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Iso Kern · Idee und Methode der Philosophie

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IDEE UND METHODE


DER PHILOSOPHIE

Leitgedanken für eine Theorie der Vernunft


Die vorliegende Untersuchung wurde im Juni 1973 von der Philosophisch-
historischen Fakultät der Universität Heidelberg als Habilitationsschrift ange-
nommen.
Sie wurde gedrudn mit Unterstützung der Holderbank-Stiftung zur Förderung
der wissenschaftlichen Fortbildung (Holderbank, Schweiz) und der Alexander
von Humboldt-Stiftung (Bonn).

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Kern, Iso
Idee und Methode der Philosophie:
Leitgedanken f. e. Theorie d. Vernunft
ISBN 3-11-004843-4

©
1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlags-
buchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13.
Printed in Germany

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Ge-
nehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet,. dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem
Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen.
Satz und Druck: Saladruck, Berlin
Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
Eduard Marbach
in Freundschaft gewidmet
Vorbemerkung

Dieser lange Versuch, Idee und Methode der Philosophie zu um-


reißen, mag als prätentiös erscheinen. Tatsächlich hätte ich selbst mich an
ihn auch gar nicht gewagt, wenn er sich mir nicht unter der Hand und aus
innerer Notwendigkeit ergeben hätte. Ich wollte ursprünglich kein
solches Buch schreiben, sondern arbeitete seit Jahren an der philosophi-
schen Problematik der Intersubjektivität. Um für diese Untersuchung den
spezifisch philosophischen Gesichtspunkt einzunehmen und in ihr nicht,
wie es dafür so naheliegen würde, psychologische und soziologische The-
sen, alltägliche und dichterische Erfahrungen, Aussagen von Philosophen
und was noch immer, ohne methodisches Bewußtsein der unterschiedlichen
Betrachtungsweisen und der dadurch bedingten verschiedenen Bedeu-
tungsdimensionen der betreffenden Aussagen, einfach ineinanderlaufen
zu lassen, sah ich mich für mich selbst und gegenüber jedem, dem ich
eine solche Arbeit vorlegen würde, genötigt, mich vorerst in einer Art
Einleitung über den spezifisch philosophischen Aspekt dieser Problematik,
und das hieß auch über den philosophischen Gesichtspunkt überhaupt,
auszusprechen. Diese Einleitung hätte ich gerne kurz gehalten, aber die
dabei heraufbeschworenen Geister ließen es nicht zu, sondern hielten mich
heimtückisch so lange, bis ich wenigstens mit einiger Deutlichkeit über
ihre Eigenart und ihre Zusammenhänge Rechenschaft gegeben hatte. Auf
solche Weise ist mir diese Einleitung zur vorliegenden Untersuchung an-
geschwollen, in der allerdings der Leser und ich selbst noch viele Dämo-
nen antreffen, die ob meiner Vernachlässigung oder nur oberflächlichen
Behandlung schmollen. Ich möchte mich nicht mit noch ungetaner Arbeit
und bloßen Versprechungen rechtfertigen, aber ich muß hier doch ver-
sichern, daß ich die vorliegende Arbeit immer noch als bloße Einleitung
betrachte und sie als kaum nützlich erachten würde, wenn ihr nicht the"."
matisch begrenzte und genaue Einzeluntersuchungen folgen würden, in
denen sich dieser Aufriß fruchtbar erweisen könnte und die ihn umge-
kehrt, mit allen notwendigen Korrekturen und Vertiefungen, doch be-
wahrheiten würden. Ich will hier nicht, wie in der Philosophie üblich,
VIII Vorbemerkung

einen „zweiten Band" versprechen, aber möchte doch sagen, daß ich an
jenen Fragen der Intersubjektivität weiterarbeite.
Der weitaus wichtigste Teil der vorliegenden Arbeit ist der zweite
Abschnitt „Vernunft und Sinnlichkeit". An ihm hängt alles, und wenn er
nicht, wenigstens grundsätzlich, wahr ist, sind die methodologischen Ge-
danken nichtig. Da alles auf diesem Abschnitt beruht, haben die ihm
vorangehenden Teile einen antizipativen Charakter. Dies ist besonders
im „Prolog" spürbar, von dessen behauptendem Ton ich befürchte, daß
er den Leser abschrecken könnte. Aber ich bitte ihn, sich doch nicht ab-
schrecken zu lassen. Denn er braucht dabei ja noch nichts zu„glauben",
sondern ich wollte ihm nur möglichst deutlich sagen, auf was er gefaßt
sein muß, wenn er diese Arbeit lesen will. Er braucht sich bei diesem
Prolog also nur in die Expektative zu versetzen und tut hier wohl besser,
in sich noch nicht gleich die mächtige Kritik aufsteigen zu lassen, die diese
noch schwächlichen vorläufigen Gestalten in ihm provozieren mögen.
Bemerkt sei auch noch, daß mich von der ganzen Arbeit das zweite Ka-
pitel des dritten Abschnittes, über „Wesenserkenntnis", gesamthaft am
wenigsten befriedigt. Ich lege es aber hier doch vor, weil es nicht aus dem
Zusammenhang weggelassen werden kann und es mir trotz seiner Unab-
geklärtheit echte Beiträge zur Förderung dieser philosophisch entscheiden-
den Problematik zu enthalten scheint.
Die vorliegenden Untersuchungen habe ich im wesentlichen in den
Wintermonaten 1968/69 und 1971/72 niedergeschrieben. Seitdem hatte
ich das Glück, sie Freunden, Lehrern und Kollegen vorlegen zu dürfen
? und sie dadurch verbessern und vertiefen zu lassen, so daß ich sie einer
weiteren Leserschaft nun eigentlich schon „in zweiter, verbesserter Auf-
lage" überreichen kann. In Dankbarkeit möchte ich hier diejenigen nen-
nen, die sich bisher in diese Überlegungen einließen und sie in gemeinsa-
mem Philosophieren zu Besserem drängten: Rudolf Bernet (Löwen), Ru-
dolf Boehm (Gent), Konrad Cramer (Heidelberg), Joseph Dopp (Lö-
wen), Konrad Eugster (Bern), Hans-Georg Gadamer (Heidelberg), Su-
sanne Mansion (Löwen), Michael Theunissen (Heidelberg), Ernst
Tugenclhat (Starnberg). Ganz besonderen Dank schulde ich meinem
Freund und ehemaligen Kollegen im Husserl-Archiv in Löwen, Eduard
Marbach: in zahlreichen Gesprächen mit ihm sind manche der hier ge-
schriebenen Gedanken herangereift, und er ist noch bis zum Schluß
dieser Arbeit beigestanden, indem er die Korrektur der Druck.proben
ausführte.
Vorbemerkung IX
Auch hier möchte ich noch meinen Dank der Holderbank-Stiftung
zur Förderung der wissenschaftlichen Fortbildung (Holderbank, Schweiz)
aussprechen, deren Stipendium es mir in den beiden Winterhalbjahren
1968/69 und 1971/72 ermöglichte, mich ganz dieser Arbeit zu widmen.

Heidelberg, 23. Juni 1975


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Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
§ 1 Die Frage der Philosophie und ihre natürliche Unverständ-
lichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
§ 2 Forderung einer philosophischen Anfangsmethode der Gegen-
standsgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
§ 3 Die Aporie in der Idee der philosophischen Gegenstandsge-
bung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
§ 4 Die Angabe der philosophischen Anfangsmethode . . . . . . . . . 10
§ 5 Die Methode der philosophischen Darstellung . . . . . . . . . . . . 12
§ 6 Der Gang der folgenden methodischen Oberlegungen 16

I. Abschnitt
Vorläufiger Hinweis auf die philosophische Fundamentalmethode
(Zugangsmethode)
1. Kapitel: "Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion . . . . . . 21
§ 7 »Natürliche" Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
§ 8 Reflexion und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
§ 9 Die Aktreflexion im gewöhnlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . 29
§ 10 Die Forderung der philosophischen Ausschaltung oder Reduk-
tion der Phänomenalität. Die reine oder philosophische Re-
flexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2. Kapitel: Der transzendentale Grund der Phänomenalität . . . . . . 36
§ 11 Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit . . 36
§ 12 Phänomenaler und präphänomenaler (transzendentaler) Raum 43
§ 13 Pq.änomenale und präphänomenale (transzendentale) Leiblich-
keit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
§ 14 Die Kquivalenz von Phänomenalität und Präphänomenalität
Die Erscheinung des Transzendentalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
§ 15 Reine Aktreflexion, phänomenale Erkenntnis des Verhaltens,
transzendentale Interpretation des phänomenalen Verhaltens 49
XII Inhaltsverzeichnis

II. Abschnitt

Vernunft und Sinnlichkeit

1. Kapitel: Der Verstand ......................... ·..... . . 56


§ 16 Das allgemeine Wesen des Verstandes . . . . . . . . . . . . . . . . 56
§ 17 Der Verstand als Vergegenwärtigung-Entgegenwärtigung . . 57
§ 18 Die Fundiertheit des Verstandes in der unmittelbaren Sinn-
lichkeit und die „gespiegelte" Implikation der Sinnlichkeit im
Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
§ 19 Verstand und Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
§ 20 Identität als Leistung des Verstandes. Identität und Tran-
szendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
§ 21 Das „Subjekt" des Verstandes: das reine Ich . . . . . . . . . . . . . . 65
§ 22 Verstandesformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
§ 23 Die bloße Wiederholung: direkte und indirekte Reproduktion 72
§ 24 Die Reflexion als oblique Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . 73
§ 25 Die modalisierende Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
§ 26 Die vorsprachliche Rekognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

2. Kapitel: Die Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79


§ 27 Übergang zur Problematik der Sinnlichkeit. Kritische Ausein-
andersetzung mit Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
§ 28 Die Frage nach der Sinnlichkeit als Frage nach der reinen
konkreten Gegenwart. Der Begriff der Tätigkeit . . . . . . . . . . 91
§ 29 Die Unmittelbarkeit der konkreten sinnlichen Gegenwart.
Kritische Auseinandersetzung mit Kant und Husserl . . . . . . 97
§ 30 Das Empfinden des sinnlichen Subjekts als passive (bloß re-
aktive) Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
§ 31 Die „Transzendenz" in der Sinnlichkeit. Selbstgegebenheit
und Gegebenheit durch Erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . 109
§ 32 Sinnliche Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
§ 33 Erläuterungen der anidentischen Struktur des sinnlichen Zu-
gangsraumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
§ 34 Die Einheit des sinnlichen Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
§ 35 Husserl im Banne des Intellektualismus . . . . . . . . . . . . . . . . 123
a) Synthesis und Identität 127; b) Noesis (Sinngebung) und Noema
(Sinn) 133; c) Thesis und Geltung 146; d) Das Ich 151.
Inhaltsverzeichnis XIII
3. Kapitel: Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand:
die Vernunft (die Kultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
§ 36 Die Sinnlichkeit in Vernunftfunktion (die von der Vernunft
»aufgehobene" Sinnlichkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
§ 37 Sinnliche und geistige Kultur (von der Vernunft geschaffene
sinnliche Mittel und Vernunftinstitution in der Sinnlichkeit) 160
§ 38 Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
§ 39 Spiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
§ 40 Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
§ 41 Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
a) Das ursprünglichste sprachliche Zeichen als einheitliches Zeichen von
Bestimmungsinhalt und Bestimmungshandlung (der Satz) 171; b) Die
Subjektausdrücke 174; c) Verschiedene Qualitäten der sprachlichen Be-
stimmung 179; d) Die Vergegenwärtigung in den sprachlichen Zeichen
(die Bedeutung) 185; e) Bemerkungen zur Mitteilungsfunktion der
Sprache und zum Problem der „privaten Sprache" 189; f) ,,Wortloses
Denken" 194.
§ 42 Ethische Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
§ 43 Persönlichkeit und Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Anmerkung: Sinnliches Subjekt, Ich und Person und Freuds
Unterscheidung von Es, Ich und über-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . 234

III. Abschnitt
Philosophische Methodenlehre

1. Kapitel: Die reine Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245


§ 44 Rein reflexive Bestimmung der reinen Aktreflexion . . . . . . . . 245
§ 45 Die reine Aktreflexion und die vermeintliche „Wahrnehmung
eigener Tätigkeiten durch den inneren Sinn" . . . . . . . . . . . . . . 248
§ 46 »Empirische Apperzeption", ,,reine Apperzeption" und
„transzendentale Reflexion" bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
§ 47 Reflexive Selbsterkenntnis und das „Unbewußte" . . . . . . . . 266

2. Kapitel: Wesenserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273


§ 48 Der Begriff des Wesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
§ 49 Wesenserkenntnis als Bedingung der Möglichkeit reiner Ver-
nunfterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
§ 50 Wesenserkenntnis als Eigentümlichkeit der reinen Vernunft-
erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
XIV Inhaltsverzeichnis

§ 51 Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 301


a) Wesenserkenntnis (Dialektik) bei Platon 301; b) Wesenserkenntnis
und Reflexion in der Geschichte der Philosophie 314.
§ 52 Erste (reine) und Zweite (angewandte oder empirische) Phi-
losophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
§ 53 Die Grundverfassung der Philosophie in ihrer Geschichte . . 327
a) Zwiefalt von Erster und Zweiter Philosophie 328; a) Platon 328;
ß) Aristoteles 331; y) Husserl 333; b) Absolute Einheit der Philosophie
(Hegel) 341; c) Unentschiedenheit der Philosophie zwischen einfacher
und zwiefältiger Verfassung (Leibniz) und die Dringlichkeit einer Ent-
scheidung 353.
§ 54 „Ursprünge" des Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
a) Ursprung als Wesen 366; b) Ursprung als Urmodus (elementarer Mo-
dus) 366; c) Ursprung als Fundament und als „Material" (negative Be-
dingung) 367; d) Ursprung als intentionales Original 367; e) Ursprung
als Telos (Urbild der Richtigkeit) 368; f) Ursprung als Entstehung in
der Sinnlichkeit 368; g) Ursprung als Urstiftung in der Kultur 370.

3. Kapitel: Die Sprache der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374


§ 55 Das allgemeine Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
§ 56 Der Einsatz des philosophischen Redens bei der gewöhnlichen
Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
§ 57 Die Allgemeinheit der philosophischen Rede . . . . . . . . . . . . . . 378
Anmerkung: Die philosophische Rede und das sogenannte
„methodische Denken" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
§ 58 Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache . . . . . . . . 384
Epilog: Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Phi-
losophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
§ 59 Der „ontologische" Ursprung der ausschließlich logischen Ver-
nunftidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
§ 60 Philosophische Reflexion: transzendentale Erkenntnis, Phä-
nomenologie, Noumenologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Prolog

§ 1 Die Frage der Philosophie und ihre natürliche Unverständlichkeit

Philosophie, sofern sie als ein Streben nach Erkenntnis und Wissen
verstanden wird, muß wie jede theoretische Untersuchung von einer
Frage geleitet sein, wobei diese Frage natürlich einen ganzen Fragekom-
plex. beinhalten kann. Im Gegensatz zu anderen theoretischen Unter-
suchungen befindet man sich in der Philosophie aber bekanntlich in größ-
ten Schwierigkeiten, wenn man die Frage angeben soll, nach deren Beant-
wortung sie strebt. Diese Schwierigkeiten haben ihren Grund nicht bloß
in den faktischen Meinungsdivergenzen der Philosophen, sondern vor
allem in der Sache der Philosophie selbst. Es wird etwa gesagt, daß sie
die Frage „Was bin ich selbst?" oder die Frage „Was ist der Mensch?"
zu beantworten trachte. Aber obschon diese Fragen sicher in die Frage-
richtung der Philosophie weisen, ist doch offensichtlich, daß damit noch
nicht ihre eigene, d. h. ihre spezifische Frage gestellt ist, denn es gibt ja
mancherlei echte Untersuchungen dessen, was ich bin oder was der
Mensch ist, die nicht als Philosophie angesprochen werden können.
Ich möchte in den folgenden Überlegungen als die grundlegende
Frage der Philosophie die Frage „Was ist Vernunft?" auszuarbeiten
versuchen. Dabei geht es mir primär nicht um eine empirische Chara~te-
risierung der im Verlauf unserer Geschichte faktisch entstandenen Unter-
suchungen und Theorien, die gemeinhin als philosophische angesprochen
werden. Natürlich sind diese geschichtlichen Gestalten alles andere als
belanglos für das, was wir selbst unter Philosophie verstehen können.
Aber meine grundlegende Absicht ist hier nicht historisch, sondern sie
zielt auf die Formulierung einer für uns selbst realisierbaren eigenstän-
digen Aufgabe, die uns die Philosophie als eine eigene haltbare Wissen-
schaft in Aussicht stellt und nicht unser dahingehendes Tun sich in ein
anderes, sei es in irgendeine positive Wissenschaft, Lebenserfahrung,
Religion, unbegründete Spekulation, bloße Ideologie oder sonst was
immer, auflösen läßt. Diese Aufgabe sollen wir dann aber auch in den
2 Prolog

historisch gewordenen Philosophemen wiedererkennen können, so daß


wir in ihrem Geiste forschen, wie auch umgekehrt die verstehende Ver-
senkung in die philosophische Tradition uns zu unserer eigenen philo-
sophischen Aufgabe leitet. Ich meine nun, daß die Philosophie in jener
Frage„ Was ist Vernunft?" ihre thematische Eigenheit gegenüber anderen
Wissenschaften besitzt und daß in:· jener Frage auch ihre methodische
Eigenheit wurzelt. Auf die g~schichtlich-faktische Betrachtung ange-
wandt, würde dies dann bedeuten, daß nur eine Untersuchung, die
explizit· oder implizit diese Frage in sich trägt, als eine philosophische
gekennzeichnet werden kann, daß diese Fragestellung aber auch aus-
reicht, um eine theoretische Untersuchung als eine philosophische zu
charakterisieren~
Aber mit dceser Frage scheint es zunächst nicht besser zu stehen als
mit den zuvor angeführten Grundfragen der Philosophie. In der Philo-
sophie soll also die Vernunft untersucht werden! Aber Vernunft ist als
Gegep.stand möglicher Untersuchung zunächst nur gegeben in ihren Wer-
ken oder Erzeugnissen: in der Technik, in den Sprachen, in wissenschaft-
lichen Theorien, in Kunstwerken, in sozialen Institutionen etc., und
andererseits im beobachtbaren, phänomenalen Verhalten der uns bekann-
ten vernünftigen Wesen. Jene Vernunftwerke werden von der Soziolo-
gie, der Kunstwiss~nschaft, der Sprachwissenschaften, der Geschichte, der
Logik. und Wissenschaftstheorie etc. untersucht, und das Verhalten ver-
nünftiger Wesen ist, ebenso wie das Verhalten der vernunftlosen Tiere,
Gegenstand der empirischen Psychologie. So scheint zunächst die Frage
„Was ist Vernunft?" gar keine der Philosophie eigentümliche Thematik
anzuzeigen; ja durch sie wird zunächst noch nicht einmal sichtbar, daß
hier außer den positiven Wissenschaften noch eine Aufgabe für die
Philosophie übrigbleibt.
. Um zu erkennen, daß mit der Frage „Was ist Vernunft?" eine Auf-
1 gabe gestellt ist, der keine positive Wissenschaft nachzukommen vermag,
· bedarf• es schon einer eigentli,ch. philosophischen Einsicht, der Einsicht
nämlich~ daß die Vernunft selbst nicht sinnlich erscheint, daß sie keine
phänomenale Vorgegebenheit ist und zu keiner phänomenalen Gegeben-
heit gebracht werden kann. Die Vernunft erscheint zwar in ihren sinn-
lichen -Voraussetzungen (Bedingungen), in ihren sinnlichen Mitteln und
in .ihren· der Sinnlichkeit eingeprägten -Resultaten (in ihren Erzeugnissen
oder Werken), aber sie selbst als Tätigkeit, in dem, was ihr Wesen als
Vernunft ·ausmacht,· erscheint nicht sinnlich und ist auch nicht mittels
besonderer Instrumente und Vorkehrungen zur sinnlichen Erscheinung zu
Die Frage der Philosophie und ihre natürliche Unverständlichkeit 3

bringen. Deshalb kann sie nicht Gegenstand einer positiven, auf sinn-
lichen Phänomenen beruhenden Wissenschaft sein.
Wenn es sich so verhält, so ist aber auch die Frage „Was ist Ver-
nunft?" in ihrem für die Philosophie konstitutiven Sinn demjenigen, der
nicht bereits grundlegende philosophische Einsichten gewonnen hat, nicht
eigentlich verständlich. Denn für ihre Verständlichkeit sind zwei Bedin-
gungen zu erfüllen: 1. Zuerst muß der Gegenstand, über den diese Frage
geht, nämlich die Vernunft in sich selbst als eigentümliche Tätigkeit,
irgendwie gegeben werden können; sonst ist die Frage gegenstandslos.
2. Ist der Gegenstand der philosophischen Frage gegeben, dann muß
weiter, damit die ganze Frage verständlich wird, auch 'das, was über den
Gegenstand gefragt wird, die Hinsicht der Frage deutlich sein; also in
unserer Frage das „was". Dieses „was" gibt allerdings insofern schon
rein sprachlich eine gewisse Hinsicht der Frage an, als es sich negativ von
anderen Fragerichtungen, wie etwa „wie?", ,, wo?" oder „ wann?" abhebt.
Aber es ist positiv als Fragerichtung erst eröffnet, wenn angegeben wird,
in welcher Weise überhaupt eine Antwort auf die Frage gefunden wer-
den kann, m. a. W., was für eine Art von Untersuchungen angestellt
werden muß, um eine Antwort zu ermöglichen. Diese zweite Bedingung,
die zu erfüllen ist, damit die philosophische Frage „Was ist Vernunft?"
verständlich wird, ist von der ersten abhängig. Der Gegenstand be-
stimmt, in wekh~r 'Weise er überhaupt untersucht werden kann. Die
Untersuchu11gsart :kann, d~h~r nur vom Gegenstande bzw. von der
Gegenstandsart her angegeben: und, damit die Hinsicht der Frage ver-
ständlich gemacht werden.
Nun ist aber schon die erste, fundamentale dieser Bedingungen für
die Verständlichkeit der philosophischen Frage innerhalb der vorphilo-
sophischen Erfahrung und Betrachtungsweise nicht zu erfüllen. In unse-
rem gewöhnlichen vernünftigen Leben ist uns gegeben die sinnliche Welt;
sie ist der universale Spielraum unseres vorphilosophischen. Erkennens
und Handelns. In ihr können wir auf Gegenstände hinweisen, aus ihr
können wir Gegenstände als Individuen oder als Exemplare, eventuell
mit sehr künstlichen Mitteln wie in manchen Wissenschaften, vorführen.
Zu dieser Welt gehören auch GebHde, die wir als Geschöpfe der Vernunft
ansprechen: Staatsgesetze, wissenschaftliche Theorien, Sätze, Begriffe,
Sprachen, aber auch Werkzeuge, Maschinen, Kunstwerke usw. Alle diese
Vernunftgeschöpfe erscheinen sinnlich in Lauten, Schriftzeichen, Texten
usw. und sind so vorgegeben und vorführbar. Auch wir vernünftigen
Menschen selbst und unser vernünftiges Verhalten erscheinen in dieser
Prolog

sinnlichen Welt. Wir sehen etwa, daß jemand an der ,Tafel ein mathe-
matisches Problem löst oder daß die Hausfrau vernünftig das Nacht-
essen zubereitet. Aber die Vernunfttätigkeit in sich selbst, das „Denken",
,;Ve_rgegenwärtigen" oder wie wir sorist diese Tätigkeit andeuten wollen,
ist· in der sinnlichen Welt, die deri Bereich unseres vorphilosophischen,
-natürlichen Lebens ausmacht, nicht als Gegenstand vorgegeben und in
ihr riicht ·als Gegenstand zu .geben._ Das „Denken" in sich selbst ist nicht
,sichtbar. Solange unsere Vernunft sich praktisch und theoretisch rnit
.Gegenständen in der sinnlichen Welt beschäftigt, solange nicht eine
'radikale Erschütterung, in der ihr· ihre eigene Tätigkeit. als solche. frag-
würdig<wird, sie auf sich selbst zurückwirft, bleibt der Vernunft ihre
Tätigkeit verborgen1 •

1 Für diese das -philosophische Fragen in Bewegung setzende Erschütterung darf in


, : · exemplarischer Weise angeführt werden, was Sokrates in Platons Phaidon (96 a bis
_:, 102 a) von _der Entstehung seines Philosophierens berichtet: Er stellt es dar als eine
„zweite Fahrt" (öir6neo; nJ..oü;) nach seinen Mißerfolgen in der Ursachenforschung
der· ,,Naturgeschichte", in der die Vernunft in Widerspruch mit sich selbst geriet,
: : -und nach seiner Enttäuschung mit dem anfänglich so verheißungsvollen. Versprechen
des. Anaxagoras, die Vernunft als Ursache aller Dinge zu erweisen. Der Ausdruck
ö~uneo; nJ..oü; bezeichnet hier nicht bloß eine Reihenfolge (allerdings notwendig
· auch das, da die Rückkehr der Vernunft auf sich selbst notwendig erst nach ihrer
naiven Betätigung an der sinnlichen Welt erfolgt), sondern impliziert auch jenes
Mißlingen:, Es ist eine. Fahrt,. _die unternommen wird, weil eine erste Fahrt, die man
-vorerst gerne unternommen hätte, scheiterte oder sich als un~öglich erwies; Es darf
'wohl' gesagt werden, daß jeder echte Philosoph ursprünglich gerne etwas anderes
getan hätte. 0(Zur Bedeutung des Ausdrucks öeuneo; itJ..oü;. bei Platon vgl. auch
Philebos 19 c.)
In ganz analoger Weise schildert Kant, der neue Begriinder der Philosophie, die
M,otivation der_ Kritik der Ve'r'nunf t: Die naive, natürliche Vernunft gerät in ihrem !I 1

Versuch der totalen Beherrschung der sinnlichen, Welt der Erscheinungen in' eirien
,. Jln;vermeidlichen, trügerischen Schein, der sich als solcher in einem „natürlichen"
.- , Widerstreit der Vernunft mit sich selbst bemerkbar. macht. ,.Hierdurch wird aber' die
Vernunft genötigt;_ diesem Scheine nachzuspüren, woraus er entspringe; und wie er
.gehoben werden könne, welches nicht anders als durch eine vollständige Kritik des
• g~nzen i;einen.V:ernunftvermögens geschehen kann; so daß die Antinomie der reinen
· Vernunft, die fo ihrer Dialektik offenbar wird,_ in der Tat die_ wohltätigste V:er_-
irrung'· ist; in die die' ,riienschliche Vernunft je hat geraten können, indem sie uns
. zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe herauszukomriien,
, , der, wenn er_ gefunden -worden, noch das entdeckt, was man nicht suchte und doch
.·_ b~da4, näriilich ·eine _Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge,
in :der wir· ~chon jetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Vernunftbestim.-
:,niunli; gemäß fortzusetzen, wir durch bestimmte Vorschriften nunmehr angewiesen
, werden können.~ (Kritik der praktischen VetnunftAS.193) ,,Kritik"_bedeutet hier
-ganz :ursprünglich: Unterscheid1mg, nämlich die jene Antinomie auflösende Unter-
scheidung der „intelligiblen Welt" der Vernunft rein als solchen von der sinnlichen
Welt d'er Erscheinungen, also ebenfalls in Analogie zu Sokrates-Platon.
Forderung einer philosophischen Anfangsmethode der Gegenstandsgebung ;

§ 2 Forderung einer philosophischen Anfangsmethode


der Gegenstandsgebung

Die Philosophie hat daher für den Gegenstandsbereich ihres Fragens


und Erkennens keinen Anhalt an der vorgegebenen sinnlichen Welt, die
den· festen universalen „Boden" unseres natürlichen, vorphilosophischen
Lebens und darin das feste universale Beziehungssystem unserer gegen-
seitigen Verständigung und unserer intersubjektiven Erkenntnis aus-
macht. ,,Hier sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf einen miß-
lichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll, unerachtet er weder im
Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder woran gestützt
;wird." 2
Soll die philosophische Frage und überhaupt die Philosophie nicht
gegenstandslos und dadurch völlig nichtig sein, so muß der Vernunft
noch eine andere Art der Gegenstandserfassung offen stehen als die auf
der sinnlichen Gegebenheit beruhende. Ist der Vernunft in der philoso:-
phischen Frage der Gegenstand dieser Frage nicht durch die Sinnlichkeit
vorgegeben und vorgebbar, so muß sich die Vernunft rein aus sich selbst
diesen Gegenstand geben. Die Philosophie bedarf also zu ihrer Grün-
dung; d; h. zu ihrer Stiftung, einer reinen Vernunfthandlung, in der.sie
4.en Gegenstand ihrer Frage überhaupt erst zu Gegebenheit hervorbringt.
Diese· Vernunfthandlung kann also nicht in der künstlich-instrumentellen
Erfassung eines sinnlich Vorgegebenen, sondern muß in der Bahnung
~iµes .eigenen, von allem sinnlich Vorgegebenen absehenden Zuganges
bestehen. Wir können diese Vernunfthandlung, die Bahnung dieses Zu-
gangs zumGegenstaride der philosophischen Untersuchung, als die philo-
spphische Methode der Gegenstandsgebung bezeichnen. Es ist die Funda-
mentalmethode der Philosophie, die Methode, durch die sie überhaupt
~tsE)zum (iegenstand ihrer Frage und Untersuchung kommt. Im Laufe
·~~tfolgenden Untersuchungen wird sie als „reine Refiexion"· ausgeführt
werden.
J)'.\'. 1 Diese Priorität der Methode in der Philosophie hat schon· Kant in
i~iner Dissertation von 1770 in aller Deutlichkeit zur Geltung gebracht.
·Er· erklärt hier im.§ 23: Während in allen Wissenschaften, deren Prinzi-
pie11: (Begriffe, Gesetze) anschaulich, und das heißt für ihn sinnlich
'.g'egefoen sind (in den Natu~issenschaften, in der Mathematik, aber auch
;in,den Wissenschaften von kulturellen Gebilden wie in der Grammatik),

·, 1 :J~ant, Gru1 dlegung wr Metaphysik der Sitten, Akad;-Ausg. S. 425.


6 Prolog

die Methode erst im Fortschreiten dieser Wissenschaften festgelegt werde,


ihre Regeln und Disziplin also erst hinterher ermittelt würden (usus dat
methodum), gehe in der Philosophia pura die Methode vor aller Wissen-
schaft vorher (Methodus antevertit omnem scientiam). Denn hier, in der
reinen Philosophie, sei der Gebrauch des Verstandes nicht bloß „logisch"
(usus logicus) wie in jenen Wissenschaften, d. h. er bestehe nicht bloß
darin, sinnlich Vorgegebenes nach formal-logischen Gesetzen zu erfas-
sen, sondern der Verstandesgebrauch sei „real" (usus realis), ,,d. h. die
ursprünglichen Begriffe der Dinge und Beziehungen und die Grundsätze
selbst werden durch den reinen Verstand selbst ursprünglich gegeben".
„Da hier der richtige Gebrauch der Vernunft (usus rectus rationis) die
Prinzipien selbst feststellt (constituat) und sowohl die Gegenstände als
die von ihnen zu erkennenden Grundsätze nur durch die eigene Fähigkeit
der Vernunft allererst bekannt werden, so ist die Erörterung der Gesetze
(Methode) der reinen Vernunft die Genesis selbst der Wissenschaft und
die Unterscheidung dieser (methodischen) Gesetze von unterschobenen
das criterium veritatis. " 3

3 Dem Leser könnte vielleicht einfallen, daß es sich bei der Unmöglichkeit, den
Gegenstand der philosophischen Frage und Untersuchung sinnlich vorzugeben,
eventuell analog verhalte wie mit den theoretischen Konstrukten empirischer Wissen-
schaften. Die theoretische Physik etwa spricht ja von Atomen und Elementarteilchen,
wie Elektronen, Positronen, Neutronen, Protonen und Antiprotonen, usw. oder von
elektromagnetischen Feldern und Wellen usw. All diese theoretischen Begriffe sind
nicht selbst in sinnlichen Beispielen vorzuführen, und zwar weder in der gewöhn-
lichen Beobachtung mit Hilfe allein unserer natürlichen Sinnesorgane, noch auch
in künstlicher Weise mit besonderen Instrumenten; diese Konstrukte der theore-
tischen Physik sind überhaupt nicht selbst zur Erscheinung zu bringen. M. a. W., es
handelt sich bei diesen Begriffen weder um sog. Beobachtungsbegriffe ( observation
terms); noch um Begriffe, die durch explizite (vollständige) Definitionen oder durch
konditionale Definitionen (sog. .,Reduktionssätze" im Sinne von Carnap) auf
Beobachtungsbegriffe zurückführbar sind. Dennoch handelt die theoretische Physik
keinesfalls von irgendwelchen Noumena, sondern von nichts anderem als der
phänomenalen Welt, wenn auch nicl1t einfach von der sinnlichen Welt, wie sie in
natiirlicher. Weise aufgrund allein der Betätigung unserer Sinnesorgane erfahren und
erfahrbar ist; sondern von der sinnlichen Welt, wie sie künstlich mittels z. T. höchst
raffinie'rtei· technischer Apparate und Operationen zur sinnlichen Erscheinung kommt.
Die "unsinnlichen" theoretischen Konstrukte der. Physik haben in ihrer vereinheit-
lichenden (systematisierenden) und heuristischen Funktion ihren physikalischen Sinn
ausschließlich durd1 ihre Verbindung mit dem durchaus sinnlichen, wenn auch
künstlich (technisch) sinnlichen und in Operations- und Beobachtungsbegriffen
beschreibbaren physikalischen Experiment. Diese Verbindung besteht in der sog.
,,empirischen Interpretation", in der die in jenen „unsinnlichen" Begriffen formu-
lierte Theorie Aussagen zugeordnet ist, die direkt durch das physikalische Experiment
„getestet" (verifiziert oder falsifiziert) werden können. Dies heißt weder, daß jeder
Die Aporie in der Idee der philosophischen Gegenstandsgebung 7

Es ist zu beachten, daß die die Philosophie überhaupt erst konsti~


tuierende Fundamental- oder Stiftungsmethode nur erst den Gegenstand
der philosophischen Frage, aber noch keineswegs die Weise ihrer Beant-
wortung zu liefern hat. Wenn einmal der Gegenstand der philosophi-
schen Frage gegeben ist, braucht damit noch nicht die Weise oder
Methode der Beantwortung, also auch der Sinn dessen, was die Frage
von ihrem Gegenstande frägt, deutlich zu sein. Das Problem der philo-
sophischen Beantwortungsmethode werden wir eingehend diskutieren
müssen; es wird dies unter dem Titel der „Wesenserkenntnis" geschehen.
Dies sei aber eine spätere Sorge, solange der Gegenstand der Frage nicht
feststeht.

§ 3 Die Aporie in der Idee der philosophischen Gegenstandsgebung

Die Forderung, daß sich die Philosophie durch eine reine Vernunft-
handl ung (durch die sog. philosophische Stiftungs- oder Fundamental-
methode) den Gegenstand ihrer Frage allererst zu geben habe, scheint
eine Aporie, die in der Form eines logischen Zirkels (eines 'Üo'-rtQ6v-
rc96n:9ov) auszudrücken ist, zu enthalten: Wie kann sich die Philosophie
selbst durch eine reine Vernunfthandlung den Gegenstand ihrer Unter-
suchung geben, ohne zu wissen, was sie sich so geben soll, und wie kann
sie wissen, was sie sich geben soll, wenn sie es nicht schon zum voraus
vorgegeben hat?
Diese Überlegung erinnert sogleich an den bekannten Einwand von
Platons Merlan: ,,Auf welche Weise willst du, Sokrates, denn dasjenige
suchen, von dem du überhaupt nicht weißt, was es ist? Wie beschaffen
unter dem, was du nicht kennst, stellst du es dir vor, wenn du es suchst?

einzelne theoretische Begriff direkt in die Empirie übersetzbar sein muß, noch daß
der Inbegriff der interpretierenden empirischen Aussagen mit der Theorie im Sinne
einer vollständigen Interpretation bedeutungsäquivalent sei. Aber dieses Plus der
Theorie besteht nicht in einem Bezug auf reine N oumena, sondern ausschließlich
in ihrer die Phänomcnalität systematisierenden und erschließenden Funktion (Vgl.
Carl G. Hempel, Fundamentals of Concept Formation in Empirical Science
(Chicago, 1952), eh. II). Mit dem Gegenstand der philosophischen· Frage steht es
prinzipiell anders: Er ist keine theoretische Konstruktion, die ihre Bedeutung allein
als Erklärungs- und Erforschungsprinzip sinnlicher Phänomene besitzt, sondern er
soll unabhängig von aller sinnlichen Erscheinung rein in sich selbst zur Gegebenheit
gebracht werden, seinen Sinn ausschließlich aus reiner Vernunft besitzen, also im
wahren Sinn ein Noumenon sein.
8 Prolog

Und wenn du bestenfalls auf es stoßen solltest, wie willst du dann


wissen, daß es jenes ist, das du nicht kanntest?" 4
Diese Aporie kann in unserem Falle nicht in der Weise des Aristo-
teles vermieden werden. Dieser erklärte, daß alle Wissenschaft aus zum
voraus vorhandener Kenntnis, auf Grund von Vorbekanntem werde.
Diese durch die Wissenschaft vorausgesetzte Vorkenntnis sind bei der
deduktiv beweisenden Wissenschaft allgemein anerkannte Sätze, bei der
definierenden Wissenschaft die Definitionselemente und bei der indukti-
ven Wissenschaft die vorgeführten Beispiele5• Neben diesem expliziten
Vorwissen führt Aristoteles auch ein implizites Vorwissen an, das er als
Mitwissen auffaßt: Jemand, der einen allgemeinen Satz kennt, z.B. daß
die Winkelsumme aller Dreiecke gleich zwei rechten sei, weiß damit
zugleich die Winkelsumme von einem bestimmten einzelnen Dreieck,
ohne dieses explizit zu kennen. In bezug auf diese explizite Erkenntnis
hat er mit dem allgemeinen Satz eine (implizite) Vorkenntnis. ,,So hin-
dert meiner Ansicht nach nichts, daß man, was man lernt, in gewisser
Weise weiß und in gewisser Weise nicht weiß. Widersinnig ist es nicht,
wenn man das,· was man lernt, irgendwie schon weiß, aber das wäre
widersinnig, wenn man es gerade so schon wüßte, wie und in welcher
Hinsicht man es erst kennenlernt. " 6
In unserem Falle der Gebung des Gegenstandes der Philosophie
haben wir keine solche Vorkenntnis, aus der er entnommen werden
könnte, weder in Form von allgemeinen Prämissen, von Begriffselemen-
ten oder Induktionsgrundlagen, noch als in einer allgemeinen Aussage
implizierte Vorkenntnis. In den Worten Kants, wir haben hier keinen
usus logicus der Vernunft, den Aristoteles für die Konzeption der Wis-
senschaft allein in Betracht zieht.
Platon antwortete auf seinen Einwand des Menon durch den Gedan-
ken der Anamnesis, und es wird sich auch zeigen, daß in diesem Gedan-
ken, wenn er in seinem philosophischen Gehalt von der mythisch-reli-
giösen Gestalt, die er bei Platon besitzt, unterschieden wird (ich meine
unterschieden von der Lehre vom Vorleben der Seele, wie sie „die Prie-
ster und Priesterinnen, auch Pindaros und viele andere Dichter, wenn sie
göttlich sind" verkünden), die philosophische Antwort auf jenen Zirkel
stecken muß: Die Vernunft kann zu sich selbst nur aus sich selbst, sozu-
sagen „aus eigenem Fonds" gelangen. Die gewöhnliche, sich mit der Welt
4 Platon, Menon, 80 d.
1 Metaphysik, A 992 b 30-33; Anal. post., 71 c 1-9.
• Anal. post., 71 b 5-8.
Die Aporie in der Idee der philosophischen Gegenstandsgebung 9

auf Grund der sinnlichen Vorgegebenheit auf mancherlei Weisen be-


schäftigende Vernunft kann zum Gegenstand der philosophischen Frage,
der Vernunfttätigkeit in sich selbst, nicht beziehungslos sein, obschon sie
ihn nicht kennt; die Vernunft kann sich selbst in dem, was sie in sich
selbst ist, nie völlig fremd oder äußerlich sein, wenn sie sich überhaupt
jemals soll selbst erkennen können. Oder anders ausgedrückt: Die reine
Vernunfthandlung, wodurch die Vernunft philosophisch wird, d:h. sich
um sich selbst, was sie in sich selbst ist, zu kümmern beginnt, muß schon
im gewöhnlichen, unphilosophischen Vernunftleben virtuell sein, obschon
sie in ihm nicht zur Ausübung kommt. Das Verhältnis der philosophi„
sehen Gegenstandsgebung zur unphilosophischen Vernunfterfahrung, in
der sie, sich von ihr abhebend, ihren Ausgang nimmt, wird daher in
dieser Gegenstandsgebung selbst ein Problem sein müssen. Und schließ-
lich wird die Philosophie, wenn ihr Gelingen beschieden ist, d. h. wenn
sie die Vernunfttätigkeit in sich selbst erkennt, auch erkennen, welches
Verhältnis zwischen der gewöhnlichen und philosophischen Vernunft-,
tätigkeit besteht7•

7 Das Zirkelproblem, das in der Forderung. der Gegenstandsgebung der philoso-


phischen Fr_age durch eine reine Vernunftmethode liegt, hat nichts zu t.un 11'.lit dem
sog. ,,hermerieütischen Zirkel". Der „hermeneutische Zirkel" bedeutet tirsptünglich
formal eine Zirkelhaftigkeit im Verstehen eines Ganzen und von Teilen dieses
Ganzen. Die Idee wurde zuerst im Hinblick auf die .philologische Interpretation
eines Textes entwickelt und in dieser Hinsicht in folgender Weise von Dilthey als
,,die zentrale Schwierigkeit" oder „Aporie" ,,aller Auslegungskunst" formuliert:
„Aus den einzelnen Worten und deren Verbindungen soll das Ganze eines Werkes
verstanden werden, und doch setzt das volle Verständnis des 'Einzelnen schon das
des Ganzen· voraus. Dieser Zirkel wiederholt· sich in dem Verhältnis des einzelnen
Werkes zu Geistesart und Entwicklung seines Urhebers, und er kehrt ebenso zurück
im Verhältnis dieses. Einzelwerkes zu seiner Literaturgattung" (Die Entstehung. der
Hermeneutik; Gesammelte Schriften V, S. 330). ,,Sö aus dem Ganzen das Ver-
ständnis,: während doch das Ganze· wieder aus dem Einzelnen." (a. a. 0 .. ·.S. 334)
Dieses .Verhältnis· gilt aber offensichtlich nicht nur ·für das Verstehen von. litera-
rischen Werken, sondern für das Verstehen von allen Ganzen, die nicht bloße
Haufen oder Summen von .Einzelnen sind, m. a. W., von Ganzen, deren Teile in
bezug auf das Ganze wesentlich 1mselbständig sind und nur in ihrer Funktion
innerhalb ihres Ganzen sind, was sie sind. So gilt dieses Verhältnis ohne Zweifel
auch für das Verstehen von lebendigen Organismen, deren einzelne Organe nur in
ihrer Funktion innerhalb des Gesamtorganismus verstanden werden können, während
dieser .wiederum in seinen verschiedenen Organen verstanden werden muß •. Dieses
Beispiel, wirkte soga.r paradigmatisch auf jenes Verhältnis des sog. hermeneutisdien
Zirkels,- so daß man gerne bei solchen Ganzen überhaupt von „organischen~ oder
„lebendigen" Ganzen, also auch etwa von der organischen oder lebendigen Einheit
oder Ganzheit eines Kunstwerkes spridit. Schon iri Kants Kritik der Urteilskraft
sind Kunstwerk und ·• Organismus in diese Nähe gebracht, und in. deren Tradition
suchte Diltheys Hermeneutik ihre letzte Verankerung im Begriff des Lebens; Hei-
10 Prolog

§ 4 Die Angabe der philosophischen Anfangsmethode

Wenn die Philosophie ihren Anfang in einer eigenen Methode, in


einer reinen Vernunfthandlung hat, durch die sie sich allererst den
Gegenstand ihrer Untersuchung gibt, so scheint man zum vornherein die
Forderung an sie stellen zu müssen, daß sie zu ihrem Beginn sagt, worin
denn diese Methode besteht. Im eigentlichen Sinne vermag sie das nun
aber prinzipiell nicht. Denn erkennen, bzw. sagen und verstehen, was
diese reine Vernunfthandlung ist, setzt bereits den Vollzug dieser Ver-
nunfthandlung, d. h. die Gebung des philosophischen Gegenstandes und
seine Erkeiintriis voraus. Wir haben hier einen weiteren „Zirkel" in der
Philosophie: Die Bestimmung der philosophischen Anfangs- oder Funda-
mentalmethode ist nur auf Grund des Vollzugs dieser Methode möglich.
Zwar ist es etwas anderes, eine Handlung oder eine Methode voll-
ziehen und sie begrifflich beschreiben (bestimmen). Das erste setzt das
zweite nicht voraus, denn wir vollziehen manche Tätigkeiten, ohne zu
sagen und sagen zu können, was sie sind. Ja, wir scheinen zum Verhält-
nis von Vollzug und begrifflicher Erkenntnis der philosophischen Funda-
mentalmethode ein Analogon im Sprechen zu haben: Die Bestimmung
dessen, was Sprechen ist, setzt das Sprechen selbst voraus, aber man kann
durchaus sprechen, ohne vorerst zu sagen, was eine Sprechhandlung ist.
Entsprechendes gilt auch für die philosophische Fundamentalhandlung

degger hat nun den Sinn dieser zirkelhaften hermeneutischen Situation dadurch
verallgemeinert, daß er in ihren Begriffen Busserls sehr differenzierte Lehre von
der Borizontintentionalität der Erfahrung interpretierte und auf die „Existenz-
verfassung des Daseins" zurückführte. Nach Busserl geschieht die Erfahrung eines
einzelnen Gegenstandes in einem präsumptiven Horizont möglicher weiterer Erfah-
rungen, die im Sinn des erfahrenen Gegenstandes vorgezeichnet sind. In Heideggers
Interpretation bedeutet dies, daß jedes ursprüngliche Erfahren und Erkennen
wesensmäßig eine „Vorstruktur", d. h. einen „Entwnrfcharakter" besitzt und damit
den · ;;zur Struktur des Sinnes gehörigen Zirkel des Verstehens" in sich schließt.
Dieser Zirkel des Verstehens wird als „Ausdruck der existenzialen Vorstruktur des
Daseins selbst« (Sein und Zeit, S. 153) aufgefaßt und aus dessen „Zeitlichkeit"
,.abgeleitet".
Es kann hier nur darum gehen, mögliche Mißverständnisse fernzuhalten, d. h. darauf
hinzuweisen, daß sich der von uns geltend gemachte „Zirkel" der philosophischen
Gegcnstandsgebung von der Idee des „hermeneutischen Zirkels" radikal unter-
scheidet: Es handelt sich bei jenem „Zirkel" nicht um eine Zirkelstruktur im Ver-
stehen eines einzelnen irgendwie vorgegebenen Gegenstandes, der nur auf eine
Totalität (sei es auch eine Totalität eines Sinnes) hin zu verstehen ist, während diese
Totalität ihrerseits nur in Einzelnen erfaßt werden kann, sondern um den Zirkel
iri der Idee einer Gegenstandsgebung, die nicht auf Grund eines schon Vorgegebenen,
d. h. im vora11s Gegebenen geschieht.
Die Aufgabe der philosophischen Anfangsmethode 11

der Gegenstandsgebung. Der Philosoph muß diese Handlung vorerst


naiv betätigen, bevor er auf sie reflektierend sagen kann, was sie ist.
Aber damit ist das Problem für die Philosophie nicht gelöst. Die
Philosophie erklärt, daß sie den Gegenstand ihrer Untersuchung nur
durch eine ganz besondere Vernunfthandlung geben könne. Der Philo-
soph mag irgendwie auf diese Handlung „gekommen" sein und kann
nun philosophieren. Soll die Philosophie aber nicht nur seine persönliche,
unwiederholbare Angelegenheit (eine private Erleuchtung) sein, sondern
soll sie auch andere vernünftige Wesen, die noch nicht Philosophen sind,
angehen, so muß er sie diesen irgendwie mitteilen können. M. a. W., soll
es sich bei der Philosophie um eine Wissenschaft handeln können, so
muß sie allgemein zugänglich sein. Von daher kam die Forderung, daß
der Philosoph am Anfang des Philosophierens, nicht eines privaten, son-
dern eines intersubjektiven, sagt, was die Methode ist, durch die man
zum Gegenstand der Philosophie kommt. Aber wie gesagt, im eigent-
lichen Sinn kann das der Philosoph nicht. Vielleicht kann er zwar sagen,
was diese den Gegenstand der philosophischen Frage konstituierende
reine Vernunfthandlung ist (vielleicht ist er selbst schon zu dieser Er-
kenntnis vorgestoßen), aber er kann es nicht dem Nichtphilosophen
sagen, d. h., er kann es einem, der nicht schon mitphilosophiert, nicht
verständlich mitteilen.
Aber um dem Nichtphilosophen die Philosophie zugänglich zu
machen, d. h., um der Philosophie überhaupt eine allgemeine, im Prinzip
alle Vernunftwesen angehende Bedeutung zu geben, muß der Philosoph
vielleicht doch nicht gleich zum Anfang schlechthin sagen, was die philo-
sophische Anfangs- oder Fundamentalmethode ist.
Allerdings, auf folgende Weise ist es auch nicht zu machen: Viele
Handlungen kann man dadurch anderen beibringen, daß man sie ihnen
vormacht, damit diese sie abschauen und nachmachen. Auf diese Weise
kann man grundsätzlich etwa Erzeugungshandlungen, z. B. das Anferti-
gen von Möbeln oder das Zubereiten von Speisen, aber auch etwa das
Spielen von bestimmten Musikstücken auf Instrumenten lehren. Auch
das Sprechen einer bestimmten Sprache kann man, etwa kleinen Kindern,
durch Vormachen beibringen. Aber hier wird auch gleich die Grenze des
Vormachens offensichtlich: Kinder gelangen nicht dadurch zu wirklichem
Sprechen, daß sie die vorgemachten Sprachhandlungen einfach nach-
machen. Damit allein wären sie bloß sehr geschickte Papageien. Sie
können erst wirklich, d. h. mit Vernunft sprechen, wenn sie nicht bloß
das Vorgesagte nachmachen. Vernunfttätigkeiten sind nur insofern vor-
f2 Prolog

und nachmachbar, als sie sinnliche, leibliche Tätigkeit in sich schließen;


sie sind nur in dieser vor- und nachmad1bar.
Die reine Vernunfthandlung, durch die sich die Philosophie den
Gegenstand ihrer Frage gibt, schließt mm überhaupt keine sinnliche
Tätigkeit in sich (was natürlich nicht bedeutet, daß sie keine sinnliche
Tätigkeit voraussetzt), denn sie soll es ja überhaupt nicht mit Sinnlichem
zu tun haben. Also ist sie überhaupt nicht vormachbar.
Wenn nun der Philosoph dem Nichtphilosophen weder sagen kann,
was die Vernunfttätigkeit ist, durch die man zum Gegenstand der philo-
sophischen Untersuchung gelangt, noch ihm diese Vernunfthandlung vor-
machen kann, kann er denn dem Nichtphilosophen wenigstens irgendwie
sagen, wie er es machen muß, um zu diesem Noumenon zu kommen?
Auch das natürlich nicht, wenn unter diesem „sagen wie" die reglemen-
tierende Beschreibung einer äußeren, d. h. sinnlich erscl1einenden Opera-
tion verstanden wird, die etwa auf dem Papier oder der Tafel auszu-
führen wäre. Denn wie gesagt, die philosophische Anfangsmethode ist
keine sinnlich ausführbare Operation. Aber irgendwie muß der Philo-
soph doch dem Nichtphilosophen sagen, wie er es macl1en muß, um zum
Gegenstand der Philosophie zu kommen. Es gibt prinzipiell nur eine
Weise, es zu sagen:: die des Sokrates, die maieutische: Der Philosoph
kann nur als Geburtshelfer den Nimtphilosophen zu. dieser Handlung,
die in ihm selbst' schon angelegt sein muß, ,, entbinden". Er kann in ihm,
wenn dieser mitzumacl1en bereit ist, jene Handlung wecken, indem er
ihn durch Worte, die schon für ihn als Nichtphilosophen eine Bedeutung
haben, in die Nähe jener Handlung bringt, sie durch „Winke", d. h.
durch über das gewöhnliche Verständnis. hinausdrängende Reden,· arideu~
tet, ihm zugleich, was sich in der Nähe jener Handlung befindet und
dadurch zu Verwechslungen mit ihr Anlaß bietet; durch negative Erklä...
rungen abschneidet und ihn so beständig umkreisend zu dieser Vernunft-
handlung, die jeder nur aus sich selbst kennenlernen kann, anstachelt.
Philosophie ist nicht in gewöhnlichem Siime !ehrbar, dennoch muß sie
Mitteilbarkeit und Übereinstimmung ermöglicl1en, wenn sie keine bloße
Privatsache (,,Idiotie") sein will.

§ 5 Die Methode der philosophischen Darstellung

Aus der so gekennzeichneten Situation ergibt sich die besondere


Weise, in der allein das philosophisd1e Wissen sich. allgemein. zugänglicl1
Die Methode der philosophischen Darstellung 13

machen und damit „Objektivität" (Intersubjektivität) erreichen kann.


Diese Objektivität ist eine Bedingung dafür, daß Philosophie als Wissen-
schaft auftreten kann (wenn auch nicht eine ausreichende, denn zur
Wissenschaftlichkeit gehören auch andere Momente, vor allem ein syste-
matischer Charakter des Wissens).
Es gibt für den lehrenden Philosophen und den die Philosophie ler-
nen wollenden Nichtphilosophen keine gemeinsame Redesituation, sie
befinden sich notwendig in einer Diskrepanz: Der Philosoph kann nicht
einfach von der Situation des Lernenden aus sprechen, er kann nicht von
ihr aus, durch welche methodischen' Vorkehrungen auch immer, in kon-
tinuierlichen, jeweils im Prinzip immer verständlichen Schritten zu seiner
Erkenntnis weiter führen, sondern er muß vom Standpunkt der Philo-,
sophie aus den Lernenden dazu bringen, seine Situation in der sinnlich
vorgegebenen Welt zu durchbrechen, eine völlige Umstellung zu voll-
ziehen und sich in eine radikal neuartige Situation zu versetzen. Dennoch
muß- der Philosoph den Lernenden ansprechen, er kann nicht, wenn er
lehren will, mit seinem Wissen über ihn hinwegsprechen. Er muß also
mit Worten reden, die der Lernende aus seiner Situation irgeridwie ver-
stehen kann, aber damit immer zugleich mehr sagen, als der Lernende
zunächst eigentlich verstehen kann, und nur auf Grund dieser antizi-
pierenden Spannung vermag er ihn über die vorphilosophische Vernunft-
situation hinaus zum Gegenstand der Philosophie zu ziehen.
Da :der Philosoph den Nichtphilosophen zu einer Vernurifthandlung
bringen muß, von der er nicht in einer diesem verständlichen Weise
sagen kann, was sie ist, und sie daher ihm gegenüber nicht zum voraus
rechtfertigen, sondern sie nur andeuten und prätendieren kann, daß ·sie
besteht, muß der Lernende dem Philosophen Kredit geben/er muß jerie
geforderte Vernunfthandlung erst einmal naiv zu vollziehen versud:ien,
den dadurd:i gegebenen Gegenstand zu erkennen trachten, und erst durch
diese. Erkenntnis wird er wirklich zu wissen bekommen, was jene den
philosophisd:ien Gegenstand konstituierende Vernunftharidlung ist. Er
muß also aud:i von der Philosophie, wenn er sich eirimal in ihr befindet,
den gegebenen Kredit „bis auf den letzten Pfennig" zurückfordern, also
eine vollständige Rechtfertigung verlangen.
, , Da der Philosoph dem Nichtphilosophen gegenüber seine Erkenntnis
immer in gewöhnliche Verständlichkeit verkleiden und damit zugleich
mehr sagen muß, als dieser verstehen kann, da also die Aussage des
Philosophen gegenüber dem lernenden Nichtphilosophen notwendig zwi-
schen der Verständlichkeit und Unverständlichkeit eingespannt ist, bzw.
14 Prolog

der die Philosophie Lernende immer nur ein vages, offenes Verständnis
haben kann, gehört notwendig zu dem die Philosophie Lernenden die
Möglichkeit des Mißverständnisses. Zur Einleitung bzw. zum methodi-
schen Aufbau der positiven Wissenschaften gehört diese Möglichkeit nicht
notwendig; die Begriffe können methodisch eingeführt und die ver-
schiedenen Aussagen Schritt um Schritt, ohne Vorgriffe entwickelt wer-
den, so daß der ideale Leser oder Hörer, der nichts vom Vorangegange-
nen vergißt und mit seinem Verständnis im methodischen Gang immer
genau an dem Punkte ist, wo er etwa beim Lesen angelangt ist, immer
richtig und voll versteht. Der ideale Schüler der Philosophie dagegen
ist prinzipiell nie vor dem Mißverständnis gesichert, da er es notwendig
mit Antizipationen zu tun hat, die auf seiner Stufe gar nicht wirklich
verstanden werden können. Der ideale Schüler der Philosophie muß
aber immer wissen, daß er nicht voll versteht.
Deshalb muß im Lernen bzw. Lehren der Philosophie der Lernende
immer wieder fragen und der Lehrende, wie Platon sagt, ,,seinen Worten
zu Hilfe eilen" 8 können. M. a. W., die einzige wirksame Weise, die
Philosophie zu unterrichten, ist das Gespräch. Die Methode der Selbst-
darstellung, wodurch die Philosophie Allgemeinheit, d. h. Objektivität
(im Sinne der lntersubjektivität) und Wissenschaftlichkeit erreicht, ist
die Wechselrede.
Das haben bekanntlich die Philosophen seit dem Anfang gewußt;
man braucht nur an die Worte des alten Platon zu erinnern: ,,Das,
worum ich inich bemühe ..., ist nicht auszusagen wie andere Lerngegen-
stände, sondern aus langem, der Sache gewidmeten Verkehr und aus der
Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch
einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann
durch sich selbst. " 9 Eine philosophische Schrift oder ein philosophischer
Vortrag sei den Menschen nicht ersprießlich, ,,höchstens den wenigen, die
auf einen leisen Wink hin fähig sind, es selbst zu finden; die übrigen
l würden aber dadurch teils unpassend durch eine unrichtige Geringschät-
zung erfüllt, teils mit einer übertriebenen und hohlen Meinung, als wären
sie im Besitz einer weiß welch hohen Weisheit" 10 • Auch im Phaidros hat
Platon geschrieben, daß der Philosoph nicht zum Ernst seine Einsichten
in schriftliche Worte lege, ,,die unfähig sind, sich selbst mit Vernunft zu

8 Phaidros, 275 d, 276 c.


9 VII. Brief, 341 c, d.
18 A. a. 0., 341 e.
Die Methode der philosophischen Darstellung 15

helfen, und unfähig, hinreichend die Wahrheit zu lehren. "11 Platon gibt
im siebenten Brief auch den entscheidenden Grund an für die Unmög-
lichkeit, die Philosophie in einem Vortrag oder einer Schrift allgemein
zugänglich zu machen: Eine Erörterung, die sich mit sinnlichen Vor-
gegebenheiten begnügt, kann von den Kritikern nicht zu Unrecht lächer-
lich gemacht werden. Wo es aber um einen Verstandesgegenstand geht,
kann der Kritiker dafür die sinnlichen Erkenntnisbedingungen (die Wor-
te, Aussagen und Bilder) vorschieben und leicht durch die Sinne wider-
legen, so daß der Philosoph nichts von dem, worüber er redet oder
schreibt, zu verstehen scheint; dabei werde er aber nicht „in der Seele",
sondern nur in der Schwäche des Ausdrucks widerlegt12 •
Die Philosophie kann demnach ihre Objektivität nicht in einem Text,
sondern nur in der Wechselrede haben. Dies gehört zum Wesen der
philosophischen Erkenntnis selbst. Man kann nur alle wissenschafts-
theoretischen Konsequenzen aus dieser Situation ziehen, nicht aber der
Philosophie „endlich eine wissenschaftliche Grundlage verschaffen" wol-
len, wobei man sich das methodische Vorgehen der positiven Wissen-
schaft zum Vorbild nimmt. Wenn man auf solche Weise versucht, die
Philosophie „auf wissenschaftliche Füße zu stellen", mag man zu
„Füßen" kommen, heißen sie nun Logik, Sprachanalyse usw., aber sicher
nicht zu den „Füßen" der Philosophie. Damit soll aber keineswegs die
Idee der Philosophie zugunsten einer Philodoxie aufgegeben werden,
sondern es wird hier vielmehr die Forderung der Philosophie als Wissen-
schaft, und zwar als allgemein gültiger, strenger, d. h. sich bis ins letzte
rechtfertigender Wissenschaft aufrecht erhalten. Aber diese Rechtferti-
gung kann nur Rechtfertigung aus der Sache der Philosophie sein, in
einem von der zu erkennenden Sache geforderten Vorgehen, sonst geht
sie an dieser Sache vorbei.
Obschon die Philosophie ihre objektive (intersubjektive) Wirklich-
keit nicht in einem Text, sondern nur durch die Wechselrede (die in
gewissem Maße auch durch einen Briefwechsel vertretbar ist) hat, kann
es doch echte Motive geben, eine philosophische Schrift zu schreiben.
Platon sprach im Phaidros von der Nützlichkeit solcher Texte für das
Gedächtnis „im vergeßlichen Alter" 13 • In seinem großen Brief nimmt er
zwar diese Rechtfertigung zurück, indem er erklärt: ,,Es ist nicht zu
befürchten, daß einer es vergesse, wenn er es einmal ganz mit der Seele
11 Phaidros, 276 c.
12 VII. Brief, 343 b-d.
13 Phaidros, 275 c/d, 276 d.
16 Prolog

erfaßt hat, denn es liegt vor allem im Kürzesten" 14 • Dies mag zutreffen
für ein· oberstes philosophisches Prinzip, das Platon hier im Auge hat,
nicht aber für die Komplexität und den sprachlichen Ausdruck der unter
diesem Prinzip möglichen Erkenntnis, so daß die schriftliche Fixierung
doch die Funktion haben kann, Erkenntniszusammenhänge leichter
durchlaufbar und damit umfassender verfügbar und überprüfbar zu
machen. Vor allem aber kann ein Text oder Vortrag auch eine Funktion
für das Gespräch haben: als Vorbereitung dazu oder als Anhalt für eine
nachträgliche Reflexion und ein tieferes Eindringen in das im Gespräch
Mitgeteilte.
Keine philosophische Schrift bietet aber eine allgemein gültige Dar-
stellung der Philosophie, denn sie ist immer in eine besondere Situation
hinein geschrieben. So versucht der Autor etwa allen möglichen Mißver-
ständnissen zuvorzukommen, die sich aus einer bestimmten Situation
ergeben können. Für eine andere Situation müßte aber anders geschrieben
werden, da in ihr andere Mißverständnisse, deren Möglichkeit in· der
Philosophie prinzipiell immer besteht, wahrscheinlich sind. So ist jede
philosophische Schrift immer an eine bestimmte geschichtliche Situation
gebunden.

§ 6 Der Gang der folgenden methodischen Überlegungen

Aus der Situation der Philosophie, die einen allgemeinen Zugang zu


sich selbst zur schriftlichen Darstellung bringen will, ergeben sich für
diese Absicht folgende Stufen (Abschnitte, Etappen).
Sie muß mit einer vorläufigen Kennzeichnung der Vernunfthandlung
(der reineri Reflexion) beginnen, durch die der Gegenstand der philo-
sophischen Frage gegeben wird. Diese Kennzeichnung soll den Vollzug
dieser Handlung ermöglichen, der r1otwendig ist, bevor diese Handlung
selbst zu voll reflektierter Erkenntnis kommen kann. Die Erörterungen
der ersten Etappe sollen also einen naiven Vollzug der philosophischen
Grundhandlung ermöglichen. Dies geschieht einmal dadurch, · daß durch
vorphilosophisch verständliche Worte und durch das Mittel negativer
Abhebung von anderen, zu Verwechslung Anlaß gebenden theoretischen
Objektivierungen auf die Richtung, in der diese Handlung (die reine
Reflexion) liegt, hingewiesen und die notwendigen Bedingungen (philo-
sophische Reduktion des phänomenalen Raumes und der phänomenalen
14 VII. Brief, 344 d/e.
Der Gang der folgenden methodischen Oberlegungen 17

Zeit) ihres Vollzuges angeführt werden (1. Kapitel der 1. Etappe). In


einem zweiten Kapitel dieses Abschnittes sollen gleich durch den Auf-
weis gewisser fundamentaler Strukturen (noumenaler Raum und noume-
nale Zeit) des durch die philosophische Grundhandlung gegebenen Ge-
genstandes mögliche, ja notwendige Mißverständnisse ausgeschaltet wer-
den, die die Erfüllung jener Bedingungen der philosophischen Grund-
handlung mit sich bringt.
In der zweiten Etappe wird dann aufgrul}d des naiven Vollzuges
der philosophischen Grundhandlung die Vernunfttätigkeit in sich selbst
in ihrer allgemeinen „Architektonik", d. h. sowohl in ihrem allgemeinen
durch die Sinnlichkeit bedingten Wesen als auch in ihren verschieden
durch die Sinnlichkeit bedingten und in die Sinnlichkeit eingreifenden
und sich in ihr realisierenden Gestalten, umrissen. Dabei muß das Wesen
der Sinnlichkeit selbst als Fundament und „Milieu" der Vernunft in
reiner Vernunfterkenntnis bestimmt werden. Dieser zweite Abschnitt
ist für die Sache, um die es in der Philosophie geht, der entscheidende.
In der dritten Etappe werden auf Grund der Einsichten in das Wesen
der Vernunft des zweiten Abschnittes durch reine Reflexion auf die
philosophische Erkenntnis selbst deren bisherigen Naivitäten aufge-
hoben: Vorerst wird die philosophische Grundhandlung philosophisch,
d. h. in reiner Reflexion endgültig (im Gegensatz zur Vorläufigkeit des
ersten Abschnittes) bestimmt und gerechtfertigt; gleichzeitig werden irr-
tümliche Auffassungen der Reflexion aus der Philosophiegeschichte, die
jene Bestimmung der philosophischen Reflexion beeinträchtigen, der Kri-
tik unterzogen. Im zweiten Kapitel dieser dritten Etappe wird eine wei-
tere Naivität der Überlegungen des zweiten Abschnittes reflexiv einge-
holt und damit überwunden. Während im ersten Kapitel des dritten Ab-
schnittes die Methode der philosophischen Gegenstandsgebung (die Fun-
damentalmethode der Philosophie) reflektiert wurde, wird im zweiten
Kapitel die philosophische „Beantwortungsmethode«, d. h. die Hinsicht,
das Was?, das die Philosophie an ihren Gegenstand richtet, erörtert.
Diese „Beantwortungsmethode" (die philosophische Wesensbildung)
wurde im zweiten Abschnitt stillschweigend gebraucht, indem dort gleich
Antworten, d. h. Bestimmungen dessen, was die Vernunft ist, dargeboten
wurden. Für die philosophische „Beantwortungsmethode" gilt offenbar
nicht mehr der von Kant geforderte Vorrang der (expliziten) Methode
gegenüber dem spontanen Verstandesgebrauch (usus). Ein drittes Kapitel
reflektiert Bedingungen und Wesen der philosophischen Rede und Spra-
che vom gewonnenen philosophischen Gesichtspunkt aus.
1
1
·p1 ·

1
1
1
1
1
I. Abschnitt
Vorläufiger Hinweis
auf die philosophische Fundamentalmethode
(Zugangsmethode)
1. Kapitel
„Natürliche" Reflexionen urid reine Reflexion

§ 7 „Natürliche" Reflexionen

Im Prolog wurde die philosophische Zugangsmethode, die zum


Gegenstand der philosophischen Frage, zur Vernunfttätigkeit in sich
~~lbst, führen soll, andeutungsweise als reine Reflexion bezeichnet. Unter
,,reflektieren" in weiter Bedeutung verstehen wir in der gewöhnlichen
Sprache ein Sich-besinnen .oder überlegen im Zusammenhang einer Tä-
tigkeit. Solches Sich-besinnen oder überlegen bedeutet eo ipso ein An-
~t1.lten in der Tätigkeit, indei:n wir. uns etwa fragen, wie es nun weiter-
gElhen soll. In einem schon etwas prägnanteren Sinne besteht dieses
ÜpElrlegende Anhalten in einem überprüfen von etwas schon irgendwie
i,!};:cler Tätigkeit Vollzogenem oder Festgelegtem, sei es der vorgefaßten
ZMe und Mittel, sei es von etwas im bisherigen Gang der Tätigkeit. In
d,i~sem prägnanteren Sinn ist Reflektieren also ein Zurückkommen, eine
l{ü~kkehr auf ein im Tun schon irgendwie Verwirklichtes oder .Vor-
g~f_~tes. Eine solche Rückkehr kann nun entweder eine bloße Wieder„
/JoJung, ein noch einmal Betrachten oder Sich-vornehmen von etwas
s~j1,1, _was schon vorher, wenn vielleicht auch weniger genau, betrachtet
C>cier vorgenommen wurde. Oder aber. eine solche Rückkehr kann Rück:.,
lf@l:':. auf etwas sein, was im vollzogenen Tun irgendwie geschah . und
tj'ijJ;spielte, aber nicht Gegenstand der Beachtung war, worüber man
- s,i91. keinerlei Gedanken machte. Eine solche Rückkehr auf vorher:- im
!f,tin: Unbeachtetes, Ungegenständliches ergibt einen noch präziseren Be-
.•.• gl;'iff der Reflexion, an aen wir unsere Erörterungen knüpfen wollen.
~tu:Aber auch dieser Begriff ist noch nicht wesentlich genug, als daß wir
jh!:i:z.ur Grundlage unserer Überlegungen machen könnten. Rückkehr auf
fü::t;vorigen Tun Unbeachtetes, Ungegenständliches könnte Rückkehr auf
lqlches sein, was aus irgendwelchen faktisd;en, zufälligen Gründen irh
;;v,prigen Tun nicht thematisch .wurde, oder. aber auf solches, was im vori-
gti;l Tun zu beachten gar nicht möglich war, was .also aus notwerzdigen
22 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion

Gründen ungegenständlich oder unthematisch blieb. Im zweiten Fall


wird in der Reflexion etwas zum Gegenstand oder Thema, was vorher
im Tun zwar irgendwie „da" war, aber gar nicht Gegenstand oder zum
Thema der Betrachtung gehörig sein konnte. Es handelt sich also um
etwas, das notwendig nur im Nachhinein, sekundär: in der Reflexion
zum Gegenstand der Betrachtung werden kann; es sind dies wesentlich
sekundäre Gegenstände oder wesentliche. Refiexionsgegenstände. Den für
unsere Erörterungen grundlegenden Begriff der Reflexion (der aber noch
nicht die reine Reflexion ausmacht, nach der wir in unseren Erörterun-
gen streben) wollen wir an diese wesentlichen Reflexionsgegenstände
binden. Reflexion ist damit für uns eine „Betrachtung", die nicht nur
zufällig nach dem Tun, auf das sie „zurück.geht", geschieht und ebenso-
gut schon in diesem Tun selbst hätte geschehen können, also nur zufällig
Reflexion ist, sondern die wesensmäßig Reflexion ist: überhaupt nur in
der Rück.kehr auf ein Tun betrachten kann, was sie betradJtet.
Diese formale Begriffsbildung wird uns leicht verständlich, wenn wir
sie uns an Beispielen veranschaulichen:
Im Wahrnehmen z.B. nehmen wir Dinge und Personen in ihrem
Verhalten wahr, wir hören eine Uhr schlagen, jemanden eine Melodie
singen usw. Dabei erscheinen uns die Dinge und Personen in Erscheinun-
gen, die sich zumeist in einem stetigen Wandel befinden: in Anblicken
und Perspektiven, die auch im Akustischen ihre Parallelen haben, in
verschiedener Helligkeit und Abschattung usw. Aber nicht diese Erschei-
nungen nehmen wir vorerst und im allgemeinen wahr, sondern das in
ihnen Erscheinende, etwa die erscheinenden Dinge usw., die in ihren
Eigenschaften und Verhaltungsweisen, für die wir uns interessieren, vom
Wandel der Erscheinungen nicht berührt werden. Es bedarf eines beson-
deren „ästhetischen" Interesses und einer besonderen Reflexion, um auf
die Erscheinungen als solche zu achten und um sie gar zum Gegenstand
einer besonderen theoretischen Erfassung zu machen. Für die visuellen
Erscheinungen etwa interessierte man sich in theoretisch-systematischer
Weise wohl erst seit der Renaissance, vor allem von seiten der Maler
(Piero della Francesca, Leonardo da Vinci). Die Erscheinungen sind
wesentlich sekundäre Gegenstände; sie spielen notwendig in der gewöhn-
lichen Wahrnehmung, sind hier aber nicht die Gegenstände des Interesses,
sondern können erst in nachkommender und rück.kehrender Reflexion
thematisch werden. Man könnte die Idee einer Erscheinungslehre oder
von verschiedenen Erscheinungslehren (zu denen etwa die Perspektiven-
lehre gehören würde) entwickeln, die auf solcher Reflexion auf die
„Natürliche" Reflexionen 23

Erscheinungen beruhen. Diese Erscheinungslehren wären aber nicht


Philosophie in unserem Sinne, denn sie untersuchen nicht die Vernunft-
tätigkeit in sich selbst (Erscheinungen sind überhaupt keine Tätigkeiten);
bzw. die ihnen zugrundeliegende Reflexion ist nicht reine philosophische
Reflexion. Obschon die Erscheinungen im gewöhnlichen Wahrnehmen
nicht gegenständlich sind, können sie doch zu sinnlich-öffentlich vorführ-
baren Gegenständen gemacht werden. Z.B. der Anblick der Berner Alt-
stadt vom Rosengarten aus, die Aussicht vom Belpberg auf die Alpen
bei Föhnwetter, die akustisc:t1-1e und visuelle Erscheinung des Spiels vom
ersten Rang Mitte des Stadttheaters aus, der Anblick eines Pantoffel-
tierchens mit einem bestimmten Mikroskop, der Perspektivenwandel
eines Gebäudes in einem vorgeschriebenen Rundgang usw. sind inter-
subjektiv vorführbar, durch Photographien, Filme, Tonbänder reprodu-
zierbar: verschiedene Personen können identisch dieselbe Aussicht haben
etc., evtl. nicht miteinander, aber nacheinander. Die Erscheinungen sind
sinnlich vorgegeben, sinnlich anweisbar, wenn auch nicht in bloßer Sinn-
lichkeit, sondern erst aufgrund einer Reflexion gegenständlich erfaßt.
Ein anderer wesentlich sekundärer Gegenstand ist die Sprache
(,,Sprache" hier nicht verstanden als Sprechtätigkeit, sondern als Sätze,
Teile von Sätzen und Satzzusammenhänge). Im gewöhnlichen Sprechen
und Verstehen sind wir nicht der Sprache gegenständlich zugewendet,
sondern dem, worüber gesprochen wird. Um über die Sprache reden,
sie zum Gegenstand der Betrachtung machen zu können, müssen wir vor-
erst in die Sprache „hineinkommen", indem wir nicht über sie, sondern
über anderes reden. Die Reflexion auf die Sprache kann sich wiederum
zu Wissenschaften auswirken, sei es zu eigentlichen Sprachwissenschaften
(Phonologie, Grammatik, Sprachgeschichte), sei es zur Logik, die den
formalen Aufbau der Rede (Aufbau von Sätzen, mögliche Zusammen-
hänge zwischen Sätzen ihrer Form nach) studiert. Aber auch solche
Wissenschaften sind nicht Philosophie, sie erforschen nicht die Vernunft-
tätigkeit in sich selbst, sondern Gebilde der Vernunft; bzw. die in ihnen
wirksame Reflexion ist nicht reine, philosophische Reflexion. Die sprach-
liche und logische Reflexion basiert auf sinnlichen, wenn auch nicht auf
bloß sinnlichen Vorgegebenheiten: auf lautlichen oder visuellen Zeichen.
Auch sog. ,,Weltanschauungen", ,,Weltbilder", ,,Ideen über die Wirk-
lichkeit", implizite „universes of discourse" können zum Gegenstand der
Reflexion erhoben und in verschiedener Weise geisteswissenschaftlich
untersucht werden. Solche strukturellen oder ideengeschichtlichen Unter·
suchungen sind aber wiederum als solche nicht Philosophie, sie haben
24 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion

nicht die Vernunf ttä tigkeit in sich selbst zum Gegenstand, sondern im
sinnlich.• Vorgebbaren ausgedrückte und dokumentierte Vernunftgebilde.
Diese angedeuteten Wissenschaften haben alle eine gewisse Nähe zur
Philosophie, da sie alle wie diese auf Reflexion im angegebenen wesent-
lichen Sinne beruhen. Sie sind aber nicht selbst schon Philosophie, da sie
nicht auf die Vernunfttätigkeit in sich selbst reflektieren. Ihre Reflexio-
nen stützen sich alle auf sinnlich Vorgebbares, und wir bezeichnen sie
in diesem Sinne als „natürliche" Reflexionen.

§ 8 Refiexion und Psychologie

Ein besonderes Problem könnte in unserem Zusammenhang die Psy-


chologie stellen: Untersucht nicht die Psychologie die seelischen Tätig-
keiten, und unter ihnen auch die vernünftige, und beruht sie nicht,
wenigstens zum Teil, auf der Reflexion (im wesentlichen Sinn) auf diese
Tätigkeiten, so daß Philosophie im bisher angedeuteten Sinne ein Teil
der Psychologie wäre? Um den eigenen Weg der Philosophie anzuzeigen,
möchten wir in diesem Paragraphen noch etwas deutlicher darauf hin-
weisen, daß die Psychologie, wenn sie sich als positive Wissenschaft ver-
steht, weder auf der Reflexion (im wesentlichen Sinn) auf Tätigkeiten
beruht, noch die Vernunfttätigkeit als solche erforschen kann.
Im Gegensatz zu den methodologischen Ideen der Initiatoren der
positiv-wissenschaftlichen Psychologie in der · zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts (Wundt, Titchener) setzte sich in der Entwicklung die-
ser Wissenschaft immer mehr der Gedanke durch, daß ihre Erfahrungs-
grundlage nicht in der sog. ,,inneren Erfahrung" oder „Introspektion"
bestehen könne; Wohl fast allgemein versteht sich heute die positive
Psychologie als Wissenschaft des menschlichen und tierischen Verhaltens.
Zwar hatte Husserl noch die Idee einer ,;phänomenologischen", auf sog.
„innerer" oder „immanenter Wahrnehmung" beruhenden Psychologie
entworfen, die auch andere Vertreter, vor allem bei den Philosophen,
gefunden hat; aber in seinem letzten Werk, in der Krisis, zeigte sich
;1·

ihm selbst, daß die phänomenologische „Psychologie", wenn sie metho- . .,,,
,:,

disch konsequent ist, nicht mehr Psychologie sein kann, sondern Philo-
sophie werden muß 1 . Was allerdings Verhalten ist, d. h. mit welchem
allgemeinen Modell oder mit welchen Grundbegriffen es zu fassen wäre,

1 Husserliana VI, die Sektion B des III. Teils.


I•:
' .i
Reflexion und Psychologie 25

darüber sind sich die Psychologen, die das Verhalten erforschen, nicht
einig; nur darüber besteht Einigkeit, daß es nicht eine Sache der Intro-
spektion, sondern eine öffentlich beobachtbare „äußere" Gegebenheit sei.
Eine besondere theoretische Auffassung des Verhaltens hat jedoch
einige Psychologen dazu geführt, doch auch der Introspektion eine ge-
wisse Rolle in der Erforschung des äußerlich gegebenen Verhaltens einzu-
räumen2. Es dürfte aber zu zeigen sein, daß nur ein unzulängliches, ja
abwegiges Modell des äußerlich beobachtbaren Verhaltens diesen erneu-
ten Rekurs auf die Introspektion motiviert. Dieses abwegige Modell ist
dasjenige des Begründers des „Behaviorismus", J. B. Watson, das nach
physikalisch.:.mechanistischem Ideal das Verhalten auf das Schema Reiz-
(motorische) Reaktion reduziert. Da dieses Modell vielen Psychologen
für ihre Erforschung des Verhaltens, das sie nicht einfach als einen
mechanischen Prozeß betrachten konnten, nicht ausreichte, glaubten
einige, es aus der Introspektion ergänzen zu müssen.
Andere haben aber auch geltend gemacht, daß das alte „behavio-
ristische" Modell des Verhaltens gesprengt werden könne, ohne auf den
verborgenen Fonds der Introspektion zu rekurrieren. So führte etwa
E. C. Tolman die teleologischen Begriffe der Absicht und der Erwartung
ohne Verweis auf die Introspektion in das Modell des Verhaltens ein3•
Dabei scheinen aber diese immanenten Züge des Verhaltens nur vom
Beobachtenden aus erschließbar und nicht direkt beobachtbar zu sein;
jedoch wird diese Frage bei ihm nicht geklärt4 • Diese Frage der Gegeben-
heit von intentionalen Zügen des Verhaltens haben aber, im Anschluß
an Anregungen von Max Seheier, eine ganze Reihe von methodologisch
interessierten Psychologen erörtert: u. a. Helmuth Plessner, F; J. J. Buy,-
tendijk, Victor von Weizsäcker, Maurice Merleau-Ponty. Diese Forscher
heben hervor, daß das ·Verhalten unmittelbar anschaulich in „umwelt-
intentionalen Bewegungsgestalten" 5, in umweltbezogenen sinnhaften
;,Funktionen" 6 gegeben sei. Daß z. B. ein Tier etwas · angreife, fliehe,

li Cf. G. de Montpellier, ,,La psychologie est-elle la science du comportement?" Revue


Philosophique de Louvain 68 (1970) S. 174-192. ·
, } PurposiveBehaviour in Animals and Men, New York, 1932; ,,There is more than
.... one kirid of learning", Psychological Review 56 (1949).
•.' VgL deri oben zitierten Artikel von de Montpellier, S. 176•
•1 : So H. Plessner in dem in Zusammenarbeit mit Buytendijk 1925/6 erschienenen
Aufsatz „Die Deutung des mimischen Ausdrudts", neu herausgegeben in Zwischen
. Philosophie und Gesellschaft, Bern, Francke, 1953.
8 Cf. Buytendijk, Allgemeine Theorie der menschlichen· Haltung und Bewegung,
Springer, 1956, S. 4-12.
26 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion

suche, finde, rieche, daß es gehe, krieche usw. sei unmittelbar zu beobach-
ten, ohne jegliche Introspektion, aber auch ohne jeglichen Schluß. Es
wird zwar von dieser Seite betont, ,,daß wir das Leben nur erkennen
können, indem wir an ihm teilnehmen" 7, m. a. W., daß der verstehende
Beobachter des Verhaltens selbst ein sich verhaltendes Wesen sein müsse;
dies bedeute aber keineswegs, daß im Verständnis des Verhaltens Intro-
spektion und dann Projektion des innerlich Wahrgenommenen auf das
äußerlich wahrgenommene Verhalten stattfinde, sondern nur, daß das
verstehende Wahrnehmen des Verhaltens in sich selbst schon ein Deuten
sei8 • Tatsächlich wird, wenn man in psychologische Untersuchungen
menschlichen oder tierischen Verhaltens hineinschaut, schnell deutlich,
daß hier weder „Introspektion" getrieben, noch (es sei denn, es handle
sich um Physiologie) von bloßen mechanischen Prozessen gesprochen
wird, sondern von Verhaltensweisen wie wahrnehmen, erkunden, sehen,
horchen, suchen, finden, spielen, essen usw. die Rede ist, wie sie sich
unserer äußeren Beobachtung unmittelbar zeigen. Um etwa zu beobach-
ten, daß ein Tier angreift oder flieht, dazu benötigen wir keine Intro-
spektion oder Reflexion auf eigene Tätigkeiten, sondern wir sehen es
ihm unmittelbar an.
Auch wenn wir die Psychologie nicht nur auf die Beobachtung sich
verhaltender Lebewesen abstützen, sondern in Rechnung ziehen, daß der
Psychologe auch auf die Antworten seiner „Versuchspersonen" abstellt,
wie etwa in der Wahrnehmungspsychologie, so müssen wir uns erinnern,
daß auch hier eine Reflexion auf Akte gar keine Rolle spielt. Die „Ver-
suchsperson" muß etwa sagen, was sie sieht, hört oder auch, was sie
empfindet; dazu ist aber für sie überhaupt keine Reflexion (im wesent-
lichen Sinne) erforderlich, denn weder das Gesehene (irgendwelche Figu-
ren, kausales Geschehen etc.) noch die Empfindungen (Schmerz, Jucken
etc.) oder assoziierte Gegenstände oder Ereignisse sind wesentlich sekun-
däre Gegenstände. Für den Psychologen ist zwar das, als was (wie) die
Versuchsperson eine gewisse gegenständliche Konstellation sieht (z. B. als
Pokal oder zwei Köpfe in der Rubinschen Figur) ein wesentlicher Re-
flexionsgegenstand, aber es handelt sich nicht um eine Tätigkeit.
Zum selben Resultat kommen wir, wenn wir die Psychoanalyse
betrachten: auch hier wird keine „Introspektion" oder Reflexion (immer
im wesentlichen Sinne) auf Bewußtseinstätigkeiten durchgeführt; weder

7 Buytendijk, a. a. 0. S. 25.
8 Plessner, Zwischen Philosophie 1md Gesellschaft, S. 142.
Reflexion und Psychologie 27

die psychoanalytische Bewußtmachung, noch die psychoanalytische Theo-


rie beruht auf Bewußtseinsreflexion. Freud erklärt: ,,Die Ichpsychologie,
die wir anstreben, soll nicht auf die Daten unserer Selbstwahrnehmun-
gen, sondern wie bei der Libido9 auf die Analyse der Störungen und
Zerstörungen des Ichs begründet sein. uio Er spricht zwar vom „Bewuß-
ten" als einer der drei „psychischen Qualitäten" (neben dem „Unbewuß-
ten" und „Vorbewußten"), aber das „Bewußte" als solches bzw. die
„Bewußtseinsakte" werden in der Psychoanalyse nicht analysiert, sie
sind überhaupt nicht Gegenstand des Interesses. ,, Was wir bewußt hei-
ßen, brauchen wir nicht· zu charakterisieren, es ist das Nämliche wie das
Bewußtsein der Philosophen und der Volksmeinung. " 11 Aber Freud will
hier nid:it etwa auf die begriffliche Arbeit der Philosophen und der
Volksmeinung verweisen, denn nach seiner Meinung ist das Bewußtsein
überhaupt nicht zu charakterisieren: ,,Bewußtseinsakte sind unmittelbar
gegeben und können uns durch keinerlei Beschreibungen näher gebracht
werden" 12, das Bewußtsein ist eine „jeder Erklärung und Beschreibung
trotzende Tatsache" 13 • Freud versucht im Ausgang von bestimmten Ver-
haltensweisen und bewußten Erlebnisinhalten unbewußte Vorgänge, die
dem Verhalten und diesen Inhalten zugrundeliegen und sie bestimmen,
mit Hilfe von topischen (Bezirke des räumlich ausgedehnt gedachten
psychischen Apparates), dynamischen und ökonomischen (verschiedene
Triebe, Verdrängung, Widerstand, Regression, Energiequantitäten, Ab""
fuhr, Besetzung, Verschiebung, Übertragung, Verdichtung) Begriffen zu
rekonstruieren. Bewußtseinsakte werden dabei nicht als solche thema-
tisch, bzw. die Untersuchung geschieht nicht in der Reflexion auf sie14•

9 Anstatt „Libido" würde Freud in den zwanziger und dreißiger Jahren hier „Es"
sagen, wenn auch nicht mit ganz ·gleicher Bedeutung.
10 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1915-1917), WW XI, S. 438.
11 Abriß der Psychoanalyse, WW XVII, S. 81~
12 A. a. 0., S. 67. ,,Was man bewußt heißen soll, brauchen wir nicht zu erörtern, es
ist jedem Zweifel entzogen." (Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse, WW XV, 76/77).
13 A. a. 0., S. 79.
14 „Die Psychoanalyse erklärt die vorgeblichen somatischen Begleitvorgänge für das
eigentliche Psychische, sieht dabei zunächst von der Qualität des Bewußtseins ab."
(Abriß, S. 80) ,, .•• man muß sich ,daran erinnern, daß all unsere psychologischen
Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen."
(Zur Einführung des Narzißmus, WW X, S.143/44). ,,Während man in der
Bewußtseins-Psychologie nie über jene lückenhaften, offenbar von anderswo abhän-
gigen Reihen hinauskam, hat die andere Auffassung, das Psychische sei an sich
unbewußt, gestattet, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jede andere
auszugestalten. Die Vorgänge, mit denen sie sich beschäftigt, sind an sich ebenso
28 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion

,,In dem Maße, als wir uns zu einer metapsychologischen (d. h. psycho-
analytisch vollendeten15) Betrachtung des Seelenlebens durchringen wol-
len, müssen wir lernen, uns von der Bedeutung des Symptoms ,Bewußt-
heit' zu emanzipieren. "16
Es liegt uns hier fern, die Methoden der verschiedenen Psychologien,
die sich als positive Wissenschaften etablieren wollen, ausreichend zu
beschreiben oder sie gar vorzuschreiben. Wir dürfen aber, immer im
Hinblick auf die Gewinnung der Spezifizität der philosophischen Er-
kenntnisaufgabe, ganz allgemein als Faktum feststellen, daß die Psycho-
logie als positive Wissenschaft ganz darauf tendiert, sich nur auf öffent-
lich beobachtbare und sinnlich vorgebbare Phänomene abzustützen und
darauf ihre Theorien aufzubauen, also sich nicht in der Reflexion auf
Bewußtseinstätigkeiten begründet. Sie untersucht zwar auch Tätigkeiten
und Handlungen, aber nicht in der Reflexion (im wesentlichen Sinn),
sondern als äußerlich beobachtbare Verhaltensweisen unter dem Ge-
sichtspunkt der Anpassung.
Wenn dem so ist, so folgt daraus, daß die Psychologie die Vernunft-
tätigkeit in sich selbst nicht erforschen und erkennen kann. Denn (wie
in der Einleitung angedeutet wurde) die Vernunfttätigkeit erscheint
nicht selbst; sie ist selbst kein leibliches Verhalten wie etwa das sinn-
liche Wahrnehmen, das auch äußerlich als „umweltintentionale Bewe-
gungsgestalt" erscheint. Die Vernunfttätigkeit erscheint, wie gesagt, nur
in ihren sinnlichen Bedingungen, in ihren sinnlichen „Mitteln" und in
ihren sinnlichen Resultaten, aber nicht selbst als Vernunfttätigkeit. Und
dies wird auch durch das Faktum bestätigt, denn man muß sagen: Die
Psychologie als positive Wissenschaft besitzt keinen Begriff der Vernunft
oder (was uns vorläufig gleichviel bedeuten soll) des Verstandes. Das
ist natürlich kein Vorwurf, denn die Psychologie kann aufgrund ihrer
Methode gar nicht zu einem solchen Begriff gelangen. Der Psychologe

unerkennbar wie die anderer Wissenschaften,. der chemischen oder physikalischen,


aber es ist möglich die Gesetze festzustellen, denen sie gehorchen ... " (Abriß, S. 80).
,,Wir haben die technischen Mittel gefunden, um die Lücken unserer Bewußtseins-
phänomene auszufüllen, deren wir uns also bedienen wie die Physiker des Experi-
ments. Wir erschließen auf diesem Wege eine Anzahl von Vorgängen, die an und
für sich ,unerkennbar' sind, schalten sie in die uns bewußten ein und wenn wir
z.B. sagen, hier hat eine unbewußte Erinnerung eingegriffen, so heißt das eben:
Hier ist etwas für uns ganz Unfaßbares vorgefallen, was aber, wenn es uns zum
Bewußtsein·· gekommen wäre, nur so und so hätte beschrieben werden können."
(a. a. 0., S. 127).
11 Das Unbewußte, WW X, S. 280/81.
18 A. a. 0., S. 291.
Die Aktreflexion im gewöhnlichen Leben 29

spricht von „Intelligenz"; dieser psychologische Begriff ist ein Verhal-


tensbegriff, er soll eine besondere Art bzw. Fähigkeit des Verhaltens,
d. h. eine besondere Art des Sich-anpassens an die Umwelt, eine beson-
dere äußerlich beobachtbare Leistung kennzeichnen. Man versucht die-
ses Verhalten, gegenüber dem instinktiven (angeborenen) und dem auf
bloßem Erlernen beruhenden, durch Merkmale zu charakterisieren: etwa
durch die Neuartigkeit seiner Lösung, meistens entsprechend der Neu-
artigkeit der zu bewältigenden Aufgabe, die Allgemeinheit (Übertrag-
barkeit auf verschiedene Situationen), die Plötzlichkeit des Auftretens
nach einer Pause des Anhaltens usw. Diese Pause bezeichnet man psycho-
logisch als „Denken"; auch dieser Begriff ist wesentlich ein Verhaltens..,
begriff, er bedeutet etwa einen „Aufschub der motorischen Entladun-
gen", eine „Orientierungspause" und ein Durchführen von „Probehand-
lungen". All dieses Verhalten wird betrachtet als leiblich (auch stimm-
lich) erscheinendes phänomenal beobachtbares Tun. Auch dort, wo man
sich vornimmt, etwa in Art Piagets, die Begriffsbildung bei Kindern zu
studieren, beobachtet man äußerlich (,,objektiv") das Umgehen mit Wor-
ten in bestimmten Situationen. Der Psychologe gebraucht seinen Begriff
der Intelligenz und des Denkens auch bei höheren Tieren. Was „hinter"
oder „in" dem intelligenten Verhalten an (nur reflexiv erfaßbaren)
Bewußtseinsakten liegen könnte, ist außerhalb seines thematischen Hori-
zontes. Zu erkennen, was Vernunft oder Verstand ist, ja schon der
bloße Begriff davon, liegt ihm als Psychologen fern, wenn er ihn. auch
im gewöhnlichen, unwissenschaftlichen Leben mit seinen Mitmenschen
im Hinblick auf diese und sich selbst verwendet.

§ 9 Die Aktrefiexion im gewöhnlichen Leben

In unserem gewöhnlichen, alltäglichen Leben vollziehen wir Reflexio-


nen auf unsere Akte, doch nur in latenter, hybrider17 Weise. Wir.kön-
nen etwa auf unsere Akte des Wahrnehmens, Empfindens, Phantasierens,
Erinnerns, Einfühlens, De11kens und Sprechens reflektieren .. Es ~a.nclelt
sich dabei durchaus um den wesentlichen Reflexionsbegriff: ein rück-
kehrendes Thematisieren von ~twas in einer Tätigkeit, das im Vollzug
dieser Tätigkeit nicht thematisch sein konnte. Im aktuellen Vollzug einer

17 Es ist vielleicht nützlich zu bemerken, daß "hybrid" sich nicht vpm gri~chischen
ilßtn; (Stolz), sondern vom lateinischen hybrida (von zweierlei Herkunft, •zwitter)
herleitet.
30 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion

Tätigkeit können wir ja nicht auf diese Tätigkeit selbst reflektieren,


sondern wir halten notwendig mit dieser Tätigkeit an, wenn wir auf
sie eine Reflexion vollziehen; diese macht gegenüber der reflektierten
Tätigkeit einen neuen Akt aus, der im Vollzug selbst wiederum nicht
thematisch ist, sondern nur in einem weiteren Reflexionsakt themati-
siert werden kann.
Doch diese Reflexion ist im gewöhnlichen Leben latent und hybrid:
Wenn wir auf unsere Tätigkeiten reflektieren, betrachten wir uns zu-
gleich von außen, gewissermaßen mit fremden Augen. Wir fassen uns
in unserem Tun so auf, wie wir dabei für unsere Mitmenschen aus-
sehen, bzw. wir sehen unser eigenes Tun im Bilde des äußerlich sicht-
baren Tuns der Anderen. Während wir also im gewöhnlichen Leben
auf unser Tun reflektieren, ist für uns dieses Tun, selbst wenn es als
solches nicht erscheinen kann, vorstellungsmäßig immer in Deckung mit
äußerlich sichtbarem, phänomenalem Tun; wir fassen unser Tun immer
auf, bzw. es gilt uns, als intersubjektives Phänomen: Ich „sehe" mich
(ich fasse mich auf) als einen sich verhaltenden Menschen unter anderen
Menschen und Dingen seiner Umwelt, so wie ich einem äußeren Be-
trachter sinnlich erscheine; ich „projiziere" gewissermaßen meine Tätig-
keit .ins Phänomenale. Meine Reflexion auf meine Tätigkeit ist also im
gewöhnlichen Leben immer vermischt und verdeckt durch die in sich
nicht reflexive Vorstellung (durch das „Bild") äußerlich erscheinenden
Tuns. Daher ist die Aktreflexion im natürlichen, d. h. an die sinnliche
Natur sich haltenden Leben nie rein vollzogen und auch nie konsequent,
sondern immer in sinnlichen, phänomenalen Vorstellungen befangen.
Wenn wir in dieser natürlichen Einstellung zu „philosophieren" be-
ginnen, wenn wir uns etwa fragen, was Erkenntnis sei, bzw. wie wir zur
Erkenntnis außer uns seiender „Dinge" gelangen, so geraten wir dabei
un_vermeidlich in Antinomien. Denn wir fragen uns, wie wir zu einer
erscheinenden Objektivität gelangen, und denken uns dabei dieses Ge-
langen in phänomenalen Vorstellungen, die doch allererst in diesem
Tun zustande kommen.
Das natürliche Leben enthält zweifelsohne aktreflexive Momente.
Insofern ist es der Philosophie näher als die Psychologie, die gerade alle
diese Momente zugunsten des phänomenal erscheinenden Verhaltens
auszuklammern versucht. In dem Maße, in dem das gewöhnliche Leben
solche reflexive Momente enthält, ist es selbst schon philosophisch, wenn
auch in verdeckter~ vermengender, unvermeidlich Widersprüche impli-
zierender Weise. Diese natürliche „Philosophie" ist eben nicht konse-
Die reine oder philosophische Reflexion 31

quent und rein sich selbst, sie geht nicht ihren eigenen Weg, ihre eigene
Methode, sondern sie ist latent und hybrid, verdeckt und vermischt durch
fremde, d. h. nicht der Aktreflexion selbst entstammende sinnlich-phä-
nomenale Vorstellungen. Analog wie die Psychologie, um sich selbst, d. h.
positive Wissenschaft, zu werden, von den aktreflexiven Momenten
absehen muß, um sich rein auf das äußerlich beobachtbare, phänomenale
Verhalten zu stützen, so müßte das natürliche „Philosophieren", um
Philosophie zu werden, die phänomenalen Vorstellungen ausklammern,
um sich rein in der Aktreflexion zu halten.

§ 10 Die Forderung der philosophischen Ausschaltung


oder Reduktion der Phänomenalität.
Die reine oder philosophische Refiexion

Zur Gewinnung des Gegenstandes der philosophischen Frage, bzw.


zum Vollzug der reinen, philosophischen Reflexion ist die Ausschaltung
der sinnlich-phänomenalen Selbstvorstellung, der sinnlich-phänomenalen
Vorstellung der eigenen Tätigkeit gefordert. Bevor wir diese Forderung
erheben, gilt es vorerst, die formale Struktur der sinnlichen Phänomena-
lität zu kennzeichnen, damit wir an dieser Struktur sozusagen über eine
Handhabe verfügen, an der wir die Phänomenalität fassen und uns im
Vollzug der Aktreflexion von ihr befreien können.
Die universale Form der Phänomenalität ist das räumliche und zeit-
liche Außereinander, die Struktur partes extra partes: Die verschiedenen
Teile einer räumlichen Figur oder die verschiedenen Elemente einer
räumlichen Konstellation liegen außereinander, mögen sie miteinander
auch kausal verbunden sein. Ein Ort befindet sich außerhalb des anderen,
ein Gebiet außerhalb des anderen, und in einem Gebiet sind selbst wie-
der außereinanderliegende Gebiete unterscheidbar. Ebenso stehen die
verschiedenen Abschnitte einer phänomenalen zeitlichen Folge oder
Dauer oder eines zeitlichen Ablaufes im Verhältnis des Außereinander:
eine Stunde liegt außerhalb der ihr vorangehenden und umgekehrt, und
in ihr selbst stehen die Teile im selben äußerlichen Verhältnis.
Wenn ich mir also meine Tätigkeiten phänomenal vorstelle, so liegt
darin in doppeltem Sinne eine Äußerlichkeit: Einmal stelle ich mein Tun
vor in seinem sinnlichen Aussehen (Erscheinen) für irgendeinen fremden,
äußeren Beobachter, auf dessen Gesichtspunkt ich mich dadurch stelle;
und weiter betrachte ich damit meine Tätigkeit im phänomenalen Außer-
32 »Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion

einander als räumliche Bewegungsfigur oder als zeitlichen Ablauf oder


zeitliche Dauer (Zeitkontinuum).
Diese doppelte Äußerlichkeit der Phänomenalität soll zur Gewin-
nung des philosophischen Gegenstandes bzw. der reinen Aktreflexion
ausgeschaltet werden. Halten wir uns, um uns in diesem entscheidenden,
für die Philosophie grundlegenden Schritt zu bestärken, an einen erfah-
renen Philosophen, an Kant. In seiner Dissertation von 1770, die der
Methode der reinen Philosophie oder Metaphysik gewidmet ist, erklärt
Kant: ,,Die ganze Methode der Metaphysik in Ansehung des Sinnlichen
und des Intellektuellen läuft auf diese mächtigste Grundregel hinaus:
Man muß sorgfältig verhüten, daß nicht die eigenen Prinzipien der sinn-
lichen Erkenntnis ihre Grenzen überschreiten und die intellektuellen
beeinflussen. " 18 Die Anwendung einer sinnlichen Vorstellung (eines sinn-
lichen Prädikats) auf einen intellektuellen Gegenstand bezeichnet Kant
als einen „metaphysischen Erschleichungsfehler" (vitium subreptionis
metaphysicum) oder als ein intellektuiertes Phänomen (phaenomenon in-
tellectuatum), und ein solch „bastardiges" (hybridum) Axiom, ,,das Sinn-
liches für etwas dem intellektuellen Begriff notwendig Anhängendes
verkauft", nennt er ein „erschlichenes Axiom" (axioma sitbrepticium).
Um nun für solche erschlichenen Axiome, aus denen die in der Meta-
physik so grassierenden Täuschungen (und Antinomien!) stammen, einen
,,Prüfstein" (Lapis Lydium) zu haben, stellt Kant folgendes Prinzip auf:
„Das PRINZIP DER REDUKTION eines jeden erschlichenen Axioms
lautet: Wenn von irgendeinem intellektuellen Begriff etwas allgemein
ausgesagt wird, was zu den Verhältnissen DES RAUMES UND DER
ZEIT gehört, darf es nicht objektiv ausgesprochen werden und bezeich-
net nichts als die Bedingung, ohne die der gegebene Begriff nicht sinnlich
erleennbar ist. "19
Da wir von der These ausgegangen sind, daß die Vernunfttätigkeit
als solche nicht sinnlich erscheint, also nicht in der Phänomenalität, son-
dern nur durch reine Vernunft erkennbar ist, wollen wir uns das Kan-

18 De mrmdi sensibilis atque intelligibilis forma et prineipiis, § 24: ,,Omnis meta-


physicae circa scnsitiva atque intellectua!ia mcthodus ad hoc potissimum praeceptum
redit: sollicite cavcndum esse, ne principia sensitivae cognitionis domestica terminos
suos migrcm ac intcllectualia affici~nr."
19 A. a. 0., § 25: ,,En igitur PRINCIPIUM REDUCTIONIS axiomatis cuius!ibet
subrcpticii:, si de conccptu quocunque intellectuali generaliter quicquam praedicatur,
quod perrinct ad rcspectus SPATII ATQUE TEMPORIS: obiective non est
enumia:ndum 'et non denotat nisi condicionem, sine qua conceptus datus sensitive
cognoscibilis non est."
Die reine oder philosophische Reflexion 33

tisme Prinzip der Reduktion aneignen, demgemäß zur Erkenntnis eines


intellektuellen Gegenstandes die phänomenale Räumlimkeit und Zeit-
limkeit ausgesmaltet werden muß. Wie eine solme Erkenntnis positiv
möglim ist, werden wir allerdings gegenüber Kant selbst zu zeigen
haben20•
Für diese Reduktion der Phänomenalität habe im an Kant appel-
liert. Es hätte näher gelegen, Busserls Methode der Epome und tran-
szendentalen Reduktion herbeizuziehen. Denn als der innerste Gedanke
dieses Husserlsmen Vorgehens ist. simer die Einsimt zu betramten, .daß
die reflexiv erfaßte Bewußtseinstätigkeit nimt in den Formen oder
Kategorien der sinnlim vorgegebenen Welt zu denken ist, daß ,also der
Philosoph in der Bewußtseinsanalyse sim der sinnlimen Welt zu ent-
halten, sie »auszusmalten~• oder »einzuklammern" habe, um sim gegen
die Gefahr einer Metabasis in hybriden Fragen und Urteilen zu simern.
Dieser Gedanke ist allerdings bei Husserl versmmolzen oder zumindest
assoziiert mit einer Art Cartesianismer Zweifelsbetramtung. Diese Car-
tesianisme Idee mömte im hier ganz fernhalten, und darum konnte im
nimt einfach Busserl ins Spiel bringen, sondern wollte mim vorerst an
Kant orientieren.
Um genauer zu verstehen zu geben, was ich unter der als Bedingung
der Reinheit der Aktreflexion geforderten Aussmaltung der raumzeit-
limen Phänomenalität verstanden haben mömte, ist nun aber eine. Dis,-
kussion mit Husserl, oder genauer, mit einem gewissen Husserl von gro-
ßem Nutzen: Husserl fordert in seiner transzendentalen Reduktion
bekanntlich eine „Außer-Geltung-Setzung" der Welt, eine Einbeziehung
der Existenz der Welt in den „Cartesianismen Umsturz", eine „Enthal-
tung von der natürlimen Setzung (Thesis) der Welt." Eine solme metho.,.
disme Enthaltung oder Außer-Geltung-Setzung der sinnlich vorgegebe-
nen Welt ist nun aber, schlechthin verstanden, gar nicht möglich, und
zwar nicht nur im gewöhnlimen Leben (in das nach Husserl auch der
Philosoph wieder „zurückkehren" muß); sie ist nicht nur zwecklos, son-
dern unmöglim auch im Philosophieren selbst. Wenn im in voller Kon-
zentration und Reinheit philosophische Reflexion übe, so weiß im dom
ganz zuverlässig, daß. im hier in meinem Zimmer. auf einem Stuhl sitze,
daß im nun bald werde hinausgehen müssen, um Mittag zu essen usw.;
all das »weiß" im in meiner Leiblimkeit, und meine sinnlime Erfahrungs-
umwelt behält während der philosophismen Reflexion immer ihr Dasein.

10 Dies wird erst im 1. Kapitel des 3. Abschnittes möglich sein.


34 „Natürliche" Reflexionen und reine Reflexion

Mehr noch, das Papier, auf das ich evtl. meine philosophischen Reflexio~
nen niederschreibe, und die Worte und Schriftzeichen, in denen ich sie sage
und festhalte, all dies gilt mir nicht nur während meiner philosophischen
Reflexion als sinnliche Realität, sondern ich benutze sie sogar als das
in meiner philosophischen Arbeit. Nichts wäre verfehlter, als sich die
für die Reinheit der philosophischen Reflexion notwendige Ausschaltung
der Phänomenalität als eine »Neutralisierung" der phänomenalen Welt,
als eine Art „ekstatischer" Hinwegsetzung über ihre Wirklichkeit vor-
zustellen. Diese Ausschaltung ändert nichts an der Existenz der phäno-
menalen Welt, sie modalisiert sie in keiner Weise. Wir können nicht
einfach durch eine methodische Direktive das Dasein der Welt für uns
,,neutralisieren", ,,dahingestellt sein lassen." Es wird im nächsten Ab-
schnitt zu zeigen sein, daß sich alle Vernunftreflexion notwendig auf
dem Boden der sinnlichen Position hält. Das bedeutet nun aber keines-
wegs, daß reine Aktreflexion nicht möglich wäre, daß diese ihr Thema
notwendig in den phänomenalen Raum-Zeit-Strukturen denken müßte.
Das raumzeitliche Außereinander kann sehr wohl vom Thema der
philosophischen Reflexion ferngehalten werden, und die geforderte Aus-
schaltung bedeutet nichts anderes als diese thematische Ausschaltung.
Wenn mir während der philosophischen Reflexion meine phänomenale
Umwelt, meine schriftlich ausgebreiteten Sätze etc. in ihrer Phänomenali-
tät voll gelten, so bedeutet das nicht, daß ich damit schon das Thema
meines philosophischen Interesses, die Bewußtseinstätigkeiten, durch die
raumzeitliche Phänomenalität affiziere. Die phänomenale Umwelt, die
Schriftzeichen etc. gehören ja als solche nicht in mein philosophisches
Thema. Daß die zur rein reflexiven Erfassung des Bewußtseins erfor-
derliche Reduktion der sinnlichen Vorgegebenheit nichts anderes als eine
thematische sein könne, dieser Gedanke drängt auch bei Busserl selbst
immer wieder durch, und er hat auch selbst die von ihm in seinen Ideen
vollzogene Parallelisierung von phänomenologischer Epoche und Neu-
tralitätsmodifikation der Welt zurückgezogen21 • Die von der Philosophie
geforderte Reduktion der phänomenalen Raumzeitlichkeit kann nichts
anderes sein als die Befreiung (Reinigung) ihres Forsdmngsgegenstandes
von der Oberlagerung des sinnlichen Scheins (sinnlichen Auffassung),
mit dem wir im natürlichen, den öffentlichen Phänomenen zugewandten
Leben unvermeidlich die in der Reflexion sich meldenden Akte ver-

21 Cf. Husserliana III, Textkritischer Anhang, S. 479.


Die reine oder philosophische Reflexion 35

decken. Sie bezweckt nichts anderes als eine unvermischte, reine Thema-
tik, eine unvermischte, reine Fragestellung.
Wenn wir in der Philosophie die phänomenale Raumzeitlichkeit aus-
schalten, so bedeutet das nun aber nicht, daß wir in ihr über diese über-
haupt nicht mehr sprechen. Auch die Philosophie spricht von der phäno-
menalen Welt, aber allerdings nur in ganz bestimmter Hinsicht: in Hin-
sicht auf ihren Forschungsgegenstand, die Vernunfttätigkeit. Die reflexiv
zu erfassende Bewußtseinstätigkeit nimmt ja die Phänomene wahr, er-
innert sich solcher, fällt Urteile über sie usw. Von der Bewußtseins-
tätigkeit ist reflexiv nicht zu reden ohne Bezugnahme auf die sinnlich
erscheinende Welt, mit der es jene zu tun hat. Diese Bezugnahme muß
aber nicht bedeuten, und darf in der philosophischen Reflexion nicht
bedeuten, daß die reflektierten Tätigkeiten selbst der Phänomenalität
eingeordnet, also selbst in der phänomenalen Form des Außereinander
gedacht werden. Um mit Busserl zu reden, der diesen Sachverhalt in
aller Deutlichkeit ausgesprochen hat, die Phänomenalität ist in der reinen
Reflexion nur „intentionales Korrelat" der Akte.
Wir haben in diesem Kapitel einen wesentlichen Begriff der Reflexion
angegeben, wir haben die Aktreflexion, die eine Art der wesentlichen
Reflexion ist, der „äußeren" phänomenalen Erfassung der Tätigkeit
gegenübergestellt und wir haben gefordert, daß in der reinen Akt-
reflexion die Phänomenalität „reduziert" werden müsse. Diese Aus-
schaltung ist nun aber nicht schon eine Bestimmung der reinen Akt-
reflexion selbst. Bis jetzt ist nicht positiv ausgemacht, was diese sei, bzw.
wie sie möglich sei. Da diese reine Reflexion ein Vernunftakt ist, können
wir nur aufgrund ihres Vollzugs erkennen, was sie ist. Bis jetzt ging es
nur darum, dem Leser diesen Vollzug nahezubringen. Erst im dritten
Abschnitt werden wir die reine Reflexion zum Gegenstand rein reflexiver
Untersuchungen machen.
2. Kapitel
Der transzendentale Grund der Phänomenalität
§ 11 Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit

Wir haben die Forderung gestellt, in der reinen Reflexion auf die
Akte, die in solcher Betrachtung als Bewußtsein angesprochen werden
können, die Phänomenalität (das räumliche und zeitliche Außereinan-
der) auszuschalten. Diese Ausschaltung durchzuhalten, ist nun aber
keineswegs leicht, denn sobald wir in der reinen Reflexion auf den so
freigelegten Gegenstand der Philosophie einzugehen versuchen, stoßen
wir auf Sachlagen, die uns nur allzuleicht verführen, ja, uns geradezu
suggerieren, jene vorerst ausgeschaltete phänomenale Form des Außer-
einander dem sich neu Zeigenden doch wiederum irgendwie, sei es auch
nur in einem verhüllten oder rudimentären Zustande, zu unterschieben.
Sowohl diese Verführungen als auch die ihnen zugrundeliegenden ver-
führerischen Sachlagen können wir uns am besten am Beispiel von
Busserls Denkweg vor Augen führen. Damit tun wir zugleich erste,
entscheidende Blicke in die Domäne, die uns die reine Aktreflexion ;f
eröffnet. Allerdings könnten diese sich mit Busserl auseinandersetzenden
Ausführungen im jetzigen Moment unserer Gedankenentwicklung einem :i
Leser, der mit der Zeitproblematik der neuen Phänomenologie nicht
einigermaßen vertraut ist, Verständnisschwierigkeiten bereiten. Solchen
Lesern kann ohne Gefahr, den Gedankenzusammenhang zu verlieren,
empfohlen werden, die Paragraphen dieses Kapitels (§§ 11-15) vor-
läufig zu überspringen und gleich mit dem II. Abschnitt weiterzufahren,

1
um dann erst nach dem 1. Kapitel des III. Abschnittes (nach dem Kapitel 1
über reine Reflexion, also an analoger Stelle im ausgearbeiteten Metho-

denabschnitt III wie in diesem ersten, vorläufigen Abschnitt) mit besserer
Vorbereitung diese, wie mir scheint, wichtigen, aber historisch etwas
belasteten§§ 11-15 nachzuholen.
In seinen Ideen und auch in anderen Texten schreibt Busserl dem
durch die „phlinomenologischen Reduktionen" gewonnenen „transzen-
dentalen Bewußtseinsstrom" die Form der objektiven Zeit, des „endlosen
-•
:II

.
!■
;


Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit 37

Kontinuums von Dauern", zu1 • Er hält zwar vom transzendentalen


Bewußtsein alle objektive Raumzeit oder „transzendente" Zeit fern 2,
faßt es aber in eine von ihm immanent genannte objektive Zeitform.
Diese immanente Zeit besitzt nun aber nicht weniger die formale Struk-
tur der Phänomenalität als die transzendente, die Raumzeit. Es ist zwar
vielleicht denkbar, daß sich in der Erfahrung eines Bewußtseins gar
keine phänomenale äußere Räumlichkeit (und damit auch keine durch
Bewegung meßbare Raumzeit) konstituierte und daß es sich doch z.B.
aufgrund regelmäßig sukzessiv wiederkehrender, ohne räumliche Tran-
szendenz erlebter gleicher Töne oder Schmerz- und Lustempfindungen
nicht nur die Idee eines sukzessiven, in seinen einzelnen Abschnitten
identifizierbaren und unterscheidbaren Zeitkontinuums bilden, sondern
diese Abschnitte auch mit Hilfe jener zum Maß genommenen Regel-
mäßigkeit (z.B. der Regelmäßigkeit eines „Taktschlages") messen
könnte. Kants Gedanke, der schon in der ersten Auflage der Kritik der
reinen Vernunft angelegt ist3, aber erst in der transzendentalen Deduk-
tion der zweiten Auflage und besonders in ihrer Widerlegung des psycho-
logischen Idealismus (des „problematischen Idealismus" Descartes') voll
entfaltet wird, der Gedanke, daß die empirische Zeitbestimmung, meines
Daseins in der inneren Anschauung (im inneren Sinn) nur aufgrurid der
„äußeren Ansd1auung" von (räumlichen) ,,Dingen außer mir" möglich
sei4, scheint insofern nicht zutreffend. Es könnte also sehr wohl eine

1 Ideen I, (H11sserliana III), S. 198: ,,Die Wesenseigenschaft, die der Titel Zeitlich-
keit für Erlebnisse überhaupt ausdrückt, bezeichnet nicht nur ein allgemein zu
jedem einzelnen Erlebnis Gehöriges, sondern eine Erlebnisse mit Erlebnissen ver-
bindende notwendige Form. Jedes wirkliche Erlebnis (wir vollziehen diese Evidenz
auf Grund der klaren Intuition einer Erlebniswirklichkeit) ist notwendig ein
dauerndes; und mit dieser Dauer ordnet es sich einem endlosen Kontinuum von
Dauern ein - einem erfüllten Kontinuum."
,,Wohl zu beachten ist der Unterschied dieser phänomenologischen Zeit, dieser .ein-
heitlichen Form aller Erlebnisse in einem Erlebnisstrome ( dem eines reinen Ich)
und der ,objektiven', d. i. kosmischen Zeit. Durch die phänomenologische Reduktion
hat das Bewußtsein nicht nur seine apperzeptive ,Anknüpfung' (was freilich ein
Bild ist) an die materielle Realität und seine, wenn auch sekundäre Einbeziehung in
den Raum eingebüßt, sondern auch seine Einordnung in die kosmische Zeit. Die-
jenige Zeit, die wescnsmäßig zum Erlebnis als solchem gehört, mit ihren Gegcbcn-
heitsmodis des Jetzt, Vorher, Nachher; des. durch sie modal bestimmten Zugleich,
Nacheinander usw., ist durch keinen Sonnenstand, durch keine Uhr, durch keine
physischen Mittel zu messen und überhaupt nicht zu messen." (a. a. O., S. 196/7).
3 Nämlich im Schematismuskapitel und besonders in den Analogien der Erfahrung.
4 Kritik der reinen Vernunft, B 39 ff. (Anm.) und 'B 274-279. Vgl. die Ausführung~n
in der transzendentalen Deduktion (2. Auflage), ,,daß wir die Zeit, die doch gar
kein Gegenstand äußerer Anschauung ist,. uns nicht anders vorstellig machen können,
38 Der transzendentale Grund der Phänomenalität

immanente Zeit von einer transzendenten (räumlichen) Zeit geschieden


werden. Auch wäre die Frage, ob eine bloß immanente Zeit eine inter-
subjektive (in diesem Sinne „objektive") Zeit sein könnte, was von der
Beantwortung der Frage abhängt, ob die Raumkonstitution eine not-
wendige Voraussetzung intersubjektiver Konstitution ist. Insofern sehe
ich aber in Kants Gedanken eine Wahrheit, als objektive immanente und
objektive transzendente Zeit miteinander völlig übereinstimmen, sich
decken, d. h. genau dieselbe Form sind: Die Erlebnisse im immanenten
Kontinuum von Dauern sind im vollen Sinn gleichzeitig mit räumlichen
Geschehnissen, diese objektive immanente Zeit hat dieselbe Struktur des
Außereinander wie die Raumzeit. Um mit Kant zu reden: ,,Dieses
Bewußtsein meines Daseins in der Zeit ist also mit dem Bewußtsein
eines Verhältnisses zu etwas außer mir identisch verbunden ... ". 5
Wenn Husserl auch das absolute oder transzendentale (reine) Be-
wußtsein in die Form der objektiven immanenten Zeit (endloses Kon-
tinuum von Dauern) faßt, so ist er sich doch schon in den Ideen selbst
des Ungenügens dieser Bestimmung, sozusagen ihrer Oberflächlichkeit,
völlig bewußt und fragt sich später auch in selbstkritischen Bemerkun-
gen, ob es aus philosophischen Gründen nicht falsch war, in den Ideen es
bei dieser Oberflächlichkeit der Auffassung des reinen Bewußtseins be-
wenden zu lassen. Sowohl im ersten wie im zweiten Band der Ideen
erklärt er, daß die immanente Zeit, der reine Erlebnisstrom, die Erleb-
nisse als Einheiten einer Dauer selbst schon in einem Bewußtsein eines
anderen Sinnes, im wahrhaft Absoluten, ,,in einem gewissen tiefliegen-
den und völlig eigenartigen Sinn" konstituiert sind6• Das Bewußtsein im

als. unter dem Bilde einer Linie, sofern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart
wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen können, imgleichen daß wir die
Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der Zeitstellen für alle inneren Wahrnehmungen
immer. von· dem hernehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches dar-
stellen; folglich die Bestimmungen des inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als
Erscheinungen in. der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Raume
ordnen ••• " (B 156).
5 A. a. 0., B 39 (Anm.)
6 „Das transzendentale ,Absolute', das wir durch die Reduktionen herauspräpariert
haben, ist in Wahrheit nicht das Letzte, es ist etwas, das sich selbst in einem gewissen
tiefliegenden und völlig eigenartigen Sinn konstituiert und seine Urquelle in einem
letzten und wahrhaft Absoluten hat." (Ideen 1, S. 198) ,,Es ist übrigens zu beachten,
daß die Einheiten,. die wir hier überall betrachten, so z. B. das identische cogito,
als Einheiten einer Dauer, in ihr sich .so und so wandelnd, eben selbst schon
bewußtseinsmäßig konstituierte Einheiten sind, nämlich sich konstituierend in einem
tieferen, entsprechend mannigfaltigen ,Bewußtsein' eines anderen Sinnes, in dem all
das, was wir bisher ,Bewußtsein' oder Erlebnis nannten, nicht reell vorkommt,
Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Zeit 39

absoluten Sinn hat nach Busserl nicht die Ausbreitung, das Außerein-
ander eines „ endlosen Kontinuums von Dauern". In seinen letzten
Jahren „radikalisierte" Busserl die Methode der transzendental-phäno-
menologischen Reduktion; sie führt nun nicht mehr auf den zeitlich aus-
gebreiteten Bewußtseinsstrom, sondern auf die „strömend-lebendige
Gegenwart" 7, auf die „urtümliche stehend-strömende Vorgegenwart" 8,
auf die „Urgegenwart, die keine Zeitmodalität ist" 9 ; nur diese „Gegen-
wart" ist nac,.1i dem späten Busserl „absolute, eigentlichste, urzeugende
Wirklichkeit" .10
Wie ist nun aber nach Busserl dieses Bewußtsein im absoluten Sinne,
in dem sich das Bewußtsein der Form eines Kontinuums von Dauern
konstituiert, zu denken? Einerseits unterliegt Busserl, allerdings nur in
früherer Zeit, dem phänomenalen Schein, indem er auch noch das Be-
wußtsein im absoluten Sinne der phänomenalen Zeitform einordnet: er
spricht von der „Gleichzeitigkeit" (im doppelten Sinn: ,,zugleich" und
,,zur gleichen Zeit gehörig") von zeitlich Konstituiertem und zeitkon-
stituierendem Bewußtsein; das zeitkonstituierende Bewußtsein scheint
selbst in der Zeit zu sein11 • Andererseits aber negiert Busserl auch eine

sondern als Einheit der ,immanenten Zeit', mit der es sich selbst konstituiert. Dieses
tiefste, die immanente Zeit und alle ihr eingeordneten Erlebniseinheiten, darunter
alles cogito konstituierende Bewußtsein, haben wir absichtlich in dieser Abhandlung
außer Betracht gelassen und unsere Untersuchung durchaus innerhalb der immanen-
ten Zeitlichkeit gehalten." (Ideen II, S. 102/3).
7 Im Ms. C 3, S. 3 a ff. (August 1930) identifiziert Husserl transzendentale Reduktion
und Reduktion auf die lebendig strömende Gegenwart.
8 Husserliana XV, S. 667/8.
0 Ebenda.
10 A. a. 0., S. 348.
11 „Ferner gehört zum apriorischen Wesen der Sachlage, daß Empfindung, Auffassung,
Stellungnahme, daß alles an demselben Zeitfluß mitbeteiligt ist und daß notwendig
die objektivierte absolute Zeit identisch dieselbe ist wie die Zeit, die zur Empfin-
dung und Auffassung gehört. Die vorobjektivierte Zeit, die zur Empfindung gehört,
fundiert notwendig die einzige Möglichkeit einer Zeitstellenobjektivation, die der
Modifikation der Empfindung und dem Grade dieser Modifikation entspricht. Dem
objektivierten Zeitpunkt etwa, in dem ein Glockengeläute beginnt, entspricht der
Zeitpunkt der entsprechenden Empfindung. Sie hat in der Anfangsphase dieselbe
Zeit, d. h. wird sie nachträglich zum Gegenstand gemacht, so erhält sie notwendig
die Zeitstelle, die mit der entsprechenden Zeitstelle des Glockengeläutes zusammen-
fällt. Ebenso ist die Zeit der Wahrnehmung und die Zeit des Wahrgenommenen
identisch dieselbe." (Husserliana X, S. 72 (1905)) ,,Schalten wir jetzt die tran-
szendenten Objekte aus und fragen wir, wie es in der immanenten Sphäre mit der
Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung und Wahrgenommenem steht. Fassen wir
\Y/ ahrnehmung hier auf als den Akt der Reflexion, in dem immanente Einheiten
40 Der transzendentale Grund der Phänomcnalität

solche Gleichzeitigkeit12 : ,,Es fragt sich, ob es einen Sinn hat, im wirk-


lichen und eigentlichen Sinn zu sagen, daß die konstituierenden Erschei-
nungen des Zeitbewußtseins (des inneren Zeitbewußtseins) selbst in die
(immanente) Zeit fallen" 13 ; Husserl spricht vom „absoluten zeitlosen
Bewußtsein" 14 , das Zeit konstituiert, selbst aber nicht in der Form der

zur Gegebenheit kommen, so setzt er voraus, daß bereits etwas konstituiert - und
retentional erhalten - ist, worauf er zurückblicken kann: dann folgt (!) also die
Wahrnehmung auf das Wahrgenommene und ist nicht mit ihm gleichzeitig. Nun
setzen aber - wie wir gesehen haben - Reflexion und Retention das impressionale
,innere Bewußtsein' des betreffenden immanenten Datums in seiner ursprünglichen
Konstitution voraus, und dieses ist mit den jeweiligen Urimpressionen konkret
eins, von ihnen untrennbar: Wollen wir auch das ,innere Bewußtsein' als ,Wahr-
nehmung' bezeichnen, so haben wir hier in der Tat strenge Gleichzeitigkeit von
Wahrnehmung und Wahrgenommenem~ (a. a. O,,. S. 110/11). ,,Im Gegenstands-
bewußtsein lebend blicke ich in die Vergangenheit vom Jetztpunkt aus zurück.
Andererseits kann ich das ganze Gegenstandsbewußtsein als ein Jetzt fassen und
sagen: Jetzt. Ich erhasche den Moment und fasse das ganze Bewußtsein als ein
Zusammen, als ein Zugleich. Ich höre soeben einen langen Pfiff. Er ist wie eine
gedehnte Linie. In dem Moment habe ich haltgemacht, und von da aus dehnt sich
die Linie. Der Blick dieses Moments umfaßt eine ganze Linie, und das Linienbewußt-
sein wird als gleichzeitig gefaßt mit dem Jetztpunkt des Pfiffs" (a. a. 0., S. 112). ,,Ein
erhaschender Blick kann, wie auf den Fluß der Tonphasen, so auf die Kontinuität
derselben im Jetzt des Erscheinens achten, in dem sich das Dinglich-Objektive dar-
stellt, und wieder auf die li.nderungskontinuität dieser Momentankontinuität. Und
die ·Zeit dieser ,li.nderung' ist dieselbe wie die Zeit des Objektiven. Handelt es sich
·z, B; um einen unveränderten Ton, so ist die subjektive Zeitdauer des immanenten
Tones identisch mit der Zeiterstreckung der Kontinuität der Erscheinungsänderung"
(a. a. 0., S. 113); Vgl. dazu auch, was R. Ingarden über seine Gespräche mit Busserl
in den Jahren 1917/18 berichtet: ,, ... eines Tages sagte er mir wörtlich: ,Ja, wissen
Sie, es ist eine tolle Geschichte. Es gibt da einen teuflischen Zirkel: die ursprüng-
lichen zeitkonstituierenden Erlebnisse sind selbst wiederum in der Zeit'." (Edmund
Husserl, Briefe an Roman lngarden, Phaenomenologica 25, Nijhoff 1968, S. 122)
12 "Wir sprechen aus sehr ernsten Gründen nicht von einer Zeit des Bewußtseins,
fassen die Urempfiridungen als Bewußtsein von einer Gleichzeitigkeit, nämlich des
Tones, der Farbe und was immer sei in einem und demselben ,aktuellen Jetzt',
nennen sie selbst aber nicht gleichzeitig, und erst recht nennen wir die Phasen des
Zeitstrecken-Zugleich nicht gleichzeitige Bewußtseinsphasen, ebensowenig wie wir
die Aufeinanderfolge des Bewußtseins eine zeitliche Folge nennen" (a. a. 0., S. 375/
76); »Liegt eine Absurdität darin, daß der Zeitfluß wie eine objektive Bewegung
angesehen wird? Ja! Andererseits ist dod1 Erinnerung etwas, das selbst sein Jetzt
hat, und dasselbe Jetzt etwa wie ein Ton. Nein. Da steckt der Grundfehler. Der
Fluß der Bewußtseinsmodi ist kein Vorgang, das Jetzt-Bewußtsein ist nicht selbst
jetzt. Das mit dem Jetzt-Bewußtsein ,zusammen' Seiende der Retention ist nicht
,jetzt', ist nicht gleichzeitig mit dem Jetzt, was vielmehr keinen Sinn gibt" (a. a. 0.,
s. 333).
13 A. a. 0., S. 369.
14 A. a. 0., S. 112, 334.
Phänomenale und präphänomenalc (transzendentale) Zeit 41

Gleichzeitigkeit und der zeitlichen Folge oder Dauer steht15 • Aber auch
diese Negation ist nicht Busserls letztes Wort. Denn er bezeichnet
schließlich das absolute Bewußtsein als „absoluten Übergang" oder „ab-
solutes übergehen" 16, als „ständigen Wandel" 17 oder in paradoxer Form
als eine Veränderung oder Knderungskontinuität, die keine Verände-
rung ist 18 , als „unzeitliche Aufeinanderfolge" 10 und gebraucht dafür das
Bild des „beständigen Flusses" 20 oder des stetigen Strömens. Dieser
„absolute Übergang" oder „Fluß" ist nichts zeitlich Objektives 21 , er ist
nicht selbst eine Gegenwart, ein Jetzt, das gegenübersteht22 , er geschieht
nicht in der immanenten Zeit, er ist überhaupt nicht zeitlich konstituiert.
In diesem Sinne ist er, möchte ich beifügen, kein Phänomen (im Kan-
tischen Sinne). Aber indem er für das Phänomen der Zeit konstitutiv
ist, ,,gehört" er beständig zu diesem Phänomen: Dieses konstituierende
„Dazugehören" ist ein stetiger Wandel, der selbst sein „Nicht-mehr" und
„Noch-nicht" impliziert23 und so in einem unerhörten Sinne selbst
„zeitlich" ist. Zu dieser „Zeitlichkeit" des Bewußtseins vorgestoßen zu
sein oder das Bewußtsein als letztlich ein in diesem ungewöhnlichen
Sinn „zeitliches" erwiesen zu haben, ist wohl das Tiefste, das Busserls
Zeituntersuchungen bieten.
Wenn wir in reiner Reflexion die Tätigkeit als Bewußtsein unter-
suchen, also alle sinnlich-phänomenale Zeitform von ihr fernhalten, so
werden wir dadurch überrascht, daß sich diese Tätigkeit in gewissem
Sinne doch als „zeitlich" erweist. Diese „Zeit" hat abe1" nicht mehr die
Form des Außereinander (partes extra partes). Die Aktualität des Be-
wußtseins ist nicht Gegenwart im gewöhnlichen Sinn als Gegenwart
neben (nach) den Vergangenheiten (die selbst eine Reihe ausmachen) und
neben (vor) den Zukünften. Vergangenheit und Zukunft gehören selbst
in die sich stetig wandelnde Aktualität, auch wenn durch diese keine
Wiedererinnerung und planmäßige Vorausnahme der Zukunft vollzogen
wird. Die beständig „vorwärts strebende" Aktivität enthält in sich selbst

15 A.a. 0., S. 370 u. 374.


16 A.a. 0., S. 81, 379.
17 A.a. 0., S. 114.
18 A.a. 0., S. 113 u. S. 370.
19 A.a. 0., S. 333/34.
20 A.a. 0., S. 360.
21 A.a. 0., S. 371.
22 Husserliana XIV, S. 29.
23 Husserliana X, S. 373.
42 Der transzendentale Grund der Phänomenalität

ihre Zukunft und Vergangenheit, sie ist nur in der Vorhaltung ihrer
Zukunft und in der Erhaltung ihrer Herkunft und diese sind außer ihr
schlechterdings nicht. Es handelt sich nicht um ein „Kontinuum von
Dauern", dessen verschiedene herausgreifbaren Abschnitte objektiv sind,
was sie sind, unabhängig von den voranliegenden und nachfolgenden
Phasen.
Dasselbe gilt, wenn wir in reiner Reflexion eine Vergegenwärtigung,
z. B. die ·Wiedererinnerung betrachten. Meine Vergangenheit in ihrer
ursprünglichen Veranschaulichung und Heraushebung in der Wieder-
erinnerung ist gleichsam „Gegenwart", sie wird mir wieder lebendig, ich
fungiere wieder in ihr, sie ist vergegenwärtigt. Ich „wiederhole" z.B.
gleichsam nochmals den Spaziergang von gestern, gleichsam, denn ich
wiederhole ihn nicht wirklich, indem ich jetzt einen zweiten Spaziergang
durch dieselben Ortschaften unternehme, sondern der gestrige Spazier-
gang wird in der Wiedererinnerung durch eine Art zeitlicher Rückver-
setzung wieder lebendig gegenwärtig. Ich sitze gleichsam nochmals auf
jenem Hügel und betrachte die Aussicht, bin dabei noch nicht im unter-
halb liegenden Restaurant und bin noch müde vom soeben zurückgeleg-
ten Aufstieg durch den steilen Waldhang. Aber diese veranschaulichte
Vergangenheit ist nicht Gegenwart schlechthin, sondern vergangene
Gegenwart. Dieser Charakter oder diese Modifikation des „vergangen"
kommt ihr aber nicht absolut zu, sondern hat nur Sinn in der aktuell
erlebten Gegenwart, in der ich jetzt hier am Schreibtisch sitze. Ent-
schwindet mir diese Gegenwart, während ich mich an den vergangenen
Spaziergang erinnere, so verschwindet notwendigerweise auch dieser
Charakter des „vergangen": ich erinnere mich nicht mehr der Vergan-
genheit; sondern' ich träume eine schlichte Gegenwart. Bei meiner eigent-
lichen Vergangenheit ist es also nicht so wie ·bei einer objektiven Ver-
gangenheitsstrecke, wie z. B. beim Zeitalter des Perikles in Athen oder
der Zeit Deutschlands unter der Regierung Adenauers (die in meine
eigene Lebenszeit fällt), die eine in sich selbst bestehende objektive
Dauer ausmacht, ganz unabhängig von meiner aktuellen Gegenwart. ·
Meine Vergangenheit ist in ursprünglicher Veranschaulichung eigentlich
vergangene „Gegenwart", verlebendigt in aktueller Vergegenwärtigung
und hat als solche nur Sinn in und aus meiner Aktivität in der unmittel-
baren Gegenwart; außerhalb ihrer ist sie schlechterdings nicht.
Diese in reiner, durch keine sinnlich-phänomenalen Vorstellungen
getrübten Reflexion auf das Bewußtsein zur Geltung kommende
„innere" ,,Zeit" kann man im Gegensatz zur gegenübergestellten1
Phänomenaler und präphäuomenaler (transzendentaler) Raum 43

,,äußeren" Zeit der Phänomenalität mit Busserls Wort als präphäno-


menale Zeit bezeichnen24 • Da diese „Zeit" des Bewußtseins Bedingung
der Möglichkeit der vom Bewußtsein zur sinnlichen Erscheinung gebrach-
ten, phänomenalen Zeit der Empirie ist, kann von ihr auch als tran-
szendentaler Zeit gesprochen werden. Man könnte sie schließlich auch
noumenale Zeit nennen, wenn dies nicht zu Mißverständnissen Anlaß
gäbe. Denn diese Bezeichnung bezieht sich nur auf den erfassenden Akt,
eben die reine Reflexion, die ein reiner (nicht sinnlicher) Verstandesakt
ist, nicht aber auf den reflektierten Akt, der auch eine sinnliche Tätigkeit
sein könnte, die in der reinen Reflexion nur nicht sinnlich erfaßt ist.

§ 12 Phänomenaler und präphänomenaler (transzendentaler) Raum

Analoges wie für das Verhältnis von phänomenaler und präphäno-


menaler Zeit gilt für den Raum: Der phänomenale (äußerliche) Raum
konstituiert sich durch den transzendentalen oder präphänomenalen
,,Raum": durch die transzendentale Selbst„bewegung". Auch hier kön-
nen wir an Busserl anknüpfen. Bekanntlich hat nach ihm die reine
Phänomenologie den Leib des jeweils phänomenologisch Meditierenden
,,auszuschalten". Trotz dieser Epoche hat aber das transzendentale Be-
wußtsein in Busserls Beschreibung sozusagen eine innere „Leiblichkeit":
es ist nach ihm ein „kinästhetisches" Bewußtsein25 • Nur durch diese

24 Wir übernehmen hier von Husserl nur das Wort (das also aus dem obigen Zusam-
menhang zu verstehen ist) und nicht seine dahinterstehende Theorie, die noch einer
Kritik zu unterziehen sein wird (siehe unten § 29). Die „präphänomenale, prä-
empirische Zeitlichkeit" (Husserliana X, S. 83) · ist nach Husserl die quasi-zeitliche
Ordnung des sich selbst erscheinenden zeitkonstituierenden Flusses, die sich in der
retentionalen „Längsintentionalität" durch einen „aufmerkenden" ,,reflektierenden
Blick" oder Strahl durch fixierende und identifizierende Leistungen konstituiert
(a. a. 0., S. 378-382, 113, 116). Diese quasi-zeitliche Ordnung scheint sich manch-
mal mit der immanenten Zeit (Kontinuum von Dauern) des Erlebnisstromes zu
decken (a. a. 0., S. 113). Husserl geht von dieser präphänomenalen quasi-zeitlichen
Ordnung nochmals zurück auf ein „letztes" (a. a. 0., S. 378, 382), ,,inneres" (S. 117)
,,Urbewußtsein" (S.119), in dem „Sein und Innerlich-bewußtsein zusammenfällt"
(S. 117);
25 Es geht m. E. nicht an, wie U. Claesges in seinem Buch Busserls Theorie der Raum-
konstitution ·(Den Haag, Nijhoff, 1964) bei Husserl prinzipiell zwischen transzen-
dentalem und kinästhetischem Bewußtsein zu scheiden. Natürlich muß nicht jedes
kinästhetische Bewußtsein schon rein transzendental verstanden werden, aber das
gilt für alles Bewußtsein. Für Husserl ist das transzendentale Bewußtsein als
44 Der transzendentale Grund der Phänomenalität

»ichliche Beweglichkeit" 26 (ein Ausdruck; der allerdings noch unserer


Kritik bedarf) wird nach Husserl überhaupt eine räumliche Welt mit
einem eigenen Leihkörper erfahren. Eine einzelne vollzogene Kinästhese
ist nach ihm aktualisiertes Moment aus einem einheitlichen kinästhe-
tischen System, das gelebt ist als Gesamtvermöglichkeit meines wahr-
nehmenden und zugreifenden Waltens in meine mir mannigfaltig »Zur
Verfügung" stehende' Umwelt; ein bestimmter vollzogener »Bewe-
gungs"ablauf aus, diesem System der kinästhetischen Vermöglichkeit
inszeniert eine bestimmte umweltliche Situation.
Auch bei Kant wird in der zweiten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft diese rein subjektive, transzendentale „Räumlichkeit" oder
„Beweglichkeit" deutlich27• Sie steht unter dem Titel der figürlichen
Synthesis der Einbilclu,ngskraft. ,, Wir können uns keine Linie denken,
ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Cirkel denken, ohne ihn zu
beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen,
ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu
setzen ... 28 Kant spricht hier von der „Bewegung als Handlung des
Subjekts" oder dem „reinen Aktus der sukzessiven Synthesis des Mannig-
faltigen in der äußeren Anschauung" 29 und stellt diese Bewegung der
Bewegung als „Bestimmung eines Objekts" gegenüber. Diese subjektive
Bewegung als Handlung des Subjekts hat transzendentale Bedeutung:
„Bewegung als Beschreibung eines Raumes ist ein reiner Aktus der
sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren Anschauung

solches selbst kinästhetisch; siehe z.B. Husserliana' XV, S. 286: ,,••• der Leihkörper
hat die Eigenheit;·daß er notwendig ,immer da' ist, immerzu der Körper ist, ,in'
dem ich bin öder bei dem ,ich selbst' bin, was hier besagt: Ich, das transzendentale
Ich, mit meirien transzendentalen kinästhetisch-erscheinungsregierenden Aktivitäten
lebe hier allein in einer unmittelbaren Aktivität • ~ •".
20 'Krisis (HusserlianaVI), $; 108.
17 In der ersten Auflage. steht. noch: ,,Auf diese Frage - wie in einem denkenden
Subjekt überhaupt, äußere Anschauung, nämlich die des Raumes (einer Erfüllung
desselben Gestalt und .Bewegung) möglich sei - aber ist es keinem Menschen mög-
lich, eine Antwort zu ,finden, und man kann diese Lücke unseres Wissens niemals
ausfüllen, sondern nur dadurch bezeichnen, daß man die äußeren Erscheinungen
einem transzendentalen Gegenstande, zuschreibt, welcher die Ursache dieser Art
Vorstellungen ist, den wir aber gar nicht kennen, noch jemals einigen Begriff von
ihm bekommen werden: (A393) ,, .•. wer es auch sei, so weiß er,ebensowenig von
der absolui:eri. und inneren Ursache äußerer und körperlicher Erscheinungen wie ich
oder "jemand anderes" (A 394; nieine Hervorhebung).
18 Kritik der reinen Vernunft, B, S. 154.
29 . A. a. 0., S. 154/55.
Phänomenaler und präphänomenaler (transzendentaler) Raum 45

überhaupt durch produktive Einbildungskraft und gehört nicht allein


zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie. " 30 , 31
Ebenso ist für das Verständnis von Leibnizens Monadologie die Idee
einer transzendentalen „Räumlichkeit" notwendig: die „Gesichtspunkte"
(points de vue) der Leiber, die die endlichen Monaden bestimmen, kön-

30 Ebenda, Anm.
31 Doch kommt die transzendentale »Räumlichkeit" in der Kantischen Bestimmung
der Subjektivität nicht wirklich zur Geltung. Ebensowenig wird bei ihm der Gedanke
einer transzendentalen (nicht phänomenalen) ,,Zeitlichkeit" voll entwickelt; auch er
ist in Ansätzen vorhanden, etwa in der These, daß wir den Begriff der Sukzession.
erst dadurch hervorbringen, daß wir „auf die Handlung Acht haben, dadurch wir
den inneren Sinn seiner Form nach bestimmen" (B 155), oder in den Ausführungen
im Schematismuskapitel über die Erzeugung der Zeit durch die sukzessive Addition
des Zählens (A 142/43; B 182). Die phänomenale Zeit und der phänomenale Raum
werden so zu „Bildern" (A 142; B 181) einer absoluten Wirklichkeit. Andererseits
spricht Kant doch Raum und Zeit jede absolute oder transzendentale Realität ab:
,,Ich kann zwar sagen: meine Vorstellungen folgen einander; aber das heißt nur:
wir sind uns ihrer als in einer Zeitfolge, d. i. nach der Form des inneren Sinnes
bewußt. Die Zeit ist darum nicht etwas an sich selbst." ,,Wenn aber ich selbst oder
ein ander Wesen mich ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit anschauen könnte, so
würden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt als Veränderungen vor-
stellen, eine Erkenntnis geben, in welcher die Vorstellung der Zeit, mithin auch der
Veränderung gar nicht vorkäme." (A 38; B 54)· Die ganze Problemati~ wird von
Kant noch dadurch verworren, daß er in der transzendentalen .i"i.sthetik Raum und
Zeit als „reine Anschauung" und damit als „reine Formen der Sinnlichkeit" bezeich-
net und sich nicht unterscheidend fragt, inwiefern diese Formen die Erscheinungs-
gegenstände und inwiefern sie die Gegenstandskonstitution betreffen. Diese not-
wendige Zweideutigkeit von konstituiertem (vorgestelltem) und konstituierendem
(vorstellendem) »Raum" (bzw. ,,Zeit") wird von ihm nicht geklärt. Im allgemeinen
denkt er wohl, wenn er von der „Form aller Erscheinungen äußerer Sinne." spricht,
an die Erscheinungsgegenstände, aber er bezeichnet· sie doch auch als „subjektive
Bedingung der Sinnlichkeit" (A 26; B 42), welche „macht, daß das Mannigfaltige
der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann" (B 34): als
„Form des Anschauens" (A 33; B 49, in bezug auf die Zeit). Dieselbe Unklarheit
besteht schon in der Dissertation von 1770, in der Kant erklärt, daß der Begriff
von Raum und Zeit nicht angeboren (connat11s), ·sondern erworben (acquisitm) s~i,
freilich nicht von der Sinnlichkeit der Objekte abstrahiert, sondern von der nach
immerwährenden Gesetzen ihr Sinnliches ordnenden Tätigkeit selbst des Geistes
(ab ipsa mentis actione, secundum perpetuas leges sensa sua coordinante), sozu-
sagen als unveränderlicher Typus, und daher anschaulich erkennbar. (Akad.-Ausg.
S. 406) Eine besondere Schwierigkeit, einen transzendentalen "Raum"begriff klar zu
fassen, liegt bei Kant noch darin, daß er die Sinnlichkeit, zu der er den Raum
rechnet, nur als "beständige Form der Rezeptivität" (Fähigkeit, affiziert zu werden)
auffaßt und daher in seine transzendentale Asthetik die Idee einer transzenden-
talen „Beweglichkeit" als Spontaneität des Subjekts nicht aufnehmen kann; ent-
sprechendes gilt auch von der Zeit. Raum und Zeit können daher in der tran~
szendentalen Asthetik nur Weisen der Affektion bedeuten. Erst in der transzenden-
talen Logik tritt unter dem Titel der Synthesis der Einbildungskraft eine. Spon-
taneität von Raum und Zeit zutage.
46 Der transzendentale Grund der Phänomenalität

nen ja keine Punkte im phänomenalen Raume sein, sondern müssen einen


metaphysischen „Raum" ausmachen.
Der transzendentale „Raum", der „Raum" meines Wahrnehmens
und nicht des Wahrgenommenen, der „Raum" meines Erfassens und
nicht des Erfaßten, meines sinnlichen Fungierens und nicht der (farbigen,
harten, flächigen usw.) Gegenstände, meiner die Erscheinung inszenieren-
den Bewegung und nicht der erscheinenden Szene, dieser „Raum" ist vom
Außereinander (partes extra partes) des figürlichen phänomenalen Rau-
mes prinzipiell zu unterscheiden, es ist eine wesentlich verschiedene
Struktur. Wenn ich mir z. B. eine Skulptur allseitig ansehe, indem ich
um sie herumgehe, mich ihr. nähere und von ihr entferne, mich aufrichte
und dann wieder bücke, sie dabei immer im Blicke haltend, so sind in
jeder einzelnen meiner intentionalen Wahrnehmungsbewegungen die
vorangehenden und folgenden impliziert: z. B. im Mich-bücken liegt
noch das Annähern, das zu ihm führte, und schon bereits mein Empor-
richten des Blickes, das notwendig ist, um die Skulptur in der erstrebten
Weise zu ·erfassen, usw. Der ganze kinästhetische Wahrnehmungsprozeß
von der Skulptur ist eine sich stetig wandelnde innere Einheit, in der
die Skulptur in immer erneuter Erscheinung umfaßt wird. Er ist selbst
keine ausgebreitete Figur mit voneinander abgrenzbaren und in sich
bestimmbaren Teilen, sondern jeder einzelne aktuelle Moment der Wahr-
nehmungsbewegung enthält in immer abgewandelter Weise den ganzen
Prozeß. Und dennoch ist er ein „räumliches" Tun. Diese „Räumlichkeit"
der transzendentalen Bewegung ist einig mit dem „Fluß" der transzen-
dentalen „Zeit", sie fließt selbst in diesem Fluß und ist in sich selbst
sowenig wie diese „Zeit" durch eine Linie (Kant) vorzustellen.
Die innere, sich stetig wandelnde Einheit der intentionalen Bewe-
gungsmannigfaltigkeit ist keine absolute Einheit im Sinn einer Leib-
nizischen Monade: Es ist in diesem wahrnehmenden Leben nicht so, daß
eine einzelne Perzeption alle gleichzeitigen, vorangegangenen und nach-
folgenden Perzeptionen eindeutig bestimmt enthält, obschon sie doch das
Gleichzeitige impliziert, das Vergangene hinter sich nachzieht und mit
dem Künftigen schwanger geht. Das Gleichzeitige ist nicht errechenbar:
es bestehen immer unbestimmt viele Möglichkeiten des Mitspielens ande-
rer „Bewegungen" in der Einheit der kinästhetischen Gesamtbewegung;
das Ver-gangene verdunkelt sich selbst immer mehr, und das Zu-gehende
ist noch nicht überall bestimmt ausgemacht. Die Unbestimmtheit des
Vergangenen und Künftigen, die unabtrennbar zur einen Wirklichkeit
des aktuellen kinästhetischen Tuns gehört, bedeutet eine Offenheit und
Die Kquivalenz von Phänomenalität u. Präphänomenalität 47

in diesem Sinn eine innere, nicht-phänomenale „Fremdheit" oder


,,Äußerlichkeit" des Bewußtseins, die aber kein Außereinander ist.

§ 13 Phänomenale und präphänomenale (transzendentale) Leiblichkeit

In reiner Reflexion auf das Bewußtsein stoßen wir nicht bloß auf die
phänomenale Zeit und auf den präphänomenalen Raum, sondern auch
der „materielle", widerständige, kräftige Charakter der Phänomenalität
findet am Bewußtsein selbst eine transzendentale Entsprechung. Zu den
rein reflektierten Tätigkeiten gehört auch ein energisches Eingreifen in
ein widerständiges, bis zur Ohnmacht und Vernichtung bedrohliches
Umfeld, ein energisches, zur Selbsterhaltung notwendiges Beherrschen
dieses Umfeldes, ein energisches Aufzehren und Einverleiben (Essen)
von Waren daraus, andererseits aber auch ein energisches Hervorbringen
von phänomenalen Gebilden, etwa von Lauten im Schreien und Singen.
Dieses energische, ,,materielle" Tun bringt das phänomenale Umfeld in
seiner Realität oder Materialität zur Erscheinung, und diese Kraft des
Tuns hat als Bedingung der Möglichkeit der phänomenalen Energie
transzendentalen Charakter. Diese transzendentale Kraft oder Materia-
lität kann man als transzendentale Leiblichkeit bezeichnen. Sie ist nicht
der Leib in seiner sinnlichen Erscheinung als phänomenale widerständige
Bewegungsgestalt (Figur), sondern die präphänomenale Leiblichkeit des
in reiner Reflexion erfaßten Tuns. Eine Analyse dieses „energischen"
(und nicht bloß „zeitlichen" und „räumlichen") Charakters präphäno-
menalen Tuns würde hier zu weit führen.

§ 14 Die Äquivalenz von Phänomenalität und Präphänomenalität.


Die Erscheinung des Transzendentalen

Welches ist nun aber das Verhältnis zwischen phänomenaler und prä-
phänomenaler Leiblichkeit, zwischen phänomenaler und präphänomena-
ler raumzeitlicher Bewegung? Haben wir es hier mit inkommensurablen
Formen von zwei verschiedenen „Welten", der äußeren Welt der res
extensa und der inneren Welt der res cogitans, zu tun? Offensichtlich
nicht.
Phänomenale und transzendentale Leiblichkeit und Bewegung sind
in ihrer Wesensverschiedenheit äquivalent. Das phänomenale Außerein-
48 Der transzendentale Grund der Phänomenalität

ander konstituiert sich in der transzendentalen „Bewegung" dadurch,


daß das tätige Subjekt in der sinnlichen Einbildungskraft32 den Raum
figürlich vor sich ausbreitet, in dem es sich selbst transzendental „beweg-
te" und „bewegen" kann. In Hinsicht auf die Vergangenheit ist der
phänomenale Raum der in der. unmittelbaren Einbildung festgehaltene
Niederschlag der präphänomenalen Selbstbewegung, analog etwa, wie
die Schrift auf dem Papier (Außereinander) phänomenaler Niederschlag
der Tätigkeit des Schreibens ist. Primär ist aber die phänomenale Äußer-
lichkeit ~der „imaginativ" eröffnete Bereich des eigenen vermöglichen
sinnlichen Waltens, der Bereich, in den ich so und so eingreifen, ein-
gehen, in dem ich so und so tätig sein kann. Die phänomenale Äußer-
lichkeit hat sozusagen als Widerschein einen transzendentalen Sinn: zs B.
eine phänomenale Strecke ist eine Strecke, die ich durchschreiten oder
durchflüchten kann, und dieses „Durd1schreiten"-können als mein Tun
ist ihr' präphänomenaler Sinn; oder dieser Stuhl ist eine Sitz- oder
Stützgelegenheit, und dieses Sich-hinsetzen-können usw. ist sein präphä-
nomenaler Sinn. Das Umfeld, das ich in meinem leiblichen Tun zur
Erscheinung bringe, ist also eo ipso das Feld, in das ich tätig eingehen
kann. In meinem phänomenalen Umfelde habe ich in meiner tätigen
Leiblichkeit selbst Platz; ich werde von ihm überall dadurch „gespie,-
gelt", daß es zu mir paßt (wie ein Kleid, in das ich hineinschlüpfen, wie
ein Weg, den ich gehen kann). Das sinnlich tätige Subjekt bildet nicht
erst eine phänomenale Umwelt und ordnet sich ihr nachträglich durch
,, verweltlichende Apperzeption" ein, sondern es ordnet sich ihr ein,
indem es sie „bildet": es bildet sie überhaupt nur als offenen Bereich
seines eingehenden Waltens.
Damit ist aber auch gesagt, daß die sinnliche Tätigkeit als leibliche
Selbstbewegung, die in reiner Reflexion präphänomenal erfaßt ist, phä-
nomenal erscheinen kann. Dem sinnlich tätigen Subjekt selbst zwar
erscheint seine Tätigkeit nicht wirklich, sicher nicht vollständig, denn
diese ist immer diesseits des phänomenalen Umfeldes; sie ist darin nur
als ,Verrnöglichkeit phänomenal „angedeutet" oder „vorgezeichnet". Die
Erscheinung der sinnlichen Tätigkeit verwirklicht sich voll nur von
82 Gemeint ist hier nicht die Einbildung im Sinne der freien Phantasie, sondern die
für die Wahrnehmung konstitutive unmittelbare Einbildung. Zu diesem Begriff der
Einbildung vgl. Kant Kritik der reinen Vernunft A 120 Anm. (Einbildungskraft als
„notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung"). Eingebildet in diesem Sinn ist etwa
auch das unmittelbare ;,Sehen" (ohne aktuelles Tasten) von harten oder weichen,
rauhen oder glatten, nassen oder trockenen, heißen oder kalten Dingen, d. h. ein-
gebildet ist in der visuellen Perzeption eine taktuelle.
Aktreflexion, phänomenale Erkenntnis, transzendentale Interpretation 49

außen, von einem fremden Gesichtspunkt aus gesehen33 • Umgekehrt


,,spiegelt" sich mein sinnliches transzendentales Tun im fremden phäno-
menalen Verhalten.

§ 15 Reine Aktrefiexion, phänomenale Erkenntnis des Verhaltens


und transzendentale Interpretation des phänomenalen Verhaltens

Da die sinnlich-leibliche Tätigkeit erscheint, kann sie zugleich ,prä-


phänomenaler Gegenstand der reinen Aktreflexion und Gegenstand der
phänomenalen Erkenntnis sein. Es ist zu sagen, daß die sinnlichen Tätig-
keiten in ihrem Wandel, in ihrer „Geschichte" besser in der Phäno-
menalität (als Verhalten) erkennbar sind als in der reinen Aktreflexion
(als Bewußtsein). Denn in der Phänomenalität sind die sinnlichen Tätig-
keiten vor uns ausgebreitet, wir können die Selbstbewegungen in ihrem
Fortgang als verschiedene Bewegungslinien oder Bewegungsfiguren
unterscheiden und fassen, was in reiner Reflexion nicht möglich is~. Es
besteht wohl kein Zweifel, daß wir den Gang unseres eigenen sinnlichen
Tuns im Widerschein der·phänomenalen Welt und im „Spiegel" fremden
phänomenalen Verhaltens, also im Erscheinen genauer und differenzier-
ter erkennen als in sich selbst. Was aber sinnliches Tun in sich ist als Er-
leben oder Bewußtsein, und zwar in jedem „Augenblick", in der Aktuali-
tät, das läßt sich nicht phänomenal in eine Verhaltensfolge oder -figur
ausbreiten, sondern ist nur in reiner Aktreflexion zu fassen.
Es besteht aber die Möglichkeit, das phänomenale Verhalten, das
sinnliche Tun als erscheinendes, aufgrund der .reinen Reflexion präphä-
nomenal oder transzendental zu interpretieren: das sinnlich wahrgenom-
mene Verhalten wird von der unsinnlichen, reinen Aktreflexion her
gedeutet, es wird in Bewußtsein übersetzt, es wird als „Bild" transzen-
dentalen Waltens aufgefaßt. Solcher Interpretation kommt nicht nur
eine Bedeutung für die Erkenntnis sinnlicher Tätigkeiten, sondern auch

88Auch im Spiegel komme ich für mich selbst nicht zur vollen (all mein transzen-
dental-leibliches Fungieren darstellen4en) und wirklichen Erscheinung: Ich sehe m~ch
im Spiegel nur, wie ich in den Spiegel gudte. Unmittelbar-sinnlich sehe ich mich
- im Spiegel als einen (phänomenalen) Fremden und nicht als mich selbst, Die
Identifikation kommt im mittelbaren Illusionsbewußtsein (im Bewußtsein, daß mich
meine unmittelbare Wahrnehmung. täuscht) zustande, wodurch die Erscheinung ihre
(phänomenale) Wirklichkeit verliert: das phänomenale Feld im Spiegel mit all
seinen Erscheinungen (darunter die Erscheinung meiner selbst) ist kein wirkliches,
in das ich eingreifen· oder eingehen kann, sondern ein illusionäres,
50 Der transzendentale Grund der Phänomenalität

für die Erkenntnis der Vernunft zu. Zwar erscheint die Vernunfttätig-
keit als solche im Gegensatz zur sinnlichen Tätigkeit nicht. Aber die Ver-
nunft kann in die Sinnlichkeit eingreifen (sie kultivieren), die sinnliche
Tätigkeit für sich selbst gebrauchen, in der Sinnlichkeit Werke hervor-
bringen, und daher vermögen gewisse Formen phänomenalen Verhaltens
auch der Erkenntnis der Vernunfttätigkeit etwas zu sagen. Auch in
dieser Hinsicht besteht die Möglichkeit einer transzendentalen Inter-
pretation. Aber hier genügt es nicht, einfach phänomenales Verhalten in
präphänomenales Bewußtsein zu übersetzen, sondern die Vernunfttätig-
keit, da sie selbst nicht erscheint, muß in der transzendentalen Inter-
pretation der Erscheinungen supponiert werden; das phänomenale Ver-
halten kann hier nicht als „Bild" des vernünftigen Bewußtseins auf-
gefaßt werden, sondern dieses wird von ihm nur angezeigt.
Es gibt also zwei Arten philosophischer Erkenntnis: Eine solche, die
nur auf reiner Reflexion beruht, und eine solche, die aufgrund der reinen
Reflexion die phänomenale Empirie interpretiert. Die transzendentale
Interpretation ist nur möglich aufgrund der reinen Reflexion, und zwar
aus einem doppelten Grunde: nicht nur deutet die transzendentale Inter-
pretation die empirischen Phänomene von den rein reflexiven Sachver-
halten her, sondern die rein :reflexive Erkenntnis, und nur diese, zeigt
auch, daß und inwiefern transzendentale Interpretation überhaupt mög-
lich ist, indem sie die Äquivalenz von reflexiv erfaßter sinnlicher Tätig-
keit und phänomenalem sinnlichem Verhalten aufweist. Reine Akt-
reflexion ist daher notwendig Erste Philosophie, transzendentale Inter-
pretation hingegen Zweite P hilosophie 34•
Durch die Möglichkeit der transzendentalen Interpretation der phä-
nomenalen Empirie sind der Philosophie neue Dimensionen eröffnet:
nicht nur ist dadurch das phänomenale Verhalten Anderer „konvertibel"
in fremdes reines Bewußtsein, sondern auch die Geschichte der Vernunft,
und zwar sowohl die individuelle in der Entwicklung des Kindes als
auch die Geschichte der Generationen und Kulturen können dadurch
philosophisches Verständnis gewinnen.
Zum Abschluß dieser ersten Etappe (ersten Abschnittes) möchte ich
noch bemerken: Der Leser wird sich über den bisherigen Gang der
Überlegungen wohl gewundert haben: Wir gingen von der Vorausset-
zung aus, daß die Vernunfttätigkeit, die die Philosophie zu erkennen
strebt, nicht erscheint, und sahen uns daher zu einer philosophischen

3·1 über das Verhältnis von Erster und Zweiter Philosophie handelt unten§ 52.
Aktreflexion, phänomenale Erkenntnis, transzendentale Interpretation 51

Gegenstandsgebung gezwungen, die nicht auf der sinnlichen Vorgegeben-


heit basiert. Diese Zugangsmethode wurde angedeutet als reine Akt-
reflexion, die von ihrem Gegenstand alle phänomenalen Vorstellungen
fernzuhalten hat. Im Eingehen auf den durch die reine Aktreflexion
eröffneten Bereich stießen wir auf eine präphänomenale zeitlich-räum-
liche Selbstbewegung, auf ein präphänomenales leibliches Tun, das als
sinnliches Tun auch phänomenal erscheint. - Wir „suchten" aber die
Vermm/ttätigkeit, die, nach der gemachten Voraussetzung nicht er-
scheint. Wir stießen in der reinen Aktreflexion auf etwas, das wir nicht
suchten. Also durch die reine Aktreflexion ist uns nicht schon eo ipso die
Vernunfttätigkeit gegeben, sondern wir kommen dabei auch auf Tätig-
keiten, die nicht Vernunft sind. Dies ist, wie ich gleich zeigen möchte,
nicht zufällig, sondern notwendig, denn Vernunft ist notwendig mit
anderem als Vernuft „verbunden". Es ergibt sich also in der reinen
Reflexion als erste Aufgabe, die Vernunft von der nicht-vernünftigen,
sinnlichen Tätigkeit zu unterscheiden und sowohl sinnliche wie ver-
nünftige Tätigkeit ausreichend ~u bestimmen, damit sie sich voneinander
klar abheben; um also die Vernunft zu erkennen, können wir uns nicht
bloß mit der Vernunft beschäftigen. Dieser Aufgabe ist die folgende
Etappe (2. Abschnitt) unserer Überlegungen gewidmet.
II. Abschnitt
Vernunft und Sinnlichkeit
C'J ;
Es gilt also, in reiner Reflexion sinnliche Tätigkeit und Vernunft-
tätigkeit voneinander abzuheben. Bei der Vernunfttätigkeit werden wir
unterscheiden müssen zwischen einer solchen, die zwar auf der Sinnlich-
keit basiert, aber nicht in diese eingreift, sich nicht in ihr instituiert, und
einer solchen, die dies tut. Wir werden daher terminologisch differen-
zieren zwischen Verstand und Vernunft, Termini, die wir bisher in
gleicher Bedeutung verwendeten. Nach den nun einzuführenden engeren
Bedeutungen bezeichnen wir als Vernunfttätigkeit nur noch die Ver-
standestätigkeit, sofern sie die Sinnlichkeit kultiviert (in sie eingreift),
während wir unter dem Titel des Verstandes von solchem Eingreifen
absehen. Obschon die Sinnlichkeit gegenüber dem Verstand den Primat
des Grundlegenden (Fundamentalen) besitzt, d. h., obschon sie ohne
Verstand sein kann, während der Verstand die Sinnlichkeit voraussetzt,
müssen wir doch vorerst auf das Wesen des Verstandes eingehen, da die
menschliche Sinnlichkeit durch ihn völlig verdeckt wird und erst durch
eine methodische Abstraktion alles Verstandesmäßigen, das dazu erst der
prinzipiellen Kennzeichnung bedarf, rein gefaßt werden kann. Für die-
sen Abschnitt ergeben sich demgemäß drei Kapitel in folgender Ord-
nung: 1. Verstand, 2. Sinnlichkeit, 3. Vernunft.
1. Kapitel
Der Verstand

§ 16 Das allgemeine Wesen des Verstandes

In größter Allgemeinheit kann gesagt werden: Verstand ist Bewußt-


sein von Bewußtsein, und zwar in Identifikation des bewußten Gegen-
stande_s.• Verstandesbewußtsein ist immer Bewußtsein von anderem
Bewußtsein, es enthält, als Bewußtsein von Bewußtsein, in ihm selbst
ein von ihm unterschiedenes Bewußtsein und hat Identität des in diesem
Unterschied Bewußten. Bewußtsein von Bewußtsein ist mittelbares Be-
wußtsein, denn es stellt seinen Gegenstand in anderen Vorstellungen
vor; es ist vermittelndes Bewußtsein, denn es vermittelt anderes Bewußt-
:·I
sein. Der Ausdruck „Bewußtsein von Bewußtsein" bedeutet hier einen
durchaus eigenen und einheitlichen Begriff: Der zweimal gebrauchte
Terminus „Bewußtsein" drückt in ihm nicht selbständig begrifflich zwei-
;;li
mal dasselbe aus (wie. dies etwa im Ausdruck „die Mutter von der
Mutter" für den zweimal vorkommenden Terminus „Mutter" der Fall
ist), sondern „Bewußtsein" an erster Stelle in diesem doppelseitigen
Ausdruck ist ein synkategorematischer Ausdruck, d. h. er hat seine Be-
deutung nur in dieser oder in entsprechender Kombination. Bewußtsein
von Bewußtsein ist ein von Bewußtsein schlechthin verschiedenes eige-
nes Wesen.
Bewußtsein von Bewußtsein kann auch als „wiederholendes« Be-
wußtsein gekennzeichnet werden, das für sich selbst durch und durch
nur darin besteht, ,,Wiederholung" von anderem Bewußtsein zu sein.
Dasselbe kann durch den Ausdruck der allgemeinen Refiexivität bedeu-
tet werden. ,,Reflexivität" hat hier nicht den im Abschnitt I erörterten
Sinn der Rückkehr, sondern den Sinn der „Spiegelung" von Bewußtsein
durch Bewußtsein: Sie bedeutet das geistige Verhältnis, in dem Bewußt-
sein anderes Bewußtsein „spiegelt", sich dieses „Spiegelns" selbst bewußt
(inne) ist und sich mit dem „gespiegelten" Bewußtsein in der Identität
des bewußten Gegenstandes deckt.
Verstand als V crgegenwärtigung-Entgegenwärtigung 57

Das hier allgemein für jedes Verstandesbewußtsein Gesagte soll am


Beispiel der Wiedererinnerung, dieses keineswegs sinnlichen Bewußt-
seins, illustriert werden. Ich erinnere mich jetzt an meinen gestrigen
Besuch des Tierparks, genauer an die junge Gemse, die mich dort mit
ihren Kapriolen so köstlich erheiterte. Ich sehe gleichsam wieder von
oben, wie sie den Hügel hinab und herauf springt, sich auf zwei Beinen
aufrichtet, in übermütigen Wendungen bald nach links, bald nach rechts
schnellt und dann und wieder auch ein anderes, nicht so kapriziöses
Tier ins Spiel mitreißt. Meine anschauliche Erinnerung besteht darin,
daß ich jene Wahrnehmung gleichsam „wiederhole"; aber ich nehme
dieses Geschehen jetzt nicht schlechthin nochmals wahr, ich bin jetzt gar
nicht im Tierpark, sondern meine Wahrnehmung ist jetzt erinnerte
Wahrnehmung, sie ist in der Erinnerung. Mein jetziges Erinnerungs-
bewußtsein „spiegelt" (,,reflektiert") das vergangene Wahrnehmungs-
bewußtsein, es ist nur Erinnerung, indem es sich dieses „Spiegelns" inne
ist, wobei ich mir bewußt bin, daß ich mich jetzt identisch desjenigen
Geschehens erinnere, das ich damals wahrnahm. Würde ich mich jetzt
nicht erinnern, sondern nochmals schlechthin wahrnehmen, so könnte
das beidemal wahrgenommene Geschehen evtl. ganz gleich, aber nicht
das identische sein. Meine jetzige Erinnerung jenes Geschehens (der
Kapriolen der Gemse) ist „spiegelnde" Vermittlung der vergangenen
Wahrnehmung. - Auch einer Erinnerung kann ich mich erinnern, z. B.
der Erinnerung an meinen Spaziergang auf den Belpberg, die ich voll-
zog, als ich den elften Paragraphen des vorangegangenen Abschnittes
schrieb: ich erinnere mich, daß ich mich erinnerte, jenen steilen Wald-
hang hinaufgestiegen zu sein usw. Hier spiegelt eine Erinnerung eine
andere Erinnerung, in der sich eine Wahrnehmung spiegelt, und in der
späteren Erinnerung an die frühere Erinnerung ist mir derselbe wahr-
genommen gewesene Spaziergang bewußt.

§ 17 Der Verstand als Vergegenwärtigung-Entgegenwärtigung

Die in der obigen allgemeinen Bestimmung des Verstandesbewußt-


seins enthaltenen Momente gilt es nun weiter zu explizieren. Ich tue dies
weiterhin am Beispiel der Erinnerung. Wenn ich mich jetzt anschaulich
an jene Kapriolen der Gemse erinnere, vergegenwärtige ich mir die
damalige Situation: ich stehe gleichsam nochmals im Tierpark vor dem
Gemsgehege und schaue zu. In meiner Erinnerung „sehe" ich die Gemse
58 Der Verstand

nicht etwa von meinem aktuellen Hier und Jetzt, von meinem Pult aus,
an dem ich jetzt sitze und mich erinnere, sondern vom Standort vor
dem Gemsgehege aus, an dem ich mich damals wahrnehmend befand.
In der Erinnerung transzendiere ich meine raumzeitliche Wahrneh-
mungsgegenwart (meine konkrete sinnliche „Weltperspektive"), ich ver-
setze mich gewissermaßen aus meiner gegenwärtigen Situation in die
vergegenwärtigte Situation, ich entgegenwärtige mich, indem ich ver-
gegenwärtige. In der notwendigen Allgemeinheit gilt dieses Verhältnis
von jedem anderes Bewußtsein vermittelnden Bewußtsein, also vom Ver-
stand überhaupt: jedes Bewußtsein von Bewußtsein kann als Vergegen-
wärtigung-Entgegenwärtigung (Entgegenwärtigung in der Vergegenwär-
tigung oder Vergegenwärtigung durch Entgegenwärtigung, was ein und
dasselbe ist) gekennzeichnet werden. Der Verstand geht über die unmit-
telbare Bewußtseinsgegenwart hinaus, indem er anderes Bewußtsein
,,spiegelt".

§ 18 Die Fundiertheit des Verstandes


in der unmittelbaren Sinnlichkeit und die „gespiegelte" Implikation
der Sinnlichkeit im Verstand

Indem wir das Wesen des Verstandes als vermittelndes Bewußtsein


bestimmten und ihn als Entgegenwärtigung-Vergegenwärtigung kenn-
zeichneten, haben wir uns schon auf das Wesen der Sinnlichkeit bezogen.
Ist Verstand Bewußtsein von Bewußtsein, dann ist Sinnlichkeit einfach
Bewußtsein; ist Verstand Vergegenwärtigung-Entgegenwärtigung, dann
ist Sinnlichkeit Gegenwärtigung. Dies ist in der begrifflichen Bestim-
mung des Verstandes notwendig impliziert. Was aber einfach Bewußt-
sein, was Gegenwärtigung, was also Sinnlichkeit ist, kann rein in sich,
ohne Beziehung auf den Verstand, bestimmt werden, während eine
solche selbständige Bestimmung des Verstandes, ohne Rückbeziehung auf
die Sinnlichkeit, prinzipiell nicht möglich ist. Diese begrifflichen Bezie-
hungen entsprechen den Beziehungen von Sinnlichkeit und Verstand
selbst: Sinnlichkeit kann ihrem Wesen nach ohne Verstand sein; der Ver-
stand, obschon er ein eigenes Wesen ist, setzt Sinnlichkeit voraus, und
zwar in doppelter Weise, er ist einerseits notwendig auf sie „spiegelnd"
zurückbezogen und andererseits notwendig auf sie gegründet (fundiert).
Dies soll wiederum am Beispiel der Erinnerung illustriert werden.
Einerseits ist Erinnerung Erinnerung von sinnlicher Gegenwart (die
Verstand und Anschauung 59

Erinnerung von Erinnerung oder von anderem vermittelndem Bewußt-


sein ist es in mehrfacher, ,,ineinandergeschachtelter" Weise); als Vermitt-
lung ist sie nicht sinnlich, sie „reflektiert" aber unsinnlich Sinnlichkeit.
Andererseits ist für mich, der ich mich jetzt erinnere, das Pult, an dem
ich jetzt schreibe, das Zimmer usw. sinnlich unmittelbar gegenwärtig.
Würde ich sosehr in meine Erinnerung versinken, daß ich das sinnliche
Bewußtsein meiner gegenwärtigen Situation verlöre, so wäre auch die
Erinnerung als solche, das Bewußtsein „es war", zu Ende, und ich würde
anstelle dieses „es war" träumend bloße Gegenwart erleben; die Ent-
gegenwärtigung würde verfallen, die Vergegenwärtigung würde zu illu-
sionärer Gegenwärtigung (im Erinnerungsbeispiel mit der Gemse: die
spielende Gemse würde mir unvermittelt zur bloßen Gegenwart). Er-
innerung ist also nicht nur unsinnliche Spiegelung eines sinnlichen Er-
lebens, sondern geschieht selbst auf dem Boden aktuellen sinnlichen
Bewußtseins. Wir haben in ihr doppelte Sinnlichkeit: die aktuelle und
die gespiegelte (die vermittelte als solche); in der einen ist sie fundiert
und auf die andere bezieht sie sich spiegelnd zurück. Während die fun-
dierende Sinnlichkeit aktuell ist, ist die „gespiegelte" nicht als aktuelle
in der Erinnerung; die erinnerte Wahrnehmung ist im Erinnerungsakt
nicht vollzogen, sie ist in ihm nicht reell enthalten, sondern eben „gespie-
gelt" (reflektiert).
Allgemein darf wohl gesagt werden, daß der Verstand nur bestehen
kann, indem er auf dem Grunde der aktuellen sinnlichen Gegenwart in
verschiedenen (noch zu bezeichnenden) Weisen entgegenwärtigend andere
sinnliche Gegenwart vergegenwärtigt; nur bestehen kann, indem er durch
„Reflexion" anderer Gegenwart jenen Grund transzendiert und doch
immer auf ihm bleibt.

§ 19 Verstand und Anschauung

Obschon der Verstand sozusagen eine doppelte Sinnlichkeit impli-


ziert, kann nicht gesagt werden, daß er den jeweiligen Umfang der sinn-
lichen Anschaulichkeit erweitere. In unserem Beispiel der Wiedererinne-
rung an meinen Besuch des Tierparkes ist es ja so, daß genau in dem ·
Maße, in dem ich mir in der Erinne1·ung das Gebaren jenes Geinsleins
veranschauliche, mir die sinnliche Gegenwart meines Zimmers (meine
gegenwärtige Situation), obschon sie für mich bestehen bleibt, unan-
schaulich wird. Um mir das Gebaren des Tieres ganz lebhaft und klar
60 Der Verstand

vorzustellen, schließe ich evtl. sogar die Augen. Lasse ich mir nun aber
meine sinnliche Gegenwart anschaulich werden, gucke ich auf Tisch,
Bücher, Lampe usw., so „verschwindet" die erinnerte Gemse „im Dun-
kel". Die beiden Anschauungen befinden sich also in einem gegenseitigen
Widerstreit; nur eine kann voll bestehen; je mehr die andere durch-
schimmert, desto mehr wird die erste von ihr ins Dunkel zurückgedrängt
und schließlich, wenn diese ganz klar geworden ist, völlig verdeckt.
Aufgrund dieser notwendigen gegenseitigen Verdeckung sinnlicher An-
schauungen (unmittelbarer und reflektierter) ist es auch nicht nur un-
möglich, ein Raumding von mehreren Seiten zugleich unmittelbar sinn-
lich anzuschauen, sondern auch, es sich in eins von mehreren Seiten
anschaulich zu vergegenwärtigen. Ich kann mir in der Vergegenwärti-
gung die Rückseite des vor mir stehenden Briefständers veranschaulichen,
sei es in einer Erinnerung an die zuvor wahrgenommene Rückseite, sei
es in einem Möglichkeitsbewußtsein (in der „Spiegelung" der Wahr-
nehmung, die ich hätte, wenn ich den Briefständer drehen würde) oder
in der Vergegenwärtigung der Wahrnehmung eines Zimmergenossen, der
nun auf die Rückseite dieses Dinges blickt, aber ich kann nie durch Ver-
gegenwärtigung zugleich mehrere Perspektiven voll anschaulich machen;
eine anschauliche Perspektive verdeckt immerzu die andere.
Obschon der Verstand den aktuellen Umfang der sinnlichen An-
schaulichkeit nicht erweitert, sondern durch jede anschauliche Spiegelung
sozusagen den verfügbaren „Raum" sinnlicher Anschauung besetzt, ist
er als solcher nicht, wie Kant dachte, schlechthin „leer'', so daß alle
Anschauung nur in der Sinnlichkeit läge. Die durch den Verstand „ge-
spiegelte" sinnliche Anschauung besteht nicht als Sinnlichkeit schlechthin,
sondern ist ganz und gar im Medium dieser Spiegelung aufgehobene
Sinnlichkeit. Es ist daher gegenüber Kant zu sagen1, daß der Verstand
die durch die Sinnlichkeit gegebenen Anschauungen „in sich aufnimmt";
diese Aufnahme bedeutet eine durchgängige Transposition, die sich in
sich selbst als Transposition ursprünglicher Sinnlichkeit bewußt ist.
Der Verstand hat allerdings eine ihm ganz spezifische Abwesenheit
von Anschauung oder „Leere", und es ist nur der Verstand, der sich
einer eigenen aktuellen „Leere" rein als solcher, als einer Abwesenheit
der Anschauung, bewußt sein kann; und zwar noch abgesehen von
Begriffen und anderen Zeichen, die wiederum ihre besondere Leere ha-
ben können. Zwar kann mit Busserl auch in Beziehung auf die unmittel-

1 Kritik der reinen Vernunft, B 153.


Verstand und Anschauung 61

bare sinnliche Wahrnehmung in gewissem Sinne von Leere, von „Leer-


intentionen" gesprochen werden, aber diese sinnlichen „Leerintentionen"
sind etwas von den Leervorstellungen des Verstandes radikal Verschie-
denes. Von „Leerintentionen" spricht Busserl bei der sinnlichen Wahr-
nehmung hinsichtlich ihres zum anschaulich Gegebenen gehörigen „Hori-
zontes" des nicht eigentlich Gegebenen, sondern bloß Mitgegebenen
(Rückseite, weitere Umgebung eines wahrgenommenen Dinges), Noch-
nicht-Gegebenen und Nicht-mehr-Gegebenen. Es haridelt sich hier um
die ganze, der sinnlicg.en Wahrnehmung wesenseigene „Inaktualität":
einerseits um ihre Potentialität, andererseits sozusagen um deren „Um-
kehrung", um das Nicht-mehr, um das der sinnlichen Gegenwart zuge-
hörige Moment des Vergangenen ( ,,Desaktualität" ). Diese sinnlichen
„Leerintentionen" sind selbst voneinander sehr verschiedenartig; so hat
z.B. das sinnliche Bewußtsein des Nicht-mehr, die Retention, im Gegen-
satz zu der auf das Kommende gerichteten „leeren" Protention im un-
mittelbaren Bewußtsein keine Tendenz auf „Erfüllung"; ihre „Leere"
als „entwerdende" Anschauung (Desaktualität) ist auch eine ganz andere
als die Leere im Sinne jener unbegrenzten Potentialität. Aber keine
dieser sinnlichen „Leerintentionen" stellt im eigentlichen Sinne etwas
leer vor. Das Entscheidende ist dies: Diese sinnlichen „Leerintentionen"
sind keine Vergegenwärtigungen, sondern inaktuelle (potentielle und
desaktuelle) ,,Fransen" (James) der unmittelbaren Gegenwärtigung; so
ist z.B. in der konkreten Wahrnehmung die „nicht eigentlich wahr-
genommene Rückseite" des unmittelbar wahrgenommenen Dinges „mit-
gemeint", aber nicht durch eine Vergegenwärtigung eigens vorgestellt,
was ja · eine Entgegenwärtigung besagen würde. Die sinnlichen „Leer"."
intentionen" sind keine dunklen „Spiegeltmgen" von an sich anschauen-
dem Bewußtsein. Daniit aber hebt sich ihnen auch keine eigene Leere
gegenüber einer gemeinten Anschaulichkeit ab. Wenn ich mich demgegen.:.
über dunkel an ein Geschehen erinnere, so meine (intendiere) ich dieses
Geschehen in seiner ihm eigenen Anschaulichkeit, ohne sie in meiner
,,Spiegelung" zu realisieren, und schreibe diese „Leere" meiner Spiege-
lung zu. Während zur „Erfüllung" der sinnlichen „Leerintentionen"
neue Wahrnehmungen aktualisiert werden müssen (man muß z.B. näher
an den Gegenstand herantreten, um ihn herumgehen usw.) oder wäh-
rend eine sinnliche Wahrnehmung eben genau so anschaulich ist, wie sie
es ist, und in sich selbst nicht anders sein kann, ,,erfüllt" sich dieselbe
Vergegenwärtigung durch Veranschaulichung ihres Vorgestellten. Nur
ein vergegenwärtigendes Bewußtsein kann für sich selbst „leer" sein.
62 Der Verstand

§,Wi Identität als Leistung des Verstandes. Identität und Transzendenz

In der Bestimmung des Wesens des Verstandes habe ich den Gedan-
ken ausgesprochen, daß sich Identität nur durch „reflektierende Wieder-
holung" im Bewußtsein konstituiert. Das ist leicht ganz allgemein ein-
sehbar, denn einer objektiven Identität kann ich überhaupt nur im
Bewußtsein eines anderen Bewußtseins, in dieser Differenz der allgemei-
nen Reflexivität, bewußt werden. Identität ist immer Einheit in einer
Differenz. Nur indem ein Gegenstand als Gegenstand anderer Vorstel-
lungen vorgestellt wird, besteht gegenständliche Identität. Vorausset-
zung für die Identifikationsleistung des Bewußtseins von Bewußtsein ist,
daß bereits im unmittelbaren (sinnlichen) Bewußtsein perzeptive Ein-
heiten abgehoben sind, die vom mittelbaren Bewußtsein identifizierend
„ wiederholt" werden können. Aber innerhalb des unmittelbaren, bloß
sinnlichen Umfeldes gibt es noch keine Identität2 • Die Identifikation des
Objektiven in der Differenz zwischen dem „spiegelnden" und „gespie-
gelten" Bewußtsein ist mit dem mittelbaren Bewußtsein eins. Dies bedeu-
tet, daß nicht etwa zum „spiegelnden" Bewußtsein ein besonderer Akt
der beziehenden Identifizierung hinzukommen müßte, um Identität be-
wußt zu machen, obschon ein solcher besonderer Akt natürlich prinzipiell
immer dazukommen kann. Dies läßt sich wiederum an unserem Erinne-
rungsbeispiel illustrieren: Indem ich mich an jenes Gemslein erinnere,
vollziehe ich nicht eo ipso schon die besondere Vorstellung, die sich in
den Worten ausdrückt, ,,die spielende Gemse, an die ich mich jetzt
erinnere, ist dieselbe wie die damals wahrgenommene", obschon ich in
einer höheren Reflexion auf die Erinnerung selbst ein solches identifi-
zierendes Urteil, in dem die Identität, die im Erinnerungsbewußtsein
gegeben ist, als solche gemeint oder gegenständlich (thematisch) wird,
immer fällen kann. Aber in der bloßen Erinnerung ist die Identität nicht
Gegenstand einer besonderen Reflexion, sondern ich weiß in diesem ver-
mittelnden Bewußtsein unmittelbar, daß ich jetzt die spielende Gemse
erinnernd „vor Augen" habe, die ich damals wahrnahm.
Nur durch dieses identifizierende Bewußtsein von Bewußtsein kon-
stituiert sich „im" Bewußtsein und ihm „gegenüber" eine objektive Tran-
szendenz. Dies hat Husserl deutlich gemacht: ,,Gäbe es keine Wieder-
erinnerung (falls ein Bewußtseinsleben ohne sie möglich wäre), so wäre
für das Ich nur die jeweilige wahrnehmungsmäßig konstituierte Gegen-

2 Zur Struktur des sinnlichen Umfeldes vgl. unten, §§ 31-34.


Identität als Leistung des Verstandes 63

ständlichkeit da, in ihrem gegenwärtigen zeitlichen Werden. Aber 'im


vollen Sinn gäbe es eigentlich gar keinen Gegenstand für das Ich, es
fehlte ihm ja das Bewußtsein von einem in mannigfaltigen möglichen Er-
fassungen Erfaßbaren, von einem Seienden, auf das man immer wieder
zurückkommen und das man als dasselbe erkennen und weiter das man
als einen frei verfügbaren Besitz zu eigen haben kann. Somit fehlte
völlig die Vorstellung von einem Etwas, das an sich ist gegenüber den
möglichen bewußtmachenden Betrachtungen: mit einem Worte eben ein
Gegenstand..•. ,Gegenstand' ist Korrelat der Erkenntnis, welche Er-
kenntnis ursprünglich in synthetischer Identifizierung liegt, die Wieder-
erinnerung voraussetzt. "3 Es ist aber zu .betonen, daß wir hier für die
Konstitution der Identität und damit der Transzendenz des Gegenstan-
des4 gegenüber dem Bewußtsein nicht bloß die Wiedererinnerung, son-
dern alles vergegenwärtigende Bewußtsein in Anspruch nehmen und die
Wiedererinnerung uns immer nur als Beispiel dient. Die Transzendenz,
die in dem durch das vermittelnde Bewußtsein Identifizierten liegt, meint
nicht die Transzendenz im Sinne der prinzipiell inadäquaten Gegeben-
heit (ein besonderer Transzendenzbegriff Busserls, der in der „Funda-
mentalbetrachtung" der / deen der entscheidende ist), sondern die Tran-
szendenz der Bewußtseinsgegenständlichkeit überhaupt in ihrem „An-
sieh" gegenüber den Bewußtseinserlebnissen. Von dieser Transzendenz
sagt Husserl: ,, Transzendenz besagt also die Eigenart intentionaler
Gegenständlichkeiten, die das singuläre Einzelwesen der puren Erlebnisse
überschreiten, also ihnen sich nicht mit ihrem Wesen einfügen lassen." 5
Dieses überschreiten der Erlebnisse durch die Gegenständlichkeit ge-
schieht durch ihre Identität: weil derselbe Gegenstand in verschiedenen

8 Husserliana XI, S. 326/27 (1920/21); vgl. a. a. 0., S.110/11 (bzw. 277/78): ,.Wo
wir von einem wahren Selbst sprechen und von einer Vorstellung, die sich end-
gültig bewährt, da greifen wir über das momentane Bewußtsein durch Wieder-
erinnerungen hinaus, in denen wir wiederholt auf dieselbe Vorstellung zurück-
kommen . und auf ihren selbigen vermeinten Gegenstand; und in denen wir uns
andererseits des bewährenden Selbst als eines identischen und undurchsireichbaren
wiederholt versichern ·können und evtl. versichern:. Das momentane Erleben z. B.
eines immanenten Empfindungsdatums, das wir in seinem gegenwärtigen Werden
erschauen, haben wir freilich in uridurchstreichbarer Gewißheit. Aber das Seiende,
das wir damit erfassen, ist als an sich seiend nur gemeint, wenn wir es nicht nur
als momentanes Datum im Modus Gegenwart nehmen, sondern als das identische
dabile, das in beliebig wiederholten Wiedererinnerungen gegeben sein könnte •••
Jede Rede von Gegenständen führt so auf Wiedererinnerungen zurück."
' Gegenstand ist hier noch nicht kategoriales Subjekt, Gegenstand der Prädikation.
1. Husserliana III, S. 398 (1929).
64 Der Verstand

Erlebnissen erlebt wird, kann er nicht reeller Teil eines Erlebnisses sein,
sondern ist gegenüber diesen Erlebnissen „an sich". Die hier spielende,
diese Transzendenz ausmachende Identität ist noch keine reale Identität
im Sinne des zeitlichen Verharrens eines Gegenstandes, sondern selbst
nicht zeitlich ausgedehnt und in diesem Sinne ideal zu nennen. Die in
Frage stehende Transzendenz ist also auch noch nicht die reale Tran-
szendenz der an sich seienden dauernden Individuen, der Dinge und
Personen, die mir gelten als raumzeitlich existierend, ob ich sie nun
wahrnehme oder nicht. Um wiederum in jenem Beispiel der Erinnerung
an die spielende Gemse zu sprechen, so meint die in diesem vermittelnden
Bewußtsein geltend gemachte Identität ja nicht, daß die kleine Gemse,
die ich damals wahrnahm, bis zum jetzigen Zeitpunkt der Erinnerung im
Tierpark real dieselbe geblieben ist (das könnte ich allerdings auch
meinen, aber das meine ich nicht in dieser Erinnerung), sie meint kein
reales „Verharren" des Gemsleins durch die vergangenen Tage hindurch,
sondern sie ist Identität eines wahrgenommenen Geschehnisses (jener
Kapriolen der Gemse), das als dasselbe jetzt erinnert ist und immer wie-
der erinnert werden kann. Obschon Identität eines realen Geschehnisses,
ist sie als Identität nichts Reales: das wahrgenommene und erinnerte
Geschehnis dauerte damals real eine Weile, aber seine Identität als
solche in der Erinnerung dauert schlechterdings nicht. Die Identität realer
Geschehnisse in ihrem Verhältnis zueinander macht ihre „unveränder-
liche" Stelle in der objektiven Zeit aus: Die objektive Zeit ist die ideale
Ordnung nach Sukzession und Gleichzeitigkeit solcher im Vergegen-
wärtigungsbewußtsein konstituierten und konstituierbaren identischen
Geschehnisse6•
Die durch das mittelbare Bewußtsein als solches konstituierte ideale
Identität bildet einen prinzipiellen Seinsbegriff: Was ist, ist das Iden-
tische. Dieses als ideale Identität ist das, was im allgemeinsten Sinn
„an sich" ist: es ist das eine und feste Sein gegenüber dem mannigfaltigen
wechselnden Bewußtsein, die Objektivität gegeniiber der Subjektivität.
Sein in diesem Sinne besteht nicht erst in der Aussage, sondern liegt in
jedem mittelbaren Bewußtsein. Nach diesem Seinsbegriff ist auch ein
Vergangenes und Künftiges, ein Fiktives (bloß Phantasiertes ), ein Mög-
liches, Fragliches, Nichtiges oder in seiner Existenz Dahingestelltes (bloß
Vorgestelltes), sofern es nur ein Identisches im Bewußtsein anderen
Bewußtseins ist. Dieser Seinsbegriff liegt allen anderen Seinsbegriffen

6 Vgl. H11sserliana X (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins), § 32.


Das „Subjekt" des Verstandes 65

zugrunde: Wie die elementare Struktur des Bewußtseins von Bewußt-


sein in jedem Verstandes- und Vernunftbewußtsein liegt, so setzt auch
jeder andere Seinsbegriff (Sein im Sinne der Kategorien oder der Prädi-
kation, also im Sinne der Kopula, Sein nach Möglichkeit und Wirklich-
keit oder als Existenz, Sein im Sinne der Wahrheit7) Sein im Sinne
idealer Identität voraus.

§ 21 Das „Subjekt" des Verstandes: das reine Ich

In unserer allgemeinen Kennzeichnung des Verstandes haben wir


bisher ein Moment außer acht gelassen: Im Bewußtsein von Bewußtsein
bin ich für mich 1eh, und ich bin im fundamentalsten Sinne Ich nur als
Urheber (,,Subjekt") der allgemeinen „Reflexivität" (,,Spiegelung").
Aber das Ich ist kein Substrat, sondern nichts anderes als subjektiver
Einheitsbezug des aktuellen vergegenwärtigenden und des darin ver-
gegenwärtigten Aktes (Bewußtseins). Unmittelbares, sinnliches Bewußt-
sein ist für sich genommen „ichlos", nur im Bewußtsein von anderem
Bewußtsein, also nur im Verstand, bin Ich.
In der „Spiegelung" einer Tätigkeit „erkennt" sich das Ich, genauer,
bestehe Ich. Ich ist nur im spiegelnden Bewußtsein wirklichen, möglichen
oder auch bloß :fiktiven Tuns (,,ich habe das getan", ,,ich könnte das tun"
etc.). In der Differenz des spiegelnden und gespiegelten Bewußtseins be-
steht das Ich als subjektive Einheit dieser Aktdifferenz8• Aber nicht so,
daß diese Einheit erst aus der Differenz resultieren, oder daß das Ich
zur Differenz irgendwie synthetisierend hinzukommen würde, sondern
das Ich ist in dieser Differenz, und diese Differenz ist im Ich. Diese
Differenz und diese Einheit sind gleichursprünglich, notwendige, unab-
lösbare Momente desselben Wesens.
Diese subjektive Einheit oder „Identität" ist grundverschieden von
der im mittelbaren Bewußtsein konstituierten gegenständlichen Identität.
Das Ich ist nie Gegenstand. Einmal kann das Ich nie wie der Gegen-
stand von den Bewußtseinstätigkeiten thematisch gelöst werden: Ich

7 Vgl. Aristoteles Metaphysik, LI 7; E 2 (1026 a 33 ff.); e 10 (1051 a 34 ff.).


8 Das Ich ist die subjektive Einheit der Aktdifferenz (der Differenz zwischen dem
vergegenwärtigenden und darin vergegenwärtigten Bewußtsein) und nicht etwa
„eine Beziehung auf sich selbst" (Ich auf das Ich). Die Zirkelhaftigkeit einer solchen
Theorie des Selbstbewußtseins hat D. Henrich in seinem Beitrag „Selbstbewußtsein.
Kritische Einleitung in eine Theorie" in Hermeneutik und Dialektik I (hrsgg. von
R. Bubner, K. Cramer und R. Wiehl, Tübingen 1970) dargestellt.
66 Der Verstand

kann mich an die Gemse erinnern, ohne dabei mein Wahrnehmen gegen~
ständlich zu beachten, obschon dieses Wahrnehmen notwendig in der
Erinnerung gespiegelt ist. Demgegenüber ist das Ich immer nur als „ich
tat" (oder „ich werde tun", ,,ich würde tun" etc.) und kann nicht wie
der Gegenstand für sich (sozusagen als bloßes Ich) betrachtet werden.
Aber ein wichtigerer Unterschied ist noch dieser: Das Ich kann nie zum.
Gegenstand gemacht werden, auch nicht wie ein Akt in der reinen
Reflexion. Denn das Ich „umfaßt" als Einheit immer auch den aktuellen,
,,reflektierenden" Akt, der als aktueller nie Gegenstand sein kann, son-
dern nur in einem neuen Akt zu vergegenständlichen ist, der dann aber
seinerseits notwendig ungegenständlich bleibt. Das Ich hat in seiner Ein-
heit immer auch die Aktualität und ist daher immer auch „diesseits"
des vergegenständlichenden Meinens.
Das mittelbare Bewußtsein, dessen subjektive Einheit das Ich ist,
vollzieht sich beständig im Ausgang von der Unmittelbarkeit: als Hin-
austreten (Transzendenz) aus der sinnlich-,,leiblichen" Gegenwart. Diese
Gegenwart ist in sich selbst zwar ichlos, als beständiges Fundament der
Vergegenwärtigung liegt sie aber notwendig dem Ich zugrunde; ich als
Ich basiere notwendig auf dem „Hier und Jetzt" der sinnlich-,,leib-
lichen" Unmittelbarkeit.
Wenn das Ich in dieser Weise als subjektive Einheit des mittelbaren
Bewußtseins ist, so müssen folgende Vorstellungen, die sich im Philo-
sophieren gerne einschleichen, vom Ich ferngehalten werden: Das Ich ist
kein phänomenaler · Bewußtseinsinhalt wie etwa ein andauernder
Schmerz, also kein andauerndes „Ichgefühl". Denn eine Empfindung
kann unabhängig von Akten betrachtet und vergegenständlicht werden,
was für das Ich nicht zutrifft. Weiter hat eine Empfindung ihre Einheit
in der kontinuierlichen Dauer, sie fängt an und hört auf, und was dann
nach einer Zeitpause neu beginnt, ist evtl. eine der vorangegangenen
Empfindung sehr ähnliche oder gar gleid1e Empfindung, aber nicht indi-
viduell dieselbe. Das Ich dagegen beginnt nicht und hört nicht auf, und
eine Zeitpause tut nichts an seiner Identität. Die Unterbrechung des
Schlafes etwa berührt die Ichheit in keiner Weise; wenn ich mich eines Er-
eignisses in meiner J<,indheit erinnere, besteht die Icheinheit, ohne daß ich
eine Kontinuität geltend machen müßte. Das Ich dauert überhaupt nicht
in der Zeit wie ein realer, verharrender Gegenstand; es ist kein in zeit-
licher Ausdehnung sich veränderndes (entwickelndes) oder sich nicht ver-
änderndes Substrat. Während ein Dauerndes nicht mehr ist, wa.s es war,
bin icli unter anderem in meinem vergangenen Tun und Erleben und
Das „Subjekt" des Verstandes 67

bin in jeder Vergegenwärtigung schlechthin Ich. Kurzum: ,, ... das Ich


ist nicht ... eine stehende und bleibende Anschauung, worin die Gedan-
ken (als wandelbar) wechselten. " 9
Das Ich ist auch kein Bestandteil und keine Qualität eines Aktes,
weder der aktuellen Vergegenwärtigung noch der darin gespiegelten
Tätigkeit. Denn die Icheinheit ist nichts Vergangenes und nichts Aktuel-
les und Vergehendes. Die Icheinheit ist als solche gegenüber dem zeit-
lichen Wandel unempfindlich und in diesem Sinne überzeitlich, wenn
auch nur in zeitlichen Tätigkeiten, als ihr subjektiver Einheitsbezug von
ihnen unabtrennbar. Das Ich ist auch nicht der Inbegriff aller meiner
wirklichen Akte. Denn das Ich besteht schon „ganz und gar" in jeder
einzelnen Vergegenwärtigung und ist für die Konstruktion des Inbe-
griffs aller meiner Akte bereits vorausgesetzt.
Das Ich ist nicht die unmittelbare Einheit des sinnlichen Bewußtseins,
die Einheit des unmittelbare Gegenwart hervorbringenden leiblichen
Tuns; die Icheinheit hat nichts zu schaffen mit der im sinnlichen Be-
wußtsein vorhandenen Struktur der Aufmerksamkeit oder „Konzen-
tration". Nur indem ich durch „Spiegelung" anderen Bewußtseins diesen
sinnlichen Grund, ohne ihn als Fundament zu verlassen, transzendiere,
besteht in der Differenz des vermittelnden und vermittelten Tuns die
Einheit des Ich.
Dies trifft für jede Vergegenwärtigung, für jedes Bewußtsein von
Bewußtsein, zu. Wenn ich z. B. bloß phantasiere, daß ich jetzt um den
Mond herumfliege, so „sehe" ich etwa durch das Fenster meiner Kapsel
unter mir gerade eine Gruppe von fünf Kratern vorbeiziehen: Ich „sehe"
das. Auch indem ich mir in dieser Vergegenwärtigung nicht bloß (wie in
jeder Vergegenwärtigung) bewußt bin, daß ich das Vergegenwärtigte
nicht unmittelbar oder wirklich sehe, sondern auch nie wirklich sah oder
sehen werde, bin doch ich es, der in der Phantasie die Mondkrater unter
mir „sieht". Ja auch, wenn ich mir anschaulich vergegenwärtige, was
dieser Herr dort unten auf der Straße erblickt, so kommt mir etwa der
Turm der Petruskirche „zu Gesicht", den ich von meinem Fester aus
nicht sehen kann. Obschon ich mir bewußt bin, daß nicht ich, sondern
dieser Herr dort den Turm jetzt wirklich sieht, so „sehe" ich doch in
der Vergegenwärtigung seines Sehens den Turm und bin verstehend in
diesem Nicht-Ich als Ich. Worin es liegt, daß ich in der erinnernden und
meine Zukunft erwartenden und wollenden Vergegenwärtigung das ver-

n Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 350.


68 Der Verstand

gegenwärtigte Bewußtsein mir „zueigne", während ich es in der bloßen


Phantasie und ganz anders in der verstehenden Vergegenwärtigung nicht
tue, obschon ich auch hier in einer Art Negation (nicht Ich) ,,auftrete",
bedarf weitausholender Erörterungen, die wir in dieser allgemeinen
Methodologie nicht vorwegzunehmen brauchen.
Dieses Ich, das rein in der Vergegenwärtigung auftritt, ist natürlich
nicht gleichbedeutend mit dem Ich der gewöhnlichen Rede und ist nicht
all das, womit ich mich im gewöhnlichen Leben identifiziere. Wenn ich
etwa eine Photographie von mir sehe (auch eine Photographie aus mei-
ner Kindheit), kann ich sagen: ,,Das bin ich." Es ist eine phänomenale
körperliche Erscheinung, mit der ich mich identifiziere. Oder ich kann
etwa sagen: ,,Der chef de travaux des Busserl-Archivs Löwen, das bin
ich", ich identifiziere mich also mit einer gesellschaftlichen Rolle oder
mit mehreren; oder ich sage auch: ,, Ich bin Iso Kern", wobei dieser
Name den Inbegriff meines phänomenalen gesellschaftlichen Ich reprä-
sentiert. Aber das Ich, das im Verstandesbewußtsein als solchem besteht,
ist rein für sich keine dieser phänomenalen Entitäten und Rollen, mit
denen ich mich identifiziere und die das „öffentliche Ich", das Ich für
die äußere, soziale Welt ausmachen. Diese phänomenalen Entitäten und
Rollen sind veränderlich, während ich schlechterdings Ich bin. Mit diesen
äußeren Entitäten und Rollen identifiziere ich mich, während die sub-
jektive Einheit des mittelbaren Bewußtseins nicht Gegenstand einer
Identifikation sein kann, sondern aller solchen Identifikation vorausgeht
und von dieser vorausgesetzt wird. Die ursprüngliche Icheinheit des Ver-
standes ist nichts Phänomenales oder Empirisches und in diesem Sinne
als reines Ich zu bezeichnen.
Auch wenn ich jemandem etwa sage: ,,Ich komme gleich", so wird
durch das „ich" dieses Satzes nicht das reine Ich als subjektive Einheit
der Vergegenwärtigungen, das Ich für sich selbst ist, ausgedrückt, son-
dern es bezeichnet einfach für den Angeredeten mich, den Redenden.
Aber auch in diesem, den Anderen sprachlich sich kundgebenden „ich"
ist das reine Ich vorausgesetzt.
Wenn ich ein altes Tagebuch angucke, kann ich sagen: ,,Das bin nicht
mehr ich." Womit ich mich hier nicht identifiziere oder in gewissen Punk-
ten noch identifiziere, ist kein körperliches oder gesellschaftliches Ich,
sondern sind Interessen, Überzeugungen, willentliche Ausrichtungen,
Bewertungen, es ist das, was wir noch unter dem Begriff der Persönlich-
keit erörtern werden. Auch dieses „Ich" ist etwas Veränderliches, ,,Sich-
entwickelndes", sich phänomenal Ausdrückendes und setzt das reine
Verstandesformen 69

jenseits aller Veränderung oder beständigen Unveränderung liegende


Ich voraus.
Allen diesen Ichreden, die etwas Phänomenales oder öffentliches in
die Rede bringen, liegt das reine Verstandes-Ich, das selbst nicht Phäno-
men ist und in sich selbst nicht ist, womit (als einem empirischen Wer,
Was oder Wie) es sich jeweils identifiziert, latent, von dieser Phänomena-
lität verhüllt, zugrunde.

§ 22 Verstandesformen

In den vorangegangenen Paragraphen dieses Kapitels wurde der


Verstand ganz allgemein als Bewußtsein von Bewußtsein oder allgemeine
Reflexivität (,,Spiegelung") gekennzeichnet. Als Beispiel diente dabei die
Erinnerung. Von der Bindung an dieses Beispiel möchten wir uns nun
lösen, indem wir auch andere Weisen des mittelbaren Bewußtseins, ande-
re Verstandesformen zur Geltung bringen. Dabei halten wir uns aber
ausschließlich an den Bereich des Verstandes im engeren Sinn, d. h. wir
berücksichtigen noch nicht die in die Sinnlichkeit eingreifende, der Sinn-
lichkeit durch Kultur Vergegenwärtigungsfunktion verleihende Vernunft
(,,Vernunft" hier natürlich auch im engeren, oben angedeuteten Sinne).
Dies bedeutet, daß wir in der in diesem Kapitel noch durchzuführenden
Darstellung der Verstandesformen die kategoriale oder Urteilsfunktion
nicht einbeziehen, da diese Funktion auf sinnlichen Zeichen (auf der
Sprache) beruht, also schon Kultur oder (im prägnanten Sinne) Vernunft
und nicht mehr bloßer Verstand ist. Verstand in unserem prägnanten
Sinne unterscheidet sich radikal von der bloßen Sinnlichkeit, ist aber
vorkategorial oder vorprädikativ, ist noch nicht Rede oder Logos, ent-
hält noch keine Begriffe. Er ist sozusagen das reine sich Ver-setzen in das
Abwesende und in diesem Sinn eben Ver-stehen oder Ver-stand und
nicht bloße Position (,,Stand") wie die Sinnlichkeit.
Diese Idee eines von der Sinnlichkeit wesentlich unterschiedenen,
aber noch nicht kategorialen (begrifflichen) Verstandes, bzw. von solchen
Verstandesformen, mag in Staunen versetzen, denn wir sind uns ja
geradezu gewöhnt, das von der Sinnlichkeit verschiedene, ,,obere" Ver-
mögen (den voiic;), wenn wir überhaupt einen solchen Unterschied an-
nehmen, als Logos zu denken, so daß uns ein unbegrifflicher Verstand als
eine contradictio in adiecto erscheinen will.
Das „obere", den Menschen aus der bloßen Sinnlichkeit heraushe-
bende Vermögen, die Vernunft oder den Verstand, nur als Logos zu
70 Der Verstand

denken, dieser Gedanke hat sehr weite, bis in die griechische Philosophie
reichende Wurzeln, denen ich später noch etwas nachgehen möchte10 • Die
bestimmteste, und uns heute am stärksten prägende Gestalt hat dieser
Gedanke wohl durch Kant erfahren. Nach Kant ist der Verstand gegen-
über der Sinnlichkeit das Vermögen des Denkens des Gegenstandes durch
den Begriff, das „Vermögen zu urteilen". Mag damit für Kant auch noch
nicht die ganze Vernunft voll charakterisiert sein, so beruht doch für
ihn alle Vernunft auf Urteil bzw. Begriff. Die Urteilstafel ist für ihn
die „transzendentale Tafel aller Momente des Denkens" 11, ,,die voll-
ständige Tafel reiner Verstandesfunktionen" 12. Zwar bestimmt auch
Kant den Verstand formal als „mittelbare Vorstellung", d. h. als „Vor-
stellung einer Vorstellung" 13 , aber mittelbare Vorstellung ist für ihn
eo ipso kategorial (begrifflich). Diese Identifikation des Verstandes mit
dem Vermögen zu urteilen beruht auf einer ganz bestimmten Vorstel-
lung der Funktion des Verstandes gegenüber der Sinnlichkeit: Die
Funktion der mittelbaren Vorstellung besteht nach Kant in der Einheit
der Verbindung vieler Vorstellungen, und die Vielheit ist letztlich (evtl.
vermittelt durch andere mittelbare Vorstellungen) die Vielheit der un-
mittelbaren Vorstellungen, d. h. der sinnlichen Anschauungen. Die Viel-
heit wurzelt als bloße Vielheit allein im Sinnlichen, während der Ver-
stand aufgrund der Einheit des Begriffes die Verbindung (Synthesis)
herstellt. Die reinen Verstandesbegriffe sind „bloße Formen der Ver-
knüpfung"14, .,Arten der Zusammensetzung" 15. Die Verstandestätigkeit
besteht darin, ,,die sinnlichen Vorstellungen unter Regeln zu bringen und
sie dadurch in einem Bewußtsein zu vereinigen "16, sie ist nichts anderes
als die tätige Zusammensetzung der sinnlichen Mannigfaltigkeit zur
Einheit des Bewußtseins17• Die Auffassung des Verstandes als bloße

10 Vgl. unten, § 59.


11 Kritik der reinen Vermmft, A 73, B 98.
12 Prolegomena, § 39 (Ak.-Ausg., S. 323).
13 Kritik der reinen Vernunft, A 68/69, B 93/94.
1·1 Prolegomena § 39.
15 Fortschritte der Metaphysik, A 39 (Ak.-Ausg. S. 110/11).
16 Grundlegung wr Metaphysili der Sitten, Ak.-Ausg. S. 452.
17 „Alle Vorstellungen, die eine Erfahrung ausmachen, können zur Sinnlichkeit
gezählt werden, eine einzige ausgenommen, d. i. die des Zusammengesetzten als
eines solchen. Da die Zusammensetzung nicht in die Sinne fallen kann, sondern
wir sie selbst machen müssen, so gehört sie nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit,
sondern zur Spontaneität des Verstandes ... " (Fortschritte der Metaphysik, A 51/52,
Ak.-Ausg. S. 275/6).
Verstandesformen 71

Zusammensetzung sinnlich empfangenen Materials geht sc..hon auf


Locke zurück:18 •
Diese Kantische Bestimmung des Verstandes halte ich für verfehlt.
In einer bloß sinnlichen Mannigfaltigkeit hätte der Verstand als ver-
bindende (zusammensetzende) Funktion überhaupt nichts zu tun, er wäre
hier in dieser Funktion ganz arbeitslos, völlig überflüssig; denn die sinn-
liche Mannigfaltigkeit hat (wie im nächsten Kapitel noch ausgeführt
werden soll) im unmittelbaren Bewußtsein schon ihre eigene, sinnliche
Einheit. Der Verstand besteht vielmehr primär in der Vervielfältigung
des Bewußtseins durch die „Spiegelung" (allgemeine Reflexivität} an-
deren Bewußtseins oder, m. a. W., im Durchbrechen (Transzendenz) der
unmittelbaren Einheit der sinnlichen Gegenwart durch die Vergegen-
wärtigung. Erst in Hinsicht auf diese Vielfalt des Verstandes könnte
es überhaupt Sinn haben, von einer vereinheitlichenden Funktion des
Urteils oder des Begriffs zu sprechen. Die philosophische Betrachtung
des Verstandes hat von der durch die verschiedenen Formen der Ver-
gegenwärtigung hervorgebrachten Vielfalt (die nicht in der Zerstücke-
lung der Unmittelbarkeit, sondern in ihrer Überschreitung besteht)
auszugehen19•

18 Die Tätigkeit des Verstandes (tmderstanding) oder des Geistes (mind) besteht nach
Locke in nichts anderem als im „Wiederholen, Vergleichen und Verbinden" (repeat,
compare, and unite) der bloß passiv durch innere oder äußere Wahrnehmung
(sensation and reflection) empfangenen einfachen „Ideen" (Essay, II, eh. 2, § 2).
Andere Formulierungen der Tätigkeit des Geistes bei Locke: ,,combine, set by one
another, separate" (II, 12, § 1); ,,repeat and join together" (§ 2); ,,repeat, add
together, unite" (§ 8).
19 Es ist darauf hinzuweisen, daß auch bei Kant der vorkategoriale Verstand manch-
mal zur Geltung kommt, wenn auch in ungeklärter, Verschiedenes vermengender
Weise. Ein besonders eindrücklicher Text befindet sich schon in der Schrift aus dem
Jahre 1762, Die falsche Spitzfindigkeit der syllogistischen Figuren. Zwar wird auch
hier erklärt, ,,daß die obere Erkenntniskraft schlechterdings nur auf dem Vermögen
zu urteilen beruhe" (Ak.-Ausg., S. 59). Aber Kant geht dann daran, ,,dem wesent-
lichen Unterschiede der vernünftigen und vernunftlosen Thiere besser nachzudenken",
und schreibt: ,,Wenn man einzusehen vermag, was denn dasjenige für eine geheime
Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird, so wird man den Knoten auflösen.
Meine jetzige Meinung geht dahin, daß diese Kraft oder Fähigkeit nichts anderes
sei als das Vermögen des inneren Sinnes, d. i. seine eigenen Vorstellungen zum
Objekte seiner Gedanken zu machen. Dieses Vermögen ist nidit aus einem anderen
abzuleii:en, es ist ein Grundvermögen im eigentlichen Verstande und kann, wie ich
dafürhalte, bloß verntinftigen Wesen eigen sein. Auf demselben aber beruht die
ganze obere Erkenntniskraft." (S. 60) Dieser Gedanke kommt unserer Bestimmung
des Verstandes als allgemeine Reflexivität (,,Spiegelung") nahe. Allerdings bleibt
er viel zu vage und wird durch die Idee. des inneren Sinnes grundsätzlidi verdorben
(vgl. unten das 1. Kapitel des III. Abschnittes).
72 Der Verstand

Ich möchte an dieser Stelle noch besonders betonen, daß hier nicht
zur Diskussion steht, ob faktisch jemals ein Vergegenwärtigungsbewußt-
sein, etwa eine Erinnerung, ohne sprachliche (begriffliche) Elemente vor-
kommt, sondern nur, ob prinzipiell eine Vergegenwärtigung ohne solche
Elemente vorkommen kann, d. h. ob ein vorkategorialer, vorbegrifflicher
Verstand wesensmöglich ist. Mag faktisch der bloße Verstand immer
mit Vernunftelementen (im engeren Sinn) verbunden sein und mag, um
ein analoges Problem zu nennen, unser sinnliches (unmittelbares) Be-
wußtsein faktisch immer zusammen mit Verstand und Vernunft einher-
gehen, die Frage ist hier nur, ob mittelbares Bewußtsein (Verstand)
notwendig auf Sprache angewiesen ist oder eine wesensmäßige Selb-
ständigkeit besitzt, also für sich selbst denkbar ist, bzw. ob Sinnlichkeit
(vgl. das nächste Kapitel) gegenüber Verstand und Vernunft ein eigenes
Wesen ausmacht.
Die folgende Darstellung verschiedener Verstandesformen (§§ 23 bis
26) kann nicht den Anspruch einer vollständigen Systematik erheben.
Die sich hier ergebenden Möglichkeiten auszuschöpfen, müßte den Ge-
genstand einer eigenen großen Untersuchung bilden. Doch versuchen wir
hier gleichwohl systematisch vorzugehen, indem wir uns streng von der
Idee der Vergegenwärtigung leiten lassen und im Ausgang von ihren
einfachsten Gestalten zu immer komplexeren, neue Momente implizie-
renden Formen fortschreiten, ohne jedoch den Rahmen des bloßen Ver-
standes, der im Gegensatz zur Vernunft die unmittelbare Gegenwart
noch nicht zur Vergegenwärtigungsfunktion kultiviert, zu überschreiten.
Ob wir dabei die in diesem Rahmen liegenden Möglichkeiten auch nur
den obersten Gattungen nach ausschöpfen, bleibe dahingestellt.

§ 23 Die bloße Wiederholung:


dire!ete und indirekte Reproduktion

Die einfachste Gestalt der Vergegenwärtigung ist diejenige, die in


sich nichts anderes sein will als bloße „Wiederholung" eines bestimmten
anderen Bewußtseins. Diese Weise können wir die reproduktive nennen.
Sie ist möglich als direkte Reproduktion, die nicht auf die Vermittlung
einer äußeren Erscheinung angewiesen ist, und als indirekte Reproduk-
tion, die durch eine solche Erscheinung hindurchgeht. Zur direkten Re-
produktion gehören die Wiedererinnerung (die zwar durch eine äußere
Erscheinung assoziativ „geweckt" sein kann, aber diese nicht als Medium
in ihren eigenen Vollzug hereinnimmt), die Antizipation (,,Voraus-
Reflexion als oblique Wiederholung 73

holung") oder willentliche Planung eigener künftiger Tätigkeiten und


Erlebnisse und schließlich die bloße Phantasie im Sinne der Vergegen-
wärtigung „eigener" Erlebnisse ohne ihre Eingliederung in den wirk-
lichen Zeitzusammenhang meines Erlebens. Eine indirekte, durch das
Medium einer Erscheinung sich vollziehende Reproduktion ist das Bild-
bewußtsein, z. B. wenn ich im Seespiegel (durch ihn hindurch) die um-
gebenden Berge oder mich selbst „sehe". Es kommen hier nur „natür-
liche" Bilder in Frage, d. h. solche, die nicht von der Vernunft als Bilder
,,künstlich" gebildet sind. Eine andere Form der indirekten Reproduk-
tion ist die Vergegenwärtigung fremden, auch tierischen Bewußtseins
durch das Medium eines sinnlich erscheinenden (evtl. selbst direkt oder
bildlich indirekt reproduzierten) Ausdruckes in einem weiten Sinne (sei
es des ganzen leiblichen Gebarens, sei es nur der Stimme), wobei aber
hier vom kulturellen (,,künstlichen") Ausdruck, also auch von der Spra-
che als Vernunftleistung noch abzusehen ist. Während das Reproduzierte
des „natürlichen" Bildbewußtseins auch direkt vorgestellt oder sogar
wahrgenommen werden kann, ist die Vergegenwärtigung fremden Be-
wußtseins an das Medium des Ausdrucks gebunden. Darin hat diese
Vergegenwärtigung eine gewisse Analogie, nicht zum künstlichen Bilde
überhaupt, sondern zum künstlerischen Bilde, durch das hindurch er-
scheint, was nur durch es erscheinen kann.
Auch die indirekte Reproduktion ist bloß als solche noch kein diskur-
sives, explizit beziehendes Bewußtsein. Im Bildbewußtsein oder in der
Vergegenwärtigung fremden Bewußtseins im Ausdruck wird nicht not-
wendig das Bild auf das Abgebildete (und vice versa) oder der sinnliche
Ausdruck auf das fremde Bewußtsein diskursiv bezogen, Bild und Aus-
druck sind keine vom Abgebildeten und vom fremden Bewußtsein ge-
sonderte Gegenstände, die miteinander in Beziehung gebracht würden,
sondern durch das Medium des Bildes (im Bilde) oder des Ausdrucks
(im Ausdruck) wird nur das Abgebildete bzw. das fremde Bewtißtsein
thematisch erfaßt. Im elementaren Bildbewußtsein ist noch kein diskursiv
von einem zum anderen übergehender Vergleich zwischen Bild und
Abgebildetem enthalten; ein solcher Vergleich setzt das elementare Bild-
bewußtsein schon voraus.

§ 24 Die Reflexion als oblique Wiederholung

Während die (direkte und indirekte) Reproduktion das vergegen-


wärtigte Bewußtsein „unüberlegt", ,,geradewegs" wiederholt (z. B. in
74 Der Verstand

der Erinnerung „sehe ich nochmals" die Gemse), spiegelt eine komplexere
Grundform der Vergegenwärtigung, die Refiexion im prägnanteren Sinn,
das wiederholte Bewußtsein nicht mehr „gleichsinnig", nicht mehr in
gleicher Interessenrichtung, sondern in einer Umwendung oder „Um-
orientierung", indem sie ihr Interesse nicht mehr auf das richtet, worauf
das vergegenwärtigte Bewußtsein, bzw. dessen bloße Reproduktion,
thematisch achtet, sondern ihre Intention auf irgendein im vergegen-
wärtigten Bewußtsein unthematisches Moment desselben zurückbiegt.
Sie erfaßt irgendein Moment im vergegenwärtigten Bewußtsein, das
zwar in dieses Bewußtsein gehört, aber in ihm selbst nicht gegenständlich
ist. Dieser .prägnantere Reflexionsbegriff unterscheidet sich also sowohl
von der bloßen „Rückkehr" zu vergangener Tätigkeit (s. oben § 7) als
auch von der allgemeinen Reflexivität oder Spiegelung (s. oben § 16).
Da das vergegenwärtigte Bewußtsein selbst ein vergegenwärtigendes,
und ein vergegenwärtigendes verschiedenster und kompliziertester Art
sein kann (Iteration der Vergegenwärtigung!), ist auch die hier in Frage
stehende Reflexion mannigfaltiger Art. Ganz allgemein zu differenzieren
wäre etwa zwischen: 1. der Reflexion auf Erscheinungen (Aspekte, An-
sichten, Perspektiven, auch Farbenperspektiven), 2. der Reflexion auf
die Sprache (Rede, aber nicht im Sinne des Redeaktes) und logische For-
men (eine Reflexion, die sich selbst aber nicht notwendig sprachlich
artikulieren muß), 3. der Aktreflexion, 4. der Reflexion auf den unbe-
achteten Hintergrund (Umgebung, Innen- und Außenhorizont) des im
vergegenwärtigten Bewußtsein thematischen Gegenstandes, 5. der Re-
flexion· auf die unthematischen Motive der vergegenwärtigten Tätigkeit.
Allgemein könnte man diese Reflexion als oblique Wiederholung von
Bewußtsein bezeichnen. Sie „weiß" sich selbst als eine solche, indem sie
sich des Unterschiedes zwischen der Interessenrichtung des „gespiegelten"
Bewußtseins und ihrer eigenen, ,,spiegelnden" Richtung inne ist.
Die oblique Wiederholung setzt die gerade (die bloße Reproduktion)
voraus. Nur aufgrund einer bloßen Wiederholung ist diese Umwendung
in ihr möglich; nur was erst geradewegs wiederholt ist, kann in der
Vergegenwärtigung selbst diese Umwendung erfahren. Die Reflexion 1st
keine schlichte Wahrnehmung (Gegenwärtigung) innerlich vorhandener
Vorstellungen, sondern geschieht nur in einer „Spiegelung" oder Verge-
genwärtigung von Bewußtsein20• Daher ist das aktuelle (nicht „wieder-

10 Mit diesen Fragen wird sich sehr eingehend das 1. Kapitel des III. Abschnittes
auseinandersetzen.
Die modalisierende Wiederholung 75

holte") Bewußtsein in seiner Aktualität nicht reflektierbar. Das will


aber nicht heißen, daß die oblique Wiederholung notwendig eine oblique
Wiederholung einer geraden Wiederholung (also eine Vergegenwiirti-
gung zweiten Grades) sei, denn dies würde bedeuten, daß z.B. nur das
erinnernde (vermittelnde) Bewußtsein, nicht aber ein erinnertes (ver-
mitteltes, selbst aber unmittelbares) Bewußtsein reflektierbar, daß also
überhaupt nur mittelbares Bewußtsein reflektierbar sei. Reflektierbar ist
zwar nur vergegenwärtigtes Bewußtsein - Reflexion ist also immer im
vergegenwärtigenden Bewußtsein -, aber es ist nicht bloß vergegen-
wärtigendes (mittelbares) Bewußtsein reflektierbar.

§ 25 Die modalisierende Wiederholung

In der „Spiegelung" von Bewußtsein durch Bewußtsein kann aber


auch noch anderes geschehen: In einer Erinnerung z. B. betrachte ich
evtl. das damals Wahrgenommene und Geglaubte als nichtig, als eine
Illusion (z.B. als bloßen Traum oder als eine Täuschung: ich nahm ein
Haus wahr, es war aber ein bloßer Felsen). Oder in der Vorausholung
(Voraus-Erinnerung) steht mir evtl. das zu Erlebende nicht schlechthin
als Wirklichkeit, sondern bloß als Möglichkeit vor Augen. Die Vergegen-
wärtigung kann also in sich die Position des vergegenwärtigten Bewußt-
seins modifizieren, d. h. den identischen Gegenstand in einem gegenüber
dem vergegenwärtigten Bewußtsein modifizierten Seinsmodus (,,Sein"
nicht im Sinne der Identität wie im § 20, sondern im Sinne der Gültig-
keit oder Position) zur Geltung bringen. Auch in dieser Weise ist also
Vergegenwärtigung nicht bloße Wiederholung, sondern sie ist hier Aus-
einandersetzung in ihr selbst: Enthaltung, ,,Infragestellung", Vernich-
tung, aber auch Bestätigung, und konstituiert dadurch den identischen
Gegenstand als ein Dahingestelltes, Fragliches, Nichtiges, in seiner Gel-
tung Bestätigtes. Der Verstand zeichnet sich dadurch aus, daß er auf-
grund des in ihm selbst geschaffenen Abstandes zwischen Bewußtsein und
Bewußtsein Stellung zu sich selbst nehmen: der vergegenwärtigten Stel-
lung sich enthalten, sie in Frage stellen, sie aufheben oder sie auch be-
stätigen kann.
Alle diese Positionsmodalitäten brauchen nicht notwendig in der
Sprache zu stehen; es gibt z. B. das Bewußtsein der Nichtigkeit einer
Position ohne Vollzug einer sprachlichen Negation.
76 Der Verstand

Diese Modalisierungen der vergegenwärtigten Position (die selbst


schon eine modalisierte Position sein kann, wenn das vergegenwärtigte
Bewußtsein selbst schon ein vergegenwärtigendes ist, also auch die Moda-
lisierungen sind iterierbar) geschehen wohl nur im Zusammenhang ande-
rer Positionen, die die Modalisierung der vergegenwärtigten Position
veranlassen. Eine bestimmte erinnerte Wahrnehmung z. B. kann nur
aufgrund einer anderen Wahrnehmung zur Illusion modalisiert werden.
Aber es handelt sich hier wohl nicht schon notwendig um ein diskursives
(beziehendes, von einem zum anderen übergehendes) Bewußtsein: die
Motivation zur Modalisierung kann ohne explizit beziehenden Vergleich
zwischen den verschiedenen (sich widerstreitenden, in Frage stellenden,
bestätigenden etc.) Positionen spielen. Wenn ich mich z.B. nach dem
Erwachen an das Geträumte (das im Traum Wahrgenommene) erinnere,
gewinne ich ein Illusionsbewußtsein, ohne daß ich notwendig „Wach-
welt" und „Traumwelt" miteinander vergleichend in Beziehung setzen
müßte, obschon die Traumwelt ihren illusionären Charakter nur von
der Wachwelt her erhält. Vergegenwärtigte Positionen können aufgrund
anderer Positionen modalisiert (in ihrer Geltung modifiziert) werden,
ohne daß die beiden Geltungen explizit konfrontiert werden.
Im Gegensatz zum Verstand mit seinen Nichtigkeiten, Möglichkeiten,
Wahrscheinlichkeiten, aber auch bestätigten Geltungen lebt das sinnliche
Bewußtsein in einer schlichten, unmittelbaren Positivität. Auch das sinn-
liche Bewußtsein ist nicht ungetrübte Gewißheit, sein „Glaube" kann in
einzelnen Apperzeptionen (Auffassungen) enttäuscht, gebrochen, ge-
hemmt, verdrängt, geschwächt, aber auch wieder gekräftigt werden, es
kann zögern, in Unsicherheit und Zwiespalt geraten und danach streben,
diese Unsicherheit und Zwiespältigkeit zu überwinden. Aber es hebt in
sich keine Nichtigkeiten, Möglichkeiten, Fraglichkeiten auf, es konsti-
tuiert keine Gültigkeit in ihren verschiedenen Modalitäten des Bestätigt-
seins, Nichtseins, des Möglich-, Fraglich- und Wahrscheinlichseins. Das
sinnliche Erleben ·ist reine Positivität in verschiedenen Graden der
Kraft, und was in ihm seine Geltungskraft einbüßt, verschwindet. Nur
in der „Revision" (Wiederholung) kann eine Position aufgegeben und in
dieser Nichtigkeit (auch eine Gültigkeit!) erhalten, bewahrt bleiben; nur
in der Vergegenwärtigung bestehen Möglichkeiten, Fraglichkeiten, über-
haupt Positionsmodalitäten als solche. Das sinnliche Bewußtsein geht
nicht nur ganz in seiner fließend sich wandelnden „Perspektive" (unmit-
telbaren Gegenwart) auf, sondern es ist auch schlechthin mit seiner durch
Brüche und Zwiespältigkeiten hindurchgehenden schlichten Positivität
Die vorsprad1liche Rekognition 77

eins, während der Verstand in der Transzendenz dieses unmittelbaren


Bodens durch „ Wiederholung" die Kritik der Geltungen in Gültiges,
Ungültiges, Fragliches usw. vollzieht und dadurch überhaupt erst Gültig-
keit in ihren Modalitäten konstituiert.

§ 26 Die vorsprachliche Rekognition

Eine weitere Weise und Komplikation der Vergegenwärtigung ist das


Wiedererkennen oder die Rekognition. Im elementarsten Falle erkennt
diese Weise der Wiederholung im gegenwärtig Gegebenen der Wahr-
nehmung das Gegebene anderer, vergegenwärtigter Wahrnehmung als
ein Identisches wieder. Z.B. ich erkenne einen mir sonst unbekannten
Herrn, den ich jetzt im Restaurant sehe, als denselben wieder, der sich
am vergangenen Tage in einem Schiff auf dem Thuner See mir gegenüber
befand. Dieses Wiedererkennen eines Vergangenen im Gegenwärtigen
ist notwendig diskursiver Natur: ich gehe von einem zum anderen über
(im Beispiel vom Herrn vor mir zum Herrn auf dem Schiff und umge-
kehrt), ich habe eine Doppelheit, die ich identifizierend in Beziehung
setze. Es handelt sich hier um eine diskursive (von einem zum anderen
übergehende, beziehende) Identifikation, die eine doppelte Gegenständ-
lichkeit in eins setzt, und nicht bloß um eine einfache Identifikation
(mit nur einer Gegenständlichkeit, wenn auch in doppeltem Bewußtsein),
wie sie schon in der bloßen Vergegenwärtigung (Reproduktion) voll-
zogen ist.
Auch die Rekognition ist in sich nicht notwendig sprachlich oder
begrifflich. Um jenen Herrn wiederzuerkennen, brauche ich seinen Eigen-
namen nicht zu kennen, ich benötige dazu ebensowenig Allgemeinbe-
griffe wie „Herr", ,,groß", ,,alt", ,,Schiff" etc., obschon solche Begriffe
immer mitspielen können und faktisch (aber nicht notwendig) auch
immer mitspielen. Sie sind keineswegs notwendige Bedingungen dieser
Rekognition. Weiter gibt es nicht bloß ein vorsprachliches Wiederer-
kennen von realen Individuen, sondern ebenso möglich ist ein vorsprach-
liches Wiedererkennen von Typen: wie wenn ich etwa, ohne die Namen
zu wissen, eine Pilz- oder Schmetterlingsart als solche wiedererkenne.
Solches typisches Wiedererkennen geschieht nicht bloß in Fällen, in denen
ich den Namen des Typus nicht kenne oder der Typus noch keinen
Namen hat, aber nach seiner Entdeckung doch einen erhalten wird,
sondern auch in Fällen, wo eine solche Namengebung gar nicht üblich
ist, wie wenn ich z. B. aus persönlicher Erfahrung verschiedene typische
78 Der Verstand

Menschenschläge (physiognomisch und charakterlich), verschiedene Stim-


mungen (,,Atmosphären") in Gesellschaften oder verschiedene Leibes-
emp:6.ndungen unterscheide und wiedererkenne, ohne je an allgemeine
Namen zu denken. Die These, daß das Wiedererkennen einer idealen
Einheit Worte voraussetzt, würde einen regressus in infinitum enthalten.
Denn auch ein lautliches Wort (z.B. ,,Pferd", ,,Haus" usw.) ist ja kein
reales Individuum, sondern ein ideales, als Identisches wiederholbares
Lautschema, das nach jener These auch nur wiederum durch ein anderes
Wort wiedererkannt werden könnte und so in infinitum.
Die Rekognition des Verstandes darf nicht verwechselt werden mit
der Vertrautheit als Charakter des sinnlichen Umfeldes. Z. B. dem Hund
ist seine Hütte, sein Meister, sein Revier usw. vertraut, er kennt sie;
auch wir kennen die vertrauten Leute und Dinge unseres gewöhnlichen
Umgangs, ohne daß wir dabei ein Wiedererkennen vollziehen müßten.
Nur in der Rekognition wird ein anderes Bewußtsein "gespiegelt", nur
in ihr erkenne ich im Gegenwärtigen Nichtgegenwärtiges als solches
wieder.
Alle diese in den vorigen Paragraphen angeführten Verstandesfor-
men haben wir als vorbegrifflich hingestellt. Der Verstand erweist sich
als ein mannigfaltiges Vermögen, ohne schon das „Vermögen der
Begriffe" oder das „Vermögen zu urteilen" zu sein. Die hier dargestellten
Formen müssen als solche sowohl als prinzipiell vorbegrifflich als auch
als übersinnlich (über der Sinnlichkeit liegend) angesprochen werden.
Als solche scheinen sie sich allerdings manchmal auch Kant wider seinen
Willen geradezu aufzudrängen, denn sie erinnern ja etwas an seine
„Synthesis der Einbildungskraft", besonders an seine „Synthesis der
Reproduktion in der Einbildungskraft" (die der „Synthesis der Rekogni-
tion im Begriff" vorangeht) in ,der 1. Auflage der Kritik der reinen Ver-
nunft oder etwa an das „Vermögen der Vergegenwärtigung des Ver-
gangenen und Künftigen durch die Einbildungskraft" in der Anthropo-
logie21. Doch hat Kant weder in der 1. noch in der 2. Auflage der
Kritik der reinen ;Vernunft noch sonstwo die Einbildungskraft wirklich
als vorbegrifflichen Verstand gedacht. Gerade die, Schwierigkeiten, die
die Idee der Einbildungskraft Kant bereitete, weisen auf ein prinzipiel-
leres Ungenügen Kants hin: auf seine verfehlte Bestimmung des Ver:..
hältnisses von Sinnlichkeit und Verstand. Damit werden wir uns 1m
ersten Paragraphen des nächsten Kapitels(§ 27) auseinandersetzen.

11 A. a. O., Ak.-Ausg., S. 182.


2. Kapitel
Die Sinnlichkeit

§ 27 Übergang zur Problematik der Sinnlichkeit.


Kritische Auseinandersetzung mit Kant

In unseren Ausführungen über den Verstand wurde die Sinnlichkeit


in Gegenüberstellung als unmittelbares oder schlichtes Bewußtsein ge-
faßt. Im folgenden soll versucht werden, dieses unmittelbare Bewußtsein
in sich selbst zu charakterisieren.
Ich möchte hier kritisch an Kant anknüpfen. Unser Versuch, Sinn-
lichkeit und Verstand (bzw. Vernunft) prinzipiell zu unterscheiden und
für sich zu betrachten, erweckt den Eindruck einer Rückkehr zu Kant1 •
Die nachkantische Philosophie zeichnet sich ja durch die Aufhebung
eines solchen radikalen Unterschiedes aus, indem im deutschen Idealismus
und in der begrifflichen Ausprägung noch bis in Busserls Phänomenolo-
gie die Sinnlichkeit vom Verstande absorbiert wird, während die Reak-
tion gegen diesen Intellektualismus die ganze Aufmerksamkeit dem
sinnlich-leiblichen Fungieren schenkt und die Verstandesfunktion weit-
gehend auf dieses Fungieren zurück.zuleiten versucht und nicht als eige-
nes, ursprüngliches Prinzip sieht. Aber unser Unternehmen ist kein
,,Zurück zu Kant" im üblichen Sinn. Vielmehr möchte ich zu zeigen ver-
suchen, daß gerade die Kantische Vernunftkritik den Unterschied von
Sinnlichkeit und Verstand im Keime zerstört und daß das nachkantische
Verschwinden dieses Unterschiedes sich als eine Folge aus der Kantischen
Philosophie ergibt. Unser „Zurück zu Kant", um die Unterscheidung
von Sinnlichkeit und Verstand zu etablieren, hat ausschließlich einen
kritischen Sinn: Es gilt, das Verschwinden dieses radikalen Unterschiedes
in der neuen Philosophie an ihrer Quelle zu erfassen, um ihn durch ihre
Kritik hindurch zum klaren Vorschein zu bringen.

1 Kritik der reinen Vernunft: "' .. zuerst die Sinnlichkeit isolieren" (A 22 / B 36).
„In der transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand (so wie oben in der
transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit)" (A 62 / B 87).
80 Die Sinnlichkeit

Die Sinnlichkeit zeichnet sich in der Kritik der reinen Vernunft durch
folgendes aus:
1. Sie tut nichts. Sie ist bloße Rezeptivität (Empfänglichkeit) des
Subjekts, bloße Fähigkeit der Affektion oder Modifikation (affiziert oder
modifiziert zu werden), sie ist keine Fähigkeit der Funktion. '
2. Für sich genommen ist sie bloße (empirische, d. h. auf Empfindung
beruhende, oder reine, Raum und Zeit bedingende) Mannigfaltigkeit
und bietet überhaupt keine Einheit: keinen Zusammenhang, keine Kon-
figuration, keine Gestalt, keinen Kontext, keine Kontinuität, keine Affi-
nität von Inhalten2 ; sie bietet nicht einmal eine Mannigfaltigkeit als
solche, denn um eine solche bewußt zu haben, bedürfte es schon eines
einheitlichen Bewußtseins dieser Mannigfaltigkeit8• Die Sinnlichkeit
bringt in sich nicht etwa Raum- und Zeitvorstellungen hervor, sondern
enthält dazu nur formale apriorische Voraussetzungen, denn zu solchen
Anschauungen bedarf es der Synthesis, die als Spontaneität nicht sinn-
lich ist4• Für sich genommen sind die Momente der sinnlichen Mannig-

2 A. a. 0., A 113.
3 A. a. 0., A 99, 103.
' ,,Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde (wie etwa
in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltig-
keit und dann die Zusammennehmung desselben notwendig, welche Handlung ich
die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung
gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und
zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Syn-
thesis bewirken kann. Diese Synthesis der Apprehension muß nun auch a priori,
d. i. in Ansehung der Vorstellungen, die nicht empirisch sind, ausgeübt werden.
Denn ohne sie würden wir weder die Vorstellungen des Raumes, noch der Zeit
a priori haben können: da diese nur durch die Synthesis des Mannigfaltigen,
welches die Sinnlichkeit in ihrer ursprünglichen Rezeptivität darbietet, erzeugt
werden können" (a. a. 0., A 99/100). Aber nicht nur Synthesis der Apprehension,
sondern auch Synthesis der Reproduktion, mit der jene „unzertrennlich verbunden"
(A 102) ist, ist für die Raum- und Zeitanschauung notwendig: ,, Würde ich aber die
vorhergehenden (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden Teile der Zeit oder
die nacheinander vorgestellten Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren und sie
nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine
ganze Vorstellung und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht einmal die
reinste und erste Grundvorstellung von Raum und Zeit entspringen können."
(A 102) ,.Der Raum, als Gegenstand vorgestellt ... , enthält mehr als bloße Form
der Anschauung, nämlich Zusammen/assung des mannigfaltigen nach der Form der
Sinnlichkeit Gegebenen in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der
Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vor-
stellung gibt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik zur Sinnlichkeit gezählt, um
nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis,
die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit
möglich werden, voraussetzt" (B 161 Anm.).
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 81

faltigkeit in bezug aufeinander „ganz fremd, gleichsam isoliert und ...


getrennt" 5 • ,,Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält,
mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreut und
einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig,
welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können" 6• Kant spricht zwar
in der 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft von der „Synopsis des
Mannigfaltigen a priori durch den Sinn" 7, womit er doch der Sinn-
lichkeit die Fähigkeit zu einer Zusammenschau oder zu einem Zusam-
menhang zuzusprechen scheint. Aber schon zwei Seiten darauf erklärt
er: ,,\Venn ich also dem Sinn deswegen, weil er in seiner Anschauung
Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis beilege, so korrespondiert dieser
jederzeit eine Synthesis, und die Rezeptivität kann nur mit Spontaneität
verbunden Erkenntnis möglich machen" 8 • M. a. W., die Synopsis beruht
auf einer Synthesis (der Apprehension und Reproduktion) und gehört
dadurch gar nicht mehr zur bloßen Sinnlichkeit; konsequenterweise
spricht die zweite Auflage von keiner „Synopsis durch den Sinn" mehr.
Die Momente der sinnlichen Mannigfaltigkeit sind nach Kant bloß
punktuell, sie sind „in einem Augenblick enthalten" 9 ; an sich sind die
Empfindungen unräumlich und unzeitlich10 und werden erst aufgrund
der formalen Beschaffenheit der Rezeptivität von einem spontanen Ver-
mögen zu Raum- und Zeitgestalten verbunden.
3. Schließlich erklärt Kant von der Sinnlichkeit, daß sie „nichts ist
und uns nicht im mindesten etwas anginge", wenn sie nicht in die Ver-
standeseinheit der transzendentalen Apperzeption aufgenommen wäre11 •
Soll Sinnlichkeit für uns überhaupt etwas sein, soll es überhaupt sinn-
liche Erscheinungen geben, so müssen sie in Beziehung zum ursprüng-
lichen Selbstbewußtsein (Ich) stehen12 •
Kants Auffassung der Sinnlichkeit kann nur in ihrem Verhältnis zu
Kants Idee der Spontaneität voll gewürdigt werden. Es kann uns nicht
sosehr auf verbale Abgrenzungen ankommen als auf seine Sicht der
ganzen Verfassung des „Gemüts". Schon in der ersten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft wird der Verstand in einem weiten Sinne

s A. a. 0., A 97.
o A. a. 0., A 120.
1 A. a. 0., A 95.
s A. a. 0., A 97.
0 A. a. 0., A 99.
10 A. a. 0., A 167/8; B 209/10.
11 A. a. 0., A 116; vgl. A 111 und 112.
12 A. a. 0., A 111/12, 119, 127.
82 Die Sinnlichkeit

einfach mit der »Spontaneität des Erkenntnisses" gleichgesetzt18 • Aber


nach dieser Auflage fallen unter den Titel der Spontaneität doch zwei
,,ursprüngliche Quellen (Fähigkeiten oder Vermögen der Seele)" 14, näm-,
lieh die Einbildungskraft und die Apperzeption. Die Einbildungskraft
wird in dieser Auflage noch klar als ein „Grundvermögen der mensch-
lichen Seele" aufgefaßt15, ,,das von keinem anderen Vermögen des
Gemüts abgeleitet werden kann" 16, während die zweite Auflage von
dieser Position abrücken wird. Gehen wir diesen Verhältnissen etwas.
nach.
Nach der ersten Auflage ist die Einbildungskraft das Vermögen der
Synthesis schlechthin17• Sie ist hier „eine blinde, obgleid1 unentbehrliche
Funktion der Seele" 18• An sich ist ihre Synthesis noch nicht intellektuell,
sondern sinnlich: Die reine Apperzeption (das stehende und bleibende
Ich) ,,ist es nun, welche zu der reinen Einbildungskraft hinzukommen
muß, um sie intellektuell zu machen. Denn an sich selbst ist Synthesis
der Einbildungskraft, obgleich a priori ausgeübt, dennoch jederzeit sinn-
lich, weil sie das Mannigfaltige nur so verbindet, wie es in der An-
schauung erscheint, z.B. die Gestalt eines Triangels. Durch das Ver-
hältnis des Mannigfaltigen aber zur Einheit der Apperzeption werden
Begriffe, welche dem Verstand angehören, aber nur vermittels der Ein-
bildungskraft in Beziehung auf die sinnliche Anschauung zustande
kommen können" 19• Die Synthesis der Einbildungskraft ist nach der
ersten Auflage in sich noch nicht begrifflich, sie birgt auch nicht „unbe-
wußt" irgendwelche begriffliche Einheit in sich. ,,Diese Synthesis (der
Einbildungskraft) auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die
dem Verstande (der Apperzeption) zukommt, wodurch er uns allererst
Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschafft" 20• Wenn nun aber die
Einbildungskraft, dieses „notwendige Ingredienz der Wahrnehmung" 21,
in sich blind (durch die Blindheit kennzeichnet Kant die sinnliche An-
schauung ohne Begriff), sinnlid1, nicht intellektuell ist, was verbietet es
ihm dann eigentlich, die Einbildungskraft schlechthin zur Sinnlichkeit

1a A. a. 0., A 51; B 75.


u A. a. 0., A 94, 115.
1r. A. a. O., A 124.
18 A. a. 0., A 94.
17 A. a. O., A 78; B 103.
18 Ebenda.
10 A. a. 0., A 124.
2n A. a. 0., A 78; B 103.
21 A. a. 0., A 120, Anm.
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 83

zu rechnen? Weil nach ihm Sinnlichkeit eben nur Rezeptivität, Synthesis


der Einbildungskraft aber Spontaneität ist, so könnte man antworten.
Aber damit ist ja nichts erklärt, denn das Problem besteht gerade darin,
warum Kant die Sinnlichkeit nicht auch als Spontaneität auffassen
konnte, wenn es nach ihm eine Synthesis gibt, die in sich blind, nicht
intellektuell, ,,an sich selbst noch jederzeit sinnlich" ist.
Der Grund dafür ist der entscheidende Punkt für Kants Auffassung
des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand. Kant konnte die an
sich nicht-intellektuelle Spontaneität der Einbildungskraft deshalb nicht
als Sinnlichkeit fassen, weil nach ihm die Einbildungskraft, sofern von
der transzendentalen Apperzeption und der in ihr enthaltenen begriff-
lichen Einheit, also vom Verstand im prägnanten Sinn, abgesehen wird,
wohl „durchgeht, aufnimmt und verbindet" 22, aber doch keine Einheit,
keinen wirklichen Zusammenhang zustande bringt. In der Sinnlichkeit
selbst liegt nach Kant überhaupt keine Einheit, sondern alle Einheit ist
nach ihm Einheit aus dem Verstande. So kann die Synthesis der Ein-
bildungskraft (wenn sie nicht schon wie in der zweiten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft eine Wirkung des Verstandes selbst auf die
Sinnlichkeit ist) überhaupt nur im Hinblick auf den Verstand, d. h. nur
als ein zwischen der sinnlichen Mannigfaltigkeit und der Verstandes-
einheit vermittelndes Vermögen, ,,durch das die äußersten Enden, näm-
lich Sinnlichkeit und Verstand ... notwendig zusammenhängen" 23, und
nicht als Sinnlichkeit schlechthin bestehen. Führen wir dies etwas ge-
nauer aus.
Ohne die reine begriffliche Verstandeseinheit könnte nach Kant die
Einbildungskraft regellose, sozusagen völlig verrückte Verbindungen
herstellen; d. h., sie hätte gar keinen Grund, die Empfindungsmomente so
und nicht anders zu verbinden. Ohne den transzendentalen Verstandes-
begriff wäre die Synthesis „eine Rhapsodie von Wahrnehmungen, .die
sich in keinen Kontext nach Regeln ... schicken würde" 24 , sie wäre
,,regellos herumschweifende Einbildungskraft" 25, ,,kein bestimmter Zu-
sammenhang der Vorstellungen, sondern bloß regellose Haufen" 26 ; ohne
transzendentalen Grund begrifflicher Einheit ,;würde es möglich sein, daß

22 A. a. 0., A 76/77; B 102.


23 A. a. 0., A 124.
24 A. a. 0., A 156; B 195.
25 Anthropologie, Ak.-Ausg., S. 177.
2° Kritik der reinen Vernunft, A 121.
84 Die Sinnlichkeit

ein Gewühle von Erscheinungen unsere Seele erfüllete" 27• Ein solches
„blindes Spiel der Vorstellungen" wäre „weniger als ein Traum" 28, es
wäre für uns „so viel als gar nichts" 29, da es nicht in die Einheit des
Verstandes, in die Identität des ursprünglichen Selbstbewußtseins (Ap-
perzeption) aufgenommen werden kann: ,,Wollen wir nun den inneren
Grund dieser Verknüpfung der Vorstellungen bis auf denjenigen Punkt
verfolgen, in welchem sie alle zusammenlaufen müssen, um darin aller-
erst Einheit der Erkenntnis zu einer möglichen Erfahrung zu bekom-
men, so müssen wir von der reinen Apperzeption anfangen. Alle An-
schauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas
an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können, sie
mögen nun direkt oder indirekt darauf einfließen ... "30 Daß die sinn-
lichen Erscheinungen, wie Kant sagt, eine Affinität haben, aufgrund
derer sie nach Regeln reproduzierbar, d. h. assoziabel sind, beruht nicht
in der Sinnlichkeit, sondern auf dem Grundsatz der Apperzeption, d. h.
auf dem Verstand 31 • ,,Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald
leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische
Gestalt verändert werden, am längsten Tag bald das Land mit Früchten,
bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Ein-
bildungskraft nicht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung
der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekom-
men ... "32 Ohne regelmäßigen Zusammenhang oder Affinität der Er-
scheinungen „würde es auch etwas ganz Zufälliges sein, daß sich Er-
scheinungen in einen Zusammenhang der menschlichen Erkenntnisse
schickten. Denn ob wir gleich das Vermögen hätten, Wahrnehmungen zu
assoziieren, so bliebe es doch an sich ganz unbestimmt und zufällig, ob
sie auch assoziabel wären; und in dem Falle, daß sie es nicht wären, so
würde eine Menge Wahrnehmungen und auch wohl eine ganze Sinnlich-
keit möglich sein, in welcher viel empirisches Bewußtsein in meinem
Gemüt anzutreffen wäre, aber getrennt ... " 33 Die „durchgängige Affi-
nität der Erscheinungen" ist aber nur durch die Gesetzmäßigkeit,
die a priori im Verstande liegt (in der transzendentalen Apper-

27 A. a. 0., A 111.
28 A. a. 0., A 112.
2~ A. a. 0., A 111.
30 A. a. 0., A 116.
31 A. a. 0., A 122.
32 A. a. 0., A 100/101.
33 A. a. 0., A 121/22.
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 85

zeption) begreiflich34 • Nach dem Grundsatz der transzendentalen Apper-


zeption „müssen durchaus alle Erscheinungen so ins Gemüt kommen ...,
daß sie zur Einheit der Apperzeption zusammenstimmen, welches ohne
die synthetische Einheit in ihrer Verknüpfung . . . unmöglich sein
würde" 35 • Würde man also nach Kant der Sinnlichkeit selbst Spontanei-
tät der Synthesis zuschreiben, bzw. würde man die Einbildungskraft
bloß als Sinnlichkeit betrachten (ohne daß sie durch den Verstand
intellektuell gemacht ist), so wäre die Sinnlichkeit in sich selbst Ver-
rücktheit: ohne innere Einheit des Bewußtseins bzw. ohne regelmäßigen
oder geordneten Zusammenhang der Erscheinungen eben ein „bloßes
Gewühl". Erst durd1 den reinen Verstandesbegriff erhält die Synthesis
der Einbildungskraft ein Prinzip der Einheit36 •
Der in Kants Auffassung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und
Verstand liegende Gedanke, daß eine spontane (verbindende) Sinnlich-
keit ohne die Einheit des Verstandes ein Chaos darstellen würde, hat
zwei Stufen: Auf einer ersten Stufe erklärt Kant bloß, daß ohne die
notwendige Einheit der Apperzeption die Affinität der Erscheinungen
„zufällig", bzw. ein Gewühl von Erscheinungen „möglich" wäre37• Es
bliebe also doch die Möglichkeit einer bloß sinnlichen Verbindung, die
eine regelmäßige Ordnung bilden würde, wenn diese auch wegen des
Fehlens eines Prinzips der Einheit ohne jede Notwendigkeit,. ganz zu-
fällig, ja, ob der weitaus größeren Anzahl von Möglichkeiten der Un-
ordnung wohl ganz unwahrscheinlich wäre. Auf einer radikaleren Stufe
der Besinnung wird aber selbst einer solchen bloß zufälligen sinnlichen
Ordnung ohne Einheit des Verstandes jegliche Realität genommeri 38•
Selbst wenn zufälligerweise die Erscheinungen ohne die Verstandesein-
heit eine Regelmäßigkeit (Affinität) aufweisen würden, so bildeten sie
doch keinen einheitlichen, umfassenden Zusammenhang, in dem solche
Regelmäßigkeit überhaupt zur Geltung kommen könnte, denn Kant er-
kennt der Sinnlichkeit überhaupt kein einheitliches „organisierendes"
Prinzip zu, auf das die Verbindung zu beziehen wäre und für das sie
Sinn hätte. Also selbst wenn die Erscheinungen zufällig eine regelmäßige
Verbindung hätten, wären sie doch außerhalb der Verstandeseinheit des
ursprünglichen Selbstbewußtseins, die die einzige Bewußtseinseinheit ist,

31 A. a. 0., A 113/14.
3 .1 A. a. 0., A 1~2.
3" A. a. 0., A 78/79; B 104, A 103 ff.
37 Vgl. z.B. A 111, 124.
38 Vgl. z.B. A 116 ff., 123.
86 Die Sinnlichkeit

„für uns so viel als gar nichts" 39 , ,,also überall nichts" 40 • In diesem Sinne
ist für Kant die empirische Affinität die „bloße Folge" der transzenden-
talen Affinit~it, die nirgends anders als in der transzendentalen Apper-
zeption anzutreffen ist 41 • Kants These, daß die Identität des transzen-
dentalen Selbstbewußtseins das einzige Prinzip der Bewußtseinseinheit
(Einheit der Vorstellungen) sei, kann auch objektiv gewendet werden
und besteht dann darin, daß die Identität des transzendentalen Gegen-
standes X (das Verstandesobjekt) den einzigen einheitlichen Zusammen-
hang von Erscheinungen begründen könne: ,, ... die Einheit, welche der
Gegenstand notwendig macht, ist nichts anderes als die formale Einheit
des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellun-
gen "42. ,,Also ist das ursprüngliche und notwendige Bewußtsein seiner
selbst zugleich ein Bewußtsein einer ebenso notwendigen Einheit der
Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d. i. nach Regeln, die ...
ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d. i. den Begriff von
etwas, darin die Erscheinungen notwendig zusammenhängen. " 43
Wenn die an sich nicht-intellektuelle Einbildungskraft überhaupt nur
im Hinblick auf den Verstand sich sinnvoll betätigen kann und daher
nicht einfach zur Sinnlichkeit zu rechnen ist, so ist nun aber ihre Stellung
in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft als ein ursprüng-
liches Grundvermögen der Seele problematisch: Könnte sich dieses Ver-
mögen nicht doch sinnlos oder „verrückt" gebärden? Warum muß es sich
in seinen Synthesen überhaupt nach der begrifflichen Einheit richten,
wie kann es überhaupt als blindes Vermögen diese Einheit „zur Absicht
haben" 44 ? Warum muß in der Synthesis der Einbildungskraft eine
begriffliche Identität der Funktion zur Geltung kommen, die alle Syn-
thesis der empirischen Apprehension einer transzendentalen Einheit
unterwirft und den Zusammenhang dieser Synthesis nach Regeln oder
Begriffen a priori möglich macht45 ? Was macht diese Teleologie not-
wendig, ja überhaupt möglich? Die Antwort, die Kant darauf in der
ersten Auflage zur Verfügung hat, ist nicht befriedigend: ,,Alle An-
schauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas

39 A. a. 0., A 120.
40 A. a. 0., A 120.
41 A. a. 0., A 113/14, 122.
42 A. a. 0., A 105.
43 A. a. 0., A 108 (meine Hervorhebung).
41 A. a. 0., A 123.
45 Vgl. a. a. 0., A 108.
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 87

an, wenn sie nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden können ...
Wir sind uns a priori der durchgängigen Identität unserer selbst in
Ansehung aller Vorstellungen, die zu unserem Erkenntnis jemals gehö-
ren können, bewußt, als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit
aller Vorstellungen (weil diese in mir doch nur dadurch etwas vorstellen,
daß sie mit allem andern zu einem Bewußtsein gehören, mithin darin
wenigstens müssen verknüpft sein können). Dieses Prinzip steht a priori
fest und kann das transzendentale Prinzip der Einheit alles Mannig-
faltigen unserer Vorstellungen (mithin auch in der Anschauung)
heißen. " 46 Die Synthesis der Einbildungskraft muß den Verstandes-
kategorien gehorchen, weil sonst ihre Vorstellungen gar nicht in der
durchgängigen Identität des Selbstbewußtseins bewußt werden könnten,
und „ohne das Verhältnis zu einem, wenigstens möglichen Bewußtsein
(seil. Selbstbewußtsein) würde Erscheinung ... überall nichts sein" 47•
Aber dieses "überall nichts" bedeutet doch nur jenes „für uns nichts", und
jenes „für uns nichts" ist nur der Verstand. Wenn aber die Einbildungs-
kraft wirklich ein ursprüngliches Grundvermögen unserer Seele ist, ist
nicht einzusehen, warum sie nicht ohne Rücksicht auf die durchgängige
Identität des Selbstbewußtseins (des Verstandes) in sich selbst in einem
eigenen Sinne für uns ein Bewußtsein ausmachen könnte, das allerdings
nach Kant mangels eines eigenen Einheitsprinzips wirr und letztlich
sinnlos sein müßte48•
In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hilft Kant
diesen Schwierigkeiten ab. Die Einbildungskraft ist kein eigenes Grund-
vermögen der Seele mehr. Die Stellen, in denen Sinn, Einbildungskraft
und Apperzeption als drei ursprüngliche Quellen der Seele exponiert
werden49, sind weggelassen; nur im Schematismuskapitel, das unver-
ändert in die zweite Auflage übernommen ist, obschon es eigentlich gar
nicht ihrer Grundkonzeption entspricht (und daher auch von den mei-
sten Neukantianern, die sich an die zweite Auflage hielten, beiseite-
geschoben wurde), wird noch beiläufig zweimal auf diese ursprüngliche
Dreiheit verwiesen50 • Die neue Konzeption der zweiten Auflage besteht

" A. a. 0., A 116.


47 A. a. 0., A 120; vgl. A 117.
48 In der zweiten Auflage spricht Kant von der Möglidtkeit bewußter Vorstellungen,

die in sidt nicht die Identität des Bewußtseins enthalten, nämlich von der Möglidt-
keit des „vielfärbigen Selbst" ( B134).
48 A. a. 0., A 94/95, 115.
50 A 115; B 194 und A 158; B 197.
88 Die Sinnlichkeit

in einem neuen Verhältnis von Verbindung (Synthesis) und ursprüng-


licher Einheit des Bewußtseins. War die Synthesis in der ersten Auflage
die Wirkung eines blinden, also un-verständigen Grundvermögens und
als solche in sich vom Verstande (Apperzeption) unabhängig, so macht
nun nach der zweiten Auflage die Einheit die Synthesis überhaupt erst
möglich: ,,Aber der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriff des
Mannigfaltigen und der Synthesis desselben noch den der Einheit des-
selben mit sich, Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit
des Mannigfaltigen. Die Vorstellung der Einheit kann also nicht aus der
Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vor-
stellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung
allererst möglich. " 51 Die Synthesis wird zwar auch noch als Vorausset-
zung der Bewußtseinseinheit bezeichnet52 , aber es ist eine „Vorausset-
zung", die nicht unabhängig von demjenigen besteht, von dem es vor-
ausgesetzt wird, sondern in ihm selbst enthalten ist: ,,Nämlich diese
durchgängige Identität der Apperzeption enthält eine Synthesis der
Vorstellungen und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis mög-
lich. "53 Dieses eigenartige Verhältnis einer Voraussetzung, die selbst das-
jenige voraussetzt, wodurch sie vorausgesetzt wird, bedeutet im Grunde
die Identität (von Einheit und Synthesis): ,,Ich bin mir einer notwendi-
gen Synthesis der Vorstellungen a priori bewußt, welche die ursprüng-
liche synthetische Einheit der Apperzeption heißt, unter der alle mir
gegebenen Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine
Synthesis gebracht werden müssen." 54 Die ursprüngliche Einheit der
Apperzeption wird also selbst zur Synthesis. In der ersten Auflage war
die ursprüngliche Apperzeption als eine statische, ,,unwandelbare" 55
Einheitsform gedacht. Zwar ist sie auch da nur im Bewußtsein der
,,Identität der Funktion möglich, wodurch sie das Mannigfaltige synthe-
tisch in einer Ei~heit: ·verbindet" 56, aber diese identische Funktion ist
Einheit in der Synthesis der Einbildungskraft, auf die sich die transzen-
dentale Apperzeption „bezieht": ,,Die synthetische Einheit alles Mannig-
faltigen setzt eine Synthesis voraus oder schließt sie ein ... Also bezieht
sich die transzendentale Einheit der Apperzeption. auf eine reine Syn-

51 B 130/31.
52 A. a. 0., B 134/35.
53 A. a. O., B 133.
54 A. a. 0., B 135/36.
65 A. a. 0., A 107.
M A. a. 0., A 108.
Problematik der Sinnlichkeit. Auseinandersetzung mit Kant 89

thesis der Einbildungskraft als eine Bedingung aller Zusammensetzung


des Mannigfaltigen in der Erkenntnis. "57 Der Verstand wird in der
ersten Auflage entsprechend definiert als die Einheit der Apperzeption
in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft58• Während die
ursprüngliche numerische Einheit oder Identität des Bewußtseins in der
ersten Auflage statisch als „stehendes urid bleibendes Ich" bezeichnet
wird59, heißt sie in der zweiten Auflage „Ich denke" 66 , wodurch ihr
Tatcharakter angezeigt ist. Das „Ich denke" ist ein „Aktus der Sponta-
neität" oder der Selbsttätigkeit61 , und diese Tätigkeit ist $ynthesis62 •
Entsprechend wird nun auch die Einbildungskraft, deren Wirkung die
Synthesis in der ersten Auflage war, in den Verstand aufgelöst. Zwar
gibt es auch noch in der transzendentalen Deduktion der Kategorien
der zweiten Auflage Einbildungskraft, aber nicht mehr als eigenes,
unableitbares Grundvermögen der Seele, sondern als „Wirkung des Ver-
standes auf die Sinnlichkeit" 63 • Entsprechend unterscheidet Kant hier
zwischen zwei verschiedenen transzendentalen ·Synthesen: der reinen
Verstandesverbindung (synthesis intellectualis) und der figürlichen Syn-
thesis (synthesis speciosa) der Einbildungskraft. Diese figürliche Syn-
thesis ist aber nicht etwa gegenüber der Verstandesverbindung eine
eigenständige Tätigkeit, sondern sie ist mit dieser identisch, sofern diese
nicht bloß in sich „in Ansehung des Mannigfaltigen der Anschauung
überhaupt" gedacht, sondern konkret als Bestimmung unserer Sinnlich-
keit betrachtet wird: Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft
ist der synthetische Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn64 • Sie
ist nur eine „Benennung" des Verstandes, sofern er auf die Sinnlichkeit
(das passive Subjekt) wirkt, es affiziert (Selbstaffektion). Die sich in der
ersten Auflage stellende Frage, warum die blinde Einbildungskraft sich
in ihren Verbindungen nach der begrifflichen Verstandeseinheit richten
müsse; ist in der zweiten Auflage „gelöst", genauer, hinfällig geworden~
In einer Anmerkung gibt Kant noch die Erklärung: ,,Auf solche Weise

67 A. a. 0., A 118.
68 A.a.0.,A 119.
611 A. a. 0., A 123.
80 A. a. 0., B 131.
et A. a. 0., B 132, 157/58.
82 „Der Verstand ist selbst nichts weiter als das Vermögen, a priori zu verbinden
und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu
bringen ••• " (B 134/35; vgl. B 144, 145, 153).
aa A. a. 0., B 152.
" A. a. 0., B 154.
90 Die Sinnlichkeit

wird bewiesen, daß die Synthesis der Apprehension, welche empirisch


ist, der Synthesis der Apperzeption, welche intellektuell und gänzlich
a priori in der Kategorie enthalten ist, notwendig gemäß sein müsse. Es
ist ein und dieselbe Spontaneität, welche dort unter dem Namen der Ein-
bildungskraft, hier des V crstandes, Verbindung in das Mannigfaltige
der Anschauung hinein bringt. " 65
Die vorstehenden Ausführungen wollten zeigen, wie die Auflösung
des prinzipiellen Unterschiedes von Sinnlichkeit und Verstand, bzw. die
Absorption der Sinnlichkeit durch den Verstand im Deutschen Idealismus
bis in Husserls Transzendentalphilosophie (obschon in Husserls phäno-
menologischen Analysen die Sinnlichkeit zu ihrem ursprünglic..½en Rechte
drängt) bei Kant angelegt ist66 • Schon nach den Definitionen der ersten
Auflage der Kritik der reinen Vernunft tut die Sinnlichkeit nichts,
bewirkt keinen Zusammenhang, keine Gestalt, sie ist bloße Rezeptivität.
Dennoch wurde hier die blinde, noch nicht intellektuell gemachte Ein-
bildungskraft als „an sich selbst jederzeit sinnlich"angesprochen, so daß
nach dieser weiteren Auffassung die Sinnlichkeit doch in sich die Spon-
taneität hätte, Erscheinung hervorzubringen. Entscheidend war jedoch,
daß dieser sinnlichen Produktion kein einen eigenen Zusammenhang
stiftendes sinnliches Einheits- oder Organisationsprinzip zuerkannt
wurde, so daß sie sich selbst als haltlos erweisen mußte. Die zweite Auf-
lage zog nur die Konsequenzen: Alle Bewußtseinsleistung ist hier kate-
goriale Verstandesleistung. Dadurch ist die Absorption des sinnlichen
Lebens durch den Verstand (,,Verstand" hier immer im Sinne Kants als
kategorialer Verstand) im Grunde vollzogen. Denn ein Vermögen, das
nichts tut und nichts tun kann, ist auch nichts, um mit Leibniz zu reden;
jedenfalls kann es ohne Leistungsausfall aus dem Produktionsapparat
der Transzendentalphilosophie entlassen werden, nach dem „Geiste"
Kants, wenn vielleicht auch nicht nach seinem „Buchstaben". Dies ist
umso leichter möglich, als in der zweiten Auflage der Kritik der reinen

Gö A. a. 0., B 162, Anm. (meine Hervorhebung).


66 Natürlich hat auch Kants Auffassung der Sinnlichkeit als bloße Passivität oder
Rezeptivität (Empfänglichkeit) wiederum ihre historischen Wurzeln, die sich über
den englischen Empirismus (vor allem Locke) bis zu Descartes zurückverfolgen
ließen: die facultas sentiendi ist nach Descartes bloß passiv, sie rezipiert bloß die
ideae rerum sensibilium, die von den res corporeae ursächlich produziert ( producere,
efficere) werden (Meditationes, VI, A. T. VII, S. 79/80). Ja, schon bei Platon ist
die Reduktion der Sinnlichkeit zugunsten der Vernunft angelegt. Diesen Zusam-
menhängen wollen wir aber erst in den Schlußbetrachtungen (§ 59) etwas genauer
nachgehen.
Reine konkrete Gegenwart. Begriff der Tätigkeit 91

Vernunft der Verstand selbst als affizierendes Prinzip, als Selbstaffek-


tion oder Selbstbestimmung in Beziehung auf das „passive Subjekt" (den
inneren Sinn), auftritt, so daß nun im deutschen Idealismus der ganze
Bewußtseinsprozeß als autarke unbewußte und bewußte, sich begren-
zende und die Begrenzung wieder aufhebende Vernunftentwicklung
interpretiert werden konnte; das Ich des Verstandes wurde zur alleinigen
„Ursache" der Transzendentalphilosophie. Kant warf der Leibnizischen
Philosophie vor, daß sie den Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand
anstatt als transzendentalen (den Ursprung und Inhalt betreffend) als
bloß logischen, nämlich als Unterschied von deutlicher und undeutlicher
Vorstellung betrachte67 • Doch hat gerade Leibniz mit seiner Unterschei-
dung von deutlicher (abgehobener) oder undeutlicher Perzeption einer-
seits und reflexiver Apperzeption andererseits den Unterschied von Sinn-
lichkeit und Verstand viel ursprünglicher gefaßt. Und doch liegt auch
schon bei ihm der entscheidende Keim der kommenden Entwicklung:
Das Ich oder „etwas dem Ich Analoges" ist das einzige Einheitsprinzip
des Lebens; alle andere Einheit ist nur phänomenal, in Wirklichkeit ein
bloßes Aggregat, ein bloßer Haufen. Das Ich (als Ich des Verstandes)
ist damit bereits zu dem einen Punkte geworden, in dem notwendig alle
Bewußtseinswirklichkeit, alles Leben als in seinem transzendentalen
Prinzip zusammenlaufen muß.
Den vorstehenden Untersuchungen entnehmen wir, daß, wenn wir
eine Eigenständigkeit des Sinnlichen gegenüber dem Verstand behaupten
wollen, es uns vor allem darum gehen muß, das Sinnliche nach seinen
ihm eigenen „Kräften" der Organisation oder Zusammenhangsbildung
zu befragen. Keineswegs soll aber behauptet werden, daß diese sinnliche
Einheit eine absolute, in sich abgeschlossene und für immer unaufschließ-
bare sein müsse.

§ 28 Die Frage nach der Sinnlichkeit


als Frage nach der reinen konkreten Gegenwart.
Der Begriff der Tätigkeit

Im Gegensatz zu Kant fassen wir die Sinnlichkeit als Bewußtsein:


als schlichtes, unmittelbares Bewußtsein oder als reine Gegenwärtigung.
Wenn wir vom Verstanöe, d. h. von der Vergegenwärtigung und ihrer

81 Kritik der reinen Vernunft, A43/44; B 61/62.


92 Die Sinnlichkeit

subjektiven Einheit (dem Ich), absehen, so bleiben vom Selbst nicht ein
unorganisierter Haufen oder an sich zerstreute und einzelne, einander
ganz fremde Augenblicke, die für uns nichts sind, sondern wir haben
dann schlichtes Bewußtsein reiner konkreter Gegenwart. Die Frage nach
der Sinnlichkeit ist die Frage nac.1. dem Bestand dieses Gegenwarts-
bewußtseins: Woraus besteht reine Gegenwart, wie organisiert oder bil-
det sie sich in und aus sich selbst als einheitliches Bewußtsein?
Sinnlichkeit ist Bewußtsein. Damit ist sie schon als Aktivität (Tätig-
keit) behauptet, denn ein Bewußtsein ohne Tätigkeit ist ein Widersinn.
Wenn man sich die Sinnlichkeit ohne jede Aktivität als Inbegriff bloßer
"Empfindungsdaten" (sense-data) vorstellt, die irgendwie in den „See-
lenraum" hineingekommen sind oder auf die „Seelentafel" aufgedrückt
wurden, verfälscht man den rein reflexiv zu denkenden Sachverhalt voll-
ständig durch ein phänomenales Phantasiebild. Empfindungen sind für
uns nichts, also überhaupt nichts, wenn wir uns ihnen nicht irgendwie,
sei es auch noch so unaufmerksam, zuwenden oder uns von ihnen abwen-
den. Wird eine Empfindung so, daß wir uns überhaupt nicht mehr zu
ihr irgendwie zuwendend oder widerstrebend verhalten können, z. B.,
überwältigt uns ein Schm.erz vollständig, so fallen wir in Ohnmacht,
werden bewußtlos. Oder umgekehrt, widerstreben wir einem Schmerz
in keiner Weise mehr, so hört er überhaupt auf, als Schmerz empfunden
zu sein. Es ist durchaus sinnvoll, von der Passivität des Bewußtseins
zu sprechen (wir werden dies auch noch tun), aber auch Leiden und
Passivität enthält notwendig Aktivität.
· Was ist aber Tätigkeit, elementarste, sozusagen minimale Tätigkeit,
oder genauer, was können wir als die notwendige und ausreichende
Bedingung betrachten, um etwas als Tätigkeit ansprechen zu können?
Tätigkeit ist wesentlich ein öffnen von Zukunft, ein „Sich-bestimmen"
von der Zukunft her, ein Sich-vorausspannen, ein Vorauslangen, ein
Sich-vorhalten eines Zukunftsraumes. Dadurch unterscheidet sich die
Tätigkeit vom Geschehen,. das nur durch die Vergangenheit bestimmt ist,
etwa von einem Reflex oder einem Automatismus. Während im Ge-
schehen nur bereits Seiendes wirkt, während ein bloßes Geschehen eigent-
lich schon geschehen ist (,,les jeux sont faits"), wirkt in der Tätigkeit
noch nicht Seiendes, Zukunft. Dieses •Sich-vorhalten von Zukunft ist
nicht etwa ein bloßer Drang, ein bloßer Impuls, eine bloße Tendenzi
diese sind noch keine Tätigkeiten, sie können auch bewußtlos sein. Eihe
Kugel, die man oben auf eine schiefe Ebene legt, hat die Tendenz
hinunterzurollen; Pflanzen haben Entwicklungs-:-,. Wachstumstendenzen,
Reine konkrete Gegenwart. Begriff der Tätigkeit

den Heliotropismus; wir haben in uns unbewußte Triebe und Tendenzen.


Aber all das ist kein Sich-vorhalten von Zukunft, ist nicht von·· der
Zukunft, sondern nur von der Vergangenheit her bestimmt, und des-
halb auch keine Tätigkeit. In der Tätigkeit ist schon wirklich und wirk-
sam, was noch nicht ist, es ist wirklich im Bewußtsein, es ist in ihm
vorausgenommen. Tätigkeit ist Sich-Zukunft-vorhalten, und Sich-Zu-
kunft-vorhalten ist Bewußtsein. Bewußtsein und Tätigkeit sind äqui-
valente Begriffe: Jede Tätigkeit ist Bewußtsein, jedes Bewußtsein ist
Tätigkeit; Eine "bewußtlose Tätigkeit" wäre ein bloßer Reflex, ein
bloßer Automatismus oder ein bloßer Drang etc., also keine Tätigkeit.
Sinnliches Bewußtsein ist unmittelbare Tätigkeit, d. h. sie »spiegelt"
keine andere Tätigkeit, auch keine künftige Tätigkeit. M. a ..W., das
Sich-Zukunft-vorhalten der sinnlichen Tätigkeit ist kein Sich-versetzen
in die Zukunft, es ist kein (aktuelles) Bewußtsein eines anderen, künfti-
gen Bewußtseins, keine Vergegenwärtigung einer künftigen Gegenwart,
die die unmittelbare Gegenwart verdecken würde, es ist also keine Ent-
gegenwärtigung, es springt nicht aus der Gegenwart hinaus in eine mehr
oder weniger entfernte Zukunft, sondern schafft überhaupt erst Gegen-
wart, die nur Gegenwart in die unmittelbare Zukunft hinein ist. Gegen-
wart besteht überhaupt nicht ohne Offenheit der Zukunft, ohne das
Vorhalten von Zukunft in der Tätigkeit.
Das sinnliche Leben in der unmittelbaren Gegenwart langt immer
voraus, es ist auf das Weiter gerichtet, es wendet sich in ihr nie zurück,
seine Richtung oder sein Verfangen geht nie ins Vergangene; nicht als ob
d.ieVergangenheit für es als mögliche Richtung der Hinwendung bestän-
de, die es nur faktisch aus irgendwelchen Gründen nie verwirklichte,
sondern das Weiter ist überhaupt die einzige mögliche Richtung des un-
mittelbaren Lebens. Eine Hinwendung zur· Vergangenheit ist wiederho-
lendes, mittelbares.Bewußtsein. Das sinnliche Bewußtsein, das nicht mehr
vorauslangt, verliert sein~. Gegenwart, ~s hört auf'. Bewußtsein ZU sein,
und "versinkt in Schlaf".
Nach Busserl gehören zur konkreten Gegenwart drei unselbständige
Intentionen: Urimpression des Aktuellen (Jetzt), Retention des in die
Vergangenheit Versinkenden und Protention des Kommenden. Die Pro-
tenticin bezeichnet Husserl als eine „von der Nahretention motivierte
Abwandlung der Retention", als eine „vorgestülpte Erinnerung" 88• Das
Vorhalten (Protention) wäre also nach Busserl weniger ursprünglich als

es Siehe Husserliana XI, S. 289.


94 Die Sinnlichkeit

das Zurückhalten (Retention), nur seine „Abwandlung". Es ist aber


darauf zu achten, daß Busserl mit der „Protention" gar nicht das
ursprüngliche Vorauslangen oder Vorhalten des unmittelbaren Bewußt-
seins faßt, sondern damit eine Induktion meint. Protention ist nach ihm
unmittelbare erschließende Vorzeichmmg oder Antizipation des Kom-
menden (des unmittelbaren Zukunftshorizontes) aufgrund einer Ähn-
lichkeitsassoziation: ,,Gemäß dem als geschehen retentional Bewußten
ist ein Neues gleichen Stils als kommend ,zu erwarten"' 69 ; das Kom-
mende wird in Analogie zum Vergangenen als so und so erwartet70 • So
ist für Busserl die Protention ein „vorgeworfener Schatten" 71 , d. h.
eine Projektion der Vergangenheit als Erwartung in die Zukunft72, und
nur so kann er sagen, daß die Erwartung oder „Protention" gegenüber
der Reproduktion (Retention) höherstu:fig, d. h. eine „Abwandlung"
sei73• Damit ist aber vom ursprünglichsten Vorauslangen des unmittel-
baren Bewußtseins, das noch gar kein erwartungsmäßig bestimmtes Vor-
greifen oder Vorzeichnen sein muß, nicht die Rede. Bei Busserl kommt
diese ursprünglichste Tendenz auch zur Sprache, aber nicht unter dem
Titel der Protention, sondern in seiner Feststellung, daß die Intentionali-
tät vorwiegend der Zukunft zugerichtet sei74, d. h. daß in der passiven
Wahrnehmung das Gerichtet-sein primär in der protentionalen Linie

69 A. a. 0., S. 186.
70 „Wenn ich so für unmittelbare Antizipation oder Induktion, die im Aufbau der
Wahrnehmung Protention heißt, unmittelbare Kraft vindiziert habe, die aus der
unmittelbaren Fülle der momentanen Wahrnehmung und Retention stammt, so habe
ich nur noch beizufügen, daß diese Kraft eine Kraft der unmittelbaren Analogi-
sierung ist" (F I 32, Sommersemester 1927, S. 152 b).
71 Httsserliana XI, S. 287.
72 ,, ••• so projizier' sich jede einheitlich konstituierte Vergangenheit, also jede ein-
heitlich abfließenae Sukzession, möge sie auch schon leer vorstellig gewesen sein, als
Erwartung in die Zukunft" (a. a. 0., S. 186). ,,Und weiter kommt nun für uns
dazu das Gesetz der analogisierenden Protention, wonach ein Analogon der
assoziativ geweckten Vergangenheit in die Gegenwart und ein Analogon des ver-
gangenen Werdens, also der vergangenen Gewordenheiren (der vergangenen Vor-
gänge), die in der entsprechenden Bewußtseinslage im Verlauf des Werdens waren,
in die Gegenwart als quasi-werdende projiziert werden. Und so entspringt in der
Gegenwart ein Bewußtsein eines Analogons eines Werdens, das aber nicht ein
Erinnerungsbewußtsein, sondern ein Analogon eines Erinnerungsbewußtseins ist;
und andererseits, so wie die Erinnerung eines vergangenen Werdens vorgerichtet
ist in bekannte, weil schon in Kenntnis gekommene Zukunft, so ist das Analogon
vorgerichtet in eine Zukunft, die zwar nicht bekannte, aber Analogon einer
bekannten ist" (a. a. 0., S. 287/88).
73 A.a.O., S.119/20, 290.
74 A. a. 0., S. 156; vgl. Husserliana X, S. 106.
Reine konkrete Gegenwart. Begriff der Tätigkeit 95

liege75, während die Retention ursprünglich keine Intention im Sinne des


Gerichtet-seins enthalte76 • Es müßte aber gesagt werden, daß dieses Vor-
gerichtetsein ursprünglicher ist als alle Protention im Sinne einer durch
die Vergangenheit motivierten Vorzeichnung oder Induktion. Es gilt,
dieses ursprüngliche Sich-vorhalten von Zukunft nicht erst als „vorge-
worfenen Schatten" der Vergangenheit zu denken, denn ein solcher
„Schatten" setzt schon ein „Vor" voraus, in das er geworfen werden
kann. Ein Sich-vorausspannen liegt schon in einem bloßen Empfinden
von Schmerz und Lust, die, um empfunden zu sein, nicht nach Analogie
mit dem Vergangenen induzieren müssen.
Die Vorausspannung- (Protention) der sinnlichen Tätigkeit bezeichnet
den ,,_Schwerpunkt" der unmittelbaren Gegenwart, aber sie macht nicht
schon für sich selbst diese Gegenwart aus, sondern ist nur ein unselbstän-
diges Moment der konkreten Gegenwärtigung. Jede Gegenwärtigung,
jedes sinnliche Bewußtsein, enthält Momentan-Aktuelles. Mit dem Vor-
halten der unmittelbaren Zukunft ist notwendig verbunden ein Gewah-
ren, ,,wo man sich im Moment befindet". Für sich gedacht ist das Vor-
halten nur das Moment der Lebenseröffnung, sozusagen des unmittel-
baren „Interesses" zu leben, das ein Wesenszug des sinnlichen Lebens,
aber noch nicht das konkrete sinnliche Leben selbst ist. Nur in der
Affektion des Aktuellen ist die sinnliche Tätigkeit und ihre Voraus-
spannung irgendwie bestimmt und erzeugt eine Bewußtseinsgegenwart;
ohne ihren Inhalt und Anhalt ist kein unmittelbares Bewußtsein. Ande-
rerseits kann aber das Aktuelle auch nicht schlechthin als „absoluter
Anfang" des Bewußtseins bezeichnet werden, wie Husserl dies voi;i der
Urimpression oder Uremp:6.ndung sagt77, denn im „absoluten Anfang"
des Bewußtseins, das unmittelbare Tätigkeit ist, ist auch schon die Vor-,
ausspannung. Nur in ·der sich vorausspannenden sinnlichen Tätigkeit gibt
es ein momentan-aktuelles Bewußtseinsmoment. Allerdings hat das
Momentan-Aktuelle in der unmittelbaren Gegenwart gegenüber ihrer
Vorausspannung insofern eine eigene Ursprünglichkeit, als es in seinem
Gehalt nicht von ihr abgeleitet werden kann. Das Vorhalten der sinn-
lichen Tätigkeit ist vielmehr nur aufgrund aktueller Affektion inhalt-
lich bestimmt und ausgerichtet. Wohl aber wirkt im Gange der sinn-
lichen Tätigkeit diese Bestimmung und Ausrichtung des Vorhaltens auf

1a A. a. 0., S. 74, 77.


78 A. a. 0., S. 77.
77 Husserliana X, S. 100.
96 Die Sinnlichkeit

das zurück, was im stetigen Wandel der Gegenwart immer neu als
Aktuelles auftritt, so daß· dieses in seinem Inhalt und affektiven Relief
nach Vordergrund und Hintergrund protentional geprägt, aber nie
schlechthin aus der Protention abzuleiten ist.
Im stetigen Gang des sinnlichen Bewußtseins ist alles Momentan-
Aktuelle stetig im Vergehen, es ist in der unmittelbaren Gegenwart nie
»Seiendes", sondern stetig Entwerdendes, Vergehendes. Aktuelles gibt es
nur mit "Vergangenheit", die ein weiteres notwendiges Moment der
konkreten unmittelbaren Gegenwart, bzw. des sinnlichen Bewußtseins
ausmacht. Die Erhaltung (Retention) des Vergangenen als solchen in der
unmittelbaren Gegenwart hängt von der Vorausspannung der sinnlichen
Tätigkeit ab:. Das· zeitliche Versinkende ist sinnlich in dem Maße noch
lebendig oder abgehoben ( = gegenwärtig), als es „zukunftsweisend", für
das Weiterleben noch von Bedeutung ist. Das sinnliche Bewußtsein er-
hält sich .das am Leben, woraus es seine Vorausspannung orientiere.q
kann und muß; läßt dieses Sich-vorausspannen nach, so schrumpft die
noch sinnlich gegenwärtig gehaltene· Vergangenheit zusammen, sie ent-
fällt umso schneller in das „unterschiedslose Dunkel" 78. Aber wie schon
gesagt, ist dieses Erhalten des Vergangenen in der sinnlichen Gegenwart
im unmittelbaren Bewußtsein niemals eine Zuwendung zum Vergan-
genen (in diesem Sinne niemals eine Intentionalität zum Vergangenen),
sondern das Vergangene bleibt der sinnlichen Ausrichtung immer »im
Rücken".
Wir haben damit auf die notwendige Zeitstruktur des unmittelbaren
Bewußtseins oder, was dasselbe ist, der unmittelbaren Gegenwart hin-
gewiesen79. Diese Gegenwart besitzt aber nicht nur einen zeitlichen,

18 Beispiel der Abhängigkeit der Retention von der Protention: Ich liege auf dem
Sofa und will der Siesta frönen. Plötzlich brummt eine dicke Fliege im Zimmer
herum und ärgert mich. Da hält sie endlich still, beginnt jedoch kurze Zeit darauf
wieder, gegen die Fensterscheiben anzuschlagen. So mehrmals. Wenn es still wird,
erwarte ich schon im unmittelbaren Bewußtsein des vergangenen Sausens d_en Neu-
beginn des Sausens (was mein Bewußtsein natürlich wach hält). Erwarte ich das
Sausen nicht mehr, dann fällt auch· die Retention dahin - und ich schlafe, wenn
ich nichts anderem nachgehe.
19 Obschon es wohl keinen Sinn gibt, irgendeinem notwendigen Moment der sinn.;.
Heben Gegenwart, die allein konkret besteht, einen Primat zuzuschreiben, wie
Heidegger dies in Sein und Zeit bezüglich der Zukunft tut (die Zeitigung „bestimmt
sich" nach ihm „primär" aus der Zukunft, sie ist „das primäre Phänomen der
ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit" (a. a. 0., S. 329)), so macht die Vor-
ausspannung doch die notwendige Richtung der unmittelbaren Gegenwart aus und
besitzt darin ihre Auszeichnung. Aber keineswegs darf daraus auf einen Vorzug der
Zukunft überhaupt, also auch der durch Vergegenwärtigung vermittelten Zukunft
Die Unmittelbarkeit der konkreten sinnlichen Gegenwart 97

sondern auch immer schon einen räumlichen Sinn. Die unmittelbare


Zeitigung ist nicht irgendwie ursprünglicher oder fundamentaler als die
unmittelbare Raumkonstitution, denn die sinnliche Tätigkeit ist als
solche Selbstbewegung in dem im vorangegangenen Abschnitt umrissenen
transzendental-räumlichen Sinn. Aber bevor ich auf die Räumlichkeit
der sinnlichen Gegenwart eingehe, möchte ich noch in kritischer Ausein-
andersetzung mit Kant und Busserl zu zeigen versuchen, daß die ange-
deuteten zeitlichen Strukturen des sinnlichen Bewußtseins keinerlei Mit-
telbarkeit (Bewußt;ein von Bewußtsein) enthalten, also wirklich sinn-
lich sind.

§ 29 Die Unmittelbarkeit der konkreten sinnlichen Gegenwart.


Kritische Auseinandersetzung mit Kant und Busserl

In der transzendentalen Deduktion der ersten Auflage der Kritik der


reinen Vernunft, in der Kant von den ursprünglichsten Bewußtseins-
leistungen aus die transzendentale Bewußtseinseinheit zu fassen versucht,
stellt er unter dem Titel der Synthesis der Reproduktion in der Einbil-
dung die Notwendigkeit der Erhaltung des synthetisch Durchlaufenen
(Apprehendierten) im Fortgang des Vorstellens dar: "Würde ich aber
(z.B. beim Ziehen einer Linie) die vorhergehenden (die ersten Teile der
Linie ...) immer aus den Gedanken verlieren und sie nicht reproduzie-
ren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze
Vorstellung und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nicht ein-
mal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit
entspringen können. Die Synthesis der Apprehension ist also mit der

geschlossen werden. Der hier vorliegende Unterschied wird von Heidegger nicht
zur Geltung gebracht; es wird von ihm eine das unmittelbare Bewußtsein (die
Sinnlichkeit) kennzeichnende Struktur als Struktur des „Daseins" überhaupt auf-
gefaßt. Hier geht es ja nicht um graduelle Differenzen mehr oder weniger ferner
Zukunft und Vergangenheit, sondern um den prinzipiellen Unterschied des
,.Zuki11ift" und „Vergangenheit" unmittelbar in sich schließenden sinnlichen Gegen-
wartsbewußtseins und .des mittelbaren, diese ganze sinnlich\? Gegenwart transzen-
dierenden und in der Anschauung verdeckenden Vergegenwärtigungsbewußtseins,
das als Erinnerung, Erwartung, Phantasie, Einfühlung usw. eine andere (vergangene,
künftige, eingebildete, fremde usw.), entgegenwärtigte „Gegenwart", die ihrerseits
ihre eigene unmittelbare „Vergangenheit" und „Zukunft" enthält, reflektiert (,.spie-
gelt"). Die sinnliche Gegenwart ist das beständige Fundament jeder Art von
Vergegenwärtigung. In dieser Hinsicht von einem Primat der Zukunft zu sprechen,
ist jedenfalls verkehrt.
98 Die Sinnlid1keit

Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden. " 80 Was hier bei


Kant zur Geltung kommt (wenn aud1 nicht ausdrücklicli in der Reinheit
des unmittelbaren Bewußtseins und durcli den Begriff der Reproduktion
eigentlicli sclion verfälsclit), ist das notwendige Moment der Erhaltung
oder Retention in der unmittelbaren Gegenwärtigung. Kant fährt nun
aber fort: ,,Ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe
sei, was wir einen Augenblick zuvor dacliten, würde alle Reproduktion
in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein " 81 ; aus diesem Gedanken
entwickelt er für alles einheitliclie Bewußtsein die Notwendigkeit der
Synthesis der Rekognition im Begriff, die eine Identifizierungssynthese
ist. Hier ist der entscheidende Punkt, an dem Kant jedes Bewußtsein zu
einem mittelbaren oder Verstandesbewußtsein (ja sogar zu einem begriff-
liclien) erklärt und das sinnliclie Bewußtsein in seiner Eigenständigkeit
verliert. In Wirklichkeit aber liegt in der reinen Gegenwärtigung keiner-
lei Identifikation, und dennoch ist ihre Retention niclit „vergeblicli".
Wenn z. B. rein unmittelbar ein Klang gehört wird, so ist dieser Klang
alsbald verklungen, er ist gleichsam verstummt, und docli ist nocli „etwas
von ihm" da, es ist nicht schlechthin nichts, sondern ein Verklungenes
gegenwärtig. Jeder neu auftretende Klang „erlösclit" gleiclierweise und
geht in dieses verklungene, ,,schattenhafte" Dasein über, in dem er nicht
neben dem älteren Verklungenen, sondern in zeitlicliem Sinne „vor"
ihm schwebt. So verded-:en die jüngeren Scliatten die älteren immer mehr,
bis diese gleichsam aus der sinnliclien Gegenwart verdrängt sind. In die-
sem ganzen gegenwärtigen Wandel des Erklingens-Verklingens-Ver-
klungenen brauclit in keiner Weise, aud1 nicht irgendwie „verborgen",
der mittelbare Gedanke aufzutreten: Das jetzt Verklungene ist derselbe
Klang, der im Augenblick zuvor neu auftrat. Dieses mittelbare Bewußt-
sein wiederholt (reproduziert) oder reflektiert ein anderes, das soeben
vergangene Bewußtsein, und identifiziert den in diesem gespiegelten Be-
wußtsein neu auftretenden Ton mit dem jetzt nod1 unmittelbar bewuß-
ten (retinierten) verklungenen. Ein solches Bewußtsein liegt aber keines-
wegs schon notwendig im sclilichten Hören. Was hier geschieht, ist in
gewissem Sinne zu sagen unmöglicli, denn wir müssen dabei beständig
gegen das identifizierende und objektivierende Wesen der Spraclie spre-
clien und sagen eigentlich rein durch das Sprechen selbst schon immer
das, was wir gerade nicht sagen wollen. Das unmittelbare Hören eines

8° Kritik der reinen Vernunft, A 102.


81 A. a. 0., A 103.
Die Unmittelbarkeit der konkreten sinnlichen Gegenwart 99

Klanges (aber es gibt hier nicht den objektiven Klang) wandelt sich
zeitlich, ohne je in einem Augenblick zu stehen, in kontinuierlichem
Fortgang, bzw. in ihm wandelt sich zeitlich der Klang, der noch als ver-
klungener und immer weiter verklungener unmittelbar gegenwärtig ist.
Dieser rein zeitliche Wandel affiziert den Klang in sich selbst, d. h. es
ist diesem Wandel gegenüber kein identischer Klang bewußt, der sich
nur sukzessiv in verschiedenen Zeitperspektiven darstellen würde. Es
besteht in diesem Wandel des sinnlichen Bewußtseins keine Unterschei-
dung von identischem Gegenstand und seinen verschiedenen Erschei-
nungen. Der sinnliche Klang ist in seinem Entwerden diesseits dieses
Unterschiedes des festes Sein an fester Zeitstelle objektivierenden Ver-
standes; der zeitliche Wandel gehört ganz und gar in seine sinnliche
Realität, und diese Realität ist durch und durch Wandel. Dennoch ist
dieser Klang als dieser Wandel (der nicht homogen zu sein braucht,
sondern eine sinnhaft strukturierte Kontinuität sein kann 82 ) und ohne
jegliche Identität eine unmittelbare sinnliche Einheit. Erst in einem mit-
telbaren Bewußtsein können verschiedene Bewußtseinsweisen (,,Perspek-
tiven") bewußt werden und kann ihr Gegenstand als in ihnen identi-
scher dastehen. Der Grundfehler Kants besteht hier darin, unmittelbare
Retention, in der noch keine Identität besteht, und mittelbare Repro-
duktion nicht prinzipiell zu unterscheiden83 •
Auch Busserl ist es wohl nicht gelungen, das unmittelbare Bewußt-
sein wirklich rein als solches zu fassen, auch er verfällt einer Metabasis,
indem er in dieses Bewußtsein mittelbare Verstandesstrukturen proji-

82 Z.B. von einer gewissen zeitlichen Ferne an kann »der" Klang im unmittelbaren
Bewußtsein eine ganz andere Bedeutung haben als eben zuvor.
83 Ein Ansatz zu einer Unterscheidung findet sich vielleicht in der Anthropologie, wo
Kant zwischen »dem Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und
Künftigen durch die Einbildungskraft" und der „Assoziation der Vorstellungen des
vergangenen und künftigen Zustandes des Subjekts" zu differenzieren scheint:
„Das Vermögen sich vorsetzlich das Vergangene zu vergegenwärtigen ist das
Erinnerungsvermögen und das Vermögen sich etwas als zukünftig vorzustellen das
Vorhersehungsvermögen. Beide gründen sich, sofern sie sinnlich sind, auf die
Association der Vorstellungen des vergangenen und künftigen Zustandes des Sub-
jekts mit dem gegenwärtigen, und obgleich nicht selbst Wahrnehmungen, dienen sie
zur Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit, das, was nicht mehr ist, mit
dem, was noch nicht ist, durch das, was gegenwärtig ist, in einer zusammen-
hängenden Erfahrung zu verknüpfen. Sie heißen Erinnerungs- und Divinations-
vermögen der Respicienz und Prospicienz (wenn man sich diese Ausdrücke erlauben
darf), da man sich seiner Vorstellungen als solcher, die im vergangenen oder
künftigen Zustande anzutreffen wären, bewußt ist" (a. a. 0., Ak.-Ausg., S. 182).
Doch wird diese Unterscheidung nicht prinzipiell ausgearbeitet.
100 Die Sinnlichkeit

ziert, obschon er sich immer wieder der dadurch entstehenden Schwierig-


keiten bewußt wird und nach Lösungen tendiert, in denen jene Unmittel-
barkeit durchschimmert. Nach ihm liegt in jeder Wahrnehmung, schon
in der (urimpressional-retentional-protentionalen) Konstitution eines
Empfindungsdatums, eine Synthesis der Identifikation84, und entspre-
chend begreift er auch bereits das elementarste Zeitbewußtsein als ein
mittelbares Bewußtsein, als ein Bewußtsein von Bewußtsein. Aber Bus-
serl ist hier doch sehr unsicher. Einerseits faßt er die Kontinuität der
Retention als intentionale „Ineinanderschachtelung" von Retentionen,
nämlich als Retention von Retention von Retention usw.: ,,Die Erinne-
rung85, die ich jetzt an den ,vergangenen' Einsatzpunkt des Tones habe,
ist eine Einheit der Erinnerung, zu der auch die Erinnerungen an die
Erinnerungen, die ich soeben an dieselbe Tonphase hatte, gehören" 86 ;
,, ... die Retention ... ist in ihrem stetigen Sich-abschatten im Fluß
stetige Reproduktion von den stetig vorangegangenen Phasen. Fassen
wir irgendeine Phase des Bewußtseinsflusses ins Auge (an der Stelle
erscheint ein Ton-Jetzt und eine Strecke der Ton-Dauer in dem Modus
des soeben abgeflossenen), so befaßt sie eine im Momentan-Zugleich ein-
heitliche Kontinuität von Reproduktionen; diese ist Reproduktion von
der gesamten Momentan-Kontinuität der kontinuierlich vorangegange-
nen Phase des Flusses (im Ansatzglied ist sie neue Uremp:findung, im
stetig ersten Glied, in der ersten Abschattungsphase, die nun folgt,
unmittelbare Reproduktion der vorangegangenen Uremp:findung, in der
nächsten Momentanphase Reproduktion der Reproduktion der vor-vor-
84 „Der retentionale Prozeß ist, wie wir gelernt haben, ein Prozeß eigentümlicher
stetiger Modifikation der Urimpression. Das im Modus originaler Anschaulichkeit,
der leibhaften Selbsthabe, Gegebene erfährt die modale Abwandlung des ,immer
mehr vergangen'. Der konstitutive Prozeß dieses sich bewußtseinsmäßig Modifi-
zierens ist eine kontinuierliche Synthesis der Identifikation. Bewußt ist stetig das-
selbe, aber immer weiter in die Vergangenheit zurücksinkend" (Hrmerliana XI, S. 168
(1925/26)). ,,Betrachten wir die Grundform der Synthesis, nämlich die der Identifi-
kation, so tritt sie uns zunächst als allwaltende passiv verlaufende Synthesis
gegenüber in Form des kontinuierlichen inneren Zeitbewußtseins" (CartesianisdJe
Meditationen, S. 79).
85 Husserl meint hier „frische" oder „primäre Erinnerung", sein älterer Terminus für
Retention.
86 Husserliana X, S. 327. Vgl. S. 329: ,,Das Bewußtsein der Erinnerung, das ich jetzt
von dem Einsatzpunkt t 0 (des Tones) habe, zeigt mir ihn in einer gewissen Ver-
gangenheit (ein gewisses ,Vorhin'), und es ist notwendig auch Erinnerung von allen
früheren primären Erinnerungen davon, deren jede stetig ein anderes ,Vorhin' hat.
Und das Objekt dieser Erinnerungen ist immer der Einsatzpunkt, nur daß jeweils
dieser in einer jeden ein anderes relatives Vorhin erinnerungsmäßig mit sich führt,
da eine jede ihr Jetzt hat, das auch ein erinnertes Jctzt ist."
Die Unmittelbarkeit der konkreten sinnlichen Gegenwart 10 l

angegangenen Urempfindung usw.)" 87• Auch noch der späte Husserl


faßt die Retention als stetige „Modifikation", d. h. nach ihm als Modifi-
kation von Modifikation usw., als sich stetig iterierendes Bewußtsein
von Bewußtsein. Diesen Charakter der Retention, nicht bloß Bewußtsein
des zeitlich zurückgesunkenen Objektes (z.B. eines Tondatums), sondern
immer auch Bewußtsein der unmittelbar vorangegangenen Retention
(Bewußtseinsphase) dieses Objektes zu sein, die ihrerseits die in bezug
auf die frühere Retention retiniert und so weiter bis zur ersten Reten-
tion der Urimpression (Urempfindung), also diese der Retention eigene
Ineinanderschachtelung der Intentionalitäten bezeichnet Husserl als ihre
Längsintentionalität, in der sich der Bewußtseinsfluß selbst erscheint
(im Gegensatz zur Querintentionalität, die auf den Gegenstand, im Bei-
spiel das Tondatum, geht) 88• Aber andererseits fragt sich Husserl doch
schon in einem Text aus 1908/09 (der in der ersten Ausgabe der Vor-
lesungen der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins von 1928
nicht erschienen ist) im Anschluß an Erörterungen eines Einwandes von
Franz Brentano 89 : ,,Kann, beliebig, jede solche Strecke (nämlich eine
Ordinate im Zeitdiagramm, die ein Erinnerungskontinuum darstellt)
als Erinnerung jeder vorgängigen (Erinnerung) aufgefaßt werden?
Nun, ich denke so: Ganz beliebig können wir das nicht. Aber wenn ich
in t 3 auf die Erinnerung von t 2 achte 90 , wo ein Ton wirklich der Beach-
tung sich aufdrängte, so erscheint mir in eins mit (der) Erinnerung an
diesen Ton wirklich als mit ihm ,gleichzeitig' eine Erinnerung an das
Vorangegangene ... Die Frage ist nun, ob all das ganz korrekt ist. Habe
ich in der Erinnerung (und zwar in der ,primären', (in der) Reten-
tion), die ich von einem Stück Melodie oder Tonbewegung habe, damit
zugleich eine Erinnerung an die Erinnerungen, die zu jedem Tonpunkt
oder einzelnen Ton gehörten? nämlich als etwas zu Unterscheidendes?
Nach meiner jetzigen Darstellung (dem neuen Zeitdiagramm) nicht.
Das Erinnerungsbewußtsein der Tonreihe ist in sich selbst zugleich
Erinnerungsbewußtsein an die Erinnerungen, die zu jedem Ton-Jetzt
gehört hatten. De facto: Kann ich in der Erinnerung der T anreihe,
wenn ich ihr zugewendet bin, diese Erinnerung extra finden? Doch wohl
nicht. Und nun ergibt sich die S,chwierigkeit: Habe ich nicht auch eine
Erinnerung an die Bewegung des Flusses . . .? Draht hier nicht der un-

81 A. a. 0., S. 379; vgl. S. 81.


88 A. a. 0., § J9 (S. 80 ff.) und Nr. 54, S. 378 ff.
89 A. a. 0., S. 328, Anm. 2.
90 Unterstreichung von mir.
102 Die Sinnlichkeit

endliche Regreß? Um das Bewußtsein der Tonfolge zu haben, muß ich


das Bewußtsein der Folge der Erinnerungskontinua ... haben. Muß ich
nicht, um dieses zu haben, wieder eine zweite Zeichnung machen, und
so in infinitum?" 91 Diese Schwierigkeit Busserls ließe sich auch so for-
mulieren: Wenn jede Retention durch ihre Längsintentionalität auch
Retention von Retention ist, so muß es, da Retention Urimpression vor-
aussetzt92, auch Urimpression von Retention geben. Gibt es aber Urim-
pression von Retention, so wird diese Urimpression im Zeitfluß wieder
selbst zur Retention von dieser Urimpression modifiziert, was voraus-
setzt, daß die Urimpression selbst durch Urimpression „bewußt" war
(Urimpression von Urimpression) und so in infinitum. In diese Schwie-
rigkeit gerät Husserl dadurch, daß er, auch wenn nach dem neuen Zeit-
diagramm die Retention von der Retention nichts vom Gegenstands-
bewußtsein zu Unterscheidendes ist, doch bereits das ursprünglichste
Zeitbewußtsein als ein Bewußtsein von Bewußtsein, d. h. als ein im
allgemeinsten Sinne reflektierendes (sich wiederholendes) Bewußtsein
faßt. Die „Längsintentionalität", die er jeder Retention zuschreibt, ist
nach ihm selbst die Intentionalität des „reflektierenden Blickes" 93 . Ganz
offensichtlich projiziert Husserl hier die Struktur des mittelbaren Ver-
standesbewußtseins auf das unmittelbare sinnliche Bewußtsein: In der
Wiedererinnerung haben wir tatsächlich Spiegelung von Bewußtsein
durch Bewußtsein, aber diese Spiegelung impliziert keinen unendlichen
Regreß, sondern ist nur so manches Mal iteriert, als eine Wiedererinne-
rung in der Tat selbst wieder erinnert ist. Jede Wiedererinnerung kann
ich ihrerseits in Freiheit wiedererinnern (wiederholen), aber das muß
nicht in der „Notwendigkeit" der unmittelbaren Zeitigung geschehen
und kann durch dieses Bewußtsein auch gar nicht geschehen. Daß sich
Husserl in der Erörterung des unmittelbaren Zeitbewußtseins, obschon
er gerade gegen Brentano den Unterschied zwischen diesem Bewußtsein
(Zeitwahrnehmung) und der Wiedererinnerung hervorhebt94, doch wirk-
lid:i an der Wiedererinnerung orientiert, darauf weist weniger der Um-
stand, daß er hier den Terminus der frisd:ien oder primären Erinnerung
gebraucht (und zwar nod:i in den ldeen95 ), als ihre ausdrückliche analogi-
sierende Heranziehung96• Er versucht, die ihm daraus erwachsene
81 A. a. 0., S. 330-32.
92 A. a. 0., § 13.
03 A. a. o., s. 82, 380.
" A. a. 0., § 6.
96 Ideen I, S. 178.
88 Husserliana X, S. 81, 380.
Das Empfinden 103

Schwierigkeit durch die Erklärung zu lösen, daß es „das Wesen der


Modifikationsart ist, daß sie diesen unendlichen Regreß nicht aufkommen
lasse", und zwar dadurch, daß die Erinnerung (Retention) ,,in sich die
,Erinnerung' der vorgängigen Erinnerung impliziert" 97 • Aber was heißt
hier „Implikation"? Sie darf nicht „ein kontinuierliches Ineinander von
Retention von Retentionen" 98 bedeuten, sondern nur, daß das Erleben
sich selbst unmittelbar als Wandel erlebt und so im kontinuierlichen
Weitergehen (das nie eine vereinzelte Phase ist, die durch Spiegelung von
Spiegelung reproduktiv die Verbindung zu den andern Phasen erst
herstellen müßte) seiner Herkunft unmittelbar inne ist, sie erhält oder
aufhebt. Dieses unmittelbare Bewußtsein der Herkunft, das ein not-
wendiges Moment des gegenwärtigen Wandels ist, ist etwas ganz anderes
als die Erinnerung, die zurückgewendet wiederholt, d. h. ,,Geschichte"
treibt. In Busserls neuem Zeitdiagramm (neu gegenüber dem Zeitdia-
gramm der Vorlesungen von 1905), das er im oben erörterten Text von
1908/09 entwirft, könnte die Unmittelbarkeit des sinnlichen Vergangen-
heitsbewußtseins zur Geltung kommen, aber er hat sich offenbar doch
nie ganz von seiner intellektualistischen Auffassung dieses Bewußtseins
als Modifikation in seinem Sinne (als Retention von Retention, Bewußt-
sein von Bewußtsein) gelöst99 •

§ 30 Das Empfinden des sinnlichen Subjekts


als passive (bloß reaktive) Tätigkeit

Wir versuchen, das sinnliche Bewußtsein als die Tätigkeit der reinen
Gegenwärtigung, als Hervorbringen unmittelbarer Gegenwart zu den-
ken. Zum Wesen jeder Tätigkeit gehört es, daß sie sich in einem Spiel-
raum der Potentialität vollzieht. Sie ist eine Aktualisierung auf einem
Untergrund der Vermöglichkeit, ist eine Verwirklichung in einer bestän-
digen Offenheit des Könnens. Für die unmittelbare Tätigkeit besteht
dieser Spielraum der Potentialität in Räumlichkeiten, die ihr verschie-
07 A. a. 0., S. 332/33.
08 Ideen I, S. 199.
99 Als ich im Winter 1968/69 diesen kritischen Paragraphen schrieb, fehlte im Husserl-
Archiv in Löwen noch ein großes Bündel von· Husserlschen Manuskripten, die
Beiträge zum Zeitproblem enthalten (die sog. ,,Bernauer Manuskripte" von 1918 bis
1921 ). Inzwischen sind diese aber von Herrn Prof. Eugen Fink dem Husserl-
Archiv übergeben worden. Jedoch konnte ich in. sie noch keine genauere Einsidi.t
nehmen, so daß die hier ausgeführte Kritik aufgrund dieser Manuskripte evtl.
zu modifizieren wäre. ·
104 Die Sinnlichkeit

dene:Richtungen offen lassen und fortzufahren oder innezuhalten ge-


statten. Alles sinnliche Tun hat einen transzendental-»räumlichen" Sinn,
· , alle tirimittelbäre Tätigkeit ist Selbstbewegung, und sinnliche Gegenwart
ist immer irgendwie räumlich.
Es gibt radikal verschiedene Weisen der Hervorbringung unmittel-
barer Gegenwart durch Selbstbewegung. Das passive Empfinden einer
Affektion, das transzendierende Wahrnehmen eines äußeren Umfeldes
und das Äußern oder Ausdrücken seiner selbst, z. B. in stimmlichen
Verlautbarungen, sind grundsätzlich verschiedene Gegenwärtigungen, in
ihnen bewegt sich das Subjekt in radikal verschiedener Weise, und ent-
sprechend öffnen sich in ihnen radikal verschiedene ;,Dimensionen" der
unmittelbaren Gegenwart.
Ich möchte damit beginnen, das Empfinden vom Wahrnehmen zu
unterscheiden und es in sich selbst zu charakterisieren. Dabei gehe ich
von folgendem Beispiel aus: Wenn ich tastend ein äußeres Ding wahr-
nehmen soll, so muß ich es betasten, d. h. ich muß z. B. meine Finger
auskundschaftend über es hiri dirigieren. In diesem erkundenden Her-
vorrufen des Dinges liegt die Initiative und Leitung der tastenden Selbst-
bewegung bei mir selbst. Oben meine Finger nicht die Initiative aus, so
bringen sie nie einen äußeren Gegenstand zum Erscheinen, auch dann
nicht, wenn ein Ding über sie hinweggeführt wird oder wenn sie von
einem solchen bewegt werden. Ich empfinde dann in meinen Fingern
eine Affektion; Wärme, Druck, Zerren etc., aber ich nehme dadurch kein
warmes, hartes, so tind so geformtes "Ding wahr. Im Betasten rein als
solchem habe ich keine Empfindungen, ich spüre nichts in meinen Fin-
gern, nichts in meinem Leib, söndern es erscheint mir nur_ das so und so
seiende Ding. Wird das Ding aber plötzlich so heiß, daß ich es nicht mehr
frei von mir aus betasten kann, so_ brennt's mich in den Fingern, wäh-
rend das erscheinende Ding für mich schwindet; oder halte ich mit
meinem Betasten inne und lasse mein,e. Finger am Ding ruhen, so erlischt
die Dingerscheinung, während ich nun in meinen Fingern leichten Druck
empfinde. Auch für den visuellen Bereich gelten diese Verhältnisse: Ein
Augenwesen, das seinen Blick nicht (durch Selbstbewegen der .,,Augen,
des Kopfes, durch Gehen) erkundend auf und über etwas hin richten
und dirigieren könnte, das z; B. immer und vollständig fixiert wäre, sähe
s·chlechterdings nichts, sondern hätte nur irgendwelche Lichtempfindun-
gen. Wenn ich durch zu starkes Licht den Blick nicht mehr frei von mir
aus clirigieren kann, dann blendet es mich, und ich sehe nichts mehr. Wir
glauben, auch unbewegt etwas außer uns zu sehen; darin liegt aber schon
Das Empfinden 105

ein erkundendes Hinrichten oder Werfen des Blickes, eine dirigierte


intentionale Selbstbewegung, sowie ein Erwerb von Sichtbarem aufgrund
ausgeführter sehender Selbstbewegung100 • Analoges trifft wiederum für
das Verhältnis von Gehörsempfindungen und dem Hören von umfeld-
lichen Geräuschen oder Lauten zu. Ich nehme nur äußere Geräusche im
Hinhören aufgrund einer spontanen Selbstbeweglichkeit, z. B. durch
Hinwenden des Kopfes usw. wahr.
Ich nehme also wahr, insofern ich von mir aus, spontan erkunde und
Erscheinungen ausführe, und ich empfinde, sofern ich erleide.
Obschon es sich hier um einen radikalen Unterschied handelt, kann,
wie schon die Beispiele zeigen, das eine in das andere umschlagen: Das
Wahrnehmen des immer heißer werdenden Dinges schlägt um in ein
Empfinden eines Brennens in meinen1 Fingern, das Sehen in ein Geblen-
detsein usw. Im Wahrnehmen rein als solchem besteht kein wirkliches
Empfinden, es kann sich, sofern es Wahrnehmen bleiben will, auf kein
Erleiden einlassen; aber in ihm ist die Empfindung sozusagen angelegt
und kann unter Verfall des Wahrnehmens zur Wirklichkeit werden. Das
Wahrnehmen kann ins Empfinden verfallen. Umgekehrt kann das Wahr-
nehmen von einer Empfindung ausgehen. Ich kann z. B. auf meine Hand
gestützt sein und dabei in ihr Druck empfinden und von da aus über-
gehen zum Abtasten der Tischfläche. Damit wird die Empfindung zur
Anzeige für ein erscheinendes Ding. Aber die Empfindung zeigt nicht
in sich selbst ein äußeres Ding an, sondern sie tut es nur dadurch, daß
eine Wahrnehmung von ihr ausgehen kann. Nicht von jeder Empfindung
kann eine Wahrnehmung ausgehen, und daher gibt es Empfindungen, die
kein Ding anzeigen, nämlich die sogenannten inneren Empfindungen,
z.B. das Hungergefühl. Empfindung kann Anlaß zur Wahrnehmung
werden; dabei zieht sie aber nicht den Blick auf sich selbst, sondern der
Wahrnehmungsblick entsteht in einer radikalen Umstellung über die
Empfiridung hinaus. Das Wahrnehmen interpretiert nicht irgendwelche
passiv vorhandenen Empfindungsdaten als Erscheinungen von Dingen,

100 Man hat versucht, die Tiefenwahrnehmung durch den binokularen Charakter des
· Sehens zu· begründen (vgl. z. B. J; Linschoten, Strukturanalyse der binokularen
Tiefenwahrnehmung, Groningen, 1956, S. 324 ff.). Aber die Binokularität. ist nicht
die Ursache, sondern nur ein vorzügliches Mittel der Tiefenwahrnehmung; sie macht
nicht das Sehen eines Außenfeldes aus. Auch ein doppeläugiges Wesen hätte ohne
selbstdirigiertes Sehen kein erscheinendes visuelles Umfeld, ein solches hätte für, es
überhaupt keinen Sinn, während ein einäugiges Wesen sehr wohl durch sehende
Selbstbewegung ein solches Feld konstituieren könnte, sofern es über andere Mittel
verfügt, die es zu „Indizien" der Tiefe gebrauchen kann.
106 Die Sinnlichkeit

es verbindet auch keine vorhandenen Empfindungen zu einer Erschei-


nung, es verarbeitet überhaupt nicht bloße Daten; vielmehr ruft es in
seinem erkundenden Tun in einheitlichem Fortschreiten die Erscheinung
ganz ursprünglich und von Grund auf hervor. Dadurch, daß z.B. das
tastende Wahrnehmen selbst die Berührung erkundend dirigiert, hat
es die Empfindung schon zum vornherein in sich aufgehoben, in seine
die Erscheinung erzeugende Tätigkeit absorbiert oder transformiert. Das
Wahrnehmen ist also keine reine Spontaneität, aber im wahrnehmenden
Betasten liegt das Berührtwerden nicht als solches, sondern gänzlich ins
Betasten umgewendet; die Affektion (das Erleiden) besteht hier nicht
selbst, sondern nur als in der erkundenden Tätigkeit aufgehobene und
potentielle (»angelegte«) Passivität.
Das Wahrnehmen kann als eine Art „Befragen" verstanden werden.
Es stellt seine Fragen zugleich vor-sichtig und nach seinem eigenen Ver-
mögen, seiner eigenen »Konzeption", seinem eigenen Maß; die Antwor-
ten sind als solche den Fragen entsprechend, sie respektieren die Fragen
und haben so ihre Form vom Fragen her. Das Wahrnehmen läßt die
Dinge nur als antwortende an sich herankommen, es geht sie vorsichtig
um eine respektvolle Antwort an. Aber jederzeit ist auch von den Dingen
her eine Respektlosigkeit möglich, die das Wahrnehmen ins Empfinden
verfallen läßt.
Im Wahrnehmen empfindet das sinnliche Subjekt nicht, d. h., es
empfindet sich nicht selbst affiziert, es bleibt nicht in sich stecken, sondern
es ist sich selbst auf das von ihm zum Erscheinen gebrachte Umfeld hin
transparent, es ist freier „Durchgang" oder „Zugang" zu diesem Feld.
Allerdings ist dies natürlich abstrakt gesprochen, eben nur insofern, als
die spezifische Leistung der Wahrnehmung in Frage ist. Auch das wahr-
nehmende Subjekt empfindet als konkretes sinnliches Bewußtsein, sei es
nur das Empfinden der eigenen Schwere, der Schwerkraft, die in ihm
lastet, oder das Empfinden der inneren Spannung und des inneren
Druckes, die durch die eigene Selbstbewegung hervorgerufen werden.
Aber dieses Empfinden bleibt im transzendierenden Wahrnehmen not-
wendig mehr oder weniger Untergrund.
Im Empfinden spürt sich das sinnliche Subjekt selbst, und zwar spürt
es sich in einer Affektion. Mit Kant zu reden: die Empfindung ist „eine
Perzeption, die sich lediglich auf das Subjekt, als die Modifikation seines
Zustandes bezieht" 181 • Dieses Erleiden ist zwar selbst ein Sich-verhalten,

101 Kritik der reinen Vernunft, A 320; B376/7.


Das Empfinden 107

eine Tätigkeit: ein Sich-zuwenden oder Widerstreben, ein Sich-zurück-


oder -zusammenziehen, Strecken usw., und diese Empfindungsbewegun-
gen können sich unmittelbar in weiteren, ganz von der Affektion be-
stimmten Tätigkeiten wie Sich-kratzen, Schlucken, Abwehren fortsetzen.
Aber die Tätigkeit des Empfindens ist bloß reaktiv und in sich selbst als
solche charakterisiert, sie ist keine frei vom Subjekt ausgehende, spon-
tane Leistung eines umfeldlichen „Gebildes", das ihm in weiterer Folge
ein freieres Verfügen ermöglichte, sie führt nichts aus. Ich kann auch
eine Empfindung spontan erwirken, indem ich etwa den warmen Ofen
berühre oder in den süßen Apfel beiße. Aber wenn ich eine Empfindung
erstrebe, beschwöre ich kein Erscheinendes herauf, sondern suche eine
Affektion, und das Empfinden ist in sid1 selbst nicht mehr spontan, wie
es das Wahrnehmen durchwegs ist. Das Empfinden eröffnet nicht einen
Bereich der Tätigkeit, in ihm „transzendiert" das Subjekt sich nicht,
indem es im freien Hinausgreifen über alles affektiv Gegebene und
Erwartete durch selbstdirigiertes erkundendes Hervorrufen von Erschei-
nungen sich ein mehr oder weniger verfügbares Umfeld bildet. Das Emp-
finden ist in sich selbst kein Lernen, was das erkundende Wahrnehmen
eo ipso ist. In ihm verhält sich das Subjekt nur in seinen Affektionen
oder Erregungen, in dem, was mit ihm geschieht.
Das äußerste Gegenstück zur Empfindung wäre eine reine sinnliche
Spontaneität, die nichts von Passivität, auch nicht aufgehobene oder
potentielle, enthielte. Es wäre das bloße „Spiel" reiner Selbstbewegung.
Dieses sinnliche Spiel würde rein als solches keine Gegen-wart im phä-
nomenalen Sinn hervorbringen, es wäre reiner transzendentaler Fluß, es
hätte es mit nichts zu tun, auch nicht mit sich selbst, sondern wäre bloß
selbst. Dieses Spiel, rein für sich genommen, wäre so leer wie das
Strampeln des Kleinkindes, ein bloßer Leerlauf. Es ist als solches etwas
Abstraktes, da jede Selbstbewegung Selbstaffektion mit sich bringt. Aber
im konkreten sinnlichen Tun ist es überall dort als Moment anzutreffen,
wo dieses sozusagen aus bloßem „Übermut" oder aus reiner „Funktions-
lust" (ein Wort von K. Bühler), die keine Empfindung ist, einen spiele-
rischen Überschuß über seine Situation hinaus besitzt.
Die sinnliche Aktivität wird als solche nicht selbst empfunden, eben-
sowenig das immanente Empfinden wie die transzendierende Tätigkeit,
sondern das sinnliche Subjekt empfindet nur seine Affektion. Ein Emp-
finden der Aktivität würde bedeuten, daß sich das sinnliche Subjekt zu
seinem Verhalten verhielte, in bezug auf seine Tätigkeit tätig wäre und
damit bereits die Mittelbarkeit des Verstandes besitzen würde. Im Wahr-
108 Die Sinnlichkeit

nehmen verhält sich das sinnliche Subjekt zu seinem Umfeld und nicht
zu seinem Wahrnehmen oder Empfinden, und im Empfinden verhält es
sich zu seiner Passivität und nicht zu seinem Empfinden oder Wahr-
nehmen (im eigentlichen Wortsinn gibt es keine innere Wahrnehmung,
keine innere Wahrnehmung der Tätigkeit, sondern nur Reflexion der
Tätigkeit). Wahrnehmen und Empfinden sind im sinnlichen Bewußtsein
nicht selbst empfunden oder wahrgenommen, aber das sinnliche Subjekt
ist seiner Tätigkeit inne, m. a. W., seine Tätigkeit ist eben Bewußtsein,
nicht reflektierendes, aber unmittelbares Bewußtsein102 •
Auch die Affektionen des Subjekts haben ihre Art der Räumlichkeit,
z. B. Schmerzen haben eine Stelle, eine Ausbreitung, sie können mich
durchlaufen, und das Empfinden, in dem die Passivität gelebt wird, ist
reaktive Haltung und Selbstbewegung. Aber diese Empfindungsräum-
lichkeit ist kein äußerer Bereich, keine einheitliche nach nah und fern
orientierte Ordnung des freien Verfügens, sie ist kein Zugangsraum, in
den das Subjekt von sich aus spontan eingreifen könnte. Sie ist der
phänomenale Raum, der sich in den transzendentalen dispositionellen
„Raum" des Verfügens über die eigenen Selbstbeweglichkeiten hinein
,,breit macht" und in dem das Subjekt seine Affektion in ihrer Aus-
breitung erlebt. Obschon diese Empfindungsräumlichkeit kein Teil des
Zugangsraumes ist und eine von ihm wesentlich verschiedene Struktur
besitzt (z.B. auch keine festen Distanzen und Abgrenzungen), ist sie
doch nicht ohne innere Beziehung zu ihm, und zwar aufgrund der tran-
szendentalen Selbstbeweglid1keit des Subjekts, in der als mehr oder
weniger vollkommener organischer Einheit beide phänomenalen Räum-
lichkeiten wurzeln.

102 Husserls Gebrauch des Wortes Kinästhese für das sich selbst bewegende Bewußt-
sein ist eigentlich widersinnig, denn es bedeutet ja nach seiner psychologischen
Herkunft Bewegungsempfindung. Nun wird aber die Selbstbewegung gerade nicht
empfunden. Wohl können mit der Selbstbewegung Empfindungen verbunden sein;
die Selbstbewegung kann Passivität bewirken, Druck-, Spannungs- (Lage-), Schmerz-
oder Lustempfindungen zur Folge haben. Aber dieses Empfinden ist etwas ganz
anderes als das ursprüngliche Bewußtsein der Selbstbewegung. Die Selbstbewegung
kann als solche nicht „propriorezeptorisch" empfunden werden, denn das Emp-
finden kann das Selbstbewegen vom passiven Bewegtwerden gar nicht unterscheiden.
Daß sid1 das visuelle Bild verschiebt, wenn der Augapfel mit dem Finger passiv
bewegt wird (ein Phänomen, auf das schon Helmholtz hinwies), liegt daran, daß
wir dabei kein unmittelbares Bewußtsein der Selbstbewegung haben und daher die
Verschiebung im Bilde sehen; und daß bei gewissen muskulären Augenlähmungen
das visuelle Bild plötzlich in die Gegenrichtung springt, wenn der Kranke seinen
Blick zu drehen versucht, so darum, weil der krankhafte Versuch das irrtümliche
Bewußtsein der Selbstbewegung vortäuschen kann.
Die Transzendenz in der Sinnlichkeit 109

§ 31 Die „Transzendenz" in der Sinnlichkeit.


Selbstgegebenheit und Gegebenheit d11rch Erscheinungen

Das Umfeld, so wie es in bloßer Sinnlichkeit wahrgenommen ist,


hat durch und durch den Charakter der Potentialität im Sinne des
spontanen subjektiven Könnens. Seine Räumlichkeit bedeutet Zugäng-
lichkeit. Diese Potentialität ist nichts anderes als seine Perspektivität,
wie umgekehrt seine Perspektivität als spontane Potentialität (Können)
verstanden werden muß. In seiner Perspektivität oder Potentialität ist
das sinnliche Umfeld in mannigfaltigen Weisen auf den aktuellen
„Standpunkt" oder „Blickpunkt" orientiert. Die Perspektivität kann
hier im buchstäblichen Sinn als Durch-blicken ( per-spicere) genommen
werden: Das wahrnehmende Subjekt blickt durch das aktuell Gegebene
auf seine „Möglichkeiten", auf das, was es kann: Durch die aktuelle
Fernerscheinung „hindurch" nehme ich das „Ding" selbst wahr, wie ich
es mir durch Hingehen und durch seinem Sinn entsprechenden Umgang
oder Gebrauch zur Selbstgegebenheit bringen kann; durch die aktuell
gegebene visuelle Erscheinung „hindurch" nehme ich das „Ding" in seiner
Greifbarkeit, evtl. Eßbarkeit usw. wahr. In der aktuellen Erscheinung
„nehme" ich meine Vermöglichkeiten „wahr"; das Wahrnehmen ist
überall ein Durch-greifen (per-cipere) auf die subjektiven Vermöglich-
keiten. In der aktuellen Erscheinung ist aber nicht bloß das „Ding" selbst
wahrgenommen, sondern es sind in ihr auch andere Erscheinungen des
,,Dinges" durch die subjektive Vermöglichkeit impliziert, z.B. die Er-
scheinungen, die sich ergeben würden, wenn ich mich dem „Ding" etwas
nähere, ohne es schon selbst zu „erfassen", oder wenn ich es von einer
anderen Seite anblicke. In gewissem Sinne erscheinen also in der aktuel-
len Erscheinung auch andere (inaktuelle) Erscheinungen. All diese durch
meine Vermöglichkeit möglichen impliziten Erscheinungen sind aber nicht
wahrgenommen, ebensowenig wie die aktuelle Erscheinung, sondern
wahrgenommen ist durch die Erscheinungen „hindurch" nur das „Ding"
selbst.
Die Wahrnehmung eines „Dinges" durch Erscheinungen „hindurch"
weist auf eine Selbstgegebenheit des Dinges ohne solche Erscheinungen.
Die Selbstgegebenheit des sinnlichen „Dinges" besteht in der Realisierung
oder Erfüllimg seines vitalen Sinnes: z.B. eine Speise ist selbstgegeben
im Essen, eine Behausung im Wohnen, eine Lagerstätte im Liegen. So-
lange ein Ding durch Erscheinungen hindurch wahrgenommen wird, er-
füllt (verwirklicht) sich sein vitaler Sinn noch nicht. Der vitale Sinn
110 Die Sinnlichkeit

eines sinnlichen Dinges erfüllt sich zumeist in seinem Gebrauch oder


Verbrauch. Aber es gibt auch sinnliche „Dinge" oder, wie wir besser
sagen, sinnliche Sinneseinheiten, bzw. Momente von solchen Einheiten,
deren vitaler Sinn darin besteht, gesehen oder gehört zu werden, wie
etwa die Gestalt und Farbigkeit oder der Ruf des Partners (man denke
etwa an die „Selbstdarstellung" in schöner Figur, in Schmu&: und Klei-
dern, aber auch an die „Zeichnungen" und Brunstkleider der Tiere). In
diesem Falle besteht die sinnerfüllende Gegebenheit (Selbstgegebenheit)
in der ausreichenden Sichtbarkeit oder Hörbarkeit. Es handelt sich hier
wohl aber in der bloßen Sinnlichkeit kaum um geschlossene Sinnesein-
heiten, sondern nur um Merkmale oder um „Auslöser" weiteren Tuns
innerhalb von solchen Einheiten. Auch in der Selbstgegebenheit des
sinnlichen Dinges liegt noch Potentialität (spontanes subjektives Kön-
nen), insofern die Sinnerfüllung des „Dinges" noch nicht zu Ende ist oder
das „Ding" wieder aus seiner Selbstgegebenheit in die Gegebenheit durch
bloße Erscheinungen oder überhaupt aus der Gegebenheit entlassen
werden kann. Nur wenn die Sinneseinheit in der Erfüllung aufgezehrt
wird, verliert ihre Selbstgegebenheit bzw. ihre Wahrnehmung jegliche
spontane Potentialität, jegliches subjektives spontanes Können und wird
evtl. zur bloßen Empfindung.
In jeder sinnlichen Wahrnehmung eines „Dinges" wird das „Ding"
selbst wahrgenommen, aber es wird nicht immer in der Selbstgegebenheit
wahrgenommen. Jedoch greift die Wahrnehmung, in der das „Ding"
nicht zur Selbstgegebenheit kommt, durch die Erscheinungen hindurch
auf die Selbstgegebenheit vor. Ich „blicke" durch die Erscheinungen
hindurch auf die Selbstgegebenheit vor, aber ich sehe diese dabei nicht
wie durch ein ·Glas, sondern sehe das „Ding" nur in der aktuellen
Erscheinung. Die aktuelle Erscheinung läßt meine Vermöglichkeiten und
damit via weitere Erscheinungen letztlich die Selbstgegebenheit des
„Dinges" durchblicken, d. h. es motiviert sie. Das „durch", von dem hier
im Durchblicken die Rede ist, ist weder ein bloß räumliches, noch ein
instrumentales, sondern ein unmittelbar motivierendes Durch. Im sinn-
lichen Bewußtsein habe ich also nicht durch die aktuelle Erscheinung
hindurch andere Erscheinungen und letztlich die Selbstgegebenheit reali-
siert; z.B. im unmittelbaren Sehen eines „Dinges" ist dieses wohl mit
seiner Rückseite wahrgenommen, aber diese Rückseite ist jetzt nicht
selbst Erscheinung103 • Sie ist auch nicht als Erscheinung bloß vorgestellt.

103 Cf. oben, § 19.


Die Transzendenz in der Sinnlichkeit 111

Ein solches Vorstellen der erscheinenden Rückseite wäre eine Vergegen-


wärtigung, also ein mittelbares Bewußtsein. Meine Vermöglichkeiten sind
demnach im unmittelbaren Bewußtsein nicht als seiende angeschaut, d. h.
ihre Verwirklichung ist nicht durch „Vorausholung" vergegenwärtigt,
sondern sie sind nur anwesend in der Motivationskraft, in der mehr
oder weniger bestimmten Virtualität meiner aktuellen Erscheinung. Sie
sind auch nicht als unanschauliche bewußt, was nur einen Sinn hätte,
wenn überhaupt die Möglichkeit ihrer Anschauung im unmittelbaren
Bewußtsein bestünde. Das perspektivische Durchblicken in der Wahr-
nehmung kann als eine Leistung der unmittelbaren Einbildungskraft be-
zeichnet werden, die als „notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung"
(Kant) streng von der mittelbaren, vergegenwärtigenden Einbildung
oder Phantasie zu scheiden ist.
In der Erscheinung ist der „Weg" der Verwirklichung des Könnens
angegeben, d. h. das verschiedene Wie dieser „Möglichkeiten" ist ange-
zeigt: In einer Fernerscheinung weiß ich, daß ich mich weit strecken
und evtl. gehen muß, um das „Ding" zu greifen: in der Naherscheinung
glaube ich, das „Ding" gleich zur Hand zu haben. Die sinnliche Wahr-
nehmungserscheinung charakterisiert sich dadurch, daß durch sie durch-
scheint, was und wie das Subjekt in seiner aktuellen Situation kann, und
nur durch dieses Durchblickenlassen, mit dieser Motivation für mein
spontanes Können, ist die sinnliche Erscheinung überhaupt Wahrneh-
mungserscheinung.
Wir nehmen nicht die Erscheinungen, sondern in den Erscheinungen
die „Dinge" selbst im Umfeld wahr. Aber manchmal sehen wir auch
bloße Erscheinungen. Wenn sich ein Ding in meinem unmittelbaren
Lebensbereich entfernt, verkleinert es sich für mich wahrnehmungs-
mäßig nicht, sondern bleibt als sich entfernendes in seiner Größe kon-
stant. Aber wenn ich z. B. von einem hohen Turm den Platz und die
Straße unter mir betrachte, so sehe ich da unten ganz kleine Menschlein
und kleine Autos, ja ich nehme eigentlich gar nicht wirkliche Autos und
Menschen wahr, sondern bloß Erscheinungen, obschon ich weiß, daß
diese kleinen· Figuren „richtige" Autos und Menschen sind, die nur so
klein erscheinen~ Erscheinung und Erscheinendes fallen auseinander. Das-
selbe geschieht in großen horizontalen Distanzen: Es gibt eine Ferne,
in der ich unmittelbar nicht mehr die Dinge selbst, sondern bloße Er-
scheinungen sehe. So bieten sich uns weite Landschaften wie irreale
Bilder dar. Offenbar gehört jene Tiefe oder diese Ferne, in der Erschei-
nungen selbst als bloße Erscheinungen gesehen werden, zu einer Distanz,
112 Die Sinnlichkeit

die außerhalb der Reichweite meines unmittelbaren sinnlichen Könnens


liegt; die Dinge in dieser Distanz gehören nicht mehr zu mir als aktuel-
lem sinnlichen „Vermögens" -Subjekt. Durch eine besondere Künstlich-
kei t kann ich auch bloße Erscheinungen in meinem Nahbereich hervor-
bringen, indem ich mich aus meinem unmittelbaren sinnlichen Können
zurückziehe, mich den Dingen gegenüber distanziert verhalte und die
Einstellung des „unbeteiligten Betrachters" einnehme: Da sehe ich denn
das „Haus" mir gegenüber als kleiner als das Fenster, durch das hin-
durch ich es sehe etc., was mir im unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmen
nie geschieht. Diese künstliche Einstellung muß ich einnehmen, wenn ich
mir ein perspektivisch richtiges Bild machen will. Ich nehme in ihr nicht
mehr aktuell wahr, ich bin nicht mehr durch mein Können im voraus
bei den Dingen, sondern betrachte in eigentümlicher Reflexion auf die
Erscheinungen bloße Bewußtseinsinhalte als solche. Wir haben es hier mit
einem Bewußtsein von Bewußtsein, nicht mehr mit bloßem, sinnlichem
Bewußtsein zu tun. Aber auch jene bloßen Erscheinungen der Tiefe und
Ferne sind als Erscheinungen nicht unmittelbar (sinnlich) bewußt; außer-
halb des Bereiches des unmittelbaren Könnens und Verfügens gibt es für
die bloße Sinnlichkeit keine wirklichen Dinge und damit auch keine
bloßen Erscheinungen von ihnen. Im Hinaufsteigen und Hinunterblicken
vom hohen Turm und im Schauen in die weite Ferne liegt schon eine
Künstlichkeit, die sich über unsere faktische, menschliche Sinnlichkeit
hinwegsetzt. Im bloß sinnlichen Bewußtsein ist diese Ferne der unding-
liche „Rand", in dem sich das sinnliche Umfeld verliert und in dem nichts
mehr erfaßt ist. Er ist sozusagen das verschwimmende Ende des aktuel-
len sinnlichen Könnens, das aber in ihm kein Wahrgenommenes ist.
Wenn ich in der weiten Ferne bloße Erscheinungen von Dingen sehe, so
kann dies nur aufgrund der Vergegenwärtigung von Dingen (z.B. im
mittelbaren Wissen, daß diese kleinen Figürchen wirkliche Menschen
oder Autos sind) geschehen.
Hat das aktuell erscheinende Umfeld seinen Bestand im unmittel-,
baren Können, so ist es immer Prätention auf die unmittelbare Zukunft.
Das sinnliche Umfeld hat wesensmäßig diesen zeitlichen Siriri. Diese
Prätention ist kein haltloser Anspruch, sondern hat die Kraft des sich
im Tun erweisenden spontanen Könnens. Was Husserl als „passive
Doxa" der transzendenten Wahrnehmung oder als Präsumptivität der
transzendenten Welt charakterisiert, hat seine sinnliche Wurzel in der
Prätention des unmittelbaren Könnens. Der „präsumptive Glaube an
die transzendente Welt" ist in dieser Wurzel die Prätention des sinn-
Sinnliche Einheiten 113

liehen Subjekts, hingehen, abtasten, auffressen usw. zu können. Es ist


dies hier ununterscheidbar ein "Glaube" an die eigene Vermöglichkeit
(gewissermaßen ein „Glaube" an sich selbst) und an das erscheinende
Umfeld, das eben das Feld der sinnlichen spontanen Vermöglichkeit ist.
In seiner Setzung oder Position liegt Selbstbehauptung durch Behaup-
tung eines Umfeldes, alles verstanden in den Verhältnissen unmittel-
baren Bewußtseins.
Was wir durch die Begriffe der spontanen Potentialität, Perspektivi-
tät und Prätention zu charakterisieren versuchten, ist ein und dieselbe
Sachlage. Diese Sachlage können wir auch als Transzendenz in der
Sinnlichkeit ansprechen; wenn wir uns nur darüber im klaren sind, daß
diese sinnliche Transzendenz gegenüber der verstandesmäßigen Tran-
szendenz des Seienden an sich, das durch seine ideale Identität die ver-
schiedenen Bewußtseinserlebnisse, in denen es als solches bewußt ist,
überschreitet, etwas prinzipiell anderes ist104• Unmittelbares Bewußtsein
konstituiert keine Identität und kein Sein im Sinne des „An-sich gegen-
über dem Bewußtsein". Aber es ist doch in einem guten Sinn zu sagen,
daß sich unmittelbares Bewußtsein „überschreiten" kann, und zwar eben
in seiner spontanen Potentialität, in der es perspektivisch über das
Aktuelle hinaus ein Feld „beansprucht", zu dem es durch spontane
Selbstbeweglichkeit unmittelbar Zugang hat. Wir nehmen damit „Tran-
szendenz" als radikal mehrdeutigen Terminus auf, werden aber mit ihm
eindeutig zu sprechen wissen.

§ 32 Sinnliche Einheiten

Wir haben im vorigen Paragraphen von sinnlichen „Dingen" und


ihrem vitalen Sinn gesprochen. ,,Ding" habe ich deshalb zwischen An-
führungszeichen gesetzt, weil es sich hier, in der bloßen Sinnlichkeit,
nicht wie beim gewöhnlichen Gebrauch dieses Wortes um Einheiten der
Identität handeln kann. Der Begriff des sinnlichen „Dinges" als sinn-
licher Einheit ist nun noch etwas zu erläutern.
Im jeweils erscheinenden sinnlichen Umfeld sind Einheiten abgeho-
ben, z. B. diese Speise, jenes Versteck, der Feind dort drüben usw., Ein-
heiten in einer Umgebung anderer Einheiten. Aufmerkend kann sich
das sinnliche Subjekt auf eine Einheit im Umfeld richten, zuwendend

m Cf. oben, § 20.


114 Die Sinnlichkeit

sich auf sie konzentrieren, mit ihr beschäftigen. Von einer Einheit kann
es in ihre Umgebung auf eine andere Einheit übergehen, nun ihr sein
,,Interesse" schenken etc.
Eine in einer sinnlichen Situation wahrgenommene Einheit ist eine
sinnhafte Einheit, sie besteht in der Einheit eines Sinnes: Als den jewei-
ligen gegenwärtigen Sinn eines im Umfeld so oder so Erscheinenden
nimmt das sinnliche Subjekt für sich das wahr, was in seiner Situation
dieses so oder so Erscheinende unmittelbar zu tun ermöglicht oder
nötigt. Eine sinnlich wahrgenommene Sinneseinheit ist ein unmittelbar
motivierter einheitlicher „Entwurf" möglicher oder nötiger Tätigkeit in
der reinen Gegenwart. Die Einheit eines im sinnlichen Umfeld so oder so
Erscheinenden beruht also auf unmittelbarer Einheit sinnlicher Tätigkeit.
In dieser Einheit des so oder so Erscheinenden bzw. der ihm ent-
sprechenden sinnlichen Tätigkeit ist zu unterscheiden zwischen dem
vitalen oder zentralen Sinn, der den tendenziellen Kern des Gesamt-
sinnes der Einheit ausmacht, und diesem Gesamtsinn selbst, der außer
seinem vitalen oder zentralen Sinn auch noch die jeweilige Erscheinung
(erscheinungsmäßige Gegebenheitsweise) dieses Sinnes umfaßt. Der vitale
oder zentrale Sinn ist der Sinn, der sich in der Selbstgegebenheit des
,,Dinges" odet der Sinneseinheit realisiert: z.B. die Speise im Verspeisen,
der Feind im Kämpfen, überwinden oder Fliehen usw. Wo nun aber
dieser vitale Sinn nicht in der Selbstgegebenheit des „Dinges" verwirk-
licht wird, sondern das „Ding" durch Erscheinung gegeben ist, macht
diese Erscheinung selbst ein Sinnesmoment aus. Ein feiner Apfel im
Abbeißen und Kauen und ein Apfel weit oben auf dem Baum haben
nicht den·selben Gesamtsinn, wenn sie auch in ihrem vitalen Zentralsinn
zur Deckung gebracht werden können. Der Gesamtsinn, sofern er Er-
scheinung enthält, ist eine Abwandlung des Zentralsinnes. Zum Sinn des
in der Ferne erscheinenden Apfels gehört, daß ich irgendwie die Distanz
überwinden muß, um ihn zu erreichen. Also auch dieser Erscheinungssinn
ist Index einheitlicher vermöglicher Tätigkeit. Diese sinnlid1e Tätigkeit
ist aber eine Tätigkeit des wahrnehmenden sich Annäherns und zur
Gegebenheit Bringens des Zentral- oder Vitalsinnes, während die Tätig-
keit, in der sid1 der Zentralsinn realisiert, die Befriedigung eines vitalen
sinnlichen Bedürfnisses oder Triebes ausmacht. Die globale Sinneseinheit,
das so oder so Erscheinende, ist in ihrem Vitalsinn zentriert, sie ist ten-
denziell auf ihren Zentralsinn ausgerichtet. In der Selbstgegebenheit des
,,Dinges" fällt der Gesamtsinn mit dem Zentralsinn zusammen; im Ver-
J speisen ist die Speise nichts anderes als Speise. In dieser Weise spiegelt
Sinnliche Einheiten 115

sich in der Struktur des wahrgenommenen sinnlichen Umfeldes, in seiner


Zentrierung durch die Vitalsinne, die Bedürfnis- oder Triebstruktur des
sinnlichen Subjekts.
Eine wahrgenommene Sinneseinheit verweist nicht nur auf die Tätig-
keit des Wahrnehmens, auf das bloße Erkunden, sondern in eins auch
auf andere Funktionen, mit denen zusammen sich das Wahrnehmen als
bloßes Moment in der Einheit einer Tätigkeit abspielen kann. Insofern
alles sinnliche \'vahrnehmen, auch wo es momentan rein als Erkunden
geschieht, in der Einheit umfassenderen Interesses und Tuns steht,
nimmt das sinnliche Subjekt überhaupt nie ein reines Wahrnehmungs-
gebilde (eine Sinneseinheit, die nur auf Wahrnehmen verweist) wahr, son-
dern sieht nur umfassendere Sinneseinheiten wie Speisen, eine Schlaf-
stätte, einen Partner usw. So wie in der Wahrnehmung keine rein visuel-
len und rein taktuellen Einheiten für sich bestehen und keine eigenen
,, Welten" bilden, sondern ein Gesehenes in sich selbst auch ein Tast-
bares ist und umgekehrt, und zwar in der Weise, daß die Tastbarkeit
selbst gesehen wird, nicht weil ein besonderer innerer sensus communis
nachträglich verbinden würde, sondern weil Gesehenes und Getastetes
in der Einheit der Selbstbewegung stehen, die als der eigentliche „sensus
communis" alle besonderen Wahrnehmungsweisen in sich beschließt,
ebenso ist Wahrgenommenes in eins Wahrnehmbares und sonstwie zu
Betätigendes.
Eine unmittelbare Sinneseinheit in der sinnlichen Wahrnehmung
besteht nicht darin, daß sich nach empiristischer Auffassung in der Seele
verschiedene „Daten" assoziiert oder verbunden haben, sondern nur in
der Einheit unmittelbarer Tätigkeit. Allerdings hat es doch Sinn, hin-
sichtlich der Einheiten des unmittelbaren Bewußtseins von Assoziation
zu sprechen, und zwar in verschiedener Hinsicht: Einmal wurzeln in den
in der jeweiligen Empfindung direkt spürbaren oder in der jeweiligen
Wahrnehmung aufgehobenen affektiven, oder wie wir auch sagen kön-
nen, hyletischen (stofflichen) Momenten gewisse Einheitsfaktoren: die
von alters her bekannte räumliche und zeitliche Kontiguität sowie
Khnlichkeit und Kontrast. Die sinnliche Einheitsbildung bewegt sich
vorzüglich in den Bahnen dieser Faktoren. Aber nicht diese abstrakten
Faktoren, die überhaupt nur sind im sinnlichen Tun, bilden die Einheit,
sondern allein die sinnliche Tätigkeit. Die wahrnehmungsmäßige Auf-
gliederung und Organisation des Umfeldes und die Strukturierung der
Empfindungsverläufe hat an diesen Faktoren einen gewissen Anhalt.
In einem strengeren Sinn läßt sich hier aber nur von Assoziation reden,
116 Die Sinnlichkeit

insofern eine Struktur der motivierten Erwartung vorliegt, d. h., wo


im Empfindungsverlauf oder im erkundenden Durchlaufen des Umfeldes
(bes. deutlich im Abtasten) aufgrund des Ablaufenden ein diesem ähn-
liches Weiterlaufen erwartet wird. Diese „Assoziation" innerhalb des
a!etuellen sinnlichen Tuns geht auf einen anderen Assoziationsbegriff
zurück: Es kann in der unmittelbaren Einheitsbildung auch dort von
Assoziation gesprochen werden, wo in der Wahrnehmung oder Emp-
findung aufgrund von Ähnlichkeiten frühere (vergangene) Wahrneh-
mungen oder Empfindungen assoziativ mitspielen und motivierend etwas
unmittelbar erwarten lassen. Das sinnliche Subjekt merkt einem Er-
scheinenden aufgrund früherer Erfahrungen unmittelbar an, was es
von ihm weiter erfahren wird oder kann (evtl. wenn es das und das
tut oder nicht tut). Dieses assoziativ vorzeichnende Mitspielen früherer
Erfahrungen in der unmittelbaren Gegenwart gilt es aber richtig zu
verstehen: Es handelt sich um keine Erinnerung (Verstand), sondern um
sinnliche Gewohnheit, d. h., die früheren Erfahrungen sind überhaupt
nicht als Erinnerungen, sondern nur als Erwartungen im aktuellen Wahr-
nehmen. Diesen Unterschied möchte id1 durch eine kritische philosophie-
geschichtliche Bezugnahme kurz erläutern.
Nach Kant beruht alle Assoziation auf der Einheit des Verstandes
als ihrer Bedingung der Möglichkeit. Dies würde zutreffen, wenn wir
es bei ihr mit einem mittelbaren Bewußtsein zu tun hätten. Man hat nun
allerdings versucht, diese Assoziation so zu verstehen, z.B. Leibniz:
„So sehen wir, daß die Tiere, wenn sie etwas wahrnehmen, das sie
beeindruckt und wovon sie schon früher ähnliche Wahrnehmungen hat-
ten, durch die Vergegenwärtigung ihres Gedächtnisses (par la representa-
tion de leur memoire) dasjenige erwarten, was in dieser früheren Wahr-
nehmung damit verbunden war, und zu ähnlichen Gefühlen wie damals
veranlaßt werden. Zeigt man z.B. den Hunden den Stock, so erinnern
sie sich des Schmerzes (ils se souviennent de la douleur), den er ihnen
verursacht hat, heulen und ergreifen die Flucht. " 105 Dadurch verkennt
man aber diese Assoziation vollständig, denn in der vorzeichnenden
Erwartung des unmittelbaren Bewußtseins selbst tritt keinerlei Erinne-
rung, keinerlei Vergangenheitsbewußtsein (Bewußtsein von vergangenem
Bewußtsein) auf. Wenn ich mich in unmittelbarem Bewußtsein z.B. auf
einen Stuhl setze in der festen Präsumption, daß er hält, erinnere ich
mich in keiner Weise daran, daß er oder ein ähnlicher Stuhl früher in

105 Monadologie, § 26.


Sinnliche Einheiten 117

analogem Falle gehalten hat; es wird dabei im Bewußtsein keine Ver-


gangenheit vergegenwärtigt oder „geweckt". Man bezeichnet allerdings
auch gerade das Phänomen des „Erinnerns an" als Assoziation, z.B.,
wenn mich die Frau an der Kasse im Warenhaus an meine verstorbene
Primarschullehrerin erinnert. Hier handelt es sich aber um einen prin-
zipiell verschiedenen Assoziationsbegriff, der ein Geschehen im mittel-
baren Bewußtsein bedeutet. Wenn man sich zur Erklärung der unmittel-
baren Assoziation am mittelbaren Bewußtsein orientiert, verfälscht man
durch eine Metabasis die unmittelbare, rein sinnliche Assoziation 106 • Es
soll nicht etwa geleugnet werden, daß die unmittelbar vorzeichnende
Erwartung etwas Gewordenes und damit einer genetischen Erklärung
zugänglich ist, sondern nur geleugnet werden, daß in ihr selbst ein
Bewußtsein vergangener Wahrnehmung liegt; sie ist nur geworden für
die Vernunft.
Die Einheit der sinnlichen Tätigkeit ist nicht vermittelt durch die
Reproduktion anderer Tätigkeiten. Eine wahrgenommene Sinneseinheit
in der reinen Gegenwart ist kein Identisches, in dem durch „Rekogni-
tion im Begriff" ,,die Erscheinungen notwendig zusammenhängen". Den-
noch besteht Einheit und kein „Gewühle von Erscheinungen". Eine
wahrgenommene Einheit hat in sich eine Festigkeit oder Haltbarkeit,
d. h., das sinnliche Subjekt faßt sie wahrnehmend auf als festen Sinn
für ein festes einheitliches Tun. Die Einheit des wahrgenommenen Sin-
nes beruht in der Einheit der im Können liegenden Tätigkeit. Eine sinn-
lich wahrgenommene Sinneseinheit ist daher immer eine feste typische
oder schematische Einheit, entsprechend der typischen Einheit, dem
Schema oder der „Formel" eines vermöglichen einheitlichen Tuns. Die
,,Dinge", die im sinnlichen Umfeld als haltbare, feste Einheiten aufge-
faßt werden, sind Typen. Als solche haben sie eine gewisse „Allgemein-
heit", die aber nicht als solche bewußt ist, sondern nur der Wiederholbar-
keit eines festen, immer wieder verfügbaren Tuns entspricht. Als Sinnes-
einheiten kennt das sinnliche Subjekt keine identischen Individuen, son-
dern nur Typen, aber es erkennt sie auch nicht als identische Typen,
d. h. es erkennt nicht Einzelnes als Einzelnes neben anderen Einzelnen
desselben allgemeinen Typus. Es ,nimmt etwas gleichartig wahr, aber es
nimmt etwas nicht als gleichartig wahr107• Selbst wo das sinnliche Sub-
106 Auch Husserls Assoziationstheorie ist nicht frei von diesem Intellektualismus, auch
siP. vermengt sinnliche Assoziation mit dem Bewußtsein des „Erinnerns an" (siehe
Husserliana XI, 3. Abschnitt).
107 Ergänzende Ausführungen zur sinnlichen Typik siehe unten§ 41 (S. 200 f.).
118 Die Sinnlichkeit

jekt vom Verstand her gesehen ein identisches Individuum unterscheidet


und wiedererkennt (z.B. der Hund kennt seinen Meister), kennt es
dieses nur als evtl. sehr differenzierten Anhalt für ein bestimmtes typi-
sches Verhalten. Im unmittelbaren Bewußtsein besteht der Unterschied
zwischen Individuum und Allgemeinem noch nicht. Durch die Festig-
keit oder Haltbarkeit im Typus verfügt das sinnliche Subjekt über einen
Machtbereich seiner Tätigkeit, beherrscht es seine Situation.

§ 33 Erläuterungen der anidentischen Struktur


des sinnlichen Zugangsraumes

Die sinnliche perspektivische Selbstbeweglichkeit vermag keine Iden-


tität zu leisten. Der sinnliche Zugangsraum ist kein System identischer
Orte oder Stellen, m. a. W., er ist kein objektiver Raum. Das sinnliche
Subjekt kennt zwar feste Orte, es vermag z. B. an einen für es festen
Ort zurück.zukehren, aber es identifiziert ihn dabei nicht als eine objek-
tive Stelle, an der es früher schon war, zwischendurch nicht war und
jetzt wiederum ist oder die es damals von dort aus und nun von da aus
erreichte usw. Die Festigkeit der Orte im sinnlichen Zugangsraum bedeu-
tet nur, daß sich das sinnliche Subjekt durch sein wahrnehmendes Tun
einen vertrauten Bereich sinnhaft ausgezeichneter Orte in vertrauten
Richtungen und Abständen angeeignet, sich in ihn eingespielt oder ·ein-
gewöhnt hat und nun in ihm gewissermaßen „zu Hause" ist und sich ver-
traut herumbewegen kann. Aber dieser Bereich ist keine objektive Ord-
nung identischer Stellen, die sich nur im mittelbaren Bewußtsein ver-
schiedener (wirklicher und möglicher) Perspektiven (subjektiver Erschei-
nungsweisen} konstituiert.
Vom soeben Gesagten möchte ich hier nur zwei Punkte explizieren.
Einmal liegt darin, was wir bereits im § 14 andeuteten, daß das sinn-
liche Vermögenssubjekt seinen Raum immer nur „vor" sich hat als seinen
für es jeweils zugänglichen Bereich, aber selbst in ihm keine Stelle inne-
hat, obschon das Wesen dieses Raumes gerade darin besteht, daß es sich
in ihn überall hinbewegen, in ihn eingehen kann. Das sinnliche Subjekt
„ist" in seinem Raume rein im Modus des Könnens. Das Zentrum oder
der Blickpunkt, dem sich der Zugangsraum jeweils perspektivisch eröff-
net; ist nicht selbst in diesem Raum, obschon Blickpunkt und Raum eins
sind und der Blickpunkt beständig in den Raum übergeht. Das sinnliche
Subjekt liegt nicht im :Bereich des für es Zugänglichen, es hat sich nicht
Anidentische Struktur des sinnlichen Zugangsraumes 119

selbst „vor" sich im Bereich seines Könnens. Es stellt sich selbst nicht
als an irgendeiner Stelle des Zugangsraumes seiend vor, denn dazu müßte
es den „Ort", an dem es sich gerade befindet, als denselben von einem
anderen Orte aus (sich „im Geiste" dorthin versetzend) vergegenwärti-
gen, oder es müßte sich vergegenwärtigend vorstellen, daß es sich an
irgendeiner Stelle des jetzt vor ihm liegenden Zugangsraumes befinden
würde. Das sind aber mittelbare, ,,übersinnliche" Bewußtseinsweisen.
Weiter bedeutet die anidentische Struktur des sinnlichen Zugangs-
raumes auch, daß es in ihm genau genommen kein Hier oder Dort im
Sinne eines Dies gibt. In diesen „Demonstrativa" liegt bereits Objekti-
vität, sie konstituieren sich im Zeigen, das kein bloß sinnliches Tun ist.
(Sie brauchen hier aber auch noch nicht als kategoriale Momente, als
Subjektsetzungen für Prädikationen oder als Adverbien verstanden zu
werden.) Im Zeigen meine ich hinweisend im mittelbaren Bewußtsein
einer bestimmten Orientierung (einer bestimmten Perspektive), und d. h.
eo ipso im mittelbaren Bewußtsein verschiedener Orientierungsmöglich-
keiten, eine identische Stelle und etabliere dadurch objektiven Raum. Ich
zeige immer nur für anderes Bewußtsein108 • Diese Feststellung erlaubt
uns eine prinzipielle Bemerkung zu Hegels Phänomenologie des Geistes,
die unsere eigene Absicht verdeutlichen kann.
Bekanntlich läßt Hegel gleich am Anfang seiner Phänomenologie die
sinnliche Gewißheit durch das Zeigen aus der Unmittelbarkeit heraus-

tos Es sei hier auf den berühmten Aufsatz von Kurt Goldstein, »Über Zeigen und
Greifen" (Nervenarzt 4 (1931), S. 453 ff., neu herausgegeben in Selected Papers,
Nijhoff, Den Haag, S. 263 ff.) hingewiesen. Dieser Aufsatz wurde in der phäno-
menologischen Literatur (Merleau-Ponty, Buytendijk, Linschoten) immer wieder
zitiert und erörtert, aber der von Goldstein darin festgehaltene prinzipielle Unter-
schied von Greifen und Zeigen wurde doch nirgends hinreichend, nämlich als
Differenz unmittelbaren und mittelbaren Bewußtseins, interpretiert, obschon die
Erklärungen Goldsteins auf diese Differenz hindrängen: ,,Der Ausdruck dieser
Grundstörung ,seil. der sog. Seelenblindheit, . . . ist das Fehlen eines dem Sub-
jekt gegenüberstehenden objektiven Raumes. Ein solcher Raum ist notwendig, damit
überhaupt die Einstellung auf Zeigen zustande kommen kann. Nur in einem sol-
chen gibt es Stellen, auf die man zeigen kann . . . Der Seelenblinde kann nicht
zeigen, weil er einen solchen Raum und solche ihm gegenüberstehende Raumstellen
nicht hat. Zum Greifen ist ein solcher Raum offenbar nicht notwendig ... Führen
wir die Analyse weiter, so zeigt sich, daß dieses Versagen bei räumlichen Verhält-
nissen wieder nur ein Ausdruck ist der Unfähigkeit, sich überhaupt Rechenschaft zu
geben, sich gegenständlich, kategorial zu verhalten, wie wir es genannt haben, oder,
wie man es auch ausdrücken kann, aus einem Gesamtgeschehen willkürlich eine
Einzelheit herauszuheben ... Das weist darauf hin, daß es sich um eine biologisch
sd1wierige, man kann wohl sagen, schwierigste, dem Menschen eigentümliche Lei-
stung handelt." ·
120 Die Sinnlichkeit

treten. Das Aufzeigen ist nach ihm das Erfahren, daß das Dies All-
gemeines ist; es ist die Bewegung zum Allgemeinen. Offenbar kann Hegel
nur dadurch die bloße sinnliche Meinung, das Wissen des Unmittelbaren,
zur Vernunft (zur Wahrnehmung in seinem Sinn) kommen lassen, daß·
er durch das Zeigen die Vernunft bereits in die sinnliche Gewißheit
hineinlegt und diese zur dialektischen Geschichte. des Aufzeigens macht:
Hegel betrachtet also das unmittelbare oder sinnliche Bewußtsein, das
selbst weder spricht. noch zeigt, nicht in sich· selbst. 'Dagegen könnte nichts
eingewendet werden, wenn sich Hegel dies am Anfang seiner Phänome-
nologie nicht gerade ausdrücklich zur Aufgabe machte109 • Sein Vorgehen
wird aber von der idealistischen These geleitet, daß das unmittelbare,
sinnliche Bewußtsein gar keinen eigenen Bestand in sich selbst haben
kann, also kein eigenes Wesen, sondern bloßes Moment der Vernunft
ist. Wir möchten zeigen, daß diese Auffassung nicht nur die Sinnlichkeit,
sondern auch die Vernunft verfälscht.

§ 34 Die Einheit des sinnlichen Bewußtseins

Wenn das sinnliche Subjekt in seinem Tun einer typischen Sinnes-


einheit zugewendet ist, hat es die Potentialität des Tuns, die ihren
gegenwärtigen Sinn ausmacht, sozusagen vor sich. Diese Sinneseinheit
steht jedoch in der Gegenwart nicht isoliert da, sondern befindet sich in
einer Umgebung, und auch diese Umgebung bedeutet für das sinnliche
Subjekt eine Potentialität des Tuns, .die es aber nicht vor sich, sondern
im Hintergrunde hält. Auch dieser Hintergrund ist als Potentialität, als
Zugänglichkeit unmittelbar gegenwärtig, auch er ist im Tun anwesend,
aber ohne daß das sinnliche Subjekt jetzt auf etwas in ihm einginge.
Die Potentialität, die das sinnlich erscheinende Umfeld ausmacht, ist
also in verschiedene Weisen strukturiert: Sie ist zugewandte (,,vorgenom-
mene" oder herausgegriffene) Potentialität und Hintergrundpotentiali-
tät oder, was damit äquivalent ist, sie ist innere Potentialität der „vor-
genommenen" Sinneseinheit und dieser Einheit äußere Potentialität, in

10' "Das Wissen, welches zuerst oder unmittelbar unser Gegenstand ist, kann kein
anderes sein als dasjenige, welches selbst ·unmittelbares Wissen, Wissen des Unmittel-
baren oder Seienden ist. Wir haben uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend zu
verhalten, also nichts an ihm, wie es sich darbietet, zu verändern und von dem Auf-
fassen das Begreifen abzuhalten" (Ausgabe Lasson, Meiner, S. 65).
Die Einheit des sinnlichen Bewußtseins 121

der Sprache Busserls Innenhorizont und Außenhorizont110 • Diese Wei-


sen sind nicht die einzigen, nach denen sich die Potentialität der Gegen-
wart formal differenziert. Sowohl die jeweils innere wie äußere Poten-
tialität stufen sich nach Nähe und Schwierigkeit verschieden ab, der
Hintergrund ist als solcher nicht homogen, sondern tönt schon eine sinn-
hafte Gliederung mit einem Relief unterschiedlicher, miteinander kon-
kurrenzierender Anziehungskraft an. Diese verschiedenen Weisen und
Stufen der Potentialität des unmittelbaren Tuns beziehen sich als solche
gegenseitig aufeinander und machen eine strukturierte Einheit aus: die
eine konkrete sinnliche Gegenwart oder Situation in ihrer verschiedenen
,,Horizonthaftigkeit".
Die Einheit des sinnlichen Bewußtseins ist die Einheit einer in einem
unmittelbaren einheitlichen Horizont des Könnens fortschreitenden Tä-
tigkeit. Das sinnliche Subjekt ist nichts anderes als das im unmittelbaren
Tun Könnende. Tätigkeit ist Tätigkeit eines Subjekts, weil Tätigkeit
Tätigkeit in einem Können ist. Eine Tätigkeit, die nicht in einem Kön-
nen geschieht, ist „subjektlose Tätigkeit", also überhaupt keine Tätigkeit,
kein Bewußtsein, sondern etwa ein bloßer in sich selbst bewußtloser
„zwangshafter Reflex". Die „Substanz" des sinnlichen Subjekts ist sein
Können; ,,Können" bedeutet keinen Akt, sondern die Subjektivität
der Akte.
Das Können, das die sinnliche Subjektivität ausmacht, ist Können in
einem festen disponiblen Gefüge. Dieses Gefüge, der lebendige Leib, ist
sozusagen das mannigfaltig gegliederte einheitliche Gesamtschema oder
Gesamtsystem des unmittelbaren Könnens. Der Leib als Gesamtsystem
des Könnens ist das in völliger Entsprechung stehende „Gegenstück" des
sinnlichen Umfeldes, und das jeweilige Umfeld, die jeweilige Situation,
ist das entsprechende „Gegenstück" des jeweiligen Zustandes, der jewei-
ligen Modulation dieses Gesamtsystems. Das eine kann für das andere
stehen, die Frage der Einheit des sinnlichen Subjekts ist die Frage der
Einheit des sinnlichen Umfeldes, und umgekehrt. Wie die Potentialität

° Krisis, S. 165. Der Gebrauch des Wortes Horizont für


11 die Potentialität der sinn-
lichen Gegenwart ist insofern irreführend, als dieses Wort nicht nur in der von
Husserl sich inspirierenden Philosophie, sondern auch in Schriften Husserls selbst
als gleichbedeutend mit „Hintergrund" und „Hof" gebraucht wird (siehe Ideen I,
S. 201/2). Hintergrund und Potentialität sind aber verschiedene Begriffe: Poten-
tialität steht auch im „Vordergrund", sie macht auch den Sinn dessen aus, dem das
Subjekt jeweils zugewendet ist. Der Begriff des Hintergrundes bestimmt sich durch
die· Begriffe des Interesses und der Zuwendung, nicht aber der Begriff der Poten-
tialität.
122 Die Sinnlichkeit

im jeweiligen Tun verschieden moduliert ist, so ist auch ihr Gefüge je


nach der in ihm herrschenden Tätigkeit verschieden zentriert, in seinen
Gliedern verschieden „angesprochen". Im Horchen ist das sinnliche Sub-
jekt „ganz Ohr": Das sinnliche Subjekt ist Ohr - nicht fungieren ein-
fach nur die Ohren - es ist mit seinem ganzen Leib, mit seinem ganzen
verfügbaren Schema der Selbstbeweglichkeit im Horchen bzw. im Ohr
als dem Zentrum des Horchens konzentriert. Seine ganze Haltung ist
eine horchende, und ganz im Horchen hört es nicht bloße Töne, sondern
z.B. den Schritt eines Herannahenden draußen auf der Treppe, also
auch dessen Sichtbarkeit, Greifbarkeit usw., und wenn es keine Sicht-
barkeit hört, versucht es beständig den sichtbaren Sinn „durchzuhören".
Also auch seine Augen zum Sehen, Hände zum Greifen etc., überhaupt
der Leib als ganzer ist im Modus der Potentialität im Ohr „mitange-
sprochen" oder impliziert111 • Diese Verhältnisse kennen wir in feinster
Analyse durch Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung. Je
differenzierbarer oder modulierbarer das einheitliche Können, bzw. je
gegliederter und differenzierter der einheitliche Leib ist, umso mannig-
faltiger ist sein einheitliches Umfeld, umso mächtiger ist das sinnliche
Subjekt.
Das sinnliche Können ist in seinem festen Gefüge oder in seiner
festen Ausrüstung eine wie immer gewordene und werdende Habituali-
tät, es hat andererseits seine Brüchigkeit, es kann verkümmern und zer-
fallen; Es ist faktisch und kontingent, es ist kein apriorisches System von
Funktionen, das in seiner Notwendigkeit und Vollständigkeit vom „Ich
denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können", abzuleiten
wäre. Unmittelbar bestehen überhaupt nicht verschiedene Vorstellungen
(verschiedene Perspektiven oder Gegenwarten), und damit besteht rein

111 Es besteht aber keinerlei apriorische Notwendigkeit, daß im jeweiligen Tun diese
ganze Ausrüstung des Könnens nur in jeweils verschiedener "Variation" anwesend
sei, sondern es geschieht auch, daß das sinnliche Subjekt in Panik, Faszination,
Krankheit „außer sich" gerät, daß sein unmittelbarer „Horizont" Sinnesschichten
einbüßt, bzw. daß gewisse Dimensionen oder Linien der Potentialität in einer aus
dem Gesamtgefüge des Könnens gerückten Tätigkeit abgeblendet werden. Anderer~
seits scheinen sich nach neueren tierpsychologischen Auffassungen, die wir tran-
szendental interpretieren können, sog. ,,Instinkthandlungen" je in einem besonderen,
durch eine „Stimmung" bestimmten Funktionskreis abzuspielen, in dem alles
„gleichgültig" oder sinnlos ist, was nid1t zu ihm gehört, was aber dem Tier in
anderen Funktionen etwas bedeuten kann, so daß es als Subjekt im Obergang
von einem Funktionskreis zum anderen in seinem Typus sich verändert (vgl. z.B.
N. Tinbergen, Instinkt/ehre. Vergleichende Erforschrmg angeborenen Verhaltens,
4. Aufl., Berlin und Hamburg, 1966, S. 9, 26 ff.).
Husserl im Banne des Intellektualismus 123

unmittelbar auch keine Möglichkeit einer solchen verbindenden reflexi-


ven „Begleitung". Natürlich ist das sinnliche Bewußtsein als solches nur
durch das Ich denkbar, und zwar erkenne ich es primär (vor aller tran-
szendentalen Interpretation äußerlich erscheinender Subjekte) als mein
eigenes. Der Verstand reflektiert das unmittelbäre Bewußtsein als das
seine und sagt: ich nehme sinnlich wahr etc. Er begleitet das sinnliche Be-
wußtsein, indem er es „reflektiert". Aber die Sinnlichkeit rein reflektie-
rend, erkennt er auch, daß es nicht zu ihrem Wesen gehört, reflektiert zu
werden, reflektierend kann er das sinnliche Bewußtsein rein in sich selbst
als eigenen Bestand fassen, er kann es in der Idee als reine Unmittelbar-
keit restituieren, indem er sich vorerst selbst als Vergegenwärtigung er-
kennt und dann in der Gegenwart prinzipiell von allen Vergegenwärti-
gungen absieht, die er in ihr instituiert hat. So kann der Verstand sich
bewußt werden, daß er in einem Leben gründet, das sich seinem Wesen
nach nicht prinzipiell nach ihm richtet, sondern in sich selbst reine Gegen-
wart, die eine unmittelbare Einheit der Potentialität'bezeichnet, zustande
bringt und darin seinen eigenen Bestand hat.

§ 35 Busserl im Banne des Intellektualismus

Am Ende dieses Kapitels über das sinnliche Bewußtsein möchte ich


mich eingehend mit Busserls Bewußtseinstheorie auseinandersetzen; Ich
möchte zu zeigen versuchen, wie Busserl, ähnlich wie Kant, das unmittel-
bare, sinnliche Bewußtsein unterschlägt oder es nach Analogie mit dem
Verstandesbewußtsein, z. T. sogar mit dem kategorialen Verstand (in
unserer präzisen Terminologie: der kategorialen Vernunft) interpretiert
und mit ihm vermengt, also als sinnliches Bewußtsein in. seiner Eigen-
tümlichkeit und Eigenständigkeit gar nicht zu Worte kommen läßt und
damit auch deri Verstand ·oder die Vernunft verfälscht. Auch Busserls
<

begriffliches Grundgerüst ist intellektualistisch geprägt. Aber das ist


nur eine Seite der Sache. Was für uns eine kritische Auseinandersetzung
mit Busserl vor allem interessant macht, ist vielmehr dies, d,aß. seine
eigenen Analysen diesen intellektualistischen Rahmen erschüttern und
zum Teil auch sprengen, so daß' uns bei Busserl selbst in sehr differen-
zierter Weise .das Ungenügen der Intellektualisierung des Bewußtseins
überhaupt bzw. die Eigentümlichkeit des sinnlichen Bewußtseins offen-
bar wird. Die folgende ausführliche Auseinandersetzung mit Busserl soll
in unserem Zusammenhang also eine doppelte Funktion erfüllen: Ein.mal
124 Die Sinnlichkeit

dient sie mir dazu, meinen philosophischen Standpunkt, der Busserls


Bewußtseinstheorie fast alles verdankt, von dieser an einem entschei-
denden Punkte abzuheben, so daß beim Leser keine Vermengungen ent-
stehen; zum andern zeigt sie innerhalb von Busserls intellektualistischem
Philosophieren selbst, in dessen tief eindringender Art, die Notwendig-
keit, zwischen Sinnlichkeit und Verstand (oder Vernunft) als zwei ver-
schiedenen Wesen von Bewußtsein prinzipiell zu unterscheiden, sie dient
damit also ganz der Absicht des vorliegenden Abschnittes. Sie liefert aber
keine wesentlich neuen Schritte zu unserem Gedankengang, sondern ver-
deutlicht und vertieft das bisher Erreichte, so daß ein eiliger oder mit
Busserls Philosophie gar nicht vertrauter Leser sie überschlagen kann.
Als ein ganz allgemeiner Hinweis auf Busserls intellektualistische
Tendenz kann uns _seine Anerkennung und hohe Wertung von Kants
Idee des Verstandes „unter der Benennung einer transzendentalen Syn-
thesis der Einbildungskraft" gelten, wie sie in der zweiten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft konsequent durchgeführt wurde, aber bereits
in der ersten Auflage als Grundgedanke angelegt ist: ,,Dieselbe Funk-
tion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit
gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in
einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Ver-
standesbegriff heißt. "112 Wie mancher Nachfolger Kants hat Busserl
aus dieser Idee die Konsequenz gezogen, daß es eine transzendentale
Lehre von der Sinnlichkeit (transzendentale Ksthetik) als eine auf eige-
nen Prinzipien beruhende selbständige Disziplin gar nicht geben, sondern
daß es sich bei ihr nur um eine „Unterstufe" oder „Grundstufe" 113 der
transzendentalen Logik handeln kann. Er erörtert denn auch die
transzendentale Ksthetik unter dem Titel „Grundprobleme der Logik" 114
und erklärt: ,,Die Wahrnehmung und ihre parallelen Bewußtseinsweisen
der Anschauung sind aber die ersten Grundgestalten des Bewußtseins, die
für den Aufbau des spezifisch logischen Bewußtseins in Frage kommen,
sie sind erste Grundlagen im logischen Bau, die gelegt und verstanden

112 A. a. 0., A 79; B 105. In der Krisis gibt Husserl dieser Idee, die er als „große
Entdedtung" wertet, folgende Formulierung: ,, ... der doppelt fungierende Ver-
stand: der in expliziter Selbstbesinnung sich in normativen Gesetzen auslegende,
und andererseits der verborgen waltende Verstand, nämlich waltend als konsti-
tuierender Verstand für die ständig gewordene und beweglich fortwerdende Sinn-
gestalt ,anschauliche Umwelt'" (S. 106, vgl. auch S. 97).
113 Husserliana XI, S. 498; Formale und transzendentale Logik, S. 256.
114 Titel der Vorlesung vqm Wintersemester 1925/26, die sich auf Texte stützte, die

nun in Husserliana XI veröffentlicht sind.


Husserl im Banne des Intellektualismus 125

werden müssen. Wir schweifen also nicht etwa ab, sondern wir sind
schon Logiker, ohne es zu wissen. " 115 Zwar versucht Husserl auch, in
Zusammenhängen, die nicht spezifisch von Logik handeln, der transzen-
dentalen Ästhetik eine Bedeutung zu geben, die sachlich eine gewisse
Eigenständigkeit zu besitzen scheint, aber zu einem prinzipiellen Begriff
ist er nirgends gelangt116• Man kann wohl ganz allgemein von Husserls
Idee einer »transzendentalen Ästhetik" sagen, was er selbst als Rand-

115 Husserliana XI, S. 319, Anm. Schon in den Logischen Untersuchungen zählt
Husserl die schlichte Wahrnehmung als objektivierenden Akt zur weiteren Sphäre
des Logischen (a. a. 0., 1. Aufl. II, S. 478/9, 511; 2. Aufl., II/2, S. 6/7, 39).
116 Husserl gebraucht recht oft den Terminus der transzendentalen i!i.sthetik. 'nicht nur
in den großen Freiburger Logikvorlesungen (siehe Husserliana XI), in Formale und
transzendentale Logik und in den Cartesianisd1en Meditationen, sondern auch in
zahlreichen Manuskripten aus den zwanziger und dreißiger Jahren. In den Frei-
burger Logikvorlesungen gebraucht er diesen Titel zur Bezeichnung der Sphäre der
Anschauung unter Ausschluß des gesamten Bereiches des bestimmenden und prädi-
zierenden Denkens (Husserliana XI, S. 295, 362, 498). Das kann übereinstimmen
mit der Erklärung der Formalen tmd transzendentalen Logik, daß die transzen-
dentale Pi.sthetik "das eidetische Problem einer möglichen Welt überhaupt als Welt
,reiner Erfahrung', wie sie allen Wissenschaften im höheren Sinn vorangeht, behan-
delt, also die eidetische Deskription des universalen Apriori, ohne welches- in
bloßer Erfahrung und vor den kategorialen Akten • • • einheitliche Objekte nicht
erscheinen und so überhaupt Einheit einer Natur, einer Welt sich als passive
synthetische Einheit nicht konstituieren könnte" (S. 256/7). Die Bestimmung· der
ästhetischen Sphäre durch vorkategoriale Anschauung und den Begriff der Passivität
enthält aber schon insofern einen Widerspruch, als zu einer in bloßer Anschauung
(Wahrnehmung und Erinnerung) konstituierten Welt auch thetische Stellungnahmen
(Entscheidungen) des Ich gehören, die nach jenen Vorlesungen als spontane (nicht
passive) Leistungen "aus dem Rahmen einer transzendentalen Pi.sthetik heraus-
fallen" (Husserliana XI, S. 361). In den Cartesianischen Meditationen gebraucht
Husserl den Terminus der transzendentalen Asthetik für den „Komplex der auf
die primordiale Welt bezüglichen Forschungen" und stellt »die Theorie der Fremd-
erfahrung, der sogenannten Einfühlung" als „das erste diese ,transzendentale
Asthetik' übersteigende Stodcwerk" hin (S. 173). Es handelt sich hier um einen
anderen Begriff als in jenem logischen Kontext, denn die „Welt reiner Erfahrung"
impliziert als intersubjektive auch Fremderfahrung, und andererseits wird in den
Cartesianischen Meditationen die Fremderfahrung in ihrer elementarsten Gestalt
als eine assoziative Übertragung, also als passive Leistung verstanden. Einerseits
scheint es ein engerer Begriff zu sein, der dadurch, daß er an einer nicht in._ der
Fremderfahrung fundierten „einheitlich zusammenhängenden Schicht des Phänomens
Welt" orientiert ist (S. 127), eine gewisse Selbständigkeit besitzt. Andererseits ist
aber der Begriff der Primordialität in einer Weise definiert {durch den Begriff der
Originalität), daß ihm Husserl nicht nur die Erlebnisse der Fremderfahrung (das
„Bewußtsein von Fremdem") unterordnen (S. 125, 131), sondern auch _die Frage
nach spezifisch logischen Leistungen in der Primordialität stellen muß. Auf den
Begriff der Primordialität werden wir noch ausführlich zurüdczukommen haben.
Zum Begriff der transzendentalen Pi.sthetik vgl •. meine Studie H usserl und Kant
(Nijhoff, 1964), S. 253-257.
126 Die Sinnlichkeit

bemerkung in ein eigenes Exemplar seiner 1 deen zu einer Stelle notiert,


die von verschiedenen Fundierungsschichten des axiologischen und prak-
tischen Bewußtseins und zuvor von der „bloßen Unterschicht des Erleb-
nisstromes", der Schicht der „sinnlichen Anschauungen", handelt: ,,Die
Scheidung niederer und höherer Stufe ist nicht klar umgrenzt. Es ist kein
radikaler Gesichtspunkt angegeben. Ich weiß auch nicht recht wie. " 117
Das hier Wesentliche ist, daß Busserl wie Kant alles Bewußtsein,
Bewußtsein überhaupt, als vernünftiges Bewußtsein auffaßt, die Ver-
nunft (,,Vernunft" im weiten Sinne, also auch den bloßen Verstand
umfassend) als immanente Form alles Bewußtseins betrachtet: ,, Vernunft
ist kein zufällig-faktisches Vermögen . .., vielmehr ein Titel für eine
universale wesensmäßige Strukturform der transzendentalen Subjektivi-
tät überhaupt. " 118 Jedes intentionale Bewußtsein trägt einen identischen
Sinn, ,,sozusagen die Quintessenz von ,Seele', ,Geist', ,Vernunft' in
sich" 119 und ist als thetisches in sich selbst auf die „Rechtsprechung der
Vernunft" bezogen120. Vernunft im vollkommenen Sinne ist nach Bus-
serl Korrelat des wahren, ausgewiesenen Seins121. Zwar ist nicht jedes
Bewußtsein in diesem Sinne vernünftig, aber jedes Bewußtsein ist in
sich selbst teleologisch auf solche Vernunft ausgerichtet. Die Phänome-
nologie der Konstitution, ,,in deren Dienst schließlich alle phänomeno-
logischen Analysen als Bestandstücke oder Unterstufen irgendwie ein-
treten"122, hat die Logik der Gegenständlichkeit, die gegenständliche
Logik oder die Ontologie, bzw. das wahre Sein, zum prinzipiellen, tran-
szendentalen Leitfaden123, und so bestimmt der Ausweis wahren Seins
„einen prägnanteren Begriff" von Konstitution124• Die transzendentale
Phänomenologie Busserls bestimmt sich letztlich als „konkrete Logik
des Seins" 125 : als „systematische Entfaltung des universalen im Wesen
einer transzendentalen· Subjektivität, also auch Intersubjektivität ein-
geborenen Apriori oder des universalen Logos alles erdenklichen

117 Husserliana III, Textkrit. Anm., S. 481. Diese Anmerkung stammt aus der Zeit
zwischen 1923 und 1928.
118 Cartesianische Meditationen, S. 92.
119 Ideen 1, S. 213.
120 A. a. 0., S. 266.
121 A. a. 0., S. 214 und der ganze vierte Abschnitt.
129 A. a. o., S. 213.
ua A. a. 0., S. 214 und § 153.
m Cartesianische Meditationen, S. 91.
125 A. a. 0., S. 181.
Busserl im Banne des Intellektualismus 127

Seins" 126• Die transzendentale Subjektivität ist für Busserl letztlich


schlechthin Vernunft, aktive und passive Vernunft127, und „Sinnlichkeit"
bezeichnet für ihn sehr vage nur ein unselbständiges Moment der Ver-
nunft selbst.
Für unsere eigene Untersuchung ist aber weniger diese allgemeine
intellektualistische Sicht des Bewußtseins von Interesse als vielmehr
deren Entsprechung in der Grundbegrifflichkeit, mit der Busserl das
Bewußtsein faßt. Im folgenden möchten wir an vier Knotenpunkten von
Busserls Bewußtseinstheorie, die ihr ganzes Gerüst ausmachen, dieser
intellektualistischen Tendenz bzw. dem Widerstand der von Busserl
selbst zutage geförderten Sachverhalte gegen diese im begrifflichen Appa-
rat liegende Tendenz nachgehen. Diese vier Knotenpunkte werden
durch folgende Begriffsgruppen gebildet: a) Synthesis und Identität, b)
Noesis (Sinngebung) und Noema (Sinn), c) Thesis und Geltung, d) Ich
als subjektiver Pol des Bewußtseins. Diese vier Begriffsgruppen bilden
den formalen Rahmen, in den Busserl jedes Bewußtsein einspannt.

a) Synthesis und Identität

Bewußtsein ist nach Busserl Intentionalität und als Intentionalität


Konstitution. Das allgemeinste Wesen der Konstitution besteht nach
ihm darin, daß mannigfaltige Noesen (die das Spezifische der Inten-
tionalität ausmachen) durch ihre Synthesis ein Identisches (eine „objek-
tive Einheit") zustande bringen128 • Konstitutive Phänomenologie ist
Analyse unter dem Gesichtspunkt dieser je nach Gegenstandskategorie
verschiedenartigen synthetischen Leistung identischer Einheit. Die Tat-
sachen der phänomenologischen Bewußtseinsdeskription „können alle
auch als Tatsachen der synthetischen Struktur bezeichnet werden" 129 •
Synthesis und Identität sind die beiden korrelativen Grundbegriffe,
durch die Busserl alles Bewußtsein, vom primitivsten Bewußtsein einer
immanenten zeitlichen Empfindung und des zeitigenden Strömens bis
hinauf zum kompliziertesten Bewußtsein etwa einer wissenschaftlichen

126 Ebenda.
1 27 Siehe Husserliana XI, S. 64.
12 8 Vgl. Ideen I, S. 212/13. Das von Busserl hier erörterte Moment der „Hyle" kann
nach ihm auch als zur konkreten Nocse gehörig betrachtet werden, und zwar als
ein reeller Bestandteil von ihr.
12 9 Cartesianische Meditationen, S. 79.
128 Die Sinnlichkeit

Theorie, sieht130 • Sein Begriff der Intentionalität ist von diesen Begriffen
her bestimmt: ,,Jedes Erlebnis ist intentionales, sofern es als Bewußtsein
von etwas in sich einen Pol hat, d. i. mit gewissen anderen und ideell
unendlich vielen in Synthesen der Identifizierung treten kann, wobei
im Einheitsbewußtsein, bzw. Identitätsbewußtsein dieser ideelle Pol als
Identisches, aber nicht als reell Identisches, sondern als Identisches der
Meinung, des Sinnes zur Deckungseinheit kommt. " 131 „Erst die Auf-
hellung der Eigenheit der Synthesis ... macht also die bedeutsame Ent-
deckung Franz Brentanos, daß die Intentionalität der deskriptive
Grundcharakter der psychischen Phänomene sei, fruchtbar und legt die
Methode einer deskriptiven - wie transzendental-philosophischen, so
natürlich auch psychologischen - Bewußtseinslehre frei. Betrachten wir
die Grundform der Synthesis, nämlich die der Identifikation, so tritt sie
uns zunächst als allwaltende, passiv verlaufende Synthesis gegenüber in
der Form des kontinuierlichen inneren Zeitbewußtseins. "132
Jedoch im 2. Abschnitt der 6. Logischen Untersuchung stellt Busserl
Sinnlichkeit und Verstand einander gegenüber und versucht die sinnliche
Wahrnehmung als schlichten Akt gegenüber dem Verstand (den er im-
mer als kategorialen denkt) als fundiertem, synthetischem Akt zu cha-
rakterisieren. Er schreibt: ,, ... der Wahrnehmungsakt ist allzeit eine
homogene Einheit, die den Gegenstand in einfacher und unmittelbarer
Weise gegenwärtigt. Die Einheit der Wahrnehmung erwächst also nicht
durch eigene synthetische Akte, als ob nur die Fom der Synthesis durch
fundierte Akte den Partialintentionen die Einheitlichkeit der gegenständ-
lichen Beziehung verschaffen könnte. Der Artikulierung und somit auch
der aktuellen Verknüpfung bedarf es nicht. Die Wahrnehmung kommt
als schlichte Einheit, als immittelbare Verschmelzung der Partialinten-

130 „Ein Allgemeinstes bleibt aber für jederlei Bewußtsein überhaupt als Bewußtsein
von etwas. Dieses Etwas, der in ihm jeweils intentionale Gegenstand als solcher
ist bewußt als identische Einheit noetisch-noematisch wechselnder Bewußtseins-
weisen ... " (a. a. 0., S. 79).
131 Ms. F I 29 (Vorlesung „Einleitung in die Philosophie" vom WS 1922/23),
S. 11 a. In der Krisis schreibt Busserl: ,,Das eigene Sein der Intentionalität ist
nichts anderes als Sinnbildung mit Sinnbildung zusammenfungierend, in der Syn-
thesis neuen Sinn ,konstituierend'." (S. 171) Die Intentionalanalyse besteht in der
vergegenwärtigenden Explikation der in den Bewußtseinsaktualitäten implizierten
synthetisch zum Bewußtsein des identischen Gegenstandes gehörigen Potentialitäten
(Cartesianische Meditationen, S. 84/5).
131 Cartesianische Meditationen, S. 79; ich überspringe in diesem Zitat den vom
damaligen Assistenten Busserls, Eugen Fink, eingefügten Titel.
Husserl im Banne des Intellektualismus 129

tionen und ohne Hinzutritt neuer Aktintentionen zustande. " 183 „Auch
der kontinuierliche Wahrnehmungsverlauf erweist sich bei genauerer
Analyse als eine Verschmelzung von Partialakten zu Einern Akt, nicht
als ein in den Partialakten fundierter Akt. "134 Von Synthesis ist in
diesem § 47 der 6. Untersuchung nicht die Rede, wohl aber von Identi-
fizierung. Husserl erklärt, daß im kontinuierlichen Wahrnehmungsver-
lauf „Identifizierung vollzogen" (wenn auch keine Identität gemeint)
sei, ,,denn der in den verschiedenen Akten des Wahrnehmungsverlaufes
gemeinte Gegenstand ist immerfort derselbe" 135. Husserl übersieht hier,
daß für das sinnliche Bewußtsein oder im sinnlichen Bewußtsein selbst
jeweils gar nicht verschiedene Akte da sind, die in bezug auf ihren
Gegenstand einer Identifizierung bedürften, sondern nur für den den
Wahrnehmungsgang reflektierenden und in Partialakte aufteilenden Ver-
stand. Immerhin beschreibt er aber diese nach ihm in der Sinnlichkeit
geschehende „Identifizierung" in einer Weise, die ihr den Charakter
einer wirklichen Identifizierung nimmt: nämlich als „Verschmelzung
durch Deckung der Intentionen" 136. Aber dennoch vermag Husserl nicht,
den hier zur Geltung gekommenen Sachverhalt in seiner Eigenart zu
fassen. Denn im 1. Abschnitt derselben Untersuchung hatte er schon den
schlichten Wahrnehmungsverlauf in genauer Analogie zum begrifflichen
Erkenntnisprozeß als Erfüllungssynthese unter Identifikation des Ge-
genstandes aufgefaßt und aufgrund dessen beide Bewußtseinsarten der-
selben Gattung, derjenigen der objektivierenden Akte, die nach ihm
die Bewußtseinsintentionalität als solche ausmachen, zugeordnet187. So
wird für ihn auch bloße Wahrnehmung zur Synthesis und Identifika-
tion138: ,,die Wahrnehmung erfüllt sich durch die Synthesis der sach-
lichen Identität, die Sache bestätigt sich durch sich ,selbst', indem sie sich
von verschiedenen Seiten zeigt und dabei immerfort die eine und selbe
ist. "189 „Und alle derartigen Erfüllungssynthesen sind durch einen ge-
meinsamen Charakter ausgezeichnet, eben als Identifizierungen von

133 Logische Untersuchzmgen, 1. Aufl., II, S. 620 (2. Aufl., II/2, S. 148).
1a. A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 621 (2. Aufl., '11/2, S. 149).
136 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 622 (2. Aufl., II/2, S. 150).
188 Ebenda.
187 Vgl.besonders die §§ 14 und 15 (2. Aufl.: §§ 13 und 14).
188 Husserl treibt die Analogie so weit, daß er hier sogar bei der bloßen Wahrnehmung
von signitiven Komponenten (Intentionen) spricht (1. Aufl. II, S. 529, 532; vgl.
S. 562, 565; 2. Aufl. S. 57, 60, vgl. S. 90, 93).
189 A. a .•0, 1. Aufl. II, S. 528 (2. Aufl., 11/2, S. 56).
130 Die Sinnlichkeit

Selbsterscheinungen eines Gegenstandes mit Selbsterscheinungen dessel-


ben Gegenstandes. " 140• 141
Andererseits ist sich Busserl aber doch wieder bewußt, daß es sich
bei den Identitätssynthesen der sinnlichen Wahrnehmung nicht im sel-
ben Sinne um Synthesen handeln kann wie bei den kategorialen Akten.
Er spricht in den Logischen Untersuchungen, offensichtlich verlegen, von
den „überaus merkwürdigen kontinuierlichen Synthesen, die eine Man.:.
nigfaltigkeit zu demselben Gegenstand gehöriger Wahrnehmungen zu
eirier einzigen ,vielseitigen' oder ,allseitigen', den Gegenstand ,in wech-
selnder Lage' kontinuierlich betrachtenden Wahrnehmung zusammen-
schließen"142. Eine ausdrückliche differenzierende Gegenüberstellung gibt
er allerdings erst in den Ideen, obschon die Voraussetzungen dazu schon
in den Logischen Untersuchungen geschaffen sind. Die Ideen I unter-
scheiden zwischen kontinuierlichen und gegliederten (diskreten, polythe-

140 A. a. 0., 1. Aufl. II, S. 530 (2. Aufl. II/2, S. 58).


141 Besonders gut läßt sich Husserls analogisierende Übertragung der am kategorialen
Bewußtsein herausgearbeiteten Strukturen auf die unmittelbare Wahrnehmung auch
in seiner Vorlesung über Bedeutungstheorie vom Sommersemester 1908 zeigen.
Husserl untersucht hier u. a. die gegenständliche Beziehung nominaler Akte und
schreibt in diesem Zusammenhang: ,,Bedeutungsverleihende Akte sind prädikative
Akte, d. h._ Akte, die entweder volle Prädikationen sind oder sich als unmittelbare
oder eigentliche Bestandstücke in Prädikationen einreihen lassen. Und nur in ihrer
prädikativen Funktion weisen sie ihre gegenständliche Beziehung aus. Nur um
solcher Funktionen willen stellen sie Gegenständliches vor .oder haben sie Beziehung
auf Gegenständliches. - Analoges gilt von allen Akten, die wir Vorstellungen
nennen. Man kann sagen, die eigentlich objektivierenden Funktionen sind diejeni-
gen, in denen Gegenständliches als mit sich Identisches bewußt wird. Wir werden
also zurückgeführt auf die Akte des Einheitsbewußtseins und des innig damit
zusammenhängenden gliedernden Identitätsbewußtseins. Und alle Akte, die sich
darin als Glieder oder Phasen unterscheiden lassen, die Akte, die das Einheits-
bewußtsein fundieren oder als Glieder in die identifizierende Synthesis treten,
heißen um dieser. ihrer Fähigkeit willen vorstellende Akte, wegen ihrer Fähigkeit,
im Selbstbewußtsein mit ihresgleichen sich zu verschmelzen oder zu verbinden und
so ein Selbiges bewußt zu machen. Z.B. das kontinuierliche Wahrnehmungsbewußt-
sein ist ein Einheitsbewußtsein: Die Wahrnehmungsphasen, die einzelnen unter-
scheidbaren Wahrnehmungserscheinungen, die in Einheit treten, sind Vorstellungen,
Wahrnehmungsvorstellungen, weil sie so einig sein können, und ihrem Wesen nach
stellen sie vor ein Identisches, das sich im Abfluß der.- Wahrnehmungseinheit uns
intuitiv vor Augen stellt als das in ihr Einheitliche, Identische." (F I 5, S. 50 a/b)
Und Husserl schließt: ,,Es ist also klar: Die Aufgabe, die verschiedenen Wendungen
der Rede vom Vorstellen zum Verständnis zu bringen, und im Zusammenhang
damit den vei:schiedenen Sinn von gegenständlicher Beziehung der Vorstellungen,
heißt, ih durchgeführter Wesensanalyse die verschiedenen Urteilsfunktionen klar-
legen" (a. a. 0., S. 51 a). Husserl adoptiert hier ganz Kants Idee vom universalen,
schon in der Anschauung synthetisch Einheit schaffenden Verstand.
142 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 570 (2. Aufl. II/2, S. 98).
Husscrl im Banne des Intellektualismus 131

tischen) Synthesen. Die gegliederten Synthesen zeichnen sid1 dadurch


aus, daß „sich diskret abgesetzte Akte zu einer gegliederten Einheit, zu
der eines synthetischen Aktes höherer Stufenordnung verbinden", also
einen höheren, fundierten Akt bilden, während bei der kontinuierlid1en
Synthesis „die Einheit (noetisch wie noematisch und gegenständlich) der-
selben Ordnungsstufe zugehört wie das Geeinigte" 143 • Zu den geglieder-
ten gehören die syntaktisd1en oder kategorialen Synthesen, die die
Grundfomen der formalen Logik und Ontologie ausmachen144, bzw~ in
ihrer Nominalisierung „formalkategoriale Abwandlungen der Idee der
Gegenständlichkeit überhaupt bilden" 145 • Es ist bedeutungsvoll, daß
Busserl hier die formale Logik nur in Beziehung zur gegliederten Syn-
thesis bringt, während Kant sie zum transzendentalen Leitfaden aller
Bewußtseinsleistungen, aller Synthesen, nimmt. Gegliedert sind aber nach
Busserl nicht nur die kategorialen Synthesen, sondern nach anderen
Texten auch die Synthesis des Wiedererkennens aufgrund der Wieder-
erinnerung und die Synthesis der wiederholten Erinnerung an das.:.
selbe 146 • Die kontinuierliche Synthesis nennt Busserl in einem Text der
1deen II die ästhetische oder sinnliche im Gegensatz zur kategorialen147•
Sie konstituiert den „Einen Gegenstand" und soll auch aus Einzelthesen
bestehen. So fordert die schlichte Dingwahrnehmung „Einzelbetrachtun-
gen, Einzeldurchlaufungen, Übergänge in Wahrnehmungsreihen, die
zwar von der Einheit einer kontinuierlichen Thesis umspannt sind, aber
offenbar so, daß die vielerlei einzelnen Thesen keineswegs in Form einer
kategorialen Synthesis geeinigt sind. Was diesen Einzelthesen Einheit
verleiht, ist eine Synthesis ganz anderer Art: wir wollen sie die ästheti-
sche Synthesis nennen. " 148 Als eine andere Funktion der ästhetischen
Synthesis nennt Busserl hier, ,,die Gegenständlichkeiten, die sich in ver-
schiedenen einzelnen Sinnessphären konstituiert haben, miteinander zu
einen: z: B. die visuelle Dingschicht mit der taktuellen" 149 • Auch die
ästhetisd1e Synthesis der schlichten Wahrnehmung soll also aus Einzel-
thesen bestehen, sie wäre also ein einheitliches Bewußtsein von mannig-

143 Ideen 1, S. 292.


144 A. a. 0., S. 293.
145 A. a. 0., S. 295.
1 -rn Vgl. Ms. F I 5, S. 50 a (1908): ,, ... die gegliederte Synthesis, in der sich gesonderte

Wahrnehmungen oder Wahrnehmungen und Erinnerungen verknüpfen .•• "; Ms.


A VI 26, S.147bff. (zwanziger Jahre); Krisis (Husserliana VI), S.172.
141 Ideen II (Husserliana IV), § 9.
1·15 Husserliana IV, S. 19 (meine Hervorhebung).

m A. a. 0., S. 20.
132 Die Sinnlichkeit

faltigen Einzelbewußtsein, d. h. mittelbares Bewußtsein (Bewußtsein


von Bewußtsein), das in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen Identi-
tät des Gegenstandes zustandebringt. Husserl denkt sich hier offenbar
die Synthesis in der „schlichten Wahrnehmung" nach dem Schema der
Synthesis in der Vergegenwärtigung (z.B. Wiedererinnerung). Tatsäch-
lich stellt er sie hier (in den Ideen II) auch nur der kategorialen
Synthesis gegenüber, so daß die Synthesen der nicht-kategorialen Ver-
gegenwärtigung, die er anderorts als diskrete, aber doch als zur „tran-
szendentalen Asthetik" gehörige betrachtet, mit den schlichten Wahr-
nehmungssynthesen unter denselben Begriff der Synthesis fallen wür-
den150. Aber in einer späteren Randbemerkung zu diesen Ausführungen
der Ideen II fragt Husserl: ,,Zur ästhetischen Synthesis: Muß man nicht
· die Grundunterscheidung einführen: 1. Synthesis als eigentliche Ver-
knüpfung, Verbindung, ein Ausdruck., der auf Gesondertes verweist; und
2. kontinuierliche Synthesis als kontinuierliche Verschmelzung? Jede
ästhetische Synthesis der ersteren Art führt auf letzte Elemente. Das
Ding als Gebilde einer ästhetischen Verknüpfung baut sich aus sinn-
lichen Merkmalen auf, die ihrerseits aus kontinuierlicher Synthesis stam-
men. "151 Hier ist also von einer Synthesis die Rede, die keine eigentliche
Verbindung, also auch keine eigentliche Synthesis ist. Husserl spricht
denn auch, wenn er diese Sachverhalte ursprünglich charakterisiert, nur
von „Verschmelzung durch Deckung der Intentionen" 152 oder von
,,Deckung im kontinuierlichen übergang" 153 • Im sinnlichen Wahrneh-
mungsbewußtsein selbst liegen nicht verschiedene Vorstellungen, die
synthetisch geeinigt werden müßten, sondern es handelt sich um einen
ganzheitlich und kontinuierlich fließenden Fortgang. Die „überaus merk-
würdige" kontinuierliche Synthesis ist bei genauerer Betrachtung über-
haupt keine Synthesis. Doch zieht Husserl nicht diese Konsequenz, son-
dern faßt, eigentlich gegen seine eigene Einsicht, immer auch das unmit-
telbare Bewußtsein mit dem im Hinblick. auf den Verstand gebildeten
Begriff der „Synthesis der Identifikation " 154 • 155 •

150 In einem Text aus den zwanziger Jahren ist diese Gleichstellung ausdrücklich voll-
zogen: ,,Die kontinuierliche Synthesis ist Synthesis der Form der Deckung - wo-
durch sich der eine Gegenstand konstituiert. Auch diskrete Synthesen können den
Charakter der Deckungs-(Identitäts-)synthesen haben wir Synthesen der Form der
wiederholten Erinnerung an dasselbe" (Ms. A VI 26, S. 147 b).
1s1 Husserliana IV, S. 19, Anm.
152 Logische Untersuchungen, 1. Aufl. II, S. 622 (2. Aufl., II/2, S. 150).
153 Ms. A VI 26, S. 147 b ff., Hzmerliana X,§ 16.
154 Cf. auch oben, S. 100, Anm. 84, und Husserliana X,§ 27.
Husscrl im Banne des Intellektualismus 133

b) Noesis (Sinngebung) und Noema (Sinn)

Von Busserls Auffassung des Bewußtseins als synthetisches Identi-


tätsbewußtsein hängt seine Unterscheidung von Noesis und Noema als
parallelem, einerseits reellem und andererseits irreellem (intentionalem)
Wesensgehalt der intentionalen Erlebnisse ab, die nach ihm wiederum
universale Bedeutung für die Bewußtseinsanalyse besitzen soll. Was das
Noema vom reellen Gehalt der Erlebnisse zu unterscheiden erlaubt, ist
der Gesichtspunkt der Identität: Nur weil verschiedene Erlebnisse den-
selben gegenständlichen Sinn (oder noematischen Kern) desselben Gegen-
standes X meinen, ist dieser gegenständliche Sinn selbst und alle an ihm
haftenden „Charaktere", die mit ihm das volle Noema ausmachen, nicht
als reeller Teil der verschiedenen einzelnen Erlebnisse auffaßbar, da
sonst der Widerspruch bestünde, daß reell ganz verschiedene Erlebnisse
denselben Teil hätten 156 • Doch ist die von Busserl festgehaltene noetisch-
noematische Struktur des Bewußtseins nicht ausreichend als Synthesis der
Identifikation charakterisiert, sondern sie ist komplizierterer Natur: Es
handelt sich hier um eine doppelte Identität: um einen identischen Sinn
eines identischen Gegenstandes. Nach der Darstellung der Ideen I be-
steht im Noema einerseits eine Identität des puren gegenständlichen
Sinnes, des noema tischen Kernes (des noema tischen „Inhalts" oder der
„Materie"), d. h. die objektive Erscheinungsweise des intentionalen oder
vermeinten Gegenstandes als solchen, wie er mit lauter objektiven Aus-
drücken beschreibbar ist157• Es ist dies der intentionale „Gegenstand im
Wie seiner Bestimmtheiten" 158, ,,der sich in einer Beschreibung bestimm-
ter Umgrenzung entfaltet, nämlich in einer solchen, die als Beschreibung
des ,vermeinten Gegenständlichen, so wie es vermeint ist', alle ,subjek-
tiven' Ausdrücke vermeidet. Es werden da formal-ontologische Aus-

155 Man vergleiche Mcrleau-Pontys Kritik des Synthesisbegriffs in seiner Phenomenolo-


gie de la perception, p. 307.
156 „Der im Noema vorfindliche Gegenstand ist bewußt als identischer im wörtlichen
Sinn, das Bewußtsein von ihm ist aber in den verschiedenen Abschnitten seiner
Dauer ein nichtidentisd1es, ein nur verbundenes, kontinuierlich einiges" (J deen I,
S. 248). ,,Wir machen dabei die höchst wichtige Bemerkung, die für alle Sinne gilt,
nämlich, daß der Sinn den betreffenden Erlebnissen, in denen er beschlossen heißt,
nidit etwa als ein reelles Bestandstück zugehört. Denn nehmen wir eine Kette von
Erlebnissen von absolut identisdiem Sinn, so haben wir ja getrennte Erlebnisse, und
nidit Erlebnisse, die ein reelles Stück individuell identisch gemeinsam haben" ·
(H11sserliana XI, S. 321).
137 Ideen I, S. 227, 230, 232, 255.
158 Ideen I, S. 322.
134 Die Sinnlichkeit

drücke verwendet ..., material-ontologische Ausdrücke ... - alle haben


ihre Anführungszeichen, also den noematisch-modifizierten Sinn. Aus-
geschlossen sind hingegen für die Beschreibung dieses vermeinten Ge-
genständlichen als solchen Ausdrücke wie ,wahrnehmungsmäßig', ,erin-
nerungsmäßig', ,klaranschaulich', ,denkmäßig', ,gegeben' - sie gehören
zu einer anderen Dimension von Beschreibungen, nicht zu dem Gegen-
ständlichen, das bewußt, sondern zu der Weise, wie es bewußt ist. Hin-
gegen würde es bei einem erscheinenden Dingobjekt wieder in den
Rahmen der fraglichen Beschreibung fallen zu sagen: seine ,Vorderseite'
sei so und so bestimmt nach Farbe, Gestalt usw., seine ,Rückseite' habe
,eine' Farbe, aber eine ,nicht näher bestimmte', es sei überhaupt in den
und jenen Hinsichten ,unbestimmt', ob es so oder so sei." 159 Dieser
gegenständliche Sinn kann in verschiedenen Vorstellungsarten wie Wahr-
nehmung, Erinnerung, Bildbewußtsein identisch sein: der „erscheinende
Gegenstand als solcher" ,,mit dem identischen ,objektiven' Wie des Er-
scheinens" in verschiedenen Gegebenheitsweisen160, die als wechselnde
noematische Charaktere der Originalität und Vergegenwärtigungsmodi-
fikationen zusammen mit anderen wechselnden noematischen Charakte-
ren (der Seinsmodalitäten, der attentionalen Modifikation, der Klarheit)
jeweils an jenem identischen Sinn anhaften161 • Dieser identische Sinn
ist - und damit wird ausdrücklich die andere Identität im Noema fest-
gestellt - objektive Bestimmung eines Gegenstandes, des „Zentralpunk-
tes" oder „Trägers" der gegenständlichen Sinnesprädikate162 . ,,Die Prä-
dikate sind Prädikate von ,etwas', und dieses ,etwas' gehört auch mit,
und zwar unabtrennbar, zu dem fraglichen (noematischen) Kern ...
Es ist der Verknüpfungspunkt oder ,Träger' der Prädikate, aber keines-
wegs Einheit derselben in dem Sinn, in dem irgendein Komplex, irgend-
welche Verbindung der Prädikate Einheit zu nennen wäre. Es ist von
ihnen notwendig zu unterscheiden, obschon nicht neben sie zu stellen
und von ihnen zu trennen, so wie umgekehrt sie seine Prädikate sind:
ohne ihn undenkbar und doch von ihm unterscheidbar. " 163 „Es scheidet
sich als zentrales noematisches Moment aus: der ,Gegenstand', das ,Ob-
jekt', das ,identische', das ,bestimmbare Objekt seiner möglichen Prä-

159 A. a. 0., S. 319.


1 GO A. a. 0., $. 250.
101 A. a. 0., S. 255, 284.
162 A. a. 0., S. 318.
163 A. a. 0., S. 320.
Busserl im Banne des Intellektualismus 135

dikate< - das pure X in Abstraktion von allen Prädikaten, oder ge-


nauer, von den Prädikatnoemen. " 164 Dieses „pure Subjekt der Prädi-
kate"165, das in keinem Noema fehlen kann 166, kann identisch bleiben,
während der gegenständliche Sinn sich wandelt; das Bestimmbare, das
Subjekt kann bleiben, während die Bestimmungen, die Prädikate
wechseln, ,,jedoch so, daß sie sich trotzdem zur Identitätseinheit zusam-
menschließen, zu einer Einheit, in der das ,Etwas', das ,Bestimmbare<,
das in jedem Kerne liegt, als identisches bewußt ist. "167
Diese Unterscheidung zwischen gegenständlicher Bestimmtheit (iden-
tischer Sinn) und dem bloßen Substrat dieser Bestimmtheit (identisches
X) ist schon in der fünften Logischen Untersuchung angelegt168 , wurde
aber erst in den Ideen differenziert ausgearbeitet. In einem Text aus
1921 wird sie folgendermaßen zusammengefaßt: ,,Der Gegenstand ist
das Selbige und als Selbiges in allen auf ,ihn' gerichteten intentionalen
Erlebnissen leer, eine leere Form, und nur als dieses leere Identische
überall dasselbe, ein überall Gleiches in den Erlebnissen bestimmend.
Aber im eirien Erlebnis ist dieses leere Etwas gemeint als aß y • •• , in dem
anderen als aß' y <5 ••• , es ist leeres Identisches, aber zugleich wechselnd
gemeint als ,Träger< der und der ,Prädikate' (Prädikabilien, vor dem
Begreifen), die selbst neue, abhängige, getragene Identitäten, Attribut-
pole sind, gehörig zum Träger. Das vermeinte X (der Träger), als ein-
mal mit den, das andere Mal mit jenen Prädikaten vermeintes, ist hin-
sichtlich dieser Bestimmungen Verschiedenes, und doch das X das-
selbe ... " 169
Was uns in unserem eigenen Zusammenhang der Differenzierung von
Vernunft (bzw. Verstand) und Sinnlichkeit an dieser von Busserl der
Noesis gegenübtrgestellten noematischen Identitätsstruktur interessiert,
ist ihr Anspruch, eine universale Bewußtseinsstruktur zu sein, also auch
z.B. in der bloßen unmittelbare~ Wahrnehmung zu gelten. Busserl
schreibt diese Struktur, und damit erweist er sich als treuer Kantianer,
jedem Bewußtsein, dem Bewußtsein überhaupt „in allen seinen Grund-

164 A. a. 0., S. 321.


165 Ebenda.
rnö A. a. 0., S. 322.
167 A. a. 0., S. 321.
188 A. a. 0., § 17. Husserl unterscheidet hier zwischen dem Gegenstand, so wie er inten-
diert ist (in jedem Akt ist der Gegenstand als so und so bestimmter vorgestellt)
und dem. Gegenstand schlechthin, welcher intendiert ist.
169 Husserliana XIV, S. 26/27.
136 Die Sinnlichkeit

arten und Grundformen", zu170 • In den Ideen will er sie primär an der
,,Sphäre der bloßen sinnlichen Anschauung und ihren Abwandlungen" 171 ,
in den Logikvorlesungen der zwanziger Jahre sogar an der Wahrneh-
mung immanenter Daten exemplifizieren172 • Dabei ist aber, schon auf-
grund des soeben Angeführten, ganz offensichtlich, daß Busserl diese
Struktur aus der Betrachtung nicht bloß des Verstandes überhaupt,
sondern des kategorialen Verstandes, des mit einem identischen Begriff
(identischer Bedeutung) einen identischen Gegenstand bestimmenden Ur-
teils bezieht173 •
Dies gesteht Busserl auch in aller Offenheit zu: ,,Das Noema ist
nichts weiter als die Verallgemeinerung, der Idee der Bedeutung" 174 •
Analog wie sich der kategoriale Gegenstand durch identische prädika-
tive Bedeutungen auf den identischen Gegenstand bezieht, soll sich auch
die bloße Wahrnehmung durch ihren identischen Sinn auf ihren iden-

170 Siehe z.B. den Kontext der oben zitierten Sätze aus 1921 (Husserliana XIV, S. 26)
und auch besonders deutlich in Husserliana XI S. 254/5: ,,Es muß ein Studium des
Bewußtseins in seiner reinen Immanenz möglich sein, durch welches uns verständlich
werden muß, wie das Bewußtsein in sich selbst und nach allen Grundarten und
Grundformen gegenständliche Sinngebung vollzieht • • • Es muß sich Schritt für
Schritt verstehen lassen, und in dieser reinen Immanenz, wie mannigfaltige
Bewußtseinserlebnisse zur synthetischen Einheit kommen, wie so geartete Einheit
wesensmäßig und verständlich Identität des Sinnes durchhält, wie dann wieder in
mannigfaltigem Sinn ein identischer Gegenstand als Substrat wechselnder Bestim-
mung bewußt werden .kann und so als derselbe, aber verschieden bestimmte
bewußt werden kann."
171 Ideen I, S. 267.
172 Z.B. Husserliana XI, S. 321 ff.
173 Schon der Terminus „Noema" weist auf einen intellektuellen Ursprung. v6riµct
bedeutet bei Platon wie bei Aristoteles den Gedanken, die Vorstellung, den Begriff,
im Urteil (Parmenides, 132 b; Sophistes, 237 a; IIeQt 'EQµeveta; 16 a; IIeQt ,t,uicij;
430 a 27-28). Aristoteles unterscheidet zwischen 'VOflµct-rct, q:,ctv-r&.aµct-ra und
a.taitflµct-rct entsprechend der Unterscheidung von v6riat; (voü;), q:,av-raata und
afoitl'Jat; (IIeQt ,i,uxi'j;, III, 7). Daß die sinnliche Wahrnehmung (ataitriat;) als
solche noematisch sein soll, hätte für Platon wie Aristoteles höchst widersprüchlich
geklungen.
174 Ideen III (Htmerliana V), S. 89. Ebenso in Ideen I (Husserliana III), S. 304:
„Wir blicken ausschließlich auf ,Bedeuten' und ,Bedeutung' hin. Ursprünglich haben
diese Worte nur Beziehung auf die sprachliche Sphäre, auf die des ,Ausdrückens'.
Es ist aber nahezu unvermeidlich und zugleich ein wichtiger Erkenntnisschritt, die
Bedeutung dieser Worte zu erweitern und passend zu modifizieren, wodurch sie in
gewisser Art auf die ganze noetisch-noematische Sphäre Anwendung findet: also
auf alle Akte, mögen diese nun mit ausdrückenden Akten verflochten sein oder
nicht. So haben auch wir immerfort von ,Sinn' - ein Wort, das doch im all-
gemeinen gleichwertig mit ,Bedeutung' gebraucht wird - bei allen intentionalen
Erlebnissen gesprochen ••• Es stehe, um an ein Beispiel anzuknüpfen, in der Wahr-
nehmung ein Gegenstand da, mit einem bestimmten Sinn , .. "
Husserl im Banne des Intellektualismus 137

tischen Gegenstand beziehen. Diese Verallgemeinerung oder Analogi-


sierung beruht aber nicht auf einer ursprünglichen Analyse des vor-
kategorialen Bewußtseins, sondern stellt eine unzulässige Übertretung
dar. Es wäre zu zeigen, wie sich die Einschleichung dieser kategorialen
Struktur in die Auffassung nichtkategorialer Akte, ja schon der schlich-
ten, sinnlichen Wahrnehmung, bereits in den Logischen Untersuchungen
vollzieht. Grob gesprochen geschieht diese Einschleichung hier von zwei
Seiten her: 1. einmal durch die Parallelisierung der sinnlichen Wahr-
nehmung als „beseelenden Deutens" von Empfindungsinhalten mit dem
sprachlich bedeutenden Bewußtsein als „beseelendem Deuten" von Wort-
lauten; 2. andererseits durch die strukturelle Anpassung des „erfüllen-
den Anschauens" an das sprachliche, der intuitiven Erfüllung bedürftige
,,leere Bedeuten".
Zum ersten Punkt: Husserl interpretiert die Wahrnehmung folgen-
dermaßen (ich greife hier ganz zufällig eine Stelle aus der sechsten
Logischen Untersuchung heraus, Parallelen wären überall zu finden),
als Beispiel dient ihm hier, wie so oft, die Wahrnehmung des vor ihm
stehenden Tintenfasses: ,,Gemäß unserer widerholten Geltendmachung
des deskriptiven Wesens der Wahrnehmung, besagt dies phänomenolo-
gisch nichts anderes, als daß wir einen gewissen Belauf von Erlebnissen
aus der Klasse der Empfindung haben, sinnlich vereinheitlicht in ihrer
so und so bestimmten Aneinanderreihung und durchgeistigt von einem
gewissen, ihnen objektiven Sinn verleihenden Aktcharakter der ,Auf-
fassung'. Dieser Aktcharakter macht es, daß uns ein Gegenstand, eben
dieses Tintenfaß, in der Weise der Wahrnehmung erscheint." 175 Husserl
begreift das Wahrnehmen als ein „Auffassen" (,,Apperzipieren"), ,,In-
terpretieren" oder „Deuten" 178, ,,Verstehen", ,,Beseelen", ,,Durchgeisti-
gen" von Empfindungsdaten, d. h. als Verleihen eines auf einen Gegen-
stand bezogenen Sinnes, in Analogie zum Verstehen eines Wortlautes
als eines bedeutsamen Zeichens: ,,Die verstehende Auffassung, in der
sich das Bedeuten eines Zeichens vollzieht, ist, insofern eben jedes _Auf-
fassen in gewissem Sinne ein Verstehen oder Deuten ist, mit den (in
verschiedenen Formen sich vollziehenden) objektivierenden Auffassun-
gen verwandt, in welchen uns mittels einer erlebten Empfindungskom-

175 A. a. 0., 1. Auflage II, S. 496/7 (2. Aufl. II/2, S. 24/25).


178 Die Ausdrü&.e »Interpretieren" oder »Deuten" läßt Husserl in der 2. Auflage der
Logischen Untersztehungen allerdings in diesem Zusammenhang fallen und ersetzt
sie durch »Apperzipieren". Vgl. etwa 1. Auflage II, S. 704/5 und 2. Auflage II/2,
S.233.
138 Die Sinnlichkeit

plexion die anschauliche Vorstellung (Wahrnehmung, Einbildung, Ab-


bildung usw.) eines Gegenstandes (z. B. ,eines äußeren' Dinges) er-
wächst. " 177 Es ist aber nicht so, daß Husserl das Schema von bloßem
Inhalt und gegenständlichen Sinn verleihender Auffassung (,,Durch-
geistigung" etc.) primär in der Wahrnehmung faßt und dann auf das
kategoriale Zeichenbewußtsein ausweitet, sondern er gesteht ausdrück-
lich, daß „die allergünstigsten Beispiele" für diese Struktur das Ver-
stehen sprachlicher Ausdrücke liefert178• Husserl macht zwar eine Reihe
von Unterschieden zwischen dem sprachlichen Verstehen eines Wort-
lautes und dem wahrnehmungsmäßigen Auffassen von Empfindungs-
daten geltend; diese Unterschiede laufen im wesentlichen darauf hinaus,
daß der Wortlaut keine bloße Empfindung, sondern schon ein Wahr-
nehmungsgebilde ist, daß also das sprachliche Verstehen schon eine zweite
sinngebende Auffassung ausmacht, die auf der ersten, derjenigen der
Wahrnehmung, basiert; also was wahrnehmungsmäßig schon mit dem
Sinn „Laut" aufgefaßt ist, wird im sprachlichen Verstehen noch mit einer
begrifflichen Bedeutung beseelt. Das strukturelle Schema ist aber schon
auf der ersten Stufe dasselbe179, das schlichte Anschauen (Wahrnehmen)
hat im Prinzip dieselbe Aktstruktur wie das Bedeuten180• In der Sprache

177 Logische Untersuchungen, II, S. 74. ȟberall unterscheiden wir von dem gemeh1ten -
dem bezeichneten, abgebildeten, wahrgenommenen - Gegenstand einen in der
Erscheinung aktuell gegebenen, aber nicht gemeinten Inhalt: den Zeicheninhalt auf
der einen Seite, die imaginative und perzeptive Abschattung des Gegenstandes auf
• der anderen Seite" (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 531; 2. Aufl., II/2, S. 59).
178 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 362; 2. Aufl., II/1, S. 384.
179 Vgl.. a. a. 0., II, 1. Unters., § 23 und 6. Unters ..§ 26. Husserl macht hier auch auf
den Unterschied aufmerksam, daß zwischen Empfindungsdatum und dem auf
seinem Grunde Wahrgenommenen eine „gattungsmäßige Verwandtschaft" bestehe,
da „der Inhalt der Empfindung sozusagen ein analogisches Baumaterial .für den
Inhalt des durch sie vorgestellten Gegenstandes abgibt", während diese Entsprechung
zwischen Wortzeichen und Bedeutung nicht statthabe, Dieser Unterschied betrifft
aber nicht die Bewußtseinsstruktur (das Aktgefüge), sondern die phänomenalen
Inhalte. · ·
180 Wie schon erwähnt, spricht Husserl bereits innerhalb der schlichten, äußeren Wahr-
nehmung von signitiven Intentionen (siehe in diesem Paragraphen, Anm. 138). Hier
entschwindet ihm jeder aktmäßige Unterschied zwischen Anschauen (Intuition) und
Bedeuten (Signifikation): ,.Fragt man nun schließlich, was es macht, daß derselbe
Inhalt im Sinne derselben Materie einmal in der Weise des intuitiven, das andere
Mal in der eines signitiven Repräsentanten aufgefaßt werden kann, oder worin die
verschiedene Eigenart der Auffassungsform besteht, so vermag ich darauf eine
weiterführende Antwort nicht zu geben. Es handelt sich wohl um einen phänomeno-
logisch irreduktiblen Unterschied" (Logische Untersuchungen, 1. Aufl., II, S. 565;
2. Aufl., II/2, S. 93).
Busserl im Banne des Intellektualismus 139

der Jdeen handelt es sich immer um eine durchgeistigte Noesis, die den
Sinn eines Gegenstandes konstituiert, und „Noesis" kann hier in ur-
sprünglicher, griechischer Bedeutung als intellektueller Akt verstanden
werden, den Busserl in die schlichte, sinnliche Wahrnehmung (Aisthesis)
projiziert.
\'vas Busserl dazu brachte (abgesehen von historischen Einflüssen),
das schlichte Wahrnehmen nach demselben Schema wie das logische
Bedeuten zu denken, war nicht bloß eine gewohnheitsmäßige Fixierung
auf die im logischen Bereich (von dem Busserl ja ausging) einmal gewon-
nenen Strukturen, sondern auch seine erkenntnistheoretische Idee der
Erfüllung des leere~ Bedeutens (der leeren Begriffe) durch das An-
schauen: ,,Wir erleben es, wie in der Anschauung dasselbe Gegenständ-
liche intuitiv vergegenwärtigt ist, welches im symbolischen Akt ,bloß
gedacht' war, und daß es gerade als das so und so Bestimmte anschaulich
wird, als was es zunächst bloß gedacht (bloß bedeutet) war. Es ist nur
ein anderer Ausdruck dafür, wenn wir sagen, das intentionale Wesen des
Anschauungsaktes passe sich (mehr oder minder vollkommen) dem be-
deutungsmäßigen Wesen des ausdrückenden Aktes an. " 181 „Sicherlich
bildet nun das Verhältnis zwischen Intention und Erfüllung die Grund-
lage für die Bildung des Begriffspaares Gedanke (enger gefaßt: Begriff)
und korrespondierender Anschauung. " 182 Da das Anschauen, das primär
Wahrnehmen ist, zum Bedeuten in dieses Verhältnis der erfüllenden
Deckungs- oder Identitätssynthese treten kann, paßt es Busserl dem.
Bedeuten an und denkt es als dieselbe Form: ,,Was ... zur Übertragung
derselben Termini {nämlich „Bedeutung" und „Sinn") von der Inten-
tion auf die Erfüllung geradezu hindrängt, ist die Eigenart der Erfül-
lungseinheit, als Einheit der Identifizierung oder Deckung ... " 183 Diese
Angleichung des Anschauens an das Bedeuten wurde schon in der fünften
Logischen Untersuchung durch die Verallgemeinerung des „bedeuti{ngs-

s Logische Untersuchungen, 1. Aufl., II, S. 504; 2. Aufl., II/2, S. 32. "Das intentionale
1 1

Wesen des anschaulichen Aktes paßt oder gehört zu dem bedeutungsmäßigen


Wesen des signifikativen Aktes" (a. a. 0., 1. Aufl., S. 536; 2. Aufl., S. 64). S. 537
(2. Aufl., S. 65) ist vom „Anschmiegen" des intuitiven an den signitiven Akt die
Rede. ,,Zu jeder intuitiven Intention gehört - im Sinne idealer Möglidikeit
gesprodien - eine sidi der Materie nach ihr genau anmessende signitive Intention.
Diese Einheit der Identifizierung besitzt notwendig den Charakter einer Erfüllungs-
einheit .• ."(S. 548; 2. Aufl., S. 76).
182 A. a. 0., 1. Aufl. II, S. 540; 2. Aufl., II/2, S. 76.
183 A. a. 0., II, S. 52.
140 Die Sinnlichkeit

mäßigen Wesens" zum »intentionalen Wesen", das allen intentionalen


Akten zukommt, vorbereitet184• »Bedeutung" kann so weit gefaßt wer-
den, daß sie zum „Äquivalent für ,intentionales Wesen eines objekti-
vierenden Aktes überhaupt'" wird185• Das Bedeutungsmäßige des „in-
tentionalen Wesens" ist seine „Materie": ,,Die Materie sagt gleichsam,
als was der Gegenstand im Akte gemeint ist, welche Bestimmtheiten
ihm zugedeutet werden sollen. " 186 Aufgrund seiner »Materie" hat jeder
intentionale Akt, auch eine schlichte Wahrnehmung, einen identischen
Gegenstand in identisd1er Bestimmtheit. Daß der Begriff der intentio-
nalen Materie ursprünglich im kategorialen Bereich beheimatet ist, an-
erkennt Husserl ganz o:ffen187•
Die Probleme sind bei Husserl weit komplexer als sie hier zur Dar-
stellung kommen konnten. Vor allem wäre zu berücksichtigen, daß nach
Husserl nicht für jede Art von Bedeutungen eine schlichte, sinnliche
Wahrnehmung zur intuitiven Erfüllung aufkommen kann: in keinem

184 „Auch der in der letzten (fünften) Untersuchung als neuer gewonnene und
besonders merkwürdige Inhaltsbegriff, der des intentionalen Wesens, entbehrte
dieser Beziehung zum logischen Gebiete nicht; denn dieselbe Reihe von Identitäten,
die uns früher zur Illustrierung der Einheit der Bedeutung gedient hatte, ergab,
passend verallgemeinert, eine .gewisse auf beliebige Akte zu beziehende Identität
als die des ,intentionalen Wesens"' (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 474; 2. Aufl., II/2, S. 2).
185 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 717 (Zusatz zu S. 286 ff.).
188 A. a. 0., . 1. Aufl., II, S. 464. In der zweiten Auflage lautet der entsprechende
Satz: ,,Die Materie sagt gleichsam, welcher Gegenstand im Akt gemeint ist und
. mit welchem Sinn er hierbei gemeint ist" (S. 499). In der sechsten Untersuchung
rekapituliert Husserl: ,,Die Materie galt. uns als dasjenige Moment des objektivie-
renden Aktes, welches macht, daß der Akt gerade diesen Gegenstand und gerade in
dieser Weise, d. h. gerade in diesen Gliederungen und Formen, mit besonderer
Beziehung gerade auf diese Bestimmtheiten und Verhältnisse vorstellt. Vorstel-
lungen von übereinstimmender Materie stellen nicht nur überhaupt denselben Gegen-
.stand vor, sondern sie meinen ihn ganz und gar als denselben, nämlich als völlig
gleich bestimmten" (1. Aufl., S. 558; 2. Aufl., S. 86).
187 „Was mir für diese Begriffsbildung ursprünglich die Richtung gab, war das Iden-
tische im Aussagen und Verstehen eines und desselben Ausdruckes, wobei der eine
den Aussageinhalt ,glauben' und der andere ihn ,dahingestellt lassen' kann, ohne
diese Identität zu stören; wobei es ferner nicht darauf ankommt, ob sich das Aus-
drücken in Anmessung an korrespondierende Anschauungen vollzieht, und über-
haupt vollziehen kann, oder nicht. Daher könnte man sogar geneigt sein (und ich
selbst habe in diesem Punkte lange geschwankt), die Bedeutung geradezu als diese
,Materie' zu definieren; was aber die Unzuträglichkeit hätte, daß z.B. in der
prädizierenden Aussage das Moment des aktuellen Behauptens von der Bedeutung
ausgeschlossen wäre (jedenfalls könnte man den Bedeutungsbegriff zunächst so
beschränken und dann zwischen qualifizierten und unqualifizierten Bedeutungen
unterscheiden)" (a. a. 0., 1. Aufl. II, S. 559; 2. Aufl. II/2, S. 87).
Husserl im Banne des Intellektualismus 141

Fall für ganze Sätze (Prädikationen), zu deren Erfüllung er eine über-


sinnliche, kategoriale Wahrnehmung oder Anschauung postuliert188• Die
schlichte Wahrnehmung führt er nur zur Erfüllung nominaler (nennen-
der) Ausdrücke, genauer von Kennzeichnungen (z.B. ,,dieses Tintenfaß")
an. Auch diese nominalen Ausdrücke sind allerdings kategorialer Art,
sie enthalten implizit eine Prädikation (das nominale Attribut ist ein
„altes" Prädikat). Aber auch bei den nominalen Ausdrücken ist die Sache
bei Husserl nicht so einfach, auch hier scheint des öfteren die intuitive
Erfüllung nicht einfach eine sinnliche Wahrnehmung sein zu können,
sondern ein darüber hinaus intellektiv geformter Akt189 • Noch in der
sechsten der Logischen Untersuchungen stellt Husserl die in diesem Werk
selbst vollzogene Einreihung der schlichten Wahrnehmung unter die
nominalen Akte199 (und damit die dadurch geschehene Angleichung der
sinnlichen Wahrnehmung an die begriffliche Kennzeichnung) in Frage191 •
In den Logikvorlesungen nach den Logischen Untersuchungen bricht
Busserl vollständig mit dieser Gleichstellung von sinnlichem und kate-
gorialem Akt: ,,Der Gegenstand kann zwar ..., wenn er ein sinnlicher
ist, wahrnehmungsmäßig erscheinen und in einer Mannigfaltigkeit ein-
heitlich ineinander übergehender Erscheinungen sich von verschiedenen
Seiten zeigen und so gegeben sein. Aber da ist er nicht ,Gegenstand-
worüber', da ist er nicht dieser so und so bestimmte und weiter zu be-
stimmende Gegenstand. Als solcher weist er sich in den Prädikationen
aus, im diskursiven und dabei begründeten, also intuitiv sich bewähren-
den Denken. Der ,Gegenstand-worüber' ist im evidenten Denken ver-
treten durch einen an der Evidenz teilhabenden nominalen Akt. " 192
„Eine schlichte Wahrnehmung kann nicht ausgedrückt werden, sie muß
erst eine intellektive Fassung und Formung erhalten haben. Selbst wenn
ich nur sage ,dies', so liegt darin schon ein über die Anschauung geba~ter
Akt. "198 Dies hat zur Folge, daß in keinem Falle die schlichte sinnliche
Wahrnehmung das intuitive Gegenstück. oder Gegenbild sei es auch nur

188 Vgl. den 2. Abschnitt der sechsten der Logischen Untersuchungen.


189 Siehe etwa die §§ 14 und 21 der ersten Untersuchung und in der fünften Unter-
suchung S. 289 (2. Aufl., S. 297).
190 „Denn wir können den Satz aussprechen, daß alle einfachen Akte nominale sind"
(a. a. 0., II, 1. Aufl., 462; 2. Aufl. S. 497; vgl. S. 430 (2. Aufl., S. 459), 447
(2. Aufl., S. 479), 2. Aufl., S. 483.
191 S. 630 (2. Aufl., S. 158).
102 Ms. F I 5 (Vorlesung über Bedeutungstheorie vom SS 1908), S. 76 a.
193 Ms. F I 27 (Vorlesung über Urteilstheorie vom SS 1905), S. 107 a.
142 Die Sinnlichkeit

des einfachsten mit Worten bedeutenden Aktes sein kann 194 • Entgegen
dieser fundamentalen Einsicht hört Busserl aber nicht auf, der sinn-
lichen Wahrnehmung die im Grunde genommen kategoriale Struktur
des identischen Sinnes eines identischen Gegenstandes zuzuschreiben.
Auch in der direkten Analyse der Wahrnehmung löst sich Busserl das
kategoriale noematische Schema (identischer Sinn eines identischen Ge-
genstandes) auf, aber wiederum zieht er daraus nicht die vollen Konse-
quenzen. In den Logikvorlesungen von 1920/21 erklärt er, daß sich der
Sinn der Wahrnehmung in „beständigem Wandel" befinde, und bemerkt
dazu: ,,Es ist hier zu beachten, daß wir im Sinn einer einstimmig fort-
schreitenden Wahrnehmung immerfort unterscheiden können unaufhör-
lich wechselnden Sinn und einen durchgehenden identischen Sinn. Jede
Phase der Wahrnehmung hat insofern ihren Sinn, als sie den Gegenstand
im Wie der Bestimmung der originalen Darstellung und im Wie des
Horizontes gegeben hat. Dieser Sinn ist fließend, er ist in jeder Phase
ein neuer. Aber durch diesen fließenden Sinn, durch all die Modi ,Gegen-
stand im Wie der Bestimmung' geht die Einheit des sich in stetiger
Deckung durchhaltenden, sich immer reicher bestimmenden Substrates
X ... " 195 Wie Busserl beim Begriff der Synthesis gezwungen war, eine
Synthesis anzunehmen, die keine Synthesis ist, so muß er in der schlich-
ten Wahrnehmung von einem Sinn sprechen, der nicht identischer ist.
Aber er legt doch diesem fließenden Wahrnehmungssinn wieder einen
„durchgehenden identischen Sinn" unter: ,,die Einheit des sich immer
reicher bestimmenden Substrates X, des Gegenstandes selbst, der all das
ist, als was ihn der Prozeß der Wahrnehmung und alle weiteren mög-
lichen Wahrnehmungsprozesse zur Bestimmung bringen und bringen
würden " 196 • Es ist aber deutlich, daß ein solcher durchgehender iden-
tischer so und so bestimmter Gegenstand gar nicht Sinn der unmittel-

19~ ,,Das Verhältnis zwischen ,signitiv' (Bedeutungsintention von Worten) und ,intuitiv'
gehört also nicht zu den schlichten und eigentlichen Anschauungen, sondern zu den
aus ihnen geschaffenen intellektiven Bildungen. Diese erfahren ,Ausdruck', und das
Wort paßt insofern, als die Bedeutungsakte gleichsam Gegenbild sind der intuitiv
vollzogenen intellektiven Akte, Gegenbild, nämlich Akte gleichen Sinnes, allen
\\7 endungen und Formungen des Sinnes genau folgend." Dazu noch eine Rand-
bemerkung: ,,Deutlicher: Wenn wir von dem Verhältnis zwischen Bedeutung
(Signifikation) und Intuition sprechen oder von der den leeren Bedeutungen (den
leeren signifikativen Vorstellungen) entsprechenden Anschauung, so sind niemals
schlichte Anschauungen zu verstehen, sondern in solchen fundierte intellektive
Bildungen" (ebenda).
m H11sserliana XI, S. 20.
106 Ebenda.
Husscrl im Banne des Intellektualismus 143

baren Wahrnehmung selbst sein, sondern sich erst durch mittelbares


Bewußtsein, durch Vergegenwärtigung der vergangenen und möglicher
künftiger Wahrnehmungen und durch entsprechende begriffliche Bestim-
mungen, konstituieren kann. Wie wir bereits ausführten, stellt Busserl
allerdings auch wieder hinsichtlich jenes fließenden Wahrnehmungssinnes
eine Identität fest: Jeder momentane Sinn einer Wahrnehmungsphase
soll sich im retentionalen Wandel immer weiter zurücksinkend als iden-
tischer durchhalten. Auch hier liegt wiederum eine Subreption des mittel-
baren Bewußtseins vor197 • Dabei ergibt sich für Busserl der merkwürdige
Verhalt, daß die räumliche Orientierung als „objektive Erscheinungs-
weise" zum identischen gegenständlichen Sinn gehört198, während dies
für die zeitliche Orientierung oder Perspektivierung, die im retentionalen
Absinken des Sinnes in stetigem Wandel begriffen ist, nicht gilt199 , wobei
aber kein Prinzip faßbar wird, um die räumliche Erscheinung als objek-
tive, die zeitliche Erscheinung als nichtobjektive zu beurteilen.
Der ungültige Paß, mit dem sich die Mittelbarkeit in Busserls Ana-
lyse des unmittelbaren Bewußtseins einführt, ist oft der verfängliche
Terminus der Potentialität. Busserl erklärt z.B.: ,,Zu jeder Wahrneh-
mung gehört stets ein Vergangenheitshorizont als Potentialität zu er-
weckender Wiedererinnerungen" 200, m. a. W., in der Retention liege
potentiell die Reproduktion. Das kann richtig verstanden werden, hat
aber auch einen Sinn, der schlechterdings falsch ist. Richtig ist, daß auf-
grund der unmittelbaren Retention das Verstandesbewußtsein ein ver-
gangenes Erlebnis als vergangenes „wiederholen" kann. Aber diese Wie-
derholung liegt nicht potentiell im sinnlichen Wahrnehmungsbewußtsein
selbst, sie liegt schlechterdings nicht in ihm, sondern vollzieht sich nur
auf seinem Grunde. Ebensowenig liegt im unmittelbaren Wahrneh-
mungsbewußtsein die Reflexion auf dieses Bewußtsein, obschon „ich
jederzeit auf dieses Bewußtsein reflektieren kann". Diese Reflexion liegt
schlechterdings nicht, auch nicht potentiell, in der schlichten sinnlichen
Wahrnehmung als solcher. Es ist bezeichnend, daß Busserl z.B. im
§ 113 der / deen I hinsichtlich der Wahrnehmung die Potentialität der
Reflexion und die Potentialität der Hintergrundwahrnehmung in eine
Linie bringt. Das fungierende Wahrnehmungserlebnis und der Hinter-
grund des wahrgenommenen Dinges sind zwar beide unthematisch und

rn1 Siehe oben § 29.


108 Ideen I; S. 3i9 und Beilage XXIV.
199 Husserliana XI, S. 321 ff., 331.
20 ° Cart. Meditationen, S. 82.
144 Die Sinnlichkeit

können gegenständlich erfaßt werden. Aber dieses „unthematisch" und


,,können" liegen auf völlig verschiedenen Ebenen. Der Wahrnehmungs-
hintergrund liegt im sinnlichen Bewußtsein selbst als Korrelat (Horizont)
seines eigenen Könnens. Die Reflexion ist aber schlechterdings keine
Vermöglichkeit des sinnlichen Bewußtseins, das sinnliche Wahrnehmen
liegt nicht als reflektierbares in seinem eigenen Horizont. Der vieldeutige
Begriff der Potentialität, durch den diese Subreptionen gedeckt werden,
ist einer der fundamentalsten „operationellen" Begriffe Busserls, denn
„die überall eigentümliche Leistung der intentionalen Analyse ist die
Enthüllung der in den Bewußtseinsaktualitäten implizierten Potentia-
litäten"201. Es gibt eigene Potentialitäten des Erlebens, auch unmittel-
bares Bewußtsein ist potentiell, hat seine Horizonte, die in ihm zu ent-
hüllen sind; wenn aber die intentionale Analyse erklärt, daß der gegen-
ständliche Sinn einer Wahrnehmung als identischer wahrgenommen,
phantasiert, erinnert werden könne, so konstituiert sich diese Identität
nicht (weder aktuell noch potentiell) in der sinnlichen Wahrnehmung
selbst, sondern in der reflektierenden Intentionalanalyse, und es gilt
gerade nicht, was Busserl über seine These, daß in jedem intentionalen
Erlebnis ein identischer gegenständlicher Sinn als bestimmender Inhalt
eines identischen Substrates X liege, sagt: ,,Dabei ist es evident, daß der-
gleichen nicht erst die nachkommende Analyse und Beschreibung einlegt,
sondern daß es, als Bedingung der Möglichkeit der evidenten Beschrei-
bung und vor ihr, wirklich im Bewußtseinskorrelat liegt. " 202
Die Unterscheidung des Noema von der Noesis aufgrund der Unter-
scheidung reeller und irreeller (ideeller) Bewußtseinsmomente gilt nicht
für das unmittelbare oder sinnliche Bewußtsein. ,,Wir nennen alles, was
an einem Erlebnis phänomenologisch-zeitlich gebunden ist, ein reelles
Moment des Erlebnisses. " 203 Gemäß dieser Bestimmung Busserls ist im
sinnlichen Bewußtsein alles „reelles" Moment, denn alles ist in ihm

201 A. a. 0., S. 84.


202 . Ideen I, S. 322. Ein deutliches Zeugnis für dieses Widersprüchliche in Husserls
Bcwußtseinsanalyse gibt ein Text aus seiner Logikvorlesung von 1925/26, der
vorerst erklärt, daß der Gegenstand bereits in der Sphäre der lebendigen Gegenwart
originaliter (wahrnehmungsmäßig) als Identisches bewußt werde, um gleich an-
schließend zu bemerken, daß im kontitutiven Leben der Gegenstand nur dadurch
identifizierbar sei, ,,daß eben das Bewußtsein auf sein ursprüngliches Konstituieren
zurückgehen, es wieder aufwecken und als dieses selbe, als diesen jederzeit wieder-
erkennbaren Gegenstand finden kann" (Husserliana XI, S. 144). Das unmittelbare
oder sinnliche Gegenwartsbewußtsein selbst geht aber prinzipiell nicht auf sich
selbst zurück.
20a Ms. F. I 29, S. 10 a/b (1922/23).
Husscrl im Banne des Intellektualismus 145

„phfü10menologisch-zeitlich gebunden", auch der intentionale Sinn: Es


gibt in ihm selbst keinen identischen ideellen Sinn zeitlich verschiedener
Erlebnisse, oder anders ausgedrückt, die fließende zeitliche Orientierung
gehört ebenso wie die räumliche Orientierung selbst zum Sinn, sie ist
nicht bewußt als bloß „subjektive Erscheinungsweise" eines Identischen,
sondern ihr Fluß ist Fluß des Sinnes selbst. Sowenig die Taube auf dem
Dach und die Taube in der Hand unmittelbar derselbe Sinn ist, sowenig
der aktuelle und verklungene Schmerz. Auch das sinnliche Bewußtsein
ist Intentionalität, es ist fließendes Bewußtsein eines fließenden Umfel-
des, das durch Sinnhaftigkeit strukturiert ist, Gegenwart, in deren Fluß
vertraute typische Sinneseinheiten in ihren Zusammenhängen ohne Syn-
thesis der Identifikation festgehalten werden. Das unmittelbare Bewußt-
sein ist „reell" in sich selbst diese Intentionalität mit all ihren sich stetig
wandelnden aktuellen und potentiellen Momenten: Die farbige Gestalt
z.B. liegt als potentielle Einheit des Sinnes reell im Sehen, das nur Sehen
ist als Tun in einem Können, und es gibt im unmittelbaren Bewußtsein
selbst keinen Unterschied zwischen der jeweils gesehenen Gestalt und der
objektiven Gestalt als identischem gegenständlichen Sinn verschiedener
Erlebnisse, keinen Unterschied zwischen dem Ton im jeweiligen aktuel-
len Hören und demselben Ton, wie er sonstwie subjektiv bewußt sein
mag 204 • Unmittelbares Bewußtsein faßt nichts mit einem identischen
objektiven Sinn auf, wie die Vernunft etwa einen Laut mit einer iden-
tischen objektiven Bedeutung (Begriff) als Wort auffaßt oder etwas als
Subjekt einer solchen Bedeutung bestimmt. Der sinnliche „fließende"

204 Ulrich Claesges faßt in seiner Studie Busserls Theorie der Raumkonstitution
(Nijhoff, 1965) die Kinästhese als Noesis der Dingwahrnehmung (S. 64). Mir ist
zwar kein Text bekannt, in dem Husserl die Kinästhese mit diesem Begriff belegt,
und Claesges gibt auch keinen an. Es wäre auch sehr ungereimt, die sinnliche
Selbstbeweglichkeit als voü~ zu bezeichnen. Nach Husserl leistet allerdings bereits
die Kinästhese identische Räumlichkeit mit identischen Orten (siehe z.B. Husserliana
XVI, S. 275), so daß tatsächlich bereits in Hinsicht auf sie die Unterscheidung von
reellen und irreellen Bewußtseinsmomenten vollzogen werden müßte. Aber in
Wirklichkeit leistet die bloße sinnliche Selbstbeweglichkeit keine Identität (siehe
oben § 33). Sie ist in ihrer Potentialität reell eins mit dem sinnlichen Erscheinen
des Umfeldes. Das heißt nicht, daß für das unmittelbare Bewußtsein kein Unter-
schied zwisd1en Selbstbewegung (z.B. Hingehen) und der Bewegung einer Sinnes-
einheit im Umfeld (z.B. ihre Annäherung) bestehe, das sind vielmehr sinnhaft
verschiedene Situationen des unmittelbaren Bewußtseins, sondern nur, daß in der
jeweiligen unmittelbaren Situation (Gegenwart) kein „selbstbewegliches" Bewußt-
sein unterschieden ist von einem identischen (ruhigen oder sich bewegenden) Gegen-
stand.
146 Die Sinnlichkeit

Sinn darf nicht als „Erweiterung und passende Modifikation" 205 der
logischen Bedeutung gedacht werden: Im unmittelbaren Bewußtsein
selbst liegt kein von ihm selbst unterschiedener objektiver Sinn als Prädi-
kat eines logisch-transzendenten Seins, des „transzendentalen Gegen-
standes X".
Der Unterschied von Noema und Noesis als Unterschied zwischen
irreellen (ideellen, objektiven) und reellen (erlebniszeitlich gebundenen)
Bewußtseinsmomenten hat nur Bedeutung für das mittelbare Bewußt-
sein, und zwar bezeichnet die Noesis gerade die Mittelbarkeit, die all-
gemeine Reflexivität (,,Spiegelung"): Der Sinn, der wahrgenommen war,
ist jetzt als derselbe erinnert; derselbe, der fraglos war, ist jetzt in Frage;
der bloß leer gemeint war, ist jetzt evident; oder etwas ist begrifflich
als etwas eines identischen Sinnes „wiedererkannt": Bewußtsein ist sich
anderen, wirklichen oder möglichen, eigenen und fremden, Bewußtseins
bewußt, in dem derselbe Sinn „gemeint" ist, und scheidet demnach zwi-
schen identischem objektivem Sinn und verschiedenem subjektivem Be-
wußtsein von ihm. Busserl ist vom universalen Anspruch des noetisch-
noematischen Unterschiedes als Struktur alles Bewußtseins nie losgekom-
men. Für ihn bleibt alles intentionale Leben „nichts anderes als ständige
intentionale Modifikation " 206, wobei für ihn „Modifikation" Bewußtsein
von Bewußtsein (allgemeine Reflexivität) bedeutet. Dennoch aber drang
er zu den Sachverhalten vor, die ihn an jenem universalen Anspruch
zweifeln ließen 267 ~
Immer wieder möchte ich betonen, daß hier nicht in Frage steht, ob
unser sinnliches Bewußtsein faktisch „immer schon" von intellektuellen
oder sprachlichen Momenten durchdrungen sei, sondern nur, ob solche
Momente notwendig zum Wesen unmittelbaren Bewußtseins gehören,
d. h., ob sie Bedingungen der Möglichkeit desselben ausmachen. Nur
diese Frage beantworten wir hier negativ.

c) Thesis und Geltung

Auch in der Bestimmung der Positionalität des unmittelbaren Be-


wußtseins unterschieben sich Busserl Vorstellungen aus dem Gebiet der
Verstandes- und Vernunftfunktionen: aus der verstandes- und urteils-

:OS Ideen I, S. 304.


206 Ms. B III 8, S. 1 a (August/September 1930).
207 Husserliana XI, S. 334/35.
Husserl im Banne des Intellektualismus 147

mäßigen Geltungsthesis. Durch diese Vermengung wird auch Busserls


Lehre von der phänomenologischen Reduktion als der Enthaltung von
der „Generalthesis der Welt" affiziert.
In den Ideen führt Busserl den Begriff der Urdoxa ein: Sie ist
Glaubensgewißheit208 , ,,Glaube schlechthin im prägnanten Sinn" 209,
doxische Urthesis, Ursetzung oder Urposition 216 . Ihr Korrelat ist das
Sein schlechthin211 . Glaube oder belief ist für Busserl (darin Mill und
Brentano folgend) ,,Urteil", da sich in ihm „das, was ist", konsti:..
tuiert 212.
Nach den Ideen ist nun die Urdoxa einerseits die Gewißheit der
sinnlichen Wahrnehmung, der schlichte Wahrnehmungsglaube 213 . Ande-
rerseits liegt nach diesem Werke in jedem positionalen oder thetischen
Bewußtsein, sowohl in der Erinnerung214 als im syntaktischen Urteil 21 5,
sowohl in den doxischen Modifikationen (Zweifel, Vermutung, Für-
möglich-haltung, Bejahung, Verneinung) als auch in den nicht-doxischen
Thesen, in den Gefallens-, Wunsch- und Willensthesen, aktuell oder
potentiell eine Urdoxa im Sinne der urmodalen, positiven Seinsthesis216•
Die positionale Potentialität dieser Urdoxa „übergreift die ganze Be-
wußtseinssphäre"217. Die Urdoxa in diesem Sinne ist schlechthin die
objektivierende Leistung des Bewußtseins: Sie macht, ,,daß alle Akte
überhaupt - auch die Gemüts- und Willensakte - ,objektivierende'
sind - Gegenstände ursprünglich ,konstituierend', notwendige Quellen
verschiedener Seinsregionen und damit auch zugehöriger Ontologien" 218 .
Der sinnliche Wahrnehmungsglaube, die sinnliche Positivität, ist nun
aber etwas wesentlich anderes als die objektivierende, Sinn im Sinne der
objektiven Gültigkeit setzende Leistung des mittelbaren Bewußtseins.
Dieser von Busserl in den Ideen unterschlagene Unterschied zwischen
unmittelbarer und mittelbarer Positivität kann im Verhältnis zur „Neu-
tralitätsmodifikation", die Busserl der Position oder Setzung als ihre

208 Husserliana III, S. 257.


200 A. a. 0., S. 259.
210 A. a. 0., S. 289.
211 A. a. 0., S. 256.
212 A. a. 0., S. 297; vgl. Logik S. 186. Allerdings kennt Husserl auch andere Urteils-

begriffe.
m Ideen I, S. 256, 267.
214 A. a. 0., S. 256-59.
215 A. a. 0., § 117.
216 A. a. 0., S. 290; vgl. S. 279, 287, 289, 299.
217 A. a. 0., S. 289.
2 t 8 A. a. 0., S. 290.
148 Die Sinnlichkeit

Aufhebung. gegenüberstellt, zum Ausdruck gebracht werden219• ·Busserls


Idee der Neutralitätsmodifikation hat ihren Ursprung im Sachverhalt,
daß man eine assertorische (thetische) Aussage nach ihrem Inhalt voll
verstehen kann, , ohne ihre · Setzung mitzuvollziehen; man kann eine
solche Aussage.verstehen, ohne selbst ihre,Stellungnahme ·mitzumachen,
•aber auch ohne eine andere Stellung (eine negierende, in Frage stellende)
einzunehmen, man braucht überhaupt nicht Stellung zu nehmen, sondern
kann sich neutral verhalten. »Dieses Bewußtsein der Neutralität, des
Dahingestelltseinlassens" 220, hatte Husserl schon in den Logischen Unter-
suchungen unter dem· Titel der „qualitativen· Modifikation" erörtert221•
Der. Glaube oder die unmittelöare Position der sinnlichen -Wahrnehmung
ist nun·aber innerhalb ihrer selbst .gar nicht neutralisierbar, ihre Posi-
tion ist:keine solche, ·daß sie ihr Wahrgenommenes als „bloßen Gedan-
ken", ,,ohne mitzutun" »dahingestellt sein" lassen könnte. Das unmittel,-
bar Wahrgenommene kann zwar im Gange der· Wahrnehmung sein
positfonales „Gewicht" verlieren, damit verliert es aber auch seinen Sinn
oder seine „Bedeutung" für das unmittelbare Bewußtsein und wird
darin nicht als :;,bloßer Gedanke"· aufgehoben. Das Bewußtsein der
Illusion oder des bloßen Scheines, das nach einem solchen Positionsver-
lust der sinnlichen Wahrnehmung auftreten kann, ist weder ein- neutra-
'les, noch ein unmittelbares· Bewußtsein. Die reine unmittelbare Gegen:.
wart ist nie neutral, es. gibt keine sinnliche Wahrnehmung als solche~ die
nicht „mittut«, sie ist>immer · positional; von ihrer Könnensprätention
nicht lösbar. Sie ist als aktuelles Sehen; Hören, Tasten selbst Prätention,
und Hemmung oder Bruch dieses „Glaubens" eist Hemmung oder Bruch
der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Demgegenüber hat jedes mittelbare
Bewußtsein einer :objektiven, identischen Geltung, die das Korrelat nicht
der sinnlichen Position, sondern der mittelbaren objektivierenclen Fest-
stellung ist; die Freiheit;· diese Geltung als „bloßen Gedanken: dahin-
gestellt sein zu lassen", sich von ihr zu „distanzieren", nicht „mitzutun".

219 A. a. 0., § 109 ff.


Ho Ms. F I 27 (Vorlesung über Urteilstheorie vom SS 1905) S. 77 a.
891 -»Jedem ·Akt des belief' entspricht als Gegenstück eine ,bloße' Vorstellung, welche
dieselbe Gegenständlichkeit und in genau gleicher Weise, d. i. auf Grund·· einer
identischen Materie vorstellig macht, wie jener Akt des belief, und welche sich
von ihm nur dadurch unterscheidet, daß sie die vorgestellte Gegenständlichkeit,
statt sie in der Weise der Seinsmeinung zu setzen, vielmehr dahingestellt sein
läßt .•• Beispielsweise hat die setzende Wahrnehmung oder Erinnerung ihr: Gegen~
stück in einem entsprechenden Akte bloßer Einbildung von derselben Materie"
(Logische UntersuchungerJ, 1. Aufl. II, S. 452; 2. Aufl., II/1, S. 487).
Husserl im Banne des Intellektualismus :t4,9

Die Vernunft ist frei, ihre In-Geltung-Setzung oder Feststellung zu


"neutralisieren", während das sinnliche Bewußtsein, solange es sinn-
liches Wahrnehmungsbewußtsein ist, nie „kraftlos", sondern immer ge-
hemmte oder ungehemmte Gewißheit ist.
Nach den Ideen besteht allerdings für jedes Bewußtsein die Möglich-
keit der Neutralisierung; auch die normale Wahrnehmung soll ihr „neu-
trales Gegenstück." haben. Nur diese „Verallgemeinerung" ermöglicht
Busserls Gedanke der phänomenologischen Reduktion im Sinne der Auf-
hebung der Generalthesis der Welt222 • Das Beispiel, das Hi.isserl hier für
ein neutralisiertes, glaubensloses Wahrnehmungsbewußtsein anführt,: ist
aber gar keine Wahrnehmung, kein unmittelbares Bewußtsein einer leih-
haften Gegenwart, wodurch allein sinnliche Wahrnehmung sich definiert,
sondern ein mittelbares, vergegenwärtigendes Bewußtsein, nämlich das
Bewußtsein des abbildenden Bildobjekts223• Wie in manchen parallelen
Fällen intellektualisiert hier Husserl das unmittelbare Bewußtsein gegen
seine eigene ursprüngliche Einsicht. Schon in den Logischen Untersuchun-
gen hatte er bemerkt (aber auch im Widerspruch zu seiner hier ent-
wickelten Theorie der qualitativen Modifizierbarkeit (Neutralisierbar-
keit) aller „objektivierenden Akte" 224 , wozu er auch die schlichte Wahr-
nehmung zählt): "Ob die parallele Sachlage bei der normalen Wahr-
nehmung anzunehmen ist, ist allerdings zweifelhaft; nämlich ob die
Wahrnehmung bei vollständiger Identität ihres sonstigen phänomeno-
logischen Bestandes'•qualitativ modifiziert werden ürid so ihr.en normalen
Setzungscharakter einbüßen kann; es fragt sich, ob, die für die Wahr-

222 Dies ist aber nicht der einzige, nicht einmal der eigentliche Sinn dieser Reduktion
(vgl. oben, § 10).
223 A. a. 0,; S. 269/70. Das abbildende Moment hat nur Sinri als Bild, als Vergegen-
wärtigung. Es ist als solches nichts Unmittelbares; Auch 'in· einem Text aus den
zwanziger Jahren illustriert Husserl die Neutralisierung· der Wahrnehmung am
mittelbaren· Bildbewußtsein: ,,Auch W ahrnehmungsmäßiges kann neutralisiert, aus
dem Modus der Positionalität in den der Phantasie- oder Neutralität erhoben wer-
. den; wie :wenn ich in einem Wahrnehmungsmäßigen mir ein anderes verbildliche,
aber nicht das, was da wahrgenommen ist, in Gewißheit oder in einer Modalität
der Gewißheit im Vollzug setze, sondern es behandle wie ein Pha.ntasiebild der
••. Kunst. Das als gegenwärtig Erscheinende ist hier nichtig, aber das geht mich nichts
an, es läßt etwas doch erscheinen, als ob es wäre, und das ist dann" eine perzeptive
Phantasie. Die absichtliche Neutralisation: das Wirkliche, als ob es nicht wäre, als
wie• ein Bild, wie in ästhetischer Betrachtung einer .Landschaft. Also es isr· eine
durch alles Bewußtsein hindurchgehende Modifikation" (Husserliana XIV, S. 440).
124 „Zu jedem setzenden Akt gehört ein möglicher nichtsetzender Akt von derselben
Materie und umgekehrt" (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 435, vgl. S. 448;- 2. Aufl., 11/1,
S. 465, vgl. S. 480). ·
.150 Die Sinnlichkeit

nehmung charakteristische perzeptive Auffassung des Gegenstandes als


eines ,selbst gegenwärtigen' nicht alsbald übergeht in die imaginative
Auffassung225, in welcher der Gegenstand, analog wie im Falle der
Phantasie und der physischen Bildlichkeit (Gemälde u. dgl.), als bildlich
und nicht als selbst gegeben erscheint. " 226
In Busserls Logikvorlesungen der zwanziger Jahre kommt der Un-
terschied zwischen unmittelbarer und mittelbarer Positionalität zur Gel-
tung. Busserl unterscheidet hier zwischen zwei verschiedenen Begriffen
von Setzung227 : Einerseits spricht er von der „passiven Doxa" der Wahr-
nehmung, die als „schlichte Gewißheit" oder „Einstimmigkeit" zu ihrem
Korrelat das „schlichte seiend" hat228, und andererseits von der „aktiven
oder spontanen Stellungnahme des Ich", vom Urteil im Sinne einer
,,Entscheidung vom Ich her", das sich entscheidend ein „bleibend gelten:-
des Sein", ein „weiter und bleibend Geltendes" ,,stiftet" 229, von dem es
als hinfort entschiedenes „überzeugt" ist230 • Dieses aktive Geltung-Ertei-
len und die daraus hervorgehende Überzeugung oder Entschiedenheit des
Ich wird nicht mehr als Glaube oder Doxa bezeichnet. Diese Unterschei-
dung drängte sich Busserl sachlich auf, ohne daß er ihr allerdings durch
seine Begrifflichkeit wirklich zu entsprechen vermochte. Die Rede von
Aktivität (Spontaneität) des Ich und von Passivität bleibt bei ihm ver-

22 "Anstatt „die imaginative Auffassung" steht in der zweiten Auflage (1913): ,,eine
Bildauffassung".
228 A. a. 0., 1. Aufl., II, S. 455/6; 2. Aufl., II/1, S. 491. Die Beispiele, die Husserl in
den Logischen Untersuchungen für qualitativ modifizierte (nicht setzende) Wahr-
nehmungen gibt, sind stereoskopische Phänomene (2. Aufl., II/1, S. 491), weiter „die
mit dem Zweifel an der Wirklichkeit des Erscheinenden auftretende Illusion"
(1. Aufl., Il/1, S. 435); die 2. Auflage korrigiert bedeutsamerweise: ,,die von aller
Stellungnahme zur Wirklichkeit des Erscheinenden freigehaltene Illusion" (a. a. 0.,
II/1, S. 465). Zum Teil handelt es sich hier um falsche Charakterisierungen (ein
Illusionsbewußtsein ist nicht frei von Stellungnahme, es „negiert"), nie aber sind
diese „neutralen Wahrnehmungen" unmittelbare schlichte Wahrnehmungen, son-
dern immer mittelbares Bewußtsein. Bezeichnend ist auch die Korrektur in der
2. Aufl., II/1, S. 454, wo die qualitative Gegenüberstellung Phantasie-Wahrnehmung
(1. Aufl., II, S. 425) ersetzt wird durch die im Rahmen des mittelbaren Bewußtseins
bleibende Gegenüberstellung Phantasie-Erinnerung. Manchmal behandelt Husserl die
bloße Einbildung als qualitativ modifiziertes Gegenstück der „Wahrnehmung oder
Erinnerung" (a. a. 0., 1. Aufl., II, S. 452, 485; 2. Aufl., S. 13).
227 Siehe Husserliana XI, § 14 (S. 51 ff.) und Beilage IV (S. 357 ff.). Im Ms. A V 21,
S. 62 b (wohl 1920) spricht Husserl auch von der passiven Setzung in der Wahr-
nehmung.
22s A. a. 0., S. 52/53.
220 A. a. 0., S. 55.
2ao A. a. 0., S. 52, 358.
Husserl im Banne des Intellektualismus 151

schwommen, weil sie nicht prinzipiell auf den Unterschied von unmittel-
barem und mittelbarem Bewußtsein zurückgeführt wird. So vermengen
sich denn im Grunde bei ihm doch wieder passive Doxa231 und aktive
Setzung, bzw. ,,schlichtes Sein" und „bleibende (identische) Geltung",
indem sich bereits in der passiven Doxa, in den Synthesen der Einstim-
migkeit und Unstimmigkeit, ,,Seinsmodalitäten unter Erhaltung des
identischen gegenständlichen Sinrtes" 232, das „seiend", ,,möglich", ,,nich-
tig" etc., als bleibende Geltungen konstituieren sollen233 • In der Aktivi-
tät des Urteils wird bei Husserl eigentlich prinzipiell nichts anderes
geleistet, als was bereits in der Passivität der Doxa „verborgen" ist234•
So wird bei ihm auch nicht prinzipiell unterschieden zwischen dem fließen-
den Sein der bloßen sinnlichen Gegenwart und dem objektiven identi-
schen Sein als Geltung der Vernunft, wie auch korrelativ sein Begriff der
Habitualität, trotz gewisser unterscheidender Andeutungen285, zugleich
das gewohnheitsmäßige, apperzeptiv gefestigte leibliche Verfügenkön-
nen über ein typisches sinnliches Umfeld und die Entschiedenheit der
Vernunft für ein objektives Universum identischer Geltungen deckt und
diese prinzipielle Differenz verdeckt236,

d) Das Ich

Auch in seiner Lehre vom Ich wirkt sich Husserls analogisierende


Übertragung von Verstandesstrukturen auf die Sinnlichkeit aus. Husserl
faßt jedes Bewußtsein als Ich-Bewußtsein. Andererseits schleichen sich
aber auch umgekehrt in seine Gedanken über das Ich Sachverhalte ein,
die nicht zum Verstandessubjekt, sondern zum sinnlichen Subjekt gehö-
ren. So ergibt sich hier aufgrund des Fehlens einer prinzipiellen Unter-

231 Man könnte sich auch· fragen, ob der Gebrauch des griechischen Wortes „Doxa"
für die Positionalität der sinnlichen Wahrnehmung glücklich ist. M;a bedeutet ja
in einem allgemeinen Sinn die bloße Meinung (im Gegensatz zur eigentlichen
Erkenntnis), in einem präziseren Sinn aber die Stellungnahme, das Urteil (vgl. etwa
Platons Sophistes, 263 e; bei Aristoteles ist M;a neben jener allgemeinen Bedeutung
eine Art der {111:6].'l'j'lj.1t; De an, III, 3, 427 b). Die M;a. ist zwar µs"t« a.toi}..,asoo;,
aber •innerhalb der bloßen a.ta-fr'l'ja~; würden die Griechen wohl noch . nicht von
M;a. gesprochen haben.
232 A. a. 0., S. 52.
233 A. a. 0., S. 53.
234 Vgl. Ideen I, § 124.
235 Husserliana XI, S. 360.
238 Vgl. Cartesianische Meditationen,§§ 32 und 38.
152 Die Sinnlichkeit

scheidung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit (mittelbares und unmittel-


bares Bewußtsein) eine verwirrende Vermengung und Zweideutigkeit237 •
Den Begriff des Ich führt Busserl erst in den Ideen als besonderen
transzendental-phänomenologischen Begriff ein, nachdem er vorher die-
sen Terminus im wesentlichen nur zur Bezeichnung einer empirisch-
transzendenten (mundanen) Einheit (Ich-Mensch) oder nur nebenbei und
synonym für den reinen Bewußtseinsstrom als Inbegriff von Erlebnissen
gebraucht hatte238, Das Ich tritt in den Ideen auf als „identischer Be-
ziehungspunkt", der in verschiedenen Erlebnissen die Form des cogito
ausmacht, indem er seinen „Blickstrahl" durch sie hindurch dem Gegen-
stand· ,,zuwendet" und ·seine Setzung vollzieht239 • ,,Das ,Gerichtetsein
auf', ,Beschäftigtsein mit', ,Stellungnehmen zu', ,Erfahren, Leiden von'
birgt notwendig in seinem Wesen dies, daß es eben ein ,von dem -Ich
dahin' oder in umgekehrter Richtung ,zum Ich hin' ist. " 246 ,, Von seinen
;Beziehungsweisen' oder ,Verhaltensweisen' abgesehen, ist das Ich völlig
leer an Wesenskomponenten, es hat gar keinen explikablen Inhalt, es. ist
an und für sich unbeschreiblich: reines Ich und nichts weiter. " 241 Von
diesen Bestimmungen aus unterliegt nun Busserls Ichbegriff einer immer
fühlbareren Zweideutigkeit.

237 Eine solche Zweideutigkeit könnte nodt in mandten Grundbegriffen Husserls auf-
gezeigt werden. Z.B. werden zwar einerseits Gegenwärtigung und Vergegenwärti-
gung, Impression und Reproduktion als zwei prinzipiell verschiedene Bewußtseins-
arten geschieden; während andererseits dodt wieder von den reproduktiven· Ele-
menten in dendtlichten Dingapperzeption gesprodten (Ideen II, S. 75) und erklärt
wird:· ,,Wahrnehmung kann· nur dadurdt konkrete Gegenwärtigung sein, daß sie
notwendig audt Vergegenwärtigung ist" (Husserliana XI, S. 313), sie ist ein „Mit-
einander von dahinströmenden Gegenwärtigungen und Vergegenwärtigungen"
(a., a; · 0., S. 323);' ohne daß dabei klargemacht: würde, daß ,,Vergegenwärtigung"
im Sinne der ·Retention und Protention etwas. radikal anderes ist als eigentlidte
Vergegenwärtigung im Sinne von Erinnerung oder „Vorausholung" der Zukunft.
Oder um beispielhaft einen anderen widttigen phänomenologisdten Begriff zu
nennen:.> Als das ~Thematisdte im weitesten Sinne" bezeidtnet Husserl ,den „Vorder"'
grund"!, "des sinnlichen Wahrnehmungsfeldes (a. i. 0;, S. 167) und identifiziert audt
thematisdtes Interesse mit Aufmerksamkeit (a. a. 0., S. 151). Andererseits ist ·aber
bei Husserl der Begriff des Themas bestimmt durch die kategoriale Einstellung auf
eine.,-..;Seinsregion~. bestimmter kategorialer Struktur bzw.'·· auf einen . begrifflidt.
einigeri:Sachverhalt (als syil.taktisdtes,"'polythetisdtes Gebilddsiehe Ideen I, § 122)),
ohtie · daß dabei jeweils· das ganze· thematische· Gebiet in der •Aufmerksamkeit
stehen müßte.
23 R Zur Entwicklung von Husserls Ichbegriff siehe meine Studie Husserl und Kant,
§§ 26, 32.
239 Ideen I, §§ 57, 80, 122.
240 A. a. 0., S. 195.
241 Ebenda.
Husserl im Banne des Intellektualismus 153

Einerseits bedeutet er das Funktionszentrum des Erlebens242, die


Tatsache, daß im Bewußtsein „alles zentriert ist, aktuell und poten-
tiell"243; anstatt von Zentrierung und Zentrum wird auch von „Polari-
sierung des Lebens" 244 und vom „Ichpol" 245 oder vom „ideellen Schnitt-
punkt der A:ffektionen und Aktionen "246 gesprochen. In diesem Sinn er-
klärt Busserl: ,, ... das Ich ist ,Subjekt' des Bewußtseins. ,Subjekt' ist
dabei nur ein anderes Wort für die Zentrierung, die alles Leben als Ich-
leben und somit lebend etwas zu erleben, etwas bewußt zu haben,
hat." 247 Ich habe oben in den Paragraphen 31 bis 33 auszuführen ver-
sucht, wie das sinnlich erscheinende Umfeld (die sinnliche Gegenwart) als
Potentialität im aktuellen „Blickpunkt" (in der aktuellen Tätigkeit) des
sinnlichen Subjekts sein Orientierungszentrum besitzt und wie korrelativ
das Könnensgefüge (die fungierende Leiblichkeit) dieses Subjekts in sei-
ner aktuellen zuwendenden Tätigkeit je verschieden konzentriert ist usw.
Die Rede von Zentrierung hat ihren Sinn in bezug auf die Struktur des
unmittelbaren (sinnlichen) Bewußtseins, nicht aber in Hinsicht auf das
Wesen des Verstandes-Ich, das zwar im Subjekt unmittelbarer Gegen-
wart gründet, aber als solches subjektive Einheit der Vergegenwärtigung
ist. Busserls Ichbegri:ff schöpft seinen Gehalt also einerseits aus dem
unmittelbaren Bewußtsein und kann in dieser Weise sogar schlechterdings
den fungierenden Leib bezeichnen: ,,Worin besteht also die vielgenannte
Ich-Deckung, die des ,Ichpols'? Da versuche ich jetzt zu sagen: Es ist
nichts anderes als die Leihzentrierung aller ,Handlungen' im doppelseiti-
gen Sinn. In der Erinnerung spreche ich von der Selbstidentifizierung
oder von der Identität des Ichpols, ebenso in der Phantasie. Aber is.t
nicht zunächst die Retention (auf der primordialen Stufe) eine :k,onti~
nuierliche Modifikation, in der Leib und Leihzentrierung in stetiger ,Ab-'-
wandlung und dabei Deckung sind? Dabei erhält sich der Leib- a.ls;del'~
selbe, als identischer Beziehungspunkt der .Akte, als Orientier~ngs-
null. " 248 Busserl faßt hier allerdings wie überall die Retention als Be-
wußtsein von Bewußtsein249, so daß sich ihm die Leiblichkeit bereits in
der reinen Gegenwart als Identität darstellt und ihm dadurch die An-

2.42 Z.B. Husserliana XIV, S. 29/30.


243 A. a. 0., S. 28~
241 Ms. Cs; S. 7 (Okt. 1929).
24 " Besonders in deri Ideen II, § 22 ff.
210 Husserliana XIII, $;246.
247 Ms. C 3, S. 26 a (März 1931).
248 Husserliana XV, S. 642/3.
249 Siehe oben § 29.
154 Die Sinnlichkeit

wendung seines Ichbegriffs erleichtert. Aber auch ohne Synthesis der


Identifikation besteht im unmittelbaren Wandel des Bewußtseins eine
„Leibzentrierung aller ,Handlungen"', die Busserl hier mit dem Begriff
des Ich bezeichnen will. Die leiblichen Kinästhesen charakterisiert er als
,,ichliche Beweglichkeit" 250 . Auf das sinnliche Subjekt als das im leib-
lichen Gefüge unmittelbar Könnende bezieht sich in Wirklichkeit man-
ches, was Busserl vom Ich aussagt: daß es „Einheit aus passiver Zeiti-
gung"251, also auch „konstituiert" sei, aber nicht konstituiert als ein
gegenständlich Seiendes (nicht „ontifiziert") 252, sondern als ständig ge-
worden-werdendes, ,, vorseiendes" ,,urmodales Ich in Funktion " 253 •
Andererseits hatte Busserl, als er in den / deen den Begriff des Ich als
eines „Beziehungspunktes" einführte, nicht primär die Leibzentrierung
des sinnlichen Bewußtseins im Auge. Er erteilt diesem „Beziehungs-
punkt" Prädikate, die nicht dem fungierenden Leib zugesprochen werden
können, bezeichnet ihn unter Abstraktion vom Leib als „geistiges
Ich " 254 , verwendet dabei die Kantische Formel des „Ich denke", die den
Verstand meint255, und bezieht sich direkt auf den Ichbegriff des Neu-
kantianers Natorp 256 . In diesem Sinne kann Busserl das Ich als imma-
nente, nicht konstituierte Transzendenz, die kein reelles Moment der
Erlebnisse ist 257, als „unzeitliche", ,,überzeitliche, aber auf immanente
Zeitlichkeit bezogene ,ideale' Einheit" 258 behaupten259 •
Diese Zweideutigkeit des Husserlschen Ichbegriffs könnte erklären,
daß Busserl gleichzeitig das Ich und den Bewußtseinsstrom als ein Ein-

25 ° Krisis (Husserliana VI), S. 108; Husserliana XIV, S. 511.


251 Ms. C 10, S. 2 a (September 1931).
252 Husserliana XV, S. 287 f.
251 Ms. C 2, S. 5 a (September 1931).
254 Ideen II, S. 97.

m Ideen I, S. 138; Ideen II, S. 108.


256 Siehe Ideen I, S. 138, Anm. und Logische Untersuchungen, 2. Aufl., S. 357 und 360.
257 Ideen I, § 57.
258 Ms. E III 2, S. 35 (1921); Ms. A IV 5, S. 42 a/b (Nov. 1925): Das Ich ist "über-

zeitlich, aber wesentlich auf Zeit bezogen".


258 „Natürlich hat es keinen Sinn, das Ich als zeitlich zu betrachten. Das Ich ist über-

zeitlich, es ist Pol von Ich-Verhaltungsweisen zu Zeitlichem, es ist das Subjekt, das
sich zu Zeitlichem verhält, das die unendliche Zeit unter sich hat als Rahmen für
alle seine Themen möglichen Verhaltens" (Ms. E III 2, S. 50 (1921)). ,,Jedes cogito
mit all seinen Bestandstücken entsteht oder vergeht im Fluß der Erlebnisse. Aber
das reine Subjekt entsteht nicht und vergeht nicht" (Ideen II, S. 103). ,,Es (das
Ich) ist wandelbar in seinen Betätigungen; in seinen Aktivitäten und Passivitäten,
in seinem Angezogensein und Abgestoßcnsein usw. Aber diese Wandlungen wandeln
es selbst nicht. In sich ist es vielmehr unwandelbar" (a. a. 0., S. 104).
Husserl im Banne des Intellektualismus 155

ziges, nämlich das Ich als den Quellpunkt des Strömens auffaßt260,
andererseits aber doch wieder vom „radikal Vor-Ichlichen" 261 und vom
Ich und dem urtümlichen Strom der Zeitigung als von zwei verschiede-
nen Urgründen sprechen kann: ,,Konstitution von Seiendem verschiede-
ner Stufe, von Welten, von Zeiten hat zwei Urvoraussetzungen, zwei
Urquellen, die zeitlich gesprochen (in jeder dieser Zeitlichkeiten) immer-
fort ihr zugrundeliegen: 1. mein urtümliches Ich als fungierendes Ur-
Ich in seinen Affektionen und Aktionen, mit allen Wesensgehalten an
zugehörigen Modis, 2. mein urtümliches Nicht-Ich als urtümlicher Strom
der Zeitigung und selbst als Urform der Zeit ein Zeitfeld, das der Ur-
sachlichkeit, konstituierend. Aber beide Urgründe sind einig, untrennbar
und so für sich betrachtet abstrakt. "262
Wenn Busserl in dieser zweiten Weise von zwei Urgründen der
Konstitution spricht, könnte man versucht sein, diese Urgründe in unse-
rem Sinn als Sinnlichkeit und Verstand (Verstandes-Ich) zu interpretie-
ren. Allerdings betrachtet Husserl diese Urgründe als „einig, untrennbar
und für sich betrachtet abstrakt", während wir die prinzipiell mögliche
Selbständigkeit des Sinnlichen behaupten. Zwar hat es auch für uns
einen guten Sinn zu sagen, Bewußtseinsstrom und Verstandes-Ich seien
untrennbar. Schon in den I deen 263 spricht Husserl von der „notwendi„
gen Bezogenheit des Erlebnisstromes auf das reine Ich" und erklärt:
,,Ein reines Ich - ein ... Erlebnisstrom sind notwendige Korrelate" 264•
Dem pflichten wir völlig bei, wenn unter „Erlebnisstrom" der repro-
duktiv, in Wiedererinnerung und Vorerwartung, konstituierte Strom
zeitlicher Erlebniseinheiten verstanden wird, wie dies in den Ideen tat-
sächlich auch der Fall ist. Ein solcher durch „Wiederholung" reflektierter
Strom von Erlebnissen ist Korrelat des Verstandes-Ich. Aber dies darf
keineswegs bedeuten, daß eine Erlebnisgegenwart nicht als reine sinn-
liche Gegenwart, ohne jede Vergegenwärtigung, in sich selbst bestehen

HO ~Dieses reine Ich als Pol ist aber nichts ohne seine Akte, ohne seinen Erlebnis-
strom, ohne das lebendige Leben, das ihm selbst gleichsam entströmt" (Ms. B III 10,
S. 9 (1921)). "Das ständige Ich ständig Urquelle, identisch nicht durch ein ,Identifi-
zieren', sondern als Ureinigsein, seiend im urtümlichsten Vorsein, das daraus ent-
quellende und entquollene Fungieren ein ständiges Strömen, in der Ständigkeit
wieder jetzt, der Strom der Selbstausquellungen des Urquellpunktes des Urselbst"
(Ms. A V 5, S. 5 (Jan. 1933)).
181 Ms. E III 9, S. 90 (1932).
282 Ms. C 10, S.15 b (Sept. 1931).
283 Ideen I, S. 184.
284 A. a. 0., S. 201; ebenso Husserliana XIV, S. 23: "Ein Ich ... ist bezogen auf einen
Erlebnisstrom, dem gegenüber es auch unselbständig ist, wie auch umgekehrt." ·
156 Die Sinnlichkeit

könne, sondern aus sich selbst jederzeit einen notwendigen Bezug zum
Verstandes-Ich haben müsse. Aber auch dies behauptet Busserl. In den
Ideen tut er dies vielleicht weniger, weil sich ihm als Ich auch ein sinn-
licher Subjektbegriff unterschiebt, sondern wohl wiederum primär durch
eine Subreption im Terminus der Potentialität. Die intentionalen Erleb-
nisse, die nicht die Form des cogito (Ich denke) besitzen, faßt Busserl
hier als „Hintergrunderlebnisse" 265 des Ich, die darum selbst schon eine
Ichstruktur haben266, ,, weil sie sich in aktuelle cogitationes verwandeln
oder in· solche immanent einbeziehen lassen müssen; in Kantischer Spra-
che: ,Das Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten kön-
nen"'267. ,,Die übrigen Erlebnisse, die für die Ichaktualität das allgemeine
Milieu bilden, entbehren freilich der ausgezeichneten Ichbezogenheit. Sie
,gehören' zu ihm als ,die seinen', sie sind sein Bewußtseinshintergrund,
sein Feld der Freiheit" 268 ; sie haben „Ichzugehörigkeit, insofern sie das
Feld der Potentialität für freie Akte des Ich sind" 269 ; ,,zu ihrem Wesen
als Hintergrundakte gehört es, in lebensvolle, vom aktuellen Ich voll-
zogene Akte verwandelt werden zu können. Die Ichferne ist auch ein
subjektiver Charakter, in der Potentialität liegt die Wesensbeziehung
zur Aktualität" 270• Was bedeutet diese Umwandlung der Hintergrund-
erlebnisse in eigentlich ichliche? ,,Prinzipiell kann sich das reine Ich in
alle unvollzogenen (in einem bestimmten Sinn unbewußten, unwachen)
intentionalen Erlebnisse hineinleben, es kann den in den Hintergrund
zurückgesunkenen, nicht mehr vollzogenen Edebnissen das Licht des
wachen Bewußtseins bringenJ' 271 Abgesehen davon, daß diese Antwort
nahelegt, daß alle Hintergrunderlebnisse ursprünglich ichlich vollzogen
waren, was aber sonst nicht Husserls Auffassung ist, scheint sie zu be-
deuten, daß das Ich diese Erlebnisse prinzipiell „wiederholen", ,,reflek-
tieren'\ ,,eririnern" kann. Dieses Können, diese Potentialität in. ihrer
Wesensbeziehung zur Aktualität, liegt aber nicht in diesen Erlebnissen
(verstanden als sinnliche, unmittelbare Erlebnisse) selbst, sondern aus-
schließlich
.. ,;·
im mittelbaren
,.,
,.
Bewußtsein, im Verstandes-Ich.
: ;
Die Sinnlich-
/

295 Ideen I; S. 138.


288 Ideen II, S. 100.
267 Ideen I, S. 138; die Bemerkung zum Kantischen Zitat, »ich lasse dahingestellt, ob in
seinem Sinn", ist eine in die Husserliana-Edition aufgenommene spätere Rand-
bemerkung in Husserls eigenem Exemplar des Werkes.
268 A. a. 0., S. 195.
289 A. a. 0., S. 231.
270 Ms. M III 2 II 8, S. 36 (März 1914).
m Ideen II, S. 108.
Husserl im Banne des Intellektualismus 157

keit kann zwar gespiegelt werden, aber das heißt nicht, daß sie aus sich
selbst einen notwendigen immanenten Bezug zum Ich der „Reflexivität"
besitzt, daß sie virtueller Verstand ist. Man verstehe mich richtig, ich
will nicht etwa leugnen, daß das unmittelbare Bewußtsein vom Ver-
stande geprägt sein kann, sondern es ging mir vorläufig in diesen Para-
graphen nur darum, die Sinnlichkeit gegenüber allem Intellektualismus,
der sie letztlich in nichts auflöst oder als verborgene Vernunft hinstellt
und dadurch die Vernunft selbst verfälscht, als eigene Wirklichkeit zu
behaupten. Dabei ist es der Philosophie aber nicht primär um die Sinn-
lichkeit, sondern um die Vernunft zu tun272•

Terminologische Anmerkung zum vorstehenden Kapitel über Sinnlichkeit

Mein Freund und Kollege Konrad Eugster, Bern, hat nach Lektüre des Manuskrip-
tes dieser Arbeit kritisch bemerkt, daß auch sie in der Verwendung des Terminus
,,Bewußtsein" für die Sinnlichkeit noch im Banne des Intellektualismus stehe; ,,Bewußt-
sein", ,,conscientia" seien Begriffe, die ursprünglich Selbstbewußtsein, allgemeine
Reflexivität, also Verstand meinten. Er schlug mir vor, in der Sinnlichkeit nicht von
,,Bewußtsein", sondern von „Erleben" zu sprechen. Dieser Kritik muß ich zustimmen,
es ist' tatsächlich intellektualistische Tradition, wenn ich mit Busserl schon unmittel-
bares Wahrnehmen, Empfinden, Tätigsein mit „Bewußtsein" bezeichne, aber ich glaube,
daß dadurch sachlich noch nichts verdorben ist, wenn man nur gegen diese Tradition
die Unmittelbarkeit dieses „Bewußtseins" festhält. Es ergeben sich dann zwei Möglich-
keiten: entweder auch das Wort durch ein anderes zu ersetzen - und dazu erschiene
mir „Erleben" sehr geeignet ;.._ oder aber ihm durch die in der Kritik zur Geltung
gebrachte Sachlage einen neuen Sinn zu geben. übrigens ist auch der Erlebnisbegriff
vom Gedanken ans Intellektuelle nicht frei. Etwa bei Dilthey: ,,Das Erleben schließt
in sich .die elementaren. Denkleistungen. Ich habe dies als seine Intellektualität be-
zeichnet" (WW, Bd. VII, S. 196). .

272 Die in diesem Abschnitt d) vorgelegte Skizze der Zweideutigkeit von Husserls
Ichbegriff wurde unterdessen durch die die Genesis von Husserls Ichproblematik im
ganzen Zusammenhang seiner Philosophie freilegende Studie von Eduard Marbach,
Das Problem des Ich in der Phänomenologie Busserls (Nijhoff, Den Haag 1974),
zugleich im großen und ganzen bestätigt und wesentlich vertieft und ergänzt.
3. Kapitel
Die Gestaltung der Sinnlichkeit durch den Verstand:
die Vernunft (die Kultur)

Das hauptsächliche Absehen der beiden vorangehenden Kapitel war


es, Sinnlichkeit und Verstand streng voneinander zu scheiden. In diesem
Sinne wurde zu zeigen versucht, daß Sinnlichkeit ein prinzipiell Selb-
ständiges ist, das vom Verstand (im weiteren Sinne und so gleichbedeu-
tend mit dem, ebenfalls im weiteren Sinne verstandenen, Wort „Ver-
nunft") als einem neuartigen Prinzip durchbrochen wird. Das Verhältnis
zwischen Verstand und Sinnlichkeit, das dabei zur Geltung kam, war
das der verdeckenden Fundiertheit: das mittelbare Bewußtsein ist im
unmittelbaren fundiert und verdeckt es in diesem Fundiertsein1 •
Dies ist aber nicht das einzige Verhältnis, das der Verstand zur Sinn-
lichkeit einnimmt. Der Verstand kann sein Fundament, die Sinnlichkeit,
auch gestalten, er kann aus sich selbst die sinnliche Gegenwart prägen,
er kann die Vergegenwärtigung in der Gegenwart verwirklichen, er kann
sie in ihr instituieren. Insofern der Verstand die Sinnlichkeit kultiviert,
können wir von „Vernunft" im prägnanten Sinne sprechen und dabei
das Wort „Verstand" in einem engeren Sinne für den Verstand gebrau-
chen, insofern er die Sinnlichkeit bloß transzendiert und verdeckt.
Wohlverstanden, die Vernunft (im engeren Sinne) ist gegenüber dem
Verstand (im engeren Sinne) kein neues Prinzip. Ihr Wesen ist mittel-
bares Bewußtsein, Vergegenwärtigung, gegenüber der Sinnlichkeit als
unmittelbarer Gegenwart. Ihr Unterschied besteht nur in ihrem Verhält-
nis zur unmittelbaren Gegenwart: Während der Verstand in der Ver-
gegenwärtigung diese bloß verdeckt, prägt die Vernunft sie aus der
Vergegenwärtigung, bzw. realisiert die Vergegenwärtigung in ihr.

1 Siehe oben §§ 18 und 19.


Die Sinnlichkeit in Vernunftfunktion 159

§ 36 Die Sinnlichkeit in Vernunftfunktion


( die von der Vernunft „aufgehobene" Sinnlichkeit)

Wir können die die Sinnlichkeit kultivierende Vernunft von zwei


Seiten aus betrachten: von der kultivierenden Vernunft, sozusagen von
der cultura culturans, oder aber von der kultivierten Sinnlichkeit, der
cultura culturata, aus (wenn ich diesen analogisierenden Neologismus
benützen darf). Betrachten wir vorerst einmal, zur Einführung in die
hier bezeichnete Problematik, das Verhältnis von der Sinnlichkeit aus.
Wenn ich etwa einer Rede mit Verständnis zuhöre, bin ich sinnlich
dem Wortlaut zugewendet, meine sinnliche Aufmerksamkeit ist auf ihn
gerichtet: ich höre zu, versuche die Laute möglichst deutlich zu verneh-
men. Aber dabei bin ich doch nicht am sinnlichen Laut als solchem
interessiert. Achte ich dagegen besonders auf ihn, etwa auf die rollenden
rr oder die manieriert gedehnten Vokale, so verstehe ich die Rede nicht
mehr; die Worte hören für mich auf, eigentliche, mir eine Bedeutung
vermittelnde Worte zu sein. Ich bleibe also im Verstehen nicht am Sinn-
lichen haften, ich gehe nicht in der sinnlichen Aufmerksamkeit auf, son-
dern gehe durch sie hindurch auf die geistige Bedeutung. Die sinnlich-
leibliche Subjektivität fungiert hier nicht für sich selbst; der sinnliche
Wortlaut hat in sich, für die Sinnlichkeit, keinen Sinn, er ist rein sinnlich
sinnlos, sondern er hat seinen Sinn nur für die verstehende Vernunft.
Das Sinnliche ist sich hier selbst entfremdet und fungiert nur für die Ver-
nunft. Dabei ist aber das Sinnliche, der unmittelbar gegenwärtige Wort-
laut, keineswegs vom Verstehen der Bedeutung verdeckt, ich höre ihn
vielmehr im Verstehen so klar und deutlich wie möglich. Der Wortlaut
ist sozusagen „Durchgang" für das Verständnis, hat seinen Sinn in die-
sem; er ist als Sinnliches in der Vernunft aufgehoben, d. h. seiner bloßen
Sinnlichkeit entzogen und in der Vernunft bewahrt. Genau Entsprechen-
des gilt auch vom Reden.
Die unmittelbare Gegenwart und die vergegenwärtigende Vernunft
befinden sich also nicht bloß im Verhältnis der Fundierung und des
Widerstreites, der gegenseitigen Verdeckung in der Anschauung, wie es
im ersten Kapitel dieses Abschnittes zur Geltung kam, sondern unmittel-
bar Gegenwärtiges (Sinnliches) kann in der Vernunft eine vergegen-
wärtigende Funktion üben.
160 Die Vernunft (die Kultur)

§ 37 Sinnliche und geistige Kultur


( von der Vernunft geschaffene sinnliche Mittel und
Vernunf tinstitution in der Sinnlichkeit)

Bevor wir an eine Differenzierung und Analyse verschiedener For-


men der kultivierenden Vernunft gehen, gilt es vorerst, eine allgemeinste
Unterscheidung durchzuführen: Die Vernunft kann die Sinnlichkeit ent-
weder für die Sinnlichkeit oder aber für sich selbst kultivieren. Auch
wenn die Vernunft die unmittelbare Gegenwart für die Sinnlichkeit
kultiviert, ist es die vergegenwärtigende Vernunft, die kultiviert, aber
sie tut es nicht für sich selbst, sondern für eine vergegenwärtigte, näm-
lich künftige sinnliche Gegenwart.
Das Bauen einer Behausung geschieht in der Vergegenwärtigung des
Wohnens, die Zubereitung einer Speise in der Vergegenwärtigung des
Essens, das Herstellen einer Lagerstätte in der Vergegenwärtigung des
Liegens und Schlafens. Doch können alle diese Vernunfterzeugnisse
sinngemäß ohne Vergegenwärtigung gebraucht werden. Der Sinn dieser
Erzeugnisse besteht in ihrem sinnlichen Gebrauch, im Wohnen, Essen,
bzw. Liegen, obschon sie nicht in diesen unmittelbaren sinnlichen Ver-
haltensweisen hergestellt wurden. Es handelt sich hier um eine künst-
liche Ausstattung der sinnlichen Lebensumwelt, um eine künstliche
Natur.
Nicht nur diese Gestaltung der sinnlichen Umwelt im vernünftigen
Vorblick auf ihren sinnlichen Gebrauch gehört zur Tätigkeit der Ver-
nunft im Dienste der Sinnlichkeit, sondern auch die Herstellung ver-
schiedenster Instrumente und Werkzeuge, sofern sie als „Verlängerun-
gen", Ausgestaltungen, Verfeinerungen etc. des fungierenden Leibes der
Erweiterung seines Könnens, seiner Macht dienen. Hierher sind zu rech-
nen Werkzeuge, wie Hammer, Bohrer, Schaufeln, Fahrzeuge, Waffen,
aber auch Geräte, wie Brillen, Gehörapparate, usw. In diese Linie gehört
auch die vernünftige Ertüchtigung des Leibes, etwa im Turnen.
Auf der anderen Seite haben wir Kulturschöpfungen (vernünftige
Gestaltungen der Sinnlichkeit), wie sprachliche Gebilde, Kunstwerke,
mathematische Zeichen, Bilder, deren Gebrauch als solche nur in Ver-
nunfttätigkeiten, im Sprechen, in der ästhetischen Betrachtung, im Rech-
nen, Bildbewußtsein, geschehen kann.
Doch ist damit nur oberflächlich und in völlig unzureichender Weise
ein wesentlicher Unterschied anvisiert, den wir alle in den Kulturschöp-
fungen vage fühlen. Dieser Unterschied ist noch nicht wirklich gefaßt,
Sinnliche und geistige Kultur 161

denn aufgrund unserer bisherigen Andeutungen bleibt es in den meisten


Fällen zweideutig, ob wir eine Kulturschöpfung für die Vernunft selbst
oder aber für die Sinnlichkeit vor uns haben. Werkzeuge dienen ja im
allgemeinen Vernunfttätigkeiten, obschon sie als Erweiterungen der
Leiblichkeit betrachtet werden können. Was soll man etwa sagen von
einem Mikroskop, das unsere sinnliche Sehschärfe um ein Vielfaches ver-
größert, aber evtl. rein wissenschaftlicher Forschung dient, oder was gar
von Meßinstrumenten wie Waagen, Thermometern, Maßstäben usw.,
die einerseits nur in einer Vernunfttätigkeit, im Messen, ihren Sinn·· er-
füllen, andererseits aber darin als sinnliche Konstellationen fungieren?'
Wenn wir sagen, daß die Vernunft im einen Falle für sich selbst die
Sinnlichkeit kultiviere, im anderen Falle aber für diese, so müssen wir
diesen Unterschied schärfer fassen. Der entscheidende Unterschied ist der
folgende: In der sinnlichen Kultur schafft die Vernunft ein sinnliches
Mittel für eine von dieser schöpferischen Tätigkeit verschiedene Tätig-
keit, sei diese nun bloß sinnlich oder vernünftig. Eine Lagerstätte wird
nicht durch Liegen hergestellt, eine Schaufel nicht im Schaufeln, eine
Füllfeder nicht im Schreiben. Wenn die Vernunft ein sinnliches Mittel
für eine andere Vernunfttätigkeit herstellt, verwirklicht sie dabei nicht
diese andere Vernunfttätigkeit, sondern nur deren sinnliche Mittel:
Wenn ich eine Füllfeder zum Schreiben herstelle, so schreibe ich dabei
nicht. In der geistigen Kultur dagegen gestaltet die Vernunft die Sinn-
lichkeit nicht als bloßes sinnliches Mittel für eine von dieser Gestaltung
selbst verschiedene Tätigkeit. Im Schaffen eines Kunstwerkes etwa wird
kein sinnliches,Mittel für eine andere Tätigkeit bereitgestellt, sondern in
dieser schöpferischen Gestaltung des Sinnlichen verwirklicht sich diese
Tätigkeit selbst. Das Anschauen oder Genießen eines fertigen Kunst-
werkes ist nicht eine vom Schaffen des Kunstwerkes verschiedenartige
Tätigkeit, wie das Herstellen einer Säge und der Gebrauch einer Säge
(das Sägen) ganz verschiedenartige Tätigkeiten sind. Das Anschauen des
vollendeten Kunstwerkes ist nichts anderes als die Selbstverwirklichung,
die Vollendung der schöpferischen Tätigkeit, die Realisierung der in ihr
liegenden Tendenz 2 • Insofern in der künstlerischen Tätigkeit kein sinn-
2 Die ä~thetische Anschauung eines von eine!ll And:ren geschaffenen Werke~bedeutet
natürlidi: nichi: die. Wiederholung, die »Hineinversetzung" in den ganzen schöpf~
rischeri Prozeß mit all seinen tastenden Versuchen, Leiden und Nöten, sondern den
N achvollzug · der. yollendeten schöpferischen Tätigkeit, ·nämlich der Anscliauung, in
die die scp.öpfei:i~9-1e Tätigkeit als in ihre eigene Vollendung einmündete, w~hrend
der G,ebraucli liineidnstrumentes in keinem Sinn ein Naclivollzug der das Instru-
ment li~rstelleiideri Tätigkeit ist. ·
162 Die Vernunft (die Kultur)

liches Mittel für eine andere Tätigkeit hergestellt wird, wird in ihr über-
haupt kein Mittel hergestellt. Denn ein Mittel wird hergestellt als Mittel
für etwas anderes, und ein Mittel wird gebraucht als ein bereits vor dem
Gebrauch .Vorhandenes. Es ist sowohl der herstellenden wie der ge-
brauchenden Tätigkeit äußerlich, da es nach der herstellenden und vor
der gebrauchenden Tätigkeit besteht. Gegenüber einer ein Mittel her-
stellenden Tätigkeit schafft ein bestimmtes künstlerisches Bewußtsein
sein Werk für sich selbst (nicht verstanden als individuelles Erlebnis,
sondern als ein Bewußtsein bestimmter Art), und gegenüber einer ein
Mittel gebrauchenden Tätigkeit hat dieses Bewußtsein sein Kunstwerk
nicht als ein vor ihm Vorhandenes, sondern schafft es selbst. Es ver-
wirklicht das Kunstwerk in ihm selbst und verwirklicht sich selbst im
Kunstwerk.
Ebenso steht es mit der Sprache. Die Sprache wird im Sprechen und
Verstehen geschaffen, und für nichts anderes als für das Sprechen und
Verstehen selbst. Und vor dem Sprechen und Verstehen gibt es keine
Sprache als Erzeugnis einer andersartigen Tätigkeit.
Das Entscheidende ist also dies. Während in der sinnlichen Kultur
von der Vernunft ein sinnliches Mittel für eine andersartige Tätigkeit
(mag diese vernünftig oder bloß sinnlich sein) hergestellt wird, ver-
wirklicht sich die Vernunft in der geistigen Kultur, durch die Gestaltung
des Sinnlichen, selbst. In der sinnlichen Kultur schafft die Vernunft nur
Sinnlichkeit (mag diese dann auch als Mittel vernünftiger Tätigkeit
dienen), während in der geistigen Kultur die Vernunft durch die Gestal-
tung des Sinnlichen Vernunft (Geist) schafft. Bei der geistigen Kultur
können wir von der Institution der Vernunft in der Sinnlichkeit
sprechen.
Sinnliche und geistige Kultur haben also eine ganz verschiedene
Wirksamkeit, und das heißt eo ipso eine ganz verschiedene Wirklichkeit.
Die geistige Kultur wirkt auf die Vernunft (bewirkt Vernunft) und
wirkt deshalb auch nicht als bloß Sinnliches, obschon sie, wie alle Kultur,
auch sinnlich ist, sondern sie wirkt und ist als in der Sinnlichkeit ver-
wirklichtes Vernünftiges: eben als Geistiges, als Ideelles. Während ein
Hammer dient, wirkt und ist als dieses Sinnlich-Reale, wirkt ein Kunst-
werk nicht als dieses Sinnlich-Reale, sondern als im Sinnlichen verwirk-
lichtes Ideelles. Dies zeigt sich darin, daß es dasselbe Kunstwerk ist,
welches in seinen verschiedenen sinnlichen Ausführungen wirkt und ist,
während es in der sinnlichen Kultur nicht z. B. den einen Hammer gibt,
sondern nur dieser und jener Hammer in ihrer verschiedenen Wirksam-
Sinnliche und geistige Kultur 163

keit Wirklidikeit haben. So wird etwa der eine und selbe Roman Don
Quidiote von Cervantes in den versdiiedenen Büdiern gelesen, die eine
und selbe 9. Symphonie Bruclmers in den versdiiedenen Partituren oder
Aufführungen vernommen, die eine und selbe Iphigenie Goethes in den
versd1iedenen Theatern gespielt, das eine und selbe deutsdie Wort Baum,
der eine und selbe Lehrsatz des Pythagoras unendlidi viele Male aus-
gesprochen oder gesdirieben. In diesem Sinne spridit man angesidi.ts
eines Buchbandes von dem Don Quidiote und nidit von einem Don
Quicli.ote, von der „Fillette au cli.apeau bleu" von Renoir bei all den
versdiiedenen Reproduktionen, während man nicli.t von dem Hammer
(überhaupt), von der Füllfeder, sondern von einem Hammer, einer Füll-
feder redet, da diese Instrumente nicli.t wirken und Wirklichkeit haben
als sinnlim verwirklicli.tes Ideelles, sondern als sinnlime Realitäten.
Es gibt zwar aum die Caravelle, die Dampfmasmine, aber so sprimt
man nimt von einem wirklimen Flugzeug oder einer wirklimen Dampf-
maschine, sondern von der Idee, der Konzeption oder dem Typus dieser
Masdiinen. Diese Konzeption besitzt ihre Wirklimkeit bereits als Plan
oder Modell, mit dem man aber nimt fliegen oder etwas antreiben kann,
ja, evtl. bereits in der Phantasie des Erfinders. Als solcli.e Konzeption hat
die Caravelle eine geistig-ideelle und nimt sinnlim-reale Wirklidikeit.
In diesem Sinne sagt man etwa, bereits Leonardo da Vinci habe die
Dampfmasmine erfunden, obsmon er nie eine solme (als braucli.bare)
ausgeführt hat.
Die ideelle Wirklimeit der geistigen Kulturprodukte erweist sim
auch darin, daß sie nicht nur in der unmittelbaren Sinnlicl1keit der
Gegenwart, sondern auch in der vom Verstand wiederholten (gespiegel-
ten) Sinnlichkeit der Phantasie wirksam sein können, während man etwa
mit einem phantasierten Werkzeug gar nichts anfangen kann. Man kann
eine Theorie oder ein Gedimt (als sprachliches Gebilde) in der Phantasie
entwerfen oder betramten, ein Musikstück oder ein Bild in der Phantasie
genießen oder in der Phantasie Scham spielen. Aum in dieser „geistigen
Sinnlichkeit" (,,Sinnlicl1keit" im Verstande) können geistige Kulturpro-
dukte wirksam sein, d. h. die entsprechenden geistigen Tätigkeiten kön-
nen sim in ihnen verwirklimen.
III Im folgenden mömte im die Vernunft in einigen Formen der geisti-
II gen Kultur analysieren: im Bild, im Spiel, im Zeichen, in der Sprache als
1 besondere Art von Zeimen und in der Sittlimkeit. Es handelt sich hier
um versdiiedenartige Selbstverwirkliclrnngen oder Institutionen der Ver-
II
nunft im Sinnlimen, bzw. um versmiedenartige Formen ideeller Bedeu-
II
II
164 Die Vernunft (die Kultur)

tung von. sinnlich Realem, um verschiedenartige Formen von Vergegen.:


wärtigungen im sinnlichen Gegenwärtigen. Im Rahmen dieser allgemei.:.
nen, methodologischen Arbeit können wir allerdings diese Analysen nicht
zu Ende führen, sondern müssen uns mit Hinweisen begnügen, die nur
den Sinn haben können, die Fruchtbarkeit des entworfenen Vernunft-
begriffs ahnen zu lassen.

§ 38 Bilder

Beim Bilde.erscheint im einen ein anderes, es wird im Gegenwärtigen


(im Bild) ein darin Nicht-gegenwärtiges (das Abgebildete) angeschaut.
Voraussetzung dafür, daß etwas Bild eines anderen sei, ist eine im wei-:
testen Sinne verstandene Ähnlichkeit. Aber die Ähnlichkeit macht nicht
die Bildlichkeit aus: zwei Menschen, zwei Dinge erscheinen als ähnlich,
aber dadurch ist nicht eines ais Bild· des anderen aufgefaßt, dadurch
erscheint nicht das eine im anderen. In einem Bild kann sich nur dadurch
etwas verbildlichen, in ihm gegenwärtig erscheinen, daß das Anschau-
liche des Bildes zu·einer bloßen Erscheinung, zu einem Schein wird, d. h,
kein ihm eigenes Erscheinendes, und damit keine eigene, unmittelbare
Realität besitzt. Das Abgebildete erscheint. sozusagen in einer fremden,
„geborgten" Erscheinung, und diese Erscheinung kann es sich nur durch
die Nichtigkeit (Irrealität) des unmittelbar in ihr Erscheinenden, also nur
als rein~n Schein aneignen. Z. B. das Spiegelbild im Wasser ist nur da-
dl)r~ Bild, daß unmittelbar im Wasser keine wirklichen Bäume, Berge
gesehen werden, sondern irreale Scheine, in denen darin nicht gegen-
wärtige Bäume und :aerge usw:. erscheinen.
:,,, . Bild ist,'.alles, in., dem ein anderes erscheint bzw. angeschaut wird
(und nicht bloß sich anzeigt). Es gibt nun ganz verschiedenartige Bilder,
je nach demVerhältnis des Bildes zum Abgebildeten.
Was uns in diesem Zusammenhang nicht interessiert, sind „natür-
liche" Bilder: . die l:>loßen Spiegelbilder, die zwar Bilder nur für den ver~
gegenwärtigenden .Verstand sind, die aber die Vernunft nicht als Scheine
in der Sinnlichkeit bildet. Sehr ähnlich diesen „natürlichen" Bildern sind
bloße von der Vernunft geschaffene Reduplikationen der unmittelbaren
Erscheinung des Abgebildeten (bloße Abklatsche). Ungeheuer vielfältig
sind demgegenüber die Fälle, in denen das Abgebildete in seinem Bilde
zu.einer Erscheinung bzw. Anschauung kommt, die es selbst, unmittelbar,
gar nicht haben kann. ~n diesen Fällen wird eine Erscheinung von:. der
Bilder 165

Vernunft überhaupt erst ursprünglich erfunden und nicht als bloße


Reduplikation der Erscheinung des Abgebildeten geschaffen.
Bei diesen originellen Bildern können wir solche unterscheiden, die
sich nach irgendeinem besonderen Interesse, einem äußeren Zweck richten,
und solche, die nur um ihrer selbst, d. h. der Abbildung des Abgebildeten
willen da sind, also zu nichts anderem geschaffen wurden als dazu, etwas
zur Erscheinung zu bringen. Zur ersten Art gehören Pläne, Modelle,
Schemata, die zur Orientierung im Gelände, zur theoretischen Fixierung
des betreffenden Gegenstandes usw. dienen. Solche Zweckbilder können
auch transpositorisch sein in dem Sinne, daß die unmittelbare Erschei-
nung in eine andersartige transponiert oder projiziert wird, so wenn
z. B. eine auf- und absteigende Linie auf einem Blatt Papier eine Melodie
verbildlicht (unsere Notenschrift hat ein solches bildhaftes Moment, ob-
schon sie im wesentlichen auf konventionellen Zeichen beruht). Diesen
Zweckbildern stehen die ästhetischen Bilder gegenüber, die darin auf-
gehen, einem Inhalt eine Erscheinung zu verschaffen.
In einem künstlerischen Portrait etwa erlangt die dargestellte Person
eine Ballung oder Intensität der Erscheinung, die sie in keiner unmittel-
baren Anschauung besitzt. Ihre ganze Individualität, die sich im gewöhn-
lichen Umgang mit ihr nur allmählich und zeitlich zerstreut manifestiert
und wohl nie wirklich zur Anschauung kommt, kann im künstlerischen
Bild in eine einzige Erscheinung eingefangen und verdichtet sein. Aber
nicht bloß Individuen werden im künstlerischen Bild zur Erscheinung
gebracht, sondern auch etwa allgemeine menschliche Typen und Situa-
tionen, die ohne die künstlerische Erscheinung zwar erlebt, aber nicht als
solche angeschaut sind. Man denke etwa an das Gemälde „Die drei Kin-
der mit dem Ziegenbock" (Brüssel) von Frans Hals, in dem das ganze
kindliche Verhältnis zur Wirklichkeit aufleuchtet. Einige Bilder bringen
sogar zur Anschauung, was selbst überhaupt nicht unmittelbar erscheinen
kann. Es sind dies die Sinnbilder oder Allegorien: etwa das Renaissance-
standbild der Gerechtigkeit in der Gerechtigkeitsgasse in Bern: eine Frau,
die, über die Figuren von Kaiser, Papst, Sultan und Bürgermeister. (über
alle institutionellen Mächte der Welt) erhoben, mit verbundenen Augen
(ohne Ansehen der Person) eine Waage hält (die Rechtsgri,inde abwägt)
und das Schwert führt (urteilt). In ihm ist versinnbildlicht, was in sich
selbst nicht angeschaut werden kann.
Es können nicht alle Kunstwerke einfach als Bilder charakterisiert
werden, auch wenn man dieses Wort nicht nur als visuelles Bild versteht.
Musik, Literatur, Theaterkunst sind nicht ohne die Begriffe des Spiels
166 Die Vernunft (die Kultur)

bzw. der Sprache zu kennzeichnen. Man muß sich sogar schon fragen, ob
alle \Y/ erke der sogenannten bildenden Künste als Bilder in dem hier
bestimmten Sinne angesprochen werden können, ob in ihnen ein Nicht-
gegenwärtiges zur gegenwärtigen Erscheinung gelangt. Ein „Bild", das
nichts Abwesendes zur gegenwärtigen Erscheinung bringt, hat keine
„Tiefe", es sagt oder drückt nichts aus, ,,es steckt nichts dahinter", es ist
bloß dekorativ. Dennoch kann es gefallen und wird als Kunst ange-
sprochen. Aber das eigentlich Bildhafte geht in der Kunst wohl viel
weiter, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. In der sog. abstrakten
Malerei kann es durchaus vorhanden sein. Auch in der eigentlich künstle-
rischen Architektur, man denke vor allem an die sakralen Bauten, ist es
anwesend, und sogar eine Naturlandschaft wird wohl dann in einem
tieferen Sinn als schön empfunden, wenn sie im Charakter der „Epi-
phanie", der gegenwärtigen Erscheinung eines Fernen, Abwesenden, nicht
Unmittelbaren erlebt wird, wenn in ihr „Erinnerungen" und Ahnungen
wach werden, oder wenn sie als Gleichnis auftritt3•
Zu beachten sind auch die „immanenten Erinnerungen" eines Kunst-
werkes, durch die jeder seiner Teile die anderen widerspiegelt und diese,
und damit auch einen einheitlichen „Gedanken", immer wieder neu zum
Erscheinen bringt. Besonders deutlich ist dies etwa im musikalischen
„Bild", das durch „\Y/iederholungen", ,,Variationen", ,,Durchführung
des Themas", ,,thematische" und „motivische Arbeit" aller Art und auf
verschiedenen Ebenen (innerhalb der Sätze, zwischen den Sätzen) eine
sich innerlich mannigfaltig reflektierende „Verstandeswelt" ausmacht.
Auch in der Architektur und Malerei (um von der Literatur zu schwei-
gen) sind solche immanenten Vergegenwärtigungen sehr oft vorhanden.

§ 39 Spiele

Ich spreche hier nur von Spielen, in denen eine Vergegenwärtigung


spielt. Es sind dies spezifisch menschliche Spiele. Spiele zur Ausübung
gewisser Bewegungsimpulse (etwa das Herumspielen mit einem Ball)
kennen auch Tiere. Spiele, die wir jetzt im Auge haben, sind demgegen-

3 Es ist auffallend, daß etwa in der Naturlyrik Goethes, in der die Schönheit der
Natur zur Sprache kommt, der Natur sozusagen immer Erinnerungen, Ahnungen
anhaften oder daß sie als Gleichnis dasteht. Z.B. Ganymed (1774), Auf dem Sec
(1775), Gesang der Geister über den Wassern (1779), über allen Gipfeln (1780) etc.
Spiele 167

über das Puppenspiel, das Spielen mit der Eisenbahn, das Formen von
Kuchen, Bergen, Straßen im Sandkasten, wohl überhaupt fast alle Spiele,
die Kinder spontan spielen. Aber es gibt auch Spiele dieser Art bei
Erwachsenen: Gesellschaftsspiele verschiedenster Art, aber auch spiele-
risches Verhalten im Alltag, Theaterspiele, Kultspiele4 •
Diese Spiele haben, wie die Bilder, eine Abwesendes vergegenwärti-
gende Funktion, aber doch in anderer Weise als die Bilder. Beim Spielen
gehört das Subjekt mit ins Spiel, sein Verhalten und Tun selbst übt dar-
stellende Funktion, während der Bildschöpfer oder Bildbetrachter nicht
ins Bild gehört. Dadurch aber ist das Spiel nicht wie das Bild bloß
Erscheinung, da das fungierende Tun, das Leben, obschon in ihm Ab-
wesendes zur Gegenwart kommt, für den Spielenden selbst nicht Erschei-
nung ist. Im Spiel wird das Abwesende nicht bloß phänomenale, son-
dern fungierende, lebendige Gegenwart, nicht bloß Erscheinungsgegen-
wart, sondern Aktgegenwart. Im Spiel wird nicht bloß wie im Bild
zum Scheinen gebracht, es wird verlebendigt. Das Mädchen spielt nicht
einfach nur mit Puppen, sondern es spielt dabei die Mutter, und nur
dadurch "werden" die Puppen zu Kindern. Oder im Kultspiel wird
nicht einfach mit heiligen Gegenständen hantiert, sondern die Eingeweih-
ten und ihre Handlungen gehören selbst zum heiligen Spiel. Je nach der
Art des Spieles gehört der Spieler in ganz verschiedener Weise ins Spiel,
anders ins Schachspiel etwa als in ein Indianerspiel von Buben. Für einen
Zuschauer kann das Spiel bloß Bildcharakter haben, aber das Spiel als
solches bedarf durchaus ·nicht des Zuschauers. Die Gegenwart des unbe-
teiligten Zuschauers stört vielmehr das Spiel, weil diese Gegenwart die
Vergegenwärtigungsfunktion des Spieles durchbricht.
Dies gilt sogar in gewisser Weise für das ganz besondere Spiel, das
auf den Zuschauer hin angelegt ist: das Schauspiel. Dieses Spiel wird für
das Bild oder den Schein gespielt, es hat durchaus Bildcharakter, auch für
den Spieler (den Schauspieler) selbst, der sich im Spiel immer auch »mit

' Ob wir in allen spezi:fisd,, mensd,,lid,,en Spielen eine Vergegenwärtigung dieser Art
erkennen können, bleibe hier offen. Fraglid,, sd,,eint dies besonders bei den sehr
verbreiteten Spielen, die auf dem Wege reglementierter Handlungen auf einen
Sieg (das Gewinnen, das Sm.lagen des Gegners) ausgehen und im weitesten Sinne
als Wettkämpfe bezeim.net werden können (Fußballspiel, Ringkampf, Kartenspiele,
Sm.ad,,, Mah-jong). Aber aud,, diese Spiele dürften wohl mehr oder weniger offen-
kundig einen darstellenden Charakter besitzen. In ihnen spiegeln sid,, in freier,
,,nim.tiger" Weise die ernsten sozialen Lebenskämpfe. Ohne diesen ernsten Unter-
grund, von dem sid,, die Wettspiele repräsentierend ablösen, verlören wohl diese
Spiele ihren R.eiz.
Die Vcrnurifi: (die Kultur)

fremden Augen" sieht. Dennoch geht auch das Schauspiel nicht ins Bild
auf, es befindet sich vielmehr in einer zwiespältigen Situation: Einerseits
ist es für den Zuschauer da und insofern Schaubild, andererseits aber ist
es immer auch Spiel und hat von daher die Tendenz, den Zuschauer zum
Verschwinden zu bringen: entweder in die Dunkelheit (den dunklen
Zuschauerraum) oder dadurch, daß es den Zuschauer am Spiel beteiligt,
also zum Mitspieler macht (wie dies besonders im zeitgenössischen Thea-
ter zum Teil der Fall ist und auch beim ursprünglichen Theater der Fall
war). Reines Schaubild ist das Schauspiel nur im Film, der vom Spiel
eben nur das Bild festhält.
Der zwiespältige Charakter des Schauspiels läßt sich vielleicht auch
an seinem wohl doppelten· Ursprung verdeutlichen: Es scheint sowohl
aus dem K.ultspiel, das reines Spiel und nicht Bild, also nicht für bloße
Zuschauer ist, als auch aus der begleitenden mimischen Darstellung eines
von eiriem Erzähler berichteten Geschehens, die als reines Bild für die
Zuhörer und damit auch Zuschauer fungiert, entstanden zu sein. Dieser
doppelte Charakter des Schauspiels ist besonders deutlich in den mittel,-
a!terlichen Passionsspielen, die zugleich bildliche Darstellungen des vom
„Evangelisten" berichteten Passionsgeschehens für die Zuschauer und
Mysterienspiele sind, an denen auch das Volk als Kirche oder Gemeinde
mitspielt und dadurch am Heilsgeschehen teilnimmt! Auch im zeitgenös-
sischen Theater ist der Erzähler keine unbekannte Figur.
Im Spiel wird die Gegenwart weit eindringlicher und umfassender
vom Abwesenden absorbiert als in der Bildanschauung, da das leibliche
Subjekt, sein fungierendes Tun, in die vergegenwärtigende Funktion ein-
geschaltet ist. Diese Gegenwart darf aber im Spiel nicht im unmittel-
baren Sinne, als Wirklichkeit, genommen werden, sonst ist sie nicht mehr
Spiel, sondern Rausch, Ekstase, Verrücktheit. Zum Spiel gehört eine
Reflexivität, die sich des gegenwärtigen Tuns als in sich nichtigen
;,Scheins" eines anderen abwesenden Tuns bewußt ist. Dabei muß auch
„hinter" diesem gegenwärtigenden „Schein" (von ihm verdeckt) die
eigentliche Gegenwart, etwa im Theaterspiel die wirkliche Person des
Spielenden und der wirkliche Theaterraum in der .Stadt, noch lebendig
sein, sonst erhält die gespielte Gegenwart das Gewicht und den Ernst der
unmittelbaren. Mag in manchen Spielen, besonders in Kinderspielen und
in mystischen Kultspielen, diese Reflexivität nur ganz hintergründig
bestehen, bzw. die wirkliche Gegenwart fast ganz versunken sein, im
allgemeinen weiß das Mutter spielende Mädchen sehr wohl, daß. es ein
Mädchen und nicht Mut~er ist, und auch in einem eschatologischen Kult-
Zeichen 169

spiel mögen die Teilnehmer wissen, daß sie noch nicht „1m Para-
diese" sind.
In der Distanz zum Gespielten (im Spiel Vergegenwärtigten) besteht
eine Freiheit des Spiels, die der unmittelbaren Gegenwart nicht zu-
kommt. Das Spiel wie auch die bildliche Darstellung kann daher zur
Befreiung von unmittelbar lastenden affektiven Situationen und Kom-
plexen dienen. Man kann zu etwas ein freies Verhältnis gewinnen; indem
man es darstellt oder spielt - eine Einsicht, die sich die moderne
Psychotherapie, aber auch Richtungen der Kunst zu eigen gemacht ha-
ben. Umgekehrt hat die Psychoanalyse die große Bedeutung von »sy\.n-
bolischen Handlungen" zur Kenntnis gebracht, in denen etwas „gespielt"
wird, ohne daß dies aber dem Agieienderi bewußt wäre. Insofern han-
delt es sich gerade nicht um ein freies, wirkliches Spiel, sondern um
»Zwangshandlungen", die ihren Zwang erst verlieren, wenn sie vom
Agierenden in ihrer symbolischen Bedeutung durchschaut werden.

§ 40 Zeichen

Es· kann uns hier nur um eigentliche Zeichen gehen, d. h. um Zeichen,


die als Zeichen geschaffen sind, deren Sinn also darin besteht, etwas
anzuzeigen. Rauch kann aufgefaßt werden als ein Zeichen für Feuer,
schneller Pulsschlag als Zeichen (Symptom) für Fieber, aber der Rauch
ak solcher bezeichnet nicht das Feuer, er ist nicht dazu -geschaffen, das
Feuer_ anzuzeigen, der Sinn des schnellen Pulsschlages besteht nicht darin,
das Fieber anzuzeigen. Es gibt eigentliche Zeichen verschiedenster Art:
Kennzeichen, wie Wegmarkierungen, Eigentümerzeichen; Anweisuri,gs:.
z~ichen, wie gewisse Verkehrssignale; Wahrzeichen~ wie die· Flagge einer
Nation, das Siegel einer Universität; Erinnerungszeichen (Denkmäler);
Merkzeichen, wie der Knopf im Taschentuch; Wertzeichen (Geld), War.:.
nungszeichen, Schriftzeichen usw. un<i schließlich auch die Sprache. ;
- Ein Zeichen ist· ein Gegenwärtiges, das dazu geschaffen, ist, etwas zu
.vergegenwärtigen, ohne es im Schein (Bild) erscheinen zu lassen oder es
im Spiel zu verlebendigen. Da'.s Zeichen· kann durch diese Negation
definiert werden. Zeichen vergegenwärtigen, ohne daß man es, ihnen
selbst ·ursprünglich ansehen oder anmerken· könnte; was sie vergegen'."
wärtigen. Was sie bedeuten, muß man vielmehr wissen. Die Kehrseite
jener Negation besteht darin, daß das Zeichen nur aufgrund einer
170 Die Vernunft (die Kultur)

Festsetzung, was es bedeuten soll, seine vergegenwärtigende Funktion


ausübt.
Ich spreche von »Festsetzung" und nicht von „Konvention". Denn
obschon die Zeichen konstituierende Festsetzung im allgemeinen den
intersubjektiven Charakter einer Vereinbarung oder Tradition besitzt,
also Konvention ist, braucht sie doch nicht notwendigerweise Konven-
tion zu sein. Man kann für seinen privaten Gebrauch Zeichen festlegen,
die kein anderer zu verstehen braucht. Festgesetzte Zeichen sind sie
dennoch: man muß „ein für allemal" bestimmen, was sie bedeuten
sollen, damit man sie immer wieder verstehen kann. Die Absicht auf
Verständlichkeit ist der Zeichenkonstitution wesentlich; wenn ich immer
wieder vergesse, wofür ich ein Zeichen festgesetzt habe, wenn ich also
meine Zeichen nicht verstehe, so ist die Zeichenkonstitution mißlungen.
Aber diese Verständlichkeit ist nicht notwendigerweise intersubjektive
Verständlichkeit.
Die Festsetzung der Bedeutung eines Zeichens hat den Charakter der
Errichtung einer praktischen Regel, der Regel nämlich, daß ich das
Zeichen zur Vergegenwärtigung von dem und dem verwenden und in
diesem bestimmten Sinn verstehen soll. Das allgemeine Wesen des Zei-
chens, bzw. der Zeichenbedeutung, läßt sich aber nicht bloß im Sinne
Wittgensteins durch den Begriff „Regel des Gebrauchs" fassen, denn es
gibt manche Regeln des Gebrauchs, die keinerlei Zeichenbedeutung kon-
stituieren. Jede Bestimmung dessen, was Zeichen bzw. Zeichenbedeutung
überhaupt ist, muß den nur in Bewußtseinsreflexion faßbaren Begriff
der Vergegenwärtigung zugrunde legen. Die Gebrauchsregel spezifiziert
die Bedeutung des Zeichens, sie bestimmt seine besondere Bedeutung;
aber daß Zeichen überhaupt bedeuten können, d. h., daß sie überhaupt
Zeichen sind, liegt in der Möglichkeit der Vergegenwärtigung.
Das Zeichen ist nicht zu verwechseln mit dem Gerät oder Mittel, das
einem Zeichen dienen kann. Nicht die Verkehrsampel als solche ist das
Zeichen, sondern die mit ihr gegebenen Form- und Farbzeichen; nicht die
Blinkanlage am Wagen, sondern das Blinken; nicht der Arm des Poli-
zisten, sondern eine bestimmte Geste. Das Zeichen .als solches kann also
nicht in der Linie des Werkzeuges als „Zeigzeug" interpretiert werden5•
Der Stock, mit dem ich zeige, ist kein Zeichen.
Aber das Zeichen ist auch kein Zeigen oder standardisierter Typus
des Zeigens. Eigentlich zeigen kann man nur etwas Gegenwärtiges,

1 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit§ 17.


Sprache 171

während das Zeichen etwas Abwesendes anzeigt. Darum ist auch der
Gebrauch des Wortes „Zeigehandlungsschema" für Zeichen bei Kamlah
und Lorenzen sehr unglücklich6 •
Die Vergegenwärtigungsfunktion ist dem Zeichen wesentlich. Was
als Zeichen geschaffen ist, kann zwar diese Funktion einbüßen; z.B. das
Wertzeichen kann selbst zum Wert werden. Aber in diesem magischen
Fetischismus geht der eigentliche Zeichencharakter verloren. Ebenso steht
es, wenn etwa ein Zeichen, das als Verhaltensanweisung dient, nicht mehr
durch Vergegenwärtigung verstanden, sondern in bloßer Gewohnheit
unmittelbar aufgefaßt wird: Ein rotes Verkehrslicht kann z.B. in der
Routine ganz unmittelbar wirken, es stoppt sozusagen selbst und ist kein
Zeichen für das Stoppen mehr, ähnlich wie ein bestimmter Pfiff des
Meisters durch Dressur unmittelbar auf den Hund wirkt. Im bloß sinn-
lichen Umfeld stehen keine eigentlichen Zeichen, es gibt nichts, das etwas
anderes bezeichnet, wohl aber Sinneseinheiten, die durch Gewohnheit
etwas erwarten oder erstreben lassen und so das Verhalten unmittelbar
lenken.

§ 41 Sprache

Auch bei der Sprache haben wir es mit Zeichen zu tun: sie erfüllt
unsere allgemeine Bestimmung des Zeichens als Gegenwärtiges, das in
Vergegenwärtigungsfunktion steht, und zwar nicht dadurch, daß es als
bloßer Schein erscheinen läßt oder als Spiel verlebendigt, sondern auf-
grund einer bestimmten Verwendungsregel. Die Sprache besteht aber,
wenn man diesen Begriff nicht wo weit dehnen will, daß er überhaupt
alle eigentlichen Zeichen umfaßt, aus ganz besonderen Zeichen, d. h. ihre
Zeichen erfüllen eine ganz besondere Vergegenwärtigungsfunktion, die
sie vor allen andern, nicht-sprachlichen Zeichen auszeichnet. Welches ist
diese den sprachlichen Zeichen eigentümliche Funktion? Was kann nur
durch sie im Gegenwärtigen vergegenwärtigt werden?

a) Das ursprünglichste sprachliche Zeichen als einheitliches Zeichen


von Bestimmungsinhalt und Bestimmungshandlung (der Satz)

Man kann vorerst einmal sagen, daß es in der Sprache um Bestim-


mungen von etwas oder von jemandem geht. Dabei soll das Wort „be-

6 Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. Bibliographisches Insti-


tut, Mannheim, 1967, S. 57, 98, 172.
172 Die Vernunft (die Kultur)

stimmen" eine weite Bedeutung haben, in der sowohl Behauptungen als


auch Befehle, Versprechen usw. Bestimmungen von etwas oder jemandem
sind. Zur Bestimmung gehört ein Bestimmungszeichen, mit dem etwas
hinsichtlich seines „Inhalts" bestimmt wird, ein Bestimmungszeichen, das
allgemein ist, also in Wirklichkeit oder Möglichkeit in mehreren „Fällen"
gebraucht werden kann, und zugleich unterscheidet, also in seinem Ge-
brauch auf Fälle besonderen „Inhalts" festgelegt ist. Solche Bestim-
mungszeichen sind in der Sprache die Prädikattermini (die Prädika-
toren;. ·
Aber damit ist das Eigentümliche der sprachlichen Vernunftinstitu-
tion noch nicht gefaßt. Denn es können auch andere Zeichen diese Funk-
tion als allgemeine Bestimmungsmittel üben, ohne daß sie dadurch schon
zu einer Sprache im prägnanten Sinne gehören müßten. Man kann z. B.
verschiedene Stücke einer Ware mit unterschiedlichen Qualitätszeichen
versehen, es gibt in der Zoologie die international gebräuchlichen Zeichen
zur Angabe des männlichen und weiblichen Geschlechts ( d', S?) usw.
Dennoch werden wir diese Zeichen nicht in einem prägnanten Sinn als
sprachlich bezeichnen wollen.
Man könnte den Unterschied solcher Zeichensysteme zur Sprache
darin sehen, daß sie zu beschränkt sind, um als Sprache betrachtet zu
werden. Die Sprache wäre ein universales Zeichensystein, brauchbar für
„die ganze Welt", während jene Zeichen ihre Anwendung mir in ganz
besonderen Interessenbereichen fänden. Aber gibt es nicht z. B. wissen-
schaftliche Sprachen, oder könnte es nicht wenigstens solche geben, die
ein ihnen ganz eigenes terminologisches System besitzen, welch~s jeweils
nur in ihrem Forschungsgebiet bzw. von ihrem spezifischen Gesichtspunkt
aus gebraucht wird, und die dennoch mit Recht als eigene Sprachen be-
trachtet werden?
Den Unterschied der Sprache zu anderen Bestimmungszeichen möchte
ich im folgenden ansetzen: In der sprachlichen Bestimmung, im Unter.:.
schied zur Bestimmung· mit anderen, nicht-sprachlichen Bestimmungs:.
zeichen, muß nicht nur der Bestimmungsgehalt, sondern auch die Be-
stimmungshandlung in den Zeichen instituiert sein. Daß 4ie Bestim-
mungshandlung . in den.· sp'rachlichen Zeichen zum Ausdruck gebracht
wird, hat für die Sprache ein Doppeltes zur Folge: 1. In ihren Zeichen
kanndie Bestimmung, die immer eine Art von „Erfüllung" beansprucht
.(z.B. eine assertorische Aussage beansprucht Wahrheit), modalisiert
(negiert, in Frage gestellt, in verschiedener Weise abgeschwächt, z.B. in
einer assertorischen Au~sage als wahrscheinlich erklärt usw.) werden.
Sprache 173

Nur weil in einem sprachlichen Ausdruck auch die Bestimmungshandlung


angedeutet ist, kann die sprachliche Bestimmung modalisiert werden.
Bei Bestimmungen mit nicht-sprachlichen Mitteln wird die Bestimmung
aufgehoben, indem das Bestimmungszeichen zerstört (ausradiert, ausge-
kratzt, durchgestrichen) wird. Aber eine Negation der Bestimmung
kann nicht in diesen Zeichen instituiert werden; ein durchstrichenes
Zeichen ist keine Negation der Bestimmung, sondern entweder nichts
(etwas „Ungültiges") oder aber ein neues Zeichen. Ebensowenig kann
in den nicht-sprachlichen Zeichen selbst gefragt oder eine Bestimmung
erwogen werden. 2. In den Zeichen der Sprache selbst kann nach dem
Bestimmungsgehalt gefragt werden(,,Was ist das?", ,,Was soll ich tun?"),
während mit nicht-sprachlichen Zeichen nicht gefragt werden kann.
Die Sprache zeichnet sich also vor anderen Bestimmungszeichen da-
durch aus, daß nicht nur mit ihr bestimmt wird, sondern daß in ihr eine
Bestimmung auch gefragt, erwogen, in Frage gestellt, negiert werden
kann, und dies deshalb, weil sprachliche Zeichen nicht bloß den Bestim-
mungsinhalt, sondern den Akt der Bestimmung selbst zum Ausdruck
bringen. Auf diesem zentralen Punkt beruht es, daß ein selbst~ndig
funktionierendes sprachliches Zeichengebilde nicht ein bloßer Name, ein
Terminus, sondern ein Satz, eine Prädikation ist. Was einen Satz zum
Satz macht, ist gerade dies, daß mit ihm kein bloßes Zeichen für den
Bestimmungsinhalt vorliegt, sondern die Bestimmung selbst ausdrücklich
im Sinnlichen instituiert ist. Zum Satz gehört also ein Doppeltes: ein
Ausdruck für den Bestimmungsinhalt (Inhaltsausdruck oder Inhaltszei-
chen) und ein Ausdruck für die Bestimmungshandlung (Handlungsaus-
druck oder Handlungszeichen). Der Inhaltsausdruck ist ein Prädikator,
während der Handlungsausdruck im verbalen Modus des Satzes, aber
auch in der syntaktischen Struktur oder in der Betonung liegen kann..
Diese notwendige Doppelheit von Bestimmungsgehalt und Bestim-
mungshandlung, die in jedem vollständigen sprachlichen Zeichen ver-
gegenwärtigt ist, bedingt einen doppelten Gesichtspunkt, unter dem die
Sprache betrachtet werden kann: einerseits kann es um das Dispositiv
der festgesetzten Sprachzeichen gehen, in dem jene beiden verschiedenen
Sprachmomente zwar als kombinierbare vorliegen, aber nicht als Mo-
mente einer aktuellen ursprünglichen Einheit auftreten; in diesem Sinne
spricht man von •der deutschen, französischen usw. Sprache als erlern-
baren Idiomen. Die Sprache in diesem Sinn sagt aber noch nichts. •Sie
übt ihre Funktion erst in den Sätzen: als Rede, worunter nicht nur die
gesprochene, sondern auch die geschriebene oder still gedachte Rede ver;;.
174 Die Vernunft (die Kultur)

standen werden soll. Die primären Einheiten der Sprache im ersten Sinn
sind, grob gesprochen, die Wörter, während die primären Einheiten der
Sprache in ihrer Funktion, in der Rede, die Sätze sind. Für die Philo-
sophie, in der es um die Vernunfthandlungen geht, ist der Gesichtspunkt
der Rede der entscheidende.

b) Die Subjektausdrücke

In unserem Versuch, den elementarsten und grundlegendsten Unter-


schied zwischen den spezifisch sprachlichen Zeichen und den eigentlichen
Zeichen im allgemeinen zu fassen, sind wir, grammatikalisch gesprochen,
ganz vom Prädikat ausgegangen, das wir aber nicht als bloßen Terminus
oder Prädikator, sondern als Einheit von Inhalts- und Handlungsaus-
druck betrachteten. Wie steht es nun aber mit dem Satzsubjekt? Nach
allgemeiner, schon durch Platon etablierter Auffassung besteht der pri-
mitivste Satz aus Subjekt und Prädikat. Muß daher nicht unsere Charak-
terisierung des elementarsten und grundlegendsten sprachlichen Zeichens,
das selbständig als „kleinste Rede" aufzutreten vermag, das Subjekt
mitberücksichtigen?
Selbstverständlich ist jede Bestimmung, und damit auch jeder elemen-
tare Satz Bestimmung von etwas. Jeder elementare Satz hat notwendig
ein Subjekt, das in ihm bestimmt wird. Aber dennoch braucht die
Charakterisierung des selbständig fungierenden sprachlichen Zeichens
(der kleinsten R~de) nicht besonders auf das Subjekt der Rede einzu-
gehen, da diese Rede sich zwar auf ein Subjekt beziehen, aber dieses
nicht notwendig sprachlich ausdrücken muß. Alle elementaren Sätze
haben ein Subjekt, aber nicht in allen solchen Sätzen ist das Subjekt
sprachlich, d. h. in den Zeichen der Sprache selbst, etabliert. In diesem
zweiten Sinn ist also die primitivste Rede subjektlos, obschon sie bereits
vollständige Rede sein kann. Beispiele für Sätze, die wohl ein Subjekt
der Bestimmung haben, in denen dieses Subjekt aber nicht sprachlich
ausgedrückt, ja überhaupt in keiner Weise bezeichnet ist, sind: ,,Ein
Löwe", ,,Nein, es ist kein Löwe, sondern ein Tiger", ,,Es schneit", ,,Ist
es kalt?", ,,Mehr Licht!", ,,Vorwärts marschieren!". Es sind dies Sätze,
deren Subjekte schon vorsprachlich gegeben sind und nicht erst durch
sprachliche Zeichen (durch eine „Nominalphrase") festgestellt werden
müssen. Vor allem sind es Sätze, die sich global auf die jeweilige Situa"."
tion beziehen oder das 4arin jeweils Dominierende betreffen.
Sprache 175

Aber kann man solche subjektlosen Sätze nicht einfach als Grenzfälle
der vollen Subjekt-Prädikat-Sätze betrachten, als elliptische oder dege-
nerierte Sätze, in denen der Subjektausdruck ausgefallen ist? Für ein-
zelne solcher Sätze mag dies zutreffen, aber nicht, wenn man die Satz-
struktur in ihrem prinzipiellen Aufbau nadi Unbedingtem und Bedin-
gendem, nadi Vorausgesetztem und Voraussetzendem betrachtet. Denn
ein bloßer Prädikatsatz (als Einheit von Inhalts- und Handlungszei-
chen) setzt nicht notwendig einen sprachlidien Subjektausdruck voraus,
während ein sprachlicher Subjektausdruck in sidi selbst bereits einen ein-
fachen Prädikatsatz voraussetzt. Solche Sätze sind also nidit das Degene-
rierte, sondern das generativ Primäre. Sie sind die Protosätze. Z.B. der
Subjektausdruck „dieser Hut ... " setzt die Prädikation voraus: ,,dies
ist ein Hut" oder einfach „ein Hut" oder „Hut". Wenn also allgemein
gelten sollte, daß eine sprachliche Subjektbezeidinung in sich bereits eine
„alte" Prädikation beschließt, tun wir gut daran, das die sprachlichen
Zeidien von allen andern eigentlichen Zeichen primär Unterscheidende
im Prädikat (verstanden als Satz) zu suchen. Es wäre dann eine weitere
Aufgabe, zu erkunden, ob die sprachlichen Subjektausdrücke über die in
ihnen abgelagerten Prädikatmomente hinaus eine Zeidienfunktion üben,
die ihnen durchaus eigentümlich ist, so daß an ihnen ein weiteres Charak-
teristikum der sprachlichen Zeidien gefaßt werden könnte.
Es geht aber aus dem Bisherigen noch nicht hervor, daß alle spradi-
lidien Subjektausdrücke prädikative Ablagerungen enthalten müssen, so
daß evtl. gewisse spradiliche Subjektausdrücke eine ebenso primitive ·
Leistung sprachlicher Zeichen darstellen könnten, wie dies bei den bloßen
Prädikatsätzen der Fall ist. Bei gewissen singulären Termini, nämlidi
bei Eigennamen und gewissen Pronomina, sdieint es sich um sprachlidie
Subjektausdrücke zu handeln, die in sidi keine prädikativen Momente
enthalten.
In „dieser" steckt zwar „dieser Mann" oder „dieser Gegenstand", in
,,jenes" kann „jenes Ding" stecken, wobei „Mann", ,,Gegenstand",
,,Ding" etc. auf eine Prädikation zuriickgehen. Aber in diesen Demon-
strativpronomina liegt audi ein deiktisches, zeigendes Moment, das nidit
aus einer Prädikation stammt und das auch für sich selbst als Subjekt-
ausdruck aufkommen kann, etwa in den Sätzen: ,,dies ist Silber, jenes
ist Gold", in denen „dies" und „jenes" rein deiktisdi und nicht als
„dieses Metall" oder „jenes Ding" verstanden zu werden braucht. Als
bloß deiktische Ausdrücke verstanden, sind diese Demonstrativa aber
nidits anderes als Zeigegesten oder vokale Unterstreidiungen und Surro-
176 Die Vernunft (die Kultur)

gate von Zeigegesten. Eine Zeigegeste ist nun aber kein spezifisch sprach-
licher Ausdruck, da. ·das Zeigen und die in ihm liegende Objektivierung
(Identifikation) von Raumstellen und von sinnlich abgehobenen Ein-'
heiten oder Konfigurationen auch unabhängig von der Sprache oder
vom Reden im prägnanten Sinne vollzogen werden kann. Man kann
jemandes Aufmerksamkeit durch Zeigen auf eine Erscheinung lenken,
ohne über diese Erscheinung etwas auszusagen7. Andererseits ist durch die
Zeigegeste bzw. durch das bloß deiktische „dies" oder „jenes" auch noch
nichts von der gezeigten Erscheinung gesagt, nicht einmal etwas über
seine allgemeinste ontologische Form, ob es sich etwa um ein Geschehnis,
ein verharrendes Ding oder eine Person handelt, wie dies bei den kom-
plexeren Demonstrativpronomen „dieser" oder „jene" schon angedeutet
sein kann. Diese komplexeren Demonstrativpronomen enthalten eben,
prädikative Momente, so daß sie selbst schon implizit etwas auszusagen
vermögen. Also die Betrachtung der Demonstrativpronomen bestätigt
uns darin, den primären Unterschied der sprachlichen gegenüber anderen
Zeichen im Prädikat (im vollen Sinne) anzusetzen, da der demonstrative
Subjektausdruck entweder bereits ein prädikatives Moment unterstellt
oder aber gar kein spezifisch sprachlicher Ausdruck ist8•
Bei den Eigennamen ist die Sachlage wohl viel komplexer. Einer-
seits kann man sagen, daß ein Eigenname eine Person oder ein Einzelnes·
nennt oder bezeichnet, ohne dabei schon irgendeine prädikative Bestim-
mung zu unterstellen, also ohne implizit irgend etwas über den genann-
ten. Gegenstand auszusagen. Aber dennoch vermag auch dieser Fall nicht
in'uberzeugender Weise einen Subjektausdruck zu liefern, der noch keine
prädikativen Momente. enthielte und dennoch spezifisch sprachlich wäre.
Denn Namen oder Bezeichnungen, die für ein Einzelnes stehen, kommen
auch außerhalb der Sprache vor, wie etwa Nummern für Banknoten, die
primär nicht für Reden, sondern in :finanziellen Transaktionen verwen-
det werden, oder Spielkartenbezeichnungen, mit denen im Spiel „ange-

7 Vgl. oben,§ 33.


8 ·Eher scheinen gewisse Personalpronomina. gegen den unternommenen Versuch zu
spreclien, nämlich die Subjektausdrücke „ich" und „du". Die Reduktion auf das
' Deiktische ist hier wohl möglich, aber doch nicht befriedigend. Obschon von diesen
Ausdrücken nicht im · bisherigen Sinn gesagt werden kann, daß sie prädikative
· Momente e_nthalten, so beruhen sie doch als Bezeichnung des. Redenden bzw. Ange-
redeten bereits auf Reden. Nur auf dem Untergrund von Prädikationen vermögen
· diese Subjektausdrücke etwas zu bezeichnen. Es sind also auch höherstufige Aus-
.. drücke.
Sprache 177

geben" wird, ohne daß sie dabei als Subjektausdrücke für Prädikationen
fungieren.
Aber es gibt ein tieferes Verständnis der Eigennamen, das diese als
etwas spezifisch Sprachliches erweist, jedoch gerade dadurch, daß es sie
auf Prädikationen gründen läßt. Zwar nicht so, daß der Gebrauch von
Eigennamen prinzipiell an die Fähigkeit und Bereitschaft geknüpft wird,
Beschreibungen des Genannten vorzulegen 9, denn das gilt prinzipiell nur
für Namen, die nicht in Wahrnehmungssituationen gelernt werden10,
sondern dadurch, daß auf eine urtümliche Sprache zurückgegangen wird,
in der es noch .keinen Unterschied zwischen allgemeinen Namen .und
Eigennamen gibt, deren Prädikate aber als Fundamente für beide ange-
sehen werden können. In der primitiven Sprache der Kinder scheinen
Eigennamen und allgemeine Namen durchaus dieselbe Funktion zu er-
füllen und insofern noch ununterschieden zu sein11 : ,,Mama", ,,Papa",
„Onkel Fritz" usw. dienen zur Charakterisierung verschiedener, je
typisch einheitlicher Wahrnehmungsgegebenheiten und -situationen ge-
nauso wie „Löwe" oder „Ball" und nicht zur Bezeichnung eines Indivi..:
duums als eines solchen12 • Es handelt sich dabei um Prädikatoren, mit
denen in primitiven Prädikatsätzen jeweils unmittelbare Wahrneh-
mungssituationen oder -gegebenheiten in Hinsicht auf ihren allgemeinen
Charakter bestimmt werden. Diese archaischen Prädikatoren werden
nun aber funktional transformiert und diversifiziert, wenn nicht mehr
bloß unmittelbare Wahrnehmungssituationen oder rein perzeptiv abge-
hobene Gegebenheiten, sondern durch verschiedene solche Gegebenheiten
identisch hindurchgehende und als das wiedererkannte individuelle Ein-
heiten zu Subjekten der sprachlichen Bestimmung gemacht werden. Dann
kann sich. ein Teil der alten Prädikatoren genau mit diesen mittelbaren
Verstandeseinheiten als den neuen Subjekten der sprachlichen Bestim-
mung decken, rind sie können nicht mehr wie in der Ursprache dazu
verwandt werden, als allgemeine Prädikatoren diese neuen Einheiten
zu bestimmen, wohl aber dazu, als Eigennamen diese im Hinblick auf

9 Dies ist die Interpretation des Sinnes von Eigennamen, wie sie von J. R. Searle
(»Proper Names", Mind 67 (1958), S. 166-173) und von P. F. Strawson (lndivi-
duals (1959) S. 181,192 f.) vertreten wird.
10 Bezeichnenderweise halten sich Searle und Strawson an die Beispiele »Aristoteles"
bzw. ,,Sokrates".
11 Auf dieses archaische Sprachniveau der Kinder beziehen sich auch Quine in Word
and Object (1960) § 19 ff. und Strawson in Individ1'als (1959), Part II, Ch. 6.
12 Z.B. ,.Waldi" (für einen Erwachsenen ein Eigenname) und „Hund" können in
dieser Sprache dieselbe Bedeutung haben.
178 Die Vernunft (die Kultur)

anderweitige Bestimmungen zu nennen oder zu bezeichnen. Andererseits


werden auf dieser neuen Subjektgrundlage solche Prädikatoren, die an
keinem einzelnen Individuum aufgehen, sondern sich auf sie aufteilen
(Quines devided reference), allgemeine Prädikatoren von Individuen
und können dann ihrerseits, unter der Voraussetzung, daß sie durch eine
individualisierende Angabe (durch ein Demonstrativum, durch eine Orts-
und evtl. Zeitangabe) auf ein Individuum beschränkt werden, ein sol-
ches bezeichnen (z.B. ,,dieser Ball", ,,der Ball hier") 13• In dieser Sicht
entstehen also Eigennamen aus Prädikaten,· und zwar in der Umwand-
lung einer bloßen Situationssprache (Sprache über unmittelbare Gege-
benheiten) zu einer Welt- oder Substanzensprache (Sprache über Indi-
viduen, die durch verschiedene Gegebenheiten hindurch identisch sein
können und eine objektiv verharrende „Welt" ausmachen).
Wenn nun Eigennamen aufgrund ihres Ursprunges aus der die ein-
zelne Wahrnehmungssituation überschreitenden urtümlichen Prädikation
auch besonders geeignet sein mögen, Individuen als solche, nämlich in
ihrem die Wahrnehmungssituation überschreitenden Charakter zu be-
zeichnen und in der Mitteilung zu identifizieren, so wäre es doch, soviel
ich sehe, eine Überbeanspruchung der Sprache, wenn man meinen würde,
daß sich überhaupt erst durch Eigennamen oder andere singuläre Termini
die Vorstellung von Individuen bilden würde. Das scheint sowohl die
Auffassung Strawsons, der die Kriterien der Individuation in die Spra-
che verlegt14, als auch diejenige Quines zu sein15 • Daß das Kind indi-,
vidualisierende Ausdrücke gebraucht, mag der Grund dafür sein, daß
wir als seine empirischen Beobachter behaupten dürfen, daß es Indivi-
duen erfaßt. Aber was Grund jener äußeren Behauptung ist, ist nicht
notwendig auch prinzipieller Grund dieser Erfassung selbst. In der
Reflexion auf die im Bewußtsein selbst bestehenden Verhältnisse dürfte
sich vielmehr erweisen, daß zur Vorstellung von durch die Zeit und ver-
schiedene Wahrnehmungssituationen hindurch dauernden Individuen die
Vergegenwärtigung ihrer Wahrnehmbarkeit auch während ihrer Abwe-

13 Nicht alle archaischen Prädikatoren müssen diese Differenzierung in Eigennamen


einerseits und allgemeine Namen von Individuen andererseits mitmachen, zumal
solche nicht, die sich auch nach der Konstitution von Individuen im allgemeinen
nicht auf Individuen als solche beziehen. Darauf macht Quine aufmerksam:
,, ... the catcgory of mass tcrms rcmains, a survival pcrhaps of the undifferentiated
occasion sentence, ill fitting the dichotomy into general and individual" (Word
and Object, S. 95; vgl. S. 92).
14 Vgl. lndividuals, Part II, eh. 7.
15 Word and Object, § 19.
Sprache 179

senheit gehört. Dadurch verharrt für mich ein Ding oder eine Person
kontinuierlich durch verschiedene Wahrnehmungssituationen hindurd1,
daß ich sie vergegenwärtigend als abwesende gewissermaßen begleite,
daß sie, nachdem sie aus der Wahrnehmung ausgetreten sind, bewußt-
seinsmäßig als abwesend und als das für mögliche Wahrnehmung vor-
handen bestehen bleiben (etwa im Bewußtsein des zu ihnen Zurück-
kehren- oder ihres Zurückkommenkönnens und des sie Wahrnehmen-
könnens, wenn ich bei ihnen wäre).

c) Verschiedene Qualitäten der spramlimen Bestimmung

Wir haben die Sprache durch die Bestimmungshandlung definiert, die


in ihr instituiert ist, und zwar nicht nur nam ihrem Gehalt, sondern als
Handlung selbst, wodurm auch die Möglimkeit der Modalisierung (Ne-
gation, In-Frage-Stellung etc.) dieser Bestimmungshandlung gegeben ist.
Wir haben schon angedeutet, daß die Bestimmung, die in den Sätzen
gesmieht, ganz versmiedener Art sein kann: Behauptung, Befehl,
Wunsch usw. Es ist das große Verdienst J. L. Austins und der sich von
seinen Gedanken inspirierenden Philosophen William P. Alston und
John R. Searle, unter dem Titel der illocutionary force auf diese Man-
nigfaltigkeit dessen, was in den Sprechakten geschieht, hingewiesen zu
haben 16 • Die illorntionary force oder der illocutionary act wird von
diesen Philosophen abgehoben einerseits vom locutionary act oder, in
Searle's Revision17 , vom propositional act, der aus reference und sense
besteht (und Austin's rhetic act entsprid1t), und andererseits vom per-
locutionary act, der den Sprechakt im Hinblick auf seine reelle Wirkung
auf den Hörer bezeidmet. Derselbe locutionary bzw. propositional act
kann in verschiedenen illocutionary acts auftreten; z.B. ,,ich werde fort-
gehen" kann als derselbe locutionary bzw. propositional act (mit dem-
selben Subjekt oder referent und demselben Sinn des Prädikates) als
Behauptung, Verspremen, Warnung, Drohung fungieren, womit ver-
sd1iedene illorntionary forces bezeichnet sind. Andererseits kann der-

1G Die wic.¾tigsten Werke: J. L. Austin, H ow to do things with words, Oxford 1962;


W. P. Alston, Philosophy of Language, Prentice-Hall 1964; John R. Searle,
Speech Acts, Cambridge 1969.
17 Vgl. Searle's Kritik an Austin in „Austin on locutionary and illocutionary acts",
Philosophical Review 1969, S. 405-424.
180 Die Vernunft (die Kultur)

selbe illocutionary act, im Hinblick auf seine Wirkung auf den Hörer,
im Zusammenhang verschiedener perlocutionary acts vorkommen; z. B.
indem ich etwas assertorisch aussage, kann ich den Zuhörer erschrecken,
ihn aufklären, ihn inspirieren, verblüffen usw. Das ganze Interesse der
genannten Philosophen geht auf den illocutionary act. Als Beispiele
solcher Akte werden gegeben: beschreiben, halten für, befehlen, bitten,
warnen, versprechen, vorhaben, sich verpflichten, danken, grüßen usw.
Es sind dies verschiedene Arten sprachlichen Tuns. Nach Austin hat die
Anzahl der englischen Verben, welche illocutionary acts bezeichnen, die
Größenordnung der dritten Potenz von 10.
Da es uns jetzt um verschiedene Arten sprachlicher Bestimmungen
geht, muß uns die sprachanalytische Theorie der illocutionary acts bzw.
der illocutionary /orce besonders interessieren, denn sie scheint genau
von dem zu handeln, worüber wir jetzt Klarheit wünschen. Allerdings
hat diese Theorie zwei große Mängel: Einmal ist es den Sprachanalyti-
kern nicht gelungen, eine befriedigende Systematik der illocutionary acts
zu geben. Weit wichtiger aber und die ganze Theorie radikal in Frage
stellend ist das paradoxe Verhältnis, daß der illocutionary act, der nach
Austin die Qualität und den eigentlichen Schwerpunkt des Sprechaktes
und nach Alston und Searle sogar den vollständigen Sprechakt ausmacht,
auch außerhalb der Sprache vorkommen soll. Austin erklärt: ,,wir kön-
nen z.B. durch nicht-sprachliche Mittel warnen oder befehlen oder er-
nennen oder geben oder protestieren oder uns entschuldigen, und dies
sind illocutionary acts ... Aber die Tatsache bleibt, daß viele illocu-
tionary acts nicht ohne etwas zu sagen vollzogen werden können "18•
Und Searle, der Austins Theorie der speech-acts auszubauen und in
gewissen Punkten zu verbessern versucht, kann schreiben: ,,Mein Hund
vermag gewisse einfache illocutionary acts zu vollziehen. Er kann Freude
ausdrücken und bitten, hinausgelassen zu werden. Aber sein Umfang
ist sehr begrenzt, und sogar für die Typen, die er zu vollziehen fähig ist,
empfindet man ihre Beschreibung als illocutionary acts zum Teil als
metaphorisch. "19 Auch Alston ist der Auffassung, daß illocutionary acts
außerhalb der Sprache vorkommen können, will ihre Ausübung aber
gegenüber den perlocutionary acts eher im Sinne Austins, bei dem dieser
Pu~kt allerdings nicht ganz klar ist20, und im Gegensatz zu Searle, an

18 How to do tbings witb words, p. 118/119.


19 Speech Acts, p. 39.
20 How to do tbings witb words, p. 118.
Sprache 181

den Gebrauch konventioneller Mittel (z.B. eine Flagge schwenken) ge-


bunden wissen 21 •
Es ist wahrlich befremdend, daß der illocutionary act, der die eigent-
liche Sprechhandlung sein soll, auch nicht Sprechhandlung sein soll. Die-
sem Paradox liegt meines Erachtens folgende Vermengung zugrunde:
Zwar heben Austin und seine Nachfolger völlig richtig den eigentlichen
Sprechakt von den verschiedenartigen Folgen ab, die ein Sprechakt beim
Hörer hervorrufen kann und die in den sog. perlocutionary verbs (wie
„überzeugen", ,,erschüttern", ,,begreiflich machen" etc.) mitbezeichnet
sind. Aber in das, was sie nach dieser Unterscheidung als illocutibnary
act festhalten, lassen sie verschiedenartige Dinge sich einmischen, die in
keiner Weise als Sprechakt oder Momente des Sprechaktes zu betrachten
sind. Als illocutionary act z. B. wird das Grüßen hingestellt. Grüßen
kann ohne Sprache (Hut lüften, Hand geben, nicken etc.), aber auch
sprachlich geschehen. Aber selbst wenn das Grüßen sprachlich geschieht,
ist es als solches kein Sprechakt, sondern benützt nur Sprechakte. Sprach-
liches Grüßen geschieht meistens durch Äußerung eines Wunsches: ,,(ich
wünsche ihnen einen) guten Tag!" ,,Friede (sei mit ihnen)" usw., oder
einer Behauptung: ,,(du bist) willkommen". Dieser Wunsch oder diese
Aussage sind der eigentliche Sprechakt und nicht der Gruß, mögen diese
Wünsche oder Aussagen durch Gewohnheit auch nicht mehr wirklich
vollzogen sein. Eine Handlung, die mit Hilfe eines Sprechaktes geschieht,
ist nicht selbst ein Sprechakt. Ein anderes Beispiel eines „illocutionary
act", das nicht selbst einen Sprechakt darstellt, sondern solche nur be-
nützt, ist etwa das Danken. Im Danken, wenn es sprachlich und nicht
durch bloße Gesten geschieht (etwa sich verbeugen, einen Blumenstrauß
zuschicken etc.), gibt man mit Hilfe von Aussagen, Versprechen, Wün-
schen usw. seine Gefühle und Haltung der Dankbarkeit und Anerken-
nung kund. Diese Kundgabe von Gefühlen ist als solche kein Sprechakt,
ebensowenig wie die Ausdrücke der Freude, des Beileids usw., die von
Austin oder Searle zu den illocutionary acts gezählt werden. Auch Pro-
testieren ist als solches kein Sprechakt: im Protest macht man evtl. ge-
wisse assertorische Aussagen, wie „50 0/o der Neuverheirateten findet
keine Wohnung", und Forderungyn, wie „die Regierung muß weg" usw.,
1 aber das Protestieren selbst als Kundgabe des Zorns, des Unwillens, der
Abneigung und evtl. der Solidarität und Macht einer Gesellschaftsschicht
1 ist kein Sprechakt. Der Großteil der von den genannten Sprachanalyti-

1 21 PhiJ9sophy of Language, p. 36.

1
182 Die Vernunft (die Kultur)

kern aufgereihten und evtl. systematisierten illocutionary verbs bezeich„


nen nicht die eigentlichen Sprechakte, sondern Kundgaben von Gefüh-
len, Absichten und Tätigkeiten verschiedener Art, die mit Hilfe oder im
Verein mit Sprechakten geschehen, und evtl. nur so geschehen können,
aber selbst keine Sprechakte sind. Um den eigentlichen Sprechakt zu
erfassen, genügt es nicht, nur den sog; perlocutionary act abzulösen. Ein
und derselbe Sprechakt kann in ganz verschiedener Absicht, als Kund-
gabe ganz verschiedener Gefühle und Strebungen, als Mittel innerhalb
ganz verschiedener Handlungen dienen: z. B. die assertorische Aussage
„ich habe heute morgen schlecht gearbeitet" kann als Klage, als bloße
Feststellung, als Vorwurf an meinen etwas lauten Zimmernachbarn, als
Warnung an ihn, als Ausdruck der Resignation oder des Zornes usw.
dienen, wobei als eigentlicher Sprechakt nicht in globo das Klagen, Vor-
werfen oder Warnen etc. anzusprechen ist (wie dies Austin und seine
Schüler tun), sondern bloß die Behauptung, daß ich schlecht gearbeitet
habe. Es sind ganz verschiedene Fragen, welche verschiedenen Arten
oder Qualitäten yon Sprechakten es gibt, und was man alles im Zusam-
menhang mit Sprechakten, auch abgesehen von den perlocutionary
effects, tun kann.
Aber was sind denn die eigentlichen Sprechakte, wie soll man sie von
der Kundgabe von Gefühlen, Stimmungen etc., die mit dem Sprechakt
geschieht, aber in ihm. nicht gesagt ist, oder von den Absichten, mit denen
Sprechakte vollzogen, oder von anderen Handlungen (etwa Grüßen),
innerhalb deren sie fungieren können, unterscheiden? Eine Antwort auf
diese Frage ergibt sich~ scheint mir, ohne weiteres aus unserer bisherigen
Charakterisierung dessen, was ein sprachliches Zeichen ist: In einem voll-
ständigen sprachlichen Zeichen (im Satz) ist eine Bestimmung von etwas
nach Bestimmungsgehalt und Bestimmungshandlung selbst instituiert. In
ihm als einem wiederholbaren Zeichen liegt demnach objektiv als seine
Bedeutung eine Bestimmung nach diesen beiden Momenten vor (eine
assertorische Aussage, ein Befehl, ein Wunsch, ein Versprechen usw.), die
als identische durch die Wiederholungen dieses Zeichens hindurch ideellen
Bestand hat. Diese als Institution hervorgebrachte Objektivität eineli
sprachlichen Bestimmung bedeutet eo ipso die Möglichkeit ihrer Modali-
sierung: eine sprachliche Bestimmung, welcher Art auch immer, kann
negiert, in Frage gestellt, erörtert werden. Und weiter, nach dem Gehalt
einer sprachlichen Bestimmung, welcher Art auch immer, kann in dieser
Bestimmungsart selbst gefragt werden. Und genau „daran" ist der
Sprechakt „zu erkennen~, oder genauer, darin besteht er, daß er sich als
Sprache 183

eine solche ihrem eigenen Wesen nach prinzipiell modalisierbare und


fragbare Bestimmungshandlung eines gewissen Gehalts als objektive,
ideelle Bedeutung instituiert und als solche in der Institution wiederhol-
bar und verstehbar ist. Weder das Grüßen, noch das Danken, noch die
Kundgabe (Ausdruck) des Beileides, noch das Geben (nach Austin auch
ein illocutionary act!) usw. konstituieren sich als eine solche objektive,
modalisierbare und ihrem Gehalte nach fragbare Bestimmungshandlung;
einen Gruß kann man nicht als solchen z.B. negieren oder fragen: ,, Was
grüßest du?" Aber das Befehlen z.B. konstituiert sich als eine im Sprach'."
zeichen instituierte objektive Bestimmungshandlung eines gewissen Ge-
halts, und dieser objektive Befehl kann negiert, in Frage gestellt, disku-
tiert usw. oder auch gefragt werden. Der Befehl z.B.: ,,Die Studenten
haben den Saal zu verlassen!" kann negiert (,,Die Studenten haben den
Saal nicht zu verlassen!") oder in Frage gestellt (,,Haben die Studenten
den Saal zu verlassen?"), oder es kann auch nach seinem Gehalt gefragt
(,,Was haben die Studenten zu tun?") werden. Wohlverstanden, die
Negation bedeutet die Negation· (Modalisierung) der im Sprachzeichen
instituierten objektiven Bestimmungshandlung und nicht die Negation
des Vorhandenseins des betreffenden einzelnen subjektiven Sprechaktes:
Die Negation des Befehls „Geh' hinaus!" ist „Du mußt nicht hinaus-
gehen!" und nicht „Ich habe nicht befohlen, daß du hinausgehen sollst"
oder „Ich habe nicht verstanden, daß ich hinausgehen soll". Oder die
In-Frage-stellung der Behauptung „Das ist rot" ist „Ist das rot?" und
nicht „Behaupte ich, daß das rot sei?". Oder die Negation des Ver-
sprechens „Ich werde dir helfen" ist nicht „Ich habe nicht versprochen,
Dir zu helfen", sondern „Ich werde es nicht tun" im Sinne der Auf-
hebung des objektiven Versprechens. Das Vorhandensein aller Akte
läßt sich negieren, aber nicht in allen Akten sind objektive Bestimmungen
als Bedeutungen instituiert, die sich negieren lassen.
Zur Unterscheidung der eigentlichen Sprechakte von Tätigkeiten, die
nur Sprechakte in sich schließen oder.sonstwie in Verbindung mit ihnen
auftreten, aber selbst als solche keine Sprechakte sind, läßt sich -noch
folgendes sagen: Ein Sprechakt einer bestimmten Art kann nicht in Form.-
objektiver Bedeutung (als objektive Bestimmungshandlung) -einen
Sprechakt einer anderen Art in sich schließen, verwenden oder sonstwie
zugleich mitvollziehen, wie etwa das Grüßen, Wünschen oder das Pro-
testieren assertorische Aussagen und Forderungen verwendet. Man kann
nicht in einem Wunsch behaupten oder in einer Behauptung befehlen
(man kann nur behaupten, daß jemand befiehlt, was etwas ganz anderes
184 Die Vernunft (die Kultur)

ist) usw. Es kann eben nicht eine Handlung zugleich zwei verschiedenen
Arten von Sprechakten angehören. Es handelt sich um verschiedene, sich
gegenseitig ausschließende Arten von Sprechakten, die als verschiedene
Arten nicht innerhalb ein und derselben Handlung realisiert sein können
(wie ein Tier nicht zugleich ein Pferd und eine Kuh sein kann). Daß ich
aber z. B. im Grüßen zugleich wünschen kann, diese Verträglichkeit zeigt,
daß es sich nicht um zwei verschiedene Arten von Sprechakten han-
deln kann.
Als verschiedene Arten von Sprechakten sind nur die verschiedenen
,, Qualitäten" objektiv ausgedrückter Bestimmungshandlungen (Bestim-
mung als assertorische Aussage, als Befehl, Wunsch usw.) anzusprechen,
sonst ergibt sich jene absurde Folgerung, daß ein Sprechakt zugleich auch
kein Sprechakt sein kann. Aber was differenziert denn die verschiedenen
Arten von Sprechakten, m. a. W., was macht ihre verschiedenen Quali-
täten aus? Daß eine sprachliche Bestimmung modalisiert werden kann,
impliziert, daß sie auf Erfüllung oder Entsprechung angewiesen ist, bzw.
daß eine Erfüllung ihr versagt sein · kann: eine assertorische Aussage
findet ihre Erfüllung in der Bewahrheitung durch Tatsachen oder an-
derer objektiver Sachlagen; ein Befehl in der Befolgung durch den im
Befehl Angesprochenen und Bestimmten, ein Wunsch durch das erhoffte
Eintreten des gewünschten Verhaltens. Nun sind aber die Bedingungen
dieser Erfüllungen ganz verschiedener Art: einem Befehl wird unter
ganz anderen Bedingungen entsprochen (bzw. nicht entsprochen) als einer
assertorischen Aussage: Im Befehl muß der im Befehl Angesprochene
und Bestimmte die Bedingungen der Erfüllung erst willentlich schaffen,
während in der assertorischen Aussage die Bedingungen der Erfüllung
als an sich bereits vorhanden, sei es als bereits realisiert oder als an sich
(durch den Lauf der Dinge, unabhängig vom Willen des Sprechenden
oder des Angesprochenen) garantiert, erklärt werden. Jede sprachliche
Bestimmung gibt in sich selbst die Art der Bedingungen ihrer Erfüllung
an, und diese in der Bestimmung selbst liegende Verschiedenheit der
Intention auf Erfüllung macht die Verschiedenheit der Qualität der
Sprechhandlungen aus.
Als Leitgedanke für eine Unterscheidung der verschiedenen Arten
oder Qualitäten von Sprechhandlungen kann vielleicht folgendes dienen:
Prinzipiell kann es vier verschiedene Grundarten von durd1 die Bestim-
mung intendierten und vorgezeichneten Erfüllungsbedingungen geben:
1. die Erfüllungsbedingungen werden als an sich, d. h. unabhängig vom
Willen des Redenden oder Angeredeten, bestehend oder garantiert hin-
Sprache 185

gestellt, 2. ihre Realisation wird als willentliche Leistung vom Ange„


redeten und in der Bestimmung Bestimmten verlangt, 3. für ihre Reali„
sierung als willentliche Leistung engagiert sich der Redende und in der
Bestimmung Bestimmte, 4. sie werden in der Bestimmung weder als an
sich bestehend erklärt, noch einem bestimmten Willen anheimgestellt,
aber nichtsdestoweniger intendiert (wie bei allen Sätzen). Die unter 1.
genannten Erfüllungsbedingungen entsprechen den assertorischen Aus-
sagen, die unter 2. genannten entsprechen Forderungen verschiedener
Tönung (Befehle, Bitten, an jemanden gerichtete Wünsche, Appelle), die
unter 3. genannten werden in den Versprechen (Gelöbnissen) intendiert
und die als 4. angeführten sind die Erfüllungsbedingungen der bloßen,
an niemand gerichteten Wünsche (z.B. ,,Es möge doch morgen schönes
Wetter werden!").
Wenn wir den Sprechakt im angegebenen Sinn als Institution einer
Bestimmungshandlung, die in dieser objektiven Institution modalisierbar
ist und nach deren Gehalt in dieser objektiven Institution gefragt werden
kann, charakterisieren, so ergibt sich uns (wiederum in Differenz zur
diskutierten Theorie der illocutionary acts) eine für die Systematik der
verschiedenen Arten von Sprechakten wichtige Einsicht: Die Modali-
sierungen: negieren, in-Frage-stellen, erwägen etc. und nach dem Be-
stimmungsgehalt fragen (,, Was ist das?", ,,Was wünsche ich?" etc.) sind
nicht selbst verschiedene Arten oder Qualitäten von Sprechhandlungen
neben behaupten, befehlen, wünschen etc., sondern sie betreffen alle die
verschiedenen Arten oder Qualitäten von Sprechakten, es sind ver-
sdliedene „Modalitäten" derselben bzw. die Frage in denselben. Es ist
also streng zu scheiden zwischen den verschiedenen Arten der Sprechakte
einerseits und andererseits ihren Modalisierungen und Fragen. Die Mo-
dalisierungen und Fragen treten innerhalb jeder der verschiedenen Arten
der Sprechakte auf und sind jeweils auf den positiven Modus der voll-
ständigen Bestimmung bezogen.

d) Die Vergegenwärtigung in den sprachlichen Zeichen (die Bedeutung)

Nachdem wir in allgemeinster Weise die elementarste Funktion


sprachlicher Zeichen zu bestimmen versucht haben, gilt es noch, einige
dabei dunkel gebliebene Aspekte zu verdeutlichen. Erstens einmal möchte
ich die besondere Art der Vergegenwärtigung, die im Gebrauch dieser
vorzüglichen Zeichen liegt, noch etwas erhellen. Dabei .halten wir uns
186 Die Vernunft (die Kultur)

immer im einfachsten Rahmen der Protosätze, die im sprachlichen Aus-


druck nur aus einem Prädikat, immer als ein Doppelzeichen für Bestim-
mungsinhalt und Bestimmungshandlung verstanden, bestehen, während
ihr Subjekt vorsprachlich gegeben sein soll.
Um zu verdeutlichen, was für eine Vergegenwärtigung im Vollzuge
eines Satzes liegt, möchte ich seine beiden Momente: Bestimmungsinhalt
und Bestimmungshandlung in abstrakter Weise getrennt erörtern. Wel-
cher Art ist die .Vergegenwärtigung im Prädikator (Inhaltsausdruck)?
Wenn ich etwa sage „Dies ist Gold", so brauche ich mich in der Ver-
wendung des Prädikators „Gold" nicht an solches Material zu erinnern,
das ich früher einmal vor mir hatte; es braucht mir dabei auch nicht in
der Phantasie eine andere Situation vorzuschweben, in der Gold vor-
kommt. An anschaulicher Vorstellung von Gold genügt das gegenwärtige
Gold, von dem ich sage „Das ist Gold". Dennoch geht der Sinn des
Wortes „Gold" nicht in der unmittelbaren Gegenwart auf, sonst hätte
es keine Bedeutung, es wäre kein Wort, sondern ein bloßer sinnlicher
Laut. Dieses Wort ist nur ein Wort, wenn ich mir in seinem aktuellen
Gebrauch bewußt bin, daß es auch in anderen, jetzt nicht gegenwärtigen
Situationen Anwendung finden kann und evtl. schon Anwendung gefun-
den hat, und zwar in Situationen eines ganz bestimmten Typus, einer
ganz bestimmten Art. Keine solche andere Situation, in der das Wort
richtig gebraucht wird, braucht dabei anschaulich vorstellig zu sein, aber
es muß prinzipiell die Möglichkeit bestehen, sich solche andere Situa-
tionen, sei es in der Erinnerung, Phantasie oder in irgendeiner anderen
anschaulichen Vergegenwärtigung, zu denken. Jedoch schöpft keine die-
ser anschaulich vorgestellten Situationen je die Anwendungsmöglichkeit
des Wortes aus. Im Bewußtsein dieser auf Situationen einer gewissen Art
festgelegten (geregelten) unendlichen (allgemeinen) Anwendungsmöglich-
keit besteht die Vergegenwärtigung des aktuellen Wortgebrauchs.
Dieses Bewußtsein einer allgemeinen Anwendungsmöglichkeit des
Wortes beruht auf der schon vor der Sprache, im bloßen Verstande voll-
ziehbaren Identifizierung einer allgemeinen Art, eines allgemeinen Ty-
pus, auf den dann in der Sprache das Wort festgelegt ist22 • Dazu reicht
das sinnliche Bewußtsein nicht aus. Dieses nimmt zwar gleichartig oder
typisch wahr, aber es nimmt etwas nicht als Gleichartiges oder als
Typisches, nicht als Einzelfall eines Allgemeinen wahr28 • Das Bewußt--

22 Vgl. oben, § 26 über das vorsprachliche Wiedererkennen,


· 23 Vgl. oben, § 32.
Spradie 187

sein der allgemeinen Art oder des allgemeinen Typus, auf dem das
Bewußtsein der allgemeinen Anwendungsmöglichkeit des Wortes beruht,
ist ein mittelbares Bewußtsein, in dem das Allgemeine als Identisches
verschiedener Wahrnehmungsgegebenheiten erfaßt ist.
Das Wort (der Prädikator) ist selbst kein einzelner, momentaner
Laut oder eine sonstige momentane Geste, sondern ein lautliches oder
sonstiges gestuelles Schema, das als dasselbe in verschiedenen einzelnen
Verlautbarungen oder andersartigen Gesten wiederholbar ist; Nur so
kann es als dasselbe in verschiedenen Fällen angewandt werden. Aber
das Verhältnis dieses Aktionsschemas zu seinen verschiedenen Ausfüh-
rungen ist bewußtseinsmäßig nicht dasselbe wie das Verhältnis des all-
gemeinen Typus zu seinen einzelnen Fällen. Das Wort ist vielmehr ein
ideales Individuum, das in verschiedenen Ausführungen als dasselbe
wiederholt wird, und ist nicht als das Gemeinsame (Allgemeine) ver-
schiedener zu subsumierender Fälle bewußt (analog wie etwa die erste
Symphonie Bruckners in verschiedenen Aufführungen als dieselbe wie-
derholt wird und nicht als das Gemeinsame verschiedener Aufführungen
gesetzt ist).
Der Prädikator als ideales gestuelles Schema dient zur Bestimmung
von etwas hinsichtlich seines allgemeinen Typus, auf den seine Anwen-
dungsmöglichkeit festgelegt ist. Im Bewußtsein seiner allgemeinen An-
wendungsmöglichkeit vergegenwärtigt er also den allgemeinen Typus
des bestimmten Gegenstandes. Aber dieses Wort ist kein bloßes Mittel
zur Erreichung oder Vertretung der Erkenntnis des allgemeinen Typus,
das das Vernunftsubjekt ohne Verlust von sich schieben könnte, wenn es
den allgemeinen Typus selbst erfaßt; es ist kein bloßes Vehikel und kein
bloßer Ersatz. Die primäre Leistung dieser Worte besteht nicht darin,
zur Erkenntnis des Allgemeinen hinzuführen, die ja prinzipiell auch
ohne diese Worte inöglich ist, sondern sie besteht, noch ganz abgesehen
von einer kommunikativen Funktion, darin, die bloß verstandesmäßige
Erfassung des Allgemeinen dem sinnlich-geistigen, dem Vernunftsubjekt
einzuverleiben; sie besteht darin, jene bloß theoretische Erfassung in die
sinnlich-geistige Gestik, in das praktische Verfügen, in das sinnlich;.
geistige Beherrschen der Wirklichkeit überzuführen. Jene Worte als
Aktionsschemata dienen primär der Verwirklichung des· Verstandes in
der Sinnlichkeit, d. h. der Verwirklichung der Vernunft, in der der
Verstand sinnliche Macht (Wirksamkeit) gewinnt. In ihrer sprachlichen
Gestik verfügt die Verimnft habituell über das Allgemeine, sie hat es in
der Hand (in der „Praxis"), während es vom bloßen Verstand nur
188 Die Vernunft (die Kultur)

flüchtig in einzelnen Akten erspäht wird. Die den Worten primäre Be-
wegung ist also nicht die Hinführung zum Allgemeinen, sondern die
Inkarnation des Allgemeinen in der Einheit der sinnlichen Vernunft.
Diese Inkarnation besteht dann im praktischen Bewußtsein der fest-
gelegten allgemeinen Anwendungsmöglichkeit des Wortes, die seine
Bedeutung ausmacht, und in diesem praktischen Vernunftbewußtsein
besteht die Vergegenwärtigung dieses Wortes.
Wie steht es hinsichtlich der Vergegenwärtigungsfunktion mit dem
anderen Moment innerhalb des elementarsten selbständig fungierenden
Sprachzeichens: mit dem Zeichenmoment, in dem die Bestimmungshand-
lung instituiert ist? Dieser Faktor innerhalb des Satzes kann verschiedene
Gestalten haben: er kann nur als Betonung auftreten, im Modus des
Verbes liegen oder syntaktisch ausgedrückt sein. Wie gesagt, dieses Mo-
ment am Satz bedeutet die Bestimmungshandlung. Aber es bedeutet
diese Handlung nicht als einen subjektiven momentanen Akt, den ich
im Sagen oder Vernehmen des Satzes vollzogen habe; es ist kein Erinne-
rungsmal an einen einmal vollzogenen subjektiven Akt. Sondern, was
in diesem Zeichen instituiert ist und seine Bedeutung ausmacht, ist eine
identische und in diesem Sinn objektive und bleibende Bestimmungs-
handlung, die in einzelnen subjektiven Bestimmungsakten als dieselbe
vollziehbar und auch modalisierbar ist. Also die in einem besonderen
Moment des Satzes vergegenwärtigte Bestimmungshandlung ist nicht ein
einzelnes momentanes Aussagen, sondern die in unbegrenzt vielen sol-
chen subjektiven Einzelaussagen identisch bleibende Aussage, nicht ein
einzelnes momentanes Befehlen, sondern ein Befehl, nicht ein einzelnes
momentanes Wünschen, sondern ein Wunsch usw. Diese objektive Be-
stimmung ist nicht ein zeitlich Momentanes und zeitlich Ablaufendes wie
ein einzelner subjektiver Akt, sondern ein in verschiedenen Zeitmomen-
ten identisch vollziehbares Ideales. Aber obschon die im Satz instituierte
objektive Bestimmung sich von den momentanen Einzelakten, in denen
sie vollzogen und wiederholbar ist, unterscheidet, ist sie doch nicht von
ihnen lösbar wie ein äußeres Werk, sondern sie besteht überhaupt nur
als identisches dieser wirklichen und möglichen Mannigfaltigkeit von
subjektiven momentanen Akten. Umgekehrt aber bestehen diese subjek-
tiven Bestimmungsakte aud1 nur, indem sie sich im Zeichen als objektive
Handlung instituieren.
Der Handlungsausdruck des Satzes vermag eine objektive Handlung
zu vergegenwärtigen, weil er selbst als Zeichen in seiner sinnlich wahr-
nehmbaren Seite nichts Momentanes, sondern ein ideales, identisch wie-
Sprache 189

derholbares Bewegungsschema, z.B. ein in einzelnen Verlautbarungen


identisch wiederholbares Lautschema, ist. Dieses Schema ist eine typische
sinnliche Tätigkeitsfigur, eine "geprägte Gestalt eines Handlungsablau-
fes"24. Aber dieses sinnliche Schema ist nicht etwa selbst die im Satz
instituierte objektive Bestimmungshandlung. Denn ein Lautschema (die
Lautgestalt) kann ja als identisches in manchen einzelnen Verlautbarun-
gen ohne Verständnis der Bedeutung vollzogen werden. Die objektive
Bestimmungshandlung geht also nicht im gestuellen Schema auf, sie ist
nichts an ihm unmittelbar Gegenwärtiges. Aber sie besteht überhaupt
nur in einem solchen Schema als in ihrem notwendigen sinnlichen Me-
dium, wie auch der einzelne subjektive Bestimmungsakt als eine objek-
tive sprachliche Bestimmung verwirklichender Vernunftakt nur im sinn-
lichen Medium der Geste ist. Der sprachliche Bestimmungsakt ist nur,
indem er sich in einem vergegenwärtigenden sinnlichen Schema als objek-
tive Handlung instituiert. Der Handlungsausdruck vergegenwärtigt also
die objektive Vernunfthandlung, die selbst eine vergegenwärtigende,
nämlich auf Allgemeinheit bezogene Handlung ist, als notwendiges,
wenn auch im einzelnen faktisch auf sie festgelegtes Medium ihres
Vollzugs.
Es ist vielleicht noch z~ betonen, daß die objektive Bestimmungs-
handlung, die im Handlungsausdruck des Satzes vergegenwärtigt ist und
seine Bedeutung ausmacht, nicht in dem Sinn objektiv ist, daß sie als
Gegenstand, worüber gesprochen wird, vergegenwärtigt würde, sondern
sie ist vergegenwärtigt als identischer Handlungsvollzug. Im Vollzug
kann die Handlung nicht gegenständlich sein. Aber selbstverständlich
kann man eine Aussage, einen Befehl etc. in neuen Sprachhandlungen
zum Gegenstand machen (man kann über einen Befehl Aussagen
machen etc.).

e) Bemerkungen zur Mitteilungsfunktion der Sprache


und zum Problem der „privaten Sprache"

In unserer Diskussion der sprachlichen Zeichen sind bisher Gesichts-


punkte nicht zur Geltung gekommen, die im allgemeinen als die für die
Charakterisierung der Sprache entscheidenden angenommen werden: 1.
die Sprache als Mittel der Kommunikation, 2. die Sprache als intersub-

24 Kamlah und Lorenzen, Logische Propäde1,tik, S. 99.


190 Die Vernunft (die Kultur)

jektive, soziale Institution. Diese beiden Gesichtspunkte kann man ge-


trennt erörtern, da zwar nicht der erste vom zweiten, wohl aber der
zweite vom ersten im Prinzip unabhängig ist: Man kann die Sprache als
eine notwendig soziale Institution betrachten und ihr dennoch eine
Funktion auch außerhalb der Mitteilung zusprechen. Wir möchten hier
diese beiden Gesichtspunkte diskutieren und dabei unsere These verdeut-
lichen, daß das die Sprache gegenüber allen andern Zeichen •primär
Charakterisierende unabhängig von der kommunikativen Funktion und
dem sozialen Charakter der Institution bestimmt werden kann.
Die Sprache wird oft als Kommunikationsmittel definiert. Dies ist
im allgemeinen der Gesichtspunkt der Linguisten25 und überhaupt der
empirischen Sprachforscher. Für die empirischen Sprachforscher ist dieser
Gesichtspunkt weder zufällig noch unberechtigt. Denn der Gegenstand
ihres Interesses sind ja die faktischen, historischen Sprachen, die alle
Kommunikationsmittel sind. Und diese Funktion ist im menschlichen
Leben die auffallendste: sie ist die öffentliche Funktion, und äie Schwie-
rigkeiten und Probleme in dieser Funktion sind die in der gesellschaft„
liehen Praxis empfindlichsten.
Aber es ist nicht gesagt, daß dieser Gesichtspunkt auch für die Philo-
sophie, der es um das Wesen der Sprache, und das heißt, 'um das Wesen
des Sprechaktes als einer Vernunfttätigkeit geht, der primäre sein muß.
Einmal ist zu bemerken (was die Linguisten ohne weiteres anerkennen),
daß auch nicht-sprachliche Zeichen (z.B .. winken, die Faust ballen etc.)
kommunikative Funktion üben können, daß also nicht die kommunika-
tive Funktion allein die Sprache ·zu definieren vermag. Die ·Sprache
müßte schon als ein besonderes Mittel der Kommunikation gekenn-
zeichnet werden. Wenn man sich nun aber um diese Besonderheit
bemüht, und zwar in philosophischer Weise um die Besonderheit eines
Vernunftaktes, erkennt man, daß ·diese Besonderheit dem Wesen nach
nicht an die kommunikative Funktion gebunden ist: Zwar haben gewisse
Arten von Sätzen (als vollständige sprachliche Zeichen), gewisse Quali-
täten sprachlicher Bestimmungen, überhaupt nur Sinn innerhalb der
Kommunikation, z.B. Befehle. Aber das gilt bei weitem nicht von allen
sprachlichen Bestimmungen, so nicht von der assertorischen Bestimmung.
Das Subjekt braucht sprachliche Zeichen nicht bloß, um Mitteilungen zu

H F. de Saussure, Cours de linguistique generale, Introduction, eh. III; A. Martinet,


Elements de linguistique generale, 1-4, 1-14; J. J. Katz The Philosophy of
Language, eh. 4. - Die Liste kann beliebig verlängert werden.
Sprache 191

geben oder zu empfangen, sondern benötigt sie zur selbständigen Ver-


wirklichung seiner selbst als Vernunft: zur Institution des Nichtgegen-
wärtigen in die sinnliche Gegenwart. Das Vernunftsubjekt instituiert
Bestimmungen der Wirklichkeit für sich selbst, es überlegt, erwägt,
negiert sie für sich selbst: es spricht für sich selbst. Dieses „lautlose
Gespräch der Seele zu sich selbst", wie Platon das Denken charakteri-
sierte26, ist nicht einfach als Derivat oder als Vorbereitung der inter-
subjektiven Kommunikation zu klassieren, sondern hat einen selbständi-
gen Sinn. Das auf sinnlichem Boden tätige Verstandessubjekt erstrebt
schon als einzelnes die Beherrschung seiner Welt in festen objektiven
Bestimmungen und muß zu diesem Zweck als Vernunft zu sich selbst
reden und sich selbst entgegenreden; ohne diese Möglichkeit gäbe es
letztlich auch keine Kommunikation. Die Frage, ob wir, wenn wir für
uns denken, nicht immer auch an Andere denken, ist hier ohne Belang,
denn es geht uns hier nicht um faktische Komplexe, sondern um prin-
zipielle Möglichkeiten und Notwendigkeiten.
Man kann nun sehr wohl die Bedeutung dieses Selbstgesprächs aner-
kennen, aber die Auffassung vertreten, daß dieses prinzipiell nur mit
gemeinsamen Mitteln, mit einer intersubjektiv instituierten Sprache mög-
lich sei. Dies scheint die Position Ludwig Wittgensteins zu sein. Jeden-
falls zielen seine Argumente nicht gegen die Möglichkeit eines „Selbst-
gesprächs" im obigen Sinne, sondern versuchen darzutun, daß der ein-
zelne nicht für die Konstitution von Sprache aufzukommen vermag. Der
Ansatzpunkt der Wittgensteinschen Kritik an der Idee einer privaten
Sprache, die unterdessen in der philosophischen Literatur ein großes Echo
gefunden hat, ist allerdings ein ganz besonderer: er betrifft, genau ge-
sprochen, die Sprache über Privates: ,,Die Wörter dieser Sprache sollen
sich nur auf das beziehen, wovon nur der Sprechende wissen kann; auf
seine unmittelbaren, privaten Empfindungen. Ein anderer kann diese
Sprache also nicht verstehen. " 27 Mit diesem besonderen Aspekt der Kri-
tik haben wir uns in einem anderen Zusammenhang auseinanderzuset-
zen28. Die Argumete, die Wittgenstein gegen diese Idee anführt, haben
aber eine größere Tragweite: sie stellen die Idee privater Sprache über-
haupt in Frage, auch einer solchen, die nicht über private Empfindungen,
sondern auch über öffentliche Phänomene gehen sollte.

2ß Sophistes 263 e: ö ev-r;o~ i:i'j~ 'ljJUXfi~ nQo~ c,;öi:riv l\uU.oyo~ üvev cpcovi'j~ y,yv6~tevo;
27 Philosophische Untersuchungen § 243.
28 Nämlich unten, § 57.
192 Die Vernunft (die Kultur)

Was es nach Wittgenstein verunmöglicht, daß ein einzelnes Subjekt


für Sprache aufkommen kann, ist die prinzipielle Unfähigkeit eines
Einzelnen, die Regeln, die den Wortgebrauch bestimmen, zu gewährlei-
sten: »· .. der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und
darum kann man nicht der Regel ,privatim' folgen, weil sonst der Regel
zu folgen glauben, dasselbe wäre, wie der Regel folgen. "29 »Auf den
privaten Übergang von dem Geschehenen zum Wort könnte ich keine
Regel anwenden. Hier hingen die Regeln wirklich in der Luft, da die
Institution ihrer Anwendung fehlt. "30 Nach Wittgenstein kann eine
Regel ihren Halt nur in der »Praxis", ,,Institution", ,,Gepflogenheit", in
den »Gebräuchen" finden, die er mit Selbstverständlichkeit ausschließlich
als soziale Realität betrachtet31 • Daß eine Regel nur an dieser sozialen
Realität Halt finden kann, bedeutet, daß sie nur in ihr ein Kriterium für
die Richtigkeit ihrer Anwendung zu finden vermag. »Rechtfertigung
besteht darin, daß man an eine unabhängige Stelle appelliert. "32 Aus
sich selbst kann das Subjekt nicht dafür aufkommen: ,,,Ich präge sie
{die Verbindung des Zeichens mit der Empfindung) mir ein' kann doch
nur heißen: dieser Vorgang bewirkt, daß ich mich in Zukunft richtig an
die Verbindung erinnere. Aber in unserem Falle habe ich ja gar kein
Kriterium für die Richtigkeit. Man möchte hier sagen, richtig ist, was
immer mir als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, daß hier von
,richtig' nicht geredet werden kann. " 33 Das einzelne Bewußtsein kommt
nicht über den subjektiven Schein der Richtigkeit, nicht über den subjek-
tiven Eindruck oder Glauben einer Regel hinaus, es gelangt aus sich
selbst zu keiner Objektivität, die zum Sinn von „Regel" bzw. ,,Richtig-
keit" gehören34• Das Bewußtsein gelangt deshalb aus sich selbst zu keiner
Objektivität, weil es sich nach Wittgenstein nicht selbst zu kontrollieren
vermag: Es wäre "als kaufte einer mehrere Exemplare der Morgen-
zeitung, um sich zu vergewissern, daß sie die Wahrheit sagt" 35 • Ebenso
vermag das einzelne Bewußtsein nicht sich selbst etwas aufzuerlegen,
festzulegen, was einen objektiven Sinn abgeben könnte: »Warum kann
meine rechte Hand nicht ·meiner linken Geld schenken? - Meine rechte
Hand kann es in meine linke geben. Meine rechte Hand kann eme
29 A. a. 0., § 202.
30 A. a. 0., § 380.
31 A. a. 0., §§ 198, 199, 202.
39 A. a. 0., § 265.
83 A. a. 0., § 258.
H A. a. 0., §§ 259, 260, 269.
as A. a. O., § 265.
Sprache 193

Schenkungsurkunde schreiben und meine linke eine Quittung. Aber


die weiteren praktischen Folgen wären nicht die einer Schenkung. Wenn
die linke Hand von der rechten genommen hat etc., wird man fragen:
,Nun, und was weiter?' Und das gleiche könnte man fragen, wenn einer
sich eine private Worterklärung gegeben hat; ich meine, wenn er sich
ein Wort vorsagt und dabei seine Aufmerksamkeit auf eine Empfindung
gerichtet hat. " 36
In diesen Beispielen kommt genau die Wurzel des Gedankens zur
Geltung, an der die Gegenkritik einsetzen muß: Wittgenstein denkt das
Bewußtsein als unmittelbare Einheit wie den Leib, wie das sinnliche
Bewußtsein, das nicht über sich selbst hinausgeht, sondern immer nur es
selbst ist. Sinnliches Bewußtsein bleibt immer nur in der subjektiven
Erscheinung, im subjektiven Eindruck, ohne sich selbst dieser Subjekti-
vität bewußt zu sein, was bereits ihr überschreitenkönnen, die Entge-
genwärtigung, voraussetzen würde. Verstand aber ist keine solche Ein-
heit, sondern in sich selbst entgegengesetzte Vielheit oder Verschieden-
heit. So kann sich etwa eine Erinnerung durch andere eigene Erinnerun-
gen als unrichtig, aber auch als richtig erweisen: sie kann mit ihnen
zusammenstimmen und sich dadurch bestätigen oder aber auch in der
Unstimmigkeit als Irrtum, Verwechslung etc. durchschaut werden. Für
den Unterschied von subjektivem Schein oder Eindruck und Objektivität
kommt bereits das einzelne Verstandessubjekt, das mittelbare Bewußt-
sein, auf, das in sich selbst eine Vielheit verschiedener subjektiver Er-
scheinungen (,,Perspektiven") beschließt und in ihnen eine objektive
Einheit denkt. Diese Objektivität ist noch nicht intersubjektive Objekti-
vität, sie ist aber echte Objektivität im Gegensatz zur Subjektivität
unmittelbarer Erscheinung. So vermag das Verstandessubjekt auch aus
sich selbst eine auf Regeln beruhende Institution oder Gepflogenheit zu
gewährleisten. Nicht nur bewährt sich seine Regelgerechtigkeit im ein-
stimmigen Gebrauch dieser Institutionen, sondern das Verstandessubjekt
vermag im Prinzip auch, wo es mit diesen Institutionen in Unstimmigkeit·
oder Verwirrung gerät, des Fehlers durch Erinnerung an die sich selbst
gegebene Festlegung und durch Vergleich mit seinem anderweitigen Ge-
brauch dieser Institutionen habhaft zu werden und sich des bloß subjek-
tiven Glaubens oder Eindrucks zu entledigen und zur einstimmigen
Richtigkeit durchzudringen. Natürlich, diese Objektivität könnte sich
im weiteren Verlauf der Vernunftkonstitution wiederum als Schein her-

36 A. a. 0., § 268.
194 Die Vernunft (die Kultur)

ausstellen, aber dies ist auch bei intersubjektiver Kontrolle prinzipiell


immer möglich. Auch die Intersubjektivität gewährleistet in keinem ein-
zelnen Stadium absolute Objektivität und Richtigkeit. Wesentlich ist
aber hier nur, daß bereits im einzelnen Verstand der Unterschied zwi-
schen subjektivem Schein und Objektivität, bloßem Glauben und Richtig-
keit aufbricht.
Nach dieser „Apologie", nicht für eine private Sprache, sondern füir
die prinzipielle Möglichkeit einer privaten Sprache, muß ich vielleicht
noch meinem Bewußtsein Ausdruck geben, daß alle unsere Sprachen,
völlig von ihrem intersubjektiven Gebrauch her geprägt sind. Eine bloß
privat instituierte Sprache wäre nicht nur faktisch ein klägliches Gebilde,
sondern würde in ihrer sinnlichen Ausdrucksstruktur anders aussehen.
Es wäre interessant zu überlegen, welche Aspekte und Strukturen unse-:1
rer faktischen Sprachen ihren Sinn ausschließlich von der Sozialität der
Sprache her beziehen, bzw. es wäre interessant, eine Sprache mit bloß
privater Funktion zu konstruieren, wozu vielleicht die Sprachen, die
kleine Kinder in mehr oder weniger großem Umfange für sich allein
bilden, eine empirische Anregung geben könnten. Aber eine solche pri-
vate Sprache würde nichtsdestoweniger den Grundcharakter der Sprache,
als Institution objektiver Bestimmung von etwas, besitzen, eben nichts
Geringeres als Sprache sein.

f) ,, Wortloses Denken"

Im folgenden möchten wir einige Probleme diskutieren, die unter


den Titel des „wortlosen Denkens" gestellt werden können. Es geht
dabei einerseits um Tätigkeiten, die dem sprachlichen Bestimmen nahe
stehen, aber doch nicht sprachlich sind, andererseits um solche, die nur
scheinbar wortlos sind. Die Absicht dieser Diskussion und Abgrenzungen
besteht darin, die elementare Leistung der Sprache, ihr fundamentalstes
Spezifikum, von dem wir auch in den bisherigen Absätzen gesprochen
haben, durch Kontrast zu größtmöglicher Deutlichkeit zu bringen. Etwas
Neues will dieser Absatz f) also nicht bieten, sondern er soll lediglich
der Vertiefung des Verständnisses dienen.
Ich möchte diese Diskussion in Auseinandersetzung mit Edmund
Busserl durchführen. Die Idee eines wortlosen Denkens ist zwar in der
Philosophiegeschichte sehr verbreitet, aber Husserl hat wohl als letzter
diese Idee vertreten, und zwar nicht als selbstverständliche Vorausset-
Sprache 195

zung, sondern in einer analytisch durchdachten Weise, wie dies wohl


kaum vor ihm der Fall war.
Wir haben darzutun versucht, daß das elementarste vollständige
sprachliche Zeichen, der Protosatz, wesentlich aus zwei Momenten be-
steht: aus einem Moment, in dem der Bestimmungsgehalt, und aus einem
Moment, in dem die Bestimmungshandlung vergegenwärtigt ist. Nach
Busserl soll nun sowohl der Bestimmungsgehalt als Begriff und die
Bestimmungshandlung als kategorialer Akt auch wortlos möglich sein.
Das Denken, das sich in der Sprache vollzieht, besteht prinzipiell als
eigentliches Denken auch ohne Sprache: in der Sprache hat das kate-
goriale Denken nur ein „Gegenbild", in dem es sich widerspiegelt37 •
Allerdings ist diese Spiegelung nach Busserl kein bloßer Luxus oder nur
das Mittel für die Kommunikation des Denkens, sondern ist für es von
größtem Nutzen. Sie dient als Stütze für die Schwäche unseres eigent-
lichen, d. h. für Busserl, intuitiven Denkens: Im eigentlichen Sinn, nicht
bloß in Zeichen, können wir kaum über drei hinauszählen; für größere
Operationen bedürfen wir der Stütze der Symbole38 • Ebenso vermögen
wir ohne Wortzeichen nur primitive Sachverhalte zu erfassen39 • Diese
Schwäche ist aber nur ein Faktum: wenn wir einen ttichtigeren Verstand
hätten, vermöchten wir auch komplexere kategoriale Verhalte ohne die
Krücke der Symbole zu denken; wenn unser Denkvermögen reicher
wäre, bedürften wir nicht dieser Denkökonomie40 : ,,Ein Gott bedarf
nicht der symbolischen Mittel, er erschaut alles und er braucht nicht
sinnliche Zeichen als Merkzeichen und Stützen des Denkens. Ein unend-
licher Intellekt muß sich auch nicht wie der unsere mit indirekten Vor-
stellungen als Ersatz für direkte Anschauungen begnügen. " 41
Erörtern wir vorerst Busserls Ausführungen, in denen von der Wort-
losigkeit des Denkinhaltes, vom „wortlosen Begriff" (im Gegensatz zur
Denkhandlung), die Rede ist. Er spricht in dieser Hinsicht einerseits von
„Fällen wortlosen Erkennens", die er aber schließlich doch nicht als
wirklich wortlos betrachtet: ,,Wir erkennen beispielsweise einen Gegen-
stand als antiken römischen Wegstein, seine Furchen als verwitterte
Inschriften, ohne daß sich sogleich oder überhaupt Worte einstellen; wir
erkennen ein Werkzeug als Drillbohrer, aber das Wort will uns über-

37 Vgl. den § 124 der Ideen I.


38 S. Husserliana XII, S. 339.
30 Logische Untermchungen II, 6. Untersuchung 6631, 191 2 •
40 Logische Untersuchungen II, 2. Untersuchung, 1. Aufl., S. 167, 2. Aufl., S. 168.
41 Ms. F I 26, S. 149 a (WS 1902/03).
196 Die Vernunft (die Kultur)

haupt nicht einfallen; u. dgl. " 42 In diesen Fällen soll nun nach Husserl
die „signitive Intention", die dem Wort die Bedeutung, die „gedankliche
Seite", verleiht, vorhanden sein, nicht aber der sinnliche Wortkörper
(dasLautschema): ,,Genetisch gesprochen, es wird durch die gegenwärtige
Anschauung (etwa des Drillbohrers) eine Assoziation dispositionell
erregt, die auf den bedeutenden Ausdruck (das Wort) gerichtet ist;
aber, die bloße Bedeutungskomponente desselben wird aktualisiert." 43
In Wirklichkeit ist das aber ein Widerspruch: Wie soll eine Bedeutungs.;.
funktion ohne dasjenige, das diese Funktion ausübt (nämlich das Wort),
vorhanden sein? Daß das Spielen einer Wortbedeutung (einer „signiti-
veri Intention") die Anwesenheit eines Wortes voraussetzt, ist Husserl
wohl erst nach den Logischen Untersuchungen bewußt geworden, und er
versucht jetzt für die „Fälle wortlosen Erkennens" eine Erklärung zu
geben, nach der das Wort nun doch irgendwie „da", also das wortlose
Erkennen eigentlich doch nicht wortlos ist: ,,Es scheint mir, daß im
inneren Sprechen, wenn ,die Worte fehlen', darum doch die Wortvorstel-
lungen als Leervorstellungen gegenwärtig sein können und in der Tat
auch.gegenwärtig sind." 44 . ,,Wenn wir eigene Denkakte in der Aussagen-
sphäre finden, und dann sprachlose Denkakte annehmen, so fragt es sich,
ob zur Sprachlosigkeit genügt, daß das ausdrückende Wort uns ,ent-
fallen' ist. Vielleicht;· daß ein sprachliches Phänomen noch sprachlich
bleibt, auch wenn sein sinnlicher ,Wortlaut' fehlt. Vielleicht, daß die
Wortlautkomponente noch da, wenn auch in ,leerer', in eigentümlich
modifizierter Weise da ist. " 45
Dieses „leere" Dasein,· diese Leervorstellung des Wortlautes, von der
Husserl hier spricht, könnte Verschiedenes bedeuten: Der Wortlaut kann
undeutlich artikuliert sein, wie· dies im äußerlich vernehmbaren, aber
wohl besonders im sog. ,;inneren Sprechen" oft der Fall ist; aber das
Wort als Schema ist dabei doch realisiert, bzw. erkannt und könnte
jederzeit auch deutlicher artikuliert werden. Anders steht es im Falle,
den Husserl hier im Auge hat: in dem das Wort entfallen ist, also nicht
zur Verfügung steht. Wir können uns dieses Verlustes bewußt sein und

42 Logische Untersuchunge~ Ü, 6. Untersuchung, 1. Aufl. S. 532, 2. Aufl. S. 60. Xhnlidi


in der Vorlesung über Urteilsthl':orie vom SS 1905: ,,Es kommt ja vor, daß wir
einen Gegenstand seiner Art nach erkennen, während uns der Name absolut nicht
einfallen will" (Ms. F I 27, S. 106 b).
43 Logische Untersuchungen II, 6. Untersuchung, 1. Aufl. S. 532, 2. Aufl; S. 60.
44 Ms. F I 5, S. 11 a (SS 1908).
45 Entwurf zur Umarbeitun~ der 6. Log. Unters. (Ms. M III 2 II 8, S. 16 (1914)).
Sprache 197

nach dem Worte suchen, werin wir etwa auf einen Gegenstand stoßen;
auf den es zutreffen würde. Das Wort ist uns in diesem Suchen nicqt
unbekannt, wir haben von ihm eine »leere" Vorstellung, denn sobald
uns das Wort einfällt oder von jemandem ausgesprochen wird, erkennen
wir es sofort als das richtige: das Wort war zuvor „da" soztlsagen als
»Loch" C»da" mit negativem Vorzeichen), und dieses „Loch" wird nur
gefüllt.
Aber wie steht es nun, wenn wir einen Gegenstand seiner Art nach
erkennen, während uns das Wort nicht einfällt? Sehen wir vom Suchen
nach diesem Worte ab, denn ein solches Suchen gehört nicht zu jenem
Erkennen; Ich würde nicht wie Husserl sagen, daß die Bedeutungskom-
ponente des Wortes spielt, während das Wort im Sinne des Entfallen-
seins fehlt; denn was fehlt, was also nicht im eigentlichen Sinn da ist,
kann keine Vergegenwärtigungsfunktion üben, und darin besteht di~
„signitive Intention". Aber dennoch kann das fehlende Wort in jenem
Erkennen wirksam sein: Wir haben zwar zu erweisen versucht, daß eine
Art als Art auch völlig ohne Worte wiedererkannt werden kann46• Aber
es besteht kein Zweifel, daß Worte für die Herausbildung, Abgrenzung
und Differenzierung von Arten eine enorme Rolle spielen: Die Worte,
die wir im Erlernen der sozialen Sprache uns aneignen, lehren uns
Arten „sehen", in der Differenzierung der Sprache differenzieren sich
uns die Arten, und unsere ,;Systematik" der Arten ist von unserem
faktischen Sprachsystem abhängig. In. diesem· Sinne ist beim Erkennen
eines Gegenstandes der Art nach das entfallene Wort wirksam: insofern
es zur Bewußtseinsbildung dieser Art beigetragen hat.
Aber wenn uns auch die Sprache den Blick für Unterschiede von
Arten gibt und lenkt und daher auch dann noch wirkt, wenri riris das
betreffende Wort entfallen ist, so bedeutet das nur, daß wir in der
sozialen· Sprache von der.Unterscheidungskraft .derjenigen, die zu unse"."
rer Sprachgemeinschaft gehören (von den Lebenden und Toten) profi-
tieren. Aber das Erkennen der allgemeinen Art, des allgemeinen Typus
geht logisch dem Wort voraus, wenn auch für den einzelnen innerhalb
unserer Sprachtradition für die allermeisten Fälle das umgekehrte Ver-
hältnis statthat. Nur dort, wo wir sprachschöpferisch sind, wo etwa: ein
Naturforscher für ein neuentdecktes allgemeines Phänomen ein neues
Wort einführt oder wo ein Dichter sich eines Gefühls, einer Stimmung
als artmäßiger bewußt wird und dafür Worte prägt oder umprägt,

48 Siehe oben S26.


198 Die Vernunft (die Kultur)

besteht das ursprüngliche Prioritätsverhältnis. Und wie schon früher aus-


geführt, wir erkennen wortlos sehr vieles der Art nach, ohne daß uns
die Worte dazu entfallen wären und auch ohne daß wir dabei überhaupt
nach Worten suchten: Wir erkennen z.B. manche typische menschliche
charakterliche oder physiognomische Züge (,,Schläge"), architektonische
oder malerische Stiltypen, Gefühle, Stimmungen, Gerüche etc. etc., für
die wir keine Worte haben. Wir können sie zwar umschreiben, aber oft
ohne dabei die erkannte Spezifizität (Art) zu erreichen. Bisweilen finden
wir dafür in fremden Sprachen Wörter, und gerade dies macht einen
besonderen Reiz des Lernens fremder Sprachen aus, daß sie uns manch-
mal die treffenden Worte für Typen oder Arten geben, die wir erkann-
ten, aber in unserer eigenen Sprache nicht zu Worte brachten.
Nur dieses wortlose Erkennen von etwas seiner Art nach, ohne daß
dabei ein Wort in der Weise des Entfallenseins mitspielte, ist eigentlich
wortloses Erkennen. Auch diesem Erkennen ist Busserl in seiner üblichen
minuziösen Weise nachgegangen, vor allem in Texten, die in Erfahrung
und Urteil zur Publikation kamen. In dieser wortlosen Erkenntnis der
Art unterscheidet Busserl zwischen zwei verschiedenen Stufen in der
Bildung der Art, oder wie er auch sagt, des Begriffs, der Spezies oder
des Eidos: Bevor das Eidos aktiv „erschaut" wird, ist es bereits in der
Passivität „ vorkonstituiert" 47 • Die passive Vorkonstitution geschieht da.:.
durch, daß im Wahrnehmungsfeld Khnliches mit Khnlichem (z.B. zwei
rote Flecken) assoziativ zur „Gleichheitsdeckung" (,,Gleichheitssynthese",
„Khnlichkeitsdeckung" ,,Deckung par distance") kommen. ,,Im Moment
der Deckung verschmilzt gleichsam das .Ahnliche mit dem .Ahnlichen nach
Maßgabe der .Ahnlichkeit, während doch das Bewußtsein einer Zweiheit
der sich in der Verschmelzung Einigenden fortbesteht ... " 48 Dabei hebt
sich ein Gemeinsames, eine identische Einheit ab: die Spezies. Also schon
in dieser passiven Vorkonstitution ist nach Busserl ein wirklich All-
gemeines von vielem, ein ~v ent noÄÄrov bewußt49 • Die aktive Erfassung
soll dann noch darin bestehen, daß „in einem Zurückkommen" durch
aktives Vergleichen der ähnlichen Individuen und durch „aktives eide-
tisches Identifizieren" die vorkonstituierte Spezies aktiv erfaßt wird: in
einer „geistigen Überschiebung, in der das Gemeinsame, das Rot, die
Figur etc. ,selbst' hervortritt, und das heißt, zur schauenden Erfassung

47 Erfahrung und Urteil, vor allem die §§ 81-83, 88.


48 A. a. 0., S. 387.
49 A. a. 0., S. 396.
Sprache 199

kommt" 00 • ,,Das Allgemeine erscheint dann, obschon den individuell be-


stimmten Gegenständen gegenüber als ein Irreales, doch an sie verhaftet,
als an ihnen Abgehobenes, als ihnen einwohnender Begriff. " 51 Weiter
findet dann im Fortgang der Erfahrung „alsbald eine Fortsetzung der
Gleichheitssynthesis statt; es werden die neuen Gleichen alsbald als Ver-
einzelungen desselben Allgemeinen erkannt. Das kann in infinitum fort-
gehen "52.
Was uns bei diesen von Busserl unterschiedenen Stufen vorerst ein-
mal auffällt, ist, daß in ihnen im Grunde genommen dasselbe geschieht:
Schon in der „passiven" Stufe bildet sich durch Gleichheits- oder
Deckungssynthesis ein echtes Allgemeines, und der ganze Prozeß wird
dann auf der aktiven Stufe eigentlich nur auf „aktive", ,,geistige" Weise
repetiert. Was aber Aktivität und Passivität genau bedeuten sollen, wird
von Busserl nicht geklärt. Es müßte hier die Kritik angewandt werden,
die wir im § 35 an Busserl richteten. Aber in unserem jetzigen systema-
tischen Zusammenhang besteht zu ihrer Ausführung kein Anlaß.
Wichtig für den jetzigen Zusammenhang aber ist, daß Busserl in sei-
ner „passiven Sphäre" noch von einer andersartigen Erfassung von Arten
oder Typen spricht: Im Wahrnehmungsfeld wird schon ein Einzelnes,
also unabhängig vom Auftreten mehrerer Ähnlichen, die zur Deckungs-
synthesis gebracht werden könnten, in passiver Weise typisiert wahrge-
nommen: als Baum, Tier etc., im besonderen als Tanne, Linde, Hund,
Natter etc. Diese Typisierung geschieht assoziativ durch apperzeptive
(oder „analogisierende") Übertragung aus früheren Wahrnehmungen.
Dabei ist aber das Allgemeine (der Typus) nicht als Allgemeines „the-
matisch": ,, ... wir müssen den typisch aufgefaßten Hund nicht als
Einzelnes des Allgemeinen ,Hund' thematisch erfassen, sondern können
auch auf ihn als den individuellen gerichtet sein; dann bleibt die passiv
vorkonstituierte Beziehung auf seinen Typus, in dem er von vornherein
aufgefaßt ist, unthematisch. Aber jederzeit können wir auf ihrem Grun-
de einen Allgemeinbegriff ,Hund' bilden, uns andere Hunde, bekannte
unserer Erfahrung, vorstellen; wir können auch in einer willkürlichen
Phantasiebildung uns andere Hunde in offener Vielheit vorstellen und
daraus das Allgemeine ,Hund' erschauen. " 53

50 A. a. 0., S. 421.
51 A. a. 0., S. 394/5.
5~ A. a. 0., S. 395.
53 A. a. 0., S. 400.
200 Die Vernunft (die Kultur)

Hier bringt Husserl eine Typen- oder Arterfassung zur Geltung, die
sich deutlich von der »aktiven" Erfassung des Allgemeinen als solchen
abhebt. Aber auch diese „passive" Typenbildung interpretiert er wieder
in seiner von uns hervorgehobenen intellektualistischen Weise, so daß in
dieser Bildung im Grunde doch schon alles „ vor konstituiert" liegt, was
die eigentliche Erfassung des Allgemeinen zustande bringt: es liegt in ihr
nur „unthematisch", d. h. ,,unbeachtet", ungegenständlich, so daß eine
bloße Wendung des Blickes, der Aufmerksameit genügt, um die in jener
typisierenden Wahrnehmung vorkonstituierte Beziehung auf das Allge-
meine „anzuschauen".
Dennoch drängen in diesen Ausführungen Busserls Sachverhalte zur
Einsicht, die wir aufgrund unserer vorangegangenen überlegungen54 in
folgender Weise formulieren können: Im Hinblick auf das wortlose Er-
kennen ist prinzipiell zu scheiden zwischen dem typisierenden Charakter
der unmittelbar-sinnlichen Wahrnehmung, in der überhaupt kein All-
gemeines als solches liegt, auch nicht „ vorkonstituiert" oder „unthema-
tisch ", und andererseits dem Verstande, in dem als Bewußtsein von
Bewußtsein (mittelbares Bewußtsein) ein Typus als identisch Allgemeines
verschiedener Wahrnehmungen oder anderer Bewußtseinsweisen konsti-
tuiert ist.
Was den typisierenden Charakter der unmittelbaren Wahrnehmung
anbelangt, möchten· wir nur kurz folgendes wiederholen: Wenn ich z. B.
in ein mir bisher unbekanntes Zimmer trete (z.B. ein Hotelzimmer) und
von ihm: ,,Besitz nehme", mich in ihm einrichte, nehme ich im allgemei-
nen sofort die verschiedenen Dinge ihrem Typus nach wahr: ich sitze auf
den Stuhl, lege mein Aktenmäppchen auf den Tisch, hänge den Mantel in
den Schrank, öffne das Fenster, lege mich ins Bett usw. Diese Dinge sind
niir in ihrem Typus vertraut, ich gehe mit ihnen vertraut um: Ich „er-
kenne" sie typisch, aber weder benötige ich dabei Worte, noch braucht ein
Allgemeines von Vielen in irgendeinem Sinn bewußt zu sein. Auch ein
bloß sinnliches Wesen, ein Tier, bemächtigt sich seiner Umwelt in diesem
typisierenden Sinne. Es ist das sinnliche Verhalten selbst, das typisch ist
und sein jeweils neues Umfeld unmittelbar in diese Typik einzubeziehen
versucht. Beim Menschen können hier allerdings auch Worte auftauchen,
aber sie sind dabei nicht nötig, sie üben, wenn die sinnliche Ergreifung
des Umfeldes spielt, keine Funktion: Sie werden als sinnliche Gebilde
assoziativ durch das Wahrgenommene geweckt, ohne dabei zur vernunft-

114 Siehe oben §§ 26 und 32.


Sprache 201

mäßigen Bestimmung von etwas zu-dienen. Die Worte erlangen als sinn-
liche Gebilde gegenüber ihrem Ursprung aus der Vernunftinstitution eine
gewisse Selbständigkeit, ihre geistige Bedeutung kann in die Latenz ver;.
sinken, sie »sedimentieren" sich in der sinnlichen Umwelt und nehmen
teil an ihrem bloß assoziativen Spiel. Die sinnliche Umwelt der Vernunft
ist völlig überwoben von diesen "schlafenden" Vernunftinstitutiorlen, die
eine »sekundäre", als solche sinnlose Sinnlichkeit ausmachen.
Von diesem unmittelbaren, schematisierten Ergreifen des .Umfeldes,
in dem als solchen überhaupt kein Allgemeines bewußt ist, ist prinzipiell
das mittelbare „Erkennen von etwas seiner Art nach" zu unterscheiden:
Ich erkenne z. B. auf einer Bergwanderung eine Blume als der Art nach
dieselbe, die ich schon weiter unten sah und auch schon im Vorjahr in
einer anderen Gegend in zahlreichen Exemplaren antraf. Dabei spielt der
Name, den ich nie kannte, gar keine Rolle. Hier identifiziere ich im
Bewußtsein anderen Bewußtseins (nämlich früherer Wahrnehmungen)
ein Eines von Vielen: ein Allgemeines. Dieses mittelbare Bewußtsein, in
dem ein Allgemeines konstituiert ist, kann schon auftreten, wenn ich eine
Art zum ersten -Mal sehe: im Wissen, daß diese Art, die ich hier zum
ersten Mal sehe, auch noch anderwärts anzutreffen wäre. Wie ist nun
dieses mittelbare Bewußtsein eines Identischen an Vielem näher zu
kennzeichnen?
Husserl spricht von einem „Erschauen des Begriffs". Beide Worte er-
scheinen als fragwürdig. ,,Begriff" möchten wir in Anlehnung an ·den
üblichen Sprachgebrauch für die Bedeutung eines Wortes (ge11auer, eines
Prädikatots) bzw. für die eine Bedeutung verschiedener, aber synonymer
Worte gebrauchen. Ob wir weiter in unserem Falle von „Erschauen"
sprechen können, ist. schon schwieriger zu entscheiden. Husserl ·denkt sich
jenes Identifizieren des Allgemeinen als ein ,;geistiges Oberschieben":
Leitbild ist offensichtlich das geometrische -Zur-Deckung-bringen· .vori
Figuren, durch das ihre sich deckenden Teile „gleichsam verschmelzen";
in -dieser Deckung haben die verschiedenen Figuren ein Gemeinsames, an 0

dem sie alle teilhaben (Methexis). Die Frage ist, inwiefern man hier von
~schauen" sprechen kann, was hier geschaut bzw. erschaut ist. Wirklich
angeschaut ist die Figur, in der sich die verschiedenen Figuren decken.
Sidst gemeinsam~ weiLsie unter Festhaltung ihrer Identität als Teiho-
wohl der· einen wie der anderen Figur angeschaut werden kann; Aber
wenri sie wirklich als Teil der einen Figur angeschaut wird, ist'Sie aktuell
anschauungsmäßig der anderen entzogen, und umgekehrt. Aktuell ange-
schaut wird sie jeweils nur als Teil der einen Figur, jedoch im mittel-
202 Die Vernunft (die Kultur)

baren Bewußtsein, daß sie auch als Teil der anderen angeschaut wurde
oder werden kann. Für sich allein angeschaut ist sie eine dritte einzelne
Figur. Aktuell angeschaut ist also immer nur ein Einzelnes, an dem ein
Allgemeines nur im mittelbaren Bewußtsein anderer, inaktueller An-
schauung erfaßt wird. In diesem Sinne können wir hier mit Husserl von
einer Er-schauung des Allgemeinen sprechen: dieses wird nie aktuell
geschaut, aber aufgrund aktueller Anschauung von Einzelnen im mittel-
baren Bewußtsein inaktueller Anschauungen desselben an anderen Ein-
zelnen er-schaut.
Die Lage ist natürlich anderwärts nicht so einfach wie im Falle der
geometrischen Kongruenz. In unserem Beispiel der Blumen etwa gibt es
keine geometrische Gleichheit. Aber schon die unmittelbare Wahrneh-
mung hat ja einen typisierenden oder schematisierenden Charakter, und
es braucht ein besonderes Interesse und intensive Beobachtung, um die
„Individualität", die ganz besondere Gestalt und Färbung, der einzelnen
Blume zu sehen. Und so kann hier auf dem Grund des Schematismus der
unmittelbaren Wahrnehmung die Art im mittelbaren Bewußtsein identi-
fiziert werden. Aber auch hier ist das aktuell angeschaute Schema immer
nur Einzelnes, und nur im mittelbaren Bewußtsein der Identität dieses
Schemas in anderen Anschauungen von Einzelnem ist das Schema als All-
gemeines konstituiert. In anderen Fällen jedoch ist die Identifizierung
des Allgemeinen weit komplizierter; man denke an die wissenschaftliche
Systematik der Arten und Gattungen55 •
Das Allgemeine als das Eine im Vielen ist nicht wirklich angeschaut,
wenn man auch davon sprechen kann, daß es aufgrund der Anschauun-
gen von Einzelnen erschaut sei. Dieser Sachverhalt macht uns wieder auf
die fundamentalste Leistung des Wortes, das ini Protosatz den Bestim-
mungsgehalt vergegenwärtigt, aufmerksam: Dieses Wort ist ein Anschau;.
liches, dessen Sinn oder Funktion ganz darin besteht, ein Allgemeines zu
sein, d. h. auf die Fälle einer gewissen Art anwendbar zu sein. In diesem
Wort kommt also das Allgemeine als solches in der sinnlich-geistigen Ver;.
fügbarkeit zur anschaulichen Gegenwart; nicht zur unmittelbaren Gegen-
wart, sonst wäre das Allgemeine ein Sinnliches (ein hölzernes Eisen),
wohl aber zur sinnlichen Institution. Im Wort, und nur im Wort, ver-
wirklicht sich das Allgemeine in der sinnlichen Gegenwart, die damit
Vergegenwärtigungsfunktion annimmt, und wird vom unsichtbaren Ver-
standesprodukt zur „greifbaren" realen Vernunft. Das Wort (der Prä-

65 Vgl. unten, § 50.


Sprache 203

dikator) ist also nicht ein bloßes „Gegenbild" oder ein „sinnliches Kleid"
der allgemeinen Spezies; denn diese Gleichnisse geben die Spezies als ein
bereits in sich selbst, unabhängig vom Wort, Anschauliches aus, das sich
bloß in einem anderen Medium widerspiegelt oder mit einem fremden
Stoff bekleidet. Aber die allgemeine Spezies als reine Verstandesleistung
kann sich prinzipiell gar nicht abbilden oder bekleiden, sondern verwirk-
licht sich als Anschauliches und damit Abbildbares überhaupt erst im
Wort. Nur als Wort vermag sie ein Gegenbild zu haben, sei es in ande-
ren Worten, sei es, in ganz anderem Sinne, in der Schrift56 •
Wir wenden uns nun dem anderen Moment des minimalen selbstän-
dig fungierenden sprachlichen Zeichens (Satzes) zu, dem Moment, in dem
die Bestimmungshandlung vergegenwärtigt ist, und fragen, was das Wort
für sie leistet. Dies tun wir wiederum auf dem Wege einer Diskussion
mit Busserls Idee des wortlosen Denkens.
Bei Busserl halten wir uns dazu im wesentlichen an die Logischen
Untersuchungen. Er hat sich später von manchem des uns jetzt in diesem
Werk Interessierenden distanziert, aber es nicht durch eine kohärente
Theorie ersetzt. Busserls Position in diesem Werk ist hinsichtlich unserer
jetzigen Frage schneidend klar: Der eigentliche Denkakt (kategoriale
Akt) ist von der Sprache unabhängig, und zwar deshalb, weil er kate-
goriale Anschauung ist: ,,Die kategorialen Akte dachten wir uns in den
bisherigen Betrachtungen von allem signifikativen <d. h. zeichenhaften,
sprachlichen) Beiwerk frei, also vollzogen, aber keinerlei Akte der
Erkennung und Nennung fundierend. Und sicherlich wird jeder vor-
urteilsfreie Analyst zugestehen, daß wir z. B. Inbegriffe oder mancherlei
primitive Sachverhalte anschauen können, ohne sie zu nominalem oder
propositionalem Ausdruck zu bringen. "57 „Die fundierten <= katego-
rialen) Akte ... galten uns als Anschauungen. "58 Nur als kategoriale
Anschauung ist der Denkakt vollzogen und nicht schon im bedeutungs-
vollen Sprechen, in dem jene Anschauung bloß zum Ausdruck kommt:
Im „bloßen signitiven Urteilen", das durch die „an den Worten hängen-
den signitiven Intentionen" die U rteilssynthesis „ausdrückt (bzw. aus-
zudrücken prätendiert)", ist diese Synthesis „nicht ,eigentlich' vollzogen,
56 Diese Verkennung der fundamentalen Leistung des Wortes als sinnliche Verwir!?-
lichung findet sich bekanntlich schon bei Aristoteles und hat sich durch die Jahr-
hunderte halten können: »Die gesprochenen Worte sind Zeichen (cruµßo,.a) der Vor-
stellungen in der Seele (;;iiiv EV •U ,puxn naitriµ1i-ccov) und die geschriebenen Worte
sind Zeichen der gesprochenen" (De interpretatione, 16 a 3-4).
57 Logische Untersuchungen II, 6. Untersuchung, 1. Aufl., S. 663, 2. Aufl., S. 191.
58 A. a. 0., 1. Aufl., S. 637; 2. Aufl., S. 165.
204 Die Vernunft (die Kultur)

sondern eben nur signitiv gemeint" 59 • Nur im intuitiven Denken „wird


eine kategoriale Synthesis, eine Prädikation, Generalisation u. dgl. wirk-
lich vollzogen", während im bloß signitiven Denken in den Worten
diese Synthesis „eigentlich gar nicht vollzogen" ist; hier heftet sich bloß
an die „nur verbal vorstelligen Glieder eine bloße signitive Intention auf
solch eine kategoriale Synthesis" 60 •
Bedeutsam ist, daß Busserl diese Konzeption des Verhältnisses von
Denken und Sprechen als eine Theorie der Sprache, in einer Besinnung
über die Sprache, entwickelt. Welche Überlegungen über die Sprache
führen nun Busserl dazu, das eigentliche Denken als kategoriale An-
schauung und das Sprechen als bloßes Beiwerk, als bloße Meinung der-
selben zu betrachten?
Daß es überhaupt kategoriale Anschauung geben muß, fordert Bus-
serl aufgrund einer Analogie: ,, ... es muß jedenfalls ein Akt da sein,
welcher den kategorialen Bedeutungselementen dieselben Dienste leistet
wie die bloße sinnliche Wahrnehmung den stofflichen" 61 • Das heißt, wie
die sog. Termini eines Satzes zur Realisierung und Erfüllung ihrer Be-
deutung der Anschauung bedürfen, so auch die kategorialen Formen, die
Ausdrücke der Synthesis: Im Urteil, daß etwas so und so ist, muß es
auch eine Anschauung dieses „ist" geben können. Der Grundfall, von
dem Busserl in dieser analogisierenden Übertragung ausgeht, sind Sub-
jektausdrücke, genauer, sog. Kennzeichnungen. Hier gilt es einzusetzen,
um Busserls Überlegungen zu verfolgen, die ihn zu seiner Idee des
eigentlich kategorialen Aktes als eines sprachlosen führen: ,,Z.B., ich
spreche von meinem Tintenfaß, und es steht zugleich das Tintenfaß selbst
vor mir, ich sehe es. Der Name nennt den Gegenstand der Wahrneh-
mung ... " 62 „Der Ausdruck meint etwas, und indem er es meint, bezieht
er sich auf Gegenständliches. Dieses Gegenständliche kann entweder ver-
möge begleitender Anschauungen aktuell gegenwärtig oder mindestens
vergegenwärtigt erscheinen (z.B. im Phantasiebild). Wo dies statthat, ist
die Beziehung auf das Gegenständliche realisiert. Oder dies ist nicht der
Fall; der Ausdruck fungiert sinnvoll, er ist noch immer mehr als ein
leerer Wortlaut, obschon er der fundierenden, ihm den Gegenstand
gebenden Anschauung entbehrt. Die Beziehung des Ausdrucks auf den
Gegenstand ist jetzt insofern unrealisiert, als sie in der bloßen Bedeu-

50 A. a. 0., 1. Aufl., S. 678; 2. Aufl., S. 206.


60 A. a. 0., 1. Aufl., S. 667/8; 2. Aufl., S. 195/6.
61 A. a. 0., 1. Aufl., S. 614, 2. Aufl., S. 142.
62 A. a. 0., 1. Aufl., S. 496, 2. Aufl., S. 24.
Sprache 205

tungsintention beschlossen ist. Der Name beispielsweise nennt unter


allen Umständen seinen Gegenstand, nämlich sofern er ihn meint. Es
hat aber bei der bloßen Meinung sein Bewenden, wenn der Gegenstand
nicht anschaulich dasteht und somit auch nicht als genannter (d. i. als
gemeinter) dasteht. Indem sich die zunächst leere Bedeutungsintention
erfüllt, realisiert sich die gegenständliche Beziehung, die Nennung wird
eine aktuell bewußte Beziehung zwischen Namen und Genanntem. " 63
,. ... der Akt des puren Bedeutens findet in der Weise der abzielenden
Intention-seine Erfüllung in dem veranschaulichenden Akt ... Wir erle-
ben es, wie in der Anschauung dasselbe Gegenständliche intuitiv ver-
gegenwärtigt ist, welches im symbolischen Akte ,bloß gedacht' war, und
daß es .gerade als das so und so Bestimmte anschaulich wird, als was
es zunächst bloß gedacht (bloß bedeutet) war. " 64
·Genau besehen soll nach Husserl die Anschauung hier ein Doppeltes
leisten, das er aber doch als etwas Einheitliches betrachtet: Indem die
Anschauung die zunächst leere Bedeutungsintention erfüllt (1), reali-
siert (2) sie ihre gegenständliche Beziehung. Die Anschauung, die hier
· bei Husserl in Frage ist, ist Anschauung eines Einzelnen, z; B. dieses
Tintenfasses.· Nun, hinsichtlich der Subjektausdrücke (z. B. ,,dieses Tin--
tenfaß") kann man in bestimmtem Sinne von einer solchen notwendigen
Leistung der Anschauung sprechen, denn die Bedeutung oder Funktion
dieser Ausdrücke besteht ja gerade darin, auf den Wahrnehmungsgegen-
stand hinzudeuten, über den das Urteil gefällt wird. Gelingt es dem
Subjektausdruck, den wahrnehmenden (oder sonstwie anschaulich vor-
stellenden) Blick auf den Gegenstand zu lenken, den er bezeichnet, so
realisiert sich seine gegenständliche Beziehung, indem sich seine Bedeu-
tung (seine Funktion) durch die Anschauung erfüllt; -Man karin mit
Husserl auch sagen, daß in einem Subjektausdruck Intentionen auf einen
Gegenstand liegen, die durch irgendeine anschauliche Vorstellung dieses
Gegenstandes erfüllt werden. Doch gilt es schon hier zu nuancieren: Die
Subjektausdrücke, von denen Husserl in seinen logischen Untersuchungen_
ausgeht, sind Kennzeichnungen, d. h. Subjektausdrücke, die-ein allgemei-
nes Bestimmungswort, wie wir sagten, ein „altes Prädikat" enthalten.
(,.Dieses· Tintenfaß" enthält oder supponiert die alte, jetzt inaktuelle
Prädikation ,;Dies ist ein Tintenfaß".) In seiner Rede von der Erfüllung
der Bedeutung von „dieses Tintenfaß" durch die Anschauung gibt nun

83 .1. Unters., S. 37/38.


84 6. Unters., 1. Aufl., S. 504, 2. Aufl., S. 32.
206 Die Vernunft (die Kultur)

Husserl mit zu verstehen, daß die Bedeutung dieses allgemeinen Wortes


angeschaut und erfüllt werde65 • Wir sahen aber, daß es keine aktuelle
Anschauung eines Allgemeinen als solchen gibt. Und man kann auch
nicht schlechthin sagen, daß in der Erfüllung der Funktion des Subjekt-
ausdruck.es »dieses Tintenfaß" durch die Anschauung des entsprechenden
Gegenstandes die Bedeutung von "Tintenfaß" erfüllt werde, denn dieses
Wort wird schon vor jener Erfüllung verstanden, seine Bedeutung ist im
verstehenden Reden und Hören nicht »leer", so daß sie einer Erfüllung
bedürfte. Jedoch muß der angeschaute Gegenstand die im Subjektaus-
druck implizierte Behauptung (Kennzeichnung) »erfüllen", daß er ein
Tintenfaß ist, daß ihm dieses allgemeine Bestimmungswort zukommt.
Diese implizite Behauptung (dieser implizierte kategoriale Akt) kann
aber nicht schon in sich selbst eine Anschauung sein. Und zu ihrer »Er-
füllung" ist auch keine besondere kategoriale Anschauung notwendig,
sondern nur jene Anschauung des Gegenstandes (des Tintenfasses).
Husserl überträgt in den Logischen Untersuchungen die ganz spezi-
fische Realisierung der Funktion (Bedeutung) der Subjektausdrücke als
solcher durch Anschauung des gemeinten Gegenstandes nicht nur auf alle
Bedeutungsmomente, die ein Subjektausdruck in sich tragen kann, son-
dern auf alle Bedeutungsmomente des ganzen Satzes: Wie die gegen-
ständliche Beziehung des Subjektausdruck.es ohne irgendwelche anschau-
liche Vorstellung des Gegenstandes bloß gemeint (intendiert) ist und sich
erst in der Anschauung realisiert, so soll auch der kategoriale Akt im
bedeutungsvollen Sprechen bloß gemeint und erst als Anschauung wirk-
lich vollzogen sein. Und wie jene Anschauung auch ohne Worte möglich
ist, so auch diese. Aber diese a:rialogisierende Übertragung, die Husserl
zur Idee einer sprachlosen kategorialen Anschauung als des eigentlichen
(eigentlich vollzogenen) kategorialen Aktes· führt, geht über die prinzi-
pielle Verschiedenartigkeit der Bedeutungsmomente innerhalb des Satzes,
über die verschiedenen Funktionen der Satzglieder hinweg: sie stellt eine
µeTaßaai~ et~ CV.AO yevo~ dar.
Doch zieht die Idee eines wortlosen kategorialen Aktes ihre Kraft
nicht nur aus dieser Übertragung, sondern auch aus anderen Quellen, die
ihr ein gewisses Recht gehen. Wir haben bereits vom vorsprachlichen oder
sprachlosen Erkennen von etwas seiner Art nach gesprochen. Dieser Ver-

85 Siehe z. B. 6. Logische Untersuchung, §§ 6, 8 u. a. Andererseits ist sich Husserl


völlig klar, daß keine allgemeine Bedeutung durch bloße (,.schlichte") Anschauung
zu „erfüllen" ist (2. Unters., 1. Aufl., S. 131, 2. Aufl., S. 132).
Sprache 207

standesakt weist zweifellos eine enge Verwandtschaft mit dem katego-


rialen Akt auf. Aber als kategorialen Akt möchte ich ihn nicht an-
sprechen, sondern als einen solchen nur einen Akt der Bestimmung, die
immer mit einem Zeichen geschieht, bezeichnen. Jedoch haben wir auch
schon ausgeführt, daß eine Bestimmung von etwas mittels eines Zeichens
vor sich gehen kann, ohne daß der Bestimmungsakt selbst (sondern nur
der Bestimmungsgehalt) in Worten seinen Ausdruck fände. Hier hätten
wir es also mit einem Bestimmungsakt zu tun, der als Akt wortlos ist.
Wir haben es aber als das Kriterium der Sprache gegenüber anderen'
Zeichensystemen angesehen, daß in der Sprache die Bestimmungshand-
lung als solche mittels eines Zeichens zum Ausdruck kommt und darin als
objektive (d. h. identisch wiederholbare) Handlung instituiert ist. Bei
Bestimmungen innerhalb eines Zeichensystems, in dem dies nicht möglich
ist, können wir deshalb nicht von Sprachakten, nicht von kategorialen
Akten im eigentlichen Sinne, reden. Und dennoch gibt es auch spezifisch:
sprachliche Bestimmungen, in denen der Bestimmungsakt selbst nicht aus-
gesagt ist. Solche Bestimmungen liegen z. B. in den oben erörterten
Subjektausdrücken, den Kennzeichnungen vor: wenn ich sage „diesei;
Tintenfaß hat eine komische Form", so ist bereits im Subjektausdruck
eine Bestimmung vollzogen, die aber als Handlung nicht in die Rede
gebracht ist. Diese im Subjektausdruck liegende Bestimmung steht in
diesem Satz auch gar nicht zur Rede, sondern ist in ihm supponiert. Was
diese Bestimmung aber doch zu einer sprachlichen macht, ist einerseits,
daß sie eine „alte" Prädikation voraussetzt, in ·der die Bestimmungs-
handlung selbst zu Worte kam (,,dies ist ein Tintenfaß"), andererseits
aber auch, daß diese supponierte und implizite Bestimmung jederzeit
wieder als Bestimmungshandlung zur Rede gebracht werden kann. Ich
brauche auf jenen Satz (,,dieses Tintenfaß hat eine komische Form") nur
zu antworten: ,,dies ist gar kein Tintenfaß, sondern eine Blumenvase".
Es gibt also kategoriale Akte, die als Akte wortlos sind, aber diese Wort-
losigkeit macht sie nicht sprachlos oder vorsprachlich, sondern ihre Wort-
l9sigkeit ist latente oder virtuelle Sprachlichkeit.
· Es gilt nun aber genau zu sehen, daß in der zeichenhaften Ausdrück-
lichkeit des Sprachaktes nicht einfach ein „Gegenbild" eines unsprach-
lichen Aktes (etwa eines Bestimmungsaktes mit bloßen Zeichen) vorliegt.
Durch das sprachliche Handlungszeichen wird nicht einfach ein Akt ge-
spiegelt, sondern in ihm gewinnt er überhaupt erst Objektivität und
(sinnliche) Realität. Ohne dieses Zeichen wäre er nur ein einzelner, ver-
gehender subjektiver Akt, nur in diesem Zeichen ist er objektive Aussage,
208 Die Vernunft (die Kultur)

kategoriale Handlung jeder Art, die als identische wiederholt, festgehal-


ten, aber auch diskutiert und modalisiert werden kann. Die Vernunft als
der Verstand in der sinnlichen Institution ist nicht einfach eine Spiege-
lung des Verstandes, sondern seine Verwirklichung in der sinnlichen
Gegenwart und damit ermöglichte spezifische Objektivierung.
Der Charakter der sinnlichen Institution erlaubt aber umgekehrt
wiederum in mehrfachem Sinne mit Busserl zu sagen, daß in ihr der
kategoriale Akt nicht eigentlich vollzogen, sondern nur gemeint sei:
1. Ein Satz kann im passiven Hören und Lesen oder im gewohnheits-
mäßigen oder suggerierten Wiederholen, etwa eines Slogans oder einer
Redensart, wohl als Satz apperzipiert (man weiß, daß es ein Satz ist),
aber die in ihm vergegenwärtigungsmäßig instituierte Bestimmungshand-
lung weder eigentlich verstanden, noch selbst vollzogen sein. 2. Ich kann
einen Satz, den ein Anderer äußert, voll verstehen, aber ich brauche da-,
mit die in ihm instituierte Bestimmung nicht selbst mitzuvollziehen; für
mich ist dann im gehörten Satz diese Bestimmung nur gemeint, aber nicht
von mir vollzogen. 3. Eine Bestimmung kann in einer Aussage zwar voll-
zogen, aber nicht „mit Recht'', d. h. ohne die durch ihren Gültigkeits-
anspruch geforderten Bedingungen, vollzogen und damit als Vollzug
„nichtig" sein. Aber alle diese Fälle, die Busserls These ein relatives
Recht geben, dispensieren uns doch nicht davon, gegen Busserl sagen zu
müssen, daß ein kategorialer Akt als solcher überhaupt nur in der sprach-
lichen Institution und der damit gegebenen Objektivität und Realität
vollziehbar ist.

§ 42 Ethische Kultur

Im § 37 haben wir zwischen sinnlicher und geistiger Kultur unter-


schieden: während in der sinnlichen Kultur die Vernunft ein sinnliches
Mittel für eine Tätigkeit hervorbringt, die von dieser hervorbringenden
Tätigkeit verschieden ist, verwirklicht sich die Vernunfttätigkeit im
geistigen Werke, das aber auch seine Sinnlichkeit hat, selbst. Diese durch-
aus gültige Unterscheidung beruht aber auf einer isolierenden Betrach-
tungsweise; sie ergibt sich aus dem beschränkten Gesichtspunkt, von dem.
aus eine Vernunfthandlung nur von einem einzelnen, abgrenzbaren,
wenn auch in sich prinzipiell selbständigen Werk oder Gebilde her in den
Blick genommen wird: in der materiellen Kultur als Herstellung eines
Instrumentes, Zubereitung einer Speise usw., in der geistigen Kultur als
Schöpfung eines Bildwerkes, als Aussage eines Satzes oder Satzzusam-
Ethische Kultur 209

menhanges. usw. Aber solche einzelne Handlungen stehen immer in wei-


ten finalen Zusammenhängen: eine Aussage kann gemacht werden, um
sich das nackte Leben zu retten (weniger dramatisch: ein Vortrag kann
gehalten werden, um Geld zu verdienen oder eine „Stelle" zu kriegen),
ein Werkzeug kann hergestellt werden, um damit ein Kunstwerk zu
schaffen, oder die Zubereitung einer Speise kann in der Absicht geschehen,
jemandem die vitale Voraussetzung wissenschaftlicher Tätigkeit zu ver-
schaffen; und diese wiederum kann im Dienste der Lebensmittelerzeu.:.
gung oder der Vernichtung feindlichen Lebens durch Waffen stehen. Die
Betrachtung der (sinnliche oder geistige) Kulturwerke schaffenden Tätig-
keit ( = Vernunfttätigkeit) in solchen finalen Zusammenhängen eröffnet
ganz andere „Perspektiven": geistige Kultur, in der, isoliert (in Hinsicht
auf ein einzelnes Werk) betrachtet, die Vernunft nur sich selbst verwirk-
licht, kann letztlich nur im Dienste der Sinnlichkeit stehen, während
sinnliche Kultur, ja sogar eine in sich bloß sinnliche Tätigkeit (etwa
essen) im vernünftigen Wesen, das sie ausübt, letztlich allein die Selbst-
verwirklichung der Vernunft zur Absicht haben kann.
Gegen.über der grundlegenden Unterscheidung des § 37 kann also ein
Gesichtspunkt eingenommen werden, von dem a.us die Dinge ganz anders
aussehen. Dieser neue Gesichtspunkt ist nicht nur der umfassendere
(durch den nicht bloß eine einzelne Handlungseinheit, sondern ziel-
gerichtete Handlungsketten zum Gelten kommen), sondern der allein
konkrete. Die finale Absicht liegt ja schon in der einzelnen konkreten
Handlung, obschon sie durch diese Handlung rein als solche nicht be-
stimmt ist (clieselbe Handlung der Art nach kann ja in ganz verschiede-
nen Endabsichten geschehen), so daß das Absehen vom finalen .Zusam-
menhang der Handlung nicht nur Isolierung von der Umgebung, sondern
Abstraktion von einem in der konkreten Handlung selbst liegenden
,,Zug" bedeutet.
Den Begriff der in der Handlung liegenden Absicht (des subjektiven
Wofür der Handlung) gilt es für unsere jetzigen Zwecke zu entfalten.
Das Ziel einer Handlung kann im bloßen Verstandesbewußtsein mehr
oder weniger bestimmt vorgestellt werden. Damit ist bloß eine Vorstel-
lung, evtl. noch ein Wunsch vollzogen. Zur Absicht wird diese mehr oder
weniger bestimmte Vorstellung erst im Willen, zur Handlung bzw. in der
Handlung selbst. Dabei ist es aber meistens so, daß die Zielvorstellung
in der Handlung ihren Vorstellungscharakter als mehr oder weniger an-
schauliche Vorau~llaJ\me eines Zukünftigell ;verliert: dieses Künftigewird
durch die aktue.lle Handlungssituation und das in ihr gerade zu Tuende
210 Die Vernunft (die Kultur)

verdeckt. Aber dieses Ziel ist in der Handlung doch vergegenwärtigt in


der sie tragenden Ausrichtung. Diese Ausrichtung ist kein einzelner Be-
wußtseinsakt oder eine Serie gleichartiger Bewußtseinsakte, sondern
etwas bleibend Festes, das durch mehrere Handlungen hindurchgehen
kann, und doch nur durch diese besteht: sie ist die Gesinnung, die Hal-
tung, in der ich handle oder handeln will.
Diese Handlung oder Gesinnung als Festlegung des Wollens auf ein
Ziel hin ist Kultur: Institution des Verstandes in der Sinnlichkeit. Wie
das Handelnwollen und das vernünftige Handeln nicht bloße Verstan-
desakte sind, sondern sinnliches Begehren und Tun, die aber ihren Sinn
nur im Verstand haben, so ist auch die sie tragende Haltung Verstandes-
funktion übende sinnlich-leibliche Gegenwart: als Bleibendes in der Sinn-
lichkeit übt sie ihre praktische Funktion als verwirklichende Vergegen-
wärtigung eines vom Verstande gedachten Zieles. Sie ist vernünftige
Disposition des sinnlichen Subjekts, nicht im Sinne einer präetablierten
Harmonie, sondern einer Durchgeistigung der Sinnlichkeit oder einer
Verstandesinstitution, wodurch der Verstand als Vernunft eine bleibende
Wirksamkeit auf die Gegenwart besitzt. Diese Haltung oder Gesinnung
(Ethos) ist „Gewohnheit", aber nicht bloße, nur auf der Vergangenheit
beruhende Gewohnheit, die als solche nur sinnlich ist, sondern von einem
vorausgenommenen Ziel, vom Verstande her bestimmte, in ihm auf-
gehobene geistige Gewohnheit (e~t~ :rtQOatQEnx~ wie Aristoteles sagt66 ).
Diese die relativ bleibenden Ausrichtungen des Vernunftsubjekts be-
treffende Kultur dürfen wir wohl ethische Kultur nennen.
Nicht jede Vernunfthandlung entspringt einer vernünftigen Haltung,
einer den Verstand in der Sinnlichkeit instituierenden Ausrichtung. Es
gibt Vernunfthandlungen (z.B. im Zorn hingeworfene Worte) aus bloßer
Leidenschaft, Erregung, in unmittelbarem Affekt. Solche Handlungen
sind haltlos, nicht von einer vernünftigen Ausrichtung beherrscht. An
diesem Gegensatz wird deutlicher, was mit ethischer Kultur gemeint ist.
In Beziehung auf die ethische Kultur ergibt sich eine prinzipielle
Unterscheidung, die eine gewisse Analogie zur Unterscheidung zwischen
sinnlicher und geistiger Kultur besitzt, wie wir sie im § 37 vollzogen
haben. Durch die nun einzuführende Unterscheidung wird sich zugleich
der Begriff des Zieles, des Wofür, klären, den wir den obigen Ausführun-

66 Nikom. Ethik II 1106 b 36-1107 a 2, wobei die neoateEaL; = öeex.tLx.o; voü;


oder ÖQEl;L; OLavo'fltLX.1J ist (VI, 1139 b); die üex11 der neoateEaL; ist öeel;t; x.at
1..oyo; ö evrn6. tLvo; (1139 a).
Ethische Kultur 211

gen zugrunde legten. Die ethische Haltung oder Kultur des Handelnden
ist ein Vernunftprodukt. Diese ethische Ausrichtup.g kann nun aber, prin-
zipiell betrachtet, letztlich vernünftige Ausrichtung auf die Sinnlichkeit
und in diesem Sinne heteronom oder aber vernünftige Ausrichtung auf
die Vernunft selbst und in diesem Sinne autonom sein.
Eine vernünftige ethische Haltung kann letztlich ausgerichtet sein auf
die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse, Neigungen und Triebe, auf
die Erreichung von Stellung, Macht und Lust. Wohlverstanden, die
Handlungen, die in einer solchen Haltung entspringen, geschehen nicht
unmittelbar aus Leidenschaft oder Trieb, denn solche Handlungen wären
ohne ethische Haltung, sondern sie geschehen durch den Verstand und
in der Kultur (Vernunft), sie entstammen aus der vernunftmäßigen
Ausrichtung - auf die Sinnlichkeit. Es sind dies vernunftmäßig be-
herrschte Handlungen, die aber letztlich nur im Dienste der Sinnlichkeit
stehen. Vernunft ist hier letztlich nur Mittel für die Sinnlichkeit. Die
Sinnlichkeit schlechthin ist der unmittelbare partikuläre Standpunkt des
eigenen Bedürfnisses und Genusses, der eigenen Macht, und so ist die
ethische Haltung, in der als Ziel die Sinnlichkeit schlechthin verkörpert
ist, trotz aller vernünftigen Berücksichtigung und Berechnung, ,,Egois-
mus" oder „Selbstliebe". Allerdings ist dieses Eigene nicht notwendig
das bloß individuell Eigene, sondern kann auch das Eigene einer eigenen,
unmittelbar durch sinnliche Bedürfnisse und Triebe konstituierten
Gruppe sein.
Man könnte sich allerdings auch fremde Sinnlichkeit (das Leben von
Tieren oder das bloß sinnliche Leben von Mitmenschen) zum Ziele
setzen. Aber in diesem Falle ist das finale Tun, auf das die ethische Hal-
tung ausgerichtet ist, doch nicht Sinnlichkeit, sondern Vernunfttätigkeit,
denn Handeln in Rücksicht auf fremde Sinnlichkeit (in Vergegenwärti-
gung fremder Sinnlichkeit) ist selbst vernünftiges und nicht sinnliches
Tun: Meine finale Tätigkeit, auf die ich in fester Haltung in allen meinen
Tätigkeiten ausgerichtet bin, ist in diesem Fall Vernunft. Aber vom
fremden Standpunkt aus, der in der eigenen Vernunfttätigkeit vergegen-
wärtigt ist, ist diese nur Mittel zu Sinnlichkeit, und so ist die Vernunft
in dieser Weise doch nicht als Se.lbstzweck anerkannt. Allerdings kann
ich mir auch fremde Sinnlichkeit zum Ziele setzen, insofern diese Sinn-
lichkeit Voraussetzung (Bedingung) und Medium der fremden Vernunft-
tätigkeit ist. Aber gerade insofern steht die eigene Vernunfttätigkeit
wiederum unter der Herrschaft der Vernunft. Die finale Vernunfttätig-
keit (als Ziel meiner ethischen Haltung), die im Dienste fremder Sinn-
212 Die Vernunft (die Kultur)

lichkeit bloß als solcher steht, enthält in sich selbst einen Widerspruch.
Sie ist Vernunfttätigkeit, die sich als Endziel (eigener Tätigkeit) und
zugleich doch nur als Mittel für die bloße (fremde) Sinnlichkeit weiß.
Finale Vernunft ist nur dann mit sich selbst als Vernunft einstimmig,
wenn sie nicht bloß den fremden Standpunkt „vertritt" (versteht und
berücksichtigt), sondern diesen Standpunkt auch als Standpunkt der
Vernunft anerkennen kann.
In der autonomen ethischen Kultur ist die Vernunft auf sich selbst
ausgerichtet, in ihr übt die Vernunft als oberstes finales Prinzip die
Herrschaft, und der in diesem Ethos Handelnde weiß sich, wie Kant
sagt, einer „intelligibelen Ordnung oder Welt" zugehörig. In ihr setzt
sich die Vernunft nicht bloß als vorübergehendes Mittel, sondern als
bleibenden Zweck: sie bewahrt sich dadurch selbst „bis ans Ende" und
entspricht dadurch allein ihrem Verlangen zu sein. Dieses Verlangen der
Vernunft, selbst zu sein, ist die Grundlage und Voraussetzung aller
autonomen ethischen Kultur und auch aller einzelnen sittlichen Gesetze.
Solche Gesetze geben nur an, wie dieses Verlangen realisiert werden
kann, und wo es fehlt, bzw. wo es verschüttet ist, kommen die sittlichen
Gesetze nicht an, sie vermögen nichts zu sagen. Wer in sich nicht die
Vernunft realisieren will, ist von sittlichen Gesetzen nicht ansprechbar,
er ist durch nichts von ihnen zu überzeugen, sie gewinnen für ihn keine
Gültigkeit. Jede Erziehung zum Sittlichen muß dieses Verlangen voraus-
setzen.
Zwischen der autonomen und der heteronomen ethischen Kultur be-
steht ein Unterschied hinsichtlich der Freiheit. Es ist aber nicht so, daß
nur die autonome ethische Kultur, in der sich die Vernunft selbst ober-
ster Bestimmungsgrund ist, frei wäre, wie dies Kant meinte, so daß „ein
freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen ( = unter dem Ge-
setz der reinen Vernunft) einerlei" sein würde 67 • Auch die heteronome
Kultur ist frei, da sie vernünftig ist. Schon der bloße Verstand ist frei;
nämlich;" nicht eingeschlossen in den unmittelbaren Antrieb, in die un-
mittelbare Gegenwart: in die Sinnlichkeit. Aber diese Freiheit des bloßen
Verstandes ist bloß negativ: sie ist eine bloß vergegenwärtigende, ,,träu-
merische" (erinnernde, phantasierende etc.), ohnmächtige Freiheit, die
nur innerlich ist und sich noch nicht im gegenwärtig Realen auswirkt,
noch nicht in ihm handelt. Die Freiheit wird erst positiv, wenn sie Macht
über die unmittelbare Realität gewinnt, diese gestaltet, d. h. wenn die

07 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., S. 447.


Ethische Kultur 213

Vergegenwärtigung zur im Sinnlichen wirkenden Vernunft wird. Frei-


heit im positiven Sinne, die noch nicht dem bloßen Verstande, sondern
der Vernunft zukommt, ist die Fähigkeit, gemäß dem Verstande im
Sinnlichen handeln zu können. Oberstes Leitprinzip der Vernunft in der
heteronomen ethischen Kultur ist die Sinnlichkeit, aber nicht die Sinn-
lichkeit schled.ithin in ihrer unmittelbaren Wirklichkeit, sondern als die
vom Verstande als Ziel gedachte, von ihm selbst sich vorgehaltene Sinn-
lichkeit. In der heteronomen, der sinnlid.ien ethischen Kultur steht. die
Vernunft in freiem Dienste von etwas, in dem selbst keine Freiheit
besteht und worin sie sich letztlid.i verlieren will, während in der auto-
nomen, der geistigen ethisd.ien Kultur positive Freiheit im Dienste ihrer
selbst steht, Vernunft also um ihrer selbst willen in der Sinnlichkeit wirkt,
wodurch der volle positive Freiheitsbegriff gekennzeichnet ist.
Wir sagten, das Ziel der autonomen ethischen Kultur als einer habi-
tuellen Ausrichtung oder Gesinnung sei die Vernunft selbst. Wie ist dieses
praktische Ziel als solches aufgrund unseres Vernunftbegriffs zu expli-
zieren?
Vernunft erwies sich uns als in die Sinnlichkeit eingreifender, sie in
verschiedenen Weisen gestaltender Verstand, Als Verstand ist die Ver-
nunft Entgegenwärtigung, Transzendenz des unmittelbaren, sinnlichen
Standpunktes, Vergegenwärtigung anderer Standpunkte, vergangener
und künftiger, eigener und fremder, wirklicher und möglicher, im Er-
innern, Vorausplanen, Phantasieren, Einfühlen in Andere; als das ist sie
ein Vermögen der Wahrheit, sofern „Wahrheit" die Überwindung des
partikulären sinnlichen Gesichtspunktes in der allgemeinen Berücksichti"."
gung, im ~.Verstehen" verschiedener Gesichtspunkte bedeutet. Inwiefern
ist diese-müssige Ausbreitung unseres Daseins, diese universal spiegelnde
,,Schau", dieseTheoria des Verstandes das Leitziel der Vernunft?
Aristoteles bringt am deutlichsten folgenden Grund für das Primat
der Theoria im Ziel der Ethik zur Geltung: Der Mensch als vernunft-
begabtes Wesen ist vorzüglich das Höchste in ihm, er ist Vernunft 68 •
Diese Vernunft ist entweder an sich etwas Göttliches, ,,der Gott in uns",
oder „das Göttlichste in uns" 69 • Als solches ist die Vernunft unabhängig
(xwQLO"toc;) vom Leibe70 . Die Theoria ist diejenige Tätigkeit, in der die

68 Nik. Ethik, IX, 1166 a 16-17, 22-23; 1168 b 28-,35; X, 1178 a 2-3.
09 A. a. 0., X, 1177 a 15-16; Eudem. Ethik, VIII, 3 (ich folge dabei dcrCfotcr-
pretation von Arnims bzw. F. Dirlmeiers, also Oe6i; ist zu verstehen als der.. Gott
in uns, als uoiii;, als Subjekt der Oerogta.
1o De anima III, 429 b.
214 Die Vernunft (die Kultur)

Vernunft rein aus sich und für sich tätig ist, d. h. unabhängig vom Leibe,
unvermischt mit seiner Sinnlichkeit71, während in der praktischen Ver-
nunft der Mensch als ein „zusammengesetztes", nämlich sinnliche Leib-
lichkeit in sich schließendes Wesen handelt 72 • Die Theoria ist die höchste
Tätigkeit des Menschen, weil sie eigentlich die Tätigkeit Gottes, der
,,reinen Vernunft" ist73 •
Für uns ist der Verstand nicht von der leiblichen Sinnlichkeit loslös-
bar. Der Verstand als eigenes Prinzip, eben als Entgegenwärtigung oder
Vergegenwärtigung als solche, ist zwar nicht auf die Sinnlichkeit zurück-
zuführen, aber er setzt Sinnlichkeit sowohl als sein Fundament voraus,
wie er auch Sinnlichkeit zu seinem intentionalen Inhalt hat, nicht bloße
Sinnlichkeit, aber „reflektierte" (,,gespiegelte") Sinnlichkeit74 • So sah es
am Ende wohl auch Aristoteles, wenn er in spätesten Texten erklärt, daß
die Tätigkeit unserer Vernunft immer mit sinnlichen Phantasmen einher-
geht, daß die Vernunft, sofern sie rezeptiv, von der Sinnlichkeit ab-
hängig ist, das Schicksal des Leibes teilt 75 , und nur sofern sie „produktiv"
ist, also nm als Prinzip der Vernünftigkeit, Unabhängigkeit vom Leibe
besitzt76• Aber eben diese „produktive" Vernunft ist wohl auch in
Aristoteles' Verständnis noch gar keine konkrete Vernunftgestalt, son-
dern nur das vernünftige Prinzip innerhalb der konkreten, immer an die
Sinnlichkeit gebundenen Vernunfttätigkeit77 •
Der bloß „schauende" (die Sinnlichkeit nicht gestaltende) Verstand
ist zwar in gewisser Hinsicht die von der Sinnlichkeit am meisten distan-
zierte Vernunftform (,,Vernunft" hier im weiten Sinne verstanden),
dennoch kann er nicht das höchste Vernunftideal ausmachen. Denn er ist
von der Sinnlichkeit abhängig, ohne auf diese einzuwirken, ohne sie zu
beherrschen und sie damit in ihrer Gegenwart in eine Funktion für die
Vernunft aufzuheben. Der Verstand in seinen bloßen Spiegelungen ist
gegenüber der Sinnlichkeit ohnmächtig und läßt sie als solche in ihrer
Selbständigkeit bestehen. Eine Vernunft, die das Sinnliche ihrem eigenen
Leben dienstbar zu machen und so in sich aufzuheben vermag, ist schon
deshalb dem die Sinnlichkeit nicht berührenden Verstand vorzuziehen.

71 Nik. Ethik X, 1178 a 22.


72 A. a. 0., 1177 b 28; 1178 a 20.
73 A. a. 0., 1178 b 22 ff.; ld etaphysik A, 983 a 5 ff.
7,i Vgl. oben§ 18.
15 De anima III, 5, 430 a 24-25.
76 A. a. 0., 430 a 22-23.
77 A. a. 0., 430 a 25.
Ethische Kultur 215

Auch hier finden wir uns schließlich wieder zu Aristoteles zurück: ,,Dies
ist die beste Bestimmung der Seele: sowenig wie möglich den vernunft-
losen Seelenteil auftreten zu lassen, und zwar den vernunftlosen Seelen-
teil als solchen (d. h., sofern er gegenüber der Vernunft selbständig ist)."
Das ist der Schlußsatz der Eudemischen Ethik. Aber es ist nicht nur dieser
Herrschaftsbezug als solcher, der die in die Sinnlichkeit praktisch ein-
greifende Vernunft höher stellt als den bloß reflektierenden Verstand,
sondern in diesem Eingreifen verwirklicht sich das Wesen der Vernunft,
als Vergegenwärtigung betrachtet, in vollerem Sinne als in der bloßen
Spiegelung. In Zeichen, Bildern, Sprachen, Spielen etc. erschließt sich die
Vernunft Gesichtspunkte, die ihr ohne diese ausdrückenden Institutionen
leer bleiben würden.
Aristoteles begründet noch mit einem weiteren schwerwiegenden
Gedanken das Primat der Theoria, den zu diskutieren für unsere Be-
stimmung des praktischen Zieles des autonomen Vernunftethos fruchtbar
ist. Er sagt, daß die Tätigkeit der Theoria allein um ihrer selbst willen
geliebt werde, während wir in einer praktischen Tätigkeit immer in
größerem oder geringerem Maße Dinge schaffen, die für etwas anderes
als für diese Tätigkeit selbst sind (außerhalb ihrer liegen, wie sich
Aristoteles ausdrückt) und denen sie demnach als dem Besseren unter-
geordnet ist78 • Es ist der Gedanke, daß allein die Theoria frei ist vom
Dienst an der Bereitstellung der notwendigen „Lebensmittel" und daher
allein einen reinen Selbstzweck ausmacht79 •
Diese Überlegung können wir uns in ihrem Grundgedanken für die
Bestimmung des Vernunftideals durchaus aneignen, aber das Resultat,
das wir daraus im Lichte unseres Vernunftbegriffes erzielen, sieht doch
etwas anders aus. Wir können festhalten, daß eine Vernunfttätigkeit,
die bloß Mittel für eine andere Tätigkeit (sei es eine bloß sinnliche oder
wiederum vernünftige) bereitstellt, nicht den obersten Vernunftzweck
ausmachen kann. Der ganze Bereich der materiellen oder sinnlichen Kul-
tur, wie wir ihn oben bestimmten (§ 37), ist als solche Mittelerzeugung
zu fassen. Aber nicht jede vernünftige Erzeugung im Sinnlichen ist in
sich Mittelerzeugung für eine andere Tätigkeit, sondern die Tätigkeit der
geistigen Kultur bildet Sinnliches für sich selbst als Milieu ihrer Selbst-
verwirklichung80. Das oberste Ziel der Vernunft kann also nicht in der

78 Nik. Ethik X, 1177 b 1-4, 16-20; vgl. I, 1094 a 3-6.


70 Vgl. Metaphysik, A, 2.
80 Vgl. oben, S. 161 ff.
216 Die Vernunft (die Kultur)

materiellen; .Instrumente und Lebensmittel hervorbringenden, sondern


muß in der geistigen Kultur liegen, aber die geistige Kulturtätigkeit ist
nicht bloße Theoria, sondern praktisches Eingreifen in die Sinnlichkeit,
etwa im Sprechen und Spielen, im Bilden sozialer Institutionen etc., auch
in der ethischen »Gewöhnung". Auch hier treffen wir in unserem Gegen-
satz zu dem einen Aristoteles wieder mit einem anderen Aristoteles
zusammen; der erklärt, daß die ethische Praxis im Gegensatz zur Poiesis,
zum Produzieren (zu der er allerdings auch Tätigkeiten rechnet, die wir
als geistige Kultur bestimmten), sich selbst zum Ziele habe81 •
Aber noch ein drittes entscheidendes,Motiv spielt in Aristoteles' Be-
vorzugung der Theoria, nämlich die Würde ihres Gegenstandes. Wäh-
rend es die praktische Vernunft mit dem Menschen zu tun hat82, widmet
sich die 'Theoria dem Ehrwürdigsten, dem Göttlichen 83 • ,,Der Mensch ist
nicht das Beste im Universum. " 84 Aber sofern ein solcher .Bezug zum
Göttlichen sich nicht durch die sinnliche Welt und Kultur vollzieht, kann
er •nur durch eine vom Göttlichen ausgehende innere »Erleuchtung"
zustandekommen. Es sei denn, der Mensch sei selbst dieses Göttliche und
brauche es bloß in sich zu spiegeln. Geschieht der Bezug zum Göttlichen
aufgrund einer vom Göttlichen bewirkten „Erleuchtung", so ist er kein
ethisches Ziel: kein vom Menschen selbst realisierbares Ziel (kein
3t()<XXl'6V).
Unser Vernunftbegriff erlaubt uns nicht nur, das Ziel des autonomen
Vernunftethos durch den Vorzug der in Sinnlichkeit gestaltenden Ver-
nunft gegenüber dem bloß schauenden Verstand und den Vorzug der
.geistigen gegenüber der sinnlichen Kultur zu explizieren, sondern diesem
Ziel auch einen spezifisch intersubjektiven Ausdruck zu geben. Wenn
Vernunft ,darin besteht,•über· den unmittelbaren sinnlichen Standpunkt
hinauszugehen'. tirid .vergegenwärtigend aridere Gesichtspunkte einzu-
nehmen, so bedeutet dies ,auch, daß die Vernunft, uin selbst zu sein,.· in
ihrem Handeln auf die durch die Empirie indizierten fremden Stand-
punkte ;,Rücksicht": zu. nehmen· hat, sofern sich diese Standpunkte als
nicht bloß; 'sinnliche, sondern selbst als verni.inftige zu erkennen geben.
·Diese Rücksichtnahme auf die anderen Standpunkte bedeutet die Ver-
·antwortung und Rechtfertigung der eigenen Stellungnahmen und.Hand-
.h:ingen·vor deri Standpunkten der Anderen. Diese vernünftige Vergegen-

81 Nik. Ethik VI, 2, 1139 b 1-4; 4, 5; 1140 b 3-7.


8t A. a. 0., VI, 5, 1140 b 5-6.
83 A. a. 0., VI, 7, 1141 b 2-3; X, 7, 1177 a 15; Metaphysik A, 2, 983 a 5-8.
84 A. a. 0., VI, 7, 1141 a 21-22.
Ethische Kultur 217

wamgung und Vertretung anderer Standpunkte im eigenen Harideln


kann aus sich selbst keine andern Vernunftstandpunkte ausschließen, da
in dieser Zurückweisung die Vernunft sich selbst (ihrem vergegenwärti-
genden Wesen) entgegenhandeln würde. Das Ethos der Vernunftherr-
schaft ist daher „altruistisch" auf alle andern Vernunftstandpunkte
ausgerichtet. Dabei sind diese anderen Standpunkte aber nicht zum vor-
aus gegeben, sondern das sittliche Ethos muß das beständige Bestreben
enthalten, sich den anderen Vernunftstandpunkten und -interessen
immer mehr empirisch zu erschließen. Das Kantische Sittengesetz, das die
intersubjektive Verallgemeinerungsfähigkeit der praktischen Maximen
verlangt, ist eine Formel dieses intersubjektiven Aspektes des Vernunft.:.
ideals. Aber die in dieser Formel geforderte Allgemeinheit ist, schlechthin
und absolut ausgesagt, zu abstrakt und trägt der notwendig immer kon-
tingenten Situation der Vernunft nicht Rechnung. Zwar darf die Ver-
nunft, aus ihrem Wesen, keine anderen Vernunftstandpunkte ausschlie-
ßen, wenn sie sich selbst sein will, und muß insofern alle berücksichtigen.
Diese Beri.icksichtigung „aller" andern Standpunkte in der Transzendenz
der eigenen Position kann aber keine „frei schwebende", jenseits aller
Relativität liegende Universalität und Absolutheit bedeuten. Denn Ver-
nunft ist immer nur Vernunft in der Sinnlichkeit; sie ist ja Verwirk-
lichung des Verstandes in der Sinnlichkeit, und Verstand selbst ist nur
Verstand auf dem Boden der Sinnlichkeit. Zwar liegt das Wesen des
Verstandes gerade darin, die Position der Sinnlichkeit zu transzendieren,
und die Vernunft ist die „Einverleibung" dieser Transzendenz in die
sinnliche Wirksamkeit, aber diese Überwindung· und Aufhebung der
Sinnlichkeit geschieht doch immer von der Sinnlichkeit aus und in der
Sinnlichkeit. Somit ist auch die Vernunfttätigkeit, trotz ihrer Universali-
tät, doch immer in einer orientierten praktischen Welt. Das praktische
intelligible Universum ist orientiert: es gibt in ihm eine Nähe und eine
Ferne, Bereiche praktischer Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit, es gibt
in ihm nahe und entfernte andere Vernunft, ihre Beri.icksichtigung ist
durch das sinnliche Umfeld und Vermögen bedingt, das durch sie tran-
szendiert wird. Aber trotz dieser unüberwindlichen, die (bedingte) All-
gemeinheit der Vernunft i.iberhaupt ermöglichenden Relativität ist die
Vernunft auf keine besondere Relativität fixiert, sondern verwirklicht
sich beständig darin, jede bestimmte Relativität zu i.iberwinden. Nur· das
mittelbare Bewußtsein dieser beständigen und notwendigen Relativität
besitzt völlig absoluten Charakter; die.ses Bewußtsein ist ab.er. bloßer
Verstand und nicht in der Sinnlichkeit verwirklichte Vernunft.
218 Die Vernunft (die Kultur)

Aus unserem Zusammenhang ist aber wohl auch deutlich, daß das
praktische Ziel des autonomen Vernunftethos, auch rein wesensformal
betrachtet, in der intersubjektiven Allgemeinheit (Gesetzlichkeit) nicht
schon seinen adäquaten, das Ziel voll wiedergebenden Ausdruck finden
kann, wie dies Kant meinte. Die intersubjektive Allgemeinheit (die Form
der allgemeinen Gesetzgebung) ist zwar ein (immer zu relativierendes)
Moment des Vernunftideals, aber reicht bloß als solche zur Bestimmung
dieses Ideals nicht aus. Denn allgemein gesetzmäßig könnte auch eine
Handlungsordnung sein, die letztlich gar nicht sittlich ist. Das ethische
Prinzip der Gesetzmäßigkeit vermag bloß rein negativ solche Hand-
lungsvorhaben auszuschließen, die, wenn sie allgemein gesetzlich gedacht
werden, in sich einen Widerstreit oder Widerspruch enthalten. Tatsäch-
lich vermag Kant selbst in seiner Ableitung einzelner Pflichten nicht mit
dieser formalen Einstimmigkeit oder Einheit des allgemein gedachten
Willens (die er in Analogie zur Einheit des Bewußtseins als dem Prinzip
aller Theorie denkt85) auszukommen. Er erklärt: »Einige Handlungen
sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als
allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann ... Bei anderen ist zwar
jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich
zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes
erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde. "88
In dieser zweiten Art der Widersprüchlichkeit ist nicht einfach die Ein-
stimmigkeit allgemein gesetzmäßigen Handelns leitend, sondern Kant
muß für sie voraussetzen, daß ein vernünftiger Wille letztlich die Ver-
nunft wollen muß. Er kann sich also bei der Bestimmung des autonomen
Vernunftethos nicht mit der bloßen Form der Gesetzgebung begnügen,
sondern muß diese auf ein Ziel hin beziehen, das nicht einfach analytisch
in dieser Gesetzlichkeit als solcher zu finden ist, das er aber wegen seines
kargen Verhunftbegriffs (der sich im wesentlichen auf das Vermögen der
Regel oder des Gesetzes reduziert) nicht näher explizieren kann. Dieses
Ziel läßt sich schon rein formal aus dem Wesensbegriff der Vernunft weit
reicher artikulieren als durch bloße intersubjektive Allgemeinheit (oder
die homologen Formeln des „kategorischen Imperativs"), wie uns bereits
in unseren vorangegangenen Überlegungen über das Primat der sinnlich
gestaltenden Vernunft (gegenüber dem bloß „theoretisierenden" Ver-
stand) und das Primat der geistigen Kultur spürbar wurde.

8' Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 453/54.


80 A. a. 0., S. 424.
Ethische Kultur 219

Im Falle, in dem das Ethos sich die Vernunft selbst zum obersten Ziel
(Bestimmungsgrund) setzt, wie steht es dann mit seinem Verhältnis zur
Sinnlichkeit? Es ist interessant, diese Frage noch in einer anderen Hin-
sicht weiter in einer Gegenüberstellung zur Ethik Kants zu erörtern, da
sie im Zentrum dieser Ethik steht und eine solche Gegenüberstellung
unseren eigenen Gedanken verdeutlicht.
Der Grundtenor der Kantischen Ethik ist der prinzipielle Gegensatz
und die radikale Fremdheit zwischen der bloß auf reiner Vernunft be-
ruhenden sittlichen Gesinnung, die nur in der reinen Achtung für das
Sittengesetz besteht, und den sinnlichen Bedürfnissen und Neigungen, die
ihre Befriedigung (die „Glückseligkeit") zum Gegenstande haben. Die
Sittlichkeit hat zwar ein wirkliches Verhältnis zur Sinnlichkeit, dieses
wirkliche Verhältnis ist aber ein bloß negatives: Tugend ist „moralische
Gesinnung im Kampf" 87 , d. h. sie schränkt die Sinnlichkeit ein und tut
ihr als „Eigendünkel" ,,unendlichen" Abbruch. Gerade in dieser „De-
mütigung" der Sinnlichkeit, in der Mißachtung und Niederschlagung
ihrer eigenen Ansprüche, in der Wegräumung des Widerspiels ihrer Nei-
gungen, verschafft sich das Sittengesetz diejenige Achtung, die die sittliche
Gesinnung ausmacht88 • Aufgrund dieses bloß negativen Verhältnisses
kann Kant die Ethik als eine rein apriorische behaupten: Was in jed-
welcher Situation sittlich zu tun ist, ist rein aufgrund des apriorischen
Gesetzes der praktischen Vernunft zu erkennen, es bedarf dazu nicht der
geringsten Berücksichtigung der Erfahrung, die ja immer sinnlich ist89 ;
reine (apriorische) Vernunft langt für sich allein zur Bestimmung des
Willens zu, sie kann für sich selbst praktisch sein90 • Zwar scheint Kant
in seiner Idee der Bestimmung des Willens zur Tat durch das reine
Sittengesetz doch auch mit der Erfahrung zu rechnen: ,,Die Kausalität
in Ansehung der Handlungen der Sinnenwelt muß sie (die praktische
Vernunft) allerdings auf bestimmte Weise erkennen, denn sonst könnte
praktische Vernunft wirklich keine Tat hervorbringen. " 91 Andererseits
dient nach Kant der praktischen Urteilskraft die sinnliche Natur als
„Typus" oder „Symbol" für die sittliche Beurteilung einer Handlung
in concreto: ,,Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn

87 Kritik der praktischen Vernunft, S. 151 (Akad.-Ausg. S. 84).


88 Vgl. a. a. 0., S. 130 ff. (Akad.-Ausg. S. 73/4), S. 202 (Akad.-Ausg. S. 115) u. a.
89 Vgl. z.B. Gmndlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 402 ff.
9° Kritik der praktischen Vermmft, S. 30 (Akad.-Ausg. S. 15), S. 72 (Akad.-
Ausg. S. 42).
91 A. a. 0., S. 86 (Akad.-Ausg. S. 49).
220 Die Verriunfr(die Kultur)

sie\nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest,
geschehen sollte, sie du ·wohl als durch deinen Willen möglich· ansehen
könntest. Nach dieser Regel beurteilt in der Tat jedermann Handlungen,
ob sie sittlich gut oder böse sind. " 92 „Es ist also auch erlaubt, die Natur
der Sinnenwelt als Typus einer intelligibelen Natur zu, brauclien ... " 93
Aber die empirische Sinnenwelt, die nach Kant in die reine praktische
Vernunft hin einspielt, ist nicht: die faktische Empirie, ist nicht ein· Er-
fahrungsinhalt, sondern bloß die „Form der Gesetzmäßigkeit über-
ha'.upt"94, also bloß die (apriorische) Form der Erfahrung. Auf ·den fak-
tischen Jnhalt der Erfahrung :koinmt es nach Kant der. sittlichen Bestim-
mung des Willens zur •Tat (der reinen praktischen Vernunft)'-überhaupt
nicht an, denn ihr ist es· ,,nicht üm die Möglichkeit der Handlung als
einer Begebenheit in der Sinnenwelt zu tun" 95 • Obschon das reine Sitten-
gesetz „der Sinnenwelt, als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen
Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer übersinnlichen
Natur verschaffen sol1" 96, soll nach Kant der sittlichen Vernunft· ihre
Ausführbarkeit (die reale Vermöglichkeit ihrer Verwirklichung) in der
Sinnenwelt völlig gleichgültig sein: ,,Das Urteil,-ob etwas ein Gegenstand
der reirien praktischen Vernunft sei oder nicht, ist von der Vergleichung
mit uriserein physischen Vermögen ganz unabhängig. " 97 Daß subjektive~
sinnlich naturhafte Ursachen (,,pathologische~', wie Kant sagt)die Kuße-
rung (Wirkung) der praktischeri Vernunft in der Sinnenwelt evtl. ver-
hindern können, ist nicht die Sorge der reinen praktischen Vernunft,
denn sie darf sich nicht: uin die naturhaften praktischen Vermögen küm-
mern98. ·Während :Kant· gerade die Möglichkeit des Willens im· Sinne ·der
Widerspruchslosigkeit der von· ·diesem zur Allgemeinheit erhobenen

· 92 A., a. 0., S. 122 ·(Ak;i.~~-1\usg.. S~ 69); :vgl: die Jlörmel de~ kategorisch~n Imperativs
. ·iri ·der· Grun~legung: :"!ia:ndle so, als_ ob die_ Maxh~e deiner Handlu11g zum, a:II-
,. gemeinen Naturgesetz werden sollte" (Akad:-Ausg. S.:421). · · · ·
88 Kritik der praktischen Vernunft, S;124 (Akad.~Ausg. S. 70). ·
"am~ ,· ' ' . .
. 95 A. a. o., S. 121
(Akad'.~Ausg. S..68).
98 s;
A. a. O;, ·s. 74 (Akac:L-Ausg; 43). .
97 A. a. 0., S. 101 (Akad.-Ausg. S. 57).
98 „Ob die Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte zulange oder nicht,
bleibt den theoretischen Prinzipien: der Vernunft zu beurteilen überlassen, als
Untersuchung der Möglichkeit der Objekte des Wollens,· deren Anschauung also in
der praktischen Aufgabe gar kein , Moment derselben ausmacht. Nur auf die
„Willensbestimmung und, den•, Bestimmungsgrund der Maxime desselben' als·· eines
freien Willens kommt es hier an, nicht auf den Erfolg" (a. a. 0., S:78/79; Akad.-
Ausg. S. 45).
Ethische Kultur 221

Maximen (,,als ob sie Naturgesetze werden sollten") zum Kriterium der


Sittlichkeit des Willens (bzw. dieser Maximen) erklärt99 , soll die Mög-
lichkeit des Willens im Sinne der „physischen" Realisierbarkeit der ent-
sprechenden Handlung in der sinnlichen Welt für die Sittlichkeit keine
Rolle spielen. In diesem realen Sinn kann der Kantische reine Wille
Unmögliches wollen.
Auch in unserer eigenen Idee der geistigen ethischen Kultur ist die
Sinnlichkeit in keiner Weise oberster Bestimmungsgrund des Willens. Sie
ist in diesem Ethos letztlich nie für sich selbst gewollt; für sich selbst
gewollt ist allein die Vernunft. Insofern können wir Kant folgen. Aber
für uns ist Vernunft keine von der Sinnlichkeit losgelöste Idee. Auch wir
wi.irden mit Kant sagen, daß die Sittlichkeit „ganz andere Quellen hat"
als die sinnlichen Neigungen100, aber Vernunft ist für uns Verwirk-
lichung des Verstandes in der Sinnlichkeit, bzw. ,,Aufhebung" der Sinn-
lichkeit in den Verstand. Diese Verwirklichung bzw. Aufhebung ist
zwar, wie Kant sagt, ,,Kampf" und kann für die Sinnlichkeit schmerz-
voll101 sein, da sie in dieser Vergeistigung auf ihren eigenen, autonomen
Sinn zugunsten des Verstandes verzichten muß und für den Verstand
angestrengt wird. Aber in der Verwirklichung der Vernunft kann. nicht
der Verstand aus sich allein bestimmen, was der Sinnlichkeit zukommen
darf, sie kann nicht schlechthin „alle Neigungen auf die Bedingung der
Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränken" 102, da die Sinnlichkeit
ihre eigenen faktischen Gesetze des Lebens hat, die der Verstand respek-
tieren muß, wenn er sich nicht seinen eigenen Boden und das Milieu
seiner Verwirklichung entziehen will. Auch Kant muß gestehen: ,,Der
Mensch ist ein bedürftiges Wesen, sofern er zur Sinnenwelt gehört; und
sofern hat allerdings seine Vernunft. einen nicht abzulehnenden Auftrag
von seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu beküin'-
mern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückselig-
keit dieses und wo möglich auch eines kiinftigen Lebens, zu machen;" 103
Aber dennoch zieht er nicht in Betracht, daß solche immer nur empirisch
zu ermittelnden Interessen der Sinnlichkeit der sittlichen Vernunft selbst
Grenzen setzen und sie bestimmen könnten, nicht weil diese die Sinn-
lichkeit über ihre eigenen, ,,reinen" Interessen stellen würde, sondern
weil Vernunft selbst die Befriedigung gewisser faktischer Interess.en::. der
09 Vgl. etwa Grundlegung, Akad.-Ausg. S. 424, 437.
10 ° Kritik der praktischen Vermmft, S.149 (Akad.-Ausg. S. 84).
101 A. a. 0., S. 129 (Akad.-Ausg. S. 73). .
102 A. a. 0., S. 139 (Akad.-Ausg. S. 78), vgl. S. 108/109 (Akad.-Ausg. S. 61/2),
222 Die Vernunft (die Kultur)

Sinnlichkeit voraussetzt und damit für sich (die Vernunft) selbst fordern
muß. Für das geistige Ethos ist die Sinnlichkeit kein Selbstzweck (kein
letzter Bewegungsgrund), sie ist aber eine eigene Realität, auf die es als
der Bedingung seines eigenen Zieles, der Vernunft, einzugehen und
Rücksicht zu nehmen hat 104 •
Dadurch ist aber unser Gegensatz zu Kant noch nicht im innersten
Punkte deutlich geworden: Vernunft ist nicht bloß keine von der Sinn-
lichkeit ablösbare apriorische Idee, sondern sie ist in gewisser Hinsicht
ein empirisches Faktum bzw. ein nur empirisch zu verwirklichendes und
damit auch nur empirisch zu verfolgendes Ideal. Zwar ist Vernunfttätig-
keit als solche nicht empirisch erfahrbar, sie ist kein sinnliches Phänomen;
auch liegt in einer Vernunfttätigkeit als solcher ein Gesetz, ein Wesen,
das nicht durch Erfahrung zu erkennen ist. Aber daß Sinnlichkeit über-
haupt so ist, daß sich Verstand als Vernunft instituieren und damit ver-
wirklichen läßt, und überhaupt jede konkrete Vernunftgestalt ist als
sinnlich so und so verwirklichte ein empirisches Faktum, bzw. als sinnlich
so und so zu verwirklichende ein nur empirisch zu realisierendes Ideal.
Der letzte Bestimmungsgrund des geistigen Ethos, die Vernunft als
solche, enthält als formale Idee (nämlich als Verwirklichung des Ver-
standes in der Sinnlichkeit bzw. als Vergeistigung der Sinnlichkeit)
keinen empirischen Gehalt, aber diese Idee ist konkret überhaupt nur
aufgrund und in empirischer Erfahrung zu verwirklichen und zu ver-
folgen.
Obschon das Ziel des geistigen Ethos weder eine sinnliche Empfin-
dung (etwa Lust), noch ein bloßes empirisches Phänomen, sondern als
Vernunfttätigkeit nur rein reflexiv erfaßbar ist und eine apriorische
(wesensmäßige) Gesetzlichkeit in sich schließt, kann es aufgrund des
Wesens dieses Zieles selbst keine apriorische Ethik oder reine Praktik
geben. Die reine (apriorische) Vernunft kann für sich selbst nicht prak-
tisch sein, wie Kant meinte, sondern die formale Idee der Vernunft
selbst als Ziel der Praxis fordert die „Materialität" (den Inhalt) der
Erfahrung. Die Ethik ist nicht aus der bloßen Idee eines endlichen (sinn-
lichen) Vernunftwesens abzuleiten, sondern ist notwendig auf das empi-

10 3 A. a. 0., S. 108 (Akad.-Ausg. S. 61).


104 Demgegenüber Kant: ,,Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein
oder nicht, und die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit ankommt, muß nicht bloß den
Vormund derselben vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine
praktische Vernunft ihr eigenes Interesse ganz allein besorgen." A. a. 0., S. 213
(Akad.-Ausg. S. 118).
Ethisd1c Kultur 223

rische, geschichtliche Faktum Mensch bezogen: die sittliche Erkenntnis


hat es mit dem „für den Menschen Guten und Schlechten" zu tun105 •
M. a. W., die Ethik ist nicht Erste Philosophie, d. h. sie ist nicht reine
(eidetische, apriorische), sondern Zweite, empirische Philosophie 106 • Aus
dem wesensformalen Vermmftziel allein weiß ich nicht, was sittlich zu
tun ist, wenn ich nicht aus Erfahrung weiß, wie sich Vernunft in meiner
faktischen Umwelt verwirklicht und verwirklichen kann. Insofern ich
solche Erfahrung nicht schon zum voraus ausreichend erworben habe,
sondern im Handeln selbst erst gewinnen kann, ist sittliches Handeln
ein Wagnis.
Nach Kant ist in einer jeden Situation rein aus einem einzigen forma-
len Prinzip abzuleiten, was sittlich zu tun ist: ,, Was ich also zu tun habe,
damit mein Wollen sittlich gut sei, dazu brauche ich gar keine weit aus-
holende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des Weltlaufes, un-
fähig auf alle sich ereignenden Vorfälle desselben gefaßt zu sein, frage
ich mich nur: Kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines
Gesetz werde?" 107 „Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen
Gesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der gemeine Verstand ohne
Unterweisung unterscheiden. " 108 Aber an Kants Beispielen solcher Ablei-
tungen konkreten sittlichen Sollens aus seinem ethischen Grundprinzip,
„daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten" soll 109 , wird die Unhaltbarkeit einer
apriorischen formalen Ethik deutlich110 • Kant muß in diesen Ableitungen
von empirischen Kenntnissen Gebrauch machen, die er aber so allgemein
und vage hält, daß sie einerseits als selbstverständlich und gar nicht auf
besonderen Erfahrungen beruhend erscheinen und andererseits doch nicht
wirklich zur ethischen Bestimmung des Sollens hinreichen. Z. B. soll die
Maxime, daß ich in der Not (,,im Gedränge") ein Versprechen abgeben
darf, das ich nicht zu halten beabsichtige, unsittlich sein, da sie sich nicht
zu einem allgemeinen Gesetz eigne: ,,denn nach einem solchen (Gesetz)

1o 5 Nikom. Ethik, VI, 1140 b 5--6.


100 Vgl. unten das 2. Kapitel des 3. Abschnittes (§ 52).
107 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 403.
108 Kritik der praktischen Vernttnft, S. 49 (Akad.-Ausg. S. 27).
100 A. a. 0., S. 54 (Aka:d.-Ausg. S. 30); gegenüber den anderen Formeln des katego-
risdien Imperativs, die Kant in der Grundlegung entwickelt und als „im Grunde
einerlei" erklärt, ist die angeführte die erste: die den andern zugrunde zu legende·
(vgl. a. a. 0., Akad.-Ausg. S. 436/7).
110 Vgl. Grundlegung, Akad.-Ausg. S. 402/3, 421 ff., 429 f.; Kritik der praktischen
Vernunft, S. 49 (Akad.-Ausg. S. 27).
224 Die Vernunft (die Kultur)

würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre,


meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen Anderen vor"'.'
zugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben oder, wenn sie es
übereilterweise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden;
mithin meine Maxime, sobald sie zum allgemeinen Gesetz gemacht
würde, sich selbst zerstören müsse. " 111 Diese Begründung setzt einerseits
die psychologische Erfahrung voraus, daß man einem, der einmal gelogen
hat, auch dann nichts glaubt, wenn er die Wahrheit spricht, andererseits
ist diese Erfahrung aber so allgemein und vage, daß sie für die gestellte
ethische Frage gar nicht zureicht: denn, wenn in der Not falsche Ver-
sprechungen gegeben werden, braucht nicht das Versprechen überhaupt
allen Kredit und damit seine Existenz zu verlieren, denn man könnte
sich ja umgekehrt zur Maxime machen, nur demjenigen zu glauben,
der sein Versprechen nicht „im Gedränge", sondern in Freiheit abgibt;
Die Prüfung der Verallgemeinerungsfähigkeit einer Maxime (ihrer
Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz), die nach Kant die sittliche
Beurteilung einer Handlung ermöglicht, setzt nicht nur Erfahrung vor-
aus, sondern recht oft eine „weit ausholende" empirische „Scharfsinnig-
keit". Kant pflichte ich bei, daß das Prinzip der Ethik nur formal sein
kann. Aber aus dieser Form selbst (dem"Weseil der Vernunft als .in
Sinnlichkeit instituierten Verstandes) folgt, daß die Ethik, wenn sie
praktisch relevant sein will, der Erfahrung bedarf. Daß Kant die not-:
wendige Angewiesenheit der Sittlichkeit auf die Erfahrung übersehen
konnte, lag wohl auch darin, daß er noch in einer traditionell gefestigten
Gesellschaft mit selbstverständlichen Normen lebte, so daß ihm deren
empirisch-relativer und damit immer auch fragwürdiger Charakter nicht
empfindlich wurde...
Es ist nun aber weiter bedeutsam, daß Kant, nachdem er einmal das
sittliche: Ethos von aller Sinnlichkeit bzw. eigerien Glückseligkeit als
seinem „geraden Widerspiele" 112 unabhängig konstruiert hat, nun doch
eine notwendige Verbindung zwischen ihnen behauptet. Er tut dieses
Eingeständnis an die Sinnlichkeit allerdings in einer Weise, die. v.on ,tmse-
rem eigenen ethischen Gesichtspunkt aus überhaupt nicht nachvoUzieh-
bar, ja sogar widersin1,1ig ist. Die. Glückseligkeit als Befriedigung·..der
~innlichkeit ist nach, Kant „in ße#Augeil der unparteiischen V~rnunft"
e~e a. priori notwendige praktisch~ Wirkung der Tugend. als. der i\V'ür-

111 · Grundl~gung,Akad.-Ausg. S. 403;


m A. a. 0., S. 61 (Akad.-Ausg'. S. 35).
Ethische Kultur 225

digkeit glücklich zu sein": ,,Denn der. Glückseligkeit bedürftig, ihrer


auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit
dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich
alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche
denken, gar nicht zusammen bestehen. "113 Diese a priori notwendige
synthetische Verbindung (Kausalität) zwischen Tugend und Glückselig-
keit sei aber nicht in der bloßen Welt der sinnlichen Erscheinungen,
sondern nur mittelbar, _,, vermittelst eines intelligibelen Urhebers .der
Natur", aufgrund der -Zugehörigkeit deLsittlichen Subjekts zu einet
noumenalen Welt möglich114• Nachdem Kant das sittliche Ethos innerlich
(,,analytisch" 115) von aller Sinnlichkeit bzw. von aller Glückseligkeit
entleert hat, will er diese „zwei spezifisch ganz verschiedenen Ele-
mente"116 äußerlich (,,synthetisch" 117) notwendig -zum „höchsten Gut"
verbunden wissen. Es ist: ,aber nicht einzusehen, warum das sittliche
Ethos, das es nur auf die Vernunft abgesehen hat, zur Befriedigung der
Sinnlichkeit bloß als solcher und für diese selbst als zu .seiner Folge
führen soll. Dieses Ethos hat es ja überhaupt in keiner Weise auf die
Sinnlichkeit als solche und für sie selbst abgesehen, sondern nur insofern,
als sie Voraussetzung und Medium der Verwirklichung der Vernunft ist.
Man muß schon einfach wie Kant die Tugend als „Würdigkeit glücklich
zu sein", und die Glückseligkeit als sinnlichen (,,pathologischen") Genuß
(Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse) voraussetzen118, um zu einer
solchen apriorischen Forderung einer synthetischen -Verbindung zwischen
Sittlichkeit und Sinnlichkeit zu kommen.
Kant gab allerdings mit Recht der Tugend eine Beziehung zum
Glück, aber die Weise, in der er es tat, übersieht die hier vorliegenden
Verhältnisse. Das sittliche Ethos kann sinnlichen Genuß (Befriedigung)
fordern und zu ihm führen, insofern dieser als Voraussetzung oder
Medium der Verwirklichung der Vernunft dienen kann; insofern ist er
aber nicht mehr bloßer sinnlicher Genuß (bloß für die Sinnlichkeit
selbst), sondern besteht für die Vernunft: ist in sie aufgehoben. Weiter
aber bedeutet die Verwirklichung der _Vernunft in der Sinnlichkeit als
solche „Glückseligkeit". Jede Kultur, jede Vernunftverwirklichung be-

113 A. a. 0., S. 199 (Akad.-Ausg. S. 110).


114 - A. a. 0., S. 207 (Akad.-Ausg. S. 115).
116 Vgl. a. a.O., S.199/200 (Akad••Ausg. S. 111).
118 A a. 0., S. 203 '(Akad.~Ausg. S. 112).
111.Vgl. a:. a. 0., S. 199/200 (Akad:-Ausg. S. 111).
11s Vgl. a. a. 0., S. 211 (Akad.-Ausg. S. 117).
226 Die Vernunft (die Kultur)

sitzt als Verwirklichung eines vernünftigen Strebens ihr „Glück". Diese


Glücklichkeit aber hat ihre Wurzel nicht mehr im sinnlichen Genuß oder
in der sinnlichen Befriedigung, sie ist keine bloße Lustempfindung, wie
auch das entsprechende Unglück, das im Zerfall oder in der Zerstörung
der Vernunft und im bloß vergegenwärtigenden unerfüllten Wunsch
nach der Verwirklichung der Vernunft liegt, ein bloß sinnliches Dasein
nicht treffen kann, so daß dieses nicht nur weniger „glücklich", sondern
immer auch weniger „unglücklich" als das Leben in der Kultur (in der
Vernunft) ist. Dieses Glück besteht in der Verwirklichung der Vernunft
in der Sinnlichkeit, es hat in sich die Freude an der erlangten Vergeisti-
gung des Sinnlichen oder an der sinnlichen Wirklichkeit des Verstandes.
Dieses Glück allein verdient eigentlich den Namen der Glückseligkeit,
der Eudaimonie, deren die bloß sinnlichen Wesen (die Tiere) nach Aristo-
teles gar nicht fähig sind119• Die Eudaimonie ist nach Aristoteles ein
selbständiges inneres Glück, das in einer Aktivität, in der in sich selbst
guten und freudvollen Vernunftwirksamkeit, besteht129, und nicht ein
auf die sinnlichen Bedürfnisse relativer, ,, von außen beigebrachter" und
bloß passiv anhängender Genuß121 • Diese eigene geistige Freude des
sittlichen Ethos, die mit sinnlichem Schmerz gepaart sein kann, ist aber
auch nicht bloß, wie Kant es will, ,,Selbstzufriedenheit" im Sinn eines
„negativen Wohlgefallens an seiner Existenz, in welchem man nichts zu
bedürfen sich bewußt ist" 122, d. h. im Sinne des negativen Bewußtseins
der Unabhängigkeit von den sinnlichen Neigungen und von der diese
immer begleitenden Unzufriedenheit123 , sondern positive Freude an der
sinnlichen Existenz oder Wirksamkeit der Vernunft. Sie ist demnach auch
nicht bloß „intellektuell" 124, sondern als eigenes, nicht-reflektives125 Be-
wußtsein der sinnlichen Verwirklichung des Verstandes, bzw. der Ver-
geistigung des Sinnlichen, selbst versinnlichter Verstand oder vergeistigte
Sinnlichkeit.

118 Nikomachische Ethik I, 1099 b 32-33; X, 1178 b 24-28.


120 A. a. 0., I, 1099 a; IX, 1170 a/b u. a.
1 21 TJÖovri !:n:etam1:co; (IX, 1169 b 26) &a:n:eQ :n:eeta:n:-c6v -CL (I, 1099 a 16).
122 Kritik der praktischen Vemunft, S. 212 (Akad.-Ausg. S. 117).
128 A. a. 0., S. 212 (Akad.-Ausg. S. 117/8).
m Ebenda.
125 Aristoteles scheint die eöömµovla eher in ein über die Vernunfttätigkeit reflek-
tierendes Bewußtsein legen zu wollen, aber bei ihm ist die Unterscheidung zwischen
bloßem Bewußtsein, das in jeder Tätigkeit als solcher liegt, und dem diese Tätigkeit
besonders reflektierenden Bewußtsein nicht vollzogen (vgl. Nikom. Ethik IX,
1169 b -1170 b).
Persönlichkeit und Person 227

Aber in der Selbstverwirklichung der Vernunft in der Sinnlichkeit


und in dem darin erlebten Glück liegt doch eine radikale „Differenz"
oder „Uneinheit", die nun doch Kants Gedanken einer bloß syntheti-
schen Verbindung von sittlichem Ethos und Glückseligkeit ein gewisses
Recht gibt. Die Vernunft vermag für ihre eigene Wirklichkeit nicht auf-
zukommen. Nicht nur fordert das eigene geistige Ethos die sittliche
Gesinnung der Andern, nicht als seine eigene Voraussetzung, wohl aber
als Voraussetzung des Gelingens der in ihm selbst liegenden Bestrebun-
gen, sondern das vernünftige Ethos ist in anderer Beziehung (die uns
jetzt allein interessiert) in einem viel radikaleren Sinn abhängig: Das
autonome Ethos vermag sein Ziel, die Verwirklichung der Vernunft, und
sogar sich selbst nicht selbst zu gewährleisten, die Vernunft vermag sich
nicht selbst zu erhalten, denn alle Vernunft, auch das sittliche Ethos, hat
ihre Wirklichkeit im Sinnlichen und ist jederzeit von diesem „in Frage
gestellt", kann von ihm her ruiniert werden: durch physische und psychi-
sche Krankheit, durch die Zerrüttung der sinnlichen Triebe, durch den
Tod. Diese Zerstörung der Vernunft durch ihre Voraussetzung und ihr
Medium ist für die nur nach Selbstverwirklichung strebende Vernunft,
für das sittliche Ethos, ein sie selbst zutiefst betreffender und sie selbst
bis zu einer bloßen Phantasterei herabwürdigender Skandal. Dieser
Skandal dürfte sich als der echte Ansatzpunkt für die Kantischen Postu-
late der sittlichen Vernunft, für ihren Glauben, erweisen.
Mit der (nicht auf einer Ebene liegenden) Unterscheidung zwischen
1. sinnlicher (materieller), 2. geistiger und 3. ethischer Kultur haben wir
die Vernunftwirklichkeit von einem formalen Gesichtspunkt aufgeglie-
dert. Wir werden im nächsten Paragraphen noch ausführen, daß diese
Unterscheidung nicht umfassend ist, da in ihr gewisse Kulturformen
noch keinen Platz finden.

§ 43 Persönlichkeit und Person

In diesem Kapitel, das der Vernunft oder der sinnlichen Wirklichkeit


des Verstandes gewidmet ist, haben wir bisher verschiedene Arten von
Kulturobjekten in Beziehung auf die sie hervorbringenden und gebrau-
chenden Vernunfttätigkeiten, andererseits aber auch von einem ganz
anderen Gesichtspunkt die sinnliche Wirklichkeit der Vernunft im sinn-
lich tätigen Vernunftsubjekt selbst als dessen finale Haltung oder Ge-
sinnung betrachtet. Die ethische Kultur betrifft nicht bloß das Verhältnis
228 Die Vernunft (die Kultur)

der Vernunfttätigkeit und ihres umweltlichen Gebildes, sondern sie ist


Kultivierung des Subjekts, Vergeistigung oder „Prägung" des sinnlichen
Subjekts durch das Verstandes-Ich, dessen eigene Institution Oder Reali-
sierung: subjektiver Geist.
Die ethische Kultur ist aber nicht die einzige Art der subjektiven
Kultur. Zur sul:ijektiven Kultur ist vielmehr das ganze habituelle Ver-
hältnis zur Wirklichkeit zu. redinen, insofern es sich um durch Vernunft
(im weiten Sinn) eröffnete Wirklichkeit ,handelt; Schon das bloße sinn-
lich-leibliche Subjekt hat sein festes Umfeld, sozusagen als sein „Gegen-:-
stück", auf das es als auf den Spielraum seiner Tätigkeit habituell ein-
gestellt ist. Dieser habittielle sinnliche Spielraum ist perzeptiver Erwerb
und in seiner attraktiven Gliederung und seinem attraktiven Relief
relativ zu der in verschiedenen Tätigkeiten zur Auswirkung gekommenen
subjektiven Struktur der sinnlichen Triebe und Begierden. Der habituelle
sinnliche Spielraum ist aber trotz seiner Genesis subjektiv immer nur
unmittelbare konkrete Gegenwart und nicht eine kulturelle und ge-
schichtliche Welt mit einer Vergangenheit von Gegenwarten, einer offe-
nen Zukunft von Gegenwarten und einer Mitvorhandenheit fremder
Gegenwarten. Zur Konstitution einer solchen Welt bedarf es der Ver-
standes- und Vernunftakte. Diese Wirklichkeit wird aber erst zu einem
habituellen „Besitz", wenn diese Akte sich in einem Habitus nieder--
geschlagen haben; wenn sie „in Fleisch und Blut" übergegangen. sind,
d. h., wenn die Vernunft die sie fundierende subjektive sinnliche Disposi-
tion habituell auf ihre „abwesende", mittelbare Wirklichkeit eingestellt
hat. Diese habituelle Einstellung der Vernunft auf ihre Wirklichkeit ist
keine einzelne Tätigkeit mehr, sondern subjektiver Boden einzelner
Verstandes- oder Vernunfttätigkeiten.
Dieses habituelle Wirklichkeitsverhältnis der Vernunft· (die subjek-
tive Kultur) ist sehr komplexer Natur. Weder meine Fähigkeit noch der
durch das Ziel der vorliegenden Arbeit vorgezeichnete Rahmen ermög-
lichen es, hier eine in irgendeinem Sinne vollständige Analyse dieses
Wirklichkeitsverhältnisses durchzuführen. Ich möchte nur neben ,der
ethischen Haltung noch einige weitere Momente dieses Verhältnisses als
Beispiele hervorheben, um die Idee der subjektiven Kultur zu verdeut-
lichen und zu •konkretisieren~ Letztlich geht es hier aber nur darum, uns
der Fruchtbarkeit des entworfenen Vernunftbegriffes zu vergewissern.
Zur habituellen Wirklichkeitseinstellung der Vernunft gehören auch
die Interessen des Ich; durch die die Vernunftwirklichkeit ihr dauerndes
Gewicht, ihre· dauernde Anziehungskraft in •verschiedenen·• Graden· be'-
Persönlichkeit und Person 229

sitzt. Wie schon das sinnliche Umfeld ein Relief des „Gewichts" in Rela-
tion zur Struktur der Triebe und Bedürfnisse aufweist, so hat auch die
Welt der Vernunft ihr mehr oder weniger bleibendes Relevanzrelief.
Dieses ist relativ zu den mehr oder weniger bleibenden Interessen des
Ich, die als Institution des Verstandes in der Trieblichkeit, als Ausrich-
tung von sinnlichen Tendenzen und Begierden auf die Verstandeswelt,
als Aufhebung dieser Tendenzen in das Leben der Vernunft betrachtet
werden können. Der Verstand identifiziert in Erinnerung, Wiedererken-
nen, Voraussicht Gegenstände aller Art, die aber nur flüchtige Gedanken
sind, wenn er sich nicht in der Sinnlichkeit habituell als vernünftiges
Interesse an diesen Gegenständen instituiert. Den Terminus des Inter-
esses würden wir in einem prägnanten Sinn für die vom Verstand her
vergeistigten Tendenzen gebrauchen, also beim bloßen sinnlichen Subjekt
noch nicht von Interessen, sondern nur von Tendenzen und Begierden
(wozu auch die Neugierde gehört) sprechen 126 •
Die Welt der Vernunft ist aber nicht nur die Welt des in Interessen
verleiblichten bloßen Verstandes (der bloßen Erinnerung, Voraussicht,
Einfühlung, Reflexion), sondern sie ist kulturelle Welt, Welt mit Kultur-
gebilden verschiedenster Art, die aus der sinnlichen Produktion der Ver-
nunft stammen. Diese Kulturgebilde, Werkzeuge, Sprachen, Theorien,
Kunstwerke, soziale Institutionen usw., haben für das Ich nur Bestand
und Zugänglichkeit aufgrund der geistigen Vermöglichkeiten des Ich,
aufgrund seiner Vermöglichkeit des Sprechens und Verstehens, des be-
grifflichen Erkennens, des instrumentalen Hantierens, aufgrund des gei-
stigen Auges, Ohres, überhaupt Sinnes für Kunstwerke usw. Diese Ver-
möglichkeit, die Institution des Verstandes in sinnlicher Vermöglichkeit

120 Diese Bestimmung des Terminus „Interesse" ist enger als der gewöhnliche Wort-
gebrauch, in dem man auch bei Tieren von Interesse spricht. Aber sie ist nicht
willkürlich, sondern besitzt durchaus einen Anhalt in der philosophischen Tradition:
Nach Kant hat weder ein bloß sinnliches Wesen, noch ein unsinnliches Vernunft-
wesen, sondern nur ein sinnliches, endliches Vernunftwesen „Interessen": ,,Die
Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung, und
diese-beweist also jederzeit ein Bedürfnis. Die Abhängigkeit eines zufällig bestimm-
baren Willens aber von Prinzipien der Vernunft heißt ein Interesse. Dieses findet
also nur bei einem abhängigen Willen statt, der nicht von selbst jederzeit der ·
Vernunft gemäß ist; beim göttlichen Willen kann man sich kein Interesse gedenken"
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg. S. 413, Anm.). ,,Interesse
ist das, wodurch Vernunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ursache
wird. Daher sagt man nur von einem vernünftigen Wesen, daß es woran ein
Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe" (a. a. 0.,
S. 460, Anm.).
230 Die Vernunft (die Kultur)

ist, können wir als Bildung des Ich bezeichnen. Diese geistige Vermög-
lichkeit des Ich als eine weitere Art subjektiver Kultur oder subjektiven
Geistes ist ein anderer Faktor seines Wirklichkeitsverhältnisses, der mit
seinen Interessen und seiner ethischen Haltung zusammenwirkt.
Von der geistigen Vermöglichkeit oder Bildung sind als ein anderes
Moment dieses Verhältnisses die habituellen Überzeugungen oder geisti-
gen Auffassungen des Ich zu unterscheiden. Während die Bildung ein
savoir faire ist, das nicht notwendig in assertorischen Urteilen wurzelt,
betreffen die Oberzeugungen oder Auffassungen Urteilsinhalte, die, »in
Fleisch und Blut" übergegangen, zum habituellen „Weltbild" des Ich
geworden sind. Diese ichlichen Oberzeugungen oder Auffassungen, zu
denen auch Wertüberzeugungen gehören, sind eine Vergeistigung der
sinnlichen Umwelthabe, der sinnlichen "Gewißheiten" und Auffassungen.
Schließlich möchte ich in dieser Aufzählung noch die willentlichen
Festlegungen des eigenen Tuns erwähnen, die aus der vorausschauenden
Wahl von einzelnen faktischen Zielen oder Aufgaben, aus den Entschei-
dungen dafür, hervorgehen und bleibende Treue zu diesen bestimmten
Zielen oder Aufgaben verlangen. Es handelt sich um relativ bleibende
praktische Haltungen oder Ausrichtungen wie bei der ethischen Kultur,
die aber in ihrer Faktizität nicht durch diese bestimmt oder wenigstens
durch sie nicht eindeutig bestimmt sind. Diese relativ bleibenden Ent-
schiedenheiten oder Bindungen, die in Fixierungen des sinnlichen Stre-
bens verkörpert sind und von diesem her auch einen affektiven Charak.,.
ter erhalten, bilden ein weiteres konstitutives Moment der vernünftigen
Einstellung zur Wirklichkeit. Alle diese Momente sind natürlich eng
verflochten.
Die subjektive Kultur (subjektiver Geist) ist geistige oder ichliche
Habitualität, die nur besteht in-sinnlicher Verwirklichung. Sie macht die
Persönlichkeit des Ich aus. Der bloß sinnliche „Charakter" (das vitale
Temperament, die sinnliche Habitualität) ist also noch nicht Persönlich-
keit, sondern nur „Stoff" der Persönlichkeit, wird erst Persönlichkeit in
seiner Vergeistigung. Das Ich in seiner Persönlichkeit, also nicht das bloße
Verstandessubjekt, sondern das in seiner Sinnlichkeit verwirklichte Ver-
nunftsubjekt, möchte ich als Person bezeichnen. Wie der subjektive Leib
die Position im sinnlichen Umfeld ist, so bezeichnet die Persönlichkeit die
Position des Ich in der geistigen Welt. Die Person ist demnach das Ich in
seiner Position in der geistigen Welt.
Während von Veränderung des bloßen Verstandessubjekts (des Ich)
zu reden widersinnig ist, verändert sich sehr wohl die Person, genauer,
Persönlichkeit und Person 231

die Persönlichkeit des Ich. Eine Persönlichkeit ist ein Kulturprodukt, ein
mehr oder weniger schwaches oder starkes Gebilde, das seine Geschichte,
sein Werden, Sich-verändern, Verfallen und immer auch sein mögliches
Mißlingen hat. Da das sinnlich-leibliche Subjekt nicht nur die Grundlage,
sondern auch der Stoff ist, in dem sich die Persönlichkeit verwirklicht,
und zwar nicht nur ein charakterloser Stoff (eine unbestimmte, bloß be-
stimmbare Hyle), sondern ein Stoff eigener Wirklichkeit und Dynamik,
so ist die Persönlichkeit immer wesentlich vom Sinnlich-Leiblichen her
mitbestimmt und kann auch von dessen eigener Kraft her zerrüttet oder
gar zerstört bzw. durch seine eigene Schwäche zum Verfall gebracht
werden. Umgekehrt kann aber auch die sinnliche Struktur aufgrund
kultureller Ideen und Normen nicht bloß verändert und vergeistigt,
sondern auch zerrüttet werden, wodurch die Person selbst im Milieu ihrer
Verwirklichung in Leidenschaft gezogen wird. Mag aber auch die Per-
sönlichkeit in ihren Interessen, in ihrer geistigen Vermöglichkeit (etwa
des Sprechens), in ihren Überzeugungen, praktischen Festlegungen und in
ihrer ethischen Haltung zerfallen, auseinandergerissen oder gar verrückt
werden, so bleibt doch das bloße Verstandessubjekt (das Ich) selbst da-
von solange »unbehelligt" bestehen, als es überhaupt noch über die sinn-
liche Grundlage seiner allgemeinen Reflexivität verfügt; mit seiner Per-
sönlichkeit geht es nur seiner stabilen Wirklichkeit als Person bzw. der
stabilen Wirklichkeit der geistigen Welt verlustig127•
Während das Ich in sich Einheit ist, ist die Einheit der Persönlichkeit
eine von der Person zu leistende Aufgabe. Diese Aufgabe betrifft nicht
nur die Eindeutigkeit der ethischen Haltung und die Einstimmigkeit der
verschiedenen Interessen, Überzeugungen und praktischen Festlegungen,
sondern auch die Einheit der Persönlichkeit mit dem sinnlichen Sqbjekt,
in dem sie verkörpert ist, das sich aber seiner Vergeistigung auch wider-

127 Interessant ist in dieser Hinsicht eine Bemerkung Freuds in seinem Abriß der
Psychoanalyse: ,,Selbst von Zuständen, die sich von der Wirklichkeit der Außenwelt
so weit entfernt haben wie der einer halluzinatorischen Verworrenheit (Amentia),
erfährt man durch die Mitteilung der Kranken nach ihrer Genesung, daß damals
in einem Winkel ihrer Seele, wie sie sich ausdrücken, eine normale Person sich
verborgen hielt, die den Krankheitsspuk wie ein unbeteiligter Beobachter an sich
vorüberziehen ließ. Ich weiß nicht, ob man annehmen darf, es sei allgemein so, aber
ich kann über andere, weniger stürmisch verlaufende Psychosen ähnliches berichten"
(Gesammelte Werke XVII, S. 132). Der „unbeteiligte Beobachter" ist hier wohl als
das bloße Ich (in unserem Sinn) zu interpretieren, aufgrund dessen der Kranke
nach der Genesung aus sich selbst weiß, daß er selbst es war, dessen Persönlichkeit
verrückt war.
232 Die Vernunft (die Kultur)

setzen' ühd tun kann, was. die Pers'on nicht will, oder auch nicht tun kann,
was :die Person will. Der innerste, wenn auch nicht alles bestimmende
Kern der personalen Einheit wird wohl durch die ethische Haltung
gebildet, da diese das oberste, formale Ziel der Person betrifft128 • Aber
wohl ist nicht jede ethische Haltung zu dieser Einheit befähigt, sondern
nur die autonome, auf Vernunft selbst gerichtete, denn die bloßen sinn-
lichen Befriedigungen, sofern sie sich nicht bloß unmittelbar auswirken
(in einem bloßen sinnlichen Wesen), sondern mittelbar zu obersten Leit-
ptinzipien vernünftiger Wesen erhoben werden, scheinen auseinander
zu ·geraten und auch von den unmittelbaren Begierden widersprochen
zu werden; Doch lassen wir hier diese ethische Grundfrage offen.
Das Werden der Persönlichkeit wollen wir hier nur als bloße im
Wesen der Vernunft implizierte allgemeine Möglichkeit aussprechen.
Seine Wirklichkeit, der wirkliche Verlauf, ist eine Frage der Erfahrung,
der Empirie, und kann nicht von der Ersten, reinen (apriorischen) Philo--
sophie, sondern nur von der Zweiten, empirischen Philosophie, die sid1
vom Gesichtspunkt der Ersten Philosophie der Empirie bemächtigt (sie
von jener aus interpretiert}, erörtert werden129 • Dabei sind (für die wirk-
liche Geschichte der Persönlichkeit)' natürlich von entscheidender Bedeu-
tung die sozialen Beziehungen, in denen Interessen orientiert, ge1st1ge
Vermöglichkeiten erworben, Oberzeugungen übernommen und gewon-
nen werden usw.
Die Persönlichkeit als die Position des Ich in der geistigen Welt ist
nicht zu verwechseln mit der objektiven Position in einer Kulturgesell-
schaft. Die objektive soziale Position ist als solche auch keine Kornpo-
- nente der Persönlichkeit im soeben umrissenen Sinne. Die soziale Position
wird hauptsächlich durch- die gesellschaftlichen Rollen oder Funktionen
bestimmt, die in mehr oder weniger kohärenten und beständigen sozialen
Konstellationen oder „Systemen" gespielt werden. Soziale Rollen, bzw.
etabHerte „Wechselspiele" sozialer Rollen (Familie, wirtschaftliche und
politische Gesellschaft, Ver~ine, Bildungsanstalten usw.), sind objektive

128 Aristoteles( n• . . der Treffliche ist mit sich selbst einig und strebt mit seiner gänzen
Seele nach dem Selben. Und so will er für sich das Gute ••• und tut es •• ,, ·und
zwar um seines eigenen Selbst willen, denn er tut es um der Vernunft willen
(Öi.aVO'l'J"tL"OÜ XCXQLV), die jeder ZU sein scheint. Und er will leben und sich selbst
erhalten, und zwar .in erster Linie das, wodurch er vernünftig ist (cp cpeovet) ••• "
(Nik. Ethik IX, 1166 a). "Die Minderwertigen sind mit sich selbst uneins, ver-
schiedenes begehren sie, anderes wollen sie ••• " (a. a. 0., 1166 b).
119 ·zum Verhältnis von Erster und Zweiter Philosophie vgl. unten, 3. Teil, 2. Kapi-
tel§ 52.
Persönlichkeit und Person 233

Gebilde der intersubjektiven Vernunft, sie gehören nicht zur subjektiven,


sondern zur objektiven Kultur. Eine Rolle ist ein konventionelles Modell
objektiven phänomenalen Verhaltens, eine intersubjektiv geprägte und
normierte Formel für bestimmte typisierte Leistungen, die die betref-
fende Gesellschaft vom Rollenträger erwartet, ihm zumutet und mit von
diesem erwarteten, sozial festgelegten Gegenleistungen zu beantworten
hat. Auch nicht rollengemäßes Verhalten wird im betreffenden gesell-
schaftlichen Zusammenhang normalerweise im „Koordinatensystem" der
Rollen aufgefaßt und entsprechend als Abweichung beurteilt. Zu den
sozialen Rollen, bzw. zu den gesellschaftlichen Institutionen, deren Kom-
ponenten sie sind, gehört auch die gesellschaftliche Moral, die aus kon-
ventionellen Vorschriften über das objektive phänomenale Verhalten
besteht und nicht die subjektive ethische Haltung betrifft. Das Ver-
nunftsubjekt übernimmt soziale Rollen, es identifiziert sich mit ihnen
(,,ich bin Vater", ,,ich bin Gärtner" etc.). Den Inbegriff solcher Verhal-
tensmuster, die ein einzelner annimmt, kann man als die objektive,
phänomenale Person bezeichnen; diese ist das sozial konventionelle
„Bild" meiner selbst, das ich im Prozeß der Sozialisierung mir angeeignet
habe und das, wie alle Konvention, auf Normen bezogen ist (die objek-
tive soziale Person als „Bild" ist auf ein „Vorbild" bezogen). Nicht die
objektive soziale Person130 , nicht dieses phänomenale öffentliche „Bild"
gehört zur Persönlichkeit als subjektiver Kultur, wohl aber die habituel-
len Selbstauffassungen, Selbstidentifizierungen und praktischen Fest-
legungen, durch die das Vernunftsubjekt mehr oder weniger fest oder
lose, hermetisch dicht oder distanziert in eine objektive Person eingeht;
nicht die eigene öffentliche Person, a9er das subjektive Verhältnis ~uihr
gehört zur Person in dem von uns zuerst geltend gemachten Sinne.
Aufgrund der obigen Ausführun.gen wäre die formale Aufgliederung
der Kultur am Ende des letzten Paragraphen erweiternd zu modifizie-
ren: Primär wäre zwischen objektiver und subjektiver Kultur zu unter-
scheiden, innerhalb der ersten zwischen sinnlich-materieller. und geistiger
Kultur, innerhalb der zweiten zwischen den verschiedenen Faktoren der
Persönlichkeit zu differenzieren, etc. Eine erschöpfende Systematik muß
uns hier jedoch fern liegen; es kann uns in diesem Kapitel nur um die
allgemeine Idee der Realität der Vernunft gehen.

130 Wobei das Wort hier etymologisch urspriinglicher als in dem von uns angenom-
menen (und der philosophischen Tradition näherliegenden) Sinn gebraucht wird,
da persona bekanntlich zuerst die bildhafte Rollenmaske im Theaterspiel bedeutete.
234 Die Vernunft (die Kultur)

Anmerkung: Sinnliches Subjekt, Ich und Person


und Freuds Unterscheidung von Es, Ich und über-Ich

Unsere Unterscheidung von sinnlichem Subjekt, Verstandessubjekt (Ich) und Per-


son könnte an die Dreiteilung Frezids von Es, Ich und über-Ich (Ichideal) erinnern.
Das Es ist ja nach Freud „das Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige in
unserem Wesen" 131, es „ist ganz amoralisch", während „das Ich bemüht ist, moralisch
zu sein" 132• ,,In 'diesem Es wirken die organischen Triebe .•• Das einzige Streben dieser
Triebe ist nach Befriedigung. "133 „Es gibt im Es nichts, das man der Negation gleich-
stellen könnte. "134 „Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen
kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften, enthält. " 135 Das Innere des
Ich umfaßt vor allem die „Denkvorgänge" oder „Denktätigkeiten" 136• Das Ober-Ich
(oder Ichideal) schließlich „repräsentiert vor allem die kulturelle Vergangenheit"137 ;
„es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf
diesem Weg über Generationen fortgepflanzt haben" 188 ; es hat einen nahen Bezug zum
sogenannten Charakter des Ich, denn es bildet sich wie dieser durch Identifizierungen139•
Dieser „Vergleich" zwischen unserer Unterscheidung und Freuds drei psychischen
Instanzen (Reichen, Gebieten, Provinzen) ist nun allerdings höchst oberflächlich, und
die angedeuteten Übereinstimmungen treffen sich in kaum mehr als in der alltäglichen
Unterscheidung zwischen Sinnlichem und Vernunft. Aber immerhin liegen vielleicht
hinter Freuds Unterscheidungen letztlich dieselben Realitäten verborgen, die wir von
einer ganz anderen Seite, mit anderen Methoden und Interessen, zu verdeutlichen ver-
suchten. Bevor man jedoch eine solche Korrespondenz ernstlich ins Auge faßt, müßte
man sich die geradezu unendliche Divergenz vorhalten, die zwischen unserer und Freuds
Betrachtungsweise und Unterscheidung besteht. Es kann hier nicht meine Absicht sein,
diese Divergenz einigermaßen gründlich zu verfolgen, denn dies würde eine Darstel-
lung der ganzen Freudschen Problemperspektive erfordern. Einige Hinweise auf solche
Divergenzen möchte ich hier aber doch geben, und zwar hauptsächlich, um die
Unfähigkeit einer psychischen Analyse, die nicht auf reiner Aktreflexion beruht, darzu-
tun, das z11 erfassen, was Verstand und Vernunft ist.
Daß sich die Freudsche Unterscheidung zwischen Ich und Es nicht mit der unsrigen
zwischen Verstandes- oder Vernunftsubjekt und sinnlichem Subjekt decken kann, zeigen
gleich die hauptsächlichen Funktionen, durch die Freud das Ich gegenüber dem Es
auszeichnet: Während das dunkle Es nicht direkt mit der Außenwelt verkehrt140,
nimmt das Ich die Außenwelt wahr141 und hat infolge der vorgebildeten Beziehung
zwischen Sinneswahrnehmung und Muskelaktion die Verfügung über die willkürlichen
Bewegungen, es „beherrscht die Zugänge zur Motilität" 142• Dem Ich ist die Aufgabe

131 Das Ich und das Es, WW XIII, S. 251 Anm.


1as A. a. 0., S. 284.
133 Abriß der Psychoanalyse, WW XVII, S. 128; vgl. a. a. 0., S. 68, 70 aber auch 71/72.
134 Neue Folge der Vorlesungen zier Einfühmng in die Psychoanalyse, WW XV, S. 80.
136 Das Ich und das Es, WW XIII, S. 253; Neue Folge, S. 83.
188 A. a. 0., S. 285; Abriß der Psychoanalyse, WW XVII, S. 84.
1a7 Abriß, WW XVII, S. 138.
1as Neue Folge, S. 73.
1a9 Vgl. Das Ich und das Es WW XIII, S. 258, 259, 277.
140 Abriß, WW XVII, S. 128.
141 Das Ich und das Es, WW XIII, S. 251/2, 256; Abriß, WW XVII, S. 68, 129.
142 Das Ich und das Es, WW XIII, S. 243,253,285; Abriß, WW XVII, S. 68, 88.
Persönlichkeit und Person 235

der Selbsterhaltung, der Selbsterhaltungstrieb, zugeteilt143, da das Es keine Fürsorge für


die Sicherung des Fortbestandes kennt144 ; es erfüllt diese Aufgabe, ,,indem es nach
außen die Reize kennenlernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), über-
starke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung)
und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu ver-
ändern (Aktivität)"145• Während „das Unbewußte die allein herrschende Qualität im
Es ist"146, gibt es im Ich auch das Bewußtsein, das vor allem an die Wahrnehmung
geknüpft ist, die unsere Sinnesorgane von der Außenwelt gewinnen147• Freud charak-
terisiert also das Ich in einer Weise, die es uns noch durchaus als ein sinnliches Subjekt
erscheinen läßt, und somit verwundert es uns auch nicht, wenn er erklärt: ,,Die
Differenzierung von Ich und Es müssen wir nicht nur den priinitiven Menschen, son-
dern noch viel einfacheren Lebewesen zuerkennen, da sie der notwendige Ausdruck
des Einflusses der .Außenwelt ist. "148 Allerdings schreibt Freud dem Ich auch Leistungen
zu, die wir als spezifische Verstandes- oder Vernunfttätigkeiten ansprechen würden:
Denkvorgänge, Erinnerung, Sprache, zweckmäßige Aktivität, aber diese werden von
Freud nicht in ihrer Eigenwesentlichkeit, sondern allein in ihrer Funktion für die
Sinnlichkeit, als ein Teil derselben, betrachtet: ,,Durch die Einschaltung der Denkvor-
gänge erzielt das Ich einen Aufschub der motorischen Entladung und beherrscht die
Zugänge zur Motilität" 149, es „schaltet zwischen Triebanspruch und Befriedigungs-
handlung die Denktätigkeit ein" 150 und steht überhaupt im Dienst der sinnlichen Trie-
be, bzw. des Es, das ohne sein Ich gar nicht fortbestehen könnte 151 • Die intellektuellen

143Das Ich und das Es, WW XIII, S. 268; Abriß, WW XVII, S. 68.
m Abriß, WW XVII, S. 128.
us A. a. 0., S. 68.
149 A. a. 0., S. 85. Freud betont zwar immer wieder, daß das Es ganz unbewußt sei
(Massenpsychologie und Ichanalyse, WW XIII, S. 79, Anm; Das Ich 1md das Es,
S. 251), andererseits aber kann er gleichzeitig erklären: ,,Das Es, von der Außen-
welt abgeschnitten, hat seine eigene Wahrnehmungswelt. Es verspürt mit außer-
ordentlicher Schärfe gewisse Veränderungen in seinem Inneren, besonders Schwan-
kungen in der Bedürfnisspannung seiner Triebe, die als Empfindungen der Reihe
Lust-Unlust bewußt werden. Es ist freilich schwer anzugeben, auf welchen Wegen
und mit Hilfe welcher sensiblen Endorgane diese Wahrnehmungen zustande kom-
men. Aber es steht fest, daß die Selbstwahrnehmungen - Allgemeingefühle und
Lust-Unlustempfindungen - die Abläufe im Es mit despotischer Gewalt beherr-
schen" (Abriß, S. 128/129). Freud scheint jedoch der Auffassung zu sein, daß Gefühle
und Empfindungen nur durch „Anlangen" an das Wahrnehmungssystem des Ich
bewußt werden (Das Ich und das Es, S. 250).
147 A. a. 0., S. 83; ,,an diesem Ich hängt das Bewußtsein" (Das Ich und das Es, S. 243).
148 Das Ich und das Es, S. 266; ebenso Abriß, S. 69.
m A. a. 0., S. 285.
160 Abriß, S. 129.
151 „Als Grenzwesen will das Ich zwischen der Welt und dem Es vermitteln, das Es der
Welt gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen dem Es-Wunsch
gerecht machen. • • Es ist nicht nur der Helfer des Es, auch sein unterwürfiger
Knecht, der um die Liebe seines Herrn wirbt. Es sucht, wo möglich im Einver-
nehmen mit dem Es zu bleiben, überzieht dessen unbewußte Gebote mit seinen
vorbewußten Rationalisierungen, spiegelt den Gehorsam des Es gegen die Mahnun-
gen der Realität vor, auch wo das Es starr und unnachgiebig geblieben ist, ver-
tuscht die Konflikte des Es mit der Realität und wo möglich auch mit dem
Ober-Ich" (Das Ich und das Es, WW XIII, S. 286). ,.Die Beziehung zur Außen-
236 Die Vernunft (die Kultur)

Tätigkeiten werden auf sinnliche zurückgeführt. Der Denkaufschub „ist als eine Probe-
aktion zu betrachten, ein mot0risches Tasten mit geringen Abfuhraufwänden" 152 • Die
Funktionen der Bejahung und der Verneinung (des Urteils) sind aus den Trieben des
Eros und der Destruktion entstanden153• Diese Auflösung der Vernunft in die Sinn-
lid1kcit kann uns bei Freud nicht überraschen, denn „das Ich ist vom Es nicht scharf
getrennt, es fließt nad1 unten hin mit ihm zusammen" 154, ja mehr noch, das Ich ist nur
der durd1 den Einfluß des Wahrnehmungssystems modifizierte (differenzierte) Anteil
des Es155 • ,, Ursprünglich war ja alles Es, das Ich ist nur durch den fortgesetzten Ein-
fluß der Außenwelt aus dem Es entwickelt worden." 150 Ursprünglich war das Ich
identisch mit dem Es 157 , das auch weiterhin den „Kern des Ich" 158, den „Kern unseres
Wcsens" 159 bildet und dem das Ich nur „gleichsam als Fassade dient" 100•
Da Ich und Es ursprünglich identisch sind, bleiben sie auch letztlid1 identisch, und
so kann Freud etwa als „das große Reservoir der Libido", der Energie des Eros, wozu
auch die Selbsterhaltungstriebe (die Freud vor 1920 als Ichinteressen der Libido ent-
gegensetzte) gehören, indifferent bald das Ich, bald das Es bezeichnen161 • Das Ich mit
all seinen Funktionen muß bei Freud letztlich auf die Sinnlichkeit zurückgeführt
werden, weil er es von Anfang an als etwas bloß Phänomenal-Leibliches denkt:
Das Ich ist ein „Stück", eine „Provinz", ein „Bezirk" des als „räumlich ausgedehnt
und zweckmäßig zusammengesetzt" gedachten psychischen Apparates162 : ,, ••• das Ich
hat sich aus der Rindenschicht des Es entwickelt, die durch ihre Einrichtung zur Reiz-
aufnahme und Reizabhaltung in direktem Kontakt mit der Außenwelt (Realität)

weh ist für das Ich entscheidend geworden, es hat die Aufgabe übernommen, sie
dem Es zu vertreten, zum Heil des Es, das ohne Rücksicht auf diese gewaltige
Außenmacht im blinden Streben nach Triebbefriedigung der Vernichtung nicht
entgehen würde" (Neue Folge, S. 82).
152 Die Verneinung, WW XIV, S. 14.
153 A. a. 0., S. 15.
154 Das Ich und das Es, S. 251.
155 A. a. 0., S. 252, 256, 267, 268. Neue Folge, S. 82, 83.
156 Abriß, S. 85; ,, Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein
Teil des Es eine besondere Entwiddung erfahren" (a. a. 0., S. 68).
157 A. a. 0., S. 130.
158 Massenpsychologie und Ichanalyse, S. 79 Anm.
150 Abriß, S. 128.
100 Das Unbehagen in der Kultur, WW XIV, S. 423.
161 ,, ••• das Ich ... als ein Reservoir von - narzißtisch genannter - Libido, aus
welchem die Libidobesetzungen der Objekte erfließen und in welches diese wieder
eingezogen werden können" (,,Psychoanalyse" und „Libidotheorie" (1923), WW
XIII, S. 224). ,, ... das Ich ... ein großes Libidoreservoir" (a. a. 0., S. 231). ,,Als
das große Reservoir der Libido, im Sinne der Einführung des Narzißmus, müssen
wir jetzt nach der Scheidung von Ich und Es das Es anerkennen" (Das Ich und
das Es (1923) S. 258 Anm.). ,,Zu Uranfang ist alle Libido im Es angehäuft, wäh-
rend das Ich noch in Bildung begriffen oder schwächlich ist" (a. a. 0,, S. 275).
,, ... das Ich, in dem anfänglich der ganze verfügbare Betrag von Libido auf-
gespeichert ist ... " (Abriß (1938), S. 72). ,,über das ganze Leben bleibt das Ich das
große Reservoir, aus dem Libidobesetzungen an Objekte ausgeschickt und in das sie
auch wieder zurückgezogen werden, wie ein Protoplasmakörper mit seinen Pseudo-
podien verfährt" (a. a. 0., S. 73).
102 Das Ich und das Es, S. 252; Abriß, S. 67/68, 126.
Persönlichkeit und Person 237

steht."rn 3 Das bewußte Ich "ist vor allem ein Körper-Ich" 164, es ist nicht nur die
Rindenschicht des räumlich ausgedehnten psychischen Apparates, sondern die Projek-
tion der Leibesoberfläche in diesen Apparat165•
Aber wenn wir bei Freud das Vernünftige im Ich hervorgehoben sehen wollen,
müssen wir es dann nicht in Beziehung zum über-Ich oder Ich-Ideal, das ja selbst ein
,,Stück" oder „Bestandteil" 166 des Ich, eine „Stufe" im Ich ist, betrachten? Das über-
Ich steht ja bei Freud für alles „Höhere im Menschen": für die Kultur, für Moral,
Gewissen, Religion und soziales Empfinden167• In Freuds Idee des über-Ich kommt
tatsächlich ein grundwichtiger Charakter der Vernunft zur Geltung: es ist der Inbegriff
der objektiven sozialen Kultur, insofern diese dem Ich als konventionelle und tradierte
Normen des phänomenalen Verhaltens von der Gesellschaft zugemutet und von ihm,
als für es selbst gültig, einfach unbesehen übernommen wurde168• Das über-Ich ist das
ideale Ichbild, das die Gesellschaft dem Ich vorspiegelt und mit dem sich dieses
„identifiziert". Es ist eigentlich nichts dem Ich Eigenes, sondern ein allgemeiner, idealer
und normierender Verhaltenstypus169•
Die Vernunft, die in Freuds über-Ich zur Geltung kommt, ist die Vernunft in
ihrer Selbstentfremdung, und zwar in einem doppelten Sinne: Einmal ist das über-Ich:
ein Ichbild, es ist ein ideales Bild des Verhaltens, wie es den Andern sinnlich-phiino-
menal erscheint (wie sie es beobachten können) 170 und wie es dem Ich imaginativ als
sein „Aussehen" bewußt ist (gleichsam in der vergegenständlichenden Entfremdung des

163 Abriß, S. 129; vgl. a. a. 0., S. 68: "Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen
zur Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine
besondere Organisation hergestellt, die yon nun an zwischen Es und Außenwelt
vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen wir den Namen des Ichs."
m Das Ich und das Es, S. 255.
165 „Auf die Entstehung des Ichs und seine Absonderung vom Es scheint noch ein
anderes Moment als der Einfluß des Systems W (des Wahrnehmungssystems)
hingewirkt zu haben ... Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein
Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche (nämlich der
leiblichen)" (a. a. 0., S. 253 ).
166 Massenpsychologie und Ichanalyse, S. 120, 125; Das Ich und das Es, S. 282.
167 Das Ich und das Es, S. 265.

rnB Das ganze Idtldeal oder über-Ich ist nach Freud' ,,von außen aufgenötigt" (Zur
Einführung des Narzißmus, \YI\YI X, S. 168), es' ist nichts anderes als der vom- Ich
in sich selbst aufgenommene (verinnerlichte, heute würde man sagen: internalisierte)
Einfluß des sozialen· Milieus, der Anforderungen und der Kritik der Autoritäten,
voran der Eltern (Zur Einführung des Narzißmus, S. 163; Massenpsychologie und
Ichanalyse, S. 121; Neue Folge, S. 68 ff.). Es ist „ein gelungener Fall der Identi-
fizierung mit der Elterninstanz" (Neue Folge, S. 70). Als solche „Repräsentanz
unserer Elternbeziehung" (Das Ich und das Es, S. 264) und der Beziehung zu den
sozialen Autoritäten überhaupt beruht es ausschließlich auf bloßer Übernahme, auf
bloßer Tradition, es bildete sich aufgrund der langen sozialen Abhängigkeit des
Kindes (vgl. Abriß, S. 69, 136).
169 „So wird das Ober-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern,
sondern des elterlichen über-Ichs aufgebaut" (Neue Folge, S. 73). Bringt man die
Forderungen des, über-Ichs zur bewußten Erkenntnis, ,,so zeigt sich, daß sie' mit
den Vorschriften des jeweiligen Kultur-über-Ichs zusammenfallen" (Das Vnbe;.
hagen in der Kultsir, S. 502).
170 über-Ich und "Beobachtungswahn sind nach Freud von derselben Natur _(Neue
Folge, S. 65 f. u. a.).
238 Die Vernunft (die Kultur)

eigenen Spiegelbildes), es ist keine Norm für die subjektiv in sich selbst bewußte
Tätigkeit als solche. So bezieht sich die gesellschaftliche Moral des Ober-Ich immer auf
das phänomenale objektive Verhalten und nicht auf die die Tätigkeit in ihrem letzten
Zweck bestimmende Gesinnung (ethische Haltung) 171 • Diese Selbstentfremdung der
Vernunft ist für das vernünftige soziale Leben durchaus notwendig, aber das Wesen
der Vernunft ist in der phänomenalen Vergegenständlichung nicht erkennbar.
Weiter ist das Ober-Ich Freuds eine Selbstentfremdung der Vernunft auch dadurch,
daß es aus bloßer Tradition, aus bloßer Übernahme und nicht aus ursprünglicher Ver-
nunfttätigkeit oder aus selbständig den ursprünglichen Sinn der Normen reaktivie-
render und überprüfender Aneignung entsteht. Die bloße kulturelle Tradition ist das
sinnliche Vehikel der Vernunft, das zwar von ihr geprägt, in dem sie aber nicht mehr
aktiv ist, sondern sich ganz von ihrem verselbständigten Gebilde leiten und evtl. auch
verleiten läßt. Auch ist Tradition als solche nichts spezifisch Vernünftiges, es gibt auch
sinnliche Tradition (Gewohnheit, unmittelbare Obernahme von Verhaltensweisen
anderer Individuen).
Da Freud in seiner Idee des Ober-Ich die Vernunft nur in dieser doppelten
sinnlichen Veräußerlichung erfahrt, ist es nicht erstaunlich, daß er in ihm gar nichts
spezifisch Vernünftiges erkennt, sondern es auch bei „höheren, dem Menschen seelisch
ähnlichen Tieren" ansetzt: ,,Ein Ober-Ich ist überall dort anzunehmen, wo es wie
beim Menschen eine längere Zeit kindlicher Abhängigkeit gegeben hat."172 Freud sieht
die Kulturentwicklung als einen Kampf zwischen verschiedenen sinnlichen Trieben,
zwischen Lebenstrieb oder Eros und Destruktions- oder Todestrieb173, und ist offenbar
bereit, auch bei Tieren (etwa bei „Insektenstaaten") von Kultur zu sprechen174•
Wir wollten hier, im Versuch einer gewissen Parallelisierung der Freudschen und
unserer eigenen Unterscheidung, illustrieren, wie unfähig eine äußerliche, nicht rein
reflexive Bewußtseinsbetrachtung ist, das Spezifische der Vernunft oder des Ich gegen-
über der Sinnlichkeit oder dem Es zu erfassen. Die Größe Freuds zeigt sich auch
gerade darin, daß er sich in seinem letzten Werk seine Unwissenheit über den eigent-
lichen, wesenhaften Unterschied zwischen Ich und Es eingesteht: ,, Wenn wir uns aber
zur topischen Zerlegung des psychischen Apparates in Ich und Es, mit der die Unter-
scheidung .der Qualität vorbewußt und unbewußt parallel läuft, entschlossen haben
und diese Qualität nur als ein Anzeichen des Unterschieds, nicht als das Wesen des-
selben, gelten lassen, worin besteht dann die eigentliche Natur des Zustandes, der sich
im Es durch die Qualität des Unbewußten, im Ich durch die des Vorbewußten verrät,
und worin liegt der Unterschied zwischen beiden? Nun, darüber wissen wir nichts und
von dem tiefdunklen Hintergrund dieser Unwissenheit heben sich unsere spärlichen
Einsichten kläglich genug ab. "175
Wenn wir auch bei Freud über das Wesen des Verstandes oder Vernunft kaum
etwas lernen können, wenn also die Erste oder reine Philosophie von ihm nicht
profitieren kann, so gibt es für die Zweite oder empirische Philosophie, die die
empirisch erfahrenen und erfahrbaren „Geschichten" der Vernunft von der Ersten her
interpretiert, wenig Material, das von selbem hohen Interesse wäre, .wie das durch
die Erfahrung Freuds zutage geförderte. Obschon die Freudsche Theorie das ver-

171 Dem widerspricht nicht, daß nach Freud das über-Ich nicht nur das tatsächliche
Verhalten, sondern auch die Absichten des Ich beurteilt. Die Absichten werden
beurteilt nach dem phänomenalen Verhalten, das sie intendieren.
178 Abriß, S. 69.
113 Das Unbehagen in der Kultur, S. 481.
m A. a 0., S. 482.
176 Abriss, S. 85/86.
Persönlichkeit und Person 239

nünftigc Ich als eine wesenslose Fassade des Es darstellt, als etwas, das nicht für sich,
kein Selbstzweck ist (der Zweck des Lebens ist nach Freud „das Programm des Lust-
prinzips", die Tricbbefriedigung 176), sondern sich in fremdem Dienst befindet, steht
die Freudsche Praxis ganz im Dienste dieses selben Ich, sie hat es nur darauf abgesehen,
,,das Ich zu stärken" 177, sie stellt sich unter den Leitsatz: ,, Wo Es war, soll Ich wer-
den"178, und leistet damit Kulturarbeit im Sinne der Selbstverwirklichung der Ver-
nunft. In dieser praktischen Ausrid1tung liegt wohl die tiefste Wurzel dafür, daß die
psychoanalytische Erfahrung für die philosophische Selbsterkenntnis der Vernunft
dieses große Interesse besitzen kann.

176 Das Unbehagen in der Kultur, S. 434, 437.


171 Neue Folge, S. 86; Abriß, S. 103.
178 Neue Folge, S. 86. ,,Wir wollen das Ich herstellen, es von seinen Einschränkungen
befreien, ihm die Herrschaft über das Es wiedergeben, die es infolge seiner frühen
Verdrängungen eingebüßt hat. Nur zu diesem Zweck machen wir die Analyse,
unsere ganze Technik ist auf dieses Ziel geriditet" (Die Frage der Laienanalyse,
WW XIV, S. 232).
III. Abschnitt
Philosophische Methodenlehre
In der „Einleitung" wurden zwei Bedingungen für die Verständlich-
keit und überhaupt „Realität" der philosophischen Grundfrage „Was ist
Vernunft?" namhaft gemacht: 1. Einmal muß der Gegenstand, worüber
diese Frage geht, gegeben werden. Darum bemühten wir uns unter dem
Titel der philosophischen Fundamentalmethode der Gegenstandsgebung
bereits im 1. Abschnitt. Damals konnten wir diese Methode allerdings
nur „pragmatisch" andeuten: wir mußten sie so erörtern, um praktisch
ihren Vollzug anzuweisen, vermochten aber noch nicht zu sagen, was
diese Tätigkeit der philosophischen Gegenstandsgebung, die wir mit
dem damals noch recht leeren Begriff der reinen Aktreflexion bezeichne-
ten, sei. Denn dazu mußte erst aufgrund des naiven Vollzuges dieser
Tätigkeit die Vernunft überhaupt, zu der diese Tätigkeit gehört, zur
Erkenntnis gebracht werden (II. Abschnitt). Damit wurde einerseits, auch
ganz unabhängig von methodologischer Abzweckung, der philosophi-
schen Erkenntnisabsicht, allerdings in beschränktem Maße, entsprochen,
insofern eben in einem ersten allgemeinen überblick gesagt wurde, was
Vernunft (hier im weiten Sinne verstanden) ist. Damit ist nun aber auch,
und erst damit, die philosophische Bestimmung der philosophischen Fun-
damentalmethode, der reinen Aktreflexion, möglich geworden. Diese
Möglichkeit werden wir im 1. Kapitel dieses III. Abschnittes zu verwirk-
lichen versuchen. 2. Durch die Ausführungen des II. Abschnittes wurde
aber auch in gewisser Weise die zweite Bedingung der Realität und Ver-
ständlichkeit der philosophischen Grundfrage erfüllt: Die Hinsicht dieser
Frage (das, wonach sie fragt, im Gegensatz zu dem, worüber sie fragt)
wurde dadurch verdeutlicht und erwiesen, daß auf diese Frage Antwor-
ten gegeben wurden. Abe1· auch dieser Erweis ist bisher noch naiv, d. h.
noch methodologisch unreflektiert. Die Hinsicht der Frage wurde durch
dargebotene Antworten zwar verwirklicht und verdeutlicht, aber es
wurde noch nicht auf die Struktur, auf den formalen Charakter dieser
Antworten reflektiert. In dieser Struktur der Antwort ist die Methode
der Beantwortung enthalten. Diese Methode wurde in der Darbietung
philosophischer Antworten actu exercito stillschweigend gebraucht, nun
soll sie aber auch, im 2. Kapitel dieses III. Abschnittes, unter dem Titel
der Wesenserkenntnis zum Gegenstand der methodologischen Reflexion
244 Philosophische Methodenlehre

erhoben werden. Die Methode der Beantwortung bestimmt den Sinn der
Gültigkeit der Antwort, sie ist konstitutiv für ihren Wahrheitsanspruch,
so daß die Antwort wie entsprechend auch die Hinsicht der Frage (das
,,was?") ihrem allgemeinen Charakter nach erst in dieser methodologi-
schen Reflexion volle Klarheit erreichen kann. - Im 3. Kapitel dieser
Methodenlehre werden wir uns schließlich mit den vielschichtigen Pro-
blemen der philosophischen Sprache, so wie sie sich aus den methodischen
Anforderungen der philosophischen Erkenntnis ergeben, auseinander-
setzen.
1. Kapitel
Die reine Reflexion

§ 44 Rein reflexive Bestimmung der reinen Aktreflexion

Es geht hier eigentlich um nichts anderes, als die Andeutungen des


I. Abschnittes über reine Aktreflexion und die von dieser aus erhobene
Forderung der Reduktion der sinnlichen Phänomenalität durch die Er-
kenntnisse des II. Abschnittes, besonders des§ 24, aufzuklären.
Reflexion auf Akte (Aktreflexion) ist nur in der Vergegenwärtigung
möglich. Jede Vergegenwärtigung ist Bewußtsein von Bewußtsein, also
eine Tätigkeit, in der sich eine andere Tätigkeit „spiegelt", z. B. in der
Erinnerung die vergangene Wahrnehmung. Jede Vergegenwärtigung hat
den Charakter der allgemeinen Reflexivität (,,Spiegelung"). Nur in die-
ser allgemeinen Reflexivität ist die Aktreflexion möglich, aber diese
allgemeine Reflexivität ist als solche noch nicht Aktreflexion, ja nicht
einmal Reflexion im Sinne der obliquen Wiederholung (oben, § 24). Um
oblique Wiederholung zu sein, muß sich der vergegenwärtigende Akt auf
etwas im vergegenwärtigten Akt thematisch richten, auf das dieser selbst
nicht gerichtet ist und, im prägnanten Sinne der Reflexion, nicht einmal
gerichtet sein kann. Unter den verschiedenen Arten obliquer Reflexionen
zeichnet sich eine aus, die auf den vergegenwärtigten Akt achtet, auf das
vergegenwärtigte Bewußtsein gerichtet ist, dieses zum Thema oder
Gegenstand der Untersuchung erhebt. Jeder Akt, nicht nur der Verstan-
des- oder Vernunftakt, sondern auch der sinnliche, sowohl die spontane
Wahrnehmung wie die reaktive Empfindung, ist im Prinzip reflexiv
thematisierbar, weil jeder Akt im Verstande „gespiegelt" werden kann.
Aktreflexion ist also Thematisierung des in irgendeiner Vergegenwärti-
gung (Erinnerung, Vorausholung, Phantasie, Einfühlung) ,,gespiegelten"
Bewußtseins. Dabei hat allerdings die Vergegenwärtigung eigenen Be,-
wußtseins eine Priorität gegenüber der Vergegenwärtigung des fremden,
da, um mit Kant zu reden, ,,es offenbar ist, daß, wenn man sich ein den-
kend Wesen vorstellen will, man sich an seine Stelle setzen, und also dem
246 Die reine Reflexion

Objekte, welches man erwägen wollte, sein eigenes Subjekt unterschieben


müsse (welches in keiner anderen Art der Nachforschung der Fall
ist) ... "1, aber Aktreflexion ist in jedem mittelbaren Bewußtsein als
Thematisierung des darin vermittelten (,,gespiegelten") Bewußtseins, das
selbst in sich ein unmittelbares oder mittelbares sein kann, möglich. Und
nur dadurch, daß im mittelbaren Bewußtsein sich Bewußtsein in Be-
wußtsein spiegelt, ist überhaupt Thematisierung von Bewußtsein, Akt-
reflexion, möglich. Damit ist selbstverständlich auch gesagt, daß der
reflektierte Akt (das reflektierte Bewußtsein) nie aktuell, sondern nur im
aktuellen (reflektierenden) Akt vergegenwärtigt sein kann.
Aktreflexion ist in sich selbst schon reine Reflexion, und sie ist die
einzige Reflexion, die rein ist. ,,Reine Aktreflexion" wäre eine Tautolo-
gie, wenn die Aktreflexion immer nur sich selbst wäre und sich im natür-
lichen Leben nicht zwangsläufig mit sinnlichen (phänomenalen) Vorstel-
lungen vermischte, also einen hybriden (bastardigen) Gegenstand bilden
würde. Die Aktreflexion ist in sich selbst rein, d. h. ihr Gegenstand (der
reflektierte Akt) ist eine völlig unsinnliche Gegebenheit. Kein mittelbares
Bewußtsein ist in seinem Gegenstande bloß sinnlich: in der Erinnerung
an ein sinnlich wahrgenommenes Phänomen ist diese sinnliche Gegeben-
heit „gespiegelte", im Verstand „aufgehobene" Sinnlichkeit, ein sinnlich
wahrgenommenes Zeichen oder Bild ist geistig, es steht in unsinnlicher
Vergegenwärtigungsfunktion; ein wahrgenommener Gegenstand im Ur-
teil hat unsinnliche, kategoriale Bestimmtheiten und Formen, usw. Aber
alle Gegenstände des mittelbaren Bewußtseins haben einen, wie auch
immer transformierten oder vergeistigten; letztlich doch aus der Sinnlich-
keit stammenden Gehalt, auch die wesentlich sekundären Gegenstände
der Reflexion auf Worte und Erscheinungen. Ausschließlich die reflek-
tierte Tätigkeit, das reflektierte Bewußtsein, ist ein ganz und gar un-
sinnlicher Gegenstand. Denn die Tätigkeit als Bewußtsein ist nie sinnlich
gegeben (emp:6.ndbar oder wahrnehmbar), natürlich auch nicht als sinn-
liche Gegebenheit zu vergegenwärtigen (zu „spiegeln"). Gerade im Be-
wußtsein von Bewußtsein besteht überhaupt das Unsinnliche, gerade das
bewußte (vergegenwärtigte, ,,gespiegelte") Bewußtsein macht das Jen-
seits gegenüber der unmittelbaren, sinnlichen Gegenwart aus, und wenn
Bewußtsein als solches in der Aktreflexion zum Gegenstand erhoben
wird, wird genau der unsinnliche Fokus des mittelbaren Bewußtseins
gegenständlich. Man kann es auch so wenden: Alle Gegenstände des

1 Kritik der reinen VernunN, A 353/4.


Reflexive Bestimmung der reinen Aktreflexion 247

mittelbaren Bewußtseins haben in sid1 einen letztlich auf sinnliche Affe!e-


tion zurückgehenden Gehalt, sei es eine patente (empfundene) oder eine
in der spontanen sinnlichen Wahrnehmung aufgehobene und nur latente
Affektion 2 ; auf dem Erscheinen dieser patenten oder latenten Affektion
beruht die Phänomenalität auch der mittelbaren Gegenstände (Gegen-
stände des Verstandes). Aussdüießlich die Tätigkeit oder das Bewußtsein
selbst ist nie in solmer Affektion empfunden oder wahrgenommen und
hat als Tätigkeit keinen aus der Affektion stammenden Gehalt. In der
Gebung von Bewußtsein als solmem liegt also überhaupt keine Passivi-
tät, auch keine in die wahrnehmende Spontaneität aufgehobene oder in
der Mittelbarkeit „gespiegelte" Passivität, sondern das Sim-geben von
Bewußtsein ist Gegenstandsgebung aus reiner Selbsttätigkeit des Ver-
standes, und Gegenstandsgebung aus reiner Selbsttätigkeit des Verstan-
des ist überhaupt nur als Tätigkeit, die sich Tätigkeit gibt, als Bewußt-
sein, das sich Bewußtsein zum Gegenstand mamt: als Aktreflexion. Dabei
kann aber, wie gesagt, auch sinnliches Bewußtsein Gegenstand der reinen
Aktreflexion sein: als Gegenstand ist sinnliches Bewußtsein völlig un-
sinnlich, denn sinnliches Bewußtsein kann in keiner Weise sinnliches
Bewußtsein wahrnehmen oder empfinden, sinnlimes Bewußtsein ist nicht
phänomenale Gegebenheit sinnlimen Bewußtseins, die o:'lcritricrv; als Be-
wußtsein ist kein o:tcr{}1p:6v, sondern ist nur eine Gegebenheit durch den
Verstand (im Bewußtsein von Bewußtsein). Aktreflexion ist demnach
nicht bloß v611crts vo11crc:ws, sondern aum v6ricrLs o:tcrit~crc:ws. Bewußt-
sein kann also überhaupt nimt phänomenaler Gegenstand sein, und
darum muß auch in der Untersumung dieses Gegenstandes von ihm die
Struktur der Phänomenalität ferngehalten werden (Forderung der
Reduktion).
Die reine Aktreflexion ist aber in keinem Falle absolute Reflexion;
die reine Selbsttätigkeit des Verstandes kann nimt absolute, von allen
Bedingungen der Sinnlimkeit freie Selbsttätigkeit sein. Wenn sich auch
die Aktreflexion ihren Gegenstand in reinem Verstande, also ganz un-
sinnlich gibt, ist sie dom jederzeit von der Sinnlichkeit abhängig, und
zwar in zweifacher Hinsicht: 1. Die Aktreflexion geschieht notwendig
innerhalb einer geraden Wiederholung (,,Spiegelung") als Umwendung
(Umthematisierung), z.B. innerhalb der Erinnerung, der Phantasie usw.,
und zwar auch noc.1-i dann, wenn diese thematisme Umwendung selbst
(die Aktreflexion) in einer weiteren Aktreflexion (Reflexion auf die

2 Siehe oben § 30.


248 Die reine Reflexion

Reflexion) thematisch wird, und diese geraden „Spiegelungen" sind nicht


rein, sie enthalten immer, wenn auch im Verstande transformiert (inten-
tional impliziert), Sinnlichkeit. 2. Weiter aber vollzieht sich die Akt-
reflexion, wie jede Verstandestätigkeit überhaupt, auf dem Boden des
sinnlichen Bewußtseins, sie ist sinnlich fundiert 3 ; auch in der reinen
Aktreflexion lebe ich im unmittelbaren Bewußtsein der sinnlichen Gegen-
wart, wenn diese auch nicht zum Gegenstand der Aktreflexion gehört
und dessen Reinheit vom Sinnlichen nichts anhaben kann. Nichts läge uns
ferner, als die fundamentale Tätigkeit der Philosophie, die reine Akt-
reflexion, als eine „Erhebung zur Absolutheit und Unendlichkeit des
Geistes" auszugeben; sokhe idealistischen Vorstellungen beruhen auf
einer radikalen Verfälschung der Vernunft. Vielmehr erkennt gerade die
reine Aktreflexion die Bedingtheit des Verstandes und der Vernunft
überhaupt, und damit auch der reinen Aktreflexion selbst, durch das
Verstandes- oder Vernunftlose: die sinnliche „Natur".
Ich möchte in den folgenden zwei Paragraphen diese Feststellungen
über die Aktreflexion in kritischer Auseinandersetzung mit philosophi-
schen Auffassungen verdeutlichen, die die Aktreflexion verfälschen oder
doch nicht voll zu erfassen vermögen: einerseits mit der von Locke aus-
gehenden und völlig verkehrten Auffassung der Aktreflexion als Wahr-
nehmung durch einen „inneren Sinn" (§ 45), andererseits mit Kants
Unterscheidung von empirischer Apperzeption des Subjekts durch den
,,inneren Sinn" und reiner Apperzeption des „Ich denke" (§ 46).

§ 45 Die reine Aktreflexion


und die vermeintliche „ Wahrnehmung eigener Tätigkeiten
durch den inneren Sinn"

Reflektierte Tätigkeit (reflektiertes Bewußtsein) ist nie unmittelbare


Gegenwart. Es ist deshalb widersinnig, die Aktreflexion als eine Wahr-
nehmung anzusprechen. Die Tätigkeit oder das Bewußtsein ist auch kein
Aff ektionsinhalt, in ihrer Erfassung durch Reflexion wird kein Sinn
affiziert. Durch Tätigkeiten können zwar innere Affektionen (Selbst-
affektionen) wie Spannungs- und Druckempfinden hervorgerufen wer-
den, aber die Tätigkeiten selbst werden dabei nicht empfunden. Würde
eine Tätigkeit als solche empfunden, so müßte dieses Empfinden, das ja

3 Siehe oben § 18.


Die Aktreflexion und „innere Wahrnehmung" 249

selbst wiederum eine (reaktive) Tätigkeit ist, selbst wiederum empfunden


werden, und so in infinitum4 • Wenn man die Aktreflexion als ein Wahr-
nehmen, Fühlen oder Empfinden durch einen inneren Sinn anspricht,
bringt man dieses hochgradige Verstandesbewußtsein auf einen Nenner
mit dem unmittelbaren, sinnlichen Empfinden etwa von Bauchweh oder
Gaumenlust oder mit dem sinnlichen Allgemeingefühl der Müdigkeit
oder des Hungers. Es trüge sicher zur Klarheit bei, wenn man überhaupt
nicht von innerer Wahrnehmung sprechen, sondern das Wort „Wahr-
nehmung" für das unmittelbare Umfeldbewußtsein reservieren würde.
Sog. ,,innere Wahrnehmungen" sind in Wirklichkeit Empfindungen ver-
schiedener Art, worunter auch die Allgemeingefühle wie Müdigkeit,
Erregtheit oder Frische gehören. Von „innerer Wahrnehmung" spricht
man manchmal im Hinblick auf empfundene Affektionen, die gegenüber
hintergründigen Empfindungen besonders bemerkt werden, z. B. wenn
man sagt: ,,ich nahm mein Kopfweh bei diesem interessanten Gespräch
gar nicht mehr wahr", obschon man es immer empfand. Diese Rede hat
natürlich durch ihre üblichkeit ihr volles Recht. Aber für eine philoso-
phische Terminologie tut man gut daran, in diesem Falle den Terminus
der Wahrnehmung zu vermeiden, wenn man ihn einmal für das sinnliche
Umfeldbewußtsein festgelegt hat, da man sonst mit demselben Wort
ganz verschiedene Bewußtseinsgestalten deckt.
Wenn man von „innerer Wahrnehmung von Tätigkeiten" spricht,
verfällt man der naiven und völlig falschen Analogisierung, daß man,
ebenso wie aus sich hinausschauen und Bäume, Häuser, andere Menschen
etc. erblicken, so auch in sich hineinschauen und da Gefühle, Empfindun-
gen, aber auch innere Tätigkeiten, wie Wahrnehmen, Denken, Wollen
usw. beobamten kann. Und wo man dabei nicht gerade so naiv derikt,
läßt man sich von der falschen Idee leiten, daß die Tätigkeit des Ver-
standes oder der Vernunft, analog dem Fabrizieren von künstlichen
Waren aus dem Material der Natur, nur im „Verbinden und Trennen"
der aus der Sinnlichkeit empfangenen Daten bestehe und daher alle
unsere Vorstellungen oder Begriffe (ideas) ihren Inhalt letztlich aus den
Sinnen beziehen müssen, so daß eben auch für die Bewußtseinsbegriffe
. s·1nn (ein
. „wahrnehmen " , ,, denk en " , ,, wo11en " usw. ) ein
(wie . „innerer
. ")
postuliert werden muß, ebenso wie man für das sittlime Bewußtsein
einen „moralischen Sinn" (moral sense) zu erfinden gezwungen ist. Aber
alle solchen „Sinne" sind eben nichts anderes als phantastische dei ex

4 Vgl. oben § 30.


250 Die reine Reflexion

machina einer aussichtslos verfahrenen Theorie des Verstandes.


Der eigentliche Erfinder dieser Auffassung der Aktreflexion als
Wahrnehmung innerer Tätigkeiten durch den inneren Sinn ist bekannt-
lich Locke: 5 Die refiection ist nach ihm (analog der sensation durch den
äußeren Sinn) eine völlig passive (wholly passive, only passive) Wahr-
nehmung (perception) durch den inneren Sinn (internal sense)6. Zwar
hat nicht erst Locke die Idee des inneren Sinnes geschaffen, aber, soweit
mir bekannt ist, verwendet erst Locke diesen Sinn für die Reflexion auf
Bewußtseinstätigkeiten (operations, actings of our own mind). Schon
Descartes spricht vom sensus internus, aber nur (in durchaus legitimer
Weise) in Beziehung auf Empfindungsinhalte (z.B. Schmerz)7, während
nach ihm die Tätigkeiten der Seele ( cogitationes) Gegenstand des reinen
Verstandes ( entendement pur) sind8•
Diese Auffassung der Aktreflexion als innere Wahrnehmung hat das
philosophische und auch psychologische Denken der Folgezeit, obschon
sie nicht unwidersprochen blieb, sehr stark geprägt. Durch die Vermitt-
lung Brentanos ist auch H usserls Idee der Reflexion noch Locke ver-
pflichtet und damit seine ganze Konzeption der Philosophie, denn „die
phänomenologische Methode bewegt sich durchaus in Akten der Re-
flexion "9. Zwar kritisiert Husserl nicht bloß Lock.es „Naturalisierung"
des Bewußtseins (die Verkennung der intentionalen Struktur, bzw. die
Analogisierung mit den Verhältnissen der Raumwelt), sondern er hebt
auch seinen Begriff der phänomenologischen Reflexion, als reine oder
immanente, von der inneren Wahrnehmung Lock.es ab, die er als natür-
liche, d. h. transzendente (raumdingliche) Apperzeption in sich schlie-
ßende Reflexion charakterisiert10• Aber alle solchen Differenzen ändern
nichts daran, daß Husserl genau wie Locke die Reflexion auf das Be-

5 Ich möchte hier nicht diskutieren, ob schon bei Aristoteles ein Ansatz zu dieser
Auffassung vorhanden ist. Auf alle Fälle wird bei ihm die Sache weder deutlich,
noch scheint sie einhellig: Während in De somno (455 a) ein besonderer Sinn für
die Wahrnehmung der Wahrnehmungstätigkeiten vorzukommen scheint (xugiov
alcr-011,{iQLOv), wird an anderen Stellen (besonders De anima III, 2, 425 b 12 ff.)
solches abgelehnt.
6 Essay, II., 1. Kap., §§ 2 und 4; 12 Kap., § 1.
7 Siehe Meditationes VI, A. et T., VII, S. 76/77, 83.
8 Vgl. unten § 51.
0 Ideen I (Husserliana III), S. 177; "unter den Begriff der Reflexion fallen alle Modi
immanenter Wesenserfassung und andererseits immanenter Erfahrung" (a. a. O.,
s. 181).
1o Siehe Husserliana VII, S. 94 ff.
Die Aktreflexion und „innere Wahrnehmung" 251

wußtsein in ihrem primären oder originalen Modus11 als ein Wahr-


nehmen ausgibt. Aktreflexion kann nach Husserl zwar auch in der Wie-
dererinnerung und ebenso (was, nebenbei gesagt, falsch ist12) in der
»Retention" und »Protention" geschehen, in erster Linie denkt er sie
aber als »immanente Wahrnehmung" des "jetzt aktuell gegenwärtigen
Aktvollzuges" 18 • Jede aktuelle cogitatio kann nach Busserl durch eine
»reflexive Blickwendung" zum Gegenstand einer immanenten Wahr-
nehmung werden, die sich vor anderen immanenten Anschauungen oder
Erfahrungen (Reflexionen) dadurch auszeichnet, daß »Wahrnehmung
und Wahrgenommenes wesensmäßig eine unvermittelte Einheit, die einer
einzigen cogitatio bilden" 14• Wenn die Sinnlichkeit das Bewußtsein un-
mittelbarer Gegenwart ist, dann ist nach Husserl die Bewußtseins-
reflexion als immanente Wahrnehmung sinnlidns Bewußtsein. Und das
sagt Husserl tatsächlich auch: ,,das Wahrnehmen eines wie immer be-
schaffenen Aktes oder Aktmomentes oder Aktkomponente oder Akt-
komplexes heißt ein sinnliches Wahrnehmen, weil es ein schlichtes Wahr-
nehmen ist. Und das ist zweifellos, weil die Beziehung des wahrnehmen-
den Aktes auf einen wahrgenommenen keine Fundierungsbeziehung ist
und dazu selbst dann nicht wird, wenn als wahrgenommener Akt ein
fundierter (ein kategorialer) angenommen wird ... Das Wahrneh-
men ..., das auf einen fundierten Akt gerichtet ist, kann genau ebenso
auf einen nicht fundierten (sinnlichen) Akt und auf beliebige Objekte

11 Siehe Husserliana VIII S. 469 (,,Wahrnehmung im Immanenten als uroriginale


Leistung für alle sonstigen Modalitäten der Anschauung").
11 Husserl kann nur insofern behaupten, daß Reflexion auch in der „Retention" und
„Protention" möglich ist, als er diese bloßen unselbständigen Momente aktueller
Tätigkeit intellektualistisch als Vergegenwärtigungen (Bewußtsein von Bewußtsein)
faßt (siehe oben §§ 28 und 29). Husserls Reflexion in der „Retention" ist in
Wirklichkeit eine Reflexion in der Erinnerung, diejenige in der „Protention" eine
Reflexion in der vergegenwärtigenden Vorausholung. Wenn ich sage, daß Reflexion
nicht in Retention, sondern in der Erinnerung geschehe, ist damit keineswegs behaup-
tet, daß Reflexion hinsichtlich eigener Vergangenheit nur auf weit zurückliegende
Akte möglich sei. Reflexion ist auch auf den soeben vollzogenen Akt möglich, aber
auch das ist Reflexion in der Erinnerung (in der „frischen Erinnerung") und nicht
Reflexion „in der Retention". Retention ist nicht frische oder „primäre" Erinnerung,
wie Husserl noch in den Ideen I sagt (S. 178), sie ist in sich kein mittelbares
Bewußtsein. Retention und Erinnerung unterscheiden sich nicht graduell als Erinne-
rung an soeben Vergangenes und Erinnerung an weiter Zurückliegendes (so daß
sich gar die Frage erheben könnte, wo denn etwa die Grenze zwischen beiden liege),
sondern es handelt sich um prinzipiell verschiedenes Bewußtsein.
13 Ideen I, §§ 38, 77, 78.
1' A. a. 0., S. 85/6; vgl. Logische Untersuchungen, 1. Aufl. II, S. 711; 2. Aufl. II/2,
S.240.
252 Die reine Reflexion

äußerer Sinnlichkeit gerichtet sein, auf Pferde, Farben usw. In jedem


Falle besteht dies Wahrnehmen in dem schlichten Hinsehen auf das
Objekt.... Aus diesem Grunde ist auch jede Abstraktion, die sich auf
dem· Grunde innerer Sinnlichkeit, etwa im Hinblick auf einen fundierten
Akt aufbaut, eine sinnliche Abstraktion. " 15 ,, ••• durch Reflexion auf
gewisse psychische Akte, also im Gebiete des inneren Sinnes, der ,inneren
Wahrnehmung< entspringen .•. Begriffe wie Wahrnehmung, Urteil, Be-
jahung, Verneinung, Kolligieren, und Zählen, Voraussetzen und Folgern
- welche daher insgesamt ,sinnliche' Begriffe sind, nämlich zur Sphäre
des ,inneren Sinnes' gehörige ... " 16• Als immanente Wahrnehmung oder
Reflexion betrachtet Husserl auch die Hinwendung auf einen aktuellen
Empfindungsinhalt, z.B. auf ein „sinnliches Gefühlsdatum" 17, so daß er
der Aktreflexion und dem Bemerken eines Empfindungsinhaltes (eines
Schmerzes, eines Lustgefühls etc.) dieselbe Bewußtseinsstruktur verleiht.
,,Primäre Inhalte" (Empfindungen, Gefühle) und „Reflexionsinhalte"
gehören beide zum „Gebiete der Sinnlichkeit" 18• Mehr noch, die Akt-
reflexion als rein immanente Wahrnehmung im „inneren Sinn" muß
nach Husserl selbst eine Art Empfindung oder Affektion einschließen,
da sich nach ihm die rein immanente ( = adäquate) 19 Wahrnehmung da-
durch auszeichnet, daß der wahrgenommene Gegenstand bloß empfun-
dener und nicht irgendwie „gedeuteter" (apperzipierter) ist20 : ,,Ich (als
identisches Ich eines Bewußtseinslebens, in Positionen, die teils und in
einer universalen (allheitlichen) Geschlossenheit Welt zur Setzung brin-
gen ...) bin für mich ganz ursprünglich als selbstwahrnehmendes (selbst-
gegenwärtigendes), ich kann mich aktuell kennenlernen, weil ich schon
passiv in originaler Selbstgegenwärtigung bin und von da affiziert auf
mich aktuell hinsehen und mich in meinen originalen Eigenheiten erfas-
sen kann etc. "21
Wie schon angedeutet, hat es in der Philosophiegeschichte an kri-
tischen Stimmen, und zwar von ganz verschiedenen Seiten, gegen diese
Auffassung der Aktreflexion als eines inneren Wahrnehmens nicht ge-
fehlt. Die tiefsten Einwände und Neubesinnungen stammen wohl von

16 Logische Untersuchungen, 1. Aufl. II, S. 649/50; 2. Aufl. II/2, S. 177/8.


16 A a. 0., 1. Aufl. II, S. 611; 2. Aufl. 11/2, S. 139.
17 Cf. Ideen I, S. 85 (§.38); vgl. Logische Untersuchungen 1. Aufl. II, S. 709, 712;
. 2. Aufl. II/2, S. 238, 241.
18 Logische Untersuchungen, 1. Aufl. II, S. 651/2; 2. Aufl. II/2, S. 179/80.
18 Cf. a. a. 0., 2. Aufl. II/2, S. 240.
10 .A. a'. 0., 1. Aufl., S. 529; 590, 648, 711; 2. Aufl. II/2, S. 57/58, 83, 118, 176, 711.
11 Husserliana XV, S. 120 (m~ine Hervorhebungen).
Die Aktreflexion und »innere Wahrnehmung" 253

Leibniz, Berkeley und Kant. Aber dennoch ist es bei keinem dieser
Philosophen zu einer wirklichen Erfassung der Bewußtseinsstruktur der
Aktreflexion gekommen.
Leibniz fragt Locke: "Wie ist es möglich, daß der Geist hinsichtlich
der Perzeption aller einfachen Vorstellungen passiv ist, da es ja nach
Ihrem eigenen Zugeständnis einfache Vorstellungen gibt, deren Perzep-
tion aus der Reflexion kommt, und der Geist sich selbst die Reflexioris-
gedanken gibt, denn er ist es ja, der reflektiert?" 22 Leibniz faßt hier die
Reflexion als Gegenstandsgebung durch reine Selbsttätigkeit. Ja, bei ihm
kommt auch zur Geltung, daß die Reflexion nicht als wahrnehmende
Gegenwärtigung, sondern nur in der Vergegenwärtigung möglich ist. In
einem Kontext über die Identität der Person und die Gewißheit ver-
gangener eigener Tätigkeiten erklärt Leibniz: »Eine Erinnerung mit
einigem Abstand kann täuschen ..., aber die gegenwärtige oder so-
fortige Erinnerung oder die Erinnerung an das, was unmittelbar zuvor
geschah, d. h. das Bewußtsein oder die Reflexion, welche die innere
Tätigkeit begleitet, vermag nicht natürlicherweise zu täuschen; sonst
wäre nicht einmal sicher, daß man an dies oder jenes denkt, denn es ist
auch nur von der vergangenen Tätigkeit, von der man es in sich sagt,
und nicht von der Tätigkeit selbst, die es sagt. "23 Allerdings schafft
Leibniz keinen klaren Begriff der Aktreflexion, denn er vermengt sie
(als eine ganz besondere Weise des mittelbaren Bewußtseins) mit dem
Selbstbewußtsein, d. h. mit dem mittelbaren Bewußtsein überhaupt (je-
des mittelbare Bewußtsein ist Selbstbewußtsein oder Ichbewußtsein) 24•
So kann er denn auch wieder die Reflexion als Bewußtsein ( conscien-

22 »Comment cela se peut-il, qu'il ,l'esprit, soit passif a l'egard de toutes !es
idees simples, puisque selon votre propre aveu il y a des idees simples dont la
perception vient de 1a reflexion et que l'esprit se donne lui-meme les pensees de
reflexion, car c'est lui qui reflechit?" Nouveaux Essais II, 1. Kap. § 25.
23 »Un souvenir de quelque intervalle peut tromper ..., mais le souvenir present ou
immMiat, ou le souvenir de ce qui se passait immediatement auparavant, c'est-a-
dire la conscience ou la reflexion, qui accompagne l'action interne, ne saurait
tromper naturellement; autrement on ne serait pas meme certain qu'on pense a
telle ou telle chose, car ce n'est aussi que de l'action passee qu'on le dit en. soi et
nein pas de l'action m~me qui le dit" '(Nozeveaux Essais, II, 27. Kap.,.§ 13).
24 Sogar das Selbstbewußtsein und das bloße (unmittelbare) Bewußtsein sind bei
Leibniz nicht immer klar unterschieden, trotz seiner Gegenüberstellung von Perzep-
tion und Apperzeption. Diese Gegenüberstellung ist selbst nicht ganz klar (indem
die „Apperzeption" bei Leibniz nicht nur das Selbstbewußtsein, sondern auch
besonders deutliche Perzeptionen deckt), und Leibniz denkt sich jedes Bewußtsein
(jede Monade) ichhaft.
254 Die reine Reflexion

ciosite,) Ichgefühl (sentiment du moi) und als innere unmittelbare Wahr-


nehmung (perception intime et immediate) kennzeichnen 25 •
Auch der scharfsinnigste Bewußtseinsanalytiker des englischen Empi-
rismus, Berkeley, lehnt den Lockeschen Reflexionsbegriff ab: Er be-
zeichnet zwar die Reflexion auf den tätigen Geist auch sehr unglücklich
als »inneres Gefühl" (inward feeling) 26 , aber er erklärt auf das ent-
schiedenste, daß die Tätigkeiten des Geistes nicht wahrgenommen wer-
den (perceived) können, und „Wahrnehmung" heißt für ihn immer
sinnliche Wahrnehmung. Selbst wenn wir einen besonderen inneren Sinn
hätten, ,, wie einige ihn sich einbildeten", könnten wir damit nur Emp-
findungen oder sinnliche Vorstellungen (sensations or ideas of sense)
als inaktive, völlig passive Daten, deren Existenz im Wahrgenommen-
werden besteht, empfangen, aber nicht den Geist in seiner Tätigkeit
erkennen. Von den Tätigkeiten des Geistes haben wir gar keine auf
den sinnlichen Wahrnehmungen beruhende ideas, sondern nur notions21•
Worin nun aber die refiection, die Erkenntnis des tätigen Geistes besteht,
bleibt bei Berkeley ungeklärt; der geplante zweite Teil der Principles,
über den Geist, ist ungeschrieben geblieben.
Lackes Reflexionstheorie ist auch von Kant durchbrochen worden,
allerdings in einer sehr verwirrenden Weise. Einerseits bleibt er ihr in
seinen Begriffen der Wahrnehmung durch den inneren Sinn oder der
empirischen Apperzeption verhaftet, andererseits führt er aber durch
seine Ideen der reinen Apperzeption als des reinen Selbstbewußtseins
der Spontaneität sowie der transzendentalen Reflexion seine eigene und
die ihm folgende Philosophie weit über Loclce hinaus. Mit diesem kom-
plexen Verhältnis, das auch für unser nächstes Kapitel über Wesens-
erkenntnis von großer Bedeutung sein wird, setzen wir uns im folgenden
Paragraphen auseinander.

§ 46 „Empirische Apperzeption", ,,reine Apperzeption"


und „transzendentale Refiexion" bei Kant

Um der Deutlichkeit der folgenden Ausführungen willen möchte ich


eine terminologische Klärung des von Kant gebrauchten Wortes „Re-

25 A. a. 0., §§ 9, 13 .
.26 Principles, § 89.
27 A. a. 0., §§ 27, 135-140.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 255

flexion" vorausschicken. Dieses Wort kommt bei ihm je nach Zusammen-


hang in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen vor:
1. »Reflexion" kann bei Kant einfach die mittelbare Vorstellung
(Vorstellung von Vorstellungen) meinen, die in jedem Urteil oder Be-
griff liegt. Zu jedem Urteil oder Begriff (zu jeder Erkenntnis) ist nach
Kant »Reflexion" d. h. Bewußtsein der mannigfaltigen Vorstellungen
in ihrer Zusammenstellung nach einer Regel der Einheit (Begriff) erfor-
derlich. Dieser Wortgebrauch kommt von der Dissertation von 1770
über die Kritik der reinen Vernunft bis zur Anthropologie vor28• In
diesem Sinne kann Kant auch sagen: ,,Unser Verstand ist das Vermögen
zu reflektieren, und reine Verstandesbegriffe {transzendentale) sind bloße
abstrakte Reflexionsbegriffe. " 29 Dieser Kantische Begriff der „Reflexion"
kommt unserem Begriff der „allgemeinen Reflexivität" (»Spiegelung")
sehr nahe, nur daß er bei Kants beschränktem Verstandesbegriff auf die
kategoriale Funktion reduziert wird. Wir wollen bei diesem Reflexions-
begriff Kants von allgemeiner Reflexion reden.
2. Kant spricht im Anhang zur „transzendentalen Analytik" der
Kritik der reinen Vernunft in einem ganz besonderen Sinne von »Re-
flexionsbegriffen", nämlich Begriffen der „logischen Reflexion", d. h.
einer Reflexion, die Begriffe in Beziehung auf ihr gegenseitiges logisches
Verhältnis vergleicht30• Solche Reflexionsbegriffe, ,,die wir, wie es
scheint, ... Vergleichungsbegriffe nennen sollten" 31, sind die Begriffe der
Einerleiheit, der Verschiedenheit, der Einstimmung und des Widerstreits.
„Reflexion" in diesem zweiten Sinn ist also logische Reflexion auf
Begriffe als objektive Wortbedeutungen.

18 Dissertation (1770), § 5: Die Erfahrung (experientia) ist cognitio refl,exa aufgrund


des Vergleichs (comparatio) von mehreren sinnlichen Erscheinungen; ,.ab apparentia
itaque ad experientiam via non est nisi per reflexionem secundum usum intellectus
logicum". Kritik der reinen Vernunft, A 310 (B 366): ,, Verstandesbegriffe werden
auch a priori vor der Erfahrung und zum Behuf derselben gedacht; aber sie ent-
halten nichts weiter, als die Einheit der Reflexion über die Erscheinungen, insofern
sie notwendig zu einem möglichen empirischen Bewußtsein gehören sollen." Anthro-
pologie, § 4: ,, ... die innere Handlung (Spontaneität), wodurch ein Begriff (ein
Gedanke) möglich wird, die Reflexion ..•"; § 7: ,,Weil Erfahrung empirische Er-
kenntnis ist, zum Erkenntnis aber (da es auf Urteilen beruht) Überlegung (reflexio),
mithin Bewußtsein der Tätigkeit in Zusammenstellung des Mannigfaltigen der Vor-
stellung nach einer Regel der Einheit, d. i. Begriff und (vom Anschauen unter-
schiedenes) Denken überhaupt, erfordert wird .•. ".
29 Akad.-Ausg., XV, S. 165/6, Nr. 409.
8° Kritik der reinen Vernunft, A 266 ff.; B 316 ff. Vgl. Prolegomena,§ 39.
81 A. a. 0., A 262; B 318.
256 Die reine Reflexion

3. Der logischen Reflexion stellt Kant die transzendentale Reflexion


gegenüber. Diese Reflexion, welche in reinen Urteilen a priori geschehen
muß 32, · "hält die Vergleichung der Vorstellungen überhaupt mit der
Erkenntniskraft zusammen, darin sie angestellt werden, und unterschei-
det, ob sie als zum reinen Verstand oder zur sinnlichen Anschauung
gehörend untereinander verglichen werden" 33 • Sie geht auf die Erkennt-
nisart (Sinnlichkeit und Verstand) der Gegenstände und enthält damit
,,den Grund der Möglichkeit der objektiven Komparation der Vorstel-
lungen untereinander" 34 • Mit dem Ausdruck der transzendentalen Re-
flexion bezeichnet Kant also nichts anderes als sein Unternehmen der
Vernunftkritik. In dieser Reflexion ist beschlossen die Frage nach der
Möglichkeit apriorischer Erkenntnis und damit die Erkenntnis der not-
wendigen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung.
Im jetzigen Zusammenhang interessieren uns nur der erste (allge-
meine) und vor allem der dritte (transzendentale) Reflexionsbegriff
Kants, da nur sie sich auf Bewußtseinsakte beziehen, also, allerdings in
verschiedenem Sinne, "Bewußtseinsreflexionen" sind. Wie denkt sich
Kant die Struktur dieser Reflexionen, wie kann oder muß er sie mit den
Mitteln seiner Bewußtseinstheorie denken? Ich möchte zu zeigen ver-
suchen, daß Kant hier an Lock.es „Wahrnehmung durch den inneren
Sinn" verhaftet bleibt, andererseits doch deutlich sieht, durch diese Idee
Lock.es den Ansprüchen der transzendentalen Reflexion keineswegs ent-
sprechen zu können, und diese Idee durch das reine, nicht-sinnliche
Selbstbewußtsein (reine Apperzeption) ergänzt, aber diesen neuen Ge-
danken wegen der fortdauernden Verhaftung an Lock.es innerer Wahr-
nehmung doch nicht wirklich für eine echte Theorie der Bewußtseins-
reflexion fruchtbar zu machen vermag, so daß seine Gedanken über die
Bewußtseinsreflexion nicht nur ganz unzureichend bleiben, sondern sich
in Widersprüche verstricken.
Was die allgemeine Reflexion Kants anbelangt, so möchte ich nur
kurz darauf hinweisen, daß auch hier der „innere Sinn" Lockes (wohl
durch Baumgarten vermittelt) hineinspielt, lasse es aber offen, inwiefern
Kant in der „kritischen Periode" von dieser Auffassung Abstand
nimmt. Die Frage wäre, ob er auch dann noch das Urteil als „Vor-
stellung einer Vorstellung" 35 durch den „inneren Sinn" ermöglicht sieht.

32 A. a. 0., A 295, B 351.


33 A. a. 0., B 317.
34 A. a. 0., A 261-263; B 317-319.
85 Kritik der reinen Vernunft, A 68; B 93.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 257

Obschon sich Kant in späterer Zeit, soweit mir bekannt ist, hütet,
solches zu sagen, vermöchte er es aufgrund seiner Bewußtseinstheorie
auch nicht zu verneinen. In dem bereits oben einmal zitierten Text von
1762 jedoch erklärt er aufs deutlichste, daß "die Kraft oder Fähigkeit,
wodurch das Urteilen möglich wird, nichts anderes sei als das Vermögen
des inneren Sinnes, d. i. seine eigenen Vorstellungen zum Objekt seiner
Gedanken zumachen" 86•
Uns muß hier vor allem Kants transzendentale Reflexion interessie-
ren. Um was für eine Bewußtseinsstruktur handelt es sich hier, die die
Vorstellungen auf die verschiedenen Erkenntnisquellen zurückführt? Die
Anschauung durch den inneren Sinn kann dafür nicht aufkommen: »In
der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des
inneren Sinnes; in der Logik (Kant meint hier die transzendentale
Logik) aber nach dem, was das intellektuelle Bewußtsein an die Hand
gibt. "37 Bevor wir genauer feststellen, was dieses intellektuelle Bewußt-
sein ist, auf dem die transzendentale Logik beruht, wollen wir uns
fragen, was nach Kant die Selbsterfahrung des Subjekts durch den
inneren Sinn an die Hand geben soll. Diese Selbsterfahrung oder
empirische Apperzeption beruht auf der inneren Wahrnehmung des
Mannigfaltigen im Gemüte, das durch die Affektion des inneren Sinnes
gegeben und hier gemäß dessen bloß subjektiven Form, der Zeit, bei-
sammen ist. Das Subjekt schaut sich so an, ,,nicht wie es sich unmittelbar
selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen
affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist" 88• Worin
besteht nach Kant dieses Mannigfaltige, das das Gemüt vermittelst des
inneren Sinnes als „seinen inneren Zustand" 89 wahrnimmt? Dazu gehö-
ren einmal bloße innere Empfindungen, so »das Gefühl der Lust und
Unlust als eine dem inneren Sinn angehörige Rezeptivität" 40• Den
»eigentlichen Stoff" der inneren Anschauung machen aber „die Vor-
stellungen äußerer Sinne . . . aus, womit wir unser Gemüt besetzen " 41 •
Wir nehmen also nach Kant durch den inneren Sinn äußere Wahrneh-
mungen wahr, also auch Akte, denn die Wahrnehmung oder »Apprehen-

88 Die falsche Spitzfindigkeit der syllogistischen Figuren, Akad.-Ausg. S. 60.


17 Anthropologie, § 4, Akad.-Ausg., S. 134, Anm.
88 Kritik der reinen Vernunft, B 68/69; vgl. B 156.
89 A. a. 0., A 23, 33/34; B 37, 50.
°
4 Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-Ausg. S. 58; ebenso Kritik der reinen
Vernunft, A 378.
41 Kritik der reinen Vernunft, B 67.
258 Die reine Reflexion

sion" ist auch für Kant ein Akt 42 • So „nehmen wir", nach Kant, auch
„jederzeit" die figürliche Synthesis der Einbildungskraft (synthetischer
Einfluß des Verstandes auf den inneren Sinn), wodurch wir Raumge-
stalten beschreiben, als „reinen Aktus der sukzessiven Synthesis des
Mannigfaltigen" ,,in uns wahr" 43 • Also Gegenstände des inneren Sinnes
(der inneren Wahrnehmung) sind nach Kant sowohl Empfindungsinhalte
als auch Akte, und nicht nur Wahrnehmungen, sondern auch Denkakte44 •
Wir sehen also Kant einerseits ganz von der falschen Lockeschen Idee
der inneren Wahrnehmung befangen.
Aber andererseits sieht Kant, daß Wahrnehmung durch einen inneren
Sinn nur sinnliche Erscheinungen hergeben und daß eine transzendentale
Reflexion, die die Möglichkeit und die Quellen der Erkenntnis (aus
Sinnlichkeit und Vernunft) erfassen will, sich keineswegs in bloßen
sinnlichen Erscheinungen bewegen kann, wenn sie ihrem Anspruch genü-
gen soll. Kant greift selbst ausdrücklich das Bedenken auf, das aus der
Idee der inneren sinnlichen Anschauung des denkenden Subjekts er-
wachsen muß: ,,Der Satz, Ich denke, oder ich existiere denkend, ist ein
empirischer Satz. Einern solchen aber liegt empirische Anschauung, folg-
lich auch das gedachte Objekt als Erscheinung, zum Grunde, und so
scheint es, als wenn nach unserer Theorie die Seele ganz und gar, selbst
im Denken, in Erscheinung verwandelt würde, und auf solche Weise
unser Bewußtsein selbst, als bloßer Schein, in der Tat auf nichts gehen
müßte. " 45 Auf dieses Bedenken antwortet Kant bekanntlich durch die
Idee der reinen Apperzeption (des reinen, unsinnlichen Selbstbewußt-
seins); sie ist der „höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch,
selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie
heften muß, ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst" 46 • In diesem
Sinne führt Kant aus: ,,Das Denken, für sich genommen, ist bloß die

42 Vgl. die „Synthesis der Apprehension in der Anschauung" in der 1. Aufl. der
Kritik der reinen Vernunft (A 98 ff.); ebenso Anthropologie, § 4, Akad.-Ausg. S. 134.
43 Kritik der reinen Vernunft, B 154/5.
4·1 ,, ••• unser denkendes Subjekt ... wird von uns als Gegenstand des inneren Sinnes
vorgestellt" (a. a. 0., A 357); ,, .•. wir können ihre Gedanken (der denkenden
Wesen), ihr Bewußtsein, ihre Begierden usw. nicht äußerlich anschauen; denn dieses
gehört alles vor den inneren Sinn" (ebenda); ,,Gedanken ..., die durch den eigenen
inneren Sinn mit Bewußtsein vorgestellt werden können" (a. a. 0., A 359); ,, .. .die
Vorstellung meiner Selbst, als des denkenden Subjekts, bloß auf den inneren Sinn
bezogen" (a. a. 0., A 371); ,, ..• der Gegenstand meines inneren Sinnes (meine
Gedanken)" (ebenda).
4" A. a. 0., B 428.
46 A. a. 0., B 134.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 259

logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des


Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung, und stellt das Sub-
jekt des Bewußtseins keineswegs als Erscheinung dar, bloß darum, weil
es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung nimmt, ob sie sinn-
lich oder intellektuell sei. . . . Nun will ich mich meiner aber nur als
denkend bewußt werden; wie mein eigenes Selbst in der Anschauung
gegeben sei, das setze ich beiseite, und da könnte es mir, der ich denke,
aber nicht sofern ich denke, bloß Erscheinung sein; im Bewußtsein mei-
ner Selbst beim bloßen Denken bin ich das Wesen selbst, von dem mir
freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist. " 47 In einer paralle-
len Stelle in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt es, daß
der Mensch durch den inneren Sinn sich nur erkenne, wie er erscheine,
„indessen er doch notwendigerweise über diese aus lauter Erscheinungen
zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjekts noch etwas
anderes zum Grunde liegendes, nämlich sein Ich, sowie es an sich selbst
bescha:ffen sein mag, annehmen und sich also in Absicht auf die bloße
Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnenwelt,
in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Tätigkeit sein mag (dessen, was
gar nicht durch Affizierung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewußt-
sein gelangt), sich zur intellektuellen Welt zählen muß, die er doch nid1t
weiter kennt. " 48 Wenn wir in diesen beiden Zitaten von den jeweils am
Schluß angedeuteten Einschränkungen (,, ... von den mir freilich dadurch
noch nichts zum Denken gegeben ist"; ,, ... die er doch nicht weiter
kennt") absehen, scheint es, daß damit die Erkenntnisgrundlage der
transzendentalen Reflexion gefunden sei. Kant scheint zufrieden erklä-
ren zu dürfen: ,,Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich
nur durch die Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße <= reine)
Apperzeption, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die
er gar nicht zum Eindruck der Sinne zählen kann, und ist sich selbst
freilich einesteils Phänomen, andernteils aber, nämlich in Ansehung ge-
wisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung
desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden
kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft ... " 49 •
Nach Kant gibt es also ein nicht-sinnliches Bewußtsein der Tätigkeit.
Diese ohne sinnliche Affektion bewußte Tätigkeit ist für ihn allerdings

47 A. a. 0., B 428/9.
48 Grundlegung zi.r Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg., S. 451 (Hervorhebung z. T.
von uns); vgl. S. 457, 458, 461.
49 Kritik der reinen Vernunft, A 546/7; B 574/5.
260 Die reine Reflexion

nur „Denken", ,,logische Funktion", Verstandes- und Vernunfttätigkeit.


Aber eigentlich gibt es ja für Kant gar keine anderen Tätigkeiten als
Verstandes- oder Vernunfttätigkeit, denn Sinnlichkeit ist für ihn bloße
Empfänglichkeit (Fähigkeit affiziert zu werden). So kann er denn sagen:
,,Der innere Sinn ist nicht die reine Apperzeption, ein Bewußtsein des-
sen, was der Mensch tut, denn dieses gehört zum Denkungsvermögen,
sondern was er leidet, wiefern er durch sein eigenes Gedankenspiel
affiziert wird. " 50 Nach gewissen Ausführungen Kants scheint es, daß
nach ihm das Bewußtsein der Tätigkeit als solcher immer reines, intellek-
tuelles Bewußtsein sei und als solches der transzendentalen Logik zu-
grundeliegen könne, während die auf dem inneren Sinn beruhende An-
schauung, die die empirische Psychologie begründet, es nicht mit Tätig-
keiten, sondern nur mit Empfindungsinhalten, die durch Selbstaffektion
des tätigen Subjekts entstehen, zu tun hat51 • Damit wäre unsere eigene
These erreicht: ,,innere" Tätigkeiten (Bewußtsein) sind überhaupt nicht
Gegenstand innerer sinnlicher Wahrnehmung, sondern innerlich „wahr-
genommen" (empfunden) sind nur Empfindungsinhalte (Affektionen),
die evtl. aus der Selbstaffektion durch eigene Tätigkeit hervorgerufen
sind. Aber, wie oben ausgeführt, gehören nach anderen Ausführungen
Kants auch Tätigkeiten zum Gegenstandsbereich innerer Wahrnehmung.
In seinem Schwanken fällt Kant manchmal auch auf die „Zwischen-
lösung", daß die Verstandes- und Vernunftakte als solche zwar aus-
schließlich in reiner Apperzeption bewußt sind, daß aber die sinnliche
Wahrnehmung, die er nun auch als Akt anspricht, in den inneren Sinn
fällt: ,,Wenn wir die innere Handlung (Spontaneität), wodurch ein Be-

50 Anthropologie, § 24, Akad.-Ausg., S. 161.


51 _;,Ich, als denkendes Subjekt, bin zwar mit mir, als Sinnenwesen, ein und dasselbe
·• Subjekt; aber als Objekt der inneren empirischen Anschauung, d. i. sofern ich inner-
lich von Empfindungen in der Zeit, so wie sie zugleich oder nacheinander sind,
affiziert werde, erkenne ich mich doch nur, wie ich mir selbst erscheine ... " (Anthro-
pologie, § 7, Akad.-Ausg., S. 142). ,,Vorstellungen, in Ansehung deren sich das
Gemüt leidend verhält, durch welche also das Subjekt affiziert wird (dieses mag
sich nun selbst affizieren oder von einem Objekt affiziert werden), gehören zum
sinnlichen, diejenigen aber, welche ein bloßes Tun (das Denken) enthalten, zum
intellektuellen Erkenntnisvermögen ..• Jenes (das sinnliche Erkenntnisvermögen)
hat den Charakter der Passivität des inneren Sinnes der Empfindungen; dieses
<den Charakter) der Sponaneität der Apperzeption, d. i. des reinen Bewußtseins
der Handlung, welche das Denken ausmacht und zur Logik (einem System der
Regeln des Verstandes), so wie jener <der Charakter der Passivität) zur Psycho-
logie (einem Inbegriff aller inneren Wahrnehmungen unter Naturgesetzen) gehört
und innere Erfahrung begründet" (a. a. 0., S. 140/41). ·
Apperzeption und Reflexion bei Kant 261

griff (ein Gedanke) möglich wird, die Reflexion 52 , die Empfänglichkeit


(Rezeptivität), wodurch eine Wahrnehmung (perceptio), d. i. empirische
Anschauung, möglic.½ wird, die Apprehension, beide Akte aber mit Be-
wußtsein vorstellen, so kann das Bewußtsein seiner selbst (apperceptio)
in das der Reflexion 52 und das der Apprehension eingeteilt werden. Das
erstere ist das Bewußtsein des Verstandes, das zweite der innere Sinn;
jenes ist die reine, dieses die empirische Apperzeption, da dann Jene
fälschlich der innere Sinn genannt wird. " 53
Die für unser Problem der transzendentalen Reflexion letztlich ent-
scheidende Frage ist nun aber diese: Was gibt das „intellektuelle Bewußt-
sein", ,,die reine Apperzeption" an die Hand? In Wirklichkeit kann sie
nach Kant überhaupt gar keine Erkenntnis hergeben. Denn „die reine
Apperzeption seiner Gemütshandlung ist einfach. Das Ich der Reflexion
hält kein Mannigfaltiges in sich und ist in allen Urteilen immer ein und
dasselbe, weil es bloß das Förmliche des Bewußtseins, dagegen die innere
Erfahrung das Materielle desselben und ein Mannigfaltiges der empi-
rischen inneren Anschauung, das Ich der Apprehension (folglich eine
empirische Apperzeption) enthält" 54 • Die reine Apperzeption ist das
bloße Bewußtsein ichlicher Spontaneität, der Form „Ich denke", der
logischen Funktion, die überall dieselbe ist, und nichts mehr. Sie ist eine
,,gänzlich leere Vorstellung" 55 , sie enthält keine Unterschiede, kein Man-
nigfaltiges56. Die reine Apperzeption sagt also nur: ,,Ich denke (spon-
tan)", und dann ist's schon aus. Für diese völlig einfache Vorstellung
gibt die reine Apperzeption gar keine Bestimmung (Erkenntnis), die
ein Mannigfaltiges voraussetzen würde; Mannigfaltiges ist aber nur in
der sinnlichen Anschauung gegeben: ,,Das Bewußtsein seiner selbst (Ap-
perzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch

52 Reflexion ist hier im Sinne der allgemeinen Reflexion als der Verstandestätigkeit
überhaupt zu verstehen, so wie »Apprehension" nicht die empirische Apperzeption,
sondern sinnliche Wahrnehmung überhaupt bedeutet.
53 Anthropologie, § 4, Akad.-Ausg. S. 134, Anm. In ähnlichem Sinne wird S. 133/34
erklärt, daß „die verschiedenen Akte der Vorstellungskraft in mir zu beobachten,
wenn ich sie herbeirufe ... für Logik und Metaphysik nötig und nützlich" sei, daß
aber dieselben Akte, "so wie sie auch ungerufen von selbst ins Gemüt kommen (das
geschieht durch das Spiel der unabsichtlich dichtenden Einbildungskraft)" nur
»innere Erfahrungen" ausmachen.
54 Anthropologie, § 7, Akad.-Ausg. S. 142.
55 Kritik der reinen Vernunft, A 345/6; B 404.
56 „Ich bin einfach, bedeutet aber nichts mehr, als daß die Vorstellung: Ich, nicht die
mindeste Mannigfaltigkeit in sich fasse und daß sie absolute (obzwar bloß logische)
Einheit sei" (a. a. 0., A 355).
262 Die reine Reflexion

allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde


die innere Anschauung intellektuell sein. Im Menschen fordert dieses
Bewußtsein innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im
Subjekte vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne Spontaneität
im Gemüte gegeben wird, muß, um dieses Unterschiedes willen, Sinnlich-
keit heißen. "57 „Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung
(als die sinnliche), die das Bestimmende in mir, dessen Spontaneität
ich mir nur bewußt bin, ebenso vor dem Aktus des Bestimmens gibt, wie
die Zeit das Bestimmbare, so kann ich mein Dasein, als eines selbst-
tätigen Wesens, nicht bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Sponta-
neität meines Denkens, d. i. des Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt
immer nur sinnlich, d. i. als das Dasein einer Erscheinung, bestimmbar.
Doch macht diese Spontaneität, daß ich mich Intelligenz nenne." 58 Von
der Bewußtseinstätigkeit ist durch reine Apperzeption nichts anderes zu
sagen, als daß sie Bewußtseinstätigkeit sei, jegliche andere Aussage be-
ruht auf dem inneren Sinn.
Aus dieser Indifferenz oder Unbestimmtheit der durch das intellek-
tuelle Bewußtsein (die reine Apperzeption) an die Hand gegebenen
Spontaneität mußte Kant folgende Konsequenzen ziehen: 1. Hatte Kant
früher geglaubt, die sittlich freie Tätigkeit durch bloßes (reines) Selbst-
bewußtsein erfassen zu können, ein Gedanke, der sogar noch in der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 in Spannung zu
gegensätzlichen Ideen zur Geltung kommt59, so löst sich Kant konse-
quenterweise die Spezifizität dieser Tätigkeit in die allgemeine Unbe-
stimmtheit der Spontaneität auf und bewahrt ihren Erkenntnisgrund
(ratio cognoscendi) allein noch im Faktum des Sittengesetzes60 •

51 A. a. 0., B 68.
ss A. a. 0., B 157/8, Anm. Vgl. .Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg.
S. 462: Von der Welt der Intelligenzen »habe ich eine Idee, die ihren guten Grund
hat, doch habe .ich von ihr nicht die mindeste Kenntnis und kann auch zu dieser
durch alle Bestrebungen meines natürlichen Vernunftvermögens niemals gelangen.
Sie bedeutet nur ein Etwas, das da übr.ig bleibt ••. ".
GD Siehe etwa a. a. 0., Akad.-Ausg., S. 458: ., ... das Bewußtsein seiner selbst als
Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d. i. frei wirkende
Ursache .. ,".
°
1 Kritik der praktischen Vernunft, S. 72, 81/82, 128 u. a. (Akad.-Ausg. S. 42, 47,
72/73 u. a.); vgl. auch die Ausführungen und zitierten Stellen aus Kants Nachlaß
im ·Beitrag von D. Henrich, »Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre
vom Faktum der Vernunft" zur· Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Georg
Gadamer, Tübingen, 1960, S. 107-110.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 263

2. Die differenzierten Bestimmungen der Bewußtseinstätigkeiten, vor


allem der drei verschiedenen Synthesen (der Apprehension, der Repro-
duktion, der Rekognition) in der ersten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft, muß Kant als empirisch-psychologische Bestimmungen in der
zweiten Auflage fallen lassen, obschon ihm eine solche Ausschaltung
nicht voll gelingen kann (man denke etwa an den Begriff der „figürlichen
Synthesis"). Es ist hier wohl zu sagen, daß Kants Idee der Simplizität
(Einfachheit) der nicht-sinnlichen Apperzeption seine simplizistische Auf-
fassung des Verstandes als bloße Verbindung (Synthesis, Zusammenset-
zung, Ordnung) sinnlichen Materials 61 noch bekräftigte, während umge-
kehrt diese simplizistische Auffassung die Idee der Simplizität des nicht-
sinnlichen Selbstbewußtseins des Verstandes überhaupt zuließ. Man kann
sich fragen, warum Kant nicht in analoger Weise ein rein intellektuelles
Selbstbewußtsein verschiedenartiger Bewußtseinsakte zu rechtfertigen
versuchte, wie er die reine Intellektualität des „Ich denke" begründete.
Sofern im "Ich denke" mein Dasein gegeben ist, handelt es sich nach
Kant um einen auf innerer Wahrnehmung beruhenden empirischen
Satz62, der aber nichtsdestoweniger eine „rein intellektuelle Vorstellung"
(die reine Apperzeption) enthält63 , insofern in ihm eine in abstrahie-
render Weise 64 erfaßbare allgemeine und notwendige Bedingung mög-
licher Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt, abgesehen von allem
besonderen Wahrnehmungs- oder Erfahrungsinhalt, zur Geltung
kommt65 • Auch in unserer rein reflexiven Analyse der verschiedenen Be-
wußtseinstätigkeiten wird ja vom jeweiligen besonderen „zufälligen"
Inhalt abgesehen und nur den notwendigen Bedingungen dieser Tätigkei-

61 Siehe oben § 22.


ae Kritik der reinen Vernunft, B 421, 428, 429.
es A. a. 0., B 422, Anm.
°' A. a. 0., B 426/27.
ec. ,,Man darf sich nicht daran stoßen, daß ich doch an diesem Satze ,Ich denke,,
der die Wahrnehmung seiner selbst ausdrückt, eine innere Erfahrung habe ... Denn
diese innere Wahrnehmung ist nichts weiter als die bloße Apperzeption: Ich denke,
welche sogar alle transzendentalen Begriffe möglich macht, in welchen es heißt:
Ich denke die Substanz, die Ursache usw. Denn innere Erfahrung überhaupt und
deren Möglichkeit, oder Wahrnehmung überhaupt und deren Verhältnis zu anderer
Wahrnehmung, ohne daß irgendein 'besonderer Unterschied derselben und Bestim-
mung empirisch gegeben ist, kann nicht als empirische Erkenntnis, sondern muß als
Erkenntnis des Empirischen überhaupt angesehen werden, und gehört zur Unter-
suchung der Möglichkeit einer jeden Erfahrung, welche allerdings transzendental ist.
Das mindeste Objekt der Wahrnehmung (z.B. nur Lust oder Unlust), welche zu der
allgemeinen Vorstellung des Selbstbewußtseins hinzukäme, würde die rationale
Psychologie sofort in eine empirische verwandeln" (a. a. 0., A 342/3; B 400/1).
264 Die reine Reflexion

ten als solcher nachgegangen. Kant vermochte dieser Verschiedenartigkeit


oder Mannigfaltigkeit der Bewußtseinsakte als solcher durch eine rein
intellektuelle Erfassung deshalb nicht Rechnung zu tragen, weil er,
gebleridet durch Lock.es Idee der inneren Wahrnehmung, jede Mannig-
faltigkeit (auch die mathematische!) als eine sinnlich und zeitlich gegebe-
ne betrachtete und ihm gleichzeitig der Begriff des Wesens als einer rein
intellektuellen "Mannigfaltigkeit in einer Einheit" fehlte (dazu die Aus~
führungen iin nächsten Kapitel).
Die durch die Idee der Einfachheit oder Leere des intellektuellen
Selbstbewußtseins bedingte Ausschaltung der eigentlichen Bewußtseins-
analyse aus der Vernunftkritik war für die Konzeption der Philosophie
bei Kant selbst, aber auch bei seinen „Nachfolgern" im weitesten Sinne,
von einer ungeheuren Tragweite. Hatte Kant in der Vorrede der ersten
Auflage der Kritik der reinen Vernunft diese noch primär unter den
Gesichtspunkt der Selbsterkenntnis der Vernunft gestellt66, so wird dieser
die Phifosophie überhaupt konstituierende Gesichtspunkt in der Vorrede
zur zweiten Auflage nicht mehr genannt. Allerdings hatte Kant schon in
der ersten Auflage von der „subjektiven Seite" des Herzstückes des
ganzen Werkes (der „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe") erklärt,
daß diese Seite, die „darauf ausgeht, den reinen Verstand selbst nach
seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst be-
ruht, mithin ihn in subjektiver Beziehung zu betrachten", obschon sie
,;in Ansehung meines Hauptzweck.es von großer Wichtigkeit" sei, ,,doch
nicht wesentlich zu demselben gehört; weil die Hauptfrage immer bleibt,
was und wieviel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung,
erkennen, und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?" 67
Aber man spürt sofort, daß dieses Zurückschieben der „subjektiven"
Frage· (wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?) durch die
methodische Unsicherheit, ja im Grunde genommen methodische Boden7
losigkeit der entsprechenden Untersuchungen bedingt ist. Denn Kant

68 „Sie (die Gleichgültigkeit gegenüber metaphysischen Fragen) ist offenbar die


Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters,
welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt, und eine Aufforderung
an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbst-
erkenntnis, aufs ·neue zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der· sie. bei
··· ihren gerechten.Ansprüchen sichere, ·dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen nicht
durch· Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen ·abfer-
tigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst"
{a; a. 0., A XI/XII).
•7 A. a.O., A XVI/XVII.
Apperzeption und Reflexion bei Kant 265

fährt nach der oben zitierten Stelle gleich fort: ,,Da das letztere gleich-
sam eine Aufsuchung der Ursache zu einer gegebenen Wirkung ist und
insofern etwas einer Hypothese Ähnliches an sich hat (ob es gleich, wie
ich bei anderer Gelegenheit zeigen werde, sich in der Tat nicht so ver-
hält), so scheint es, als sei hier der Fall, da ich mir die Erlaubnis nehme,
zu meinen, und dem Leser also auch freistehen müsse, anders zu meinen.
In Betracht dessen muß ich dem Leser mit der Erinnerung zuvorkommen,
daß, im Fall meine subjektive Deduktion nicht die ganze Überzeugung,
die ich erwarte, bei ihm gewirkt hätte, doch die objektive, um die es mir
hier vornehmlich zu tun ist, ihre ganze Stärke bekomme ... " 68 • Aber
für mich (auch ein Leser) ist es klar, daß das Ausweichen gegenüber
der „subjektiven" Frage, was Vernunft oder Verstand selbst sei, der
„objektiven" Frage der „Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe" den
philosophischen Boden und ein mögliches philosophisches Verständnis
entzieht. In der Deduktion der zweiten Auflage wird die „subjektive
Seite" der „größeren Faßlichkeit" willen fast völlig weggelassen, und es
tönt geradezu zynisch, wenn Kant diese Veränderung als einen „kleinen
Verlust" bezeichnet69•
3. Aus der Leere oder Unbestimmtheit der durch die intellektuelle
Apperzeption bewußten Spontaneität ergab sich für Kant schließlich
noch eine weitere Konsequenz: Da das reine „Ich denke" keine Erkennt-
nis ausmacht, bezeichnet es bloß ein unbekanntes und für uns immer
unerkennbares „transzendentales Subjekt der Gedanken = X", ,,einen
uns unbekannten Grund der Erscheinungen", den „transzendentalen
Gegenstand des inneren Sinnes" 70 • Da alles Mannigfaltige des Selbst-
bewußtseins nur Erscheinung in der inneren sinnlichen Anschauung ist,

os A. a. 0., A XVII.
a9 A. a. 0., B XLII.
70 „Durch dieses Ich ... , welches denkt, wird nun nichts weiter als ein transzendentales
Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine
Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten
Begriff haben können ... " (a. a. 0., A 346). ,,Es ist aber offenbar, daß das Subjekt
der Inhärenz durch das dem Gedanken anhängende Ich nur transzendental bezeich-
net werde, ohne die mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken oder überhaupt
etwas von ihm zu kennen oder zu wissen" (a. a. 0., A 355). ,,Der transzendentale
Gegenstand ist, sowohl in Ansehung der inneren als äußeren Anschauung, gleich
unbekannt" (a. a. 0., A 372). ,,Das transzendentale Objekt, welches den äußeren
Erscheinungen, im gleichen das, was der inneren Anschauung zum Grunde liegt, ist
weder Materie noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter
Grund der Erscheinungen, die den empirischen Begriff von der ersten sowohl als
zweiten Art an die Hand geben (a. a. 0., A 379/80). Analoges auch in der zweiten
Auflage: B 422 Anm., 426/27.
266 Die reine Reflexion

kann die intellektuelle Apperzeption nur völlig leer und unbestimmt ein
X „hinter" den Erscheinungen bezeichnen. Es wird damit hinter allem
durch das Selbstbewußtsein „als bloßer Erscheinung" Erkennbaren noch
ein unerkennbares „Etwas an sich" angesetzt. Dadurch wird die Ver-
nunft oder der Verstand selbst in eine unerkennbare „Oberwelt" er-
hoben, während sie doch nichts anderes und nicht mehr ist als das in
reiner Reflexion (und aufgrund dieser durch transzendentale Interpre-
tation) Erkennbare. Die großen Nachfolger Kants haben diesen „Hinter-
welt"-Gedanken nicht mitvollzogen, aber anstatt sich dabei auf die rein
reflexive Bewußtseinsanalyse abzustützen, die allein das Fundament für
eine prinzipiell von jedem Vernünftigen überprüfbare Philosophie als
Selbsterkenntnis der Vernunft abgeben kann, konstruierten sie· entweder
ingeniös, aber ohne direkten bewußtseinsanalytischen Ausweis aus der
reinen Apperzeption als dem „obersten Grundsatz" die erfahrene Wirk-
lichkeit (Fichtes frühe Wissenschaftslehre, Schellings System des tran-
szendentalen Idealismus) oder ließen überhaupt das reine Selbstbewußt-
sein als Grundlage der Philosophie zugunsten einer Objektivität (Hegels
dialektische Geistesgeschichte, ,,Bewegung des Begriffs") fallen.
Dieser unglücklichen Entwicklung der Philosophie, von der ich nur
die für alles weitere entscheidende Phase bei Kant umreißen wollte, liegt
Lockes Verfälschung der Aktreflexion zur inneren Wahrnehmung (,,In-
trospektion") zugrunde. Da die Aktreflexion die Grundmethode der
Philosophie darstellt, liegt in der theoretischen Auffassung der Reflexion
die „Entscheidung über Leben und Tod" der Philosophie als Selbst-
erkenntnis der Vernunft. Wenn in der heutigen Zeit von der sog.
,,sprachanalytischen Philosophie", vor allem von Wittgenstein und Gil-
bert Ryle, größter Vorbehalt, ja Ablehnung gegenüber der reflexiven
Bewußtseinsanalyse als philosophischer Methode an den Tag gelegt wird,
so wurzelt diese Ablehnung immer noch in der Lockeschen Verkennung
der Aktreflexion als „innere Wahrnehmung" oder „Introspektion" 71 •

§ 47 Reflexive Selbsterkenntnis und das „Unbewußte"

Nach dem Ausgeführten soll die Philosophie ihrer Aufgabe der


Selbsterkenntnis der Vernunft durch reine Reflexion auf das Bewußt-
sein entsprechen. Dagegen könnte das Bedenken auftauchen: Wie soll

71 Vgl. unten § 55 und G. Ryle, The Concept of Mind, 6. Kapitel.


Reflexive Selbsterkenntnis und das „Unbewußte" 267

durch reine Bewußtseinsreflexion wirkliche Selbsterkenntnis der Ver-


nunft möglich sein, wenn doch, wie man seit Freud allgemein weiß, ein
so großer Teil der menschlichen Seele nicht nur unbewußt ist, sondern
durch bloße Reflexion auch gar nicht bewußt und erkannt werden kann?
Dieses Bedenken beruht im wesentlichen auf einem Mißverständnis,
dessen Klärung für die Bestimmung der Aufgabe der Philosophie förder-
lich ist. Es ist nicht in Zweifel zu ziehen, daß vieles in der menschlichen
Seele im Freudschen Sinn unbewußt ist. Die Philosophie prätendiert auch
keineswegs, dieses Unbewußte durch ihre reine Reflexion zu eruieren,
sondern überläßt diese Aufgabe der psychoanalytischen Erfahrung bzw.
Methode. Als reine oder Erste Philosophie prätendiert sie nur, die
Tätigkeiten der menschlichen Seele in dem, was sie sind, zu erkennen.
Und hier ist allerdings zu sagen: Tätigkeiten sind in sich selbst immer
bewußt, wie umgekehrt Bewußtsein immer Tatigkeit ist; eine unbewußte
Tätigkeit ist ein Widerspruch in sich selbst72 .
Freud spricht nun aber von "unbewußten Akten": ,, unbewußten
Vorstellungsakten", ,,unbewußten Affekten (Empfindungen)", "unbe-
wußten Verdrängungsakten", ,,unbewußten Denkvorgängen", ,,unbe-
wußten Phantasien", ,,unbewußten Schuldgefühlen" 73 . Jedoch, genau be-
sehen, ist diese Rede von „Akten" eine uneigentliche, eine bloß lässige
Ausdrucksweise. Was Freud über das Unbewußte tatsächlich sagt, zeigt
aufs deutlichste, daß es auch nach ihm selbst nicht Tätigkeit sein kann,
bzw. daß Tätigkeit immer Bewußtsein ist.
Gehen wir von Freuds „Vorbild des Unbewußten", vom Verdräng-
ten74, aus. Das unbewußte Verdrängte entsteht nach Freud dadurch,
„daß das Ich eine im Es mächtige Triebregung nicht aufnehmen und nicht
zur motorischen Erledigung ·befördern will" 75. M. a. W., eine Trieb-
regung ins Unbewußte zurückdrängen, heißt: sie nicht zur Tätigkeit
und damit zum Bewußtsein kommen lassen. ,,Die Abweisung der Vor-
stellung vom Bewußten wird festgehalten, weil mit ihr die Abhaltung
von der Aktion, die motorische Fesselung des Impulses, gegeben ist. " 76
Genau wie wir selbst faßt auch Freud die Affektivität, d. h. die Emp-
findungen oder Gefühle, als (bewußte) Tätigkeit. Er bezeichnet sie wie

71 Vgl. oben§ 28.


73 Siehe z.B. WW X, S. 253, 264, 265, 272, 290, 302; XIII, S. 254/55, 279.
74 Das Ich und das Es, WW XIII, S. 241.
75 Neurose tmd Psychose, WW XIII, S. 388; vgl. ,.Psychoanalyse" und „Libido-
theorie", WW XIII, S. 222; Das Ich und das Es, WW XIII, S. 243,
78 Die Verdrängung, WW X, S. 260.
268 Die reine Reflexion

die Motilität, die. im Gegensatz zu ihr auf die Veränderung der Außen-
welt gerichtet ist, in Beziehung auf die Triebregung als „Abfuhrak-
tion "77. Unbewußt sind also Triebe, Energien, Impulse, Wunschregungen,
Strebungen, die gerade dadurch unbewußt bleiben oder „ins Unbewußte
zurückgestoßen" werden, daß ihnen die Auswirkung in eine Tätigkeit
irgendwelcher. Art verhindert wird. Daß das verdrängende Ich gewisse
Wunschregungen nicht zum Bewußtsein kommen lassen will, heißt, daß
es sie nicht zur Tätigkeit kommen lassen will, und daß es sie nicht zur
Tätigkeit kommen· lassen will, heißt, daß es sie nicht zum Bewußtsein
kommen lassen will. Triebe, Energien, Impulse, Wunschregungen, Stre-
bungen selbst sirid noch keine Tätigkeiten, denri sie erithalten nicht wie
diese ein Sich.:öffnen von Zukunft und ein Sich-bestimmen von der
Zukunft her, sondern sind nur von der Vergangenheit her bestimmt.
Wie steht es nun aber z.B. mit den „unbewußten Vorstellungen", die
Freud auch als Akte bezeichnet? In Wirklichkeit handelt es sich dabei
weder um Vorstellungen noch um Akte. Bei diesen „unbewußten Vor-
stellungen" wird nichts vorgestellt, weder als Wahrnehmung, noch als
Phantasie, noch sonstwie, sondern mit diesem Ausdruck meint Freud
nur geprägte, qualitativ differenzierte, an gewisse Inhalte fixierte Ener-
gien im Gegensatz zu verschiebbaren, indifferenten Energien. Unbewußte
Vorstellungen sind „Besetzungen von Erinnerungsspuren", ,,Fixationen
von Triebregungen an Erinnerungsspuren" 78 • Dabei sind diese Erinne-
rungsspuren auch für Freud keineswegs Erinnerungen (Erinnerungsakte),
sondern bloß habituelle Niederschläge der Erlebnisvergangenheit79• Die
.,,unbewußte Vorstellung": bedeutet also nur die inhaltliche Qualifizie-
rung oder Prägung der Strebungen aus der Vergangenheit (,,Geschichte"),
die man nicht nur, wie das Wort „Erinnerungsspuren" nahelegen könnte,
als· individuelle, sondern auch als artmäßige (phylogenetische) Vergan-
genheit denken kann.
Es gibt nach Freud in Wirklichkeit auch keine unbewußten Affekte
(Empfindungen, Gefühle, die auch als Akte· angesehen werden müssen):

77 Das Unbewußte, WW X, S. 278. ,,Die Affektivität äußert sich wesentlich in moto-


rischer (sekretorischer, gefäßregulierender) Abfuhr zur (inneren) Veränderung des
eigenen Körpers ohne Beziehung zur Außenwelt, die Motilität in Aktionen, die zur
Veränderung der Außenwelt bestimmt sind" (a. a. 0., S. 278, Anm.).
78 A. a. 0., S. 277, 288.
79 · ~Auch 'das bewußte Gedächtnis scheint ganz am Vbw zu hängen, es ist scharf von
den Erinnerungsspuren. zu scheiden:, in denen sich die Erlebnisse des Ubw :fixieren,
und entspricht wahrscheinlich einer besonderen Niederschrift •••"' (a. a. 0., S. 288).
Reflexive Selbsterkenntnis und das »Unbewußte" 269

„Streng genommen . . . gibt es keine unbewußten Aff ekte" 80 • Freud


spricht in zwei Fällen von „unbewußten Affekten": Einmal im Falle,
in dem der Verdrängung die Hemmung der Affektentwicklung (der
Abfuhraktion) gelingt; dann ist aber kein Affekt mehr vorhanden, son-
dern nur eine „Ansatzmöglichkeit, die nicht zur Entfaltung kommen
durfte", also eine Erregungsenergie, die sich nicht zum Affekt, zur
Gefühlstätigkeit auswirken konnte 81 • Der andere Fall eines „unbewußten
Affektes" ist derjenige, in dem der Affekt in Wirklichkeit bewußt, aber
verkannt ist: Die Affekt- oder Gefühlsregung wurde durch Verdrängung
ihres ursprünglichen Inhaltes „zur Verknüpfung mit einer anderen Vor-
stellung genötigt und wird nun vom Bewußtsein für die Äußerung dieser
letzteren gehalten. Wenn wir den richtigen Zusammenhang wieder her-
stellen, heißen wir die ursprüngliche Affektregung eine ,unbewußte', ob-
wohl ihr Affekt niemals unbewußt war, nur ihre (ursprüngliche) Vor-
stellung der Verdrängung unterlegen ist. " 82
Ebensowenig gibt es in Wirklichkeit „unbewußte Verdrängungsakte".
Wenn die Verdrängung unbewußt ist, dann ist sie als solche kein Akt.
Nach Freud ist die Verdrängung ausdrücklich keine Verurteilung, keine
Urteilsverwerfung88• Die vom Ich unter dem Einfluß des über.:.Ich be'..
wirkte Verdrängung ( = Abweisung und Fernhaltung vom Bewußten84)
von unakzeptablen Triebregungen geschieht nach Freud ganz allgemein
durch Entziehung von Besetzung (Energie) vermittelst einer „Reaktions-
bildung", einer „Gegenbesetzung" 85 • Diese „Reaktionsbildung" oder
„Gegenbesetzung" kann die verschiedensten Formen annehmen: Leiden
an krankhaften Symptomen, Ersatzbildungen, Verstärkung des über-
Ich, evtl. sogar Sublimierung etc. Ohne in diese Problematik näher ein-
gehen zu können, dürfen wir doch allgemein feststellen, daß bei diesen
Mechanismen eine Tätigkeit überhaupt nur im Bereich der bewußten
,,Reaktionsbildungen" statthaben kann 86, während die unbewußte Ver-
drängung als solche kein besonderer Akt ist, sondern nur die negative
Wirkung der die unakzeptablen Triebregungen überspielenden Gegen-
besetzung bedeutet. Die Verdrängung wäre ein Akt, wenn sie sich direkt

80 A. a. 0., S. 277.
81 Ebenda.
82 A. a. 0., S. 276.
83 Die Verdrängung, S. 248.
8• A. a. 0., S. 249/50.
85 Die Verdrängung, S. 253 ff.; Das Unbewußte, S. 279 ff.; Das Ich und das Es,
S. 243; Abriß der Psychoanalyse, WW XVII, S. 87.
86 Die Gegenbesetzung geht nach Freud vom System Bw (Vbw) aus.
270 Die reine Reflexion

mit den unliebsamen (nicht „ichgerechten") Regungen beschäftigte und


sie von der Tätigkeit zurückwiese; dann wäre sie aber nicht mehr unbe-
wußt und nach Freud auch gar keine Verdrängung mehr.
Wenn man sich bei Freud nicht an die bloßen Worte, sondern an das
von ihm Gemeinte hält, so zeigt sich überall, auch in den weiteren, oben
angedeuteten Fällen, denen wir hier aber nicht nachgehen wollen, daß
die „unbewußten Akte" in Wirklichkeit entweder keine Akte, oder aber
nicht unbewußt sind.
Aber wenn man auch die Bewußtheit der Akte als solcher anerkennt,
so wird man sich vielleicht doch des eingangs dieses Paragraphen ange-
meldeten Bedenkens gegen die Möglichkeit rein reflexiver, sich allein auf
das Bewußtsein (die reflektierten Akte) abstützenden Selbsterkenntnis
noch nicht entledigen können. Man könnte mit Freud zu bedenken geben,
daß die bewußten Vorgänge „nach allgemeiner Übereinstimmung keine
lückenlosen, in sich abgeschlossenen Reihen bilden", sondern offenbar
von anderswoher, nämlich von Unbewußtem, abhängig sind, so daß die
bloße Reflexion auf das Bewußtsein kein wirkliches Verständnis der
bewußten Vorgänge selbst geben kann87 • Diesem Bedenken gegenüber
ist zu sagen, daß die reine philosophische Reflexion es sich überhaupt
nicht zur Aufgabe macht, faktische Reihen von „Bewußtseinsvorgängen"
in ihrer Aufeinanderfolge und Koexistenz lückenlos kausal zu erklären,
sondern zu erkennen versucht, was ein gewisses Bewußtsein überhaupt
ist. Es geht ihr als reiner Philosophie also z. B. nicht darum, eine Erinne-
rungsreihe, eine Reihe von Phantasien oder Wahrnehmungen als psy-
chische Vorgänge lückenlos zu erklären, sondern zu sagen, was Erinne-
rung, Phantasie oder Wahrnehmung als Bewußtseinsart sozusagen „in
jedem Augenblick" des Vollzugs überhaupt ist. Die reine Philosophie
macht sich also gerade das zur Erkenntnisaufgabe, was die Psychoanalyse

81 Abriß, S. 79/80. Vgl. Das Unbewußte, S. 264/65: ,,Die Annahme des Unbewußten ist
notwendig, weil die Daten des Bewußtseins in hohem Grade lückenhaft sind; sowohl
bei Gesunden als bei Kranken kommen häufig psychische Akte vor, welche zu ihrer
Erklärung andere Akte (?) voraussetzen, für die aber das Bewußtsein nicht
zeugt. Solche Akte sind nicht nur die Fehlhandlungen und die Träume bei Gesunden,
alles, was man psychische Symptome und Zwangserscheinungen heißt, bei Kranken -
unsere persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren
Herkunft wir nicht kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns ver-
borgen geblieben ist. Alle diese bewußten Akte blieben zusammenhangslos und
unverständlich, wenn wir den Anspruch festhalten wollen, daß wir auch alles durchs
Bewußtsein erfahren müssen, was an seelischen Akten in uns vorgeht, und ordnen
sich in einen aufzeigbaren Zusammenhang ein, wenn wir die erschlossenen unbewuß-
ten Akte interpolieren."
Reflexive Selbsterkenntnis und das „Unbewußte" 271

als „jedermann bekannte und nicht weiter zu charakterisierende oder


erklärende Qualität Bewußtsein" oder gar als „Symptom ,Bewußtheit',
von dem sich die Psychoanalyse zu emanzipieren hat" 88, abtut. Es ist in
der Tat für einen Philosophen geradezu erheiternd,mit welcher Ahnungs-
losigkeit und naiven Vorstellung der geniale und überdies scharfsinnige
Freud vom Bewußtsein spricht: Bewußtsein ist für ihn die „unerklärbare,
aber auch keiner Erklärung bedürftige, weil selbstverständliche Quali-
tät" ,, Wahrnehmung", in die gewisse seelische Vorkommnisse hineingera-
ten, andere nicht, analog wie gewisse physische Geschehnisse in sie hinein-
geraten, andere nicht, ohne daß ihnen diese „weiter unerklärliche Quali-
tät" des „Wahrgenommen"- oder „Bewußtseins" sonst irgend etwas
anhaben würde. ,,Es bleibt uns in der Psychoanalyse gar nichts anderes
übrig, als die seelischen Vorgänge für an sich unbewußt zu erklären und
ihre Wahrnehmung durch das Bewußtsein mit der Wahrnehmung der
Außenwelt zu vergleichen. "89 Ein „psychischer Akt" schleicht in das
Bewußtsein wie eine Katze aus schwarzer Nacht in ein helles Zimmer,
in dem „man" sie nun sieht, aber evtl. wieder hinausdrängt: ,,In positi-
ver Darstellung sagen wir nun als Ergebnis der Psychoanalyse aus, daß
ein psychischer Akt im allgemeinen zwei Zustandsphasen durchläuft,
zwischen welchen eine Art Prüfung (Zensur) eingeschaltet ist. In der
ersten Phase ist er unbewußt .•. ; wird er bei der Prütung von det
Zensur abgewiesen, so ist ihm der Übergang in die zweite Phase ver-
sagt ... Besteht er aber diese Prüfung, so tritt er in die zweite Phase ein
und wird dem zweiten System zugehörig, welches wir Bw (Bewußt-
sein) nennen wollen. " 90
Es ist bemerkenswert, daß die Kohärenz der Freudschen Theorie
durch solche Naivitäten nicht leidet. Die Theorie hat durchaus ihre
eigene Intelligibilität und empirisch-praktische Wirksamkeit und Bestä-
tigung. Als positive Wissenschaft scheint sie den „Gesichtspunkt" der
Reflexivität, d. h. des Bewußtseins nicht zu entbehren, sich von ihm
tatsächlich emanzipieren und als Wissenschaft des sinnlich wahrnehmbaren
menschlichen Verhaltens etablieren zu können. Andererseits besteht aber
kein Zweifel, daß die ganze psychoanalytische Erfahrung von der reinen
Reflexion, d. h. von der reinen Philosophie, her einer Interpretation
zugänglich ist, die ihr eine prinzipiell neuartige, jene Naivitäten auf-
hebende Intelligibilität verleiht. Solche philosophisch interpretierte
88 Siehe oben § 8.
89 Das Unbewußte, S. 270.
90 A. a. 0., S. 271/72.
272 Die reine Reflexion

Psychoanalyse ist weder bloß reine Philosophie noch bloß positive Wis-
senschaft, sondern eine philosophisch interpretierte sinnliche Erfahrung
von der menschlichen Vernunft: Empirische oder Zweite Philosophie,
Wissenschaft von der Vernunft91 , die durch solche Interpretation die
Konkretion der Erfahrung in sich aufgenommen hat.
Diese Zweite Philosophie ist Philosophie. Der Psychoanalytiker
würde sich evtl. für eine sold1e philosophische Interpretation seiner Er-
fahrung bedanken, nämlich insofern er als bloßer positiv-wissenschaft-
licher Psychoanalytiker von der reinen Reflexion überhaupt keine
Ahnung hat, während dem Philosophen von der reinen Philosophie her
die psychoanalytische Erfahrung als eine Erfahrung vom Menschen durch-
aus zugänglich ist, denn er weiß aus der reinen Reflexion, daß die Ver-
nunft· in der Sinnlichkeit notwendig fundiert und instituiert ist und
insofern (in ihren Bedingungen, ,,Mitteln" und Resultaten) als sinnlich
wahrnehmbares geschichtliches Verhalten des Menschen erscheint. Zwar
macht sich Freud auch anheischig, die „philosophische Introspektion"
psychoanalytisch zu erklären: Er bringt sie genetisch in eine Linie mit
dem Beobachtungswahn, der nach ihm eine Regression der Selbstkritik
(Gewissen) und Selbstbeobachtung auf ihre Herkunft: die elterliche
Kritik und überhaupt die Kritik der Autoritäten und der öffentlichen
Meinung, darstellt 92• Im Beobachtungswahn klagen die Kranken darüber,
daß man alle ihre Gedanken und Handlungen beobachtet und beauf-
sichtigt; sie hören die Stimmen, die in dritter Person zu ihnen sprechen:
,,Jetzt denkt sie wieder daran; jetzt geht er fort". Wir können sagen,
im Beobachtungswahn fühlen sid1 die Kranken beständig gesehen. Nun
ist aber gerade die philosophische Reflexion dadurch ausgezeichnet, daß
sie durch die Reduktion der Phänomenalität alles „sich selbst mit frem-
den Augen sehen", dem auch die natürliche Reflexion noch verhaftet ist,
ausschaltet und sich als reine Selbsttätigkeit des Verstandes vollzieht.
Die philosophische Reflexion kann in ihrem Wesen niemals auf das
Beobachtet-werden durch das äußere soziale Milieu zurückgeführt wer-
den, da sie in radikalem Gegensatz dazu ihren Ursprung rein im Ver-
stande selbst hat und sich von der „äußeren", phänomenalen Auffassung
der Tätigkeit (dem Gesehensein) ausdrücklich fernhält. Nur das „sich
selbst.mit fremden Augen sehen" kann allenfalls im Freudschen Sinn als
„Introjektion" des sozialen Milieus angesehen werden, aber gerade nicht
die reine Reflexion.
91 Zum Begriff der Zweiten Philosophie vgl. unten § 52.
92 Zur Einfiihrnng des Narzißmus, WW X, S. 162-164.
2. Kapitel
Wesenserkenntnis

Die reine Reflexion als solche kennzeichnet noch nicht vollständig


die rein philosophische Erkenntnis; sie ist ja nur die Methode der Ge-
bung des Gegenstandes, worüber in der Philosophie Fragen gestellt,
d. h. Antworten gesucht werden. Die Möglichkeit einer philosophischen
Antwort (Erkenntnis) und damit auch einer sinnvollen philosophischen
Frage ist durch die reine Reflexion allein noch nicht ausgemacht. Es
könnte ja sein (was uns die Kantische Idee der reinen Apperzeption sogar
nahelegt), daß durch reine Reflexion überhaupt nichts Differenzierbares,
keine bestimmbaren Unterschiede, sondern nur „Spontaneität über-
haupt", ,,Bewußtheit überhaupt" gegeben würde, so daß weiter· gar
nichts zu fragen, sondern höchstens eine Art stummer Versenkung in
dieses undifferenzierte „Licht" oder „Dunkel" (was aufs selbe hinaus-
liefe) möglich wäre. Nun, diese „Möglichkeit" haben wir schon „durch
die Tat" ausgeschieden, indem wir, vor allem im vorangegangenen II.
Abschnitt, eine ganze Reihe von Bestimmungen in reiner Reflexion ge-
geben haben. Aber die Art dieser Bestimmungen haben wir noch nicht
bestimmt. Wir tun es nun in einer nachträglichen Methodenbesinnung.
Während für die philosophische Gegenstandsgebung die Methodenbesin-
nung den Anfang machen mußte, müssen sich die Fragen und Antworten,
wenn nur einmal der Gegenstand gegeben ist, von diesem leiten lassen.
Hier „gibt der Gebrauch die Methode", die nachträglich diesen Gebrauch
„auf Regeln bringt", ihn in seinen Bedingungen und Konsequenzen
durchleuchtet und ihn gegen Mißverständnisse und Abgleitungen sichert1 •
Entsprechend gehen wir im folgenden nun auch vor: Wir durchleuchten
die im II. Abschnitt gegebenen Antworten aufihre Erkenntnis- oder Ein-
sich tsstruktur hin.

1 Vgl. oben§ 2.
274 Wesenserkcnntnis

§ 48 Der Begriff des Wesens

Die angeführten Antworten reiner Vernunfterkenntnis sind charak-


terisiert als Wesensaussagen: sie enthielten, ohne sich dabei aufzuhalten,
das Modaladverb „wesensmäßig". Bei der Erinnerung sagten wir z.B.:
Der Erinnerungsakt ist wesensmäßig in einer aktuellen sinnlichen Wahr-
nehmung fundiert, wesensmäßig impliziert er als vergegenwärtigendes
Bewußtsein in sich intentional (nicht reell) eine vergangene Wahrneh-
mung, wesensmäßig bin Ich darin als subjektive Einheit derart, daß das
erinnerte Erlebnis mir als mein Erlebnis gilt, und wesensmäßig ist
Identität des Gegenstandes des aktuellen Erinnerungsaktes und des
darin intentional implizierten Wahrnehmungsaktes konstituiert2• Der
Inbegriff alles dieses Wesensmäßigen galt als die notwendige Wesens-
form der Erinnerung überhaupt, also auch der einfachsten Erinnerung,
z.B. meiner Erinnerung an einen in der vergangenen Nacht gehörten
Vogelschrei. Anstatt von „wesensmäßig" sprachen wir dabei auch von
„ wesensnotwendig". Es wurde aber weiter auch deutlich gemacht, daß
sich die Erinnerung im Rahmen dieser notwendigen Grundform in ver-
schiedene Sonderformen komplizieren und differenzieren kann: z.B. die
Erinnerung kann Erinnerung an eine vergangene Erinnerung sein, die
schon in sich selbst notwendig jene Grundform aufweist, oder sie kann
Erinnerung an eine gehörte Aussage sein, also intentional einen ver-
stehenden Sprachakt implizieren, der selbst wieder eine eigene besondere
Grundform der Vernunft darstellt. Diese komplizierten Sonderformen
sind Möglichkeiten auf Grund und innerhalb der notwendigen Wesens-
form, durch diese sozusagen eröffnet, aber auch offen gelassen: es sind
verschiedene Möglichkeiten dieses Wesens oder Wesensmöglichkeiten. Wir
unterschieden also zwischen der einen, notwendigen Grundform als un-
bedingt allgemeinem, d. h. für jede wirkliche und mögliche Erinnerung
gültigem Wesen, und unbegrenzt vielen verschiedenen Sonderformen als
Wesensmöglichkeiten auf Grund und innerhalb dieses Wesens.
Doch ich gehe hier auf diesen Unterschied nicht ein, sondern möchte
mich auf die Wesensform konzentrieren. Wie ist diese genauer zu bestim-
men, bzw., wie sieht die Erkenntnis eines solchen Wesens aus?
Um in unserem Beispiel der Erinnerung zu Wesenserkenntnis zu
kommen, gehen wir von einer beliebigen Erinnerung als einem beliebigen
Beispiel der Erinnerung aus. Dabei dient uns die gewöhnliche Bedeutung

2 Vgl. oben §§ 16-21.


Der Begriff des Wesens 275

des Wortes »Erinnerung" als ein erster Hinweis; diese Bedeutung redu-
zieren wir aber auf ihren rein reflexiven Gehalt. Wir gehen von einer
beliebigen Erinnerung aus, das heißt, der besondere Erinnerungsgehalt
ist uns gleichgültig, wir nehmen irgendeine wirkliche oder auch nur er-
dachte (phantasierte) ,,mögliche" Erinnerung vor und interessieren uns
ausschließlich für diese Bewußtseinstätigkeit als solche. Jedoch, indem
wir in diesem Interesse von allem besonderen Inhalt des Erinnerungs-
beispieles absehen, erkennen wir damit noch nicht die Erinnerung in
ihrem Wesen, wir erkennen damit überhaupt noch nicht, was sie als
solche ist. Wir erkennen sie erst in ihrer Wesensform, wenn wir sie als
eine notwendige Einheit, genauer, als eine Mannigfaltigkeit in einer
notwendigen Einheit erfassen. Erst wenn wir analytisch verschiedene
Momente unterscheiden und sie synthetisch als einen notwendigen Ein-
heitszusammenhang erkennen, wollen wir von Wesenserkenntnis reden.
Als solche Momente haben wir bei der Erinnerung unterschieden: den
Erinnerungsakt, eine darin intentional unmittelbar (bei der einfachsten
Erinnerung) oder mittelbar (bei der komplizierten Erinnerung) impli-
zierte vergangene Wahrnehmung, gegenständliche Identität als objektive
Einheit dieser Akte, subjektive, ichliche Einheit dieser Akte und schließ-
lich ein mit dem Erinnerungsakt gleichzeitiges, diesen fundierendes
unmittelbares Bewußtsein (Wahrnehmung oder Empfindung).
Daß diese Momente einen notwendigen Einheitszusammenhang aus-
machen, soll folgendes besagen: Eine Notwendigkeit besteht schon darin,
daß Erinnerung als solche nur möglich ist, wenn alle diese aufgezählten
Momente vorhanden sind; alle diese Momente sind für die Erinnerung
konstitutiv, sie sind für sie notwendige Bedingungen ihrer Möglichkeit.
Weiter sind sie zusammen aber auch die ausreichenden Bedingungen:
wenn sie zusammen vorliegen, besteht eo ipso auch die Erinnerung. Aber
damit ist noch nicht die notwendige Einheit ausgesagt. Ein Septakkord
z.B. ist eine klangliche Einheit, die aus vier Tönen in Abständen von
kleinen oder großen Terzen besteht. Man kann sagen, alle vier Töne
seien notwendige Bedingungen der Möglichkeit des Septakkordes. Aber
dennoch ist der Septakkord keine notwendige Einheit, denn alle vier
Töne können auch für sich allein bestehen, oder es können nur einzelne
Terzen oder Dreiklänge erklingen. Alle diese Teile des Septakkordes
können selbständig, d. h. unabhängig von ihm auftreten. Damit soll
nicht gesagt sein, daß ein solcher Akkord eine bloße Summe oder ein
Agglomerat von Tönen sei; er besitzt akustisch durchaus, was man als
„Ganzheits-", ,,Komplex-" oder „Gestaltqualität" bezeichnet, aber er
276 Wesenserkenntnis

ist· doch keine notwendige Einheit, sondern in einzelne Elemente auf-


lösbar wie auch umgekehrt aus ihnen zusammensetzbar. Zwischen den
von uns genannten Momenten der Erinnerung besteht ein ganz anderes
Verhältnis: Einige dieser Momente sind ohne alle anderen überhaupt
nicht denkbar: So kann etwa der Erinnerungsakt nicht sein ohne den
intentional implizierten Wahrnehmungsakt, die gegenständliche Identi-
tät, die ichliche Einheit und den fundierenden Wahrnehmungsakt. Das
Entsprechende gilt auch für den intentional implizierten Wahrnehmungs-
akt, die gegenständliche Identität und die ichliche Einheit. Für diese
einzelnen Momente .der Erinnerung sind also jeweils alle anderen, also
die ganze Erinnerungseinheit, notwendige Bedingungen ihrer Möglich-
keit. Nur bei solchen Einheiten, bei denen einzelne analytische Momente
alle anderen Momente als notwendige Bedingungen ihrer Möglichkeit
fordern, können wir von einer notwendigen Einheit, bzw. bei der Er-
kenntnis ihres Zusammenseins von einer analytisch notwendigen Syn-
thesis sprechen.
Gehen wir den Beziehungen zwischen den Momenten, in die wir die
Erinnerung analysiert haben, noch etwas genauer nach! Während die
zuletzt aufgezählten Momente je alle anderen und so sich auch gegen-
seitig als notwendige Bedingungen ihrer Möglichkeit fordern, wird die
den Erinnerungsakt fundierende, mit ihm gleichzeitige Wahrnehmung
zwar von allen anderen Momenten gefordert, sie selbst aber ist unab-
hängig von allen anderen denkbar. Es bestehen hier also zwei ganz
verschiedenartige Beziehungen: Im einen Fall fordern sich die Momente
gegenseitig als Bedingungen ihrer Möglichkeit; diese notwendige Bezie-
hung wollen wir als Korrelation, bzw. die in ihr auftretenden Momente
als Korrelate bezeichnen. Im anderen Falle fordert das eine Moment
das andere als Bedingung seiner Möglichkeit, während dieses sehr wohl
ohne jenes denkbar ist. Diesen einseitig oder asymmetrisch notwendigen
Zusammenhang kann man als Beziehung der Fundierung bezeichnen,
wobei das eine Glied das Fundierte und das andere, selbständige Glied
das Fundierende oder das Fundament heißen soll. Nach dieser Termino-
logie enthält also der Begriff einer gegenseitigen Fundierung einen
Widerspruch.
Das Fundament der Erinnerung, die mit ihr gleichzeitige sinnliche
Wahrnehmung, ist in sich selbst, wie wir im zweiten Abschnitt ausge-
führt haben3, eine notwendige analytische (analysierbare) Einheit. Sie

1 Siehe oben, §§ 28 ff.


Der Begriff des Wesens 277

ist gegenüber der Erinnerung eine eigene notwendige Einheit, d. h. ein


eigenes Wesen, da sie unabhängig von dieser sein kann. Wäre sie in der
Erinnerung nicht Fundament, sondern Korrelat, d. h., wäre sie auch
ihrerseits nicht ohne die anderen Erinnerungsmomente denkbar, dann
wäre sie kein verschiedenes Wesen, sondern würde mit diesen zusammen
nur ein einziges Wesen bilden. Die Erinnerung als Verstandesbewußtsein
ist dementsprechend sozusagen ein Doppelwesen, nämlich eine notwen-
dige Einheit, die in sich selbst einer anderen notwendigen Einheit, des
sinnlichen Bewußtseins, als ihres Fundamentes bedarf.
Doch brauchen zwei Wesen, um sich voneinander zu unterscheideri,
natürlich nicht im Verhältnis der Fundierung zu stehen. So sind z.B.
Erinnerung und Fremderfahrung-verschiedenerlei Wesen, ohne daß zwi-
schen ihnen ein solches Verhältnis bestünde. Sie sind vielmehr gegen-
seitig voneinander unabhängig: weder in der Erinnerung noch in der
Fremderfahrung gibt es ein Wesensmoment, das alle Momente des
anderen Wesens als Bedingungen seiner Möglichkeit fordern würde.
Zwischen diesen beiden notwendigen Einheiten besteht aber eine
ganz andersartige Beziehung. Wir reden davon, daß sie gewisse Wesens-
momente (nicht alle natürlich, sonst wären sie ein und dasselbe Wesen)
"gemeinsam" hätten. Beide enthalten in sich als Fundament eine sinn-
liche Wahrnehmung, beide enthalten ein Moment gegenständlicher Iden-
tität, beide implizieren intentional ein anderes Bewußtsein, aber sie
unterscheiden sich dadurch, daß bei der Fremderfahrung nicht wie bei
der Erinnerung schlechthinnige ichliche Einheit besteht und daß bei ihr
das intentional implizierte Bewußtsein nicht den Charakter der Ver-
gangenheit besitzen muß. Erinnerung und Fremderfahrung besitzen eine
gemeinsame Struktur, die wir durch den Begriff der Vergegenwärtigung
faßten. Das kann natürlich nicht heißen, daß Vergegenwärtigung gegen-
über Erinnerung und Fremderfahrung ein drittes Wesen wäre, das in
den beiden ersten enthalten wäre, wie etwa zwei sich schneidende und
teilweise deckende Figuren ein Stück gemeinsam haben, das auch unab-
hängig neben diesen beiden Figuren als eine dritte Figur bestehen könnte.
Aber Vergegenwärtigung ist eine notwendige analysierbare Einheit, also
doch ein Wesen. Jedoch steht dieses Wesen zu Erinnerung und Fremd-
erfahrung (und auch anderen Arten der Vergegenwärtigung) weder im
Verhältnis der Korrelation, noch im Verhältnis der Fundierung, noch
im Verhältnis gegenseitiger Unabhängigkeit, d. h. es liegt mit ihnen
nicht in derselben Ebene, sondern auf einer anderen Stufe der All-
gemeinheit. Es ist zu beachten, daß wir dieses Allgemeinere nicht des-
278 Wesenserkenntnis

halb als Wesen bezeichnen, weil es ein Gemeinsames verschiedener Wesen


enthält, sondern weil es selbst eine notwendige analysierbare Einheit
ausmacht.
Was Wesen oder, damit gleichbedeutend, Eidos ist, möchte ich also
durch seine Einheit definieren: Ein Wesen oder Eidos ist eine analytische
(analysierbare) Einheit, deren analytische Momente untereinander im
Verhältnis einer notwendigen Synthesis stehen, d. h. eine Einheit, die als
ihre Bedingungen der Möglichkeit analytische Momente enthält, welche
ihrerseits nicht ohne alle anderen analytischen Momente der Einheit als
ihren Bedingungen der Möglichkeit denkbar sind. Wesen unterscheiden
sich als verschiedene Wesen, wenn die Momente der einen Einheit und die
Momente der anderen nicht identisch sind und nicht im Verhältnis der
Korrelation stehen, d. h. sich nicht gegenseitig als Bedingungen der
Möglichkeit fordern, sondern wenigstens einseitig voneinander unab-
hängig sind.
Besonders möchte ich betonen: Die mannigfaltigen Momente in ihrer
notwendigen Einheit sind identisch das Wesen, das Wesen ist nicht als
bloßes Prinzip oder als Grund der Einheit der Vielheit etwas von den
mannigfaltigen Momenten Verschiedenes, nicht etwas „neben" ihnen.
Die Frage, warum die verschiedenen Momente eines Wesens eins sind,
hat also überhaupt keinen Sinn. Ihre Einheit ist an ihnen selbst als not-
wendig einsehbar und bedarf keines von ihnen verschiedenen Grundes
oder Prinzips, d. h., sie sind schlechthin oder unmittelbar eins. Darum
nenne ich diese Einheit auch eine analytische Einheit. Unter einer „syn-
thetischen Einheit" würde ich nach Kant eine Einheit verstehen, deren
Momente nicht aus sich selbst, sondern nur durch ein anderes (,,ein X",
.,ein Drittes", wie Kant sagt) eins sind.
Ich betone das soeben Gesagte im Hinblick auf den Eidosbegriff, den
Aristoteles für die sinnlich erfahrbaren Substanzen entwickelte. Eidos
ist hier für ihn bestimmt als Prinzip und Ursache (&QX'YJ ~at ah·ta), wa-
rum etwas einem anderen zukommt (füa. tt ä'J..Äo ä'J..'J..cp tLVL 'UJ'CUQXH) 4•
Dieses Prinzip oder dieser Grund der Einheit des Mannigfaltigen ist
nach Aristoteles verschieden (lhcQOV tt) von allem .Mannigfaltigen, das
an der sinnlichen Natursubstanz selbst erscheint und in das sie als in
ihre 'ÜÄ11 auflösbar ist. Wenn nun aber das Eidos bloß als Prinzip oder
Grund der Einheit eines vorliegenden Mannigfaltigen bestimmt wird, ist
es ein bloß supponiertes Unbekanntes. Solange man nir1 .t sagen kann,

4 Metaphysik Z, 17.
Der Begriff des Wesens 279

was dieses Prinzip in sich selbst ist, hat es gar keinen Erkenntniswert, da
aus ihm ja auch gar nichts Bestimmtes ableitbar ist. Zwar identifiziert
Aristoteles im Zusammenhang der Bestimmung der sinnlichen Substanz
das Eidos mit dem festen Wasgehalt (dem i:t ~v stvm) einer Sache5 und
erklärt, daß die Bestimmung, der ÖQL<Jµoi; dieser Sache gerade das ·tt ~v
i;tvm oder slöoi; betreffe; demnach gäbe es also doch eine Erkenntnis
des Eidos selbst. In Wirklichkeit aber sind die ÖQLGµot durch Gattung und
Differenzen, die Aristoteles von den sinnlich erfahrbaren Substanzen
als solchen gibt, gar nicht Definitionen von Eide, sondern der GvvoJ.a, der
materiellen Ganzheiten. So ist etwa die Definition des Naturwesens
Mensch als tq:,ov öGtovi;6 keine Definition des Eidos des Menschen, son-
dern des GvvoJ.ov; das Eidos des Menschen ist nach Aristoteles ja die
Seele. Aristoteles erklärt selbst, daß Eide, welche Logoi oder Entelechien
eines Naturkörpers (einer sinnlichen Substanz) sind, nicht in sich selbst,
sondern nur als Logos in einem so und so beschaffenen Stoff (Myoi; ev
üJ.n ,:ouiat) bestimmt werden können7• Kann man nun aber in der
Naturforschung nicht sagen, was das betreffende Eidos als Einheitsprin-
zip in sich selbst ist, so ist die Supposition solcher „Essenzen" oder
„Entelechien" eine leere Erklärung und ist daher auch von der neuen
Naturwissenschaft als unnütz und für die Forschung schädlich verbannt
worden. Es scheint überhaupt keinen Sinn zu haben, hinsichtlich der
sinnlich erfahrbaren Natur von Eide zu sprechen, denn andere Erkennt-
nisse als faktische Zusammenhänge von Mannigfaltigem scheint es hier
nicht zu geben.
Wenn Aristoteles auch hauptsächlich das Eidos von den sinnlich er-
fahrbaren Substanzen aus als Prinzip oder Ursache von deren Einheit
(bzw. als Entelechie oder „Form" eines Körpers als „Verwirklichung"
(eVEQYELa) eines aufnahmefähigen Stoffes (öe,mx6v)) zu denken ver-
sucht, so ist ihm doch auch der Begriff eines reinen, von der sinnlich
erfahrbaren Materie abgelösten Eidos (slöoi; wcJ.roi; '.JCOlQLGi:ov) nicht un-
bekannt. Dieses Eidos ist nach Aristoteles der Verstand (voili;). Aber von
diesem Eidos (von diesem i:t eGn xai:a ,:o i:t ~v i;{vm) als einfacher
Substanz (o'ÖGta µit G'Uvfl-Erlj) ist nach ihm keine kategoriale Bestimmung,
kein Urteil (keine xa1:acpa<1ti;, in der• etwas als etwas n xai:a i:woi;
bestimmt wird) möglich, sondern für dieses Eidos gibt es nur ein bloßes

1 Z 7, 1032 b 1-2, 1032 b 14; 8, 1033 b 5-7; 10, 1035 b 32; H 4, 1044 a 36.
0 z 12.
7 De anima I, 1, 403 b 3.
280 Wesenserkenntnis

;,Sagen"' (cp&vm), also ein bloßes Hindeuten oder Bezeichnen, ein bloßes
geistiges „Berühren" (füysi:v), ein bloßes „Denken" (vos'i:v). Hinsicht-
lich dieses Einfachen (äcruvfürnv) ist keine Täuschung, kein Irrtum
(c:c-ra,11) möglich, sondern nur eine „Unkenntnis" (äyvow), die aber nicht
als Blindheit (-tucpA6r11,:;) verstanden werden kann, da Blindheit die
Privation des Sehens bedeutet, der Verstand aber in der „Unkenntnis"
seiner selbst noch immer Verstand ist8 • Auch nach dieser Vorstellung des
Eidos als völlig Einfachem ist keine eigentliche Erkenntnis oder Bestim-
mung des Wesens möglich, die sich nur in Urteilen vollziehen kann, son-
dern, wie Kant sagen würde, nur ein „bloßes Denken". ,,Bloßes Denken"
vermag kein Wissen auszumachen.
Von diesem Aristotelischen Gedanken des unbestimmbaren, weil völ-
lig einfachen Wesens des Verstandes führt ein direkter Weg zu Über-
legungen Kants, an denen wir uns die Bedingungen eines erkennbaren
Wesens und damit einer Wesenswissenschaft zur vollen Deutlichkeit brin-
gen können. Die Aristotelische Idee des bloß „berührbaren" oder „denk-
baren" reinen Verstandes als eines einfachen Wesens erinnert sofort an
Kants Idee der reinen Apperzeption des Verstandes; auch hier haben
wir es zunächst einmal mit einer völlig einfachen Vorstellung zu tun, in
der das Verstaridessubjekt nicht erkannt, sondern als „transzendentales
Subjekt = X" bloß „bezeichnet" oder „gedacht" wird 9• Mit einer völlig
einfachen (leeren) Vorstellung des Verstandes hätte Kant aber in seiner
Vernunftkritik gar nichts anfangen können. Daher erklärt Kant die
reine Apperzeption nicht bloß als völlig einfache Vorstellung des Ich,
sondern auch als „synthetische Einheit der Apperzeption". Als synthe-
tische Einheit läßt sich die reine Apperzeption aber nicht „bloß denken"
(sie „bezeichnet" nicht bloß das transzendentale Subjekt), sondern als
Urteil, als „Grundsatz" aussprechen. Dieser Grundsatz „erklärt eine
Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen als not-
wendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbewußtseins
nicht gedacht werden kann" 10 • Nur so kann Kant sagen: ,,Und so ist
die synthetische Einheit der Apperzeption der höchste Punkt, an dem
man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr,
die Transzendental-Philosophie heften muß, ja dieses Vermögen ist der
Verstand selbst. " 11 Jener Grundsatz, der „der oberste im ganzen mensch-

8 Siehe Metaphysik, fJ, 10 und De anima III, 6.


u Vgl. oben § 46.
1° Kritik der reinen Vernunft, B 135.
11 A. a. 0., B 134 Anm.
Der Begriff des Wesens 281

liehen Erkenntnis ist" 12 , stellt eine notwendige Einheit zwischen ver-


schiedenen Momenten fest: zwischen „Ich", ,,gegebener Mannigfaltig-
keit" und „Synthesis". Dieser Grundsatz hat den Charakter einer echten
Wesensaussage. Es handelt sich hier, wie Kant in der zweiten Auflage
selbst erklärt, um eine analytische Einheit13 , die notwendig zusammen-
gehörende (und damit im Urteil in einer notwendigen Synthesis zu
„ verbindende") Momente enthält. Kant übertrifft sich hier de facto
selbst, indem er in diesem obersten Grundsatz der ganzen menschlichen
Erkenntnis eine rein intelligible Vielfalt in einer Einheit anerkennt,
während nach seiner Doktrin in der menschlichen Erkenntnis alle Man-
nigfaltigkeit auf das Sinnliche zurückgeht und das reine Selbstbewußt-
sein des Verstandes nur eine leere Vorstellung (das „Ich denke") liefern
kann. Aber Kant bleibt bei jenem allzu allgemeinen Wesen des Ver-
standes (Verstand als Verbindung von Mannigfaltigem aus einer Ein-
heit), das im „obersten Grundsatz" ausgedrüdct ist, stecken. Andere
Wesenserkenntnis gibt es bei ihm nicht. Die synthetischen Urteile a priori
stellen keine Wesenserkenntnisse dar, insofern der notwendige Zusam-
menhang (die Synthesis) der in ihnen verbundenen Vorstellungen nicht
rein in diesen selbst gründet, sondern einer Begründung oder Deduktion
aus einem „Dritten" fähig und bedürftig ist (d. h. die Synthesis ist nicht
analytisch begründet, die verbundenen Vorstellungen sind sich äußerlich).
Das Eidos oder Wesen ist, wie Aristoteles sagt, ein Eines (sv) und
Unteilbares (choµov) 14 • Es ist aber weder eine bloße (leere) Einheit,
noch ein bloßer (in sich unbestimmbarer) Einheitsgrund einer von ihm
verschiedenen Vielheit, sondern, um den hier völlig passenden Ausdruck
von Leibniz zu gebrauchen: eine „Vielheit in der Einheit oder im Ein-
fachen" (une multitude dans l'unite ou dans le simple) 15 •

12 A. a. 0., B 135.
13 „Dieser Grundsatz, der notwendigen Einheit der Apperzeption, ist nun zwar selbst
identisch, mithin ein analytischer Satz" (B 135). Zu dieser Erkenntnis sd1eint sich
Kant erst in der zweiten Auflage durchgerungen zu haben. In der ersten Auflage
steht noch: ,,Der synthetisdie Satz: daß alles versdiiedene empirisdie Bewußtsein
in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste
und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt" (A 117 Anm.). Ein Satz,
der eine Synthesis als notwendig erklärt, ist nidit dadurdi sdion selbst synthetisch.
Das scheint Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft übersehen
zu haben,
14 Metaphysik Z, 8, 1034 a 8.

rn Folgende Systematik der Viel-Einheiten (der intern auf eine Vielheit bezogenen
Einheiten) kann vielleidit dazu dienen, das Eigentümlidie der Wesenseinheit hervor-
treten zu lassen. Unter dem Gesiditspunkt des Verhältnisses zwisdien der Einheit
und den Vielen, die sidi irgendwie in Einheit befinden, ergeben sidi folgende drei
282 Wesenserkenntnis

Die philosophische Wesenserkenntnis hat in ganz bestimmten Sinne


den Charakter einer „Definition", nämlich wohl in dem Sinne, in dem
Sokrates seine Wesensfragen (i:t fon) durch „Definitionen" (ögu;µo()
zu beantworten versuchte 16 • Eine solche „Definition" ist natürlich nicht
bloß eine terminologische Festlegung, die die Ersetzung eines Ausdrucks

Arten solcher Einheiten. Abgesehen ist einerseits von der bloßen Vielheit (der Viel-
heit außerhalb jeder Einheit betrachtet, dem „Haufen") und andererseits von der
bloßen (leeren) Einheit.
a) Die Vielen der Einheit sind, was sie sind, auch außerhalb der Einheit, und das
die Einheit Stiftende (die Vielheit Zusammenhaltende) ist selbst eines der Vielen.
Beispiele solcher Einheiten sind ein Korb Äpfel oder ein Bündel Spargeln: Die
Spargeln sind, was sie sind, auch außerhalb des Bündels, und das die Spargeln
zusammenhaltende Band ist selbst ein Einzelnes wie die einzelnen Spargeln und
besteht als Band oder Schnur auch ohne diese. Solche Viel-Einheiten kann man
allgemein Bündel nennen, die Vielen sollen Stücke heißen, und das die Einheit
zusammenhaltende Einzelne das Band.
b) Die Vielen der Einheit sind, was sie sind, nur innerhalb der Einheit; dennoch
können sie aus der Einheit herausgelöst, von ihr abgetrennt werden, aber nur unter
einer Alteration, d. h., sie sind außerhalb der Einheit nicht dasselbe, was sie
innerhalb der Einheit sind. Sie sind also nicht schlechthin selbständig, sondern nur
in ihrer „Materialität" unabhängig. Andererseits wird die Einheit als solche nicht
wie beim Bündel durch eine oder mehrere Einzelheiten bewirkt, sondern sie besteht
als Zusammenhang, Ordnung, Form oder Struktur der Vielen. Diese Struktur be-
steht nur in der Vielheit, ist losgelöst von ihr nicht denkbar, ist aber mit dem
Vielen nicht identisch. Beispiele solcher Einheiten sind der Organismus, aber auch
eine Einheit zusammenlebender Organismen (z.B. ein Bienenvolk, eine Dohlen-
kolonie), ein Kunstwerk, eine Sprache, ein musikalischer Akkord, eine mathema-
tische und logische Menge oder Klasse usw. Diese strukturierten Einen könnte man
allgemein als Komplexe oder Funktionszusammenhänge, ihre Vielen als Glieder oder
Elemente und ihr Einheitsprinzip als Struktur oder Ordnung oder Form bezeichnen.
Wie die Beispiele schon andeuten, gibt es natürlich ganz verschiedenartige Kom-
plexe bzw. Strukturen. Eigentümlich ist ihnen aber allen die „materielle", und zwar
bloß „materielle" Selbständigkeit der Vielen bzw. der Unterschied zwischen alien
Vielen und dem Einheitsprinzip (der Struktur, der Form, dem Funktionszusammen-
hang). Dies bedeutet auch, daß „materiell" dieselben Vielen zugleich verschiedenen
Komplexen angehören, in verschiedenen Funktionszusammenhängen stehen können:
Z. B. ,.materiell" dasselbe kann zugleich das Bein eines Tisches und Moleküle eines
molekularen Zusammenhanges sein; aber als Element eines Tisches und als Element
eines molekularen Zusammenhanges ist es nicht dasselbe, wie auch der Tisch und
der molekulare Zusammenhang als Strukturen, trotz der Identität ihrer „Materie"
(nicht der Elemente), gänzlich voneinander verschieden sind.
c) Die Vielen der Einheit oder mindestens einige der Vielen sind außerhalb der
Einheit schlechterdings nichts; sie sind überhaupt nur in dieser Einheit und folglich
auch nur in dieser Einheit erkennbar. Und die Einheit ist nichts anderes als die
Vielen, d. h. die Einheit unterscheidet sich selbst in ihre Vielheit. Diese einfache
(unauflösbare und unzusammensetzbare) Einheit ist das \Vesen, und ihre Vielen
sind bloß Momente ihrer selbst.
16 Vgl. Aristoteles Metaphysik A 987 b 3-4; M 1078 b.
Der Begriff des Wesens 283

durch einen anderen, synonymen, erlaubt, oder eine Bedeutungsanalyse


schon vor der Philosophie vorhandener Ausdrücke, die ihren faktischen
Gebrauch feststellt. Sie ist auch nicht nur eine „Nominaldefinition" im
Sinne von Leibniz, die man heute eher als Realdefinition bezeichnen würde,
da sie sich nicht bloß auf der Ebene der Termini und ihrer Zusammen-
hänge bewegt, sondern von einer Sache die notwendigen und ausreichen-
den Merkmale aufzählt, um sie von einer anderen zu unterscheiden17 •
Im Leibnizischen Sinne ist auch die Aristotelische Definition durch Gat-
tung und Differenz bloß nominal. Aber in der philosophischen Wesens-
erkenntnis handelt es sich nicht bloß um eine Aufzählung von Unter-
scheidungsmerkmalen. Ja, nicht einmal der Begriff der Realdefinition,
wie sie von Leibniz verstanden wird, reicht für uns aus: Denn diese
analysiert den betreffenden Begriff nach allen seinen Momenten, um
deren Widerspruchslosigkeit, deren Kompatibilität und damit die Mög-
lichkeit der betreffenden Sache zu erweisen18 , während es die Wesens-
erkenntnis in der reinen Reflexion nicht bloß mit Einheiten der Kompa-
tibilität, sondern des notwendigen Zusammenhanges zu tun hat. Was sie
dabei erstrebt, ist im Leibnizischen Sinn die Adäquatheit der Definition,
d. h., nicht nur die Erfassung aller konstitutiven Momente des betreffen-
den Wesens, sondern auch die Erfassung der Wesensmomente der Requi-
site selbst, sofern diese nicht nur einfache Momente, sondern selbst wie-
derum Wesen sind. Da alle Verstandes- und V ernunftformen die Sinn-
lichkeit als fundierendes Moment einschließen, bedeutet dies, daß eine
adäquate Wesenserkenntnis des Verstandes und der Vernunft die We-
sensanalyse der Sinnlichkeit umfassen muß.
Man kann sagen, wenn man will, Philosophie sei bloße Erkenntnis
aus Begriffen, analytische Erkenntnis im Sinne Kants. Wenn wir in der
Philosophie sagen, Erinnerung sei in der sinnlichen Wahrnehmung fun-
diert, enthalte Identität als gegenständliche Einheit usw., so sind dies
alles erläuternde Aussagen, denn sie folgen notwendig aus dem philoso-
phischen Wesensbegriff der Erinnerung. Das Wesen ist tatsächlich ein
Prinzip, aus dem sich Erkenntnisse ziehen lassen. Aber alles kommt
darauf an, die philosophischen Wesensbegriffe zu gewinnen, aus denen
17 ,, ••• definitionem nominalem, quae nihil aliud est, quam enumeratio, notarum suffi-
cientium" (Meditationes de Cognitione . .., Gerhardt, Philos. Schriften, IV. S. 423). ·
,, ... definitiones nominales, quae notas tantum rei ab aliis discernendae continent ••• "
(a. a. 0., S. 424).
18 ,, ••• definitionibus non possumus tuto uti ad concluendum, antequam sciamus
eas esse reales, aut nullam involvere contradictionem" (a. a. 0., S. 424)." ,, ••• defi-
nitiones reales, ex quibus constat rem esse possibilem" (a. a. 0., S. 425).
284 Wesenserkenntnis

darin solche analytische Erkenntnis möglich wird. Solche Erkenntnis


setzt also die „Entdedrnng" der Wesenseinheiten voraus, und diese „Ent-
deckung", d. h. Begriffsbildung, ist die ursprüngliche philosophische Auf-
gabe.
Noch zwei Bemerkungen: Ein Wesensmoment ist als solches nicht
selbst ein Wesen. Es kann allerdings ein Wesen sein, insofern es selbst
eine notwendige analytische Einheit darstellt. Dies ist nur möglich, wenn
es als Moment des anderen Wesens Fundament ist. Aber identischer
Gegenstand z. B. ist kein eigenes Wesen, sondern nur Wesensmoment
eines mittelbaren Bewußtseins, ebenso steht es mit dem bedeutsamen
Ausdruck als Wesensmoment der sprachlichen Tätigkeit. Wesenserkenrit-
nis solcher Momente bedeutet ihre Eingliederung in den notwendigen
Zusammenhang, in dem sie „zu Hause sind".
Wir erkennen eine Bewußtseinstätigkeit in ihrem Wesen, wenn wir
sie synthetisch in ihrer notwendigen Einheit oder wenn wir sie in einem
einzelnen analytischen Moment als einem dieser notwendigen Einheit
zugehörigen erkennen. Aufgrund dieser notwendigen analytischen Ein-
heit sind aber auch negative Wesenserkenntnisse möglich: Wir können
ein Moment als prinzipiell nicht zu einem Wesen gehörig, als innerhalb
dieser Einheit unverträglich erkennen. So sagen wir etwa, daß in der
sinnlichen Wahrnehmung keine Vergegenwärtigung liegen könne, da jede
Weise der Vergegenwärtigung zu einem von der sinnlichen Wahrneh-
mung verschiedenen Wesen gehört und die Einheit der sinnlichen Wahr-
nehmung, wenn man sie dieser einordnete, sprengen würde. Ebenso gibt
es negative Wesensaussagen, die etwa die Auswechslung eines Momentes
negieren, die das Wesen in ein anderes verwandelten.

. 1
§ 49 Wesenserkenntnis als Bedingung der Möglichkeit
reiner Vernun f terkenntnis

In den Ausführungen des vorstehenden Paragraphen haben wir


eigentlich bloß erläutert, was unter dem Modaladverb „wesensmäßig"
zu verstehen ist, das in unseren philosophischen Aussagen immer wieder
auftrat. Es gilt nun im weiteren, die Funktion und den möglichen Bereich
der Wesenserkenntnis zu bestimmen. In diesem Paragraphen möchte ich
folgende These erläutern und begründen: Rein philosophische Erkennt- "f"
,1 1,
nis, d. h. reine Selbsterkenntnis der Vernunft, ist überhaupt nur als ', l'1
-, ,,,
Wesenserkenntnis möglich. .. i
....
'
·I'
,. :
', ,. ..

1::.
1
1:
Bedingung der reinen Vernunfterkenntnis

Wenn jemand von uns rein auf seine Bewußtseinstätigkeiten reflek-


tiert und sie dabei unterscheiden und erkennen will, bedarf er der
Begriffe, d. h. fest bestimmter, unterscheidbarer und wiederholbarer Ein-
heiten, und wenn er dabei seine Tätigkeiten (Bewußtseinsweisen) nicht
nur von ihren verschiedenen Gegenständen und Mitteln her unterschei- ,
den, sondern als Tätigkeiten in sich selbst erkennen will, bedarf er für
sie der Begriffe. Die philosophische Frage, was Vernunfttätigkeit rein in
sich selbst sei, ist nur durch Erkenntnis in allgemeinen Begriffen von
Bewußtseinsweisen zu beantworten. Wie sind aber in reiner Reflexion
auf die Bewußtseinstätigkeiten überhaupt Begriffe zu bilden?
Bei der reinen Reflexion handelt es sich, wie lange ausgeführt, um
eine Gegenstandsgebung durch reine Vernunft~ Philosophie, reine Ver-
nunfterkenntnis, kann nicht auf sinnlichen Einheitsbildungen, auf sinn-
lichen Typen aufbauen. Sie konstruiert prinzipiell auch nicht induktiv
irgendwelche wiederholbaren sinnlich-empirischen Einheiten. Denn phi-
losophische, rein noumenale Begriffe können überhaupt nicht, wie die
Begriffe sinnlicher Erfahrung, auf phänomenalen räumlich-synchronen
oder räumlich-diachronen wiederholbaren Einheiten gründen. Sie können
nicht einmal, wie in der Mathematik, auf der Einheit und Kombination
von sog. Rechenzeichen fußen. Reflexiv zu erfassende Bewußtseinstätig-
keiten sind eben keine unmittelbaren oder konstruierten phänomenalen
Figuren oder Konstellationen. Rein noumenale Begriffe, die die Bedin-
gungen der Möglichkeit philosophischer Erkenntnis sind, müssen Ein-
heiten des reinen „Denkens" sein, sie müssen als fest umgrenzte, unter.:.
scheidbare und wiederholbare Einheiten rein durch die Vernunft eta-
bliert werden.
Wie gesagt, wir können natürlich Bewußtseinstätigkeiten auf Grund
ihrer Gegenstände unterscheiden: das Hören des Tones c ist nicht das-
selbe wie das Hören des Tones g; das Hören eines Tones ist nicht das-
selbe wie das Sehen einer Farbe; das Hören einer Melodie ist nicht das-
selbe wie das Hören einer Aussage usw. Aber dadurch haben wir die
Bewußtseinstätigkeiten nur in ihren phänomenalen Gegenständen und
nicht in sich selbst begrifflich unterschieden und bestimmt, und gerade
darauf kommt es in der Philosophie an. Es ist eine ziemlich verbreitete
These, daß sich Bewußtsein in sich selbst überhaupt nicht unterscheide,
daß die „Bewußtheit" überall dieselbe sei und sich nur gegenständlich
durch ihre Sachen differenziere. Das Wahrnehmen einer Melodie und
das Erinnern einer Melodie würden sich nur darin unterscheiden, daß
im einen Fall die Melodie objektiv als gegenwärtig, im anderen als
286 Wesenserkenntnis

vergangen charakterisiert sei. Wäre dem so, dann wäre die Idee der
reinen Selbsterkenntnis der Vernunft ein völlig leeres Unterfangen. Ver-
nunft wäre nur in ihren phänomenalen Werken erkennbar.
Nach Kant ist das Bewußtsein oder Selbstbewußtsein als solches nur
eine leere Form. Eine eigentliche Bewußtseinswissenschaft als Erkenntnis
verschiedener subjektiver Bewußtseinsgestalten ist nach ihm, obschon er
de facto einige Ansätze dazu in der ersten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft (subjektive Seite der transzendentalen Deduktion) liefert, de
iure nicht möglich. Der Gnmd, den Kant für diese Unmöglichkeit angibt,
weist uns auf die Bedingung der Möglichkeit einer solchen Wissen-
schaft hin.
In der Kritik der reinen Vernunft erklärt Kant, daß es eine reine
oder apriorische Seelenlehre als Parallele zur reinen Naturwissenschaft
nicht geben könne, denn nur die Erscheinungen vor dem äußeren Sinn
hätten als Raumgestalten etwas »Stehendes und Bleibendes", während
»in dem, was wir Seele nennen, alles im kontinuierlichen Flusse und
nichts Bleibendes ist, außer etwa (wenn man es durchaus will) das darum
so einfache Ich, weil diese Vorstellung keinen Inhalt, mithin kein Man-
nigfaltiges hat ... "19 Eine „reine Seelenlehre" (welche die Prinzipien
der Möglichkeit der „inneren Erfahrung" enthalten würde) ist also nach
Kant deshalb nicht möglich, weil im subjektiven Bewußtsein (im Gegen-
satz zur räumlichen Äußerlichkeit) keine festen Einheiten zu erfassen
seien. Das einzig Feste, das nach Kant im Bewußtsein selbst faßbar ist,
ist die „bloße Form" Ich, die aber keine Mannigfaltigkeit enthält und
darum keine Erkenntnis ausmachen, ja nicht einmal als wirklicher Begriff
betrachtet werden kann20•
In der Kritik der reinen Vernunft scheint Kant, wenn nicht an eine
apriorische, so doch an eine empirische, auf innerlich wahrgenommenen

19 A. a. 0., A 381. Vgl. A 107: ,,es kann kein stehendes oder bleibendes Selbst in
diesem Flusse innerer Erscheinungen geben." Wenn Kant in der „transzendentalen
Methodenlehre" der rationalen Psychologie im System der reinen Vernunfterkennt-
nis dennoch einen Platz einräumt (A 847/8; B 875/6), so scheint dies entweder um
der Symmetrie des Systems willen zu geschehen oder aber zeigt Kants Schwanken
und Unsicherheit hinsichtlich des methodischen Status der Selbsterkenntnis der
Vernunft.
20 ,, ••• die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung: Ich, von
der man nicht einmal sagen kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes
Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet. Durch dieses Ich .•• wird nun nichts weiter
als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x ••• " (A 345/6;
B 404). ,.Allein dieses Ich ist sowenig Anschauung als Begriff von irgendeinem
Gegenstande, sondern die bloße Form des Bewußtseins .•." (A 382).
Bedingung der reinen Vernunfterkenntnis 287

Fakten beruhende Seelenlehre zu glauben. Diese „empirische Psycholo-


gie, welche eine Art Physiologie des inneren Sinnes sein würde", ent-
hielte „Beobachtungen über das Spiel unserer Gedanken und die daraus
zu schöpfenden Naturgesetze des denkenden Selbst" 21 • Es ist aber nicht
ausdenkbar, wie eine solche rein innere Erfahrungswissenschaft ohne
feste und bleibende Einheiten möglich sein soll, da sich doch nur auf-
grund solcher Einheiten als bleibender Bewußtseinsgestalten, bzw. auf-
grund der entsprechenden Begriffe, im „kontinuierlichen Fluß" des Be-
wußtseins irgendwelche faktischen zeitlichen Zusammenhänge feststellen
ließen. Tatsächlich ist das Statut einer solchen empirischen Seelenlehre
bei Kant selbst außerordentlich fragwürdig. Nicht nur kann sie nach
Kant keine eigentliche Wissenschaft sein, da in ihr die Mathematik nicht
anwendbar ist, sondern sie ist nach ihm nicht einmal als eine wirkliche
deskriptiv-klassifikatorische Wissenschaft möglich, ,,weil sich in ihr das
Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch bloße Gedankentei-
lung voneinander absondern, nicht aber abgesondert aufbewahren und
beliebig wiederum verknüpfen ... läßt" 22 • Gedankenteilungen könnten
nur dann im Bewußtseinsfluß etwas „Aufbewahrbares" erreichen, wenn
sie auf notwendigen, Mannigfaltiges in sich schließenden Einheiten be-
ruhten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Kant überhaupt
nicht ernstlich an die Möglichkeit, d. h. Ausführbarkeit einer rein auf
innerer Erfahrung beruhenden empirischen Psychologie glaubte, sondern
von einer solchen nur hypothetisch zu Zwecken der Abgrenzung anderer
Wissenschaften spricht. Jedenfalls ist eine solche bloß innere empirische
Seelenlehre nach Kants eigenen Prinzipien nicht möglich 23 •

21 A 347; B 405. Vgl. A 381/2: ,,Seelenlehre als die Physiologie des inneren Sinnes"
im Gegensatz zur „Körperlehre als einer Physiologie der Gegenstände äußerer
Sinne''; ,,in beiden kann vieles empirisch erkannt werden"; ,,es bleibt uns nichts
anderes übrig, als unsere Seele am Leitfaden der Erfahrung zu studieren und uns in
den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere
Erfahrung ihren Inhalt darlegen kann."
22 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A XI.
23 In Wirklichkeit scheint Kant die empirische Psychologie als Anthropologie, die den
Menschen gesamthaft in seinem Verhalten untersucht, zu betrachten. Schon in der
Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von
1765-66 steht: ,,Ich fange demnach nach einer kleinen Einleitung von der empi-
rischen Psychologie an, welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft
vom Menschen ist; denn was den Ausdruck der Seele betrifft, so ist es in dieser
Abteilung noch nicht erlaubt zu behaupten, daß er eine habe." Im weiteren ist
dann nur noch von der rationalen ( = apriorischen) Psychologie die Rede (Akad.-
Ausgabe, Bd. II, S. 309). In der „transzendentalen Methodenlehre" der Kritik der
reinen Vernunft wird die empirische Psychologie systematisch der Anthropologie
288 Wesenserkenntnis

Als feste und bleibende Einheiten, die Kant als Bedingungen der
Möglichkeit einer reinen subjektiven Bewußtseinswissenschaft vermißte,
kommen nun nichts anderes als unsere Wesenseinheiten in Frage; bzw.
die Weise. der noumenalen Begriffsbildung, die die Bedingung der reinen
Selbsterkenntnis der Vernunft ist, ist die oben erläuterte Wesenserkennt-
nis. Das "Band", das die feste und "bleibende" Einheit des Wesens aus-
macht, ist keine phänomenale räumliche oder zeitliche Verbindung partes
extra partes, sondern der allein durch den Verstand erfaßte notwendige
Zusammenhang von Momenten einer analytischen Einheit. Nur diese
Notwendigkeit vermag eine rein denkerische, eine rein noumenale Ein-
heit auszumachen, und nur auf Grund solcher Einheiten sind verschiedene
Tätigkeiten als Bewußtseinsweisen begrifflich unterscheidbar und be-
stimmbar.
Die These, daß Philosophie als reine Selbsterkenntnis der Vernunft,
und dadurch auch als reine Vernunfterkenntnis der Bewußtseinstätigkeit
überhaupt, nur als Wesenserkenntnis möglich ist, hat H usserl in seinem
letzten Werk, in der Krisis, in aller Deutlichkeit formuliert: ,,Das Analo-
gon einer empirischen Tatsachenwissenschaft, eine ,deskriptive' Wissen-
schaft· vom transzendentalen Sein und Leben, als induktive Wissenschaft
aus bloßer Erfahrung und mit dem Sinn einer Feststellung der indivi-
duellen transzendentalen Korrelationen, wie sie faktisch auftreten und
verschwinden, kann es nicht geben. Selbst der einzelne Philosoph in der
Epoche kann bei sich selbst nichts von diesem unfaßbar strömenden

zugered:met (A 848/9; B 876/7). Auch in der Abhandlung Fortschritte der Meta-


physik von 1791 ist empirische Psychologie Anthropologie: ,, ••• der rationalen
Psychologie stellen nichts weiter als der Begriff der Immaterialität einer denkenden
Substanz, der Begriff ihrer Veränderung und der Identität der Person, bei den
Veränderungen allein, Prinzipien a priori vor, alles übrige aber ist empirische
Psychologie, oder vielmehr nur Anthropologie, weil bewiesen werden kann, daß es
uns unmöglich ist, zu wissen, ob und was das Lebensprinzip im Menschen (die Seele)
ohne Körper im Denken vermöge, und alles hier nur auf empirische Erkenntnis,
d. i. eine solche, die wir im Leben, mithin in der Verbindung der Seele mit dem
Körper, erwerben können, hinausläuft .•• " (A 81). In der Anthropologie spricht
Kant zwar einerseits von der empirischen Psychologie als •,,einem Inbegriff aller
inneren Wahrnehmungen unter Naturgesetzen" (Akad.-Ausg., S. 141), ,.in der wir
uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes erforschen" (S. 134 Anm.),
gleichzeitig erklärt er eine solche Wissenschaft aber für unmöglich: ,,Denn es ist
mit jenen inneren Erfahrungen nicht so bewandt wie mit den äußeren von Gegen-
ständen im Raum, worin die Gegenstände nebeneinander und als bleib_end fest-
gehalten erscheinen. Der innere Sinn sieht die Verhältnisse seiner Bestimmungen nur
in der Zeit, mithin im Fließen, wo keine Dauerhaftigkeit der Betrachtung, die doch
zur Erfahrung notwendig ist,. stattfindet" (S. 134; vgl. auch a. a. 0., § 24).
Bedingung der reinen Vernunfterkenntnis 289

Leben so festhalten, mit stets gleichem Gehalt wiederholen und seiner


Diesheit und seines Soseins so gewiß werden, daß er es in festen Aus-
sagen beschreiben und (sei es auch nur für seine Person) sozusagen doku-
mentieren könnte ... Das Faktum ist hier als das seines Wesens und nur
durch sein Wesen bestimmbar und in keiner Weise in analogem Sinne
wie in der Objektivität durch eine induktive Empirie empirisch zu
dokumentieren. " 24
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch folgendes ganz besonders
betonen: Wesenserkenntnis ist die Weise oder Methode der philosophi-
schen Begriffsbildung, in ihr kommen überhaupt erst explizierbare Be-
griffe der reinen Vernunfterkenntnis zustande; sie ist nicht etwa eine
bloße Methode der Klärung schon vor der Philosophie vorhandener, ihr
vorgängiger Begriffe.
Man hat die Idee der Wesenserkenntnis dem Verfahren der Ordinary
Language Philosophy angenähert, das durch imaginative Abwandlungen
von Situationen die Anwendbarkeit und damit die Bedeutung von Wor-
ten der gewöhnlichen Sprache zu klären versucht (im Sinne von Austins
Formel: what we should say when) 25 • Dabei ging man von Busserls
Beschreibung der Wesenserkenntnis als Erfassung einer Invariante in
einem imaginativen Prozeß der Variation aus. Durch eine Angleichung
dieser beiden Verfahren, so viele äußere Ähnlichkeiten sie auch haben
mögen, wird aber der radikale Unterschied ihrer Voraussetzungen und
ihres Sinnes verfehlt. In der Analyse der gewöhnlichen Sprache handelt
es sich um eine bloße Klärung bereits vorhandener, faktischer Worte und
Wortgruppen, um eine Schärfung des faktischen Sprachbewußtseins
(allerdings, wie dies Austin betonte, im Hinblick auf eine Klärung der
Phänomene). Demgegenüber geschieht die Wesenserkenntnis in ihrer
wahren Funktion in der reinen Vernunfterkenntnis nicht auf dem
Grunde und im Rahmen bereits vorhandener, faktischer Begriffe, son-
dern durch sie sollen überhaupt erst durch Erfassung notwendiger Ein-
heiten philosophische Begriffe gewonnen werden 26 •
Aber, so könnte man fragen, haben wir nicht schon vor der philo-
sophischen Reflexion und Wesenserkenntnis Begriffe wie Wahrnehmung,

24 Husserliana VI, S. 181/2 (§ 52).


25 So schon A. J. Ayer, »Phenomenology and Linguistic Analysis" in Proceedings. of
the Aristotelian Society, suppl. vol. XXXIII (1959), pp. 111-124.
26 Busserl sagt in den Cartesianischen Meditationen: »Das Eidos liegt vor allen
Begriffen im Sinne· von Wortbedeutungen, die vielmehr als reine Begriffe· ihm
angepaßt zu bilden sind" (Husserliana I, S.105). ·
290 Wesenserkenntnis

Erinnerung, Phantasie, Bildbewußtsein, Rede usw., die wir dann in der


Philosophie nur zu klären und zu analysieren brauchen? Ich weiß ja
schon vor aller Philosophie, was ich tue, ob ich etwas selbst wahrnehme
oder es in einem Bild betrachte, ob ich mich erinnere oder bloß phanta-
siere, ob ich jemandem etwas sage oder einen Schmerz empfinde, und
ich kann dies auch vor aller Philosophie reflexiv unterscheidend aus-
sagen. Aber wenn wir uns solcher Tätigkeiten in ihrem Vollzuge bewußt
sind und reflektierend sie sprachlich unterscheiden, so heißt dies noch
nicht, daß wir sie in sich selbst erkennen, von ihnen in dem Sinne einen
Begriff haben, daß wir sagen könnten, was sie als Bewußtseinsweisen
sind. Im gewöhnlichen, im Phänomenalen sich bewegenden Leben unter-
scheiden und erkennen wir unsere Bewußtseinstätigkeiten nicht in sich
selbst, sondern in ihren verschiedenen Gegenständen und Mitteln. Vor
der philosophischen Erkenntnis können wir nicht angeben, wodurch sich
etwa das Phantasieren als Tätigkeit (Bewußtsein) vom Erinnern oder
vom Bildbewußtsein oder von der sinnlichen Wahrnehmung unterschei-
det, und wir können nicht sagen, worin es in sich selbst als Tätigkeit
(Bewußtsein) besteht.
Wenn wir in der philosophischen Reflexion von gewöhnlichen re-
flexiven Begriffen wie Sich-erinnern, Phantasieren, Empfinden usw. aus-
gehen, so ist damit noch nicht gesagt, daß ihnen je eine notwendige
analytische Einheit entspricht. Es könnte sein, daß dahinter ununter-
schieden gleich mehrere Wesen liegen. So haben wir in der gewöhnlichen
Sprache vor allem keine wirkliche Unterscheidung zwischen sinnlicher
und Verstandestätigkeit, und gerade dieser Unterschied ist philosophisch
der kardinale. Verstandestätigkeit ist eben immer sinnlich fundiert, im-
pliziert auch intentional Sinnlichkeit und ist zumeist auch als Vernunft
(im engeren Sinn) sinnlich instituiert, und andererseits kommt sinnliche
Tätigkeit, obschon sie in ihrem Wesen gegenüber dem Verstande selb-
ständig ist, im menschlichen Leben faktisch kaum rein für sich und los-
gelöst von aller Verstandestätigkeit vor, wenigstens nicht in praktisch
relevanter Weise, so daß die gewöhnliche Rede diesen Unterschied von
den Gegenständen her nicht vermerken kann.
Die gewöhnlichen, vorphilosophischen Begriffe enthalten daher nicht
schon die Regel, nach der philosophisch die Einheit des Wesens abzu-
grenzen wäre, sondern sie können dem Philosophieren bloß heuristisch
als vorläufige Unterscheidungen und Hinweise dienen, nach denen dann
allein auf Grund der Einsicht in analytisch notwendige Zusammenhänge
die philosophischen Begriffe zu bilden sind.
Eigentümlichkeit der reinen Vernunfterkenntnis 291

. Diese philosophische Begriffsbildung steht zu den gewöhnlichen Re-


flexionsbegriff en aber auch nicht in einem Verhältnis der »Rekonstruk-
tion", d. h. sie hat nicht einfach die Funktion, vage und schwankende
(inkonsistente) Worte der gewöhnlichen Rede methodisch durch gleich-
lautende bestimmte und feste Termini zu ersetzen, wie dies in den
positiven Wissenschaften geschieht. Der Philosophie sind die gewöhn-
lichen Reflexionsbegriffe nicht zu vage oder schwankend, sondern sie hat
eine ganz andere Interessendimension als es diejenige ist, in der die
gewöhnlichen Reflexionsbegriffe ihre Funktion besitzen. Im gewöhn-
lichen Leben ist es uns weit wichtiger zu wissen, ob z. B. etwas ein
wirklich Erlebt-gewesenes oder ein bloß Phantasiertes ist, als zu wissen,
was eine Erinnerung oder was eine Phantasie ist. Aber gerade darum
geht es in der Philosophie. Ihrer eigenen, neuen Interessenrichtung ent-
sprechend ersetzt sie daher auch nicht vage und schwankende Begriffe
durch genaue und feste, sondern bildet prinzipiell neuartige Begriffe27 •

§ 50 Wesenserkenntnis als Eigentümlichkeit


der reinen Vernunfterkenntnis

Nachdem ich gesagt habe, was ich unter „Wesen" oder „Eidos" ver-
stehen will (§ 48), und die Wesenserkenntnis als eine Bedingung der
Möglichkeit der Philosophie darstellte (§ 49), möchte ich nun den Bereich
der Wesenserkenntnis abstecken. Ich möchte dabei den Gedanken zu
bewahrheiten versuchen, daß nur rein reflexiv erfaßte Arten von Tätig-
keiten Wesenseinheiten im angegebenen Sinn sein können, daß es also
Wesenserkenntnis nicht in allen möglichen Erkenntnisgebieten, sondern
nur in der reinen Vernunfterkenntnis, in der Philosophie, gibt.
Um positiv zu begründen, daß Eide nur reflexiv erfaßte Akteinhei-
ten (Bewußtseinsweisen) sein können, müßte ich auseinandersetzen, daß
das Eidos ein reines Noumenon sein muß und daß die reine Reflexion
die einzige noumenale Gegenstandsgebung ist, oder ich müßte nachwei-

17 Audi deshalb kann natürlich die umschriebene Weise der philosophisdJen Begriffs-
bildung nicht als Begriffsrekonstruktion bezeichnet werden, weil sie durchaus den
Kriterien der Wahrheit und Falschheit untersteht, während eine Begriffskonstruk-
tion im Sinne einer methodischen Festlegung von Wortbedeutungen weder wahr nodJ
falsdJ ist, sondern andersartigen Kriterien untersteht (Möglichkeit syntaktisdJ
genauer Neuformulierung der Aussage, in denen. die betreffenden Ausdrücke vor-
kommen, Eignung der rekonstruierten Begriffe für die Bildung einer umfassenden
Theorie).
292 \Y/esenserkenntnis

sen, daß nur die Vielheit in der Einheit eines Aktes jene Notwendigkeit
besitzt, die ein Wesen auszeichnet. Ich gehe vorläufig nun aber einen
negativen und wohl in sich nicht hinreichenden Weg, indem ich von einer
Reihe von anderen Einheiten, die z. T. für Eide gehalten wurden, zu
zeigen versuche, daß es sich jedenfalls hier nicht um Eide handeln kann.
Zuerst möchte ich von Einheiten sprechen, die als sinnliche Typen
bezeichnet werden können. Wir nehmen unsere Umwelt unmittelbar in
einer vertrauten Typik wahr, und weil diese Typik tatsächlich einen
schon „vorbekannten"' Rahmen unseres Wahrnehmens und in die Um-
welt Eingreifens abgibt, hat man sie für ein Apriori und damit gleich
auch für ein Eidos gehalten.
Beispiele für sinnliche Typen sind: Baum, Gebüsch, Hund, Fisch,
Vogel, Speise, Topf, Stuhl, laufen, schlafen, essen, wütend sein usw.,
insofern diese Begriffe unmittelbar wahrnehmbare, unmittelbar phäno-
menale Einheiten meinen. Solche sinnlichen Einheiten können wir auch
als apperzeptive Schemen oder Sinngestalten charakterisieren28• Sie
zeichnen sich einerseits durch ihre Augen- oder Sinnenfälligkeit aus: man
sieht einem Fisch unmittelbar an, daß es ein Fisch ist, bzw. er sieht
unmittelbar so aus, oder man sieht innerhalb einer bestimmten Situation
einem Lebewesen unmittelbar an, daß es flieht. Andererseits haben diese
sinnenfälligen Schemen keine festen Grenzen, sie fließen ineinander über,
sind unscharf, vage und wandelbar 29 • Die Einheit eines sinnlichen Be-
griffes, dem ein solches Apperzeptionsschema zugrunde liegt, kann sehr
wohl mit dem Wittgensteinschen Begriff der Familienähnlichkeit charak-
terisiert werden: ,,es ist <den) Erscheinungen gar nicht Eines gemein-
sam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, sondern sie
sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt ... Wirken-
nen die Grenzen nicht, weil keine solchen gezogen sind. " 30
Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß solche sinnlichen Typen bzw.
die ihnen entsprechenden rein sinnlichen Begriffe, unter dem Gesichts-
punkt der Allgemeinheit betrachtet, nur niederste Begriffe, ,,letzte Diffe-
renzen" oder, mit einem Worte Busserls (das wir natürlich hier nicht
übernehmen können), ,,eidetische Singularitäten" sein können. Damit
würden· wir uns im Grunde noch dem sensualistischen Vorurteil ver-
pflichten, daß eigentlich sinnlich wahrgenommen nur sense data seien.

2s Siehe oben § 32.


20 Platon. würde sagen, daß sie rrotxU.ot (vielfarbig, bunt, schillernd) seien (vgl.
S ophistes, 223 c).
30 Philos. Untersuchungen,§§ 65, 69.
Eigentümlichkeit der reinen Vernunfterkenntnis 293

Die sinnlichen Wahrnehmungsgestalten, die diesen Begriffen zugrunde


liegen, können vielmehr von großer Allgemeinheit sein. Sogar Ding und
lebendig sind sinnliche Typen, ,,Ding" nicht in einem terminologischen
Sinn, etwa als Seiendes oder räumlich Seiendes überhaupt, sondern im
gewöhnlichen Sinn, in dem Ding so etwas Handgreifliches ist und in
dem ein Regenbogen, ein Schatten, Wasser, Luft, Licht, ein Blitz, eine
Person, ein· Haus keine Dinge sind. Es ist sogar zu sagen, daß in der
Entwicklung der sinnlichen Wahrnehmung die allgemeinere Gestalt der
differenzierteren vorangeht. So lernt das kleine Kind wohl viel eher
einen Vogel, bzw. ein „Bi-bi", sehen als einen Sperling oder eine
Schwalbe. Dies kommt nicht daher, weil wir Kinder zuerst den Gebrauch
allgemeinerer Worte lehren, sondern wir lehren sie solche Worte zuerst,
weil wir spüren, daß sie der Strukturierung ihrer Wahrnehmungswelt
entsprechen. Und wir erfahren auch immer wieder, daß kleine Kinder
Worte, die wir ihnen an Beispielen beibringen, nicht etwa enger, son-
dern weit allgemeiner gebrauchen, als wir sie verstehen. So kann z.B.
für ein kleines Kind „wau-wau" nicht nur Hunde, sondern fast alle
Tiere, und „Tic-Tac" nicht nur Uhren, sondern auch mancherlei andere
Geräte eines gewissen Typus, z.B. Telephone, Lampen usw. bedeuten 31 •
Die Allgemeinheit der bloß sinnlichen Begriffe, oder genauer, die All-
gemeinheit der diesen zugrundeliegenden sinnlichen Apperzeptionssche-
men beruht also keineswegs auf einer besonderen Vernunftleistung der
Abstraktion, die allmählich zu immer höherer Allgemeinheit emporstei-
gen würde, sondern die positive Leistung in der Strukturierung der
Wahrnehmungswelt ist vielmehr umgekehrt die Differenzierung, die
Unterscheidung feinerer, nuancierterer Wahrnehmungstypen, und die
mögliche Gegenbewegung zu dieser Differenzierung ist keine besondere
Vernunf tleistung, sondern eine bloße „Degeneration", ein Rück.fall oder
Verfall der Sinnlichkeit, nämlich die Nivellierung in gröbere Typen oder
Schemen32 •
31 Ich erinnere mich an einen meiner kleinen Neffen, der auf mein Cello zeigte und
sagte: ,,Wann spielst du wieder einmal Flöte?" Dies ist sicher nicht als eine Ver-
wechslung der Worte oder zweier so verschieden aussehender und tönender Instru-
mente wie Cello und Flöte zu verstehen, sondern „Flöte" bedeutete für den Kleinen
einfach etwas, mit dem man Musik machen kann, und da er zuerst eine Blockflöte
kennenlernte, bezeichnete er auch das Cello mit diesem Namen.
32 Die Erlernung der Sprache spielt durch die Lenkung der Aufmerksamkeit ohne
Zweifel für die Typenbildung der sinnlichen Wahrnehmung eine große Rolle; das
Entscheidende für die Idee rein sinnlicher Begriffe ist aber, daß diese ihrem Inhalt
nach auf schematischen Einheiten beruhen, die in unmittelbarer Sinnenfälligkcit
auftreten, und daß solche Einheiten durchaus ohne Sprache, und mittelbares
294 Wesenserkenntnis

Die statischen und dynamischen Apperzeptionstypen, die in unmittel-


barer Sinnenfälligkeit auftreten und auf denen die rein sinnlichen Be-
griffe beruhen, sind keine notwendigen analytischen Einheiten, also keine
Wesen. Sie sind geschichtlich-faktisch mehr oder weniger vage und wan-
delbar. Und nicht nur sind in ihnen keine notwendigen Zusammenhänge
erfaßbar, sondern sie bestehen als bloß sinnliche Einheiten überhaupt
nicht in Relation auf in sich selbst erfaßte analytische Momente, sondern
nur unmittelbar als globale Sinngestalten. Die relationelle Erfassung
eines analytischen Momentes als solchen ist ein mittelbares, ein Verstan-
desbewuß tsein.
Wen.den wir uns jetzt Begriffen zu, die in ihrem Gehalt nicht mehr
rein sinnlich sind, sondern eine Synthesis des Verstandes enthalten, ohne
jedoch aufzuhören, Begriffe auf sinnlicher, phänomenaler Grundlage zu
sein. Es sind Begriffe, die nicht mehr auf bloß „augenscheinlichen" Ein-
heiten beruhen, sondern, wie man sagt, ,,wesentlicher" sind. Wir nannten
als Beispiele rein sinnlicher Begriffe „Fisch" und „Vogel". Diese Worte
können aber auch empirische Verstandesbegriffe sein, dann nämlich,
wenn sie von den Zoologen gebraucht werden, und auch insofern sie im
alltäglichen Gebrauch von dieser theoretischen Bedeutung affiziert sind.
Dem zoologischen Gebrauch dieser Worte liegen nicht sinnenfällige,
unmittelbar phänomenale Typen zugrunde, sondern sie bezeichnen zwei
verschiedene Klassen von Wirbeltieren, die durch ganz bestimmte Merk-
male definiert sind. Der wissenschaftliche und der rein sinnliche Begriff
dieser Worte brauchen sich dabei keineswegs zu decken, sondern können
divergieren, wie das berühmte Beispiel des Walfisches illustriert, der
nach seinem sinnenfälligen Schema ohne Zweifel ein Fisch, nach seinen
wissenschaftlichen Merkmalen aber ein Säugetier ist33 • Die ungefähre über-

Bewußtsein (Verstand) überhaupt, möglich sind. Das sinnliche Leben bedarf aus
sich selbst solcher Typisierung seines Umfeldes; nur in einem solchen typisch ver-
trauten Stil ist Selbsterhaltung in der Sinnlichkeit möglich. Die Frage, inwieweit
diese Wahrnehmungstypen im Sinne der „angeborenen Auslöserschemata" der Ver-
haltungsforschung vom Individuum ererbt oder inwieweit sie von ihm erlernt sind,
die Frage also, inwieweit es sich um eine individual- oder um eine stammesgeschicht-
liche „Gewohnheit" handelt, muß als eine empirische Frage zur Beantwortung
ganz der empirischen Psychologie überlassen werden und braucht uns hier nicht zu
beschäftigen. Wichtig aber ist für die philosophische Idee rein sinnlicher Begriffe,
daß diese ihrem Inhalt nach auf Wahrnehmungsschemen beruhen, die zur Faktizität
der Sinnlichkeit gehören, und daß die Frage, ob ein bestimmter Begriff ein bloß
sinnlicher sein könne, immer eine faktische Frage ist.
33 Andere Beispiele: Seepferdchen (wissenschaftlich ein Fisch!), Tintenfisch, Seehund,
Stachelschwein etc.
Eigentümlichkeit der reinen Vernunfterkenntnis 295

einstimmung der zoologischen Klassifikationsbegriffe mit sinnlichen Typen


ist jenen nicht wesentlich. So entspricht z. B. einer anderen Klasse der
Wirbeltiere, den Säugetieren als solchen, wohl überhaupt kein besonderer
unmittelbar phänomenaler Typus. Dieses Wort ist ja auch eine wissen-
schaftliche Erfindung, und der entsprechende Begriff fehlt auch noch in
der pionierhaften zoologischen Klassifikation des Aristoteles 34•
Wissenschaftliche Klassifikationsbegriffe sind schon bloß dadurch
nicht rein sinnliche Begriffe, daß ihr Inhalt auf der Vernunfthandlung
der Definition durch Merkmale beruht, mögen diese Merkmale durch
bloße Beobachtung selbst unmittelbar wahrnehmbar oder nur unter
besonderen Umständen und durch ganz bestimmte wissenschaftliche
Operationen eruierbar sein. Aber natürlich ist die Definition lange nicht
die einzige Vernunfthandlung, die im Inhalt wissenschaftlicher Klassifi-
kationsbegriff e, wie etwa der zoologischen, instituiert ist. Die Merkmale,
welche z. B. die verschiedenen Klassen der Wirbeltiere definieren, sind ja
nicht irgendwelche, sondern sie sind von einem systematischen Gesichts-
punkt gewählt, d. h. so, daß sie den Stamm der Wirbeltiere vollständig
aufgliedern, also die Erfordernisse der Ausschließlichkeit und Vollstän-
digkeit erfüllen (exclusivness and exhaustivness), weiter aber auch so,
daß die definierenden Charaktere jeder Klasse empirisch-induktiv mit
vielen anderen, morphologischen, genetischen, ethologischen, Eigenschaf-
ten zu einer Einheit verbunden sind, so daß die Glieder der verschiede-
nen Klassen eine große Anzahl gemeinsamer Eigenschaften aufweisen.
Diese Einheit betrifft nicht nur schon festgestellte Eigenschaften, sondern
besitzt den Charakter einer präsumptiven, unendlich-offenen Idee, inso-
fern nämlich die Erwartung besteht, daß die empirische Forschung in
Zukunft noch weitere, bisher unbekannte Gemeinsamkeiten innerhalb
der verschiedenen Klassen zeigen werde, die weiterhin den „natürlichen"
oder „wesentlichen" Charakter der in der Klassifikation festgelegten
Einheiten bestätigen würden. M. a. W., diese wissenschaftlichen Art- und
Gattungsbegriffe sind empirisch-induktive, systematische Konstrukte.
Daß es sich hier nicht um Wesensbegriffe, nicht um notwendige ana-
lytische Einheiten handeln kann, ist deutlich. Denn die unabschließbare
Synthesis der verschiedenen Merkmale und Eigenschaften, die die Ein-

34 Anstelle des Begriffs des Säugetiers steht bei Aristoteles der Begriff des lebend-
gebärenden Vierfüßlers. Dieser ist aber mit jenem nicht äqnivalent (d. h. er bezeich-
net nicht dieselbe Klasse), nicht nur weil der Mensch davon ausgeschlossen ist,
sondern weil es lebendgebärende Vierfüßler gibt, die nicht Säugetiere sind (die
Salamander).
296 Wesenserkenntnis

heit solcher empirischen Arten und Gattungen ausmacht, beruht ja nicht


auf der Einsicht in die Notwendigkeit ihres Zusammenhanges, sondern
auf der bloßen Feststellung ihres faktischen Zusammenseins und auf
Induktion.
Natürlich handelt es sich· bei diesen empirischen Klassifikationsbe-
griffen nur .um eine besondere Art von empirischen Verstandesbegriffen.
Es gibt unter diesen ja auch Relationsbegriffe wie „Nachbar", ,,Lehrer",
komparative Begriffe wie „härter als", ,,schwerer als" (mögen diese
Begriffe nun wissenschaftlich durch Testverfahren definiert sein oder
nicht), fundamentale metrische Begriffe wie Länge, Dauer, Masse in
irgendwelchen Maßeinheiten, aufgrund dieser metrischen Begriffe Funk-
tions- oder Verhältnisbegriffe wie „Geschwindigkeit", ,,Arbeit" in der
Physik und andere mehr. Aber alle diese Begriffsarten scheinen für
Wesensbegriffe doch nicht in Frage zu kommen, sofern sie nicht nur
keine notwendigen Einheiten, sondern, abgesehen von gewissen Rela-
tionsbegriffen, überhaupt keine Einheiten konstitutiver Momente be-
zeichnen. Daß sie für Wesensbegriffe nicht in Frage kommen, läßt sich
wohl auch daran ersehen, daß sie nicht der Beantwortung der Frage
,,Was ist das?" dienen. ,
In der Phänomenalität scheint es keine Wesenseinheiten zu geben,
weder unmittelbar in der sinnlichen Typik, noch mittelbar in der
Empirie des Verstandes.
Schließlich sind auch rein mathematische Einheiten nicht als Wesen
zu fassen. Sie sind ja keine notwendigen Einheiten, sondern Konstrukte
gemäß Operationsregeln. Z. B. vier ist keine notwendige Einheit, son-
dern auflösbar gemäß Subtraktions-, Divisionsregel etc. Ebenso ist ein
Dreieck in seine Seiten oder Winkel zerlegbar. Mathematik ist, wie Kant
sagte, nicht Erkenntnis aus Begriffen, sondern aufgrund der Konstruk-
tion. Apriorische Erkenntnis und Wesenserkenntnis fallen also nicht
zusammen. Auch sind mathematische Einheiten wohl nicht rein noume-
nal, denn sie beruhen wohl wesentlich auf sinnlichen Zählzeichen bzw.
auf Figuren als Grundlagen der geometrischen Idealisierung.
Diese negative übersieht mag die Vermutung wecken, daß die We-
senseinheit nur eine rein noumenale Einheit sei und als solche nur in der
rein reflexiv gegebenen Einheit von Tätigkeiten bestehe. Bevor wir die-
sen 'positiven Gedanken genauer verfolgen, noch einige Bemerkungen
zum vorhin Ausgeführten:
Einmal möchte ·ich betonen, daß man die Unterscheidung zwischen
sinniichen Typenbegriffen, empirischen Verstandesbegriffen und rein
Eigentümlichkeit der reinen Vernunfterkenntnis 297

noumenalen Wesensbegriffen nicht einfach am Wortlaut orientieren darf,


da dasselbe Wort auf Einheiten der drei verschiedenen Arten beruhen
kann. So kann z. B. das \Y/ort „Mensch" einen bloßen sinnlichen Typus
wie „Fisch" und „Vogel" meinen. Dasselbe Wort kann aber auch empi-
risch-induktive Einheiten meinen, je nach dem naturwissenschaftlich-
anthropologischen oder kulturell-geschichtlichen Kontext. Schließlich
kann dieses Wort aber auch einen Wesensbegriff enthalten, dann näm-
lich, wenn der Mensch in der reinen Reflexion in seiner Vernunfttätigkeit
gedacht wird. Ebenso steht es mit dem Wort „Sprache" oder „Sprechen".
„Sprechen" kann einerseits für ein sehr vages sinnliches Verhaltensschema
gebraucht werden, demgemäß etwa auch Sperlinge miteinander schwat-
zen, evtl. jeweils noch gar mit einer ganz bestimmten „illocutionary
force", etwa einander beschimpfen oder um etwas betteln. Aber man
kann seinen Sprachbegriff auch empirisch begrenzen, indem man nicht
einfach jegliche lautliche Kommunikation, sondern etwa nur solche einer
gewissen syntaktischen Struktur als sprachlich definiert. Schließlich kann
man wohl auch einen Wesensbegriff oder verschiedene Wesensbegriffe
der Sprache gewinnen, indem man sie rein reflexiv von den Akten des
Sprechens her bestimmt. Ähnliches wäre für das Wort „Leben" (vivant,
~cpov) auszuführen, das wohl auch einerseits ein sinnliches Schema be-
zeichnet, demgemäß wir unmittelbar ansehen, ob etwas lebendig oder
tot ist, andererseits aber auch als ein empirischer Verstandesbegriff und
als reiner Reflexionsbegriff dienen kann.
Eine weitere Bemerkung: Der Ausschluß des Wesensbegriffs aus allen
nicht rein reflexiven Einheiten muß uns bedenklich machen, wenn wir
an die Standardbeispiele denken, die die neueren Vertreter einer Wesens-
erkenntnis anführen. Bei diesen Beispielen handelt es sich ja nicht ent-
fernt um Tätigkeiten. Als Wesenserkenntnis werden etwa die Sätze an-
geführt: ,,Ein Farbiges ist notwendig ausgedehnt, es hat notwendig eine
gewisse Helligkeit", oder, ,,Ein Ton hat notwendig eine gewisse Dauer,
eine gewisse Höhe, eine gewisse Intensität". Ist nicht ein Ton eine not-
wendige analytische Einheit von Dauer, Intensität und Höhe, also ganz
ein Wesen im angenommenen Sinn? Was mich zögern läßt, diese Frage
zu bejahen, ist folgendes: Einmal, Höhe und Intensität sind komparative
Unterschiede zwischen Tönen; nur im Vergleich mit anderen Tönen hat
ein Ton eine gewisse Höhe und Intensität. Gäbe es nur einen Ton, nur
einmal, oder mehrmals genau gleich repetiert, so .hätte dieser weder eine
Höhe noch eine Intensität. Höhe und Intensität kommen also dem Ton
nicht an sich selbst zu (~a{}' afrr6), m. a. W., es handelt sich nicht um
298 Wesenserkenntnis

konstitutive Bedingungen der Möglichkeit. Entsprechendes gilt für die


Helligkeit der Farbe. Bei der Ausdehnung der Farbe und der Dauer des
Tones haben.wir es zwar mit Bedingungen der Möglichkeit zu tun, aber
diese Bedingungen, Raum und Zeit, sind die Bedingungen alles Phäno-
menalen, ebensosehr der Farbe und des Tones als des Pferdes und des
Lampenschirms. Und um den Begriff des Phänomenalen wesensmäßig
zu bestimmen, bedarf es wohl nicht bloß der Hinsicht auf die Phäno-
mene, sondern der reinen Reflexion auf die Phänomenalität hervor-
bringende sinnliche Tätigkeit. - Dies alles nur anders ausgedrückt:
Wenn wir sagen: "Ein Ton hat notwendig eine Dauer, eine Höhe und
eine Intensität", so geben wir damit keine Wesensbestimmung, wir
haben damit nicht gesagt, was die Tonalität ausmacht, wir haben keine
distinkte Idee im Leibnizischen Sinne: als Erkenntnis der eine Idee aus-
machenden requisitae. Mit dem allgemeinen Gedanken von Leibniz, daß
wir von den Phänomenen keine in sich selbst distinkten, sondern nur
konfuse und allenfalls klare Ideen haben, würden wir übereinstimmen85 •
Schließlich noch eine dritte Bemerkung, die uns dann dazu überleiten
soll, das Problem des Bereichs der Eide positiv zu betrachten. Erfüllt
nicht die Einheit eines Satzes im objektiv-logischen Sinne, also nicht als
Akt verstanden, die Forderungen, die an die Anwendung des Eidos-
begriffes gestellt wurden? Ist nicht ein Satz eine notwendige Einheit von
Subjekt und Prädikat? Ist das Prädikat nicht nur als Prädikat eines
Subjekts und das Subjekt nur als Subjekt eines Prädikates möglich? Ha-
ben wir nicht auch hier eine Mannigfaltigkeit in einer Einheit und nicht
bloß eine Einheit in einer Mannigfaltigkeit? Nun, objektiv im Ausdruck,
als Prozeß oder Zeitgestalt, als phänomenales Gebilde ist der Satz in
Teile auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, er ist eine
bloße Verknüpfung. Auch abgesehen von der "Zufälligkeit" des Aus-
drucks, also als Identisches in verschiedenen Sprachen verstanden, ist der
Satz eine aufteilbare Zeitgestalt. Die Frage ist nur, ob man ein Subjekt

85 „Je dis donc qu'une idee est claire lorsqu'elle suffit pour reconnahre la chose et
pour la distinguer ••. " (Nouvea1ex Essais, II, 29, § 2) ..Vgl. Meditationes de
Cognitione, Veritate et ldeis, Gerhardt, Philos. Schriften V, S. 236. - .,Ainsi quoi-
que selon nous les idees distinctes distinguent l'objet d'un autre, neanmoins comme
les claires et confuses en elles m@mes le font aussi, nous nommons distinctes non
pas toutes celles qui sont bien distinguantes ou qui distinguent les objets, mais
a
celles qui sont bien distinguees, c'est dire qui sont distinctes en elles-m@mes et
distinguent dans l'objet les marques qui le font connahre, ce qui en donne l'analyse
ou la definition; autrement nous les appelons confuses (Nouveaux Essais II,
29,§ 4).
Eigentümlichkeit der reinen Vernunfterkenntnis 299

oder ein Prädikat als solche getrennt voneinander verstehen kann, oh


man nicht notwendig, wenn man das Subjekt des Satzes verstehen will,
eo ipso, ,,im selben Augenblick", den Bezug auf ein mögliches Prädikat
oder mehrere Prädikate mitverstehen muß und umgekehrt. Ist nicht
die objektive Elementaraussage überhaupt nur eine notwendige Einheit
auf Grund der notwendigen Einheit des Aktes der Prädikation, in dem
er verstanden wird, und als solche nur von diesem her voll einsehbar?
Dasselbe gilt auch von dem durch den Satz gemeinten Sachverhalt. Auch
dieser ist als solcher eine notwendige Einheit, keine bloße Verknüpfung
von Teilen, aber diese notwendige Einheit besteht nur in und aus der
notwendigen Einheit des prädizierenden Aktes. Natürlich, der Sachver-
halt ist kein Akt, ebensowenig wie der Satz, er kann als identischer in
verschiedenen Akten und auch mittels verschiedener Sätze gemeint sein.
Aber dieses Identische ist doch nur das Identische wirklicher und mög-
licher Sprachakte und hat sein Sein und seine Einheit nur in und aus
ihnen, es ist eine Leistung der tätigen Vernunft und weist auf diese
zurück.
Unsere Bestimmung des Wesens erhält durch diese Gegenbeispiele des
Satzes und Sachverhaltes einen neuen Akzent: Ein Wesen im prägnanten
Sinne ist nicht einfach eine notwendige Einheit von Momenten, sondern
eine notwendige Einheit von Momenten, die als solche in sich selbst
besteht bzw. als solche in sich selbst voll einsehbar ist. Satz und
Sachverhalt sind zwar notwendige analytische Einheiten von Momenten,
sie sind es aber nur auf Grund des prädizierenden Aktes: Sie haben ihr
Wesen nur in diesem, nur im Wesen dieses Aktes.
Aber warum sollte, so fragen wir schließlich, nur der reflexiv erfaßte
Akt eine in sich selbst beruhende und voll einsehbare notwendige ana-
lytische Einheit, ein Eidos sein? Weil wohl nur in der Einheit eines
reflexiv erfaßten Aktes die Vielheit der konstituierenden Momente ohne
jedes räumliche und zeitliche Außereinander, d. h., nicht als räumliche und
zeitliche Teile zur Gegebenheit gebracht werden können. Wenn ich ver-
stehend urteile, so setze ich im Verstehen nicht zuerst das Subjekt, dann
das Prädikat und dann noch beide zusammen, sondern indem ich das
Subjekt setze, setze ich es als Subjekt eines Prädikates und umgekehrt.
Oder, wenn ich mich erinnere, so vollziehe ich nicht vorerst den fundie-
renden Wahrnehmungsakt, dann den Erinnerungsakt, dann den inten-
tional implizierten Akt, dann die objektive Identität und beziehe schließ-
lich noch alles auf die Einheit des Ich, sondern die ganze Vielheit besteht
sozusagen „in einem Schlage", ,,in einem Augenblick". Die Einheit, die
300 Wesenserkenntnis

das Wesen eines Aktes ausmacht, ist eine absolut unzeitliche und un-
räumliche Einheit, was riicht ausschließt, daß der Akt in dieser Einheit,
nicht die Einheit selbst, eine präphänomenale Zeitlichkeit und evtl.
Räumlichkeit besitzt. Ein Akt "dauert" in präphänomenalem Sinne,
aber in jedem Augenblick ist er in seiner vollen Vielheit in der Einheit,
in der er als besondere Bewußtseinsform besteht. Ein Akt läßt sich
geradezu als Vielheit in der Einfachheit oder Einheit kennzeichnen.
Schon die einfachste Tätigkeit besteht aktuell nur aus ihrer Zukunft her,
ist also nie bloß Resultat von Antezedentien wie ein Geschehen, z.B.
ein Reflex, und hält in sich selbst, in jedem Moment, notwendig seine
Herkunft fest, ist also nicht in sich geschichtslos wie die physikalische
Natur. Sie birgt in der einen, einfachen, unteilbaren Aktualität schon die
Vielheit der Zeit. Es ist nicht zufällig, daß die Leibnizische Formel .
multitude dans l'unite ou dans le simple, die wir für das Wesen ge-
brauchten, bei ihm selbst unmittelbar durch den Begriff der perception,
im weitesten Sinn der inneren Tätigkeit überhaupt der Monade, er-
füllt wird36•
Zu beachten ist aber, daß die Momente, die die Einheit eines Wesens
ausmachen, nicht bloß »Akte" sind. So haben wir im Wesen der Erinne-
rung nicht bloß die Momente der fundierenden Wahrnehmung, des
aktuellen Erinnerungsaktes und des darin intentional implizierten (wie-
derholten) Aktes unterschieden, sondern auch die Momente gegenständ-
licher Identität und ich.lieh.er Einheit, die keine Aktmomente, sind. Den-
noch bilden alle diese Momente zusammen das Wesen eines Aktes im
vollen, konkreten Sinn: das Wesen der Erinnerung. Dem entspricht, daß.
innerhalb dieses Wesensgefüges der Erinnerungs-,,a'.kt" (verstanden als
Moment der Erinnerung im vollen Sinn) sozusagen den Angelpunkt, von
dem aus das ganze Gefüge als notwendige Einheit zu verstehen ist, dar-
stellt. Aber im Wesen eines Aktes im konkreten Sinn liegen nicht nur

38 >Mais il faut aussi qu'outre le principe du dlangement, il y ait un detail de ce ·qui


change, qui .fasse pour ainsi dire la specification et la variete des s.ubstances
simples. Ce detail doit envelopper une multitude dans l'unite ou dans le simple •••
L'etat passager qui enveloppe et represente une multitude dans l'unite ou dans la
substance simple, n'est autre dlose que ce qu'o11. appelle Perception '. ••. l'il'ous
experimentons nous m!mes une multitude dans 1a substance simple, lorsque
nous ·trouvons que la moindre pensee dont nous nous appercevons enveloppe une
variete dans l'objet ••• Aussi. n'y a~t~il que cela qu'on puisse trciuyer dans la
substance simple, c'est a dire, les perceptions et leurs dlangements. C'est en cela
aussi que peuvent consister toutes les Actions in~ernes des substance simples"
(Monadologie, §§ 12-17).
Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 301

Aktmomente. Der Akt bildet sozusagen nur den Gesichtspunkt, unter


dem Wesenseinheiten zu fassen sind.
Wir haben im vorangegangenen Paragraphen die Wesenseinheiten
als noumenale Einheiten in Anspruch genommen, indem wir zu zeigen
versuchten, daß Akte als Gegenstände reiner Reflexion und somit als
noumenale Gegenstände in sich selbst nur durch Wesenseinheiten zu
unterscheiden und zu bestimmen seien. Im vorliegenden Paragraphen
hat sich uns die Akteinheit als einzige Wesenseinheit dargestellt, urid
zwar gerade wegen ihres nichtphänomenalen (nicht raum-zeitlich aus-
gebreiteten) Charakters. Nicht nur sind also noumenale Einheiten immer
Wesen, sondern es gilt auch umgekehrt: Wesen sind immer noumenale
Einheiten.

§ 51 Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis

An unsere bisherigen Überlegungen über Wesenserkenntnis möchte


ich noch einige philosophiegeschichtliche Ausführungen anschließen. Ei-
nerseits ist aus diesen sachliche Einsicht für unser Problem zu gewinnen,
andererseits sollen sie folgendem Bedenken begegnen: Wenn wir die
Worte „Wesen" oder „Eidos" im angegebenen Sinn bestimmen, vergehen
wir uns dann nicht gegen den durch die Geschichte der Philosophie
geprägten Sinn dieser Worte? Worte sind historisch durch einen gewissen
Sinn sozusagen belegt, und diese Bedeutung haben wir, wenn wir keine
Verwirrung stiften wollen, zu respektieren. Wir sollen sie evtl. durch
die Erforschung der gemeinten Sache vertiefen, sachgemäß begrenzen
oder erweitern, aber wir dürfen mit den Worten der philosophischen
Tradition nicht willkürlich umgehen, mögen wir dabei noch so genaue
Definitionen liefern. ·

a) Wesenserkenntnis (Dialektik) bei Platon

Jedenfalls in einem, und wohl entscheidenden, Punkte stimmen wir


mit dem Urheber des philosophischen Eidos-Begriffes überein: Das Eidos
ist nach Platon ein reines voovµi,vov oder vorrr6v, ein nur durch die
Vernunft, und zwar rein aus ihr selbst (&vaµvricn~) Erfaßtes, bzw. ein
Nichtsinnliches (ävata{h1wv, aoga,:ov, aELM~), und umgekehrt: das rein
in der Vernunft Erfaßte ist nach ihm Wesen, Eidos. Es ist .aber
302 Wesenserkenntnis

andererseits doch offensichtlich, daß Platon den Bereich der Eide als
Noumena nicht wie wir auf reine Reflexionsbegriffe einschränkt, son-
dern ihn viel weiter spannt, da bei ihm der Gedanke vorherrscht, daß
allen Gestalten der sinnlichen Welt Eide als rein intellektuelle Urbilder
zugrundeliegen. Aber dieser Gedanke bleibt bei Platon selbst problema-
tisch: ob es auch ein Eidos des Menschen, des Feuers und Wassers oder
etwa gar von Haar, Kot und Schmutz gebe, steht in seinem Parmenides
als unberuhigte Frage, und das Verhältnis von Eide und Zahlen, die er
ausdrücklich voneinander unterscheidet, bleibt unbestimmt. Unter den
Begriffen, die Platon unerschütterlich als Eide behauptet, haben ohne
Zweifel die ethischen Begriffe einen Vorrang, d. h. letztlich diejenigen
Begriffe, die Gegenstand des Sokratischen Philosophierens waren.
Was uns selbst "Wesen" bedeuten soll, haben wir in den Überlegun-
gen der vorangehenden Paragraphen in Relation zur Wesenserkenntnis
zu bestimmen versucht. Auch was eföo\; im prägnanten und philoso-
phisch relevanten Sinn bei Platon bedeutet, ist wohl dadurch auszu-
machen, daß wir uns fragen, wie nach Platon die Wesenserkenntnis aus-
sieht. Denn es besteht kein Zweifel, daß bei Platon der Eidos-Begriff aus
einer Besinnung über die Art und die Bedingungen des philosophischen
Fragens und Antwortens entspringt. Das Eidos ist ursprünglich nicht
irgendein Was, sondern das Was des philosophischen Fragens und Ant-
wortens. Nur in diesem ursprünglichen „Milieu" kann es genauer be-
griffen werden.
Die Erkenntnis der Eide nennt Platon Dialektik. Und die Dialektik
ist nach ihm ausschließlich Sache der Philosophen37 , sie ist die Fähigkeit
der philosophischen Unterredung38 • Der Dialektiker (ö Bux1.exnx6\;) ist
im fundamentalen Sinne derjenige, der „sich selbst und anderen" Rechen-
schaft darüber ablegen kann (A6yov Bouvm xal, cmoM~acr{}m), was
irgendein Gegenstand einer philosophischen Frage ist, d. h., der im Ge- 1
.1
spräch auf die Sokratische Frage „Was ist die Tugend usw.?" (-d,
fon ... ;) die Antwort, die Erklärung zu geben vermag 39 • Der Dialek-
tiker ist in diesem Sinne der ideale philosophische Unterredner und
damit auch der ideale philosophische Denker, da das Denken nichts
anderes als eine stille Unterredung der Seele mit sich selbst ist 40 • Das
Was, für das der Dialektiker Rechenschaft (A6yov) gibt, nennt Platon

37 Vgl. Staat, Ende des 6. und Anfang des 7. Buches; Sophistes 253 c-e.
38 ri,ou öm1.i\yecrfrm öuvaµt; (Philebos, 57 e).
89 Staat 510 c, 531 e-532 b, 533 b, 534 b; vgl. Phaidon 76 b, Symposion 202 a.
48 Sophistes 263 e, 264 a.
Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 303

siao;-, töfo oder im strengen Sinn o'Öofo41, und umgekehrt kennzeichnet


er geradezu dieses Wesen als dasjenige, ,,von dessen Sein wir fragend
und antwortend Rechenschaft geben" 42 •
Das Eidos ist also ursprünglich etwas, von dem philosophisch sich
selbst und anderen ein Logos zu geben ist. Um das Eidos zu erkennen,
genügt es also nicht, das Eidos einfach zu setzen oder anzunehmen. Auch
die Mathematiker, ja sogar die Streitredner und Sophisten, die das
Gegenteil der Dialektiker sind, setzen Eide voraus, aber sie befragen
sie nicht und geben von ihnen keinen Logos 43 • Wie sieht der Logos aus,
durch den das Eidos offenbar wird (Ö'l'JAO'ii-rat)? Durch die Verfolgung
dieser Frage soll versucht werden, genauer zu bestimmen, wie das Eidos
von Platon gedacht wird.
Eine erste Antwort auf diese Frage ist aus den Dialogen Menon,
Phaidon und Staat zu ziehen. Im Staat stellt Platon innerhalb der Be-
schäftigung mit dem vori-r6v (im Gegensatz zum öol;a<1-r6v) bzw. mit der
o'Öcrta (im Gegensatz zur ysvEcrt;-) die Dialektiker und „diejenigen, die
sich mit der Geometrie, der Rechenkunst und solchen Dingen abgeben" 44,
einander gegenüber. Das Vorgehen (µe:Ooöo;-) der Mathematiker wird
dadurch charakterisiert, daß es bei Voraussetzungen (el; uJtotlfowlV) sei-
nen Ausgang nimmt, von denen es, als wären sie schon gänzlich klar,
keine Rechenschaft (Myov) geben zu müssen glaubt, und von da aus mit
Hilfe von sinnlichen Bildern nicht zum Anfang (en' «Qx;~v), sondern zum
Ende (ent -rEJ.su~v) fortschreitet, d. h. zu demjenigen, auf das die
Untersuchung ausging (,, was zu beweisen war") 45• Demgegenüber erfaßt
in der Dialektik die Vernunft selbst (a'Ö-ro;- ö Myo;-) durch das Ver-
mögen der Unterredung Mi wu füaMyscrtl-m MvaµEt) die Denkgegen-
stände, indem sie die Voraussetzungen nicht als Anfänge, sondern als
Voraussetzungen nimmt und von ihnen aus bis zum Voraussetzungslosen
(ävun6-0E-rov) an den Anfang des Ganzen (ent wu navto;- «Qx;tJv) ge-
langt und dann, sich an die mit jenem Anfang Zusammenhängenden hal-
tend, zum Ende hinabsteigt, ohne ein sinnlich Wahrnehmbares zu ge-
brauchen, sondern immer rein in Eide (ö.J.J.' Ei'.Öwtv cx'Ö-roi:;- fü' cx'Ö-rrov Et~
a'Ö-ra) 46 • Das Vorgehen von den Voraussetzungen aus läßt diese

41 Vgl. die Einführung dieser Begriffe im Menon 72 b ff.


42 Phaidon, 78 c/d.
43 Vgl. Phaidon 101 d-102 a, Staat 510 c, 531 e.
44 510 c.
4s Vgl. 510 b-511 a.
48 511 b, 510 b.
304 Wesenserkenntnis

„unbewegt", indem es von ihnen keinen Logos zu geben vermag 47 , und


hat so davon keinen Verstand (vo-üv oüx 'lozsL) 48, während die dialek-
tische Methode die Voraussetzungen aufhebend zum voraussetzungslosen
Grund (aQzf]v) geht, damit sie da fest werde 49 •
Eine Verdeutlichung erhält dieser dialektische Weg des 'Aoyov fü66vm
vom Phaidon her. Nachdem Sokrates hier im Ausgang von der Schilde-
rung seiner „zweiten Fahrt" 50 die Notwendigkeit der Voraussetzung
({m:6füot~) von Eide dargetan hat, erklärt er, daß man es aber nicht bei
dieser bloßen Voraussetzung belassen könne: ,,Wenn sich jemand an diese
Voraussetzung hielte, würdest du ihm den Abschied geben und nicht ant-
worten, bis du das von ihr Abgeleitete geprüft hättest, ob Einstimmig-
keit besteht oder nicht. "51 In dieser bloßen Prüfung der Konsequenzen
besteht aber noch nicht die Dialektik des 'Aoyov öo-üvm, denn Sokrates
fährt fort: ,, Wenn du aber von jener Voraussetzung selbst Rechenschaft
geben ('A6yov M\6vm) müßtest, würdest du sie ebenso geben, indem du
eine andere Voraussetzung machtest, welche von den oberen Voraus-
setzungen (i:fuv avw-0-Ev) als die beste erschiene, bis du auf etwas Aus-
reichendes (txav6v) kämest, aber nicht zugleich wie die Streitkünstler die
Rede über den Anfang (ÜQzf]v) und die aus ihm Hervorgegangenen
durcheinandermischtest ... " 52 • Das 'Aoyov Öo'Üvm bedeutet also, die
Frage "Was ist ... ?" (i:t fon;) durch den Rückgang auf den ausreichen-
den und damit nicht mehr bloß vorausgesetzten Anfang oder Grund
(ävu:n:6-0-si:o~ ÜQXrJ) einer Sache beantworten, es bedeutet, um mit Leibniz
zu sprechen, rationem sufficientem reddere (natürlich ohne die Leib-
nizische Theorie zu implizieren). Dies ist das Entscheidende für die
Dialektik (und damit auch für den Begriff des Eidos), daß sie rein im
Denleen (ohne sinnliche Hilfsmittel) einen aus sich selbst verständlichen,
also nicht mehr aus anderem zu erklärenden Grund erreicht. Dadurch ist
sie auch die eigentliche Erkenntnis (s:n:wi:fiµri), die im 'Aoyov öo-üvm
durch das Denken des Grundes (ahta~ 'Aoywµcp) besteht53 • Es ist aus
dem weiteren Zusammenhang der zitierten Stellen aus dem Staat offen-
sichtlich, daß Platon in diesem Werk den obersten, voraussetzungslosen
Anfang als die Idee des Guten betrachtet. Von der Idee des Guten sagt
47 533 c.
48 511 d.
4G 533 c-d.
50 Vgl. unten S. 388 ff.
51 101 d.
52 Ebenda.
53 Menon 98 a, Gorgias 501 a; vgl. Phaidon 76 b und Symposion 202 a.
Philosophiegesd1ichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 305

Platon hier zwar, daß sie „jenseits des Wesens (oder des Seins) liege,
es an Rang und Macht übertreffend", aber er charakterisiert sie nicht
näher. Es muß dabei aber im Auge behalten werden, daß Platon von den
frühesten bis zu den spätesten Dialogen das Gute als Prinzip der Ord-
nung (-ra~Lc;), der Gesetzlichkeit (v6µoc;), des richtigen Verhältnisses
( cn.J~t~tETQla) betrachtet54 •
Wohlgemerkt, jenes aus bloßen Hypothesen folgernde Verfahren,
das im Staat als das Verfahren der Mathematiker hingestellt und dem
dialektischen Weg gegenübergesetzt wird, kann auch in der Philosophie
angewendet werden. Allerdings muß dabei von dem für die Mathematik
charakteristischen Verfahren mit „sinnlichen Hilfsmitteln" (Zeichen, Fi-
guren) abgesehen werden. Dafür bietet die Diskussion über die Lehr-
barkeit der Tugend im Menon ein gutes Beispiel: Der den Dialog ein-
leitenden Frage des Menon, ob die Tugend lehrbar sei, stellt Sokrates die
Frage gegenüber, was die Tugend sei, denn „wovon ich nicht weiß, was
es ist (-rl fonv), wie soll ich davon eine Eigenschaft (foroi:6v n) wis-
sen"55. Nachdem aber Menon verschiedene Versuche, das Was der Tu-
gend zu beantworten, mißlungen sind, zieht er sich wieder auf seine
ursprüngliche Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend zurück. Sokrates
antwortet, wenn es nach ihm ginge, ,,so würden wir nicht eher über-
legen, ob die Tugend lehrbar sei oder nicht, bis wir zuvor untersucht
hätten, was sie ist" 56 • Aber er gibt Menon dennoch nach, bedingt sich
jedoch aus, ,, von einer Voraussetzung aus" (V; v:rco{}ecrnroc;) die Sache zu
betrachten, ob sie lehrbar sei oder nicht 57 • Zur Erklärung dieses hypothe-
tischen Vorgehens weist Sokrates auf die Geometer. Die Hypothese, die
nun in bezug auf die Tugend gemacht wird, ist eine doppelte, nämlich
daß sie eine Erkenntnis (imcr,~µ11) sei bzw. daß sie keine Erkenntnis
sei, und es wird festgestellt, was unter diesen Voraussetzungen für ihre
Lehrbarkeit folgt 58 • Nach der Erörterung dieser Konsequenzen erklärt
Sokrates am Ende des Dialoges nochmals: ,,Das Sichere darüber werden
wir erst dann wissen, wenn wir, vor der Untersuchung der Art und
Weise, wie sie den Menschen zuteil wird, zuvor an und für sich unter-
suchen, was die Tugend ist. " 59 Obschon also dieses hypothetische Vor-

54 Vgl. Gorgias 500-506, Philebos 65 a.


55 71 b.
50 86 d.
57 86 e.
58 86 e-87 C.
50 100 b.
306\ Wesenserkenntnis

gehen sozusagen »im Notfall" auch in der Philosophie verwendet wer-


den kann, ist es aber keineswegs das genuin philosophische, das dialek-
tische Vorgehen60•
Der Schwerpunkt unserer bisherigen Bestimmung der Platonischen
Dialektik (Wesenserkenntnis) lag beim rein intellektuellen Geben des

oo Es ist bedenkenswert, daß in der Philosophiegeschichte gerade dieses Folgern aus


einer zugleich negativ und positiv angesetzten bloßen Hypothese den Titel der
Dialektik auf sich gezogen hat. Schon Aristoteles braucht für dieses Vorgehen den
Ausdruck der dialektischen Prämisse (:n:e6i;aaLS füa1..E:>mxiJ) (Anal. Post. I, 72 a
8-11), und als Dialektik schlechthin gilt ihm das Vorgehen, ,,auch ohne Kenntnis
des Was die Gegensätze zu untersuchen" (xroets i;oü .t fou .&:vav.ta emaxo:n:Ei:v)
(Metaphysik M, 1078 b 26). Allerdings ist für ihn die Verbindung der Dialektik
mit dem döos und dem Myov öoüvaL noch geläufig (vgl. De anima, 403 b 1-2:
i;mi.rov ös. ö <(jlUO"LXO\;> µ.sv •'IJ'V ÜA.Tj'V a:n:oölllroow, ö <ÖLIXAEX.Ll!.OS► öe .o siöos xat
i;ov Myov, die ganze Passage erinnert an Phaidon, 98 c-99 b). Als das Para-
digma der antiken Dialektik galt und gilt immer noch der zweite Teil von
Platons Parmenides, in dem der alte Parmenides nicht nur bloß von irgendeiner
positiven und negativen Hypothese (hypothetischen Negation der positiven These)
aus die Konsequenzen verfolgt, sondern aus der (negativen oder positiven)
Hypothese deren Negation zieht (cf. Parmenides 135 d ff.). Hegel nennt ihn das
,,wohl größte Kunstwerk der alten Dialektik" (Phänomenologie, ed. Lasson, S. 48).
Es ist aber zu beachten, daß Platon selbst dieses Vorgehen nie als Dialektik, son-
dern bloß als vorläufige Übung (yuµ.vaata) bezeichnet (135 c, 135 d, 136 a), die
zur Dialektik, d. h. zum „Bestimmen (öetteat>m) des Schönen, Guten, Gerechten
und jedes einzelnen der Eide" vorbereiten soll (135 c). Die Funktion, die Platon
dieser Zenonischen „Gymnastik" in Antinomien für die Philosophie zuschreibt, läßt
sich durch Texte des Staates verdeutlichen: Nach dem Höhlengleichnis zu Beginn
des siebenten Buches wird die Frage gestellt, welcher Unterricht die Seele vom
Werdenden zum Seienden ziehen könne (521 d), m. a. W., welche Erfahrung die
Vernunft (v6T)O'LS) zur Tätigkeit herausfordere (523 b). Es wird folgende Regel für
die Unterscheidung eines solchen Leitmittels (äyroy6v, ö1..x6v) angegeben: ~Was
zugleich mit seinem Gegenteil in die Sinne fällt" (ci µ.ev Ets •'IJ'V atot>11aLv äµ.a i;oi:s
evav.toLS tau.oi:s eµ.:n:t:n:i;sL) oder, ,,was zugleich in die entgegengesetzte Wahr-
nehmung ausschlägt" (ö-ca sxßatvsL sts evav-ctav atat>Tjaw äµ.a), ist herausfor-
dernd (:n:aeax1..11ux6v), was nicht so ist, ist nicht erregend (eyEQ'tLx6v) für die Ver-
nunft (v6T)O'LS) (523 b-c, 524 d). Es ist nach Platon der Widerspruch, der die
Seele aus ihrer Verhaftung in der Sinnlichkeit heraustreibt. Genau in diesem Sinne
beschreibt „Sokrates" im Phaidon seine Verwicklung in die Widersprüche der
gewöhnlichen Ursachenforschung und die dadurch motivierte „Flucht in die MyoL"
bzw. Ansetzung der Eide (96 a ff.). Und im Sophistes wird die neue Erziehung
(JtULÖELa) als eine Reinigung (xat>aeais) von Scheinwissen durch das Aufzeigen
von Widersprüchen bestimmt (230). In der yuµvaata des Parmenides handelt es
sich allerdings um eine ganz besondere Art von 'Widersprüchen: Es handelt sich
nicht um Widersprüche in der Erfassung des Sinnlichen, sondern um solche, die in
der Bemühung um dasjenige 'entstehen, ,,das man am ehesten durch das Denken
(Myq,) erfaßt und für Eide hält" (135 d). Dieses sich Herumschlagen mit den
Antinomien in der Erfassung des Noumenalen hat offenbar den Sinn, die Vernunft
noch über die Ebene der bloßen Eide zu deren Prinzip (äexiJ) hinaufzutreiben,
Aber diese verwirrende Übung ist noch nicht die Dialektik selbst.
Philosophiegeschicht!icher Exkurs über Wesenserkenntnis 307

ausreichenden und voraussetzungslosen Grundes. Dieses stellt auch ohne


Zweifel ihren Angelpunkt dar. Jedoch enthalten die angeführten Stellen
aus dem Staat und Phaidon noch mehr; sie geben gewisse methodische
Hinweise über das dialektische Vorgehen, sie sprechen vom Aufsteigen
zum Voraussetzungslosen und vom Absteigen von diesem Voraus-
setzungslosen zu seinen Konsequenzen. Wie dieses Vorgehen aber ge-
nauer zu denken ist, darüber finden wir in diesen beiden Dialogen keinen
Aufschluß. Etwas deutlichere Hinweise gewinnen wir, wenn wir Aus-
sagen über die Dialektik in anderen Dialogen Platons vornehmen.
Platon stellt das dialektische Vorgehen auch als eine Art Auflösen
und Vereinigen dar. Im Phaidros bezeichnet Sokrates denjenigen als
einen Dialektiker, der fähig ist, »das in Eins und nach Vielem Gewor-
dene (ats; ev xai, E:rd :rtoAM :rrncpvxota) zu sehen" 61 • Diese Fähigkeit der
Aufteilungen und Vereinigungen (lhmQfoets; xai. crvvaywyat), wodurch
Reden und Denken möglich wird 62, wird in folgender Weise erläutert:
einerseits „das vielfach Zerstreute überzuführen in eine Idee, damit man
jedes bestimmend offenbar mache, worüber man jedesmal Belehrung
erteilen wolle" 63, andererseits „wieder nach Eide zerteilen gemäß den
Gliedern, wie es geworden ist, ohne es zu unterfangen, einen Teil zu
zerbrechen ... " 64 • Diese Aufteilung des Einen in viele Eide geschieht bei
solchem, das nicht einfach (a:n:Aoiis;), sondern vielgestaltig (:n:oAvstöls;)ll5
ist, und hat bis zum Unteilbaren (ät~t'l'jtov) zu gehen 66 • In ähnlicher
Weise wird auch im Philebos das dialektische Reden gekennzeichnet 67 •
Wie im Phaidros geht es zunächst einmal um die Unterscheidung der
verschiedenen Unterarten innerhalb einer Art (abgezielt ist auf die
Unterarten von Lust und von Erkenntnis), wobei die Betonung haupt-
sächlich auf der jeweiligen Anzahl (,,zwei, drei oder eine andere Zahl")
von Unterarten (und Unterarten von Unterarten) liegt.
Bei dieser allgemeinen Beschreibung der diairetischen und synop-
tischen Behandlung der Ideen wird man sofort an die Begriffseintei-
lungen erinnert, wie sie mit größter Virtuosität am Anfang des
Sophistes und auch im Politikos geübt werden. Zwar wird hier immer

01 266 b.
02 Ebenda.
88 265 d.
M 265 e; vgl. 273 c: xa:-c' dllri n llmt()Ei:crltm ·dt. öv-m xat ~tl<;t llltiz. lluvai;o~ •.• xal}'
EY exo.cn;ov 11:E(>LA.a~tß&.vsw
65 Vgl. 270 d, 271 a.
00 277 b.
•1 Philebos 16 d-17 a.
308 Wesenserkenntnis

bloß dichotomisch vorgegangen, indem ein Begriff jeweils nur in zwei


konträre Unterbegriffe aufgespalten wird, aber schon im Politikos wird
mit der Möglichkeit von mehr als zwei Unterbegriffen gerechnet68, so
daß die späteren Darstellungen des Phaidros und Philebos als eine Modi-
fikation dieser Methode im Sophistes und Politikos angesehen werden
können. Obschon die Resultate dieser logischen „Allerweltsmethode" 69
im Sophistes und Politikos sehr dürftig sind - durch sie allein kommt
nicht wahrhaft zur Geltung, was der Sophist oder der Staatsmann ist - ,
könnte man doch dieses Vorgehen als eigentlich dialektisch betrachten
und die Dürftigkeit seiner Resultate in diesen beiden Dialogen dem
Umstand zuschreiben, daß bloß hypothetisch bei einem noch uneinsichti-
gen Oberbegriff (nämlich beim Begriff des „Wissens", der btw.iJµ11)
angesetzt wird, also ohne vorerst diesen Oberbegriff auf das Prinzip (ägx11)
zurückzuführen, wie dies im Staat und Phaidon vom Dialektiker gefor-
dert ist. Auch im Phaidros wird eine Bestimmung der Gattung selbst
verlangt, bevor man sie in Arten aufteilt70 •
Daß eine Hinaufführung der Begriffspyramide bis zu ihrer prin-
zipiellen, voraussetzungslosen Spitze durch Platon in seiner Lehrtätigkeit
unternommen worden sei und auch wie diese Hinaufführung in ihren
wesentlichen Schritten ausgesehen habe, hat in der neueren Platonfor-
schung H. J. Krämer aufgrund der Berichte über die innerakademische
Lehre Platons, hauptsächlich der Platonreferate von Aristoteles, zu zei-
gen versucht 71 • Diese Hinaufführung der Begriffe würde über die ober-
sten Gattungen (.-a µeyww. yev11) laufen, wie sie im Parmenides,
Theaitet, Sophistes und Philebos als die Gattungen der Ruhe und Bewe-
gung, Identität und Verschiedenheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit,
Gleichheit und Ungleichheit hervortreten, und diese, wenigstens in ihren
positiven Gliedern, ins oberste Prinzip, in das Eine, als welches nach der
akademischen Überlieferung Platon die Idee des Guten bestimmte, über-
leiten. Und zwar bestände diese Überführung der obersten Gattungen
in die ÜQX'YJ darin, daß jene als Arten des Eins-Seins (die Identität als
Einheit der Substanz, die Ähnlichkeit als Einheit der Qualität, die
Gleichheit als Einheit der Quantität) bestimmt würden7 2 •

os Politikos 287 c.
09 Sophistes 227 a, 235 c.
70 Phaidros 265 d, 277 b.
71 Vor allem in „über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei
Platon", Philolog11s. Zeitschrift für klassisches Altertum, 110 (1966), S. 35-70.
72 Krämer weist dabei auf Metaphysik, 1021 a 9 ff.
Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 309

Soviel für eine solche Darstellung von Platons Dialektik als univer-
sale Gattungspyramide sprechen mag, sie ist doch nicht befriedigend:
Einmal kommt in einer solchen Pyramide das Prinzip (die äQ;,:~) nicht
so zur Geltung, wie es uns in den Dialogen Platons entgegentritt. Nicht
nur wird in dieser Darstellung nicht einleuchtend, daß sich die Spitze
der Pyramide, das Eine als Allgemeinstes oder alleroberste Gattung
jenseits (brbrnwa) des ihr Unterstehenden befinden soll73 , sondern in
ihr tritt vor allem das Eine nicht als das Gute auf. Es geht nicht an, bei
Platon das Gute nur als eine einzelne Facette des Einen in ganz beson-
deren axiologischen Zusammenhängen zu sehen 74• Das oberste Prinzip
ist nach Platon schlechthin das Gute; wenn wir aufgrund der Überliefe-
rung von Platons ungeschriebener Lehre „Über das Gute" das Gute als
das Eine betrachten dürfen, so nur unter der Voraussetzung, daß Platon
überhaupt das Eine unter dem Titel des Guten angeht. Es erscheint mir
nicht als gerechtfertigt, bei Platon das Gute nur als eine besondere Funk-
tion oder als einen Aspekt des Einen von diesem selbst zu unterscheiden,
denn was wir heute als „logisch" (oder „ontologisch") und „axiologisch"
zu unterscheiden gewohnt sind, steht bei Platon in voller Einheit. Aber
der Interpretation der Dialektik Platons als Gattungspyramide steht
noch ein weiteres Bedenken entgegen. Zwar entspricht das Bild der Gat-
tungspyramide bestens Platons Rede vom dialektischen Aufstieg zum
Unbedingten und Ausreichenden, aber soweit mir bekannt ist, denkt
Platon das Verhältnis der allgemeineren und spezifischeren Begriffe gar
nicht im vertikalen Bild der Pyramide mit nach oben immer inhalts-
leereren (schmaleren) Stufen, sondern als Verhältnis von Ganzem und
Teilen75 • Auch müßte im Bild der Gattungspyramide der Aufstieg das
Vereinigen und der Abstieg das Zerlegen ausmachen, während Platon
im Phaidon umgekehrt das Aufsteigen in den Hypothesen mit „aus-
reichend zerlegen" (bmv&i; fümQci:v) ausdrückt 76• Also kann Platons

73 In seinem Aufsatz 'EIIEKEINA TH~ OY~IA~, Archiv fiir Geschichte der Philo-
sophie 51 (1969), S. 1-30, macht Krämer primär historische Gründe dafür geltend:
die Auseinandersetzung Platons mit der eleatischen Gegenüberstellung von llv-öv
und :rroÄÄa-oux önu.. Aber das E1tEXELVC1. müßte auch sachlich einsichtig werden, was
beim Einen als dem Allgemeinsten kaum der Fall ist.
74 So sieht es Krämer vor allem in „Die grundsätzlichen Fragen der indirekten
Platonüberl1eferung", Idee und Zahl, hrsg. von H. G. Gadamer und W. Schade-
waldt, Heidelberg, Winter 1968, S. 141 ff.
75 Dafür manche Beispiele, hauptsächlich im Menon, Sophistes, Politikos, Phaidros,
Philebos.
70 Phaidon 107 b.
310 Wesenserkenntnis

dialektisches Aufsteigen in den Hypothesen schwerlich einfach als Auf-


steigen zum Allgemeineren interpretiert werden.
Zu einem wohl tieferen Verständnis von Platons Dialektik führt der
zweite Teil des Sophistes. Als das dialektische Wissen wird hier „das
Unterscheiden der Gattung nach, inwiefern jedes in Gemeinschaft stehen
(xotvwvii:v) kann und inwiefern nicht", bezeichnet77 • Und dieses Wissen
um die Gemeinschaft und die Trennung in den Gattungen oder Arten
wird durch folgende drei bzw. vier Schritte erläutert: ,,Wer also dies zu
tun fähig ist, der durchschaut ausreichend (txav&i;), (1) daß sich eine
Idee durch vieles (füa JtoH&v) überall erstreckt, wobei jedes Einzelne
außerhalb (von der Idee) liegt, (2) daß viele voneinander verschiedene
Ideen durch eine Idee von außen umschlossen werden, (3) daß eine Idee
durch viele, aber als ein Ganzes betrachtete Ideen (cha ÖAwv JtOAA&v) in
Einern gefaßt ist und (4) daß viele Ideen gänzlich außereinander ge-
schieden sind. " 78 Die ersten drei Schritte dürfen wir wohl als Stufen
zum dialektischen Wissen hin anschauen, den vierten Schritt als das
negative Korrelat des zweiten und dritten. Als erstes wird also von der
Dialektik die Fassung einer Idee in der Vielheit der Einzelfälle gefor-
dert. Als zweites scheint jenes Verhältnis von allgemeineren und speziel-
leren Begriffen angedeutet zu sein, das wir im Phaidros und Philebos all-
gemein expliziert fanden. Im dritten Schritt schließlich visiert Platon die
Erkenntnis einer Idee in der Einheit einer Ganzheit von Ideen. Es han-
delt sich nicht mehr bloß um die Einheit bei vielen, wie im ersten Schritt,
sondern um die Einheit „durch ganze viele", durch alle, also nicht mehr
um die unbegrenzte Vielheit (um das füteLQOV des Philebos 79 ), sondern
um eine Ganzheit, und das Eine ist nicht mehr bloß im Sinne des zweiten
Schrittes ein von außen umschließendes Allgemeines, sondern innere Ein-
heit eines Ganzen. Ein schönes Beispiel, wie dieser dritte Schritt der
Dialektik zu verstehen ist und in welchem Zusammenhang er mit der
die Dialektik bewegenden Frage, was etwas sei ('rt fon) steht, wird im
weiteren Gang des Dialogs angeführt. Nach der Skizze der Idee der
Dialektik .und der Darstellung der Beziehungen zwischen fünf funda-
mentalen Gattungen läßt Platon im Sophistes die Rede auf den Myoi;
kommen und zuerst die Frage stellen, was er als Gattung (yevoi;) oder
als Eidos sei80 • Als Methode zur Beantwortung dieser Sokratischen Frage

11 Sophistes 253 d/e.


78 253 d.
19 Philebos 16 d-17a,
80 Sophistes 260 a, 260 e.
Philosophiegeschichtlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 311

wird nun folgendes angegeben: ,,Wohlan denn, wie wir uns über die
Eide und Buchstaben (ygaµµa,;a) 81 erklären <nämlich über ihre mög-
liche xotvcuv[a), auf diese Weise laß uns auch wegen der Worte nach-
sehen; denn auf diese Weise wird sich das jetzt Gesuchte zeigen. -
Worauf sollen wir bei den Worten achten? - Ob alle sich miteinander
zusammenfügen oder keines, oder die einen wohl, die anderen nicht. " 82
Die Antwort wird lauten, daß sich weder bloß Namen (ov6µm:a), noch
bloß Zeitwörter (§~µa,;a) zu einem Myor; verbinden lassen, sondern daß
sich Worte nur zusammenfügen, wenn man den Namen die Zeitwörter
beimischt, ,,und die erste Verknüpfung (ri n:g&:n:11 cruµn:Ao¼~) wird unmit-
telbar (dr3v;) Myor; ... " 83 • Die Antwort auf die Frage „Was ist der
Myo;?" wird also durch die Verbindung der notwendigen Momente des
Myo; gegeben, und zwar unter Berufung auf die zuvor entwickelte Idee
der Dialektik. Diese notwendigen Momente des Myor; sind keine Unter-
arten des 1.6yor; (keine Unterarten von Sätzen), bzw. der Myor; (Satz)
ist nicht das gattungsmäßig Allgemeine von Namen und Zeitwörtern,
sondern deren Einheit in ihrer Ganzheit.
Diese Vertiefung der Dialektik über bloße Begriffseinteilungen und
-zusammenfassungen in einem Allgemeinen hinaus finden wir auch im
Philebos. Nachdem Sokrates in diesem Dialog seine allgemeine Charak-
teristik der dialektischen Begriffseinteilung an zwei Beispielen illustriert
hat, die noch eher in die Richtung bloßer Begriffseinteilungen weisen,
wird er von Philebos nach dem Sinn dieser Ausführungen für das zur
Diskussion stehende Problem (der besten Lebensweise) gefragt. Sokrates
erwidert, daß er darauf eingehen werde, sobald er noch eine Kleinigkeit
(cr~uxg6v) in jener Sache der Dialektik durchgenommen habe84 • Wenn
nun aber Sokrates eine Kleinigkeit ankündigt, darf man mit größter
Sicherheit die Hauptsache erwarten85 • Und was er nun am Beispiel der
Laute oder Buchstaben andeutet, ist sicher mehr als eine bloße „Gat-

81 Mit den 'YQU.ftµcx,:cx wird auf den Vergleich der Dialektik mit der „Grammatik"
im Sinne einer Lehre möglicher Kombination von Buchstaben verwiesen (a. a. 0.
253).
82 261 d.
83 262 c.
84 Philebos 18 a.
85 Philebos hat die Ironie verstanden und erneuert 18 d seine Frage mit derselben
Wendung: ihm fehle noch die Kleinigkeit, den Zusammenhang dieser Ausführungen
über Dialektik mit dem zur Diskussion gestellten Problem zu sehen. In 20 c führt
Sokrates die Kriterien des Guten als eine „Kleinigkeit" ein. Auch im Protagoras
(328 e) kündigt Sokrates die Hauptfrage des ganzen Dialoges nach dem inneren
Verhältnis der Tugenden als eine „Kleinigkeit" an.
312 Wesenserkenntnis

tungspyramide". Es wird verlangt, daß man aus allen (bt :n:av.cov, was
ans öux ÖÄcov :n:oÄÄwv des Sophistes erinnert) ins Eine abschließe. Was
damit gemeint ist, wird in den Schlußsätzen dieses Passus verdeutlicht:
„Und da er (nämlich der Gott Theut oder sonst ein Gott oder göttlicher
Mensch, der die Buchstaben und Lautbezeichnungen erfunden hat) sah,
daß niemand von uns einen (Buchstaben) für sich selbst ohne alle (ilv
aut'o xa-3'afrro üvw :n:ancov) verstehen kann, dachte er dieses Band
(öe11µ6~) als eines seiend und alle zu Einem machend und sprach es daher
als Sprachkunst (yQaµµanx11) an, die zu diesen eine ist. "86 Auch hier ist
das Eine nicht bloß „von außen" umfassendes Allgemeines (etwa der
Oberbegriff „Laut" oder „Buchstabe"), sondern der innere Zusammen-
hang, das „eine Band" von verschiedenen Momenten, die nur im Zusam-
menhang von allen für den Zusammenhang konstitutiven Momenten
verstanden werden können.
Vieles spricht dafür, daß Platons Dialektik letztlich auf solche „Ein-
heitsbänder" abzielt. Das legt schon die Sokratische Hauptfrage nahe,
an der sich Platons Theorie der Dialektik entzündete, die Frage nämlich:
Was ist die Tugend? Das Hauptproblem war hier nicht, eine Definition
mit genus proximum und differentia specifica zu finden, sondern, wie
besonders der Protagoras und das IV. Buch des Staates zeigen, die innere
Einheit oder den inneren Zusammenhang der Tugenden zu erweisen.
Weiter wird nicht bloß in der Dialektik des Sophistes und des Philebos
der äußere Gegensatz von Einern und Vielem zur Einheit von Einern und
Alle überstiegen 87• Auch ist von diesem Gedanken aus die Eindringlich-
keit zu verstehen, mit der Platon im letzten Teil des Theaitet (in der
Erörterung des Ansatzes, daß Erkenntnis (em11t'llµ'I'}) wahre Meinung
mit Erklärung (aÄ'l'}-&r)~ M~a µet'a Äoyou) sei) die Probleme des Verhält-
nisses von Äoyo~ und den Elementen (11.mxei:a) einer Sache bzw. die
Idee des Äoyo~ als Weg durch die Elemente zum Ganzen (ri ÖLa 11.otxEtou
ööo~ erd t'o ÖÄov) 88 zur Diskussion bringt. Zwar sind diese Erörterun-
gen aporetisch, da die erörterten Ideen und auch der ganz an sinnlichen
Verhältnissen, an Buchstaben (was 11t'OLXELOV ja auch bedeutet) und
Tönen, orientierte Begriff des t1t'otxei:ov nicht ausreichen89, aber dieser

80 Philebos 18 c/d.
87 Staat 334 c: füs;tevm füa n:av,;wv, 7. Brief, 344 b: oÄfl ouata
es Theaitet 201 d-208 b.
89 Vgl. Politikos 285 e ff., wo erklärt wird, daß es von den größten und ehrwürdig-
sten Dingen kein handgreifliches Bild (etllwÄov) gibt, durch dessen sinnliche Vor•
gabe die Seele des Forschenden erfüllt werden könnte.
Philosophicgcschicht!ichcr Exkurs über Wesenserkenntnis 313

Dialog über das Wesen der emcr,:~µ'l'] erreicht doch in diesen Aporien
den Punkt, der diesem Wesen am nächsten zu kommen scheint. Platon
pflegt ja auch nach dem Theaitet in positivem Sinne seine Idee dei,,
Dialektik durch die Idee der „Grammatik" und „Musik" (Harmonie-
lehre, Komposition) zu erläutern, die er als Kombinationslehren von
Buchstaben bzw. von Tönen präsentiert90 • Daß Platon auch die bloß
diairetische und synoptische Begriffsbehandlung in Zusammenhang mit
der Dialektik bringt, läßt sich vielleicht derivativ aus dem tieferen Ver-
ständnis der Dialektik erklären: Ihm konnte wohl darum die Unter-
scheidung einer Gattung in Arten als dialektisch erscheinen, weil er dieses
Verhältnis in Analogie mit dialektischen Einheitszusammenhängen zu
denken versuchte, indem er die Arten als Teile oder Glieder der Gattung
und diese als ihr Ganzes auffaßte 91 •
In diesem tieferen Verständnis der Dialektik lassen sich auch die
Fragen einigermaßen beantworten, die bei der Auffassung der Dialektik
als bloße Gattungspyramide ungelöst blieben. Ist das Eine die Einheit
eines Zusammenhanges, so ist verständlich, warum es für Platon das
Gute bzw. warum das Gute das Eine ist. Denn das Eine tritt dann als
das den Zusammenhang Durchwaltende und insofern die verschiedenen
Momente gesetzlich Ordnende und ins Verhältnis Bringende auf. Auch
wird ersichtlich, daß die Einheit selbst nicht ein Moment neben den in
ihr geeinigten Momenten sein kann, sondern auf einer anderen Ebene
(e:n:s-x,nva.) liegen muß. Schließlich kann auch das Aufsteigen in Hypo-
thesen in diesen Einheitsverhältnissen ausgedrückt werden, indem das
Aufsteigen als Rückführung vereinzelter, abstrakter Begriffsverbindun-
gen in ihre ursprüngliche Einheit und vollständigen Zusammenhang, in
dem sie ausreichend einsichtig werden, begriffen wird.
Wenn wir auf solche Weise Platons Dialektik als Methode der Beant-
wortung der Sokratischen Was-Frage aus der ursprünglichen Einheit
ideeller Momente interpretieren und andererseits Platons eigentlichen
Begriff des Eidos von dieser Dialektik aus verstehen dürfen, so ist die
Verwandtschaft des von uns im § 48 entwickelten Wesensbegriffs mit
demjenigen Platons (bzw. die Verwandtschaft unserer Idee der Wesens-
erkenntnis mit der Dialektik Platons) offensichtlich. Wenn Platon im
Philebos die Wesen Einheiten (µovME;, sva5E;) nennt, dann wohl in
einem Sinn, dem wir nicht sehr entfernt sind, selbst dann, wenn er auch

99 Sophistes 253 a-b, Philebos 17 a-18 d.


01 Vgl. Menon 77 a, 79 a-c, Phaidros 265 c.
314 Wesenserkenntnis

noch ununterschieden alle konstitutiven, unselbständigen Momente eines


Wesens als Eide bezeichnet. Eine historische Brücke zwischen dem Pla-
tonischen und dem oben entwickelten Begriff des Wesens bzw. der We-
senserkenntnis bildet wohl der Platoniker Leibniz, der das rationem
sufficientem reddere als Analyse der konstitutiven Momente (requisitae)
einer Idee verstand.

b) Wesenserkenntnis und Reflexion in der Geschichte der Philosophie

Durch unsere Darstellung von Platons Idee der Dialektik (Wesens-


erkenntnis) haben wir unserem Gebrauch der Worte „Wesen" und
„Eidos" eine gewisse historische Legitimation zu geben versucht. Platon
hat allerdings nicht bestimmt, zu welchen Dingen überhaupt im angege-
benen Sinne „Rechenschaft zu geben" (Myov öoiivm) ist, so daß sich
ihm sein Eidos-Begriff zu einem paradigmatischen Hintergrund aller
Dinge auslaufen konnte. Dennoch hat dieser Begriff bei Platon durch
seine vorzügliche Beziehung zu den ethischen und Erkenntnisbegriffen
seine ursprüngliche Affinität zur Sokratischen Reflexion über das ver-
nünftige Handeln bewahrt. Daß sich Platon dieser Affinität bewußt war,
darf vielleicht auch daraus entnommen werden, daß er im Sophistes
seine Oberlegungen über die ;ww0>vta der Gattungen, durch die er die
Dialektik kennzeichnet, mit einer Reflexion über das Denken (voii~)
anhebt: ,,Bewegung" ('KLV'l']<JL~) und „Beständigkeit" (cri:acru;), von
denen die Ideendialektik ausgeht, werden beide als Bedingungen der
Möglichkeit des Denkens in die Betrachtung eingeführt92 • Aber trotz
dieses ursprünglichen Zusammenhanges etabliert Platon doch keine aus-
drückliche und feste Beziehung zwischen Eidos bzw. reinem N oumenon
und dem, was wir reinen Reflexionsbegriff nannten.
Dieser urspri.ingliche Zusammenhang wird jedoch in der Philosophie"-
geschichte nach Platon rein von der Sache her wieder zuri.ickgewonnen.
Einen Schritt dazu vollzieht schon Aristoteles. Zwar ist nach ihm die
Natur voller Eide, aber dennoch kann es nach ihm keine reine Eidetik
der Natur geben: Denn die Eide, mit denen es die Naturerkenntnis zu tun
hat, sind Eide in einer so und so beschaffenen Materie (ev 'ÜÄU i:ot~IH) 93 ,
es sind in der Materie liegende Begriffe (MyoL evuÄot) 94 • Diese Eide

92 Sophistes 249 b-c.


93 De an. I, 1 403 b 3.
9•1 A. a. 0. 403 a 25
Philosophiegcschichtlid1cr Exkurs über Wesenscrkenntnis 315

oder Entelechie der Natur lassen sich nicht aus einer empirisch qualifi-
zierten Materie herausabstrahieren wie die Gegenstände der reinen
Mathematik, die etwa von Linien und Flächen rein für sich sprechen
kann, sondern „alle Naturgegenstände werden wie das Nasenhohle (to
<Hµ6v) ausgesagt", d. h. das Eidos ist immer mit einem empirisch so und
so beschaffenen Körper95 als dessen Prinzip und Ursache (&QX~ -xai
aMa) 96 verbunden, in sich selbst aber nicht erkennbar. Das Eidos, das
in der Aristotelischen Natur liegt, ist etwas ganz und gar Hybrides und
hat ohne die Platonische Voraussetzung einer die Natur gestaltenden
Vernunft (des Demiurgen) keinen Sinn. Das einzige reine Eidos ist nach
Aristoteles die Vernunft (vov~). Sie allein impliziert als solche kein
materielles Außereinander und ist daher selbständiges Wesen (xcoQwt6v) 97 •
Descartes unterschied die reinen Verstandesideen als eingeborene
Ideen (ideae innatae) von den dem Verstand äußerlich durch die Sinne
zugekommenen Ideen (ideae adventitiae) einerseits und den vom Ver-
stand mit sinnlichem Material irgendwie willentlich gemachten Ideen
(ideae factae oder factitiae) andererseits 98, eine Unterscheidung, die er
allerdings wegen seiner rein mechanistischen Auffassung der Sinne, bzw.
wegen seines psychophysischen Dualismus, nicht prinzipiell aufrechtzuer-
halten vermochte 99 • Die eingeborenen oder reinen Verstandesideen iden-

95 Metaphysik E, 11025 b 28-1026 a 6.


Oß Metaphysik, Z, 17.
97 De an. II, 2, 413 b 24; HI, 4, 429 b 4-5; III, 5, 430 a 22.
98 Meditationes, A. T. VII, S. 38 ff.
99 Aus den Sinnen kann, nach Descartes, dem Geist überhaupt kein Ideengehalt, son-
dern nichts anderes als gewisse körperliche Bewegungen zukommen, die nur Anlaß
sind, dem Geiste eingeborene Ideen zu aktualisieren. Im Grunde genommen sind
nach dem späten Descartes alle Ideen eingeboren, auch die sinnlichen, ein Position,
die später auch Leibniz vertreten wird. Vgl. Descartes' Notae zum Programm von
Regius aus dem Jahre 1647: ... quisquis recte advertit, quousque sensus nostri se
extendant, et quidnam sit praecise, quod ab illis ad nostram cogitandi facu!tatem
potest pervenire, debeat fateri, nullarum rerum ideas, quales eas cogitatione
formamus, nobis ab illis exhiberi. Adeo ut nihil sit in nostris ideis, quod menti,
sive cogitandi facu!tati, non fuerit innatum, solis iis circumstantiis exceptis, quae
ad experientiam spectant .•. Quippe nihil ab objectis externis ad mentem nostram
per organa sensuum accedit, praeter motus quosdam corporeos ... ; sed ne quidem
ipsi motus, nec figurae ex iis ortae, a nobis concipiuntur, quales in organis
sensuum fiunt. . . Unde sequitur, ipsas motuum et figurarum ideas nobis esse
innatas. Ac tanto magis innatae esse debent ideae doloris, colorum, sonorum et
similium, ut mens nostra possit, occasione quorundam motuum corporeorum, sibi
eas exhibere; nullam enim similitudinem cum motibus corporeis habent" (A. T.
VII/2, S. 358/9; vgl. auch III, S. 418).
316 Wesenserkenntnis

tifiziert Descartes mit der bloßen Fähigkeit des Denkens100 oder mit der
Verstandestätigkeit selbst101 . Diese Ideenart umfaßt „die Idee Gottes,
des Geistes, des Körpers, des Dreiecks und überhaupt alle, die irgend-
welche wahre, unveränderliche Wesenheiten vorstellen" 102 • Es sind die
Ideen „aller durch sich selbst bekannten Wahrheiten (veritates per se
no tae}" 103 •
Aber obschon nun Descartes die Idee der res extensa als dem Ver-
stande eingeboren betrachtet, so scheint, schon nach den Meditationen,
die distinkte Erfassung der res extensa nicht Sache des reinen Verstandes,
sondern der Einbildungskraft (imagination) zu sein104 • Während der
Verstand sich in der rein intellektuellen Erkenntnis in gewisser Weise
zu sich selbst wendet, wendet er sich in der imagination, die ihm nicht
wesentlich ist105 , dem Körper zu 106 • Viel deutlicher ist diese Position noch
im Brief an die Prinzessin Elisabeth vom 28. Juni 1643 ausgedrückt.
Descartes nimmt hier Bezug auf seine Unterscheidung der idees oder
notions primitives in die Idee der Seele, des Körpers und der Verbindung
von Seele und Körper und will nun „den Unterschied zwischen diesen
drei Arten von Begriffen und zwischen den seelischen Tätigkeiten, durch

100 „Non enim unquam scripsi vel judicavi, mentem indigere ideis innatis quae sint
aliquid diversum ab eius facultate cogitandi; sed cum adverterem, quasdam in me
esse cogitationes, quae non ab objectis externis, nec a voluntatis meae determina-
tione procedebant, sed a sola cogitandi facultate, quae in me est, ut ideas sive
notiones, quae sunt istarum cogitationum formae, ab aliis adventitiis aut factis
distinguerem, illas innatas vocavi. Eodem sensu, quo dicimus, generositatem esse
quibusdam familiis innatam, aliis vero quosdam morbos, ut podagram, vel calculum:
non quod ideo istarum familiarum infantes mobis istis in utero matris laborent, sed
quod nascantur cum quadam dispositione sive facultate ad illos contrahendos" (A.
T. VIII/2, S. 357/8).
101 ,, ••• nous ne saurions rien vouloir sans savoir que nous Je voulons ni le savoir que
par une idec; mais je nc mets point que cette idec soit differente de l'action m~me"
(an Mersenne, 28. Januar 1641; A. T. III, S. 295).
102 „Idea Dei, Mentis, Corporis, Trianguli, et generaliter omnes quae aliquas Essentias
veras, immutabiles et aeternas repraesentant" (an Mersenne, 16. Juni 1641; A. T.
III, S. 383).
103 In Foucher de Careil, Oeuvres inedites de Descartes I, S. 62.
104 „Idea distincta naturae corporeae quam in imaginatione mea invenio" (A. T.
VII, S. 73).
105 ,, ••• facultates imaginandi et sentiendi, sine quibus totum me possum clare et
distincte intelligere, sed non vice versa illas sine me, hoc est sine substantia
intelligente cui insint" (a. a. 0. S. 78; ebenso S. 73).
106 ,, ••• mens, dum intelligit, se ad seipsam quodammodo convertat, respiciatque aliquem
ex ideis quae illi ipsi insunt; dum autem imaginatur, se convertat ad corpus, et
aliquid in eo ideae vel a se intellectae vcl sensu perceptac conformc intncatur"
(A. T. VII, S. 73).
Philosophiegeschicht!icher Exkurs über Wesenserkenntnis 317

die wir sie besitzen, erklären und die Mittel nennen, durch die wir jede
von ihnen uns vertraut und leicht machen können" 107 • In diesem Sinne
führt er aus: ,,Ich bemerke einen großen Unterschied zwischen diesen
drei Arten von Begriffen darin, daß die Seele nur durch den reinen Ver-
stand begriffen werden kann; der Körper, d. h. die Ausdehnung, die
Figuren und die Bewegungen, können auch durch den Verstand allein,
aber weit besser durch den Verstand mit Hilfe der Einbildungskraft
erkannt werden; die Dinge schließlich, die zur Verbindung von Leib und
Seele gehören, lassen sich nur dunkel durch den bloßen Verstand erken-
nen und nicht einmal durch den Verstand unter Hilfe der Einbildungs-
kraft; aber sie werden sehr klar durch die Sinne erkannt. "108 Zwar sind
nach Descartes auch die physischen und psychophysischen Begriffe dem
Verstande eingeboren, aber das ist nicht entscheidend, denn letztlich
sind nach ihm, wie später auch nach Leibniz, alle Ideen dem Verstande
eingeboren; entscheidend ist vielmehr, daß nach Descartes nur die meta-
physischen Ideen, und das heißt für ihn, neben der Idee Gottes nur die
Begriffe der Seele, genauer „des Denkens, in welchem die Vorstellungen
des Verstandes und die Neigungen des Willens inbegriffen sind" 109, durch
den reinen Verstand klar erkannt werden und damit wirklich Noumena
sind 110 • Schon bei Descartes besteht also die Tendenz, die reine Ver-
standeserkenntnis „unveränderlicher Wesenheiten" in die Reflexion der
Vernunft auf das Bewußtsein zu situieren.
Durch den Umweg über Locke scheint sich bei Leibniz diese Tendenz
noch zu verstärken. Locke hatte unterschieden zwischen solchen einfachen
Ideen, die dem Geist von außen auf dem Wege der Wahrnehmung
(sensation) zukommen, und solchen, die er aufgrund der Reflexion

107 „Je devais expliquer la difference qui est entre ces trois sortes de notions, et entre
!es operations de l'ß.me par lesquelles nous !es avons, et dire les moyens de nous
rendre chacune d'elles familiere et facile ... (A. T. III, S. 691).
108 ,, ••• je remarque une grande difference entre ccs trois sortes de notions, en ce
a
que l'amc nc sc con9oit que par l'entendemcnt pur; le corps, c'est dirc l'extension,
les figures et !es mouvements, se peuvent aussi connahre par l'entendement seul,
mais bcaucoup mieux par l'entendement aide de l'imagination; et enfin, !es
a
choses qui apparticnnent l'union de l'amc et du corps, ne se connaissent qu'ob-
scurement par l'entcndement seul, ni meme par l'entendement aide de l'imagina-
tion; mais elles se connaissent tres clairement par les sens" (A. T. III, S. 691/2).
100 ,, ••• pour l'ß.me seule, nous n'avons que celle <la notion primitive, de la pensee,
en laquelle sont comprises les perceptions de l'entendement et les inclinations de la
volonte" (an Elisabeth, 21. Mai 1643; A. T. III, S. 665).
110 „Et les pensees Metaphysiques, qui exercent l'entendement pur, servent a nous
rendre la notion de l'ame familiere ... " (an Elisabeth, 28. Juni 1643; A. T. III,
s. 692).
318 Wesenserkenntnis

(reflection) auf seine eigenen Tätigkeiten oder inneren Handlungen (its


own actions or internal operations) erhält (neben solchen, die ihm auf
beiden Wegen zuwachsen). Die beiden prinzipiellsten einfachen Re-
flexionsideen sind, ganz entsprechend Descartes' Auffassung der Geistes-
tätigkeit, perception or thinking und volition 111 • Modi dieser einfachen
Ideen sind Erinnerung, Unterscheidung, Überlegung, Urteil, Glaube,
Zweifel, aber auch Passionen usw., alles als Tätigkeiten verstanden112•
Leibniz identifiziert nun in seiner Auseinandersetzung mit Locke die
Reflexionsidee mit der reinen Verstandesidee113• Damit scheint bei ihm
vorzuliegen, was wir selbst anvisieren. Aber dies wäre doch weitgehend
eine Illusion, denn der diplomatische und leicht fremde Sprachen redende
Leibniz unterschiebt dem von Locke übernommenen Wort „Reflexion"
einen ziemlich verschiedenen Sinn: Während bei Locke Reflexion als
Reflexion auf die Tätigkeit des Geistes bestimmt wird (obschon aller-
dings bei ihm das Wort gelegentlich auch die Reflexion auf die Ideen
meint114), faßt Leibniz die Reflexion als „ein Achten auf alles, was in
uns ist", auf alles, ,,was wir schon in uns selbst tragen" 115, und wir
tragen in uns, d. h. in unserem Verstande, als reine oder eingeborene
Verstandesideen „die Ideen des Seins, der Einheit, der Substanz, der
Dauer, der Veränderung, der Tätigkeit, der Perzeption, der Lust und
tausend andere Gegenstände unserer intellektuellen Ideen" 116, darunter
auch die Idee Gottes, der Tugend, der Ursache, des Vermögens
(puissance), aber auch der Figur, des Kreises, des Vierecks, der Bewegung
und der Ruhe117• Leibniz rechnet also zu den reinen Verstandes- oder
Reflexionsideen, die allein distinkte, d. h. nach ihren konstitutiven Re-
quisiten zu durchschauende Ideen sind, auch solche, die nach Locke die

111 Essay on Human Understantling II, eh. VI; vgl. eh. I, § 2.


112 A. a. 0., II, eh. I, § 4 und eh. VI.
118 Nou'IJeaux Essais I, eh. I, § 24.
m So z.B. in Essay • •• II, eh. VII, § 7.
111 ,, ••• la r~flexion n'est autre chose qu'une attention a ce qui est en nous, et les
sens ne nous donnent point ce que nous portons deja en nous" (Nou'IJeaux
Essais, PrHace, Gerhardt, Philos. Schriften VII, S. 45).
111 Ebenda.
117 A. a. 0., 1, eh. 3 §§ 8, 16, 18 und II, eh. 5. Auch der folgende Text zeigt sehr
schön, wie Leibniz zwar die reinen Verstandesbegriffe in die Selbsterkenntnis des
Geistes situiert, ihnen dann aber zugleich als „dem Geiste eingeboren" andersartige,
nicht-reflexive Begriffe beizählt: ,,Mais ce qu'on appelle la lumi~re naturelle
<= reine Verstandeserkenntnis, suppose une connaissance distincte, et bien souvent
la consid~ration de la nature des choses n'est autre chose que la connaissance de 1a
nature de notre esprit et de ses id~es inn~es qu'on a point besoin de chercher au
dehors" (a. a. 0., I, eh. 1, § 21).
Philosophiegcschidnlicher Exkurs über Wesenserkenntnis 319

äußere sensation zur Grundlage haben oder wenigstens zur Grundlage


haben können. Bei Leibniz ist die Identifikation von reiner Reflexions-
idee in unserem Sinne und reiner Verstandesidee nicht wirklich vollzo-
gen, aber die terminologische Gleichsetzung weist doch auf einen sach-
lichen Zusammenhang.
Vielleicht der erste, der diese Identifikation wirklich, wenn auch nicht
terminologisch vollzieht, ist ein Vertreter des englischen Empirismus:
Berkeley stellt radikal der auf ideas beruhenden sinnlichen Erkenntnis
die Erkenntnis durch Reflexion der geistigen Tätigkeit gegenüber. Von
der Tätigkeit des Geistes haben wir überhaupt keine ideas, die nach
Berkeley als passive, ,,träge" Daten alle auf der Sinnlichkeit beruhen,
sondern nur, wie er in der 2. Auflage (von 1734) der Principles hinzu-
fügt: notions118 • Die notion ist für Berkeley der nicht-sinnliche Begriff;
sie basiert auch nicht, wie die Reflexionsideen Lockes119, auf einem inne-
ren Sinn. Notions haben wir nach Berkeley nur vom tätigen Geiste sowie
von den Relationen zwischen den ideas120 als den reinen objektiven
Korrelaten der geistigen Tätigkeit.
Diese Auffassung liegt auch in der Position Kants. Die Notionen -
ein Terminus, der bei Kant die reinen Verstandes- und Vernunftbegriffe,
abgesehen von aller Sinnlichkeit, bezeichnet121 - ,,beruhen auf unserer
inneren Tätigkeit" 122 • Sie sind „aus den dem Geiste einwohnenden Ge-
setzen abstrahiert, und zwar dadurch, daß man gelegentlich der Erfah-
rung auf seine Tätigkeiten achtet" 123 • Die reinen Verstandes- und Ver-
nunftbegriffe bezeichnen nach Kant aber nicht eigentlich die Verstandes-
bzw. Vernunfttätigkeit selbst, sondern die Gesetze oder Regeln, denen
gemäß diese Tätigkeiten geschehen. Man könnte sagen: Die reinen Ver-
standesbegriffe bezeichnen nicht die Synthesis als subjektive Tätigkeit,
118 Cf. Principles §§ 26-30, 89, 135-140.
119 Vgl. oben § 45.
120 Principles § 89 (2. Auflage).
121 "" •• der reine Begriff, sofern er lediglich im V crstande seinen Ursprung hat (nicht
im reinen Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die
Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee oder der Vernunftbcgriff"
(Kritik der reinen Vernunft, A 320 / B 377). ,,Alle empirisch oder a posteriori
gegebenen Begriffe heißen Erfahrungsbegriffe; a priori gegebene Notionen" (Logik,
§ 4).
m Brief an Herz, 21. Februar 1772. Vgl. audi. die Reflexion aus den siebziger Jahren
(Akad;-Ausg., Bd. 18, Nr. 4906): "Alle Kategorien betreffen Gegenstände der
(inneren) Ansdtauung (der Tätigkeit, Wiederholung) des Verstandes, der Vernunft.
Das erste ist bloß das Bewußtsein."
123 "E legibus menti insitis (attendendo ad eius actiones occasione experientiae)
abstracti" (De mundi sensibilis ... , § S).
320 Wesenserkenntnis

sondern sie haben eine objektive Bedeutung und meinen das Synthema
in seiner Gesetzlichkeit. Sogar die reinen Vernunftbegriffe, die auf der
Tätigkeit des Schließens beruhen, haben nach Kant notwendig einen
objektiven Sinn, der allerdings „transzendentaler Schein" ist. Und da
das Mannigfaltige der Synthesis sinnlichen Ursprungs ist, handelt es
sich bei den reinen Verstandesbegriffen nicht um noumenale Begriffe,
d. h. Begriffe noumenaler Erkenntnis, sondern um Begriffe, die ihre
Objektivität nur in der sinnlichen Erfahrung haben. Aber, so muß man
Kant fragen, wie steht es denn mit den Begriffen der Tätigkeit selbst,
den Begriffen der Synthesis der Apprehension, der Reproduktion, der
Rekognition, den Begriffen der Anschauung, der Einbildung, der Re-
flexion usw.? Hier befindet sich Kant in einem Widerspruch: Einerseits
muß er diese subjektiven Begriffe nad1 seiner verfehlten Theorie der im
„inneren Sinn" geschehenden „inneren Wahrnehmung" als sinnliche
Begriffe betrachten124, andererseits beruht aber seine Kritik der Ver-
nunft als „transzendentale Reflexion" auf diesen Begriffen. Und die
Kritik der Vernunft ist ja nach Kant reine Vernunfterkenntnis, ja sogar
die einzig mögliche reine Vernunfterkenntnis, die wahre Transzendental-
philosophie im Sinne (der bei Kant immer mitspielt, wenn auch in einer
Umwandlung gegenüber der dogmatischen Metaphysik125) noumenaler
Erkenntnis. So befinden sich doch bei Kant de facto Noumenon und
reiner Reflexionsbegriff in unserem Sinne im Verhältnis der Identität.
Der Satz: ,,im Bewußtsein meiner selbst beim bloßen Denken bin ich
das Wesen selbst" 126 hat in Wirklichkeit eine viel weitere Bedeutung,
'als ihm Kant explizit zugestehen kann; er vermag, von der Sache her
verstanden, nicht bloß den „obersten Grundsatz im ganzen menschlichen
Erkenntnis", der eine echte Wesenserkenntnis in unserem Sinn ausmacht,
zu tragen, sondern für die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit
aller Bewußtseinsweisen aufzukommen.

§ 52 Erste (reine) und Zweite (angewandte oder empirische) Philosophie

Wir haben in den vorangegangenen Paragraphen versucht, die Be-


wußtseinsweisen als Wesen und, umgekehrt, die Wesen oder Eide als
Bewußtseinsweisen oder -formen zu fassen. Es wäre eine wichtige Auf-

m Vgl. oben § 46.


Vgl. unten § 59.
126
120 Kritik der reinen Vernunft, B 429.
Erste und Zweite Philosophie 321

gabe, im besonderen zu untersuchen, wie es sich mit dem aufgestellten


allgemeinen Begriff des Wesens innerhalb der „drei Hauptgattungen" des
Bewußtseins, in der Sinnlichkeit, im Verstand und in der Vernunft, ver-
hält. Ein besonders schwieriges Problem stellt die Frage dar, inwieweit
sich das allgemeine Wesen des sinnlichen Bewußtseins, die bloße Gegen-
wärtigung, in untergeordnete sinnliche Wesen, also in verschiedene Ge-
genwärtigungsformen, differenzieren läßt. Wir haben zwischen Emp-
findung und Wahrnehmung unterschieden; es wären wohl noch weitere
formale sinnliche Bewußtseinsweisen, wie der Selbstausdruck und das
energische (immer mit Wahrnehmung verbundene) Eingreifen in das
Umfeld, zu fassen. Aber die Möglichkeiten der reflexiven Eidetik schei-
nen hier als v6riat; ai.cr-&rjcrsco; doch sehr begrenzt und in gewissem
Maße sogar fragwürdig zu sein. Bei diesem Problem muß man sich aber
immer folgende Punkte vor Augen halten: 1. In der reflexiven Wesens-
erkenntnis als philosophischer Methode geht es nie um die Sinnlichkeit
als solche, sondern immer nur um die Sinnlichkeit als (in sich selbstän-
dige) Grundlage des Verstandes und als „Verwirklichungsmilieu" der
Vernunft. 2. Sinnliche Tätigkeiten unterscheiden sich eidetisch nur als
verschiedene Bewußtseinsformen und nicht durch faktische Unterschiede
im phänomenalen Bewußtseinsinhalt (verschiedene Empfindungen, ver-
schiedene Wahrnehmungsinhalte, verschiedene Sinnessphären etc.). 3.
Manche sinnliche Tätigkeit unterscheidet sich nur als faktische phäno-
menale, so und so leiblich organisierte Verhaltensweise in ihrem zeit-
lichen Ablauf (als typische Bewegungsgestalt) innerhalb ihrer Umgebung
und nicht rein eidetisch-reflexiv als in sich völlig unzeitliche Tätigkeits-
form (sozusagen als „augenblicklicher Querschnitt" durch den präphäno-
menalen Tätigkeitsfortgang). Die besondere sinnlich-leibliche Verhal-
tensorganisation ist „zufällig", faktisch und nicht als notwendige We-
senseinheit zu fassen. Wir rühren hier an eine Problematik der Faktizi-
tät, der bloßen Tatsächlichkeit, auf die wir gleich in umfassenderer Weise
zurückkommen werden.
Doch vorher wenden wir uns nochmals dem reinen Wesen zu. Dieses
ist selbst keine bloße Möglichkeit, die Wesenserkenntnis bewegt sich nicht
in der Luft reiner Erdenklichkei ten, der bloßen „Essenzen", sondern sie
hat es durchaus und zum vornherein mit der Wirklichkeit zu tun: In
jedem.Wesen des Verstandes oder der Vernunft ist die subjektive Ein-
heit des Ich als Wesensmoment enthalten, und das Wesen der Sinnlichkeit
.ist in reiner Reflexion immer gespiegelte Sinnlichkeit in dem das Ich als
Wesensmoment enthaltenden Verstand, also meine Sinnlichkeit. Dies
322 \Y/ esenserkenntnis

bedeutet, daß das Wesen oder Eidos die Existenz in sich schließt. Es
schließt die Existenz nicht im Sinne einer gegenständlichen Tatsache,
eines empirischen Faktums in sich, sondern die Existenz im Sinne des
ich-bin, des ,,sum". Denn ich, der ich zu jedem Wesen gehöre (sei es als
Wesensmoment, sei es als der das Wesen als das seinige Spiegelnde), bin
nicht irgendein durch eine allgemeine Bestimmung (Prädikat, Begriff)
gedachtes Mögliches; ,,ich" ist kein mögliches Prädikat, kein Begriff, ich
bin nicht „ein Ich", sondern ich bin schlechthin. Diese Existenz hat nicht
den Ausdruck „es gibt ein Ich", wobei es aber logisch auch keines geben
könnte, so daß ich bloß als ein Mögliches denkbar wäre, sie ist nicht.
durch ein Existentialurteil mit einer quantifizierten Variabel ausdrück-
bar (Ei ax), sondern der Ausdruck dieser Existenz lautet „ich-bin"; dem
»ego" folgt notwendigerweise das „sum", weil ego und sum dasselbe ist.
Ich, von dem hier schlechthin die Rede ist, bin ich, der ich jetzt
philosophiere; es gibt kein allgemeines Ich, ,,das Ich überhaupt", über
das man reden könnte wie über das Dreieck überhaupt und das einen
Umfang von einzelnen Ichen hätte. In diesem Sinne ist das Eidos kein
Allgemeines127 • Aber dennoch handelt die Philosophie als Wesenser-
kenntnis der Vernunft nicht bloß von mir selbst. Obschon, wie Kant
sagt, ,,es offenbar ist, daß, wenn man sich ein denkend Wesen vorstellen
will, man sich an seine Stelle setzen und also dem Objekte, welches man
erwägen wollte, sein eigenes Subjekt unterschieben müsse (welches in
keiner anderen Art der Nachforschung der Fall ist)" 128, so bin ich mir
doch eines Bewußtseins bewußt, das nicht-meines, sondern anderes ist,
das aber selbst wieder Bewußtsein von Bewußtsein ist und damit „ich"
sagen kann. Dieses Ich des Anderen ist nicht Ich für mich, sondern für
mich ist es: Ich für den Anderen, den ich in seinem Ich-Bewußtsein und
in seiner „ich"-Rede verstehen (verstehen, wenn der Andere „ich" sagt)
und evtl. durch das „du" ansprechen kann. Das Ich des Anderen ist
ebenso „einzig", ,,unwiederholbar" (kein Fall eines Allgemeinen) wie ich
selbst (und weil du „ich" sagen kannst, bist auch du einzig und giltst
mir als das). Und so kann ich auch erkennen, daß, was ich in reiner
Reflexion auf das Bewußtsein erkenne, auch dem Anderen für sich selbst
gelten kann (daß das Eidos, in dem oder mit dem die Ich-Einheit auf-
tritt, auch für den Anderen gilt) und ebenso dem Anderen gilt als auch
für mich geltend. Das Wesen ist kein allgemeiner Gegenstand, aber es

127 Kein xuitolou (vgl. Aristoteles Metaphysik, Z, 13).


128 Kritik der reinen Vernunft, A 353/4.
Erste und Zweite Philosophie 323

ist bestimmbar in einer Weise, in der bestimmte Wesen notwendig all-


gemein übereinstimmen. So spricht jeder Philosophierende in „extremer
Subjektivität", und dennoch in Allgemeingültigkeit für jeden Vernünfti-
gen, in größter Objektivität.
Die reine Philosophie, die Wesenserkenntnis der Vernunft, hat es
mit der Wirklichkeit zu tun: mit der Existenz des Ich-bin. Aber sie hat
es nicht zu tun mit der Wirklichkeit im Sinne des Faktums oder der
Tatsache, auch nicht mit dem künftigen Geschehen: sie hat es nicht zu
tun mit der faktisch gewordenen und werdenden Wirklichkeit, der Ge-
schichte. Das Wesen ist ein Unveränderliches, es ist notwendige Form
oder notwendiges Gesetz der Vernunft und damit des Bewußtseins
überhaupt. Reine Selbsterkenntnis der Vernunft ist daher nicht Anthro-
pologie. Nicht, weil sie auch „an die lieben Engelein denken" müßte,
sondern weil der Mensch als eine natur- und geistesgeschichtliche Realität
nur empirisch erkennbar ist, also außerhalb der rein reflexiven Wesens-
erkenntnis liegt. Diese reicht deshalb gar nicht an das geschichtliche,
empirische Faktum Mensch heran, ist aber andererseits in ihren Einsich-
ten auch nicht an dieses Faktum gebunden. Anthropologie ist nur auf-
grund empirischer Erkenntnis möglich.
Die Vernunft hat aber doch ihre Geschichte, bzw. ihre Geschichten.
Sie hat schon dadurch ihre Geschichte, daß ihr notwendiges Fundament,
die Sinnlichkeit in ihrer konkreten Organisation, ein faktisch Entstehen-
des und Vergehendes, ein sich faktisch gerade so und nicht anders Ent-
wickelndes ist. Die Vernunft in ihrer unveränderlichen Wesensgesetz-
lichkeit ist durch ein faktisch Gewordenes und Werdendes bedingt.
Diese Geschichte ist sozusagen ihre äußere Geschichte, die Geschichte, die
ihr von „außen", von ihrem sinnlichen Fundament, und nicht aus ihr
selbst entsteht. Zu dieser äußeren Geschichte gehört der Tod. Im eigent-
lichen Sinne stirbt der Verstand nicht, sondern der Tod ist seine Ver-
nichtung durch den Entzug, durch die Zerstörung seines Fundamentes.
Nur die Sinnlichkeit stirbt, aber dadurch, im Tod, wird der Verstand
zunichte129 • Auch Geburt und Entwicklung des sinnlichen Subjekts gehö-

t!o In anderen, verwandten Geschehnissen seiner äußeren Geschichte spiegelt der Ver-
stand den Verfall seines Fundaments, gleichsam in Präfigurationen, die auf seine
Vernichtung hinweisen; Das Sterben ist als völliger Zerfall des sinnlichen Könnens,
des Vermögens der Selbstbeweglichkeit, durch das das Subjekt Gegenwart und
Zugriff auf ein Umfeld besitzt, präfiguriert im Einschlafen und in der Krankheit
(bzw. im leiblichen Altern, das auch als ein Erkranken betrachtet werden kann).
Im Einschlafen wird auf diese Macht „verzichtet", das Umfeld wird „fahren
gelassen", die Gegenwart erzeugende Tendenz auf das Kommende „desinteressiert";
324 Wesenserkenntnis

ren zu dieser äußeren Geschichte des Verstandes. Und all dieses Werden
kann nicht nur „ontogenetisch" im einzelnen Individuum, sondern auch
,,phylogenetisch" als Werden des Geschlechts der vernünftigen Lebe-
wesen betrachtet werden.
Aber der Verstand hat als Vernunft auch seine innere, von ihm
selbst geschaffene Geschichte. Die Vernunft gestaltet und instituiert sich
in der Sinnlichkeit und erzeugt dadurch die subjektive und objektive
Kultur. Sie erzeugt in ihrer Geschichte faktisch gewisse materielle Zweck.-
mittel und ideelle Gebilde, sie gestaltet das individuelle und soziale
Leben nach von ihr entworfenen und tradierten Vernunftideen, fest-
gelegten Normen und Gesetzen und verwirklicht sich dadurch selbst in
einer bestimmten faktischen Weise. All diesen faktischen Kulturgestalten,
zu denen auch unsere Wissenschaften und die verschiedenen Philoso-
pheme gehören, liegen einerseits unveränderliche Wesen der Vernunft
zugrunde, andererseits handelt es sich um innerhalb dieser Wesens-
formen faktisch gerade so Gewordenes und sich Veränderndes. Da-
durch, daß die Kultur ihre Wirklichkeit in der Sinnlichkeit hat, ist ihre
Geschichte nicht nur die Geschichte der frei schaffenden Vernunft, son-
dern sie ist hineingezogen in das Werden und Vergehen der sinnlichen
Natur.
Wir sagten, daß die Philosophie von der Frage „was ist Vernunft?"
geleitet sei und diese Frage durch rein reflexive Wesenserkenntnis beant-
worte. Das ist in der Tat ihre Erste, unüberspringbare Aufgabe, die
allein Philosophie hervorzubringen vermag. Aber wenn es der Philo-
sophie letztlich um die Vernunft überhaupt geht, so kann ihr auch das
Werden, die Geschichte der Vernunft nicht gleichgültig sein. ,,Geschichte
überhaupt", Geschichtlichkeit ist im Wesen der sinnlich bedingten und
sich in der Sinnlichkeit realisierenden Vernunft eingezeichnet. Geschicht-
lichkeit, Unterworfensein an eine Geschichte, gehört zur unveränder-
lichen Wesensverfassung der Vernunft. Aber die Erkenntnis der Ge-
schichtlichkeit als eines Wesenszuges der Vernunft in der reinen Philo-
sophie ist noch nicht Erkenntnis ihrer faktischen Geschichte und Ge-
schichten, ihres faktischen Werdens. Erkenntnis der wesentlichen „Pak-

in der Krankheit wird das Verfallen des Könnens, das Gleiten in die „Ohnmacht",
bzw. das Entwundenwerden des Umfeldes als Zerstörung der leiblich-sinnlichen
Position erlebt. Die völlige Auflösung dieser sinnlichen Machtposition kann sich
dem Verstand in diesen Geschehnissen andeuten. In dieser präfigurativen Weise
spiegelt der Verstand das Sterben seiner Grundlage und damit die Vernichtung
seiner eigenen Wirklichkeit.
Erste und Zweite Philosophie 325

tizität" ist noch nicht Erkenntnis der Fakten. Das Wesen der Vernunft
liefert die Vernunft faktischem Werden aus, ohne es aber in seinem
wirklichen Gange zu bestimmen.
Eine Erkenntnis des faktischen Werdens der Vernunft ist nicht mehr
als bloße Wesenserkenntnis in reiner Reflexion möglich. Sie hat es einer-
seits zu tun mit der faktischen Menschengeschichte, wie sie in der äußeren
historischen Empirie erfahren und erfahrbar ist. Aber diese Erfahrung
kann nur philosophische Erkenntnis werden aufgrund der Ersten Philo-
sophie: durch Anwendung der Ersten Philosophie auf diese Empirie, d. h.
durch Interpretation der empirischen Menschengeschichte und -geschich-
ten durch die rein reflexive Selbsterkenntnis der Vernunft. Die Erkennt-
nis des Werdens der Vernunft hat es andererseits aber auch zu tun mit
der durch die Faktizität bedingten, aber nie eindeutig bestimmten, son-
dern immer auch offenen freien zukünftigen Geschichte der Vernunft,
und hier wächst der Philosophie aufgrund ihrer Erkenntnis des Wesens
der Vernunft die praktische Aufgabe zu, der Kultur schaffenden Ver-
nunft jeweils in der faktischen menschlichen Situation konkrete Mög-
lichkeiten und notwendige Bedingungen der kulturellen Selbstverwirk-
lichung der Vernunft, d. h. der autonomen, auf Vernunft selbst aus-
gerichteten Vernunfttätigkeit vorzuhalten. Dies vermag die Philosophie
jedoch nicht rein aus sich selbst zu leisten, ihre formal-ethische Idee der
autonomen Selbstverwirklichung der Vernunft reicht dazu nicht aus,
sondern sie bedarf dazu der empirischen Erkenntnis der faktischen Be-
dingungen, der faktischen Situationen und der faktisch realen Möglich-
keiten der Vernunft. In dieser praktischen Sorge um das „Schicksal"
der menschlichen Vernunft wird die Philosophie zur Ethik, sie erreicht
damit ihren obersten Zweck, ihren „Weltbegriff, der das betrifft, was
jedermann notwendig interessiert" 130 • Aber empirische Philosophie der
werdenden menschlichen Vernunft, als Interpretation ihrer empirischen
Vergangenheit und ethische Bestimmung ihrer empirisch bedingten Zu-
kunft, kann nur Zweite Philosophie sein, da sie ohne Erste Philosophie,
d. h. ohne zu wissen, was Vernunft überhaupt ist, blind wäre und nichts
anderes als leeres Geschwätz oder höchstens eine gefühlsmäßige Richtig-
keit (richtige Meinung), nie aber wirkliches Wissen sein könnte. Solange
die Philosophie nicht in reiner Reflexion ihrer ersten Aufgabe nach-
gekommen ist (mag diese in sich scheinbar noch so unbedeutend sein),
darf sie sich nicht anmaßen, ihre zweite, wenn auch (nach ihrem· End-

° Kritik der reinen Vernunft, A 840; B 868.


13
326 Wesenserkenntnis

zweck · betrachtet) wichtigere Rolle als Interpretin und Gesetzgeberin


der faktischen menschlichen Vernunft zu spielen. Die reine Philosophie
ist für die empirische sozusagen das ABC, durch das diese allererst die
empirische Geistesgeschichte als Geschichte der Vernunft zu lesen und
vorzuschreiben vermag.
Während Erste Philosophie die reine Selbsterkenntnis der Vernunft
ist, ist die Zweite Philosophie Anthropologie im Sinne der Interpreta-
tion und Bestimmung des empirischen und historischen Faktums Mensch
vom Gesichtspunkt der Vernunft. Dieses historische Faktum umfaßt die
ganze Kultur, die geleistete und in der faktischen Situation zu leistende;
sie umfaßt auch alle faktischen Wissenschaften. Die Philosophie der
Wissenschaften ist Zweite Philosophie, sie untersucht ein faktisches Kul-
turgebilde in Hinsicht auf die ihm besondere Vernunftgestalt.
Dieses historische Faktum umfaßt aber nicht nur alle faktischen Kul-
turgestalten, sondern auch das faktische „Werden" der unveränderlichen
Verstandes- und Vernunftformen selbst. Auch die nur in der reinen
Reflexion erkennbaren unveränderlichen Wesen treten in der empiri-
schen Geschichte auf, auch sie sind in diesem Sinne geworden. In der
faktischen Entstehung des Menschen aus dem Tierreich bezeichnet das
Auftreten von Erinnerung, von Vorausplanung, von freier Phantasie,
von Bildbewußtsein, von vergegenwärtigenden Spielen, von symboli-
schem Bewußtsein und Sprache etc. selbst geschichtliche Fakta. Ebenso
kann das Entstehen dieser unveränderlichen Verstandes- und Vernunft-
formen in der Entwiddung des Kindes als ein faktisches, unter gewissen
faktischen Bedingungen und in verschiedenen faktischen Weisen, Um-
ständen und Zeitverhältnissen stattfindendes Geschehen empirisch er-
forscht werden, wobei das wirkliche Verständnis dieser faktischen Gene-
sis als Genesis von Vernunft nur aufgrund der reinen Reflexion der
Ersten Philosophie möglich ist. Aber auch die Erkenntnis dieser Genesis
ist empirische, Zweite Philosophie. Wenn auf diese Weise die unverän-
der liehen Wesen in das empirische Werden hineingebracht werden, ver-
lieren sie nichts von ihrer Wesenhaf tigkeit. Denn sie bleiben dabei durch-
aus notwendige, analytische Einheiten, ,,Mannigfaltigkeit im Einfachen";
sie werden damit nicht zu bloß faktischen, ,,zusammengesetzten" Ein-
heiten, wie dies einzelne faktische Kunstwerke, Sprachen, politische Ge-
sellschaften, Staatsverfassungen, Wissenschaften etc. sind. Solche fak-
tischen. Einheiten sind, auch wenn es sich um strukturale Ganzheiten
handelt, in denen jeder Teil einen funktionalen Bezug zum Ganzen hat,
doch in Teile auflösbar, b~w., sie sind in der Geschichte faktisch „zusam-
Die Grundverfassung der Philosophie 327

mengewachsen" oder haben sich in Teile differenziert, während jene


Verstandes- und Vernunftformen Einheiten sind, von denen sich nichts
ablösen und denen sich nichts beifügen läßt, sondern die immer einen
bestimmten analytisch notwendigen Zusammenhang von Momenten in
dem von uns im § 48 ausgeführten Sinne ausmachen. Diese einzelnen
Wesen müssen daher im Werden sozusagen plötzlich, in einem Schlage
auftreten, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind; sie bilden sich
nicht langsam aus wie die faktischen Kulturgestalten, sie entwickeln
(verändern) sich als solche nicht. 'So bricht in der kindlichen Entwicklung
etwa das symbolische Bewußtsein, daß etwas etwas (anderes) bedeutet,
plötzlich auf, sozusagen als eine Explosion der Vernunft, denn ein Be-
wußtsein ist entweder schlechthin ein symbolisches Bewußtsein und ent-
hält dann gleich alle dazu notwendigen Momente oder ist es überhaupt
nicht. Dem widerspricht nicht, daß solche Durchbrüche der Vernunft
empirisch schwierig zu datieren sind. Denn das schlagartige Auftreten
einer Wesensform bedeutet noch nicht, daß sie unvermischt durchgehalten
und von nun an ohne weiteres wiederholt wird oder daß auch schon
komplexe oder verschiedene empirische Kulturgestalten, die unter. die-
selbe Wesensform fallen, beherrscht werden. Das Erlernen einer Sprache
ist ein langsamer Prozeß, aber schon mit dem ersten wirklichen Satz ist
ein volles prädikatives Bewußtsein vollzogen.

§ 53 Die Grundverfassung der Philosophie in ihrer Geschichte

Die Aufgabe der Philosophie hat sich uns als eine Erste und eine
Zweite ergeben. Im folgenden möchte ich diese Idee der Philosophie
mit Gestalten der Philosophie konfrontieren, wie sie uns durch die Ge~
schichte überliefert sind. Es geht uns dabei nicht um äußere GestaH:en
der Philosophie, sondern um ihre innere Verfassung, sofern sich in· ihr
die Aufgabe, die Grundlage und der Weg der Philosophie ausprägt.
Einerseits möchte ich daran erinnern, wie tief die zwiefältige Verfassung
der Philosophie in ihrer Geschichte verwurzelt ist. Platon und Aristo-
teles, Kant und Busserl sollen uns dafür als die wichtigsten Zeugen die-
nen. Andererseits aber stoßen wir auch auf eine ganz andersartige phi-:-
losophische Tradition, die die Philosophie als absolute Einheit zu ver-
wirklichen strebt. Diese Tradition beruht auf einer Grundlage und Idee
der Philosophie, die der von uns intendierten entgegengesetzt ist. Ind~r
Geschichte der Philosophie konkurrieren diese zwei grundverschiedenen
328 Wesenserkenntnis

Verfassungen. Beim universalsten Philosophen unserer Geschichte, bei


Leibniz, spiegeln sich beide zugleich und im Widerstreit, und bei ihm
wird auch die Dringlichkeit einer Entscheidung für den einen oder den
anderen Weg, den wir als Philosophen einschlagen sollen, besonders
spürbar.

a) Zwiefalt von Erster und Zweiter Philosophie

a) Platon

Die Idee der inneren Unterscheidung der Philosophie in eine Erste


Philosophie, als reine Vernunfterkenntnis des unveränderlichen Wesens,
und in eine Zweite Philosophie, als Auslegung des veränderlichen empi-
rischen Faktums auf Grund des Wesens, ist ebenso alt wie die systema-
tische Idee der Philosophie. Zwar treten die Termini Jt(>©t'l'J cptÄoaocpta
und ÖEuTEQ« cptÄoaocpta erst bei Aristoteles auf, aber die Sache steht
schon bei Platon131 •
Beim Platon der mittleren Dialoge folgt auf die Dialektik der un-
veränderlichen Wesen der Mythos der Geschichte der vernünftigen Seele
(Phaidon, Staat, Phaidros). In seinen Altersdialogen Philebos und
Timaios wird diese Doppelheit sozusagen „wissenschaftstheoretisch"
reflektiert: Im Wissen vom wahrhaft Seienden (1tEQL -ro öv öv-rro~), vom
immer sich selbst gleich Seienden, ist für uns das Deutliche und Genaue,
das Beständige, Reine, Wahre und was wir das Lautere nannten, mag
diese Wissenschaft vom Reinen der Vernunft ·auch nur gering und von
geringem Vqrteil sein. Alles andere, nämlich das, was wird, werden
wird und geworden ist, dessen Wissen auf Meinungen, Vermutung und
Qbung der Sinne durch Erfahrung (sµJtBLQt~) und irgendeinem Um-
g~ng beruht, ist als Zweites und Späteres zu erklären. Jedoch der Dia-
lektiker, der das Wesen der Gerechtigkeit kennt und von allem anderen
Seienden in dieser Weise Einsicht besitzt, hat doch noch nicht der Er-
kenntnis genug. Hat er die Ersten Erkenntnisse, dann kann er auch alle
übrigen hinzunehmen1s2.
Platons Versuch, von der Ersten, reinen Erkenntnis aus alle übrigen
hinzuzunehmen, ist der Timaios. In diesem Dialog eröffnet Platon be-

181 Worauf bereits W. Jaeger in seinem Aristoteles von 192.3 (S. 399) aufmerksam
madite.
188 Philebos, 58 c-62 d.
Die Grundverfassung der Philosophie 329

zeichnenderweise nicht durch den Mund des Sokrates, der hier nur Hörer
ist, sondern durch denjenigen des Pythagoräers Timaios sein Wissen über
die empirische, werdende Welt. Der Bereich des Werdenden und sinn-
lich Sichtbaren wird hier dargestellt als Zweite Art (oEutEQOV dclo;),
nämlich als durch den vou; (den Demiurgen)1 33 gestaltete Nachahmung
(~tt~t'l'}µa.) oder Abbildung (E'lxrov) des immer gleich seienden, nur durch
die Vernunft erfaßbaren Vorbildes 134• Da die Auslegung dem Auszu-
legenden stammverwandt (cruyyEv~;) sein muß, ist die Rede vom Empi-
rischen als dem „Bild" oder Widerschein (Ei'.xrov) des rein Vernünftigen
selbst „bildlich" (Etx6;), sie ist nicht schlechthin Wahrheit, sondern
Wahrscheinlichkeit, sie ist ein Vermuten (Etxa~ELv), ein Etxw; µu{}0<; 135 •
Aber wenn diese Rede auch nicht reine Vernunfterkenntnis (v6ricrt;) und
damit schlechthin Wissen (imcrt~µ'I']) ist, so ist sie doch nicht bloßer
Schein, sondern kann wahre Meinung (M~a. &1cri{}~;) sein, und zwar
gerade insofern, als die werdende, sinnliche Welt auf Grund der ewigen
Vernunftwesen gestaltet ist. Weil es sich hier nur um „Widerschein",
bzw. nur um Wahrscheinlichkeit handelt, nennt Platon dieses Zweite,
empirische Wissen allerdings nicht Zweite Philosophie.
Aristoteles konnte diesen Ausdruck einführen, weil er das Wesen
und VO'l'}t6v als Ursache in die werdende, sinnliche Welt hineinlegte, aus
der es die erkennende Vernunft nach ihm dann nur herauszuholen
brauchte. Insofern würden wir uns Platon viel näher fühlen: Das Wesen
ist nicht aus dem sinnlich Erfahrenen herauszuholen, sondern nur auf-
grund der reinen Reflexion in es hineinzuinterpretieren. Aber von Platon
trennt uns doch ein weiter Unterschied: Wir können die Welt in ihrer
N aturhaftigkeit nicht als ein von der Vernunft (einem Demiurgen) ge-
staltetes „Abbild" von ewigen Vernunftwesen, als ein Vernunftgebilde
ansprechen. Jedoch brauchen wir den Platonischen Grundgedanken für
uns nur zu transponieren: Nachdem Platon im Timaios den Kosmos
durch den Demiurgen im Hinblick auf die ewigen Wesen gestalten ließ,
erklärt er: ,,Das bisher Gesagte hat außer wenigem das durch die Ver-
nunft Bewerkstelligte (ta clta vou clEB11µwuQY11µiva.) aufgezeigt. Man
muß aber der Rede auch das durch Notwendigkeit Werdende (,:a
5t' &vayxri; ytyv6µEva) hinzufügen. Denn das Werden dieses Kosmos
wurde als ein gemischtes aus der Vereinigung von Notwendigkeit und

133 611µioiJQyoc; und vouc; sind im Timaios 47 e gleichgesetzt.


13 'Timaios, 48 c.
iss A. a. O., 29 b-d, 48 d.
Wesenserkenntnis

Yefiiunft erzeugt." 136 Platon führt dann im Hinblick auf diese Not-
w~ndigkeit den »Raum" (xm(la) ein, in dem sich schon vor aller Ver-
nuriftgestaltung die „Spuren" (i'.xvri) der Naturelemente ohne Regel und
Maß (&l6yroi; xat äµh(lroi;) befanden, und entwickelt aus diesem Urzu-
stand nach rein geometrischen Prinzipien (Dreiecke, Polyeder) die sich
ineinander .verwandelnden Naturelemente137 • Diese notwendige Ursäch-
lichkeit im Werdenden, die im „Raume" (xcb(la) wurzelt, hatte Platon
schon vor dessen Einführung zur Geltung gebracht: Nach der physio-
logischen und physikalischen Beschreibung des Sehens sagt er: »Dies alles
gehört zu. den Mitursachen (ouvatna), deren sich Gott als Hilfsmittel
bedient; um die Idee des Besten nach Möglichkeit zu vollenden. Von den
meisten aber wird das Kältende und Erwärmende, das Verdichtende
und Auflösende und alles solches Bewirkende nicht als Mitursachen, son-
dern als Ursachen von allem angesehen. Solches ist aber weder ein Sinn
(Äoyov) noch Vernunft für etwas (voüv .di; ovMv) zu haben fähig,
denn dasjenige der Wirklichkeit, dem: Vernunft (voüi;) zu besitzen zu-
kommt, muß Seele genannt werden. Dies ist jedoch unsichtbar, währep.d
Feuer, Wasser, Luft und Erde sichtbare Körper sind. Der Liebhaber der
Vernunft (voiii;) und des Wissens (E:n:t<JTr}µ'f)) muß den Ursachen der 'i
verständigen Natur (ii'ji; eµ<p(lovoi; cp,'.,m;;roi;) als ersten nachgehen, den- '. j

jenigen aber, welche von anderen bewegt werden und aus Notwendig-
keit: (E; ävayxrii;) andere bewegen, als zweiten. Demnach müssen auch
wir verfahren. Es sind abgesondert beide Gattungen von Ursachen anzu-
geben, diejenigen, welche mit Vernunft (µe.a voü) Demiurgen des Schö-
nen und Guten sind, und diejenigen, welche stets ohne Überlegung (äveu
<p(lov*oeroi;) das ungeordnete Zufällige bewirken. " 138 Die notwendige
Ursächlichkeit ist die Bedingung der Vernunftursächlichkeit, nämlich das
()tJ'X. äveu, ohne .das die eigentliche Ursache (die Vernunftursache) nicht
Ursache sein kallll139• - In der·Betrachtung der empirischen Welt erfaßt
Platon im Timaios also eine Art vernunft- und seelenlos notw:endige
Ursächlichkeit140, die wir als „bloße Natur" bezeichnen würden, und
bezieht diese·Welt ·nur insofern auf Eide, als er sie als ein Zweckgebilde
der Vernunft. und selbst als ein beseeltes vernünftiges Lebewesen (~cpov
sµ'ljroxov evvovv) 141 ansieht. Auch nach unserer Ansicht ist eine eide-
ias Timaios, 47 e-48 a.
137 52 d ff.
46 d-e.
186
69 a; vgl. auch Phaidon, 99 b.
119
Im Phaidon wird das oöx li.vsu noch nicht als Ursächlichkeit betrachtet.
140
m Timaios, 30 b.
Die Grundverfassung der Philosophie

tische Interpretation der empirischen Welt nur insofern sinnvoll;als Üt


dieser Welt Vernunftgebilde und Bewußtsein feststellbar sind.

ß) Aristoteles

· Die Termini Erste und Zweite Philosophie wurden von Aristoteles


eingeführt. Aber obschon sie ihre Platonische Abkunft; in der sie ihren
ursprünglichen Sinn besitzen, nicht verleugnen, erhalten sie· innerhalb
des Aristotelischen Philosophierens eine Stellung, die sie diesem, Sinn
entfremdet. Denn die Erste Philosophie ist nach Aristoteles nicht mehr
die Erste in der philosophischen Systematik, auf die es· uns hier ari-
komrrit.
Die Erste Philosophie hat es nach Aristoteles mit dem Ewigen
(&:Uhov), Abgetrennten (xroQUJ't'ov) und Unveränderlichen (&xtv'l')wv) zu
tun142. DieZweitePhilosophie istnachihmdieWissenschaft von derNatur
(die „Physik"), d. h. von den sinnlichen Substanzen als solchen, in ihrer
Materialität und Veränderung143 • Der Ersten Philosophie entspricht als
korrelater 'Terminus die Erste Substanz (:n:QOO't"I') ouata) 144. Damit ist
schon eine gewisse Zweideutigkeit eingeführt: Denn :n:(lro't''I') ouaf.a bedeu-
tet bei Aristoteles einerseits die unveränderliche, ohne Möglichkeit der
Veränderung bestehende Wirklichkeit145, dasjenige, das keine Bestim-
mung einer Materie ist und daher mit seinem Weseriswas zusammen-
fällt146; andererseits kann :n:erot'I') ofota ganz allgemein das Eidos bedeu-
ten, also auch die vergänglichen Eide (qroaixa xat qi{}aeta)147, wie
etwa die Seele, die nur ist als Seele eines Körpers148. In diesem weiteren
Gebrauch könnte 3tQOO't"I') ouata einen bloß relativen Sinn• haben, inso-
fern das Eidos bei den materiellen Substanzen als früher (:n:QO't'EQov) als
die Materie (ÜÄ'fl) und das Ganze (a,'.,voÄov) bezeichnet wird149 • Aber es
ist nur•.deshalb früher, weil es nach Aristoteles das eigentliche Prinzip

•··.Metaphysik, E, 1 1026 a 15-16; vgl. A. Mansion, ,,Philosophie premi~re, philo-


14
sophie seconde et m~taphysique chez Aristote", Revue Philos. de Louvain, 56
(1958), p. 165-221.
143 Cf. Metaphysik Z, 11; 1037 a 14-16; cf. Metaphysik E, 1; Physik II, 1, 192 b u, a.
1" Cf. Metaphysik, r 3, 1005 a 34-35.
145 De interpretatione, 13, 23 a 23-24.
141 Metaphysik Z 11, 1037 a 34 - b 7.
1,7 Physik I, 192 a 34- b 2.
us Metaphysik Z, 111037 a 5, 27-28.
149 Metaphysik Z, 3; 1029 a 5-7.
332 Wes~nserkenntnis

des Seins oder Bestehens ist, auch in den materiellen Substanzen, die
nicht deshalb entstehen und vergehen, weil sie ein Eidos in sich
schließen, sondern weil sie materiell sind. Gerade weil auch das Eidos
der vergänglichen Dinge Prinzip des Seins (des Bestehens und nicht des
Werdens) ist, kann Aristoteles beim Terminus der :rtQffit'l'} oüo-ta vom
engeren zum weiteren Begriff gleiten. Mit diesem Gedanken hängt auch
zusammen, warum bei Aristoteles die Erste Philosophie, die es nach
seiner eigenen Bestimmung ursprünglich nur mit den ewigen, unver-
änderlichen Eide zu tun hat, zur allgemeinen »Ontologie", zur Wissen-
n
schaft vom Seienden als solchen (öv öv) 150 werden kann. Aristoteles'
Begründung, warum die Erste Philosophie allgemeine Wissenschaft vom
Seienden als solchen ist, lautet bekanntlich: Die Erste Philosophie, die die
unbeweglichen Substanzen erörtert, ist deshalb allgemein und geht auf
n
das Seiende als solches (öv öv), weil sie die Erste ist151 • Diese lapidare
Begründung beruht aber auf dem lange entwickelten Gedankengang,
daß das Seiende als solches im ursprünglichen und allem zugrundelie-
genden Sinne die Substanz (oüota) sei, weiter, daß für dasjenige, was
die Substantialität jeglicher Substanz ausmache, das Eidos in Anspruch
genommen werden müsse, also dasjenige, das rein als solches (ohne
Materie und damit auch ohne Veränderlichkeit) den Gegenstand der
Ersten Philosophie ausmacht, so daß diese eigentlich ganz allgemein
Wissenschaft vom Seienden als Seienden überhaupt wäre.
Aristoteles will nun in diesem Gedankengang wie in seinem ganzen
Philosophieren die Erste Philosophie als Wissenschaft vom Unveränder-
lichen· nicht zum Ausgang nehmen; sie ist nicht die Erste im Gange der
philosophischen Erkenntnis, sondern nur Wissenschaft vom Ersten und
insofern auch Erste dem Range (Würde) nach. Er tut so, als ob sich
diese, bzw. ihr Gegenstand, irgendwie erst nach und aufgrund der
Erörterung der sinnlich-empirischen Natur ergeben würde. So will er
von denjenigen Substanzen ausgehen, die man im allgemeinen Verständ-
nis als Substanzen betrachtet, den sinnlichen, und erklärt mit dem An-
schein der Vorurteilslosigkeit: »Daraus wird vielleicht auch .offenbar
werden, wie es sich mit jener Substanz (o'flota) verhält, die von den t
sinnlichen Substanzen getrennt ist" 152, oder er beliebt rein hypothetisch
zu erklären, daß, wenn es keine unveränderlichen immateriellen Wesen-

150 Cf. Metaphysik r.


151 Metaphysik E 1026 a 28-32.
181 Metaphysik Z, 17 1041 a 4-9; vgl. Z, 3, 1029 a 33, b 3-12; Z 11 1037 a 13-14.
Die Grundverfassung der Philosophi.e 333

heiten gebe, dann eben die empirische Naturwissenschaft (die „Physik")


die Erste Philosophie sei 153 • Aber das ganze Aristotelische Vorgehen an
Hand der empirischen Natursubstanzen hat nur Sinn unter der Plato-
nischen Voraussetzung von Eide und der Gestaltung der sinnlichen Welt
durch die Vernunft, d. h. durch Eide. Die Bedingung dafür, daß .die
Natursubstanzen uns etwas über die immateriellen Wesen lehren kön-
nen, ist, daß sie eidetisch sind. Aber daß die Natur vernunftgemäß
(teleologisch) ist, bzw. daß sie Eide enthält, ist nicht der sinnlich-empii
rischen Natur selbst zu entnehmen. Auch bei Aristoteles steht daher
de f acta die Erste Philosophie als reine Vernunftwissenschaft von den
unveränderlichen Wesen am Anfang seines Philosophierens, die Stellung,
die wir ihr auch de iure zuerkennen müssen.

r) Busserl

Der Unterschied zwischen reiner und empirischer, Erster und Zweiter


Philosophie ist auch in der Neuzeit von systematischen und der Sinn-
lichkeit (Bedingtheit, Endlichkeit) der Vernunft Rechnung tragenden
Philosophen zur Geltung gebracht worden. Vor allem ist Kant zu
nennen. Kant unterscheidet streng zwischen reiner und empirischer Phi-
losophie: zwischen Philosophie aus reiner Vernunfterkenntnis, ohne Be-
ziehung auf die (empirische) menschliche Natur154, und der „angewand-
ten Philosophie, zu welcher die reine Philosophie die Prinzipien a priori
enthält, die also mit jener zwar verbunden, aber nicht vermischt wer-
den muß" 155•
Bei Schelling besteht der Unterschied von Erster und Zweiter Philo-
sophie in der Dualität von negativer oder rationaler Philosophie, die
apriorisch den Inhalt der Vernunft als notwendige Bedingungen der
Dinge konstruiert, und positiver Philosophie, die aufgrund des von der
Ersten Philosophie als ihr Resultat erreichten Prinzips die empirische
Geschichte der Mythologie und Offenbarung interpretiert. ·
Als letzter hat Busserl die Zwiefältigkeit der Philosophie als aprio-
rische und als empirische Wissenschaft systematisch ausgearbeitet. In
ua Metaphysik E, 1, 1026 a 27-30; De part an., I, 1, 641 a32 ff.
164Besonders streng hebt Kant in seinen ethischen Schriften die reine Philosophie von
der Anthropologie ab (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad.-Ausg.,
S. 387-390, 408-412, 425-428; Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-
Ausg., S. 8).
m Kritik der reinen Vernunft A 848; B 876.
334 Wesenserkenntnis

sein.enldeen (1913) präsentiert er die transzendentale Phänomenologie


als eine reine Wesenswissenschaft: Gegenüber der Psychologie "wird die
reine' oder transzendentale Phänomenologie nicht als Tatsachenwissen-
schaft,, sondern als Wesenswissenschaft (als „eidetische" Wissenschaft)
begrünclet· werden; als eine Wissenschaft, die ausschließlich ,Wesenser-
kenntnisse• feststellen will und durchaus keine ,Tatsachen•. " 156 Aber
schon, damals ist für ihn transzendentale Phänomenologie als reine
Wesenswissenschaft nicht Philosophie überhaupt. In einem Briefentwurf
an'Karl'Joel vom 11. März 1914 schreibt er: ,,Ich reduziere keineswegs
die Philosophie auf Erkenntnistheorie und Vernunftkritik überhaupt,
geschweige denn auf transzendentale Phänomenologie. Diese ist in mei-
nen Augen eine eigene Wissenschaft, die eidetische Wissenschaft vom
transzendental reinen Bewußtsein und seinen Korrelaten, die in gewisser
Weise alle anderen eidetischen Wissenschaften (das System der formalen
und materialen Ontologien) umspannt, und doch nicht in sich schließt.
Der v~Hständige Entwurf der· Ontologien und die systematische Aus-
führung der ihnen · entsprechenden und zur höchsten Einheit zuriiclt-:-
führenden transzendentalen Phänomenologie ist m. E. die kardinale
Bedirigung der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie, ist ihr
-vollständiges eidetisches Fundament. Des näheren ermöglicht sie allein
ei~e wissenschaftliche. Metaphysik, die es nicht mehr (wie die tran-
szendentale Phänomenologie) mit bloßen idealen Möglichkeiten, sondern
mif•der Wirklichkeit zu. t,un ha,t. Wie Sie sage ich: Die Metaphysik ist
die eigyritliche Wissenschaft von der Realität. Also auch ich wiU eine
Metaphysik, und eine im ernstlichen Sinn wissenschaftliche, nur daß
ich, um di~ Grenzen strenger Wissenschaft rein zu halten, mich vorläufig
n:o'cli in meinen Publikationen bescheide und meine Kraft· auf die
'eideti~clie G~~dlegung (d. h. auf die transzendentale ·Phänomenologie)
kqnzentriere. " 157 Daß die transzendentale Phänomenologie als Eidetik
der ,;Metaphysik" als der „absoluten Wissenschaft der faktischen Wirk-
Iiclikeit:"158 prinzipiell ·(als wissenschaftliches Fundament) voranzugehen
ha,t, ist für Husserl einerseits im spezifischen Wesen des Bevrußtseins
selbst J?egründet: Das Bewußtsein als „Heraklitischer Fluß«·· ist über-

111 A. a. 0., Husserliana III, S. 6.


157 Ms.~F III 1; S; 140 a/b.
1.18 Ms. F 'I 14, S. 24 a. Dieses Ms., das durch das Einleitungsstück der Vorlesungen
„Grundprobleme der 'Ei:hik und Wertlehre" vom Sommersemester 1911 gebildet
wird, enthält prinzipielle Ausführungen über die Idee der Philosophie; vgl. auch
F I 12 (WS 1910/11), S. 57 a.
Die Grundverfassung der Philosophie 335

haupt nur aufgrund von Eide wissenschaftlich erfaßbar159 • Anderer-


seits aber macht Busserl für diese Priorität der philosophischen Eidektik
ein ganz allgemeines wissenschaftstheoretisches Prinzip geltend: ,,Alle
Vernunft im Aposteriori hat ihre Prinzipien a priori, und diese Prin-
zipien sind die Rechtsgründe der objektiven und unbedingten Gültig-
keit. " 160 „Die alte ontologische Lehre, daß die Erkenntnis der ,Mög-
lichkeiten' der der Wirklichkeiten vorhergehen müsse, ist m. E., wofern
sie recht verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine
große Wahrheit. " 161 In den Cartesianischen Meditationen (verfaßt
1929) ist dieser Gedanke so formuliert: ,,Alle Rationalität des Fak-
tums liegt ja im Apriori. Apriorische Wissenschaft ist Wissenschaft
von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft rekurrieren muß,
um letztlich eben prinzipiell begründet zu werden ... "162 „Ist auch
mein eigentliches Interesse, nach der transzendentalen Reduktion auf
mein reines ego, seine, dieses faktischen ego, Enthüllung, so kann
diese Enthüllung zu einer echt wissenschaftlichen nur werden unter
Rekurs auf die ihr, das ist dem ego als einem ego überhaupt zu-
gehörigen apodiktischen Prinzipien, auf die Wesensallgemeinheiten
und Notwendigkeiten, mittels deren das Faktum auf seine rationalen
Gründe, auf die seiner reinen Möglichkeiten zurück.bezogen und da-
mit verwissenschaftlicht (logifiziert) wird. So geht ,an sich' die Wissen-
schaft der reinen Möglichkeiten derjenigen von den Wirklichkeiten vor-
her und macht sie als Wissenschaft überhaupt erst möglich. " 163 „Wenn
wir also eine Phänomenologie rein nach eidetischer Methode als intuitiv-
apriorische Wissenschaft ausgebildet denken, so sind alle ihre Wesens-
forschungen nichts anderes als Enthüllungen des universalen Eidos tran-
szendentales ego überhaupt, das alle reinen Möglichkeitsabwandlungen
meines faktischen und dieses selbst als Möglichkeit in sich faßt. Die
eidetische Phänomenologie erforscht also das universale Apriori, ohne
das ich und ein transzendentales Ich überhaupt nicht erdenklich ist" 164
„Die Erforschung dieses gesamten Apriori, das sich bei der Eigenart der
sich im ego konstituierenden Intersubjektivität zu einem Apriori der
intersubjektiven Intentionalität und der ihrer Leistung intersubjektiver
159 Siehe oben S. 288 f.
100 Ms. F I 10, S. 95 a (1906). Ebenso im Brief an Dilthey vom 5./6. Juli 1911:
"Alle objektive Gültigkeit im Aposteriori hat ihre Prinzipien im Apriori."
161 l decn I (Husserliana III), S. 194.
162 Cartesianische Meditationen S. 181.
163 A. a. 0., S. 106.
m Cartesianische Meditationen, S. 105/06.
336 Wesenserkenntnis

Einheiten und ,Welten' ausweitet, ist die überschwänglich große, aber


durchaus angreifbare und stufenweise zu lösende Aufgabe der transzen-
dentalen Phänomenologie. " 165 „Dieses System des Apriori ist also auch
zu bezeichnen als systematische Entfaltung des universalen im Wesen
einer transzendentalen Subjektivität, also auch Intersubjektivität ein-
geborenen Apriori oder des universalen Logos alles erdenklichen Seins.
Wieder dasselbe besagt, die systematisch voll entwickelte transzendentale
Phänomenologie wäre eo ipso die wahre und echte universale Onto-
logie ... Diese universale konkrete Ontologie (oder auch universale und
konkrete Wissenschaftslehre, diese konkrete Logik des Seins) wäre also
das an sich erste Wissenschaftsuniversum aus absoluter Begründung.
. . . Diese totale Wissenschaft vom Apriori wäre dann das Fundament
für echte Tatsachenwissenschaften und für eine echte Universalphiloso-
. phie im Cartesianischen Sinne, eine universale Wissenschaft vom tat-
sächlich Seienden aus absoluter Begründung. " 166
Nach dieser Begründungsordnung nennt Husserl die eidetische, tran-
szendentale Phänomenologie (die universale Ontologie oder Logik des
Seins) Erste Philosophie und bezeichnet die empirische Philosophie des
Daseins oder des Faktischen (,,Metaphysik") als Zweite Philosophie:
,,Die streng systematisch durchgeführte Phänomenologie des vorhin er-
weiterten Sinnes (nämlich erweitert als eidetische und empirische Phä-
nomenologie) ist identisch mit dieser alle echten Erkenntnisse umspan-
nenden Philosophie (als universale Wissenschaft aus radikaler Selbst-
rechtfertigung). Sie zerfällt in die eidetische Phänomenologie (oder
universale Ontologie) als Erste Philosophie und in die Zweite Philoso-
phie, die Wissenschaft vom Universum der Fakta oder der sie alle
synthetisch beschließenden Intersubjektivität. " 167
Nach diesem wissenschaftstheoretischen Gedanken gelangt die Philo-
sophie dadurch zur Wirklichkeit, daß sie, vorerst als reine universale
Wesenswissenschaft etabliert, nachträglich durch Anwendung auf die
empirische Wirklichkeit diese in ihrer Rationalität absolut begründet.
Als Zweite Philosophie oder „Metaphysik" scheint sie demnach nichts
anderes zu sein als eine letzte Begründung oder Aufklärung aller Tat-
sachenwissenschaften aus den apriorischen Prinzipien der Vernunft. Im
Sinne dieses Kantischen Gedankens schreibt.Husserl auf einem Beiblatt

1815 Logik, S. 218 (geschrieben einige Monate vor den Cart. Medit., im Winter 1928/29).
188 Cartesianische Meditationen S. 181.
191 Husserliana IX. S. 298/99 (19~8).
Die Grundverfassung der Philosophie 337

zu seiner Vorlesung „Erste Philosophie" von 1923/24: ,,In der phäno-


menologischen Interpretation der positiven Tatsachenwissenschaften er-
wachsen die letztwissenschaftlichen Tatsachenwissenschaften, die in sich
selbst philosophischen, die neben sich keine anzuhängenden Sonderphilo-
sophien mehr dulden. Durch die ihnen in Anwendung der eidetischen
Phänomenologie zuwachsende letzte Interpretation des in ihnen als Fak-
tum erforschten objektiven Seins und durch die in dieser Phänomenologie
mitgeforderte universale Betrachtung aller Regionen der Objektivität
in bezug auf die universale Gemeinschaft transzendentaler Subjekte ge-=
winnt das Weltall, das universale Thema der positiven Wissenschaften,
,metaphysische' Interpretation, was nichts anderes heißt als eine Inter-
pretation, hinter der eine andere zu suchen keinen wissenschaftlichen
Sinn gibt." 168 Oder einige Jahre später (1928): ,,Die empirische, der
eidetischen nachkommende Phänomenologie ist identisch mit dem voll-
ständigen systematischen Universum der positiven Wissenschaften, wo-
fern wir sie nur von vornherein methodisch absolut begründet denken
durch die eidetische Phänomenologie. "169
Doch geht in Busserls Reflexion die Philosophie der Wirklichkeit
nicht in dieser eidetisch-phänomenologischen Interpretation der Tat-
sachenwissenschaften auf. In den / deen schreibt er, nachdem von der
„durch die eidetische Phänomenologie ermöglichten ,phänomenologischen
Umwendung' der gewöhnlichen Tatsachenwissenschaften" die Rede war:
,, ... es bleibt nur die Frage übrig, inwiefern von da aus ein Weiteres zu
leisten wäre" 170, und in jenem Beiblatt zur „Ersten Philosophie"
(1923 /24) folgt den oben zitierten Sätzen die Bemerkung: ,,Aber dahin-
ter eröffnet sich auf phänomenologischem Boden eine weiter nicht mehr
zu interpretierende Problematik: die der Irrationalität des transzenden-
talen Faktums, das sich in der Konstitution der faktischen Welt und des
faktischen Geisteslebens ausspricht: also Metaphysik in einem neuen
Sinn. " 171 Im selben Sinn stellt Busserl schon in sehr frühen Texten das
168 Husserliana VII, S. 188, Anm.
iu 9 H11sserliana IX, S. 298 (1928). In ähnlichem Sinne schon in der Vorlesung „Grund-
probleme der Ethik und Wertlehre" vom SS 1911: ,,Nennen wir die auf das
faktische Sein bezogene Wissenschaft, sofern sie absolute Wissenschaft, höchsten
Interessen genügend sein will, Metaphysik, so ist es klar, daß Metaphysik nichts
anderes ist als Fortführung aller aktuellen Natur- und Geisteswissenschaften als
ihre Vollendung, Vervollkommnung, Philosophierung, nämlich nach den in den
reinen ( = apriorischen) philosophischen Disziplinen ausgebildeten Prinzipien, nach
den in ihnen rein ausgestalteten Ideen und Idealen" (F I 14).
170 H11sserliana III, S. 149.
171 Husserliana VII, S. 188 Anm. (meine Hervorhebung).
338 Wesenserkenntnis

Faktum, daß die faktisch gegebene Wirklichkeit theoretischen und prak-


tischen Vernunftidealen entspricht (das irrationale Faktum der Ratio-
nalität der Welt) bzw. das Problem, inwiefern sie diesen Idealen ent-
spricht und entsprechen kann, als Gegenstand der Metaphysik. hin172 •

172 „Die transzendentale Phänomenologie reduziert diese Geltung (der logischen


Gesetze) auf Wesenszusammenhänge, auf Zusammenhänge möglichen Bewußtseins,
dessen Möglichkeiten gegeben sind. Logische Gesetze gelten sicherlich absolut, ihr
Apriorisches weist sich phänomenologisch aus. Sicherlich liegen auch in den logischen
Gesetzen die Quellen aller methodischen Normen. Aber logische Gesetze allein tun
es doch nicht. Sie gestatten es faktisch, im faktischen Ablauf des Bewußtseins eine
Natur methodisch zu erkennen, eine Natur, die sich gar vernünftig gebärdet; aber
warum müssen logische Gesetze ein Feld der Anwendung haben? In einer faktischen
Natur? Die transzendentale Logik, als transzendental auf das Bewußtsein zurück-
geführte, enthält die Gründe zu einer möglichen Natur, aber nichts von einer
faktischen. Diese Faktizität ist das Feld nicht der Phänomenologie und Logik,
sondern das der Metaphysik" (H11Sserliana VII, S. 394 (wohl 1908)). ,,Der Geist
in einer Natur und Anpassung des Geistes an seine Natur, Entwicklung von
erkennenden Geistern, Entwicklung von Wissenschaften und Kulturtaten der Mensch-
heit überhaupt - das hat auch seine philosophischen Seiten; aber keine erkenntnis-
theoretischen, keine solchen, die zur Ersten Philosophie gehören; nicht zur ersten,
sondern zur ,letzten Philosophie', würde ich sagen. Andererseits stellt sich heraus,
daß, was wir Apriorisches finden ..., daß das seine Quelle in der transzendentalen
Phänomenologie hat" (a. a. 0. S. 385 (wohl 1908)). ,,Aber daß nach den ideal
normativen Gesetzen sich eine einheitliche und sohin rationale Bewußtseinsordnung
muß herstellen lassen, daß es eine Natur muß geben können und eine Kultur und
eine Entwicklung der Natur, die Kultur ermöglicht, und eine Entwicklung der
Kultur im Sinn idealer Kultur, das ist nicht (a priori) ,notwendig'. Oder gibt es
dafür eigentümliche Quellen der Notwendigkeit? Das hieße Gott demonstrieren"
(Ms. B I 4, S. 2 {1908 oder 1909)). ,,Die physische Natur, das Leben, die Geister-
welt mit ihren mannigfachen historischen Kulturgestalten ist nicht nur Gegeben-
heit des theoretischen Bewußtseins, sondern auch des wertenden und wollenden
Bewußtseins. Sie fordert also auch normative Beziehung auf die axiologischen und
praktischen Prinzipienlehren und fordert Anmessung an die höchsten Seins- und
Lebensideale, die sich zum Ideal des allervollkommensten Seins und Bewußtseins,
also zum absoluten theologischen Ideal zusammenschließen. Und hier ergibt sich in
Beziehung auf die faktisch gegebene Wirklichkeit, die wir uns schon als theoretisch
erkannte denken, ein letztes Seinsproblem, zu dem sich die Menschheit von früh auf
gedrängt fand: nämlich das Problem der realen Bedeutung der Gottesidee oder
das Problem der Schöpfung, das Problem der realisierenden Kraft absoluter Ideale.
Kann überhaupt eine Idee, und nun gar die Gottesidee, als die oberste normative
Idee möglicher Weltwirklichkeit überhaupt das faktische Dasein (das faktische Sein,
Sosein, Sich-so-fortentwickeln) der Wirklichkeit nid1t nur normativ, sondern reali-
sierend regeln? Kann solche Regelung überhaupt einen Sinn haben, und welchen
Sinn kann sie haben? Und wieder, wenn das letztere, kann man, und nach welcher
Methode kann man entsd1eiden, ob diese faktische Welt faktisch eine Gotteswelt
ist?" (Vorlesung „Grundprobleme der Ethik und Wertlehre", SS 1911, Ms. F I 14,
S. 22 b / 23 a). »Daß die Probleme der wissenschaftlichen Teleologie, zunächst als
reiner und dann als empirischer Teleologie, alsbald in die Metaphysik führen, ist
klar. Sie führen dazu, insofern die Erkenntnis einer eventuellen faktischen Teleolo-
Die Grundverfassung der Philosophie 339

Die Cartesianischen Meditationen schließlich charakterisieren den Gehalt


dieser Metaphysik folgendermaßen: ,, ... innerhalb der faktischen mona-
dischen Sphäre, und als ideale Wesensmöglichkeit in jeder erdenklichen,
treten alle die Probleme der zufälligen Faktizität, des Todes, des Schick-
sals auf, der in einem besonderen Sinne als ,sinnvoll' geforderten Mög-
lichkeit eines ,echten' menschlichen Lebens, darunter also auch die Pro-
bleme des ,Sinnes' der Geschichte und so weiter aufsteigend. Wir können
auch sagen, es sind die ethisch-religiösen Probleme, aber gestellt auf den
Boden, auf den alles, was für uns soll möglichen Sinn haben können, eben
gestellt sein muß. " 173
Die letzten Fragen der Philosophie, die zwar die Faktizität, die
Geschichte der Vernunft betreffen, aber nicht in der bloßen transzenden-
talen (eidetischen) Interpretation und ethischen Bestimmung dieser Ge-
schichte aufgehen, sind nach Husserl die „teleologischen", die „ethisch-
religiösen", die „theologischen" Fragen. Sie gehen um das „Schicksal"
der Vernunft, sofern dieses nicht bloß als Faktum zur Kenntnis genom-
men und eidetisch interpretiert werden kann, sondern über den Sinn
des ethisch zu lebenden Lebens, über die teleologische Selbstverwirklichung
der Vernunft, für die die irrational bedingte, der äußeren Zerstörung
und dem Tod unterworfene Vernunft nicht allein aufzukommen vermag,
entscheidet. Es sind nicht mehr Fragen innerhalb der Zweiten Philoso-

gie der gegebenen Natur und Geisteswelt die Frage erregen, wie es zu verstehen sei,
daß das absolute Sein, das in allen empirischen und von allen Unklarheiten gerei-
nigten Wissenschaften zur Erkenntnis kommt, teleologisch sei, Wertideen gemäß sei"
(aus der Vorlesung „Logik als Theorie der Erkenntnis" WS 1910/11; Ms. F I 12,
S. 57 a). Vgl. auch die Ideen I, § 58.
173 Husserliana I, S. 182; so fast wörtlich in den „Pariser Vorträgen", a. a. 0., S. 39.

Ahnlich auch schon in einem Text aus 1921: ,,Nur der phänomenologische Idealis-
mus gibt dem Ich und gibt der absoluten kommunikativen Subjektivität (die das
,Absolute der Menschheit ist) die wahre Autonomie und gibt ihm Kraft und sinn-
volle Möglichkeit der absoluten Selbstgestaltung und der Gestaltung der Welt nach
seinem autonomen Willen. Und nur diese absolute Subjektivität ist dann das Thema
der weiteren absolut gerichteten Forschungen, so aller theologischen und teleolo-
gischen Forschungen, zu denen alle absoluten Fragen der Entwicklung und des
„Sinnes" - des transzendental-teleologischen - aller Geschichte gehören. Absolut
betrachtet, hat jedes ego seine Geschichte, und es ist nur als Subjekt einer, seiner
Geschichte. Und jede kommunikative Gemeinschaft von absoluten Ich, von abso-
luten Subjektivitäten - in voller Konkretion, zu der die Konstitution der Welt
gehört - hat ihre ,passive' und ,aktive' Geschichte und ist nur in dieser Geschichte.
Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins; und die letzten Fragen,
die letztmetaphysischen und -teleologischen, sind eins mit den (Fragen) nach dem
absoluten Sinn der Geschichte" (Husserliana VIII, S. 506; z. T. meine Hervor-
hebung).
340 Wesenserkenntnis

phie, sondern ihre »Grenzfragen", die auch uns als der »Skandal" der
Vernunft in den ethischen Überlegungen berührten174 • Für diese Fragen
weist Husserl auf die Postulate der praktischen Vernunft als „die viel-
leicht größte der Kantischen Entdeck.ungen" 175•
Doch konzentrieren wir uns nochmals auf das uns in diesem Para-
graphen leitende Problem der Unterscheidung zwischen Erster (reiner,
eidetischer) und Zweiter (empirischer) Philosophie! Busserl stellt in allen
diesbezüglichen Texten bis zu den im siebzigsten Altersjahr geschriebenen
Cartesianischen Meditationen die eidetische Philosophie ( = transzenden-
tale Phänomenologie als absolute Ontologie oder Logik) als Wissenschaft
reiner Möglichkeiten hin. Auch „das reine Ich", das Husserl seit den
Ideen (1913) als ins „Feld" der transzendentalen Phänomenologie ge-
hörig betrachtet, soll eine der Wirklichkeit vorausgehende reine Möglich-
keit, ,,Ich überhaupt", sein. Aber in seinen allerletzten Jahren stößt er
diese Auffassung völlig um und stellt dadurch allerdings auch seine an
der Priorität der reinen Möglichkeit vor der Wirklichkeit orientierte
Unterscheidung von Erster und Zweiter Philosophie überhaupt in Frage.
Ein Text aus dem Jahre 1931 erklärt vom Eidos transzendentales Ich:
„Wir haben hier einen merkwürdigen und einzigartigen Fall, nämlich
für das Verhältnis von Faktum und Eidos. Das Sein eines Eidos, das
Sein der eidetischen Möglichkeiten und das Universum dieser Möglich-
keiten ist frei vom Sein oder Nichtsein irgendeiner Verwirklichung sol-
cher Möglichkeiten, es ist seinsunabhängig von aller Wirklichkeit, näm-
lich entsprechender. Aber das Eidos transzendentales I eh ist undenkbar
ohne transzendentales Ich als faktisches. Solange ich, im Faktum meiner
transzendentalen Subjektivität und der mir geltenden Welt stehend,
abwandle und zum Eidos übergehend systematisch forsche, stehe ich in
der absoluten Ontologie und korrelativ in der mundanen Ontologie."
Nachdem von der vollen Ontologie als Teleologie und von der durch
diese vorausgesetzten Faktizität die Rede war, geht der Text weiter:
,,Wir kommen.auf letzte ,Tatsachen' - Urtatsachen, auf letzte Not-
wendigkeiten, die Urnotwendigkeiten. Aber ich denke sie, ich frage
zurück und komme auf sie schließlid1 von der Welt her, die ich schon
,habe'. Ich denke, ich übe Reduktion, ich, der ich bin, für mich in dieser
Horizonthaftigkeit bin. Ich bin das Urfaktum in diesem Gang, ich er-
kenne, daß zu meinem faktischen Vermögen der Wesensvariation etc.

174 Siehe oben, § 42, S. 227.


175 Vgl. meine Studie Busserl urid Kant, Nijhoff, 1964, S. 300-303.
Die Grundverfassung der Philosophie 341

in meinem faktischen Rückfragen sich die und die mir eigenen Urbe-
stände ergeben, als Urstrukturen meiner Faktizität. Und daß ich in mir
einen Kern von ,Urzufälligem' trage in Wesensformen, in Formen ver-
möglichen Funktionierens, in denen dann die weltlichen Wesensnotwendig-
keiten fundiert sind. Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten
und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also
die absolute Wirklichkeit. Das Absolute hat in sich selbst seinen Grund
und in seinem grundlosen Sein seine absolute Notwendigkeit als die eine
,absolute Substanz'. Seine Notwendigkeit ist nicht Wesensnotwendigkeit,
die ein Zufälliges offen ließe. Alle Wesensnotwendigkeiten sind Momente
seines Faktums, sind Weisen seines in bezug auf sich selbst Funktionie-
rens - seine Weisen, sich selbst zu verstehen oder verstehen zu kön-
nen. "176 Diese Überlegung steht in einem Kontext, der vom Faktum der
teleologischen Ausrichtung der vom göttlichen Willen getragenen tran-
szendentalen Intersubjektivität auf Vollkommenheit (,,wahres Sein")
ausgeht. Nicht nur das „Urfaktum" des Ich, sondern auch das Faktum
seiner historischen \Velt überhaupt scheint den Ausgangspunkt der „letz-
ten Philosophie" Busserls zu bilden 177, so daß hier manches an Hei-
deggers Hermeneutik der Faktizität erinnert. Jedoch ist es nach dieser
Wandlung bei Husserl nicht mehr zu einer systematischen und prinzipiel-
len Ausarbeitung des Verhältnisses zwischen Eidetik (an der er als
Bedingung der Möglichkeit transzendentaler Erkenntnis unerschüttert
festhält), Wirklichkeit und empirischem Faktum gekommen.

b) Absolute Einheit der Philosophie (Hegel)

Durch die vorangehenden Darstellungen haben wir versucht, unserer


Unterscheidung von Erster und Zweiter Philosophie eine Unterstützung
durch die Philosophiegeschichte zu verleihen. In der Geschichte der
Philosophie stoßen wir aber auch auf Philosopheme, die gegen eine
solche radikale Unterscheidung sprechen, Philosophie vielmehr als eine

170 Husserliana XV, Nr. 22, S. 385/6. Vgl. den Text im Ms. D 17, S. 21 a (Mai 1934),
der veröffentlicht ist in Philosophical Essays in Memory of E. Busserl, cd. M.
Farbcr, Cambridge, Mass., Harvard University Press, 1940 (2. Aufl. 1970), S. 323:
„Das ego lebt und geht allem wirklichen und möglichen Seienden voran, und
Seienden jedes, ob realen oder irrealen Sinnes."
177 Siehe z.B. auch Httsserliana XV, Nr. 38, S. 666 ff.
342 Wesenserkenntnis

in ihrer inneren Artikulation einfache, sozusagen „kreisrunde" Einheit


ausgeben. Bevor wir eine solche „monistische" Philosophie historisch be-
trachten, wollen .wir ganz abstrakt den formalen Bedingungen nach-
gehen, die eine Philosophie voraussetzen muß, wenn sie durchgängig als
eine solche Einheit auftreten will.
Der radikale Unterschied zwischen Erster und Zweiter Philosophie
muß sich auflösen, wenn das Prinzip und Thema der Philosophie, die
Vernunft, als absolute oder totale gedacht wird, d. h. wenn die Vernunft
nichts ·(als ihr Fundament und Milieu) enthielte, was im Verhältnis zu
ihr ein prinzipiell eigenes und selbständiges Leben und nicht schon selbst
vernünftig (aus Vernunft) wäre. Denn eine solche Konzeption der Ver-
nunft würde bedeuten, daß alles, was als geschichtliche Gestalten der
Vernunft betrachtet würde, rein· aus der Vernunft selbst bestimmt und
damit rein aus ihr selbst begreiflich sein müßte. Nichts wäre demnach
in den Gestalten der Vernunft nicht durch sie selbst verursacht, nichts
wäre 'ihr in diesem Sinne radikal „zufällig", sondern alles aus ihr selbst
zu begreifen und in diesem Sinne „notwendig". Sie wäre „ausreichender
Grund" aller ihrer Gestalten. Es wäre demnach keine Zweite Philosophie
erforderlich, die es mit einer bloß empirischen, durch anderes als die
Vernunft selbst bestimmten Geschichte der Vernunft zu tun hat, mit
einer „Mischung" von Vernunftbestimmungen und eigenständigem Ver-
nunftlosem, sondern die Betrachtung der Geschichte der Vernunft, auf-
gefaßt als Geschichte der absoluten oder totalen „Vernunft", wäre letzt-
lich nur die Betrachtung des Wesens der „Vernunft", d. h. die Geschichte
der absoluten Vernunft müßte ganz aus ihrem Wesen hervorgehen und
damit auch in dieses zurückführbar sein. Natürlich wäre das Wesen der
Vernunft ein ganz anderes, als wir es umrissen, die Vernunft wäre eben
eine andere. Sie w~re nicht die bedingte Vernunft, deren Wesen in reiner
Reflexion erkannt wird und das selbst die Möglichkeit einer empirischen
(Zweit~n) Philosophie eröffnet, sondern eine „höhere", absolute „Ver-
nunft", .die nur ·auf irgendeinem anderen „höheren" Wege zugänglich
sein, könnte. Eigentlich dürfte für. diese absolute „Vernunft" gar nicht
dass.elbe Wort „Vernunft" gebraucht werden, es sei denn irgendwie
,,per eminentiam" oder „per analogiam", und in einem noch zu recht-
fertigenden Sinne. Diese absolute „Vernunft" könnte verschiedene Na-
men· führen, je nach dem Zugangsweg, auf dem sie erkannt werden soll.
Ist dieser ein religiöser, so kann sie „Gott" oder „unendlicher Geist"
heißen, ist er ein· gesellschaftlicher, so ist es etwa „die Gesellschaft'' oder
„die Menschheit", die ab~r als absolute „Vernunft" und· nicht bloß als
Die Grundverfassung der Philosophie 343

faktischer intersubjektiver Verband durch Vernunftloses bedingter Ver-


nunftwesen gedacht wäre.
Die weiteste Gestalt einer Philosophie als Eines Systems ist sicher
die Hegelsche. An ihr können die Bedingungen und die Verfassung einer
Einheitsphilosophie genauer illustriert werden. Im Schlußparagraphen
seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften erklärt Hegel,
daß die Philosophie „die sich wissende Vernunft, das Absolut-Allge--
meine, zu ihrer Mitte hat"; Natur und endlicher Geist sind Manifesta-
tionen dieser Vernunft, die als „ewige an und für sich seiende Idee sich
ewig als absoluter Geist betätigt, erzeugt und genießt" 178 • Diese gött-
liche, absolute „Vernunft" ist gemeint, wenn Hegel alles Wirkliche als
vernünftig ausgibt179, und aus dieser „Vernunft" kann nach Hegel über-
haupt erst ausgemacht und begriffen werden, was wirklich ist. Die abso-
lute Einheit oder „Totalität" dieser göttlichen „Vernunft" oder Idee,
in der alle Unterschiede nur unselbständige, dialektisch aus ihr selbst
entwickelte und in ihr selbst aufgehobene Momente sind, gewährt der
Hegelschen Philosophie ihre absolute Einheit. ,,Das Ganze der Philoso-
phie macht daher wahrhaft Eine Wissenschaft aus. " 180 Sie ist wesentlich
„System, weil das Wahre als konkret nur als sich in sich entfaltend und
in Einheit zusammennehmend und haltend, d. i. als Totalität ist ... " 181•
Die Geschichte der „Vernunft" ist von diesem „Standpunkt" nicht die
Verstrickung der Vernunft mit dem in ihr radikal Vernunftlosen, das
auch noch als Vermittelndes in der Vergeistigung seine ursprüngliche
Selbständigkeit bewahrt und eben wegen dieser ursprünglichen und nicht
bloß dialektischen Fremdheit durch keine „Negation der Negation" in
ein „bloßes Moment" der Vernunft aufzulösen ist, sondern die ·Ge-
schichte dieser absoluten „Vernunft" ist reine Auseinandersetzung in ihr
selbst, Selbstentfaltung, immanente Selbstbewegung, dialektische· Selbst-
unterscheidung und daher den Unterschied immer schon übergreifende
Selbstverrnittlung (,,sich in sich selbst mit sich vermittelnd"). Diese Ge-
schichte muß demnach von der Philosophie Hegels als dialektisch not-
wendige Entwicklung der Vernunftidee oder des „Begriffs" begriffen
werden, da die Wirklichkeit der Geschichte eben nichts anderes als die
,,Vernunft" oder „Idee" ist.

118 Enzyklopädie, § 577.


179 Vgl. die Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, Orig.-Ausg.,
S. XIX f., und die Enzyklopädie, § 6.
180 Enzyklopädie, § 16.
181 A. a. 0., § 14.
344 Wesenserkenntnis

Nun kennt Hegels Philosophie aber auch den Begriff des Zufa!!s 182 •
Der Zufall besteht in der Ä1tßerlichkeit der Idee als Natur. Weil die
Natur das „Außersichsein des Begriffs" ist, besteht in ihr „der Wider-
spruch der einerseits durch den Begriff gezeugten Notwendigkeit ihrer
Gebilde und deren in der organischen Totalität vernünftigen Bestim-
mung, - und andererseits deren gleichgültigen Zufälligkeit und unbe-
stimmbaren Regellosigkeit" 183 • Sofern die Natur Idee oder Begriff ist,
ist sie notwendig, sofern sie aber wesenhaft Außersichsein oder Ent-
äußerung der Idee ist, ist sie zufällig. In diesem einseitigen Moment der
Kußerlichkeit besteht die „Ohnmacht der Natur, die Strenge des Be-
griffs nicht festhalten und darstellen zu können" 184 • Diese Kußerlichkeit
als solche ist nun aber keineswegs ein der Idee selbst radikal Fremdes,
sondern ein von ihr selbst notwendig gesetztes Anderes ihrer selbst (als
die von ihr selbst gesetzte Bedingung ihrer Entäußerung). Der Zufall
als solcher ist also notwendig, begrifflich einsehbar, aber nicht das viele
einzelne Zufällige, in das sich der Begriff als in sein Außersichsein ver-
läuft und in ihm seinen notwendigen Zusammenhang verliert. Hegel
anerkennt demnach das Zufällige, d. h. das nicht rein aus dem Begriff
oder der Vernunft Begreifliche, und zwar nicht nur in der bloßen Natur,
sondern auch in dem von Natur behafteten objektiven und subjektiven
Geist: ,,Die Rechtswissenschaft z.B. oder das System der direkten und
indirekten Abgaben erfordern letzte genaue Entscheidungen, die außer
dem An- und für sich Bestimmtsein des Begriffes liegen und daher eine
Breite für die Bestimmung zulassen, die nach einem Grunde so und nach
einem anderen anders gefaßt werden kann und keines sicheren Letzten
fähig ist. Ebenso verläuft sich die Idee der Natur in ihrer Vereinzelung
in Zufälligkeiten; und die Naturgeschichte, Erdbeschreibung, Medizin
usf. gerät in Bestimmungen der Existenz, in Arten und Unterschiede, die
von äußerlichem Zufall und vom Spiele, nicht durch Vernunft bestimmt
sind. Auch die Geschichte gehört hierher, insofern die Idee ihr Wesen,
deren Erscheinung aber in der Zufälligkeit und im Felde der Will-
kür ist." 185
Es gibt also nach Hegel geistige Gestalten und Ereignisse, die zufällig
sind. Für eine Einheitsphilosophie, die sich rein in der Vernunft oder im

182 Vgl. D. Henrich, ,,Hegels Theorie über den Zufall" (1958/59), neu erschienen in
Hegel im Kontext, Frankfurt, Suhrkamp 1971, S. 157-186.
183 Vgl. Logik, ed. Lasson, 1934, II, S. 247. Enzyklopädie, § 250.
184 Logik, II, S. 247 (ebenso Enzyklopädie,§ 250).
18 5 Enzyklopädie, § 16.
Die Grundverfassung der Philosophie 345

Begriff bewegt, muß nun aber dieses mannigfaltige Zufällige, wenn sie
es überhaupt wie Hegel im Prinzip anerkennt, ganz außerhalb der
Philosophie fallen. Es gibt für sie nur zwei Möglichkeiten: Sie muß
entweder etwas als ein sich aus dem Vernunftbegriff ergebendes notwen-
diges Moment oder aber als überhaupt nicht zum Gegenstand der Philo-
sophie gehörig erklären. Dem entspricht Hegel: ,, ... das Vernünftige,
was synonym ist mit der Idee, indem es in seiner Wirklichkeit zugleich
in die äußere Existenz tritt, tritt in einem unendlichen Reichtum von
Formen, Erscheinungen und Gestaltungen hervor und umzieht seinen
Kern mit der bunten Rinde, in welcher das Bewußtsein zunächst haust,
welche der Begriff erst durchdringt, um den inneren Puls zu finden und
ihn ebenso in den äußeren Gestaltungen noch schlagend zu fühlen. Die
unendlich mannigfaltigen Verhältnisse aber, die sich in dieser Kußer-
lichkeit, durch das Scheinen des Wesens in sie, bilden, dieses unendliche
Material und seine Regulierung, ist nicht Gegenstand der Philosophie. " 186
Das Herausfallen dieser zufälligen Formen, Erscheinungen und Gestal-
tungen aus der Philosophie kann nach Hegel zwar keinen großen Ver-
lust bedeuten, denn sie sind nach ihm bloß das „Äußerliche", die
„Schale", das „Nichtige", das „Eitle", das „Wesenlose". ,,Alles, was
nicht ... durch den Begriff gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes
Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, wesenlose Erscheinung, Un-
wahrheit, Täuschung usf. "187• Die Frage ist jedoch, ob dieses vorüber-
gehende und zufällige Dasein, insofern es sich um vorübergehendes und
zufälliges Dasein vernünftiger Wesen handelt, nicht doch für das In-
teresse an der Vernunft, das die Philosophie leitet, von Bedeutung ist,
auch wenn dieses Dasein nicht in der ewigen Vernunftidee als notwendi-
ges Moment eingeschrieben und insofern nichtig sein soll. Hegel gibt
auf diese Frage konsequenterweise eine negative Antwort: Die Philoso-
phie als „absolute Aufgabe, die Schöpfung der Welt als Begriff zu
fassen" 188, hat es mit der ewigen Idee, mit der Bewegung der ewigen
Wesenheit als sich immanent entwickelnder Totalität zu tun, die nach
ihm allein das Wirkliche in der Zeit ausmacht, und nicht mit der
bloßen Erscheinung der Idee, die „in der Zufälligkeit und im Felde der
Willkür" ist. Das Zeitliche als solches ist bloße, in sich eitle, unwahre
Erscheinung der wahren Idee als der „ewigen Schöpfung" 189• Aus dieser
188 Grundlinien der Philosophie des Rechts, Orig.-Ausg.- S. XX.
187 A. a. 0., § 1.
1ee A. a. O., ed. Lassen, S. 20 Anm.
1so Vgl. a. a. O., § 214, 257.
346 Wesenserkenntnis

Sicht polemisiert er auch gegen denjenigen „Verstand", der unter Beru-


fung auf die philosophische Idee als auf ein bloßes Sollen politische und
soziale Zustände verändern will; die philosophische Idee ist immer schon
wirklich, sie ist überhaupt das „Wirkliche", und die zu verändernden
gesellschaftlichen Einrichtungen sind für diese Idee eine Äußerlichkeit:
,,Wenn er (jener „Verstand") sich mit dem Sollen gegen triviale, äußer-
liche und vergängliche Gegenstände, Einrichtungen, Zustände usf. wen-
det, die etwa auch für eine gewisse Zeit, für besondere Kreise eine große
relative Wichtigkeit haben mögen, so mag er wohl recht haben und in
solchem Falle vieles finden, was allgemeinen richtigen Bestimmungen
nicht entspricht; wer wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles
zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll? Aber diese Klug-
heit hat unrecht sich einzubilden, mit solchen Gegenständen und deren
Sollen sich innerhalb der Interessen der philosophischen Wissenschaft zu
befinden. Diese hat es nur mit der Idee zu tun, welche nicht so ohn-
mächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein, und damit mit
einer Wirklichkeit, an welcher jene Gegenstände, Einrichtungen, Zu-
stände usf. nur die oberflächliche Außenseite sind. " 190
Diese Darstellung des Verhältnisses der Hegelschen Einheitsphiloso-
phie zum Zufälligen mag zutreffen, aber es muß noch einiges mehr gesagt
werden. Denn diese Darstellung ist nur „abstrakt" oder „einseitig", in-
dem sie dieses Verhältnis sozusagen nur am Ende der Philosophie und
nicht in ihrem Gange, in ihrer Verwirklichung betrachtet. Tatsächlich
hat es die Philosophie Hegels doch mit Zufälligem zu tun. Dies wird
dort deutlich, wo er das Verhältnis der Philosophie zu den empirischen
oder positiven Wissenschaften bestimmt. Er erklärt im § 12 der Enzy-
klopädie, daß die Philosophie in ihrer Entstehung zunächst ein negatives
Verhältnis zur Erfahrung habe, indem sich das Denken über die Erfah-
rung „in das unvermischte Element seiner selbst erhebt". In diesem
Element des reinen Denkens erfaßt die Philosophie das Apriorische, die
Allgemeinheit des Denkens und ist gegen alle Besonderung gleichgültig
und insofern abstrakt. Aus dieser „ersten abstrakten Allgemeinheit des
Denkens" wird nun aber die Philosophie von den Erfahrungswissen-
schaften hinausgetrieben, indem diese „den Reiz mit sich bringen, die
Form zu besiegen, in welcher der Reichtum ihres Inhalts als ein nur
Unmittelbares und Gefundenes, nebeneinander gestelltes Vielfaches, da-
her überhaupt Zufälliges geboten wird, und diesen Inhalt zur Notwen-

180 Enzyklopädie, § 6.
Die Grundverfassung der Philosophie 347

digkeit zu erheben, - dieser Reiz reißt das Denken aus jener All-
gemeinheit und der nur an sich gewährten Befriedigung heraus und
treibt es zur Entwickelung von sich aus. Diese ist einerseits nur ein Auf-
nehmen des Inhalts und seiner vorgelegten Bestimmungen und gibt
demselben zugleich andererseits die Gestalt, frei im Sinne des ursprüng-
lichen Denkens nur nach der Notwendigkeit der Sache hervorzuge-
hen. " 191 Die Philosophie tritt also in einer zweiten Phase aus ihrer ersten
Abstraktheit des nur in sich seienden Denkens hinaus, indem sie den in
der Form des Zufälligen gebotenen Inhalt der Erfahrungswissenschaften
„aufnimmt", und d. h. sie „anerkennt", sich in sie „vertieft" und von
ihnen „lernt" 192 : ,,Das Verhältnis der spekulativen Wissenschaft zu den
anderen Wissenschaften ist insofern nur dieses, daß jene den empirischen
Inhalt der letzteren nicht etwa auf der Seite läßt, sondern ihn anerkennt
und gebraucht, daß sie ebenso das Allgemeine dieser Wissenschaften, die
Gesetze, die Gattung usf. anerkennt und zu ihrem eigenen Inhalte ver-
wendet, daß sie aber auch ferner in diese Kategorien andere einführt und
geltend macht. " 193 Es ist ganz offensichtlich, daß Hegel in dieser Diffe-
renzierung der Philosophie in eine Phase „der ersten abstrakten All-
gemeinheit des Denkens" und in eine nachfolgende Phase der Entwick-
lung un~ Besonderung aufgrund der Erfahrung seine Unterscheidung
der Philosophie in Logik und Realphilosophien, die die Philosophie der
Natur und die Philosophie des Geistes umfassen, zum Ausdruck bringt.
So gesehen scheinen wir in Hegels Unterscheidung von Logik und
Realphilosophie unsere Unterscheidung von Erster oder apriorischer und
Zweiter oder empirischer Philosophie wiedererkennen zu können. Hegels
Realphilosophie nimmt den als Zufälliges gebotenen Inhalt der Erfah-
rungswissenschaften auf und versteht ihn durch die Kategorien der Lo-
gik, d. h. durch die in dieser erkannten „reinen Wesenheiten", auf denen
„die Entwicklung alles natürlichen und geistigen Lebens beruht", wie
unsere Zweite Philosophie das empirisch festgestellte Werden der Ver:..
nunft durch die Wesensbegriffe der Ersten interpretiert. Doch von Hegels
Standpunkt der totalen Vernunft kann dieser Unterschied kein radikaler
und letzter sein, sondern muß sich in den Kreis einer höheren Einheit
aufheben. Hegel betont denn auch immer, daß das Aufnehmen der
Erfahrung „zugleich ein Entwickeln des Denkens aus sich selbst" 194 sei.

101 A. a. 0., ed. Lasson, S. 44.


192 Vgl. die Vorrede zur zweiten Auflage der Enzyklopädie, ed. Lasson, S. 7.
103 A. a. 0., § 9.
194 A. a. 0., § 12; Hervorhebung z. T. von mir.
348 Wesenserkenntnis

Das Denken bewahrt in diesem Aufnehmen seine ursprüngliche Reinheit


und Freiheit des Bei-sich-seins, indem es rein aus sich selbst den empi-
rischen, zufälligen Inhalt in einen apriorischen, notwendigen verwan-
delt: ,,Die empirische Welt denken, heißt ... wesentlich ihre empirische
Form umändern und sie in ein Allgemeines verwandeln; das Denken
übt zugleich eine negative Tätigkeit auf jene Grundlage aus; der wahr-
genommene Stoff, wenn er durch Allgemeinheit bestimmt wird, bleibt
nicht in seiner ersten empirischen Gestalt. Es wird der innere Gehalt
des Wahrgenommenen mit Entfernung und Negation der Schale heraus-
gehoben. "195 „Indem die Philosophie so ihre Entwicklung den empi-
rischen Wissenschaften verdankt, gibt sie deren Inhalt die wesentlichste
Gestalt der Freiheit (des Apriorischen) des Denkens und die Bewäh-
rung der Notwendigkeit, statt der Beglaubigung des Vorfindens und der
Tatsache, daß die Tatsache zur Darstellung und Nachbildung der ur-
sprünglichen und vollkommen selbständigen Tätigkeit des Denkens wer-
de. "196 Die Philosophie Hegels gewinnt also ihre totale Einheit, indem
sie das Empirische in den apriorischen Notwendigkeitszusammenhang
der totalen Vernunft aufhebt.
Die Philosophie Hegels hat es also vorübergehend, aber nur vor-
übergehend, mit Zufälligem, nicht Notwendigem, zu tun. Vor (in der
Logik) und nach ihrer „Entwicklung" zur Realphilosophie kennt sie
nichts Zufälliges, wohl aber im Gange ihrer „Entwicklung" selbst. Und
zwar hat sie es in diesem Gang nicht nur mit demjenigen empirischen
Zufälligen zu tun, das sie in die Notwendigkeit des Denkens verwan-
deln· und damit in das reine Denken aufnehmen kann, sondern auch mit
all demjenigen, das „auf der Strecke bleibt" und wovon sie nachträglich
erklärt, daß es als „Wesensloses" etc. nicht Gegenstand der Philosophie
sei. Zum vornherein kann sie ja von nichts empirisch Dargebotenem
sagen, daß es bloß zufällig sei. Denn für die „zufällige und oberfläch-
liche Außenseite" als solche gibt es, weil sie auf keinem eigenen Prinzip
beruht, sondern nur das „Auseinandergeraten" der Notwendigkeitsform
des Begriffs ist, kein positives Kriterium. Sie ist nur das Negative, nicht
in der Notwendigkeit des Begriffs festgehalten werden zu können. Also
das reine Denken muß bei allem ihm durch die Erfahrung dargebotenen
Stoff vorerst zusehen, ob sie ihn nicht „aus sich selbst" sich aneignen
kann.

10& A. a. O., § 50.


188 A. a. 0., § 12.
Die Grundverfassung der Philosophie 349

Daß sich die philosophierende Vernunft Hegels v:orübergehend mit


Zufälligem befassen muß, daß an ihr vorübergehend die Differenz von
Erster und Zweiter Philosophie aufscheint, bedeutet, daß sie die end-
liche Vernunft in sich aufnimmt. Aber sie hat doch ihren Standpunkt
nie in dieser, sondern von Anfang an in der totalen, absoluten Vernunft.
Darum muß sie von Anfang an das Zufällige ins Notwendige verwan-
deln und darum ist auch schon von Anfang an, in principio, der Unter-
schied zwischen Erster und Zweiter Philosophie aufgehoben. Alle Ver-
nunftgestalten und Vernunfteinrichtungen, die ihr nicht als Momente
ins Notwendige aufgehen, muß sie, etwas paradox, als „vernunftlos"
deklarieren197. Dies ist die Verfassung dieser Einheitsphilosophie, daß,
wie in der Hand des Krösus sich alles in reines Gold, so in der ihren
sich alles in reine Vernunftnotwendigkeit (in die „Form des Begriffs")
verwandeln muß, wenn sie es überhaupt festhalten will.
Die Frage ist nun: Auf welchem Weg kann eine solche absolute Ver-
nunft erreicht werden, die der Philosophie eine „kreisrunde" Einheit
verleiht? Wie kann der Philosophierende sich auf den „Standpunkt" der
totalen Vernunft erheben? In der Vorrede zu seiner Phänomenologie des
Geistes billigt Hegel dem „Individuum" das Recht zu, von der absoluten
philosophischen Wissenschaft „zu fordern, daß die Wissenschaft ihm die
Leiter zu diesem Standpunkt reiche, ihm in ihm selbst denselben auf-
zeige"198. Diese Leiter ist nichts anderes als die Phänomenologie des
Geistes selbst, in der „der Gang genommen ist, von der ersten, einfach-
sten Erscheinung des Geistes, dem unmittelbaren Bewußtsein anzufangen
und die Dialektik desselben bis zum Standpunkte der philosophischen
Wissenschaft zu entwickeln, dessen Notwendigkeit durch diesen Fort-
gang aufgezeigt wird" 199 • In der Phänomenologie wird das absolute
Wissen als notwendiges Resultat einer dialektisch notwendigen Fort-
bewegung des Bewußtseins im Ausgang von dessen unmittelbaren, sinn-
lichen Gewißheit und durch seine „Bildungsstufen" hindurch dargestellt.
In Wirklichkeit aber erweist es sich, daß diese notwendige Leiter gar
nicht Leiter für das gewöhnliche Bewußtsein, sondern nur Leiter für das
absolute Wissen ist, das nur von seinem Standpunkte aus diese Leiter,

197 Vgl, Logik, ed. Lasson 1934, II, S. 247, wo das Zufällige als das „Begriffslose"
und „Vernunftlose" bezeichnet wird. Dies zwar in Hinsicht auf die Natur, aber
konsequenterweise wäre es auch von den Zufälligkeiten des endlichen, natürlichen
Geistes zu sagen.
19a Phänomenologie, ed. Lasson, S. 18.
109 Enzyklopädie, § 25.
350 Wesenserkenntnis

die es als solche gar nicht mehr nötig hat, gewahren kann. Denn das
gewöhnliche Bewußtsein kann die Notwendigkeit dieses Fortganges nicht
erkennen, sie geht „gleichsam hinter seinem Rücken vor" 200 ; nur das
absolute Wissen erkennt sie und ist in dieser Erkenntnis schon absolutes
Wissen. Die als dialektisch notwendig erkannte Fortbewegung des Be-'-
wußtseins ist „Zutat" der philosophischen Betrachtung, ,,wodurch sich
die Reihe der Erfahrungen des Bewußtsein zum wissenschaftlichen Gang
erhebt, und welche nicht für das Bewußtsein ist, das wir betrachten" 201 •
Die wissenschaftliche Erkenntnis des dialektischen Fortganges ist eo ipso
Erkenntnis des ins Unendliche erhobenen absoluten Wissens. Denn Dia-
lektik ist nach Hegel wesentlich Negation der Endlichkeit. Hegel hat
später die Konsequenz aus dieser Sachlage gezogen und die Phänomeno-
logie als „ersten Teil des Systems der Wissenschaft" bei der Abfassung
seiner großen Logik und dann noch offenkundiger in seinem System-
entwurf der Enzyklopädie fallen gelassen. Schon in der Vorrede von
1912 zur Logik ist gesagt, daß die Phänomenologie als Wissenschaft die
Logik als reines Wissen eigentlich voraussetze: die notwendige Fort-
bewegung des in der Kußerlichkeit befangenen Bewußtseins, die die
Phänomenologie zu ihrem Gegenstand hat, ,,beruht allein, wie die Ent-
wicklung alles natürlichen und geistigen Lebens, auf der Natur der rei-
nen Wesenheiten, die den Inhalt der Logik ausmachen" 202 • Was in Hegels
Philosophie der absoluten Vernunft klar wird und was er selbst auch
völlig anerkennt, ist dies: Es gibt keinen philosophischen Weg, keine
philosophische Methode in diese Philosophie. Alle philosophischen „Lei-
tern" in diese Philosophie, sowohl die Phänomenologie als auch Darstel-
lungen der Philosophiegeschichte (wie etwa die Abhandlung Die Stellung
des Gedankens zur Objektivität in der zweiten Auflage der Enzyklo-
pädie), die Hegel später gerne als „Einleitung" in seine Philosophie dar-
stellte, sind in Wirklichkeit gar keine Leitern, denn sie können in ihrer
Dialektik immer nur vom absoluten Standpunkt der totalen Vernunft
(der Identität vom Sein und Denken) aus, also immer nur im bloßen
Hinuntersehen im Geiste „begangen" werden. Es handelt sich hier nicht
etwa um dieselbe Situation wie bei der von uns dargestellten Zugangs-
methode zur Philosophie, der reinen Reflexion. Zwar kann diese Zu-
gangsmethode nur nach ihrem Vollzuge, in reiner Reflexion auf sie selbst,

200 Phänomenologie, ed. Lassan, S. 60; ebenso Enzyklopädie, § 25.


201 Ebenda.
202 Logik, ed. Lassan, 1934, I, S. 7; vgl. Phänomenologie, ed. Lassen, S. 24.
Die Grundverfassung der Philosophie 351

philosophisch bestimmt werden, aber sie ist vor. dieser Bestimmung in


sich selbst als philosophische Grundhandlung vollziehbar, sie ist Weg
in die Philosophie für den Vollziehenden selbst, für ihn selbst als solcher
Weg zu begehen; ihr Vollzug ::i.ls Stiftungsakt der Philosophie ist nicht
auf die Kenntnis dessen angewiesen, was in ihrem Rücken geschieht, und
setzt also als philosophischer Weg nicht bereits sich selbst voraus; Aller-
dings führt dieser Weg auch nicht zu einer totalen oder absoluten Ver-
nunft. Demgegenüber sind alle Hegelschen Wege in seine Philosophie
nicht Wege in die Philosophie für das als auf dem Weg dargestellte
Bewußtsein selbst, sondern nur für den absoluten Standpunkt, also
eigentlich gar keine Wege dazu, sondern nur Bewegungen im Kreise die-
ses Stundpunktes: ,,Auf diese Weise zeigt sich die Philosophie als ein in
sich zurück.kehrender Kreis ... " 2 os
Der effektive Weg zu Hegels Philosophie, zur absoluten Vernunft,
ist nicht selbst Philosophie, sondern ist die Religion204 • Gleich im ersten
Paragraphen seiner Enzyklopädie erklärt Hegel, daß die Philosophie
zunächst ihre Gegenstände mit der Religion gemeinschaftlich habe, und
zwar in dem Sinne, daß sie als begriffliches Denken die in der Vor-
stellung geschehende religiöse Bekanntschaft mit Gott, der Natur und
dem menschlichen Geiste voraussetzen muß „schon darum, weil das
Bewußtsein sich der Zeit nach Vorstellungen von Gegenständen früher
als Begriffe von denselben macht, der denkende Geist sogar nur durchs
Vorstellen hindurch und auf dasselbe sich wendend zum denkenden
Erkennen und Begreifen fortgeht". Nach Hegel ist „der Inhalt der Phi.,.
losophie und der Religion derselbe" 205 : ,,Die Religion ist die Art und
Weise des Bewußtseins, wie die Wahrheit für alle Menschen, für die
Menschen aller Bildung, ist; die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahr-
heit aber ist eine besondere Art ihres Bewußtseins, deren Arbeit sich
nicht alle, vielmehr. nur wenige unterziehen. Der Gehalt ist. derselbe;
aber wie Homer von einigen Sternen sagt, daß sie zwei Namen haben,
den einen in der Sprache der Götter, den anderen in der Sprache der
übertätigen Menschen, so gibt es für jenen Gehalt zwei Sprachen, die
eine des Gefühls, der Vorstellung und des verständigen, in endlichen
Kategorien und einseitigen Abstraktionen nistenden Denkens, die andere

203 Enzyklopädie, § 17; vgl. Logik, ed. Lasson I, S. 56.


104 Diesen Aspekt von Hegels ·Philosophie hat in jüngster Zeit Michael Theunissen in
seinem Werk Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat
(Berlin 1970) mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet. ··
2or. Enzyklopädie, § 573.
352 Wesenserkenntnis

des konkreten Begriffs. " 206 Die Philosophie ist nach Hegel die „Über-
setzung" der Religion in die Form des Gedankens (des konkreten Be-
griffs)207, so daß „die Philosophie nicht ohne Religion sein kann" 208 ;
die Philosophie ist die vom Denken bestimmte und durchdrungene
Religion, indem sie deren Gehalt anerkennt und ihn sowie das religiöse
Bewußtsein selbst in seiner inneren Notwendigkeit begreift209 . So er-
klärt Hegel auch, daß sein Gedanke der totalen Vernunft, der Ver-
nünftigkeit alles Wirklichen in der religiösen Lehre von der göttlichen
Weltregierung enthalten ist210 , und diese Vernunft heißt bei ihm „Geist,
der erhabenste Begriff, der der neueren Zeit und ihrer Religion ange-
hört"211, wie denn bekanntlich überhaupt mehrere der innersten Begriffe
seiner Philosophie religiöser Herkunft sind (,,Versöhnung", ,,Erhebung",
,,Eitelkeit" etc.).
Die eine absolute, totale Vernunft voraussetzende Einheitsphiloso-
phie Hegels steht in der Geschichte der Philosophie nicht isoliert da. Der
sie tragende Grundgedanke ist schon bei Spinoza in seiner Weise ent-
faltet. In seiner Karte Verhandeling schreibt Spinoza: ,, ... um unseren
Verstand in der Erkenntnis der Dinge gut zu gebrauchen, müssen wir
sie in ihrer Ursache erkennen: Da nun Gott von allen anderen Dingen
erste Ursache ist, so verhält es sich entsprechend mit der Erkenntnis
Gottes und sie steht der Natur der Sache gemäß (ex natura rerum)
voran, vor der Erkenntnis aller anderen Dinge: während die Erkenntnis
aller anderen Dinge aus der Erkenntnis der ersten Ursache folgen
muß. " 212 Diese Idee hat Spinoza in seinem Lebenswerk, der Ethik, aus-
geführt. Aber auch Spinoza hat in dieser Idee einen Vorläufer: Descar-
tes. Als § 24 steht im ersten Teil seiner Principia: ,,Da Gott allein die
wahre Ursache von allem ist, das ist oder sein kann, werden wir offen-
kundig in der Philosophie den besten Weg befolgen, wenn wir aus der
Erkenntnis Gottes selbst die Erklärung der von ihm geschaffenen Dinge

20 0 A. a. 0., Vorrede zur 2. Ausg., ed. Lasson, S. 14/15.


201 Vgl. a. a. 0., § 5.
20s A. a. 0., Vorrede zur 2. Ausg., S .15; cf. S. 25, 33.
200 Vgl. a. a. 0., §§ 572 und 573.
210 A. a. 0., S. 37.
211 Phänomenologie, ed. lasson, S. 17.
112 ,, ••• als wy ons verstand wel gebruyken in de kennisse van zaaken, zoo moeten
wy die dan kennen in haar oorzaaken: nu dan, aangezien God van alle andere
dingen een eerste oorzaak is, zoo is dan de kennisse Gods en zy staat voor (ex
natura rerum) volgens de natuur van de zaak, voor de kennisse van alle andere
dingen: dewyl de kennisse van aller andere dingen volgen moet uyt de kennisse
van de erste oorzaak" (ed. Gebhardt, I, S. 64).
Die Grundverfassung der Philosophie 353

abzuleiten versuchen, damit wir das vollkommenste Wissen erreichen,


d. h. das Wissen der Wirkungen durch ihre Ursachen. "213 Auch für
Descartes ist Gott, die unendliche Vernunft, methodische Grundlage und
Garantie des philosophischen Wissens, das cogito ist nur das Tor dazu.
Es wäre fruchtbar, den Wurzeln dieser Idee weiter nachzugehen. Ich
habe den Eindruck, daß man sie weniger in der platonischen oder neu-
platonischen Philosophie finden würde - denn hier ist das oberste,
unbedingte Prinzip (die „Idee" des Guten oder das Eine) kaum ein
methodisches, sondern in Wirklichkeit ein regressiv erschlossenes Seins-
prinzip - als vielmehr in der Theologie. Nach Thomas von Aquin ist
die Sacra Doctrina, die sicherste und vollkommenste Wissenschaft, ein
„Eindruck des göttlichen Wissens" (impressio divinae scientiae)214, ihre
Erkenntnisprinzipien sind göttliches Wissen, Wissen Gottes von sich
selbst, dessen sie durch Offenbarung teilhaftig geworden ist215• Dieser
Offenbarung entspricht in Descartes' Philosophie die Eingeborenheit der
positiven Idee des Unendlichen, des unendlich Vollkommenen, Gottes
im Denken. Auch auf diesem Wege durch die Philosophiegeschichte
kämen wir wohl wie bei Hegel zur Feststellung, daß eine Philosophie,
die ihren Ausgang in einer unendlichen Vernunft nimmt, in der Reli-
gion wurzelt.

c) Unentschiedenheit der Philosophie zwischen einfacher


und zwiefältiger Verfassung (Leibniz)
und die Dringlichkeit einer Entscheidung

Wir sind der Philosophie in den beiden vorangegangenen Abschnit-


ten a) und b) dieses philosophiegeschichtlichen Paragraphen einerseits
in ihrer zwiefältigen Verfassung, die ihre Ursache in der Bedingtheit
ihres Gegenstandes, der Vernunft, hat, andererseits als von einer abso-
luten Vernunft ausgehenden absoluten Einheit begegnet. Philosophie
hatte in ihrer Geschichte faktisch beide Verfassungen. Diese beiden Ver-

213 „Iam vero, quia Deus solus omnium quae sunt aut esse possunt vera est causa,
perspicuum est optimam philosophiae viam nos sequuturos, si ex ipsius Dei
cognitione rerum ab eo creatarum explicationem deducere conemur, ut ita scientiam
perfectissimam, quae est effectuum per causas acquiramus" (ed. Adam et Tannery,
VIII, p. 14).
214 Summa theologica, I, q. 1, 4.
216 A. a. O., q. 1, 5: ,.Doctrina sacra accepit sua principia immediate a Deo per
revelationem".
354 Wesenserkenntnis

fassungen lassen sich nicht versöhnen; wenn wir für uns selbst eine
kohärente Erkenntnisaufgabe gewinnen wollen, müssen wir uns ent-
weder für das eine oder das andere entscheiden. Bevor wir die Gründe
namhaft machen, die uns dafür zu sprechen scheinen, daß wir uns unter
dem Titel der Philosophie mit der reflexiv zugänglichen, bedingten Ver-
nunft befassen sollten und uns daher auch der Zwiefalt von Erster oder
apriorischer und Zweiter oder empirischer Philosophie unterziehen müs-
sen, möchten wir noch mit einem Philosophen diskutieren, der sich in
beiden Verfassungen der Philosophie zu halten versuchte: mit Leibniz.
Wie in keinem anderen Philosophen spiegelt sich· in Leibniz unsere
ganze europäische Philosophiegeschichte. Man darf, seine eigenen Worte
variierend, ihn wahrhaft als eine Konzentration unseres philosophischen
Universums bezeichnen und _von ihm wie von keinem anderen sagen,
daß er die philosophische Vergangenheit aufbewahrte und mit der
philosophischen Zukunft schwanger ging. So sind wir denn auch nicht
erstaunt, bei diesem alles in sich spiegelnden Genius sowohl die „end-
liche" Philosophie in ihrer Zwiefalt als auch die „unendliche" Philoso-
phie in ihrer absoluten Einheit zu finden. Und zwar finden wir bei ihm
dieses ,,sowohl als auch" in Form von .,,drei Philosophien", wenn wir so
sagen dürfen. Nämlich erstens als Philosophie, die reflexiv vom reflek-
tierenden .,,Ich" als endlicher Monade ausgeht, zweitens als Philosophie,
die die absolute Ursache alles Seienden, die absolute Vernunft Gottes
zu ihrem Erkenntnisgrund nimmt, und drittens als Philosophie, die auf-
grund der beiden vorangehenden die empirischen Phänomene interpre-
tiert. Diese drei _Philosophien _finden_ sich faktisch bei Leibniz, und ich
möchte im folgenden auch zu zeigen versuchen, daß sich Leibniz dieser
„Trilogie" völlig bewußt .war. Aber diese drei Philosophien sind in
ihrer Dreiheit systematisch unverträglich, und zwar schon in ihren Prin-
zipien, noch ganz abgesehen von faktischen Unstimmigkeiten im Detail.
Denn die an zweiter Stelle genannte Philosophie aus absoluter Vermmft
kann neben sich keine anderen Philosophien bestehen lassen, sondern
muß sie letztlich in sich absorbieren, so wie Hegels Logik die Realphilo~
sophien, die Natur- und Geistesphilosophie, als ihre eigenen Kreise her-
vorrufen muß. Wenn eine absolute Vernunft zum Erkenntnisprinzip
erhoben wird, so muß aus ihr selbst alles erfaßbar sein, sonst ist es.- keine
~bsolute Ve~nunft. .
Doch bevor wir uns in solche Erwägungen einlassen, möchten wir
ygre~st jene drei Leibnizischen. Philosophien zur genaueren Darstellung
bringen. Die an erster Stelle genannte Philosophie hat ihr Fundamen,t in
Die Grundverfassung der Philosophie 355

der Einheit des reflektiv erkannten Ich, die als Bedingung alles wahr-
haften Seins, aller wirklichen Substanz angesetzt wird: ,, ... es gibt eine
wahrhafte Einheit, die dem entspricht, was man Ich in uns nennt" 216 •
Jede eigentliche Substanz ist nach Leibniz ein Ich (moi) oder ein Selbst
(soi)2 11, wenn dieses Ich auch nicht immer sich selbst bewußt ist218• ,,Da
ich begreife, daß andere Wesen auch das Recht haben, Ich zu sagen, oder
daß man es für sie sagen könnte, begreife ich dadurch, was man die
Substanz im allgemeinen nennt" 219 • Diesem philosophischen Fundament
gibt Leibniz Ausdruck in seinem „Axiom": ,, Was nicht wahrhaft ein
Seiendes ist, ist auch nicht wahrhaft ein Seiendes" 220 • Die Begriffe dieses
„identischen" (analytischen) Satzes beruhen aber auf der Reflexion oder
,,inneren Erfahrung", denn nur in dieser kann ich nach Leibniz erken-
nen, was wahrhaft ein Seiendes und was wahrhaft eine Einheit ist 221 •
Aus dieser Reflexion auf das Ich, die er auch als „innere Erfahrung"
(experience interne) und „innerliche und unmittelbare Wahrnehmung"
(perception intime et immediate) bezeichnet222 , schöpft Leibniz dann
auch weitere fundamentale Begriffe seiner Philosophie: ,,und es ist auch
die Betrachtung meiner selbst, die mir andere metaphysische Begriffe
liefert, wie die der Ursache, der Wirkung, der Tätigkeit, der Khnlichkeit

216 ,, ••• il y a une veritable unite qui repond a ce qu'on appelle moi en nous"
(ed. Gerhardt, Philos. Schriften, IV, S. 482; vgl. S. 473). »L'unite substantielle
demande un estre accompli indivisible, et naturellement indestructible, ·puisque sa
notion enveloppe tout ce qui luy doit arriver, ce qu'on ne sc;:auroit trouver ny
dans la figure ny dans le mouvement, qui enveloppent m&mes toutes deux quelque
chose d'imaginaire, comme je pourrois demonstrer, mais bien dans une ame ou
forme substantielle a l'exemple de ce qu'on appelle moy" (Gerhardt, II, S. 76).
Siehe auch Gerhardt, II, S. 251.
21 7 Norweaux Essais, II, 27, §§ 6-7.
218 „Pour ce qui est du soy, il sera bon de le distinguer de l'apparence ·du soy et de la
conscienciosite" (a. a. 0., § 9).
219 „Et comme je conc;:ois que d'autres Estres peuvent aussi avoir le droit de dirc moy,
ou qu'on pourroit le dire pour eux, c'est par la que je conc;:ois ce qu'on appelle la
substance en generaL .. " (ed. Gerhardt, VI, S. 502).
229 ,, ••• ce qui n'est pas veritablement tm estre, n'est pas non plus veritablcment un
estre" (ed. Gerhardt, II, S. 97).
221 „J'ay deja dit que nous sommes, pour ainsi dire, innes a nous m~mes, et puisque
nous sommes des cstres, l'estre nous est inne; et Ja connaissancc de l'estre cst
enveloppee dans celle que nous avons de nous memes" (Nouvea11x Essais, I, 3,
§ 3). ,,Ne .quidem ideam unius substantiae habituri essemus, nisi tale quid in nobis
experiremur" (G. Mollat, Mitteilungen aus Leibnizens ungedmckten Schriften, Leip-
zig 1893). Das estre, um .das es hier geht, ist nicht bloß das Sein im Sinne des
Möglichen ( ens seu possibile), sondern das Seiende, das existiert, da es sich in der
inneren Erfahrung nach Leibniz um Erfahrung von Existenz handelt.
222 Discours, § 27; No11veaux Essais, I, 1, § 11; II, 27, § 9; vgl. oben S. 225.
356 Wesenserkenntnis

etc'., ja sogar diejenigen der Logik und der Moral" 223. Diese Selbster-
kenntnis der einfachen Substanz ist „der Schlüssel der inneren Philoso-
phie"224. Leibnizens ganze Lehre von der individuellen einfachen Sub-
stanz (Monade) als einem Prinzip von mannigfaltigen Tätigkeiten, die
nichts anderes sind als perceptions (wozu in diesem weiten Sinn auch die
apperceptions gehören) und als solche strebende Übergänge (appetitions)
zu neuen perceptions, beruht auf der »inneren Erfahrung" (reiner Re-
flexion), und wo er sich gegen Spinozas Auflösung der endlichen Wesen
in die unendliche Substanz Gottes wendet; beruft er sich auf diese Er-
kenntnisquelle225. Ein gutes Beispiel für einen philosophischen Entwurf
Leibnizens, der sich auf diesem Grunde aufbaut, gibt wohl das Nouveau
systeme von 1695.
Die Grundlage der an zweiter Stelle genannten Philosophie Leib-
nizens ist der sog. ,,Satz vom Grund", und zwar in seinem eigentlichen
und vollen Sinn verstanden, nämlich als theologisches Prinzip. Leibniz
nennt diesen Grundsatz in verschiedener Weise und gibt ihm verschie-
dene Formulierungen. In einfachster und universalster Weise nennt er
ihn „le grand principe de la raison" 226• ,,Raison" bedeutet dann den
Wahrheits.:. bzw. den Beweisgrund und in eins auch die Existenzursache.
Steht der erste Aspekt im Vordergrund, dann mag der Grundsatz etwa
„principium reddendae rationis" heißen 227 ; ist der zweite Aspekt primär
visiert, spricht Leibniz von „principe de la raison determinante« 228 ;

223 »C'est aussi la consideration de moy m~me, qui me fournit d'autres notions de
metaphysique, comme de cause, effect, action, similitude etc., et m~me celles de la
Logique et de la Morale" (ed. Gerhardt, VI, S. 502). ,,Mais de quelque maniere
qu'on le prenne, il est tousjours faux de dire que toutes nos notions viennent de
sens qu'on appelle exterieurs, car celle que j'ay de moy et de mes pensees, et par
consequent de l'estre, de la substance, de l'action, de l'identite, et de bien d'autres,
viennent d'une experience interne" (Discours, § 27). ,, ... nous sommes eleves aux
actes reflexifs, qui nous font penser a ce qui s'appelle moy et a considerer que
ceci ou cela est en nous: et c'est ainsi qu'en pensant a nous, nous pensons a
a a a
l'Etre, la Substance, au simple et au compose, l'immateriel et Dieu m~me ••. "
(Monadologie,§ 30).
224 Gehardt, III, S. 567.
225 Gerhardt, VI, S. 537.
226 Correspondance Leibniz-Clarke, ed. A. Robinet (Paris, Presses Universitaires de
France, 1957), S. 133.
227 ,, ••• principium reddendae racionis, quod. scilicet onmis propositio vera, quae per
se nota non est, probationem recipit a priori, sive quod omnis veritatis reddi ratio
potest, vel ut vulgo ajunt, quod nihil fit sine causa" (ed. Gerhardt, VII, S. 309).
228 ,, ••• l'autre principe est celuy de la raison determinante: c'est que jamais rien
n'arrive sans qu'il y ait une cause ou du moins une raison determinante, c'est a
dire quelque chose qui puisse servir a rendre raison a priori, pourquoy, cela est
Die Grundverfassung der Philosophie 357

bringt er beide Aspekte gleich zur Geltung, so kann es unter dem Titel
des „principe de la raison suffisante" gcschehen 229 • Zutiefst bedeutet
aber „raison" in jenem einfachsten und universalsten Namen des Grund-
satzes (,,le grand principe de la raison") die Vernunft, und zwar die
Vernunft Gottes. Denn der Grundsatz besagt, daß alle Wahrheit oder
daß alles, was ist oder geschieht, seinen ausreichenden Wahrheits- oder
Seinsgrund in der reinen (apriorischen) Vernunft, d. h. rein in der Ver-
nunft findet. Dieser Gedanke der vollständigen Bestimmtheit aller Wirk-
lichkeit rein durch die Vernunft hat aber überhaupt nur Sinn auf dem
Hintergrund der absoluten, göttlichen Vernunft230• In ursprünglichster
Weise nennt daher Leibniz sein grand principe de la raison das „große
Prinzip der höchsten Vernunft und Vollkommenheit Gottes" 231 • Zwar
unternimmt es Leibniz, Gott durch seinen „Satz vom Grund" erst zu
beweisen, aber dies ist eben dadurch möglich, daß er Gott schon enthält.
Eine gute Darstellung dieser Grundlage der theologischen Philosophie
Leibnizens gibt der folgende Anfang eines nicht datierten, auf dieser
Grundlage entwickelten Systementwurfes: ,, 1. Ratio ist in der Natur,
warum eher etwas existiert als nichts. Dies ist eine Folge jenes großen
Prinzips, daß nichts ohne Grund (sine ratione) geschieht, sowie es auch
einen Grund (ratio) geben muß, warum eher dieses als ein anderes
existiert. 2. Jene ratio muß in einem wirklichen Wesen oder in einer
Ursache sein. Denn die Ursache ist nichts anderes als ein wirklicher

existant plustost que non existant, et pourquoy cela est ainsi plustost que de toute
autre fas;on. Ce grand principe a lieu dans tous les evenements, et on nc
donnera jamais un exemple contraire: et quoyque le plus souvent ces raisons dctcr-
minantes ne nous soyent pas asses connues, nous ne laissons pas d'entrevoir qu'il y
en a" (Theodicee, I, § 44).
229 ,, ••• le principe de la raison suffisante, en vertu duquel nous considcrons qu'aucun
fait ne s,;:auroit se trouver vrai, ou existant, aucune enonciation veritable, sans
qu'il y ait une raison suffisante pour quoi il en soit ainsi et non pas autrement,
Quoi que ces raisons le plus souvent ne puissent point nous etre connues" (Monado-
logie, § 32).
230 Auch wenn Leibniz an gewisser, vor allem von Couturat hervorgehobener Stelle
seinen „Satz vom Grund" aus dem „logischen" Prinzip des Enthaltenseins des
Prädikates im Subjekt für jeden wahren Satz (praedicatum inest subjecto) ,,geboren
werden läßt" (Opuscules et fragments inedits, ed. L. Couturat, S. 519), so ist auch
hier der theologische Untergrund dieser Geburt unverkennbar. Denn für die kon-
tingenten Tatsachenwahrheiten hat das praedicatum inest subjecto nur Sinn in
Beziehung auf einen unendlichen Verstand, der der unendlichen Analyse (Schau)
dieser Wahrheiten fähig ist.
231 Mes opinions philosophiques „sont presque toutes liees avec le grand principe de
la supreme raison et perfection de Dieu" (Correspondance Leibniz-Clarke, cd. A.
Robinet, S. 79).
358 Wesenserkenntnis

Grund, und die Wahrheiten des Möglichen und Notwendigen ... wür-
den nichts tragen, wenn die Möglichkeiten nicht in einem aktuell existie-
renden Wesen begründet wären. 3. Dieses Wesen muß aber ein notwen-
diges sein, sonst müßte die. Ursache wiederum außerhalb seiner gesucht
werden, warum es eher existiert als nicht existiert, was gegen die Voraus-
setzung verstößt. Selbstverständlich ist jenes Wesen die ultima ratio der
Dinge und pflegt mit einem Wort ,Gott' genannt zu werden." 232
Auf dieser Grundlage entwid{elt Leibniz einen großen Teil seiner
Ideen (er sagt an einem Ort sogar: ,,fast alle" 233 ), wie den Satz von der
Identität des Ununterscheidbaren, die Idee der besten der möglichen
Welten, den Begriff der Substanz als notion complete, die prästabili-
sierte Harmonie der endlichen Substanzen, die unendliche aktuelle Ge-
teiltheit der Materie, die Nichtexistenz des absoluten und leeren Raumes
etc. Von dieser Philosophie kann er sagen: ,,die Metaphysik ist die
natürliche Theologie, und der selbe Gott, der Quelle aller Güter ist, ist
auch das Prinzip aller Erkenntnisse" 234 • Dabei beruft er sich übrigens
auf Descartes.
Die an dritter Stelle angeführte Philosophie Leibnizens stützt sich
auf die empirischen Phänomene, indem sie diese durch die apriorischen
Erkenntnisse interpretiert. Durch diese Übereinstimmung, nämlich durch
diese Tauglichkeit zur Interpretation der Empirie, gewinnen die aprio-
rischen Erkenntnisse zugleich eine gewisse Bestätigung. Des öfteren be-
ginnt Leibniz nach apriorischen Überlegungen einen neuen Abschnitt
etwa mit den Worten: ,,Und diese Lehre stimmt übrigens mit der Ord-
nung der Natur überein, wie sie durch Erfahrungen etabliert ist. " 235

232 „1) Ratio est in natura, cur aliquid potius existat quam nihil. Id consequens est
magni illius principii, quod nihil fiat. sine ratione, quemadmodum etiam cur hoc
potius existat quam aliud rationem esse opportet. 2) Ea ratio debet esse in aliquo
Ente Reali seu causa. Nihil aliud enim causa est, quam realis ratio, neque veritates
possibilitatum et necessitatum (seu negatarum in opposito possibilitatum) aliquid
efficerent nisi possibilitates fundarentur in re actu existente. 3) Hoc autem Ens
opportet necessarium esse, alioqui causa rursus extra ipsum quaerenda esset cur
ipsum cxistat potius quam non existat, contra Hypothesin. Est scilicet Ens illud
ultima ratio Reruni, et uno vocabulo solet appellari DEUS" (ed. Gerhardt,
VII, S. 289).
233 Siehe oben Anmerkung 231.
234 ,, ••• 1a Mctaphysique est la theologie naturelle, et le m~me Dicu qui est la source
de tous les biens, est aussi le principe de toutes les connoissances" (ed. Gerhardt,
IV, S. 292).
136 „Et cctte doctrine d'ailleurs est conforme a !'ordre de la nature, etabli sur les
experiences ... " (ed. Gerhardt, VI, S. 532). Vgl. Gerhardt II, S. 168-171 und 193
sowie N ouveaux Essais, IV, 8.
Die Grundverfassung der Philosophie 359

Die Erfahrungen, die Leibniz dabei heranzieht, sind eines Teils Alltags- '
erfahrungen, wie etwa, daß es im Park von Herrenhausen unmöglidi
war, zwei völlig gleidie Blätter zu finden, vor allem aber naturwissen-
sdiaftlidie Tatsadien seiner Zeit, wie etwa die mikroskopisdien Betradi-
tungen der Spermien (,,kleine Tiere") und tierisdien Metamorphosen
durdi Leeuwenhoeck, Huyghens, Swammerdamm und Malpighi, die
Experimente über den Durdigang von Liditstrahlen durdi das sog.
Vacuum von Toricelli oder Guericke, der durdi empirisdie Messungen
festgestellte Untersdiied zwisdien Kraft- und Bewegungsmenge etc. Im
Prinzip kommt diese auf empirischen Phänomenen fußende Philosophie
Leibnizens mit dem, was wir bisher als Zweite Philosophie kennen-
lernten, überein, nur daß sie bei Leibniz die dritte ist, da ihr gleidi
zwei vorangehen. .
Man wird diese drei Philosophien von Leibniz überall in seinen
Sdiriften gesondert oder kombiniert bzw. vermisdit finden .. Wenn man
diese unter jenem Gesiditspunkt liest, so erklären sidi in ihnen mandie
Gegensätze und Spannungen. Daß sidi aber Leibniz selbst dieser Trilogie
bewußt war, drückt aufs sdiönste die sog. Monadologie aus. Sie ist seine
sadilidi umfassendste und prinzipiellste Sdirift, sein eigentlidies philo-
sophisdies Testament. Ihr üblidier Titel ist unedit236, die Manuskripte
in Hannover tragen gar keine Titel, während die den Quellen am nädi-
sten stehende Absdirift von Wien mit »Principes de la philosophie"
übersdirieben ist237• Dieser Titel entspridit ohne Zweifel ganz dem In.,.
halt der Sdirift288• Sie ist für einen philosophisdi gebildeten und Leibniz
gewogenen Gelehrtenkreis gesdirieben239, so daß Leibniz in ihr nidit,
wie so oft, äußere Rücksiditen beaditen mußte, sondern sein eigentlidies
Denken unverzerrt hergeben konnte; Der Aufbau dieser Prinzipien der
Philosophie (Monadologie) entspricht nun genau den oben angeführten
„drei Philosophien": Sie umfassen 90 Paragraphen, die ersten dreißig
Paragraphen beruhen auf der in der Selbstreflexion zugänglichen ein-

238 Er geht auf Heinrich Köhler zurück, der sie 1720 ins Deutsche übersetzte {vgl. die
Ausgabe von A. Robinet, Paris 1954, S. 2).
237 Ausgabe von A. Robinet, S. 2.
238 Daß ·die Handschriften von Hannover keinen Titel tragen, darf als ein Indiz
dafür gewertet werden, daß es sich in ihnen um die Philosophie schlechthin und
nicht nur um einen bestimmten Aspekt handelt.
239 Sie würde 1714 {wohl nach den Principes de la nature et de la gräce, die eher als
allgemeinverständliche Einleitung für den Prinzen Eugen .verfaßt wurde) auf Bestel-
lung für den Gelehrtenkreis um den Duc d'Orleans (u. a. Remond de Monmort,
Hugony, Fraguier) geschrieben (s. A. Robinet, a. a. 0.).
360 Wesenserkenntnis

fachen Substanz mit ihren mannigfaltigen Perzeptionen, die folgenden


dreißig Paragraphen (§§ 31-60) setzen ein beim „Satz vom Grunde",
führen durch ihn zu Gott als der ultima ratio der Dinge und konstruie-
ren von ihm aus, rein apriorisch, die Welt als von Gott zum voraus
geregelte, absolut vernünftige Harmonie sich vollständig korrespondie-
render Substanzen. Die letzten dreißig Paragraphen schließlich(§§ 61 bis
90) interpretieren mit Hilfe des Vorangegangenen die Empirie der
zusammengesetzten phänomenalen Substanzen (der körperlichen leben-
digen Wesen) bis hinauf zum vernünftigen Menschen in seiner mora-
lischen Bestimmung.
Die Prinzipien der Philosophie spiegeln also in drei genau berech-
neten Teilen die „drei Philosophien". Durch eine solche Komposition
entspricht Leibniz seiner Auffassung, daß „die gute Anordnung oft
einen Kommentar ersetzt und Worte erspart" 240 , was wiederum nur eine
Anwendung seiner Vollkommenheitsregel ist, der gemäß ein Minimum
an Mitteln ein Maximum an Wirkung hervorbringen soll. Auch andere
systematische Schriften von Leibniz weisen eine solche arithmetische
Konstruktion auf, so etwa die Principes de la nature et de la grace
und der sog. Discours metaphysique241 • Für solche Kompositionen in
Zahlen waren die Zeitgenossen Leibnizens hellhöriger als wir. Der Sinn
dafür war im '2eitalter des Barock noch durchaus lebendig, man denke
nur an die Zahlen-Kompositionen Bachs. Auch dachte Leibniz wohl, daß
die Seele nicht nur beim Hören von Musik, sondern auch beim Lesen
seiner Schriften durch eine „arithmetique occulte" schon „unbewußt" der
Harmonie des Werkes inne würde242•
Die drei Philosophien sind in den Prinzipien der Philosophie nicht
einfach aneinandergereiht, sondern es bestehen zwischen ihnen Verbin-
dungen. Wie schon angedeutet, stellt sich die an dritter Stelle(§§ 61-90)
angeführte Philosophie als eine Anwendung und Bestätigung der beiden

240 ,, ••• a
le bon arrangement tient souvent lieu de commentaire et sert epargner des
paroles" (ed. Gerhardt, VI, S. 18).
141 Das erste Drittel der Principes de la nature et de la grace (§§ 1-6) sind „phy-
sische" Betrachtungen; die beiden folgenden Drittel (§§ 7-18) ,,metaphysische".
Der Discours umfaßt 37 Paragraphen. Die ersten sieben (sieben ist die Zahl der
Unendlichkeit) handeln von Gott. (der unendlichen Substanz), die nächsten zehn
(§§ 8-17) von der endlichen Substanz, die folgenden zehn (§§ 18-27) enthalten
eine Erklärung der Phänomene und der menschlichen Erkenntnis und die letzten
zehn schließlich (§§ 28-37) Thesen über das Verhältnis von Mensch (Geist)
und Gott.
242 Vgl. Principes de la nature et de la gr,ke, § 17 und Gerhardt IV, S. 550.
Die Grundverfassung der Philosophie 361

vorangehenden auf bzw. durch die Empirie dar. Was uns jetzt aber
primär interessiert, ist das Verhältnis zwischen der an erster und der
an zweiter Stelle genannten, zwischen „reflexiver" und „theologischer"
Philosophie. Es dürfte zu zeigen sein, daß dieses Verhältnis bei Leibniz
ungelöst blieb, daß er diese beiden „Ersten" Philosophien nicht in ein
einstimmiges, systematisches Verhältnis bringen konnte, da es offenbar
nicht zwei Erste Philosophien geben kann.
In den Prinzipien der Philosophie ist zwar der Übergang von der
Philosophie der „in uns erfahrbaren" einfachen Substanz zur Philoso-
phie der absoluten Ratio nicht unvermittelt: In den §§ 29 und 30 (den
beiden letzten des ersten Teils) ist von der Erkenntnis der notwendigen
Wahrheiten und den reflektiven Akten als der Auszeichnung der geisti-
gen oder vernünftigen Seele die Rede. In den §§ 31 und 32 wird dann
der „Satz vom Grunde" (wie der Satz vom Widerspruch) als Prinzip
des Vernunftgebrauchs eingeführt. Der „Satz vom Grunde" wird also
scheinbar aus der reflexiv erkannten Vernunft als deren Prinzip ge-
wonnen. Aber es ist doch nicht ersichtlich, wie dieses totale Vernunft-
prinzip aus unserer reflexiv erkannten Vernunft herausentwickelt wer-
den könnte. Es wurzelt vielmehr in einem ganz anderen Boden, den es
dann auch alsbald zum Vorschein bringt: in Gott als der ultima ratio
aller Dinge. Wenn aber eine absolute Vernunft zum Boden der philoso-
phischen Erkenntnis genommen wird, müßte diese Erkenntnis eigentlich
auch gleich von diesem Boden anheben, denn eine davon unabhängige
philosophische Erkenntnis müßte dann nicht nur vorläufig, sondern auch
nutzlos sein, da doch alle philosophische Erkenntnis in vollkommener
Weise auf diesem Boden absoluter Vernunft begründbar sein sollte.
Dennoch hat Leibniz die auf „innerer Erfahrung" (Reflexion) beruhende
Philosophie der substantiellen Einheit' für sich stehen lassen, und zwar
wohl deshalb, weil ihm eine apriorische Deduktion der individuellen
endlichen Monade aus der absoluten Vernunft nicht wirklich dürchführ-
bar erschien 243 • Leibniz war wohl dessen inne geworden, daß die reflexiv
erkannte Bewußtseinseinheit (die „Einheit im Mannigfaltigen") nicht
aus absoluter Vernunft einholbar ist.
Ist schon das allgemeine Verhältnis zwischen „reflexiver" und „ theo-
logischer" Philosophie bei Leibniz ungelöst, so ergeben sich dann auch
im einzelnen manche Gegensätze, die hauptsächlich darin ihre Wurzeln
haben, daß vom Standpunkt absoluter Vernunft alles Werden und Sein

24 3 Gerhardt, II, S. 241; vgl. S. 261, 270.


362 \V/ esenserkenntnis

eindeutig bestimmt sein muß, während reflexiv die strebende Monade


wohl mit ihrer Zukunft schwanger geht, aber doch nicht immer voll~
ständig erreicht, wonach sie tendiert 244 , und wohl die Welt spiegelt, aber
nicht bis ins letzte eindeutig ausdrückt.
Wir können hier nicht auf solche einzelne, der Leibnizforschung nicht
unbekannte Widersprüche eingehen. Für uns ist vor allem die Tatsache
bedeutsam, daß derjenige Philosoph der Geschichte, der seine Philosophie
methodisch zugleich in der endlichen Vernunft und einer unendlichen
„Vernunft" zu begründen versuchte, sich zu keiner wirklich kohärenten
Philosophie durchringen konnte. Obschon dieser ungeheure Genius noch
bis in sein letztes Lebensjahrzehnt ein einheitliches philosophisches
System zu entwickeln strebte (wovon Briefe an Des Bosses Zeugnis
geben), konnte er sein Philosophieren nie als methodischen und um-
fassenden Zusammenhang zur Geltung bringen.
Wenn wir die Philosophie als eine von der Sache her methodisch
zusammenhängende Aufgabe gewinnen wollen, können wir offenbar
nicht zugleich reflexiv in unserer bedingten Vernunft und religiös in
einer absoluten „Vernunft" einsetzen. Mag die vom religiösen Glauben
an eine absolute „Vernunft" ausgehende Spekulation auch eine sinnvolle
Aufgabe sein, so verlieren wir uns doch wohl ins Zweideutige und
Inkohärente, wenn wir die reflexive Selbsterkenntnis unserer Vernunft
mit einem solchen Unternehmen vermischen. Es ist zu erwarten, daß
wir zu größerer Klarheit und konsequenterer Entfaltung der Probleme
gelangen, wenn wir uns in der Philosophie auf das eine oder dann auf
das andere beschränken.
Nun legt uns die Geistesgeschichte aber nahe, als die Aufgabe der
Philosophie die Selbsterkenntnis unserer bedingten Vernunft zu ver-
stehen, während sich uns für die Betrachtung der Wirklichkeit vom
Gesichtspunkt einer absoluten „Vernunft" der Titel der spekulativen
Theologie anbietet. Obwohl nicht als Wort erfunden, so wurde doch
anerkanntermaßen der Begriff der Philosophie von Sokrates-Platon ge-
prägt. Das von ihnen unter diesem Titel Gedachte ist sozusagen immer
noch die letzte Deckung, wodurch dieser Titel im Umlauf seinen Wert
und seine Gültigkeit besitzt. Ihr Urheberrecht auf diesen Begriff ist
nicht zu überspielen. Nun aber schildert Sokrates in Platons Phaidon
sein Unternehmen der Philosophie als unmittelbaren Gegenzug zur
Wissenschaft des Anaxagoras, der die Vernunft (voüc;) zur Ursache

244 Monadologie,§ 15.


Die Grundverfassung der Philosophie 363

von allem erklärt habe245 • Er hat sich von dieser so große Hoffnung
weckenden Lehre abgewandt, nicht bloß weil er sie bei Anaxagoras nicht
ausgeführt sah, sondern weil er sich selbst als unfähig erachtete, das
Universum, Erde, Sonne, Mond und Sterne, von diesem Standpunkt
einer alles beherrschenden göttlichen Vernunft zu erklären, und unter-
nahm daher auf eigene Faust seine „zweitbeste Fahrt", eben seine Philo-
sophie, durch die „Flucht in die Logoi". Die Sokratische Philosophie
hat sich in einer Selbstbescheidung als ein „menschliches Wissen" (av{lgwnlvri
crocpla) 246 verstanden, das nicht auf jener „Vernunft" des Universums,
sondern auf der Vernunft in der Selbsterkenntnis der menschlichen
Seele beruht. Die universale Vernunft des Anaxagoras ist allerdings
immer eine „Verlockung" für die Philosophierenden gewesen, schon für
den späten Platon. Aber dieser hat sich doch nie in eine totale göttliche
Vernunft emporgeschwungen, sondern die Vernunft, von der er als Phi-
losophierender sprach, ist immer die bedingte Vernunft der Selbsterkennt-
nis geblieben, die nicht alles erklärt. Platons Nus ist nicht absolute Ver-
nunft: Er kann unmöglich ohne Seele sein, sondern ist notwendig mit der
Seele und ihren bewegenden Kräften verbunden 247 ; und er ist nie die
ganze Seele, sondern die Leistung ihres zur Führung berufenen Teils
(der x11ßEgv{yrric; im Phaidros). Es ist auch die Idee dieser bedingten,
in der Selbsterkenntnis erfaßten Vernunft, durch die er in einem dxwc;
µvi'toc; und als ein Zweites, das er nicht mehr als Philosophie bezeichnet,
das sinnlich sichtbare Universum interpretiert, selbst wenn er die kos-
mische Vernunft gegenüber der menschlichen idealisiert und insofern mit
dem Prädikat „göttlich" versieht. Wie den Staat, versucht Platon auch
das Universum sozusagen als „Menschen im großen" zu verstehen: als
~0ov li~njJUzov lvvovv. Seine Kosmologie ist im Grunde genommen, wie
besonders deutlich der Philebos zeigt, nicht Theologie, sondern Anthro-
pologie. Das Universum ist nicht total vernünftig, sondern ein „Gemisch"
aus Vernunftlosem und Vernunft; die ,demiurgische Vernunft muß die
„Notwendigkeit" ,,überreden", damit diese „soweit möglich" (xm:a
Mvaµw) ,,das Meiste" auf das von der Vernunft bezweckte Beste hin
tue 248 • Das Universum wie der Mensch werden sowohl von vernünftiger
wie auch von vernunftloser Seele bewegt, und die vernunftlose (sterb-

245 Phaidon, 97 b ff.


246 Vgl. Apologie, 20 d.
247 Sophistes, 248 a f.; Philebos, 30 c, Timaios, 30 b.
248 Timaios, 30 a, 47 e-48 a.
364 Wesenserkenntnis

liehe) Seele ist nicht von der Vernunft geschaffen249• Zwar erkennt
Platon dem Vernunftlosen keine eigene Macht der Ordnung oder der
Organisation zu: ohne Vernunft verhält sich dieses vielmehr „ungeord-
net", ,, ungehörig", ,, verrückt", ,, unproportioniert" etc. (&:ra'X.i:wi;, :n:Ä:r1µ-
µ1,Äroi;, µavntroi;, äµei:Qroi;, aÄ.oyroi;), es ist in sich ein „Kunterbunt"
(:n:avi:o6a:n:6i;), ein „bloßes Gewühl" 250• Auf diesen Punkt, in dem Platon
Kants Bestimmung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand vor-
ausnimmt, werden wir noch zurückzukommen haben251 • Im jetzigen
Zusammenhang aber ist entscheidend, daß Platon immer die durch
das Vernunftlose als eine eigene Art Ursache (ahta, auvmi:ta) bedingte
Vernunft betrachtet und erklärt, daß wir als Philosophen dem Ver-
nünftigen nachspüren müssen, ,,um dessentwillen aber auch dem ,Not-
wendigen' (dem Vernunftlosen), angesichts dessen, daß es ohne dieses
nicht möglich ist, jenes; auf das wir es abgesehen haben, allein zu begrei-
fen, noch zu erfassen oder seiner sonstwie teilhaftig zu sein. "252
Die genuine Beschränkung der Philosophie auf unsere bedingte Ver-
nunft ist aber in ihrer Geschichte nicht festgehalten worden. In der in
Hegel gipfelnden Tradition ist wiederum die eigentlich theologische Idee
des Anaxagoras durchgebrochen. Bezeichnenderweise beruft sich Hegel
sowohl in der Vorrede zu seiner Phänomenologie als auch in der Ein-
leitung zu seiner großen Logik auf Anaxagoras als auf den Urheber
seines· Gedankens der Identität von Vernunft und Wirklichkeit, von
Denken und Sein: ,,Anaxagoras wird als derjenige gepriesen, der zuerst
den Gedanken ausgesprochen habe, daß der Nus, der Gedanke, das
Prinzip der Welt, daß das Wesen der Welt als der Gedanke zu bestim-
men ist. Er hat damit den Grund zu einer Intellektualansicht des Uni-
versums gelegt, deren reine Gestalt die Logik sein muß. "253 Diese Ab-
lenkung der Philosophie von der bedingten Vernunft unserer Selbst-
erkenntnis auf die theologische Idee einer absoluten „Vernunft" geschah
ohne Zweifel unter dem Einfluß der Religion und Theologie. In der
perfectissima scientia Descartes' oder in der Wissenschaft Hegels herrscht
weniger der Geist der menschlichen cpiÄ.ocrocp(a des Sokrates als vielmehr
derjenige der aocpta von Anaxagoras und der Idee .der scientia divina.

149 Gesetze, X, 896 e-897 b; Timaios 69 c.


250 Timaios, 30 a, 52 d-53 c; Gesetze, 897 d.
151 Vgl. unten, § 59.
252 Timaios, 69 a.
253 Logik, ed. Lasson 1934, I, S. 31; vgl. Phänomenologie, ed. Lasson, S. 38,
Anhang zu „Urspriinge" des Bewußtseins 365

Diesen Einfluß der Theologie hat man noch bis in die säkularisierten
Formen der Hegelschen Dialektik, bis in die Geschichtsphilosophie von
Marx festgestellt. Andererseits aber hat es in der Neuzeit auch nicht an
Kritik gegen diese dogmatische Selbstentfremdung der Philosophie durch
das theologische Prinzip der absoluten „Vernunft" gefehlt. Die großen
Erneuerungen der Philosophie durch Kant und Busserl darf man als
Rückkehr der Philosophie zu sich selbst: auf ihren Boden der bedingten
Vernunft unserer Selbsterkenntnis werten. Der vorliegende Versuch ist
von dieser bisher wohl noch nicht genügend ernstgenommenen Neu-
besinnung der Philosophie auf ihren urspriinglichen Bereich getragen.

§ 54 Anhang zum 2. Kapitel: ,,Ursprünge" des Bewußtseins

In diesem Paragraphen geht es um eine Begriffsklärung. Von alters


her wird die Philosophie als Wissenschaft von den „ersten Ursachen",
den „Urspriingen", den „Prinzipien" (-rcx :rc(l6'rra -xal i:a ahta) betrac.h-
tet254. Auch die oben vorgelegte Bestimmung der Philosophie, ihres
Gegenstandes, der \"o/eise ihres Fragens und Antwortens, ihrer dualen
Verfassung, bediente sich dieser Termini, und ohne sie wird die Philoso-
phie auch nicht auskommen können. Im folgenden möchte ich nun diese
Termini in einen expliziten Bezug zur vorgelegten Methodenbestimmung
der Philosophie bringen und dadurch zugleich die Vieldeutigkeit auf-
klären, die sie in der philosophischen Rede haben. Innerhalb der oben
vorgezeichneten philosophischen Forschung können diese Termini nicht
weniger als sieben verschiedene Bedeutungen annehmen, deren Vermen-
gung die Philosophie in die übelsten Verirrungen stiirzt: a) Ursprung
als Wesen, b) Ursprung als Urmodus, c) Ursprung als Fundament und
als „Material", d) Ursprung als intentionales Original, e) Ursprung
als Telos oder Urbild der Richtigkeit, f) Ursprung als unmittelbare Ent-
stehung, g) Ursprung als Urstiftung. Während die Ursprungsbegriffe
a) bis e) zum bisher Ausgeführten sachlich kaum etwas Neues beitragen,
wird die Diskussion der wesentlich geschichtlichen Ursprungsbegriffe f)
und besonders g) eine bedeutsame Vertiefung unserer Idee der Zweiten
Philosophie ergeben. Vor allem ihnen sind daher die folgenden Aus-
führungen gewidmet.

254 Vgl. Aristoteles, Metaphysik A, 2.


366 Wesenserkenntnis

a) Ursprung als Wesen

Jedes Wesen als notwendige analytische Einheit ist eine ursprüngliche


Bewußtseins- oder Tätigkeitsform, die nicht aus etwas anderem, sei es
aus einem verschiedenen Wesen oder irgend woher sonst abgeleitet wer-
den kann. Mag das Wesen des Verstandes auch das Wesen der Sinn-
lichkeit in sich schließen, so ist es doch nicht aus diesem ableitbar. Jedes
Wesen ist ein absolut Erstes, ein Prinzip des Bewußtseins. Nur im Sinne
einer Verallgemeinerung kann ein Wesen aus „anderen" Wesen ent-
nommen werden, z. B. das Eidos Vergegenwärtigung aus den Eide
Erinnerung, Vorausplanung, Einfühlung, Phantasie etc., aber das all-
gemeinere Wesen ist ja gegenüber seinen Unterarten nicht ein verschie-
denes Wesen, sondern eine Struktur dieser selbst.

b) Ursprung als Urmodus (elementarer Modus)

Innerhalb eines Eidos können wir verschiedene Modi desselben unter-


scheiden, die durch irgendeine Modifikation des Urmodus oder des ele-
mentaren Modus dieses Eidos entstehen. In diesem Sinne haben wir vom
Elementar- oder Protosatz als von der ursprünglichsten Rede gespro-
chen255. Das sprachlich etablierte Subjekt, am deutlichsten die Kenn-
zeichnung durch ein Attribut, ist eine Modifikation eines Protosatzes,
geht auf einen solchen zurück. Ebenso geht die sog. Nominalisierung
(,,daß es regnet, ... ) auf den Protosatz (,,Es regnet") oder der kon-
junktive Satz (,,Es regnet und ist kalt") auf die beiden entsprechenden
Elementarsätze zurück. Analog haben wir z.B. bei der Erinnerung eine
elementare Erinnerung, die Erinnerung an eine Wahrnehmung, gegen-
über komplizierten Modi der Erinnerung, z. B. die Erinnerung an eine
Erinnerung; die Modifikation ist hier eine bloße Iteration. Verschiedene
Modi eines Eidos unterscheiden sich gerade dadurch von verschiedenen
Eide, daß sie sich auf einen Urmodus, auf ihre elementare Gestalt zu-
rückbeziehen, aus der sie durch verschiedene Operationsregeln abgeleitet
werden können, während verschiedene Eide nicht auf ein „Ureidos"
reduzierbar sind (jedes Eidos ist ein „Ureidos"). Die verschiedenen Modi
sind aus· einem Urmodus als ihrem „Bauelement" konstruierbar, wäh-
rend keine notwendige analytische Einheit aus einer anderen konstruier-
bar ist.
255 Oben,§ 41 a) und b).
„Ursprünge" des Bewußtseins 367

c) Ursprung als Fundament und als „Material" (negative Bedingung)

In einem gewissen Sinn kann man auch das Fundierende gegenüber


dem Fundierten als Ursprung bezeichnen oder wenigstens als ursprüng-
licher. In diesem Sinn ist die sinnliche Wahrnehmung (Gegenwärtigung)
ursprünglicher als die auf sie gebaute Wiedererinnerung, ihr gegenüber
das Erste, sie kann sein ohne diese, aber nicht umgekehrt. Aber. es kann
sich hier (beim Fundamentalen) nicht um einen eigentlichen Ursprungs-
begri:lf handeln, denn die sinnliche Wahrnehmung kann so lange ablau-
fen oder abgelaufen sein, wie sie will, aus ihr selbst entspringt keine
Erinnerung und überhaupt kein Verstandesbewußtsein. Das Fundierende
ist nur negative Bedingung der Möglichkeit ( conditio sine qua non) des
Fundierten, aber nicht im eigentlichen Sinne dessen Ursprung, aus dem
es als aus seinem Prinzip ableitbar wäre. Ebenso steht es mit aller sinn-
lichen Gegenwart als „Material" oder „Milieu" der Vernunftinstitution
z:
(Selbstverwirklichung der Vernunft). Auch hier sind B. die Laute nicht
im eigentlichen Sinn Ursprung der verständigen Rede, sondern nur deren
negative Bedingung. Es besteht immer die Gefahr, daß sich diese sinn-
lichen Bedingungen den Rang von eigentlichen Ursprüngen der Ver-
nunft erschleichen: die sensualistische Subreption.

d) Ursprung als intentionales Original

In einer Erinnerung an eine Wahrnehmung ist auf diese Wahrneh-


mung als das Ursprüngliche intentional verwiesen, sie ist als das Origi-
nale in der Erinnerung bloß „ reproduziert" oder „wiederholt". Ebenso
ist im Bewußtsein fremden Bewußtseins (in der „Einfühlung") dieses
als das Ursprüngliche reproduziert, und so ist in jedem Verstandes"."
bewußtsein das vergegenwärtigte Bewußtsein in bestimmtem Sinn als
das „Ursprüngliche" charakterisiert, während jenes sich als bloße „Re-
produktion" oder „Wiederholung" weiß. Es handelt sich hier· um einen
ganz eigentümlichen Ursprungsbegriff, insofern die Reproduktion selbst
dem reproduzierten Bewußtsein, das sie „spiegelt" und so für sich her-
vorbringt, den „Stempel" des Ursprünglichen verleiht. Auch dieses Ur-
sprüngliche ist nicht das Prinzip, aus dem die „Wiederhohing" ableitbar
wäre oder gar entstünde, sondern die Reproduktion reproduziert selbst
das Original, das überhaupt nur als intentional in ihr impliziertes für
sie als Original besteht.
368 Wesenserkenntnis

e) Ursprung als Telos (Urbild der Richtigkeit)

Innerhalb von allen Bewußtseinstätigkeiten gibt es mehr oder minder


vollkommene bzw. mißglückte Gestalten, die in sich selbst auf ihre
Vollkommenheit als Erfüllung ihrer teleologischen „Tendenz" verweisen.
In dieser Erfüllung hat das jeweilige Bewußtsein sein Gelingen. Z.B.
eine Erinnerung kann unklar, vage, verschwommen, unsicher, vermen-
gend und verwechselnd sein, sie will nid1t recht gelingen, dennoch trägt
sie eine, wenn auch vielleicht faktisch nicht realisierbare Tendenz auf
ihr Ziel in sich. Ebenso kann eine Aussage einer bestimmten Art (Quali-
tät) mehr oder weniger gelingen und richtig sein. Es ist durchaus sinnvoll,
die jeweils gelingende, ,, wahre" Tätigkeit als die ursprüngliche zu be-
zeichnen (ursprüngliches Erinnern, ursprüngliches Verstehen, ursprüng-
liches Reden und Denken etc.), in dem Sinne, als diese „eigentliche"
Tätigkeit das Urbild der Richtigkeit aller weniger vollkommenen ihrer
Art ausmacht, in dem diese ihr ursprüngliches Recht, ihre Rechtsgründe
finden. Es braucht hier nicht besonders erörtert zu werden, daß die
Bedingungen des Gelingens (der „Eigentlichkeit") zwischen den Bewußt-
seinsformen und innerhalb dieser selbst sehr verschiedenartige sind.

f) Ursprung als Entstehung in der Sinnlichkeit

Bei den bisherigen Ursprungsbegriffen haben wir es mit logischen,


unzeitlichen Verhältnissen, und nicht mit Verhältnissen des Werdens oder
der Geschichte zu tun. Einen geschichtlichen Ursprungsbegriff benötigen
wir, wenn wir uns in der Zweiten Philosophie mit dem Werden der
wesentlich geschichtlichen Vernunft (Kultur) befassen. Dieser Ursprungs-
begriff wird der Zweiten Philosophie durch die Erste zur Verfügung
gestellt, die zwar nicht das faktische Werden der Vernunft, wohl aber
ihre Geschichtlichkeit als· solche, die einen bleibenden, unveränderlichen
Wesenszug der Vernunft ausmacht, erfaßt.
Um die in der Geschichtlichkeit der Vernunft waltenden Ursprungs-
verhältnisse zu erkennen, muß man sich vorerst daran erinnern, daß der
Verstand durch seine Kultur sich in einen Boden einläßt, der nicht ein-
fach bloßer, charakterloser Stoff (unbestimmte Hyle) ist, sondern seine
eigene Organisation und seine eigene, gegenüber dem Verstand prinzi-
piell selbständige, ,,unvernünftige" Geschichte hat. Die Vernunft hat
ihre Geschichte und Geschichten in einem fremden Milieu, das seine
„Ursprünge" des Bewußtseins 369

eigenen Ursprünge und sein eigenes Werden hat und das auch noch in
der Vergeistigung durch die Vernunft seine eigenen Kräfte des Werdens,
der Bildung und der Umbildung wirken läßt.
Die Geschichte der Sinnlichkeit ist bloße Tradition, die jeweils immer
nur als überkommenes aus ihrem Ursprung und ihrer Geschichte heraus
lebt, aber sie nicht als solche erkennt und bewahrt. Die Geschichte der
Sinnlichkeit ist in einem weiten Sinn Gewohnheit (sinnliche Habituali-
tät). Diese hält nicht an ihren Ursprüngen fest, sondern lebt nur als
deren Abkömmling; um zu funktionieren, braucht sich eine bloß gewohn-
heitsmäßige Tätigkeit nicht ihrer Entstehung zu vergewissern. Das sinn-
liche Leben ist ja von seiner Vergangenheit abgewendet, seine Vergan-
genheit als solche hat für es keine Bedeutung, alles Gewordene hat für
es nur Sinn in der jeweiligen Zukunft (Lebensmöglichkeit) eröffnenden
unmittelbaren Gegenwart. Ob dabei die gewohnheitsmäßige Tätigkeit
im Sinne ihres Ursprungs fungiert oder gegenüber diesem Ursprung
durch Assoziation mit einem anderen Sinnzusammenhang eine neue
Funktion ausübt, ist für das sinnliche Leben selbst ganz außer Frage.
Das Problem der Ursprungsechtheit (Ursprungsgerechtheit) der Tradi-
tion besteht für das sinnliche Leben überhaupt nicht, ihm kann nur der
unmittelbar gegenwärtige Sinn zählen. Indem das sinnliche Leben in
seiner Geschichte seine ausgebildeten Sinnesapperzeptionen und Verhal-
tensweisen assoziativ in neue Sinneszusammenhänge einbildet, entfallen
der sinnlichen Tradition in diesem Funktionswandel ihre faktischen
Ursprünge, aus denen sie entstand. So hat z.B. das Trinken eines abend-
lichen Biers, das ursprünglich den Durst löschen sollte, nun durch Asso-
ziation den Sinn einer Vorbereitung zum Schlaf (einer „Schlafzeremo-
nie") erhalten. Die sinnliche Habitualität hat aber ihren Ursprung nicht
nur in der Lebensgeschichte des Individuums, sondern sie kann auch
aufgrund „mitschwingender Resonanz" (,,sympathetischer Ansteckung")
von anderen Individuen übernommen sein oder auch schon zum gebore-
nen fungierenden Leib gehören und so ihren Ursprung in der Stammes-
geschichte haben.
Eine sinnlich-habituelle Tätigkeit kann ihre faktischen Ursprünge
wohl ganz und gar verlieren, so daß keine Analyse ihr selbst entnehmen
kann, woher sie stammt und wie sie geworden ist. So wie man in der
Anatomie z.B. den Gehörknöchelchen des Menschen nicht direkt ent-
nehmen kann, daß sie ursprünglich ein Kiefergelenk. waren, ebenso-
wenig ist wohl jede ausgebildete sinnliche Tätigkeit mit ihren in ihr
liegenden Sinnesapperzeptionen analytisch nach ihren Ursprüngen zu
370 Wesenserkenntnis

enthüllen. Die Genesis des sinnlichen Bewußtseins bleibt nicht in einer


Weise in ihm „sedimentiert", seine Geschichte bleibt nicht in ihm so er-
halten, daß sie ihm selbst zu entnehmen wäre, sondern sie kann nur
durch die empirisch vergleichende individual- und phylogenetische Psy-
chologie und Verhaltensforschung rekonstruiert werden.

g) Ursprung als Urstiftung in der Kultur

.· Ein weiterer Begriff des Ursprungs ergibt sich uns, wenn wir vom
Ursprung eines Kulturwerkes und von seiner ursprünglichen Bedeutung
sprechen. Der Ursprung eines Kulturwerkes ist die dieses stiftende Ver~
nunfttätigkeit, die ursprüngliche Bedeutung eines Kulturwerkes ist bei
der geistigen Kultur diese Tätigkeit selbst in ihrer Selbstverwirklichung
im Werk, bei der materiellen Kultur die Tätigkeit, für die die schöpfe,-
•rische Tätigkeit das Kulturwerk als sinnliches Mittel gestiftet hat256•
Die ursprüngliche Bedeutung ist einem Kulturwerk nie immanent, nie
in ihm als sinnlich Gegenwärtigem enthalten. Dieser Sachverhalt be-
stimmt die ganze Geschichte der Kultur. Ich möchte ihm im folgenden
für die geistige Kultur etwas genauer nachgehen und dabei den ent-
sprechenden Begriff der Ursprungsechtheit oder Ursprungsgerechtheit der
Kultur einführen. Indem die Vernunfttätigkeit sich in der Sinnlichkeit
instituiert, sie ihrem unmittelbaren Eigenleben entfremdet und eine Ver-
gegenwärtigungsfunktion .verleiht, wird die Sinnlichkeit nicht selbst
zur Vernunft. Die Vernunft ist der Kultur als „cultura culturata" nie-
mals immanent, sie läßt sich in ihr nicht einfangen. Gegenwart kann
nicht selbst Vergegenwärtigung werden, sondern ist es nur iri der Ver,-
riunft. Insofern ist die Rede von der sinnlichen Verkörperung der Ver-
nunft oder von der Beseelung des Sinnlichen durch die Vernunft irre-
führend. Die Vernunft ist in• der Kultur nicht körperlich, wie das sinn-
liche Bewußtsein den Körper beseelt. Leib und sinnliches Bewußtsein
sind im Grunde identisch: der fungierende Leib ist das sinriliche Be-
wußtsein in der Erscheinung. Das sinnliche Sehen, Tasten, Greifen usw.
ist selbst das betreffende leibliche Walten, es „geht"· in diesem Walten
„auf"; die sinnlich~affektiven Empfindungen und Gefühle (Zorn, Freude
etc.) sind selbst die entsprechenden leiblichen Erregungen und „Aus-
drum.sbewegungen". Dagegen liegt die geistige Bedeutung nicht selbstin

211 Vgl•. oben § 37.


„Ursprünge" des Bewußtseins 371

ihrer sinnlichen Institution, ebensowenig wie das Verstandes-Ich jemals


im sinnlichen Subjekt aufgehen könnte. Die sinnliche Natur wird nie
selbst zum „sichtbaren Geist", der Geist als „unsichtbare Natur" er-
scheint nicht selbst in der Natur (Schelling), sondern der Verstand bleibt
auch als Vernunft in der Kultur der Sinnlichkeit transzendent.
Die Kultivierung der Sinnlichkeit durch die Vernunft darf auch nicht
als unmittelbare Assoziation aufgefaßt werden. Die unmittelbare Asso-
ziation ist eine rein sinnliche Einheitsbildung, aufgrund deren die sinn.:..
liehe Gegenwart ihre unmittelbare Konfiguration und erwartungsmäßige
Vorzeichnung besitzt. Ein geistiges Kulturgebilde besteht nicht aus einer
unmittelbaren Assoziation einer sinnlichen Gestalt mit einer geistigen
Bedeutung. Eine sinnliche Gestalt kann in der Vernunft eine Tätigkeit
wecken, aber nicht erzeugen, wie sie in der unmittelbaren Gegenwart
(in der Sinnlichkeit) Erwartungen erzeugt.
Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft ist in der geistigen
Kultur vielmehr folgendes. In einem sinnlich wahrgenommenen Kultur-
gebilde ist für die Vernunft eine Vernunfttätigkeit bloß indiziert, und
zwar dadurch, daß es diese ermöglicht. Das Ermöglichende ruft die Ver'-
nunft gleichsam zu seinem Gebrauch auf, ohne daß es sie aber dazu
nötigte. Z. B. Sätze einer vertrauten Sprache können im passiven, flüchti-
gen Hören oder Lesen in ihrem bloßen Aufruf „verstanden" werden,
ohne daß sie in ihrer Bedeutung wirklich verstanden werden; in diesem
Hören oder Lesen ist die Vernunfttätigkeit, die ihre Bedeutung realisiert,
nur angezeigt, gefordert, aber nicht vollzogen. Ebenso gibt es ein ge-
schwätziges Reden, das nicht wirklich weiß, was es sagt (und damit seine
eigenen Forderungen nicht erfüllt). Selbst Bilder können als Bilder ge-
sehen werden, ohne daß sie wirklich, d. h. in ihrer „Substanz", in ihrem
,,Aussagegehalt" gesehen werden. In einem von ihr geschaffenen Kultur-
gebilde hat die Vernunft gleichsam ihre Spuren, ihre Form eingeprägt,
die rein sinnlich (für die unmittelbare Gegenwart) sinnlos ist und durch
diese Leere die Vernunft anzieht, an sich selbst erinnert. Die Vernunft
sieht sich also in ihrem fertigen Kulturgebilde zur Nacherzeugung (Nach-
vollzug) verwiesen, ohne daß sie aber diesem Verweis notwendig Folge
leisten müßte. Das Kulturgebilde verwirklicht nicht selbst die Vernunft,
sondern fordert ihre Selbsttätigkeit, die sich im Kulturgebilde verwirk-
licht. Vernunft ist nur wirklich in der Tätigkeit. Streng genommen sind
also die Kulturgebilde nicht selbst „objektiver Geist", sondern sie sind
nur „objektiver Geist" in der Vernunfttätigkeit, die sich in ihnen ver-
wirkliche
372 Wesenserkenntnis

Aus diesem allgemeinen Sachverhalt folgt, daß keine Kulturgestalt


in sich selbst das Prinzip ihrer Bewahrung enthalten, sondern von sich
aus verfallen kann. Es ist hier nicht der äußere, physische Verfall der
Kulturgebilde gemeint, sondern der innere Verfall ihrer Vernünftigkeit:
ihre Entfremdung von der Vernunft. Die Vernunft braucht ja den
Indikationen der Kulturgebilde nicht selbsttätig Folge zu leisten, son-
dern kann es beim Verständnis der bloßen Indikationen beruhen lassen.
Sie kann in dieser Weise die Kulturgebilde „verstehen", handhaben und
äußerlich nacherzeugen, ohne ihre ursprüngliche Bedeutung zu reali:.
sieren. In dieser „faulen Vernunft" ist die Kultur nur noch Gewohnheit,
Tradition, leere Konvention, Mode. Die faule Vernunft liefert sich
ihren eigenen Gebilden und damit der Sinnlichkeit aus. Denn diese
Gebilde haben ihre Realität in der Sinnlichkeit, die auch in der kultu-
rellen Formung ihre eigene Macht nicht verliert: Es spielt die sinnliche
Suggestion und Assoziation, die die Kulturerzeugnisse aus eigenen, un-
vernünftigen Motiven zu Zusammenhängen verbildet, die die faule
Vernunft mangels Einsicht in die ursprünglichen geistigen Bedeutungen
nicht als unvernünftige Sinnverschiebungen durchschauen und berichtigen
kann. So wird die Kultur in der faulen Vernunft nicht nur ihrer geistigen
Bedeutung entfremdet, sondern durch die immer tätige „Natur" des
sinnlichen Bewußtseins verfälscht. In dieser passiven Kultur verliert die
Vernunft ihre Autonomie.
Dieser innere Verfall von Kulturgebilden ist in den verschiedenen
Kulturgestalten genauer zu fassen: So z.B. als Entleerung von Worten
durch den Verlust ihres Begriffes zu „Schlagworten" (man denke etwa ·
an den bloß „angefühlten" Gebrauch der Worte „dialektisch", ,,phäno-
menologisch", ,, transzendental", ,,Struktur", ,,Funktion", ,,Kommunika-
tion" in vielen „philosophischen" und „wissenschaftlichen" Reden, der
Worte „Fortschritt", ,,Repression", ,,Kommunismus", ,,Faschismus" in
der Politik usw.). Aber nicht nur Worte, sondern ganze Denkmodelle
und Theorien können zu leeren. Denkschemen und zu einer ursprungs-
fremden Scholastik verfallen, in der die Kultur nur noch „ein Gipsab-
druck von einem lebendigen Menschen" ist. Analoges gilt von sittlichen
Formen, vom Recht, vom religiösen Kult und seinen Symbolen, von
künstlerischen Stilen usw.
Die Vernunft ist in der Kultur immer mehr oder weniger passiv. Sie
besitzt in der geschaffenen Kultur ein großes individuelles und soziales
Erbe, das sie nicht in allen Teilen immer selbsttätig erwerben kann. Sie
verdankt sogar dem sim;ilich-assoziativen Spiel mit den Kulturgebilden
„Ursprünge" des Bewußtseins 373

manch guten „Einfall" für neue Leistungen, und der Gebrauch von
bloßen übernommenen Formeln erleichtert den Fortschritt in den positi-
ven Wissenschaften. Kulturtradition ist aber nur in dem Maße echte
Vernunfttradition, als die Vernunft deren ursprüngliche Bedeutung, die
sie in ihrer Urstiftung besaß, beständig reaktiviert, d. h. sich selbsttätig
aneignet. Echte Kultur ist auf diese Reaktivierung angewiesen. Ur-
sprungsgerechte Vernunfttradition bedeutet aber in manchen Fällen
nicht nur Reaktivierung der ursprünglichen Bedeutung unter Wahrung
der sinnlichen Gestalt, sondern kann die Veränderung dieser Gestalt
selbst fordern, sofern diese unfähig oder in der aktuellen Situation un-
tauglich geworden ist, die ursprüngliche Bedeutung zu realisieren. Ur-
sprungsechte Tradition ist dann zugleich Neuformulierung oder Über-
setzung. Die ursprüngliche Bedeutung eines Werkes ist auch nicht immer
etwas fest Bestimmtes. Man denke etwa an philosophische Aussagen, in
denen der Autor mehr sagen wollte, als er sagen konnte, in denen er auf
etwas hinauswollte, was er begrifflich nicht erreichte, was ihn aber doch
leitete. Einem solchen Werk wird man dann am meisten gerecht (ur-
sprungsgerecht), wenn man auch sein Ungesagtes noch sagt. Die Reakti-
vierung od~r ursprüngliche Aneignung kann übrigens nie Selbstzweck,
sondern immer nur möglicher Weg der jeweiligen Selbstverwirklichung
der Vernunft sein. Doch lassen wir es hier mit diesen Andeutungen
bewenden, die uns nur einen bestimmten Ursprungsbegriff nahe bringen
sollten.
3. Kapitel
Die Sprache der Philosophie

§55 Das allgemeine Problem

In diesem letzten Kapitel der philosophischen Methodenlehre kehren


wir zu den Schwierigkeiten zurück, die uns in der „Einleitung" dieser
Studie entgegentraten: zu den Schwierigkeiten einer philosophischen
Sprache, und wir wollen zusehen, ob sich diese Probleme aufgrund der
inzwischen vollzogenen Überlegungen, wenn nicht wirklich lösen, so
doch, wenigstens deutlicher stellen Jassen. Jene Probleme lassen sich fol-
gendermaßen umreißen: Die reine Philosophie untersucht einen Gegen-
stand, der in keiner Weise sinnlich-phänomenal aufzuzeigen, also nicht
öffentlich vorführbar ist; sie handelt von etwas, was nicht öffentlich
ist. Die Philosophie will jedoch kein bloß privates Unternehmen, son-
dern allgemeingültige Erkenntnis sein; es muß folglich die Möglichkeit
bestehen, ihre Rede allgemein zu verstehen (bzw. verständlich zu
machen) und zu beurteilen, sie muß also doch öffentlich sein. Ihren
Gegenstand selbst, das rein reflektierte mittelbare oder unmittelbare
Bewußtsein, vermag die Philosophie in keiner Weise in die Dffentlichkeit
zu bringen, aber wenn ihre Rede über diesen Gegenstand doch öffentlich
sein soll, muß sie ihn mit der Öffentlichkeit irgendwie „in Verbindung
setzen". Dies kann sie nur dadurch tun, daß sie i.iber ihren Gegenstand in
einer bereits vorhandenen öffentlichen Sprache zu sprechen beginnt; sie
kann ihre Begriffe ja nicht „exemplarisch", ohne Rekurs auf schon vor-
handene Begriffe in die Öffentlichkeit einführen, da.dies eben die öffent-
liche Vorführbarkeit ihrer Gegenstände verlangen würde. Die philoso-
phische Erkenntnis muß also in ihrer Selbstkonstitution als Wissenschaft
bei einer schon vorhandenen, noch vorphilosophischen Sprache ansetzen;
es ist dies der einzige Ort, an dem sie sich in die Dffentlichkeit „ein-
schalten" kann. Die vorphilosophischen, ,,natürlichen" Sprachen sind
nun aber in irgendwelchen allgemeinen oder spezialisierten Interessen an
Das allgemeine Problem 375

der phänomenalen Welt ausgebildet, an ihren Unterschieden und Zusam-


menhängen orientiert, so daß sie nicht über diejenigen Begriffe verfügen,
mittels deren die Philosophie ihre noumenalen Gegenstände zu bestim-
men hat. Die Philosophie ist also auf die vorphilosophische Sprache
angewiesen, und dennoch kann sie sie nicht einfach übernehmen und
brauchen, sondern muß ihre Begriffe ursprünglich aus dem ihr eigenen
Gegenstandsbereich schöpfen. Durch diese Antinomien sei das allgemeine
Problem der philosophischen Sprache angedeutet. Natürlich stellen sich
in ihrer Hinsicht noch manch andere, speziellere Probleme, denen wir
unterwegs in den vorangegangenen Überlegungen auch schon begegnet
sind: z.B. das Problem der begrifflichen Bestimmbarkeit des bloß sinn-
lichen Bewußtseins und seines unmittelbar gegenwärtigen Umfeldes. Für
dieses unmittelbare Bewußtsein gibt es keine identischen Gegenstände1,
aber indem wir von seiner Gegenwart und ihrer Artikulation sprechen,
setzen wir in ihr eo ipso Identität, da jede sprachliche Bestimmung
einen identischen Gegenstand voraussetzt. Wir haben schon betont, daß
solche Aussagen immer sozusagen „ wider den Strich", gegen ihre eigene
Grammati\ verstanden werden müssen. Ein anderes, in gewisser Hin-
sicht ähnliches Problem stellt sich der Rede vorn Ich, die als Rede darüber
dieses wie einen objektiven Gegenstand behandelt, obschon das reine
Ich als subjektive Einheit des mittelbaren Bewußtseins zwar in gewissem
Sinne Identisches (Identisches in der Vielfalt der Akte), aber nie identi-
fizierter Gegenstand ist. Auch hier gilt es nicht bloß Worte, sondern
sogar die Grammatik oder Logik der Sprache metaphorisch zu verste-
hen2. So stellen sich der Sprache der reinen. Reflexion noch manche
Probleme, die aber besser gleich im Zusammenhang der jeweiligen beson-
deren „Sache" diskutiert werden. In diesem Kapitel wollen wir'nur das
oben umrissene allgemeine Problem verfolgen, ünd zwar, indem wir uns
vorerst fragen, weld1e Art von Begriffen der gewöhnlichen Sprache vor
allem der philosophischen Rede zum Ausgang dienen müssen (§ 56),
weiter dem Verhältnis zwischen diesen vorphilosophischen Begriffen und
der ursprünglichen philosophischen Begriffsbildung nachgehen (§ 57) und
schließlich das allgemeine Problem des Verhältnisses von Philosophie
und Sprache nochmals in einer Auseinandersetzung mit der sog. ,,Philoso-
phie der gewöhnlichen Sprache" aufrollen(§ 58).

1 Vgl. oben§§ 20, 31-33.


2 Vgl. oben§ 21 und den Anfang des§ 52;
376 Die Sprache der Philosophie

§ 56 Der Einsatz des philosophischen Redens


bei der gewöhnlichen Sprache

Um sich überhaupt allgemeine Verstehbarkeit (Öffentlichkeit) schaf-


fen zu können, muß die Rede der reinen Reflexion mit Worten der
gewöhnlichen Sprache beginnen. Da es in der reinen Reflexion um Tätig-
keiten als Bewußtsein geht, wird sie Tätigkeitsworte der gewöhnlichen
Sprache nötig haben, in denen Bewußtsein als solches und nicht bloß phä-
nomenales Verhalten zum Ausdruck gebracht werden kann.
Bei den gewöhnlichen echten3 Tätigkeitsbegriffen ist zwischen eigent-
lichen Tätigleeitsbegriffen und Wirkungsbegriffen zu unterscheiden: Wäh-
rend die eigentlichen Tätigkeitsbegriffe die Tätigkeit selbst ausdrücken,
drücken die Wirkungsbegriffe die Tätigkeit nur in ihrer Wirkung aus,
und zwar sofern diese Wirkung nicht immanent zur Tätigkeit selbst
gehört und diese in sich selbst bestimmt, sondern von ihren äußeren
V mständen abhängt. Solche Wirkungsbegriffe sind etwa „erheitern",
„erschrecken", ,,zerstören", ,,heilen" usw., die nicht die Tätigkeit in sich
selbst, sondern ihre Wirkung bestimmen, während als Beispiele für
eigentliche Tätigkeitsbegriffe etwa „horchen", ,,sehen", ,,essen", ,,grei-
fen", ,,zeigen", ,,sich erinnern", ,,sich einfühlen", ,, vorausplanen",
,,phantasieren", ,,sagen", ,,denken", ,,eine Rede verstehen", ,,befehlen",
,,spielen" usw. dienen können. Solche eigentliche Tätigkeitsbegriffe die-
nen nun in der gewöhnlichen Rede tatsächlich nicht bloß dazu, das
phänomenale umweltintentionale Verhalten eines Menschen oder Tieres
zu bestimmen, sondern in ihnen kann auch ein Bewußtsein als solches
ausgesprochen werden. Wenn ich frage: ,,Siehst du dort drüben die zwei
Enten fliegen?", so frage ich nicht nach einem objektiven phänomenalen
Verhalten meines Gesprächspartners, sondern spreche ihn in seinem Be-
wußtsein an. Oder wenn ich sage: ,,Ich erinnere mich sehr genau, daß
Peter ihm das Buch zurückgegeben hat", so beschreibe ich nicht mein
objektives phänomenales Verhalten, sondern äußere mein subjektives
Bewußtsein. Dieser Satz ist keine Aussage über mein Verhalten, sondern
über Peter, wobei ich aber meine Subjektivität, hier sozusagen als
Zeuge, ausdrücklich auftreten lasse. In dieser Funktion beschreiben diese
Tätigkeitsbegriffe kein beobachtetes Phänomen, sondern bringen in der

3 Nicht jedes „Tätigkeitswort" drückt eine Tätigkeit aus, worauf in diesem Jahr-
hundert besonders die englischen Sprachanalytiker, vor allem Wittgenstein und
Gilbert Ryle, aufmerksam gemacht haben (z.B. ,,besitzen", ,,kennen", ,,liegen" etc.).
Der Einsatz philosophischen R.edens 377

Rede irgendwie ein subjektives Bewußtsein als solches, ein eigenes oder
fremdes, zur Geltung.
Solche ein Bewußtsein zur Geltung bringenden Ausdrücke in der
gewöhnlichen Rede ziehen ihre Bedeutung nicht bloß aus der Bestim-
mung von phänomenalem Verhalten in phänomenalen Umständen.
Wenn jemand sagt, daß er sich an das oder jenes erinnert, so kann man
ihm dies nicht aufgrund phänomenaler Kriterien „ansehen". Einiges mag
an seinem Verhalten vielleicht darauf deuten: er ist von seiner gegen-
wärtigen Umwelt abgewendet, ,,schaut ins Leere", ohne wahrnehmbaren
Grund huscht ein Lächeln über sein Gesicht; aber niemandem wird es
einfallen, dieses phänomenale Verhalten selbst als das Erinnern zu
betrachten. Und daß er sich erinnert, besteht auch nicht einfach darin,
daß er etwas über seine Vergangenheit aussagt oder sich in der Folge
in gewisser Weise benimmt. Zwar trifft es ohne Zweifel zu, daß wir als
Kinder den Gebrauch von „sich erinnern" in bestimmten phänomenalen
Umständen und in der Rede über vergangene Erfahrungen erlernen.
Aber all dieses vermag für die Bedeutung dieses Wortes auch in der
gewöhnlichen Rede nicht wirklich aufzukommen. Es muß sich in diesen
Umständen noch etwas mehr einstellen, wenn dieses Wort, das ein
Bewußtsein als solches ausspricht, sinnvoll gebraucht werden soll: das
Bewußtsein, daß man sich an das und das erinnert. Die Umstände, in
denen der Gebrauch eines Wortes gelernt wird, brauchen nicht seine
Bedeutung, das, was mit ihm gesagt wird, zu erschöpfen.
Andererseits sind solche gewöhnlichen Bewußtseinsbegriffe, wenn sie
in der ersten Person des Präsens gebraucht werden, auch nicht Kußerun-
gen im Sinne, wie der Schrei eine Kußerung des Schmerzes, das Gähnen
Kußerung der Müdigkeit oder ein Fluch Kußerung des Zornes ist4• Es
sind keine sinnlichen „Ausdrucksbewegungen" und nichts, was einfach
durch Abrichtung (Anlernen) an deren Stelle gesetzt worden ist5, son-
dern der gewöhnliche Gebrauch dieser Begriffe bedeutet ein Bewußtsein
als solches, was nie in einer unmittelbaren sinnlichen Lebensäußerung
oder deren Surrogat geschehen kann. Wenn ich schreie, ,,entlädt" sich
dabei unmittelbar mein Schmerz, ich bedeute dabei nicht das Bewußt-

4 So Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen und Ryle im Concept of


Mind. Beide fühlten jedoch nachträglich selbst das Gebrechen einer solchen Anglei-
chung (Wittgenstein in Z.ettel, § 472, und Ryle in einem Vortrag „La pMnom,foo-
logie contre the Concepi: of Mind", in La philosophie analytique (Paris, 1962)~
s. 83/84).
5 Vgl. Wittgenstein, Philos. Untersuchungen,§ 244.
378 Die Sprache der Philosophie

sein (Empfinden) meines Schmerzes, sondern der Schrei ist selbst noch
Bestandteil (,,Ausläufer") meines schmerzlichen Verhaltens, während sich
die Aussage „ich empfinde Schmerz" im mittelbaren Bewußtsein einer-
seits meines Empfindens, andererseits der allgemeinen Wortbedeutung
vollzieht und nicht in sich selbst zum Schmerzaffekt gehört, sondern
ihn „spiegelt''; Und mit diesem Begriff kann ich auch fragen: ,,empfin-
dest du Schmerz?", was ich mit einer unmittelbaren Ausdrucksbewegung
nicht tun kann.
Aber in· der gewöhnlichen Rede, in der Bewußtsein als solches aus-
gesagt wird, ist Bewußtsein nicht thematisch, es ist nicht selbst Gegen-
stand der Erkenntnis, sondern es wird nur nebenbei, beiläufig, lateral
ausgesagt. Es steht nicht zur Rede, was das jeweilige Bewußtsein oder
gar Bewußtsein überhaupt ist. Das Interesse gilt nicht dem jeweiligen
Bewußtsein, son.dern der bewußten Sache. Wenn ich in gewöhnlicher
Rede sage; ,,ich empfinde Schmerz", so interessiert mich der Schmerz
und nicht das Empfinden; wenn ich sage, ,,ich erinnere mich, daß Peter
das Buch zurückgegeben hat", so ist diese Tatsache und nicht mein
Erinnern die Hauptsache. Ich kann und brauche dabei nicht ·Rechen-
schaft zu geben, was dieses Bewußtsein als solches ist. Es ist hier das
selbstverständliche Medium eines Gegenstandes und nicht selbst Gegen-
stand. Zum Gegenstand ·der Beschäftigung wird es erst in der reinen
Aktreflexion: in der Philosophie. Eine Aussage etwa der Art „cogito ..."
(z.B. ,,ich denke, daß mich alles täuscht") ist noch keine philosophische
Aussage, denn in ihr. liegt noch keine Erkenntnis dessen, was Den-
ken ist6.

§ 57 Die Allgemeinheit der philosophischen Rede

In den. gewöhnlichen Tätigkeitsbegriffen, in denen ein Bewußtsein


zur Sprache gebracht werden ,kann, verfügt die philosophische Reflexion
nur über erste allgemeinverständliche Hinweise oder „Winke". Damit ist
sie ihrerAufgabe, zu sagen, was das.Bewußtsein in seinen verschiedenen
Gestalten ist, noch gar nicht nachgekommen. In der Erfüllung dieser
Aufgabe hat sie es, wie wir immer wieder betonten, mit einem Gegen-
stand zu tun, der. nicht öffentlich vorzeigbar ist, so daß sie ihre Red~
nicht an öffentlich zugänglichen Gegenständen interpersonal zu normie-
ren ver~ag. W~nn sie sich daran macht, rein reflexiv ihren Gegenstand

6 Vgl. dazu die Ausführungen oben.im § 49 (S. 289 f.).


Die Allgemeinheit der philosophischen Rede 379

zu bestimmen, scheint sie sich alsbald von der allgemeinen Verständlich-


keit, die sie durch jene gewöhnlichen Bewußtseinsbegriffe noch besitzen
konnte, zu entfernen und sich in eine private Rede über Privates zu
verlieren. Dies scheint umso mehr der Fall zu sein, als die philosophische
Reflexion in jenen gewöhnlichen Bewußtseinsbegriffen keine festen Prä-
missen besitzt. Denn es besteht keine Gewähr, daß die durch diese Be-
griffe getroffenen Unterscheidungen dem rein reflexiv zu Gebenden ent-
sprechen, da diese Begriffe nicht im reinen Interesse am Bewußtsein
selbst, sondern im Interesse an der phänomenalen Welt gewonnen wur-
den. Die philosophische Reflexion muß ihre Begriffe vielmehr ursprüng-
lich, in reinem, autonomen Erkenntnisinteresse an der Vernunfttätigkeit
bilden und kann nicht Begriffe, die anderen Interessen dienen, unbe-
sehen übernehmen. In dieser reinen Reflexion ist jeder Philosophierende
allein, insofern er eben den Gegenstand seiner Erkenntnis und Rede
nicht öffentlich vorzulegen vermag.
Wie vermögen die Philosophierenden aber dennoch zu einer inter-
subjektiv verständlichen und gültigen Rede zu kommen? Der Philoso-
phierende beobachtet nicht seine persönlichen inneren Empfindungen,
Gefühle und Seelenzustände, er belauscht nicht seine besonderen Stim-
mungen oder gar „inneren Stimmen" 7, sondern versucht, in sich selbst
das notwendige Wesen der Vernunft zu erfassen. Er bildet Wesens-
begriffe: Begriffe analytisch notwendiger Einheiten, und sagt die in
diesen bestehenden notwendigen Zusammenhänge aus (vgl. oben, § 48).
Damit sagt er aus, was jeder Vernünftige, wenn er reine Reflexion übt,
in sich selbst verifizieren kann. Heraklit erklärte, daß er sich selbst er-
forschte8, und dabei war es ihm nur um die Vernunft, die allen gemein-
sam ist9, zu tun. Er war sich bewußt, wenn er dem Logos in seiner Seele,
der sich aus sich selbst mehrt10, nachging, dem Allgemeinen zu folgen und
nicht bloß von sich selbst, sondern für die Vernunft überhaupt zu spre-
chen11, denn „allen Menschen kommt es zu, sich selbst zu erkennen und
Vernunft zu haben " 12 •
Diese in der reinen Reflexion erkannte Notwendigkeit des Wesens der
Vernunft würde für sich allein noch keine allgemein übereinstimmende

7 Vgl. Wittgenstein, Philos. Untersuchungen,§ 213.


8 Diels, Fragment 101: eöttricraµriv E~tEC01J'tOV.
° Fragment 113: tuv6v ECf'tL JtU.CfL ,:;o cpQOVELV.
10 Fagment 115.
11 Fragment 50: oux eµoü, &.1:1J1. ,oü 'Aoyou &.i,oucrav,e;.
12 Fragment 116 :u.v{}gd:ntOLO'L Jtci.O't µe,EO'TL ytyvc.oO'XELV ecou,:;ou; %<XL cpQOVELV.
380 Die Sprache der Philosophie

Rede gewähren, da die sprachlichen Zeichen als solche willkürlich sind


und daher jeder Philosophierende die von ihm erkannten, aber nicht
öffentlich demonstrierbaren Notwendigkeiten ganz anders, jeder in seiner
eigenen, privaten, für andere unverständlichen Sprache zum Ausdruck.
bringen könnte. Das Ansetzen bei einer öffentlichen Sprache ist unbedingt
notwendig, wenn der Philosophierende seiner Rede die Möglichkeit· all-
gemeinen Verständnisses verleihen will. Aber die Notwendigkeit der
philosophischen Wesenserkenntnis bewirkt, daß der Philosophierende sich
im Ausgang von der gewöhnlichen Rede nicht gleich in eine unverständ-
liche private Grillenfängerei, wovon nur er selbst wissen kann, verliert,
sondern durch die Weck.ung der reinen Reflexion seiner Mitphilosophie-
renden von jenem gemeinsamen Ausgang her die öffentlichkeit in die
reine Reflexion selbst hineinzuführen vermag. Die intersubjektive Ober-
einstimmung der Rede läßt sich trotz der Vereinzelung, die in der reinen
Reflexion notwendig liegt, zustandebringen, weil die Philosophierenden
für das in jedem Einzelnen erkannte notwendige Wesen der Vernunft
die aus der vorphilosophischen Sprache übernommenen Begriffe gemein-
sam in derselben Weise zu transformieren und weiterzubilden vermögen.
Durch die Transformation dieser Begriffe geht daher die Philosophie
nicht notwendig der öffentlichkeit verlustig. Und durch diesen Bedeu-
tungswandel der gewöhnlichen Worte beginnen diese auch nicht not-
wendig „leer zu laufen" und zu „feiern" 13 , sondern haben ihren Anhalt
und ihr „Arbeitsfeld" in der reinen Selbsterkenntnis der Vernunft.
Das Verhältnis der philosophischen Rede zur gewöhnlichen Sprache
ist ·also sehr komplex: Einerseits ist sie unbedingt auf diese angewiesen.
Die reine Reflexion vermag nicht autark, rein aus sich selbst eine all-
gemeinverständliche Rede zu entwickeln, sondern muß an einer schon
vorhandenen und allgemein verständlichen Sprache anknüpfen. Auch
Hegel, der in seiner Logik die reinen Denkbestimmungen (Kategorien)
aus dem Unbestimmten, Leeren (aus dem Sein) in reinem Denken dialek-
tisch zu entwickeln versucht, vermag sich dabei nicht rein in diesem Den-
ken zu halten, sondern muß von Anfang an an bereits bekannte Begriffe
appellieren, wie „das Unmittelbare", ,,Unbestimmtheit", ,,das Einfache",
,,die Leere", ,,leeres Anschauen", ,,ins Gegenteil verschwinden" etc. An-
dererseits darf die reine Reflexion aber keinen der gewöhnlichen Begriffe
als feste, bleibende Prämisse festhalten, sie darf sich nicht von ihnen die
Regel vorschreiben lassen. Sie muß sie benützen, um sie alsbald ganz

18 Wittgenstein, Philos. Untersuchungen, §§ 38, 116, 132.


Die Allgemeinheit der philosophischen Rede 381

ihrem eigenen Gesetz zu unterwerfen. Es ist nicht nur so, daß die philo-
sophische Reflexion aus der gewöhnlichen Bildung bereits „bekannte"
Begriffe „erkennt", so daß sie keiner besonderen Terminologie bedürfte,
wie Hegel aus seinem teleologischen Verständnis der absoluten Vernunft
dieses Verhältnis sieht14, sondern es besteht keine Gewähr, daß die im
Interesse an der phänomenalen Welt nebenbei entwickelten Bewußtseins-
begriffe die Unterschiede des Bewußtseins selbst treffend und ausreichend
indizieren. Für die globalen Unterscheidungen von Sinnlichkeit, Verstand
und Vernunft finden wir in der gewöhnlichen Rede keinen wirklichen
Halt; ebensowenig für die Unterscheidung unmittelbarer Retention und
mittelbarer Erinnerung, von unmittelbarer und freier Phantasie usw. Die
Philosophie hat also die Aufgabe, eigene Begriffe ursprünglich neu zu
bilden; da sie aber den Faden, der sie an die gewöhnliche Rede bindet,
nicht verlieren darf, wenn sie der öffentlichen Zugänglichkeit nicht ver-
lustig gehen will, muß ihre Begriffsbildung in der rein reflexiven Wesens-
erkenntnis zugleich den Charakter einer Umbildung und Ausbildung der
gewöhnlichen Begriffe besitzen.
Die philosophische Rede muß daher von der gewöhnlichen öffent-
lichen Sprache aus verständlich sein, aber sie kann nicht in dieser Sprache
verständlich sein. Und sie wird auch nicht verständlich aufgrund ,öffent-
lich vorzeigbarer Gegenstände, sondern nur in der reinen Reflexion des
Einzelnen, da nur in ihm die Vernunft zu sich kommt. Das ist wohl auch
der wahre Sinn des seit Kant so oft angeführten Ausspruches, daß man
nicht die Philosophie, sondern nur das Philosophieren lernen könne.
Dieser Ausspruch darf die Philosophie nicht dem individuellen Charak-
ter und der persönlichen Willkür anheimstellen, sondern kann nur be-
deuten, daß die Philosophie ihre Objektivität nicht in der öffentlich,
zwingenden Demonstration, sondern nur in der freien Reflexion . des
Einzelnen besitzt, die ihn aber nicht isoliert, sondern in die allen wahr-
haft Philosophierenden gemeinsame und gegenseitig durch Hinweise
erweck.bare Erkenntnis der Vernunft versetzt.

Anmerkung:
Die philosophische Rede und das sogenannte „methodische Denken"
Es ist an Philosophie und Wissenschaft, überhaupt an alles methodische Denken,
die Forderung gestellt worden, durch sog. exemplarische Einführung seiner Begriffe
auf gmnd von Beispielen 1md Gegenbeispielen (und dann durch genauere Bestimmung

14 Logik, Vorrede zur 2. Ausgabe, ed. Lasson (1934), S. 11.


382 Die Sprache der Philosophie

dieser so eingeführten Begriffe mittels sog. Prädikatorenregeln, die die Beziehungen


dieser Begriffe untereinander für ihren Gebrauch praktisch festlegen) anzufangen15• Es
bestünde demnach für jede streng verniinftige (methodische) Rede die Pflicht, mit dem
Vorlegen von Fällen zu beginnen, bei denen der einzuführende Terminus zugesprochen,
und von Fällen, bei denen er abgesprochen wird, um so seine Bedeutung festzulegen.
Diese Forderung setzt nun aber voraus, daß alles verniinftig Erforschbare und zu
Beredende innerhalb der sinnlich vorgegebenen und vorgebbaren Welt liege, bzw. daß
alle begrifflichen Unterscheidungen sich auf dieses Reich der öffentlichen Vorgebbarkeit
beziehen und daß daher zur Festlegung der Begriffe einfacl1 aus ihm Beispiele und
Gegenbeispiele vorgelegt werden können. Zwar kann man den Vertretern dieser
Forderung der exemplarischen Einführung der Begriffe nicht etwa vorwerfen, daß sie
sich auf irgendeinen zu beschränkten Begriff des exemplarisch Verführbaren festlegen
wiirden; z.B. der von Kamlah und Lorenzen exemplarisch eingefiihrte Terminus
,,wahr" rekurriert auf ein sehr komplexes intersubjektives Verhalten des Überein-
stimmens von Sachverständigen (Homologie) 10 • Es wird ausdriicklich erklärt: »Die erste
methodische Sicherung des Gebrauchs von Prädikaten durch Angabe von affirmativen
und negativen Grundaussagen engt unser Denken durchaus nicht positivistisdi auf das
unbeteiligt Beobachtbare ein. Auch für die Unterscheidung von Ganzheiten unserer
Lebenswirklichkeit, wie etwa von Stileinheiten, muß gefordert werden, daß man
methodisch mit Beispielen anfange. Hier muß der Lernende selber teilnehmen an einem
Sinnganzen, etwa an einem Herstellungsprozeß oder an einem Spiel, um die Unter-
schiede verstehen zu können. Er muß sich zumindest einfühlen, wie man sagt. In allen
Fällen aber gilt gleichermaßen, daß man sich um die Sache bemühen muß, wenn man
die zu lernenden Unterscheidungen verstehen will - jeder nur individuelle Wort-
gebrauch soll ja methodisch ausgeschlossen sein. " 17 Diese Reserve gegenüber der
,,positivistischen Einengung auf das unbeteiligt Beobachtbare" bedeutet aber keines-
wegs ein Offenhalten einer methodischen Erkenntnis, die nicht auf sinnlich Vorgeb-
barem basieren wiirde, sondern sie bedeutet nur die Ablehnung der positivistischen
Beschränkung der Wissenschaft auf einen besonderen Teil der öffentlichen Welt: auf
die sog. ,,unbeteiligt" beobachtbare „bloße Natur". »Die Sache" (für "Sache" steht in
der englischen Version des Textes something objective18 ), um die man sich „in allen
Fällen" bemiihen soll, ist durchwegs die sinnlich erscheinende, öffentliche Objektivität:
Auch Herstellungsprozesse, Spiele, iibereinstimmendes Verhalten von Sachkundigen,
iiberhaupt alle menschlichen Handlungen und Verhaltensweisen, die nur im Nachvoll-
zug oder im Einfühlen verstehbar sind, miissen, um Gegenstände dieses „methodischen
Denkens" zu werden, sinnlich vorf iihrbar sein.
Die Folge dieser Forderung der exemplarischen Einführung der Grundbegriffe
durch das öffentliche Vorlegen von Fällen ist, daß es neben den positiven (d. h. auf
dieser sinnlich-öffentlichen Vorgebbarkeit beruhenden) Wissenschaften gar keine Philo-
sophie gibt, eine Konsequenz, die erfreulicherweise von diesem »methodischen Denken"
auch ausdrücklich gezogen wird: ,,Und wenn wir Wissenschaft und Philosophie beide

15 Nämlidi von der „Erlanger Schule", die aber weit iiber Erlangen hinaus ihren Ein-
fluß geltend macht; siehe dazu hauptsächlich: Paul Lorenzen, ,,Methodisches Den-
ken", Ratio VII (1965), S. 1-23 (abgedruckt in P. Lorenzen, MethodischesDenken,
Suhrkamp, Frankfurt 1968); Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Logische Pro-
pädeutik. Vorsclmle des verniinf tigen Redens, Bibliographisches Institut, Mann-
heim 1967; Friedrich Kambartel, Was ist und soll Philosophie? Konstanzer Univer-
sitätsreden, 5, 1968.
16 Propädeutische Logik, S. 117 ff.
17 Lorenzen, Methodisches Denken, S. 31.
18 Ratio VII (1965) S. 40 (engl. Ausg.).
Die Allgemeinheit der philosophischen Rede 383

unter den Anspruch stellen, methodisch vorzugehen, kann es einen eigenen Platz für
die Philosophie auch nicht geben"; ,,es gibt keinen Satz, den man als methodisches
Ergebnis nur der Philosophie, nicht der Wissenschaft zurechnen kann. " 19
Im Sinne dieser Konsequenz läge es, von Philosophie überhaupt nicht mehr zu
sprechen, sondern nur noch vori positiven Wissenschaften. Aber eine so deutliche
Position wagen nun die Vertreter des „methodischen Denkens" doch nicht einzuneh-
men. Friedrich Kambartel etwa will die Philosophie noch als „Bemühen um• Strenge
in den Wissenschaften" 20 aufrecht erhalten. Da die Wissenschaften faktisch immer mehr
um Ergebnisse als um strenges methodisches Vorgehen bemüht sind, würde der
Philosophie noch die Aufgabe zufallen, dieses Versäumnis nachzuholen, ,,und zwar
genau dann, wenn und genau so lange, wie sie in den Wissenschaften selbst nicht
geleistet wird" 21 • ,,Die Probleme der Philosophie sind dann nicht neben, sondern in
den Wissenschaften zu suchen, als deren begründungstheoretische Verwirrungen oder
Versäumnisse. "22 Auf diese Weise läßt sich aber, wie man leicht sieht, Philosophie
nicht halten, denn es kommt den Wissenschaften, wenn sie überhaupt so heißen sollen,
selbst zu, jeweils ihre eigenen methodischen Versäumnisse nachzuholen und überhaupt
ihren eigenen methodischen Gang kritisch zu überprüfen. Es ist auch sinnlos, ·systema-
tisch die Wissenschaftler in etwas -leichtfertige, die möglichst schnell nach· Ergebnissen
haschen, und in kritische einzuteilen und die zweiten mit dem Qualitätszeichen
„Philosophen" zu versehen, das ja so nichts anderes als eine Tautologie, nämlich
„wissenschaftliche Wissenschaftler" bedeuten könnte. Philosophie hätte nur dann im
Zusammenhang mit der Begründung der Wissenschaften eine eigene Aufgabe, wenn
sie diese auf „Gründe" führen könnte, die die positiven Wissenschaften aufgrund_ ihrer
Methode, also. in strenger Einhaltung derselben, gar nicht suchen, und dies würde
bedeuten, daß die Philosophie eine besondere Methode hat, die nicht wie die positive
sinnlich-öffentlich Vorgegebenes zur Grundlage ihrer Begriffe und ihrer ganzen Syste-
matik nehmen kann.
Paul Lorenzen .überläßt es den Wissenschaften selbst, für ihre methodischen
Grundlagen aufzukommen. Für ihn zielt Philosophie gar nicht auf eigene ·Aiissagen,
sondern besteht ausschließlich in der persönlichen, existenziellen Entschlossenheit, -·immer
den Weg einzuschlagen, der sich durch „methodisches Denken" (in seinem Sinne, also
durch positiv-wissenschaftliches I>enken) rechtfertigen läßt23• Es ist _aber nicht einzu"'."
sehen, warum dieses pösitiv~wissenschaftliche Ethos, das das' ganze Leben ausrichten
soll, mit dem Namen der Philosophie zu bezeichnen ist.
Der Idee des sog. ,,methodischen Denkens" ist entgegenzuhalten, daß es phil<>"'."
sophisch nicht angeht, ein bestimmtes methodisches Vorgehe~ zum vornherein z11r
universalen Methode alles vernünftigen Denkens und Forschens zu deklarieren. Dieses
„methodische Denken" erfüllt zwar eine Forderung, die für die Wissenschaft von

1• Lorenzen, Methodisches Denken, S. 57.


20 Was ist und soll Philosophie?, S. 6.
21 A. a. 0., S. 17.
22 Ebenda. ,,Der Philosoph. der Mathematik zum Beispiel unterscheidet sich demnach
vom Mathematiker nur durch die Strenge seines Begründungsanspruches im Gebiet
der Mathematik" (ebenda). ·
23 Methodisches Denken, S. 58/59. ,,Die Philosophie, sofern sie über die Wissenschaft
hinausgeht, zielt nicht auf Sätze, sondern auf den philosophierenden Menschen
selbst. Und zwar nicht, daß er zu irgendwelchen, Zielen überredet· werden soll,
sondern gerade dadurch, daß er selbst lernt, alles, was über solche Ziele gesprochen
wird, auf seine Begründbarkeit zu prüfen." ,,Collegium Logicum", in Methodisches
Denken, S. 23. · · · ··

(
384 Die Sprache der Philosophie

größter Bedeutung ist: sie ermöglicht ein wissenschaftliches Reden, das von Anfang
an intersubjektiv streng normiert, für alle „Sachfähigen" prinzipiell immer voll ver-
ständlich ist. Darf aber diese methodische Forderung zum vornherein an alles ver-
nünftige Denken und an alle wissenschaftliche Erkenntnis gestellt werden? Könnte es
nicht wissenschaftlich Erforschbares geben, das a11s sich selbst dieser Forderung prin-
zipiell nicht entsprechen kann, so daß sie sich hier als nicht sachgemäß erweisen
würde? Es wäre Sache der Philosophie, solchen Fragen nachzugehen und nicht zum
vornherein, d. h. bevor untersucht wurde, was Vernunft ist, allem vernünftigen Den-
ken eine gewisse Methode vorzuschreiben. Damit wird unverantwortet (,,dogmatisch")
darüber präjudiziert, was Vernunft ist, bzw. was vernünftig erforscht werden kann.

§ 58 Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache

Abschließend möchte ich das Verhältnis der Philosophie zur Sprache,


vor allem zur gewöhnlichen Sprache, noch durch einen kritischen Umweg,
nämlich durch eine methodologische Auseinandersetzung mit der sog.
,,Philosophie der gewöhnlichen Sprache" (Ordinary Language Philoso-
phy), verdeutlichen. Diese Bewegung, die ihren Ausgang vom späteren
Denken Ludwig Wittgensteins genommen hat, versucht, den Anhalt und
Boden der Philosophie in der gewöhnlichen Sprache zu finden.
Dieser philosophische Rückgang auf die gewöhnliche Sprache ergab
sich vorerst nur als eine Konsequenz aus einer bestimmten Auffassung
der philosophischen Problematik: Nach Wittgenstein „entstehen die
philosophischen Probleme, wenn die Sprache feiert", d. h., wenn sie
nicht mehr in ihrer ursprünglichen, alltäglichen Funktion arbeitet, son-
dern durch Mißverständnis und Verwirrung ihrer internen „Logik" oder
,,Grammatik" leerzulaufen beginnt24 • Die „Lösung" dieser Scheinpro-
bleme kann demnach nur darin bestehen, daß sie „wie eine Krankheit"
therapeutisch behandelt25 , nämlich durch Rückführung der metaphysisch
leerlaufenden Sprache auf ihre gewöhnliche, normal funktionierende
Verwendung (Bedeutung) zum Verschwinden gebracht werden 26 • Nach
Gilbert Ryles Formulierung besteht diese Aufgabe darin, die „Logik"
der gewöhnlichen Begriffe, d. h. ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen
Satzarten oder Kategorien, gegenüber den die philosophischen Schein-
probleme erzeugenden Verletzungen dieser immanenten Sprachregeln
(categorial mistakes) zur Geltung zu bringen 27 •

24 Philos. Unterrnch1mgen, §§ 38, 132.


2s A. a. 0., §§ 133, 255.
26 A. a. 0., §§ 116, 132, 133.
27 Vgl. G. Ryles Einleitung zu seinem Concept of Mind (1949).
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 385

Mit dieser globalen Position brauchen wir uns hier nicht auseinander-
zusetzen, denn es ist aufgrund der vorangehenden Ausführungen wohl
deutlich genug, daß die philosophischen Probleme der Selbsterkenntnis
der Vernunft nicht einfach aus Verwirrungen der gewöhnlichen Sprache
entstehen, sondern von einer ursprünglichen, irreduktiblen Fragestellung
getragen sind. Im jetzigen Zusammenhang muß uns vielmehr eine andere
Ansicht interessieren, zu der sich die sprachanalytische Philosophie ent-
wickelt hat: Diese neue Position negiert nicht mehr die Echtheit der
philosophischen Fragen und Probleme; dennoch aber verlangt sie den
analytischen Rückgang auf das Funktionieren der gewöhnlichen Sprache
und stellt diese Analyse als die eigentliche Methode oder „Technik" des
Philosophierens hin. Gleich zum vornherein kann man sich .des Ver-
dachts nicht erwehren, daß in dieser Entwicklung eine gewisse Ent-
fremdung und Halbheit liegt, da diese neuere Position nur noch an der
Forderung des Rückgangs zur gewöhnlichen Sprache, nicht mehr aber an
der Auffassung der philosophischen Probleme, aus der diese Forderung
entsprang und in der sie ursprünglich begründet war, festhält. Doch
sehen wir j~tzt von diesem Verdacht ab und hören wir uns die Argu-
mente an, durch die diese neuere Position die Philosophie an die gewöhn-
liche Sprache binden will! Denn gerade diesem Verhältnis von Philoso-
phie (sofern sie keine bloße Sprachverwirrung ist) und gewöhnlicher
Sprache gilt ja das Interesse des vorliegenden Kapitels.
Der bedeutendste Vertreter dieser neueren Auffassung der „Sprach-
analyse" ist wohl J. L. Austin. Seine Ideen haben durch mehrere seiner
Schüler, vor allem durch P. F. Strawson und John R. Searle interessante
Modifikationen erfahren. Doch wenden wir uns vorerst Austin selbst zu,
denn von allen Vertretern der Ordinary Language Philosophy hat er
sich am deutlichsten über die Gründe und Techniken dieser Weise des
Philosophierens ausgesprochen28 •
Der Rückgang auf die „gewöhnliche Sprache" hat bei Austin folgende
Funktion: Der Reichtum von begrifflichen Unterscheidungen und Ver-
bindungen hinsichtlich der Wirklichkeit, die in den verschiedenen ge-

18 Vor allem in „A Plea for Excuses" (1956), neu veröffentlicht in den Philosophical
Papers, 1. Aufl. (Oxford, 1961), S. 129-134, 2. Aufl. (1970), S. 181-186, und in
der Schlußdiskussion des Kolloquiums von Royaumont, veröffentlicht in La philoso-
phie analytique (Paris, 1962), S. 330-380, aber auch in gelegentlichen Bemerkungen
wie in How to do Things with Words (Oxford 1962), S. 122.
19 Philos. Papers, S. 182 (1. Aufl., S. 130), La philosophie anal;ytique, S. 332, 351.
386 Die Sprache der Philosophie

wöhnlichen Sprachen verkörpert sind, soll für die philosophischen Pro-


bleme systematisch fruchtbar gemacht werden 29 • Dies hat dadurch zu
geschehen, daß in einer bestimmten, traditionellen oder neu zu ent-
wickelnden philosophischen Problematik alle darauf bezüglichen Wörter
und Redewendungen einer Sprache mit Hilfe von Wörterbüchern aus-
findig gemacht und ihr jeweiliger differenzierender Gebrauch, je nach
der besonderen Situation; untersucht wird. ,,Was wir im allgemeinen
und vielleicht sogar ... spezifisch tun, besteht darin, zu fragen, in wel-
chen Umständen wir jeden der Ausdrücke gebrauchen würden, die wir
festge~tellt haben." 30 Das verschärfte Wortbewußtsein soll dazu dienen,
unsere·Wahrnehmung der Phänomene zu schärfen31 • ,,M. a; W., wir ge-
brauchen die Vielfalt der Ausdrücke, die der Reichtum unserer Sprache
uns gibt, .um unsere Aufmerksamkeit auf die Vielfalt und den Reichtum
unserer Erfahrungen zu lenken. Die Sprache dient uns als Mittler, um
die lebendigen Tatsachen zu beobachten, die unsere Erfahrung aus-
machen und die wir ohne sie zu übersehen geneigt wären. "32 Eine Ge-
wälfr für diesen Mittler besteht nach Austin in seinem hohen Alter, denn
nach dem Evolutionsgesetz überlebt nur das Fähigste33• Ein großer Vor-
teil' dieses Mittlers besteht auch darin, daß die sich philosophisch Streiten-
den in ihm ein Terrain der allgemeinen übereinstimmung finden können.
· • 'Austin sieht aber genau die Grenzen dieses Vorgehens: ,, Wir prä-
tendieren nicht, dadurch die ganze Wahrheit für alle Dinge zu ent-
decken: Wir. werden einfach diejenigen Tatsachen entdecken, die seit
Jahrhunderten die Benützer unserer Sprache zu vermerken sich die Mühe
nahmen, die sie im Vorbeigehen als vermerkenswert festhielten und die
sie im laufe der Entwicklung unserer Sprache bewahrt haben. " 34 „Der
(in der Sprache \verkörperte) Scharfsinn ist· vor allem auf' die prak-
tischen Geschäfte des Lebens· konzentriert. Wenn eine Unterscheidung
für die praktischen Zwecke des gewöhnlichen Lebens gut funktioniert,
dann muß sicher etwas in ihr liegen, sie wird nicht nichts bezeichnen;
dennoch ist es wahrscheinlich genug, daß sie nicht die beste Anordnungs--
weise ist, wenn unsere Interessen weiter und intellektueller sind als die

ao La philosophie analytique, S. 333.


31 ."We are using a sharpened awareness of words to sharpcin our perception of,•
.,· though not as the final arbiter of, the phenomena" (Philos. Papers, S. 182, 1. Aufl.,
s.,üo). · · ·
82 La philosophie analytique, S. 333.
83 Philos. Papers, S. 182 (1. Aufl., S. 130); La philosophie analytique, S. 351.
84 La philosophie analytique, S. 335.
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 387

gewöhnlichen. "35 Austin weist auch auf die Beschränktheit der Erfahrung
hin, die der gewöhnlichen Sprache zugrunde liegt, und auf „alle Arten
von Aberglauben, Irrtum und Einbildungen", die in ihr Fuß gefaßt
haben. ,,So ist gewiß die gewöhnliche Sprache nicht das letzte Wort: sie
kann grundsätzlich überall ergänzt, verbessert und ersetzt werden. Aber
nicht zu vergessen, sie ist das erste Wort." 36 Austin ist also weit davon
entfernt, den gewöhnlichen Sprachgebrauch und seine „Logik" zum
letzten Kriterium der sinnvollen philosophischen Rede zu erheben.
Dennoch legt Austin de facto die Aufgabe der Philosophie auf die
Analyse der gewöhnlichen Sprache fest. Er anerkennt zwar die Möglich-
keit, daß Probleme offenbleiben mögen, die mit den Techniken dieser
Analyse nicht zu lösen sind (z. B. das Problem der Grundbegriffe oder
Kategorien), aber er erklärt nicht bloß, daß in der heutigen Lage der
Philosophie die Zeit noch nicht gekommen sei, sich um solche Probleme
zu bemühen und daß keine der heute in Gunst stehenden Methoden sie
erfolgreich zu erörtern vermöge, sondern auch, daß, wenn einmal eine
dafür geeignete Method<: gefunden werden könnte, sie dann nicht mehr
philosophischer, sondern wissenschaftlicher Natur wäre37 • Dabei scheint
er vor allem an die Psychologie und evtl. auch an die Linguistik zu
denken38•
In der methodischen Festlegung der Philosophie auf Sprachanalyse
beruft sich Austin wiederholt auf Sokrates und die Philosophie Athens,
d. h. auf den Ursprung der Philosophie überhaupt: Anstatt sich direkt
mit dem verborgenen Lauf der Sachen selbst zu beschäftigen, habe sich
Sokrates aus denselben Gründen wie die heutige Sprachanalyse auf den
„Weg der Wörter" (the Way of Words, la voie du Langage) begeben. Die
heutige Sprachanalyse sei nur eine Wiederentdeckung dieser ursprüng-
lichen Weise des Philosophierens 39 •
Es ist nützlich, in unserer kritischen Stellungnahme zu dieser metho-
dologischen Po~ition gleich bei diesem letzten, historischen Punkt einzu-
setzen. Denn die Berufung auf Sokrates (die auch bei anderen ihrer
Vertreter, z.B. bei G. Ryle, beliebt ist) könnte ihr ein solches Ansehen

36 Philos. Papers, S. 185 (1. Aufl.; S. 133); vgl. S. 182 (1. Aufl., S. 130) u. S. 203/204
(1. Aufl., S. 151/152).
3• A. a. 0., S. 185 (1. Aufl. S. 133).
81 La philosophie analytique, S. 375/376.
38 Siehe Philos. Papers, S. 203/204 (1. Aufl., S. 151i152); La philosophie analytique,
S. 375; How to do Things with Words, S. 122.
89 Philos. Papers, S. 183 (1. Aufl., S. 131); La philosophie analytique, S. 349.
388 Die Sprache der Philosophie

geben, daß eine Kritik verstummen müßte. Wenn Sokrates und seine
Schüler wirklich ihren spezifischen Weg zur Erkenntnis in der „Sprach-
analyse" gesehen hätten, dann wäre tatsächlich der geschichtlich geprägte
und gerechtfertigte Sinn des Wortes Philosophie Sprachanalyse, und we~
unter diesem Namen etwas anderes triebe, miißte riskieren, als Usurpa-
tor dieses erhabenen griechischen Wortes gebrandmarkt zu werden.
Offensichtlich bezieht sich Austin, wenn er sich auf den way of Words
des Sokrates beruft, auf jene berühmte Stelle in Platons Phaidon, an der
Sokrates, seine Erfahrungen auf seinem Forschungswege schildernd, be-
richtet, wie er aus Furcht, bei der direkten Betrachtung der Dinge zu
erblinden, auf eigene Faust eine „zweite Fahrt" (öe{rreeoc; :rcÄoiic;) unter-
nommen, indem er sich in die Äoyot geflüchtet habe, um so die Dinge in
ihnen, wie in ihrer spiegelnden Brechung, zu betrachten40• Tatsächlich
könnte man auf den ersten Blick meinen, daß dieser von Sokrates in-
staurierte Weg (µs-Ooöoc;) der mittelbaren Betrachtung der Dinge im
Milieu der Äoyot im Prinzip der von Austin formulierten Idee der Klä-
rung der Phänomene im Lichte der Sprache entspreche, zumal wenn
man hier wie Austin den griechischen Ausdruck ÄoyoL durch words oder
französisch durch Langage widergibt41•
Doch erweist sich bei genauerer Betrachtung der Sinn dieser Phaidon-
Stelle als ein sehr verschiedener: Im Zusammenhang der Frage nach der
Unsterblichkeit der menschlichen Seele (woran zu erinnern gegenüber den
Sprachanalytikern wohl nicht ganz unnütz ist) schildert Sokrates seine
Erfahrungen auf seinen Forschungswegen nach den Ursachen (at·d.m,
öux· ·rl) des Entstehens, Bestehens und Vergehens 42 • Erst habe er sich als
Jüngling in der Wissenschaft (aocpta) bemüht, die man Naturgeschichte
('fJ :rtEQL cpfoecoc; ta-rogta) nennt43 • In dieser Weise des Vorgehens (ö
-rgo:rcoc; -r'ijc; µe-Ooöou )44 sei er in ihn völlig verwirrende Widersprüche
geraten (daß dasselbe gegensätzliche Ursachen und daß dieselbe Ursache
gegensätzliche Wirkungen hat), so daß er gleichsam erblindet auch un-
wissend darüber wurde, was er vorher zu wissen glaubte, und erkennen
mußte, daß er für diese Weise des Forschens untauglich sei45• Nachdem
er sich dann durch die Idee des Anaxagoras begeistern ließ, daß die Ver-

40 Phaidon, 99 d-100 a.
41 Philos. Papers, S. 183 (1. Aufl., S. 131); La philosophie analytique, S. 349.
42 Phaidon, 95 e, 96 a, 97 b.
48 A. a. 0., S. 96 a.
u A. a. 0., 97 b.
45 A. a. 0., 96 a-97 b.
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 389

nunft (vou~), bzw. das von ihr gewählte Beste, die Ursache von allem
sei, aber alsbald erkennen mußte, daß die tatsächlichen Nachforschungen
des Anaxagoras gar nicht dieser Ursächlichkeit entsprachen, sondern im-
mer nur die negativen Bedingungen ermittelten, ohne die die Ursache
nicht Ursache sein kann 46, also im Widerspruch mit seinem eigenen Prin-
zip doch wieder nur in die übliche Betrachtungsart der „Naturgeschichte"
zurückfielen, nach diesem große Hoffnungen weckenden, aber enttäu-
schenden Zwischenspiel also habe er dann die zweite Fahrt in der Ur-
sachenforschung (ö1,{rr1>eo~ :nti.oii~ E:nl. -rriv •r\~ aMa~ t~Tl'J<nv47) unter-
nommen: ,,Es bedünkte mich, nachdem ich in der Betrachtung der Dinge
versagt hatte (bmöri a:rtELQ~'K'I'} -ra öv.a <Jxoxrov), ich müsse das Schick-
sal derer zu vermeiden suchen, die die sich verfinsternde Sonne an-
schauen und betrachten. Manche verderben sich nämlich die Augen, wenn
sie nicht im Wasser oder in einem anderen solcher Art das Bild (niv
dxova) der Sonne betrachten. So etwas glaubte auch ich und befürchtete,
ich würde noch völlig an der Seele erblinden, wenn ich mit den Augen
nach den Dingen (xeayµam) schaute und ihrer mit allen Sinnen habhaft
zu werden trachtete. Es scheint mir nunmehr, ich müsse, bei den ti.6yot
Zuflucht nehmend, in diesen die Wahrheit der Dinge betrachten (xQf\vm
i,t~ wu~ Myov~ xa-rmpuy6vra EV E'KELVOL~ crxo;i:1,!v -rwv öv-rcov -rriv w.~-01>tav).
Doch paßt der Vergleich vielleicht in gewisser Weise nicht, denn ich ge-
stehe nicht wirklich zu, daß derjenige, der in den ti.6yot betrachtet, die
Dinge (öv.a) eher in Bildern sieht als derjenige, der sie in der Wirklich-
keit (Ev ilQyot~) betrachtet. Nun auf diese Weise also begann ich, und
indem ich in jedem Falle den 1i.6yo~, den ich als den beständigsten
{EQQC0µ1>vfo-ra.ov) erachte, zugrunde setze ({mo-Osµi,vo~), setze ich das
als wahre Wirklichkeit (oo~ UA'l'}{}f\ övta), was mir mit jenem übereinzu-
stimmen scheint, sowohl hinsichtlich der Ursache als auch alles anderen,
was aber nicht übereinstimmt, als nicht wahr. " 48
Wir haben bis jetzt den Ausdruck Myo~ nicht übersetzt. Seine Bedeu-
tung wird sich durch die Fortsetzung der Rede von Sokrates ergeben:
Den Sinn des soeben Ausgeführten verdeutlichend, erklärt er, daß er
damit versuche, diejenige Art Ursächlichkeit (-rf\~ ahta~ to 1,lao~) zu
zeigen, mit der er sich beschäftige, und damit wieder bei jenen viel-
berufenen (,,Ideen") angelangt sei: ,, Von ihnen gehe ich aus, indem ich

48 A. a. 0., 99 a.
,1 A. a. 0., 99 c/d.
,s A. a. 0., 99 d-100 a.
390 Die Sprache der Philosophie

zugrunde setze: es gibt ein ,An-sich-Schönes', ,-Gutes', ,-Großes' und so


weiter ({m:ofüµivo; dvm n Y.aMv atrto y,,a{}' m'.n;6 ... ). " 49 Der be-
ständigste 'Aoyoc;, der hier zugrunde gesetzt wird, ist also ein Grundsatz,
und die MyoL, in die sich Sokrates flüchtet, sind demnach Sätze, Thesen,
Aussagen, Gedanken50•
Der Sinn dieser ganzen Weise des Vorgehens kann folgendermaßen
verdeutlicht werden: Anstatt unmittelbar die Dinge der sinnlichen Er-
fahrungswelt zu betrachten und nach ihren verborgenen Ursachen zu
fragen (die „erste Fahrt"), wird auf das zurückgegangen, was das Reden
oder Denken über die Dinge ansetzen muß, um nicht in Verwirrung,
d. h. in Widerspruch mit sich selbst zu geraten, sondern haltbares, mit
sich einstimmiges Reden oder Denken über die Dinge sein zu können 51 •
Nur wenn man im Reden oder Denken Ideen annimmt und sie in der
Erfahrung als die Ursachen des Entstehens, Bestehens und Vergehens
setzt, hat man in ihm sicheren Halt und kommt nicht zu Fall. ,,Wenn
jemand nicht zuläßt, daß es Ideen des Seienden gibt ... , so wird er
nicht haben, wohin er sein Denken ('t'Y}V buhoLav) wende ... und wird
so sein Vermögen des Denkens und Redens (wu fücxMyia-Om Mvaµw)
völlig zugrunderichten. " 52 Die dargestellte „Flucht in die Logoi" ist
immer auch auf dem Hintergrund der im Phaidon systematisch unmittel-
bar vorausgehenden Ausführungen über das Verhältnis der Seele zu den
zwei Arten des Seienden, zum Sichtbaren und zum Unsichtbaren, nur
Denk.baren zu verstehen: Während die Seele die sichtbare Welt ver-
mittels eines ihr Fremden, nämlich durch den Leib betrachtet und sich
dadurch in ein Fremdes, sie Verwirrendes verirrt, erkennt sie das un-
sichtbare, unveränderliche Sein (die „Ideen") durch sich selbst, mit
eigenen „Mitteln", nämlich durch den Logos 53 • Die Flucht in die Logoi
bedeutet demnach eine Flucht der Seele aus der ihr fremden Welt der
sinnlich-leiblichen Wahrnehmung in das ihr eigene „Element" des Re-
dens oder Denkens und dadurch in das für das Denken notwendige und
ihm entsprechende unveränderliche Sein.
Die gedankliche Verwandtschaft dieser „zweiten Fahrt", die in Pla-
tons Darstellung das Sokratische Philosophieren ausmacht, und der (auch

40 A. a. 0., 100 b.
50 Gedanken, wenn man wie Platon unter „Gedanke" (öuivoia) nichts anderes als
den 1.6yo; innerhalb der Seele ohne Stimme versteht (Sophistes, 263 e, 264 a).
51 Vgl. Phaidon 100 c-102 a.
52 Parmenides, 135 b/c.
53 Phaidon, 78 b-84 b; vgl. unten S. 419 ff.
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 391

in einer „zweiten Fahrt" gewonnenen) kritischen Methode Kants, die


im „obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile", dem gemäß „die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt zugleich die
Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind"
ihren universalen Ausdruck und in der Einheit oder Einstimmigkeit des
,,Ich denke" (der reinen Apperzeption) ihr Prinzip besitzt, ist offen-
kundig. Beidesmal wird in einem Gegenzug zum naiven, unmittelbaren
Denken über die Dinge der Welt auf das Denken oder die begriffliche
Erfahrung von der Welt reflektiert und nach den notwendigen Voraus-
setzungen oder Bedingungen der Einheit oder Beständigkeit dieses
Denkens gefragt. Es ist vielleicht kein Zufall, daß sich sowohl diese
Sokratische wie auch Kantische Wendung primär in der Reflexion auf
den Begriff der Ursache vollzog.
In ihrer Grundidee (nicht in ihren Ausführungen) betrachte ich diese
reflektive Wendung auf das vernünftige Denken und Reden durchaus
als bindend für das, was uns das Wort Philosophieren als geistiges Unter-
nehmen bedeuten soll. Aber es ist auch schon deutlich geworden, um
wieder auf Austin zu sprechen zu kommen, daß, was dieser als die
Methode der Philosophie ausgibt, grundsätzlich nicht an das heranreicht,
worauf sie sich beruft. Die „zweite Fahrt" des Sokrates ist nicht einfach
ein way of Words oder eine voie du langage in seinem Sinne. Wir
könnten dies auch noch erhärten einerseits durch Platons ausdrückliche
Erklärung, daß nicht die Wörter (öv6~w:ra, §~µam), sondern nur die
Sätze MyoL sind54 , und andererseits noch treffender durch die Ausfüh-
rungen des Sokrates am Schluß des Kratylos, daß man die Dinge (nx
ovta) viel besser als aus den Wörtern (E~ övoµan:.ov) aus sich selbst (aüta.
i~ avt&v) kennenlerne und erforsche55 , Ausführungen, die nicht im
Gegensatz zu Sokrates' Bi::v-rE()ü<; n11.oii<;, wohl aber zu Austins way of
W ords stehen.
Wenn die Aufgabe der Philosophie darin besteht, den notwendigen
Bedingungen des vernünftigen Redens und Denkens nachzugehen, so ist
uns der Weg dazu nicht einfach durch die Analyse der Wortbedeutungen
der gewöhnlichen Sprache (des gewöhnlichen Gebrauchs der Sprache)
gegeben. Diese Analyse kann nicht ans Ziel reichen, ja, sie kann in dieser
Aufgabe nicht einmal das erste Wort führen, wie Austin meint. Denn
das erste Wort dieser Aufgabe muß doch darin bestehen, die Aufgabe

54 Sophistes 259 e-262 d; vgl. VII. Brief, 342 und Nomoi, X 895 d.
55 Kratylos, 439 b.
392 Die Sprache der Philosophie

allererst sinnvoll zu stellen und zu umreißen, ihren „Gesichtspunkt",


ihre Fragen und Ziele zu entwerfen. Die Analyse des gewöhnlichen
Sprachgebrauchs als solche ist noch gar keine Philosophie, sie erhält erst
innerhalb einer philosophischen Fragestellung philosophische Bedeutung.
Wenn die Analyse des gewöhnlichen Sprachgebrauchs nur für sich selbst
betrieben wird, so kann sie es zu empirischen Feststellungen über die in
den verschiedenen Idiomen sedimentierten Unterscheidungen und Auf-
fassungen bringen, eine Untersuchung, die sich ohne Gesichtspunkt und
vorangehende Problemstellung und Zweckbestimmung ins Uferlose und
Belanglose verlieren muß, auf alle Fälle nicht selbst schon Philosophie
ist, da sich diese nicht für die faktischen Sprachen als solche interessiert.
Eine Problemstellung, die der Sprachanalyse allererst eine philosophische
Bedeutung verleihen könnte, ist nicht durch sie selbst gegeben. Vor aller
Analyse des gewöhnlichen Sprachgebrauchs hat also die Philosophie
allererst ihren Gesichtspunkt, ihre Interessenrichtung anzugeben und
sich der Bedingungen zu versichern, unter denen sie allein diesem Inter-
esse genügen kann. Wenn die Analyse der gewöhnlichen Sprachbe~eutun-
gen nicht aufs Geratewohl oder mit mehr oder weniger unklaren Zielen
vorgehen, sondern philosophisch sein will, muß vorerst die Dimension
der philosophischen Fragestellung, d. h. das Niveau der reinen Reflexion
auf das Wesen der Vernunft gewonnen werden.
Wenn dieses Niveau der philosophischen Probleme einmal erreicht
ist, dann kann die Analyse des gewöhnlichen Sprachgebrauchs sicher
nützliche Dienste leisten. Nicht nur muß ja der Philosophierende in sei-
nem Reden von der gewöhnlichen Sprache ausgehen und wird schon
deshalb gut daran tun, sich ein möglichst klares Bewußtsein über die
Bedeutung der ihm von der gewöhnlichen Sprache vorgegebenen Wörter
zu verschaffen, sondern er wird sich auch mit Vorteil den in der gewöhn-
lichen Sprache liegenden Reichtum an unreflektierten Unterscheidungen
von Bewußtseinsweisen zu Nutzen machen. Alle Philosophen haben
mehr oder weniger von diesem Reichtum ausdrücklich gebraucht. Die
Forderung nicht bloß einer gelegentlichen und sporadischen, sondern einer
systematischen Ausnutzung des in der gewöhnlichen Sprache verkörper-
ten ·wissens über die Vernunft hat für die Philosophie ohne Zweifel
schon wertvolle Hinweise gebracht. Aber man darf die Schranken dieser
,,Technik", die sich die Philosophie zu Nutzen machen kann, nicht über-
sehen. Wie Austin selbst erklärt, kann in dieser Technik nicht die Lösung
der philosophischen Probleme liegen (ebensowenig wie ihre Stellung),
da dies voraussetzen würde, daß die Reflexion auf das Wesen der Ver-
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 393

nunf t sich in der gewöhnlichen, in die phänomenale Welt hineinlebenden


Praxis anonym bereits erfolgreich vollzogen und in ihrer Sprache nieder-
geschlagen hat. Diese Grenzen der Sprachanalyse sind auch de facto
spürbar: Wenn man sich in die Schriften derjenigen Denker vertieft, die
sich auf diese Methode berufen, wird man gewahr, daß die Ausführun-
gen, solange sie wirklich nur Analyse des gewöhnlichen Sprachgebrauchs
sind, trotz ihres Scharfsinns gar nicht in die eigentliche Dimension der
philosophischen Problematik hineinreichen, sobald sie dies aber tun, die
Analyse der gewöhnlichen Sprache auch schon hinter sich gelassen haben.
So gesteht Austin selbst ein, daß die für seine Philosophie höchst wichtige
und im Zentrum seines Werkes stehende Abgrenzung der illocutionary
acts primär „auf intuitive Weise" (intuitively) gewonnen wurde und daß
· ihre Abstützung auf Ausdrücke der gewöhnlichen Sprache „höchstens
sehr schlüpfrige Teste" (at best very slippery tests) abgibt56 • überhaupt
entspringt seine ganze Unterscheidung von locutionary, illocutionary
und perlocutionary acts und auch die versuchte Klassifikation der illocu-
tionary forces 51 keineswegs aus der bloßen Analyse des gewöhnlichen
Sprachgebrauchs. Auch Strawsons Unterscheidung von Einzelnen (parti-
rnlars) und Universalien im Zusammenhang der Unterscheidung von
Subjekt und Prädikat findet in der Grammatik der gewöhnlichen Sprache
keine sichere Stütze58•
Es ist denn auch festzustellen, daß man sich innerhalb der „sprach-
analytischen Bewegung" immer deutlicher der sehr beschränkten Trag-
weite des way of W ords innerhalb philosophischer Probleme bewußt
wird. John R. Searle erklärt in seinem bedeutenden Buch Speech Acts
(1969), das den Bedingungen der verschiedenen Arten von Sprechakten
nachgehen will, lakonisch, daß er „manchmal" diese sprachanalytische
Methode benützen werde 59 • Sehr deutlich kommt diese methodologische
Selbstbescheidung der sog. Ordinary Language Philosophy bei P. F.
Strawson zum Ausdruck 60 : Zwar „bleibt der normale Sprachgebrauch
der einzige, der wesentliche Berührungspunkt des Philosophen mit der
Wirklichkeit dessen, was er begreifen will, mit der Wirklichkeit der
56 How to do Things with Words, S. 130.
57 A. a. O. in Lecture XII.
58 Siehe Strawsons eigene Bewertung des grammatical approach in lndividuals (London
1959), 5. Kap., § 7.
50 Speech Acts, Cambridge 1969, S. 4.
00 Siehe den 1958 in Royaumont gehaltenen Vortrag „Analyse, science et m~taphy-
sique'', veröffentlicht in La philosophie arialytique (Paris, 1962), und die Einleitung
zu lndividuals. An Essay in Descriptive Metaphysics (London 1959).
394 Die Sprache der Philosophie

Begriffe, denn es ist der einzige Punkt, an dem die Operationsweise der
Begriffe beobachtet werden kann " 61 • Aber der eigentlich philosophische
Gesichtspunkt wird nicht innerhalb der normalen faktischen Sprachen
angesetzt. Die philosophische Aufgabe kann sich nach Strawson nicht
darauf beschränken, (mit oder ohne therapeutischer Abzweckung) die
verschiedenen Operationsweisen der gewöhnlichen Begriffe zu beschrei-
ben, zu klassifizieren und zu vergleichen, sondern es soll weiter auch
danach gefragt werden, welche Veränderungen unser Begriffssystem bei
verschiedenen (fiktiven) Veränderungen der Struktur der Wirklichkeit
aufweisen würde (das Problem der Abhängigkeit der Begriffe von der
Wirklichkeit) und welche anderen Begriffssysteme als das tatsächliche in
Beziehung auf die faktische Wirklid1keit noch möglich sind62 • Alle diese
Untersuchungen und Probleme sind aber der zentralen Frage nach der
allgemeinsten Struktur unseres Denkens über die Welt untergeordnet 63 •
Diese Untersuchung des notwendigen, ungeschichtlichen Grundstocks
unserer begrifflichen Ausrüstung 64 und seiner inneren Beziehungen
( their interconnexions) bezeichnet Strawson als „deskriptive M etaphy-
sik" und nennt als bestes Vorbild eines solchen Unternehmens Kant.
über die Methode dieses Unternehmens sagt Strawson: ,,Bis zu einem
gewissen Punkt ist das Abstellen auf eine genaue Untersuchung des tat-
sächlichen Wortgebrauchs der beste und wirklich der einzig sichere Weg
in der Philosophie. Aber die Unterscheidungen und Verbindungen, die
wir auf diese Weise etablieren, sind nicht allgemein und weitreichend
genug, um der Forderung nach vollem metaphysischem Verständnis ge-
nügen zu können. Wenn wir nach der Gebrauchsweise dieses oder jenes
Ausdrucks fragen, dann setzen die Antworten, so gut sie auf einem
gewissen Niveau sein mögen, jene allgemeinen Strukturelemente, welche
der Metaphysiker erfassen möchte, vielmehr voraus, als daß sie sie
offenlegen würden. Die Struktur, die er sucht, spielt sich nicht auf der
Oberfläche der Sprache ab, sondern liegt in ihr verdeckt. Er muß den
einzigen sicheren Führer verlassen, wenn dieser ihn nicht so weit bringen

61 "Analyse, science et metaphysique", S. 118.


02 A. a. 0., S. 112-117, 122.
63 A. a. 0., S. 117; Individ11als, Einleitung.
04 n• •• there is a massive central core of human thinking which has no history - or
none recorded in histories of thought; there are categories and concepts which,
in their most fundamental character, change not at all. 0bviously these are not the
specialities of the most refined thinking. They are the commonplaces of the least
refined thinking; and are yet the indispensable core of the conceptual equipment
of the most sophisticated human beings" (lndividuals, Einleitung).
Philosophie und Analyse der gewöhnlichen Sprache 395

kann, wie er möchte. "65 Auf die Frage aber, wie denn diese funda-
mentale Struktur zu finden sei, bleibt Strawsons Antwort rein negativ:
,, ... die Methoden der deskriptiven Sprachanalyse reichen selbst nicht
aus, um zu solchen Ergebnissen zu gelangen; und meinerseits kenne ich
kein allgemeines Rezept, um zu demjenigen Verständnis zu kommen,
um das es sich jetzt handelt." 66 „Ich kenne keinen Charakterzug, der der
Methode der deskriptiven Metaphysik eigentümlich wäre. " 67 Das Epi-
theton „deskriptiv", das man hier als einen methodischen Hinweis ver-
stehen könnte, hat nicht diesen Sinn, sondern ist im Gegensatz zum
Ausdruck. revisionary metaphysics zu verstehen: Während die „Revi"'"
sionsmetaphysik" unser Begriffssystem von der Wirklichkeit verändern
will, stellt die „deskriptive Metaphysik" die Grundstruktur des tatsäch-
lichen Begriffssystem fest, sie beschreibt sie, aber es wird von Strawson
nicht gesagt, wie sie zu einer solchen Beschreibung gelangt. Auch nur in
diesem Sinne kann er Kants Transzendentalphilosophie als deskriptiv
bezeichnen.
Nachdem sich die Vertreter der sog. Sprachanalyse der Unangemes-
senheit ihrer ursprünglichen Methode zur Erzeugung des eigentlich phi-
losophischen Verständnisses bewußt geworden sind, scheinen sie in eine.
methodologische Leere zu geraten, in der sie entweder verharren oder
aber nur allzu gerne nach Methoden verschiedener positiver Wissen-
schaften schielen. Diesen Eindruck. erweckt etwa Searles Werk Speech
Acts, das das Sprechen als eine rule-governed form of behavior68 erklä-
ren will, wobei die „Reflexion" auf die eigene faktische Sprachbeherr-
schung (auf das eigene „Sprachgefühl") den Anhaltspunkt zu bilden hat.
Aufgrund des Prinzips der Ausdrucksfähigkeit jeder Meinung ( principle
of expressibility) werden die Regeln, die das Sprechverhalten erklären
sollen, mit den linguistischen Regeln der verschiedenen Sätze gleichge-
setzt. 69 Methodologisch scheint dieses Vorgehen eine Mischung von
Sprachanalyse, semantischer Linguistik und Verhaltensforschung darzu-
stellen. Ein wirklich philosophisches Verständnis der Sprechakte, ein Ver-
ständnis ihres Wesens, kann jedoch nicht aufgrund der Feststellung ihrer
phänomenalen Bedingungen zustande kommen. Das ist überhaupt der

65 lndividuals, Einleitung; genau wörtlich ebenso in „Analyse, science et metaphy-


sique", S. 117.
66 „Analyse, science et metaphyique", S. 117.
67 A. a. 0., S. 124.
68 Speech Acts, S. 16.
60 A. a. 0., S. 17-20.
396 Die Sprache der Philosophie

Grundfehler der von Wittgenstein ausgegangenen sprachanalytischen


Philosophie, daß sie meint, durch die Angabe von äußeren, phänomena-
len Bedingungen und Funktionen des Sprechens und Verstehens sagen
zu können, was dieses ist.
Der tiefste Grund, warum die Ordinary Language Philosophy trotz
des Bewußtseins ihres methodischen Ungenügens sich dennoch primär
am gewöhnlichen Sprachgebrauch orientieren will, liegt vielleicht in der
sie leitenden Idee der Philosophie. Welchen Weg man einzuschlagen
geneigt ist, hängt letztlich meistens doch vom Ziele ab, das man verfolgt.
über das Ziel der Philosophie spricht sich Strawson in der Conclusion
seiner Individuals folgendermaßen aus: ,,Wenn Metaphysik darin be-
steht, Gründe - gute, schlechte oder indifferente - für das zu finden,
was wir schon aus Instinkt meinen, dann war dies (die Ausführungen
des Buches) Metaphysik." ,,Es ist schwer zu sehen, wie solche Meinun-
gen anders bewiesen werden könnten als durch den Aufweis ihrer über-
einstimmung mit dem begrifflichen Schema, mit dem wir operieren, in-
dem wir zeigen, wie sie die Struktur dieses Schemas widerspiegeln. " 70
Wenn Philosophie nichts anderes als der Rechtsanwalt des „gesunden
Menschenverstandes" ist, wenn sie darin besteht, die gewöhnlichen „in-
stinktiven" Meinungen durch den Rückgang auf die ihnen zugrunde-
liegenden Denkregeln zu rechtfertigen, dann liegt es nahe, sie als Ana-
lyse des gewöhnlichen Sprachgebrauchs auftreten zu lassen. Wenn die
Philosophie aber erkennen will, was Verstand oder Vernunft im all-
gemeinen und in jeder besonderen Form ist, dann kann sie nicht bloß
aus· der gewöhnlichen Sprache schöpfen, sondern muß sich ganz eigene
Wege bahnen.

if metaphysics is the finding of reasons, good, bad or indifferent, for what


70 ,, •••
we believe on instinct, then this has been metaphysics." ,,It is difficult to see how
such beliefs could be argued for except by showing their consonance with the
conceptual scheme which we operate, by showing how they reflect the structure of
that scheme" (lndividuals, Conclusion).
Epilog
Versuch einer Situierung unserer Überlegungen
in der Philosophiegeschichte

Wir haben unseren Gang schlecht und recht zu Ende geführt: in einer
ersten Erkundung haben wir Gegenstand und Methode der Philosophie
rekognosziert, dadurch das Terrain für thematisch begrenzte, genaue und
eingehende philosophische Untersuchungen vorbereitet, die nun die
Fruchtbarkeit der hier entwickelten Leitgedanken erweisen müßten. Be-
vor ich - an einem anderen Orte - solchen Untersuchungen nachgehe,
möchte ich an dieser Stelle zum Schluß versuchen, die entwickelten
Grundgedanken philosophiegeschichtlich etwas prinzipieller zu situieren,
um sie dadurch noch etwas deutlicher zu profilieren. Zuerst möchte ich
es tun im Hinblick sozusagen auf die „Sache", um die es hier ging: die
Idee des Verstandes oder der Vernunft (im weiten Sinn), und dann in
Rücksicht auf den „Zugang", die Methode zu dieser „Sache", obschon
sich beides als zusammengehörig erwiesen hat und sich auch noch im
weiteren so erweisen wird.

§ 59 Der „ontologische" Ursprung


der ausschließlich logischen Vernunftidee

An dem hier entwickelten Verstandes- oder Vernunftbegriff im wei-


ten Sinne befremdet, daß nach ihm auch Erinnerung, Vorausplanung,
Phantasie, ,,Einfühlung" etc. Vernunft sein soll. Wenn Vernunft der
Sinnlichkeit gegenübergestellt wird, so sind wir aus der Philosophie-
geschichte daran gewöhnt, die Vernunft als begriffliches Bewußtsein, als
Logos definiert zu sehen. Wodurch sich etwa nach Hegel der Mensch
vom Tier unterscheidet, ist das Denken in allgemeinen Begriffen. Auch
nach Kant ist das „obere Erkenntnisvermögen" ganz durch das Begriff-
liche oder Kategoriale ausgemessen: der Verstand (oder die Vernunft)
398 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

im weitesten Sinn umfaßt den Verstand im engen Sinn als Vermögen der
Begriffe (oder der begrifflichen Regeln), die Urteilskraft als Vermögen
der Anwendung der Begriffe und die Vernunft als Vermögen der Prin-
zipien der Einheit und Vollständigkeit begrifflicher Erkenntnis. Ebenso
ist nach ihm die praktische Vernunft ein „Begehrungsvermögen nach
Begriffen", als autonome, reine praktische Vernunft ein Begehrungsver-
mögen nach Freiheitsbegriffen, als heteronome, technisch-praktische Ver-
nunft ein Begehrungsvermögen nach Naturbegriffen, und unterscheidet
sich eben durch diese Begrifflichkeit vom bloß instinktiven Begehren der
vernunftlosen Tiere. Der Logos-Charakter des Verstandes oder der Ver-
nunft ist, global verstanden, sozusagen ein Gemeinplatz der Philosophie,
auf dem sich ihre verschiedensten Richtungen zusammenfinden. Wenn
unsere rein sachlich orientierten Betrachtungen diesen selbstverständ-
lichen Rahmen durchbrachen, tun wir jetzt gut daran, seine Entstehung
genauer zu untersuchen, um zu sehen, auf welchen Gründen er beruht.
Hergestellt wurde dieser Rahmen als feste, konsequent systematische
Form ohne Zweifel von Aristoteles: Er unterscheidet das Wahrneh-
mungs- und das Denkvermögen ('ro c:dcr{}rrrntov 'XCXL -ro VO'Y}H'XOV) als
unsere beiden Erkenntnisvermögen. Für das Denkvermögen gebraucht er
neben v011nx6v auch andere Namen, wie 6wvo11n-x6v und vou; im
weiten Sinne 1 • Dieses Denkvermögen ist für ihn an den 'Aoyo;, an die
Rede, gebunden: ,,das 6wvoETa{}m kommt keinem zu, dem nicht auch
'Aoyo; zukommt" 2 • ,,Ich nenne vou; dasjenige, womit die Seele nach-
denkt (6w.voEfo{}m) und annimmt (u:n:01.aµßavav). " 3 Dieses „An-
nehmen" (u:n:M,11~n;) ist im Sinne der kategorialen Urteilssetzung zu
verstehen, die im Wissen verschiedener Art (als smcr-r~µ'Y} oder vou; und
als M~a) geschieht. Sie ist wesentlich auf den allgemeinen Begriff (das
xa-&6),011) bezogen 4 • So kann Aristoteles das VO'Y}TL-x6v oder den vou;
auch als ),oywnx6v oder als 'Aoyo; kennzeichnen5 •
Auf die reichhaltige innere Differenzierung, die Aristoteles von den
Gegenständen und Tätigkeiten des vo11n-x6v gibt, brauchen wir nicht
einzugehen. Für unser jetziges Interesse genügt die ganz allgemeine Fest-
stellung, daß Aristoteles den Verstand als das obere Erkenntnisvermögen
1 Noü; im engeren Sinne bedeutet bei Aristoteles ein „intuitives" Vermögen der
Prinzipien der Wissenschaft oder der Sittlichkeit. Vgl. Horst Seidl, Der Begriff des
Intellekts (voü;) bei Aristoteles, Anton Hain, Meisenheim 1971.
2 De anima, III, 427 b, 13-14.
3 A. a. 0., 429 a, 23.
·1 Vgl. a. a. 0., 427 b, 24-26; Nik. Ethik, VII, 1147 b 4-5.
5 Vgl. etwa Magna moralia, 1208 a 10, 19; De anima, III, 433 b, 5-8.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 399

durch das Begriffliche, das Logische begreift. Im besonderen. muß uns


aber interessieren, wie Aristoteles aus dieser seiner Perspektive diejeni-
gen Bewußtseinsweisen behandelt, die wir noch unabhängig vom Kate-
gorialen als Verstandesformen bestimmten.
Aristoteles gibt uns gute Gelegenheit, diese Frage an ihn zu stellen,
da er wenigstens zwei solcher Bewußtseinsweisen eingehend erörtert: die
Phantasie (qiavmota) und die Erinnerung (µv~µ'l'} und ävaµv'l'}OL~). Da
er das intellektuelle Vermögen (das VO'l'}tLxov) als Vermögen des Begriffs
versteht, muß er Phantasie und Erinnerung dem sinnlichen Vermögen
(dem ato-th}nx6v) zurechnen. Dies tut er tatsächlich auch, allerdings,
wie wir noch sehen werden, mit größtem Zögern: »Auch die Erinne-
rung an Denkgegenstände ist nicht ohne Phantasiebild (qia.vtaoµa)
möglich, und das Phantasiebild ist ein Geschehen (3ta.ao~) · des Gemein-
sinnes, .so daß sie zufällig vom Gedachten, an sich aber Sache des ersten
Sinnesvermögens ist. " 6 »Zu welchem Seelenvermögen die Erinnerung
gehört, ist nun offenbar, nämlich zu demselben wie die Phantasie." 7
So besitzen auch die vernunftlosen Tiere Phantasie und Erinnerung:
ein Tier »besitzt kein Urteil nach dem Allgemeinen, wohl aber Phantasie
und Erinnerung (µvriµ'l'\) der Einzeldinge" 8•
Auf welche Weise muß Aristoteles Phantasie und Erinnerung inter-
pretieren, damit er sie zur Sinnlichkeit, genauer zum Gemeinsinn
(ata-th}oL~xoLVT), sensus communis) rechnen kann? Unter dem Titel der
Phantasie erörtert er verschiedene Vorkommnisse: 1. Einmal Träume der
Schlafenden, Halluzinationen der Kranken und Scheinwahrnehmungen
.(Scheinbilder) der Gesunden 9• 2. Phantasie ist nach Aristoteles Bedin-
gung jeglichen Strebens (ÖQE~L~). ,,Das Strebevermögen ist nicht ohne
Phantasie (oQexnxov Be oiJx äveu qiavtaota~)" 10, und zwar deshalb,
weil das Streben nicht aufs „Gegenwärtige" (to 1taQov), sondern aufs
Kommende gerichtet ist. Dies war für ihn mit ein Grund, daß er schließ-
lich die Phantasie allen Tieren zuschrieb 11• Während einer gewissen Zeit

8 ••• [xat i:o qi&.vi:aaµa i:ij; xowij; ato-OT}o-ero; n&.Oo;.] roo-i:e qiaveeov öi:L i:q, neooi:cp
alo-ihjuxq, i:oui:rov ft yvö'>o-t; eo-i:w. ft 6s µvT}µ'l) xat TJ i:rov VO'l')'tÖJV olix liveu
qiavi:&.aµai:6; EO''tW. (xat 'tO qiavi:aaµa i:ij; xowij; ataOT}aero; ;ca{}o; eaiitv).
OOO"tE 'tOÜ voouµsvou xa,:a auµße(3'l)XOS äv EL'l'), xai}' a'Öi:o 6s 'tOÜ 1CQOO'tOU ataihji:Lxoii
(De memoria, 450 a 10-14, Umstellung nach Freudenthal).
7 i:tvo; µev OU'V ,:rov i:ij; 'ljlU)Gij; EO'i:tv T} µvT}µ'l), qiaveeov, Ö'tL ouicee xat Tl qiav,:aata
(a. a. 0., 450 a, 22-23).
8 Nikomachische Ethik, VII, 1147 b 4-5.
9 De anima, HI, 428 a 8, 16; De insomniis, 458 b.
10 De anima, III, 433 b, 28-29.
11 A. a. O., II, 413 b 22-23; III, 429 a 4-6; 433 a 11-12 etc.
400 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophicgcschichtc

hatte Aristoteles nur die mit den höheren Sinnesvermögen, vor allem
mit dem Gesichtssinn ausgerüsteten Tiere als mit Phantasie begabt be-
trachtet, nicht aber die bloßen Tasttiere (nur ausgerüstet mit acp11) wie
Würmer, Muscheln, Polypen12, indem er etymologisch die Phantasie dem
Lichtsinn (cpaoc;) zuordnete13• Da er diesen „unvollkommenen Tieren"
aber Schmerz und Lust zuschrieb, mußte er ihnen auch Begierde (bn-Ouµ(a)
und Streben zuerkennen und damit auch Phantasie. Allerdings fügt er
gleich hinzu, daß die Begierde und Phantasie dieser Tiere wie ihre
Bewegung nur vage, verschwommen sei (&ogwT&c; 14). 3. Ferner spricht
Aristoteles von der Freiheit der Phantasie, also von der freien Phantasie:
„Dieser Vorgang (nämlich die Phantasie) liegt bei uns, wann immer wir
wollen (ecp' 11µiv foTlv, Ömv ßouAwµs-Oa), denn er besteht darin, etwas
vor die Augen zu stellen (:rcou,icr-Om), wie die in der Gedächtniskunst
vorstellen und Bilder erzeugen" 15• Diese Freiheit der Phantasie wird
der Notwendigkeit des Urteils (oo~al;stv) gegenübergestellt, das nicht in
unserer Willkür liegt (ov½ scp' 11µiv), sondern notwendig (avay½T))
entweder falsch oder wahr ist16 • Es ist bemerkenswert, daß diese Kenn-
zeichnung der Phantasie genau Aristoteles' Kennzeichnung des Denkens
(vosi:v) gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung entspricht: ,, ... clie
Wahrnehmung (al'.a-011cnc;) ist auf das Einzelne, das Wissen (srcWTT]µT))
auf das Allgemeine gerichtet. Dieses ist in gewisser Weise in der Seele
selbst. Deshalb lie~t das Denken (vorjcrm) bei ihr, wann immer sie will
(s:rc' avT0, o:rc6Tav ßouAT)Tm), während das Wahrnehmen nicht bei ihr
liegt, denn notwendig muß dazu das wahrnehmbare Ding vorliegen. " 17
In dieser Betrachtung rückt die Phantasie also auf die Seite des Denkens.
4. Schließlich spricht Aristoteles auch von der Phantasie als der imagina-
tiven Grundlage des Denkens: ,,das Denken ist nicht ohne Phantasiebild
(voziv oÜ% fonv ävw cpavtacrµmoc;)" 18• Wie der Geometer der ein-
zelnen Zeichnung als Grundlage bedarf, so geschieht das Denken des
Allgemeinen in Phantasiebildern19• Auch bei dieser das freie Denken

12 A. a. 0., II, 414 b 15-16; 415 a 10-11; III, 428 a 10-11.


13 A. a. O., III, 429 a 2-4.
14 A. a. 0., 434 a 4-5.
15 A. a. 0., 427 b, 17-20.
10 A. a. 0., 427 b, 20-21.
11 A. a. 0., II, 417 b, 22-26.
18 De memoria, 449 b, 31-450 a, 1; vgl. De anima, III, 431 a 16-17; 431 b, 2;
432a, 8-9.
19 Vgl. De memoria, 450 a, 1-;-11.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 401

begleitenden Phantasie muß es sich um eine gegenüber der Präsenz des


Wahrnehmungsgegenstandes freie Phantasie handeln.
Bei dieser Erörterung der Phantasie durch Aristoteles muß uns sofort
auffallen, daß unter demselben Titel der Phantasie zwei radikal ver-
schiedene Arten von Phantasien erörtert sind: Auf der einen Seite han-
delt es sich um unmittelbares Wahrnehmungsbewußtsein oder um „In-
gredientien" dieses Wahrnehmungsbewußtseins, auf der anderen Seite
um das mittelbare Vergegenwärtigungsbewußtsein der freien Phanta-
sie20. Auf die erste Seite gehört das oben unter den Punkten 1 und 2
Angeführte: Träume, Halluzinationen, Wahrnehmungsscheine erscheinen
,,von außen" oder nachdem sie sich nachträglich als Träume, Halluzina-
tionen, Scheine erwiesen haben als „bloße Phantasien", aber in sich
selbst ist der Traum und die Halluzination unmittelbares Wahrneh-
mungsbewußtsein. Die geträumte Umgebung, etwa ein Jahrmarkt, ist
im Traum selbst unmittelbar gegenwärtig, da ich im Träumen selbst mir
nicht bewußt bin, daß ich mich gegenwärtig im Bette und nicht auf dem
Jahrmarkt befinde. Wäre ich mir dessen voll bewußt, würde ich nicht
mehr träumen, aus der unmittelbaren Wahrnehmungsgegenwart des
Jahrmarktes würde eine freie Phantasievergegenwärtigung. Das Träu-
men ist kein freies Phantasieren, es steht nicht in unserer Willkür, son-
dern in ihm liegt die „Notwendigkeit" der unmittelbaren Wahrneh-
mungsgegenwart. Aristoteles sagt selbst, daß der Traum „in gewisser
Weise" Wahrnehmung sei21 . Dasselbe gilt von Halluzination und ande-
ren Wahrnehmungstäuschungen. Ebenso ist das inhaltliche Moment im
unmittelbaren Streben (ÖQB~L;) zur unmittelbaren konkreten Wahr-
nehmungsgegenwart gehörig, die in sich selbst eine Tendenz auf das
Kommende besitzt. Diese unmittelbare Tendenz ist von der Erlebnis-
vergangenheit her bestimmt, und insofern kann bei ihr von „Phantasie"
gesprochen werden, die hier aber nie ein eigentliches Vorstellen ist. Auf
diese „Phantasie" trifft zu, wenn Aristoteles sagt, daß mit der Wahr.,.
nehmung auch Phantasie und Streben gegeben sei22 • Dieses „phantasie-
mäßige" Tendieren der unmittelbaren Wahrnehmungsgegenwart selbst
ist bewußtseinsniäßig etwas radikal anderes als das sich vergegenwärti-
gungsmäßig in die Zukunft Versetzen, als das vorstellungsmäßige „Aus-
malen" der Zukunft in der freien Phantasie, etwa im anschaulichen Vor-

20 Vgl. oben, S. 48, Anm. 32, und §§ 23, 31, 32.


21 De somno, 256 a 26: 'fO yae evfüt'VLO'V SG'fL'V a.i:aitriµa. 'fQOJtO'V 'fL'VO..
22 De anima, II, 413 b 23: et ö' a.i:aOflaLv, xa.t cpa.v'fa.ata.v lieei;w.
402 Versuch einer Situicrung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschid1te

ausplanen23 • Diese freie, vergegenwärtigende (und damit eo ipso ent-


gegenwärtigende) Phantasie, die wir als mittelbares Bewußtsein (Be-
wußtsein von Bewußtsein) bestimmten, hat Aristoteles zweifellos bei
den oben unter den Punkten 3 und 4 angeführten Sachverhalten
imAuge.
Aristoteles wäre nicht Aristoteles, wenn er sich dieses radikalen
Unterschiedes nicht irgendwie bewußt geworden wäre. Tatsächlich unter-
scheidet er zwischen einer Wahrnehmungsphantasie (cdcr{h1n-x11 (Jlavincrta)
und einer überlegenden, planenden Phantasie (ßovAEvnx~ cpavinofo24 ).
Die Wahrnehmungsphantasie schreibt er allen Lebewesen zu, während
er die planende Phantasie den vernunftbegabten (.oi:c; Aoywn-xoi:c;) vor-
behält25. Das unmittelbare Streben (o()EGL<;), das nach Aristoteles nicht
ohne Phantasie möglich ist, enthält nach ihm noch keine planende
Phantasie26•
Aristoteles sieht also diese Phantasie als eine die Sinnlichkeit über-
steigende Verstandesleistung. Aber er bringt diese Phantasie doch nicht
systematisch zur Geltung, er läßt sie systematisch gar nicht als Phantasie
bestehen, sondern deutet sie in ein Logisches um: ,, ... die planende Phan-
tasie befindet sich in den vernünftigen Lebewesen, denn ob sie dieses oder
jenes tun werden, ist schon Sache der Berechnung (AoyLcrµ6c;). Es ist
dabei auch notwendig mit Einern zu messen (evt µET()Ei:v), denn sie
verfolgen das Größere, so daß sie fähig sind, aus mehreren Phantasie-
bildern Eines zu machen. Das ist auch die Ursache, warum (die anderen
Lebewesen) keine Urteilsmeinung (ö6~a) zu haben scheinen, da sie die
aus einem Schluß (ex <J1JAAoyu1µoii) stammende (Phantasie) nicht be-
sitzen. " 27 Die überlegende, planende Phantasie deutet Aristoteles also
dadurd1 als ein Logisches, daß er die Überlegung (ßouAE1J<JL<;) als eine
Berechnung faßt. In der Nikomachischen Ethik begreift er diese Über-
legung als ein Berechnen von Mitteln und Wegen von einem vorgenom-
menen Ziel aus und vergleicht sie dem analytischen Verfahren der
Mathematik28 • In dem oben zitierten Text aus der Schrift über die Seele
betont er besonders das Messen verschiedener Möglichkeiten mit einem
gemeinsamen Maß. Aber dadurch wird er der in solcher Planung wal-

23 Zu diesem Unterschied vgl. oben§ 28.


24 De anima III, 434 a 5-7.
25 A. a. 0., 433 b, 29-30; 434 a, 5-7.
26 A.a.O., 434a, 11-12.
2 7 A. a. 0., 434 a, 7-11.
2s Nik. Ethik, III, 1112 b 11 ff.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 403

tcnden Phantasie als solcher gar nicht gerecht. Denn diese besteht doch
hier wesentlich im entwerfenden Vergegenwärtigen, im „Sich-ausmalen"
verschiedener Zukunftsmöglichkeiten und ist in sich selbst noch kein
analytisches Schließen oder Messen. Diese freie Phantasie kann Aristo-
teles offenbar daher nicht als solche anerkennen, weil für ihn zum vorn-
herein alles Bewußtsein, sofern es die Sinnlichkeit übersteigt, eo ipso
schon logisch sein muß. Auf diese Weise bringt er die planende Phanta-
sie, die er aufgrund seiner Deutung auch als 1>.oyurnx-riv cpavrnofov
bezeichnet 29 , als Phantasie zum Verschwinden; er verdeckt sie durchs
Logische. So kann er denn, nachdem diese vernünftige Phantasie als
Phantasie weggedeutet ist, die Phantasie überhaiipt, ganz allgemein,
durch die sinnliche Wahrnehmung erklären und als eine Leistung des
Sinnesvermögens (ata{hp:vx.6v) betrachten: Die Phantasie ist nach
Aristoteles ein von der Wahrnehmung erzeugter Nachklang ihrer selbst,
das, was von ihr zurückbleibt30 ; sie ist „die Bewegung, die aus der wirk-
lichen Wahrnehmung geworden ist" 31 • Sie ist nicht selbst Wahrnehmung,
aber gehört dem Wahrnehmungsvermögen an: ,,Das Vermögen der Ein-
bildung ist dasselbe wie das Vermögen der Wahrnehmung, das Sein aber
im Vermögen der Phantasie (nämlich das Phantasieren) und im Wahr-
nehmungsvermögen (nämlich das Wahrnehmen) ist verschieden. " 32
Die bestimmte Zuordnung der Phantasie zum Wahrnehmungsver-
mögen (ata{hrnx6v) scheint bei Aristoteles nicht ohne Bedenken vor
sich gegangen zu sein. In seiner Schrift über die Seele ist sie zwar durch
die Definition der Phantasie als „aus der wirklichen Wahrnehmung
gewordene Bewegung" der Sache nach vollzogen, aber noch nicht
expressis verbis gesagt. In seiner kleinen Schrift über die Bewegung der
Tiere, die man wohl im großen und ganzen .(trotz der prinzipiellen
Bedenken von Düring, Aubenque und Kahn gegen die von W. Jaeger
zur Geltung gebrachte genetische und chronologische Betrachtung des
Corpus Aristotelicum) noch immer mit F. Nuyens und denjenigen, die
ihn bestätigt haben, als chronologisch den Erörterungen über Phantasie
in der Seelenschrift vorangehend ansehen muß, scheint Aristoteles jene
entscheidende Zuordnung noch nicht vollzogen zu haben: Die Phantasie
tritt auch dort im Zusammenhang des Strebens (ÖQE;t~) auf, nämlich
als Vorstellung des zu Erstrebenden oder des zu Fliehenden, das als
Ursprung («QX'll) der lebendigen Bewegung dargestellt wird. Von dieser
Phantasie heißt es nun, daß sie „entweder durch Denken oder durch

20 De anima III, 433 b, 29.


404 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

Wahrnehmen entstehe (yi.yvnm 1'J ßla vo~crswc; 1'J fü' ai,cr{l~crswc;). " 33
Dieser Satz ist wohl nicht in dem Sinne zu verstehen, daß Aristoteles
hier gewisse Phantasien auf die Wahrnehmung und andere auf das
Denken zurückführt 34 , sondern so, daß er die Frage offenlassen will.
Das Problem, zu welchem Seelenvermögen die Phantasie gehöre, taucht
auch in der Schrift über die Seele mehrmals ohne Antwort auf35 , so daß
man den Eindruck erhält, daß Aristoteles diese Frage recht lange ohne
befriedigende Lösung mit sich herumtrug. Er konnte die Phantasie erst
dann als bloße Folge der sinnlichen Wahrnehmung betrachten, nachdem
er die überlegende Phantasie seinem Vernunftbegriff akkommodiert,
d. h. ins Logische aufgehoben hatte.
Sehen wir nun auch noch zu, wie Aristoteles die Erinnerung behan-
delt! Hier sind wir bei ihm nicht bloß auf einige globale Andeutungen
angewiesen, sondern in seiner kleinen Schrift über Erinnerung und
Wiedererinnerung (otEQL µv~µY)c; Y..al &vaµv~crEwc;) erörtert er sie in einer
ausführlichen eidetischen Bewußtseinsanalyse, für die einem geradezu
der Name „antike Protophänomenologie" einfällt. Aristoteles unterschei-
det darin zwischen µv11µovsuuv (bzw. µv~µri) und &vaµLµv~aY..scr{}m
(bzw. &vaµvY)crLc;). Den zweiten Terminus werden wir hier der Deutlich-
keit halber immer mit„ wiedererinnern" (bzw.,, Wiedererinnerung") über-
setzen, während µv11µ11 und ~wriµovsuELV bald mit „Erinnerung" bzw.
,,erinnern", bald mit „Gedächtnis" wiederzugeben ist. Diese von Aristo-
teles getroffene Unterscheidung scheint vorerst leicht erfaßt werden zu
können, bei genauerem Zusehen stößt man aber auf unüberwindliche
Widersprüche. Die erste Hälfte (1. Kapitel) der Schrift scheint von der
Erinnerung, die zweite (2. Kapitel) von der Wiedererinnerung zu han-
deln36. Gleich eingangs der Schrift wird erklärt, daß nicht dieselben sich
in der Erinnerung (µvriµovtxot) und in der Wiedererinnerung &vaµvri-

ao A. a. O., 429 a, 4-5.


31 A. a. 0., 429 a, 1-2: xtv'l')aL5 imo trj5 atcrfü']cn;ro5 trjc; xat' eveeyctav yLyvoµev'I');

wörtlich genauso in De insomniis, 459 a, 17-18.


32 De insomniis, 459 a, 16-17:to mho tip alcrihyttxip to cpavi:acr-nx6v, TO ö' Ei:vm
cpavtaa-nxcp xat atalh1nxip ete(>ov.
Sa De motu animalium, 702 a, 19.
34 In diesem Sinne interpretiert W. Theiler diese Stelle in seiner Ausgabe von De
anima, Anm. zu 433 b, 29. Wenn dies der Sinn wäre, müßte es wohl eher etwa
heißen: YJ fLEV "{L"{'Vs,m füa voficrsros, 'I] ös fü' atcrilfim,roc;. Theiler setzt De mot11

35
36
animalium chronologisch nach De anima an.
Vgl. De anima I, 403 a 8-10; III, 432 a 31 - 432 b 3; 433 a, 9-10.
Der Anfang des 2. Kapitels (451 a, 18 ff.) beginnt mit den Worten: JtEQL fü: toii
II
&.vafLL~tvficrxrnilm ÄotJtov s1Jts1:v.

II
11.··
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vcrnunftidec 405

onY.ol) auszeichnen. In der Regel würden sich die Langsamen besser


erinnern, während die Schnellen und gut Lernenden sich besser wieder-
erinnerten. Nach den Ausführungen des 2. Kapitels scheint nun Aristo-
teles unter „wiedererinnern" das selbst wieder Auffinden von früher
Erfahrenem oder Gelerntem, aber inzwischen Vergessenem zu verstehen,
denn es ist primär dieses Geschehen, das er im zweiten Kapitel unter
dem Begriff ·der Wiedererinnerung erörtert. Er behandelt hier ausführ-
lich die Assoziationswege als durch Gewohnheit entstandene motorische
Zusammenhänge, auf denen wir selbst (ÖL' avwü), d. h. ohne daß uns
ein anderer die Sache erneut beibrächte (ÖL' ä1.1.ov) 37, das früher Ge-
wußte, aber inzwischen Vergessene, wiederfinden können. Als Beispiele
bringt Aristoteles das assoziative Wiederfinden von Wörtern 38 • Das
Suchen (t11-rci:v) gehört indessen nicht wesentlich zu diesem Wieder-
erinnern39, dieses scheint also auch ein bloßes Wiedereinfallen sein zu
können. Aristoteles betont auch den somatischen Charakter dieses Wie-
dererinnerns, der sich nach ihm darin zeigt, daß einige, nachdem sie
vergeblich mit aller geistigen Kraft etwas Entfallenes wiederzuerinnern
suchten, auch dann nicht damit zur Ruhe kommen, wenn sie die Sache
auf sich beruhen lassen wollen; das „Wiedererinnern" liegt nun nicht
mehr bei ihnen (µl] en:' av-roi:i; 40 ), sondern läuft von selbst weiter, gleich
wie jemand, der seinen Körper durch das Werfen eines Geschosses in
Bewegung gebracht hat, nun nicht einfach willkürlich stillstehen kann 41 •
Er vergleicht diese unwillkürliche Bewegung der Wiedererinnerung, die
er hier als Suchen nach einem Phantasiebild (t~t1l<1ti; cpav-raoµa-roi;) be-
zeichnet, mit den Erregungen des Zornes und der Furcht42 und unter-
streicht schließlich den somatischen Charakter des Wiedererinnerns auch
durch den Hinweis, daß einen häufig ausgesprochene Worte und Reden
und häufig gesungene Melodien ganz unwillkürlich „verfolgen" 43 •
Von der Erinnerung beginnt Aristoteles (im 1. Kapitel) zu sagen, daß
sie sich auf Vergangenes beziehe, so wie Wahrnehmung Wahrnehmurig
von Gegenwärtigem (wü JtaQ6v-roi;) und Erwartung (e1.n:(i;) Erwartung
von Künftigem (wü µenov-roi;) sei44 • Er gibt nun aber von diesem

37 452 a, 4-7.
38 452 a, 13-16; 452 b, 5.
30 451 b, 23.
40 453 a, 20.
41 453 a, 16-23.
42 453 a, 26-28.
43 453 a, 28-31.
44 449 b, 9-28.
406 Versuch einer Situierung unserer übcrlcgungcn in der Philosophiegcschichte

Vergangenheitsbewußtsein (dem Erinnern) sich widerstreitende Bestim-


mungen. Einerseits sagt er: ,,Immer wenn man sich aktuell erinnert,
sagt man also in der Seele (ev TU 1puxn AEYEL), daß man dies früher
hörte, wahrnahm oder dachte. " 45 Die Erinnerung wird also aufgefaßt
als Bewußtsein eines früheren Bewußtseins, und zwar als ein „Sagen
(Hystv) in der Seele". Andererseits erklärt er aber auch: ,, ... die Er-
innerung ist vom Vergangenen. Deshalb ist alle Erinnerung an Zeit
gebunden (~ts,a zo6vou ), so daß nur diejenigen Lebewesen sich erin-
nern, die Zeit wahrnehmen (xo6vou atcr{tave,m), und zwar mit dem-
jenigen Vermögen, mit dem sie wahrnehmen (xal, wu-rcp cp a'lcr{hJcrt<;)." 46
Nach diesem Satz soll es also W1ahrnehmung (a'lcr{h1crt<;) von Vergan-
genem geben, obschon Aristoteles einige Zeilen zuvor erklärte, daß wir
durch Wahrnehmung nur das Gegenwärtige kennen (-ro :ii:aoov µ6vov) 47 ,
das Gegenwärtige aber auch nur durch Wahrnehmung kennen48 • Mit
dieser wahrnehmenden Erinnerung meint Aristoteles kaum ein anderes
Bewußtsein als mit jener „sagenden"; denn es heißt: Die Erinnerung
kommt nur denjenigen Tieren zu, die die Wahrnehmung der Zeit (xo6vou
afo{h10w) haben, ,,denn immer, wenn man sich aktuell erinnert, daß
man dies sah, hörte oder lernte, nimmt man hinzu wahr, daß es früher
war (noocraw{tavEwL ön JCQ6,2oov); das Früher und Später ist in der
Zeit. " 49 Also auch diese wahrnehmende Erinnerung ist nach Aristoteles
Bewußtsein von einem früheren Bewußtsein. Diese Wahrnehmung der
Vergangenheit, bzw. der Zeit überhaupt, wird wie die Wahrnehmung
von Größe und Bewegung als Leistung des Gemeinsinnes (xotv~ a'lcr{t'Y]crt<;,
noco-rov at0{t11nx6v) hingestellt50 • Aufgrund dieser „Wahrnehmungs-
theorie" der Erinnerung kann Aristoteles die Erinnerung als Leistung
des Gemeinsinnes betrachten und sie auch unvernünftigen Tieren zu-
sprechen.
Wie steht es nun aber mit jenem „in der Seele Sagen" ('Ai:,yew), das
in der Erinnerung stattfinden soll? Ist es bloß ein „metaphorischer" Aus-
druck für die W1 ahrnehmimg der Vergangenheit? Dies scheint nach dem
Folgenden nicht der Fall zu sein. Der zweite Teil des ersten Kapitels
über Erinnerung ist der tiefsinnigen Frage gewidmet: ,,wie erinnert

45 449 b, 22-23.
46 449 b, 27-30.
47 449 b, 14-15.
48 449 b, 25-27.
40 450 a, 19-22.
50 450 a, 9-12; 451 a, 16-17.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 407

man sich in einem anwesenden Erlebnis (na-aov~ naQ6vto~) und bei Ab-
wesenheit der Sache an ein nicht Anwesendes (i:6 µiJ naQ6v)" 51 • Wir
müssen Aristoteles' Behandlung dieser Frage genau verfolgen, um Auf-
schluß über seine Erinnerungstheorie in bezug auf Wahrnehmung und
Nicht-wahrnehmung zu erlangen. Er sagt vorerst, daß man sich offen-
bar die Affektion (,;o na-ao~), die durch die Wahrnehmung in der Seele
entstand und deren Habe (li~L~) wir Gedächtnis (µv11µ'YJ) nennen, wie
ein Gemälde denken muß; ,,denn die (in der Wahrnehmung) entstandene
Bewegung zeichnet so etwas wie einen Abdruck des Wahrgenommenen
als solchen (i:vnov nva wu alcr-a11µai:o~) ein, wie wenn man mit einem
Ring ein Siegel eindrückt. " 52 Aristoteles appelliert zur Erklärung der
Erinnerung vorerst einmal an die Idee einer Wahrnehmungsspur. Durch
diesen Appell ist nun aber für ihn jenes Problem des anwesenden Be-
wußtseins eines Nicht-anwesenden noch keineswegs gelöst, denn die
Wahrnehmungsspur ist ja jeweils etwas Gegenwärtiges, und es ist noch
nicht gesagt, wie man mit ihr auf ein Nicht-gegenwärtiges kommen kann.
So fragt er denn: ,, wie erinnern wir uns, dieses (nämlich den anwesenden
Abdruck) wahrnehmend (alcrMµEvo;), an etwas, das wir nicht wahr-
nehmen: an das Abwesende (i:o an6v)? Wenn es in uns etwas Khn-
liches gibt, wie ein Abdruck oder eine Zeichnung, wodurch (füa i:t)
könnte die Wahrnehmung von diesem selbst Erinnerung an ein anderes
und nicht an dieses selbst sein? Denn der sich aktuell Erinnernde be-
trachtet diese Affektion und nimmt sie wahr; aber wie erinnert er sich
nun an das Nicht-anwesende?" 53 Man kann kaum deutlicher sagen, daß
durch die Idee einer zurückgebliebenen Wahrnehmungsspur das Problem
der Erinnerung an Vergangenes noch gar nicht gelöst ist. Aristoteles gibt
nun diesem Problem dadurch eine Lösung, daß er die Erinnerung in
Analogie mit dem Bewußtsein eines Abbildes betrachtet: Oder gibt es
etwa doch ein Sehen und Hören von Nicht.:.anwesendem? ,,Denn wie
das in einem Gemälde Gezeichnete sowohl ein Lebewesen als atich ein
Abbild (dxwv) ist und ein und dasselbe beides ist, jedoch das Sein für
beide nicht dasselbe, und es sowohl die Betrachtung als Lebewesen als
auch die Betrachtung als Abbild gibt, so muß man auch das Phantasma
in uns sowohl als Anschauung (-aEWQY]µa) für sich selbst (ain:o xaW a{n:6)
wie auch als Phantasma eines anderen (<ll,Ä.ov) auffassen (vnoÄ.aße'iv).
Sofern es für sich selbst genommen wird, ist es Anschauung und Phan-
51 450 a, 26-27.
52 450 a, 27-32.
53 450 b, 14-17.
408 Versuch einer Situierung unserer Oberlegungen in der Philosophiegeschichte

tasma, in bezug auf ein anderes (cip.ou) aber wie ein Abbild und eine
Erinnerung (im Sinne eines Erinnerungszeichens: µv'Y}µ6veuµa.). So daß,
wenn es erregt wird und sofern es für sich ist, die Seele es dadurch
wahrnimmt (a.i'.o"·&rrrm), und es wie ein Gedanke oder ein Phantasma
aufzutreten scheint; sofern es aber für ein anderes (ÜAA.ou) ist, schaut
sie es wie in einer Zeichnung als Abbild an ({}ero()Bi:), etwa, ohne den
Koriskos zu sehen, als Abbild des Koriskos. " 54 Im Hinblick auf diese
verschiedene Betrachtungsweise des Phantasmas, einerseits als anwesen-
des Phantasma für sich selbst, andererseits als anwesendes Abbild eines
abwesenden anderen, fügt Aristoteles hinzu, daß wir manchmal, wenn
sich in unserer Seele Erregungen aus früheren Wahrnehmungen abspie-
len, nicht wissen, ob sie diesen entsprechen, und zweifeln, ob es sich um
eine Erinnerung handelt. ,,Andere Male jedoch kommt ein Durchschauen
und Wiedererinnern (ävvorj<1m ,ta.l &va.µv'Y}cr{}Tjvm) hinzu, daß wir
früher etwas hörten oder wußten. Dies kommt hinzu, wenn man sich
von der Betrachtung (des Phantasmas) als es selbst in die Betrachtung
als von einem anderen umstellt (µsTa.ßaUn). " 55 Hier tritt nun also plötz-
lich innerhalb der Erörterung der Erinnerung der Terminus "Wieder-
erinnerung« auf, und zwar zur Bezeichnung desjenigen Geschehens, wo-
durch das Bewußtsein des Anwesenden in ein Bewußtsein von Abwe-
sendem umschlägt, also wodurch sich überhaupt erst die Erinnerung
konstituiert. Dies wird durch die kurz darauffolgenden Sätze nochmals
bestätigt: ,,Übungen bewahren das Gedächtnis durch das Wiedererin-
nern (Tip ä1ea.va.µtµvf)()')(Btv). Dieses ist nichts anderes, als etwas oft als
Abbild (eines Abwesenden) und nicht als für sich selbst betrachten. "56
In dieser Interpretation der Erinnerung spricht Aristoteles also nur
insofern von. Wahrnehmung (a.i'.o"~O't~), als es sich um das Bewußtsein
der anwesenden Wahrnehmungsspur, des Phantasmas handelt. Dieses
Bewußtsein ist aber gerade nicht eigentliche Erinnerung, denn diese ist
Bewußtsein von Abwesendem. Das Bewußtsein, das die anwesende
Wahrnehmungsspur auf ein Abwesendes · hin durchschaut (ävvosi:v),
wodurch also überhaupt erst Erinnerung wird, bezeichnet Aristoteles als
Wiedererinnern und legt dadurch, daß er es mit einem noetischen Aus-
druck (ävvosi:v) koppelt57, nahe, daß es sich um einen Vernunftakt

&e 450 b, 20-31.


65 451 a, 5-8.
68 451 a, 12-14.
67 übrigens ist es derselbe Ausdruck, mit dem Platon im Phaidon die Wiedererinne-
rung kennzeichnet. Vgl. unten S. 421.
Der »Ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 409

handelt. Jedenfalls kann nach dieser Darstellung des Aristoteles nicht


von einer Wahrnehmung abwesender Zeit gesprochen werden und damit
wohl in seinem Sinne überhaupt nicht von Zeitwahrnehmung. Darauf
werden wir aber noch zuri.ickkommen.
Betonen wir im Hinblick auf das Gesagte noch, daß der Terminus
,,Wiedererinnerung,, (&vaµv'l']cw;) hier bei der Erörterung der Erinne-
rung in einem ganz anderen Sinn gebraucht wird, als es in jener aus dem
zweiten Kapitel zitierten Passage der Fall war: In dieser Passage war
die „Wiedererinnerung" das assoziative „Wiederfinden" oder „Wieder-
einfallen", illustriert am Wiederfinden oder Wiedereinfallen entfallener
Wörter. Solches Wiederfinden (bzw. das entsprechende Suchen) oder
Wiedereinfallen braucht, genau betrachtet, nicht notwendig im Bewußt-
sein der Vergangenheit zu geschehen. Wenn wir ein entfallenes Wort
suchen, so tun wir das im allgemeinen so, daß wir, wie Aristoteles sagt,
zur Verfügung stehende Wörter motorisch aktualisieren, mit denen das
gesuchte Wort durch Ähnlichkeit, Gegensatz oder Kontiguität motorisch
zusammenhängt; die Motorik (~tv'l']O'L~) eines Wortes induziert diejenige
des anderen, das eine z~eht das andere nach sich58• Ein Wort evoziert
das andere; gibt es auf die Lippen, ohne daß in diesen motorischen
Assoziationen das Bewußtsein der Vergangenheit eine wesentliche Rolle
spielen müßte: Auch beim nicht besonders gesuchten, plötzlichen Wieder-
einfallen eines Wortes oder gar beim Verfolgtwerden von Melodien ist
das Vergangenheitsbewußtsein nicht konstitutiv; die sprachliche Motorik
hat gewissermaßen plötzlich „geschaltet", so daß man das Wort wieder
sagen kann, oder man fällt immer wieder in die Gewohnheit des alten
Liedes zurück. Aristoteles spricht denn tatsächlich während der ganzen
Beschreibung dieser motorischen Assoziationsprozesse auch gar nicht von
einem Vergangenheitsbewußtsein. Von dieser assoziativen „Wiedererin-
nerung" sagt er, daß sie „ein Suchen nach dem Phantasma im Leiblichen"
sei59, wobei das Phantasma im obigen Sinne die anwesende Wahrneh-
mungsspur (den 't"u3to~) bedeutet. Die Wiedererinnerung des ersten Kapi-
tels hingegen ist gerade „nichts anderes" als Entgegenwärtigung, Be-
wußtsein des Abwesenden (Vergangenen), und zu ihrer Charakterisie-
rung bedarf es andererseits keines Hinweises auf die motorische Asso-
ziation. Das Gemeinsame dieser beiden Wiedererinnerungen ist nur das
äußerliche, daß beide „Erinnerung" bewirken. Die entgegenwärtigende

ss Vgl. 451 b, 10 - 452 b, 7.


69 453 a, 14-15.
410 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

Wiedererinnerung bewirkt Erinnerung als Vergangenheitsbewußtsein,


indem sie die von der Wahrnehmung zurückgelassene anwesende Spur
als Abbild eines Abwesenden „interpretiert" (evvosi:v), die assoziativ-
motorische Wiedererinnerung bewirkt, daß man sich wieder an das
Entfallene „erinnert". Auch das Wort „Erinnerung" wird hier natürlich
doppeldeutig gebraucht.
Nachdem Aristoteles im zweiten Kapitel die assoziativ-motorische
„ Wiedererinnerung" beschrieben hat, heißt es dann aber plötzlich: ,,Das
Bedeutsamste (-ro µeytcrrov) aber ist, daß man die Zeit erkennen muß,
nach einem Maß oder auch unbestimmt" 60 • Dann erörtert Aristoteles
mit etwas anderen Begriffen im Grunde dasselbe Problem, das er schon
im ersten Kapitel im Ausgang von der Frage, wie ein anwesendes Erleb-
nis Erlebnis von etwas Abwesendem sein könne, diskutiert hatte: das
Problem nämlich, wie das Bewußtsein zeitlich Entferntes (Abwesendes)
zur Geltung bringe. Allerdings bringt er an dieser Stelle des zweiten
Kapitels auch das Problem der Messung des zeitlichen Abstandes (der
Datierung) mit zur Sprache, was aber nicht das Entscheidende ist, da
es hier auch ganz allgemein um das Bewußtsein des zeitlich Entfernten
(und zwar Vergangenen) geht, auch wo dieses ein unbestimmtes ist·(wenn
man das Datum des Vergangenen nicht weiß) 61 • Aristoteles sagt nun auf
das gestellte Problem der Erkenntnis der zeitlichen Distanz hin: ,,Man
nimmt mit gutem Grund an, daß es so ist wie bei den Größen. Man
denkt (vosi:) nämlich die Größen und das Entfernte nicht dadurch, daß
man den Verstand dorthin streckt, wie es einige vom Gesichtssinn sagen,
denn man denkt gleicherweise auch das Nichtseiende, sondern durch
eine Bewegung nach Analogie (i:n a.v&1oyov ~tv~cret), denn in ihm (im
Verstand) sind ähnliche Figuren und Bewegungen. Wie weiß m.an nun,
wenn man Größeres denkt, daß man dieses denkt oder Kleineres denkt?
Denn alles Innere ist kleiner und analog zum Äußeren. Wie man in sich
ein Analogon zu den (äußeren) Gestalten faßt, so ist es vielleicht auch
bei den Abständen (a.rcocr·d1µa-ra.)." 62 Es wird dann anhand eines Dia-
gramms veranschaulicht, wie man aufgrund analoger innerer Bewegun-
gen gedanklich die größeren äußeren konstruiert (vosi:v, :rcots1:v) 63• Die-
se Darstellung schließt mit dem Satz: ,,Wenn zugleich die der Sache und
die der Zeit entsprechende Bewegung entsteht, dann erinnert man sich

00 452 b, 7-8.
61 Vgl. 452 b, 8; 453 a, 2.
62 452 b, 8-17.
63 452 b, 17-22.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 411

aktuell. " 64 Wie also im ersten Kapitel die Vorstellung des Abwesenden
(Vergangenen) als Abbildbewußtsein ausgelegt wurde, so hier die Vor-
stellung der zeitlichen Distanz durch ein Denken (voEi:v) nach Klm-
lichkeit oder Analogie. Also auch hier wird Zeitbewußtsein als Reprä-
sentation des „Fernen" im „Nahen" (Inneren, Anwesenden) interpre-
tiert. Von einer „Zeitwahrnehmung" ist auch hier nicht die Rede. Ande-
rerseits aber auch nicht von „Wiedererinnerung", sondern nur von „Er-
innerung", obschon wir uns im Kapitel über Wiedererinnerung befinden.
Auch in den folgenden Sätzen über falsche Erinnerung und die Unmög-
lichkeit unbewußter Erinnerung wird immer nur von Erinnerung und
nicht von Wiedererinnerung gesprochen, und es ist die Erinnernng, die
nun ausdrücklich ans Zeitbewußtsein gebunden wird: ,,Wenn die Sache
außerhalb der Zeit geweckt wird, oder umgekehrt, erinnert man sich
nicht (ov ~tfµvrp:m). " 65 Nachdem weiter noch von zeitlich bestimmter
und zeitlich unbestimmter Erinnerung die Rede war, wird dieser Ab-
schnitt über das Zeitbewußtsein mit einigen prinzipiellen Sätzen abge-
schlossen, in denen nun erst die „Wiedererinnerung" wieder auftaucht:
,,Es wurde schon gesagt (nämlich am Anfang der ganzen Abhandlung),
daß nicht dieselben sich in der Erinnerung und in der Wiedererinnerung
auszeichnen. Das Wiedererinnern unterscheidet sich vom Erinnern nicht
nur in bezug auf die Zeit (½m:a ,;ov XQ6vov), sondern auch dadurch,
daß sich viele Tiere erinnern, während sich wohl kein Lebewesen wie-
dererinnert außer dem Menschen. Dies hat darin seinen Grund, daß
das Wiedererinnern wie ein Schluß ist (ofov cruÄÄoytcr~t6i; ni;). Denn
daß er früher sah oder hörte oder etwas erlebte, dies erschließt (m.1111,0-
yttc:-mt) der sich Wiedererinnernde, und es ist etwas wie ein Suchen. Dies
kommt von Natur nur denjenigen zu, denen auch die Fähigkeit der
Überlegung (ßou,.rnnx6v) zu eigen ist. Denn auch das überlegen
(ßoukurn~m) ist eine Art Schluß (crvAAoytcrµ6i; ni;). " 66
Zuerst einmal: Von welcher Wiedererinnerung wird hier gesprochen,
von der Assoziation oder vom Zeitbewußtsein (Entgegenwärtigung)?
Primär sicher von der Wiedererinnerung als Entgegenwärtigung, denn
das Erschließen des Wiedererinnernden geht nach dem Text ausdrücklich
darauf, ,,daß er früher etwas sah, hörte oder sonst etwas erlebte." Als
Schluß ist hier wohl das zuvor ausführlich dargestellte Denken nach

64 452 b, 23-24.
65 452 b, 28-29.
66 453 a, 4-14.
412 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

Analogie oder Ähnlichkeit im erinnernden Vergangenheitsbewußtsein


zu verstehen 67• Als „Wiedererinnern" wäre hier also, genau wie im
ersten Kapitel 68, das für die Erinnerung konstitutive Vergangenheits-
bewußtsein (das Bewußtsein des Abwesenden, des zeitlich Entfernten)
bezeichnet. Da aber noch beigefügt wird „und es ist etwas wie Suchen",
könnte man evtl. auch noch an die Assoziation denken, obschon nach
Aristoteles selbst das Suchen nicht wesentlich zur Assoziation gehört69 •
Wenn jedoch als dieses dem Menschen eigentümliche schließende Wieder-
erinnern das für das Erinnern konstitutive Vergangenheitsbewußtsein
zu verstehen ist, so ist schwierig einzusehen, wie dann die Erinnerung,
insofern sie diese Entgegenwärtigung notwendig impliziert, auch „vielen
Tieren" als vernunftlosen Wesen zukommen kann. Wir kommen darauf
noch zurück.
Diese kleine Aristotelische Schrift über Erinnerung und Wiedererin-
nerung scheint außerordentlich komplex zu sein: In ihr finden sich nicht
bloß ohne ausdrückliche Abhebung zwei verschiedene Erinnerungstheo-
rien (Erinnerung als bloße Zeitwahrnehmung (a'(cr{}ricru;) und Erinne-
rung als nicht bloß ästhetisches, sondern als noetisches, interpretierendes,
schließendes, Abbild- oder Analogiebewußtsein), sondern ebenso unun-
terschieden zwei verschiedene Begri:ffe von „Wiedererinnerung" (Wie-
dererinnerung als Entgegenwärtigung und als motorische Assoziation).
Offenbar hängt je eine dieser Erinnerungstheorien mit je einem dieser
Wiedererinnerungsbegriffe zusammen. Die entgegenwärtigende Wieder-
erinnerung ist konstitutiv für die noetische Erinnerungstheorie, während
in der ästhetischen Erinnerungstheorie (Zeitwahrnehmung) dieser Wie-
dererinnerungsbegriff überflüssig wird, so daß das Wort „Wiedererin-
nerung" für etwas anderes, nämlich die motorische Assoziation, gebraucht
werden kann7°.
Mari muß wohl bei dieser kleinen Schrift, wie bei so vielen des
Aristoteles, annehmen, daß es sich nicht um einen einheitlich geschriebenen
67 In diesem Sinne wird die Stelle aud1 von W. D. Ross in seiner kommentierten
Ausgabe der Par'Oa Naturalia (Oxford 1955) interpretiert.
68 451 a, 5-14.
00 451 b, 23.
70 Leider habe ich bis jetzt noch keine Bestätigung dieser komplexen Sicht des Textes
bei den zahlreichen Kommentatoren und Interpreten dieser kleinen Schrift des
Aristoteles gefunden. Alle Interpreten, die ich konsultiert habe (Thomas von Aquin,
E. Rolfes (Leipzig 1924), J. Tricot (Paris 1951), P. Gohlke (Paderborn 1953),
R. Mugnier (Paris 1953), St. Cantin (Quebec 1955), W. D. Ross (Oxford 1955),
P. Siwek (Rom 1963)), gehen über diese Divergenzen sowohl in der Erinnerungs-
theorie als auch im Begriff der Wiedererinnerung einfach hinweg.
Der »Ontologische" Ursprung der logischen Vcrnunftidee 413

Text, sondern um eine Incinanderfügung verschiedener Texte zur seihen


Thematik handelt. Die noetische (intellektuelle) und die ästhetische (sinn-
liche) Erinnerungstheorie dürften kaum gleichzeitig vertreten worden
sein, sondern wir haben vielmehr Anlaß anzunehmen, daß die ästhe-
tische jüngeren Datums ist. Denn der Gedanke der Zeitwahrnehmung,
der die ästhetische Erinnerungstheorie ermöglid1t, scheint ein sehr spä-
ter Gedanke von Aristoteles zu sein. Im vierten Bud1 der Physik, das
nach den Ausführungen von W. Jaeger und A. Mausion mit Sicherheit
als eine frühe Schrift betrachtet werden darf, ist das Bewußtsein der Zeit
noch entschieden der Vernunft zugeordnet71 • In der Schrift über die Seele
wird nur an einer einzigen Stelle von „Zeitwahrnehmung" (xQ6vou
a'lcr{}ricnc;) gesprochen, diese aber paradoxerweise als Leistung der Ver-
nunft (Myoc;, vouc;) hingestellt: Aristoteles sagt an dieser Stelle, daß die
Strebungen der Seele (ÖQEsELc;) miteinander in Widerstreit geraten
können, und zwar geschehe dies dann, ,,wenn die Vernunft (o Myoc;)
und die Begierden im Gegensatz zueinander stehen, was bei denjenigen
entsteht, die Wahrnehmung von Zeit (xQ6vou a'lcr{}ricrtv) besitzen; denn
die Vernunft (vouc;) befiehlt wegen der Zukunft auf die eine Seite zu
ziehen, die Begierde wegen des Jetzigen aber auf die andere. Denn das
jetzt Lustvolle erscheint (cpatvetm) als schlechterdings lustvoll und gut,
weil das Künftige nicht gesehen wird" 72 • Die Zeitwahrnehmung als
Wahrnehmung eines Abwesenden, und zwar hier des Künftigen, ist nach
dieser Stelle also ein Vernunftakt im Gegensatz zu der der Gegenwart
verhafteten sinnlichen Begierde. Daß die Zeit nach der Seelenschrift
nicht Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung ist, dafür spricht auch, daß
sie hier nirgends unter den Gegenständen des Gemeinsinnes (und zu
diesen müßte sie natürlich gehören) auftritt. Als solche (als ata-lh)ta
·1.owa) werden wiederholt explizit angeführt: Bewegung, Ruhe, Einheit,
Zahl, Gestalt und Größe 73 , nirgends aber die Zeit. Auch in der Schrift
über die sinnliche Wahrnehmung, die in den P arva naturalia der Schrift
über die Erinnerung unmittelbar vorangeht, ist bei den Gegenständen
des Gemeinsinnes von Zeit nicht die Rede, sondern es werden darunter
dieselben Begriffe aufgezählt wie in der Seelenschrift74 • Soviel mir be-
kannt ist, erscheint bei Aristoteles überhaupt nur in De memoria die
Zeit als Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung. Hier wird sie ausdrück-

71 Physik, IV, 223 a, 16-29.


72 De anima, III, 433 b, 5-10.
73 De anima II, 418 a, 17-18; III, 425 a, 15-16.
74 De sensu, 437 a, 9; 442 b, 5-7.
414 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

lieh auf den Gemeinsinn zuri.ids:.bezogen 75 • Da hier gesagt wird, daß


Größe und Bewegung mit demselben Vermögen erkannt werden müssen
wie die Zeit76, könnte es die Einsicht, daß die sinnliche Wahrnehmung
vor allem der Bewegung die Wahrnehmung von Zeit impliziert, gewesen
sein, die Aristoteles ausdrücklich den Gedanken der sinnlichen Zeitwahr-
nehmung erfassen ließ.
Gegen die späte Datierung der ästhetisd1en (sinnlichen) Erinnerungs-
theorie des Aristoteles scheint die Tatsache zu sprechen, daß er auch in
Schriften, die ziemlich einhellig in frühere Perioden angesetzt werden,
wie im ersten Buch der Metaphysik oder in den Analytica posteriora,
den vernunftlosen Tieren Erinnerung zuspricht77 • Wie hätte Aristoteles,
während er eine intellektuelle (noetische) Erinnerungstheorie vertrat,
den vernunftlosen Tieren Erinnerung zuerkennen können! Die Antwort
ist nicht so schwierig: In jenen älteren Stellen, an denen von der Erinne-
rung der Tiere die Rede ist, wird diese in ganz bestimmtem Sinne auf-
gefaßt, nämlich als Überbleibsel der sinnlichen Wahrnehmung {µov11
toi:i ata{}iivaT01;) 78, als deren bloße Folge (bt ata{}iiasrot; y(yvsi-m µv~µ'Y}) 79 •
Hier ist offenbar also nur von den jeweils anwesenden Spuren früherer
Wahrnehmung die Rede, von dem, was aus früherer Wahrnehmung
habituell bleibt, nicht aber vom Bewußtsein der Vergangenheit (des
Abwesenden), das nach dem oben erläuterten Text aus De memoria
noch nicht mit dem Präsenthaben einer Wahrnehmungsspur gegeben ist,
sondern erst, in einer Einstellungsänderung (µswßo1i:f1), durch das Durch-
schauen, :durch die Interpretation {evvosi:v) dieser Spur als Anwesendes
für ein Abwesendes, also in der entgegenwärtigenden Wiedererinnerung
entsteht80 • In diesem Sinne läßt sich auch jene prinzipielle Stelle aus
De memoria interpretieren, bei der wir erst noch nicht verstanden, wie
die entgegenwärtigende Wiedererinnerung nur dem Menschen, die Er-
innerung aber auch vielen Tieren zugeschrieben werden kann, wenn die
entgegenwärtigende Wiedererinnerung für die Erinnerung als Vergan-
genheitsbewußtsein konstitutiv ist. Unter „Erinnerung" der Tiere ist
auch hier offenbar nur das Überbleibsel (µov~) der frUheren Wahrneh-
mung verstanden, was auch die Bemerkung eingangs jener prinzipiellen

15 De memoria, 450 a, 9-10; 451 a, 16-17.


76 450 a, 9-10.
77 Metaphysik, A, 980 a 27 - 980 b 27; Anal. post., II, 99 b 35 - 100 a, 3.
78 Anal. post., II, 99 b, 36-37; vgl. Topica, 125 b, 6.
79 Metaphysik, A, 980 a, 27-29; Anal. post., II, 100 a, 3.
so Vgl. oben, S. 408.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 415

Stelle, daß sich Erinnerung und Wiedererinnerung hinsichtlich der Zeit


(xai:a i:ov XQ6vov) unterscheiden81, verständlich macht82 •
In dieser genetischen Blick.weise kann wohl die Komplexität der klei-
nen Aristotelischen Schrift über Erinnerung etwas durchsichtiger gemacht
werden, ja es scheint mir möglich, unter diesem Gesichtspunkt den Text
selbst philologisch aufzugliedern83• Aber dies ist jetzt nicht unsere Auf-
gabe, denn wir haben diese Schrift ja nur deshalb etwas auseinander-
gelegt, um die uns leitende Frage: wie Aristoteles in seiner logischen
Perspektive der Vernunft die Erinnerung behandelt, beantworten zu
können. Dem vermögen wir jetzt nachzukommen: Aristoteles hat, min-
destens während einer gewissen Periode, die Erinnerung, sofern sie Be-
wußtsein vergangenen (abwesenden) Bewußtseins ist und insofern ent-
gegenwärtigende Wiedererinnerung (&.vaµv'l'j<Jt~) in sich schließt, als
einen über die sinnliche Wahrnehmung hinausgehenden Verstandesakt
(vos°Lv84, !vvos°Lv85) anerkannt. Als solchen interpretiert er aber die
Erinnerung, aus seiner ausschließlich logischen Auffassung des Verstan-
des, sogleich als ein Abbildbewußtsein, eigentlich wohl als ein Zeichen-:-
oder symbolisches Bewußtsein (da der Ausdruck st-xrov selbst nur bild-
lich zu verstehen ist), in dem ein Anwesendes als Zeichen eines Abwe-
senden interpretiert wird86, genauer dann als einen aufgrund der Khn-
lichkeitsbeziehung zwischen dem „Kleinen in der Seele" und den äußeren
Zeitverhältnissen analogisierenden Schluß (crulloytcrµ6~) 87, so daß er

81 453 a, 7. .. . . . , .
82 Im Sinne einer bloßen Habe (l!;L;) oder eines Überbleibsels (µovfi) aufgru11q,-frühe-
rer Erlebnisse scheint das Wort µviJµ'Y] zuweilen auch in De memoria gebraucht zu
werden: 450 a, 29-30; 451 a, 23-24 und 451 b, 3-4. Es scheint in dieser·zweiten,
sehr dunklen und von jedem Interpreten anders verstandenen Passage zwischen
11.viJµ'YJ oder µv'Y]µovsuSL". als bloßer Wirkung von Erlebnissen und µ".'Y]µ1>vsus,Lv
,tait' mi-.6 als entgegenwärtigende Wiedererinnerung voraussetzendes Zeitbewußt~
sein unterschieden zu werden. Nur von dieser zweiten Erinnerung gilt, daß· sie dem
Wiedererinnern „folgt" (Ü,toÄouitst, 451 b, 5-6), ,während die erste Erinnerung
unmittelbar aus dem Erleben hervorgeht. . .
83 Die Hypothese scheint mir durchführbar und erhellend, daß ein ursprünglicher
Text nur über Erinnerung und über die für diese, insofern sie Zeitbew1'ßtsein ist,
konstitutive (vergegenwärtigende) Wiedererinnerung handelte. Die Passagen über
die assoziative Wiedererinnerung (451 b, 10-452 b 7 und 453 a 14-b 7) könn-
ten später eingefügt worden sein, wobei auch der erste Text durch die Idee des
ästhetischen Zeitbewußtseins überarbeitet wurde.
84 452 b, 9, 13, 21-22.
85 451 a, 6.
8G 450 a, 25-451 a, 14.
e7 452 b, 7 - 453 a, 10.
416 V ersuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

das Erinnern als „Reden in der Seele" (sv TU 1Jrnxfl 1ciyav) 88 bezeichnen
kann. Wie schon die überlegende Phantasie (ßouAE'llTU{,Y) (pav,aala), so
verdeckt Aristoteles auch die Erinnerung als noetisches Vergangenheits-
bewußtsein durch das Logische, er löst es in dieses auf. Demgegenüber
müssen wir sagen, daß dieses noetische Bewußtsein der Vergangenheit
nicht notwendig, nicht konstitutiv ein Zeichenbewußtsein, ein Schluß,
ein Reden ist, obschon Zeichen, Schluß und Reden im Erinnern auftreten
können. Vielleicht hat Aristoteles dies später gesehen; aber wenn er nun
die Erinnerung nicht mehr als logisches Bewußtsein versteht, dann muß
er sie aus seiner Perspektive eo ipso als bloß sinnliche Zeitwahrnehmung
interpretieren. So etwas wie sinnliche Zeitwahrnehmung gibt es nun
ohne Zweifel; die konkrete sinnliche Gegenwart hat als Streben und
Verlassen selbst eine Zeitstruktur89, und Aristoteles hat völlig recht,
wenn er die Wahrnehmung der Bewegung in der Gemeinsinnlichkeit
mit einer \'vahrnehmung von „Zeit" verbindet. Aber dieses unmittelbare
Zeitbewußtsein ist nie Erinnerung; bzw. Zeitwahrnehmung in der un-
mittelbaren Gegenwart und Erinnerung an eine vergangene (abwesende)
,,Gegenwart" sind etwas toto coelo Verschiedenes. Dieser Unterschied,
um den wir uns mit allem Einsatz bemühten, wird nun aber in der wohl
späten Aristotelischen Auffassung der Erinnerung als Zeitwahrnehmung
völlig eingeebnet 90 • Aristoteles vermag also aus seiner ausschließlich lo-
gischen Sicht der Vernunft dem Wesen der Erinnerung in keinem Falle
gerecht zu werden: Wie bereits die freie Phantasie deutet er sie ent-
weder in ein logisches Bewußtsein um oder aber ebnet sie in die Sinn-
lichkeit ein.
Aber warum hat in der Aristotelischen Auffassung der Vernunft das
Logische eine solche Gewalt, daß eine Bewußtseinsweise entweder als
logische gedeutet oder aber, unangesehen sonstiger Differenzen, als Sinn-
lichkeit aufgefaßt werden muß? Wie kommt es, daß das Logische in der
Unterscheidung des Bewußtseins das Entscheidende ist? Um diese Frage
zu beantworten, können wir nicht bei Aristoteles bleiben, sondern müs-
sen geschichtlich weiter zurückgehen: zu Platon.
Bei Platon ist zwar jener Rahmen der Unterscheidung von sinnlichem
und verstandesmäßigem Bewußtsein durch das Kriterium des Logischen

88 449 b, 22-23.
89 Vgl. oben, § 28.
90 Daß die noetische Theorie der Erinnerung die ältere ist, dafür spricht wohl auch
ihr Gebrauch des Platonischen Wortes evvosi:v (vgl. Phaidon 73 c - 75 a mit
De memoria, 451 a, 6).
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 417

noch nicht voll ausgebildet und konsequent systematisch durchgeführt,


aber die Grundlage dieser Unterscheidung liegt bei ihm. Aristoteles, und
mehr oder weniger die ganze abendländische Philosophiegeschichte, steht
hier ganz im Banne Platons.
Die Platonische Grundlage dieser Unterscheidung ist nun aber selbst
gar keine bewußtseinsanalytische, sie ist nicht durch eine reflexive Er-
kenntnis der Akte gewonnen, sondern sie ist eine „ontologische"91 : sie
besteht in der Unterscheidung verschiedener Arten von Entitäten und
in der Bestimmung ihrer Beziehungen, nämlich in der Unterscheidung
zwischen der sichtbaren werdenden Wirklichkeit und der unsichtbaren
unveränderlichen Wirklichkeit und in der Bestimmung des Verhältnisses
der Seele (die auch als Entität gedacht wird) zu diesen verschiedenen
Wirklichkeiten. Daß es zwei Arten des Seienden (IH,o Ei'.3'1'} 't'OOV Öv't'oov)
gibt: das Sichtbare (oQa:r6v) und das Unsichtbare, nur Denkbare (vo'l'}'t'ov),
ist die systematische Grundkonzeption Platons, auf die er sowohl seine
Betrachtung der Seele92 als auch seine Theorie des Wissens 93 und schließ-
lich seine Kosmologie 94 aufbaut. In Platons Bestimmung des Verhältnis-
ses der Seele zu diesen beiden Bereichen ('t'o:rcot) oder Arten des Seienden
muß wohl der Ursprung der am Logos orientierten Vernunftidee ge-
sucht werden.
Die sichtbare veränderliche Welt betrachtet die Seele durch ihren
selbst sichtbaren veränderlichen Leib: "wenn die Seele den Leib ge-
braucht um zu betrachten, sei es vermittels des Sehens, sei es durch Hören
oder vermittels eines anderen Sinnes - denn vermittels von Sinnen
etwas betrachten, das ist die Vermittlung des Leibes -, dann wird sie
vom Leib in dasjenige gezogen, das sich niemals gleich verhält ... "95 •
Der Leib, oder genauer, die a'(o-&'l'}O'L\; ist das Mittel, durch welches die
Seele das Sichtbare betrachtet. ,,afo-&'l'}O'L\;" bedeutet sowohl das Sinnes;;
organ (Augen, Ohren etc.)96 als auch den Wahrnehmungssinn (Gesicht;
Gehör) 97 und den Wahrnehmungsakt (Sehen, Hören) 98 • Auch die ai'.a-&'l'}at\;

81 Das Wort „ontologisch" verstehe ich hier in einem traditionell beschränkten Sin~J;
wonach es sich an Dingen, Substanzen, Sachen, Gegenständen orientiert. Natürlich
könnte es auch weiter gefaßt werden, so daß es auch Akte umgreifen würde. ·
82 . Vgl. Phaidon, 78 b ff.
83 Vgl. Staat, 507 a ff.
04 Vgl. Timaios, 27 d ff.
85 Phaidon, 79 c.
88 A. a. 0., 83 a.
87 Staat, 507 c.
88 Phaidon, 79 c.
4'1s Versuch einer Situierung unserer Oberlegungen in der Philosophiegeschichte

als<Wahrnehmungsakt ist nach Platon primär etwas Körperliches: die


Seele betrachtet (crxo:rcsi) das Sichtbare mittels des Sehens (8ux wü ÖQiiv)
als eines von ihr Verschiedenen. Wenn wir ai'.crit'Y]CJLi; mit „wahrnehmen"
übersetzen, so kann man in gewissem Sinne sagen, daß nach Platon
nicht die Seele, sondern der Leib wahrnimmt (sieht, hört etc.), daß aber
die Seele mittels oder im Medium des leiblichen Wahrnehmens das.Sicht-
bare betrachtet. Nach Platon gibt es kein seelisches Wahrnehmungsver-
mögen (atcrit'Y]·nx6v) wie bei:Aristoteles, ein solches ist für ihn sogar
undenkbar, denn das atcrit'Y]nx6v„ist für ihn der Leib. Die ai'.crit'Y]crti; ist
zwar· kein bloß körperliches Geschehen, aber es ist primär ein körper-
liches Geschehen; in dem die Seele nichts tut, sondern von dem sie bloß
affiziert wird. Nach dem Philebos gibt es einerseits leibliche Erregungen,
die verlöschen, bevor sie die Seele erreichen, und diese daher unberührt
lassen, und andererseits solche, die die Seele mit in die Erschütterung hinein-
ziehen. Die Erregungen (:n:a-0-fiµa-ra), die „nicht durch beide hindurch-
gehen", bleiben der Seele verborgen; hier spricht Platon von ävmcrit1Jcr(a,
während er die ai'.crit'Y]mi; als diejenige Erregung ansieht, in die die
Seele zusammen mit dem Leib hineingezogen wird99• Gesicht, Gehör
usw. sind nicht in der Seele, sondern in den leiblichen Organen, sie sind
Kräfte (8uvaµ1:.ti;) der Augen, Ohren etc.100 Sobald die Seele in diesem
Erregtwerden etwas tut, handelt es sich nicht mehr um eine bloße
ai'.crit'Y]ini;, sondern, wenn dieses Tun aufgrund jener Affektion geschieht,
um ein öosatELV, um ein „Meinen" (oder wie man immer in diesem
Kontext öosat1:.w übersetzen will), das nie bloße ai'.crit'Y]crti; -ist, aber
immer im Milieu der ai'.cr{}1Jcrti; (µEta atcr{}iJcr1:.roi;) geschieht. Darum ist
der Gegensatz zuni unsichtbaren, -gedanklichen Sein (V01J1:6v) für Platon
söwohl das 0QU1:0V oder atcrit'Y]i:6v als auch das öosacri:6v191 ; das aosacri:6v
ist das atcr'3ri1:6v, sofern sich die Seele mit ihm beschäftigt. Und der
Gegensatz iulll reinen Denken (voiii;, V01JC1ti;) der Seele ist nicht etwa
die ai'.crit'Y]ati; (denn diese ist eigentlich Sache des Leibes); sondern Msa
als durch den Leib vermittelte Beschäftigung der Seele mit der sinnlich-
kckperlichen Welt102 • Wenn Platon im Theaitet die ai'.cr{t'l']crti; als den
von Piotagoras und. sei~en „Schülern" unterstützten Prätendenten für
die Rolle -der Erkenntnis (emcr,:iJµ'l'J) diskutiert, so ist es für ihn dabei
selbstverständlich, daß es sich nicht um 'die bloße ai'.crit'Y]crti; hande!n

99 Philebos, 33 d - 34 a.
100 Staat, 508 b-d.
101 Vgl. Timaios, 28 a; vgl. 28 b/c.
102 Vgl. Staat, 508 d; 533 e - 534 a.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 419

kann, sondern um die Meinungen, die auf nichts anderem als auf
afo{h1ati; beruhen (at xa.a. ta.i; ala-lHj<Jeti; Mtm) 103 • Die afo-lh1aLi; wird in
diesem Dialog nicht in sich selbst erörtert, sondern es wird geprüft, ob
sie eine ausreichende Grundlage für die Erkenntnis abzugeben vermag.
Während die Seele die sichtbare Welt vermittels des Leibes, also
vermittels eines anderen, ihr Fremden (fü' aAAov) betrachtet, betrachtet
sie das unveränderliche, gedankliche Sein durch sich selbst (mir~ bt' avrrii;):
„das eine betrachtet die Seele selbst durch sich selbst, das andere durch
die Kräfte des Leibes. " 104 Anstatt von „durch sich selbst" (bt' avt'Y}i;)
spricht Platon auch von „gemäß ihr selbst" (a'Öt~ xa{}' avr~v) 105 und „in
ihr selbst" (a'Öt~ ev fovtü) 106 • Worin besteht nun das „durch sich
selbst", dieses Eigene, durch das die Seele zur Einsicht (vo-üi;, VO'Y]<Jti;) des
gedanklichen Seins gelangt? Während die Seele das Veränderliche im
Meinen (Mtu) mit Hilfe von redeloser Wahrnehmung (µet' ala-lJ~aswi;
&Myov) erfaßt, erfaßt sie das unveränderlich Seiende in der vernünfti-
gen Einsicht (vo~<Jet) mit Hilfe von Logos (µsra. Myou) 107 • Der Logos,
die Rede, spielt also im Verhältnis der Seele zum ideellen, gedanklichen
Sein (vo'Y]t6v) die analoge Rolle wie die leibliche Wahrnehmung (a'la-lJ'Yjau;)
in der Beziehung der Seele zum Sichtbaren1° 8• Der Logos ist das· eigene
„Mittel" der Seele, mit dem sie die Beziehung zu dem ihr verwandten
(avyysvsi;) Bereich des unveränderlichen, ideellen Seins herstellen kann.
Der Logos ist das der Seele eigene Milieu der Idee. Dieser Gedanke
findet sich bei Platon immer wieder: Die veränderlichen Dinge „kannst
du betasten, sehen und mit den anderen Sinnen wahrnehmen, aber jene
sich gleichbleibenden, Wesenheiten kannst du durch nichts anderes fassen
als durch den Logismos, die „Berechnung", des Verstandes (tcp -rrii;
OLavolai; Aoytaµcp)" 169• Platons hierarchische Anordnung der Erkennt-
nisse entspricht genau der Qualität der ,Mittel': Während die Doxa sich
noch ganz mit Hilfe der Sinne bewegt, geschehen die mathematischen
Wissenschaften durch das Denken (füavot~) und benützen das Sinnliche
nur noch als ,Bilder'110 ; in der höchsten Wissenschaft aber, in der Dialek-

103 Theaitet, 179 c; vgl. 158 e, 161 e.


104 Theaitet, 185 c; vgl. Phaidon, 82 e.
105 Phaidon, 79 d; 83 b; Theaitet, 185 e.
100 Theaitet, 186 a/b; Philebos, 34 b/c.
107 Timaios, 28 a; vgl. 29 a.
108 Dies hebt auch G. Jäger in seinem Buch „Nus" in Platons Dialogen, Göttingen
1967, S. 103 hervor.
100 Phaidon, 79 a; vgl. 84 a; Sophistes, 248 a.
110 Staat, 510 b; 511 a.
420 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

tik oder Philosophie, erfaßt die „Rede selbst (a-i'.rroi; o A6yoi;) durch die
Kraft der Unterredung (tfl toii OlctAEyw{}m Mvaµu) ohne alle Wahr-
nehmungen (avi;v nacr&v t&v atcr{}ficrrn)V) das Denkbare. " 111 Auf dem
Wege des Logos entsteht vernünftige Einsicht (voiii;, voricrti;). Diese ist
nicht identisch mit dem Logos, aber dessen höchstes Ziel (teAoi;), das
allein durch ihn erreichbar ist. Platon gebraucht für dieses der Seele
eigene „Mittel" zur Erlangung des unveränderlichen, nur denkbaren
Seins nicht nur den Ausdruck A6yoi; 112 , sondern spricht hier auch von
Aoywµ6i; 113 , i-oii 3taMyw{}m 3vvaµti; 114, selten und in besonderen
Fällen von 3uivota115 • Aber diese verschiedenen Ausdrücke heben nur
einzelne Aspekte des Logischen stärker hervor: der Ausdruck 1,oyur~t6i;
betont das „Berechnende" und Schließende, die logische Betrachtung der
Verhältnisse, das Ölat-Eyw{}a spricht den Logos als Unterredung aus,
während füavota den stimmlosen Logos, die „stille Unterredung der
Seele mit sich selbst" oder in besonderem Falle das mathematische
Schließen bedeutet 116 •
Während für Platon voiii; oder v61')crti; kein Vermögen der Seele,
sondern deren Einsicht (Evidenz) in das unsichtbare ideelle Sein bezeich-
net, die nicht nur von der Seele abhängt, sondern nach dem Sonnen-
gleichnis die Idee des Guten zur obersten Ursache hat117, ist die Rede,
der Logos, etwas der Seele Eigenes. Der Logos stellt sogar das einzige
Erkenntnismittel (Instrument) dar, über das die Seele durch sich selbst
verfügt; es ist das Mittel, durch das die Seele das ideelle, unveränder-
liche Sein erlangen kann, während die Sinnlichkeit, die ihr fremd ist,
sie in das Veränderliche hineinzieht. Da der Logos in: dieser ontologischen
Sicht das einzige eigene Mittel der Seele ist, wodurch diese zum Sein in
Beziehung tritt, kann Platon das Erkenntnisvermögen der Seele über-
haupt als t,oywnx6v, als Vermögen der Rede, ansprechen 118•
Wenn Platon so die Seele von ihren beiden verschiedenen Zugangs-
mitteln zu den beiden verschiedenen Arten des Seienden her betrachtet,
ergibt sich ihm die Unterscheidung in Erkenntnis durch afo{}'l')crti; und
Erkenntnis durch Myoi;. Die Erkenntnis durch den Logos ist also in die-

111 Staat, 511 b; 532 a; 534 b, e.


112 So auch Parmenides, 135 e.
113 Phaidon, 79 a; 84 a; S ophistes, 248 a.
114 Staat 511 b; 532 a.
115 Staat, 511 c.
116 Sophistes, 263 e; 264 a; vgl. Theaitet, 189 e.
117 Staat, 508 a ff.
118 Staat, 439 d.
Der „ontologische" Ursprung der logischen Vcrnunftidce 421

ser Betrachtungs,veise der Gegensatz schlechthin zur sinnlichen Erkennt-


nis. Von hier aus wird die Identifizierung von Vernunft (als dem der
Sinnlichkeit entgegengesetzten Vermögen) und Logos verständlich.
Obschon dieses ontologische Schema, in dem die Bewußtseinsakte
nicht in sich selbst analysiert und differenziert, sondern nur durch ihre
Stellung innerhalb dieses Schemas, also durch Gegenstände und Mittel
bestimmt werden, die Philosophie Platons weitgehend prägt, läßt sich
Platon selbst doch nicht von diesem Schema beherrschen. Dies zeigt nun
gerade seine Erörterung der Wiedererinnerung (&va~tV'Y]<ni;). Wir brau-
chen hier nicht auf Platons Anamnesistheorie des Wissens und Lernens
einzugehen, in der dieses Wort in einem übertragenen Sinne den „inner-
seelischen" Ursprung aller echten Erkenntnis bezeichnet. 119 Aber schon
die Tatsache, daß Platon diesen Ausdruck zur Charakterisierung des
Ursprungs der intellektuellen Erkenntnis überhaupt verwenden kann,
weist darauf hin, daß er die Wiedererinnerung im gewöhnlichen Sinne
nicht als einen sinnlichen Vorgang, sondern als eine eigene, intellektuelle
Tätigkeit der Seele betrachtet. Im Phaidon bestimmt Platon die Wieder-
erinnerung an ein Abwesendes aufgrund eines in der Wahrnehmung
Anwesenden mit einer für ihn ungewöhnlichen terminologischen Konse-
quenz als ein hvoEi:v120 • Im Philebos bezeichnet er das Gedächtnis
ütv17µ'Y]) als Erhaltung von Wahrnehmung (crwT'Y]QLa alcr{}~cri,wi;) 121 und
charakterisiert die Wiedererinnerung (&vaµv'Y]crti;) in folgender Weise:
,,Wenn die Seele, was sie einst mit dem Leibe erlitt, ohne den Leib,
selbst in sich selbst (avn1 EV fovi:fü soweit möglich ,wiederholt' (&va,.aµ-
ßavEw), dann sagen wir, daß sie sich erinnert." 122 „Und wenn sie das
Erinnern (~tv17~t'Y]) an eine Wahrnehmung (afo{}'Y]crti;) oder an ein Wissen
verloren hat und dieses selbst in sich selbst (av,:~ EV fovi:n) ,wieder-
holt' (&vmtohiv), dann bezeichnen wir auch das alles als Wiedererinnerun-
gen. "123 Die \\Tiedererinnerung als vergegenwärtigende „Wiederholung"
einer sinnlichen Wahrnehmung oder eines Wissens wird also von Platon
als eine der Seele eigene, unkörperliche und damit in sich nicht sinnliche
Tätigkeit dargestellt und damit durchaus auf die Ebene der Vernunft-
tätigkeit (lvvoE'i:v) gerückt. Andererseits versucht er aber nicht, sie als
ein Reden (Uycw) oder Schließen (crvÄÄoytcrµ6i;) umzudeuten, obschon

119 Vgl. Menon, 81 c ff.; 97 e; Phaidon, 74 a ff.


120 Phaidon, 73 d ff.
121 Philebos, 34 a.
122 A. a. 0., 34 b.
123 A. a. 0., 34 b/c.
422 Versud1 einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

eine solche noetische, aber nicht logische Erkenntnistätigkeit eigentlich


gar nicht in sein ontologisches Modell hineinpaßt.
Die Wiedererinnerung ist für Platon nun aber keineswegs eine bloß
nebensächliche, im großen und ganzen zu vernachlässigende Tatsache,
sondern sie ist nach ihm geeignet, repräsentativ für das eigene (,,spon-
tane") geistige oder intellektuelle Leben der Seele überhaupt zu stehen.
Dies wird schon in der Anamnesistheorie des Lernens und Erkennens im
M enon und P haidon deutlich. Im T heaitet nimmt die Erinnerung eine
zentrale Stelle im Versuch der Erklärung von wahrer und falscher Mei-
nung ein. Das „Wachs" als das „Herz der Seele", worin sich ihre Erfah-
rungen einschreiben, aufgrund deren sie dann die weiteren W ahrneh-
mungen beurteilt, ist Erinnerung, ein Geschenk der Mnemosyne, der
Mutter der Musen. 124 In dieser alten Vorstellung, daß die Erinnerung
die Mutter der Künste und Wissenschaften sei, manifestiert sich übrigens
ein allgemeines Verständnis der Vernunft, das noch nicht ausschließlich
vom Logischen her geprägt ist. Auch im Philebos kommt der Erinnerung
große Bedeutung zu: Wenn hier sinnlicher Genuß und geistiges Leben
auf ihre Tauglichkeit zum höchsten Gut (besten Leben des Menschen)
geprüft werden, so steht die Erinnerung (µiµv'Y}cr{}m) nicht nur konse-
quent auf der Seite des vodv und <pQovei:v125 , sondern sie scheint für
das geistige Leben sogar die fundamentale Rolle zu spielen. Einmal
begründet sie die Idee der geistigen Lust126 und entzieht durch ihr Fehlen
der bloßen Lust die Prätention auf das höchste Gut127 ; weiter aber läßt
Platon mit hintergründigem Sinn Protarchos zu Sokrates sagen: ,,Als
Philebos meinte, daß Lust, Befriedigung, Vergnügen und alles dieser
Art (das beste der menschlichen Güter sei), antwortetest du ihm, daß es
nicht diese, sondern jene seien, die wir uns selbst absichtlich oft in Erinne-
rung rufen, gut tuend, damit in der Erinnerung beides (nämlich Lust und
Vernunft) nebeneinanderliegend geprüft werde. Du sagtest nämlich, wie
es scheint, was mit Recht als ein besseres Gut als Lust genannt werde,
seien vernünftige Einsicht (vofä;), Erkenntnis, Verstand (crvvwL;), Kunst
('dxvri) und alles dem Verwandte. " 128 Die Erinnerung tritt hier zugleich
als die Grundlage des geistigen Lebens im allgemeinen und der philo-
sophischen Prüfung auf.

124 Theaitet, 191 c/d.


125 Philebos, 11 b; 21 b; 21 d.
126 A. a. 0., 33 c.
127 A. a. 0., 21 c.
128 A. a. 0., 19 c.
Der »Ontologische" Ursprung der logischen Vernunftidee 423

Während sich bei Platon diese auf Bewußtseinsanalyse beruhende


Wiedererinnerungslehre noch gegenüber der Herrschaft jenes „ontolo-
gischen" Schemas behaupten konnte, wird die Bewußtseinsanalyse bei
Aristoteles schließlich ganz von diesem eingängigen Modell, das von ihm
zwar modifiziert wird, im wesentlichen aber durchaus erhalten bleibt,
dominiert. Wir sahen, daß die Etablierung dieser totalen Herrschaft bei
Aristoteles nicht ohne große Windungen und großes Zögern vor sich
ging. Mir scheint es, daß der Ursprung der ausschließlich logischen oder
kategorialen Auffassung der Vernunft in der Herrschaft jenes „onto-
logischen" Modells Platons über die reflexive Bewußtseinsanalyse ge-
sehen werden muß. Dieses Modell beherrschte vordergründig oder hin-
tergründig die abendländische Philosophiegeschichte. Auch Kants Kritik
der Vernunft ist nur auf dem Hintergrund des Unterschiedes zwischen
dem mundus sensibilis und dem mundus intelligibilis denkbar.
Wenn wir durch unsere Überlegungen dazu geführt wurden, den
ausschließlich logischen Vernunftbegriff zu durchbrechen, so bedeutet dies
wohl die Befreiung und Verselbständigung der reflexiven Bewußtseins-
analyse von jenem ontologischen Modell. Der Vernunftbegriff (,, Ver-
nunft" im weiten Sinne), der durch diese Analyse gewonnen wird, be-
steht also keineswegs bloß darin, daß in der traditionellen, von jenem
ontologischen Schema abhängigen Unterscheidung von Sinnlichkeit und
Vernunft etwas von der Sinnlichkeit (nämlich Erinnerung, Phantasie
etc.) abgeschnitten und in das „obere Erkenntnisvermögen" Vernunft
verlegt wird, sondern durch unsere konsequente, autonome Bewußtseins-
reflexion gewinnen wir einen Gesichtspunkt, von dem aus wir allein Ver-
nunft und Sinnlichkeit „an der Wurzel" unterscheiden und der Vernunft
selbst, d. h. als Tätigkeit, in allen ihren besonderen Weisen und im gan-
zen gerecht werden können. Es ist z. B. auch nur dieser Gesichtspunkt,
der die philosophische Bewußtseinsreflexion selbst als reine Vernunft;.a
tätigkeit begrifflich zu fassen vermag. Die Selbsterkenntnis der Vernunft
darf nicht durch die Brille von irgendwelchen vorausgesetzten logischen
oder „ontologischen" Modellen geschehen, sondern muß die Vernunft
selbst in ihrem Tun zu fassen versuchen. Merkwürdig ist, daß dieser
Gesichtspunkt nicht nur eine viel reichere, differenziertere und zugleich
prinzipiell-einheitliche Konzeption der Vernunft ergibt, sonde:rn auch
zu einer reicheren Konzeption der Sinnlichkeit führt, obschon, bloß von
außen gesehen, diese um einiges „beschnitten" wurde. Was wir ja bei
Kant ausführlich bemängelten und was auch schon bei Platon zu bemän-
geln wäre, ist eine äußerst armselige Konzeption der Sinnlichkeit. Wird
424 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

die Vernunft als Logos gedacht, liegt es nahe, sie schlechthin als das Re-
gelnde, Vereinheitlichende oder Verbindende, Ordnende zu denken, dem
gegenüber die Sinnlichkeit dann als das in sich Regellose, bloß unend„
lieh Mannigfaltige (ä:rcet()ov), ungeordnete Gewühl dasteht. So armselig
sieht die Sinnlichkeit sowohl bei Platon129 als auch bei Kant130 aus. Dem-,
gegenüber haben wir die Sinnlichkeit als ein Bewußtsein begreifen kön-
nen, das in sich nicht die Einheit des Selbstbewußtseins (Ichbewußtseins)
besitzt, aber sich in: seinem selbstbeweglichen Eröffnen von Zukunft eine
unmittelbare Gegenwart schafft und aus sich und für sich als typischen
und damit beherrschbaren Sinnzusammenhang zu orgams1eren ver-
such t113.
Es ist keine »bloß terminologische" Frage, ob man „Verstand"
oder „Vernunft" (im weiten Sinn) durch den Logos definiert und
dann alle vorkategorialen Bewußtseinsweisen zur Sinnlichkeit rechnet
oder ob man wie wir auch alle vorkategorialen Vergegenwärtigungs-
weisen als Verstand oder Vernunft faßt. Mit dem Gegensatz von „Sinn-
lichkeit" und „Verstand" (oder „Vernunft" - hier sind die beiden
Worte immer im weiten Sinn zu nehmen) hat die philosophische Besin-
nung seit den Griechen immer den radikalsten Unterschied in unserem
Bewußtsein zu nennen versucht. ,, Vernunft" war der Titel für das
„Höhere" in uns, und wenn man im Menschen nicht nur ein raffinierteres
Tier erblickte, sondern in ihm gegenüber dem tierischen Leben etwas
prinzipiell Neuartiges am Werke sah, so hat man dies mit dem Namen
der Vernunft bezeichnet. Diese radikale Unterscheidung war zwar immer
wieder problematisch, sie wurde z. T. auch eingeebnet, und zwar von
beiden Seiten aus, indem man entweder die Sinnlichkeit als ein bloßes
unselbständiges Moment der Vernunft oder aber umgekehrt die Vernunft
als eine bloße Spezialisation der Sinnlichkeit faßte. Aber „Sinnlichkeit
und Verstand" sind nichtsdestoweniger mindestens die Problemtitel für
das uns am tiefsten Unterscheidende geblieben. Man hat nun versucht,
Vernunft in verschiedener Weise zu bestimmen. Die in der Philosophie-
geschichte vorherrschende Bestimmung war ohne Zweifel die Bestimmung
durch den Logos, durch die Rede, wenn es auch nicht an anderen Be-
stimmungen fehlte, die etwa die Vernunft als Fähigkeit, Werkzeuge zu
schaffen, oder durch ihren moralischen Charakter zu definieren ver-

129 Siehe besonders Timaios, 30 a; 52 d - 53 c; Philebos, 23 c - 28 a, Gesetze, 896/97;


vgl. Staat IX, 587 a.
130 Siehe oben, § 27.
131 Vgl. oben, §§ 28-34.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumenologie 425

suchten. Ja, auch die Erinnerung trat in der Nachwirkung Platons zu


diesem Zwecke auf, wofür das 10. Buch der Confessiones von Augustinus
Zeugnis ablegen kann. Aber obschon die Bestimmung durch den Logos
die dominierende war (vor allem aufgrund der dominierenden Stellung,
die Aristoteles und Kant in unserer philosophischen Schultradition ein-
nehmen), darf man nun nicht einfach den Vernunft- oder Verstandes-
begriff als durch diese Bestimmung gepachtet ausgeben. Dieser Bestim-
mung gegenüber hat das geschichtliche Bewußtsein, daß es sich bei der
Vernunft im Gegensatz zur Sinnlichkeit (und in diesem Gegensatz wurde
sie schon vor Platon und dann, die ganze Philosophiegeschichte prägend,
von ihm gesehen) um das unser Leben zutiefst Unterscheidende handelt,
unbedingt den Vorrang. Wenn nun die philosophische Reflexion als das
unser Bewußtsein zutiefst Unterscheidende und allen anderen Bewußt-
seinsunterschieden Zugrundeliegende den Unterschied zwischen unmittel-
barem, bloße Gegenwart lebendem Bewußtsein und mittelbarem, in
mannigfaltigen Weisen Bewußtsein vergegenwärtigendem Bewußtsein
eruiert, dann muß sie auf diese kardinale Differenz in der Sache jene
kardinale Differenz der überlieferten Worte anwenden und kann den
Ti tel Vernunft oder Verstand im allgemeinsten und prinzipiellsten Sinne
nicht in der Beschränkung auf einen partikulären, wenn auch ohne jeden
Zweifel hervorragenden Modus des mittelbaren Bewußtseins verharren
lassen. Es handelt sich hier nicht um eine bloße terminologische Frage,
weil mit diesen Worten faktisch auch die Sache mit auf dem Spiel steht.

§ 60 Philosophische Reflexion: transzendentale Erkenntnis,


Phänomenologie, Noumenologie?

Nachdem wir im vorangehenden Paragraphen dieses Rückblickes


unseren allgemeinen Begriff des Verstandes oder der Vernunft mit dem
traditionellen Vernunftbegriff konfrontiert haben, soll jetzt auch noch,
in engem Zusammenhang damit, unsere philosophische Methodenidee,
die wir als reine Reflexion kennzeichneten, philosophiegeschichtlich ab-
gehoben werden. In erster Linie müssen wir dies gegenüber Kants
Transzendentalphilosophie und Husserls Phänomenologie tun, denn die-
se beiden Titel bezeichnen philosophische Methodenideen, denen die von
uns ins Auge gefaßte offensichtlich sehr nahe kommt, so daß ein Ver-
gleich mit ihnen für die Verdeutlichung unseres eigenen Weges zugleich
am nötigsten und fruchtbarsten sein dürfte. Es stellt sich die Frage, in-
426 Versuch einer Situierung unserer Oberlegungen in der Philosophiegeschichte

wiefern wir die von uns verantwortete philosophische Methodenidee


unter den von Kant ausgeführten Begriff der Transzendentalphilosophie,
bzw. unter Busserls Begriff der Phänomenologie stellen dürfen.
Der neue Sinn, den Kant in der Geschichte der Philosophie dem
Ausdruck „transzendental" verliehen hat, ist bekanntlich durch die
Reflexion der Vernunft auf sich selbst bestimmt. Die bloße, von der
gültigen Anwendung noch absehende allgemeine Wortbedeutung dieses
Ausdruckes, die Kant voraussetzt und aus dem damaligen philosophi-
schen Sprachgebrauch übernimmt, kann mit „unabhängig von der Er-
fahrung und damit insbesondere von den Sinnen", ,,über die Erfahrung
hinausreichend" übersetzt werden132; Der Ausdruck ist primär ein Epi-
theton zu „Begriff", ,,Urteil" oder „Erkenntnis", bezeichnet also solche
Begriffe, Urteile oder Erkenntnisse, die von der Erfahrung und damit
von den Sinnen unabhängig sein sollen. Gleich in der Einleitung zur
Kritik der reinen Vernunft und wiederholt am Anfang von deren „Tran-
szendentalen Logik" führt Kant seinen ihm eigenen Transzendental-
begriff durch die seitdem das philosophische Bewußtsein prägende Er-
klärung ein, daß nicht jede apriorische Erkenntnis mit Recht schon
transzendental genannt werden dürfe, sondern nur diejenige, die sich
mit der Möglichkeit der apriorischen Erkenntnis selbst beschäftigt133 •
Der Transzendentalbegriff soll also seine rechtmäßige Anwendung nicht
mehr in der apriorischen Erkenntnis von „Gegenständen", sondern allein
in der apriorischen Reflexion auf diese Erkenntnis finden. Die Begrün-
dung dieser „Einschränkung" der Anwendung des Transzendentalbe-
griffs gibt Kants ganze Kritik der reinen Vernunft, die zeigen will,
daß die apriorischen Formen der Sinnlichkeit und insbesondere die aprio-
rischen Begriffe und Grundsätze des Verstandes zwar nicht aus der
Erfahrung stammen, aber zu nichts anderem als zur Erfahrung, als
deren „reines Schema" (,,Antizipation der Form") dienen und deshalb
die Erfahrung nicht übersteigen, d. h. ,,nicht von transzendentalem Ge-
brauche" sein können. Die wahre transzendentale Erkenntnis, die wahre
Transzendentalphilosophie ist also nicht Erkenntnis von Gegenständen,
von Dingen, von Substanzen, sie ist nicht „Ontologie", nicht „transzen„
dentale Theologie, Kosmologie oder Psychologie",' sondern „eigentlich
eine Kritik der reinen Vernunft": ,, ... der stolze Name einer Ontologie,

182 Z.B. Kritik der reinen Vernunft, A 258 (B 313/14): transzendental = ,,außer der
Beziehung auf mögliche Erfahrung, und folglich auf Sinne überhaupt"; A 296
(B 352/53): .,von transzendentalem, d. i. über die Erfahrungsgrenze hinausreichen-
dem. Gebrauch•.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumenologie 427

welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse


a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz
der Kausalität) muß dem bescheidenen einer bloßen Analytik des reinen
Verstandes Platz machen" 134 • Der nach Kant gültige Transzendental-
begriff darf also nur die reflexive Selbsterkenntnis der Vernunft, die
reflexive Erkenntnis der in der Vernunft selbst liegenden „Regeln und
Prinzipien" sowie der sie in ihrer Anwendung bedingenden notwendigen
„Formen der Sinnlichkeit" (transzendentale Ästhetik, transzendentaler
Schematismus!) bezeichnen. Nur als „transzendentale Überlegung (re-
flexio )" 135 ist transzendentale, d. h. von der Erfahrung unabhängige
Erkenntnis möglich.
Insofern Kants Transzendentalbegriff nichts anderes als die von der
Empirie unabhängige Erkenntnis der notwendigen Momente (,,Bedin-
gungen der Möglichkeit") der Vernunft selbst, die Erkenntnis ihrer not-
wendigen Verfassung kennzeichnet, dürfen wir unser Unternehmen ohne
Zweifel unter seine Obhut stellen. Aber Kants Transzendentalbegriff
bedeutet noch mehr: Er steht nicht nur im Gegensatz zum Begriff des
Empirischen, sondern auch zum Begriff des Noumenalen. Die transzen-
dentale Erkenntnis Kants, die reine Selbsterkenntnis der Vernunft, soll
nicht empirisch, sie soll aber auch nicht noumenal sein. Nach Kant soll es
ja „für uns" überhaupt keine Erkenntnis eines Noumenon geben: der
Begriff eines Noumenon ist „bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung
der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Ge-
brauch "136. Und zwar ist nach Kant der Begriff des Noumenon nicht nur
ein Grenzbegriff (d. h. ein einschränkender Begriff) für die sinnlich-
empirische, sondern auch für die transzendentale Erkenntnis. Was bedeu-
tet diese Einschränkung der transzendentalen Erkenntnis selbst, und
worin hat sie ihren Grund?
Diese Beschränkung der transzendentalen Selbsterkenntnis der Ver-
nunft bedeutet für Kant, daß diese Erkenntnis nicht Erkenntnis einer
intelligiblen Wirklichkeit, von intelligiblem Sein an sich, sondern Er-
kenntnis von bloßem Denken ist. Sie erfaßt keine Onta (,,Dinge an
sich", ,,Substanzen"), die allein in Kants Verstande Noumena sein
könnten, sondern „nur Logisches". In diesem Sinne betont Kant vor
allem in den „Paralogismen der reinen Vernunft" unablässig, daß das

133 Kritik der reinen Vernunft, A 11/12; B 25; A 56/57 (B 80/81).


1s4 A. a. 0., A 247 (B 303).
135 A. a. 0., A 261 (B 317).
13 5 A. a. 0., A 255 (B 310/11).
428 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschid1te

Prinzip der Transzendentalphilosophie, das Ich der reinen Apperzeption,


bloß „das beständige logische Subjekt des Denkens" und nicht „das
reale Subjekt der Inhärenz" sei137 , daß ich nicht durch diese „bloße
logische qualitative Einheit des Selbstbewußtseins im Denken über-
haupt" ,,die wirkliche Einfachheit des Subjekts erkenne" 138• Das Ich
ist ein „bloßer Gedanke" 139 , wie auch das „transzendentale Objekt"
als Korrelat der Einheit der Apperzeption, das nur „die Vorstellung der
Erscheinungen unter dem Begriff eines Gegenstandes überhaupt" ist140 •
„Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, daß ich mich meiner als
denkend bewußt bin" 141 • In der transzendentalen Erkenntnis handelt
es sich also überall nur um logische Erkenntnis von „subjektiven Bedin-
gungen" oder „notwendigen Formen" des Denkens überhaupt, nicht
aber um ontologische Erkenntnis von Sein an sich oder von Noumena.
Dieses „bloß Logische des Denkens überhaupt", das die Transzen-
dentalphilosophie erkennt, ist nun nach Kant aber doch nicht ohne Be-
ziehung zur noumenalen Wirklichkeit. Zwar wollen manche Kußerun-
gen der Kritik der reinen Vernunft, besonders der ersten Auflage, das
Ich der transzendentalen Apperzeption als bloße logische Möglichkeits-
bedingung und somit selbst als bloße logische Möglichkeit (logische
Form), unabhängig von aller Wirklichkeit, eben als „bloßen Gedanken",
verstanden wissen: ,,Es ist aber nicht aus der Acht zu lasen, daß die
bloße Vorstellung I eh in Beziehung auf alle anderen ... das transzen-
dentale Bewußtsein sei. Diese Vorstellung mag nun klar (empirisches
Bewußtsein) oder dunkel sein, daran liegt hier nichts, ja nicht einmal
an der Wirklichkeit desselben; sondern die Möglichkeit der logischen
Form alles Erkenntnisses beruht notwendig auf dem Verhältnis zu die-
ser Apperzeption als einem Vermögen. " 142 Andererseits erklärt Kant
aber in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, daß der
Satz: Ich denke, ,,ein Dasein in sich schließt" 143 , ja daß „meine Existenz

137 A. a. 0., A 350.


13s A. a. 0., B 413, A 356.
139 A. a. 0., A 364.
14o A. a. 0., A 250, 253.
141 A. a. 0., B 406.
i.1 2 A. a. 0., A 117 Anm. »Der Satz: Ich denke, wird hierbei nur problematisdi genom-
men; nicht sofern es eine \-Vahrnchmung von einem Dasein enthalten mag (das
Cartesianisdic cogito, ergo sum), sondern seiner bloßen Möglidikeit nadi" (A 347
(B 405)). ,,Da nun der Satz: Ich denke (problematisch genommen), die Form eines
jeden Verstandesurteils überhaupt entlüilt und alle Kategorien als ihr Vehikel
begleitet ... " (A 348 (B 406)).
143 A. a. 0., B 418.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumcnologic 429

auch nicht aus dem Satz: Ich denke, als gefolgert angesehen werden
kann, wie Cartesius dafür hielt (weil sonst der Obersatz: alles, was
denkt, existiert, vorausgehen müßte), sondern mit ihm identisch ist" 144 •
Nach manchen Kußerungen Kants scheint es jedoch, daß es sich bei dieser
im „Ich denke" liegenden Wirklichkeit bloß um ein empirisches, nicht
aber um ein noumenales Dasein handelt: ,,Weil aber mein Dasein in
dem ersten Satze (Ich denke) als gegeben betrachtet wird, indem es
nicht heißt, ein jedes denkende Wesen existiert, sondern nur: ich existiere
denkend, so ist er empirisch. " 145 Kant führt diese Existenz auf die sinn-
liche Empfindung zurück, die im Aktus „Ich denke" als Bedingung
dessen Vollzuges enthalten ist: ,, ... ohne irgendeine empirische Vorstel-
lung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Aktus, Ich denke,
doch nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung der
Anwendung oder des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens." 146
Danach scheint also der Bezug der reinen Apperzeption zur Wirklichkeit
bloß ein notwendiger Bezug zur empirischen Existenz zu sein. Jedoch
ist dies nicht Kants letztes Wort. Die Wirklichkeit des „Ich denke" liegt
nicht nur in dessen empirischen (sinnlichen) Bedingung, sondern in ihm
selbst als Akt. Kant spricht in der zweiten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft vom „intellektuellen Bewußtsein meines Daseins in der Vor-
stellung Ich bin, welche alle meine Urteile und Verstandeshandlungen
begleitet" 147 • ,,Ich bin mir meiner selbst in der transzendentalen Syn-
thesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der
synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption bewußt, nicht
wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß
ich bin. " 148 „Das Ich denke, drückt den Aktus aus, mein Dasein zu
bestimmen. Das Dasein ist dadurch also schon gegeben ... " 149
In der transzendentalen Selbsterkenntnis der Vernunft liegt also
nach Kant ein intellektuelles (noumenales) Bewußtsein rneines Daseins,
jedoch keine noumenale Erkenntnis meines Soseins oder Wesens. Dieses
noumenale Dasein wird durch die reine Apperzeption nur „bezeichnet",
nicht aber erkannt, d. h. nicht in seinem Sosein begrifflich bestimmt: ,,Es
ist aber offenbar, daß das Subjekt der Inhärenz (die Substanz) durch

144 A. a. 0., B 422 Anm.


145 A. a. 0., B 420; ebenso 421, 422 Anm.
146 A. a. 0., B 422 Anm.; vgl. 429/30.
141 A. a. 0., B XL, Anm.
148 A. a. 0., B 157.
149 Ebenda, Anm.
430 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

das dem Gedanken anhängende Ich nur transzendental bezeichnet werde,


ohne die• mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken oder überhaupt
etwas von ihm zu kennen oder zu wissen. "150 Die transzendentale Er-
kenntnis Kants setzt also ein der Vernunft zugrundeliegendes Noumenon
als für sie selbst unbekannte und unerkennbare Wirklichkeit.
Dieser Kantischen Trennung der transzendentalen Selbsterkenntnis
vom noumenalen (intelligiblen) Sosein oder Wesen der in ihr intellektuell
bewußten noumenalen Realität (meiner selbst als „Intelligenz") liegt
letztlich Kants ausschließlich logischer Verstandesbegriff zugrunde: Un-
ser Verstand, auch der Verstand in der transzendentalen Reflexion, ver-
mag in keinem Falle bloß aus sich selbst die Wirklichkeit zu erkennen
oder zu bestimmen, weil er sie nie selbst zu geben vermag, sondern in der
bloßen logischen Funktion der begrifflichen Synthesis der ihm von der
Sinnlichkeit vorgegebenen Mannigfaltigkeit aufgeht: ,,Da nun zur Er-
kenntnis unserer selbst außer der Handlung des Denkens, die das Man-
nigfaltige einer jeden möglichen Anschauung zur Einheit der Apperzep-
tion bringt, noch eine bestimmte Art der Anschauung, dadurch dieses
Mannigfaltige gegeben wird, erforderlich ist, so ist zwar mein eigenes
Dasein nicht Erscheinung ... , aber die Bestimmung meines Daseins kann
nur der Form des inneren Sinnes gemäß nach der besonderen Art, wie
das Mannigfaltige, das ich verbinde, in der .inneren Anschauung gegeben
wird, geschehen, und ich habe also demnach keine Erkenntnis von mir
wie ich bin, sondern bloß wie ich mir selbst erscheine. Das Bewußtsein
seiner selbst ist also noch lange nicht ein Erkenntnis seiner selbst" 151 ;
,,ich existiere als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermö-
gens bewußt ist, in Ansehung des Mannigfaltigen aber, das sie verbinden
soll, einer einschränkenden Bedingung, die sie den inneren Sinn nennt,
unterworfen (ist) . . . und sich daher selbst doch nur erkennen kann,
wie sie in Absicht auf eine Anschauung (die nicht intellektuell und durch
den Verstand selbst gegeben sein kann), ihr selbst bloß erscheint, nicht
wie sie sich erkennen würde, wenn ihre Anschauung intellektuell
wäre" 152 • Kant erinnert immer wieder daran, daß unser Verstand sich
selbst seinen Gegenstand geben und in diesem Sinne nicht „bloß dis-
kursiv'' (bloß begrifflich), sondern „intuitiv" sein müßte, ,,wenn es mög-
lich sein sollte, eine reine Vernunfterkenntnis von der Natur eines den-

150 A. a, 0., A 355.


151 A. a. 0., B 158.
152 A. a. 0., B 158/9.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumenologie 431

kenden Wesens überhaupt zustande zu bringen " 153 • Nur für einen nicht
bloß begrifflichen Verstand wäre transzendentale Selbsterkenntnis zu-
gleich noumenale Selbsterkenntnis (Bestimmung eines Noumenon).
Wir haben nun oben154 gerade zu zeigen versucht, daß sich der Ver-
stand in der reinen Refiexion selbst den Gegenstand gibt, indem er das
in ihm bewußte (,,gespiegelte") Bewußtsein welcher Art immer, wo-
durch er überhaupt Verstand ist, zum Gegenstand der Betrachtung er-
hebt. Andererseits haben wir dort auch darauf hingewiesen, daß Kant
das \Y/ esen dieser Reflexion nicht zu fassen vermochte, da er, trotz seiner
Idee der reinen Apperzeption, noch im Banne von Lockes Mißdeutung
der Aktreflexion als „ Wahrnehmung durch den inneren Sinn" stand
und sich insofern die Möglichkeit entzog, die „subjektive Seite" seiner
transzendentalen Deduktion, seine Unterscheidung oder Bestimmung
verschiedener synthetischer Akte, ebenso wie die Unterscheidung von
Rezeptivität und Spontaneität überhaupt, selbst transzendental zu recht-
fertigen. Alle diese Bestimmungen sind ja, soll die Kritik der Vernunft
überhaupt sinnvoll sein, nicht phänomenal, sie können aber, wenn der
Verstand das ist, was Kant von ihm sagt, auch nicht noumenal sein,
da die reine Apperzeption nicht fähig ist, aus sich selbst Unterschiede
zu setzen, sondern „ganz leer" ist. Wenn man antwortet, diese transzen-
dentalen Bestimmungen seien nicht noumenal, sondern bloß logisch, da
sie keine Realität, sondern „bloß das Denken" beträfen, so muß man
mit Kant selbst sagen, daß „die Apperzeption etwas Reales" 155, daß
der Aktus des Denkens (die „Selbsttätigkeit") selbst wirklich und daß
daher die t,ranszendentale Bestimmung dieser Wirklichkeit Bestimmung
eines intelligiblen Seins, also eines Noumenon ist. Die angeführte Unter-
scheidung von Logischem und Ontologischem besagt hier nichts. In Wahr-·
heit ist die transzendentale Selbsterkenntnis der Vernunft Noumenolo-
gie, Erkenntnis von Wesen, aber Kant vermag dieser in seiner eigenen
Vernunftkritik sich faktisch auswirkenden Wahrheit nicht gerecht zu
werden, indem er alle reflexive Unterscheidung oder Bestimmung auf
die „Wahrnehmung durch den inneren Sinn" zurückführt. Die tiefste
Wurzel dieser Unfähigkeit, der transzendentalen Selbsterkenntnis der
Vernunft gerecht zu werden, liegt aber in Kants Auffassung des Ver-
standes als bloßer Funktion logischer Verbindung.

A. a. 0., A 382; vgl. A 256 (B 311/12); B 157 Anm.; B 406/7.


153
Im 1. Kapitel des 3. Abschnittes (§§ 44-47).
154
m Kritik der reinen Vernunft, B 419.
432 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

Wenn wir Kants scheinhafte Beschränkung der transzendentalen


Selbsterkenntnis der Vernunft durchdringen, indem wir sie in ihrer
Wahrheit als Noumenologie fassen, bedeutet dies aber keineswegs, daß
wir zur Doktrin derjenigen „rationalen" oder „transzendentalen" Psy-
chologie zurückkehren, die Kant als „Paralogismen der reinen Vernunft"
kritisiert und gegen die er den bloß „logischen" Charakter des „Ich den-
ke" hervorhebt. Kants Kritik, daß die Einheit des Ich nicht die Einheit
einer von der Körperlichkeit unabhängigen, rein spirituellen Substanz
(die res cogitans Descartes'), sondern die Einheit der immer durch die
Sinnlichkeit bedingten Verstandestätigkeit (des „Denkens") bedeutet, hat
auch für uns volle Giiltigkeit. Auch die Cartesianische Zweifelsbetrach-
tung gegenüber der äußeren körperlichen Welt vermag die Vernunft
nicht gegenüber ihrem internen (immanenten) sinnlich-leiblichen Funda-
ment zu verselbständigen. Descartes hat, wie Kant sagt, die Vernunft
„paralogisch" mißdeutet. Aber die immer in der Sinnlichkeit fundierte
Vernunft ist nichtsdestoweniger in dieser Fundierung selbst Gegenstand
der transzendentalen und sie in ihrem wirklichen Wesen erfassenden
noumenalen Reflexion. Also nur eine Folgerung dieser Kritik Kants
können wir nicht nachvollziehen: ,, Wenn ich mit dem intellel:ctuellen
Bewußtsein meines Daseins in der Vorstellung Ich bin, welche alle
meine Urteile und Verstandeshandlungen begleitet, zugleich eine Be-
stimmung meines Daseins durch intellektuelle Anschauung verbinden
könnte, so wäre zu derselben das Bewußtsein eines Verhältnisses zu
etwas außer mir nicht notwendig gehörig. " 156 Kant sagt also: gäbe es
eine intellektuelle Bestimmung meines Daseins als Intelligenz (als eines
Vernunftwesens), dann hätte Descartes mit seiner Auffassung der Ver-.
nunft als einer gegenüber der sinnlichen Realität selbständigen „Seele"
recht. Demgegenüber haben wir darauf hingewiesen, daß die reine Re-
flexion nicht nur die vorphilosophische Vernunft, sondern auch sich
selbst als wesensmäßig in der Sinnlichkeit fundiert bestimmt. Aber auch
wenn die reine Reflexion immer auf dem Boden sinnlicher Gegenwart
(z.B. im unmittelbaren Bewußtsein dieses Zimmers hier) geschieht, be-
deutet dies nicht, daß ihr thematischer Gegenstand, das vom Verstand
,,gespiegelte" unmittelbare oder mittelbare Bewußtsein, von der Sinn-
lichkeit vorgegeben ist 157 •
Was Kant der transzendentalen Reflexion abspricht: die einen Ge-
genstand selbst gebende Anschauung, billigt Busserl ihr nicht nur zu,

1so A. a. 0., B XL, Anm.


Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumenologie 433

sondern er erteilt ihr die denkbar beste, reinste Anschauung und erhebt
diese zu ihrem methodologischen Prinzip und zu ihrem Kriterium und
Vorzug gegenüber aller anderen Erkenntnis. Aufgrund ihrer reinen An-
schaulichkeit trägt Busserls transzendentale Reflexion den Titel: reine
Phänomenologie. ,,Die Phänomenologie ist nun in der Tat eine rein
deskriptive, das Feld des transzendentalen Bewußtseins in der puren
Intuition durchforschende Disziplin. " 158 „Phänomenologie" als Metho-
dentitel bedeutet die Bindung an das ansd?au.lich Gegebene, und ihre
Reinheit bezeichnet die in ihr vollzogene Reinigung des anschaulich
Gegebenen durch die Ausschaltung aller über die anschauliche Gegeben-
heit hinausmeinenden „transzendenten Intentionen" (,,Apperzeptionen",
„Deutungen") und die dadurch ermöglichte rein immanente Erfassung
des „reinen Phänomens" als reine oder absolute Gegebenheit. Solche
reine Phänomene oder absolute Gegebenheiten sind prinzipiell nur die
durch rein immanente Anschauung gegebenen Erlebnisse als intentionale
Akte des transzendentalen Bewußtseins mit ihren reellen und inten-
tionalen Gehalten. ,,Mit Rücksicht darauf, daß auch jederlei Erlebnisse ..
zu Gegenständen reflektiver, innerer Anschauung werden können, heißen
dann alle Erlebnisse in der Erlebniseinheit eines Ich ,Phänomene': Phä-
nomenologie besagt demgemäß die Lehre von den Erlebnissen überhaupt
und, darin beschlossen, auch von allen in Erlebnissen evident ausweis-
baren, nicht nur reellen, sondern auch intentionalen Gegebenheiten. Die
reine Phänomenologie ist dann die Wesenslehre von den ,reinen Phä-
nomenen', denen des ,reinen Bewußtseins' eines ,reinen Ich' - das ist,
sie stellt sich nicht auf den durch transzendente Apperzeption gegebenen
Boden der physischen und animalischen, also psychophysischen Natur,
sie vollzieht keinerlei Erfahrungssetzung und Urteilssetzung, die sich
auf bewußtseinstranszendente Gegenstände beziehen ... Vielmehr nimmt
sie alle über die Gegebenheiten adäquater, rein immanenter Intuition
(also über den reinen Erlebnisstrom) hinausmeinenden Apperzeptionen
und Urteilssetzungen rein als die Erlebnisse, die sie in sich selbst sind,
und unterzieht sie einer rein immanenten, rein ,deskriptiven' Wesens-
erforschung. " 159
Reine oder transzendentale Reflexion gibt ihren Gegenstand, den im
sinnlichen Aktus fundierten Aktus der Vernunft, selbst; dies haben wir

157 Vgl. oben, §§ 10, 18, 44.


158 Ideen I, Husserliana III, S. 102.
159 Logische Untersuchungen, 2. Auflage, 2. Band, 2. Teil, S. 235/36 (Zuatz der
2. Auflage von 1921).
434 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

gegenüber Kant festgestellt. Ist sie aber deshalb Anschauung eines „rei-
nen Phänomens", wie Busserl sagt? Anschauung, wenigstens ursprüng-
liche Anschauung, ist Anschauung von unmittelbar Anwesendem; m. a.
W., ,,Anschauung" im prägnanten Sinne ist Wahrnehmung, und „Phä-
nomen" bedeutet schon in der griechischen Philosophie das Korrelat der
Wahrnehmung. Dies gilt durchaus auch für Busserl. Transzendentale
Anschauung im prägnanten Sinne ist für ihn rein immanente Wahr-
nehmung. Wir sahen nun aber einerseits, daß reine Aktreflexion, die
Vergegenständlichung (Thematisierung) des im mittelbaren Bewußtsein
vergegenwärtigten (,,gespiegelten") unmittelbaren oder mittelbaren Be-
wußtseins, prinzipiell nicht unmittelbar Anwesendes, sondern Abwesen-
des gibt, daß sie also prinzipiell nicht Wahrnehmung ist160 , und daß
andererseits Busserls Auffassung der Aktreflexion von Lock.es Miß-
deutung der Reflexion als innere Wahrnehmung beherrscht wird161 •
Busserls Bezeichnung der reinen Reflexion der intentionalen Akte als
,,reine Phänomenologie" ist, über Brentano, von dieser Lockeschen Miß-
deutung motiviert und belastet. Wenn wir deutlich sprechen sollen,
müssen wir sagen: Busserls wirklich vollzogene Bewußtseinsanalyse
(Aktanalyse) ist nicht Phänomenologie, sie ist vielmehr, wie die tran-
szendentale Reflexion Kants, in Wahrheit Noumenologie. Die rein re-
flexive Gegenstandsgebung (die reine Aktreflexion) kann nicht im eigent-
lichen Sinne als Anschauung und dementsprechend ihr Gegenstand nicht
als Phänomen bezeichnet werden.
In der zweiten Auflage der sechsten Logischen Untersuchung (1921)
erklärt Busserl selbst, daß der „ursprüngliche Begriff der Erscheinung"
oder des Phänomens 162 „der angeschaute (erscheinende) Gegenstand, und
zwar als derjenige, welcher hie et nunc erscheint, z. B. diese Lampe als
das, was sie dieser eben vollzogenen Wahrnehmung gilt", sei 163 • Schon
in einer Vorlesung von 1909 führte er aus: ,,Einerseits heißt Phänomen
(im Sinne der Phänomenologie immer verstanden) die jeweilige reelle
cogitatio, das reelle Bewußtsein, und fürs zweite aber auch der inten-
tionale Inhalt des Bewußtseins, das in der betreffenden Wahrnehmung,
Vorstellung, Meinung Gemeinte, Wahrgenommene, Vorgestellte als sol-
ches. Dem eigentlichen Wortsinn besser entspricht der zweite Begriff

100 Oben, § 44.


161 Oben, § 45.
162 „Erscheinung" und „Phänomen" werden hier von Husserl als synonym betrachtet
(siehe a. a. 0., S. 233, 244).
163 A. a. 0., S. 235 und 234.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumenologie 435

von Phänomen. Es ist eben das cpmv6µ1wov, das, was erscheint, und
erweitert, das Gemeinte, auch das unanschaulich Gedachte, als· solches,
abgesehen aber von Wirklichkeit oder Un~irklichkeit. So sprechen wit
im gewöhnlichen Leben davon1 es sei der Regenbogen nichts Wirkliches,
sondern bloß Erscheinung, oder es sei ein im Stereoskopbild, ein im
Kunstwerk Dargestelltes ein bloßes Phänomen, eine bloße Erscheinung.
Erscheinung ist also hier das Erscheinende als solches; freilich wird man
nicht jedes Gemeinte als solches im gewöhnlichen Leben als Erscheinung
bezeichnen, z.B. ein Gedachtes, aber nicht Angeschautes. Es liegt also
eine sehr starke Extension des Ausdrucks vor, wenn wir in der Phä-
nomenologie unter dem Titel Phänomen auch Gedachtes als solches
befassen. " 164 "In meinen Logischen Untersuchungen habe ich bei der
Rede von Phänomenologie immer an die Akte gedacht und sie als Wis-
senschaft von den Akten in rein immanenter Betrachtung verstan-
den. " 165 Gegenüber diesem Phänomenbegriff der Logischen Untersuchun-
gen bringt Husserl immer stärker auch jenen anderen Phänomenbegriff
zur Geltung, dem gemäß Phänomen nicht der reflektierte Akt, sondern
das Erscheinende als Erscheinendes, der intentionale Gegenstand im Wie
seiner Gegebenheit oder der »noematische Sinn"166, ist. Das eigentliche
Phänomen in diesem Sinne ist das Erfahrene im Wie seines mannig-
faltigen wahrnehmungsmäßigen Erscheinens, z. B. dieses wahrgenom-
mene Gefäß im Wandel seiner verschiedenen Erscheinungs- oder Ge-
gebenheitsweisen (von verschiedenen Seiten, von nah und fern, von
innen und außen, in verschiedener Beleuchtung, immer in kontinuier-
lichen oder diskontinuierlichen Übergängen, bald nur visuell oder auch
haptisch und akustisch usw.). Husserl hat denn auch während einiger
Jahre versucht, den intentionalen Akt, die cogitatio, bzw. die Akt-
analyse, von diesem eigentlichen Phänomen begrifflich abzuheben: ~ Wo
eine scharfe Bezeichnung des Phänomens im Sinne des Aktes selbst
nötig ist, als des Bewußtseins, dem etwas erscheint, werden wir von
Phansis sprechen, und jede reelle Analyse von Bewußtsein scharf poin-
tieren als phansiologische Analyse. "167

m Husserliana X, S. 336.
185 A. a. 0., S. 337.
188 Vgl. Ideen I, Husserliana III, S. 226.
187 Husserliana X, S. 336/7. Vgl. auch a. a. 0., S. 370 Anm. (Zusatz vom Sommer-
semester 1909). Auch in den Manuskripten F I 23 (1908/9) und F I 17 (Sommer-
semester 1909) gebraucht Husserl diesen Terminus „Phansis" bzw. ,,phansiologisch".
Noch im Sommersemester 1912 erklärt er: ,,Ich pflege für jede Feststellung der
reellen Bestandstücke eines Phänomens den Ausdruck ,phansiologische' zu gebrau~
436 Versuch einer Situierung unserer Überlegungen in der Philosophiegeschichte

Reflexive Aktanalyse ist richtig verstanden nicht Phänomenologie.


Daher scheint es angezeigt, den Titel „Phänomenologie" an dem nach
Busserls eigener Meinung „eigentlichen Wortsinn" von „Phänomen",
am „ursprünglichen Begriff der Erscheinung" zu orientieren. Wenn man
sich an diesen Phänomenbegriff hält, ergibt sich eine in gewissem Sinne
,,objektive" Phänomenologie, die nicht vom reinen Ich und seinen Akten,
sondern von den wahrnehmungsmäßigen Erscheinungs- oder Gegeben-
hei tsweisen (,,Perspektiven", ,,Farbabschattungen" etc.) der Erfahrungs-
gegenstände spricht. Es ist auch schon von verschiedenen Phänomenolo-
gen (vor allem von A. Gurwitsch und J. Patocka) die Idee einer solchen
„subjektlosen", rein „noematischen" Phänomenologie als selbständigen
Disziplin aus Busserls Phänomenologie herausgebildet worden. Busserl
hatte bereits selbst eine solche „Grammatik" der Erscheinungen in wei-
ten Bereichen aufs subtilste ausgeführt, wenn er auch immer die Akt-
analyse als das Zentrum seiner phänomenologischen Philosophie be-
trachtete.
Es ist wohl auch nicht notwendig oder fruchtbar, mit Busserl noch
innerhalb des eigentlichen (,,noematischen") Phänomenbegri:ffs die „sehr
starke Extension" (wie er sagt) vom Erscheinenden als solchen auf das
Gedachte als solches vorzunehmen. Mit den Strukturen des Gedachten
als solchen im weiten Sinne der Bedeutung (,,reference" und „meaning"J
von Sätzen, Satzteilen und Satzzusammenhängen beschäftigt sich die
logische oder sprachtheoretische Semantik, und es gibt kein sachliches
:Motiv, auch hier von „Phänomenologie" zu sprechen, wenn auch Phäno-
menologie und Semantik insofern eine gewisse Verwandtschaft aufwei-
sen und Parallelisierungen nahelegen, als es beide sozusagen mit „objek-
tiven" (d. h., nicht akthaften), aber primär nicht gegenständlichen (the-
matischen) ,,Medien" zu tun haben, in denen „Seiendes" bewußt wird168 •
Doch darf die Differenz zwischen diesem phänomenalen (wahrneh-
mungsmäßigen) und kategorialen „Medium" nicht verwischt werden.
Phänomenologie im angedeuteten Sinne hat es aber keineswegs nur mit
dem intentionalen Korrelat der bloßen Sinnlichkeit (des unmittelbaren

chen, ich nenne nämlich die cogitatio selbst, sofern sie als ganzes reelles Bestand-
stück angesehen ist, Phansis. Jede auf nicht reelle Komponenten gerid1tetc Unter-
sudnmg nannte ich früher ontisch." (B II 19, S. 48 b). Seit den Ideen I (1912/13)
hat Busserl den Gegensatz von (eigentlichem) Phänomen und Phansis termino-
logisch durch den Gegensatz Noema-Noesis ersetzt und folglich „Phänomen"
hauptsächlich im weiten, aber uneigentlichen, Noema und Noesis umfassenden
Sinn verwendet.
168 Vgl. oben im § 7 unsere Ausführungen iibcr die wesentlich sekundären Gegenstände.
Transzendentale Erkenntnis, Phänomenologie, Noumcnologie 437

Bewußtseins) zu tun, sondern sie bewegt sich beständig in der Differenz


zwischen dem Identischen, das erscheint, und seinen mannigfaltigen
Erscheinungen, einer Differenz, die erst im Verstande, wenn auch nicht
erst im Logos, aufbricht.
Der Phänomenologie im Sinne einer Wissenschaft nicht von erschei-
nenden Gegenständen, sondern von erscheinenden Gegenständen als
erscheinenden, d. h. vom Erscheinen dieser Gegenstände, wäre so ein
einheitliches und dem Sinne des Wortes Phänomen entsprechendes For-
schungsgebiet zugeordnet. Auch die empirisd1en Naturwissenschaften er-
forschen Phänomene, aber sie erforschen sie nicht als solche, sondern
das Erscheinen bleibt als Medium „diesseits" ihres Blickes, bzw. ihre
Tendenz geht darauf, die objektive Natur, abgesehen vom Erscheinen,
zu bestimmen. Sie können daher nicht eigentlich als Phänomenologie
bezeichnet werden. Es ist ein besonderes Interesse, das sich dem Erschei-
nen zuwendet, ein Interesse, das zuerst wohl in der Kunst wach wurde.
Das Erscheinende als solches ist so das „Ksthetische" im doppelten, und
doch wieder einheitlichen Sinn dieses Wortes: einerseits das Künstle-
rische, andererseits das Erfahrene in seinen Wahrnehmungserscheinun-
gen. So kann etwa das visuell Erscheinende in seinem „Scheinen" gera-
dezu „das Malerische" genannt werden. Phänomenologie und Kunst ist
dieses Interesse am anschaulichen Erscheinen, bzw. das „Desinteresse"
an der erscheinenden objektiven Natur (,,Realität") gemeinsam.
Phänomenologie im angedeuteten Sinne ist in sich noch nicht Philo-
sophie, ebensowenig wie die Logik und allgemeine Sprachtheorie, da man
durch sie nicht erfährt, was Vernunft ist. Aber diese Wissenschaften sind
für die Philosophie im besonderen Maße relevant, da die von ihnen
reflektierten „Medien" der Vernunfttätigkeit diese direkt indizieren.
Aber erst die reine Reflexion erfaßt diese Tätigkeit, und diese Reflexion
ist nicht mehr Phänomenologie, sondern Noumenologie. Der Ausdruck
„Noumenologie" bezeichnet wohl in ursprünglichster Weise die Methode
der reinen Philosophie, sowohl sachlich wie philosophiegeschichtlich,
denn als solche wurde sie schon in ihrer Stiftung durch Sokrates-Platon
zur Geltung gebracht.
Register

Namenregister

Alston, W. P.: 179 ff. 121, 123-157, 194 ff., 250 ff., 288 f.,
Anaxagoras: 362 f. 289, 292, 327, 333-341, 365, 425 f.,
Aristoteles: 8, 65, 136, 203, 210, 213 432 ff.
bis 216, 223, 226, 232, 250, 278 ff., Ingarden, R.: 40
306, 314 f., 327, 328, 329, 331-333,
398 ff., 423, 425 Jaeger, W.: 328,413
Augustinus: 425 Kambartel, Fr.: 382, 383
Austin, J. L.: 179 ff., 289, 385 ff. Kamlah, W.: 171, 189, 381 ff.,
Ayer, A. J.: 289 Kant: 4, 5, 5-6, 8, 9, 32 f., 37 f., 44 f.,
Berkeley: 254, 319 46, 60, 67, 70, 78, 79-91, 97 ff., 106,
Brentano, Fr.: 102, 434 124, 212, 217 f., 219-227, 229, 245,
Bühler, K.: ·107 248, 254 ff., 278, 280 f., 286 ff., 296,
Buytendijk, F. J. J.: 25 f., 119 319 f., 327, 333, 340, 365, 381, 391,
397 f., 423, 423 f., 425, 426 ff.
Cantin, St.: 412 Katz, J. J.: 190
Carnap, R.: 6 Krämer, H. J.: 308 f.
Claesges, U.: 43, 145 Leibniz: 45, 46 f., 90, 91, 116 f., 253 f.,
Descartes: 33, 90, 250, 315-317, 352 f., 281, 283, 298, 300, 304,. 314, 315, 317,
364,432 317 f., 328, 353-362
Di!they, W.: 9, 157 Linschoten, J.: 105, 119
Locke: 71, 90, 248, 250, 258, 266, 317 f.,
Eugster, K.: 157 431, 434
Fichte: 266 Lorenzen, P.: 171,189,381 ff.
della Francesca, Piero: 22 Mansion, A.: 331, 413
Freud, S.: 27 f., 231, 234-239, 267-272 Marbach, E.: 157
Goethe: 166 Martinet, A.: 190
Gohlke P.: 412 Marx, K.: 365
Goldstein, K.: 119 Merleau-Ponty, M.: 25, 119, 122, 133
Gurwitsch, A.: 436 de Montpellier, G.: 25
Mugnier, R.: 412
Hegel: 119 f., 266, 306, 341-353, 354,
364, 380, 381, 397 Natorp, P.: 154
Heidegger, M.: 9-10, 96, 170, 341 Nuyens, F.: 403
Helmholtz: 108 Patocka, J.: 436
Hempel, C. G.: 6/7 Piaget, J.: 29
Henrich, D.: 65, 262, 344 Platon: 4, 7-8, 14 ff., 90, 136, 191, 292,
Heraklit: 379 301-314, 327, 328-331, 333, 362 ff.,
Husserl, E.: 10, 24, 33-35, 36-44, 60 f., 388 ff., 408, 416 ff., 423 f.
62 f., 79, 90, 93 f., 99 ff., 108, 112, 117, Plessner, H.: 25 f.
440 N amcnregister

Quine, W. V. 0.: 177, 178 Thcunissen, M.: 351


Thomas v. Aquin: 353, 412
Robinet, A.: 359
Tin bergen, N.: 122
Ross, W. D.: 412
Titchener, E. B.: 24
Ryle, G.: 266, 377, 384, 387
Tolman, E. C.: 25
de Saussure, F.: 190
Tricot, J.: 412
Scheler, M.: 25 da Vinci, Leonardo: 22
Schelling: 266, 333, 371
Searle, J. R.: 177, 179 ff., 385, 393, 395 Watson, J. B.: 25
von Weizsäcker, V.: 25
Seid!, H.: 398
Wittgenstein, L.: 170, 191 ff., 266, 292,
Siwek, P.: 412
377, 379, 380, 384
Sokrates: 17, 282, 362, 387
Wundt, W.: 24
Spinoza: 352
Strawson, P. F.: 177, 178, 385, 393 ff.

Sachregister

Allgemeinheit: 77 f., 117, 186 f., 197 ff., Erscheinung: 22 f., 109 ff., 434 f.
293, 322 f. Erscheinungslehre (Phänomenologie): 22 f.,
Anschauung: 59 ff., 202 ff., 434 436 f.
Anthropologie: 223, 363 Erste (reine) und Zweite (empirische)
Antizipation (mittelbare Erwartung, ,,Vor- Philosophie: 50, 223, 232, 238 f., 267,
aus-Erinnerung", ,,Vorausholung"): 73 270, 271 f., 320 ff., 328 ff., 368
Assoziation: 115 ff., 369, 371, 405, 409. Ethik als Zweite (empirische) Philosophie:
222 f., 325
Beantwortungsmethode der Philosophie
Ethische Kultur: 208 ff.; ethische Haltung
(= Wesenserkenntnis): 7, 17,273ff.
(ethische Gesinnung, habituelle Aus-
Bedeutung, sprachliche: 185 ff.
richtung): 210 ff., 238; ethische Kultur
Begriffsbildung, philosophische: 284,
und gesellschaftliche Moral: 238
289 ff., 376 ff.
Freiheit: 212 f.
Bewußtsein: 49, 92 f., 226,246, 267:ff., 374,
376 ff.; unmittelbares, sinnliches Be- Fundament (negative Bedingung): 367
wußtsein: 58, 93, 122 f., 144 f.; mit- Fundamentalmethode der Philosophie
telbares Bewußtsein (Bewußtsein von (= reine Reflexion): 5, 7, 10 ff., 243,
Bewußtsein, Selbstbewußtsein): 56 f., 350
245 f., 253, siehe auch Ich; ,,Ur-
Geburt: 223
sprünge" oder Prinzipien des Bewußt-
Gegenwärtigung, Gegenwart: 58 f., 91 ff.
seins: 365-373; Bewußtsein und
Geist, objektiver: 371, siehe auch Kultur
Raum: 43 f.; Bewußtsein und Zeit:
(geistige, objektive).
37 ff.
Geschichte: 323 ff., 342 f., 368
Bildbewußtscin (Bild): 73, 164 ff.
Geschichtlichkeit (als Wesenszug der Ver-
Dialektik Platons: 302 ff. nunft): 324, 368
Eigennamen: 176 f. Glückseligkeit (Eudaimonie): 224 ff.
Einbildung: siehe Phantasie Horizont: 121
Einbildungskraft, Kantische: 78, 82 ff.,
111 Ich: 65 ff., 122 f., 151 ff., 230 f., 234 ff.,
Empfindung: 92, 103 ff. 321 f., 340, 424
Entgegenwärtigung: 57 f., 193 Identifikation, Identität: 62 ff., 77, 98 ff.,
Erinnerung (Wiedererinnerung): 72,102 f., 118 ff., 127 ff.
116 f., 274,399, 404 ff. Individuum: 178 f.
Register 441

Institution der Vernunft in der Sinnlich- reine Reflexion): 24, 29 ff., 74, 143,
keit ( = geistige Kultur): 162, 370 f. 245 ff.; reine, philosophische Refiexion:
Intelligenz: 29 31 ff., 234, 245 ff., 272, 374, 378 ff.,
In tercsse: 223 f. 431 f., 433 f., siehe auch Aktreflexion;
Introspektion: siehe Wahrnehmung, in- reine Reflexion und Wesenserkenntnis:
nere 284 ff.
Reflexionsbegriff, reiner ( = W esensbe-
Kultur (= Vernunft im engeren Sinne);
griff): 291 ff., 314,320
sinnliche und geistige Kultur: 158 ff.,
Reflexionsgegenstände, wesentliche: 22 ff.
208; subjektive und objektive Kultur:
Reflexivität, allgemeine: 56 f., 71, 146,
228 ff.; Ursprungsechtheit der Kultur:
245, 255
370 ff.
Rekognition, vorsprachlid1e, von Indivi-
Leib: 47, 121 f., 153 f., 370 duen und Allgemeinem (Wiedererken-
Maieutik: 12 nen): 77 f., 186, 197 f., 201 ff., 207 f.
Modalisierung: 75 ff., 146 ff., 172 ff., Reproduktion: 72 f., 99
182 ff. Retention: 96, 98 ff., 251

Noumenologie: 431 ff. Satz: 172 ff., 366; Protosatz (primitivster


Noumenon: 7, 43,285 ff., 296,301, 427ff. Satz): 174 f., 186
Seins begriffe: 64 f.
Objektivität: 64, 193 Sekundäre Gegenstände: siehe Reflexions-
Original, intentionales: 367 gegenstände, wesentliche
Person, subjektive und objektive: 68, Selbstbewegung: 43 ff., 97, 104 ff., 108,
230 ff. 115
Persönlichkeit ( = subjektive Kultur): Selbstgegebenheit: 109 f., 114
230 ff. Sinn, innerer: siehe Wahrnehmung, innere
Perspektivität: 109 ff. Sinn: Gesamtsinn, Erscheinungssinn:
Phänomenologie: siehe Erscheinungslehre 114 f.; vitaler oder zentraler Sinn:
Phänomen: 31 ff., 48, 434 f., siehe auch 109 f., 114 f.
Erscheinung Sinnlichkeit: 58, 91-157, 423 f.; smn-
Phantasie (Einbildung), unmittelbare und liches Subjekt: 121 f., 234 ff.; sinn-
mittelbare (freie): 48, 73,111,401 f. lid1e Tätigkeit: 48; sinnliches Umfeld:
Philosophie, ihre Grundverfassung: 120 f., 171, 228 f.; im Verstand aufge-
327 ff., siehe auch Erste (reine) und hobene Sinnlichkeit: 60, 163, 213, 214;
Zweite (empirische) Philosophie Sinnlichkeit in Vernunftfunktion:
Positivität, unmittelbare, sinnliche: 76, 159 ff., 168, 368 f., 370; Sinnlichkeit in
147 f. der ethischen Kultur: 210 f., 219 ff.
Potentialität (sinnliches Können): 109 ff., Spiegelung: siehe Reflexivität, allgemeine
117, 120 f. Spiel: 166 ff.
Prädikat (Verbalphrase): 172 ff. Sprache und Sprechhandlung: 171 ff.,
Prä phänomenal: 43 179 ff., siehe auch „wortloses Denken",
Protention (unmittelbare Erwartung, Vor- S. 194 ff.; urtümliche Situationssprache
ausspannung): 93 ff., 116, 251 (ohne Unterschied von Eigennamen
Psychoanalyse: 26 ff., 169, 234 ff., 266 ff. und allgemeinen Namen): 177; pri-
Psychologie: 24 ff. vate Sprache: 189 ff., 380; gewöhn-
liche Sprache und Philosophie: 290 ff.,
Raum, phänomenaler und transzenden-
374 ff.; Sprache der Philosophie:
taler: 43 ff., 48, 97, 104, 108; sinn-
374 ff.
licher und objektiver Raum: 109, 118
Subjektausdruck (Nominalphrase) : 174 ff.,
Reduktion, philosophische: 16 f., 32 ff., 367
247 Synthesis: 127 ff.
Reflexion: 21 ff., 74 ff.; ,,natürliche" Re-
flexion: 21 ff.; Aktreflexion (in sich Tätigkeit: 92 f., 248, 267 ff., 376 f.
442 Sachregister

Telos: 368 81 ff., 397 f., 430, bei Hegel: 343 ff.,
Theoria (bloß "schauender" Verstand): 397, bei Busserl 124 ff.
213 ff. Vernunfthandlung, reine ( = reine Re-
Tod: 227, 323, 339 flexion): 5, 7, 10, 12 f., 247
Tradition: bloße Tradition: 369 ff.; echte Vernunfttätigkeit als nicht erscheinende,
Vernunfttradition: 373 sondern als noumenale Gegebenheit:
Transzendental: 43, 46, 47; transzendental 2 f., 4, 28, 246 f., 431 f.
im Kantischen Sinn: 426 ff. Verstand im weiteren Sinn = Vernunft
Transzendentale Interpretation: 49 ff., im weiteren Sinn (siehe dort); Ver-
325, 329, 337, 347, 358 stand im engeren Sinn: 55, 56 ff., 69,
Transzendenz (objektive, verstandes- 78, 158, 212, 213 ff.; Verstand und
mäßige, ideale): 62 ff.; ,,Transzen- Anschauung: 59 f.; Verstandesformen:
denz" in der Sinnlichkeit: 113 69 ff., 399
Traum: 59, 76
Typus (sinnliche Typik): 77, 117 f., 200, Wahrnehmung: 104 ff., 114 f., 142 f.
292 f. Wahrnehmung, innere: 108, 248 ff., 272
Wesen (Eidos) und Wesenserkenntnis:
Unbewußtes: 266 ff.
264, 274 ff., 299, 321 f., 366, 397
Urmodus: 366
Wiedererkennen: siehe Reproduktion
Vergegenwärtigung: 57 f., 277 Wiederholung: bloße oder gerade Wie-
Vernunft: im weiteren Sinn = Verstand derholung: 72 f; oblique Wiederho-
im weiteren Sinn, im Gegensatz zur lung: 73 ff.
Sinnlichkeit: 55, 158, 193, 342 f., Zeichen, eigentliche und uneigentliche:
353 f., 362 ff., 397 ff., 423 f.; Vernunft 169 ff.
im engeren Sinn = Kultur: 55, 158 ff., Zeigen: 119, 170 f., 175 f.
213, 217, 221, 370 ff.; Vernunft als Zeit: phänomenale und transzendentale:
Faktum, in ihrer Geschichte: 222, 231, 36 ff., 93 ff.; objektive Zeit: 64
323 ff., 342, 368 ff., siehe auch Erste Zirkel: hermeneutischer: 9 f.; Zirkel in
und Zweite Philosophie; Vernunft als der philosophischen Fundamentalme-
bloße Tradition (als sekundäre Sinnlich- thode: 10
keit): 201, 238,372; absolute Vernunft Zugangsmethode der Philosophie: siehe
(,,Gott"): 342 ff., 357, 361, 362 f.; Fundamentalmethode
Vernunft bei Platon: 363 f., 416 ff., bei Zweite Philosophie: siehe Erste und
Aristoteles: 398 ff., bei Kant: 70 f., Zweite Philosophie

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