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K LOST ER M A N N

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PHILOSOPHISCHE ABHANDLUNGEN
HERAUSGEGEBEN VON ROLF-PETER HORSTMANN,
ANDREAS KEMMERLING UND TOBIAS ROSEFELDT

BAND 116

VITTORIO KLOSTERMANN · FRANKFURT AM MAIN

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STEFAN SCHICK

Die Legitimität der Aufklärung

Selbstbestimmung der Vernunft


bei Immanuel Kant und
Friedrich Heinrich Jacobi

VITTORIO KLOSTERMANN · FRANKFURT AM MAIN

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der
Alexander von Humboldt-Stiftung.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind
im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Vittorio Klostermann GmbH Frankfurt am Main 2019


Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung.
Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem
photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung
elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. ISO 9706
Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISSN 0175-6508
ISBN 978-3-465-04392-8

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Für meine Augensterne Ludwig Leopold, Elise Amalia
und Rosa Margarethe
VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2018 von der Philo-


sophischen Fakultät der Universität Regensburg als Habilitationsschrift
angenommen. Sie stellt eine gekürzte Fassung der ursprünglichen Habi-
litationsschrift dar.

An dieser Stelle soll nun all denjenigen gedankt werden, die an der Ent-
stehung dieses Buches wesentlichen Anteil hatten:
Zunächst möchte ich meinem langjährigen und verehrten Lehrer Prof.
Dr. Rolf Schönberger danken, der meinen akademischen Werdegang und
die Entstehung dieser Schrift mit unerschöpflicher Geduld begleitet hat.
Meinem „zweiten Lehrer“ und geschätzten Freund, Prof. Dr. Stephan
Grotz, der nicht nur diese Arbeit, sondern meine gesamte philosophi-
sche Entwicklung in zahllosen Gesprächen geprägt hat, bin ich zu tiefs-
tem Dank verpflichtet.
Prof. Dr. Rémi Brague und Prof. Dr. Christoph Meinel sei dafür ge-
dankt, dass sie das gesamte Habilitationsverfahren als Mentoren begleitet
haben.
Prof. Dr. Anton Friedrich Koch und Prof. Dr. Henning Tegtmeyer,
die freundlicherweise als Gutachter der doch sehr umfänglichen Schrift
übernommen haben, möchte ich für ihre anregenden sowie lehr- und ge-
dankenreichen Gutachten danken.
Prof. Dr. Sally Sedgwick, Prof. Dr. Rachel Zuckert und Prof. Dr. Kat-
rin Gierhake haben mir in ihren Schriften und in unseren Gesprächen
nicht nur Augenöffnendes zur Philosophie Immanuel Kants vermittelt,
sondern auch vorgeführt, wie man Gedanken auf klare und verständliche
Weise zu Papier bringt.
Herrn Vittorio Klostermann und seinen Mitarbeitern danke ich nicht
nur für die Aufnahme dieses Buches in ihr Verlagsprogramm, sondern
auch für die freundliche und hilfreiche Unterstützung bei der Erstellung
des Manuskripts. Mein besonderer Dank gilt dabei Frau Marion Juhas
und Frau Anastasia Urban. Den Reihenherausgebern Prof. Dr. Andreas
Kemmerling, Prof. Dr. Rolf-Peter Horstmann und Prof Dr. Tobias
Rosefeldt danke ich für die Aufnahme in die von ihnen herausgegebene
Reihe und ihre Vorschläge zur Überarbeitung des ursprünglichen Manu-
skripts, die wesentlich zur Lesbarkeit dieser Arbeit beigetragen haben.
viii Vorwort

Meinen lieben Freunden und Kollegen Andrea Baier, Karl Breuer,


Andreas Eidenschink, Simon Färber und Kevin Renner schulde ich für
ihre unermüdlichen Korrekturarbeiten aufrichtigen Dank.
Der Alexander von Humboldt-Stiftung danke ich für die freundliche
Gewährung eines Feodor Lynen-Stipendiums, das mir von 2014 bis 2016
einen Aufenthalt an der University of Illinois at Chicago und der
Northwestern University ermöglichte und damit diese Schrift wesentlich
beförderte.
Mein größter Dank gilt freilich meiner Familie, vor allem den großar-
tigsten Kindern der Welt Ludwig, Elise und Rosa, insbesondere aber
meiner Frau Sabine, deren Liebe und Freundschaft mein Leben und We-
ben nun schon seit zwanzig Jahren bereichert.
INHALT

Einleitung ...................................................................................................... 1

TEIL 1: AUFKLÄRUNG – EIN DIALEKTISCHES PROJEKT?

KAPITEL 1: DIE DIALEKTIKEN DER DEUTSCHEN


SPÄTAUFKLÄRUNG 16

KAPITEL 2: GRUNDLEGUNG EINER JEDEN KÜNFTIGEN


PHILOSOPHIE, DIE ALS AUFKLÄRUNG WILL
AUFTRETEN KÖNNEN 23

A. Dialektik der Aufklärung ...................................................................... 25


I. Versuch, die Pflicht autonomen Vernunftgebrauchs in die
Philosophie einzuführen ............................................................................ 25
II. Der Skandal der Aufklärung und der philosophischen Vernunft . 29
B. Das transzendentale Aufklärungsprojekt ............................................. 38
I. Grundlegung eines ewigen Friedens in der Philosophie .................. 38
II. Die ursprüngliche Einsicht, die alle älteren Formen von
Aufklärung überflüssig macht ............................................................... 41
C. Hermeneutische Probleme .................................................................... 44
I. Die Unmöglichkeit spekulativer Universalaufklärung .................... 44
II. Die Notwendigkeit praktischer Universalaufklärung .................... 47

KAPITEL 3: JACOBI UND DIE DIALEKTIK


DER AUFKLÄRUNG 50

A. Von der Analytik der Macht zum herrschaftsfreien Diskurs............. 51


B. Die Dialektische Geschichte der Vernunft........................................... 56
I. Die Ordnung der Zeichen: Archäologie der instrumentellen
Vernunft .................................................................................................. 56
II. Die Selbstentmachtung der Vernunft .............................................. 60
C. Jacobis andere Aufklärung .................................................................... 65
I. Kant und Jacobi im Disput über die andere Aufklärung ................. 66
II. Vom spekulativen Karfreitag zum Ostersonntag der Aufklärung 67
x Inhalt

TEIL 2: AUFKLÄRUNG ALS KOSMOPOLITISCHES PROJEKT

KAPITEL 1: KRITIK DER AUFGEKLÄRTEN


VERNUNFT 78

A. Das Unrecht der Aufklärung ................................................................ 83


B. Das Recht der Aufklärung..................................................................... 85
C. Die Aufklärung im Recht ...................................................................... 93

KAPITEL 2: AUFKLÄRUNG ALS WELTBÜRGERLICHE


URTEILSPRAXIS 100

A. Der Zusammenhang von Autonomie und kosmo-


politischem Vernunftgebrauch ................................................................ 103
I. Synthetische Erkenntnisurteile a priori als weltbürgerlicher
Vernunftgebrauch ..................................................................................... 103
II. Moralische Urteile als weltbürgerlicher Vernunftgebrauch ........ 104
III. Das Recht ....................................................................................... 111
a. Der Zusammenhang von Freiheit und Zwang im
weltbürgerlichen Recht............................................................ 111
b. Der Zusammenhang von Freiheit, Öffentlichkeit und
Aufklärung im Recht ............................................................... 116
B. Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch ........ 122
I. Aufklärung als öffentlicher Vernunftgebrauch .............................. 122
II. Die Maxime der erweiterten Denkungsart .................................... 127
C. Die Minimalbedingungen des weltbürgerlichen Vernunft-
gebrauchs ................................................................................................... 132
I. Die apriorischen Rahmenbedingungen publikabler Urteile.......... 133
II. Die Vernunftideen als Orientierungspunkte für den
Aufklärungsdiskurs .............................................................................. 144
D. Reflektierende Urteilskraft und weltbürgerliche Kommunikation. 149
I. Die systematisierende Funktion der reflektierenden Urteilskraft 152
II. Die ästhetische Funktion der reflektierenden Urteilskraft .......... 157
a. Der Status ästhetischer Urteile ........................................ 158
b. Die Legitimität reiner Geschmacksurteile ..................... 161
c. Die Relevanz des ästhetischen Urteils für den
Aufklärungsdiskurs ............................................................. 168
III. Kants Anerkennung der Bedingtheit des Aufklärungssubjekts . 171
a. Reine Vernunft und conditio humana ............................ 172
Inhalt xi

b. Gesellschaftliche Kultivierung, Zivilisierung und


Moralisierung ....................................................................... 178
c. Geschichte als Gegenstand theoretischer Aufklärung .. 181
E. Die reinen Voraussetzungen des autonomen Verstandesgebrauchs 186
I. Reines Selbstbewusstsein .................................................................. 187
II. Noumenales Selbst .......................................................................... 191
III. Intelligibler Charakter ................................................................... 198
a. Die noumenale Charakterwahl ....................................... 199
b. Das radikale Böse ............................................................. 202
c. Aufklärung und Revolution ............................................ 206

KAPITEL 3: PERSONALE VERNUNFT ALS GRUNDLAGE


EINER ANDEREN AUFKLÄRUNG 210

A. Jacobis Kant-Kritik.............................................................................. 211


I. Ichheit ohne Selbst ............................................................................ 211
II. Moralität ohne Zweck ..................................................................... 222
B. Die Personalität der Vernunft ............................................................. 231
I. Individualität als Fundamentalgefühl von Personen ...................... 232
a. Individualität als Substanz der Vernunft ........................ 233
b. Der Salto mortale ............................................................. 238
II. Freiheit als personale Selbstbestimmung ....................................... 243
a. positive und negative Freiheit ......................................... 246
b. Metaphysische Freiheit.................................................... 250
C. Die Momente personaler Vernunft .................................................... 264
I. Die Momente personalen Bewusstseins bei Jacobi ........................ 264
II. Die Interpersonalität der Vernunft ................................................ 273
D. Historische Aufklärung ...................................................................... 281
I. Der Geist der Zeiten ......................................................................... 281
II. Hermeneutische Aufklärung .......................................................... 286
E. Das Individuum im Recht ................................................................... 295
I. Das Interesse der Freiheit als Legitimation staatlichen Zwangs ... 297
II. Kritik der repressiven Vernunft ..................................................... 302
xii Inhalt

TEIL 3: AUFKLÄRUNG UND RELIGION

KAPITEL 1: ZWISCHEN KRITIK UND


ANERKENNUNG 315

KAPITEL 2: PRAKTISCHER GLAUBE BEI


KANT UND JACOBI 326

A. Der Glaube der Praxis bei Kant ......................................................... 326


I. Die Idee Gottes in der Praxis des Erkennens ................................. 327
a. Gott als der transzendente Grund des menschlichen
Verstandesgebrauchs ........................................................... 327
b. Die Autonomisierung des bestimmenden
Verstandesgebrauchs ........................................................... 331
c. Der teleologische Gebrauch der Idee Gottes................. 336
II. Der Primat des Praktischen für die Idee Gottes ........................... 343
a. Die praktische Realität des Gottesbegriffs ..................... 345
b. Die praktische Bestimmtheit des Gottesbegriffs........... 358
c. Die Unbedingtheit der Moral ......................................... 362
III. Die Idee Gottes in der Praxis religiöser Hoffnung ..................... 367
a. Religiöser Glaube als moralisch gerechtfertigte
Hoffnung .............................................................................. 368
b. Der Gegenstand der Hoffnung....................................... 377
c. Der religiöse Charakter der Hoffnung ........................... 386
B. Die Praxis des Glaubens bei Jacobi .................................................... 393
I. Alle rationale Erkenntnis ruht auf dem Grunde des Glaubens..... 394
II. Die objektive Realität der Verstandesbegriffe............................... 403
a. Grund und Ursache ......................................................... 405
b. Wirklichkeit ..................................................................... 413
III. Glaube als Bewusstsein der Freiheit ............................................. 416
IV. Die Transzendierung der Subjektivität ........................................ 425

KAPITEL 3: RELIGION BEI KANT


UND JACOBI 435

A. Kant ...................................................................................................... 435


I. Kants Auseinandersetzung mit den Inhalten des
Kirchenglaubens ................................................................................... 439
Inhalt xiii

a. Die Autonomisierung des Kirchenglaubens .................. 439


b. Kirchenglaube als Symbol ............................................... 446
II. Aufklärung der religiösen Lebensform.......................................... 455
a. Kirchenglauben als Vehikel ............................................. 456
b. Kirchenglauben als Organon .......................................... 460

B. Jacobi ..................................................................................................... 470


I. Zwischen religiösem Idealismus und Materialismus ...................... 471
II. Die innere Offenbarung in der Personalität .................................. 475
III. Die Offenbarung im Handeln....................................................... 482
IV. Jacobis Vermittlung von religiösem und aufgeklärtem
Bewusstsein ........................................................................................... 487

Schluss ........................................................................................................ 493

Abkürzungen ............................................................................................ 496


Literaturverzeichnis .................................................................................. 500
Autoren der Aufklärungszeit ......................................................... 500
Autoren des 19. bis 21. Jahrhunderts ............................................. 507
Personenregister ........................................................................................ 530
Einleitung

Ziel dieser Untersuchung ist es, die Legitimität des Projekts der Aufklä-
rung anhand seiner unterschiedlichen Realisierung in den Philosophien
Immanuel Kants und Friedrich Heinrich Jacobis zu rechtfertigen. Dieses
Projekt, so die These, besteht in der Verwirklichung vernünftiger Selbst-
bestimmung,1 die von Kant und Jacobi in diametral entgegengesetzter
Weise gefasst wird.2 Für beide gemeinsam ist die Vernunft jedoch nicht
nur Subjekt, sondern zugleich Objekt der freien Selbstbestimmung. Die
Operationen der Vernunft sollen dementsprechend nur durch Prinzipien
bestimmt sein, die der Einzelne sich selbst zuschreiben kann. Nur auf
Grundlage der Realisierung einer auf diese Weise selbstbestimmten Ver-
nunft kann sich die freie Lebensführung des Menschen realisieren.
Dabei versteht Kant diese Selbstbestimmung als Autonomie, das heißt
als Unterwerfung des Individuums unter universal gültige Gesetze, die
es sich als vernünftiges Subjekt selbst gibt.3 Für Kant besteht so ein sub-
stantieller Zusammenhang zwischen dem kategorischen Imperativ und
der Freiheit des Willens: Will sich der autonome Wille nicht selbst zer-
stören, so muss er sich einem zwar selbst gegebenen, aber dennoch für
jedes vernünftige Wesen gültigen Gesetz unterwerfen.4 Freiheit der Ver-
nunft bedeutet dementsprechend die Unterwerfung des Menschen in
seinen Urteilen und Handlungen unter die und ausschließlich die Geset-
ze, die er sich durch seine Vernunft selbst gegeben hat. In dieser theore-
tischen und praktischen Selbstgesetzgebung besteht nach Kant die be-
sondere Würde und auch Bestimmung des Menschen.5

1
Vgl. hierzu auch Recki 2006, 19f.
2
Damit sollen zentrale Ideen und Prozesse der Aufklärung wie das Ideal der Toleranz
(Forst 2003, 352), der „Säkularisierungsprozeß des Denkens“ (Cassirer 2007, 101) und die
damit verbundene Religionskritik (Todorov 2009, 6; Schalk 1971, 623f.; Schnädelbach
2006, 332f.), der Gedanke, dass mit dem unaufhaltsamen Fortschritt und der Ausbreitung
der Aufklärung auch Tugend, Freiheit und Menschenrechte triumphieren würden (Con-
dorcet 1968, 20f.; Hirschel 1793, 57), die Forderung nach politischer Selbstbestimmung,
sowie die Aufwertung des naturwissenschaftlichen Denkens nicht marginalisiert werden.
Vielmehr wird zu zeigen versucht, dass diese Ideen in enger Verbindung zur Idee ver-
nünftiger Selbstbestimmung stehen.
3
GMS AA 4, 440; Ameriks 2000b, 4.
4
Guyer 2000, 56. „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, son-
dern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um des willen allererst
dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen
werden muß.“ (GMS AA 4, 431.)
5
GMS AA 4, 436; Brandt 2007, 17; O’Neill 1992b, 299; Ameriks 2000b, 3.
2 Einleitung

Freiheit und vernünftige Selbstbestimmung in ihrer metaphysischen,


ethischen, rechtlichen und politischen Dimension bilden auch das Zent-
ralproblem von Jacobis Denken und ihre Realisierung ist für ihn das Ziel
wahrer Aufklärung.6 Im Gegensatz zu Kant identifiziert Jacobi Freiheit
jedoch mit individueller personaler Selbstbestimmung. Die Vernunft ist
dabei niemals unbedingt oder rein, sondern immer schon als persönliche
Vernunft individualisiert und durch Geschichte, Sozialisation und Bio-
graphie konkretisiert.7 Diese Differenz begründet beider unterschiedli-
che Konzeption von Aufklärung.
Jacobi und Kant sind als Exponenten der Aufklärung gerade deshalb
von besonderem Interesse, da beide dasselbe Projekt vernünftiger
Selbstbestimmung durch Aufklärung verfolgen, dabei allerdings von di-
ametral entgegengesetzten Voraussetzungen ausgehen. Für Kant ist die
Grundlage der Aufklärung die Menschheit in jeder Person,8 für Jacobi
hingegen gerade die Person in ihrer individuellen Bestimmtheit. Nichts-
destotrotz koinzidiert ihre Idee von Aufklärung im Ziel der Befreiung
des Menschen zur Freiheit der Vernunft. Mit ihren opponierenden Aus-
gangskonzeptionen versuchen beide Denker dabei die Krise der Aufklä-
rung, in die selbige zu ihrer Zeit gerade in Deutschland geraten war, zu
bewältigen und das Projekt der Aufklärung zu retten. Diese Krise anti-
zipiert bereits sämtliche gegenwärtigen Delegitimierungsversuche der
Aufklärung. In der Analyse der Realisierungen des Projekts der Aufklä-
rung durch Kant und Jacobi versucht die vorliegende Studie deshalb das
neuzeitliche Aufklärungsprojekt aus zwei unterschiedlichen Perspekti-
ven gegen die Kritik zu re-legitimieren, der dieses sich heute ausgesetzt
sieht. Hierbei seien zu Anfang fünf wesentliche Einwände skizziert:
1. Die Dialektik der Aufklärung: Nach Horkheimer und Adorno
führte die Vollendung der Aufklärung nicht zur Humanisierung und Be-
freiung des Menschen, sondern in die Barbarei des Nationalsozialismus.
Letztere sei kein unerklärlicher Störfall innerhalb des europäischen Auf-
klärungsprozesses, der sich selbst als das Herausarbeiten des Menschen
aus der Barbarei verstand, 9 sondern dessen konsequente Realisierung.
Denn die Aufklärung selbst habe in ihrem Voranschreiten Freiheit und
Vernunft als Momente eben jenes Mythos enthüllt, den sie überwinden

6
FB JW 5,1, 403; Etwas JW 4,1, 321f.; FB WW VI, 197; Herms 1976, 126–134.
7
Dementsprechend beginnt Jacobi sowohl in seinen Schriften als auch seinen Briefen
philosophische Erörterungen immer wieder mit Darstellungen seiner Persönlichkeit. Vgl.
etwa: Spin1 JW 1,1, 13; DH1 JW 2,1, 39–42.
8
Menschheit bei Kant meint nach Gerhardt „die ideale Gesamtheit aller menschlichen
Gattungswesen“ (Gerhardt 2009, 277).
9
Vgl. etwa Riem 1974, 29.
Einleitung 3

wollte, um menschliche Vernunft und Freiheit zu verwirklichen. Der


Realisierungsprozess der Aufklärung sei deshalb zugleich der „Selbst-
zerstörungsprozeß der Aufklärung“.10 Losgelöst vom jeweiligen histori-
schen Kontext verstehen Horkheimer und Adorno Aufklärung dabei als
jede Form philosophischen Denkens, das im Gegensatz zum Mythos
nach begründeter und universell kommunizierbarer Erkenntnis strebt.11
In diesem Prozess sei jeder Mythos, insofern er kritisch einen älteren
Mythos verdränge, selbst bereits Aufklärung und jede ältere Aufklärung
werde für die neuere Aufklärung wiederum zum Mythos. Zuletzt müsse
sich auch die Aufklärung selbst als jenen Mythos durchschauen, den sie
zu zerstören suche, und sich damit selbst zerstören,12 indem ihre „totali-
tär[e]“13 und vernichtende Kritik noch die sie selbst fundierenden Begrif-
fe von Autonomie, nicht instrumenteller Vernunft, Freiheit, Wahrheit,
Subjektivität und Humanität als „animistischen Zauber“ demaskiere und
Vernunft und Denken auf einen automatischen Prozess reduziere, der
sich gegenüber jeglichem inhaltlich bestimmten Ziel neutral verhalte.14
2. Ideologiekritik: Die Berufung der Aufklärung auf eine universell
geltende Vernunft ist insbesondere bei postmodernen Autoren wie Fou-
cault und Lyotard in den Verdacht geraten, ihrerseits eine bloße Herr-
schaftsideologie zu sein. Denn sie ignoriere die vielfältigen psychischen,
historischen und sozialen Bedingungen, die bestimmen, was für das je-
weilige konkrete geistige Subjekt eine rationale Begründung von Über-
zeugungen und Normen darstelle.15 Mit der Behauptung einer sprach-,
geschichts-, kultur- und geschlechtsneutralen universellen Vernunft
durch die Aufklärung würde in Wahrheit nur die Rationalitätsform des
weißen, männlichen Europäers absolut gesetzt und sämtliche andere
Formen von Rationalität delegitimiert. 16 Durch die Verbindung von
Vernunft und Freiheit werde dann zugleich die Unterdrückung abwei-
chender Formen menschlicher Selbstbestimmung unter dem Vorwand
legitimiert, die wahre Selbstbestimmung des Menschen zu befördern. In
Wirklichkeit intendiere die Aufklärung jedoch nicht die universelle
menschliche Selbstbestimmung, sondern die Privilegierung der eigenen
Lebensgestaltung und daraus resultierend Ungerechtigkeiten wie Sexis-
mus, Imperialismus, kulturellen Chauvinismus und Rassismus.17 Die Be-
10
Habermas 1988, 130.
11
Horkheimer/Adorno 1988, 4; Horkheimer 1989, 571.
12
Horkheimer/Adorno 1988, 1.
13
Horkheimer/Adorno 1988, 12.
14
Horkheimer/Adorno 1988, 17; 10; 89f.; 95; 31f.; 37.
15
Siehe auch Horkheimer 1988, 166f.
16
Vgl. hierzu etwa: Bronner 2004, 17; Flax 1992; Garrard 2006, 14; 102f.
17
Fleischacker 2013, 1.
4 Einleitung

rufung der Aufklärung auf eine universelle Vernunft sei so in Wahrheit


nur ihr maskierter Wille zur Macht.18 Der Vernunftdiskurs der Aufklä-
rung solle diejenigen ausgrenzen, die sich nicht dem Aufklärungsideal
eines durch ihre Rationalität kontrollierten sozialen und privaten Lebens
anpassen wollen.19 Da Aufklärung in dieser Weise die Entfaltung wahrer
menschlicher Selbstbestimmung verhindere, erfordere die eigentliche Be-
freiung aller Menschen gerade eine Kritik der aufklärerischen, universa-
listischen Vernunftkonzeption. 20 Der okzidentale Terror der Aufklä-
rung, der alle ihm fremden Formen von Rationalität und Selbstbestim-
mung als primitiv, unterentwickelt oder autoritär diskreditiere,21 müsse
durch die Anerkennung der Diversität inkommensurabler Praktiken von
Rationalität ersetzt werden.22
3. Die Einebnung des Religiösen: Die religionskritische Forderung der
Aufklärung, religiöse Überzeugungen und Normen müssten entweder
ganz zurückgewiesen werden oder sich durch Vernunftgründe rechtfer-
tigen, wird von einigen Wittgensteinianern als „Mangel an Sensibilität
für den Charakter religiösen Glaubens“ 23 abgelehnt. Eine religiöse
Sprachpraxis sei ein Sprachspiel sui generis mit einer für sich betrachtet
wohlgeformten Grammatik und Semantik, die jedoch durch die Über-
setzung in das Sprachspiel des Aufklärungsdiskurses entstellt würde. Die
religiöse Sprache einer bestimmten Gemeinschaft könne deshalb gar
nicht in die Sprache der aufgeklärten Vernunft übersetzt werden.24 So
könnten religiöse Überzeugungen und Praktiken auch nicht im Medium
einer aufgeklärten Vernunft kritisiert werden, sondern müssten als Prak-
tiken und Überzeugungen sui generis anerkannt werden.25
4. Die Kritik des Subjekts der Aufklärung: Die aufklärerische Kon-
zeption des Menschen als rein vernünftiges Subjekt sei als Resultat der
Abstraktion von wesentlichen Bestimmungen des konkreten Individu-

18
Himmelfarb 2008, 4; Habermas 1988, 7; 71; Porter 2001, xxf.
19
Morgenstern 2000, 364.
20
Lyotard 1984, xxiiif.; Habermas 1988, 7.
21
Lyotard 1984, 27.
22
Lyotard 1984, 26; 63f.; 66; xxiv; 15; 23f.
23
Phillips 2000, 258.
24
Phillips 2000, 258f.
25
Ausgangspunkt für dieses Argument ist Wittgensteins Behauptung der Inkommen-
surabilität bestimmter Sprachspiele vor dem Hintergrund divergierender „Weltbilder“:
Da jedes Weltbild seine eigene Grammatik hat, die festlegt, was überhaupt ein Argument
ist, können Argumente nur vor dem Hintergrund homogener Weltbilder überzeugen. An-
sonsten könne man den anderen nur zur Annahme des eigenen Weltbilds und des eigenen
Sprachspiels überreden (Wittgenstein 1984, 171; 185). Eigentlich liegt hier nach Wittgens-
tein nur noch die Bekämpfung eines Sprachspiels durch ein anderes vor (ibid., 243).
Einleitung 5

ums wie seiner Emotionalität und seiner Einbindung in historische und


kulturelle Kontexte eine Fiktion der Aufklärung.
5. Historisierung der Aufklärung: Im Unterschied zu den bisher skiz-
zierten Aufklärungskritiken, die nicht immer auf einer profunden Aus-
einandersetzung mit der historischen Aufklärung basieren, 26 sondern
diese mit der Moderne als solcher oder bestimmten ihrer Aspekte identi-
fizieren, hebt das Gros der gegenwärtigen Aufklärungshistoriker eher
die intrinsische Diversität der historischen Aufklärung hervor.27 Statt der
Aufklärung gebe es eine Vielzahl an Aufklärungen, die durch eine Plura-
lität grundsätzlich voneinander abweichender Strömungen geprägt seien
und nur auf Grund einer gewissen „Familienähnlichkeit“ unter dem Be-
griff „Aufklärung“ subsumiert würden. 28 So wichtig diese historische
Differenzierung gerade in der Auseinandersetzung mit undifferenzierten
Kritiken der Aufklärung ist, so delegitimiert auch sie das Projekt der
Aufklärung implizit dadurch, dass sie die Aufklärung ihrerseits auf ein
historisches Phänomen der europäischen Ideengeschichte reduziert.
Diese Kritikpunkte sollen im Folgenden durch unsere Analyse des
Projekts der Aufklärung bei Kant und Jacobi entkräftet werden. Damit
schließen wir uns denjenigen zeitgenössischen Autoren an, die wie Jür-
gen Habermas die Aufklärung als ein Projekt verstehen, das es auch heu-
te noch fortzusetzen gilt.29 Anders als diese Autoren versuchen wir je-
doch, das Potential des ursprünglichen Aufklärungsprojekts anhand sei-
ner historischen Realisierung bei Kant und Jacobi zu rekonstruieren.
Beider Konzeptionen von Aufklärung sind deshalb von besonderer
Relevanz für die Einschätzung heutiger Kritiken an der Aufklärung, weil
sie bereits Antworten auf Problemkonstellationen und Krisen der um die
Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden deutschen Spätaufklärung dar-
stellen, die in späteren Diagnosen einer Krise der Aufklärung häufig nur
wiederholt werden. Denn die deutsche Spätaufklärung besitzt im Ver-
gleich zur französischen und britischen sowie der früheren deutschen
Aufklärung zunächst zwar nur ein eher geringes Innovationspotenzial,30
zeichnet sich dafür allerdings durch ein in anderen Aufklärungsformati-
onen so nicht vorhandenes reflexives Bewusstsein für die Probleme und
Aporien der Aufklärung aus. Damit lassen sich die Auflösungen dieser

26
Van Bunge 2014, 125; Outram 2013, 5; Schmidt 2000, 735; 738f.
27
Hinske 1990, 68.
28
Vgl. hierzu: Pocock 2003, 105; Outram 2013, 7; Nadler 2002, 289; Gerrard 2006, 7f.
29
Vgl. etwa Albert 2006, 369; Foucault 2005a, 699; Brandom 2004, 2; 5; Bahr 1988, 99;
Wood 1999, 1.
30
Vgl. hierzu: Israel 2002, 20; Porter 2001, 2; Gay 1995, 4; Schneiders 1983, 28; Mittel-
strass 1970, 85; Himmelfarb 2008, 5. Dagegen: Kondylis 2002, 538.
6 Einleitung

Probleme durch Kant und Jacobi bereits als Antworten auf spätere Auf-
klärungskritiken lesen. Mit Kant und Jacobi, so die These, lässt sich die
Aufklärung deshalb auf zwei „ihre[r] selbstkritischen Höhepunkt[e] dis-
kutier[en]“,31 deren Potential es immer noch auszuschöpfen gilt.
In Kant zugleich eine Grenz- und Vollendungsgestalt der philosophi-
schen Aufklärung zu sehen, hat sowohl bei Kritikern als auch bei Apo-
logeten der Aufklärung eine lange Tradition.32 Für Kants Zeitgenossen
wie Nicolai und Mendelssohn stellt Kants Philosophie hingegen weniger
eine Vollendung als vielmehr eine Provokation der Aufklärung dar.33 So
stellt bereits Cassirer fest, dass Kants Vollendung der Aufklärung für
selbige „zugleich ihr Ende, ihre Überwindung durch ein neues Prinzip
und eine neue Problemstellung bedeutete.“34 Wir wollen deshalb im Fol-
genden Kant zwar nicht als die Vollendungsgestalt der Aufklärung ver-
stehen, jedoch als eine in ihrem philosophischen Potential immer noch
nicht ausgeschöpfte vollendete Realisierungsform von Aufklärung.
Als Alternative stellen wir der Aufklärung Kants die Philosophie Ja-
cobis als Vollendung einer anderen Aufklärung entgegen. Dies bedarf
einer gewissen Rechtfertigung. Denn im Gegensatz zu Kant gilt Jacobi in
weiten Teilen der Aufklärungsforschung immer noch als Aufklärungs-
kritiker, der dem vermeintlichen Atheismus, Fatalismus und Nihilismus
rationalen Denkens einen „Salto mortale“35 in den Abgrund seiner Glau-
bensphilosophie empfiehlt und deshalb der Gegenaufklärung zuzurech-
nen ist.36 In diesem Sinne verstanden bereits viele zeitgenössische Auf-
klärer Jacobis später öffentlich gemachte Mitteilung an Mendelssohn, ihr
gemeinsamer Freund Lessing habe sich kurz vor seinem Tod in einem
Gespräch mit Jacobi zur Philosophie des damals als Atheisten verschrie-
nen Spinoza bekannt.37 Verbunden mit Jacobis Behauptung, alle konse-

31
Höffe 2004, 16 (allerdings nur in Bezug auf Kant).
32
Vgl. etwa Cassirer 2009; Wood 1999, 1; ders. 2008a, 3; Scholz 2009, 30. Zur Entwick-
lung von Kants Bestimmung von Aufklärung als Selbstdenken und Autonomie vgl. Krei-
mendahl 2009, 124; 128f.; 133; Henrich 2008, 56; NTH AA 1, 357; Refl 1482 AA 15,2,
673.
33
Nicolai 1995, 281f.; 343f.; vgl. hierzu auch Schneiders 1983, 28; Recki 2006, 18; Vier-
haus 1977, 43.
34
Cassirer 2007, 139.
35
Spin1 JW 1,1, 20.
36
Vgl. u. a. Beiser 1987, 46f.; 77f.; 87ff.; Garrard 2006, 2. Heines und Schlegels Klassifi-
kation Jacobis als Irrationalist und Vernunfthasser (Heine 1979, 62; KFSA 8, 442; KFSA,
2, 72; KFSA 12, 294f.) sollte heute weitgehend als überwunden gelten (Sandkaulen 2000;
Schick 2006; Franks 2005, 96; 195; 214; di Giovanni 1994).
37
Spin1 JW 1,1, 8; 16ff.; 34; 41.
Einleitung 7

quente Aufklärung resultiere zuletzt in einem solchen Spinozismus, 38


wurde dies als Versuch verstanden, mit Lessing die gesamte Aufklärung
als notwendig atheistisch zu diskreditieren und an ihre Stelle ein christli-
ches Glaubensbekenntnis setzen zu wollen.39 Vor dem Hintergrund die-
ser Debatte wird auch in der Forschung häufig Jacobis tiefe Verwurze-
lung in der Aufklärung übersehen. Diese manifestiert sich sowohl in sei-
ner umfangreichen Korrespondenz als auch in seiner Biographie. 40
Philosophisch schätzt und rezipiert Jacobi Aufklärer wie Montesquieu,
Voltaire, Rousseau, Ferguson, d’Alembert und zunächst auch Mendels-
sohn, dessen Phädon er 1771 ins Französische zu übersetzen plant.41
Entsprechend ist auch Jacobis Denken in positiver Weise von den
Ideen und Idealen der Aufklärung durchdrungen, etwa dem englischen
Wirtschaftsliberalismus, der säkularen Begründung der Moral und der
Forderung nach politischer Selbstbestimmung. 42 So verteidigt er die
Aufklärung vehement gegen Gegenströmungen wie die Empfindsamkeit,
den Geniekult des Sturm und Drang und die politischen und intellektu-
ellen Restaurationsversuche eines Rehberg.43 Anders als viele seiner Zeit-
genossen sieht Jacobi jedoch, dass die größte Gefahr für die Aufklärung
von einer Aufklärung ausgeht, die er als Verrat am Ideal menschlicher
Selbstbestimmung versteht. 44 So sehen dezidierte Kenner Jacobis wie
Birgit Sandkaulen in Jacobi zu Recht einen Aufklärungskritiker, der wie
Kant an seinen Zeitgenossen nicht deren zu viel, sondern „zu wenig“ an
Aufklärung kritisiert und seine „andere Aufklärung“ als Alternative so-
wohl zu diesen gescheiterten Aufklärungsprojekten als auch zur Gegen-
Aufklärung etablieren will.45

38
Spin1 JW 1,1, 120. Der spekulative Atheismus Spinozas bedeutet für Jacobi nur, dass
Spinozas System keinen lebendigen, persönlichen oder moralischen Gott zulässt (Spin1
JW 1,1, 120f.; VSpin3 JW 1,1, 346). Im moralisch relevanten Sinne ist Spinoza (genauso wie
Lessing) für Jacobi hingegen kein Gottesleugner (WMB JW 1,1, 313).
39
Vgl. etwa: Schmidt 2011, 47; Lord 2011, 23; Zammito 1992, 229. Dagegen: Timm
1971, 63.
40
Vgl. DH1 JW 2,1, 40–42; JW 4,1, 199–205; JB 1,1, 216f.; 159; 162; Götz 2008; Herms
1976, 126–134.
41
Vgl. hierzu: JW 4,1, 410; 362; JB 1,1, 20ff.; 32; 47; 62ff.; 73ff.; 115; JB 1,3, 101; JB 1,8,
350; JB 1,10, 28.
42
JB 1,1, 118; JB 1,4, 250; UGG JW 5,1, 347. Vgl.: Beiser 1992, 138f.; Homann 1973,
74; Frank 1998, 73.
43
WW VI, 187; JW 7,1, 197; JB 1,1, 127; JB 1,2, 355f.; JB 1,9, 129f.; JB 1,8, 232; Götz
2008, 96–101; Vollhardt 1994, 82; Timm 1974, 179. Dagegen: Pinkard 2002, 91.
44
Allwill JW 6,1, 88f.; JNa I, 361.
45
Sandkaulen 2000, 39; 135; vgl. auch Homann 1973, 69; Hindrichs 2006, 113; 116; Bei-
ser 1992, 139.
8 Einleitung

Dabei ist die Entwicklung von Jacobis „anderer Aufklärung“ zutiefst


von seiner Rezeption des zwanzig Jahre älteren Kant geprägt, die in ihrer
Intensität nur mit Jacobis Auseinandersetzung mit Spinoza vergleichbar
ist.46 Er rezipiert nicht nur die kantische Transzendentalphilosophie vor
dem Hintergrund seines Spinoza-Verständnisses,47 sondern sieht umge-
kehrt durch den vorkritischen Kant des Einzig möglichen Beweisgrun-
des seine Auffassung von Spinozas Gottesbegriff als absoluter Position
bestätigt: Das absolute Sein ist keine Eigenschaft, sondern Träger bzw.
die Setzung aller Eigenschaften.48 Trotz seines zeitlebens sehr kritischen
Verhältnisses zur Transzendentalphilosophie beruft sich Jacobi zudem
für seine Behauptung von der Notwendigkeit des Glaubens an Gott und
Freiheit auf Kant. Kant gründe mit ihm „den Glauben an Gott auf das
factum der Causalität menschlicher Vernunft“ und wisse ohne die un-
mittelbare Voraussetzung der Freiheit kein Mittel gegen den Spinozis-
mus.49 So bezeichnet sich Jacobi auch als den „einzige[n] Antikantianer
meiner Art“, der „verglichen mit den andern Gegnern dieser Schule“
„selbst Kantianer“ sei.50
Aber auch die Entwicklung von Kants Projekt der Aufklärung ver-
dankt dessen Auseinandersetzung mit Jacobi doch mehr, als es gemäß
dem Gros der Forschungsliteratur zunächst den Anschein haben mag.
Das Verhältnis Kants zu Jacobi ist dabei zuweilen durch Kants Stellung-
nahme in WDO zum Spinozastreit zwischen Mendelssohn und Jacobi
verfremdet.51 Diese wird nicht zuletzt dadurch provoziert, dass Jacobi
Kants transzendentale Ästhetik und Apperzeption einerseits spinozis-
tisch interpretiert,52 andererseits sich zur Rechtfertigung seines eigenen
Glaubensbegriffs auf Kants Vernunftglauben beruft. Nachdem bereits
Mendelssohn selbst versucht hatte, Kant in seinen Streit mit Jacobi hin-
einzuziehen,53 erhofft sich auch Biester von Kant eine „gründliche lehr-
reiche Zurechtweisung“ der Schwärmerei Jacobis aus der Perspektive der

46
Jacobis Auseinandersetzung mit dem kritischen Kant erstreckt sich nachweisbar über
einen Zeitraum von 33 Jahren (1782 – 1815). Seine erste vollständige Lektüre von Kants
KrV erfolgt allerdings erst im Winter 1785, also nach der Publikation seines Briefwechsels
mit Mendelssohn (Epistel JW 2,1, 128).
47
Vgl. hierzu Sandkaulen 2000, 48.
48
DH1 JW 2,1, 42–47; JB 1,1, 121; Koch 2013, 40.
49
Brief an Kleuker vom 13. 10. 1788 JB 1,8, 72f. Dagegen: Müller-Lauter 1975, 130.
50
Einl JW 2,1, 350. Vgl. hierzu auch Jacobis Brief an Kant vom 16.11.1789 AA 11, 102.
51
Vgl. etwa Neiman 1994, 106; 148;153; 155f.
52
Spin1 JW 1,1, 96; 99; 105; vgl. hierzu: KrV A 25; B 39; A 31f./47f.; Longuenesse 1998,
214f.
53
Brief von Mendelssohn am 16.10.1785 AA 10, 413f.
Einleitung 9

kritischen Philosophie. 54 Kant nimmt Jacobi zunächst jedoch nur als


leichtgewichtigen Antipoden seiner eigenen Aufklärungsphilosophie
wahr, dessen „affectirte Genieschwärmerey“ „kaum einer ernstlichen
Wiederlegung werth“ wäre.55 In WDO spricht sich Kant dann jedoch
sehr deutlich gegen Jacobis vermeintliche Gefühlsphilosophie aus, die
durch ihre „kruden Berufungen auf den Glauben“ die Anstrengungen
der Aufklärung unterwandere. 56 Entgegen Kants einziger publizierter
Stellungnahme zu Jacobi dürfte sich jedoch sowohl Kants genauere Be-
stimmung des Vernunftglaubens in KpV als auch seine Auseinanderset-
zung mit dem Spinozismus nicht zuletzt dem Einfluss Jacobis verdan-
ken. Jacobis Gleichsetzung von Kants Transzendentalphilosophie und
Spinozismus zwingt Kant außerdem, seine eigene Philosophie als Alter-
native zwischen fatalistischem Rationalismus und Fideismus zu etablie-
ren.57
1789 kommt es so auch zu einem kurzen Briefwechsel zwischen Kant
und Jacobi, in dem Kant zunächst folgende Gemeinsamkeiten in ihrem
Denken konzediert: Beide hielten sie eine spekulative Erkenntnis von
Gott und Freiheit für unmöglich. Beide nähmen zudem an, dass in der
Vernunft „mit dem Nahmen der Freyheit, einem übersinnlichen Vermö-
gen der Causalität in uns“, ein notwendiges, wenn auch unbegreifliches
„Ergänzungsstück“ zur Spekulation liege, mittels dessen allein der
Mensch ein Bewusstsein von Gott besäße. 58 Beider Bewusstsein der
Freiheit verdanke sich dem Bewusstsein vom sittlichen Gesetz. Bei Jaco-
bi gründe dieses Bewusstsein des Sittengesetzes jedoch auf der Lehre des
Evangeliums, bei Kant auf dem Faktum der Vernunft.59 Für Jacobi be-
stimmt Kant damit jedoch nicht einmal annähernd den status controver-

54
AA 10, 455. Mit einer ähnlichen Bitte richtet sich Herz 1786 an Kant (ibid., 432).
55
Brief an Herz vom 7.4.1786 AA 10, 442. Unter dem Stichwort „Genieschwärmerei“
ordnet Kant Jacobi also offensichtlich dem unter anderem von seinem ehemaligen Schüler
Herder begründeten Sturm und Drang zu. Zu Kants Kritik an dieser Bewegung vgl. Refl
771 AA 15, 337f.; Refl 775 AA 15, 339; Zammito 1992, 37ff.
56
Guyer 2000, 43.
57
Vgl. hierzu: Dahlstrom 2008, 44f.; Franks 2005, 86f.; JB 1,8, 73; Lord 2011, 11; ZH 6,
77; 107; 161.
58
Brief an Jacobi vom 30.8.1789 AA 11, 76.
59
AA 11, 76. Kant rückt Jacobi damit offensichtlich in die Nähe Lavaters, Hamanns
und Wizenmanns, die von der Notwendigkeit der christlichen Offenbarung bzw. des
Evangeliums überzeugt sind und diese der Aufklärung entgegensetzen (vgl. hierzu auch
Berichtigung JW 2,1, 117f.). Die vermeintliche Nähe zu Lavater bestärkt Jacobi in der ers-
ten Ausgabe seiner Spinozabriefe durch seine eigene Berufung auf selbigen (Hammacher
1984, 93). Da diese jedoch „großen Anstoß gegeben hat“ (Spin2 JW 1,1, 125), ersetzt er sie
in der zweiten Auflage durch ein Zitat aus des „unverdächtigen“ (ibid., 125) Lukrez’ Über
die Natur der Dinge.
10 Einleitung

siae zwischen ihnen beiden. Dieser besteht in der Frage, ob „wahre“


Aufklärung auf eine universell gültige Vernunft oder auf die Vernunft
des historisch situierten Individuums gründen muss. Wie Kant will dabei
auch Jacobi seine Philosophie nicht aus einer historischen Schrift, son-
dern „nur aus dem allgegenwärtigen facto menschlicher Intelligenz, aus
dem Daseyn von Vernunft und Freyheit hergeleitet“ wissen.60 Wie Kant
behauptet er „eine dem Menschen eben so evidente als unbegreiffliche
Verknüpfung des Sinnlichen mit einem Uebersinnlichen, des Natürli-
chen mit einem Uebernatürlichen“,61 insofern sich der Mensch gleichzei-
tig als freies und sinnlich-natürliches Wesen verstehen muss. Nur bildet
für Jacobi die Freiheit nicht den „Schlussstein“ seiner Philosophie, son-
dern liegt ihr zu Grunde, insofern alle Erkenntnis und menschliche Pra-
xis letztlich in der Selbsterfahrung des Menschen als handelndes Wesen
begründet ist. Das konkrete Individuum erfährt sich für Jacobi in seiner
praktischen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zugleich als beding-
te und unbedingte handelnde Ursache.62
Die Annahme einer unbedingten Vernunft, die Ausgangspunkt von
Kants Aufklärungsprojekt ist,63 ist für Jacobi hingegen das proton pseu-
dos der kantischen Philosophie. Für Jacobi besteht aufgeklärte Selbstbe-
stimmung nicht in der Unterwerfung des Individuums unter ein abstrak-
tes Vernunftgesetz. Individuelle Freiheit impliziert vielmehr auch, dass
das Individuum selbigem aus guten Gründen widersprechen und diesem
entgegen handeln kann. Ist das moralische Gesetz, das die Vernunft sich
selbst gibt, für Kant der Grund der Freiheit und besteht in der Ausfüh-
rung dieses Gedankens sein Projekt der Aufklärung,64 so begründet der
auf der individuellen Selbstbestimmung der Person basierende Gegen-
entwurf zu diesem Gedanken Jacobis Alternative einer „anderen Aufklä-
rung“.65 Beide Alternativen sollen im Folgenden als Vollendungsformen
des Projekts der Aufklärung etabliert werden, die auf unterschiedliche
Weise die zuvor skizzierten Einwände gegen die Aufklärung aufheben
können. Zur Durchführung unseres Projekts gehen wir dabei auf fol-
gende Weise vor:
60
Brief Jacobis an Kant vom 16.11.1789 AA 11, 104.
61
Brief Jacobis an Kant vom 16.11.1789 AA 11, 104.
62
Brief Jacobis an Kant vom 16.11.1789 AA 11, 104.
63
Sedgwick 2012, 11.
Guyer 2000, 2; 133; 158; V-Mo/Collins AA 27, 344; V-Mo/Mron AA 27, 1482–84.
64

65
Aus Jacobis Ablehnung des kantischen Grundgedankens der Autonomie der Ver-
nunft leitet Rolf-Peter Horstmann dagegen Jacobis irrationalistisch anti-aufklärerische
Ablehnung der Aufklärung als solcher ab (Horstmann 1991, 56f.; 67; 167; 185). Auch nach
Henrich bildet Jacobis Philosophie der Unmittelbarkeit, die sich auf Glauben und nicht
auf formale Vernunft stütze, einen Gegenentwurf zu Kant (Henrich 2008, 76; 80).
Einleitung 11

Im ersten Teil unserer Untersuchung adressieren wir das Problem der


Dialektik der Aufklärung (Einwand 1) und versuchen gleichzeitig Auf-
klärung als einheitliches Projekt zu etablieren (Einwand 5). Die These
dieses Teils lautet, dass Kant und Jacobi die Problematik einer Dialektik
der Aufklärung in paradigmatischer Weise diagnostizieren und entspre-
chend ihrer jeweiligen Diagnose unterschiedliche Alternativen zur
Überwindung dieser Dialektik anbieten. Ausgangspunkt ist dabei für
beide die Selbstreflexion der Vernunft auf ihre destruktiven Tendenzen.
Für beide ist die Selbstaufklärung der aufklärerischen Vernunft und ihrer
Dialektik ein wesentliches Moment ihres Aufklärungsprojekts, womit
sie direkt an die Diskussion der Frage „Was ist Aufklärung?“ und das
sich dabei manifestierende Bewusstsein der deutschen Spätaufklärung
von den immanenten Dialektiken der Aufklärung anknüpfen. Diese Dia-
lektiken gilt es für die Spätaufklärer selbst aufzuklären, wenn das Projekt
der Aufklärung nicht in sein Gegenteil umschlagen soll. Vor diesem
Hintergrund lässt sich Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklä-
rung als Fortsetzung dieser Debatte verstehen. Gleichzeitig versuchen
die deutschen Spätaufklärer in der Bestimmung des Begriffs „Aufklä-
rung“, die Einheitlichkeit des Projekts der Aufklärung innerhalb der
Vielfalt der Aufklärungsformen zu retten, weshalb sich diese Diskussion
als Gegenentwurf zur philosophiehistorischen Betonung der Diversität
der Aufklärungen lesen lässt.
Der zweite Teil unserer Studie setzt sich mit den ideologiekritischen
Einwänden an der Aufklärung auseinander (Einwand 2) und dem Vor-
wurf, die Aufklärung würde an die Stelle des konkreten, historisch und
sozial situierten Individuums ein abstraktes Subjekt als bestimmungslo-
sen Akteur von Erkenntnis, Moral, Politik voraussetzen (Einwand 4).
Wir gehen dabei von der aufklärerischen Forderung nach universeller
Rechtfertigbarkeit sittlicher, rechtlicher und epistemischer Ansprüche
aus. Damit, so die Kritiker der Aufklärung, setzen die Aufklärer ein rein
abstraktes Subjekt als Adressat dieser Ansprüche anstelle des geschicht-
lich, ethnisch und religiös bedingten Individuums voraus. Dieses Subjekt
der Aufklärung ist für ihre Kritiker entweder ein bloßes Abstraktions-
produkt, das mit den konkreten menschlichen Akteuren nur noch ent-
fernt Ähnlichkeit besitzt, oder es ist der zum Menschen schlechthin hy-
postasierte weiße, europäische Bürger. Auf Grund der zentralen Stellung
dieser Kritik wollen wir uns ihrer in diesem Kapitel als Leitfaden bedie-
nen und die kritische Auseinandersetzung Kants und Jacobis mit dem
aufklärerischen Universalitätsanspruch beleuchten. Von hier aus lassen
sich die bisher nur skizzierten Aufklärungskonzepte Kants und Jacobis
vertiefen. Dabei stehen beide inmitten einer Debatte der deutschen Spät-
12 Einleitung

aufklärung, in der der Universalitätsanspruch der Aufklärung bereits


fragwürdig gemacht ist. Im Zentrum dieser Debatte steht für uns die
Vernunft- und Aufklärungskritik Herders, in der sich bereits die Argu-
mente gegen den vermeintlichen Kosmopolitismus der Aufklärung fin-
den, die seit dem 20. Jahrhundert vor allem von postmodernen Denkern
thematisiert werden. Ausgehend von dieser Kritik Herders untersucht
der zweite Teil die Problematik des aufklärerischen Universalitätsan-
spruchs anhand der Diskurse der deutschen Spätaufklärung, um an-
schließend die Aufklärungsprojekte Kants und Jacobis am Leitfaden des
Spannungsverhältnisses von rationalem Universalitätsanspruch und indi-
vidueller Standortgebundenheit zu explizieren.
Abschließend thematisiert der letzte Teil dieser Schrift das Verhältnis
der Aufklärung zur Religion (Einwand 3). Denn sowohl für viele Inter-
preten und Kritiker als auch für zahlreiche Aufklärer selbst ist Aufklä-
rung wesentlich Religionskritik. In dieser religionskritischen Haltung
manifestieren sich für gegenwärtige Kritiker der Aufklärung paradigma-
tisch die autoritären Züge der Aufklärung (Habermas). Ihre Kritik an
der Religion diffamiere nämlich das Selbstverständnis religiöser Men-
schen, die nicht ihre Religion, sondern die von Außen an sie herangetra-
gene Forderung nach Aufklärung und einem Bekenntnis zur säkularen
Rationalität als paternalistische Bevormundung erfahren. Hiergegen ana-
lysiert der dritte Teil die kritischen Vernunftbegriffe von Religion und
Glaube bei Jacobi und Kant, die beide ihren Religions- und Glaubensbe-
griff aus einer der Philosophie rein immanenten Perspektive entwickeln
und systematisch die Mitte markieren zwischen einer Philosophie, die
Religion und Offenbarung zu einem Gegenstand der bloßen Vernunft-
kritik macht, und einer Philosophie, die die Andersheit der Religion in
der Vernunft aufgehen lässt. Im Zentrum steht bei beiden Autoren dabei
die Frage, welchen vernunftimmanenten Grund es für das philosophi-
sche Denken gibt, sich in ein Verhältnis zu Religion und Offenbarung zu
setzen bzw. einen Vernunftbegriff von Offenbarung und Religion zu
entwickeln. Kant und Jacobi versuchen dabei entsprechend ihres unter-
schiedlichen Aufklärungskonzepts zu zeigen, dass Glaube bzw. Religion
und Aufklärung nicht in einem abstrakten Gegensatzverhältnis stehen, in
das sie einige der heutigen Apologeten und Kritiker der Aufklärung set-
zen, sondern Glaube und Religion als notwendiges Moment in die Auf-
klärung integriert werden können und müssen.
TEIL 1

AUFKLÄRUNG – EIN DIALEKTISCHES PROJEKT?


In Horkheimers und Adornos eingangs skizzierter Dialektik der Aufklä-
rung verfallen menschliche Vernunft und Freiheit, als die eigentlichen
Zwecke der Aufklärung, zuletzt einer sie selbst annihilierenden Kritik.
Da nun aber alle Philosophie Aufklärung sei, könne diese Annihilation
nicht durch die Restauration eines vor-aufgeklärten Zustandes, sondern
nur durch eine adäquate Fortsetzung des Projekts der Aufklärung über-
wunden werden.1 Mit der Aufklärung stehe deshalb nicht der Fortbe-
stand einer philosophischen Denkrichtung auf dem Spiel, sondern
menschliche Freiheit und Vernunft als solche.2 Die „Selbstzerstörung der
Aufklärung“3 könne dabei nur durch die Selbstreflexion der Aufklärung
auf ihre destruktive Tendenz vermieden werden. Notwendiger Gegen-
stand dieser Selbstreflexion muss das sich im Prozess der Aufklärung
verändernde Selbstverständnis des Denkens sein.
Dieser erste Teil unserer Untersuchung dient dem Nachweis, dass be-
reits Kant und Jacobi die Problematik einer Dialektik der Aufklärung in
paradigmatischer, wenn auch unterschiedlicher Weise diagnostiziert ha-
ben. Entsprechend der jeweiligen Diagnose bieten ihre Projekte der
Aufklärung unterschiedliche Alternativen zur Überwindung dieser Dia-
lektik an. Für beide setzt wahre Aufklärung dabei wie für Horkheimer
und Adorno die Selbstreflexion der Vernunft auf ihre destruktiven Ten-
denzen voraus. Diese Reflexion präsentiert sich sowohl bei Kant als auch
bei Jacobi als eine Kritik der Vernunft und ihrer Realisierung in den bis-
herigen Formen von Aufklärung.4 Bei Beiden ist Aufklärung so primär
Selbstaufklärung der aufklärerischen Vernunft und ihrer Dialektik. Da-
mit knüpfen sie an die sich in der Diskussion der Frage „Was ist Aufklä-
rung?“ manifestierende Herausbildung des Selbstbewusstseins der deut-
schen Spätaufklärung von ihren immanenten Dialektiken und ihrer inne-
ren Diversität an. Insofern adressiert diese Diskussion die in der
Einleitung genannten Einwände der Diversität und der Dialektik der
Aufklärung. Das erste Kapitel des folgenden Teils widmet sich deshalb
der Untersuchung dieser Debatte. Im zweiten Kapitel wenden wir uns
Kants Analyse der Dialektik der Aufklärung zu und abschließend im
dritten Kapitel Jacobis Entdeckung der Dialektik der Aufklärung im
Sinne Horkheimers und Adornos.

1
Vgl. auch Schmidt 2000, 752.
2
Horkheimer/Adorno 1988, 5; 3.
3
Horkheimer/Adorno 1988, 3.
4
Hindrichs 2009, 49.
KAPITEL 1
DIE DIALEKTIKEN DER DEUTSCHEN SPÄTAUFKLÄRUNG

In höherem Grade als in anderen Aufklärungsbewegungen findet sich in


der deutschen Spätaufklärung ein reflexives Verhältnis zu sich selbst.
Dieses Reflexionsniveau verdankt sich nicht zuletzt ihrem Bewusstsein
der teils fundamentalen Differenzen zwischen den unterschiedlichen
Aufklärungsströmungen, das für die deutsche Spätaufklärung jedoch
nicht die Einheit des Begriffs „Aufklärung“ ausschließt.1 Vielmehr ver-
sucht sie, diese Differenzierung aus dem Begriff von Aufklärung selbst
verständlich zu machen. 2 Manifest wird ihr Reflexionsniveau in ihren
zahlreichen Versuchen, die Frage: „Was ist Aufklärung?“ zu beantwor-
ten.3 Der Terminus „aufgeklärt“ wird dabei nicht nur als umstrittener,
sondern auch als „äußerst gemißbrauchter Name“4 wahrgenommen, des-
sen Missbrauch es aufzuklären gilt,5 wenn Aufklärung nicht in ihr Ge-
genteil umschlagen soll.
Am Ursprung der Frage: „Was ist Aufklärung?“ steht deshalb die
Einsicht in eine drohende Dialektik der Aufklärung. Die Aufklärung, die
mit dem Anspruch auftritt, für die Freiheit des denkenden Subjekts zu
streiten, verkommt in der deutschen Spätaufklärung teilweise zu einem
Schlagwort, mit dem sich Gegner der eigenen Meinung diskreditieren
lassen. Anlass der Diskussion um den begrifflichen Gehalt von Aufklä-
rung ist so der 1783 von Johann Erich Biester in der Berlinischen Mo-
natsschrift publizierte Vorschlag, „die Geistlichen nicht mehr bei Voll-
1
Die deutsche Spätaufklärung war sowohl mit dem radikalen französischen Materia-
lismus als auch den verschiedenen Strömungen der britischen Philosophie vertraut.
Gleichzeitig ist sie sowohl vom Leibniz-Wolffschen Rationalismus als auch durch das an-
ti-wolffsche, pietistische Denken von Thomasius und Crusius geprägt (Zammito 1992,
17ff.; 24).
2
Vgl. hierzu auch Todorov 2009, 3ff. Deshalb scheint es auch übereilt, die Idee eines
einheitlichen Projekts der Aufklärung als bloße Projektion ihrer Kritiker (Schmidt 2000,
737; MacIntyre 1999, 245) bzw. als normativen Missbrauch einer deskriptiven Epochen-
bezeichnung abzulehnen und die konsequente Historisierung des Aufklärungsbegriffes zu
fordern (Schmitt 2000, 753). Die Aufklärer selbst bezeichnen ja ihr Zeitalter, das sie als
eine Zäsur von welthistorischer Bedeutung betrachten, entsprechend wesentlicher Cha-
rakteristika ihres Projekts („Siècle des Lumières“, „Age of Reason“, „Zeitalter der Kri-
tik“) (Gay 1995, 21).
3
Vgl. hierzu: Sauder 2001, 2f.; Schneiders 1974, 18ff.
4
Erhard 1789, 13; vgl. auch RGV AA 6, 57; Heinzmann 1795, 5.
5
Heftrich 1978, 7.
Spätaufklärung 17

ziehung der Ehen zu bemühen“.6 Seine Begründung hierfür lautet: „für


aufgeklärte bedarf es doch wohl all der Ceremonien nicht!“7 In dieser
„Begründung“ zeigt sich eine mit der Selbstzuschreibung des Prädikats
„aufgeklärt“ verbundene Form dogmatischer Selbstimmunisierung. Mit
seiner Berufung auf einen consensus illuminatorum entzieht Biester sei-
ne Forderung von vornherein jeder legitimen Kritik. Denn da sein Vor-
schlag aus aufgeklärter Perspektive nur bejaht werden kann, basiert jede
Kritik an selbigem auf einem Mangel an Aufklärung. Aufklärung wird
von ihren deutschen Protagonisten aber nicht als eine Schulrichtung in-
nerhalb der Philosophie verstanden, sondern als Programm zur Befrei-
ung des Menschen und seiner Vernunft.8 Sie ist im Verständnis vieler
Aufklärer kein deskriptiver Terminus für eine bestimmte Form der Phi-
losophie oder einen spezifischen Typus von Denken, sondern ein Be-
dürfnis des Menschen als Mensch. 9 Durch die Identifizierung dieses
menschlichen Bedürfnisses nach Freiheit der Vernunft mit seiner eigenen
Überzeugung transformiert Biester den Widerspruch gegen seine Über-
zeugung von einem argumentativ widerlegbaren und damit aufklärbaren
Irrtum in ein moralisches bzw. intellektuelles Defizit. Die Aufklärung,
die angetreten war, alle Urteile einer Rechtfertigungspflicht vor dem Ge-
richtshof der Vernunft zu unterwerfen, schlägt damit in einen Dogma-
tismus um, der sich selbst gegen jede Art von Kritik immunisiert.10
Biesters fragwürdige Inanspruchnahme der Aufklärung ist jedoch in-
sofern produktiv, als sie zu einer Selbstreflexion der deutschen Aufklä-
rung über die ihr immanente Dialektik führt. Hierbei wird nicht nur der
Begriff der Aufklärung zur Diskussion gestellt, sondern die Selbstzu-
schreibung des Prädikats „aufgeklärt“ einer Begründungspflicht unter-
worfen. Ausgelöst wird diese Selbstreflexion durch Johann Friedrich
Zöllners 1784 ebenfalls in der Berliner Monatsschrift publizierte Replik
auf Biester, die in ihrer Verteidigung der kirchlichen Ehe auf das Deside-
rat einer Aufklärung des Begriffs „Aufklärung“ hinweist:

Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahr-
heit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfange! Und
noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!11

6
Biester 1783, 265.
7
Biester 1783, 268.
8
Reinhold 1784, 123. Vgl. hierzu: Jaeschke 2010, 231.
9
WA JubA 6,1, 116.
10
Vgl. hierzu: B-n 1802, 132; 135; 146; WDO AA 8, 146f.; Beyerhaus 1921, 5f.
11
Zöllner 1783a, 516; vgl. ebenso: Pezzl 1784, 176.
18 Dialektiken

In den auf diesen Artikel folgenden Antwortversuchen besteht unter den


deutschen Aufklärern weitgehend Einigkeit darüber, dass bloße Er-
kenntniserweiterung zwar ein Moment von Aufklärung ist, jedoch nicht
mit ihr identifiziert werden kann.12 Wesentlich, um von „Aufklärung“
sprechen zu können, ist für viele deutsche Spätaufklärer der Zusammen-
hang dieser Erkenntniserweiterung mit der freien Selbstbestimmung des
Menschen und zwar einerseits in Bezug auf den Nutzen der Kenntnisse
für eine selbstbestimmte Lebensführung, 13 andererseits und vor allem
aber in Bezug auf den Modus ihrer Aneignung:14 Das aufgeklärte Indivi-
duum soll nur das anerkennen, was es vor seiner eigenen Vernunft und
der jedes anderen Menschen rechtfertigen kann.15
Ganz im Gegensatz zu Biester kann Aufklärung deshalb nicht mit be-
stimmten Überzeugungen identifiziert werden, da eine Überzeugung als
solche gegenüber dem Modus ihrer Aneignung indifferent ist.16 Vielmehr
muss das aufgeklärte Individuum in der Lage sein, sich auch zu seinen
eigenen Überzeugungen in ein freies Verhältnis reflexiver Distanz zu
setzen. 17 Aufklärung besteht so weniger im Habitus bestimmter Er-
kenntnisse oder Überzeugungen,18 als in der Disposition zum autono-
men Erwerb von Kenntnissen.19 In diesem Sinne lässt sich auch Lessings
berühmte Duplik verstehen:

Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen
immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und
ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit
Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur
für dich allein!20

WDO AA 8, 146; Refl 5645 AA 18, 287f.; Zöllner 1787, 94; Cachet JW 4,1, 394f.;
12

Eberhard 1788, 32; Wieland 1974, 24. Dagegen: PIN DD 2, 727; Cassirer 2007, 78.
13
Erhard 1974, 48. In diesem Sinne sehen sich auch radikale Materialisten wie Lau,
Stosch und La Mettrie der menschlichen Autonomie verpflichtet (Pott 1990, 649; La
Mettrie 2009, 22; 38; 42; 102ff.; 110; 125; 68; 8; 80).
14
Beyerhaus 1921, 6.
15
Vgl. etwa Vierhaus 1995, 12; Ascher 2010, 80; KrV A xi. Aus diesem Grund bilden
die modernen Naturwissenschaften für viele Aufklärer ein Paradigma autonomer Er-
kenntniserweiterung, da das Individuum sich auf Grund ihrer für jeden nachprüfbaren
Methodik keinen Autoritäten unterwerfen muss, sondern durch eigene Anwendung dieser
Methodik zu eben jenen von der Wissenschaft behaupteten Ergebnissen kommen kann
(Mittelstrass 1970, 50f., 2, 17).
16
Zöllner 1787, 100f.; Reinhold 1784, 21; Cassirer 2007, xi–xiii.
17
Condorcet 1968, 244.
18
Kiss 1997, 90.
19
Anonymus 1977, 217; Der Freydenker, 1 – 4; 87.
20
Duplik FLA 8, 510.
Spätaufklärung 19

Der Grund für Lessings Verzicht auf eine von Gott vorgegebene Wahr-
heit ist gerade nicht sein skeptisches Desinteresse an der Wahrheit, 21
sondern sein Interesse am autonomen Denken. Einer Wahrheit, die der
Mensch aus Gottes Rechter als einer göttlichen Offenbarung nur emp-
fangen würde, könnte der Mensch sich nur unterwerfen und sie nicht im
Modus autonomen Denkens erwerben. Der „Trieb nach Wahrheit“ ist
hingegen Ausdruck des menschlichen Strebens nach Autonomie der
Vernunft, der nur eine Wahrheit entsprechen kann, deren Geltungs-
gründe der Mensch vor seinem eigenen Denken rechtfertigen kann.
Einige Zeitgenossen Lessings ziehen hieraus jedoch die Konsequenz,
Denken solle überhaupt nicht mehr vom Interesse an Erkenntnis geleitet
sein, sondern nur noch von dem Interesse an der Übung und Veredelung
des eigenen Geistes.22 Damit schlägt dann jedoch das Interesse an der
Autonomie der Vernunft in ein völliges Desinteresse an Objektivität und
Wahrheit um. Aufklärungsphilosophie besteht dann nur noch darin, zur
„gymnastisch[en]“ Übung der „athletische[n] Constitution“ des eigenen
Geistes für das Für und Wider beliebiger Überzeugungen trefflich zu
streiten, ohne über die Wahrheit dieser Überzeugungen auch nur be-
kümmert zu sein.23
Nach unseren bisherigen Überlegungen stehen sich also in der deut-
schen Spätaufklärung zwei Konzeptionen von Aufklärung gegenüber,
denen eine jeweils eigene Dialektik inhäriert: Für die eine Konzeption
besteht Aufklärung im Habitus bestimmter Überzeugungen, so dass sie
in Ideologie umzuschlagen droht. Für die andere Konzeption besteht
Aufklärung im Habitus einer bestimmten Denkungsart, wobei Aufklä-
rung hier in eine „gymnastische Übung“ des je eigenen Denkens umzu-
schlagen droht, der jegliches Interesse an objektiver Erkenntnis
abhandenkommt. Um diese mehr schlechte als rechte Alternative zu
überwinden, wollen wir nun zunächst den Blick auf den modus operandi
der Aufklärung richten:
Sämtliche Vertreter der Aufklärung stimmen dabei darin überein, dass
die Kritik sämtlicher bloß geglaubter Überzeugungen – sei es auf Grund
einer Autorität, Offenbarung oder Tradition – ein notwendiges und we-
sentliches Moment von Aufklärung ist: 24 Aufklärung intendiere sogar
21
So etwa Hamann JW 5,1, 390; KFSA 2, 122f.; Nicolai GA 1,7, 378; Gombrich 1957,
151; Timm 1983, 114; Hill 1990, 218; 245; Brandt 2003b, 4. Dagegen: Cassirer 2007, 171.
22
Eberhard 1786, 346f.; SWBD 6,1, 282; 463; 477; 465; JB 1,3, 209.
23
JaF JW 2,1, 197.
24
KrV A xi; Lau 1992, 120; Wieland 1974, 25; DD 2, 289; Voltaire 1879b, 264ff.; 417f.;
Enc 6, 383f.; Enc 12, 515; d’Holbach 1770, 283; La Mettrie 2009, 18; Condorcet 1968, 22f.;
Bacon 1999, 99; 90; 100–104; Ferguson 1800, 7; Price 1787, 1–4; Toland 1704, 2–7; 12. Vgl.
hierzu: Cassirer 2007, 4; 13; 71; 97; Schneiders 1983, 97.
20 Dialektiken

primär die Kritik und damit Reduktion ungeprüft übernommener Vor-


urteile,25 bei denen der Urteilende ohne Gründe urteilt, die sein Urteil
rechtfertigen könnten.26 Denn diese Vorurteile basierten zumeist auf der
Autorität von Personen, Traditionen oder Institutionen, denen der Ur-
teilende sich und sein Denken unterwirft und die nicht nur sein autono-
mes Denken, sondern auch seine autonome Lebensführung verhindern.27
Die Bestimmung von Aufklärung via negationis als Praxis bloßer
Vorurteilskritik findet ihren Ausdruck bereits in der Metapher von Auf-
klärung als Entfernung von Dunkelheit oder noch ursprünglicher als das
Wetterphänomen, bei dem die Sonne durch dunkle Wolken hindurch
bricht und die Welt in helles Licht taucht.28 Dieser Metapher liegt die
Idee zu Grunde, dass das von dunklen Wolken abgeschirmte Licht der
Sonne nicht selbst erzeugt werden muss, damit es hell wird, sondern sich
hierfür nur der Himmel aufklären müsse.29 Sie bringt also die Überzeu-
gung der Aufklärer zum Ausdruck, dass sich die Wahrheit nach der Ent-
fernung aller Vorurteile wie von selbst zeigen wird, genauso, wie sich
auch das Sonnenlicht von selbst zeigt und alle Dinge klar sichtbar wer-
den, sobald sich die Wolken am Himmel aufgelöst haben.30 Gerade des-
halb muss sich Aufklärung nicht nur gegen die Vorurteile anderer Kultu-
ren und Epochen, sondern vor allem gegen die in der eigenen Gegenwart
wirkmächtigen Vorurteile richten.31
Eines der wirkmächtigsten Vorurteile der Aufklärung ist jedoch gera-
de die Überzeugung, jede Überzeugung einer Vorurteilskritik unterwer-
fen zu müssen. Entgegen Gadamers Diktum von dem Vorurteil der Auf-
klärung „gegen die Vorurteile überhaupt“32 unterwirft die deutsche Auf-
25
Wieland 1974, 27; Riem 1974, 30; Heydenreich 1790, 253; Maimon 1984, 295; Erhard
1789, 4. Dies zeigt sich auch an Zeitschriftentiteln wie der in Wien erschienene Mann oh-
ne Vorurtheil (1765). Vgl. hierzu Cassirer 2007, 245; 288; Schneiders 1983, 97.
26
Ueber die Vorurtheile Abbt 1780, 142.
27
Eberhard 1788, 38; Riem 1974, 32f.; Hennings 1779, 152.
28
Dieses Bildes bedient sich Christian Wolff in mehreren seiner Werke als Frontispiz
(Schmidt 1992, 80). Ähnlich findet sich diese Metapher bei Samuel Johnson, Richard Price
und Thomas Paine (Porter 2001, 46).
29
Fischer 1788, 14; Jenisch 1788, 71.
30
Zöllner 1787, 93; 95f.; Heinzmann 1795, 57f.; 49.
31
Riem 1974, 30–32. Vom Aberglauben bis zu Überzeugungen bezüglich der mensch-
lichen Glückseligkeit kann in der deutschen Spätaufklärung dabei fast alles Gegenstand
der Vorurteilskritik werden. Vgl. hierzu: Lichtenberg 1968, 188–194; 16; Knoblauch
1790a, 18–21; 33–43; 54–67; ders. 1790b, 153; 173–190; Mauvillon 1787, 40f.; 48ff.; 71; Ni-
colai GA 1,7, 455; Lüdke 1767, 9f.; Riem 1974, 34; Tieftrunk 1977, 197; Zöllner 1783b,
468; von Eckhartshausen 1977, 189 ff.; Gottsched 1733, Vorrede; JubA 2, 295f. Ausge-
nommen ist einzig die Mathematik, da es hier keine zu überwindenden Vorurteile gebe
(Eberhard 1788, 34f.).
32
Gadamer 1990, 275.
Spätaufklärung 21

klärung jedoch noch diesen Umgang mit dem Vorurteil der Kritik: Ohne
Vorurteile wäre der Mensch nämlich nicht in der Lage, die für seine Le-
bensführung notwendigen Handlungen zu verrichten, da niemand jede
hierfür notwendige Überzeugung vor der Handlung der Kritik unter-
werfen könnte. Die Vorurteile sind für den Menschen das, was für das
Tier Instinkt und Kunsttrieb sind.33 Da es sowohl für das Individuum als
auch für die Gesellschaft als Ganze unmöglich wäre, alles selbst zu er-
fahren oder wissenschaftlich zu erkennen, muss der Mensch notwendig
den ungeprüften Behauptungen Anderer Glauben schenken.34
Aber nicht nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit ist eine generelle
Vorurteilskritik in der Aufklärung umstritten, sondern auch auf Grund
der Unbestimmtheit des Begriffs „Vorurteil“. Was dem einen Aufklärer
Vorurteil oder sogar Aberglaube ist, ist dem anderen mitunter ausge-
machte Vernunftwahrheit.35 Die Tendenz einiger Aufklärer, philosophi-
sche Gegner unter dem Vorwand der Vorurteilskritik zu diffamieren,
führt umgekehrt jedoch zu einer Problematisierung der Kategorisierung
anderer Überzeugungen als Vorurteil.36 Es ist deshalb eine wesentliche
Einsicht der aufklärerischen Vorurteilskritik, dass dasjenige, was man für
ein Vorurteil hält, häufig davon abhängt, was man auf Grund seiner ei-
genen, undurchschauten Vorurteile für vernünftig hält.37
Konsequente Aufklärung muss also zuletzt noch ihre eigenen Voraus-
setzungen einer reflexiven Vorurteilskritik unterwerfen.38 Dies erfordert
eine permanente „kritische Distanz“ gerade zur Autorität der eigenen
Person und der Bestimmungen des eigenen Denkens.39 Es ist eine der
wesentlichen Einsichten der Aufklärung, dass ein solches „Projekt einer
radikal vorurteilsfreien Kritik“ 40 in einem freien, öffentlichen Diskurs
realisiert werden muss, in dem der Einzelne die Allgemeingültigkeit sei-
ner Urteile überprüfen kann.41 Aufgeklärtes Denken heißt demnach ge-
mäß öffentlich gerechtfertigten Gesetzen des Denkens zu denken.42 Ne-

33
Lichtenberg 1968, 23.
34
Reimarus 1994b, 465; Ueber die Vorurtheile Abbt 1780, 156f.; vgl. ebenso: Fontenel-
le 1991, 226.
35
Für Nicolai etwa ist die Transzendentalphilosophie Kants nichts anderes als philoso-
phischer Aberglauben (SWBD 6,1, 310; 307f.; 343; 281f.).
36
Zöllner 1787, 100; Superstition Voltaire 1879b, 454ff.
37
Gegenbetrachtungen JubA 7, 99; Nacherinnerung JubA, 7, 43.
38
Dieckmann 1972, 17.
39
Mittelstrass 1970, 3; Hartung 2007, xv.
40
Hutter 2012, 159.
41
Linker 2006, 733; Schalk 1971, 622; vgl. hierzu: Hennings 1779, 99; 126; WSW 9,29,
55f.
42
Der Freydenker, 3.
22 Dialektiken

gativ formuliert bedeutet dies: Sämtliche Geltungsansprüche müssen für


nichtig gehalten werden, solange sie nicht durch öffentliche Kritik ge-
rechtfertigt sind.43 Die Öffentlichkeit, die der Idee nach Weltöffentlich-
keit sein soll, ist das Korrektiv, das die Gründe für Überzeugungen,
Handlungen und Institutionen auf ihre Universalität hin kritisch über-
prüfen kann. Die Entwicklung der Vernunft und die Entwicklung der
freien Beförderung öffentlicher Diskurse (etwa durch Presse- und Mei-
nungsfreiheit) bedingen sich deshalb wechselseitig.44
Wir können zusammenfassen: Das Aufklärungsprojekt setzt zu seiner
Realisierung immer schon eine Diversität an Aufklärungen voraus. Da
Reflexivität und die Infragestellung der Voraussetzungen des eigenen
Denkens wesentliche Momente gelungener Aufklärung sind, kann nur
der Diskurs zwischen unterschiedlichen Formen von Aufklärung wech-
selseitig ihre Voraussetzungen in Frage stellen, und damit Aufklärung
und Vernunftautonomie verwirklichen. Zu diesem Zweck müssen noch
die Standards der Prüfung öffentlich gerechtfertigt bzw. kritisiert wer-
den. So ist es konsequent, dass sich die aufklärerische Kritik bei so un-
terschiedlichen Denkern wie Locke, Hume, Herder, aber eben auch
Kant und Jacobi dann auf die Vernunft als Instanz der aufklärerischen
Kritik richtet und den Glauben der Aufklärung an die Vernunft vor den
Gerichtshof der öffentlichen Kritik zitiert.45 Mit dieser kritischen Wen-
dung der Vernunft gegen sich selbst vollendet sich die Dialektik der
Aufklärung. Wie diese Dialektik jedoch nicht in einer Selbstannihilation,
sondern in einer kritischen Selbstbestimmung des Projekts der Aufklä-
rung resultieren kann, zeigen wir in den folgenden Überlegungen an-
hand der Aufklärungsphilosophien Kants und Jacobis.

43
Hindrichs 2009, 60f.; vgl. hierzu: Jenisch 1788, 74; Hirschel 1793, 2.
44
O’Neill 1986, 535; dies. 1992a, 102; Marcuse 1984, 142; Cassirer 2007, 168; 171; Neh-
ren 1994, 94; Putnam 1990, 223. Vgl. hierzu: Voltaire 1879b, 518f.; Lau 1992, 121; Schiller
2004, 591; GA 1,1, 168; 178; 182–184. Der Gedanke der Toleranz als bloßer Duldung an-
derer Überzeugungen wird in der deutschen Spätaufklärung hingegen vielfach kritisiert,
da dies zunächst ein Recht voraussetzen würde, die Überzeugungen anderer zu unterdrü-
cken (JB 1,8, 167; WSW 9,29, 60).
45
KrV A xif.; Horkheimer 1988, 165. Seine Kritik versteht Kant so nicht mehr als „eine
Kritik der Bücher und Systeme der reinen Vernunft […], sondern […] des reinen Ver-
nunftvermögens selbst.“ (KrV B 27.)
KAPITEL 2
GRUNDLEGUNG EINER JEDEN KÜNFTIGEN PHILOSOPHIE,
DIE ALS AUFKLÄRUNG WILL AUFTRETEN KÖNNEN

In seinem lehr- und gedankenreichen Buch zu Kants Beantwortung der


Frage: „Was ist Aufklärung?“ unterscheidet Samuel Fleischacker bei
Kant zwischen zwei Konzeptionen von Aufklärung: 1. Eine sogenannte
Minimalaufklärung, unter die jede Form des Denkens fällt, das Kriterien
wie der kritischen Reflexion der eigenen Vorurteile genügt;1 2. eine Ma-
ximalaufklärung, die die Übernahme von Kants gesamtem kritischen
System und damit auch sein moralisches Verständnis der Religion sowie
seine strikte Trennung von Moral und religiösen Ritualen verlangt.2 Ver-
pflichte die Minimalaufklärung das menschliche Subjekt vor allem auf
das Selbstdenken,3 so verlange die Maximalkonzeption von Aufklärung
die Annahme einer bestimmten Menge kantischer Überzeugungen. Aus
diesem Grund müsse sie für viele Leser letztlich inakzeptabel bleiben,4
wohingegen Kants moderates Aufklärungskonzept auch für solche Re-
zipienten Geltung beanspruchen könne, die Kants philosophische Posi-
tionen inhaltlich ablehnen.
Diese Differenzierung zweier Konzeptionen von Aufklärung bei Kant
würde die im vorigen Abschnitt skizzierten Dialektiken der Aufklärung
insofern aufheben, als Kant anderen Konzeptionen von Aufklärung un-
ter dem Aspekt maximaler Aufgeklärtheit ihre philosophische Legitimi-
tät absprechen könnte, ohne deren Vertreter als Gegner der Aufklärung
diffamieren zu müssen. Allerdings finden sich in Kants Werk zahlreiche
Textbelege, dass Kant eine radikalere Auffassung von Aufklärung ver-
tritt, die solch eine Unterscheidung nicht zulässt. Gemäß diesen Textbe-
legen haben die anderen Aufklärer Vorurteilskritik und reflexive Selbst-
vergewisserung in einer Weise vernachlässigt, dass sie der Befreiung der
Vernunft in gewissem Sinne sogar geschadet haben. Daher werden wir
im Folgenden für einen anderen Zugang zu Kants Aufklärungsidee ar-
gumentieren, gemäß dem ausschließlich seine transzendentale Aufklä-

1
Fleischacker 2013, 30.
2
Fleischacker 2013, 32; 36.
3
Wir werden später sehen, dass Kants Konzept von Aufklärung nicht nur darauf ver-
pflichtet, selbst zu denken, sondern auch darauf, an der Stelle jedes anderen und einstim-
mig mit sich selbst zu denken (Merritt 2011a, 231).
4
Fleischacker 2013, 6.
24 Grundlegung

rung den Anspruch erheben kann, als öffentliche philosophische Aufklä-


rung zu gelten. Denn nur sie löst nach Kant die natürliche Dialektik der
Vernunft auf, die der Ungrund des menschlichen Hanges zur Hetero-
nomie der Vernunft ist.5
Um dies zu zeigen, werden wir im Ausgang von Kants theoretischer
Philosophie in folgender Weise vorgehen: Zunächst werden wir die Idee
der Selbstverschuldetheit der Unmündigkeit und die aus ihr resultieren-
de Dialektik der Aufklärung analysieren, aus der die Aufklärung der
Ausweg sein soll (A). Anschließend skizzieren wir Kants alternatives
transzendentales Aufklärungsprojekt, das Notwendigkeit für den Aus-
gang des Menschen aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit bean-
sprucht (B). Zuletzt werden wir Einwände gegen diese Rekonstruktion
von Kants Aufklärungskonzept diskutieren (C).

So heißt es in OP: „Die Transscendentalphilosophie ist Autonomie, d. i. eine ihre


5

synthetische Principien, Umfang und Grenzen bestimmt vorzeichnende Vernunft in ei-


nem vollständigen System.“ (AA 21, 59.)
Dialektik der Aufklärung 25

A. Dialektik der Aufklärung

In diesem Abschnitt werden wir untersuchen, inwieweit Kants Philoso-


phie der Dialektik der Aufklärung Rechnung trägt, die sie vor die mehr
schlechte als rechte Alternative stellt, entweder nur eine Form des Den-
kens als aufgeklärt anzuerkennen und alle anderen Aufklärungsformen
als aufklärungsschädlich zu diskreditieren oder das Philosophieren zur
bloßen Gymnastik des Denkens zu depotenzieren.
Hierbei werden wir zwei Formen des Vernunftgebrauchs unterscheiden:
den privaten und den öffentlichen Vernunftgebrauch.1

I. Versuch, die Pflicht autonomen Vernunftgebrauchs


in die Philosophie einzuführen

Wir skizzieren zunächst, inwieweit Aufklärung für Kant als allgemeine


Verpflichtung für jeden einzelnen Menschen, seinen Ausgang aus seiner
Unmündigkeit zu verfolgen, nicht mehr und nicht weniger als einen Ge-
sinnungswandel des Individuums verlangt. Anders als die später zu re-
konstruierende öffentliche philosophische Aufklärung impliziert dieser
Gesinnungswandel allerdings nicht die Aktualisierung der Autonomie
des Denkens.
Indem er Horaz’ Motto „Sapere aude!“2 zum Wahlspruch der Aufklä-
rung macht und diesen als: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes
zu bedienen!“3 interpretiert, identifiziert Kant in Was ist Aufklärung?
das Ziel aller wahren Aufklärung mit der Autonomie des Denkens. 4
Aufklärung, so Kant, besteht in der Maxime „jederzeit selbst zu den-
ken“, die der negative „Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnißver-
mögens“ sei.5 Diese „Maxim[e] des gemeinen Menschenverstandes“ ist
nach KU die Maxime „der vorurtheilsfreien [...] Denkungsart“ oder „ei-

1
Grundlage der Unterscheidung von privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch ist
der Gedanke, dass der Gelehrte sich in seinen Publikationen zumindest potentiell an die
gesamte Weltöffentlichkeit richtet (Fleischacker 2013, 18). Im öffentlichen Vernunftge-
brauch hat die Vernunft dabei nur ihre eigene Autorität, nämlich die Autorität der Grün-
de. Im privaten Vernunftgebrauch hingegen steht derjenige, der die Vernunft gebraucht,
in einer ihm von einer höheren Autorität verliehenen Autoritätsstellung. Hier verbindet
sich Macht mit Vernunft (O’Neill 2001, 38).
2
WA AA 8, 35.
3
WA AA 8, 35.
4
SF AA 7, 27.
5
WDO AA 8, 146.
26 Grundlegung

ner niemals passiven Vernunft“.6 Gemäß dieser Maxime solle niemand


sein Denken den ungeprüften Urteilen und der Autorität anderer unter-
werfen. In der Übernahme jeder Art von Vorurteil würde sich die Ver-
nunft passiv verhalten und damit ihren Zweck, nämlich ihre autonome
Selbstbestimmung, verfehlen. Die Fundamentaloperation jeder Aufklä-
rung ist deshalb für Kant die Kritik, als das einzige Mittel der Befreiung
des eigenen Denkens von Vorurteil und Heteronomie. Wie der Aus-
druck „Autonomie“ anzeigt, muss das aufgeklärte Denken sich dabei
zwar notwendig Gesetzen (d. h. universell gültigen Prinzipien) unter-
werfen, aber eben nur solchen, die es sich selbst gibt:

Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem
dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde,
den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was
man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu
machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberg-
lauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn
er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objectiven Gründen zu
widerlegen.7

Am Ende dieses Zitats aus WDO unterscheidet Kant zwei Arten von
Vernunftgebrauch: die Praxis des gesunden Menschenverstands und die
Praxis des philosophischen Vernunftgebrauchs (Widerlegung „aus objec-
tiven Gründen“). Jede dieser beiden Arten verlangt eine spezifische kriti-
sche Untersuchung gegebener Überzeugungen. Aber nur erstere ist ver-
pflichtend für jedes Individuum der Gattung Mensch und insofern eine
allgemeine Menschenpflicht. Diese Pflicht erlegt es jedem menschlichen
Individuum auf, die Gründe für seine Überzeugungen auf ihre Allge-
meingültigkeit hin zu überprüfen. Erfordert ist also die geistige Tätig-
keit, die Kant als Überlegen (reflectio) bestimmt: Der Vergleich meines
Urteils mit den Verstandesgesetzen als Frage nach den Gründen für die
Überzeugung von der Geltung dieses Urteils.8 Dazu muss das reflektie-
rende Individuum von seinem affirmativen Verhältnis zum Inhalt seiner
eigenen Überzeugungen abstrahieren und stattdessen auf die Gründe für
deren Behauptung reflektieren. Es muss sich also nicht fragen, ob seine
Überzeugung x wahr ist (auf objektiven Gründen basiert), sondern ob es
die Gründe, aus denen es x für wahr hält, auch für zureichend halten
würde, jede andere durch sie begründete Überzeugung für wahr zu hal-
ten. Nun erfüllen Gründe wie „Das Evangelium behauptet x“ oder
6
KU AA 5, 294.
7
WDO AA 8, 146f.
8
Frank 1998, 160; V-Lo AA 24, 161; 424; 547; V-Lo 641.
Dialektik der Aufklärung 27

„Meine Oma sagte immer x“ offensichtlich nicht dieses Kriterium uni-


verseller Anwendbarkeit. Dennoch ist es nicht so einfach, dieses Kriteri-
um auf jeden gegebenen Fall anzuwenden. Man muss hierbei nur an
Kants vorkritischen Beweisgrund für das Dasein Gottes denken, dass
Gottes Existenz die Bedingung der Möglichkeit für jeden möglichen
Gedanken ist. Ohne Zweifel ist dieses Argument äußerst originell und
alles andere als das Produkt einer heteronomen Vernunft im Sinne blo-
ßer Nachahmung. Nichtsdestotrotz weist Kant selbst dieses Argument
später als „illegitime Realisierung und Hypostasierung“ des Ideals der
Vernunft zurück und enthüllt es als transzendentalen Schein.9 Man kann
sich deshalb fragen, ob der spätere Kant seinen früheren Beweis als Aus-
druck intellektueller Mündigkeit oder Unmündigkeit betrachtet.
Berücksichtigt man dies, so ist es für den Leser umso merkwürdiger,
dass Kant diese Maxime nicht nur als Anweisung versteht, einen ange-
messenen Gebrauch von seinem Erkenntnisvermögen zu machen, son-
dern als moralische Verpflichtung und Ausdruck moralischer Freiheit.10
Warum sollten wir einen angemessenen Verstandes- und Vernunftge-
brauch als allgemeine moralische Verpflichtung betrachten? Eben des-
halb, weil jeder Mensch moralisch verpflichtet ist, sein Vernunftvermö-
gen und damit seine intellektuelle Autonomie zu kultivieren. Denn Ver-
nunft und Freiheit sind es, die allein ihm Würde verleihen. 11 So
interpretiert Kant dann auch im ersten Konvolut seines OP das „Sapere
aude!“ in folgender Weise: „<sapere aude> Versuche dich Deiner eige-
nen Vernunft zu Deinen wahren absoluten Zwecken zu bedienen“.12 Die
Maxime des Selbstdenkens ist nichts anderes als die Applikation des Au-
tonomieprinzips auf unser Denken, das dem Willen des Individuums un-
terworfen ist.13 Wer in Vernachlässigung dieser Pflicht sein Denken der
Vormundschaft anderer überlässt, der ordnet die moralische Maxime
von der „Selbsterhaltung der Vernunft“14 der „Maxime der Verwahrlo-
sung seiner Naturgaben“15 unter. Der Grund für die freiwillige und dem
menschlichen Individuum zurechenbare Preisgabe der Autonomie des
Denkens ist der menschliche Hang zur Bequemlichkeit. Autonomes
Denken erfordert kontinuierliche Anstrengung – Kant spricht von einer
„herculisch[en] Arbeit“.16 Daher ist es bequemer, sein Denken anderen
9
Schmucker 1980, 146. Siehe hierzu später.
10
Fleischacker 2013, 16; RGV AA 6, 123.
11
VNAEF AA 8, 417f.
12
OP AA 21, 117; vgl. auch La Rocca 2004, 125.
13
Wood 2002, 103; vgl. hierzu: Log AA 9, 74; Refl 1939 AA 16, 164.
14
WDO AA 8, 147.
15
GMS AA 4, 423.
16
VT AA 8, 390.
28 Grundlegung

zu überlassen, als die erforderliche Anstrengung auf sich zu nehmen, den


Stand der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu verlassen.17 Die mensch-
liche Neigung, die Maxime autonomen Denkens der Maxime der Faul-
heit unterzuordnen, ist Resultat der allgemeinen menschlichen Neigung
zu Bequemlichkeit und Heteronomie.18 Nichtsdestotrotz handelt es sich
um eine freie Handlung, dass eine Person nicht zumindest versucht, sich
aus ihrer Unmündigkeit zu befreien. Damit verkehrt sie die moralische
Ordnung. 19 Die Unmündigkeit des Individuums ist also immer dann
selbstverschuldet, wenn der Unmündige den Ausgang aus seiner Un-
mündigkeit nicht zumindest will.20 Denn diese Unmündigkeit ist nicht
einfach ein Schicksal, sondern impliziert eine Pflichtverletzung. Weil je-
der Mensch sich aus seiner Unmündigkeit befreien soll und die Pflicht
nur das gebietet, was wir tun können,21 muss auch jeder Mensch seine
diesbezügliche Pflicht erfüllen können. Diese Pflicht kann dann jedoch
nicht in der vollständigen Realisierung der eigenen Mündigkeit bestehen,
sondern nur in einer moralischen Revolution des Denkens. Sich selbst
aus der eigenen Unmündigkeit zu befreien erfordert eine Revolution in
der eigenen Gesinnung – sogar die „wichtigste Revolution in dem Innern
des Menschen“22 – und einen unendlichen Kampf für die Reform der ei-
genen Sinnesart,23 die auf der Revolution seiner Gesinnung basiert. Und
genau für dieses Moment des eigenen Selbstaufklärungsprozesses ist das
Individuum verantwortlich.
Nachdem wir die Pflicht, sich aus der eigenen Unmündigkeit zu be-
freien, in dieser moderaten Weise interpretiert haben, können wir uns
fragen, was man von einem menschlichen Subjekt verlangen darf, das
seine Gesinnung revolutioniert hat. Sicherlich nicht, dass es zu jeder sei-
ner Überzeugungen x immer untersucht, ob die Gründe, aus denen es x
für wahr hält, mögliche allgemeine Prinzipien des Denkens sind, sondern
nur, dass es kontinuierlich seine Sinnesart reformiert.24 Das Individuum
17
WA AA 8, 35.
18
KU AA 5, 294f.; RGV AA 6, 57.
19
RGV AA 6, 36.
20
WA AA 8, 35.
21
RGV AA 6, 47.
22
Anth AA 7, 229.
23
RGV AA 6, 47.
24
Ansonsten wäre Kants Aufklärungskonzeption in der Tat zu anspruchsvoll. Denn es
mag für einen autonomen Patienten ja noch möglich sein, sich nicht unkritisch den Diät-
vorschriften seines Arztes zu unterwerfen (WA AA 8, 35). Sich im Falle einer schweren
Krankheit bezüglich Diagnose und Therapie auf das Expertenwissen seines Arztes und
nicht auf seinen eigenen gesunden Menschenverstand zu verlassen, ist hingegen alles ande-
re als ein Zeichen von Unmündigkeit (vgl. MacIntyre 1999, 251). Aber selbst wenn wir
dieses Beispiel einfach nur für missglückt halten, zumal Kant „den Hauptpunkt der Auf-
Dialektik der Aufklärung 29

kann nicht auf die permanente Verwirklichung des autonomen Denkens


verpflichtet sein, sondern nur auf die Aufnahme einer entsprechenden
Maxime in seine Willkür. Denn bereits die Möglichkeit der Verwirkli-
chung der Autonomie im Denken fällt nicht in den Machtbereich des
Individuums, sondern basiert auf Bedingungen, die von seiner Gesin-
nung unabhängig sind. Daher thematisiert Kant in seinem Aufklärungs-
Aufsatz nicht nur die Schuld der Unmündigen für ihre Unmündigkeit.
In noch größerem Ausmaß thematisiert er die Schuld der politischen
Vormünder. Da diese ihr „Hausvieh zuerst dumm gemacht“ hätten,25 ist
das ihnen politisch unterworfene Mündel in gewisser Weise unschuldig
an seiner aktuellen Unmündigkeit. Denn dank seiner Vormünder ist es
„vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu be-
dienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.“26 Kant
richtet seinen Appell deshalb nicht nur an die Unmündigen, sich endlich
ihrer Feigheit und Bequemlichkeit zu entledigen, sondern gleichzeitig an
die Vormünder, ihren Mündeln jene Bedingungen bereit zu stellen, die
deren Befreiung aus der Vormundschaft erst ermöglichen. Dies wäre vor
allem „die Freiheit, seine Gedanken öffentlich mitzutheilen“,27 ohne die
menschliche Aufklärung nicht realisiert werden kann. Denn kein einzel-
nes Individuum, sondern nur die Öffentlichkeit als Ganzes kann sich
aufklären und langsam in einer „Reform der Denkungsart“ aufgeklärt
werden.28

II. Der Skandal der Aufklärung und der philosophischen Vernunft

Bevor wir fortfahren, wollen wir unsere bisherigen Resultate zusammen-


fassen: Die Schuld der Unmündigen für ihre Unmündigkeit besteht im
Fehlen ihrer sittlichen Revolution, die Maxime der Bequemlichkeit der
Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft unterzuordnen. In der Frage,
ob die Unmündigkeit eines Individuums seine eigene Schuld ist, müssen
wir deshalb eine Unterscheidung vornehmen. Insofern es nicht seine Ge-
sinnung transformiert hat, ist es verantwortlich für seine Unmündigkeit.
klärung“ in unsere Urteile über Moral, Politik und besonders „Religionssachen“ setzt
(WA AA 8, 41; AA 7, 200; Fleischacker 2013, 20), kann dies die Bedenken nicht zerstreu-
en. Denn auch deren kompetente Beurteilung kann nicht von jedem Laien erwartet wer-
den.
25
WA AA 8, 35. So könnten die Menschen ihre Fähigkeiten auch nur unter einer voll-
kommenen politischen Verfassung entwickeln (Idee AA 8, 27).
26
WA AA 8, 36.
27
WDO AA 8, 144.
28
WA AA 8, 36.
30 Grundlegung

Aber insofern die Realisierung des Ausgangs aus seiner Unmündigkeit


öffentliche Aufklärung erfordert, sind seine Vormünder verantwortlich
zu machen. Die Tatsache, dass sogar die, die ihre Denkungsart revoluti-
oniert haben, beinahe notwendig daran scheitern, sich aus ihrer Unmün-
digkeit zu befreien, ist wesentlich die Schuld ihrer politischen Vormün-
der, die ihnen das Recht verweigern, ihre Gedanken öffentlich zu kom-
munizieren.
Aus diesem Grund ist eines der Hauptthemen von Kants Aufklä-
rungsaufsatz eben diese politische Freiheit.29 In unseren Überlegungen
wollen wir hingegen zunächst einen anderen Aspekt öffentlicher Aufklä-
rung betrachten, nämlich die Verantwortung der publizierenden Auto-
ren, die die Öffentlichkeit aus ihrer Unmündigkeit befreien wollen. Wir
wollen also die Pflicht der Autoren in den Mittelpunkt rücken, die Ge-
brauch von der Freiheit der Feder machen. Diese Autoren sind nach
Kant einer strengeren Pflicht unterworfen als die anderen menschlichen
Individuen, nämlich ihre Gedanken durch „objective Gründe“ 30 zu
rechtfertigen. Indem wir zunächst zeigen, dass nach Kant alle bisherigen
Philosophen diese Pflicht nur unzulänglich erfüllt haben, werden wir
danach die Revolution der Denkungsart darzulegen versuchen, die not-
wendig ist, um öffentliche Aufklärung hervorzubringen. Ausgangspunkt
unserer Betrachtungen ist dabei ein Idiom, das sowohl in Kants Aufklä-
rungsaufsatz als auch in KrV eine zentrale Rolle spielt: der „sicher[e]
Gang“,31 den das Denken tun muss, um seinen Ausgang aus der Un-
mündigkeit zu realisieren.32
Bekanntlich rühmt Kant die Mathematik und Physik dafür, bereits
„den sichern Weg einer Wissenschaft“33 zu nehmen, der in der Philoso-
phie noch aussteht.34 Die Grundlage dieses sicheren Ganges beider Wis-
senschaften wurde jeweils durch eine „Revolution ihrer Denkart“ in
Gang gesetzt: 35 die revolutionäre Einsicht, dass ihr gesetzlicher Fort-
schritt nur möglich ist durch die transzendentale Reflexion auf die durch
das Subjekt der Erkenntnis hervorgebrachten Gesetze der Anschauung
und des Verstandes, die den Gegenstand dieser Wissenschaften konstitu-
ieren. Bis zu dieser Einsicht waren Physik und Mathematik nichts ande-
29
Vgl. hierzu: O’Neill 1989, 28–50; Deligiorgi 2005; Bangala 2008; Merritt 2011a, 232f.;
Gerhardt 1995, 186–211; Zöller 2009, 87–89; Arendt 1992, 18. Nach Hamann hingegen hat
Kant diesen Aspekt vernachlässigt (Brief an Kraus vom 18.12.1784 ZH 5, 289ff.).
30
WDO AA 8, 146.
31
KrV B vii.
32
WA AA 8, 36. Zu den Bedingungen vernünftigen Denkens vgl. O’Neill 2001, 41f.
33
KrV B x.
34
Prol AA 4, 255; 271.
35
KrV B xiii.
Dialektik der Aufklärung 31

res als eine Ansammlung von Verallgemeinerungen kontingenter Erfah-


rungen.36
Diesem gesetzlichen Gang der Mathematik und Physik setzt Kant die
Praxis der Philosophie entgegen, die nichts weiter als „ein bloßes Her-
umtappen“ 37 sei. An „freie Bewegung nicht gewöhnt“, könne das
menschliche Denken, das sich selbst aus seiner Vormundschaft zu be-
freien versucht, keinen gesetzlichen Gang gehen, sondern selbst „über
den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung thun“.38 In Bezug
auf seine Zeitgenossen und unmittelbaren Vorgänger ist diese Analyse
offensichtlich auf zwei Philosophieformationen gemünzt: Freigeisterei
und Schwärmerei.39 Beide weisen traditionelle Autoritäten zurück und
behaupten, freien Gebrauch von ihrem Denken zu machen: die Freigeis-
ter vermittelst ihrer Polemik gegen Tradition, Religion und jegliche Au-
torität; die Schwärmer durch Rekurs auf ihre Innerlichkeit. Die Freigeis-
terei tendiert dabei zu Skeptizismus, Materialismus und Amoral; die
Schwärmerei resultiert hingegen in Mystizismus und Aberglaube. Beide
machen von der Vernunft nur einen gesetzlosen Gebrauch. Daher gene-
rieren sie kein mündiges und autonomes Denken, sondern gesetzlose
Sophisterei und Misologie. Anstatt sie zu realisieren, führen beide letzt-
lich zur Zerstörung noch der Möglichkeit der Freiheit im Denken. Denn
„Freiheit im Denken [bedeutet] die Unterwerfung der Vernunft unter
keine andere Gesetze als: die sie sich selbst giebt; und ihr Gegentheil ist
die Maxime eines gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft“.40 Es ist deshalb
offensichtlich, dass weder die Freigeister noch die Schwärmer Aufklä-
rung hervorbringen, sondern sie verhindern.
Wenn sowohl Freigeisterei als auch Schwärmerei auf Grund der Ge-
setzlosigkeit ihres Denkens daran scheitern, wahre Aufklärung hervor-
zubringen, kann man sich fragen, ob dies auch für Skeptizismus, Empi-
rismus und Rationalismus gilt. Kants Antwort hierauf lautet: Ja! Kants
eigener Kritizismus ist „die eintzig-gesetzmäßige Denkungsart
[Hervorh. S. Sch.]“, die sich „die Maxime, niemals etwas anders als nach
vollständiger Prüfung der Principien für wahr anzunehmen“, zu eigen
macht, bezeichnet. 41 Der dogmatische Rationalismus ist dagegen die
Denkungsart, Behauptungen ohne kritische Prüfung ihrer Prinzipien zu

36
KrV B xiif.
37
KrV B xv.
38
WA AA 8, 36.
39
WDO AA 8, 145f.
40
WDO AA 8, 145; vgl. auch V-Met/Mron AA 29, 753; KrV B 766f./A 738f.
41
Refl 5645 AA 18, 293.
32 Grundlegung

affirmieren. 42 Für den dogmatischen Rationalismus spricht zwar ein


praktisches Interesse der Vernunft, er droht aber das spekulative Interes-
se der Vernunft zu unterminieren, indem er die Idee des Unbedingten als
einen Gegenstand möglichen Wissens identifiziert und die legitime Au-
tonomie der Vernunft in unzulässiger Weise in die Natur hineinproji-
ziert.43 Als Grund für die dogmatische Denkungsart führt Kant Furcht
und Faulheit an. Der Skeptizismus dagegen ist „eine Bosheit, indem er
nichts als Schaden anzurichten (sucht), nämlich der menschlichen Ver-
nunft alle Hofnung in den wichtigsten Fragen der Vernunft zu rauben
sucht“.44 Dem Empirismus liegt nach KrV zwar das berechtigte spekula-
tive Interesse einer unendlichen Erweiterung unserer Erfahrungser-
kenntnis zu Grunde, in seiner transzendental-unaufgeklärten Form
droht er jedoch, dem praktischen Interesse unserer Vernunft seine Kraft
und der Vernunft ihren autonomen Status zu rauben, indem er die mora-
lischen Ideen unterminiert.45
Im Folgenden werden wir uns jedoch auf Kants Auseinandersetzung
mit dem Rationalismus beschränken:
Offensichtlich folgt die rationalistische Metaphysik in der Tradition
von Leibniz und Wolff einer klar ausgearbeiteten Menge von Regeln.46
Nichtsdestotrotz weigert sich Kant während des Pantheismus-Streites,
den prominentesten Parteigänger der rationalistischen Metaphysik, näm-
lich Moses Mendelssohn, gegen Jacobi und seine Mitstreiter zu unter-
stützen. Vielmehr kritisiert er Mendelssohn dafür, dass sein „Dogmatisi-
ren mit der reinen Vernunft im Felde des Übersinnlichen der gerade Weg
zur philosophischen Schwärmerei sei“.47 Die von Kant mit Jacobis Posi-
tion identifizierte philosophische Schwärmerei ist für Kant nicht einfach
der Gegensatz zum dogmatischen Rationalismus, sondern in gewisser
Weise seine Konsequenz, und beide, der rationalistische Dogmatismus
und die Schwärmerei, setzen keine aufgeklärte, sondern im Gegenteil ei-
ne „verderbliche Denkungsart in Gang“.48 Wie Jacobis Schwärmerei so
stellt auch Mendelssohns rationalistische Metaphysik für Kant keine
Form eines autonomen Vernunftvollzuges dar. Das ist aus folgenden
Gründen der Fall:

42
Refl 5645 AA 18, 293f.
43
KrV A 470/B 498; vgl. auch Neiman 1994, 11.
44
Refl 5645 AA 18, 294.
45
KrV B 496/A 468; KpV AA 5, 71.
46
KrV B xxxvi; vgl. Winkler 2010, 41.
47
WDO AA 8, 138; vgl. auch: ibid., 134; AA 10, 428; Allison 2012, 232.
48
WDO AA 8, 134.
Dialektik der Aufklärung 33

1. Der Rationalismus überschreitet die Grenzen der Vernunft in un-


kritischer Weise. Als Folge bringt er nur dialektisches Scheinwissen her-
vor, denn im Überschreiten aller möglichen Erfahrung folgt das Denken
keinen Gesetzen mehr, die die Vernunft sich selbst gegeben hat, sondern,
genau wie die Schwärmerei, unterwirft sich keinen Gesetzen.49
2. Selbst insofern der Rationalismus von Regeln und Gesetzen wie de-
nen der allgemeinen Logik Gebrauch macht, erfüllt dieser Gebrauch
nicht das kantische Kriterium der Autonomie und ist insofern kein kriti-
sches Selbstdenken.50 Denn die Prinzipien des Rationalismus sind nicht
selbstgegeben durch die Vernunft, da sie nicht kritisch von der Vernunft
selbst untersucht wurden, ob es sich bei ihnen um notwendige Regeln
handelt und ob es Grenzen für ihre Anwendung gibt. Stattdessen be-
hauptet die rationalistische Metaphysik sie einfach in dogmatischer Wei-
se als a priori gültig und auf jeden möglichen Gegenstand applikabel.
Solche ununtersuchten Prinzipien können aber nur Überredung erzeu-
gen und kein Wissen.51 In der rationalistischen Metaphysik realisiert sich
deshalb eher der „Mechanism der Vernunft statt der Spontaneität dersel-
ben unter Gesetzen.“52
Wie Freigeisterei und Schwärmerei genügt also auch die rationalisti-
sche Metaphysik nicht den Ansprüchen wahrhaft aufgeklärten Denkens,
nämlich der Autonomieforderung, und wie der Skeptizismus ist sie „die
Euthanasie der reinen Vernunft“, die im „Tod einer gesunden Philoso-
phie“ resultiert. 53 Keine dieser drei Formen unterwirft sich selbst-
gegebenen Gesetzen der Vernunft, sondern lässt sich von autoritativ
vorgegebenen Regeln, Neigungen und Vorurteilen bestimmen.54 Deshalb
verwandeln sie die Metaphysik in einen „Kampfplatz […] endlose[r]
Streitigkeiten“ 55 und keine dieser Philosophieformen kann öffentliche
Aufklärung hervorbringen. Die Mitglieder der Öffentlichkeit können
sich nämlich entweder auf Grund von Nachahmung, Gewohnheit oder

49
WDO AA 8, 145. Natürlich unterwirft sich die rationale Metaphysik den Regeln der
allgemeinen Logik. Aber die allgemeine Logik ist, unabhängig vom Objekt des Denkens,
gültig für alles Denken. Insofern regulieren sie das Denken nur im allerschwächsten Sinne.
Durch den Gebrauch von der allgemeinen Logik ist die rationale Metaphysik nur eine
dialektische Kunst im aristotelischen Sinne, die von der Logik Gebrauch macht, um ihre
Rezipienten zu überreden (Prol AA 4, 365f.). Vgl. hierzu auch: Grier 2001, 94f.; KrV A
270f./B 326f.; Zammito 1992, 34.
50
Vgl. auch Pinkard 2002, 20.
51
Prol AA 4, 278; vgl. hierzu auch Förster 2012, 14; Schmidt 1992, 93.
52
Refl 2527 AA 16, 406.
53
KrV B 434/A 407.
54
WDO AA 8, 145.
55
KrV A viii.
34 Grundlegung

Neigung – also subjektiver Ursachen statt objektiver Gründe56 – den ob-


jektiv unbegründeten philosophischen Meinungen einer dieser „Schu-
len“ unterwerfen (Despotismus des Denkens); oder sie wenden sich
gänzlich von der Philosophie und damit der Möglichkeit öffentlicher
Aufklärung ab, da diese ihnen als sinnloser Kampf über unbeständige
Meinungen erscheint (Anarchie des Denkens, Misologie). Daher ist die
bisherige Geschichte der Metaphysik nichts anderes als eine Geschichte
„eitle[r] Versuche“57 eine Metaphysik zu begründen, die letztlich zu ih-
rer eigenen Selbstzerstörung führte.58
Der fundamentale Grund für das Scheitern aller bisherigen philoso-
phischen Versuche, öffentliche Aufklärung hervorzubringen, wird Kant
klar, als er den Grund für die erfolgreichen „Aufklärungen“ in der Ma-
thematik und Physik entdeckt. Der Erfolg beider Wissenschaften basiert
nämlich auf ihren strukturell identischen Revolutionen der Denkungsart,
der Einsicht, dass die Vernunft nur das erkennen kann, „was sie selbst
nach ihrem Entwurfe hervorbringt“.59 Nur eine solche Revolution der
Denkungsart könnte auch für die Philosophie sicherstellen, dass die öf-
fentliche Aufklärung in Zukunft solch einen sicheren Gang nimmt. Auf
Grund dieser ursprünglichen Einsicht über die Notwendigkeit einer Re-
volution der Denkungsart in der Philosophie sieht sich Kant in der Lage,
alle früheren philosophischen Anstrengungen als unwahre Formen von
Aufklärung zu kritisieren. Obwohl der andauernde Krieg in den meta-
physischen Disziplinen ein sicheres Zeichen dafür ist, dass die Philoso-
phie immer noch nicht auf allgemeingültigen Prinzipien basiert und kei-
ne öffentliche Aufklärung erzeugen kann, ist es nur diese Einsicht, die
ihm den Grund für diesen Skandal der Aufklärung offenbart. Bevor sie
inhaltliche Fragen beantwortet, muss die Vernunft – als das einzige Ver-
mögen, das ein Interesse an philosophischen Fragen besitzt – ihre eige-
nen Prinzipien aufklären, mit denen sie ihre metaphysischen Gegenstän-
de konstruiert. Mit anderen Worten: Aufklärung bedarf einer transzen-
dentalen Kritik der reinen Vernunft. Ohne sie bleibt jeder
Aufklärungsversuch ein Produkt der Vorurteile des jeweiligen Aufklä-
rers. Er basiert nach Kant sogar auf dem schädlichsten aller Vorurteile,
der „wahre[n] Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens“:

56
Log AA 9, 76.
57
KrV A 10; vgl. auch KrV B 23.
Prol AA 4, 366; 368. Ähnliches gilt nach Kant für den Empirismus (KrV B 127).
58

59
KrV B xiii. Die Frage, wie in Metaphysik und Ethik „statt des ewigen Unbestands
der Meinungen und Schulsecten eine unwandelbare Vorschrift der Lehrart die den-
kend[en] Köpfe zu einerlei Bemühungen vereinbaren“ kann, beschäftigt Kant dagegen
bereits 1763 (UD AA 2, 275).
Dialektik der Aufklärung 35

dass Metaphysik „ohne Kritik der reinen Vernunft“ möglich sei.60 Fun-
dament öffentlicher Aufklärung muss deshalb eine Kritik der Vernunft
sein und darauf aufbauend eine systematische Philosophie innerhalb der
Grenzen der reinen Vernunft.61 Öffentliche Aufklärung muss auf einer
transzendentalen Aufklärung gründen,62 deren bloße Idee all seinen Vor-
gängern unbekannt gewesen ist.63
Kant spricht seinen Mitphilosophen aber nicht nur die Ehre ab, wahre
Aufklärung hervorzubringen, sondern wirft ihnen eine Pflichtverletzung
eigener Art vor. Im immer noch anhaltenden Kriegszustand der Philo-
sophen würden sämtliche Kombattanten die Gewissheit und Wahrheit
ihrer Urteile behaupten. Aber die Gründe, die sie für ihre Urteile vor-
bringen, könnten die Adressaten ihrer Urteile nur überreden, nicht
überzeugen.64 Sie seien nämlich nicht objektiv und damit nicht für jeden
einsehbar. Gerade metaphysische Urteile seien jedoch Anmaßungen, für
deren Publikation man sich mit objektiven Gründen rechtfertigen müs-
se.65 Kant kritisiert nun diese Konfusion subjektiver Überredung mit ob-
jektiv gültiger Überzeugung durch die publizierenden Philosophen nicht
als bloßen Irrtum, sondern als eine besondere Form der Lüge, nämlich
als Unwahrhaftigkeit. Mit dieser Unwahrhaftigkeit verletzen die öffent-
lich streitenden Philosophen in schuldhafter Weise die moralische Pflicht
zur Wahrhaftigkeit.66
Dieser Vorwurf scheint auf den ersten Blick wenig gerechtfertigt: Wir
haben keinerlei Grund zu der Annahme, dass Kants Zeitgenossen und
Vorgänger nicht an die objektive Gültigkeit ihrer Argumente geglaubt
hätten. Selbst wenn sie sich diesbezüglich geirrt haben sollten, dann ha-
ben wir keinen Grund an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln. Auch Kant
selbst charakterisiert seine Vorgänger ja durchaus immer wieder positiv.
Wie können wir aus diesem Vorwurf also Sinn machen? Da wir nicht
annehmen können, dass Kant all seine Kollegen als absichtsvolle Lügner
betrachtet, könnte er etwas wie schuldhafte Fahrlässigkeit im Sinne ha-
ben: Anstatt die Arbeit der Vernunftkritik auf sich zu nehmen, begnügen
sie sich damit, nur „bequem zu vernünfteln“.67 Als Folge fehlender Ver-
nunftkritik behaupten sie ohne objektiv zureichende Gründe die Ge-
60
KrV B xxx.
61
KrV B xxiii; xxx.
62
Vgl. auch Schneiders 1983, 265.
63
Prol AA 4, 262; 324; MdS AA 6, 206.
64
VNAEF AA 8, 421f.
65
Prol AA 4, 277.
66
VNAEF AA 8, 421f.
67
KrV B xxxi. Die Konfusion vernünftiger Begründungen mit gesetzlosen Vernünfte-
leien ist nach Kant die Ursache allen Aberglaubens (Anth AA 7, 228).
36 Grundlegung

wissheit ihrer Überzeugungen. Aber schuldhafte Fahrlässigkeit erfordert


noch eine Pflicht, die vernachlässigt wird. Da Kant nur die Philosophen
der Lüge beschuldigt, müssen wir also nach der spezifischen Pflicht fra-
gen, die nur die Philosophen obligiert.
Identifizieren wir die Philosophen als diejenigen, die professionell von
ihrer Vernunft Gebrauch machen, dann sind es nach SF nur die Mitglie-
der der philosophischen Fakultät (im Gegensatz zu den Mitgliedern der
medizinischen, theologischen und juristischen Fakultät), denen es er-
laubt ist und die zugleich verpflichtet sind, jede Lehre der kritischen Un-
tersuchung durch die Vernunft zu unterwerfen.68 Innerhalb der Univer-
sität ist es so auch nur die philosophische Fakultät, an der Aufklärung
institutionalisiert werden kann.69 Daher können wir sagen, dass das Amt,
ein institutionalisierter Philosoph zu sein, eine bestimmte Pflicht mit
sich bringt, nämlich freien und zugleich verantwortlichen Gebrauch von
der eigenen Vernunft zu machen. Genauso wie ein Theologe verpflichtet
ist, die Dogmen seiner Kirche zu verkünden,70 und ein Jurist, das gesetz-
te Recht zu interpretieren, so sind die Mitglieder der philosophischen
Fakultät verpflichtet, die Objektivität rationaler Argumente und Prinzi-
pien zu untersuchen. Wenn sie hierin scheitern, dann sind sie schuldig
hinsichtlich einer Pflicht, die sich aus ihrer institutionellen Stellung
ergibt.
Aber diese Erklärung ist insofern noch unzureichend, als sie Kants
Gebrauch des Ausdrucks „Philosoph“ zu sehr einschränkt.71 Denn nicht
nur die Mitglieder der philosophischen Fakultät, sondern jeder, der seine
Gedanken öffentlich und damit einer möglichen Weltöffentlichkeit mit-
teilt, ist Gegenstand derselben Sorgfaltspflicht wie der professionelle
Philosoph. Freiheit der Feder und öffentlicher Vernunftgebrauch sind
nicht nur Rechte, sondern unterwerfen diejenigen, die von ihr Gebrauch
machen, zugleich einer Pflicht. Wer auch immer seine Gedanken an die
Weltöffentlichkeit richtet, muss dafür Sorge tragen, dass sie für die öf-
fentliche Mitteilung geeignet sind. Aber da der Vernunftgebrauch nur

68
SF AA 7, 28. So schreibt Brandt zu Recht: „Die Philosophische Fakultät ist der Ort
der Wahrheitssuche, die konstitutiv autonom ist“ (Brandt 2003b, 95).
69
Kant ordnet die Freiheit, öffentlich zu forschen, der philosophischen Fakultät zu.
Den drei oberen Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin) dagegen ist diese Freiheit versagt,
weil sie nicht im Interesse der Vernunft, sondern der Regierung tätig sind (SF AA 7, 18–
20). Ihnen spricht Kant gewissermaßen die Wissenschaftlichkeit ab, da sie ihre Lehren auf
von der Regierung vorgegebene Schriften und auf Autorität gründen (ibid., 22). Die phi-
losophische Fakultät ist dagegen nur „der Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Re-
gierung“ (ibid., 27) unterworfen. Sie verfolgt allein das Interesse der Vernunft (ibid., 32).
70
RGV AA 6, 112f.
71
Brief an Jacobi vom 30.8.1789 AA 11, 76f.
Dialektik der Aufklärung 37

dann wahrhaft öffentlich ist, wenn er sich an die Weltöffentlichkeit rich-


tet, muss man vor der Publikation prüfen, ob die eigenen Gedanken auf
„objectiven Gründen“ basieren.72 Das setzt voraus, dass das eigene Den-
ken universellen Gesetzen unterworfen ist. Aber weder die Urteile des
Dogmatikers, noch die des Skeptikers und schon gar nicht die des
Schwärmers erfüllen diese Anforderung, da sie nichts sind als gesetzloses
Vernünfteln und dialektische Überredung. Daher haben alle früheren
Philosophen die erforderliche Sorgfaltspflicht vernachlässigt, die sich aus
ihrer Inanspruchnahme der Freiheit der öffentlichen Mitteilung ihrer
Gedanken ergibt.

Wir sind nun in der Lage, die Frage zu beantworten, ob Kant die Dialek-
tik der Aufklärung mit ihren Alternativen von Anerkennung nur einer
Form der Philosophie und der Depotenzierung der Philosophie auf geis-
tige Gymnastik in seiner Aufklärungskonzeption überwinden kann. Für
den individuellen Vernunftgebrauch gelingt ihm dies in der Tat. Denn
allein durch den Versuch autonomen Vernunftgebrauchs, auch wenn
dieser scheitert, erfüllt das menschliche Individuum seine persönliche
moralische Pflicht zur Reform seiner eigenen Sinnesart. In diesem Sinn
kann Kant die früheren Aufklärer dann in der Tat als Teil einer Aufklä-
rung betrachten. Aber da sie ihre Gedanken öffentlich vortragen, sind sie
wegen der Art, in der sie von der Freiheit der öffentlichen Mitteilbarkeit
von Gedanken Gebrauch machen, zu tadeln und befördern nicht simpli-
citer eine aufgeklärte Denkweise, sondern eine verderbliche Denkungs-
art. Insofern sind sie für Kant an der öffentlichen Aufklärung moralisch
schuldig geworden.73 Anders als einige andere Aufklärer plädiert Kant
jedoch nicht für eine Limitierung der Publikationsfreiheit solch an sich
aufklärungsschädlicher Schriften. Vielmehr ist jeder berechtigt, in ge-
druckten Schriften aufzuklären. Mit einer Einschränkung dieses Rechts
würde das Recht seine Grenzen überschreiten. Es ist vielmehr nur die
moralische Pflicht jedes Einzelnen, wirklich so gut aufzuklären, wie er
kann. Außerdem tragen auch gescheiterte öffentliche Aufklärungsversu-
che indirekt zur Beförderung der Aufklärung bei. So wie Vorurteile
zwar keinen Wert an sich besitzen, aber dennoch einen instrumentellen
Wert,74 so sind auch diese publizierten Urteile und der daraus resultie-

72
SF AA 7, 29.
73
Kant spricht so explizit von der „Schuld“ des Leibniz an dem philosophischen Fehl-
verständnis der Sinnlichkeit als bloßem Mangel der Deutlichkeit von Verstandesvorstel-
lungen (Anth AA 7, 140f.). Jeder Autor ist für Kant verantwortlich für seine Publikation
(AA 12, 11).
74
PhilEnz AA 29, 26.
38 Grundlegung

rende Krieg zwischen den philosophischen Parteien nicht an sich aufklä-


rungsförderlich, haben aber einen instrumentellen Wert für die öffentli-
che Aufklärung, indem sie die Revolution der Denkungsart innerhalb
der Philosophie und damit die wahre transzendentale Aufklärung beför-
dern.75 Erst die Streitigkeiten in der Metaphysik nötigen zu einer diesen
Streit befriedenden transzendentalen Kritik der reinen Vernunft und ei-
ner darauf basierenden autonomen Gesetzgebung der Vernunft. Wie die
Gesellschaften durch Einsetzung einer Gesetzgebung der Freiheit, in der
alle Individuen sich als Gesetzgeber verstehen können, diese von der ge-
setzlosen Freiheit in den gesetzlichen bürgerlichen Stand der Freiheit
überführt, so transformiert die transzendentale Aufklärung den gesetzlo-
sen Vernunftgebrauch in einen autonomen gesetzlichen Vernunftge-
brauch, in dem jeder Streit vor dem einzig berufenen Richter, nämlich
der reinen Vernunft selbst, entschieden werden kann.76 Dieses transzen-
dentale Aufklärungsprojekt wollen wir im folgenden Abschnitt nun ein-
gehender skizzieren.

B. Das transzendentale Aufklärungsprojekt

I. Grundlegung eines ewigen Friedens in der Philosophie

Wir haben gesehen, dass nach Kant öffentliche Aufklärung an sich nur
durch eine Reform der Denkungsart hervorgebracht werden kann. Diese
Reform muss auf einer Kritik der Vernunft bzw. transzendentaler Auf-
klärung basieren. Die Vernachlässigung dieser Kritik ist der Skandal aller
bisherigen Aufklärung und der Grund für die Produktion bloßen
Scheinwissens anstelle von Aufklärung. Im folgenden Abschnitt werden
wir nun zu bestimmen versuchen, um was für eine Art Aufklärung es
sich bei der transzendentalen Aufklärung handelt.
Da die Aufklärung als transzendentale Kritik primär auf eine Bestim-
mung der Grenzen der Vernunft abzielt, so kann sie nicht dogmatisch
sein. Vielmehr hat sie den legitimen Vernunftgebrauch vom transzenden-
ten Gebrauch der Vernunft zu unterscheiden, indem sie die Operationen
der spekulativen Vernunft untersucht und gleichzeitig auf ihren empiri-
schen Gebrauch beschränkt.

75
MdS AA 6, 206f.; KrV A 425/B 453; A x.
76
KrV B 780/A 752.
Das transzendentale Aufklärungsprojekt 39

Die Resultate dieser Aufklärung bleiben deshalb primär negativ:1

Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft
ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung,
sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu
entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten.2

Transzendentale Aufklärung führt nicht zu einer Erweiterung unseres


Wissens von der Welt (weder der empirischen Welt noch der Welt der
Dinge an sich), sondern hat die Aufgabe, „die Blendwerke einer ihre
Grenzen verkennenden Vernunft zu entdecken, und, vermittelst hinrei-
chender Aufklärung unserer Begriffe, den Eigendünkel der Spekulation
auf das bescheidene, aber gründliche Selbsterkenntnis zurückzuführen“.3
Im Gegensatz zu anderen Aufklärern kritisiert Kants transzendentale
Aufklärung jedoch nicht einzelne falsche Urteile und Überzeugungen,
sondern das ganze „System von Täuschungen und Blendwerken“,4 das
allem transzendenten Vernunftgebrauch zu Grunde liegt. In diesem Sin-
ne geht Kant dadurch über den Skeptizismus Humes hinaus, dass er
nicht mehr nur „die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst,
nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit“ der Kritik unterwirft.5
Die bloße Zensur der Vernunft ginge damit in eine Kritik der Vernunft
über und nur diese Kritik beende die philosophischen Streitigkeiten und
die Dialektik der Aufklärung.6
Ein Teil dieser Kritik besteht in Kants berühmter These, dass zumin-
dest in der Erkenntnis all unsere Formen der Anschauung, unsere Be-
griffe und unsere Ideen nur für einen empirischen Gebrauch geeignet
sind und deshalb mögliche Erfahrung voraussetzen. Transzendentalphi-
losophie als System der Selbstprüfung der Vernunft zerstört deshalb alle
Illusionen über mögliches metaphysisches Wissen.7 Dafür reduziert Kant
den gesamten überschwänglichen Vernunftgebrauch auf drei Arten des
dialektischen Fehlschlusses (Paralogismus, Antinomie, Ideal),8 die als di-
alektisch nur Schein anstatt von Wissen produzieren. Alle früheren Phi-

1
KU AA 5, 176; 294; KrV B 27/A 13; B 765/A 737; B 739/A 711; vgl. hierzu auch:
O’Neill 1989, 21.
2
KrV B 823/A 795.
3
KrV B 763/A 735; vgl. auch B xxxi; xxxiv; B 25/A 11; B 297/A 238; B 737/A 709; B
514/A 486.
4
KrV B 739/A 711.
5
KrV B 789/A 761.
6
KrV B 791f./A 763f.
7
KrV A viii; KrV B 501/A 473.
8
KrV B 397f./A 339f.
40 Grundlegung

losophien sind durch die Logik dieses Scheins getäuscht worden.9 Bei
diesem Schein handelt es sich gerade nicht um einen Irrtum, dem Dog-
matisten, Schwärmer und Skeptizisten auf unterschiedliche Weisen ver-
fallen sind, sondern um eine selbstverschuldete Illusion:10 den Übergang
von der legitimen Setzung der Vernunftidee von der systematischen Ein-
heit unserer Erkenntnis als subjektiver Bedingung von Erkenntnis zur
Annahme eines unabhängigen und unbedingten Objekts.11
Genauso wichtig wie die Aufdeckung dieses transzendentalen Scheins
ist die Entdeckung der Ursache, die ihm zu Grunde liegt. Wie Kants
Kritiker Jacobi es formuliert: Wie kommt die Vernunft überhaupt dazu,
etwas so Unvernünftiges zu tun, wie nach einem Wissen des Absoluten
zu streben und dabei ihre eigenen Grenzen zu überschreiten?12
Kant beantwortet diese Frage mit dem „natürlichen Hang“ der
menschlichen Vernunft, die Grenzen möglicher Erfahrung zu über-
schreiten.13 Metaphysische Fragen verlangen von jedem endlichen Ver-
nunftwesen notwendig eine Antwort, denn es ist die natürliche Praxis
der Vernunft, die unbedingte Bedingung alles Bedingten zu suchen. Da-
bei bringt sie notwendig verschiedene Ideen des Unbedingten (Seele,
Weltganzes, Freiheit, Gott) hervor. Bei jeder bedingten Erkenntnis muss
die Vernunft „die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als voll-
endet und ihrer Totalität nach gegeben“ betrachten,14 da das Bedingte
nur unter Voraussetzung der Vollständigkeit seiner Bedingungen denk-
bar ist.15 Die reinen Vernunftbegriffe sind deshalb keine Fehlleistungen,
sondern die letzten Zwecke unserer Vernunft, auf die alle ihre Anstren-
gungen zulaufen.16 Nichtsdestotrotz erzeugen sie den transzendentalen
Schein, den Ideen der Vernunft objektiven Status zuzuschreiben.17
Wie Michelle Grier herausgestellt hat, ist jedoch nur der transzenden-
tale Schein natürlich und notwendig, nicht aber die darauf basierenden
dialektischen Syllogismen.18 Anders formuliert: Nur der transzendentale
Schein von den Ideen des Unbedingten ist unserem spekulativen Vermö-
gen natürlich, nicht aber die Täuschung durch dialektische Syllogismen.
Aber da die Natur und Bedeutung des transzendentalen Scheins durch
9
KrV B 352ff./A 296ff.
10
Hierauf macht im besonderen Grier 2001, 1f. aufmerksam.
11
Grier 2001, 8f.
12
Spin2 JW 1,1, 259.
13
KrV B 670/A 642; KU AA 5, 294f.
14
KrV B 388/A 332.
15
KrV B 394/A 336.
16
KrV B 491/A 463; V-Met/Mron AA 29, 757.
17
Grier 2011, 11; KrV B 353/A 296f.
18
Grier 2001; vgl. auch: KrV B 697/A 669.
Das transzendentale Aufklärungsprojekt 41

eine Kritik der Vernunft aufgeklärt werden kann und nicht mit Not-
wendigkeit zu dialektischen Syllogismen führt, kann man seine Täu-
schungen über das Unbedingte nicht durch einen Mangel der Vernunft
entschuldigen. Also ist dies keine Entschuldung, sondern nur eine Erklä-
rung für das bisherige Scheitern aller philosophischen Aufklärung und
ihr Resultieren in einer Dialektik der Aufklärung. Denn sobald die Ver-
nunft den Ursprung des Scheins in ihr selbst entdeckt, erkennt sie auch,
dass sie ihn nur durch ihre eigenen Ressourcen aufklären kann.19 Durch
die Aufklärung des in der Vernunft liegenden „transzendentalen
Grund[es]“,20 dass die in den Ideen ausgedrückte systematische Einheit
keine gegebene Tatsache, sondern eine Projektion der Vernunft ist, 21
kann der transzendentale Schein zwar „niemals vertilgt“, aber doch „un-
schädlich gemacht“ werden.22
Kants ursprüngliche Einsicht führt also zu einer zweifachen transzen-
dentalen Aufklärung: Die eine Einsicht besteht in der Aufklärung der
Grenzen unseres Wissens und der Anwendbarkeit unserer Vernunft, die
andere in der Entdeckung des Interesses unserer Vernunft am Unbeding-
ten. Daher weist Kants Aufklärung die früheren Versuche von Aufklä-
rung und ihren Umgang mit metaphysischen Problemen nicht einfach
zurück, sondern beansprucht vielmehr, dass man sie erst auf Basis seiner
Aufklärung angemessen verstehen kann.23 Der Grund für die philosophi-
sche Unmündigkeit aller früheren Philosophen ist also ihr Missverständ-
nis bezüglich ihrer eigenen Fragen und Begriffe.

II. Die ursprüngliche Einsicht, die alle älteren Formen


von Aufklärung überflüssig macht

In unseren bisherigen Überlegungen haben wir gesehen, dass der Grund


für den ewigen Krieg in der Metaphysik nach Kant in ihrem Mangel an
transzendentaler Aufklärung besteht. Dialektisch voranschreitend vom
transzendentalen Schein, dass die Begriffe des Verstandes und die Ideen
der Vernunft mit Dingen an sich selbst befasst sind, war jede Philosophie
vor Kant eher eine Instanziierung philosophischer Unmündigkeit als ein
19
KrV B 492 /A 464.
20
KrV B 399/A 341.
21
KrV B 673/A 645; B 675/A 647; B 697/A 669; B 699/A 671; B 708/A 680.
22
KrV B 450/A 422; B 390/A 333; B 669/A 641.
23
Wood 1978, 28; KrV B 544/A 516. Damit ist Kants Aufklärung in der Tat „Aufklä-
rung in einem ganz und gar wörtlichen Sinn: Sie räumt nicht Überlebtes beiseite und
zwingt schlechthin Neues herbei, sondern sie bringt Licht in Bestehendes, – in Vernunft,
deren Streit mit sich und dessen Möglichkeit und Sinn.“ (Henrich 1966, 57.)
42 Grundlegung

Beispiel für den autonomen Gebrauch der Vernunft. Im Gegensatz hier-


zu klärt die transzendentale Aufklärung den transzendentalen Schein auf
und offenbart zugleich unser natürliches Vernunftinteresse am Unbe-
dingten als den letzten Grund für den Hang aller früheren Philosophen,
die Vernunft über ihre legitimen Grenzen hinaus auszudehnen. In der
Kritik unterwirft die Vernunft sich selbst einem „gesetzlichen Zwange“,
nämlich ihren eigenen Gesetzen, so dass der Stand der Natur (der bloß
dogmatische Streit) aufhört und wahre Freiheit, nämlich die aller ver-
nünftigen Wesen unter den Gesetzen der Vernunft, realisiert werden
kann. 24 In unseren abschließenden Überlegungen werden wir jetzt zu
zeigen versuchen, dass Kants transzendentale Aufklärung nicht nur den
Grund für den illegitimen philosophischen Vernunftgebrauch erhellt,
sondern auch den Grund dafür, dass der gemeine Menschenverstand sei-
nen persönlichen Vernunftgebrauch den Urteilen seiner Vormünder
unterwirft, und damit auch für den Aberglauben, dessen Bekämpfung
ein wesentliches Interesse der Aufklärung bildet:
In ihrer Bekämpfung des Aberglaubens schreiben die Aufklärer die
Verantwortung für die menschliche Neigung zum Aberglauben immer
wieder äußeren Faktoren wie dem Betrug einzelner Religionsgründer
oder bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zu. Für Kant hingegen
gründet die menschliche Neigung zu Aberglauben und Vorurteil we-
sentlich im natürlichen Interesse der Menschen an metaphysischen Fra-
gen bezüglich des Unbedingten, die sie selbst jedoch nicht durch ihre ei-
gene Vernunft beantworten können. Auf Grund dieses natürlichen Inte-
resses streben sie notwendig nach einem Wissen, das jenseits der
Grenzen der Vernunft liegt und diese in ihre Dialektik verwickelt.25 Zu-
gleich müssen sie feststellen, dass ihre eigene Vernunft kein solches Wis-
sen hervorbringen kann. Solange das Individuum nicht über den trans-
zendentalen Grund für diesen Widerstreit aufgeklärt ist, ist es deshalb
nicht in der Lage, sein Denken den Gesetzen seiner eigenen Vernunft zu
unterwerfen. Vielmehr ist es geneigt, sein Denken der Meinung anderer
zu unterwerfen, die beanspruchen, im Besitz jener Erkenntnisse zu sein,
an denen seine Vernunft ein natürliches und notwendiges Interesse hat.26
Durch die öffentliche Aufklärung über die Anmaßung der intellektuellen
Vormünder, im Besitz metaphysischen Wissens zu sein, zerstört die
transzendentale Aufklärung diese Grundlage intellektueller Heterono-
mie. Die Aufklärung über die Paralogismen der transzendentalen Seelen-
lehre zum Beispiel zerstört den Schein einer möglichen Wissenschaft der
24
KrV B 780/A 752.
25
KU AA 5, 294.
26
KU AA 5, 294; KrV B 7.
Das transzendentale Aufklärungsprojekt 43

Seele und hebt damit den Unterschied zwischen einer Klasse metaphysi-
scher Experten, die im Besitz eines bestimmten metaphysischen Wissens
über die Seele sind, und den Laien des gesunden Menschenverstandes,
die ihre eigene Vernunft der Expertise selbsterklärter Experten unter-
werfen, auf. Betrachtet man diesen Sachverhalt andersherum, werden die
Individuen solange ihre Urteile den Meinungen intellektueller Vormün-
der unterwerfen, solange es für sie einen Grund gibt zu glauben, dass es
definitive Antworten auf diejenigen Fragen gibt, die sie nicht selbst be-
antworten können, an denen ihre Vernunft jedoch ein notwendiges Inte-
resse nimmt. Daher kann nur eine durch transzendentale Aufklärung
hervorgebrachte Revolution der Denkungsart eine öffentliche Autono-
mie des Denkens begründen. Sobald diese Revolution öffentlich imple-
mentiert ist, kann die metaphysische Aufklärung denselben sicheren und
gesetzlichen Gang nehmen wie Mathematik und Physik. Hierfür gibt es
zwei Gründe:
1. Indem sie den Grund für den philosophischen Kriegszustand ent-
hüllt, erzwingt die transzendentale Aufklärung von den philosophischen
Kriegsparteien das Eingeständnis, dass ihr Krieg nichts als „Verblendung
und Vorurteile“ zum Gegenstand hatte.27
2. Sie hebt auch alle frühere Vorurteilskritik in sich auf und gibt ihr
eine systematische Form, indem sie die Wurzel allen Aberglaubens aus-
rottet.28

27
KrV B 775/A 747; vgl. auch: B 529/A 501. So bedient sich Kant der Metapher, dass
die Produkte der Vernunft durch die Vernunft selbst „ans Licht gebracht“ werden (A xx).
28
WDO AA 8, 143; KrV B 27.
44 Grundlegung

C. Hermeneutische Probleme

Wir sind von der These der Notwendigkeit der Selbstaufklärung nach
Kant ausgegangen. Wir konnten zeigen, dass das Individuum insofern
auf eine moderate Aufklärung und nicht die Annahme der Transzenden-
talphilosophie verpflichtet ist. Von ihm ist nur die Revolution seiner
Denkungsart und nicht die Vollendung der Reform seiner Sinnesart ge-
fordert. Von dieser individuellen Pflicht unterschieden wir die öffentli-
che Pflicht publizierender Autoren, die in metaphysicis legitimer Weise
nur Transzendentalphilosophie betreiben dürfen. Zuletzt stellten wir
fest, dass die Verwirklichung aufgeklärter Sinnesart für Kant die öffentli-
che Implementierung der Transzendentalphilosophie voraussetzt.
Die These, Kant halte seine Vernunftkritik als transzendentale Aufklä-
rung für ein notwendiges Moment eines gelungenen Lebenswandels der
Menschheit als Ganzer, ist jedoch selbst aus kantischer Perspektive
schwer zu akzeptieren. Sachlich scheint die Aufklärungskonzeption
Kants damit zu anspruchsvolle Anforderungen an das Individuum zu
stellen, um sie zu einer allgemeinen Menschenpflicht zu erheben. Her-
meneutisch scheint diese Anforderung Textbefunden zu widersprechen,
die die Möglichkeit spekulativer Universalaufklärung leugnen, da der
gemeine Verstand sich nicht zur notwendigen Abstraktion metaphysi-
scher Spekulationen erheben könne. In Bezug auf die Moral scheint hin-
gegen gar keine Aufklärung notwendig, weil jeder Mensch ohnehin
schon immer weiß, was das moralische Gesetz gebietet. Die sachlichen
Probleme müssen zunächst zugestanden werden, das hermeneutische
Problem soll im Folgenden hingegen dem Versuch einer Antwort zuge-
führt werden.

I. Die Unmöglichkeit spekulativer Universalaufklärung

Aus Perspektive von Kants theoretischer Vernunft ergibt sich das her-
meneutische Problem für unsere Interpretation von Kants Aufklärungs-
projekt aus Stellen, an denen Kant deutliche Skepsis gegenüber der all-
gemeinen Zugänglichkeit und Popularisierbarkeit seiner Vernunftkritik
äußert.1 In Fragen der Metaphysik spricht Kant so in Prol dem gesunden
Menschenverstand jede Autorität ab.2 Metaphysik und transzendentale
Vernunftkritik könnten niemals popularisiert werden, da in ihnen nach

1
SF AA 7, 34; Prol AA 4, 2623f.
2
Prol AA 4, 260; 277.
Hermeneutische Probleme 45

einer strikten Trennung des Sinnlichen vom rein Vernünftigen nur das
betrachtet würde, was Gegenstand der Vernunft ist.3 Das rein Vernünfti-
ge könne aber nicht populär werden, da Popularität gerade in „einer zur
allgemeinen Mittheilung hinreichenden Versinnlichung“4 des mitgeteil-
ten Gegenstandes bestehe. So sei Popularität Philosophie in sinnlicher
Volkssprache. Damit nivelliert sie notwendig den für Vernunftkritik und
Metaphysik konstitutiven Unterschied zwischen Vernunft und Sinnlich-
keit.
Dies impliziert aber nicht, dass Transzendentalphilosophie nur eine
Angelegenheit für spekulativ begabte Sonntagskinder wäre. Kant betont
ja gerade die Notwendigkeit der Kommunikabilität des Vernünftigen.5
Auch das Antinomienproblem ist für Kant kein rein akademisches Prob-
lem, sondern eines für jede menschliche Vernunft.6 Gleichzeitig finde die
Vernunft in sich selbst alle Ressourcen, die ihr immanenten Probleme
aufzulösen. Sie habe es hier nämlich „bloß mit sich selbst, mit Aufgaben,
die ganz aus ihrem Schoße entspringen, und ihr nicht durch die Natur
der Dinge, die von ihr unterschieden sind, sondern durch ihre eigene
vorgelegt sind, zu tun“.7 Da die Ideen der reinen Vernunft von ihr selbst
hervorgebracht sind, können sie für sie auch nicht opak sein.8
Nun ist jeder Mensch nach Kant in gleichem Maße mit Vernunft be-
gabt. 9 So muss sich das Problem der Antinomien einerseits für jeden
Menschen stellen, andererseits muss jeder Mensch auch prinzipiell in der
Lage sein, es aufzulösen. Denn jede Frage in Bezug auf einen Gegen-
stand der reinen Vernunft ist nach Kant durch die menschliche Vernunft
selbst auflösbar und die menschliche Vernunft hat sogar die Pflicht sie zu
beantworten.10 Diese Auflösung ist aber nur unter Zugrundelegung der
kritischen Philosophie möglich. Deshalb muss „auch dem schwierigsten
und unlustigsten Lehrlinge“ noch der kritische Nutzen der Transzen-
dentalphilosophie nahegebracht werden können. 11 Denn die Vernunft
kann ihre Entzweiung mit sich selbst nur durch Selbstkritik überwin-
den.12 Sowohl die metaphysischen Fragen als auch die Einsicht in ihre

3
KrV B xxxiiif. Diesen Unterschied kann nur die Vernunft machen (GMS AA 4, 452).
4
MdS AA 6, 206.
5
Vgl. etwa Refl 896ff. AA 15, 391–394.
6
KrV B 449/A 422; B 867/A 839; B 870/A 842; Prol AA 4, 328.
7
KrV B 23; A xiv; B ixf.; Prol AA 4, 338; 327.
8
KrV B 507/A 479.
9
Anders verhält es sich bei der Urteilskraft, die ein besonderes Talent jedes Menschen
ist, das nicht gelehrt, sondern nur geübt werden kann (KrV B 172/A 133).
10
KrV B 505/A 477; Prol AA 4, 329; 349.
11
KrV B 297/A 237f.
12
KrV A xii.
46 Grundlegung

Problematik als auch ihre Auflösbarkeit durch die transzendentale Kritik


und damit das transzendentale Aufklärungsprojekt als Ganzes müssen
prinzipiell also jedem Menschen zugänglich sein.
Wie ist nun dieser Befund mit Kants These von der Unzugänglichkeit
der transzendentalen Aufklärung für den gesunden Menschenverstand
und ihrer Unpopularisierbarkeit in Einklang zu bringen? Der gesunde
Menschenverstand ist für das transzendentale Aufklärungsprojekt des-
halb unzulänglich, da er nach einer Bestimmung Kants gar nicht weiß,
was es bedeutet, etwas zu begreifen. Sein modus operandi besteht in der
bloßen Anwendung von Regeln und Prinzipien,13 deren Kenntnis er je
schon voraussetzt. Anstatt ihre Geltung vor dem Gerichtshof der Ver-
nunft kritisch zu rechtfertigen, versucht er sie bestenfalls „durch Ver-
such und Erfolg continuirlich“ zu bewähren.14 Damit steht sein modus
operandi dem der kantischen Aufklärung diametral entgegen, weswegen
ja auch von denen, die sich unkritisch seiner bedienen, eine Revolution
der Denkungsart insofern erfordert wird, als sie das Gewohnte der
Rechtfertigungspflicht unterwerfen.
Kants These von der Unpopularisierbarkeit der Vernunftkritik lässt
sich hingegen zum einen auf ihre notwendig streng wissenschaftliche
Darstellungsweise beziehen.15 Zum anderen lässt sie sich als Kritik an der
spätaufklärerischen Populärphilosophie verstehen. 16 Diese betrachtet
spekulative Probleme primär unter dem Gesichtspunkt pragmatischer
Nutzbarkeit und hat damit nach Kant vornehmlich ein instrumentelles
Interesse an der Vernunft.17 Der Begriff der Popularität ist für Kant da-
mit eindeutig negativ konnotiert. Philosophie muss für Kant deshalb
nicht dem Kriterium der Popularität, sondern der Publizität genügen.
Die Populärphilosophie genügt aber gerade nicht den Kriterien der Pub-
lizität, da sie nur ein erkünsteltes „Coalitionssystem widersprechender
Grundsätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit“ ist.18
13
Anth AA 7, 139.
14
Anth AA 7, 140.
15
KrV A xviii; vgl. auch Zöller 2009, 91–93.
GMS AA 4, 409f.; vgl. auch Prol AA 4, 314.
16

17
KrV B 501f./A 473f.
18
KpV AA 5, 24; vgl. Anth AA 7, 139. Auch in Bezug auf moralische Fragen kritisiert
Kant die populäre Philosophie dafür, nie bis zu den Prinzipien der Moral vorzudringen
(GMS AA 4, 412). Popularität könne so nach Kant nur das historische Resultat, nicht der
Anfang seiner Philosophie sein (Prol AA 4, 261). Vgl. hierzu auch Arendt 1992, 28. Mit
der Behauptung der Unpopularität seiner Kritik intendiert Kant zudem eine Beruhigung
der Zensur, für die etwa seine Widerlegung der Beweise Gottes und der Unsterblichkeit
der Seele die öffentliche Moral gefährden könnte (KrV B xxxiv). So behauptet Kant auch
die Ungefährlichkeit seiner Religionsschrift für das bürgerliche Gemeinwesen und die öf-
fentlichen Landesreligion, da sie ohnehin nur von Fachgelehrten verstanden werden kön-
Hermeneutische Probleme 47

II. Die Notwendigkeit praktischer Universalaufklärung

In Bezug auf Kants Moralphilosophie erscheint das von uns rekonstru-


ierte Aufklärungsprojekt nicht als zu anspruchsvoll, sondern schlicht als
überflüssig. Denn nach Kant kann noch der „gemeinste und ungeübteste
Verstand“19 beurteilen, was nach dem Sittengesetz zu tun ist.20 Da jedes
menschliche Individuum zur Moralität verpflichtet ist, muss es auch fä-
hig sein, diese Pflicht ohne transzendentale Aufklärung zu erfüllen.21
Andererseits hält Kant seine moralphilosophischen Schriften jedoch
für „unentbehrlich nothwendig“.22 Denn auch wenn jeder Mensch der
„Idee einer praktischen reinen Vernunft zwar fähig“ ist, könne er sich
doch nicht „in seinem Lebenswandel in concreto“ realisieren. 23 Der
Grund hierfür ist, dass der Mensch die Metaphysik der Sitten
„gemeiniglich nur auf dunkle Art“ in sich trage.24 Ohne Bewusstsein der
reinen Vernunftnorm, nach der sittliche Gesetze adäquat beurteilt wer-
den können, bestehe immer die Gefahr, dem Sittengesetz nicht oder nur
zufällig zu entsprechen. Deshalb sei es notwendig, das Moralgesetz in
seiner Reinheit darzustellen und dies sei nur in einer Metaphysik der Sit-
ten möglich.25
Vor seiner Moralphilosophie habe es deshalb überhaupt keine Moral-
philosophie gegeben, da die vorigen ethischen Systeme ihre Prinzipien
und die Beweggründe moralischen Handelns nicht aus der Vernunft ab-
geleitet, sondern aus der Erfahrung geschöpft hätten. Als Folge hätten
alle früheren Ethiken unter dem Prinzip der Glückseligkeit und damit
der Heteronomie gestanden, indem sie Glückseligkeit und Moral kon-
fundiert hätten. Diese Konfusion resultiere jedoch in der „Euthanasie
[…] aller Moral“, 26 so wie in der Spekulation alle vorherigen Aufklä-
rungsversuche in der „Euthanasie der Vernunft“ resultierten. Alle vorhe-

ne (SF AA 7, 8). Hierfür spricht auch, dass der Zensor G. F. Hillmer die Publikation des
ersten Aufsatzes von RGV erlaubt hatte, eben weil er an Philosophen und nicht an das
Publikum adressiert sei (Kühn 2007, 421). In der Vorrede zur zweiten Auflage von RGV
bestimmt Kant den Adressatenkreis seiner Schrift hingegen als all diejenigen, die vertraut
mit der gemeinen Moral sind.
19
KpV AA 5, 36.
20
KrV B 859/A 831; vgl. KpV AA 5, 87; V-Lo/Philippi AA 24, 369; GMS AA 4, 391;
411; OP AA 21, 117.
21
KpV AA 5, 36f.; GMS AA 4, 403f.
22
GMS AA 4, 389.
23
GMS AA 4, 389.
24
MdS AA 6, 216.
25
GMS AA 4, 390.
26
MdS AA 6, 378.
48 Grundlegung

rigen ethischen Systeme würden deshalb nach Kant nicht die menschli-
che Autonomie, sondern die Heteronomie des Willens befördern.27
Die kritische Moralphilosophie muss also unser natürliches Moralver-
ständnis vor ihrer Korruption durch schlechte Philosophie retten.28 Da-
zu bedarf es wie in der theoretischen Philosophie der kritischen Aufklä-
rung einer natürlichen Dialektik. Denn die Pervertierung der Moral
durch die Philosophie ist in der natürlichen Dialektik unserer prakti-
schen Vernunft gegründet, die Gesetze der Pflicht mit Bedürfnissen und
Neigungen zu kontaminieren. Diese „natürliche Dialektik“ der prakti-
schen Vernunft und die durch sie hervorgerufene Konfusion von Selbst-
liebe und moralischer Pflicht gefährden selbst bei gutem Willen unabläs-
sig unsere moralische Unschuld.29 Sie kann aber nur durch die Kritik der
praktischen Vernunft aufgelöst werden. 30 Alle vorkritischen Philoso-
phien, durch die natürliche Dialektik ebenfalls getäuscht, zementierten
diese Verwirrung hingegen eher als dass sie sie zerstört hätten. Die Dia-
lektik der praktischen gemeinen Vernunft macht deshalb die transzen-
dentale Aufklärung (die strikte Trennung des Prinzips der Sittlichkeit
von fremden Antrieben und Selbstliebe)31 auch in praktischer Hinsicht
zu einer moralischen Notwendigkeit.32
Aufgeklärt wird das moralische Subjekt dabei nur über die Prinzipien
seiner moralischen Urteile. 33 Kants moralphilosophische Aufklärung
bringt den moralischen Akteuren also nicht Neues zur Kenntnis, son-
dern ist eine konzeptionelle Analyse dessen, was im moralischen Be-
wusstsein immer schon vorausgesetzt wird.34 Über die Relevanz dieser
Aufklärung lässt Kant keine Zweifel aufkommen: Mit ihr wird „der An-
fang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Na-
turanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte prak-
tische Prinzipien und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammen-
stimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze
verwandeln kann“.35

27
GMS AA 4, 442.
28
Guyer 2000, 208.
29
GMS AA 4, 404f.; 426; V-Mo/Mron II AA 29, 613; vgl. hierzu: Sedgwick 2008, 81.
30
Guyer 2000, 209.
GMS AA 4, 426.
31

32
GMS AA 4, 405.
33
GMS AA 4, 404.
34
Allison 2011, 34. GMS AA 4, 403.
35
Idee AA 8, 21. Inwieweit man diese Grundlegung der praktischen Aufklärung als
„transzendentale Aufklärung“ bezeichnen kann, ist etwas problematisch (vgl. hierzu:
Höffe 2004, 65–67).
Hermeneutische Probleme 49

Wir sahen, dass die Aufklärung als Ausgang aus der menschlichen Un-
mündigkeit nicht nur ein theoretisches Problem, sondern auch eine mo-
ralische Verpflichtung für jedes menschliche Individuum ist. Aber das
Individuum kann nur seine Sinnesart reformieren. Um seine Mündigkeit
zu realisieren, ist es auf öffentliche Aufklärung angewiesen, die nur
durch öffentliche Philosophie erzeugt werden kann. Daher ist die Frei-
heit, seine Gedanken öffentlich zu kommunizieren, nicht nur ein Recht,
sondern impliziert auch eine Pflicht für die veröffentlichenden Autoren,
nämlich nur solche Gedanken zu veröffentlichen, die der lesenden Öf-
fentlichkeit dabei helfen, ihren Ausgang aus ihrer Unmündigkeit zu
verwirklichen. Kants radikale Schlussfolgerung ist jedoch, dass alle bis-
herigen Aufklärungsversuche diese Pflicht bisher nicht erfüllt haben, da
sie auf derselben natürlichen Dialektik der spekulativen Vernunft basie-
ren, die die menschliche Neigung zur Heteronomie der Vernunft er-
zeugt. Durch die Affirmation dieser Dialektik haben sie die menschliche
Unmündigkeit eher zementiert als entfernt. Betrachtet man also die Phi-
losophie unter dem Gesichtspunkt der Aufklärung, so zeigt das, dass
Kant die Theorien seiner Mitphilosophen nicht einfach nur für falsch
oder mangelhaft hält, sondern für moralisch verwerflich, da sie keine
aufgeklärte und autonome Denkungsart hervorbringen, sondern eine
verderbliche und heteronome. Vielleicht noch erstaunlicher ist, dass
Kant seine Transzendentalphilosophie nicht nur für wesentlich für jede
zukünftige metaphysische Unternehmung betrachtet, sondern als ent-
scheidend für den Ausgang des Menschen aus einer Unmündigkeit. Ja,
sie ist nicht nur notwendig für die Realisierung der Mündigkeit, sondern
sogar bedeutend dafür, dass das Individuum ein moralisch gelungenes
Leben führen kann. Wie die Menschen nämlich einen Hang dazu haben,
durch sophistische Vernünfteleien die Vernunftmaxime ihren Neigungen
zu unterwerfen, solange die Begriffe der Pflicht nicht klar herausgestellt
worden sind,36 so besitzen sie auch einen Hang zum Aberglauben und
Vorurteil, solange der transzendentale Grund der Neigung zum Aberg-
lauben nicht aufgeklärt worden ist. Dieser liegt aber einerseits in der
Dialektik der theoretischen, andererseits der praktischen Vernunft.

36
GMS AA 4, 410; RGV AA 6, 36; 57.
KAPITEL 3
JACOBI UND DIE DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG

Im ersten Kapitel sahen wir, dass die deutsche Spätaufklärung auf meh-
reren Ebenen dialektische Momente ihrer eigenen Entwicklung freilegt:
Als Projekt der Befreiung des Menschen droht sie entweder in einen
Dogmatismus umzuschlagen, der sich gegen jede Kritik dadurch immu-
nisiert, dass er sich mit der Vernunft schlechthin gleichsetzt. Dem steht
eine Aufklärung gegenüber, die das Interesse an Wahrheit verloren hat
und die Vernunft nur mehr in ein instrumentelles Verhältnis zu anderen
Zwecken setzt. Aus kantischer Perspektive bleiben diese Phänomene
aber bestenfalls Oberflächenphänomene, die im ewigen Streit der Philo-
sophie mit sich selbst gründen. Dieser Kampf hat seinen Grund wiede-
rum in einer Dialektik der Vernunft mit sich selbst, deren Auflösung nur
durch transzendentale Aufklärung möglich ist. Wie Horkheimer und
Adorno sieht dabei bereits Kant, dass die Dialektik der Aufklärung letzt-
lich in der Vernichtung des Glaubens an das resultiert, für dessen Reali-
sierung die Aufklärung angetreten ist: Freiheit und Vernunft.
In jüngeren Studien gilt jedoch nicht Kant, sondern Jacobi als der
Entdecker der Dialektik der Aufklärung.1 Die Aufklärung ist dabei auf
zwei Ebenen in einer Dialektik befangen, die sie insofern in Gegenauf-
klärung umschlagen lässt, als sie in zweierlei Hinsicht die freie Selbstbe-
stimmung des Menschen negiert und damit unvernünftig wird. Diese
Dialektik betrifft zum einen die Diskursform der Aufklärung, in der die
Vernunft in ein Instrument der Herrschaft pervertiert wird. Noch we-
sentlicher betrifft sie aber zum anderen die immanente Dialektik der
Vernunft, die in ihrer Durchdringung der Wirklichkeit die Möglichkeit
von Freiheit ausschließt. Anders als für Kant ist für Jacobi die Dialektik
der Aufklärung jedoch nicht in einer zeitlosen Natur reiner Vernunft
begründet, sondern in einer historischen Entwicklung der Vernunft, in
die sich menschliches Denken unweigerlich und immer schon verwi-
ckelt.2 Die Aufklärung selbst entfaltet sich in einem historischen Prozess
dialektischer Vernunftentwicklung, in dem sie sich zuletzt selbst auf-
hebt. Im Zuge ihrer historischen Verwirklichung destruiert die Vernunft

1
Vgl. Sandkaulen 1995, 417; Kahlefeld 2000, 8. Dagegen: di Giovanni 1994, 43; ders.
2005, 17; 27.
2
Sandkaulen 2000, 140; Kahlefeld 2000, 8; 59–61.
Analytik der Macht 51

sich selbst und schlägt damit in Unvernunft um.3 Erst dieser Umschlag
ermöglicht für Jacobi jedoch die Verwirklichung „wahrer“ Aufklärung.
Diese dialektischen Entwicklungen wollen wir in diesem Kapitel ana-
lysieren. In einem ersten Schritt untersuchen wir dabei die von Jacobi
vornehmlich in seiner Schrift Betrachtung über den frommen Betrug
(1788) entwickelte Dialektik, nach der die Aufklärung von einem Organ
zur Befreiung des Menschen zuletzt in ein Zwangsinstrument umschlägt
(A). In einem zweiten Schritt betrachten wir Jacobis in der VII. Beilage
zu seinen Spinozabriefen skizzierte dialektische Geschichte der Ver-
nunft, die in ihrer Realisierung letztlich ihre Selbstentmachtung realisiert
(B). In einem dritten Schritt skizzieren wir abschließend die alternative
„andere“ Aufklärung Jacobis (C).

A. Von der Analytik der Macht zum herrschaftsfreien Diskurs

Ein wesentliches Ziel der Aufklärung ist die Verwirklichung menschli-


cher Selbstbestimmung. Damit versteht sie sich nicht zuletzt als Prozess
der Befreiung des Menschen von illegitimer Herrschaft. Ein zentrales
Moment dieses Befreiungsprozesses ist die Kritik von Autoritäten. Auf-
klärung ist insofern subversiv. Dieser Aufklärungsprozess schlägt je-
doch, wie wir am Beispiel Biesters sahen, in ihr Gegenteil um, wenn die
eigene Vernunft oder das, was dafür gehalten wird, selbst herrschend
gemacht werden soll. Durch dieses Herrschaftsinteresse wird die Aufklä-
rung totalitär und versucht alles aus ihrer Sicht subversive Denken als
widervernünftig zu unterdrücken. Damit wird die Vernunft vom Grund
der Freiheit zu einem Machtinstrument, das im Namen der Freiheit der
Vernunft Unterdrückung legitimiert. Diesen Mechanismus hat wohl
kaum ein Denker der Aufklärung deutlicher analysiert und als Miss-
brauch der Vernunft entlarvt als Jacobi.4
Auslöser von Jacobis Analyse der Etablierung der Vernunft als frei-
heitsgefährdendes Herrschaftsinstrument durch die Aufklärung ist die
Auseinandersetzung der Berliner Aufklärer mit dem Gegenaufklärer
Starck, der wegen seiner polemischen Aufklärungskritik von Nicolai,
Gedike und Biester öffentlich der Teilnahme an einer geheimen Jesuiten-
verschwörung verdächtigt wird.5 Für Jacobi zeigt sich in dieser öffentli-
3
Jaeschke 2004, 203; 206f.
4
Insofern ist Horstmann Recht zu geben, dass Jacobi die Grundlagen für den ideolo-
giekritischen Diskurs über Aufklärung geliefert hat (Horstmann 1991, 67). Hierzu augen-
öffnend: Jaeschke 2004.
5
Vgl. hierzu Goretzki/Jaeschke 2011, 437–442.
52 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

chen Diskreditierung Starcks der Furor einer totalitären Aufklärung, die


sich gegen das Andersdenken als solches richtet:6 der Despotismus eines
Denkens, das sich anmaßt, die Vernunft zu sein, in Wirklichkeit aber die
eigene Meinung mit der Vernunft identifiziert und deshalb in den Geg-
nern dieser Meinung nur noch Vernunftfeinde sieht.
In diesem Despotismus realisiert sich wiederum ein Wille zur Macht,
der der öffentlich kommunizierten Meinung als solcher inhäriert. Jacobis
Argument lässt sich dabei auf folgende Weise rekonstruieren: Die Publi-
kation jedweder Meinung soll ihre Adressaten von ihrer Geltung über-
zeugen. Wäre eine Meinung nur für den Meinenden gültig, dann würde
der Meinende in ihrer Mitteilung nur seine Befindlichkeit oder Stim-
mung kommunizieren. Damit kann sie aber nicht für die Öffentlichkeit
als solche relevant sein. Versucht der Meinende seine Adressaten dabei
nicht nur zu überreden, sondern mit Argumenten zu überzeugen, so
muss er seiner Meinung allgemeine Geltung unterstellen.
Obwohl der Meinende also von der allgemeinen Gültigkeit seiner
Meinung ausgehen muss, steht er nach Jacobi zu seinen für ihn relevan-
ten Überzeugungen gleichzeitig nicht in einem rein objektiven Verhält-
nis. Zwar könne man der Wahrheit und Falschheit mancher seiner Mei-
nungen gegenüberstehen, nicht aber denen, die für das persönliche Da-
sein und individuelle Selbstverständnis konstitutiv sind. Solche
Meinungen bestimmen nach Jacobi jeden Menschen als dieses konkrete
Individuum, so dass kein Mensch sie aufgeben kann, ohne sein persönli-
ches Dasein aufzugeben. Ohne sie würden wir nicht mehr als diese be-
stimmte Person existieren, als die wir uns verstehen. Das Interesse an der
Durchsetzung der eigenen Meinung ist insofern mit dem Interesse an der
Erhaltung unserer eigenen Person verknüpft.7
Die menschliche Vernunft ist nun für Jacobi aber kein abstraktes
Vermögen, sondern immer nur konkretisiert in einer Person wirklich.
Wenn nun aber nicht gerechtfertigte Überzeugungen die Person in ihrem
konkreten Selbstverständnis bedingen, so ist auch die menschliche Ver-
nunft immer schon mit Glauben „kontaminiert“. Das heißt, die Vernunft
jedes Menschen ist bestimmt durch Geschichte, Tradition und gesell-
schaftliche Praktiken, von denen der Mensch die für sein Selbstverständ-
nis konstitutiven Überzeugungen unbefragt übernimmt.8 Noch die fun-
damentalsten Meinungen einer Person sind bedingt in ihrer konkreten

6
WMB JW 1,1, 319; Nicolai JW 5,1, 148; Brief an Kleuker vom 5.12.1785 JB 1,4, 268.
7
So lehnt Jacobi bereits sehr früh eine unbeschränkte Toleranz im Sinne einer abstrak-
ten Sympathie für alle Meinungen strikt ab (JB 1,1, 201; JB 1,11, 105).
8
DH1 JW 2,1, 13.
Analytik der Macht 53

Lebensgeschichte und historischen Situation.9 Deshalb muss man für Ja-


cobi Kants „bis aufs höchste getriebene Ausführung des Cartesianischen
Satzes: cogito ergo sum“ vom Kopf auf die Füße stellen.10
Auf Grund dieses Bedingungsverhältnisses von personalem Selbstver-
ständnis, fundamentalen Überzeugungen, Leben und Vernunft ist das
Streben nach Durchsetzung der eigenen Meinung einerseits Selbsterhal-
tungsinteresse, andererseits aber auch Vernunftinteresse. Jeder Meinung,
obwohl sie als konkretisierte Vernunft nur eine mögliche Realisierung
der Vernunft ist, inhäriert allerdings die Tendenz, sich mit der Vernunft
schlechthin zu verwechseln.11 Diese Tendenz vollendet sich gerade in der
Aufklärung, die glaubt, jeden Geltungsanspruch vor dem Gerichtshof
einer reinen und universellen Vernunft untersuchen zu können. Ihre
Vertreter verstehen sich als Mitglieder „der Partey der gesunden Ver-
nunft“12 und identifizieren deshalb ihre durch ihre Geschichte und So-
zialisation bedingte Vernunft mit der Vernunft schlechthin.
Gerade diese Überzeugung ist für die Aufklärer eine Meinung, die für
ihr personales Selbstverständnis konstitutiv ist. Deshalb ist der konse-
quente Aufklärer ein „Eiferer für seine Meinung, für die Parthei, die er
ergriffen hat“, der „überall nur die majorem Dei gloriam im Auge“ ha-
be.13 Dem Eifer für seine Meinung unterworfen, steht er nicht einmal
mehr zu seiner eigenen Meinung in einem freien Verhältnis, vielmehr ist
er „Knecht seines Affects, seiner Leidenschaft“14 für seine Meinung. Die
Überzeugung, „daß ihre Meynung die Vernunft, und die Vernunft ihre
Meynung sey“,15 können die Aufklärer deshalb nicht aufgeben, ohne ihr
konkretes Personsein aufzugeben. Auf Grund ihres personalen Selbster-
haltungsinteresses müssen sie sie gegen jegliche Angriffe von Außen be-
haupten. Daraus speist sich ihre Überzeugung vom strikten Gegensatz
zwischen Glauben bzw. Vorurteil und Vernunft. Der hieraus resultie-
rende Anspruch, alle Meinungen müssten vor dem allgemeinverbindli-
chen Gerichtshof der Vernunft und nicht vor weltlichen oder geistlichen
Autoritäten gerechtfertigt werden, ist wegen der Identifikation der indi-
viduell bedingten Vernunft mit der absoluten Vernunft selbst autoritär,

9
So lässt sich vor allem Jacobis eigenes Werk nicht von dessen Lebensgeschichte ab-
trennen (Sandkaulen 2000, 8; VSpin3 JW 1,1, 339).
10
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121.
11
Fromm JW 5,1, 125.
12
SWBD 6,1, 482.
13
Brief an Georg Forster vom 14.10.1789 JB 1,8, 303.
14
Brief an Georg Forster vom 14.10.1789 JB 1,8, 303.
15
WMB JW 1,1, 326. Vgl. auch: Kladde I, 42 Schneider 1986, 172; Kladde I, 562 Schnei-
der 1986, 173.
54 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

da dieser Anspruch letztlich die Rechtfertigung jeder Überzeugung vor


der Autorität der eigenen Person verlangt.16
Wer also die den Aufklärungsdiskurs konstituierenden Prinzipien an-
greift, stellt sich für die Aufklärer in Gegnerschaft zur Vernunft als sol-
cher. Denn diese Prinzipien haben für die Aufklärer keinen mit Glauben
kontaminierten Charakter, sondern sind die unbedingten Prinzipien der
reinen Vernunft selbst. Ein Angriff auf diese Prinzipien muss als Angriff
auf die Vernunft „[k]raft einer mehr als Päbstlichen Untrüglichkeit, de-
ren Despotismus und frommer Eifer sich bis zur Seelsorge eines Groß-
Inquisitors erhebt“,17 dann zum Wohle der Freiheit der Vernunft unter-
drückt werden:18

[D]a er [der Aufklärer] seine Meynung für die Wahrheit selbst ansieht, und die
Vernunft in Person zu seyn glaubt, hört [er] keine Gründe mehr, sucht sie, als
unwürdig, blos zu unterdrücken, und allen Widerspruch, durch was für Mittel
es auch sey, zu hemmen. [...] Dennoch weiß er nichts von Ungerechtigkeit, und
freuet sich aller seiner Werke, weil er das Gutfinden seiner Weisheit zum einzi-
gen Gesetz hat[.]19

Die Aufklärung tendiert also im doppelten Sinne dazu, eine Herrschaft


der Vernunft zu etablieren. Obwohl sie sich eigentlich als subversive
Kritik an Herrschafts- und Autoritätsstrukturen vollziehen sollte, ver-
sucht sie selbst zu einer politischen Autorität zu werden.20 Die ihrer In-
tention nach subversive Aufklärung schlägt also dialektisch in ihr Ge-
genteil um: Mit dem Anspruch, Freiheit und intellektuelle Selbstbestim-
mung gegen fremde Autoritäten zu verteidigen, legitimiert sie die
Unterdrückung selbiger. In diesem Herrschaftsanspruch der Vernunft,
welche nicht die Vernunft ist, besteht für Jacobi der fromme Betrug einer
pervertierten Aufklärung, 21 die alle Vernunft nur mehr am eigenen
Glauben prüft.22 Die Aufklärung, die die Kritik und Auflösung autoritä-
rer Herrschaftsstrukturen intendiert, stellt sich nicht nur in deren
Dienst,23 sondern wird selbst einer solchen.
Für Jacobi ist es die Einsicht in die Persongebundenheit menschlicher
Vernunft, die eine von dieser Aufklärung unterschiedene, wahre Ver-

16
Fromm JW 5,1, 126.
17
WMB JW 1,1, 328; Fromm JW 5,1, 125.
18
Brief an Müller vom 14.5.1782 JB 1,3, 30.
19
WMB JW 1,1, 317.
20
Etwas JW 4,1, 305; vgl. auch GA 3,3, 182; AB II, 342.
21
Fromm JW 5,1, 125.
22
WMB JW 1,1, 327; GD JW 3, 58; vgl. hierzu ausführlich Jaeschke 2004.
23
Beiser 1987, 75.
Analytik der Macht 55

nunftaufklärung ermöglicht. Sie impliziert nämlich, dass die eigenen


Überzeugungen immer auch auf nicht objektiv begründeten Vorurteilen
basieren, die eine Person als diese bestimmte Person konstituieren, ande-
rerseits durch ihr konkretes Personsein bestimmt sind.24 Dies wiederum
führt zu der Erkenntnis, dass die scheinbar objektiven Gesetze der Ver-
nunft häufig keine absolute Trennlinie zwischen Vernunft und Unver-
nunft bezeichnen, sondern nur die Grenzen des eigenen Vorstellungs-
vermögens.25 So gibt es „keine in der Anwendung unfehlbare Regel der
Erkenntniß des Wahren“.26 Denn die Vernunft ist immer an die jeweilige
individuelle Person gebunden, aber die einzelne Person ist nicht die Ver-
nunft an sich.
Resultat dieser Überlegung ist für Jacobi jedoch gerade nicht die skep-
tische Leugnung der Vernunft, sondern die Anerkennung aller Überzeu-
gungen als bedingte Ausdrucksformen der unbedingten Vernunft. 27
Wahre Aufklärung muss gerade auch die Vernunft in der der eigenen
Überzeugung entgegengesetzte Meinung erkennen wollen (wir werden
diesen Gedanken später noch weiter ausführen). Diese Einsicht bezeich-
net Jacobi als die „Quelle [s]einer Duldung“28 und seines Eintretens für
Toleranz und Denkfreiheit. 29 Denn wahre Aufklärung setzt damit als
Bedingung ihrer Möglichkeit einen herrschaftsfreien Diskurs der Mei-
nungen aus dem „Urgeiste der Freyheit“ voraus:30

Keine Meynung ist gefährlich, sobald ein jeder die seinige frey sagen darf. Eine
jede aber ist es, wenn sie die einzige seyn will, und zu einem gewissen Grade der
Herrschaft würklich gelangt.31

24
Spin1 JW 1,1, 115.
25
DH1 JW 2,1, 96.
26
GD JW 3, 60.
27
ZEeD JW 5,1, 208f.
28
ZEeD JW 5,1, 209.
29
Fromm JW 5,1, 105; 110f.; vgl. ebenso Nicolai JW 5,1, 147ff.
30
Etwas JW 4,1, 305f.
31
Fromm JW 5,1, 125; vgl. ebenso Jacobis Brief an Müller vom 14.5.1782 JB 1,3, 30f.
56 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

B. Die dialektische Geschichte der Vernunft

Fassen wir die bisherigen Ergebnisse zusammen: Die Vernunft verwi-


ckelt sich in der Aufklärung nach Jacobi in eine Dialektik der Macht, die
in der Idee von der Herrschaft der Vernunft ihre Vollendung erlangt.
Am Grunde dieser Dialektik liegt für Jacobi der unauflösbare Zusam-
menhang zwischen menschlicher Vernunft, Meinung, Personsein und
Leben. Die Vernunft hat ihren Sitz nicht in einem Reich abstrakter Enti-
täten, sondern im konkreten Leben oder der Existenz des Menschen.
Aus diesem Gesichtspunkt, aus dem Kant in MAM die Entwicklung von
Vernunft und Mensch „aus der Vormundschaft der Natur in den Stand
der Freiheit“1 konstruiert, analysiert Jacobi in der VII. Beilage zu seinen
Spinozabriefen einen dialektischen Prozess der Vernunft, den er als die
„[n]atürliche Geschichte der speculativen Philosophie“ bezeichnet.2 Pa-
radoxer Weise verwickelt sich der Mensch in dieser natürlichen Ge-
schichte in eine künstliche Dialektik.3 Der Grund für die Natürlichkeit
dieser künstlichen Dialektik besteht darin, dass es dem Menschen natür-
lich ist, sich künstlich mit der Welt auseinanderzusetzen.4 Resultat dieser
Dialektik, die wir nun analysieren wollen, ist nach Jacobi die Unterwer-
fung des Menschen unter die Vormundschaft der künstlichen Produkte
seiner eigenen Vernunft.

I. Die Ordnung der Zeichen: Archäologie der instrumentellen Vernunft

In seiner natürlichen Geschichte der spekulativen Philosophie rekon-


struiert Jacobi die historische Abfolge der „mannichfaltigen Gedanken-
systeme der Menschen“5 als evolutiven Prozess einer Vernunft,6 deren
wesentliche Funktion für den Menschen in seiner Selbsterhaltung be-
steht.7 Die Vernunft ist für den Menschen zunächst nichts als ein seinem
Lebensinteresse dienendes Instrument zur Orientierung in seiner Um-
welt.8

1
MAM AA 8, 115.
2
Spin2 JW 1,1, 153. Eine glänzende Analyse dieser Beilage liefert Sandkaulen 2000.
3
Sandkaulen 2000, 137.
4
An Mariane JW 4,1, 193.
5
Spin2 JW 1,1, 248.
6
Vgl. hierzu auch Kahlefeld 2000, 62.
7
Spin2 JW 1,1, 249; 260.
8
Spin2 JW 1,1, 248f.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 57

Originell ist an diesem Gedanken, dass Jacobi die Vernunft damit


nicht als Instrument menschlicher Bedürfnisbefriedigung versteht. Dies
setzt nämlich bereits die fundamentalere Leistung der Vernunft voraus,
aus einem scheinbar chaotischen Ganzen singulärer Ereignisse Ordnung
zu erzeugen. Das Auffinden geeigneter Mittel zu gegebenen Zwecken ist
ja überhaupt nur möglich, wenn der Mensch sich bereits in geordneten
Zusammenhängen bewegt und unter Einsatz gleicher Mittel unter glei-
chen Umständen die Realisierung gleicher Zwecke erwarten kann. Die
fundamentale Leistung der Vernunft besteht deshalb in der Produktion
einer durch sie geschaffenen Zeichenwelt und die damit verbundene Re-
duktion der Komplexität des unmittelbar Gegebenen.9
Als Bedürfniswesen muss der Mensch im scheinbar kontingenten und
disparaten Naturgeschehen Regelmäßigkeiten entdecken bzw. konstru-
ieren und die unendliche Vielfalt der ihn umgebenden Dinge auf eine
überschaubare Anzahl abstrakter Begriffe, Gesetze und Worte reduzie-
ren. Ziel ist dabei ein möglichst in sich geschlossener und einfacher Ord-
nungszusammenhang. Dieser ordnenden Tätigkeit liegen intuitive An-
schauungen zu Grunde (auf deren Struktur wird später noch einzugehen
sein). Diese sind der Ursprung aller Erkenntnis, wohingegen die künstli-
chen Zeichen „Hilfsmittel“ für die endliche Fassungskraft des menschli-
chen Geistes sind. Dieser muss seinen Anschauungen allgemeine struk-
turelle Bestimmungen entnehmen und für diese erfindet er Zeichen.10
Mittels seiner Vernunft und seiner Sprache bringt der Mensch hierzu ei-
ne durch ihn selbst geschaffene künstliche Welt hervor, in der die in der
„wirklichen“ Welt herrschenden Substanzen und Kräfte durch Zeichen
und Worte vertreten werden. Nur diese selbst geschaffene Welt kann die
Vernunft vollständig begreifen, denn begreifen kann sie nur das, was sie
selbst hervorgebracht hat:11

So entsteht eine Vernunftwelt, worin Zeichen und Worte die Stelle der Substan-
zen und Kräfte vertreten. Wir eignen uns das Universum zu, indem wir es zer-
reissen, und eine unseren Fähigkeiten angemessene, der wirklichen ganz unähn-
liche Bilder- Ideen- und Wort-Welt erschaffen.12

9
Vgl. auch: GD JW 3, 23.
10
Betrachtung JW 4,1, 15; Spin2 JW 1,1, 249.
11
Spin2 JW 1,1, 258.
12
Spin2 JW 1,1, 249. „Wir begreifen eine Sache, wenn wir sie aus ihren nächsten Ursa-
chen herleiten können, oder ihre unmittelbaren Bedingungen der Reihe nach einsehen:
was wir auf diese Weise einsehen, oder herleiten können, stellt uns einen mechanischen
Zusammenhang dar.“ (Spin2 JW 1,1, 249.)
58 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

Die Vernunft ist für Jacobi also ein kreatives Vermögen zur Bildung ar-
biträrer Zeichen.13 Zwar muss ihre Zeichenschöpfung auf die gegebene
Wirklichkeit bezogen sein und sich zu ihr homomorph verhalten, da sie
ansonsten nicht zur menschlichen Orientierung in der Welt dienen
könnte. Sie ist jedoch insofern sui generis, als sie kein bloßes Abbild ei-
ner ihr ähnlichen Wirklichkeit, sondern eine rein funktionale Darstel-
lung selbiger sein muss. Dazu genügt es, dass sie die relationalen Ver-
hältnisse zwischen den Dingen der wirklichen Welt in ihrem Zeichensys-
tem abbildet. 14 Dabei wiederum muss der Mensch nur die Relationen
abbilden, die für seine Weltorientierung relevant sind oder denen er Re-
levanz zuschreibt. Diese Relevanz ist selbst keine Eigenschaft der Dinge,
sondern durch den Menschen gesetzt. So drückt sich in den jeweiligen
menschlichen Zeichensystemen auch immer aus, was für die Gruppe von
Menschen, die dieses Zeichensystem verwendet^ , relevant ist.
Alle menschlichen Zeichensysteme sind insofern Ausdruck von Passi-
vität und Kreativität der Vernunft. Dies gilt für ein mythisches Zeichen-
system, das die Empfindung wirkender Kräfte zu einer Welt von Natur-
gottheiten anordnet, genauso wie für die newtonsche Physik. Insofern
kann Jacobi in seiner natürlichen Geschichte der spekulativen Philoso-
phie bereits wie Horkheimer und Adorno den Mythos als Aufklärung
bezeichnen, da er nicht nur eine Form ist, die Wirklichkeit zu begreifen
und sich in ihr zu orientieren, sondern zugleich eine Manifestation auto-
nomer Vernunft, die zur Weltorientierung des Menschen ein System
selbst hervorgebrachter Gesetzmäßigkeiten erzeugt. Im Laufe der Ent-
wicklung der spekulativen Vernunft werden diese Systeme jedoch intrin-
sisch geschlossener und einfacher. So muss nicht mehr in jedem sich be-
wegenden Naturding eine lebendige Kraft (personifizierte Gottheit) an-
genommen werden, sondern alle Bewegungen können auf immer
weniger Kräfte (Gravitation) reduziert werden. Damit gewinnt die spon-
tane Vernunft im Verhältnis zur passiven Empfindung mehr und mehr
ein Übergewicht über letztere: Die Differenzen in den Empfindungen
werden immer weiter auf allgemeinere, vom Verstand selbst erzeugte
Prinzipien reduziert.15 Die höheren Begriffe der Vernunft sind immer
weniger unmittelbare Einheiten von Passivität und Spontaneität, viel-
mehr beschränkt sich die Vernunft zunehmend auf das Begreifen ihrer
eigenen Konstruktion und der durch sie selbst erzeugten Zusammen-
hänge und Relationen.16 Die Passivität der Empfindungen wird immer
13
JW 6,1, 174f.; Laharpe JW 5,1, 173f.
14
Dieser Aspekt wird von Kant aus Jacobis Sicht ignoriert.
15
Vgl. hierzu etwa Sandkaulen 1997, 352.
16
Sandkaulen 2000, 111.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 59

mehr in die Spontaneität der selbst geschaffenen Zeichenwelt aufgeho-


ben.17 Die Zeichenwelt entfernt sich deshalb mehr und mehr von der
empfundenen Wirklichkeit. Da die Vernunft nur das begreift, was sie
selbst konstruieren kann, das Empfundene als solches aber nicht kon-
struiert werden kann, muss es – wie sich besonders in der Reduktion von
Qualitäten auf Quantitäten zeigt – im evolutiven Prozess des Weltbe-
greifens auf Produktionen des Verstandes reduziert werden.18
Der geschilderte Prozess ist nach Jacobi das notwendige Resultat der
Entwicklung der menschlichen Vernunft und keine Verfallsgeschichte.19
Denn in diesem Entwicklungsprozess wird einerseits ein für die Lebens-
erhaltung des Menschen weniger funktionsfähiges Zeichensystem durch
ein funktionaleres ersetzt, zum anderen erreicht die Vernunft in diesem
Prozess einen immer höheren Grad an Autonomie. So steht im mythi-
schen Zeichensystem der Glaube an individuelle, personale Naturgötter
im Zentrum.20 Göttliche Wesen mit bestimmten Eigenschaften vertreten
hier als Zeichen natürliche Objekte wie die Gestirne und Pflanzen, ihre
personalen Eigenschaften den Zusammenhang bestimmter natürlicher
Ereignisse. 21 Spätere Aufklärungen zerstören und ersetzen dieses Zei-
chensystem durch ein systematisch funktionaleres. Dabei kritisiert die
nachfolgende Aufklärung das überkommene Zeichensystem gerade als
eine durch den Menschen hervorgebrachte Selbstschöpfung, nämlich als
Vorurteil oder Aberglaube. Der Akt kritischer Destruktion eines Zei-
chensystems stellt also eine Selbstaufklärung menschlicher Vernunft dar,
insofern etwa die Götterwelt zu Recht als Erzeugnis des menschlichen
Geistes durchschaut wird.22 Ignoriert wird aber, dass es sich bei diesem
Erzeugnis um ein Produkt menschlicher Vernunft handelt. Zugleich
durchschaut die Aufklärung ihr eigenes wissenschaftliche Zeichensys-
tem, das sie an die Stelle der Götterwelt setzt, nicht selbst als willkürli-
ches Produkt des menschlichen Geistes, das die Wirklichkeit nur vertritt.
Vielmehr behauptet sie die Wirklichkeit dieser Zeichen und konfundiert
so Zeichen und „die Dinge selbst“.23
Indem das Zeichen also weiterhin als ein selbständiges Gegenüber des
Menschen aufgefasst wird, übt es genauso Herrschaft über den Men-
schen aus, wie die selbständig gewordene Götterwelt. In der spekulati-

17
DH1 JW 2,1, 32; 70.
18
Spin2 JW 1,1, 250.
19
So lehnt Jacobi etwa Rousseaus Idee vom Naturzustand ab (Sandkaulen 1995, 423).
20
Rech JW 4,1, 104.
21
Rech JW 4,1, 104f.
22
Rech JW 4,1, 105f.
23
DH1 JW 2,1, 71.
60 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

ven Entwicklung der Vernunft befreit sich die Vernunft also jeweils von
einer Form des Aberglaubens und damit der Herrschaft eines durch die
Vernunft selbst geschaffenen, aber von dieser unabhängig gewordenen
Zeichensystems über die Vernunft. Der menschliche Geist ersetzt es je-
doch nur durch ein anderes, selbst erzeugtes Zeichensystem, das er wie-
derum nicht als seine Schöpfung begreift und das deshalb Herrschaft
über ihn ausübt. Die immer autonomer werdenden Produkte der sich
von der unmittelbaren Wirklichkeit emanzipierenden Vernunft gewin-
nen die Herrschaft über ihre Schöpferin. Diese Dialektik ist der Aufklä-
rung von Beginn an immanent. Denn „es ist der Instinkt des Buchsta-
bens, die Vernunft unter sich zu bringen; sein Instinkt, mit der Vernunft
umzugehen, wie Jupiter mit seinem Vater.“24

II. Die Selbstentmachtung der Vernunft

Diese spekulative Geschichte der aufklärerischen Philosophie vollendet


sich nun nach Jacobi in der Ethik Spinozas, insofern hier die Vernunft
ein in sich geschlossenes Zeichensystem entworfen hat und damit zur
autonomen Weltschöpferin geworden ist.25 Hinter dieses Niveau kann
niemand zurücktreten, der in Sachen Aufklärung nicht auf halber Stre-
cke halt machen will.26 Alle „wahre Aufklärung“ muss deshalb anders als
bloße „Aufklärerei“ durch den Spinozismus hindurchgehen.27
Was Spinozas Ethik zum vollendeten Vernunftsystem macht, ist nach
Jacobi ihre konsequente Anwendung des uralten „a nihilo nihil fit“.28 Sie
transformiert die Wirklichkeit in ein System vollständiger logischer
Vermittlung, in dem sich jedes Moment als vermittelt durch seinen
Grund konstruieren lässt, ohne dass an irgendeiner Stelle ein Bruch an-
genommen werden müsste.29 Das absolute „Ur-Seyn, das allgegenwärti-

24
Allwill2 JW 6,1, 142. Eine Parallele hierzu findet Jacobi in der Ökonomie: „Es geht
uns mit den Begriffen wie mit dem Gelde; das allgemeine Zeichen verwandelt sich in un-
serer Einbildungskraft in die Sache selbst, und wir ziehen es ihr vor“ (FB WW VI, 163).
25
Spin1 JW 1,1, 18.
26
Sandkaulen 1995, 418; Cassirer 2000, 19. Jacobis öffentliche Bekanntmachung von
Lessings Spinoza-Bekenntnis soll deshalb weder Lessing noch das Aufklärungsprojekt
diffamieren (WMB JW 1,1, 302; Anonymus 1786b; Anonymus 1790, 403). Indem sich
Lessing zum metaphysischen System Spinozas bekennt, macht er vielmehr Ernst mit der
Aufklärung (WMB JW 1,1 279f.).
27
FB JW 5,1, 403.
28
Spin1 JW 1,1, 18; 56f.
29
Spin1 JW 1,1, 156; vgl. Kahlefeld 2000, 31.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 61

ge unwandelbare Würkliche“,30 ist als immanenter Grund der Wirklich-


keit mit den wirklichen Dingen identisch und gleichzeitig, weil es sich
nicht wie das frühere zum späteren, sondern wie das Axiom zu seinen
logischen Folgerungen verhält.31 Das Unendliche oder Sein ist nichts als
der „Inbegriff aller endlichen Dinge, wie er in jedem Momente die ganze
Ewigkeit, vergangenes und zukünftiges, auf gleiche Weise in sich faßt“.32
Zeitliche Folge und Dauer sowie die scheinbar reale Differenz zwischen
Ursache und Wirkung sind hingegen nur Weisen des menschlichen Vor-
stellens, „das Mannigfaltige in dem Unendlichen anzuschauen“.33
Spinozas System ist deshalb nach Jacobi ein rein in sich vermittelter
Funktionszusammenhang, in dem die endliche natura naturata vollstän-
dig aus ihrem relationalen Zusammenhang mit der unendlichen natura
naturans als bloße Einschränkung (negatio sive determinatio) der absolu-
ten Substanz begriffen wird.34 Gott als das Prinzip der Wirklichkeit des
Endlichen ist dabei nicht verschieden von dieser Wirklichkeit, sondern
deren immanenter und unveränderlicher Grund. Die reine Metaphysik
der Aufklärung endet notwendig beim deus sive natura Spinozas.35
Warum realisiert aber dieses „a nihilo nihil fit“ das Interesse der Auf-
klärung? Eben weil dieses Interesse darin besteht, die Wirklichkeit voll-
ständig begreifen zu können. Eine Sache zu begreifen bedeutet, sie aus
ihren Bedingungen (ihrem Grund) herleiten und damit vermitteln zu
können. Was die Vernunft begreifen kann, das kann sie auch nach-
konstruieren, beides ist äquivalent.36 Konstruieren (und damit in Ver-
mittlungen auflösen) kann die Vernunft aber nur Relationen und funkti-
onale Zusammenhänge, keine wirklichen Substanzen.
Die Vollendung des Interesses der Aufklärung ist jedoch mit gewissen
Kosten verbunden: Sowohl Spontaneität (der absolute Beginn einer
Handlung) und Individualität (das eigenständige Sein eines Einzelnen)
sind ausgeschlossen. Denn beide setzen ein durch die Vernunft nicht
konstruierbares Werden von „Etwas aus dem Nichts“ voraus.37

30
Spin1 JW 1,1, 98.
31
Spin1 JW 1,1, 18.
32
Spin1 JW 1,1, 95. Die Substanz als Inbegriff aller endlichen Dinge „ist keine unge-
reimte Zusammensetzung endlicher Dinge die ein Unendliches ausmachen, sondern, der
strengsten Bedeutung nach, ein Ganzes, dessen Theile nur in und nach ihm seyn, nur in
und nach ihm gedacht werden können“ (ibid., 95f.).
33
Spin1 JW 1,1, 20; 94f.; Spin3 JW 1,1, 252f.
34
Spin1 JW 1,1, 39; 100; 110f.
35
Fromm JW 5,1, 114f.
36
Spin2 JW 1,1, Anm. 258; vgl. hierzu auch KU AA 5, 384.
37
Spin1 JW 1,1, 18.
62 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

Bei der Spontaneität als einer Selbsttätigkeit, die als absoluter Beginn
einer Handlung keine Vermittlung zulässt, ist dies offensichtlich.38 Das
Endliche kann im vollständigen Begründungszusammenhang des Spino-
za jedoch auch keine eigenständige Existenz gegenüber dem Unendli-
chen besitzen, da diese Eigenständigkeit ja gerade eine gewisse Unab-
hängigkeit gegenüber dem Unendlichen impliziert, die nicht aus dem
Unendlichen deduziert werden kann. 39 Die Einzeldinge sind nur Ein-
schränkungen des unendlichen Seins. Solcher Art sind sie keine eigen-
ständigen Seienden, sondern „non-entia; und das unbestimmte unendli-
che Wesen, ist das einzige wahrhafte ens reale“.40 Individuelle Bestimmt-
heit ist nur Seinsverminderung. Daher sind die Individuen gerade nicht,
insofern sie individuell sind (denn insofern mangelt ihnen das Sein), son-
dern insofern sie nicht individuell und mit dem Sein identisch sind.41 Als
solche non-entia können sie vom Denken aus dem Unendlichen selbst
erzeugt und begriffen werden. Die erfahrene Wirklichkeit ist damit näm-
lich auf einen Zusammenhang logischer Relationen reduziert. In ihrer
Limitation (= Bestimmtheit) sind die Elemente durcheinander, in ihrer
wirklichen Realität durch das absolute Sein vermittelt.
Aber auch das absolute Sein schließt alle Individualität aus. Seine Ein-
heit ist nicht die eines bestimmten Individuums, sondern die „der Identi-
tät des nicht zu unterscheidenden“.42 Insofern Gott als reines Prinzip der
Wirklichkeit keinerlei Bestimmtheit aufweist, gibt es nichts, was in ihm
von einem anderen unterschieden werden könnte. Im Gegensatz zur In-
dividualität, die ihre Einheit und Gleichheit mit sich selbst ihrer Be-
stimmtheit verdankt, verdankt der Gott des Spinoza seine Einheit und
Gleichheit mit sich selbst der Negation aller Bestimmtheit. Dies ist selbst
keine Bestimmung im eigentümlichen Sinne, sondern nur eine Bestim-
mung via negationis. Individuen sind von anderen Individuen durch ihre
unterschiedlichen Bestimmungen unterschieden, die sie im Gegensatz zu
anderen aufweisen. Gott hingegen weist keinerlei Bestimmungen auf und
ist nur unterschieden durch seine Ununterschiedenheit.43
Fassen wir kurz zusammen: Um das Prinzip „a nihil nihilo fit“ konse-
quent durchhalten und ein System vollständiger Vermittlung begründen
zu können, müssen die Abhängigkeitsverhältnisse der Dinge voneinan-
Spin2 JW 1,1, 163.
38

Spin1 JW 1,1, 31; 93f.; Henrich 1992, 53.


39

40
Spin1 JW 1,1, 100. „Wenn wir also einen einzelnen Menschen ansehen, so nehmen
wir nicht eine besondere Substanz, sondern die Substanz im besondern wahr.“ (Ibid.,
204.)
41
Spin1 JW 1,1, 98f.
42
Spin1 JW 1,1, 39.
43
Spin1 JW 1,1, 98f.; 112.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 63

der und vom Absoluten als logische Dependenzverhältnisse aufgefasst


werden. Damit kommt es nach Jacobi jedoch zu einer Konfusion der Be-
griffe von Grund und Ursache.44 Die Handlungskategorie der Ursache,
nach der etwas durch etwas anderes hervorgebracht wird, wird in die
rein logische Kategorie des Grundes, nach der etwas etwas anderes lo-
gisch bzw. begrifflich impliziert, transformiert. „Ursache“ bezeichnet
nach Jacobi nämlich gerade das Vermögen etwas hervorzubringen, was
nicht schon da war, also im gewissen Sinne eine Schöpfung aus nichts in
der Zeit. Als solche ist sie unbegreiflich, weil sie ein Moment des nicht
Vermittelten beinhaltet.45 Deshalb reduziert die Vernunft bzw. Spinoza
die metaphysische Kategorie der Ursache auf die des Grundes, aus der
das Begründete als dessen Implikat logisch konstruiert werden kann. In
der logischen Kategorie des Grundes ist nämlich schon immer all das
enthalten, was durch den Grund begründet wird.
Aus dieser Transformation folgt allerdings notwendig die Unmög-
lichkeit von echten menschlichen Handlungen als einem selbstbestimm-
ten Hervorbringen von etwas nach einem vorher durch die Vernunft ge-
setzten Zweck.46 Dies ergibt sich zum einen aus der notwendigen Nega-
tion des Schöpfungsgedankens, verstanden als Hervorbringung der
endlichen Wirklichkeit durch das Absolute, das gegenüber dem Absolu-
ten selbständig ist. Mit der Verwerfung einer von Gott separierten
Schöpfung ist dem Endlichen sowohl Individualität als auch Freiheit ab-
gesprochen, denn nur in der Differenz zwischen Schöpfer und Schöp-
fung kann das Endliche als vom Absoluten frei gelassen gedacht wer-
den.47 Ohne jegliche Form von Eigenständigkeit kann der Mensch je-
doch nicht als handelndes Wesen begriffen werden.
Zum anderen können im System Spinozas Denken und Vernunft
nicht als eigenständig und wirkmächtig,48 sondern bloß als Bestimmun-
gen und damit Einschränkungen des absoluten Seins gedacht werden.
Denken kann also nicht Ursache des Seins sein.49 Denken ist vielmehr
nur das sich-Fühlen oder Selbstbewusstsein des Seins.50 Für den Men-
schen heißt das: Das Denken gibt ihm nur Bewusstsein von seinem
Tun.51 Damit kann die Gerichtetheit von Handlungen nicht als Resultat
einer Zwecke setzenden Vernunft verstanden werden, die den Willen zur
44
Vgl. hierzu ausführlich: Sandkaulen 2000; Koch 2013.
45
Spin1 JW 1,1, 18.
46
DH1 JW 2,1, 56.
47
Kahlefeld 2000, 32.
48
Spin1 JW 1,1, 19.
49
Spin1 JW 1,1, 25f.; 59f.
50
Spin1 JW 1,1, 79.
51
Spin1 JW 1,1, 84.
64 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

Realisierung gesetzter Zwecke bestimmt, sondern nur als „Resultat der


Würkungen von gewissen Beziehungen“.52
Im System des Spinoza und damit in der vollendeten Aufklärung setzt
die Vernunft sich also nach Jacobi selbst zu einer Beschaffenheit ihrer
eigenen Konstruktion herab. Die Aufklärung mündet damit unvermeid-
lich in den Fatalismus, da die Möglichkeit spontaner Handlungen, die
durch die Vernunft nach Endzwecken bestimmt sind, annihiliert werden
muss.53 Sie endet im Atheismus, da sie die Möglichkeit einer von der
Welt verschiedenen Ursache leugnen muss.54 Sie endet in der Negation
des Individuums als selbständigem Seienden, da Individuen nur Ein-
schränkungen von Einschränkungen des Absoluten sind. Vor allem aber:
Da die Vernunft im Prozess des Begreifens noch sich selbst begreifen
muss, muss sie zum Moment innerhalb des durch sie geschaffenen Sys-
tems werden. Da sie die Ursache auf den Grund reduzieren muss, kann
sie nicht schöpferisch sein. Da sie in ihrer Konkretion Resultat der un-
terschiedlichen Verhältnisse der Elemente des Gesamtsystems ist, sind
Gründe nicht mehr allgemeinverbindliche Gründe, sondern selbst nur
ein Resultat ihrer relationalen Verknüpfung mit allen anderen Elementen
des Systems.55
Die Vernunft wird in der vollendeten Aufklärung, das heißt in der Re-
alisierung ihrer eigenen Autonomie, also zum impotenten Produkt ihrer
eigenen Schöpfung. In der Absolutsetzung der durch sie geschaffenen
Zeichenwelt hat die Vernunft sich sowohl theoretisch als auch praktisch
entmächtigt, indem nun einem bloßen Wort (natura naturans, absolute
Substanz) absolute Macht über die menschliche Vernunft zugewiesen
wird. Die letzte Konsequenz der alles aufklärenden Vernunft ist damit
ihre Selbstentmachtung.56 Dies ist nur deshalb möglich, weil der Ver-
nunft ihre eigenen Zeichen zur ihr selbst gegenüberstehenden Sache an
sich geworden sind und ihre eigene Schöpfung nicht mehr als ihre
Schöpfung durchschaut. Man kann sagen, dass sich die menschliche Ver-
nunft zunehmend in den von ihr selbst geschaffenen Verblendungszu-
sammenhang der Zeichen und Worte verstrickt hat. In diesem System ist
für eine selbständige Vernunft, die freie Ursache ist, kein Platz mehr. In
Spinoza vollendet sich damit die Dialektik der spekulativen Vernunft
bzw. der Aufklärung: Indem die Vernunft bei Spinoza ihr Ziel erreicht,

52
Spin1 JW 1,1, 62.
53
Spin1 JW 1,1, 18; 57.
54
Ob man den Begriff „Atheismus“ durch die Begriffe „Kosmo-Theismus“ oder „De-
ismus“ ersetzt, macht nach Jacobi sachlich keinen Unterschied (Spin1 JW 1,1, 120f.).
55
Spin1 JW 1,1, 21.
56
Zöller 1998, 25; Hammacher 1969, 77f.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 65

die Welt vollständig begreifbar zu machen und ihre eigene Autonomie


spekulativ zu realisieren, schlägt sie in ihrer Selbstauffassung unmittelbar
in ihr Gegenteil um. Die Vernunft als autonomer Konstrukteur dieses
Systems wird in dieser Zeichenwelt zu einem machtlosen Produkt ihres
eigenen Konstrukts depotenziert.

C. Jacobis andere Aufklärung

Fassen wir das Ergebnis der bisherigen Überlegungen zusammen:


Wegen der Leugnung der Vernunftursächlichkeit und Freiheit ist der
Spinozismus als vollendete Aufklärung ein Fatalismus, in dem menschli-
che Individualität und Selbstbestimmung unmöglich sind.
Auch wenn Jacobi diese Philosophie nun für die Vollendung der Aufklä-
rung hält, so will er sich dennoch nicht zu ihr bekennen.1 Jedoch ließe
sich innerhalb der Logik der bisherigen Aufklärung Spinoza nicht mehr
überwinden.2 Stattdessen müsse man sich mittels eines „Salto mortale“3
aus dem Spinozismus befreien, indem man „aus dem Fatalismus unmit-
telbar gegen den Fatalismus, und gegen alles, was mit ihm verknüpft ist“,
schließt.4 Spinoza ist so für Jacobi zwar „unwiederleglich“, aber „nicht
unwidersprechlich“.5 Im je eigenen „Akt des Widerspruchs“ gegen den
Fatalismus, im Vollzug des Sprungs etabliert man eine Alternative zum
Fatalismus Spinozas.6 Im Vollzug des Sprungs findet man sich nämlich
bereits an einem Ort außerhalb des Rationalitätsparadigmas der instru-
mentellen Vernunft: „Δος μοι που στω“.7
Der Vollzug des Salto mortale ermöglicht so nach Jacobi eine andere
Aufklärung, die nicht wie bei Kant den Gang einer sicheren Wissen-
schaft begründet, sondern eine aufgeklärte „Unphilosophie“ oder ein
aufgeklärtes „Nichtwissen“.8 Diese andere Aufklärung soll im Folgenden
analysiert werden. Dabei etablieren wir Jacobis andere Aufklärung zu-
nächst als Alternative zur kantischen Aufklärung (I). Anschließend zei-
gen wir, dass diese andere Aufklärung nur in der vollendeten spinozisti-
schen Aufklärung ihren Ausgang haben kann (II).
1
„[I]m Spinoza steht mein Credo nicht“ (Spin1 JW 1,1, 20).
2
Spin2 JW 1,1, 155.
3
Spin1 JW 1,1, 20.
4
Spin1 JW 1,1, 20.
5
WMB JW 1,1, 290; vgl. hierzu auch Sandkaulen 2011, 22.
6
Sandkaulen 2000, 31.
7
Spin1 JW 1,1, 1.
8
Sandkaulen 2000, 31. Sandkaulen spricht deshalb in Bezug auf Jacobi von einem
„ganz anderen Modell der Vernunftkritik“ als dem Kants (ibid., 36).
66 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

I. Kant und Jacobi im Disput über die andere Aufklärung

Kant hatte bekanntlich wenig Sympathien für das „Kopf-unter“9 von Ja-
cobis Salto mortale. So versucht er in WDO gerade die vermeintlich aus-
schließliche Alternative zwischen dogmatischer Metaphysik und Jacobis
Salto mortale in den Abgrund des Glaubens zu unterlaufen. Zwar hat Ja-
cobi für Kant insofern recht, dass die Vernunft für das Fürwahrhalten
der Ideen von Gott und Freiheit niemals objektive Erkenntnisgründe be-
sitzen könne, sie hätte aber auf Grund ihres eigenen Vernunftinteresses
ausreichend subjektiv-praktische Gründe, die ein ebenso subjektiv-
praktisches Fürwahrhalten dieser Ideen berechtigen.10 Da Jacobi hinge-
gen sein Denken nicht den selbst gegebenen Gesetzen der Vernunft un-
terwerfe, mache er einen illegitimen Gebrauch von der Freiheit im Den-
ken.11 Seine Beschneidung des Vorrechts der Vernunft, letzter Prüfstein
aller Urteile zu sein, öffne hingegen „aller Schwärmerei, Aberglauben, ja
selbst der Atheisterei eine weite Pforte“.12 In diesem Sinne wirkt Jacobi
nach Kant der Aufklärung entgegen.13
Aus der Perspektive Jacobis unterbietet dagegen Kants Kritik die
Ethik Spinozas, sobald man an sie den Maßstab der Systematizität an-
legt. Nach Jacobi nimmt Kant nämlich zahlreiche Inkonsequenzen, Wi-
dersprüche und Zweideutigkeiten in Kauf, um dank dieser Inkonse-
quenzen innerhalb seines Systems noch Platz für seinen Glauben an
Freiheit und Gott haben zu können.14 Kants Schwanken zwischen Rea-
lismus und Idealismus nötige ihn zudem zur widersprüchlichen Setzung
des Dinges an sich. Um konsequent zu sein, gälte es, den konsequentes-
ten Idealismus zu lehren, der jemals gelehrt worden sei.15 Dieser sei dann
aber nichts anderes als ein umgekehrter Spinozismus,16 der auf dieselben

9
Spin1 JW 1,1, 20.
10
WDO AA 8, 135ff.
11
WDO AA 8, 145.
12
WDO AA 8, 143.
13
Insofern Jacobi zudem der „Freigeisterei“ Vorschub leiste, nötige er die staatlichen
Autoritäten zur Einschränkung der für die Aufklärung essentiellen Publikationsfreiheit
(WDO AA 8, 146).
14
Vgl. auch Koch 2013, 67. Mit seiner Konzeption einer immanenten Ursache verwi-
ckelt sich Spinoza mit seinem Fatalismus so auch nach Jacobi nicht in Kants dritte Anti-
nomie. Denn ein Zustand im Naturgeschehen ist nicht durch den zeitlich vorgängigen
Weltzustand vollständig bedingt, sondern einzig durch die absolute Ursache, die in jeder
ihrer Wirkungen in gleicher Weise gegenwärtig ist.
15
DH1 JW 2,1, 112.
16
Kant selbst bemerkt in OP: „Der Geist des Menschen ist Spinozens Gott (was das
Formale aller Sinnengegenstände betrifft)“ (AA 21, 99).
Jacobis andere Aufklärung 67

Konsequenzen wie der Spinozismus führen würde: Fatalismus, Atheis-


mus und Nihilismus.
Von dieser kritischen Diagnose, die es im Folgenden noch auszufüh-
ren gilt, rückt Jacobi Zeit seines Lebens nicht ab. In den Widersprüchen
in Kants System manifestiert sich nach Jacobi jedoch ein Bewusstsein
von dem, was er selbst durch seinen Salto mortale aus dem Spinozismus
retten will: das Bewusstsein der Freiheit.17 Wegen dieses unumstößlichen
Bewusstseins hätte sich Kant lieber an seiner Theorie als in seiner Theo-
rie an der Freiheit „versündig[t]“.18 Auf Grund seiner Inkonsequenzen
komme Kant jedoch gar nicht an die „elastische Stelle“,19 an der der von
Jacobi eingeforderte Salto mortale notwendig und ein Übergang von der
Spinozistischen Aufklärung in Jacobis andere Aufklärung möglich wird:
die Annihilation der Freiheit. Nur die konsequent vollendete Aufklä-
rung Spinozas lässt keinen Raum für die Freiheit und zwingt den, der die
Freiheit retten will, gegen diese Aufklärung zu schließen.20
Fassen wir also zusammen: Erst die Annihilation der Freiheit in der
Philosophie Spinozas schafft Raum für eine andere Aufklärung, deren
Methodologie Jacobi im Unterschied zur begrifflichen Konstruktion als
Daseinsenthüllung beschreibt. Der Übergang von der einen Aufklärung
zur anderen muss sich dementsprechend in drei Schritten vollziehen:
Zunächst muss die rein rationale Aufklärung zur Vollendung gebracht
werden. Von da aus muss aus den Resultaten dieser Aufklärung gegen
selbige geschlossen werden, um in eine andere Aufklärung übersetzen zu
können. Diese andere Aufklärung hat dann das Dasein der Freiheit zu
enthüllen.

II. Vom spekulativen Karfreitag zum Ostersonntag der Aufklärung

Wenn der Spinozismus das notwendige Resultat aufklärerischer Ver-


nunft ist, so kann nach Jacobi nur eine noch radikalere Aufklärung Ver-
nunft und Freiheit aus ihrer selbstverschuldeten Depotenzierung befrei-
en. Radikale Aufklärung bedeutet hierbei Aufklärung der Praxis aufklä-
rerischer Vernunft. Die Befreiung aus der Entmachtung des Denkens
setzt nach Jacobi das „Reflexivwerden der Aufklärung“21 und die Ein-
sicht der Aufklärung in ihre eigene Dialektik voraus. Dies wiederum
17
Vgl. auch Koch 2013.
18
JaF JW 2,1, 192.
19
Spin1 JW 1,1, 30.
20
Vgl. hierzu ausführlich und erhellend Sandkaulen 2000, 48.
21
So Zöller eigentlich über Kant (Zöller 2009, 85).
68 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

setzt die Vollendung dieser Dialektik voraus.22 Dies geschieht bei Spino-
za mit der Negation zweckursächlichen freien Handelns,23 der Redukti-
on des Denkens auf die Rolle eines Zuschauers und der Aufhebung indi-
vidueller Substanzen in ein Relationsgefüge von Negationen. Diese drei
Bestimmungen (Freiheit als endursächliches Handeln, Wirkkraft des
Denkens und substantielle Individualität) charakterisieren nach Jacobi
das, was er Person nennt. Insofern führt die vollendete Aufklärung zur
Annihilation von Personalität.
Um aus dem Spinozismus gegen den Spinozismus schließen zu kön-
nen, muss die Aufklärung sich nicht nur vollenden, sondern sich auch
ihrer Dialektik bewusst werden. Dazu muss sie sich reflexiv auf ihre ei-
gene Praxis richten. Nur damit wird ihr der spinozistische Verblen-
dungszusammenhang als ein solcher bewusst und die Vernunft kann sich
aus der Herrschaft der durch sie selbst geschaffenen Bilder- und Zei-
chenwelt befreien. Hierfür muss die Vernunft sich erst einmal ihrer eige-
nen Tätigkeit bewusst werden, das heißt sie muss sich als tätige und
spontane Schöpferin ihres Zeichensystems verstehen, das sie selbst in ei-
ne Eigenständigkeit entlassen hat und dem sie sich nun unterwirft. Sie
erkennt dann die Dialektik ihrer eigenen freien Tätigkeit, dass nämlich
der reine Relationszusammenhang des Spinozismus, dessen metaphysi-
sches Prinzip ein bloß logischer Grund ist, Ausdruck ihrer eigenen freien
Tätigkeit ist. Die zeichenhaften Relationen sind Gesetze, die ihr nicht
vorgegeben sind, sondern die sie selbst frei hervorgebracht hat.24 Im spi-
nozistischen System kann sich also das Denken seiner eigenen Freiheit in
seinem Produkt bewusst werden, wobei dieses Produkt zugleich die
Möglichkeit dieser Freiheit negiert. Denn das spinozistische System
schließt ja gerade jede Form freier Selbstbestimmung des Denkens aus.
Halten wir noch einmal die Dialektik fest, die Jacobi hier kennzeich-
net. Die Geschichte der aufklärerischen Vernunft ist die Geschichte der
Vernunft, die sich in ihren Systemen immer mehr nur selbstgegebenen
Gesetzen unterwirft. Auf dem Höhepunkt dieses Aufklärungsprozesses,
auf dem die Vernunft ihre absolute Selbständigkeit realisiert, entmächtigt
sie sich gleichzeitig. Der reflektierende Nachvollzug dieser Geschichte
zeigt, dass diese Entmächtigung der Vernunft kein Faktum, sondern die
eigene Tat der menschlichen Vernunft ist. In gewisser Weise könnte man

22
Dass die Aufklärung radikal vollendet werden muss, zeigt auch Jacobis Kritik an
Herders „geläutertem Spinozismus“ in der V. Beilage zu den Spinozabriefen.
23
Spin1 JW 1,1, 75.
24
Ebenso bewundern wir in den naturwissenschaftlichen Systemen nach Jacobi nicht
die entzauberte Welt, sondern die Produktivität menschlicher Vernunft (Einl JW 2,1, 399).
Jacobis andere Aufklärung 69

von der Einsicht in einen pragmatischen Widerspruch dieses Aufklä-


rungsprozesses sprechen.
Da der Spinozismus aber die Vollendung der Vernunft ist, kann dieser
Widerspruch nach Jacobi nicht durch eine Modifikation oder spekulative
Überbietung des Systems aufgehoben werden. Jacobis Forderung nach
einem unmittelbaren Schließen gegen den Spinozismus zeigt ja schon,
dass dieser Schluss nicht von vermittelter oder begreifender Art ist, son-
dern ein Springen aus dem System oder eben ein Salto mortale. Die Dia-
lektik der aufklärerischen Vernunft motiviert diesen Sprung aus dem
System, indem sie zeigt, dass die Ursache des Systems, nämlich die freie
Vernunft bzw. das selbstbestimmte Denken, nicht selbst innerhalb des
Systems entwickelt werden kann, sondern nur als seine Ursache enthüllt
werden kann.
Diese Aufklärung muss sich aber einer ganz anderen Methodik bedie-
nen als die kantische, nach der philosophisches Verstehen gerade darin
besteht, das, was verstanden wird, konstruieren zu können. Jacobi setzt
gegen diese Methode der Konstruktion die Methode der Daseinsenthül-
lung:25 die „Umstellung des Denkens vom Konstruieren ins Finden“.26
Jacobis Alternative zu der sich in ihre eigene Dialektik verstrickenden
Aufklärung hat Birgit Sandkaulen dementsprechend als „eine nicht an
der Rationalität des Systems orientierte andere Aufklärung“27 bezeich-
net:

... Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers, Daseyn zu
enthüllen, und zu offenbaren ... Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächs-
ter – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt:
das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache.28

Diese enthüllende Aufklärung setzt aber die in Spinoza vollendete erklä-


rende Aufklärung und die in ihr realisierte Dialektik insofern voraus, als
erst sie uns einerseits in ihrer Systemschöpfung die kreative Freiheit der
Vernunft enthüllt, andererseits aber zeigt, dass diese vernünftige Selbst-
bestimmung sich nicht entwickeln, sondern nur finden lässt.29 Die andere

25
Fichte fasst die Daseinsenthüllung Jacobis in einem Brief an Jacobi vom 26. 4. 1796
sehr treffend so zusammen, dass Jacobi „Geist als Geist, so sehr die menschliche Sprache
es erlaubt, zu Tage“ fördere (JB 1,11, 102).
26
Sandkaulen 1995, 420.
27
Sandkaulen 1997, 355.
28
Spin1 JW 1,1, 29.
29
„Ich liebe den Spinoza, weil er, mehr als irgend ein andrer Philosoph, zu der voll-
kommenen Ueberzeugung mich geleitet hat, daß sich gewisse Dinge nicht entwickeln las-
70 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

Aufklärung ist also immer auf die spinozistische Aufklärung als das An-
dere ihrer selbst bezogen.
Gegenstand Jacobis anderer Aufklärung ist so gerade die Enthüllung
des Bewusstseins, freie Ursache oder Person zu sein. Diese freie, perso-
nale Ursächlichkeit kann sich nicht begreifen lassen, weil sie als Ursache
des systematischen Begreifens außerhalb von selbigem steht und nicht im
System entwickelt werden kann. Freiheit und Personalität können des-
halb nur bewusst, aber nicht gewusst werden.30 Subjekt dieser anderen
Aufklärung ist keine abstrakte oder reine Vernunft, sondern die indivi-
duelle Person. Denn der Sprung aus dem Spinozismus kann nur vom
einzelnen Individuum vollzogen werden und zwar als freie Handlung
einer Person, die ein unbedingtes Interesse an ihrer Freiheit hat. Diesem
Individuum, das im Vollendungsprozess der Aufklärung zu Grunde ge-
hen muss, geht es im Sprung oder Widerspruch um etwas, nämlich um
die Behauptung seines eigenen, freien, personalen Daseins. Im Vollzug
des Widerspruchs gegen den Spinozismus realisiert das Individuum be-
reits die gegen den Spinozismus behauptete individuelle Freiheit. 31 Es
behauptet seine Eigenständigkeit gegen den Spinozismus, der es not-
wendig spekulativ annihiliert,32 weil die konstruierende Vernunft eben
keine Individuen konstruieren kann:

Die menschliche Kunst vermag nicht Individua, oder irgend ein reales Ganzes
hervor zu bringen; denn sie kann nur zusammensetzen, so daß das Ganze aus
den Theilen entspringt, und nicht die Theile aus dem Ganzen.33

Insofern der Ausgangspunkt von Jacobis anderer Aufklärung die indivi-


duelle Person ist, der es in der Realisierung ihrer Freiheit und Selbstbe-
stimmung um ihr Selbst und den Anderen als konkrete Person geht, ist
die Grundlage von Jacobis anderer Aufklärung nicht Kants universale
Vernunft, sondern die situativ konkretisierte persönliche Vernunft des
historischen Individuums. Auch methodologisch kommt der Person
deshalb in Jacobis Aufklärungsprojekt eine ganz andere Funktion zu als
bei Kant. Kant nimmt seine eigene Person und Autobiographie völlig aus
seiner transzendentalphilosophischen Aufklärung heraus, da dem bloß

sen: vor denen man darum die Augen nicht zudrücken muß, sondern sie nehmen, so wie
man sie findet.“ (Spin1 JW 1,1, 28.)
30
„Wahrheit ist Klarheit, und bezieht sich überall auf Würklichkeit, auf Facta.“ (Spin1
JW 1,1, 128.)
31
Koch 2013, 38; Spin2 JW 1,1, 234.
32
Spin1 JW 1,1, 22f.
33
DH1 JW 2,1, 58. Substanzialität wird von Jacobi mit Individualität gleichgesetzt
(ibid., 60).
Jacobis andere Aufklärung 71

Persönlichen keinerlei methodologische und philosophisch-wissen-


schaftliche Relevanz zukommen kann.34 Ganz anders verhält es sich bei
Jacobi.35 Im Gegensatz zu Kant geht es in Jacobis anderer Aufklärung
aber auch nie um die Menschheit in der einzelnen Person, sondern um
die Person in ihrer konkreten Individualität.36 Was dies nun seinerseits
konkret bedeutet, werden wir in den folgenden Teilen dieser Arbeit aus-
führen.

Fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse zusammen:


In der deutschen Spätaufklärung bildet sich ein Bewusstsein von den
unterschiedlichen Formen aus, die die Dialektik der Aufklärung anneh-
men kann. Kant und Jacobi bringen diese Dialektik auf jeweils unter-
schiedliche Begriffe. Für beide ist die Dialektik der Aufklärung dabei
keine bloße Sackgasse, in die sich die Protagonisten der Aufklärung aus
kontingenten Gründen verirrt haben, sondern sind in der Vernunft
selbst begründet. Beide halten deshalb eine Revolution der Denkungsart
für notwendig, um das wahre Interesse der Aufklärung, nämlich die ver-
nünftige Selbstbestimmung des Menschen, gegen diese Dialektik realisie-
ren zu können. Für beide ist diese Revolution der Aufklärung nur da-
durch möglich, dass die Vernunft auf sich und ihre eigenen Vollzüge re-
flektiert und sich zunächst einmal ihrer Dialektik bewusst wird.
Bereits in der Bestimmung der Dialektik der Vernunft bzw. der Auf-
klärung trennen sich die Wege Kants und Jacobis jedoch. Für Kant hat
die Vernunft unbedingte und allgemeingültige Geltung. Sein Ausgangs-
problem ist deshalb gerade, dass sich die bisherige philosophische Auf-
klärung im Gebrauch der Vernunft in Widersprüche verwickelt hat. Die
wahre Aufklärung hat diese Widersprüche zu diagnostizieren, in der Na-
tur der Vernunft zu begründen und sie dann durch transzendentalphilo-
sophische Aufklärung zu überwinden. Deshalb muss alle wahre Aufklä-
rung und aller selbstbestimmter Vernunftgebrauch auf transzendentaler
Aufklärung gründen. Für Jacobi hingegen gründet die Vernunft des
Menschen immer in seiner konkret historisch situierten Persönlichkeit.
Die Dialektik der Aufklärung nimmt ihren Ursprung deshalb bereits in
der Verwechslung der personalen Vernunft mit der Vernunft schlecht-

34
O’Neill 1989, 7.
35
1792 schildert sich der Herausgeber des Allwill2 als einen Mann, „dem es von seiner
zartesten Jugend an, und schon in seiner Kindheit ein Anliegen war, daß seine Seele nicht
in seinem Blute, oder ein blosser Athem seyn möchte, der dahin fährt.“ (JW 6,1, 88.)
36
Dies zeigt sich bereits im Vorbericht zu Allwills Papieren von 1776: Die Verfasser
der Briefe hätten „anstatt des ganzen Menschengeschlechts immer nur einzelne Personen
im Auge“(Allwill1 JW 6,1, 4).
72 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung

hin, die die äußere Freiheit der Vernunft bedroht. Die Möglichkeit inne-
rer Freiheit wird hingegen durch die spinozistische Annihilation von
Freiheit und Persönlichkeit im vollendeten Vernunftsystem aufgehoben,
deren Bedingung eben diese Freiheit ist. Gegen beide Dialektiken muss
die wahre Aufklärung die Personalität der Vernunft enthüllen.
Indem wir damit die unterschiedlichen Ausgangspunkte Kants und
Jacobis vor dem Problemhintergrund der deutschen Spätaufklärung
skizziert haben, können wir uns im folgenden Teil unserer Untersu-
chung der konkreten Durchführung ihrer Aufklärungsprojekte widmen.
Als Leitfaden soll uns dabei die aufklärerische Debatte um den Univer-
salitätsanspruch des Aufklärungsprojektes dienen.
TEIL 2

AUFKLÄRUNG ALS KOSMOPOLITISCHES PROJEKT


Das Projekt der Aufklärung intendiert eine Selbstbestimmung des Men-
schen, in der der Einzelne sich im Denken und Handeln nur solchen Ge-
setzen unterwirft, die er sich selbst gegeben hat. Der durch eigene Vor-
urteile oder fremde Autoritäten bestimmte Mensch ist genauso wenig
selbstbestimmt wie derjenige, dessen Denken und Handeln durch über-
haupt keine Gesetze regiert wird. Insofern ist aufgeklärte Selbstbestim-
mung der „Disziplinlosigkeit des Denkens“ und Handelns entgegenge-
setzt.1 Die Gesetze, durch die sich der selbstbestimmte Mensch bestim-
men lässt, müssen sich dabei dadurch auszeichnen, dass er sie nicht nur
vor sich selbst, sondern vor allen anderen Menschen rechtfertigen kann.
Jede als gültig behauptete Norm oder Überzeugung muss so begründet
sein, dass diese Begründung für jeden anderen Menschen prinzipiell ein-
sehbar ist.2 Normative, epistemische und politische Ansprüche müssen
also für die Aufklärung grundsätzlich vor dem Forum der gesamten
Menschheit gerechtfertigt werden können, da sie andernfalls Fremdbe-
stimmung implizieren würden.3 Aufklärung fordert deshalb die Geltung
universeller Diskussionsstandards und rationaler Prinzipien, die eine für
alle Menschen gültige Beurteilung jeglicher Ansprüche an Menschen
möglich machen.4
Für die gegenwärtige Fundamentalkritik der Aufklärung, die diese als
rein westliches Projekt weißer Männer betrachtet, sind die von der Auf-
klärung anerkannten Standards allgemeingültiger Rechtfertigung jedoch
nur vermeintlich universell. Ihren Anhängern gelänge es ja nicht einmal,
sich untereinander auf verbindliche Standards rationaler Argumentation
zu einigen und damit zumindest intern ihr Ideal universeller
Rechtfertigbarkeit zu realisieren.5 Die Funktion dieses Ideals sei deshalb
rein polemisch-negativ, um nicht-westlichen Diskursformen ihre Legi-
timität abzusprechen und so den Anderen in öffentlichen Diskursen den
eigenen Standards legitimer Rechtfertigung zu unterwerfen. Das Aufklä-
rungsideal universeller Rechtfertigbarkeit habe so letztlich die chauvinis-
tische, westliche Ignoranz gegenüber kulturellen Differenzen begrün-
det.6 Die Aufklärung habe die physische Unterdrückung des Anderen im
1
Mittelstrass 1970, 1.
2
Vgl. u. a. Wolff 1740, 4; Secte Voltaire 1879, 416f.; Wollstonecraft 1995, 18; Mittel-
strass 1970, 63.
3
Berlin 1982, 86; Evidenz JubA 2, 315f.
4
MacIntyre 1988, 6.
5
MacIntyre 1988, 6; vgl. hierzu bereits Toland 1696, 6; 8; JB 1,5, 371. Nach Fontenelle
ist diese Uneinigkeit allerdings nur ein Zeichen dafür, dass die Aufklärung eben noch
nicht vollendet ist (Fontenelle 1991, 9).
6
Feyerabend 23f.; Bartley 1987, 132; Rorty 1992, 84f.; Gray 2007, 185f.; 5f.; 97; 59; 13;
MacIntyre 1988, 7–9; 351f.; 365; Lyotard 1984, xxv; 65.
76 Aufklärung als kosmopolitisches Projekt

Kolonialismus durch die „unangreifbarere Herrschaft“ einer mit der


Vernunft als solcher identifizierten Rationalitätsform ersetzt,7 ihre „Ver-
nunft“ sei nur ein weiteres Herrschaftsinstrument des Westens.8
Aber auch für moderatere Kritiker ignoriert die Aufklärung die Ver-
wurzelung des Individuums in seiner Tradition, die von selbigem als et-
was Positives und für sein Selbstverständnis Konstitutives erfahren wer-
den kann bzw. wird. Adressat und Subjekt der Aufklärung sei deshalb
nicht die durch ihre kulturelle, religiöse und sexuelle Identität bestimmte
Person, sondern ein abstraktes, geschichts- und traditionsloses Subjekt.9
Dieser abstrakte Subjektbegriff ignoriere jedoch die substantielle Ver-
wurzelung des Individuums in seiner spezifischen Gemeinschaft. Die
Forderung nach universeller Rechtfertigbarkeit sittlicher, rechtlicher und
epistemischer Normen reduziere die Adressaten dieser Normen also auf
abstrakte Subjekte einer reinen Rationalität und marginalisiere ihre ge-
schichtliche und kulturelle Bedingtheit. Zudem erhebe sie die „allmäch-
tige Vernunft“ zu dem konkurrenzlosen Wert im menschlichen Denken
und Handeln und ignoriere damit Wert und Bedeutung der Emotionen
für das menschliche Handeln und Erkennen.10
Letztere Kritik ist ganz offensichtlich einem sehr abstrakten Ver-
ständnis von Aufklärung geschuldet. 11 Vielmehr zeigen die Texte der
Aufklärer, dass die sinnlich-emotionale Bedingtheit des Menschen, das
Recht von Sinnlichkeit, Imagination und Emotion in Fragen der Ästhe-
tik, Erkenntnis und Moral sowie die Kritik einer Überhöhung der abs-
trakten Vernunft alles andere als Entdeckungen der Aufklärungskritik
sind.12 Relevanter ist die Kritik, der Universalitätsanspruch der Aufklä-
rung negiere und ignoriere die historisch-kulturelle Bedingtheit des
Menschen. Auf Grund der zentralen Stellung dieser Kritik wollen wir
uns ihrer in diesem Kapitel als Leitfaden bedienen und die kritische Aus-
einandersetzung Kants und Jacobis mit dem aufklärerischen Universali-
7
Habermas 1988, 70.
8
Habermas 1988, 71.
9
Schwemmer 1992, 89; vgl. hierzu auch: Gray 2007, 2f.; 7; 97f.; 181; 187.
10
Slote 2013, 2f.; 7. Slote präsentiert seine eigene Ethik des Mitgefühls und der Emoti-
onalität als feministische Alternative zur vermeintlich maskulinen Aufklärung. Jedoch
behauptet gerade die Feministin Wollstonecraft in ihrer Auseinandersetzung mit Burke
das nach Slote „maskuline“ aufklärerische Prinzip argumentativer Rationalität gegen den
Kult der Empfindsamkeit und des Mitgefühls (Wollstonecraft 1995, 6f.; 79).
11
Vgl. Cassirer 2007, 109.
12
Vgl. hierzu vor allem: Kondylis 2002; Lloyd 2013; Cassirer 2007, 110; Neeb 1796, 26;
Smith 1767, 396–398; PP DD 1, 273; Fontenelle 1991, 35; 192f.; 207; D’Holbach 1770, 272;
Garve 1779, 12; Abbt 1780, 46; Hißmann 1780, 42ff.; Erkennen FHA 4, 353f.; Evidenz
JubA 2, 327f.; Heinzmann 1795, 19; Rhapsodie1 AW I, 222ff.; Sendschreiben Lessing
JubA 2, 85; 94.
Aufklärung als kosmopolitisches Projekt 77

tätsanspruch beleuchten. Von hier aus lassen sich die bisher nur skizzier-
ten Aufklärungskonzepte Kants und Jacobis vertiefen. Dabei stehen bei-
de inmitten einer Debatte der deutschen Spätaufklärung, die diesen An-
spruch schon längst fragwürdig gemacht hat.
Eine der gewichtigsten Stimmen in dieser Debatte ist Johann
Gottfried Herder. Für unsere Untersuchung ist Herder gerade deshalb
von besonderer Relevanz, weil sich bei ihm bereits die Argumente gegen
den Universalitätsanspruch der Aufklärung, im Besonderen aber auch
gegen Kants vermeintlichen Universalismus finden, die im 20. Jahrhun-
dert vor allem von postmodernen Denkern thematisiert werden: Vor al-
lem attackiert er dabei „den Unsinn“ von Kants Geschichtskonzeption,
nach der das menschliche Individuum um der Gattung willen da sei, de-
ren Bestimmung sich erst in Kants „eurozentristische[m] Weltbürger-
tum“ 13 vollende. 14 Wie intensiv Kant die Schriften seines ehemaligen
Schülers Herder verfolgt, ist zwar umstritten, jedoch hat Kant mit Ge-
wissheit einige der Texte gelesen, die für Herders Kritik an ihm selbst
und der Aufklärung im Allgemeinen zentral sind.15 Jacobi hingegen hat
nicht nur nachweisbar zahlreiche Schriften Herders studiert, sondern
steht – mit Unterbrechungen – von 1783 bis zum Tod Herders in einem
intensiven Briefwechsel und engem Freundschaftsverhältnis mit diesem.
Sowohl Kant als auch Jacobi dürften also mit Herders Aufklärungskritik
vertraut sein. Ausgehend von dieser Kritik erörtern wir im folgenden
Kapitel zunächst die Problematik des aufklärerischen Universalitätsan-
spruchs anhand der Diskurse der deutschen Spätaufklärung, um an-
schließend die Aufklärungsprojekte Kants und Jacobis am Leitfaden des
Spannungsverhältnisses von rationalem Universalitätsanspruch und indi-
vidueller Standortgebundenheit zu explizieren.

13
Gaier 2006, 110.
14
Brief an Jacobi vom 25. 2. 1785 HB 5, 108f.; FHA 6, 335; vgl. Gaier 2006, 110.
15
Vgl. hierzu: Kühn 2007, 260ff.; Zammito 1992, 36f.; AA 12, 293f.; AA 11, 57; 76.
KAPITEL 1
KRITIK DER AUFGEKLÄRTEN VERNUNFT

Im Grunde fügt die soeben skizzierte Kritik am Universalitätsanspruch


der Aufklärung der Aufklärungskritik Herders wenig Neues hinzu:1 Be-
reits Herder bemängelt, dass die Aufklärung und ihr Denken mit ihrer
exklusiven Anerkennung der Vernunft ihre eigene Geschichtlichkeit ig-
norieren und sich nicht als das begreifen würden, was sie sind: die Mani-
festation eines durch Kultur und Historie bestimmten Zeitgeistes.2 So ist
auch die Vernunft keine neutrale Instanz, die von einem archimedischen
Standpunkt aus über sämtliche epistemische oder normative Gehalte
richten könnte, sondern „etwas Vernommenes“, 3 das sich erst in den
konkreten, historisch, sozial und geographisch bedingten Lebensvollzü-
gen des Individuums herausbildet.4
Entgegen dem in der Aufklärung weit verbreiteten geschichtsphiloso-
phischen Optimismus, aber auch im Gegensatz zu kulturgeschichtlichen
Verfallsgeschichten à la Rousseau charakterisiert Herder zudem die his-
torische Genese der Vernunft als dialektisches Wechselspiel von Fort-
schritt und Rückschritt. Denn historische Entwicklung ist für die Ver-
nunft nur möglich, wenn Alternativen und damit auch Rationalitätspo-
tentiale zu Gunsten anderer ausgeschlossen werden. 5 Die in einer
bestimmten Epoche vorherrschende Rationalitätsform ist damit immer
durch die in ihrer historischen Genese ausgeschlossenen Alternativen li-
mitiert. Die neuzeitlich-europäische Aufklärung und ihre Rationalität
bilden hierbei keine Ausnahme. Auch sie sind nicht Resultat eines revo-
lutionären voraussetzungslosen Neuanfangs im Denken, sondern viel-
mehr des Zusammenflusses und Ausschlusses vielfältiger Traditionen.6

1
Vgl. ebenso: Cassirer 2007, 4f.; Whitton 1988, 149.
2
Bollacher 1989, 902.
3
Ideen FHA 6, 144.
4
Die Vernunft ist so nach Herder abhängig von Einflussfaktoren wie Klima, geologi-
scher Beschaffenheit der Umwelt, Vegetation und den den Menschen umgebenden Tieren,
denen er sich seine Techniken abschaut. Die „Geschichte seiner Kultur wird sonach einem
großen Teil nach zoologisch und geographisch“ (Ideen FHA 6, 69). Diese Aufklärungs-
kritik resultiert selbst aus aufklärerischen Ideen wie der sensualistisch-empiristischen Er-
kenntnistheorie (Heinz 1996, 149; Adler/Koepke 2009, 8).
5
Barnard 2003, 15.
6
Ideen FHA 6, 358. Hamann schreibt am 28. Oktober 1785 an Jacobi: „Mit Herder
bin ich gantz einig, daß unsere ganze Vernunft und Philosophie auf Tradition und Ueber-
Kritik der aufgeklärten Vernunft 79

Anders als vielen heutigen Aufklärungskritikern geht es Herder mit


dieser „Kontextualisierung“ der Vernunft aber primär nicht um deren
Relativierung.7 Im Gegenteil: Für Herder kann nur eine Vernunft, die
sich durch Eindrücke und Unterricht bildet, in ihrer Lebendigkeit erfasst
werden. Dabei verhält sich die Vernunft in ihrem Bildungsprozess nicht
rein passiv, sondern ist eine aktive Kraft, Verbindungen zwischen den
rezipierten Eindrücken zu gestalten, aktiv zu formen und sich so anzu-
eignen. Indem der Mensch durch seine Vernunft seine Reaktionen auf
die Eindrücke seiner Umwelt frei reflektiert, organisiert er in je indivi-
dueller Weise seine Vernunft.8 Anders als das Tier besitzt der Mensch so
ein „freies Verhältnis zur Sinnlichkeit“:9 er ist „der erste Freigelassene
der Schöpfung“.10 In der aktiven Rezeption sinnlicher Eindrücke besitzt
die menschliche Vernunft bei Herder einen höheren Grad an Kreativität
als etwa bei Kant, da sie ihre Kategorien nicht nur appliziert, sondern
frei ausbildet. Denken und Fühlen sind so eine Manifestation menschli-
cher Schöpfungskraft. 11 Jedoch gibt es für den Menschen kein reines
Selbstdenken, denn niemand ist „im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein
Selbstgeborener“.12 Wir denken immer schon in einer tradierten Sprache
und Denkweise, die vor uns geformt wurde.13 Kants strikter Unterschei-
dung von Selbstdenken und Nachahmung setzt Herder jedoch seinen
Bildungsbegriff entgegen, in dem diese Alternative in einem Prozess
produktiver Aneignung von Fremdgedachtem immer schon überwunden
ist. Demgegenüber reduzieren weite Teile der Aufklärung für Herder die
lebendige Kraft der Vernunft und ihre gestalterische Freiheit auf einen
mechanischen Automatismus.14
Herder bestimmt die Vernunft also als eine Kraft, die durch ihre
schöpferische Reaktion auf ihre sinnliche, historische und kulturelle
Umwelt und damit durch diese Umwelt gebildet wird. Damit muss Her-
der jedoch die Idee einer universellen Vernunft aufgeben.15 Es gibt nur
lieferung heraus laufe.“ (JB 1,4, 220; vgl. ebenso den Brief an Herder vom 9.11.1785 ZH 6,
127.)
7
Adrastea FHA 10, 46.
8
Heinz 1996, 147.
9
Heinz 1996, 148.
10
Ideen FHA 6, 145f. Das Individuum ist deshalb durch seine sprachliche und kultu-
relle Situiertheit zwar bestimmt, aber nicht determiniert (Spencer 2012, 70).
11
APGBM FHA 4, 31f.
12
Ideen FHA 6, 336.
13
Blumen SWS 16, 34; FHA 8, 647; Adrastea FHA 10, 57; Metakritik FHA 8, 320; Er-
läuterungen SWS 7, 369.
14
Ideen FHA 6, 144.
15
Denn auf der Erde ist „kein Punkt dem anderen gleich, kein Hemisphär dem andern
gleich“ (Ideen FHA 6, 33).
80 Kritik der aufgeklärten Vernunft

konkrete Ausdrucksformen der Vernunft, deren Gestaltung immer auch


von den ihr vorgegebenen sinnlichen Bestimmungsfaktoren abhängig
ist.16 Anstatt eine vermeintlich reine Vernunft zu kritisieren, gilt es des-
halb für Herder vor allem die Verschiedenheit der Sprachen zu studie-
ren, in denen sich die kollektive Vernunft jeder menschlichen Gemein-
schaft und damit die Verschiedenheit menschlicher Denkarten und Ra-
tionalitätsformen ausdrücken. 17 Die Sprache ist nahezu einerseits
Produkt der geistigen Schöpfungskraft einer Sprachgemeinschaft, die
Wirklichkeit in objektive Formen zu fassen, andererseits Resultat ihrer
Lebensumstände. 18 Das Denken des Individuums bestimmt dabei die
kollektive Sprache einer Gemeinschaft, wird andererseits aber auch
durch diese Sprache bestimmt.19 Begriffe wie „reines Selbstdenken“ und
„universelle Vernunft“ sind deshalb sinnlos. Da der Mensch immer
schon in einer tradierten Sprache denkt, kann er weder rein autonom
noch von einem universalen Standpunkt aus denken.20 Da jede Sprache
und die ihr entsprechende Rationalitätsform Produkte eines historisch-
kulturellen Entstehungsprozesses sind, gibt es nach Herder keinen un-
parteiischen Vergleichsmaßstab, mit dem man die Vorurteile, durch die
eine Rationalitätsform bestimmt ist, objektiv als Vorurteile beurteilen
könnte.21 Dies gilt auch für die Rationalitätsform(en) der Aufklärung, die
sich deshalb nicht „zum Richter jeder fremden Denk- und Sinnesart“
aufschwingen kann. 22 Vielmehr trägt jede Nation und jede Sprachge-
meinschaft den Maßstab zu ihrer Beurteilung nur in sich selbst.23
Fassen wir zusammen: Die Rationalität der europäischen Aufklärung
kann für Herder keine universelle Geltung beanspruchen, weil sie wie

16
Heinz 1996, 147.
17
„Wörter [sind] nicht bloß Zeichen, sondern gleichsam die Hüllen [...], in welchen wir
die Gedanken sehen“ (ÜnDL2 FHA 1, 552).
18
Ursprung FHA 1, 757. In der Sprache eines Volkes „wohnet sein ganzer Gedanken-
reichtum an Tradition, Geschichte, Religion und Grundsätzen des Lebens, alle sein Herz
und Seele.“ (BBH FHA 7, 65.)
19
Die Sprache ist eine „Schatzkammer menschlicher Gedanken, wo jeder auf seine Art
etwas beitrug! Eine Summe der Würksamkeit aller menschlichen Seelen.“ (Ursprung
FHA 1, 801.)
20
„Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Traditio-
nen, durch Glauben ans Wort der Väter.“ (Ideen FHA 6, 352.) Nach Herder ist die Idee
universeller Vernunft nur das Resultat der Abstraktion von den Besonderheiten der Kul-
turen und Nationen, der er die Anerkennung dieser inkommensurablen Besonderheiten
entgegensetzt (Gray 2007, 247; Sikka 2011, 29; Gadamer 2000b, 120; Berlin 1982, 76;
Arendt-Stern 1932, 75).
21
BBH FHA 7, 225; 688; Ideen FHA 6, 33f.; 327; ÜnDL FHA 1, 371.
22
BBH FHA 7, 244f.
23
APGBM FHA 4, 39; Wirkung der Dichtkunst FHA 4, 191.
Kritik der aufgeklärten Vernunft 81

jede andere Rationalitätsform durch ihren kontingenten Kontext gebil-


det ist. Der Aufklärung scheint es nur so, als näherten sich die Menschen
in ihr dem Ideal eines gelungenen Lebens an, weil sie diesem Prozess
ausschließlich ihre eigenen Kriterien eines gelungenen Lebens zu Grun-
de legt. In diesem falsch verstandenen Universalismus drückt sich für
Herder in der Tat eine Form von Chauvinismus aus. Durch die illegitime
Identifikation ihrer eigenen Rationalitätsform mit allgemeinverbindli-
chen Standards der Vernunft schlechthin befördert die Aufklärung des-
halb nicht die freie Selbstbestimmung der Menschen, sondern legitimiert
den Herrschaftsanspruch des aufgeklärten Europas über andere Völker.
Die Befreiung der Menschen von illegitimer Herrschaft intendierend
schlägt die Aufklärung also für Herder vermittelt über den Herrschafts-
anspruch ihrer Vernunft in Kolonialismus und Ethnozentrismus um, der
sich damit rechtfertigt, den in Finsternis lebenden Menschen das Licht
der Aufklärung zu bringen.24
Dieser Pervertierung des Aufklärungsprojekts setzt Herder aber gera-
de nicht die Ablehnung jedweder Aufklärung entgegen, sondern die Idee
einer Pluralität von Aufklärungen. Wie es nicht eine Vernunft für alle
Menschen, sondern nur verschiedene Ausdrucksformen der Vernunft
gibt, so gebe es auch nicht die eine Aufklärung, sondern unterschiedliche
„Gattungen menschlicher Aufklärung“,25 die jeweils einem historischen
Prozess aus Werden und Vergehen unterworfen sind. Wahre Aufklärung
ist dabei für Herder Bildung des Menschen. Diese Form der Aufklärung
respektive Bildung ist nicht Unterricht, sondern „die Tradition einer Er-
ziehung zu irgend einer Form menschlicher […] Lebensweise“. 26 Die
Kette dieser Aufklärung reiche „bis ans Ende der Erde“.27 Sie gleiche
dem Fortgang von Szenen, in denen sich jeweils eine andere Möglichkeit
dessen, wozu der Mensch sich bilden kann, manifestiere.28 Universelle
Aufklärung müsste deshalb in der Aneignung vorhandener anderer

24
Outram 2013, 66. Herder wendet sich deshalb gegen jede Form von Kolonialismus.
Der europäische Teil der Welt „hat nicht kultiviert, sondern die Keime eigner Kultur der
Völker, wo und wie er nur konnte, zerstöret“ (BBH FHA 7, 672; vgl. auch: Ideen FHA 6,
442).
25
Ideen FHA 6, 571.
26
Ideen FHA 6, 340. „Bildung der Denkart, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige
Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre.“ (BBH FHA 7,
258.) Dabei unterläuft Herder mit seinem Begriff der Bildung die unter anderem von Mo-
ses Mendelssohn getroffene, strikte Unterscheidung von Kultivierung und Aufklärung.
27
Ideen FHA 6, 340.
28
VdAK FHA 2, 456. „Wehe aber auch dem Philosophen über Menschheit und Sitten,
dem Seine Szene die Einzige ist, und der die Erste immer, auch als die Schlechteste, ver-
kennet!“ (ibid.)
82 Kritik der aufgeklärten Vernunft

Möglichkeiten menschlicher Bildung bestehen, um so möglichst die ge-


samte Erfahrung des Menschengeschlechts in die eigene Rationalität zu
integrieren.29 Erst im Spiegel anderer Nationen kann der Mensch näm-
lich die Partikularität und Bedingtheit dessen erkennen, was ihm von
seiner Bildungsgeschichte her als vernünftig erscheint. 30 Eigene Ge-
wohnheiten, Sitten und Ansichten werden als bloße Gewohnheiten
durchschaut, wenn man sieht, dass andere Völker von diesen Sitten und
Vorstellungen nichts wissen und dennoch glücklich leben.31 Hierin be-
steht für Herder der einzige Vorzug der europäischen Aufklärung, dass
sie einen historischen Standpunkt erreicht hat, von dem aus sie sich im
Spiegel aller vergangenen und gegenwärtigen Nationen betrachten
kann.32 Ihr ist damit die Möglichkeit gegeben, sich der Idee von Univer-
salität durch Aneignung partikularer Formen von Rationalität anzunä-
hern.
Resümieren wir: Obwohl Herder die Momente postmoderner Aufklä-
rungskritik vorwegnimmt, zeigt er sich hierin als alles andere als ein
Vernunft- und Aufklärungsgegner. Vielmehr versucht er die Lebendig-
keit von Vernunft und Aufklärung gegen inneraufklärerische Tendenzen
zu bewahren, die diese versteinern. Lebendigkeit setzt dabei für Herder
wesentlich Aneignung des Anderen seiner selbst (also anderer Realisie-
rungsformen von Aufklärung und Rationalität) voraus. Bevor wir an-
schließend die Konzeptionen Kants und Jacobis zu dieser Kritik Herders
in ein Verhältnis setzen, werden wir nun zunächst analysieren, inwieweit
sich diese Kritik nicht bereits dem reflexiv-kritischen Selbstbewusstsein
der Aufklärung (insbesondere der deutschen Spätaufklärung) verdankt.
Dabei gehen wir in drei Schritten vor: Zunächst untersuchen wir das
Unrecht der Aufklärung, also ihren chauvinistischen Eurozentrismus
und Elitarismus (A). Anschließend versuchen wir jedoch zu zeigen, dass
dieses Unrecht gerade nicht ihrem Ideal universalistischer Rationalität
entspringt, das vielmehr die Anerkennung menschlicher Selbstbestim-
mung begründet (B). Anschließend rechtfertigen wir die Aufklärung und
ihren Universalitätsanspruch über ihre Rechtsidee als Grundlage einer an
der Idee allgemeiner Freiheit orientierten menschlichen und kulturellen
Selbstbestimmung (C).

29
„Die allgemeine und stärkste Vernunft kann nur das Resultat aller Erfahrung des
Menschengeschlechts seyn“ (Erläuterungen SWS 7, 368f.).
30
Exemplare SWS 15, 138.
31
Exemplare SWS 15, 138.
32
APGBM FHA 4, 84.
Das Unrecht der Aufklärung 83

A. Das Unrecht der Aufklärung

Herders Kritik an der Marginalisierung anderer Kulturformen durch die


Aufklärung ist zunächst insofern gerechtfertigt, als sich in der Tat nicht
wenige männliche, europäische, bourgeoise Aufklärer durch einen
schwer erträglichen Chauvinismus gegenüber anderen Klassen, Kultu-
ren, Religionen, Ethnien und Frauen auszeichnen.1 Die Massiertheit, in
der diese Vorurteile zu Tage treten, geben durchaus Grund zu vermuten,
dass es sich nicht bloß um einzelne Ausfälle handelt, sondern diese in der
Ideologie der Aufklärung selbst begründet sind. Erschwerend kommt
hinzu, dass aus der vermeintlichen Rückständigkeit anderer Kulturen
durchaus auch auf die Legitimität der politischen Expansion Europas ge-
schlossen wird.2 Wenn überhaupt, so wird der vermeintlich unaufgeklär-
te „Wilde“ nicht in seiner Andersheit, sondern nur auf Grund seiner
präsupponierten Vernunft oder Aufklärbarkeit anerkannt.3 Dieser auf-
geklärte Chauvinismus zeigt sich besonders am Antijudaismus vieler
Aufklärer.4 Für den Universalitätsanspruch aufgeklärter Rationalität ist
dabei vor allem problematisch, dass die Aufklärer ihre Polemik gegen
das Judentum häufig mit der universellen Geltung der Vernunft begrün-
den, der sich die Juden widersetzen würden. Ihre Verstocktheit zeige
sich nirgends deutlicher als in ihrer Befolgung bloß statutarischer Religi-
onsgesetze, die nicht durch die Vernunft gerechtfertigt werden könnten
und die sie daran hindere, aufgeklärte Staatsbürger zu werden. 5 Dass
hierbei christliche Invektiven gegen die Juden wie der Vorwurf der Ver-
stocktheit gegenüber dem Licht des Christentums einfach transformiert
werden, ist offensichtlich. Die mittelalterliche Legitimierung der Unter-

1
Auch Kants Ansichten über Frauen, Juden und Rassen liefern hierfür äußerst uner-
freuliche Beispiele, die fundamentalen Einsichten seiner Moralphilosophie zu widerspre-
chen scheinen (GSE AA 2, 253; 255; ÜGTP AA 8, 174; 176; Refl 1520 AA 15, 875–880;
MdS AA 6, 314; ZH 4, 77.). Vgl. hierzu: Kleingeld 1995a, 32–35; dies. 2012, 106; 93f.;
Mendus 1987, 27ff.; 39; Wood 2008, 7f.; Louden 2000, 102f.; Deligiorgi 2005, 72.
2
Anonymus 1788a, 10; Condorcet 1968, 237; Refl 1501 AA 15, 788f.
3
Knoblauch 1790a, 32. Man muss sich freilich fragen, inwieweit die europäischen Auf-
klärer überhaupt einen objektiven Blick auf außereuropäische Völker besitzen können.
Die Quellen von Kants Anthropologie etwa sind vornehmlich Reiseberichte, Historiog-
raphien, Dramen und Romane (Wood 2003, 47f.). Jacobi macht einen solchen Reisebe-
richt von de Saint-Pierre durch seine Briefe an eine Junge Dame dem deutschen Publikum
bekannt, dessen Lektüre bei Jacobi jedoch gerade in einer Kritik am Kolonialismus resul-
tiert (BJD JW 4,1, 33–52). Kritisch gegenüber der Objektivität solcher Reiseberichte:
Adrastea FHA 10, 130.
4
Thomasius 1723, 239; Mauvillon 1787, 71; Reimarus 1972, 673f. Bei d’Holbach, Vol-
taire und Rousseau finden sich ähnliche Äußerungen (Becker 2001, 39–42).
5
Berichtigung GA 1,1, 293.
84 Kritik der aufgeklärten Vernunft

drückung der Juden durch den Vorwurf des Gottesmords wird dabei
von den Aufklärern durch die Vorwürfe jüdischer Unaufgeklärtheit, in-
tellektueller Rückständigkeit und sittlich-kultureller Korruption ersetzt.6
Der Chauvinismus der Aufklärung zeigt sich aber auch in der Haltung
mancher Aufklärer gegenüber dem „gemeinen Volk“, also den Mitglie-
dern der Gesellschaft, die nicht der aufgeklärten Elite angehören. Insbe-
sondere dem Ideal und der Möglichkeit einer Aufklärung dieses „gemei-
nen Volkes“ stehen einige Aufklärer skeptisch gegenüber.7 So wird sogar
die Frage, ob es nützlich sein kann, das Volk zu belügen, zu einer zentra-
len Fragen der deutschen Spätaufklärung.8 Vornehmlich sind die Aufklä-
rer im Zweifel darüber, ob man das Volk in der gegenwärtigen Situation
von seinen religiösen Vorurteilen befreien sollte (teils aus Sorge um die
bürgerliche Gesellschaft, teils aus Sorge um das Wohl der Einzelnen).9 So
sei es mitunter besser, „das Vorurtheil [zu] dulden, als die mit ihm so fest
verschlungene Wahrheit zugleich mit [zu] vertreiben“.10

Rettung JubA 8, 6; Voltaire 1879a, 522; vgl. hierzu: Katz 1989, 202; Berghahn 2004,
6

368; 375; Himmelfarb 2008, 157f. Entgegen dieser anti-jüdischen Tendenz seiner Zeit
bringt Herder immer wieder seine Bewunderung für den zwanglosen Einfluss der Juden
auf die Humanisierung der Menschheit zum Ausdruck (Ideen FHA 6, 483; VGEP FHA 5,
672; Herder 1976, 219f.).
7
Vgl. etwa Superstition Voltaire 1879b, 456; Diderot: Multitude Enc 10, 860; Misere
Enc 10, 575; La Mettrie 1764; La Mettrie 2009, 20f.; 72f.; Toland 1751, ii; 14; 70.
8
Die Akademie der Wissenschaften zu Berlin schreibt im Jahr 1778 auf Anregung
Friedrichs II. sogar eine Preisschrift zur Beantwortung der Frage aus, ob es nützlich sei,
das Volk zu betrügen (Conrad 1998, 8). Mehr als ein Drittel der Antwortenden bejaht die-
se Frage (ibid., 11).
9
WSW 5,15, 41; Reimarus 1972, 41; Jensen 2003, 34f.
10
WA JubA 6,1, 118; Lavater JubA 7, 14. Andererseits sieht Mendelssohn deutlich,
dass die Schonung dessen, was anderen heilig ist, „von je her Schutzwehr der Heuchelei“
gewesen ist: „So oft man das Verbrechen greifen wollte, rettete es sich ins Heiligthum.“
(WA JubA 6,1, 118.) In diesem Sinne behaupten Hennings und Fichte den absoluten Vor-
rang der Aufklärung ohne Rücksichtnahmen (JubA 13, 227ff.; Berichtigung GA 1,1, 203).
Das Recht der Aufklärung 85

B. Das Recht der Aufklärung

Die entscheidende Frage ist nun, ob der eben skizzierte Chauvinismus


vieler Aufklärer ihrem universalistischen Vernunftideal entspringt. Denn
auch die Überwindung solcher Vorurteile ist von Beginn an ebenso ein
Moment der Aufklärung wie die Kritik am europäischen Kolonialismus.
Das Medium dieser Kritik ist dabei häufig ein kultureller oder histori-
scher Perspektivenwechsel, gerade um die Beschränktheit des eigenen
Standpunktes zu entlarven und damit auch zu überwinden: „Der Ameri-
kaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entde-
ckung.“1
Condorcet, der die Selbstbestimmung der „unzivilisierten“ Völker in
den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, verurteilt aus dieser Per-
spektive die grausame Unterdrückung der kolonialisierten Völker auf
Grund ihrer Hautfarbe und ihres Glaubens und fordert von den Euro-
päern von Tyrannen zu Befreiern zu werden. Dabei sollen sie die kolo-
nialisierten Völker gerade nicht zum Europäertum, sondern zu politi-
scher Unabhängigkeit und Autonomie befreien. Dies setze jedoch zu-
nächst eine Selbstaufklärung der europäischen Völker voraus. Denn nur
wenn sich die europäischen Völker der eigenen politischen Autonomie
bewusst würden, könnten sie die politische Unabhängigkeit anderer
Völker respektieren.2
Ziel der Aufklärer ist also nicht notwendig die Einebnung kultureller
Differenzen, sondern die Kritik an autoritärer Herrschaft, Intoleranz
und Selbstimmunisierungen orthodoxer Dogmen, die menschliche
Selbstbestimmung verhindern.3 Gerade in Bezug auf die Emanzipation
der Juden zeigt sich dabei in der Tat eine ambivalente Haltung der Auf-
klärung zu kultureller Selbstbestimmung: Zumindest in seiner orthodo-
xen Ausprägung wird vor allem das Judentum von einigen Aufklärern als
selbstverschuldetes Hindernis intellektueller und moralischer Selbstbe-
stimmung verstanden. Dem wird eine Idee von Selbstbestimmung auf
Grundlage der universalen Vernunft entgegengesetzt, die von orthodo-
xen Juden nur als Einschränkung ihrer selbst gewählten Existenzweise
verstanden werden kann. Auf der anderen Seite entwickelt gerade die
deutsche Spätaufklärung gleichzeitig die Idee der politischen Gleichstel-
lung der Juden. Primäres Ziel ist dabei nicht die geistige Umerziehung
jüdischer Mitbürger als Voraussetzung ihrer rechtlichen Gleichstellung,
1
Lichtenberg 1971, 166; vgl. ähnlich: Bachstrom 1736; Niebuhr 1787, 505f.; 511; ders.
1788, 433; Weikard 1788, 21ff.; ZeF AA 8, 358.
2
Condorcet 1968, 239f.
3
Israel 2006, 525.
86 Kritik der aufgeklärten Vernunft

sondern die Etablierung ihrer rechtlichen Gleichstellung als Vorausset-


zung ihrer geistigen Selbstbestimmung.4
Was die Gegenwartskritik an der Aufklärung aber gerne ignoriert, ist
Folgendes: Die aufklärerische Kritik kultureller und religiöser Beson-
derheiten ist zumindest dann sachlich begründet, wenn durch die Beru-
fung auf diese Besonderheiten die Unterdrückung, Diskriminierung oder
Benachteiligung anderer legitimiert werden soll. Diese Form der Unter-
drückung als Hindernis menschlicher Selbstbestimmung, die sich in Eu-
ropa genauso wie in anderen Nationen findet, ist die eigentliche Barba-
rei, gegen die sich viele Aufklärer richten. So lässt sich auch die Sklaverei
in den Südstaaten Amerikas nicht mit dem kulturellen Selbstbestim-
mungsrecht der dortigen Sklavenhalter rechtfertigen.5
Dies ist auch eine der ursprünglichen Einsichten Herders: 6 Auf
Grundlage des menschlichen Selbstbestimmungsrechts kritisiert er nati-
onale Traditionen immer dann, wenn diese ihrerseits die Unterdrückung
anderer Nationen oder bestimmter Bevölkerungsgruppen einschließen,7
etwa die Unterwerfung der Eigeninteressen von Frauen und Sklaven un-
ter die Interessen einer Nation. Denn Nationen als solche besitzen nur
ein Selbstbestimmungsrecht als notwendige Bedingungen für die selbst-
bestimmte Lebensführung der Individuen, die durch ihre Sprache und
Kultur bestimmt sind. Kulturelle Identität und die Expansion des
Selbstbestimmungsrechts auf ganze Gruppen kann damit kein Argument
zur Legitimation der Unterdrückung Einzelner oder kultureller Minder-
heiten sein. Nur da das Individuum in seiner Lebensgestaltung immer
schon bestimmt ist durch das Kollektiv, in dem es aufwächst, reicht es
nicht, dem abstrakten Subjekt seine Selbstbestimmung zu ermöglichen,
sondern dem konkreten Individuum, das seine Freiheit nur vor dem
Hintergrund der Selbstbestimmung derjenigen Kollektive entfalten
kann, die seine Individualität bestimmen.
Die bisherigen Überlegungen sollten Folgendes deutlich gemacht ha-
ben: Auch wenn ein Teil der Aufklärer sich in chauvinistischer Weise
gegenüber anderen Ethnien, Religionen etc. positioniert, besteht doch
das Ideal der Aufklärung eher in der Überwindung solcher Chauvinis-
men und der mit ihnen verbundenen Unterdrückungsmechanismen. Die
4
von Dohm 1781, 27. Herder überwindet diese Ambivalenz, indem er streng zwischen
der von ihm geforderten politischen Emanzipation der Juden und ihrer kulturellen und
religiösen Assimilation unterscheidet (Adrastea SWS 24, 62f.; Barnard 2003, 19).
5
Riem 1974, 29; vgl. auch: WSW 5,14, 134.
6
ERW FHA 9,2, 307.
7
Sikka 2011, 93. Herder dehnt damit den kategorischen Imperativ, nach dem Men-
schen nicht als Mittel gebraucht werden dürfen, auf soziale und kulturelle Gruppen aus
(ibid.).
Das Recht der Aufklärung 87

moderne Kritik an der Aufklärung fügt dabei dem inneraufklärerischen


Diskurs systematisch wenig Neues hinzu. Darüber hinaus wollen wir
jetzt die Frage klären, ob den Aufklärern grundsätzlich das historische
„Bewußtsein der Andersheit der Zeiten und der Vielfalt der Kulturen”8
fehlt und sie auf Grund dieser Ignoranz ihre eigene Rationalitätsform
mit der universellen Vernunft selbst identifizieren.
Diesem Verdacht ist zunächst entgegenzuhalten, dass die kritische Re-
flexion auf die Bedingtheit des eigenen Standpunkts für eine ganze Reihe
von Aufklärern nicht im Widerspruch zur Idee einer universellen Ver-
nunft steht, sondern als eine wesentliche Bedingung ihrer möglichen Re-
alisierung verstanden wird.9 Der Einfluss von Sitten und Gewohnheiten
auf unsere Urteile und Gesetze stellt ja eine der wesentlichen Einsichten
der Aufklärung dar.10 Die kritische Reflexion auf die eigenen kulturellen
Praktiken, Vorurteile und Defizite im Spiegel des Fremden ist deshalb
ein wesentliches Moment in der Realisierung dieser Idee.11 So propagie-
ren Aufklärer das Studium fremder Sprachen12 und setzen sich mit den
Moralphilosophien fremder Kulturen wie der des Konfuzius auseinan-
der.13 Der Blick auf europäische Traditionen, Gesetze, Politik und Reli-
gion wird darüber hinaus versucht in der Perspektive von Nicht-
Europäern zu brechen.14
Andere Aufklärer richten ihren Blick auf die Geschichte.15 Vor allem
Lessing klärt dabei in seiner Erziehung des Menschengeschlechts die
Vernunft selbst über ihre eigene Geschichtlichkeit auf und verabschiedet
die Idee einer ewig sich selbst gleich bleibenden menschlichen Rationali-
tät.16 Die menschliche Vernunft ist nicht mehr nur das Subjekt der Ge-
8
Gadamer 2000a, 72.
9
Vgl. etwa Lichtenberg 1968, 184. Besonders die Haskala, also die jüdische Aufklä-
rung, da sie sich sowohl an die jüdische als auch an die nicht-jüdische deutsche Bevölke-
rung wendet, besitzt immer schon „den für wahre Aufklärung unabdingbaren fremden
Blick“ (Berghahn 2001, 5).
10
Das einflussreichste Beispiel hierfür ist Montesquieus Esprit des lois, der die Abhän-
gigkeit des Geistes der Gesetze von den Sitten und der Kultur (dem spezifischen esprit)
des ihnen unterworfenen Volkes analysiert.
11
Israel 2002, 25.
12
Jaucourt 2005.
13
Korsgaard 1996, 6.
14
Bekanntestes Beispiel hierfür sind Montesquieus Persische Briefe. Ein ähnliches
Vorgehen findet sich aber auch in Diderots Supplément au voyage de Bougainville (1772)
und ganz explizit in Pezzl 1784. Nach Lloyd sind die Persischen Briefe ein Plädoyer ge-
gen die Idee von der Universalität der europäischen Vernunft, zeigen aber gleichzeitig,
dass Personen ihre Vorurteile transzendieren könnten (Llyod 2013, 42ff.).
15
Ferguson 1800, 10; ders. 1857, 2; Einsiedel 1957, 131; 149f.; WSW 10,30, 141.
16
Cassirer 2007, 204; Bollacher 1982, 138. Vgl. auch Gombrich 1957, 133–156; Cassirer
2004, 104; 106.
88 Kritik der aufgeklärten Vernunft

schichte, dessen Macht die Geschichte im Sinne eines Fortschritts er-


möglicht und verständlich macht, sondern die Vernunft wird als Objekt
der Geschichte ihrerseits historisiert. 17 Die historische Bedingtheit der
Vernunft ist dabei insofern in sich selbst vernünftig, als sich die Vernunft
im Prozess der Geschichte evolutiv realisiert. Lessing diagnostiziert hier
also einerseits die geschichtliche Bedingtheit der Vernunft, andererseits
wird die Geschichte selbst zu einem für die Aufklärung relevanten Ge-
genstand vernünftiger Betrachtung, da in ihr der Prozess der Aufklärung
der Vernunft objektiviert ist. Lessings Erziehung gipfelt dabei in einer
Transformation des Vernunftkonzepts in eine historisch bedingte Ver-
nunft, die sich zuletzt in ihrer eigenen Bedingtheit erkennt.
Der „partikulare Ursprung des Denkens“ 18 ist also selbst zentraler
Gegenstand aufklärerischer Reflexion. Deshalb erklärt die Aufklärung
den Kontakt mit fremden Kulturen zu einem wesentlichen Moment der
Aufklärung eigener Vorurteile. 19 Erst in der Auseinandersetzung mit
dem Fremden würden Vorurteile auch als solche durchschaut und nicht
mit allgemeingültigen Prinzipien der Vernunft verwechselt. Viele Auf-
klärer teilen also durchaus Herders Einsicht in die Limitiertheit jeder
Kultur, so dass jede Kultur auf andere Kulturen angewiesen ist, um sich
in ihrem Spiegel selbst besser verstehen und ihren geistigen und morali-
schen Horizont erweitern zu können und die eigenen Überzeugungen
nicht zu verabsolutieren.20
Der Vorwurf, die Aufklärung betrachte den Menschen nur unter dem
abstrakten Gesichtspunkt seiner vermeintlich universellen Rationalität
unter Absehung seiner kulturellen Bindungen, ist also bestenfalls eine
starke Simplifizierung. Bloß folgt aus der Anerkennung dieser Bindun-
gen des Denkens eben nicht, dass der eigene Standpunkt eine unüber-
windliche Grenze darstellt. Dies zeigt sich besonders an Herder. Wohl
kaum einem Denker läge der Gedanke ferner, der Mensch wäre in sein
durch Kultur und Tradition überliefertes Selbstverständnis eingesperrt,
vielmehr ist der Mensch derjenige, der seine Kultur kreativ gestaltet.21
Diese Bildungskraft gilt es gerade in ihren konkreten Ausdrucksformen
auch in fremden Nationen und Kulturen anzuerkennen. Nation und
Kultur sind dabei gewissermaßen nur das Organ, durch das das mensch-

17
Heftrich 1978, 31.
18
Horkheimer/Adorno 1988, 44.
19
Ueber die Vorurtheile Abbt 1780, 184.
20
Nach Parekh ist dies hingegen die ursprüngliche Einsicht des Multikulturalismus
(Parekh 2006, 336f.).
21
„Was ist durch Menschen bildbar? Alles. Die Natur, die menschliche Gesellschaft,
die Menschheit.“ (Kalligone SWS 22, 314.)
Das Recht der Aufklärung 89

liche Individuum sich bilden kann.22 Das Spezifikum menschlicher Bil-


dung besteht darin, dass sich der Mensch als das „wunderbare Rätsel der
Schöpfung“23 und „nachahmender Gott“ erst zu dem bildet, was er ist.24
Wozu sich diese Selbstbildung bilden kann, das können wir nur den tat-
sächlichen Realisierungen des Menschen entnehmen. Darin, zugleich
Medium und Manifestation der Möglichkeiten menschlicher Bildungs-
kraft zu sein, haben die Kulturen und Nationen ihre Bedeutung.25 In der
Geschichte enthüllt und offenbart sich deshalb unter der Vielfalt der Le-
bensäußerungen der Menschen die Einheit ihres Prinzips, der menschli-
chen Bildungskraft.26
Weil der Mensch primär schöpferische Freiheit ist, ist er zwar in eine
konkrete historische und kulturelle Sphäre hineingeboren und durch sie
in seiner Freiheit bestimmt. Er ist aber nicht in sie eingeschlossen, son-
dern kann sie überschreiten. Der Mensch ist deshalb für Herder das ex-
zentrische Tier,27 das seinen eigenen kulturellen Horizont stets erneut
transzendieren kann.28 Diese Transzendierung des eigenen Verstehens-
horizontes ist ein wesentliches Moment in Herders Aufklärungs- bzw.
Bildungsprogramm. 29 Der Mensch kann und soll sich Sprache, Kunst
und Wissenschaft anderer Nationen aneignen, um so in den „Kreis der
Denkart und Empfindung“ fremder Nationen zu treten. 30 Aber nicht
nur die Bildung des Individuums, sondern auch der Nation hängt von
22
Diese Bildung ist Aufgabe des Einzelnen, die Nation kann hier nicht als Stellvertre-
ter fungieren (BBH FHA 7, 333).
23
BBH FHA 7, 149.
24
FAM SWS 6, 28.
25
Ideen FHA 6, 568; BBH FHA 7, 227.
26
Ziel ist die Anschauung eines „lebendige[n] Inbegriff[s]“ der Humanität in der Viel-
falt (Cassirer 2001, 221).
27
„Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in
dem es lebenslang bleibet, und stirbt“ (Ursprung FHA 1, 712). „Der Mensch hat keine so
einförmige und enge Sphäre“ (ibid., 713).
28
Diese Möglichkeit verdankt sich nicht zuletzt der menschlichen Fähigkeit, fremde
Sprachen zu erlernen, durch die man sich nicht nur die konkreten Erfahrungen und Er-
kenntnisse anderer Nationen, sondern auch deren Geist aneignen kann (Fleiß SWS 1, 5;
24ff.; ÜnDL2 FHA 1, 553; Adrastea FHA 10, 73f.). Herders Philosophie ist so in der Tat
„a remarkably original expansion“ von Kants Maxime zum Gebrauch unseres Verstandes,
vom Standpunkt jedes anderen zu denken (Wood 2009, 335).
29
Urkunde FHA 5, 200.
30
VGEP FHA 5, 674. Gerade in der Poesie, die ihre Gestalt gemäß der jeweiligen
Sprache, dem Klima, etc. der Völker wandelt, konzentriert sich nach Herder die Den-
kungsart einer Nation, so dass man durch sie in das Innere fremder Nationen eindringt
(ÄmedD FHA 2, 560; BBH FHA 7, 572). Eben deshalb widmet sich Herder so enthusias-
tisch der Sammlung alter Volkslieder aller Nationen. Die Zusammenstellung peruani-
scher, lettischer, schottischer etc. Lieder wird so zu einem Akt der Aufklärung (VdAK
FHA 2, 458ff.; 478).
90 Kritik der aufgeklärten Vernunft

deren Exzentrizität ab. Die Lebendigkeit einer Nation zeigt sich in ihrer
Fähigkeit, sich Fremdes anzueignen. Eine Nation oder Kultur, die sich
gegenüber fremden Einflüssen abschottet, stirbt notwendig ab. 31 Die
Aufklärung des Menschengeschlechts verdankt sich so nicht zuletzt der
glücklichen Tatsache, dass die Nationen einander kennen lernen muss-
ten, da sie „allesamt nur Ein Geschlecht auf Einem nicht großen Plane-
ten“ sind.32
An Herder zeigt sich also, dass eine starke Betonung der kulturell-
historischen Bindung des Individuums die aufklärerische Universalitäts-
forderung und die Forderung nach universeller Aufklärung nicht obsolet
werden lässt. Man kann für Herders Ideen mit Kant sagen: Aufklärung
ohne Tradition ist leer, Tradition ohne Aufklärung blind.33
Bisher haben wir Folgendes gesehen: Der Vorwurf des kulturellen
Chauvinismus und Eurozentrismus ist gegen einzelne Aufklärer durch-
aus gerechtfertigt. Diese Kritik ist aber selbst ein Moment der Aufklä-
rung und keine Entdeckung zeitgenössischer Kritiker. Es steht jedoch
noch der Vorwurf im Raum, die Aufklärung diene den Interessen einer
bestimmten sozialen Klasse, für die die Berufung auf die universale Ver-
nunft ein Instrument zur Unterdrückung anderer Klassen ist.
Gegen diese These, bei der Berufung auf eine universell gültige Ver-
nunft handle es sich um einen „maskierten“ Herrschaftsanspruch,
spricht nun aber vor allem, dass diese Berufung eng mit dem Gedanken
der populären Ausbreitung von Aufklärung verbunden ist. Aufklärung
soll gerade nicht ausschließlicher Besitz einer herrschenden oder intel-
lektuellen Elite sein, sondern durch Popularisierung auch breiteren
Schichten zugänglich gemacht werden. 34 Hierdurch soll auch der
Ungelehrteste einsehen, dass er nicht zum Sklaven, sondern zur Freiheit
bestimmt ist.35 Wissenschaft und Aufklärung werden deshalb als der ein-
zige Weg zum Heil des Menschen verstanden.36 Nicht die Religion, son-
dern Erziehung und Bildung zum richtigen Vernunftgebrauch sind die
Mittel zur Erlösung des Menschen aus seiner Unmündigkeit. 37 Weite
Teile der Aufklärung richten sich deshalb an die Öffentlichkeit, um die

APGBM FHA 4, 39; BBH FHA 7, 86; 226; Ideen FHA 6, 438f.; Ursprung FHA 1,
31

806f. Dieser kulturelle Austausch darf jedoch nicht erzwungen werden (Sikka 2011, 7).
32
Ideen FHA 6, 659.
33
Vgl. Ideen FHA 6, 545.
34
Garrard 2006, 21.
35
Conrad 1998, 1.
36
Funkenstein 1990, 14.
37
Dabei sind es jedoch häufig die von den Aufklärern bekämpften Kirchen, die mehr
zur schulischen Bildung des Volkes und der Aufklärer selbst beitragen als die Aufklärer
(Himmelfarb 2008, 178).
Das Recht der Aufklärung 91

Gesellschaft durch Aufklärung zu befreien, 38 und vertreten ein Bil-


dungsprogramm, das die gesamte Weltöffentlichkeit einschließt. 39 Ziel
dieses universellen Aufklärungsinteresses ist die globale politische
Selbstbestimmung. Aufklärung ist dementsprechend ein kollektives
Menschenrecht und eine universelle Menschenpflicht.40 Es hieße gerade-
zu die Natur zu verleumden, einem Großteil der Menschen die Aufklä-
rungsfähigkeit grundsätzlich abzusprechen, anstatt den Mangel an all-
gemeiner Aufklärung durch soziale und auch individuell zu verantwor-
tende Ursachen zu erklären.41
Der Aufklärung ist also grundsätzlich das „demokratische“ Prinzip
ihrer Ausbreitung immanent. Wissen und Aufklärung sollen kein Indivi-
dualbesitz einer universitären Elite bleiben, sondern Gemeinbesitz des
Volkes werden. Für die deutschen Aufklärer, die dies für problematisch
halten, ist es dabei primär ihre faktische politische und soziale Situation,
die einen Teil der Menschheit davon ausschließt, aufgeklärt werden zu
können.42 In den Vorbehalten gegenüber einer schonungslosen Verbrei-
tung von Aufklärung manifestiert sich also kein Elitarismus, sondern die
Überlegung, dass die Aufklärung trotz ihrer universellen Geltung auf ei-
nen Sitz in den konkreten historisch-politischen Umständen einer Ge-
sellschaft angewiesen ist, um wirksam zu werden und nicht mehr Scha-
den als Nutzen anzurichten. Fiat illuminatio – pereat mundus wäre nur
ein „leeres Wort“.
Die These, die Aufklärung habe die Vernunft mit ihrem Universali-
tätsanspruch zu einem Machtinstrument gemacht, ist deshalb in mehrfa-
cher Hinsicht fragwürdig. Zum einen ist der Elitarismus kein Alleinstel-
lungsmerkmal der historischen Aufklärung. Gerade für die Gegenaufklä-
rung sollen Vernunft und Wahrheit nur noch ein Instrument in der
Hand einer gelehrten Elite sein. Sie legitimiert diese Elite explizit, die

38
Garve 1785, 33; vgl. hierzu Nehren 1994, 96; Dieckmann 1972, 18. Die vermeintliche
Flachheit der Aufklärung ist so nicht zuletzt der Einsicht in das Recht der „natürlich[en]
Denkungsart“ gewöhnlicher Menschen gegen eine intellektuelle Elite geschuldet (Lessing
JubA 2, 84). Gerade die zahlreichen Wörterbücher und Enzyklopädien wie auch die Ver-
wendung verschiedener literarischer Mittel (Bücher im Taschenformat, kurze Kapitel,
Wiederholung gleicher Grundgedanken) belegen auf eindringliche Weise das Interesse der
Aufklärer an der Ausbreitung von Aufklärung und Wissen (vgl. Enc 5, 635; Dieckmann
1972, 62ff.).
39
Condorcet 1968, 187; 237; vgl. Dieckmann 1972,60f.
40
Lavater JubA 7, 13; Erhard 1974, 45f.; WSW 9,29, 61f.; Reinhold 1784, 125.
41
Reinhold 1784b, 232; Ästhetische Erziehung SSW 5, 591f.
42
Beiser 1992, 310; Nehren 1994, 107. Es gibt aber auch Autoren, die die breite Öffent-
lichkeit grundsätzlich nicht für aufklärungsfähig halten: vgl. etwa Eberhard 1788, 48;
Reinhold 1790, 11; Heydenreich 1796, 1.
92 Kritik der aufgeklärten Vernunft

Öffentlichkeit durch Ideologien zu manipulieren.43 Zum anderen inhä-


riert der Aufklärung grundsätzlich eine Tendenz zu allgemeiner Aus-
breitung. Kant und Jacobi scheinen mir so auch in dieser Frage Vollen-
der des Projekts der Aufklärung zu sein: Beide lehnen es grundsätzlich
ab, die Menge zu belügen oder ihnen Wahrheit vorzuenthalten.44 Für Ja-
cobi ist die Akademiefrage, ob Wahrheit dem bürgerlichen Leben schäd-
lich sein kann, bereits in ihrem Prinzip falsch gestellt, da sie die Wahrheit
dem bürgerlichen Leben unterordnet: 45

Ich habe für dergleichen Aengstlichkeiten keinen Sinn; ich empfinde sie nicht
und verstehe sie nicht. Leßing dachte hierüber gerade so wie ich. Sie wissen, daß
er wünschte, man möchte den Bemühungen, speculative Wahrheiten gemeinnüt-
ziger, und dem bürgerlichen Leben ersprieslicher zu machen, einmal eine entge-
gengesetzte Richtung geben, und sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens
zur Speculation erheben.46

43
Möser 1797, 122; 131; 331ff.; Möser 1804, 260; MSW 10, 202; MSW 9, 217f. Vgl.
hierzu auch: Beiser 1992, 284; Fleischacker 2013, 46.
44
Log AA 9, 81. So lässt sich Kants „Geheimer Artikel“ in seiner öffentlichen Schrift
Zum ewigen Frieden, in dem Kant die Freiheit zur Publikation philosophischer Schriften
beansprucht, die den Staat kritisieren, vielleicht auch als ironische Replik auf diese Auf-
klärungsdiskussion verstehen (vgl. Gerhardt 1995, 40).
45
Erinnerungen JW 4,1, 364.
46
WMB JW 1,1, 280; vgl. hierzu auch Hammacher 1984, 90f.
Die Aufklärung im Recht 93

C. Die Aufklärung im Recht

Wir haben bisher gezeigt, inwiefern die Kritik am universellen Geltungs-


anspruch der Aufklärung ignoriert, dass dieser Anspruch im Interesse
menschlicher Selbstbestimmung erhoben wird. Besondere Virulenz
kommt diesem Anspruch in Bezug auf das Problem rechtlich-politischer
Selbstbestimmung und der Legitimierung von Herrschaft zu.1 Politische
Selbstbestimmung bedeutet dabei für die Aufklärung, dass die Menschen
frei von der willkürlichen Autorität Dritter ihr Handeln nur durch sol-
che Normen bestimmen lassen müssen, die vor ihnen selbst gerechtfer-
tigt werden können. Rechtsnormen und staatlicher Zwang sollen deshalb
ausschließlich der Koordination der freien Selbstbestimmung der
Rechtssubjekte dienen. Hierzu müssen Recht und Staat die Möglichkeit
individueller Selbstbestimmung dadurch gewährleisten, dass sie die Frei-
heitssphäre des Einzelnen, in der sich diese Selbstbestimmung vollziehen
kann, vor illegitimer Einschränkung durch Dritte schützen. Dies ge-
schieht durch freiheitssichernde Normen, deren Geltung und Anerken-
nung durch Androhung und Vollzug staatlichen Zwangs affirmiert wer-
den.
Das Problem hierbei ist Folgendes: Das Recht kann die Freiheit der
Bürger nur durch Gesetze sichern, deren Anerkennung er durch Rechts-
zwang garantiert. Zum Zwecke der Garantie der Freiheit des Bürgers
durch das Recht schränkt der Staat also mit dem Recht die Freiheit des
Bürgers ein. Deshalb wird der Staat im Aufklärungsdiskurs einerseits als
Garant freiheitlicher Selbstbestimmung, andererseits als potentieller
Freiheitsgefährder thematisiert. Damit ergibt sich die Frage, warum und
inwieweit ein Staat die freie Selbstbestimmung seiner Bürger legitimer
Weise einschränken darf. Diese Frage steht im Zentrum des nun zu skiz-
zierenden Aufklärungsdiskurses, in dem einerseits die Legitimität staatli-
chen Zwangs zu rechtfertigen und andererseits die Grenzen staatlichen
Zwangs zu bestimmen versucht werden.
Die Legitimierung staatlichen Zwangs erfolgt in dieser Debatte grund-
sätzlich dadurch, dass der Ursprung staatlicher Gewaltlegitimation in
das Staatsvolk projiziert wird.2 Hierbei werden die Individuen, die das
Staatsvolk konstituieren, tatsächlich als eine Menge abstrakter Subjekte
ohne konkrete partikulare Interessen, Überzeugungen und Traditionen

1
Todorov 2009, 5.
2
Todorov 2009, 10.
94 Kritik der aufgeklärten Vernunft

verstanden. 3 Diese Abstraktion impliziert jedoch keine metaphysische


Subjekttheorie, sondern dient allein der Legitimierung des Rechts vor
jedem einzelnen Individuum und der Limitierung staatlicher Zwangsbe-
fugnis. Würde man zur Begründung rechtlicher Normen auf partikulare
Interessen oder Bindungen (Religion, Tradition etc.) ihrer Adressaten
rekurrieren, so würden diese Normen, sofern kein völlig homogenes
Staatsgebiet vorliegt, bestenfalls die politische und rechtliche Selbstbe-
stimmung einer Mehrheit der Adressaten garantieren. Für all diejenigen,
die diese Particularia nicht teilen, wären die so begründeten Rechtsnor-
men nur als äußerlich auferlegter Zwang unter einen fremden Willen er-
fahrbar, dem sie sich auf Grund ihrer Minorität, ohne durch sie einseh-
bare Gründe, unterwerfen müssen. Damit verstoßen diese Normen ge-
gen den grundlegenden Gedanken der Aufklärung, dass das
selbstbestimmte Rechtssubjekt die Gründe für die Einschränkung seiner
Freiheit durch den Staat und das Recht einsehen und damit als durch es
selbst gesetzt verstehen können muss. Rechtszwang, der für alle Rechts-
subjekte gleichermaßen gerechtfertigt sein soll, muss deshalb gerade auf
Grund der Anerkennung der Pluralität menschlicher Interessen und
kontingenter Bindungen auf ein abstraktes Subjekt rekurrieren. Denn
das vermeintlich konkrete Individuum der Aufklärungskritiker wird ja
ebenfalls nur unter einer schlecht-abstrakten Bestimmung betrachtet,
nämlich Angehöriger einer bestimmten Religion, eines Geschlechts etc.
zu sein.
Von besonderer Bedeutung für die Legitimierung staatlichen Zwangs
ist in der Aufklärung bekanntlich die Idee des Gesellschaftsvertrages,
durch den die Menschen aus dem anarchischen Naturzustand in den
staatlichen Rechtszustand übertreten.4 Zum Zwecke ihrer Existenz- und
Freiheitssicherung geben die einzelnen Individuen dabei ihre gesetzlose
Freiheit auf, um sich stattdessen der Herrschaft einer staatlichen Autori-
tät zu unterwerfen. Auch wenn viele Aufklärer allgemein von der Not-
wendigkeit einer Rechtfertigung staatlichen Zwangs vor den ihm unter-
worfenen Individuen überzeugt sind und die Idee des Gesellschaftsver-
trages diese zu liefern scheint, stehen die deutschen Spätaufklärer mit
diesem Konzept jedoch vor einer ganz grundsätzlichen Alternative:
Muss für das einzelne Rechtssubjekt nur die Legitimität staatlichen
Zwangs überhaupt gerechtfertigt werden oder muss sich vor diesem jede
3
Dies bedeutet nicht, dass sie nicht als Subjekte mit grundsätzlich unterschiedlichen
Interessen betrachtet werden, nur wird den partikularen Interessen selbst keine gesetzlegi-
timierende Kraft zugeschrieben.
4
Kersting 1995, 90. Mit dieser Idee löst die Aufklärung nicht nur theologische, son-
dern auch metaphysische Staats- und Herrschaftsbegründungen ab (ibid.).
Die Aufklärung im Recht 95

einzelne Rechtsnorm rechtfertigen können. Die Antwort auf diese Frage


hängt häufig von der jeweiligen Konzeption des Naturzustands und der
damit verbundenen Anthropologie ab.
Bekanntlich ist es Hobbes, der die Alternative etabliert, der Mensch
wechsle durch den Gesellschaftsvertrag vom Naturzustand, in dem er
ein Recht auf alles hat,5 in einen Zustand über, in dem er seine Rechte auf
einen Herrscher überträgt und sich diesem vollständig unterwirft.6 Der
Grund für die vollständige Aufgabe seiner schrankenlosen Freiheit ist,
dass der Naturzustand als permanenter Krieg aller gegen alle seine Exis-
tenz durchgängig bedroht.7 Auf Grund ihres Eigeninteresses bzw. ihrer
Selbstliebe binden sich die Subjekte freiwillig wechselseitig und etablie-
ren damit legitime Autorität. 8 Das Rechtssubjekt tauscht im Gesell-
schaftsvertrag also seine unbegrenzte Freiheit vollständig gegen seine Si-
cherheit ein und besitzt auf Grund der vollständigen Übertragung seiner
Freiheit keinerlei Rechte gegen den Herrscher.9 Für die Etablierung ein-
zelner Strafnormen bedarf dieser Herrscher denn auch keiner Rechtfer-
tigungsgründe mehr, da ihm der Gesellschaftsvertrag die uneinge-
schränkte willkürliche Rechtsetzung zubilligt.10 Das Naturrecht ist dem-
entsprechend für Hobbes keine Ordnung vernünftig einsehbarer
Rechtsnormen, an der sich die Menschen im Naturzustand und später
der Souverän im Staat zu orientieren hätten, 11 sondern das natürliche
Recht auf alles,12 das die Rechtssubjekte im Gesellschaftsvertrag an den
Souverän übertragen haben. Die Vernunft ist kein Instrument zur Auf-
findung universell verpflichtender Rechtsnormen. Die Berufung auf die
Vernunft zum Zwecke der Rechtsbegründung ist für Hobbes vielmehr
alles andere als ein Segen für das Rechtssubjekt, sondern vielmehr eine
Gefahr für die Freiheit und Sicherheit des Individuums im Recht, weil
sie zu ideologischen Auseinandersetzungen führt.13 Durch die Einsicht
in die Arbitrarität konkreter Rechtsnormen werden diese von ihrem ide-
ologischen Ballast befreit und ihrer Konfliktpotenziale beraubt.

5
De cive EW 2, 9–11.
6
De cive EW 2, 68f.
7
De cive EW 2, 6.
8
Kersting 1995, 91; Leviathan EW 3, 113; 116; 157f.; De cive EW 2, 5; 7; 11.
9
Leviathan EW 3, 153; 158; 161; De cive EW 2, 79f.; 127.
10
Leviathan EW 3, 165; De cive EW 2, 77; 81.
11
Leviathan EW 3, 115.
12
Leviathan EW 3, 117; 130.
13
Questions EW 5, 176.
96 Kritik der aufgeklärten Vernunft

Die deutsche Spätaufklärung steht dieser Konzeption eines unum-


schränkten Herrschaftsrechts mit Recht eher kritisch gegenüber.14 Das
wesentliche Defizit dieser Konzeption besteht für sie darin, dass sie dem
Individuum im Übertritt in den Rechtszustand nur die Sicherung seiner
bloßen Existenz, nicht die seiner freien Lebensführung zubilligt. Das
Ziel staatlichen Zwangs sei aber nicht die Sicherung der Existenz, son-
dern der Freiheit der Rechtssubjekte.15 Damit stellt sich das Problem der
Legitimität staatlichen Zwangs in größerer Radikalität als bei Hobbes,
weil die Freiheit nicht um eines anderen Gutes willen, sondern um ihrer
selbst willen eingeschränkt werden soll. Hobbes’ proton pseudos ist für
die deutsche Aufklärung seine Konzeption des Naturzustandes und des
ihm korrespondierenden Naturrechts. Als Alternative kann sie zunächst
auf Vorgänger wie Locke, Grotius, Pufendorf und Voltaire zurückgrei-
fen, die – trotz aller Differenzen – die Lehre vom Naturrecht in eine
Lehre vorstaatlicher, von der menschlichen Vernunft und der Natur ab-
hängender Rechte transformieren.16 Dabei ist bereits der status naturalis
ein Zustand der Freiheit und der gleichen, angeborenen Rechte, in dem
Menschen moralischen Normen folgen können.17 Der Anspruch auf die
Herausbildung eines status civilis ergibt sich nur aus der Fragilität des
Friedenszustands und der Rechtssicherheit im Naturzustand. Aus dem
status naturalis ergeben sich deshalb natürliche Ansprüche an den status
civilis, da letzterer die Rechte des status naturalis durch Zwangsgesetze
realisieren und garantieren soll.18
Seine Legitimität verdankt das positive Recht in der Tradition des 17.
und frühen 18. Jahrhunderts also dem Naturrecht, mit dem es überein-
stimmen muss und das durch die Vernunft erkannt werden kann.19 Die
grundlegende Einsicht dieser Tradition besteht darin, dass jede Ein-
schränkung der Freiheit durch das Recht vor denjenigen legitimiert sein
muss, die Subjekt dieser Einschränkungen sind. Die Rechtfertigung er-
folgt dabei jedoch durch Rekurs auf das anthropologische Verständnis
der Natur dieser Subjekte. Erst Rousseau etabliert dagegen den Gedan-
ken rechtlicher Autonomie im strengen Sinne. Wahre Autonomie ist nur
14
So verfasst Wilhelm von Humboldt im Jahr 1793 eine Schrift mit dem Titel Ideen zu
einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen.
15
Einen menschlichen Willen menschlich zu regieren bedeutet gerade, ihn
„untyrannisch“ (das heißt: im Einklang mit dem Recht der Natur) zu lenken (Hißmann
1790, 16).
16
Lois Voltaire 1879a, 623f.
17
Grotius 1625, prol vf.; Pufendorf 1711, 261ff.; Wolff 1754, 46; 50f.; 59; Jerusalem
JubA 8, 105f. Vgl. hierzu: Kersting 1995, 94
18
Hofmann 1982, 22; Kersting 1995, 95f.; Pufendorf 1711, 246; 253ff.
19
Schulze 2008, 108.
Die Aufklärung im Recht 97

der Gehorsam gegenüber einem Gesetz, bei dem sich das Rechtssubjekt
als Mitbegründer verstehen kann.20
Dieser Anspruch ist jedoch nur dann überhaupt denkbar, wenn dem
Menschen die Fähigkeit zugeschrieben wird, sich zu seinen persönlichen
Interessen und Bindungen in reflexive Distanz zu setzen und sie auf ihre
Verallgemeinerungsfähigkeit hin zu prüfen. Anders formuliert: Soll
rechtliche Selbstbestimmung einer Menge von Menschen mehr bedeuten
als den Kampf um die Durchsetzung partikularer Interessen, dann muss
das Individuum seine Interessen und Bindungen am Maßstab ihrer
Verallgemeinerbarkeit messen können. Er muss unterscheiden können,
welche seiner Interessen nicht allgemein rechtfertigbare Privatinteressen
sind und welche öffentlich in dem Sinne sind, dass ihre Durchsetzung
staatlichen Zwang begründen kann. Der Mensch bzw. Bürger muss das
Allgemeine wollen können. Ihren Ausdruck findet diese Idee bei Rous-
seau im Konzept der volonté générale als eines von partikularen Interes-
sen ganz unberührten politischen Allgemeinwillens.21 Jedes legitime Ge-
setz muss entsprechend dieser Konzeption Ausdruck dieses Allgemein-
willens sein.22 Mit Rousseau realisiert sich ein Denken, für das Freiheit
nicht mehr nur Mittel ist, um im Rahmen des Rechts andere Interessen
zu verwirklichen, sondern die Freiheit selbst zum letzten Grund, zur
Grenze und zum Zweck des Rechts erklärt.
In der deutschen Spätaufklärung übernimmt so Mendelssohn zwar die
Überlegung von Hobbes, dass der Staat durch den Gesellschaftsvertrag
das Recht zu zwingen erhält. Dieser Vertrag erlegt dem Souverän durch
seinen Zweck, nämlich der Garantie bürgerlicher Freiheit, jedoch seiner-
seits Bindungen und Grenzen auf. Da Hobbes den Vertragsgrund von
vornherein auf bloße Überlebenssicherung reduziert, kann er die Grenze
der Zwangsbefugnisse des Souveräns nicht bestimmen. Das Recht wird
nur auf Macht, rechtliche Verbindlichkeit auf Furcht gegründet.23 Damit
könne das Recht jedoch niemals dem Zweck des Gesellschaftsvertrages,
der Garantie allgemeiner bürgerlicher Freiheit, entsprechen. 24 Damit

20
Rousseau 1824, 27; vgl. hierzu Gerhardt 1995, 30.
21
Zur Vorgeschichte dieses Konzepts bei Pascal, Malebranche et al. vgl. Riley 1978.
22
Zur Kritik am Konzept der volonté générale vgl. etwa Isaiah Berlin, nach dem Frei-
heit bei Rousseau zu „einer Art religiösem Begriff“ und „ein absoluter Wert“ wird (Berlin
2003, 31).
23
Jerusalem JubA 8, 105.
24
Achenwall dagegen begründet die Entstehung der Staaten weiterhin im menschlichen
Streben nach Glück, Wohlstand und Sicherheit (Achenwall/Pütter 1750, 185; 207).
Achenwall ist besonders für die Rechtsphilosophie Kants bedeutsam, da Kant seine Vorle-
sungen über das Naturrecht auf Grundlage von Achenwalls Ius Naturae hält (vgl. hierzu
Byrd/Hruschka 2010, 15–19).
98 Kritik der aufgeklärten Vernunft

rückt die Idee bürgerlicher Freiheit als Grund und Zweck des Rechts ins
Zentrum spätaufklärerischer Überlegungen. 25 Vor allem Feuerbach
gründet dann seine Rechtskonzeption vollends auf einen formalen Frei-
heitsbegriff und lehnt damit die Glückseligkeit als Zweck bürgerlicher
Gesellschaften dezidiert ab. Denn hier habe jedes Individuum seine eige-
nen Vorstellungen, die es von Seiten des Staates zu respektieren und
nicht durch Zwang zu manipulieren gelte. Einzig legitimer Zweck des
Staates sei die Garantie eines Lebens in Freiheit für seine Bürger.26 Mit
der Legitimierung des Rechtszwangs durch die Freiheit selbst wird auch
Hobbes’ Ideologiekritik am Vernunftrecht obsolet: Denn der Staat ist
nur mehr das Medium, in dem jeder seine eigene freie Lebensführung
vor dem Zugriff der anderen gesichert weiß.27
Das Rechtsdenken der deutschen Spätaufklärung kulminiert also im
Begriff formaler Freiheit als Grund, Grenze und Zweck des Rechts und
des Staates. Hierzu muss das Rechtssubjekt jedoch in seiner ganz forma-
len und abstrakten Eigenschaft als an seiner äußeren Freiheit interessier-
tes Individuum verstanden werden, dem nur insofern Vernunft zukom-
men muss, dass es die Reziprozität von Rechten und Pflichten anerken-
nen kann. Indem dem Rechtssubjekt keine bestimmte Lebensform durch
ein vermeintliches Vernunftrecht vorgeschrieben wird, sondern der Staat
sich auf die Koordinierung von Freiheitssphären beschränkt, zeigt sich
gerade im Recht das Recht des aufklärerischen Universalitätsanspruchs.
Das Recht garantiert damit nämlich nur die Bedingungen dafür, dass je-
des Rechtssubjekt sein Leben in einer Weise führen kann, die er aus wel-
chen Gründen auch immer für sich wählt, solange er damit nicht die
Freiheit eines Dritten einschränkt.
Dieser Gedanke lässt sich nun auch auf das kollektive Selbstbestim-
mungsrecht von Gemeinschaften ausdehnen. Auch im Verhältnis von
Gemeinschaften zueinander ist dann die reziproke Anerkennung freier
Selbstbestimmung Grund, Zweck und Grenze des Rechts. Besonders
Herder thematisiert dabei auch die innere Heterogenität von Nationen.28
Er verabschiedet damit aber nicht die Rechtskonzeption der Aufklärung,
sondern macht nur den Reziprozitätsgedanken explizit, dass keine Ge-
meinschaft im Staat ein absolutes Recht gegenüber kleineren Gemein-

25
Nach Moses Mendelssohn intendiert das Recht dabei eine Freiheit, die die „Ueber-
zeugung von der Richtigkeit seiner Handlung“ bei sich trägt, und nicht eine „Freyheit
ohne Vernunft, ohne die innerliche Gewisheit von der Richtigkeit unsers Wandels!“ (Les-
sing JubA 2, 100.)
26
Feuerbach 1798, 74; 37f.
27
Vgl. ebenso: Wollstonecraft 1995, 7.
28
Spencer 2012, 68.
Die Aufklärung im Recht 99

schaften hat.29 Das Selbstbestimmungsrecht einer Nation in einem Staat


findet seine Grenze so immer am Selbstbestimmungsrecht der anderen
im Staat vorhandenen Nationen und Kulturgemeinschaften. Herder plä-
diert deshalb selbst für eine internationale Anerkennung und Garantie
des Selbstbestimmungsrechts aller Nationen im Sinne einer „Allianz aller
gebildeten Nationen gegen jede einzelne anmaßende Macht“.30 Wer dann
das Recht anderer Nationen auf Selbstbestimmung überschreitet, würde
in allen anderen Nationen einen Feind finden. Auch hier tritt aber die
Nation als legitimer Träger von Selbstbestimmungsansprüchen nicht als
diese bestimmte Nation in den Blick, sondern als abstraktes Subjekt, das
die Reziprozität ihrer Freiheitsansprüche anerkennen muss.
Es hat sich Folgendes gezeigt: Gerade im Recht zeigt sich das Recht
des Universalitätsanspruchs der Aufklärung. Dieser Anspruch ist dann
gerechtfertigt, wenn er die formale Selbstbestimmung und das abstrakte
Freiheitsinteresse zum universellen Kriterium des Rechts erhebt. 31 An
Herder zeigt sich, dass auch die Affirmation kollektiver Selbstbestim-
mungsrechte nicht ohne diesen Maßstab auskommen kann. In den fol-
genden Kapiteln werden wir nun untersuchen, wie Kant und Jacobi den
Universalitätsanspruch der Aufklärung und die Standortgebundenheit
des Individuums in unterschiedlicher Weise in ihre Konzeptionen des
Projekts der Aufklärung integrieren. Anhand dieses Leitfadens werden
wir zugleich beider bisher nur skizzierte Aufklärungsprojekte weiter ex-
plizieren.

29
Gegen die sprachlichen Unifizierungsbestrebungen des Vielvölkerstaates durch Jo-
seph II. fordert Herder deshalb: „[W]ie Gott alle Sprachen der Welt duldet, so sollte auch
ein Regent die verschiednen Sprachen seiner Völker nicht nur dulden, sondern auch eh-
ren“ (BBH FHA 7, 66).
30
BBH FHA 7, 723.
31
Vgl. auch Bronner 2004, 9.
KAPITEL 2
AUFKLÄRUNG ALS WELTBÜRGERLICHE URTEILSPRAXIS

Im ersten Teil unserer Untersuchung stellten wir fest, dass Kant seine
Transzendentalphilosophie als Grundlage jeder möglichen Aufklärung
versteht. Alle ihm vorangehenden Aufklärungsversuche scheitern nach
Kant nicht zuletzt daran, dass die in ihnen gefällten Urteile keine allge-
meine Gültigkeit besitzen und damit nicht gerechtfertigter Weise An-
spruch auf universelle Zustimmung erheben können.1 Insofern genügen
sie auch nicht Kants Anspruch, als öffentliche Urteile von jedem Men-
schen in autonomer Weise (also auf Grund selbst gegebener Prinzipien)
anerkannt werden zu können. Sie sind damit nicht „communicabel“ im
eigentlichen Sinne.2 Nur ein Denken, das dem Anspruch von Kommuni-
kabilität genügt, nennt Kant „öffentlichen Vernunftgebrauch“. Da dieser
sich berechtigter Weise an die gesamte Weltöffentlichkeit richtet, können
wir ihn auch „weltbürgerlichen“ oder „kosmopolitischen Vernunftge-
brauch“ nennen. Die Transzendentalphilosophie erhebt den Anspruch,
Aufklärung als Praxis eines solchen weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs
zu etablieren, indem sie die Allgemeingültigkeit aufklärerischer Ansprü-
che fundiert. Aufgeklärt und kosmopolitisch ist die Vernunft in ihrem
Gebrauch für Kant genau dann, wenn sie „jederzeit sich selbst gesetzge-
bend“ ist.3 Wenn die Vernunft sich für ihren Gebrauch ein allgemeingül-
tiges Gesetz gibt, wird darin immer auch die Autonomie aller anderen
vernünftigen Subjekte anerkannt.4 Nur im autonomen Vernunftgebrauch
wird also die Selbstbestimmung jedes Bürgers dieser Welt anerkannt. In
unserer Urteilspraxis müssen wir uns deshalb als Weltbürger betrachten
und verhalten.5
Kritiker werfen diesem „Kosmopolitismus“6 Kants nun vor, dass sich
in ihm Kants systematisches Desinteresse am Einfluss der Kultur auf die
Erkenntnis sowie das Rechts- und Moralverständnis des Menschen ma-
1
Ginsborg 1990, 76.
2
AA 11, 515.
3
KU AA 5, 294.
4
Nach Deligiorgi impliziert Autonomie deshalb, dass wir perspektivisch von unserem
subjektiven Standpunkt zu einem Standpunkt aufsteigen, von dem wir glauben, dass er
alle anderen Subjekte mit einschließt (Deligiorgi 2012, 4). Autonom sind wir nur, insofern
wir Mit-Gesetzgeber unserer Urteile sind (ibid., 24).
5
Anth AA 7, 130.
6
Höffe 2004, 20.
Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis 101

nifestiert.7 Sein Versuch einer von jedweder kontingenten Erfahrung un-


abhängigen Kritik theoretischer Erkenntnis und sittlicher Praxis sei von
vornherein zum Scheitern verurteilt, da dieser selbst unter nicht durch-
schauten, empirischen Bedingungen stünde.8 Kants Idee einer universel-
len öffentlichen Vernunft abstrahiere einfach von den realen Bedingun-
gen menschlicher Denkvollzüge. Sein kosmopolitisches Subjekt sei letzt-
lich nur eine philosophische Fiktion, da die tatsächlichen Denkvollzüge
wirklicher Menschen immer schon an eine Gemeinschaft gebunden und
von dieser bestimmt seien. Diese Gemeinschaft konstituiere die konkrete
Öffentlichkeit, die die jeweilig unbefragbaren Voraussetzungen unserer
ethischen und epistemischen Überzeugungen und Begründungsstruktu-
ren festlege. So würden etwa Menschen ihre Handlungsmaximen un-
möglich an dem abstrakten Maßstab eines kategorischen Imperativs,
sondern notwendig vor dem Hintergrund ihrer eigenen Tradition beur-
teilen.9
Im Grunde wiederholt diese Kritik nur die Einwände Herders gegen-
über der aufklärerischen Idee einer reinen bzw. weltbürgerlichen Ver-
nunft. Nach Herder ist die Rede von einer „reinen Vernunft“ nämlich
Ergebnis einer zweifachen philosophischen Operation, in der zunächst
von der Vielfalt umweltbedingter Rationalitätsformen abstrahiert und
anschließend das Resultat dieser „Abstraktionendichtung“ zu einer ei-
genständigen Entität hypostasiert wird.10
Kant ist sich dieser Kritik durchaus bewusst. Seinen vermeintlichen
„Misbrauch der Vernunft durch blos abstrakte Denkungsart“11 rechtfer-
tigt er dadurch, dass das Allgemeine nicht notwendig nur ein Abstrakti-
onsprodukt sei, das seinen Ursprung im Konkreten habe. Vielmehr kön-
ne das Allgemeine auch ein selbständiges Prinzip sein, durch das das
Konkrete erst konstituiert und damit auch angemessen begriffen werden
könne. Ohne Erkenntnis dieser allgemeinen Prinzipien ist eine adäquate
7
Kitcher 1990, 28; McCarthy 1995, 246.
8
KrV A xii.
9
MacIntyre 1999, 248. Umgekehrt muss man an MacIntyre die Frage stellen, ob Tradi-
tionen tatsächlich moralische Verpflichtungen gegenüber einem Individuum begründen.
Dies würde vom Verpflichteten verlangen, sich selbst als Teil seiner Tradition verstehen
zu sollen, was eine illegitime Forderung an das Individuum wäre. Sofern es sich nur um
eine Tradition handelt, müssen sich Menschen eben auch von selbiger distanzieren dürfen,
ohne dass dies ihre moralische Integrität beeinträchtigt. Kants Begriff der öffentlichen
Vernunft ist, wie Deligiorgi richtig bemerkt, von Rawls’ public reason hingegen dadurch
unterschieden, dass hier keine durch gemeinsame essentielle politische Güter konstituierte
gemeinsame Identität vorausgesetzt wird, sondern diese Identität noch einmal kritisch auf
ihre Universalität hin reflektiert werden muss (Deligiorgi 2005, 8).
10
Kalligone FHA 8, 644.
11
Refl 911 AA 15, 398.
102 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Beurteilung des Konkreten gar nicht möglich.12 Legt man nun das Publi-
zitäts-Kriterium aus dem ersten Teil unserer Untersuchung an, so be-
deutet dies, dass nur auf allgemeingültige Prinzipien rekurrierende Ur-
teile über das Konkrete publikabel sind, weil nur sie sich an die Weltöf-
fentlichkeit richten können. Kant erhebt also den Anspruch, dass seine
transzendentale Aufklärung der universellen Prinzipien der Erkenntnis
und Praxis überhaupt erst die Möglichkeit der Aufklärung konkreter
Sachverhalte und eine weltbürgerliche Beurteilung selbiger begründet.
Die kritische Philosophie Kants expliziert damit ihrem Anspruch nach
die Bedingungen der Möglichkeit öffentlicher Diskurspraxis über kon-
krete Sachverhalte und sittliche Normen. Die transzendentalen Prinzi-
pien sind für Kant die Bedingungen, unter denen ein öffentlicher Aufklä-
rungsdiskurs über das Konkrete möglich ist, in dem die Teilnehmer so-
wohl sich selbst als auch ihre Adressaten als autonome Subjekte
anerkennen können. Damit wird das Konkrete nicht aus der Philosophie
eskamotiert, sondern kann erst in rechter Weise in den Blick treten. Ge-
rade der Bezug der selbständigen Allgemeinheiten auf das Konkrete und
wie das Konkrete dabei doch als universell gültig gelten kann, ist eines
der zentralen Probleme, die Kant in seinen Schriften diskutiert. Dies soll
in diesem Kapitel untersucht werden.
Anhand Kants Analyse verschiedener Urteilspraktiken untersuchen
wir in diesem Kapitel also die Gründe, Strukturen und die Tragfähigkeit
von Kants Prinzipienuniversalismus und interpretieren diesen als „be-
scheidenere Form eines Prinzipienuniversalismus“,13 der die notwendi-
gen Rahmenbedingungen öffentlicher Diskurse festlegt, die dann durch
deren jeweiligen historisch-kulturellen Kontext konkretisiert werden
können.14 Wir gehen hierzu in fünf Schritten vor: Zuerst interpretieren
wir Kants Konzeption synthetischer Urteile a priori als Grundlegung ei-
nes autonomen, weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs (A). Danach analy-
sieren wir Kants These, dass alle Urteile im Aufklärungsdiskurs mit An-
spruch auf universelle Gültigkeit gefällt werden müssen (B). Anschlie-
ßend diskutieren wir Kants transzendentale Minimalbedingungen von
Erfahrung als Konkretionen der Grundlagen für einen weltbürgerlichen
Vernunftgebrauch (C). Danach werden wir die Transformation der kan-
tischen Konzeption weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs durch die
„Entdeckung“ der reflektierenden Urteilskraft betrachten (D). Abschlie-
12
Refl 911 AA 15, 398. So schreibt Kant in Refl 912: „Herder verdirbt die Köpfe da-
durch, daß er ihnen Muth macht, ohne Durchdenken der principien mit blos empirischer
Vernunft allgemeine Urtheile zu fällen.“ (AA 15, 399; vgl. hierzu Zammito 1992, 42f.)
13
Höffe 2001, 41.
14
Höffe 2001, 41.
Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis 103

ßend widmen wir uns den „metaphysischen“ Voraussetzungen von


Kants weltbürgerlichem Vernunftgebrauch (E).

A. Der Zusammenhang von Autonomie und


kosmopolitischem Vernunftgebrauch

In diesem Abschnitt skizzieren wir den grundlegenden Zusammenhang


zwischen Autonomie, Kommunikabilität, öffentlichem Vernunftge-
brauch und Aufklärung als weltbürgerlicher Praxis bei Kant. Diesen Zu-
sammenhang untersuchen wir zunächst an Kants Konzeption synthe-
tisch-theoretischer Urteile a priori (I), anschließend an seinen Ausfüh-
rungen zum kategorischen Imperativ als einem „synthetisch-
praktische[n] Satz a priori“1 (II) und zuletzt an Kants Prinzip des Rechts
(III). Alle drei Formen synthetischer Urteile a priori lassen sich als
Grundlegung einer Praxis weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs deuten.

I. Synthetische Erkenntnisurteile a priori als


weltbürgerlicher Vernunftgebrauch

Das Verhältnis von Autonomie und weltbürgerlichem Vernunftgebrauch


bei synthetischen Erkenntnisurteilen a priori ist bereits im ersten Teil
unserer Untersuchung ausführlich thematisiert worden. Deshalb fassen
wir hier die dort erzielten Ergebnisse nur noch einmal zusammen. Unse-
re synthetischen Erkenntnisurteile a priori basieren auf den reinen For-
men des Verstandes und der Anschauung, durch die wir die Gegenstände
der Erfahrung als solche erst konstituieren. Sie sind nicht Resultat kon-
tingenter Erfahrung, sondern die Bedingung der Möglichkeit selbiger.
Die Allgemeingültigkeit dieser Urteile ergibt sich aus der transzendenta-
len Verfasstheit des menschlichen Subjekts als eines sinnlich anschauen-
den, schematisierenden, kategorial denkenden, vernünftigen Wesens. Die
universelle Verbindlichkeit synthetischer Urteile a priori ergibt sich da-
raus, dass sich das urteilende Subjekt in seinen Urteilen eben jenen Re-
geln unterwirft, mittels derer es selbst seine Erfahrung konstituiert. Hin-
sichtlich der operationalen Inanspruchnahme der die Erfahrung konsti-
tuierenden Kategorien als auch der allgemeinen logischen Urteilsformen
unterscheidet sich ein menschliches Subjekt nicht vom anderen, unab-
hängig von allen ethnischen, religiösen oder sonstigen empirischen Dif-
1
GMS AA 4, 420.
104 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

ferenzen. Insofern ist das a priori Gültige immer auch universell gültig
und verbindlich. Nur unter Voraussetzung der universellen Gültigkeit
dieser erfahrungskonstituierenden Prinzipien kann Kant in KU als zwei-
te Maxime des gesunden Verstandesgebrauchs die Forderung aufstellen,
immer so zu urteilen, dass man in seinem Urteil jedes andere mögliche
menschliche Subjekt mit einbezieht. Im Hinblick auf synthetische Urtei-
le a priori ist diese Maxime eine Parallele zur Universalisierungsformel
des kategorischen Imperativs, nur nach einer solchen Maxime zu han-
deln, die man zugleich als allgemeines Gesetz wollen kann. Als Urteils-
forderung verlangt sie nur auf Grund solcher Prinzipien zu urteilen, von
denen man verlangen kann, dass sie allgemeine Prinzipien aller Urteilen-
den sind. Urteilt man gemäß dieser Maxime, dann urteilt man als Welt-
bürger. Der Weltbürger ist dabei in seinen Urteilen selbst autonom und
anerkennt gleichzeitig die Autonomie aller anderen Weltbürger, da er
sich und alle anderen Subjekte in seinem Urteil nur den Regeln unter-
wirft, die er und jedes andere menschliche Subjekt sich qua Sinnlichkeit,
Verstand und Vernunft selbst geben.2 Bedingung dieser Urteilsakte ist
die Freiheit,3 sich selbstgegebenen Gesetzen zu unterwerfen. Diese Ur-
teilsakte sind dem einzelnen Menschen nicht durch seine kontingente
empirische Natur aufgezwungen, weshalb sie sich das urteilende Subjekt
im vollen Sinne zuschreiben kann. Die Reinheit der Anschauungs- und
Urteilsformen bzw. der Kategorien begründet also Autonomie, Univer-
salität und damit Weltbürgerlichkeit der synthetischen Urteile a priori.

II. Moralische Urteile als weltbürgerlicher Vernunftgebrauch

Wie die synthetischen Erkenntnisurteile a priori müssen auch die morali-


schen Urteile eines Subjekts nach Kant unabhängig von seiner histori-
scher Situation, seiner individuellen Verfasstheit, seinen konkreten Er-
fahrungen und seinen spezifischen Neigungen allgemeingültig für jedes
moralische Subjekt gelten.4 Den Charakter objektiver praktischer Geset-
ze können moralische Urteile erst dadurch beanspruchen, dass sie für
den Willen jedes moralischen Subjekts notwendig verbindliche Bestim-

2
Deligiorgi 2002, 143.
3
Refl 4757 AA 17, 705.
4
KpV AA 5, 21; 61; GMS AA 4, 449. Unter moralischen Urteilen verstehe ich nicht
nur Urteile über moralische Sachverhalte, sondern auch das moralische Handeln selbst.
Dass moralisches Handeln einen Urteilsakt impliziert, zeigt sich daran, dass der Wille im
Gesetz nach Kant durch ein Urteil der Vernunft bestimmt wird (KpV AA 5, 78).
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 105

mungsgründe sein sollten.5 Wir wollen im Folgenden zeigen, dass Kant


mit diesem moralischen Universalitätsanspruch die Standortgebunden-
heit des handelnden Individuums und seiner Zwecksetzungen gerade
nicht negiert. Dazu analysieren wir zunächst diesen Universalitätsan-
spruch als aufklärerische Selbstbescheidung der Moral auf ihre weltbür-
gerlichen Bedingungen, um dann anschließend zu zeigen, dass die Idee
einer weltbürgerlichen moralischen Handlungssphäre (Reich der Zwe-
cke) so zu verstehen ist, dass in ihr jedes Handlungssubjekt seine indivi-
duellen Handlungszwecke in bestmöglicher Weise realisieren kann (b).
Nur solche Normen und Maximen können als moralisch gelten, die
wie Naturgesetze unabhängig vom historisch-geographischen Stand-
punkt eines Handelnden überall für jedes mögliche andere Handlungs-
subjekt verbindlich sind.6 Der Mensch muss sich „durch alle Maximen
seines Willens als allgemein gesetzgebend betrachten“: 7 „Lebe so, daß
deine Handlungen auch aus dem Gesichtspunkte anderer gut scheinen.“8
Auch unsere Praxis moralischen Tadelns ist nur dann legitim, wenn
gegen eine universell gültige Handlungsnorm verstoßen wird und nicht
nur gegen eine traditionelle Norm.9 Die Rede von einem moralischen
„Gesetz“ setzt dessen universelle Geltung voraus, weil ein Gesetz ver-
langt, dass der dem Gesetz Unterworfene sich als Konstituent dieses Ge-
setzes verstehen kann.10 Damit muss die Geltung eines moralischen An-
spruchs unabhängig von konkreten „sozialen Tatsachen und allgemein
praktizierten Lebensformen“ rechtfertigbar sein, 11 von denen sich der
Einzelne immer distanzieren kann. Ansonsten liegt für das sich distan-
ziert habende Subjekt einfach nur Fremdbestimmung durch Zwang
vor.12 Deshalb ist der moralische Universalismus die einzige Möglichkeit
an andere moralische Ansprüche zu stellen und sie zugleich als Zweck an
sich zu behandeln.13 Jede moralische Norm muss deshalb weltbürgerli-
cher Natur sein. Dass die Weltbürgerlichkeit einer Norm dabei nicht nur
ein Attribut, sondern der Grund ihrer moralischen Verbindlichkeit ist,

5
KpV AA 5, 19; GMS AA 4, 400; 412; 420; 432.
Entsprechend lautet die Naturgesetz-Formel: „[H]andle so, als ob die Maxime deiner
6

Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ (GMS AA
4, 421.)
7
GMS AA 4, 433.
8
Refl 7069 AA 19, 241.
9
Die Norm, sich traditionellen Normen zu unterwerfen, würde in Widerspruch zur
Freiheit stehen.
10
GMS AA 4, 440.
11
Esser 2004, 151.
12
GMS AA 4, 408; KpV AA 5, 32; 25; Thorpe 2010, 462; Habermas 1988, 28.
13
GMS AA 4, 437f.
106 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

kommt nicht zuletzt in der Universalisierungsformel des kategorischen


Imperativs zum Ausdruck.14 Prinzip des Willens kann nur „die allgemei-
ne Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt“ sein.15
Mit der Begründung sittlicher Handlungen allein durch ihre Universa-
lisierbarkeit beantwortet Kant die Kritik am moralischen Universalismus
der Aufklärung in sehr interessanter Weise: Er kann dieser Kritik zu-
stimmen, wenn die Universalität als Attribut bestimmter Gehalte (Nei-
gungen, Interessen etc.) oder Zwecke (Glückseligkeit) behauptet wird
und hieraus allgemeingültige Verpflichtungen abgeleitet werden. Dies
hypostasiert nämlich an einen individuellen oder sozialen Standort ge-
bundene Zwecke in unerlaubter Weise zu allgemeinen Verpflichtungen.16
Der Bestimmungsgrund für diese Verpflichtung ist dann die Vorstellung
von dem zu bewirkenden Gegenstand und dessen standortgebundenem
Verhältnis zum empirischen Individuum. 17 Allgemeingültig kann eine
Regel jedoch nur dann sein, wenn die Vernunft zu ihrer Etablierung
nichts als sich selbst voraussetzt.18 Kant löst dieses Problem, indem er
das Verhältnis von Form und Inhalt umdreht und damit den Bereich
moralischer Verpflichtung limitiert. Indem nicht im Ausgang von be-
stimmten Gehalten für ihre allgemeine Verbindlichkeit argumentiert,
sondern die Form der Allgemeinheit als Ausschlusskriterium bestimmter
Handlungsgehalte verstanden wird, kann das formale Universalisie-
rungskriterium als moralischer Kompass für jedermann dienen. So ist die
Pflicht nur eine formale Beschränkung des Willens, die die Gemäßheit
zu einem universellen Gesetz fordert.19 Dem moralischen Subjekt wer-
den so von Kant gerade keine standortunabhängig anzustrebenden Ob-
jekte des Willens unterstellt, aus denen es moralische Normen ableiten
könnte. Das Moralgesetz fordert vielmehr vom moralischen Subjekt,
keinerlei Willensobjekte zum Bestimmungsgrund seiner Handlungen zu
14
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer all-
gemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV AA 5, 30). Vgl. hierzu auch: GMS AA 4,
421; 424; Korsgaard 1985; Rawls 1989, 82–90; Longuenesse 2005, 258.
15
GMS AA 4, 402.
16
KpV AA 5, 24f. Vgl. hierzu auch: Sedgwick 2008, 64f. Hegel wendet jedoch ein, dass
auch Kants Anwendungen und Interpretationen des kategorischen Imperativs mehr in
Anspruch nehmen als das Kriterium bloßer Universalisierbarkeit und zusätzliche, empi-
risch-kontingente Annahmen voraussetzen. Damit würde Kant letztlich an seinem An-
spruch reiner Formalität und Universalität scheitern (Sedgwick 2012, 5).
17
KpV AA 5, 21; vgl. auch ibid., 28.
18
KpV AA 5, 21.
19
TP AA 8, 280; GMS AA 4, 404; 420f; KpV AA 5, 31. Die Universalisierungsformel
wird so in gewissem Sinne via negationis über die Aufhebung aller bloß subjektiven und
nicht allgemeingültigen Bedingungen menschlicher Handlungen gewonnen. Vgl. hierzu:
O’Neill 1996, 277; Shell 2009, 335f.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 107

machen, um stattdessen die autonome Freiheit seiner Vernunft zu ver-


wirklichen. Dadurch konstituiert die Vernunft „eine eigene Ordnung
nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen“ konkreter morali-
scher Handlungen integriert.20 Die Vernunft erkennt also nicht eine uni-
versell-gültige moralische Wert- und Weltordnung, sondern ist der
Grund dieser Ordnung und der Kraft ihrer Verbindlichkeit.21
Kants moralischer Formalismus ist so gerade Ausdruck einer Selbst-
bescheidung der Vernunft, die sich nicht anmaßt, die Universalität von
Willensobjekten universell begründen zu können.22 Inhaltliche Bestim-
mungsgründe können für Kant auf Grund ihres privaten Charakters kein
weltbürgerliches Moralgesetz begründen, da dieses Gesetz sonst zumin-
dest von einigen seiner Adressaten eine Unterordnung ihres Willens un-
ter einen fremden Willen fordern und somit der Autonomie als Zweck
der Moral zuwiderlaufen würde.23 Die Abstraktheit der kantischen Mo-
ral trägt also der aufklärungskritischen Feststellung der kontingenten
Standortgebundenheit menschlicher Handlungssubjekte Rechnung, in-
dem sie diese Bedingungen nicht durch eine nachträgliche Rationalisie-
rung normativiert, sondern diese auf Grund ihres bloß privaten Charak-
ters jeglicher moralischen Qualifikation entzieht. Moralische Handlun-
gen bestehen demgegenüber in der bloß formalen Weltbürgerlichkeit
ihrer Handlungsmaxime.24
Wir haben also festgestellt, dass Weltbürgerlichkeit der formale Cha-
rakter einer jeden sittlichen Handlungsmaxime ist. Sie bestimmt den
Willen zu kosmopolitischem Handeln.25 Moralische Handlungen sind so
immer Handlungen eines Weltbürgers und moralisch normiertes Han-
deln ist immer kosmopolitisches Handeln. Durch sein moralisches Han-
deln macht sich das Handlungssubjekt zum Mitgestalter einer weltbür-
gerlichen moralischen Ordnung, die Kant selbst als „Reich der Zwecke“
20
KrV B 576/A 548.
21
Henrich 1994, 94. Nur wenn Vernunft die alleinige Ursache der richtigen Handlung
ist und nicht auf ihr fremde Ressourcen angewiesen ist, um ein moralisches Subjekt zum
Handeln zu motivieren, könne man von Autonomie sprechen (ibid., 94f.).
22
Der Standortgebundenheit von Willensobjekten verleiht Kant gerade durch seine
Unterscheidung von kategorischem Imperativ und hypothetischen Imperativen Aus-
druck: Im Gegensatz zum kategorischen Imperativ drücken hypothetische Imperative
Regeln aus, die das Handlungssubjekt sich nicht als Weltbürger, sondern nur als Privat-
person auf Grund seiner kontingenten Zwecke und Neigungen vorschreiben kann (Lon-
guenesse 2005, 252; GMS AA 4, 414f.; 427).
23
KpV AA 5, 33.
24
Empirische Bestimmungsgründe sind weder hinsichtlich der inneren noch der äuße-
ren Gesetzgebung universalisierbar, da sie von den kontingenten Neigungen eines Sub-
jekts abhängen (KpV AA 5, 28).
25
KpV AA 5, 27.
108 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

bezeichnet. Die Reich-der-Zwecke-Formel des kategorischen Imperativs


fordert das moralische Subjekt unmittelbar dazu auf, in seinem Handeln
an der Errichtung einer solchen kosmopolitischen Weltordnung mitzu-
wirken.26
Das Reich der Zwecke denkt Kant als eine kosmopolitische Gemein-
schaft moralischer Subjekte, deren moralische Rechtsordnung unabhän-
gig von der empirisch-bedingten Verfasstheit ihrer Bürger durch die
weltbürgerliche praktische Vernunft konstituiert wird. Die Unterwer-
fung des Handlungssubjekts unter diese weltbürgerliche Ordnung ist ein
Akt vollständiger Autonomie, da es sich hierbei um die Unterwerfung
unter eine selbst gegebene Ordnung handelt.27 In seinem Handeln ver-
steht sich der Kosmopolit zugleich als Gesetzgeber für alle moralisch au-
tonomen Subjekte. Damit ergibt sich an sein individuelles Handeln die-
selbe Forderung, die sich auch an den Gesetzgeber im Recht ergibt: näm-
lich die Adressaten seiner Gesetze nur solchen Gesetzen zu unterwerfen,
die sie über sich selbst beschließen können.28 Kant bestimmt das Reich
der Zwecke deshalb als ein kosmopolitisches Ideal, in dessen Gesetzes-
ordnung von allen privaten Zwecken, Gefühlen und Neigungen abstra-
hiert ist,29 damit jeder moralische Akteur sich zugleich als Gesetzgeber
und Adressat dieser Ordnung verstehen kann.30 Dieses Reich der Zwe-
cke würde die Autonomie jedes anderen anerkennen und wäre dann rea-
lisiert, wenn alle Menschen gemäß des kategorischen Imperativs handeln
würden.31
Fassen wir kurz zusammen: Die durch sein eigenes weltbürgerliches
Handeln mitzugestaltende Weltordnung lässt sich als ein Reich der Zwe-
cke bezeichnen, weil jedes unter dieser Ordnung stehende Handlungs-
subjekt in seinem Handeln immer zugleich die Autonomie aller anderen
Handlungssubjekte anerkennt.32 Die besondere sittliche Verbindlichkeit
dieser kosmopolitischen Weltordnung resultiert jedoch gerade daraus,
dass sie die Freiheit aller nicht wie das äußere Rechtsgesetz nur erhält,

26
GMS AA 4, 438f.
27
GMS AA 4, 439; 431.
28
Voraussetzung hierfür ist die „reflexive Struktur des menschlichen Bewusstseins“;
denn durch seine reflexive Struktur steht jeder Mensch in einer „Zweiten-Person-Relation
zu sich selbst“ (Korsgaard 2007, 11).
29
GMS AA 4, 433.
30
GMS AA 4, 434.
31
GMS AA 4, 437f.
32
Dem moralischen Weltbürger entgegengesetzt ist der moralische Egoist (KpV AA 5,
74f.). „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungs-
art: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen
Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ (Anth AA 7, 130.)
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 109

sondern positiv befördert.33 Ihr einziger Zweck ist die wechselseitige Be-
förderung der Freiheit ihrer Mitglieder. Der moralische Kosmopolit, der
in seinem Handeln an der Realisierung des Reichs der Zwecke mitwirkt,
wählt mit seiner eigenen Freiheit zugleich die Freiheit aller anderen
Handlungssubjekte. Er kann seine Freiheit nämlich nur im Bewusstsein
seiner Verantwortung gegenüber der Freiheit aller anderen moralischen
Subjekte wählen. Freiheit ist für ihn die notwendige Bedingung aller
Vollkommenheiten, der „innere Werth der Welt“;34 alles andere, auch
Vernunft und Moralgesetz, leitet seinen Wert aus der Freiheit ab.35
Die Freiheit ist deshalb nicht etwas, das mit unseren moralischen Ver-
pflichtungen erst in Einklang gebracht werden müsste, sondern ist die
Grundlage unserer Verpflichtungen und gleichzeitig sind wir nur frei,
insofern wir moralisch handeln. Unsere Freiheit ist so normativer Na-
tur.36 Der Grund der moralischen Selbstbestimmung ist mit der Freiheit
ein un-bedingter Grund, so dass die Differenzen zwischen Personen
keine begründende Rolle spielen können.37 Die Freiheit als Grund mora-
lischer Verpflichtung impliziert damit Universalität. Auch deshalb erfül-
len praktische Vorschriften nur dann die Bedingungen moralischer
Normativität, wenn ihre Gründe universell durch jedes vernünftige We-
sen anerkannt werden können.38 Ansonsten würden sie in Widerspruch
zur menschlichen Freiheit stehen.
Der letzte Zweck der weltbürgerlichen moralischen Gesetzgebung des
Reichs der Zwecke ist also jedes rationale Wesen in seiner Freiheit.39 Die
Idee vom Reich der Zwecke ist die Idee einer Gemeinschaft kosmopoli-
tischer Individuen, die sich wechselseitig in der Realisierung ihrer Frei-
heit unterstützen.40 Ein anderes moralisches Subjekt als Mittel unserer
Freiheitsrealisierung gebrauchen, hieße, die Freiheit in uns selbst zur Re-
alisierung freiheitsfremder Bedürfnisse zu instrumentalisieren und damit
aufzuheben. Aus dem Interesse an unserer eigenen Freiheit ergibt sich
unmittelbar das Interesse an der Freiheit des Anderen und damit die
Pflicht, seine Freiheit niemals nur als Mittel, sondern immer auch als

33
Guyer 2000, 240.
34
V-Mo/Collins AA 27, 344; V-Mo /Mron AA 27, 1482; vgl. Guyer 2000, 129.
35
Guyer 2000, 129, 131; 7; 2; 58; Henrich 2008, 57; Allison 1996, 151. Vgl. hierzu: V-
NR Feyerabend AA 27, 1321; GMS AA 4, 429; 447; KpV AA 5, 30.
36
Dierksmeier 2011, 85.
37
Ansonsten läge nicht Kausalität aus Freiheit, sondern Naturdetermination vor; eine
Mischform ist aus kantischer Perspektive ausgeschlossen (GMS AA 4, 457).
38
KpV AA 5, 19.
39
GMS AA 4, 431; RGV AA 6, 60.
40
Allison 2011, 242; Thorpe 2010, 479.
110 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Zweck zu behandeln.41 Damit gibt die weltbürgerliche moralische Ord-


nung die Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer jedes moralische
Subjekt seine individuelle freie Lebensführung in bestmöglicher Weise
realisieren kann.
In seiner formalen Bestimmung bleibt das weltbürgerliche Ideal eines
Reiches der Zwecke notwendig abstrakt, da es von allen privaten Interes-
sen abstrahieren muss. Es erlaubt aber die bestmögliche Realisierung
auch der privaten Zwecke der unter dieser moralischen Ordnung Verei-
nigten, die diese zur Bedingung ihrer privaten Glückseligkeit machen.
Die formale moralische Rahmengesetzgebung verbietet nämlich nicht
nur die illegitime Erweiterung der eigenen Sphäre privater Zweckverfol-
gung auf Kosten der Sphäre anderer Subjekte, wie dies bei der juridi-
schen Ordnung der Fall ist, sondern befiehlt auch die wechselseitige Un-
terstützung in der Verfolgung legitimer Privatzwecke. Insofern wird der
Endlichkeit und Standortgebundenheit auch des moralischen Kosmopo-
liten gerade Rechnung getragen. Das individuelle Zweckstreben wird
durch die kosmopolitische Freiheitsordnung im Reich der Zwecke so
miteinander harmonisch koordiniert, dass sich seine Mitglieder bei der
Realisierung ihrer Zwecke wechselseitig unterstützen können. Besonders
deutlich zeigt sich dies in den unvollkommenen Pflichten, die eigenen
Talente und die Glückseligkeit anderer zu befördern. Hierunter kann
abhängig vom jeweiligen Individuum alles fallen, was nicht pflichtwidrig
ist. In der Rechtsgemeinschaft werden hingegen nur positive Hindernisse
der äußeren Freiheit durch äußere Handlungen verhindert und nur voll-
kommene Pflichten erzwungen. Im Reich der Zwecke, das der wechsel-
seitigen Beförderung der Freiheit seiner Glieder dient, spielen die un-
vollkommenen Pflichten umgekehrt eine ganz zentrale Rolle. Das
Rechtsgesetz, das wesentlich Zwangsgesetz ist, verbietet nur solche
Handlungen, die die Freiheit des Anderen zerstören; die Gesetzgebung
im Reich der Zwecke hingegen soll die Freiheit und Zwecksetzungen
seiner Mitglieder realisieren. Das kosmopolitische Reich der Zwecke ist
also die Idee eines Reichs empirisch bedingter, moralischer Akteure, die
nicht nur ein Interesse an der Realisierung der Autonomie als solcher,
sondern auch privater Interessen haben. Die normative Ordnung dieses
Reichs muss jedoch von privaten Zwecken insofern absehen, als diese
nicht in ihrer Konkretion normativiert werden können. Die moralischen
Akteure des Reichs der Zwecke treten also zwar als Wesen, die private

41
GMS AA 4, 429.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 111

Zwecke verfolgen, in den Blick, aber nicht als Wesen, die just diese Zwe-
cke verfolgen.42

III. Das Recht

In den vorangehenden Abschnitten haben wir Kants epistemischen und


ethischen Kosmopolitismus skizziert. Dieser gipfelt zuletzt in Kants
„[k]osmopolitische[r] Rechts- und Friedenstheorie“,43 die wir in diesem
Abschnitt entwickeln wollen. Da es uns vornehmlich um den Zusam-
menhang zwischen weltbürgerlicher Aufklärung und Autonomie geht,
bestimmen wir sie im Folgenden aus dem kosmopolitischen Anspruch
seiner Rechtslehre, bei der dieser Zusammenhang am deutlichsten ist.
Kants Rechtstheorie erhebt den Anspruch kosmopolitischer Geltung, da
die in ihr entwickelten Rechtsgrundsätze und -bestimmungen allgemein-
gültig sind und insofern in allen Rechtsstaaten positiviert werden soll-
ten.44 Diesem Anspruch werfen Kritiker vor, er übersehe den Vorrang
historisch gewachsener Gesellschaftsformen vor der jeweiligen Ausge-
staltung des Rechts.45 Dieser Vorwurf ignoriert aber wiederum die auf-
klärerische Selbstbescheidung Kants auf die Etablierung solcher Rah-
menbedingungen, innerhalb derer alle Rechtssubjekte ihre diversen Wei-
sen der Lebensführung – die durch Geschmack, Kultur, Religion etc.
bestimmt sein können – frei verwirklichen können: die „metaphysi-
sche[n] Anfangsgründe der Rechtslehre“.46 Diese wollen wir im Folgen-
den in zwei Schritten explizieren: Zunächst untersuchen wir den Zu-
sammenhang von Freiheit und Zwang im weltbürgerlichen Recht (a).
Darauf aufbauend analysieren wir das Verhältnis von Öffentlichkeit,
Freiheit und Aufklärung in kosmopolitischen Rechtsordnungen (b).

a. Der Zusammenhang von Freiheit und Zwang


im weltbürgerlichen Recht

Das Prinzip des Rechts ergibt sich bei Kant aus der Anwendung des
Freiheitsbegriffs auf äußere Handlungen.47 Mit dem Begriff der äußeren

42
Allison 2011, 242f.
43
Höffe 2008, 52.
44
MdS AA 6, 230.
45
Williams 1983, 69f.
46
MdS AA 6, 205.
47
Guyer 2005, 210.
112 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Freiheit als grundlegendem Rechtsbegriff 48 schließt Kant sittliche und


religiöse Wertvorstellungen sowie Vorstellungen über ein gelungenes
Leben als Begründungen für rechtliche Normen von vornherein aus,49
weil und solange damit nicht die Einschränkung der äußeren Freiheits-
sphären anderer impliziert ist.50 Kant delegitimiert damit gerade nicht die
verschiedenen Vorstellungen über ein gelungenes Leben, sondern aner-
kennt sie in ihrer partikularen Geltung. Auf Grund ihrer Divergenz
können diese Vorstellungen rechtlich jedoch nur Privatgültigkeit besit-
zen, da ihre öffentlich-rechtliche Zwangsimplementierung die Unterdrü-
ckung oder Benachteiligung divergierender Lebensweisen implizieren
würde. Der Staat würde damit durch ihre rechtliche Normierung be-
stimmte Vorstellungen über das gute Leben bevorzugen und andere be-
nachteiligen. Das Recht soll deshalb nach Kant nicht dem Schutz be-
stimmter Privatvorstellungen dienen, sondern der Sicherung der äußeren
Freiheitssphären aller Bürger, innerhalb derer sie ihre Privatvorstellun-
gen von einem gelungenen Leben verwirklichen können.51 Das Projekt
rechtsphilosophischer Aufklärung besteht also wesentlich in einer Be-
grenzung des Geltungsbereichs rechtlicher Normen auf Rahmenbedin-
gungen, die die individuelle Entfaltung äußerer Freiheit ermöglichen.
Mit seiner Begründung des Rechts durch den Begriff der äußeren
Freiheit geht Kants Aufklärung über die Konzeptionen seiner Vorgänger
hinaus, die ihrer Rechtfertigung des Rechts das Konzept eines Naturzu-
standes zu Grunde legen, in dem die natürlichen Rechte des Menschen
noch ungeschützt sind. Die hierauf gegründeten Rechtsmodelle hängen
nämlich von differierenden Vorstellungen über die Natur des Menschen
ab, aus denen dann die jeweiligen Ausgestaltungen des Naturzustands
und der natürlichen Rechte des Menschen resultieren.52 Welche natürli-
chen Rechte das positivierte Recht zu schützen hat, hinge damit davon
ab, welche Anthropologie man wählt.
Eine Metaphysik des Rechts kann für Kant jedoch nicht durch anth-
ropologische Überlegungen begründet sein, da diese eine zu anspruchs-
volle inhaltliche Voraussetzung für eine weltbürgerliche Rechtskonzep-
tion darstellen. Deshalb entwickelt Kant sein Vernunftrecht aus dem rein
formalen Gesichtspunkt der möglichen Zusammenstimmung der äuße-
ren Freiheitssphären sämtlicher durch das Recht in einem Staat verbun-

48
Gierhake 2013, 80.
49
Csingár 2013, 27f.
50
Vgl. hierzu auch Sedgwick 2008, 6f.
51
Ripstein 2009, 217f.
52
Dierksmeier 2011, 80f.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 113

denen Subjekte.53 Das Recht soll für Kant solche Bedingungen schaffen,
dass die Willkür der vom Recht reglementierten Personen „nach einem
allgemeinen Gesetze der Freiheit“ mit einander vereinigt werden kann,54
indem es die Freiheit dieser Personen so limitiert, dass ihre äußeren
Freiheiten miteinander nach einem universellen Gesetz koexistieren
können. Gesetze sind somit „Einschränkungen unserer Freiheit auf Be-
dingungen, unter denen sie durchgängig mit sich selbst zusammen-
stimmt“.55
Kants aus Sicht der Aufklärungskritiker problematischste Vorausset-
zung ist hierbei, dass die Freiheitssphären nach einem universellen Ge-
setz zusammenstimmen sollen.56 Denn gerade die Möglichkeit einer sol-
chen Universalität wird von diesen Kritikern geleugnet. Dies heißt zu-
nächst, dass die Freiheitsbeschränkungen wechselseitig sein müssen in
dem Sinne, dass jeder an Freiheit Interessierte der Beschränkung seiner
Freiheit zur Ermöglichung der Freiheit aller zustimmen können muss.
Die Rechtssubjekte müssen also die Reziprozität von Rechten und
Pflichten anerkennen. Dies ergibt sich nach Kant bereits aus dem Begriff
der rechtlichen Verpflichtung, in dem Allgemeinheit und in der Folge
„Reciprocität der Verbindlichkeit aus einer allgemeinen Regel“57 impli-
ziert seien. Diese Reziprozität von Rechten und Pflichten kann aber nur
dann von allen Rechtssubjekten in Freiheit anerkannt werden, wenn die
Rechtsordnung universalisierbar ist. Anders formuliert: Die Rechtsord-
nung muss kosmopolitischen Anspruch besitzen können. Dies tut sie
nach Kant genau dann, wenn das Recht nur formal über den Begriff der
äußeren Freiheit und das Kriterium der Reziprozität begründet ist und
von den divergierenden Interessen in der Rechtsetzung abgesehen wird.58
Gerade dadurch kann das Recht der Entfaltung dieser Interessen jedoch
Raum geben.
Fassen wir kurz zusammen: Kant will mit dem Begriff der äußeren
Freiheit die Geltung des Rechts in einer für jedes Rechtssubjekt
anerkennbaren Weise legitimieren. Kriterium für die Legitimität einer

53
Zur Überwindung des dogmatischen Naturrechts durch Kant vgl. Höffe 2001, 21.
54
MdS AA 6, 230.
55
KrV B 358/A 301.
56
MdS AA 6, 230f. Dieses allgemeine Rechtsgesetz folgt nach Kant analytisch aus dem
Begriff des Rechts und ist „gar keines Beweises weiter fähig“ (ibid., 231; 396). Zum Ver-
hältnis des allgemeinen Rechtsgesetzes zum kategorischen Imperativ vgl. u.a.: Ripstein
2009, 13f.; Horn 2014, 9f.; 27; Byrd/Hruschka 2010, 84–93; 292; Kalscheuer 2014, 166;
Flikschuh 2007, 6; Guyer 2002, 25f.; 27f.; 30f.; Kleingeld 2010, 57f.
57
MdS AA 6, 256.
58
Horn kritisiert deshalb die materiale Unbestimmtheit von Kants Rechtslehre (Horn
2014, 89; 135; 164).
114 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Rechtsordnung ist die Reziprozität der Verbindlichkeit der in ihr enthal-


tenen Rechtsnormen. Kants rechtsphilosophische Aufklärung will nun
aber nicht nur die Geltung rechtlicher Normen, sondern auch die mit
diesen Normen verbundene Zwangsbefugnis legitimieren und limitieren.
Wir haben bereits festgestellt, dass der Staat genau dann das Recht und
die Pflicht rechtlicher Normierung hat, wenn dies für die Ermöglichung
der äußeren Freiheit aller Rechtssubjekte notwendig ist. Das Recht dient
somit nur der Abwehr möglicher Einschränkungen verallgemeinerbarer
äußerer Freiheit der Rechtssubjekte.59

Die Freyheit ist dasjenige angebohrne Recht, worauf sich alle Andern
angebohrnen gründen u. die im Grunde mit ihr einerley sind: denn alles Unrecht
besteht eben darin daß dieser Freyheit die mit jedermans ihrer bestehen kann
Abbruch gethan wird.60

Damit versucht Kant nicht mehr wie seine Vorgänger, geltendes positi-
ves Recht aus einem vermeintlich rational einsehbaren Recht abzuleiten,
sondern entwickelt einen kritischen Maßstab für jedes positive Recht,
das als Recht will auftreten können.61 Äußere Freiheit als Rechtsbegriff
ist der kritische Maßstab dafür, was überhaupt Gegenstand rechtlicher
Normierung werden darf. Der Staat dient nicht der Sicherung des
Glücks oder der Tugendentwicklung seiner Bürger, sondern ausschließ-
lich der Sicherung von Freiheitssphären und daraus erwachsender Rech-
te.62 Umgekehrt besitzt der Einzelne kein Recht auf die staatliche Durch-
setzung seiner Vorstellung von einem gelungenen Leben, sondern nur
auf die staatliche Garantie seiner äußeren Freiheit, sein Leben nach sei-
nen Vorstellungen von einem gelungenen Leben gestalten zu können.
Diese Freiheit ist das natürliche Recht des Individuums, das allein all
seine sonstigen Rechte begründen kann.63 Das einzige im Recht zu the-
matisierende Interesse des Menschen ist sein „formale[s] Freiheitsinte-
resse“.64

59
Kersting 1982, 163.
60
OP AA 21, 462.
61
Höffe 2001, 22.
62
MdS AA 6, 318. „Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohl-
sein anderer Menschen denkt), glücklich zu sein“ (TP AA 8, 290).
63
MdS AA 6, 267f.; 340; 237f.; 230f.
64
Kersting 1984, 39; MdS AA 6, 237f. Das bedeutet jedoch nicht, dass im Recht von
den Rechtssubjekten in ihrem Handeln ein Interesse am Recht oder der Freiheit erwartet
werden darf (ibid., 219).
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 115

Der Zweck einer bürgerlichen Gesellschaft ist die Garantie des Frei-
heitsrechts der Menschen durch „öffentlich[e] Zwangsgesetze“. 65 Der
Staat kann das Recht seiner Bürger auf Freiheit nämlich nur durch
Zwangsgesetze (durch Androhung von Strafe und im Falle des Rechts-
bruchs durch Vollzug selbiger) schützen. Jedes Recht muss deshalb zum
Zwecke der Freiheit aller Rechtssubjekte mit der Befugnis zu zwingen
verbunden sein.66 Die Garantie der Freiheit ist der einzige Legitimati-
onsgrund staatlichen Zwanges.67 Da Zwang aber grundsätzlich der Frei-
heit widerspricht, darf der Staat nur zum Zwecke der Freiheit zwingen:
„als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“. 68 Die Rechtsord-
nung darf also nur die Bedingungen für die Verwirklichung der äußeren
Freiheit seiner Bürger bereitstellen. Der Staat muss gerade im Zwangs-
recht die Freiheit aller Rechtssubjekte, denen es im Recht um die Reali-
sierung ihrer Freiheit geht, anerkennen.69
Als Grund und Zweck des Rechts limitiert die Freiheit die Ausgestal-
tung zwangsbewehrten Rechts. Die Freiheit ist zugleich „Schutzgut“
und „Geltungsgrund“ rechtlicher Normen. 70 Sicherheitsmaßnahmen
können deshalb anders als bei Hobbes nicht das Recht der Bürger auf
Freiheit negieren, denn dann würde die Rechtsgemeinschaft ihr eigenes
Prinzip aufheben.71 Der Staat erzwingt vielmehr die reziproke Anerken-
nung der Freiheit seiner Bürger, indem er solche Handlungen unter Stra-
fe stellt, die die äußere Freiheit Dritter negieren. Andererseits erkennt
der Staat die äußere Freiheit seiner Bürger selbst an, indem er nur solche
Handlungen verbietet, die diese Freiheit negieren. Der Staat beschränkt
sich damit auf die Rolle des Garanten äußerer, bürgerlicher Freiheit,72
65
TP AA 8, 289.
66
„Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei.“ (MdS AA 6, 232.)
67
Willaschek 2002, 67f. Die Handlungsfreiheit des Menschen (seine Freiheit, sich in
seinem Handeln an Gründen zu orientieren) ist die Bedingung der Legitimität des mit
dem Recht zu zwingen verbundenen Rechts; die realisierte Freiheit des Bürgers (sein Le-
ben als selbstbestimmtes Wesen führen zu können) ist hingegen der Zweck des Rechts.
68
MdS AA 6, 231. Die Errichtung einer solchen bürgerlichen Gesellschaft, in der die
größtmögliche Freiheit der Individuen mit der „genaueste[n] Bestimmung und Sicherung
der Grenzen dieser Freiheit“ koinzidiert, „damit sie mit der Freiheit anderer bestehen
könne“, ist für Kant das „größte Problem für die Menschengattung“ (Idee AA 8, 22).
69
Wenn auch nicht für die einzelne rechtskonforme Handlung, so setzt das Rechtsge-
setz für die Möglichkeit seiner Anerkennung durch den Einzelnen doch dessen Interesse
an Freiheit voraus (Kersting 1984, 40). Nur die Idee der Freiheit autorisiert Autorität
(Flikschuh 2007, 25).
70
Gierhake 2013, 110.
71
Gierhake 2013, 113.
72
Damit haben Staat und Recht eine ganz andere Grundlage als bei Hobbes, bei dem
der Staat als bloßer Sicherheitsgarant der Selbsterhaltung seiner Subjekte nur deren physi-
sche Existenz zu sichern hat (Gierhake 2013, 61–70).
116 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

indem er Freiheitssphären koordiniert und damit freiheitliche Verhält-


nisse realisiert. 73 Das Recht verhindert, dass ein Rechtssubjekt durch
Ausdehnung seiner Freiheitssphäre die Möglichkeit eines anderen, nach
seinen Zwecken zu streben, aufheben kann. 74 Die Wirklichkeit des
Rechts garantiert so die Sicherheit freiheitlicher Lebensverhältnisse, da
die Anerkennung der anderen Individuen als freie Rechtsperson im
Recht durch staatliche Macht gesichert wird. Der Staat selbst wiederum
ist ebenfalls in seiner Macht limitiert. Weil der Staat nur die äußere
Handlungsfreiheit seiner Subjekte sichern soll, kann er Handlungen
rechtlich nur regulieren, insofern sie „als Facta aufeinander [...] Einfluß
haben können“.75 Nur Handlungen, die die Ausübung der Willkür eines
anderen einschränken, können Gegenstand rechtlicher Normierung sein.
Dabei betrifft die rechtliche Regelung nur die äußere Form dieser Hand-
lungen, nicht die Zwecke, die mit ihnen verfolgt werden. Man muss
nichts über die Maximen eines Handelnden wissen, um beurteilen zu
können, ob eine Handlung kompatibel mit anderen ist.76 Solange sich der
Bürger äußerlich rechtskonform verhält, dürfen sie deshalb nicht auf
Grund ihrer (unterstellten) Motivation kriminalisiert werden.77

b. Der Zusammenhang von Freiheit, Öffentlichkeit


und Aufklärung im Recht

Bisher sollte Folgendes klar geworden sein: Auf Grund der Selbstbe-
schränkung seiner Rechtsphilosophie auf die Formulierung der rechtli-
chen Rahmenbedingungen, innerhalb derer jedes Rechtssubjekt seine In-
teressen in gleicher Weise realisieren kann, kann man Kant nicht vorwer-
fen, die kulturelle Bedingtheit von Lebensformen zu verharmlosen. Nur
darf dies eben kein Instrument staatlicher Unterdrückung sein. Dies

73
TP AA 8, 289f.; Gierhake 2013, 90.
74
Gierhake 2013, 78.
75
MdS AA 6, 230.
76
Pippin 1999, 65f.; Ludwig 1988, 95; Kaulbach 1982, 58; Kersting 1984, 4; MdS AA 6,
231.
77
MdS AA 6, 231; Csingár 2013, 32; 49. Erst wenn das Recht äußerlich gebrochen
wird, spielt die Motivation eine Rolle (Willaschek 2005, 191). Obwohl also nur äußere
Handlungen überhaupt mit der Freiheit einer anderen Person negativ konfligieren kön-
nen, so ist das Recht mit der Regelung äußerer Freiheitssphären doch auf die Realisierung
der inneren Freiheit gerichtet. Denn das Recht soll garantieren, dass der Ausdruck innerer
Freiheit im Handeln des Einen mit der aller Anderen bestehen kann (Guyer 2000, 241).
Das Recht beschützt damit den ultimativen Wert, nämlich menschliche Autonomie, die
sich in menschlicher Handlungsfreiheit ausdrückt (ibid., 242; 260f.).
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 117

ergibt sich aus dem Gedanken der Reziprozität. Wer etwa die Unterdrü-
ckung einer bestimmten Gemeinschaft durch den Staat mit Bezug auf
seine kulturelle Tradition rechtfertigt, muss dies auch für sich selbst als
gerechtfertigt anerkennen und kann sich deshalb nicht auf das Recht auf
Selbstbestimmung berufen, wenn der Staat dieses Hindernis der Frei-
heitsrealisation anderer negiert. Die auf dem Rechtsbegriff der Freiheit
begründete Idee eines Rechtsstaates, dessen Verfassung die größtmögli-
che gesetzmäßige Freiheit aller Bürger durch die Koordination von de-
ren Freiheitssphären garantiert, ist so nach Kant eine unbedingte Idee
der Vernunft. Sie ist die kosmopolitische Norm, die zu allen Zeiten und
überall vom Gesetzgeber allen Gesetzen zu Grunde gelegt werden
muss.78 Andererseits ist jedes Individuum verpflichtet, in den bürgerli-
chen Rechtszustand einzutreten, sofern seine äußeren Handlungen Ein-
fluss auf die Handlungen anderer haben können. Denn erst das öffentli-
che Recht sichert die Freiheit aller Rechtssubjekte, indem es sie zwingt,
wechselseitig die Freiheit der anderen zu respektieren.79 Erst in einem
öffentlichen Rechtszustand sind die Freiheitssphären der Rechtssubjekte
gegeneinander abgesichert.80 Da der Mensch nicht reines Vernunftwesen
ist, bedarf er solcher Rechts- und Herrschaftsverhältnisse, die ihn zwin-
gen, dem allgemeingültigen freiheitssichernden Willen zu gehorchen.81 In
seinem Übergang vom naturrechtlichen Zustand in den öffentlich-
rechtlichen Zustand gibt das Individuum jedoch nicht wie bei Hobbes
seine angeborene äußere Freiheit auf, sondern tauscht seine gesetzlose
Freiheit gegen eine allgemein gesicherte, gesetzliche äußere Freiheit ein.82
Die Überwindung des Naturzustands durch den Eintritt in den Staat
und die Unterwerfung unter ein solcher Art (universalisierbares) öffent-
liches Recht garantiert vielmehr die Möglichkeit der Realisierung indivi-
dueller Freiheit und Lebensgestaltung aller Bürger.83
Fassen wir zusammen: Im bürgerlichen Rechtszustand muss das
Recht eines jeden durch öffentliche Gesetzgebung gesichert sein. Sehen
wir nun, was genau „Öffentlichkeit des Rechts“ meint: In einem trivialen
Sinne meint dies zunächst, dass das Recht öffentlich bekannt gemacht
sein muss, da das Rechtssubjekt sonst gar nicht wissen kann, an welchen
Normen es sein Handeln zu orientieren hat. Dabei muss es sich aus-
nahmslos an alle Rechtssubjekte richten und damit auch die Bedingun-

78
KrV B 373/A 316; MdS AA 6, 313; SF AA 7, 91.
79
MdS AA 6, 311; 306.
80
MdS AA 6, 307f.; 312.
81
Idee AA 8, 23.
82
MdS AA 6, 316.
83
Gierhake 2013, 98.
118 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

gen öffentlicher Kommunikabilität erfüllen. „Öffentlichkeit des Rechts“


bedeutet deshalb bei Kant auch den Legitimationsgrund des öffentlichen
Rechts: Dieser muss – im Unterschied zum naturzuständlichen Privat-
recht, das von der Meinung, was jeder selbst für das Rechte hält, abhängt
– allgemeingültig sein und in diesem Sinne allgemeine Verbindlichkeit
besitzen.84 Aus diesem Grund kann das Kriterium des Rechts als „Koor-
dinierung“ der Freiheitssphären für Kant nur die Vernunft sein, der
rechtliche Zustand muss auf allgemeinen Konzepten der Vernunft basie-
ren. 85 Nur unter Voraussetzung einer allgemeinen Vernunft kann der
Einzelne sich nämlich zugleich als „Adressa[t]“ und „Mitbegründer“ des
Rechts verstehen.86 Dies ist wiederum notwendig, damit er nicht nur als
dem Recht unterworfen gedacht, sondern in seiner Autonomie aner-
kannt werden kann.87
Mit diesem Gedanken transformiert Kant die aufklärerische Idee des
Gesellschaftsvertrags. Der Gesellschaftsvertrag ist die „Idee einer mit
dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitu-
tion: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, verei-
nigt, gesetzgebend sein sollen“.88 Er ist also kein historisches Faktum,
sondern ein Test für die Kosmopolität von Zwangsgesetzen.89 Seine Idee
beinhaltet die „ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung über-
haupt“,90 die Freiheit von Personen allein auf die Bedingungen der Mög-
lichkeit allgemeiner Freiheit einzuschränken. Die Rechtsgesetze müssen
gemäß dieser Idee nicht als Einschränkung, sondern vielmehr als äußere
Verwirklichung der Autonomie des Rechtssubjekts verstanden werden.
Würde der Einzelne die Zwangsgesetze hingegen nur als äußeren Zwang
erfahren und sich nicht zugleich als Mitgestalter dieses Rechtsgesetzes
verstehen können, dann wäre es um seine Autonomie geschehen. Recht-
liche Autonomie besteht für den Menschen darin, „keinem anderen Ge-
setz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat“.91
Jedes Zwangsgesetz muss sich also gerade vor denen rechtfertigen kön-
nen, die von ihm betroffen sind. Diese Bedingung ist allein in einer kos-
mopolitischen Rechtsordnung realisiert.
Was Kants Rechtsphilosophie nun so originell macht, ist nicht die
Einsicht, dass sich rechtliche Normen überhaupt allgemeinverbindlich
84
MdS AA 6, 256f.; 312.
85
MdS AA 6, 312f.
86
Gierhake 2013, 86.
87
Gierhake 2013, 110.
88
SF AA 7, 90f.
89
MdS AA 6, 318f.; 342; TP AA 8, 297; 304; WA AA 8, 39; Neiman 1994, 121.
90
SF AA 7, 90f.
91
MdS AA 6, 314; vgl. ebenso: ZeF AA 8, 350; KpV AA 5, 37.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 119

rechtfertigen müssen. Damit hatten ja bereits die Naturrechtstheoretiker


die Notwendigkeit rechtlicher Normen begründet.92 Kants ursprüngli-
che Einsicht besteht vielmehr darin, dass diese Norm in der rein forma-
len Koordinierung der äußeren Freiheitssphären der Rechtssubjekte be-
steht. Dem Rechtszwang als „Verhinderung eines Hindernisses der Frei-
heit“93 kann nämlich jedes vernünftige Wesen zustimmen, das Interesse
an seiner Freiheit hat. Eben dieses Interesse macht den Rechtszwang
aber erst zum Problem (wer kein Interesse an freier Selbstbestimmung
hat, wird durch äußeren Zwang nicht gestört). Ein Gesetz, das der Ver-
hinderung von Freiheitsinteressen dient, genügt dem Kriterium kosmo-
politischer Publizität und der Idee des Gesellschaftsvertrages, weil jeder
Einzelne ihm gleichzeitig zustimmen kann und unterworfen ist. Das
heißt, jeder ist hier zugleich Subjekt und Objekt der Gesetzgebung.
Wir sehen nun, wieso Kant das Individuum im Recht als abstrakten
rationalen Akteur konzipieren muss: Ein Rechtssystem, in dem sich die
Rechtssubjekte immer auch als autonome Gesetzgeber verstehen kön-
nen, ist ohne die Annahme, dass selbige sich von ihren partikularen Inte-
ressen distanzieren können, gar nicht möglich. Denn Autonomie unter
Gesetzen setzt auf Seiten des Gesetzgebers wie auch der dem Gesetz un-
terworfenen Rechtssubjekte die Fähigkeit voraus, einsehen zu können,
welche Rechtsansprüche unter bestimmten Voraussetzungen verallge-
meinerbar sind (welche Gesetze also jeder Bürger über sich selbst be-
schließen kann) und welche nicht. Nur wenn die Gesetze diesen Charak-
ter der Verallgemeinerbarkeit aufweisen, kann sich das Individuum als
Subjekt des Rechts in einem doppelten Sinne verstehen: gleichzeitig als
Unterworfener und Konstituent des Rechts. Die „abstrakte Vernunft“
bezeichnet in diesem Sinne die Fähigkeit jedes Bürgers, allgemein akzep-
table Rechtfertigungen durch Abstraktion von den eigenen Partikularin-
teressen einsehen zu können, ohne die eine gerechte Koordinierung der
Freiheitssphären nicht möglich wäre. Gesteht man dem Individuum un-
abhängig von Geschlecht, Ethnie, Religionszugehörigkeit etc. diese Fä-
higkeit nicht zu, dann hätte der Einzelne entweder das Glück, in einer
Rechtsgemeinschaft zu leben, deren dominierende Gruppe seine Interes-
sen grundsätzlich teilt, oder das Pech, sich ihrem Willen unfreiwillig un-
terwerfen zu müssen. Insofern ist eine freie Ordnung nur dann denkbar,
wenn man dem Individuum neben seinem standortbedingten Privatwil-

92
Vgl. etwa: Wolff 1754, Vorrede 3.
93
MdS AA 6, 231; vgl. hierzu Guyer 2002, 52.
120 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

len noch einen öffentlichen oder allgemeinen Willen unterstellt,94 dem


alle im Staat ihre Zustimmung geben können. Dieser Wille muss aber
nicht als metaphysische Entität gedacht werden, sondern als Resultat in-
dividueller Reflexions- und Abstraktionsfähigkeit.
Es ist nun Ausdruck von Kants weiser Selbstbescheidung der Leis-
tungsfähigkeit der Vernunft, dass er den Gesetzgeber nur auf die Idee
(oder das Ideal) der reziproken Koordinierung der Freiheitssphären der
ihm unterworfenen Individuen verpflichtet. Diese Gesamtheit oder das
Individuum können dann nicht als zustimmend gedacht werden, wenn
deren Freiheit auf Kosten der Freiheitsexpansion anderer in nicht rezip-
roker Weise eingeschränkt wird. Ein Gesetz, dem das Volk bzw. einzel-
ne Individuen aus diesem Grund nicht zustimmen können, ist per se un-
gerecht.95 Die konkrete Ausgestaltung dieses Ideals ist jedoch teilweise
intrikat.
Auch Staaten, die grundsätzlich an der soeben skizzierten Idee einer
reziproken Anerkennung und Sicherung von Freiheitssphären orientiert
sind, sind nämlich immer gefährdet, faktisch den Allgemeinwillen mit
dem Privatwillen bestimmter Teile des Staats zu verwechseln. Deshalb
hat die Aufklärung nach Kant nicht nur die Aufgabe, allgemeine Grund-
lagen des Rechts darzulegen, sondern in einem zweiten Schritt konkrete
Gesetze und politische Entscheidungen am Maßstab der Idee des Rechts
zu prüfen. Denn sobald der öffentliche Wille privaten Interessen (und sei
es auch der Mehrheit der Bevölkerung) unterworfen wird, so ist dies
Despotie: Der öffentliche Wille wird von den Regierenden dann als
„Privatwille gehandhabt“. 96 Eine der zentralen Aufgaben philosophi-
scher Publizität ist deswegen die Aufklärung der Öffentlichkeit über sol-
che Konfusionen.
In diesem Aufklärungsprozess spielt die Öffentlichkeit der Vernunft
wiederum eine zentrale Rolle: Da Rechtsnormen der allgemeinen Zu-
stimmung der Rechtssubjekte bedürfen, müssen sie öffentlich gerechtfer-
tigt und kritisiert werden können.97 Aus diesem Grund beansprucht die
Philosophie von der staatlichen Macht freien Zugang zur öffentlichen
Meinung in Form von Publikationsfreiheit.98 Die Philosophen verzich-
ten dabei auf jegliche politische Macht, um an ihre Stelle allein die Auto-

94
Auch im Verhältnis der Völker zueinander nimmt Kant einen „a priori gegebene[n]
allgemeine[n] Wille[n]“ an, „der allein, was unter Menschen Rechtens ist, bestimmt“ (ZeF
AA 8, 378).
95
TP AA 8, 297.
96
ZeF AA 8, 352.
97
Gerhardt 1995, 33.
98
Gerhardt 1995, 34.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 121

rität der Vernunftgründe zu setzen. Da nun aber auch die Politiker die
Legitimität ihrer rechtlichen Normsetzungen und ihrer Handlungen vor
der Öffentlichkeit nur durch Rekurs auf Gründe rechtfertigen können,99
herrscht vor der öffentlichen Meinung bei gegebener Publikationsfreiheit
ein Machtgleichgewicht zwischen Philosophie und Politik.100 Die politi-
schen Machthaber müssen sich und ihre Politik deshalb der öffentlichen
Kritik und damit der Gesamtheit aller Betroffenen stellen.101 Aus Sicht
der Rechtssubjekte muss der öffentlichen Kritik des Rechts eine funda-
mentale Funktion zugeschrieben werden, weil das Recht nur in der
Sphäre öffentlicher Kritik aufgeklärt werden kann.102 Weil das Recht in
seinen philosophischen Grundlagen kosmopolitisch ist, rechtfertigt der
Philosoph seine Aufklärung des institutionalisierten Rechts dabei virtuell
immer vor der gesamten Weltöffentlichkeit.103 Denn nur vor der virtuel-
len Weltöffentlichkeit kann gerechtfertigt werden, ob das positive Recht
dem Anspruch genügt, dass sich die ihm unterworfenen Rechtssubjekte
zugleich als seine autonomen Urheber verstehen können. Publizität wird
deshalb bei Kant „zur notwendigen Bedingung des Rechts“:104

Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich
nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.105

Fassen wir zusammen: Sowohl in der Erkenntnis als auch im Recht und
in der Moral sind Aufklärung, der Anspruch auf Universalität,
Kosmopolität und Autonomie für Kant eng verbunden. Entgegen der
eingangs skizzierten Kritik an der Aufklärung wird mit dieser
Kosmopolität jedoch nicht die Bedeutung der sozialen Bindungen des
Individuums negiert. Vielmehr hat sich gezeigt, dass das Individuum
nach Kant nur in einer kosmopolitisch verfassten Rechtsordnung seine
durch diese Bindungen bestimmten Vorstellungen von einem guten Le-
99
Gerhardt 1995, 40.
100
Gerhardt 1995, 101.
101
Gerhardt 1995, 101; 108.
102
Die „Freiheit der Feder“ ist deshalb „das einzige Palladium der Volksrechte“ (TP
AA 8, 304). Dabei hat Kant primär die universitären Philosophen im Auge. Diese vermit-
teln als freie Lehrer des Rechts (im Gegensatz zu den die positive Rechtsordnung bloß
auslegenden Juristen) (SF AA 7, 89) zwischen der Allgemeinheit und den Herrschern, um
letztere über die Rechte von ersterer aufzuklären (Deligiorgi 2005, 76f.). Allerdings
scheint Kants Forderung nach bloßer Freiheit des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu an-
spruchslos, da dieser sich auch in Handlungen niederschlagen muss und bestimmter
Kommunikationsmittel bedarf (O’Neill 1986, 529).
103
Gerhardt 1995, 196.
104
Gerhardt 1995, 198.
105
ZeF AA 8, 381.
122 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

ben frei entfalten und in einem kosmopolitischen Reich der Zwecke op-
timal realisieren kann.

B. Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer


Vernunftgebrauch

In den vorangehenden Abschnitten ging es uns wesentlich um die Kom-


patibilität von Kants Universalitätsanspruch mit der Anerkennung der
sozialen Bindungen des Individuums in seiner jeweiligen epistemischen,
moralischen und rechtlichen Dimension. Wir sahen dabei, dass Kants
kosmopolitische Rechts- und Moralkonzeption individuelle Zweckset-
zungen, die durch den historischen, religiösen und kulturellen Stand-
punkt des Individuums bedingt sind, nicht nur nicht ausschließt, son-
dern in verallgemeinerbarer Weise erst ermöglicht (Recht) bzw. positiv
befördert (Reich der Zwecke), sofern diese mit den Zwecksetzungen
Dritter kompatibel sind. In diesem Abschnitt wollen wir nun die für
Kant notwendige Verbindung von kosmopolitischem Vernunftgebrauch,
Aufklärung und Autonomie genauer analysieren. Dazu gehen wir in
zwei Schritten vor: Zunächst betrachten wir das Verhältnis von öffentli-
chem Vernunftgebrauch und Autonomie der Vernunft (I). Anschließend
setzen wir uns mit Kants Maxime der erweiterten Denkungsart ausei-
nander (II).

I. Aufklärung als öffentlicher Vernunftgebrauch

Aus kantischer Perspektive steht mit der Möglichkeit allgemeingültiger


universeller Urteile das Aufklärungsprojekt selbst auf dem Spiel. Denn
Urteile erfüllen für Kant nur dann die Bedingung von Publizität, wenn
sie sich prinzipiell an die gesamte Weltöffentlichkeit richten. Diesen öf-
fentlichen Vernunftgebrauch des Weltbürgers unterscheidet Kant vom
privaten Vernunftgebrauch eines Geistlichen in seiner Predigt oder eines
Organs der Rechtspflege bei Gericht. Letzteren kommt es nach Kant
nicht zu, die jeweilige positive Ordnung (also die kirchlichen Dogmen
oder das positive Rechtssystem) aufzuklären, insofern sie als deren
Funktionsträger tätig sind. In dieser Funktion richten sie sich nämlich
nicht als Weltbürger an die durch alle Menschen konstituierte Weltöf-
fentlichkeit, sondern als Repräsentanten einer positiven Ordnung an ei-
nen durch diese Ordnung konstituierten Adressatenkreis. So richtet sich
der Richter in seiner staatlichen Funktion nicht an den Bürger als Welt-
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 123

bürger, sondern an den Bürger als Rechtssubjekt einer geltenden


Rechtsordnung. Sein privater Vernunftgebrauch ist deshalb durch die
Autorität der positiven Rechtsordnung bestimmt und limitiert, die er in
seinem Amt repräsentiert und als deren Subjekt sich der Adressat seiner
Urteile begreift.1 So kann sich der Richter in seinem Urteil nicht an die
Weltöffentlichkeit richten, da er in seinem Amt ausschließlich Vollzugs-
organ eines für ihn nicht mehr hinterfragbaren positiven Rechtssystems
ist.2 Die Autorität seines Urteils verdankt sich ausschließlich der Autori-
tät des positiven Rechts und kann deshalb auch nur für solche Subjekte
verbindlich sein, die dieser Autorität unterworfen sind. Das Auditorium
des privaten Vernunftgebrauchs ist also durch eine positive Autorität
festgelegt. Der Kommunikationsakt, der selbige voraussetzt, scheitert
deshalb in Bezug auf alle, die nicht dieser Autorität unterworfen sind.3
Im Falle öffentlicher Aufklärung sollen hingegen sowohl der Aufklä-
rende als auch seine Adressaten keiner ihnen äußeren Autorität und da-
mit keinen positiven Setzungen, sondern nur der Autorität ihres eigenen
Vernunftgebrauchs unterworfen sein. Der Aufklärer muss dabei seine
öffentlichen Urteile schon deshalb rechtfertigen, da sie nach Kant An-
maßungen gegenüber ihren Adressaten (und damit der gesamten Weltöf-
fentlichkeit) sind.4 In seinem öffentlichen Urteil verlangt der Aufklärer
nämlich von seinen Adressaten Zustimmung, und dieser Anspruch ist
nur dann legitim, wenn sich der Adressat nicht der Autorität des Urtei-
lenden unterwerfen muss, sondern sich zugleich selbst als die das Urteil
begründende Autorität verstehen kann. Die einzige Autorität, auf die der
Aufklärer sich dabei berufen kann, ist die der Vernunft, da diese kein
Handlungs- oder Denkprinzip in Anspruch nimmt, das nicht für alle
Mitglieder der Weltgemeinschaft verbindlich wäre.5 Öffentlich erhobene
Geltungsansprüche müssen sich deshalb vor der Vernunft jedes mensch-
lichen Subjekts rechtfertigen können. 6 Jeder legitime öffentliche Ver-
nunftgebrauch ist damit im eigentlichen Sinne Aufklärung, weil er auf
keine andere Autorität rekurriert als das Selbstdenken seiner Adressaten

1
Deligiorgi 2005, 63; O’Neill 1986, 530.
2
Der private Vernunftgebrauch ist also in der Tat ein privativer und unvollständiger
Modus des Vernunftgebrauchs, da der Kommunikation hier eine unausgesprochene Beru-
fung auf eine Autorität zu Grunde liegt (O’Neill 1989, 17; dies. 1992b, 298; Deligiorgi
2005, 63f.).
3
O’Neill 1989, 34.
4
Prol AA 4, 277. Schon der Terminus der „‚Rechtmäßigkeit‘ eines Urteils“, die garan-
tiert sein muss, zeigt an, dass es sich hierbei um eine ethische Verpflichtung handelt (KU
AA 5, 280).
5
O’Neill 1989, 20; 35.
6
Habermas 1988, 29; Brandt 2003b, 49.
124 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

und damit die Aufforderung zum Selbstdenken impliziert. 7 Ohne die


Möglichkeit eines solchen autonomen Vernunftgebrauchs könnte nach
Kant niemals ein aufgeklärtes Volk entstehen, weil die Mitglieder des
Volkes dann bestenfalls belehrt, aber nicht aufgeklärt würden.8
Der soeben eingeführte Unterschied zwischen Belehrung und Aufklä-
rung ist konstitutiv für die Möglichkeit von Aufklärung als Befreiung
zum Selbstdenken: Der Belehrte wird durch Unterricht nur nach einem
fremden System gebildet, das er auf Grund fremder Autorität anerkennt.
Der Aufgeklärte hingegen besitzt Vernunfterkenntnisse, die immer einen
Bezug auf die „allgemeinen Quellen der Vernunft“ 9 voraussetzen, die
zugleich Prinzipien der je eigenen Vernunft des Aufgeklärten sind.10 Ge-
genüber dem fremden Urteil des Belehrenden verhält sich das belehrte
Subjekt passiv, das Urteil des Aufklärers muss das aufgeklärte Subjekt
dagegen zugleich als Resultat seines eigenen Vernunftgebrauchs aktivisch
nachkonstruierten können.11
Aufklärung ist also nur möglich als aktivische Aneignung von Über-
zeugungen. In diesem Aneignungsakt kann der Mensch keinen anderen
Richter über sich anerkennen als die universale Vernunft.12 Die Aufklä-
rer repräsentieren nur dieses Richteramt. In diesem Amt ist ihr einziges
Interesse, das aufgeklärte Subjekt um seiner eigenen Autonomie willen
über sich selbst aufzuklären. 13 In dieser Selbstaufklärung besteht für
Kant das Projekt der Aufklärung.14 Der Aufklärer muss deshalb in sei-
nem öffentlichen Vernunftgebrauch über die Gründe Rechenschaft ab-
geben, unter denen sein Urteil zustande gekommen ist, damit seine Ad-
ressaten es sich in freier Weise zu eigen machen können. Dies ist aber
nur dann möglich, wenn diese Gründe auf für jedes vernünftige Subjekt

7
O’Neill 1986, 531f.
8
O’Neill 1986, 528; Recension Schulz AA 8, 14; KrV B 848ff./A 820ff.
9
KrV B 864f./A 836f.; Prol AA 4, 255.
10
KrV B 864/A 836.
11
Kants Anforderung an die Aufklärung wird auch in der Unterscheidung zwischen
Überzeugung und Überredung deutlich: Überzeugung ist ein für jedes menschliche Sub-
jekt gültiges Fürwahrhalten aus objektiven Gründen. Überredung ist hingegen ein bloßer
Schein, bei dem ein subjektiver Grund für objektiv und damit allgemeingültig ausgegeben
wird (KrV B 848ff./A 820ff.; KpV AA 5, 13; vgl. Schmucker 1990, 15). Sofern der Aufklä-
rungsdiskurs auf solche bloß subjektiven Voraussetzungen rekurriert, werden die Adres-
saten unter Vortäuschung der Objektivität der vorgebrachten Gründe also nur überredet.
Diese Überredung widerspricht der Idee der Aufklärung, da sie den autonomen Verstan-
desgebrauch des überredeten Subjekts negiert.
12
KrV B 780/A 752.
13
KrV B 774f./A 746f.
14
Vgl. KrV B 775/A 747.
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 125

notwendig gültige Prinzipien rekurrieren. 15 Der öffentliche Aufklä-


rungsdiskurs kann also nur von solchen Prinzipien reguliert werden, de-
nen sich die Teilnehmer deshalb unterwerfen, weil sie sich diese auf
Grund ihrer Vernunft bzw. ihres Verstandes selbst gegeben haben. 16
Ohne die Voraussetzung der Wirklichkeit solch allgemeingültiger Re-
geln wären ein freier öffentlicher Aufklärungsdiskurs und Aufklärung
selbst von vornherein unmöglich. Würden Urteile nur auf nicht weiter
begründbaren, historisch oder kulturell bedingten Prinzipien gründen,
würde von den Adressaten nämlich implizit gefordert, sich diesen Re-
geln, die sie sich nicht in autonomer Weise selbst geben, zu unterwerfen.
Dies widerspräche der Maxime der Aufklärung, sich seines eigenen Ver-
standes zu bedienen. An die Stelle dieser Maxime würde die Forderung
treten, sich zumindest partiell fremden Autoritäten zu unterwerfen.
Damit würde die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem
Vernunftgebrauch unterwandert. Eben damit würde aber das ganze kan-
tische Aufklärungsprojekt zusammenbrechen.
Die Notwendigkeit universell gültiger Prinzipien für die Möglichkeit
von Aufklärung im kantischen Sinne lässt sich auch noch unter einem
anderen Gesichtspunkt entwickeln: Kants Aufforderung zum Selbstden-
ken impliziert, dass jedes menschliche Subjekt sich die Urteile innerhalb
des Aufklärungsdiskurses selbst zuschreiben kann. Indem ich ein allge-
meingültiges Urteil fälle, verpflichte ich nicht nur alle anderen Subjekte,
sondern auch mich selbst, immer so zu urteilen, wie ich jetzt urteile –
unabhängig von meiner kontingenten Beschaffenheit. Indem ich mich als
autonomes Urteilssubjekt betrachte, unterwerfe ich mich einer Norm,
die ich mir selbst gegeben habe, und unterstelle, dass ich dieser genügen
kann.17 Als empirisches Subjekt und Gegenstand innerer Anschauung ist
der Mensch jedoch nur Erscheinung und damit den Naturgesetzen un-
terworfen. Als empirisches Urteilssubjekt müssen deshalb auch die fakti-
schen Urteile und Überzeugungen eines Individuums Resultat kausaler
Determination sein. Die Forderung zum Selbstdenken kann deshalb
nicht ausschließlich den psychischen Urteilsakt des jeweiligen empiri-
schen Ichs meinen, das Produkt kausaler Gesetzmäßigkeit ist. Die (asso-
ziativen) Verbindungen von Vorstellungen, sofern sie nur vom empiri-

15
KrV B 642/A 614.
16
Denkfreiheit besteht so nach Kant darin, dass das Denken sich nach jederzeit gülti-
gen, objektiven Gründen bestimmen kann und nicht durch kontingente, nur subjektiv
bestimmende Ursachen determiniert wird (Recension Schulz AA 8, 14). Insofern lässt sich
der kategorische Imperativ auf das Denken übertragen: Im Denken sollen wir nur auf
Grund solcher Prinzipien verfahren, die andere teilen können (O’Neill 1989, 25).
17
Dieser Gedanke wird entwickelt von Ginsborg 1990, 154.
126 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

schen Ich vollzogen werden, sind gerade Produkt der Determination des
empirischen Ichs. Spontane und damit autonome Verknüpfungen kann
das Ich hingegen nur vollziehen, sofern es als transzendentales Ich ver-
standen wird. Die Selbstzuschreibung einer Überzeugung als frei her-
vorgebrachtes Urteil setzt deshalb die Verknüpfung von Vorstellungen
durch das transzendentale Ich nach von diesem Ich selbst erzeugten Re-
geln voraus. Die Möglichkeit der Selbstzuschreibung eines Urteilsakts
kann nicht nur unter der Bedingung empirischer Subjektivität erfolgen,
sondern impliziert die transzendentale Einheit der Apperzeption, die
Kant als den Verstand selbst bestimmt.
Kants Aufklärungsmodell, das verlangt, dass das Subjekt sich als Ur-
sprung seiner eigenen Gedanken verstehen kann, setzt also sein Apper-
zeptionsmodell voraus.18 Sich in seinem Urteil seines Verstandes zu be-
dienen bedeutet, ein Urteil ausschließlich unter den Bedingungen der
transzendentalen Einheit der Apperzeption zu vollziehen. 19 Dieses
Selbstbewusstsein ist mitsamt seinen Kategorien bzw. Urteilsformen
aber strukturell mit dem jedes anderen Subjektes identisch.20 Deshalb ist
eine Erkenntnis, wenn es sich wirklich um eine solche handelt, zugleich
meine und universell gültig. Umgekehrt ist nur eine solche Erkenntnis
allgemeingültig, die ich wirklich in dem Sinne als meine verstehen kann,
dass der Grund dieser Erkenntnis in meinem Verstand liegt. Selbstden-
ken im strengen Sinne bedeutet damit zugleich, an der Stelle jedes ande-
ren zu denken. Diese meine Erkenntnis mag an mein Selbstbewusstsein
und meinen Verstandes- und Vernunftgebrauch zurückgebunden sein,
denn sonst könnte ich gar nicht von meinem Denken sprechen, aber als
reine Vernunft und reiner Verstand sind Verstand und Vernunft in ihren
Operationen nur insofern von denen anderer Subjekte unterschieden, als
diese Operationen in meinem Selbstbewusstsein und nicht in dem eines
anderen Subjekts gegründet sind. Strukturell sind diese Vollzüge und die
vollziehende Instanz identisch. Wir sehen also, dass Aufklärung als öf-
fentlicher Vernunftgebrauch, der an autonome Subjekte adressiert ist,
ohne Voraussetzung universeller Erkenntnisstrukturen für Kant gar
nicht möglich ist.

18
Merritt 2011b, 70.
19
Auch bei nicht autonomen Urteilen ist freilich die transzendentale Apperzeption mit
im Spiel, da sie notwendige Bedingung für die empirische Begriffsbildung ist (Longuenes-
se 1998, 53; 165).
20
So, wie es auch nur eine reine Vernunft gibt (MdS AA 6, 207).
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 127

II. Die Maxime der erweiterten Denkungsart

In den vorangehenden Überlegungen sollte die zentrale Stellung des öf-


fentlichen oder weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs für Kants Aufklä-
rungsprojekt deutlich geworden sein. Da Kant den Begriff „öffentlicher
Vernunftgebrauch“ in normativer Weise verwendet, also damit einen
Anspruch an das formuliert, was jemand öffentlich machen sollte,21 wol-
len wir jetzt noch einmal die Frage nach dem Kriterium dieser Norm
vertiefen, das in gewisser Weise ambig ist. Für O’Neill besteht dieses in
der tatsächlichen Universalisierbarkeit öffentlicher Urteile.22 Demgegen-
über wäre das Kriterium tatsächlicher Universalisierbarkeit als Bedin-
gung von Publizität nach Deligiorgi zu anspruchsvoll und trügerisch für
eine produktive Anwendung.23 Für letzteres spricht die Bedeutung der
Maxime „erweiterter Denkungsart“,24 die von uns fordert, „[a]n der Stel-
le jedes andern [zu] denken“.25 Sie fordert das urteilende Subjekt auf,
sich über „die subjectiven Privatbedingungen“ seines Urteils zu erheben
und sich auf den Standpunkt anderer Menschen zu versetzen. 26 Dazu
muss es von seinem individuellen Urteilsstandpunkt zu einem universel-
len Standpunkt übergehen, der alle rationalen Wesen einschließt.27 Erst
dadurch, dass das Subjekt in der Reflexion auf sein eigenes Urteil die
Perspektive Anderer einnimmt, kann es nach Kant über die Allgemein-
gültigkeit seines Urteils befinden.28 Deshalb ist die Annahme, die eigene
Erfahrung müsse und könne nicht durch andere korrigiert werden, auch
ein „Merkma[l] der Verrückung“ und nicht des aufgeklärten Selbstden-
kens.29
Die Maxime erweiterter Denkungsart fordert uns also auf, unsere Ur-
teile der Korrektur durch Dritte zu unterwerfen. Damit scheint aber die
Universalität nicht Voraussetzung von Publizität zu sein, sondern um-
gekehrt Publizität die Voraussetzung dafür, sich der universellen Gültig-
keit seiner Urteile zu versichern bzw. diese überhaupt herstellen zu kön-

21
Deligiorgi 2002, 144f.
22
Vgl. hierzu: O’Neill 1989 25; 46f.
23
Deligiorgi 2002, 146. Vgl. ebenso: Neiman 1994, 98.
24
KU AA 5, 295.
25
KU AA 5, 294. Diese Maxime führt Kant als Ergänzung der „Maxime der aufgeklär-
ten Denkungsart“, nämlich jederzeit selbst zu denken, ein.
26
KU AA 5, 294f.; vgl. hierzu auch Scholz 2009, 36.
27
Deligiorgi 2012, viii.
28
KU AA 5, 294f.
29
Refl 505 AA 15, 219.
128 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

nen.30 Das urteilende Subjekt muss sich gemäß dieser Maxime also den
Urteilen anderer als äußeres Kriterium für die Richtigkeit seiner eigenen
Urteile zuwenden.31 Da wir als empirische Wesen zwar vernünftig, aber
nicht die Vernunft selbst sind und deshalb unsere Vorurteile leicht mit
allgemeingültigen Gründen verwechseln, gibt es kein anderes Mittel, uns
Gewissheit über die Wahrheit unserer Urteile zu verschaffen, als die
Vergleichung mit den Urteilen anderer.32
Die Maxime erweiterter Denkungsart macht deutlich, dass noch unser
eigenes Selbstdenken unter den Bedingungen der Publizität steht.33 Nur
durch ihre Berücksichtigung können wir uns vergewissern, tatsächlich
die Maxime aufgeklärten Denkens befolgt und selbst gedacht zu haben.
Für das menschliche Individuum ist die öffentliche Kommunikation mit
anderen Menschen und die Rechtfertigung des eigenen Urteils vor ihnen
insofern eine Methode, sich des eigenen Selbstgedachthabens zu versi-
chern. 34 Die Befolgung der zweiten Maxime beugt insofern der Ver-
wechslung echten Selbstdenkens mit dem von Kant kritisierten logischen
Egoismus vor. Während sich der Selbstdenker seines eigenen Verstandes
bedient und also im Urteil zwei Vorstellungen nach notwendigen Geset-
zen im transzendentalen Subjekt verknüpft, assoziiert der logische Ego-
ist zwei Vorstellungen in seiner empirischen Subjektivität.35 Als kognitiv
unvollkommenes Wesen ist diese Verwechslung für den Menschen zu-
mindest immer eine Möglichkeit. Fordert die eine Maxime deshalb den
eigenen Verstandesgebrauch, so fordert die andere die kognitive Unter-
mauerung der Allgemeingültigkeit und des Selbstgedachthabens in der
Kommunikation mit anderen.36
Das hermeneutische Problem ist nun aber, dass Kants Forderung,
vom Standpunkt jedes anderen vernünftigen Subjekts aus zu denken,
wiederum eine gewisse Ambiguität impliziert: Einerseits scheint er mit
30
Bartuschat 2009, 13f. Nach O’Neill ist Kants Forderung, an der Stelle jedes anderen
zu denken, deshalb nur in sehr verzerrter Weise als „dialogisch“ zu kennzeichnen, da
Kant dies nicht als Forderung nach einem tatsächlich stattfindenden Reflexionsprozess auf
die Überzeugungen anderer verstehe (O’Neill 2001, 47).
31
Anth AA 7, 128; Allerdings folgt aus der Nichtübereinstimmung nicht, dass man
seine Urteile unbedingt verwerfen müsse. Vgl. hierzu: Log AA 9, 57; Scholz 2009, 36.
32
Natürlich ist die faktische Übereinstimmung aller bekannten Urteilenden kein posi-
tives Kriterium für die Allgemeinheit des Urteils, da sie ja ebenso auf einem kollektiven
Vorurteil beruhen könnte, sondern nur ein negatives Kriterium für die Gewissheit der
Wahrheit der eigenen Urteile (Anth AA 7, 129).
33
Arendt 1992, 40.
34
Deligiorgi 2002, 151; Arendt 1992, 42; vgl. AA 10, 122; WDO AA 8, 144; SF AA 7,
32.
35
Letzteres kritisiert Kant an Herder (Recension Herder AA 8, 45).
36
KrV B 849/A 821.
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 129

den anderen Subjekten andere Individuen zu meinen, andererseits alle


möglichen vernünftigen Subjekte.37 Die Forderung im ersten Sinne wür-
de implizieren, die faktischen Differenzen zwischen unseren Urteilen
und denen anderer Subjekte zu erwägen und vermittels eines öffentli-
chen Kommunikationsprozesses unser Urteil entsprechend zu korrigie-
ren. Die Forderung im zweiten Sinne zu erfüllen wäre nur möglich,
wenn man von den faktischen Differenzen als subjektiven Privatbedin-
gungen (und damit Einschränkungen der Allgemeingültigkeit) eines Ur-
teils a priori absehen könnte. Diese Ambiguität lässt sich jedoch dadurch
auflösen, dass Kant jeweils einen anderen Typus von Urteilen im Sinn
hat: im einen Fall Urteile, die ausschließlich auf Bedingungen a priori be-
ruhen, im anderen Fall Urteile, die Erfahrung zur Voraussetzung haben.
In Bezug auf die a priorischen Bedingungen eines Urteils kann es kei-
ne Meinungen geben, sondern nur apodiktische Gewissheit.38 Insofern
schließt das urteilende Subjekt im Urteil a priori alle möglichen Urteils-
subjekte in sein Urteil ein und nimmt einen kosmopolitischen Stand-
punkt ein. Wo immer aber Erfahrung für unsere Urteile relevant ist,
kommt sofort die Kontingenz des Empirischen und damit das Fehlen
apodiktischer Evidenz ins Spiel. Das Kriterium, als Stellvertreter für alle
möglichen Urteilssubjekte zu urteilen, ist also ausschließlich bei Urteilen
a priori möglich, weil diese keine Wahrscheinlichkeit zulassen, sondern
entweder notwendig begründet oder völlig unbegründet sind. In Bezug
auf diese Urteile ist Öffentlichkeit keine notwendige Bedingung zur
Herstellung der Universalität eines Urteils, sondern hier ist die Univer-
salität Bedingung von Publizität. Eben dies trifft auf Kants transzenden-
tale Grundlegung der Aufklärung, sowie auf alle metaphysischen, ma-
thematischen und rein sittlichen Urteile zu.39 Hier gelten gerechtfertigte
Urteile mit absoluter Notwendigkeit. Die Begrenztheit unserer indivi-
duellen Erfahrung ist für diese Urteile irrelevant, da sie die Bedingungen
der Möglichkeit menschlicher Erfahrung formulieren.
Könnten alle öffentlichen Urteile auf diese Weise den Status weltbür-
gerlichen Vernunftgebrauchs erlangen, dann wäre das philosophische
37
„Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sin-
nes, d. i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die
Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an
die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu ent-
gehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden
könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun da-
durch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche
Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt“ (KU AA 5, 293f.).
38
KrV B 803/A 775.
39
KrV B 850f./A 822f.
130 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Aufklärungsprojekt mit seiner transzendentalen Grundlegung bereits


abgeschlossen. Denn empirische Urteile implizieren auf Grund der Kon-
tingenz des Empirischen immer einen Grad an Ungewissheit. Erfah-
rungsurteile wie auch empirische Gesetze der Natur lassen sich nicht
unmittelbar durch Rekurs auf die transzendentalen Strukturen des Be-
wusstseins begründen, sondern rekurrieren notwendig auf Erfahrung.
Diese Erfahrung ist aber notwendig limitiert. Denn das Weltganze ist
nicht einmal der Möglichkeit nach Gegenstand menschlicher Erfahrung.
Die Erfahrung jedes konkreten Individuums ist immer ein beschränkter
Teilausschnitt möglicher Erfahrung. Zugleich ist diese Erfahrung aber
konstitutiv für Erfahrungsurteile. Das heißt, selbst wenn notwendige
Prinzipien den empirischen Urteilen und Gesetzen zu Grunde liegen,
dann kommt den konkreten empirischen Urteilen ein Grad an Kontin-
genz zu, weil diese die notwendigen Begriffe und Gesetze mit kontin-
genten Erfahrungen kombinieren. Für solche Urteile wäre tatsächliche
Universalisierbarkeit als Bedingung von Publizität zu anspruchsvoll. Die
transzendentalen Strukturen unseres Bewusstseins rechtfertigen zu-
nächst einmal nur, dass wir als eine Art Minimalforderung überhaupt
den Anspruch erheben können, Urteile mit Allgemeinheitsanspruch zu
fällen, aber nicht eine „prästabilierte Harmonie der Meinungen“.40 Er-
fahrung lehrt eben nur, was da ist und wie es da ist, und zwar für dieje-
nigen, die diese Erfahrung gemacht haben. Sie lehrt aber nie, dass diese
Erfahrung notwendig für jedes andere vernünftige Subjekt ist.41
In Bezug auf alle auch nur partiell erfahrungsbasierten Urteile muss
die Maxime der erweiterten Denkungsart deshalb als operative Formel
verstanden werden, die einen Vergleich unserer Urteile mit denen ande-
rer als notwendiges Kriterium zur Überprüfung ihrer Allgemeingültig-
keit fordert.42 Universalität kann bei erfahrungsbasierten Urteilen nicht
die Voraussetzung kosmopolitischer Publizität sein, weil die Öffentlich-
keit hier der Raum ist, in dem die eigenen Erfahrungen (oder auch Expe-
rimente) mit denen anderer verglichen werden können. Die Auseinan-
dersetzung mit den tatsächlichen Urteilen anderer muss erst zeigen, ob
unser eigenes Urteil allgemeingültig und objektiv begründet ist.43
Wir können also folgenden Unterschied festhalten: Bei Urteilen a
priori ist Universalität Voraussetzung von Publizität, bei empirischen
Urteilen hingegen ist Publizität die Voraussetzung von Universalität.
Damit treten bei empirischen Urteilen die Maxime der Aufklärung und
40
Deligiorgi 2005, 91.
41
Prol AA 4, 294.
42
Refl 2272 AA 16, 294.
43
KrV B 849/A 821.
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 131

der erweiterten Denkungsart in ein Spannungsverhältnis, weil man den


Urteilen anderer eine Autorität für das eigene Urteil zugestehen muss.
Gleichzeitig können auch unter Berücksichtigung der zweiten Maxime
Erfahrungsurteile niemals die möglichen Urteile aller anderen Subjekte
mit einbeziehen, denn auch die Integration noch so vieler Erfahrungsur-
teile garantiert nie, dass die mögliche Erfahrung eines anderen Individu-
ums dem eigenen Erfahrungsurteil nicht widerspricht.44
Im folgenden Abschnitt wollen wir nun zeigen, dass Kant für empiri-
sche Urteile spezielle Rahmenbedingungen etabliert, die Voraussetzung
ihrer Publizität sind. Im Hinblick auf die zeitgenössische Kritik an Kants
Forderung eines kosmopolitischen Vernunftgebrauchs sind die empiri-
schen Urteile, die Bedingungen unserer theoretischen Weltorientierung
und insofern aufklärungsrelevant sind,45 sowie deren Rahmenbedingun-
gen deshalb von besonderem Interesse. Denn Kant setzt sich hier explizit
zur Partikularität und Standortgebundenheit unserer menschlichen Er-
fahrungen in ein Verhältnis.

44
Diese Einsicht lässt sich nun auch auf den Rechtsdiskurs übertragen: Die metaphysi-
schen Grundlagen des Rechts formulieren nur die nicht verhandelbaren Grundlagen einer
Rechtsgemeinschaft, in der alle Mitglieder in ihrer Freiheit anerkannt werden. Darüber
hinausgehende Bestimmungen sind hingegen im öffentlichen Diskurs verhandelbar.
45
WDO AA 8, 140.
132 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

C. Die Minimalbedingungen des weltbürgerlichen


Vernunftgebrauchs

In allgemeingültigen empirischen Urteilen soll ein Gegenstand in all-


gemeingültiger Weise bestimmt und damit ein objektiver Sachverhalt
ausgedrückt werden. Empirische Urteile bezüglich der Eigenschaften ei-
nes Objekts wie etwa „Wasser ist schwerer als Fett“ fällen wir mit apo-
diktischem Anspruch und implizieren damit die Forderung, dass jeder
diesem Urteil zustimmen sollte.
Diese Forderung ist aus kantischer Sicht jedoch intrikat, da empirische
Urteile notwendig auf kontingenter Erfahrung beruhen.1 Wie syntheti-
sche Urteile a priori erheben Erfahrungsurteile also den Anspruch auf
Allgemeingültigkeit und universelle Zustimmung, obwohl sie zumindest
teilweise auf Erfahrung basieren. Das wirft die Frage auf, mit welchem
Recht wir diesen Anspruch öffentlich machen können. Zu behaupten,
dass dies genau dann der Fall ist, wenn die empirischen Urteile wahr
sind, wäre nicht nur tautologisch, sondern unsinnig.2 Als Kriterium wäre
es weder hinreichend, da auch wahre Urteile unzulänglich begründet
sein können, noch der empirischen Forschung zuträglich, da wahre Ur-
teile häufig erst Resultat eines öffentlichen Diskurses sind.
Ebenso unattraktiv ist die Alternative, dass sich empirische Urteile,
sofern sie publikabel sind, nach Kant aus den Anschauungs- und Ver-
standesformen a priori deduzieren lassen. 3 Denn die transzendentalen
Bewusstseinsstrukturen determinieren unsere Erkenntnis nicht vollstän-
dig, da ansonsten nicht verständlich wäre, wieso Kant öffentliche Kom-
munikation zur Voraussetzung allgemeingültiger Urteile macht:4 Da un-
sere Erfahrung notwendig begrenzt ist, können wir sie nur dadurch er-
weitern, dass wir sie mit der anderer vergleichen. Insofern kann dann
auch mit Kant der historistischen und kulturtheoretischen Aufklärungs-
kritik bedingt Recht gegeben werden, dass die Aufklärer der Legitimität
der Erfahrungen anderer Zeiten und Kulturen nicht ausreichend Rech-
1
KrV A 1f.; KrV B 762/A 734.
2
Zammito 1992, 54.
3
So unterstellt Kant nach McCarthy eine Art prästabilierter Harmonie aller (sinnli-
chen) Vernunftwesen. Die transzendentalen Strukturen des menschlichen Bewusstseins
sollen garantieren, dass jedes menschliche Subjekt trotz faktisch unterschiedlicher Erfah-
rung zuletzt auch dieselben empirischen Urteile fällen müsse. Historismus, Kulturtheorie
und Pragmatismus hätten jedoch die Unhaltbarkeit dieser Annahme gezeigt (McCarthy
1995, 246). Kants Aufklärungskonzeption müsste deshalb mit Habermas’ Theorie kom-
munikativen Handelns „detranszendentalisiert“ werden (ibid., 253f.; vgl. ausführlich De-
ligiorgi 2005, 91).
4
Deligiorgi 2005, 91.
Minimalbedingungen 133

nung getragen haben, sondern die eingeschränkte Erfahrung des gebilde-


ten, christlichen Europäers hypostasiert haben.5
Im Folgenden begründen wir jedoch, dass Kant entgegen dieser Kritik
zu zeigen versucht, dass öffentliche Kommunikation auch bei empiri-
schen Urteilen noch unter transzendentalen Rahmenbedingungen öf-
fentlichen Vernunftgebrauchs stehen muss, damit die Teilnehmer des öf-
fentlichen Diskurses als autonome Subjekte an diesem teilnehmen kön-
nen. Ein freier, „kosmopolitischer“ Aufklärungsdiskurs setzt für Kant
eine transzendentale Grundlegung voraus. Dazu werden wir in diesem
Abschnitt zunächst die transzendentalen Minimalbedingungen für
publikable Urteile analysieren, aber auch ihre Unzulänglichkeit als hin-
reichende Bedingungen für einen öffentlichen Diskurs autonomer Sub-
jekte. Dabei unterscheiden wir die durch den Verstand gesetzten Rah-
menbedingungen der Kommunikation (I) von den durch die Vernunft
gesetzten Fluchtpunkten selbiger (II). Als Bedingung der Möglichkeit
muss abschließend mit der reflexiven Urteilskraft und ihrem Prinzip der
Zweckmäßigkeit noch eine weitere Bedingung untersucht werden, unter
der allein ein solcher Diskurs möglich ist (III).

I. Die apriorischen Rahmenbedingungen publikabler Urteile

Resümieren wir noch einmal das Problem, das wir im Folgenden thema-
tisieren wollen: Die Möglichkeit, Urteile a priori in den öffentlichen
Aufklärungsdiskurs einzubringen ist innerhalb des kantischen Paradig-
mas unproblematisch, weil sie per se allgemeingültig sind. Nun machen
empirische Urteile jedoch einen wesentlichen Teil dieses Diskurses aus.
Erfahrung ist aber notwendig limitiert und damit sind a posteriorische
Urteile nicht im gleichen Sinne allgemeingültig. Die Frage, die sich uns
stellt, ist also, unter welchen Bedingungen auch empirische Urteile in
den weltbürgerlichen Aufklärungsdiskurs eingebracht werden können.
Zunächst diskutieren wir hierzu nun die Kategorien als durch den Ver-
stand gesetzte transzendentale Rahmenbedingungen weltbürgerlicher
Kommunikation.
Erfahrung und Erfahrungsurteile sind bekanntlich nach Kant nur
möglich unter der Voraussetzung der Kategorien. Da diese Kategorien
sich nicht unmittelbar auf zeitlich-räumliche Anschauungen beziehen
können, bedarf es noch der Schematismen der Verstandesbegriffe, die
zwischen den reinen Verstandeskategorien und den zeitlich-räumlichen

5
Schulte 2002, 25.
134 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Anschauungen notwendig vermitteln und überhaupt erst eine Applikati-


on der Kategorien auf die gegebene Mannigfaltigkeit der Anschauungen
unter der Bedingung der Zeitlichkeit ermöglichen.6 Dabei bindet Kant
die allgemeingültige Verbindung eines Prädikats mit einem Subjekt in
einem Erfahrungsurteil zunächst ganz grundsätzlich an die logischen
Synthesisleistungen des transzendentalen Subjekts oder der reinen syn-
thetischen Einheit der Apperzeption.7 Wären alle unsere Vorstellungen
völlig isoliert voneinander, so wären überhaupt keine Erfahrung und
folglich auch keine Erfahrungsurteile möglich.8 Selbst in der rudimentä-
ren Erfahrung eines gegebenen „Dieses da“ als ein bestimmtes „so Et-
was“ muss die Vorstellung von dem „Dieses da“ als Substanz mit der
Vorstellung des so-beschaffen-Seins als Akzidenz verbunden werden.
Diese Synthesen als Vereinigungen einer Mannigfaltigkeit von Anschau-
ungen sind jedoch nur möglich durch die Einheit eines in all seinen Syn-
thesen identisch bleibenden Bewusstseins, das die Mannigfaltigkeiten in
einem Gegenstand vereinigt.9 Die Einheit, zu der das Mannigfaltige ver-
bunden wird, bedarf deshalb eines Einheitsgrundes außerhalb dieser
Mannigfaltigkeit. Dieser Einheitsgrund ist die synthetische Einheit der
Apperzeption, die damit die „objektive Bedingung aller Erkenntnis“
ist. 10 Das Subjekt verbindet dabei das mannigfaltige Gegebene zu be-
stimmten Einheiten gemäß der Kategorien, die sich als Regeln seiner ge-
genstandskonstituierenden Synthesishandlungen verstehen lassen.11 Die
logische Form eines Urteils spiegelt gewissermaßen diese kategoriale
Einheit wieder.12 Damit ein Urteil objektive Gültigkeit besitzt, genügt es
jedoch nicht, dass Wahrnehmungen durch ein Urteil gemäß der logi-
schen Urteilsformen verknüpft werden, sondern dass diese logische Ver-
knüpfung in einer kategorialen bzw. transzendentalen Synthesis begrün-
det ist.13
Den aus transzendentalen Synthesisleistungen hervorgehenden allge-
meingültigen und deshalb öffentlich kommunikablen Urteilen stellt Kant
die Privaturteile entgegen, die nur auf der assoziativen Synthesisleistung
des empirischen Subjekts beruhen. Solche Urteile sind zwar Verbindun-
6
Vgl. hierzu Guyer 1987, 157ff., insbesondere 158.
7
Unter Synthesis versteht Kant die Zusammenfügung verschiedener kognitiver Inhalte
und die Auffassung dieser verschiedenen Inhalte in einer einzigen Vorstellung (KrV B
103/A 77).
8
KrV A 97.
9
KrV B 130.
10
KrV B 138.
11
Vgl. hierzu auch Förster 2012, 35f.; Pinkard 2002, 26; 32.
12
KrV B 141.
13
Prol AA 4, 300; Guyer 1989, 62.
Minimalbedingungen 135

gen von Subjekt und Prädikat gemäß einer logischen Urteilsform, nicht
allerdings notwendig gemäß einer Kategorie. Die assoziativen Verbin-
dungen des empirischen Ichs basieren damit nicht auf unveränderlichen,
spontan erzeugten Regeln, sondern auf der psychologisch-empirisch be-
gründeten Assoziation und damit der kontingenten Verfasstheit des em-
pirischen Subjekts.14 Urteile mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit un-
terwerfen sich also einer Regel und damit einem Standard von Richtig-
keit oder Falschheit, wohingegen Privaturteile gar nicht von anderen auf
ihre Richtigkeit hin überprüft werden können, da sie nur ein Faktum
über das psychische Innenleben des Urteilenden ausdrücken.15 Deshalb
besitzt das Privaturteil nur „Privatgültigkeit“. 16 Denn die subjektiven
Ursachen für die Verbindung zweier Vorstellungen in einem empiri-
schen Individuum können immer nur subjektive Notwendigkeit in Be-
zug auf dieses so verfasste Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt
haben. 17 In diesem Sinne unterscheidet Kant privat gültige Wahrneh-
mungsurteile, in denen Wahrnehmungen „in einem Bewußtsein meines
Zustandes“ verknüpft werden, von öffentlich kommunikablen Erfah-
rungsurteilen, in denen Wahrnehmungen „in einem Bewußtsein über-
haupt“ verbunden werden.18 Nur letztere bestimmen den Urteilsgegen-
stand nach Kant objektiv und damit allgemeingültig.19 Anders als Erfah-
rungsurteile können Wahrnehmungsurteile zwar nicht falsch sein, sie
sind aber nicht kommunikabel, da sie anders als Erfahrungsurteile nicht
auf eine gemeinsame Welt und damit auf eine mögliche universale Erfah-
rung bezogen sind.20
Diesen Unterschied zwischen den zwei Typen von Verknüpfung wol-
len wir nun genauer analysieren: Die allgemeingültige Urteile begrün-
dende Synthesisleistung des transzendentalen Subjekts kann nur gemäß

14
KrV B 139f.; vgl. hierzu: Klemme 1996, 197. Gegen die Reduktion von Wahrneh-
mungsurteilen auf bloße Vorstellungsassoziation vgl. dagegen Longuenesse 1998, 193f.
15
Pinkard 2002, 31.
16
KrV B 849/A 821.
17
KpV AA 5, 12.
18
Prol AA 4, 300.
19
Prol AA 4, 304f. Nach KrV existiert dasjenige, „dessen Verbindung mit dem Wirkli-
chen bestimmt ist in Übereinstimmung mit den allgemeinen Bedingungen der Erfahrung“
(Formen der Anschauung, Kategorien und Prinzipien des Verstandes), notwendig
(Friedman 2012, 245; KrV B 266/A 218). Beispiele für solche Urteile sind die Aussagen
„Alle Körper sind schwer“ oder „Luft ist elastisch“ (vgl. hierzu auch MAN AA 4, 500).
20
Dörflinger 2000, 228. Wahrnehmungsurteile sind in gewisser Weise für Kant deshalb
defizitäre Urteile, da sie die Form des Urteils in Anspruch nehmen („x ist p“), die durch
diese Form verlangte Funktion aber nicht einlösen, nämlich die Beziehung von Vorstel-
lungen auf einen Gegenstand (Longuenesse 1998, 172; 177).
136 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

den Kategorien erfolgen.21 Gemäß diesen Kategorien, die das transzen-


dentale Subjekt erzeugt, verbindet das Subjekt zwei Wahrnehmungen
nach einer allgemeingültigen Regel (etwa gemäß dem Verhältnis von Ur-
sache und Wirkung oder dem Verhältnis von Substanz und Akzidenz).
Durch diese Regeln werden in entsprechender Weise die Urteilsformen
der jeweiligen Erfahrungsurteile allgemeingültig und objektiv bestimmt.
Diese Regeln sind nicht nur für die Tatsache konstitutiv, dass ein allge-
meingültiges Erfahrungsurteil im Unterschied zum privaten Wahrneh-
mungsurteil für alle anderen Subjekte gültig ist, sondern auch dafür, dass
es für ein singuläres Subjekt für alle Zeit gültig ist.22 Denn nicht nur die
Zustände unterschiedlicher individueller Subjekte sind verschieden, son-
dern auch die Zustände eines empirischen Individuums im Verlauf der
Zeit, wohingegen das transzendentale Subjekt des reinen Bewusstseins
gar nicht von Zeit affiziert ist. In der Verknüpfung der Vorstellungen
gemäß einem reinen Verstandesbegriff erfolgt zugleich mit der Verknüp-
fung der Vorstellungen im empirischen Bewusstsein eine allgemeingülti-
ge Verknüpfung im Bewusstsein überhaupt.23 Das auf einer kategorialen
Verknüpfung basierende Erfahrungsurteil sagt deshalb einen allgemein-
gültigen und damit öffentlich kommunikablen Sachverhalt über einen
Gegenstand aus.24 Wahrnehmungsurteile wie „Der Raum ist warm“ sind
dagegen nach Kant Ausdruck der assoziativen Verknüpfung zweier
Empfindungen im empirischen Subjekt in einem bestimmten empiri-
schen Zustand.25 Da die assoziative Verknüpfung nicht auf einer allge-
meingültigen Regel, sondern ausschließlich auf der subjektiven Beschaf-
fenheit des urteilenden empirischen Subjekts gründet, ist sie nur von pri-
vater Gültigkeit. So kann das Urteil in einem öffentlichen Diskurs auch
nicht korrigiert werden. Es sagt nämlich nichts über das Objekt selbst
aus, sondern nur über die Wirkung, die der Gegenstand zu einer be-
stimmten Zeit auf ein bestimmtes empirisches Subjekt in einem be-

21
Diese Kategorien sind „die subjectiven Bedingungen der Spontaneität des Denkens“
(ÜE AA 8, 223).
22
Ginsborg 1990, 106.
23
KrV B 197/A 158.
24
Prol AA 4, 298f.
25
Prol AA 4, 299. Nach Ginsborg hingegen wird im Urteil „Der Raum ist warm“ der
Gegenstand objektiv durch die intensive Qualität der Wärme bestimmt (Ginsborg 1990,
124). Das ist aber nicht der Fall. Anders als in dem Urteil: „Der Raum hat eine Tempera-
tur von 26 Grad Celsius“, in dem der Raum objektiv bestimmt wird, handelt es sich bei
dem vorigen Urteil nur um eine Empfindung, die der Raum auf mich bewirkt. Das Urteil
ist nur eine façon de parler für „Der Raum ruft in meinem gegenwärtigen Zustand ein
Wärmegefühl in mir hervor.“ Das Urteil bringt also nur eine Privatempfindung zum Aus-
druck (vgl. Log AA 9, 113; Longuenesse 1998, 189f.).
Minimalbedingungen 137

stimmten Zustand hat.26 Wäre das empirische Subjekt anders beschaffen


(krank oder an größere Hitze gewöhnt), würde es anders urteilen, ohne
dass dieses spätere Urteil sein vorheriges revidieren würde.27
Besonders relevant ist für Kant der Prozess der Transformation eines
Wahrnehmungsurteils in ein Erfahrungsurteil. Im Gegensatz zu Hume,
für den die Häufigkeit einer Assoziation im empirischen Bewusstsein des
passiven Wahrnehmungssubjekts irgendwann eine kausale (oder auch
andere kategoriale) Verbindung zwischen zwei Zuständen bzw. Wahr-
nehmungen entstehen lässt, bedarf es nach Kant für die Transformation
eines bloßen Wahrnehmungsurteils in ein Erfahrungsurteil einer zusätz-
lichen spontanen Aktivität des Subjekts. Damit aus Wahrnehmungsur-
teilen Erfahrungsurteile werden, muss die Wahrnehmung vom Subjekt
unter Begriffe oder Regeln subsumiert werden, deren Ursprung a priori
im reinen Verstand liegt. Erst mit dieser Subsumtion steht die Verknüp-
fung der Vorstellungen unter einer allgemeingültigen Bedingung,28 näm-
lich einem der Prinzipien der Möglichkeit des Denkens a priori im Ver-
stand.29 Damit besteht für Kant zwischen privaten Wahrnehmungsurtei-
len und allgemeingültigen Erfahrungsurteilen nicht nur ein gradueller,
sondern ein kategorialer Unterschied, der durch die aktivische Leistung
des Subjekts hervorgebracht wird.30
Wenn wir die kategoriale Unterscheidung von Wahrnehmungsurteil
und Erfahrungsurteil auf das Problem der Publizität empirischer Urteile
applizieren, so ist evident, dass nur Erfahrungsurteile den Anspruch auf
Publizität erfüllen können. Denn im Gegensatz zum Erfahrungsurteil
findet im Wahrnehmungsurteil nur eine Verbindung in einem einzelnen
Individuum nach nur für dieses Individuum wirkmächtigen Ursachen
statt und nicht im allgemeinen transzendentalen Bewusstsein überhaupt,
das zumindest der Form nach bei jedem empirischen Subjekt identisch
26
Kant versteht ein Objekt gerade als dasjenige, kraft dessen mehrere, eine Mannigfal-
tigkeit konstituierende Vorstellungen notwendig miteinander verbunden sind (Guyer
1987, 103).
27
KrV B 848/A 820. In KrV B spricht Kant nicht mehr von Wahrnehmungs- vs. Erfah-
rungsurteilen, sondern unterscheidet subjektiv-gültige Verknüpfungen „nach Gesetzen
der reproduktiven Einbildungskraft“ (B 141) vom Urteil schlechthin, das „nichts andres
sei, als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu brin-
gen“ (ibid.), so dass für Wahrnehmungsurteile kein Platz mehr zu sein scheint (Longue-
nesse 1998, 168f.). Der Sache nach muss Kant jedoch weiterhin sprachliche Artikulations-
formen für die assoziativen Verknüpfungen annehmen, da sie sich ja sprachlich artikulie-
ren lassen.
28
Prol AA 4, 297.
29
MAN AA 4, 474f.; KrV B 83f./A 58f.
30
Kant gibt uns allerdings kein Kriterium für die Legitimität des Übergangs an (Lon-
guenesse 1998, 171).
138 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

ist. Die Abhängigkeit einer (passiven) Empfindung als bloßer Modifika-


tion der Sinnlichkeit eines Subjekts von der empirischen Disposition des
Subjekts impliziert notwendig die empirische Kontingenz und Privatheit
der hierauf basierenden Vorstellungsverknüpfung.31 Ein solches Wahr-
nehmungsurteil kann deshalb nie eine weltbürgerlich kommunikable Be-
schaffenheit eines Gegenstandes ausdrücken, sondern nur eine kontin-
gente private Wirkung des Gegenstandes auf das einzelne Subjekt. Des-
halb kann es auch nicht durch die Vergleichung mit den Urteilen anderer
universalisiert werden, sondern ist von vornherein inkommunikabel pri-
vat.
Ein Problem ergibt sich nun daraus, dass ein isoliertes Urteil nicht zu
erkennen gibt, ob es sich um ein Wahrnehmungsurteil oder ein Erfah-
rungsurteil handelt. Dasselbe Urteil kann einmal als bloßes Privaturteil,
ein andermal als Erfahrungsurteil auftreten. Dass ein Urteil sich auf die
Einheit des beurteilten Gegenstandes und nicht auf den Zustand des ur-
teilenden Subjekts bezieht und deshalb ein Erfahrungsurteil ist, wird im
Kommunikationsakt nicht durch das isolierte Urteil, sondern erst durch
Mitteilung seiner Genese ersichtlich. Das Urteil „Der Körper ist schwer“
als Wahrnehmungsurteil ist Resultat der Tatsache, dass ein Gegenstand
ein empirisches Subjekt auf Grund dessen kontingenter Verfasstheit
einmal oder mehrmals in einer solchen Weise affiziert hat, dass er die
Vorstellungen der Körperlichkeit und der Schwere miteinander assozi-
iert. Das Urteil meint also eigentlich: „Der Körper erscheint mir
schwer.“ Für sein Zustandekommen lassen sich Ursachen, aber keine
Gründe anführen. Im Erfahrungsurteil hingegen wird ein Gegenstand
kategorial mit dem Anspruch auf allgemeine Notwendigkeit bestimmt.32
Kommunikabel ist das Urteil als Erfahrungsurteil dadurch, dass man die
spontan erzeugte Kategorie als Regel angeben kann, unter der diese Ver-
knüpfung zustande kommt.33 Für die weltbürgerliche Kommunikation
eines Urteils ist es also notwendig, die kategoriale Genese der Verknüp-
fung von Urteilssubjekt und Prädikat angeben zu können. Das bloße
Wahrnehmungsurteil ist hingegen privat und inkommunikabel, weil ihm
eine objektive Regel fehlt, die die Verbindung begründen könnte und
man zur Genese des Urteils nur eine private Erzählung angeben könn-
te.34

31
Esser 1995, 10.
32
Prol AA 4, 298.
33
Brief an Beck vom 1.7.1794 AA 11, 515.
34
Nach Koch sind jedoch bereits die Empfindungen nicht bloß „logisch privat[e] Zu-
stände, über die nur das Subjekt, das sie jeweils hat, Verläßliches wissen könnte, sondern
Fälle perzentuellen Anscheinens publiker Gegebenheiten“ (Koch 2004a, 84). Das „Mir-
Minimalbedingungen 139

Mit der Unterscheidung von Wahrnehmungsurteilen und Privaturtei-


len versucht Kant also zu zeigen, dass die Bedingungen der weltbürgerli-
chen Kommunikabilität eines empirischen Urteils nicht passivisch aus
der faktischen Verfasstheit des urteilenden Subjekts und äußeren Wahr-
nehmungen entnommen werden können.35 Vielmehr setzt selbige die ak-
tivische Anwendung spontan erzeugter Regeln voraus.36 In einem welt-
bürgerlichen Urteil erhebt das urteilende Subjekt also immer schon den
Anspruch, sich über seinen faktisch begrenzten Standpunkt hinaus erho-
ben zu haben. Der Anspruch eines Urteils, das über das bloße „Es
scheint mir, dass ...“ hinausgeht, setzt voraus, dass dieses Urteil sich auf
etwas über unseren kontingenten Standpunkt hinaus Gültiges bezieht.
Diesen Gedanken, dass sich das Subjekt in seinen öffentlichen Urtei-
len immer über seinen kontingenten Standpunkt erhebt, können wir
auch noch aus einem anderen Gesichtspunkt entwickeln: Bloße Wahr-
nehmungsurteile im Sinne Kants, würde man auch die Wahrnehmung
noch so vieler anderer Individuen generalisieren, könnten „nur subjektiv
gültig“ sein, solange diese Generalisierung nur durch die assoziative
Verknüpfung von Individuen begründet wird.37 Mit dem Rekurs auf die
assoziative Verknüpfung zweier Vorstellungen durch menschliche Sub-
jekte in ihrem bloß empirischen Bewusstsein würde nur ein Übergang
von „Es scheint mir, dass ...“ zu „Es scheint sehr vielen, dass“, aber nicht
zu „Es ist der Fall, dass ...“ stattfinden können. Bloß passive Erfahrung
könnte uns niemals die Notwendigkeit der Zusammenhänge und der
Regeln lehren.38 Ohne die spontane, nicht standortgebundene Leistung
kategorialer Verknüpfung zweier Vorstellungen im transzendentalen
Subjekt, durch die das Objekt des Urteils bestimmt wird, könnte der
Anspruch des Urteils: „Der Stein ist schwer“ nicht eingelöst werden,
dass alle anderen Urteilssubjekte ihm zustimmen sollen. Nur wenn ein
Urteil einen Gegenstand objektiv bestimmt, kann das Urteilssubjekt von
allen anderen Urteilssubjekten Zustimmung fordern.39 Der Anspruch auf
objektive Gültigkeit einer Erkenntnis impliziert aber, dass der Urteilen-
de nicht nur über seinen privaten Zustand urteilt, sondern über etwas,
das von seiner subjektiven Verfasstheit unabhängig ist, nämlich den Ge-
genstand selbst. Diese objektive Gültigkeit impliziert Allgemeingültig-
so-Scheinen“ der Empfindung hat bereits einen objektiven Sinn, es ist nur vom Objektbe-
zug abstrahiert. Deshalb kann dieser dann im Erfahrungsurteil auch wieder hergestellt
werden (ibid., 85).
35
Prol AA 4, 318; 322.
36
KrV B xvii.
37
Prol AA 4, 298.
38
Prol AA 4, 294.
39
KrV B 848/A 820; Prol AA 4, 298.
140 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

keit. Die Minimalbedingung dieser Allgemeingültigkeit ist aber ein Ver-


standesbegriff, der die Gültigkeit eines Urteils durch die Verknüpfung
der Vorstellungen eines Gegenstandes nach für alle Urteilssubjekte gül-
tigen Regeln, die „den Zusammenhang der Vorstellungen in dem Begrif-
fe eines Objects“ bestimmen, begründet.40
Fassen wir zusammen: Die Minimalbedingung eines weltbürgerlichen
Urteils besteht darin, die Begriffe a priori als diejenigen Regeln angeben
zu können, unter denen die Vorstellungen eines Urteils subsumiert wor-
den sind.41 Diese Begriffe sind die Kategorien. Da mit diesen jedoch nur
die allgemeinsten Rahmenbedingungen der Kommunikabilität empiri-
scher Urteile gegeben sind, sind die Bedingungen für ihren öffentlichen
Diskurs noch unterbestimmt. Die Synthesis der Mannigfaltigkeit durch
Kategorien geht dem empirischen Wissen nur vorher, begründet aber
noch kein empirisches Wissen.42 Insofern der Verstand in seiner Gesetz-
gebung von der empirischen Mannigfaltigkeit der Natur abstrahiert, die
gerade der Gegenstand unserer empirischen Urteile ist, und seine Kate-
gorien nur Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt
sind,43 kann die Inanspruchnahme einer Kategorie in einem Erfahrungs-
urteil nur die Minimalbedingung an dessen Kommunikabilität darstellen.
Zwar werden die Kategorien dann durch die Schematismen und ihre
Applikation auf Zeitlichkeit überhaupt noch weiter bestimmt, aber nicht
determiniert. Machen wir dies an einem konkreten Problem deutlich:
Die zweite Analogie erlaubt zwar die Suche nach der Ursache für jedes
beliebige Ereignis und das Naturgesetz, wodurch dieses bestimmt ist, sie
bestimmt aber nicht selbst die konkrete Art der Ursache. Sie erlaubt
auch keine Unterscheidung zwischen kausalen Verbindungen und kon-
tingenten Regelhaftigkeiten. 44 Vergegenwärtigen wir uns das Problem
noch einmal anders: Solange Kant nur die notwendige Einheit der Erfah-
rung im Allgemeinen begründet, da die Kategorien auf alle Gegenstände
der Erfahrung appliziert werden müssen, kann dieses Programm nicht
die besonderen Gegenstände in ihrer Besonderheit bestimmen.45 Für die
weltbürgerliche Kommunikabilität eines empirischen Urteils muss der
öffentliche Vernunftgebrauch noch weiteren Bedingungen genügen als
dem bloßen kategorialen Zusammenhang zweier Vorstellungen.46 Dass

40
Prol AA 4, 290.
41
Prol AA 4, 297.
42
KrV B 165; A 130; Neiman 1994, 52.
43
EEKU AA 20, 210.
44
Allison 2004, 258f.
45
Zammito 1992, 158.
46
Buchdahl 1969, 474f.; Neiman 1994, 52.
Minimalbedingungen 141

diese Kategorien noch genauer bestimmt werden müssen, um überhaupt


angewandt werden zu können, zeigt bereits das Schematismuskapitel der
KrV. 47 Konkreter im Hinblick auf die Kommunikabilität empirischer
Urteile untersucht Kant die Möglichkeit der Bestimmung der kategoria-
len Rahmenbedingungen öffentlicher Rede in ihrer Anwendung auf die
Empirie jedoch in MAN am Problem der reinen Physik bzw. der Meta-
physik der Natur als Grundlage der empirischen Physik und damit des
öffentlichen naturwissenschaftlichen Diskurses. 48 Diese Überlegungen
wollen wir deshalb genauer analysieren, um dadurch die Rahmenbedin-
gungen des öffentlichen Diskurses empirischer Urteile weiter zu be-
stimmen.
Wie die Schematismen zwischen den reinen Verstandesbegriffen und
der inneren zeitlichen Anschauung vermitteln sollen, so sollen die a
priorischen Grundbegriffe der Physik zwischen den reinen Verstandes-
begriffen und der äußeren räumlichen Anschauung vermitteln. Dement-
sprechend ist MAN gemäß den Kategorien in vier Teile gegliedert, von
denen jeder eine Konkretisierung der Kategorien und damit der trans-
zendentalen Rahmenbedingungen weltbürgerlicher Kommunikation
darstellt.49 Die dabei entwickelten a priorischen Begriffe und Prinzipien
begründen im Unterschied zur erfahrungsbasierten empirischen Physik
eine besondere a priorische Metaphysik der Natur, die sich als spezifi-
sche Rahmenbedingung weltbürgerlicher Kommunikation über natur-
wissenschaftlich-physikalische Sachverhalte verstehen lässt.50 Die Spezi-
fizierung ist notwendig wegen der zu großen Allgemeinheit der in KrV
dargelegten allgemeinsten Naturgesetze, wie etwa das Gesetz, dass jedes
Ereignis durch eine Ursache nach unveränderlichen Gesetzen bestimmt
ist. Eigentlich interessiert uns im naturwissenschaftlichen Diskurs und

47
Die Schematismen der Einbildungskraft müssen zwischen der transzendentalen Uni-
versalität der Kategorien und der empirischen Partikularität der sinnlichen Anschauungen
vermitteln, indem sie die Kategorien auf die Zeit als allgemeinste Bedingung sinnlicher
Anschauung applizieren (Makkreel 1990, 30).
48
MAN AA 4, 469f.; Basile 2013, 16; OP AA 21, 407. Warum Kant dieses Projekt in
OP erneut in Angriff nimmt, ist in der Forschung umstritten. Vgl. hierzu: Friedman 1992,
136; 139; Tuschling 1971, 37; Wartenberg 1992, 237; Förster 2000, 4; 59ff.
49
Im Besonderen werden dabei die Möglichkeit der durch zwei Grundkräfte konstitu-
ierten Materie a priori und ihre allgemeinen Bestimmungen entwickelt (Tuschling 1971,
35).
50
KrV B 873/A 845. Es ist dabei umstritten, ob Kant überhaupt spezifische Naturge-
setze als a priori annimmt (O’Shea) oder ob er dies negiert und sie nur eine Funktion in
der systematischen Einheit der Vernunft erfüllen (Buchdahl; Allison) (O’Shea 1997, 224).
Nach Guyer wäre es mit Kants Konzeption konkreter Naturgesetze sogar vereinbar,
wenn diese nicht strikte, sondern bloß probabilistische Gültigkeit besäßen (Guyer 1987,
240).
142 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

damit der Aufklärung der Natur weniger, dass jedes Ereignis durch eine
Ursache nach einem unveränderlichen Gesetz bestimmt ist, sondern das
konkrete spezifische Gesetz, nach dem ein oder mehrere Ereignisse be-
stimmt sind.51 So unternimmt Kant in MAN den Versuch, bereits spezi-
elle Gesetze der Physik wie das Gravitationsgesetz zu deduzieren und
damit als Rahmenbedingungen naturwissenschaftlicher Aufklärung zu
etablieren. Insofern diese als Bedingung der Möglichkeit empirischer
Physik a priori deduzierbar sind, ist die Physik in dieser Hinsicht
prädeterminiert. Die allgemeingültigen Begriffe und Gesetze a priori der
Metaphysik der Natur stellen als Konkretisierung der bloßen Verstan-
desformen die spezifischen Rahmenbedingungen a priori der weltbür-
gerlichen Kommunikation der empirischen Physik dar. 52 So kann der
Physik auch nur deshalb der Status einer Naturwissenschaft im strengen
Sinne zugeschrieben werden, weil ihr mit den Gesetzen der Metaphysik
der Natur Gesetze a priori zu Grunde liegen, die den Charakter strengs-
ter Notwendigkeit besitzen.53 Damit beruht der naturwissenschaftliche
Aufklärungsdiskurs auf Regeln, die notwendig von allen Diskursteil-
nehmern spontan hervorgebracht werden. Jede „eigentliche Naturwis-
senschaft“ muss einen solchen reinen Teil aufweisen, durch den die apo-
diktische Gewissheit der anderen Sätze begründet werden kann.54 Eine
Wissenschaft, die anders als die Physik nur auf empirischen Gewisshei-
ten basiert, wäre keine Wissenschaft.55 Ohne metaphysische Grundlagen
ließe sich kein nach allgemein verbindlichen Regeln geordneter öffentli-
cher Diskurs führen.56
Die Metaphysik der Natur liefert nun aber nur den Diskursrahmen
der Physik und ist nicht eigentliche Physik, die immer empirisch ist.57
Die empirische Physik kann jedoch nur innerhalb dieses transzendenta-

51
So besteht Humes skeptizistischer Fehlschluss bezüglich der Kategorien nach Kant
gerade darin, von der tatsächlichen Erfahrungsabhängigkeit konkreter empirischer Geset-
ze auf die Erfahrungsabhängigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung als sol-
cher zu schließen (KrV B 794/A 766; Longuenesse 2005, 59–61).
52
MAN AA 4, 468; KrV B 17.
53
MAN AA 4, 468.
54
MAN AA 4, 469.
55
MAN AA 4, 468.
56
MAN AA 4, 472; Friedman 1992, 137. So leugnet Kant den wissenschaftlichen Rang
der Psychologie auf Grund des Fehlens solcher spezifischen Rahmenbedingungen für ei-
nen weltbürgerlichen Diskurs (EEKU AA 20, 237f.; MAN AA 4, 471; KrV A 381). Auch
die Chemie basiert nach MAN nur auf Erfahrungsgesetzen (AA 4, 468), weshalb ihr Kant
den Status einer Naturwissenschaft abspricht (ibid., 470f.; Klemme 1996, 234f.). Dieses
Urteil revidiert Kant später in OP in Anbetracht der Revolutionen in der Chemie (Fried-
man 1992, 217f.).
57
GMS AA 4, 388.
Minimalbedingungen 143

len bzw. metaphysischen Rahmens prozedieren. Kant unterscheidet des-


halb zwischen metaphysischen und physikalischen Fragen, die im Pro-
zess eines weltbürgerlichen wissenschaftlichen Diskurses erst beantwor-
tet werden müssen. 58 Empirische Physik und Metaphysik der Natur
handeln beide zwar von der Materie, aber aus unterschiedlicher Perspek-
tive: Die physikalische Erkenntnis ist erfahrungsbasierte synthetische
Erkenntnis a posteriori, die Metaphysik der Natur ist rein a priorisch.59
Die empirische Physik ist keine reine Wissenschaft a priori, sondern
schöpft ihre Begriffe, Urteile und Gesetze aus der Erfahrung.60 Indem
die empirischen Naturgesetze besondere Wahrnehmungen voraussetzen,
unterscheiden sie sich gerade von den allgemeinen Naturgesetzen.61 Phy-
sikalische Erklärungen von Naturereignissen sind also „zusammenge-
setzt“ aus Prinzipien a priori und a posteriori.62 Alle Naturgesetze stehen
zwar unter den Grundsätzen des Verstandes, insofern sie sie „auf beson-
dere Fälle der Erscheinungen anwenden“,63 sind aber zugleich als Be-
stimmungen dieser allgemeinen Grundsätze nicht aus ihnen ableitbar,
weil die besonderen Fälle nicht aus den Grundsätzen selbst deduziert
werden können. Nur die Grundsätze der Physik sind aus den Kategorien
ableitbare synthetische Urteile a priori (Gleichheit von Wirkung und
Gegenwirkung, Trägheit), nicht aber ihr eigentlicher Gehalt.64 Empiri-
sche Gesetze setzen immer einen Bezug auf die Wahrnehmung und ak-
tuelle Existenz voraus.65 Deshalb bedarf die empirische Physik der welt-
bürgerlichen Kommunikation, um die Allgemeingültigkeit ihrer Urteile
zu überprüfen. Denn die empirischen Gesetze der Physik sind nicht lo-
gische Folgerungen aus den metaphysischen Naturbestimmungen und
damit den Rahmenbedingungen physikalischer Kommunikation, son-
dern deren a posteriorische Konkretisierungen.66 Gesetze, die über die
Metaphysik der Natur hinausgehen, können ihren Ursprung deshalb
niemals im reinen Verstand haben. Dies würde eine Verwechslung von
Diskursbedingungen und Diskurs implizieren. Die Notwendigkeit welt-
bürgerlicher Kommunikation im Bereich der empirischen Physik liegt in
der besonderen Verfasstheit unseres Erkenntnisvermögens begründet:
Für unseren diskursiven Verstand (anders als beim intuitiven Verstand)
58
Friedman 1992, 216.
59
Basile 2013, 16.
60
KrV B x; EEKU AA 20, 198.
61
Prol AA 4, 320; 295; MAN AA 4, 477; KrV B 165; A 127f.
62
EEKU AA 20, 237; vgl. hierzu auch: Zuckert 2007, 57.
63
KrV B 198/A 159.
64
KrV B 20f.
65
Friedman 2012, 310f.
66
KrV B 794/A 766.
144 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

bestimmt das Allgemeine nicht das Besondere. Das Besondere kann


nicht aus dem Allgemeinen abgeleitet werden, vielmehr sind wir für die
Erkenntnis des Besonderen auf Erfahrung und damit sinnliche Anschau-
ung angewiesen.67 Ursachen können „auf unendlich mannigfaltige Weise
Ursachen“ sein. 68 Jede Weise folgt dabei einer spezifischen Regel, die
sich nur empirisch herausfinden lässt, aber eine Notwendigkeit besitzen
muss, die wir nun aber anders als die Notwendigkeit der generellen Ur-
sache auf Grund ihres kategorialen Charakters nicht a priori einsehen
können.69 Unsere je eigene Erfahrung ist jedoch zu partikular, um hie-
raus empirische Naturgesetze entwickeln zu können, weshalb ein welt-
bürgerlicher Diskurs notwendig ist.

II. Die Vernunftideen als Orientierungspunkte


für den Aufklärungsdiskurs

Wir haben Folgendes festgestellt: Die allgemeinen Naturgesetze sind nur


„eine Grundlage für eine öffentliche Sprache“, um die Existenz kontin-
genter Partikularia und wissenschaftlicher Regularitäten in einem geord-
neten Diskurs kommunizieren zu können. 70 Die empirischen Wissen-
schaften müssen jedoch erforschen, welche konkreten Verbindungen
von Erscheinungen die reinen Verstandesprinzipien instanziieren. Dies
kann nur auf empirischem Wege geschehen „im Kontext der Totalität
einer (endlos revidierbaren) Erfahrung“.71 Dies setzt den weltbürgerli-
chen Aufklärungsdiskurs voraus. In diesem Diskurs muss sich die Ur-
teilspraxis jedoch noch einem weiteren Prinzip unterwerfen, das das
Prozedieren der wissenschaftlichen Aufklärung und Kommunikation so
reguliert, dass jedes autonome Subjekt sich dabei zugleich als Konsti-
tuent und Adressat dieses Diskurses verstehen kann. Dieses Prinzip, das
nicht als Rahmenbedingung, sondern als impliziter Zweck den weltbür-
gerlichen Diskurs reguliert, ist die Idee der unbedingten Totalität, die
sich die menschliche Vernunft in den regulativen Ideen selbst gibt.72 Sie
wird von jedem vernünftigen Subjekt in freier Weise hervorgebracht und
resultiert aus der subjektiven Notwendigkeit der Systematisierung seiner
Urteile. So ist erst ein systematisches Ganzes der Erkenntnis Wissen-

67
KU AA 5, 406; KrV B 165; Zuckert 2007, 8.
68
KU AA 5, 183.
69
KU AA 5, 183.
70
Buchdahl 1992, 170.
71
Longuenesse 2005, 43.
72
KrV B xx; B 380/A 323; B 692/A 664.
Minimalbedingungen 145

schaft und nur ein an der Idee systematischer Ganzheit orientierter Dis-
kurs weltbürgerlich.73
Wir können also Folgendes festhalten: Neben den transzendentalen
Strukturen setzt jeder weltbürgerlich-öffentliche Aufklärungsdiskurs ei-
ne Orientierung an den regulativen Ideen der Vernunft voraus. Sie füh-
ren sowohl unseren Verstandesgebrauch als auch den weltbürgerlicher
Diskurs auf systematische Einheit. Um dies zu explizieren, wollen wir
zunächst die Funktion skizzieren, die Kant den Vernunftideen für die
Erkenntnis zuschreibt:
Die regulativen Ideen sind der Grund für die Suche nach systemati-
scher Einheit in unserer Erfahrung und Erkenntnis. Sie sind aber nur
von der Vernunft gestellte Aufgaben für den Verstand, den Regress in
den Bedingungen gegebener Sachverhalte auf ihre Totalität hin fortzu-
setzen. Sie leiten als heuristische Voraussetzung der Systematizität und
Vernünftigkeit der Natur unsere empirische Naturforschung an und nä-
hern sie „asymptotisch“ dem Ideal wissenschaftlicher Vollständigkeit
an. 74 Es ist jedoch nur „eine notwendige Maxime der Vernunft, nach
dergleichen Ideen zu verfahren“.75 Sie ordnet die Verstandesbegriffe nach
dieser Maxime und bringt die Erkenntnisse dadurch unter eine Einheit.76
Die Idee ist so in Analogie zum Schema der Sinnlichkeit nur eine Regel,
um die systematische Einheit „der mannigfaltigen Erkenntnisse unter ei-
ner Idee“ herzustellen.77
Den spekulativen Ideen kommt also nur relativ auf unseren systemati-
schen Vernunftgebrauch Bedeutung, Realität und Objektivität zu. Die
Ideen der Vernunft liefern zwar kein Wissen, aber bilden ein transzen-
dentales Fundament für unsere wissenschaftliche Praxis.78 Sie fungieren
dabei als eine Art Fluchtpunkt, auf den unser empirischer Verstandesge-
brauch zusteuert. Die in den Ideen sich artikulierende Einheit der Ver-
nunft ist nicht in der Erfahrung gegeben und überhaupt kein Gegenstand
möglicher Erfahrung, sondern dem menschlichen Vernunftgebrauch als
Problem aufgegeben.
Übertragen wir dies nun auf das Konzept des weltbürgerlichen Auf-
klärungsdiskurses: Die Praxis des Aufklärungsdiskurses setzt eine End-
absicht voraus, die als Idee nur durch die Vernunft gesetzt werden

73
MAN AA 4, 468; OP AA 21, 524.
74
Friedman 1992, 48.
75
KrV B 699/A 671; WDO AA 8, 137.
76
KrV B 671f./A 643f.
77
KrV B 860/A 832; vgl. auch B 694/A 665; B 710/A 682.
78
Wartenberg 1992, 233f.
146 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

kann.79 Die Idee systematischer Vollständigkeit ist dabei keine Rahmen-


bedingung des Diskurses, sondern ein Orientierungspunkt für alle Teil-
nehmer am empirischen Aufklärungsdiskurs. Die transzendentalen Ideen
regulieren die weltbürgerliche Kommunikation, indem unter ihrer Per-
spektive die unbedingte Einheit aller partikularen Erfahrungen gesucht
wird.80 Durch diesen regulativen Gebrauch der Ideen kann der Diskurs
einerseits das individuelle Vernunftbedürfnis seiner Teilnehmer nach
größtmöglicher Einheit befriedigen,81 andererseits den Diskurs struktu-
rieren, indem seine Teilnehmer durch sie einen Fluchtpunkt ihres Dis-
kurses erhalten. Die Einheit der partikularen Erfahrungen der Teilneh-
mer wird also gerade nicht als Möglichkeit weltbürgerlicher Kommuni-
kation vorausgesetzt, sondern ist ein Ziel, an dem sich der welt-
bürgerliche Diskurs orientiert. Weil es sich nicht um ein konstitutives
Prinzip handelt, kann man auch von einer Maxime des Aufklärungsdis-
kurses sprechen: Der Diskurs muss so geführt werden, dass die Urteile
aller zugleich „in einer Erfahrung beisammen stehen können“.82 Diese
Maxime eröffnet erst die Möglichkeit, den Diskurs „ins Unendliche
(Unbestimmte) zu befördern“.83 Die Vernunft reguliert die weltbürgerli-
che Kommunikation also durch ihr „Princip der Vollständigkeit“ als
letztes, aber unerreichbares Ziel des Aufklärungsdiskurses.84
Für den Vorwurf, Kant ignoriere in seiner Bestimmung des Aufklä-
rungssubjekts dessen Standortgebundenheit, ist dieses Resultat in zwei
Hinsichten relevant:
1. Für die Kritik, Kant ignoriere die Partikularität menschlicher Indi-
viduen und ihrer Erfahrungen, ist seine Unterscheidung, dass nur die
Vernunft, nicht der Verstand systematische Totalität und Vollständigkeit
fordert,85 essentiell. Die Einheit der Erfahrung kann damit keine Voraus-
setzung der Aufklärung sein, sondern ist nur ein Ziel. Dieses muss als
Endabsicht jedoch vorausgesetzt werden, damit weltbürgerliche Kom-
munikation überhaupt möglich ist. Denn wenn die individuellen Erfah-
rungen je nach Standpunkt als vollständig inkommensurabel gedacht
werden, ist jede Kommunikation sinnlos. Die Vernunft fordert gewis-
sermaßen, diese Erfahrungen kommensurabel zu machen.86 Andererseits
ist es erst die transzendentale Aufklärung der Vernunftideen, die uns die
79
Neiman 1994, 69.
80
Kleingeld 1995a, 95.
81
KrV B 704/A 676.
82
Prol AA 4, 290; KrV B 694/A 666.
83
KrV B 708/A 680.
84
KU AA 5, 168; Prol AA 4, 349.
85
KrV B 436/A 409; B 444/A 416.
86
Refl 5553 AA 18, 224.
Minimalbedingungen 147

Notwendigkeit deutlich macht, unsere partikularen Erfahrungen stets zu


transzendieren und nicht mit dem Unbedingten zu identifizieren. Die
Vernunft setzt einerseits den Zweck, zur Vollendung der Verstandesein-
heit zu unseren bedingten Verstandeserkenntnissen das Unbedingte und
zu allem faktisch Gegebenen das Notwendige als Grund zu suchen,87
andererseits setzt die Aufklärung dieser Vernunftidee die notwendige
Differenz von allem faktisch Gegebenem zum Unbedingten. Durch
Kants Aufklärung der Dialektik der Ideen wird deutlich, dass das Ganze
der Erfahrung nicht selbst Gegenstand möglicher Erfahrung, sondern
nur ein Orientierungspunkt für die Strukturierung unserer Erfahrungen
ist. Die Architektonik der Vernunft, nach der Erkenntnisse in ein System
geordnet werden müssen, setzt die Idee des Unbedingten als projektierte
Vollendung systematischer Erkenntnis voraus.88 Zugleich setzt die über
sich selbst aufgeklärte Vernunft das Bewusstsein der Partikularität aller
Erfahrung.89 Die regulativen Prinzipien des Aufklärungsdiskurses sind
also Anleitungen, das Unbedingte zu suchen, das man in der Erfahrung
nie endgültig erreichen kann.90 Ohne die Idee des Unbedingten würden
wir deshalb kein Interesse haben, die Partikularität unserer Erfahrungen
auf die Erfahrungen anderer hin zu überschreiten.91 Deshalb muss sie in
öffentlichen Urteilen und im Aufklärungsdiskurs „iederzeit in Gedan-
ken“92 vorausgesetzt werden.
2. Sind mit den Kategorien zwar die transzendentalen Rahmenbedin-
gungen des weltbürgerlichen Aufklärungsdiskurses spontan erzeugt, so
ist es doch erst die Orientierung an den selbst erzeugten Ideen der Ver-
nunft, die unsere Urteilspraxis und weltbürgerliche Kommunikation zu
wirklich freien macht. Die Tätigkeit des Verstandes ist zwar spontan,
aber nicht im vollen Sinne autonom, da er seine Tätigkeit „automatisch“
ausübt.93 Die Vernunft hingegen ist reine Selbsttätigkeit, weil sie in ihren
Ideen nur durch sie selbst gesetzten Zwecken folgt.94 In ihrer Orientie-
rung an den Ideen erfahren sich die Teilnehmer des Aufklärungsdiskur-

87
KrV B 364/A 307.
88
KrV B 502f./A 474f.
89
KrV B 644/A 616.
90
Neiman 1994, 63.
91
Grier 2001, 11; KrV B 673/A 645.
92
Refl 5553 AA 18, 223.
93
Betont Refl 5441 noch die Analogie zwischen Verstandesspontaneität und morali-
scher Autonomie als Selbstbestimmung des Willens (AA 18, 182; Henrich 1994, 81), so
unterscheidet Refl 5442 die „logische freyheit in Vernunfthandlungen“ von der transzen-
dentalen Freiheit (AA 18, 183; Henrich 1994, 82).
94
„Ideen sind nicht bloße Begriffe sondern Gesetze des Denkens die das subject ihm
selbst vorschreibt. Avtonomie.“ (OP AA 21, 93.)
148 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

ses also als selbstbestimmt. Indem sie in dieser Orientierung über die
Sinnenwelt hinausgehen, müssen sie sich selbst als reine Intelligenzen be-
trachten, die ihren empirisch-beschränkten Standort transzendieren
können.95 Weil die Ideen anders als die Kategorien keine konstitutiven
Prinzipien, sondern nur heuristische Begriffe sind, muss sich jeder Dis-
kursteilnehmer seinen selbst erzeugten Ideen frei unterwerfen, er muss
sie frei anerkennen.96 Er unterwirft seine Praxis öffentlichen Vernunftge-
brauchs einem Prinzip, das er sich selbst in autonomer Weise vorgibt.
Die Idee ist so zwar ein universelles Prinzip des öffentlichen Vernunft-
gebrauchs, aber gleichzeitig ein freies Produkt der Selbstgesetzgebung
jedes Einzelnen. Ihre Funktion für den öffentlichen Vernunftgebrauch
können die Ideen erst nach ihrer transzendentalen Aufklärung ausüben,
in der sie eben als autonome Setzungen der Vernunft (als Maximen, de-
nen sich die Vernunft in ihrem öffentlichen Gebrauch selbst unterwirft,)
erkannt sind. Weil die Möglichkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs
die autonome Vernunft voraussetzt, ist er selbst ein Produkt der Frei-
heit.97
Fassen wir noch einmal zusammen: Damit ein empirisches Urteil An-
spruch auf Publizität erheben kann, muss der eigene Verstandesgebrauch
über die Relation zu synthetischen Prinzipien a priori dem Prinzip der
Systematisierung der Verstandesurteile unterworfen werden.98 Dies ent-
spricht der Maxime des gesunden Menschenverstandes (der Maxime der
Vernunft), einstimmig mit sich selbst zu denken.99 Erst durch die Befol-
gung dieser Maxime kann das konstituiert werden, was Kant öffentli-
chen Vernunftgebrauch nennt. Die Ideen regulieren nämlich den öffent-
lichen Diskurs dadurch, dass die kontingenten Erfahrungen in der Ori-
entierung an ihnen in eine systematische Einheit gebracht werden. Ein
Diskurs ist ja überhaupt nur dann sinnvoll, wenn seine Teilnehmer, die
ihre unterschiedlichen Erfahrungen einbringen, diese systematisieren
wollen, das heißt auf eine Einheit bringen wollen. In öffentlichen empiri-
schen Urteilen muss das urteilende Subjekt seine Urteile also nicht nur
den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung un-
terwerfen, sondern auch dem sich aus den Ideen der Vernunft ergeben-
den Prinzip der Systematizität. Andererseits zeigt sich dadurch, dass die-
se Ideen inhaltlich unbestimmte, nur regulative Prinzipien unseres öf-

95
GMS AA 4, 452.
96
KrV B 799f./A 771f.
97
Neiman 1994, 59.
98
„Without concepts, intuitions remain blind; without ideas, concepts are incoherent
and useless.“ (Brandt 1989, 179; vgl. auch: Neiman 1994, 44).
99
Prol AA 4, 359.
Minimalbedingungen 149

fentlichen Vernunftgebrauchs darstellen, dass der öffentliche Diskurs


hierdurch ebenso wenig prädeterminiert sein kann wie durch die trans-
zendentalen Verstandesprinzipien. Sie geben nur ein regulatives Ideal
vor. Insofern nun aber unsere Erfahrungen limitiert sind, müssen wir
nicht nur unsere eigenen Erfahrungen der systematischen Einheit unter-
werfen, sondern auch die Erfahrungen anderer in diese systematische
Einheit integrieren, sofern sie den transzendentalen Bedingungen öffent-
lichen Vernunftgebrauchs genügen. Insofern ist Publizität in der Tat eine
Voraussetzung allgemeingültiger Urteile. Weil die Integration der Erfah-
rungen Anderer durch eine selbst gesetzte Idee gefordert wird, findet
dieser Diskurs unter Bedingungen der Autonomie statt.

D. Reflektierende Urteilskraft und weltbürgerliche


Kommunikation

Wir haben im vorangehenden Abschnitt Kants transzendentale Regeln


weltbürgerlicher Kommunikation entwickelt. Weil diese Bedingungen
vom menschlichen Subjekt selbst erzeugt sind, realisiert sich in der Un-
terwerfung unter diese Bedingungen bereits die Autonomie des mensch-
lichen Subjekts.1 Die als Vermittlung und Applikation der reinen Moral-
philosophie auf die conditio humana notwendigen Diskurse der Pädago-
gik, Geschichte und praktischen Anthropologie wären unter diesen
Bedingungen jedoch überhaupt keiner öffentlichen Kommunikation im
Rahmen eines weltbürgerlichen Aufklärungsdiskurses fähig. Diese Dis-
kurse referieren in nur sehr eingeschränktem Maße auf Kategorien und
aus ihnen ableitbare metaphysische Grundlagen. Für das Projekt der
Aufklärung sind sie aber von entscheidender Bedeutung. Insofern schei-
nen die bisher entwickelten transzendentalen Rahmenbedingungen zu
eng, um alle aus Aufklärungssicht notwendigen, kosmopolitischen Dis-
kurse regulieren zu können.
Die zuletzt entwickelte regulative Bedingung weltbürgerlicher Kom-
munikation erlaubt es uns jedoch, einen Übergang von den Bedingungen
naturwissenschaftlicher Kommunikation zu anderen Formen öffentli-
cher Aufklärung zu finden. Denn die Vernunftidee systematischer Ein-
heit, die die naturwissenschaftliche Kommunikation reguliert, steht in
ihrer Realisierungsmöglichkeit unter einer Bedingung, die Vernunft und

1
Der Autonomiegrundsatz ist in der Tätigkeit der Welterkenntnis deshalb erfüllt, weil
die Vernunft das Gesetz nicht einfach der Natur entnimmt, sondern es ihr immer noch
vorschreibt (Prol AA 4, 320).
150 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Verstand nicht selbst garantieren können. So bedarf es noch einer Vo-


raussetzung, damit die Erfahrungstatsachen, die nur in unbestimmter
Weise durch Verstand und Sinnlichkeit geordnet sind, der Forderung
systematischer Ordnung unserer Erfahrungsbegriffe und -urteile genü-
gen können. Denn aus der objektiven Gültigkeit des Begriffs der Kausa-
lität und der Vernunftforderung, kausale Ereignisse zu systematisieren,
folgt nicht, dass sich die in der Erfahrung gegebenen, kausal geordneten
Einzeltatsachen in eine spezifische Ordnung allgemeingültiger Erfah-
rungsgesetze überführen lassen.2 Dass Wirkung x Ursache y voraussetzt
und so die Vorstellungen von x und y gemäß der Kategorie der Kausali-
tät zu einer Einheit synthetisiert werden müssen, schließt nicht ein, dass
es einen allgemeinen Typus x besonderer Wirkungen x1, x2, x3, ... gibt,
die von einem allgemeinen Typus y einzelner Ursachen y1, y2, y3, ... ab-
hängen, so dass sich ein allgemeingültiges Gesetz über den Zusammen-
hang zwischen x und y formulieren lässt.3 Vielmehr könnte jede erfahr-
bare Wirkung von einer völlig heterogenen Ursache abhängen. Genauso
wenig folgt, dass diese Erfahrungsgesetze sich auf allgemeinere Gesetze
zurückführen lassen, unter denen sie als Spezialfälle enthalten sind.
Ebenso folgt es weder aus den Formen der Sinnlichkeit noch des Ver-
standes, dass sich in der Erfahrung gegebene Einzelfälle als besondere
Fälle von etwas und damit begrifflich zu Arten und Gattungen anordnen
lassen. Die Einzelfälle könnten so heterogen sein, dass das Interesse an
systematischer Ordnung permanent frustriert würde.
So setzt die Vernunft die Gleichartigkeit und systematische Einheit
der Mannigfaltigkeit möglicher Erfahrung voraus, ohne die eine syste-
matische Ordnung unserer Erfahrung nicht möglich wäre.4 Diese syste-
matische Einheit der Erfahrung wird aber nicht durch die Kategorien ga-
rantiert. Damit ist sie nicht konstitutiv für die Natur. Die Universalität
der aus der Erfahrung gewonnenen Regeln (Begriffe und Gesetze) kann
deshalb nach KrV bloß hypothetisch angenommen werden.5 Als Bedin-
gung der Möglichkeit konkreter empirischer Erkenntnis durch Begriffe
und Gesetze setzt die Vernunft also eine für das menschliche Erkennt-
nisvermögen zweckmäßige Ordnung der Natur voraus, ohne ihr diese
konstitutiv zu Grunde legen zu können.
KrV zeigt nun zwar, dass die Vernunft eine Verfasstheit der Natur
hypothetisch voraussetzen muss, die durch den Verstand selbst nicht ga-
rantiert wird, ohne die das menschliche Erkenntnisinteresse jedoch not-
2
KrV B 682/A 653; Neiman 1994, 51; Zuckert 2007, 12; Allison 2001, 32; 37f.
3
Vgl. auch Zuckert 2007, 27.
4
KrV B 682/A 654; B 686/A 658; vgl. hierzu Zuckert 2007, 34f.
5
KrV B 675/A 647. Vgl. hierzu: Zammito 1992, 166.
Reflektierende Urteilskraft 151

wendig frustriert würde. Auf einen systematischen Begriff bringt Kant


diese Voraussetzung aber erst in KU mit „der Zweckmäßigkeit der Na-
tur“6 als transzendentalem Prinzip der Urteilskraft,7 durch das die empi-
rischen Dinge für uns zu einem Objekt unserer empirischen Erkenntnis
werden können: Wir müssen die Natur so betrachten, als ob sie unserem
Erkenntnisvermögen gemäß eingerichtet worden wäre.8
Mit diesem Prinzip der Zweckmäßigkeit etabliert Kant neben der be-
stimmenden die autonome reflektierende Funktion der Urteilskraft, die
vermittels ihres eigentümlichen Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur
eine rationale Weltorientierung in der vom Verstand allgemein kategori-
sierten und von der Einbildungskraft schematisierten Erfahrung erlaubt.9
Erst die Entdeckung der Autonomie der reflektierenden Urteilskraft und
ihres Prinzips der Zweckmäßigkeit rechtfertigt weltbürgerliche natur-
wissenschaftliche Kommunikation, die aus Perspektive des Verstandes
und der durch ihn determinierten bestimmenden Urteilskraft noch im-
mer als kontingent erscheinen muss.10 Erst unter Voraussetzung dieses
Prinzips lassen sich die scheinbar privaten Einzelerfahrungen auf allge-
meingültige Begriffe, Urteile und Gesetze bringen, die die Bedingungen
weltbürgerlicher Kommunikation erfüllen. Für den weltbürgerlichen
Aufklärungsdiskurs ist jedoch mindestens ebenso entscheidend, dass
vermittelst dieses autonomen Vermögens und seines Prinzips erstmals
auch die öffentliche Kommunikation nicht-naturwissenschaftlicher Ur-
teile transzendental begründet wird.11
Mit der Einführung der reflektierenden Urteilskraft und ihres Prin-
zips der Zweckmäßigkeit stellt Kant den öffentlichen Vernunftgebrauch
also auf eine noch bestimmtere und zugleich breitere Basis.12 Das werden
wir im Folgenden in drei Schritten ausführen: Zunächst analysieren wir
die Notwendigkeit der reflektierenden Urteilskraft und ihres Prinzips
6
KU AA 5, 181.
7
KU AA 5, 181. Von einem transzendentalen Prinzip unterscheiden sich in KU meta-
physische Prinzipien als Bedingungen a priori, unter denen „Objekte, deren Begriff empi-
risch gegeben sein muß, a priori weiter bestimmt werden können“ (ibid.).
8
Allison 2001, 30; 39. Zur Bewertung der Neuartigkeit dieses Prinzips gegenüber dem
hypothetischen Vernunftgebrauch in KrV vgl.: Zuckert 2007, 44; 51f. Makkreel 1991, 50;
55f.; ders. 1990, 3; 57; Horstmann 1989, 167f.; ders. 1997, 115; 146f. Dagegen: Neiman
1994, 86; Friedman 1992, 48; 51f.; 263f.
9
Horstmann 1997, 157. Beiden Funktionen von Urteilskraft ist gemeinsam, „das Be-
sondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KU AA 5, 179).
10
Förster 2000, 5; Zuckert 2007, 14f.
11
Kant transformiert dabei die Bedeutung von „transzendental“: Der Begriff impliziert
keine objektive Notwendigkeit mehr, sondern nur noch subjektive Notwendigkeit für die
Möglichkeit von Erfahrung (Horstmann 1997, 179).
12
Dagegen: Mathieu 1989, 42f.; 45; gegen Mathieu wiederum vgl. Förster 2000, 177.
152 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

für die Möglichkeit weltbürgerlicher, naturwissenschaftlicher Kommu-


nikation (I). Anschließend untersuchen wir ihre Leistung für einen für
jede weltbürgerliche Kommunikation scheinbar ungeeigneten Diskurs,
den Diskurs über ästhetische Urteile (II). Zuletzt übertragen wir die so
entwickelten Ergebnisse auf den nicht-naturwissenschaftlichen Aufklä-
rungsdiskurs (III).

I. Die systematisierende Funktion der reflektierenden Urteilskraft

Wir haben bereits festgestellt: Die Naturgegenstände könnten so hetero-


gen sein, dass ihre begriffliche Ordnung nach Art und Gattung nicht
möglich wäre.13 Die durch den Verstand hervorgebrachten transzenden-
talen Bestimmungen lassen so viele Modifikationen zu, dass die mannig-
faltigen Ereignisse und Gegenstände der Natur über die transzendenta-
len Bestimmungen hinaus keine systematische Erkenntnis zulassen
könnten. 14 Das Naturgeschehen könnte so fragmentiert sein, dass das
Denken in seiner Betrachtung nur „ein rohes chaotisches Aggregat“ vor-
finden würde,15 anstatt es unter hierarchisch geordnete empirische Be-
griffe und Naturgesetze subsumieren zu können.16 Eben diese systemati-
sche Vereinheitlichung sucht die menschliche Erkenntnis aber notwen-
dig in der Natur. Insofern das Denken den Versuch unternimmt, die
Natur rational-begrifflich zu durchdringen und die Vielfalt der Naturer-
scheinungen in eine Ordnung von Naturbegriffen und Naturgesetzen zu
bringen, setzt es bereits die Systematisierbarkeit dieser Vielfalt voraus.
Diese Voraussetzung muss jeder machen, der die Natur über ihre kate-
gorial-transzendentale Ordnung hinausgehend erforscht.17 Aus Perspek-
tive des Verstandes ist dies jedoch zufällig, weil das System der Vielfalt
nur der Erfahrung entnommen wird. 18 So ist durch den Verstand der
Charakter des Verursachtseins jedes empirischen Ereignisses mit Not-
wendigkeit bestimmt, da der Begriff der Ursache auf Grund seines kate-
gorialen Charakters als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung zum
Inbegriff von Natur gehört, die spezifischen Ursache-Wirkungs-
Relationen empirischer Naturereignisse sind aus Perspektive des Ver-
standes allerdings kontingent. Wenn die empirischen Spezifikationen des

13
EEKU AA 20, 213; KU AA 5, 185.
14
EEKU AA 20, 203; KU AA 5, 179f.
15
EEKU AA 20, 209.
16
KU AA 5, 185.
17
EEKU AA 20, 204.
18
KU AA 5, 185; 187.
Reflektierende Urteilskraft 153

Kausalitätsprinzips dennoch als „Gesetze“ bezeichnet werden sollen, so


müssen sie noch unter einem anderen Prinzip als denen des Verstandes
stehen. Als Bedingung der Möglichkeit empirischer Naturerkenntnis
muss das urteilende Subjekt ein weiteres Einheitsprinzip voraussetzen,
damit es die Natur nicht als bloßes Aggregat von Einzelfällen, sondern
als systematischen Zusammenhang verstehen kann:

[S]o muß die Urtheilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Princip a priori an-
nehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (em-
pirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber
doch denkbare gesetzliche Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu
einer an sich möglichen Erfahrung enthalte.19

Dieses Prinzip ist nun nicht konstitutiv für die Natur, sondern nur für
die Möglichkeit unserer Naturerkenntnis: Wir können nicht urteilen,
dass die Natur rational durchdringbar ist, müssen aber so urteilen, als ob
sie rational durchdringbar wäre und dem Bedürfnis unserer sinnlich be-
dingten Erkenntnis entspricht.20 Um die Andersartigkeit dieses Prinzips
im Vergleich mit den Kategorien zum Ausdruck zu bringen, spricht
Kant ihm nur subjektive Notwendigkeit zu. Es ist gleichzeitig transzen-
dental und subjektiv und ohne es könnten wir empirische Naturer-
kenntnis nicht einmal als möglich denken.21 Das Prinzip der Zweckmä-
ßigkeit der Natur ist damit transzendental, weil es eine allgemeine, wenn
auch subjektive Bedingung a priori ist, ohne die Naturerscheinungen gar
nicht Gegenstand unserer Erkenntnis werden könnten. Der subjektive
Status dieses transzendentalen Prinzips unterscheidet es von transzen-
dentalen und zugleich metaphysischen Prinzipien, die ebenfalls Bedin-
gungen a priori möglicher Naturerkenntnis sind, durch die jedoch empi-
risch gegebene Begriffe „a priori weiter bestimmt werden können“.22 Es
handelt sich bei diesem Prinzip also um keine objektive Bestimmung der
Natur, durch die diese kategorial determiniert würde, aber doch um eine
subjektiv notwendige transzendentale Voraussetzung unserer Naturbe-
trachtung.23
Systematische Naturerkenntnis ist nur unter der Bedingung möglich,
dass das nach Erkenntnis strebende Subjekt die Natur so denkt, als wäre
sie in Relation zu seinen Erkenntnisvermögen zweckmäßig eingerichtet,
19
KU AA 5, 183f.
20
Zuckert 2007, 36f.; KU AA 5, 185.
21
Ein allgemeingültig sein sollendes Urteil muss auf ein a priori gültiges Prinzip bezo-
gen sein (EEKU AA 20, 239).
22
KU AA 5, 181; Allison 2001, 36.
23
EEKU AA 20, 209.
154 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

so dass sie keinen solchen Grad an Heterogenität aufweist, der eine em-
pirische Systematisierung der Natur unmöglich machen würde, 24 son-
dern als ein durch empirische Gesetze konstituiertes System verstanden
werden kann.25 Diese subjektiv-transzendentale Voraussetzung der Ur-
teilskraft bezeichnet Kant als das a priorische Prinzip der Zweckmäßig-
keit der Natur.26 Die empirischen Bestimmungen der Verstandesgesetze
werden gemäß diesem Prinzip so betrachtet, als ob die Natur durch ei-
nen Verstand zum Zwecke der Möglichkeit unserer Erkenntnis bearbei-
tet worden wäre.27 Diese Übereinstimmung der Natur mit unserem Er-
kenntnisbedürfnis ist an sich selbst als zufällig zu beurteilen, in Bezug
auf unser Erkenntnisbedürfnis aber als notwendig.28 Für unsere Natur-
erkenntnis und den empirischen Aufklärungsdiskurs ist das Prinzip ge-
nauso notwendig wie die objektiv gültigen Verstandesgesetze.29
In welcher Funktion bestimmt das Prinzip der Zweckmäßigkeit je-
doch die Urteilskraft? Die bestimmende Urteilskraft, die das Besondere
unter das Allgemeine subsumiert,30 scheidet aus, da sie durch den Ver-
stand determiniert wird. Würde also die bestimmende Urteilskraft durch
dieses Prinzip bestimmt, so müsste es sich bei dem Prinzip der Zweck-
mäßigkeit der Natur um ein Verstandesprinzip handeln. Der Verstand
konstituiert die Natur aber nach objektiven Regeln. Jede Naturerschei-
nung müsste dann objektiv zweckmäßig sein und nicht nur so beurteilt
werden, als wäre sie zweckmäßig. Aber auch wenn Kant den transzen-
dentalen Charakter des Prinzips der Zweckmäßigkeit behauptet, so han-
delt es sich doch um ein bloß subjektives Prinzip.31
Hieraus ergibt sich, dass noch ein weiteres Vermögen der Urteilskraft,
die „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen“ denkt,32 ange-
nommen werden muss, das Kant als reflektierende Urteilskraft bezeich-
net. Subsumiert die bestimmende Urteilskraft das Besondere unter gege-
bene Begriffe, so geht die reflektierende Urteilskraft dagegen vom Be-

24
EEKU AA 20, 209.
25
KU AA 5, 184.
26
KU AA 5, 183.
27
KU AA 5, 180; EEKU AA 20, 243. Umgekehrt ist es ein Kriterium für die tatsächli-
che Geltung aufgestellter, empirischer Naturgesetze, inwieweit sie diesem Prinzip ent-
sprechen und sich damit in den systematischen Zusammenhang der Naturbetrachtung
einfügen (Emundts 2004, 7).
28
KU AA 5, 186.
29
KU AA 5, 186f.
30
Die Urteilskraft als solche vermittelt zwischen Verstand und Vernunft (EEKU AA
20, 242).
31
KU AA 5, 184.
32
KU AA 5, 179.
Reflektierende Urteilskraft 155

sonderen aus und entwickelt hieraus das Allgemeine. In der Reflexion


werden gegebene Vorstellungen daraufhin verglichen, ob sie sich zu ei-
nem Begriff verbinden lassen, wobei die Begriffe zueinander wieder in
einem Gattung-Art-Verhältnis stehen müssen. Die Reflexion setzt dabei
voraus, dass sich zu allen Naturgegenständen ein Begriff finden lässt.33
Die reflektierende Urteilskraft ist entsprechend das Vermögen, zu der
Vielfalt der Naturerscheinungen ein System von immer allgemeineren
empirischen Begriffen und Gesetzen zu suchen. 34 Für ihre spezifische
Tätigkeit, nämlich die Generisierung empirischer Unterschiede in der
Natur, setzt sie voraus, dass die Natur die transzendentalen Gesetze des
Verstandes weiter spezifiziert. 35 Die reflektierende Urteilskraft bedarf
des Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur als eines „Leitfadens“, um
einen einheitlichen, systematischen Zusammenhang der Gesetzmäßigkeit
der Natur erhoffen zu können, da die Einheit der empirischen Naturer-
scheinungen bloß kontingent ist.36 Die Natur wird von der reflektieren-
den Urteilskraft also als in dem Sinne zweckmäßig gedacht, dass ein Sys-
tem empirischer Erkenntnis von ihr möglich ist. Sie setzt deshalb voraus,
dass die Natur ihrem Bedürfnis entspricht, das gegebene Besondere un-
ter ein Allgemeines zu subsumieren.37
Das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist also ein transzendentales Prinzip
der reflektierenden Urteilskraft, die das Allgemeine zum Besonderen (al-
so die Regel zum Einzelfall bzw. die allgemeinere Regel zur besonderen)
zu finden versucht.38 Es ist ein subjektives Prinzip, weil es nicht auf die
Gegenstände der Erfahrung selbst appliziert werden kann, sondern nur
die Praxis unseres Urteilens strukturiert.39 Für den Gebrauch der reflek-
tierenden Urteilskraft ergeben sich damit drei Charakteristika, die zu-
gleich Bedingungen ihres weltbürgerlichen Gebrauchs sind:

33
EEKU AA 20, 212. Die Tätigkeit der Reflexion besteht nach Anth in der Verbin-
dung des Mannigfaltigen der Vorstellung nach einem Begriff als Regel der Einheit des
Mannigfaltigen unter Anwendung der transzendentalen Schemata auf die empirische Syn-
thesis (Anth AA 7, 141).
34
Guyer 2003, 2. So besteht eine wesentliche Neuerung von KU nach Guyer darin,
dass Kant nicht mehr annimmt, dass wir nur ein empirisches Wissen von individuellen
Naturgesetzen haben, sondern er versteht diese Gesetze nun als Einheit von empirischen
und nicht-empirischen Annahmen (Guyer 2005, 39). Dabei ist es das Ideal der Systemati-
zität, das zwischen Strukturen a priori und empirischen Anschauungen vermittelt (ibid.
49). Diesem Ideal könne sich das menschliche Wissen aber nur asymptotisch annähern
(ibid., 44, 53, 79, 93, 99, 176).
35
EEKU AA 20, 215.
36
KU AA 5, 387.
37
EEKU AA 20, 202.
38
EEKU AA 20, 209.
39
Zuckert 2007, 5.
156 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Ist die bestimmende Urteilskraft, die durch objektive Verstandesge-


setze bestimmt ist, in gewissem Sinne heteronom, so ist die reflektieren-
de Urteilskraft, die nur subjektiv durch ihr eigenes Prinzip der Zweck-
mäßigkeit bestimmt ist, autonom.40 Das Prinzip der Zweckmäßigkeit ist
ein Prinzip, das die Urteilskraft sich für ihre reflektierende Tätigkeit
selbst gibt und durch das sie sich selbst bestimmt, wie sie über die Natur
reflektieren will. 41 Anders als die bestimmende Urteilskraft prozediert
die reflektierende Urteilskraft dabei nicht mechanisch, sondern „künst-
lich“.42 In ihrer rational-begrifflichen Durchdringung der Natur ist die
reflektierende Urteilskraft also durch ein Prinzip bestimmt, das sie sich
in ihrer Erforschung der Natur selbst vorschreibt. Das Prinzip ist not-
wendig, weil wir ohne es keine Ordnung innerhalb der Diversität des
Natürlichen auffassen könnten.43 Die Urteilskraft schreibt sich mit ihm
also selbst ein Gesetz vor, gemäß dem sie ihre Reflexion über die Natur
bestimmen muss.44 In dieser Durchdringung der Natur erfährt die Ur-
teilskraft und damit auch das urteilende Subjekt seine eigene Autono-
mie.45 Insofern man dieses Prinzip im weltbürgerlichen Aufklärungsdis-
kurs der rationalen Naturerforschung unterstellt, erkennt man sie also
gerade als autonom an.46
Insofern urteilende Subjekte die Homogenität der Erfahrung voraus-
setzen müssen, um überhaupt empirisch-wissenschaftliche Urteile über
die Natur fällen zu können, müssen sie auch voraussetzen, dass ihre Er-
fahrungen mit denen anderer urteilender Subjekte kommensurabel sind,
unabhängig von ihrem kontingenten Standpunkt.47 Die Homogenität der
Naturerfahrung muss im Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft auf

40
KU AA 5, 389.
41
KU AA 5, 180.
42
EEKU AA 20, 214.
43
Zuckert 2007, 5.
44
KU AA 5, 186. Subjektiv ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit also auch deshalb, weil
dieses Prinzip die eigene Urteilspraxis des Subjekts bestimmt (Zuckert 2007, 77).
45
Im Auffinden eines Gesetzes, das andere Gesetze vereint, das heißt im gesetzmäßi-
gen Gebrauch dieser Freiheit, empfinden wir so auch nach Kant Lust, die zugleich Lust an
der Zweckmäßigkeit der Natur für unser autonomes Erkenntnisvermögen ist (KU AA 5,
187).
46
Dieses Konzept der Zweckmäßigkeit ist auch gegen Leibniz gerichtet, der die Ver-
nunft als objektive Ordnung der Natur versteht, die der Grund unserer
Verstehensmöglichkeit ist (Neiman 1994, 13), so dass die menschliche Vernunft die ihr
vorgegebene Ordnung nur passiv aus der Natur abliest (ibid., 26). Damit würde die Ver-
nunfttätigkeit des Menschen jedoch zu etwas mechanischem, heteronom bestimmten
(ibid., 31–33).
47
So betont Kant vor allem in OP, dass es nur eine Erfahrung und nicht mehrere Er-
fahrungen gibt (Beiser 2002, 117; AA 21, 89; 99).
Reflektierende Urteilskraft 157

Grund der Zweckmäßigkeit der Natur also über kulturelle Grenzen


hinweg angenommen werden. Wer sich damit auf die Praxis systemati-
scher Welterklärungen im naturwissenschaftlichen Aufklärungsdiskurs
einlässt, der kann sich später nicht auf die völlige Verschiedenheit von
Erfahrungssystemen zurückziehen. Er muss also die Bedingungen welt-
bürgerlicher Kommunikation und Aufklärung anerkennen.48
Da individuelle Erfahrungen immer nur partikularer Natur sein kön-
nen, muss sich derjenige, der die Natur systematisch erkennen will, auf
einen offenen Diskurs über die empirische Bestimmtheit der Natur ein-
lassen. Denn da es sich beim Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur nur
um ein subjektiv-notwendiges Prinzip handelt, kann nicht aus den eige-
nen, partikularen Erfahrungen unmittelbar auf die notwendige Universa-
lität dieser Erfahrung geschlossen werden. Die reflektierende Urteils-
kraft hat ein kohärentes System zu verwirklichen, das die Erfahrungen
aller Weltbürger idealer Weise integrieren würde.49 Empirische Urteile
müssen also weltbürgerlich kommuniziert werden.

II. Die ästhetische Funktion der reflektierenden Urteilskraft

Im vorangehenden Abschnitt haben wir die Funktion des Prinzips der


Zweckmäßigkeit der Natur und des Vermögens der reflektierenden Ur-
teilskraft für die weltbürgerliche Kommunikation empirisch-
naturwissenschaftlicher Urteile analysiert. Entwicklungsgeschichtlich ist
jedoch das Problem reiner ästhetischer Geschmacksurteile der Form
„Diese Rose ist schön“ der Ausgangspunkt für Kants Entwicklung des
Prinzips der Zweckmäßigkeit und der reflektierenden Urteilskraft.50 Die
Einführung eines neuen Prinzips in Bezug auf reine Geschmacksurteile
ist für Kant deshalb notwendig, weil er mit seinem bis dahin entwickel-
ten Begriffsinstrumentarium nicht den Anspruch reiner Geschmacksur-
teile verständlich machen kann, öffentlich kommunikabel zu sein. Für
uns ist diese Entwicklung deshalb relevant, weil mit der Entdeckung des
neuen Prinzips ein neues Feld des öffentlichen Aufklärungsdiskurses er-
48
Im Bereich der Erfahrungsurteile offenbart derjenige, der seinen privaten Erfah-
rungskreis nicht überschreiten will, dass er kein Interesse an systematischer Welterkennt-
nis hat. Deshalb bezeichnet Kant ihn als logischen Egoisten (Anth AA 7, 128f.; vgl. auch
Refl 2564 AA 16, 418; Log AA 9, 80).
49
Diese Integration wirkt ihrerseits zurück auf die Autonomie der Vernunft: Denn nur
durch die kritische Integration anderer Standpunkte wird die Vernunft selbstkritisch und
entwickelt sich (Henrich 1982; Wood 2003, 55; Deligiorgi 2005, 83; Anth AA 7, 128–130;
200; 228f.; KU AA 5, 294–296).
50
Vgl. hierzu: AA 10, 514; Klemme 2006, xxii; Horstmann 1997, 136; Guyer 2003, 2.
158 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

schlossen wird, das über die Naturwissenschaft hinausgeht. Dass ein na-
turwissenschaftlich-weltbürgerlicher Diskurs möglich ist, scheint wenig
kontrovers, da er bereits wirklich ist. Dass ein weltbürgerlicher Aufklä-
rungsdiskurs auch im Bereich der Ästhetik über kulturelle Grenzen
hinweg möglich ist, dürfte weit weniger zustimmungsfähig sein. Kant
glaubt jedoch, auch für solch einen Diskurs die transzendentalen Grund-
lagen bereitstellen zu können. Wir werden im Folgenden deshalb zu-
nächst den besonderen Status der reinen Geschmacksurteile in KU un-
tersuchen (a). In einem zweiten Schritt analysieren wir, mittels welcher
Annahmen Kant unsere Praxis ästhetischer Geschmacksurteile rechtfer-
tigt (b). In einem letzten Schritt werden wir dann darlegen, inwieweit
dies für die Aufklärung als weltbürgerliche Kommunikation relevant ist
(c).

a. Der Status ästhetischer Urteile

Das Grundproblem des Schönheitsurteils bei Kant lässt sich zunächst in


folgender Weise skizzieren: Die Lust oder Unlust, die ein Subjekt an ei-
nem Gegenstand empfindet, können nie Gegenstand einer Erkenntnis
werden. 51 Als bloß subjektive Empfindungen lassen sie sich anderen
Subjekten nicht einmal kommunizieren, weil man ihre Gleichartigkeit
bei anderen nicht voraussetzen kann.52 So ist die Gültigkeit von Privatur-
teilen ja gerade deshalb auf das jeweilige Individuum beschränkt, weil sie
sich nur auf die Empfindung des Urteilenden beziehen.53 Dennoch mutet
der Urteilende im Schönheitsurteil seine Lustempfindung, die er in der
Wahrnehmung des als schön beurteilten Gegenstandes empfindet, jedem
zu. Gegenstand des Geschmacksurteils soll nach Kant sogar „die Allge-
meingültigkeit dieser Lust“ sein.54 Der Geschmack ist gar nichts anderes
als das Vermögen der ästhetischen Urtheilskraft zur allgemeingültigen
Beurteilung des Schönen bzw. der Kommunikabilität einer Lustempfin-
dung.55
51
KU AA 5, 189.
52
KU AA 5, 291; Brief an Beck vom 1.7.1794 AA 11, 515.
53
KU AA 5, 339.
54
KU AA 5, 289. Kant bezeichnet es in KU § 9 als „Schlüssel zur Kritik des Ge-
schmacks“ (AA 5, 216), ob im Geschmacksurteil die Lustempfindung der Beurteilung des
Gegenstandes und seiner Mitteilbarkeit vorhergehe oder umgekehrt. Zu diesem intensiv
diskutierten Problem vgl.: Longuenesse 2005, 271–278; Guyer 1982, 22; 36; ders. 1993, 8;
Ginsborg 1991, 300–308; dies. 2015, 47; 51; 41f.; dies. 1990, 6f.; 20; Allison 2001, 110–118.
55
KU AA 5, 203; 211; 190; 296; Anth AA 7, 241; Refl 1793 AA 16, 117; Refl 1872 AA
16, 145.
Reflektierende Urteilskraft 159

Im reinen Geschmacksurteil („x ist schön“) beurteilt das urteilende


Subjekt also einen Gegenstand der Natur oder Kunst mit dem Anspruch
auf universelle Zustimmung als schön.56 Ausgangspunkt für Kants Ana-
lyse des Schönheitsurteils ist nun genau diese Praxis ästhetischen Urtei-
lens. Anders als das Urteil: „Diese Rose riecht angenehm“, das bloße
Privatgültigkeit beansprucht, verlangt ein Geschmacksurteil der Form
„Diese Rose ist schön“ universelle Zustimmung:

Das Geschmacksurtheil sinnt jedermann Beistimmung an; und wer etwas für
schön erklärt, will, daß jedermann dem vorliegenden Gegenstande Beifall geben
und ihn gleichfalls für schön erklären solle.57

Mit dem Ausdruck „ansinnen“ will Kant den besonderen Status der All-
gemeinheit reiner ästhetischer Urteile zum Ausdruck bringen: Weder
erwartet oder erhofft der Urteilende faktisch die Zustimmung aller urtei-
lenden Subjekte, noch fordert er sie normativ.58 Anders als im bloß pri-
vat gültigen Empfindungsurteil behauptet der Urteilende im reinen Ge-
schmacksurteil jedoch „eine allgemeine Stimme für sich zu haben und
macht Anspruch auf Beitritt von jedermann“.59 Er „urtheilt nicht bloß
für sich, sondern für jedermann“. 60 Dieser Anspruch ist essentiell für
reine Geschmacksurteile.61 Der Urteilende versteht sein Urteil nicht als
bloßes Privaturteil, sondern als öffentliches Urteil. Reine Geschmacksur-
teile werden also mit dem Anspruch auf weltbürgerliche Kommunikabi-
lität gefällt. Diesen Anspruch rechtfertigt Kant durch seine transzenden-
tale Grundlegung ästhetischer Urteile.62
Problematisch ist nun aber, dass dieses Urteil für das urteilende Sub-
jekt einzig und allein auf dem Gefühl seines Wohlgefallens in der Beur-
56
Universalität bedeutet hierbei nur: „Gültig für jedes Subjekt“, nicht: „Gültig für alle
Objekte der Art x“. Das reine Geschmacksurteil bezieht sich nämlich immer auf Einzel-
gegenstände. Urteile über Allgemeinbegriffe sind hingegen ästhetisch begründete logische
Urteile. Trotz der beanspruchten Allgemeingültigkeit urteilt das Subjekt jedoch im Ge-
schmacksurteil anders als im objektiven Erkenntnisurteil nicht als Subjekt überhaupt,
sondern explizit als dieses einzelne Subjekt, für das dieser Gegenstand schön ist (Vossen-
kuhl 1995, 112; vgl. auch Makkreel 1990, 92).
57
KU AA 5, 237.
58
„Ansinnen“ ist Werben um Zustimmung aller Anderen (KU AA 5, 237). Nach Lon-
guenesse sind ästhetische Urteile dagegen nicht deskriptiv, sondern normativ (Longuenes-
se 2005, 12).
59
KU AA 5, 216.
60
KU AA 5, 212.
61
KU AA 5, 214.
62
Ich beschränke mich im Folgenden auf das Geschmacksurteil über die Schönheit ei-
nes Gegenstandes und im Besonderen auf die Beurteilung von Naturgegenständen und
klammere das Urteil über das Erhabene aus.
160 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

teilung des als schön beurteilten Gegenstandes gründet. Im Ge-


schmacksurteil wird also ein subjektives Gefühl für allgemeingültig er-
klärt.63 Kant legt dabei besonderen Wert darauf, dass es keine begriffli-
che Regel gibt, die den Allgemeingültigkeitsanspruch eines reinen Ge-
schmacksurteils objektiv legitimieren könnte. 64 Es kann keine solche
Regel geben, weil der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils kein
Begriff, sondern ein Gefühl ist. Das Schönheitsurteil macht also An-
spruch auf Publizität ohne Begriff und kann deshalb auch nicht aus
Gründen a priori bewiesen werden.65
In seiner Begründung ästhetischer Urteile muss Kant deshalb seine
disjunktive Unterscheidung zwischen allgemeingültigen Urteilen, die auf
einem Begriff beruhen, und bloßen Privaturteilen aufgeben und den
Raum allgemeingültiger Urteile erweitern. Sind Erfahrungsurteile nach
Prol nur unter der Bedingung kommunikabel, dass sie unter einem rei-
nen Verstandesbegriff zustande kommen, erfüllen Geschmacksurteile
diese Bedingung explizit nicht.66 Denn im reinen Geschmacksurteil er-
hebt die Urteilskraft Anspruch auf Allgemeingültigkeit, ohne überhaupt
Bezug auf Kategorien oder Verstandesprinzipien zu nehmen. Es gibt
deshalb keinen Grundsatz und keine Regel, unter die man sein eigenes
konkretes Geschmacksurteil subsumieren und gegenüber den Adressa-
ten seines Urteils in seiner Allgemeingültigkeit rechtfertigen könnte. Die
für das Geschmacksurteil wesentliche Lust am Objekt kann nur emp-
funden, aber nicht bewiesen werden.67 Dennoch beansprucht es zu Recht
allgemeine Mitteilbarkeit und Zustimmung,68 „als es nur immer gesche-
hen könnte, wenn es ein objectives Urtheil wäre, das auf Erkenntniß-
gründen beruht“.69

63
KU AA 5, 221.
64
KU AA 5, 215f.; Zuckert 2007, 3.
65
KU AA 5, 231; 281; 284; 286. Die rationalistischen ästhetischen Theorien zur Zeit
Kants begründen Schönheit dagegen über den Begriff der Vollkommenheit: Ein Gegen-
stand ist genau dann schön, wenn er alle für diese Art Gegenstand erforderlichen Eigen-
schaften aufweist (Zuckert 2007, 183). „Schönheit“ bezeichnet dann eben nur die unklare,
sinnliche Auffassung dieser Vollkommenheit im Gegensatz zu ihrer klaren, intellektuellen
Auffassung (ibid. 227). Diese rationalistische Begründung von Schönheitsurteilen basiert
nach Kant jedoch auf dem falschen Verständnis sinnlicher Vorstellungen als diffuse ver-
nünftige Vorstellungen (ibid., 9).
66
KU AA 5, 293.
67
KU AA 5, 285; 281.
68
Schönheit kann also, wenn die Verbindung von einem Gegenstand mit dem Prädikat
„schön“ ohne Vermittlung jeglicher Kategorie erfolgt, kein Akzidenz des Gegenstandes
sein. Eben deshalb kann es auch keine objektive Eigenschaft des Gegenstandes sein.
69
KU AA 5, 285.
Reflektierende Urteilskraft 161

Fassen wir unsere bisherigen Überlegungen kurz zusammen: Die Ei-


gentümlichkeit des reinen Geschmacksurteils besteht darin, dass es trotz
seiner Allgemeingültigkeit kein objektives Urteil ist, das mit dem Prädi-
kat „schön“ den beurteilten Gegenstand gemäß einer Regel logisch be-
stimmen würde, sondern drückt eine Wirkung des Gegenstandes auf das
Subjekt aus.70 In ästhetischen Urteilen fällt der Urteilende kein Urteil
über die Bestimmungen seines Urteilsgegenstandes. 71 Die notwendige
Allgemeingültigkeit bzw. Kommunikabilität seines Urteils kann dem
Geschmacksurteil deshalb nicht auf Grund objektiver Eigenschaften des
beurteilten Gegenstandes zukommen, sondern muss subjektiv begründet
sein.72 Auch wenn das Schönheitsurteil urteilt, „als ob es objectiv wä-
re“,73 gelten ästhetische Beschaffenheiten eines Gegenstandes in Wahr-
heit bloß in Relation auf das urteilende Subjekt.74 Das Schönheitsurteil
drückt eine vom Urteilssubjekt empfundene Wirkung des Gegenstandes
auf das Subjekt aus. 75 Diese „subjectiv[e] Allgemeingültigkeit“ 76 von
Schönheitsurteilen wäre aus Sicht von Prol noch eine contradictio in
adiecto. Behauptet Prol die Austauschbarkeit von objektiver und univer-
seller Gültigkeit eines Urteils, so revidiert Kant in KU diese Gleichset-
zung mit der Anerkennung der Kommunikabilität ästhetischer Urteile.77
Die Ausdrücke „objektiv“ und „allgemeingültig“ sind nicht mehr
extensional deckungsgleich. Objektiv impliziert zwar allgemeingültig,
aber nicht umgekehrt.78 Dies ermöglicht eine Erweiterung des öffentli-
chen Aufklärungsdiskurses auf eine neue Art von Urteilen.

b. Die Legitimität reiner Geschmacksurteile

Wir haben festgestellt, dass Kant mit seiner Behauptung der Kommuni-
kabilität des Schönheitsurteils seine früheren Kriterien zur Unterschei-
dung zwischen bloß privat gültigen und deshalb nicht kommunikablen
Wahrnehmungsurteilen und weltbürgerlich kommunikablen Urteilen

70
KU AA 5, 188f.
71
EEKU AA 20, 225.
72
KU AA 5, 212.
73
KU AA 5, 281; 285.
74
KU AA 5, 188. Bartuschat folgert hieraus, dass der Mensch in der ästhetischen Er-
fahrung gar nicht die Erfahrung von einem Gegenstand, sondern „von sich selbst macht“
(Bartuschat 1995, 51).
75
KU AA 5, 203f.
76
KU AA 5, 215.
77
Ginsborg 1990, 77.
78
KU AA 5, 215.
162 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

unterwandert. Dies ist nur möglich durch die Entdeckung neuer Prinzi-
pien, gemäß denen diese Urteile legitimer Weise Anspruch auf Kommu-
nikabilität erheben können. Jenseits der Frage nach der Beurteilungs-
möglichkeit der Wahrheit spezifischer Geschmacksurteile ergibt sich al-
so das Problem, welches Prinzip der Kommunikabilität von
Geschmacksurteilen als Ersatz für die transzendentalen Gesetze der
Möglichkeit von Erfahrung überhaupt den Schönheitsurteilen zu Grun-
de gelegt werden kann.
Wie wir sahen, gründet sich das Schönheitsurteil nach Kant nicht auf
eine Regel. Das Schönheitsurteil ist durch eine subjektive Wirkung
(Wohlgefallen) begründet, die der schöne Gegenstand auf das urteilende
Subjekt entfaltet und sich in einem Gefühl der Lust manifestiert. Soll das
Schönheitsurteil dennoch kommunikabel sein, so darf diese Wirkung
nun nicht durch kontingente Bestimmungen des Urteilssubjektes be-
dingt sein. In der Explikation der Bedingungen des Schönheitsurteils
verfährt Kant deshalb zunächst via abstractionis, um diese Kontingenz
auszuschließen:
Gewöhnliche Lust-Unlust-Empfindungen (die Empfindungen des
Angenehmen) gründen nach Kant auf einem Interesse des Subjektes an
der Existenz eines Gegenstandes oder seinem Begehren.79 Dieses Interes-
se ist aber abhängig von der kontingenten Beschaffenheit des Subjekts,
so dass das Urteil nur private Geltung besitzt. Ein allgemeingültiges äs-
thetisches Urteil muss deshalb von den Bedingungen der Privatheit abs-
trahieren und das bedeutet nach Kant, dass es vom Interesse des urtei-
lenden Subjekts an der Existenz des als schön beurteilten Gegenstandes
unabhängig sein muss. Ein allgemeingültiges ästhetisches Urteil muss
deshalb auf dem interesselosen Wohlgefallen des Subjekts am Urteilsge-
genstand gründen.80 Wenn der Wirkung des Gegenstandes auf das Sub-
jekt nämlich kein privates Interesse des urteilenden Subjekts zu Grunde
liegt, so kann das Gefühl des Schönen nicht in der kontingenten Beschaf-
fenheit des urteilenden Individuums gründen.81 Das interesselose Wohl-
gefallen ist deshalb nach Kant das einzige, allerdings unzuverlässige Kri-
terium des reinen Geschmacksurteils. 82 Das Desinteresse bezieht sich
dabei auf die Existenz des Gegenstandes, das Wohlgefallen auf die reine

79
KU AA 5, 211.
80
KU AA 5, 267. Kant nennt dieses interesselose Wohlgefallen auch „contemplative
Lust oder unthätiges Wohlgefallen“ (MdS AA 6, 212) und bezeichnet das entsprechende
Urteil als „bloß contemplativ“ (KU AA 5, 209). Zum Übergang von der Interesselosigkeit
zur Universalität vgl. u. a. Allison 2001, 100f.
81
KU AA 5, 211.
82
Kulenkampff 1995, 35.
Reflektierende Urteilskraft 163

Vorstellung von dem Gegenstand.83 Die Begründung der Allgemeingül-


tigkeit des Schönheitsurteils erfolgt hier also ex negativo: Weil dem inte-
resselosen Wohlgefallen am schönen Gegenstand kein Privatinteresse zu
Grunde liegt, muss es allgemeingültig sein.84
Um ein kommunikables Schönheitsurteil fällen zu können, muss sich
das urteilende Subjekt deshalb zunächst über die möglichen bloß „sub-
jectiven Privatbedingungen“ und Beschränkungen seines ästhetischen
Urteils aufzuklären suchen. Diese Forderung lässt sich dann auf alle in
weltbürgerlichen Aufklärungsdiskursen vorgebrachten Urteile übertra-
gen: Im öffentlichen Aufklärungsdiskurs muss sich der Urteilende über
seine privaten Interessen an der Durchsetzung seines Urteils befragen,
bevor er sein Urteil kommuniziert. In Bezug auf das Schönheitsurteil
wird diese Selbstaufklärung dadurch bewirkt, „daß man das, was in dem
Vorstellungszustande Materie, d. i. Empfindung ist, so viel möglich weg-
läßt und lediglich auf die formalen Eigenthümlichkeiten seiner Vorstel-
lung oder seines Vorstellungszustandes Acht hat“.85 Das Interesse an der
Existenz des Gegenstandes wird von Kant also mit dessen materiellem
Gehalt korreliert, der beim ästhetisch Urteilenden nicht die Wirkung des
Schönheitsgefühls, sondern Reiz und Rührung hervorruft. Das urteilen-
de Subjekt muss deshalb versuchen, „von Reiz und Rührung zu
abstrahiren, wenn man ein Urtheil sucht, welches zur allgemeinen Regel
dienen soll.“86 Denn die Wirkung von Reiz und Rührung als Wirkung
der materiellen ästhetischen Bestimmungen (Farbe etc.) eines Gegen-
standes auf das Subjekt hängt von der zufälligen Bestimmtheit des Sub-
jekts ab und deshalb kann auch niemandem zugemutet werden, hierüber
genauso zu urteilen wie man selbst urteilt.87 Der Reiz eines Gegenstan-
des ist immer mit einem Interesse an der Existenz des Gegenstandes ver-
bunden. Anders verhält es sich mit den formalen Bestimmungen des Ge-
genstandes. Diese üben keinen Reiz aus und verursachen ein reines äs-
thetisches Wohlgefallen, das interesselos ist. In reinen ästhetischen
Urteilen sind wir deshalb frei von Neigungen, da keine „Privatbedin-
gungen als Gründe des Wohlgefallens“ vorliegen. 88 Die formalen Be-
stimmungen eines Gegenstandes rufen eine Wirkung auf das Subjekt
hervor, die nur durch die transzendentalen Strukturen des menschlichen
Subjekts vermittelt sind. Könnte der Urteilende also Reiz und damit ein

83
Vgl. etwa auch Refl. 550 (1776–78) AA 15, 239.
84
KU AA 5, 212.
85
KU AA 5, 294.
86
KU AA 5, 294; vgl. auch ibid., 223–226.
87
KU AA 5, 273.
88
KU AA 5, 211.
164 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Interesse an der Existenz des Gegenstandes als mögliche Ursache für


sein Wohlgefallen an dem als schön beurteilten Gegenstand ausschließen,
wüsste er mit Notwendigkeit, dass er „jedermann ein ähnliches Wohlge-
fallen z[um]uthen“ 89 könnte. Mit „Geschmack“ bezeichnet Kant nun
eben dieses Vermögen der Urteilskraft, einen Gegenstand ohne alles pri-
vate Interesse an dessen Existenz als schön beurteilen zu können.90
Wir haben gesehen: Im Gefühl des Angenehmen manifestiert sich das
Interesse des Subjekts an der Existenz des als angenehm empfundenen
Gegenstandes, im Gefühl des Schönen als interesselosem Wohlgefallen
hingegen nicht. Das Gefühl des Angenehmen wiederum ist eine Wir-
kung der materiellen Momente des ästhetischen Gegenstandes. Was ma-
nifestiert sich dann aber im Gefühl des interesselosen Wohlgefallens?
Nach Kant ist dies die freie und spielerische Harmonie von transzenden-
taler Einbildungskraft und Verstand.91 Das interesselose Wohlgefallen als
ästhetische Wirkung des Gegenstandes gründet also auf den für das
menschliche Erkenntnissubjekt als solches konstitutiven transzendenta-
len Strukturen Einbildungskraft und Verstand. 92 Die allgemeingültige
ästhetische Wirkung des schönen Gegenstands besteht nach Kant in der
Beförderung des freien Spiels der transzendentalen Erkenntnisvermögen
Verstand und Einbildungskraft.93 Das Geschmacksurteil basiert auf der
„Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ih-
rer Freiheit und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit“.94 Deshalb
nehmen wir nicht am schönen Gegenstand selbst Interesse, sondern an
der Harmonie von Verstand und Einbildungskraft.95
Das reine Geschmacksurteil ist also Ausdruck der durch den schönen
Gegenstand hervorgerufenen freien Harmonie von Einbildungskraft und
Verstand. Anders als beim Erkenntnisurteil harmonieren Verstand und

89
KU AA 5, 211.
90
KU AA 5, 211.
91
Kulenkampff 1995, 34; Makkreel 1990, 47.
92
Nach Zammito kommt den ästhetischen Urteilen deshalb auch a priorische Not-
wendigkeit zu, weil letztlich auch sie auf a priori gültigen, universellen Regeln basieren,
nämlich den a priorischen Strukturen des menschlichen Bewusstseins (Zammito 1992,
111).
93
Anders als im reinen Geschmacksurteil, in dem die Einbildungskraft in ihren Synthe-
sen frei spielt, gibt im Erkenntnisurteil der Verstand der Einbildungskraft Regeln vor,
nach denen sie synthetisiert (Longuenesse 1998, 63). So sind zwar auch empirische Er-
kenntnisurteile auf dem Wege der reflektierenden Urteilskraft gewonnen, lassen sich dann
aber unter Begriffe bringen, die der Einbildungskraft Regeln vorschreiben und insofern
bestimmende Urteilskraft involvieren. Bei ästhetischen Urteilen kann das nie der Fall sein
(ibid., 164).
94
KU AA 5, 287.
95
Refl 1931 AA 16, 160.
Reflektierende Urteilskraft 165

Einbildungskraft beim Schönheitsurteil jedoch, ohne dass die Einbil-


dungskraft durch den Verstand bestimmt würde.96 Die ästhetische Lust
resultiert gerade daraus, dass die Einbildungskraft als Wirkung des schö-
nen Gegenstandes im ästhetischen Urteil frei spielt und nicht durch den
Verstand determiniert ist.97 In der Gesetzmäßigkeit des Spiels von Ver-
stand und Einbildungskraft dient der Verstand der Einbildungskraft und
nicht umgekehrt wie beim Erfahrungsurteil.98 Weil das Verhältnis von
Einbildungskraft und Verstand frei ist, ist der resultierende mentale Zu-
stand keine begriffliche Auffassung, sondern ein Gefühl. Weil aber wie
beim Erkenntnisurteil eine Harmonie beider Vermögen vorliegt, ist das
ästhetische Urteil kommunikabel.99
Fassen wir zusammen: Die Wirkung, die der schöne Gegenstand
durch seine Form auf das Urteilssubjekt entfaltet, ist das harmonische
Spiel von Verstand und Einbildungskraft, das sich im interesselosen äs-
thetischen Wohlgefallen manifestiert.100 Weil der Lust eine „Harmonie
der Erkenntnißvermögen“101 Verstand und Einbildungskraft zu Grunde
liegt, gilt das Geschmacksurteil universell.102 Es ist weltbürgerlich kom-
munikabel, weil wir voraussetzen können, dass sich in jedem anderen
Urteilssubjekt dieselben subjektiven Bedingungen der Urteilskraft fin-
den wie bei uns.103 Allgemein kommunikabel ist im Geschmacksurteil
gerade der Gemütszustand in diesem freien Spiel.104 Ästhetisch ist dieses
Urteil, weil es durch die Einbildungskraft und nicht den Verstand be-
gründet ist und die Einbildungskraft ein Vermögen der Sinnlichkeit ist.
Die Freiheit des Spiels zwischen Einbildungskraft und Verstand mar-
kiert die Differenz des ästhetischen Urteils zum Erkenntnisurteil. Damit
ist jedoch immer noch eine Schwierigkeit für die Kommunikabilität des
Schönheitsurteils involviert. Denn da das Spiel von einer Freiheit ist, die
anders als die moralische Freiheit keinem Gesetz unterworfen ist, muss
sich das Schönheitsurteil, um in legitimer Weise auf Kommunikabilität
Anspruch erheben zu können, zumindest auf ein Prinzip a priori grün-

96
Refl 1926 AA 16, 158f.
97
Einbildungskraft und Verstand werden in der ästhetischen Erfahrung „unabsichtlich
in Einstimmung versetzt“ (KU AA 5, 190).
98
KU AA 5, 241f.
99
Ginsborg 2015, 56.
100
KU AA 5, 219; Allison 2001, 54.
101
KU AA 5, 218.
102
Ginsborg 1997, 40.
103
KU AA 5, 290; Zuckert 2007, 175.
104
KU AA 5, 217f.
166 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

den.105 Dass der Verstand dieses Prinzip vorgibt, ist jedoch ausgeschlos-
sen, wenn Kant die Eigenständigkeit des Schönheitsurteils gegenüber
dem Erkenntnisurteil aufrechterhalten will.
Bestimmen wir deshalb zunächst den Status dieses Prinzips: Da das
Schönheitsurteil dem beurteilten Gegenstand keine objektive Eigen-
schaft zuspricht, kann dieses Prinzip kein objektiv-metaphysisches sein,
sondern nur ein subjektiv-transzendentales. 106 Als transzendentales
Prinzip konstituiert es jedoch zugleich den Unterschied zwischen der
subjektiven Notwendigkeit bloßer Gewohnheit und der subjektiven
Notwendigkeit a priori. Dieses Prinzip besteht in der subjektiven
Zweckmäßigkeit als der Angemessenheit der Form eines Objekts zum
menschlichen Erkenntnisvermögen.107 Die Naturschönheit, die das Prin-
zip der Zweckmäßigkeit der Natur in Bezug auf unsere Urteilskraft of-
fenbart, erfreut uns dadurch, dass uns ein Objekt so erscheint, als wäre
es für unsere Erkenntnisvermögen eingerichtet.108 Diese Zweckmäßigkeit
ist subjektiv, weil sie dem Objekt nicht als intrinsische Eigenschaft zuge-
schrieben wird, sondern bloß in Relation auf unser menschliches Er-
kenntnisvermögen. 109 Sie wird von Kant als „Zweckmäßigkeit ohne
Zweck“ gedacht. Um einen Gegenstand als schön zu beurteilen, müssen
wir ihn nämlich nicht auf einen konkreten (inneren) Zweck oder eine
Absicht von uns beziehen.110

Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne
Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.111

Da die ästhetische Zweckmäßigkeit keine logisch-objektive Bestimmung


ist, lässt sie sich auch nicht beweisen. Die ästhetische Zweckmäßigkeit

105
EEKU AA 20, 239; KU AA 5, 278; 280. Zur Genealogie dieses Prinzips bei Kant
vgl. Guyer 1997, 25ff.
106
KU AA 5, 238.
107
KU AA 5, 279.
108
Förster 2000, 8; 10.
109
KU AA 5, 193.
110
KU AA 5, 207. Beim Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne Zweck handelt es sich auch
insofern um ein subjektives Prinzip, als es ein Prinzip für die ästhetische Beurteilung eines
Gegenstandes ist (vgl. hierzu: Zuckert 2007, 279ff.). In dieser Beurteilung synthetisiert die
Einbildungskraft die heterogenen, sinnlich-wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegen-
standes zweckmäßig ohne Zweck (das heißt nicht im Hinblick auf einen vom Verstand
vorgegebenen Begriff) und verbindet damit die sinnlichen und heterogenen Eigenschaften
zu einer Einheit, die nicht begrifflich vorbestimmt ist (ibid., 279). Die Einbildungskraft
verfährt in ihrer Synthesistätigkeit genau so, als ob sie durch einen Begriff (einen Zweck)
dazu bestimmt wäre und damit zweckmäßig (ibid., 281).
111
KU AA 5, 236.
Reflektierende Urteilskraft 167

wird vielmehr allein in einem Gefühl der rein-ästhetischen Lust erfah-


ren. 112 Diese Lust ist die Wirkung der formalen Zweckmäßigkeit des
Objekts für unser Erkenntnisvermögen. Sie wird jedoch nicht durch den
empirisch gegebenen Gegenstand unmittelbar hervorgerufen, sondern ist
das Resultat der Reflexion auf die Zweckmäßigkeit der Form des Ob-
jekts für das freie Spiel unserer Erkenntnisvermögen.113 So ist im Ge-
schmacksurteil allein „die bloße Form der Zweckmäßigkeit in der Vor-
stellung, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird, sofern wir uns ih-
rer bewußt sind“, Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils.114
Wir können festhalten: Das reine Geschmacksurteil ist deshalb kom-
munikabel, weil wir sein Prinzip der Zweckmäßigkeit als transzendenta-
len, a priorischen Grund geistiger Tätigkeit bei allen anderen Menschen
voraussetzen dürfen.115 Allerdings gibt es beim reinen Geschmacksurteil
eben kein äußeres Kriterium für die Richtigkeit eines besonderen Ur-
teils, da diese Zweckmäßigkeit nur ein Verhältnis des Gegenstandes zum
Subjekt ausdrückt, das sich ausschließlich in einem Gefühl manifestiert.
Und obwohl wir nie definitiv sicher wissen können, ob unserem Schön-
heitsurteil nicht doch ein Interesse an der Existenz des Gegenstandes zu
Grunde liegt, so „verstatten wir keinem anderer Meinung zu sein“ be-
züglich der Schönheit des beurteilten Gegenstandes.116 Diese Forderung
ist aber insofern von der Forderung unterschieden, dass jeder urteilen
sollte „Paris ist die Hauptstadt von Frankreich“, weil Paris eben die
Hauptstadt von Frankreich ist. Dagegen ist die Rose nicht schön, son-
dern setzt unsere Einbildungskraft in eine durch das Prinzip der
Zweckmäßigkeit bestimmte Tätigkeit. Wir fordern also eigentlich, dass
alle anderen ihr Urteilsvermögen so ausbilden sollten, dass auch auf sie
der Gegenstand dieselbe Wirkung hervorrufen kann. Gleichzeitig kön-
nen wir diese Forderung nur legitimer Weise an andere stellen, wenn die
anderen diese Forderung auch in reziproker Weise an uns stellen kön-
nen. Wir setzen damit die Idee eines gemeinschaftlichen Gefühls voraus,
das Kant auch als „Gemeinsinn (sensus communis)“ bezeichnet.117 Die-
ser ist die „Idee eines gemeinschaftlichen“ Beurteilungsvermögens, das
„in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a
priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenver-
112
KU AA 5, 189f.; 222; EEKU AA 20, 224; 228. „[I]ch muß unmittelbar an der Vor-
stellung desselben die Lust empfinden, und sie kann mir durch keine Beweisgründe
angeschwatzt werden.“ (KU AA 5, 285.)
113
KU AA 5, 191; 222; Longuenesse 2005, 282.
114
KU AA 5, 221.
115
KU AA 5, 290; 293.
116
KU AA 5, 239.
117
KU AA 5, 238.
168 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

nunft sein Urtheil zu halten“.118 Er ist eine Art archimedischer Stand-


punkt eines unparteiischen Zuschauers,119 dessen Urteil und Wohlgefal-
len an dem als schön beurteilten Gegenstand nicht durch sein Interesse
an der Existenz der zu beurteilenden Gegenstände bestimmt wird. Der
Gemeinsinn ist dabei eine „bloße idealische Norm“, eine „jedermann
nothwendige Idee“, 120 die zur Regel für reine Geschmacksurteile ge-
macht wird, eine Art Muster, das wir in Werken des Geschmacks vor-
finden, aber keine Vorschrift.121 Als „Urbild des Geschmacks“ ist er nur
eine Idee, die jeder selbst hervorbringen muss,122 um nach ihr Gegen-
stände und Geschmäcker anderer beurteilen zu können. Der ästhetische
Gemeinsinn ist eine allgemeine Fähigkeit zu reflektieren, die sich in ei-
nem Lustgefühl ausdrückt.123 Wir müssen diese Norm als öffentlichen
„Reflexions-Geschmack“ 124 voraussetzen, um uns überhaupt anmaßen
zu können, Geschmacksurteile allgemein kommunizieren zu können.

c. Die Relevanz des ästhetischen Urteils für den Aufklärungsdiskurs

Für den Aufklärungsdiskurs ist am ästhetischen Urteil Folgendes rele-


vant: Die Kommunikabilität eines Geschmacksurteils kann nach Kant
nicht von der besonderen Kennerschaft oder Autorität des Urteilenden
abhängen, da selbiges nicht auf Belehrung gründen, sondern von jedem
menschlichen Subjekt in autonomer Weise selbst erzeugt werden soll.125
Der autonome Urteilsvollzug ist das zentrale Moment des ästhetischen
Urteils. Diese Fähigkeit autonomen ästhetischen Urteilens ist nämlich
eine Freiheit, die allein der Mensch besitzt.126 Denn das Schönheitsurteil

118
KU AA 5, 293.
119
Klemme 2006, lx.
120
KU AA 5, 239.
121
„Muster“ meint dabei nach Klemme „das Urbild des Geschmacks“ und keinen
exemplarischen Fall von Schönheit (Klemme 2006, xlvii).
122
Nach Pippin beruht der Allgemeinheitsanspruch ästhetischer Urteile auf der sozia-
len Norm, dass wir uns gegenseitig verpflichten, die Natur als zweckmäßig wertzuschät-
zen (Pippin 1996, 551).
123
Esser 1995, 19.
124
KU AA 5, 214.
125
„Der Geschmack macht bloß auf Autonomie Anspruch. Fremde Urtheile sich zum
Bestimmungsgrunde des seinigen zu machen, wäre Heteronomie.“ (KU AA 5, 282; vgl.
auch V-Lo/Philippi AA 24, 370.)
126
Zammito 1992, 93.
Reflektierende Urteilskraft 169

setzt Verstand und Sinnlichkeit voraus. Der Mensch erfährt insofern im


ästhetischen Urteil eine für ihn als Sinnenwesen spezifische Freiheit.127
Die Freiheit, die sich im ästhetischen Urteil manifestiert, ist aber auch
deshalb eine Freiheit sui generis, da es eben keine definitive Norm gibt,
der sich die Einbildungskraft in ihrem freien Spiel unterwerfen würde.128
Jedes ästhetische Geschmacksurteil ist ein frei hervorgebrachtes „Bei-
spiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann“.129 Das Ge-
schmacksurteil weist genau deshalb aber einen höheren Grad an Kreati-
vität als Erkenntnisurteile auf, da es keine Applikation einer gegebenen
Regel erfordert. 130 Vielmehr ist das urteilende Subjekt im ästhetischen
Urteil nur an der frei hervorgebrachten Idee eines Gemeinsinns orien-
tiert.131 Das Schönheitsgefühl wird damit nicht auf einen Begriff, sondern
nur auf die von den einzelnen Teilnehmern des ästhetischen Aufklä-
rungsdiskurses selbst erzeugte Idee eines universellen ästhetischen Or-
gans bezogen. 132 Dieser Gemeinsinn ist weder konstitutiv (denn dann
würde er unter dem Verstand stehen) noch regulativ (denn dann wäre er
eine Vernunftforderung mit noch oder für immer ausstehender Erfül-
lung). Er ist vielmehr die „Selbstnormierung“ einer Praxis ästhetischen
Urteilens, die im ästhetischen Diskurs selbst gebildet und kultiviert wer-
den muss.133 Deshalb ist diese Fähigkeit anders als die Spontaneität des
Verstandes und die Autonomie des Willens eine gleichzeitig kreative und
ursprünglich gemeinschaftlich-öffentliche Praxis.
Die Ausbildung des Gemeinsinns bzw. des Geschmacks ist also ein
öffentlicher ästhetischer Bildungsprozess,134 den das Subjekt ästhetischer
Urteile selbst vollziehen muss, indem es am öffentlichen Aufklärungs-
diskurs teilnimmt. Kultiviert werden können der Gemeinsinn und der
Geschmack aber nur in gesellschaftlicher Kommunikation. Geschmack
ist das „Vermögen der gesellschaftlichen Beurtheilung äußerer Gegen-
stände in der Einbildungskraft“.135 Der Geschmack bildet sich nur in der
Kommunikation aus. Dabei ist die ästhetische Kommunikation kein

127
KU AA 5, 210. Wären wir „bloß reine Intelligenzen“, wäre diese Freiheit „in uns
gar nicht anzutreffen“ (ibid., 271).
128
KU AA 5, 231. Vgl. auch: Refl 1787 AA 16, 114; Refl 1823 AA 16, 129. Nach Makk-
reel ist die ästhetische Einbildungskraft zwar selbsttätig, allerdings nicht autonom, da sie
keine Gesetze begründet (Makkreel 1990, 46).
129
KU AA 5, 237.
130
Ginsborg 1997, 40.
131
Bartuschat 1995, 60.
132
Cohen 1982, 224; KU AA 5, 232.
133
Vossenkuhl 1995, 116f.
134
Kulenkampff 1995, 47.
135
Anth AA 7, 241.
170 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Austausch darüber, ob man etwas für schön hält, sondern die Beteili-
gung am Bildungsprozess des ästhetischen Gemeinsinns.136 Damit sich
der ästhetische Gemeinsinn ausbilden lässt, muss das Geschmacksurteil
kommunikabel sein. Diese Kommunikabilität bildet sich nun aber gerade
nicht nur in der bloßen wechselseitigen Mitteilung darüber aus, was man
selbst alles als schön beurteilt, sondern bildet sich im Streit über diese
Urteile, wobei der Rückzug auf den eigenen Privatgeschmack schon
deshalb ausgeschlossen ist, weil damit die Bedingungen der Kommuni-
kabilität aufgehoben würden.137 Streiten lässt sich eben nur, wenn man
auf Konsens hoffen kann.138 Wo keine Übereinkunft möglich ist, erüb-
rigt sich weltbürgerliche Kommunikation. Bei Schönheitsurteilen ist es
aber der Streit bzw. die weltbürgerliche Kommunikation selbst, die die
Norm, dank derer eine solche Übereinkunft idealer Weise erzielt werden
könnte, überhaupt erst realisieren kann. Deshalb haben Ungesellige kei-
nen Geschmack.139 Am Geschmack zeigt sich damit im Besonderen die
Bedeutung der Gesellschaft für die Ausbildung der geistigen Vermögen
und Aufklärung des Menschen.140 Obwohl also gerade das ästhetische
Urteil von den vielfältigen Prägungen des urteilenden Subjekts abhängig
zu sein scheint, ist es ein paradigmatischer Fall weltbürgerlicher Kom-
munikabilität und Aufklärung.141
Aus mehreren Gründen sind ästhetische Urteile also für die Aufklä-
rung von Interesse: Die Form der Zweckmäßigkeit, die dem reinen Ge-
schmacksurteil zu Grunde liegt, legitimiert die menschliche Hoffnung,
dass die Natur systematisiert werden kann und die Welt eine systemati-
sche Struktur aufweist.142 In ästhetischen Urteilen manifestiert sich zu-
dem eine freie Selbstbestimmung, die spezifisch menschlich ist, nämlich
die kreative Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung kann sich nur in
gemeinschaftlicher Kommunikation ausbilden. Ihre Voraussetzung ist
dabei die rationale und zugleich sinnliche Natur des Menschen. Das rei-
ne Geschmacksurteil im Besonderen und die reflektierende Urteilskraft
im Allgemeinen vermitteln so auch die „unübersehbare Kluft zwischen

136
Kulenkampff 1995, 46. Der Person, die sich zur ästhetischen Autonomie bildet,
setzt Kant den ästhetischen Egoisten entgegen: „Der ästhetische Egoist ist derjenige, dem
sein eigener Geschmack schon gnügt […]. Er beraubt sich selbst des Fortschritts zum Bes-
seren, wenn er sich mit seinem Urtheil isolirt, sich selbst Beifall klatscht und den
Probirstein des Schönen der Kunst nur in sich allein sucht“ (Anth AA 7, 129f.).
137
KU AA 5, 278.
138
KU AA 5, 338.
139
Refl 806 AA 15, 351–358.
140
Arendt 1992, 14.
141
Refl 767 AA 15, 334.
142
Makkreel 1990, 63.
Reflektierende Urteilskraft 171

dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des
Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen“.143
In der ästhetischen Kommunikation bilden die Mitglieder einer Ge-
sellschaft nämlich nicht nur ihren Geschmack, sondern auch ihr Interes-
se an der Moral aus. So erweckt das Naturschöne ein unmittelbares intel-
lektuelles Interesse, das in Wahrheit wirklich kommunikabel ist, weil es
„mit der geläuterten und gründlichen Denkungsart aller Menschen über-
ein[stimmt], die ihr sittliches Gefühl cultivirt haben“.144 Humanität be-
steht in dem allgemeinen Gefühl der Teilnahme und im „Vermögen sich
innigst und allgemein mittheilen zu können“.145 Beide Momente konsti-
tuieren menschliche Geselligkeit. Ästhetische Kommunikation ist also
Aufklärung in einem doppelten Sinn. In der gesellschaftlichen Kommu-
nikation klärt sich die ästhetische Urteilskraft auf. Gleichzeitig klärt sich
die Gemeinschaft in der ästhetischen Kommunikation über ihr morali-
sches Interesse auf.
Zuletzt hat die ästhetische Erfahrung auch eine essentielle Funktion
für den Aufklärungsdiskurs, weil wir in der Erfahrung des Naturschö-
nen eine Naturordnung entdecken, die uns die Natur als für unsere
menschliche Urteilskraft und Erkenntnisfunktionen sinnvoll geordnetes
Ganzes erfahren lässt.146 Damit motiviert sie uns, die Natur als physikali-
sche Wirklichkeit, aber auch als Ort der Geschichte für unsere reflektie-
rende Urteilskraft als geordnetes Ganzes zu betrachten. 147 Durch das
Naturschöne können wir die Natur so betrachten, als gäbe sie uns „einen
Wink“ von einem ihr immanenten Grund, der sie für uns und damit
auch für unser moralisches Interesse an der Realisierung moralischer
Zwecke zweckmäßig verfasst sein lässt.148

III. Kants Anerkennung der Bedingtheit des Aufklärungssubjekts

Mittels des Konzepts der reflektierenden Urteilskraft wollen wir uns


nun der Kritik zuwenden, die in Kant den paradigmatischen Fall eines
Aufklärers ausmacht, der die sinnliche, historische und gesellschaftliche
Bedingtheit des Menschen ignoriert und den Menschen ausschließlich
unter der abstrakten Bestimmung der Rationalität betrachtet. Hiergegen

143
KU AA 5, 175f.
144
KU AA 5, 299.
145
KU AA 5, 355.
146
Allison 2001, 59.
147
KU AA 5, 246.
148
KU AA 5, 300; vgl. hierzu auch Allison 2001, 228.
172 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

wollen wir im Folgenden dezidiert Kants Anerkennung dieser Bedingt-


heit zeigen. Dazu gehen wir in drei Schritten vor: Zunächst untersuchen
wir die Relevanz der sinnlichen Bedingtheit des menschlichen Individu-
ums für Kants Aufklärungsprojekt (a). Anschließend betrachten wir die
Konsequenzen, die Kant hieraus für Gesellschaft und Geschichte in Be-
zug auf Aufklärungsprojekt zieht (b). Zuletzt werden wir sehen, dass
Kant dank seiner reflektierenden Urteilskraft die Betrachtung der Ge-
schichte selbst in sein Aufklärungsprojekt integriert (c).

a. Reine Vernunft und conditio humana

Wir haben gesehen, dass Kant Zweckmäßigkeit als Prinzip der Urteils-
kraft explizit als epistemisches Prinzip menschlicher, das heißt sinnlich
bedingter Erkenntnis konzipiert. In diesem Prinzip manifestiert sich
Kants Anerkennung der sinnlichen Bedingtheit menschlicher Urteilspra-
xis.149 Eine analoge Anerkennung sinnlicher Bedingtheit findet sich etwa
in Kants Betrachtung der menschlichen Handlungspraxis: Der kategori-
sche Imperativ ist ja überhaupt nur ein Imperativ für vernünftige Wesen,
die zugleich sinnliche Wesen mit Neigungen, Begierden und Affekten
sind.150
Freilich, Kant macht deutlich, dass Moral nur durch die Vernunft be-
gründet werden kann.151 Auf moralische Handlungen bezogene Urteile
müssen einzig und allein auf den Prinzipien a priori der reinen prakti-
schen Vernunft gründen. Dies impliziert aber nicht, dass Kant die sinnli-
che Bedingtheit des Menschen nicht zur Kenntnis nehmen würde. Kant
selbst versucht ja noch in den frühen 1760er Jahren, eine universell gülti-
ge Moral vermittelt über das moralische Gefühl zu begründen.152 Dieser
Versuch wird in Kants kritischer Philosophie jedoch aus dem durchaus
überzeugenden Grund kritisiert, dass Neigungen und Gefühle per se
nicht verallgemeinerbar sind. Niemand kann einem anderen ein morali-
sches Urteil auf Grund seiner eigenen Neigungen oder Gefühle ansin-

149
Zuckert 2007, 11.
150
KpV AA 5, 61. Anth enthält sogar eine „Apologie für die Sinnlichkeit“ (AA 7, 143).
So urteilt Gerhardt zu Recht: „Der kategorische Imperativ ist immer auch auf die End-
lichkeit eines leibhaftig in Raum und Zeit existierenden, empfindenden und fühlenden
Wesens bezogen“, das um diese seine Endlichkeit weiß (Gerhardt 2003, 282).
151
GMS AA 4, 389.
152
Dazu müssten anerzogene Gefühle, die auf privaten Gewohnheiten und Vorurteilen
gründen, von natürlichen Gefühlen unterschieden werden, die allen Menschen gemeinsam
sind (V-PP/Herder AA 27,1, 6).
Reflektierende Urteilskraft 173

nen, 153 da Gefühle immer von der individuellen Konstitution abhän-


gen.154 Neigungen und Gefühle sind immer nur die spezifischen Neigun-
gen und Gefühle einer bestimmten Person. Das Haben von Gefühlen ist
zunächst einmal ein Faktum und kann nicht von jemand anderem mora-
lisch eingefordert werden. Aus diesem Grund können Gefühle kein
Maßstab moralischer Forderungen und Erwartungen an eine andere Per-
son oder sich selbst sein. Das impliziert zunächst jedoch nicht, dass
Handlungen, die auf Grund eines Affekts geschehen, per se unmoralisch
sind, sondern dass sie gar nicht als moralisch kategorisiert werden kön-
nen. In der Tat müssen und werden wir ja die Handlung, dass Eltern ihr
weinendes Kind trösten, nicht unter dem Aspekt der Moralität betrach-
ten. In den meisten Fällen werden Eltern dies auf Grund der affektiven
Liebe zu ihrem Kind tun, ohne an irgendeine moralische Verpflichtung
zu denken. Die Eltern zu loben, dass sie in der Tröstung ihres Kindes
ihre moralische Pflicht erfüllt haben, wäre einfach unpassend. Insofern
kann Kant zu Recht eine solche Handlung nur als pflichtgemäß bezeich-
nen, da sie eben keine moralische Qualität hat. Kant leugnet damit ja
nicht, dass sie Qualitäten hat, ihre Maxime hat aber keinen sittlichen Ge-
halt.155
Ebenso kann man Kant darin zustimmen, dass man an die Eltern nicht
die moralische Forderung stellen kann, ein affektives Gefühl der Liebe
zu empfinden. Dies gilt selbst dann nicht, wenn man die Liebe von El-
tern zu ihrem Kind als ein natürliches Gefühl versteht. Denn es gibt of-
fensichtlich Fälle, in denen diese affektive Liebe nicht vorhanden sein
mag – sei es, dass dieser Affekt gerade durch andere Gefühle verdrängt
ist oder eine affektive Störung vorliegt. Die Forderung, diesen Affekt
trotzdem zu haben, wäre selbst unmoralisch, da sie den Akteuren eine
Last aufbürdet, die zu erfüllen gar nicht in ihrer Macht steht. Akteure
sind nicht für das Haben oder nicht Haben eines Affekts verantwortlich
zu machen. Genauso sind auch Habitus wie Empathie oder Menschen-
liebe aus kantischer Sicht zwar sozial positiv zu bewerten und gesell-
schaftlich zu kultivieren, nur kann man niemandem seine mangelnde
Empathiefähigkeit moralisch vorwerfen. Deshalb lassen sich aus diesen
Emotionen keine moralischen Forderungen ableiten, da man sie für je-
manden, der zu ihnen nicht fähig ist, nicht rechtfertigen kann. Da die Be-
stimmung durch Gefühle immer Bestimmung durch Ursachen und nicht

153
GMS AA 4, 442f.
154
KpV AA 5, 58.
155
GMS AA 4, 398. Vgl. hierzu auch Wood 2008, 27.
174 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

durch Gründe bedeutet und insofern nicht allgemein eingefordert wer-


den kann, lehnt Kant Gefühle als Legitimationsgrund für Normen ab.156
Gleiches gilt für empirische Interessen, die man haben oder nicht ha-
ben kann, so dass auch diese nicht gefordert werden können.157 Wäre das
universelle Gesetz durch ein empirisches Interesse bestimmt, dann wür-
de es seine Allgemeinheit einbüßen, da es dann nur unter der Bedingung
eines vorliegenden Interesses gelten würde. 158 Man müsste ansonsten
Personen, die bestimmte Interessen nicht haben, die Befähigung zur
Teilnahme an der moralischen Praxis absprechen. Dies ist für Kant aber
weder zulässig noch nötig. Die Moral fordert von einer Person nur das,
was sie auch leisten kann.159 Was wir moralisch fordern können, auch
ohne das Vorhandensein motivierender Emotionen oder bei Vorhanden-
sein entgegengesetzter Gefühle, ist, seiner moralischen Verpflichtung
nachzukommen. In einem solchen Fall wäre die Handlung oder das Un-
terlassen der Handlung moralisch qualifiziert. Für die Einsicht in die
moralische Verpflichtung können dann aber nicht die individuelle Emp-
fänglichkeit für bestimmte Neigungen relevant sein, sondern nur Grün-
de, die für jedes rationale Wesen einsichtig sind.
Diese Überlegungen führen dazu, dass Kant nur die reine praktische
Vernunft und nicht Emotionen oder Interessen als Quelle moralischer
Verpflichtungen anerkennt.160 Das bedeutet aber nicht, dass Emotionen
bzw. Interessen keinerlei Relevanz für die Moralität des Menschen hät-
ten. Denn: Es reicht nicht, nur zu wissen, wozu das Subjekt verpflichtet
ist, sondern man muss auch wissen, ob es faktisch diesen Verpflichtun-
gen nachkommen kann. Deshalb könnte die Moral „ohne die [pragmati-
sche] Anthropologie nicht bestehen“.161 Die reine Moral, die für alle ver-
nünftigen Wesen gilt, muss auf die conditio humana bezogen werden.162
Dies betrifft vor allem die Frage, wie das menschliche Individuum sein
reines Vernunftinteresse an der Erfüllung des Sittengesetzes habitualisie-
ren und zu einer Neigung machen kann.163 Die Anwendung der univer-
sellen Moralprinzipien bedarf dafür der Kenntnis der besonderen Natur

156
GMS AA 4, 413.
157
Ein Sonderfall sind freilich das Interesse der Vernunft und die Achtung.
158
GMS AA 4, 432.
159
Was der Pflicht ihren höheren Wert gegenüber einem natürlichen gutartigen Tempe-
rament verleiht, ist gerade, dass ihre Realisierung in unserer Verfügungsgewalt steht (GMS
AA 4, 398).
160
GMS AA 4, 390; V-Mo/Collins AA 27, 301; vgl. Louden 2000, 9f.
161
V-Mo/Collins AA 27, 244; vgl. hierzu: Louden 2000, 8; 28 ;Wood 2003, 44.
162
Louden 2000, 11.
163
MdS AA 6, 212f.
Reflektierende Urteilskraft 175

des Menschen.164 Aus der pragmatischen (oder moralischen) Anthropo-


logie muss der Aufklärer „die BewegungsGründe zur moral schöp-
fen“.165 Hierbei muss dann auch auf die unterschiedlichen Triebfedern
der einzelnen Menschen entsprechend „der Verschiedenheit der Stände,
des Geschlechts und des Alters“ Bezug genommen werden.166
Wir können sagen, dass zwar nicht die Moral selbst davon abhängt,
was für ein Mensch man ist (entsprechend Alter, Sozialisation, Ge-
schlecht etc.), aber doch die spezielle Art, wie diese Moral für das empi-
rische Individuum wirkmächtig werden kann. Die „Implementierung“
moralischer Maximen in das Leben des Menschen ist ohne entsprechen-
de Kultivierung der menschlichen Sinnlichkeit nicht möglich. Diese Kul-
tivierung fällt nur nicht unter den reinen Teil der Moralphilosophie,
sondern unter ihren angewandten Teil. Die ästhetische Aufklärung des
moralischen Interesses ist ja für den Menschen nur deshalb möglich und
notwendig, weil der Mensch eben nicht nur Vernunftwesen, sondern
auch Sinnenwesen ist. Ein heiliger Wille, bei dem das Sittengesetz durch
keine Neigungen und Gefühle gehindert werden könnte, wirkmächtig zu
werden, ist für den Menschen nicht realisierbar. Deshalb macht Kant
deutlich, dass der Mensch seine Gefühle kultivieren muss, um seiner
Tendenz, im Konfliktfall die Pflicht den Neigungen unterzuordnen, ent-
gegenwirken zu können.167
Wir können zusammenfassen: Reine Moralphilosophie ist mit ihrem
nicht-empirischen Teil identisch. 168 Die moralische Anthropologie be-
164
Sherman 1997, 129.
165
V-Anth/Mron AA 25; 1211; vgl. hierzu: V-Anth/Busolt AA 25, 1436; Louden 2000,
73.
V-Mo/Collins AA 27, 466; vgl. Louden 2000, 15. So handelt Anth – mitunter in zu-
166

gegeben scheußlicher Weise – die verschiedenen Charaktere der unterschiedlichen Ge-


schlechter, Völker und Rassen ab (AA 7, 303–321). Man mag es etwa für fraglich halten,
ob männliche Erziehung unmittelbar mit dem Begriff der Pflicht, weibliche Erziehung
hingegen mit dem Begriff der sittlich unvollkommenen Ehre einsetzen muss (Refl 1331
AA 15, 582), weil Frauen weniger der Vernunft als ihren Neigungen folgen (Louden 2000,
86; Kühn 2007, 61). Aber auch in der Anthropologie kommt der Frage nach dem Univer-
sellen nach Kant logisch der Primat vor der Frage nach den partikularen Unterschieden
der Menschen zu, da die Anthropologie zunächst die allgemeine Natur des Menschen be-
schreiben muss. Das lokale Wissen von der Welt und dem Menschen setzt bereits das all-
gemeine Wissen von der Welt und der menschlichen Natur voraus (V-Anth/Friedländer
AA 25, 471; Wood 2003, 39; Louden 2011, 83–85). Einwände gegen die Annahme einer
Natur des Menschen machen aus kantischer Perspektive nur Sinn als Vorbehalt gegen ein
borniertes Vertrauen in besondere Befunde, die zur Notwendigkeit hypostasiert werden
(Wood 2003, 39).
167
Nach Allison liegt hierbei „ein Kampf der Freiheit mit sich selbst“ vor (Allison
1996, 122).
168
GMS AA 4, 389.
176 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

trifft dagegen die Anwendung der Moral in der kulturell ausdifferenzier-


ten Welt.169 Die moralische Anthropologie hat die Aufgabe, Hindernisse
der subjektiven Implementierung moralischer Grundsätze und der Reali-
sierung der moralischen Vervollkommnung durch Erziehung und
Volksaufklärung zu beseitigen und die Bedingungen, die ihre Ausfüh-
rung stärken, zu befördern.170 Für das Aufklärungsprojekt ist dieser an-
gewandte Teil von enormer Relevanz, beschäftigt er sich doch über die
Implementierung der reinen Moral ins wirkliche Leben auch mit der
Verwirklichung der Autonomie des Menschen als Sinnenwesen. Aufklä-
rung intendiert den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit
und muss deshalb die Anlage des Menschen, ein aufgeklärter Mensch zu
werden, kultivieren.171
Aufklärung soll also Einfluss auf die Realisierung moralischer Maxi-
men im Leben des Menschen nehmen. Kant ist sich jedoch bewusst, dass
die Aufklärung niemanden moralisch „machen“ kann. Der Mensch muss
sich selbst zur Menschheit bilden wollen. Erst durch diese Leistung wird
er fähig zur Autonomie. Die „Revolution der Denkungsart“, die dem
Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu
Grunde liegen muss, kann nicht von Außen hervorgerufen oder erzwun-
gen werden.172 Die Aufklärung kann jedoch die Wirkung, die die vom
Einzelnen zu vollziehende Revolution in der empirisch zu entfaltenden
„Reform der Sinnesart“ des Menschen zeitigt, durch Ausräumung von
Hindernissen ihrer Realisierung befördern. Zu dieser Reform gehört es,
dass der Mensch einerseits seine theoretische Vernunft vervollkommnet
und andererseits seinen Willen „bis zur reinsten Tugendgesinnung, da
nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Hand-
lungen wird“, kultiviert.173 Besonders auffällig ist dabei, dass Kant als ein
Mittel dieser Kultivierung sogar einen „erlaubten moralischen Schein“
zulässt, bis diese sich in der reinsten Tugendgesinnung realisiert. Dieser
moralische Schein besteht in den bloß äußerlichen, öffentlichen Um-
gangsformen innerhalb einer Gesellschaft. In ihnen scheint gewisserma-

169
Düsing 1986, 26; Wood 2003, 40; GMS AA 4, 388; V-Mo/Mron II AA 29, 599; vgl.
hierzu Louden 2011, 64.
170
MdS AA 6, 217; Kleingeld 1995a, 57.
171
OP AA 21, 557; MdS AA 6, 217. Aufgeklärte Erziehung ist für den Menschen not-
wendig, da er nur Mensch im Sinne eines autonomen Wesens werden kann, wenn er hier-
zu erzogen wird (Päd AA 9, 441; 443; Louden 2000, 20f.; 39f.). So gesteht vor allem die
spätere Philosophie Kants der Anthropologie als „Aufklärung fürs gemeine Leben“ (V-
Anth/Mensch AA 25, 853) eine immer größere Rolle zu.
172
Nach Beck könnte moralische Erziehung im strikten Sinne deshalb unmöglich sein
(Beck 1960, 235).
173
MdS AA 6, 387.
Reflektierende Urteilskraft 177

ßen die Anerkennung des Menschen als autonomes Wesen und Zweck
an sich äußerlich auf. Auch wenn gesellschaftliche Umgangsformen blo-
ßer Schein sind, manifestiert sich in ihnen das menschliche Interesse an
Autonomie. Deshalb kann dieser äußere Schein dann auch in die Gesin-
nung übergehen.174 Insofern schreibt Kant auch den kontingenten gesell-
schaftlichen Formen äußerer Sittlichkeit einen Wert für die moralische
Aufklärung des Subjekts zu.
Wir können zusammenfassen: Das Subjekt der anthropologischen
Aufklärung durch Erziehung ist bei Kant der empirische Mensch in sei-
ner sinnlichen und kulturellen etc. Bedingtheit. Dieser Aspekt der Auf-
klärung richtet sich gerade nicht auf das Noumenon Mensch, sondern
auf den phänomenalen Menschen und die Aktualisierung seiner Freiheit
im Reich der Erscheinungen, die sowohl eingeschränkt als auch zerstört
werden kann.175 Die Möglichkeit der Aktualisierung dieser Freiheit setzt
aber bereits die noumenale Selbstbestimmung des Menschen zur Freiheit
in der Revolution seiner Denkungsart voraus.
Das hier behandelte Moment der Aufklärung intendiert also die
Konkretisierung und Aktualisierung noumenaler Freiheit im gesell-
schaftlich situierten Menschen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Be-
deutung, die Kant der Tugend als aktualisierter Freiheit beimisst.176 Tu-
genden sind Realisierungen individueller innerer Freiheit. Je tugendhaf-
ter ein Individuum ist, umso freier ist es nicht unter dem Gesichtspunkt
transzendentaler Freiheit, sondern aktualisierter, erscheinender Frei-
heit.177 Der Grad dieser Freiheit lässt sich nach der Größe der Hindernis-
se bestimmen, die dank der Tugenden überwunden werden können. In
ihrer – für uns unerreichbaren – Vollkommenheit würde nicht mehr der
Mensch die Tugend besitzen, sondern die Tugend den Menschen, da er
mit Notwendigkeit jedes Hindernis der Pflicht überwinden würde. 178
Der Mensch, der von der Tugend besessen wird, herrscht über sich
selbst, indem er alle Neigungen unter die Gewalt seiner vernünftigen
Freiheit bringen kann.179 Die Entwicklung dieser Tugend und damit die
Verwirklichung der Freiheit können sich aber nur in einer aufgeklärten
Gesellschaft adäquat vollziehen.

174
KpV AA 5, 151f.
175
Guyer 2000, 149.
176
Ausführlich hierzu: Esser 2004; Louden 2011, 3-15.
177
MdS AA 6, 394.
178
MdS AA 6, 406.
179
MdS AA 6, 408.
178 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

b. Gesellschaftliche Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung

Die vorangehende Überlegung sollte zeigen, dass Kants praktisch-


anthropologische Aufklärung nicht das abstrakte moralische Subjekt,
sondern den Menschen in seiner empirischen Bedingtheit in den Blick
nimmt. In diesem Abschnitt wollen wir nun noch einmal den Einfluss
der Gesellschaft auf die Aufklärung des Menschen als Individuum und
Gattung betrachten. Hierbei skizzieren wir drei Formen von Einfluss
der Gesellschaft, nämlich Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung.
Der Mensch ist qua Vernunft dazu bestimmt, mit anderen Menschen
in Gemeinschaft zu leben und sich durch Künste und Wissenschaften zu
kultivieren, zu zivilisieren und letztlich zu moralisieren. 180 Sowohl als
Individuum als auch als Gattungswesen ist der Mensch nämlich nicht
immer schon animal rationale, sondern animal rationabile, das sich als
Individuum und Gattungswesen durch eigene Anstrengung zur Rationa-
lität vervollkommnen muss.181 Da dies nur in Gesellschaft gelingen kann,
ist Geselligkeit die spezifisch humane Voraussetzung seiner Kultivie-
rung, Zivilisierung und Moralisierung. Diesen drei Momenten entspricht
auf Seiten des unaufgeklärten Subjekts als Defizit jeweils eine „3fach[e]
Unmündigkeit“.182 Nur in Gesellschaft kann der Mensch diese dreifache
Unmündigkeit überwinden, das Bewusstsein seiner Freiheit kultivieren
und zivilisieren und sich dadurch letztlich moralisieren.183 Dementspre-
chend betrachtet Kant die Geschichte wesentlich unter dem Gesichts-
punkt ihres Einflusses auf die Entwicklung menschlicher Autonomie
und des menschlichen Ausgangs aus seiner Unmündigkeit:184

Der Übergang aus dem wilden Zustand in den bürgerlichen, aus dem rohen in
den verfeinerten (Üppigkeit) des Geschmaks und der Kunst, aus der unwissen-
heit in den Aufgeklärten der Wissenschaft, kurz: aus der Unmündigkeit in die
Mündigkeit ist der schlimste. [...] Eine generation muss die andre erziehen. und
nur die gattung, nicht das individuum, erreicht ihre Bestimmung. [...] Die Be-
stimmung erreicht er durch Erziehung, Religion und Staatsverfassung.
Dreyerley art der Unmündigkeit.185

Voraussetzung für die Aktualisierung menschlicher Autonomie sind also


die Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung des Menschen nicht
180
Anth AA 7, 324.
181
Anth AA 7, 321.
182
V-Anth/Mron AA 25, 1427; vgl. Louden 2011, 61.
183
KU AA 5, 355f.
184
Vgl. hierzu Cassirer 1979, 85; Allison 2009b, 40.
185
Refl 1423 AA 15, 621.
Reflektierende Urteilskraft 179

nur als Individuum, sondern auch als Gattungswesen. Diese Prozesse


sind nur in historischen gesellschaftlichen Entwicklungen realisierbar. In
der folgenden Überlegung wollen wir diese Prozesse intrinsisch und in
ihrem Verhältnis zur Autonomie des Menschen bestimmen:
Der Mensch muss sich durch Kultivierung vervollkommnen.186 „Kul-
tivierung“ meint dabei zunächst jedoch nur die Vervollkommnung der
technisch-praktischen Vernunft, d. h. die Entwicklung der Geschick-
lichkeit des Menschen, beliebige Zwecke erfolgreicher realisieren zu
können.187 Sie lässt sich also als Ausbildung der instrumentellen Rationa-
lität des Menschen beschreiben, die gegenüber der Beschaffenheit der ge-
setzten Zwecke selbst indifferent ist.188 Bereits diese bloß „technologi-
sche“ Verfeinerung des Menschen zielt nach Kant jedoch in gewisser
Hinsicht auf die Realisierung der menschlichen Freiheit: Denn der kulti-
vierte Mensch ist freier, seine Zwecke hervorzubringen, die Natur in
zweckmäßiger Weise zu gebrauchen und sich dadurch gegenüber seinen
unmittelbaren natürlichen Bedürfnissen freier zu machen.189 Diese Frei-
heit ist natürlich zunächst moralisch noch ambivalent, hat aber einen
moralisch relevanten Nebeneffekt: Denn indem die Kultur die instru-
mentelle Rationalität des Menschen ausbildet, formt sie sowohl die Na-
tur als auch den Geist des Menschen und beraubt ihn dabei seiner
„Rohhheit“. 190 Damit befreit sie den menschlichen Willen „von dem
Despotism der Begierden, wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet,
unfähig gemacht werden, selbst zu wählen“.191 In diesem Sinne ist auch
die Kultivierung des Geschmacks am Schönen und Erhabenen eine
„Vorübung zur Moral“.192 Diese gesellschaftliche Kultivierung unserer
Sinnlichkeit wiederum wird von Kant als gesellschaftlich-historischer
Entwicklungsprozess verstanden.
Zivilisierung meint dagegen den Eintritt und die Ausbildung des ge-
sellschaftlichen Umgangs von einer Gruppe von Menschen und ihrer in-
teraktiven Praxis untereinander. Sie dient zunächst wiederum einem mo-
ralisch indifferenten Zweck, nämlich unsere Zwecke wirkungsvoller „an

186
Anth AA 7, 322.
187
KU AA 5, 431.
188
Päd AA 9, 449f.; Louden 2000, 40.
189
Vgl. hierzu auch Louden 2000, 143. Man kann etwa daran denken, dass die techno-
logische Entwicklung den Menschen von seiner ständigen Sorge um Nahrung, Kleidung
und Wohnung befreit.
190
Louden 2000, 40; Päd AA 9, 464, 444; Refl 1497 AA 15, 766ff. Dass die Kultivierung
dennoch nicht unmittelbar moralischen Interessen folgt, zeigt sich schon darin, dass sie
nach Idee seiner „Ungeselligkeit“ entspringt (Louden 2000, 143; AA 8, 22).
191
KU AA 5, 432.
192
Refl 993 AA 15, 438; vgl. hierzu auch: KU AA 5, 267; 354. Louden 2000, 109.
180 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

den Mann zu bringen“ und so andere Menschen für unsere Zwecke ge-
brauchen zu können.193 Auch sie hat jedoch moralische „Nebenwirkun-
gen“: So fällt unter die Zivilisierung des Menschen nicht nur die Verfei-
nerung der Neigung, seine Empfindungen zu kommunizieren, 194 son-
dern auch der Eintritt in die Gemeinschaft des Rechts und eine ethische
Gemeinschaft.195 Nur durch diesen Eintritt in eine bürgerliche Gesell-
schaft und weltbürgerliche Rechtsgemeinschaft kann der Mensch nicht
nur seine technisch-praktischen und moralischen Anlagen vervoll-
kommnen, sondern vor allem seine äußere Freiheit realisieren und seine
Naturanlagen entwickeln.196

Das Menschliche Geschlecht erreicht endlich seine Bestimmung völlig. Diese ist
nur durch die vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung und dadurch der
Staatverfassung, d. i. des Natur und Volkerrechts möglich.197

An einer weltbürgerlichen Rechtsordnung orientierte Staaten bilden die


autonome Denkungsart ihrer Bürger aus oder hemmen sie zumindest
nicht mehr.198 Als Resultat einer guten Staatsverfassung kann also die
Realisierung von Autonomie zumindest erhofft werden. 199 Der Fort-
schritt der menschlichen Gattung könne nämlich nicht „von der freien
Zustimmung der Einzelnen, sondern nur durch fortschreitende Organi-
sation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kos-
mopolitisch verbunden ist, erwartet werden“.200 Eine gute Staatsverfas-
sung ist so nicht als Resultat der inneren Moralität der Staatsbürger zu
erwarten, sondern umgekehrt kann erst von einer guten Staatsverfassung
erhofft werden, dass sie in einer guten moralischen Volkserziehung re-
sultiert. 201 Der Völkerbund garantiert gewissermaßen als Höhepunkt
dieser Entwicklung einen guten Staat und dieser wiederum ermöglicht
Aufklärung und die Entwicklung des autonomen Vernunftgebrauchs.202

193
Päd AA 9, 486; 450; Anth AA 7, 322; vgl. Louden 2000, 40f.
194
KU AA 5, 297.
195
Raedler 2015, 210.
196
KU AA 5, 432; TP AA 8, 307.
197
Refl 1501 AA 15, 789.
198
Idee AA 8, 26.
199
Nach Herman können Menschen sich und andere in Idee nur unter der Vorausset-
zung einer bürgerlichen Gesellschaft als Subjekte moralischer Autorität verstehen. Des-
halb müsse die bürgerliche Gesellschaft auch durch die Natur hervorgebracht werden. In
GMS spiele dies dagegen keine Rolle, weil sie mit der Frage der sozialen Bedingungen der
Autonomie des Menschen nicht befasst sei (Herman 2009, 160).
200
Anth AA 7, 333.
201
ZeF AA 8, 366.
202
Kleingeld 2009, 174.
Reflektierende Urteilskraft 181

Moralisierung meint endlich die Vervollkommnung im moralischen


Vernunftgebrauch.203 Sie zielt also unmittelbar auf die Autonomie des
Menschen. Diese gesellschaftliche Vervollkommnung ist jedoch am
schwierigsten zu realisieren.204 Die Gesellschaft, die auf die Moralisie-
rung des Subjekts abzwecken würde, wäre wohl am ehesten die ethische
Kirchengemeinschaft, auf die wir an späterer Stelle noch eingehen wer-
den.205

c. Geschichte als Gegenstand theoretischer Aufklärung

Wir haben gesehen, dass die Prozesse der Kultivierung, Zivilisierung und
Moralisierung von Kant als geschichtliche Entwicklungsprozesse ge-
dacht werden. Damit tritt die historische Dimension des Menschseins in
den Fokus seines Aufklärungsprojekts. Mit der Betrachtung der ge-
schichtlichen Entwicklung überschreitet Kant die ihm von Aufklärungs-
kritikern vorgeworfene Fokussierung auf das abstrakte, a-historische
Subjekt. 206 Dabei steht das Interesse im Vordergrund, wie sich der
Mensch als Gattungswesen vervollkommnen und seine Bestimmung er-
reichen kann.207 Denn die Erziehung des Menschen durch Kultivierung,
Zivilisierung und Moralisierung, sowie die Erziehung im eigentlichen
Sinne (als Pädagogik) unterliegen selbst einem historischen Prozess – ei-
ner „Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung über-
liefert“:208

Jede Generation, versehen mit den Kenntnissen der vorhergehenden, kann im-
mer mehr eine Erziehung zu Stande bringen, die alle Naturanlagen des Men-
schen proportionirlich und zweckmäßig entwickelt und so die ganze Menschen-
gattung zu ihrer Bestimmung führt.209

203
Raedler 2015, 210.
204
Päd AA 9, 451; Idee AA 8, 26; V-Anth/Mensch AA 25, 1198; vgl. Louden 2000, 41f.
205
„Wir haben den hochsten Grad der cultur, den wir ohne Moralitaet besitzen können;
die civilitaet hat auch ihr maximum. Die Bedürfnis in beyden wird endlich die
moralisirung erzwingen, und zwar durch Erziehung, Staatsverfassung und Religion. Jetzt
ist die Religion nichts anderes als eine civilisirung durch eine disciplin.“ (Refl 1460 AA 15,
641.)
206
Ameriks 2009, 48f.
207
Louden 2000, 54; Idee AA 8, 18f.; 23; Refl 1499 AA 15, 781–785; V-Anth AA 25,
1417; 696; V-Mo/Collins AA 27, 471; V-PP/Powalski AA 27, 234f.
208
Idee AA 8, 19.
209
Päd AA 9, 446.
182 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Mit dem Konzept der reflektierenden Urteilskraft kann Kant diese ge-
sellschaftlichen Aufklärungsprozesse systematisch in seine Aufklärungs-
philosophie integrieren: Die empirische Geschichte des Menschen kann
durch die reflektierende Urteilskraft nach dem Prinzip der Zweckmä-
ßigkeit so betrachtet werden, als ob sie Wirkung einer verständigen und
zugleich moralischen Ursache wäre, die vermittelst der Geschichte die
Freiheit des Menschen realisieren will.
Die Betrachtung der Geschichte als Historie der Verwirklichung
menschlicher Freiheit ist dabei im Hinblick auf die moralphilosophi-
schen Grundlagen Kants jedoch nicht unproblematisch. So sieht
Schleiermacher einen Widerspruch zwischen Kants Theorie der Freiheit
einerseits und seiner Anthropologie andererseits. 210 Kant müsste sich
entscheiden, entweder anthropologisch die Entscheidungen des Men-
schen zu naturalisieren und seine Moralität hinsichtlich ihrer empiri-
schen Einflüsse zu betrachten oder die Natur des Menschen transzen-
dentalphilosophisch als zeitfreie Wahl zu verstehen. 211 Anthropologie
auf Grundlage der kantischen „Denkungsart“, die das handelnde Subjekt
als frei von aller Natur setzt, sei „gar nicht möglich“ und eigentlich die
„Negation aller Anthropologie“.212 Dies ignoriert jedoch, dass Geschich-
te bei Kant gemäß dem subjektiven Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne
Zweck nur so betrachtet wird, als ob sie zweckmäßig wäre.
Kants Denken scheint jedoch zunächst überhaupt keine Geschichte
menschlicher Freiheit zuzulassen, da das Subjekt der Freiheit als Nou-
menon nicht unter geschichtlichen Bedingungen steht. Um dieses Di-
lemma aufzulösen, muss man zunächst berücksichtigen, dass der trans-
zendentale Diskursrahmen der Geschichtsbetrachtung unter dem Ge-
sichtspunkt der Freiheit ein anderer ist als der der Naturwissenschaften.
Den Diskursrahmen für erstere kann Kant erst mit der Entdeckung der
reflektierenden Urteilskraft bereitstellen. Ohne sie und ihr Prinzip der
Zweckmäßigkeit wäre es nicht möglich, die weltbürgerliche Kommuni-

210
Die entsprechende Rezension Schleiermachers erschien anonym in Schlegels Athe-
naeum 2. Band 2. Teil pp. 300ff.
211
Frierson 2003, 2. Cohen will das Problem dadurch lösen, dass Humanwissenschaf-
ten kein Wissen im Sinne von wahren Aussagen liefern, sondern ein ausschließlich prag-
matisches Ziel verfolgen, nämlich die Menschen dabei zu unterstützen, ihre Zwecke zu
realisieren (Cohen 2009, xii). Dennoch müssen die Aussagen aber weltbürgerlich kommu-
nikabel sein. Wenn Geschichte wesentlich zum Aufklärungsdiskurs gehören soll, muss sie
auch die Bedingungen weltbürgerlicher Kommunikation erfüllen können. Gleiches gilt
für die Anthropologie: Auch sie muss kosmopolitisch sein, als Reflexion auf die gesamte
Gattung Mensch (Anth AA 7, 120).
212
Schleiermacher 1984, 366.
Reflektierende Urteilskraft 183

kabilität dieser Disziplin zu etablieren.213 Dabei unterscheidet Kant die


historisch Betrachtung der Zweckmäßigkeit von Natur und Geschichte
für die menschliche Freiheit von der „biologischen“ Betrachtung be-
stimmter Objekte der Natur (Organismen) als innerer Zweckmäßigkeit
(Naturzwecke). 214 Letztere ist vergleichsweise unproblematisch, weil
hier bestimmte Objekte unter dem Aspekt ihrer intrinsischen Zweckmä-
ßigkeit gedacht werden. Erstere ist problematisch, weil hier Natur und
Geschichte auf einen äußeren Endzweck bezogen werden, was ein gerüt-
telt Maß an Arbitrarität impliziert.215 Die weltbürgerliche Kommunika-
bilität eines äußeren Zweck-Mittel-Zusammenhanges ist nach Kant je-
doch nur dann gegeben, wenn es ein Wesen in der Natur gibt, das wir
nicht in beliebiger Weise als Endzweck der Natur betrachten können,
sondern das zumindest die reflektierende Urteilskraft als absoluten End-
zweck betrachten kann.216 Diesen absoluten Endzweck glaubt Kant in
der Moralität und Autonomie des Menschen zu finden.217 Er ist jedoch
absolut nur für den Menschen, insofern er sich als endliches moralisches
Subjekt in der Welt zu orientieren versucht.
Dass Kant hier keine objektive Zweckmäßigkeit unterstellt, sondern
es sich nur um eine als-ob-Betrachtung der reflektierenden Urteilskraft
handelt, wird schon daraus ersichtlich, dass Kant von der „Absicht der
Natur“ als Ursache der Evolution menschlicher Freiheit bzw. Vernunft
spricht. Einem objektiv zweckmäßigen Prozess (etwa einer menschli-
chen Handlung) muss man jedoch eine vernünftige Absicht und damit
einen vernünftigen Urheber unterstellen.218 Was gibt es also für einen
Grund, dass Kant von der Natur und nicht von Gott als dem Urheber
der Evolution menschlicher Freiheit spricht? Augenscheinlich, weil
„Absicht der Natur“ ein offensichtlich uneigentlicher Ausdruck ist, der
unmittelbar anzeigt, dass es sich hier um eine als ob-Redeweise han-
delt. 219 Durch ihre Verwendung wird die teleologische Geschichtsbe-
213
Friedman 1992, 247.
214
Hierauf werden wir später noch ausführlich eingehen.
215
KU AA 5, 367. Einfaches Beispiel: Man kann die Existenz von Würmern als Mittel
für die Ernährung des Menschen betrachten, insofern Würmer die Erde umgraben etc.
Man kann aber den Menschen auch als Mittel für die Ernährung von Würmern betrach-
ten, insofern sich Würmer von seinem Leichnam ernähren (ibid., 425).
216
KU AA 5, 429.
217
KU AA 5, 435; 443; 449.
218
Hierbei handelt es sich jedoch nur um die regulativ wirksame Unterstellung, für un-
sere Naturforschung die Natur als zweckmäßig zu betrachten. Hieraus darf nicht gefol-
gert werden, dass die Natur tatsächlich teleologisch geordnet ist – schon gar nicht durch
eine verständige Ursache, die wir Gott nennen (Zuckert 2007, 9f.).
219
Kant selbst stellt hierzu fest, dass der Naturbegriff größere theoretische Beschei-
denheit anzeigt als der Gottesbegriff (KrV B 729/A 701; B 727/A 699; KU AA 5, 381ff.;
184 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

trachtung von dem Anschein befreit, hier werde eine metaphysische


Ordnung der Natur entwickelt, die objektiv auf einen intellektuellen
Akteur als ihrem Urheber bezogen wird. Kant spricht also nicht von der
„Vorsorge der Natur“, um „dadurch aus ihr ein verständiges Wesen zu
machen“, „sondern es soll dadurch nur eine Art der Causalität der Natur
nach einer Analogie mit der unsrigen im technischen Gebrauche der
Vernunft bezeichnet werden, um die Regel, wornach gewissen
Producten der Natur nachgeforscht werden muß, vor Augen zu ha-
ben“.220
Diese Betrachtungsweise von Natur und Geschichte kann und muss
völlig davon abstrahieren, ob ihr zweckmäßiger Ordnungszusammen-
hang absichtlich eingerichtet ist.221 Sie ermöglicht uns nur, die Natur so
zu betrachten, als ob sie unserem moralischen Zweck der universellen
Realisierung der Autonomie angemessen wäre. 222 Diese Betrachtungs-
weise ist jedoch zugleich notwendig, um überhaupt von Geschichte
sprechen zu können. Ohne Voraussetzung zumindest irgendeiner unbe-
dingten Idee als Leitfaden für unsere reflektierende Geschichtsbetrach-
tung könnte Geschichte nämlich nicht als systematische Totalität ver-
standen werden, sondern nur als eine Ansammlung menschlicher Hand-
lungen.223
Philosophische Geschichtswissenschaft hat jedoch keine spekulative,
sondern eine pragmatische Absicht. Das heißt, die Idee, unter der Ge-
schichte und Natur zu systematisieren versucht werden, ist nicht das
Unbedingte der theoretischen, sondern der praktischen Vernunft. Der
Zweck, unter dem die praktische Vernunft die Geschichte betrachtet, ist
die Realisierung der Forderungen der Vernunft: Die Geschichte soll die
Möglichkeit der Realisierung der Zwecke des Menschen als moralisches
Wesen anzeigen, die der Mensch von sich allein nicht erwarten könnte,
weil seine eigenen Kräfte hierzu nicht ausreichen. Das heißt, die Befunde
der menschlichen Geschichte und der Naturgeschichte werden so ange-
ordnet, dass sie ein systematisches Ganzes unter der Idee der Realisie-
rung menschlicher Autonomie ergeben. Die Natur- und Geschichtsbe-
trachtung der reflektierenden Urteilskraft erfolgt also im Hinblick auf
die Freiheit des Menschen, wie sie sich in der erscheinenden Welt reali-
siert, und stellt so einen Übergang vom Gebiet der Naturbegriffe zu dem

ZeF AA 8, 362). „Vorsehung“ hingegen bringt eher die moralische Absicht zum Aus-
druck (ZeF AA 8, 361f.; TP AA 8, 310; 312; Kleingeld 1995a, 123–125).
220
KU AA 5, 383.
221
KU AA 5, 382f.
222
Auf diesen Unterschied gehen wir später ausführlicher ein.
223
Allison 2009b, 24f.; Idee AA 8, 29.
Reflektierende Urteilskraft 185

der Freiheitsbegriffe und eine Vermittlung zwischen phänomenaler und


noumenaler Freiheit dar.224
Freilich ändert sich mit diesem Verständnis der Geschichtswissen-
schaft ihr epistemsicher Status. Es ist etwas anderes, die Geschichte und
Natur nur theoretisch oder pragmatisch zu betrachten. Nur pragmatisch
kann man „die Geschichte der Menschengattung im Großen als die
Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen“, 225 in dem
Aufklärung und Autonomie in der Welt realisiert werden sollen. Diese
Betrachtungsweise hat aber keine epistemische Notwendigkeit wie die
mechanische Naturbetrachtung.226 Sie bietet eher eine praktische Orien-
tierung für unser Handeln und keine dogmatische Erkenntnis über den
historischen Weltverlauf.227 Wir können etwa die Natur aus der Perspek-
tive der reflektierenden Urteilskraft so betrachten, als ob sie durch den
Mechanismus menschlicher Neigungen den ewigen Frieden garantieren
wolle. Diese Betrachtungsweise ist für die praktische Absicht der Mit-
wirkung an der tätigen Realisierung dieses Zwecks für das handelnde
Subjekt hinreichend.228
Fassen wir zusammen: Kants geschichtsphilosophische Aufklärung
betrachtet den Menschen von vornherein als frei handelndes Wesen in
der Geschichte und die Geschichte unter dem Aspekt der Realisierung
seiner Autonomie. Ziel dieser Überlegungen ist weniger spekulative Er-
kenntnis, sondern die moralische Orientierung und Aufklärung des
Menschen als frei handelndem Wesen über seine Bestimmung zum mo-
ralischen Weltbürger. Historische Aufklärung ist deshalb nur in prakti-
scher Hinsicht weltbürgerlich kommunikabel.229

224
KU AA 5, 179.
225
Idee AA 8, 27.
226
Vgl. auch Kleingeld 1995a, 28.
227
Yovel kritisiert dagegen Kants Idee von einem Plan der Natur als dogmatisch, da es
für sie keine rationale Begründung gebe. Kant unterstelle der Natur Absichten (Yovel
1980, 127; 140; vgl. auch Deligiorgi 2005, 105).
228
ZeF AA 8, 368. Nach Kleingeld interessiert Kant in KU und Idee spekulativ die
„Ordnung der Erscheinungswelt“, das regulative Prinzip ist hierbei die teleologische Ge-
schichtsauffassung. In Gemeinspruch und ZEF wolle Kant hingegen die Ausführbarkeit
des moralischen Gebots nachweisen (Kleingeld 1995a, 85).
229
Hierin sieht Kant auch den Unterschied zwischen sich und Herder: Herders Anth-
ropologie in den Ideen erhebe sich nicht über die theoretische Erkenntnis des Menschen.
Gleichzeitig ist Kants Anth eine Kritik an Platners Versuch einer rein physiologischen
Anthropologie, die den Menschen nicht als frei Handelnden betrachtet im Hinblick da-
rauf, was er aus sich machen kann und soll (Louden 2011, 80f.; Anth AA 7, 119).
186 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

E. Die reinen Voraussetzungen des autonomen


Verstandesgebrauchs

Die vorangehenden Überlegungen haben gezeigt, dass Kant, anders als


von seinen Kritikern moniert, das empirisch bedingte und historisch si-
tuierte Subjekt als Adressat seines Aufklärungsprojekts sieht und diese
historische Situiertheit innerhalb seines Aufklärungsdiskurses sogar ex-
plizit thematisiert. Dies bedeutet aber gerade keinen Bruch mit seinen
transzendentalphilosophischen Grundlagen. Denn: Bloß weil bestimmte
Urteile der Kultur bedürfen, sind sie eben nicht durch Kultur und gesell-
schaftliche Konventionen erzeugt, sondern gründen in den universellen
Strukturen des Subjekts. Die Konzeption des transzendentalen Subjekts
ist die Voraussetzung dafür, das historisch situierte Individuum als Ad-
ressat und Thema der Aufklärung verstehen zu können. Dessen struktu-
relle Bestimmungen werden deshalb im folgenden Abschnitt als trans-
zendentale Grundlagen des Aufklärungsdiskurses analysiert. Wir kehren
nun also gewissermaßen an den Anfang dieses Kapitels zurück und wer-
den untersuchen, warum Kants vermeintliche Konzeption „abstrakter
Subjektivität“ allein die transzendentalen Grundlagen seines Aufklä-
rungsprojekts rechtfertigen kann.
Kants zweite Maxime des gemeinen Menschenverstandes fordert vom
aufgeklärt denkenden Subjekt, zugleich an der Stelle jedes anderen zu
denken und auf dieser Grundlage kosmopolitische Urteile zu fällen.1 Als
Bedingung der Möglichkeit, diese Forderung erfüllen zu können, muss
das historisch situierte Individuum mit seiner Vernunft eine Instanz zum
letzten Probierstein seiner Urteile machen können, die „selbst keine Er-
scheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen“
ist. 2 Nur eine derart reine Vernunft kann prüfen, ob ein Urteil durch
sinnliche Affektionen des empirischen Subjekts verursacht und damit
nur privat gültig ist oder durch Operationen des transzendentalen Sub-
jekt begründet und damit allgemeingültig ist.3 Die Vernunft, die selbst
außerhalb der Zeit steht und dadurch ihr vorgelegte Geltungsfragen ei-
nes Urteils ohne Rekurs auf dessen historische Genese beantworten
kann, muss bei der positiven Beantwortung der kosmopolitischen Gel-
tung eines Urteils die darin vorliegende Synthese von Prädikat und Sub-
jekt als Leistung eines reinen Selbstbewusstseins goutieren. Damit ist

1
KU AA 5, 294.
2
KrV B 581/A 553; B 583/A 555; Refl 4849 AA 18, 7.
3
GMS AA 4, 457.
Reine Voraussetzungen 187

Aufklärung als weltbürgerliche Kommunikation nur unter den Voraus-


setzungen reiner Vernunft und reinen Selbstbewusstseins möglich.
Im Folgenden wollen wir deshalb zeigen, dass nicht nur die Möglich-
keit von Aufklärung als weltbürgerliche Kommunikation, sondern auch
Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner selbst-verschuldeten
Unmündigkeit nach Kant nur unter der Voraussetzung von „Strukturen
abstrakter Subjektivität“ denkbar sind. Wir werden hierzu drei Bedin-
gungen von Aufklärung unter diesem Aspekt untersuchen: das reine
Selbstbewusstsein (I), das noumenale Selbst (II) und den intelligiblen
Charakter (III).

I. Reines Selbstbewusstsein

Die Möglichkeit universell kommunikabler Urteile setzt, wie bereits ge-


zeigt, für Kant das mit dem Verstand identische transzendentale Selbst-
bewusstsein (transzendentale Einheit der Apperzeption) voraus,4 das als
Einheitsgrund der Synthesisleistungen des Bewusstseins „alle meine
Vorstellungen begleiten können“ muss.5 Unter „Selbstbewusstsein“ ver-
steht Kant dabei allgemein gesprochen „das Bewußtsein der Identität ei-
nes Subjekts in Bezug auf eine in der Anschauung gegebene Mannigfal-
tigkeit von Vorstellungen“.6 So bedingen sich Gegenstands- und Selbst-
bewusstsein wechselseitig. 7 Denken als Urteilen besteht ja in der
Synthesis einer Mannigfaltigkeit zu einer Einheit.8 Da die Objekte unse-
rer Erfahrung Einheiten sind, deren Einheit Resultat einer zeitlich ver-
laufenden Synthesisleistung ist, muss das Subjekt dieser Synthesis in sei-
nen Synthesisakten über die Zeit hinweg identisch bleiben. Ansonsten
würde nicht verständlich, wie es eine solche Gegenstandseinheit konsti-
tuieren kann.9 Dieses Selbstbewusstsein liegt deshalb allem Denken zu

4
KrV B xl. Die „Reinheit“ des Selbstbewusstseins soll dabei nicht so verstanden wer-
den, dass Selbstbewusstsein rein für sich bestehen könnte. Da sich die transzendentale
Einheit der Apperzeption im Akt der Synthesis konstituiert, ist es vielmehr je schon auf
zu Synthetisierendes angewiesen (vgl. hierzu auch Sturma 1985, 56; Düsing 1997, 106;
Förster 2012, 42). So stellt sich die Einheit der Apperzeption erst im „Akt des Aufneh-
mens“ von Mannigfaltigem her (Horstmann 2007, 139). Die synthetische Einheit der Ap-
perzeption hat deshalb den Primat gegenüber der analytischen Einheit der Apperzeption
(KrV B 134).
5
KrV B 131. Vgl. hierzu: Allison 1996, 47; Düsing 2004, 101; Kitcher 2011, 11.
6
Sturma 1985, 30.
7
Kitcher 2011, 7.
8
Log AA 9, 101.
9
Vgl. hierzu: Sturma 1985, 32–34.
188 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Grunde.10 So ist offensichtlich, dass die Forderung, sich seines eigenen


Verstandes zu bedienen, für Kant unter der Voraussetzung reinen
Selbstbewusstseins steht.
Dieses reine Selbstbewusstsein unterscheidet Kant vom individuellen
psychischen Selbstbewusstsein durch die Bestimmung, dass ersteres kei-
ne Erscheinung und niemals Gegenstand möglicher (innerer) Erfahrung
sein kann, letzteres hingegen Gegenstand des inneren Sinnes ist.11 Vom
„Ich der Reflexion“, das „in allen Urtheilen immer ein und dasselbe“
und nur das „Förmliche des Bewußtseins“ ist,12 besitzen wir keine An-
schauung, sondern nur ein intellektuelles Bewusstsein. Da es als rein
spontaner, transzendentaler Grund jeglicher Gegenstandserfahrung
nicht zum Gegenstand der Selbsterfahrung werden kann, ist es aus-
schließlich über seine Funktion bestimmt, die Synthese der Mannigfal-
tigkeit des Gegebenen zu ermöglichen. 13 Als „bloß subjektive Bedin-
gung“ 14 der Erkenntnis ist es „nichts weiter, als ein transzendentales
Subjekt der Gedanken = x vorgestellt, welches nur durch die Gedanken,
die seine Prädikate sind, erkannt wird“.15 An sich selbst betrachtet ist es
inhaltsleer und kann bloß via negationis in seiner inhaltlichen Unbe-
stimmtheit bestimmt werden. Als Grund der Kategorien kann die Ein-
heit der Apperzeption nicht selbst Objekt der Kategorien werden. Es ist
vielmehr bloß das „logische Subjekt, des Denkens“, von dem wir über
seine logische Funktion hinaus nichts wissen.16 So kann nicht einmal sein
Dasein erkannt werden.17 Dem transzendentalen Ich kommt aber auch
kein sonstiger Gehalt zu, den wir ansonsten mit den Begriffen „Ich“,
„Selbstbewusstsein“ oder „Subjekt“ verbinden. So ist es im Unterschied
zum kartesischen Ich gerade nicht als individuelle Substanz zu bestim-
men, sondern nur als universelles Strukturprinzip kategorialer Synthesis,
das in jedem denkenden Individuum vorausgesetzt werden muss.18 Seine
Identität ist nur die Identität der „transzendental[en] Einheit des Selbst-

10
Prol AA 4, 318.
11
KrV B 157–159; B 278; Anth AA 7, 134. Zu dieser Differenz vgl. etwa Sturma 1985,
74f.; 83. Die den Kategorien entsprechenden logischen Urteilsfunktionen sind „Modi des
Selbstbewußtseins“ (KrV B 406). Die innere Erfahrung ist hingegen „das Materielle des-
selben und ein Mannigfaltiges“ (Anth AA 7, 141).
12
Anth AA 7, 141.
13
KrV B 157f.; 420; Förster 2012, 40.
14
KrV A 354. Dagegen: Crone 2007, 163.
15
KrV B 404/A 346.
16
KrV A 350; vgl. hierzu etwa auch Ameriks 2000a, 54.
17
Düsing 1997, 106.
18
KrV A 118; B 422; Longuenesse 2008, 17; 24; Sturma 1985, 63; Ameriks 2000b, 15;
Allison 2004, 172.
Reine Voraussetzungen 189

bewußtseins“19 als die logisch notwendige Bedingung für zusammenhän-


gende Gedanken und Erfahrung, ohne damit die Eigenschaft numeri-
scher Identität zu implizieren.20 So bezeichnet das Ich auch keine Entität,
die durch den Wechsel der Zeit hindurch existieren und vergangene Er-
fahrungen erinnern bzw. zukünftige Erfahrungen antizipieren würde,21
sondern das Worin der Zeit.22 Es ist nur ein Einheitsbewusstsein im logi-
schen Akt der Vereinigung von Vorstellungen und als solches konzepti-
onell von der numerisch identischen Person zu unterscheiden.23
Hält man die Bestimmungen der Personalität, numerischen Identität
und Substantialität nicht in aller Strenge vom transzendentalen Selbst-
bewusstsein fern, so konfundiert man dieses mit dem Selbstbewusstsein
des empirischen Individuums, das Gegenstand der empirischen Selbster-
fahrung vermittelst des inneren Sinnes ist. Vermittelst dieses inneren
Sinnes erkennen wir uns nicht, „wie wir sind sondern wie wir uns er-
scheinen“.24 Aber nur diese Erscheinung wird durch innere Erfahrung
als Dasein in der Zeit erfahren. Das transzendentale Selbstbewusstsein ist
die Bedingung der Möglichkeit empirischer Gegenstandserfahrung, das
empirische Selbstbewusstsein hingegen ist ein empirischer Gegenstand
der inneren Anschauung in der Zeit.25 Nur dem empirischen Ich kom-
men numerische Identität und Dasein zu, dafür kann ihm gerade nicht
die transzendentale Identität der reinen Apperzeption zugeschrieben
werden, die als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung notwendig
ist. 26 Es besitzt nur empirische Einheit und damit die Identität einer
wandelbaren Erscheinung.27 Das transzendentale Subjekt ist so auch Be-
dingung der Möglichkeit dafür, dass das individuelle empirische Ich sich
seine Urteile und Gedanken sowie seine Handlungen über den Verlauf
der Zeit als seine eigenen zuschreiben kann.28 Es sei aber mit A. F. Koch
betont, dass es sich beim transzendentalen Subjekt nicht um eine meta-
19
KrV B 132. Das logische Ich und die im Begriff Ich ausgedrückte Identität implizie-
ren nicht die numerische Identität eines Seienden (Longuenesse 2013, 94; 98).
20
KrV A 363; Kitcher 2011, 76.
21
Ginsborg 1990, 119.
22
Dörflinger 2000, 118f.
23
Allison 1996, 48; Grier 2001, 169–171.
24
OP AA 21, 416; vgl. ebenso Anth AA 7, 142.
25
Prol AA 4, 337. „Ich, als denkendes Wesen, bin zwar mit Mir, als Sinnenwesen, ein
und dasselbe Subject; aber als Object der inneren empirischen Anschauung“ erkenne ich
mich nur als Erscheinung; diese hängt von Zeitbedingung ab und die ist kein Verstandes-
begriff und deshalb leidend (Anth AA 7, 142).
26
Longuenesse 2008, 16.
27
KrV B 156; A 107.
28
Longuenesse 2008, 15. Das Bewusstsein „der numerischen Identität seiner Selbst in
verschiedenen Zeiten“ bezeichnet Kant in der KrV als Personalität (KrV A 361).
190 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

physische Entität über oder neben der individuellen Person handelt,


sondern um einen via abstractionis isolierten Aspekt der Person.29
Für das Verständnis von Kants Aufklärungsprojekt ist Folgendes rele-
vant: Insofern Kant das Ich der Apperzeption vom empirischen Ich un-
terscheidet, kann man ihm gerade nicht vorwerfen, das konkrete Indivi-
duum auf eine rein abstrakte Subjektivität zu reduzieren. Das transzen-
dentale Selbstbewusstsein ist jedoch die notwendige formale
Voraussetzung dafür, dass das konkrete Individuum sich Urteile und ei-
ne empirische Identität zuschreiben kann. Zwischen transzendentalem
und empirischen Selbstbewusstsein liegt ein logisches Abhängigkeitsver-
hältnis vor,30 so dass sich das Individuum bestimmte Momente seiner
Geschichte, Biographie, sexuellen Orientierung, Kultur und Religions-
zugehörigkeit nur unter der Voraussetzung transzendentaler Subjektivi-
tät als für seine empirische Identität wesentlich zuschreiben kann.
Nur unter Voraussetzung der Einheit der Apperzeption kann sich das
Individuum zudem überhaupt als Adressat von normativen Ansprüchen
und damit auch der Aufklärungsmaxime des Selbstdenkens verstehen.
Wenn Aufklärung nämlich darin besteht, sich seines eigenen Verstandes
zu bedienen, so ist dies nur unter der Bedingung möglich, dass ich mir
meine gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Urteile und Hand-
lungen selbst zuschreiben kann. Durch diese notwendige Voraussetzung
als Bedingung seines Selbstdenkens ist das empirische, zum Selbstdenken
verpflichtete Ich aber immer schon auf den universellen Standpunkt des
transzendentalen Subjekts verpflichtet.31 Das individuelle Subjekt muss
in der Selbstzuschreibung eines Urteils bereits seine bloße empirische
Selbstgegebenheit auf ein allgemeines Ich hin transzendieren. Gleichzei-
tig ist es jedoch das konkrete historische Individuum, das sich als Adres-
sat von Aufklärung verstehen muss.32

29
„Es gibt keinen transzendentalen Akteur über das empirische Subjekt, über die kon-
krete, raumzeitliche Person hinaus; der transzendentale Akteur ist vielmehr ein unselb-
ständiger, durch Abstraktion isolierter Zug der Person.“ (Koch 2004a, 114.) Vgl. auch
ibid., 150.
30
Klemme 1996, 194.
31
Longuenesse 2008, 17; 24.
32
So sind transzendentales und empirisches Subjekt dasselbe Subjekt. Sie sind nur der
Form, aber nicht dem Inhalt nach verschieden (Anth AA 7, 134). Ich als denkendes Wesen
und als Sinnenwesen sind identisch, aber als Gegenstand der Anschauung erscheint sich
das Ich nur als Erscheinung, nicht als reine Spontaneität (ibid., 142).
Reine Voraussetzungen 191

II. Noumenales Selbst

Es hat sich gezeigt, dass Kants Aufklärungsprojekt das transzendentale


Subjekt als Bedingung der Möglichkeit zuschreibbarer Urteilsakte und
normativer Ansprüche voraussetzt.33 Damit impliziert transzendentales
Selbstbewusstsein nicht schon moralische Persönlichkeit. Es ist jedoch
notwendig, damit das moralische Subjekt sich nicht nur Urteile, sondern
auch Handlungen als die jeweils eigenen zurechnen kann.34 Somit ist es
die logische Bedingung dafür, dass der einzelne Mensch sich als morali-
sches Selbst (Persönlichkeit) denken kann.35 So ist das transzendentale
Ich die notwendige Voraussetzung dafür, dass das empirische Individu-
um sich als moralischer Akteur verstehen kann.36
Das transzendentale Selbstbewusstsein ist also eine notwendige Be-
dingung für das Selbstverständnis des Menschen als unter universellen
moralischen Gesetzen stehender Akteur. Hinreichend für dieses Selbst-
verständnis kann transzendentales Selbstbewusstsein jedoch deshalb
nicht sein, da Kant dieses von der moralischen Persönlichkeit als Anlage,
sich „unbedingt durch die bloße Vorstellung der Qualification ihrer Ma-
ximen zur allgemeinen Gesetzgebung zu bestimmen“,37 explizit unter-
scheidet.38 Dass Tätigkeiten durch mich nicht nur auf ein Ich als ihren
Einheitsgrund bezogen, sondern dem Ich moralisch zugerechnet werden
können, setzt ein über das transzendentale Selbstbewusstsein hinausge-
hendes Selbstverständnis als moralische Person voraus. Person ist bei
Kant geradezu definiert als ein Subjekt, dem seine Handlungen zuge-
rechnet werden können. 39 Eine Person ist „ein mit praktischem Ver-
nunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestatte-

33
Dagegen stellt Kants Theorie der Apperzeption nach Kitcher eher einen „phänome-
nalen, wenn auch hoch abstrakten, Aspekt des Selbsts“ (Kitcher 1990, 139; 123; 127) dar.
34
So kann Kant schreiben, dass sich der Mensch dadurch, dass er eine Vorstellung von
Ich hat, „unendlich über alle andere auf Erde lebende Wesen“ (Anth AA 7, 127) erhebt.
Nach Ameriks ist dies jedoch ein unglückliches Relikt früher Versuche Kants, Personali-
tät an theoretische Spontaneität zu binden und nicht an die praktisch-moralische Freiheit
(Ameriks 2000a, 129).
35
Longuenesse 2013, 103; Anth AA 7, 127.
36
KrV A 366.
37
RGV AA 6, 26; vgl. auch: MdS AA 6, 223.
38
KrV B 408f. Kant macht zugegeben einen äußerst vielfältigen Gebrauch von den Be-
griffen „Personalität“ und „moralisches Ich“. Von diesen Differenzierungen wollen wir
zunächst absehen.
39
Persönlichkeit setzt ein Bewusstsein des Sittengesetzes voraus. Denn ohne ein sol-
ches Bewusstsein würden wir uns unserer Freiheit und der Zurechnungsfähigkeit unserer
Handlungen nicht bewusst (RGV AA 6, 26).
192 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

tes Wesen“.40 Personalität ist dementsprechend das Vermögen, sich auf


Grund seines Bewusstseins des moralischen Gesetzes autonom zum
Handeln bestimmen zu können:

Die Anlage für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das
moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür.41

Person zu sein heißt also, sich als Adressat von durch die Vernunft auf-
erlegten Pflichten zu verstehen und damit als Wesen, das sich nach Frei-
heitsprinzipien selbst bestimmt.42 Eine Person muss sich damit immer
auch als Noumenon betrachten.43
Kant konzipiert deshalb den Adressaten der Aufklärung als ein empi-
risches Individuum, das sich zugleich als noumenaler Akteur und damit
als Person verstehen muss. Wenn die Forderung nach Aufklärung näm-
lich gerechtfertigt sein soll, dann muss ihr Adressat als ein Akteur ver-
standen werden, der nicht nur empirischen Kausalgesetzen unterworfen
ist, sondern sich selbst durch reine praktische Vernunft und zeitlos gülti-
ge moralische Normen bzw. Gründe zum Handeln bestimmen kann.44
Dazu wiederum muss er sich als noumenaler Akteur verstehen, der die
Maximen seines Handelns frei wählen kann (libertas noumenon) und
nicht wie die Erscheinungen durch vorherige Zustände determiniert ist.45
Dieses reine moralische Selbst ist aber gerade „das Selbst des morali-
schen Weltbürgers“.46
Um Adressat der Aufklärungsforderung sein zu können, muss sich
das Individuum also unter zwei Aspekten betrachten: Es muss sich nicht
nur als Naturobjekt verstehen, sondern sich auch als den freien Grund
seiner Handlungen betrachten. Dies ist nur möglich, sofern es sich nicht
bloß als empirisches Ich versteht, sondern zugleich als noumenales Ich
bzw. Subjekt transzendentaler Freiheit. 47 Die theoretische Philosophie
zeigt nach Kant, dass wir durch die gegebene Wirklichkeit auch nur in-
sofern bestimmt sind, insofern wir uns als empirischer Gegenstand in der
40
Anth AA 7, 324; MdS AA 6, 434.
41
RGV AA 6, 27.
42
MdS AA 6, 435.
43
OP AA 21, 62.
44
MdS AA 6, 216. In der Redeweise von Sellars und McDowell könnte man also sagen,
dass der Mensch als moralischer Akteur sich selbst mit seiner Vernunft im „Raum der
Gründe“ verorten muss. Betrachten wir uns nur als empirische, durch Naturgesetze de-
terminierte Objekte, so bleibt unser Selbstverständnis unvollständig (Sedgwick 2008, 46).
45
KpV AA 5, 97f.; OP AA 21, 418.
46
Brandt 2003b, 68f.
47
Dieses Subjekt der Freiheit kann nicht Erscheinung, also kein Gegenstand möglicher
Erfahrung sein (Prol AA 4, 343).
Reine Voraussetzungen 193

Erscheinungswelt betrachten. Anders verhält es sich, wenn wir die prak-


tische Perspektive einnehmen und uns als handelnde Wesen betrachten.
Das hierfür vorauszusetzende moralische Subjekt der Freiheit (das nou-
menale Ich) ist dabei für Kant zunächst nur ex negativo durch seine Un-
abhängigkeit vom Naturmechanismus bestimmt. Positiv versteht es sich
nur, sofern es sich als Adressat unbedingter Normen und damit als Kau-
salität aus Freiheit versteht.48 Die intelligible Tätigkeit des Noumenon
besteht darin, seine Handlungen durch normative Prinzipien bestimmen
zu lassen.49 Die empirische Person, insofern sie sich als Teil der Sinnen-
welt betrachtet, muss sich als seiner zur intelligiblen Welt gehörenden
Personalität praktisch unterworfen denken.50 Das heißt, handelnde Indi-
viduen müssen voraussetzen, dass die Kausalität aus Freiheit die Wirk-
mächtigkeit empirischer Ursachen überwinden kann. Die Setzung der
Wirkmächtigkeit des moralischen Ich ergibt sich aus der konkreten Er-
fahrung des Anspruchs des moralischen Gesetzes. Weil wir moralische
Ansprüche an uns erfahren, müssen wir uns selbst als Noumenon den-
ken, das seine Handlungen nach selbst auferlegten, allgemeingültigen
Gesetzen der Freiheit bestimmt.51 Dadurch muss das Individuum sich als
jemand verstehen, der sich vom Zwang der es determinierenden Ursa-
chen befreien kann und Autonomie besitzt.52 Dies trifft aber gerade nicht
auf unser objektivierbares und empirisch erfahrbares Selbst zu, das wir
als bestimmt durch vorhergehende Zustände betrachten. Deshalb muss
sich das handelnde Individuum zugleich als homo noumenon betrach-
ten.53
Überlegen wir, was dies für Kants Aufklärungsprojekt bedeutet: Wie-
derum sehen wir, dass Kant die empirische Bedingtheit des Subjekts der
Aufklärung nicht negiert. Sofern aber dieses bedingte Subjekt sich über-
haupt als Adressat normativer Ansprüche verstehen will, muss es sich
selbst als noumenaler, freier Akteur verstehen, der seine Bedingtheiten
seiner Freiheit und Vernunft unterwerfen kann. Für jemanden, der sich
nicht als Adressat normativer Ansprüche versteht und die Vorausset-
zung noumenaler Freiheit negiert, wäre die aufklärerische Forderung der
Vernunftautonomie an das Individuum also sinnlos. Denn das denkende
und handelnde Individuum muss sich selbst als spontanes Noumenon
48
KpV AA 5, 6. Nur in der Autonomie ist der Mensch auch im transzendentalen Sinne
und moralischen Sinne frei: Es handelt unabhängig von Naturkausalität und ist nicht
durch einen vorhergehenden Zustand bestimmt.
49
Reath 2006, 281.
50
Guyer 2000, 154; KpV AA 5, 87.
51
Longuenesse 2013, 99.
52
Allison 1996, 126f.
53
MdS AA 6, 423; Bohlken 2016, 229.
194 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

betrachten, wenn es sich als Normadressat und Subjekt seiner Handlun-


gen und Gedanken verstehen will.54 Folgendes sollte jedoch deutlich ge-
worden sein: Das Subjekt der Aufklärung muss sich nach Kant nicht als
noumenales Ich im Sinne einer metaphysischen Entität verstehen, son-
dern muss es als ein explanatorisches Konzept mit normativer Bedeu-
tung voraussetzen, um seinem praktischen Selbstverständnis gerecht zu
werden.55 Selbst wenn wir Freiheit nicht als reale Eigenschaft noumena-
ler Ich-Entitäten verstehen wollen, müssen wir sie dem handelnden und
urteilenden Subjekt vom praktischen Standpunkt aus dennoch zuschrei-
ben, um überhaupt die Möglichkeit von Aufklärung als Realisierung
vernünftiger Selbstbestimmung denken zu können.
Wir haben bereits gesehen, dass wir unsere Handlungen und Urteils-
akte zumindest unter zwei Aspekten betrachten müssen: einer prakti-
schen Handlungsperspektive, in der wir uns als frei Handelnde betrach-
ten müssen, und einer theoretischen Erkenntnisperspektive, in der die
Handlung als notwendige Folge bestimmender Ursachen erscheint. 56
Wir müssen jedoch weiter fragen, welche Freiheit die Forderung nach
Aufklärung als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit
sachlich voraussetzt. Hierbei müssen wir drei Formen der Freiheit un-
terscheiden: Transzendentale Freiheit, Autonomie und negative prakti-
sche Freiheit.57
Die negative, praktische Freiheit allein wäre eine unproblematische
Voraussetzung für Kants Aufklärungsprojekt, da sie unserer alltäglichen
Erfahrung entnommen ist, uns durch Handlungsanreize nicht unmittel-
bar bestimmen lassen zu müssen, sondern uns von diesen durch Delibe-
rationsprozesse distanzieren zu können.58 Sowohl im theoretischen als
auch im praktischen Abwägen von Gründen erfahren wir uns in diesem
negativ-praktischen Sinne als frei, das heißt wir machen die Erfahrung,
dass Stimuli, Neigungen, Vorurteile etc. uns zwar affizieren, aber nicht

54
Allison 1996, xivf.
55
GMS AA 4, 450; Beck 1960, 31. Vgl. hierzu auch: GMS AA 4, 458; 448; Allison 2004,
35; 48.
56
Reath 2006, 276f. Auch wenn wir den Willen als frei verstehen, sind die menschli-
chen Handlungen als seine Erscheinungen „eben so wohl als jede andere Naturbegeben-
heit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt“ (Idee AA 8, 17). Nach Allison sind wir
deshalb sowohl kausal determiniert als auch frei (Allison 1996, 19). Wichtig ist aber, dass
im Rahmen von Kants transzendentalem Idealismus die Handlungen als empirische Vor-
gänge nicht „an sich selbst bestimmt“, sondern nur für das erkennende Subjekt „be-
stimmbar“ sind (Heidemann 2012, 36).
57
Nach Beck konfundiert Kant hingegen zwei Formen von Freiheit, nämlich Freiheit
als Spontaneität und Freiheit als Autonomie (Beck 1993, 38f.).
58
V-Met/Mron AA 29, 896ff.
Reine Voraussetzungen 195

unmittelbar nezessitieren.59 Wir können uns vielmehr deliberativ von ih-


nen distanzieren. Gemäß diesem Sinn von Freiheit wird die menschliche
Willkür anders als die tierische Willkür nicht nur durch sinnliche An-
triebe pathologisch bestimmt, sondern auch durch von der Vernunft
vorgestellte Bewegursachen.60 Neigungen und Affekte sind aus der Per-
spektive unserer Deliberation immer nur mögliche Gründe für unsere
Entscheidung und müssen insofern „inkorporiert“ werden.61 In diesem
Sinne muss sich das Subjekt der Aufklärung eine freie Willkür zuerken-
nen, die nur affiziert, aber nicht nezessitiert wird. Denn ansonsten wäre
die Forderung, sich im Handeln und Denken seines eigenen Verstandes
zu bedienen, gar nicht einlösbar. Die so vorgestellte Freiheit bezieht sich
aber nur auf unsere Fähigkeit, unmittelbare Reize durch Überlegung zu
überwinden, lässt jedoch unbeantwortet, ob unsere Überlegungen selbst
wiederum durch empirische Ursachen determiniert sind. 62 Sie unter-
scheidet sich deshalb sowohl von der transzendentalen Freiheit als der
Unabhängigkeit unserer Vernunft „von allen bestimmenden Ursachen
der Sinnenwelt“ und Naturgesetzen63 als auch von der Autonomie als
dem positiven Vermögen, bestimmt durch „objektive Gesetze der Frei-
heit“ handeln zu können.64
Wären wir nun nur in diesem praktischen, aber nicht im transzenden-
talen Sinne frei, würde das bedeuten, dass unsere vernünftigen Delibera-
tionen und ihre Resultate letztlich doch durch natürliche Einflussfakto-
ren vollständig determiniert wären. 65 Die Möglichkeit, Bestimmungs-
gründe allein auf Grund unserer Überlegung in unsere Willkür
inkorporieren zu können, setzt deshalb transzendentale Freiheit vo-
raus.66 Diese ist die Voraussetzung dafür, dass jemandem Handlungen

59
MdS AA 6, 213; 226.
60
KrV B 830/A 802; V-Met-L1/Pölitz AA 28, 255; 257; 267-270. Unser Wille drückt
damit nicht die Begierden selbst aus, sondern die Gründe, die wir den Begierden zu-
schreiben (Korsgaard 1989, 111f.). Im Akt der Deliberation muss sich auch der Determi-
nist diese Freiheit zuschreiben.
61
Allison 1996, 109; 119; 131; ders. 1990, 40; 96; vgl. auch: Pinkard 2002, 50.
62
KrV B 830/A 802. „Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo be-
freit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus des
Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur […]; z. E. ist dies der ge-
wöhnliche Fall, wenn wir die Vortheile, Nachtheile oder andere Folgen der Handlung als
ihre Ursache überlegen“ (MdS Vigilantius AA 27, 503f.; vgl. Brandhorst 2012, 293).
63
KrV B 831/A 803.
64
KrV B 830/A 802; MdS AA 6, 213f.
65
Willaschek 1992, 95; vgl. auch Beck 1960, 73.
66
Allison 1996, 132; ders. 1990, 54. Mit McDowell gesprochen: „Der Raum der Grün-
de ist der Raum der Freiheit.“ (McDowell 2012, 29.) Dagegen: Brandhorst 2012, 295–297.
196 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

und praktische Freiheit zugerechnet werden können. 67 Denn ohne sie


wäre die Überwindung unmittelbarer Reize – ob es zu ihr kommt und
wie sie verläuft – vollständig bestimmt durch die vorherige Kausalreihe,
die außerhalb der Verfügungsgewalt des Subjekts liegt. Wir müssen also
transzendentale Freiheit, eine „Reihe von Begebenheiten von selbst an-
zufangen“,68 voraussetzen, um die Möglichkeit praktischer Freiheit und
auch des Selbstdenkens überhaupt annehmen zu können.69 Um den An-
spruch der Aufklärung anerkennen zu können, muss sich das Subjekt der
Aufklärung deshalb zusätzlich Freiheit im transzendentalen Sinne zu-
schreiben, also die Fähigkeit, Handlungen und Urteile schlechthin „von
selbst (sponte)“ 70 auf Grund vernünftiger Überlegung hervorzubrin-
gen.71 Ansonsten stünde der Gebrauch seines Denkens nicht in seiner
Verfügungsgewalt. Es muss sich als Noumenon betrachten, das Grund
seiner empirisch-psychischen Akte ist. 72 Diese notwendige Vorausset-
zung von Aufklärung ist jedoch insofern problematisch, als sie selbst
nicht vollständig aufgeklärt werden kann: Da die Erklärung einer Ursa-
che darin besteht, sie aus den sie begründenden Ursachen herzuleiten,
Spontaneität aber die Bestimmung durch vorherige Ursachen gerade aus-
schließt, ist transzendentale Freiheit auf „unerklärliche Art“ ein Grund
für die freien Vollzüge des Menschen.73
Transzendentale Freiheit ist für Kant jedoch nun wiederum nur denk-
bar, wenn wir sie mit einem inneren Gesetz verknüpfen, das durch das
freie Subjekt selbst hervorgebracht wird und an das es sich selbst bin-
det. 74 Denn jede Ursache braucht ein „Gesetz ihrer Kausalität“. 75 Der
Wille kann nur dann als eine Art von Kausalität sui generis verstanden
werden, wenn er unabhängig von ihm äußerlichen Ursachen oder Be-
stimmungsgründen ist, aber dennoch durch ein Gesetz bestimmt wird,
nämlich das moralische Gesetz.76 Dieses Gesetz muss der autonome Wil-
67
KrV B 476/A 448. Nach Allison steht die transzendentale Freiheit nur in einem be-
grifflichen Verhältnis zur praktischen Freiheit: Sie habe eine regulative Funktion für unser
Selbstverständnis als rationale Akteure (Allison 1996, 111; 124).
68
KrV B 582/A 554.
69
Flikschuh 2000, 50; 81.
70
Prol AA 4, 344; KrV B 474/A 446.
71
KpV AA 5, 32.
72
V-Met/Arnoldt AA 29, 1020f.; 1015f. Dagegen: Ameriks 2003, 192; 213; 218f.
73
KU AA 5, 195f.
74
Dierksmeier 2002, 53. Dagegen ist der Gedanke der „libertas indifferentiae“ nach
Kant „ein Unding“ (V-Met/Mron AA 29, 901). Wenn der Wille nicht durch Gesetze be-
stimmt würde, würde er entweder durch Naturursachen oder entfernte Ursachen (Gott)
bestimmt (ibid., 900).
75
KrV B 567/A 539; vgl. Prauss 1983, 63.
76
RGV AA 6, 23f.
Reine Voraussetzungen 197

le selbst sein.77 Transzendentale Freiheit kann deshalb nur als Autono-


mie gedacht werden und umgekehrt Autonomie nur als transzendentale
Freiheit.78 Wir müssen die transzendentale Freiheit denken, sofern wir
uns als autonome Wesen verstehen wollen.79 Freiheit ist umgekehrt nicht
nur eine notwendige, sondern eine hinreichende Bedingung der Auto-
nomie.80 Als Art der Kausalität muss nämlich auch der freie Wille be-
stimmt sein, das heißt, es muss ein bestimmter Zusammenhang zwischen
Ursache und Wirkung bestehen. Dieser Zusammenhang wird nach Kant
durch die Autonomie des Willens hervorgebracht, in der sich der ver-
nünftige Wille durch Gesetze, die in ihm selbst liegen, bestimmt. Das
hierdurch konstituierte Kausalverhältnis darf dabei keinen zeitlichen
Anfang haben, da es ansonsten einer Ursache bedürfte, die der Kausalität
ihren Anfang bestimmt. Nach Kant ist nun die Bestimmung durch ob-
jektive Gründe der Vernunft der einzige denkbare Fall einer Kausalität,
die nicht zeitlichen Bedingungen unterworfen ist.81 Denn das Verhältnis
zwischen objektiven Gründen und Handlung ist kein Verhältnis zeitli-
cher Sukzession wie bei subjektiven Bestimmungsgründen und Hand-
lung. Jede Handlung muss aber nun durch eine Ursache bestimmt sein:
Entweder durch in der Zeit vorhergegangene Zustände oder durch
Gründe der Vernunft. Letzteres ist Selbstbestimmung (Spontaneität), die
auch eine Form der Determination, nur eben nicht Prädetermination
ist.82 Nur unter Voraussetzung letzterer können wir die praktische Frei-
heit konsequent denken.
Wir können also zusammenfassen: Ohne transzendentale Freiheit und
Autonomie wären wir nicht in der Lage, uns selbst auf etwas zu ver-
pflichten, sei es im Denken oder im Handeln.83 Wir müssen uns deshalb
als im transzendentalen Sinne freie und autonome Wesen verstehen, um
uns überhaupt als Subjekte der Aufklärung (die auf ihr Selbstdenken
verpflichtet sind) betrachten zu können. Für Wesen, die sich nicht als
frei verstehen, würde die Forderung und der Begriff der Aufklärung mit

77
GMS AA 4, 446f. Kant bestimmt Autonomie als eine „Beschaffenheit des Willens“,
wodurch er sich selbst „ein Gesetz ist“ (ibid., 440). Es scheint deshalb kein guter Ein-
wand, dass die kantische Moral keine autonome Moral sei, da man sich ja mit der Ver-
nunft nicht notwendig identifizieren müsse (Tugendhat 2004, 46).
78
Ameriks 2013, 57.
79
So ist das moralische Gesetz ratio cognoscendi der Freiheit, Freiheit ratio essendi des
moralischen Gesetzes (KpV AA 5, 3f.; 29f.). Die Realität der Freiheit wird durch ein Fak-
tum der praktischen Vernunft bestätigt (ibid., 6).
80
Allison 2011, 283; ders. 2013, 134.
81
Prol AA 4, 345.
82
V-Met Arnoldt AA 29, 1019.
83
Korsgaard 1992, 78; KpV AA 5, 33; 43.
198 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

den Maximen des Selbstdenkens, der erweiterten und konsistenten Den-


kungsart keinen Sinn machen. Dieses Selbstverständnis impliziert aber
wiederum unser Selbstverständnis als Wesen, die sich selbst einem unbe-
dingten moralischen Gesetz unterwerfen, indem sie einen unbedingten
Anspruch an sich erfahren. 84
Wenn nun das Selbstverständnis als freies Noumenon eine Vorausset-
zung für das Selbstverständnis als Subjekt der Aufklärung ist, dieses aber
von der Anerkennung unbedingter moralischer Ansprüche abhängt, so
kann sich nur der als Subjekt der Aufklärung verstehen, der auch dieses
Faktum anerkennt. Man setzt notwendig voraus, dass „der Verstand
nach objectiven Gründen, die jederzeit gültig sind [und nicht nach ne-
zessitierenden Ursachen], sein Urtheil zu bestimmen das Vermögen ha-
be“.85 Nur durch seine Vernunftautonomie kann der Mensch also über-
haupt der Aufforderung der kantischen Aufklärung nachkommen wol-
len, für sich selbst zu denken.86

III. Intelligibler Charakter

Wir haben gesehen, dass man sich nur unter Voraussetzung eines nou-
menalen, transzendental freien und autonomen Selbst als Subjekt der
Aufklärung im Sinne Kants verstehen kann: Einerseits, weil wir uns nur
unter dieser Voraussetzung als ein mit normativen Ansprüchen konfron-
tierter Akteur verstehen können und die Forderung Kants sich aufzuklä-
ren ein solcher normativer Anspruch ist. Andererseits kann den Akt des
sich Aufklärens, wenn dieser in der Realisierung der Vernunftautonomie
besteht, nur ein freies Selbst vollziehen. Dieses Selbst oder Ich ist nun
aber nicht frei im Sinne einer Wahlfreiheit, sondern autonom. Für den
Akt der Aufklärung ergibt sich damit aber dasselbe Problem wie für alle
moralischen Handlungen: Inwiefern ist das Verbleiben im Zustand der
Unmündigkeit dem Unmündigen überhaupt zurechenbar bzw. selbst
verantwortet? Wenn nämlich freies Handeln sittlich-autonomes Han-
deln ist und dem freien Handeln das Naturgeschehen gegenübersteht, so
scheint es außer dem sittlichen Handeln kein freies Handeln, sondern
eben nur Naturgeschehen zu geben, für das das handelnde Subjekt nicht

84
Das Begründungsverhältnis, in das Kant moralisches Bewusstsein und Freiheitsbe-
wusstsein setzt, ändert sich jedoch. Der Grund hierfür ist allerdings umstritten: vgl. u. a.
Kersting 1984, 25; Prauss 1983, 69; Iber 2005, 98; Henrich 1994, 82f.; Ameriks 2003, 190.
85
Recension AA 8, 14.
86
Wood 1999, 60. Die Vernunft ist ein aktives Vermögen, autonom zu urteilen (Log
AA 9, 76; SF AA 7, 27).
Reine Voraussetzungen 199

verantwortlich wäre.87 Wenn nun Aufklärung in der moralisch gesollten


Realisierung autonomen Denkens besteht, scheint das Defizit an Aufklä-
rung Produkt bloßen Naturgeschehens zu sein.
Dieses Problem der Zurechenbarkeit unsittlicher Handlungen ver-
sucht Kant in RGV durch Einführung eines neuen Theorems zu lösen,
das auch im Hinblick auf das Projekt der Aufklärung relevant ist: die
Wahl des eigenen intelligiblen oder noumenalen Charakters, durch die
der Mensch sich selbst bestimmt, sich durch die Natur oder die Vernunft
zum Handeln zu bestimmen.88

a. Die noumenale Charakterwahl

Hat für Kant jede Ursache einen empirischen Charakter, durch die der
empirische „modus operandi“ ihrer Wirksamkeit bestimmt ist,89 so kann
man dem empirischen Charakter des Menschen noch einmal einen intel-
ligiblen Charakter zu Grunde legen. 90 Diesen noumenalen Charakter
wählt sich das noumenale Ich in einer intelligiblen, als von Zeit und Ort
unabhängigen Wahl. Die empirischen Handlungen und der daraus resul-
tierende empirische Charakter sind die räumlich-zeitlichen Manifestati-
onen dieser noumenalen Wahl. 91 Unser individueller „Lebenszusam-
menhang als ganzer“92 ist als Resultat der freien Selbstbestimmung unse-
res Willens und seiner Charakterwahl zu interpretieren, die sich in
unserem phänomenalen Charakter manifestiert. Mit dem Gedanken die-
ser Wahl wird die Quelle sowohl des Guten als auch des Bösen im Men-
schen radikal an seinen Willen zurückgebunden: Sein Wille und nicht
seine Natur, Neigungen oder Vernunft ist der Ursprung des Guten und
des Bösen in ihm.93
Bereits in KrV fungiert der empirische Charakter als das „sinnliche
Zeichen“ oder „sinnliche Schema“ (d. h. die Verdeutlichung) des an sich
unbekannten intelligiblen Charakters.94 Der empirische Charakter, der
sich in der erfahrbaren Sinnesart artikuliert, wird gedacht als transzen-
87
Prauss 1983, 81; Allison 1990, 2; Bernstein 2002, 13f.
88
Prauss 1983, 94.
89
Allison 1990, 30.
90
Allison 1990, 32.
91
Die Behauptung, jemand hätte in einer bestimmten Situation anders handeln können,
meint nach Willaschek eigentlich, dass er ein anderer intelligibler Charakter hätte sein
können (Willaschek 1992, 144).
92
Willaschek 1992, 145.
93
Bernstein 2002, 12f.
94
KrV B 574/A 546; B 581/A 553.
200 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

dental verursacht durch einen entsprechenden intelligiblen Charakter,


dem die nicht erfahrbare Denkungsart zu Grunde liegt.95 Als Ursache
muss der intelligible Charakter gleichförmige, regelhafte Wirkungen in
den Erscheinungen zeitigen. Diesen regelhaften Wirkungen – die gleich-
förmigen Handlungen – legen wir phänomenal wiederum einen empiri-
schen Charakter als empirische Ursache zu Grunde.96 Auf Grund von
empirisch wahrnehmbaren Handlungen schließen wir also auf den empi-
rischen Charakter eines Menschen und legen selbigem wiederum einen
entsprechenden intelligiblen Charakter zu Grunde. Der empirische Cha-
rakter eines Subjekts ist ein sich in der Zeit entwickelndes Resultat des
intelligiblen Charakters, des angeborenen Temperaments und äußerer
Umstände. Die noumenale Kausalität des intelligiblen Charakters ent-
steht nicht und vergeht auch nicht, da sie gar nicht der Zeitlichkeit un-
terworfen ist.97 Der empirische Charakter ist also die unmittelbare empi-
rische Ursache einer Handlung, dieser selbst ist aber wiederum bloße Er-
scheinung des intelligiblen Charakters.98 Damit wird den Handlungen,
die nach empirischen Gesetzen bestimmt sind, ein intelligibler Grund
zugeschrieben, der nicht selbst empirisch ist. Damit kann der intelligible
Charakter aber auch nicht unmittelbar erfahren,99 sondern nur als Grund
des empirischen Charakters gedacht werden.100
Dieser Charakter ist nun aber nicht etwas, was man faktisch immer
schon besitzt, sondern etwas, das man „sich selbst verschafft“, 101 das
heißt der Einzelne ist für seinen Charakter verantwortlich. Damit ist je-
doch nicht nur gemeint, dass die Bestimmung des eigenen Charakters
selbst erworben wird, sondern dass man sich seinen Charakter über-
haupt erst erwerben muss, indem man sich in seinem Handeln an feste
Grundsätze bindet. Wer sich hingegen durch seine wechselnden Nei-
gungen und Affekte bestimmen lässt, der hat keinen schlechten, sondern
überhaupt keinen Charakter:102 „Gründung eines Charakters aber ist ab-
solute Einheit des innern Princips des Lebenswandels überhaupt“.103
Man kann also nur dann von Charakter sprechen, wenn ein Mensch
seine Lebensführung an einem einheitlichen Prinzip bzw. einer einheitli-
95
KrV B 579/A 551; B 568f./A 540f.; B 574/A 546.
96
KrV B 577/A 549.
97
KrV B 581/A 553.
98
Willaschek 1992, 142ff; 139.
99
Eine Wirkung kann in Bezug auf ihre intelligible Ursache frei, in Bezug auf ihre em-
pirische Ursachen unfrei sein (KrV B 564f./A 536f.).
100
KrV B 566ff./A 538ff.
101
KpV AA 5, 98; Anth AA 7, 294.
102
Anth AA 7, 292.
103
Anth AA 7, 295.
Reine Voraussetzungen 201

chen Maxime orientiert und nicht durch kontingente Affekte, Nachah-


mung und Vorurteile bestimmt wird. Der Mensch mit Charakter be-
stimmt sein Leben im eigentlichen Sinne selbst. Charakter besteht in der
„Originalität der Denkungsart“.104 Wer einen Charakter hat, hat zumin-
dest den Mut, sich seiner eigenen Freiheit und Originalität zu bedienen
(sei es im Guten oder im Schlechten). Weil sich hier zumindest ein ge-
wisses Maß an Selbstbestimmung realisiert, ist selbst die Bösartigkeit als
Bindung an unmoralische Prinzipien immer noch besser als bloße Nach-
ahmung. Denn ein böser Charakter macht immerhin Gebrauch von sei-
ner Freiheit und bestimmt sein Leben konsequent durch Prinzipien.105
Ein Mensch ohne Charakter macht hingegen gar keinen Gebrauch von
seiner Freiheit.106
Ist der Charakter Ergebnis einer Wahl und der intelligible Charakter
Ursache des empirischen Charakters, so muss die freie Wahl des intelli-
giblen Charakters die noumenale Ursache des empirischen Charakters
sein. Eine intelligible Ursache ist jedoch nur dann mit einer empirischen
Ursache vereinbar, wenn erstere außerhalb der Reihe von letzterer
liegt.107 Anders als der empirische Charakter, der durch formative Ein-
flüsse bestimmt ist, muss sowohl die Wahl des intelligiblen Charakters
als auch dessen Verhältnis zum empirischen Charakter deshalb als
zeitfrei gedacht werden.108 Seinen intelligiblen Charakter verschafft der
Mensch sich deshalb nach Kant durch eine Wahl vor jeder Zeit, die, weil
sie nicht unter den Bedingungen der Zeitlichkeit steht, mit dem parado-
xen Ausdruck „intelligibele That“ bezeichnet werden muss.109 Mit die-
104
Anth AA 7, 293.
105
Anth AA 7, 293.
106
In einer metaphysisch weniger voraussetzungsreichen Deutung lässt sich diese Wahl
so verstehen, dass die empirisch beobachtbaren Dispositionen ihren Grund in nicht er-
fahrbaren, frei gewählten „fundamentalen Prinzipien und Wertverpflichtungen“ haben
(Reath 2006, 276; 285). Niemand kennt jedoch sein Inneres genug, um zu wissen, welche
Maxime Grund seiner Dispositionen ist und ob diesen überhaupt eine Maximenwahl zu
Grunde liegt (MdS AA 6, 447; RGV AA 6, 37; 20).
107
KrV B 558/A 530.
108
Reath 2006, 276.
109
RGV AA 6, 39. Paradox ist der Ausdruck deshalb, weil der Begriff „Tat“ Zeitlich-
keit impliziert, die durch den Begriff „intelligibel“ aber negiert wird (Velkley 2014, 242).
Die Bestimmung ist also keine positive, sondern eine bloße Bestimmung via negationis:
Die intelligible Tat kann nicht als durch einen zeitlich vorangehenden Zustand verursacht
gedacht werden (AA 6, 39f.). Unsere moralische Beschaffenheit, sofern sie uns zurechen-
bar sein soll, muss so betrachtet werden, als ob sie „keinen Zeitursprung“ , sondern ihren
Ursprung nur in unserer praktischen Vernunft hätte (ibid., 43). Der Charakter, dessen
Urheber der Mensch selbst ist, wird auf Grund der Zeitunabhängigkeit der Wahl von
Kant als angeboren bezeichnet. Er liegt dem Gebrauch der Freiheit, der in der Erfahrung
gegeben wird, zu Grunde. Wäre die Freiheit Gegenstand des Wissens und damit Gegen-
202 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

sem Konzept sollen alle sittlichen Handlungen auf einen vom morali-
schen Subjekt zu verantwortenden einheitlichen Vernunftursprung be-
ziehbar sein, der nicht in einem zeitlichen Verhältnis zu seinen einzelnen
Taten steht, sondern sich in jeder einzelnen Handlung manifestiert.110
Die noumenale Wahl besteht darin, ob der moralische Akteur sich unbe-
dingt an das Sittengesetz binden will, d. h. in der grundsätzlichen Ver-
hältnisbestimmung der Maxime der Sittlichkeit zur Maxime der Selbst-
liebe: Die Wahl, letztere ersterer unterzuordnen begründet dabei einen
guten, die Unterordnung ersterer unter letztere dagegen einen bösen
Charakter. Dieser manifestiert sich dann im empirischen Charakter als
Tugend der äußerlichen Befolgung gesetzmäßiger Handlungen.111
In der noumenalen Wahl wird also die grundsätzliche Gesinnung ei-
nes Menschen gewählt, sie ist der „erste subjective Grund“ dafür,112 wie
das moralische Subjekt von seiner Freiheit Gebrauch macht. Dem Ge-
brauch seiner Freiheit liegt mit der Wahl des Charakters ein subjektiver
Grund zu Grunde, der selbst ein Akt der Freiheit ist. Dieser Akt der
Freiheit ist der erste Grund, konkretere gute oder schlechte Maximen
anzunehmen und begründet damit das Gute oder Böse im Menschen.113
Nur auf Grund dieses subjektiven Grundes können ihm seine Handlun-
gen (der Gebrauch seiner Willkür) sittlich zugerechnet werden.114

b. Das radikale Böse

Die skizzierte noumenale Wahl des intelligiblen Charakters gehört zu


den befremdlichsten Lehrstücken der Philosophie Kants. Zum einen ist
fraglich, was unter einer zeitfreien Wahl gedacht werden soll, zum ande-
ren ist nicht leicht verständlich, wie diese in die konkrete Biographie ei-
nes Menschen integriert werden kann. Zwar unterscheiden sich vernünf-
tige Gründe als Bestimmungsgründe einer Handlung dadurch von ihren

stand möglicher Erfahrung, so würde sie auf eine bloße Erscheinung reduziert und so der
Zeitlichkeit unterworfen. Das Subjekt der Freiheit würde „als bloße Erscheinung vorge-
stellt“ (Prol AA 4, 343; KrV B xxviif.).
110
RGV AA 6, 41.
111
RGV AA 6, 47. Nach Johnson meint Kant mit dem guten Willen sehr
wahrscheinlich eine „disposition to make choices of a certain kind, a disposition to act on
certain policies and not others“ (Johnson 2009, 23). Diese Disposition würde das Subjekt
moralische Entscheidungen treffen lassen, auch wenn es faktisch nie moralischen Ent-
scheidungen ausgesetzt ist.
112
RGV AA 6, 25.
113
RGV AA 6, 21.
114
RGV AA 6, 26.
Reine Voraussetzungen 203

empirischen Ursachen, dass vernünftige Gründe anders als empirische


Ursachen kein Zeitverhältnis implizieren.115 Dies erklärt aber nicht die
Zeitfreiheit der noumenalen Charakterwahl. Denn diese Charakterwahl
ist nach Kant nicht selbst durch Gründe motiviert, sondern es ist Gegen-
stand dieser Wahl, moralische Überlegungen zum Grund seiner
Maximenwahl zu machen.
Auch sachlich ergeben sich Probleme: Zum einen mag zwar die Gel-
tung von Gründen anders als das Gegebensein von Ursachen nicht von
Zeit und Ort abhängen, in Bezug auf das konkrete Individuum werden
diese Gründe jedoch erst zu einem Zeitpunkt zu Gründen. Außerdem
scheint es nicht unproblematisch, den Grund der Freiheit und der Zure-
chenbarkeit von Handlungen mit der noumenalen Wahl aus der Zeit und
damit auch aus den konkreten Entscheidungssituationen des Individu-
ums zu eskamotieren.
Mit der Lehre vom radikal Bösen der menschlichen Natur (dem na-
türlichen Hang des Menschen zum Bösen) potenzieren sich die Proble-
me zusätzlich. Gemäß dieser Lehre geht der Mensch in seinem Leben
von der moralisch schlechten Gesinnung aus, die Sittlichkeit seiner Ei-
genliebe unterzuordnen. Der Hang zum Bösen bezieht sich dabei nicht
auf einzelne Handlungen und deren Maximen, sondern auf die grund-
sätzliche Maxime, im Konfliktfall manchmal der Selbstliebe das Über-
gewicht über moralische Gründe zu geben.116 Diese allgemein menschli-
che Unterordnung der Sittlichkeit unter die Selbstliebe ist kein Faktum,
sondern Resultat einer zeitfreien intelligiblen Tat jedes Einzelnen. 117
Damit ist das radikale Böse in der menschlichen Natur eine jedem ein-
zelnen Subjekt zurechenbare Tat.118
Auch wenn diese Tat als eine intelligible nicht Gegenstand der Erfah-
rung werden kann, äußert sie sich jedoch in der Erscheinung, insofern
unserer Erfahrung nach jeder Mensch ursprünglich die Maxime der gele-
gentlichen Abweichung von der Sittlichkeit in sich aufgenommen hat.119
Wir beobachten, dass der Mensch anfänglich nur dann entsprechend der

115
Reath 2006, 287.
116
Allison 1990, 153.
117
RGV AA 6, 31. Nach Wood ist die Lehre vom radikal Bösen kein theologisches
oder metaphysisches, sondern ein anthropologisches Lehrstück (Wood 1999, 291). Dage-
gen scheint mir mit McMullin die Lehre vom radikalen Bösen nur als „a transcendental
condition for practical reason’s understanding of itself as morally responsible“ (McMullin
2013, 67).
118
RGV AA 6, 44; 58. Die Unterordnung des Moralgesetzes unter die Selbstliebe iden-
tifiziert Kant mit der Erbsünde als der Trennung von Gott in Folge des Ungehorsams ge-
genüber dem göttlichen Willen (dem Sittengesetz) (Wood 2014, 32).
119
RGV AA 6, 32.
204 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

Sittlichkeit handelt, wenn es seinen Neigungen entspricht.120 Dabei be-


zweifelt der Mensch mit Hang zum Bösen gar nicht schlechthin die Gel-
tung des Moralgesetzes, sondern nur seine Reinheit und verkehrt damit
die Ordnung von Glückseligkeit und Sittlichkeit.121 Dieses radikale Böse
in jedem Menschen verdirbt den „Grund aller Maximen“.122 Von diesem
Hang zum Bösen nimmt nach Kant die moralische Entwicklung jedes
Menschen ihren Ausgang.
Weil der Mensch seinen Ausgang vom solcherart bestimmten Bösen
nimmt, ist die noumenale Wahl des guten Charakters keine Wahl, die
unter neutralen Bedingungen stattfände, sondern vollzieht sich schon
unter der Voraussetzung einer dem Individuum zurechenbaren bösen
Gesinnung.123 Eben deshalb handelt es sich um eine „Revolution in der
Gesinnung im Menschen“:124 die Umkehrung des „obersten Grunde[es]
seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige
unwandelbare Entschließung“.125 Das radikale Böse hat dabei einen am-
bivalenten Charakter: Einerseits ist es angeboren, andererseits ist es
selbst erworben. Diese Konzeption wird nur verständlich, wenn man sie
bereits unter der Pflicht des Menschen betrachtet, permanent seinen
kontinuierlichen Ausgang aus der selbst verschuldeten Immoralität zu
suchen. Denn wäre das radikale Böse nicht angeboren, wäre die Revolu-
tion der Denkungsart für manche vielleicht gar nicht notwendig oder die
Reform der Sinnesart irgendwann unter Umständen abgeschlossen.
Würde es sich nicht um ein selbst zugezogenes Böses handeln, dann wä-
ren Revolution und Reform faktisch vielleicht nicht möglich (nicht alle
angeborenen Defekte können überwunden werden) oder nicht moralisch
notwendig.126 Weil es sich aber um einen gleichermaßen angeborenen,
wie der Gesinnung zuschreibbaren Defekt handelt, erfordert die Wahl
des guten Charakters eben eine Revolution der Gesinnung. Der Mensch
muss ein neuer Mensch werden, der seine Denkungsart revolutioniert
und sich so für das Gute empfänglich macht. Diese Revolution ist kein
fragmentarischer Prozess, sondern erfolgt „gleichsam durch eine Explo-
sion“.127 Diese besteht in der einmaligen Wiederherstellung der Reinheit
der Triebfeder zum Guten als dem obersten Grund aller unserer Maxi-
120
RGV AA 6, 36.
121
Klemme 1999 130f.
122
RGV AA 6, 37.
123
RGV AA 6, 38. Zu dieser Asymmetrie zwischen Gut und Böse vgl. auch Bernstein
2002, 26; 32f.
124
RGV AA 6, 47.
125
RGV AA 6, 47f.
126
Velkley 2014, 243f.
127
Anth AA 7, 294.
Reine Voraussetzungen 205

men und der Entscheidung, diese Triebfeder nicht mit anderen Triebfe-
dern zu verbinden oder ihnen zu subordinieren.128
Weder die intelligible Tat als Grund des radikalen Bösen in uns noch
die Revolution in unserer Gesinnung sind uns jedoch als mögliche Ge-
genstände der Erfahrung zugänglich.129 Empirisch zugänglich ist uns die
Reform der Sinnesart. Was aus intelligibler Perspektive eine Revolution
ist, erscheint aus empirischer Perspektive als Reform: als Kultivierung
der Wertschätzung der Pflicht im Herzen des Einzelnen.130 Die Revolu-
tion der Denkungsart ist nur als transzendentale Ursache für die zeitlich
prozessuale Reform der Sinnesart unseres empirischen Charakters vo-
rauszusetzen. Die Voraussetzung eines solchen revolutionären Willens-
entschlusses ist notwendig, da die sittliche Besserung uns sonst als äußer-
liches Geschehen widerfahren würde und uns nicht zugerechnet werden
könnte. Damit könnte aber die Kategorie der Moralität gar nicht auf die
Reform angewandt werden.131 Tugend kann zwar äußerlich habitualisiert
werden, als empirischer Prozess liegt hier aber nur eine äußere Verhal-
tensmodifikation vor. Um diese Habitualisierung als tugendhaft denken
zu können, muss ihr eine noumenale „Herzensänderung“ vorausgesetzt
werden.132 Die Habitualisierung muss deshalb von Kant als kontinuierli-
che Besserung der Gesinnung verstanden werden, die von der sittlichen
Revolution transzendental verursacht ist, in dem Sinne, dass diese Revo-
lution in jedem Moment der Habitualisierung gleich wirksam ist.133 Der
revolutionierte Mensch nähert sich der Idee eines heiligen Willens an,
der tatsächlich die reine Sittlichkeit zum Bestimmungsgrund all seiner
Handlungsmaximen machen würde.134 So sei der noumenal wiedergebo-
rene Mensch nur „auf der Wage der reinen Vernunft“, nicht „nach empi-
rischem Maßstabe“ ausschließlich gut.135 Denn auch der beste Mensch
besitzt nach Kant weiterhin einen Hang zum Bösen, das heißt sein intel-
ligibler Charakter ist zu schwach, angenommene Maximen immer und

128
RGV AA 6, 46.
129
Willaschek 1992, 159.
130
RGV AA 6, 48.
131
RGV AA 6, 60.
132
RGV AA 6, 47. Nach Willaschek kann diese Reform nur die Legalität der Handlun-
gen betreffen (Willaschek 1992, 161). Die Reform würde darin bestehen, in einem konti-
nuierlichen Prozess „überhaupt keine gesetzwidrigen Handlungen mehr zu vollziehen“
(ibid., 162). Einem durchgängig legalen empirischen Charakter könnten wir dann einen zu
Grunde liegenden radikal guten intelligiblen Charakter unterstellen (ibid., 161; 163).
133
RGV AA 6, 68.
134
RGV AA 6, 46f.
135
RGV AA 6, 25.
206 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

allein der Sittlichkeit wegen immer zu befolgen.136 Der Hang zum Bösen
kann so nie vollständig ausgelöscht werden.137
Da die noumenale Wahl isoliert von den Lebensvollzügen ist, fragt
sich jedoch, wie sie ein Interpretament für biographische Entwicklungs-
linien und Brüche sein soll. Kant charakterisiert die Revolution des Cha-
rakters als eine Tat der Freiheit, die sich in unserem wahrnehmbaren
Handeln nur manifestiert. Dies muss heißen, dass uns in Bezug auf die
Reform der Sinnesart nur das Wollen dieser Reform zugeschrieben wer-
den kann. Das Gelingen oder Misslingen oder die graduelle Ausprägung
dieser Reform scheint hingegen dann nicht mehr frei zuschreibbar zu
sein, sondern von äußeren Umständen abzuhängen.138 Das Problem ist
nun aber, dass damit immer noch nur die intelligible Tat moralischen
Wert hat, seine Sinnesart reformieren zu wollen. Da die noumenale Wahl
eine einzige und zeitfreie ist – bestehend in der Überordnung der Sitt-
lichkeit über das Streben nach Glückseligkeit – ist nicht verständlich, wie
diese Revolution ihrerseits Grade zulassen könnte. Damit wäre dann das
Gelingen der Reform völlig von den Gegebenheiten abhängig und nicht
mehr selbst Ausdruck des freien Willens. Es leuchtet also nicht ein, dass
der Grad der Reformierung noch einmal moralischen Wert besitzen
könnte. Dies bedeutet für den Prozess der Aufklärung: Nur der Ent-
schluss, den Stand der eigenen Unmündigkeit zu verlassen, ist moralisch
werthaft, nicht aber die graduelle Realisierung von selbigem.

c. Aufklärung und Revolution

Fassen wir zusammen: Die noumenale Wahl des guten Charakters be-
steht in einer Revolution der Denkungsart, in der der Mensch sich im
Ausgang von seinem radikal verderbten Charakter entscheidet, fortan
seine Selbstliebe der Maxime der Sittlichkeit unterzuordnen. Diese Wahl
soll unabhängig von allen empirischen Bedingungen erfolgen. Damit
bleibt auf Grund des asymmetrischen Verhältnisses zwischen Den-
kungsart und individuellen Lebensvollzügen jedoch unklar, wie diese
Revolution der Denkungsart bzw. Gesinnung in die individuelle Biogra-
136
RGV AA 6, 29f.
137
So wird nach Guyer in der Entwicklung der Tugend der Selbstbeherrschung Auto-
nomie realisiert. Autonomie im Vollsinne, nämlich die Unabhängigkeit von der Neigung
durch Befolgung des Vernunftgesetzes, könne nur prozessual realisiert werden (Guyer
2013, 77; vgl. V-Mo/Collins AA 27, 360ff.).
138
So interpretiert etwa Frierson den Kampf gegen die schlechte Sinnesart als Aus-
druck des revolutionierten Willens. Die Reform des eigenen Charakters ist für ihn Aus-
druck des freien Willen (Frierson 2003, 9).
Reine Voraussetzungen 207

phie des jeweils wählenden Subjekts integriert werden kann. Die freie
Wahl der Revolution der Denkungsart ist zwar eine Ursache, die sich in
der empirischen Welt äußert, die empirische Welt übt aber keinen Ein-
fluss auf die freie Wahl aus. Empirische Einflüsse verändern nur die Er-
scheinungsweisen der freien Wahl, ohne reziprok auf die Wahl selbst zu-
rückwirken zu können.139 Öffentliche Aufklärung, Erziehung etc. kön-
nen also diese Wahl nicht nur nicht äußerlich erzwingen, sondern ihnen
kann überhaupt kein Einfluss auf die freie Wahl zugeschrieben werden.
Das gilt auch für den Entschluss sich aufzuklären.
Wir wollen abschließend ausschließlich die Problematik der Konzepte
der noumenalen Wahl, der Revolution der Denkungsart und des radikal
Bösen für Kants Aufklärungskonzeption betrachten. Die Voraussetzung
einer noumenalen Charakterwahl ist für Kant notwendig, damit der Ein-
zelne sich seine Unmündigkeit als selbstverschuldet und dann auch den
Ausgang aus selbiger selbst zuschreiben kann bzw. muss. Unmündigkeit
und Revolution der Denkungsart, die der eigenen persönlichen Aufklä-
rung und dem Streben nach Autonomie im Handeln und Denken zu
Grunde liegen, müssen als dem intelligiblen Charakter zuschreibbare
Akte der Freiheit gedacht werden. Diese Akte können nicht in die Zeit
fallen und nicht empirisch bedingt sein. Ansonsten ließen sie sich nicht
als Akte reiner Freiheit verstehen, sondern wären durch zeitlich vorher-
gegangene Zustände nezessitiert. Insofern die noumenale Wahl von allen
empirischen Umständen unbedingt ist, kann Kant mittels dieser Kon-
zeption die Unmündigkeit des Menschen als selbstverschuldet bezeich-
nen. Mittels des Konzepts der Revolution der Denkungsart kann man
auch erklären, warum Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner
Unmündigkeit verstanden werden muss. Der Hang zur Unmündigkeit
muss in dem natürlichen Hang des Menschen, seine Vernunftautonomie
der Selbstliebe unterzuordnen, gründen. Der Ausgang muss auf noume-
naler Ebene als Revolution gedacht werden, auf phänomenaler Ebene
dagegen als Reform der Sinnesart. Insofern ist die Realisierung dieser
Revolution im empirischen Dasein dem Einzelnen nicht zuschreibbar,
sondern von äußeren Ursachen abhängig.
Für die öffentliche Aufklärung ergibt sich daraus jedoch, dass sie auf
die noumenale Wahl, sich aus der Unmündigkeit befreien zu wollen,
keinen Einfluss üben kann. Diese Revolution der Denkungsart ist aber
der eigentliche Akt der Freiheit. Die Einflussmöglichkeit öffentlicher
Aufklärung setzt also diese Revolution beim Einzelnen voraus und wirkt
dann nur noch auf die Reform des empirischen Charakters. Diese ist als

139
Frierson 2003, 97.
208 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis

empirischer Prozess bedingt und damit dem Einfluss der Aufklärung zu-
gänglich. Kants Aufklärungsprojekt muss sich also damit bescheiden,
nur die Reform des empirischen Charakters oder des phänomenalen
Selbst zu betreffen.140 Aufklärung würde nur die Manifestation der Frei-
heit in der Erscheinung betreffen. Dies scheint jedoch eine sehr starke
Selbstbescheidung. Denn die Aufklärung stellt Gründe in den öffentli-
chen Raum, die sich das Subjekt in freier Weise zu eigen machen kann
und die dadurch in seine Deliberations- und Denkprozesse integriert
werden. Dadurch werden sie Momente der Selbstaufklärung.141 Dass für
das Selbstdenken relevante Gründe für das Subjekt überhaupt zu Grün-
den werden können, hängt dann davon ab, ob diese im öffentlichen
Raum zugänglich sind. Damit hätte die Zeitlichkeit oder der geschichtli-
che Stand Rückwirkungen auf den intelligiblen Charakter und seine
Freiheit und diese Freiheit müsste graduell verstanden werden. Gerade
das scheint Kant aber abzulehnen. Andererseits wäre dann nämlich die
Revolution der Denkungsart aus kantischer Sicht ein Ereignis in der Zeit
und damit Resultat eines natürlichen Prozesses. Insofern lässt Kant nur
einen Einfluss auf die empirische Manifestation der Moralität und Frei-
heit zu. Er müsste dementsprechend auch in zweifachem Sinne von der
Zeitfreiheit der Freiheit und des moralischen Selbsts sprechen. In einem
strengen Sinne als außerhalb jeglicher Zeitlichkeit stehend, in einem an-
deren Sinne nur insofern, als das Subjekt durch rationale Gründe be-
stimmt ist, die keinen zeitlichen Charakter haben und von Naturursa-
chen unterschieden werden müssen.
Fassen wir zusammen: Entgegen seiner Kritiker begreift Kant durch-
aus das konkrete Individuum als Adressat und Akteur der Aufklärung
und macht dessen historische Bedingtheit zu einem eigenen Thema theo-
retischer Aufklärung. Die abstrakten transzendentalen Strukturen des
erkennenden und moralisch handelnden Subjekts sind hingegen einer-
seits die Rahmenbedingungen der Möglichkeit eines weltbürgerlichen
Aufklärungsdiskurses, in dem die Selbstbestimmung aller potentiellen
Diskursteilnehmer anerkannt werden soll. Andererseits sind sie die Be-
dingung der Möglichkeit, an das historisch situierte Individuum die For-
derung nach Selbstaufklärung stellen zu können bzw. aus der Perspekti-
ve des Individuums diesen Anspruch anerkennen zu können. Das Prob-
lem ist aus unserer Sicht aber, dass Kant keine Rückwirkung der
historischen Bedingtheit auf diese transzendentalen Voraussetzungen
140
Dem stehen allerdings Stellen entgegen, die durchaus einen möglichen Einfluss der
Aufklärung auf die Revolution der Denkungsart nahelegen (vgl. etwa Anth AA 7, 294.)
141
Zum Zusammenhang von Aufklärung der Vernunft und Integration bei Kant vgl.
Henrich 1982, 47ff.
Reine Voraussetzungen 209

zulassen kann und sie absolut setzt. Spätestens bei der Konzeption der
Freiheit ergibt sich aber ein Problem, wenn das Konkrete keine Rück-
wirkung auf das Noumenale entfalten kann, da dies die Frage aufwirft,
welche Wirkung auf die Freiheit und die Entscheidung zum Selbstden-
ken bzw. der Revolution der Denkungsart Aufklärung dann noch entfal-
ten kann. Als Alternative zu dieser Aufklärung wollen wir deshalb im
folgenden Kapitel Jacobis Projekt einer anderen Aufklärung im Ausgang
von seiner Kritik an der Unbedingtheit von Kants transzendentaler
Strukturierung des Subjekts entwickeln.
KAPITEL 3
PERSONALE VERNUNFT ALS GRUNDLAGE EINER
ANDEREN AUFKLÄRUNG

Im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass die Voraussetzung des reinen


Selbstbewusstseins, der reinen Vernunft und des reinen Verstandes aufs
engste mit Kants Konzeption von Aufklärung verbunden ist. Sie sind
Bedingungen der Möglichkeit des Projekts der Aufklärung. Vorausset-
zung hierfür ist Kants Überzeugung, dass wir vermöge einer Kritik von
allen kontingenten Bestimmungen unserer theoretischen und prakti-
schen Urteile absehen und so einen Zugang zu den „reinen“ Vorausset-
zungen dieser Urteile haben können.1 Wie später Hegel, so zweifelt auch
Jacobi diese Leistungsfähigkeit kritischer Abstraktion an. Für Jacobi ist
so nicht die reine Vernunft, sondern Personalität – das Vermögen eines
konkreten Individuums, „Ich bin, der ich bin“ sagen zu können – das
wahre alpha und omega allen Denkens, Handelns und Seins.2 Seine Kon-
zeption einer „anderen Aufklärung“ nimmt ihren Ausgang von der kon-
kreten Personalität des historisch situierten Individuums. Fundament
seiner Aufklärung ist nicht die reine Vernunft, sondern die individuelle
Person,3 deren Denken und Handeln durch eine Vielfalt empirischer Be-
dingungen bestimmt ist. Damit antizipiert Jacobi nicht nur die Aufklä-
rungskritik der Postmoderne, sondern entwickelt ein alternatives Auf-
klärungskonzept, das auf einer fundamental anderen Rationalitätskon-
zeption als der Kants basiert. Anders als für die Postmoderne muss dabei
für Jacobi jedoch weder das Projekt der Aufklärung noch die Idee der
Universalität der Vernunft aufgegeben werden.
Im Folgenden diskutieren wir dieses „andere“ Aufklärungsprojekt Ja-
cobis in fünf Schritten: Zunächst analysieren wir seine Kritik an den
„reinen“ Voraussetzungen von Kants Aufklärung (A), um danach Indi-
vidualität und personale Selbstbestimmung als alternatives Fundament
von Jacobis anderer Aufklärung zu skizzieren (B). Anschließend entwi-
ckeln wir seine Konzeption einer personalen Vernunft (C). Danach zei-
gen wir sein alternatives Konzept einer historischen Aufklärung auf (D).
Zuletzt untersuchen wir, wie Kants und Jacobis Ideen der Selbstbestim-
1
Sedgwick 2012, 11.
2
JB 1,7, 6; 11; Fromm JW 5,1, 116.
3
Vgl. hierzu die verschiedenen Studien Sandkaulens sowie Koch 2013 und Zöller 2004,
43.
Jacobis Kant-Kritik 211

mung des Individuums im aufgeklärten Recht trotz ihrer unterschiedli-


chen Ausgangspunkte weitgehend koinzidieren (E).

A. Jacobis Kant-Kritik

Abstoßungspunkt von Jacobis anderer Aufklärung ist seine Auseinan-


dersetzung mit den Grundlagen von Kants Aufklärungsprojekt. Dabei
lässt sich Jacobis Kritik an den Grundlagen von Kants Aufklärungspro-
jekts in folgende Momente einteilen: die Kritik an Kants Selbstbewusst-
seinskonzeption (I); die Kritik an Kants Begründung der Moral (II).

I. Ichheit ohne Selbst

Fundament von Kants Transzendentalphilosophie ist nach Jacobi die


Idee der sich selbst konstituierenden Subjektivität, also eines reinen Ichs,
das in seinen transzendentalen Operationen sich selbst und seine forma-
len Strukturen bestimmt.1 Aus Jacobis Sicht verfehlt diese Subjektivität
jedoch gerade das, was wir eigentlich mit „Ich“ meinen, nämlich das je
eigene, individuelle Selbst, das sich von jedem anderen Selbst unterschei-
det.

Sollte nicht ein Unterschied zwischen dem Ich u dem Selbst gemacht werden
müßen? – Ich selbst involviert Identität, u kann nicht auf dieselbe Weise genera-
lisiert werden wie das Ich.2

Kants Konzeption des Ichs als formaler Selbstbezug hebt nach Jacobi die
Individualität des Selbst auf und ersetzt sie durch eine allgemeine forma-
le Struktur. An die Stelle der Person setzt Kant eine „unpersönliche Per-
sönlichkeit“ bzw. die „bloße Ichheit des Ich ohne Selbst“.3 Jedoch wird
hierbei für Jacobi nicht einfach nur ein falscher Sachverhalt beschrieben,
vielmehr ist diese Ich-Konzeption das notwendige Resultat der Dialektik
eines Denkens, welches das individuelle Selbst, das für Jacobi das Fun-
dament unserer rationalen Weltdurchdringung ist, seinerseits restlos
1
In der Tat „constituirt“ bzw. macht sich das Subjekt nach Kants OP selbst (AA 21,
85; 92f.).
2
Kladde VI, 131 Schneider 1986, 234.
3
JaF JW 2,1, 212. Kants Ich ist „nur ein Abstractum […], welches mein Verknüpfender
Verstand mit den Empfindungen des äußern Sinnes erzeugt, indem er das mannigfaltige
derselben, an einander reiht, u sich dieser Handlung bewußt ist, u sich auf diese Weise
selbst erzeugt“ (Kladde VI, 51 Schneider 1986, 220f.).
212 Personale Vernunft

aufklären möchte. Hierzu muss sich dieser Grund allen Denkens und
Handelns selbst begreifen. Begreifen besteht nun aber, wie Kant zu
Recht vor Augen legt, in der spekulativen Konstruktion dessen, was be-
griffen werden soll. Zum Zwecke der Konstruktion des Ichs muss das
Denken deshalb nach Jacobi folgende Schritte vollziehen: Die aufkläreri-
sche Tendenz des Denkens verlangt zunächst, das Selbst mit seinen indi-
viduellen Bestimmungen in einem spekulativen Abstraktionsverfahren
zu annihilieren. Denn das Individuelle ist gerade das, was nicht begriff-
lich konstruiert werden kann. Anschließend muss das Ich im Denken
mit seinen Bestimmungen wieder rekonstruiert werden. Nach Jacobi
geht zwischen beiden Schritten jedoch gerade das verloren, was Grund
unserer Denk- und Handlungsvollzüge ist, nämlich die konkrete Indivi-
dualität dessen, der Ich bin. Da das Denken nur Allgemeinheiten kon-
struieren kann, muss es notwendig am personalen Individuum scheitern.
Dieses Scheitern verschleiert sich das aufklärerische Denken jedoch da-
durch, dass es die individuelle Bestimmtheit des Selbst aus seiner Kon-
zeption von Ich als unwesentlich annihiliert. Die Aufhebung des Indivi-
duums zu Gunsten einer bloßen Ichheit ist dementsprechend kein Ab-
weg des Denkens, auf den Kant zufällig geraten ist, sondern Ausdruck
der aufklärerischen Tendenz des Denkens, das Individuum als nicht auf-
klärbaren, weil nicht konstruierbaren Grund aus dem Denken zu eska-
motieren.4
Was sich an der Transzendentalphilosophie (wie vorher bereits an der
Philosophie Spinozas) zeigt, ist gerade, dass das Individuum sich nicht
konstruieren, sondern eben nur in seinem unbegreiflichen Dasein als
Grund unserer praktischen und theoretischen Vollzüge vor Augen stel-
len lässt. Diese Unbegreiflichkeit in ihrem Dasein vor Augen zu stellen,
ist ein wesentliches Moment von Jacobis „anderer“ Aufklärung der Da-
seinsenthüllung, die er gegen Kants Aufklärungsprojekt etablieren
möchte.
Nun wäre freilich mit dem bloßen Beharren auf der Individualität al-
lein wenig gewonnen. Sowohl Schlegel als auch Hegel werfen Jacobi
vielmehr vor, gegen das spekulative Denken nur seine eigene, subjektive
Existenz retten zu wollen, deren Überwindung gerade Aufgabe der Phi-
losophie sei.5 Insofern sich Jacobi auf seine verabsolutierte „Friedrich-
Heinrich-Jacobiheit“6 zurückziehe, verabschiede er sich von vornherein
4
„Das Weiße, wohin der Verstand zielt, das er treffen will, ist das Nichts; oder das All,
minus Diversität, Individualität, Personalität“ (Kladde VIII, 1041 Schneider 1986, 32).
5
Jacobi macht dagegen deutlich, dass er sich nicht auf sein subjektives Gefühl beruft
(Bouterwek 173).
6
KFSA 2, 68.
Jacobis Kant-Kritik 213

aus dem philosophischen Diskurs und damit a fortiori auch aus dem
Aufklärungsdiskurs. Wenn Jacobis „andere Aufklärung“ sich also nicht
in einer trotzigen Behauptung des eigenen Selbst und seines Innenlebens
gegen alles Denken erschöpfen will, muss er zumindest zeigen, dass die
von ihm kritisierte Aufklärung des Subjekts an ihren eigenen Maßstäben
scheitert. Und dieser Maßstab kann sich eben nicht in der Selbstbehaup-
tung der je eigenen Individualität erschöpfen. Jacobi versucht deshalb zu
zeigen, dass die Transzendentalphilosophie an zwei Problemen scheitert:
Zum einen kann sie das Selbstbewusstsein nicht verständlich machen,
zum anderen kann sie den Übergang von den reinen Formen des Den-
kens zum Bestimmten nicht konstruieren.
ad 1.) Wie Dieter Henrich in Fichtes ursprüngliche Einsicht versteht
auch Jacobi Kants Selbstbewusstseinsmodell als Reflexionsmodell.7 Die-
sem Reflexionsmodell, das Selbstbewusstsein als vermittelt durch einen
denkerischen Identifikationsakt versteht, in dem das Subjekt des Den-
kens sich mit sich selbst identifiziert, setzt Jacobi eine Konzeption von
Selbstbewusstsein als unmittelbarem „Seins-“ oder „Selbstgefühl“ entge-
gen. Der Begriff des „Gefühls“ ist dabei für Jacobi nur ein Hilfsaus-
druck, um die besondere Natur des Selbstbewusstseins via negationis zu
bestimmen. Da Selbstbewusstsein allem Handeln und Erkennen zu
Grunde liegt, kann es nicht Resultat eines Reflexionsaktes, einer Synthe-
sis, eines Vergleichs oder einer Identifikation sein. Denn all diese Akte
setzten wie jeder geistige Akt immer schon die Selbigkeit dieses Selbsts
voraus.8

Eines für sich und ohne anderes ist der Mensch sich selbst durch seinen Geist,
den eigenthümlichen, durch welchen er der ist, der er ist, dieser Eine und kein
anderer. Als diesen Einen, der allein ist dieser Eine, und derselbe bleibt unter
allen möglichen Veränderungen, findet er sich nicht erst hintennach durch
Selbstvergleichung […]; denn worin geschähe die Vergleichung und Einbildung;
worin würde das Selbst dem Selbste gleich? und was wäre das noch nicht gleich-
gesetzte Selbst, das Selbst noch ohne eigenes Seyn und Bleiben, das durch gleich-
ungleich- und zusammensetzen, durch verknüpfen erst zu einem Selbste mit
eigenem Seyn und Bleiben, mit Selbstseyn würde? Was endlich verübte alles
dieses? – Er findet sich als dieses Wesen durch ein unmittelbares, von Erinne-
rung vergangener Zustände unabhängiges Wesenheitsgefühl, nicht durch Er-
kenntniß [.]9

7
Dagegen: Koch 2004a, 156.
8
Spin1 JW 1,1, 105; Sandkaulen 2004, 230f. Sandkaulen geht davon aus, dass Fichte sei-
ne „ursprüngliche Einsicht“ bezüglich der Zirkularität des Reflexionsmodells von Jacobi
übernommen hat (Sandkaulen 2017, 29).
9
GD JW 3, 26f.
214 Personale Vernunft

Nun könnte man gegen Jacobi einwenden, dass zwar in der Tat jeder
geistige Akt einen Einheitsgrund voraussetzt, der die Möglichkeit haben
muss, sich auf sich selbst zu beziehen, damit man sich diese Akte als die
seinigen zuschreiben kann. Eben deshalb können wir diesen Einheits-
grund mit Recht Ich nennen. Daraus folgt aber noch nicht notwendig,
dass dieser Einheitsgrund sich in allen seinen Akten permanent auf sich
selbst beziehen und sich damit seiner selbst bewusst sein muss. So ver-
langt Kant auch nur, dass das Ich alle seine Vorstellungen begleiten kön-
nen müsse. Eben dies ist aber aus Sicht Jacobis das Problem des Reflexi-
onsmodells. Denn für das Selbst ist das Bewusstsein seiner Selbigkeit ge-
rade konstitutiv. Ein Gleichsetzen kann nicht das Selbst erzeugen, weil
das Selbst nur im Selbst dem Selbst als Selbst gleichgesetzt werden kann.
Wäre das Bewusstsein des Selbst von sich selbst aber ein sekundärer Ref-
lexionsakt, der dem Selbst als solchem nachrangig ist, dann wäre das
Selbst einerseits Produkt einer Vergleichung (insofern „Selbst“ eben
nichts anderes bedeutet als etwas, das sich seiner Identität mit sich selbst
bewusst ist), andererseits würde das Selbst im Akt der Vergleichung,
durch den es hervorgebracht werden soll, bereits vorausgesetzt. Jeder
Versuch, das Selbst als Resultat eines Vorstellungs- oder Reflexionsaktes
zu begreifen, muss also scheitern. Dennoch wird dieses Selbst (das im-
mer ein Bewusstsein von sich selbst impliziert) in allen Akten des Selbsts
in Anspruch genommen, auch wenn dieses Bewusstsein seiner Selbst
nicht denselben Grad an Distinktheit aufweist, wie wenn sich das Selbst
selbst thematisiert. Eben deshalb kann sich Jacobi aber umso mehr be-
rechtigt fühlen, via negationis von einem Selbstgefühl statt –bewusstsein
zu sprechen.10
ad 2.) Wie später Hegel, so argumentiert bereits Jacobi, dass Kant mit
der Apperzeption eine Einheit setzt, ohne zu zeigen, wie sich aus und in
ihr die in seiner Transzendentalphilosophie in Anspruch genommenen
Unterschiede entwickeln lassen.11 Zu diesem Zweck führt er Kants for-
melle Einheit und abstrakte Identität von Bewusstsein, Raum und Zeit –
auf, nach Hegel, „wahrhafte Weise, nämlich dialektisch“ – in ihren Ab-
grund reiner „Nichtigkeit“. 12 Anders als für Hegel ist für Jacobi eine

10
So zieht er den französischen Begriff „le sentiment de l’être“ dem deutschen
„(Selbst-)Bewusstsein“ vor, da letzterer „etwas von Vorstellung und Reflexion zu invol-
vieren“ scheint (Spin1 JW 1,1, 105). Auch Kant spricht in Prol vom Ich als einem Daseins-
gefühl (AA 4, 334).
11
VGPh SW 20, 346.
12
JW GW 15, 15.
Jacobis Kant-Kritik 215

immanente Selbstbestimmung dieser abstrakten Nichtigkeiten zum


Konkreten jedoch nicht möglich.13
Im Ausgang vom reinen Selbstbewusstsein der transzendentalen Ap-
perzeption kann Kant nach Jacobi niemals beim Konkreten angelangen.
Wie reiner Raum und reine Zeit niemals konkretisiert werden könnten,
weil das Unbestimmte nicht sich selbst bestimmen kann, so kann auch
das reine Selbstbewusstsein auf Grund seiner Unbestimmtheit niemals
Bewusstsein eines Konkreten werden. Jacobi versteht hierbei das Ver-
hältnis des reinen unendlichen Raumes, der reinen unendlichen Zeit und
des reinen Selbstbewusstseins zu ihren Konkretionen analog zum Ver-
hältnis von Spinozas unendlicher Substanz zu ihren endlichen Bestim-
mungen. Diese sind nur Einschränkungen des unbestimmten Unendli-
chen.14 Jeder Versuch, das Bestimmte auf ein bloßes „Nur“ zu reduzie-
ren (als Endliches, Subjektives oder Schein), hebt aber nicht das Problem
auf, dass an das Absolute Negativität herangetragen wird. Was dabei
nicht begriffen werden kann, ist die Selbstbestimmung des jeweiligen
Unendlichen zur Endlichkeit. Jacobi versucht entsprechend den Nach-
weis zu führen, dass Kants reine Vernunft, sein reines Bewusstsein sowie
die reinen Anschauungsformen nicht das verständlich machen können,
was verständlich zu machen wäre, nämlich die Möglichkeit des Über-
gangs zum Konkreten. Kants reine Erkenntnisformen trifft dasselbe
Verdikt wie Spinozas absolute Substanz,15 dass nämlich der Übergang
von ihrer reinen Unendlichkeit zur bestimmten Endlichkeit und zum
Individuum misslingen würde:

Sein bloßes reines Bewußtseyn ist ein bloßer leerer Raum des Denkens, den er
selbst nicht erfüllen; den er darum auch nicht unterbrechen kann, um durch eine
solche Unterbrechung wenigstens sich selbst in seiner Nichtigkeit zu wiederho-
len, und sein eigenes Echo, ein Ich bin – des Nichts hervorzubringen.16

So wird nach Jacobi bei Kant nicht klar, wie sich reines Bewusstsein
entweder immanent bestimmen oder durch ein anderes Unbestimmtes
bestimmt werden könnte. Der Übergang von reinem Raum, reiner Zeit

13
Deshalb bleiben Jacobis Überlegungen für Hegel dialektisch und werden nicht spe-
kulativ (JW GW 15, 15f.).
14
JaF JW 2,1, 195; vgl. KrV B 47f./A 32; Refl 4086 AA 17, 409f.; Prol AA 4, 286; Dörf-
linger 2000, 109; 114.
15
Der Spinozismus kann, wie bereits erwähnt, „nur von der Seite seiner Individuatio-
nen mit Erfolg angegriffen werden“ (Spin2 JW 1,1, 234). Denn Individualität erfordert ei-
nen bestimmten Grad an Selbstbestimmung, ansonsten löst sich das Individuum in Relati-
onen auf.
16
GD JW 3, 14f.
216 Personale Vernunft

und reinem Bewusstsein zur Mannigfaltigkeit bleibt unerklärt.17 Damit


kann Kant aber auch nicht die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a
priori und damit die Möglichkeit von Urteilen und Begriffen, die „ohne
irgend eine Beymischung aus“ der Erfahrung möglich sein sollen, herlei-
ten.18 Die transzendentale Apperzeption müsste diese Bestimmung ent-
weder selbst leisten oder durch ein anderes a priori voraussetzen dürfen,
denn die synthetische Einheit der Apperzeption setzt bereits eine
synthetisierbare Mannigfaltigkeit voraus, die analytische Einheit ist hin-
gegen der synthetischen nachgeordnet.19 Es bleibt also unverständlich,
wie das transzendentale Bewusstsein zu einem bestimmten werden
kann.20 Ebenso wenig zeigt Kant, wie Raum und Zeit als bloße und in
sich unbestimmte Größen durch die transzendentale Einbildungskraft zu
Quantitäten bestimmt werden können, und damit, wie Differenz (Man-
nigfaltigkeit) in die Unbestimmtheit von Raum und Zeit treten kann;21
Raum, Zeit und reines Denken sind als Reinheiten einander äußerliche
unbestimmte Unendlichkeiten, die nicht durch ihre Vereinigung be-
stimmt werden können.22
Kants Frage nach der Möglichkeit der Synthesis a priori setzt für Ja-
cobi zu spät an, da sie die Möglichkeit einer a priorischen Antithesis
nicht klärt.23 Bevor Kant mit dem Verstand die Bedingung angibt, unter
welcher sich das Mannigfaltige der Anschauung zu einer Einheit vereini-
gen lässt,24 müsste er etwa erst die Differenziertheit des Raums deduzie-
ren.

Sollte nämlich eine Synthesis a priori erklärt werden, so hätte man zugleich eine
reine Antithesis erklären müssen. Doch es findet sich auch nicht die leiseste
Ahndung dieses Bedürfnisses. Vielmehr spricht Kant von einer Synthesis des
Gleichartigen ohne vorhergegangne Antithesis, als wäre ihre Möglichkeit nicht
dem geringsten Zweifel unterworfen.25

17
Krit JW 2,1, 289.
18
Krit JW 2,1, 264.
19
„Alle Verknüpfung setzt ein zu Verknüpfendes voraus, jede Handlung des Verbin-
dens, das ist, des Vereinigen, setzt Veruneinigtes zum voraus.“ (Krit JW 2,1, 287f.)
20
Epistel JW 2,1, 151f.
21
Dass bei Kant bereits der Raum als reine Anschauung differenziert sein müsste,
ergibt sich für Jacobi etwa aus Kants Feststellung, der Raum sei „das Mannigfaltige der
Anschauung a priori zu einem möglichen Erkenntnis“ (KrV B 137).
22
Epistel JW 2,1, 151f.
23
Kant ignoriert nach Jacobi dieses Problem, weil ihm die Logik und damit die Mög-
lichkeit analytischer Urteile „etwas schon ganz ausgemachtes ist“ (Krit JW 2,1, 265).
24
KrV B 138.
25
Krit JW 2,1, 271.
Jacobis Kant-Kritik 217

Kant muss also nach Jacobi die Möglichkeit einer reinen Antithesis klä-
ren, da diese selbst Bedingung der Möglichkeit der reinen Synthesis ist.
Denn reine Synthesis ist nach Kant eine Handlung, die eine a priori in
Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit verbindet. 26 Begriffe und
Grundsätze a priori setzen „reine Anschauungen, Anschauungen a prio-
ri“27 (im Plural!) voraus. Die Frage ist also, ob Kant eine solche reine
Antithesis denken kann. Hierfür gibt es mehrere Möglichkeiten, die Ja-
cobi durchspielt und zurückweist:
1. Das Ding an sich scheidet als möglicher Bestimmungsgrund des
theoretischen Bewusstseins aus, da es für selbiges nur ein negativer
Grenzbegriff ist, auf den die Erkenntnis sich nicht positiv beziehen
kann.28
2. Die zweite Möglichkeit, von der Kant nach Jacobi tatsächlich Ge-
brauch macht, besteht darin, die Differenziertheit empirisch vorauszu-
setzen. Dies ist aber insofern illegitim, als für die Erklärung der Mög-
lichkeit synthetischer Urteile a priori ja gerade von der Empirie abstra-
hiert werden soll. Wären Differenz und Bestimmtheit nur der Empirie
zu entnehmen und würden synthetische Urteile a priori diese Differenz
(in Form von Mannigfaltigkeit) zu ihrer intrinsischen Möglichkeit be-
reits voraussetzen, dann würde es sich eben nicht um Urteile a priori
handeln.29 Denn sie müssen zumindest „von allem Empirischen abge-
sondert, für sich allein vorgestellt und gedacht werden können“.30
3. Eine andere Alternative wäre, dass Raum und Zeit sich als reine An-
schauungen in sich selbst bestimmen. Damit die reinen Anschauungs-
formen Raum und Zeit a priori für die Synthesis des Verstandes eine
Mannigfaltigkeit bereitstellen können, müssten sie in und durch sich
selbst bestimmbar sein. Raum und Zeit als unendlich Unbestimmte
müssten in sich selbst Maß und Zahl setzen können. Die Sinnlichkeit ist
aber nur bestimmbar und in sich selbst unbestimmt. Insofern kann sie
nicht Prinzip von Bestimmung sein.31
4. Der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf der Subjektseite
korrespondiert nach KrV A mit dem transzendentalen Gegenstand auf
26
KrV B 103/A 77. KrV B 130 heißt es: „denn wo der Verstand vorher nichts verbun-
den hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstel-
lungskraft hat gegeben werden können“.
27
Epistel JW 2,1, 132.
28
Krit JW 2,1, 277.
29
Krit JW 2,1, 271.
30
Krit JW 2,1, 299.
31
Krit JW 2,1, 281. Zeit als Sukzession soll deshalb auch nach Kant erst durch die Ein-
bildungskraft entstehen (ibid., 301). Für Jacobi hingegen ist Zeit ursprünglich Sukzession,
da reine Zeit nicht in bestimmte Zeiten übergehen könnte.
218 Personale Vernunft

der Objektseite eine ebenso formale Einheit:32 das transzendentale Ob-


jekt (das Etwas, auf das der Verstand die Vorstellungen bezieht). 33
Transzendentales Subjekt und Objekt setzen sich wechselseitig voraus.
Insofern ließe sich versuchen, aus dem Wechselverhältnis von transzen-
dentalem Subjekt und Objekt die Bestimmtheit des Bewusstseins zu er-
klären. Nach Jacobi ist dies jedoch nicht möglich. Denn zunächst ist die-
ser transzendentale Gegenstand in sich ebenso unbestimmt wie das Sub-
jekt und ist deshalb „bei allen unsern Erkenntnissen immer einerlei =
X“.34 Er ist nur „der gänzlich unbestimmte Gedanke von etwas über-
haupt“.35 Deshalb sind sowohl der transzendentale Gegenstand als auch
das transzendentale Subjekt beide unbestimmte X X, die sich nicht
wechselseitig bestimmen können,36 da aus ihrer Relation als einem Ver-
hältnis völlig Unbestimmter keine Bestimmtheit deduziert werden
kann.37
5. Weder durch die reine Anschauungsform der Zeit noch des Raums
kann Kant also mit seiner reinen Synthesis „rein von der Stelle“38 kom-
men. Die nächste Möglichkeit ist dann, ob sich „ein isolirter reiner
menschlicher Verstand als ursprünglich bestimmend denken“ lässt. 39
Kant kann nach Jacobi jedoch nicht einmal erklären, wie sich das reine
Bewusstsein in seine Kategorien ausdifferenzieren kann. Reines Be-
wusstsein ist nach Jacobi also nicht in der Lage, „auch nur in Gedanken,
einen Punkt zu setzen in das Leere; im Ortlosen einen ersten Ort ihm zu
erfinden“.40 Es kann keine Antithesis in das unbestimmte Reine setzen.
Diese wäre aber notwendig für die reine Synthesisfunktion des Bewusst-
seins: Reine Synthesis vor aller Erfahrung würde eine ebenso ursprüngli-
che und reine Antithesis voraussetzen, „um überhaupt einen reinen,
apriorischen Bezugsgegenstand zu haben“.41 Das mit dem Verstand iden-
tische Selbstbewusstsein kann keine Bestimmung in das Mannigfaltige
32
KrV A 105.
33
KrV A 250.
34
KrV A 109. Der transzendentale Gegenstand ist nach Kant der Bezugsgegenstand
der Vorstellungen, der nicht selbst wieder eine Vorstellung sein kann (Longuenesse 1998,
54f.).
35
KrV A 253.
36
Krit JW 2,1, 275-277.
37
Gegen diese Kritik Jacobis ließe sich unter Umständen einwenden, dass Jacobi die
Relation zwischen Gegenstand und Vorstellung bei Kant als eine von Ursache und Wir-
kung versteht, wohingegen Kant sie als intentionale oder repräsentationale Beziehung
fasst (Longuenesse 1998, 71).
38
Krit JW 2,1, 298.
39
Krit JW 2,1, 294.
40
GD JW 3, 16.
41
Metz 2004, 10.
Jacobis Kant-Kritik 219

setzen, da der Verstand im Synthetisieren gerade „enteinzelt“. Der Ver-


stand kann nur bereits durch Antithesen Gegliedertes zergliedern.42 Weil
er nicht antithetisiert, kann der kantische Verstand nicht ursprünglich
bestimmen, vielmehr besteht seine synthetisierende Tätigkeit im „Un-
bestimmen“ des bereits Gegliederten.43 Der reine Verstand als „bloßes
Selbst- oder an sich-Bewußtseyn“44 setzt zur Möglichkeit reiner Synthe-
sis also bereits Mannigfaltigkeit, Verschiedenheit, Tätigkeit und Hand-
lung, Entgegensetzung und Zusammensetzung voraus. Kants Selbstbe-
wusstsein ist demgegenüber das Bewusstsein einer nichtigen Tätigkeit
eines nichtigen Tätigen ohne Selbst.45 Die Synthesen des reinen Verstan-
des sind bloße Handlungen des Verbindens „noch von Nichts, noch in
Nichts, noch durch Nichts“.46 Streng genommen erklärt Kants Ich als
bloß formales Identitäts- oder Einheitsbewusstsein für Jacobi deshalb
nichts anderes als die Bewegung eines Nichts von Nichts in Nichts zu
Nichts.
6. Insofern die Einbildungskraft bei Kant die Aufgabe hat, den be-
stimmbaren Sinn a priori „seiner Form nach der Einheit der Apperzepti-
on gemäß“ durch transzendentale Synthesis als „eine Wirkung des Ver-
standes auf die Sinnlichkeit“ spontan zu bestimmen, 47 tritt sie in das
Zentrum von Jacobis Kritik als ein quasi-göttliches Vermögen, aus dem
Nichts an Bestimmtheit Bestimmtheit zu schaffen. Für Jacobi steht im
Zentrum der kantischen creatio ex nihilo also eigentlich die Einbil-
dungskraft als der „eine[n] Grundkraft des Gemüths“, von der „alle üb-
rigen angeblich verschiedenen Kräfte“ „nur Modificationen“ sind.48 Vor
ihr ist nichts und kann nicht sein.49 Durch und aus der Einbildungskraft
müsste sich deshalb das menschliche Vermögen zu bestimmter Erkennt-
nis a priori konstruieren lassen: In ihrer produktiven Funktion wäre die
transzendentale Einbildungskraft ratio essendi in ihrer reproduktiven ra-
tio cognoscendi aller Vorstellungen. So hält Jacobi (wie später Heideg-
ger) die Ausführungen über die Schemata und die transzendentale Ein-
bildungskraft für das eigentliche Zentrum der KrV. Indem hier die Kate-

42
GD JW 3, 24.
43
GD JW 3, 24.
44
Krit JW 2,1, 278.
45
Krit JW 2,1, 279.
46
Krit JW 2,1, 278; vgl. auch ibid., 293; 295. Die kantische Philosophie müsste damit
konsequenterweise in Schellings Indifferenzphilosophie übergehen, in der das Subjekt
und das Objekt als eigenständige annihiliert werden und in der Indifferenz beider, der
„Kopula an sich“, untergehen (DBFK JW 2,1, 362).
47
KrV B 152.
48
Krit JW 2,1, 266.
49
Krit JW 2,1, 290.
220 Personale Vernunft

gorien mit der Anschauungsform der Zeit vermittelt werden, zeigt sich
die Bedeutsamkeit der Zeit für das menschliche Bewusstsein. 50 Kants
proton pseudos besteht für Jacobi nur eben darin, dass das reine Be-
wusstsein zunächst als zeitfrei konzipiert und erst nachträglich auf die
Zeit bezogen wird (zumindest der logischen Ordnung nach). Demge-
genüber ist für Jacobi menschliches Bewusstsein ursprünglich zeitlich
strukturiert.51
Kehren wir aber zu Jacobis Rekonstruktion der transzendentalen
Einbildungskraft Kants zurück: Sie ist nach Jacobi das „ursprüngliche
Vermögen sowohl absoluter Antithesis als Synthesis“.52 Ihre Tätigkeit ist
die Voraussetzung dafür, dass der Verstand überhaupt spontan tätig sein
kann. Sie ist aber ohne den Verstand selbst nur „ein blindes Treiben“,
„eine Urgeschäftigkeit aus und zu Nichts“;53 „ein reines leeres Dichten
hin und her, ohne hier und dort [also ohne Bestimmtes], […] eine reine
Actuosität im reinen Bewustseyn“.54 Auch sie kann also kein Vermögen
ursprünglichen Bestimmens sein, sondern setzt ein Bewusstsein voraus,
das durch eine nicht zu erklärende Mannigfaltigkeit (Bestimmtheit) der
Anschauung bereits bestimmt (vermannigfaltigt) ist, damit sie dann Ein-
heiten hervorbringen kann.55
7. Letzte Möglichkeit für die Erklärung von Bestimmtheit im reinen
Bewusstsein wäre die Vernunft selbst. Dieser entspringt ja die Idee vom
Unbedingten und Absoluten. Aber auch diese Idee des Unbedingten ist
selbst wiederum eine unbestimmte, „durch und durch leere Vorstel-
lung“ 56 und kann insofern nicht den Übergang zur Bestimmtheit be-
gründen.
Fassen wir zusammen: Kants Erklärung der Möglichkeit synthetischer
Urteile a priori setzt für Jacobi zu spät an: Sie setzt nämlich bereits die
Erklärung einer reinen Antithesis als Bestimmung des Unbestimmten
voraus. 57 Kant hätte nach Jacobi also zunächst die Möglichkeit einer
50
„Also sey dem Himmel für die Zeit gedankt, weil ohne sie kein Verstand verständig
würde und das reine Bewußtseyn selbst wohl den Geist aufgeben müßte.“ (Epistel JW 2,1,
138.)
51
Jacobi sieht hierbei eine gewisse Ambivalenz, insofern KrV nach Epistel nahelege,
dass das reine Bewusstsein „die eigentliche wahre Zeit“ selbst sei (JW 2,1, 142; vgl. auch
ibid., 150).
52
Krit JW 2,1, 279.
53
Krit JW 2,1, 280.
54
Krit JW 2,1, 282.
55
Krit JW 2,1, 286. Kant verschleiert sich diese Unmöglichkeit nach Jacobi dadurch,
dass er die produzierende und die reproduzierende transzendentale Einbildungskraft sich
wechselseitig voraussetzen lässt (ibid., 291).
56
Krit JW 2,1, 282.
57
Krit JW 2,1, 271.
Jacobis Kant-Kritik 221

Selbstbestimmung des reinen Selbstbewusstseins erklären müssen: den


Übergang vom Nichts an Bestimmtheit (der reinen Unbestimmtheit des
reinen Bewusstseins) in Bestimmung. Das eigentliche Rätsel, nämlich die
ursprüngliche Bestimmung des Unbestimmten bleibt so eine auch bei
Kant nicht vermittelte Schöpfung aus Nichts. 58 Denn ursprüngliches
Synthetisieren würde ursprüngliches Bestimmen voraussetzen und dies
wäre eine Erschaffung aus Nichts.59 Diese creatio ex nihilo erklärt Kant
jedoch nicht.
Das Scheitern von Kants Subjektphilosophie ist für Jacobi der Grund,
Aufklärung nicht auf der Konzeption eines transzendentalen Subjekts,
sondern dem Konzept der individuellen Person zu begründen.60 Ist das
transzendentale Subjekt eine „Einer-Ley-Heit; eine Der-Die-Das-
Selbig-Keit! ohne Derheit, Dieheit, Dasheit“, weil diese „mit dem Der,
Die, Das, noch im unendlichen = 0 des Unbestimmten“ schlummern,61
aus dem das Bestimmte erst hervorgehen müsste, so versteht Jacobi unter
dem Individuum diese konkrete Person, die kein bloßes Was, sondern
ein je schon bestimmter Wer ist: Als solche immer schon bestimmte
„Individua leben, denken und fühlen wir“.62 Die Person ist aber immer
schon zeitlich verfasst und zwar nicht im Sinne einer reinen Zeitlichkeit,
sondern der Sukzession. Jacobis Konzeption von individueller Personali-
tät ist damit sowohl eine Alternative zu Humes Bündeltheorie des Selbst,
die die Einheit des Bewusstseins nicht verständlich machen kann, als
auch zu Kants transzendentaler Apperzeption, die die Bestimmtheit des
Bewusstseins nicht erklärt. Gegen beide setzt Jacobi die Person als eine
ursprüngliche Einheit von Einheit und Mannigfaltigkeit. Differenz kann
nicht an Identität erst äußerlich herantreten, Einheit nicht an Mannigfal-
tigkeit, sondern zumindest für das menschliche Bewusstsein müssen sie
eine ursprüngliche Einheit bilden. Individualität ist nun für Jacobi gerade
eine solche Einheit, in der Einheit und Mannigfaltigkeit je schon ur-

58
Krit JW 2,1, 319.
59
Krit JW 2,1, 271. Die Notwendigkeit reiner Synthesis unabhängig von allem Empiri-
schen ergibt sich für Jacobi aus Kants Behauptung des Verstandes als „eine für sich selbst
beständige, sich selbst gnugsame, und durch keine äußerlich hinzukommende Zusätze zu
vermehrende Einheit“ (KrV B 89f./A 65). Nur wenn diese Selbstgenügsamkeit des Ver-
standes möglich wäre, könnte Kant zu Recht behaupten, dass aus dem Verstand eine reine
und allgemeine Elementarlogik hervorgeht. Ansonsten wären der Verstand und seine
Formen immer schon mit Empirie kontaminiert. Jacobi sieht aber, dass der Verstand auch
nach Kant erst durch die „Gemeinschaft mit der Sinnlichkeit“ zu einem Bewusstsein sei-
ner selbst als Verstand kommen kann (Krit JW 2,1, 280).
60
Krit JW 2,1, 321.
61
Krit JW 2,1, 289.
62
Krit JW 2,1, 321.
222 Personale Vernunft

sprünglich vereinigt sind. Individualität ist nämlich weder eine reine


Mannigfaltigkeit, zu der Einheit äußerlich hinzutritt, noch eine reine
Einheit, zu der Mannigfaltigkeit nur hinzutritt. Sie ist vielmehr die
„forma substantialis“ einer Einheit, in der Einheit und Mannigfaltigkeit
nur bedingt und vermittelt durcheinander gedacht werden können. 63
Weil diese Momente nicht auseinander entwickelt werden können, bleibt
uns diese Einheit jedoch unbegreiflich und muss unmittelbar vorausge-
setzt sein.64 Auch Raum, Zeit und Bewusstsein sind für das Individuum
nicht isolierte unendliche Unbestimmte, deren Einheit dann bloß die ei-
nes Aggregates wäre,65 sondern bilden eine unmittelbare Einheit. Anti-
thesis, Synthesis und Analysis bilden im Individuum eine „Urgemein-
schaft“,66 deren Momente nur in einem Akt künstlicher Reflexion isoliert
werden können. Bestimmtheit, Endlichkeit und Maß werden nicht vom
menschlichen Bewusstsein hervorgebracht, sondern dieses setzt selbige
je schon voraus.67 Im Bewusstsein seiner Individualität (dieser und nicht
ein anderer zu sein) besitzt der Mensch ein Bewusstsein der Einheit von
Thesis, Antithesis und Synthesis.
Damit ist Jacobis Gegenentwurf zu Kant jedoch bisher nur skizziert
und muss später weiter ausgeführt werden. Wir wollten jedoch zeigen,
dass Jacobi mit der Person nicht einfach einen beliebigen anderen Aus-
gangspunkt für sein Projekt der Aufklärung wählt als Kant, sondern dass
dieser Ausgangspunkt auf das kantisch-spinozistische Projekt der Auf-
klärung und seine Grundlagen bezogen ist. Letzteres Aufklärungspro-
jekt muss die Person notwendig annihilieren, weil sie als unmittelbare
Einheit von Vielfalt und Einheit nicht begrifflich-rational konstruiert
werden kann. Bevor wir jedoch Jacobis Personbegriff explizieren, legen
wir zuvor noch Jacobis Kritik an Kants moralischem Universalismus als
weiterer Absoßungspunkt für seine andere Aufklärung dar.

II. Moralität ohne Zweck

Nach Kant verdankt der Mensch seine Würde seinem autonomen Wil-
len. Der Wille darf dabei durch keinen externen Zweck bestimmt sein, da

63
Krit JW 2,1, 289.
64
Krit JW 2,1, 321.
65
Krit JW 2,1, 294.
66
Krit JW 2,1, 321.
67
GD JW 3, 15; Krit JW 2,1, 321.
Jacobis Kant-Kritik 223

der Mensch ansonsten sich, seine Freiheit und seine Vernunft zu einem
bloßen Mittel für diesen vorausgesetzten Zweck macht.68
Man muss vielleicht nicht behaupten, dass der Mensch bei Kant nur
durch realisierte Autonomie Würde erlangt, aber es ist doch erst seine
Möglichkeit zur moralischen (Selbst-)Gesetzgebung, durch die er Würde
hat. 69 Nur insofern die Willkür des Menschen durch reine praktische
Vernunft bestimmt werden kann, ist er Zweck an sich. Sein absoluter
Wert resultiert nur aus dem, was er „in voller Freiheit“ tut.70
Hinsichtlich ihrer Möglichkeit autonomer Selbstbestimmung sind
nach Kant alle menschlichen Individuen gänzlich ununterschieden. Denn
diese wird gerade nur dann realisiert, wenn dem normativen Anspruch
des Sittengesetzes Folge geleistet wird. Adressat und zugleich Konsti-
tuent dieses Anspruchs ist der Mensch als „Menschheit in seiner Person“
bzw. homo noumenon71 und dieser ist der Gegenstand eigentlicher Ach-
tung, der Zweck an sich ist und nicht als Mittel gebraucht werden darf –
sowohl in der eigenen Person als auch der des Anderen.72 Eben deshalb
darf das Individuum sich selbst und den Anderen nicht zum bloßen Mit-
tel machen, weil es dadurch die Menschheit in der eigenen Person oder
der Person des Anderen instrumentalisieren würde. Damit trennt Kant
die empirische Person von dem universalen Aspekt seiner im eigentli-
chen Sinne achtungswürdigen Persönlichkeit.73 Nur unter seiner abstrak-
ten Bestimmung betrachtet besitzt das Individuum seine Würde. Eine
Pflicht besitzen wir deshalb auch nur gegen „die Würde der Menschheit
in uns“,74 nicht gegen den Menschen in seiner Konkretion als dieser in-
68
KpV AA 5, 87; GMS AA 4, 428; 449f.; V-NR/Feyerabend AA 27, 1319f.; vgl. hierzu
auch Horn 2014, 142. Dagegen setzen Interpreten wie O’Neill, Korsgaard oder Herman
den Grund für die Würde des Menschen in seine Fähigkeit, freie Zwecke zu setzen (Pip-
pin 1999, 80; Korsgaard 1996, 22; 114; vgl. hierzu: MdS AA 6, 392). Dagegen wendet Pip-
pin zu Recht ein, dass es Kant um moralisch realisierte Autonomie geht, nicht um bloße
Deliberation, die noch ein Fall von Heteronomie sein kann (nämlich dann, wenn die
Zwecksetzung durch empirische Ursachen bedingt ist) (Pippin 1999, 81ff.). So ist die Fä-
higkeit zur Setzung externer Zwecke nicht an sich selbst Grund von Würde, sondern als
Resultat der Möglichkeit autonomer Willensbestimmung des Menschen als gleichzeitigem
Sinnenwesen akzidentell mit der Würde verknüpft. Eigentlich handelt es sich dabei um
eine problematische Depravationsformen menschlicher Selbstbestimmung. Der Mensch
gibt seine Persönlichkeit auf, wenn er sich zum Mittel eigener Triebbefriedigung macht
(MdS AA 6, 425).
69
GMS AA 4, 434f.
70
KU AA 5, 208f. „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und
jeder vernünftigen Natur.“ (GMS AA 4, 436.)
71
MdS AA 6, 423.
72
MdS AA 6, 436; 429.
73
Sandkaulen 2004, 232.
74
MdS AA 6, 436.
224 Personale Vernunft

dividuelle Mensch. 75 Das moralische Interesse am Anderen kann sich


deshalb nicht auf ihn als konkretes Individuum richten, sondern nur auf
die noumenale „Menschheit in seiner Person“.76 Ansonsten beruht das
Interesse auf einem bloßen Affekt und ist damit im eigentlichen Sinne
bereits moralisch diskreditiert.77 Der moralische Wille hat nur ein Inte-
resse am Guten, aber nicht am Anderen als Individuum.78 So ist Kants
kategorischer Imperativ für Jacobi ein Imperativ, „welcher keine Person
ansieht“.79
Es ist wenig überraschend, dass Jacobi, für den das Individuum Grund
seines Aufklärungsprojektes ist, diese Position Kants radikal ablehnt. Er-
staunlicher Weise bringt Jacobi nun als Alternative gerade Kants Be-
stimmung des Schönen ins Spiel und überträgt sie auf die Moral: Wie es
beim Geschmacksurteil keine allgemeingültige Regel gibt, unter die wir
alle Fälle des Schönen einfach nur noch subsumieren müssten, sondern
jedes adäquate Schönheitsurteil ein Beispiel für eine ideale Norm ist, die
noch gar nicht existiert und nie existieren wird, so verhält es sich auch
bei moralischen Handlungen. Es gibt keine allgemeingültige Norm, un-
ter die wir moralische Handlungen subsumieren könnten. Der moralisch
Handelnde ist uns ein Beispiel für eine Regel, die wir nicht haben. An
ihm und seinem Handeln enthüllt sich jedoch das Dasein des Guten:

Das Schöne hat mit allem Ursprünglichen [dem Guten und Wahren] das gemein,
daß es ohne Merkmale erkannt wird. Es ist u zeigt sich; es kann gewiesen, aber
nicht bewiesen werden.80

Strukturell kommen also Jacobis Bestimmung des Moralischen und


Kants Bestimmung des Schönen überein. Aus Sicht Jacobis bedeutet das:
In seiner Ästhetik, nicht aber in seiner Ethik kommt Kant dem Projekt
der anderen Aufklärung als Daseinsenthüllung am nächsten. Denn hier
sieht er, dass das Schöne nicht bewiesen (und damit nicht begrifflich
konstruiert) werden kann, sondern nur gewiesen und enthüllt. Ästhe-
tisch zu urteilen bedeutet, wie der Mensch mit Geschmack zu urteilen,

75
Denn der einzelne Mensch ist „unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person
muß ihm heilig sein“ (KpV AA 5, 87). Vgl. hierzu auch Korsgaard 1996, xi.
76
MdS AA 6, 429.
77
MdS AA 6, 470f. So kann Dieter Henrich feststellen, dass die andere Person und ihre
Hilfsbedürftigkeit in meiner moralischen Absicht, ihm helfen zu wollen, nur Anwen-
dungsgelegenheiten für die Universalisierbarkeit meines rationalen Willens sind (Henrich
1994, 102f.).
78
Henrich 1994, 103.
79
Epistel JW 2,1, 158.
80
Kladde X,111-121 Schneider 308f.
Jacobis Kant-Kritik 225

ohne dabei sein konkretes Urteil nachzuahmen. Dies bestimmt Aristote-


les aber auch als Prinzip gerechten Handelns: Gerecht zu handeln heißt,
wie der Gerechte zu handeln (was gerade auch nicht heißt, seine Hand-
lungen nachzuahmen). Aristoteles grundlegende Einsicht, die Jacobi
übernimmt, ist, dass das Handeln es wie das Schönheitsurteil mit dem
Einzelnen zu tun hat und es deshalb keine universellen Handlungsregeln
geben kann. Der gerechte Mensch kann nach Jacobi aber gerade auf
Grund seiner Orientierung am Geist der Gerechtigkeit Ausnahmen vom
Moral- oder Rechtsgesetz machen müssen. Dies ist für Jacobi genau
dann der Fall, wenn die buchstäbliche Befolgung des Gesetzes dessen
Geist widersprechen würde. Für diese Ausnahmefälle kann es jedoch
kein Gesetz geben, das die Ausnahme als solche legitimieren würde. Das
Individuum kann seine Vorbilder deshalb nicht nachahmen, sondern sich
nur an ihnen orientieren. Eine bloße Nachahmung anderer ist ausge-
schlossen, weil auch das Handeln der Vorbilder keine allgemeingültige
Regel an die Hand gibt, die individuelles Handeln universell normieren
könnte. Die Orientierung an einem moralischen Vorbild kann deshalb
nicht bedeuten, die äußeren Handlungen eines anderen bloß zu imitie-
ren, sondern dem Geist seines Beispiels zu folgen. Der andere kann bes-
tenfalls Beispiel für ein idealisch gerechtes Handeln sein, aus dem wir
wie beim ästhetischen Urteil aber keine allgemeingültige Regel ableiten
können. Das Individuum ist in der Moral letztlich auf seine individuelle
Entscheidung zurückgeworfen.
Besonders aufschlussreich ist hier eine Anspielung Jacobis auf Kants
Ablehnung des ius aggratiandi. Kant kritisiert dieses souveräne Begnadi-
gungsrecht für einen Verbrecher (also das Recht, die Strafe abzumildern
oder gänzlich zu erlassen) als „wohl unter allen Rechten des Souveräns
das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch
doch im hohen Grade unrecht zu thun“. 81 Unrecht tue der Souverän
durch den Verzicht auf Strafe nämlich sowohl dem Geschädigten, dessen
Rechte durch den Delinquenten verletzt wurden, als auch dem ganzen
Volk, insofern er mit der Strafe auf die Wiederherstellung der durch das
Verbrechen lädierten, faktischen Rechtsgeltung verzichte. 82 Jacobi nun
behauptet in Bezug auf das Vernunftgesetz der Moral ein solches Majes-
tätsrecht für jeden Menschen, eben weil jedes Gesetz, so wie es aus der

81
MdS AA 6, 337.
82
Der deutsche Rechtswissenschaftler A. B. Carpzov hatte 1678 seiner Dissertatio de
jure aggratiandi das Recht, im Gesetz festgelegte Strafen abzumildern oder aufzuheben, zu
einem essentiellen Aspekt souveräner Macht erklärt, weil dem Souverän die absolute
Macht positiver Gesetzgebung zukäme (Carpzov 1678 I I VII).
226 Personale Vernunft

Freiheit des Menschen hervorgeht, nur der Freiheit und Majestät des In-
dividuums dient:

„Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der, dem Willen der Nichts will zuwider –
lügen will, wie Desdemona sterbend log […] weil […] das Gesetz um des Men-
schen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen. […] [M]it
der heiligsten Gewißheit, die ich in mir habe, weiß ich – daß das privilegium
aggratiandi wegen solcher Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut
allgemeinen Vernunftgesetzes, das eigentliche Majestätsrecht des Menschen; das
Siegel seiner Würde, seiner Göttlichen Natur ist.“83

An Jacobis Formulierung ist auffällig, dass er statt von einem ius vom
privilegium spricht, weil in der Tradition des Römischen Rechts das Pri-
vileg sich gerade nicht auf die Gesamtheit aller Rechtssubjekte bezieht,
sondern explizit immer einzelne Personen adressiert. Mit seiner Wort-
wahl macht Jacobi deutlich, dass sich dieses Privileg immer nur an den
Einzelnen in seiner Individualität richten kann. Denn in der Entschei-
dung, ob der Geist des Moralgesetzes durch die Inanspruchnahme des
Privilegs als Ausnahme der allgemeinen Gesetzesregel tatsächlich erfüllt
wird, ist der Einzelne letztlich auf sich gestellt, wohingegen sich der
Buchstabe der allgemeinen Vernunft in gleicher Weise an alle richtet.
Der Mensch muss in seiner Inanspruchnahme des Privilegs, die Geltung
eines Gesetzes im konkreten Handeln zu suspendieren, als Individuum
also den Mut haben, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen.
Für Jacobi kann nicht nur die Moralität selbst nicht auf ein absolutes
Gesetz gegründet werden, das universell in jeder konkreten Situation
gelten würde, sondern auch die Anerkennung des Anderen kann nicht
darauf basieren, was er mit allen anderen Vernunftwesen gemeinsam hat.
Vielmehr muss sie auf dasjenige gegründet werden, was ein Individuum
zu diesem besonderen und von allen anderen Vernunftwesen unter-
scheidbarem Individuum macht. Damit scheidet aber die reine Vernunft,
die ihrer kantischen Konzeption nach in allen Menschen ununterscheid-
bar gleich ist, aus, um Grund der Anerkennung des Anderen zu sein.
Denn sie kann gar nicht der Grund für die besondere Lebensführung ei-
nes Individuums und seiner Entscheidungen sein und so auch nicht der
Grund, einer konkreten Person ihren „eigenthümlichen individuellen
Werth“ zuzuschreiben.84 Grund dieser Anerkennung muss vielmehr die
jeweilige Individualität sein:

83
JaF JW 2,1, 211.
84
Allwill2 JW 6,1 228.
Jacobis Kant-Kritik 227

Was die eigene Sinnesart, den eigenen festen Geschmack hervorbringt, jene
wunderbare innerliche Bildungskraft, jene unerforschliche Energie, die alleinthä-
tig, ihren Gegenstand sich bestimmt, ihn ergreift, festhält – eine Person annimmt
– und das Geheimniß der Sklaverey und Freyheit eines jeden insbesondere aus-
macht: das entscheidet.85

Die Unzulänglichkeit der kantischen Konzeption zeigt sich für Jacobi


gerade darin, dass sie nicht in der Lage ist, eine Alternative zuzulassen
zwischen der Option, sich in einer affektfreien Liebe bloß auf den An-
dern in seiner abstrakten Menschheit zu richten oder sich affektiv auf ihn
zu beziehen, was gleichbedeutend damit wäre, ihn in egoistischer Weise
nur wegen des von ihm zu erwartenden Vorteils zu lieben. Demgegen-
über zeigt sich nach Jacobi gerade in der Freundschaft und Liebe, dass
diese sich auf den Anderen in seiner konkreten Individualität beziehen,
die ihn von allen anderen unterscheidet. Ansonsten liebt man nicht den
Anderen, sondern eine abstrakte Idee, die man im Anderen realisiert
glaubt.86
Auch der Grund für die Anerkennung des eigenen Selbst ist so nach
Jacobi nicht die Achtung vor dem Vernunftgesetz in uns, sondern die
Ehre; Grund für die Anerkennung des Anderen ist hingegen gerade die
Liebe. Beide Gefühle beziehen sich auf die konkrete Person und verdan-
ken sich nicht der reinen Vernunft. Ebenso sind Ehre und Liebe für Ja-
cobi die „Triebfedern“ unserer sittlichen Selbstbestimmung und nicht
die Achtung für das allgemeine Vernunftgesetz.87 Für Jacobi ist nämlich
überhaupt nicht klar, wie aus einer reinen Vernunft, die von Gefühlen
vollständig isoliert ist, ein Gefühl wie das der Achtung hervorgehen soll-
te.88 Wenn aber, wie Kant aus Sicht Jacobis selbst mit seiner Konzeption
der Achtung für das Sittengesetz anerkennt, ein Gefühl als subjektiver
motivationaler Bestimmungsgrund unseres Handelns für den Menschen
als vernünftiges Sinnenwesen notwendig ist, dann wird gar nicht einsich-
tig, wie reine Vernunft uns zum Handeln motivieren könnte. Auf Grund
dieses Defizits kennzeichnet Jacobi das Prinzip des kategorischen Impe-
rativs, die reine Vernunft, als für die Begründung unserer moralischen
Praxis unwirksames Abstraktum:

Es ist eben so unmöglich, daß der Mensch der reinen Vernunft lüge oder betrü-
ge, als daß die drey Winkel eines Dreyecks nicht zwey rechten gleich seyn. Aber
wird das wirkliche mit Vernunft begabte Wesen sich von dem abstracto seiner
85
Allwill2 JW 6,1 228f.
86
Koch 2013, 139.
87
Koch 2013, 134.
88
Kladde V, 751 Schneider 1986, 210.
228 Personale Vernunft

Vernunft wohl so in die Enge treiben, von einem Gedankendinge durch ein
Wortspiel so ganz sich gefangen nehmen lassen? – Nimmermehr!89

Fassen wir zusammen: Reine Vernunft allein kann weder das Subjekt
zum moralischen Handeln motivieren noch Grundlage der Liebe und
Anerkennung anderer Personen sein. Wenn die reine Vernunft vom Ge-
fühl isoliert wird und beide als heterogene Bestimmungen des Menschen
auseinanderfallen, dann ist nach Jacobi auch nicht klar, wie die reine
Vernunft im Menschen noch ein Gefühl wie das der Achtung hervorru-
fen können soll. Dies wird nur dann verständlich, wenn Vernunft und
Gefühl nicht grundsätzlich distinkte und heterogene Elemente des Men-
schen sind, sondern Momente einer ursprünglichen, unmittelbaren Ein-
heit, die erst in der nachträglichen Reflexion „künstlich“ auseinandertre-
ten.
Kants reiner oder vernünftiger Wille, insofern er weder durch Zwecke
noch durch Inhalte oder Gefühle bestimmt ist, ist für Jacobi seiner Kon-
zeption nach „ein Nichts wollendes Wollen“.90 Das einzige, was Kants
moralischer Wille eigentlich will, ist sein eigenes Wollen. So lässt sich für
Jacobi der kategorische Imperativ aus „dem Triebe der mit sich selbst
Uebereinstimmung“ ableiten:91 Dem reinen Interesse der Vernunft steht
beim sinnlichen Wesen das häufig unvernünftige Interesse des empiri-
schen Individuums entgegen und entzweit dieses mit sich selbst. Der ka-
tegorische Imperativ fordert die Aufhebung dieses Widerspruchs durch
die Unterordnung der sinnlichen Interessen unter das Interesse der Ver-
nunft und in dieser Forderung will die Vernunft dann nichts anderes als
sich selbst, nämlich ihre reine Identität mit sich selbst. Was das Sittenge-
setz vom Menschen fordert, ist deshalb nichts Bestimmtes in Form eines
Zwecks, sondern nur die abstrakte Identität mit sich selbst durch das
Absehen von allen Bestimmungen:

Das Moral-Princip der Vernunft: Einstimmigkeit des Menschen mit sich selbst;
stete Einheit – ist das Höchste im Begriffe; denn es ist diese Einheit die absolute,
unveränderliche Bedingung des vernünftigen Daseyns überhaupt; folglich auch

89
Spin2 JW 1,1, 166; Allwill2 JW 6,1, 228f. Hegel sieht hier übrigens ein ähnliches Prob-
lem: Sedgwick 2012, 2.
90
Schlosser JW 5,1, 230.
91
JaF JW 2,1, 213. In dieser Bestimmung des Prinzips der kantischen Pflicht folgt He-
gel Jacobi, wenn er feststellt, dass Kant die Pflicht durch nichts anderes bestimmt „als die
Form der Identität, des Sich-nicht-Widersprechens, was das Gesetzte des abstrakten Ver-
standes ist“ (VGPh SW 20, 368). Fichte bringt nach Jacobi die kantische Willensbestim-
mung in seiner Bestimmung des Gelehrten auf ihren wahren, abstrakten Begriff, nämlich
als praktische Applikation des Verstandesgesetzes der Identität (JaF JW 2,1, 214).
Jacobis Kant-Kritik 229

alles vernünftigen und freyen Handelns; in ihr und mit ihr allein hat der Mensch
Wahrheit und höheres Leben.92

Aufklärung, die die Vernunft von allen ihr fremden Elementen befreien
will, strebt also letztlich nach einer Vernunft, die nur noch identisch mit
sich selbst ist. Aus der Perspektive von Kants praktischer Vernunft ist
jede Pflichtübertretung ein Widerspruch in unserem Willen: Wir können
die Verallgemeinerung unserer Handlungsmaxime entweder nicht wider-
spruchsfrei denken oder wollen. Damit gestehen wir zwar die objektive
Notwendigkeit des Sittengesetzes zu, machen aber subjektiv eine Aus-
nahme für uns und verneinen damit subjektiv die Geltung des Geset-
zes.93 Ein Widerspruch in unserem Willen wäre gar nicht möglich, wenn
wir rein vernünftige Wesen wären. Als sinnlich-empirische Wesen kön-
nen wir uns aber diesen Widerspruch verschleiern, indem wir das Sitten-
gesetz praktisch auf eine bloß generell gültige Regel reduzieren.94
In dieser Reduktion der Moral auf abstrakte Einheit manifestiert sich
für Jacobi der Höhepunkt eines Moments spinozistischer Vernunftauf-
klärung, in der die spekulative Vernunft unter dem Namen praktischer
Vernunft zur Begründung unserer moralischen Praxis sich selbst genü-
gen soll. In Kant vollendet sich für Jacobi eine Denkungsart, die die Au-
tonomie der Vernunft dadurch herstellt, dass sie sie von allen nicht
durch sie selbst gegebenen Momenten reinigt. Dieser Aufklärung setzt
Jacobi seine andere Aufklärung entgegen, in der die Vernunft sich nicht
als Antagonist des Gefühls, sondern in ihrer unmittelbaren Einheit mit
dem Gefühl begreift.
Wenn der Moral ein Interesse reiner Vernunft zu Grunde liegt, so
scheint reine Vernunft zumindest durch dieses Interesse handlungswirk-
sam sein zu können. Dies versucht Jacobi, wie wir sahen, aber gerade zu-
rückzuweisen. 95 Für Jacobi lässt sich die Interessiertheit der Vernunft
mit der Konzeption reiner Vernunft gar nicht erklären. Vielmehr zeigt
sich im Interesse der Vernunft, dass diese immer schon eine Einheit mit
dem Trieb bildet. So liegt auch der vermeintlich reinen Vernunft selbst
ein Trieb zu Grunde, der von der Aufklärung Spinozas und Kants gar
nicht als solcher durchschaut ist und zwar der Selbsterhaltungstrieb der

92
JaF JW 2,1, 212.
93
GMS AA 4, 424.
94
GMS AA 4, 424; KpV AA 5, 19.
95
„Aber diese Einheit selbst ist nicht das Wesen, ist nicht das Wahre. Sie selbst, in sich
allein ist öde, wüst und leer. So kann ihr Gesetz auch nie das Herz des Menschen werden,
und ihn über sich selbst wahrhaft erheben“ (JaF JW 2,1, 212).
230 Personale Vernunft

vernünftigen Person,96 die selbst nicht noch einmal vernünftig begründet


ist. 97 Um diesen besonderen Trieb vernünftiger Wesen zu verstehen,
muss man die besondere Weise des Daseins vernünftiger Wesen verste-
hen. Die Missinterpretation dieser Daseinsweise resultiert in einer
Missinterpretation dieses Triebs. Hierüber versucht Jacobi Kant und
Spinoza dadurch zu verbinden, dass er Kants Konzeption des reinen
Willens mit Spinozas Affekt der Vernunft synthetisiert. Wenn nämlich
Spinoza und Kant Vollendungsformen der rationalen Aufklärung sind,
so kann Kants Moralphilosophie nur eine andere Form des Spinozismus
sein. Für beide besteht das Dasein vernünftiger Naturen im Bewusstsein
ihrer Identität. Dies ist das Bewusstsein „persönliche[n] Daseyn[s]“. 98
Der hierauf begründete Trieb intendiert die Erhöhung des Personalitäts-
grades, das heißt des bloßen Identitätsbewusstseins. Die Befriedigung
dieses Triebs erhöht die „Identität des vernünftigen Daseyns“ und stei-
gert damit unter einem abstrakten Gesichtspunkt die Weise vernünftiger
Naturen, da zu sein.99

Das Prinzip (oder das a priori) der Grundsätze überhaupt, ist die ursprüngliche
Begierde des vernünftigen Wesens, sein eigenes besonderes Daseyn, das ist, seine
Person zu erhalten, und was ihre Identität verletzen will, sich zu unterwerfen.100

Weil der Trieb nur auf die Identität der unbestimmten Persönlichkeit
mit sich selbst geht, schließt er andere mit ein:

Aus eben diesem Triebe fließt eine natürliche Liebe und Verbindlichkeit zur Ge-
rechtigkeit gegen andre. Das vernünftige Wesen kann sich als vernünftiges We-
sen (in der Abstraction) von einem andern vernünftigen Wesen nicht unter-
scheiden. Ich und Mensch ist Eins; Er und Mensch ist Eins: also sind er und ich
eins. Die Liebe der Person schränkt also die Liebe des Individui ein, und nöthigt
seiner nicht zu achten.101

96
„Chaque individu a donc une essence et une existence à lui bien déterminée et réelle,
quoique infiniment relative; et cette essence de l’individu, jointe à sa dépendance, est ce
que nous appelons dans les différens êtres leur nature particulière./La conservation et
l’amélioration de cette nature particulière est l’objet du désir absolu de l’individu.“
(Laharpe JW 5,1, 180.)
97
Spin2 JW 1,1, 158. Jedes Individuum versucht sich nach Jacobis Spinoza zu erhalten,
„allein um sich zu erhalten, und weil dies seine Natur, oder die Kraft, mit welcher es das
ist, was es ist, so verlangt. Dieses Streben nennen wir den natürlichen Trieb“ (Spin1 JW
1,1, 76).
98
Spin2 JW 1,1, 159.
99
Spin2 JW 1,1, 160.
100
Spin2 JW 1,1, 161; JaF JW 2,1, 246.
101
Spin2 JW 1,1, 161f.; JaF JW 2,1, 246.
Jacobis Kant-Kritik 231

Wie wir sahen, ist der Selbsterhaltungstrieb bei vernünftigen, selbstbe-


wussten Individuen also auf die Erhaltung ihres Daseins ausgerichtet, die
bei vernünftigen Naturen anderer Art ist als bei unvernünftigen.102 Ihr
Dasein ist nämlich nicht nur faktisches Vorhandensein, sondern selbst-
bewusste Existenz. Deshalb ist ihr Selbsterhaltungstrieb auf die Erhal-
tung ihres Selbstbewusstseins gerichtet, dessen Wesen reine Einheit und
Identität ist. Kants Sittengesetz ist so Ausdruck des bestimmten Selbst-
erhaltungstriebes des Menschen, nämlich der Erhaltung seiner selbst als
reines Selbstbewusstsein. Der Grund dieses Selbstbewusstseins ist Iden-
tität und so fordert das Sittengesetz, dass „das Ich übereinstimmend,
aber blos nach seinen eigenen Trieben, und den Gesetzen ihrer mögli-
chen Uebereinstimmung handelt“.103 Das Ich will nicht einfach nur fak-
tisch da sein, sondern, da es Bewusstsein seiner eigenen Identität ist, als
es selbst da sein. Insofern gibt es die vernünftige Begierde reiner Identi-
tät und unvernünftige Begierden, die die Identität des vernünftigen Da-
seins beschädigen und die spezifische Art des Daseins vernünftiger Per-
sonen vermindern. Deshalb ist Kants Sittengesetz für Jacobi nur das Ge-
setz des Triebs nach „Uebereinstimmung mit uns selbst“ 104 und
eigentlich nur die reflektierte Version der Selbsterhaltung, der die Forde-
rung nach strikter Identität mit sich selbst zu Grunde liegt, die sich be-
reits bei Spinoza findet.105 Es ist aber zugleich Manifestation einer sich
über sich selbst aufgeklärt habenden Vernunft, die nichts mehr als ihren
Seinsgrund anerkennen kann als sich selbst. Dem versucht Jacobi nun
seine andere Aufklärung entgegenzusetzen, in der nicht das reine Selbst-
bewusstsein oder die reine Vernunft, sondern das Individuum als Grund
der Vernunft und Moralität sichtbar wird.

B. Die Personalität der Vernunft

Im ersten Teil unserer Untersuchung zeigten wir, wie bereits Birgit


Sandkaulen in Grund und Ursache (2000), dass die Aufklärung, die ihre
Vollendung in Spinoza findet, der Abstoßungspunkt oder die „elasti-
sche“ Stelle ist, auf die man nach Jacobi treten muss, um in seine andere
Aufklärung übersetzen zu können. Gleiches gilt nun für Kant: Auch
Kants Denken ist für Jacobi nicht eine Philosophie, die gewisse Mängel
aufweist, sondern Ausdruck eines bestimmten Typus aufklärerischen
102
JaF JW 2,1, 243–245.
103
DH1 JW 2,1, 96.
104
JaF JW 2,1, 214.
105
Vgl. Stolzenberg 2004, 21f.
232 Personale Vernunft

Denkens und des dieser Aufklärung zu Grunde liegenden Missverständ-


nisses der menschlichen Vernunft über sich selbst, die in der Unmög-
lichkeit personaler Selbstbestimmung resultiert. Gerade auf diesem
Punkt gilt es aber erst einmal zum Stehen zu kommen, wenn man sich
zur anderen Aufklärung fortschwingen möchte. Die eben entwickelten
Momente der Philosophie Kants sind also nicht am Maßstab exegetischer
Korrektheit orientiert, sondern eher spinozistische Interpretationen
Kants, von denen sich Jacobi abstößt, um in seine andere Aufklärung
überzusetzen. Ausgangspunkt ist dabei seine Überzeugung, dass sich die
Personalität der Vernunft innerhalb der spinozistischen Aufklärung
nicht entwickeln lässt, sondern diese zu Gunsten einer abstrakten Ver-
nunft annihiliert werden muss. Dieser abstrakten Vernunft wird zu-
nächst das Bewusstsein der Personalität im Fundamentalgefühl der Indi-
vidualität entgegengesetzt (I). Damit tritt das konkrete Individuum als
Zentrum der Aufklärung in den Blick. Diese intendiert menschliche
Selbstbestimmung nicht als Autonomie, sondern als personale Selbstbe-
stimmung (II).

I. Individualität als Fundamentalgefühl von Personen

Auch wenn Jacobi sowohl Kants Vernunft- als auch Selbstbewusstseins-


konzeption als Grundlage seines Aufklärungsprojekts kritisiert, sind
auch für ihn Vernunft und Selbstbewusstsein der Grund menschlicher
Selbstbestimmung und seiner anderen Aufklärung. Dabei ist für ihn die
eigentliche oder wahre Vernunft des Menschen sogar identisch mit sei-
nem Selbstbewusstsein.1 Wenn nun seine andere Aufklärung nicht ein-
fach mit einem äquivoken Begriff von Vernunft und Selbstbewusstsein
operieren will, sondern auf die Aufklärung Kants als ihren Abstoßungs-
punkt bezogen sein soll, so ist dies deshalb möglich, weil es sich für Ja-
cobi bei letzterer um eine Verkehrung der wahren Vernunft- und Selbst-
bewusstseinsverhältnisse handelt, die es in seiner anderen Aufklärung
wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen gilt.2 Ausgangspunkt ist dabei
Jacobis Überzeugung, dass Selbstbewusstsein als Vorstellung einer abs-
trakten Identität (die von anderen Instanziierungen des Selbstbewusst-
seins gar nicht zu unterscheiden wäre) eine Verkehrung wahren mensch-
lichen Selbstbewusstseins ist, das im Bewusstsein des Selbst in seiner je
eigenen Individualität und Freiheit besteht. An die Stelle von Kants rei-

1
„Das Vermögen der Selbstanschauung ist Vnft.“ (Kladde X, 281 Radrizzani 1998, 48.)
2
Spin1 JW 1,1, 20.
Die Personalität der Vernunft 233

nem Selbstbewusstsein setzt Jacobi deshalb das Bewusstsein von sich als
einer personalen individuellen Substanz, auf Grund derer man dieser
und kein anderer ist.3 Dieses Bewusstsein, das er explizit als Gegenent-
wurf zu Kants Selbstbewusstsein charakterisiert, bezeichnet Jacobi als
ein all unseren kognitiven und praktischen Akten zu Grunde liegendes
„Fundamentalgefühl“:

Individualität ist ein Fundamentalgefuhl; Individualität ist die Wurzel der Intel-
ligenz und aller Erkenntniß; ohne Individualität keine Substanzialität, ohne Sub-
stanzialität uberall nichts. Ichheit als eine bloße Handlung des Gleichsetzens von
– Nichts, als Nichts, in Nichts, durch Nichts, ist ein baarer Un-Gedanke […].
Reine Selbstheit ist reine Derselbigkeit ohne Der. – Der oder das ist nothwendig
immer ein Individuum. Also liegt der Identität Substanzialität, der Substanziali-
tät Individualität schlechterdings zum Grunde. Bewußt ist ein Adjectiv; es kann
ohne Substantiv nicht gedacht werden, und dieser Substantivus ist das, was sich
im Gefühl der Identität unanschaubar darstelt.4

Dieses Fundamentalgefühl wollen wir im Folgenden explizieren.

a. Individualität als Substanz der Vernunft

Erinnern wir uns: Kant identifiziert das transzendentale Selbstbewusst-


sein mit dem Verstand. Es ist das Bewusstsein der spontanen Tätigkeit
des Synthetisierens der Mannigfaltigkeit sinnlicher Anschauung. Für Ja-
cobi ist damit in das Selbstbewusstsein das Bewusstsein einer Differenz
gesetzt, in der Spontaneität und Rezeptivität, Sinnlichkeit und Geistig-
keit, Endlichkeit und Unendlichkeit sowie Bedingtheit und Unbedingt-
heit auseinandergetreten sind. Damit kommt das kantische Selbstbe-
wusstsein gegenüber dem Fundamentalgefühl der Individualität nach Ja-
cobi jedoch zu spät, insofern die ursprüngliche Einheit und deren
Auseinandertreten nicht mehr thematisiert werden. Es setzt bei der Ge-
gebenheit heterogener Elemente an, die dann nur noch aufeinander be-
zogen werden. Dem Bewusstsein der Differenz von Spontaneität und
Rezeptivität geht mit dem fundamentalen Individualitätsgefühl nach Ja-
cobi jedoch ein Bewusstsein ihrer ursprünglichen Einheit voraus. Denn
Ich als konkretes Individuum oder als organische Einheit bin eben zu-

3
Brief an Lavater vom 14.11.1787 JB 1,7, 11; DH1 JW 2,1, 58; 81f.
4
Brief an Jean Paul vom 16.3.1800 JNa 1, 238.
234 Personale Vernunft

nächst einmal die ungeteilte, substantielle Einheit von Spontaneität und


Rezeptivität.5
Kants Selbstbewusstseinskonzeption ist aus Sicht Jacobis deshalb un-
zulänglich, weil hier das spontane Selbstbewusstsein aus seiner unmittel-
baren Einheit mit der Rezeptivität heraustritt und die Resultate dieser
Trennung als ursprünglich isolierte Elemente betrachtet. Auf Grund die-
ses falschen Anfangs scheitert dann auch seine Konzeption des Ich als
ursprünglicher Synthesis. So ist aber nicht nur das Selbstbewusstsein,
sondern auch die Vernunft von Kant von vornherein falsch gefasst, wenn
man sie als ein isoliertes Vermögen betrachtet, das sich zwar operational
auf den Verstand bezieht, aber intrinsisch zunächst von ihm abtrennbar
ist. Demgegenüber ist die Vernunft (die Jacobi in Abhebung gegen die
isolierte Vernunft auch als Geist bezeichnet) für Jacobi der ganze und
ungeteilte Mensch. Die Vernunft ist insofern nicht isolierbar von der
Sinnlichkeit, als die Sinnlichkeit des Menschen bereits vernünftig oder
durch Vernunft bestimmt ist. Andererseits ist auch die Vernunft des
Menschen bereits durch Sinnlichkeit und Rezeptivität bestimmt. „Ver-
nunft“ ist gewissermaßen das Prinzip der besonderen Weise, in der der
Mensch lebendig ist, und ist so für Jacobi „mit dem Principio des Le-
bens“ identisch und nicht bloß das „Accidens einer gewissen Organisati-
on“.6 „Animal rationale“ bedeutet nicht „Lebewesen + Vernunft“, son-
dern „Lebewesen, dessen Lebendigkeit vernünftig ist“. Alles im Men-
schen, was lebendig ist, ist durch Vernunft bestimmt, andererseits ist die
Vernunft das aktive Prinzip dieser Lebendigkeit.
Ausgangspunkt für Jacobis andere Aufklärung ist also nicht das abs-
trakte Subjekt von Kognition und Moral, sondern das Individuum als
konkrete, lebendige Einheit von Rezeptivität und Spontaneität, Denken
und Sinnlichkeit etc. Wir werden diesen Gedanken später noch deutli-
cher ausführen, hier geht es uns erst einmal darum, die Absprungstelle
für Jacobis andere Aufklärung zu markieren. Vernunft ist für Jacobi
nicht nur ein isoliertes Vermögen des Menschen, sondern das Prinzip
seiner geistig-organischen Ganzheit, durch das dementsprechend auch
seine Sinnlichkeit als je schon geistig-vernünftige bestimmt ist. Die Ver-
nunft ist deshalb für Jacobi nicht ein Akzidenz, sondern die Substanz des
5
Da es sich beim Individuum um eine unmittelbare und für Jacobi in sich nicht vermit-
telbare ursprüngliche Einheit handelt, kann sie nur via negationis in ihrer Unmittelbarkeit
vermittelt werden. Dies unternimmt Jacobi unter anderem in seiner Auseinandersetzung
mit Fichtes Reduktionsversuch des Individuums aus dem unbestimmten Absoluten (JB
1,11, 55). Die Vermittlung via negationis erfolgt bei Jacobi durch die spekulative Rekon-
struktion der Wissenschaftslehre, in der das Individuum nicht deduziert, sondern annihi-
liert werde.
6
DH1 JW 2,1, 65.
Die Personalität der Vernunft 235

Menschen, wobei Jacobi mit Spinoza unter der Substanz „das Seyn einer
Sache“ versteht, das keine Beschaffenheit ist, sondern das ist, „was allen
Eigenschaften, Beschaffenheiten und Kräften zum Grunde liegt“.7 Sie ist
„der Geist, woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist:
durch sie besteht der Mensch; er ist eine Form, die sie angenommen
hat.“8 Diese substantive Vernunft ist nicht nur eine Fackel, also ein In-
strument für die Erkenntnis, sondern „die Sehkraft selbst“, das ganze
Erkennen des Menschen.9 Sie ist keine Eigenschaft, die der Mensch ne-
ben anderen Eigenschaften oder Vermögen besitzt (von Jacobi auch ad-
jektive Vernunft genannt), sondern der Mensch ist umgekehrt ihr Besitz,
insofern sie seine Weise der Lebendigkeit bestimmt.10 Demgegenüber ist
die bloß „adjektive“ Vernunft – das von Gefühl und Leben isolierte Ref-
lexionsvermögen des Menschen – „für sich kein Wesen, sondern nur Ei-
genschaft und Beschaffenheit eines Wesens“.11
Ist die spinozistische Aufklärung einzig durch die adjektive Vernunft
bestimmt, so richtet sich Jacobis Aufklärungsprojekt auf die substantive
Vernunft.12 Seine Aufklärung will das Dasein einer Vernunft enthüllen,
die nicht bloß eine am Menschen auftretende Fähigkeit zu urteilen, zu
schließen etc., sondern als Geist des Menschen Prinzip all seiner Er-
kenntnis und Freiheit ist.13 Diese Vernunft strebt nach Jacobi ursprüng-
lich nach einer Erkenntnis, die ihn als ganzen Menschen und nicht nur
unter einer abstrakten Bestimmung befriedigt. Anders formuliert: Der
Mensch versucht sich sein Fundamentalgefühl aufzuklären. Als Geist
bedarf das menschliche Individuum daher einer „Kopf und Herz befrie-
digenden Wahrheit“,14 weil eben nicht nur das logische Vermögen des
Menschen, sondern auch seine Sinnlichkeit und seine Emotionen als
Geistige vernünftig sind. Der Mensch will sich in seinem Selbstverständ-
nis in seiner ganzen und ursprünglich ungeteilten Einheit verstehen. Das
Interesse von Jacobis anderer Aufklärung ist deshalb gerade die Selbster-
fahrung des ganzen, ungeteilten Menschen. Im Modus der Daseinsent-
hüllung will sie die substantive Vernunft des Menschen, „das substantiel-
le Geistsein des Daseins selbst“,15 aufklären. Die spinozistisch-kantische
Aufklärung reduziert dagegen für Jacobi die substantive Vernunft voll-
7
Spin1 JW 1,1, 59.
8
Spin2 JW 1,1, 260. Vgl. ebenso: Fromm JW 5,1, 127; JaF JW 2,1, 232.
9
DH1 JW 2,1, 88.
10
Vgl. hierzu: JaF JW 2,1, 232f.; Spin2 JW 1,1, 259f.
11
JaF JW 2,1, 232.
12
Spin2 JW 1,1, 260.
13
JaF JW 2,1, 232.
14
VSpin3 JW 1,1, 339.
15
Sandkaulen 1997, 359.
236 Personale Vernunft

ständig auf die adjektive.16 In dieser Reduktion besteht für Jacobi das
Defizit dieser Aufklärung. Sie betrachtet die Wirklichkeit und insbeson-
dere den Menschen selbst immer schon unter einem nur eingeschränkten
Gesichtspunkt. Dem setzt Jacobi seine Aufklärung des ungeteilten Men-
schen (der Person) und ihres Personbewusstseins entgegen:17

Mir ist Personalität α und ω; und ein lebendiges Wesen ohne Persönlichkeit
scheint mir das Unsinnigste, was man zu denken vorgeben kann. Seyn, Realität,
ich weiß gar nicht, was es ist, wenn es nicht Person ist.18

Anders als Kants transzendentale Einheit der Apperzeption ist Person-


sein nach Jacobi überhaupt nicht als rein strukturelles Was zu erfassen,
sondern als „das existentielle Bewußtsein persönlicher Identität“, „die
freie Identität eines Wer“.19 Zwar ist Personsein notwendig mit Selbst-
bewusstsein verbunden, es ist jedoch nicht als allgemeine Struktur eines
Selbstbezugs zu verstehen, gemäß der alle identisch sind, weil jeder ein
solches Ich ist, sondern „das lebendige Bewußtsein, ich selber zu sein
und nicht dieser oder jener“.20
Wahres Selbstbewusstsein ist für Jacobi also individuelles Personbe-
wusstsein. Der fundamentale Unterschied zwischen der substantiven
und der adjektiven Vernunft besteht darin, dass erstere nicht nur Be-
schaffenheit, sondern Prinzip unserer spezifisch geistigen Lebendigkeit
ist. Als solche ist sie für Jacobi identisch mit der Personalität, von der
wir im Bewusstsein unserer Individualität ein Fundamentalgefühl besit-
zen. Personbewusstsein ist so für Jacobi das zum klaren Bewusstsein ge-
steigerte Selbstgefühl eines Individuums als einer Kraft oder substantiel-
len Form, die es als organisches Individuum im Unterschied zu bloßen
Zusammensetzungen zu einer real-objektiven Einheit macht. Ein Indivi-
duum ist also nicht nur eine ideale Einheit, sondern eine objektive Ein-
heit. Personbewusstsein ist das „Wesenheitsgefühl“21 von dem Einheits-
prinzip, das das Ganze, das bei Organismen seinen Teilen vorhergehen

16
FB WW VI, 147.
17
Spin2 JW 1,1, 260.
18
Brief an Lavater 14.11.1787 JB 1,7, 11; Spin2 JW 1,1, 220. Vgl. hierzu Sandkaulen
2004, 219f., die dementsprechend bei Jacobi von einer „Philosophie der Personalität“
(ibid., 225) spricht.
19
Sandkaulen 2004, 231.
20
Sandkaulen 2004, 220. Insofern muss, wie wir noch sehen werden, personales Selbst-
bewusstsein für Jacobi auch immer schon eine duale Struktur aufweisen und auf ein Du
bezogen sein, von dem es sich unterscheidet.
21
GD JW 3, 26.
Die Personalität der Vernunft 237

muss, überhaupt erst ermöglicht.22 Das Individuum ist nach Jacobi also
nur dadurch eine objektive oder reale Einheit, dass die Vernunft als inne-
re Kraft die Momente zu einer Einheit vereinigt und in der Auseinander-
setzung mit Anderem als Einheit erhält.23 Ist es grundsätzlich bei allen
Organismen der Fall, dass das Ganze als Einheitsgrund vor seinen Teilen
gedacht werden muss und sie reale Ganze bilden, die sich auch als solche
zu erhalten streben,24 so kommt bei Personen diese substanzielle Einheit
und Kraft zum Bewusstsein ihrer selbst.
Anders als Kant bestimmt Jacobi das Ich des Menschen also nicht als
reine Spontaneität, sondern als eine Form von Kraft oder eine bestimmte
Seinsweise. Bewusstsein ist eine bestimmte Weise des Lebendigseins
(nicht eine Bestimmung oder Eigenschaft), so wie Lebendigsein eine be-
stimmte Weise des Seins ist.25 Die besondere Seinsweise mit Selbstbe-
wusstsein verbundener, vernünftiger Lebendigkeit ist Personalität.26
Fassen wir zusammen: Der Geist ist Grund der Einheit und Identität
des Menschen, durch den er sich nicht nur seiner Einheit bewusst ist,
sondern in seinen existentiellen Vollzügen dieser ist und bleibt und kein
vollkommen anderer wird. Dieses Prinzip individuellen Denkens und
Handelns können wir jedoch nicht vorstellen, sondern nur unmittelbar
erfassen. Vorstellungen können wir nämlich nur von Eigenschaften oder
Bestimmungen haben, nicht jedoch von dem, was Träger dieser Eigen-
schaften ist. Wie Kant denkt deshalb auch Jacobi, dass diese substanzielle
Form nicht Gegenstand einer Vorstellung werden kann, weil sie sich da-
durch vergegenständlichen und veräußern müsste, wodurch sie nicht
mehr das wäre, was sie eigentlich ist.27 Wir besitzen aber ein unmittelba-
res Bewusstsein unserer Substantialität. Jacobi erweitert hier Kants Ge-
danken, dass Sein kein reales Prädikat ist, sondern die Position aller Prä-
dikate, darauf hin, dass auch Bewusstsein und Lebendigsein keine realen
22
DH1 JW 2,1, 82f. Kant ist hier „kritischer“, d. h. er vermeidet die Annahme eines
metaphysischen Prinzips (etwa: OP AA 21, 196; 210).
23
DH1 JW 2,1, 81; Etwas JW 4,1, 308.
24
Jacobi unterscheidet also zwischen bloßen Aggregaten und Konkreta. Konkreta sind
organische Einheiten, bei denen das Ganze den Teilen vorhergeht. Aggregaten unterstel-
len wir bloß Einheit (DH1 JW 2,1, 84).
25
DH1 JW 2,1, 84.
26
DH1 JW 2,1, 65. An anderen Stellen gelten Persönlichkeit und Lebendigkeit nicht
nur als Seinsweisen, sondern als einzige Seinsweise: „Seyn ohne Selbstseyn ist durchaus
und allgemein unmöglich. Ein Selbstseyn aber ohne Bewußtseyn, und wieder ein Bewußt-
seyn ohne Selbstbewußtseyn, ohne Substanzialität und wenigstens angelegte Persönlich-
keit, vollkommen eben so unmöglich“ (GD JW 3, 30).
27
„Die Seele, um eine Vorstellung von sich zu haben, müßte sich von sich selbst unter-
scheiden, sich selbst äusserlich werden können.“ (DH1 JW 2,1, 83.) Vgl. auch GD JW 3,
26f.
238 Personale Vernunft

Prädikate sind, sondern als bestimmte Seinsweisen die Position diverser


Bestimmungen in einem bestimmten Modus. Von unserer vernünftigen
Lebendigkeit können wir deshalb keine Vorstellungen haben und wissen
dennoch unmittelbar, dass sie ist:

Sie ist dasjenige, was ich im eigentlichsten Verstande mich selbst nenne, und von
dessen Realität ich die vollkommenste Ueberzeugung, das innigste Bewustseyn
habe, weil es die Quelle selbst meines Bewustseyns, und das Subject aller seiner
Veränderungen ist.28

b. Der Salto mortale

Als Grund unserer Handlungs- und Erkenntnisvollzüge können wir un-


ser Selbstsein nicht im Denken begreifen (= konstruieren), weil wir unse-
re geistige Substanz damit zu einer Bestimmung (einem bestimmten Ge-
halt) eines Modus (Denken) dieser Substanz (Geist/Vernunft) machen
würden. Kantisch gesprochen: Wir würden die Position all unserer Prä-
dikate in ein bestimmtes Prädikat transformieren. Obwohl wir es nicht
begreifen können, besitzen wir nun aber ein Selbstgefühl dieser substan-
tiellen Form, die nach Jacobi die Individualität des Individuums konsti-
tuiert. Indem Kant noch diese unsere Substanz begreifen will, reduziert
er das Selbst auf bestimmte Funktionen, in denen das diesen Funktionen
zu Grunde liegende Sein annihiliert wird, weil es nicht begreifbar ist. So
ist Kants Ich für Jacobi „am Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk
von Etwas; die Form einer Form“29 oder ein bloßes Nichts, da in ihm die
Bestimmungen der Substantialität und Individualität annihiliert sind.
Diese Annihilation ist das notwendige Resultat der spinozistischen Auf-
klärung und des Versuchs der Vernunft, sich selbst zu begreifen. Sie ist
gleichzeitig die Absprungstelle für Jacobis Salto mortale und seines
Übersetzens in eine andere Aufklärung.
Zunächst scheint Jacobi mit dieser Kritik am abstrakten Charakter des
Selbstbewusstseins jedoch den kritischen Witz von Kants transzendenta-
ler Konzeption des Selbstbewusstseins misszuverstehen. Wie wir sahen,
kann und soll das rein formale transzendentale Subjekt als logische Be-
dingung unserer Gegenstandserfahrung für Kant gar keine kategorialen
Bestimmungen wie Substantialität und Individualität annehmen. Als Be-
dingung der Möglichkeit der Gegenstandserfahrung kann es nicht selbst
diese kategorialen Bestimmungen aufweisen, wenn das Subjekt nicht in
28
DH1 JW 2,1, 83.
29
DH1 JW 2,1, 61.
Die Personalität der Vernunft 239

ein Objekt transformiert werden soll.30 Jacobis Personkonzeption muss


aus Perspektive der kritischen Philosophie in mindestens der Hinsicht
unzulänglich bleiben, dass Jacobi offensichtlich das empirische Selbst-
bewusstsein, das uns in unserer Selbsterfahrung durch innere Anschau-
ung gegeben ist, mit dem transzendentalen Selbstbewusstsein, das Vo-
raussetzung noch dieser Selbsterfahrung ist, konfundiert.31 Das Resultat
scheint Jacobi dann noch metaphysisch zu hypostasieren und damit den
kritischen Standpunkt vollständig zu unterbieten. Dies muss aus kanti-
scher Perspektive umso mehr der Fall scheinen, als Jacobi dem selbstbe-
wussten Seienden eben solche Bestimmungen zuspricht, die Kant ihm
selbst noch in seiner vorkritischen Phase zuschreibt (Geistigkeit, Sub-
stantialität, Freiheit, Nicht-Materialität).32
Entgegen diesem Anschein liegt hier jedoch nicht einfach ein Missver-
ständnis Jacobis vor, sondern vielmehr radikal unterschiedene Aus-
gangspunkte: Anders als Kant betrachtet Jacobi das Prinzip des Bewusst-
seins nicht nur kritisch als logische Voraussetzung bestimmter Vollzü-
ge,33 sondern als metaphysisches Prinzip menschlicher Individualität und
konkreten Personseins.34 Dabei bedient sich Jacobi einer aus kantischer
Perspektive metaphysischen Organismuskonzeption, die er dann analo-
gisch (für Kant naiv-überschwänglich) der Struktur menschlichen
Selbstbewusstseins unterlegt. Aus kantischer Sicht ist Jacobis Konzepti-
on also metaphysisch-unkritisch. Nach Jacobi liegt allerdings auch der
Verstandeskonzeption Kants eine unausgesprochene Metaphysik zu
Grunde.35 Zudem: Wenn die Einheit der Objekte nach Kant nicht in den
Objekten selbst liegt, sondern im menschlichen Geist begründet ist,36 so
kann nach Jacobi Kant nicht die kategorische Differenz der individuellen

30
So setzt nach Horstmann Jacobis Nihilismusvorwurf gegenüber Kants transzenden-
taler Einheit der Apperzeption „eine substantialistische Deutung“ von selbiger voraus
(Horstmann 2007, 136).
31
Jedoch ist sich Jacobi dieses Unterschiedes bei Kant durchaus bewusst (Epistel JW
2,1, 136). Aus Gründen, die wir später noch deutlich machen werden, hält er diese Diffe-
renzierung nur für unzulänglich.
32
Ameriks 2000a, xiv-xvii.
33
KrV B 404/A 346.
34
Jacobis Personkonzeption ist also geradezu ein Gegenentwurf zu Kants Identität des
transzendentalen Subjekts, die explizit nicht als „Identität der Person“, „Bewußtsein der
Identität seiner eigenen Substanz, als denkenden Wesens, in allem Wechsel der Zustände“
zu verstehen ist (KrV B 408).
35
Diese „Metaphysik […] findet sich in der Kantischen Kritik nicht besonders abge-
handelt, ergiebt sich aber daselbst, gleich den andern Metaphysiken, aus der Grundeigen-
schaft des Gemüths, nehmlich aus der productiven und reproductiven transscendentalen
Einbildungskraft“ (Krit JW 2,1, 279).
36
Kitcher 1990, 73.
240 Personale Vernunft

Einheit von Organismen gegenüber anderen Gegenständen erklären. In


der Tat kann (und will) Kants transzendentale Apperzeption keine indi-
viduelle Einheit erklären.37
Aus Jacobis Sicht stehen sich also nicht Kants kritische und seine me-
taphysische Konzeption gegenüber, sondern zwei metaphysische Kon-
zeptionen, von denen die eine sich ihre metaphysischen Voraussetzun-
gen verschleiert, wohingegen die andere den metaphysischen Charakter
ihres Prinzips explizit thematisiert. Dieses Prinzip ist für Jacobi das au-
ßerzeitliche Person-Bewusstsein, das sich vom zeitlichen Bewusstsein
(das dem Verstand zugehört) unterscheidet, indem es zwar in die Zeit
tritt, aber nicht in der Zeit wird,38 da es selbst insofern außerzeitlich ist,
als es ein Bewusstsein vom Außerzeitlichen besitzt:

Dieses außerzeitliche, bloß inwendige, von dem auswendigen und zeitlichen auf
das klarste sich unterscheidende Bewußtseyn, ist das Bewußtseyn der Person,
welche zwar in die Zeit tritt, aber keineswegs in der Zeit entsteht als ein blos
zeitliches Wesen.39

Hier nimmt Jacobi die Charakteristik von Verstand und Vernunft in An-
spruch, die er Kant unterstellt. Denn der Verstand ist nach Jacobi bei
Kant auf die Sinnlichkeit und damit das Zeitliche gerichtet, die Vernunft
hingegen mit ihren Ideen des Unbedingten auf das Außerzeitliche. In der
Erkenntnis dominiert nun nach Jacobi-Kant der Verstand, im morali-
schen Handeln hingegen die Vernunft. Weder in der Erkenntnis noch in
der moralischen Praxis gehen Vernunft und Verstand aber eine reale
Einheit ein, vielmehr negieren sie wechselseitig ihre Ansprüche: In der
Erkenntnis herrscht der isolierte Verstand, in der moralischen Praxis die
isolierte Vernunft. Damit kann Kant nach Jacobi jedoch gerade nicht
zwei voneinander unabhängige Perspektiven in ihrem Eigenrecht zur
Geltung bringen, sondern pervertiert sowohl den Verstand als auch die
Vernunft. Denn der isolierte Verstand „leugnet den Geist und Gott“ und
damit Freiheit, die isolierte Vernunft hingegen „leugnet die Natur und

37
Dieses Defizit versucht Kant erst in KU zu beheben. In OP heißt es dann in erstaun-
licher Nähe zu Jacobi: „Ein lebend Wesen das sich seiner selbst bewust ist, enthält ein
immaterielles Princip und ist Person“ (OP AA 21, 66; vgl. auch ibid., 60; 83; 100). Nach
Grier ist der Unterschied zwischen der Einheit der Apperzeption und der Einheit des
denkenden Subjekts bei Kant gerade der zwischen logischem Subjekt und metaphysi-
schem Objekt (Grier 2001, 167).
38
GD JW 3, 27. Ähnliche Bestimmungen der Person finden sich in OP. Allerdings ist
Personbewusstsein für Kant nur die erste aller Eigenschaften, die dem denkenden Wesen
zukommen (AA 21, 14).
39
GD JW 3, 27.
Die Personalität der Vernunft 241

macht sich selbst zum Gott“.40 In diesem Sinne muss die spekulative Phi-
losophie Kants spinozistisch werden, die praktische letztlich fichtea-
nisch. Die Konsequenzen beider Perspektiven wurden bereits deutlich
gemacht: die Leugnung der Freiheit. Dem setzt Jacobi nun das Funda-
mentalbewusstsein der ungeteilten Person entgegen:

Der ganze, unzerstückte, wirkliche und wahrhafte Mensch, ist zugleich vernünf-
tig und verständig; glaubet ungetheilt und mit einerley Zuversicht – an Gott, an
die Natur, und an den eigenen Geist.41

Wenn nun aber Personalität als Fundamentalgefühl das alpha und omega
des Menschen ist, so stellt sich die Frage, warum Jacobis andere Aufklä-
rung der Daseinsenthüllung überhaupt notwendig ist, wenn uns die Ein-
heit scheinbar je schon in einem ursprünglichen Gefühl gegeben ist. Zu-
nächst einmal wird diese andere Aufklärung durch die Aufklärung spi-
nozistisch-kantischer Prägung notwendig. Diese scheitert nämlich
notwendig an dem, wovon das Fundamentalgefühl Bewusstsein ist: dem
konkreten Individuum, das ein unbegreifliches Faktum bleiben muss,
weil seine Daseinsweise nur enthüllt, aber nicht konstruiert werden
kann. Wie die Aufklärung Spinozas gezeigt hat, scheitert notwendig je-
der Versuch, das Individuum in seinem Eigensein begrifflich zu fassen.
Rational kann das Sein des Endlichen nur als Einschränkung oder Limi-
tation des Unendlichen und damit als dessen Privationsform begriffen
werden. Individualität als vom Ur-Sein abgelöstes, eigenständiges Dasein
kann nicht begriffen werden, da der Übergang vom Unendlichen zum
separat existierenden Endlichen unbegreiflich ist.42 Da Sein nach Jacobi
nur als Selbständigkeit gedacht werden kann, muss er gegen Spinoza „an
der Selbständigkeit des Endlichen vor dem Unendlichen festhalten“.43 In
diesem Sinne selbständig sind aber nur Individuen.44
Ebenso unbegreiflich wie die Individualität ist aber auch der personale
Geist des Menschen, da er als Einheit entgegengesetzter gedacht werden
muss: als Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit, Spontaneität und
Rezeptivität, Bedingtheit und Unbedingtheit. Weder lässt sich dieses

40
GD JW 3, 27.
41
GD JW 3, 27. „Als Individua leben, denken und fühlen wir; uns selbst nicht ver-
ständlich und begreiflich, weil wir dann aufhören würden Individuen zu seyn, begreifend
nur in und mit dieser Individuation.“ (Krit JW 2,1, 321).
42
Henrich 1992, 53.
43
Henrich 1992, 63.
44
Individuen können nicht nur von außen her bestimmt werden, sondern müssen sich
durch die Gesetze ihrer eigenen Natur selbst bestimmen. Das Individuum muss an und
für sich etwas sein, um etwas für ein anderes sein zu können (DH1 JW 2,1, 77).
242 Personale Vernunft

Prinzip begrifflich konstruieren noch lässt es sich durch einen klaren Be-
griff erfassen. Nicht ohne Grund hat ja Descartes versucht, den Geistbe-
griff aus der Philosophie zu eskamotieren und durch den klareren Be-
griff der res cogitans zu ersetzen. Damit hat er nur ein Moment der
Geistigkeit des Menschen durch Abstraktion und Reflexion isoliert und
zu einer eigenen Entität erklärt. Die Philosophie bis Kant hat dieses
Moment des menschlichen Geistes dann immer weiter aufgeklärt (und
damit von ihm äußerlichen Elementen befreit), bis er am Ende nur noch
die Tätigkeit einer Tätigkeit war und damit ein Nichts produzierendes
Nichts, eine Bewegung von Nichts aus Nichts zu Nichts. Denn nur so
lassen sich reine Spontaneität, Unbedingtheit und Unendlichkeit aus der
Perspektive des Menschen begreifen.
Das Resultat dieser Aufklärung ist nun aus Jacobis Sicht einerseits ein
negatives, andererseits ein positives: Denn insofern sich das Ich des Men-
schen in der vernünftigen Durchdringung dieser Aufklärung selbst anni-
hiliert, wird das Bewusstsein dieser Selbstannihilation zur elastischen
Stelle, von der aus sich das Selbst zur anderen Aufklärung als Daseins-
enthüllung des eigenen Individualitätsbewusstseins fortschwingen
kann.45 Die spinozistisch-kantische Aufklärung hat aber auch ein positi-
ves Resultat, denn ansonsten wäre die andere Aufklärung Jacobis ja nur
wieder ein Rückzug in das vor-aufklärerische, naive Fundamentalgefühl.
Das positive Resultat besteht darin, dass sich das Individuum nach der
Aufklärung gerade als unbegreifliche Einheit von Gegensätzen bewusst
ist und die Begreifbarkeit (im Sinne aufklärerischer rational-begrifflicher
Konstruktion) in ihren Abgrund versenkt hat. So zitiert Jacobi in seinen
Spinozabriefen Leibniz’ Diktum, dass man keine „physische Communi-
cation zwischen der Seele und dem Körper“ denken könne, sondern nur
eine „metaphysische […], zufolge welcher die Seele und der Körper eines
und dasselbige Subject, oder was man Person nennt, ausmachen“.46 Für
Jacobis andere Aufklärung gilt es deshalb, Personsein als eine lebendige
Einheit zu enthüllen, deren Möglichkeit wir nicht konstruieren können.

45
„[E]s ist aber die geistlose Nothwendigkeit und Substanz die Schwungfeder, welche
mich hebt, vermöge eines festen und kräftigen Auftretens auf dieselbe.“ (VSpin3 JW 1,1,
348.)
46
Spin2 JW 1,1, 237.
Die Personalität der Vernunft 243

II. Freiheit als personale Selbstbestimmung

Der „Fundamental-Artikel“ von Jacobis anderer Aufklärung ist die


Freiheit. 47 In der Überzeugung, dass Freiheit als freies Handlungsbe-
wusstsein von vernünftigen Wesen voraus-gesetzt werden muss und
nicht selbst noch einmal deduziert werden kann, glaubt er mit Kant
übereinzustimmen.48 So behaupte Kant mit ihm „das factum der Causali-
tät menschlicher Vernunft“ und wisse „kein Mittel gegen den Spinozis-
mus […], wenn man nicht Freyheit geradezu annimmt und voraus-
setzt“.49
Die Möglichkeit dieser Voraussetzung kann zwar nicht konstruiert,
aber dafür ihr Dasein in der menschlichen Handlungspraxis enthüllt
werden. Gerade in der Ehre als Streben nach Vortrefflichkeit manifes-
tiert sich für Jacobi die personale Freiheit des Menschen.50 Mit Aristote-
les unterscheidet er dabei das Prinzip der Ehre von dem der Selbstliebe.
Letzteres ist für ihn nur das „Prinzip der bloßen Selbsterhaltung“, erste-
res hingegen beruht auf dem „erhabenen Gefühl der Selbstvervoll-
kommnung“.51 Diese Selbstvervollkommnung bedeutet, dass wir für un-
ser Handeln eine Idee von uns voraussetzen, der wir faktisch noch nicht
entsprechen, die wir durch unser Handeln aber realisieren wollen. Ehre
besteht so für Jacobi in der Treue zu der Person, die man sein will und
als die man erscheinen will. Im Streben nach Ehre streben wir gerade
nicht danach, als etwas besseres zu erscheinen als das, was wir sind, son-
dern wir wollen das sein, was wir zu sein scheinen wollen.52 Zu diesem
Zweck muss sich die Person an Grundsätze binden und sich in reflexive
Distanz zu sowohl seinen natürlichen Neigungen als auch momentanen
Affekten setzen. Denn in all seinen Handlungen verlangt das Prinzip der
Ehre, dass man sich als die Person realisiert, als die man sich der Idee
nach entworfen hat. Im Trieb der Ehre und der mit ihm verbundenen
Selbstbindung erfährt die Person in sich die Kraft ihrer Freiheit, sich auf
Grund ihrer geistig-personalen Selbstbindung über ihre unmittelbaren
Handlungsimpulse zu Gunsten ihres eigenen Selbstentwurfs zu erhe-

47
AB II, 463. Vgl. ebenso: VSpin3 JW 1,1, 349.
48
Zur Legitimität dieser Annahme vgl. Klemme 2012, 203f.
49
JB 1,8, 72f. Offensichtlich weiß Jacobi seine Konzeption der Freiheit von Kant nur
äußerst unzulänglich verstanden (JB 1,8, 324; 1,8, 288; 295f.)
50
Mit seiner aristotelischen Bestimmung des Triebes nach Ehre wendet sich Jacobi ge-
gen Hobbes, für den Ehre nur eine äußerliche Anerkennung durch andere ist (Leviathan
EW 3, 76).
51
Brief W. v. Humboldts vom 7.2.1789 JB 1,8, 161.
52
Spin1 JW 1,1, 142f.
244 Personale Vernunft

ben.53 Die handelnde Person bindet sich also an Grundsätze, aber nicht
im Hinblick auf ein abstraktes Selbstverständnis als reines Vernunftwe-
sen, sondern auf die konkrete Person, zu der sie sich im Handeln selbst
realisieren möchte. Diese Selbstbindung erfährt die Person nicht als
Zwang, sondern als freie Selbstbestimmung.54 Wer nur nach dem Prinzip
der Ehre leben würde, der wäre damit ein freier Mensch.55 Sofern der
Mensch sich unter dem Aspekt der Ehre betrachtet, betrachtet er sich
auch als frei.56 Diese Kraft der Freiheit bildet die Person in Form von
Tugenden aus.57
Nun scheint diese Konzeption des Selbstentwurfs trotz ihrer Ferne zu
Kants Gesetzesmoral seiner Charakterkonzeption nicht unähnlich. Denn
für Kant besitzt man nur durch die Bindung an Grundsätze Charakter.
Für Jacobi ist diese Bindung jedoch kein noumenaler Freiheitsakt jen-
seits der Zeit, sondern ein in der Zeit erfolgender Entwurf auf die Zu-
kunft. Zukunftsentwurf und Selbstbindung transzendieren zwar das
bloße Nacheinander des Zeitstroms, sind aber wesentlich zeitlicher Na-
tur. Außerdem wird im Konzept der Ehre die interpersonale Fundierung
aller Moral deutlich gemacht. Im Streben nach Ehre sind wir nämlich je
schon nicht nur auf uns selbst bezogen, sondern unmittelbar auf die an-
deren, insofern es ein Streben ist, das nur in einem Mitsein mit anderen
relevant ist. Das Individuum erfasst so im Streben nach seinem Selbst
zugleich, dass es nur ein gemeinschaftlich konstituiertes Dasein besitzt. 58
Wir werden uns unseres Selbst und unserer Freiheit nur im Anderen be-
wusst. Wir können uns selbst als wir selbst nur in den Menschen um uns
herum wie in einem Spiegel erkennen: „Ihre Achtlosigkeit ist Vernichti-
gung; ihre Verachtung Hölle.“59 Umgekehrt ermöglicht das Streben des
Individuums nach Ehre die Gesellschaft dadurch, dass die in ihr assozi-
ierten Personen tatsächlich das sein wollen, als was sie öffentlich schei-
53
Nicht ein Gefühl der Achtung vor dem Gesetz, sondern das Gefühl der Ehre ist bei
Jacobi also „ratio cognoscendi der Wirklichkeit der Freiheit“ (Stolzenberg 2004, 31). Vgl.
hierzu auch JB 1,1, 119.
54
„Das Gefühl der Ehre erscheint Jacobi daher als ein phänomenologisches Zeugnis
dafür, daß dem moralischen Bewußtsein einer Person gar nicht das Bewußtsein der Nöti-
gung oder des Zwangs zugrundeliegt, sondern allein das Prinzip einer reinen Selbsttätig-
keit, das das Grundprinzip seiner geistigen Natur ist.“ (Stolzenberg 2004, 30f.)
55
Freiheit ist so „l’energie absolue du principe de l’honeur“ (JB 1,8, 106f.).
56
Vgl. Bollnow 1933, 121.
57
Jacobi setzt damit Kants Pflichtethik die aristotelische Tugendethik entgegen (Stol-
zenberg 2004, 31).
58
Kunstgarten JW 7,1, 127.
59
Kunstgarten JW 7,1, 126. Bei Jacobi ist es nun aber nicht die Selbstwidersprüchlich-
keit oder die Aufhebung der Maxime, die die Publizität bestimmter Handlungen verhin-
dert, sondern eben das Ehrgefühl (Allwill1 JW 6,1, 63).
Die Personalität der Vernunft 245

nen.60 Im Trieb nach Ehre enthüllt sich der Mensch also zugleich seine
Unbedingtheit (freie Selbstbestimmung) als auch die Bedingtheit seiner
Freiheit, insofern sein Selbstsein ein zeitlich-überzeitliches und nur in
Gemeinschaft mögliches Dasein ist.
Die Freiheit und ihre systematische Stellung gegenüber dem System
des Wissens und der Moral gilt Jacobi einerseits als fundamentale Ge-
meinsamkeit zwischen ihm und Kant, andererseits als der fundamentale
Differenzpunkt. Beide gingen sie nämlich davon aus, dass der Freiheit
kein Ort im System des spekulativen Wissens zukommen könne, gleich-
zeitig behaupten beide die Notwendigkeit der Voraussetzung von Frei-
heit, sofern das praktische Selbstverständnis des Menschen als einer indi-
viduell für ihr Handeln verantwortlichen Person nicht als bloße Selbst-
täuschung enthüllt werden soll. Nicht innerhalb eines spekulativen
Systems, sondern nur in seiner Selbsterfahrung als vernunftbestimmt
handelnder Person wird der Mensch seiner Freiheit inne.61 Freiheit ist
„aus prinzipiellen Gründen nicht objektivierbar“ und deshalb auch kein
Gegenstand einer durch objektive Gründe absicherbaren spekulativen
Erkenntnis.62 Trotz allem sind die Differenzen zwischen den Freiheits-
konzeptionen beider augenfällig. Auf den unterschiedlichen Ort der
Freiheit bei Jacobi und Kant werden wir später noch angemessen einge-
hen. Im Folgenden wollen wir zunächst den unterschiedlichen Begriffs-
gehalt der Freiheit bei Kant und Jacobi analysieren.63 Dabei gehen wir in
zwei Schritten vor: Zunächst analysieren wir den unterschiedlichen Sinn
von positiver und negativer Freiheit bei Kant und Jacobi (a). Anschlie-
ßend werden wir Jacobis metaphysische Grundlage der Freiheit untersu-
chen, die fundamental von Kants Konzeption abweicht (b).

60
Laharpe JW 5,1, 172. Jacobi nennt Wahrhaftigkeit in diesem Sinne „die größte, die
göttlichste aller Eigenschaften“ (JB 1,2, 35). Ehre ist die „erhabenste aller Tugenden, wel-
che zugleich die allgemeinste Anwendung verträgt, die übrigen alle schützt, vermehrt, ge-
biert“ (Allwill1 JW 6,1, 63). Wer immer wahr sein wolle, der müsse sich auch immer recht-
schaffen verhalten. „Wer der Ehre huldigt, schwört zum Altare des Unbekannten Gottes.
Er verspricht einem Wesen zu gehorchen, welches das Innere siehet: denn das ist der
Dienst der Ehre, daß wir seyn was wir scheinen; kein angenommenes Gesetz willkührlich
oder insgeheim übertreten; kurz, unverbrüchliches Wort: WAHRHEIT!“ (Spin1 JW 1,1,
142.)
61
Einl JW 2,1, 395.
62
Hutter 2004, 248.
63
Peetz hat auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, dass sich bei Jacobi keine ex-
plizite Darstellung seiner Freiheitskonzeption findet (Peetz 1995, 16). Nichtsdestotrotz
lässt sich Jacobis Freiheitslehre aus verschiedenen Texten entwickeln.
246 Personale Vernunft

a. positive und negative Freiheit

Unsere Skizze des Triebs der Ehre hat gezeigt, dass Jacobi in der Be-
stimmung dessen, was Kant „negative Freiheit“ nennt, insofern mit Kant
übereinstimmt, dass diese Freiheit darin besteht, sich nicht unmittelbar
durch sinnliche Handlungsanreize bestimmen lassen zu müssen, sondern
sich an Entwürfe und Prinzipien binden zu können.64 Umgekehrt gilt:
Wenn der Mensch seinen Trieben nachgibt, so gibt er ihnen „mit Ab-
sicht“ nach.65 Anders als bei Kant ist diese negative Freiheit bei Jacobi
aber nicht transzendental verursacht, sondern an ein Maß an Lebendig-
keit gebunden. So weist jedes lebendige Wesen einen gewissen Grad an
Selbsttätigkeit auf. Dieser bei den übrigen Lebewesen bloß graduelle
Unterschied schlägt beim Menschen in eine qualitative Differenz um,66
durch die sich der Mensch durch die Setzung von Zwecken bestimmen
kann. Insofern der Mensch seine Selbsttätigkeit bewusst bestimmen
kann, findet sich bei ihm eine solche Lebendigkeit, deren höherer Grad
eine neue Qualität begründet, da er damit ein Bewusstsein seiner eigenen
Selbsttätigkeit besitzt und sich seine Tätigkeit als von ihm selbst verur-
sacht zuschreibt. Dadurch besitzt der Mensch nicht nur Selbsttätigkeit,
sondern Handlungsbewusstsein. Freie Handlungen, in dem Sinn, dass
nicht unmittelbar auf Handlungsanreize reagiert werden muss, sind des-
halb nach Jacobi nur möglich für ein Lebewesen mit einem bestimmten
„Grade des Bewußtseyns seiner Selbstthätigkeit“ oder mit freiem Hand-
lungsbewusstsein.67 In unserem Bewusstsein als Handelnde machen wir
zugleich die Erfahrung, dass wir uns nicht durch unsere Begierden be-
stimmen lassen müssen, sondern uns von ihnen distanzieren können.68 In
der Erfahrung dieser negativen Freiheit offenbart sich dem Individuum
nach Jacobi die „Unabhängigkeit des Willens von der Begierde.“69 So
kann die Vernunft schlechthin über die Begierden, Neigungen und Af-
fekte herrschen. Diese Herrschaft führt insofern eine neue Qualität ein,
als bereits das Tier seine Begierden „ökonomisch“ regulieren und in der
Erwartung größerer Triebbefriedigung unmittelbare Triebe überwinden
kann. Der Mensch hingegen kann nicht nur seine Begierden ökonomisch

64
Vgl. auch OP AA 21, 470.
65
RuG JW 4,1, 270.
66
Diese qualitative Differenz macht Jacobi später durch die terminologische Differen-
zierung von Verstand (bloß graduell) und Vernunft (qualitativ) deutlich.
67
JaF JW 2,1, 248.
68
Stolzenberg 2004, 25.
69
JaF JW 2,1, 248.
Die Personalität der Vernunft 247

abwägen, sondern absolut über sie herrschen.70 Man könnte also folgen-
de Stufung vornehmen: Pflanzen besitzen Selbsttätigkeit, die beim Tier
zu einer bewussten Selbsttätigkeit wird und beim Menschen ein selbst-
bewusstes Handlungsbewusstsein (= Personbewusstsein) begründet.71
Eine Kontrastfolie zu dieser negativen Freiheit zeichnet Jacobi mit
seiner Romanfigur Allwill, die die höchste Erfüllung menschlichen Le-
bens darin zu finden glaubt, ihre Empfindungen zu empfinden und ihre
Gefühle zu fühlen.72 Der Mensch brauche im Handeln keine Grundsät-
ze, sondern allein „starke Gefühle, lebhafte Bewegungen, Leidenschaf-
ten.“73 Dabei verwechselt Allwill seine ständig wechselnden Neigungen
und Leidenschaften mit der beständigen Liebe zu einem Gegenstand und
die individuell gebildeten Grundsätze, in denen sich diese Liebe manifes-
tiert, mit dem toten Buchstaben rein äußerlicher Gesetze. Zu Recht setzt
Allwill aus Jacobis Sicht zwar gegen den toten moralischen Rationalis-
mus „Bild und Sache“ sowie „Idee und Empfindung“ einander streng
entgegen und sieht, dass nur Leidenschaften uns edel handeln lassen.74
Da vor allem Allwill diese Leidenschaften aber auf unmittelbare Emp-
findungen reduziert, verpflichtet er sich auf nichts mehr, sondern gibt
jeder momentanen Neigung nach. Er ist „allgegenwärtig – und nirgend
wo; alles – und nie etwas“75 und realisiert deshalb nie ein Selbst.76 Seine
Philosophie ist eine „Theorie der Unmäßigkeit, Grundsätze der ausge-
dehntesten Schwelgerey“.77 Wer sich auf diese Weise von unmittelbaren
Empfindungen bestimmen lässt, ist daher weder Person im vollen Sinne
noch frei. Noch die Einbildungskraft solcher Menschen wird nur durch
Affekte regiert und ist deshalb kein „freyeres Geistes-Vermögen“.78

70
„Die Vernunft soll über die Begierden herrschen nicht bloß ökonomisch, sondern
absolut“ (Kladde X, 271 Radrizzani 1998, 47).
71
In seinen frühen Schriften betont Jacobi stärker den graduellen Zusammenhang alles
Lebendigen, in seinen späteren Schriften dagegen die qualitative Differenz. Dies wird be-
sonders durch seine bereits erwähnte Neubestimmung der Vernunft in der Neuauflage
des David Hume deutlich.
72
Allwill1 JW 6,1, 73f.
73
Allwill1 JW 6,1, 59; vgl. auch ibid., 55; 60.
74
Allwill1 JW 6,1, 64.
75
Allwill1 JW 6,1, 67.
76
In ihm ist kaum „soviel Einerley“, dass er noch nicht einmal „einerley Alter“ besitzt:
Clerdon behauptet mal, er sey 22, mal gerade 20, eine Urkunde, die Amalia findet, weist
ihn als 25 aus (Allwill2 JW 6,1, 144).
77
Allwill1 JW 6,1, 71.
78
Allwill2 JW 6,1 191.
248 Personale Vernunft

Die Vollkommenheit dieses Zustandes ist ein eigentlicher Mysticismus der Ge-
setzesfeindschaft, und ein Quietismus der Unsittlichkeit.79

Man sieht: Jacobis Konzeption negativer Freiheit impliziert eine Kritik


an Geniemoral und Empfindsamkeit, die die kalte und tote Vernunftmo-
ral der Aufklärung durch unmittelbare Empfindungen ersetzen wollen.
Jacobi zeigt, dass diese gesetzlose Schwelgerei in eigenen Empfindungen
nur Unfreiheit hervorbringt, und steht dieser Form von Aufklärungskri-
tik deshalb von Anfang an skeptisch gegenüber.
Wir können festhalten: In ihrer Bestimmung der negativen Freiheit
stimmen Kant und Jacobi überein, wobei Jacobi selbige an die besondere
Weise und den Grad der Lebendigkeit des Menschen zurückbindet. Wie
in der Bestimmung der negativen Freiheit lassen sich auch in der Kon-
zeption positiver Freiheit Parallelen zwischen Kant und Jacobi erkennen,
auch wenn Jacobi die positive Freiheit nicht mit Autonomie im Sinne ei-
ner formalen Selbstgesetzgebung reiner praktischer Vernunft identifi-
ziert. Vielmehr besteht positive Freiheit für ihn in der Selbstbindung an
selbst gegebene Grundsätze und Zwecke. Ohne freie Bindung des eige-
nen Handelns an Grundsätze könne man nicht von Selbstbestimmung
sprechen. So vergleicht Jacobi den menschlichen Charakter mit „einer
flüßigen Materie“, die nur „in einem Gefäß Gestalt und Bleiben haben
kann“.80 Dieses „Gefäß“ sind für die menschliche Handlungspraxis feste
Ideen und Grundsätze. So bezeichnet es Jacobi geradezu als „Definition
der Freiheit“, immer dasselbe wollen und nicht wollen zu können. 81
Freiheit bestünde im Festhalten der eigenen Wünsche, des eigenen Cha-
rakters und der eigenen Person. Das Streben nach dieser Beständigkeit
ist die höhere Bestimmung des Menschen.82 Das Ideal positiver Freiheit
ist dementsprechend „ein höchster unveränderlicher Wille“, „die edelste
und höchste Kraft des Menschen“.83 Dieses stete Wollen desselben ist
jedoch selbst ein charakterliches Ziel, das das Individuum zu erreichen
versucht und an das es sich bindet. Insofern ist der Mensch im Wollen
seines Selbstseins eigentlich schon über sich hinaus, da er sich im Selbst-
sein einem Sein anzunähern versucht, von dem er weiß, dass es voll-
kommener ist als er selbst.

Selbstseyn ist das letzte Ziel aller Menschlichen Bestrebungen, das Ideal der
Vernunft – Gott ist in sich und durch sich; alles geht von ihm aus. Sein Wirken
79
Allwill2 JW 6,1, 191.
80
Allwill1 JW 6,1, 75.
81
Brief an Clermont vom 12.6.1792 JB 1,10, 27.
82
Brief an Clermont vom 12.6.1792 JB 1,10, 27f.
83
Woldemar3 JW 7,1, 309.
Die Personalität der Vernunft 249

ist Erschaffen. Der Mensch erschafft auch, aber er erschafft nur Veränderun-
gen.84

Im Sinne von Jacobis anderer Aufklärung als Daseinsenthüllung lässt


sich die Möglichkeit dieser positiven Freiheit des Menschen jedoch nicht
spekulativ deduzieren, sondern nur in ihrem Dasein enthüllen.85 Jacobi
versucht deshalb Phänomene des menschlichen Lebens zu analysieren, in
denen sich diese positive Freiheit manifestiert. Eine solche Manifestation
positiver Freiheit ist nach Jacobi nicht zuletzt die Fähigkeit des Men-
schen zur Treue (sei es zu einer Person, einer Idee oder Überzeugung).86
„Treue“ bedeutet nämlich die Bindung der personalen Existenz und des
eigenen Handelns an einen Entwurf in die Zukunft (gleiches gilt für das
Versprechen). Diese kann sich nicht aus Neigungen, Leidenschaften, Af-
fekten und Handlungsimpulsen erklären, da diese nicht die zur Treue
notwendige Kontinuität besitzen.

Es giebt kein Ding in der Welt, zu dem man eine Lust u Liebe, die immer
durchhielte, faßen könnte. Darum ist Treue nöthig u ein fester Muth, den die
Seele sich selbst zu machen lernen muß. Wer dies lernt erwirbt Freyheit, erwirbt
etwas von der großen Eigenschaft, sein Leben zu haben in sich selbst, welches
der eigentliche Stein der Weisen ist.87

So sind dem Menschen zwar ein unmittelbares Interesse oder unmittel-


bare Neigungen zum Guten durchaus natürlich, diese sind aber wechsel-
haft und in ihrer Unmittelbarkeit den unsteten Affekten des Individu-
ums unterworfen. Diese bloß unmittelbaren Neigungen, die gar nicht in
der freien Verfügungsgewalt des Menschen liegen, müssen deshalb habi-
tualisiert und dem Menschen zur zweiten Natur werden. Die positive
Freiheit besteht also darin, entsprechend der Neigungen zum Guten zu
handeln, auch wenn diese momentan nicht auftreten oder sogar ihnen
entgegengesetzte Neigungen auftreten.88 Dauer und Dasein können Af-

84
Kladde VII, 73 Koch 2013, 142.
85
Die Möglichkeit von Freiheit bzw. Selbsttätigkeit kann nicht erkannt werden, son-
dern nur ihre Wirklichkeit „durch die That“ (JaF JW 2,1, 247).
86
In einem Brief an Pestalozzi vom 24.3.1794 schreibt Jacobi: „[A]lles unter Menschen
beruht auf Wort und Treue; darauf, daß Ja, Ja, und Nein, Nein bleibe“ (JB 1,10, 342).
87
Kladde X, 181 Schneider 1986, 127; vgl. ebenso: Woldemar3 JW 7,1, 321; JB 1,11, 15.
88
„Die bloßen Triebe zum Guten und Edeln, ungeläutert und sich selbst überlassen,
diese Triebe mit ihren unmittelbaren zufälligen Aeusserungen, sind noch nicht die Tu-
gend; sie machen nur ihren Stoff aus.“ (Woldemar3 JW 7,1, 304.) „Der Trieb zum edlen,
schönen u guten liegt im Menschen aber nicht der Trieb zur Tugend, das ist der Trieb zur
Selbstverläugnung (Selbstverläugnung widerstrebt jeder Natur).“ (Kladde IV, 81 Schneider
1986, 293; vgl. auch: Kladde X, 731-741 Schneider 1986, 293f.)
250 Personale Vernunft

fekte nur gewinnen, wenn sie als handlungsleitende Begriffe und Grund-
sätze habitualisiert sind.89 Nur so können sie wirkmächtig und bestim-
mend für das Leben des Individuums werden. Diese Habitualisierung ist
aber dem positiven Affekt nicht entgegengesetzt, vielmehr tendiert der
positive Affekt (wie auch der böse Affekt) zu seiner eigenen Habituali-
sierung. Der Affekt intendiert seine eigene Form, weil diese ihm Dauer
verleiht. Der Trieb produziert seine Form. Das Resultat der Habituali-
sierung der auf gute Affekte gegründeten Begriffe und Grundsätze ist ein
„Leben in sich selbst“, „Unabhängigkeit” von unmittelbaren, aber nur
temporären Affekten und damit positive „Freyheit“.90

b. Metaphysische Freiheit

Indem der Mensch sich in seinem Handeln an Grundsätze bindet, offen-


bart er für Jacobi die Übermacht des Geistes über die Natur.91 Wie Kant
nimmt auch Jacobi an, dass dieser praktischen Freiheit eine „metaphysi-
sche“ oder „transzendentale“ Freiheit zu Grunde liegen muss, als Bedin-
gung der Möglichkeit dafür, sich selbst als Urheber der Inkorporation
der jeweiligen Grundsätze verstehen zu können.92

Soll also über das Endliche hinausgegangen werden, so muß über das Causali-
tätsgesetz, welches das Gesetz des Endlichen ist, hinausgegangen werden, wel-
ches nicht zuläßt, daß eine Handlung sich selbst anfange. Wie eine Handlung
sich selbst anfangen möge, ist dem nur immer fortsetzenden und voraussetzen-
den Verstande unbegreiflich.93

Die Gemeinsamkeit seiner eigenen Freiheitskonzeption mit der trans-


zendentalen Freiheit Kants sieht Jacobi dabei jedoch wesentlich in einem
negativen Moment, nämlich in der Leugnung des „allgemeinen alleinigen
Naturmechanismus“.94 Nach diesem ist jeder zukünftige Zustand durch
vorhergegangene Zustände oder, wie bei Spinoza, durch eine mit allen
ihren Wirkungen gleichzeitige Ursache vollständig bestimmt. Demge-
genüber setzt die Möglichkeit der Freiheit „ein Vermögen [voraus,] ei-

89
Allwill2 JW 6,1, 230.
90
Allwill2 JW 6,1, 231.
91
Allwill1 JW 6,1, 76.
92
Nach Peetz sind Kants transzendentale Freiheit und Jacobis Begriff der Freiheit
weitgehend deckungsgleich (Peetz 1995, 22). Demgegenüber werden wir im Folgenden
auf wesentliche Differenzen hinweisen.
93
VSpin3 JW 1,1, 345.
94
Spin2 JW 1,1, 122; vgl. ebenso ibid., 164.
Die Personalität der Vernunft 251

nen Begriff vor dem Begriffe hervorzubringen, oder einen Begriff der
vor seinem Gegenstande und die vollständige Ursache seiner selbst wäre,
so wie auch ein[en] Wille[n], der das Wollen würkte und durchaus sich
selbst bestimmte“.95 Der Determinismus kann dagegen nach Jacobi nicht
nur nicht von freien Handlungen, sondern eigentlich überhaupt nicht
von Handlungen sprechen:

Ein absichtsloses Verursachen ist ein blindes Thun, kein Handeln. Wir sagen,
nicht von der Natur, daß sie handle, sondern nur, daß sie wirke [.]96

Auch Vernunft kann nach Jacobi nicht ohne Freiheit gedacht werden,97
da sie ansonsten „nur ihrer selbst inne werdende blinde Nothwendig-
keit“ wäre. 98 Die Vernunft muss zumindest zu ihren eigenen Bestim-
mungsgründen in einem nicht naturkausal determinierten Verhältnis ste-
hen. Wenn etwas als Grund wirksam wird, kann dies nicht selbst nur das
Resultat äußerer Ursachen sein, sonst handelt es sich nicht um eine Be-
stimmung durch Gründe. So muss auch der Wissenschaft als einer durch
Gründe bestimmten Praxis menschlicher Vernunft Freiheit zu Grunde
liegen.99 Denn fasst man Wissenschaft nicht als Produkt einer freien Ver-
nunft auf, muss man sie selbst als notwendiges Produkt von Naturpro-
zessen verstehen. Eben dann sind aber die Gründe, die für oder gegen
eine wissenschaftliche Theorie sprechen, letztlich nur Ausdruck psycho-
logischer oder physiologischer Dispositionen.100

Darum finden sich auch in unserem Bewustseyn Vernunft und Freyheit unzer-
trennlich mit einander verknüpft, nur nicht dergestalt, daß von der Vernunft
(dem Adjectivo) das freye Vermögen; sondern so, daß von dem freyen Vermö-
gen (dem Substantivo) die Vernunft abgeleitet werden muß.101

95
Spin1 JW 1,1, 19. Demgegenüber kann der konsequente Determinist nur annehmen,
dass ich „blos gemäß meinem Willen [handle], so oft es geschieht, daß meine Handlungen
ihm entsprechen; aber es ist nicht mein Wille was mich handeln macht.“ (Ibid., 74.)
96
GD JW 3, 101; vgl. auch Spin2 JW 1,1, 163.
97
Etwas JW 4,1, 307.
98
GD JW 3, 40. So macht der Determinismus letztlich „den vollkommenen Skepticis-
mus nothwendig“ (Spin1 JW 1,1, 28).
99
Eben deshalb hat auch jede Wissenschaft einen Geist (JaF JW 2,1, 233).
100
„Wenn es lauter würkende und keine Endursachen giebt, so hat das denkende Ver-
mögen in der ganzen Natur blos das Zusehen; sein einziges Geschäffte ist, den Mechanis-
mus der würkenden Kräfte zu begleiten. Die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinan-
der haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber“ (Spin1 JW 1,1, 20f.).
101
JaF JW 2,1, 234.
252 Personale Vernunft

Die Wirklichkeit dieser Freiheit bezeugt sich „mit der That, da keine,
auch nicht die geringste Handlung ohne den Einfluß des freyen Vermö-
gens, ohne Zuthun des Geistes geschehen kann“.102 In der Erfahrung des
Handelns zeigt sich, dass die Vernunft die Tätigkeiten des Menschen
nicht begleitet, sondern sie hervorbringt. 103 Als frei erfährt sich der
Mensch außerdem, insofern er sich von der Natur unterscheidet und sich
über sie erhebt.104 Er befreit sich aber bereits von der Natur, indem er sie
gebraucht. So ist noch die instrumentelle und wissenschaftliche Vernunft
in der menschlichen Freiheit begründet. Denn ohne Freiheit könnte sich
der Mensch nicht von der Natur distanzieren und sie zu einem Werk-
zeug machen.105
Wir stellten jedoch fest, dass sich nach Jacobis anderer Aufklärung die
Möglichkeit der Freiheit und die Vereinigung von Geist und Natur im
Menschen nicht begreifen (konstruieren) lässt, sondern für den Men-
schen unmittelbare Wirklichkeit ist, die sich in seinem Handeln manifes-
tiert und deren Dasein nur enthüllt werden kann. In der spekulativen
Rekonstruktion oder Vermittlung dieses Faktums der Freiheit wird sel-
bige wie bei Spinoza notwendig in den systematischen Zusammenhang
des Naturganzen aufgehoben und damit im Versuch ihrer spekulativen
Rekonstruktion annihiliert. Die Aufgabe der anderen Aufklärung be-
steht für Jacobi dementsprechend darin, die spekulative Unvermittelbar-
keit der Freiheit darzutun und das Dasein menschlicher Freiheit zu ent-
hüllen.106 Dieses Dasein manifestiert sich uns unmittelbar und ohne Be-
weise im „Grundtrieb der menschlichen Natur“,107 der sich über alles
sinnlich-kontingente Interesse zu tugendhaften Handlungen erhebt. Die-
ses Bewusstsein unserer Fähigkeit, uns über die Tierheit in uns mit dem
Geist erheben zu können und zu sollen ist in unserer Handlungspraxis
für uns die höchste Wahrheit.108 Denn ohne dieses Bewusstsein stünden
all unsere Reflexionsakte und Vernunftvollzüge immer unter dem Vor-
behalt, bloße Eiphänomene unserer Neigungen und Affekte zu sein. Die
Tugenden sind für Jacobi hingegen verschiedene Realisierungen und
Habitualisierungen unserer Freiheit, in denen sich das Dasein der Frei-
heit enthüllt, deren Möglichkeit nicht begriffen werden kann:

102
JaF JW 2,1, 235.
103
JaF JW 2,1, 233f.
104
JaF JW 2,1, 218.
105
JaF JW 2,1 234.
106
Spin2 JW 1,1, 261f.
107
GD JW 3, 61.
108
GD JW 3, 62.
Die Personalität der Vernunft 253

Ich kenne die Natur des Willens, einer sich selbst bestimmenden Ursache, ihre
innere Möglichkeit und deren Gesetze nicht. Denn ich bin nicht durch mich
selbst. Aber ich fühle eine solche Kraft als das innerste Leben meines Daseyns;
ahnde durch sie meinen Ursprung, und lerne im Gebrauch derselben, was mir
Fleisch und Blut nicht offenbaren konnten.109

Im strengen Sinne beweist sich die Freiheit aber nicht in diesen Phäno-
menen, denn hierzu müsste sie der einzig mögliche Erklärungsgrund die-
ser Phänomene sein, was nicht der Fall ist. In seiner Entgegensetzung der
Thesen „Der Mensch hat Freiheit“ und „Der Mensch hat keine Freiheit“
zeigt Jacobi, dass die vollendete spinozistische Aufklärung durchaus in
der Lage ist, die Phänomene der Tugend (wie auch unser Bewusstsein
von Wille, Person, Freiheit, Recht etc.) zu erklären. Das Defizit dieser
Erklärungen besteht jedoch in der Vernichtung des Gehalts und eigen-
tümlichen Sinns dieser Phänomene. Freiheit ist nicht mehr Freiheit, son-
dern sich ihrer selbst bewusste Notwendigkeit;110 Moral ist nicht mehr
Moral, sondern verschleiertes Selbsterhaltungsinteresse; 111 das Recht
nicht mehr Recht, sondern die Macht des Stärkeren. Die sich in Spinoza
vollendende spekulative Aufklärung kann diese Phänomene deshalb
zwar erklären, aber nicht verständlich machen. Sie reduziert die ihnen
entsprechenden Begriffe auf eine Funktion im System und beraubt sie
damit ihrer eigentlichen Bedeutung, nämlich Ausdruck der Freiheit und
Selbstbestimmung des Menschen zu sein. Begriffen werden kann das Da-
sein eines Phänomens nämlich nur, insofern es abhängig von anderen
Daseienden und insofern vermittelt ist. Darin besteht eben das Wesen
begründender Erkenntnis: den Grund einer Sache, ihre Abhängigkeit
einsehen. Begreifen heißt, die Bedingungen der Möglichkeit einer Sache
einsehen. Selbsttätigkeit, da sie unvermittelt ist – ansonsten wäre sie
nicht Selbsttätigkeit – kann hingegen nicht begrifflich vermittelt werden.
Da ein Begreifen der Selbsttätigkeit nicht möglich ist, können wir nur
„ihre Wirklichkeit, welche sich unmittelbar im Bewußtseyn darstellt,
und durch die That beweist“, erfahren.112 Die Freiheit ist wirklich, stellt
sich im Bewusstsein individuell dar und wird durch die Tat bewiesen.113

109
Spin1 JW 1,1, 144.
110
Die Annahme eines besonderen Vermögens zu wollen gründet bei Spinoza dagegen
in der menschlichen Unwissenheit: Die Menschen wissen zwar, was sie wollen, aber nicht,
warum sie es wollen (Spin1 JW 1,1, 76).
111
Moralität ist nach Jacobi-Spinoza ein Produkt des Selbsterhaltungsinteresses ratio-
naler Lebewesen, die ihre Triebe und Impulse zum Zwecke der Selbsterhaltung koordi-
nieren müssen (vgl. hierzu Peetz 1995, 24f.).
112
Spin2 JW 1,1, 163f.
113
Sandkaulen 2000, 194.
254 Personale Vernunft

In ihrer Vermittlung muss das Denken sie jedoch annihilieren. 114 Die
vollendete Aufklärung führt so zur Leugnung willentlicher Selbstbe-
stimmung durch die Setzung von Endursachen und jeglicher spontanen
Handlung. Freiheit als Spontaneität wie auch Handeln aus Zwecken
werden deshalb von Spinoza verworfen. Die Konsequenz des Spinozis-
mus und dieser Form von Aufklärung ist ein Fatalismus, der das Be-
wusstsein der Freiheit in seinem spekulativen Begreifen annihiliert. 115
Damit annihiliert sich die adjektive Vernunft jedoch selbst bzw. die Wis-
senschaft ihren Geist. Denn die adjektive Vernunft ist nicht einfach ein
anderes Vermögen als die substantive Vernunft, sondern die Manifestati-
on dieser substantiven Vernunft bzw. der menschlichen Freiheit. Sie mis-
sinterpretiert aber ihre abhängige Selbsttätigkeit als absolute Selbsttätig-
keit und ignoriert ihre Abhängigkeit von der ihr vorausgesetzten absolu-
ten Vernunft und Freiheit des Menschen. Dadurch hebt sie ihre eigene
Substantialität, ihre Freiheit gerade auf.
Freiheit hat bei Jacobi also einen anderen systematischen Stellenwert
als bei Kant: Freiheit und Vernunft machen nicht nur einen Aspekt der
menschlichen Natur aus, dem Naturmechanismus und Sinnlichkeit ge-
genüberstehen, sondern in der Vernunft bilden beide Momente eine un-
mittelbare Einheit. Bedingtheit und Empfindung setzen bereits ein un-
bedingtes Selbstsein voraus. Freiheit ist so nicht der Gegensatz zum wis-
senschaftlichen Mechanismus, sondern die Bedingung der Möglichkeit
mechanischer Verknüpfung. Sie ist der Grund für die Möglichkeit wis-
senschaftlicher Systembildung. Als Grund kann sie nicht innerhalb des
Systems entwickelt werden. Andererseits sind menschliche Vernunft und
Freiheit immer schon durch Sinnlichkeit bedingt. Menschliche Freiheit
und Vernunft sind immer schon zeitlich situiert. Kants abstrakte
Entgegensetzung von Bedingtheit und Unbedingtheit führt nicht nur
spekulativ auf Antinomien, vielmehr führt die Isolierung der Idee reine
vernünftiger Selbstbestimmung zu einer Verminderung der Wirkmäch-
tigkeit der Vernunft oder der Möglichkeit des Menschen, sich selbst
durch die Vernunft zu bestimmen.
Jacobi teilt aus seiner Sicht mit Kant also die Annahme, dass prakti-
sche Freiheit ohne die Voraussetzung „metaphysischer“ Freiheit nicht

114
So ist die Freiheit des Menschen nach Spinoza auch nicht das Vermögen wollen zu
können, da das Wollen je schon durch die Ursachen bestimmt ist, durch die es vermittelt
ist, sondern „man ist in dem Maße frei, indem man sich seinem Wesen annähert. Gott,
welcher nur aus dem Grunde handelt und handeln kann, aus dem er ist, und der nur durch
sich selbst ist, besitzt demnach die absolute Freyheit“ (Spin1 JW 1,1, 78f.).
115
Kladde I, 3 Sandkaulen 2000, 56. Ebenso: „[D]er Determinist, wenn er bündig seyn
will, muß zum Fatalisten werden“ (Spin1 JW 1,1, 18).
Die Personalität der Vernunft 255

konsequent denkbar ist. Jedoch hat Jacobi in mehrfacher Hinsicht Be-


denken gegenüber Kants Konzeption metaphysischer Freiheit. Seine
Idee einer absolut freien, transzendentalen Wahl des noumenalen Cha-
rakters, nach der das noumenale Ich grundlos zwischen dem guten und
dem bösen Charakter wählt, 116 beruht für Jacobi zunächst auf einem
gänzlichen Missverständnis der menschlichen Natur, zumal, wenn Kant
dem Menschen einen natürlichen Hang zum Bösen zuspricht. Dabei
greift Jacobi Probleme auf, die auch gegenwärtig diskutiert werden, ins-
besondere die Frage, wie der Gedanke menschlicher Freiheit mit der
Idee eines angeborenen, natürlichen Hangs zum Bösen versöhnt werden
kann oder wie sich die Universalität eines frei gewählten Bösen behaup-
ten lässt.117
Jacobis Lösung des Paradoxes menschlicher Freiheit und seiner Unfä-
higkeit, diese vollständig zu realisieren, besteht nun darin, einerseits die
Endlichkeit der menschlichen Freiheit anzuerkennen und andererseits
diese Freiheit als eine Kraft zur Selbstbestimmung und –bindung zu
denken. Anders als bei anderen organischen Lebewesen kann und muss
der sich seines Selbsts bewusste Mensch diese Kraft selbständig aktuali-
sieren. Die permanente Aktualisierung vervollkommnet und steigert die-
se Kraft. Seine sinnlichen Neigungen und Affekte, obwohl nicht in sich
selbst böse,118 setzen dieser Kraft immer wieder Widerstände entgegen.
Nun könnte der Mensch prinzipiell zwar jeden einzelnen dieser Wider-
stände überwinden, aber eben nicht alle diese Widerstände. Anders for-
muliert: Dass der Mensch immer einmal wieder an moralischen Heraus-
forderungen scheitert, ist notwendig, dass er an dieser bestimmten Her-
ausforderung scheitert hingegen nicht.119

116
„Ich finde nemlich hier eine zwiefache Freyheit; die eine bestimmt den intelligiblen
Charakter, und die andere soll den moralischen Charakter bestimmen können. Diese letz-
te scheint mir auch die eigentliche Freyheit zu seyn, die gemeynt ist, und die man heraus-
haben will. So wäre die erste nur ein arbitrium brutum, also gar keine Freyheit. Wie geht
es nun zu, daß die Vernunft, wenn sie die höchste Gewalt hat, d. h., wahrhaft frey ist,
nicht überall allein das Gesetz giebt?“ (Epistel JW 2,1, 161). „Nicht zu vergeßende Be-
merkungen über die Kantische Freiheitslehre. – Die Kantische Freiheit ist das radicale Bö-
se.“ (Kladde VIII, 261 Radrizzani 1998, 46f.)
117
Vgl. Michalson 1990, 8; 31; 63; 65ff.; 69.
118
Dieser Exkulpation unserer sinnlichen Natur, dass nicht sie, sondern unsere Freiheit
Ursache des Bösen ist, will auch Kant mit seiner Konzeption einer ursprünglichen Wahl
Rechnung tragen (Michalson 1990, 69).
119
Veranschaulichen wir uns dies durch eine etwas schiefe, „mechanische“ Analogie: In
einem Raum mit einer sehr hohen Anzahl schwerer Gewichte könnten wir vielleicht prin-
zipiell jedes einzelne dieser Gewichte hochheben, jedoch nicht alle nacheinander. Je mehr
Gewichte wir immer wieder stemmen, umso mehr werden wir in Zukunft stemmen kön-
nen etc.
256 Personale Vernunft

Gäbe es nun neben dem Hang zum Bösen nicht einen ebenso natürli-
chen Hang zum Guten, einen angeborenen Instinkt, auf Grund dessen
der Mensch ursprünglich nach dem Guten strebt, der sich als dem Hang
zum Bösen entgegengesetzte Kraft manifestiert und dessen Realisierung
einen eigenständigen Genuss impliziert, wäre die Wirkmächtigkeit der
praktischen Vernunft nach Jacobi überhaupt nicht verständlich:

Ich bin wider Kant der Meynung des Apostels Paulus, daß nicht allein das
Fleisch wider den Geist, sondern auch der Geist gelüstet wider das Fleisch.120

Für Jacobi ist der Geist des Menschen diese „eigenthümlich[e] Kraft“.121
Auf Grund seiner Geistigkeit besitzt der Mensch einen natürlichen, auf
die Realisierung seiner Geistigkeit gerichteten Instinkt und deshalb auch
unmittelbar eine Neigung zum Guten:

Es gehört also zur Natur des Menschen, und ist sein eigentlicher Instinkt: die
gemeinen Triebe, einem ungemeinen höheren Triebe unterzuordnen; oft, was
schmerzhaft ist, zu wählen; freywillig dem Vergnügen zu entsagen; Begierden
und Leidenschaften zu unterdrücken; Freyheit und Leben aufzuopfern.122

So besitzt der Mensch von Beginn an ein unmittelbares, wenn auch indi-
viduelles Bewusstsein vom Guten:123 das „θεῖον im Menschen“.124 Zwar
muss unser Wollen durch Überlegung und damit auch durch Vernunft
bestimmt sein, wenn es freies Wollen sein soll, dabei muss die Vernunft
jedoch entweder selbst als eine Kraft oder ein Streben verstanden werden
oder es muss ihr eine Kraft in Form eines Instinkts, Triebs oder Gefühls
zu Grunde gelegt werden. Jacobi setzt damit die Idee eines moral sense
der britischen Aufklärung nicht einfach fort, greift aber eines ihrer Moti-
120
Kladde V, 751 Schneider 1986, 210. Diese menschliche „Richtung auf das Ewige“,
die Jacobi gegen Kant voraussetzen zu müssen meint, ist „der intellectuelle Trieb, das
Prinzip reiner Liebe“ (Spin2 JW 1,1, 168). „Unvertilgbar [...] waltet im Menschen das Be-
wußtseyn eines Vermögens und eines Triebes, sich über alles, was blos Natur ist, mit dem
Geiste, mit Absicht, Vorsatz und Gedanken – zu erheben.“ (GD JW 3, 40.)
121
JaF JW 2,1, 235.
122
Woldemar3 JW 7,1, 445; vgl. auch: Allwill1 JW 6,1, 89f.; JaF JW 2,1, 252. Das Telos
dieses Instinkts ist „die Erhaltung und Erhöhung des persönlichen Daseyns (des Selbst-
bewußtseyns; der Einheit des reflectierten Bewußtseyns mittelst continuirlicher durch-
gängiger Verknüpfung: - Zusammenhang -)“ (Allwill2 JW 6,1, 90; JaF JW 2,1, 252). Abs-
trahiert man von dem vernünftigen Wesen als „Träger“ dieses Instinktes und betrachtet
den rationalen Trieb nur für sich selbst, so zielt er allein „auf Personalität, mit Ausschlie-
ßung der Person und des Daseyns, weil Person und Daseyn Individualität verlangen, wel-
che hier nothwendig wegfällt.“ (Allwill2 JW 6,1, 90; JaF JW 2,1, 252.)
123
Woldemar3 JW 7,1, 267.
124
Spin2 JW 1,1, 167.
Die Personalität der Vernunft 257

ve auf: nämlich die Frage, wie Vernunft das Individuum zur Handlung
bestimmen kann. Kant versucht dieses Problem durch die Konzeption
der Achtung als ein durch die Vernunft selbst bewirktes Gefühl aufzulö-
sen. Grundlegend ist hierbei Kants Überzeugung, dass ein moralisches
Gefühl keinen moralischen Begriff erzeugen, sondern nur aus diesem re-
sultieren kann.125 Für Jacobi hingegen kann die Vernunft nicht durch ein
durch sie selbst erst erzeugtes Gefühl wirkmächtig für unser Handeln
werden, sondern durch ein mit ihr verbundenes Streben zum Guten, das
dem Menschen je schon immanent ist. Gegen die moral sense Denker ist
dieses Streben aber in sich vernünftig, weil die Neigungen und Gefühle
des Menschen immer schon durch Vernunft bestimmt sind. Jacobi be-
zeichnet diese Kraft deshalb als den vernünftigen Instinkt oder Trieb des
Menschen. 126 Die substantive Vernunft ist keine abgesonderte Entität,
sondern manifestiert sich in Trieben und Instinkten, so wie sie sich auch
in Akten der Reflexion manifestiert. Die Bestimmung des Handelns
durch einen vernünftigen Instinkt ist für Jacobi so auch nicht wie für
Kant „die der Blinden leitung der Freyheit nach einem moralischen Ins-
tinkt“,127 weil der Instinkt durch seine unmittelbare Einheit mit der Ver-
nunft eben je schon „sehend“ ist. Wie die Seele ganz in jedem Teil des
Körpers ist, so ist die substantive Vernunft oder der Geist des Menschen
ganz in jedem psychisch-lebendigen Akt. Die Vernunft ist nicht bloß ein
Vermögen der Deliberation, sondern selbst eine Form von gerichteter
Kraft oder Wirksamkeit:128 „le désir absolu de l’individu“.129 Diese Be-
gierde ist nichts anderes als das geistige Wesen des Individuums. Nur
durch diese Begierde ist das Individuum überhaupt Individuum.130
Metaphysische Freiheit ist für Jacobi deshalb die Kraft des Geistes, die
im einzelnen Individuum jeweils eine bestimmte Form annimmt. Jeder
realisiert seine Freiheit in individueller Weise, gleichzeitig manifestiert
sich die Freiheit nur in ihrer Aktualisierung in individuellen Lebensvoll-
zügen. Freiheit ist die Kraft, sich mit dem Geist über die Notwendigkeit

125
„Das moralische Gefühl folgt auf den moralischen Begrif, bringt ihn aber nicht her-
vor; noch viel weniger kan es ihn ersetzen, es setzt ihn voraus.“ (Refl 6757 AA 19, 150.)
Vgl. Werkmeister 1979, 18.
126
Bei Kant hingegen wirkt die Vernunft „selbst nicht instinctmäßig“ (Idee AA 8, 19).
127
Refl 6863 AA 19, 184. Zu Kants Kritik am moralischen Gefühl/Instinkt während
seiner „stummen Jahre“ vgl. Werkmeister 1979, 17f.
128
JaF JW 2,1, 250.
129
Laharpe JW 5,1, 179.
130
Woldemar3 JW 7,1, 309. Diesem Trieb ist der auf Eigennutz gehende Trieb entge-
gengesetzt, der eigentlich aber nur der pervertierte vernünftige Trieb ist. Die ganze prakti-
sche Vernunft ist deshalb für Jacobi „nur über Einem Grundtriebe erbaut“ (JaF JW 2,1,
245).
258 Personale Vernunft

zu erheben: 131 „jene wunderbare innerliche Bildungskraft, jene uner-


forschliche Energie, die, alleinthätig, ihren Gegenstand sich bestimmt,
ihn ergreift, festhält – eine Person annimmt“.132 Auf Grund ihrer teleolo-
gischen Verfasstheit wird „das Wesen unserer Seele eine Begierde ge-
nant“.133 Freiheit ist die Kraft der Person, sich selbst zu dem zu bestim-
men, wohin ihr geistiger Trieb immer schon hingeht. In der moralischen
Handlung konstituiert sich die Person als das, was sie ihrer geistigen Na-
tur nach sein will. Für Jacobi impliziert die Befolgung des moralischen
Gesetzes deshalb kein Bewusstsein der Nötigung, sondern ein „Bewußt-
sein einer überwiegenden Stärke und Kraft des eigenen freien Wil-
lens“.134 In der Tugend genießt die Person die Kraft ihrer Freiheit, die
sich in der Überwindung von Widerständen ausbildet.135
Die Tugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit etc.) sind nichts
anderes als Realisierungen dieser Kraft. Sie sind weder Mittel zur Glück-
seligkeit136 noch Mittel zur Pflichterfüllung, sondern wirklich geworde-
ne, substantiierte Freiheit. Ihr höchster Wert kann jedoch nicht bewie-
sen, sondern nur im eigenen Handeln „freywillig anerkannt werden“.137
Der freie Wille ist „nichts anderes als das Grundprinzip der geistigen
Natur des Menschen“,138 das die Wirklichkeit seiner selbst will und sich
deshalb in konkreten tugendhaften Handlungen realisieren will.139 Dieser
geistige Trieb ist bei manchen Menschen jedoch verschüttet. Eben des-
halb ist hier Aufklärung als Daseinsenthüllung notwendig. Aufklärung
ist für Jacobi – durchaus ähnlich zu Kant – notwendig, um den natürli-
chen Instinkt „mehr oder weniger frey zu machen, wenn man die Hin-
dernisse weg zu räumen suchte, die sich der Würkung seiner Kraft ent-
gegen setzen“.140
Wir haben bisher gesehen: Anders als Kant versteht Jacobi die Freiheit
als eine Kraft, sich zur Freiheit zu bestimmen. Problematischer ist für
Jacobi aber, dass Kant transzendentale Freiheit als Kausalität außerhalb
der Zeit bestimmt. Damit konfundiert er nach Jacobi den Begriff des

131
GD JW 3, 62.
132
Allwill2 JW 6,1, 229.
133
Brief an Wizenmann vom 9.2.1787 JB 1,6, 21.
134
Stolzenberg 2004, 35.
135
Stolzenberg 2004, 35.
136
GD JW 3, 62. Glückseligkeit wird hierbei von Jacobi mit Kant als ein bloßes „Ideal
der Einbildungskraft“ (ibid., 64) verstanden.
137
GD JW 3, 64.
138
Stolzenberg 2004, 34.
139
„Moralisch handeln heißt daher für Jacobi gar nichts anderes, als der wesentlichen
Tendenz seiner geistigen Natur folgen.“ (Stolzenberg 2004, 31.)
140
Spin1 JW 1,1, 86f.
Die Personalität der Vernunft 259

Grundes mit dem der Ursache. Denn wenn aus dem Ursache-
Wirkungsverhältnis die Zeitlichkeit eskamotiert wird, wird die Ursache
„zu einem blos logischen Wesen“.141 Das Verhältnis von Ursache und
Wirkung wird zum logischen Implikationsverhältnis von Grund und
Folge. Der Grund als bloß logischer Begriff ist mit seiner Folge in der
Tat gleichzeitig, hier wird aber nur ein logisches Abhängigkeitsverhältnis
bezeichnet. Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis impliziert nach Jacobi
hingegen eine zeitliche Abfolge, in der etwas von etwas anderem hervor-
gebracht wird. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht in der
Verknüpfung zweier nacheinander abfolgender Ereignisse, eines objekti-
ven Werdens.142 Implikation und Hervorbringung bezeichnen zwar bei-
de Bedingungsverhältnisse, insofern der Ursachebegriff jedoch Tätigkeit
impliziert, Tätigkeit aber wiederum einen prozessualen Verlauf und eine
sukzessive Abfolge, „so sitzt man mit dem Begriffe der Ursache […] in
der Zeit unbeweglich fest“.143 Zeit ist also die spezifische Differenz zwi-
schen logischer und ursächlicher Abhängigkeit. Insofern die Relation
zwischen Ursache und Wirkung bei Kausalität aus Freiheit für Kant nun
aber kein Zeitverhältnis impliziert, liegt aus Jacobis Sicht überhaupt kein
Kausalverhältnis vor. Freiheit ist nämlich nur dann Freiheit, wenn das
Subjekt einer Tätigkeit als Ursache auf Grund einer Absicht eine Hand-
lung hervorbringt und dabei diese Handlung ursprünglich von selbst an-
fängt.144 Freie Ursachen können deshalb nicht außerhalb der Zeit und
des Naturmechanismus stehen, sondern sind in die Zeit und mit dem
Naturmechanismus in gewissem Sinne immer schon verwoben:

Eine nicht mechanische Verkettung ist eine Verkettung nach Absichten oder
vorgesetzten Zwecken. Sie schließt die wirkenden Ursachen, folglich auch Me-
chanismus und Nothwendigkeit nicht aus, sondern hat allein zum wesentlichen
Unterschiede, daß bey ihr das Resultat des Mechanismus, als Begriff vorhergeht,
und die mechanische Verknüpfung durch den Begriff, und nicht, wie in dem an-
dern Falle, der Begriff im Mechanismus gegeben wird. Dieses System wird das
System der Endursachen, oder der vernünftigen Freyheit genannt.145

141
Spin2 JW 1,1, 256. Zu diesem Problemkomplex augenöffnend: Sandkaulen 2000.
142
DH1 JW 2,1, 50.
143
Spin2 JW 1,1, 257. Kant unterscheidet zwar zwischen Realgrund (Ursache) und logi-
schem Grund (Longuenesse 1998, 346-356), identifiziert diese Unterscheidung aber mit
der zwischen synthetisch und analytisch. Für Jacobi setzt die Differenzierung von Ursa-
che und Grund hingegen das Konzept der Zeit voraus. Wenn a als Bedingung von b die-
sem nicht zeitlich vorhergeht, liegt nur ein Grund-Folge-Verhältnis vor.
144
Einl JW 2,1, 396.
145
Spin2 JW 1,1, 230.
260 Personale Vernunft

Wie insbesondere Birgit Sandkaulen herausgearbeitet hat, fundiert Jacobi


damit die Freiheit mit der Person als Ursache freier Handlungen in der
Zeitlichkeit.146 Allerdings geht die Person nicht vollständig in der Zeit-
lichkeit auf, sondern ist nur in der Zeit, kann sich aber gleichzeitig von
dem Zeitverlauf durch das Bewusstsein seiner Selbigkeit in der Zeit
durch Antizipation von Zukünftigem und Erinnerung von Vergangenem
unterscheiden. Personalität als allgemeine Struktur des menschlichen
Bewusstseins ist nicht die a-temporale transzendentale Einheit der Ap-
perzeption, sondern das ursprüngliche Bewusstsein von der Einheit des
vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Selbst.

Ich bin der – Ich bin; der – Ich war; der – Ich werde seyn. Vergangenheit, Ge-
genwart und Zukunft, in dem Gefühl des Selbst- und in sich Seyns unzertrenn-
lich verknüpft; das ist Geistesbewußtseyn [.]147

Wenn das Bewusstsein der Person im Strom der Zeit mitverlaufen wür-
de, dann könnte sie nicht Ursache sein, sie könnte nicht eigentlich han-
deln. Sie muss den Zeitverlauf übergreifen. Allerdings ist diese überzeit-
liche Identität der Person als Bewusstsein der Einheit von Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft in der eigenen Person zeitlich
strukturiert.148 Die Identität der Person ist weder außerzeitlich noch Re-
sultat eines Ablaufs von Geschehnissen, sondern Durchdringung von
Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.
Schon weil Handlungen einer Person zurechenbar sind, Personen aber
zeitlich strukturiert sind, sitzen wir mit der Freiheit in der Zeit fest. Das
Handeln einer Person ist für Jacobi deshalb immer ein Ereignis in der
Zeit und damit eine „konkrete historische Tat“.149 Unter Aufhebung von
Raum und Zeit gibt es für den Menschen „keine Wirksamkeit und kei-
nen Willen“. 150 In ihrem Handeln ist die Person bedingt durch ihre
vergegenwärtigbare Vergangenheit, ihren Selbstentwurf in die Zukunft
und ihr jeweiliges hic et nunc. Andererseits bricht sie durch ihren Bezug
auf Vergangenheit und Zukunft das strikte zeitliche Nacheinander von
mechanischer Ursache und Wirkung auf. Indem sie Zwecke setzt, richtet
sie sich auf eine mögliche Zukunft und macht diese mögliche Zukunft
zur Ursache einer Veränderung in der Gegenwart. Die Vorstellung von
der Zukunft ist dabei nicht vollständig durch das faktische So-Sein der

146
Sandkaulen 2000, 194.
147
GD JW 3, 113.
148
Sandkaulen 2000, 202.
149
Koch 2013, 134.
150
Kladde VI, 201-221 Schneider 1986, 139.
Die Personalität der Vernunft 261

Person bestimmt, sondern davon, wer diese Person sein will. Die Person
transzendiert insofern den bloß natürlichen Zeitverlauf, als sie in ihrer
Handlung der Zeit vorgreift, ein zukünftiges Ereignis intendiert und
damit wiederum gleichzeitig ihr gegenwärtiges So-Sein bestimmt. Der
Grund menschlicher Handlungen erschöpft sich deshalb nicht im Trieb
nach Selbsterhaltung der eigenen Persönlichkeit als solcher, sondern in
der Selbstbestimmung der Person, die wir sind, daraufhin, wer wir sein
wollen.151
Jacobi entwickelt seine eigene Freiheitskonzeption damit als Gegen-
modell zu der Spinozas: Nach Spinoza ist die Freiheit des Menschen die
Kraft, das zu sein, was er ist.152 Das Individuum ist dann im höchsten
Maße frei, wenn es gemäß seinen Wesensgesetzen handelt.153 Bei Jacobi
ist der Mensch hingegen dadurch bestimmt, dass er sich durch die Set-
zung von Zwecken selbst zu etwas bestimmen und auf ein zukünftiges
Selbst verpflichten kann.154 Freiheit besteht also wesentlich in der Mög-
lichkeit des Entwurfs eines eigenen Selbsts und der Treue zu diesem
Entwurf im eigenen Handeln. Durch die Realisierung der vom Willen
gesetzten Handlung macht sich die Person erst zu demjenigen, der sie
sein will. Gleichzeitig bewertet sie rückblickend ihre Handlungen als ih-
re eigenen, durch die sie sich zu der Person gemacht hat, die sie ist. So
haben Person- und Freiheitsbewusstsein eine fundamental zeitliche
Struktur. Im Vorsatz, der für die Handlung leitend ist, wird die Zukunft
antizipiert, in der Billigung und Reue wird das eigene Handeln rückbli-
ckend bewertet.155
Ein Phänomen menschlicher Praxis, an dem sich der Entwurfscharak-
ter der Freiheit enthüllt, ist nach Jacobi das Versprechen. Im Verspre-
chen sind Gegenwart und Zukunft insofern verschränkt, als eine zukünf-
tige Handlung antizipiert wird als eine solche, die ausgeführt werden
wird. Diese Antizipation meint aber nicht eine Vorhersage im Sinne blo-
ßer Wahrscheinlichkeit auf Grundlage gegenwärtiger Umstände, son-
dern eine Selbstverpflichtung auf ein zukünftiges Handeln, das gerade

151
Selbstachtung ist entsprechend das Resultat freier Selbstbestimmung, durch die wir
das geworden sind, was wir sein wollten (JaF JW 2,1, 258).
152
Spin1 JW 1,1, 79.
153
Spin1 JW 1,1, 78f.
154
Koch definiert Freiheit bei Jacobi deshalb als „die Freiheit eines Einzelnen als Ein-
zelnen, der sich im tatsächlichen willentlichen Handeln aus Zweckbegriffen als dieser und
kein anderer entwirft und anerkennt. Freiheit bedeutet nach Jacobi m. a. W. die individu-
ell-personale Selbstbindung als eine Verbindlichkeit sui generis im Modus der Endursäch-
lichkeit“ (Koch 2013, 42).
155
Sandkaulen 2000, 201.
262 Personale Vernunft

unabhängig von kontingenten Umständen ausgeführt werden soll.156 Der


Versprechende orientiert gerade an der Vorwegnahme seiner Handlung
im Versprechen sein künftiges Handeln.157
Fassen wir zusammen: Fundamental für die Freiheitserfahrung des
Menschen ist seine Selbsterfahrung als ursächlich handelnde Person.
Damit ist das Bewusstsein von Ursache und Wirkung bedingt durch das
Freiheitsbewusstsein. Diese Erfahrung ist jedoch an Zeitlichkeit gebun-
den. Die Person erfährt sich als zeitlich strukturierte Ursache in der Zeit:
„Indem ich mich als Ursache erfahre oder finde, erfahre oder finde ich
die Zeit.“158 Folglich ist die Erfahrung der Ursache in der Handlung un-
auflöslich mit der Erfahrung der Zeit verknüpft.159 Entsprechend dem
Entwurfscharakter freier Handlungen ist der zentrale Begriff für Jacobis
Freiheitskonzeption die „causa finalis“. Die handlungswirksame Ver-
nunft ist damit gerade nicht zeitenthoben, sondern auf die Zukunft be-
zogen, weshalb Jacobi sie – durchaus provokant – als „Vorsehung“ im
Menschen bezeichnet.160 Der Wille ist letztlich das Vermögen der Ver-
nunft, Zwecke zu setzen und bestimmt durch diese Setzung zu handeln:
Die Vernunft, die den Begriff der Ursache hat, muss zugleich selbst han-
delnde und vorsehende causa sein.161 Das Spezifikum der „Freiheit final-
ursächlichen Handelns“ besteht „in seiner Intentionalität“; sein Anfang
ist „vorsätzlich vorweggenommener Zweck“.162 Diese Vorwegnahme ist
wiederum nicht eine Erfahrung, die der Mensch neben anderen auch
noch macht, sondern das Wesensmerkmal menschlichen Weltverhältnis-
ses. Der Mensch ist in seinem Umgang mit der Welt immer schon auf
etwas aus.

156
Freilich mag es Umstände geben, die außerhalb der Verfügungsgewalt des Verspre-
chenden liegen und die Einhaltung des Versprechens unmöglich machen.
157
Sandkaulen 2000, 216.
158
Kladde VII, 64 Sandkaulen 2000, 186.
159
Sandkaulen 2000, 81.
160
„Was wir im Menschen Vernunft nennen, ist die Vorsehung in ihm. Je mehr ein
Mensch für die Zukunft zu sorgen weiß, desto vernünftiger finden wir ihn.“ (Kladde IV,
48 Sandkaulen 2000, 201.) „Freyheit und Vorsehung sind voneinander unzertrennlich“
(Einl JW 2,1, 395).
161
Bereits in RuG wird den sinnlichen Trieben eine Vernunft entgegengesetzt, die nicht
der kalkulierende Verstand, sondern eine vorhersehende Vernunft ist (JW 4,1, 286). So
bedeutet dort „Vernunft“ nicht einfach folgerichtiges Denken, sondern die Fähigkeit,
nach Zweckbegriffen zu entscheiden (Hammacher 1969, 98ff.).
162
Sandkaulen 2000, 221.
Die Personalität der Vernunft 263

Der Mensch ist ein strebendes Geschöpf; er empfindet in der Zeit, die nie still
steht, keinen eigentlichen Moment hat. [...] Ein Ding der Zukunft ist der
Mensch, und streben muß er unaufhörlich!163

Dieses Auf-Etwas-aus-Sein begründet noch die spinozistische Aufklä-


rung, wie wir bereits sahen. Insofern ist auch sie Manifestation von Frei-
heit. Resümierend lässt sich feststellen, dass Jacobis Freiheitskonzeption
in folgenden strukturellen Momenten von Kant abweicht:
i. Wille ist eine auf ein Ziel ausgerichtete Kraft.
ii. Freiheit ist wesentlich zeitlich strukturiert als vorsehender Ent-
wurf in die Zukunft.
iii. Praktische Freiheit ist der Grund aller geistigen Vollzüge des
Menschen.
iv. Akteur der Freiheit ist kein noumenales Ich, sondern die histo-
risch situierte Person. Diese Personkonzeption soll als Funda-
ment von Jacobis gesamtem Aufklärungsprojekt im Folgenden
erläutert werden.

163
FB WW VI, 202f. „[D]ie Seele ist die Seele durch ihr Streben, ihre Tätigkeit, ihre
Begierde“ (Kladde V, 701 Schneider 1986, 354).
264 Personale Vernunft

C. Die Momente personaler Vernunft

Subjekt und Adressat der Aufklärung ist nach Jacobi die Person. Von ih-
rer Konzeption hängt deshalb wesentlich Jacobis Projekt einer anderen
Aufklärung ab. Sie ist nämlich kein abstrakter Akteur, sondern das kon-
krete, historisch situierte Individuum. Deshalb soll im Folgenden Jacobis
Personkonzeption in mehreren Schritten analysiert werden: Zunächst
untersuchen wird die Momente personalen Selbstbewusstseins (I), an-
schließend skizzieren wir die konstitutive Funktion der Interpersonalität
für das Personbewusstsein (II).

I. Die Momente personalen Bewusstseins bei Jacobi

Kants proton pseudos in der Bestimmung menschlichen Selbstbewusst-


seins besteht für Jacobi, wie wir sahen, darin, einem ausschließlich spon-
tanen Verstandesvermögen eine ausschließlich rezeptive Sinnlichkeit ur-
sprünglich entgegenzusetzen.1 Damit trennt Kant nach Jacobi Anschau-
ung und Begriff bzw. Sinnlichkeit (Gegenstände werden gegeben) und
Verstand (Gegenstände werden gedacht) als zwei unabhängige „Stämme
der menschlichen Erkenntnis“.2 Gewiss: Nur die Einheit von Begriff und
Anschauung ergibt nach Kant Erkenntnis und die Kategorien bzw. rei-
nen Verstandesbegriffe müssen auf Anschauungen appliziert werden, um
nicht leer zu sein und objektive Realität zu besitzen.3 Aber die hieraus
resultierende Einheit ist eine Einheit von „zwei ganz heterogen[en]
Stück[en]“.4 Kant gesteht also zwar zu, dass Anschauung und Denken
als isolierte Elemente unabhängig voneinander nicht erfolgreich operie-

1
Vgl. KrV B 74f./A 50f. Die konkrete Anschauung konstituiert sich wiederum aus Ma-
terie (Empfindung) und Form (Anschauungsform). Die Form der Sinnlichkeit ist rein,
enthält nichts von Empfindung (B 34f./A 20f.; A 29). Damit sind auch die Materie der Er-
kenntnis (Empfindungen) und die Formen der Erkenntnis (reine Anschauung und Den-
ken) heterogen (B 118/A 86).
2
KrV B 29/A 15; B 33/A 19.
3
KrV B 75f./A 51f.; B 194f./A 155f.; B 291; vgl. außerdem: Prol AA 4, 355; KrV B 139;
OP AA 21, 82. Kant spricht jedoch davon, dass die „zwei Stämme der menschlichen Er-
kenntnis“ „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel ent-
springen“ (KrV B 29/A 15). Heidegger identifiziert diese Wurzel mit der transzendentalen
Einbildungskraft (Heidegger 2010, 138). Dies tut bereits Jacobi: Die Einbildungskraft sei
„die eine Grundkraft des Gemüths, und alle übrigen angeblich verschiedenen Kräfte des-
selben nur Modificationen von ihr“ (Krit JW 2,1, 266). Dagegen: Henrich 2008, 37f.
4
KU AA 5, 401; KrV B 118/A 85; B 92f./A 68; B 33/A 19; Prol AA 4, 288; 316; EEKU
AA 20, 227.
Die Momente personaler Vernunft 265

ren können, behauptet jedoch ihre Isolierbarkeit.5 Auf Grund ihrer He-
terogenität müssen Kategorien und Anschauung deshalb durch ein Drit-
tes (transzendentales Schema/Synthesis der Einbildungskraft) äußerlich
vermittelt werden.6
Für Jacobi hängen dagegen bereits die reinen Verstandesbegriffe in ih-
rer Formation von der sinnlichen Wahrnehmung ab.7 Rezeptivität und
Spontaneität bzw. ihre Produkte sind nicht voneinander unabhängig, um
dann anschließend synthetisiert zu werden, sondern bedingen einander
bzw. sind schon ursprünglich miteinander verbunden. Der Sinn bildet
mit dem Verstand eine unmittelbare Einheit.8 Verstand und Sinn sind
nur reziproke Aspekte derselben Kraft (des menschlichen Geistes), deren
Grad der Rezeptivität vom Grad ihrer Spontaneität abhängt und umge-
kehrt.9 Der Grad, in dem ein Lebewesen empfindet, bestimmt den Grad,
in dem es Formen erzeugen kann.10 Der Grad, in dem ein Lebewesen
Formen erzeugen kann, bestimmt hinwiederum den Grad seiner Emp-
findungen.11 Rezeptivität bildet insofern nicht den Gegensatz zur Spon-
taneität, sondern die Voraussetzung dafür, dass und inwieweit sich ein
5
KrV B 87; 89f./A 62; 64f. Kant vergleicht sein eigenes Vorgehen mit dem eines Che-
mikers, der die Elemente isoliert, um sie in ihrem reinen Zustand darlegen zu können (B
xxi; B 870/A 842). Wenn dieser Vergleich ernst genommen wird, dann nimmt Kant sogar
eine Isolierbarkeit dieser Elemente de re und nicht nur de dicto an (vgl. auch Friedman
1992, 96). Dagegen: Neiman 1994, 56; Kitcher 1990, 39f.; Koch 2004a, 93.
6
„Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einer-
seits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema.“
(KrV B 177 /A 138.) Vgl. hierzu auch: Pinkard 2002, 39. Zur Vermittlungsfunktion der
Synthesis der Einbildungskraft vgl. auch Longuenesse 1998, 61f.
7
Es gibt sicherlich gute Gründe, eine solche Korrelation auch für Kant anzunehmen:
So ist etwa für Heidegger das Denken bei Kant „wesensmäßig auf die Anschauung bezo-
gen“ und muss deshalb eine „innere Verwandtschaft“ mit der Anschauung aufweisen
(Heidegger 2010, 22).
8
GD JW 3, 22. So antizipiert Jacobi Hegels Kritik an den Schematismen und der Ein-
bildungskraft Kants, dass diese Denken und Sinnlichkeit nicht eigentlich vermitteln, da sie
nur „auf äußerliche, oberflächliche Weise verbunden werden, wie ein Holz und Bein
durch einen Strick“ (VGPh SW 20, 348).
9
Mit dieser Kritik an Kants Synthesis als Vereinigung äußerlicher Elemente stimmt
auch Hegel überein (JW GW 15, 14; WdL GW 21, 82f.). Demgegenüber wird in der For-
schung häufig bloß der Charakter der Rezeptivität der Sinnlichkeit für Jacobi im Gegen-
satz zu Kant festgestellt (vgl. etwa Metz 2004, 4).
10
„Die reinste und reichste Empfindung hat die reinste und reichste Vernunft zur Fol-
ge.“ (DH1 JW 2,1, 90.)
11
DH1 JW 2,1, 67. „Wir schreiben einem Menschen vor dem andern einen höheren
Grad der Vernunft zu, in demselbigen Maaße, wie er einen höheren Grad von Vorstel-
lungskraft äussert. Die Vorstellungskraft äussert sich aber nur reagierend, und entspricht
genau der Fähigkeit, von den Gegenständen mehr oder weniger vollkommne Eindrücke
anzunehmen; oder, die Spontaneität des Menschen ist wie seine Receptivität.“ (Ibid., 65f.)
Vgl. auch GD JW 3, 17.
266 Personale Vernunft

Wesen in seiner Begriffsbildung frei äußern kann.12 Für Jacobi ist des-
halb zwar Vernunft nicht identisch mit einem gewissen Empfindungs-
grad, sie ist jedoch nur möglich für Lebewesen, die einen bestimmten
Grad an Empfindung erreicht haben. In jeder Empfindung manifestiert
sich bereits Vernunft. Individuell verweist eine Schwäche an Empfin-
dungen deshalb immer auf ein Defizit an Vernunft.13
Das Verhältnis des Gegenstandes an sich zur Rezeptivität des mensch-
lichen Geistes besteht dabei nach Jacobi nicht in einer strukturell unbe-
stimmten Affektion des menschlichen Geistes, vielmehr muss das Sub-
jekt bereits bestimmte Strukturbestimmungen der Dinge an sich rezipie-
ren. Durch diese Bestimmungen muss der menschliche Geist bestimmt
sein, weil ansonsten das Problem aufträte, wie sich der reine Geist des
Menschen selbst bestimmen kann. Eben dieses Problem löst aber, wie
wir sahen, Kant nach Jacobi nicht. Rezeptivität und Spontaneität müssen
strukturell aufeinander bezogen sein.14 Damit ein Mensch wahrnehmen
kann, muss das Wahrgenommene in sich differenziert sein, weil er erst
an diesem so Strukturierten sein Wahrnehmen lernt. Deshalb hebt Jacobi
die Passivität des Geistes mitunter gegenüber seiner Aktivität hervor,
etwa wenn er die menschliche Vernunft als „Vernehmen“ und „Wahr-
Nehmung“ bestimmt.15 Sollen geistige Produkte wie Begriffe, Worte und
Zeichen etwas von der Sache mitteilen, dann muss das Mitgeteilte schon
geordnet sein und die Ordnungsstrukturen müssen einander entspre-
chen.16 Andererseits kann die Bestimmung eines Individuums nur „nach
den Gesetzen seiner eigenen Natur“ erfolgen.17 Die wahrgenommenen
Gegenstände können unsere Tätigkeiten von Denken, Begriffsbildung,
Empfinden und Vorstellen nicht hervorbringen, sondern dies kann nur
der menschliche Geist in aktiver Weise.18 Allerdings ist dieser Geist eben
bereits eine unmittelbare Einheit von Rezeptivität und Passivität:

12
DH1 JW 2,1, 66f.; 98f.
13
„Empfindungen, Begierden und Leidenschaften müssen da seyn, wenn menschliche
Vernunft da seyn soll. Aus stumpfen Sinnen werden nie helle Begriffe hervorgehen; und
wo Schwäche der Triebe und Begierden ist, da kann weder Tugend noch Weisheit eine
Stelle finden.“ (Woldemar3 JW 7,1, 309.)
14
GD JW 3, 14.
15
JaF JW 2,1, 201; 209.
16
GD JW 3, 14.
17
DH1 JW 2,1, 77.
18
„Der äusserliche Gegenstand kann eben so wenig irgend eine Bestimmung des Den-
kens, als solche, hervorbringen, als er das Denken selbst, oder die denkende Natur her-
vorbringen kann.“ (DH1 JW 2,1, 77.) Aus Jacobis Ableitung des Begriffs „Vernunft“ von
„Vernehmen“ folgt somit auch nicht, dass die Vernunft für Jacobi im Gegensatz zu Kant
nur „eine wesentlich-empfangende Funktion“ hat (Cassirer 1931, 12).
Die Momente personaler Vernunft 267

Der erklärende nach-weisende Verstand hat im Menschen nicht das Erste und
nicht das Letzte Wort. [...]. Nichts im Menschen hat es. Es ist überall in ihm kein
Erstes und kein Letztes Wort; kein Alpha, kein Omega. Er wird angeredet; und
wie er angeredet wird, so antwortet es aus ihm – erst mit Gefühlen; [...] dann mit
Empfindungen, mit Gedanken und Worten.19

Anders als bei Kant wird bei Jacobi deshalb der menschliche Geist durch
Dinge an sich selbst nicht affiziert, vielmehr „offenbart“ sich der Gegen-
stand in seiner Wahrnehmung dem menschlichen Geist.20 Dies bedeutet,
dass sich in der Wahrnehmung etwas vom Gegenstand selbst zeigt. Da-
mit behauptet Jacobi jedoch keinen naiven Realismus, nach dem der
menschliche Geist die Dinge unmittelbar so wahrnehmen würde, wie sie
an sich selbst beschaffen sind.21 Vielmehr schreibt Jacobi – wie Kant –
dem Denken eine produktiv-konstitutive Rolle im Prozess der Erfah-
rung bzw. Wahrnehmung zu.22 Den zentralen Unterschied zu Kant sieht
Jacobi darin, dass sowohl Kants transzendentaler Gegenstand als auch
das Ding an sich nur als „äquivoke“ Ursachen der Erscheinung konzi-
piert sind, bei der Ursache und Wirkung keine gemeinsamen Strukturbe-
stimmungen aufweisen. Kants reine Verstandesbegriffe sind für Jacobi
entsprechend „blos subjective Wesen, bloße Bestimmungen unseres ei-
genen Selbstes“.23 Dem stellt er die Position von Leibniz gegenüber, dass
sich Ordnung zwar nur im Denken offenbaren kann, die Bedingungen
dieser Ordnung aber (die Verknüpfungen) in den Beschaffenheiten des
Gegenstandes begründet sind.24 Jacobi behauptet also nicht, dass die ob-
jektiven Bestimmungen der Dinge, die der menschliche Geist wahr-
nimmt, nicht vom Geist produktiv geformt sind, sondern dass zumindest
ein homomorphes Verhältnis zwischen den Bestimmungen der Dinge an
sich und unseren Wahrnehmungen vorliegen muss.25 Damit ist gemeint,
dass unsere Wahrnehmungen die wirklichen Dinge nicht exakt abbilden,
aber zumindest ein homomorphes Abbildungsverhältnis vorliegen muss,
zwischen den von uns wahrgenommenen Relationen zwischen den Din-

19
GD JW 3, 13f.
20
Dagegen ist für Jacobi nach Kants Kritik der Verstand, da er auf die Sinnlichkeit an-
gewiesen ist, die nichts von den Dingen an sich selbst offenbart, vom Wahren vollständig
abgeschnitten (GD JW 3, 20f.).
21
Jacobi hebt deshalb immer wieder hervor, dass er in der Mitte zwischen Positivisten
und logischen Enthusiasten steht (JaF JW 2,1, 261). Dagegen etwa: Pinkard 2002, 95.
22
DH1 JW 2,1, 32. Dagegen: Baum 1969, 38–40; 86; 105f.
23
DH1 JW 2,1, 110.
24
DH1 JW 2,1, 108.
25
Mit Hemsterhuis spricht Jacobi von einer Analogie zwischen unseren Wahrnehmun-
gen und den Dingen an sich selbst (DH1 JW 2,1, 35).
268 Personale Vernunft

gen und den Relationen der Dinge an sich.26 Dazu muss das rezipierte
Mannigfaltige aber bereits in sich strukturiert und bestimmt sein.27 Mit
diesem „System absoluter Objectivität“ will Jacobi nicht behaupten, dass
die Dinge sich uns in der Wahrnehmung auf absolute, sondern nur auf
eingeschränkte Weise so offenbaren, wie sie an sich sind.28 So offenbart
die naturwissenschaftliche Verknüpfung von Ursache und Wirkung die-
selbe Relation zwischen Dingen an sich wie die mythische Auffassung
der Wirklichkeit als eine von lebendigen Wesen bevölkerte, die alle Ver-
änderungen in der Welt durch ihre Tat hervorbringen.29 In der Kraft der
Ausgestaltung dieser Formen besteht gerade die freie Produktivität des
menschlichen Denkens. 30 Kant restringiert für Jacobi die tatsächliche
Aktivität des menschlichen Geistes auch dadurch, dass für ihn nur be-
stimmte Begriffe als durch Verstand und Vernunft erzeugt sind, wohin-
gegen für Jacobi alle Begriffe in ihrem Ursprung lebendige Begriffe
sind.31
Mit seiner Kritik an Kants Synthesis als Vereinigung getrennter Ele-
mente zu einer nachträglichen Einheit, in der sich die Elemente aber
immer äußerlich bleiben, leugnet nun Jacobi nicht die Möglichkeit der
Synthesis von Begriff und Anschauung.32 Das Kriterium für die Wahr-
heit eines Begriffes ist vielmehr, dass es sich um eine unmittelbare Ein-
heit von Spontaneität und Rezeptivität handelt. Die Trennung dieser
Momente ist hingegen erst das Resultat einer späteren Reflexion auf die-
se ursprüngliche Einheit, in der selbige aufgelöst wird. 33 Begriffe sind
Ausdruck der Spontaneität unseres individuellen Geistes und sie formie-
ren unsere Wahrnehmungen. Auf der anderen Seite ist die Begriffsbil-
dung in einem gewissen Grade durch unsere Anschauungen bestimmt
(nicht jede Form passt für jede Wahrnehmung). Aber die Anschauungen
determinieren nicht die spezifischen Formen, durch die wir sie ordnen.
Somit ist die Spontaneität eines individuellen Geistes nicht darauf be-
schränkt, prädeterminierte Formen einfach nur zu applizieren, sondern

26
DH1 JW 2,1, 34f. Eine solche Homomorphie scheint nach Koch auch bei Kant be-
reits auf der Ebene der kategorialen Synthesis vorliegen zu müssen, da das unserem
„ektypischen Verstand“ Gegebene zumindest so beschaffen sein muss, dass es überhaupt
von ihm synthetisiert werden kann (Koch 2004a, 180f.).
27
GD JW 3, 24.
28
Einl JW 2,1, 391.
29
DH1 JW 2,1, 54.
30
Auch für Kant ist Denken freilich ein spontaner Akt, „aber nicht produktiv und
schon gar nicht kreativ“ (Düsing 1997, 105).
31
DH1 JW 2,1, 91.
32
Dagegen: WdL GW 21, 83.
33
Epistel JW 2,1, 129f.
Die Momente personaler Vernunft 269

ist ein Vermögen, diese Formen kreativ zu erzeugen.34 Daher ist die Ein-
heit von spontaner Begriffsbildung und Rezeption von Wahrnehmungen
nicht durch eine zusätzliche Operation des Geistes vermittelt, sondern
unmittelbar in dem Sinne, dass sie eine organische Ganzheit bilden, in
der das Ganze den Momenten vorhergeht.35 Anders formuliert, jede An-
schauung ist zumindest in ihrem Ursprung eine begriffliche Anschauung
und jeder Begriff ein angeschauter Begriff.36 Was Jacobi deshalb als un-
mittelbare Anschauung des Geistes beschreibt, ist keine passive Wahr-
nehmung eines Dinges an sich selbst, sondern bereits eine organische
Einheit aus Spontaneität und Rezeptivität. Diese Einheit kann entweder
Anschauung oder (lebendiger) Begriff genannt werden: „Jede Wahrneh-
mung ist folglich an sich schon ein Begriff.“37 Diese „anschauende Er-
kenntniß“ bezeichnet Jacobi auch als Intuition.38 Wahrnehmungen sind
nicht nur repräsentationale Vorstellungen von diesen verschiedenen Ge-
genständen und der Verstand ist nicht nur ein Vermögen zur Reflexion
dieser Vorstellungen.39 Erst in der diskursiven Erkenntnis tritt ihre Ein-
heit auseinander. Diese Diskursivität steht aber in unmittelbarem Zu-
sammenhang mit unserem Lebensinteresse. Denn der menschliche Geist
kann nur eine begrenzte Anzahl individueller Vorstellungen erfassen, die
er deshalb trennen und zerteilen und auf abstrakte strukturelle Relatio-
nen hin abstrahieren und durch Zeichen festhalten muss.40
In der Wahrnehmung als unmittelbarer Einheit von Rezeptivität und
Aktivität bilden nun nach Jacobi ebenfalls Selbstwahrnehmung und
Fremdwahrnehmung eine unmittelbare Einheit. 41 Die Wahrnehmung
34
Weil sie aber eine unmittelbare Einheit mit der Wahrnehmung bilden, sind sie objek-
tiv. Kant hingegen würde die Kategorien „zu bloßen Vorurtheilen des Verstandes [...] ma-
chen; zu Vorurtheilen, von welchen wir geheilt werden müssen, indem wir erkennen ler-
nen, daß sie sich auf nichts, was den Gegenständen an sich zukommt, beziehen, folglich
keine wahre objective Bedeutung haben“ (DH1 JW 2,1, 60).
35
Die Bedeutung von Begriff und Anschauung bzw. Empfindung als organischer Ein-
heit ignorieren sensualistische Deutungen Jacobis (vgl. Herms 1976, 134–137; 142).
36
Wilhelm von Humboldt notiert in seinem Tagebuch, Jacobi hätte ihm gegenüber
1788 Folgendes ausgeführt: Wir nehmen nicht nur die Bilder äußerer Dinge wahr, son-
dern diese selbst modifiziert durch unsere Relation zu ihnen und allen anderen Dingen in
der Welt, durch eine Art Offenbarung (Humboldt 1916, 58).
37
DH1 JW 2,1, 86.
38
Betrachtung JW 4,1, 14f.
39
Einl JW 2,1, 390. Zu Jacobis Kritik am Vorstellungs- oder Repräsentationsmodell
des Bewusstseins vgl. Sandkaulen 2017, 19.
40
Betrachtung JW 4,1, 15. Anders als das Tier, das seine limitierte Umwelt unter den
für seine Lebenstätigkeit relevanten Aspekten komplett erfassen kann, muss der Geist des
Menschen, der sich potentiell auf alles richten kann, abstrahieren (ibid., 16).
41
GD JW 3, 49. So tritt das Bewusstsein vom äußeren Gegenstand als einem äußeren
„ohne irgend eine Operation des Verstandes“ ein; damit wendet Jacobi sich gegen eine
270 Personale Vernunft

von Etwas als Etwas setzt Selbstwahrnehmung voraus, weil darin Diffe-
renz zum Wahrnehmenden impliziert ist. Das Individuum unterscheidet
sich in seinem Wahrnehmungsakt unmittelbar vom Gegenstand seiner
Wahrnehmung. Der Grad dieses Selbstbewusstseins korreliert wiederum
direkt mit dem Grad seiner Spontaneität und seiner Rezeptivität.42 Spon-
taneität, Rezeptivität und Selbstbewusstsein bestimmen sich also wech-
selseitig.43 Nur durch die Reflexion auf ihre ursprüngliche Einheit treten
sie als unterschiedene Aspekte auseinander, und diese nicht separat exis-
tierenden Elemente44 werden in Gedanken isoliert.45 Ursprünglich kön-
nen sie aber gar nicht anders gedacht werden denn als Momente einer
unmittelbaren Ganzheit.
Eben deshalb versteht Jacobi Geistigkeit als eine Weise von
Organizität. Unser Bewusstsein ist eine Einheit von „in einander grei-
fende[n] Momente[n] des Thuns und Leidens, der Würkung und Ge-
genwürkung [...], die ein reales, in sich bestimmtes und selbstthätiges
Principium voraus setzen“. 46 Das personale Selbst ist eine unteilbare,
unmittelbare Einheit aus den genannten Momenten. Dadurch ist es ein
Individuum und nicht ein aus isolierbaren Elementen zusammengesetz-
tes Aggregat. Eine solche Einheit nennt Jacobi auch eine unmittelbare
Einheit. Gegenstandsbewusstsein und Selbstbewusstsein müssen eine
solche unmittelbare Einheit bilden. Die Wahrnehmung des Bewusstseins
ist nicht ohne Gegenstand möglich und die Wahrnehmung des Gegen-
standes nicht ohne Bewusstsein. Die Wahrnehmung des Gegenstandes
offenbart in einem ungeteilten Akt die Wirklichkeit des Selbst und des
Gegenstandes.47 Zum Bewusstsein oder Gefühl unserer selbst gelangen
Theorie, die von der Empfindung eines Gegenstands oder einer Vorstellung auf die Äu-
ßerlichkeit des Gegenstandes erst schließt (DH1 JW 2,1, 38).
42
„Wie die Receptivität, so die Spontaneität, wie der Sinn, so der Verstand. Der Grad
unseres Vermögens, uns von den Dingen ausser uns intensiv und extensiv zu unterschei-
den, ist der Grad unserer Personalität“ (DH1 JW 2,1, 98f.).
43
DH1 JW 2,1, 86.
44
Schlosser JW 5,1, 231.
45
So unterscheidet Jacobi abstrakte Begriffe von ursprünglichen, lebendigen Begriffen
(DH1 JW 2,1, 90; vgl. auch Schlosser JW 5,1, 231f.). Jacobis spätere Trennung von Ver-
nunft als Vermögen der Wahrnehmung und Verstand als Vermögen der Begriffe verun-
klart diese Einheit, da er hier von zwei unterschiedlichen Vermögen zu sprechen und sich
Kants Theorie von Rezeptivität und Spontaneität anzueignen scheint. Der Sache nach liegt
aber immer noch eine unmittelbare Einheit vor (Einl JW 2,1, 426). Der Grund für diese
Redeweise ist, dass Jacobi in diesen Passagen das Problem beschäftigt, wie die ursprüngli-
che Einheit von Anschauung und Begriff nach ihrem Auseinandertreten wiederhergestellt
werden kann.
46
DH1 JW 2,1, 56.
47
„Der Gegenstand trägt eben so viel zur Wahrnehmung des Bewußtseyns bey, als das
Bewußtseyn zur Wahrnehmung des Gegenstandes. Ich erfahre, daß ich bin, und daß et-
Die Momente personaler Vernunft 271

wir nur durch Dinge außer uns, von denen wir uns unterscheiden.48 Der
Unterscheidungsgrad konstituiert wiederum den Grad unseres Selbst-
bewusstseins.49 Was wir im Unterschied zu den Tieren Vernunft nennen,
ist nur ein höherer Grad dieses Selbstgefühls.
Damit ist auch die Vernunft keine reine Vernunft, sondern eine orga-
nische Einheit bzw. eine bestimmte Entwicklungsstufe einer solchen or-
ganischen Einheit. 50 Nur ein schlechthin selbständiges und uneinge-
schränktes Wesen könnte reine Person oder reines Selbstbewusstsein im
positiven Sinne sein. Solch ein Wesen wäre nämlich nur durch sich selbst
und als es selbst im schlechthinnigen Sinne bestimmt (sum qui sum). Das
menschliche Individuum kann sein Selbst aber nicht selbst konstituieren,
vielmehr ist es in vielfacher Weise bedingt und durch diese Bedingungen
bestimmt. Es kann nur ein bestimmtes „Ich“, Person und Individuum
sein. Die Rede von einem „reinen Ich“ oder „reiner Personalität“ kann
deshalb zuletzt nur Resultat einer Abstraktion von den das Individuum
oder die Person konstituierenden Bedingungen sein.51 Eben damit wird
das Individuum aber gerade verfehlt.
Wir können also festhalten: Vernunft bzw. Spontaneität sind für Jaco-
bi keine isolierbaren Entitäten oder Vermögen, sondern wirkende Kräf-
te, Manifestation der besonderen Art menschlicher Lebendigkeit. Reine
Vernunft, die kein Abstraktum ist, müsste absolut selbständig sein, in ih-
ren Vollzügen nicht bedingt durch Anderes ihrer selbst. Gerade das ist
nicht der Fall bei der menschlichen, endlichen Vernunft. Menschliche
Vernunft und Personbewusstsein sind „nur geliehen, von Andern ge-
nommen, ein gebrochener Stral des transcendentalen Lichts, des allein
Lebendigen.“52 Aus der Perspektive des endlichen Menschen wäre eine
absolute oder reine Vernunft zugleich ein Nichts von Allem.53 Kants rei-

was ausser mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick [...]. Keine Vorstellung, kein
Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung. Nichts tritt in der Seele zwischen die
Wahrnehmung des Würklichen ausser ihr und des Würklichen in ihr. Vorstellungen sind
noch nicht; sie erscheinen erst hinten nach, als Schatten der Dinge, welche gegenwärtig
waren.“ (DH1 JW 2,1, 37.)
48
DH1 JW 2,1, 86.
49
DH1 JW 2,1, 86f.
50
DH1 JW 2,1, 86. „Die vollkommenere Perception, und der höhere Grad des Bewußt-
seyns der damit verknüpft ist, darinn besteht das Wesentliche desjenigen Vorzugs unserer
Natur, den wir Vernunft heissen.“ (Ibid., 89.)
51
DH1 JW 2,1, 62.
52
Brief an Lavater vom 14.11.1787 JB 1,7, 11.
53
Auf die Notwendigkeit ihrer Voraussetzung werden wir später zurückkommen: „Es
muß, da überhaupt Vernunft vorhanden ist, auch eine reine Vernunft, eine Vollkommen-
heit des Lebens vorhanden seyn. Alle andre Vernunft ist von dieser nur Erscheinung oder
272 Personale Vernunft

ne Vernunft ist deshalb „ein Gedicht, oder ein bloßes Abstractum“.54 Ja-
cobi sieht nun sehr wohl, dass sich Zeitanschauung, Verstandesbegriffe
und Selbstbewusstsein bei Kant wechselseitig bedingen.55 Da aber trans-
zendentale Einheit der Apperzeption als Spontaneität und Sinnlichkeit
als Rezeptivität heterogene, voneinander isolierbare Elemente und nicht
Momente einer unmittelbaren Einheit sind, können sie sich nicht wech-
selseitig bestimmen. Weil diese Momente nach Jacobi eine ursprüngliche,
unmittelbare Einheit bilden, ist die Annahme eines reinen Selbstbewusst-
seins sinnlos und damit entfällt die Unterscheidung zwischen reinem
und bedingten Selbstbewusstsein. Die Konzeption eines reinen Bewusst-
seins ist vielmehr nur das hypostasierte Reflexionsprodukt eines Denk-
prozesses, der von den Bedingungen des menschlichen Bewusstseins und
dem Abstraktionsprozess selbst abstrahiert.56
Hermeneutisch ergeben sich für unsere Analyse des Selbstbewusst-
seins und seiner Momente als einer unmittelbaren Einheit nun aber ge-
wisse Probleme. Zum einen bestimmt Jacobi an mehreren Stellen seines
Werks den Begriff, der auf Allgemeines geht, als Gegensatz der An-
schauung, die immer Einzelnes erfasst: „Jede Anschg ist Vstllg eines ein-
zelnen Wesens, u dadurch dem Begriffe entgegengesetzt“. 57 Verstand
bzw. Vernunft gelten denn auch mitunter als „das bloße Vermögen Ver-
hältnisse deutlich wahrzunehmen, d. i. den Satz der Identität zu formiren
und darnach zu urtheilen“.58 Diesem Vermögen, damit es operieren (das
heißt Identitätsverhältnisse einsehen) kann, müssen nach Jacobi erst Ge-
genstände durch die Wahrnehmung gegeben sein. 59 Dieses 1787 noch
Vernunft genannte Vermögen bezeichnet Jacobi später als Verstand und
setzt diesem unter dem Namen der Vernunft ein scheinbar neues Ver-
mögen zur Wahrnehmung des Übersinnlichen entgegen.60 Von der Ter-
minologie abgesehen scheint dem Denken in beiden Fällen nur die
Funktion einer nachträglichen Reflexion auf eine Wahrnehmung zuzu-
kommen. Andererseits sind lebendige Anschauungen immer begrifflich,
Wiederschein. Und diese Vernunft ist gewiß im strengsten Sinne Einzig und Allein“ (All-
will2 JW 6,1, 228).
54
DH1 JW 2,1, 63. Die Idee einer reinen Vernunft verdankt sich nach Jacobi der Abs-
traktion von allem Inhalt.
55
Epistel JW 2,1, 138.
56
Epistel JW 2,1, 125.
57
Kladde X, 281 Radrizzani 1998, 48.
58
DH1 JW 2,1, 9.
59
„So lange ich mich besinne, hat mir das angeklebt, daß ich mit keinem Begriffe mich
behelfen konnte, dessen äusserer oder innerer Gegenstand mir nicht anschaulich wurde.
Objective Wahrheit und Würklichkeit, war in meinem Sinne eins, so wie deutliche Vor-
stellung des Würklichen und Erkenntniß.“ (DH1 JW 2,1, 39.)
60
Einl JW 2,1, 377.
Die Momente personaler Vernunft 273

lebendige Begriffe immer anschaulich.61 Eben hierin liegt auch die Lö-
sung des hermeneutischen Problems: Im Falle der nachträglichen Refle-
xion auf eine Anschauung oder einen Begriff sind Anschauung und Be-
griff bereits auseinandergetreten und nicht mehr lebendig. Dies geschieht
bereits im Urteilen, das ein Trennen des ursprünglich Vereinigten und
damit ein Akt der Reflexion ist.62 Insofern bezeichnet das, was Jacobi an
besagten Stellen Vernunft bzw. später Verstand nennt, eine geistige Ope-
ration, für die Anschauung und Begriff bereits auseinander getreten sind,
und damit eine Operation, die der ursprünglichen Einheit äußerlich
bleiben muss. Die reflektierende Trennung ist für Jacobi das Wesen der
spekulativen Aufklärung im Sinne Spinozas und Kants. Diese von Jacobi
auch als symbolisch bezeichnete Erkenntnisform ist zu unterscheiden
von der ursprünglich lebendigen Erkenntnis. 63 Erstere achtet „nicht
mehr auf die eigentlichen Gegenstände“.64 Ihr Resultat ist die Unterord-
nung des Urbilds (der ursprünglichen Wahrnehmung) unter das Abbild
(den Reflexionsbegriff).65 In Kants unterschiedlichen Reinheiten mani-
festiert sich deshalb für Jacobi die spekulative Aufklärung, die die Mo-
mente der unmittelbaren Einheit des Selbstbewusstseins als reine Sinn-
lichkeit, reiner Verstand und reine Vernunft voneinander isoliert.66

II. Die Interpersonalität der Vernunft

Wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass Spontaneität und Rezep-


tivität, Empfindung und Begriff, Gegenstandsbezug und Selbstbezug etc.
bei Jacobi nur Momente einer unmittelbaren, individuellen Einheit bil-
den. Seine Idee, dass Begriffe Resultat einer kreativen Bildung des indi-

61
JB 1,8, 153.
62
Einl JW 2,1, 426. Auch diese Trennung ist jedoch in gewissem Sinne notwendig. So
macht erst sie die klare Unterscheidung des sinnlich Gegebenen vom übersinnlich Gege-
benen möglich (ibid., 401).
63
Cachet JW 4,1, 369. Auch das naturwissenschaftliches Wissen ist Reflexion (GD JW
3, 96) oder symbolische Erkenntnis der Natur und als solche völlig legitim.
64
Cachet JW 4,1, 370.
65
Einl JW 2,1, 379; 404f.; Brief an Dohm vom 4.5.1790 JB 1,8, 391. Damit rückt die
Frage ins Zentrum, wie die ursprüngliche, unmittelbare Einheit wiederhergestellt werden
kann. Auch die wiederhergestellte Einheit ist wiederum nur in einem „von der Vernunft
erleuchteten Verstande und Willen möglich“, weil kein Bewusstsein ohne Verstand mög-
lich ist (Einl JW 2,1, 378). Vgl. hierzu ausführlich: Schick 2006.
66
GD JW 3, 27. Nur weil Wahrnehmung schon Einheit von Begriff und Anschauung
ist und damit kognitiven Charakter hat, kann Jacobi die unmittelbare Wahrnehmung als
„Wissen ohne Beweise“ bezeichnen, das dem reflexiven „Wissen aus Beweisen“ vorher-
geht (Einl JW 2,1, 375).
274 Personale Vernunft

viduellen menschlichen Geistes sind, erschwert jedoch das Verständnis


davon, wie unterschiedliche Menschen einander verstehen können. Wie
können wir in unserem Sprechen, Handeln und Erkennen eine gemein-
same Welt teilen, wenn die Welt, wie wir sie wahrnehmen, durch schein-
bar private Begriffe konstituiert ist? Wie ist also nicht nur ein weltbür-
gerlicher, sondern überhaupt ein zwischenmenschlicher Diskurs mög-
lich? Darin ist dann die Frage impliziert: Wie ist für Jacobi ein
öffentlicher Aufklärungsdiskurs möglich?
In seinem Personbewusstsein ist das Individuum sich seiner selbst in
seiner vernünftigen Freiheit bewusst. Für Jacobi kann man sich seiner
eigenen Freiheit aber nur in der Anerkennung anderer freier Individuen
bewusst sein. Deshalb setzt das Selbstbewusstsein einer Person voraus,
dass diese sich eines Du als personalem Gegenüber bewusst ist. Das be-
deutet, dass Interpersonalität keine sekundäre Relation ist, die an einem
bereits konstituierten Personbewusstsein auftritt, sondern dass die Per-
son erst durch diese Relation konstituiert wird. Dies ist eine der frühes-
ten (1775) und originellsten Einsichten Jacobis.67 Der menschliche Geist
erkennt sich selbst erst als eine Person, indem er sich selbst von einem
Du als personalem Gegenüber unterscheidet. 68 Die das Personbe-
wusstsein konstituierende Ich-Du-Struktur tritt unmittelbar mit dem
Bewusstsein der Aktivität und Passivität des menschlichen Bewusstseins
ein: In seiner Rezeptivität erfährt sich der menschliche Geist als ein et-
was, auf das eingewirkt wird. In seiner Spontaneität erfährt sich der
menschliche Geist als ein handelndes Bewusstsein, das seine Begriffe frei
hervorbringt. Sein Personbewusstsein ist insofern bereits ein bestimmtes
Bewusstsein seiner selbst, nämlich seiner selbst als freier Ursache. Dieses
Bewusstsein ist für Jacobi jedoch nur durch die Relation zu anderen frei-
en Wesen möglich. Das personale Selbstbewusstsein, das konstitutives
Moment der unmittelbaren Einheit von Rezeptivität und Aktivität ist,
impliziert deshalb zugleich das Bewusstsein eines Du. Ansonsten würde
es sich selbst im Selbstbewusstsein gar nicht als es selbst – nämlich als
freie Ursache – wahrnehmen, sondern als etwas anderes, dem dann in
Auseinandersetzung mit anderen Subjekten noch die Eigenschaft zukä-
me, freie Ursache zu sein. Wahres Selbstbewusstsein ist jedoch Bewusst-

67
JB 1,2, 27f. Vgl. außerdem: JB 1,2, 381f.; JB 1,11, 241; DH1 JW 2,1, 85; 99; DH2 JW
2,1, 95; JaF JW 2,1, 194; Einl JW 2,1, 393; Kunstgarten JW 7,1, 125f.; 179; Allwill JW 6,1,
135f.; FB WW VI, 169; 177. Hammacher bezeichnet dies in Anlehnung an Buber als das
„dialogische Prinzip“ der jacobischen Philosophie (Hammacher 1969, 38).
68
„[O]hne Du, ist das Ich unmöglich“ (Spin1 JW 1,1, 116). „[I]n demselben Maaße wie
das Du deutlicher wird, wird auch das Ich deutlicher. – Es entsteht Begriff, Wort, Per-
son.“ (DH1 JW 2,1, 86.)
Die Momente personaler Vernunft 275

sein seiner selbst als freie, spontane und vernünftige Ursache oder seiner
selbst als Person (persönliche Vernunft). Dieses Selbst, das zugleich
Empfindung seines Selbst und seines Andern ist und nicht reine Subjek-
tivität, ist nach Jacobi Grund allen Erkennens und Handelns.69
Für Jacobi besteht das Problem von Personalität und Interpersonalität
also nicht darin, wie wir vom Bewusstsein unseres eigenen Selbst (= Per-
son) zum Bewusstsein anderer Personen außer uns gelangen, vielmehr ist
unser Selbst (das ja nichts anderes ist als Personbewusstsein) gleich ur-
sprünglich mit unserem Bewusstsein von anderen Personen. 70 Der
scheinbar notwendige Ausgang von der ersten Person ist dagegen nicht
die selbstevidente Wahrheit, für die er sich hält, sondern ein historisch
übernommenes Vorurteil, das sich nicht zuletzt in der Grammatik euro-
päischer Sprachen manifestiert, die die Bildung der anderen Personen
nach der ersten Person bestimmt. Die Grammatik der semitischen Spra-
chen, bei denen die dritte Person die Bildung der übrigen bestimmt,
drückt hingegen die „gewisse Wahrheit“ aus, „daß bey allen endlichen
Naturen das Er oder Es und das Du vor dem Ich gesetzt werden muß“.71
Der Gedanke des Selbst oder das Selbstbewusstsein ist also nicht als
reine und unterschiedslose Identität zu denken, sondern als eine unmit-
telbare Einheit von Selbstbezug und Bezug auf ein personales Gegen-
über. 72 In seinem Personbewusstsein ist dem Individuum deshalb zu-
gleich das Bewusstsein seines nicht-Absolutseins mitgegeben. Das einge-
schränkte Selbstsein des Menschen ist auf Mitsein gegründet. 73
Andererseits ist ihm ein Bewusstsein seiner Selbständigkeit gegeben, weil
sein Selbst nicht durch reines Mitsein vermittelt sein kann, sondern Mit-
sein das Selbstsein der Mitseienden voraussetzt.
Diesen Gedanken entwickelt Jacobi systematisch in Auseinanderset-
zung mit Kants reinem Ich. Dieses ist weder Selbst noch Bewusstsein, da
beides eine Differenz (eine Antithesis) impliziert, die durch Kants Ich-
Konzeption nicht erklärt wird.74 Grundlegend ist dabei Jacobis bereits
skizzierte Einsicht, dass Bewusstsein immer schon eine Einheit von The-

69
Schlosser JW 5,1, 233.
70
„[A]uch bey der allerersten und einfachsten Wahrnehmung, [müssen] das Ich und
das Du, inneres Bewußtseyn und äusserlicher Gegenstand, sogleich in der Seele da seyn
[…]; beydes in demselben Nu, demselben untheilbaren Augenblicke, ohne vor und nach“
(DH1 JW 2,1, 38).
71
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121. „Ich gehe, wie die Morgenländer in ih-
ren Conjugationen von der dritten, nicht von der ersten Person aus“ (Spin2 JW 1,1, 157).
72
„Das Thier hat ein Selbst, kann aber nicht sagen: Ich selbst, weil es nicht sagen kann:
Ich – ein – Anderer.“ (FB WW VI, 169.)
73
GD JW 3, 27f.
74
GD JW 3, 14f.
276 Personale Vernunft

sis, Antithesis und Synthesis sein muss, da ein reines Bewusstsein nie-
mals von seiner reinen Unbestimmtheit differenzloser Identität zur Be-
stimmtheit übergehen könnte.75 Anders als Kant denkt Jacobi deshalb,
dass im menschlichen Personbewusstsein Selbst und Bezug auf das An-
dere seiner Selbst eine unmittelbare Einheit bilden. Mit dem gleichur-
sprünglichen Bezug auf das Du ist das Selbst auf ein „Gleichartiges aber
Anderes, d. i. ein ihm zugleich Nicht-gleiches und Doch-gleiches, ein
von ihm verschiedenes und von ihm doch nicht verschiedenes Wesen“
bezogen.76 Dieser Bezug tritt nicht ex post an die schon konstituierte
Identität des Selbst heran. Selbstbezug und Fremdbezug würden sonst
nie eine echte Einheit und Identität eingehen. Das eine Selbst würde auf-
hören Identität zu sein und zu einem bloßen Aggregat zweier realdis-
tinkter Akte.77 Deshalb können Identität und Andersheit „nur in einan-
der und zugleich gedacht werden [...], als forma substantialis alles Den-
kens und Seyns“.78
Wir haben bisher gesehen, dass Personbewusstsein für Jacobi eine
Gleichursprünglichkeit von Selbstbezug und Du-Bezug, von Identitäts-
und Differenzbewusstsein impliziert: Für Jacobi sind hiermit aber von
Anfang an (anders als für Kant) nicht primär logische Verhältnisse ge-
meint. Deshalb begründet Jacobi den Gedanken von der Notwendigkeit
der Gleichursprünglichkeit von Ich und Du auch nicht nur über eine
Strukturanalyse des Selbstbewusstseins. Menschliches Personbe-
wusstsein setzt nämlich nicht nur logisch die Unterscheidung von einem
Du voraus, um sich seiner selbst als Selbst bewusst zu werden. Vielmehr
kann das konkrete Individuum auch existentiell nur im und durch das
Zusammenleben mit einem Du Person werden. Dieses Bewusstsein exis-
tentieller Abhängigkeit vom Du ist konstitutiv für das menschliche Per-
sonbewusstsein:

Er fühlet, erfährt ursprünglich, und kann es auch erkennen, daß seine Selbstän-
digkeit wie seine Abhängigkeit eingeschränkt ist; daß er eben so nothwendig Ei-
ner nur seyn kann unter Anderen, unmöglich ein Erster und Einziger; als er, um

75
Krit JW 2,1, 294f.
76
Krit JW 2,1, 309.
77
Dies ist bei Kant der Fall: „Ich habe nun achtzehn Jahre lang zu begreifen gesucht,
und es ist mir mit jedem Jahre nur unbegreiflicher geworden, wie ihr ein Mannichfaltiges,
zu welchem die Einheit; und eine Einheit, zu welcher das Mannichfaltige – nur hinzu-
kommt, euch vorzustellen, oder diese reine Begebenheit auf irgend eine Weise zu denken
vermögt.“ (Krit JW 2,1, 289.)
78
Krit JW 2,1, 289.
Die Momente personaler Vernunft 277

zu seyn Einer unter Anderen, nothwendig seyn muß Einer und kein Anderer;
ein selbständiges, ein wirkliches, ein persönliches Wesen.79

Denn das Personbewusstsein Jacobis ist nicht nur theoretisches Bewusst-


sein seiner selbst, sondern Bewusstsein seiner selbst als einer handelnden
Person.80 Wie wir die eigene körperliche Gestalt nur in einer anderen
körperlichen Gestalt als Reflexion wahrnehmen können, so können wir
auch uns selbst nur in der Interaktion mit anderen als Person erfahren.
Wir erfahren uns selbst als Handelnde (das heißt als Ursache), indem wir
uns als gemeinschaftlich Handelnde erfahren, deren Willenssphären sich
wechselseitig begrenzen und bedingen. Wir werden uns unserer Freiheit
nur durch die Einschränkung unserer Freiheit durch das freie Handeln
Anderer auf uns bewusst. Dass das Selbst sich nur im Anderen als Selbst
erfahren kann, zeigt sich für Jacobi nicht zuletzt an „Verfallsformen“ des
Wunsches nach Anerkennung wie der Eitelkeit oder der Affektiertheit.
Das Bewusstsein seiner eigenen Person ist wesentlich von dem Bewusst-
sein unserer Person von Anderen abhängig.81 Der Andere ist ein bren-
nender „Spiegel, der unsere Gestalt aus ihnen in uns zurückwirft“.82
Kants Trennung der Maxime des Selbstdenkens und der erweiterten
Denkungsart ist deshalb aus Jacobis Position eine unsinnige. Das Indivi-
duum ist, denkt und handelt nicht erst als isoliertes Subjekt und fragt
dann nach der Geltung für andere, sondern ist, denkt und handelt immer
schon eingebunden in eine Gemeinschaft personaler Individuen. Damit
können wir auch die Frage beantworten, warum verschiedene Individu-
en eine gemeinsame Begriffswelt teilen und wie für Jacobi ein öffentli-
cher Aufklärungsdiskurs möglich ist:
Da die menschliche Begriffsbildung Selbstbewusstsein voraussetzt
und dieses sich nur in der Interaktion mit anderen Individuen entwi-
ckeln kann, setzt Begriffsbildung offensichtlich eine Gemeinschaft per-
sonaler Individuen voraus, in die der Einzelne eingebunden ist. Jedes In-
dividuum ist so nach Jacobi in ein gemeinschaftlich geteiltes „Netz aus
Überzeugungen“ hineingeboren, das heißt in ein System von fundamen-
talen Begriffen, Kategorien, Urteilen, Sprache, Sittlichkeit, Religion und
Gesetzen. 83 Dieses Netz bestimmt bereits die anscheinend einfachsten
79
GD JW 3, 27f.
80
Hier sei noch einmal auf die erhellenden Studien Sandkaulens verwiesen, die dieses
Thema behandeln.
81
Kunstgarten JW 7,1, 126.
82
Brief an ? von 1775 JB 1,2, 35.
83
Jacobi bezeichnet diese Überzeugungen auch als „Meinungen“. Der Begriff ist dabei
sehr weit gefasst und umfasst theoretische Überzeugungen, Urteile, Normen sowie
„Formen der Religion und der Gesellschaft“ (Schlosser JW 5,1, 237). Jacobis Verwendung
278 Personale Vernunft

Wahrnehmungen eines Individuums. Die Überzeugungen, Normen,


Praktiken und Urteile, aus denen das Netz gewoben ist, sind als Produkt
der Sozialisation des Individuums in gewissem Sinne eine zweite Natur
für das Individuum.84 Dieses Netz ist einerseits konkreter, andererseits
nicht so universell und unhintergehbar wie die transzendentalen Rah-
menbedingungen Kants. Sie konstituieren nicht nur dasjenige, was dem
Individuum als Natur erscheint, sondern auch die objektive Wirklichkeit
des Individuums und die Weise, in der sich das Individuum selbst wahr-
nimmt.85 Dieses Netz meint nicht einzelne Fundamentalsätze, sondern
eher das ganze Medium oder System unserer Urteils- und Handlungs-
praxis.86 Daher stellt Jacobi auch in seinem Streit mit Mendelssohn fest:

Lieber Mendelssohn, wir alle werden im Glauben gebohren, und müssen im


Glauben bleiben, wie wir alle in Gesellschaft gebohren werden, und in Gesell-
schaft bleiben müssen: Totum parte prius esse necesse est.87

Es gibt nach Jacobi also keinen archimedischen Standpunkt der reinen


Vernunft, Subjektivität oder Objektivität, von dem aus wir unsere Über-
zeugungen einer vorurteilslosen Kritik oder Aufklärung unterwerfen
könnten. Genauso wenig gibt es reines Selbstdenken. Denn alle unsere
rationalen Begriffe und Ideen sind immer schon in ein Netz von Über-
zeugungen eingebunden, die wir voraussetzen, wenn wir einen Begriff

ausgerechnet dieses Begriffs lässt sich als Kritik an Kant verstehen, der Meinungen als nur
subjektiv begründete Überzeugung kritisiert. Für Jacobi hingegen können wir uns von
diesen Meinungen nicht vollständig distanzieren, sondern sie herrschen über uns. Damit
greift Jacobi ein Argument des Aufklärungskritikers Burke auf, nach dem all unser politi-
sches Denken immer schon von Vorurteilen und Voraussetzungen ausgeht, die wir nicht
wiederum selbst einer voraussetzungslosen Kritik unterwerfen können. Diese Vorurteile
seien notwendig für das Funktionieren jeder Gemeinschaft (Fleischacker 2013, 47; Burke
2014, 90). Zu Jacobis Haltung zu Burke vgl. u. a. JB 1,9, 13f.; 29.
84
Für Jacobi ist so die Historizität des Menschen Bedingung der Möglichkeit dafür,
dass er eine hexis oder zweite Natur haben kann: „Haltung hat ein historisches Wesen
allein“ (JB 1,9, 129).
85
Deswegen sind diese Überzeugungen entgegen Hegels Kritik in Glauben und Wissen
nach Jacobi für das Individuum durchaus heilig (FB WW VI, 200f.).
86
Ganz ähnlich: Wittgenstein 1984, 149f.
87
Spin1 JW 1,1, 115; vgl. auch: Etwas JW 4,1, 338. Damit antizipiert Jacobi einen Ge-
danken Wittgensteins: „Alle Prüfung, alles Bekräftigen und Entkräften einer Annahme
geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder
weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern
es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr
der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente.“ (Wittgenstein 1984, 141; vgl.
153.)
Die Momente personaler Vernunft 279

oder eine Überzeugung kritisieren.88 Selbst Überzeugungen, die uns als


die basalsten Prinzipien der Rationalität erscheinen, sind nur
„ungeschikt und verkehrt genug, aber doch nicht ganz unphilosophisch
[ausgedrückt], ursprüngliche, allgemeine, unüberwindliche Vorurthei-
le“.89 Ohne diese Vorurteile wären wir weder in der Lage überhaupt zu
denken noch zu handeln. So müssen Handlungen durch Grundsätze ge-
leitet sein und können nicht durch individuelle-unmittelbare Gefühle be-
stimmt sein, wie die Helden des Sturm und Drang glauben, die sich über
die unmittelbare Subjektivität ihrer Gefühle betrügen. 90 Die Anti-
Helden aus Jacobis Romanen, Woldemar und Allwill, die die Legitimität
der Gesellschaft und ihrer Sitten negieren, 91 und stattdessen ihre ver-
meintlich reine Individualität affirmieren, sind deshalb von vornherein
zum Scheitern verurteilt, weil sie Unmögliches intendieren.92 Ihr Schick-
sal zeigt uns, dass individuelle Personalität ohne eine gesellschaftlich
konstituierte objektive Welt unmöglich ist.93 Jeder individuelle Geist ist
konstituiert in der unmittelbaren Einheit von Spontaneität, Wahrneh-
mung und Selbsterkenntnis. Die Möglichkeit dieser Einheit setzt bereits
die Relation zu anderen Individuen und einer objektiven Sphäre voraus,
innerhalb derer diese Individuen eine Gemeinschaft bilden können. Wie
die von den Stürmern und Drängern isolierte und damit abstrakte Indi-
vidualität immer schon durch die Sphäre des objektiven Geistes vermit-
telt sein muss, so gilt das gleiche für Kants isolierte Allgemeinheit der
Erkenntnis und Moralität. Die konkrete „Beschaffenheit der menschli-
chen Vernunft“ im Individuum ist immer auch „durch die Zeitfolge“94
bzw. den „Lauf der Welt“ bestimmt und nicht nur durch „die Vernunft
an sich“.95 Die menschliche Vernunft ist immer historisch konkretisiert
und dadurch bedingt.96 Der kategorische Imperativ als universelle Regel

88
Eine Verwandtschaft dieser Analyse Jacobis zu Wittgensteins relativer Transzenden-
talität bestimmter Lebensformen in Über Gewißheit arbeitet Gabriel 2004 heraus.
89
ZEeD JW 5,1, 202.
90
ZEeD JW 5,1, 202; vgl. hierzu auch JB 1,9, 217; 352 sowie Hof 1970, 51f.
91
Für Allwill etwa ist es „ein Lumpenkram um alle gelernte Religionen und alle gelern-
te Moral“ (Allwill2 JW 6,1, 201).
92
„Alle Vorurtheile ablegen, heißt alle Grundsätze ablegen. Wer keine Grundsätze hat,
wird theoretisch und praktisch durch Einfälle regiert.“ (FB WW VI, 134.)
93
Dagegen thematisieren Jacobis Romane nach Frank die „Überlegenheit der natürli-
chen Sittlichkeit gegenüber der öffentlichen Moralität“ (Frank 1998, 74).
94
DH1 JW 2,1, 94.
95
DH1 JW 2,1, 93.
96
Wenn nach Hegel der kategorische Imperativ deshalb leer ist, weil sich aus ihm we-
der konkrete Pflichten entwickeln noch konkrete Maximen als pflichtwidrig zurückwei-
sen lassen (Allison 1996, 143; Sedgwick 2012, 29), dann findet sich diese Kritik bereits bei
280 Personale Vernunft

bleibt leer, wenn er nicht durch die Sphäre der Gesellschaft vermittelt
und durch die für sie konstitutive Sittlichkeit konkretisiert ist. Gleiches
gilt, wenn wir die freie Bestimmung in unserem Handeln auf die aufklä-
rerische Idee der Vollkommenheit gründen, nach der wir etwas werden
wollen, das wir noch nicht sind. Bestimmtheit gewinnen diese Ideen erst
in Gesellschaft, in deren Sittlichkeit diese Unbestimmtheit konkretisiert
wird.
Auch wenn also, wie wir sahen, das Streben der menschlichen Freiheit
sich bei Jacobi immer schon in unbestimmter Weise auf das Gute richtet,
muss dieses Streben auf Grund seiner Unbestimmtheit die bestimmte
Form des Geistes des jeweiligen Zeitalters annehmen oder durch diesen
konkretisiert sein. 97 Diese objektive Sphäre leistet gewissermaßen die
Vermittlung des Allgemeinen (das Gute) mit dem Individuellen, zwi-
schen der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Teilhabe am Abso-
luten.98 Indem Kant die Notwendigkeit dieser Vermittlungsleistung im
Bereich der Sittlichkeit und Erkenntnis negiert, bleiben seine Diskursre-
geln für Erkenntnis und Moral leere Formalismen. Gleiches gilt für seine
Aufklärungsmaximen: Das Denken des Einzelnen ist immer schon durch
und in einer objektiven Sphäre konkretisiert. Diese ist für Jacobi nicht
der Gegensatz zur individuellen Freiheit, sondern das notwendige Medi-
um, in dem sich die Freiheit des Menschen allein verwirklichen kann.
Losgelöst von der individuellen Freiheit wird sie allerdings zum toten
Buchstaben leerer Tradition.99

Jacobi. Der mit Hegel assoziierte Vorwurf des leeren Formalismus ist so eigentlich jacobi-
schen Ursprungs.
97
JB 1,9, 11.
98
Vgl. hierzu auch Schumacher 2003, 213.
99
Auch dies zeigt sich etwa in der Konstellation des Woldemar: Zum bloßen Buchsta-
ben geworden schränken Sitten und Gebräuche die Glieder der Gesellschaft ein und ver-
üben am Individuum „eine Art von Gewaltthätigkeit“ (Kunstgarten JW 7,1, 121).
Historische Aufklärung 281

D. Historische Aufklärung

Für Kant ist öffentliche Aufklärung nur unter der Bedingung nicht-
kontingenter, universeller Rahmenbedingungen möglich. Die vorigen
Ausführungen haben nun gezeigt, dass diese Voraussetzung universell
geltender, transzendentaler Strukturen für Jacobi ein Ungedanke ist. Für
ihn ist die menschliche Vernunft nämlich immer schon durch die kon-
kret-historischen Beziehungen des Einzelnen zu anderen Personen, sei-
ner Umwelt und objektiven sozialen Strukturen konstituiert. Ohne diese
Beziehungen ist nicht nur keine bestimmte, sondern überhaupt keine
menschliche Vernunft möglich.1 Deshalb sind weder Erkenntnisformen
noch die Prinzipien unserer Moral jemals rein a priori, sondern immer
durch eine vorgängige gesellschaftliche Praxis bedingt. Wir haben auch
gesehen, dass diese Praxis nicht im Gegensatz zur individuellen Selbstbe-
stimmung steht, sondern diese erst ermöglicht. So ist sie auch nicht der
Gegensatz aufklärerischen Selbstdenkens, sondern das Medium, inner-
halb dessen sich Selbstdenken und Aufklärung jeweils vollziehen müs-
sen. Vor diesem Hintergrund wollen wir nun Jacobis andere Aufklärung
analysieren: Zunächst betrachten wir dazu Jacobis Verhältnisbestim-
mung des Geistes der Zeiten zum individuellen Denken (I) und an-
schließend die sich hieraus ergebende Möglichkeit historischer Aufklä-
rung (II).

I. Der Geist der Zeiten

Wir haben gesehen, dass für Jacobi Vernunft identisch mit Personsein ist
und wir zu unseren Überzeugungen nicht in einem äußerlichen Verhält-
nis stehen, weil diese unser Personsein und damit auch unsere Vernunft
bestimmen.2 Sie sind konstitutive Elemente unseres personalen Selbst-
verständnisses. Damit wird Kants Unterscheidung zwischen allgemeinen
und bloß individuellen Geltungen in gewisser Weise obsolet. Denn All-
gemeinheit ist keine vom Individuum unabhängige Kategorie und umge-
kehrt, sondern Allgemeinheit und Individuum werden wechselseitig
durcheinander bestimmt. Das Objekt einer Erkenntnis wird vermittelt
über das konkrete Netz aus Überzeugungen erst durch das Individuum
als so bestimmtes Objekt konstituiert. Eine Objektivität „ungeachtet der

1
ZEeD JW 5,1, 206.
2
ZEeD JW 5,1, 206.
282 Personale Vernunft

Verschiedenheit der Subjekte unter einander“,3 die als allgemeingültiger


Maßstab der Wahrheit gelten könnte, ist eine contradictio in adjecto.
Deshalb verteidigt Jacobi gegen Kant auch die Macht der Meinung, die
für Kant nur „ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzu-
reichendes Fürwahrhalten“ ist.4 Müssen die Grundsätze der Sittlichkeit
für Kant gewusst werden, da man wissen muss, ob eine Handlung er-
laubt ist, so werden für Jacobi die Prinzipien des Handelns im Schoß der
Meinung empfangen. Hat das Meinen für Kant in Urteilen der Vernunft
keinen Ort, so ist für Jacobi die Vernunft selbst durch Meinung konsti-
tuiert.5
Wären Meinungen so wenig wirkmächtig, wie Kant dies darstellt,
dann ließe sich die Macht der Meinung über den Menschen gar nicht
verstehen. Weil aber dem Menschen seine Meinung seine Vernunft,
Wahrheit und sein persönliches Leben ist, „gebietet [sie] mit einem
Nachdrucke, der allen Widerstand vereitelt“.6 Deshalb wirken Meinun-
gen nach Jacobi häufig stärker auf uns als die bündigsten Beweise. Jeder
Mensch ist „der unwiderstehlichen Gewalt trüglicher Meinungen unter-
worfen“:7

Hierin: daß jeder Mensch in dem was ihm Wahrheit ist sein Leben hat, hat die
Gewalt der Meynung ihren Ursprung.8

Eine vollständig „objektive“ Beurteilung seiner Begriffe und seines


Überzeugungssystems ist für den Menschen deshalb unmöglich, weil er
dazu aus seiner Weise, die Wirklichkeit und sich selbst wahrzunehmen,
und aus seiner Persönlichkeit und Vernunft heraustreten müsste.9 Weil
all ihre Begriffe ihren Ursprung in der Persönlichkeit des Menschen ha-

3
KrV B 849/A 821.
4
KrV B 850/A 822.
5
Jacobi muss also nicht erst durch Hegel darüber belehrt werden, „daß das Allgemeine
nicht im unmittelbaren Wissen ist, sondern eine Folge ist der Bildung, der Erziehung, der
Offenbarung des Menschengeschlechts.“ (VGPh SW 20, 326.)
6
ZEeD JW 5,1, 201.
7
GD JW 3, 59.
8
ZEeD JW 5,1, 203.
9
Spin1 JW 1,1, 131f. Da niemand aus den Kategorien, in denen er die Wirklichkeit ver-
steht, heraustreten kann, werden auch die Überzeugungen und Begriffe anderer niemals
von einem reinen Standpunkt aus, sondern immer nur durch das eigene Begriffssystem
verstanden. Wie Herder antizipiert Jacobi also die Kritik MacIntyres und anderer an der
Idee einer leeren Vernunft und Subjektivität, die von der Aufklärung an die Stelle des
konkreten Individuums gesetzt wird. Deren Konkretion ist nämlich nicht nur akzidentell,
sondern konstitutiv.
Historische Aufklärung 283

ben, ist auch keine absolute Unvernunft möglich.10 Die Vernunft ist, wie
wir sahen, für Jacobi keine reine Entität, sondern bestimmt durch ein
Netz von Überzeugungen. Personsein ist keine leere Einheit, sondern
immer schon bestimmt durch Begriffe, Urteile und ein grundlegendes
Normverständnis. Gegenüber dieser Wirkmächtigkeit für das personale
Selbstverständnis ist nach Jacobi die Wahrheit dieser Überzeugungen se-
kundär:

Wahr oder falsch, der Nachdruck ist derselbe, wenn die Meynung nur lebendig
ist; denn in unserer Meynung, sie sey welche sie wolle, erkennen wir uns allein,
sie allein macht uns unser Daseyn wahr und wirklich.11

Das heißt, unsere gesellschaftlich vermittelten Vorurteile, die uns zu ei-


ner zweiten Natur geworden sind, können durch bloße Räsonnements
gar nicht überwunden werden. Über „dem Raisoniren und Imaginiren“
darf man deshalb nicht „Natur, Geschichte und Erfahrung aus der Acht“
lassen.12 „Auf diese Erde gesetzt“ 13 kann der Mensch sich weder selbst
erschaffen noch unterrichten, er kann nichts a priori wissen und tun,
sondern setzt in seinem Handeln und Erkennen immer die Einbindung
in eine historisch vermittelte Praxis voraus.14 Die individuelle Denkungs-
art eines Einzelnen entspringt immer aus seiner Geschichte. Aufklärung
kann deshalb nur vom jeweiligen Geist einer Zeit ausgehen und muss
„von dem Geiste ihrer Zeit durchdrungen“ sein, 15 sonst kann sie ihn
nicht aufklären. In der Tat glaubt sich Jacobi ja vom Geist seiner Zeit
(Spinozismus, Kantianismus) ganz durchdrungen, und versucht ihn als
privilegierter Ketzer durch Reflexion in sich selbst zu überwinden.
Wir haben bisher festgestellt: Selbstdenken kann sich nur im Medium
gesellschaftlicher Praxis vollziehen. Also muss vor der Möglichkeit aller
Aufklärung zunächst die Struktur dieser Praxis aufgeklärt werden. Of-

10
DH1 JW 2,1, 65.
11
ZEeD JW 5,1, 206. Vgl. auch WMB JW 1,1, 273: „Je lebhafter und ausführlicher die
Vorstellung von den Gründen unserer Meynung ist; je mehr unser Bewustseyn nur das
Bewustseyn unserer Einsichten geworden: desto größer wird unser Abscheu gegen alles
was sie zweifelhaft zu machen droht; denn unser Bewustseyn selbst, unsere ganze Exis-
tenz scheint dabey Gefahr zu laufen.“ „Mit Recht aber behaupten wir eifriger und nach-
drücklicher als Gut und Blut eine innere Ueberzeugung, die wir nicht aufgeben können,
ohne unsere Vernunft, unser persönliches Daseyn mit aufzugeben“ (GD JW 3, 60).
12
Jacobi am 28. 7. 1788 an Nicolai JW 5,1, 152. „Der Mensch wird durch Triebe, Lei-
denschaften, allgemeines Beyspiel u Meynungen geformt u regiert, nicht durch
Raisonement u Imagination a priori“ (JB 1,6, 270). Vgl. hierzu Jaeschke 2004, 214.
13
Spin1 JW 1,1, 130.
14
Spin1 JW 1,1, 132.
15
Spin1 JW 1,1, 133.
284 Personale Vernunft

fenbar im Anschluss an Herder, 16 nennt Jacobi die Essenz oder die


Summe eines spezifischen historischen Netzes von Überzeugungen den
„Geist der Zeiten“. Auf der einen Seite limitiert dieser Geist der Zeiten
die Art, in der ein Individuum seine Freiheit und seine Spontaneität ak-
tualisieren kann. Die Vernunft des Menschen wird wie seine konkrete
Freiheit durch die Geschichte gebildet. 17 Die Erscheinungen der Ver-
nunft und der menschlichen Freiheit entsprechen den Welterscheinun-
gen.18 Andererseits ist der Geist der Zeiten konstituiert durch die Frei-
heit einer Gemeinschaft von Individuen. Als solche ist er der Ausdruck
der freien Kreativität menschlicher Vernunft. Daher offenbart sich im
Geist der Zeiten die Aktualisierung menschlicher Freiheit. Diese Spon-
taneität, wie wir sahen, muss für Jacobi immer begleitet sein von Passivi-
tät und Selbstbewusstsein. In seinem Selbstbewusstsein ist der menschli-
che Geist sich seiner selbst als einer unbedingten Kraft bewusst und zur
gleichen Zeit als eine bedingte Kraft. Anders formuliert, der menschliche
Geist erfährt sich zur gleichen Zeit als unbedingt und bedingt. Also ist er
sich auch bewusst, dass er nicht das Absolute selbst ist – denn das Abso-
lute könnte auf keine Weise bedingt sein –, sondern nur an der Unbe-
dingtheit teilhat. Somit ist er sich im Selbstbewusstsein auch des Absolu-
ten selbst bewusst, von dem er abhängt. In seinem eigenen Selbstbe-
wusstsein und seiner Produktivität setzt der menschliche Geist also
unmittelbar das Absolute voraus. Somit ist der menschliche Geist für Ja-
cobi auch niemals vollständig autonom, sondern setzt das Absolute vo-
raus, an dem er in limitierter Weise Anteil hat. Der Ursprung der Kraft
des menschlichen Geistes ist das oder besser: der Absolute (hierzu später
ausführlich).
Dies zugestanden ist der Geist der Zeiten nicht nur Ausdruck und
Aktualisierung der Freiheit menschlicher Vernunft, sondern zur gleichen
Zeit eine Manifestation des Absoluten. Er ist das Absolute, das in die
Zeiten verhüllt ist.19 Daher kann die menschliche Vernunft nicht nur sich
selbst im Geist der Zeiten erkennen, sondern auch das Absolute in einer
limitierten Ausdrucksform. In diesem Sinne ist der Geist der Zeiten eine
Vermittlung zwischen dem Absoluten und der individuellen Vernunft,
da er das Rahmenwerk ist, das die Bedingungen bestimmt, unter denen
die individuelle Vernunft fähig ist, die Wahrheit zu erfassen und mora-
lisch zu handeln. Das bedeutet, dass für Jacobi die philosophische Rele-
vanz des Geistes der Zeiten nicht nur darin besteht, dass sie die Kreativi-
16
Vgl. hierzu Jacobis Brief an Kleuker vom 14.1.1791 JB 1,9, 12f.
17
DH1 JW 2,1, 94.
18
DH1 JW 2,1, 93.
19
ZEeD JW 5,1, 202.
Historische Aufklärung 285

tät und Freiheit der menschlichen Vernunft offenbart, sondern dass er


zugleich das Absolute in seinen unterschiedlichen Aktualisierungen of-
fenbart.20 Als spezifischer Ausdruck der Relation zwischen einer Gruppe
konkreter menschlicher Individuen, der Welt und dem Absoluten kann
kein Zeitgeist vollständig der Wahrheit, Freiheit und Vernunft entbeh-
ren.21 Wir würden die Natur des Geistes der Zeiten missverstehen, wenn
wir seine Limitation als Privation verstehen würden, da seine Grenzen
auf seiner konkreten Realisierung in der menschlichen Geschichte beru-
hen.
Jacobi denkt, dass die Geschichte des Geistes der Zeiten durch die
Vernunft geleitet wird, da die Entwicklung seiner historischen Verwirk-
lichungen unterlegt ist durch das Absolute. Der Geist nimmt Formen an,
die sich wieder selbst aufheben und zu Grunde gehen:

Der unsichtbare Geist, der einmal entwichen ist, wird in die verlassene Hülle nie
zurück kehren; er hatte sie ausgebraucht; im Gebrauch sie zerstört. Nachbilden
– ja, das können wir einigermaßen: aber was ist diese Nachbildung? – Eine hohle
Wachspuppe[.]22

Jacobi glaubt also, dass die Prinzipien der Geister der Zeiten durch die
absolute Vernunft abgeurteilt und geleitet werden, da die absolute Ver-
nunft nicht als blindes Schicksal wirksam ist, sondern eine notwendige
und vernünftige Geschichte regiert, in der das Absolute zum menschli-
chen Bewusstsein kommt.23 Die „unwandelbare objective Vernunft“ hält
„die subjective mit Gewalt noch immer so weit im Gleise, daß sie nicht
vollends umwerfen kann.“24 Die Geschichte hat dementsprechend einen
Sinn, den es als Manifestation und evolutive Realisierung absoluter Frei-
heit aufzuklären gilt.25

20
Cachet JW 4,1, 368f.
21
ZEeD JW 5,1, 217.
22
Woldemar3 JW 7,1, 298.
23
„Vorstellungsarten und herrschende Systeme – überall weniger Ursache als Wirkung
des Geistes der Zeit, den sie jedesmal nur offenbaren, darstellen; freylich auch entwickeln
und befördern – gehen auf und gehen unter vor dem unveränderlichen Geiste der Wahr-
heit, den sie weder leiten noch verführen können.“ (ZEeD JW 5,1, 199.)
24
DH1 JW 2,1, 94. „Die Vorsehung wird jeden ihrer Wege rechtfertigen, und die unter
Wahn und Dünkel fast erloschene Erkenntniß: daß Gottes Bild im Menschen, die einzige
Quelle aller Einsicht des Wahren, so wie aller Liebe des Guten sey, in ihrem vollen Glan-
ze wieder hervorgehen lassen, und nach so vielen zertrümmerten Formen der Menschheit,
diese Einzige Beste, unzerstörbar darstellen.“ (Spin1 JW 1,1, 136.)
25
Woldemar3 JW 7,1, 323.
286 Personale Vernunft

II. Hermeneutische Aufklärung

Aus kantischer Perspektive lassen sich mindestens zwei Einwände gegen


Jacobis Konzeption geltend machen: Zum einen überschreitet Jacobi of-
fensichtlich die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, wenn er aus dem
subjektiven Vernunftprinzip teleologischer Welt- und Geschichtsbe-
trachtung ein objektives Prinzip macht und dieses mit der absoluten
Vernunft Gottes identifiziert. Zum anderen, und dies ist eine praktische
Konsequenz aus dem ersten Problem, scheint Jacobi, der Spinoza Fata-
lismus vorwirft, seinerseits in einen historischen Fatalismus überzuge-
hen. Denn das Individuum scheint bei diesem Spiel der Zeitgeister und
der Realisierung von Freiheit und Vernunft nur zusehen zu können. Po-
sitiv gesprochen: Philosophie scheint nichts als der Geist eines Zeitalters
in Gedanken gefasst zu sein.26 Das Absolute wäre das einzige, überindi-
viduelle Subjekt der Aufklärung:

Also würden wir annehmen müssen, daß es der Lauf der Welt sey, der die je-
desmalige Beschaffenheit der menschlichen Vernunft bestimmt; und daß die je-
desmalige Beschaffenheit der menschlichen Vernunft nie durch die Vernunft an
sich bestimmt werde. In jeder Periode und an jedem Ort, wären die Menschen
also gerade nur so einsehend und vernünftig, als sie Gott an diesem Ort und an
dieser Zeit will seyn lassen, wenn sie gleich die Meynung von sich haben, daß sie
allemal und überall so einsehend oder so vernünftig seyn können, als es ihnen
gefällt.27

Jacobi behauptet nun aber nicht die Unmöglichkeit individueller Aufklä-


rung. Vielmehr ist erst auf Grundlage der Einsicht in die Macht des
Geistes der Zeiten sowie seines Ursprungs in der Freiheit und Personali-
tät des Menschen Aufklärung möglich. Die Möglichkeit von Aufklärung
ergibt sich schon daraus, dass der Mensch, anders als das Tier, nicht in
seine konkrete Umwelt eingeschlossen und durch seine spezifische Kon-
figuration seiner Sinne an diese Umwelt angepasst ist. Dem Menschen
fehlt die für die Tiere charakteristische Anpassung seiner gesamten Or-
ganisation, seiner Fähigkeiten und Vorstellungen für die spezifische Tä-
tigkeiten, die in seiner Umwelt erforderlich wären.28 Damit kann das In-
dividuum den Geist seiner Zeit transzendieren und diese Transzendie-
rung ist ein Akt individueller Aufklärung. Nur kann diese Aufklärung
keine reine oder nicht-situierte Aufklärung sein, sondern muss wie die
Vernunft geschichtlich sein:
26
Spin1 JW 1,1, 133.
27
DH1 JW 2,1, 93f.
28
Betrachtung JW 4,1, 14.
Historische Aufklärung 287

Ueberhaupt ist die Vernunft im Menschen nur dan erst wirklich practisch, wenn
ihre Forderungen die Natur der Vorurtheile angenommen haben, wenn sie mit
unserm Geschmack, mit unsern Neigungen einmahl gemeine Sache gemacht ha-
ben. Jedes verschiedene Zeitalter hat eine verschiedene Practische Vernunft.29

Lebendige Philosophie ist Geschichte, die Wahrheit einer Zeit in sich ge-
fasst. Sie erschafft ihren Gegenstand nicht, sondern entnimmt ihn der
Geschichte: Sie muss selbst geschichtlich sein, indem sie den Geist ihrer
jeweiligen Gegenwart in sich fasst.30 So nimmt Jacobis andere Aufklä-
rung ihren Ausgang vom Geist ihrer Zeit, der spinozistischen Aufklä-
rung.
Um wirkmächtig werden zu können, muss wahre Aufklärung zu-
nächst den positiven Wert der Meinungen und Vorurteile anerkennen.
Nicht nur Kant, sondern großen Teilen der Aufklärung gelten die Mei-
nungen und Vorurteile dagegen als bloßer Wahn. Wenn man aber die
Meinungen auf diese Weise trivialisiert, können sie gar nicht über ihre
Defizite aufgeklärt werden. Aufklärung, die dem herrschenden Zeitgeist
nur widerspricht, muss notwendig scheitern, da sie Natur, Geschichte
und Erfahrung ignoriert und sich diesen durch bloßes Raisonnieren ent-
gegenstellen zu können glaubt.31 Um wirkmächtig zu sein, muss Aufklä-
rung vielmehr den wahren Grund der Meinung offenlegen, nämlich dass
die Meinung nicht ein privativer Modus autonomer Erkenntnis und Mo-
ral ist, sondern uns den Zugang zu Wahrheit und Sittlichkeit erst ermög-
licht. 32 Gleichzeitig ist der Ursprung jeder Meinung, wie wir gesehen
haben, zunächst die lebendige Einheit von Wahrnehmung, Begriff,
Selbstbewusstsein, Bewusstsein des Du und des Absoluten:
Auf Grund dieses ihres Ursprungs können Meinungen auch nicht ab-
solut unwahr sein.33 Unwahrheit ist vielmehr Resultat der Trennung die-
ser ursprünglichen Einheit und der Verabsolutierung eines ihrer Mo-
mente, vornehmlich des begrifflichen Moments. Die Begriffe werden in
der Reflexion und Abstraktion zu einer eigenständigen Sache gemacht,
der nicht erst in der Einheit mit den anderen Momenten, sondern an sich

29
Brief an Clermont vom 4.1.1791 JB 1,9, 11.
30
Spin1 JW 1,1, 132f.
31
Brief an Nicolai vom 28.7.1788 JB 1,8, 21.
32
„Alle Meynungen wurden im Schoosse der Wahrheit empfangen; alle Wahrheiten im
Schoosse der Meynung.“ (ZEeD JW 5,1, 202.)
33
ZEeD JW 5,1, 208; DH1 JW 2,1, 62; 65. Die Wahrheit „ist zwar in sich selbst nur Ei-
ne; für endliche Geschöpfe aber, die nur Theile von ihr fassen können, eben so mannich-
faltig und verschieden, als der Irrthum. Vollständig kann so wenig Dieser als wie Jene bei
irgend einem von uns angetroffen werden.“ (Cachet JW 4,1, 368.)
288 Personale Vernunft

Wahrheit zukommt. So haben wir in der dialektischen Geschichte der


Aufklärung gesehen, dass die Vernunft ihre eigenen Produkte für die
Wirklichkeit selbst hält. Diese Tendenz liegt auch den Meinungen zu
Grunde. Im Ursprung sind sie „ein wahrer Glaube“, Ausdruck des kon-
kreten Verhältnisses des Menschen zu Gott, Welt und Mitmensch, dann
aber verselbständigen sich diese Produkte der Vernunft und werden mit
der Vernunft selbst verwechselt. Sie werden in eine andere Zeit, einen
anderen Ort übersetzt, in dem sie keine Funktion mehr erfüllen und für
Wahrheiten an sich gehalten werden.
Wir können den Ursprung der Unwahrheit auch so verorten: Allen
Meinungen als wirklichen Erscheinungen menschlicher Vernunft liegt
die unbedingte Vernunft zu Grunde. Sie sind limitierte Manifestation der
absoluten Vernunft und Freiheit, jedoch nicht die absolute Vernunft und
Freiheit selbst. 34 Unwahrheit oder Unvernunft setzen einerseits ein,
wenn limitierte Ausdrucksformen des Absoluten mit diesem selbst iden-
tifiziert und andere Ausdrucksformen zur absoluten Unwahrheit erklärt
werden, andererseits, wenn der lebendige Ursprung der Meinung nicht
mehr besteht.
Aus dieser Begründung der Unwahrheit oder der Unvernünftigkeit
ergeben sich für Jacobi dann zwei unterschiedliche historische Aufklä-
rungsstrategien: zum einen dem Ursprung der Begriffe nachzuforschen
und zum anderen die Aneignung fremder Ausdrucksformen der Ver-
nunft, um die Grenzen der eigenen Ausdrucksform zu überwinden. Die
eine Form der Aufklärung lässt sich als historische Kritik, die andere als
kritische Übersetzung bezeichnen. Diese Aufklärungen können jedoch,
wie bereits klar geworden sein sollte, für Jacobi nicht von einem archi-
medischen Standpunkt reiner Vernunft aus erfolgen, sondern nur von
einem historisch bedingten Standpunkt aus.
Historische Kritik ist dabei Aufklärung als historische Rekonstrukti-
on des Ursprungs einer Meinung. Sowohl dem Geniekult als auch dem
Selbstdenken stellt Jacobi deshalb die Gelehrtheit als essentielles Mo-
ment anderer Aufklärung entgegen.35 Gelehrtheit meint dabei nicht ein-
fach das Ansammeln von historischem Faktenwissen, sondern die histo-
34
„Ganz und rein kann der Mensch die Wahrheit nicht empfangen; er sieht sie nur im
Bilde, in einem Bilde das ihm gleich ist. Wie die Gottheit selbst, ist die Wahrheit überall
und nirgend; Alles, und Nichts von allem. Laßt uns keine ihrer Erscheinungen verachten!
Aber auch keine so verehren, als wär sie in eigner Gestalt die Wahrheit, die hier ganz und
Ein für allemal erschienen ware.“ (ZEeD JW 5,1, 208f.) „Alle Philosophieen sind natürli-
che Entwickelungen des menschlichen Denkens, Modificationen der Vernunft, und ver-
halten sich zu der Wahrheit, ohngefähr, wie die verschiedenen Formen der Gesellschaft
sich zum Princip der Geselligkeit verhalten.” (Ibid., 217.)
35
Rech JW 4,1, 60.
Historische Aufklärung 289

rische Rekonstruktion der Genese von Überzeugungen, um dadurch ih-


ren ursprünglichen Sinn und ihre ursprüngliche Wahrheit aufzudecken.
Aus diesem historischen „Nach-sinnen entsteht Philosophie, die ein
Rückweg der Ueberlegung ist bis zum Anfang.“36
Diese Aufklärung führt zur Relativierung der eigenen Kategorien und
moralischen Normen, mittels derer die neuzeitliche Aufklärung andere
Überzeugungssysteme kritisiert. So ist es aus Jacobis Sicht ein bloßes
Vorurteil, wenn uns etwa eine bestimmte religiöse Überzeugung als ab-
surd erscheint, dies auch auf andere Völker zu übertragen. In veränder-
ten Umständen und aus dem historischen Kontext herausgetrennt er-
schiene jede „entschiedenste und erhabenste Wahrheit […] als der gröbs-
te Irrthum“.37 Jacobis historisch-kritische Aufklärung versucht hingegen
offenzulegen, unter welchem Aspekt diese Überzeugung in einer be-
stimmten historischen Situation vernünftig war.38 Dazu müssen wir im-
mer auch die mit Worten verbundenen Ideen bestimmen, die andere sein
können als die, die wir mit ihnen verbinden.39 Nur im Zusammenhang
mit allen Verhältnissen können Überzeugungen beurteilt werden. Dabei
ist nach Jacobi vor allem der sittliche und religiöse Zusammenhang, in
dem die Überzeugungen entstanden sind, relevant. Historische Aufklä-
rung versucht deshalb metaphysische, ethische und religiöse Wahrheiten
in ihrer „lebendigen Continuität“ und aus ihrem Ursprung entwickeln,
um sie adäquat beurteilen zu können.40
In der Darstellung dieser Form der Aufklärung bedient sich Jacobi der
in der Aufklärung beliebten Unterscheidung zwischen Geist und Buch-
stabe. Historische Aufklärung intendiert die Freilegung des Geistes eines
Überzeugungssystems unter Dekonstruktion seines bloßen Buchstabens.
So versucht Jacobi eben den Geist des Spinozismus (das ex nihilo nihilo
fit) von seinem „geometrischen“ Buchstaben zu befreien. Der Geist kann
immer nur in einer bestimmten Form erscheinen, die Jacobi den Buch-
staben nennt, wobei dem Buchstaben die Tendenz inne wohnt, sich auf
Kosten des Geistes zu verselbständigen. In seinem Ursprung ist jeder
Buchstabe belebt durch den Geist, dessen Buchstabe er ist, aber sobald
sich der Buchstabe von seinem Geist emanzipiert und verselbständigt, ist
er kein lebendiger Geist mehr, sondern richtet sich gegen selbigen, um
36
Kladde VII, 35 Schneider 1986, 200. „Philosophieren ist ein Bemühen aufwärts zu
fahren den Strohm des Lebens bis zu seiner Quelle.“ (Kladde X, 93 Schneider 1986, 201.)
In diesem Sinne sind sowohl Jacobis Beilage VII als auch die Bruno-Beilage Versuche ei-
ner solchen historisch-kritischen Aufklärung.
37
Rech JW 4,1, 103.
38
Rech JW 4,1, 98.
39
Rech JW 4,1, 99.
40
Rech JW 4,1, 103.
290 Personale Vernunft

sich an dessen Stelle zu setzen. Die Kritik des Buchstabens besteht dann
darin, ihn auf seinen ursprünglichen Geist zurückzuführen, der ihn le-
bendig gemacht hat. Die Rekonstruktion dieser ursprünglichen Einheit
erfolgt über eine Dekonstruktion des Verselbständigungsprozesses des
Buchstabens, so wie wir es in der natürlichen Dialektik der Aufklärung
gesehen haben. Durch die Möglichkeit dieser Dekonstruktion sind die
Meinungen „der Vernunft nicht unüberwindlich“, 41 sofern es sich bei
Meinungen eben nur noch um verselbständigte Formen ohne Gehalt
handelt. Ein Modus dieser Kritik ist etwa die Sprachkritik. Denn der
Sprache inhäriert die Tendenz, die bloßen Ausdrücke mit Dingen selbst
zu verwechseln. In diesem Sinne definiert Jacobi das eigentliche Wesen
der philosophischer Aufklärung als „ein weiteres Ergründen der Sprach-
erfindung.“42 So haben wir bereits gesehen, dass für Jacobi die Priorisie-
rung des Ich vor dem Du, die sich in Descartes’ cogito ausdrückt und
von Kant vollendet wird, in der abendländischen Grammatik begründet
ist, die durch die Verben der ersten Person die Bildung der zweiten und
dritten Person bestimmt. Diese grammatische Bestimmung abendländi-
schen Denkens verdeckt die Wahrheit, dass das Du gleichzeitig mit dem
Ich gesetzt ist.43 Insofern sich die Vernunft beim Menschen notwendig in
Sprache manifestiert, besteht hier immer die Tendenz der Verabsolutie-
rung grammatisch-linguistischer Voraussetzungen des eigenen Denkens.
Aufklärung muss deshalb Aufklärung dieser für die Geschichte der Phi-
losophie so bedeutungs- aber auch verhängnisvollen Verwechslung von
Wort und Sache sein.
Neben der Dekonstruktion dieser Verwechslung muss aber der Buch-
stabe auch auf seine Einheit mit dem Geist zurückführt werden. Dies
setzt wiederum die Rekonstruktion des historischen Umfeldes voraus,
unter dem sich eine Meinung entwickelt hat. Denn die legitimen Gründe
für eine Meinung können immer nur vor dem konkreten historischen
Hintergrund der Meinung einsichtig werden: So führt Jacobi die aufklä-
rerische Kritik am angeblichen Unsinn früherer Polytheismen auf die
Unkenntnis der spezifischen historischen Umstände zurück, unter denen
sich diese entwickelten. Diese a-historische Kritik ist also nicht Aufklä-
rung, sondern Verabsolutierung der eigenen isolierten Kenntnisse und
Gegenwart. Vor den isolierten Kenntnissen einer anderen Zeit oder Kul-
tur über die aufgeklärte Gegenwart ließen sich reziprok auch viele von
deren Überzeugungen, Normen, Gebräuchen oder Episoden nur schwer

41
ZEeD JW 5,1, 207.
42
FB WW VI,1, 165; vgl. auch DH JW 2,1, 53f.
43
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121.
Historische Aufklärung 291

rechtfertigen.44 Jede noch so erhabene Wahrheit müsse als völliger Irr-


tum erscheinen, wenn Zeit und Umstände sich grundsätzlich geändert
hätten. So müsse die Religion jedes Volkes „in ihrer ganzen lebendigen
Continuität“45 betrachtet werden und auf ihre Gründe und Ursachen zu-
rückgeführt werden, um einen richtigen Begriff von ihr zu gewinnen.46
Damit geht die historische Kritik in historische Übersetzung über. So
stellt Jacobi über seine eigene philosophische Methode fest: Wenn ihm
Behauptungen Anderer unbegründet oder falsch schienen, aber ersicht-
lich sei, dass der Andere hier nicht nur einen Einfall zum Besten gibt,
sondern seine Behauptung wohl überlegt habe, dann reiche es nicht aus,
festzustellen, dass die eigene Meinung ebenso wohl oder auch besser be-
gründet sei, und von hier aus auf die Falschheit der Meinung des Ande-
ren zu schließen. Vielmehr muss man sich „in die Denkungsart“ des An-
deren versetzen und die Gründe für seine Meinung so lange nachzuvoll-
ziehen suchen, bis man selbst mit dessen Meinung „sympathisiert“.47
Jacobi negiert also zwar Kants Voraussetzung absoluter transzenden-
taler Erkenntnisstrukturen und moralischer Grundsätze, setzt aber vo-
raus, dass „die mögliche Differenz zwischen individuellen oder sozialen
Gedankensystemen begrenzt ist.“ 48 Begriffssysteme können nicht in-
kommensurabel sein, denn dann könnten wir es nicht einmal mehr als
Begriffssystem identifizieren.49 Jacobi zeigt gerade deshalb ein Interesse
an in der Aufklärung verschrienen und abseitigen Autoren (Machiavelli,
Spinoza, Bruno, Thomas von Aquin),50 deren heterodoxe Gedanken be-
stimmte philosophische Aspekte sehen lassen, die im klassischen Aufklä-
rungsdiskurs unbefragt und unbeleuchtet bleiben. 51 Jedem Denker of-
fenbart die Wahrheit „einiges von ihrem inneren Leben; so daß keiner

44
Rech JW 4,1, 101.
45
Rech JW 4,1, 103.
46
„Die Religion eines Volkes muß in dem vollständigsten Zusammenhang mit der na-
türlichen, bürgerlichen, politischen und gelehrten Geschichte desselben studirt werden
können, sonst ist kein wahrer Begriff von ihr möglich. Sie aus diesem Zusammenhange
herausreissen; eine isolierte Kenntniß davon erhaschen wollen, heist die unfruchtbarste
aller Bemühungen unternehmen.“ (Rech JW 4,1, 100.)
47
DH1 JW 2,1, 42f.; Erinnerungen JW 4,1, 360.
48
Davidson 1993, 85.
49
Davidson 1993, 86.
50
Spin2 JW 1,1, 152; Brief an Windisch-Graetz 9. Februar 1789 JB 1,8, 169; Otto 2004,
108; 113. Interessant ist hierbei, dass Jacobi die Lektüre des Docteur Angélique und des
Doctor Diabolique als Einheit auffasst. Er rekonstruiert Bruno in seiner historischen Ge-
nese aus Thomas.
51
Sandkaulen 2000, 37.
292 Personale Vernunft

davon so gering ist, den man nicht mit Vortheil hörte. Ich entdeckte die-
se Spur; verfolgte sie unter Lebendigen und Todten“.52
Die Kunst in der Auseinandersetzung mit anderen Gedankensyste-
men besteht also darin, deren Wahrheitsmoment ausfindig zu machen.53
Glauben wir, eine Person denke ungereimt, so verstehen wir sie häufig
nur nicht, weil wir ihre Ideen nicht genau genug bestimmen – das heißt
ihre Bedeutung nicht rekonstruieren.54 Wir bemerken nicht, dass sie mit
ihren Worten etwas anderes meint als wir. Jacobi glaubt sogar beweisen
zu können, „daß schlechterdings keine unwahre Idee in irgend einem
Geiste Platz finden könne, und daß sogar der Tollhäusler eben so richtig
schliesse, als der größte Philosoph“.55 Wer eine Meinung einfach wider-
legen will, der findet deshalb auch kein Gehör. Denn diejenigen, die die-
ser Meinung anhängen, haben ja Gründe für ihre Meinung, formulieren
diese jedoch in einer anderen philosophischen Sprache. Sie hören einem
deshalb nur zu, wenn man beweist, dass man ihre Meinung (und ihre
Sprache) nicht nur versteht, sondern besser versteht, als sie selbst. Wer
deshalb die Meinung seiner Zeitgenossen aufklären will, muss versuchen,
„der Meynung, womit er sich befassen will, wie gefährlich sie ihm auch
scheinen möge, in allem, was sie gegründetes hat, volle Gerechtigkeit wi-
derfahren zu lassen.“56 Dazu müssen fremde und eigene Philosophie ge-
wissermaßen immer wieder ineinander übersetzt werden.
Diese Übersetzung fremder Vorstellungsarten in die eigene klärt die
Vernunft über sich und ihre individuellen Bedingtheiten auf, so wie man
auch die Strukturen der eigenen und einer fremden Sprache dadurch
aufklären kann, dass man verschiedene Sprachen ineinander zu überset-
zen versucht. Unsere Identität und Persönlichkeit ist Resultat unserer
Entwicklung. Diese Entwicklung ist jedoch nicht abgeschlossen, sondern
in einem ständigen Entwicklungsprozess begriffen. Die Fähigkeit, sich
graduell von den eigenen Ansichten distanzieren und die eigene Vorstel-
lungswelt transzendieren zu können, ist gerade Ausdruck der Spontanei-
tät der Vernunft. Dadurch können wir unsere Meinungen aufklären:

Eben darin beweiset die Vernunft ja ihre Kraft, daß sie über jede particuläre An-
sicht frey mit ihrem Urtheile sich erhebt, und eine Einsicht zu Wege bringt, wel-
52
Spin1 JW 1,1, 14. Übereinstimmend hiermit: Adrastea FHA 10, 78.
53
Rech JW 4,1, 98.
54
So heißt es auch bei Wittgenstein: „Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich
die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutungen der Wörter.“ (Wittgenstein 1984,
132.) Aufklärung setzt also erst einmal voraus, die spezifischen Regeln des jeweiligen
Sprachspiels zu verstehen.
55
Rech JW 4,1, 99.
56
ZEeD JW 5,1, 214.
Historische Aufklärung 293

che die einer eingeschränkten Individualität anklebende Täuschung hinter sich


wirft oder vertilgt.57

Diese Haltung setzt aber voraus, dass dem Interesse an der eigenen Mei-
nung eigentlich ein Interesse an der Vernunft oder dem menschlichen
Geist zu Grunde liegt: „in demselben Grade, wie man die Vernunft lieb
hat, ist man denen zuwider, die nur ihre Meynung lieb haben“.58 Aber
erst die Einsicht, dass es Gewohnheit und Autorität sind, die unsere
Vernunft, Identität und Persönlichkeit bestimmt haben, eröffnet uns die
freie Möglichkeit einer kritischen Aufklärung.59 Wie durch den Vergleich
verschiedener Sprachen hinter der Verschiedenheit der Wörter und der
Syntax ein einheitlicher Sinn sichtbar wird – sonst wäre Übersetzung
nicht möglich – so zeigen sich im Vergleich verschiedener Überzeu-
gungssysteme hinter den verschiedenen Ausdrucksformen der Vernunft
das Wahre und die Vernunft selbst.60 Diese Übersetzungsleistung zeigt
uns einerseits, dass keine Meinung die Vernunft selbst ist, andererseits
erscheint aber in diesen Meinungen die Vernunft. 61 Nur durch diese
Übersetzung und das Studium des Partikularen können wir das Univer-
selle hinter der Partikularität, das ihr zu Grunde liegt, erkennen. Das
Universelle kann nur im Besonderen erkannt werden. Dazu muss man
aber zuerst den anderen Zeiten, Kulturen und ihrer Sprache Gerechtig-
keit widerfahren lassen.62
Diese Übersetzungsleistung kann jedem Menschen zugemutet wer-
den, da sie nicht die eigene Überzeugung einer fremden unterwerfen,
sondern beide wechselseitig kritisch aufklären soll. Insofern wird weder
die eigene Autonomie noch die des Gegenübers der anderen unterwor-
fen, sondern beide treten in einen freien Dialog:

Eine einmal erworbene klare Einsicht aufzugeben, darf und soll man keinem
Menschen zumuthen; wohl aber daß er sich die Mühe nehme, seine Einsichten
noch mehr zu erweitern, seine Begriffe vollständiger und überall zusammenhan-
gend zu machen.63

57
GD JW 3, 57.
58
Fromm JW 5,1, 126.
59
ZEeD JW 5,1, 207.
60
ZEeD JW 5,1, 210.
61
„Das Gute und Wahre in jeder Verwandlung, welche sie auf Erden leiden, zu erken-
nen, und keine dieser Um- und Ein-Bildungen für das wesentliche Wahre, und das we-
sentliche Gute selbst zu halten“ (ZEeD JW 5,1, 211). Zu Recht urteilt Schiller über Jacobis
ZEeD: „Die Liberalität, mit der sie über die Schonung menschlicher Vorstellungsarten
sprechen, athmet den Geist der ächtesten und humansten Philosophie“ (JB 1,11, 51).
62
ZEeD JW 5,1, 214.
63
ZEeD JW 5,1, 214. Vgl. auch: Cachet JW 4,1, 368f.
294 Personale Vernunft

Fassen wir zusammen: Mit seinem Aufklärungsprojekt realisiert Jacobi


die nach Foucault eigentliche Methodik der Aufklärung, nämlich die
Genealogie als historische Untersuchung derjenigen Ereignisse, „die uns
dazu veranlasst haben, uns als Subjekt dessen, was wir tun, denken und
sagen, zu konstituieren und zu erkennen“.64 Jacobis andere Aufklärung
intendiert wesentlich die Erweiterung der uns durch unsere historische
Situation gesetzten Grenzen.65 Dies leistet sie durch historisch-kritische
Rekonstruktion der Kategorien, die unser Denken und Handeln be-
stimmen. Durch den übersetzenden Dialog mit anderen Kategoriensys-
temen kann es zu einer Revision noch der scheinbar transzendentalen
Grundlagen der Vernunft kommen (so wie später bei Habermas). In die-
ser Rekonstruktion und Übersetzung werden uns die Grenzen unserer
Kategorien bewusst, indem wir erkennen, dass es zu diesen unausge-
schöpfte Alternativen gibt, die nicht auf Grund rational-objektiver Kri-
terien nicht realisiert wurden, sondern aus kontingenten Gründen. Die
Begrenztheit unserer Kategorien einsehen, heißt aber bereits, sie zu
transzendieren und unser Kategoriensystem zu revidieren.

64
Foucault 2005a, 702.
65
Vgl. ebenso: Foucault 2005a, 703.
Das Individuum im Recht 295

E. Das Individuum im Recht

Wir sahen bisher, dass Jacobis Aufklärungsprojekt völlig anders struktu-


riert ist als dasjenige Kants. Beiden liegt jedoch das Interesse an mensch-
licher Selbstbestimmung zu Grunde. Deshalb wenden wir uns nun der
Sphäre zu, in der diese Selbstbestimmung gesichert werden soll: der
Sphäre des Rechts. Jacobis bedeutendste publizierte Bemerkungen zum
Zusammenhang von Freiheit, Aufklärung und Recht fallen dabei in die
frühe Zeit seines Schaffens.1 Auch später verliert Jacobi jedoch nicht sein
Interesse an Politik, Recht und Freiheit – nicht zuletzt unter dem Ein-
druck der französischen Revolution, der er äußerst kritisch gegenüber-
steht.2 Seine politischen Programmschriften Recht und Gewalt und Et-
was, was Lessing gesagt hat, entstehen jedoch lange vor der Veröffentli-
chung von Kants MdS.
Umso auffälliger ist es, dass bei allen sonstigen Differenzen Jacobi wie
Kant die äußere Freiheit als den fundamentalen Rechtsbegriff betrach-
tet. 3 Dabei ist auch Jacobi von der Begründung der Legitimität von
Herrschaft durch Rousseaus Konzept der volonté générale beeinflusst.4
Die „wahre Vernünftigkeit des Rechts“ besteht für Jacobi „in der Kor-
respondenz der Freiheit“.5 Gesellschaftliche Verhältnisse sind nicht da-
durch frei, dass sie vernünftig sind, sondern dadurch vernünftig, dass sie
frei sind.6 Die Gesellschaft als eine „Maschine des Zwanges“ ist nur legi-
tim zum Schutz der Freiheit der Bürger vor illegitimer Einschränkung

1
1782 schreibt Jacobi an die Fürstin von Gallitzin: „Ich arbeite gegenwärtig an einer
Abhandlung über die Frage: Was ist Freyheit? Meist in politischer Hinsicht. Dennoch
nehm ich den Begriff in seinem ganzen Umfange u laß ihn unzertheilt. Meine Hauptab-
sicht ist die Aufklärung der Materie des Rechts“ (JB 1,3, 6).
2
Mehrmals berichtet Jacobi Forster von seiner intensiven Beschäftigung mit der fran-
zösischen Revolution (JB 1,8, 303; 318; 331). 1790 schreibt er an Müller, dass er eine Ab-
handlung „über die Philosophie der neuen französischen Gesetzgebung“ angefangen habe
(ibid., 412). Vgl. ebenso: ibid., 414f.; 418f.; 432. Zimmermanns Bemerkung über die „ge-
waltigen Kräfte“ Mirabeaus (Zimmerman 1790, 309) bezieht Jacobi auf sich und nimmt es
als Beleg, dass er „nichts weniger als ein Antirevolutionist“ sei, sondern „sogar zu den
enragés gehöre“ (JB 1,8, 385).
3
JB 1,8, 357.
4
JB 1,9, 128f.
5
Jaeschke 2004, 204.
6
Jaeschke 2004, 213. Sein Etwas will Jacobi so 1785 nach einer Neubearbeitung „unter
dem Titel: Ueber die Grenzen des Zwanges“ neu herausgeben (JB 1,4, 104). Dabei will er
auch Kants Idee „näher auf den Leib rücken“, in der das menschliche Individuum zum
bloßen Instrument der Entwicklung der Gattung Mensch gemacht und als Tier bestimmt
werde, das in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern seiner Gattung einen Herren nötig
hat (vgl. JB 2,4, 282f.).
296 Personale Vernunft

ihrer Freiheit durch andere Bürger.7 Gesetze sollen nur solche Handlun-
gen verhindern, die die Freiheit der anderen gewaltsam einschränken. Sie
als Quelle des Guten (der Tugend oder Glückseligkeit) zu gebrauchen,
würde den Sinn äußerer Gesetze pervertieren, denn die einzige Quelle
des Guten ist die innere Freiheit, die nicht äußerlich erzwungen werden
kann.8 Das Recht soll hingegen nur die äußere Willkür einschränken.9
Die äußere Freiheit des Menschen darf also im Recht und im Staat bei
Jacobi wie auch bei Kant ihre Grenze nur an der äußeren Freiheit der
anderen Menschen finden. Der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft ist
nichts anderes als d-ie Garantie dieser äußeren Freiheit.10 So ist die Ver-
einigung der Bürger zu einem Staat unter Gesetzen die „Vereinigung zu
einem Ganzen, um für die Glieder desselben Sicherheit und Freiheit zu
bewürken.“11 Hobbes Konzeption des Gesellschaftsvertrages, nach der
der Mensch durch den Eintritt in den Staat seine Unabhängigkeit zu
Gunsten seiner Sicherheit aufgibt, ist nach Jacobi bereits deshalb unsin-
nig, weil der Mensch je schon Teil einer Gemeinschaft und niemals völlig
unabhängig ist. Die relative Unabhängigkeit des nicht-staatlichen Zu-
standes wird beim Eintritt in den staatlichen Zustand eben nur in Form
formaler Gesetze als Recht bestimmt, konkretisiert und gesichert. Diese
Überlegungen wollen wir im Folgenden weiter ausführen: Ausgangs-
punkt ist dabei Jacobis Konzept der Freiheit als Legitimationsgrund
staatlichen Zwangs (a). Von hier aus entwickeln wir seine Kritik einer
repressiven Vernunft (b).

7
Etwas JW 4,1, 310.
8
Die Tugenden sind das Produkt innerer Freiheit und nicht des äußeren Zwangs. Das
gleiche gilt für Aufklärung (Etwas JW 4,1, 312).
9
„Die Herrschaft des innerlichen Rechts in menschlichen Händen ist mir von jeher
unter allen Uebeln als das größte erschienen“ (JB 1,8, 390). Hieraus lässt sich auch Jacobis
kritische Haltung der französischen Revolution gegenüber erklären. Sie ist nicht Aus-
druck von Jacobis Konservativismus, denn eine reaktionäre Konterrevolution lehnt Jacobi
ebenfalls ab (JB 1,10, 307). Vielmehr sind sowohl Revolutionäre als auch Reaktionäre
Feinde der Freiheit. In der französischen Revolution manifestiert sich zudem politisch die
Dialektik der Aufklärung, in der sich Freiheit und Vernunft gegen sich selbst richten.
10
Cachet JW 4,1, 389f.
11
Cachet JW 4,1, 411.
Das Individuum im Recht 297

I. Das Interesse der Freiheit als Legitimation staatlichen Zwangs

Die bürgerlichen Gesetze sind nach Jacobi Mittel für die Garantie gesi-
cherter Freiheit.12 Bürgerliche Freiheit ist dabei die äußere Freiheit, „sei-
nen wahren Vortheil auf alle Weise nach Vermögen zu befördern“.13 Die
bürgerliche Gesellschaft dient für Jacobi idealerweise nur der gesicherten
Wirklichkeit dieser Freiheit ihrer Mitglieder. Der Mensch tritt also nicht
in die bürgerliche Vereinigung ein, um nur einen Überrest seiner natürli-
chen Rechte zu sichern, sondern um Sicherheit für alle seine Rechte und
Freiheiten zu erwerben.14

Um die Sicherheit von allen Rechten durch die Erfüllung aller Pflichten zu er-
halten, ohne welche diese Rechte nicht bestehen und nicht gelten können [.]15

Weil Freiheit der Legitimationsgrund des Rechts ist, bedarf der das
Recht notwendig begleitende Zwang bei jedem Gesetz einer Legitimie-
rung gegenüber dem Individuum, dessen Freiheit eingeschränkt wird.
Denn jeder Mensch ist „vermöge einer absoluten Nothwendigkeit aus-
schließlicher Eigenthümer seiner Person“. 16 Auferlegte Rechtspflichten
greifen in dieses Eigentum ein. Deshalb muss diesem Eingriff in ihr
Recht reziprok ein rechtlicher Nutzen für die Person entsprechen, die
nur in einem dafür gewährten Recht bestehen kann.17 Gerechtigkeit be-
steht darin, dass in Bezug auf das Individuum jeder Pflicht ein entspre-
chendes Recht korrespondiert. Das heißt, der Einforderung eines Rechts
gegenüber Mitbürgern muss reziprok die Anerkennung von Pflichten
entsprechen.
Dieses zunächst horizontale Gleichgewicht muss für Jacobi auch auf
das vertikale Verhältnis des Herrschers zu seinen Untertanen übertragen
werden.18 So verpflichtet das Recht des Herrschers auf den Gehorsam
der Untertanen diesen umgekehrt auf den Schutz des Eigentums und der
Freiheit seiner Untertanen. Der Eintritt in den Staat bedeutet, wie wir
sahen, für Jacobi so auch nicht die Aufopferung von Unabhängigkeit zu
Gunsten von Sicherheit, sondern den Übergang von einer unbestimmten

12
Cachet JW 4,1, 411.
13
Etwas JW 4,1, 319.
14
Cachet JW 4,1, 389.
15
Etwas JW 4,1, 328. Den Begriff der Menschenrechte lehnt Jacobi ab, da er ignoriere,
„was ein Recht sey und wie es geltend werde“ (JB 1,8, 358). Ein Recht ist eben nur als
verwirklichtes Recht ein Recht.
16
ZPR JW 4,1, 220.
17
ZPR JW 4,1, 221.
18
ZPR JW 4,1, 222.
298 Personale Vernunft

Unabhängigkeit in bestimmte Freiheit.19 Die Staatsgesetze, die das Ver-


hältnis des Individuums zum Staat regeln, stehen dabei für Jacobi in ei-
nem rein instrumentellen Verhältnis zu den bürgerlichen Gesetzen, die
die Koordinierung der Freiheitssphären der Individuen untereinander
regeln. Der Staat als Ganzes ist ein bloßes Instrument der wechselseiti-
gen Freiheitssicherung der Individuen. Deshalb muss dem Individuum,
wenn seine Freiheit vom Staat eingeschränkt wird, Rekompensation sei-
ner Freiheit geleistet werden. Der Staat darf die Freiheit des Bürgers nur
dann zu seinen Gunsten einschränken, wenn er dem Bürger dafür Frei-
heit zurückgibt.20 Wenn also der Staat die Freiheit des Bürgers durch
Gesetze in gewissen Aspekten einschränkt, dann ist dies nur dann legi-
tim, wenn dies der Verwirklichung bürgerlicher Freiheit dient. Gesetze
müssen die „beständige implicite Einwilligung aller Glieder der Gesell-
schaft“ voraussetzen, um nicht despotisch zu sein.21 Reziproke Freiheits-
anerkennung ist dabei der Maßstab, der sowohl die Grenzen individuel-
ler Freiheit als auch der staatlichen Zwangsgewalt bestimmt. Jede Staats-
form und jedes Gesetz, die hiervon abweichen, schlagen nach Jacobi
unweigerlich in Despotismus um. Der Despotismus zeichnet sich da-
durch aus, dass der Herrscher keine Grundsätze über sich anerkennt, die
seine willkürliche Macht limitieren würden. 22 Grund und Grenze des
Rechts und des Staates ist aber die Freiheit:

Die Freiheit eines Menschen hat, von Rechtswegen, keine andre Gränzen, als die
gleiche Freiheit eines andern Menschen. Da sie allen auf dieselbe Weise zuge-
hört, so kann Niemanden die ungereimte Befugniß, sein Wohl auf Kosten andrer
zu befördern, zugestanden werden, ohne allen Uebrigen ein Gleiches einzuräu-
men … Diese nothwendige und offenbare Gränze ist keine Einschränkung der
Freiheit, sondern ihre Brustwehr[.]23

Die strukturelle Übereinstimmung von Kants und Jacobis Rechtsbe-


gründung und -begrenzung ist augenfällig. Beide begründen und limitie-
ren das Recht durch den Begriff äußerer Freiheit. Im Gegensatz zu Kant
ist Jacobis Rechtsphilosophie jedoch wesentlich kritischer Natur, inso-
fern er alle vermeintlichen Quellen des Rechts außer der Freiheit darauf-
hin analysiert, inwieweit sie in den Despotismus als Gegenteil freier
Selbstbestimmung und damit in Unrecht umschlagen. Dabei findet sich
in der deutschen Aufklärung kaum ein massiverer Einspruch gegen jede
19
Cachet JW 4,1, 411.
20
Cachet JW 4,1, 411.
21
Etwas JW 4,1, 335.
22
Rech JW 4,1, 84.
23
Cachet JW 4,1, 389 (Übersetzung Jacobis aus Le Trosnes De l’ordre social).
Das Individuum im Recht 299

Form des politischen Despotismus als der Jacobis.24 Anders als für viele
seiner Zeitgenossen ist dieser für Jacobi gefährlicher als jeder Aberglau-
be, weil er die Wirklichkeit menschlicher Freiheit und damit „die Ver-
nunft in ihrem Keime“ angreift.25
Jeder Despotismus – man könnte sagen, die bloße Willkürherrschaft
der Herrschenden – gründet nach Jacobi auf der Identifizierung bloßer
Gewalt oder Stärke als Quelle des Rechts. Dies gilt auch für Demokra-
tien, in denen die Mehrheit der Minderheit ihre Willkür aufzwingt.
Denn auch hier versteht der Souverän die Gewalt bzw. Stärke – hierbei
resultierend aus der bloß quantitativen Übermacht – als Quelle des
Rechts.26 Seine säkulare Legitimation erhält er durch Hobbes’ Verständ-
nis des Gesellschaftsvertrags, nach der der Bürger alle Freiheitsrechte
abgibt.27 Es ist jedoch Wieland, der nach Jacobi in seinem Aufsatz Über
das göttliche Recht der Obrigkeit (1777) die Konfusion von Recht und
Gewalt auf ihren Begriff bringt,28 indem er das Recht des Souveräns ge-
genüber seinen Untertanen „in dem höhern Rechte der Natur der Dinge
und der Nothwendigkeit (dem wahren göttlichen Rechte)“ begründet.29
Um ihr Überleben zu sichern, müssten sich die Menschen regieren las-
sen. Sie müssten also vom Naturzustand in einen staatlichen Zustand
übertreten und sich einem Herrscher unterwerfen. Soweit stimmen
Hobbes und Wieland überein. Wieland ist in gewissem Sinne aber kon-
sequenter als Hobbes. Denn die Unterwerfung unter den Souverän er-
folgt bei Wieland nicht wie bei Hobbes in einem Gesellschafts- oder
Unterwerfungsvertrag, dem die Unterworfenen freiwillig zustimmen
würden. Vielmehr ermächtigt sich der Stärkste im Naturzustand durch
die aktive Unterwerfung seiner Untertanen und nicht durch einen
Unterwerfungsvertrag selbst zum Herrscher. In der Ordnung der

24
Jaeschke 2004, 204.
25
JB1,3, 118; vgl. auch ibid., 73.
26
„Die gesezlose Gewalt der Menge, ist wie die gesezlose Gewalt von Einem: Despo-
tismus.“ (Erinnerungen JW 4,1, 361f.) „Aristokraten u Demokraten. Jene wollen mit der
completten Unvernunft die halbe Vernunft von diesen unterdrücken u zu paaren treiben –
anstatt ihnen complette Vernunft, die siegen könne, entgegen zu setzen.“ (Kladde V, 371
Schneider 1986, 142.)
27
Zu Jacobis Kritik an der Idee eines göttlichen Herrschaftsrechts vgl. Cachet JW 4,1,
380. In der französischen Revolution erkennt Jacobi nur die säkularisierte Form dieser
Idee.
28
Später will Wieland dieses Argument nur noch als ironische Kritik des aufkläreri-
schen Kontraktualismus verstanden wissen (Walter 1999, 60). Jacobi ist aber umso mehr
berechtigt, die Ernsthaftigkeit dieses Textes zu unterstellen, als Wieland Jacobi bereits
1776 in einem Brief bittet (und die Erlaubnis erhält), aus dem Allwill „einige garstige Zei-
len über den Dienst großer Herren [Fürstendienst] wegstreichen“ zu dürfen (JB 1,2, 44).
29
Wieland 1777, 123.
300 Personale Vernunft

menschlichen Natur werde deshalb derjenige Herrscher, dem es gelinge,


sich die anderen zu unterwerfen. Die Untertanen unterwerfen sich, weil
sie die faktisch größere Macht des Stärkeren anerkennen.30 Die Quelle
des Rechts und der Legitimität von Herrschaft ist damit ursprünglich die
natürliche größere Stärke des Oberherrn und kein freiwillig geschlossner
Vertrag.
Zwischen dem „Geiste dieses Aufsatzes“ und seiner eigenen Rechts-
philosophie konstatiert Jacobi nun „die entschiedenste Feindschaft“. 31
Bei ihm gründet die Legitimität politischer Herrschaft nämlich darauf,
dass die Herrschenden den Willen der Unterworfenen ausführen. Mit
dieser Quelle der Legitimität von Herrschaft sind zugleich die Grenzen
legitimer Herrschaft bestimmt. Wieland hingegen konfundiert nach Ja-
cobi in seiner Rechtsbegründung zwei ganz unterschiedliche Bedeutun-
gen von Macht, nämlich moralische Macht (= Recht) und bloß physische
Macht (= Gewalt oder Stärke) oder zwei Typen von Gesetz: Gesetze der
Natur und Gesetze der Freiheit.32 Dieser Gleichsetzung von physischer
Macht und Recht liegt nach Jacobi ein doppeltes Missverständnis zu
Grunde:
Der Mensch kann ohne eine über ihn herrschende Regierung nicht
glücklich werden.
Politische Herrschaft soll die unmündigen Untertanen glücklich ma-
chen.
Wielands vermeintlich anthropologischer Begründung der Legitimität
von Herrschaft liegt nach Jacobi eine „Reduktion des Menschen auf sei-
ne tierische Natur bzw. auf seine Bedürfnisnatur“ zu Grunde.33 Damit
wird nun nicht einfach ein Aspekt des Menschen ausgeblendet, sondern
auch der betrachtete Aspekt verfälscht. Denn für Jacobi ist ja, wie wir
sahen, der ganze Mensch wesentlich durch seine Freiheit bestimmt.
Menschliche Bedürfnisse sind deshalb immer Bedürfnisse eines freien
Wesens und als solche mit Freiheit „kontaminiert“. Nur deshalb sind die
Begriffe des Rechts und der Pflicht überhaupt auf sie anwendbar.34 Wenn
man dies nicht beachtet, dann würde rechtliche Zwangsandrohung sich
30
Wieland 1777, 132.
31
JB 1,2, 69. Auf Grund dieses Aufsatzes kommt es so auch zum Bruch zwischen Wie-
land und Jacobi (vgl. ibid., JB 1,2, 310). Zur Beziehung Wieland – Jacobi vgl. Götz 2008,
116–128.
32
Damit hebt Wieland auch die Unterscheidung zwischen moralischer und natürlicher
Notwendigkeit auf und schreibt deshalb der natürlichen Notwendigkeit ein Recht zu:
Was geschehen muss, das geschieht auch mit Recht, und alles ist Recht, was wirklich ge-
schieht (RuG JW 4,1, 260; 263; 266).
33
Homann 1973, 43.
34
RuG JW 4,1, 270.
Das Individuum im Recht 301

nicht von der Drohung des Herrchens unterscheiden, das mit einem
Stock vor der Nase seines Hundes wedelt. Insofern also Wieland die
Freiheit als Bedingung des Rechts überhaupt nicht ins Spiel bringt, muss
seine Rechts- und Herrschaftsbegründung misslingen und in einer Legi-
timierung des Despotismus resultieren.
Der Mensch kann nach Jacobi also nur deshalb Adressat von Normen
und Gesetzen sein, weil er frei ist.35 Ohne Freiheit als grundlegendem
Rechtsbegriff kann der Begriff des Rechts nicht konsistent gedacht wer-
den. Der von Wieland propagierte „Begrif einer natürlichen Notwendig-
keit, oder eines Rechts der Natur der Dinge“ 36 zur Grundlegung des
Rechts ist für Jacobi dagegen ein Widerspruch in sich. Weder habe der
Jagdhund das Recht, die Fährte des Wildes zu riechen noch der Mensch
ein Recht auf Sprache.37 Ansonsten wären auch die Naturgesetze eine
Rechtsquelle.38 In Bezug auf Wirkursachen und physikalische Ereignisse
von „Recht“ zu sprechen, macht den Begriff des Rechts sinnlos. Der Be-
griff des Rechts kann dagegen nur auf „Ding[e] der Wahl“ angewendet
werden, bei denen das wahrgenommene Ereignis nicht nur als Produkt
von Naturnotwendigkeit, sondern zugleich als „Folge der Selbstbestim-
mung nach vernünftigen Gründen“ eines Handelnden verstanden wird.39
Nur dasjenige kann unter die Kategorie des Rechts fallen, „dessen nächs-
te Ursache die Freiheit des Menschen ist, oder, was unmittelbar aus dem
Vermögen desselben entspringt, sich nach eigenen deutlichen Vorstel-
lungen von dem, was ihm gut oder böse sei, zu bestimmen.“40 Morali-
sche Freiheit ist so wie bei Kant auch bei Jacobi nicht Gegenstand des
Rechts, aber doch eine Voraussetzung, ohne die das Recht nicht gedacht
werden kann.
Freiheit ist also eine Voraussetzung des Rechts, das voraussetzt, dass
seinen Adressaten deren Handlungen zugeschrieben werden können.
Die moralische Freiheit ist aber auch deshalb Grund des bürgerlichen
Rechts, da nur Untertanen mit einem Interesse an Freiheit ein Interesse
an einer freiheitlichen, bürgerlichen Ordnung haben können. Nur ein
freies Wesen, das an der Verwirklichung dieser Freiheit Interesse hat,
kann auch ein Interesse an äußerer Freiheit haben. So können die Geset-
ze, die nur die äußerliche Freiheit regeln sollen, keine Tugenden (als

35
Etwas JW 4,1, 307.
36
RuG JW 4,1, 266.
37
RuG JW 4,1, 266f., 270ff.
38
RuG JW 4,1, 272f.
39
RuG JW 4,1, 267.
40
RuG JW 4,1, 267.
302 Personale Vernunft

Realisierungen moralischer Freiheit) evozieren, 41 sondern setzen diese


bei der Mehrheit der Bürger als Realbedingung bürgerlicher Gesellschaf-
ten bereits voraus. 42 Tugend wird nur durch die Vernunft hervorge-
bracht und erlaubt keinen Zwang.43 Was erzwungen werden kann, ist
wechselseitige Gewaltfreiheit im äußeren Handeln. 44 Das Interesse an
der Freiheit ist nach Jacobi also eine Voraussetzung bürgerlicher Gesell-
schaften, die diese nicht garantieren oder herstellen können. Eine Ge-
setzgebung, die sich die Tugend zum Zweck setzt, müsste gewisserma-
ßen das Interesse an Freiheit in positiver Weise durch äußeren Zwang
hervorbringen wollen. Eben damit würde die Tugend (die realisiertes
Freiheitsinteresse ist) aber am sichersten vernichtet werden.45 Der Ver-
such, Tugend durch Gesetze zu erzwingen, ist deshalb weder klug noch
billig. Er ist unklug, da uns die Geschichte lehrt, dass despotische Regie-
rungen den Menschen immer schlechter machen.46 Er ist nicht billig, da
die Grenzen staatlichen Zwangs überschritten werden: „Kein Mensch
hat das Recht, einen andern, der Niemanden böses thut, so gar zu seinem
eigenen Besten zu zwingen.“47

II. Kritik der repressiven Vernunft

Wie Wieland bereits das Interesse an Freiheit als Voraussetzung des


Rechts verkennt, so verkennt er auch die bürgerliche Freiheit als Zweck
des Rechts. Stattdessen erklärt er die Vervollkommnung der Glückselig-
keit oder die Wohlfahrt der Bürger zum Zweck politischer Herrschaft.
Für Jacobi führt diese Orientierung am Utilitarismus im Recht notwen-
dig zum Despotismus. Denn der Grundsatz des allgemeinen Besten und

41
Etwas JW 4,1, 320f.
42
„Gute politische Gesetze sind Würkungen der Tugend und der Weisheit; nicht ihre
erste Ursache.“ (Etwas JW 4,1, 320.) Eine fundamentale Rolle kommt dem Prinzip der
Ehre zu, als demjenigen Prinzip, kraft dessen der Mensch zu seinen Versprechen und Ab-
sichtserklärungen steht: „le désir d’être heureux est la base et a été le principe de toute
société“ (Laharpe JW 5,1, 172).
43
Etwas JW 4,1, 321f.
44
Etwas JW 4,1, 322.
45
Cachet JW 4,1, 391f. „Tugend und Religion sind die Sache des Menschen und nicht
des Bürgers; sie sind die allgemeinen und ewigen Triebfedern im Reiche der Geister, zu
edel und zu erhaben, um nur Räderwerk in einer Maschiene zu vergänglichen Zwecken
vorzustellen. Und das ist vollends widersinnig, wenn man mit den elenden Gewichten
einer solchen Maschiene jene Triebfedern selbst in Bewegung sezen will.“ (Ibid., 392.) Als
„äußerliches Mittel gebraucht“ verursachen Religion und Tugend nur Böses (ibid., 392f.).
46
Rech JW 4,1, 68.
47
Cachet JW 4,1, 391.
Das Individuum im Recht 303

der allgemeinen Wohlfahrt dient dem Despotismus zur Vernichtung der


persönlichen Freiheit:

Ich bin, wie bekannt, im Bürgerlichen Regimente nicht für den Grundsatz des
allgemeinen Besten, der von jeher das που στω gewesen ist, wo der Despotismus
seinen Archimedischen Hebel angesetzt hat, um Freyheit von der Stelle zu brin-
gen und persönlicher Würde das Genick zu brechen[.]48

In dieser Hinsicht ist Wieland für Jacobi kein untypischer Vertreter der
Aufklärung. Denn viele Aufklärer pervertieren nach Jacobi Recht und
Herrschaft, indem sie sie als Instrumente zur zwangsweisen Ausbreitung
des Guten, Wahren und der Glückseligkeit verstehen.49 In dieser politi-
schen Agenda, die die äußere Freiheit der Staatsbürger zu Gunsten von
Tugend, Glück oder Wahrheit einschränken will, manifestiert sich nach
Jacobi die Dialektik der repressiven Aufklärung, die die Vernunft im
ganz wörtlichen Sinne herrschend machen will und sich damit am deut-
lichsten als Unvernunft zu erkennen gibt.50 Die Vorstellung von der po-
litischen Herrschaft der reinen Vernunft ist für Jacobi geradezu „l’erreur
du siècle“.51 Denn eine „herrschende Gewalt“, die ihre Untertanen zu
Einsicht, Glück und Tugend zwingen will, lädiert für Jacobi das Recht.
Das Recht als Schutz der äußeren Freiheit auch in ihrer Unvernunft ist
umgekehrt die Bedingung dafür, dass sich Vernunft, Wahrheit und
Glück entfalten können. Die Vernunft, die herrschend sein will, bringt
deswegen niemals „Echte Wahrheit und Würkliche Wohlfahrt“ hervor,52
die nur aus der Freiheit entspringen können.53 Wenn die Vernunft sich
mit Gewalt durchsetzen will, dann führt dies zu Tyrannei und Zerstö-
rung von Freiheit und Vernunft. 54 Der Widerstand gegen diese Form
staatlich-gesetzlicher Zwangsaufklärung und –beglückung entspringt
deshalb „dem Urgeiste der Freyheit“ und „dem ewig regen Triebe der
Vernunft“.55

48
Berichtigung JW 2,1, 118; vgl. auch Jacobis Brief an Rehberg vom 2.5.1788 JB 1,7,
194.
49
Etwas JW 4,1, 305.
50
Vgl. hierzu die glänzende Studie Jaeschke 2004.
51
Laharpe JW 5,1, 175. Die in Unvernunft umgeschlagene Vernunft erkennt man gera-
de in ihrem Anspruch auf Herrschaft (Jaeschke 2004, 201).
52
Etwas JW 4,1, 306.
53
Hierüber streitet Jacobi in Briefen auch mit Forster. Denn dieser glaubt: „Ist die
Welt erst tugendhaft, dann wird sie von selbst frey.“ (Brief von Forster vom 29.8.1783 JB
1,3, 201.)
54
Laharpe JW 5,1, 191.
55
Etwas JW 4,1, 306.
304 Personale Vernunft

Inwieweit Gesetze die individuelle Freiheit der Rechtssubjekte si-


chern, ist, wie wir gesehen haben, nach Jacobi der Maßstab, an dem sich
die Vernünftigkeit eines Staates misst.56 Wird das Verhältnis unter der
Idee der Herrschaft der Vernunft umgekehrt, so wird nicht nur die Ver-
nunft pervertiert, sondern Gesetz und Staat werden despotisch. Die Ver-
nunft wird repressiv. Die Freiheit des Rechtssubjekts wird nämlich dann
nicht darum eingeschränkt, weil sie die Freiheit eines Anderen lädiert,
sondern weil die Handlung vom Gesetzgeber als widervernünftig be-
trachtet wird. Selbst wenn es um die neutrale Erkennbarkeit für Jacobi
aber nicht schon schwierig bestellt wäre, 57 so bestünde dennoch kein
Grund, jemanden, der sich widervernünftig verhält, aber niemandem
schadet, zu bestrafen (es gälte ihn eben nur zu belehren). Die Menschen
dürfen aus ihrer Trägheit – nach Kant Ursache ihrer selbstverschuldeten
Unmündigkeit – „gelockt aber nicht gepeitscht werden“.58

Kranke müssen freylich curirt werden; aber Gott bewahre uns vor einer Zunft
von Aerzten, welche sich das Recht anmaßten, uns ungefragt in die Kur zu neh-
men.59

Jacobi lehnt deshalb die aufklärerische „manière fixe d’être gouverné par
la raison“ ab.60 Nach Jaeschke ist Jacobi jedoch nicht konsequent in der
Ablehnung der Herrschaft der Vernunft, fordert er doch letztlich die
Herrschaft der Vernunft über Sinnlichkeit und Neigungen. Eben damit
öffne er aber wiederum die Tür für den Anspruch auf die politische
Herrschaft der Vernunft im Namen der Unterdrückung der Leiden-
schaften. Tatsächlich ist Jaeschke insofern Recht zu geben, als Jacobi die
Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften fordert und sich der
Zwangscharakter der Gesetze auf die Leidenschaften richtet. Die Ab-
sicht legitimer Staatsverfassungen ist so auch „der reinen praktischen
Vernunft einen Leib zu geben“.61 Denn eigentlich ist die Vernunft „die
Einzige Quelle des Rechts“.62 Wenn Jacobi sich nicht selbst widerspre-
chen will, so kann mit dieser Vernunft jedoch nur die mit dem Freiheits-
56
Versteht man unter Gegen-Aufklärung die Einschränkung individueller Freiheit und
Selbstbestimmung zu Gunsten eines Rechts der Gemeinschaft (Seidman 1983, 51; Gerrard
2006a, 4), so ist Jacobi (wie auch Herder) ganz offensichtlich dem Rechtsideal der Aufklä-
rung verpflichtet.
57
Die französische Revolution etwa verwechselt ihre willkürlichen Meinungen mit
„ewigen Gesetzen der Vernunft“ (Brief an Reinhold vom 11.2.1790 JB 1,8, 358).
58
Brief an Campe vom 1.11.1782 JB 1,3, 349.
59
Brief an Campe vom 1.11.1782 JB 1,3, 76.
60
Brief an Forster vom 14.10.1789 JB 1,8, 303.
61
FB WW VI, 152.
62
RuG JW 4,1, 269.
Das Individuum im Recht 305

bewusstsein identische substantive Vernunft des Menschen gemeint sein.


Seine Rechtslehre basiert daher ja auf der „Theorie der Freyheit“.63 Inso-
fern sich in Gesetzen das Interesse der Freiheit artikuliert, stehen sie die-
sem Interesse nicht gleichgültig gegenüber, sondern manifestieren selbi-
ges. Das Recht kann nur in diesem Sinne die Freiheit des Menschen ver-
wirklichen, dass sie ihr einen äußeren Leib gibt. Die bürgerliche Freiheit
einer Gemeinschaft, die kein Interesse an Freiheit hätte, würde letztlich
zu Grunde gehen. Dieses Interesse manifestiert sich aber wesentlich da-
rin, dass die Gesetze nicht die Realisierung innerer Freiheit erzwingen.
Das Recht soll keine tugendhaften Taten induzieren, sondern schädliche
Handlungen verhindern. Die „Beförderung der Menschheit“64 als Beför-
derung der inneren Freiheit kann nicht durch Zwang realisiert werden.65
Das Gute kann nur aus der Freiheit entstehen, seine erste Quelle ist
überall die „ungeheissene innere Bewegung eines freyen Geistes“.66
Fassen wir zusammen: Bürgerliche Gesetze sollen nach Jacobi den
Gebrauch des Menschen seiner äußeren Freiheit regeln. Eine gerechte
Herrschaft ist deshalb eine Herrschaft der Gesetze.67 Die Vernunft des
Rechts besteht dabei in der wechselseitigen Anerkennung der Reziprozi-
tät von Rechten und Pflichten.68 Gesetze sind insofern vernünftig, als sie
Ausdruck der Anerkennung des gleichen Rechts auf äußere Freiheit aller
sind. Hierin gründet die bürgerliche Freiheit unter Gesetzen,69 bei denen
eine „beständige implicite Einwilligung aller Glieder der Gesellschaft“
vorausgesetzt werden kann.70 In diesem Sinne sind bürgerliche Gesell-
schaften zumindest der Idee nach wesentlich durch Vernunft und Frei-
heit bestimmt. Dass Gesetze trotzdem notwendig mit dem Recht zu
zwingen verbunden sind, beruht darauf, dass die Bürger zwar vernünftig
genug sind, die Gleichwertigkeit der Freiheit aller anzuerkennen, gleich-
zeitig aber nicht so vernünftig sind, diese reziproke Anerkennung per-

63
Etwas JW 4,1, 319.
64
Etwas JW 4,1, 317.
65
„Derjenige Zwang, ohne welchen die Gesellschaft nicht bestehen kann, hat nicht,
was den Menschen gut; sondern was ihn böse macht, zum Gegenstande: keinen positiven,
sondern einen negativen Zweck.“ (Etwas JW 4,1, 322.)
66
Etwas JW 4,1, 312; vgl. auch Brief an Elise Reimarus vom 15.3.1781 JB 1,2, 285.
67
Deshalb plädiert Jacobi auch für die Unterordnung der Exekutive unter die Legisla-
tive (Kladde IV, 441; XIII, 121 Schneider 291).
68
Ohne Ich kein Du und umgekehrt. Im Anderen sehe ich mich. Ich kann mir selbst
nicht Rechte zuschreiben, die ich anderen abspreche.
69
Etwas JW 4,1, 319f.
70
Etwas JW 4,1, 335. „Also wo die wahren Gesetze der Freyheit in der That regieren,
da muß ihr Wille der lebendige Wille des Volkes selbst seyn.“ (Ibid., 336.)
306 Personale Vernunft

manent zu verwirklichen.71 Die Menschen haben nicht genug Vernunft,


um ohne Gesetze zusammen leben zu können, aber genug Vernunft, um
die moralische Notwendigkeit zu erkennen, unter Gesetzen zusammen
leben zu müssen.72 Staat und Gesetze sind insofern von vornherein bloße
Instrumente, die aus der Einsicht der Menschen in ihre Mängelnatur re-
sultieren. Das Recht ist „eine Maschine des Zwanges“ und dient nur der
Abwehr von Schaden für die Mitglieder der Gesellschaft, der sich gegen
seine Person, seine äußere Freiheit und sein Eigentum richten kann.73
Dass der Staat nur ein Instrument der Freiheit ist, zeigt sich daran, dass
er zuletzt zu Grunde gehen sollte. 74 Die Gesetzgebung ist nur „ein
nothwendiges Uebel, ein unzulängliches Mittel“, „die Vernunft zu ver-
treten“.75

Hätte der Mensch immer den besten Willen, so könte er nie mit Recht einen
Zwang zu dulden haben. Aber weil er nicht immer den besten Willen hat, so kan
er oft mit Recht gezwungen werden. Das Mittel, nur mit Recht gezwungen zu
werden, ist dasjenige, was wir eine Regierungsform zu nennen pflegen.76

Weil Gesetze mit der Befugnis zu zwingen verbunden sind, ist jede Ge-
sellschaft notwendig mit einem gewissen Maß an Unterdrückung infi-
ziert:

L’oppression est nécessaire sur la terre, des-que les hommes y doivent vivre en
société; il ne faut dont que calculer le minimum d’oppression nécessaire.77

Jacobi sieht hier stärker als Kant das Problem, dass Zwang vom Delin-
quenten auch als solcher erfahren wird. Eine Gemeinschaft rein tugend-
hafter Bürger, die ihre innere Freiheit vollständig realisiert hätte, bedürf-
te keiner Zwangsgesetze. Diese gehen somit zwar aus der Vernunft des
Menschen (der Anerkennung der Freiheit aller) hervor, richten sich aber
71
„Il le pourra, puisqu’il n’y a rien que les hommes en général haïssent autant que
l’égalité, rien qu’ils aiment autant, que de primer, d’opprimer, de régner.“ (Laharpe JW
5,1, 171.)
72
RuG JW 4,1, 286. Die „hohe Meinung von der Causalität der reinen Vernunft“ „ver-
blendet“ nach Jacobi die Demokraten der französischen Nationalversammlung (JB 1,8,
388).
73
Etwas JW 4,1, 310.
74
„In einer Unterredung, die ich mit ihm [Lessing] hatte, kam er einmal so sehr in Ei-
fer, daß er behauptete, die bürgerliche Gesellschaft müsse noch ganz aufgehoben werden;
und so toll dieses klingt, so nah ist es dennoch der Wahrheit. Die Menschen werden erst
dann gut regiert werden, wenn sie keiner Regierung mehr bedürfen.“ (JB 1,2, 285.)
75
Brief an Herder vom 24.4.1785 JB 1,4, 88.
76
RuG JW 4,1, 286.
77
Kladde II, 971 Schneider 290.
Das Individuum im Recht 307

auf das Unvernünftige im Menschen, was für Jacobi die Leidenschaften


im Menschen sind, insofern sie ihn die Anerkennung der Freiheit ande-
rer negieren lassen. 78 Schaden können sich die Menschen nach Jacobi
nämlich nicht, insofern sie in ihren Handlungen durch ihre Vernunft be-
stimmt sind, sondern nur von ihren freiheitsnegierenden Leidenschaf-
ten.79 Die Gesetzgebung richtet sich negativ also nur gegen solche Lei-
denschaften, die die äußere Freiheit Dritter bedrohen. Dies scheint Jaco-
bi im Auge zu haben, wenn er die Gesetzgebung als „System des
Zwanges“ bestimmt, das sich nicht auf den Menschen beziehen kann, so-
fern er durch die Vernunft bestimmt ist, sondern auf den seinen Leiden-
schaften unterworfenen Menschen.80 Positiven Einfluss auf Tugend und
Freiheit besitzen Gesetze nur insofern, als sie akzidentell auch solche
Handlungen verhindern, die in zu großer Zahl die Tugend verderben.

Fassen wir zusammen: Wir waren ausgegangen von der Kritik, die Auf-
klärung setze als ihren Akteur und Adressaten an die Stelle des sozial si-
tuierten Individuums ein abstraktes Subjekt. Dabei identifiziere die Auf-
klärung jedoch nur ihre eigenen sozialen Bindungen mit universell gülti-
gen Strukturen der Vernunft und schlage zuletzt in ein Herrschafts-
instrument um.
Einleitend zeigten wir, dass diese Vorwürfe gegen bestimmte Aufklä-
rer berechtigt sind, aber gerade nicht das Projekt der Aufklärung als sol-
ches betreffen. Vielmehr fordert konsequente Aufklärung die Überwin-
dung dieser Vorurteile. Bei Kant sahen wir anschließend, dass er zwar
universelle Strukturen der Subjektivität als Bedingungen der Möglichkeit
weltbürgerlicher Aufklärung voraussetzt, diese aber vornehmlich Rah-
menbedingungen für einen Diskurs sind, in dem alle Teilnehmer sich
und ihre konkrete Individualität autonom einbringen können. Jacobi an-
dererseits negiert die Möglichkeit solch universeller transzendentaler
Strukturen und setzt dagegen das konkrete, historisch situierte Individu-
um als Fundament seiner anderen Aufklärung. Nur durch die Anerken-
nung dieser Bedingtheit könne Aufklärung dem Menschen zu seiner in-
tellektuellen und praktischen Selbstbefreiung verhelfen. Interessanter
Weise stimmen aber Kant und Jacobi darin überein, dass im Recht die
äußere Freiheit des Individuums Grund und Grenze staatlichen Zwangs
ist. Denn für beide muss jedes an seiner freien Selbstbestimmung interes-
sierte Individuum reziprok auch das Freiheitsinteresse aller anderen In-

78
Etwas JW 4,1, 307f.; RuG JW 4,1, 286.
79
Etwas JW 4,1, 309.
80
Etwas JW 4,1, 310.
308 Personale Vernunft

dividuen anerkennen. Dabei ist es äußerlich, wie es diese Selbstbestim-


mung realisiert.
Aber was ist nun mit Individuen, die gar kein Interesse an Selbstbe-
stimmung haben, sondern ihr äußeres Handeln (wie auch ihre Überzeu-
gungen) als Realisierung eines absoluten äußeren Anspruchs an sich ver-
stehen? Dieses grundsätzliche Problem für das Aufklärungsprojekt soll
im Folgenden am Beispiel der Religion expliziert werden. Die Ausgangs-
frage ist dabei folgende: Müssen die Aufklärer nicht notwendig das
Selbstverständnis des religiösen Bewusstseins ignorieren, wenn sie die
Selbstbestimmung zum unbedingten und unhinterfragbaren Prinzip
menschlichen Urteilens und Handelns machen? Oder: Ist eine Vermitt-
lung des religiösen Bewusstseins mit der Aufklärung möglich?
TEIL 3

AUFKLÄRUNG UND RELIGION


Aufklärung ist wesentlich Religionskritik, so sowohl Kant als auch zahl-
reiche Interpreten der Aufklärung. 1 Für viele Aufklärer besteht diese
Kritik in der Ersetzung des religiösen Glaubens durch wissenschaftlich,
empirisch oder rational begründete Erkenntnis. Religiöse Überzeugun-
gen gelten als unbegründete Vorurteile, die entweder durch Gründe ge-
rechtfertigt oder überwunden werden müssen. Die Radikalität dieser
Kritik macht Jonathan Israel geradezu zum Maßstab für den Grad der
Aufgeklärtheit eines Denkers: 2 Die neuzeitliche Aufklärung sei zwar
nicht als Ganze religionsfeindlich, jedoch realisiere nur ihre religions-
feindliche Strömung das aufklärerische Ideal intellektueller Selbstbe-
stimmung gegenüber der Religion, wohingegen moderatere Kritiken
letztlich eine Privationsform von Aufklärung blieben.3
Für die gegenwärtigen Kritiker der Aufklärung beweist die religions-
feindliche oder zumindest religionskritische Haltung der Aufklärung da-
gegen nur ihren „Mangel an Sensibilität für den Charakter religiösen
Glaubens“.4 Die aufklärerische Kritik an den Geltungsansprüchen der
Religion diffamiere das Selbstverständnis religiöser Menschen, die nicht
ihre Religion, sondern diese Kritik und die damit verbundene Forde-
rung, ihre religiösen Überzeugungen rational zu rechtfertigen, als pater-
nalistische Bevormundung erfahren würden. In der aufklärerischen Reli-
gionskritik manifestiere sich deshalb kein emanzipatorisches Ethos der
Freiheit, sondern die „autoritären Züge einer bornierten Aufklärung“,5
die von jedem Menschen ein Bekenntnis zur säkularen Rationalität for-
dere. So würden Personen, die nicht von ihren religiösen Überzeugun-
gen abstrahieren können oder wollen, von vornherein als inkompetent
oder rational unmusikalisch aus dem Aufklärungsdiskurs ausgeschlos-
sen.6
Diesem Vorwurf tritt Habermas mit der Konzeption eines Aufklä-
rungsdiskurses entgegen, der auch für religiöse Menschen offen sein
soll.7 In diesen öffentlichen Diskurs sollen auch religiöse Argumente in-

1
WA AA 8, 41; Gay 1995, 8; 37. Dagegen: Dieckmann 1972, 25; Himmelfarb 2008, 18f;
50.
2
Israel 2002, 6f.; Israel/Mulsow 2014, 7; 11.
3
Zur Begründung dieser These identifiziert Israel Vernunftautonomie und Radikalität
mit Prädikaten wie „säkular“ und „spinozistisch“ (Israel 2006, 523). Die Berechtigung
dieser Identifikationen ist jedoch sowohl philosophisch als auch historisch fragwürdig
(vgl. etwa Asal 2010; Cassirer 2007, 74; Philosophe Enc 12, 509; Schröder 2014, 187).
4
Phillips 2000, 258.
5
Habermas 1988, 70.
6
Habermas 2009, 137.
7
Diese Neuinterpretation des Aufklärungsprojektes sieht Habermas als Alternative
sowohl zum Idealismus als auch zum Poststrukturalismus (Bahr 1988, 102).
312 Aufklärung und Religion

tegriert werden können, da Aufklärung als Selbstreflexion den „philoso-


phischen Selbstverständigungsversuchen in anderen Kulturen“ nicht
gleichgültig gegenüberstehen könne.8 Religiös fundierte Argumente sol-
len dabei durch eine rationale Rekonstruktion in die säkulare Sprache
des Aufklärungsdiskurses „übersetzt“ werden. Durch die Auseinander-
setzung mit fremden Formen von Rationalität könne die aufgeklärte sä-
kulare Vernunft Potentiale für die Aufklärung ihrer eigenen Vorurteile
aktivieren, die sie selbst auf Grund ihres bedingten Standortes andern-
falls gar nicht in den Blick bekommen könnte.9 Die „säkulare Vernunft
und ein reflexiv gewordenes religiöses Bewusstsein“ könnten damit in
einen für beide Seiten aufklärenden Dialog treten,10 in dem sie im Spiegel
des jeweils als fremd wahrgenommenen Diskurses ihre eigenen Über-
zeugungen reflektieren.11
Diesem Versuch, das religiöse Selbstverständnis durch Übersetzung in
den Aufklärungsdiskurs zu integrieren, steht jedoch der Einwand entge-
gen, dass dieser Diskurs als spezifisches Sprachspiel fundamental ande-
ren Regeln folge als die narrativen Diskurse der Religionen. Die Beweise
und Begründungen der einen Seite stünden den Erzählungen der anderen
Seite inkommensurabel gegenüber. 12 Jede Übersetzung des religiösen
Sprachspiels in das säkulare würde ersteres zwangsläufig verfälschen und
den Spielregeln des Aufklärungsdiskurses unterwerfen. Aus der Perspek-
tive der Aufklärung werden solche Harmonisierungsversuche hingegen
abgelehnt, weil die selbstkritische Vernunft den dogmatisch autoritativen
religiösen Erfahrungen vermeintlicher göttlicher Mitteilungen verständ-
nislos gegenüberstehen würde. Was sie nicht versteht, könne die Ver-
nunft aber auch nicht übersetzen.13

8
Habermas 2010, 9.
9
Habermas interessiert dabei vor allem die Rolle der Religion im politischen Diskurs.
Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, mit welcher Legitimität säkulare Bürger ihren
religiösen Mitbürgern Normen auferlegen dürfen. Wären aufgeklärte und religiöse Über-
zeugungen völlig inkommensurabel, dann müssten sich die religiösen Bürger den aus ei-
nem säkularen öffentlichen Diskurs abgeleiteten Normen zuletzt unterwerfen, ohne sich
als autonome Mitkonstituenten dieser Gesetze verstehen zu können. Vgl. hierzu: Lafont
2009, 130f.
10
Habermas 2010, 7.
11
Habermas 2009, 137.
12
Die aufklärerische Forderung an narrative Diskurse, sich in der Weise zu rechtferti-
gen, wie dies wissenschaftliche Behauptungen tun müssen, ist nach Lyotard der Terror
eines Sprachspiels gegen ein anderes. Erschwerend käme hinzu, dass der wissenschaftliche
Diskurs zu seiner reflexiven Rechtfertigung sich wiederum des narrativen Diskurses be-
dienen müsste.
13
Dörflinger 2009, 172.
Aufklärung und Religion 313

Gegen diese scheinbare Aporie werden wir nun die kritischen Ver-
nunftbegriffe von Religion und Glaube bei Jacobi und Kant analysieren.
Die Konstellation Kant–Jacobi ist hierbei aus drei Gründen von beson-
derer Relevanz: 1. Beide entwickeln ihren Religionsbegriff aus einer der
Philosophie rein immanenten Perspektive. 2. Beide markieren systema-
tisch die Mitte zwischen einer Philosophie, die die Religion zu einem
Gegenstand der bloßen Vernunftkritik macht, und einer Philosophie, die
selbige spekulativ in die Vernunft aufhebt (wie etwa Hegel oder Schel-
ling). 3. Beide beziehen sich kritisch auf die Konzeption des jeweils an-
deren, so dass die in dieser Kritik geltend gemachten Defizite gegenei-
nander abgewogen werden können. Die zentrale Frage beider Autoren –
und dementsprechend der folgenden Überlegungen – ist dabei nicht, wie
es um die Rationalität bestimmter religiöser Gehalte bestellt ist, sondern
i) welchen vernunftimmanenten Grund es für das philosophische Den-
ken gibt, sich in ein Verhältnis zur Religion zu setzen bzw. einen Ver-
nunftbegriff von Religion zu entwickeln; ii) was hieraus für den Ver-
nunftbegriff selbst folgt; und iii) welches kritische Potential dies für die
Reflexion auf konkrete Religionen besitzt.
Die Überlegungen zu Jacobi gehen dabei davon aus, dass sein Kon-
zept des Glaubens als immanenter Voraussetzung der Vernunft primär
nicht religiös oder theistisch,14 sondern handlungstheoretisch begründet
ist.15 Gleichzeitig wird gezeigt, dass dieser Glaube die Gewissheit eines
Anderen der menschlichen Vernunft und damit einen theoretisch und
praktisch motivierten Übergang zur Religion impliziert. Insofern nimmt
die Religion einen systematischen Ort in Jacobis Konzeption einer
selbstbestimmten und sich selbst aufklärenden Vernunft ein.16 Bei Kant
scheint zumindest die religiöse Offenbarung keinen großen systemati-
schen Stellenwert einzunehmen.17 Von einer konstitutiven Funktion der
Offenbarung oder der positiven Religion für sein Aufklärungsprojekt
scheint man schon gar nicht sprechen zu können. Religion scheint bei
Kant vielmehr auf ein Epiphänomen der Moralität reduzierbar zu sein.18
Gegenüber dieser rein kritischen Lesart von Kants Religionskonzeption
versuchen die folgenden Überlegungen jedoch zu zeigen, dass der Of-
fenbarung und dem religiösen Glauben auch in Kants Aufklärungspro-
jekt eine konstitutive Rolle zukommt.

14
Sandkaulen 2000, 60.
15
Sandkaulen 2000, 26. Vgl. hierzu auch Jonkers 2012.
16
Religiosität wird also bei Jacobi „säkular“ begründet (vgl. auch Giovanni 1994, 43).
17
Wie es Kant persönlich mit der Religion hielt, soll uns nicht interessieren (vgl. hier-
zu: Kühn 2007, 16f.; dagegen: Palmquist 2016, 1).
18
Dagegen: Palmquist 2016, 5; Dierksmeier 1998, 3f.
314 Aufklärung und Religion

Um das systematische Potential beider Konzepte für den gegenwärti-


gen Aufklärungsdiskurs deutlicher zur Geltung zu bringen, werden wir
im ersten Kapitel ihren historischen Hintergrund skizzieren und zeigen,
inwiefern die Gegenwartsdiskussion den Diskurs der deutschen Spätauf-
klärung wiederholt bzw. unterbietet. Vor dem Hintergrund dieser spät-
aufklärerischen Diskussion versuchen Kant und Jacobi entsprechend ih-
res unterschiedlichen Aufklärungskonzepts zu zeigen, dass Glaube und
Aufklärung (2. Kapitel) bzw. Religion und Aufklärung (3. Kapitel) nicht
in einem abstrakten Gegensatzverhältnis stehen, in das sie einige der
heutigen Apologeten und Kritiker der Aufklärung setzen, sondern
Glaube und Religion als notwendige Momente in die Aufklärung inte-
griert werden können.
KAPITEL1
ZWISCHEN KRITIK UND ANERKENNUNG

In der Diskussion der deutschen Spätaufklärung finden wir grundsätz-


lich zwei gegenläufige systematische Alternativen der Verhältnisbestim-
mung von Vernunft und Religion: einerseits eine rationale Kritik der Re-
ligion, die die religiösen Glaubensgehalte vor den Gerichtshof der Ver-
nunft zitiert, und andererseits die Anerkennung des Eigenrechts
religiöser Narrative.
Die moderateste Form religiöser Aufklärungskritik beschränkt sich
dabei vornehmlich auf die Forderung, religiöse Bekenntnisse vor der
Vernunft zu rechtfertigen. Diese Form ist in gewisser Weise typisch für
die in religiösen Dingen eher konservative deutsche Aufklärung.1 Cassi-
rer stellt deshalb zutreffend fest, dass die deutsche Aufklärung in weiten
Teilen eher eine Begründung und Vertiefung der Religion als ihre radi-
kale Kritik intendiert.2 Dem gerechtfertigten Glauben wird hierbei der
unreflektiert tradierte Glaube als defizitärer Glaubensmodus entgegen-
gesetzt. Gerade weil sie die christlichen Inhalte einer kritischen Prüfung
durch die Vernunft unterwerfen, verstehen sich die deutschen Aufklärer
als authentische Christen.3 Müssen sich für ältere Aufklärer wie Thoma-
sius aber nicht alle Dogmen des Christentums vor der Vernunft rechtfer-
tigen, so reduzieren spätere Aufklärer den christlichen Glauben auf eine
rein rationale Morallehre, eine „Religion des reinen Herzens und des ge-
sunden Verstandes“.4 Gemäß dem Selbstverständnis beider Aufklärungs-
typen darf die aufklärerische Untersuchung der Glaubenslehren jedoch
von keinen Argumenten Gebrauch machen, die das vernünftige Subjekt
nicht als rational gerechtfertigt einsehen kann. Gefordert wird damit die
strikte Autonomie der Philosophie gegenüber der Theologie und die
Trennung von rein rationalen Rechtfertigungen und theologischen Ar-
gumenten, die in letzter Konsequenz in der Unterwerfung des vernünf-
tigen Subjekts unter religiöse Dogmen resultiere.5

1
So bereits Thomasius 1692, Vorrede 10f. und Wolff 1736, 423ff. Vgl. hierzu: Byrne
2007, 9; Timm 1974, 21f.
2
Cassirer 2007, 143; vgl. ebenso: Schulte 2002, 43.
3
Riem 1789, 284; ders. 1790, 102f.; Der Freydenker, 4; FLA 11,1, 26.
4
Reinhold 2004, 185f.; Semler 2009, 16.
5
Liscow 1732, 32.
316 Zwischen Kritik und Anerkennung

Es lässt sich also nicht von vornherein behaupten, dass diese modera-
ten Formen der Aufklärung das Ideal intellektueller Autonomie verfeh-
len, bloß weil sie Religion nicht radikal ablehnen. Denn auch die mode-
rate Aufklärung intendiert primär nicht einfach eine Apologie religiöser
Glaubensgehalte, sondern deren kritische Untersuchung durch die auto-
nome Vernunft.6 Dagegen würden gerade die radikalen Religionskritiker
keinen autonomen Gebrauch von ihrer Vernunft machen. Die religions-
feindlichen „Freygeister“ würden ihr Denken nämlich nicht nur keinen
fremden Autoritäten, sondern auch nicht den autonomen Gesetzen der
Vernunft selbst unterwerfen. 7 Nur da sie „zu faul [seien,] die Gründe
der Religionen zu untersuchen“,8 hielten sie alle Religionen für bloße
Menschensatzungen. Echt radikale Religionskritik müsse die Religionen
demgegenüber zunächst einmal von Seiten ihrer Überzeugungskraft vor-
stellen.9
Wenn die legitimen Ansprüche einer positiven Religion sich durch die
Vernunft rechtfertigen lassen müssen, so stellt sich aus aufgeklärter Per-
spektive allerdings die grundsätzliche Frage nach dem Mehrwert positi-
ver Religion und religiöser Offenbarung gegenüber einer reinen Natur-
oder Vernunftreligion. Das Spektrum der Antworten auf diese Frage ist
in der deutschen Aufklärung erwartungsgemäß äußerst breit: Radikale
Deisten wie Lau, Edelmann, Mauvillon oder Reimarus gestehen der Of-
fenbarung keinerlei Eigenrecht gegenüber einer natürlichen Religion aus
reiner Vernunft als einzig wahrer Religion zu.10 Nur der Deismus könne
als natürliche Religion einen legitimen universalen Geltungsanspruch er-
heben, da andere Formen von Religion immer vom Zufall der Geburt
6
J. Israel müsste also erst einmal zeigen, dass dieses Projekt im Unterschied zur radika-
len Religionskritik notwendig scheitert.
7
Mehlig 1758a, 678.
8
Rezensionen 1751 FLA 2, 254. Lessing kennt dabei seit 1750 das Denken der radika-
len Religionskritiker La Mettrie und Edelmann (Nisbet 2008, 187).
9
Rezensionen 1751 FLA 2, 254. Eine solche Begründung unternimmt Lessing in
Christentum der Vernunft (ca. 1752) für das Trinitätsdogma, das für Wolff noch ein über-
vernünftiges Mysterium der Offenbarung ist. Später distanziert er sich allerdings von die-
sen Versuchen (FLA 11,2, 643). Andererseits finden sich Mitte der 70er Jahre in seinen
Schriften Wissowatius, Leibniz und Adam Neuser wiederum Apologien der Trinitätslehre
(Timm 1974, 33). In Erziehung interpretiert er die Trinität jedoch neu als ein Konzept das
die Vereinbarkeit der Einheit Gottes mit einer gewissen Form von Vielheit zeige. Mit Ja-
cobi lässt sich dies als Hinweis auf seinen späteren Spinozismus und dessen Verhältnisbe-
stimmung von absoluter Substanz und Einzeldingen verstehen.
10
Lau 1992, 66; 76; 124. Die Bezeichnung dieser Denker als Atheisten (Mehlig 1758b,
50f.; Mehlig 1758a, 127; 593) ist dagegen eher eine Zuschreibung ihrer Kritiker, da sie
selbst durchaus noch den Glauben an Gott verteidigen (Reimarus 1781, 47f.; 217) oder
sogar von Offenbarung sprechen, diese dann jedoch z. B. im Sinne Spinozas mit der Na-
tur identifizieren.
Zwischen Kritik und Anerkennung 317

(Zeit, Ort, Familie etc.), von der politischen Herrschaft und der Gesell-
schaft abhängig seien.11 Die Abweichung historischer Religionen von der
rationalen oder natürlichen Religion stellt für diese Kritiker keinen
Mehrwert, sondern nur ein auf irrationalen Vorurteilen basierendes De-
fizit dar, das der Verwirklichung aufgeklärter Erkenntnis, Moral und Po-
litik im Wege steht.12 Allein die Differenzen der positiven Religionen un-
tereinander würden bereits jeden in einer positiven Religion offenbarten
ethischen und dogmatischen Universalitätsanspruch ad absurdum füh-
ren. 13 Der Bedingtheit historischer Glaubensbekenntnisse, wie dem
christlichen, stellen diese Aufklärer deshalb die Unbedingtheit der
menschlichen Vernunft und die Universalität der durch sie allein be-
gründeten Vernunftreligion entgegen. 14 Die vermeintlich rationalen
Rechtfertigungen über die Vernunftreligion hinausgehender Glaubens-
dogmen würden dagegen nur für den ohnehin schon gläubigen Men-
schen auf Grund seiner zufälligen und unfreiwilligen religiösen Prägung
und Dressur Überzeugungskraft besitzen und die Vernunft zu einem
Werkzeug herabwürdigen, „dasjenige zu erweisen und zu rechtfertigen,
was sie schon zum voraus wünschten wahr zu finden“.15 So ist der einzig
legitime Modus, in dem sich die Vernunft auf religiöse Gehalte richten
kann, allein die kritische Negation ihrer von der natürlichen Religion
unterschiedenen Gehalte (Trinität, Inkarnation, Exodus etc.).16
Den positiven Gehalten der historischen Religionen komme besten-
falls noch ein historisch-instrumenteller Wert zu: Zum Zwecke der Ver-
gemeinschaftung der Religion musste man sich in einer Gesellschaft
einmal auf bestimmte Inhalte einigen, um eine Gleichartigkeit in der Re-
ligionsausübung zu garantieren. Wie beim positiven Recht seien diese

11
Lau 1992, 73; 98; Mauvillon 1787, 9ff.; Ferguson 1800, 89.
12
Ernst und Falk FLA 10, 33.
13
Vgl. etwa Mauvillon 1787, 32ff.; BvG FLA 10, 193; vgl. hierzu auch Eisenstein-
Barzalay 1956, 2.
14
Mauvillon 1787, 21; Rettungen FLA 3, 210; Duldung FLA 8, 116f.; 120; 189; 193;
198f.; 212; 131; Reimarus 1781, 47; Reimarus 1786, 430f.; Reimarus 1972, 50; Reimarus
1994a, 423; PP DD 1, 290.
15
Reimarus 1972, 41f.; 96; Reimarus 1786, 418f.; Reimarus 1972, 41f.; 44; Duldung
FLA 8, 175; vgl. ebenso: Fischer 1789, 223f.; Nathan FLA 9, 553.
16
Reimarus 1972, 43; 46ff.; 51; 53; Duldung FLA 8, 184; 210; 214–216; 229; 236-246.
Vgl. ebenso Bahrdt 1779, 10–13; PP DD 1, 299f.; La Mettrie 2009, 24; ÜEgR FLA 5,1,
423. Auch die vermeintlich historischen Wahrheiten (Auszug aus Ägypten, Wundererzäh-
lungen etc.) der Offenbarungsschriften, die sich naturgemäß ohnehin nicht aus der Ver-
nunft deduzieren ließen, überstehen, zumindest für Reimarus, auf Grund ihrer
Unplausibilität und der Unzuverlässigkeit der Zeugen etc. keine historische Kritik (Rei-
marus 1994b, 466–468; ders. 1972, 51; 264; 280ff.; 286ff.; 302–326; vgl. hierzu Allison
2009a, 35; 37).
318 Zwischen Kritik und Anerkennung

Setzungen der positiven Religionen jedoch rein konventioneller Natur.17


Ihre Anerkennung verdankten sie einzig der Autorität ihres jeweiligen
Stifters sowie dessen Behauptung, diese Konventionen seien prophetisch
empfangene göttliche Setzungen. 18 Im Unterschied zur rein positiven
Gesetzgebung, bei der die Einsicht in die Positivität den Gesetzen nichts
von ihrer Verbindlichkeit nimmt, da innerweltliche Sanktionen ihre Be-
folgung erzwingen können, verhält sich dies in der Religion anders: Mit
der aufklärerischen Einsicht in den menschlichen Ursprung der religiö-
sen Satzungen verlieren diese ihre Autorität. Im Grunde sollten sich die
historischen Religionen zuletzt selbst überflüssig machen und in die na-
türliche übergehen. Verteidigen die Deisten die natürliche Religion im-
merhin noch gegen den Atheismus, so lehnen radikale Kritiker wie Ein-
siedel selbige „als ein unklares Zwitterding und als ein schwächliches
Kompromiß“ ab und machen die konsequente Abschaffung jeder Reli-
gion zur Bedingung der Selbstbefreiung des Menschen.19 Denn es gebe
keine Religion, die „nicht mit der Zeit das Böse mehr als das Gute“ her-
vorbringen würde. 20 An ihre Stelle solle der „natürlich[e] Trieb von
Recht und Unrecht“21 treten und damit „die wahre der menschlichen
Natur angemessenste Moralität erst anfangen“,22 die nicht im Willen ei-
nes uns unbekannten Gottes, sondern „im Bau des Gehirns unwandelbar
gegründet“ sei.23
Gegen diese soeben skizzierte Religionsaufklärung, sei sie nun eher af-
firmativ oder kritisch, lässt sich jedoch einwenden, dass hier das religiöse
„Sprachspiel“ einfach in das Sprachspiel der aufgeklärten Vernunft über-
setzt wird und damit gerade das, was für das religiöse Bewusstsein am
Glauben zentral ist, annihiliert wird. 24 Dass das religiöse Bewusstsein,

17
ÜEgR FLA 5,1, 424.
18
Reimarus 1972, 54. Radikalere Kritiker greifen dabei die These von den drei Betrü-
gern Moses, Jesus und Mohammed auf (etwa: Edelmann 1999, 143f.; Anonymus1992; ab-
gemildert: Herrenhuther FLA 1, 938f.; Einsiedel 1957, 84ff.; 182ff.), die bereits im Mittel-
alter in einem nie aufgefundenen Buch vertreten worden sein soll, dessen Autor so lange
gesucht wurde, bis es die Aufklärer schließlich gleich zweimal selbst geschrieben haben.
Der deutsche Autor der lateinischen und 1761 von J. C. Edelmann ins Deutsche übersetz-
ten und kommentierten Version ist J. J. Müller (1661–1733) (ibid., 46). Der Verfasser der
französischen Version (ed. Anonymus 1992) ist unbekannt.
19
Cassirer 2007, 140f.
20
Einsiedel 1957, 78. Vgl. ebenso Edelmann1999, 152.
21
Einsiedel 1957, 89.
22
Einsiedel 1957, 125.
23
Einsiedel 1957, 126.
24
So wird den Neologen vorgeworfen, dass sie den historischen Gehalt, die göttliche
Inspiration der Bibel, die Trinität, die Göttlichkeit Christi und die Erbsünde aus dem
Christentum eliminieren (Kühn 2014, 157).
Zwischen Kritik und Anerkennung 319

für das religiöse Ansprüche vom Absoluten her zu denken sind,25 seine
rationale Kritik durch die eben skizzierte Aufklärung nur schwer aner-
kennen kann, ist offensichtlich.26 Um dem Selbstverständnis des religiö-
sen Bewusstseins Rechnung zu tragen, plädiert Lessing in Wissowatius
deshalb für eine strikte Trennung der miteinander inkommensurablen
offenbarungsreligiösen und rationalistisch-philosophischen Diskurse.
Durch die Reduktion des religiösen Narrativs auf Wahrheiten der Ver-
nunft bleibe nur ein Abstraktum zurück, das die Religion gewaltsam ih-
res eigenen Selbstverständnisses beraube. 27 Das daraus entstehende
„Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen“28 schade Vernunft und
Religion gleichermaßen. Das Absehen von der Geschichte als wesentli-
cher Wurzel der Religion verstümmle selbige, anstatt sie zu reinigen. In
diesem Sinne kritisiert Lessing auch den Versuch, das Glaubensdogma
von Christus als dem Erlöser des Menschen durch seine Reduktion auf
einen frommen Mann und „zärtlichen Kinderfreund“ zu popularisie-
ren.29 Die christliche Orthodoxie würde darin zu Recht eine „Verstüm-
melung“ ihrer Soteriologie erblicken.30 Die Reduktion von geoffenbarten
Wahrheiten auf solche der Vernunft und Moral lasse nur ein „unendlich
abgeschmackte[s] und lästerliche[s]“ caput mortuum des Christentums
zurück.31 So fordert Lessing die radikale Trennung von Vernunftwahr-
heiten und religiösen Geschichtswahrheiten.32
Stehen diese Wahrheitstypen bei Lessing nun aber zunächst in einem
unmittelbaren Gegensatzverhältnis inkommensurabler Wahrheitsnarra-
tive, so integriert er diesen Gegensatz später mittels der Analogie von
25
Dierksmeier 1998, 99f.
26
So kritisiert etwa Leo Strauss die moderate (jüdische) Aufklärung für ihre Zurück-
führung der jüdischen Religion auf die reine Vernunft, die die Notwendigkeit des religiö-
sen Gesetzes und der göttlichen Offenbarung obsolet mache. Damit würde das Judentum
als Religion verschwinden (Pelluchon 2014, 38f.). Hiergegen setzt er gerade die Aufklä-
rungskritik Jacobis (ibid. 40f.).
27
Wissowatius FLA 7, 580. In ÜBGK (1777) klagt Lessing dann aber selbst über
„de[n] garstige[n] breite[n] Graben“, der historische Tatsachenwahrheiten und notwendi-
ge Vernunftwahrheiten trennt und „über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich
ich auch den Sprung versucht habe“ (FLA 8, 443). Vgl. hierzu auch Cassirer 2004, 95;
Guthke 1965, 13.
28
Brief an Karl Lessing vom 2. 2. 1774 FLA 11,2, 615.
29
BNLb FLA 4, 599f.; vgl. auch: ibid., 471; 482; 602; 605.
30
BNLb FLA 4, 600.
31
FLA 11,2, 615; FLA 12, 245; Wissowatius FLA 7, 578. Wie Lessing plädiert auch
Saul Ascher für eine Trennung von Vernunft und Glauben: Der Versuch, den Glauben
vernünftig zu machen, führe zur Entrechtung der Vernunft durch die Kirchen, die Reduk-
tion des Glaubens auf bloße Vernunftwahrheiten untergrabe die gesamte Religion (Ascher
1792, 85f.).
32
Allison 2009a, 36.
320 Zwischen Kritik und Anerkennung

Offenbarung und Erziehung in eine Aufklärungskonzeption, in der die


unterschiedlichen Diskurse in ihrem Eigenrecht anerkannt, gleichzeitig
aber in einen Dialog gebracht werden. Dadurch transformiert Lessing
sowohl das Selbstverständnis der offenbarten Religionen als auch das
Selbstverständnis der aufgeklärten Vernunft. In der gleichzeitigen Histo-
risierung von religiöser Offenbarung und Vernunft versucht er nicht die
Offenbarung vermittelt durch den Begriff der Geschichte auf „notwen-
dige Vernunftwahrheiten“ zu reduzieren, sondern Vernunft und Offen-
barung in ein beide als Momente enthaltendes Konzept geschichtlicher
Entwicklung zu integrieren. Erst indem Lessing mit der geschichtlichen
Bedingtheit der Religion auch die historische Bedingtheit der Vernunft
hervorhebt, können beide in ein komplementäres Verhältnis treten.33
Das in jeder Offenbarungsreligion zutage tretende, scheinbare Para-
dox, dass Gott eine nur wenigen Menschen zugängliche Offenbarung als
Mittel der Selbstoffenbarung gewählt hat, löst Lessing dabei durch eine
konsequente Historisierung dieses Anspruchs: Zur Zeit und am Ort ih-
rer Entstehung war diese partikulare Offenbarung notwendig, damit eine
bestimmte Gruppe von Menschen zur Erkenntnis Gottes und der Moral
gelangen konnte.34 Auf diese Weise ist sowohl das Judentum wie auch
der Bund, den Christus gestiftet hat, jeweils nur eine Stufe innerhalb der
Erziehung des Menschengeschlechtes. Auch die Lehre Christi konnte
nur eine historisch situierte Wahrheit offenbaren, so dass auch sie in ei-
ner noch ausstehenden, späteren Entwicklung des menschlichen Be-
wusstseins irgendwann abgelöst werden wird.35
Der Notwendigkeitscharakter einer Religion ist, will er sich nicht
durch seine Partikularität ad absurdum führen, sowohl aus Sicht des reli-
giösen Bewusstseins als auch nach Lessing nur dann zu halten, wenn er
historisch relativiert wird. Das religiöse Selbstverständnis, sofern es Re-
ligionen als Produkt bestimmter Offenbarungen Gottes versteht, muss
nämlich auch die zumindest partielle Legitimität der aus seiner Sicht
„falschen“ Religionen anerkennen, wenn er Gott nicht schlechte Öko-
nomie vorwerfen will.36 Umgekehrt kann aus der Perspektive des aufge-
klärten Bewusstseins die Entwicklung der Offenbarungen als sich fort-
setzende Selbstoffenbarung Gottes verstanden werden. Denn tatsächlich
33
Strohschneider-Kohrs 1991, 210; dies. 2009, 20f.
34
Gegensätze FLA 8, 332. Die Morallehre Jesu sei zu ihrer Entstehungszeit so revolu-
tionär gewesen, dass sie der Wunder bedurft hätte, um die Menschen auf sie aufmerksam
zu machen und ihnen so Anlass zur Selbstaufklärung ihrer Vernunft zu geben (ÜBGK
FLA 8, 444).
35
Duplik FLA 8, 518f.; Heftrich 1978, 55; B. Fischer 2000, 65.
36
„Gott hätte seine Hände bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?“ (Er-
ziehung FLA 10, 74.) Vgl. auch: Gegensätze FLA 8, 320f.
Zwischen Kritik und Anerkennung 321

kommt Gott im sich historisch entwickelnden menschlichen Bewusst-


sein immer mehr zum Bewusstsein seiner selbst. Im menschlichen Be-
wusstsein und seinen Stadien entwickelt sich – entsprechend der Trini-
tätsinterpretation der Erziehung – die Idee Gottes (= Gottes Sohn) zu
immer größerer Vollkommenheit und Gott wird damit im Menschenge-
schlecht wirklich. Das menschliche Bewusstsein ist der Sohn, in dem
Gott „die vollständigste Vorstellung von sich selbst“37 und Wirklichkeit
hat.38 Aus dieser Perspektive ist es dann fast schon tautologisch, dass sich
Gott dem Menschen nur insoweit offenbaren kann, inwieweit ihn das
menschliche Bewusstsein auf seiner jeweiligen Entwicklungsstufe fassen
kann.39
Die Geschichte der menschlichen Erziehung wird von Lessing also
gewissermaßen aus zwei einander ergänzenden Perspektiven erzählt: der
Perspektive der aufgeklärten Vernunft und der Perspektive des religiösen
Bewusstseins. Damit findet eine Anerkennung religiöser Narrative statt,
weil die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins aus religiöser Per-
spektive als Offenbarung Gottes verstanden werden kann. Aus säkularer
Perspektive kann diese Geschichte hingegen als Prozess einer Selbstauf-
klärung der menschlichen Vernunft und einer prozessualen Offenbarung
des Absoluten im menschlichen Bewusstsein verstanden werden.40 Das
heißt, Lessing glaubt mit seiner Konzeption die Eigenständigkeit beider
Diskursformen anerkennen zu können. Gleichzeitig überwindet Lessing
mit der Historisierung der Vernunft den „garstigen breiten Graben“
zwischen kontingenten historischen Tatsachenwahrheiten und notwen-
digen Vernunftwahrheiten und erkennt die historische Standortgebun-
denheit und Bedingtheit der menschlichen Vernunft an.
Der fundamentalste Einspruch gegen die kritische Form religiöser
Aufklärung erfolgt jedoch durch Herder, der auf die Abhängigkeit jeder
konkreten Gestalt von Offenbarung vom jeweiligen Entwicklungsstand
ihrer Adressaten hinweist und dies mit der Entwicklung des menschli-
chen Individuums und der ihm jeweils angemessenen Erziehungsart ver-
gleicht. In beiden Entwicklungen gebe es ein Alter, in dem das Subjekt
der Erziehung nicht durch Vernunft, sondern nur durch Neigung, Bil-
37
Erziehung FLA 10, 93.
38
Ähnlich gäbe es auch rein rationale Deutungen des Dogmas der Erbsünde und des
Sühnetods Christi (Erziehung FLA 10, 94).
39
Erziehung FLA 10, 95f.
40
Dies mag auf den ersten Blick wie eine Hegelianisierung Lessings klingen. Allerdings
fehlen mindestens zwei Gedanken, die für Hegel konstitutiv sind: Zunächst einmal wird
die Geschichte nicht als dialektischer Prozess verstanden, zum anderen (und daraus fol-
gend) wird die Geschichte als offener Prozess verstanden und das Ende gewissermaßen
offen gelassen.
322 Zwischen Kritik und Anerkennung

dung und Autorität lernen könne. Die hierbei anerzogenen Vorurteile,


diese „fast göttlichen Züge, die unser ganzes Leben beseligen oder ver-
derben“,41 sind dabei die Grundsäulen aller späteren Bildung. In frühen
Entwicklungsstufen seien nicht Vernunft und Demonstration, sondern
notwendig „Religion, Furcht, Autorität, Despotismus das Vehikulum
der Bildung“.42 Als „Sinne und Gefühl!“43 könne der Mensch auf dieser
Stufe nicht durch Vernunftgründe unterrichtet werden. Nicht die be-
rechnende Vernunft, sondern die Poesie der Hebräer sei deshalb „die
Morgenröte der Aufklärung der Welt“44 gewesen. In ihr würden sich die
frühesten Vorstellungsarten der menschlichen Seele, „die älteste Ge-
schichte des menschlichen Geistes und Herzens“ zeigen.45
Auf dem durch die geoffenbarte Religion anerzogenen Fundament
ruht nach Herder jede spätere Entwicklungsstufe, so dass auch die Auf-
klärung selbst von dieser menschlichen Bildungsstufe abhängig ist. Die
Form der aus aufgeklärter Perspektive unaufgeklärten Religion des Mor-
genlandes war dem damaligen Zeitgeist am Ort des Auftretens der Pro-
pheten gerade angemessen. Die Propheten aus aufgeklärter Perspektive
als Betrüger zu verurteilen, heißt nicht nur einen kategorialen Fehler zu
begehen,46 sondern zu ignorieren, dass die Aufklärung selbst ohne sie
nicht möglich geworden wäre.
Auch wenn Herder die Geschichte der Menschheit als Bildungsge-
schichte begreift, so unterscheidet sich seine Konzeption doch dadurch
von der Standardgeschichtsschreibung der Aufklärung, dass er diese
Entwicklung nicht als reinen Fortschritt, sondern auch als Verlustge-
schichte begreift. Was der Aufklärung verloren gegangen ist, ist gerade
das, was vorangehende Epochen auszeichnet: nämlich Sinne und Gefühl.
Diese wurden abgelöst durch eine nur mehr kalkulierende, instrumentel-
le Vernunft. Weil ihr Sinne und Gefühl fehlen, ist die neuzeitliche Auf-
klärung auch nicht in der Lage, mit ihrem Paradigma aufgeklärter Ratio-
nalität die vorangehenden Zeiten angemessen zu interpretieren. Bei der
Übersetzung des damaligen Zeitgeistes in den eigenen verfehlt sie selbi-
gen deshalb notwendig.
Als Folge können selbst wohlwollende Interpretationen mit dem In-
strument der deistischen Vernunft die Bibel nicht rationalisieren, son-
dern verwandeln sie aufgrund der Ignoranz gegenüber den Spezifika der

41
APGBM FHA 4, 16; vgl. auch: ibid., 16; 22.
42
APGBM FHA 4, 22.
43
Urkunde FHA 5, 250.
44
VGEP FHA 5, 690.
45
VGEP FHA 5, 690; 698f.
46
APGBM FHA 4, 17f.
Zwischen Kritik und Anerkennung 323

morgenländischen Vorstellungswelt in „die dünneste und lauterste Deis-


tische Wasserbrühe“.47 Die theologischen Begriffe der Aufklärung wären
sowohl für die Verfasser als auch die Rezipienten etwa der Genesis
schlechthin so unverständlich gewesen wie die abstrakten Begriffe der
Gottheit für Kinder.48 Die Genesis wird so auch notwendig missverstan-
den, wenn man sie vor den Gerichtshof der Vernunft zitiert, um sie dann
als Aberglauben zu denunzieren. Denn innerhalb des Referenzrahmens,
in dem sie entstanden ist, hat sie eine der aufklärerischen Vernunft in-
kommensurable Bedeutung.49
Aufklärung verschließt sich damit von vornherein dem Verstehen ei-
ner historischen Religion, wenn sie sie am Maßstab ihrer Vernunft misst.
So sind die verwendeten Naturbilder der Genesis (Licht, Morgenröte,
Trennung der Wasser) nicht ein privativer Modus der rationalen Er-
schließung Gottes und der Weltentstehung, sondern Ausdruck einer ei-
genständigen, dem damaligen Zeit- und Nationalgeist angemessene poe-
tische Form der Erfahrung des Göttlichen.50 Für den kalten abendländi-
schen Deisten sind diese damals der lebendigen Anschauung entnom-
menen Bilder nur noch „totes Bild, Witz einer schönen Vergleichung“.51
Umgekehrt wären die abstrakten Ideen der Aufklärung dem „Orienta-
len“ unbegreiflich geblieben.
Entgegen der Kritik biblischer Sprache und Bilder versucht Herder
sich diese deshalb verstehend anzueignen. Für Herder ist ein Verständnis
religiöser Offenbarung nur dadurch möglich, dass man ihren immanen-
ten Sinn erschließt. Durch ihre „falsche, ungeschichtliche (und unwirkli-
che) Abstraktion“52 vom immanenten Sinn religiöser Urkunden würde
die Aufklärung deren Gehalt auf physikalische und metaphysische Sach-
verhalte reduzieren und die für diese Urkunden spezifische Sprache und
Begriffswelten sowie ihre spezifischen Vorstellungsarten von Gott und
Natur zum vernachlässigbaren „Fabelchen [...], zum Nationalmärchen
aus Orient“53 erklären.54

47
Urkunde FHA 5, 238.
48
„Wie tausendmal mehr töricht, wenn du einem Kinde deinen philosophischen Deis-
mus, deine ästhetische Tugend und Ehre, deine allgemeine Völkerliebe voll toleranter Un-
terjochung, Aussaugung und Aufklärung nach hohem Geschmack deiner Zeit großmütig
gönnen wolltest!“ (APGBM FHA 4, 19.)
49
APGBM FHA 4, 18.
50
Urkunde FHA 5, 277; 239; 250; 206; 216.
51
Urkunde FHA 5, 207.
52
Gadamer 1987, 325.
53
Urkunde FHA 5, 237.
54
Urkunde FHA 5, 205; 185; FAM SWS 6, 86f.
324 Zwischen Kritik und Anerkennung

Jeder Versuch, die Standards aufgeklärter Vernunft etwa auf das Alte
Testament zu übertragen, impliziert für Herder zwangsläufig einen Ka-
tegorienfehler, nämlich die Übertragung der für die Aufklärung gültigen
Kategorien auf ein für sie unpassendes Zeitalter.55 Eine adäquate Ausle-
gung biblischer Schriften muss sich dagegen in ihre Rezipienten „einfüh-
len“.56 So wie sich in der aufgeklärten Gottesvorstellung der Geist Euro-
pas im 18. Jahrhundert ausdrückt, so manifestiert sich in der Genesis der
Geist der Morgenländer.57 Ein adäquates Verständnis des Alten Testa-
ments erschließt sich deshalb nur, wenn man selbiges nicht als philoso-
phische Abhandlung, sondern als poetische Dichtung versteht.58 Ein Wi-
derspruch zur aufgeklärten Philosophie kann dabei gar nicht auftreten,
da die Kategorien nicht aufeinander übertragbar sind. Die Aufgabe exe-
getischer Aufklärung dieser Schriften besteht deshalb nicht in rationaler
Kritik, sondern in der Aufschlüsselung der Symbolik und der Entde-
ckung des ihr zu Grunde liegenden Geistes. Demgegenüber präsentiert
Herder Kants moralphilosophische Auslegung der Bibel – ihre
„Transmoralisation“59 – als ungelehrten Skandal. Die „Sinnesarten aller
Zeiten und Länder“60 würden in die Ideenwelt Kants transferiert und
verfremdet. Die Philosophie habe sich in Kants Kritik der Religion da-
mit „außer ihren Grenzen erlustigt“,61 wie Herder just dem Autor vor-
wirft, dessen Denken sich dem eigenen Anspruch nach stets innerhalb
der Grenzen reiner Vernunft und damit reiner Philosophie bewegt.
Versteht man Herders Kritik an den Auslegungsmaßstäben der Auf-
klärung nun als Gegen-Aufklärung, verfehlt man ihren Sinn. Herder in-
tendiert keine Apologie vergangener Zeiten und trauert schon gar nicht
der guten alten, aber vergangenen Zeit nach, sondern versucht diese zu
verstehen und ihr Aufklärungspotential zu entbergen.62 Der autoritäre
Geist der Patriarchenzeit etwa, der der damaligen Entwicklungsstufe
menschlicher Bildung angemessen und darum notwendig war,63 gehört
55
FAM SWS 6, 33.
56
FAM SWS 6, 19; 56. Diesem Gedanken des Verstehens liegt m. E. Herders metaphy-
sischer Spinozismus zu Grunde: „Gott ist alles in seinen Werken.“ (Ideen SWS 13, 10.)
„Indessen ist auch jeder falsche Schimmer von dir dennoch Licht und jeder trügliche Al-
tar, den er dir baute, ein untrügliches Denkmal nicht nur deines Daseins sondern auch der
Macht des Menschen, dich zu erkennen und anzubeten.“ (Ideen FHA 6, 162.)
57
„Bild der Gottheit! Menschlicher Geist! - du bist mein Offenbarer über die Philoso-
phie!“ (FAM SWS 6, 89.)
58
Urkunde FHA 5, 258; FAM SWS 6, 19.
59
VRLG FHA 9,1, 815.
60
VRLG FHA 9,1, 815.
61
VRLG FHA 9,1, 817.
62
Wood 2009, 323.
63
APGBM FHA 4, 17.
Zwischen Kritik und Anerkennung 325

der Vergangenheit an und wird durch die Entwicklung des Selbstbe-


wusstseins der Freiheit im Menschen überwunden. Denn die autoritär-
despotische Herrschaft der Patriarchen machte es dem damaligen Men-
schen unmöglich, den Begriff einer freieren Staatsverfassung überhaupt
auszubilden. Eben deshalb musste sie auch zu Grunde gehen. Das kind-
liche Religionsgefühl des alten Morgenlandes wäre für „unsern philoso-
phischen Weltteil“ nicht nur schädlich, sondern „gar unmöglich“ – so
wie es für den Erwachsenen eben auch unmöglich ist, wieder in das ge-
fühlsmäßige und intellektuelle Stadium seiner Kindheit zurückzukeh-
ren.64 Das bedeutet aber nicht, dass der religiöse Erziehungsmodus des
Morgenlandes ein privativer gewesen wäre, sondern er war der damali-
gen Entwicklungsstufe so angemessen, wie er dem europäischen 18.
Jahrhundert unangemessen wäre. Die aufklärerisch-philosophische Kri-
tik an diesen Zeiten ignoriert jedoch, dass man jede Epoche am Maßstab
ihrer eigenen Entwicklung messen und diesen für ihr adäquates Ver-
ständnis erst einmal anerkennen muss.65 Gleichzeitig ist diese Anerken-
nung immer nur vor dem Horizont der eigenen historischen Interessen,
der eigenen Vorurteile, der „eigne[n] Nationalneigungen“ und der eige-
nen Entwicklungsstufe möglich.66
Auch wenn Herder Geschichte also nicht als reinen Fortschritt deutet,
so nimmt er doch durchaus einen Fortschritt im Bewusstsein der Men-
schen an: das Bewusstsein der Freiheit. Außerdem gelangt das Bewusst-
sein zum Selbstbewusstsein seiner eigenen Historizität. Diesen „Plan des
Fortstrebens“ der „Gestalt der Menschheit“ in der Geschichte bezeich-
net Herder sogar als sein „großes Thema“.67 Dies kann aber nur imma-
nent aus dem Verständnis der einzelnen Zeit- und Nationalgeister entwi-
ckelt werden. Die Aufklärung, die alle geistigen Bewusstseinsformen auf
die eigene reduziert, verdunkelt dagegen diesen Fortschritt und auch das
Bewusstsein der Potentiale, die auf dem Weg zur Aufklärung verloren
gegangen sind.
Wir können zusammenfassend die spezifische Differenz der beiden
Aufklärungsformen vielleicht so kennzeichnen: Für die religionskritische
Aufklärung ist Religion bloßes Objekt, für die anerkennende Aufklä-
rung ist sie hingegen auch historisches Subjekt der Aufklärung. Dieses
aufklärerische Potential der Religion anzuerkennen setzt jedoch zu-
nächst eine Anerkennung des Eigenrechts religiöser Narrative voraus.

64
APGBM FHA 4, 18.
65
APGBM FHA 4, 22.
66
APGBM FHA 4, 39.
67
APGBM FHA 4, 40.
2. KAPITEL: PRAKTISCHER GLAUBE BEI
KANT UND JACOBI

In diesem Kapitel untersuchen wir die unterschiedlichen Glaubensbe-


griffe bei Kant und Jacobi sowie ihre Integration in das jeweilige Aufklä-
rungsprojekt. Kants Entwicklung seines kritischen Glaubensbegriffs
liegt dabei die Unbedingtheit moralischer Geltungsansprüche der prakti-
schen Vernunft zu Grunde. Um diese Unbedingtheit zu begründen,
zeigt er in der KrV zunächst das Scheitern der natürlichen Theologie als
einem spekulativen Wissen von Gott. Die Einsicht in dieses Scheitern
macht Platz für den moralisch-praktischen Vernunftglauben an Gott,
den er dann in seiner praktischen Philosophie expliziert (A). Jacobis De-
duktion des Glaubensbegriffs liegt hingegen die Reflexion auf die Unzu-
länglichkeit der spekulativen Vernunft zu Grunde, ihre theoretischen
Geltungsansprüche absichern zu können. Die theoretischen Vollzüge
der Vernunft sind für Jacobi in einem unbedingten und spekulativ nicht
konstruierbaren menschlichen Handlungsbewusstsein fundiert, in dem
sich das Subjekt immer schon transzendiert und das Jacobi als Glaube
bezeichnet (B).

A. Der Glaube der Praxis bei Kant

Dieser Abschnitt entwickelt den kantischen Glaubensbegriff in drei


Schritten: In einem ersten Schritt betrachten wir Kants Analyse des
Scheiterns aller spekulativen Theologie als einem Wissen von Gott und
die kritische Reduktion des Begriffs Gottes auf eine regulative Idee für
die Praxis des Erkennens (I). In einem zweiten Schritt exponieren wir die
Unbedingtheit des moralischen Gesetzes und ihre Unabhängigkeit von
der Idee Gottes als Grundlage des moralischen Glaubens, die anders als
in der Praxis des Wissens in der Handlungspraxis objektive Realität ge-
winnt (II). Hiervon unterscheiden wir zuletzt den religiösen Gebrauch
der Idee Gottes als Gegenstand menschlicher Hoffnung (III).
Der Glaube der Praxis bei Kant 327

I. Die Idee Gottes in der Praxis des Erkennens

Zunächst untersuchen wir die Idee Gottes in der Philosophie Kants im


Hinblick auf ihre Funktion für die menschliche Erkenntnis- und Ur-
teilspraxis. Kants Kritik der Gottesbeweise werden wir dabei nur am
Rande thematisieren. Stattdessen vergleichen wir Kants theoretischen
Gottesbegriff aus BDG (1763) mit dem aus KrV im Hinblick darauf, in-
wiefern beide Texte „Gott“ als notwendige Voraussetzung des Denkens
(oder Urteilens) thematisieren und „Gott“ zu einer Voraussetzung des
Selbstdenkens machen. Dabei zeigen wir, dass die wesentliche Trans-
formation von BDG zu KrV den Status betrifft, der „Gott“ dabei jeweils
zugeschrieben wird: In BDG muss Gott als der notwendigen Vorausset-
zung allen möglichen Urteilens objektive Realität, das heißt Dasein und
objektive Bestimmtheit zukommen. Damit sind die Vollzüge des Ver-
standes von Gott als einem dem Denken transzendenten, absoluten
Grund abhängig (a). In KrV wird diese Voraussetzung als autonom
durch das Denken gesetzte Idee Gottes in die menschliche Vernunft in-
tegriert. Als unbestimmtes Ideal ohne objektive Realität kommt ihr zwar
weiterhin eine notwendige Funktion für unser Urteilen zu, sie ist aber
kein dem Denken extern vorausgesetzter Grund mehr (b).

a. Gott als der transzendente Grund des menschlichen Verstandesge-


brauchs

In KrV bestimmt Kant Gott, sofern er Gegenstand der spekulativen


Theologie ist, als „die absolute Einheit der Bedingung aller Gegenstände
des Denkens überhaupt“.1 Ist dieser Begriff 1781 auf ein bloßes Ideal der
Vernunft reduziert, versteht ihn BDG noch als wirkliche, konstitutive
Bedingung allen möglichen Denkens. Soll überhaupt etwas gedacht wer-
den können, muss bereits das Dasein Gottes als Bedingung der Möglich-
keit alles Denkbaren gesetzt sein.2 Das Argument lässt sich dabei folgen-
dermaßen rekonstruieren:

1
KrV B 391/A 334; vgl. auch B 608/A 580.
2
Die Schrift ist damit zugleich „Höhepunkt und das letzte Zeugnis von Kants Zutrau-
en in die dogmatische Metaphysik“ (Kreimendahl/Oberhausen 2011, xix). Kant greift das
Argument allerdings ein Jahr später noch einmal in seiner Schrift Untersuchung über die
Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral auf. Erstmals
greifbar wird das Argument in Nova Dilucidatio (ibid., liv ff.; Schmucker 1980).
328 Praktischer Glaube

i. Wenn überhaupt nichts existieren würde, dann gäbe es auch nichts


Denkbares. Es wäre kein Datum oder Material gegeben, das Gegenstand
des Denkens sein könnte.3
ii. Mit der Aufhebung alles Denkbaren würde auch die logische Mög-
lichkeit aufgehoben. Diese bezieht sich nämlich immer auf die Verbin-
dung von einem Subjekt und einem Prädikat. Sie bezeichnet nur die
formale Relation der Widerspruchsfreiheit zwischen zwei Data des
Denkens (einem Gegenstand und einer Eigenschaft). Die formale Mög-
lichkeit drückt nur die Kompatibilität zweier Begriffe aus, aber dies setzt
die Gegebenheit desjenigen, was in ein Verhältnis gesetzt wird, als mate-
riale Bedingung der Möglichkeit voraus. 4 Als Relation ist die formale
Möglichkeit durch die Gegebenheit der Data, an denen sie auftreten
kann, bedingt. Wenn irgendein Mögliches ist, dann muss auch etwas
Wirkliches gesetzt sein.5
iii. Da Negation von Möglichkeit (dass überhaupt etwas möglich ist)
Unmöglichkeit ist, ist es nicht möglich, dass die Möglichkeit nicht ist. Es
ist deshalb notwendig, dass überhaupt etwas möglich ist. Kant schließt
also aus der Unmöglichkeit der Unmöglichkeit als solcher auf die Not-
wendigkeit, dass es etwas Mögliches (im Sinne eines bestimmten Mögli-
chen) gibt.6
iv. Damit ist es nach (i) aber auch notwendig, dass etwas da ist. Der
Gedanke, dass nichts existiert, hebt hingegen seine eigene Möglichkeit
auf.7
v. Das der Möglichkeit zu Grunde liegende Dasein kann nicht kontin-
gent sein, sondern muss notwendig sein. Ansonsten wäre die Möglich-
keit selbst kontingent, was (iii) widerspräche.
vi. Das aller Möglichkeit zu Grunde liegende notwendige Dasein ist
das „Dasein des einigen vollkommensten und nothwendigen Wesens“
oder Gottes.8
3
BDG AA 2, 77f.
4
Förster 2000, 78.
5
BDG AA 2, 78.
6
Gegen dieses Argument wendet Wood ein, dass die Negation aller möglichen Dinge
nicht die Negation aller möglichen Sachverhalte impliziere, da auch die notwendig leere
Welt noch ein möglicher Sachverhalt wäre (Wood 1978, 70). Im Rahmen von Kants vor-
kritischer Prädikatenlehre scheint dieser Einwand jedoch illegitim. Denn in ihr unter-
scheidet Kant zwischen realen und negativen Prädikaten, wobei letztere nur die Realität
eines realen Prädikats negieren oder einschränken. Damit ein rein negatives Prädikat wie
„leer“ überhaupt von einem unbestimmten Gegenstand wie „der Welt“ ausgesagt werden
kann, muss deshalb bereits ein reales Prädikat vorausgesetzt sein, dessen Realität durch
„leer“ negiert wird.
7
BDG AA 2, 79.
8
UD AA 2, 297.
Der Glaube der Praxis bei Kant 329

vii. Aus dem Begriff Gottes als dem allem Möglichen zu Grunde lie-
genden notwendigen Dasein lassen sich die Prädikate des notwendigen
Daseins bestimmen. 9 Denn mit dem notwendigen Dasein Gottes sind
auch alle vollkommen realen Prädikate notwendig gesetzt, von denen al-
le anderen möglichen Prädikate nur Einschränkungen sind. Die einge-
schränkten Prädikate wären nicht möglich, wenn die vollkommenen
Prädikate nicht gesetzt wären, und die vollkommenen Prädikate können
nur gesetzt sein, wenn ihr Subjekt als ihr Träger gesetzt ist. Alles, was
möglich ist, ist nur möglich, weil es durch Gott „als einen Grund gege-
ben ist“. 10 Die Data alles Möglichen haben ihren ersten Realgrund in
Gott.11 Er ist der Grund aller möglichen Wirklichkeit, weil ihm alle rea-
len Prädikate zukommen.
In BDG versteht Kant Gott also als notwendiges Dasein, das als
Grund aller möglichen Prädikate und der logischen Möglichkeit auch
Grund des Denkens selbst ist. Denn Denkmöglichkeit ist nichts anderes
als die Relation bloßer Widerspruchsfreiheit zwischen zwei gesetzten
Prädikaten. Die den Gottesbegriff bestimmenden Prädikate leitet Kant
dabei aus der Notwendigkeit des Daseins Gottes und dessen Funktion
für mögliche logische Urteile ab. In jedem möglichen Gedanken oder
Urteil muss zumindest implizit bereits das Dasein Gottes vorausgesetzt
sein. Damit verfährt BDG in ganz anderer Weise als der ontologische
Gottesbeweis, der von den bereits als gegeben betrachteten Prädikaten
Gottes auf dessen Dasein schließt, das als ein besonderes Prädikat ver-
standen wird. Auf dieser Voraussetzung gründet auch die spätere Kritik
am ontologischen Gottesbeweis in KrV, nach der Sein nur ein logisches
und kein reales Prädikat ist:12 Einem Begriff Dasein zuzusprechen be-
deutet nicht, ihn durch ein weiteres Prädikat zu bestimmen, sondern die
unter dem Begriff gedachten Prädikate als wirklich gesetzt zu denken.13
9
UD AA 2, 297.
10
BDG AA 2, 83.
11
Anders als Spinoza denkt Kant dabei das Verhältnis von Grund und Begründetem
nicht als Inhärenzverhältnis, sondern als bloßes Dependenzverhältnis (Henrich 1994, 27;
ÜE AA 8, 224).
12
Dieses Argument wurde von Seiten der modernen Logik weitgehend akzeptiert. Zur
Kritik hieran vgl. hingegen Hintikka 1981.
13
Wäre Dasein eine inhaltliche Begriffsbestimmung bzw. ein reales Prädikat, könnten
wir nach Kant keinen Begriff als existierend denken, da der existierende Begriff dann in-
haltlich anders bestimmt wäre als der nicht als existierend gedachte Begriff. Der durch die
Prädikatenmenge P ohne das Prädikat {mächtig} bestimmte Begriff ist ein anderer als der
durch die Prädikatenmenge P2, die alle Prädikate von P1 und zusätzlich das Prädikat
{mächtig} enthält, bestimmte Begriff. Analoges müsste dann von {existierend} gelten,
wenn „Existenz“ ein reales Prädikat wäre. Der nur mögliche Begriff vom kann sich des-
halb vom realisierten Begriff nicht durch ein reales Prädikat unterscheiden, da er ansons-
330 Praktischer Glaube

Anstatt eines Prädikats ist Sein so nur „die Position eines Dinges, oder
gewisser Bestimmungen an sich selbst“.14 Mit der Negation der Existenz
Gottes werden also zugleich alle seine Bestimmungen oder Prädikate
aufgehoben, so dass überhaupt kein Widerspruch zwischen den Prädika-
ten auftreten kann.15
An Argumentationsschritt (v) kritisieren nun sowohl Wood als auch
Guyer den Schluss von „Es ist notwendig, dass (irgend)etwas existiert“
auf „Es gibt etwas, das notwendigerweise existiert“ als Fehlschluss. 16
Diese Kritik ist im Rahmen von Kants vorkritischer Prädikatenlehre je-
doch zumindest problematisch. Denn wenn das, was existiert, nur in
kontingenter Weise existieren würde, wären auch die von diesem kon-
tingenten Existierenden abhängenden Prädikate kontingent. Mit der An-
nihilation dieses Existierenden könnten die von ihm abhängenden Prädi-
kate nicht mehr gedacht werden. Ohne notwendiges Dasein wäre also
die logische Möglichkeit jedes Urteils selbst kontingent, weil dessen
Denkbarkeit kontingent wäre. Das widerspräche aber dem Begriff der
logischen Möglichkeit. Die im Begriff logischer Möglichkeit enthaltene
Notwendigkeit kann deshalb nur durch ein in sich notwendiges Dasein
begründet werden. Der Grund für die innere Möglichkeit alles logisch
Möglichen, der erste „Realgrund dieser absoluten Möglichkeit“,17 muss
deshalb die Denkbarkeit aller möglichen Prädikate mit Notwendigkeit
begründen. Dazu genügt es jedoch, dass es die vollkommen realen Prä-
dikate begründet, da in diesen die Möglichkeit aller anderen Prädikate als
bloßer Einschränkungen von jenen bereits enthalten ist. Das Dasein
Gottes als das Dasein des vollständig bestimmten Wesens, in dem alle
realen Prädikate notwendig gesetzt sind, ist damit die Voraussetzung,
dass überhaupt etwas prädikativ bestimmt werden kann.

ten nicht der Begriff des realisierten Begriffes wäre (vgl. BDG AA 2, 72; Henrich 1967,
158f.).
14
KrV B 626/A 598; vgl. auch BDG AA 2, 73.
15
Kant macht dies am Beispiel des Prädikats „Allmacht“ deutlich: Selbst wenn sich die
Allmacht als Prädikat nicht von dem Subjekt Gott als allerrealstem und allervollkom-
menstem Wesen abtrennen lässt, so heißt dies nur: Wenn Gott gesetzt ist, so ist auch die
Allmacht als eine seiner Bestimmungen gesetzt. Daraus folgt aber nicht, dass Gott als da-
seiendes Subjekt überhaupt gesetzt sein muss (KrV B 623/A 595).
16
Wood 1978, 70.
17
BDG AA 2, 79.
Der Glaube der Praxis bei Kant 331

b. Die Autonomisierung des bestimmenden Verstandesgebrauchs

Erstaunlicherweise unterwirft nun Kant in seinem späteren Versuch ei-


ner Widerlegung aller möglichen metaphysischen Gottesbeweise gerade
den eben skizzierten Beweisgrund, der als einziger nicht auf dem onto-
logischen Gottesbeweis basieren würde,18 keiner Kritik.19 Stattdessen be-
zeichnet Kant den ontologischen Gottesbeweis als einzig möglichen Be-
weisgrund für das Dasein Gottes.20 Die Kritik am ontologischen Gottes-
beweis stellt nun aber, wie wir sahen, kein Novum gegenüber BDG dar,
vielmehr schließt sich hier an die Darstellung des möglichen Beweis-
grundes eine Widerlegung der Möglichkeit dieses und aller anderen Got-
tesbeweise an.21 Bereits in BDG zeigt Kant die Unmöglichkeit, durch ei-
ne Begriffszergliederung auf die Existenz eines Begriffs und damit vom
Möglichen als einem Grund auf das Dasein als Folge schließen zu kön-
nen. Denn bereits BDG versteht „Dasein“ ja nicht als ein Prädikat,
durch das ein Begriff bestimmt würde, sondern als die Setzung eines
Subjekts mit all seinen Prädikaten.22 BDG argumentiert deshalb nicht:
„Wenn Gott als Subjekt aller realen Prädikate nicht gesetzt wäre, dann
wäre ein in sich widersprüchlicher Gegenstand gesetzt“, sondern: „Wes-
sen ‚Nichtsein das Materiale zu allem Denklichen und alle Data dazu
aufhebt‘, durch dessen Nichtsein wird die logische Möglichkeit selbst
aufgehoben“.23 Insofern scheint dieses Argument von der späteren Kritik
nicht betroffen.
Schmucker erklärt das Fehlen des einzig möglichen Beweisgrundes in
der Widerlegung der Gottesbeweise damit, dass dieser de facto bereits
vor der Widerlegung der Gottesbeweise, im zweiten Abschnitt vom

18
Nach KrV nehmen alle nicht ontologischen Gottesbeweise zuletzt den ontologi-
schen Gottesbeweis und seine Identifikation des notwendigen Wesens mit dem allerreals-
ten Wesen in Anspruch (KrV B 666/A 638; B 653/A 625; B 657f./A 629f.). Man schließe
von der Idee eines notwendigen Existierenden darauf, dass dieses das allerrealste Wesen
sei. Diesem Schluss liege der ontologische Gottesbeweis zu Grunde. Nach Wood scheitert
Kants Widerlegung der traditionellen Beweise für die Existenz Gottes jedoch unter ande-
rem an seiner nicht nachgewiesenen Behauptung, dass der kosmologische und der physi-
kotheologische Beweis vom ontologischen abhängen. Kant zeige höchstens, dass diese
Beweise nicht das Dasein des ens realissimum oder eines intelligenten Schöpfers beweisen
können (Wood 1978, 148).
19
Reich 1937, 8; zitiert nach Schmucker 1980, 142. Vgl. ebenso: Förster 2000, 95;
Knudsen 1972, 16.
20
KrV B 653/A 625; Reich 1937, 7; zitiert nach Schmucker 1980, 143.
21
Reich 1937, 8; zitiert nach Schmucker 1980, 142. Zur vorkritischen Widerlegung der
vorkantischen Gottesbeweise in BDG vgl. ausführlich Schmucker 1983.
22
BDG AA 2, 156.
23
BDG AA 2, 82.
332 Praktischer Glaube

transzendentalen Ideal als „illegitime Realisierung und Hypostasierung“


des Ideals der Vernunft und damit als transzendentaler Schein enthüllt
werde.24 Die Notwendigkeit des Daseins Gottes für die Möglichkeit lo-
gischen Urteilens und damit des Verstandesgebrauchs entfällt nämlich in
der Urteilskonzeption der KrV, da die Funktion, die dieses Dasein in
BDG notwendig macht, durch eine von der Vernunft selbst gesetzte Idee
geleistet wird. Damit ist die dem Denken transzendente Existenz Gottes
für den Verstandesgebrauch überflüssig geworden:25
BDG identifiziert die logische Urteilsebene noch mit der ontologi-
schen Ebene.26 Logisch negative oder limitierte Prädikate sind Ausdruck
ontologisch limitierter Eigenschaften. Die Dinge sind außerdem nur da-
durch möglich, dass sie logisch bestimmt sind, und diese Bestimmtheit
bedeutet, dass ihnen die Prädikate Gottes in eingeschränkter Weise zu-
kommen. Auch ontologisch sind sie durch ihre limitierte Teilhabe an den
Eigenschaften Gottes vollständig bestimmt.27 Unsere Urteilspraxis setzt
deshalb das notwendige Dasein eines vollständig bestimmten und aller-
realsten Wesens voraus, da ansonsten Urteile nicht einmal logisch mög-
lich wären. Der logische „Grund der Möglichkeit der Gedanken [oder
Urteile] von den Dingen“ ist identisch mit dem ontologischen „Grund
der Möglichkeit dieser Dinge selbst“.28 Diese Voraussetzung unserer Ur-
teilspraxis revidiert KrV in zweierlei Hinsicht. Weder setzt diese Praxis
das Dasein eines vollkommensten Wesens voraus, sondern nur dessen
Idee, noch muss diese Idee für unsere Praxis vollständig bestimmt sein.
Die Voraussetzung des Daseins Gottes wird damit in ein durch die Ver-
nunft selbst gesetztes, transzendentales Ideal transformiert.29

24
Schmucker 1980, 146.
25
So bleibt Kant nach Chignell von der Tragfähigkeit seines Beweises überzeugt,
schätze jedoch den epistemischen Status seiner Schlussfolgerung anders ein (Chignell
2012, 669).
26
In BDG unterscheidet Kant zudem noch nicht „zwischen der absoluten Notwendig-
keit von Dingen und der unbedingten Notwendigkeit von Urteilen“ (Förster 2000, 96).
27
Dies bedeutet nicht, dass Kant in BDG logische oder grammatische Negation und
reale Negation vermengen würde, auch wenn Kant erst in seinem späteren, wenn auch im
selben Jahr wie BDG erschienenen Versuch eine genaue Differenzierung zwischen logi-
scher und realer Opposition vornimmt. (Guyer 1992a, 7).
28
Henrich 1967, 146.
29
Oberhausen und Kreimendahl weisen in ihrer Einleitung zu BDG zu Recht darauf
hin, dass der Grundgedanke von BDG von Kant in KrV nicht einfach aufgegeben wird,
sondern in „subjektivierter Gestalt“ als „depotenzierte Ontotheologie“ als Ideal der rei-
nen Vernunft weiter seine Berechtigung hat (Kreimendahl/Oberhausen 2011, xix). So
heißt es denn auch in V-Phil-Th Politz aus der kritischen Periode mit Bezug auf seinen
früheren Beweisgrund, dass man die Idee Gottes als ens realissimum, sowie alle Prädikate,
die aus ihm fließen, als Hypothese für unsere spekulative Vernunft notwendig annehmen
Der Glaube der Praxis bei Kant 333

BDG setzt voraus, dass jedes existierende Etwas im Hinblick auf seine
Prädikate tatsächlich vollständig bestimmt ist. Dasein impliziert so voll-
ständige begriffliche Bestimmtheit. Diese ist nur dadurch möglich, dass
die Totalität aller möglichen realen Prädikate gegeben ist, wobei jedem
Existierenden von diesen Prädikaten entweder dieses reale Prädikat oder
dessen Einschränkung bzw. Negation zukommt.30 Nach dem transzen-
dentalen Ideal ist die Materie des Denkbaren dagegen nicht mehr in ei-
nem absolut notwendigen Wesen gegeben, sondern durch das Ganze der
sinnlich gegebenen Realität.31 Die Gewinnung empirischer Begriffe ver-
dankt sich nicht einer Totalität realer Begriffe, sondern dem
„unabschließbaren Prozess empirischer Erkenntnis“ und Erfahrung. 32
Dieses Ganze aller möglichen Prädikate ist jedoch kein abgeschlossenes
oder seinerseits vollständig bestimmtes Ganzes, weshalb auch die logi-
sche Bestimmung eines Gegenstandes niemals abgeschlossen werden
kann. 33 Nur für die Anschauung ist das Existierende vollständig be-
stimmt, nicht aber begrifflich.34 Die Prädikate werden vielmehr durch die
Reflexion auf die sinnlich gegebene Wirklichkeit gewonnen.35 Der Inbe-
griff der Realität ist so kein objektives Prinzip mehr, sondern nur eine
Setzung der Vernunft, „die alle Realität in einen Inbegriff zusammen-
faßt“.36
Aus Perspektive von Kants Aufklärungsprojekt ist dabei Folgendes
wichtig: Die Gewinnung der Prädikate ist nach KrV eine eigenständige
Leistung des menschlichen Denkens. Ebenso ist es eine eigenständige
Leistung des Denkens, in der Bestimmung des Existierenden immer wei-
ter voranzuschreiten. Denn das Denken operiert hierbei nur unter der
Voraussetzung der Vorstellung vollständiger Bestimmbarkeit, durch die
ein Existierendes durchgängig begrifflich bestimmt wäre. Das Denken
setzt aber nicht ein solches es selbst transzendierendes Bestimmtes vo-
raus. Damit gibt Kant den Gedanken auf, dass die empirische Wirklich-
keit rational vollständig bestimmt ist und der Verstand diese rationale
Ordnung der Welt nur noch auffassen muss. Im Gegenzug dafür wird
die rational-begriffliche Ordnung des Empirischen zu einer genuinen

müsse, um erkennen zu können, worin im Allgemeinen die Möglichkeit von etwas besteht
(Chignell 2012, 636f.; AA 28, 1034).
30
Longuenesse 2005, 126f.
31
Longuenesse 2005, 126.
32
Longuenesse 1998, 297.
33
Log AA 9, 99. Wood 1978, 18f. Nur Individuen sind durchgängig bestimmt, Univer-
salien hingegen nicht (das menschliche Wesen ist weder jung noch alt etc.) (ibid., 38).
34
Longuenesse 2005, 215.
35
Longuenesse 2005, 220.
36
Henrich 1967, 144.
334 Praktischer Glaube

Leistung des menschlichen Selbstdenkens, das durch seine Aktivität die


empirische Wirklichkeit in einem unabschließbaren Prozess begrifflicher
Bestimmung immer weiter rationalisiert. Die hierbei vorausgesetzte Vor-
stellung durchgängiger Bestimmtheit setzt nicht die Existenz, sondern
nur die selbst gesetzte Idee eines allerrealsten Seienden voraus. 37 Die
Vorstellung eines notwendig existierenden, vollständig bestimmten Da-
seins wird in KrV hingegen als unvermeidbare Illusion enthüllt, durch
die die Vernunft die Idee des Ganzen der Realität in ein individuelles ens
realissimum transformiert, das die Einzeldinge vollständig bestimmt. 38
Diese Illusion muss in folgender Weise korrigiert werden: Die Suche
nach dem Abschluss der Bestimmung ist nur möglich durch die voraus-
gesetzte Idee eines vollständig bestimmten Wesens.39
Unvermeidbar ist die Illusion, da der Verstand nur unter der Voraus-
setzung eines prädikativ vollständig bestimmten Wesens die existieren-
den Gegenstände immer weiter bestimmen und damit die Welt rational
aufklären kann. Weil unter dieser Voraussetzung notwendig ein durch-
gängig bestimmtes Einzelwesen gedacht wird, dem von jedem möglichen
Prädikat entweder dieses Prädikat oder seine Negation zukommt,40 han-
delt es sich hierbei nicht nur um eine Idee der Vernunft, sondern ein
transzendentales Ideal, das die Erkenntnis der Einzeldinge erst möglich
macht.41 Dieses Ideal der reinen Vernunft ist die Idee „in individuo“, ein
a priori vollständig bestimmtes Ding, das wir Gott nennen.42 Die voll-
ständige Bestimmtheit dieses Ideals der Vernunft ergibt sich daraus, dass
die Vernunft es als „Inbegriff aller möglichen Prädikate überhaupt“ 43
setzt. Seine Prädikate kommen ihm notwendig zu, weil ihr Inhalt eine
Realität oder Vollkommenheit (transzendentale Bejahung) ausdrückt.
Gott wird damit als ein Wesen gedacht, das den gesamten Stoff enthält,
von dem die möglichen Prädikate der existierenden Dinge ihren Ur-
sprung haben. Als solches wird er als die Gesamtheit der Realität, jedes
andere Ding dagegen als Einschränkung seiner Realität gedacht.
Die Einzeldinge nun stehen „unter dem Grundsatze der durchgängi-
gen Bestimmung“.44 Die Vernunft setzt mit diesem Grundsatz voraus,
dass jedem Einzelding von jedem möglichen Prädikat, das eine Realität
37
Förster 2000, 81.
38
Longuenesse 2005, 229.
39
Wood 1978, 18f.
40
KrV B 601/A 573.
41
Dieses Ideal ist „noch weiter, als die Idee, [...] von der objektiven Realität entfernt“
(KrV B 596/A 568).
42
KrV B 596/A 568.
43
KrV B 601/A 573.
44
KrV B 599/A 571.
Der Glaube der Praxis bei Kant 335

ausdrückt und im Ideal der Vernunft vereinigt ist, entweder dieses selbst,
seine Einschränkung oder seine Negation zukommt. Dabei setzt die Ne-
gation eines Prädikats, das eine Realität ausdrückt, eben dieses negierte
Prädikat selbst voraus. Die durchgängige Bestimmung der existierenden
Dinge beruht dann auf der Einschränkung dieses Ideals, insofern dem
Existierenden Prädikate, die eine Realität ausdrücken, abgesprochen
werden. Jedes existierende Etwas, das nicht das Ideal der Vernunft ist, ist
also durch die Negation bestimmter realer Prädikate ein bestimmtes Et-
was.
Soweit sind die Überlegungen aus KrV und BDG also weitgehend
identisch. Die kritische Transformation der notwendigen Voraussetzung
unseres Verstandesgebrauchs wird jedoch dadurch möglich und not-
wendig, dass KrV die vom Denken aufgefassten Bestimmungen der exis-
tierenden Gegenstände nicht mehr als dem Denken vorgegebene
Bestimmtheiten der Dinge an sich auffasst. Da die Objekte der Erfah-
rung Erscheinungen und keine Dinge an sich sind, sind sie nicht an sich
vollständig bestimmt, sondern im Versuch ihrer rationalen Durchdrin-
gung durch prädikative Bestimmung muss das menschliche Denken sie
nur als vollständig bestimmt denken. Indem die Objekte unserer Erfah-
rung aus kritischer Perspektive nicht mehr an sich vollständig bestimmte
Entitäten sind, deren ebenso an sich vorhandene Prädikate wir im Er-
kennen nur ablesen, sondern diese Objekte erst im Denken prädikativ
bestimmt werden, ist die vollständige Bestimmtheit eines Gegenstandes
nur ein durch die Vernunft vorausgesetztes, aber nie realisierbares End-
ziel unserer Verstandesoperationen. Die Bestimmung existierender Ge-
genstände ist also eine genuine Leistung des Denkens, die der Verstand
unter der Voraussetzung des Ideals der Vernunft vollzieht. KrV ersetzt
damit die Vorstellung der vollständigen ontologischen Bestimmtheit der
empirischen Dinge an sich durch die Idee der vollständigen epistemi-
schen Bestimmbarkeit der Erscheinungen. Das menschliche Denken
setzt damit nicht mehr das es transzendierende reale Dasein eines allerre-
alsten Wesens, sondern nur mehr das durch es selbst gesetzte Ideal eines
vollständig bestimmten Wesens voraus, das alle realen Prädikate in sich
vereinigt 45 und unserer Verstandespraxis prädikativer Gegenstandsbe-
stimmung zu Grunde liegt. Aus der objektiven Bedingung der Möglich-
keit der Dinge an sich wird also eine subjektive Voraussetzung des empi-
rischen Denkens.46

45
KrV B 605f./A 577f.
46
Förster 2012, 93.
336 Praktischer Glaube

Der transzendentale Schein, dem Kant selbst noch in BDG verfallen


ist, ist aus Perspektive von KrV also eine Fehlinterpretation des durch
die Vernunft gesetzten Ideals der Vernunft, die in der Realisierung, Hy-
postasierung und letztlichen Personifizierung dieses Ideals zu einem dem
Denken transzendenten Wesen resultiert. 47 Das Ideal als der Beweis-
grund selbst ist dabei nur der Grund für den Schein. Der eigentliche
Fehlschluss erfolgt erst im ontologischen Gottesbeweis. Dieser syntheti-
siert das Ideal des allerrealsten Wesens als einer notwendigen Vorausset-
zung der Möglichkeit unserer Urteilspraxis mit der Idee eines notwendig
Existierenden. Dabei konfundiert er die Urteilsvoraussetzung des Ideals
des allerrealsten Wesens mit der in der vierten Antinomie analysierten
kosmologischen Voraussetzung der Vernunft, die darin besteht, zum
kontingent Existierenden in der Welt ein allernotwendigstes Wesen als
dessen unbedingten Grund denken zu müssen.48 Damit macht die Ver-
nunft die durch sich selbst gesetzte Voraussetzung des menschlichen
Denkens zu einem transzendenten Seienden, von dem das Denken dann
abhängig würde, und begibt sich so seiner Autonomie im Denken. Die
Aufklärung über diesen Fehlschluss ist so gleichzeitig eine Selbstaufklä-
rung des menschlichen Denkens über seine eigene Selbständigkeit.

c. Der teleologische Gebrauch der Idee Gottes

Auch wenn die Rationalisierung der Welt durch ihre begriffliche Durch-
dringung eine genuine Leistung des Verstandes bzw. der Urteilskraft ist,
so muss das Subjekt doch voraussetzen, dass diese Welt seinem begriffli-
chen Denken zugänglich ist. Wir sahen jedoch bereits im vorigen Teil,
dass für den Verstand die spezifischen Formen der Naturgegenstände
zufällig sind. Nach KrV macht es das spekulative Interesse der Vernunft
und ihre Forderung nach Einheitlichkeit der Natur deshalb notwendig,
die spezifische Ordnung in der Welt so zu betrachten, als hätte sie ihren
Grund in der Absicht einer höchsten Vernunft.49

„Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts anders, als
ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen,
als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge“.50

47
KrV B 611/A 583.
48
KrV B 633/A 605; B 641/A 613; B 644/A 616; B 620/A 592; B 633/A 605.
49
KrV B 714/A 686. Die Welt als „Summe von Erscheinungen“ bedarf eines transzen-
dentalen Grundes (B 724/A 696; vgl. hierzu auch Klemme 2006, xxxviii).
50
KrV B 647/A 619; B 714/A 686.
Der Glaube der Praxis bei Kant 337

Die Funktion dieser „allgenugsamen notwendigen Ursache“ für das


menschliche Denken schränkt Kant also so ein, dass sie nur als regulati-
ves Prinzip oder angenommener Einheitsgrund zu verstehen ist, dem
sich die Erkenntnis durch kontinuierliche Naturforschung und Prinzi-
pienreduktion annähern soll.51 Unter der Idee dieser notwendigen Ursa-
che soll die systematische Einheit, die das menschliche Erkennen in der
Naturerkenntnis sucht, als möglich gedacht werden. Die Verknüpfungen
und Objekte der Sinnenwelt werden so gedacht, als hätten sie in einem
dieser Idee entsprechenden Vernunftwesen ihren Grund.52 Die Voraus-
setzung der Idee eines intelligenten Welturhebers ist damit ein „Leitfa-
den der Naturforschung“.53 Die Idee des höchsten Wesens ist so eine
von der Vernunft selbst gesetzte, „sehr nützliche Idee“.54 Denn obwohl
dieser transzendentale Einheitsgrund nie aufgefunden werden wird und
deshalb nicht als existierendes Etwas gesetzt, sondern nur als problema-
tisch vorausgesetzt werden darf, so hat seine Setzung dennoch ihre Be-
rechtigung, weil sie zu einer Systematisierung der Naturerkenntnis
führt.55 Das Denken ist also berechtigt, einen transzendentalen Grund
der Erscheinungen als „uns unbekanntes Substratum der systematischen
Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung“56 subjektiv
vorauszusetzen, um seiner rationalen Aufklärung der Natur Orientie-
rung zu geben. Das Denken darf deshalb einen regulativ heuristischen
Gebrauch von der Idee eines intelligiblen Grundes der Erscheinungen
machen, indem es die Natur so betrachtet, als wäre sie aus einem ver-
nünftigen Grund hervorgegangen.57
Wir dürfen die Idee Gottes also nur als unbestimmten transzendenta-
len Grund der Erscheinungen denken, der in keiner möglichen Erfah-
rung gegeben, sondern bloß durch den reinen Verstand gedacht werden
kann.58 Da Kategorien vermittelt durch Schemata bloß auf Gegenstände
möglicher Erfahrung anwendbar sind, können wir Gott durch keine Ka-

51
KrV B 709/A 681; B 707/A 679.
52
KrV B 709/A 681; Prol AA 4, 357.
53
KrV B 854/A 826.
54
KrV B 629/A 601.
55
KrV B 722/A 694.
56
KrV B 725/A 697.
57
KrV B 698f. /A 670f. Im Erkennen muss der Mensch alle Verbindungen von Er-
scheinungen so ansehen, „als ob sie Anordnungen einer höchsten Vernunft wären, von
der die unsrige ein schwaches Nachbild ist“ (B 706/A 678). Dies stellt nach Friedman eine
radikale Neuinterpretation der Physiko-Theologie dar (Friedman 1992, 48). Gott sei nur
mehr der „focus imaginarius“ unserer spekulativen und moralischen Praxis (ibid., 51).
58
KrV B 724/A 696.
338 Praktischer Glaube

tegorien bestimmen.59 Nun könnte ein vollständig unbestimmter Grund


aber gar nicht das leisten, was die regulative Idee für unser Erkennen
leisten soll, nämlich unsere begrifflich-vernünftige Weltdurchdringung
motivieren. Man muss dem gedachten Grund der Natur immerhin selbst
Vernunft unterstellen, damit er die Vernünftigkeit der Welt begründen
kann. Deshalb dürfen wir ihn nach KrV zwar nicht begrifflich bestim-
men, jedoch Analogien auf ihn anwenden. Durch diese Anwendung, so
Kant, würden wir die Idee nicht als reales Objekt bestimmen, sondern
nur durch Analogien für die systematische Vernunfteinheit in der Natur-
forschung fruchtbar machen. Wir sind also berechtigt, in der rationalen
Durchdringung der empirischen Wirklichkeit von dieser analogisch be-
stimmten Idee zur Orientierung unseres Denkens regulativen Gebrauch
zu machen. So hat die Idee Gottes für den Verstandesgebrauch eine An-
wendung, die jedoch keine Bestimmung der Idee durch den Verstand er-
laubt. Die Idee ist damit nur ein Schema und kein Begriff, der einen Ge-
genstand bestimmen würde.60 Das Schema einer „oberst[en] Intelligenz,
die nach weisen Absichten Urheber“ der Welt ist, 61 liefert eine Art An-
leitung, um Eigenschaften der Gegenstände der Erfahrung aufzusuchen.
Die Idee Gottes wird dabei nur über die gedachte kausale Relation Got-
tes zur Welt in Analogie zu Wirkungen innerhalb der Welt bestimmt.
Die Prädikate, unter denen Gott gedacht wird, gelten so auch nur der
Analogie nach. Zur begrifflichen Durchdringung der Welt durch das
Denken setzt die Vernunft ein an sich völlig unbestimmtes Etwas voraus.
Insofern dieses Etwas jedoch als Grund der Weltordnung gedacht wird,
kann man durch die Relation dieses Weltgrundes zur Welt per analogiam
bestimmte Prädikate verwenden, indem man sich fragt, wie dieser Welt-
grund beschaffen sein muss, damit er die durch ihn bestimmte Einheit
begründen kann. 62 Dieses legitime, spekulative Bedürfnis ist der Ver-
nunft zumindest ein subjektiver Grund für die Annahme des Daseins des
Begriffes von einem ersten verständigen Urwesen als Voraussetzung, um

59
Die positive Theologie der spekulativen Vernunft ist deshalb „gänzlich fruchtlos und
ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig“ (KrV B 664/A 636). Die legitime
transzendentale Theologie hat dagegen einen nur negativen Gebrauch: „eine beständige
Zensur unserer Vernunft, wenn sie bloß mit reinen Ideen zu tun hat“ (B 668/A 640). Sie
muss die Vernunft über ihr Missverständnis der Idee Gottes, die ein bloß regulatives Prin-
zip ist, als Ursache und damit konstitutives Prinzip aufklären (B 721f./A 693).
60
Die Idee ist nur ein „Schema jenes regulativen Prinzips, wodurch die Vernunft, so
viel an ihr ist, systematische Einheit über alle Erfahrung verbreitet“ (B 710/A 682). Vgl.
auch: KrV B 702/A 674.
61
KrV B 725/A 697.
62
KrV B 726/A 698.
Der Glaube der Praxis bei Kant 339

sich gegebene Erscheinungen (die Ordnung der Welt) erklärbar zu ma-


chen.63
Nach KrV soll die Naturforschung ihren Gegenstand also so betrach-
ten, als wäre sie von einer intelligenten Ursache hervorgerufen. Dabei ist
„Gott“ nur ein Schema einer vollständig rational systematisierten Wirk-
lichkeit und des dieser entsprechenden Wissens. In KU erscheint Gott
hingegen als willentlich handelnder Akteur, der die Welt zum Zwecke
unserer Erkenntnisinteressen ordnet. 64 Die Berechtigung dieser kriti-
schen Setzung der Idee einer verständigen Ursache setzt jedoch noch ei-
nen Vernunftbegriff voraus, den Kant erst in KU entwickelt. Mit der Be-
trachtung von Organismen als Naturzwecken sowie der Entdeckung des
Prinzips der Zweckmäßigkeit als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft
kann Kant einerseits die unbestimmte Bestimmung der Idee Gottes für
die spekulative Weltorientierung begründen,65 andererseits aber die Legi-
timität dieser Idee verdeutlichen. Denn um Organismen in ihrer Eigenart
auffassen zu können, muss die reflektierende Urteilskraft über die me-
chanistische Verknüpfung der bestimmenden Urteilskraft hinausgehend
eine finalursächliche Verknüpfung voraussetzen. Grund hierfür ist die
besondere Form von Organismen, als Naturzwecke zu existieren, die
„von sich selbst (obgleich in zwiefachem Sinne) Ursache und Wirkung“
sind.66 Organismen weisen nach Kant eine Einheit auf, in der die Teile
dieser Einheit nur durch das Ganze bestimmt werden können und die
Funktionen der Teile wechselseitig aufeinander bezogen sind. Sonst
könnte man nicht legitimer Weise von einem Naturzweck sprechen.67
Ein Organismus ist für Kant geradezu als ein spezifischer, zweckmäßiger
Funktions- und Bildungszusammenhang bestimmt, der durch das me-
chanistische Kausalitätsprinzip nicht hinreichend verstanden werden
kann, sondern den wir nur durch Inanspruchnahme von Finalursäch-
lichkeit und intrinsischer Zweckmäßigkeit verstehen können.68 Wir kön-

63
WDO AA 8, 137. „Die Gantze Natur ruft der menschlichen Vernunft zu: es ist ein
Gott d. i. eine höchste Macht welche die Welt erschaffen und sie zweckmäßig nach Regeln
geordnet hat die wir uns nicht anders als nach der Analogie mit einer Ursache (die wir in
uns wahrnehmen indem wir die Wirkung auf Zwecke beziehen) die Verstand hat vorstel-
lig machen können weil wir nur durch unser Vermögen eines Verstandes uns einen Zu-
sammenhang der Dinge nach Zwecken denken können wodurch sich uns die Idee einer
obersten Ursache als höchste Intelligenz unwiederstehlich aufdringt.“ (OP AA 21, 344.)
64
Zuckert 2007, 39.
65
KU AA 5, 405.
66
KU AA 5, 370.
67
KU AA 5, 373f.
68
Vgl. hierzu etwa Zuckert 2007, 118f.
340 Praktischer Glaube

nen hier nicht auf die genaue Organismuskonzeption Kants eingehen,69


wichtig für uns sind jedoch vier Gedanken:
Organismen in ihrer intrinsischen Zweckmäßigkeit sind für die Ur-
teilskraft nur unter Anwendung des Zweckbegriffs verständlich (Teleo-
logie).70
Dem Begriff des Naturzwecks kommt keine objektive Realität zu.
Der Begriff der causa finalis und das ihr entsprechende Beurteilungs-
prinzip der Zweckmäßigkeit besitzen deshalb keinen Gebrauch für die
bestimmende Urteilskraft,71 sondern nur für die reflektierende Urteils-
kraft.72 Wir urteilen nicht, dass Organismen zweckmäßig verfasst sind,
sondern beurteilen sie so, als ob sie zweckmäßig verfasst wären.73 Also
können wir aus dem Begriff des Organismus nicht das Dasein einer Ur-
sache besonderer Art ableiten.74
Der Begriff von Organismen als Naturzwecken führt „nothwendig
auf die Idee der gesammten Natur als eines Systems nach der Regel der
Zwecke“.75 Das heißt, die finalursächliche Betrachtung von Organismen
motiviert die reflektierende Urteilskraft, die gesamte Natur als finalur-
sächlich geordnetes Ganzes von Zwecken zu betrachten.76
Auch wenn die naturwissenschaftlich-teleologische Beurteilung der
Natur streng von der theologischen Betrachtung unterschieden werden
muss,77 so führt das Prinzip der Zweckmäßigkeit die reflektierende Ur-
teilskraft auf die Idee einer „absichtlich-wirkend[en] oberst[en] Ursa-
che“,78 gemäß der wir diese finalursächliche Verknüpfung der Dinge so
denken müssen, als ob sie Wirkung einer verständigen Ursache der Welt
wäre (ohne denken zu dürfen, dass sie tatsächlich Wirkung einer solchen
Ursache ist).79

69
Vgl. hierzu KU AA 5, 370–372.
70
Vgl. hierzu Zuckert 2007, 126.
71
KU AA 5, 378.
72
Es handelt sich um „eine Maxime der Beurtheilung der innern Zweckmäßigkeit
organisirter Wesen“ (KU AA 5, 376), um die Struktur von Organismen erforschen zu
können.
73
Zuckert 2007, 135.
74
KU AA 5, 396.
75
KU AA 5, 379. Zur Frage der Notwendigkeit dieses Übergangs vgl. Zuckert 2007,
128.
76
KU AA 5, 380.
77
KU AA 5, 382.
78
KU AA 5, 399.
79
KU AA 5, 395; 398f.; vgl. hierzu Zuckert 2007, 29; 80; 119. Die Begründung ist fol-
gende: Die Idee von Zweckursächlichkeit (ein späterer Zustand bestimmt einen früheren)
ist der Natur der Zeit und der wirkursächlich bestimmten objektiven Zeitordnung entge-
gengesetzt, gemäß der ein späterer Zustand immer durch einen früheren bestimmt wird.
Der Glaube der Praxis bei Kant 341

Aus den vier genannten Punkten ergibt sich für die Idee Gottes und
ihre Funktion für die reflektierende Urteilskraft Folgendes: In theoreti-
scher Hinsicht hat die Idee Gottes keine objektive Realität, sie sagt
nichts über eine tatsächliche Relation der Gegenstände unserer Erkennt-
nis zu einer Ursache aus. Sie hat nur subjektive Notwendigkeit für unse-
re Praxis der Erkenntnis der Natur im Hinblick auf die teleologische
Verfasstheit der Organismen und ihrer als Ganzer. Diese Idee einer „ab-
sichtsvoll-wirkende[n] oberste[n] Ursache der Welt“ ist deshalb nur
„subjektiv für den Gebrauch unserer Urtheilskraft in ihrer Reflexion
über die Zwecke in der Natur“ legitimiert.80 Es handelt sich um ein sub-
jektives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum „Leitfaden der Re-
flexion“ und nicht um ein objektives Prinzip der bestimmenden Urteils-
kraft.81 Einzig die reflektierende Urteilskraft ist deshalb berechtigt so zu
urteilen, als ob es eine solche Ursache gäbe, oder die Welt unter der Idee
eines verständigen Schöpfers zu betrachten. Denn sowohl die Auffas-
sung des Lebendigen als innerer Zweckmäßigkeit als auch der Welt als
zweckmäßigem Ordnungszusammenhang ist für unser Denken nur un-
ter der Annahme einer vernünftigen Ursache der Welt vorstellbar.82 Als
Vernunftidee muss deshalb ein absolut notwendiges Wesen vorausge-
setzt werden, ohne dass ihm jedoch jemals objektive Realität zugeschrie-
ben werden könnte.83
Fassen wir noch einmal zusammen: Mit der Unterscheidung von be-
stimmender und reflektierender Urteilskraft kann Kant Aussagen über
die Idee Gottes machen, ohne diese Idee objektiv begrifflich zu bestim-
men. Bezogen auf die Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisver-
mögens lässt sich das Vorhandensein der Ordnungsstruktur der Natur
nur in Relation auf eine nach Absichten wirkende Ursache denken. Dies
ist jedoch keine objektive Bestimmung der Natur, sondern nur ein sub-
jektiver, wenn auch notwendiger Grundsatz zur Erklärung organisierter
Wesen und der Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen.84 Das
Prinzip der Zwecke in der Natur ist „ein heuristisches Princip“ der re-

Objektiv tritt die Bestimmung eines früheren Zustands durch einen späteren nur bei in-
tentional Handelnden auf, insofern das antizipierte Ende der Handlung Ursache für ihren
Beginn ist (ibid., 143). Insofern führt uns das Konzept des Naturzwecks notwendig auf
das Konzept einer intentional-verständig handelnden Ursache. Andererseits verhindert
die natürliche Zeitordnung eine Schematisierung der Zweckursächlichkeit und kann des-
halb kein bestimmendes Urteil begründen (ibid.).
80
KU AA 5, 399.
81
KU AA 5, 389.
82
KU AA 5, 400.
83
KU AA 5, 402.
84
KU AA 5, 398.
342 Praktischer Glaube

flektierenden Urteilskraft zur Erforschung der besonderen Naturgeset-


ze.85 Müsste die bestimmende Urteilskraft in der Anwendung der Idee
der Bestimmtheit der Erfahrungsgegenstände durch eine vernünftige Ur-
sache selbiger den Status objektiver Gültigkeit zusprechen, so kann die
reflektierende Urteilskraft von dieser Idee als nur subjektiv gültig für je-
des menschliche erkennende Subjekt legitimen Gebrauch machen. Das
bedeutet, dass der Grund für die Voraussetzung einer verständigen Ur-
sache nur in der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens, nicht
aber im beurteilten Objekt selbst gründet. 86 Der Begriff des absolut-
notwendigen Wesens ist eine „unentbehrliche Vernunftidee“ „für den
Gebrauch unserer Erkenntnißvermögen nach der eigenthümlichen Be-
schaffenheit derselben“.87
Das Spezifikum, das diese Idee nötig macht, ist die Diskursivität unse-
res Verstandes, für den – im Unterschied zum intuitiven Verstand – das
Besondere nicht schon durch das Allgemeine bestimmt ist. Daraus ergibt
sich folgende Schwierigkeit: Die Anzahl der Arten, die unter einen Be-
griff fallen können, der durch ein gemeinsames Merkmal ausgezeichnet
ist, bleibt für unser Denken unbestimmt. Das Besondere kann nicht aus
dem Allgemeinen abgeleitet werden.88 Deshalb ist unsere Erkenntnis auf
sinnliche Anschauung angewiesen. Wir müssen aber wenigstens voraus-
setzen, dass die Vielfalt der Natur unserem Verstand angemessen ist, das
heißt, dass sich die Vielfalt im Verhältnis von Allgemeinem und Beson-
deren anordnen lässt. Hierzu wiederum müssen wir die Ursache der Na-
tur als intuitiven Verstand denken, der nicht nur das Besondere unter ei-
nem Allgemeinen subsumiert, sondern das Besondere im Ganzen erfasst
(Ganzheit statt Allgemeinheit): den „intellectus archetypus“.89
Fassen wir zusammen: Um überhaupt Gebrauch von unserem diskur-
siven, in allgemeinen Begriffen und Gattung-Art-Verhältnissen denken-
den Erkenntnisvermögen in Bezug auf die Natur machen zu können,
muss die Idee eines notwendigen Grundes der Erscheinungen vorausge-
setzt werden. Diese Idee muss jedoch als von der menschlichen Vernunft
selbst gesetzter, rein funktionaler Begriff verstanden werden, dem über
seine notwendige Funktion für die reflektierende Urteilskraft hinaus
keine Bedeutung zugeschrieben werden darf.90
85
KU AA 5, 411.
86
KU AA 5, 401.
87
KU AA 5, 402.
88
KU AA 5, 406.
89
KU AA 5, 408. Zum Verhältnis des intuitiven Verstandes aus KU zum Intellectus ar-
chetypus aus KrV vgl. Düsing 1986, 73.
90
Ist so der Status der Teleologie bestimmt, kann Kant durch diese Idee noch Freiheit
und Natur zu vermitteln versuchen. Weil wir die Natur so betrachten müssen, als ob sie
Der Glaube der Praxis bei Kant 343

II. Der Primat des Praktischen für die Idee Gottes

Resümieren wir die bisherigen Ergebnisse: Der in der theoretischen Phi-


losophie entwickelte transzendentale Vernunftbegriff von Gott weist
zwei Defizite auf. Zum einen kann die rein spekulative Vernunft „nicht
einmal die objektive Gültigkeit“ dieses Begriffs absichern. 91 Für sie
bleibt dieser von ihr selbst gebildete Begriff problematisch, da sie in ihrer
Selbstkritik erkennt, dass die über die bloß logische Möglichkeit hinaus-
gehende reale Möglichkeit jedes Begriffs die mögliche Erfahrbarkeit des
ihm korrespondierenden Gegenstands voraussetzt. 92 Die Realität eines
Begriffs kann nicht immanent in den Bestimmungen des Begriffs grün-
den, sondern muss als bloße Position aller Bestimmungen dem begriff-
lich bestimmten Gegenstand synthetisch hinzutreten.93 Reine Begriffe a
priori müssen, um objektive Realität zu besitzen, „Bedingungen a priori
zu einer möglichen Erfahrung sein“.94 Ein Begriff, zu dem in der Erfah-
rung nicht einmal der Möglichkeit nach ein Gegenstand gegeben sein
kann, ist sinnlos bzw. leer. Er besitzt weder Bedeutung noch objektive
Gültigkeit.95 Gott als die Idee eines Grundes aller empirischen Realität
und notwendiger Einheit, die nach Analogie einer wirklichen Substanz
vorgestellt wird, 96 ist jedoch kein Gegenstand möglicher Erfahrung.
Denn Gott kann niemals angeschaut werden, da seine mögliche An-
schauung eine unendliche sein müsste.97 Die objektive Realität des Got-
tesbegriffs würde also eine unmögliche sinnliche Anschauung vorausset-
zen.98 Weder kann die spekulative Vernunft damit selbst die objektive
Realität der Idee Gottes garantieren noch kann sie eine mögliche Erfah-
rung ihres Gegenstandes erwarten.99 Insofern bleibt der Begriff von Gott

von einem verständigen Wesen nach Zwecken erschaffen worden wäre, können wir sie
auch so denken, als ob wir durch Freiheit auf sie im Sinne unseres Endzwecks einwirken
könnten (Klemme 2006, xxxix).
91
KrV B 703/A 675.
92
Zum Unterschied zwischen logischer und objektiver Möglichkeit vgl. KrV B 267f./A
220f.
93
KrV B 627/A 599; B 667/A 639.
94
KrV A 95.
95
KrV B 298/A 239.
96
KrV B 702f./A 674f.
97
WDO AA 8, 142.
98
ÜE AA 8, 188f.; KrV B 335/A 279.
99
KrV B 667/A 639. Kants Terminologie scheint mitunter zwischen den Ausdrücken
„objektive Realität“ und „objektive Gültigkeit“ zu changieren. Nach Guyer lassen sich
beide Begriffe folgendermaßen unterscheiden: „Objektive Realität“ bedeutet, dass es min-
destens eine Instantiierung eines Begriffs gibt, „objektive Gültigkeit“, dass der Begriff auf
alle möglichen Objekte der Erfahrung angewendet werden kann (Guyer 1992b, 125).
344 Praktischer Glaube

für die theoretische Vernunft seiner Realität oder objektiven Möglichkeit


nach unbestimmt.100
Die Leerheit des spekulativen Gottesbegriffs bezieht sich bei Kant
aber nicht nur auf dessen fehlendes objektives Dasein, sondern auch auf
seine inhaltliche Unterbestimmtheit. Die reine spekulative Vernunft be-
greift Gott nur als den intelligiblen, absolut notwendigen Grund aller
Erscheinungen.101 Dieser „intelligible Gegenstand“ der Vernunft ist nicht
durch innere Prädikate bestimmbar und damit im Hinblick auf seine Ei-
genschaften völlig unbestimmt.102 Deshalb ist es nach Kant möglich, dass
wir unter dem Begriff des allernotwendigsten Wesens vielleicht über-
haupt nichts denken.103 Auf Grund dieser Unbestimmtheit des Gottes-
begriffs kann die transzendentale Theologie, die von unseren transzen-
dentalen Vernunftbegriffen ausgeht, höchstens zu einem völlig unbe-
stimmten Begriff Gottes gelangen, der deistischen Idee Gottes als
Welturheber.104 Dieser deistische Gott ist nur ein Gott, aber kein leben-
diger und freier Gott, so dass sich der Deist nach Kant auch als Atheist
bezeichnen lässt. 105 Die reflektierende Urteilskraft fügt dieser unbe-
stimmten Idee Gottes zwar eine inhaltliche Bestimmung hinzu, nämlich
die der Intelligenz. Denn nur eine intelligente Ursache der Welt macht
deren rationale Durchdringbarkeit verständlich. Jedoch ist auch dieser
Begriff für das religiöse Bewusstsein noch nicht mit seiner Vorstellung
von Gott identifizierbar, da ihm Prädikate wie „Güte“, „Gerechtigkeit“
etc. fehlen. Eine Bestimmung der Idee Gottes durch diese Prädikate
kann so erst die praktische Vernunft leisten.106
Erst die praktische Vernunft schreibt eben dieser Idee die für ihre
Identifikation mit der religiösen Vorstellung von Gott notwendigen in-

100
Hieran ändert sich auch in KU nichts, da die reflektierende Urteilskraft zwar zu ih-
rem immanenten Gebrauch die Idee Gottes, aber nicht deren Dasein setzt.
101
KrV B 591/A 563.
102
KrV B 593f./A 565f.; B 634/A 606.
103
Die Bedeutung der transzendentalen Theologie besteht deshalb nach Kant neben der
Ausräumung des Atheismus nur in der Negation der (anthropomorphen) Prädikate von
Gott, die seinem transzendentalen Begriff widersprechen (KrV B 668f./A 640f.).
104
Zur Kritik an Kants Gebrauchsweise des Begriffs „Deismus“ vgl. Wood 2002, 90.
105
KrV B 661/A 633. Jacobi und Kant stimmen so beide darin überein, dass der Deis-
mus in der Bestimmung Gottes zu wenig leistet, da Gott weder als lebendig, noch als wei-
se oder wollend bestimmt wird (Wood 2002, 89; V-Phil-Th Politz AA 28, 1031–1062;
1001f.; Fromm JW 5,1, 116). „Ohne Moralität würde die Hypothesis [von Gott als Welt-
urheber] immer ungegründet seyn und die Zwekmaßigkeit im Universum allerhochstens
auf einen Spinosism oder emanation führen.“ (Refl 6280 AA 18, 547.)
106
KU AA 5, 437. „Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel
der physischen und gründet allererst eine Theologie“ (ibid., 444).
Der Glaube der Praxis bei Kant 345

haltlichen Bestimmungen zu.107 Denn für sie besitzt diese Idee objektive
Realität und ist inhaltlich hinreichend bestimmt, um für das religiöse
Bewusstsein in der Hinsicht akzeptabel zu sein, anerkennen zu können,
dass hier vom selben Gegenstand gesprochen wird, den es „Gott“ nennt.
Die praktische Philosophie muss also drei Fragen beantworten, die
wir im Folgenden analysieren wollen: Inwiefern legt die praktische Ver-
nunft der Idee Gottes Realität bei (a); wie rechtfertigt sie ihre inhaltliche
Bestimmung der Idee Gottes (b); wie legitimiert sie gegenüber dem reli-
giösen Bewusstsein den Primat der Moral gegenüber der Religion (c)?

a. Die praktische Realität des Gottesbegriffs

In KpV formuliert Kant „das Räthsel der Kritik“, „wie man dem über-
sinnlichen Gebrauche der Kategorien in der Speculation objective Reali-
tät absprechen und ihnen doch in Ansehung der Objecte der reinen
praktischen Vernunft diese Realität zugestehen könne“.108 Die folgenden
Überlegungen zeigen, dass Kant dieses Rätsel durch eine Ausdifferenzie-
rung der spekulativen und der praktischen Verwendungsweise des
scheinbar univoken Begriffs der objektiven Realität löst. Dazu themati-
sieren wir zunächst diese Differenz, um dann den Wirklichkeitsstatus
der Idee des höchsten Guts zu analysieren. Anschließend betrachten wir
die Einführung Gottes als Bedingung der Möglichkeit des höchsten
Guts. Zuletzt betrachten wir die praktische Bedeutung und das prakti-
sche Dasein Gottes.
In seiner theoretischen Verwendung bedeutet die objektive Realität
eines Begriffs, „daß ihm gemäß ein Object möglich“ ist. 109 Objektive
Gültigkeit haben Begriffe nur in Bezug auf empirische Anschauungen.110
Ist es nicht möglich, dass einem Begriff eine Anschauung korrespondiert,
so gibt es keine mögliche Erfahrung von seiner Instanziierung und es ist
nicht einmal möglich, dass ihm objektive Realität zukommt.111 Bloß lo-
gisch mögliche Begriffe bleiben leer, sofern „die objektive Realität der
Synthesis, dadurch der Begriff erzeugt wird, nicht besonders dargetan
wird; welches aber jederzeit, wie oben gezeigt worden, auf Prinzipien
möglicher Erfahrung und nicht auf dem Grundsatze der Analysis (dem

107
Vgl. KU AA 5, 438f.; 440; 442; 469.
108
KpV AA 5, 5.
109
KU AA 5, 396.
110
KrV B 298/A 239.
111
KrV B 630/A 602.
346 Praktischer Glaube

Satze des Widerspruchs) beruht“.112 Die objektive Möglichkeit eines Be-


griffs kann also nur aus den Prinzipien möglicher Erfahrung hergeleitet
werden, weswegen die logische Möglichkeit streng von der realen Mög-
lichkeit unterschieden werden muss. Für die Idee Gottes, die alle mögli-
che Erfahrung transzendiert, folgt hieraus, dass ihr weder objektive Rea-
lität noch objektive Möglichkeit zugeschrieben werden können. Für die
Spekulation ist der Begriff von Gott nur logisch möglich, insofern er
keinen inneren Widerspruch impliziert.
Nun setzt Kant zumindest in KU die Realität eines Begriffes jedoch
mit seiner Anwendung gleich.113 Denken wir uns Begriffe als Regeln, so
können wir die objektive Realität eines Begriffes so denken, dass ein ob-
jektiv realer Begriff eine Regel ist, die auf tatsächlich gegebene Fälle (im
Fall der Erkenntnis: Anschauungen) angewandt werden kann. Ein ob-
jektiv möglicher Begriff wäre eine Regel mit möglicher Anwendung. In
diesem Sinn stellt Kant aber in KrV auch von den alle Erfahrung trans-
zendierenden Ideen der Vernunft fest, dass sie „ihre Realität haben“ und
„keinesweges bloße Hirngespinste“ sind.114 Das lässt sich so verstehen,
dass sie keine Regeln ohne jegliche Anwendung sind, sondern Regeln,
die in anderer Weise angewandt werden müssen als etwa die objektiv
realen Verstandesbegriffe (insofern sie sich nicht auf Anschauungen und
Erfahrungen, sondern auf den Verstandesgebrauch beziehen). Die Ideen
haben also Realität, insofern sie eine Anwendung besitzen, wenn auch
eine andere (nur regulative) als die objektiv realen Begriffe. 115 Den
Grundsätzen der Vernunft kann insofern objektive Realität zugeschrie-
ben werden, als sie unsere Praxis zur Herstellung der Einheit der Erfah-
rung regeln.116
Auch wenn Kant im Bereich der Spekulation mit praktischen Begrif-
fen operiert (Handlung, Anwendung), ist diese spekulative „Praxis“
doch von der Handlungspraxis im genuinen Sinne zu unterscheiden.117
Die Notwendigkeit einer solchen Differenzierung wird schon dadurch
deutlich, dass den Ideen nur im Bereich eigentlicher Praxis objektive Re-
alität zuzusprechen ist. Dies ist nicht zuletzt der fundamentalen Diffe-
112
KrV B 624/A 596.
113
KU AA 5, 385. Dass die Realität eines Begriffs vom Kontext seiner Verwendung
abhängt, zeigt sich schon dadurch, dass die Ideen „keine objective Realität in theoretischer
Rücksicht“ (VNAEF AA 8, 418) besitzen. Damit wird zumindest die Möglichkeit zuge-
standen, dass sie in anderer als theoretischer Rücksicht durchaus objektive Realität besit-
zen könnten.
114
KrV B 371/A 314.
115
KrV B 698f./A 670f.
116
Kleingeld 1995a, 114; KrV B 693f./A 665f.
117
Vgl. hierzu Hutter 2003, 30f.
Der Glaube der Praxis bei Kant 347

renz von Praxis und Spekulation geschuldet. Auch wenn Kant nämlich
von der „Realität“ der Ideen in ihrer regulativen Funktion spricht, muss
ihnen doch in der Erkenntnis objektive Realität insofern abgesprochen
werden, als sie uns – zumindest unmittelbar – nichts an einem Gegen-
stand erkennen lassen. Innerhalb der Spekulation ist dies jedoch wesent-
lich, um einem Begriff objektive Realität zusprechen zu können. Bezo-
gen auf die theoretische Vernunft muss der Begriff „objektive Realität“
deshalb in univoker Bedeutung genommen werden. Ganz anders verhält
es sich für die aufs Handeln bezogene praktische Vernunft.118 Im Unter-
schied zur theoretischen Vernunft, die bloß das vorstellt, „was da ist“,
bezieht sich die praktische Vernunft nämlich auf das, „was dasein
soll“. 119 Letztere will nicht Objekte erkennen, sondern hervorbringen.
Sie setzt damit die Wirklichkeit ihrer Objekte nicht voraus, sondern hat
sie „wirklich zu machen“.120 Sind im Erkenntnisakt die realen Objekte
immer die „Ursachen“ der Vorstellungen, so sind beim willentlichen
Handeln umgekehrt die Vorstellungen die Ursache der realen Objekte.121
Die praktische Vernunft setzt also nicht voraus, dass ihre Gegenstände in
der Erfahrung gegeben sind, sondern dass durch sie Gegenstände als
Vorstellungen gesetzt sind, die durch eine willensinduzierte Handlung
wirklich werden sollen. 122 Der für die praktische Vernunft relevante
Möglichkeitsbegriff ist nicht der möglicher Erfahrung, sondern der der
möglichen Wirkung eines freien Willens.123 Ebenso ist die Realität eines
Begriffs für die praktische Vernunft nicht auf Prinzipien der Erfahrung
und auf dem, was da ist, gegründet.124 Denn Begriffe als Regeln haben in
Bezug auf das Handeln eine völlig andere Funktion als in Bezug auf das
Erkennen. Den Schluss von der spekulativen Nichtanwendbarkeit eines
Begriffs auf seine praktische Nichtanwendbarkeit und damit fehlende
Realität kritisiert Kant deshalb als pöbelhafte Berufung auf die allgemei-
ne Erfahrung. Aus der Unmöglichkeit einer empirischen Anschauung
wahrer Freundschaft folgt so zwar, dass der Begriff wahrer Freundschaft
für unsere Erkenntnis keine objektive Realität besitzt, aber eben nicht,
dass er sie nicht für unser Handeln besitzen kann. Im Gegenteil: Die
praktische Vernunft fordert uns auf, diesen Begriff zu aktualisieren und
118
Vgl. hierzu auch: Esser 2004, 153ff.
119
KrV B 661/A 633. Die spekulative Vernunft bestimmt ihren Gegenstand, die prakti-
sche Vernunft bringt ihn selbst hervor (KrV B x).
120
KpV AA 5, 89; vgl. auch Beck 1960, 67.
121
KpV AA 5, 44f.; OP AA 21, 419.
122
Deshalb kommt der praktischen Vernunft auch eine eigenständige Kausalität zu
(Engstrom 2010, 32).
123
KpV AA 5, 57.
124
KrV B 624/A 596.
348 Praktischer Glaube

in diesem Sinne besitzt er „objective praktische Realität“.125 Die prakti-


sche Realität eines Begriffs besteht also gerade in seiner Relation zu einer
möglichen Bestimmung unseres Willens. Die praktische Bewegkraft ei-
nes Begriffs und seine Beziehung auf die Triebfedern des Willens ist es,
die seine praktische Realität begründet.126 Die Realität der reinen Begrif-
fe der praktischen Vernunft wird deshalb nicht durch Anschauung, son-
dern im Handeln bewiesen: Wenn reine Vernunft praktisch sein kann, so
beweist sie ihre eigene Wirklichkeit und die Wirklichkeit ihrer Ideen
„durch die That“.127
Fassen wir zusammen: Die objektive Realität eines Begriffs wird in
unterschiedlichen Funktionszusammenhängen in unterschiedlicher Wei-
se ausgesagt. Theoretische und praktische Vernunft besitzen unter-
schiedliche Funktionen. Derselbe Begriff kann deshalb als Begriff der
theoretischen und der praktischen Vernunft jeweils unterschiedliche
Funktion und damit objektive Realität in einem unterschiedenen Sinne
besitzen. Damit ein Begriff praktische Realität besitzt, muss er auf die
Bestimmung des Willens wirken können. Die Begriffe der praktischen
Vernunft können also auch dann objektiv real sein, wenn ihnen in der
Empirie keine möglichen Anschauungen korrespondieren. 128 Vielmehr
kommt Begriffen nur insofern praktische Realität zu, als sie in unserer
Willensbestimmung wirkmächtig sind. Die Begriffe, die in einem not-
wendigen Bezug zum moralischen Gesetz und damit auch zur Bestim-
mung des reinen Willens stehen,129 erhalten durch diesen über das mora-
lische Gesetz vermittelten Bezug auf den Willen praktische Realität. Das
Bewusstsein des moralischen Gesetzes ersetzt im Praktischen die An-
schauung, die bei den moralischen Ideen fehlt, um ihre praktische Mög-
lichkeit zu beweisen.130

125
EAD AA 8, 333.
126
KU AA 5, 175. Zwar geht Kant Ende 1773 noch davon aus, dass der Begriff der
Realität „in der Anwendung auf das practische“ leer sei (AA 10, 145), nichtsdestotrotz
behauptet er, dass auch ein bloß intellektueller Begriff „Bewegkraft haben“ und „eine ge-
rade Beziehung auf die erste Triebfedern des Willens“ besitzen müsse (ibid.). Dies ist es,
was später als praktische Realität charakterisiert wird.
127
KpV AA 5, 3; vgl. auch ibid., 66. Nach Schmucker stellt sich deshalb für das Gebiet
des Praktischen gar nicht das „Problem der Realgültigkeit, d. h. der Übereinstimmung der
Ideen mit der Wirklichkeit“, da hier die Ideen „wirkende Ursachen der Handlungen und
ihrer Gegenstände“ seien (Schmucker 1990, 35; vgl. auch ibid., 44f.). Wir modifizieren
diese Deutung dahingehend, dass sich das Problem der Realgültigkeit bzw. Realität der
Ideen in fundamental anderer Weise stellt.
128
KrV B 372/A 315.
129
KpV AA 5, 56.
130
Ferreira 2013, 11.
Der Glaube der Praxis bei Kant 349

Wir haben bisher gesehen, dass einem Gegenstand, der in notwendiger


Relation zum Willen des Menschen steht, praktische Realität zukommt.
Ein solcher Gegenstand ist das höchste Gut als Einheit von Tugend und
Glückseligkeit. Die Idee des höchsten Guts als der „Idee des Ganzen al-
ler Zwecke“131 bzw. „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der rei-
nen praktischen Vernunft“132 besitzt für die praktische Vernunft prakti-
sche Realität. Der Satz: „Jeder soll sich das unbedingte Gut zum End-
zweck machen“ ist ein objektiv-praktischer synthetischer Satz a priori.
Er transzendiert den reinen Pflichtbegriff, der keinen Begriff von Zweck
enthält. Der Mensch fragt aber notwendig nach dem Erfolg seiner Hand-
lungen als Resultat seines limitierten praktischen Vernunftvermögens.133
Auch wenn das höchste Gut nicht der unmittelbare Bestimmungsgrund
des Willens ist, so ist es doch nach Kant „der ganze Gegenstand einer
reinen praktischen Vernunft“ und des reinen Willens.134
Bestimmungsgrund des Willens kann das höchste Gut nur sein, inso-
fern sein Begriff als immanente Bedingung bereits das moralische Gesetz
enthält. Das moralische Gesetz selbst kann zwar nicht über einen Zweck
bestimmt werden, sondern allein über die Form allgemeiner Gesetzmä-
ßigkeit. Um Bestimmungsgrund des Willens zu sein, muss das morali-
sche Gesetz nicht durch die Idee eines Zwecks bestimmt sein, sondern
hat vielmehr von allen Zwecken zu abstrahieren.135 Dennoch wäre ohne
die Beziehung des Willens auf einen Zweck keine menschliche Willens-
bestimmung möglich, da in jedem Handeln notwendig ein Zweck als in-
tendierte Wirkung der Handlung vorgestellt werden muss.136 Eine Will-
kür ohne jeden Zweck „wüsste“ zwar, wie sie zu wirken hat, aber nicht,
woraufhin sie wirken oder was sie in ihrem Wirken hervorbringen
soll.137 Damit müssen auch moralische Handlungen notwendig auf einen
Zweck bezogen sein. Hieraus folgert Kant, dass es auch einen Zweck ge-
ben muss, der sich als notwendige Folge aus den moralischen Maximen
ergibt.138 Dieser Zweck ist nach Kant das höchste, allumfassende denk-
bare Gut, die Vereinigung von Tugend als Glückswürdigkeit und Glück-
seligkeit. 139 Dieses vollendete Gute müssen wir als die proportionale
Entsprechung von Glückseligkeit und Sittlichkeit denken, wobei die
131
TP AA 8, 280.
132
KpV AA 5, 108.
133
RGV AA 6, 5.
134
KpV AA 5, 109.
135
RGV AA 6, 3f.
136
RGV AA 6, 4; Rawls 2000, 178.
137
RGV AA 6, 4.
138
RGV AA 6, 5.
139
TP AA 8, 279.
350 Praktischer Glaube

Sittlichkeit einer Person als Grund (Würdigkeit) der Glückseligkeit ver-


standen werden muss.140
Der Mensch muss sich also in seinem moralischen Wollen an der Idee
vereinigter Glückswürdigkeit und Glückseligkeit orientieren. Ihre Ver-
knüpfung ist „das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“,141
dessen Realisierung in unserem moralischen Handeln intendiert wird.
Das moralische Gesetz impliziert die moralische Notwendigkeit, das
höchste Gut durch den freien Willen hervorzubringen.142 Die Hervor-
bringung des höchsten Guts ist somit kein Zweck, den der Mensch ha-
ben oder nicht haben kann, sondern ein a priori notwendiges Objekt
seines Willens, das untrennbar mit dem moralischen Gesetz verbunden
ist. Insofern sich der Mensch diese „Idee eines höchsten Guts in der
Welt“143 als Folge seiner moralischen Selbstbestimmung notwendig vo-
raussetzen muss, besitzt sie praktische Realität. Denn ohne Beziehung
auf diesen Zweck wäre keine konkrete moralische Willensbestimmung
möglich. Die Idee des höchsten Guts hat insofern objektiv-praktische
Realität. 144 Insofern wir uns diesen Zweck in unserer Willensbestim-
mung notwendig voraussetzen müssen, besitzt er nicht nur praktische
Realität, sondern sogar praktische Notwendigkeit.
Wir haben also festgestellt, dass dem Begriff des höchsten Guts prak-
tische Notwendigkeit zukommt. Worin besteht jedoch diese Notwen-
digkeit? Die moralische Qualität einer Handlung kann für Kant be-
kanntlich nicht an die faktische Realisierung des Objekts des Willens ge-
bunden sein, da diese nicht in der Verfügungsgewalt des Handelnden
steht. Ob etwa die Rettung eines Schwerverletzten gelingt, sagt nichts
über die sittliche Qualität der versuchten Handlung aus. Denn das Ge-
lingen ist an Bedingungen gebunden, die dem Willen und der Maxime
des Rettenden äußerlich sind. So kann auch die Realisierung des höchs-
ten Guts, auch wenn sie notwendiger Zweck unseres moralischen Wol-
lens ist, die Moralität der auf ihn bezogenen Handlungen nicht tangie-
ren. Dennoch kann die praktische Vernunft dieser Realisierung nicht
gleichgültig gegenüberstehen, sondern besitzt ein notwendiges Interesse
an selbiger.145 So kann ja auch dem Rettenden das Gelingen oder Miss-
lingen seines Rettungsversuchs nicht gleichgültig sein. In jeder morali-
schen Handlung (wie in jeder anderen Handlung auch) wollen wir die

140
KpV AA 5, 110f.
141
KU AA 5, 450.
142
KpV AA 5, 113; 62f.
143
RGV AA 6, 5.
144
RGV AA 6, 7; KU AA 5, 175.
145
RGV AA 6, 5; Sedgwick 2008, 58.
Der Glaube der Praxis bei Kant 351

Realisierung des Zwecks unserer Handlung. Wenn wir etwa einen Er-
trinkenden retten, wollen wir nicht nur unsere Handlung selbst, sondern
auch, dass der Ertrinkende tatsächlich gerettet wird. Wollen wir den
Zweck unserer Handlung nun nicht unter einer einschränkenden Bedin-
gung, sondern unbedingt, so scheinen wir auch ein unbedingtes Interesse
an seiner Realisierung zu haben. Wüssten wir, dass der von uns inten-
dierte Zweck unmöglich zu realisieren ist und unser Wollen notwendig
frustriert wird, so könnten wir eigentlich gar nicht handeln wollen. Der
Gegenstand des Wollens muss zumindest als möglich gedacht werden
können.146 Wenn nun das höchste Gut ein notwendiger Zweck unseres
Wollens ist, so muss seine Realisierung zumindest als möglich gedacht
werden können. Über die empirische Möglichkeit des höchsten Guts
wissen wir nun aber gar nichts, da es kein Gegenstand der Erfahrung ist.
Sofern wir moralisch handeln, handeln wir jedoch so, als wäre seine Rea-
lisierung möglich.147 An seiner Realisierung müssen wir jedoch mit mo-
ralischer Notwendigkeit mitwirken, obwohl wir theoretisch nichts über
seine empirische Möglichkeit wissen. Wir müssen so handeln, als wäre
die Realisierung des höchsten Guts möglich. Da wir ein notwendiges
moralisches Interesse an der Wirklichkeit des höchsten Guts besitzen,
müssen wir auch so handeln, als ob die Voraussetzungen für die Mög-
lichkeit seiner Realisierung gegeben wären.148 Da das höchste Gut ein
notwendiger Gegenstand unseres moralischen Wollens ist, ist unser Wil-
le notwendig auf die Bedingungen seiner Möglichkeit als notwendigen
Voraussetzungen unseres moralischen Handelns bezogen. Diese Not-
wendigkeit ist aber nur eine praktische Notwendigkeit. In der prakti-
schen Setzung dieser Bedingungen besteht der moralische Glaube.149

146
So kann ein Arzt keine lebensrettende Operation an einer Leiche vornehmen wollen
(zumindest sofern er weiß, dass der vor ihm liegende Mensch bereits tot ist), weil die Rea-
lisierung des Zwecks der Handlung unmöglich ist. Vgl. hierzu etwa auch Wood 1970, 23;
29f.
147
Übertragen wir dies auf unser Beispiel: Der Arzt, der lebensrettende Maßnahmen an
einem Schwerverletzten durchführt, handelt so, als wäre die Lebensrettung als Gegen-
stand seiner Handlung möglich, selbst wenn er theoretisch nichts über deren Möglichkeit
ausmachen kann. Damit setzt er praktisch (in Bezug auf seine Willensbestimmung) das
Gegebensein all der äußeren Bedingungen voraus, die für das Gelingen seiner Maßnahmen
notwendig sind. Das heißt nichts anderes, als dass er so handelt, als wären die Bedingun-
gen für das Gelingen seiner Handlung tatsächlich gegeben. Gleiches muss in verstärktem
Maße für das höchste Gut gelten.
148
Neiman 1994, 113.
149
„Glaube (als habitus, nicht als actus) ist die moralische Denkungsart der Vernunft
im Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntniß unzugänglich ist. Er ist
also der beharrliche Grundsatz des Gemüths, das, was zur Möglichkeit des höchsten mo-
352 Praktischer Glaube

Wir haben bisher gezeigt, dass die praktische Notwendigkeit der Idee
des höchsten Guts uns zur praktischen Voraussetzung aller Bedingungen
der Möglichkeit dieses Guts zwingt. Eine dieser notwendigen Bedingun-
gen der Möglichkeit des höchsten Guts ist (neben der Unsterblichkeit)
nach Kant das Dasein Gottes. 150 Die praktische Vernunft nötigt den
Menschen, praktisch „eine Macht anzunehmen, welche diesen den gan-
zen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstim-
menden Effect verschaffen kann“.151 Wenn wir in unserem moralischen
Handeln notwendig die Realisierung des höchsten Guts als Zweck set-
zen, dann müssen wir in unserem Handeln auch die Möglichkeit seiner
Realisierung setzen. Wenn es also Pflicht ist, zur Realisierung des höchs-
ten Guts beizutragen, nötigt uns die praktische Vernunft, im morali-
schen Handeln a priori die Möglichkeit der Realisierung dieser Idee vo-
raussetzen.152 Nun weiß der einzelne Mensch, dass seine Annahme einer
moralischen Gesinnung noch keine hinreichende Bedingung zur Ver-
wirklichung des höchsten Guts ist. Die Möglichkeit seiner Realisierung
ist an so anspruchsvolle Bedingungen an uns selbst, an die übrigen mora-
lischen Subjekte und an den von uns nur partiell beeinflussbaren Welt-
verlauf geknüpft, dass es aus Perspektive der theoretischen Vernunft
keine Anhaltspunkte gibt, die sein Wirklichwerden objektiv möglich er-
scheinen lassen. Müsste die praktische Vernunft diese Perspektive über-
nehmen, würde ihr Moralgesetz, das die Beförderung des höchsten Guts
unbedingt fordert, selbst zu einer Täuschung werden.153
Fassen wir kurz zusammen: Die Beförderung des höchsten Guts ist
ein „a priori nothwendiges Object unseres Willens“, das notwendig mit
dem Moralgesetz zusammenhängt.154 Eine der beiden „einzigen für uns
denkbaren Bedingungen“ der Möglichkeit ist (neben der Unsterblichkeit
der Seele) Gott.155 Die eigene Einhaltung der moralischen Gesetze ge-
nügt nicht, damit in der Welt Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zu-
sammenstimmen. In der Reflexion auf die eigene, autonom begründete
moralische Praxis stellt die Vernunft ein Defizit fest, das zum Gedanken
Gottes führt: Die Verbindung zwischen Glückseligkeit und Moralität
der Welt ist empirisch kontingent.156 Gott ist deshalb für die autonome
ralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen nothwendig ist, wegen der Verbind-
lichkeit zu demselben als wahr anzunehmen“ (KU AA 5, 471).
150
Beiser 2006, 606.
151
RGV AA 6, 104; vgl. auch ibid., 7f.
152
KU AA 5, 471.
153
KU AA 5, 471.
154
KpV AA 5, 114.
155
KU AA 5, 469.
156
Dörflinger 2004, 162f.
Der Glaube der Praxis bei Kant 353

praktische Vernunft nichts anderes als jene hinreichende Bedingung für


die Verbindung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit.157 Die Ver-
knüpfung beider kann nur unter der Voraussetzung als realisierbar ge-
setzt werden, dass der Natur „eine höchste Vernunft, die nach morali-
schen Gesetzen gebietet,“ als Ursache zu Grunde liegt.158 Die Idee Got-
tes ist deshalb von der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, das uns
die Vernunft auferlegt, nicht zu trennen. Ohne Gott wären „die morali-
schen Gesetze als leere Hirngespinste anzusehen, weil der notwendige
Erfolg derselben, den dieselbe Vernunft mit ihnen verknüpft, ohne jene
Voraussetzung wegfallen müßte“.159 Mit dem moralischen Gesetz muss
die praktische Vernunft eine Wirkursache verknüpfen, die das den
höchsten moralischen Zwecken entsprechende Resultat auch bewirken
kann.160 Deshalb entspringt der praktischen Vernunft die praktische Idee
eines allmächtigen moralischen Wesens als Weltherrscher, der dem End-
zweck unseres Handelns, der „Zweckmäßigkeit aus Freiheit“ und der
„Zweckmäßigkeit der Natur“ „objectiv praktische Realität verschafft“.161
Gemäß den Prinzipien des Projekts der Aufklärung behält die Idee der
Freiheit dabei allerdings den Primat gegenüber der Idee Gottes: Die Idee
der Freiheit ist mit dem moralischen Bewusstsein unmittelbar verbun-
den, die Idee Gottes ist dagegen nur für ein endliches Bewusstsein mit-
telbar mit dem moralischen Bewusstsein verbunden. Denn das endliche
moralische Bewusstsein enthält Widersprüche, die nur unter Vorausset-
zung der Idee Gottes aufgehoben werden können.162
Resümieren wir: Es ist unbedingte Pflicht für den Menschen, an der
Realisierung des höchsten Guts mitzuwirken. Daher ist es für den Men-
schen moralisch notwendig, so zu handeln, als wären sämtliche Bedin-
gungen gegeben, unter denen die Realisierung dieses Zwecks objektiv
möglich ist. 163 Bedingung der Möglichkeit des höchsten Guts ist „ein
höheres, moralisches, heiligstes und allervermögendes Wesen“. 164 Die
praktische Vernunft postuliert deshalb die Existenz Gottes, was bedeu-
tet, dass sie, insofern sie die Willkür zur Realisierung des höchsten Gutes
im Handeln bestimmt, als „eine nothwendige Hypothese“165 implizit die
Existenz derjenigen Bedingungen setzt, die für die objektive Möglichkeit
157
Dörflinger 2004, 163.
158
KrV B 838/A 810.
159
KrV B 839/A 811.
160
KrV B 841/A 813.
161
RGV AA 6, 5.
162
Fackenheim 1996, 10.
163
KpV AA 5, 114.
164
RGV AA 6, 5; vgl. ibid., 7f.
165
OP AA 21, 151.
354 Praktischer Glaube

dieser Idee notwendig sind. 166 Die praktische Vernunft bestimmt die
Willkür also so zu handeln, als ob Gott wirklich wäre.167 Dies bezeichnet
Kant explizit als die „moralisch-praktische Realität“ einer Idee:

[M]oralisch-praktische Realität: nämlich uns so zu verhalten, als ob ihre Gegen-


stände (Gott und Unsterblichkeit), die man also in jener (praktischen) Rücksicht
postuliren darf, gegeben wären[.]168

In Bezug auf das Praktische ist das, was für die theoretische Vernunft
nur ein regulatives Prinzip ist, deshalb „zugleich constitutiv, d. i. prak-
tisch bestimmend“.169 Der moralische Glaube an Gott ist notwendig, da
das höchste Gut von der praktischen Vernunft notwendig als letzter
Zweck gesetzt ist und „ich gewiß weiß, daß niemand andere Bedingun-
gen kennen könne, die auf den vorgesetzten Zweck führen“.170 Prakti-
sche Realität impliziert damit jedoch keine epistemische Überzeugung.171
Das Postulat Gottes meint nur die unbedingte Forderung, so zu „han-
deln, als ob“ die Bedingungen zur Realisierung des höchsten Guts gege-
ben wären.172 Der moralische Glaube hat damit nur praktische Bedeu-
tung, aber impliziert keinen epistemischen Zustand des Fürwahrhaltens
des Daseins Gottes im Handlungssubjekt. Praktische Realität haben die
Ideen des höchsten Guts und die Idee Gottes als Bedingung ihrer Mög-
lichkeit für das Handlungssubjekt vielmehr insofern, als sie wirkmächtig
in seinem Handeln werden.173 Hieraus ergibt sich der besondere Charak-
ter des Vernunftglaubens an Gott: Dieser ist kein epistemisches Für-
wahrhalten, sondern eine „moralische gewisheit“, die das Subjekt mora-
lisch dazu verbindet, den Gegenstand dieses Glaubens in seinen Hand-
lungen als verbindlich zu Grunde zu legen.174

166
Ein „Postulat ist ein a priori gegebener, keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin
auch keines Beweises) fähiger praktischer Imperativ.“ (VNAEF AA 8, 418.)
167
„Die Vernunft im Bewußtsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfniß ein
Genüge zu thun, dehnt sich bis zu überschwenglichen Ideen aus, die jenen Mangel ergän-
zen könnten, ohne sie doch als einen erweiterten Besitz [epistemisches Fürwahrhalten]
sich zuzueignen.“ (RGV AA 6, 52.)
168
VNAEF AA 8, 416; KrV B 662/A 634.
169
KU AA 5, 457.
170
KrV B 852/A 824; vgl. auch B 856/A 828.
171
Dagegen: Guyer 2005, 214.
172
EAD AA 8, 337; KU AA 5, 469f.
173
Nach Dörflinger darf der Mensch den Gottesgedanken in seiner Praxis hingegen
„nicht wirksam werden lassen“, „denn eine solche Einwirkung würde [...] die Tendenz
zur Passivität einführen“ (Dörflinger 2008, 66).
174
Refl 5645 AA 18, 292.
Der Glaube der Praxis bei Kant 355

Unsere bisherigen Überlegungen haben ergeben, dass für die prakti-


sche Vernunft die Idee Gottes objektive Gültigkeit besitzt.175 In der Wil-
lensbestimmung setzt sie notwendig das Dasein Gottes, weil nur unter
Bedingung dieser Setzung die Realisierung ihres notwendigen Gegen-
standes möglich ist. Praktisch ist der Mensch deshalb nach Kant zu der
Annahme berechtigt, dass diese Bedingungen „da sind“.176 Damit stellt
sich jedoch die Frage, was „Dasein“ im Sinne praktischer Realität bedeu-
tet. Letztlich kann dies nur bedeuten, so zu handeln, als ob Gott als Er-
möglichungsbedingung des höchsten Gutes da wäre. Nicht an die prakti-
sche Realität Gottes zu glauben bedeutet hingegen, nicht so zu handeln,
als wäre das höchste Gut realisierbar, und das heißt, nicht moralisch zu
handeln. Eben deshalb, weil hier nichts über das Dasein Gottes im Sinne
eines theoretischen Sachverhalts ausgesagt ist, sondern praktisch das Da-
sein Gottes in der moralischen Willensbestimmung durch die praktische
Vernunft mitgesetzt ist, sagt Kant, „daß diesen Glauben nichts wankend
machen könne, weil dadurch meine sittliche Grundsätze selbst umge-
stürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen
Augen verabscheuungswürdig zu sein.“177 Insofern wir nur unter Vo-
raussetzung dieser Setzung überhaupt an der Realisierung des höchsten
Gutes mitwirken können, ist diese Idee im moralischen Willen wirksam.
In eben dieser Wirksamkeit besteht ihre praktische Realität. Empirische
Realität würde dagegen eine entsprechende Anschauung voraussetzen.
Deshalb spricht Kant nicht von einem Wissen, sondern von einem mora-
lischen Glauben, durch den der Mensch in seinem moralischen Handeln
bestimmt ist. Die theoretische Vernunft kann hiervon keinen Gebrauch
machen, weil keine für eine theoretische Überzeugung notwendige An-
schauung gegeben ist. Der moralische Beweis vom Dasein Gottes hat so
auch den einzigen Zweck, dem „Begriffe vom höchsten Gut objective
Realität zu geben, d. i. zu verhindern, daß es zusammt der ganzen Sitt-
lichkeit nicht bloß für ein bloßes Ideal gehalten werde“.178
Kant schreibt der Idee Gottes also praktische Realität bzw. Gültigkeit
zu. Etwas schwankend ist dabei sein Gebrauch, ob er diese praktische
Realität nun als „objektiv“ oder „subjektiv“ bezeichnet. So finden sich
mehrere Stellen, die von der bloß subjektiven Gültigkeit des Fürwahr-
haltens dieser Idee sprechen.179 Kant verwendet den Begriff der subjekti-

175
KpV AA 5, 4f.
176
VNAEF AA 8, 418.
177
KrV B 856/A 828.
178
WDO AA 8, 139.
179
So heißt es in KrV B: „[D]ie Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische
Gewißheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so
356 Praktischer Glaube

ven Notwendigkeit oder Gültigkeit etwa der Idee des Guten in KU aber
vor allem dann, wenn er deutlich machen möchte, dass es sich hierbei
bloß um eine notwendige Setzung der praktischen Vernunft und nicht
um eine Anerkennung der Wirklichkeit der Idee des Guten oder der Idee
Gottes durch die theoretische Vernunft handelt. 180 Vor allem in KU
macht er deutlich, dass das höchste Gut nur ein notwendiger Zweck für
moralische Wesen und nicht zur objektiven Bestimmung der Natur ge-
eignet ist.181
In OP scheint Kant in letzter Konsequenz die Annahme einer Realität
Gottes außerhalb der menschlichen Vernunft dann ganz abzulegen. 182
Gott ist nicht als eine außer der Vernunft vorhandene Substanz oder Ur-
sache zu denken, sondern ausschließlich als eine in der Vernunft selbst
gesetzte Idee.183 Die Forderungen der moralischen Vernunft sind göttlich
und beweisen die Realität der Freiheit, aber sie beweisen die Realität
Gottes nicht in dem Sinne, dass sie die substantielle Existenz Gottes be-
weisen würden. 184 Gott ist vielmehr nur mehr eine „Idee (Selbstge-
schöpf)“ der Vernunft, ein „Gedankenwerk“ und keine Substanz oder
Sache an sich. 185 „Gott existiert“ bedeutet nur: „Gott existiert in der
praktischen Vernunft“. 186 Nach Förster verabschiedet OP deshalb die
frühere Postulatenlehre.187 Nach unserer Deutung klärt Kant hier hinge-
gen nur deutlicher den Status der praktischen Realität Gottes im Gegen-
satz zu seiner möglichen theoretischen Realität.188 Mit der Feststellung,
muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern, ich bin
moralisch gewiß etc.“ (KrV B 857/A 829.)
180
KU AA 5, 450; 453.
181
KU AA 5, 453.
182
Dagegen: Winter 2000, 477.
183
OP AA 21, 144; 153.
184
OP AA 21, 26. „Gott ist nicht ein ausser mir bestehendes Ding, sondern mein eige-
ner Gedanke. Es ist ungereimt zu fragen ob ein Gott sey.“ (Ibid., 26f.)
185
OP AA 21, 26f. Teilweise identifiziert Kant Gott sogar mit der praktischen Ver-
nunft, die so im vernünftigen Handlungssubjekt gebietet, als ob sie eine Person wäre
(ibid., 37). „Gott ist die moralisch//practische sich selbst gesetzgebende Vernunft – Daher
nur ein Gott in mir um mich und über mir.“ (Ibid., 145.) „Gott muß nicht als Substanz
ausser mir vorgestellt werden, sondern als das höchste moralische Princip in mir“ (ibid.,
144). In diesem Sinne schreibt Rousset, Gott sei „notre raison pratique personnifiée,
l’impérative moral hypostasié“ (Rousset 1967, 636).
186
Förster 2000, 142.
187
Förster 1998, 362; OP AA 21, 81.
188
So hat Heidegger sicher nicht völlig Unrecht, dass „die Frage, ob und wie und in
welchen Grenzen der Satz ‚Gott ist’ als absolute Position möglich sei, der geheime Stachel
[ist], der alles Denken der ‚Kritik der reinen Vernunft’ antreibt und die nachfolgenden
Hauptwerke bewegt.“ (Heidegger 1976, 455.) Dies impliziert jedoch keine grundsätzliche
religionsphilosophische Orientierung von Kants Gesamtwerk (Winter 2000, 429) – im
Gegenteil.
Der Glaube der Praxis bei Kant 357

dass Gott nur ein Gedanke ist, bestimmt Kant die praktische Realität
Gottes im Gegensatz zur theoretischen Realität, nach der ein reales Ding
als „empirische Vorstellung“ verstanden werden muss.189 Im selben Sinn
bezeichnet Kant auch das Ding an sich als „ein Gedankending ohne
Wirklichkeit“. 190 So ist jedes Noumenon als Gegenstück zur Erschei-
nung „nicht als ein besonderes Ding sondern als Act des Verstandes“ zu
verstehen. 191 Das Urteil der praktischen Vernunft: „Es ist ein Gott“,
kann damit nicht die Setzung einer die Vernunft transzendierenden Sub-
stanz meinen, die „dieses Wesen für die Sinne repräsentirte“.192 Denn als
reales Objekt für die praktische Vernunft ist Gott Noumenon und kein
Sinnengegenstand.193 Der Begriff „Gott“ ist damit jedoch „keine Dich-
tung (willkürlich gemachter Begriff conceptus factitius), sondern ein der
Vernunft nothwendig gegebener (datus)“.194 Der Glaube an die prakti-
sche Realität Gottes „überwieget“ vielmehr „alle vorwahrhaltung aus
Logischen Gründen bey weitem“:195

Gott ist eine bloße Vernunftidee aber von der größten inneren u. äußeren practi-
schen Realität.196

Will die Vernunft dem für sie selbst notwendigen Begriff Gottes inhalt-
lich gerecht werden, muss sie die von ihr postulierte Idee als praktisch
real setzen,197 was gleichbedeutend damit ist, die Willkür so zu bestim-
men, als würde Gott existieren und als wäre das höchste Gut deshalb
realisierbar. Sie muss die Wirklichkeit der Idee Gottes praktisch und
nicht spekulativ beweisen. Ohne diese Voraussetzungen kann das Indi-
viduum weder an seiner eigenen Selbstaufklärung noch an der weltbür-
gerlichen Aufklärung mitwirken. Denn den Ausgang aus seiner selbst
189
OP AA 21, 148.
190
OP AA 22, 31.
191
OP AA 22, 94.
192
OP AA 21, 64.
193
„Gott ist kein durch Sinne des Menschen erkennbares Wesen.“ (OP AA 21, 142.)
194
OP AA 21, 63. Auch wenn manche Stellen das durchaus nahezulegen scheinen:
„Wir müssen uns ein Wesen machen gegen welches wir Dankbarkeit, Verehrung so wie
auch Wohltätigkeit etc. ausüben“ (ibid., 144). Nach Yovel bedeutet der Satz „Es gibt ei-
nen Gott“ bei Kant nichts anderes, als „Es muss notwendig etwas (in der Struktur der
Welt oder des Menschen) geben, das die Verwirklichung des höchsten Guts durch
menschliche Tätigkeit möglich macht.“ (Yovel 1980, 126.) Die Idee Gottes ist praktisch
jedoch bereits dadurch real, dass der menschliche Wille sich durch das praktische Gesetz
so bestimmt, als wären die Voraussetzungen für die Realisierung des Objekts des Willens
gegeben – unabhängig von seiner empirischen Möglichkeit.
195
V-Lo/Blomberg AA 24, 149.
196
OP AA 21, 142.
197
OP AA 22, 109.
358 Praktischer Glaube

verschuldeten Unmündigkeit zu suchen bedeutet, den moralischen Im-


perativ wirksam werden zu lassen, und dies bedeutet, so zu handeln, als
ob Gott wirklich wäre.

b. Die praktische Bestimmtheit des Gottesbegriffs

Wir haben nun den Ort des Gottesbegriffs in seiner praktischen Realität
im kantischen Projekt der Aufklärung bestimmt. Allerdings muss er da-
bei als Setzung der autonomen praktischen Vernunft verstanden werden:
als Resultat des Zusammenfalls von Glückswürdigkeit und Glückselig-
keit als notwendigem Zweck menschlichen Handelns. Der gute Wille er-
schöpft damit zwar nicht die Fülle des Guten, aber er konstituiert sie. Er
ist die notwendige Bedingung, unter der ein handelndes Subjekt der
Glückseligkeit würdig ist.198 Für ein religiöses Bewusstsein, das Moral als
Forderung Gottes an den Menschen versteht, muss diese Interpretation
jedoch unzulänglich sein. Wir wollen deshalb im Folgenden nach der
Möglichkeit einer Vermittlung zwischen religiösem Bewusstsein und
Kants moralischem Bewusstsein fragen. Dabei gehen wir von dem Prob-
lem der Identifizierbarkeit der Gottesvorstellung des religiösen Bewusst-
seins mit dem Gottesbegriff der praktischen Vernunft aus:
Seine inhaltliche Bestimmung erhält der Begriff Gottes bei Kant durch
die praktische Vernunft. Wie dies strukturell zu denken ist, können wir
am Begriff der Freiheit verständlich machen: Der Begriff der Freiheit,
der für die theoretische Vernunft nur negativ als Nichtbestimmtsein
durch Naturkausalität bestimmbar ist,199 besitzt für die praktische Ver-
nunft positive Bestimmtheit als „Begriff einer den Willen unmittelbar
[…] bestimmenden Vernunft“.200 Für die Erkenntnis bleibt der Begriff
der causa noumenon leer,201 für das sittliche Handeln besitzt er hingegen
auch ohne Anschauung eine sich in Gesinnungen und Maximen konkre-
tisierende Bedeutung. So erhält dieser Begriff erst durch das moralische
Gesetz bestimmte Bedeutung.202 Allgemeiner gesprochen bleibt der Be-
griff des Unbedingten für die theoretische Vernunft unbestimmt, da ihm
keine mögliche Anschauung korreliert. Anders verhält es sich für die

198
V-Mo/Mron II AA 29, 599f.
199
KpV AA 5, 54
200
KpV AA 5, 48.
201
KpV AA 5, 56.
202
KpV AA 5, 55f.
Der Glaube der Praxis bei Kant 359

praktische Vernunft.203 Für sie wird die Idee des Unbedingten nämlich
vermittelt über das moralische Gesetz durch dessen Anwendung be-
stimmt.204
Genauso wird nun auch die Idee Gottes, die für die theoretische Ver-
nunft unbestimmt bleibt, durch die praktische Vernunft bestimmt. So ist
der praktisch gewonnene Begriff von Gott bestimmt als „Begriff eines
einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens“.205 Um von
der Idee Gottes praktischen Gebrauch machen zu können, muss die
praktische Vernunft ihn als wollendes, intelligentes Wesen begreifen.206
Denn ihre Funktion für die praktische Vernunft ist die mögliche Verei-
nigung von Moralität und Glückseligkeit. 207 Deshalb müssen ihm alle
moralischen Beschaffenheiten, die sich durch die theoretische Vernunft
nicht als notwendige Eigenschaften Gottes begreifen lassen, für ihren
praktischen Gebrauch beigelegt werden. 208 Führt die rein theoretische
Philosophie deshalb nur auf einen deistischen Gottesbegriff mit trans-
zendentalen Eigenschaften wie Ewigkeit und Allgegenwart, der sich mit
dem Spinozismus noch vereinbaren ließe, so führt erst die praktische
Philosophie auf den durch moralische Begriffe wie „Güte“ und „Gerech-
tigkeit“ bestimmten theistischen Begriff Gottes. Dadurch „ergänzt die
moralische Teleologie den Mangel der physischen und gründet allererst
eine Theologie“.209 Selbst die physische Teleologie in KU, die nach Kant
zwar die Suche nach der Theologie motivieren kann,210 gelangt nur zum
Begriff einer verständigen Ursache, die noch sämtlicher moralischer
Qualitäten entbehrt. Die moralischen Eigenschaften Gottes werden erst
in einer moralischen Weltbetrachtung gegeben.211 Vermittelst der Moral
und damit der praktischen Vernunft kann Gott als weiser Schöpfer und
Herrscher bestimmt werden.212 Der Idee Gottes muss für ihre praktische
„Verwendbarkeit“ nämlich alles das zugeschrieben werden, was der Zu-
203
KpV AA 5, 48. So heißt es in der Vorrede KrV B, dass sich in der „praktischen Er-
kenntnis“ der Vernunft „Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbe-
dingten zu bestimmen“ (KrV B xxi).
204
KpV AA 5, 49f. Ähnlich erhält etwa auch die Idee vom Ende aller Dinge erst durch
ihren Gebrauch in der Moral inhaltliche Bestimmtheit. Für die spekulative Erkenntnis ist
sie leer und anwendungslos, „in praktischer Absicht“ wird sie uns jedoch „von der ge-
setzgebenden Vernunft selbst an die Hand gegeben“ (EAD AA 8, 332).
205
KrV B 842/A 814.
206
KpV AA 5, 125.
207
TP AA 8, 279.
208
Förster 1998, 341; 355.
209
KU AA 5, 444.
210
KU AA 5, 440.
211
KU AA 5, 442.
212
Guyer 2005, 284; KrV B 839/A 811; B 842/A 814.
360 Praktischer Glaube

sammenhang von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit erfordert. Des-


halb ist die praktische Idee Gottes – anders als die spekulative Idee Got-
tes – nicht leer, „weil sie unserm natürlichen Bedürfnisse zu allem Thun
und Lassen im Ganzen genommen irgend einen Endzweck, der von der
Vernunft gerechtfertigt werden kann, zu denken abhilft, welches sonst
ein Hinderniß der moralischen Entschließung sein würde.“213 So hat der
bestimmte Begriff Gottes nach Kant seinen Ursprung im Bewusstsein
des moralischen Gesetzes und der mit ihm verbundenen Idee des höchs-
ten Guts.214 In seiner moralisch-praktischen Funktion können wir Gott
„nicht bloß als Intelligenz und gesetzgebend für die Natur, sondern auch
als gesetzgebendes Oberhaupt in einem moralischen Reiche der Zwecke
denken“, als allwissenden „Herzenskündiger“, der „das Innerste der Ge-
sinnungen“ sieht, „als allmächtig: damit es die ganze Natur diesem
höchsten Zwecke angemessen machen könne; als allgütig und zugleich
gerecht: weil diese beiden Eigenschaften (vereinigt die Weisheit) die Be-
dingungen der Causalität einer obersten Ursache der Welt als höchsten
Guts unter moralischen Gesetzen ausmachen“.215 Erst dieser moralische
Begriff von Gott ist für die Religion brauchbar.216
Nach KU können wir diese Bestimmung Gottes auch über ein Ver-
ständnis der Schöpfung entwickeln: Ohne Menschen (oder vernünftige
Wesen) besäße die Schöpfung bzw. die Natur keinen Endzweck. Durch
den Menschen, der als Teil der Schöpfung seine Moralität in ihr realisie-
ren muss, erhält die Welt erst ihren Wert. Nur der gute Wille „ist dasje-
nige, wodurch sein Dasein allein einen absoluten Werth und in Bezie-
hung auf welches das Dasein der Welt einen Endzweck haben kann“.217
Der Mensch als moralisches Wesen muss also von der praktischen Ver-
nunft als Endzweck der Schöpfung gedacht werden, dem alle bedingten
Zwecke der Natur unterworfen sind. Mit diesem Gedanken lässt sich
dann auch der Urheber der Welt begrifflich weiter bestimmen: Er ist
nicht mehr nur „gesetzgebend für die Natur, sondern auch als gesetzge-

213
RGV AA 6, 5. Insofern bleibt die Idee Gottes zwar ein „selbst gemachtes“ Gedan-
kending in der Vernunft, „was wir uns selbst, aber doch nicht durch seinen ganz leeren,
sondern in Beziehung auf uns selbst und die Maximen der inneren Sittlichkeit, mithin in
praktischer innerer Absicht fruchtbaren Begriff machen“ (MdS AA 6, 241).
214
Da die Kategorien spontan vom Verstand selbst hervorgebracht werden, können sie
auch auf nicht in der Anschauung gegebene Objekte appliziert werden. Kategorien kön-
nen dabei Bedeutung haben (KpV AA 5, 136).
215
KU AA 5, 444; vgl. RGV AA 6, 139; MpVT AA 8, 257.
216
MpVT AA 8, 256.
217
KU AA 5, 443.
Der Glaube der Praxis bei Kant 361

bendes Oberhaupt in einem moralischen Reiche der Zwecke“ zu den-


ken.218
Die Verbindung von Moralität und Glückseligkeit führt so auch zur
Idee von Gott als „göttliche[m] Vergelter“ und „göttliche[m], d. i. stren-
ge[n] Richter“.219 Diese Bestimmung Gottes dient dem Überstieg der ei-
genen empirisch-subjektiven Bedingtheit hin auf den Standpunkt der
Allgemeinheit in der moralischen Verurteilung der eigenen Handlungen.
Sie generiert einen Maßstab, mit dem die eigenen Gedanken kritisch auf
ihre Publizität hin untersucht werden und in einen konsistenten Zu-
sammenhang miteinander gebracht werden sollen. Deshalb ist diese Idee
zentral für die Selbstaufklärung des Menschen. Mittels ihrer übersteigt
das Subjekt sein eigenes Gewissen als ein bloß privates forum internum
hin auf ein quasi-öffentliches forum externum. Denn das Gewissen ist
zunächst nur ein innerer Gerichtshof im Menschen. Dasselbe Subjekt ist
dabei zugleich Ankläger, Richter und Angeklagter. Als sein eigener au-
tonomer Gesetzgeber ist der Mensch Ankläger, andererseits ist er als
Subjekt, das sich diesem selbstgegebenen Gesetz unterwirft, zugleich
Angeklagter.220 Nach Kant wäre es jedoch ungereimt, dass der durch sein
Gewissen Angeklagte und der Richter als dieselbe Person vorgestellt
werden. Der Mensch kann sich zwar „selbst beurtheilen, aber nicht
verurtheilen, rechtskräftig urtheilen oder richten“.221 Das Forum kann
nur extern sein, sonst gibt es keinen Zwang im Urteil über sich selbst. So
muss sich der Mensch bei allen Pflichten einen anderen als Richter den-
ken. Dies ist nicht der Mensch überhaupt, sondern „der autorisirte Ge-
wissensrichter“222 bzw. der „scrutator cordium“.223 Der durch das mora-
lische Gesetz verpflichtete Mensch versucht sich, indem er sich Gott als
einem objektiven Richter gegenüberstellt, in seiner Selbstbestimmung
objektiv zu orientieren. Die Moralphilosophie schreibt Gott damit eben
jene Bestimmungen zu, die ihm auch das religiöse Bewusstsein zu-
schreibt. Gott erscheint dem religiösen Bewusstsein als „Weltrichter als

218
KU AA 5, 444.
219
Refl 6894 AA 19, 198. In OP wird der Satz „Es gibt einen Gott“ folgendermaßen
begründet: Die Übertretung des Moralgesetzes hat keine natürlichen negativen Konse-
quenzen. Aber ein Gesetz, dessen Übertretung keine Konsequenzen hätte und die ich mir
selbst vergeben könnte, wäre kein Gesetz (Förster 2000, 140).
220
„Der erstere ist der Ankläger, dem entgegen ein rechtlicher Beistand des Verklagten
(Sachwalter desselben) bewilligt ist. Nach Schließung der Acten thut der innere Richter,
als machthabende Person, den Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische
Folgen der That“ (MdS AA 6, 439).
221
Refl 7181 AA 19, 265.
222
MdS AA 6, 439.
223
OP AA 21, 141.
362 Praktischer Glaube

Herzenskündiger“,224 der nicht nur die äußeren Handlungen der Men-


schen, sondern ihre Gesinnungen beurteilt. Vor diesem Weltrichter sind
also auch die eigenen Maximen nicht mehr privat. Moralisch kommt die-
ser Idee nur praktische Realität bezogen auf das Handeln zu. Es ist
Pflicht, seine Gesinnung so zu läutern, dass man sein eigenes Innenleben
im religiösen Bild vom göttlichen Richter überschreitet.225 Moralisch soll
diese Idee also nur handlungswirksam werden, insofern das Subjekt sei-
ne Handlungen als öffentlich und von einem allwissenden objektiven
Richter beurteilt vorstellt.
Fassen wir damit die bisherigen Überlegungen zusammen: Je nach-
dem, unter welchem Gesichtspunkt wir die Welt betrachten (Inbegriff,
rational geordnetes Ganzes, Grundlage der Entfaltung menschlicher
Moralität), muss die menschliche Vernunft auch den Urheber der Welt
bestimmen bzw. unbestimmt lassen. Für die Frage, inwieweit die Auf-
klärung auch für das religiöse Bewusstsein akzeptabel ist, lässt sich fest-
stellen, dass allein der moralisch bestimmte Begriff Gottes für selbiges
mit seiner Vorstellung von Gott identifizierbar ist.

c. Die Unbedingtheit der Moral

Trotz der soeben festgestellten Identifizierbarkeit von moralischer Idee


Gottes und der Vorstellung des religiösen Bewusstseins von Gott sahen
wir bereits, dass der von Kant behauptete Primat der Moral aus Sicht des
religiösen Bewusstseins zumindest problematisch sein kann. Fragen wir
deshalb, wie dieser Primat sich aus Kants Sicht rechtfertigt. Kants Ar-
gument scheint dabei Folgendes: Die objektive Realität Gottes als mögli-
cher Erkenntnisgegenstand muss aufgehoben werden, damit ein prakti-
scher Glaube und damit die praktische Realität des Begriffs möglich ist
und die Idee Gottes im menschlichen Willen wirkmächtig werden kann.
Dies ist der implizite Sinn von Kants berühmter Aussage über das Ver-
hältnis von Glauben und Wissen in KrV:

Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und
der Dogmatism der Metaphysik [...] ist die wahre Quelle alles der Moralität wi-
derstreitenden Unglaubens[.]226

224
SF AA 7, 9f.
225
MdS AA 6, 438f.
226
KrV B xxx. Der von Kant explizit gemachte Sinn dieser Aussage ist freilich, dass der
spekulativen Vernunft ihre Anmaßungen genommen werden müssen, damit die Naturleh-
re und der Naturmechanismus in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt werden können.
Der Glaube der Praxis bei Kant 363

Wieso muss das Wissen aktiv aufgehoben werden, um Platz zum Glau-
ben zu bekommen? Wieso ist der metaphysische Dogmatismus mit sei-
ner Behauptung der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele
die Quelle „alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens“? Im Fol-
genden wird dafür argumentiert, dass die Antwort auf beide Fragen in
der Autonomie der praktischen Vernunft zu suchen ist: Ein (vermeintli-
ches) Wissen von Gott würde zwangsläufig die Möglichkeit der morali-
schen Autonomie des Menschen aufheben. Diese moralische Autonomie
ist jedoch die einzig legitime Quelle eines Glaubens an Gott.
Resümieren wir hierfür einige bisher entwickelte Ergebnisse: Aus-
gangspunkt für die Entwicklung von Kants kritischem Glaubensbegriff
sind die unbedingten Geltungsansprüche der praktischen Vernunft. Da-
mit ist zunächst einmal impliziert, dass die Geltung moralischer Gesetze
von der Existenz Gottes unabhängig ist. Daneben ist auch die Möglich-
keit, moralisch zu handeln, vom theoretischen Fürwahrhalten der Exis-
tenz Gottes unabhängig. Anders als John Locke, der zwar nicht die Exis-
tenz Gottes selbst, aber doch den Glauben an die Existenz Gottes zu ei-
ner Voraussetzung menschlicher Moralität macht, ist der epistemische
Glaube an Gott für Kant also keine notwendige Triebfeder moralischen
Handelns.227 Wäre die Möglichkeit moralischen Handelns abhängig vom
Glauben an ein transzendentes Wesen, so würde dies die Möglichkeit
moralischer Autonomie aufheben. Wer nur auf Grund des Glaubens an
einen allmächtigen Richtergott moralisch handelt, der handelt überhaupt
nicht moralisch. Der These vom religiösen Glauben als Voraussetzung
der Moralität setzt Kant also eine Moralkonzeption entgegen, nach der
sich der Mensch selbst als autonome Ursache der moralischen Normen
für sein Handeln verstehen muss und auch als derjenige, der die Zwecke
der Vernunft zu realisieren hat.228 Als praktisches Vernunftwesen kann
der Mensch seine Pflicht selbständig erkennen und bedarf keiner weite-
ren Triebfeder, um selbige zu tun.229 Es bedarf so auch keines Glaubens
an Gott, um moralisch und tugendhaft sein zu können. 230 Die einzig
notwendige und zugleich legitime Triebfeder moralischen Handelns ist
die Achtung vor dem Gesetz und nicht die Verantwortung gegenüber
227
KU AA 5, 451ff. So können nach Kant auch Atheisten in der Gesellschaft geduldet
werden, sofern sie Gott nicht aus einem moralischen Grund, sondern aus einem logischen
Grund leugnen (V-PP/Herder AA 27,1, 11).
228
„Das Thun muß als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte
entspringend und nicht als Wirkung vom Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursa-
che, in Ansehung deren der Mensch sich leidend verhielte, vorgestellt werden“ (SF AA 7,
42f.).
229
RGV AA 6, 3.
230
Zu Kants Kritik des Atheismus vgl. allerdings Denis 2003.
364 Praktischer Glaube

Gott als einem vom Menschen verschiedenen Wesen.231 So weist Kant


nicht nur den Anspruch zurück, Moral könne den Glauben an Gott vo-
raussetzen, vielmehr setze sie noch nicht einmal die Idee Gottes voraus.
Die Moral ist nämlich ganz „auf dem Begriffe des Menschen als eines
freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbe-
dingte Gesetze bindenden Wesens gegründet“.232 Der Begriff menschli-
cher Autonomie allein begründet also die Forderung des Sittengesetzes,
sich selbst diesem Gesetz zu unterwerfen, das die Menschen sich auf
Grund ihrer praktischen Vernunft selbst vorschreiben. Die Idee eines
anderen Wesens kann und darf für den religiösen Akteur kein Substitut
für seine moralische Autonomie bilden, „weil, was nicht aus ihm selbst
und seiner Freiheit entspringt, keinen Ersatz für den Mangel seiner Mo-
ralität abgiebt.“233 Zwei Dinge sind deshalb festzuhalten:

1. Die unbedingte Geltung der Moral und ihre unbedingte Verbindlichkeit für
den Menschen setzen weder die Existenz noch die Idee Gottes voraus.
2. Wer die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes aus der Idee Gottes herlei-
tet, pervertiert die Verbindlichkeit des Gesetzes.

Aus der bisher festgestellten Unbedingtheit der Moral folgt jedoch noch
nicht, dass man das Wissen von Gott notwendig aufheben muss, damit
moralische Autonomie möglich ist. Diese These besagt vielmehr, dass die
kritische Reflexion auf die Geltungsansprüche der theoretischen Ver-
nunft, in der sich das Scheitern der natürlichen Theologie als einem spe-
kulativen Wissen von Gott zeigt, Voraussetzung für die menschliche
Möglichkeit moralischer Autonomie ist. Erst diese Einsicht macht Platz
für moralische Autonomie und damit für den moralischen Vernunft-
glauben. Das wollen wir im Folgenden ausführen.
Dass die Beweise für die Nicht-Existenz Gottes zurückgewiesen wer-
den müssen, damit überhaupt ein moralischer Vernunftglaube möglich
ist, ist in einem sehr trivialen Sinne offensichtlich: Dasjenige, dessen
Nicht-Existenz gewusst wird, an dessen Existenz kann man nicht mehr
glauben (nicht einmal praktisch), weil man nach Kant dann nicht mehr
nur subjektive Gründe des Fürwahrhaltens hat, sondern objektiv zurei-
chende Gründe. Warum aber ist es notwendig für die Möglichkeit der
Moral, die spekulative Unbeweisbarkeit der „Kardinalsätze unserer rei-
nen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“234 zu demonst-

231
TP AA 8, 282.
232
RGV AA 6, 3.
233
RGV AA 6, 3.
234
KrV B 769/A741.
Der Glaube der Praxis bei Kant 365

rieren, um einen praktischen Glauben an selbigen möglich zu machen?


Kant selbst stellt in KrV ja fest, dass für den Satz: „Es ist ein Gott“ das
„Interesse der Vernunft“235 spricht. Warum kann dieser Satz nicht in eine
metaphysisch bewiesene Tatsachenbehauptung verwandelt werden, ohne
die Moral aufzuheben? Warum würde ein bewiesener Gott die Freiheit
der Annahme moralischer Maximen für den endlichen Mensch verun-
möglichen?
Kant behauptet dies jedoch sehr explizit: Allein das Scheitern der na-
türlichen Theologie gibt Raum für die menschliche moralische Praxis.236
Das Scheitern der Vernunft in Bezug auf die kosmologischen Ideen und
damit auch das Scheitern des Beweises des Daseins eines notwendigen
Wesens sei geradezu ein „Glück für die praktische Bestimmung des
Menschen“.237 Denn das Wissen von Gott würde unsere moralische Pra-
xis unmöglich machen.238 Die These Kants lautet also: Die Erkenntnis
von einem allgerechten und zugleich allmächtigen Gott würde die Mög-
lichkeit jeder menschlichen Moral aufheben. Das Argument hierfür
scheint Folgendes zu sein: Das Wissen von der Existenz eines allgerech-
ten und allmächtigen Wesens würde mit Notwendigkeit zu äußerlich ge-
setzeskonformem Handeln führen, aber nicht die Annahme moralischer
Gesinnungen erzwingen können. Letzteres ist unmöglich, weil eine
durch äußeren Zwang angenommene Gesinnung eben keine moralische
Gesinnung mehr wäre.239 Wenn wir also wüssten, dass wir für jede Fehl-
handlung bestraft würden und dass Gott uns überwacht, dann würden
wir allein aus Furcht vor Strafe immer pflichtgemäß handeln. Würden
„Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor
Augen liegen“,240 dann könnten wir uns nie zur Tugendhaftigkeit em-
porarbeiten, weil wir allein aus Angst vor Strafe immer schon pflichtmä-
ßig handeln würden. Wir gerieten somit nie in einen Konflikt zwischen
Pflicht und Neigung, da unsere Neigung, Strafe zu vermeiden, uns im-
mer pflichtgemäß handeln ließe. Der Konflikt zwischen Pflicht und Nei-
gung ist für die Entwicklung unserer moralischen Autonomie jedoch
notwendig, damit wir unsere Sinnesart reformieren und tugendhaft wer-
den können. Die Stärke moralischer Tugend bildet sich an ihren Hinder-
nissen aus. Ein epistemisch gesichertes Fürwahrhalten Gottes würde
demnach ausschließen, dass wir uns als autonome Wesen realisieren

235
KrV B 769/A 741.
236
KrV B 395.
237
KrV B 492/A 464.
238
KpV AA 5, 147.
239
Vgl. hierzu auch Sedgwick 2008, 13.
240
KpV AA 5, 147.
366 Praktischer Glaube

können, da das Wissen von Gott uns zu heteronomen Wesen machen


würde. Nicht die transzendentale Freiheit als metaphysische Möglichkeit
wäre dabei ausgeschlossen, sondern unsere praktische Freiheit. Denn un-
serer praktischen Freiheit werden wir uns nur dann bewusst, wenn wir
uns unserer selbst als handelnde freie Wesen bewusst werden. Dies wer-
den wir aber nur in Situationen, in denen wir eine Entscheidung treffen
müssen, ob wir gemäß der Pflicht handeln wollen oder gemäß der Selbst-
liebe. Dieser Konflikt träte aber nie ein, wenn wir von der Existenz Got-
tes wüssten, da uns dann unsere Selbstliebe nötigen würde, gemäß der
Pflicht zu handeln.241
Fassen wir unsere Überlegungen zusammen: Als Menschen müssen
wir uns zur Freiheit emporarbeiten. Diese Arbeit ist in einem göttlichen
„Überwachungsstaat“ aber nicht nur nicht notwendig, sondern nicht
einmal möglich. Nicht erst die Ableitung der Verbindlichkeit der Moral
aus dem Glauben an Gott, sondern bereits das Wissen von seiner Exis-
tenz würde die moralische Autonomie des Menschen und damit die Mo-
ral selbst aufheben. Das Postulat Gottes kann deshalb keine Vorausset-
zung der Moralität, sondern nur eine Folgerung aus ihr sein.242 Der mo-
ralische Glaube an Gott, sofern er vor der autonomen Vernunft
gerechtfertigt sein will, muss sich aus dem Selbstverständnis des Men-
schen als einem moralisch autonomen Wesen ergeben. Deshalb hat auch
die Idee der Freiheit in den praktischen Schriften Kants absoluten Vor-
rang vor der Idee Gottes.243 Denn unser Selbstverständnis als moralische
Wesen können wir nicht aus der Idee Gottes gewinnen, sondern diese
kann sich nur unserem Selbstverständnis als freie Wesen verdanken. Die-
ses Selbstverständnis setzt aber das Nichtwissen von Gottes objektiver
Existenz „außerhalb“ der Vernunft voraus. „[E]s ist moralisch nothwen-
dig, die Existenz dieses Gottes anzunehmen“,244 heißt deshalb, wie wir
bereits festgestellt haben, als praktischer Satz nicht mehr als „Handle so,
als ob Gott wirklich wäre!“ Als Gegenstand des praktischen Glaubens
darf Gott nicht mehr als eine reine Setzung der praktischen Vernunft
sein.245
241
Außerdem: Warum sollten wir, wenn wir von einem allgerechten und allmächtigen
Wesen wüssten, noch motiviert sein, das höchste Gut zu befördern? Ein allgerechter Gott
würde ja gerade dafür sorgen, dass jedem Menschen das ihm auf Grund seiner Moralität
zukommende Maß an Glückseligkeit zu Teil wird.
242
OP AA 21, 81.
243
KpV AA 5, 3f.
244
KpV AA 5, 125.
245
So kommt der Idee Gottes ein anderer Status als der Idee der Freiheit zu. Ihr Ge-
genstand ist anders als die Idee Gottes eine Tatsache und kann zu den wissbaren Gegen-
stände (scibilia) gerechnet werden (KU AA 5, 468).
Der Glaube der Praxis bei Kant 367

III. Die Idee Gottes in der Praxis religiöser Hoffnung

Aus dem bisher Entwickelten wird klar, dass die Idee Gottes in ihrem
praktischen Gebrauch eine reine Setzung der praktischen Vernunft ist
und deshalb Religion auf Moral reduziert werden kann. Für das religiöse
Bewusstsein muss dieses Resultat jedoch wenig anschlussfähig bleiben.246
So stellt sich die Frage nach dem Mehrwert, den Kant der Religion ge-
genüber der Moral einräumt, bzw. die Frage, ob es für Kant einen Un-
terschied zwischen praktischem und religiösem Glauben gibt. Kant
selbst ist in dieser Frage leider nicht unbedingt eindeutig. Manche seiner
Aussagen reduzieren den religiösen Glauben vollständig auf die Moral
(„Religion ist Gewissenhaftigkeit“247), andere Stellen hingegen etablieren
die Religion als eigenständigen „Vernunftbegriff a priori“.248 Im Folgen-
den werden wir den Glaubensbegriff Kants so rekonstruieren, dass Reli-
gion als eigenständiger Vernunftbegriff für endliche Vernunftwesen ge-
dacht werden kann, um das religiöse Bewusstsein so in Kants Aufklä-
rungsprojekt zu integrieren. Zu diesem Zweck entwickeln wir einen
Mehrwert des religiösen gegenüber dem moralischen Glauben. Dieser
Mehrwert besteht nach unserer Deutung in der moralisch gerechtfertig-
ten Hoffnung auf die reale Verwirklichung der moralischen Zwecke.249
Dazu gehen wir in drei Schritten vor: Zunächst zeigen wir, dass der reli-
giöse Glaube eine Hoffnung ist, die nur moralisch gerechtfertigt werden
kann (a). Dann explizieren wir den religiösen Charakter dieser Hoffnung
(b). Zuletzt bestimmen wir den Gegenstand dieser Hoffnung (c).

Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines
machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in
dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der
Endzweck des Menschen sein kann und soll.250

246
Vgl. etwa Pelluchon 2014, 44.
247
OP AA 21, 81. Der religiöse Glaube ist ein moralischer. Die Theologie, die diesen
Glauben zum Gegenstand hat und von der sittlichen Ordnung auf Gott als freien und
vernünftigen Welturheber schließt, nennt Kant „Moraltheologie“ (KrV B 660/A 632 vgl.
auch: OP AA 21, 101). Etwas ambig ist folgende Stelle: „Es ist ein Gott. – Denn es ist ein
categorischer Pflichtimperativ vor dem sich alle Knie beugen“ (ibid., 64).
248
RGV AA 6, 12; vgl. hierzu: Dierksmeier 1998; Palmquist 1992; ders. 2016.
249
Nach Palmquist vermittelt RGV damit wie KU zwischen Natur und Freiheit
(Palmquist 2016, 5).
250
RGV AA 6, 6; vgl. auch: TG AA 2, 372f.; Guyer 1992a, 9.
368 Praktischer Glaube

a. Religiöser Glaube als moralisch gerechtfertigte Hoffnung

Kant führt in keiner seiner Schriften eine terminologische oder systema-


tische Unterscheidung zwischen einem rein praktisch-moralischen und
einem religiösen Glauben ein. Immer spricht er vom „moralischen Glau-
ben“. Dennoch scheint es aus mehreren Gründen sinnvoll, diesen undif-
ferenziert verwendeten Begriff in zwei unterschiedliche Glaubensbegrif-
fe zu zergliedern. Der erste wird dabei von uns mit dem bisher entwi-
ckelten rein moralischen Glauben identifiziert, der für die moralische
Willensbestimmung relevant ist. Dieser Glaube meint die moralische
Notwendigkeit, an der Realisierung des höchsten Guts mitzuwirken, al-
so so zu handeln, als ob die Bedingungen der Möglichkeit seiner Reali-
sierung gegeben wären. Dieser Glaube trägt keinerlei epistemische Kon-
notationen, das heißt, der praktisch Gläubige muss weder die Möglich-
keit der Realisierung des höchsten Gutes affirmativ für wahr halten noch
muss er das Dasein der Bedingungen der Möglichkeit der Realisierung
des höchsten Gutes als gegeben ansehen. Er muss eben nur so handeln,
als ob diese Realisierung möglich wäre. Dagegen bedeutet die Verwen-
dung des moralischen Glaubensbegriffs, die wir im Folgenden als „reli-
giösen Glauben“ bezeichnen wollen, die Hoffnung auf die Realisierung
des höchsten Guts. Dies impliziert das Fürwahrhalten des Daseins seiner
Bedingungen und damit das Fürwahrhalten des Daseins Gottes.251
Verdeutlichen wir uns diese Differenz am Beispiel eines Arztes, der
lebensrettende Maßnahmen an einem Patienten durchführt. Dabei han-
delt der Arzt so, als ob die Rettung seines Patienten möglich wäre. Das
heißt, in seinem Handeln setzt er praktisch das Dasein der von ihm un-
abhängigen Bedingungen voraus, unter denen diese Rettung möglich ist.
Er handelt also so, als ob diese Bedingungen gegeben wären. Epistemisch
ist hier nur vorausgesetzt, dass er nicht objektiv wissen darf, dass diese
Bedingungen nicht gegeben sind. Er setzt die Bedingungen in seinem
Handeln praktisch auch dann, wenn er keine Hoffnung hat, seinen Pati-
enten retten zu können und es nicht für wahr hält, dass die hierzu not-
wendigen, von ihm unabhängigen Bedingungen gegeben sind. Solange er
nicht weiß, dass die Bedingungen nicht gegeben sind, kann er so han-
deln, als wären sie gegeben.252 Er besäße damit einen in unserem Sinne

251
So schreibt Kant: Die Annahme Gottes ist erforderlich, um das höchste Gut als Rea-
lität und nicht nur als ein Ideal zu verstehen (WDO AA 8, 139; vgl. auch: TP AA 8, 309).
Dagegen: Ferreira 2013, 20.
252
Hierbei hat er sogar zwei Möglichkeiten: Er kann es einfach nicht affirmativ für
wahr halten, dass diese Bedingungen gegeben sind (logischer Agnostiker), oder er kann es
affirmativ für wahr halten, dass diese Bedingungen nicht gegeben sind (logischer Atheist).
Der Glaube der Praxis bei Kant 369

praktischen, aber keinen „religiösen“ Glauben. Dies lässt sich nun auf
die Mitwirkung an der Realisierung des höchsten Guts anwenden: Das
moralisch selbstbestimmte Subjekt muss in jedem Fall so handeln, als
wären die Bedingungen der Verwirklichung des höchsten Guts gegeben,
da ihn hierzu die Pflicht nötigt. Damit muss er moralisch notwendig so
handeln, als ob Gott existiert (d. h. als praktischer Theist). Insofern muss
man ihm den moralischen Glauben an Gott zuschreiben. Dies sagt aber
nichts über seine epistemischen Überzeugungen aus, außer, dass er kein
objektives Wissen von Gottes Nicht-Existenz besitzen kann.253 Insofern
der Handelnde seiner Pflicht gehorcht, spielt es für seinen moralischen
Glauben an das Dasein Gottes also keine Rolle, ob er als Agnostiker das
Dasein Gottes nicht affirmativ für wahr hält oder ob er sogar als logi-
scher Atheist das Nichtdasein Gottes affirmativ für wahr hält. Was man
ihm dann jedoch nicht zuschreiben kann, ist die Hoffnung auf die tat-
sächliche Realisierung des höchsten Guts und damit eben auch nicht den
religiösen Glauben an das Dasein Gottes.254 Unsere Differenzierung er-
laubt es deshalb, das Selbstverständnis des moralischen Atheisten bzw.
Agnostikers zu affirmieren.255
Es stellt sich freilich die Frage nach textimmanenten Gründen, Kant
diese Differenzierung in der Weise zu unterstellen, dass er sie aus syste-
matischen Gründen besser getätigt hätte. Anders gefragt: Was ist mit die-
ser Differenzierung im Hinblick auf eine adäquate Interpretation von
Kants Denken gewonnen? Folgende Argumente scheinen hierfür sinn-
voll:
1. Kant unterscheidet die Frage „Was soll ich tun?“ von der Frage
„Was darf ich hoffen?“.256 Letztere weist er der Religion zu und stellt
fest, sie erst in RGV beantwortet zu haben.257 Insofern kann sie nicht be-
reits in der früheren Postulatenlehre beantwortet worden sein. Der mo-
ralische Glaube ist Gegenstand der Moralphilosophie, Gegenstand der

Wüsste er hingegen, dass die Bedingungen definitiv nicht gegeben sind, könnte er nur
noch Lebensrettung „spielen“.
253
Diese Möglichkeit schließt Kant bereits in KrV aus, da der Begriff Gottes keinen lo-
gischen Widerspruch in sich enthält und ein sonstiger Beweis für die Nichtexistenz Gottes
nicht denkbar ist.
254
So schreibt Kant in einer Reflexion: „Der Gottesleugner handelt unklug, wenn ers
wagt aufs Daseyn Gottes, oder wie ein Bösewicht.“ (Refl 4886 AA 18, 19.)
255
Da Wood nicht zwischen dem eigentlichen moralischen Glauben und dem mora-
lisch begründeten religiösen Glauben unterscheidet, schreibt er auch dem Agnostiker Re-
ligiosität zu (Wood 2002, 96).
256
Palmquist 1992, 135.
257
Brief an Stäudlin 4.5.1793 AA 11, 429.
370 Praktischer Glaube

Religionsphilosophie ist die Hoffnung.258 Wenn das Postulat Gottes im


Sinne einer notwendigen Voraussetzung für die moralische Willensbe-
stimmung, an der Realisierung des höchsten Guts mitzuwirken, impli-
ziert, dass man notwendig auf die tatsächliche Realisierung des höchsten
Guts und die Gegebenheit seiner Bedingungen hoffen muss, so wäre die
Moral („Was soll ich tun?“) mit religiösen Momenten kontaminiert. Die-
ser Kontamination können wir mit einer Differenzierung von Kants
Glaubensbegriff aus dem Weg gehen. Der religiöse Glaube erhält damit
andererseits ein Eigenrecht. Indem er nur die Hoffnung auf die Realisie-
rung dessen ist, was als Pflicht gesetzt ist, lässt sich weiterhin die gänzli-
che Bedingtheit der Religion durch die Moral behaupten. Die religiöse
Hoffnung folgt aus der praktischen Vernunft, gehört aber selbst zur the-
oretischen Vernunft.259 So ist Religion der „connex“ des praktischen In-
teresses der Vernunft („Was muss ich tun, um glückswürdig zu wer-
den?“) mit dem spekulativen Interesse („Ist meine Hoffnung auf Glück-
seligkeit berechtigt, sofern ich glückswürdig wäre?“).260
Mit ihrem Zwitterstatus ist die religiöse Hoffnung einerseits von den
normativen Forderungen der praktischen Vernunft, andererseits aber
auch von der Legitimationserfordernis der theoretischen Erkenntnis un-
terschieden. Anders als beim Wissen („Was kann ich wissen?“) lautet die
Frage in Bezug auf die Hoffnung nicht: „Was kann ich hoffen?“, son-
dern: „Was darf ich hoffen?“ Wenn man etwas hoffen könnte, wie man
Wissbares wissen kann, so müsste es wie beim Wissen objektive Gründe
für die Hoffnung geben. Wenn man hingegen etwas hoffen darf, so for-
dert dies nur ausreichend subjektive Gründe für das Fürwahrhalten. Im
Unterschied zu den Forderungen praktischer Vernunft lautet die Frage
aber eben auch nicht „Was soll ich hoffen?“ Moralität erfordert also kei-
ne Hoffnung, sondern nur die vorhin skizzierte Einstellung des „Als
ob“.261 Die moralische Handlung selbst hat dabei bereits einen unbeding-
ten Wert. Hätten wir etwa die Wahl zwischen zwei Weltverläufen, in
denen A entweder versuchen kann B zu retten, aber der Versuch B zu
retten notwendig scheitern wird, und wir hätten uns zu entscheiden,
welchen Weltverlauf wir vorziehen, so müssten wir ceteris paribus nach
Kant alle den Weltverlauf wählen, in dem A wenigstens versucht B zu
258
Chignell 2014, 98f. Chignell ist einer der wenigen Interpreten, der die Hoffnung
vom moralischen Glauben unterscheidet. In dieser Unterscheidung schließen wir uns ihm
an.
259
KpV AA 5, 126.
260
V-Met/Mron AA 29, 774.
261
Für O’Neill wäre solch eine Einstellung jedoch inkohärent, weshalb Kant eher fra-
ge, was man hoffen muss, und nicht, was man hoffen darf. Dabei identifiziert sie aber
„Postulieren“ und „Hoffen“ (O’Neill 1996, 283ff.).
Der Glaube der Praxis bei Kant 371

retten, weil die Moralität ohne Hinblick auf ihre Konsequenzen an sich
einen unbedingten Wert besitzt. Aber als empirische Wesen kann Ver-
zweiflung unser Engagement vermindern oder lähmen.262 Es sind also
zwei unterschiedliche Einstellungen, so zu handeln, als wäre das Errei-
chen eines Ziels möglich, solange nichts seine Unmöglichkeit beweist,
oder in der tatsächlichen Hoffnung zu handeln, das Erreichen des Ziels
wäre möglich.263 Erlaubt ist solch eine Hoffnung genau dann, wenn sie
uns nicht aus unserer moralischen Verantwortung entlässt, sondern auf
dem Bewusstsein unserer moralischen Verantwortung gründet.
2. Ein zweites, textimmanentes Argument für die Unterscheidung des
moralischen vom religiösen Glauben ist Kants bereits thematisierte, et-
was changierende Applikation der Kategorie des Subjektiven auf den
Glauben an Gott, die der objektiven Realität, die er dieser Idee anderer-
seits zuschreibt, etwas widerstreitet. So bezeichnet Kant den Glauben in
KrV als ein Fürwahrhalten, das „subjektiv zureichend“ ist und „zugleich
für objektiv unzureichend gehalten“ wird, sich also seiner eigenen objek-
tiven Unzulänglichkeit bewusst ist.264 Dies können wir nun so auflösen,
dass die Objektivität ganz dem rein moralischen Glauben und der Wil-
lensbestimmung vorbehalten ist, die Subjektivität hingegen die zwar mo-
ralisch gerechtfertigte, aber nicht deduzierbare Hoffnung auf die Reali-
sierung des höchsten Guts und den Glauben an das Dasein seiner Bedin-
gungen bezeichnet. Dieser Glaube hat bloß subjektive Geltung, weil er
nicht objektiv verpflichtend und willensbestimmend, sondern eine epi-
stemische Überzeugung ist. Die Annahme Gottes ist eine bloß subjekti-
ve Notwendigkeit (ein notwendiges Vernunftbedürfnis) und keine
Pflicht.265 Denn da die Vernunft das höchste Gut als letzten Zweck mo-
ralischen Handelns setzt, kann sie seiner Realisierung nicht gleichgültig
gegenüberstehen. Sie besitzt notwendig ein Interesse an seiner Verwirk-
lichung. Die Hoffnung auf seine Realisierung ist deshalb keine beliebige
Hoffnung unter anderen, die der Mensch haben kann oder nicht, son-
dern eine Hoffnung, die durch die praktische Vernunft begründet ist. In-
sofern ist auch der Glaube an das Dasein Gottes als notwendiger Vo-
262
So heißt es in Anth, dass eine durch keine Hoffnung gelinderte, „versinkende Trau-
rigkeit“, das Leben selbst bedroht (AA 7, 254). Hoffnung ist hingegen Freude „über das
Künftige“ (Refl 1072 AA 15, 476).
263
„Die moralische Gesetze haben wohl das principium obligandi in sich, aber
obligiren nicht ohne religion, weil sie nicht durch ihre Natur Verheißung der
Glükseligkeit bey sich führen.“ (Refl 7279 AA 19, 301.) Die Funktion des Glaubens für
die Hoffnung wird ignoriert, wenn man bloß die praktische Relevanz des Glaubens als
notwendiger Voraussetzung moralischen Handelns sieht (etwa Neiman 1994, 160f.).
264
KrV B 850/A 822.
265
KpV AA 5, 125.
372 Praktischer Glaube

raussetzung für die Möglichkeit der Realisierung des höchsten Guts


durch die Vernunft begründet oder gerechtfertigt. Das Bedürfnis der
Vernunft ist der Grund für den religiösen Glauben an das Dasein Gottes.
Dieser Glaube ist nach Kant zwar kein Wissen, aber dem Grad nach
nicht weniger gewiss als das objektive Wissen, nur eben ein anderer Ge-
wissheitsmodus.266 Die Prinzipien der reinen Vernunft haben im Gebiet
der Moral „objektive Realität“, weil sie dort als Prinzipien Handlungen
verursachen können.267 Die praktische Idee von einer moralischen Welt
hat Einfluss auf die Sinnenwelt, da sie Handlungen hervorruft, die geeig-
net sind, sie der Idee anzunähern.268 Die Hoffnung, dass jeder, der sich
moralisch verhält, in diesem Maße glückselig wird, ist hingegen bloß
subjektiv gerechtfertigt. Ich kann die anderen nicht zu ihr verbinden
(man kann von niemandem Hoffnung fordern). Der praktische Glaube
ist der Hoffnung insofern vorausgesetzt, als das Objekt der Hoffnung
nur durch die praktische Vernunft überhaupt inhaltlich bestimmt wer-
den kann. Praktisch müssen wir so handeln, „als ob ein andres Leben
und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen,
sammt seinen Folgen beim Eintritt in dasselbe unabänderlich sei“. 269
Ohne moralischen Zweck besäße die Idee Gottes keine „objective prak-
tische Realität“, sondern wäre leer. Der religiöse Glaube hängt also trotz
seines Eigen- und Mehrwerts vom moralischen Glauben ab.270
Nachdem wir nun Argumente für eine systematische Differenzierung
zwischen dem rein moralischen und dem moralisch begründeten religiö-
sen Glauben skizziert haben, können wir uns der eigentlichen Leistung
des religiösen Glaubens zuwenden. Dabei gehen wir von der Vorausset-
zung aus, dass die empirische Realität eines Begriffs bzw. einer Idee nach
Kant seiner praktischen Realität äußerlich ist. Gleiches gilt für die prak-
tische Notwendigkeit und damit auch für die praktische Möglichkeit.
Der moralische Glaube, der die Existenz Gottes postuliert, hat dement-
sprechend keinen intrinsischen Bezug auf die die Vernunft und den Wil-
len transzendierende Wirklichkeit dieser Ideen. Die moralische Not-
wendigkeit der Idee des höchsten Gutes bedeutet nur, dass wir durch das
moralische Gesetz mit praktischer Notwendigkeit dazu bestimmt sind,
266
WDO AA 8, 141. Beim moralischen Argument handelt es sich um „keinen objectiv-
gültigen Beweis vom Dasein Gottes“ (KU AA 5, 450). Für den theoretischen Gebrauch
wäre seine Behauptung „überschwenglich“ (ibid., 469). Es ist nur „ein subjectiv, für mora-
lische Wesen, hinreichendes Argument“ (ibid., 451; vgl. auch OP AA 21, 86). Diese Sub-
jektivität betrifft nun aber nicht die moralische Funktion, sondern die Hoffnung.
267
KrV B 835f./A 807f.
268
KrV B 836/A 808.
269
EAD AA 8, 330.
270
EAD AA 8, 332.
Der Glaube der Praxis bei Kant 373

uns in unserer Willensbestimmung die Realisierung des höchsten Guts


als Zweck vorauszusetzen, ohne für seine empirische Möglichkeit ir-
gendwelche Evidenzen annehmen zu müssen. Trotzdem haben wir als
endliche Wesen ein notwendiges moralisches Interesse an seiner empiri-
schen Realisierung.271 Zwar entscheidet die Realisierung dieses Zwecks
nicht über den moralischen Wert unserer Handlung, dennoch sind der
Zweck der Handlung und ihre Realisierung der praktischen Vernunft
nicht äußerlich. Ein vernünftiges Subjekt muss ein unmittelbares Interes-
se an der Realisierung seiner Handlungszwecke haben, denn um deren
Realisierung willen handelt es ja. Dieses Interesse ist nun nach Kant
nicht ein irrationaler Wunsch, sondern das vernünftige Interesse daran,
„was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme“.272
Als Bürger zweier Welten würde uns die Unvermittelbarkeit prakti-
scher und empirischer Realität notwendig zum Problem, insofern es ja
die identische Person ist, die sich unter unterschiedlichen Aspekten als
Bürger zweier Welten betrachtet. 273 Es ist dasselbe Individuum, wenn
auch in anderen Hinsichten, das sich als Teil der Welt der Erscheinungen
und als Noumenon versteht. Als solche Einheit muss es ein Interesse an
der empirischen Realisierung seiner praktisch notwendigen Zwecke ha-
ben. Dazu bedarf es einer Vermittlung zwischen der Sphäre der prakti-
schen Realität und der empirischen Realität bzw. zwischen dem morali-
schen Glauben des Menschen und seiner theoretischen Erwartung. Diese
Vermittlung leistet die Idee des Religiösen als Grund der menschlichen
Hoffnung auf eine Vermittlung von praktischer und empirischer Reali-
tät.274 Dabei muss der praktischen Funktion der Vernunft allerdings der
Primat gegenüber der theoretischen zukommen.275 Religion thematisiert
nämlich nur die Bedingungen, unter denen man die empirische Realisie-
rung moralischer Ideen erhoffen kann.276 Auf Grund der Unbedingtheit
der Moral und des Primats der praktischen Vernunft kann innerhalb der
Grenzen bloßer Vernunft nichts erhofft werden, was sich nicht durch die
Autonomie der praktischen Vernunft und ihrer Forderungen begründen
ließe. Die praktische Vernunft begründet und begrenzt damit den religi-
271
TP AA 8, 280.
272
RGV AA 6, 5.
273
Kants vermeintliche Trennung zwischen Natur und Freiheit, moralischen Rechtfer-
tigungen und natürlichen Motiven führt so nach seinen Kritikern zur Aufhebung der In-
tegrität menschlicher Personen (Sedgwick 1997, 79f.).
274
Den Stellenwert der Hoffnung für Kants Philosophie macht u. a. von O’Neill deut-
lich (O’Neill 1996, 279).
275
KrV B 833f./A 805f.
276
Zur Trennung von Vernunftglaube und Hoffnung (religiös) vgl. auch Chignell 2013,
198.
374 Praktischer Glaube

ösen Glauben.277 Denn da es unabhängig von ihr keine Rechtfertigungs-


grundlage für den religiösen Glauben und die Hoffnung gibt, muss jeder
religiöse Glaube, der als vernünftig gerechtfertigt will auftreten können,
durch den moralischen Glauben legitimiert sein.278
Der Tugendhafte, allein unter dem Aspekt der Tugendhaftigkeit be-
trachtet, hofft also zwar nicht auf Glückseligkeit, sofern er nur unter
dem Aspekt seiner moralischen Willensbestimmung betrachtet wird. Als
einheitliche Person muss ihm aber unterstellt werden, dass er auch durch
seine Hoffnung auf selbige bestimmt ist.279 Der religiöse Glaube hat also
zumindest in Bezug auf die empirische Person eine psychisch-
motivationale Auswirkung. 280 Die Überzeugung von der unmöglichen
Realisierbarkeit des höchsten Gutes auf Grund des eigenen Unvermö-
gens hierzu droht, den Menschen in eine untugendhafte Gesinnung zu-
rückfallen zu lassen. Um das höchste Gut wirkungsvoll befördern zu
können, müssen wir als nicht nur vernünftige, sondern auch sinnliche
Wesen, für die ein heiliger Wille nur ein Ideal, aber keine reale Möglich-
keit ist, nicht nur praktisch an seine Möglichkeit glauben, sondern auch
von der Wirklichkeit seiner Bedingungen überzeugt sein.281 Der religiöse
Glaube ist uns, sofern wir uns nicht nur in noumenaler, sondern auch
phänomenaler Hinsicht betrachten, als moralischen Wesen insofern
nicht äußerlich, sondern motiviert unsere Erfüllung des Sittengesetzes
und die Reform unserer Sinnesart.282 Er verhindert, dass wir an der Un-

277
Gründet die theologische Moral die Sittlichkeit unzulässiger Weise auf das Dasein
Gottes, so gründet die Moraltheologie die Annahme des Daseins Gottes auf die Sittlich-
keit (KrV B 660/A 632).
278
Der religiöse Glaube kann also ausschließlich moralisch gerechtfertigt werden (Bei-
ser 2006, 591). Dagegen versteht Chignell 2013 das „Dürfen“ in „Was darf ich hoffen?“
ausschließlich als rationale Rechtfertigung dieser Hoffnung. Damit verwandelt er die Fra-
ge in ein epistemisches Problem, auch wenn die rechtfertigenden Gründe moralischer Na-
tur sind.
279
TP AA 8, 281.
280
1770/1771 schreibt Kant diesem motivationalen Einfluss noch den Status der Not-
wendigkeit zu: „Es ist wahr: ohne Religion würde die moral keine triebfedern haben, die
alle von der Glükseeligkeit müssen hergenommen seyn.“ (Refl 6858 AA 19, 181.) Vgl.
hierzu auch Werkmeister 1979, 25.
281
Guyer 2000, 336.
282
Guyer 2000, 364f. Hieraus folgt jedoch nicht, dass die Postulatenlehre in den Be-
reich menschlicher Psychologie fällt (so ibid., 367). Denn die Postulatenlehre bezeichnet
nur den Sachverhalt, so zu handeln, als ob Gott wirklich wäre. Betrachten wir den Glau-
ben als religiösen, so ist er zunächst nur ein Resultat aus der moralischen Postulatenlehre
und unserem Vernunftinteresse an der Realisierung unserer moralischen Zwecke. Aller-
dings hat der religiöse Glaube psychologische Auswirkungen auf unseren empirischen
Charakter.
Der Glaube der Praxis bei Kant 375

möglichkeit, unsere moralische Bestimmung zu erfüllen, verzweifeln.283


Hätten wir keinerlei Hoffnung auf die Realisierung unseres moralischen
Zwecks, dann wären wir implizit überzeugt, dass unser moralisches Inte-
resse notwendig frustriert würde. Als endliche Wesen würde dies unsere
moralische Handlungsmotivation zumindest einschränken (ohne dabei
etwas an unserer Pflicht zu ändern). Vom religiösen Glauben schreibt
Kant deshalb:

Dieser ist also nicht geboten, sondern als freiwillige, zur moralischen (gebote-
nen) Absicht zuträgliche, überdem noch mit dem theoretischen Bedürfnisse der
Vernunft einstimmige Bestimmung unseres Urtheils, jene Existenz anzunehmen
und dem Vernunftgebrauch ferner zum Grunde zu legen, selbst aus der morali-
schen Gesinnung entsprungen; kann also öfters selbst bei Wohlgesinnten biswei-
len in Schwanken, niemals aber in Unglauben gerathen.284

Bestimmen wir noch einmal das Spezifikum des religiösen Glaubens: Er


bezieht sich auf die moralisch gerechtfertigte Hoffnung des Menschen
auf die Realisierbarkeit des höchsten Guts. Die praktische Vernunft, die
sich nur auf das Handeln bezieht, fordert nur so zu handeln, als ob die
Realisierung des höchsten Guts möglich wäre. Der religiöse Glaube
transformiert das höchste Gut dagegen in einen Gegenstand möglicher
Erfahrung: nämlich als realisierbaren Endzweck der Weltschöpfung. Die
Hoffnung bezieht sich also darauf, dass der Endzweck, der als Folge mit
dem moralischen Handeln verknüpft ist, auch der Endzweck der Welt
und somit der Möglichkeit nach erfahrbar ist. Der moralische Glaube
besteht nicht in dem, „was Gott zu unserer Seligwerdung thue oder ge-
than habe, sondern in dem, was wir thun müssen, um dessen würdig zu
werden“,285 der religiöse Glaube dagegen in der Hoffnung, dass Gott un-
ter dieser Voraussetzung unsere Seligwerdung unterstützt.
Die Frage: „Was darf ich hoffen?“ geht also über den immanent prak-
tischen Vernunftgebrauch hinaus. Sie ist nicht nur praktisch, sondern
„praktisch und theoretisch zugleich“.286 Der religiöse Glaube geht inso-
fern weiter als der moralische Glaube, als sich in ihm die Hoffnung aus-
drückt, dass mit der Unterstützung Gottes trotz der menschlichen Un-
zulänglichkeit das höchste Gut wirklich werden wird. Diese Hoffnung
ist ein theoretischer Satz, aber kein Satz der Erkenntnis, sondern des re-
ligiösen Glaubens. Den Endzweck moralischer Handlungen können wir
zwar auch ohne Religion einsehen, nicht aber die Erwartung seiner Ver-
283
Wood 1970, 8.
284
KpV AA 5, 146.
285
RGV AA 6, 133.
286
KrV B 833/A 805.
376 Praktischer Glaube

wirklichung. Dazu muss der rein moralische Standpunkt transzendiert


und der religiöse Standpunkt der Hoffnung eingenommen werden.287 So
kann der Mensch ohne Religion zwar moralisch handeln, aber unmög-
lich „seines Lebens froh werde[n]“.288
Bestimmen wir nun die Funktion des religiösen Bewusstseins nach
Kant: Für das religiöse Bewusstsein erfüllt sich im Reich Gottes die
Harmonie von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, Freiheit und Na-
tur. Weil Gott als Gesetzgeber dieses Reiches gleichzeitig als allmächtig
vorgestellt wird, ist das religiöse Bewusstsein nach Kant berechtigt, die
Erfüllung der Forderungen der Sittlichkeit, die sich aus diesem Gesetz
ergeben, zu erhoffen.289 Hierzu muss das religiöse Bewusstsein anders als
das moralische Bewusstsein die Idee Gottes insofern veräußerlichen, dass
sie die Vernunftimmanenz des Menschen transzendiert. Weder kann
Gott mit der praktischen Vernunft des Menschen identisch sein noch ei-
ne durch die Vernunft bloß gesetzte Idee. Denn von einer Idee, die wir
inhaltlich als bloße Idee begreifen, können wir die Realisierung eines in-
tendierten Endzwecks, die nicht in unserer Macht steht, nicht erhof-
fen.290 Die Hoffnung des religiösen Bewusstseins geht darauf, dass, wenn
das Subjekt alles in seiner Macht stehende tut, Gott das, was nicht in sei-
ner Macht steht, ergänzt.291 Auch ohne diese Hoffnung muss das Subjekt
jedoch so handeln, als wäre ein Gott, also als ob das Reich der Zwecke
möglich wäre. Für ein solches a-religiöses, ausschließlich moralisches
Bewusstsein ist Gott dann jedoch nur eine rein vernunft-immanente
Idee, die keine Hoffnung gibt, dass das Reich Gottes tatsächlich wirklich
wird. Letztlich beschäftigt sich Kant in seinen religionsphilosophischen
Schriften also mit der Frage nach der Legitimität dieser Hoffnung: Ist
das Reich der Zwecke ein Gegenstand möglicher Erfahrung in dem Sin-
ne, dass seine Wirklichkeit erhofft werden kann? Theoretisch können
wir ihre Möglichkeit nicht einsehen, praktisch darf sie keine Rolle spie-
len, weil wir nur wissen müssen, wie wir unsere moralische Pflicht erfül-
len. Das religiöse Bewusstsein hat hingegen die Hoffnung, dass Gott un-

287
Hier irren Epikureismus und Stoizismus, die Moral und Glückseligkeit qua Natur
verbinden und damit die „moral von der religion unabhängig machen“ (Refl 6876 AA 19,
188). Da die Natur diese notwendige Verbindung nicht enthält, kann nur die Religion
Hoffnung auf die Realität des summum bonum geben.
288
Refl 8106 AA 19, 649; vgl. auch Klemme 1999, 128; 143.
289
Briefentwurf an Lavater nach dem 28.4.1775 AA 10, 180.
290
„Unter dem moralischen Glauben verstehe ich das unbedingte Zutrauen auf die
göttliche Hülfe, in Ansehung alles guten, was, bey unsern redlichsten Bemühungen, doch
nicht in unserer Gewalt ist.“ (AA 10, 178.)
291
RGV AA 6, 52.
Der Glaube der Praxis bei Kant 377

sere Bemühungen im Hinblick auf ihre Realisierung ergänzt.292 Das reli-


giöse Bewusstsein erhält damit einen eigenständigen Status gegenüber
dem epistemischen und praktischen Bewusstsein. Der Fortschritt vom
moralisch Schlechteren zum Besseren wird nicht erfahren,293 sondern im
Modus religiösen Bewusstseins erhofft. Wenn das religiöse Bewusstsein
diesen Fortschritt hingegen zu einem Gegenstand tatsächlicher Erfah-
rung macht und in das Gebiet der Erkenntnis verweist, überschreitet es
nicht nur die Grenzen der Vernunft, sondern negiert sich selbst, indem
es sich mit dem epistemischen Bewusstsein identifiziert. Seine Anerken-
nung impliziert deshalb zugleich die Limitierung seiner epistemischen
Ansprüche. Der aufklärerisch rechtfertigbare religiöse Glaube ist nur
Resultat der Reflexion auf die Bedingtheit des moralisch handeln sollen-
den Menschen, der als endliches Vernunftwesen den Ansprüchen der
Moral niemals vollständig genügen kann.

b. Der Gegenstand der Hoffnung

Wir haben soeben festgestellt: Die Religion dient der für den Menschen
als Sinnenwesen notwendigen Hoffnung auf die Realisierung der Morali-
tät. Religion ist damit keine Voraussetzung der Moral, sondern Resultat
einer autonomen Setzung der praktischen Vernunft, die in ihrer Selbstre-
flexion die Grenzen ihrer eigenen Wirkmächtigkeit anerkennt. Um diese
religiöse Hoffnung besser in das Aufklärungsprojekt Kants integrieren
zu können, wollen wir nun ihren Gegenstand, das höchste Gut, genauer
betrachten. Hierzu können wir von der Interpretation des höchsten
Guts durch Jacobi ausgehen:
Wie viele Interpreten Kants versteht Jacobi Glückseligkeit und Pflicht
als schlechthin heterogene Elemente. In dieser Trennung sieht Jacobi so-
gar „den wahren Geist der Kantischen Moralphilosophie“.294 Die Pflicht
fordere bei Kant unbedingten Gehorsam. Andererseits könnten wir aber
unseren Trieb nach Glückseligkeit nicht auslöschen. Damit müsse sich
die Willensfreiheit zwischen Pflicht und Glück entscheiden. Die Idee der
moralischen Regierung Gottes solle dann zwischen diesen heterogenen
Elementen zumindest äußerlich wieder vermitteln. 295 Die postulierte

292
RGV AA 6, 118.
293
RGV AA 6, 20.
294
ZEeD WW 1, 304.
295
Wenn sich Tugend und Glückseligkeit in der Idee des höchsten Guts bereits ohne
Vermittlung durch ein Drittes wie Grund und Folge im höchsten Gut vereinigen ließen,
378 Praktischer Glaube

Distribution von Glückseligkeit im Verhältnis zur Tugendhaftigkeit ver-


steht Jacobi dementsprechend als postume sinnliche Belohnung für ein
tugendhaftes Leben. Der Mensch habe „seine Neigungen und Begierden
vor dem Grabe nur unterdrückt, um sie nach demselben desto lebhafter
wieder zu erwecken“.296
Diese Interpretation, nach der Glückseligkeit und Glückswürdigkeit
zwei heterogene Elemente des höchsten Guts sind, findet durchaus
Grundlagen in Kants Oeuvre.297 So bestimmt Kant die Glückseligkeit als
ein „Maximum des Wohlbefindens“,298 das der Mensch auf Grund seiner
Natur notwendig erstrebe: „Glückseligkeit ist die Befriedigung aller un-
serer Neigungen“.299 Diese Idee der Glückseligkeit, als ein nur auf Empi-
rie gegründetes Ideal der Einbildungskraft,300 sei rational notwendig un-
bestimmbar, da die sie konstituierenden Elemente empirisch bedingt sei-
en und so von den spezifischen Interessen und dem kontingenten Gefühl
der Lust und Unlust des jeweiligen Individuums abhingen.301 Glückse-
ligkeit sei kein universalisierbares Ideal, sondern eine veränderliche, von
der jeweiligen Erfahrung abhängige Vorstellung, die bei verschiedenen
Menschen unterschiedlich sei. Endliche Wesen könnten nach Kant nicht
einmal wissen, was sie wollen, da alle ihre Zwecke (Reichtum, Erkennt-
nis, Gesundheit) bei ihrer Realisierung ihnen zum Unglück gereichen
können. 302 Eben deshalb tauge sie nicht zur Begründung moralischer
Normen.303
Vor allem die letzte Bemerkung macht deutlich, worauf Kants Unter-
bestimmung der Glückseligkeit abzielt: Es geht ihm hier vor allem um
den Nachweis, dass sich auf ihren Begriff keine universellen moralischen
Normen begründen lassen. Demgegenüber macht Kant jedoch in mehre-
ren Bemerkungen deutlich, dass zumindest die Glückseligkeit, die im
Verhältnis zur Tugend ausgeteilt werden soll, nicht in einer jenseitigen
Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse bestehen kann. Solche Vorstellungen
von Glückseligkeit pervertieren vielmehr die Idee des höchsten Gutes.304
So ist Glückseligkeit „intrinsisch mit der Wirklichkeit von Freiheit ver-

dann müssten sie in irgendeiner Weise homogen sein. Die qualitative Differenz würde
aufgehoben (GD JW 3, 63).
296
Krit JW 2,1, 328; vgl. auch Kladde V, 441 Schneider 1986, 212.
297
Vgl. etwa: Neiman 1994, 174; Allison 1996, 114.
298
GMS AA 4, 418.
299
KrV B 834/A 806.
300
GMS AA 4, 418.
301
KU AA 5, 453; 430.
302
GMS AA 4, 418; KpV AA 5, 36.
303
KpV AA 5, 25.
304
KpV AA 5, 120f.; Idee AA 8, 21.
Der Glaube der Praxis bei Kant 379

bunden“ 305 und Freiheit die Ursache der Glückseligkeit. 306 Denn
menschliches Glück kann nicht losgelöst von Vernunft und Freiheit ge-
dacht werden, sonst handelt es sich nur um Wohlbefinden.307 Menschli-
che Glückseligkeit hat ihren Wert anders als das bloße Wohlbefinden in
ihrem Ursprung: der menschlichen Freiheit.308

Glückseligkeit besteht eben im Wohlbefinden, sofern es nicht äußerlich zufällig


ist, auch nicht empirisch abhängend, sondern auf unsrer eignen Wahl beruht.
Diese muß bestimmen und nicht von der Naturbestimmung abhängen. Das ist
aber nichts anders als die wohlgeordnete Freyheit.309

Der Mensch soll nach dem Plan der Natur nur die Glückseligkeit erlan-
gen, „die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, ver-
schafft hat“.310 Erst wenn er sich zur größtmöglichen „Vollkommenheit
der Denkungsart“ „emporgearbeitet“ hat, soll er auch größtmögliche
Glückseligkeit (als Erfüllung seiner Zwecke) erlangen.311 Glückseligkeit
besteht für Kant also nicht in einer Akkumulation menschlicher Vergnü-
gungen. 312 Vielmehr ist erst „die durch die Vernunft belehrte Gesin-
nung“ der Ermöglichungsgrund der Glückseligkeit. 313 So differenziert
Kant auch begrifflich zwischen Gut und Wohl bzw. zwischen „gut“ und
„angenehm“.314 Die von Gott zu bewirkende Glückseligkeit des Men-
schen ist so nicht als der ewige Besitz „der Zufriedenheit mit seinem
physischen Zustande“, 315 sondern als kontinuierliche Verwirklichung
seiner sich im Guten fortentwickelnden Gesinnung und damit seiner
Selbstbestimmung zu verstehen.316 Menschliches Glück als Moment des
höchsten Gutes ist im Unterschied zum bloß sinnlichen Wohlbefinden

305
Kleingeld 1995a, 145.
306
KrV B 837/A 809. Nach Förster hingegen ist der Glücksbegriff in KrV noch
„durchgängig empirisch gefaßt“ (Förster 1998, 348).
307
Himmelmann 2003, 207.
308
In Reflexion 6867 spricht Kant so von einer „Epigenesis der Glükseeligkeit nach all-
gemeinen Gesetzen der freyheit“ (AA 19, 186). Guyer 2000 zeigt, wie sich Kants frühe
Position, in der die Vernunft nur der Systematisierung der Glückseligkeitszwecke dient,
hin zu einer Glückseligkeit wandelt, in der der Freiheit selbst der zentrale Wert zukommt.
309
Refl 7202 AA 19, 276.
310
Idee AA 8, 19.
311
Idee AA 8, 20.
312
KU AA 5, 208.
313
Refl 7202 AA 19, 277; vgl. hierzu: Guyer 2000, 107.
314
KpV AA 5, 59ff ; Kleingeld 2016, 36.
315
RGV AA 6, 67.
316
RGV AA 6, 67.
380 Praktischer Glaube

„die Glückseligkeit des Tugendhaften“ und damit desjenigen, der seine


Freiheit verwirklicht.317
Wir finden in Kants Werk also einerseits „Bestimmungen“ von
Glückseligkeit, die auf ihren empirischen Charakter und damit auf ihre
kontingente inhaltliche Ausfüllung rekurrieren. Andererseits finden wir
Bestimmungen, die die menschliche Glückseligkeit in ein Verhältnis zu
Freiheit und Vernunft setzen. Die Frage ist also, wie diese Ambivalenz
sich auflösen lässt. Hierzu müssen wir auf eine Art von Glückseligkeits-
bestimmung referieren, die anders als die vorangehenden nicht inhaltlich,
sondern formal ist. In solch formaler Weise bestimmt Kant Glückselig-
keit als den Zustand, dass wir das Objekt unserer Maximen realisieren.318

Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Exis-
tenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstim-
mung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Be-
stimmungsgrunde seines Willens.319

In dieser formalen Bestimmung ist Glückseligkeit dem Wollen des Men-


schen nicht einfach äußerlich, sondern besteht in der Erfüllung seines
Wollens, also darin, dass er die sich in seinem Handeln vorgesetzten
Zwecke realisiert. Es macht uns unmittelbar glücklich, wenn Handlun-
gen gelingen. Natürlich kann dieses Gelingen uns nichtsdestotrotz später
unglücklich machen, etwa auf Grund seiner Konsequenzen. Deshalb
scheint Kant auch eher auf Maximen als weiter gefassten Handlungsplä-
nen zu rekurrieren. Für denjenigen, der durch seine Neigungen be-
stimmt ist, besteht Glückseligkeit dementsprechend dann grundsätzlich
in der Erfüllung seiner Neigungen, für den moralischen Akteur in der
Realisierung seiner moralischen Zwecke. Unabhängig vom moralischen
Charakter eines Akteurs besteht Glückseligkeit für den Einzelnen in der
„Übereinstimmung der Natur“ „zum wesentlichen Bestimmungsgrunde
seines Willens“. Der „wesentliche Bestimmungsgrund seines Willens“ ist
für denjenigen mit gutem Willen aber das moralische Gesetz, für den an-
deren hingegen seine sinnliche Selbstliebe. Unter dieser Bestimmung
würde das höchste Gut dann darin bestehen, dass der mit gutem Willen
handelnde Mensch die in seinem Handeln gesetzten Zwecke realisiert,
die in seiner Autonomie und der der anderen Menschen bestehen. So ist
die Idee des höchsten Guts in KrV nur die Idee der moralischen Welt, in
317
OP AA 21, 446; Kleingeld 1995a, 154. Selbst der Sinnengenuss ist beim Menschen
an Aktivität gebunden: „Der größte Sinnengenuß, der gar keine Beimischung von Ekel bei
sich führt, ist im gesunden Zustande Ruhe nach der Arbeit.“ (Anth AA 7, 276.)
318
V-Mo/Mron II AA 29, 598f.
319
KpV AA 5, 124.
Der Glaube der Praxis bei Kant 381

der dem moralischen Handeln kein Hindernis entgegensteht, wo also al-


le moralischen Handlungen gelingen.320 Die Glückseligkeit des unmora-
lischen Subjekts tritt in der Bestimmung des höchsten Guts nämlich gar
nicht in den Blick, da er nicht glückswürdig ist. Glückswürdig ist das
moralische Subjekt deshalb, weil es an der Realisierung der richtigen
Zwecke Interesse hat und insofern sind selbige auch würdig, realisiert zu
werden. Dagegen ist jedes Gut, „das nicht auf moralisch-gute Gesinnung
gepfropft ist, […] nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend.“321
Kant nimmt also zwei Arten von Glückseligkeit an: Erstere ist zufällig,
sie hängt von der äußeren Natur ab. Dies ist die Glückseligkeit desjeni-
gen, der noch gar nicht glückswürdig ist, weil seine Zwecke gar nicht
vom Standpunkt seiner Autonomie aus gewählt werden. Die zweite Art
von Glückseligkeit ist wesentlich eine Wirkung der freien Willkür des
Menschen. Sie kann also Wirkung unseres freien Willens sein. Die Men-
schen können an der Realisierung dieser wahren und nicht vollständig
von der Natur abhängigen Glückseligkeit für alle anderen Menschen
mitwirken, indem sie ihre Handlungen wechselseitig auf sich selbst und
einander richten.322 Diese Glückseligkeit würde in einem wirklichen au-
tonomen Leben bestehen und ist damit gleichzeitig der eigentliche
Zweck der Natur. Denn der letzte Zweck der Natur ist die menschliche
Freiheit. 323 Mit der Hervorbringung eines vernünftigen Wesens wollte
die Natur ein Wesen schaffen, das „nicht durch Instinct geleitet, oder
durch anerschaffene Kenntniß versorgt und unterrichtet sein“, sondern
„vielmehr alles aus sich selbst herausbringen“ sollte.324 Der Mensch er-
füllt also erst in der Vernunftautonomie seinen Naturzweck. Nur über
diese Autonomie kann er sich selbst achten und in einer an der Vernunft
orientierten Weise glückselig werden. Denn die Vernunft ist nur be-
stimmt durch das moralische Gesetz autonom, ansonsten ist sie durch
ein pathologisches Interesse an einem der Vernunft gegebenen Gegen-
stand determiniert.325
Damit können wir jetzt zu unserer ursprünglichen Frage vom Ver-
hältnis von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit und ihrer vermeintli-
chen Heterogenität zurückkehren. Der Zusammenhang zwischen
320
KrV B 836f./A 808f.
321
Idee AA 8, 26. So ist jede Instrumentalisierung der Vernunft eine Perversion des
Naturzweckes der Vernunft. Deshalb kritisiert Kant seine Mitaufklärer dafür, dass sie die
Vernunft auf ein Instrument zur Realisierung vorgegebener Zwecke reduziert haben
(Velkley 1989, 2).
322
Refl 6907 AA 19, 202; Förster 2000, 119.
323
Guyer 2000, 169.
324
Idee AA 8, 19.
325
GMS AA 4, 414.
382 Praktischer Glaube

Glückseligkeit und Glückswürdigkeit in der Idee des höchsten Guts bei


Kant ist nämlich offensichtlich kein äußerliches Bedingungsverhältnis,
wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. So ist ja auch die Idee der
Verknüpfung beider für jedes endliche rationale Wesen eine notwendi-
ge. 326 Vielmehr besteht eine innere Verbindung zwischen beiden:
Glückswürdigkeit bedeutet, dass das moralische Subjekt eine solche Ma-
xime in seine Willkür aufgenommen hat, dass jedes andere moralische
Subjekt notwendig wollen muss, dass der Zweck seiner Handlung reali-
siert wird. Die in der Idee des höchsten Guts vorgestellte Glückseligkeit
ist eben diese Realisierung aller moralischen Zwecke. 327 Im Ideal des
höchsten Guts ist hingegen das konstitutive Prinzip der Freiheit als reali-
siert gedacht. Die Idee des höchsten Guts ist die Idee einer den Zwecken
der Sittlichkeit angemessenen Welt. An der Realisierung dieser Welt
mitzuwirken, ist die Pflicht jedes vernünftigen Wesens.328 Ihre Realisie-
rung (als Realisierung des höchsten Guts) ist ein Zweck, von dem man
verlangen kann, dass jedes moralische Subjekt ihn sich zum Endzweck
macht.
Der allen anderen Zwecken übergeordnete Zweck ist bezogen auf das
Subjekt seine Autonomie. Die moralische Freiheit ist der größte Vorteil
und „höchste Gewinn“, den der Mensch in seiner moralisch orientierten
Lebensführung „erringen kann“.329 In der Idee des höchsten Guts wäre
damit auch die Realisierung der Maxime des Selbstdenkens und der Auf-
klärung eingeschlossen.330 Die Idee des höchsten Guts ergibt sich also
aus dem moralischen Vernunftinteresse jedes moralischen Subjekts an
einer Welt, in der nicht nur es selbst seine eigene Autonomie realisiert,
sondern zugleich auch jedes andere Subjekt.331
Dies impliziert aber nicht, dass im höchsten Gut keine der Verwirkli-
chung der Autonomie untergeordneten Zwecke enthalten sein können.
Kant leugnet nämlich nicht, dass „Glücksgaben“ wie Macht, Gesundheit
und Ehre, aber auch Selbstbeherrschung und Klugheit Momente der
Glückseligkeit sind, sie sind dies jedoch nur unter Voraussetzung des gu-

326
Vgl. auch Guyer 2000, 118f.
327
Unter Berücksichtigung der Naturgesetzformel könnte man das höchste Gut viel-
leicht auch so formulieren, dass der implizite Wille des moralisch Handelnden, die Maxi-
me seiner Handlung möge ein universelles Naturgesetz werden (GMS AA 4, 421), tat-
sächlich zum Naturgesetz wird.
328
Vgl. ebenso: Kleingeld 2016, 40.
329
RGV AA 6, 93.
330
OP AA 21, 117.
331
Dies schließt freilich auch das einzelne Subjekt ein. Damit dieses seine eigene
Glückseligkeit befördern darf, muss es zuvor jedoch seinen Standpunkt erweitern und die
anderen Subjekte mit einschließen (KpV AA 5, 34).
Der Glaube der Praxis bei Kant 383

ten Willens.332 Ihre Realisierung steht in einem instrumentellen Verhält-


nis zur Realisierung der Autonomie aller vernünftigen Subjekte. Diese
wird aber selten unmittelbarer Zweck unseres Handelns. In den wenigs-
ten Handlungen haben wir die Möglichkeit, anderen Menschen und uns
selbst unmittelbar zu einem autonomen Leben zu verhelfen. Die Arbeit
eines moralischen Arztes intendiert nicht unmittelbar die Autonomie
seiner Patienten, sondern zunächst einmal deren Gesundheit. Er kann sie
aber unter der Perspektive möglicher autonomer Lebensführung be-
trachten. Denn zumindest für Akteure wie den Menschen ist Gesundheit
ein nicht unbedeutendes Moment einer autonomen Lebensführung.
Ebenso bildet ein moralischer Akteur in der Ausbildung seiner Talente
nicht unmittelbar seine autonome Lebensführung aus, sondern eben ein
spezifisches Talent. Er kann dies aber unter dem Aspekt der Autonomie
tun (im Gegensatz zu anderen Interessen). Die einzelnen Zwecke, deren
Realisierung in der Idee des höchsten Guts als realisierenswert gedacht
werden, sind also alle Zwecke, die unter der Maxime der Pflicht gesetzt
werden oder mit dem Zweck, die eigene Autonomie und die Autonomie
anderer zu befördern. Autonomie als Zweck ist so das Einheitsprinzip
unserer Handlungen und die Regel, der wir die Glückseligkeit unterwer-
fen.

Der Gebrauch der freyheit, der ein Grund der Glükseeligkeit nach einer allge-
meinen Regel ist, ist die würdigkeit glüklich zu seyn. Uns liegt es ob, die
Glükseeligkeit einer Regel zu unterwerfen.333

Damit steht die Idee des höchsten Guts in engem Zusammenhang mit
den unvollkommenen Pflichten, die uns auffordern, unsere eigenen Ta-
lente zu kultivieren und die Glückseligkeit Anderer zu befördern. Denn,
auch wenn Kant dies nicht explizit sagt, diese Pflichten können ja nur
insofern Pflichten sein, sofern wir unsere Talente und die Glückseligkeit
anderer unter dem Gesichtspunkt der Moralität bzw. Freiheit betrach-
ten. Denn ganz offensichtlich wollen Menschen ja viele Dinge, die in
Widerspruch zur Moralität stehen, insofern sie der Autonomie dritter
oder ihrer eigenen widersprechen. Die moralisch geforderte Beförderung
der Glückseligkeit anderer kann deshalb nicht bedeuten, ihnen undiffe-
renziert in der Erfüllung ihrer unmittelbaren Wünsche behilflich zu sein.
Deshalb ist es eben so wichtig, dass die Idee des höchsten Guts die Vo-
raussetzung der Glückswürdigkeit ist. Dies lässt der Ausübung unvoll-
kommener Pflichten aber immer noch einen weiten Ermessensraum da-
332
GMS AA 4, 393.
333
Refl 6844 AA 19, 177. Vgl. hierzu: Werkmeister 1979, 19f.
384 Praktischer Glaube

für, auf welche Weise man die Glückseligkeit anderer befördert. Dass al-
le vom guten Willen verschiedenen Glücksgüter einen ambivalenten
Charakter haben, stellt Kant gleich zu Beginn der GMS fest. Sie können
von ihrem Besitzer nämlich zum Guten und zum Schlechten gebraucht
werden. Wer glückswürdig ist, ist gewissermaßen auch der endlichen
Güter würdig, das heißt er gebraucht diese ambivalenten Güter nicht
zum Schlechten, sondern zum Guten, das heißt zur Beförderung der
menschlichen Autonomie.334 Insofern ist die Moralität die Bedingung da-
für, dass die Glückseligkeit als Realisierung des angestrebten Objekts
überhaupt als Gut gelten kann.335 Umso mehr gilt dies für Güter, die nur
relativ auf die Glückseligkeit gut sind. Es gibt also neben dem obersten
Gut keine anderen Güter, die unabhängig von ihrer Beziehung auf das
moralisch Gute gut sind, sondern sie sind nur in Abhängigkeit vom mo-
ralisch Guten gut.
Zentral für die Glückswürdigkeit ist deshalb von Beginn an nicht die
Negation der eigenen Neigungen, sondern die Unterordnung der Selbst-
liebe unter das moralische Gesetz.336 Derjenige, dessen primärer Zweck
das Fortschreiten seiner selbst und aller anderen in der moralischen Ge-
sinnung ist, will alles unter dem Aspekt dieses Fortschreitens. Unter die-
sem Zweck betrachtet er auch die Beförderung der Glückseligkeit und
Talente anderer: Diese sind ihm nur Instrument, damit der Andere seine
und die Autonomie der anderen realisieren kann. Damit erscheinen auch
moralisch indifferente Talente unter dem Aspekt autonomer Lebensfüh-
rung. So ist es eben bedeutend leichter, ein mündiger Bürger zu sein,
wenn man nicht in ökonomisch prekären Verhältnissen lebt. Freiheit im
Denken setzt ganz offensichtlich auch Bildung und die Entwicklung in-
tellektueller Fähigkeiten voraus. Die Maxime, autonom zu denken, ist
nun aber eine moralische Forderung an alle Menschen. Deshalb müssen
wir auch all die Bedingungen bereitzustellen versuchen, unter denen je-
des Individuum diese Autonomie realisieren kann. Hiermit erscheint
dann der Anspruch Kants, unter die er die intellektuelle Mündigkeit
stellt, unter neuen Vorzeichen. Dass de facto nicht jeder fähig ist, selbst
zu denken, heißt nur, dass die empirischen Bedingungen vieler Men-
schen ihnen dies verunmöglichen. Wir müssen es uns aber als unbeding-
ten Zweck voraussetzen, dass sie ihr Selbstdenken realisieren können.
Kant fordert mit dem höchsten Gut also implizit soziale Reformen: Da
die intellektuelle Freiheit jedes Einzelnen unbedingt gefordert ist, müs-

334
KpV AA 5, 93; GMS AA 4, 399.
335
KpV AA 5, 111.
336
RGV AA 6, 36.
Der Glaube der Praxis bei Kant 385

sen alle Menschen an der Realisierung der hierfür notwendigen Rah-


menbedingungen mitarbeiten.337
Mit unserer Deutung des höchsten Guts sind jedoch mehrere Proble-
me verbunden. Zum einen scheint sie die von Kant zurückgewiesene
Identifikation von Glückseligkeit und Moral zu implizieren, wie sie sich
bei den Stoikern findet. Dagegen insistiert Kant, dass Glückseligkeit und
Tugend ungleichartige Begriffe sind.338 Der Unterschied der Identifikati-
on von Glückseligkeit mit Tugend und unserer Interpretation des höchs-
ten Guts besteht jedoch darin, dass der Stoizismus gleichgültig gegen-
über der Realisierung der im moralischen Handeln gesetzten Zwecke
bleibt. Nach unserer Deutung besteht Glückseligkeit als Moment des
höchsten Guts dagegen gerade in der gelingenden Verwirklichung eben
dieser Zwecke.339
Schwerwiegender ist das Problem, dass Kant an vielen Stellen die in-
haltliche Bestimmung der Glückseligkeit an die kontingente Verfasstheit
des empirischen Subjekts bindet und deshalb die Möglichkeit ihrer Uni-
versalisierbarkeit zurückweist. Unsere Lösung dieser Schwierigkeit be-
steht darin, dass wir die Glückseligkeit in Abhängigkeit vom morali-
schen Status des Akteurs bestimmen. Die Vorstellung von Glückseligkeit
unterscheidet sich deshalb vor der Revolution der moralischen Den-
kungsart und nach selbiger. Für das Subjekt vor der Revolution ist der
Begriff ein unterbestimmtes Ideal der Einbildungskraft, aber als Folge-
begriff der Moral wird er für das moralisch revolutionierte Subjekt als
„wahre“ Glückseligkeit zu einem bestimmten Begriff der Vernunft, der
würdig ist, realisiert zu werden.340 Anders formuliert: Aus der Perspekti-
ve des moralischen Subjekts ist zumindest der primäre Glückseligkeits-
begriff ein wohldefinierter, nicht aber aus der Perspektive des unmorali-
schen Subjekts. Für moralische Akteure besteht Glückseligkeit primär in
der Realisierung des durch sie intendierten moralisch Guten.341 Trotz-
dem bleiben „Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei specifisch ganz ver-

337
Es dürfte nicht allzu schwer sein, Elemente dieser Rahmenbedingungen zu konkre-
tisieren: universelle Schulbildung und ökonomische Unabhängigkeit seien nur zwei ge-
nannte Elemente.
338
KpV AA 5, 111–113; 117; Refl 6607 AA 19, 106f.; Förster 1998, 342.
339
So heißt es in Refl 6857: „Die würdigkeit glüklich zu seyn besteht im Verdienst,
welches die Handlungen um die Glükseeligkeit haben, die, so viel an der freyheit liegt,
auch wirklich, wenn sie allgemein wären, sich so wohl als andre glüklich machen wür-
den.“ (AA 19, 181.)
340
Die Erkenntnis der Verbindlichkeit des Sittengesetzes muss der aus ihr resultieren-
den Zufriedenheit vorhergehen. Dieses moralische Gefühl muss nach Kant sogar kulti-
viert werden (KpV AA 5, 38).
341
Kleingeld 1995, 107.
386 Praktischer Glaube

schiedene Elemente des höchsten Guts“, deren Verbindung nicht analy-


tisch erkannt werden kann. 342 Denn das Wollen eines moralischen
Zwecks impliziert nicht seine Realisierung. Die Tugendhaftigkeit einer
Handlung garantiert nicht die Realisierung des in ihr intendierten
Zwecks als Wirkung. Dennoch müsste eine unparteiische Vernunft diese
Zwecke für würdig halten, realisiert zu werden.343

c. Der religiöse Charakter der Hoffnung

Mit der Hoffnung auf die Realisierbarkeit des höchsten Guts ist der reli-
giöse Glaube die hoffnungsvolle Einstellung gegenüber dem eigenen mo-
ralischen Schicksal und dem der gesamten Menschheit. 344 Gegenstand
der religiösen Hoffnung ist dementsprechend die harmonische Austei-
lung von Glückseligkeit für das Individuum im proportionalen Verhält-
nis zu seiner individuellen Glückswürdigkeit. In KrV ist nun der eigent-
liche Gegenstand der Religion als der Verbindung von Theologie und
Moral die Unsterblichkeit. 345 Das legt nahe, dass die Realisierung des
höchsten Guts offensichtlich nicht im Diesseits erwartbar ist und der
Mensch selbige nur in einem Jenseits erhoffen kann. Die religiöse Hoff-
nung wird die individuelle Verbindung von Glückswürdigkeit und
Glückseligkeit also erst im Jenseits erwarten. Dies legt nahe, dass sich
zumindest nach KrV der spezifisch religiöse Charakter dieser Hoffnung
aus ihrem Jenseitsbezug ergibt.
Diesen ursprünglichen Gedanken hat Kant nach Ansicht nicht weni-
ger Interpreten in seinen späteren Schriften aufgegeben und durch den
Gedanken einer Realisierung des höchsten Guts in einem diesseitigen
historischen Prozess, die nur noch für die Gattung erwartet werden darf,
ersetzt. Hieraus wird nun von manchen Autoren geschlossen, die Rolle
der Unsterblichkeit als notwendiger Idee würde aus dem Denken Kants
verschwinden und die Idee Gottes auf die Idee der Vernunft in der Ge-
schichte reduziert.346 Die religiöse Hoffnung auf Unsterblichkeit scheint
damit durch die reflektierende Betrachtung der Universalgeschichte er-
setzt zu werden, die ohne jegliche religiöse Konnotation einen hoff-
nungsvollen Blick auf die Zukunft freigibt und eine naturimmanente

342
KpV AA 5, 112.
343
KpV AA 5, 110f.
344
O’Neill 1996, 281.
345
KrV B 395.
346
Förster 1998, 345f.; Kleingeld 2016, 34; dies. 1995b, 104 Dagegen: Beiser 2006, 606.
Vgl. hierzu: KrV B 836f./A 808f.; RGV AA 6, 5; TP AA 8, 280.
Der Glaube der Praxis bei Kant 387

Vorsehung rechtfertigt. 347 Damit einhergehend scheint der Endzweck,


den die praktische Vernunft der Schöpfung unterstellt, nicht mehr in der
individuellen Glückseligkeit zu bestehen, sondern in der Glückseligkeit
der Menschheit als Gattung in Bezug auf ihre Bestimmung zur Autono-
mie: Nur die Gattung als Ganze könnte dann die Vernunftanlagen des
Menschen und seine Bestimmung zur Freiheit realisieren.348 Für die An-
schlussfähigkeit des religiösen Bewusstseins an Kants Aufklärungspro-
jekt ergibt sich das Problem, dass die Lehre vom höchsten Gut, wenn sie
immanent in Natur und Geschichte zurückverlagert wird, nicht mehr
zwischen moralischem und religiösen Bewusstsein vermitteln kann. Da-
gegen gibt es aber noch mehrere offene Fragen: Muss Kant die Idee des
Jenseitsbezugs wirklich aufgeben? Erübrigt sich der religiöse Charakter
der Hoffnung mit ihrer Integration in den Geschichtsprozess? Betrach-
ten wir hierzu zunächst Kants Konzept geschichtlichen Fortschritts:
Kant nimmt im Hinblick auf den geschichtlichen Fortschritt eine Mit-
telstellung ein zwischen Lessings Erziehung und Mendelssohns Jerusa-
lem, die den Gedanken eines sittlichen und religiösen Fortschritts der
Menschheit unumwunden ablehnt. 349 Kant hingegen weist diesen Ge-
danken zwar nicht zurück, unterzieht ihn aber einer kritischen Reflexi-
on:350 Der menschliche Fortschritt ist kein empirisch feststellbares Fak-
tum, sondern eine Vernunftidee, unter der der Mensch die Geschichte
betrachten soll, um an der Idee von den Zwecken der Menschheit sein
Handeln zu orientieren.351 Die Frage ist aber, ob die Lehre vom höchsten
Gut damit vollständig säkularisiert wird.352 Hiergegen sprechen zunächst
zwei Gründe:
1. Die Realisierung aller im Lichte der Autonomie von Menschen ge-
wählten Zwecke hängt nicht nur vom guten Willen sämtlicher morali-
schen Akteure ab, sondern auch von kontingenten Umständen (dem Na-
tur- und Weltverlauf). Eben deshalb genügt hier der gute Wille aller al-
lein nicht, sondern es bedarf noch der Idee eines allmächtigen Wesens,
das Einfluss auf den natürlichen Weltverlauf besitzt. So ist eben auch

347
Yovel 1980, 72; Idee AA 8, 30; vgl. hierzu auch Neiman 1994, 178; Makkreel 1990,
140; ders. 1991, 58.
348
Förster 1998, 349; Brandt 2003a, 100. Anth AA 7, 329. „Am Menschen […] sollten
sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in
der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“ (Idee AA 8, 18.) Daraus
folgt jedoch, dass die früheren Individuen nur um der späteren willen da sind (ibid., 20;
23).
349
Jerusalem JubA 8, 162–164.
350
Vgl. auch Wood 2009, 6 (Manuskript).
351
RGV AA 6, 20.
352
So etwa Moran 2012, 50; Taylor 2010, 7f.
388 Praktischer Glaube

noch die teleologische Naturbetrachtung bzw. die Betrachtung der Ge-


schichte nur denkbar unter der Setzung der Idee eines vernünftigen
Welturhebers.
2. Die moralisch gerechtfertigten religiösen Hoffnungen des Individu-
ums spielen in RGV weiterhin eine zentrale Rolle. Ein zentrales Thema
dieser Schrift ist Folgendes: Wir gehen vom radikalen Bösen aus, das den
Grund all unserer Maximen verdirbt, und sollen das Gute in uns realisie-
ren. Der Abstand zwischen Ausgangs- und Zielpunkt ist dabei für Kant
jedoch ein unendlicher und deshalb in der Zeit nicht realisierbar. Viel-
mehr muss die Realisierung schon in der Gesinnung dem Keim nach ge-
setzt werden, in der Revolution der Denkungsart, der die phänomenale
Besserung der Sinnesart niemals entsprechen kann. Diese Besserung ist
in der Tat nur als kontinuierlicher Fortschritt denkbar. Das Gute in der
Erscheinung bleibt immer hinter der Revolution der Gesinnung zurück.
Der Fortschritt in der Erscheinung wird aber abgleitet aus jener Gesin-
nungsänderung. Wir müssen deshalb letztere „von einem Herzenskün-
diger in seiner reinen intellectuellen Anschauung als ein vollendetes
Ganze auch der That (dem Lebenswandel) nach beurtheilt denken kön-
nen“.353 Dieser Herzenskündiger urteilt „aus der allgemeinen Gesinnung
des Angeklagten“354 und nicht aus dem empirisch erreichten Fortschritt.
Mit seiner Sinnesänderung tritt der Mensch vom Bösen ins Gute über,
wird ein neuer Mensch, wodurch das Subjekt der Sünde in diesem Akt
sittlicher Revolution stirbt. Intellektuell betrachtet liegt in der morali-
schen Besserung des Menschen ein einziger Akt vor, der sich phänome-
nal jedoch in einem Prozess entfaltet. Das moralische Bewusstsein sieht
hierbei nur die Pflicht zur Besserung, das religiöse Bewusstsein hingegen
hofft zugleich auf einen „Urtheilsspruch aus Gnade“. 355 Das religiöse
Bewusstsein hofft auf den „Richterausspruch eines Herzenskündi-
gers“, 356 der seinen Urteilsspruch der Gesinnung des Menschen ent-
nimmt und nicht seiner phänomenalen, immer mangelhaft bleibenden
empirischen Besserung.357 Dies ist aber eben nur eine Hoffnung. Die Re-
volution der moralischen Denkungsart, durch die der im Grunde seiner
Maximen verderbte Mensch ein reines Prinzip zur obersten Maxime sei-
ner Willkür nimmt, macht noch keinen guten Menschen aus ihm, son-
dern nur einen für das Gute empfänglichen Menschen. Zum aktuell gu-

353
RGV AA 6, 67.
354
RGV AA 6, 72.
355
RGV AA 6, 76.
356
RGV AA 6, 72.
357
RGV AA 6, 72f. „Sinnesänderung ist [...] ein Ausgang vom Bösen und ein Eintritt
ins Gute, das Ablegen des Alten und das Anziehen des neuen Menschen“ (ibid., 74).
Der Glaube der Praxis bei Kant 389

ten Menschen kann er nur durch kontinuierliches Handeln werden. Da-


bei findet aber immer nur ein Fortschritt zum Besseren statt. Das sittli-
che Subjekt bleibt dabei in seinem tatsächlichen Handeln immer hinter
seinen Möglichkeiten zurück. Der einzelne Mensch findet in seiner mo-
ralischen Autonomie nicht die zur Realisierung seiner moralischen
Selbstvervollkommnung notwendigen Ressourcen. 358 Dieses Zurück-
bleiben hinter selbstgesetzten Normen im Sinne eines selbstverantworte-
ten Scheiterns an der jeweils einlösbaren sittlichen Verantwortung ist
prinzipiell unauflösbar. 359 Das religiöse Bewusstsein hofft deshalb da-
rauf, dass Gott geschehene Handlungen in rechtlicher Hinsicht unge-
schehen macht und wir den Wandel moralischer Besserung fortsetzen
können.360 Da der Mensch aufgrund seiner subjektiven Unzulänglichkeit
notwendig bei seiner kontinuierlichen Besserung scheitert, hofft der reli-
giös Gläubige auf einen gnädigen göttlichen Richter.361
Aber nicht nur bleibt die faktische Besserung immer defizitär, sondern
der sich bessernde Mensch muss sich immer noch als denselben betrach-
ten, der vom Bösen ausgegangen ist. Die Annahme einer guten Gesin-
nung und ein ihr gemäßer Lebenswandel können nicht die Tatsache an-
nihilieren, dass er auf Grund eines von ihm selbst zu verantwortenden
Willensentschlusses vom Bösen anfing.362 Die vormals im Zeichen seines
bösen Charakters bewirkten Handlungen sind ihm immer noch als die
seinigen zuzurechnen. Für den Herzenskündiger wäre hingegen das Ab-
sterben der alten Gesinnung (Bild: Kreuzigung) ausreichende Sühne für
die Schuld der vormals bösen Gesinnung.363 Das religiöse Bewusstsein
hofft deshalb auf diesen Herzenskündiger, für den der Mensch in seiner
moralischen Neugeburt ein Anderer wird und insofern nicht mehr
schuldig für seine „vorrevolutionären“ Taten ist.364 Nur für einen sol-
chen göttlichen Herzenskünder, „der den intelligibelen Grund des Her-
zens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Un-
endlichkeit des Fortschritts Einheit ist“, 365 könnte die Änderung der

358
Michalson 1990, 4.
359
Dierksmeier 1998, 77ff. Dierksmeier bezeichnet dies als den „transzendentalen Kon-
flikt“ des Menschen als reflexives, „zugleich unbedingtes und bedingtes Wesen“ (ibid.,
77).
360
RGV AA 6, 116.
361
Refl 6882 AA 19, 191.
362
RGV AA 6, 72.
363
RGV AA 6, 74.
364
Noch in V-Anth/Pillau begründet Kant übrigens ein Recht des gebesserten Delin-
quenten auf Straferlass und über die Unvollkommenheit der Identität des menschlichen
Selbst (AA 25, 736).
365
RGV AA 6, 48.
390 Praktischer Glaube

Denkungsart gleichzeitig bedeuten, ein guter Mensch zu sein, weil er als


zeitlos im zeitlosen Akt der Revolution der Denkungsart die Reform der
Sinnesart einerseits als Neugeburt, andererseits bereits als vollendet an-
schaut. Kant reinterpretiert die christliche Gnadenlehre also als die
Hoffnung auf Erlösung und Gnade in dem Sinne, dass der Herzenskün-
diger die Handlungen vor der Herzensänderung als ungeschehen be-
trachtet.366
Nach Wolterstorff ist diese Reinterpretation der Gnadenlehre inner-
halb der Grenzen bloßer Vernunft jedoch mit einem inneren Wider-
spruch behaftet.367 Da Gott als Herzenskündiger dem Menschen Verge-
bung schulde, sei die tatsächliche Vergebung von Gott erfordert, wenn
dieser nun nicht selbst die moralische Ordnung verletzen wolle. Eben
damit könne man aber gar nicht mehr von Gnade sprechen.368 Dieser
Widerspruch hebt sich aber durch die Unterscheidung von religiöser und
moralischer Perspektive auf. Wie beim höchsten Gut ist auch der religiö-
se Glaube an einen gnädigen Herzenskündiger vom moralischen Glau-
ben abhängig. Moralisch muss der Mensch aber so handeln, als würde er
am Ende seines Lebens von einem strengen Richter beurteilt. Der religi-
ös Gläubige hofft unter der Voraussetzung der Erfüllung seiner morali-
schen Pflicht hingegen auf einen nachsichtigen Richter, wo aus rein mo-
ralischer Perspektive nur ein strenger Richter erwartet werden darf, der
sein Urteil nicht nach dem Maßstab der Güte, sondern allein nach dem
Gesetz fällt. 369 Wegen ihrer Abhängigkeit vom moralischen Glauben
setzt die Legitimität der religiösen Hoffnung voraus, dass auch das reli-
giöse Bewusstsein sich durch seinen Lebenswandel der Gnade würdig
macht. Die moralische Besserung kann auch für das religiöse Bewusst-
sein nichts sein, was ihm allein von außen zukommt. Es kann nur auf
Mitwirkung hoffen, die die Hindernisse für das Gelingen seiner Maxime
der moralischen Besserung entfernt oder ihn eventuell unterstützt. 370
Dies ist aber nur eine notwendige und noch keine hinreichende Bedin-
gung für die Vergebung, da dem Menschen sowohl sein Scheitern als
auch sein Ausgang vom Bösen als Resultat einer Willenswahl vollum-
fänglich zugerechnet werden müssen.

366
Wolterstorff 2009, 57f.
367
Vgl. auch Michalson 1990, 89f.
368
Nach Wolterstorff hat der Mensch, der wirklich einen guten Charakter entwickelt
hat, also einen Anspruch auf Vergebung (Wolterstorff 2009, 61). Dies würde aber die kri-
tische Perspektive Kants überschreiten. Wir können nur auf Vergebung hoffen. Vgl. hier-
zu auch Duplá 2016, 258.
369
Refl 8085 AA 19, 629.
370
RGV AA 6, 44.
Der Glaube der Praxis bei Kant 391

Aber gerade diese Hoffnung ist das spezifische Moment der religiösen
Perspektive, das sie von der rein moralischen Perspektive unterscheidet.
Diese „Hoffnung auf die Lossprechung des Menschen von seiner
Schuld“371 macht jedoch nur Sinn für denjenigen, in dem die moralisch
gute Gesinnung schon wirklich geworden ist. Die „Religion des guten
Lebenswandels“ 372 besteht also in folgender Hoffnung: Wenn der
Mensch alle Anstrengung aufbringt, ein besserer Mensch zu werden und
somit seine Anlage zum Guten nutzt, dann wird Gott das, was er nicht
vermag, ergänzen.373 Damit zeigt sich, dass Kant in RGV den religiösen
Charakter des Glaubens und den Jenseitsbezug der Hoffnung beibehält.
Dies lässt sich in folgender Weise mit den geschichtsphilosophischen Re-
flexionen Kants in Einklang bringen: Die Geschichtsbetrachtung der re-
flektierenden Urteilskraft mit dem Fortschritt der Spezies wird im reli-
giösen Glauben durch die individuelle Hoffnung auf moralische Vollen-
dung im Jenseits erweitert. Stellen aus OP legen sogar nahe, dass der
phänomenale Fortschritt der Spezies gewissermaßen ein Symbol für die
Vollendung des individuellen moralischen Fortschritts im Jenseits (der
noumenalen Welt) ist.374 Kant selbst stellt nämlich fest, dass in der histo-
rischen Realisierung des höchsten Guts ein Problem für das menschliche
Gerechtigkeitsverständnis liegt. Dieser augenscheinliche Mangel an Ge-
rechtigkeit drängt sich nach Kant dem menschlichen Gemüt als das
größte Problem in der Theodizee auf.375 Denn wenn nur eine zukünftige
Menschheit des höchsten Guts und des moralischen Fortschritts teilhaf-
tig wird, dann sind alle vorhergehenden Generationen von dieser Ge-
rechtigkeit ausgeschlossen. Die älteren Generationen wären dann nur
Mittel zum Zweck für die Realisierung der Glückseligkeit und Glücks-
würdigkeit der späteren Generationen. Es erschiene uns jedoch unge-
recht, dass einer Unzahl verlorener Generationen die Vollendung von
Glückswürdigkeit und entsprechende Austeilung von Glückseligkeit
versagt bliebe, da dies dem Begriff des Menschen als Zweck an sich wi-
derspricht. Diese Ungerechtigkeit lässt sich jedoch durch das Postulat
der Unsterblichkeit und die Annahme einer jenseitigen Realisierung des
höchsten Guts auflösen.376 Das höchste Gut hat damit einen Doppelcha-
rakter: Es soll für alle zukünftig Lebenden in der Geschichte (histori-

371
RGV AA 6, 76.
372
RGV AA 6, 51.
373
RGV AA 6, 52.
374
OP AA 21, 345f.
375
MpVT AA 8, 260.
376
Idee AA 8, 20.
392 Praktischer Glaube

sches Projekt einer Gemeinschaft von Akteuren377), aber eben auch für
jeden Einzelnen individuell im Jenseits realisiert werden.378

377
Nach Moran 2012, 51 ist dies die reife Position Kants. Das höchste Gut wird auf der
Erde realisiert (ibid., 243).
378
Nach Moran ist dies hingegen nur Kants frühe Sicht in KpV (Moran 2012, 52).
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 393

B. Die Praxis des Glaubens bei Jacobi

Wir haben gesehen, dass Kant mit zwei unterschiedlichen Glaubensbe-


griffen operiert: einem moralischen und einem religiösen. Beiden kommt
eine zentrale Funktion für Kants Aufklärungsprojekt zu. Bei Jacobi hat
der Glaube eine noch prominentere Stellung: „Das Element aller
menschlichen Erkenntniß und Würksamkeit, ist Glaube“. 1 Diese Be-
hauptung, dass alles menschliche Wissen und Handeln auf einem Glau-
ben basiere, demgegenüber rational gerechtfertigtes Wissen nur eine Er-
kenntnis aus zweiter Hand sei, ist für Jacobis Kritiker ein philosophi-
scher Skandal. Für Mendelssohn und die Berliner Aufklärer will Jacobi
mit dieser These Aufklärung und Vernunft der Autorität der Religion
bzw. Kirche unterwerfen.2 Indem sie Jacobis Glaubensbegriff auf diese
Weise mit dem christlichen Glauben identifizieren, werfen sie ihm einen
aller Aufklärung entgegengesetzten Fideismus vor.3 Umgekehrt kritisiert
Hegel Jacobis Verwendung des Glaubensbegriffs gerade dafür, seine
Konzeption epistemischen Fürwahrhaltens ohne Gründe in irreführen-
der Weise mit dem Begriff des christlichen Offenbarungsglaubens auszu-
schmücken.4 In der Reduktion des Glaubensbegriffs auf ein abstraktes
Fürwahrhalten, in dem keinerlei positiver Inhalt gegeben werde, habe
Jacobi diesen „zur Bedeutung der gemeinsten und empirischen Wirk-
lichkeit herabgewürdigt“. 5 Aus jeweils entgegengesetzter Perspektive
werfen beide Seiten Jacobi also vor, einen rein epistemischen Glaubens-
begriff mit dem religiösen Glaubensbegriff zu konfundieren, um seine
Leser über seine wahre Intention zu täuschen.6 Leider trägt Jacobi in sei-
nen Versuchen, seinen Glaubensbegriff zu rechtfertigen und dessen Be-
deutung aufzuklären, häufig eher dazu bei, die Missverständnisse seiner
Zeitgenossen zu vermehren als zu vermindern.7 Wir werden demgegen-
über im Folgenden argumentieren, dass Jacobi einen rein säkular be-
gründeten Glauben behauptet,8 diesen jedoch aus immanenten Gründen
um eine religiöse Dimension erweitert.9 Dazu wird Jacobis Begründung
1
Spin1 JW 1,1, 125.
2
Spin1 JW 1,1, 179f.; Brief von Mendelssohn vom 1.8.1784 JB 1,3, 345.
3
DH1 JW 2,1, 18; SWBD 6,1, 41; AA 10, 454f.; Anonymus 1786a, 173; Eberhard 1786,
353; Anonymus 1788b, 105.
4
VGPh SW 20, 323.
5
GuW GW 4, 366; vgl. auch ibid., 378; VGPh SW 20, 324.
6
Nach Cassirer resultiert diese Konfusion aus der rein negativen Bestimmtheit von Ja-
cobis Glaubensprinzip (Cassirer 2000, 31).
7
Vgl. etwa: JB 1,4, 112.
8
Vgl. hierzu: Zöller 1998, 28; 31; Ahlers 2003, 86.
9
Diesen Doppelcharakter des Glaubensbegriffs sieht etwa auch Ahlers 2003, 87.
394 Praktischer Glaube

des Glaubens in folgenden Schritten rekonstruiert: Alle theoretische Er-


kenntnis beruht auf Annahmen, die nicht im Modus diskursiver Er-
kenntnis gerechtfertigt werden können (I). Alle theoretische Kenntnis
setzt eine Handlungspraxis voraus, die bereits Glauben impliziert (II).
Dieser Glaube muss die Immanenz menschlichen Bewusstseins trans-
zendieren (III).

I. Alle rationale Erkenntnis ruht auf dem Grunde des Glaubens

Mit Kant glaubt sich Jacobi nicht nur darin einig, dass „Gott, Freyheit,
Unsterblichkeit“ die „wesentlichen Gegenständ[e] der Philosophie“
sind, sondern auch darin, dass diese nicht im Modus des Wissens, son-
dern allein im Modus des Glaubens erfasst werden können. 10 So vertei-
digt er in WMB (1786) seine Glaubenslehre gegen den Vorwurf der Ver-
nunftlästerung und des blinden Fideismus mit Verweis auf die Bedeu-
tung des Glaubens in KrV:

Wie, Darum? – und Kant, der dasselbige seit mehr als sechs Jahren lehrt: hat die
Vernunft nicht gelästert, ist kein Schwärmer, will nicht einem blinden oder
Wunderglauben forthelfen?11

Verständlicherweise war Kant wenig begeistert, dass sich Jacobi zur


Rechtfertigung seiner Aufklärungskritik und seines vermeintlichen Ge-
mischs aus Schwärmerei, Gefühlsphilosophie und Fideismus gerade auf
ihn als Autorität berief. In WDO versucht Kant deshalb sein Konzept
des Vernunftglaubens gegen Jacobi zu profilieren und jede vermeintliche
Verwandtschaft zwischen ihren Glaubensbegriffen als bloßen Schein zu
enthüllen.12 Dabei bestimmt er den Glauben gegenüber dem Wissen als
eine letztlich privative Form des Fürwahrhaltens. Im Gegensatz zum
Wissen, das auf objektiv und subjektiv zureichenden Gründen basiere,
rekurriere der Glaube auf nur subjektiv zureichende Gründe. So sei auch
der Vernunftglaube nur ein Fürwahrhalten, das ausschließlich auf sub-
jektiven Gründen der Vernunft basiere und „nur“ durch ein Bedürfnis
der Vernunft legitimiert werde. 13 Weil es sich bei diesen subjektiven
Gründen jedoch um Gründe der Vernunft handelt, könne diese Legiti-
10
VSpin3 JW 1,1, 340; vgl. auch: Krit JW 2,1, 274.
11
WMB JW 1,1, 320 (unter ausführlicher Bezugnahme auf KrV A 828–831).
12
Timm 1971, 68. Nach Hutter ist WDO ein „Bravourstück“, das die begrifflich fixier-
te Opposition zwischen Vernunft und Glaube vermittle (Hutter 2004, 243). Wir werden
sehen, dass dies auch für Jacobi gilt.
13
Timm 1971, 41.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 395

mation den Vernunftglauben jedoch vor jedem vernünftigen Subjekt


rechtfertigen. Demgegenüber pervertiert Jacobi aus der Sicht Kants die-
sen legitimen Vernunftglauben gleich in zweifacher Hinsicht: Zum einen
spreche er dem Glauben ab, überhaupt auf Vernunftgründe angewiesen
zu sein, zum anderen behaupte er gleichzeitig damit auch noch die ob-
jektive Gültigkeit dieses Glaubens. Aus der Perspektive von Kants Ver-
nunftglauben verbindet Jacobi mit seinem Glaubensbegriff also einerseits
einen übersteigerten Geltungsanspruch, nämlich den objektiver und
nicht nur subjektiv-allgemeiner Gültigkeit, zum anderen entbindet er ihn
aber gerade von jeder Rechtfertigungspflicht vor der Vernunft. So sei Ja-
cobis Glaube einerseits ein „vorgeblicher geheimer Wahrheitssinn“, 14
durch den sich objektive Wahrheiten entdecken ließen, gleichzeitig sei er
ein Wahrheitssinn, „den sich ein jeder nach seinem Belieben machen
kann“.15 Auf seine bloß privat gültige „überschwengliche Anschauung
unter dem Namen des Glaubens“ könne jede beliebige „Tradition oder
Offenbarung ohne Einstimmung der Vernunft gepfropft werden“.16 Mit
seiner Glaubensphilosophie öffne Jacobi deshalb jeder Schwärmerei Tür
und Tor und arbeite so dem Projekt der Aufklärung entgegen.17
Lassen wir die Frage nach der Berechtigung von Kants Kritik an Jaco-
bi zunächst außen vor, so ist Kants Distanzierung von Jacobi in jedem
Fall legitim.18 Ihre Gemeinsamkeit scheint sich nämlich darauf zu redu-
zieren, dass „Glaube“ für beide ein objektiv nicht beweisbares Wissen
bezeichnet. Kants Vernunftglaube ist jedoch nicht das „Element aller
menschlichen Erkenntniß und Würksamkeit“, in dem Jacobi alles Wis-
sen und Handeln fundiert. Denn weder lässt sich auf Kants Glauben ein
Wissen gründen, noch darf Moralität diesen Glauben voraussetzen.
Ebenso wenig ist Kants Vernunftglaube ein unmittelbares Gefühl, das
der Vernunft entgegengesetzt wäre, sondern eine vor Jedem rechtfertig-
bare Forderung der praktischen Vernunft. Bei der Intensität, mit der sich
Jacobi der Philosophie Kants widmet, wäre es allerdings überraschend,
wenn Jacobi diese Differenzen verborgen geblieben wären. So expliziert
er seinen Glaubensbegriff an anderen Stellen gerade als Gegenentwurf zu
dem Kants und weist jede Gemeinsamkeit beider entschieden zurück.19
Die Pointe in Jacobis Verweis auf Kant als Reaktion auf den Vorwurf,

14
WDO AA 8, 134.
15
WDO AA 8, 143.
16
WDO AA 8, 134.
17
Allerdings distanziert sich Kant in einem Brief an Jacobi vom 30.8.1789 von der Ber-
liner Polemik gegen Jacobi (AA 11, 77).
18
Dagegen: KFSA 8, 442; ebenso: ibid., 588-591.
19
Vgl. Brief an Hamann vom 5.9.1786 JB 1,5, 348.
396 Praktischer Glaube

einen blinden Glauben zu lehren, besteht deshalb gar nicht darin, hier
eine gemeinsame Position zu konstatieren. Vielmehr hat Jacobi gute
Gründe, dass der Vorwurf eines blinden Glaubens eigentlich Kant und
nicht ihn treffen müsse. Denn Kant lasse für die Ideen Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit ausschließlich einen blinden Glauben zurück,20 wohin-
gegen sein Glaube die von jedem Menschen immer schon vorausgesetzte
Grundlage allen Wissens und Handelns und damit das Element aller
praktischen und spekulativen Vollzüge der Vernunft meine.21 Wie Kant
seinen Vernunftglauben also als explizite Alternative zu Jacobis Glauben
konturiert, so legt umgekehrt auch Jacobi seine eigene Konzeption von
Glauben als Alternative zu Kant an.
Um der fideistisch-religiösen Fehldeutung seines Glaubensbegriffs
durch seine Kritiker entgegenzuwirken, beruft sich Jacobi bekanntlich
auf Hume und dessen Verwendung des Begriffs „belief“.22 Humes Leis-
tung besteht dabei für Jacobi in der Einsicht, dass alle Erkenntnis und
alles Handeln auf einem „bloßen“ Glauben (belief) beruhen, der durch
demonstrative Vernunftbeweise nicht gerechtfertigt, sondern in diesen
immer schon vorausgesetzt wird. Mit welchem Recht Jacobi Hume für
sich vereinnahmt, ist jedoch seit jeher umstritten. Sachlich ist diese Inan-
spruchnahme selbst dann noch problematisch, wenn man dem Glau-
bensbegriff Jacobis zunächst keine religiösen Konnotationen beilegt. 23
Wir wollen zunächst jedoch nicht nach den sachlichen Übereinstim-
mungen zwischen Jacobis und Humes Glaubensbegriff fragen, sondern
nach der Intention von Jacobis Inanspruchnahme Humes. Hier ergibt
sich folgender Befund: Mit der Berufung auf Hume will Jacobi seinen
Glaubensbegriff von jeglicher religiöser Konnotation befreien und im
Aufklärungsdiskurs selbst verorten.24 Immerhin bezeichnet Kant, der Ja-
cobi für seine vermeintliche Schwärmerei kritisiert, Hume als denjenigen
Denker, der ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt habe.25
Resultat dieses Erweckungserlebnisses sei seine Aufklärung der Vernunft

20
DH1 JW 2,1, 61.
21
Dafür, dass auch bei Kant mit der Voraussetzung des Dinges an sich ein Glaube
(faith) allen Erkenntnisvollzügen zu Grunde liegt, argumentiert Palmquist 1984.
22
In Einl stellt Jacobi fest, DH sei nur geschrieben worden, um dem Vorwurf zu be-
gegnen, er sei „ein Vernunftfeind“, „Papist“ und „Prediger des blinden Glaubens“ (JW
2,1, 375).
23
Vgl. etwa Anonymus 1788b, 105–107; Feder 1788, 129.
24
Jacobi betont in diesem Dialog, Mendelssohn hätte ihm „ohne die geringste Veran-
lassung, christliche Gesinnungen aufgebürdet, die weder christlich noch die meinigen wa-
ren“ (DH1 JW 2,1, 21).
25
Prol AA 4, 260.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 397

über ihre Voraussetzungen und Grenzen.26 Eben dieses Aufklärungspro-


jekt verfolgt auch Jacobi. Er will die Aufklärung (inklusive Kant) aus ih-
rem dogmatischen Schlummer wecken, der in der Unkenntnis der Be-
dingtheit der Vernunft durch einen noch näher zu spezifizierenden
Glauben besteht. Jacobi etabliert seine Philosophie also bewusst als Al-
ternative zu Kants kritischer Philosophie, die aus seiner Sicht in ihrer
Vernunftkritik nicht weit genug gegangen ist.
Kants Projekt der transzendentalen Aufklärung scheitert aus Sicht Ja-
cobis daran, dass es die objektive Realität der Verstandes- und Vernunft-
begriffe nicht zu retten vermag, indem es die menschliche Erkenntnis
von den Dingen an sich selbst abschneidet. Sofern uns Sinnlichkeit, Ver-
stand und Vernunft nichts von den Dingen an sich selbst zu erkennen
geben, werden sie zu erkenntnisleeren Funktionen und im eigentlichen
Sinne auf blinde, rein subjektive Vermögen reduziert. Entsprechend
könne auch der sich auf diese Erkenntniskritik gründende praktische
Glaube nur mehr ein erkenntnisleerer, blinder Glaube sein. Im Gegen-
satz dazu will Jacobis Erkenntniskritik einen Glauben lehren, der Sinn-
lichkeit, Verstand und Vernunft im eigentlichen Sinne sehend macht. In-
sofern steht die Adaption von Humes Glaubensbegriff bei Jacobi ganz
im Zeichen seiner anderen Aufklärung als Daseinsenthüllung, die er als
Alternative zu Kants Dasein verbergender, transzendentaler Aufklärung
etablieren will.
Durch seine Inanspruchnahme Humes versucht Jacobi seine eigene
Glaubenslehre also als noch ausstehende, andere Aufklärung in bewuss-
ter Absetzung von Kants Aufklärungsprojekt zu entwickeln. Gleichzei-
tig variiert Jacobi mit seiner Berufung auf die Autorität Humes sein
Thema vom frommen Betrug der Vernunft, welche nicht die Vernunft
ist, indem er mit dieser Berufung den Aufklärungsdiskurs insbesondere
der Berliner Aufklärer persifliert. Diese hatten ja gehofft, Kant würde
mit seiner Autorität den Streit zwischen Mendelssohn und Jacobi zu ih-
ren Gunsten entscheiden. Wenn der Streit nun aber durch Autoritäten
entschieden werden soll, dann, so Jacobi, könne auch er zur Rettung sei-
ner anderen Aufklärung anstatt Gründen nur eine Autorität für sich in
Anspruch nehmen:

26
Die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss von Hume auf Kants kritisches Projekt
soll hier weder gestellt noch beantwortet werden. Andere Stellen behaupten nämlich, dass
es das Problem der Antinomien gewesen sei, das ihn „aus dem dogmatischen Schlummer
zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb“ (AA 12, 258; KrV B
433f./A 407). Vgl. hierzu: Klemme 1996, 38–46; Forster 2008, 14f.; 24f.; 31f.
398 Praktischer Glaube

Gründe? Ich habe etwas Besseres, worüber man nicht so schlechterdings herfah-
ren, oder es nur gerade zu unter die Bank schieben darf, wie Gründe: ich habe
eine Autorität.27

Durch die ironisch gebrochene Berufung auf Hume macht Jacobi also
deutlich, dass die bisherige Aufklärung in zweierlei Hinsicht aus ihrem
„dogmatischen Schlummer“ zu wecken ist: zum einen, insofern sich die
Vernunft selbst bei Kant noch nicht über ihre eigenen Grundlagen auf-
geklärt hat; zum anderen, weil die bisherige Aufklärung immer noch in
einem dogmatischen Glauben an Autoritäten befangen ist, in dem diese
mehr gelten als Vernunftgründe, weswegen ein herrschaftsfreier Aufklä-
rungsdiskurs gar nicht möglich ist.
Strukturell beschränkt Jacobi die Gemeinsamkeit zwischen seinem
und Humes Glaubensbegriff zunächst darauf, dass „jede Bejahung, die
nicht auf Vernunftgründen beruhe“, 28 als Glaube bezeichnet werden
könne.29 Funktional liegt sowohl für ihn als auch für Hume jeder ratio-
nal-diskursiven Begründung ein solcher Glaube zu Grunde. So setzt jede
Demonstration „als Fortschritt in identischen Sätzen“30 bereits Gewiss-
heiten voraus, von denen aus durch Vergleiche neue Gewissheiten er-
zeugt werden.31 Sind diese Gewissheiten nun ihrerseits diskursiv vermit-
telt, müssen sie wiederum von anderen Gewissheiten abhängen etc. Jedes
diskursive Verfahren setzt also erste Gewissheiten voraus, die zuletzt
nicht diskursiv vermittelt, sondern nur unmittelbar intuiert sein können.
Diese müssen ohne Vermittlung durch Vernunftgründe (d. h. ohne Ver-
gleich mit anderen Gewissheiten) unmittelbar geglaubt werden.32 Dies
gilt nach Jacobi sowohl für grundlegende Sachverhalte als auch für fun-
damentale Prinzipien der Demonstration wie den Satz vom Wider-
spruch. Beide Formen von Gewissheit, da sie in allen Beweisen immer
schon vorausgesetzt werden, können nicht bewiesen, sondern nur als
unmittelbar gewisse Sachverhalte geglaubt werden.33
27
DH1 JW 2,1, 23f. Die Ironie dieser Bemerkung wird auch durch Jacobis Verweis auf
Descartes Berufung auf die Autorität der Sorbonne deutlich, die für Descartes „selbst kei-
ne Autorität war“ (ibid., 24; Gabriel 2004, 148).
28
DH1 JW 2,1, 19.
29
DH1 JW 2,1, 22.
30
Spin2 JW 1,1, 124.
31
Spin1 JW 1,1, 115.
32
„Wir können nur Aehnlichkeiten demonstriren; und jeder Erweis setzt etwas schon
Erwiesenes zum voraus, wovon das Prinzipium Offenbarung ist.“ (Spin1 JW 1,1, 124.)
Davon unterschieden ist ein Glaube, der aus der bloßen Undeutlichkeit der Gründe ent-
springt und also eine privative Form des Wissens ist (DH1 JW 2,1, 60).
33
„Die höchsten Grundsätze, worauf sich alle Beweise stützen, sind, unverkleidet,
blosse Machtsprüche, denen wir [...] glauben.“ (ZEeD JW 5,1, 202.)
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 399

Seine These, dass alles vermittelnde Erkennen der Vernunft sich der
unmittelbaren Gewissheit fundamentaler Sachverhalte verdankt, glaubt
Jacobi zudem dem vorkritischen Kant selbst entnehmen zu können. Die-
ser postulierte ja, dass der Metaphysiker nur durch „ein unmittelbares
augenscheinliches Bewußtsein“34 alle Eigenschaften aufsuchen solle, die
mit Gewissheit im Begriff einer Sache liegen. Damit rekurriert er aus
Sicht Jacobis auf die unmittelbare Gegebenheit einer begrifflichen An-
schauung. Die begriffliche Zergliederung dieser unmittelbar angeschau-
ten Sachverhalte ist dann für Jacobi nur als eine nachträgliche Vermitt-
lungsleistung des Verstandes zu denken, die die unmittelbare Gegeben-
heit selbiger je schon voraussetzt. Die demonstrative Entwicklung der
Möglichkeit eines Sachverhaltes ist also Produkt eines vermittelnden
Reflexionsaktes, der die unmittelbare Gegebenheit des Sachverhaltes be-
reits in Anspruch nimmt. Den Evidenzmodus der unmittelbaren Ge-
wissheit solcher Sachverhalte bezeichnet Jacobi als „Glaube“. Die ratio-
nal-begriffliche Aufklärung der Welt ist damit bestenfalls eine Aufklä-
rung zweiter Ordnung, die eine andere Aufklärung in Form der
Enthüllung des Daseins solcher Sachverhalte als Aufklärung erster Ord-
nung immer schon voraussetzt und sich an dieser als ihrem Maßstab
messen lassen muss.35
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Glaube als „Element aller
menschlichen Erkenntnis und Würksamkeit“, wie Jacobi ihn bestimmt,
nicht eine Alternative oder ein Gegensatz zum rational vermittelten Wis-
sen ist, sondern das Medium, in dem alles vermittelte Erkennen sich im-
mer schon vollziehen muss.36 Dies gilt auch für die von Jacobi kritisierte
Aufklärung, die sich im Medium unbefragter Glaubensgewissheiten und
Autoritäten vollzieht. Gegenüber dieser Verwendung des Glaubensbe-
griffes scheint jedoch Vorsicht geboten zu sein: Die Einsicht, dass die
demonstrierende Vernunft nicht sämtliche ihrer eigenen Prinzipien und
Voraussetzungen demonstrieren kann, weil sie selbige im Beweis dieser
Prinzipien bereits in Anspruch nimmt, rechtfertigt noch nicht die Ver-
wendung des Begriffs „Glauben“ und lässt auch die Berufung auf Hume
zunächst unnötig erscheinen. Dass es Prinzipien mit einem besonderen
Status gibt, die nicht in gleicher Weise bewiesen werden können, wie

34
UD AA 2, 286.
35
Insofern der Glaube im Wissen je schon vorausgesetzt ist, ist die Bestimmung des
Verhältnisses von Glaube und Wissen bei Jacobi als dualistisch (Folkers 1998, 386; 390)
offensichtlich unzulänglich.
36
So auch Herder: „Niemand also sollte das Wort glauben blind verschwärzen und
verleumden, da Glaube die Basis aller unsrer Urteile, unsres Erkennens, Handelns und
Genießens ist“ (Über Wissen FHA 8, 301).
400 Praktischer Glaube

das, was durch sie begründet wird, ist spätestens seit Aristoteles Diskus-
sion des Widerspruchsprinzips in Metaphysik IV alles andere als eine
philosophische Sensation.37 Diesen unmittelbaren Evidenzmodus erster
Prinzipien kann man jedoch offensichtlich nicht einfach auf Gott, Frei-
heit und Unsterblichkeit als die nach Jacobi „wesentlichen Gegenstände
der Philosophie“ übertragen. Würde Jacobis Explikation des Glaubens-
begriffs hier stehen bleiben, so wäre der Vorwurf seiner Kritiker gerecht-
fertigt, dass er verschiedene Modi von Gewissheit und Fürwahrhalten
konfundiert und aus der Legitimität des einen Modus die Berechtigung
des anderen herleitet. Jacobis Rechtfertigung der Wirklichkeit von Frei-
heit, Gott und Unsterblichkeit würde damit von Anfang an auf der kon-
fundierenden Operation mit zwei äquivoken Glaubensbegriffen basie-
ren. Seine Behauptung, dass Glaube das Element aller menschlichen Er-
kenntnis und Handlung sei, wäre ein philosophisch letztlich nicht zu
rechtfertigendes Spiel mit Begrifflichkeiten.
Wenn Jacobi seine Verwendung des Begriffs „Glauben“ rechtfertigen
will, so muss er also zeigen, dass diese unterschiedlichen Formen von
Glauben nicht einfach äquivok sind. Genau hier kommt systematisch für
Jacobi nun Hume ins Spiel. Denn diesem verdankt die Philosophie nach
Jacobi die Einsicht, dass nicht nur bestimmte Prinzipien oder Sachver-
halte allein im Modus des Glaubens zugänglich sind. Vielmehr hat er ge-
zeigt, dass es die Realität oder das wirkliche Dasein der Gegenstände des
Bewusstseins und ihrer Eigenschaften selbst ist, das nicht im Modus der
Demonstration vermittelt werden kann, sondern sich ausschließlich in
einem unmittelbaren Gefühl offenbart, das nach Jacobi als Glaube be-
zeichnet werden muss. Glaube ist für Jacobi also nicht nur ein Gewiss-
heitsmodus, sondern der Erkenntnismodus, in welchem dem Subjekt das
Dasein der Dinge unmittelbar gegenwärtig ist. So meint der Glaube an
die Realität der Außenwelt bei Jacobi von Anfang an nicht das Fürwahr-
halten eines bestimmten propositionalen Sachverhalts der Form „Die
Außenwelt existiert (unabhängig von meinem Bewusstsein)“, sondern
die unmittelbare Erfahrung des Individuums von der Wirklichkeit oder
dem Dasein dieser Außenwelt. 38 Sieht die Vernunft bloß Verhältnisse
ein, so offenbart der Glaube nicht nur ein „Verhältniß“, sondern „das
würkliche Daseyn selbst von Dingen und Eigenschaften“.39 Der Glaube
ist also ein Bewusstseinsmodus, in dem die Wirklichkeit der Welt dem
Individuum vor jedem Reflexionsakt immer schon als Wirklichkeit er-
37
Vgl. hierzu ausführlich Schick 2010.
38
DH1 JW 2,1, 9. Ob dies auch der Sinn bei Hume ist, kann und soll hier nicht beant-
wortet werden.
39
DH1 JW 2,1, 9.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 401

schlossen ist. Jacobis Verwendung des Begriffs „Offenbarung“ soll diese


Erschlossenheit zum Ausdruck bringen. Die Frage nach der Realität der
Außenwelt und der sich darin manifestierenden „Gültigkeit der sinnli-
chen Evidenz“40 ist gegenüber diesem Bewusstsein nachrangig und be-
wegt sich wie jeder andere auf die Welt bezogene Reflexionsakt und je-
der praktische Umgang mit der Welt bereits vor dem Hintergrund dieser
Seinserfahrung. 41 Dieser Glaube ist nicht ein Element all unserer Er-
kenntnis und Wirksamkeit neben anderen, sondern das Element, in dem
wir uns im Handeln und Erkennen immer schon aufhalten.42 Er ist des-
halb nicht vermittelbar durch eine spekulative Operation, sondern „nach
der Analogie meines Glaubens, eine blinde Gewißheit“,43 ein zwingendes
„Naturgefühl“44 oder ein natürlicher Instinkt.

Durch den Glauben wissen wir, daß wir einen Körper haben, und daß außer uns
andre Körper und andre denkende Wesen vorhanden sind. Eine wahrhafte,
wunderbare Offenbarung!45

Betrachten wir dagegen Kants Widerlegung des Idealismus. Hierin be-


zeichnet es Kant als einen „Skandal der Philosophie“, dass die Realität
der Außenwelt immer noch auf Grund eines bloßen Glaubens ange-
nommen werden soll. 46 Kants Kernargument hiergegen besteht darin,
dass die Möglichkeit innerer Erfahrung die Wirklichkeit äußerer Erfah-
rung immer schon voraussetzt. 47 Das empirische Bewusstsein meines
Daseins ist nur möglich unter Voraussetzung des Daseins äußerer Ge-
genstände im Raum außer mir. Dieses ist das Bewusstsein von etwas in
der Zeit bestimmtem, aber zeitliche Bestimmung setzt Wahrnehmung
von etwas Beharrlichem voraus.48 Inneres Bewusstsein ist als zeitliches
Bewusstsein gerade nicht beharrlich. So setzt empirisches Bewusstsein
meiner selbst ein unmittelbares Bewusstsein von Dingen außer mir vo-
raus.49 Kant spricht hierbei von einem Beweis, weil er vom empirischen
40
DH1 JW 2,1, 20.
41
DH1 JW 2,1, 19.
42
Ebenso Wittgenstein 1984, 141.
43
DH1 JW 2,1, 21.
44
Einl JW 2,1, 410.
45
Spin1 JW 1,1, 116.
46
KrV B xxxix. Nach Sandkaulen ist die Widerlegung des Idealismus eine Reaktion
Kants auf Jacobis Kritik (Sandkaulen 2000, 47; vgl. ebenso: Ameriks 2006, 74; Beiser 2002,
104).
47
Vgl. hierzu etwa Ameriks 2000a, 116.
48
Refl 6313 AA 18, 614. Vgl. hierzu auch Ameriks 2000a, 121.
49
KrV B 276. Vgl. hierzu u. a. Horstmann 1997, 20f.; Höffe 2004, 195–197; Beiser
2002, 110.
402 Praktischer Glaube

Selbstbewusstsein und dessen Bestimmungen ausgeht, um dann in einem


transzendentalen Deduktionsverfahren zu zeigen, dass dieses Bewusst-
sein nur durch ein unmittelbares Bewusstsein äußerer Gegenstände mög-
lich ist.50
Betrachtet man diesen Beweis als Antwort auf Jacobis Behauptung
von der Unbeweisbarkeit des Daseins der Welt, so müsste man Kant ein
Missverständnis des jacobischen Anliegens vorwerfen. Denn tatsächlich
ist Kants Beweis unzulänglich, Jacobis Problem zu lösen, in welchem
Bewusstseinsmodus die Wirklichkeit der Außenwelt und die des eigenen
Ichs als Wirklichkeit erfahren wird. Der Grund hierfür scheint schlicht
zu sein, dass das Problem Jacobis sich für Kant gar nicht stellt und um-
gekehrt. Für Jacobi ist der Beweis Kants nämlich dadurch zirkulär, dass
er die Wirklichkeit des Ichs bereits voraussetzt und von dessen innerer
Erfahrung auf die Wirklichkeit der Welt in der äußeren Erfahrung als
der Bedingung ihrer Möglichkeit schließt. Was hier nicht beantwortet
wird, ist, wie uns Wirklichkeit als solche überhaupt zugänglich wird. Für
Jacobi lautet die Antwort auf diese Frage: Die Überzeugung sowohl von
unserem Dasein als auch vom Dasein wirklicher Dinge außer uns gewin-
nen wir nicht vermittelst eines Beweises, sondern durch ein Gefühl der
Wirklichkeit unserer selbst. Ich-Bewusstsein und Gegenstandsbewusst-
sein bedingen sich jedoch wechselseitig. Die Gewissheit des eigenen
Selbst ist wie die Gewissheit anderer Körper und anderer denkender
Wesen eine unmittelbare, gleich ursprüngliche.51 Dass man hierbei nicht
von einem Beweis sprechen kann, dafür macht Jacobi folgendes Argu-
ment geltend: Wenn das Ich in allen seinen Akten immer schon ein un-
mittelbares Bewusstsein wirklicher Gegenstände voraussetzt, die unab-
hängig vom Ich sind, dann gerät man in einen Begründungszirkel, wenn
man die Voraussetzung der Akte des Ich beweisen möchte. Denn ein
solcher Beweis ist selbst wiederum ein Akt des Ichs. Was man tun kann,
ist auf die Voraussetzung des Ich-Bewusstseins und seiner Akte hinzu-
weisen (Daseinsenthüllung). Der Beweis für die Existenz der Außenwelt
kommt immer schon zu spät, weil seine Möglichkeit bereits Wirklich-
keitserfahrung voraussetzt.
Wir können zusammenfassen: Jacobis „Glaube“ ist ein ursprünglicher
Bewusstseinsmodus, in dem sich dem Individuum die Wirklichkeit sei-
nes Selbst und die Wirklichkeit der Welt je schon erschließt. Diese
Erschlossenheit ist der Grund für alles begründende Erkennen und kann
deshalb nicht selbst begründet werden. Im Folgenden wollen wir uns
50
Überhaupt ist ja für Kant Ich-Bewusstsein nicht ohne Gegenstandsbewusstsein mög-
lich (Förster 2012, 42).
51
DH1 JW 2,1, 35f.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 403

nun fragen, ob es aus Jacobis Sicht Gründe gibt, dass Kant sich sein
Problem der Wirklichkeitserfahrung hätte stellen sollen. Das heißt, gibt
es für Jacobi ein Defizit innerhalb der Philosophie Kants, das auf der
Missachtung des Glaubens als Element aller Wirksamkeit und Erkennt-
nis gründet?

II. Die objektive Realität der Verstandesbegriffe

Wir haben gesehen, dass Jacobi sich nicht zuletzt deshalb auf Hume be-
ruft, um die Notwendigkeit zu zeigen, noch Kants transzendentale Auf-
klärung durch eine andere Aufklärung aus ihrem dogmatischen
Schlummer zu wecken. Denn auch in KrV bleibe noch verdeckt, dass
sich die Wirklichkeit nicht im Modus demonstrativen Erkennens, son-
dern nur im Modus eines alle Erkenntnis begründenden unmittelbaren
Glaubens offenbart. Dieses Defizit Kants hat für Jacobi notwendige sys-
tematische Konsequenzen. So kann Kant gerade nicht die objektive Rea-
lität der von ihm deduzierten Kategorien begründen. Vielmehr reduziert
er sie auf subjektive Allgemeinheiten – ein Vorwurf, den später Hegel
aufgreift.
Bisher haben wir nicht klar gemacht, worin für Jacobi nun eigentlich
genau diese Offenbarung von Realität oder Wirklichkeit besteht. Dieses
Defizit unserer bisherigen Explikationen gilt es nun zu beheben. Hierfür
bietet sich eine Passage aus dem David Hume an, in der Jacobi das eben
skizzierte Defizit der kantischen Philosophie thematisiert, nämlich seine
eigene Deduktion der Begriffe Ursache, Individualität, Realität, Ausdeh-
nung und Sukzession. In dieser Deduktion versucht Jacobi zu zeigen,
dass diese Begriffe allen endlichen, selbstbewussten Wesen gemein sein
und objektive Realität aufweisen müssen.52 Diese Deduktion setzt Jacobi
explizit Kants Kategoriendeduktion entgegen, „nach welcher diese Be-
griffe und Urtheile aus einem in sich selbst fertigen reinen Verstande
hervorgehen, der nun den in ihm selbst allein gegründeten Mechanismus
seines Denkens in die Natur blos überträgt, und so nur ein logisches Er-
kenntnißspiel treibt“.53

52
DH1 JW 2,1, 60; 109.
53
DH1 JW 2,1, 61. Vgl. hierzu auch Epistel JW 2,1, 133–136. Man könnte Jacobis De-
duktion von Anfang an für verfehlt halten, da sie genetisch die Evolution der Kategorien
betrachtet. Dagegen stellt Kant fest: „Ich beschaftige mich nicht mit der Evolution der
Begriffe […], sondern blos mit der obiectiven Gültigkeit derselben.“ (Refl 4900 AA 18,
23.) Für Jacobi lassen sich diese Aspekte jedoch nicht trennen.
404 Praktischer Glaube

Jacobi macht also zwei Einwände gegen Kants Kategoriendeduktion


geltend:
Die einzelnen Kategorien werden nicht in ihrer Notwendigkeit dedu-
ziert, sondern werden nur „aus einem in sich selbst fertigen reinen Ver-
stande“ abgelesen. Dabei werde die Logik von Anfang an als „etwas
schon ganz ausgemachtes“ vorausgesetzt.54 So zeige Kant nie, warum der
menschliche Verstand nun gerade über diese zwölf Kategorien verfügt.55
Eigentlich werden bloß die intrinsischen, logischen Urteilsformen des
Verstandes „in die Natur übertragen“. Damit wird nicht gezeigt – was
nach Kant gar nicht gezeigt werden kann und soll – dass diesen Formen
objektive Realität in dem Sinne zukommt, dass sie den Strukturen der
Wirklichkeit an sich entsprechen.56
Nach Jacobi beziehen sich bei Kant Erkenntnis und Erfahrung also
nicht auf objektive Gegenstände; die Kategorien als Bedingung der Mög-
lichkeit von Erfahrung sind vielmehr „blos subjektive Bestimmungen
des Gemüths“.57 Dieses Subjektive heißt bei Kant nur deshalb „objek-
tiv“, „weil das allgemein Subjective den Schein des Objectiven nie ver-
liert, und zum Unterschiede von dem Zufälligen, dem nicht allgemeinen,
veränderlichen Subjectiven doch einen Nahmen haben mußte“. 58 Wir
können aber nur dann sinnvoll von „objektiver Realität“ sprechen, wenn
unsere Erkenntnis uns etwas von dem Objekt unserer Erkenntnis (näm-
lich dem Ding an sich als Ursache der Erscheinungen) offenbart. Kants
Gesetze der Anschauung und des Denkens seien deshalb „ohne alle Be-
deutung und Gültigkeit“.59 Nicht einmal der Satz vom Widerspruch, der
Satz vom Grunde und der Satz a nihilo nihil fit enthüllen objektive Ver-
hältnisse zwischen den Dingen an sich. Was wir nach Kant erfahren, sind
hingegen nur „Modificationen unsers eigenen Selbstes“. 60 Unsere Er-
kenntnis reduziert sich bei Kant auf Empfindung, Vorstellung und Ap-

54
Krit JW 2,1, 265.
55
Einl JW 2,1, 391. Zum Problem der Anzahl der Kategorien vgl. Guyer 1992b, 134–
136.
56
DH1 JW 2,1, 110f.; 124. Metz spricht deshalb in Bezug auf Jacobi von einer „realisti-
sche[n] Deduktion der Kategorien“, in der Jacobi mit Kant und gegen Hume die Not-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit der Kategorien behaupten will, aber gleichzeitig ihre
Gültigkeit für Dinge an sich zeigen möchte (Metz 2004, 13). Entgegen Kant sind die Rela-
tionen zwischen den Gegenständen nicht nur vom Subjekt projiziert, sondern der erkann-
ten Ordnung muss eine objektive Reale Ordnung zumindest homomorph sein (vgl. ibid.,
5).
57
DH1 JW 2,1, 107.
58
Epistel JW 2,1, 129.
59
DH1 JW 2,1, 111.
60
Epistel JW 2,1, 126.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 405

perzeption und ist damit „durch u durch rein subjectiv“.61 Sie wird nur
objektiv genannt, sofern sie sich auf Anschauungen bezieht.62 Kant rettet
also die Objektivität der Erfahrung nach Jacobi nur dadurch, dass er den
Sinn des Begriffs „Objektivität“ in unzulässiger Weise transformiert.
Wir werden nun nicht untersuchen, ob diese Vorwürfe der kantischen
Kategoriendeduktion gerecht werden. Denn uns geht es nicht darum, Ja-
cobi als an philologischen Kriterien gemessen „guten“ Kritiker Kants zu
präsentieren. Es kann zugestanden werden, dass sich gegen diese Kritik-
punkte aus Sicht Kants einiges einwenden lässt. Stattdessen wollen wir
die Alternative, die Jacobi präsentiert, in ihrer eigenständigen Bedeutung
für sein Projekt der Aufklärung etablieren. Unsere Frage lautet deshalb,
wie nach Jacobi eine Kategoriendeduktion vollzogen werden muss, die
zum einen die Kategorien tatsächlich genetisch entwickelt und zum an-
deren ihre objektive Realität im Sinne Jacobis absichert, die sich nur im
Glauben unmittelbar offenbaren kann. Was wir hiermit letztlich inten-
dieren, ist die Frage nach Jacobis Begriff von Realität und dem systema-
tischen Ort des Glaubens in seiner Philosophie in ihrem Verhältnis zur
Vernunft.

a. Grund und Ursache

Jacobi geht in seiner Kategoriendeduktion von dem von Hume vorgege-


benen Problem aus, wie sich Notwendigkeit und objektive Wirklichkeit
des Ursachebegriffs begründen lassen.63 Mit Kant und Hume nimmt Ja-
cobi dabei an, dass sich die Relation der Kausalität als der notwendigen
Verknüpfung zweier Vorstellungen nicht der sinnlichen Anschauung
verdankt. Denn die sinnliche Anschauung entdeckt uns „nichts von den
innern Kräften der Dinge“.64 Die Relation der Kausalität, die Ereignisse
verknüpft und ihren Zusammenhang konstituiert, wird nicht „in der An-
schauung dar[ge]stellt“.65 Ebenso weiß er sich mit Hume und Kant darin
einig, dass die Kategorie der Kausalität als notwendige Verknüpfung von
Ursache und Wirkung nicht „durch Vernunftschlüsse“ gewonnen wird.66
Wie Kant glaubt jedoch auch Jacobi, dass Hume mit diesen Alternativen
61
Brief an Reimarus vom 29.12.1790 JB 1,8, 464.
62
Epistel JW 2,1, 136. Auch Hegel sieht diesen von Jacobi diagnostizierten Mangel bei
Kant, dass die objektiven Formen nur objektiv im Sinne der Universalität seien, aber nicht
im Sinne der Wirklichkeit.
63
Vgl. hierzu auch Epistel JW 2,1, 131.
64
DH1 JW 2,1, 26.
65
DH1 JW 2,1, 26.
66
DH1 JW 2,1, 26.
406 Praktischer Glaube

die Möglichkeiten einer Begründung der objektiven Gültigkeit der Ver-


knüpfung von Ursache und Wirkung noch nicht ausgeschöpft hat und
versucht wie Kant die Notwendigkeit des Ursachebegriffs zu begründen.
Wie bereits skizziert, scheitert Kants diesbezügliches Unternehmen für
Jacobi jedoch an der Begründung der objektiven Realität selbiger, da
Kant die Ursache wie auch die anderen Kategorien auf eine bloß subjek-
tive Notwendigkeit und Allgemeinheit reduziert.
Kants proton pseudos ist dabei nach Jacobi seine Trennung von spe-
kulativer und praktischer Vernunft. Deshalb entwickelt Kant die Ursa-
che zunächst als einen rein theoretischen Verstandesbegriff, um ihn dann
erst in einem zweiten Schritt als Kausalität aus Freiheit auch auf die
praktische Vernunft und ihre Wirklichkeit zu applizieren. Begründungs-
theoretisch käme damit der Theorie der Primat vor der Praxis zu. Die
Freiheit ist dann nicht das Fundament, sondern nur der Schlussstein, der
das Gewölbe der kritischen Philosophie vor dem Einsturz bewahrt. Da-
mit verkehrt Kant für Jacobi die wahren Vernunftverhältnisse, nach de-
nen die spekulative Vernunft immer als Moment der praktischen Ver-
nunft und damit begründet durch Freiheit zu denken ist. Der Begriff der
„Ursache“ gründet für Jacobi also primär in unserem Handlungsbe-
wusstsein.67 Grundsätzlicher: Alle theoretischen Vollzüge der Vernunft
setzen bereits unser Bewusstsein als freie Akteure in der Welt voraus.68
Fassen wir zusammen: Für Kant ist der Begriff der Ursache zunächst
theoretischer Natur. Damit kann er nach Jacobi dem spezifischen Sinn
dieses Begriffs aber gar nicht gerecht werden. Denn da Kant diesen Be-
griff zunächst als rein theoretischen Verstandesbegriff etabliert, konfun-
diert er ihn, wie vor ihm Spinoza, mit dem logischen Begriff des Grun-
des, der tatsächlich ein reiner Verstandesbegriff ist. Dies zeigt sich nicht
zuletzt an der Notwendigkeit für Kant, den Ursachebegriff, sofern er bei
ihm ein reiner Verstandesbegriff ist, anschließend zu schematisieren, um
67
GD JW 3, 110. Ähnlich heißt es übrigens in OP zu Abstoßung und Anziehung: „Wir
würden die bewegende Kräfte der Materie selbst nicht durch Erfahrung an Körpern er-
kennen wenn wir nicht unserer Tätigkeit uns bewust wären die actus der Abstoßung An-
näherung etc. selbst auszuüben“ (AA 21, 490). Die Bedeutung des Handlungsbewusst-
seins bei Jacobi hat als erste Sandkaulen entschlüsselt und seine Philosophie entsprechend
als „Handlungsmetaphysik“ bezeichnet (Sandkaulen 2009, 268). Die uneinholbare Vo-
raussetzung, die Jacobi mit seiner Rede vom Glauben zur Geltung bringe, ist das „perso-
nal[e] Handlungsbewusstsein“ (ibid., 270) das allen philosophischen Vollzügen je schon
zu Grunde liegt (vgl. auch Koch 2013, 44). Dabei sind zwei Merkmale für Jacobis Glau-
bensbegriff kennzeichnend: Er bezeichnet zum einen eine „präreflexive, ‚unmittelbare
Gewißheit‘“, zum anderen keine „theoretische Einstellung“, sondern „eine allem Räson-
nement vorgängige Praxis“ (Sandkaulen 2009, 264). Vgl. auch: Kobusch 2012, 250; Koch
2013, 38. Dagegen: Ivaldo 2004, 63f.
68
Vgl. hierzu auch Sandkaulen 2017, 25.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 407

ihn dadurch erst auf zeitliche Verhältnisse applizieren zu können. Dem-


gegenüber impliziert der Begriff der Ursache, wie wir bereits sahen, für
Jacobi von vornherein Zeitlichkeit. Als rein logischer Verstandesbegriff
kann der Begriff für Jacobi nichts von einem zeitlichen Entstehen und
Hervorbringen enthalten. Eben deshalb liegt in ihm aber auch nur ein
logisches Abhängigkeitsverhältnis vor, sprich: ein Grund-Folge-
Verhältnis. Um dieses zu begründen bedarf es jedoch gar keiner Katego-
riendeduktion:

Der Satz des Grundes läßt sich leicht erklären und beweisen; er sagt weiter
nichts aus, als das totum parte prius esse necesse est [.]69

Für Jacobi verlässt Kant in seiner Deduktion der Kategorien aus den lo-
gischen Urteilsformen also gar nicht den Boden des Rationalismus.
Durch die Betrachtung der Ursache als reinen Verstandesbegriff wird
von Kant zunächst die Zeitlichkeit aus ihr eskamotiert. Dabei wird das
Verhältnis von Ursache und Wirkung, das das Verhältnis eines in der
Zeit verlaufenden Hervorbringens meint, in das logische Implikations-
verhältnis von Grund und Folge transformiert. Damit lässt sich dann
letztlich das „principium generationis aus dem principio compositionis
herleiten“.70 In der logischen Entfaltung der Folgen aus einem Grund
werden wir uns nämlich nur sukzessiv „des Mannichfaltigen in einer
Vorstellung“ (des Grundes der Mannigfaltigkeit) bewusst.71 Wir expli-
zieren also nur das, was implizit bereits in einer Vorstellung oder einem
Begriff enthalten ist. Die Momente, die auseinander entwickelt werden,
sind dabei objektiv gleichzeitig vorhanden. Nur für unser diskursives
Denken liegt eine zeitliche Abfolge vor, objektiv sind die Folgen gleich-
zeitig mit ihrem Grund und in diesem vereinigt. Dagegen bezeichnen die
Begriffe „Ursache“ und „Wirkung“ ein Entstehen oder „objective[s]
Werden“, das Sukzession impliziert.72 Leitet man deshalb die Kategorien
von Ursache und Wirkung aus dem Vernunftbegriff oder aus einer Ur-
teilsform ab, die Grund und Folge verbindet, so verliert man damit gera-
de das wesentliche Charakteristikum des Ursachebegriffs, nämlich das
objektiv-zeitliche Verhältnis von Entstehen und Vergehen.73 Kant leistet
also entweder zu viel mit seiner Kategoriendeduktion oder zu wenig:
Will er bloß das zeitfreie Abhängigkeitsverhältnis zweier Sachverhalte

69
DH1 JW 2,1, 50.
70
DH1 JW 2,1, 49.
71
DH1 JW 2,1, 50.
72
DH1 JW 2,1, 50.
73
DH1 JW 2,1, 50f.
408 Praktischer Glaube

deduzieren, so bedarf es keiner Kategoriendeduktion, da dann eigentlich


nur ein logisches Grund-Folge-Verhältnis vorliegt. Will er dagegen den
Begriff der Ursache entwickeln, so kann er nicht zunächst den Begriff
der Zeit eliminieren, da das Verhältnis von Ursache zu Wirkung wesent-
lich zeitlich ist. Insofern Kant den Ursachebegriff aus logischen Urteils-
formen entwickelt, kann er nur zum logischen Begriff gelangen, von dem
es keinen Übergang zu dem der Ursache gibt.74
Verdeutlichen wir uns nun den von Kant abweichenden Ausgangs-
punkt Jacobis in der Deduktion des Ursachebegriffs und dessen Folgen
für seinen Glaubensbegriff sowie dem ihm bei Jacobi korrespondieren-
den Begriff der Wirklichkeit:
In Kants metaphysischer Deduktion der Kategorien stellen die Ur-
teilsformen die Quelle der Legitimität des Gebrauchs der Kategorien
dar, in der transzendentalen Deduktion die Möglichkeit der transzen-
dentalen Einheit des Bewusstseins. 75 Der Ausgangspunkt der Katego-
riendeduktion ist damit in beiden Fällen bei Kant unser theoretischer
Weltbezug. Für Jacobi hingegen ist die Quelle der Legitimität unseres
Gebrauchs von Kategorien unser praktischer Weltbezug. Ausgangs-
punkt für Jacobis Kategoriendeduktion ist also anders als bei Kant nicht
das urteilende Ich, sondern das handelnde Individuum. 76 Mit diesem
Ausgangspunkt glaubt Jacobi Kants Behauptung von der Ausschließ-
lichkeit der Alternative zwischen transzendental-metaphysischer De-
duktion der Kategorien und bloß empirischer Deduktion bzw. physio-
logischer Ableitung unterwandern zu können.77 So setzt er der Konzep-
tion Kants, nach der das Subjekt primär eine Einheit von Vorstellungen
wäre, das Individuum als Einheit einer wirkenden Kraft entgegen. Ent-
gegen Kant ist ihm Denken nicht primär ein Synthetisieren von Vorstel-
lungen, sondern die Denkkraft, die aktiv die Handlungen des Menschen
74
Die Frage, inwieweit Jacobi sachlich berechtigt ist, Zeit als notwendiges Implikat des
Ursachebegriffs zu verstehen, soll uns hier nicht beschäftigen. Diese Frage hat Birgit
Sandkaulen in ihrer Studie Grund und Ursache (2000) erschöpfend untersucht.
75
Wie Henrich gezeigt hat, intendiert Kant keine Deduktion der Kategorien im Sinne
eines syllogistischen Beweises für ihre Geltung (Henrich 1989, 31). Vielmehr entnimmt
Kant den Begriff der „Deduktion“ dem Rechtsdiskurs, in dem „Deduktion“ die Begrün-
dung eines Rechtsanspruchs auf den Besitz oder Gebrauch einer Sache bedeutet (ibid., 34;
KrV B 116/A 84). Solch eine Deduktion muss auf ein Faktum, auf den Ursprung des Be-
sitzes einer Sache als der Quelle der Legitimität zurückführen (Henrich 1989, 35; vgl. auch
Förster 2012, 37).
76
Wie Peetz schreibt, will Jacobi die durch Spinoza vollzogene Transformation der Er-
fahrungsbegriffe Bewegung, Ursache, Sukzession, etc. in Vernunft oder Reflexionsbegriffe
wieder umkehren und die Vernunft damit wieder an die individuelle Handlungs- bzw.
Seinserfahrung anbinden (Peetz 1995, 58f.).
77
Zu Kants Alternative vgl. KrV B 118 ff./A 85ff.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 409

bestimmt.78 Der Ursprung unseres Begriffs von Ursache kann nicht aus
unseren Urteilsformen gewonnen werden, sondern er ist ein Handlungs-
begriff. Wenn wir „nur anschauen und urtheilen könnten“,79 dann wür-
den wir niemals über einen Begriff von Ursache verfügen. Der Ursache-
begriff hat seinen Ursprung in der Selbsterfahrung des Individuums als
einer lebendigen Kraft, die Handlungen bewirkt. Ohne diese „Grunder-
fahrung“, die wir als lebendige Wesen mit Personbewusstsein machen,
hätten wir keinen Begriff von Ursache und Wirkung.80 Wir haben von
Kausalität „nicht die geringste Ahndung […], ausgenommen unmittelbar
durch das Bewußtseyn unserer eigenen Causalität, das ist, unseres Le-
bensprinzips“:81

Kraft, Handlung, Ursache und Wirkung, sind freylich keine Dinge, die wir aus-
ser uns wahrnehmen können. Ihrer Natur nach können sie sich nur im eigenen
lebendigen Bewußtseyn darstellen. Aus unserer inneren Erfahrung tragen wir sie
in die äussere Erfahrung über, wir objectiviren sie.82

Der Ursprung des Begriffs der Ursache in der Selbsterfahrung des Men-
schen als handelnder Ursache zeigt sich für Jacobi auch in dem „Instinct
der Vernunft“83 philosophisch noch nicht aufgeklärter Völker. Für sie ist
die Welt mit handelnden Wesen bevölkert, die alle Bewegungen und
Veränderungen in der Welt hervorbringen.84
Jacobis Position lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Der
Begriff der Ursache ist ein Erfahrungsbegriff, den wir durch unsere
Selbsterfahrung als Handelnde gewinnen – im Gegensatz zum bloß idea-
lischen Begriff des Grundes.85 Sind für Kant Kraft und Handlung „Fol-
gebegriffe“ der Verknüpfung von Ursache und Wirkung,86 so dreht Ja-
78
Meine Vorstellungen JW 2,1, 3.
79
DH1 JW 2,1, 53.
80
DH1 JW 2,1, 54. Ähnlich Herder: Metakritik FHA 8, 364f.; 368.
81
Spin2 JW 1,1, 263.
82
Epistel JW 2,1, 148.
83
Spin2 JW 1,1, 262.
84
„Jene erblicken überall lebendige Wesen, und wissen von keiner Kraft, die nicht sich
selbst bestimmte. Jede Ursache ist ihnen eine solche lebendige sich selbst offenbare,
freythätige, persönliche Kraft, jede Würkung That.“ (DH2 JW 2,1, 54.) Vgl. ebenso: Rech
JW 4,1, 104f.
85
Henrich 1992, 57.
86
Prol AA 4, 257; KrV B 249f./A 204f. „Er [Kant] führt den Begriff der Erzeugung auf
den Begriff ursprünglicher Handlung zurück, wo er allerdings liegt. Bey ihm aber ist dies
ein Hysteron proteron; denn Handlung ist in seinem System ein abgeleiteter Begriff, wel-
cher der Kantischen Theorie der Causalität gemäß erklärt und in seiner Anwendung eben
so bestimmt werden muß.“ (Epistel JW 2,1, 148.) Allgemein lässt sich feststellen, das Ja-
cobi Kants Verhältnis zwischen Kategorien und von ihnen abhängenden Prädikabilien
410 Praktischer Glaube

cobi das Verhältnis um: Nur weil wir eben nicht nur urteilende und an-
schauende, sondern auch handelnde Wesen sind, die sich als wirkende
Kraft erfahren, haben wir überhaupt einen Begriff von Ursache und
Wirkung.87 In unserem Handeln machen wir in uns die lebendige Erfah-
rung einer sich ihrer selbst bewussten, freien Kraft.88 Ursache verdankt
sich „dem Bewußtseyn unserer Causalität und Paßivität“ 89 bzw. der
menschlichen „Grunderfahrung“ von sich als einer lebendigen und per-
sönlichen Kraft.90 Erst aus dieser Grunderfahrung des Handelns heraus
gewinnen wir einen theoretischen Begriff von Ursache und Wirkung.
Ursprünglich ist „Ursache“ aber kein spekulativer Begriff,91 sondern hat
primär „praktischen Ursprung und Gehalt“.92 Der Begriff der Ursache
setzt deshalb mit dem Begriff der Kraft den Begriff einer Handlung not-
wendig voraus. Jede Handlung (als reale Veränderung in der Welt, die
durch jemanden hervorgerufen wird) erfolgt aber in der Zeit, so dass der
Begriff der Ursache zeitlich „kontaminiert“ ist. Unser Handlungsver-
mögen ist so die Bedingung der Möglichkeit für die Begriffe Zeit, Ursa-
che und Wirkung, Sukzession. Diese Konzepte sind wiederum die Be-
dingung der Möglichkeit aller theoretischen Welterkenntnis.93

Ich habe die Vorstellung der Ursache blos dadurch, daß ich mich selbst als Ursa-
che erfahre, daß ich mich selbst bestimme. Der Begriff der Causalität ist der Be-
griff der Kraft u[nd] Handlung, u[nd] Kraft u[nd] Handlung sind nicht bloße
Folgebegriffe des Begriffs der Causalität als einer Categorie.94

Auch wenn der Ursachebegriff für Jacobi also wie für die Empiristen ein
Erfahrungsbegriff ist, so gewinnen wir den Begriff von Ursache nicht
durch sinnliche Eindrücke oder die Beobachtung äußerer Vorgänge,
sondern durch unser Handlungsbewusstsein. 95 Damit sind wir wieder
bei Jacobis These von der Gleichursprünglichkeit von Ich und Du.

umdreht: Für Kant sind Kraft, Handlung und Leiden der Kategorie der Ursache, Gegen-
wart und Widerstand der Kategorie der Gemeinschaft, Entstehen, Vergehen und Verände-
rung der Kategorie der Modalität untergeordnet (KrVB 108/A 82).
87
DH1 JW 2,1, 53; Kladde VII, 13 Sandkaulen 2000, 199. Handeln ist sowohl in der
Zeit als auch durch die Verschränkung von Anfang und Ende das bloße Nacheinander des
Zeitverlaufs transzendierend.
88
DH1 JW 2,1, 54.
89
Spin2 JW 1,1, 256.
90
DH1 JW 2,1, 54.
91
Sandkaulen 2000, 184.
92
Sandkaulen 2000, 181.
93
Koch 2013, 63.
94
Kladde VII, 63 Sandkaulen 2000, 208.
95
Sandkaulen 2000, 81.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 411

Menschliches Selbstbewusstsein als Handlungsbewusstsein impliziert


unmittelbar die Unterscheidung von Anderem. Zum Bewusstsein unse-
rer selbst gelangen wir nur durch Unterscheidung von etwas außer uns.96
Diese Unterscheidung gewinnen wir wiederum nur im Handeln, indem
unsere Freiheit und Kraft durch Dinge außer uns eingeschränkt wird
und wir Dinge außer uns durch unser Handeln bestimmen. Das mensch-
liche Selbst kann sich als Handlungsbewusstsein nur durch den Wider-
stand gegen ein anderes erfahren. Den Begriff von Kraft gewinnen wir
nur aus dem Gefühl unserer Kraft, die uns befähigt, von uns unterschie-
dene, widerständige Kräfte zu überwinden. In seinem Handlungsbe-
wusstsein macht das Individuum die Selbsterfahrung, dass es auf anderes
einwirken kann und anderes auf es einwirken kann. Das Medium dieses
Aufeinanderwirkenkönnens ist nach Jacobi der Raum. Wir können nur
als ausgedehnte Wesen auf ausgedehnte Wesen im Raum aufeinander
einwirken. Mit dem Bewusstsein des Menschen ist aufgrund seiner dua-
len Struktur deswegen notwendig der Raum gesetzt.97
Zumindest endliche Naturen können kein Bewusstsein von sich selbst
ohne Bewusstsein von Raum und Ausdehnung haben. Mit dem Bewusst-
sein voneinander verschiedener, aufeinander wirkender Wesen ist
Raumbewusstsein gesetzt. 98 Damit Individuen aufeinander einwirken
können, müssen sie einander berühren und dies erfordert partielle Un-
durchdringlichkeit auf Grund derer sich die einander berührenden Indi-
viduen einen Widerstand entgegensetzen. Dieser Widerstand impliziert
wiederum Wirkung und Gegenwirkung, die Quellen von Sukzession
und Zeit als dem Bewusstsein der Sukzession.99 Sich ihrer selbst bewuss-
te Wesen müssen, um sich ihrer Wirksamkeit bewusst sein zu können,
deshalb über folgende Begriffe verfügen: 100 Ausdehnung, Widerstand,

96
DH1 JW 2,1, 86.
97
„Wir müssen uns von Etwas unterscheiden. Also zwey würkliche Dinge ausser ei-
nander, oder Dualität. / Wo zwey erschaffene Wesen, die ausser einander sind, in einem
solchen Verhältnisse gegen einander stehen, daß eins in das andre würkt, da ist ein ausge-
dehntes Wesen. / Mit dem Bewustseyn des Menschen und einer jeden endlichen Natur,
wird also ein ausgedehntes Wesen gesetzt; und zwar, nicht blos idealisch, sondern würk-
lich.“ (DH1 JW 2,1, 57.)
98
Dieses Bewusstsein haben nur organisch verfasste Individuen: räumlich ausgedehnte
Einheiten, deren Teile zu einer wesentlichen Einheit verknüpft sind. Weil unser Geist nur
vermittelst des Körpers mit anderen Körpern „kommunizieren“ kann, muss er „noth-
wendig mit einem organischen Cörper vereinigt seyn“ (DH1 JW 2,1, 72).
99
DH1 JW 2,1, 59.
100
DH1 JW 2,1, 58f.
412 Praktischer Glaube

Wirkung, Ursache, Sukzession, Substantialität (Selbstsein),101 Undurch-


dringlichkeit etc.102 Anders als für Kant sind diese Begriffe jedoch nicht
vor aller Erfahrung, sondern in jeder Handlungserfahrung gegeben.103
Die Begriffe der Ursache, Kraft etc., da sie auf der Selbsterfahrung des
Individuums als handelndem Wesen gründen, sind für Jacobi also keine
reinen Begriffe, sondern Erfahrungsbegriffe. Andererseits sind sie jedoch
notwendige Begriffe, da sie in unserer Selbsterfahrung als handelnde We-
sen begründet sind, ohne die weder Handlungsbewusstsein noch Urtei-
len möglich wären. Will Kant also streng zwischen der transzendentalen
und der empirischen Deduktion von Begriffen unterscheiden,104 wobei
bei Begriffen a priori nur Ersteres möglich ist,105 so unterläuft Jacobi die-
se Unterscheidung, indem er den Begriffen ein „handlungsphilosophi-
sche[s] Fundament“106 zu Grunde legt. Als Erfahrungsbegriffe sind sie
insofern objektiv, als sich in ihnen Wirklichkeit offenbart, andererseits
sind sie notwendig und allgemeingültig.107 Denn sie müssen in jeder Er-
fahrung präsent sein, wenn Begriffe und Erkenntnis möglich sein sollen.
Sie müssen aber nicht als „Vorurthei[le] des Verstandes“ „von der Erfah-
rung unabhängig“ sein, die sich nicht auf Dinge selbst beziehen kön-
nen. 108 Sie sind vielmehr insofern notwendig und allgemein, als jedes
endliche vernunftbegabte Wesen selbige seinen Erfahrungen zu Grunde
legen muss.109 „Objektivität“ bedeutet für Jacobi nicht nur, dass etwas
eine notwendige Konstitutionsbedingung ist, gemäß der man einen Ge-
genstand denken muss. Dies wären „von allem würklich objectiven ganz
leere blos subjective Bestimmungen des Gemüths“.110 Vielmehr müssen
objektive Bestimmungen etwas vom Gegenstand außer uns offenbaren.
Von der bloß theoretischen Einstellung zur Welt führt aber kein Weg zu
einem in diesem Sinne objektiven Begriff von Kausalität. Jacobis Lösung
des Problems besteht deshalb in der Umkehrung des Verhältnisses von
Praxis und Theorie bei Kant: „die bis aufs höchste getriebene Ausfüh-
101
Substantialität meint: Was durch ein anderes bestimmt wird, muss entsprechend sei-
nen immanenten Gesetzen bestimmt werden und besitzt in diesem Sinne immer ein Maß
von Selbstbestimmung (DH1 JW 2,1, 77).
102
DH1 JW 2,1, 59.
103
Krit JW 2,1, 318.
104
KrV B 116/A 84. Die transzendentale Deduktion eines Begriffs besteht im „Nach-
weis der Rechtmäßigkeit des Gebrauchs dieses Begriffs zum Zwecke der Erkenntnis von
Gegenständen“ (Horstmann 1997, 63).
105
KrV B 117/A 85.
106
Sandkaulen 2004, 228.
107
DH1 JW 2,1, 56f.
108
DH1 JW 2,1, 60.
109
DH1 JW 2,1, 57. „Ich bin nicht a priori, kann nichts a priori wißen“ (JB 1,4, 17).
110
DH1 JW 2,1, 107.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 413

rung des Cartesianischen Satzes: cogito ergo sum, den ich lieber umkeh-
ren möchte“.111 Primär sind wir handelnde Wesen, also freie Ursachen.
Die Erkenntnis folgt dem Leben, weil der Verstand dem Willen folgt.112
Ist für Kant deshalb nur das real, was unter Verstandesbegriffe gebracht
werden kann, so setzt für Jacobi Begriffsbildung bereits ein vorgängiges
Bewusstsein von Dasein voraus, das heißt die Selbsterfahrung des Indi-
viduums als einer Handlungsinstanz, die die Wirklichkeit in ihren Hand-
lungen gestaltet.113
„Glaube“ ist für Jacobi also zunächst ein Name für unser unmittelba-
res Handlungsbewusstsein. Denn – so Jacobi mit Hume – wir wissen
nicht, wie diese Kraft wirkt. Dies bedeutet für Jacobi, wir können den
Zusammenhang zwischen unserem Wollen und Wirken nicht begrifflich
konstruieren, sondern er offenbart sich uns im Handeln. Aber in jedem
Handlungsakt empfinden wir die Objektivität dieses Zusammenhangs.114

b. Wirklichkeit

Entsprechend seiner eben skizzierten Handlungsmetaphysik ist „wirkli-


ches Dasein“ für Jacobi von vornherein „wirkendes Dasein“. Dass wirk-
liches Dasein empfunden wird, bedeutet, dass ein handelndes Individu-
um in seinem Handeln Kräfte empfindet. Die Wirklichkeit offenbart sich
so primär in ihren Wirkungen auf das handelnde und nicht auf das urtei-
lende Individuum. Die Vorstellungen, auf die sich unsere theoretische
Reflexion bezieht, sind hingegen nur die Kopien der im tätigen Umgang
mit der Welt wirklich wahrgenommenen Dinge:

Nichts tritt in der Seele zwischen die Wahrnehmung des Würklichen ausser ihr
und des Würklichen in ihr. Vorstellungen sind noch nicht; sie erscheinen erst
hinten nach, als Schatten der Dinge, welche gegenwärtig waren.115

Im Handeln ist die Person also immer unmittelbar in und bei der Welt.
Profilieren wir diesen Gedanken durch seine Absetzung von der Kon-
zeption Kants: Für Kant ist das menschliche Bewusstsein repräsentatio-
nal. Die Inhalte des Bewusstseins haben präpositionalen Charakter „Es
ist der Fall, dass p“ oder „es scheint, dass“. Weil sie diesen präpositiona-

111
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121.
112
Spin1 JW 1,1, 144.
113
DH1 JW 2,1, 53.
114
DH1 JW 2,1, 55.
115
DH1 JW 2,1, 37.
414 Praktischer Glaube

len Charakter besitzen, muss das Ich alle diese Vorstellungen begleiten
können, das heißt, in den Gedanken umwandeln können: „Ich denke,
dass p“.116 Für Jacobi sind wir nun aber nicht primär vorstellend auf die
Welt bezogen. Unser ursprünglicher Bezug auf die Welt ist nicht ein
theoretisch-propositionaler, sondern unser handelnder Umgang mit der
Welt. Der repräsentationale Bezug auf die Welt ist demgegenüber se-
kundär-reflektierend und in ihm beziehen wir uns dann tatsächlich nur
noch auf Vorstellungen.
Weil wir uns in der Reflexion aber nur auf Vorstellungen beziehen,
können wir uns in ihr nie auf das Wirkliche selbst beziehen, sondern nur
auf Bestimmungen des Wirklichen. Wie für Kant ist Sein also auch für
Jacobi keine zum Begriff „blos hinzukommende Bestimmung“,117 son-
dern die Wirklichkeit der Bestimmungen. In und durch diese Wirklich-
keit sind die Bestimmungen überhaupt erst gesetzt. Im Vorstellen bezie-
hen wir uns jedoch nur noch auf die Eigenschaften des Seins, nicht mehr
auf das Sein der Eigenschaften. „Also kann in der bloßen Vorstellung das
Würkliche selbst nie dargestellt werden“, sondern nur die Beschaffenhei-
ten des Wirklichen.118 Anders als für Kant meint „Wirklichkeit“ bei Ja-
cobi allerdings von vornherein nicht nur „realitas", sondern „actus“ als
„tätige Wirklichkeit“. Äußere Wirklichkeit bezieht sich dementspre-
chend auf die Kraft, die sich der „inneren“ Wirklichkeit eines tätigen
und seiner selbst bewussten Individuums entgegensetzt.119 Deshalb kann
man nach Jacobi im eigentlichen Sinne von „Sein“ nur in Bezug auf or-
ganische Wesen sprechen. Sein kann für Jacobi nicht gedacht werden
ohne Selbstsein und Selbstsein impliziert zumindest ein minimales Maß
an Bewusstsein.120 Dasein oder Wirklichkeit kommt deshalb nur leben-
digen Wesen zu, da nur diesen im eigentlichen Sinne Aktivität zuge-
schrieben werden kann.
Insofern Kant vom Begriff der Vorstellung ausgeht, muss er aus dem
Begriff der Wirklichkeit den Aspekt des Tätigseins eliminieren. Eine
Vorstellung von Kraft wirkt aber eben nicht auf das bloß vorstellende
Individuum, vielmehr wird Kraft vom handelnden Individuum unmit-
telbar empfunden. Erst in einem zweiten Schritt kann die Reflexion aus
116
Koch 2004a, 170.
117
DH1 JW 2,1, 37.
118
DH1 JW 2,1, 69. Jacobi bezeichnet den praktischen Standpunkt, von dem aus die
Wirklichkeit erfahren werden kann, auch als Standpunkt des Lebens im Gegensatz zum
Standpunkt der Spekulation (ibid., 70). Fichtes Wissenschaftslehre ist deshalb die Vollen-
dung der kantischen Philosophie, weil sie sich unter Negation des Standpunktes des Le-
bens ganz auf den Standpunkt des Wissens einschränkt (Zöller 2004, 44).
119
DH1 JW 2,1, 84.
120
GD JW 3, 30.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 415

der Kraft eine Vorstellung machen, der dann aber die Wirklichkeit fehlt.
Umgekehrt erfährt sich auch das Individuum selbst ursprünglich als Ur-
sache seines Handelns und nicht als Bündel von Vorstellungen oder Sub-
jekt der Erkenntnis.121 Für ein handelndes Individuum sind Kraft und
Handlung ursprünglich praktische Begriffe, die die theoretischen Kate-
gorien erst begründen. Kant hingegen leitet den Begriff der Handlung
aus einer bestimmten Form der Kausalität (Gleichzeitigkeit von Wir-
kung und Ursache) ab und aus diesem den Begriff der Kraft und der
Substanz. 122 Dabei meint „Handeln“ in diesem Zusammenhang noch
nicht einmal das spezifisch menschliche Handeln, sondern „Bewirken
schlechthin“. Als solches ist es die Aktualisierung einer Kraft (als aktua-
lisierte Wirkungsmöglichkeit), die einer Substanz zukommt.123
Für Jacobi werden damit die tatsächlichen kategorialen Verhältnisse
verkehrt: Denn als handelnde Wesen erfahren wir die Wirklichkeit von
uns und Dingen außer uns im selben, unteilbaren Augenblick. Wir erfah-
ren uns selbst als Kraft, indem wir die Erfahrung von uns entgegenge-
setzten Kräften machen, die wir durch unsere Kraft überwinden können.
Die Vorstellung von Kraft entsteht uns dabei nur durch unser Bewusst-
sein einer Kraft in uns, Widerstände (also der Kraft in uns entgegenge-
setzte Kräfte) zu überwinden. 124 Die Begriffe von Wirklichkeit, Kraft
und Widerstand sind also unmittelbar miteinander verbunden und wer-
den primär handlungstheoretisch gewonnen, nämlich aus der Erfahrung
des Individuums als eines tätigen, mit der, in der und gegen die Welt
agierenden Wesens.125 Der Unterschied zwischen bloßen Vorstellungen
und wirklichen Wahrnehmungen ist für Jacobi nichts anderes als ihre
Wirklichkeit, das heißt der Widerstand, den sie für das handelnde Indi-
viduum setzen. Vorstellungen implizieren hingegen keinen solchen Wi-
derstand.126 Im handelnden Umgang mit der Welt manifestiert sich dem
121
Meine Vorstellungen JW 2,1, 3.
122
KrV B 249/A 204; JB 1,8, 72. „Handlung ist in seinem System ein abgeleiteter Be-
griff […]. Das alles kommt daher, weil seine Vorstellungsart durchaus keine ursprüngliche
Wahrnehmung, keine Wahrnehmung v etwas wahrhaft objectivem verträgt.“ (Kladde IV,
54 Sandkaulen 2000, 209.)
123
Willaschek 1992, 38f.
124
DH1 JW 2,1, 55. In OP basiert unsere Erfahrung der Bewegungsgesetze der Materie
auf dem Bewusstsein unserer Bewegungskräfte und der Wahrnehmung der Gegenreaktion
(OP AA 22, 506; Förster 2000, 112). Unsere Fähigkeit körperlicher Selbstbewegung wird
dabei nicht weiter eingesehen (ibid., 110; OP AA 21, 213).
125
Diese Handlungserfahrung ist kategorial verschieden von der Begründungserfah-
rung des rein theoretischen Bewusstseins (Sandkaulen 2000, 89). So impliziert die Her-
kunft der Begriffe aus der Erfahrung auch keinen Empirismus oder Sensualismus (ibid.,
115). Dagegen: Baum 1969, 87f.; 108.
126
DH1 JW 2,1, 69.
416 Praktischer Glaube

Handelnden also unmittelbar sowohl die eigene Wirklichkeit als auch die
Wirklichkeit der Welt.127
Verdeutlichen wir uns abschließend noch einmal den zentralen Unter-
schied zwischen Jacobi und Kant: Indem sich die reinen Verstandesbe-
griffe bei Kant nicht auf Dinge an sich beziehen, lehrt er aus Jacobis
Sicht einen blinden und erkenntnisleeren Glauben.128 Denn, wie wir im
folgenden Abschnitt sehen werden, die Fassung der Kategorien als bloß
subjektive Erkenntnisformen und die Verkehrung der Vernunftverhält-
nisse von Praxis und Theorie resultiert letztlich in der Leerheit von
Kants Vernunftglauben:

Ein System, welches alle Ansprüche an Erkenntniß der Wahrheit bis auf den
Grund ausrottet, und für die wichtigsten Gegenstände nur einen solchen blinden
ganz und gar Erkenntnißleeren Glauben übrig läßt, wie man den Menschen bis-
her noch keinen zugemuthet hat.129

III. Glaube als Bewusstsein der Freiheit

Wir haben gezeigt, dass Kant im Gegensatz zu Jacobi im Bewusstsein


von der Wirklichkeit der Gegenstände dem theoretischen Bewusstsein
den Primat zuschreibt, Jacobi hingegen dem praktischen Handlungsbe-
wusstsein. Der von Jacobi geltend gemachte Glaube als „Element allen
Wissens und Handelns“ kann deshalb ursprünglich keine rein epistemi-
sche Kategorie sein. Denn alle theoretischen Akte des Selbst gründen auf
dessen praktischem Verhältnis zur Wirklichkeit bzw. werden durch das
Handeln des Menschen konstituiert. Bevor wir uns reflektierend auf die
Welt richten, sind wir in unserer Praxis bereits in der Welt, deren Unab-
hängigkeit von uns sich uns im Widerstand offenbart, den sie unserem
Handeln und Wollen entgegensetzt. Aber auch uns selbst erfahren wir
primär im Handeln als eine Kraft, die sich selbst zum Handeln bestimmt.
Insofern sind Selbstbewusstsein und die im Modus des Glaubens erfah-
rene ursprüngliche Gewissheit, da sie primär Handlungsbewusstsein
sind, 130 nur im Wechselverhältnis mit einer wirklichen Welt möglich.
Deshalb sind unser Selbstbewusstsein und unser Bewusstsein einer wirk-
127
Deshalb auch der epistemische Primat der „Sphäre der Betastung“ vor der An-
schauung (Rech JW 4,1, 99).
128
Bei Kant bleibt die Relation zwischen dem Ding an sich und dem transzendentalen
Subjekt für Jacobi eine unverständliche „mystische Verbindung oder Kryptogamie“ (Krit
JW 2,1, 269).
129
DH1 JW 2,1, 61.
130
Koch 2013, 124.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 417

lichen Welt, die unserem Wollen und Handeln widersteht und der wir in
unserem Handeln widerstehen, gleichursprünglich. Wenn Jacobi sagt,
der Unterschied zwischen bloßen Einbildungen und realen Wahrneh-
mungen bestehe in einem Gefühl,131 so ist dies das Gefühl der ursächli-
chen Wechselwirkung von uns und der Wirklichkeit. Dieses Gefühl
kann nicht willkürlich in der Einbildung hervorgerufen werden, denn
sonst müssten uns die Produkte der Einbildungskraft einen realen Wi-
derstand entgegensetzen. Dieses sich in unserem Handlungsbewusstsein
offenbarende doppelte Wirklichkeitsgefühl ist das, was Jacobi als Glaube
bezeichnet.132 Glaube ist also das Gefühl der aktiven Kraft des Individu-
ums und der sich dieser Kraft widersetzenden Kraft, die seiner Aktivität
entgegenwirkt.133
Die theoretische Einstellung zur Wirklichkeit ist insofern für Jacobi
sekundär gegenüber der praktischen Einstellung. Wir sind zunächst han-
delnde Wesen und setzen diese praktische Einstellung zur Welt implizit
auch in unserer Erkenntnis voraus, mehr noch, die Bestimmtheit unserer
Erkenntnis ist abhängig von der Weise, wie wir uns handelnd auf die
Wirklichkeit beziehen. So ist auch der Glaube, der all unserer Erkenntnis
zu Grunde liegt, ein praktischer, nämlich an die Wirksamkeit unseres
Willens. Da dieser Glaube aber jeglichem Handeln zu Grunde liegt, ist er
zunächst einmal weit weniger „theologisch“ konnotiert als Kants Ver-
nunftglaube, da er noch keinen inhaltlichen Bezug zu Gott und Unsterb-
lichkeit hat. Als unmittelbares Selbstbewusstsein freier Ursächlichkeit
begründet dieser Glaube andererseits unsere Erkenntnis und unsere spe-
kulativen Vernunftvollzüge. Damit – und dies ist für viele Aufklärer zu
Jacobis Zeit das Ärgernis – gründet die Möglichkeit spekulativer Aufklä-
rung auf einem rational nicht weiter beweisbaren praktischen Glauben.
Die Etablierung dieses Primats des praktischen Handlungsbewusst-
seins gegenüber der bloßen Spekulation ist ein wesentliches Moment von
Jacobis anderer Aufklärung gegenüber der spekulativen Aufklärung, die
ihre Vollendung in Spinoza findet. Letztere begreift die Vernunft des
Menschen zunächst von ihrer theoretischen Funktion her. Von ihrer
Vollendung her lässt sich der praktische Aspekt der Vernunft, die freie
Selbstbestimmung der Person, jedoch nicht mehr nachträglich integrie-
ren. Vielmehr wird diese freie Ursächlichkeit des Individuums, da sie
sich nicht spekulativ deduzieren lässt, von ihr als Schein entlarvt. Dem-
gegenüber versucht Jacobi in seiner bereits skizzierten Dialektik der
spekulativen Vernunft zu zeigen, dass die Spekulation ihren Ursprung in
131
DH1 JW 2,1, 28.
132
DH1 JW 2,1, 29.
133
DH1 JW 2,1, 37.
418 Praktischer Glaube

der menschlichen Praxis hat. Wer diese anerkennen will, der kann nicht
einfach den Weg der Spekulation weiter beschreiten, sondern muss einen
Salto mortale vollziehen, der das Verhältnis von Praxis und Spekulation
umkehrt, das heißt, die Praxis und die Freiheit als ihren Grund nicht aus
der Spekulation entwickeln, sondern diese aus der Praxis verstehen. Da-
mit wird dann aber die Freiheit im freien Vollzug des Salto mortale
selbst zum Grund einer anderen Aufklärung.
Nun scheint es wenig angemessen, diese Behauptung vom Primat des
Praktischen und der Freiheit gerade gegen Kant ausspielen zu wollen.
Denn auch Kant spricht ja der praktischen Vernunft den Primat gegen-
über dem bloß spekulativen Vernunftgebrauch zu.134 So liegt der vor-
nehmliche Wert der Vernunftideen nicht in ihrer regulativen Funktion,
sondern darin, einen Übergang von den Naturbegriffen zu den prakti-
schen Begriffen notwendig zu machen.135 Der eigentliche Zweck der Me-
taphysik – als der Wissenschaft des reinen theoretischen Vernunftge-
brauchs – besteht so nach Kant nicht in ihrem epistemischen Nutzen,
sondern darin, zur praktischen Realität der Ideen von Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit zu gelangen.136 Freiheit ist für Kant der „Schlussstein“
seiner gesamten Philosophie, also der Stein, der architektonisch am
höchsten Punkt eines Gewölbes selbiges trägt und durch den das Ge-
wölbe selbsttragend wird. Die Freiheit ist also nach Kant zugleich der
höchste Punkt seines Denkens als auch dasjenige, wodurch seine Philo-
sophie selbsttragend wird. Jacobi selbst konstatiert deshalb eine nicht zu
leugnende Verwandtschaft zwischen sich und Kant. In Kants Postulaten-
lehre manifestieren sich so für Jacobi der Instinkt der menschlichen Ver-
nunft, der Freiheit, Gott und Unsterblichkeit unmittelbar voraussetzt,
sowie der Primat der praktischen vor der spekulativen Vernunft.137 Al-
lerdings könne Kant dieses unbedingte Interesse des Praktischen nicht in
ein konsistentes Verhältnis zu seiner Kritik der spekulativen Vernunft
setzen. Den Grund hierfür sieht Jacobi in Kants Verkehrung der Ver-
hältnisse von der Vernunft als Bewusstsein der Freiheit und der spekula-
tiven Vernunft oder der ihnen korrespondierenden Grundbegriffe Ursa-
che und Grund. In dieser Verkehrung der Vernunftverhältnisse ist Kant
für Jacobi ein Vollender der spinozistischen Aufklärung.
Worin genau besteht aber diese Verkehrung der Vernunftverhältnisse?
Spekulativ bringt Kant nach Jacobi zunächst die Vernunft unter die
Herrschaft des Verstandes und reduziert ihre Bedeutung auf eine rein
134
KpV AA 5, 119–121.
135
KrV B 386/A 329.
136
KrV B 395.
137
Koch 2013, 78.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 419

regulativ-holistische Funktion. Anschließend versuche Kant dann je-


doch, die spekulativ zu Grabe getragenen Ideen als Postulate der prakti-
schen Vernunft wieder zum Leben zu erwecken und „die Lückenbüßer
der theoretischen Vernunft zu Bedingungen der Realität der Gesetze der
practischen zu machen“.138 Damit geraten praktisches und theoretisches
Interesse des menschlichen Nachdenkens jedoch in einen unaufhebbaren
Widerspruch, durch den praktische und theoretische Vernunft wechsel-
seitig ihre Geltungsansprüche unterminieren. Nach Kants theoretischer
Philosophie sei nämlich nicht nur die Realität, sondern bereits die reale
Möglichkeit eines Begriffes – im Unterschied zu seiner bloß logischen
Widerspruchsfreiheit – daran gebunden, dass dieser ein Gegenstand
möglicher Erfahrung sei. Dies sei bei den Begriffen Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit jedoch unmöglich. Die theoretische Vernunftkritik be-
weise damit, dass die höchsten Ideen niemals objektive Realität besitzen
können. Jacobi setzt dies nun mit einem Beweis ihrer Unwahrheit gleich.
Kants Kritik bewiese, dass die Vernunftideen nur Dichtungen seien,
„Hirngespinste, durch welche der Verstand nur aufgehalten und lange
verhindert werde, wahrhaft zu Verstande zu kommen“.139 Nur unter der
„Vormundschaft“ des Verstandes könnten die von der Vernunft erdich-
teten Ideen selbigem behilflich sein, seine faktischen „Grenzlinien“ per-
manent zu erweitern. 140 Bereits hier sieht Jacobi jedoch ein Problem:
Wenn die Ideen erst einmal als Fiktionen durchschaut sind und ihnen
selbst die Möglichkeit objektiver Realität abgesprochen wird, können sie
ihre heuristische Funktion nicht mehr ausüben.141 Denn letztlich müss-
ten sie damit als zwar nicht begrifflich widersprüchliche, aber dennoch
„trügliche Horizonte“ durchschaut sein.142
Noch problematischer ist das Resultat der spekulativen Vernunft je-
doch für die den Vernunftideen zugeschriebene praktische Funktion:
Der praktische Glaube an Gott und Unsterblichkeit sei bei Kant auf das
moralische Interesse der Vernunft gegründet. Die faktische Realisierung
des Sittengesetzes durch das tatsächliche Individuum sei von diesem
Glauben nicht unberührt, die praktische Vernunft bedürfe vielmehr ei-
nes solchen Glaubens, damit sie die Realisierung ihrer sittlichen Zwecke

138
JaF JW 2,1, 214; vgl. auch Epistel JW 2,1, 155.
139
GD JW 3, 19. Dagegen schreibt Kant in OP: „Ideen sind Selbstgeschaffene subjecti-
ve Principien der Denkkraft: nicht Dichtungen sondern gedacht“ (AA 21, 29). Allerdings
spricht Kant in OP an anderen Stellen ebenfalls von den Ideen als „(Dichtungen) der rei-
nen Vernunft“ (ibid., 101; vgl. ebenso: ibid., 102).
140
GD JW 3, 19.
141
Krit JW 2,1, 283f.
142
Krit JW 2,1, 285.
420 Praktischer Glaube

erhoffen dürfe.143 Der Mensch als sinnliches Vernunftwesen bedürfe ei-


ner solchen Hoffnung, um permanent am Wirklichwerden der Sittlich-
keit mitwirken zu können. Einen solchen „Bedürfnisglauben“ kritisiert
Jacobi allerdings in seiner Auseinandersetzung mit Wielands Agathon.
Agathons Gottesbeweis liefe auf den unzulänglichen Satz hinaus: „[I]ch
bedarf eines obersten Geistes, er ist also“.144 Jacobis Freund Wizenmann
identifiziert dann in seiner Kritik Kants dessen moralischen Glauben als
einen bloßen Bedürfnisglauben. Aus einem Bedürfnis folge jedoch nichts
für die Wirklichkeit der Sache, derer wir bedürfen.145 Diese Kritik kon-
tert Kant dadurch, dass das Bedürfnis, dem die Postulate entsprechen,
kein kontingentes Bedürfnis sei, das ein Individuum haben oder auch
nicht haben kann, sondern ein Bedürfnis der Vernunft. Solch ein Be-
dürfnis liege nur dann vor, wenn es seine Ursache in einem der Endlich-
keit der Vernunft geschuldeten Problem habe.146 Deshalb sind wir nur in
Bezug auf die Ideen von Gott und Unsterblichkeit berechtigt, von Pos-
tulaten und nicht bloß Wünschen zu sprechen. Denn nur hier ist das Be-
dürfnis auf ein in der reinen Vernunft selbst enthaltenes Problem ge-
gründet. Der Grund für den praktischen Glauben und das subjektive
Fürwahrhalten der Vernunft liegt nämlich anders als bei unseren Natur-
bedürfnissen und Wünschen in den objektiven Bestimmungsgründen des
mit der praktischen Vernunft identischen Willens und basiert nicht nur
auf einer faktischen Neigung des empirischen Individuums.147
Jacobi transformiert seine Kritik an Kants Vernunftglauben jedoch in
einer Weise, dass sie durch diese Replik nicht unmittelbar gegenstandslos
wird. Sie lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: Kant postuliert in
seiner praktischen Philosophie die Objektivität der Ideen der Vernunft.
Grund dieses Postulats ist das praktische Bedürfnis der praktischen Ver-
nunft. Dieser Grund ist zwar von subjektiver Allgemeinheit, woraus je-
doch nur folgt, dass diese Idee subjektiv von jeder Vernunft gesetzt ist.
Eine subjektive Setzung der Vernunft ist aber, sofern sie nicht auf Ob-

143
In der Rekonstruktion des praktischen Glaubens bei Jacobi spielt also nur das eine
Rolle, was wir in unserer Rekonstruktion als religiösen Glauben bezeichnet haben. „In
der practischen Philosophie wird Gott aus einem moralischen Intereße gesetzt […]. – Er
wird wirklich geglaubt (aber nur freywillig) damit an den Effect oder Befolgung des Sit-
tengesetzes wirklich geglaubt werde, ohne welchen Effect ich an das Sittengesetz selbst
nicht wirklich glauben könnte.“ (Kladde VIII, 32f. Schneider 1986, 216; vgl. hierzu auch
Koch 2013, 65.)
144
Brief an Wieland vom 20.8.1772 JB 1,1, 160.
145
Diese Kritik Wizenmanns ist eine der wenigen, auf die Kant in seinen Hauptschrif-
ten namentlich antwortet.
146
Hutter 2003, 66.
147
KpV AA 5, 144.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 421

jektivität Anspruch erheben kann, nicht in der Lage, die Realisierung des
höchsten Guts objektiv zu ermöglichen. In KrV bestreitet Kant jedoch
die Möglichkeit, dass den Ideen der Vernunft Objektivität zukommen
könnte. Wenn die praktische Vernunft also unbedingt fordert, dass der
Mensch so handelt, als hätte die Vernunftidee Gottes objektive Realität,
so verlangt sie etwas Unmögliches. Nach Jacobi ist es deshalb unmög-
lich, so zu handeln als wäre Gott wirklich, wenn die theoretische Ver-
nunft erst einmal eingesehen hat, dass diese Ideen „bloße subjective Fic-
tionen“ der Vernunft sind, „denen jede objective Realität mangelt“, und
der spekulativen Vernunft uneingeschränkte theoretische Geltung zuge-
schrieben wird.148 Das praktische Bedürfnis der Vernunft löst dieses Di-
lemma nicht, sondern bringt die praktische Vernunft vielmehr in Miss-
kredit, da sie Unmögliches fordert:

Die Größe des Bedürfnisses hebt nicht die Unmöglichkeit auf, gewissen Ideen
objective Existenz zu verleihen, sobald die Subjectivität derselben außer allen
Zweifel gesetzt ward.149

Wir haben zuvor gezeigt, dass sich dieser Widerspruch durch den unter-
schiedlichen Gebrauch des praktischen und des theoretischen Realitäts-
begriffs auflösen lässt. Für Jacobi würde diese Trennung jedoch eine
schizophrene Haltung des Individuums voraussetzen, damit es sich mal
als praktisch und mal als theoretisch verstehen könnte. Den Wider-
spruch zwischen praktischer und spekulativer Vernunft durch die Un-
terscheidung zweier legitimer Standpunkte aufzuheben, von denen aus
der Mensch sich betrachten kann, scheidet für Jacobi also aus. Entweder
„Religion und Freyheit“ kann schlechthin „Realität zugeschrieben wer-
den“ oder sie gehören „ins Reich der subjectiven Ideen und Dichtun-
gen“.150
Das grundsätzliche Problem, das sich hier nach Jacobi zeigt, ist Fol-
gendes: Werden praktische und spekulative Vernunft als ursprünglich
isoliert betrachtet und dieser Isolierung ihr Recht gelassen, so lassen sie
sich nicht mehr nachträglich vereinigen. Der isolierte Standpunkt der
Spekulation, dessen Vollendung in Spinoza und Kant erfolgt, lässt sich
148
Krit JW 2,1, 324; vgl. auch ibid., 281. „Was Gott sey, hat Kant schon vorlängst dar-
gethan; nehmlich ein nothwendiges Gedicht der Vernunft. Es folgt aus dem was er ist, daß
er nicht ist. Aus der zuläßigkeit seines Begriffs ergiebt seine Unzuläßigkeit als ein Gegen-
stand außer der menschlichen Vernft. Begriffe laßen sich nur an Empfindungen realisie-
ren, wahr machen.“ (Kladde VIII, 111–121 Schneider 1986, 126; vgl. auch Kladde VIII, 261
Schneider 1986, 217.)
149
Krit JW 2,1, 324.
150
Krit JW 2,1, 322f.
422 Praktischer Glaube

nicht mit einem ebenso isolierten Standpunkt der Praxis vereinigen.


Denn wenn die praktische Vernunft einen der spekulativen Vernunft
entgegengesetzten Glauben lehrt, dann handelt es sich nach Jacobi in der
Tat um einen erkenntnisleeren, blinden Glauben. Eben solch einen blin-
den Glauben glaubt Jacobi Kant unterstellen zu können, weil er beide
Standpunkte nicht vereinigen kann, sondern sie in ihrer Isolation gänz-
lich auseinanderfallen lässt.

Die Vernunft, nachdem sie, als kritische, die Augen, mit welchen sie zu sehen
nur wähnte, sich selbst herzhaft ausgestochen hat, gebietet nun, noch viel herz-
hafter, sich selbst, der offenbaren Finsterniß, die in ihr ist, in rein praktischer
Absicht, zu trotzen, durch einen blinden, d. i. ganz Erkenntnißleeren Glauben.151

Wir können also resümieren, dass sich am Selbstwiderspruch der Philo-


sophie Kants für Jacobi der Widerspruch einer Spekulation zeigt, die
sich von der Praxis isoliert. Kant hätte diesen isolierten Standpunkt in
seinem Widerspruch zu Grunde gehen lassen müssen. Der Ursprung des
Widerspruchs der kantischen Philosophie mit sich selbst besteht also da-
rin, dass sie die Spekulation nicht auf das Leben als Praxis gründet, son-
dern Theorie und Praxis (bzw. Moralität) isoliert betrachtet und diese
Isolation nicht überwindet. Dennoch versucht er, aus der moralischen
Praxis und dem reinen Willen einen theoretischen Begriff zu begründen,
nämlich die reale Möglichkeit der Vernunftideen (die über die Spekulati-
on eingeführt werden und nicht äquivok zu den praktischen Ideen sein
sollen).152
Die Alternative zu diesem von ihm kritisierten „blinden Glauben“
kann für Jacobi nun ganz offensichtlich nicht in einem ebenso erkennt-
nisleeren, blinden Fideismus bestehen. Der Glaube kann dem Denken
für Jacobi auch nicht abstrakt gegenüberstehen, wie Hegel unterstellt.153
Vielmehr muss es sich bei dem von Jacobi etablierten Glauben um einen
Vernunftmodus handeln, in dem Spekulation und Praxis eine ursprüngli-
che Einheit bilden. Einen solchen Modus findet Jacobi im unmittelbaren
Handlungsbewusstsein des Menschen vor.154 An der spekulativen Un-
überbietbarkeit des Spinozismus bzw. des idealistischen, umgekehrten
Spinozismus und beider Widerspruch zur praktischen Vernunft lässt Ja-
cobi den vollendeten Standpunkt einer Rationalität oder spekulativen
Vernunft zu Grunde gehen, der sich selbst von der Praxis bereits isoliert

151
Krit JW 2,1, 278. Vgl. ebenso Kladde VI, 191 Schneider 1986, 209.
152
Krit JW 2,1, 277f.
153
VGPh SW 20, 324.
154
Vgl. hierzu auch Sandkaulen 2011, 22.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 423

hat.155 Die Einheit von Spekulation und Praxis kann aber nur dadurch
wiederhergestellt werden, dass die verkehrten Verhältnisse von prakti-
scher und spekulativer Vernunft vom Kopf auf die Füße gestellt werden
und man die Spekulation in der Praxis begründet bzw. der spekulativen
Vernunft das praktische Handlungsbewusstsein als ihren Grund voraus-
setzt. Diese Umkehrung lässt sich als Salto mortale bezeichnen.
Der für alle Praxis grundlegende Begriff ist jedoch der freier Ursäch-
lichkeit und so gründet alle Theorie, die mit sich selbst nicht in Wider-
spruch geraten möchte, auf dem Bewusstsein der Freiheit. In der Praxis
stehen wir eigentlich immer schon auf dem archimedischen Standpunkt
außerhalb des Vermittlungszusammenhanges natürlicher Ursachen, ohne
uns das dabei unmittelbar gefühlte Dasein der Freiheit selbst bewusst zu
machen. 156 Die Enthüllung dieses Daseins der Freiheit ist deshalb die
Hauptintention von Jacobis anderer Aufklärung, zu der man sich –
nachdem Praxis und Spekulation auseinandergetreten sind – aber nur via
contradictionis von der vollendeten spinozistischen Aufklärung auf-
schwingen kann.
Pointiert lässt sich Jacobis Differenz zu Kant noch einmal so zusam-
menfassen: Bei Jacobi ist der Mensch gerade kein Bürger zweier Welten,
vielmehr konstituiert die Welt der personalen Freiheit die Welt der The-
orie.157 Ohne Voraussetzung der Freiheit lässt sich kein Begriff von Pra-
xis denken, auch nicht die Tätigkeit des Denkens und die Praxis der Spe-
kulation. Unser „personal[es] Handlungsbewusstsein“158 liegt all unseren
Akten zu Grunde, auch unseren theoretischen Vernunftvollzügen.159 So
stellt die mechanische Kausalität für Jacobi nicht eine von der Kausalität
aus Freiheit unabhängige Art in der Gattung der Kausalität dar, sondern
ist als Einschränkung derjenigen Ursächlichkeit zu denken, die ur-
sprünglich allen Ereignissen zu Grunde gelegt wird, nämlich der Selbst-
tätigkeit.160 Ursächlichkeit muss sich uns in unserer freien Selbständig-
keit bereits als „Urbild des Seyns von Allem“161 offenbart haben, um sie
in der Natur wiedererkennen zu können.162 Im Verhältnis von Freiheit
und mechanistischer Kausalität ist das zu Grunde liegende Wirkliche die
155
Vgl. hierzu auch Henrich 1994, 59.
156
Kahlefeld 2000, 49.
157
Koch 2013, 108.
158
Sandkaulen 2009, 270.
159
Ohne Freiheit bzw. Selbsttätigkeit könnte nach Jacobi nicht einmal Euklids erstes
Axiom (von jedem Punkt zu jedem anderen die Strecke ziehen zu können) gedacht wer-
den (JB 1,8, 462).
160
Brief an Kleuker vom 13.10.1788 JB 1,8, 73.
161
Allwill2 JW 6,1, 224.
162
Einl JW 2,1, 408.
424 Praktischer Glaube

Freiheit, wohingegen mechanistische Kausalität schon eine Zeichenkate-


gorie ist, die der Mensch selbst entworfen hat, um die Natur ihr gemäß
zu begreifen.163
Als Grundlage sämtlicher Vollzüge der spekulativen Vernunft kann
Freiheit jedoch nicht im gleichen Sinne Gegenstand dieser Vollzüge
werden wie andere Gegenstände. Sie kann, so Jacobi, nicht gewusst, son-
dern nur geglaubt werden. Das heißt in diesem Kontext, sie ist unserem
Bewusstsein nur in einem unmittelbaren Gefühl zugänglich. Der Freiheit
wird man sich nur bewusst als einer Kraft, die „das innerste Leben mei-
nes Daseyns“ ist, 164 etwa im Gefühl des Strebens, des Handelns nach
Zwecken. Macht man sie zu einem Gegenstand des Wissens, so hebt man
die Freiheit notwendig auf. Indem Jacobis Philosophie von dem Faktum
der Freiheit, das kein Gegenstand der Erkenntnis werden kann, aber al-
ler Erkenntnis zu Grunde liegt, ausgeht, geht sie von einem „Wunder“
und „unerforschlichen Geheimniß“ aus.165 Der eigentliche Glaube, den
Jacobi meint, ist deshalb unser begrifflich nur via negationis zu bestim-
mendes Bewusstsein der Freiheit, das als Grund des Wissens nicht des-
sen Gegenstand werden kann. Reflexiv kann man sich dieses Grundes
nur in der Form wissenden Nichtwissens versichern. Mit dem Hand-
lungsbewusstsein ist zwar das Bewusstsein der Freiheit verknüpft, aber
es ist ein Bewusstsein von der Unbegreiflichkeit der inneren Möglichkeit
und Natur dieser Freiheit.166 Eben weil alle Vernunftvollzüge von diesem
Glauben abhängen, ist der „Glaube an die innerliche Allmacht des Wil-
lens“ unbezwinglich für den Menschen.167 Der Mensch „ist offenbar be-
trogen mit seiner Vernunft, wenn er mit jenem Glauben betrogen ist;
denn sie allein hat dann jene Lüge in ihm angerichtet, und auf diese Täu-
schung ihr ganzes Ansehen gegründet.“168
Fassen wir zusammen: Unser Bewusstsein der Freiheit liegt all unse-
ren spekulativen und praktischen Vollzügen und Begriffen zu Grunde.
So verfügen wir nach Jacobi nur durch das Bewusstsein unserer Freiheit
über die Begriffe von Kraft, Handlung und Wirklichkeit. Dabei ist es
insbesondere der Ursachebegriff, der es Jacobi erlaubt, das Verhältnis
von Praxis und Spekulation umzudrehen. Denn als theoretische Katego-
rie ist er konstituiert durch den praktischen Ursachebegriff, der auf un-

163
Sandkaulen 2000, 85; 112; 118ff. Freiheit kommt hier also gleich in einem zweifa-
chen Stellenwert vor.
164
Brief an Hamann vom 11.1.1785 JW 1,4, 15.
165
JaF JW 2,1, 214.
166
JaF JW 2,1, 237.
167
Spin2 JW 1,1, 165.
168
GD JW 3, 18.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 425

serem Bewusstsein der Freiheit gründet. Damit kehrt sich auch das
Problem um, wie sich Freiheit vor dem Naturdeterminismus rechtferti-
gen lässt. Denn der Ursachebegriff entspringt unserer Selbstwahrneh-
mung als freier Ursache und wird von da aus auf die Natur übertragen.
Ohne Freiheit könnten wir deshalb keine Kausalverknüpfung, ohne Un-
bedingtheit keine Bedingtheit denken. Kants Fehldeutung dieses Ver-
hältnisses führt in der theoretischen Kritik dazu, die Vernunft dem Ver-
stand zu unterwerfen, um dann in der praktischen Kritik die Vernunft
wieder über den Verstand zu erheben.169 Kant gibt zunächst zu Gunsten
der Wissenschaft theoretisch die Metaphysik auf, um sie dann praktisch
wiederzubeleben und dafür die Wissenschaft aufzugeben.170 Denn seine
Isolierung von Theorie und Praxis als unterschiedliche Funktionen der
Vernunft lässt keinen Übergang von der Theorie zur Praxis, von der
spekulativen Vernunft zur Freiheit zu.171 Wird der Glaube als Bewusst-
sein menschlicher Freiheit nicht als Fundamentalbegriff aller menschli-
chen Praxis und Spekulation zu Grunde gelegt, so ist nur noch Raum für
einen blinden Glauben. Für viele Aufklärer muss es freilich einen Skan-
dal darstellen, das ein Glaube aller Rationalität und Aufklärung immer
schon uneinholbar vorausliegen soll.

IV. Die Transzendierung der Subjektivität

Wir haben festgestellt, dass unser Freiheitsbewusstsein nach Jacobi als


Fundament all unserer praktischen und spekulativen Vernunftvollzüge
in aller Wissenschaft und Aufklärung bereits vorausgesetzt ist. Als
Grund des Wissens kann es nicht Gegenstand diskursiv vermittelten
Wissens werden. Alle Aufklärung ruht also auf einem diskursiv nicht
vermittelbaren Grunde, der in seiner Unmittelbarkeit nur via negationis
begrifflich vermittelt werden kann. Affirmativ kann sein Dasein nur
durch andere Aufklärung enthüllt werden. Insofern der Verstand näm-
lich eine Sache begreift, indem er sie aus ihren Bedingungen konstruiert,
kann der unbedingte Grund aller Bedingungsverhältnisse nicht selbst
konstruiert werden. Dieses Unbedingte im Menschen, der „der Wißen-
schaft unzugängliche Ort des Wahren“,172 ist die Freiheit. Der Modus, in

169
GD JW 3, 85; Einl JW 2,1, 381f.
170
GD JW 3, 88; JaF JW 2,1, 196; Einl JW 2,1, 395.
171
Dies macht Jacobi deutlich, wenn er in seiner Epistel zwischen die Erklärung der
theoretischen Vernunft und der praktischen einfügt: „Ende der Vernunft und Anfang der
Freyheit.“ (Epistel JW 2,1, 156.)
172
JaF JW 2,1, 237.
426 Praktischer Glaube

dem sich der menschliche Geist auf diesen Grund des Wissens bezieht,
kann deshalb nicht der des Wissens sein, sondern muss via negationis als
„Glauben“, „wissendes Nichtwissen“ oder „Ahndung“ bestimmt wer-
den. Dieser Glaube begründet nach Jacobi seine eigene „Unphilosophie,
die ihr Wesen hat im Nicht-Wißen“.173
Dieser Glaube als Bewusstsein freier Selbsttätigkeit hat zunächst keine
religiöse Konnotation. Für Jacobi ist unser Freiheitsbewusstsein jedoch
notwendig auf einen personalen Gott bezogen. In scheinbar ähnlicher
Weise resultiert auch bei Kant aus dem Freiheitsbewusstsein das Postulat
Gottes. Jacobis Argumentation ist aber eine völlig andere. Insofern die
Freiheit das Unbedingte im Menschen ist, bleiben zwei Alternativen:
Der Mensch ist selbst Ursache seiner Unbedingtheit oder er verdankt sie
einer anderen Ursache. Nach Jacobi erkennt nun die menschliche Ver-
nunft in der Reflexion auf ihre eigenen Vollzüge ihre eigene Bedingtheit
und damit die Notwendigkeit, sich auf eine ihr vorausgesetzte Ursache
hin zu transzendieren. Als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit und der
Möglichkeit ihrer praktischen und spekulativen Operationen muss sich
die menschliche Vernunft eine unbedingte und von ihr verschiedene
Vernunft voraussetzen (die wir Gott nennen). Kant hingegen, der die
menschliche Vernunft nicht in ihrer metaphysischen, sondern nur in ih-
rer epistemischen Begrenztheit setzt, verkehrt deshalb für Jacobi wiede-
rum die wahren Vernunftverhältnisse, indem Gott als Ursache der
menschlichen Vernunft bei ihm von einer Voraussetzung zu ihrer Set-
zung wird.

Um Gott aus der Vernft darzuthun, muß er als etwas die Vnft bedingendes dar-
gethan werden – Wenn die Vernunft ihn bedingt, so ist er nicht. – Die Vnft muß
aus ihm hervorgegangen seyn, nicht (wie bey Kant) er aus der Vnft.174

Diese Einsicht in die metaphysische Bedingtheit der menschlichen Ver-


nunft durch eine sie transzendierende, absolute Vernunft bildet den
Ausgangspunkt für Jacobis Religionsbegriff. Des Menschen freies Dasein
bedarf einer anderen, ihn transzendierenden Vernunft und Freiheit, da er
nicht selbst die Ursache seiner Freiheit und Vernunft sein kann.175 So of-
fenbart sich uns Gott in unserem Freiheitsbewusstsein.176 Aufgabe der

173
JaF JW 2,1, 194; vgl. ebenso: ibid., 215.
174
Kladde VIII, 341 Schneider 1986, 216. Vgl. auch JaF JW 2,1, 193.
175
Die Natur als bloßer Mechanismus scheidet bei Jacobi als mögliche Ursache der
Freiheit aus (GD JW 3, 11).
176
JB 1,8, 462. „Sie können sich vorstellen, wie merkwürdig das für mich seyn muß,
daß Kant mit mir den Glauben an Gott auf das factum der Causalität menschlicher Ver-
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 427

anderen Aufklärung Jacobis ist damit die Enthüllung unseres notwendi-


gen Glaubens an Gott als Voraussetzung der Vernunft. Dies erfolgt wie-
derum via negationis durch die Reflexion des Standpunkts der sich selbst
genügenden Vernunft in sich selbst.
Die Enthüllung dieser Voraussetzung ist damit nach Jacobi wiederum
notwendig auf die spinozistische bzw. transzendentale Aufklärung be-
zogen: Deren Glaube an die Selbstgenügsamkeit der menschlichen Ver-
nunft muss in ihren Abgrund geführt und so der menschlichen Vernunft
die Notwendigkeit der Voraussetzung einer sie transzendierenden Ver-
nunft enthüllt werden:

Ich erhebe mich nehmlich über meine menschliche Vernunft, indem ich, Kraft
meiner Vernunft, ihren Urheber, eine unabhängige Intelligenz, das ist – die
Gottheit denke, die als ein schlechterdings Erstes und Einziges, mir schlechter-
dings unbegreiflich bleiben muß. Wer auf eine andre Weise, d. i. nicht mit, aus
und durch Vernunft, sondern ohne sie und außer ihr mit seinem Dünkel, mit
seinen Vorurtheilen sich über sie erhebt, der ist Fanatiker [.]177

Besonders deutlich expliziert Jacobi diese Gedankenfigur in seiner Aus-


einandersetzung mit Fichtes Behauptung einer durch sich selbst gesetz-
ten absoluten Vernunft, in der er für Jacobi das Aufklärungsprojekt der
reinen, sich selbst genügenden menschlichen Vernunft vollendet.178 Bei
Fichte zeigt sich für Jacobi der notwendige Prozess einer Vernunft, die
sich zuletzt selbst vernichtet, da sie sich keinen von ihr unabhängigen
absoluten Grund voraussetzt.179 Ähnlich wie in seiner bereits dargestell-
ten Auseinandersetzung mit Spinoza vollzieht sich die Heraussetzung
des Grundes aus der menschlichen Vernunft auch in Jacobis Auseinan-
dersetzung mit Fichte als Resultat eines reflexiven Prozesses, in dem sich
die absolut gesetzte menschliche Vernunft zuletzt selbst annihiliert:
Aller Erkenntnis liegt nach Jacobi eine unmittelbare „Ahndung des
Wahren“ 180 als Voraussetzung der Vernunft voraus. Hätte sie nicht
schon eine solche Ahndung, so wüsste sie gar nicht, wonach sie streben
soll. 181 Diese Ahndung bezieht sich nach Jacobi auf den Grund allen
nunft gründet, und kein Mittel gegen den Spinozismus weiß, wenn man nicht Freyheit
geradezu annimmt und voraussetzt“ (JB 1,8, 72f.).
177
Brief an F. L. von Holmer vom 5.8.1800 JNa II, 227.
178
JaF JW 2,1, 196. Die folgenden Überlegungen finden sich bereits in Schick 2013a.
179
Die Intensität, mit der sich Fichte, Schelling und Hegel diesem Problem Jacobis
widmen, zeigt, dass Jacobis Voraussetzung eines unbedingten Grundes aller Vernunft-
vollzüge nicht nur eine Provokation seiner Zeitgenossen, sondern eine „Provokation phi-
losophischen Denkens“ (Sandkaulen 2009) schlechthin ist.
180
JaF JW 2,1, 208.
181
VSpin3 JW 1,1, 340.
428 Praktischer Glaube

Wissens, der als Grund diesem Wissen vorausliegt. In JaF bezeichnet er


diesen Grund allen Wissens im Gegensatz zu der im Wissen immanent
hervorgebrachten Wahrheit als „das Wahre“. Ziel der Wissenschaft sei
jedoch nicht nur eine dunkle Ahndung des Wahren, sondern ihr klares
und deutliches Wissen. Das Wahre ist damit nicht nur Grund, sondern
auch letztes Ziel menschlichen Wissens. Eine Philosophie ohne jegliches
Interesse am Wahren wäre keine Philosophie.182 Jacobi möchte nun ge-
rade zeigen, dass dieses Wahre als Ursache der menschlichen Vernunft
notwendig vorausliegen muss.183
Im Zuge ihrer aufklärerischen Selbstermächtigung versucht die
menschliche Vernunft, den Grund des Wissens in das Wissen selbst
hineinzuverlagern bzw. ihn als Resultat ihrer eigenen Operationen selbst
hervorzubringen. Denn nur wenn die Vernunft noch ihren eigenen
Grund hervorbringen könnte, wäre ihre Autonomie realisiert. Die Dia-
lektik dieses Strebens der menschlichen Vernunft, in der sie sich selbst
annihiliert, zeigt jedoch, dass „dieser Grund: das Wahre selbst, […]
nothwendig außer ihr [der Vernunft] vorhanden“184 ist. Durch den spe-
kulativen Vollzug der Aufhebung der Transzendenz des Wahren als dem
Grund der Vernunft in die Immanenz einer rein autonomen Vernunft
zeigt sich zuletzt, dass die Vernunft mit der Aufhebung ihres Grundes
ins Wissen nicht ihre absolute Autonomie realisiert, sondern zuletzt ihr
eigenes Sein vernichtet. So will Jacobi das Wissen und die Spekulation
bzw. die Autonomisierung der Vernunft gerade deshalb vollenden, um
zu zeigen, dass das Wahre als ihr Grund notwendig außerhalb des Wis-
sens liegt.185 Erst in der Vollendung der Autonomisierung der Vernunft
wird nämlich das Wahre als Grund aus ihr herausgesetzt.
Absolute Autonomie der Vernunft im Sinn der spinozistischen Auf-
klärung impliziert also reine Vernunftimmanenz. Das heißt, eine absolut
autonome Vernunft müsste ihren Gegenstand (das Wahre) selbst her-
vorbringen. Letztlich darf sie nur mehr dieses „in Gedanken Hervor-
bringen selbst“186 sein. Denn besäße sie ein Sein jenseits ihrer Tätigkeit,
so wäre ihr auch dieses noch vorausgesetzt. Die Autonomie der Ver-
nunft kann nur durch die absolute Reinigung von jeder Positivität voll-
endet werden, und nur eine reine Vernunftwissenschaft wäre vollendetes

182
JaF JW 2,1, 207.
183
„Ich verstehe unter dem Wahren etwas, was vor und außer dem Wißen ist; was dem
Wißen, und dem Vermögen des Wißens, der Vernunft, erst einen Werth giebt.“ (JaF JW
2,1, 208.)
184
JaF JW 2,1, 199.
185
JaF JW 2,1, 199.
186
JaF JW 2,1, 198.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 429

Wissen. In dieser Analyse weiß sich Jacobi mit Kant ganz einig: Das bloß
Gegebene kann sich so und auch anders verhalten und kann damit nicht
mit absoluter Gewissheit gewusst werden. Nur was von der menschli-
chen Vernunft mit Notwendigkeit selbst gesetzt wird, ist für sie wirk-
lich. In der aus diesem Gedanken resultierenden Revolution des Spino-
zismus überbietet Fichte sogar noch einmal letzteren:
Jede Wissenschaft will alle in ihr zu erklärenden Phänomene mög-
lichst auf ein einziges Prinzip zurückführen. Das bedeutet aber, dass das
Denken in der Wissenschaft des Wissens zuletzt noch die Teilung zwi-
schen Vernunft und Sein aufheben muss. Ziel wissenschaftlichen Den-
kens ist damit – so Jacobi – die Gleichung Subjekt=Objekt oder Ver-
nunft=Sein. Dabei gibt es zunächst zwei Möglichkeiten: Entweder man
leitet wie Spinoza innerhalb der Philosophie das Subjekt aus dem Objekt
(die Vernunft aus der Substanz) ab und setzt damit das Objekt an den
Anfang der Gleichung. Oder man leitet wie Fichte alles aus dem Subjekt
bzw. der Vernunft her. Die Wissenschaftslehre ist damit nicht irgendeine
beliebige Alternative zu Spinoza, sondern eben ein „umgekehrte[r] Spi-
nozismus“.187 Fichtes Ausgang vom Subjekt hat aber den Vorteil, dass
hier das Denken, welches das System entwirft, nicht außerhalb des be-
griffenen Gegenstandes – des Absoluten – bleibt, sondern mit diesem
identisch ist. Die Wissenschaft und ihr Gegenstand sind identisch, das
Denken in seinem Vollzug ist zugleich der Gegenstand des Denkens. Ja-
cobi versteht die Wissenschaftslehre also als die Selbstexplikation ihres
Gegenstandes, des Absoluten. 188 Damit vollendet Fichte zugleich das
Anliegen der transzendentalen wie der spinozistischen Aufklärung: die
absolute Selbstsetzung der autonomen Vernunft.
Denn was passiert hier mit den Gegenständen, die im reinen Wissen
gewusst werden sollen? Der Mensch kann nur begreifen was er selbst
hervorgebracht hat: Einen Gedanken begreifen heißt ihn zu konstruie-
ren.189 Die Vernunft muss ihre Voraussetzungen als bloß positive Set-
zung aufheben und als Resultat ihres eigenen Konstruierens selbst ent-
stehen lassen. Die Vernunft annihiliert dabei alle ihre Voraussetzungen,
um sie aus sich selbst zu entwickeln.190 Das Seiende wird in seinem ob-
jektiven An-sich-Sein aufgehoben, um subjektiv als Setzung des Ich her-
187
JaF JW 2,1, 195.
188
Freilich ist fraglich, ob Fichtes frühe Wissenschaftslehre sich als Selbstexplikation
des Absoluten versteht.
189
„Der Kern der Kantischen Philosophie ist die von ihrem tiefdenkenden Urheber zur
vollkommensten Evidenz gebrachte Wahrheit: daß wir einen Gegenstand nur in so weit
begreifen, als wir ihn in Gedanken vor uns werden zu lassen, ihn im Verstande zu erschaf-
fen vermögen.“ (GD JW 3, 78; vgl. hierzu KrV B xiii.)
190
JaF JW 2,1, 201.
430 Praktischer Glaube

vorgebracht zu werden und wird dadurch Geschöpf des Ich. Deshalb


darf nur, was Handlung des Ich ist, am Gegenstand zurückbleiben. Was
sich in diesem Sinne nicht konstruieren lässt, ist für die autonome Ver-
nunft nicht.191
Wenn Wissenschaft reine Immanenz der Vernunft ohne Vorausset-
zung von Transzendenz bedeutet und das Begreifen ein Hervorbringen
des begriffenen Gegenstandes im Denken ist, so kann sich die wissen-
schaftliche Annihilation und Konstruktion nicht nur auf die Eigenschaf-
ten des Gewussten beziehen, sondern muss auch noch ihre Setzung auf-
heben. Mit der Annahme eines dem Wissen voraus-gesetzten Dinges an
sich, das den Erscheinungen als ihr durch das Subjekt nicht bedingter
Grund zu Grunde liegt, realisiert Kant für Jacobi dieses Prinzip nicht
vollständig. Erst Fichte realisiert mit der Deduktion allen Seins und Wis-
sens aus dem dem Ich nicht nur immanenten, sondern mit ihm identi-
schen Prinzip der Selbstsetzung die Möglichkeit eines rein vernunftim-
manenten Wissens, das keinen transzendenten Grund mehr hat. Damit
verwirklicht Fichte die Autonomie der Vernunft:

Offenbar muß alles in und durch Vernunft, im Ich als Ich, in der Ichheit allein
gegeben und in ihr schon enthalten seyn, wenn reine Vernunft allein, aus sich
allein, soll alles herleiten können.192

Wir können zusammenfassen: In der vollendeten Aufklärung Fichtes


ermächtigt sich die menschliche Vernunft zum absoluten Wissens- und
damit Seinsgrund. Sie annihiliert alles vorgegebene Sein und verwandelt
es in ihre eigene Setzung. Alles außer ihr ist für die menschliche Ver-
nunft Nichts und das Sein von allem setzt sie als ein bloßes Sein für und
durch die Vernunft. Sie selbst wird Welt-Schöpfer, denn nur als ihr eige-
nes Geschöpf ist die Welt für sie spekulativ erfassbar und damit wissbar.
Die menschliche Vernunft darf „nichts über sich anerkennen, sondern
Alles in Allem seyn und hervorbringen, sie will seyn wie Gott. [...] Diese
Wissenschaft, die eigentliche, einzige genannt, besteht in dem Selbsther-
vorbringen ihres Gegenstandes, sie schafft das Wahre und die Wahrheit,
ist selbstständig durchweg, und verwandelt Alles außer ihr in Nichts.“193
Damit einher geht jedoch eine Transformation des Seinsverständnis-
ses: Die menschliche Vernunft hat nicht die Macht, Positives zu setzen,

191
JaF JW 2,1, 230.
192
JaF JW 2,1, 200f.
193
VSpin3 JW 1,1, 344.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 431

sondern ihre Macht ist vielmehr die der Negation.194 Sie transformiert
deshalb das substantive Sein in das relative Sein der Kopula:

Das Ist des überall nur reflectirenden Verstandes ist überall auch nur ein relati-
ves Ist, und sagt mehr nicht aus, als das bloße einem Andern gleich seyn im Be-
griffe; nicht das substanzielle Ist oder Seyn.195

Die sich als unbedingt begreifende menschliche Vernunft kann nach Ja-
cobi nur nach dem Prinzip idem est idem verfahren, „aus welchem das
Facit eines directen simpeln Esse sich nie ergeben kann“.196 Das absolute
Ich Fichtes setzt dementsprechend kein Sein aus sich heraus, sondern
was es setzt, setzt es explizit nur als seine eigene Tätigkeit: Es setzt kein
vom Ich unabhängiges An-und-Für-sich-Sein, sondern nur ein Für-das-
Ich-Sein. Anders formuliert: Fichtes Aufklärung, indem sie alles Sein in
eine Setzung des Ich aufhebt, transformiert das substantielle Sein (das
Dasein) in ein bloß relationales Verhältnis der Gleichheit mit und
Entgegensetzung zum Ich. Das Nicht-Ich ist relational bestimmt als rei-
ne Entgegensetzung gegen das Ich. Aber auch das absolute Ich Fichtes
ist selbst reine Relation: die bloße Gleichheit mit sich selbst. Das Ich
(oder die Vernunft) der reinen Spekulation ist nur noch die reine, selbst-
bezügliche Tätigkeit der Gleichsetzung mit sich allein, ohne ein von die-
ser Tätigkeit verschiedenes Produkt oder Produzierendes, Gleichsetzen-
des oder Gleichgesetzes. Die Gleichheit wird nur mit sich selbst gleich-
gesetzt. Dem Ich Fichtes kommt „kein eigentliches Seyn, kein Bestehen
zu [...]. Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Thun, und absolut nichts
weiter“.197 Fichtes Ich kann daher für Jacobi als subjektive Umkehrung
der spinozistischen Substanz verstanden werden: denn beide müssen
causa sui sein.198 Fichte kann sich nach Jacobi sogar rühmen, dem Begriff
der causa sui seine Widersprüchlichkeit genommen zu haben, indem hier
nicht nur Ursache und Wirkung zusammenfallen, sondern beide noch
einmal identisch sind mit dem actus des ursächlichen Hervorbringens
der Wirkung. Die Vollendung der Aufklärung der Vernunft ist hier des-
halb erreicht, weil die Vernunft noch sich selbst in ihrem Selbstbegreifen
als gegebenes Sein annihiliert und sich selbst nur als ihr eigenes Handeln
anschaut. Das wird aus der Perspektive Jacobis aber damit erkauft, dass
dieses Ich (= Vernunft), das sich selbst setzt, eine Ursache ist, die selbst

194
FB WW VI, 166.
195
Einl JW 2,1, 424.
196
DH1 JW 2,1, 27.
197
Versuch GA 1,4, 200.
198
Vgl. GWL GA 1,2, 259.
432 Praktischer Glaube

nichts ist, und eine Wirkung zeitigt, die ebenso nichts ist. Die absolute
Selbstsetzung der Vernunft mit sich selbst ist deshalb für Jacobi der
Übergang „aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts“.199
Nun kann für Jacobi eine Tätigkeit, deren Tätiges und Getätigtes bei-
de nichts sind, selbst nur nichts sein. Indem sie autonomer Grund ihrer
selbst sein will, vernichtet die Vernunft zum Schluss noch ihr eigenes
Selbstsein und hebt mit ihrem Selbstsein und ihren Wirkungen ihre eige-
nen Vollzüge auf. Die Verabsolutierung der Vernunft (indem sie sich
selbst als ihre eigene unbedingte Voraussetzung setzt) führt konsequen-
ter Weise zu ihrer Annihilation:200

Alles außer ihr ist Nichts, und sie selbst nur ein Gespenst; ein Gespenst, nicht
einmal von Etwas; sondern, ein Gespenst an sich: ein reales Nichts; ein Nichts
der Realität.201

Aus diesem Nihilismus der autonomen Vernunft lässt sich nach Jacobi
jedoch wiederum unmittelbar gegen selbige und ihre Voraussetzung (die
Freiheit des Ich ist ihr eigener Seinsgrund) schließen.202 Die Vernunft, die
nicht Grund ihres Seins sein kann, erkennt, dass sie sich selbst und ihre
eigenen Vollzüge in einem rein immanenten Wissen vernichten würde.
Diese Einsicht motiviert das Heraussetzen des Grundes des Wissens aus
der Immanenz der eigenen Vollzüge. Sofern die Vernunft ist und sofern
sie vernünftig ist, muss sie den Grund ihres Seins und ihrer Tätigkeit sich
selbst und ihrer Tätigkeit voraussetzen. Dieser Grund muss in der Lage
sein, Sein nicht nur als Relation, sondern als Substanz zu setzen:

So gewiß ich Vernunft besitze, so gewiß besitze ich mit dieser meiner menschli-
chen Vernunft nicht die Vollkommenheit des Lebens, nicht die Fülle des Guten
und des Wahren […]. Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung
nicht: Ich; sondern, Mehr als Ich! Beßer als ich!203

Die Vernunft kann und vermag nicht aus sich selbst zu sein, ohne eine
ihr vorausgesetzte absolute Vernunft, „welche das Wesen selbst der
199
JaF JW 2,1, 202.
200
„Ich bin alles, und ausser mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und Ich, mein
Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk von Etwas; die Form einer
Form; gerade so ein Gespenst, wie die andern Erscheinungen die ich Dinge nenne, wie die
ganze Natur, ihre Ordnung und ihre Gesetze.“ (DH1 JW 2,1, 61.)
201
JaF JW 2,1, 207. Vgl. hierzu auch: Müller-Lauter 1975, 127.
202
JaF JW 2,1, 215. Insofern ist der Nihilismus kein defizitäres Denken, sondern not-
wendige Konsequenz und Voraussetzung für die Möglichkeit des Vollzugs des Salto mor-
tale (Baum 1969, 36).
203
JaF JW 2,1, 209f.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 433

Wahrheit ist, und in sich die Vollkommenheit des Lebens hat“,204 der sie
ihr eigenes Sein und die Vernünftigkeit ihrer eigenen Vollzüge verdankt.
Die menschliche Vernunft muss sich als Eigentum einer höheren, abso-
luten Vernunft begreifen und den Grund ihrer Unbedingtheit aus sich
heraussetzen.205 Dies kann jedoch nicht auf dem Wege einer bloß logi-
schen Operation geschehen, sondern setzt eine Entscheidung voraus.
Das Individuum muss wählen zwischen dem Nichts und einem Grund,
der absolute Selbständigkeit ist. 206 Die Selbständigkeit des Menschen
setzt sich dabei als eingeschränkt durch seine Abhängigkeit von einem
absolut Selbständigen. Andererseits ist er auch ein persönliches Wesen
und als dieses „Einer und kein Anderer“.207 Die Möglichkeit dieser Rela-
tion setzt nun nach Jacobi eine Persönlichkeit voraus, die nicht auf An-
dere angewiesen ist, eine vollendete Selbständigkeit:

Gott allein ist der Eine der nur Einer ist, der Alleinige; Er ist das Eine ohne An-
deres im ausnehmenden, im höchsten Sinne; in keinem Sinne Einer nur unter
andern, kein einzelnes, durch Vor- und Mitdaseyn bedingtes Wesen, sondern
das ausschließlich in sich selbst genugsame, unbedingt selbstständige – das allein
vollkommene, allein ganz wahrhafte Wesen.208

Fassen wir die Überlegungen noch einmal zusammen: Die menschliche


Vernunft muss sich nach Jacobi in ihrer Selbsttätigkeit und Spontaneität
erkennen. Insofern ist Fichte der Vollender der Philosophie, weil seine
Philosophie ein reines Produkt der Autonomie der Vernunft ist. In sei-
nem System erkennt die Vernunft nur das an, was durch die menschliche
Vernunft gesetzt ist. In letzter Konsequenz führt dieses System aber zum
Nihilismus, in dem die menschliche Vernunft gerade annihiliert wird. In
ihrer Selbstreflexion erkennt die Vernunft deshalb, dass sie nur eine end-
liche und keine schlechthin unbedingt autonome Vernunft ist. 209 Die
Konzeption einer unbedingten, selbstermächtigten menschlichen Ver-
nunft hebt hingegen die Wirklichkeit der Vernunft in einem doppelten
Sinne auf: Zunächst annihiliert sie die wahrhaft unbedingte Vernunft, in-
dem sie diese zu einem Geschöpf des Ich und damit zu einem Bedingten
macht. Mit der Aufhebung der unbedingten Vernunft wird aber auch die
durch sie bedingte Vernunft des Menschen aufgehoben. Deshalb muss
die Wirklichkeit einer unbedingten Vernunft von der bedingten Ver-
204
JaF JW 2,1, 209.
205
DBFK JW 2,1, 370.
206
GD JW 3, 26.
207
GD JW 3, 28.
208
GD JW 3, 28.
209
DH1 JW 2,1, 94.
434 Praktischer Glaube

nunft des Menschen vorausgesetzt werden, die die Vernunft des Men-
schen überhaupt erst ermöglicht und vernünftig sein lässt. Die Vernunft
muss sich in ihrer Selbstreflexion als bedingt durch eine ihr vorausge-
setzte unbedingte Vernunft erkennen. Nur in ihrer Relation zu dieser sie
transzendierenden Vernunft kann sich die menschliche Vernunft als Ur-
sache verstehen, das heißt selbst als etwas bedingt Unbedingtes.210 Die
menschliche Vernunft muss sich als „Geschöpf“ einer absoluten Ver-
nunft betrachten.211 In dieser Geschöpflichkeit, das heißt als etwas von
der absoluten Vernunft außer ihr hervorgebrachtes, versteht sich die
Vernunft als selbständige Substanz.
Wir können abschließend zusammenfassen: Wenn Schelling in seiner
Denkmalsschrift Jacobi darin in Gegensatz zu Kant bringt, dass Letzte-
rer das wissenschaftliche Denken nicht zum Atheismus führen, sondern
in der Frage nach Gott unentschieden lässt,212 so tut er dies zu Recht.
Denn diese Neutralität ist für Jacobi deshalb unhaltbar, da das Unbe-
dingte schon für die theoretische Vernunft nicht nur eine regulative Idee
ist, die als Fluchtpunkt des Denkens die Verstandeserkenntnisse ordnet,
sondern es ist der immer schon vorausgesetzte konstitutive Grund aller
Leistungen der Vernunft. Die Idee Gottes ist nicht nur Gegenstand der
Vernunft, sondern Voraussetzung ihres Seins. Deshalb kann die Ver-
nunft kein indifferentes Verhältnis zu Gott haben, sondern muss ihn zu
erkennen und damit in sich selbst aufzuheben suchen. Als Resultat der
Einsicht in das Scheitern dieses rein rationalen Versuchs, das Unbedingte
zu wissen, setzt sie es aus sich heraus.
Was bleibt dann aber nach dem Heraussetzen des Grundes aus der
Vernunft? Für Jacobi eine endliche Vernunft, die nicht nur sich selbst
vernimmt, sondern die ihr transzendente absolute Vernunft,213 der Glau-
be an einen Gott. Dieser „ist dem Menschen natürlich, wie seine aufge-
richtete Stellung.“214 Wenn der Glaube an Gott für uns ein Glaube an ein
Gespenst geworden ist, dann werden wir letztlich selbst zu Gott werden.
Aber eben auch nur als Gespenst. Sein und Wesen werden für uns zu
Gespenstern werden: „Das Wahreste kann nur so wahr seyn als Gott le-
bet, nur so wahr als daß ein Gott im Himmel, das heißt, selbstständig
außer der Natur und über ihr vorhanden ist“ als „ihr freyer Urheber“.215
210
Dagegen ist die Vernunft bei Jacobi nach Larkin kein Zweck an sich selbst, sondern
nur ein Mittel, um zur Wahrheit vorzudringen: „In itself reason is empty, desolate and
void“ (Larkin 2000, 401).
211
DBFK JW 2,1, 351.
212
Vgl. Denkmal SW I,4, 425.
213
GD JW 3, 13f.
214
GD JW 3, 13.
215
GD JW 3, 9.
3. KAPITEL: RELIGION BEI KANT UND JACOBI

Abschließend werden wir nun untersuchen, inwieweit Kant und Jacobi


positive Religion und Offenbarung in ihr Aufklärungsprojekt integrie-
ren. Beide gehen dabei von der Notwendigkeit einer Vermittlung zwi-
schen Religion und Aufklärung aus. Bei Kant zeigt sich dies bereits da-
rin, dass er seine Lehre vom radikal Bösen als Vermittlung zwischen der
Erbsündenlehre, nach der der Mensch vom paradiesischen Zustand in
einen Zustand des Bösen abgefallen ist, und dem Aufklärungsglauben an
den kontinuierlichen Fortschritt des Menschen zum Besseren konzipiert:
Beide Konzeptionen machen das menschliche Individuum zu einem Ob-
jekt in einem historischen Prozess und schließen sich deshalb aus. Indem
Kant nun den Menschen als freien Akteur der Geschichte betrachtet und
sowohl den Sündenfall als auch den Fortschritt zum Besseren radikal an
den menschlichen Willen zurückbindet, lassen sich beide Konzeptionen
vermitteln. Für Jacobi geht diese Vermittlung hingegen noch nicht weit
genug, weil sie Religion und Offenbarung in Ideen der Vernunft trans-
formiert und damit gewissermaßen de-historisiert oder de-realisiert. Ja-
cobis Ziel ist demgegenüber eine Vermittlung zwischen religiösen Idea-
lismus und religiösem Realismus.

A. Kant

Im vorigen Kapitel haben wir den religiösen Glauben bei Kant als Modi-
fikation des moralischen Glaubens bestimmt. Von diesem „reinen Reli-
gionsglauben“ unterscheidet Kant nun wiederum den „Kirchenglauben“
an eine heilige Schrift oder eine religiöse Tradition:

Glaubenssätze, welche zugleich als göttliche Gebote gedacht werden sollen, sind
nun entweder blos statutarisch, mithin für uns zufällig und Offenbarungslehren,
oder moralisch, mithin mit dem Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit verbunden
und a priori erkennbar, d. i. Vernunftlehren des Glaubens. Der Inbegriff der ers-
teren Lehren macht den Kirchen-, der anderen aber den reinen Religionsglauben
aus.1

1
SF AA 7, 49.
436 Religion bei Kant und Jacobi

Verwendet Kant also den Begriff des moralischen Glaubens einmal für
den reinen praktischen Glauben und zum anderen für den religiösen
Glauben der Hoffnung, so verwendet er andererseits auch den Begriff
des Religionsglaubens als Oberbegriff für beide Formen moralisch be-
gründeten Glaubens, diesmal eben in Opposition zu einem moralisch
unbegründeten Kirchenglauben. Das Verhältnis beider Glaubensformen
lässt sich dabei auf den ersten Blick folgendermaßen bestimmen: Der
moralisch begründete Religionsglaube ist der einzig mögliche Maßstab
für die Legitimität jedes historisch begründeten Kirchenglaubens. Sofern
letzterer in Widerspruch zu ersterem steht, kann er keinen Anspruch auf
einen göttlichen Ursprung erheben. 2 Da kein Kirchenglaube mit dem
reinen Religionsglauben vollkommen identisch ist, sondern immer eine
„Mischung“ aus moralisch begründeten Grundsätzen und dogmatischen
und rituellen Zusätzen, muss man jeden Kirchenglauben entsprechend
seiner Annäherung an den reinen Religionsglauben beurteilen. Der Kir-
chenglaube, sofern er inhaltlich vom Religionsglauben abweicht und
dennoch von der Vernunft gerechtfertigt und in das Aufklärungsprojekt
integrierbar sein soll, kann dabei „nichts anderes sein als eine Veranstal-
tung, das moralische Bewußtsein zu fördern“.3 Letztlich sollten alle auf-
geklärten Gläubigen jedoch an der Überwindung des Kirchenglaubens
durch das universelle „Glaubensbekenntnis der reinen, moralischen, Re-
ligion“4 mitwirken. Denn nur dieses ist mit der Autonomie des gläubi-
gen Subjekts und damit der Aufklärung vereinbar.
Kants Religionslehre wäre so verstanden aber zumindest in zwei Hin-
sichten problematisch:
1. Kants Entgegensetzung von einem „blos statutarischen“, „zufälli-
gen“ und letztlich unaufgeklärten Kirchenglauben und dem notwendi-
gen, vernünftigen und deshalb aufgeklärten Religionsglauben, impliziert,
dass jeder Kirchenglaube im Prozess der Aufklärung durch den reinen
Religionsglauben abgelöst werden sollte. Die für das kirchengläubige
Bewusstsein konstitutiven Inhalte werden damit als unaufgeklärt abge-
wertet, insofern sie das Individuum auf Handlungen und Glaubenssätze
verpflichten, deren Gründe durch das autonome Subjekt nicht einsehbar
sind. Diese Haltung dürfte für kirchengläubige Individuen jedoch eher
unzumutbar sein. Denn diese denken Absolutheit gerade nicht vom In-
dividuum und seiner endlichen Vernunft, sondern von dem sich offenba-
renden Gott her. Dadurch besitzt die Botschaft, in der sich Gott für den
Menschen entäußert, eine absolute Würde, die sich einer Kritik durch
2
SF AA 7, 63.
3
Horkheimer 1989, 623.
4
Reinhold 2004, 185.
Kant 437

die menschliche Vernunft entzieht.5 Wenn nun Ameriks Recht hat, dass
Kant in seinen Kritiken darauf zielt, durch regressives Verfahren die
notwendigen Bedingungen menschlicher Erfahrung (sei diese nun theo-
retisch, moralisch oder ästhetisch) herzuleiten,6 sollte dies zumindest in
eingeschränkter Weise auch für die religiöse Erfahrung gelten. Kants
Konzeption von Religion sollte sich deshalb an dem Anspruch messen
lassen, die religiöse Erfahrung des Menschen entweder zu begründen
oder zumindest verständlich zu machen.7
2. Trotz der notwendigen Behauptung des universellen Standpunkts
seiner eigenen Religionsphilosophie lässt sich Kant nicht von einem ge-
wissen voreingenommenen Blick auf das Christentum freisprechen. Bei
aller Kritik lässt für ihn doch einzig der christliche Kirchenglaube eine
Interpretation zu, die mit seinem Konzept eines reinen Religionsglau-
bens in Einklang gebracht werden kann.8 Hieraus könnte man nun wie-
der folgern, dass Kants Idee einer rein moralischen Religion letztlich nur
das aufklärerische caput mortuum des christlichen Glaubens ist, eine Art
abstrakt-rationaler Überrest spezifisch christlicher Überzeugungen. In-
sofern wäre Kants Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft
selbst wiederum nur das Resultat seiner christlich-aufklärerischen Vor-
urteile.
Kants Religionsphilosophie erscheint also sowohl aus religiöser als
auch aus aufgeklärter Sicht defizitär: Aus religiöser Perspektive kann
man Kant vorwerfen, dass er dem religiösen Selbstverständnis nicht ge-
recht zu werden versucht.9 Aus aufgeklärter Perspektive erscheint hinge-
gen seine Orientierung an der christlichen Lehre als Bruch mit seinen
kosmopolitischen Aufklärungsansprüchen.10 Unsere Interpretation ver-

5
Dierksmeier 1998, 100.
6
Ameriks 2003, 4; 8.
7
So sieht Wolterstorff in Kants Religionsphilosophie nicht den Versuch einer Reduk-
tion der Religion auf die Moral, sondern das Bemühen um Gründe für zentrale religiöse
Glaubenssätze (Wolterstorff 1991, 41).
8
Von „orientalischer Weisheit“ wären wir deshalb nach Kant besser „verschont ge-
blieben“; aus ihr lasse sich nichts lernen, sondern bestenfalls ein Sinn hineintragen, der
aber der okzidentalen Bildung entspringe (Refl 789 AA 15, 345). Diese Kritik richtet sich
vor allem gegen Hamann und Herder (Zammito 1992, 40).
9
Aus Perspektive eines gläubigen Christen dürfte Kants Rekonstruktion des christli-
chen Glaubens etwa wegen seiner Negation der Gottessohnschaft Christi (RGV AA 6,
63f.) inakzeptabel sein (vgl. u. a. Off SW I,6, 496; Duplá 2016, 257; Jahae 2005, 482;
Wimmer 2004, 175; Cassirer 1979, 86).
10
Vgl. McCarthy 1986, 56ff. Gegen diese Kritik argumentiert Höffe, Kant entdecke
deshalb wesentliche Momente seiner Moralphilosophie im Christentum, da er so lange
von dessen christlichem Charakter abstrahiere, bis nur noch eine Lehre autonomer Moral
438 Religion bei Kant und Jacobi

sucht dagegen, beide Bedenken wenn nicht auszuräumen, so doch zu-


mindest einzuschränken.
Da Kants Religionsphilosophie von der Unbedingtheit der Vernunft
und der Autonomie ausgeht, betont unsere Interpretation primär ihr
aufklärerisches Moment. Die Autonomie des Menschen ist der kritische
Maßstab für die Akzeptabilität aller religiösen Gehalte. Religionsphilo-
sophie ist für Kant deshalb wesentlich Kritik an den heteronomen Be-
stimmungen der historischen Religionen, die den Anspruch erheben, un-
sere Moralität zu begründen oder zu bestimmen. Das bedeutet aber
nicht, dass religiöse Sätze sich ohne jeden Verlust in moralische Aussa-
gen transformieren lassen und Religion insofern auf Moralität reduzibel
ist.11 Kants Religionsphilosophie versteht sich zwar als Folge der Selbst-
auslegung des Selbstbewusstseins der menschlichen Autonomie, macht
dabei aber auch „das Andere der Vernunft zu ihrem specificum“.12
Im folgenden Kapitel wollen wir zeigen, dass Kant den Kirchenglau-
ben zwar in das Projekt der Aufklärung integriert, aber eben nicht auf-
hebt. Das Problem der Religion besteht dabei für Kant gerade darin, dass
Autonomie und historische Religion in ihrem Ist-Zustand in einem am-
bivalenten Verhältnis zueinander stehen. Einerseits ist Religion notwen-
diges Moment in der Realisierung menschlicher Autonomie, andererseits
hemmt sie selbige in ihrer historischen Form. Die Aufgabe religiöser
Aufklärung besteht so für Kant in der Auflösung dieser Ambivalenz. Als
endliches Vernunftwesen ist das menschliche Subjekt auf Religion ange-
wiesen, damit Aufklärung unter den Bedingungen menschlicher Be-
dingtheit gelingen kann. Stellvertretend untersucht Kant dazu den christ-
lichen Glauben.13 Der Bezug auf die christliche Religion bleibt dabei je-
doch ein kritischer, sofern der Ist-Zustand des christlichen
Kirchenglaubens den Ansprüchen der Aufklärung nicht entspricht. Da-
bei werden wir in zwei Schritten vorgehen: Zunächst analysieren wir den
Kirchenglauben als Glauben an gewisse religiöse Dogmen (I). Anschlie-
ßend betrachten wir Kants Bestimmung des Kirchenglaubens als eine
durch Rituale konstituierte, gemeinschaftliche Lebensform und Praxis
(II).

zurückbleibe (Höffe 2014, 20). Im Grunde sei Kants Religion deshalb eine „kosmopoliti-
sche Theologie“ (ibid., 21).
11
Diese These vertreten Sala 1992, 144; Cortina 1984, 280; 292f.; Cassirer 2001, 367; di
Giovanni 2003, 369; Kulenkampff 2010, 337.
12
Dierksmeier 1998, 81; vgl. auch Palmquist 1992.
13
Nach Wood richtet sich RGV primär an eine lutherische Leserschaft, die Kant davon
überzeugen will, dass es keinen Konflikt zwischen Vernunftmoral und christlicher Le-
bensführung geben muss (Wood 2014, 31).
Kant 439

I. Kants Auseinandersetzung mit den Inhalten des Kirchenglaubens

Wir haben festgestellt, dass jeder Kirchenglaube für Kant zunächst eine
Art dogmatisches System ist, das bestimmte Handlungen und Überzeu-
gungen vorschreibt, sich also aus theoretischen und praktischen Inhalten
konstituiert. Die folgenden Abschnitte wollen anhand von Kants Ausei-
nandersetzung mit der christlichen Religion analysieren, wie Kant ver-
sucht, diese dogmatischen Gehalte in sein Aufklärungsprojekt zu integ-
rieren.

a. Die Autonomisierung des Kirchenglaubens

Wenn Religion zu einem Medium der Aufklärung werden soll, so muss


sie von ihren heteronomen Elementen gereinigt werden. Dabei versucht
Kant zunächst eine aufgeklärte Religionskonzeption zu etablieren, in der
eine reine Vernunftreligion als kritischer Maßstab des Kirchenglaubens
fungiert. Dies ist die Grundlage seiner Religionsphilosophie, wobei er
die aus seiner Sicht selbst dogmatische, spekulativ-rationale Religion an-
derer Aufklärer durch seine kritisch-praktische Vernunftreligion ersetzt.
Die der praktischen Vernunft entspringende Idee von Religion ist eine
für alle Menschen, da sie der für alle verbindlichen Moralität entspringt.
Diese „wahre, alleinige Religion enthält nichts als Gesetze, d. i. solche
praktische Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns be-
wußt werden können, die wir also als durch reine Vernunft (nicht empi-
risch) offenbart anerkennen.“14 Das Wesentliche der Religion, ihre „All-
gemeinheit, Einheit und Nothwendigkeit“,15 geht allein aus der prakti-
schen Vernunft hervor. Die Moral begründet eine Religion der reinen
Vernunft, die nur eine für alle vernünftigen Wesen sein kann, da gar
nicht ersichtlich ist, wie für die Vernunft, die nicht unter zeitlich-
sinnlichen Bedingungen steht, eine Differenz eintreten sollte.16 Die Dif-
ferenz der Glaubensarten kommt erst dadurch zu Stande, dass diese
Vernunftidee durch die menschliche Einbildungskraft schematisiert bzw.
14
RGV AA 6, 167f. Nach Wood ist die vermeintlich universelle Moral, auf die Kant
seinen Vernunftglauben gründet, faktisch weit mehr auf eine bestimmte Tradition und
Kultur beschränkt, als dies etwa für das Christentum der Fall ist (Wood 2002, 100). Das
Problem für Kant ist jedoch, dass ein offenbarter Glaube niemals universell mitgeteilt
oder gerechtfertigt werden kann, und deshalb auch keinen rechtmäßigen Anspruch auf
Universalität erheben kann (RGV AA 6, 109; Wood 2002, 101).
15
SF AA 7, 8.
16
Die Vernunft „läßt uns, wie nur einen Gott, also auch nur eine Religion denken“
(RGV AA 6, 104).
440 Religion bei Kant und Jacobi

symbolisiert und damit „versinnlicht“ wird. Die praktisch-vernünftige


Religion als der wahre Gehalt all dieser Glaubensarten stellt sich für un-
terschiedliche Menschen unter unterschiedlichen räumlich-zeitlichen
Bedingungen jeweils anders dar und aus dieser unterschiedlichen Gege-
benheitsweise des reinen Vernunftgehalts der Religion ergibt sich die
Möglichkeit einer Vielfalt von Glaubensarten.17 Die Vielfalt der positiven
Religionen reduziert Kant dabei auf das Faktum historisch gewachsener
Glaubensarten. Diese sollten im günstigsten Fall der reinen Religion
durch der jeweiligen Einbildungskraft einer Personengruppe angepasste
erbauliche Bilder, Erzählungen etc. Eingang verschaffen und so zwi-
schen der Vernunft des Menschen und seiner sinnlichen Bedingtheit
vermitteln. Diese Bilder und Erzählungen differieren dabei jeweils von
Person zu Person, Nation zu Nation etc., da unterschiedliche Personen
zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedliche Bilder eingängig oder
erbaulich finden. Somit sind die Glaubensarten, sofern sie über die ver-
nünftige Religionslehre hinausgehen, nur die arbiträren sinnlichen Dar-
stellungsformen des eigentlich rationalen Gehalts des reinen Religions-
glaubens. Es gibt also keine Differenz in der Religion, sondern nur in
den Kulten (= Glaubensarten).18 Die Kulte sind zur sinnlichen Vermitt-
lung der Vernunftidee hilfreich, aber nicht notwendig, da die praktischen
Begriffe praktische Realität haben und deshalb anders als die Kategorien
nicht auf Vermittlung durch ein sinnliches Schema angewiesen sind.
Damit unterbietet jede positive Religion einerseits die Vernunftreligi-
on, weil sie den wahren Vernunftgehalt der Religion versinnlicht und so
in gewisser Weise verfälscht. Sie hat aber andererseits einen größeren
Umfang als die Vernunftreligion, da sie neben letzterer aus historischen
Zusätzen besteht, die sie zu einer spezifischen Glaubensart machen. His-
torische Zusätze sind dabei alles, was über den reinen Religionsglauben
hinausgeht, also sowohl positive Dogmen als auch Verhaltensregeln.
Vernunftreligion und positive Religion verhalten sich idealerweise wie
zwei „concentrische Kreise“,19 das heißt die positive Religion sollte die
Vernunftreligion in sich enthalten. Der weitere Kreis als die „weitere
Sphäre des Glaubens“20 gründet sich auf die spezifische historische Er-
fahrung der jeweiligen Glaubensgemeinschaft. Einen legitimen Universa-

17
„Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“
(RGV AA 6, 107.)
18
„Cultus externus kann also nicht einen Unterschied machen in den Religionen, nur
in den formalitaeten derselben, denn es kann nur eine wahre und nicht viele Religionen
geben.“ (V-PP/Powalski AA 27,1, 186.)
19
RGV AA 6, 12.
20
RGV AA 6, 12.
Kant 441

litätsanspruch kann deshalb nur die Vernunftreligion oder der innere


Kreis erheben. Der weitere Kreis enthält bloß „Adiaphora“, also „mora-
lisch gleichgültige“ Praktiken und dogmatische Zusätze zur Religion der
Moral,21 die jedes Individuum annehmen darf, sofern es sie für moralisch
„erbaulich“ hält und sie nicht im Widerspruch zur Moralität stehen.22
Ganz anders verhält es sich mit der „natürlichen Religion als Moral“, die
nichts als „ein reiner praktischer Vernunftbegriff“ ist, von dem man je-
den innerhalb der Grenzen reiner Vernunft zumindest praktisch hinrei-
chend überzeugen kann.23 Der Versuch hingegen, jemanden zur Annah-
me bestimmter adiaphora zu bewegen, wäre bestenfalls Überredung und
schlimmstenfalls Zwang, widerspräche also der Autonomie des mensch-
lichen Individuums und damit dem Aufklärungsprojekt.
Fassen wir zusammen: Die Vielfalt der Glaubensarten basiert nicht auf
der für alle Menschen verbindlichen praktischen Vernunft, sondern auf
den unterschiedlichen sinnlichen Vorstellungen oder Symbolen, durch
die Menschen sich den Einfluss des göttlichen Willens auf die Welt ver-
bildlichen. Ihr Zweck erschöpft sich darin, der Vernunftidee Gottes Ein-
fluss auf die verschieden verfassten Gemüter der Menschen zu verschaf-
fen.24 Sie stehen in einem rein instrumentellen Verhältnis zur Moralisie-
rung und dem Aufklärungsprozess des Menschen. Da sie rein historisch
bedingt sind, sind sie moralisch indifferent.25 Jemandem diese Vorstel-
lungen aufzuzwingen wäre widersprüchlich. Zwang widerstreitet der
moralischen Erbauung, die ja Erbauung zur Autonomie sein muss. Das
Aufzwingen des Mittels würde also dessen Zweck negieren. Keine Glau-
bensart kann den Menschen deshalb gerechtfertigter Weise innerlich
oder äußerlich zu irgendetwas verpflichten, sofern sie über die Forde-
rungen der Moral hinausgeht. 26 Da die Vermittlung praktischer Ideen
durch Schemata nicht notwendig ist, ist nicht einmal die Annahme ir-
gendeiner Glaubenslehre notwendig, sondern bestenfalls erbaulich.

21
V-PP/Powalski AA 27,1, 169.
22
„Das historische Erkenntniß, welches keine innere, für jedermann gültige Beziehung
hierauf hat, gehört unter die Adiaphora, mit denen es jeder halten mag, wie er es für sich
erbaulich findet.“ (RGV AA 6, 43.)
23
RGV AA 6, 157.
24
Unter diesen ist nach Kant „das Christenthum, so viel wir wissen, die schicklichste
Form“ (SF AA 7, 36).
25
RGV AA 6, 104. „Von dem Kultus der Religion ist nichts zu sagen, als daß er ganz
gleichgültig sey. In der Religion die nicht soll abgöttisch seyn, muß er nur als Mittel be-
trachtet werden, und nicht als wenn man sich dadurch Gott unmittelbar könnte wohlge-
fällig machen.“ (V-PP/Powalski AA 27,1, 174.)
26
Briefentwurf an Lavater nach dem 28.4.1775 AA 10, 179.
442 Religion bei Kant und Jacobi

Der Aufklärung Kants kommt somit in Bezug auf religiöse Glaubens-


gehalte zunächst die kritische Funktion zu, die Differenz zwischen der
moralischen, rein rationalen Religion und den indifferenten historischen
Zusätzen der positiven Glaubensarten aufzuzeigen. Letztere können aus
Perspektive der Vernunft nur gerechtfertigt sein, sofern sie in einem in-
strumentellen Verhältnis zu ersterer stehen. Sie können keinen universel-
len Anspruch erheben und haben deshalb keinen verpflichtenden Cha-
rakter. Dem Individuum ist es überlassen, ob es eine Glaubensart für die
Praxis seiner moralischen Autonomisierung erbaulich findet, es darf ih-
nen aber keinen anderen Wert als den der Erbaulichkeit zuschreiben. Die
kritische Religionsphilosophie innerhalb der Grenzen der bloßen Ver-
nunft hat in diesem Verständnis positiver Religion die Aufgabe, den rein
rationalen Gehalt aus den positiven Religionen herauszupräparieren und
den moralischen Gehalt der Religionen von bloß historischen religiösen
Dogmen zu reinigen. Die „wahre Aufklärung“27 der Religion gründet
dabei auf der Vernunftidee von Religion und dem vernünftigen Ver-
ständnis von Gott als Gesetzgeber. Denn aus der Vernunftidee eines
göttlichen Gesetzgebers folgt, dass nur das, was von der Vernunft als
moralisch geboten erkannt wird, auch als von Gott geboten gedacht
werden kann.28
Kritik und Aufklärung positiver Religionen setzen deshalb die Ver-
nunftidee von Gott als moralischem Gesetzgeber voraus, da sie die im-
manente Norm aller Religion darstellt. Selbst wenn ein Mensch eine un-
mittelbare, empirische Erfahrung von Gott hätte (etwa in Form einer
göttlichen Offenbarung), dann müsste „doch ein Begriff von Gott zur
Richtschnur dienen, ob diese Erscheinung auch mit allem dem überein-
stimme, was zu dem Charakteristischen einer Gottheit erforderlich
ist“.29 Ansonsten wäre es nämlich gar nicht möglich, diese Erfahrung un-
ter den Begriff „Erfahrung von Gott“ zu subsumieren. Selbst unter der
Annahme, dass Gott sich in Schriften, Worten oder historischen Ereig-
nissen wirklich Menschen offenbart haben sollte, bedarf der Mensch
immer noch seines moralisch gebildeten Begriffs von Gott, um zu beur-
teilen, ob hier ein Fall göttlicher Offenbarung vorliegt oder ein Fall blo-
27
RGV AA 6, 174.
28
Bezogen auf das Christentum impliziert dies für Kant die strikte Trennung der ur-
sprünglichen Lehre Christi von der Lehre des Christentums. Erstere ist die rein morali-
sche Grundlehre der Evangelien, letztere nur eine „Hülfslehre“, um der Grundlehre, der
Hoffnung auf göttliche Unterstützung unserer moralischen Besserung im Angesicht unse-
rer sittlichen Insuffizienz, Eingang zu verschaffen. Die Hilfslehre besteht in der konkre-
ten Erzählung von der Menschwerdung, Kreuzigung und Auferstehung Christi (AA 10,
176).
29
WDO AA 8, 142.
Kant 443

ßer Täuschung. Dieser Begriff kann aber weder durch die Sinne noch
durch den Verstand gegeben sein, da weder die Sinne noch der Verstand
das Unendliche erfassen können. Die Vernunft hingegen liefert zwar
keine positiven Kriterien, die eine Offenbarung erfüllen muss, um tat-
sächlich göttlich zu sein. Sie kann aber kritisch feststellen, wenn kein Fall
göttlicher Offenbarung vorliegt, nämlich dann, wenn ein Widerspruch
zur praktischen Vernunft impliziert ist. Schriftstellen, die die Vernunft
„übersteigende Lehren enthalten, dürfen“, Stellen, die der Vernunft wi-
dersprechen, „müssen“ deshalb im Rahmen religiöser Aufklärung zu
Gunsten der Vernunft ausgelegt werden.30 Als besonders eklatantes Bei-
spiel einer offensichtlich falschen Offenbarung gilt Kant die Forderung
Gottes an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern.31 Diese widerspricht
eindeutig der praktischen Vernunft und damit auch ihrer Idee Gottes als
moralischem Gesetzgeber. Eine Religion, die auf solchen Erzählungen
gründet, muss nach Kant letztlich an ihrem Widerspruch zur Vernunft
zu Grunde gehen. Denn „eine Religion, die der Vernunft unbedenklich
den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“.32
Würde nicht jeder Mensch immer schon mit seiner Vernunft auch
über den praktischen Vernunftbegriff von Religion verfügen, so wäre die
religiöse Aufklärung nicht kommunikabel. Denn für das religiöse Be-
wusstsein würde die aufklärerische Kritik an seinem Glauben dann im-
mer nur von einem diesem Glauben äußerlichen Maßstab aus kritisiert
werden können, von dem aber gar nicht gezeigt werden könnte, dass er
für die eigene Glaubensart Verbindlichkeit besitzt. Wenn aber die wahre
moralische Religion die Voraussetzung der Möglichkeit positiver Religi-
on ist, so muss sie einen verpflichtenden Maßstab für letztere darstellen.
Denn mit der Aufhebung der Voraussetzung würde auch die positive
Religion aufgehoben.
Zentral für den auf der Moral begründeten reinen Religionsglauben ist
aber die Autonomie, denn ohne Autonomie gibt es keine Moral. Damit
ergibt sich zwangsläufig eine Kritik an den unbedingten Geltungsan-
sprüchen statutarischer, religiöser Vorschriften, die über die rein morali-
schen Gesetze hinausgehen. Diese müssten nämlich als Setzungen eines
Willkürgottes verstanden werden, der den ihm unterworfenen Menschen
beliebige kultische Vorschriften aufoktroyiert. Der Religionsdienst des

30
SF AA 7, 38; 33.
31
„Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚Daß ich
meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst,
Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden’, wenn sie auch vom
(sichtbaren) Himmel herabschallte.“ (SF AA 7, 63.)
32
RGV AA 6, 10.
444 Religion bei Kant und Jacobi

Menschen würde zur Einschmeichelei bei einem Mächtigeren verkom-


men, moralische Gesinnung durch „Andächteley“, Vernunftglaube
durch Aberglaube ersetzt.33 Der Glaube der gottesdienstlichen Religio-
nen wäre ein anthropomorphistischer „Frohn- und Lohnglauben“.34 Die
Idee eines solchen Glaubens steht aber offensichtlich in Widerspruch zur
moralischen Autonomie des Menschen, die der Kirchenglaube doch ge-
rade befördern soll. Das Mittel würde damit, wie bereits skizziert, seinen
Zweck negieren. Deshalb ist für Kant „alles, was außer dem guten Le-
benswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott wohl-
gefällig zu werden, [...] bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“35
Wir neigen jedoch dazu, eher kultische Regeln zu befolgen, als die An-
strengung der Herzensänderung auf uns zu nehmen, da ersteres leichter
ist als letzteres.36 Die wahre Aufklärung der Religion besteht deshalb da-
rin zu zeigen, dass praktischer Gottesdienst nicht in der passiven Unter-
werfung unter den Willen Gottes besteht, sondern in der Ausübung der
eigenen Autonomie. Dass Gott die Freiheit des Menschen will, bedeutet
nichts anderes, als dass das eigentlich göttliche Gebot an den Menschen
lautet: „Sei autonom!“ oder „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Ver-
standes und autonomen Willens zu bedienen!“ Eine an der moralischen
Religion orientierte positive Religion kann der Aufklärung nicht wider-
sprechen, sondern ist ein Instrument der Aufklärung und müsste sich,
wenn auch nicht ausschließlich, so doch zumindest auch in diesem Sinne
verstehen. Durch die Annahme sittlicher Grundsätze befreien wir uns
selbst aus unserer „selbst verschuldete[n] Verkehrtheit“.37 Diese Reform
unserer Gesinnung ist ganz auf unsere eigene Selbsttätigkeit gegründet.
Wir können jedoch auf eine Ergänzung unserer Selbsttätigkeit zur Reali-
sierung unserer Autonomie hoffen, die wir als endliche Wesen nicht al-
leintätig realisieren können.
An diesem Maßstab seines Aufklärungsprojekts gemessen muss Kant
die wirkliche Gestalt der Religionen seiner Zeit als Perversion der ei-
gentlichen Religion verstehen.38 So weist aus Sicht Kants keine der insti-

33
Refl 8087 AA 19, 630f.
34
RGV AA 6, 115.
35
RGV AA 6, 170.
36
Anth AA 7, 200.
37
RGV AA 6, 83.
38
„[D]aß die Religion nichts als eine Art von Gunstbewerbung und Einschmeichelung
bey dem höchsten Wesen sey, in Ansehung deren die Menschen sich nur durch die Ver-
schiedenheit ihrer Meinungen, von der Art, die ihm die beliebteste seyn möchte, unter-
scheiden ist ein Wahn, der, er mag auf Satzungen oder frey von Satzungen gestimmet
seyn, alle moralische Gesinnung unsicher macht und auf Schrauben stellt, dadurch, daß er,
ausser dem guten Lebenswandel, noch etwas anderes als ein Mittel annimmt, die Gunst
Kant 445

tutionalisierten Religionen seiner Zeit diesen aufklärerischen Charakter


auf. Sie alle sind vielmehr Institutionen, die die menschliche Heterono-
mie zementieren. Um dies zu ändern, müssen ihre religiösen Gehalte zu-
nächst Gegenstand öffentlicher Aufklärung werden. Zu diesem Zweck
werden sie von Kant mittels der Vernunft primär einer Kritik unterzo-
gen.39 Insofern sie Instrumente zur Realisierung menschlicher Autono-
mie sind, müssen alle diesem Zweck offensichtlich widerstreitenden Stel-
len oder deren Interpretationen zurückgewiesen werden. Die Vernunft
ist dabei Kritikerin und Interpretin der Religionen zugleich, ihr Maßstab
ist die menschliche Autonomie.40
Man könnte nun freilich mit Herder einwenden, dass Kants Interpre-
tation der Religion damit von vornherein stark limitiert ist, da er etwa
die historische Tradition einer Religion nicht als Maßstab ihrer Interpre-
tation anerkennt. Hierbei gilt es aber wieder zu beachten, dass Kant sei-
ne Interpretation als ausschließlich philosophisch versteht. Die Religio-
nen werden allein aus der immanenten Perspektive der Vernunft und ih-
rer Grenzen untersucht. Der Philosoph ist hier nur als „reiner
Vernunftlehrer“41 tätig. Bereits der Titel seiner Religionsschrift macht ja
deutlich, dass in ihr keine „Religion aus bloßer Vernunft“, sondern „in
den Grenzen bloßer Vernunft“ dargestellt werden soll. Die Vernunft
kann deshalb nur dasjenige an einer Offenbarung betrachten, was an ihr
aus Vernunft erkannt werden kann.42 Es geht Kant also weniger um die
Ausschließlichkeit (eliminativer Reduktionismus) der Vernunftreligion,
sondern um die Frage der Priorität der beiden Elemente jeder positiven

des Höchsten gleichsam zu erschleichen und sich dadurch der genauesten Sorgfalt in An-
sehung des ersteren gelegentlich zu überheben, und doch auf den Nothfall eine sichere
Ausflucht in Bereitschaft zu haben“ (AA 10, 192f.). Vgl. ebenso: RGV AA 6, 106; V-
Mo/Collins AA 27,1, 328.
39
Vgl. hierzu Dörflinger 2004. Die Begriffe, die etwa in der Moraltheologie verwendet
werden und auch in der Moralphilosophie Bedeutung haben, werden in der transzenden-
talen Theologie von sinnlichen Beimengungen gereinigt (KrV B 669f./A 641f.).
40
„Auf solche Weise müssen alle Schriftauslegungen, so fern sie die Religion betreffen,
nach dem Princip der in der Offenbarung abgezweckten Sittlichkeit gemacht werden und
sind ohne das entweder praktisch leer oder gar Hindernisse des Guten. – Auch sind sie
alsdann nur eigentlich authentisch, d. i. der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir
niemand verstehen als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Ver-
nunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als
durch Begriffe unserer Vernunft, so fern sie rein=moralisch und hiemit untrüglich sind,
erkannt werden kann.“ (SF AA 7, 48.)
41
RGV AA 6, 12.
42
SF AA 7, 6. Dass Kant mit diesen Bemerkungen auf das königliche Rescript reagiert,
impliziert keinen Mangel an Authentizität.
446 Religion bei Kant und Jacobi

Religion.43 Die bloß natürliche Religion ist, „eine gute aber unvollständi-
ge Religion. Sie ist gut und liegt auch jeder Religion zu Grunde. Sie ist
eine Grundlage revelatae Religionis“:44

Man muß seine Kräfte anwenden, der Natürlichen Religion Genüge zu leisten,
und dann kann man hoffen, die übernatürliche als das Supplementum der natür-
lichen Religion zu genießen.45

Kant glaubt freilich nicht, dass seine Interpretation der Bibel ein willkür-
liches „Hineinlesen“ vernünftiger Gehalte in die Bibel ist. Vielmehr zeigt
bereits eine Reflexion aus den 1760er Jahren, dass es für ihn die Schwär-
mer und Sekten sind, die ihre Hirngespinste und ihre Dogmen nicht in
der Bibel finden, sondern in diese hineinlesen. 46 Aus der spezifischen
Perspektive der Aufklärung kann für Kant auch nicht die Tradition,
sondern nur der reine Religionsglaube das angemessene Interpretations-
werkzeug zum Verständnis einer historischen Glaubensart sein. 47 Die
Aufgabe des historischen Verständnisses einer positiven Religion kommt
dagegen den Theologen zu. Analog kann ja auch die Rechtsgeschichte
nicht Geltungsgrund einer Rechtsnorm sein und fällt somit nicht in die
Kompetenz des Rechtsphilosophen. Die Theologen und Rechtsgelehrten
sollten jedoch die Stimme des philosophischen Vernunftlehrers für ihre
Interpretation zur Kenntnis nehmen.

b. Kirchenglaube als Symbol

Kants Religionsphilosophie zielt im Rahmen seines Aufklärungsprojekts


also zunächst auf die Überwindung der Konfusion bloßer Glaubenssätze
mit dem reinen Religionsglauben und ihres unterschiedlichen normati-
ven Status. Dies ist nun wenig verwunderlich, stellt doch gerade diese
Konfusion für Kant eines der wesentlichen Hindernisse für die Aufklä-
43
Palmquist 1992, 133. Palmquist weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin,
dass Kant in seiner Religionsschrift nicht von Grenzen „reiner“ Vernunft spricht, sondern
von der „bloßen“ Vernunft. Damit deute er schon an, dass die reine Vernunftreligion auch
nur der nackte Körper ist, der auf eine Art Kleidung angewiesen ist. Vgl. ebenso Wimmer
2004, 183ff. Dagegen: O’Neill 1996, 271f.
44
V-PP/Powalski AA 27,1, 172.
45
V-PP/Powalski AA 27,1, 173.
46
Refl 313 AA 15, 122; vgl. Zammito 1992, 33.
47
WDO AA 8, 142. Mit seiner Behauptung, die Vernunft sei die wahre Interpretin je-
der Heiligen Schrift, damit also der Philosoph und nicht der des Griechischen und Hebrä-
ischen mächtige Philologe und historisch-orientalisch Gelehrte, wendet sich Kant zu-
gleich explizit gegen Herders Rekonstruktion der Bibel (AA 10, 160f.)
Kant 447

rung und die Autonomie des Menschen dar. Die Moralisierung mora-
lisch indifferenter dogmatischer und kultischer Glaubensgehalte unter-
wirft den Menschen Pflichten, die er sich nicht in autonomer Weise
selbst vorschreiben kann, sondern die ihm von Autoritäten vorgegeben
werden. Außerdem gaukelt ihm die Einhaltung dieser Pflichten eine mo-
ralische Vervollkommnung vor, die keine ist. Zuletzt, aber vielleicht am
schädlichsten, ist der Hang, moralisch indifferente religiöse Pflichten
Dritten aufzuzwingen. So sind die bestehenden positiven Religionen für
Kant in der Tat ein Haupthindernis schlechthin für die Selbstbefreiung
des Menschen. Interpreten wie Dörflinger ziehen hieraus den Schluss,
Kants Religionsphilosophie sei ausschließlich Kritik positiver Religio-
nen. 48 Demgegenüber stellt Dierksmeier fest, dass der Vernunftbegriff
(bzw. das Noumenon) von Religion zwar Legitimations- und Limitati-
onsgrund aller religiösen Ansprüche ist, es Kant aber dennoch nicht um
eine kritische Reduktion von Religion auf reine Rationalität geht.49
Für die Frage nach dem Stellenwert des Kirchenglaubens bei Kant ist
zunächst aufschlussreich, dass Kant in SF den religionsphilosophischen
Gegensatz zwischen Kirchenglauben und Religionsglauben in Entspre-
chung zum erkenntnistheoretischen Gegensatz zwischen Empirismus
und Rationalismus setzt.50 Nehmen wir diese Analogie ernst, so scheint
Kant seine kritische Religionsphilosophie als Vermittlung zwischen ei-
nem religiösen Positivismus, für den Religion etwas durch Offenbarung
äußerlich dem Menschen vorgegebenes ist, und einem religiösen Ratio-
nalismus, für den die positiv gegebenen Momente einer Religion als dem
vernünftigen Subjekt äußerlich vorgegeben und kontingent per se un-
wahr sind, zu verstehen. Damit würde er für seine Religionslehre in An-
spruch nehmen, dass sie den scheinbaren Gegensatz zwischen religiösem
Positivismus und Rationalismus als Missverständnis entlarvt und da-
durch aufhebt, so wie er es mit dem epistemologischen Gegensatz von
Rationalismus und Empirismus tut. So wie dann seine Transzendental-
philosophie die Möglichkeit empirischen Wissens begründet, so hätte sie
auch die Möglichkeit des positiven religiösen Glaubens zu begründen.51
Damit würde Kants religiöses Aufklärungsprojekt dann auch für das re-
ligiöse Bewusstsein anschlussfähig.
48
Vgl. hierzu Dörflinger 2004. Nach Wood ist die Funktion der Offenbarungsreligion
hingegen historisch oder sozial (Wood 2002, 91).
49
Dierksmeier 1998, 8. Ebenso geht es auch nach Wood Kant nicht um eine Reduktion
der Religion auf praktische Vernunft, vielmehr bilde letztere nur die Basis, die alle Religi-
onen teilen müssten, weil ihre Anerkennung und die Erfüllung moralischer Pflichten von
allen eingefordert werden könne (Wood 1970, 202).
50
SF AA 7, 50.
51
Vgl. auch Palmquist 1992, 138.
448 Religion bei Kant und Jacobi

Für diese These wollen wir im Folgenden argumentieren. Dabei kann


die bloße erkenntnistheoretische Analogie allein natürlich noch keinen
Begründungsanspruch erheben. In einem ersten Schritt gilt es deshalb zu
sehen, dass Kant die Möglichkeit göttlicher Offenbarung auch aus der
Perspektive reiner Vernunft zugesteht. Wenn eine Schrift „ihrem prakti-
schen Inhalte nach lauter Göttliches enthält“,52 dann könne die Vernunft
nicht die Möglichkeit leugnen, dass es sich tatsächlich um eine göttliche
Offenbarung handelt. Sie kann zwar innerhalb ihrer Grenzen nicht so-
weit gehen, aus der bloßen Übereinstimmung von Moral und Offenba-
rung auf die tatsächliche Göttlichkeit der Offenbarung und damit von
der Möglichkeit göttlicher Offenbarung auf deren Wirklichkeit zu
schließen, sie würde aber ebenso ihre Grenzen überschreiten, wenn sie
diese Möglichkeit schlechthin ausschlösse. Dies könnte die Vernunft nur
dann, wenn sie die Inkommensurabilität einer vermeintlichen Offenba-
rung mit den Ansprüchen praktischer Vernunft konzedieren muss.
Stimmen beide Ansprüche aber überein, so wird das kirchengläubige In-
dividuum durch die Forderungen der Offenbarung nicht fremdbe-
stimmt, weil es sich auf Grund seines Glaubens zu keiner Handlung ver-
pflichtet sieht, zu der es sich nicht gleichzeitig selbst verpflichtet weiß.
Damit steht der Kirchenglaube nicht in Widerspruch zur Autonomie
und Aufklärung des Menschen. Er muss jedoch auf den Anspruch Ver-
zicht tun, öffentlich kommunikabel zu sein und sich auf bloße Privatgül-
tigkeit bescheiden.
Kant geht aber noch weiter: Die Forderung nach Verwirklichung der
Autonomie als primäre Intention der Aufklärung richtet sich gleichzeitig
an das Individuum als Noumenon wie auch als empirisches Subjekt.
Würde es seine Aufforderung zur Autonomie nicht an das Noumenon
richten, so bliebe dem Individuum die Forderung (zur Revolutionierung
seiner Denkungsart) schlechthin unverständlich. Für ein reines Ver-
nunftwesen wäre diese Forderung hingegen überflüssig. Für den Men-
schen als empirischem Vernunftwesen ist zwar grundsätzlich das Be-
wusstsein des moralischen Gesetzes Motivation genug, dem moralischen
Gesetz Folge zu leisten, das heißt aber nicht, dass man ihm als sinnli-
chem Wesen die Annahme moralischer Gesinnungen und damit seine
Autonomisierung (das heißt die Reform seiner Sinnesart) nicht erleich-
tern könnte. Im Grunde besteht darin ja gerade das Projekt der Aufklä-
rung. Ein wesentliches Instrument hierzu ist die Vermittlung zwischen
dem Selbstverständnis des Menschen als einem moralisch-autonomen

52
RGV AA 6, 132.
Kant 449

Vernunftwesen und seinem Selbstverständnis als einem empirisch-


bedingten Sinnenwesen, wie wir zuvor bereits festgestellt haben.
Eben diese Vermittlungsleistung kann nach Kant auch die positive Re-
ligion erbringen. Die positive Religion wird dabei von Kant als Schema
oder Symbol zur Versinnbildlichung moralischer Ideen verstanden, in
denen „eine Übertragung des Noumenalen ins Phänomenale“ stattfin-
det.53 Die Bilder der positiven Religionen schematisieren gewissermaßen
die praktischen Ideen der reinen Vernunft von Tugendhaftigkeit, höchs-
tem Gut und Gott. Allerdings handelt es sich hierbei nur um
„Schematism[en] der Analogie (zur Erläuterung)“ im Gegensatz zu den
Schematismen, 54 die zwischen Verstandesbegriffen und Anschauung
vermitteln und durch die Gegenstände der Erfahrung bestimmt wer-
den.55
Mit seinem symbolischen Verständnis des Kirchenglaubens glaubt
Kant also zwischen dem positiven Kirchenglauben und dem reinen Ver-
nunftglauben vermitteln zu können, so wie das Schema zwischen reinem
Verstand und sinnlicher Anschauung vermittelt. Klären wir zunächst
den Begriff „Symbol“ auf, so wie Kant in RGV von ihm Gebrauch
macht.56 Demonstrieren heißt nach Kant, einen Begriff in der Anschau-
ung darstellen und ihm damit seine objektive Realität sichern. Die Tu-
gend ist in diesem Sinne indemonstrabel, weil keine ihr vollkommen ent-
sprechende empirische Anschauung möglich ist.57 Sie ist aber einer sym-
bolischen Darstellung fähig. Unter einem Symbol versteht Kant dabei
die durch eine Analogie vermittelte, indirekte Darstellung eines Begriffs
in einer Anschauung. Die Reflexion überträgt dazu „einen Gegenstand
der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine

53
Dierksmeier 2005, 79.
54
RGV AA 6, 65.
55
Anth AA 7, 191. Alle Erkenntnis von Gott ist nach Kant ausschließlich symbolisch.
Versteht man die Charakterisierungen Gottes als verständig, willentlich handelnd etc.
nicht symbolisch, so gerät man in den Anthropomorphismus (KU AA 5, 353). Ebenso ist
die sichtbare Kirche selbst ein Symbol, weil die unsichtbare Kirche, wie der Name schon
sagt, nie in der Anschauung gegeben sein kann (ibid., 351). Die Jungfrauengeburt ist eben-
falls ein für unsere Praxis relevantes Symbol „der sich selbst über die Versuchung zum
Bösen erhebenden [...] Menschheit“ (RGV AA 6, 80) und der „Freiheit der Kinder des
Himmels“ (ibid., 82). Auch die Erzählungen vom Antichristen, Sündenfall, Chiliasmus
und Weltende „können vor der Vernunft ihre gute symbolische Bedeutung annehmen“
(ibid., 136; EAD AA 8, 327; O’Neill 1996, 294f.).
56
Sofern Kant in RGV manchmal von „Schematisierung“ statt „Symbolisierung“
spricht, nehme ich mit Recki an, dass der Begriff der Schematisierung hier weiter gefasst
ist und Symbolisierung mit einschließt (Recki 2009, 245). Zur Differenz zwischen Symbol
und Schematismus vgl. Dierksmeier 1998, 40-48.
57
KU AA 5, 343.
450 Religion bei Kant und Jacobi

Anschauung direct correspondiren kann“. 58 Das Symbol ist damit ein


Konzept der reflektierenden Urteilskraft. Ein Begriff wird erst auf eine
sinnliche Anschauung angewandt, um dann „die bloße Regel der Refle-
xion über jene Anschauung auf einen ganz andern Gegenstand, von dem
der erstere nur das Symbol ist, anzuwenden.“59 Symbole sind Anschau-
ungen, die zu „Mitteln der Vorstellung durch Begriffe“ gebraucht wer-
den. Jedes Symbol ist „einige Zeit hindurch nützliche und nöthige Hülle
von der Sache selbst“.60 Die Unterscheidung von Sache selbst und Sym-
bol ist wiederum eine wesentliche Aufgabe der transzendentalen Aufklä-
rung.61 Denn gerade die Symbolisierung von Ideen impliziert anders als
die Schematisierung der reinen Verstandesbegriffe ein Defizit, das sich
aus dem Status der Idee ergibt: „Buchstäblich genommen und logisch be-
trachtet, können Ideen nicht dargestellt werden.“62 Wir können die reli-
giösen Lehren also immer nur als Symbolisierungen des Unbedingten
denken, die selbiges jedoch nicht objektiv darstellen und insofern theo-
retisch unzulänglich sind. Für das aufgeklärte religiöse Bewusstsein muss
die symbolische Erkenntnis deshalb immer mit dem Bewusstsein des
Unterschieds von Symbol und Symbolisiertem bzw. der Unerreichbar-
keit von letzterem durch ersteres verbunden sein. Diese religiöse Aufklä-
rung ist ein notwendiger Akt, weil alle Völker zunächst in ihrer Religion
Symbol und Sache selbst vertauschen. Aufklärung hat deshalb den Sym-
bolcharakter der religiösen Symbole freizulegen.63 Aber nur die Unter-
scheidung von Symbol und Sache, nicht die Annihilation des Symbols ist
Aufklärung.
Die soeben skizzierte, auf Analogien basierende symbolische Er-
kenntnis steht nach Kant im Gegensatz zur intellektuellen durch Begrif-
fe.64 Den religiösen Symbolen kommt keine theoretische, sondern nur
eine praktische Funktion zu: Durch allgemeine moralische Vorschriften
(auch selbst gegebene) wird weniger erreicht „als durch ein Beispiel der
Tugend oder Heiligkeit, welches, in der Geschichte aufgestellt, die Au-
tonomie der Tugend aus der eigenen und ursprünglichen Idee der Sitt-
lichkeit (a priori) nicht entbehrlich macht“.65 Es ist insofern wenig ver-
58
KU AA 5, 353.
59
KU AA 5, 352.
60
Anth AA 7, 192.
61
Anth AA 7, 193.
62
KU AA 5, 268.
63
Anth AA 7, 192.
64
Anth AA 7, 191.
65
KU AA 5, 283. Wenn eine historische Person als „Muster der Tugend“ präsentiert
wird, so muss dieses Muster mit der Idee von Tugend übereinstimmen (KrV B 372/A 315;
GMS AA 4, 408). Selbst die Heiligkeit Christi muss am Maßstab unseres Ideals morali-
Kant 451

wunderlich, dass Kant in besonderer Weise Jesus Christus als religiöses


Symbol interpretiert. Christus als gezeugtes und nicht geschaffenes Wort
Gottes meint die ewige Idee Gottes von einem vollkommenen Men-
schen.66 Als wahrer Mensch und wahrer Gott ist er ein Symbol für das
geglückte Ideal sittlichen Handelns, ein Symbol des Sittengesetzes. Er ist
nicht nur moralisches Vorbild oder Tugendlehrer, sondern die sinnliche
Erscheinung der Idee sittlicher Vollkommenheit in einer Person, Symbol
einer anderen Welt.67 Für Kant stellt das Christentum in Christus die
empirische Realisierung der Idee vollendeter Moralität in einem empiri-
schen Individuum (deshalb ist er ein Ideal) dar.68 Christi Leben, Leiden
und Tod ist die Darstellung „der Menschheit, in ihrer moralischen Voll-
kommenheit, als Beispiel der Nachfolge für Jedermann“.69 Christus ist
dementsprechend nicht mehr und nicht weniger als die „verbildlicht[e]
Idee moralischer Vollkommenheit in einer Person“.70 Damit ist er auch
das Ideal des Aufgeklärten und autonom Handelnden.71 Der Glaube an
dieses Ideal kann dem Menschen Hoffnung geben, dass auch seine mora-
lische Gesinnung allen Angriffen widerstehen kann. Als bloße Idee ist
diese Vorstellung ein Moment unserer reinen praktischen Vernunft. Sie
impliziert nämlich, so Kant, die Idee der moralischen Pflicht als der po-
tentiell mächtigsten Triebfeder für unser Handeln. Weil diese Idee prak-
tisch notwendig ist, fordert die praktische Vernunft jedoch zugleich, dass
diese Idee auch wirklich sein kann. In Christus stellt das Christentum
eine personale Realisierung dieser Idee vor.
Um ihre praktische Funktion erfüllen zu können, muss Christus im
Gegensatz zum Selbstverständnis der christlichen Kirchen jedoch nicht
als übernatürliches Wesen, sondern als Mensch gedacht werden. Denn
sonst würde er gar nicht darstellen, dass die moralische Idee von einem
endlichen Vernunftwesen realisiert werden kann. Die Übernatürlichkeit
der historischen Realisierung dieser Idee würde seine praktische Signifi-

scher Vollkommenheit gemessen werden. (ibid., 409). Wesentlich für die Praxis ist dann
der Unterschied zwischen bloßer Nachahmung und Nachfolge (Autonomie) dieses Mus-
ters. Vgl. hierzu: V-Mo/Collins AA 27, 334; Louden 2011, 93.
66
RGV AA 6, 60.
67
Dierksmeier 1998, 89f.
68
RGV AA 6, 61; SF AA 7, 39.
69
RGV AA 6, 82.
70
Dierksmeier 2005, 77f.
71
MdS AA 6, 383. So kann die moralische Nachfolge Christi auch nicht in der Nach-
ahmung des historischen Jesus bestehen. In der Moral gibt es keinen Platz für bloße
Nachahmung. Moralische Vorbilder können deshalb nicht an die Stelle der Idee der Moral
in der Vernunft selbst treten (GMS AA 4, 409).
452 Religion bei Kant und Jacobi

kanz negieren. 72 Inwieweit diese Einschränkung für gläubige Christen


akzeptabel ist, ist freilich fragwürdig.
Mit der Deutung Christi als einem Symbol für die moralische Idee
vollendeter Tugend hat Christus für Kant seinen systematischen Ort
nicht innerhalb der spekulativen Metaphysik, sondern ausschließlich in
der praktischen Philosophie.73 Das Ideal Christi ist gewissermaßen ein
Urbild oder Maßstab, an dem wir unser moralisches Handeln orientieren
und unsere eigene Unvollkommenheit beurteilen können. Es beruht nur
auf Begriffen der Vernunft. Der Begriff ist transzendent, da er jede mög-
liche Erfahrung übersteigt. Das bedeutet aber, dass die theoretische Fra-
ge, ob dem Symbol Christi jemals ein realer Erfahrungsgegenstand ent-
sprochen hat und ob dieser dann auch noch Gott und Mensch war, von
vornherein keine wesentliche Rolle spielt. Irrelevant ist auch, wie so et-
was möglich sein kann. Dies wären historische oder metaphysische Fra-
gen, aber keine Fragen, die innerhalb der Grenzen der Vernunft beant-
wortet werden können. Für die praktische Vernunft hat dieses Symbol
nur die motivierende Funktion, uns in unserem eigenen Leben zur Au-
tonomie zu erheben. Im Streben nach Autonomie besteht der praktische
Glaube an den Sohn Gottes. Die mögliche Realisierung dieses Ideals in
uns als sinnlichen Vernunftwesen wird ausgedrückt im Symbol der Er-
niedrigung von Gottes Sohn.74 Die Realität dieser Idee liegt ausschließ-
lich in der Wirkmächtigkeit für unser Handeln: „Denn sie liegt in unse-
rer moralisch gesetzgebenden Vernunft. Wir sollen ihr gemäß sein, und
wir müssen es daher auch können.“ 75 Als Bestimmungsgrund unserer
Willkür ist dieses Symbol also praktisch wirklich. Ein „Beispie[l] der Er-
fahrung“76 ist nicht nötig, damit die Vernunftidee eines vollkommenen
Menschen handlungswirksam sein kann. Denn die Tatsache, dass dieses
Ideal vielleicht nie realisiert wurde, hebt nicht „die objective Nothwen-
digkeit, ein solcher zu sein“, auf.77 Moralisch wertvoll ist nur „die prakti-
sche Gültigkeit jener Idee, die in unserer Vernunft liegt“.78 Jeder morali-
sche Akteur soll diese Idee in der Wirklichkeit realisieren. Die Anerken-
nung des Eigen- oder Mehrwerts des Kirchenglaubens gegenüber dem
reinen Vernunftglauben geht also einher mit der praktischen Transfor-
mation seiner Gehalte: Wirklichkeit kann ihnen nur in ihrer Funktion

72
RGV AA 6, 64.
73
Dierksmeier 2005, 76; KrV B 597/A 569.
74
RGV AA 6, 61.
75
RGV AA 6, 62.
76
RGV AA 6, 62.
77
RGV AA 6, 62.
78
RGV AA 6, 63.
Kant 453

für die Moral zugeschrieben werden. Es erfolgt also zwar keine Reduk-
tion des Kirchenglaubens auf Moralität, aber doch seine Transformation
zu einem Organon der Moral.
Kants Feststellung, dass jede Offenbarungsreligion aus Perspektive
der Vernunft zwar eine „außerwesentlich[e]“, „an sich zufällige Glau-
benslehre“, „darum aber doch nicht [...] unnöthig und überflüssig“ ist,79
ist deshalb in folgender Weise zu deuten: Zum einen ist keine Offenba-
rung moralisch notwendig. Denn auch ohne jegliche religiöse Offenba-
rung wäre das einzelne Individuum in gleicher Weise moralisch ver-
pflichtet, sich sittlich zu vervollkommnen. Jede Offenbarung ist aber
auch insofern kontingent, als die konkrete religiöse Schematisierung der
Idee empirisch bedingt ist. Sie ist damit aber nicht überflüssig, hilft sie
doch einem Mangel des Menschen als empirischem Vernunftwesen ab.80
Denn es ist nach Kant ein natürliches Bedürfnis der Vernunft, zu den
höchsten Vernunftbegriffen „immer etwas Sinnlich-Haltbares, irgend ei-
ne Erfahrungsbestätigung u. d. g. zu verlangen“.81 Die religiöse Offenba-
rung dient also der „Befriedigung eines Vernunftbedürfnisses“ 82 und
trägt der sinnlichen Bedingtheit des Vernunftwesens Mensch Rech-
nung.83 Insofern ist es die praktische Vernunft selbst, die in einem sinnli-
chen Wesen zum Begriff der Offenbarung hinausgeht. 84 Besäße die
menschliche praktische Vernunft nicht selbst ein immanentes Interesse
an Offenbarung, so wäre es unverständlich, warum eine Religionskritik
in den Grenzen bloßer Vernunft überhaupt ein Interesse an der symboli-
schen Interpretation etwa der biblischen Erzählungen besitzen und diese
thematisieren sollte. Kant behauptet aber, dass diese Symbole im Interes-
se der Moralität ausgelegt werden müssen.85 Die daraus resultierende In-
tention einer reflexiven Aneignung religiöser (im Besonderen christli-
cher) Gehalte widerstreitet deshalb nicht Kants insgesamt religionskriti-
schem Unternehmen, philosophisch über die Legitimität dieser Gehalte

79
SF AA 7, 9.
80
Die Vernunft erkennt nur das als sichere Erkenntnis an, was sie selbst a priori er-
kennt. Daraus folgt für Jahae, dass geschichtliche Wahrheiten keine Rolle spielen für die
Frage, was Religion ist und sein soll (Jahae 2005, 478f.).
81
RGV AA 6, 109.
82
SF AA 7, 9.
83
„Die übernatürliche [Religion] ist die Ergänzung des natürlichen durch einen höhe-
ren göttlichen Beystand.“ (V-PP/Collins AA 27,1, 309.)
84
„Offenbarung kann zum Begriff einer Religion nur durch die Vernunft hinzugedacht
werden, weil dieser Begriff selbst, als von einer Verbindlichkeit unter dem Willen eines
moralischen Gesetzgebers abgeleitet, ein reiner Vernunftbegriff ist.“ (RGV AA 6, 156.)
85
O’Neill 1996, 296f.
454 Religion bei Kant und Jacobi

zu richten. 86 Vielmehr fordert sein Aufklärungsprojekt ihre kritisch-


interpretatorische Aneignung. Gemäß dem Anspruch einer Kritik „in-
nerhalb der Grenzen bloßer Vernunft“ kann Kant jedoch nicht die Per-
spektive des kirchengläubigen Bewusstseins einnehmen. Deshalb kann er
sich auch nicht die Frage stellen, ob diese Form der Aneignung für das
religiöse Bewusstsein aus seiner intrinsischen Perspektive akzeptabel ist.
Ein aufgeklärtes Verständnis religiöser Symbole erfordert also für
Kant eine intrikate Interpretationsleistung vom religiösen Individuum.
Zunächst einmal muss es die religiösen Vorstellungen als bloße Symbole
durchschauen. Als Darstellung moralischer Ideen sind sie nur symbo-
lisch, „da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine
sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt
wird“.87 Daher kommt ihnen nicht die Notwendigkeit der transzenden-
talen Schematismen zu. Dennoch sind diese Symbole als Schemata nicht
überflüssig. Verzichtet man nämlich auf die symbolische Darstellung
Gottes als willentlich, verständig etc., so bleibt nur ein abstrakter Deis-
mus zurück, der für die motivationale Erbauung des Individuums unzu-
länglich ist.88 Die deistische Vorstellung der causa sui etwa hat keinen
positiven Einfluss auf die sittliche Vervollkommnung des Menschen.
Wie „Gedanken ohne Inhalt […] leer“ und „Anschauungen ohne Begrif-
fe […] blind“ bleiben,89 so bleibt eine rationale Religion ohne jede religi-
öse Anschauung in gewissem Sinne wirkungslos und Religion ohne Mo-
ralität wird zu Aberglaube:

Wenn die Religion nicht zur moralischen Gewissenhaftigkeit hinzukommt: so


ist sie ohne Wirkung. Religion ohne moralische Gewissenhaftigkeit ist ein aber-
gläubischer Dienst.90

Die durch Einbildungskraft gewirkten sinnlichen Symbole der positiven


Religionen sollen also einen praktisch-motivationalen Einfluss auf das
Individuum ausüben.91 Man könnte aber Folgendes einwenden: Indem
die Aufklärung die religiösen Vorstellungen als bloße Symbole durch-
schaut, büßen selbige ihre motivationale Wirkung ein. Denn die aufklä-
rerische Kritik depraviert sie ja gerade ihrer Göttlichkeit und damit ihrer
Absolutheit. Stattdessen macht sie sie zu einer Setzung der menschlichen
Einbildungskraft. Für Kant verhält es sich jedoch genau umgekehrt.
86
Habermas 2009, 236.
87
KU AA 5, 351.
88
KU AA 5, 353.
89
KrV B 75/A 51.
90
Päd AA 9, 495.
91
SF AA 7, 36.
Kant 455

Denn sofern das religiöse Symbol nicht als Symbol durchschaut wird,
unterwirft sich der Mensch der Religion. Die aufklärerische Kritik der
religiösen Symbole erlaubt dagegen echt religiöse, autonome Verehrung.
Verehren könne der Mensch nämlich nur, was Gegenstand seiner freien
Achtung ist, das heißt, was der Mensch durch eigene Einsicht als vereh-
rungswürdig erkennt. Deshalb muss sich alles, was Verehrung fordert,
der Kritik unterwerfen.92 So kann eine heilige Schrift nur durch eine phi-
losophische Interpretation Gegenstand menschlicher Verehrung werden.
Die Grundsätze der Schriftauslegung müssen die der Vernunft sein:
„[D]er Gott in uns ist selber der Ausleger, weil wir niemand verstehen
als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft
mit uns redet“.93 Der Vernunftglaube als Interpretament aller positiven
Religion und kritischer „Wegweiser oder Compaß“, mit dem man die
mögliche Heiligkeit einer Schrift oder Schriftstelle beurteilen kann, 94
hebt für Kant also nicht die Verehrung der Heiligkeit der Schrift auf,
sondern ist Bedingung ihrer Möglichkeit. Indem wir eine religiöse Dar-
stellung von ihrer äußeren Gestalt befreien und den sittlichen Geist hin-
ter ihr freilegen, erkennen wir ihre symbolische Allgemeingültigkeit und
Verbindlichkeit.

II. Aufklärung der religiösen Lebensform

Im vorigen Abschnitt haben wir Folgendes gesehen: Die praktische Ver-


nunft „in Religionssachen“ zur „oberst[en] Auslegerin der Schrift“95 zu
erklären, bedeutet im Rahmen von Kants Aufklärungsprojekt nicht nur
eine Emanzipation des Menschen gegenüber der Autorität der Heiligen
Schrift, sondern zugleich die Erhebung zu ihrer freien Anerkennung. Im
Folgenden wollen wir nun untersuchen, was es für die religiöse Praxis als
Lebensform bedeutet, Vernunft und Freiheit den Primat gegenüber der
Schrift und der Religionsgemeinschaft zuzusprechen. Wir werden sehen,
dass das erfordert, die religiöse Praxis einerseits als arbiträres „Vehikel“,
92
RGV AA 6, 8.
93
SF AA 7, 48. Vgl. ebenso: RGV AA 6, 110; 112.
94
„Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Compaß, wodurch der spe-
culative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnlicher Gegenstände
orientiren, der Mensch von gemeiner, doch (moralisch) gesunder Vernunft aber seinen
Weg sowohl in theoretischer als praktischer Absicht dem ganzen Zwecke seiner Bestim-
mung völlig angemessen vorzeichnen kann; und dieser Vernunftglaube ist es auch, der
jedem anderen Glauben, ja jeder Offenbarung zum Grunde gelegt werden muß.“ (WDO
AA 8, 142.)
95
SF AA 7, 41.
456 Religion bei Kant und Jacobi

andererseits als notwendiges Organon zur moralischen Besserung und


damit zur Autonomie zu lesen.96 Die kritische Vernunft hat die religiöse
Lebensform damit als von der historischen und kulturellen Differenz
abhängiges „Organon oder Vehikel der Religion“ bzw. des reinen Reli-
gionsglaubens zu begreifen.97 Im Folgenden wollen wir also das kanti-
sche Verständnis der religiösen Lebensform als Vehikel (a) und anschlie-
ßend das als Organon (b) untersuchen.

a. Kirchenglauben als Vehikel

Dank der Schwäche der menschlichen Natur bedarf der Mensch einer
kirchlich gebundenen religiösen Praxis und nicht nur der Religion der
Vernunft.98 Als „Kirche“ versteht Kant dabei eine Gemeinschaft von In-
dividuen, die sich unter bestimmten öffentlichen Gesetzen zu einer Ge-
meinschaft verbinden. Diese Gesetze können teils moralisch, teils bloß
positiv sein, sofern sie vom Sittengesetz abweichen und keinen intrinsi-
schen moralischen Wert aufweisen. Sie sind unmittelbar nur Gesetze zur
kirchlichen Vergemeinschaftung, haben damit aber vermittelt einen in-
strumentellen Wert zur Realisierung menschlicher Moralität und Frei-
heit, insofern sie in Form dieser Kirche eine öffentliche sittliche Gemein-
schaft konstituieren. Sämtliche Gesetze einer Kirchengemeinschaft als
ethischer Gemeinschaft sind keine Zwangsgesetze, sondern Gesetze, de-
nen sich das Mitglied nur freiwillig unterwerfen kann, da sie ja die Mora-
lität ihrer Mitglieder befördern sollen. 99 Alle Akteure wirken dabei
durch die freiwillige Unterwerfung zusammen an der Entwicklung ihres
moralischen Charakters mit. 100 Die Mitglieder einer Kirchengemein-
schaft können sich also nur freiwillig den Gesetzen ihrer Kirche unter-
werfen und nicht äußerlich zur Einhaltung selbiger gezwungen werden.
Denn zum einen können Maximen nicht erzwungen werden, zum ande-
ren dürfen sie nicht erzwungen werden, weil Zwang der Realisierung der
Autonomie entgegensteht. Einer der großen Fortschritte der Geschichte
der Religion, die religiöse Aufklärung ermöglicht, besteht deshalb in der
Schaffung des Rechtsinstituts der Glaubensfreiheit: zum einen, weil die
96
Die verschiedenen Glaubensarten und Schriften sind „nur das Vehikel der Religion,
was zufällig ist und nach Verschiedenheit der Zeiten und Örter verschieden sein kann,
enthalten“ können (ZEF AA 8, 367).
97
SF AA 7, 37. „Die religiöse Metapher ist ‚Vehikel’ im Selbstgespräch des Menschen
mit seinem sittlichen Fundament“ (Dierksmeier 1998, 61).
98
RGV AA 6, 94.
99
RGV AA 6, 98.
100
Moran 2012, 21.
Kant 457

Garantie äußerer Glaubensfreiheit die Bedingung für „alle freiwillig[en]


Fortschritte in der ethischen Gemeinschaft der Gläubigen, die das Wesen
der wahren Kirche ausmacht“,101 ist. Ansonsten wird nämlich die stets zu
verbessernde (im Sinne einer Annäherung an die vernünftige Religion)
äußere Form der Kirche politischen Verordnungen unterworfen und
damit ihr stets defizitärer historischer Entwicklungszustand zementiert.
Zum anderen ist Glaubensfreiheit aber auch Ausdruck der Einsicht in
den Zweck sichtbarer Kirchen: nämlich der Einsicht, dass Moralität
nicht in äußerlich wahrnehmbarem Verhalten und der Unterwerfung un-
ter kirchliche Riten und Dogmen besteht.
Kant reduziert die statutarischen Gesetze und Wundererzählungen
jedweder besonderen Kirchengemeinschaft (also ihren positiv-
dogmatischen Gehalt), nun zunächst darauf, bloße Mittel zur Ausbrei-
tung der inneren Moralität zu sein – sowohl des Individuums als auch
der Menschheit als Ganzer.102 Diese dogmatischen Ausgestaltungen des
reinen Vernunftglaubens sind insofern zufällig, als sie auf der konkreti-
sierten Einbildungskraft einer bestimmten Gemeinschaft zu einer be-
stimmten Zeit gründen. Jeder Kirchenglaube, der die religiöse Lebens-
form einer Gemeinschaft organisiert, ist für Kant deshalb nur eine äuße-
re Hülle, die bloß ein Vehikel ist, um die eigentliche „Urkunde“ der
Religion im Inneren des Menschen, seiner moralischen Gesinnung, Gel-
tung zu verschaffen.103 Jede besondere kirchliche Gemeinschaft hat ihren
Ursprung für Kant also in einer Glaubenslehre, die verglichen mit dem
moralisch begründeten Glauben „außerwesentlich“ ist.104 Denn die em-
pirischen Fakten, die die dogmatischen Gehalte einer Kirche bedingen,
sind zwangsläufig in der Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit durch Zeit-
und Ortsumstände beschränkt. So hat jeder Kirchenglaube und damit
jede Kirchenverfassung immer „nur particuläre Gültigkeit“.105 Das, was
eine organisierte religiöse Lebensform von einer anderen und von der
inneren Moralität unterscheidet, ist für Kant also gleichgültig. Dennoch
kann der Kirchenglaube als bestimmte, frei gewählte religiöse Lebens-
form ein nützliches Vehikel für die Moralisierung des Menschen sein.106
Damit kann er zugleich „Vehikel“ zur Beförderung der menschlichen
101
RGV AA 6, 133.
102
RGV AA 6, 104.
103
RGV AA 6, 85.
104
SF AA 7, 9.
105
RGV AA 6, 115.
106
Moralität ist „nicht allein die unumgängliche Bedingung aller wahren Religion
überhaupt, sondern sie ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht, und wozu die
statutarische nur das Mittel ihrer Beförderung und Ausbreitung enthalten kann“ (RGV
AA 6, 104). Vgl. ebenso: AA 10, 177; ZeF AA 8, 367.
458 Religion bei Kant und Jacobi

Autonomie und integraler Teil des Aufklärungsprojekts sein. Hierin


gründet der positive Wert religiöser Praxis.107 Die Frage ist nun aber,
welchen Status dieses Vehikel hat: Ist es ein notwendiges Übel, das sich
letztlich selbst überwinden muss, damit das Aufklärungsprojekt voll-
ständig realisiert werden kann?
In der Tat steht der Kirchenglaube in einem ambivalenten Verhältnis
zum Projekt der Aufklärung. Einerseits ist er ein Instrument zur Beför-
derung der Aufklärung. Denn er kann der Moralität und Autonomie bei
den Menschen, die noch nicht ihre vollkommene Vernünftigkeit reali-
siert haben, Eingang verschaffen. Andererseits droht der Kirchenglaube
sich aber immer zu verselbständigen und vom bloßen Mittel zum Selbst-
zweck zu erhöhen und so die Autonomie zu annihilieren und das Auf-
klärungsprojekt zu unterminieren. Für das Aufklärungsprojekt können
wir diese Ambivalenz auch so formulieren: Die kirchlich-religiöse Le-
bensform ist ein für den empirischen Menschen auf einer bestimmten
Entwicklungsstufe notwendiges Vehikel für die Realisierung menschli-
cher Autonomie. Gleichzeitig fordert der Kirchenglaube vom Einzelnen
aber die (wenn vielleicht auch freiwillige) Unterwerfung unter religiöse
Setzungen, die nicht durch die eigene Vernunft gerechtfertigt werden
können und somit äußerlich an den Menschen herangetragene Ansprü-
che darstellen. Insofern steht der Kirchenglaube der Aufklärung entge-
gen. Der Kirchenglaube kann also einerseits ein Medium, andererseits
Hindernis der Aufklärung sein.
Die eben gekennzeichnete Ambivalenz des Kirchenglaubens dürfte
ein Grund sein, dass Kant an mehreren Stellen die historische Vorläufig-
keit jedes positiven Kirchenglaubens hervorhebt. Denn eigentlich muss
der autonome Mensch nur wissen, wie er moralisch zu handeln hat, um
von da aus seine moralisch begründete, religiöse Hoffnung rechtfertigen
zu können.108 Der Kirchenglaube muss selbst in einer moralisch fundier-
ten Religion deshalb irgendwann seinen Nutzen und seine Notwendig-
keit verlieren. Er sollte gewissermaßen eine historische Episode bleiben,
die im Verlauf des Aufklärungsprozesses von der moralisch begründe-
ten, reinen Religion abgelöst wird.109 Der historische Kirchenglaube ist
107
„Lobpreisungen, Gebete, Kirchengehen sollen nur dem Menschen neue Stärke, neu-
en Muth zur Besserung geben, oder der Ausdruck eines von der Pflichtvorstellung beseel-
ten Herzens sein. Sie sind nur Vorbereitungen zu guten Werken, nicht aber selbst gute
Werke, und man kann dem höchsten Wesen nicht anders gefällig werden, als dadurch daß
man ein besserer Mensch werde.“ (Päd AA 9, 494.)
108
„Es konnte zu gewissen Zeiten nöthig seyn zu wissen, wie Gott die Gebrechlichkeit
unserer Moralität ergenzete […]; aber an sich selbst ist dem Menschen nichts mehr nöthig
als zu wissen, wie er sich dieser Beyhülfe würdig mache.“ (Refl 8086 AA 19, 629f.)
109
RGV AA 6, 84.
Kant 459

also ein Moment der Aufklärung, das jedoch die Tendenz hat, sich zum
Ganzen zu verabsolutieren. Im Prozess der Aufklärung muss der Kir-
chenglaube deshalb in den reinen Vernunftglauben aufgehoben werden.
Die Realisierung dieser Aufhebung ist selbst Gegenstand religiöser
Hoffnung. Der Ausdruck, dass Gott einstmals „alles in allem“ 110 sein
wird, muss deshalb so verstanden werden, dass der Kirchenglaube ir-
gendwann „in einen reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religi-
onsglauben übergehen werde“.111 Die unterschiedlichen Meinungen da-
rüber, welches Vehikel besser geeignet ist zur moralischen Besserung,
bewirken verschiedene Kirchensekten, deren einheitsstiftendes Moment
die „unsichtbare Kirche“ der allgemeinen Religion ist. Dabei teilen alle
Sekten aber eine gemeinsamen Erwartung: dass die Zeit sie der Religion
selbst näher bringt.112 So kann man die Geschichte des Kirchenglaubens
für Kant geradezu als „beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstli-
chen und dem moralischen Religionsglauben“ rekonstruieren.113 In die-
ser Rekonstruktion stehen kirchlich-religiöse und moralisch-religiöse
Lebensform in einem antagonistischen Verhältnis zueinander. Der Kir-
chenglaube versucht dabei den reinen moralisch-religiösen Glauben un-
ter sich zu bringen. Auf Seiten des moralischen Glaubens findet sich die
Hoffnung, dass er zuletzt „seinen Anspruch auf den Vorzug, der ihm als
allein seelenbesserndem Glauben zukommt“,114 behauptet. Als Vehikel,
das nur der Beförderung einer rein rationalen Religion dient, müsste die-
ses Vehikel in einer vernünftigen Historie letztlich an seiner eigenen
Selbstabschaffung mitwirken.115 Die Funktion des Kirchenglaubens ent-
fällt, sobald der reine Religionsglaube sich „durch Vernunftgründe selbst
erhalten kann“. 116 Als pädagogisches Mittel für unterschiedliche Men-
schentypen muss der Kirchenglaube historisch unterschiedliche Formen

110
RGV AA 6, 135.
111
RGV AA 6, 135. Das gilt für Katholiken, Protestanten und Juden gleichermaßen (SF
AA 7, 42; 53). Nach Katz lehnt Kant das Judentum dagegen ab, weil er von der Überle-
genheit des Christentums überzeugt sei (Katz 1980, 66). Das jüdische Gesetz gilt Kant
zwar als der „Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“ (RGV AA 6, 125) und insofern stellt
das Christentum eine Revolution in der Glaubensart dar. Kant wendet sich jedoch explizit
gegen die „Träumerei einer allgemeinen Judenbekehrung“ (SF AA 7, 52) zum messiani-
schen Christentum, da die Christen besser die statutarischen Gesetze aus ihrer eigenen
Religion entfernen sollten.
112
SF AA 7, 52.
113
RGV AA 6, 124.
114
RGV AA 6, 124.
115
Cohen 1966, 12. So versucht Kants Anerkennung des christlichen Glaubens nach
Sala 1992, 154f. nur darüber „hinweg[zu]täuschen“, dass dieser nur ein Vehikel mit be-
stimmter Verfallszeit ist.
116
RGV AA 6, 84.
460 Religion bei Kant und Jacobi

annehmen, die aber eigentlich „ihre eigene Überwindung und Auflösung


vorbereiten“. 117 Aus der Perspektive der Aufklärung ist der Kirchen-
glaube also historisch notwendig, um der Realisierung der menschlichen
Autonomie einen Anstoß zu ihrer Selbstentfaltung geben. Ab einer ge-
wissen historischen Stufe der Vernunftentfaltung muss die Aufgabe reli-
giöser Aufklärung aber darin bestehen, den Kirchenglauben durch den
reinen und mit der menschlichen Autonomie kompatiblen Vernunft-
glauben zu ersetzen.118 Der Kirchenglaube ist damit die Leiter der Auf-
klärung und Autonomie, die zuletzt umzustoßen, oder das Baugerüst,
das nach Fertigstellung des Gebäudes abzureißen ist.119 Wie der politi-
sche Staat auch in seiner ungerecht-despotischen Gestalt ein Vehikel ist,
das die Menschheit zur Herstellung äußerer Gerechtigkeit durch aufge-
klärte Reform benutzt, so ist auch die politisch organisierte Religion
trotz unaufgeklärter Praxis und Dogmen das historische Vehikel auf dem
Weg zur menschlichen Autonomie.120

b. Kirchenglauben als Organon

Im vorigen Abschnitt haben wir festgestellt, dass der Kirchenglaube ein


Moment des menschlichen Aufklärungsprojekts ist, das sich im Prozess
der Aufklärung aber selbst abschaffen muss. An anderen Textstellen ge-
steht Kant dem Kirchenglauben jedoch zu, für immer unentbehrlich zu
sein, da die moralische Entwicklung des Menschen auf Grund seiner
Schwäche niemals so weit fortgeschritten sein wird, um auf den Kir-
chenglauben verzichten zu können. Die sichtbare Kirche – das heißt die
gemeinschaftliche, kirchlich-religiöse Praxis – gleicht diese unüberwind-
bare Schwäche des Menschen aus. Deshalb könne menschliche Religion
zumindest de facto nicht auf einem reinen Vernunftglauben gründen.121
So sei es „nun also einmal nicht zu ändern“,122 dass der Religionsglaube
den Kirchenglauben als Mittel brauche, weil die Menschen ihre sittliche

117
Cassirer 2001, 371. „Von der Richtigkeit und der Nothwendigkeit des moralischen
Glaubens kan ein ieglicher, nachdem er ihm einmal eröfnet ist, aus sich selbst, ohne histo-
rische Hülfsmittel überzeugt werden, ob er gleich ohne solche Eröfnung von selbst darauf
nicht würde gekommen seyn.“ (AA 10, 178.)
118
Wimmer 1990, 168f.
119
Brief an Lavater vom 28.4.1775 AA 10, 177.
120
Wood 2000, 73.
121
„Allein es ist eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran Schuld, daß
auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient,
nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen.“ (RGV AA 6, 103.)
122
RGV AA 6, 106.
Kant 461

Verpflichtung nicht als in sich allein gegründet, sondern als Dienst an


Gott verstehen wollen. Aber auch wenn dieses Defizit in der Natur des
Menschen selbst gründet und der Kirchenglaube als Vehikel der Ver-
nunftreligion empirisch notwendig ist, so ist diese Angewiesenheit doch
insofern bedauerlich, weil sie in der Limitation der Autonomie des Men-
schen gründet und diese gleichzeitig perpetuiert. Die Vereinigung der
Menschen in einer sichtbaren Kirche sollte nur „provisorisch“ 123 sein
und der Kirchenglaube sich durch seine Annäherung an den Religions-
glauben letztlich entbehrlich machen.124 Tatsächlich wird das aber nie ge-
schehen. Auch die „aufgeklärtesten Welttheile“125 können nicht auf den
Kirchenglauben „als Volksglaube“ verzichten, weil das Volk nur die mo-
ralische Norm anerkennt, die historisch durch Offenbarung legitimiert
ist. 126 So scheint die Anerkennung der Unüberwindbarkeit des Kirchen-
glaubens die Kapitulation vor der Unaufklärbarkeit der Menschheit zu
sein.
Es gibt aber auch eine andere Perspektive Kants auf den Kirchenglau-
ben. In dieser Perspektive sind der Kirchenglaube und die durch seine
öffentliche „Gesetzgebung“ konstituierten sichtbaren Kirchen bzw. reli-
giöse Praktiken selbst wiederum sinnliche Darstellungen bzw. Schemata
des Reichs der Zwecke und damit der verwirklichten moralischen Auto-
nomie. Wie der Mensch nämlich die Pflicht hat, sich zu einem rechtli-
chen Gemeinwesen (der bürgerlichen Gesellschaft) zusammenzuschlie-
ßen, um die äußere Freiheit des Menschen zu realisieren, so hat er nach
Kant auch die Pflicht, seinen ethischen Naturzustand zu verlassen und
sich zu einem „ethische[n] gemeine[n] Wesen“ zu organisieren.127 Diese
Pflicht ergibt sich aus Kants Lehre vom radikalen Bösen: Durch seine
frei gewählte Unterordnung des Moralgesetzes unter das Glückselig-
keitsprinzip tritt der Mensch aus eigener Schuld in den ethischen Natur-
zustand ein und bürdet sich damit selbst die Pflicht auf, diesen auch wie-
der zu verlassen.128 Sie ergibt sich aber auch daraus, dass der ethische Na-
turzustand den Menschen in moralischer Hinsicht genauso lädiert wie
dies der rechtliche Naturzustand in rechtlicher Hinsicht tut.129 Denn es
ist die gesellschaftliche Gemeinschaft mit anderen Menschen überhaupt,

123
RGV AA 6, 121.
124
RGV AA 6, 115.
125
RGV AA 6, 112.
126
RGV AA 6, 112.
127
RGV AA 6, 94.
128
Klemme 1999, 127.
129
RGV AA 6, 97.
462 Religion bei Kant und Jacobi

die den Einzelnen moralisch verdirbt.130 Weil der ethische Naturzustand


aber nicht seine äußere Freiheit, sondern seine Moralität lädiert, ist das
„Vereinigungsprinzip“ des ethischen Gemeinwesens nicht die äußere
Freiheit, sondern die Tugend.131 Das ethische Gemeinwesen ist deshalb
anders als die Rechtsgemeinschaft nicht durch Rechtsprinzipien, sondern
durch Tugendprinzipien konstituiert.132 Ihre Gesetze müssen diese ethi-
schen Gemeinschaften sich öffentlich in Form einer Verfassung geben.133
Diese Gesetzgebung ist anders als die Rechtsordnung frei von Zwang.134
Die Mitglieder unterwerfen sich ihr freiwillig zum Zwecke ihrer wech-
selseitigen moralischen Vervollkommnung und Autonomisierung. Da-
mit wird die Kirchengemeinde zur sinnlichen Darstellung der nun zu
skizzierenden „unsichtbare[n] Kirche“:135
Der Vernunftbegriff von Religion besteht darin, seine moralischen
Pflichten zugleich als göttliche Gesetze anzuerkennen.136 Rein vernünfti-
ge religiöse Pflichten sind also die moralischen Pflichten des Menschen,
nur dass sie zugleich als göttliche Pflichten betrachtet werden. Der reli-
giös Gläubige betrachtet die moralischen Gesetze zugleich als Gesetze in
einer von Gott geordneten unsichtbaren Kirche. Diese Kirche ist nicht
als bürgerlicher Rechtsstaat, sondern als „ethischer Staat“ zu denken.137
Ein solches ethisches Gemeinwesen nur unter Tugendgesetzen wäre ein
„moralisches Volk Gottes“. 138 Diese „unsichtbare Kirche“ ist also die
Idee eines rein ethischen Gemeinwesens, das ausschließlich durch die
moralische Gesetzgebung Gottes vereinigt ist.139 Die religiösen Pflichten,
130
„Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen
Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist
[…]; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um
einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben“ (RGV AA 6, 93f.).
131
RGV AA 6, 94.
132
RGV AA 6, 151. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft nur als
Instrument zur Stabilisierung menschlichen Zusammenlebens zu bestimmen (Bartuschat
2009, 12), ignoriert, dass es in der Religion um moralische Besserung und nicht äußere
Ordnung geht.
133
RGV AA 6, 94. „Wenn ein ethisches gemeines Wesen zu Stande kommen soll, so
müssen alle Einzelne einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Ge-
setze, welche jene verbinden, müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers
angesehen werden können.“ (Ibid., 98.)
134
RGV AA 6, 95f.
135
RGV AA 6, 101.
136
KpV AA 5, 129; SF AA 7, 36; RGV AA 6, 153.
137
RGV AA 6, 94f. Nach Langthaler hingegen ist das „Reich der Zwecke“ ein „Reich
des Rechts“ und deshalb vom ethischen Gemeinwesen aus RGV unterschieden (Langtha-
ler 1991, 34).
138
RGV AA 6, 100.
139
RGV AA 6, 101.
Kant 463

denen sich die Mitglieder der unsichtbaren Kirche unterwerfen, da sie


vor der Vernunft gerechtfertigt sind, unterscheiden sich inhaltlich nicht
von den moralischen Pflichten. Die Verbindlichkeit religiöser Pflichten
ergibt sich nur aus der autonomen Moral des Menschen und dient der
Realisierung seiner moralischen Autonomie. Heteronome religiöse An-
sprüche würden aber die moralische Autonomie – als der Freiheit, nur
dem Gesetz unterworfen zu sein, das man sich selbst als vernünftiges
Subjekt gibt und als dessen Urheber man sich verstehen kann – gerade
unterminieren und damit ihrem Zweck zuwiderlaufen. Die religiöse Be-
trachtung moralischer Pflichten transformiert aber den formalen Cha-
rakter selbiger. Die moralischen Gesetze werden nicht mehr nur als Ge-
setze eines autonomen menschlichen Willens, sondern zugleich als Ge-
setze eines göttlichen Willens verstanden. Dies bedeutet nun nicht, seine
moralischen Pflichten zugleich als Dienst an einem anderen Wesen zu
verstehen, sondern nur die „Erkenntniß all unserer Pflichten als (instar)
göttlicher Gebote“.140 Dabei werde Gott „nach der Analogie mit einem
Gesetzgeber aller vernünftigen Weltwesen“ verstanden.141
Dies bedeutet Folgendes: In einer bürgerlichen Rechtsordnung lassen
sich die Rechtspflichten nicht als Verpflichtung gegenüber dem Einzel-
willen des Herrschers verstehen. Andernfalls wäre sie despotisch, und als
solche ließe sie sich nicht gegenüber dem freien Individuum rechtferti-
gen. Rechtfertigen lässt sie sich nur als Ausdruck des allgemeinen Wil-
lens aller Rechtssubjekte. Der Herrscher verleiht Gesetzen nicht ihre in-
trinsische Legitimität, sondern äußerliche Geltung durch Publizität: Das
Recht wird öffentlich. Durch die Autorität des Gesetzgebers wird das
Privatrecht zum öffentlichen Recht. Das gilt nun nach Kant auch für den
göttlichen Gesetzgeber. Durch seine Autorität erhält das moralische Ge-
setz eine ansonsten nicht erreichbare Majestät,142 indem das moralische
Gesetz „als ein Gesetz des vollkommensten Willens“ vorgestellt wird.143
Allerdings würde die Vorstellung, dass Gott Gesetze willkürlich vor-
schreibt, diese „Majestät“ wieder annullieren.144 In der unsichtbaren Kir-
che sind wir deshalb zugleich virtuelle Mitgesetzgeber und Subjekte des
140
MdS AA 6, 443.
141
MdS AA 6, 440.
142
Päd AA 9, 494.
143
Refl 6894 AA 19, 198. Indem die Religion den Blick vom Gesetz auf den Gesetzge-
ber lenkt, ist das Gesetz nicht mehr nur Gegenstand der Achtung, sondern zugleich der
Liebe (Anbetung) (RGV AA 6, 6f.). Der Gesetzgeber geht dabei ganz in seiner Gesetz-
gebung auf. Dies zeigt sich deutlich, wenn Kant schreibt, dass die Furcht Gottes, die die
Vorstellung von ihm als Gesetzgeber hervorruft, eigentlich nur die Achtung fürs Gesetz
ist, und die Liebe Gottes nur die Liebe zum Gesetz (ibid., 182).
144
Päd AA 9, 494; V-PP/Herder AA 27, 10; MdS AA 6, 444.
464 Religion bei Kant und Jacobi

göttlichen Gesetzes.145 Wie der Souverän im bürgerlichen Gemeinwesen


idealerweise nur solche Gesetze erlässt, die alle Unterworfenen über sich
selbst beschließen können, so kann Gott als vollkommener Gesetzgeber
der unsichtbaren Kirche nur solche moralischen Gesetze vorschreiben,
„wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde“.146
Damit ist er als Gesetzgeber, nicht aber als Urheber der Gesetzesord-
nung in einem solchen Reich der Tugend zu denken.147 Die von der Ver-
nunft selbst hervorgebrachte Idee Gottes als Gesetzgeber einer unsicht-
baren Kirche soll auf den menschlichen Willen in einer solchen Weise
zurückwirken, dass er seine Pflichten leichter erfüllen kann oder mit
größerer Wahrscheinlichkeit erfüllen wird. 148 Was die Idee Gottes als
Gesetzgeber dem Gesetz hinzufügt, ist dabei die Idee der Publizität die-
ser Gesetze. Der „Mehrwert“ der Religion besteht in der Vorstellung der
Öffentlichkeit des Gesetzes, die im Gesetzgebungsakt impliziert ist. 149
Wie das öffentliche Gesetz das Privatrecht nicht inhaltlich verändern
muss, durch den Akt der Veröffentlichung jedoch dessen formalen Cha-
rakter ändert, so ändert auch die Vorstellung einer öffentlich-sittlichen
Gesetzgebung durch Gott als berufenen Gesetzgeber den formalen Cha-
rakter dieser Gesetze.150 Kant beschreibt diesen Transformationsprozess
deshalb auch analog zum Übergang des rechtlichen Naturzustands in
den Rechtszustand.151 Das moralische Subjekt ist aufgefordert, sich zu-
gleich als Mitglied einer Gemeinschaft zu verstehen, in der der Gesetz-
geber solche Gesetze erlassen hat, denen alle Subjekte zustimmen müs-

KpV AA 5, 82.
145

SF AA 7, 91. Vgl. hierzu auch V-PP/Collins AA 27, 329; OP AA 22, 113; V-


146

Lo/Philippi AA 24, 449.


147
„Die moralischen Gesetze[…] sind keine Statuta des Göttlichen Willens, sondern sie
liegen in dem Begriffe der Freyheit. Gott ist wohl ein Gesetzgeber, aber nicht ein Urhe-
ber.“ (V-PP/Powalski AA 27, 168f.) Das Fundament aller Religiosität besteht weiterhin
darin, das moralische Gesetz um seiner selbst willen zu achten und nicht, weil Gott es er-
lassen hat. Deshalb müssen bereits Kinder in ihrer Jugend lernen, das Laster um seiner
selbst Willen zu verabscheuen, und nicht, weil Gott es verboten hat (Päd AA 9, 450). Da-
gegen: Pera 2012, 556.
148
„Religion unterscheidet sich nicht der Materie, d. i. dem Object, nach in irgend ei-
nem Stücke von der Moral, denn sie geht auf Pflichten überhaupt, sondern ihr Unter-
schied von dieser ist blos formal, d.i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral
durch die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf den menschlichen Willen zu Erfül-
lung aller seiner Pflichten Einfluß zu geben.“ (SF AA 7, 36.)
149
Insofern sieht Fackenheim in der religiösen Perspektive zu Unrecht das Dilemma,
dass durch die religiöse Perspektive entweder die Autonomie der Moral gefährdet oder
aber die Religion redundant würde (Fackenheim 1996, 4; vgl. hierzu auch Dörflinger
2008, 62).
150
MdS AA 6, 440.
151
RGV AA 6, 97.
Kant 465

sen. Freilich kann, anders als im Rechtsstaat, der Gesetzescharakter hier


das moralische Gesetz nicht in ein Zwangsgesetz transformieren. 152
Denn das ethische Gemeinwesen dient der Entwicklung menschlicher
Autonomie und diese kann nicht erzwungen werden. Mit Renan könnte
man sagen, dass in einer kirchlichen Gemeinschaft gewissermaßen täg-
lich ein freies Referendum über die Mitgliedschaft zu dieser Gemein-
schaft und die Zustimmung zu ihren Gesetzen stattfindet. Die selbst
hervorgebrachte Vorstellung eines öffentlichen moralischen Gesetzes
scheint so nur eine psychologische Wirkung auf das endliche Vernunft-
subjekt zu zeitigen. Um seiner moralischen Schwäche abzuhelfen, soll
der Mensch sich „jederzeit wirklich als berufene[r] Bürger eines göttli-
chen (ethischen) Staats“ ansehen,153 in dem das moralische Gesetz zu-
gleich öffentliches Gesetz ist. Der Mensch soll sich deshalb als Mitglied
einer unsichtbaren Kirche betrachten, dessen Maximen zugleich publik
sind, weil der Gesetzgeber als Herzenskünder gedacht wird.
Die unsichtbare Kirche ist jedoch nur eine Idee der Vernunft und kein
Gegenstand möglicher Erfahrung. Ihre Schematisierung durch die sicht-
bare Kirche dient deshalb der Steigerung ihrer motivatonalen Wirk-
mächtigkeit. Die religiöse Vergemeinschaftung der Menschen zu einer
sichtbaren Kirche stellt aus der Perspektive des phänomenalen Menschen
eine Notwendigkeit im Interesse seiner sittlichen Entwicklung und der
Aufklärung dar. Denn auf Grund seiner sittlichen Unvollkommenheit
und der daraus resultierenden Unerreichbarkeit eines heiligen Willens
kann er seinen Hang zum Bösen de facto nicht allein, sondern nur als
Mitglied in einer Gemeinschaft tugendhafter Menschen überwinden.154
Der Mensch befindet sich in einem ständigen Kampf um seine Freiheit
mit dem bösen Prinzip in ihm.155 So ist seine moralische Freiheit ständig
gefährdet und er ist auf die moralische Unterstützung anderer morali-
scher Akteure angewiesen. Nur in einer öffentlichen „Gesellschaft nach
Tugendgesetzen“156 kann er deshalb seine Autonomie realisieren. Solche
Gesellschaften sind die sichtbaren Kirchen. Die religiösen Prinzipien,

152
„Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach Vor-
schrift dieser Idee eine ethische, und sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine
ethisch=bürgerliche (im Gegensatz der rechtlich-bürgerlichen) Gesellschaft, oder ein ethi-
sches gemeines Wesen nennen. Dieses kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen
und sogar aus allen Gliedern desselben bestehen […]. Aber jenes hat ein besonderes und
ihm eigenthümliches Vereinigungsprincip (die Tugend) und daher auch eine Form und
Verfassung, die sich von der des letztern wesentlich unterscheidet.“ (RGV AA 6, 94.)
153
RGV AA 6, 136.
154
RGV AA 6, 94. Vgl. hierzu auch: Deligiorgi 2002, 143f.
155
RGV AA 6, 93.
156
RGV AA 6, 94.
466 Religion bei Kant und Jacobi

unter der sich die Menschen zu einer Kirche vereinigen, verbinden die
Menschen zu einer Gemeinschaft, die den Individuen helfen soll, ihre
moralischen Vermögen zu entwickeln. 157 Wenn wir diese Feststellung
nicht nur als anthropologischen Pessimismus (im Sinne Rousseaus) lesen
wollen, ist es essentiell, noch einmal die Analogie zum Rechtszustand zu
betrachten. Dementsprechend bezeichnet Kant den Zustand a-religiöser
Vergemeinschaftung in Analogie zum rechtlichen Naturzustand, in dem
die äußere Freiheit des Menschen auf Grund der bloßen Kollision von
unkoordinierten äußeren Freiheitssphären permanent gefährdet ist, als
„ethischen Naturzustand“. Der ethische Naturzustand ist die „öffentli-
che wechselseitige Befehdung der Tugendprincipien und ein Zustand der
inneren Sittenlosigkeit“. 158 Die „profane“ Gemeinschaft der Menschen
führt zwar häufig dazu, dass der Mensch seinen „Hang zur Faulheit“
überwindet, bringt aber zugleich eine der Moral entgegengesetzte Wir-
kung hervor, indem die Menschen einander verderben und sich zu „Ehr-
sucht, Herrschsucht oder Habsucht“ anstacheln.159 Im ethischen Natur-
zustand ist also die moralische Autonomie des Menschen durch das un-
koordinierte Aufeinandertreffen sittlicher und unsittlicher Gesinnungen
gefährdet. Die sittlichen Einstellungen müssen deshalb koordiniert wer-
den, da nur durch eine solche Koordinierung die Realisierung allgemei-
ner Autonomie möglich ist.160 Deshalb ist es Pflicht, aus dem ethischen
Naturzustand herauszutreten um in eine sichtbare ethisch-bürgerliche
Gemeinschaft einzutreten, die sich als bloß sinnliches Symbol der un-
sichtbaren Kirche versteht. Denn die Idee eines solchen Gemeinwesens
impliziert notwendig eine „potestas legislatoria“.161 Dieser Gesetzgeber
ist der Idee nach ein absolut vernünftiges und freies Wesen, das nur Ge-
setze der moralischen Freiheit gibt. Solch ein Gesetzgeber könnte nur
Gott selbst sein. So verstehen die Kirchen sich dann zu Recht als Kir-
chen Gottes, wenn sie sich als Schematisierungen der unsichtbaren Kir-
che verhalten.
Es ist für Kant also die moralische Pflicht des Menschen, eine solche
„bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte“ Kirche zu errichten.162
Erst als Mitglied einer solchen Gemeinschaft überwindet der Mensch
seinen ethischen Naturzustand. Dem Ideal nach vereinigen sich in der

157
Fleischacker 2013, 26.
158
RGV AA 6, 97.
159
Idee AA 8, 21.
160
Vgl. zum Vorangehenden Lutz-Bachmann 2005, 213–215.
161
OP AA 22, 126.
162
RGV AA 6, 94.
Kant 467

Zukunft alle Menschen zu einem solchen Gemeinwesen.163 Diese univer-


selle ethische Gemeinschaft kann aber nur die unsichtbare Kirche sein.
Die einzelnen Kirchen sind hingegen nur „ein Schema“ dieses Ideals.164
Aber auch die Schaffung solcher sichtbaren Gemeinwesen ist eine mora-
lische Pflicht, da der Mensch die Pflicht hat, seine moralische Verfassung
zu bessern. Als Moment der Realisierung der Autonomie ist sie Teil des
Aufklärungsprojekts. Aber wie die vollkommene äußere Freiheit der In-
dividuen und Staaten vollständig erst durch ein universell geltendes
Rechtsverhältnis in Form einer Staatengemeinschaft realisiert werden
könnte, so würde die innere Freiheit aller Menschen erst in einer alle
Menschen umspannenden ethischen Gemeinschaft realisiert werden
können. So lässt sich die Aufklärung des Kirchenglaubens auch auf fol-
gende Weise verstehen: Der historische Kirchenglaube als die öffentliche
Verfassung einer ethischen Gemeinschaft muss sich selbst letztlich nicht
vollständig annihilieren. Vielmehr sollen die Gemeindemitglieder einer
Kirchengemeinschaft ihre Autonomie in einer solchen Weise befördern
und habitualisieren, dass sie nicht mehr auf die spezifische Form dieser
Gemeinschaft angewiesen wären.165 Dann wäre nämlich bereits die all-
gemeine Religion verwirklicht. Auf dieses Ziel sollen die sichtbaren Kir-
chen kontinuierlich hinarbeiten.166 Als Voraussetzung hierfür müssen die
Kirchenmitglieder aber zunächst ihr religiöses Selbstverständnis aufklä-
ren, nämlich dass ihre spezifische kirchlich-religiöse Praxis nur der An-
näherung an die moralisch-religiöse Praxis der unsichtbaren Kirche dient
und insofern entbehrlich wäre.167 Indem der Kirchenglaube in seiner ei-
genen historischen Kontingenz im Unterschied zur notwendigen wahren
Religion durchschaut wird, wird er bereits in den reinen Religionsglau-
ben aufgehoben.168 Als Folge muss der statutarische Kirchenglaube im
Prozess der Aufklärung auch nicht notwendig abgeschafft werden.169 Ei-
163
RGV AA 6, 96f.
164
RGV AA 6, 96.
165
„Nicht daß er aufhöre (denn vielleicht mag er als Vehikel immer nützlich und nö-
thig sein), sondern aufhören könne; womit nur die innere Festigkeit des reinen morali-
schen Glaubens gemeint ist.“ (RGV AA 6, 135.)
166
RGV AA 6, 135f.
167
RGV AA 6, 153.
168
RGV AA 6, 115.
169
Im Bewusstsein der moralischen Indifferenz etwa einer bestimmten Liturgie kann
man diese dann auch beibehalten, sofern sie nicht der Autonomie und äußeren Freiheit
des Individuums widerspricht. So muss man sich etwa auf einen Tag einigen, an dem man
sich zum Gottesdienst versammelt. Ob dieser Tag nun Samstag oder Sonntag ist, ist mora-
lisch arbiträr. Der Gläubige muss sich eben nur über den Status dieser Formen aufklären.
Für bestimmte kultische Regelungen können auch bestimmte Klugheitsregeln sprechen.
So ist dann auch für Kant gerechtfertigt, den christlichen Glauben beizubehalten, da es
468 Religion bei Kant und Jacobi

ne in dieser Weise aufgeklärte religiöse Gemeinschaft ist dann eine histo-


rische Triebkraft der Aufklärung.170
Die Aufklärung über den arbiträren Status jeder kirchlich-religiösen
Praxis markiert für Kant den eigentlichen Unterschied zwischen Hei-
dentum und wahrer Religion.171 Für die Wahrheit einer historischen Re-
ligion ist es dagegen irrelevant, ob die Offenbarung, auf die sie sich
gründet, tatsächlich göttlich geoffenbart ist. 172 Denn die potentielle
Wahrheit einer Religion ist keine theoretische, sondern eine praktische.
Deshalb resultiert die Unwahrheit jeder historischen Religion gerade aus
dem moralisch-unbedingten Wert, der ihr zugeschrieben wird.173 Selbst
wenn die Kirchengesetze nämlich göttlichen Ursprungs wären, wäre die
Forderung nach Unterwerfung unter selbige eine Aufforderung zur He-
teronomie und damit dem Zweck des Kirchenglaubens entgegengesetzt.
Sie wäre praktisch unwahr.
Anders betrachtet: Der Idee nach ist die Kirche ein ethisches Ge-
meinwesen, das nur unter der moralischen Gesetzgebung Gottes steht.
Als solche ist sie jedoch unmöglich Gegenstand möglicher Erfahrung, da
die Moralität niemals sichtbar wird, insofern sie nur Gesinnungen be-
trifft. Als Gegenstand möglicher Erfahrung muss eine sichtbare Kirche
mit dem Ideal der unsichtbaren Kirche als ihrem Urbild übereinstim-
men, aber gleichzeitig die Menschen unter sichtbaren äußeren Gesetzen
vereinigen.174 Die Wahrheit einer Kirche beruht deshalb nicht darauf, ob
die ihr zugrunde liegende Heilige Schrift wirkliche historische Ereignisse
beschreibt. Ihre Wahrheit zeigt sich vielmehr darin, inwiefern sie als
ethische Gemeinschaft das moralische Reich Gottes auf Erden dar-
stellt.175 Die konkrete Form der Kirchenverfassung muss sich selbst da-
bei als bloße Form verstehen, um den empirischen Bestand der sittlichen
Gemeinschaft zu ermöglichen.176

einfacher ist, das Neue Testament als „Buch, was einmal da ist“ (RGV AA 6, 132), zur
Grundlage einer äußeren Kirchenverfassung zu machen.
170
Vgl. Wood 1999, 283.
171
„Religion ist derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der
Moralität des Menschen setzt: Heidenthum, der es nicht darin setzt“ (SF AA 7, 49). Vgl.
ebenso: Ibid., 50.
172
Selbst wenn man zugesteht, dass die moralischen Gebote Gebote Gottes sind, so
konnte sie Gott nur durch die Vernunft allen Menschen in Anerkennung ihrer Autonomie
mitteilen (Cortina 1984, 287).
173
SF AA 7, 50.
174
RGV AA 6, 101; 192.
175
RGV AA 6, 101.
176
„Alle verdienen gleiche Achtung, so fern ihre Formen Versuche armer Sterblichen
sind, sich das Reich Gottes auf Erden zu versinnlichen; aber auch gleichen Tadel, wenn sie
Kant 469

Der Gedanke ist insofern einleuchtend, als das einzige Interesse der
Vernunft an der sichtbaren ethischen Gemeinschaft die Realisierung der
menschlichen Autonomie ist, eine äußere Verpflichtung auf einen be-
stimmten Kultus aber immer Heteronomie implizieren würde. Die Auf-
klärung muss deshalb die moralische Arbitrarität der äußeren Kirchen-
verfassung offenlegen. Dies bedeutet aber nicht, sie zwangsläufig ver-
nichten zu müssen, sondern nur ihren Status aufzuklären. 177 Gottes-
dienstliche Handlungen können aber gerade dann als Symbol des wahren
moralischen Glaubens verstanden werden, wenn sie vom Individuum in
freier Weise als Medium der Moralität gewählt sind.178
Kant macht die Wahrheit einer positiven Glaubenslehre also davon
abhängig, welcher praktische Wert ihr zugeschrieben wird. Ob sie tat-
sächlich von Gott offenbart ist, ist dagegen irrelevant. Für einen Gläubi-
gen wird dies jedoch schwer akzeptabel sein. Ähnlich problematisch
scheint Kants Feststellung, dass kein positiver Kirchenglaube als Verfas-
sung einer alle Menschen verbindenden Kirche geeignet ist, weil damit
das Arbiträre zu etwas Wesentlichem erhoben würde. Seine Anhänger
müssen vielmehr die durch ihn begründete Kirche als eine besondere,
sichtbare Darstellung des moralischen Reichs Gottes auf Erden, soweit
dies durch Menschen möglich ist, begreifen.179 Nur die Idee eines un-
sichtbaren, ethischen Gemeinwesens umfasse die gesamte Menschheit, ja
eigentlich alle Vernunftwesen. Eine einzelne, ethische Gesellschaft oder
Kirche könne dieses Ideal hingegen nur anstreben und zu realisieren ver-
suchen. Hierzu müssen die Gläubigen ihre Konfession aber gerade als
arbiträres Schema des ethischen Gemeinwesens begreifen, das zwischen
der Idee der unsichtbaren Kirche und der empirischen Wirklichkeit ver-
mittelt. Sobald sie ihre Kirche mit der Idee selbst identifizieren, hört sie
auch schon auf, sichtbare Darstellung zu sein. So drückt sich nach Kant
im Universalitätsanspruch des Christentums nur dann ein wahrer An-
spruch aus, wenn es selbst dadurch universell werden soll, dass es sich
der Idee des religiösen Gemeinwesens immer mehr annähert. Dieser An-
spruch wird aber mit der Forderung, alle Menschen sollten sich den ei-
genen besonderen Statuten unterwerfen, gerade pervertiert.

Wir sind in diesem Abschnitt von der Annahme eines rein kritischen Re-
ligionsverständnisses Kants ausgegangen, in dem Aufklärung die positi-

die Form der Darstellung dieser Idee (in einer sichtbaren Kirche) für die Sache selbst hal-
ten.“ (RGV AA 6, 175.)
177
RGV AA 6, 179.
178
Dörflinger 2004, 167.
179
RGV AA 6, 101.
470 Religion bei Kant und Jacobi

ven Religionen nur über ihre Unvernunft aufklärt. In diesem Verständ-


nis bliebe das, was sich in den positiven Religionen nicht aus der Ver-
nunft entwickeln lässt, als irrationaler Rest zurück, der im Prozess der
Aufklärung obsolet werden sollte. Wir haben aber festgestellt, dass Kant
der positiven Religion (dem Kirchenglauben) gerade in ihrer Kontingenz
und historischen Bedingtheit und ihrer Andersheit zur Vernunft einen
legitimen Raum zugesteht, insofern sie in Form religiöser Symbole, Ri-
ten und Verhaltensweisen positive Potentiale für die Vermittlung der
reinen praktischen Vernunft mit der empirisch-bedingten Natur des
Menschen bereitstellt. Damit kann Kant innerhalb der Grenzen bloßer
Vernunft einen Eigenwert des Kirchenglaubens zugestehen, insofern die-
se Vermittlung für den Menschen immer notwendig bleiben wird. In
gewissem Sinne anerkennt Kant sogar die Eigenheit der Regeln religiös-
dogmatischer Diskurse gegenüber dem weltbürgerlich-aufgeklärten Re-
ligionsdiskurs, der sich nicht zuletzt in der institutionellen Unterschei-
dung der Aufgaben der theologischen und der philosophischen Fakultät
manifestiert. Hier zeigt sich freilich auch deutlich die Asymmetrie beider
Diskursformen: Muss die theologische Fakultät nämlich den Diskurs der
philosophischen Fakultät zumindest zur Kenntnis nehmen, so bleibt ers-
tere für letztere ohne jegliches Interesse. Ebenso hat der religiös-
dogmatische Diskurs nur private Gültigkeit, weil er sich eben nur an je-
ne richten kann, die sich freiwillig einer bestimmten Glaubenslehre un-
terwerfen. Dagegen richtet sich der kosmopolitisch-aufklärerische Reli-
gionsdiskurs an alle Menschen und ist insofern auch in den religiös-
dogmatischen zu integrieren.

B. Jacobi

Bevor wir zu Jacobis Religionsbegriff übergehen, wollen wir noch ein-


mal das letzte Resultat des Kapitels zu Jacobis Glaubensbegriff rekapitu-
lieren: Die Vernunft, die nicht Grund ihres Seins sein kann, erkennt, dass
sie sich selbst und ihre freien Vollzüge in einem rein immanenten Wissen
vernichten würde. Diese Einsicht wiederum motiviert das Heraussetzen
des Grundes des Wissens aus der Immanenz der eigenen Vollzüge. Die
vollendete Spekulation führt also zu einer Entsetzung der menschlichen
Vernunft aus ihrem Alleinheitsanspruch und zur Voraussetzung einer sie
transzendierenden, absoluten Vernunft.
In ihrer Reflexion in sich selbst übersteigt sich also die menschliche
Vernunft auf ein sie transzendierendes Sein hin. Mit diesem Übergang
ist, wie wir im Folgenden zeigen wollen, dann auch die Möglichkeit ei-
Jacobi 471

ner Integration der positiven Religion in Jacobis Aufklärungsprojekt ge-


geben. Dies wollen wir in vier Schritten darlegen. Dabei bestimmen wir
zunächst Jacobis religionsphilosophischen Standpunkt als Vermittlung
zwischen religiösem Idealismus und Materialismus (I), um anschließend
die Grundlage dieser Vermittlung in der Konzeption einer inneren Of-
fenbarung im menschlichen Personbewusstsein zu analysieren (II). Da-
nach betrachten wir Jacobis Idee einer religiösen Offenbarung in der
Praxis moralischen Handelns (III) um abschließend Jacobis Verhältnis
zur äußeren Offenbarung am Beispiel des Christentums zu untersuchen
(IV).

I. Zwischen religiösem Idealismus und Materialismus

Jacobis Verhältnis zur positiven Religion und zum Christentum im Be-


sonderen scheint zunächst ambivalent. Diese Ambivalenz zeigt sich nicht
zuletzt in der Einschätzung seines Verhältnisses zur christlichen Offen-
barung durch seine Interpreten. Nach Schlegels Rezension von GD tole-
riert Jacobi die positive Offenbarung des christlichen Glaubens höchs-
tens als Gefäß einer inneren Offenbarung durch das sittliche Gefühl.
Beide Formen von Offenbarung seien jedoch für den Menschen unauf-
löslich miteinander verbunden, so dass die positive Offenbarung als „lei-
diges Beiwerk“ nicht aufzuheben sei.1 Damit rückt Schlegel Jacobi in die
Nähe Kants. Andere Interpreten sehen in Jacobi hingegen den Vertreter
einer explizit christlichen Philosophie. 2 Jacobis eigene Reaktionen auf
seine Zeitgenossen, die seinen Glaubensbegriff entweder mit dem christ-
lichen identifizieren oder diesem entgegensetzen, tragen zunächst nicht
unbedingt zur Klärung seines Verhältnisses zum Christentum bzw. zur
Offenbarungsreligion im Allgemeinen bei. Gegenüber Herders Vor-
schlag, seinen eigenen Glaubensbegriff in der Neuauflage seiner Spino-
zabriefe streng vom christlichen Glauben zu unterscheiden,3 erklärt Ja-
cobi, dass der „Abschnitt vom Glauben“ in seiner Überarbeitung der
Spinozabriefe „mit nur ein paar unerheblichen Veränderungen davonge-
kommen“ sei; da er für ihn „ausgemachte Wahrheit“ und seine „eigenste
Philosophie“ sei.4 Andererseits distanziert sich Jacobi in DH von dem
Vorwurf, einen christlichen Glauben zu lehren:

1
KFSA 8, 445; 586f.
2
Altmann 1982, 83; Larjo 2006, 82; Fischer 1955, 79; 114.
3
Brief Herders vom 6.6.1785 JB 1,4, 110.
4
Brief an Herder vom 2.9.1785 JB 1,4, 165.
472 Religion bei Kant und Jacobi

Mendelssohn hatte mir, ohne die geringste Veranlassung, christliche Gesinnun-


gen aufgebürdet, die weder christlich noch die meinigen waren[.]5

Für ein besseres Verständnis von Jacobis Verhältnis zur Religion wollen
wir im Folgenden nicht von seinen „Bekenntnissen“ zum Glauben, son-
dern von seiner Verhältnisbestimmung zu Kants Religionsphilosophie
ausgehen. Ein wesentliches Resultat dieser Philosophie ist nach Jacobi
die Irrelevanz der historischen Wirklichkeit und Wahrheit der Offenba-
rung. Der historische Glaube sei für Kant bestenfalls das völlig arbiträre
Vehikel reiner Vernunftideen. Wahr und wirklich sei ein historischer
Glaube aus dieser Perspektive nur insoweit, als er als Vehikel der Etab-
lierung dieser reinen Vernunftidee und ihres Wirkmächtigwerdens in der
moralischen Praxis diene. Letztlich müsse die historische Religion je-
doch an ihrer eigenen Überwindung mitwirken, damit die reine Ver-
nunftidee an und für sich wirkmächtig werde. Für Jacobi stellt sich
Kants Religionsphilosophie damit als eine Position dar, die er in Analo-
gie zum epistemischen Idealismus als „religiösen Idealismus“ bezeichnet.
Für letzteren sei der Gegenstand der Erkenntnis nur insofern relevant,
als er eine Bestimmung des eigenen Bewusstseins sei.6 Ob der Gegen-
stand mit seinen Bestimmungen eine Entsprechung außerhalb des Be-
wusstseins besitzt, sei für ihn insofern irrelevant, als er außerhalb der
Möglichkeit des von uns Erfahrbaren liege. Das Bewusstsein habe in der
Erkenntnis bloß die Bestimmungen des eigenen Selbst zum Gegenstand.
In analoger Weise kommt es nach Jacobi auch dem religiösen Idealisten
nur darauf an, was der Gegenstand des religiösen Bewusstseins für des-
sen Subjekt ist, und nicht darauf, was dieser Gegenstand an sich ist. So
sei es für den religiösen Idealisten bezüglich der Person Jesus Christus
ganz gleichgültig, ob Christus außer dem Begriff, den das religiöse Be-
wusstsein von ihm hat, je existiert hat. Für den religiösen Idealisten re-
duziere sich die Wirklichkeit Christi auf seinen Status als von der Ver-
nunft gesetztes Ideal der Tugendhaftigkeit. Was Christus darüber hinaus
zugeschrieben werde, sei nur eine unwesentliche, historische Einklei-
dung dieser Idee, um ihr bei nicht aufgeklärten Menschen leichteren Zu-
gang zu verschaffen. Die durch die Idee im Subjekt induzierte Zuversicht
bezüglich der eigenen moralischen Vervollkommnung solle letztlich den
Glauben an eine wirkliche Offenbarung ablösen. Dieser sei wie die posi-
tive Religion überhaupt nur eine „leidige Eselsbrücke“, von der die reli-

5
DH1 JW 2,1, 21.
6
DH1 JW 2,1, 106f.
Jacobi 473

giöse Aufklärung die Menschheit letztlich befreien solle, um an ihre Stel-


le das reine Vernunftideal moralischer Vollkommenheit zu setzen.7
Selbst wenn man Jacobis Darstellung des religiösen Idealismus für ei-
ne Verzerrung von Kants Religionsphilosophie hält, so bleibt sein
grundsätzlicher Einwand gegen diese Konzeption dennoch bedenkens-
wert. Jacobi sieht nämlich, dass dieser religiöse Idealismus für den
Offenbarungsgläubigen letztlich inakzeptabel bleibt. Der Glaube des
Offenbarungsgläubigen ist diesem aufgeklärten religiösen Idealismus di-
ametral entgegengesetzt, insofern er das, was für den Gläubigen wesent-
lich ist, nämlich das An sich-Sein seines Gegenstandes, für irrelevant er-
klärt. Der gläubige Christ denkt nach Jacobi seine Idee von Christus je-
doch von dessen An sich-Sein her und rechtfertigt Erstere durch
Letzteres. Für ihn ist die wahre Religion „an einen besondern individuel-
len Körper äußerlicher Geschichte und Lehre gebunden“.8 Die religiöse
Wahrheit ist für ihn eine von Außen gegebene „materielle Wahrheit“,9
die den Sinnen in Form von göttlichen Offenbarungen, Wundern, histo-
risch erfahrbaren Ereignissen etc. gegeben sein muss. Entsprechend be-
zeichnet Jacobi diesen dem religiösen Idealismus entgegengesetzten
Offenbarungsglauben als religiösen Realismus bzw. Materialismus.10 Die
Reduktion dieser materiellen Wahrheit auf eine Idee – sei es auch eine
der Vernunft – sei für den offenbarungsgläubigen religiösen Materialis-
ten gleichbedeutend mit einer Annihilation seines Glaubens.
Fassen wir zusammen: Wenn Kant von der inneren Offenbarung als
der Offenbarung Gottes durch unsere eigene Vernunft spricht, die allen
anderen Offenbarungen als ihr Maßstab vorausgehen muss,11 so verkennt
das für Jacobi gerade das religiöse Selbstverständnis des Offenbarungs-
gläubigen. Das Absolute ist diesem nicht in seiner Vernunft gegeben,
sondern muss als Entäußerung des Absoluten selbst verstanden werden.
Diese Selbstentäußerung übersteigt die menschliche Vernunft, weshalb
er die Vernunft als höchste Autorität bezüglich religiöser Wahrheiten
leugnen muss. Was für den religiösen Idealisten das höchste Kriterium
religiöser Wahrheit ist, ist für den religiösen Materialisten bestenfalls von
untergeordneter Relevanz. Nach den Vertretern dieses Materialismus
können die Menschen vielmehr nur deshalb Wissen von Gott, seinen Ei-
7
Fromm JW 5,1, 109f.; GD JW 3, 46. Damit verkennt der religiöse Idealismus nicht
nur die Natur der Religion, sondern auch der endlichen Vernunft des Menschen und
schlägt in Unvernunft um (ibid., 120). Dass dies eine durchaus faire Interpretation von
Kants Christusverständnis ist vgl. Kühn 2007, 428.
8
Stolberg JW 5,1, 251; vgl. auch JB 1,2, 203.
9
Stolberg JW 5,1, 251.
10
Stolberg JW 5,1, 251; GD JW 3, 69.
11
V-Met/Herder AA 28, 117.
474 Religion bei Kant und Jacobi

genschaften, seinem Verhältnis zum Menschen und der Welt besitzen,


weil Gott sie darüber durch die Vermittlung von Gesandten unterrichtet
hat. Vernunft und Gewissen müssen sich für den religiösen Materialisten
diesem Unterricht unterwerfen, weil der Mensch mit seiner endlichen
Vernunft keinen Maßstab besitzt, an dem er die absolute Wahrheit der
göttlichen Offenbarung überprüfen könnte.12
Für den religiösen Materialisten muss der aufgeklärte Glaube des reli-
giösen Idealisten, „den höchsten Gegenstand seiner Bewunderung und
Liebe nur als einen von ihm selbst hervorgebrachten Gedanken zu ach-
ten“,13 deren Wirklichkeit irrelevant ist und nicht mehr Bedeutung als
ein Märchen besitzt, inakzeptabel bleiben. 14 Dass etwa die Wahrheit
Christi in der bloßen Vernunftidee von Christus bestehen solle, könne
kein gläubiger Christ annehmen, da das Christentum damit für ihn zum
„religiöse[n] Chimärismus“ 15 würde. Aus der Perspektive des religiös
Gläubigen ist die Idee einer Religion der reinen menschlichen Vernunft
nur ein spekulatives Gebäude,16 das sich in einer Verabsolutierung seiner
Endlichkeit anmaßt, Religion zu sein. Für Jacobi ist dieses Unverständ-
nis insofern gerechtfertigt, als eine in diesem Sinne aufgeklärte Vernunft-
religion eine contradictio in adjecto ist. Das religiöse Bewusstsein ist
nämlich gerade dadurch charakterisiert, das Göttliche als Inhalt seines
Bewusstseins nicht als Produkt der menschlichen Vernunft zu denken,
sondern vom Absoluten aus, das sich dem menschlichen Bewusstsein of-
fenbart. Die Idee einer Vernunftreligion ist deshalb selbst nicht vernünf-
tig, sondern eine „philosophische Schwärmerey“, 17 die ihrerseits die
menschliche Vernunft zu einem „Orakel“18 macht.
Nach Jacobi sind der religiöse Idealismus und seine Idee einer aufge-
klärten Religion nun aber insofern im Recht gegen den religiösen Mate-
rialismus, als letzterer vom gläubigen Individuum die Unterordnung sei-
ner Freiheit und Vernunft unter „eine von außen her gegebene, zuvör-
derst materielle Wahrheit“, die an einen bestimmten „individuellen
Körper äußerlicher Geschichte und Lehre“ gebunden ist, fordert. 19 Da-
mit erhebt der religiöse Materialismus den Buchstaben der Religion über

12
GD JW 3, 71.
13
GD JW 3, 47.
14
GD JW 3, 47f.
15
GD JW 3, 48.
16
Fromm JW 5,1, 110.
17
Fromm JW 5,1, 120.
18
Fromm JW 5,1, 123.
19
Stolberg JW 5,1, 251.
Jacobi 475

ihren Geist. 20 Wegen der Negation menschlicher Selbstbestimmung


mündet diese Haltung, auf die sich alle kirchlichen Systeme stützen, zu-
letzt in „Dogmatismus, Mechanismus und Despotismus“.21
Ist der religiöse Idealismus also für den Gläubigen unannehmbar, so
ist der religiöse Materialismus für das menschliche Freiheitsbewusstsein
inakzeptabel.22 Jacobi glaubt nun in seiner anderen Aufklärung, in der
Gott nicht als Setzung der menschlichen Vernunft verstanden wird, son-
dern die Vernunft des Menschen ihre Freiheit aus ihrer Abhängigkeit
von Gott begreift, sowohl dem religiösen Bewusstsein als auch dem auf-
geklärten Anspruch auf vernünftige Selbstbestimmung Rechnung tragen
zu können und beide in ihrer Vermittlung miteinander zu überbieten.23
Der religiöse Idealist und der religiöse Materialist teilen sich so nach Ja-
cobi letztlich beide nur „die Schale der Muschel, welche die Perle des
Christenthums“ enthält.24 Diese Perle ist die Lehre von der Freiheit des
Menschen, durch deren Bewusstsein er in Relation zu Gott steht.

II. Die innere Offenbarung in der Personalität

Jacobi bezeichnet den religiösen Glauben, zu dem er sich bekennt, als


Theismus: der Glaube an einen lebendigen, personalen Gott, der zu sich
sagt: „Ich bin der Ich bin.“25 Insofern der Gott der Bibel ein Wer und
nicht wie der Gott Spinozas ein bloßes Was ist, sieht Jacobi seine Kon-
zeption in der Nähe des biblischen Gottesbegriffs.

Der Gott der Bibel ist erhabner, als der Gott, welcher nur ein Absolutes ist, wie
sehr man dieses auch schmücke, und mit Flitterwerk der Phantasie umgebe.
Darum fragt meine Philosophie: wer ist Gott; nicht: was ist er? Alles Was gehört
der Natur an.26

Trotz seiner Kritik an Kant ist Jacobi aber in zweierlei Hinsicht zu-
nächst nicht allzu weit von Kant entfernt: Zum einen behauptet auch

20
An Sophia Stolberg schreibt Jacobi im August 1800 anlässlich ihres und ihres Man-
nes Konversion zum Katholizismus: Wer papistisch werde, der glaube, „der Geist des
Menschen müsse wieder in Knechtschaft kommen, und der Buchstabe als Buchstabe ihm
überall das Gesetz geben.“ (Sophronizon 11,3, 115.)
21
Stolberg JW 5,1, 253.
22
Stolberg JW 5,1, 251.
23
GD JW 3, 69.
24
Entwurf VGD2 JW 3, H1 159; 165.
25
Fromm JW 5,1, 115ff.; JB 1,7, 11; vgl. hierzu Sandkaulen 2004, 220.
26
VSpin3 JW 1,1, 342.
476 Religion bei Kant und Jacobi

Kant einen lebendigen, persönlichen Gott;27 zum anderen denkt auch Ja-
cobi, dass die biblische (oder jede andere äußere) Offenbarung gar nicht
zu uns sprechen könnte, wenn Gott sich nicht bereits in unserem perso-
nalen Selbst offenbaren würde.28 Für Jacobi offenbart sich der Gott des
Theismus zunächst weder in der Natur noch in einer Schrift, sondern im
menschlichen Freiheits- und Personbewusstsein als deren eigene Voraus-
setzung. So kann sich Gott auch in der Natur nur dadurch offenbaren,
dass er sich bereits im Inneren offenbart hat. Wir finden den Gott in der
Chiffernschrift der Natur, den wir bereits auf Grund unseres Bewusst-
seins in ihr suchen.29 Die Erkenntnis der auf Gott verweisenden Ver-
nünftigkeit der Natur entnehmen wir nämlich nicht der Natur, sondern
finden oder anerkennen sie in ihr, weil wir ein inneres Bewusstsein der
Vernunft haben.30

Wer Gott nicht siehet, für den hat die Natur kein Angesicht; dem ist sie ein Ver-
nunftloses, Herz- und Willenloses Unding; eine gestaltende düstere Unge-
stalt[.]31

Wie nun die innere Offenbarung der Lektüreschlüssel für eine Naturaus-
legung ist, in der diese nicht nur als mechanisches System, sondern als
Ausdruck schöpferischer Freiheit verstanden werden kann, so ist die in-
nere Offenbarung auch das einzige Interpretament zur Auslegung religi-
öser Offenbarungsschriften. Wie für Kant sind auch für Jacobi die Er-
zählungen der Bibel letztlich nur Symbole, aber besonders gelungene
Symbole, da sie ihren eigenen Symbolcharakter verraten: So ist etwa die
Genesis-Erzählung, nach der Gott den Menschen mit seinen Händen ge-
formt hat, deshalb gelungen, da sie „offenbar symbolisch“ ist.32
Gott offenbart sich uns in der Natur und in den Heiligen Schriften
nach Jacobi also nur dann äußerlich, wenn er sich uns bereits im Be-
wusstsein unserer Freiheit innerlich offenbart hat. In unserem Person-
bewusstsein offenbart sich uns Gott als die ratio essendi unserer Perso-
nalität, das Bewusstsein unserer freien Personalität ist entsprechend die
27
Hierauf verweist Jacobi selbst (VSpin3 JW 1,1, 342).
28
GD JW 3, 41; SpinBlMr JW 1,1, 116.
29
Hierbei beruft sich Jacobi auf Kant. In seinem Allwill 1792 zitiert Jacobi als Motto
eine Stelle aus Kants KU, wandelt diese jedoch völlig um. Will Kant in KU deutlich ma-
chen, dass ein Nachdenken über die Schönheit der Natur gar nicht möglich wäre ohne
jegliches moralisches Interesse, so spricht bei Jacobi die Natur „in ihren schönen Formen“
„figürlich“ zum Menschen in einer „Chiffernschrift“, die wir dank unseres personalen
Selbstbewusstseins auslegen können (Allwill2 JW 6,1, 93).
30
Betrachtung JW 4,1, 24f.
31
GD JW 3, 12.
32
Brief an Reimarus vom 29. 12. 1790 JB 1,8, 462.
Jacobi 477

ratio cognoscendi des persönlichen Gottes.33 Durch das Bewusstsein un-


serer personalen Freiheit besitzen wir eine Ahndung von einem Wesen,
das ganz Selbstsein ist und dessen Leben nicht von einem anderen Da-
sein abhängt. Unsere personale, menschliche Vernunft „ist das Symptom
des höchsten Lebens, das wir kennen. Sie hat aber nicht ihr Leben in ihr
selbst, sondern sie muß es jeden Augenblick empfangen.“34 Als Ursache
unserer Personalität kann die von uns vorausgesetzte Ursache nur „der
wahre Gott ein lebendiger Gott, der wisse und wolle, und zu sich selbst
spreche, Ich bin der Ich bin; nicht ein bloßes Ist“ sein.35 Als Wer, der
sich im Freiheitsbewusstsein offenbart, ist Gott nicht einfach Spinozas
Sein in allem Dasein, sondern das Person- und Vernunftsein in allem
Person- und Vernunftsein.36
Alle wahre Religion gründet nach Jacobi also auf der inneren Offen-
barung eigener Personalität, die er sowohl von der Idee einer Offenba-
rung Gottes in der Natur als auch der historischen Offenbarung unter-
schieden wissen will.37 Dieser sich im Inneren des Menschen offenbaren-
de persönliche Gott offenbart sich für Jacobi als Grund unserer eigenen
Persönlichkeit – er offenbart sich unmittelbar als Grund unserer Persön-
lichkeit im Bewusstsein unserer Persönlichkeit.

Der Grad unseres Vermögens, uns von den Dingen ausser uns intensiv und ex-
tensiv zu unterscheiden, ist der Grad unserer Personalität, das ist, unserer Geis-
teshöhe. Mit dieser köstlichsten Eigenschaft der Vernunft erhielten wir Gottes-
ahndung; Ahndung dessen, Der Da Ist: eines Wesens, das sein Leben in ihm
selbst hat.38

Mit dem Begriff „Offenbarung“ will Jacobi die Unmittelbarkeit des


Verhältnisses von unserem Bewusstsein unserer Personalität zum Be-
wusstsein des persönlichen Gottes zum Ausdruck bringen. So sagt das
Wort „Offenbarung“ nach Jacobi die unbegreifliche Weise aus, durch die
wir in unserem Bewusstsein nicht nur Vorstellungen und Ideen, sondern
die bewusste Sache selbst wahrnehmen. „Offenbarung“ meint, dass das
Subjekt die Gegenstände nicht aus sich als reine Vernunftideen aktivisch
hervorbringt, sondern selbige sich ihm entbergen.39 Auf unser Bewusst-

33
Spin2 JW 1,1 198f.
34
FB WW VI, 191.
35
GD JW 3, 75.
36
DH1 JW 2,1, 46f.
37
Brief an Kleuker vom 4.4.1782 JB 1,3, 19; Brief an Herder vom 30.6.1784 JB 1,3, 326;
JaF JW 2,1, 234.
38
DH1 JW 2,1, 99.
39
DH1 JW 2,1, 31.
478 Religion bei Kant und Jacobi

sein übertragen: Wir schließen nicht von unserem personalen Selbstbe-


wusstsein auf eine absolute Person, sondern diese manifestiert sich un-
mittelbar in unserer Personalität. Diese Offenbarung ist kein Postulat,
sondern „das Sicherste und Gewisseste, aus dem unser eignes Daseyn
hervorging“:40

Denn das ist der Geist des Menschen, daß er Gott erkennet [...]. Das ist seine
Vernunft, daß ihm das Daseyn eines Gottes offenbarer und gewisser als das ei-
gene ist. Sie ist nicht, wo diese Offenbarung nicht ist.41

Sowohl Gott als auch der Mensch sind Person, das heißt, sie können zu
sich selbst sagen: „Ich bin, der Ich bin.“ Beim Menschen ist dieses Be-
wusstsein jedoch dadurch gebrochen, dass die Möglichkeit dieses Selbst-
bewusstseins auf ein Du angewiesen ist. Der Mensch ist nicht nur er
selbst, sondern immer schon ein Anderer im Verhältnis zu einem Ande-
ren, der ebenfalls ein Selbst ist. Im Bewusstsein seines Selbstseins ist je-
doch als Moment das Bewusstsein reinen Selbstseins unmittelbar mitge-
geben, genauso wie das Bewusstsein, nicht selbst dieses reine Selbstsein
zu sein. Dieses Bewusstsein reinen Selbstseins, das ich nicht selbst sein
kann, ist eine innere Offenbarung. Wer sich selbst versteht oder sich sei-
nes Selbsts bewusst ist, der besitzt eben in diesem Bewusstsein ein Be-
wusstsein von Gott als dem absoluten Selbst:

Also spricht der Unsinnige in seinem Herzen: es ist kein Gott! dem Verständi-
gen ist er wie die eigene Seele gegenwärtig.42

Der Offenbarungsbegriff bringt aber zugleich die eben skizzierte Be-


dingtheit der menschlichen Vernunft durch einen Anderen ihrer selbst
zur Geltung. Es handelt sich zwar um eine innere Offenbarung, aber ei-
ne Offenbarung, in der sich der Andere der Person als Bedingung ihrer
Möglichkeit offenbart.43 Im Bewusstsein seiner selbst erfährt der Mensch
sich unmittelbar als in zweifacher Weise bedingt: durch „eine Natur un-
ter, und einen Gott über ihm.“44 Die horizontale Bedingtheit des Ich
durch ein menschliches Du muss also ergänzt sein durch die vertikale
Relation Gott (absolutes Ich) und Mensch (bedingtes Ich). Wie die Be-

40
Krit JW 2,1, 329.
41
GD JW 3, 10.
42
GD JW 3, 66.
43
„Gott lebet in uns, und unser Leben ist verborgen in Gott. Wäre er uns nicht auf die-
se Weise gegenwärtig, unmittelbar gegenwärtig durch sein Bild in unserm innersten
Selbst: was außer Ihm sollte Ihn uns kund thun?“ (GD JW 3, 41).
44
GD JW 3, 40.
Jacobi 479

stimmtheit der menschlichen Personalität nur möglich ist durch ein an-
deres Du, so ist sein endliches, personales Selbst nur möglich durch ein
göttliches Du:45

Der in sich selbst gewisse Geist des Menschen bedarf aber, zu seinem Selbstlau-
te, der Mitlaute Natur und Gott um sein Daseyn auszusprechen, oder richtiger:
er ist kein reiner Selbstlaut.46

Im Bewusstsein, dass er sich in seinem Personsein über die bloße Natur


und Notwendigkeit vor allem im praktischen Handeln erheben kann,
besitzt der Mensch das Bewusstsein seiner eigenen Geistigkeit. Da er
aber nicht der in sich selbst seiende Geist ist, hat er im Bewusstsein sei-
ner selbst zugleich ein Bewusstsein der Abhängigkeit seiner Geistigkeit
von dem absoluten in sich seienden Geist. Der Geist im Menschen, seine
Freiheit, der Gott und Geist in ihm, bezeugt deshalb den Gott außer ihm
als seinen Ursprung.47„Gottes Bild im Menschen [ist] der positiveste Un-
terricht der sich gedenken läßt“.48 In diesem Sinne beschreibt sich Jacobi
als einen Wundergläubigen: Er glaubt an Gott auf Grund des Wunders
menschlicher Freiheit.49 Jeder Willensakt ist schließlich eine Abschattung
der Schöpfung: „der Allmächtige wollte und es ward“.50 In unserer Frei-
heit besitzen wir so „ein Analogon des Uebernatürlichen“.51
Die durch diese innere Offenbarung konstituierte Religion ist für Ja-
cobi die „innere Religion“52 im Unterschied zur äußeren Religion, die
durch Heilige Schriften und die Natur begründet ist. Insofern sich die
Personalität in ihrer Abhängigkeit von Gott erfasst, denkt sie Gott nicht
als Setzung der eigenen Vernunft, sondern die eigene Vernunft als ge-
setzt durch Gott. In dieser Umkehrung der Relation von Gott und
menschlichem Geist, wie sie sich im religiösen Idealismus der Aufklä-
rung kantischer Provenienz findet, glaubt Jacobi dem Selbstverständnis
des religiösen Materialismus mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen zu
könne als der religiöse Idealismus. Denn durch diese Umkehrung wird
die Wirklichkeit Gottes der Wirklichkeit der menschlichen Vernunft vo-
rausgesetzt. Die personale Vernunft begreift sich als personale Vernunft
wie das religiöse Bewusstsein vom Absoluten her. Andererseits kann
45
GD JW 3, 15.
46
GD JW 3, 27; vgl. auch FB WW VI, 148f.
47
GD JW 3, 65.
48
Brief an Herder 22.11.1783 JB 1,3, 256.
49
FB WW VI, 174.
50
Spin1 JW 1,1, 145.
51
Spin2 JW 1,1, 262.
52
JaF JW 2,1, 221.
480 Religion bei Kant und Jacobi

menschliches Bewusstsein diese Abhängigkeit nur im Vollzug der Ver-


nunft und Freiheit erfahren. Durch diese Gedankenfigur integriert Jaco-
bi das religiöse Bewusstsein in sein Aufklärungsprojekt und vermittelt
religiöses und aufgeklärtes Bewusstsein.
Gegenüber dieser fundamentalen, inneren Offenbarung ist nun die
christliche Offenbarung wie jede andere positive Offenbarung nach Ja-
cobi sekundär. In diesem Sinne weist er ganz äußerliche Religionen zu-
rück.53 Die christliche Religion ist für Jacobi jedoch insofern wahr, als sie
der inneren Offenbarung Ausdruck verleiht. Diesen Aspekt des Chris-
tentums bezeichnet Jacobi einmal – vielleicht etwas unglücklich – als ih-
ren „mystischen Anteil“.54 Gott kann dem Menschen zunächst nur in
seinem Inneren erscheinen, aber anders als bei Kant nicht als eine Set-
zung der Vernunft, sondern als etwas, das die menschliche Vernunft ge-
rade transzendiert.55 Nur so lässt sich auch die finale Struktur menschli-
chen Bewusstseins erklären, nämlich immer schon auf etwas aus zu
sein.56 Dieses Woraufhin des Ausseins ist zwar inhaltlich unbestimmt,
formal aber zumindest dadurch bestimmt, dass der Mensch in diesem
Aussein sein faktisches Sein zu transzendieren versucht. Eben deshalb ist
die Losung des Selbsts nicht „Ich bin Ich.“, sondern „Ich will mehr als
Ich sein, besser als Ich sein!“57 Die Selbsterkenntnis des Menschen als ein
freies Wesen, das sich mit seiner Vernunft über die Natur und sein eige-
nes faktisches Dasein erheben kann, impliziert damit das Bewusstsein
eines in sich völlig freien Wesens – das heißt für Jacobi, das Bewusstsein
Gottes. Umgekehrt, sofern er sich seine eigene Freiheit verschleiert,
kann der Mensch auch kein Bewusstsein von Gott haben. Eine rein na-
turwissenschaftliche Betrachtung der Natur, da in ihr kein Platz für die
Freiheit des Menschen ist, kann auch kein Bewusstsein Gottes begrün-
den.58 Allein das Bewusstsein der Freiheit führt für Jacobi zum Theis-
mus.59

53
„Es kann einen äußerlichen Cultus, aber keine äußerliche Religion geben.
Aeußerliche Gottesverehrung ist eine äußerliche Seele, ein körperlicher Geist.“ (FB WW
VI, 240.)
54
Brief an Stolberg vom 29.1.1794 JB 1,10, 310. Vgl. auch: JB 1,9, 26; JB 1,11, 241.
55
GD JW 3, 42.
56
VSpin3 JW 1,1, 341.
57
JaF JW 2,1, 209f.; vgl. auch Woldemar3 JW 7,1, 269.
58
GD JW 3, 104.
59
Spin2 JW 1,1, 122. „Der Glaube an ein höchstes Wesen überhaupt, als der Quelle al-
les Seyns und alles Werdens; und der Glaube an einen Gott, der ein Geist ist, sind beyde
dem Menschen in der unerforschlichen Thatsache seiner Spontaneität und Freyheit [...]
gegeben.” (Allwill2 JW 6,1, 240.)
Jacobi 481

Was der späte Jacobi „Vernunft“ nennt, ist so letztlich das Hand-
lungs- und Personbewusstsein der eigenen Freiheit, in dem sich „ein
Geist in ihm“ und „ein Geist über ihm“ offenbart.60 Nur mit dieser Ver-
nunft, dem Bewusstsein unserer personalen Freiheit, können wir unser
eigenes Selbst transzendieren und uns über unsere Vernunft erheben. Ei-
ne nur von außen kommende Offenbarung könnte dies hingegen nicht:

Gleichwohl erkenne auch ich eine Erhebung über die Vernunft. Ich erhebe mich
nämlich über meine, meine menschliche Vernunft, indem ich ihren Urheber, eine
unabhängige Intelligenz, das ist – die Gottheit denke, die als ein schlechterdings
Erstes und Einziges, mir schlechterdings unbegreiflich bleiben muß. Wer auf ei-
ne andere Weise, d. i. nicht mit, aus und durch Vernunft, sondern ohne sie und
außer ihr, mit seinem Dünkel, mit seinen Vorurtheilen sich über sie erhebt, der
ist Fanatiker[.]61

Wir können noch einmal zusammenfassen: Mit dem Gefühl der eigenen
Persönlichkeit, der eigenen Freiheit und Vernunft ist dem Menschen zu-
gleich das Bewusstsein einer ihn transzendierenden Persönlichkeit, Frei-
heit und Vernunft als Ursache seiner selbst gegeben. Das Bewusstsein
der eigenen Freiheit ist ratio cognoscendi der vollkommen freien Person,
nämlich Gottes, die wiederum ratio essendi der menschlichen Freiheit
ist. Der menschliche Wille ist „ein Funken aus dem ewigen reinen Lich-
te, und eine Kraft der Allmacht“.62 Soll dem Menschen Freiheit zukom-
men, so muss in ihm „ein andrer Geist, als der bloße Geist des Syllogis-
mus“63 wohnen: der „Othem Gottes“.64 Dieser ist gegenwärtig in freien
Handlungen, denn erst dieser Geist ermöglicht die Freiheit des Men-
schen. Das Bewusstsein der Freiheit hingegen, gewonnen in ihrer Betäti-
gung, verweist zurück auf ihren Ursprung, indem es unmittelbar „den
Glauben an eine Erste allerhöchste Intelligenz; an einen verständigen
Urheber und Gesetzgeber der Natur, an einen Gott, der ein Geist ist“,
lehrt.65 Dieser Glaube impliziert eine Transzendierung des Ichs. In sei-
nem Glauben (Bewusstsein der Freiheit) transzendiert der Mensch un-
mittelbar die reine Immanenz dieses Glaubens, indem er den Glauben an
einen höheren Grund der eigenen Persönlichkeit impliziert: „Ich glaube

60
VSpin3 JW 1,1, 341. „Vernunft ist das Bewußtseyn des Geistes“ (FB WW VI, 170);
vgl. GD JW 3, 40; 21.
61
Brief an Graf Holmer vom 5.8.1800 Sophronizon 11,3, 118.
62
Spin1 JW 1,1, 144.
63
Spin2 JW 1,1, 166.
64
Spin2 JW 1,1, 166.
65
Spin2 JW 1,1, 167; vgl. auch ZEeD JW 5,1, 218ff.
482 Religion bei Kant und Jacobi

eine verständige persönliche Ursache der Welt.“66 Im Bewusstsein seiner


selbst als Vernunft und Freiheit besitzt der Mensch also ein Bewusstsein
von dem unbedingten göttlichen Wesen, von dem seine Freiheit abhängt.
Damit stellt sich für Jacobi, anders als für Kant, nicht das Problem,
menschliche Freiheit bzw. Autonomie und die Notwendigkeit göttlicher
Gnade nachträglich durch eine Lehre vom radikal Bösen vermitteln zu
müssen, 67 da die menschliche Freiheit selbst als Ausdruck göttlicher
Gnade verstanden und damit aber die Lehre von der Gnade säkularisiert
wird.

III. Die Offenbarung im Handeln

Fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse zusammen: Gott offenbart sich


uns im Bewußtsein unserer Personalität. Diese ist bestimmt als final
strukturierte Freiheit: Wir sind immer schon auf etwas aus. Dieses Wo-
raufhin ist zwar unbestimmt, aber muss in dieser Unbestimmtheit schon
gegeben sein. Deshalb spricht Jacobi davon, dass wir nur eine Ahndung
und kein Wissen von dem Unbedingten haben, auf das wir unser Selbst
zumindest im moralischen Wollen ausrichten. Daraus folgt für Jacobi
aber: Je freier ein Mensch, um so mehr offenbart sich ihm Gott und die
anfängliche Ahndung geht in ein klares Bewusstsein über.68 Nur in der
Herrschaft seines Geistes über den Naturmechanismus können sich dem
Menschen Freiheit, Vernunft und Persönlichkeit offenbaren, weil sie da-
durch realisiert und verwirklicht werden.69 Indem der Mensch sich so
durch seine Freiheit über die Natur erhebt und sich seiner eigenen geisti-
gen Natur bewusst wird, wird er Gottes inne.70 Im Vollzug der Freiheit
(und nur in diesem) wird Gott „im Menschen selbst geboren“.71
Der Trieb der Freiheit ist „die wahre eigentliche Menschenenergie;
Gott im Menschen.“72 Ohne moralische, freie Lebensführung ist keine
Kirche der inneren Offenbarung und damit keine echte Religion mög-

66
Spin1 JW 1,1, 20.
67
Vgl. hierzu Michalson 1990, 8f.
68
GD JW 3, 41.
69
GD JW 3, 39.
70
GD JW 3, 40.
71
GD JW 3, 42; JB 1,11, 241. „Weißheit, Gerechtigkeit, Wohlwollen, freye Liebe, sind
keine Bilder sondern Kräfte, von denen man die Vorstellung nur im Gebrauch Selbsthan-
delnd erwirbt. Es muß also der Mensch Handlungen aus diesen Kräften schon verrichtet,
Tugenden und ihre Begriffe erworben haben, ehe ein Unterricht von dem Wahren Gott
zu ihm gelangen kann.“ (JaF JW 2,1, 219; GD JW 3, 42.)
72
Woldemar3 JW 7,1, 322.
Jacobi 483

lich: Nur „durch sittliche Veredelung erheben wir uns zu einem würdi-
gen Begriff des höchsten Wesens“.73 Der einzige Weg zu Gott ist deshalb
– wie bereits bei Kant – der praktische. Es gibt keinen bloß syllogisti-
schen Weg zur Erkenntnis Gottes.74 Im Unterschied zu Kant ist Gott für
Jacobi jedoch nichts anderes als die lebendige Freiheit selbst, so dass sich
uns Gott in unserem lebendigen Vollzug der Freiheit offenbart und nicht
als Konsequenz des Sittengesetzes von der praktischen Vernunft postu-
liert wird. Im Vollzug der menschlichen Freiheit (als Kraft, entgegen
dem egoistischen Interesse zu handeln) manifestiert sich das Dasein eines
Gottes, der die Liebe selbst ist.75 Die im Handeln realisierte Liebe zum
Ewigen, Wahren, Guten und Gerechten im Menschen enthüllt den gött-
lichen Ursprung des Menschen.76 Deshalb kann der Mensch Gott nur
erkennen, indem er göttlich lebt. 77 So konstituieren die Tugendhaften
durch ihre Tugendhaftigkeit auch bei Jacobi eine unsichtbare Kirche, die
sich auf die Offenbarung des Daseins Gottes im tugendhaften Handeln
begründet.78 Freiheit und Tugend sind „eine Offenbarung des göttlichen
Wesens, weil sie selbst göttlich sind“.79 Der Mensch erkennt Gott durch
ein göttlich geführtes Leben, also im Vollzug vernünftiger Freiheit. Der
Offenbarung Gottes liegt deshalb die „Annahme überirrdischer Gesin-
nungen“80 voraus, nicht nur eine bloße Verstandesanstrengung. Hand-
lungen aus dem „Vermögen reiner Liebe“ 81 sind „göttliche Handlun-
gen“, ihre Quelle „göttliche Gesinnungen“.82 Je freier wir handeln, umso
mehr erfahren wir im Gebrauch unserer Freiheit uns selbst als unbeding-
te Ursachen und damit auch das absolut Unbedingte als den Ursprung
unserer bedingten Unbedingtheit. Dieser Ursprung kann nicht die Natur
sein, denn sie offenbart uns, wenn wir sie nur in sich selbst betrachten,
einen bloßen Mechanismus, bei dem jeder neue Zustand durch die vor-
herigen Zustände vermittelt und bedingt ist. Gott offenbart sich deshalb
ursprünglich nur im eigenen Handeln:

73
JaF JW 2,1, 219.
74
Spin1 JW 1,1, 145.
75
Hammacher 1999, 136.
76
Spin2 JW 1,1, 168.
77
GD JW 3, 65; VSpin3 JW 1,1, 342.
78
JNa 2, 224; WMB JW 1,1, 310; VSpin3 JW 1,1, 353.
79
Krit JW 2,1, 329.
80
Spin1 JW 1,1, 137.
81
„Aber dieser Glaube erhält erst seine volle Kraft und wird Religion, wenn im Herzen
des Menschen das Vermögen reiner Liebe sich entwickelt.“ (Spin2 JW 1,1, 167.)
82
Jacobis innere Offenbarung ist also eine praktische Offenbarung im moralisch-freien
Handeln und nicht eine bloße pietistische Empfindelei. Vgl. auch Spin1 JW 1,1, 137; JB
1,2, 243.
484 Religion bei Kant und Jacobi

Geist meiner Religion ist also das: der Mensch wird, durch ein göttliches Leben,
Gottes inne; und es giebt einen Frieden Gottes, welcher höher ist, denn alle Ver-
nunft; in ihm wohnt der Genuß und das Anschauen einer unbegreiflichen Lie-
be.83

Wie lässt sich nun aber das, was man allgemein „Offenbarungsreligion“
nennen würde, in diese Konzeption integrieren? Der christliche Glaube
– als Offenbarungsreligion – hat nach Jacobi die veränderliche Natur des
Menschen zum Gegenstand. Er hat die endliche und zufällige Natur des
Menschen zum Objekt.84 Jedoch lehrt er den Menschen nicht seine bloße
Kontingenz, sondern unterrichtet ihn gerade über die Möglichkeit, sich
zu einem Leben der Freiheit und damit zu einer „höheren Erkenntniß“85
hinaufzuschwingen. Die Heilige Schrift bezieht sich damit auf den Ge-
brauch, den wir vom freien Willen machen sollen.86 Dabei unterrichtet
sie den Menschen, wie er seine Freiheit realisieren kann. Für den, der
Gottes Gesetzen und damit den Gesetzen der Freiheit gemäß handelt,
werden diese zu „Flügel[n] für die Seele [...], sich in seine [Gottes] Ge-
genwart hinauf zu schwingen“.87 In Christus stellt das Neue Testament
eine Person dar, die in ihrem Freiheitsgebrauch und ihrer Tugendhaftig-
keit ein exemplarisches Individuum sein kann.
Andererseits kann auch nach Jacobi das Maß der Tugend nicht durch
äußere Vorbilder und Beispiele gegeben werden, sondern äußere Beispie-
le und Vorbilder werden am inneren Maß gemessen und erst dadurch zu
Vorbildern.88 Dieses Maß ist jedoch unbestimmt und bedarf der konkre-
tisierenden Anschauung, um überhaupt wirksam werden zu können. So
muss der Mensch einerseits schon ein unbestimmtes Maß etwa der Ge-
rechtigkeit (Ahndung/Instinkt) besitzen, bedarf aber konkreter Vorbil-
der, um dieses Maß konkretisieren zu können. Das Unbedingte muss ei-
ne bestimmte Form für den Menschen annehmen. Für Jacobi ist die end-
liche Vernunft auf konkrete Formen angewiesen, die das Unbedingte für
ihn annimmt und ihn in endlicher Weise darüber belehrt, wie das Unbe-
dingte im Handeln in endlicher Weise verwirklicht werden kann.89 Die-
ser „höhere Unterricht“ durch eine konkrete Form wird für den Men-

83
Spin1 JW 1,1, 117. Vgl. ebenso: JaF JW 2,1, 216; JB 1,4, 16 Kladde I, 1, 39 Schuma-
cher 2003, 102.
84
Spin1 JW 1,1, 116.
85
Spin1 JW 1,1, 117.
86
Brief an Hamann vom 11.1.1785 JW 1,4, 15.
87
Spin1 JW 1,1, 137.
88
GD JW 3, 43.
89
Fromm JW 5,1, 120.
Jacobi 485

schen deshalb immer notwendig sein.90 Vernunft allein kann keine Of-
fenbarung Gottes und Selbsterkenntnis im eigenen Handeln hervorbrin-
gen, „als zu demjenigen Verhältnisse, welches allein Religion genannt
werden kann, erfordert wird“.91
Die innere Offenbarung der personalen Freiheit ist also auf eine äuße-
re Form, der menschliche Geist auf einen historisch gewachsenen Buch-
staben angewiesen, damit das Individuum seine Freiheit realisieren kann.
Die verschiedenen Glaubenslehren (als äußere Formen) verhalten sich
dabei zur inneren Offenbarung (Geist) „wie sich die verschiedenen
Staatsverfassungen zum Princip der Geselligkeit verhalten, dessen Da-
seyn und Nichtdaseyn sie zugleich voraussetzen, und in diesem Wider-
spruch ihr Wesen haben“.92 Die Wahrheit einer Religion hängt in diesem
Sinne von ihrer Lebendigkeit ab. Ist sie nur noch ein toter Buchstabe,
der keine Form zur Realisierung der menschlichen Freiheit ist, sondern
diese Freiheit als toter Buchstabe und äußerliches Gesetz vielleicht sogar
unterdrückt, so ist sie in diesem Sinne unwahr. Ist sie jedoch lebendig als
eine Form, in der sich menschliche Freiheit aktualisieren kann, so ist sie
in dem Maße, in dem sie lebendig ist, auch wahr. Die Wahrheit einer Of-
fenbarung oder religiösen Vorstellung leitet sich also aus ihrer Leben-
digkeit her. Wenn die Offenbarung in ihr lebendig ist, offenbart sich in
ihr tatsächlich das Absolute. Wir sahen bereits mehrfach, dass diese Le-
bendigkeit keine Eigenschaft eines Begriffs oder einer Vorstellung sein
kann, sondern sich aus einem relationalen Zusammenhang mit den Sub-
jekten ergibt, durch die dieser Begriff lebendig ist. Anders gesagt: Die
Wahrheit einer Religion bestätigt sich im Leben der ihr anhängenden
Personen. Da das Absolute Freiheit ist, muss sich die Wahrheit und Le-
bendigkeit einer Offenbarung des Absoluten im Leben des Gläubigen
äußern. Andererseits kann sich das Unbedingte dem Menschen letztlich
auch nicht im Erkennen, sondern nur im Handeln offenbaren. Im freien
Handeln macht der Mensch eben die Erfahrung des Unbedingten. Wie
für Kant ist es auch bei Jacobi das Christentum, das in seiner reinen
Form eine oder sogar die Religion der Freiheit wäre. Die Geschichte
läuft letztlich auf das Ziel der Form zu, die in idealer Weise für die Frei-
heit geeignet ist.

Die Vorsehung wird jeden ihrer Wege rechtfertigen, und die unter Wahn und
Dünkel fast erloschene Erkenntniß: daß Gottes Bild im Menschen, die einzige

90
Fromm JW 5,1, 122f.
91
Fromm JW 5,1 120. Vgl. bereits Jacobis Brief an Kopstadt vom Februar 1765 JB 1,1,
20.
92
Brief an Stolberg vom 29.1.1794 JB 1,10, 310.
486 Religion bei Kant und Jacobi

Quelle aller Einsicht des Wahren, so wie aller Liebe des Guten sey, in ihrem vol-
len Glanze wieder hervorgehen lassen, und nach so vielen zertrümmerten For-
men der Menschheit, diese Einzige Beste, unzerstörbar darstellen.93

Wir hatten bereits gesehen, dass für Jacobi im Zentrum des Glaubens das
Bewusstsein der Freiheit und Individualität steht. Dies muss nach ihm
auch den Geist jeder rechtfertigbaren Religion ausmachen. Wenn nun
aber eine Religion oder eine bestimmte Interpretation von Religion die
individuelle Freiheit des Individuums unterdrückt, so kann es sich nicht
um eine wahre Religion handeln, sondern nur um eine Perversion selbi-
ger. Dies gilt insbesondere vom Christentum, dessen Geist der Geist der
Freiheit ist. Wenn nun aber das Christentum despotisch interpretiert
wird, so wird der Geist des Christentums negiert, der Geist unter den
Buchstaben gebracht: „Im Grunde ist jede Religion antichristisch, wel-
che die Gestalt zur Sache, den Buchstaben zum Wesen macht.“94 Dies ist
nicht mehr Glauben, sondern Aberglauben: So fänden sich im unaufge-
klärten Christentum Formen des Aberglaubens, gemäß denen Gott wie
ein „eigensinnige[r] Despo[t]“ regiert, „dessen willkührliche Gesetze
man nur darum befolgen müsse, weil er, nach eigenem Gefallen, Gutes
und Böses austheilen könne.“95 Was schon in der Politik eine Pervertie-
rung legitimer Herrschaft darstellt, nämlich eine Herrschaft, die ihr
Recht aus der Gewalt ableitet, muss in höherem Maße von der göttlichen
Herrschaft gelten. Dies gilt umso mehr, als wir ja gesehen haben, dass
Gott der Grund der Freiheit des Menschen ist und sich nur in der Frei-
heit des Menschen offenbart. Insofern kann er durch keine äußere Of-
fenbarung diese innere Offenbarung negieren. Gott offenbart sich als
Gott der Freiheit und diese Offenbarung ist der kritische Maßstab jeder
äußeren Offenbarung. Das despotische Verständnis Gottes infiziert „den
edelsten Theil der Seele, die lautere Empfindung des Wahren und Guten,
mit einem tödlichen Gifte“.96 Moralität ist nicht möglich, wenn man nur
einen Mächtigen für sich gewinnen will. Dies ist aber die Folge, wenn
man nur an eine äußere Offenbarung durch Propheten und Wunder
glaubt. Diesen kann man sich dann nur noch unterwerfen.97 Der eigentli-
che Beweis der Wirklichkeit Gottes ist aber gerade das Gegenteil von
Unterwerfung, nämlich Freiheit.

93
Spin1 JW 1,1, 136; vgl. ebenso: JB 1,3, 256.
94
FB WW VI, 240.
95
Rech JW 4,1, 107.
96
Rech JW 4,1, 107.
97
GD JW 3, 71.
Jacobi 487

Die innere Offenbarung muss deshalb der äußeren Offenbarung im-


mer vorausgehen und nur ein tugendhafter Mensch kann ein Verständnis
des Christentums und eine durch selbiges vermittelte Erkenntnis des
Göttlichen erlangen: Auch bei dem, was historisch erfahren wird, muss
das Maß in uns gegeben sein. 98 Der Mensch muss in gewissem Sinne
schon tugendhaft sein, um die Lehre vom wahren Gott empfangen zu
können.99 Denn es ist allein das Wunder der Freiheit, in dem sich Gott
permanent offenbart und das die wahre Religion begründet.

IV. Jacobis Vermittlung von religiösem und aufgeklärtem Bewusstsein

Bei aller Differenz stimmt Jacobi darin mit Kant überein, dass der inne-
ren Offenbarung gegenüber der äußeren Offenbarung der Primat zu-
kommt. Bewusstsein vom Absoluten besitzt der Mensch nur durch die
innere Erfahrung seiner Freiheit. Diese innere Offenbarung ist Bedin-
gung der Möglichkeit jeder äußeren Offenbarung. Gott muss zunächst
im Menschen durch göttliches (= freies) Handeln wirklich werden. 100
Wenn wir nicht schon einen inneren Begriff von Gott und den göttlichen
Dingen hätten, so wäre es nach Jacobi unmöglich für uns, das Göttliche
durch „bloß historische Mittel“101 in etwas äußerlich Gegebenem zu er-
kennen. Nichtsdestotrotz will Jacobi seine Konzeption göttlicher Of-
fenbarung von dem unterschieden wissen, was er „religiösen Idealismus“
nennt und mit Kants Religionsphilosophie identifiziert. Diese Diffe-
renzbestimmung Jacobis beruht dabei nicht nur auf der Berichtigung
von Kants insuffizientem Religionsverständnis, sondern auf der für Ja-
cobi notwendigen Korrektur der durch Kant verkehrten Vernunftver-
hältnisse. Kants proton pseudos ist für Jacobi auch hier wiederum die
Voraussetzung einer reinen menschlichen Vernunft. Demgegenüber be-
ansprucht Jacobi gezeigt zu haben, dass diese Voraussetzung eine Fikti-
on ist.102 Zwar ist die menschliche Vernunft selbständig, ihre Selbstän-
digkeit hängt aber von einer von ihr verschiedenen, absoluten Vernunft
ab, die sich in der Selbsttätigkeit der menschlichen Vernunft nur offen-
bart. In dieser Offenbarung zeigt sich der Vernunft gleichzeitig ihre Ab-
hängigkeit. Im Ausgang von diesen korrigierten Vernunftverhältnissen
versucht Jacobi dann dem Selbstverständnis des religiösen Materialisten
98
GD JW 3, 38.
99
Olivetti 1979, 182; Rech JW 4,1, 107. Brief an Hamann vom 11.1.1785 JB 1,4, 15.
100
GD JW 3, 42.
101
Brief an Kleuker vom 4.4.1782 JB 1,3, 19.
102
Fromm JW 5,1, 123.
488 Religion bei Kant und Jacobi

in höherem Grade Rechnung zu tragen als Kant. Auf Grundlage dieser


sich selbst transzendierenden inneren Offenbarung vermittelt Jacobi
zwischen dem religiösen Idealismus und dem religiösen Materialismus,
für den die synthetischen Urteile der Theologie nicht aus einem reinen
Bewusstsein entwickelt werden, sondern die Erfahrung einer Offenba-
rung zur Voraussetzung haben.103 Gleichzeitig lässt sich sagen, dass das
adäquate Verständnis des Religiösen notwendiges Moment der Selbst-
aufklärung der menschlichen Vernunft ist.
Jacobis zentrale These ist also Folgende: Die menschliche Vernunft
muss, um ihre Selbständigkeit verstehen zu können, ihre Abhängigkeit
von einer ihr vorausgesetzten absoluten Vernunft anerkennen. Mit ihrer
eigenen Wirklichkeit setzt die menschliche Vernunft also zugleich die sie
transzendierende Wirklichkeit einer absoluten Vernunft, die wir Gott
nennen. Insofern kann Gott nicht wie bei Kant eine bloße Idee oder
notwendige Setzung der menschlichen Vernunft sein, sondern mit dem
religiösen Realisten muss die Wirklichkeit Gottes vorausgesetzt wer-
den.104 Notwendig veräußert die menschliche Vernunft also Gott. Diese
Veräußerung setzt sie als in endlichen Erscheinungen realisiert. Dieser
Schritt ist der Struktur des menschlichen Denkens geschuldet, das für
sein Begreifen auf Anschauung angewiesen ist. Alle absoluten Ideen der
menschlichen Vernunft (Gott, Freiheit, das Wahre, Gute und Schöne)
müssen sich ihr in einer bestimmten Gestalt darstellen.105 Das Sinnliche
oder Äußerliche besitzt deshalb eine notwendige Vermittlungsfunktion
für die Ideen.106 Gleichzeitig muss sich die Vernunft darüber aufklären,
dass diese Realisierungsformen nicht das Absolute selbst sind und sich
der Differenz zwischen der Wirklichkeit des Absoluten selbst und des-
sen sinnlichen Veräußerungen bewusst sein. Die Wirklichkeit des Abso-
luten ist nie in seinen endlichen Darstellungsformen realisiert. Diese sind
nur die Buchstaben, die der absolute Geist für den menschlichen Geist
annehmen muss, um sich diesem anschaulich offenbaren zu können. Als
notwendige Repräsentationen der Wirklichkeit Gottes für das menschli-
che Bewusstsein sind diese jedoch keine bloßen Fiktionen, sondern wah-
re Darstellungen des Absoluten. Sie sind die einzig möglichen Weisen, in
denen das Absolute sich dem endlichen menschlichen Bewusstsein im
Endlichen darstellen kann.
Notwendig setzt sich die menschliche Vernunft also eine absolute
Vernunft als sie transzendierende Wirklichkeit voraus. Da es für das
103
Brief von Claudius vom 9.2.1792 JB 1,9, 190.
104
Brief an Buchholtz vom 19.5.1786 JB 1,5, 213.
105
GD JW 3, 51.
106
ZEeD JW 5,1, 206.
Jacobi 489

menschliche Bewusstsein keine reinen Ideen und Begriffe gibt, sondern


jeder Begriff anschaulich sein muss, veräußert die Vernunft notwendig
ihren Begriff. Diese Veräußerungen des Absoluten sind keine bloßen
Fiktionen der Vernunft, sondern wahr. Was bisher jedoch unterbe-
stimmt blieb, ist die Frage, worin die Wahrheit dieser Darstellungsfor-
men besteht. Die etwas tautologische Antwort auf diese Frage würde
lauten: Darstellungsformen des Absoluten sind genau dann wahr, wenn
sie zumindest partiell das Absolute für den menschlichen Geist darstel-
len. Hieraus wird aber bereits ersichtlich, dass die Darstellung einerseits
in Relation zum Absoluten, andererseits in Relation zum menschlichen
Geist stehen muss. Der Witz der Konzeption Jacobis besteht nun darin,
dass es sich bei dieser Relation nicht um eine theoretische Abbildfunkti-
on handelt. Denn das Absolute ist für Jacobi ja gerade absolute Selbstän-
digkeit, Freiheit und Personalität. Hiervon können wir aber nie ein theo-
retisches Bewusstsein besitzen, sondern nur ein praktisches. Dieses prak-
tische Bewusstsein wiederum ist aber als Bewusstsein unserer
Personalität und Freiheit Handlungsbewusstsein. Die Wahrheit der Dar-
stellungsform ist deshalb praktisch: Wahr ist die Darstellungsform, inso-
fern sie Personalität und Freiheit des Menschen steigert. Die Wahrheit
des Glaubensgegenstandes hängt deshalb für Jacobi von seiner so ver-
standenen Lebendigkeit ab. So kann selbst das Bild eines Heiligen für
den Gläubigen eine Darstellungsform sein, in der sich ihm Gott offen-
bart, wenn es sich eben um eine solcherart lebendige Form handelt. Dies
bedeutet im konkreten Fall, dass sie auf Seiten des Subjekts Freiheitsbe-
wusstsein induziert und auf diese Weise das Absolute für es repräsen-
tiert.
Keine endliche Darstellungsform kann aber das Absolute selbst sein.
Jede äußere Offenbarung muss als Offenbarung für Menschen immer ei-
ne sein, in der das Absolute für das konkrete menschliche Bewusstsein
verendlicht ist.107 Deshalb kann es nach Jacobi keine universelle äußere
Offenbarung im eigentlichen Sinne geben. Religionen sind vielmehr
notwendig historisch, weil das Individuum und die seine Begriffswelt
mitkonstituierende Gesellschaft historische Formationen sind. Hiervon
hängt aber ab, welche Darstellungsform ihre Funktion der Verlebendi-
gung erfüllen kann. Der Mensch kann immer nur den Gott außer sich
erkennen, der dem Gott in ihm entspricht.108 Auch die Idee Gottes ist
deshalb durch die Gesellschaft und ihre Begriffs- und Zeichenwelt
mitkonstituiert. Die Quelle der Offenbarung ist die Erfahrung des Men-

107
Brief an Kleuker vom 4.4.1782 JB 1,3, 19.
108
GD JW 3, 42.
490 Religion bei Kant und Jacobi

schen von sich selbst als frei handelndem Individuum und so ist jede äu-
ßere Offenbarung insofern eine wahre Offenbarung, wenn sie für den
Menschen eine lebendige Darstellung des absoluten Grundes seiner
Freiheit ist und von daher als Selbstentäußerung der absoluten Freiheit
verstanden werden kann, die der Mensch in seinen Freiheitsvollzügen zu
realisieren versucht.
Die Wahrheit äußerer Offenbarung besteht für Jacobi also gerade in
der Verlebendigung des Freiheitsbewusstseins. Der religiöse Idealismus
unterbietet für Jacobi notwendig diese Leistung äußerer Offenbarung als
Darstellung der Selbstentäußerung der absoluten Freiheit, von der wir
uns in unserer eigenen Freiheitserfahrung abhängig wissen. Ein reiner
Begriff der menschlichen Vernunft kann dies deshalb nicht leisten, da
reine Begriffe der Vernunft immer schon als Selbstsetzungen des ver-
nünftigen Subjekts durchschaut sein müssen und so gerade keine Erfah-
rung einer Selbstentäußerung der absoluten Freiheit im Subjekt generie-
ren können. Auf einen solchen selbst gesetzten Begriff lässt sich nach Ja-
cobi weder vertrauen noch ihm gegenüber irgendein Gefühl
entwickeln.109 Sobald eine religiöse Idee als bloße Idee verstanden ist,
kann sie nicht einmal das leisten, was sie nach Kant leisten soll, nämlich
Grund von Hoffnung sein.110 Aus kantischer Perspektive lässt sich gegen
diese Kritik replizieren, dass Jacobi die Ideen der Vernunft von vornhe-
rein als bloße Setzungen des menschlichen Subjekts missversteht, so dass
sie den Status praktischer objektiver Notwendigkeit einbüßen, der ihnen
bei Kant zukommt. Jacobi muss sie aber gemäß seiner Denkkategorien
und vor allem gemäß seiner eigenen Vernunftkonzeption in diesem Sinne
verstehen, da die Rede von einer absoluten menschlichen Vernunft eine
Hypostasierung darstellt, weil sich die absolute Vernunft zwar in der
menschlichen Vernunft offenbart, aber eben nur in einer endlichen
Form. Da Kant die Natur der menschlichen Vernunft missversteht, kann
er auch das Phänomen des Religiösen nicht adäquat verstehen.
Wir haben gesehen, dass die Wahrheit äußerer Offenbarung darin be-
steht, Darstellung der Entäußerung der absoluten Freiheit und Selbstän-
digkeit, das heißt Gottes, zu sein. Der Vorzug des Christentums besteht
nun darin, dass die Person Christi nicht nur eine solche Darstellung ist,
sondern gleichzeitig die Selbstentäußerung in einer menschlichen Person
ist. 111 In der Person Christi hat die Gottheit als absolute Person und
Freiheit Fleisch und Blut und die Gestalt einer menschlichen Person an-
genommen. In Christus ist damit für Jacobi die Vermittlung zwischen
109
GD JW 3, 54.
110
Der Gott Kants ist kein „Gott, zu welchem man beten kann“ (VSpin3 JW 1,1, 339).
111
Brief an Sprickmann vom 23.11.1784 JB 1,3, 391f.
Jacobi 491

dem Absoluten und dem Menschen wirklich geworden.112 Er ist „das


Band“, das den unendlichen Abstand zwischen Gott und Mensch, zwi-
schen göttlicher Personalität und menschlicher Personalität vermittelt.
Die Möglichkeit dieser Vermittlung in ihrer Wirklichkeit dargestellt zu
haben, ist die wesentliche Leistung des Christentums.113 In Christus wird
die Gottheit menschliche Person und gleichzeitig stellt sie eine
Göttlichwerdung des Menschen dar, die Realisierung der für den Men-
schen möglichen absoluten Personalität. In einem Brief an Herder zitiert
Jacobi so einmal eine Stelle, die ihm in Hamanns Golgotha „so sehr ge-
fallen“ habe wie keine andere: Bei dem unendlichen Missverhältnis zwi-
schen Gott und dem Menschen habe „der Mensch entweder einer göttli-
chen Natur theilhaftig werden, oder auch die Gottheit Fleisch und Blut
an sich nehmen“ müssen.114 Die Funktion Christi wird von Jacobi als
nicht ganz unähnlich gefasst wie bei Kant, die in der praktischen Ver-
vollkommnung des Menschen besteht. Nur wenn wir Christus als bloße,
durch unsere Vernunft selbst hervorgebrachte Idee fassen, so kann sie
diese Funktion eben nicht erfüllen. Wie für Kant, kann auch für Jacobi
der Mensch seine Selbstvervollkommnung nicht aus eigenem Vermögen
erwarten. Anders als bei Kant kann aber auch die Gnade als Vermittlung
nicht bloße Idee sein, sondern ist in Christus eben wirklich geworden.
Dies gilt gerade deshalb, weil die Möglichkeit jedes Akts der Freiheit als
Erhebung über die Natur nicht in seinem eigenen Vermögen liegt. In je-
dem Akt der Freiheit erfahren wir sozusagen bereits die Wirklichkeit der
Gnade. Diese Lehre von der Geistausgießung ist der Vorzug des Chris-
tentums: „die Lehre eines fortdauernden Wunders, welches von jedem
erfahren werden kann – Wiedergeburt durch höhere Kraft“.115 Christus
als Mensch gewordene Freiheit ist für Jacobi das Zeichen dieser Gnade.
Wie die Freiheit des Menschen das permanente Wunder ist, so ist die
Ermöglichung dieser Freiheit durch Gott seine Gnade. Insofern be-
zeichnet sich Jacobi als Anhänger der biblischen Heilsordnung und
Gnadenlehre. 116 Christus ist gleichzeitig Lehrer und Verwirklichung
menschlicher Selbstbestimmung.

112
Spin1 JW 1,1, 145.
113
So schreibt Jacobi in einem Brief an Herder vom 13.11.1784: „Was wäre Religion
ohne einen Christus, ohne nahes und gewisses Band des Niedrigsten und Höchsten?“ (JB
1,3, 384).
114
Brief an Herder 13.11.1784 JB 1,3, 384; vgl. auch JB 1,4, 14; Spin1 JW 1,1, 117f.
115
Brief an Stolberg vom 29.1.1794 JB 1,10, 310.
116
Vgl. JB 1,2, 382; FB WW VI, 192.
492 Religion bei Kant und Jacobi

Der erhabene Lehrer dieses Glaubens, in dem alle Verheißungen desselben


schon erfüllt waren, konnte darum mit Wahrheit sagen: ich selbst bin der Weg,
die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater, denn durch mich[.]117

Wir können abschließend zusammenfassen: Kant bescheidet religiöse


Aufklärung auf die Perspektive der Religion innerhalb der Grenzen blo-
ßer Vernunft. Rein innerreligiöse Diskurse besitzen kein Aufklärungs-
potential für die säkulare Aufklärung. Dies zeigt sich besonders an der
Asymmetrie im Verhältnis von philosophischer und theologischer Fa-
kultät bzw. vernünftiger Aufklärung und „Schriftgelehrtheit“: Erstere ist
von Letzterer zu konsultieren, will sie der Vernunft nicht den Krieg er-
klären und letztlich an ihrem Widerspruch zur Vernunft im Prozess der
menschlichen Aufklärung zu Grunde gehen. Erstere hat von Letzterer
hingegen nichts zu lernen – schon gar nichts für ihr Selbstverständnis.
Jacobi denkt hier anders. Zwar unterscheidet auch er ein bestimmtes re-
ligiöses Selbstverständnis (religiösen Materialismus) von der Perspektive
seiner anderen Aufklärung, sieht aber deutlicher als Kant, dass auch die-
ses Verständnis in ihrer Fremdheit für das Projekt der Aufklärung Po-
tentiale enthält, die das aufgeklärte Selbst- und Religionsverständnis
noch einmal über seine Vorurteile aufklären kann. So gilt es aus der Per-
spektive sich selbst aufklärender Vernunft einerseits die Andersheit die-
ser religiösen Bewusstseinsform anzuerkennen, andererseits sie aber in
die aufgeklärte Bewusstseinsform noch einmal kritisch zu integrieren.

117
Spin1 JW 1,1, 117.
Schluss

Die vorangehenden Untersuchungen sollten die Legitimität des Projekts


der Aufklärung begründen. Wir konnten feststellen, dass sich die Legi-
timität der Aufklärung durch das menschliche Interesse an freier Selbst-
bestimmung begründet. Diese Selbstbestimmung ist, wie wir sahen, nur
als vernünftige Selbstbestimmung möglich, weshalb sie eine Aufklärung
der Vernunft voraussetzt. Die Vernunft ist dabei jedoch nicht nur Sub-
jekt, sondern immer auch Objekt der Aufklärung: Sie muss sich im Pro-
zess der Aufklärung vor allem über sich selbst aufklären. Dabei wurden
mit Jacobi und Kant zwei exemplarische Realisierungen dieses Projekts
der Aufklärung untersucht. Rückblickend lässt sich die Inanspruchnah-
me gerade dieser beiden Autoren noch einmal rechtfertigen: Zunächst
sollte damit nicht behauptet werden, dass es sich bei den Aufklärungs-
philosophien Kants und Jacobis um Bestformen aufklärerischen Den-
kens handelt. Für diese Behauptung ließen sich wohl kaum hinreichende
Kriterien angeben. Für die Legitimierung des Aufklärungsprojekts sind
sie jedoch aus folgenden Gründen relevant, die sich wiederum am Leit-
faden gegenwärtiger Aufklärungskritiken entwickeln lassen:
1. Die Dialektik der Aufklärung: Beide Autoren stellen nicht einfach
nur die Dialektik der Aufklärung fest, sondern integrieren diese in ihre
eigenen Aufklärungsprojekte: Für Kant zeigt sich an der Dialektik der
Aufklärung die Notwendigkeit transzendentaler Aufklärung, für Jacobi
die Notwendigkeit einer „anderen Aufklärung“. So erreicht die Aufklä-
rung bei beiden Autoren ein ganz exzeptionelles Reflexionsniveau, das
sich nicht zuletzt darin zeigt, dass beide zugleich eine Epochenschwelle
für den Übergang von der „klassischen“ Aufklärung in andere Formen
philosophischen Denkens wie der Romantik und dem deutschen Idea-
lismus markieren. Deren wiederum ambivalentes Verhältnis zur Aufklä-
rung auch in ihrer Selbstdeutung (wird hier die Aufklärung verabschie-
det, überwunden, auf eine höhere Stufe geführt oder aufgehoben?) ver-
dankt sich nicht zuletzt dem Einfluss Jacobis und Kants und der
Tatsache, dass die Aufklärung schon bei diesen beiden in sich reflektiert
wird.
2. Aufklärung als Ideologie: Anhand Jacobis und Kants ließ sich zei-
gen, dass es sich beim Projekt der Aufklärung gerade nicht um eine Ideo-
logie handeln muss, auch wenn es Denker der Aufklärung gibt, bei de-
nen Aufklärung in eine eigene Ideologie umschlägt. Beide Denker unter-
494 Schluss

ziehen diesen Umschlag nämlich einer Kritik und versuchen die Grund-
lagen ideologiefreier Aufklärungsdiskurse freizulegen. So ist „Universa-
lität der Aufklärung“ bei Kant kein Dogma, sondern ein Anspruch, den
die Aufklärung einzulösen hat. Aufklärung soll nach Kant kosmopoli-
tisch werden. Hierfür expliziert Kant die aus seiner Sicht transzendenta-
len Grundlagen wissenschaftlicher, ästhetischer, historischer, ethischer,
rechtlicher und religiöser Aufklärungsdiskurse, die die Bedingungen der
Möglichkeit von deren „Weltbürgerlichkeit“ und Universalität sind. Ja-
cobi unterzieht noch diese vermeintlich universellen Grundlagen einer
Kritik, insofern er zu enthüllen versucht, dass es sich auch bei diesen
Grundlagen noch um „Vorurteile“ handelt, ohne die ein Diskurs in einer
bestimmten historischen Situation zunächst einmal faktisch gar nicht
möglich wäre. Durch diesen Vorbehalt wird jedoch der Möglichkeit ih-
rer Überwindung im historisch unabschließbaren Prozess der Aufklä-
rung wiederum Raum gegeben. Die einzige Bedingung der Möglichkeit
hierfür ist für Jacobi, dass die eigenen Vorurteile nicht durch politische
Machtmittel durchzusetzen versucht werden (also eine Art herrschafts-
freier Diskurs).
3. Abstrakte Subjektivität statt konkreter, historisch-kulturell beding-
ter Individualität: In der Tat setzt Kant ein transzendentales bzw. nou-
menales Subjekt als Bedingung der Möglichkeit aufgeklärter Selbstbe-
stimmung voraus. Wir sahen jedoch, dass damit keine metaphysischen
Entitäten bezeichnet sind, die neben oder über dem empirischen Indivi-
duum existieren, sondern vom konkreten Individuum abstrahierte Züge,
die das Individuum abstrahieren können muss, wenn es sich überhaupt
als Adressat epistemischer, moralischer oder rechtlicher Ansprüche ver-
stehen können will. Demgegenüber setzt Jacobi als Grundlage seines
Aufklärungsprojekts die Person als historisch situiertes Individuum.
Beide stimmen aber darin überein, dass als Konstituent und Adressat des
Rechts dieses Individuum nur in seiner abstrakten Bestimmung als an
seiner freien Selbstbestimmung Interessierter in den Blick treten darf.
Der Grund hierfür ist, dass nur auf diese Weise die unterschiedlichsten,
individuellen Ansprüche auf Ausgestaltung dieser Selbstbestimmung in
einer Gesellschaft inhomogener Individuen in fairer Weise miteinander
koordiniert werden können. Das Interesse an freier Selbstbestimmung,
eben weil es so abstrakt ist, muss und kann bei jedem Individuum vo-
rausgesetzt werden, denn sollte jemand ein solches Interesse nicht haben,
dann könnte er ja auch keine Probleme mit der staatlichen Einschrän-
kung seiner Freiheit haben.
4. Vielfalt der Aufklärungen statt einheitliches Projekt: Durch die In-
anspruchnahme zweier Autoren, die in ihren philosophischen Grundla-
Schluss 495

gen doch eher weiter auseinanderliegen, sollte der Tatsache der Vielfalt
der Aufklärungen Rechnung getragen werden. Diese Diversität sollte
durch die Beschäftigung mit Herder, Lessing und weiteren vor allem
deutschen Aufklärern noch klarer vor Augen geführt werden. Gleichzei-
tig zeigt sich an der Intensität der Auseinandersetzung von Kant und Ja-
cobi miteinander, aber eben auch den weiteren, genannten Autoren, über
das Aufklärungsprojekt, dass die Denker der Aufklärung nicht einfach
verschiedene Aufklärungsphilosophien entwickeln. Vielmehr versuchen
sie ihre Projekte jeweils in ein Verhältnis zu setzen und sogar ineinander
zu integrieren. Leitend ist dabei ein gemeinsamer Anspruch, nämlich die
Realisierung der Selbstbestimmung der menschlichen Vernunft durch
Aufklärung (wobei die Vernunft Subjekt und Objekt dieser Selbstbe-
stimmung sein soll).
5. Einebnung des Religiösen: Kann die Aufklärung das Selbstver-
ständnis des religiösen Bewusstseins in ihr Projekt integrieren? Dies ist
in der Tat schwierig, sofern dieses Bewusstsein sich selbst so versteht,
dass es einem absoluten Anspruch unterworfen ist, der sich jeder auto-
nomen Aneignung durch das menschliche Denken entzieht. Wir haben
aber an Kant gesehen, dass Aufklärung nicht notwendig dazu führt, das
das religiöse Bewusstsein auf ein philosophisches Bewusstsein reduziert
wird. Vielmehr kann nach Kant religiöse Aufklärung gar nicht mehr leis-
ten, als die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu ana-
lysieren. Darin ist eben auch eine Selbstbescheidung seines Aufklärungs-
anspruchs impliziert, in der die Eigenständigkeit bestimmter religiöser
Bewusstseinsformen gerade anerkannt wird. Für Jacobi bleibt diese An-
erkennung jedoch noch zu abstrakt. Auch Jacobi anerkennt zwar die
Differenz zwischen einer rein rationalen religiösen Aufklärung und ei-
nem religiösen Glauben, der seine Gehalte als Gaben oder Offenbarun-
gen eines Absoluten versteht, das jede rationale Durchdringung durch
das menschliche Denken gerade ausschließt. Jacobi sieht aber deutlicher
als Kant, dass in diesem Anspruch noch einmal ein Aufklärungspotential
für das aufgeklärt-säkulare Denken selbst und seiner Vorurteile besteht,
so dass der Versuch einer kritischen Integration des „religiösen Materia-
lismus“ gerade aus der Perspektive des Aufklärungsprojekts lohnend ist,
trotz der Anerkennung der Andersheit dieser Bewusstseinsform.
Abkürzungen
Immanuel Kant

AA Gesammelte Schriften (1900ff.)


Anth Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798)
BDG Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins
Gottes (1763)
EAD Das Ende aller Dinge (1794)
EEKU Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (1790)
GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785)
GSE Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
IaG Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)
KpV Kritik der praktischen Vernunft (1788)
KrV Kritik der reinen Vernunft (1781/87)
KU Kritik der Urteilskraft (1790)
Log Logik (1800)
MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (1786)
MdS Die Metaphysik der Sitten (1797)
OP Opus Postumum
Päd Pädagogik (1803)
Prol Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783)
Refl Reflexion
RGV Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793)
SF Der Streit der Fakultäten (1798)
VT Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie
(1796)
WA Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)
WDO Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786)
ZeF Zum ewigen Frieden (1795)

Friedrich Heinrich Jacobi

AB Auserlesener Briefwechsel (1825/27)


Bouterwek Briefe an Friedrich Bouterwek (1868)
JB Briefwechsel. Gesamtausgabe (1981ff.)
JNa Aus F. H. Jacobi’s Nachlaß (1869)
JW Werke. Gesamtausgabe(1998ff.)
WW Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke (1812ff.)
Spin1/Spin2 Über die Lehre des Spinoza (1785 bzw. 1789)
DH1/2 David Hume (1787 bzw. 1815)
Allwill Allwills Briefsammlung (1776 bzw. 1792)
Cach Lettres de Cachet (1783)
Einl Einleitung in des Verfassers sämmtliche philosophische Schriften (1815)
Epistel Epistel über die Kantische Philosophie (1791)
Etwas Etwas daß Lessing gesagt hat (1782)
Abkürzungen 497

FB Fliegende Blätter (1817)


Fromm Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über eine Vernunft,
welche nicht die Vernunft ist (1788)
GD Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811)
Hamann Auszug aus: Der Philosoph Hamann (1813)
JaF Jacobi an Fichte (1799)
Krit Ueber das Unternehmen des Kriticismus, die Vernunft zu Verstande zu
bringen (1802)
Laharpe Bruchstück eines Briefes an Johann Franz Laharpe Mitglied der Französi-
schen Akademie (1790)
Nicolai Schreiben an Friedrich Nicolai (1788)
Rech Briefe über die Recherche philosophiques sur les Egyptiens et les Chinois
par M. de Pauw (1773f.)
Schlosser An Schlosser über dessen Fortsetzung des Platonischen Gastmahls (1796)
Spin3 Über die Lehre des Spinoza. Dritte Auflage (1819)
Stolberg Friedrich Heinrich Jacobi, Über drei von ihm bei Gelegenheit des
Stolbergischen Übertritts zur römisch-katholischen Kirche geschriebenen
Briefe, und die unverantwortliche Gemeinmachung derselben in den Neu-
en Theologischen Annalen (1802)
UGG Ueber gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck (1807)
Vertr. Br. Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe
von Verstorbenen und noch Lebenden (1806)
VSpin3 Vorbericht Über die Lehre des Spinoza. Erweiterung der dritten Auflage
(1819)
VGD2 Vorbericht zur zweiten Ausgabe Von den Göttlichen Dingen (1816)
Weis Ueber eine Weissagung Lichtenberg’s (1802)
WMB Wider Mendelssohns Beschuldigungen (1786)
Woldemar1/3 Woldemar (1779 bzw. 1796)
ZEeD Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers in Briefen an vertraute
Freunde (1793)

Johann Gottlieb Fichte

GA Gesamtausgabe (1962ff.)
Berichtigung Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französi-
sche Revolution. Erster Theil. Zur Beurtheilung ihrer Rechtmäßigkeit
(1793)
Denkfreiheit Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, die sie bis-
her unterdrückten (1794/95)
GWL Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95)
Nicolai Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen (1801)
Privat Aus einem Privatschreiben (1800)
Versuch Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

SW Werke in 20 Bänden (1986)


GW Gesammelte Werke (1986ff.)
GuW Glauben und Wissen (1802)
498 Abkürzungen

JW Friedrich Heinrich Jacobis Werke (1817)


VGPh Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie
WdL Wissenschaft der Logik (1832)

Johann Gottfried Herder

FHA Werke in 10 Bänden (1985ff.)


HB Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803 (1977ff.)
SWS Sämmtliche Werke (1877ff.)
ÄmedD Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst (1777)
APGBM Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774)
BBH Briefe zur Beförderung der Humanität (1793ff.)
Blumen Blumen aus morgenländischen Dichtern gesammelt (1792)
Erkennen Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778)
Erläuterungen Erläuterungen zum Neuen Testament aus einer neueröfneten Morgenlän-
dischen Quelle (1775)
ERW Vom Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften, und der Wissenschaf-
ten auf die Regierung (1781)
Exemplare Exemplare der Menschheit in Vorstellungsarten, Sitten und Gebräuchen
(1783)
FAM Fragmente zu einer „Archäologie des Morgenlandes“ (1769)
Fleiß Über den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen (1764)
Museum Aus dem Deutschen Museum. Von Ähnlichkeit der mittleren englischen
und deutschen Dichtkunst, nebst Verschiednem, das daraus folget (1777)
ÜBGK Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777)
ÜnDL Über die neuere deutsche Literatur (1767)
ÜnDL2 Über die neuere deutsche Litteratur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite
Ausgabe (1768)
Urkunde Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774)
Ursprung Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772)
VdAK Von deutscher Art und Kunst (1773)
VGEP Vom Geist der Ebraischen Poesie (1782)
VRLG Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen (1798)

Gotthold Ephraim Lessing

FLA Werke und Briefe. 12 in 14 Bänden (1989ff.)


BNLb Briefe, die Neueste Literatur betreffend (1760)
BvG Lessings sogenannte Briefe an verschiedene Gottesgelehrten (1780)
Duplik Eine Duplik (1778)
Erziehung Erziehung des Menschengeschlechts (1780)
Gegensätze Gegensätze zu Reimarus (1777)
Herrenh. Gedanken über Herrenhuther (1784)
ÜBGK Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777)
ÜEgR Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763/64)
Wissow. Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (1773)
Abkürzungen 499

Moses Mendelssohn

JubA Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe (1972ff.)


AW Ausgewählte Werke. Studienausgabe (2009)
Evidenz Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften (1764)
Gegenbetr. Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie (1770)
Jerusalem Jerusalem oder über religiöse Macht im Judentum (1783)
Lavater Schreiben an den Herrn Diakonus Lavater zu Zürich (1770)
Lessing Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig (1756)
Morgenst. Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes (1785)
Nacherin. Mendelssohns Nacherinnerung (1770)
Rettung Manasseh Ben Israel. Rettung der Juden (1782)
Rhapsodie1 Rhapsodie oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen (1761)
WA Ueber die Frage: was heißt aufklären? (1784)

Sonstige Autoren

DD Diderot: Oeuvres Complètes (1969-72)


Enc Diderot: Encyclopédie (2017; zusammen mit d’Alembert)
EW The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury (1839–45).
KFSA Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe seiner Werke (1958ff.)
MSW Möser: Sämtliche Werke (1943–1990)
N Hamann: Sämtliche Werke (1949–1957)
Off Schelling: Philosophie der Offenbarung
PIN Diderot: Pensées sur l’interprétation de la nature (1754)
PP Diderot: Pensées Philosophiques (1746)
SSW Schiller: Sämtliche Werke in fünf Bänden (2004)
SW Schelling: Werke (1927)
SWBD Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente (1995)
WSW Wieland: Sämmtliche Werke (1984)
ZH Hamann: Briefwechsel (1955ff.)
Literaturverzeichnis

Autoren der Aufklärungszeit

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Dritter Theil. Dritte verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin/Stettin.
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ausgegeben von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Osnabrück.
MÜLLER, Johann Joachim (Anonymus) (1999): De imposturis religionum (De tribus
impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen. Dokumente. Kritisch her-
ausgegeben und kommentiert von Winfried Schröder (Philosophische Clandestina
der deutschen Aufklärung I, 6). Stuttgart-Bad Cannstatt.NEEB, Johann (1796): Ue-
Literatur 505

ber Kant’s Verdienste um das Interesse der philosophirenden Vernunft. Zweite


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ZÖLLER, Günter (1998): „‚Das Element aller Gewissheit‘ – Jacobi, Kant und Fichte
über den Glauben“. In: Fichte-Studien 14, 21–41.
–(2004): „Fichte als Spinoza, Spinoza als Fichte. Jacobi über den Spinozismus der
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–(2009): „Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffent-
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ZUCKERT, Rachel E. (2007): Kant on Beauty and Biology. An Interpretation of the
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Personenregister

Abbt, Thomas (1738–1766; deutscher D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond


Philosoph und Schriftsteller) 20f., (1717–1783) 7
77, 89 Davidson, Donald (1917–2003) 291
Achenwall, Gottfried (1719–1772; Descartes, René (1596–1650) 53, 242,
deutscher Jurist und Historiker) 97 290, 398, 413
Adorno, Theodor W. (1903–1969) Diderot, Denis (1713–1784) 18f., 76,
2f., 11, 15, 50, 58, 88 84, 87, 317
Albert, Hans (1921–) 5 Dohm, Christian Wilhelm von
Arendt, Hannah (1906–1975) 30, 46, (1751–1820; deutscher Jurist und
80, 128, 170 Schriftsteller) 86, 273
Aristoteles (384–322 v. Chr.) 33, 225,
243f., 400 Eberhard, Johann August (1739–
Ascher, Saul (1767–1822; deutscher 1809; deutscher Philosoph) 18ff.,
Schriftsteller, Übersetzer und 91, 393
Buchhändler) 18, 319 Eckhartshausen, Karl von (1752–
1803; deutscher Philosoph und spä-
Bacon, Francis (1561–1626) 19 ter Esoteriker) 20
Bachstrom, Johann Friedrich (1686– Edelmann, Christian Johann (1698–
1742; lutherischer Theologe und 1767; deutscher Frühaufklärer) 316,
Mediziner) 85 318
Bahrdt, Carl Friedrich (1740–1792; Einsiedel, Johann August von (1754–
evangelischer Theologe und 1837; deutscher Philosoph und Na-
Schriftsteller) 317 turforscher) 87, 318
Berlin, Isaiah (1909–1997) 75, 80, 97 Erhard, Christian Daniel (1759–1813;
Biester, Johann Erich (1749–1816; deutscher Rechtswissenschaftler
Berliner Aufklärer und und Dichter) 16, 19f.
Popularphilosoph) 8, 16ff., 51 Erhard, Johann Benjamin (1766–
Brandom, Robert B. (1950–) 5 1827; deutscher Philosoph) 18, 91
Bruno, Giordano (1548–1600) 291
Buber, Martin (1878–1965) 274 Feder, Johann Georg Heinrich
Burke, Edmund (1729–1797) 76, 277f. (1740–1821; deutscher Philosoph)
396
Carpzov, August Benedikt (1644– Ferguson, Adam (1723–1816; schotti-
1708; deutscher Rechtswissen- scher Historiker und Moralphilo-
schaftler) 225 soph) 7, 19, 87, 317
Cassirer, Ernst (1874–1945) 1, 6, Feuerbach, Paul Johann Anselm
18ff., 22, 60, 76, 78, 87, 89, 178, 266, (1775–1833) 98
311, 315, 318f., 393, 437f., 460 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814)
Condorcet, Marie Jean (1743–1794) 19f., 22; 54; 69, 83f., 213, 228, 234,
18f., 83, 85, 91 241, 414, 427–433
Crusius, Christian August (1715–
1775) 16
Personenregister 531

Fischer, Gottlob Nathanael (1748– Hißmann, Michael (1752–1784;


1800; deutscher Pädagoge und deutsch-siebenbürgischer Philo-
Theologe) 20, 317 soph) 76, 96
Fontenelle, Bernard le Bovier de Hobbes, Thomas (1588–1679) 95–98,
(1657–1757) 75f. 115, 117, 243, 296, 299
Forster, Georg (1754–1794) 295, 303 D’Holbach, Paul-Henri Thiry (1723–
Foucault, Michel (1926–1984) 5, 294 1789) 19, 76, 83
Friedrich II. (1712–1786) 84 Horaz (65–8 v. Chr.) 25
Horkheimer, Max (1895–1973) 2f.,
Gadamer, Hans-Georg (1900–2002) 11, 15, 22, 50, 58, 88, 436
20, 80, 87, 323 Humboldt, Wilhelm von (1767–1835)
Garve, Christian (1742–1798) 76, 91 96, 269
Gottsched, Johann Christoph (1700– Hume, David (1711–1776) 22, 39,
1766) 20 137, 142, 221, 396–400, 403–405,
Grotius, Hugo (1583–1645) 96 413

Habermas, Jürgen (1929–) 3ff., 12, 76, Jaucourt, Louis de (1704–1779; En-
105, 123, 132, 294, 311f., 454 zyklopädist) 87
Hamann, Johann Georg (1730–1788) Jenisch, Daniel (1762–1804; lutheri-
9, 19, 30, 78f., 83, 437, 491 scher Theologe) 20, 22
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
(1770–1831) 106, 210, 212, 214f., Knoblauch, Karl von (1756–1794;
228, 265, 268, 278f., 282, 313, 321, deutscher Jurist und Philosoph) 20,
393, 403, 405, 422, 427 83
Heidegger, Martin (1889–1976) 264f.,
356 La Mettrie, Julien Offray de (1709–
Heine, Heinrich (1797–1856) 6 1751) 18f., 84, 316f.
Heinzmann, Johann Georg (1757– Lau, Theodor Ludwig (1670–1740;
1802; deutscher Schriftsteller und deutscher Jurist und Philosoph) 19,
Buchhändler) 16, 20, 76 22, 316f.
Hennings, August Adolph von Lavater, Johann Caspar (1741–1801;
(1749–1826; dänisch-schleswig- reformierter Pfarrer, Philosoph
holsteinischer Publizist und Politi- und Schriftsteller) 9
ker) 20f., 24, 84 Le Trosne, Guillaume-François
Herder, Johann Gottfried von (1744– (1728–1780; französischer Jurist
1803) 9, 12, 22, 68, 76–84, 86, 88ff., und Physiokrat) 298
98f., 101f., 128, 185, 282, 284, 292, Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–
304, 321–325, 399, 409, 437, 445f. 1716) 16, 32, 37, 156, 242, 267
471, 495 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–
Heydenreich, Karl Heinrich (1746– 1781) 6f., 18f., 60, 87f., 92, 295, 306,
1801; deutsche Philosoph und 315–321, 387, 495
Schriftsteller) 20, 91 Lichtenberg, Georg Christoph
Hillmer, Gottlob Friedrich (1756– (1742–1799) 20f., 85, 87
1835) 47 Liscow, Christian Ludwig (1701–
Hirschel, Moses (1754–1823; deut- 1760; deutscher Diplomat und Sati-
scher Schriftsteller; Maskil) 1, 22 riker) 315
Locke, John (1632–1704) 22, 96, 363
532 Personenregister

Lüdke, Friedrich Germanus (1730– Price, Richard (1723–1791; walisi-


1792; protestantischer Theologe) scher Philosoph) 19f.
20 Pütter, Johann Stephan (1725–1807;
Lyotard, Jean-François (1924–1998) deutscher Staatsrechtler und Publi-
3f., 75, 312 zist) 97
Pufendorf, Samuel von (1632–1694)
MacIntyre, Alasdair (1929–) 16, 28, 96
75, 101, 282 Rawls, John (1921–2002) 101, 106,
Machiavelli, Niccolò (1469–1527) 291 349
Maimon, Salomon (ca. 1753–1800; Rehberg, August (1757–1836; deut-
Maskil) 20 scher Staatsmann und Philosoph) 7
Malebranche, Nicolas (1638–1715; Reimarus, Hermann Samuel (1694–
französischer Philosoph und Ora- 1768; Gymnasialprofessor für ori-
torianer) 97 entalische Sprachen) 21, 83f., 316ff.
Marcuse, Herbert (1898–1979) 22 Reimarus, Johann Albert Heinrich
Mauvillon, Jakob (1743–1794; deut- (1729—1814; Arzt, Naturforscher
scher Aufklärer) 20, 83, 316f. und Nationalökonom) 317
Mehlig, Johann Michael (1716–1777; Reinhold, Karl Leonhard (1757–1823;
lutherischer Theologe) 316 Philosoph) 17f., 91, 315, 436
Mendelssohn, Moses (1729–1786) Riem, Johann Andreas (1749–1814;
6ff., 17, 20f., 32, 81, 75f., 84, 91, evangelisch-reformierter Theologe)
96ff., 278, 387, 393, 396f., 472 2, 20, 86, 315
Mirabeau, Honoré Gabriel de Rorty, Richard (1931–2007) 75
Riqueti, comte de (1749–1791; Rousseau, Jean Jacques (1712–1778)
französischer Politiker, Physiokrat 7, 59, 78, 83, 96f., 295, 466
und Schriftsteller) 295
Montesquieu, Charles-Louis de Se- Saint-Pierre, Jacques Henri Bernardin
condat, Baron de La Brède de de (1739–1814; französischer
(1689—1755) 7, 87 Schriftsteller) 83
Möser, Justus (1720—1794; deutscher Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph
Jurist, Staatsmann, Literat und His- (1775—1854) 219, 427, 434, 437
toriker) 92 Schiller, Friedrich (1759–1805) 22, 91,
Müller, Johann Joachim (1661–1733; 293
Frühaufklärer) 318 Schlegel, Friedrich (1772–1829) 6, 19,
182, 212, 395, 471
Nicolai, Friedrich (1733–1811) 6, 19, Schleiermacher, Friedrich Daniel
21, 51, 53, 393 Ernst (1768–1834) 182
Niebuhr, Carsten (1733–1815; deut- Semler, Johann Salomo (1725–1791;
scher Mathematiker, Kartograf und evangelischer Theologe) 315
Forschungsreisender) 85 Smith, Adam (1723–1790) 76
Spinoza, Baruch de (1632–1677) 6–9,
Pascal, Blaise (1623–1662) 97 60–70, 72, 212, 215, 222, 235, 238,
Paulus 256 241ff., 250, 252ff., 261, 263, 273,
Pezzl, Johann (1756–1823; Schrift- 283, 286f., 289, 291, 311, 316, 324,
steller und Bibliothekar) 17, 87 329, 359, 406, 408, 417f., 421ff.,
Platner, Ernst (1744–1818; deutscher 427ff., 431, 475, 477
Mediziner und Philosoph) 185
Personenregister 533

Stosch, Friedrich Wilhelm (1648– Wieland, Christoph Martin (1733–


1704; deutscher Theologe und Phi- 1813) 18–22, 84, 86f., 91, 299–303,
losoph) 18 420
Wittgenstein, Ludwig (1889–1951) 4,
Thomas von Aquin (um 1225–1274) 278, 292, 401
291 Wizenmann, Thomas (1759–1787;
Thomasius, Christian (1655–1728) 16, deutscher Philosoph und Theolo-
83, 315 ge) 9, 420
Tieftrunk, Johann Heinrich (1760– Wolff, Christian (1679–1754) 16, 20,
1837; deutscher Philosoph) 20 32, 75, 96, 119, 315f.
Toland, John (1670–1722) 19, 75, 84 Wollstonecraft, Mary (1759–1797)
Tugendhat, Ernst (1930–) 197 75f., 98

Voltaire (1694–1778) 7, 19, 21f., 75, Zimmermann, Johann Georg (1728–


84, 96 1795; Schweizer Arzt und Philo-
soph) 295
Waasberghe, Johann Anton Janson Zöllner, Johann Friedrich (1753–
von (1713–1776; Danziger Ratsherr 1804; Berliner Pfarrer) 17f., 20f.
und Freidenker) 18, 21, 315
Weikard, Melchior Adam (1742–
1803; deutscher Arzt und Philo-
soph) 85

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