der Autor mehr sagen wollte, als er sagen konnte, in denen er auf
etwas hinauswollte, was er begrifflich nicht erreichte, was ihn aber doch
leitete. Einem solchen Werk wird man dann am meisten gerecht (ur-
sprungsgerecht), wenn man auch sein Ungesagtes noch sagt. Die Reakti-
vierung od~r ursprüngliche Aneignung kann übrigens nie Selbstzweck,
sondern immer nur möglicher Weg der jeweiligen Selbstverwirklichung
der Vernunft sein. Doch lassen wir es hier mit diesen Andeutungen
bewenden, die uns nur einen bestimmten Ursprungsbegriff nahe bringen
sollten.
3. Kapitel
Die Sprache der Philosophie
3 Nicht jedes „Tätigkeitswort" drückt eine Tätigkeit aus, worauf in diesem Jahr-
hundert besonders die englischen Sprachanalytiker, vor allem Wittgenstein und
Gilbert Ryle, aufmerksam gemacht haben (z.B. ,,besitzen", ,,kennen", ,,liegen" etc.).
Der Einsatz philosophischen R.edens 377
Rede irgendwie ein subjektives Bewußtsein als solches, ein eigenes oder
fremdes, zur Geltung.
Solche ein Bewußtsein zur Geltung bringenden Ausdrücke in der
gewöhnlichen Rede ziehen ihre Bedeutung nicht bloß aus der Bestim-
mung von phänomenalem Verhalten in phänomenalen Umständen.
Wenn jemand sagt, daß er sich an das oder jenes erinnert, so kann man
ihm dies nicht aufgrund phänomenaler Kriterien „ansehen". Einiges mag
an seinem Verhalten vielleicht darauf deuten: er ist von seiner gegen-
wärtigen Umwelt abgewendet, ,,schaut ins Leere", ohne wahrnehmbaren
Grund huscht ein Lächeln über sein Gesicht; aber niemandem wird es
einfallen, dieses phänomenale Verhalten selbst als das Erinnern zu
betrachten. Und daß er sich erinnert, besteht auch nicht einfach darin,
daß er etwas über seine Vergangenheit aussagt oder sich in der Folge
in gewisser Weise benimmt. Zwar trifft es ohne Zweifel zu, daß wir als
Kinder den Gebrauch von „sich erinnern" in bestimmten phänomenalen
Umständen und in der Rede über vergangene Erfahrungen erlernen.
Aber all dieses vermag für die Bedeutung dieses Wortes auch in der
gewöhnlichen Rede nicht wirklich aufzukommen. Es muß sich in diesen
Umständen noch etwas mehr einstellen, wenn dieses Wort, das ein
Bewußtsein als solches ausspricht, sinnvoll gebraucht werden soll: das
Bewußtsein, daß man sich an das und das erinnert. Die Umstände, in
denen der Gebrauch eines Wortes gelernt wird, brauchen nicht seine
Bedeutung, das, was mit ihm gesagt wird, zu erschöpfen.
Andererseits sind solche gewöhnlichen Bewußtseinsbegriffe, wenn sie
in der ersten Person des Präsens gebraucht werden, auch nicht Kußerun-
gen im Sinne, wie der Schrei eine Kußerung des Schmerzes, das Gähnen
Kußerung der Müdigkeit oder ein Fluch Kußerung des Zornes ist4• Es
sind keine sinnlichen „Ausdrucksbewegungen" und nichts, was einfach
durch Abrichtung (Anlernen) an deren Stelle gesetzt worden ist5, son-
dern der gewöhnliche Gebrauch dieser Begriffe bedeutet ein Bewußtsein
als solches, was nie in einer unmittelbaren sinnlichen Lebensäußerung
oder deren Surrogat geschehen kann. Wenn ich schreie, ,,entlädt" sich
dabei unmittelbar mein Schmerz, ich bedeute dabei nicht das Bewußt-
sein (Empfinden) meines Schmerzes, sondern der Schrei ist selbst noch
Bestandteil (,,Ausläufer") meines schmerzlichen Verhaltens, während sich
die Aussage „ich empfinde Schmerz" im mittelbaren Bewußtsein einer-
seits meines Empfindens, andererseits der allgemeinen Wortbedeutung
vollzieht und nicht in sich selbst zum Schmerzaffekt gehört, sondern
ihn „spiegelt''; Und mit diesem Begriff kann ich auch fragen: ,,empfin-
dest du Schmerz?", was ich mit einer unmittelbaren Ausdrucksbewegung
nicht tun kann.
Aber in· der gewöhnlichen Rede, in der Bewußtsein als solches aus-
gesagt wird, ist Bewußtsein nicht thematisch, es ist nicht selbst Gegen-
stand der Erkenntnis, sondern es wird nur nebenbei, beiläufig, lateral
ausgesagt. Es steht nicht zur Rede, was das jeweilige Bewußtsein oder
gar Bewußtsein überhaupt ist. Das Interesse gilt nicht dem jeweiligen
Bewußtsein, son.dern der bewußten Sache. Wenn ich in gewöhnlicher
Rede sage; ,,ich empfinde Schmerz", so interessiert mich der Schmerz
und nicht das Empfinden; wenn ich sage, ,,ich erinnere mich, daß Peter
das Buch zurückgegeben hat", so ist diese Tatsache und nicht mein
Erinnern die Hauptsache. Ich kann und brauche dabei nicht ·Rechen-
schaft zu geben, was dieses Bewußtsein als solches ist. Es ist hier das
selbstverständliche Medium eines Gegenstandes und nicht selbst Gegen-
stand. Zum Gegenstand ·der Beschäftigung wird es erst in der reinen
Aktreflexion: in der Philosophie. Eine Aussage etwa der Art „cogito ..."
(z.B. ,,ich denke, daß mich alles täuscht") ist noch keine philosophische
Aussage, denn in ihr. liegt noch keine Erkenntnis dessen, was Den-
ken ist6.
ihrem eigenen Gesetz zu unterwerfen. Es ist nicht nur so, daß die philo-
sophische Reflexion aus der gewöhnlichen Bildung bereits „bekannte"
Begriffe „erkennt", so daß sie keiner besonderen Terminologie bedürfte,
wie Hegel aus seinem teleologischen Verständnis der absoluten Vernunft
dieses Verhältnis sieht14, sondern es besteht keine Gewähr, daß die im
Interesse an der phänomenalen Welt nebenbei entwickelten Bewußtseins-
begriffe die Unterschiede des Bewußtseins selbst treffend und ausreichend
indizieren. Für die globalen Unterscheidungen von Sinnlichkeit, Verstand
und Vernunft finden wir in der gewöhnlichen Rede keinen wirklichen
Halt; ebensowenig für die Unterscheidung unmittelbarer Retention und
mittelbarer Erinnerung, von unmittelbarer und freier Phantasie usw. Die
Philosophie hat also die Aufgabe, eigene Begriffe ursprünglich neu zu
bilden; da sie aber den Faden, der sie an die gewöhnliche Rede bindet,
nicht verlieren darf, wenn sie der öffentlichen Zugänglichkeit nicht ver-
lustig gehen will, muß ihre Begriffsbildung in der rein reflexiven Wesens-
erkenntnis zugleich den Charakter einer Umbildung und Ausbildung der
gewöhnlichen Begriffe besitzen.
Die philosophische Rede muß daher von der gewöhnlichen öffent-
lichen Sprache aus verständlich sein, aber sie kann nicht in dieser Sprache
verständlich sein. Und sie wird auch nicht verständlich aufgrund ,öffent-
lich vorzeigbarer Gegenstände, sondern nur in der reinen Reflexion des
Einzelnen, da nur in ihm die Vernunft zu sich kommt. Das ist wohl auch
der wahre Sinn des seit Kant so oft angeführten Ausspruches, daß man
nicht die Philosophie, sondern nur das Philosophieren lernen könne.
Dieser Ausspruch darf die Philosophie nicht dem individuellen Charak-
ter und der persönlichen Willkür anheimstellen, sondern kann nur be-
deuten, daß die Philosophie ihre Objektivität nicht in der öffentlich,
zwingenden Demonstration, sondern nur in der freien Reflexion . des
Einzelnen besitzt, die ihn aber nicht isoliert, sondern in die allen wahr-
haft Philosophierenden gemeinsame und gegenseitig durch Hinweise
erweck.bare Erkenntnis der Vernunft versetzt.
Anmerkung:
Die philosophische Rede und das sogenannte „methodische Denken"
Es ist an Philosophie und Wissenschaft, überhaupt an alles methodische Denken,
die Forderung gestellt worden, durch sog. exemplarische Einführung seiner Begriffe
auf gmnd von Beispielen 1md Gegenbeispielen (und dann durch genauere Bestimmung
15 Nämlidi von der „Erlanger Schule", die aber weit iiber Erlangen hinaus ihren Ein-
fluß geltend macht; siehe dazu hauptsächlich: Paul Lorenzen, ,,Methodisches Den-
ken", Ratio VII (1965), S. 1-23 (abgedruckt in P. Lorenzen, MethodischesDenken,
Suhrkamp, Frankfurt 1968); Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Logische Pro-
pädeutik. Vorsclmle des verniinf tigen Redens, Bibliographisches Institut, Mann-
heim 1967; Friedrich Kambartel, Was ist und soll Philosophie? Konstanzer Univer-
sitätsreden, 5, 1968.
16 Propädeutische Logik, S. 117 ff.
17 Lorenzen, Methodisches Denken, S. 31.
18 Ratio VII (1965) S. 40 (engl. Ausg.).
Die Allgemeinheit der philosophischen Rede 383
unter den Anspruch stellen, methodisch vorzugehen, kann es einen eigenen Platz für
die Philosophie auch nicht geben"; ,,es gibt keinen Satz, den man als methodisches
Ergebnis nur der Philosophie, nicht der Wissenschaft zurechnen kann. " 19
Im Sinne dieser Konsequenz läge es, von Philosophie überhaupt nicht mehr zu
sprechen, sondern nur noch vori positiven Wissenschaften. Aber eine so deutliche
Position wagen nun die Vertreter des „methodischen Denkens" doch nicht einzuneh-
men. Friedrich Kambartel etwa will die Philosophie noch als „Bemühen um• Strenge
in den Wissenschaften" 20 aufrecht erhalten. Da die Wissenschaften faktisch immer mehr
um Ergebnisse als um strenges methodisches Vorgehen bemüht sind, würde der
Philosophie noch die Aufgabe zufallen, dieses Versäumnis nachzuholen, ,,und zwar
genau dann, wenn und genau so lange, wie sie in den Wissenschaften selbst nicht
geleistet wird" 21 • ,,Die Probleme der Philosophie sind dann nicht neben, sondern in
den Wissenschaften zu suchen, als deren begründungstheoretische Verwirrungen oder
Versäumnisse. "22 Auf diese Weise läßt sich aber, wie man leicht sieht, Philosophie
nicht halten, denn es kommt den Wissenschaften, wenn sie überhaupt so heißen sollen,
selbst zu, jeweils ihre eigenen methodischen Versäumnisse nachzuholen und überhaupt
ihren eigenen methodischen Gang kritisch zu überprüfen. Es ist auch sinnlos, ·systema-
tisch die Wissenschaftler in etwas -leichtfertige, die möglichst schnell nach· Ergebnissen
haschen, und in kritische einzuteilen und die zweiten mit dem Qualitätszeichen
„Philosophen" zu versehen, das ja so nichts anderes als eine Tautologie, nämlich
„wissenschaftliche Wissenschaftler" bedeuten könnte. Philosophie hätte nur dann im
Zusammenhang mit der Begründung der Wissenschaften eine eigene Aufgabe, wenn
sie diese auf „Gründe" führen könnte, die die positiven Wissenschaften aufgrund_ ihrer
Methode, also. in strenger Einhaltung derselben, gar nicht suchen, und dies würde
bedeuten, daß die Philosophie eine besondere Methode hat, die nicht wie die positive
sinnlich-öffentlich Vorgegebenes zur Grundlage ihrer Begriffe und ihrer ganzen Syste-
matik nehmen kann.
Paul Lorenzen .überläßt es den Wissenschaften selbst, für ihre methodischen
Grundlagen aufzukommen. Für ihn zielt Philosophie gar nicht auf eigene ·Aiissagen,
sondern besteht ausschließlich in der persönlichen, existenziellen Entschlossenheit, -·immer
den Weg einzuschlagen, der sich durch „methodisches Denken" (in seinem Sinne, also
durch positiv-wissenschaftliches I>enken) rechtfertigen läßt23• Es ist _aber nicht einzu"'."
sehen, warum dieses pösitiv~wissenschaftliche Ethos, das das' ganze Leben ausrichten
soll, mit dem Namen der Philosophie zu bezeichnen ist.
Der Idee des sog. ,,methodischen Denkens" ist entgegenzuhalten, daß es phil<>"'."
sophisch nicht angeht, ein bestimmtes methodisches Vorgehe~ zum vornherein z11r
universalen Methode alles vernünftigen Denkens und Forschens zu deklarieren. Dieses
„methodische Denken" erfüllt zwar eine Forderung, die für die Wissenschaft von
(
384 Die Sprache der Philosophie
größter Bedeutung ist: sie ermöglicht ein wissenschaftliches Reden, das von Anfang
an intersubjektiv streng normiert, für alle „Sachfähigen" prinzipiell immer voll ver-
ständlich ist. Darf aber diese methodische Forderung zum vornherein an alles ver-
nünftige Denken und an alle wissenschaftliche Erkenntnis gestellt werden? Könnte es
nicht wissenschaftlich Erforschbares geben, das a11s sich selbst dieser Forderung prin-
zipiell nicht entsprechen kann, so daß sie sich hier als nicht sachgemäß erweisen
würde? Es wäre Sache der Philosophie, solchen Fragen nachzugehen und nicht zum
vornherein, d. h. bevor untersucht wurde, was Vernunft ist, allem vernünftigen Den-
ken eine gewisse Methode vorzuschreiben. Damit wird unverantwortet (,,dogmatisch")
darüber präjudiziert, was Vernunft ist, bzw. was vernünftig erforscht werden kann.
Mit dieser globalen Position brauchen wir uns hier nicht auseinander-
zusetzen, denn es ist aufgrund der vorangehenden Ausführungen wohl
deutlich genug, daß die philosophischen Probleme der Selbsterkenntnis
der Vernunft nicht einfach aus Verwirrungen der gewöhnlichen Sprache
entstehen, sondern von einer ursprünglichen, irreduktiblen Fragestellung
getragen sind. Im jetzigen Zusammenhang muß uns vielmehr eine andere
Ansicht interessieren, zu der sich die sprachanalytische Philosophie ent-
wickelt hat: Diese neue Position negiert nicht mehr die Echtheit der
philosophischen Fragen und Probleme; dennoch aber verlangt sie den
analytischen Rückgang auf das Funktionieren der gewöhnlichen Sprache
und stellt diese Analyse als die eigentliche Methode oder „Technik" des
Philosophierens hin. Gleich zum vornherein kann man sich .des Ver-
dachts nicht erwehren, daß in dieser Entwicklung eine gewisse Ent-
fremdung und Halbheit liegt, da diese neuere Position nur noch an der
Forderung des Rückgangs zur gewöhnlichen Sprache, nicht mehr aber an
der Auffassung der philosophischen Probleme, aus der diese Forderung
entsprang und in der sie ursprünglich begründet war, festhält. Doch
sehen wir j~tzt von diesem Verdacht ab und hören wir uns die Argu-
mente an, durch die diese neuere Position die Philosophie an die gewöhn-
liche Sprache binden will! Denn gerade diesem Verhältnis von Philoso-
phie (sofern sie keine bloße Sprachverwirrung ist) und gewöhnlicher
Sprache gilt ja das Interesse des vorliegenden Kapitels.
Der bedeutendste Vertreter dieser neueren Auffassung der „Sprach-
analyse" ist wohl J. L. Austin. Seine Ideen haben durch mehrere seiner
Schüler, vor allem durch P. F. Strawson und John R. Searle interessante
Modifikationen erfahren. Doch wenden wir uns vorerst Austin selbst zu,
denn von allen Vertretern der Ordinary Language Philosophy hat er
sich am deutlichsten über die Gründe und Techniken dieser Weise des
Philosophierens ausgesprochen28 •
Der Rückgang auf die „gewöhnliche Sprache" hat bei Austin folgende
Funktion: Der Reichtum von begrifflichen Unterscheidungen und Ver-
bindungen hinsichtlich der Wirklichkeit, die in den verschiedenen ge-
18 Vor allem in „A Plea for Excuses" (1956), neu veröffentlicht in den Philosophical
Papers, 1. Aufl. (Oxford, 1961), S. 129-134, 2. Aufl. (1970), S. 181-186, und in
der Schlußdiskussion des Kolloquiums von Royaumont, veröffentlicht in La philoso-
phie analytique (Paris, 1962), S. 330-380, aber auch in gelegentlichen Bemerkungen
wie in How to do Things with Words (Oxford 1962), S. 122.
19 Philos. Papers, S. 182 (1. Aufl., S. 130), La philosophie anal;ytique, S. 332, 351.
386 Die Sprache der Philosophie
gewöhnlichen. "35 Austin weist auch auf die Beschränktheit der Erfahrung
hin, die der gewöhnlichen Sprache zugrunde liegt, und auf „alle Arten
von Aberglauben, Irrtum und Einbildungen", die in ihr Fuß gefaßt
haben. ,,So ist gewiß die gewöhnliche Sprache nicht das letzte Wort: sie
kann grundsätzlich überall ergänzt, verbessert und ersetzt werden. Aber
nicht zu vergessen, sie ist das erste Wort." 36 Austin ist also weit davon
entfernt, den gewöhnlichen Sprachgebrauch und seine „Logik" zum
letzten Kriterium der sinnvollen philosophischen Rede zu erheben.
Dennoch legt Austin de facto die Aufgabe der Philosophie auf die
Analyse der gewöhnlichen Sprache fest. Er anerkennt zwar die Möglich-
keit, daß Probleme offenbleiben mögen, die mit den Techniken dieser
Analyse nicht zu lösen sind (z. B. das Problem der Grundbegriffe oder
Kategorien), aber er erklärt nicht bloß, daß in der heutigen Lage der
Philosophie die Zeit noch nicht gekommen sei, sich um solche Probleme
zu bemühen und daß keine der heute in Gunst stehenden Methoden sie
erfolgreich zu erörtern vermöge, sondern auch, daß, wenn einmal eine
dafür geeignete Method<: gefunden werden könnte, sie dann nicht mehr
philosophischer, sondern wissenschaftlicher Natur wäre37 • Dabei scheint
er vor allem an die Psychologie und evtl. auch an die Linguistik zu
denken38•
In der methodischen Festlegung der Philosophie auf Sprachanalyse
beruft sich Austin wiederholt auf Sokrates und die Philosophie Athens,
d. h. auf den Ursprung der Philosophie überhaupt: Anstatt sich direkt
mit dem verborgenen Lauf der Sachen selbst zu beschäftigen, habe sich
Sokrates aus denselben Gründen wie die heutige Sprachanalyse auf den
„Weg der Wörter" (the Way of Words, la voie du Langage) begeben. Die
heutige Sprachanalyse sei nur eine Wiederentdeckung dieser ursprüng-
lichen Weise des Philosophierens 39 •
Es ist nützlich, in unserer kritischen Stellungnahme zu dieser metho-
dologischen Po~ition gleich bei diesem letzten, historischen Punkt einzu-
setzen. Denn die Berufung auf Sokrates (die auch bei anderen ihrer
Vertreter, z.B. bei G. Ryle, beliebt ist) könnte ihr ein solches Ansehen
36 Philos. Papers, S. 185 (1. Aufl.; S. 133); vgl. S. 182 (1. Aufl., S. 130) u. S. 203/204
(1. Aufl., S. 151/152).
3• A. a. 0., S. 185 (1. Aufl. S. 133).
81 La philosophie analytique, S. 375/376.
38 Siehe Philos. Papers, S. 203/204 (1. Aufl., S. 151i152); La philosophie analytique,
S. 375; How to do Things with Words, S. 122.
89 Philos. Papers, S. 183 (1. Aufl., S. 131); La philosophie analytique, S. 349.
388 Die Sprache der Philosophie
geben, daß eine Kritik verstummen müßte. Wenn Sokrates und seine
Schüler wirklich ihren spezifischen Weg zur Erkenntnis in der „Sprach-
analyse" gesehen hätten, dann wäre tatsächlich der geschichtlich geprägte
und gerechtfertigte Sinn des Wortes Philosophie Sprachanalyse, und we~
unter diesem Namen etwas anderes triebe, miißte riskieren, als Usurpa-
tor dieses erhabenen griechischen Wortes gebrandmarkt zu werden.
Offensichtlich bezieht sich Austin, wenn er sich auf den way of Words
des Sokrates beruft, auf jene berühmte Stelle in Platons Phaidon, an der
Sokrates, seine Erfahrungen auf seinem Forschungswege schildernd, be-
richtet, wie er aus Furcht, bei der direkten Betrachtung der Dinge zu
erblinden, auf eigene Faust eine „zweite Fahrt" (öe{rreeoc; :rcÄoiic;) unter-
nommen, indem er sich in die Äoyot geflüchtet habe, um so die Dinge in
ihnen, wie in ihrer spiegelnden Brechung, zu betrachten40• Tatsächlich
könnte man auf den ersten Blick meinen, daß dieser von Sokrates in-
staurierte Weg (µs-Ooöoc;) der mittelbaren Betrachtung der Dinge im
Milieu der Äoyot im Prinzip der von Austin formulierten Idee der Klä-
rung der Phänomene im Lichte der Sprache entspreche, zumal wenn
man hier wie Austin den griechischen Ausdruck ÄoyoL durch words oder
französisch durch Langage widergibt41•
Doch erweist sich bei genauerer Betrachtung der Sinn dieser Phaidon-
Stelle als ein sehr verschiedener: Im Zusammenhang der Frage nach der
Unsterblichkeit der menschlichen Seele (woran zu erinnern gegenüber den
Sprachanalytikern wohl nicht ganz unnütz ist) schildert Sokrates seine
Erfahrungen auf seinen Forschungswegen nach den Ursachen (at·d.m,
öux· ·rl) des Entstehens, Bestehens und Vergehens 42 • Erst habe er sich als
Jüngling in der Wissenschaft (aocpta) bemüht, die man Naturgeschichte
('fJ :rtEQL cpfoecoc; ta-rogta) nennt43 • In dieser Weise des Vorgehens (ö
-rgo:rcoc; -r'ijc; µe-Ooöou )44 sei er in ihn völlig verwirrende Widersprüche
geraten (daß dasselbe gegensätzliche Ursachen und daß dieselbe Ursache
gegensätzliche Wirkungen hat), so daß er gleichsam erblindet auch un-
wissend darüber wurde, was er vorher zu wissen glaubte, und erkennen
mußte, daß er für diese Weise des Forschens untauglich sei45• Nachdem
er sich dann durch die Idee des Anaxagoras begeistern ließ, daß die Ver-
40 Phaidon, 99 d-100 a.
41 Philos. Papers, S. 183 (1. Aufl., S. 131); La philosophie analytique, S. 349.
42 Phaidon, 95 e, 96 a, 97 b.
48 A. a. 0., S. 96 a.
u A. a. 0., 97 b.
45 A. a. 0., 96 a-97 b.
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 389
nunft (vou~), bzw. das von ihr gewählte Beste, die Ursache von allem
sei, aber alsbald erkennen mußte, daß die tatsächlichen Nachforschungen
des Anaxagoras gar nicht dieser Ursächlichkeit entsprachen, sondern im-
mer nur die negativen Bedingungen ermittelten, ohne die die Ursache
nicht Ursache sein kann 46, also im Widerspruch mit seinem eigenen Prin-
zip doch wieder nur in die übliche Betrachtungsart der „Naturgeschichte"
zurückfielen, nach diesem große Hoffnungen weckenden, aber enttäu-
schenden Zwischenspiel also habe er dann die zweite Fahrt in der Ur-
sachenforschung (ö1,{rr1>eo~ :nti.oii~ E:nl. -rriv •r\~ aMa~ t~Tl'J<nv47) unter-
nommen: ,,Es bedünkte mich, nachdem ich in der Betrachtung der Dinge
versagt hatte (bmöri a:rtELQ~'K'I'} -ra öv.a <Jxoxrov), ich müsse das Schick-
sal derer zu vermeiden suchen, die die sich verfinsternde Sonne an-
schauen und betrachten. Manche verderben sich nämlich die Augen, wenn
sie nicht im Wasser oder in einem anderen solcher Art das Bild (niv
dxova) der Sonne betrachten. So etwas glaubte auch ich und befürchtete,
ich würde noch völlig an der Seele erblinden, wenn ich mit den Augen
nach den Dingen (xeayµam) schaute und ihrer mit allen Sinnen habhaft
zu werden trachtete. Es scheint mir nunmehr, ich müsse, bei den ti.6yot
Zuflucht nehmend, in diesen die Wahrheit der Dinge betrachten (xQf\vm
i,t~ wu~ Myov~ xa-rmpuy6vra EV E'KELVOL~ crxo;i:1,!v -rwv öv-rcov -rriv w.~-01>tav).
Doch paßt der Vergleich vielleicht in gewisser Weise nicht, denn ich ge-
stehe nicht wirklich zu, daß derjenige, der in den ti.6yot betrachtet, die
Dinge (öv.a) eher in Bildern sieht als derjenige, der sie in der Wirklich-
keit (Ev ilQyot~) betrachtet. Nun auf diese Weise also begann ich, und
indem ich in jedem Falle den 1i.6yo~, den ich als den beständigsten
{EQQC0µ1>vfo-ra.ov) erachte, zugrunde setze ({mo-Osµi,vo~), setze ich das
als wahre Wirklichkeit (oo~ UA'l'}{}f\ övta), was mir mit jenem übereinzu-
stimmen scheint, sowohl hinsichtlich der Ursache als auch alles anderen,
was aber nicht übereinstimmt, als nicht wahr. " 48
Wir haben bis jetzt den Ausdruck Myo~ nicht übersetzt. Seine Bedeu-
tung wird sich durch die Fortsetzung der Rede von Sokrates ergeben:
Den Sinn des soeben Ausgeführten verdeutlichend, erklärt er, daß er
damit versuche, diejenige Art Ursächlichkeit (-rf\~ ahta~ to 1,lao~) zu
zeigen, mit der er sich beschäftige, und damit wieder bei jenen viel-
berufenen (,,Ideen") angelangt sei: ,, Von ihnen gehe ich aus, indem ich
48 A. a. 0., 99 a.
,1 A. a. 0., 99 c/d.
,s A. a. 0., 99 d-100 a.
390 Die Sprache der Philosophie
40 A. a. 0., 100 b.
50 Gedanken, wenn man wie Platon unter „Gedanke" (öuivoia) nichts anderes als
den 1.6yo; innerhalb der Seele ohne Stimme versteht (Sophistes, 263 e, 264 a).
51 Vgl. Phaidon 100 c-102 a.
52 Parmenides, 135 b/c.
53 Phaidon, 78 b-84 b; vgl. unten S. 419 ff.
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 391
54 Sophistes 259 e-262 d; vgl. VII. Brief, 342 und Nomoi, X 895 d.
55 Kratylos, 439 b.
392 Die Sprache der Philosophie
Begriffe, denn es ist der einzige Punkt, an dem die Operationsweise der
Begriffe beobachtet werden kann " 61 • Aber der eigentlich philosophische
Gesichtspunkt wird nicht innerhalb der normalen faktischen Sprachen
angesetzt. Die philosophische Aufgabe kann sich nach Strawson nicht
darauf beschränken, (mit oder ohne therapeutischer Abzweckung) die
verschiedenen Operationsweisen der gewöhnlichen Begriffe zu beschrei-
ben, zu klassifizieren und zu vergleichen, sondern es soll weiter auch
danach gefragt werden, welche Veränderungen unser Begriffssystem bei
verschiedenen (fiktiven) Veränderungen der Struktur der Wirklichkeit
aufweisen würde (das Problem der Abhängigkeit der Begriffe von der
Wirklichkeit) und welche anderen Begriffssysteme als das tatsächliche in
Beziehung auf die faktische Wirklid1keit noch möglich sind62 • Alle diese
Untersuchungen und Probleme sind aber der zentralen Frage nach der
allgemeinsten Struktur unseres Denkens über die Welt untergeordnet 63 •
Diese Untersuchung des notwendigen, ungeschichtlichen Grundstocks
unserer begrifflichen Ausrüstung 64 und seiner inneren Beziehungen
( their interconnexions) bezeichnet Strawson als „deskriptive M etaphy-
sik" und nennt als bestes Vorbild eines solchen Unternehmens Kant.
über die Methode dieses Unternehmens sagt Strawson: ,,Bis zu einem
gewissen Punkt ist das Abstellen auf eine genaue Untersuchung des tat-
sächlichen Wortgebrauchs der beste und wirklich der einzig sichere Weg
in der Philosophie. Aber die Unterscheidungen und Verbindungen, die
wir auf diese Weise etablieren, sind nicht allgemein und weitreichend
genug, um der Forderung nach vollem metaphysischem Verständnis ge-
nügen zu können. Wenn wir nach der Gebrauchsweise dieses oder jenes
Ausdrucks fragen, dann setzen die Antworten, so gut sie auf einem
gewissen Niveau sein mögen, jene allgemeinen Strukturelemente, welche
der Metaphysiker erfassen möchte, vielmehr voraus, als daß sie sie
offenlegen würden. Die Struktur, die er sucht, spielt sich nicht auf der
Oberfläche der Sprache ab, sondern liegt in ihr verdeckt. Er muß den
einzigen sicheren Führer verlassen, wenn dieser ihn nicht so weit bringen
kann, wie er möchte. "65 Auf die Frage aber, wie denn diese funda-
mentale Struktur zu finden sei, bleibt Strawsons Antwort rein negativ:
,, ... die Methoden der deskriptiven Sprachanalyse reichen selbst nicht
aus, um zu solchen Ergebnissen zu gelangen; und meinerseits kenne ich
kein allgemeines Rezept, um zu demjenigen Verständnis zu kommen,
um das es sich jetzt handelt." 66 „Ich kenne keinen Charakterzug, der der
Methode der deskriptiven Metaphysik eigentümlich wäre. " 67 Das Epi-
theton „deskriptiv", das man hier als einen methodischen Hinweis ver-
stehen könnte, hat nicht diesen Sinn, sondern ist im Gegensatz zum
Ausdruck. revisionary metaphysics zu verstehen: Während die „Revi"'"
sionsmetaphysik" unser Begriffssystem von der Wirklichkeit verändern
will, stellt die „deskriptive Metaphysik" die Grundstruktur des tatsäch-
lichen Begriffssystem fest, sie beschreibt sie, aber es wird von Strawson
nicht gesagt, wie sie zu einer solchen Beschreibung gelangt. Auch nur in
diesem Sinne kann er Kants Transzendentalphilosophie als deskriptiv
bezeichnen.
Nachdem sich die Vertreter der sog. Sprachanalyse der Unangemes-
senheit ihrer ursprünglichen Methode zur Erzeugung des eigentlich phi-
losophischen Verständnisses bewußt geworden sind, scheinen sie in eine.
methodologische Leere zu geraten, in der sie entweder verharren oder
aber nur allzu gerne nach Methoden verschiedener positiver Wissen-
schaften schielen. Diesen Eindruck. erweckt etwa Searles Werk Speech
Acts, das das Sprechen als eine rule-governed form of behavior68 erklä-
ren will, wobei die „Reflexion" auf die eigene faktische Sprachbeherr-
schung (auf das eigene „Sprachgefühl") den Anhaltspunkt zu bilden hat.
Aufgrund des Prinzips der Ausdrucksfähigkeit jeder Meinung ( principle
of expressibility) werden die Regeln, die das Sprechverhalten erklären
sollen, mit den linguistischen Regeln der verschiedenen Sätze gleichge-
setzt. 69 Methodologisch scheint dieses Vorgehen eine Mischung von
Sprachanalyse, semantischer Linguistik und Verhaltensforschung darzu-
stellen. Ein wirklich philosophisches Verständnis der Sprechakte, ein Ver-
ständnis ihres Wesens, kann jedoch nicht aufgrund der Feststellung ihrer
phänomenalen Bedingungen zustande kommen. Das ist überhaupt der
Wir haben unseren Gang schlecht und recht zu Ende geführt: in einer
ersten Erkundung haben wir Gegenstand und Methode der Philosophie
rekognosziert, dadurch das Terrain für thematisch begrenzte, genaue und
eingehende philosophische Untersuchungen vorbereitet, die nun die
Fruchtbarkeit der hier entwickelten Leitgedanken erweisen müßten. Be-
vor ich - an einem anderen Orte - solchen Untersuchungen nachgehe,
möchte ich an dieser Stelle zum Schluß versuchen, die entwickelten
Grundgedanken philosophiegeschichtlich etwas prinzipieller zu situieren,
um sie dadurch noch etwas deutlicher zu profilieren. Zuerst möchte ich
es tun im Hinblick sozusagen auf die „Sache", um die es hier ging: die
Idee des Verstandes oder der Vernunft (im weiten Sinn), und dann in
Rücksicht auf den „Zugang", die Methode zu dieser „Sache", obschon
sich beides als zusammengehörig erwiesen hat und sich auch noch im
weiteren so erweisen wird.
im weitesten Sinn umfaßt den Verstand im engen Sinn als Vermögen der
Begriffe (oder der begrifflichen Regeln), die Urteilskraft als Vermögen
der Anwendung der Begriffe und die Vernunft als Vermögen der Prin-
zipien der Einheit und Vollständigkeit begrifflicher Erkenntnis. Ebenso
ist nach ihm die praktische Vernunft ein „Begehrungsvermögen nach
Begriffen", als autonome, reine praktische Vernunft ein Begehrungsver-
mögen nach Freiheitsbegriffen, als heteronome, technisch-praktische Ver-
nunft ein Begehrungsvermögen nach Naturbegriffen, und unterscheidet
sich eben durch diese Begrifflichkeit vom bloß instinktiven Begehren der
vernunftlosen Tiere. Der Logos-Charakter des Verstandes oder der Ver-
nunft ist, global verstanden, sozusagen ein Gemeinplatz der Philosophie,
auf dem sich ihre verschiedensten Richtungen zusammenfinden. Wenn
unsere rein sachlich orientierten Betrachtungen diesen selbstverständ-
lichen Rahmen durchbrachen, tun wir jetzt gut daran, seine Entstehung
genauer zu untersuchen, um zu sehen, auf welchen Gründen er beruht.
Hergestellt wurde dieser Rahmen als feste, konsequent systematische
Form ohne Zweifel von Aristoteles: Er unterscheidet das Wahrneh-
mungs- und das Denkvermögen ('ro c:dcr{}rrrntov 'XCXL -ro VO'Y}H'XOV) als
unsere beiden Erkenntnisvermögen. Für das Denkvermögen gebraucht er
neben v011nx6v auch andere Namen, wie 6wvo11n-x6v und vou; im
weiten Sinne 1 • Dieses Denkvermögen ist für ihn an den 'Aoyo;, an die
Rede, gebunden: ,,das 6wvoETa{}m kommt keinem zu, dem nicht auch
'Aoyo; zukommt" 2 • ,,Ich nenne vou; dasjenige, womit die Seele nach-
denkt (6w.voEfo{}m) und annimmt (u:n:01.aµßavav). " 3 Dieses „An-
nehmen" (u:n:M,11~n;) ist im Sinne der kategorialen Urteilssetzung zu
verstehen, die im Wissen verschiedener Art (als smcr-r~µ'Y} oder vou; und
als M~a) geschieht. Sie ist wesentlich auf den allgemeinen Begriff (das
xa-&6),011) bezogen 4 • So kann Aristoteles das VO'Y}TL-x6v oder den vou;
auch als ),oywnx6v oder als 'Aoyo; kennzeichnen5 •
Auf die reichhaltige innere Differenzierung, die Aristoteles von den
Gegenständen und Tätigkeiten des vo11n-x6v gibt, brauchen wir nicht
einzugehen. Für unser jetziges Interesse genügt die ganz allgemeine Fest-
stellung, daß Aristoteles den Verstand als das obere Erkenntnisvermögen
1 Noü; im engeren Sinne bedeutet bei Aristoteles ein „intuitives" Vermögen der
Prinzipien der Wissenschaft oder der Sittlichkeit. Vgl. Horst Seidl, Der Begriff des
Intellekts (voü;) bei Aristoteles, Anton Hain, Meisenheim 1971.
2 De anima, III, 427 b, 13-14.
3 A. a. 0., 429 a, 23.
·1 Vgl. a. a. 0., 427 b, 24-26; Nik. Ethik, VII, 1147 b 4-5.
5 Vgl. etwa Magna moralia, 1208 a 10, 19; De anima, III, 433 b, 5-8.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 399
8 ••• [xat i:o qi&.vi:aaµa i:ij; xowij; ato-OT}o-ero; n&.Oo;.] roo-i:e qiaveeov öi:L i:q, neooi:cp
alo-ihjuxq, i:oui:rov ft yvö'>o-t; eo-i:w. ft 6s µvT}µ'l) xat TJ i:rov VO'l')'tÖJV olix liveu
qiavi:&.aµai:6; EO''tW. (xat 'tO qiavi:aaµa i:ij; xowij; ataOT}aero; ;ca{}o; eaiitv).
OOO"tE 'tOÜ voouµsvou xa,:a auµße(3'l)XOS äv EL'l'), xai}' a'Öi:o 6s 'tOÜ 1CQOO'tOU ataihji:Lxoii
(De memoria, 450 a 10-14, Umstellung nach Freudenthal).
7 i:tvo; µev OU'V ,:rov i:ij; 'ljlU)Gij; EO'i:tv T} µvT}µ'l), qiaveeov, Ö'tL ouicee xat Tl qiav,:aata
(a. a. 0., 450 a, 22-23).
8 Nikomachische Ethik, VII, 1147 b 4-5.
9 De anima, HI, 428 a 8, 16; De insomniis, 458 b.
10 De anima, III, 433 b, 28-29.
11 A. a. O., II, 413 b 22-23; III, 429 a 4-6; 433 a 11-12 etc.
400 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophicgcschichtc
hatte Aristoteles nur die mit den höheren Sinnesvermögen, vor allem
mit dem Gesichtssinn ausgerüsteten Tiere als mit Phantasie begabt be-
trachtet, nicht aber die bloßen Tasttiere (nur ausgerüstet mit acp11) wie
Würmer, Muscheln, Polypen12, indem er etymologisch die Phantasie dem
Lichtsinn (cpaoc;) zuordnete13• Da er diesen „unvollkommenen Tieren"
aber Schmerz und Lust zuschrieb, mußte er ihnen auch Begierde (bn-Ouµ(a)
und Streben zuerkennen und damit auch Phantasie. Allerdings fügt er
gleich hinzu, daß die Begierde und Phantasie dieser Tiere wie ihre
Bewegung nur vage, verschwommen sei (&ogwT&c; 14). 3. Ferner spricht
Aristoteles von der Freiheit der Phantasie, also von der freien Phantasie:
„Dieser Vorgang (nämlich die Phantasie) liegt bei uns, wann immer wir
wollen (ecp' 11µiv foTlv, Ömv ßouAwµs-Oa), denn er besteht darin, etwas
vor die Augen zu stellen (:rcou,icr-Om), wie die in der Gedächtniskunst
vorstellen und Bilder erzeugen" 15• Diese Freiheit der Phantasie wird
der Notwendigkeit des Urteils (oo~al;stv) gegenübergestellt, das nicht in
unserer Willkür liegt (ov½ scp' 11µiv), sondern notwendig (avay½T))
entweder falsch oder wahr ist16 • Es ist bemerkenswert, daß diese Kenn-
zeichnung der Phantasie genau Aristoteles' Kennzeichnung des Denkens
(vosi:v) gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung entspricht: ,, ... clie
Wahrnehmung (al'.a-011cnc;) ist auf das Einzelne, das Wissen (srcWTT]µT))
auf das Allgemeine gerichtet. Dieses ist in gewisser Weise in der Seele
selbst. Deshalb lie~t das Denken (vorjcrm) bei ihr, wann immer sie will
(s:rc' avT0, o:rc6Tav ßouAT)Tm), während das Wahrnehmen nicht bei ihr
liegt, denn notwendig muß dazu das wahrnehmbare Ding vorliegen. " 17
In dieser Betrachtung rückt die Phantasie also auf die Seite des Denkens.
4. Schließlich spricht Aristoteles auch von der Phantasie als der imagina-
tiven Grundlage des Denkens: ,,das Denken ist nicht ohne Phantasiebild
(voziv oÜ% fonv ävw cpavtacrµmoc;)" 18• Wie der Geometer der ein-
zelnen Zeichnung als Grundlage bedarf, so geschieht das Denken des
Allgemeinen in Phantasiebildern19• Auch bei dieser das freie Denken
tcnden Phantasie als solcher gar nicht gerecht. Denn diese besteht doch
hier wesentlich im entwerfenden Vergegenwärtigen, im „Sich-ausmalen"
verschiedener Zukunftsmöglichkeiten und ist in sich selbst noch kein
analytisches Schließen oder Messen. Diese freie Phantasie kann Aristo-
teles offenbar daher nicht als solche anerkennen, weil für ihn zum vorn-
herein alles Bewußtsein, sofern es die Sinnlichkeit übersteigt, eo ipso
schon logisch sein muß. Auf diese Weise bringt er die planende Phanta-
sie, die er aufgrund seiner Deutung auch als 1>.oyurnx-riv cpavrnofov
bezeichnet 29 , als Phantasie zum Verschwinden; er verdeckt sie durchs
Logische. So kann er denn, nachdem diese vernünftige Phantasie als
Phantasie weggedeutet ist, die Phantasie überhaiipt, ganz allgemein,
durch die sinnliche Wahrnehmung erklären und als eine Leistung des
Sinnesvermögens (ata{hp:vx.6v) betrachten: Die Phantasie ist nach
Aristoteles ein von der Wahrnehmung erzeugter Nachklang ihrer selbst,
das, was von ihr zurückbleibt30 ; sie ist „die Bewegung, die aus der wirk-
lichen Wahrnehmung geworden ist" 31 • Sie ist nicht selbst Wahrnehmung,
aber gehört dem Wahrnehmungsvermögen an: ,,Das Vermögen der Ein-
bildung ist dasselbe wie das Vermögen der Wahrnehmung, das Sein aber
im Vermögen der Phantasie (nämlich das Phantasieren) und im Wahr-
nehmungsvermögen (nämlich das Wahrnehmen) ist verschieden. " 32
Die bestimmte Zuordnung der Phantasie zum Wahrnehmungsver-
mögen (ata{hrnx6v) scheint bei Aristoteles nicht ohne Bedenken vor
sich gegangen zu sein. In seiner Schrift über die Seele ist sie zwar durch
die Definition der Phantasie als „aus der wirklichen Wahrnehmung
gewordene Bewegung" der Sache nach vollzogen, aber noch nicht
expressis verbis gesagt. In seiner kleinen Schrift über die Bewegung der
Tiere, die man wohl im großen und ganzen .(trotz der prinzipiellen
Bedenken von Düring, Aubenque und Kahn gegen die von W. Jaeger
zur Geltung gebrachte genetische und chronologische Betrachtung des
Corpus Aristotelicum) noch immer mit F. Nuyens und denjenigen, die
ihn bestätigt haben, als chronologisch den Erörterungen über Phantasie
in der Seelenschrift vorangehend ansehen muß, scheint Aristoteles jene
entscheidende Zuordnung noch nicht vollzogen zu haben: Die Phantasie
tritt auch dort im Zusammenhang des Strebens (ÖQE;t~) auf, nämlich
als Vorstellung des zu Erstrebenden oder des zu Fliehenden, das als
Ursprung («QX'll) der lebendigen Bewegung dargestellt wird. Von dieser
Phantasie heißt es nun, daß sie „entweder durch Denken oder durch
Wahrnehmen entstehe (yi.yvnm 1'J ßla vo~crswc; 1'J fü' ai,cr{l~crswc;). " 33
Dieser Satz ist wohl nicht in dem Sinne zu verstehen, daß Aristoteles
hier gewisse Phantasien auf die Wahrnehmung und andere auf das
Denken zurückführt 34 , sondern so, daß er die Frage offenlassen will.
Das Problem, zu welchem Seelenvermögen die Phantasie gehöre, taucht
auch in der Schrift über die Seele mehrmals ohne Antwort auf35 , so daß
man den Eindruck erhält, daß Aristoteles diese Frage recht lange ohne
befriedigende Lösung mit sich herumtrug. Er konnte die Phantasie erst
dann als bloße Folge der sinnlichen Wahrnehmung betrachten, nachdem
er die überlegende Phantasie seinem Vernunftbegriff akkommodiert,
d. h. ins Logische aufgehoben hatte.
Sehen wir nun auch noch zu, wie Aristoteles die Erinnerung behan-
delt! Hier sind wir bei ihm nicht bloß auf einige globale Andeutungen
angewiesen, sondern in seiner kleinen Schrift über Erinnerung und
Wiedererinnerung (otEQL µv~µY)c; Y..al &vaµv~crEwc;) erörtert er sie in einer
ausführlichen eidetischen Bewußtseinsanalyse, für die einem geradezu
der Name „antike Protophänomenologie" einfällt. Aristoteles unterschei-
det darin zwischen µv11µovsuuv (bzw. µv~µri) und &vaµLµv~aY..scr{}m
(bzw. &vaµvY)crLc;). Den zweiten Terminus werden wir hier der Deutlich-
keit halber immer mit„ wiedererinnern" (bzw.,, Wiedererinnerung") über-
setzen, während µv11µ11 und ~wriµovsuELV bald mit „Erinnerung" bzw.
,,erinnern", bald mit „Gedächtnis" wiederzugeben ist. Diese von Aristo-
teles getroffene Unterscheidung scheint vorerst leicht erfaßt werden zu
können, bei genauerem Zusehen stößt man aber auf unüberwindliche
Widersprüche. Die erste Hälfte (1. Kapitel) der Schrift scheint von der
Erinnerung, die zweite (2. Kapitel) von der Wiedererinnerung zu han-
deln36. Gleich eingangs der Schrift wird erklärt, daß nicht dieselben sich
in der Erinnerung (µvriµovtxot) und in der Wiedererinnerung &vaµvri-
35
36
animalium chronologisch nach De anima an.
Vgl. De anima I, 403 a 8-10; III, 432 a 31 - 432 b 3; 433 a, 9-10.
Der Anfang des 2. Kapitels (451 a, 18 ff.) beginnt mit den Worten: JtEQL fü: toii
II
&.vafLL~tvficrxrnilm ÄotJtov s1Jts1:v.
II
11.··
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vcrnunftidec 405
37 452 a, 4-7.
38 452 a, 13-16; 452 b, 5.
30 451 b, 23.
40 453 a, 20.
41 453 a, 16-23.
42 453 a, 26-28.
43 453 a, 28-31.
44 449 b, 9-28.
406 Versuch einer Situierung unserer übcrlcgungcn in der Philosophiegcschichte
45 449 b, 22-23.
46 449 b, 27-30.
47 449 b, 14-15.
48 449 b, 25-27.
40 450 a, 19-22.
50 450 a, 9-12; 451 a, 16-17.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 407
man sich in einem anwesenden Erlebnis (na-aov~ naQ6vto~) und bei Ab-
wesenheit der Sache an ein nicht Anwesendes (i:6 µiJ naQ6v)" 51 • Wir
müssen Aristoteles' Behandlung dieser Frage genau verfolgen, um Auf-
schluß über seine Erinnerungstheorie in bezug auf Wahrnehmung und
Nicht-wahrnehmung zu erlangen. Er sagt vorerst, daß man sich offen-
bar die Affektion (,;o na-ao~), die durch die Wahrnehmung in der Seele
entstand und deren Habe (li~L~) wir Gedächtnis (µv11µ'YJ) nennen, wie
ein Gemälde denken muß; ,,denn die (in der Wahrnehmung) entstandene
Bewegung zeichnet so etwas wie einen Abdruck des Wahrgenommenen
als solchen (i:vnov nva wu alcr-a11µai:o~) ein, wie wenn man mit einem
Ring ein Siegel eindrückt. " 52 Aristoteles appelliert zur Erklärung der
Erinnerung vorerst einmal an die Idee einer Wahrnehmungsspur. Durch
diesen Appell ist nun aber für ihn jenes Problem des anwesenden Be-
wußtseins eines Nicht-anwesenden noch keineswegs gelöst, denn die
Wahrnehmungsspur ist ja jeweils etwas Gegenwärtiges, und es ist noch
nicht gesagt, wie man mit ihr auf ein Nicht-gegenwärtiges kommen kann.
So fragt er denn: ,, wie erinnern wir uns, dieses (nämlich den anwesenden
Abdruck) wahrnehmend (alcrMµEvo;), an etwas, das wir nicht wahr-
nehmen: an das Abwesende (i:o an6v)? Wenn es in uns etwas Khn-
liches gibt, wie ein Abdruck oder eine Zeichnung, wodurch (füa i:t)
könnte die Wahrnehmung von diesem selbst Erinnerung an ein anderes
und nicht an dieses selbst sein? Denn der sich aktuell Erinnernde be-
trachtet diese Affektion und nimmt sie wahr; aber wie erinnert er sich
nun an das Nicht-anwesende?" 53 Man kann kaum deutlicher sagen, daß
durch die Idee einer zurückgebliebenen Wahrnehmungsspur das Problem
der Erinnerung an Vergangenes noch gar nicht gelöst ist. Aristoteles gibt
nun diesem Problem dadurch eine Lösung, daß er die Erinnerung in
Analogie mit dem Bewußtsein eines Abbildes betrachtet: Oder gibt es
etwa doch ein Sehen und Hören von Nicht.:.anwesendem? ,,Denn wie
das in einem Gemälde Gezeichnete sowohl ein Lebewesen als atich ein
Abbild (dxwv) ist und ein und dasselbe beides ist, jedoch das Sein für
beide nicht dasselbe, und es sowohl die Betrachtung als Lebewesen als
auch die Betrachtung als Abbild gibt, so muß man auch das Phantasma
in uns sowohl als Anschauung (-aEWQY]µa) für sich selbst (ain:o xaW a{n:6)
wie auch als Phantasma eines anderen (<ll,Ä.ov) auffassen (vnoÄ.aße'iv).
Sofern es für sich selbst genommen wird, ist es Anschauung und Phan-
51 450 a, 26-27.
52 450 a, 27-32.
53 450 b, 14-17.
408 Versuch einer Situierung unserer Oberlegungen in der Philosophiegeschichte
tasma, in bezug auf ein anderes (cip.ou) aber wie ein Abbild und eine
Erinnerung (im Sinne eines Erinnerungszeichens: µv'Y}µ6veuµa.). So daß,
wenn es erregt wird und sofern es für sich ist, die Seele es dadurch
wahrnimmt (a.i'.o"·&rrrm), und es wie ein Gedanke oder ein Phantasma
aufzutreten scheint; sofern es aber für ein anderes (ÜAA.ou) ist, schaut
sie es wie in einer Zeichnung als Abbild an ({}ero()Bi:), etwa, ohne den
Koriskos zu sehen, als Abbild des Koriskos. " 54 Im Hinblick auf diese
verschiedene Betrachtungsweise des Phantasmas, einerseits als anwesen-
des Phantasma für sich selbst, andererseits als anwesendes Abbild eines
abwesenden anderen, fügt Aristoteles hinzu, daß wir manchmal, wenn
sich in unserer Seele Erregungen aus früheren Wahrnehmungen abspie-
len, nicht wissen, ob sie diesen entsprechen, und zweifeln, ob es sich um
eine Erinnerung handelt. ,,Andere Male jedoch kommt ein Durchschauen
und Wiedererinnern (ävvorj<1m ,ta.l &va.µv'Y}cr{}Tjvm) hinzu, daß wir
früher etwas hörten oder wußten. Dies kommt hinzu, wenn man sich
von der Betrachtung (des Phantasmas) als es selbst in die Betrachtung
als von einem anderen umstellt (µsTa.ßaUn). " 55 Hier tritt nun also plötz-
lich innerhalb der Erörterung der Erinnerung der Terminus "Wieder-
erinnerung« auf, und zwar zur Bezeichnung desjenigen Geschehens, wo-
durch das Bewußtsein des Anwesenden in ein Bewußtsein von Abwe-
sendem umschlägt, also wodurch sich überhaupt erst die Erinnerung
konstituiert. Dies wird durch die kurz darauffolgenden Sätze nochmals
bestätigt: ,,Übungen bewahren das Gedächtnis durch das Wiedererin-
nern (Tip ä1ea.va.µtµvf)()')(Btv). Dieses ist nichts anderes, als etwas oft als
Abbild (eines Abwesenden) und nicht als für sich selbst betrachten. "56
In dieser Interpretation der Erinnerung spricht Aristoteles also nur
insofern von. Wahrnehmung (a.i'.o"~O't~), als es sich um das Bewußtsein
der anwesenden Wahrnehmungsspur, des Phantasmas handelt. Dieses
Bewußtsein ist aber gerade nicht eigentliche Erinnerung, denn diese ist
Bewußtsein von Abwesendem. Das Bewußtsein, das die anwesende
Wahrnehmungsspur auf ein Abwesendes · hin durchschaut (ävvosi:v),
wodurch also überhaupt erst Erinnerung wird, bezeichnet Aristoteles als
Wiedererinnern und legt dadurch, daß er es mit einem noetischen Aus-
druck (ävvosi:v) koppelt57, nahe, daß es sich um einen Vernunftakt
00 452 b, 7-8.
61 Vgl. 452 b, 8; 453 a, 2.
62 452 b, 8-17.
63 452 b, 17-22.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 411
aktuell. " 64 Wie also im ersten Kapitel die Vorstellung des Abwesenden
(Vergangenen) als Abbildbewußtsein ausgelegt wurde, so hier die Vor-
stellung der zeitlichen Distanz durch ein Denken (voEi:v) nach Klm-
lichkeit oder Analogie. Also auch hier wird Zeitbewußtsein als Reprä-
sentation des „Fernen" im „Nahen" (Inneren, Anwesenden) interpre-
tiert. Von einer „Zeitwahrnehmung" ist auch hier nicht die Rede. Ande-
rerseits aber auch nicht von „Wiedererinnerung", sondern nur von „Er-
innerung", obschon wir uns im Kapitel über Wiedererinnerung befinden.
Auch in den folgenden Sätzen über falsche Erinnerung und die Unmög-
lichkeit unbewußter Erinnerung wird immer nur von Erinnerung und
nicht von Wiedererinnerung gesprochen, und es ist die Erinnernng, die
nun ausdrücklich ans Zeitbewußtsein gebunden wird: ,,Wenn die Sache
außerhalb der Zeit geweckt wird, oder umgekehrt, erinnert man sich
nicht (ov ~tfµvrp:m). " 65 Nachdem weiter noch von zeitlich bestimmter
und zeitlich unbestimmter Erinnerung die Rede war, wird dieser Ab-
schnitt über das Zeitbewußtsein mit einigen prinzipiellen Sätzen abge-
schlossen, in denen nun erst die „Wiedererinnerung" wieder auftaucht:
,,Es wurde schon gesagt (nämlich am Anfang der ganzen Abhandlung),
daß nicht dieselben sich in der Erinnerung und in der Wiedererinnerung
auszeichnen. Das Wiedererinnern unterscheidet sich vom Erinnern nicht
nur in bezug auf die Zeit (½m:a ,;ov XQ6vov), sondern auch dadurch,
daß sich viele Tiere erinnern, während sich wohl kein Lebewesen wie-
dererinnert außer dem Menschen. Dies hat darin seinen Grund, daß
das Wiedererinnern wie ein Schluß ist (ofov cruÄÄoytcr~t6i; ni;). Denn
daß er früher sah oder hörte oder etwas erlebte, dies erschließt (m.1111,0-
yttc:-mt) der sich Wiedererinnernde, und es ist etwas wie ein Suchen. Dies
kommt von Natur nur denjenigen zu, denen auch die Fähigkeit der
Überlegung (ßou,.rnnx6v) zu eigen ist. Denn auch das überlegen
(ßoukurn~m) ist eine Art Schluß (crvAAoytcrµ6i; ni;). " 66
Zuerst einmal: Von welcher Wiedererinnerung wird hier gesprochen,
von der Assoziation oder vom Zeitbewußtsein (Entgegenwärtigung)?
Primär sicher von der Wiedererinnerung als Entgegenwärtigung, denn
das Erschließen des Wiedererinnernden geht nach dem Text ausdrücklich
darauf, ,,daß er früher etwas sah, hörte oder sonst etwas erlebte." Als
Schluß ist hier wohl das zuvor ausführlich dargestellte Denken nach
64 452 b, 23-24.
65 452 b, 28-29.
66 453 a, 4-14.
412 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte
81 453 a, 7. .. . . . , .
82 Im Sinne einer bloßen Habe (l!;L;) oder eines Überbleibsels (µovfi) aufgru11q,-frühe-
rer Erlebnisse scheint das Wort µviJµ'Y] zuweilen auch in De memoria gebraucht zu
werden: 450 a, 29-30; 451 a, 23-24 und 451 b, 3-4. Es scheint in dieser·zweiten,
sehr dunklen und von jedem Interpreten anders verstandenen Passage zwischen
11.viJµ'YJ oder µv'Y]µovsuSL". als bloßer Wirkung von Erlebnissen und µ".'Y]µ1>vsus,Lv
,tait' mi-.6 als entgegenwärtigende Wiedererinnerung voraussetzendes Zeitbewußt~
sein unterschieden zu werden. Nur von dieser zweiten Erinnerung gilt, daß· sie dem
Wiedererinnern „folgt" (Ü,toÄouitst, 451 b, 5-6), ,während die erste Erinnerung
unmittelbar aus dem Erleben hervorgeht. . .
83 Die Hypothese scheint mir durchführbar und erhellend, daß ein ursprünglicher
Text nur über Erinnerung und über die für diese, insofern sie Zeitbew1'ßtsein ist,
konstitutive (vergegenwärtigende) Wiedererinnerung handelte. Die Passagen über
die assoziative Wiedererinnerung (451 b, 10-452 b 7 und 453 a 14-b 7) könn-
ten später eingefügt worden sein, wobei auch der erste Text durch die Idee des
ästhetischen Zeitbewußtseins überarbeitet wurde.
84 452 b, 9, 13, 21-22.
85 451 a, 6.
8G 450 a, 25-451 a, 14.
e7 452 b, 7 - 453 a, 10.
416 V ersuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte
das Erinnern als „Reden in der Seele" (sv TU 1Jrnxfl 1ciyav) 88 bezeichnen
kann. Wie schon die überlegende Phantasie (ßouAE'llTU{,Y) (pav,aala), so
verdeckt Aristoteles auch die Erinnerung als noetisches Vergangenheits-
bewußtsein durch das Logische, er löst es in dieses auf. Demgegenüber
müssen wir sagen, daß dieses noetische Bewußtsein der Vergangenheit
nicht notwendig, nicht konstitutiv ein Zeichenbewußtsein, ein Schluß,
ein Reden ist, obschon Zeichen, Schluß und Reden im Erinnern auftreten
können. Vielleicht hat Aristoteles dies später gesehen; aber wenn er nun
die Erinnerung nicht mehr als logisches Bewußtsein versteht, dann muß
er sie aus seiner Perspektive eo ipso als bloß sinnliche Zeitwahrnehmung
interpretieren. So etwas wie sinnliche Zeitwahrnehmung gibt es nun
ohne Zweifel; die konkrete sinnliche Gegenwart hat als Streben und
Verlassen selbst eine Zeitstruktur89, und Aristoteles hat völlig recht,
wenn er die Wahrnehmung der Bewegung in der Gemeinsinnlichkeit
mit einer \'vahrnehmung von „Zeit" verbindet. Aber dieses unmittelbare
Zeitbewußtsein ist nie Erinnerung; bzw. Zeitwahrnehmung in der un-
mittelbaren Gegenwart und Erinnerung an eine vergangene (abwesende)
,,Gegenwart" sind etwas toto coelo Verschiedenes. Dieser Unterschied,
um den wir uns mit allem Einsatz bemühten, wird nun aber in der wohl
späten Aristotelischen Auffassung der Erinnerung als Zeitwahrnehmung
völlig eingeebnet 90 • Aristoteles vermag also aus seiner ausschließlich lo-
gischen Sicht der Vernunft dem Wesen der Erinnerung in keinem Falle
gerecht zu werden: Wie bereits die freie Phantasie deutet er sie ent-
weder in ein logisches Bewußtsein um oder aber ebnet sie in die Sinn-
lichkeit ein.
Aber warum hat in der Aristotelischen Auffassung der Vernunft das
Logische eine solche Gewalt, daß eine Bewußtseinsweise entweder als
logische gedeutet oder aber, unangesehen sonstiger Differenzen, als Sinn-
lichkeit aufgefaßt werden muß? Wie kommt es, daß das Logische in der
Unterscheidung des Bewußtseins das Entscheidende ist? Um diese Frage
zu beantworten, können wir nicht bei Aristoteles bleiben, sondern müs-
sen geschichtlich weiter zurückgehen: zu Platon.
Bei Platon ist zwar jener Rahmen der Unterscheidung von sinnlichem
und verstandesmäßigem Bewußtsein durch das Kriterium des Logischen
88 449 b, 22-23.
89 Vgl. oben, § 28.
90 Daß die noetische Theorie der Erinnerung die ältere ist, dafür spricht wohl auch
ihr Gebrauch des Platonischen Wortes evvosi:v (vgl. Phaidon 73 c - 75 a mit
De memoria, 451 a, 6).
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 417
81 Das Wort „ontologisch" verstehe ich hier in einem traditionell beschränkten Sin~J;
wonach es sich an Dingen, Substanzen, Sachen, Gegenständen orientiert. Natürlich
könnte es auch weiter gefaßt werden, so daß es auch Akte umgreifen würde. ·
82 . Vgl. Phaidon, 78 b ff.
83 Vgl. Staat, 507 a ff.
04 Vgl. Timaios, 27 d ff.
85 Phaidon, 79 c.
88 A. a. 0., 83 a.
87 Staat, 507 c.
88 Phaidon, 79 c.
4'1s Versuch einer Situierung unserer Oberlegungen in der Philosophiegeschichte
99 Philebos, 33 d - 34 a.
100 Staat, 508 b-d.
101 Vgl. Timaios, 28 a; vgl. 28 b/c.
102 Vgl. Staat, 508 d; 533 e - 534 a.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 419
kann, sondern um die Meinungen, die auf nichts anderem als auf
afo{h1ati; beruhen (at xa.a. ta.i; ala-lHj<Jeti; Mtm) 103 • Die afo-lh1aLi; wird in
diesem Dialog nicht in sich selbst erörtert, sondern es wird geprüft, ob
sie eine ausreichende Grundlage für die Erkenntnis abzugeben vermag.
Während die Seele die sichtbare Welt vermittels des Leibes, also
vermittels eines anderen, ihr Fremden (fü' aAAov) betrachtet, betrachtet
sie das unveränderliche, gedankliche Sein durch sich selbst (mir~ bt' avrrii;):
„das eine betrachtet die Seele selbst durch sich selbst, das andere durch
die Kräfte des Leibes. " 104 Anstatt von „durch sich selbst" (bt' avt'Y}i;)
spricht Platon auch von „gemäß ihr selbst" (a'Öt~ xa{}' avr~v) 105 und „in
ihr selbst" (a'Öt~ ev fovtü) 106 • Worin besteht nun das „durch sich
selbst", dieses Eigene, durch das die Seele zur Einsicht (vo-üi;, VO'Y]<Jti;) des
gedanklichen Seins gelangt? Während die Seele das Veränderliche im
Meinen (Mtu) mit Hilfe von redeloser Wahrnehmung (µet' ala-lJ~aswi;
&Myov) erfaßt, erfaßt sie das unveränderlich Seiende in der vernünfti-
gen Einsicht (vo~<Jet) mit Hilfe von Logos (µsra. Myou) 107 • Der Logos,
die Rede, spielt also im Verhältnis der Seele zum ideellen, gedanklichen
Sein (vo'Y]t6v) die analoge Rolle wie die leibliche Wahrnehmung (a'la-lJ'Yjau;)
in der Beziehung der Seele zum Sichtbaren1° 8• Der Logos ist das· eigene
„Mittel" der Seele, mit dem sie die Beziehung zu dem ihr verwandten
(avyysvsi;) Bereich des unveränderlichen, ideellen Seins herstellen kann.
Der Logos ist das der Seele eigene Milieu der Idee. Dieser Gedanke
findet sich bei Platon immer wieder: Die veränderlichen Dinge „kannst
du betasten, sehen und mit den anderen Sinnen wahrnehmen, aber jene
sich gleichbleibenden, Wesenheiten kannst du durch nichts anderes fassen
als durch den Logismos, die „Berechnung", des Verstandes (tcp -rrii;
OLavolai; Aoytaµcp)" 169• Platons hierarchische Anordnung der Erkennt-
nisse entspricht genau der Qualität der ,Mittel': Während die Doxa sich
noch ganz mit Hilfe der Sinne bewegt, geschehen die mathematischen
Wissenschaften durch das Denken (füavot~) und benützen das Sinnliche
nur noch als ,Bilder'110 ; in der höchsten Wissenschaft aber, in der Dialek-
tik oder Philosophie, erfaßt die „Rede selbst (a-i'.rroi; o A6yoi;) durch die
Kraft der Unterredung (tfl toii OlctAEyw{}m Mvaµu) ohne alle Wahr-
nehmungen (avi;v nacr&v t&v atcr{}ficrrn)V) das Denkbare. " 111 Auf dem
Wege des Logos entsteht vernünftige Einsicht (voiii;, voricrti;). Diese ist
nicht identisch mit dem Logos, aber dessen höchstes Ziel (teAoi;), das
allein durch ihn erreichbar ist. Platon gebraucht für dieses der Seele
eigene „Mittel" zur Erlangung des unveränderlichen, nur denkbaren
Seins nicht nur den Ausdruck A6yoi; 112 , sondern spricht hier auch von
Aoywµ6i; 113 , i-oii 3taMyw{}m 3vvaµti; 114, selten und in besonderen
Fällen von 3uivota115 • Aber diese verschiedenen Ausdrücke heben nur
einzelne Aspekte des Logischen stärker hervor: der Ausdruck 1,oyur~t6i;
betont das „Berechnende" und Schließende, die logische Betrachtung der
Verhältnisse, das Ölat-Eyw{}a spricht den Logos als Unterredung aus,
während füavota den stimmlosen Logos, die „stille Unterredung der
Seele mit sich selbst" oder in besonderem Falle das mathematische
Schließen bedeutet 116 •
Während für Platon voiii; oder v61')crti; kein Vermögen der Seele,
sondern deren Einsicht (Evidenz) in das unsichtbare ideelle Sein bezeich-
net, die nicht nur von der Seele abhängt, sondern nach dem Sonnen-
gleichnis die Idee des Guten zur obersten Ursache hat117, ist die Rede,
der Logos, etwas der Seele Eigenes. Der Logos stellt sogar das einzige
Erkenntnismittel (Instrument) dar, über das die Seele durch sich selbst
verfügt; es ist das Mittel, durch das die Seele das ideelle, unveränder-
liche Sein erlangen kann, während die Sinnlichkeit, die ihr fremd ist,
sie in das Veränderliche hineinzieht. Da der Logos in: dieser ontologischen
Sicht das einzige eigene Mittel der Seele ist, wodurch diese zum Sein in
Beziehung tritt, kann Platon das Erkenntnisvermögen der Seele über-
haupt als t,oywnx6v, als Vermögen der Rede, ansprechen 118•
Wenn Platon so die Seele von ihren beiden verschiedenen Zugangs-
mitteln zu den beiden verschiedenen Arten des Seienden her betrachtet,
ergibt sich ihm die Unterscheidung in Erkenntnis durch afo{}'l')crti; und
Erkenntnis durch Myoi;. Die Erkenntnis durch den Logos ist also in die-
die Vernunft als Logos gedacht, liegt es nahe, sie schlechthin als das Re-
gelnde, Vereinheitlichende oder Verbindende, Ordnende zu denken, dem
gegenüber die Sinnlichkeit dann als das in sich Regellose, bloß unend„
lieh Mannigfaltige (ä:rcet()ov), ungeordnete Gewühl dasteht. So armselig
sieht die Sinnlichkeit sowohl bei Platon129 als auch bei Kant130 aus. Dem-,
gegenüber haben wir die Sinnlichkeit als ein Bewußtsein begreifen kön-
nen, das in sich nicht die Einheit des Selbstbewußtseins (Ichbewußtseins)
besitzt, aber sich in: seinem selbstbeweglichen Eröffnen von Zukunft eine
unmittelbare Gegenwart schafft und aus sich und für sich als typischen
und damit beherrschbaren Sinnzusammenhang zu orgams1eren ver-
such t113.
Es ist keine »bloß terminologische" Frage, ob man „Verstand"
oder „Vernunft" (im weiten Sinn) durch den Logos definiert und
dann alle vorkategorialen Bewußtseinsweisen zur Sinnlichkeit rechnet
oder ob man wie wir auch alle vorkategorialen Vergegenwärtigungs-
weisen als Verstand oder Vernunft faßt. Mit dem Gegensatz von „Sinn-
lichkeit" und „Verstand" (oder „Vernunft" - hier sind die beiden
Worte immer im weiten Sinn zu nehmen) hat die philosophische Besin-
nung seit den Griechen immer den radikalsten Unterschied in unserem
Bewußtsein zu nennen versucht. ,, Vernunft" war der Titel für das
„Höhere" in uns, und wenn man im Menschen nicht nur ein raffinierteres
Tier erblickte, sondern in ihm gegenüber dem tierischen Leben etwas
prinzipiell Neuartiges am Werke sah, so hat man dies mit dem Namen
der Vernunft bezeichnet. Diese radikale Unterscheidung war zwar immer
wieder problematisch, sie wurde z. T. auch eingeebnet, und zwar von
beiden Seiten aus, indem man entweder die Sinnlichkeit als ein bloßes
unselbständiges Moment der Vernunft oder aber umgekehrt die Vernunft
als eine bloße Spezialisation der Sinnlichkeit faßte. Aber „Sinnlichkeit
und Verstand" sind nichtsdestoweniger mindestens die Problemtitel für
das uns am tiefsten Unterscheidende geblieben. Man hat nun versucht,
Vernunft in verschiedener Weise zu bestimmen. Die in der Philosophie-
geschichte vorherrschende Bestimmung war ohne Zweifel die Bestimmung
durch den Logos, durch die Rede, wenn es auch nicht an anderen Be-
stimmungen fehlte, die etwa die Vernunft als Fähigkeit, Werkzeuge zu
schaffen, oder durch ihren moralischen Charakter zu definieren ver-
182 Z.B. Kritik der reinen Vernunft, A 258 (B 313/14): transzendental = ,,außer der
Beziehung auf mögliche Erfahrung, und folglich auf Sinne überhaupt"; A 296
(B 352/53): .,von transzendentalem, d. i. über die Erfahrungsgrenze hinausreichen-
dem. Gebrauch•.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumenologie 427
auch nicht aus dem Satz: Ich denke, als gefolgert angesehen werden
kann, wie Cartesius dafür hielt (weil sonst der Obersatz: alles, was
denkt, existiert, vorausgehen müßte), sondern mit ihm identisch ist" 144 •
Nach manchen Kußerungen Kants scheint es jedoch, daß es sich bei dieser
im „Ich denke" liegenden Wirklichkeit bloß um ein empirisches, nicht
aber um ein noumenales Dasein handelt: ,,Weil aber mein Dasein in
dem ersten Satze (Ich denke) als gegeben betrachtet wird, indem es
nicht heißt, ein jedes denkende Wesen existiert, sondern nur: ich existiere
denkend, so ist er empirisch. " 145 Kant führt diese Existenz auf die sinn-
liche Empfindung zurück, die im Aktus „Ich denke" als Bedingung
dessen Vollzuges enthalten ist: ,, ... ohne irgendeine empirische Vorstel-
lung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Aktus, Ich denke,
doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der
Anwendung oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens." 146
Danach scheint also der Bezug der reinen Apperzeption zur Wirklichkeit
bloß ein notwendiger Bezug zur empirischen Existenz zu sein. Jedoch
ist dies nicht Kants letztes Wort. Die Wirklichkeit des „Ich denke" liegt
nicht nur in dessen empirischen (sinnlichen) Bedingung, sondern in ihm
selbst als Akt. Kant spricht in der zweiten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft vom „intellektuellen Bewußtsein meines Daseins in der Vor-
stellung Ich bin, welche alle meine Urteile und Verstandeshandlungen
begleitet" 147 • ,,Ich bin mir meiner selbst in der transzendentalen Syn-
thesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der
synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption bewußt, nicht
wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß
ich bin. " 148 „Das Ich denke, drückt den Aktus aus, mein Dasein zu
bestimmen. Das Dasein ist dadurch also schon gegeben ... " 149
In der transzendentalen Selbsterkenntnis der Vernunft liegt also
nach Kant ein intellektuelles (noumenales) Bewußtsein rneines Daseins,
jedoch keine noumenale Erkenntnis meines Soseins oder Wesens. Dieses
noumenale Dasein wird durch die reine Apperzeption nur „bezeichnet",
nicht aber erkannt, d. h. nicht in seinem Sosein begrifflich bestimmt: ,,Es
ist aber offenbar, daß das Subjekt der Inhärenz (die Substanz) durch
kenden Wesens überhaupt zustande zu bringen " 153 • Nur für einen nicht
bloß begrifflichen Verstand wäre transzendentale Selbsterkenntnis zu-
gleich noumenale Selbsterkenntnis (Bestimmung eines Noumenon).
Wir haben nun oben154 gerade zu zeigen versucht, daß sich der Ver-
stand in der reinen Refiexion selbst den Gegenstand gibt, indem er das
in ihm bewußte (,,gespiegelte") Bewußtsein welcher Art immer, wo-
durch er überhaupt Verstand ist, zum Gegenstand der Betrachtung er-
hebt. Andererseits haben wir dort auch darauf hingewiesen, daß Kant
das \Y/ esen dieser Reflexion nicht zu fassen vermochte, da er, trotz seiner
Idee der reinen Apperzeption, noch im Banne von Lockes Mißdeutung
der Aktreflexion als „ Wahrnehmung durch den inneren Sinn" stand
und sich insofern die Möglichkeit entzog, die „subjektive Seite" seiner
transzendentalen Deduktion, seine Unterscheidung oder Bestimmung
verschiedener synthetischer Akte, ebenso wie die Unterscheidung von
Rezeptivität und Spontaneität überhaupt, selbst transzendental zu recht-
fertigen. Alle diese Bestimmungen sind ja, soll die Kritik der Vernunft
überhaupt sinnvoll sein, nicht phänomenal, sie können aber, wenn der
Verstand das ist, was Kant von ihm sagt, auch nicht noumenal sein,
da die reine Apperzeption nicht fähig ist, aus sich selbst Unterschiede
zu setzen, sondern „ganz leer" ist. Wenn man antwortet, diese transzen-
dentalen Bestimmungen seien nicht noumenal, sondern bloß logisch, da
sie keine Realität, sondern „bloß das Denken" beträfen, so muß man
mit Kant selbst sagen, daß „die Apperzeption etwas Reales" 155, daß
der Aktus des Denkens (die „Selbsttätigkeit") selbst wirklich und daß
daher die t,ranszendentale Bestimmung dieser Wirklichkeit Bestimmung
eines intelligiblen Seins, also eines Noumenon ist. Die angeführte Unter-
scheidung von Logischem und Ontologischem besagt hier nichts. In Wahr-·
heit ist die transzendentale Selbsterkenntnis der Vernunft Noumenolo-
gie, Erkenntnis von Wesen, aber Kant vermag dieser in seiner eigenen
Vernunftkritik sich faktisch auswirkenden Wahrheit nicht gerecht zu
werden, indem er alle reflexive Unterscheidung oder Bestimmung auf
die „Wahrnehmung durch den inneren Sinn" zurückführt. Die tiefste
Wurzel dieser Unfähigkeit, der transzendentalen Selbsterkenntnis der
Vernunft gerecht zu werden, liegt aber in Kants Auffassung des Ver-
standes als bloßer Funktion logischer Verbindung.
sondern er erteilt ihr die denkbar beste, reinste Anschauung und erhebt
diese zu ihrem methodologischen Prinzip und zu ihrem Kriterium und
Vorzug gegenüber aller anderen Erkenntnis. Aufgrund ihrer reinen An-
schaulichkeit trägt Busserls transzendentale Reflexion den Titel: reine
Phänomenologie. ,,Die Phänomenologie ist nun in der Tat eine rein
deskriptive, das Feld des transzendentalen Bewußtseins in der puren
Intuition durchforschende Disziplin. " 158 „Phänomenologie" als Metho-
dentitel bedeutet die Bindung an das ansd?au.lich Gegebene, und ihre
Reinheit bezeichnet die in ihr vollzogene Reinigung des anschaulich
Gegebenen durch die Ausschaltung aller über die anschauliche Gegeben-
heit hinausmeinenden „transzendenten Intentionen" (,,Apperzeptionen",
„Deutungen") und die dadurch ermöglichte rein immanente Erfassung
des „reinen Phänomens" als reine oder absolute Gegebenheit. Solche
reine Phänomene oder absolute Gegebenheiten sind prinzipiell nur die
durch rein immanente Anschauung gegebenen Erlebnisse als intentionale
Akte des transzendentalen Bewußtseins mit ihren reellen und inten-
tionalen Gehalten. ,,Mit Rücksicht darauf, daß auch jederlei Erlebnisse ..
zu Gegenständen reflektiver, innerer Anschauung werden können, heißen
dann alle Erlebnisse in der Erlebniseinheit eines Ich ,Phänomene': Phä-
nomenologie besagt demgemäß die Lehre von den Erlebnissen überhaupt
und, darin beschlossen, auch von allen in Erlebnissen evident ausweis-
baren, nicht nur reellen, sondern auch intentionalen Gegebenheiten. Die
reine Phänomenologie ist dann die Wesenslehre von den ,reinen Phä-
nomenen', denen des ,reinen Bewußtseins' eines ,reinen Ich' - das ist,
sie stellt sich nicht auf den durch transzendente Apperzeption gegebenen
Boden der physischen und animalischen, also psychophysischen Natur,
sie vollzieht keinerlei Erfahrungssetzung und Urteilssetzung, die sich
auf bewußtseinstranszendente Gegenstände beziehen ... Vielmehr nimmt
sie alle über die Gegebenheiten adäquater, rein immanenter Intuition
(also über den reinen Erlebnisstrom) hinausmeinenden Apperzeptionen
und Urteilssetzungen rein als die Erlebnisse, die sie in sich selbst sind,
und unterzieht sie einer rein immanenten, rein ,deskriptiven' Wesens-
erforschung. " 159
Reine oder transzendentale Reflexion gibt ihren Gegenstand, den im
sinnlichen Aktus fundierten Aktus der Vernunft, selbst; dies haben wir
gegenüber Kant festgestellt. Ist sie aber deshalb Anschauung eines „rei-
nen Phänomens", wie Busserl sagt? Anschauung, wenigstens ursprüng-
liche Anschauung, ist Anschauung von unmittelbar Anwesendem; m. a.
W., ,,Anschauung" im prägnanten Sinne ist Wahrnehmung, und „Phä-
nomen" bedeutet schon in der griechischen Philosophie das Korrelat der
Wahrnehmung. Dies gilt durchaus auch für Busserl. Transzendentale
Anschauung im prägnanten Sinne ist für ihn rein immanente Wahr-
nehmung. Wir sahen nun aber einerseits, daß reine Aktreflexion, die
Vergegenständlichung (Thematisierung) des im mittelbaren Bewußtsein
vergegenwärtigten (,,gespiegelten") unmittelbaren oder mittelbaren Be-
wußtseins, prinzipiell nicht unmittelbar Anwesendes, sondern Abwesen-
des gibt, daß sie also prinzipiell nicht Wahrnehmung ist160 , und daß
andererseits Busserls Auffassung der Aktreflexion von Lock.es Miß-
deutung der Reflexion als innere Wahrnehmung beherrscht wird161 •
Busserls Bezeichnung der reinen Reflexion der intentionalen Akte als
,,reine Phänomenologie" ist, über Brentano, von dieser Lockeschen Miß-
deutung motiviert und belastet. Wenn wir deutlich sprechen sollen,
müssen wir sagen: Busserls wirklich vollzogene Bewußtseinsanalyse
(Aktanalyse) ist nicht Phänomenologie, sie ist vielmehr, wie die tran-
szendentale Reflexion Kants, in Wahrheit Noumenologie. Die rein re-
flexive Gegenstandsgebung (die reine Aktreflexion) kann nicht im eigent-
lichen Sinne als Anschauung und dementsprechend ihr Gegenstand nicht
als Phänomen bezeichnet werden.
In der zweiten Auflage der sechsten Logischen Untersuchung (1921)
erklärt Busserl selbst, daß der „ursprüngliche Begriff der Erscheinung"
oder des Phänomens 162 „der angeschaute (erscheinende) Gegenstand, und
zwar als derjenige, welcher hie et nunc erscheint, z. B. diese Lampe als
das, was sie dieser eben vollzogenen Wahrnehmung gilt", sei 163 • Schon
in einer Vorlesung von 1909 führte er aus: ,,Einerseits heißt Phänomen
(im Sinne der Phänomenologie immer verstanden) die jeweilige reelle
cogitatio, das reelle Bewußtsein, und fürs zweite aber auch der inten-
tionale Inhalt des Bewußtseins, das in der betreffenden Wahrnehmung,
Vorstellung, Meinung Gemeinte, Wahrgenommene, Vorgestellte als sol-
ches. Dem eigentlichen Wortsinn besser entspricht der zweite Begriff
von Phänomen. Es ist eben das cpmv6µ1wov, das, was erscheint, und
erweitert, das Gemeinte, auch das unanschaulich Gedachte, als· solches,
abgesehen aber von Wirklichkeit oder Un~irklichkeit. So sprechen wit
im gewöhnlichen Leben davon1 es sei der Regenbogen nichts Wirkliches,
sondern bloß Erscheinung, oder es sei ein im Stereoskopbild, ein im
Kunstwerk Dargestelltes ein bloßes Phänomen, eine bloße Erscheinung.
Erscheinung ist also hier das Erscheinende als solches; freilich wird man
nicht jedes Gemeinte als solches im gewöhnlichen Leben als Erscheinung
bezeichnen, z.B. ein Gedachtes, aber nicht Angeschautes. Es liegt also
eine sehr starke Extension des Ausdrucks vor, wenn wir in der Phä-
nomenologie unter dem Titel Phänomen auch Gedachtes als solches
befassen. " 164 "In meinen Logischen Untersuchungen habe ich bei der
Rede von Phänomenologie immer an die Akte gedacht und sie als Wis-
senschaft von den Akten in rein immanenter Betrachtung verstan-
den. " 165 Gegenüber diesem Phänomenbegriff der Logischen Untersuchun-
gen bringt Husserl immer stärker auch jenen anderen Phänomenbegriff
zur Geltung, dem gemäß Phänomen nicht der reflektierte Akt, sondern
das Erscheinende als Erscheinendes, der intentionale Gegenstand im Wie
seiner Gegebenheit oder der »noematische Sinn"166, ist. Das eigentliche
Phänomen in diesem Sinne ist das Erfahrene im Wie seines mannig-
faltigen wahrnehmungsmäßigen Erscheinens, z. B. dieses wahrgenom-
mene Gefäß im Wandel seiner verschiedenen Erscheinungs- oder Ge-
gebenheitsweisen (von verschiedenen Seiten, von nah und fern, von
innen und außen, in verschiedener Beleuchtung, immer in kontinuier-
lichen oder diskontinuierlichen Übergängen, bald nur visuell oder auch
haptisch und akustisch usw.). Husserl hat denn auch während einiger
Jahre versucht, den intentionalen Akt, die cogitatio, bzw. die Akt-
analyse, von diesem eigentlichen Phänomen begrifflich abzuheben: ~ Wo
eine scharfe Bezeichnung des Phänomens im Sinne des Aktes selbst
nötig ist, als des Bewußtseins, dem etwas erscheint, werden wir von
Phansis sprechen, und jede reelle Analyse von Bewußtsein scharf poin-
tieren als phansiologische Analyse. "167
m Husserliana X, S. 336.
185 A. a. 0., S. 337.
188 Vgl. Ideen I, Husserliana III, S. 226.
187 Husserliana X, S. 336/7. Vgl. auch a. a. 0., S. 370 Anm. (Zusatz vom Sommer-
semester 1909). Auch in den Manuskripten F I 23 (1908/9) und F I 17 (Sommer-
semester 1909) gebraucht Husserl diesen Terminus „Phansis" bzw. ,,phansiologisch".
Noch im Sommersemester 1912 erklärt er: ,,Ich pflege für jede Feststellung der
reellen Bestandstücke eines Phänomens den Ausdruck ,phansiologische' zu gebrau~
436 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte
chen, ich nenne nämlich die cogitatio selbst, sofern sie als ganzes reelles Bestand-
stück angesehen ist, Phansis. Jede auf nicht reelle Komponenten gerid1tetc Unter-
sudnmg nannte ich früher ontisch." (B II 19, S. 48 b). Seit den Ideen I (1912/13)
hat Busserl den Gegensatz von (eigentlichem) Phänomen und Phansis termino-
logisch durch den Gegensatz Noema-Noesis ersetzt und folglich „Phänomen"
hauptsächlich im weiten, aber uneigentlichen, Noema und Noesis umfassenden
Sinn verwendet.
168 Vgl. oben im § 7 unsere Ausführungen iibcr die wesentlich sekundären Gegenstände.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumcnologie 437
Namenregister
Alston, W. P.: 179 ff. 121, 123-157, 194 ff., 250 ff., 288 f.,
Anaxagoras: 362 f. 289, 292, 327, 333-341, 365, 425 f.,
Aristoteles: 8, 65, 136, 203, 210, 213 432 ff.
bis 216, 223, 226, 232, 250, 278 ff., Ingarden, R.: 40
306, 314 f., 327, 328, 329, 331-333,
398 ff., 423, 425 Jaeger, W.: 328,413
Augustinus: 425 Kambartel, Fr.: 382, 383
Austin, J. L.: 179 ff., 289, 385 ff. Kamlah, W.: 171, 189, 381 ff.,
Ayer, A. J.: 289 Kant: 4, 5, 5-6, 8, 9, 32 f., 37 f., 44 f.,
Berkeley: 254, 319 46, 60, 67, 70, 78, 79-91, 97 ff., 106,
Brentano, Fr.: 102, 434 124, 212, 217 f., 219-227, 229, 245,
Bühler, K.: ·107 248, 254 ff., 278, 280 f., 286 ff., 296,
Buytendijk, F. J. J.: 25 f., 119 319 f., 327, 333, 340, 365, 381, 391,
397 f., 423, 423 f., 425, 426 ff.
Cantin, St.: 412 Katz, J. J.: 190
Carnap, R.: 6 Krämer, H. J.: 308 f.
Claesges, U.: 43, 145 Leibniz: 45, 46 f., 90, 91, 116 f., 253 f.,
Descartes: 33, 90, 250, 315-317, 352 f., 281, 283, 298, 300, 304,. 314, 315, 317,
364,432 317 f., 328, 353-362
Di!they, W.: 9, 157 Linschoten, J.: 105, 119
Locke: 71, 90, 248, 250, 258, 266, 317 f.,
Eugster, K.: 157 431, 434
Fichte: 266 Lorenzen, P.: 171,189,381 ff.
della Francesca, Piero: 22 Mansion, A.: 331, 413
Freud, S.: 27 f., 231, 234-239, 267-272 Marbach, E.: 157
Goethe: 166 Martinet, A.: 190
Gohlke P.: 412 Marx, K.: 365
Goldstein, K.: 119 Merleau-Ponty, M.: 25, 119, 122, 133
Gurwitsch, A.: 436 de Montpellier, G.: 25
Mugnier, R.: 412
Hegel: 119 f., 266, 306, 341-353, 354,
364, 380, 381, 397 Natorp, P.: 154
Heidegger, M.: 9-10, 96, 170, 341 Nuyens, F.: 403
Helmholtz: 108 Patocka, J.: 436
Hempel, C. G.: 6/7 Piaget, J.: 29
Henrich, D.: 65, 262, 344 Platon: 4, 7-8, 14 ff., 90, 136, 191, 292,
Heraklit: 379 301-314, 327, 328-331, 333, 362 ff.,
Husserl, E.: 10, 24, 33-35, 36-44, 60 f., 388 ff., 408, 416 ff., 423 f.
62 f., 79, 90, 93 f., 99 ff., 108, 112, 117, Plessner, H.: 25 f.
440 N amcnregister
Sachregister
Allgemeinheit: 77 f., 117, 186 f., 197 ff., Erscheinung: 22 f., 109 ff., 434 f.
293, 322 f. Erscheinungslehre (Phänomenologie): 22 f.,
Anschauung: 59 ff., 202 ff., 434 436 f.
Anthropologie: 223, 363 Erste (reine) und Zweite (empirische)
Antizipation (mittelbare Erwartung, ,,Vor- Philosophie: 50, 223, 232, 238 f., 267,
aus-Erinnerung", ,,Vorausholung"): 73 270, 271 f., 320 ff., 328 ff., 368
Assoziation: 115 ff., 369, 371, 405, 409. Ethik als Zweite (empirische) Philosophie:
222 f., 325
Beantwortungsmethode der Philosophie
Ethische Kultur: 208 ff.; ethische Haltung
(= Wesenserkenntnis): 7, 17,273ff.
(ethische Gesinnung, habituelle Aus-
Bedeutung, sprachliche: 185 ff.
richtung): 210 ff., 238; ethische Kultur
Begriffsbildung, philosophische: 284,
und gesellschaftliche Moral: 238
289 ff., 376 ff.
Freiheit: 212 f.
Bewußtsein: 49, 92 f., 226,246, 267:ff., 374,
376 ff.; unmittelbares, sinnliches Be- Fundament (negative Bedingung): 367
wußtsein: 58, 93, 122 f., 144 f.; mit- Fundamentalmethode der Philosophie
telbares Bewußtsein (Bewußtsein von (= reine Reflexion): 5, 7, 10 ff., 243,
Bewußtsein, Selbstbewußtsein): 56 f., 350
245 f., 253, siehe auch Ich; ,,Ur-
Geburt: 223
sprünge" oder Prinzipien des Bewußt-
Gegenwärtigung, Gegenwart: 58 f., 91 ff.
seins: 365-373; Bewußtsein und
Geist, objektiver: 371, siehe auch Kultur
Raum: 43 f.; Bewußtsein und Zeit:
(geistige, objektive).
37 ff.
Geschichte: 323 ff., 342 f., 368
Bildbewußtscin (Bild): 73, 164 ff.
Geschichtlichkeit (als Wesenszug der Ver-
Dialektik Platons: 302 ff. nunft): 324, 368
Eigennamen: 176 f. Glückseligkeit (Eudaimonie): 224 ff.
Einbildung: siehe Phantasie Horizont: 121
Einbildungskraft, Kantische: 78, 82 ff.,
111 Ich: 65 ff., 122 f., 151 ff., 230 f., 234 ff.,
Empfindung: 92, 103 ff. 321 f., 340, 424
Entgegenwärtigung: 57 f., 193 Identifikation, Identität: 62 ff., 77, 98 ff.,
Erinnerung (Wiedererinnerung): 72,102 f., 118 ff., 127 ff.
116 f., 274,399, 404 ff. Individuum: 178 f.
Register 441
Institution der Vernunft in der Sinnlich- reine Reflexion): 24, 29 ff., 74, 143,
keit ( = geistige Kultur): 162, 370 f. 245 ff.; reine, philosophische Refiexion:
Intelligenz: 29 31 ff., 234, 245 ff., 272, 374, 378 ff.,
In tercsse: 223 f. 431 f., 433 f., siehe auch Aktreflexion;
Introspektion: siehe Wahrnehmung, in- reine Reflexion und Wesenserkenntnis:
nere 284 ff.
Reflexionsbegriff, reiner ( = W esensbe-
Kultur (= Vernunft im engeren Sinne);
griff): 291 ff., 314,320
sinnliche und geistige Kultur: 158 ff.,
Reflexionsgegenstände, wesentliche: 22 ff.
208; subjektive und objektive Kultur:
Reflexivität, allgemeine: 56 f., 71, 146,
228 ff.; Ursprungsechtheit der Kultur:
245, 255
370 ff.
Rekognition, vorsprachlid1e, von Indivi-
Leib: 47, 121 f., 153 f., 370 duen und Allgemeinem (Wiedererken-
Maieutik: 12 nen): 77 f., 186, 197 f., 201 ff., 207 f.
Modalisierung: 75 ff., 146 ff., 172 ff., Reproduktion: 72 f., 99
182 ff. Retention: 96, 98 ff., 251
Telos: 368 81 ff., 397 f., 430, bei Hegel: 343 ff.,
Theoria (bloß "schauender" Verstand): 397, bei Busserl 124 ff.
213 ff. Vernunfthandlung, reine ( = reine Re-
Tod: 227, 323, 339 flexion): 5, 7, 10, 12 f., 247
Tradition: bloße Tradition: 369 ff.; echte Vernunfttätigkeit als nicht erscheinende,
Vernunfttradition: 373 sondern als noumenale Gegebenheit:
Transzendental: 43, 46, 47; transzendental 2 f., 4, 28, 246 f., 431 f.
im Kantischen Sinn: 426 ff. Verstand im weiteren Sinn = Vernunft
Transzendentale Interpretation: 49 ff., im weiteren Sinn (siehe dort); Ver-
325, 329, 337, 347, 358 stand im engeren Sinn: 55, 56 ff., 69,
Transzendenz (objektive, verstandes- 78, 158, 212, 213 ff.; Verstand und
mäßige, ideale): 62 ff.; ,,Transzen- Anschauung: 59 f.; Verstandesformen:
denz" in der Sinnlichkeit: 113 69 ff., 399
Traum: 59, 76
Typus (sinnliche Typik): 77, 117 f., 200, Wahrnehmung: 104 ff., 114 f., 142 f.
292 f. Wahrnehmung, innere: 108, 248 ff., 272
Wesen (Eidos) und Wesenserkenntnis:
Unbewußtes: 266 ff.
264, 274 ff., 299, 321 f., 366, 397
Urmodus: 366
Wiedererkennen: siehe Reproduktion
Vergegenwärtigung: 57 f., 277 Wiederholung: bloße oder gerade Wie-
Vernunft: im weiteren Sinn = Verstand derholung: 72 f; oblique Wiederho-
im weiteren Sinn, im Gegensatz zur lung: 73 ff.
Sinnlichkeit: 55, 158, 193, 342 f., Zeichen, eigentliche und uneigentliche:
353 f., 362 ff., 397 ff., 423 f.; Vernunft 169 ff.
im engeren Sinn = Kultur: 55, 158 ff., Zeigen: 119, 170 f., 175 f.
213, 217, 221, 370 ff.; Vernunft als Zeit: phänomenale und transzendentale:
Faktum, in ihrer Geschichte: 222, 231, 36 ff., 93 ff.; objektive Zeit: 64
323 ff., 342, 368 ff., siehe auch Erste Zirkel: hermeneutischer: 9 f.; Zirkel in
und Zweite Philosophie; Vernunft als der philosophischen Fundamentalme-
bloße Tradition (als sekundäre Sinnlich- thode: 10
keit): 201, 238,372; absolute Vernunft Zugangsmethode der Philosophie: siehe
(,,Gott"): 342 ff., 357, 361, 362 f.; Fundamentalmethode
Vernunft bei Platon: 363 f., 416 ff., bei Zweite Philosophie: siehe Erste und
Aristoteles: 398 ff., bei Kant: 70 f., Zweite Philosophie