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K LOST ER M A N N
BAND 116
An dieser Stelle soll nun all denjenigen gedankt werden, die an der Ent-
stehung dieses Buches wesentlichen Anteil hatten:
Zunächst möchte ich meinem langjährigen und verehrten Lehrer Prof.
Dr. Rolf Schönberger danken, der meinen akademischen Werdegang und
die Entstehung dieser Schrift mit unerschöpflicher Geduld begleitet hat.
Meinem „zweiten Lehrer“ und geschätzten Freund, Prof. Dr. Stephan
Grotz, der nicht nur diese Arbeit, sondern meine gesamte philosophi-
sche Entwicklung in zahllosen Gesprächen geprägt hat, bin ich zu tiefs-
tem Dank verpflichtet.
Prof. Dr. Rémi Brague und Prof. Dr. Christoph Meinel sei dafür ge-
dankt, dass sie das gesamte Habilitationsverfahren als Mentoren begleitet
haben.
Prof. Dr. Anton Friedrich Koch und Prof. Dr. Henning Tegtmeyer,
die freundlicherweise als Gutachter der doch sehr umfänglichen Schrift
übernommen haben, möchte ich für ihre anregenden sowie lehr- und ge-
dankenreichen Gutachten danken.
Prof. Dr. Sally Sedgwick, Prof. Dr. Rachel Zuckert und Prof. Dr. Kat-
rin Gierhake haben mir in ihren Schriften und in unseren Gesprächen
nicht nur Augenöffnendes zur Philosophie Immanuel Kants vermittelt,
sondern auch vorgeführt, wie man Gedanken auf klare und verständliche
Weise zu Papier bringt.
Herrn Vittorio Klostermann und seinen Mitarbeitern danke ich nicht
nur für die Aufnahme dieses Buches in ihr Verlagsprogramm, sondern
auch für die freundliche und hilfreiche Unterstützung bei der Erstellung
des Manuskripts. Mein besonderer Dank gilt dabei Frau Marion Juhas
und Frau Anastasia Urban. Den Reihenherausgebern Prof. Dr. Andreas
Kemmerling, Prof. Dr. Rolf-Peter Horstmann und Prof Dr. Tobias
Rosefeldt danke ich für die Aufnahme in die von ihnen herausgegebene
Reihe und ihre Vorschläge zur Überarbeitung des ursprünglichen Manu-
skripts, die wesentlich zur Lesbarkeit dieser Arbeit beigetragen haben.
viii Vorwort
Einleitung ...................................................................................................... 1
Ziel dieser Untersuchung ist es, die Legitimität des Projekts der Aufklä-
rung anhand seiner unterschiedlichen Realisierung in den Philosophien
Immanuel Kants und Friedrich Heinrich Jacobis zu rechtfertigen. Dieses
Projekt, so die These, besteht in der Verwirklichung vernünftiger Selbst-
bestimmung,1 die von Kant und Jacobi in diametral entgegengesetzter
Weise gefasst wird.2 Für beide gemeinsam ist die Vernunft jedoch nicht
nur Subjekt, sondern zugleich Objekt der freien Selbstbestimmung. Die
Operationen der Vernunft sollen dementsprechend nur durch Prinzipien
bestimmt sein, die der Einzelne sich selbst zuschreiben kann. Nur auf
Grundlage der Realisierung einer auf diese Weise selbstbestimmten Ver-
nunft kann sich die freie Lebensführung des Menschen realisieren.
Dabei versteht Kant diese Selbstbestimmung als Autonomie, das heißt
als Unterwerfung des Individuums unter universal gültige Gesetze, die
es sich als vernünftiges Subjekt selbst gibt.3 Für Kant besteht so ein sub-
stantieller Zusammenhang zwischen dem kategorischen Imperativ und
der Freiheit des Willens: Will sich der autonome Wille nicht selbst zer-
stören, so muss er sich einem zwar selbst gegebenen, aber dennoch für
jedes vernünftige Wesen gültigen Gesetz unterwerfen.4 Freiheit der Ver-
nunft bedeutet dementsprechend die Unterwerfung des Menschen in
seinen Urteilen und Handlungen unter die und ausschließlich die Geset-
ze, die er sich durch seine Vernunft selbst gegeben hat. In dieser theore-
tischen und praktischen Selbstgesetzgebung besteht nach Kant die be-
sondere Würde und auch Bestimmung des Menschen.5
1
Vgl. hierzu auch Recki 2006, 19f.
2
Damit sollen zentrale Ideen und Prozesse der Aufklärung wie das Ideal der Toleranz
(Forst 2003, 352), der „Säkularisierungsprozeß des Denkens“ (Cassirer 2007, 101) und die
damit verbundene Religionskritik (Todorov 2009, 6; Schalk 1971, 623f.; Schnädelbach
2006, 332f.), der Gedanke, dass mit dem unaufhaltsamen Fortschritt und der Ausbreitung
der Aufklärung auch Tugend, Freiheit und Menschenrechte triumphieren würden (Con-
dorcet 1968, 20f.; Hirschel 1793, 57), die Forderung nach politischer Selbstbestimmung,
sowie die Aufwertung des naturwissenschaftlichen Denkens nicht marginalisiert werden.
Vielmehr wird zu zeigen versucht, dass diese Ideen in enger Verbindung zur Idee ver-
nünftiger Selbstbestimmung stehen.
3
GMS AA 4, 440; Ameriks 2000b, 4.
4
Guyer 2000, 56. „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, son-
dern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um des willen allererst
dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen
werden muß.“ (GMS AA 4, 431.)
5
GMS AA 4, 436; Brandt 2007, 17; O’Neill 1992b, 299; Ameriks 2000b, 3.
2 Einleitung
6
FB JW 5,1, 403; Etwas JW 4,1, 321f.; FB WW VI, 197; Herms 1976, 126–134.
7
Dementsprechend beginnt Jacobi sowohl in seinen Schriften als auch seinen Briefen
philosophische Erörterungen immer wieder mit Darstellungen seiner Persönlichkeit. Vgl.
etwa: Spin1 JW 1,1, 13; DH1 JW 2,1, 39–42.
8
Menschheit bei Kant meint nach Gerhardt „die ideale Gesamtheit aller menschlichen
Gattungswesen“ (Gerhardt 2009, 277).
9
Vgl. etwa Riem 1974, 29.
Einleitung 3
18
Himmelfarb 2008, 4; Habermas 1988, 7; 71; Porter 2001, xxf.
19
Morgenstern 2000, 364.
20
Lyotard 1984, xxiiif.; Habermas 1988, 7.
21
Lyotard 1984, 27.
22
Lyotard 1984, 26; 63f.; 66; xxiv; 15; 23f.
23
Phillips 2000, 258.
24
Phillips 2000, 258f.
25
Ausgangspunkt für dieses Argument ist Wittgensteins Behauptung der Inkommen-
surabilität bestimmter Sprachspiele vor dem Hintergrund divergierender „Weltbilder“:
Da jedes Weltbild seine eigene Grammatik hat, die festlegt, was überhaupt ein Argument
ist, können Argumente nur vor dem Hintergrund homogener Weltbilder überzeugen. An-
sonsten könne man den anderen nur zur Annahme des eigenen Weltbilds und des eigenen
Sprachspiels überreden (Wittgenstein 1984, 171; 185). Eigentlich liegt hier nach Wittgens-
tein nur noch die Bekämpfung eines Sprachspiels durch ein anderes vor (ibid., 243).
Einleitung 5
26
Van Bunge 2014, 125; Outram 2013, 5; Schmidt 2000, 735; 738f.
27
Hinske 1990, 68.
28
Vgl. hierzu: Pocock 2003, 105; Outram 2013, 7; Nadler 2002, 289; Gerrard 2006, 7f.
29
Vgl. etwa Albert 2006, 369; Foucault 2005a, 699; Brandom 2004, 2; 5; Bahr 1988, 99;
Wood 1999, 1.
30
Vgl. hierzu: Israel 2002, 20; Porter 2001, 2; Gay 1995, 4; Schneiders 1983, 28; Mittel-
strass 1970, 85; Himmelfarb 2008, 5. Dagegen: Kondylis 2002, 538.
6 Einleitung
Probleme durch Kant und Jacobi bereits als Antworten auf spätere Auf-
klärungskritiken lesen. Mit Kant und Jacobi, so die These, lässt sich die
Aufklärung deshalb auf zwei „ihre[r] selbstkritischen Höhepunkt[e] dis-
kutier[en]“,31 deren Potential es immer noch auszuschöpfen gilt.
In Kant zugleich eine Grenz- und Vollendungsgestalt der philosophi-
schen Aufklärung zu sehen, hat sowohl bei Kritikern als auch bei Apo-
logeten der Aufklärung eine lange Tradition.32 Für Kants Zeitgenossen
wie Nicolai und Mendelssohn stellt Kants Philosophie hingegen weniger
eine Vollendung als vielmehr eine Provokation der Aufklärung dar.33 So
stellt bereits Cassirer fest, dass Kants Vollendung der Aufklärung für
selbige „zugleich ihr Ende, ihre Überwindung durch ein neues Prinzip
und eine neue Problemstellung bedeutete.“34 Wir wollen deshalb im Fol-
genden Kant zwar nicht als die Vollendungsgestalt der Aufklärung ver-
stehen, jedoch als eine in ihrem philosophischen Potential immer noch
nicht ausgeschöpfte vollendete Realisierungsform von Aufklärung.
Als Alternative stellen wir der Aufklärung Kants die Philosophie Ja-
cobis als Vollendung einer anderen Aufklärung entgegen. Dies bedarf
einer gewissen Rechtfertigung. Denn im Gegensatz zu Kant gilt Jacobi in
weiten Teilen der Aufklärungsforschung immer noch als Aufklärungs-
kritiker, der dem vermeintlichen Atheismus, Fatalismus und Nihilismus
rationalen Denkens einen „Salto mortale“35 in den Abgrund seiner Glau-
bensphilosophie empfiehlt und deshalb der Gegenaufklärung zuzurech-
nen ist.36 In diesem Sinne verstanden bereits viele zeitgenössische Auf-
klärer Jacobis später öffentlich gemachte Mitteilung an Mendelssohn, ihr
gemeinsamer Freund Lessing habe sich kurz vor seinem Tod in einem
Gespräch mit Jacobi zur Philosophie des damals als Atheisten verschrie-
nen Spinoza bekannt.37 Verbunden mit Jacobis Behauptung, alle konse-
31
Höffe 2004, 16 (allerdings nur in Bezug auf Kant).
32
Vgl. etwa Cassirer 2009; Wood 1999, 1; ders. 2008a, 3; Scholz 2009, 30. Zur Entwick-
lung von Kants Bestimmung von Aufklärung als Selbstdenken und Autonomie vgl. Krei-
mendahl 2009, 124; 128f.; 133; Henrich 2008, 56; NTH AA 1, 357; Refl 1482 AA 15,2,
673.
33
Nicolai 1995, 281f.; 343f.; vgl. hierzu auch Schneiders 1983, 28; Recki 2006, 18; Vier-
haus 1977, 43.
34
Cassirer 2007, 139.
35
Spin1 JW 1,1, 20.
36
Vgl. u. a. Beiser 1987, 46f.; 77f.; 87ff.; Garrard 2006, 2. Heines und Schlegels Klassifi-
kation Jacobis als Irrationalist und Vernunfthasser (Heine 1979, 62; KFSA 8, 442; KFSA,
2, 72; KFSA 12, 294f.) sollte heute weitgehend als überwunden gelten (Sandkaulen 2000;
Schick 2006; Franks 2005, 96; 195; 214; di Giovanni 1994).
37
Spin1 JW 1,1, 8; 16ff.; 34; 41.
Einleitung 7
38
Spin1 JW 1,1, 120. Der spekulative Atheismus Spinozas bedeutet für Jacobi nur, dass
Spinozas System keinen lebendigen, persönlichen oder moralischen Gott zulässt (Spin1
JW 1,1, 120f.; VSpin3 JW 1,1, 346). Im moralisch relevanten Sinne ist Spinoza (genauso wie
Lessing) für Jacobi hingegen kein Gottesleugner (WMB JW 1,1, 313).
39
Vgl. etwa: Schmidt 2011, 47; Lord 2011, 23; Zammito 1992, 229. Dagegen: Timm
1971, 63.
40
Vgl. DH1 JW 2,1, 40–42; JW 4,1, 199–205; JB 1,1, 216f.; 159; 162; Götz 2008; Herms
1976, 126–134.
41
Vgl. hierzu: JW 4,1, 410; 362; JB 1,1, 20ff.; 32; 47; 62ff.; 73ff.; 115; JB 1,3, 101; JB 1,8,
350; JB 1,10, 28.
42
JB 1,1, 118; JB 1,4, 250; UGG JW 5,1, 347. Vgl.: Beiser 1992, 138f.; Homann 1973,
74; Frank 1998, 73.
43
WW VI, 187; JW 7,1, 197; JB 1,1, 127; JB 1,2, 355f.; JB 1,9, 129f.; JB 1,8, 232; Götz
2008, 96–101; Vollhardt 1994, 82; Timm 1974, 179. Dagegen: Pinkard 2002, 91.
44
Allwill JW 6,1, 88f.; JNa I, 361.
45
Sandkaulen 2000, 39; 135; vgl. auch Homann 1973, 69; Hindrichs 2006, 113; 116; Bei-
ser 1992, 139.
8 Einleitung
46
Jacobis Auseinandersetzung mit dem kritischen Kant erstreckt sich nachweisbar über
einen Zeitraum von 33 Jahren (1782 – 1815). Seine erste vollständige Lektüre von Kants
KrV erfolgt allerdings erst im Winter 1785, also nach der Publikation seines Briefwechsels
mit Mendelssohn (Epistel JW 2,1, 128).
47
Vgl. hierzu Sandkaulen 2000, 48.
48
DH1 JW 2,1, 42–47; JB 1,1, 121; Koch 2013, 40.
49
Brief an Kleuker vom 13. 10. 1788 JB 1,8, 72f. Dagegen: Müller-Lauter 1975, 130.
50
Einl JW 2,1, 350. Vgl. hierzu auch Jacobis Brief an Kant vom 16.11.1789 AA 11, 102.
51
Vgl. etwa Neiman 1994, 106; 148;153; 155f.
52
Spin1 JW 1,1, 96; 99; 105; vgl. hierzu: KrV A 25; B 39; A 31f./47f.; Longuenesse 1998,
214f.
53
Brief von Mendelssohn am 16.10.1785 AA 10, 413f.
Einleitung 9
54
AA 10, 455. Mit einer ähnlichen Bitte richtet sich Herz 1786 an Kant (ibid., 432).
55
Brief an Herz vom 7.4.1786 AA 10, 442. Unter dem Stichwort „Genieschwärmerei“
ordnet Kant Jacobi also offensichtlich dem unter anderem von seinem ehemaligen Schüler
Herder begründeten Sturm und Drang zu. Zu Kants Kritik an dieser Bewegung vgl. Refl
771 AA 15, 337f.; Refl 775 AA 15, 339; Zammito 1992, 37ff.
56
Guyer 2000, 43.
57
Vgl. hierzu: Dahlstrom 2008, 44f.; Franks 2005, 86f.; JB 1,8, 73; Lord 2011, 11; ZH 6,
77; 107; 161.
58
Brief an Jacobi vom 30.8.1789 AA 11, 76.
59
AA 11, 76. Kant rückt Jacobi damit offensichtlich in die Nähe Lavaters, Hamanns
und Wizenmanns, die von der Notwendigkeit der christlichen Offenbarung bzw. des
Evangeliums überzeugt sind und diese der Aufklärung entgegensetzen (vgl. hierzu auch
Berichtigung JW 2,1, 117f.). Die vermeintliche Nähe zu Lavater bestärkt Jacobi in der ers-
ten Ausgabe seiner Spinozabriefe durch seine eigene Berufung auf selbigen (Hammacher
1984, 93). Da diese jedoch „großen Anstoß gegeben hat“ (Spin2 JW 1,1, 125), ersetzt er sie
in der zweiten Auflage durch ein Zitat aus des „unverdächtigen“ (ibid., 125) Lukrez’ Über
die Natur der Dinge.
10 Einleitung
65
Aus Jacobis Ablehnung des kantischen Grundgedankens der Autonomie der Ver-
nunft leitet Rolf-Peter Horstmann dagegen Jacobis irrationalistisch anti-aufklärerische
Ablehnung der Aufklärung als solcher ab (Horstmann 1991, 56f.; 67; 167; 185). Auch nach
Henrich bildet Jacobis Philosophie der Unmittelbarkeit, die sich auf Glauben und nicht
auf formale Vernunft stütze, einen Gegenentwurf zu Kant (Henrich 2008, 76; 80).
Einleitung 11
1
Vgl. auch Schmidt 2000, 752.
2
Horkheimer/Adorno 1988, 5; 3.
3
Horkheimer/Adorno 1988, 3.
4
Hindrichs 2009, 49.
KAPITEL 1
DIE DIALEKTIKEN DER DEUTSCHEN SPÄTAUFKLÄRUNG
Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahr-
heit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfange! Und
noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!11
6
Biester 1783, 265.
7
Biester 1783, 268.
8
Reinhold 1784, 123. Vgl. hierzu: Jaeschke 2010, 231.
9
WA JubA 6,1, 116.
10
Vgl. hierzu: B-n 1802, 132; 135; 146; WDO AA 8, 146f.; Beyerhaus 1921, 5f.
11
Zöllner 1783a, 516; vgl. ebenso: Pezzl 1784, 176.
18 Dialektiken
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen
immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und
ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit
Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur
für dich allein!20
WDO AA 8, 146; Refl 5645 AA 18, 287f.; Zöllner 1787, 94; Cachet JW 4,1, 394f.;
12
Eberhard 1788, 32; Wieland 1974, 24. Dagegen: PIN DD 2, 727; Cassirer 2007, 78.
13
Erhard 1974, 48. In diesem Sinne sehen sich auch radikale Materialisten wie Lau,
Stosch und La Mettrie der menschlichen Autonomie verpflichtet (Pott 1990, 649; La
Mettrie 2009, 22; 38; 42; 102ff.; 110; 125; 68; 8; 80).
14
Beyerhaus 1921, 6.
15
Vgl. etwa Vierhaus 1995, 12; Ascher 2010, 80; KrV A xi. Aus diesem Grund bilden
die modernen Naturwissenschaften für viele Aufklärer ein Paradigma autonomer Er-
kenntniserweiterung, da das Individuum sich auf Grund ihrer für jeden nachprüfbaren
Methodik keinen Autoritäten unterwerfen muss, sondern durch eigene Anwendung dieser
Methodik zu eben jenen von der Wissenschaft behaupteten Ergebnissen kommen kann
(Mittelstrass 1970, 50f., 2, 17).
16
Zöllner 1787, 100f.; Reinhold 1784, 21; Cassirer 2007, xi–xiii.
17
Condorcet 1968, 244.
18
Kiss 1997, 90.
19
Anonymus 1977, 217; Der Freydenker, 1 – 4; 87.
20
Duplik FLA 8, 510.
Spätaufklärung 19
Der Grund für Lessings Verzicht auf eine von Gott vorgegebene Wahr-
heit ist gerade nicht sein skeptisches Desinteresse an der Wahrheit, 21
sondern sein Interesse am autonomen Denken. Einer Wahrheit, die der
Mensch aus Gottes Rechter als einer göttlichen Offenbarung nur emp-
fangen würde, könnte der Mensch sich nur unterwerfen und sie nicht im
Modus autonomen Denkens erwerben. Der „Trieb nach Wahrheit“ ist
hingegen Ausdruck des menschlichen Strebens nach Autonomie der
Vernunft, der nur eine Wahrheit entsprechen kann, deren Geltungs-
gründe der Mensch vor seinem eigenen Denken rechtfertigen kann.
Einige Zeitgenossen Lessings ziehen hieraus jedoch die Konsequenz,
Denken solle überhaupt nicht mehr vom Interesse an Erkenntnis geleitet
sein, sondern nur noch von dem Interesse an der Übung und Veredelung
des eigenen Geistes.22 Damit schlägt dann jedoch das Interesse an der
Autonomie der Vernunft in ein völliges Desinteresse an Objektivität und
Wahrheit um. Aufklärungsphilosophie besteht dann nur noch darin, zur
„gymnastisch[en]“ Übung der „athletische[n] Constitution“ des eigenen
Geistes für das Für und Wider beliebiger Überzeugungen trefflich zu
streiten, ohne über die Wahrheit dieser Überzeugungen auch nur be-
kümmert zu sein.23
Nach unseren bisherigen Überlegungen stehen sich also in der deut-
schen Spätaufklärung zwei Konzeptionen von Aufklärung gegenüber,
denen eine jeweils eigene Dialektik inhäriert: Für die eine Konzeption
besteht Aufklärung im Habitus bestimmter Überzeugungen, so dass sie
in Ideologie umzuschlagen droht. Für die andere Konzeption besteht
Aufklärung im Habitus einer bestimmten Denkungsart, wobei Aufklä-
rung hier in eine „gymnastische Übung“ des je eigenen Denkens umzu-
schlagen droht, der jegliches Interesse an objektiver Erkenntnis
abhandenkommt. Um diese mehr schlechte als rechte Alternative zu
überwinden, wollen wir nun zunächst den Blick auf den modus operandi
der Aufklärung richten:
Sämtliche Vertreter der Aufklärung stimmen dabei darin überein, dass
die Kritik sämtlicher bloß geglaubter Überzeugungen – sei es auf Grund
einer Autorität, Offenbarung oder Tradition – ein notwendiges und we-
sentliches Moment von Aufklärung ist: 24 Aufklärung intendiere sogar
21
So etwa Hamann JW 5,1, 390; KFSA 2, 122f.; Nicolai GA 1,7, 378; Gombrich 1957,
151; Timm 1983, 114; Hill 1990, 218; 245; Brandt 2003b, 4. Dagegen: Cassirer 2007, 171.
22
Eberhard 1786, 346f.; SWBD 6,1, 282; 463; 477; 465; JB 1,3, 209.
23
JaF JW 2,1, 197.
24
KrV A xi; Lau 1992, 120; Wieland 1974, 25; DD 2, 289; Voltaire 1879b, 264ff.; 417f.;
Enc 6, 383f.; Enc 12, 515; d’Holbach 1770, 283; La Mettrie 2009, 18; Condorcet 1968, 22f.;
Bacon 1999, 99; 90; 100–104; Ferguson 1800, 7; Price 1787, 1–4; Toland 1704, 2–7; 12. Vgl.
hierzu: Cassirer 2007, 4; 13; 71; 97; Schneiders 1983, 97.
20 Dialektiken
klärung jedoch noch diesen Umgang mit dem Vorurteil der Kritik: Ohne
Vorurteile wäre der Mensch nämlich nicht in der Lage, die für seine Le-
bensführung notwendigen Handlungen zu verrichten, da niemand jede
hierfür notwendige Überzeugung vor der Handlung der Kritik unter-
werfen könnte. Die Vorurteile sind für den Menschen das, was für das
Tier Instinkt und Kunsttrieb sind.33 Da es sowohl für das Individuum als
auch für die Gesellschaft als Ganze unmöglich wäre, alles selbst zu er-
fahren oder wissenschaftlich zu erkennen, muss der Mensch notwendig
den ungeprüften Behauptungen Anderer Glauben schenken.34
Aber nicht nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit ist eine generelle
Vorurteilskritik in der Aufklärung umstritten, sondern auch auf Grund
der Unbestimmtheit des Begriffs „Vorurteil“. Was dem einen Aufklärer
Vorurteil oder sogar Aberglaube ist, ist dem anderen mitunter ausge-
machte Vernunftwahrheit.35 Die Tendenz einiger Aufklärer, philosophi-
sche Gegner unter dem Vorwand der Vorurteilskritik zu diffamieren,
führt umgekehrt jedoch zu einer Problematisierung der Kategorisierung
anderer Überzeugungen als Vorurteil.36 Es ist deshalb eine wesentliche
Einsicht der aufklärerischen Vorurteilskritik, dass dasjenige, was man für
ein Vorurteil hält, häufig davon abhängt, was man auf Grund seiner ei-
genen, undurchschauten Vorurteile für vernünftig hält.37
Konsequente Aufklärung muss also zuletzt noch ihre eigenen Voraus-
setzungen einer reflexiven Vorurteilskritik unterwerfen.38 Dies erfordert
eine permanente „kritische Distanz“ gerade zur Autorität der eigenen
Person und der Bestimmungen des eigenen Denkens.39 Es ist eine der
wesentlichen Einsichten der Aufklärung, dass ein solches „Projekt einer
radikal vorurteilsfreien Kritik“ 40 in einem freien, öffentlichen Diskurs
realisiert werden muss, in dem der Einzelne die Allgemeingültigkeit sei-
ner Urteile überprüfen kann.41 Aufgeklärtes Denken heißt demnach ge-
mäß öffentlich gerechtfertigten Gesetzen des Denkens zu denken.42 Ne-
33
Lichtenberg 1968, 23.
34
Reimarus 1994b, 465; Ueber die Vorurtheile Abbt 1780, 156f.; vgl. ebenso: Fontenel-
le 1991, 226.
35
Für Nicolai etwa ist die Transzendentalphilosophie Kants nichts anderes als philoso-
phischer Aberglauben (SWBD 6,1, 310; 307f.; 343; 281f.).
36
Zöllner 1787, 100; Superstition Voltaire 1879b, 454ff.
37
Gegenbetrachtungen JubA 7, 99; Nacherinnerung JubA, 7, 43.
38
Dieckmann 1972, 17.
39
Mittelstrass 1970, 3; Hartung 2007, xv.
40
Hutter 2012, 159.
41
Linker 2006, 733; Schalk 1971, 622; vgl. hierzu: Hennings 1779, 99; 126; WSW 9,29,
55f.
42
Der Freydenker, 3.
22 Dialektiken
43
Hindrichs 2009, 60f.; vgl. hierzu: Jenisch 1788, 74; Hirschel 1793, 2.
44
O’Neill 1986, 535; dies. 1992a, 102; Marcuse 1984, 142; Cassirer 2007, 168; 171; Neh-
ren 1994, 94; Putnam 1990, 223. Vgl. hierzu: Voltaire 1879b, 518f.; Lau 1992, 121; Schiller
2004, 591; GA 1,1, 168; 178; 182–184. Der Gedanke der Toleranz als bloßer Duldung an-
derer Überzeugungen wird in der deutschen Spätaufklärung hingegen vielfach kritisiert,
da dies zunächst ein Recht voraussetzen würde, die Überzeugungen anderer zu unterdrü-
cken (JB 1,8, 167; WSW 9,29, 60).
45
KrV A xif.; Horkheimer 1988, 165. Seine Kritik versteht Kant so nicht mehr als „eine
Kritik der Bücher und Systeme der reinen Vernunft […], sondern […] des reinen Ver-
nunftvermögens selbst.“ (KrV B 27.)
KAPITEL 2
GRUNDLEGUNG EINER JEDEN KÜNFTIGEN PHILOSOPHIE,
DIE ALS AUFKLÄRUNG WILL AUFTRETEN KÖNNEN
1
Fleischacker 2013, 30.
2
Fleischacker 2013, 32; 36.
3
Wir werden später sehen, dass Kants Konzept von Aufklärung nicht nur darauf ver-
pflichtet, selbst zu denken, sondern auch darauf, an der Stelle jedes anderen und einstim-
mig mit sich selbst zu denken (Merritt 2011a, 231).
4
Fleischacker 2013, 6.
24 Grundlegung
1
Grundlage der Unterscheidung von privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch ist
der Gedanke, dass der Gelehrte sich in seinen Publikationen zumindest potentiell an die
gesamte Weltöffentlichkeit richtet (Fleischacker 2013, 18). Im öffentlichen Vernunftge-
brauch hat die Vernunft dabei nur ihre eigene Autorität, nämlich die Autorität der Grün-
de. Im privaten Vernunftgebrauch hingegen steht derjenige, der die Vernunft gebraucht,
in einer ihm von einer höheren Autorität verliehenen Autoritätsstellung. Hier verbindet
sich Macht mit Vernunft (O’Neill 2001, 38).
2
WA AA 8, 35.
3
WA AA 8, 35.
4
SF AA 7, 27.
5
WDO AA 8, 146.
26 Grundlegung
Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem
dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl thunlich finde,
den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was
man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu
machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberg-
lauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn
er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objectiven Gründen zu
widerlegen.7
Am Ende dieses Zitats aus WDO unterscheidet Kant zwei Arten von
Vernunftgebrauch: die Praxis des gesunden Menschenverstands und die
Praxis des philosophischen Vernunftgebrauchs (Widerlegung „aus objec-
tiven Gründen“). Jede dieser beiden Arten verlangt eine spezifische kriti-
sche Untersuchung gegebener Überzeugungen. Aber nur erstere ist ver-
pflichtend für jedes Individuum der Gattung Mensch und insofern eine
allgemeine Menschenpflicht. Diese Pflicht erlegt es jedem menschlichen
Individuum auf, die Gründe für seine Überzeugungen auf ihre Allge-
meingültigkeit hin zu überprüfen. Erfordert ist also die geistige Tätig-
keit, die Kant als Überlegen (reflectio) bestimmt: Der Vergleich meines
Urteils mit den Verstandesgesetzen als Frage nach den Gründen für die
Überzeugung von der Geltung dieses Urteils.8 Dazu muss das reflektie-
rende Individuum von seinem affirmativen Verhältnis zum Inhalt seiner
eigenen Überzeugungen abstrahieren und stattdessen auf die Gründe für
deren Behauptung reflektieren. Es muss sich also nicht fragen, ob seine
Überzeugung x wahr ist (auf objektiven Gründen basiert), sondern ob es
die Gründe, aus denen es x für wahr hält, auch für zureichend halten
würde, jede andere durch sie begründete Überzeugung für wahr zu hal-
ten. Nun erfüllen Gründe wie „Das Evangelium behauptet x“ oder
6
KU AA 5, 294.
7
WDO AA 8, 146f.
8
Frank 1998, 160; V-Lo AA 24, 161; 424; 547; V-Lo 641.
Dialektik der Aufklärung 27
36
KrV B xiif.
37
KrV B xv.
38
WA AA 8, 36.
39
WDO AA 8, 145f.
40
WDO AA 8, 145; vgl. auch V-Met/Mron AA 29, 753; KrV B 766f./A 738f.
41
Refl 5645 AA 18, 293.
32 Grundlegung
42
Refl 5645 AA 18, 293f.
43
KrV A 470/B 498; vgl. auch Neiman 1994, 11.
44
Refl 5645 AA 18, 294.
45
KrV B 496/A 468; KpV AA 5, 71.
46
KrV B xxxvi; vgl. Winkler 2010, 41.
47
WDO AA 8, 138; vgl. auch: ibid., 134; AA 10, 428; Allison 2012, 232.
48
WDO AA 8, 134.
Dialektik der Aufklärung 33
49
WDO AA 8, 145. Natürlich unterwirft sich die rationale Metaphysik den Regeln der
allgemeinen Logik. Aber die allgemeine Logik ist, unabhängig vom Objekt des Denkens,
gültig für alles Denken. Insofern regulieren sie das Denken nur im allerschwächsten Sinne.
Durch den Gebrauch von der allgemeinen Logik ist die rationale Metaphysik nur eine
dialektische Kunst im aristotelischen Sinne, die von der Logik Gebrauch macht, um ihre
Rezipienten zu überreden (Prol AA 4, 365f.). Vgl. hierzu auch: Grier 2001, 94f.; KrV A
270f./B 326f.; Zammito 1992, 34.
50
Vgl. auch Pinkard 2002, 20.
51
Prol AA 4, 278; vgl. hierzu auch Förster 2012, 14; Schmidt 1992, 93.
52
Refl 2527 AA 16, 406.
53
KrV B 434/A 407.
54
WDO AA 8, 145.
55
KrV A viii.
34 Grundlegung
56
Log AA 9, 76.
57
KrV A 10; vgl. auch KrV B 23.
Prol AA 4, 366; 368. Ähnliches gilt nach Kant für den Empirismus (KrV B 127).
58
59
KrV B xiii. Die Frage, wie in Metaphysik und Ethik „statt des ewigen Unbestands
der Meinungen und Schulsecten eine unwandelbare Vorschrift der Lehrart die den-
kend[en] Köpfe zu einerlei Bemühungen vereinbaren“ kann, beschäftigt Kant dagegen
bereits 1763 (UD AA 2, 275).
Dialektik der Aufklärung 35
dass Metaphysik „ohne Kritik der reinen Vernunft“ möglich sei.60 Fun-
dament öffentlicher Aufklärung muss deshalb eine Kritik der Vernunft
sein und darauf aufbauend eine systematische Philosophie innerhalb der
Grenzen der reinen Vernunft.61 Öffentliche Aufklärung muss auf einer
transzendentalen Aufklärung gründen,62 deren bloße Idee all seinen Vor-
gängern unbekannt gewesen ist.63
Kant spricht seinen Mitphilosophen aber nicht nur die Ehre ab, wahre
Aufklärung hervorzubringen, sondern wirft ihnen eine Pflichtverletzung
eigener Art vor. Im immer noch anhaltenden Kriegszustand der Philo-
sophen würden sämtliche Kombattanten die Gewissheit und Wahrheit
ihrer Urteile behaupten. Aber die Gründe, die sie für ihre Urteile vor-
bringen, könnten die Adressaten ihrer Urteile nur überreden, nicht
überzeugen.64 Sie seien nämlich nicht objektiv und damit nicht für jeden
einsehbar. Gerade metaphysische Urteile seien jedoch Anmaßungen, für
deren Publikation man sich mit objektiven Gründen rechtfertigen müs-
se.65 Kant kritisiert nun diese Konfusion subjektiver Überredung mit ob-
jektiv gültiger Überzeugung durch die publizierenden Philosophen nicht
als bloßen Irrtum, sondern als eine besondere Form der Lüge, nämlich
als Unwahrhaftigkeit. Mit dieser Unwahrhaftigkeit verletzen die öffent-
lich streitenden Philosophen in schuldhafter Weise die moralische Pflicht
zur Wahrhaftigkeit.66
Dieser Vorwurf scheint auf den ersten Blick wenig gerechtfertigt: Wir
haben keinerlei Grund zu der Annahme, dass Kants Zeitgenossen und
Vorgänger nicht an die objektive Gültigkeit ihrer Argumente geglaubt
hätten. Selbst wenn sie sich diesbezüglich geirrt haben sollten, dann ha-
ben wir keinen Grund an ihrer Aufrichtigkeit zu zweifeln. Auch Kant
selbst charakterisiert seine Vorgänger ja durchaus immer wieder positiv.
Wie können wir aus diesem Vorwurf also Sinn machen? Da wir nicht
annehmen können, dass Kant all seine Kollegen als absichtsvolle Lügner
betrachtet, könnte er etwas wie schuldhafte Fahrlässigkeit im Sinne ha-
ben: Anstatt die Arbeit der Vernunftkritik auf sich zu nehmen, begnügen
sie sich damit, nur „bequem zu vernünfteln“.67 Als Folge fehlender Ver-
nunftkritik behaupten sie ohne objektiv zureichende Gründe die Ge-
60
KrV B xxx.
61
KrV B xxiii; xxx.
62
Vgl. auch Schneiders 1983, 265.
63
Prol AA 4, 262; 324; MdS AA 6, 206.
64
VNAEF AA 8, 421f.
65
Prol AA 4, 277.
66
VNAEF AA 8, 421f.
67
KrV B xxxi. Die Konfusion vernünftiger Begründungen mit gesetzlosen Vernünfte-
leien ist nach Kant die Ursache allen Aberglaubens (Anth AA 7, 228).
36 Grundlegung
68
SF AA 7, 28. So schreibt Brandt zu Recht: „Die Philosophische Fakultät ist der Ort
der Wahrheitssuche, die konstitutiv autonom ist“ (Brandt 2003b, 95).
69
Kant ordnet die Freiheit, öffentlich zu forschen, der philosophischen Fakultät zu.
Den drei oberen Fakultäten (Theologie, Jura, Medizin) dagegen ist diese Freiheit versagt,
weil sie nicht im Interesse der Vernunft, sondern der Regierung tätig sind (SF AA 7, 18–
20). Ihnen spricht Kant gewissermaßen die Wissenschaftlichkeit ab, da sie ihre Lehren auf
von der Regierung vorgegebene Schriften und auf Autorität gründen (ibid., 22). Die phi-
losophische Fakultät ist dagegen nur „der Gesetzgebung der Vernunft, nicht der der Re-
gierung“ (ibid., 27) unterworfen. Sie verfolgt allein das Interesse der Vernunft (ibid., 32).
70
RGV AA 6, 112f.
71
Brief an Jacobi vom 30.8.1789 AA 11, 76f.
Dialektik der Aufklärung 37
Wir sind nun in der Lage, die Frage zu beantworten, ob Kant die Dialek-
tik der Aufklärung mit ihren Alternativen von Anerkennung nur einer
Form der Philosophie und der Depotenzierung der Philosophie auf geis-
tige Gymnastik in seiner Aufklärungskonzeption überwinden kann. Für
den individuellen Vernunftgebrauch gelingt ihm dies in der Tat. Denn
allein durch den Versuch autonomen Vernunftgebrauchs, auch wenn
dieser scheitert, erfüllt das menschliche Individuum seine persönliche
moralische Pflicht zur Reform seiner eigenen Sinnesart. In diesem Sinn
kann Kant die früheren Aufklärer dann in der Tat als Teil einer Aufklä-
rung betrachten. Aber da sie ihre Gedanken öffentlich vortragen, sind sie
wegen der Art, in der sie von der Freiheit der öffentlichen Mitteilbarkeit
von Gedanken Gebrauch machen, zu tadeln und befördern nicht simpli-
citer eine aufgeklärte Denkweise, sondern eine verderbliche Denkungs-
art. Insofern sind sie für Kant an der öffentlichen Aufklärung moralisch
schuldig geworden.73 Anders als einige andere Aufklärer plädiert Kant
jedoch nicht für eine Limitierung der Publikationsfreiheit solch an sich
aufklärungsschädlicher Schriften. Vielmehr ist jeder berechtigt, in ge-
druckten Schriften aufzuklären. Mit einer Einschränkung dieses Rechts
würde das Recht seine Grenzen überschreiten. Es ist vielmehr nur die
moralische Pflicht jedes Einzelnen, wirklich so gut aufzuklären, wie er
kann. Außerdem tragen auch gescheiterte öffentliche Aufklärungsversu-
che indirekt zur Beförderung der Aufklärung bei. So wie Vorurteile
zwar keinen Wert an sich besitzen, aber dennoch einen instrumentellen
Wert,74 so sind auch diese publizierten Urteile und der daraus resultie-
72
SF AA 7, 29.
73
Kant spricht so explizit von der „Schuld“ des Leibniz an dem philosophischen Fehl-
verständnis der Sinnlichkeit als bloßem Mangel der Deutlichkeit von Verstandesvorstel-
lungen (Anth AA 7, 140f.). Jeder Autor ist für Kant verantwortlich für seine Publikation
(AA 12, 11).
74
PhilEnz AA 29, 26.
38 Grundlegung
Wir haben gesehen, dass nach Kant öffentliche Aufklärung an sich nur
durch eine Reform der Denkungsart hervorgebracht werden kann. Diese
Reform muss auf einer Kritik der Vernunft bzw. transzendentaler Auf-
klärung basieren. Die Vernachlässigung dieser Kritik ist der Skandal aller
bisherigen Aufklärung und der Grund für die Produktion bloßen
Scheinwissens anstelle von Aufklärung. Im folgenden Abschnitt werden
wir nun zu bestimmen versuchen, um was für eine Art Aufklärung es
sich bei der transzendentalen Aufklärung handelt.
Da die Aufklärung als transzendentale Kritik primär auf eine Bestim-
mung der Grenzen der Vernunft abzielt, so kann sie nicht dogmatisch
sein. Vielmehr hat sie den legitimen Vernunftgebrauch vom transzenden-
ten Gebrauch der Vernunft zu unterscheiden, indem sie die Operationen
der spekulativen Vernunft untersucht und gleichzeitig auf ihren empiri-
schen Gebrauch beschränkt.
75
MdS AA 6, 206f.; KrV A 425/B 453; A x.
76
KrV B 780/A 752.
Das transzendentale Aufklärungsprojekt 39
Der größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft
ist also wohl nur negativ; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung,
sondern, als Disziplin, zur Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu
entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten.2
1
KU AA 5, 176; 294; KrV B 27/A 13; B 765/A 737; B 739/A 711; vgl. hierzu auch:
O’Neill 1989, 21.
2
KrV B 823/A 795.
3
KrV B 763/A 735; vgl. auch B xxxi; xxxiv; B 25/A 11; B 297/A 238; B 737/A 709; B
514/A 486.
4
KrV B 739/A 711.
5
KrV B 789/A 761.
6
KrV B 791f./A 763f.
7
KrV A viii; KrV B 501/A 473.
8
KrV B 397f./A 339f.
40 Grundlegung
losophien sind durch die Logik dieses Scheins getäuscht worden.9 Bei
diesem Schein handelt es sich gerade nicht um einen Irrtum, dem Dog-
matisten, Schwärmer und Skeptizisten auf unterschiedliche Weisen ver-
fallen sind, sondern um eine selbstverschuldete Illusion:10 den Übergang
von der legitimen Setzung der Vernunftidee von der systematischen Ein-
heit unserer Erkenntnis als subjektiver Bedingung von Erkenntnis zur
Annahme eines unabhängigen und unbedingten Objekts.11
Genauso wichtig wie die Aufdeckung dieses transzendentalen Scheins
ist die Entdeckung der Ursache, die ihm zu Grunde liegt. Wie Kants
Kritiker Jacobi es formuliert: Wie kommt die Vernunft überhaupt dazu,
etwas so Unvernünftiges zu tun, wie nach einem Wissen des Absoluten
zu streben und dabei ihre eigenen Grenzen zu überschreiten?12
Kant beantwortet diese Frage mit dem „natürlichen Hang“ der
menschlichen Vernunft, die Grenzen möglicher Erfahrung zu über-
schreiten.13 Metaphysische Fragen verlangen von jedem endlichen Ver-
nunftwesen notwendig eine Antwort, denn es ist die natürliche Praxis
der Vernunft, die unbedingte Bedingung alles Bedingten zu suchen. Da-
bei bringt sie notwendig verschiedene Ideen des Unbedingten (Seele,
Weltganzes, Freiheit, Gott) hervor. Bei jeder bedingten Erkenntnis muss
die Vernunft „die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als voll-
endet und ihrer Totalität nach gegeben“ betrachten,14 da das Bedingte
nur unter Voraussetzung der Vollständigkeit seiner Bedingungen denk-
bar ist.15 Die reinen Vernunftbegriffe sind deshalb keine Fehlleistungen,
sondern die letzten Zwecke unserer Vernunft, auf die alle ihre Anstren-
gungen zulaufen.16 Nichtsdestotrotz erzeugen sie den transzendentalen
Schein, den Ideen der Vernunft objektiven Status zuzuschreiben.17
Wie Michelle Grier herausgestellt hat, ist jedoch nur der transzenden-
tale Schein natürlich und notwendig, nicht aber die darauf basierenden
dialektischen Syllogismen.18 Anders formuliert: Nur der transzendentale
Schein von den Ideen des Unbedingten ist unserem spekulativen Vermö-
gen natürlich, nicht aber die Täuschung durch dialektische Syllogismen.
Aber da die Natur und Bedeutung des transzendentalen Scheins durch
9
KrV B 352ff./A 296ff.
10
Hierauf macht im besonderen Grier 2001, 1f. aufmerksam.
11
Grier 2001, 8f.
12
Spin2 JW 1,1, 259.
13
KrV B 670/A 642; KU AA 5, 294f.
14
KrV B 388/A 332.
15
KrV B 394/A 336.
16
KrV B 491/A 463; V-Met/Mron AA 29, 757.
17
Grier 2011, 11; KrV B 353/A 296f.
18
Grier 2001; vgl. auch: KrV B 697/A 669.
Das transzendentale Aufklärungsprojekt 41
eine Kritik der Vernunft aufgeklärt werden kann und nicht mit Not-
wendigkeit zu dialektischen Syllogismen führt, kann man seine Täu-
schungen über das Unbedingte nicht durch einen Mangel der Vernunft
entschuldigen. Also ist dies keine Entschuldung, sondern nur eine Erklä-
rung für das bisherige Scheitern aller philosophischen Aufklärung und
ihr Resultieren in einer Dialektik der Aufklärung. Denn sobald die Ver-
nunft den Ursprung des Scheins in ihr selbst entdeckt, erkennt sie auch,
dass sie ihn nur durch ihre eigenen Ressourcen aufklären kann.19 Durch
die Aufklärung des in der Vernunft liegenden „transzendentalen
Grund[es]“,20 dass die in den Ideen ausgedrückte systematische Einheit
keine gegebene Tatsache, sondern eine Projektion der Vernunft ist, 21
kann der transzendentale Schein zwar „niemals vertilgt“, aber doch „un-
schädlich gemacht“ werden.22
Kants ursprüngliche Einsicht führt also zu einer zweifachen transzen-
dentalen Aufklärung: Die eine Einsicht besteht in der Aufklärung der
Grenzen unseres Wissens und der Anwendbarkeit unserer Vernunft, die
andere in der Entdeckung des Interesses unserer Vernunft am Unbeding-
ten. Daher weist Kants Aufklärung die früheren Versuche von Aufklä-
rung und ihren Umgang mit metaphysischen Problemen nicht einfach
zurück, sondern beansprucht vielmehr, dass man sie erst auf Basis seiner
Aufklärung angemessen verstehen kann.23 Der Grund für die philosophi-
sche Unmündigkeit aller früheren Philosophen ist also ihr Missverständ-
nis bezüglich ihrer eigenen Fragen und Begriffe.
Seele und hebt damit den Unterschied zwischen einer Klasse metaphysi-
scher Experten, die im Besitz eines bestimmten metaphysischen Wissens
über die Seele sind, und den Laien des gesunden Menschenverstandes,
die ihre eigene Vernunft der Expertise selbsterklärter Experten unter-
werfen, auf. Betrachtet man diesen Sachverhalt andersherum, werden die
Individuen solange ihre Urteile den Meinungen intellektueller Vormün-
der unterwerfen, solange es für sie einen Grund gibt zu glauben, dass es
definitive Antworten auf diejenigen Fragen gibt, die sie nicht selbst be-
antworten können, an denen ihre Vernunft jedoch ein notwendiges Inte-
resse nimmt. Daher kann nur eine durch transzendentale Aufklärung
hervorgebrachte Revolution der Denkungsart eine öffentliche Autono-
mie des Denkens begründen. Sobald diese Revolution öffentlich imple-
mentiert ist, kann die metaphysische Aufklärung denselben sicheren und
gesetzlichen Gang nehmen wie Mathematik und Physik. Hierfür gibt es
zwei Gründe:
1. Indem sie den Grund für den philosophischen Kriegszustand ent-
hüllt, erzwingt die transzendentale Aufklärung von den philosophischen
Kriegsparteien das Eingeständnis, dass ihr Krieg nichts als „Verblendung
und Vorurteile“ zum Gegenstand hatte.27
2. Sie hebt auch alle frühere Vorurteilskritik in sich auf und gibt ihr
eine systematische Form, indem sie die Wurzel allen Aberglaubens aus-
rottet.28
27
KrV B 775/A 747; vgl. auch: B 529/A 501. So bedient sich Kant der Metapher, dass
die Produkte der Vernunft durch die Vernunft selbst „ans Licht gebracht“ werden (A xx).
28
WDO AA 8, 143; KrV B 27.
44 Grundlegung
C. Hermeneutische Probleme
Wir sind von der These der Notwendigkeit der Selbstaufklärung nach
Kant ausgegangen. Wir konnten zeigen, dass das Individuum insofern
auf eine moderate Aufklärung und nicht die Annahme der Transzenden-
talphilosophie verpflichtet ist. Von ihm ist nur die Revolution seiner
Denkungsart und nicht die Vollendung der Reform seiner Sinnesart ge-
fordert. Von dieser individuellen Pflicht unterschieden wir die öffentli-
che Pflicht publizierender Autoren, die in metaphysicis legitimer Weise
nur Transzendentalphilosophie betreiben dürfen. Zuletzt stellten wir
fest, dass die Verwirklichung aufgeklärter Sinnesart für Kant die öffentli-
che Implementierung der Transzendentalphilosophie voraussetzt.
Die These, Kant halte seine Vernunftkritik als transzendentale Aufklä-
rung für ein notwendiges Moment eines gelungenen Lebenswandels der
Menschheit als Ganzer, ist jedoch selbst aus kantischer Perspektive
schwer zu akzeptieren. Sachlich scheint die Aufklärungskonzeption
Kants damit zu anspruchsvolle Anforderungen an das Individuum zu
stellen, um sie zu einer allgemeinen Menschenpflicht zu erheben. Her-
meneutisch scheint diese Anforderung Textbefunden zu widersprechen,
die die Möglichkeit spekulativer Universalaufklärung leugnen, da der
gemeine Verstand sich nicht zur notwendigen Abstraktion metaphysi-
scher Spekulationen erheben könne. In Bezug auf die Moral scheint hin-
gegen gar keine Aufklärung notwendig, weil jeder Mensch ohnehin
schon immer weiß, was das moralische Gesetz gebietet. Die sachlichen
Probleme müssen zunächst zugestanden werden, das hermeneutische
Problem soll im Folgenden hingegen dem Versuch einer Antwort zuge-
führt werden.
Aus Perspektive von Kants theoretischer Vernunft ergibt sich das her-
meneutische Problem für unsere Interpretation von Kants Aufklärungs-
projekt aus Stellen, an denen Kant deutliche Skepsis gegenüber der all-
gemeinen Zugänglichkeit und Popularisierbarkeit seiner Vernunftkritik
äußert.1 In Fragen der Metaphysik spricht Kant so in Prol dem gesunden
Menschenverstand jede Autorität ab.2 Metaphysik und transzendentale
Vernunftkritik könnten niemals popularisiert werden, da in ihnen nach
1
SF AA 7, 34; Prol AA 4, 2623f.
2
Prol AA 4, 260; 277.
Hermeneutische Probleme 45
einer strikten Trennung des Sinnlichen vom rein Vernünftigen nur das
betrachtet würde, was Gegenstand der Vernunft ist.3 Das rein Vernünfti-
ge könne aber nicht populär werden, da Popularität gerade in „einer zur
allgemeinen Mittheilung hinreichenden Versinnlichung“4 des mitgeteil-
ten Gegenstandes bestehe. So sei Popularität Philosophie in sinnlicher
Volkssprache. Damit nivelliert sie notwendig den für Vernunftkritik und
Metaphysik konstitutiven Unterschied zwischen Vernunft und Sinnlich-
keit.
Dies impliziert aber nicht, dass Transzendentalphilosophie nur eine
Angelegenheit für spekulativ begabte Sonntagskinder wäre. Kant betont
ja gerade die Notwendigkeit der Kommunikabilität des Vernünftigen.5
Auch das Antinomienproblem ist für Kant kein rein akademisches Prob-
lem, sondern eines für jede menschliche Vernunft.6 Gleichzeitig finde die
Vernunft in sich selbst alle Ressourcen, die ihr immanenten Probleme
aufzulösen. Sie habe es hier nämlich „bloß mit sich selbst, mit Aufgaben,
die ganz aus ihrem Schoße entspringen, und ihr nicht durch die Natur
der Dinge, die von ihr unterschieden sind, sondern durch ihre eigene
vorgelegt sind, zu tun“.7 Da die Ideen der reinen Vernunft von ihr selbst
hervorgebracht sind, können sie für sie auch nicht opak sein.8
Nun ist jeder Mensch nach Kant in gleichem Maße mit Vernunft be-
gabt. 9 So muss sich das Problem der Antinomien einerseits für jeden
Menschen stellen, andererseits muss jeder Mensch auch prinzipiell in der
Lage sein, es aufzulösen. Denn jede Frage in Bezug auf einen Gegen-
stand der reinen Vernunft ist nach Kant durch die menschliche Vernunft
selbst auflösbar und die menschliche Vernunft hat sogar die Pflicht sie zu
beantworten.10 Diese Auflösung ist aber nur unter Zugrundelegung der
kritischen Philosophie möglich. Deshalb muss „auch dem schwierigsten
und unlustigsten Lehrlinge“ noch der kritische Nutzen der Transzen-
dentalphilosophie nahegebracht werden können. 11 Denn die Vernunft
kann ihre Entzweiung mit sich selbst nur durch Selbstkritik überwin-
den.12 Sowohl die metaphysischen Fragen als auch die Einsicht in ihre
3
KrV B xxxiiif. Diesen Unterschied kann nur die Vernunft machen (GMS AA 4, 452).
4
MdS AA 6, 206.
5
Vgl. etwa Refl 896ff. AA 15, 391–394.
6
KrV B 449/A 422; B 867/A 839; B 870/A 842; Prol AA 4, 328.
7
KrV B 23; A xiv; B ixf.; Prol AA 4, 338; 327.
8
KrV B 507/A 479.
9
Anders verhält es sich bei der Urteilskraft, die ein besonderes Talent jedes Menschen
ist, das nicht gelehrt, sondern nur geübt werden kann (KrV B 172/A 133).
10
KrV B 505/A 477; Prol AA 4, 329; 349.
11
KrV B 297/A 237f.
12
KrV A xii.
46 Grundlegung
17
KrV B 501f./A 473f.
18
KpV AA 5, 24; vgl. Anth AA 7, 139. Auch in Bezug auf moralische Fragen kritisiert
Kant die populäre Philosophie dafür, nie bis zu den Prinzipien der Moral vorzudringen
(GMS AA 4, 412). Popularität könne so nach Kant nur das historische Resultat, nicht der
Anfang seiner Philosophie sein (Prol AA 4, 261). Vgl. hierzu auch Arendt 1992, 28. Mit
der Behauptung der Unpopularität seiner Kritik intendiert Kant zudem eine Beruhigung
der Zensur, für die etwa seine Widerlegung der Beweise Gottes und der Unsterblichkeit
der Seele die öffentliche Moral gefährden könnte (KrV B xxxiv). So behauptet Kant auch
die Ungefährlichkeit seiner Religionsschrift für das bürgerliche Gemeinwesen und die öf-
fentlichen Landesreligion, da sie ohnehin nur von Fachgelehrten verstanden werden kön-
Hermeneutische Probleme 47
ne (SF AA 7, 8). Hierfür spricht auch, dass der Zensor G. F. Hillmer die Publikation des
ersten Aufsatzes von RGV erlaubt hatte, eben weil er an Philosophen und nicht an das
Publikum adressiert sei (Kühn 2007, 421). In der Vorrede zur zweiten Auflage von RGV
bestimmt Kant den Adressatenkreis seiner Schrift hingegen als all diejenigen, die vertraut
mit der gemeinen Moral sind.
19
KpV AA 5, 36.
20
KrV B 859/A 831; vgl. KpV AA 5, 87; V-Lo/Philippi AA 24, 369; GMS AA 4, 391;
411; OP AA 21, 117.
21
KpV AA 5, 36f.; GMS AA 4, 403f.
22
GMS AA 4, 389.
23
GMS AA 4, 389.
24
MdS AA 6, 216.
25
GMS AA 4, 390.
26
MdS AA 6, 378.
48 Grundlegung
rigen ethischen Systeme würden deshalb nach Kant nicht die menschli-
che Autonomie, sondern die Heteronomie des Willens befördern.27
Die kritische Moralphilosophie muss also unser natürliches Moralver-
ständnis vor ihrer Korruption durch schlechte Philosophie retten.28 Da-
zu bedarf es wie in der theoretischen Philosophie der kritischen Aufklä-
rung einer natürlichen Dialektik. Denn die Pervertierung der Moral
durch die Philosophie ist in der natürlichen Dialektik unserer prakti-
schen Vernunft gegründet, die Gesetze der Pflicht mit Bedürfnissen und
Neigungen zu kontaminieren. Diese „natürliche Dialektik“ der prakti-
schen Vernunft und die durch sie hervorgerufene Konfusion von Selbst-
liebe und moralischer Pflicht gefährden selbst bei gutem Willen unabläs-
sig unsere moralische Unschuld.29 Sie kann aber nur durch die Kritik der
praktischen Vernunft aufgelöst werden. 30 Alle vorkritischen Philoso-
phien, durch die natürliche Dialektik ebenfalls getäuscht, zementierten
diese Verwirrung hingegen eher als dass sie sie zerstört hätten. Die Dia-
lektik der praktischen gemeinen Vernunft macht deshalb die transzen-
dentale Aufklärung (die strikte Trennung des Prinzips der Sittlichkeit
von fremden Antrieben und Selbstliebe)31 auch in praktischer Hinsicht
zu einer moralischen Notwendigkeit.32
Aufgeklärt wird das moralische Subjekt dabei nur über die Prinzipien
seiner moralischen Urteile. 33 Kants moralphilosophische Aufklärung
bringt den moralischen Akteuren also nicht Neues zur Kenntnis, son-
dern ist eine konzeptionelle Analyse dessen, was im moralischen Be-
wusstsein immer schon vorausgesetzt wird.34 Über die Relevanz dieser
Aufklärung lässt Kant keine Zweifel aufkommen: Mit ihr wird „der An-
fang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Na-
turanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte prak-
tische Prinzipien und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammen-
stimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze
verwandeln kann“.35
27
GMS AA 4, 442.
28
Guyer 2000, 208.
29
GMS AA 4, 404f.; 426; V-Mo/Mron II AA 29, 613; vgl. hierzu: Sedgwick 2008, 81.
30
Guyer 2000, 209.
GMS AA 4, 426.
31
32
GMS AA 4, 405.
33
GMS AA 4, 404.
34
Allison 2011, 34. GMS AA 4, 403.
35
Idee AA 8, 21. Inwieweit man diese Grundlegung der praktischen Aufklärung als
„transzendentale Aufklärung“ bezeichnen kann, ist etwas problematisch (vgl. hierzu:
Höffe 2004, 65–67).
Hermeneutische Probleme 49
Wir sahen, dass die Aufklärung als Ausgang aus der menschlichen Un-
mündigkeit nicht nur ein theoretisches Problem, sondern auch eine mo-
ralische Verpflichtung für jedes menschliche Individuum ist. Aber das
Individuum kann nur seine Sinnesart reformieren. Um seine Mündigkeit
zu realisieren, ist es auf öffentliche Aufklärung angewiesen, die nur
durch öffentliche Philosophie erzeugt werden kann. Daher ist die Frei-
heit, seine Gedanken öffentlich zu kommunizieren, nicht nur ein Recht,
sondern impliziert auch eine Pflicht für die veröffentlichenden Autoren,
nämlich nur solche Gedanken zu veröffentlichen, die der lesenden Öf-
fentlichkeit dabei helfen, ihren Ausgang aus ihrer Unmündigkeit zu
verwirklichen. Kants radikale Schlussfolgerung ist jedoch, dass alle bis-
herigen Aufklärungsversuche diese Pflicht bisher nicht erfüllt haben, da
sie auf derselben natürlichen Dialektik der spekulativen Vernunft basie-
ren, die die menschliche Neigung zur Heteronomie der Vernunft er-
zeugt. Durch die Affirmation dieser Dialektik haben sie die menschliche
Unmündigkeit eher zementiert als entfernt. Betrachtet man also die Phi-
losophie unter dem Gesichtspunkt der Aufklärung, so zeigt das, dass
Kant die Theorien seiner Mitphilosophen nicht einfach nur für falsch
oder mangelhaft hält, sondern für moralisch verwerflich, da sie keine
aufgeklärte und autonome Denkungsart hervorbringen, sondern eine
verderbliche und heteronome. Vielleicht noch erstaunlicher ist, dass
Kant seine Transzendentalphilosophie nicht nur für wesentlich für jede
zukünftige metaphysische Unternehmung betrachtet, sondern als ent-
scheidend für den Ausgang des Menschen aus einer Unmündigkeit. Ja,
sie ist nicht nur notwendig für die Realisierung der Mündigkeit, sondern
sogar bedeutend dafür, dass das Individuum ein moralisch gelungenes
Leben führen kann. Wie die Menschen nämlich einen Hang dazu haben,
durch sophistische Vernünfteleien die Vernunftmaxime ihren Neigungen
zu unterwerfen, solange die Begriffe der Pflicht nicht klar herausgestellt
worden sind,36 so besitzen sie auch einen Hang zum Aberglauben und
Vorurteil, solange der transzendentale Grund der Neigung zum Aberg-
lauben nicht aufgeklärt worden ist. Dieser liegt aber einerseits in der
Dialektik der theoretischen, andererseits der praktischen Vernunft.
36
GMS AA 4, 410; RGV AA 6, 36; 57.
KAPITEL 3
JACOBI UND DIE DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG
Im ersten Kapitel sahen wir, dass die deutsche Spätaufklärung auf meh-
reren Ebenen dialektische Momente ihrer eigenen Entwicklung freilegt:
Als Projekt der Befreiung des Menschen droht sie entweder in einen
Dogmatismus umzuschlagen, der sich gegen jede Kritik dadurch immu-
nisiert, dass er sich mit der Vernunft schlechthin gleichsetzt. Dem steht
eine Aufklärung gegenüber, die das Interesse an Wahrheit verloren hat
und die Vernunft nur mehr in ein instrumentelles Verhältnis zu anderen
Zwecken setzt. Aus kantischer Perspektive bleiben diese Phänomene
aber bestenfalls Oberflächenphänomene, die im ewigen Streit der Philo-
sophie mit sich selbst gründen. Dieser Kampf hat seinen Grund wiede-
rum in einer Dialektik der Vernunft mit sich selbst, deren Auflösung nur
durch transzendentale Aufklärung möglich ist. Wie Horkheimer und
Adorno sieht dabei bereits Kant, dass die Dialektik der Aufklärung letzt-
lich in der Vernichtung des Glaubens an das resultiert, für dessen Reali-
sierung die Aufklärung angetreten ist: Freiheit und Vernunft.
In jüngeren Studien gilt jedoch nicht Kant, sondern Jacobi als der
Entdecker der Dialektik der Aufklärung.1 Die Aufklärung ist dabei auf
zwei Ebenen in einer Dialektik befangen, die sie insofern in Gegenauf-
klärung umschlagen lässt, als sie in zweierlei Hinsicht die freie Selbstbe-
stimmung des Menschen negiert und damit unvernünftig wird. Diese
Dialektik betrifft zum einen die Diskursform der Aufklärung, in der die
Vernunft in ein Instrument der Herrschaft pervertiert wird. Noch we-
sentlicher betrifft sie aber zum anderen die immanente Dialektik der
Vernunft, die in ihrer Durchdringung der Wirklichkeit die Möglichkeit
von Freiheit ausschließt. Anders als für Kant ist für Jacobi die Dialektik
der Aufklärung jedoch nicht in einer zeitlosen Natur reiner Vernunft
begründet, sondern in einer historischen Entwicklung der Vernunft, in
die sich menschliches Denken unweigerlich und immer schon verwi-
ckelt.2 Die Aufklärung selbst entfaltet sich in einem historischen Prozess
dialektischer Vernunftentwicklung, in dem sie sich zuletzt selbst auf-
hebt. Im Zuge ihrer historischen Verwirklichung destruiert die Vernunft
1
Vgl. Sandkaulen 1995, 417; Kahlefeld 2000, 8. Dagegen: di Giovanni 1994, 43; ders.
2005, 17; 27.
2
Sandkaulen 2000, 140; Kahlefeld 2000, 8; 59–61.
Analytik der Macht 51
sich selbst und schlägt damit in Unvernunft um.3 Erst dieser Umschlag
ermöglicht für Jacobi jedoch die Verwirklichung „wahrer“ Aufklärung.
Diese dialektischen Entwicklungen wollen wir in diesem Kapitel ana-
lysieren. In einem ersten Schritt untersuchen wir dabei die von Jacobi
vornehmlich in seiner Schrift Betrachtung über den frommen Betrug
(1788) entwickelte Dialektik, nach der die Aufklärung von einem Organ
zur Befreiung des Menschen zuletzt in ein Zwangsinstrument umschlägt
(A). In einem zweiten Schritt betrachten wir Jacobis in der VII. Beilage
zu seinen Spinozabriefen skizzierte dialektische Geschichte der Ver-
nunft, die in ihrer Realisierung letztlich ihre Selbstentmachtung realisiert
(B). In einem dritten Schritt skizzieren wir abschließend die alternative
„andere“ Aufklärung Jacobis (C).
6
WMB JW 1,1, 319; Nicolai JW 5,1, 148; Brief an Kleuker vom 5.12.1785 JB 1,4, 268.
7
So lehnt Jacobi bereits sehr früh eine unbeschränkte Toleranz im Sinne einer abstrak-
ten Sympathie für alle Meinungen strikt ab (JB 1,1, 201; JB 1,11, 105).
8
DH1 JW 2,1, 13.
Analytik der Macht 53
9
So lässt sich vor allem Jacobis eigenes Werk nicht von dessen Lebensgeschichte ab-
trennen (Sandkaulen 2000, 8; VSpin3 JW 1,1, 339).
10
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121.
11
Fromm JW 5,1, 125.
12
SWBD 6,1, 482.
13
Brief an Georg Forster vom 14.10.1789 JB 1,8, 303.
14
Brief an Georg Forster vom 14.10.1789 JB 1,8, 303.
15
WMB JW 1,1, 326. Vgl. auch: Kladde I, 42 Schneider 1986, 172; Kladde I, 562 Schnei-
der 1986, 173.
54 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung
[D]a er [der Aufklärer] seine Meynung für die Wahrheit selbst ansieht, und die
Vernunft in Person zu seyn glaubt, hört [er] keine Gründe mehr, sucht sie, als
unwürdig, blos zu unterdrücken, und allen Widerspruch, durch was für Mittel
es auch sey, zu hemmen. [...] Dennoch weiß er nichts von Ungerechtigkeit, und
freuet sich aller seiner Werke, weil er das Gutfinden seiner Weisheit zum einzi-
gen Gesetz hat[.]19
16
Fromm JW 5,1, 126.
17
WMB JW 1,1, 328; Fromm JW 5,1, 125.
18
Brief an Müller vom 14.5.1782 JB 1,3, 30.
19
WMB JW 1,1, 317.
20
Etwas JW 4,1, 305; vgl. auch GA 3,3, 182; AB II, 342.
21
Fromm JW 5,1, 125.
22
WMB JW 1,1, 327; GD JW 3, 58; vgl. hierzu ausführlich Jaeschke 2004.
23
Beiser 1987, 75.
Analytik der Macht 55
Keine Meynung ist gefährlich, sobald ein jeder die seinige frey sagen darf. Eine
jede aber ist es, wenn sie die einzige seyn will, und zu einem gewissen Grade der
Herrschaft würklich gelangt.31
24
Spin1 JW 1,1, 115.
25
DH1 JW 2,1, 96.
26
GD JW 3, 60.
27
ZEeD JW 5,1, 208f.
28
ZEeD JW 5,1, 209.
29
Fromm JW 5,1, 105; 110f.; vgl. ebenso Nicolai JW 5,1, 147ff.
30
Etwas JW 4,1, 305f.
31
Fromm JW 5,1, 125; vgl. ebenso Jacobis Brief an Müller vom 14.5.1782 JB 1,3, 30f.
56 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung
1
MAM AA 8, 115.
2
Spin2 JW 1,1, 153. Eine glänzende Analyse dieser Beilage liefert Sandkaulen 2000.
3
Sandkaulen 2000, 137.
4
An Mariane JW 4,1, 193.
5
Spin2 JW 1,1, 248.
6
Vgl. hierzu auch Kahlefeld 2000, 62.
7
Spin2 JW 1,1, 249; 260.
8
Spin2 JW 1,1, 248f.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 57
So entsteht eine Vernunftwelt, worin Zeichen und Worte die Stelle der Substan-
zen und Kräfte vertreten. Wir eignen uns das Universum zu, indem wir es zer-
reissen, und eine unseren Fähigkeiten angemessene, der wirklichen ganz unähn-
liche Bilder- Ideen- und Wort-Welt erschaffen.12
9
Vgl. auch: GD JW 3, 23.
10
Betrachtung JW 4,1, 15; Spin2 JW 1,1, 249.
11
Spin2 JW 1,1, 258.
12
Spin2 JW 1,1, 249. „Wir begreifen eine Sache, wenn wir sie aus ihren nächsten Ursa-
chen herleiten können, oder ihre unmittelbaren Bedingungen der Reihe nach einsehen:
was wir auf diese Weise einsehen, oder herleiten können, stellt uns einen mechanischen
Zusammenhang dar.“ (Spin2 JW 1,1, 249.)
58 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung
Die Vernunft ist für Jacobi also ein kreatives Vermögen zur Bildung ar-
biträrer Zeichen.13 Zwar muss ihre Zeichenschöpfung auf die gegebene
Wirklichkeit bezogen sein und sich zu ihr homomorph verhalten, da sie
ansonsten nicht zur menschlichen Orientierung in der Welt dienen
könnte. Sie ist jedoch insofern sui generis, als sie kein bloßes Abbild ei-
ner ihr ähnlichen Wirklichkeit, sondern eine rein funktionale Darstel-
lung selbiger sein muss. Dazu genügt es, dass sie die relationalen Ver-
hältnisse zwischen den Dingen der wirklichen Welt in ihrem Zeichensys-
tem abbildet. 14 Dabei wiederum muss der Mensch nur die Relationen
abbilden, die für seine Weltorientierung relevant sind oder denen er Re-
levanz zuschreibt. Diese Relevanz ist selbst keine Eigenschaft der Dinge,
sondern durch den Menschen gesetzt. So drückt sich in den jeweiligen
menschlichen Zeichensystemen auch immer aus, was für die Gruppe von
Menschen, die dieses Zeichensystem verwendet^ , relevant ist.
Alle menschlichen Zeichensysteme sind insofern Ausdruck von Passi-
vität und Kreativität der Vernunft. Dies gilt für ein mythisches Zeichen-
system, das die Empfindung wirkender Kräfte zu einer Welt von Natur-
gottheiten anordnet, genauso wie für die newtonsche Physik. Insofern
kann Jacobi in seiner natürlichen Geschichte der spekulativen Philoso-
phie bereits wie Horkheimer und Adorno den Mythos als Aufklärung
bezeichnen, da er nicht nur eine Form ist, die Wirklichkeit zu begreifen
und sich in ihr zu orientieren, sondern zugleich eine Manifestation auto-
nomer Vernunft, die zur Weltorientierung des Menschen ein System
selbst hervorgebrachter Gesetzmäßigkeiten erzeugt. Im Laufe der Ent-
wicklung der spekulativen Vernunft werden diese Systeme jedoch intrin-
sisch geschlossener und einfacher. So muss nicht mehr in jedem sich be-
wegenden Naturding eine lebendige Kraft (personifizierte Gottheit) an-
genommen werden, sondern alle Bewegungen können auf immer
weniger Kräfte (Gravitation) reduziert werden. Damit gewinnt die spon-
tane Vernunft im Verhältnis zur passiven Empfindung mehr und mehr
ein Übergewicht über letztere: Die Differenzen in den Empfindungen
werden immer weiter auf allgemeinere, vom Verstand selbst erzeugte
Prinzipien reduziert.15 Die höheren Begriffe der Vernunft sind immer
weniger unmittelbare Einheiten von Passivität und Spontaneität, viel-
mehr beschränkt sich die Vernunft zunehmend auf das Begreifen ihrer
eigenen Konstruktion und der durch sie selbst erzeugten Zusammen-
hänge und Relationen.16 Die Passivität der Empfindungen wird immer
13
JW 6,1, 174f.; Laharpe JW 5,1, 173f.
14
Dieser Aspekt wird von Kant aus Jacobis Sicht ignoriert.
15
Vgl. hierzu etwa Sandkaulen 1997, 352.
16
Sandkaulen 2000, 111.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 59
17
DH1 JW 2,1, 32; 70.
18
Spin2 JW 1,1, 250.
19
So lehnt Jacobi etwa Rousseaus Idee vom Naturzustand ab (Sandkaulen 1995, 423).
20
Rech JW 4,1, 104.
21
Rech JW 4,1, 104f.
22
Rech JW 4,1, 105f.
23
DH1 JW 2,1, 71.
60 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung
ven Entwicklung der Vernunft befreit sich die Vernunft also jeweils von
einer Form des Aberglaubens und damit der Herrschaft eines durch die
Vernunft selbst geschaffenen, aber von dieser unabhängig gewordenen
Zeichensystems über die Vernunft. Der menschliche Geist ersetzt es je-
doch nur durch ein anderes, selbst erzeugtes Zeichensystem, das er wie-
derum nicht als seine Schöpfung begreift und das deshalb Herrschaft
über ihn ausübt. Die immer autonomer werdenden Produkte der sich
von der unmittelbaren Wirklichkeit emanzipierenden Vernunft gewin-
nen die Herrschaft über ihre Schöpferin. Diese Dialektik ist der Aufklä-
rung von Beginn an immanent. Denn „es ist der Instinkt des Buchsta-
bens, die Vernunft unter sich zu bringen; sein Instinkt, mit der Vernunft
umzugehen, wie Jupiter mit seinem Vater.“24
24
Allwill2 JW 6,1, 142. Eine Parallele hierzu findet Jacobi in der Ökonomie: „Es geht
uns mit den Begriffen wie mit dem Gelde; das allgemeine Zeichen verwandelt sich in un-
serer Einbildungskraft in die Sache selbst, und wir ziehen es ihr vor“ (FB WW VI, 163).
25
Spin1 JW 1,1, 18.
26
Sandkaulen 1995, 418; Cassirer 2000, 19. Jacobis öffentliche Bekanntmachung von
Lessings Spinoza-Bekenntnis soll deshalb weder Lessing noch das Aufklärungsprojekt
diffamieren (WMB JW 1,1, 302; Anonymus 1786b; Anonymus 1790, 403). Indem sich
Lessing zum metaphysischen System Spinozas bekennt, macht er vielmehr Ernst mit der
Aufklärung (WMB JW 1,1 279f.).
27
FB JW 5,1, 403.
28
Spin1 JW 1,1, 18; 56f.
29
Spin1 JW 1,1, 156; vgl. Kahlefeld 2000, 31.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 61
30
Spin1 JW 1,1, 98.
31
Spin1 JW 1,1, 18.
32
Spin1 JW 1,1, 95. Die Substanz als Inbegriff aller endlichen Dinge „ist keine unge-
reimte Zusammensetzung endlicher Dinge die ein Unendliches ausmachen, sondern, der
strengsten Bedeutung nach, ein Ganzes, dessen Theile nur in und nach ihm seyn, nur in
und nach ihm gedacht werden können“ (ibid., 95f.).
33
Spin1 JW 1,1, 20; 94f.; Spin3 JW 1,1, 252f.
34
Spin1 JW 1,1, 39; 100; 110f.
35
Fromm JW 5,1, 114f.
36
Spin2 JW 1,1, Anm. 258; vgl. hierzu auch KU AA 5, 384.
37
Spin1 JW 1,1, 18.
62 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung
Bei der Spontaneität als einer Selbsttätigkeit, die als absoluter Beginn
einer Handlung keine Vermittlung zulässt, ist dies offensichtlich.38 Das
Endliche kann im vollständigen Begründungszusammenhang des Spino-
za jedoch auch keine eigenständige Existenz gegenüber dem Unendli-
chen besitzen, da diese Eigenständigkeit ja gerade eine gewisse Unab-
hängigkeit gegenüber dem Unendlichen impliziert, die nicht aus dem
Unendlichen deduziert werden kann. 39 Die Einzeldinge sind nur Ein-
schränkungen des unendlichen Seins. Solcher Art sind sie keine eigen-
ständigen Seienden, sondern „non-entia; und das unbestimmte unendli-
che Wesen, ist das einzige wahrhafte ens reale“.40 Individuelle Bestimmt-
heit ist nur Seinsverminderung. Daher sind die Individuen gerade nicht,
insofern sie individuell sind (denn insofern mangelt ihnen das Sein), son-
dern insofern sie nicht individuell und mit dem Sein identisch sind.41 Als
solche non-entia können sie vom Denken aus dem Unendlichen selbst
erzeugt und begriffen werden. Die erfahrene Wirklichkeit ist damit näm-
lich auf einen Zusammenhang logischer Relationen reduziert. In ihrer
Limitation (= Bestimmtheit) sind die Elemente durcheinander, in ihrer
wirklichen Realität durch das absolute Sein vermittelt.
Aber auch das absolute Sein schließt alle Individualität aus. Seine Ein-
heit ist nicht die eines bestimmten Individuums, sondern die „der Identi-
tät des nicht zu unterscheidenden“.42 Insofern Gott als reines Prinzip der
Wirklichkeit keinerlei Bestimmtheit aufweist, gibt es nichts, was in ihm
von einem anderen unterschieden werden könnte. Im Gegensatz zur In-
dividualität, die ihre Einheit und Gleichheit mit sich selbst ihrer Be-
stimmtheit verdankt, verdankt der Gott des Spinoza seine Einheit und
Gleichheit mit sich selbst der Negation aller Bestimmtheit. Dies ist selbst
keine Bestimmung im eigentümlichen Sinne, sondern nur eine Bestim-
mung via negationis. Individuen sind von anderen Individuen durch ihre
unterschiedlichen Bestimmungen unterschieden, die sie im Gegensatz zu
anderen aufweisen. Gott hingegen weist keinerlei Bestimmungen auf und
ist nur unterschieden durch seine Ununterschiedenheit.43
Fassen wir kurz zusammen: Um das Prinzip „a nihil nihilo fit“ konse-
quent durchhalten und ein System vollständiger Vermittlung begründen
zu können, müssen die Abhängigkeitsverhältnisse der Dinge voneinan-
Spin2 JW 1,1, 163.
38
40
Spin1 JW 1,1, 100. „Wenn wir also einen einzelnen Menschen ansehen, so nehmen
wir nicht eine besondere Substanz, sondern die Substanz im besondern wahr.“ (Ibid.,
204.)
41
Spin1 JW 1,1, 98f.
42
Spin1 JW 1,1, 39.
43
Spin1 JW 1,1, 98f.; 112.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 63
52
Spin1 JW 1,1, 62.
53
Spin1 JW 1,1, 18; 57.
54
Ob man den Begriff „Atheismus“ durch die Begriffe „Kosmo-Theismus“ oder „De-
ismus“ ersetzt, macht nach Jacobi sachlich keinen Unterschied (Spin1 JW 1,1, 120f.).
55
Spin1 JW 1,1, 21.
56
Zöller 1998, 25; Hammacher 1969, 77f.
Die dialektische Geschichte der Vernunft 65
Kant hatte bekanntlich wenig Sympathien für das „Kopf-unter“9 von Ja-
cobis Salto mortale. So versucht er in WDO gerade die vermeintlich aus-
schließliche Alternative zwischen dogmatischer Metaphysik und Jacobis
Salto mortale in den Abgrund des Glaubens zu unterlaufen. Zwar hat Ja-
cobi für Kant insofern recht, dass die Vernunft für das Fürwahrhalten
der Ideen von Gott und Freiheit niemals objektive Erkenntnisgründe be-
sitzen könne, sie hätte aber auf Grund ihres eigenen Vernunftinteresses
ausreichend subjektiv-praktische Gründe, die ein ebenso subjektiv-
praktisches Fürwahrhalten dieser Ideen berechtigen.10 Da Jacobi hinge-
gen sein Denken nicht den selbst gegebenen Gesetzen der Vernunft un-
terwerfe, mache er einen illegitimen Gebrauch von der Freiheit im Den-
ken.11 Seine Beschneidung des Vorrechts der Vernunft, letzter Prüfstein
aller Urteile zu sein, öffne hingegen „aller Schwärmerei, Aberglauben, ja
selbst der Atheisterei eine weite Pforte“.12 In diesem Sinne wirkt Jacobi
nach Kant der Aufklärung entgegen.13
Aus der Perspektive Jacobis unterbietet dagegen Kants Kritik die
Ethik Spinozas, sobald man an sie den Maßstab der Systematizität an-
legt. Nach Jacobi nimmt Kant nämlich zahlreiche Inkonsequenzen, Wi-
dersprüche und Zweideutigkeiten in Kauf, um dank dieser Inkonse-
quenzen innerhalb seines Systems noch Platz für seinen Glauben an
Freiheit und Gott haben zu können.14 Kants Schwanken zwischen Rea-
lismus und Idealismus nötige ihn zudem zur widersprüchlichen Setzung
des Dinges an sich. Um konsequent zu sein, gälte es, den konsequentes-
ten Idealismus zu lehren, der jemals gelehrt worden sei.15 Dieser sei dann
aber nichts anderes als ein umgekehrter Spinozismus,16 der auf dieselben
9
Spin1 JW 1,1, 20.
10
WDO AA 8, 135ff.
11
WDO AA 8, 145.
12
WDO AA 8, 143.
13
Insofern Jacobi zudem der „Freigeisterei“ Vorschub leiste, nötige er die staatlichen
Autoritäten zur Einschränkung der für die Aufklärung essentiellen Publikationsfreiheit
(WDO AA 8, 146).
14
Vgl. auch Koch 2013, 67. Mit seiner Konzeption einer immanenten Ursache verwi-
ckelt sich Spinoza mit seinem Fatalismus so auch nach Jacobi nicht in Kants dritte Anti-
nomie. Denn ein Zustand im Naturgeschehen ist nicht durch den zeitlich vorgängigen
Weltzustand vollständig bedingt, sondern einzig durch die absolute Ursache, die in jeder
ihrer Wirkungen in gleicher Weise gegenwärtig ist.
15
DH1 JW 2,1, 112.
16
Kant selbst bemerkt in OP: „Der Geist des Menschen ist Spinozens Gott (was das
Formale aller Sinnengegenstände betrifft)“ (AA 21, 99).
Jacobis andere Aufklärung 67
setzt die Vollendung dieser Dialektik voraus.22 Dies geschieht bei Spino-
za mit der Negation zweckursächlichen freien Handelns,23 der Redukti-
on des Denkens auf die Rolle eines Zuschauers und der Aufhebung indi-
vidueller Substanzen in ein Relationsgefüge von Negationen. Diese drei
Bestimmungen (Freiheit als endursächliches Handeln, Wirkkraft des
Denkens und substantielle Individualität) charakterisieren nach Jacobi
das, was er Person nennt. Insofern führt die vollendete Aufklärung zur
Annihilation von Personalität.
Um aus dem Spinozismus gegen den Spinozismus schließen zu kön-
nen, muss die Aufklärung sich nicht nur vollenden, sondern sich auch
ihrer Dialektik bewusst werden. Dazu muss sie sich reflexiv auf ihre ei-
gene Praxis richten. Nur damit wird ihr der spinozistische Verblen-
dungszusammenhang als ein solcher bewusst und die Vernunft kann sich
aus der Herrschaft der durch sie selbst geschaffenen Bilder- und Zei-
chenwelt befreien. Hierfür muss die Vernunft sich erst einmal ihrer eige-
nen Tätigkeit bewusst werden, das heißt sie muss sich als tätige und
spontane Schöpferin ihres Zeichensystems verstehen, das sie selbst in ei-
ne Eigenständigkeit entlassen hat und dem sie sich nun unterwirft. Sie
erkennt dann die Dialektik ihrer eigenen freien Tätigkeit, dass nämlich
der reine Relationszusammenhang des Spinozismus, dessen metaphysi-
sches Prinzip ein bloß logischer Grund ist, Ausdruck ihrer eigenen freien
Tätigkeit ist. Die zeichenhaften Relationen sind Gesetze, die ihr nicht
vorgegeben sind, sondern die sie selbst frei hervorgebracht hat.24 Im spi-
nozistischen System kann sich also das Denken seiner eigenen Freiheit in
seinem Produkt bewusst werden, wobei dieses Produkt zugleich die
Möglichkeit dieser Freiheit negiert. Denn das spinozistische System
schließt ja gerade jede Form freier Selbstbestimmung des Denkens aus.
Halten wir noch einmal die Dialektik fest, die Jacobi hier kennzeich-
net. Die Geschichte der aufklärerischen Vernunft ist die Geschichte der
Vernunft, die sich in ihren Systemen immer mehr nur selbstgegebenen
Gesetzen unterwirft. Auf dem Höhepunkt dieses Aufklärungsprozesses,
auf dem die Vernunft ihre absolute Selbständigkeit realisiert, entmächtigt
sie sich gleichzeitig. Der reflektierende Nachvollzug dieser Geschichte
zeigt, dass diese Entmächtigung der Vernunft kein Faktum, sondern die
eigene Tat der menschlichen Vernunft ist. In gewisser Weise könnte man
22
Dass die Aufklärung radikal vollendet werden muss, zeigt auch Jacobis Kritik an
Herders „geläutertem Spinozismus“ in der V. Beilage zu den Spinozabriefen.
23
Spin1 JW 1,1, 75.
24
Ebenso bewundern wir in den naturwissenschaftlichen Systemen nach Jacobi nicht
die entzauberte Welt, sondern die Produktivität menschlicher Vernunft (Einl JW 2,1, 399).
Jacobis andere Aufklärung 69
... Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers, Daseyn zu
enthüllen, und zu offenbaren ... Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächs-
ter – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt:
das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache.28
25
Fichte fasst die Daseinsenthüllung Jacobis in einem Brief an Jacobi vom 26. 4. 1796
sehr treffend so zusammen, dass Jacobi „Geist als Geist, so sehr die menschliche Sprache
es erlaubt, zu Tage“ fördere (JB 1,11, 102).
26
Sandkaulen 1995, 420.
27
Sandkaulen 1997, 355.
28
Spin1 JW 1,1, 29.
29
„Ich liebe den Spinoza, weil er, mehr als irgend ein andrer Philosoph, zu der voll-
kommenen Ueberzeugung mich geleitet hat, daß sich gewisse Dinge nicht entwickeln las-
70 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung
Aufklärung ist also immer auf die spinozistische Aufklärung als das An-
dere ihrer selbst bezogen.
Gegenstand Jacobis anderer Aufklärung ist so gerade die Enthüllung
des Bewusstseins, freie Ursache oder Person zu sein. Diese freie, perso-
nale Ursächlichkeit kann sich nicht begreifen lassen, weil sie als Ursache
des systematischen Begreifens außerhalb von selbigem steht und nicht im
System entwickelt werden kann. Freiheit und Personalität können des-
halb nur bewusst, aber nicht gewusst werden.30 Subjekt dieser anderen
Aufklärung ist keine abstrakte oder reine Vernunft, sondern die indivi-
duelle Person. Denn der Sprung aus dem Spinozismus kann nur vom
einzelnen Individuum vollzogen werden und zwar als freie Handlung
einer Person, die ein unbedingtes Interesse an ihrer Freiheit hat. Diesem
Individuum, das im Vollendungsprozess der Aufklärung zu Grunde ge-
hen muss, geht es im Sprung oder Widerspruch um etwas, nämlich um
die Behauptung seines eigenen, freien, personalen Daseins. Im Vollzug
des Widerspruchs gegen den Spinozismus realisiert das Individuum be-
reits die gegen den Spinozismus behauptete individuelle Freiheit. 31 Es
behauptet seine Eigenständigkeit gegen den Spinozismus, der es not-
wendig spekulativ annihiliert,32 weil die konstruierende Vernunft eben
keine Individuen konstruieren kann:
Die menschliche Kunst vermag nicht Individua, oder irgend ein reales Ganzes
hervor zu bringen; denn sie kann nur zusammensetzen, so daß das Ganze aus
den Theilen entspringt, und nicht die Theile aus dem Ganzen.33
sen: vor denen man darum die Augen nicht zudrücken muß, sondern sie nehmen, so wie
man sie findet.“ (Spin1 JW 1,1, 28.)
30
„Wahrheit ist Klarheit, und bezieht sich überall auf Würklichkeit, auf Facta.“ (Spin1
JW 1,1, 128.)
31
Koch 2013, 38; Spin2 JW 1,1, 234.
32
Spin1 JW 1,1, 22f.
33
DH1 JW 2,1, 58. Substanzialität wird von Jacobi mit Individualität gleichgesetzt
(ibid., 60).
Jacobis andere Aufklärung 71
34
O’Neill 1989, 7.
35
1792 schildert sich der Herausgeber des Allwill2 als einen Mann, „dem es von seiner
zartesten Jugend an, und schon in seiner Kindheit ein Anliegen war, daß seine Seele nicht
in seinem Blute, oder ein blosser Athem seyn möchte, der dahin fährt.“ (JW 6,1, 88.)
36
Dies zeigt sich bereits im Vorbericht zu Allwills Papieren von 1776: Die Verfasser
der Briefe hätten „anstatt des ganzen Menschengeschlechts immer nur einzelne Personen
im Auge“(Allwill1 JW 6,1, 4).
72 Jacobi und die Dialektik der Aufklärung
hin, die die äußere Freiheit der Vernunft bedroht. Die Möglichkeit inne-
rer Freiheit wird hingegen durch die spinozistische Annihilation von
Freiheit und Persönlichkeit im vollendeten Vernunftsystem aufgehoben,
deren Bedingung eben diese Freiheit ist. Gegen beide Dialektiken muss
die wahre Aufklärung die Personalität der Vernunft enthüllen.
Indem wir damit die unterschiedlichen Ausgangspunkte Kants und
Jacobis vor dem Problemhintergrund der deutschen Spätaufklärung
skizziert haben, können wir uns im folgenden Teil unserer Untersu-
chung der konkreten Durchführung ihrer Aufklärungsprojekte widmen.
Als Leitfaden soll uns dabei die aufklärerische Debatte um den Univer-
salitätsanspruch des Aufklärungsprojektes dienen.
TEIL 2
tätsanspruch beleuchten. Von hier aus lassen sich die bisher nur skizzier-
ten Aufklärungskonzepte Kants und Jacobis vertiefen. Dabei stehen bei-
de inmitten einer Debatte der deutschen Spätaufklärung, die diesen An-
spruch schon längst fragwürdig gemacht hat.
Eine der gewichtigsten Stimmen in dieser Debatte ist Johann
Gottfried Herder. Für unsere Untersuchung ist Herder gerade deshalb
von besonderer Relevanz, weil sich bei ihm bereits die Argumente gegen
den Universalitätsanspruch der Aufklärung, im Besonderen aber auch
gegen Kants vermeintlichen Universalismus finden, die im 20. Jahrhun-
dert vor allem von postmodernen Denkern thematisiert werden: Vor al-
lem attackiert er dabei „den Unsinn“ von Kants Geschichtskonzeption,
nach der das menschliche Individuum um der Gattung willen da sei, de-
ren Bestimmung sich erst in Kants „eurozentristische[m] Weltbürger-
tum“ 13 vollende. 14 Wie intensiv Kant die Schriften seines ehemaligen
Schülers Herder verfolgt, ist zwar umstritten, jedoch hat Kant mit Ge-
wissheit einige der Texte gelesen, die für Herders Kritik an ihm selbst
und der Aufklärung im Allgemeinen zentral sind.15 Jacobi hingegen hat
nicht nur nachweisbar zahlreiche Schriften Herders studiert, sondern
steht – mit Unterbrechungen – von 1783 bis zum Tod Herders in einem
intensiven Briefwechsel und engem Freundschaftsverhältnis mit diesem.
Sowohl Kant als auch Jacobi dürften also mit Herders Aufklärungskritik
vertraut sein. Ausgehend von dieser Kritik erörtern wir im folgenden
Kapitel zunächst die Problematik des aufklärerischen Universalitätsan-
spruchs anhand der Diskurse der deutschen Spätaufklärung, um an-
schließend die Aufklärungsprojekte Kants und Jacobis am Leitfaden des
Spannungsverhältnisses von rationalem Universalitätsanspruch und indi-
vidueller Standortgebundenheit zu explizieren.
13
Gaier 2006, 110.
14
Brief an Jacobi vom 25. 2. 1785 HB 5, 108f.; FHA 6, 335; vgl. Gaier 2006, 110.
15
Vgl. hierzu: Kühn 2007, 260ff.; Zammito 1992, 36f.; AA 12, 293f.; AA 11, 57; 76.
KAPITEL 1
KRITIK DER AUFGEKLÄRTEN VERNUNFT
1
Vgl. ebenso: Cassirer 2007, 4f.; Whitton 1988, 149.
2
Bollacher 1989, 902.
3
Ideen FHA 6, 144.
4
Die Vernunft ist so nach Herder abhängig von Einflussfaktoren wie Klima, geologi-
scher Beschaffenheit der Umwelt, Vegetation und den den Menschen umgebenden Tieren,
denen er sich seine Techniken abschaut. Die „Geschichte seiner Kultur wird sonach einem
großen Teil nach zoologisch und geographisch“ (Ideen FHA 6, 69). Diese Aufklärungs-
kritik resultiert selbst aus aufklärerischen Ideen wie der sensualistisch-empiristischen Er-
kenntnistheorie (Heinz 1996, 149; Adler/Koepke 2009, 8).
5
Barnard 2003, 15.
6
Ideen FHA 6, 358. Hamann schreibt am 28. Oktober 1785 an Jacobi: „Mit Herder
bin ich gantz einig, daß unsere ganze Vernunft und Philosophie auf Tradition und Ueber-
Kritik der aufgeklärten Vernunft 79
16
Heinz 1996, 147.
17
„Wörter [sind] nicht bloß Zeichen, sondern gleichsam die Hüllen [...], in welchen wir
die Gedanken sehen“ (ÜnDL2 FHA 1, 552).
18
Ursprung FHA 1, 757. In der Sprache eines Volkes „wohnet sein ganzer Gedanken-
reichtum an Tradition, Geschichte, Religion und Grundsätzen des Lebens, alle sein Herz
und Seele.“ (BBH FHA 7, 65.)
19
Die Sprache ist eine „Schatzkammer menschlicher Gedanken, wo jeder auf seine Art
etwas beitrug! Eine Summe der Würksamkeit aller menschlichen Seelen.“ (Ursprung
FHA 1, 801.)
20
„Alle kommen wir zur Vernunft nur durch Sprache und zur Sprache durch Traditio-
nen, durch Glauben ans Wort der Väter.“ (Ideen FHA 6, 352.) Nach Herder ist die Idee
universeller Vernunft nur das Resultat der Abstraktion von den Besonderheiten der Kul-
turen und Nationen, der er die Anerkennung dieser inkommensurablen Besonderheiten
entgegensetzt (Gray 2007, 247; Sikka 2011, 29; Gadamer 2000b, 120; Berlin 1982, 76;
Arendt-Stern 1932, 75).
21
BBH FHA 7, 225; 688; Ideen FHA 6, 33f.; 327; ÜnDL FHA 1, 371.
22
BBH FHA 7, 244f.
23
APGBM FHA 4, 39; Wirkung der Dichtkunst FHA 4, 191.
Kritik der aufgeklärten Vernunft 81
24
Outram 2013, 66. Herder wendet sich deshalb gegen jede Form von Kolonialismus.
Der europäische Teil der Welt „hat nicht kultiviert, sondern die Keime eigner Kultur der
Völker, wo und wie er nur konnte, zerstöret“ (BBH FHA 7, 672; vgl. auch: Ideen FHA 6,
442).
25
Ideen FHA 6, 571.
26
Ideen FHA 6, 340. „Bildung der Denkart, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige
Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre.“ (BBH FHA 7,
258.) Dabei unterläuft Herder mit seinem Begriff der Bildung die unter anderem von Mo-
ses Mendelssohn getroffene, strikte Unterscheidung von Kultivierung und Aufklärung.
27
Ideen FHA 6, 340.
28
VdAK FHA 2, 456. „Wehe aber auch dem Philosophen über Menschheit und Sitten,
dem Seine Szene die Einzige ist, und der die Erste immer, auch als die Schlechteste, ver-
kennet!“ (ibid.)
82 Kritik der aufgeklärten Vernunft
29
„Die allgemeine und stärkste Vernunft kann nur das Resultat aller Erfahrung des
Menschengeschlechts seyn“ (Erläuterungen SWS 7, 368f.).
30
Exemplare SWS 15, 138.
31
Exemplare SWS 15, 138.
32
APGBM FHA 4, 84.
Das Unrecht der Aufklärung 83
1
Auch Kants Ansichten über Frauen, Juden und Rassen liefern hierfür äußerst uner-
freuliche Beispiele, die fundamentalen Einsichten seiner Moralphilosophie zu widerspre-
chen scheinen (GSE AA 2, 253; 255; ÜGTP AA 8, 174; 176; Refl 1520 AA 15, 875–880;
MdS AA 6, 314; ZH 4, 77.). Vgl. hierzu: Kleingeld 1995a, 32–35; dies. 2012, 106; 93f.;
Mendus 1987, 27ff.; 39; Wood 2008, 7f.; Louden 2000, 102f.; Deligiorgi 2005, 72.
2
Anonymus 1788a, 10; Condorcet 1968, 237; Refl 1501 AA 15, 788f.
3
Knoblauch 1790a, 32. Man muss sich freilich fragen, inwieweit die europäischen Auf-
klärer überhaupt einen objektiven Blick auf außereuropäische Völker besitzen können.
Die Quellen von Kants Anthropologie etwa sind vornehmlich Reiseberichte, Historiog-
raphien, Dramen und Romane (Wood 2003, 47f.). Jacobi macht einen solchen Reisebe-
richt von de Saint-Pierre durch seine Briefe an eine Junge Dame dem deutschen Publikum
bekannt, dessen Lektüre bei Jacobi jedoch gerade in einer Kritik am Kolonialismus resul-
tiert (BJD JW 4,1, 33–52). Kritisch gegenüber der Objektivität solcher Reiseberichte:
Adrastea FHA 10, 130.
4
Thomasius 1723, 239; Mauvillon 1787, 71; Reimarus 1972, 673f. Bei d’Holbach, Vol-
taire und Rousseau finden sich ähnliche Äußerungen (Becker 2001, 39–42).
5
Berichtigung GA 1,1, 293.
84 Kritik der aufgeklärten Vernunft
drückung der Juden durch den Vorwurf des Gottesmords wird dabei
von den Aufklärern durch die Vorwürfe jüdischer Unaufgeklärtheit, in-
tellektueller Rückständigkeit und sittlich-kultureller Korruption ersetzt.6
Der Chauvinismus der Aufklärung zeigt sich aber auch in der Haltung
mancher Aufklärer gegenüber dem „gemeinen Volk“, also den Mitglie-
dern der Gesellschaft, die nicht der aufgeklärten Elite angehören. Insbe-
sondere dem Ideal und der Möglichkeit einer Aufklärung dieses „gemei-
nen Volkes“ stehen einige Aufklärer skeptisch gegenüber.7 So wird sogar
die Frage, ob es nützlich sein kann, das Volk zu belügen, zu einer zentra-
len Fragen der deutschen Spätaufklärung.8 Vornehmlich sind die Aufklä-
rer im Zweifel darüber, ob man das Volk in der gegenwärtigen Situation
von seinen religiösen Vorurteilen befreien sollte (teils aus Sorge um die
bürgerliche Gesellschaft, teils aus Sorge um das Wohl der Einzelnen).9 So
sei es mitunter besser, „das Vorurtheil [zu] dulden, als die mit ihm so fest
verschlungene Wahrheit zugleich mit [zu] vertreiben“.10
Rettung JubA 8, 6; Voltaire 1879a, 522; vgl. hierzu: Katz 1989, 202; Berghahn 2004,
6
368; 375; Himmelfarb 2008, 157f. Entgegen dieser anti-jüdischen Tendenz seiner Zeit
bringt Herder immer wieder seine Bewunderung für den zwanglosen Einfluss der Juden
auf die Humanisierung der Menschheit zum Ausdruck (Ideen FHA 6, 483; VGEP FHA 5,
672; Herder 1976, 219f.).
7
Vgl. etwa Superstition Voltaire 1879b, 456; Diderot: Multitude Enc 10, 860; Misere
Enc 10, 575; La Mettrie 1764; La Mettrie 2009, 20f.; 72f.; Toland 1751, ii; 14; 70.
8
Die Akademie der Wissenschaften zu Berlin schreibt im Jahr 1778 auf Anregung
Friedrichs II. sogar eine Preisschrift zur Beantwortung der Frage aus, ob es nützlich sei,
das Volk zu betrügen (Conrad 1998, 8). Mehr als ein Drittel der Antwortenden bejaht die-
se Frage (ibid., 11).
9
WSW 5,15, 41; Reimarus 1972, 41; Jensen 2003, 34f.
10
WA JubA 6,1, 118; Lavater JubA 7, 14. Andererseits sieht Mendelssohn deutlich,
dass die Schonung dessen, was anderen heilig ist, „von je her Schutzwehr der Heuchelei“
gewesen ist: „So oft man das Verbrechen greifen wollte, rettete es sich ins Heiligthum.“
(WA JubA 6,1, 118.) In diesem Sinne behaupten Hennings und Fichte den absoluten Vor-
rang der Aufklärung ohne Rücksichtnahmen (JubA 13, 227ff.; Berichtigung GA 1,1, 203).
Das Recht der Aufklärung 85
17
Heftrich 1978, 31.
18
Horkheimer/Adorno 1988, 44.
19
Ueber die Vorurtheile Abbt 1780, 184.
20
Nach Parekh ist dies hingegen die ursprüngliche Einsicht des Multikulturalismus
(Parekh 2006, 336f.).
21
„Was ist durch Menschen bildbar? Alles. Die Natur, die menschliche Gesellschaft,
die Menschheit.“ (Kalligone SWS 22, 314.)
Das Recht der Aufklärung 89
deren Exzentrizität ab. Die Lebendigkeit einer Nation zeigt sich in ihrer
Fähigkeit, sich Fremdes anzueignen. Eine Nation oder Kultur, die sich
gegenüber fremden Einflüssen abschottet, stirbt notwendig ab. 31 Die
Aufklärung des Menschengeschlechts verdankt sich so nicht zuletzt der
glücklichen Tatsache, dass die Nationen einander kennen lernen muss-
ten, da sie „allesamt nur Ein Geschlecht auf Einem nicht großen Plane-
ten“ sind.32
An Herder zeigt sich also, dass eine starke Betonung der kulturell-
historischen Bindung des Individuums die aufklärerische Universalitäts-
forderung und die Forderung nach universeller Aufklärung nicht obsolet
werden lässt. Man kann für Herders Ideen mit Kant sagen: Aufklärung
ohne Tradition ist leer, Tradition ohne Aufklärung blind.33
Bisher haben wir Folgendes gesehen: Der Vorwurf des kulturellen
Chauvinismus und Eurozentrismus ist gegen einzelne Aufklärer durch-
aus gerechtfertigt. Diese Kritik ist aber selbst ein Moment der Aufklä-
rung und keine Entdeckung zeitgenössischer Kritiker. Es steht jedoch
noch der Vorwurf im Raum, die Aufklärung diene den Interessen einer
bestimmten sozialen Klasse, für die die Berufung auf die universale Ver-
nunft ein Instrument zur Unterdrückung anderer Klassen ist.
Gegen diese These, bei der Berufung auf eine universell gültige Ver-
nunft handle es sich um einen „maskierten“ Herrschaftsanspruch,
spricht nun aber vor allem, dass diese Berufung eng mit dem Gedanken
der populären Ausbreitung von Aufklärung verbunden ist. Aufklärung
soll gerade nicht ausschließlicher Besitz einer herrschenden oder intel-
lektuellen Elite sein, sondern durch Popularisierung auch breiteren
Schichten zugänglich gemacht werden. 34 Hierdurch soll auch der
Ungelehrteste einsehen, dass er nicht zum Sklaven, sondern zur Freiheit
bestimmt ist.35 Wissenschaft und Aufklärung werden deshalb als der ein-
zige Weg zum Heil des Menschen verstanden.36 Nicht die Religion, son-
dern Erziehung und Bildung zum richtigen Vernunftgebrauch sind die
Mittel zur Erlösung des Menschen aus seiner Unmündigkeit. 37 Weite
Teile der Aufklärung richten sich deshalb an die Öffentlichkeit, um die
APGBM FHA 4, 39; BBH FHA 7, 86; 226; Ideen FHA 6, 438f.; Ursprung FHA 1,
31
806f. Dieser kulturelle Austausch darf jedoch nicht erzwungen werden (Sikka 2011, 7).
32
Ideen FHA 6, 659.
33
Vgl. Ideen FHA 6, 545.
34
Garrard 2006, 21.
35
Conrad 1998, 1.
36
Funkenstein 1990, 14.
37
Dabei sind es jedoch häufig die von den Aufklärern bekämpften Kirchen, die mehr
zur schulischen Bildung des Volkes und der Aufklärer selbst beitragen als die Aufklärer
(Himmelfarb 2008, 178).
Das Recht der Aufklärung 91
38
Garve 1785, 33; vgl. hierzu Nehren 1994, 96; Dieckmann 1972, 18. Die vermeintliche
Flachheit der Aufklärung ist so nicht zuletzt der Einsicht in das Recht der „natürlich[en]
Denkungsart“ gewöhnlicher Menschen gegen eine intellektuelle Elite geschuldet (Lessing
JubA 2, 84). Gerade die zahlreichen Wörterbücher und Enzyklopädien wie auch die Ver-
wendung verschiedener literarischer Mittel (Bücher im Taschenformat, kurze Kapitel,
Wiederholung gleicher Grundgedanken) belegen auf eindringliche Weise das Interesse der
Aufklärer an der Ausbreitung von Aufklärung und Wissen (vgl. Enc 5, 635; Dieckmann
1972, 62ff.).
39
Condorcet 1968, 187; 237; vgl. Dieckmann 1972,60f.
40
Lavater JubA 7, 13; Erhard 1974, 45f.; WSW 9,29, 61f.; Reinhold 1784, 125.
41
Reinhold 1784b, 232; Ästhetische Erziehung SSW 5, 591f.
42
Beiser 1992, 310; Nehren 1994, 107. Es gibt aber auch Autoren, die die breite Öffent-
lichkeit grundsätzlich nicht für aufklärungsfähig halten: vgl. etwa Eberhard 1788, 48;
Reinhold 1790, 11; Heydenreich 1796, 1.
92 Kritik der aufgeklärten Vernunft
Ich habe für dergleichen Aengstlichkeiten keinen Sinn; ich empfinde sie nicht
und verstehe sie nicht. Leßing dachte hierüber gerade so wie ich. Sie wissen, daß
er wünschte, man möchte den Bemühungen, speculative Wahrheiten gemeinnüt-
ziger, und dem bürgerlichen Leben ersprieslicher zu machen, einmal eine entge-
gengesetzte Richtung geben, und sich von der Praxis des bürgerlichen Lebens
zur Speculation erheben.46
43
Möser 1797, 122; 131; 331ff.; Möser 1804, 260; MSW 10, 202; MSW 9, 217f. Vgl.
hierzu auch: Beiser 1992, 284; Fleischacker 2013, 46.
44
Log AA 9, 81. So lässt sich Kants „Geheimer Artikel“ in seiner öffentlichen Schrift
Zum ewigen Frieden, in dem Kant die Freiheit zur Publikation philosophischer Schriften
beansprucht, die den Staat kritisieren, vielleicht auch als ironische Replik auf diese Auf-
klärungsdiskussion verstehen (vgl. Gerhardt 1995, 40).
45
Erinnerungen JW 4,1, 364.
46
WMB JW 1,1, 280; vgl. hierzu auch Hammacher 1984, 90f.
Die Aufklärung im Recht 93
1
Todorov 2009, 5.
2
Todorov 2009, 10.
94 Kritik der aufgeklärten Vernunft
5
De cive EW 2, 9–11.
6
De cive EW 2, 68f.
7
De cive EW 2, 6.
8
Kersting 1995, 91; Leviathan EW 3, 113; 116; 157f.; De cive EW 2, 5; 7; 11.
9
Leviathan EW 3, 153; 158; 161; De cive EW 2, 79f.; 127.
10
Leviathan EW 3, 165; De cive EW 2, 77; 81.
11
Leviathan EW 3, 115.
12
Leviathan EW 3, 117; 130.
13
Questions EW 5, 176.
96 Kritik der aufgeklärten Vernunft
der Gehorsam gegenüber einem Gesetz, bei dem sich das Rechtssubjekt
als Mitbegründer verstehen kann.20
Dieser Anspruch ist jedoch nur dann überhaupt denkbar, wenn dem
Menschen die Fähigkeit zugeschrieben wird, sich zu seinen persönlichen
Interessen und Bindungen in reflexive Distanz zu setzen und sie auf ihre
Verallgemeinerungsfähigkeit hin zu prüfen. Anders formuliert: Soll
rechtliche Selbstbestimmung einer Menge von Menschen mehr bedeuten
als den Kampf um die Durchsetzung partikularer Interessen, dann muss
das Individuum seine Interessen und Bindungen am Maßstab ihrer
Verallgemeinerbarkeit messen können. Er muss unterscheiden können,
welche seiner Interessen nicht allgemein rechtfertigbare Privatinteressen
sind und welche öffentlich in dem Sinne sind, dass ihre Durchsetzung
staatlichen Zwang begründen kann. Der Mensch bzw. Bürger muss das
Allgemeine wollen können. Ihren Ausdruck findet diese Idee bei Rous-
seau im Konzept der volonté générale als eines von partikularen Interes-
sen ganz unberührten politischen Allgemeinwillens.21 Jedes legitime Ge-
setz muss entsprechend dieser Konzeption Ausdruck dieses Allgemein-
willens sein.22 Mit Rousseau realisiert sich ein Denken, für das Freiheit
nicht mehr nur Mittel ist, um im Rahmen des Rechts andere Interessen
zu verwirklichen, sondern die Freiheit selbst zum letzten Grund, zur
Grenze und zum Zweck des Rechts erklärt.
In der deutschen Spätaufklärung übernimmt so Mendelssohn zwar die
Überlegung von Hobbes, dass der Staat durch den Gesellschaftsvertrag
das Recht zu zwingen erhält. Dieser Vertrag erlegt dem Souverän durch
seinen Zweck, nämlich der Garantie bürgerlicher Freiheit, jedoch seiner-
seits Bindungen und Grenzen auf. Da Hobbes den Vertragsgrund von
vornherein auf bloße Überlebenssicherung reduziert, kann er die Grenze
der Zwangsbefugnisse des Souveräns nicht bestimmen. Das Recht wird
nur auf Macht, rechtliche Verbindlichkeit auf Furcht gegründet.23 Damit
könne das Recht jedoch niemals dem Zweck des Gesellschaftsvertrages,
der Garantie allgemeiner bürgerlicher Freiheit, entsprechen. 24 Damit
20
Rousseau 1824, 27; vgl. hierzu Gerhardt 1995, 30.
21
Zur Vorgeschichte dieses Konzepts bei Pascal, Malebranche et al. vgl. Riley 1978.
22
Zur Kritik am Konzept der volonté générale vgl. etwa Isaiah Berlin, nach dem Frei-
heit bei Rousseau zu „einer Art religiösem Begriff“ und „ein absoluter Wert“ wird (Berlin
2003, 31).
23
Jerusalem JubA 8, 105.
24
Achenwall dagegen begründet die Entstehung der Staaten weiterhin im menschlichen
Streben nach Glück, Wohlstand und Sicherheit (Achenwall/Pütter 1750, 185; 207).
Achenwall ist besonders für die Rechtsphilosophie Kants bedeutsam, da Kant seine Vorle-
sungen über das Naturrecht auf Grundlage von Achenwalls Ius Naturae hält (vgl. hierzu
Byrd/Hruschka 2010, 15–19).
98 Kritik der aufgeklärten Vernunft
rückt die Idee bürgerlicher Freiheit als Grund und Zweck des Rechts ins
Zentrum spätaufklärerischer Überlegungen. 25 Vor allem Feuerbach
gründet dann seine Rechtskonzeption vollends auf einen formalen Frei-
heitsbegriff und lehnt damit die Glückseligkeit als Zweck bürgerlicher
Gesellschaften dezidiert ab. Denn hier habe jedes Individuum seine eige-
nen Vorstellungen, die es von Seiten des Staates zu respektieren und
nicht durch Zwang zu manipulieren gelte. Einzig legitimer Zweck des
Staates sei die Garantie eines Lebens in Freiheit für seine Bürger.26 Mit
der Legitimierung des Rechtszwangs durch die Freiheit selbst wird auch
Hobbes’ Ideologiekritik am Vernunftrecht obsolet: Denn der Staat ist
nur mehr das Medium, in dem jeder seine eigene freie Lebensführung
vor dem Zugriff der anderen gesichert weiß.27
Das Rechtsdenken der deutschen Spätaufklärung kulminiert also im
Begriff formaler Freiheit als Grund, Grenze und Zweck des Rechts und
des Staates. Hierzu muss das Rechtssubjekt jedoch in seiner ganz forma-
len und abstrakten Eigenschaft als an seiner äußeren Freiheit interessier-
tes Individuum verstanden werden, dem nur insofern Vernunft zukom-
men muss, dass es die Reziprozität von Rechten und Pflichten anerken-
nen kann. Indem dem Rechtssubjekt keine bestimmte Lebensform durch
ein vermeintliches Vernunftrecht vorgeschrieben wird, sondern der Staat
sich auf die Koordinierung von Freiheitssphären beschränkt, zeigt sich
gerade im Recht das Recht des aufklärerischen Universalitätsanspruchs.
Das Recht garantiert damit nämlich nur die Bedingungen dafür, dass je-
des Rechtssubjekt sein Leben in einer Weise führen kann, die er aus wel-
chen Gründen auch immer für sich wählt, solange er damit nicht die
Freiheit eines Dritten einschränkt.
Dieser Gedanke lässt sich nun auch auf das kollektive Selbstbestim-
mungsrecht von Gemeinschaften ausdehnen. Auch im Verhältnis von
Gemeinschaften zueinander ist dann die reziproke Anerkennung freier
Selbstbestimmung Grund, Zweck und Grenze des Rechts. Besonders
Herder thematisiert dabei auch die innere Heterogenität von Nationen.28
Er verabschiedet damit aber nicht die Rechtskonzeption der Aufklärung,
sondern macht nur den Reziprozitätsgedanken explizit, dass keine Ge-
meinschaft im Staat ein absolutes Recht gegenüber kleineren Gemein-
25
Nach Moses Mendelssohn intendiert das Recht dabei eine Freiheit, die die „Ueber-
zeugung von der Richtigkeit seiner Handlung“ bei sich trägt, und nicht eine „Freyheit
ohne Vernunft, ohne die innerliche Gewisheit von der Richtigkeit unsers Wandels!“ (Les-
sing JubA 2, 100.)
26
Feuerbach 1798, 74; 37f.
27
Vgl. ebenso: Wollstonecraft 1995, 7.
28
Spencer 2012, 68.
Die Aufklärung im Recht 99
29
Gegen die sprachlichen Unifizierungsbestrebungen des Vielvölkerstaates durch Jo-
seph II. fordert Herder deshalb: „[W]ie Gott alle Sprachen der Welt duldet, so sollte auch
ein Regent die verschiednen Sprachen seiner Völker nicht nur dulden, sondern auch eh-
ren“ (BBH FHA 7, 66).
30
BBH FHA 7, 723.
31
Vgl. auch Bronner 2004, 9.
KAPITEL 2
AUFKLÄRUNG ALS WELTBÜRGERLICHE URTEILSPRAXIS
Im ersten Teil unserer Untersuchung stellten wir fest, dass Kant seine
Transzendentalphilosophie als Grundlage jeder möglichen Aufklärung
versteht. Alle ihm vorangehenden Aufklärungsversuche scheitern nach
Kant nicht zuletzt daran, dass die in ihnen gefällten Urteile keine allge-
meine Gültigkeit besitzen und damit nicht gerechtfertigter Weise An-
spruch auf universelle Zustimmung erheben können.1 Insofern genügen
sie auch nicht Kants Anspruch, als öffentliche Urteile von jedem Men-
schen in autonomer Weise (also auf Grund selbst gegebener Prinzipien)
anerkannt werden zu können. Sie sind damit nicht „communicabel“ im
eigentlichen Sinne.2 Nur ein Denken, das dem Anspruch von Kommuni-
kabilität genügt, nennt Kant „öffentlichen Vernunftgebrauch“. Da dieser
sich berechtigter Weise an die gesamte Weltöffentlichkeit richtet, können
wir ihn auch „weltbürgerlichen“ oder „kosmopolitischen Vernunftge-
brauch“ nennen. Die Transzendentalphilosophie erhebt den Anspruch,
Aufklärung als Praxis eines solchen weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs
zu etablieren, indem sie die Allgemeingültigkeit aufklärerischer Ansprü-
che fundiert. Aufgeklärt und kosmopolitisch ist die Vernunft in ihrem
Gebrauch für Kant genau dann, wenn sie „jederzeit sich selbst gesetzge-
bend“ ist.3 Wenn die Vernunft sich für ihren Gebrauch ein allgemeingül-
tiges Gesetz gibt, wird darin immer auch die Autonomie aller anderen
vernünftigen Subjekte anerkannt.4 Nur im autonomen Vernunftgebrauch
wird also die Selbstbestimmung jedes Bürgers dieser Welt anerkannt. In
unserer Urteilspraxis müssen wir uns deshalb als Weltbürger betrachten
und verhalten.5
Kritiker werfen diesem „Kosmopolitismus“6 Kants nun vor, dass sich
in ihm Kants systematisches Desinteresse am Einfluss der Kultur auf die
Erkenntnis sowie das Rechts- und Moralverständnis des Menschen ma-
1
Ginsborg 1990, 76.
2
AA 11, 515.
3
KU AA 5, 294.
4
Nach Deligiorgi impliziert Autonomie deshalb, dass wir perspektivisch von unserem
subjektiven Standpunkt zu einem Standpunkt aufsteigen, von dem wir glauben, dass er
alle anderen Subjekte mit einschließt (Deligiorgi 2012, 4). Autonom sind wir nur, insofern
wir Mit-Gesetzgeber unserer Urteile sind (ibid., 24).
5
Anth AA 7, 130.
6
Höffe 2004, 20.
Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis 101
Beurteilung des Konkreten gar nicht möglich.12 Legt man nun das Publi-
zitäts-Kriterium aus dem ersten Teil unserer Untersuchung an, so be-
deutet dies, dass nur auf allgemeingültige Prinzipien rekurrierende Ur-
teile über das Konkrete publikabel sind, weil nur sie sich an die Weltöf-
fentlichkeit richten können. Kant erhebt also den Anspruch, dass seine
transzendentale Aufklärung der universellen Prinzipien der Erkenntnis
und Praxis überhaupt erst die Möglichkeit der Aufklärung konkreter
Sachverhalte und eine weltbürgerliche Beurteilung selbiger begründet.
Die kritische Philosophie Kants expliziert damit ihrem Anspruch nach
die Bedingungen der Möglichkeit öffentlicher Diskurspraxis über kon-
krete Sachverhalte und sittliche Normen. Die transzendentalen Prinzi-
pien sind für Kant die Bedingungen, unter denen ein öffentlicher Aufklä-
rungsdiskurs über das Konkrete möglich ist, in dem die Teilnehmer so-
wohl sich selbst als auch ihre Adressaten als autonome Subjekte
anerkennen können. Damit wird das Konkrete nicht aus der Philosophie
eskamotiert, sondern kann erst in rechter Weise in den Blick treten. Ge-
rade der Bezug der selbständigen Allgemeinheiten auf das Konkrete und
wie das Konkrete dabei doch als universell gültig gelten kann, ist eines
der zentralen Probleme, die Kant in seinen Schriften diskutiert. Dies soll
in diesem Kapitel untersucht werden.
Anhand Kants Analyse verschiedener Urteilspraktiken untersuchen
wir in diesem Kapitel also die Gründe, Strukturen und die Tragfähigkeit
von Kants Prinzipienuniversalismus und interpretieren diesen als „be-
scheidenere Form eines Prinzipienuniversalismus“,13 der die notwendi-
gen Rahmenbedingungen öffentlicher Diskurse festlegt, die dann durch
deren jeweiligen historisch-kulturellen Kontext konkretisiert werden
können.14 Wir gehen hierzu in fünf Schritten vor: Zuerst interpretieren
wir Kants Konzeption synthetischer Urteile a priori als Grundlegung ei-
nes autonomen, weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs (A). Danach analy-
sieren wir Kants These, dass alle Urteile im Aufklärungsdiskurs mit An-
spruch auf universelle Gültigkeit gefällt werden müssen (B). Anschlie-
ßend diskutieren wir Kants transzendentale Minimalbedingungen von
Erfahrung als Konkretionen der Grundlagen für einen weltbürgerlichen
Vernunftgebrauch (C). Danach werden wir die Transformation der kan-
tischen Konzeption weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs durch die
„Entdeckung“ der reflektierenden Urteilskraft betrachten (D). Abschlie-
12
Refl 911 AA 15, 398. So schreibt Kant in Refl 912: „Herder verdirbt die Köpfe da-
durch, daß er ihnen Muth macht, ohne Durchdenken der principien mit blos empirischer
Vernunft allgemeine Urtheile zu fällen.“ (AA 15, 399; vgl. hierzu Zammito 1992, 42f.)
13
Höffe 2001, 41.
14
Höffe 2001, 41.
Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis 103
ferenzen. Insofern ist das a priori Gültige immer auch universell gültig
und verbindlich. Nur unter Voraussetzung der universellen Gültigkeit
dieser erfahrungskonstituierenden Prinzipien kann Kant in KU als zwei-
te Maxime des gesunden Verstandesgebrauchs die Forderung aufstellen,
immer so zu urteilen, dass man in seinem Urteil jedes andere mögliche
menschliche Subjekt mit einbezieht. Im Hinblick auf synthetische Urtei-
le a priori ist diese Maxime eine Parallele zur Universalisierungsformel
des kategorischen Imperativs, nur nach einer solchen Maxime zu han-
deln, die man zugleich als allgemeines Gesetz wollen kann. Als Urteils-
forderung verlangt sie nur auf Grund solcher Prinzipien zu urteilen, von
denen man verlangen kann, dass sie allgemeine Prinzipien aller Urteilen-
den sind. Urteilt man gemäß dieser Maxime, dann urteilt man als Welt-
bürger. Der Weltbürger ist dabei in seinen Urteilen selbst autonom und
anerkennt gleichzeitig die Autonomie aller anderen Weltbürger, da er
sich und alle anderen Subjekte in seinem Urteil nur den Regeln unter-
wirft, die er und jedes andere menschliche Subjekt sich qua Sinnlichkeit,
Verstand und Vernunft selbst geben.2 Bedingung dieser Urteilsakte ist
die Freiheit,3 sich selbstgegebenen Gesetzen zu unterwerfen. Diese Ur-
teilsakte sind dem einzelnen Menschen nicht durch seine kontingente
empirische Natur aufgezwungen, weshalb sie sich das urteilende Subjekt
im vollen Sinne zuschreiben kann. Die Reinheit der Anschauungs- und
Urteilsformen bzw. der Kategorien begründet also Autonomie, Univer-
salität und damit Weltbürgerlichkeit der synthetischen Urteile a priori.
2
Deligiorgi 2002, 143.
3
Refl 4757 AA 17, 705.
4
KpV AA 5, 21; 61; GMS AA 4, 449. Unter moralischen Urteilen verstehe ich nicht
nur Urteile über moralische Sachverhalte, sondern auch das moralische Handeln selbst.
Dass moralisches Handeln einen Urteilsakt impliziert, zeigt sich daran, dass der Wille im
Gesetz nach Kant durch ein Urteil der Vernunft bestimmt wird (KpV AA 5, 78).
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 105
5
KpV AA 5, 19; GMS AA 4, 400; 412; 420; 432.
Entsprechend lautet die Naturgesetz-Formel: „[H]andle so, als ob die Maxime deiner
6
Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ (GMS AA
4, 421.)
7
GMS AA 4, 433.
8
Refl 7069 AA 19, 241.
9
Die Norm, sich traditionellen Normen zu unterwerfen, würde in Widerspruch zur
Freiheit stehen.
10
GMS AA 4, 440.
11
Esser 2004, 151.
12
GMS AA 4, 408; KpV AA 5, 32; 25; Thorpe 2010, 462; Habermas 1988, 28.
13
GMS AA 4, 437f.
106 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
26
GMS AA 4, 438f.
27
GMS AA 4, 439; 431.
28
Voraussetzung hierfür ist die „reflexive Struktur des menschlichen Bewusstseins“;
denn durch seine reflexive Struktur steht jeder Mensch in einer „Zweiten-Person-Relation
zu sich selbst“ (Korsgaard 2007, 11).
29
GMS AA 4, 433.
30
GMS AA 4, 434.
31
GMS AA 4, 437f.
32
Dem moralischen Weltbürger entgegengesetzt ist der moralische Egoist (KpV AA 5,
74f.). „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungs-
art: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen
Weltbürger zu betrachten und zu verhalten.“ (Anth AA 7, 130.)
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 109
sondern positiv befördert.33 Ihr einziger Zweck ist die wechselseitige Be-
förderung der Freiheit ihrer Mitglieder. Der moralische Kosmopolit, der
in seinem Handeln an der Realisierung des Reichs der Zwecke mitwirkt,
wählt mit seiner eigenen Freiheit zugleich die Freiheit aller anderen
Handlungssubjekte. Er kann seine Freiheit nämlich nur im Bewusstsein
seiner Verantwortung gegenüber der Freiheit aller anderen moralischen
Subjekte wählen. Freiheit ist für ihn die notwendige Bedingung aller
Vollkommenheiten, der „innere Werth der Welt“;34 alles andere, auch
Vernunft und Moralgesetz, leitet seinen Wert aus der Freiheit ab.35
Die Freiheit ist deshalb nicht etwas, das mit unseren moralischen Ver-
pflichtungen erst in Einklang gebracht werden müsste, sondern ist die
Grundlage unserer Verpflichtungen und gleichzeitig sind wir nur frei,
insofern wir moralisch handeln. Unsere Freiheit ist so normativer Na-
tur.36 Der Grund der moralischen Selbstbestimmung ist mit der Freiheit
ein un-bedingter Grund, so dass die Differenzen zwischen Personen
keine begründende Rolle spielen können.37 Die Freiheit als Grund mora-
lischer Verpflichtung impliziert damit Universalität. Auch deshalb erfül-
len praktische Vorschriften nur dann die Bedingungen moralischer
Normativität, wenn ihre Gründe universell durch jedes vernünftige We-
sen anerkannt werden können.38 Ansonsten würden sie in Widerspruch
zur menschlichen Freiheit stehen.
Der letzte Zweck der weltbürgerlichen moralischen Gesetzgebung des
Reichs der Zwecke ist also jedes rationale Wesen in seiner Freiheit.39 Die
Idee vom Reich der Zwecke ist die Idee einer Gemeinschaft kosmopoli-
tischer Individuen, die sich wechselseitig in der Realisierung ihrer Frei-
heit unterstützen.40 Ein anderes moralisches Subjekt als Mittel unserer
Freiheitsrealisierung gebrauchen, hieße, die Freiheit in uns selbst zur Re-
alisierung freiheitsfremder Bedürfnisse zu instrumentalisieren und damit
aufzuheben. Aus dem Interesse an unserer eigenen Freiheit ergibt sich
unmittelbar das Interesse an der Freiheit des Anderen und damit die
Pflicht, seine Freiheit niemals nur als Mittel, sondern immer auch als
33
Guyer 2000, 240.
34
V-Mo/Collins AA 27, 344; V-Mo /Mron AA 27, 1482; vgl. Guyer 2000, 129.
35
Guyer 2000, 129, 131; 7; 2; 58; Henrich 2008, 57; Allison 1996, 151. Vgl. hierzu: V-
NR Feyerabend AA 27, 1321; GMS AA 4, 429; 447; KpV AA 5, 30.
36
Dierksmeier 2011, 85.
37
Ansonsten läge nicht Kausalität aus Freiheit, sondern Naturdetermination vor; eine
Mischform ist aus kantischer Perspektive ausgeschlossen (GMS AA 4, 457).
38
KpV AA 5, 19.
39
GMS AA 4, 431; RGV AA 6, 60.
40
Allison 2011, 242; Thorpe 2010, 479.
110 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
41
GMS AA 4, 429.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 111
Zwecke verfolgen, in den Blick, aber nicht als Wesen, die just diese Zwe-
cke verfolgen.42
Das Prinzip des Rechts ergibt sich bei Kant aus der Anwendung des
Freiheitsbegriffs auf äußere Handlungen.47 Mit dem Begriff der äußeren
42
Allison 2011, 242f.
43
Höffe 2008, 52.
44
MdS AA 6, 230.
45
Williams 1983, 69f.
46
MdS AA 6, 205.
47
Guyer 2005, 210.
112 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
48
Gierhake 2013, 80.
49
Csingár 2013, 27f.
50
Vgl. hierzu auch Sedgwick 2008, 6f.
51
Ripstein 2009, 217f.
52
Dierksmeier 2011, 80f.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 113
denen Subjekte.53 Das Recht soll für Kant solche Bedingungen schaffen,
dass die Willkür der vom Recht reglementierten Personen „nach einem
allgemeinen Gesetze der Freiheit“ mit einander vereinigt werden kann,54
indem es die Freiheit dieser Personen so limitiert, dass ihre äußeren
Freiheiten miteinander nach einem universellen Gesetz koexistieren
können. Gesetze sind somit „Einschränkungen unserer Freiheit auf Be-
dingungen, unter denen sie durchgängig mit sich selbst zusammen-
stimmt“.55
Kants aus Sicht der Aufklärungskritiker problematischste Vorausset-
zung ist hierbei, dass die Freiheitssphären nach einem universellen Ge-
setz zusammenstimmen sollen.56 Denn gerade die Möglichkeit einer sol-
chen Universalität wird von diesen Kritikern geleugnet. Dies heißt zu-
nächst, dass die Freiheitsbeschränkungen wechselseitig sein müssen in
dem Sinne, dass jeder an Freiheit Interessierte der Beschränkung seiner
Freiheit zur Ermöglichung der Freiheit aller zustimmen können muss.
Die Rechtssubjekte müssen also die Reziprozität von Rechten und
Pflichten anerkennen. Dies ergibt sich nach Kant bereits aus dem Begriff
der rechtlichen Verpflichtung, in dem Allgemeinheit und in der Folge
„Reciprocität der Verbindlichkeit aus einer allgemeinen Regel“57 impli-
ziert seien. Diese Reziprozität von Rechten und Pflichten kann aber nur
dann von allen Rechtssubjekten in Freiheit anerkannt werden, wenn die
Rechtsordnung universalisierbar ist. Anders formuliert: Die Rechtsord-
nung muss kosmopolitischen Anspruch besitzen können. Dies tut sie
nach Kant genau dann, wenn das Recht nur formal über den Begriff der
äußeren Freiheit und das Kriterium der Reziprozität begründet ist und
von den divergierenden Interessen in der Rechtsetzung abgesehen wird.58
Gerade dadurch kann das Recht der Entfaltung dieser Interessen jedoch
Raum geben.
Fassen wir kurz zusammen: Kant will mit dem Begriff der äußeren
Freiheit die Geltung des Rechts in einer für jedes Rechtssubjekt
anerkennbaren Weise legitimieren. Kriterium für die Legitimität einer
53
Zur Überwindung des dogmatischen Naturrechts durch Kant vgl. Höffe 2001, 21.
54
MdS AA 6, 230.
55
KrV B 358/A 301.
56
MdS AA 6, 230f. Dieses allgemeine Rechtsgesetz folgt nach Kant analytisch aus dem
Begriff des Rechts und ist „gar keines Beweises weiter fähig“ (ibid., 231; 396). Zum Ver-
hältnis des allgemeinen Rechtsgesetzes zum kategorischen Imperativ vgl. u.a.: Ripstein
2009, 13f.; Horn 2014, 9f.; 27; Byrd/Hruschka 2010, 84–93; 292; Kalscheuer 2014, 166;
Flikschuh 2007, 6; Guyer 2002, 25f.; 27f.; 30f.; Kleingeld 2010, 57f.
57
MdS AA 6, 256.
58
Horn kritisiert deshalb die materiale Unbestimmtheit von Kants Rechtslehre (Horn
2014, 89; 135; 164).
114 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Die Freyheit ist dasjenige angebohrne Recht, worauf sich alle Andern
angebohrnen gründen u. die im Grunde mit ihr einerley sind: denn alles Unrecht
besteht eben darin daß dieser Freyheit die mit jedermans ihrer bestehen kann
Abbruch gethan wird.60
Damit versucht Kant nicht mehr wie seine Vorgänger, geltendes positi-
ves Recht aus einem vermeintlich rational einsehbaren Recht abzuleiten,
sondern entwickelt einen kritischen Maßstab für jedes positive Recht,
das als Recht will auftreten können.61 Äußere Freiheit als Rechtsbegriff
ist der kritische Maßstab dafür, was überhaupt Gegenstand rechtlicher
Normierung werden darf. Der Staat dient nicht der Sicherung des
Glücks oder der Tugendentwicklung seiner Bürger, sondern ausschließ-
lich der Sicherung von Freiheitssphären und daraus erwachsender Rech-
te.62 Umgekehrt besitzt der Einzelne kein Recht auf die staatliche Durch-
setzung seiner Vorstellung von einem gelungenen Leben, sondern nur
auf die staatliche Garantie seiner äußeren Freiheit, sein Leben nach sei-
nen Vorstellungen von einem gelungenen Leben gestalten zu können.
Diese Freiheit ist das natürliche Recht des Individuums, das allein all
seine sonstigen Rechte begründen kann.63 Das einzige im Recht zu the-
matisierende Interesse des Menschen ist sein „formale[s] Freiheitsinte-
resse“.64
59
Kersting 1982, 163.
60
OP AA 21, 462.
61
Höffe 2001, 22.
62
MdS AA 6, 318. „Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohl-
sein anderer Menschen denkt), glücklich zu sein“ (TP AA 8, 290).
63
MdS AA 6, 267f.; 340; 237f.; 230f.
64
Kersting 1984, 39; MdS AA 6, 237f. Das bedeutet jedoch nicht, dass im Recht von
den Rechtssubjekten in ihrem Handeln ein Interesse am Recht oder der Freiheit erwartet
werden darf (ibid., 219).
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 115
Der Zweck einer bürgerlichen Gesellschaft ist die Garantie des Frei-
heitsrechts der Menschen durch „öffentlich[e] Zwangsgesetze“. 65 Der
Staat kann das Recht seiner Bürger auf Freiheit nämlich nur durch
Zwangsgesetze (durch Androhung von Strafe und im Falle des Rechts-
bruchs durch Vollzug selbiger) schützen. Jedes Recht muss deshalb zum
Zwecke der Freiheit aller Rechtssubjekte mit der Befugnis zu zwingen
verbunden sein.66 Die Garantie der Freiheit ist der einzige Legitimati-
onsgrund staatlichen Zwanges.67 Da Zwang aber grundsätzlich der Frei-
heit widerspricht, darf der Staat nur zum Zwecke der Freiheit zwingen:
„als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“. 68 Die Rechtsord-
nung darf also nur die Bedingungen für die Verwirklichung der äußeren
Freiheit seiner Bürger bereitstellen. Der Staat muss gerade im Zwangs-
recht die Freiheit aller Rechtssubjekte, denen es im Recht um die Reali-
sierung ihrer Freiheit geht, anerkennen.69
Als Grund und Zweck des Rechts limitiert die Freiheit die Ausgestal-
tung zwangsbewehrten Rechts. Die Freiheit ist zugleich „Schutzgut“
und „Geltungsgrund“ rechtlicher Normen. 70 Sicherheitsmaßnahmen
können deshalb anders als bei Hobbes nicht das Recht der Bürger auf
Freiheit negieren, denn dann würde die Rechtsgemeinschaft ihr eigenes
Prinzip aufheben.71 Der Staat erzwingt vielmehr die reziproke Anerken-
nung der Freiheit seiner Bürger, indem er solche Handlungen unter Stra-
fe stellt, die die äußere Freiheit Dritter negieren. Andererseits erkennt
der Staat die äußere Freiheit seiner Bürger selbst an, indem er nur solche
Handlungen verbietet, die diese Freiheit negieren. Der Staat beschränkt
sich damit auf die Rolle des Garanten äußerer, bürgerlicher Freiheit,72
65
TP AA 8, 289.
66
„Recht und Befugniß zu zwingen bedeuten also einerlei.“ (MdS AA 6, 232.)
67
Willaschek 2002, 67f. Die Handlungsfreiheit des Menschen (seine Freiheit, sich in
seinem Handeln an Gründen zu orientieren) ist die Bedingung der Legitimität des mit
dem Recht zu zwingen verbundenen Rechts; die realisierte Freiheit des Bürgers (sein Le-
ben als selbstbestimmtes Wesen führen zu können) ist hingegen der Zweck des Rechts.
68
MdS AA 6, 231. Die Errichtung einer solchen bürgerlichen Gesellschaft, in der die
größtmögliche Freiheit der Individuen mit der „genaueste[n] Bestimmung und Sicherung
der Grenzen dieser Freiheit“ koinzidiert, „damit sie mit der Freiheit anderer bestehen
könne“, ist für Kant das „größte Problem für die Menschengattung“ (Idee AA 8, 22).
69
Wenn auch nicht für die einzelne rechtskonforme Handlung, so setzt das Rechtsge-
setz für die Möglichkeit seiner Anerkennung durch den Einzelnen doch dessen Interesse
an Freiheit voraus (Kersting 1984, 40). Nur die Idee der Freiheit autorisiert Autorität
(Flikschuh 2007, 25).
70
Gierhake 2013, 110.
71
Gierhake 2013, 113.
72
Damit haben Staat und Recht eine ganz andere Grundlage als bei Hobbes, bei dem
der Staat als bloßer Sicherheitsgarant der Selbsterhaltung seiner Subjekte nur deren physi-
sche Existenz zu sichern hat (Gierhake 2013, 61–70).
116 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Bisher sollte Folgendes klar geworden sein: Auf Grund der Selbstbe-
schränkung seiner Rechtsphilosophie auf die Formulierung der rechtli-
chen Rahmenbedingungen, innerhalb derer jedes Rechtssubjekt seine In-
teressen in gleicher Weise realisieren kann, kann man Kant nicht vorwer-
fen, die kulturelle Bedingtheit von Lebensformen zu verharmlosen. Nur
darf dies eben kein Instrument staatlicher Unterdrückung sein. Dies
73
TP AA 8, 289f.; Gierhake 2013, 90.
74
Gierhake 2013, 78.
75
MdS AA 6, 230.
76
Pippin 1999, 65f.; Ludwig 1988, 95; Kaulbach 1982, 58; Kersting 1984, 4; MdS AA 6,
231.
77
MdS AA 6, 231; Csingár 2013, 32; 49. Erst wenn das Recht äußerlich gebrochen
wird, spielt die Motivation eine Rolle (Willaschek 2005, 191). Obwohl also nur äußere
Handlungen überhaupt mit der Freiheit einer anderen Person negativ konfligieren kön-
nen, so ist das Recht mit der Regelung äußerer Freiheitssphären doch auf die Realisierung
der inneren Freiheit gerichtet. Denn das Recht soll garantieren, dass der Ausdruck innerer
Freiheit im Handeln des Einen mit der aller Anderen bestehen kann (Guyer 2000, 241).
Das Recht beschützt damit den ultimativen Wert, nämlich menschliche Autonomie, die
sich in menschlicher Handlungsfreiheit ausdrückt (ibid., 242; 260f.).
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 117
ergibt sich aus dem Gedanken der Reziprozität. Wer etwa die Unterdrü-
ckung einer bestimmten Gemeinschaft durch den Staat mit Bezug auf
seine kulturelle Tradition rechtfertigt, muss dies auch für sich selbst als
gerechtfertigt anerkennen und kann sich deshalb nicht auf das Recht auf
Selbstbestimmung berufen, wenn der Staat dieses Hindernis der Frei-
heitsrealisation anderer negiert. Die auf dem Rechtsbegriff der Freiheit
begründete Idee eines Rechtsstaates, dessen Verfassung die größtmögli-
che gesetzmäßige Freiheit aller Bürger durch die Koordination von de-
ren Freiheitssphären garantiert, ist so nach Kant eine unbedingte Idee
der Vernunft. Sie ist die kosmopolitische Norm, die zu allen Zeiten und
überall vom Gesetzgeber allen Gesetzen zu Grunde gelegt werden
muss.78 Andererseits ist jedes Individuum verpflichtet, in den bürgerli-
chen Rechtszustand einzutreten, sofern seine äußeren Handlungen Ein-
fluss auf die Handlungen anderer haben können. Denn erst das öffentli-
che Recht sichert die Freiheit aller Rechtssubjekte, indem es sie zwingt,
wechselseitig die Freiheit der anderen zu respektieren.79 Erst in einem
öffentlichen Rechtszustand sind die Freiheitssphären der Rechtssubjekte
gegeneinander abgesichert.80 Da der Mensch nicht reines Vernunftwesen
ist, bedarf er solcher Rechts- und Herrschaftsverhältnisse, die ihn zwin-
gen, dem allgemeingültigen freiheitssichernden Willen zu gehorchen.81 In
seinem Übergang vom naturrechtlichen Zustand in den öffentlich-
rechtlichen Zustand gibt das Individuum jedoch nicht wie bei Hobbes
seine angeborene äußere Freiheit auf, sondern tauscht seine gesetzlose
Freiheit gegen eine allgemein gesicherte, gesetzliche äußere Freiheit ein.82
Die Überwindung des Naturzustands durch den Eintritt in den Staat
und die Unterwerfung unter ein solcher Art (universalisierbares) öffent-
liches Recht garantiert vielmehr die Möglichkeit der Realisierung indivi-
dueller Freiheit und Lebensgestaltung aller Bürger.83
Fassen wir zusammen: Im bürgerlichen Rechtszustand muss das
Recht eines jeden durch öffentliche Gesetzgebung gesichert sein. Sehen
wir nun, was genau „Öffentlichkeit des Rechts“ meint: In einem trivialen
Sinne meint dies zunächst, dass das Recht öffentlich bekannt gemacht
sein muss, da das Rechtssubjekt sonst gar nicht wissen kann, an welchen
Normen es sein Handeln zu orientieren hat. Dabei muss es sich aus-
nahmslos an alle Rechtssubjekte richten und damit auch die Bedingun-
78
KrV B 373/A 316; MdS AA 6, 313; SF AA 7, 91.
79
MdS AA 6, 311; 306.
80
MdS AA 6, 307f.; 312.
81
Idee AA 8, 23.
82
MdS AA 6, 316.
83
Gierhake 2013, 98.
118 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
92
Vgl. etwa: Wolff 1754, Vorrede 3.
93
MdS AA 6, 231; vgl. hierzu Guyer 2002, 52.
120 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
94
Auch im Verhältnis der Völker zueinander nimmt Kant einen „a priori gegebene[n]
allgemeine[n] Wille[n]“ an, „der allein, was unter Menschen Rechtens ist, bestimmt“ (ZeF
AA 8, 378).
95
TP AA 8, 297.
96
ZeF AA 8, 352.
97
Gerhardt 1995, 33.
98
Gerhardt 1995, 34.
Autonomie und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 121
rität der Vernunftgründe zu setzen. Da nun aber auch die Politiker die
Legitimität ihrer rechtlichen Normsetzungen und ihrer Handlungen vor
der Öffentlichkeit nur durch Rekurs auf Gründe rechtfertigen können,99
herrscht vor der öffentlichen Meinung bei gegebener Publikationsfreiheit
ein Machtgleichgewicht zwischen Philosophie und Politik.100 Die politi-
schen Machthaber müssen sich und ihre Politik deshalb der öffentlichen
Kritik und damit der Gesamtheit aller Betroffenen stellen.101 Aus Sicht
der Rechtssubjekte muss der öffentlichen Kritik des Rechts eine funda-
mentale Funktion zugeschrieben werden, weil das Recht nur in der
Sphäre öffentlicher Kritik aufgeklärt werden kann.102 Weil das Recht in
seinen philosophischen Grundlagen kosmopolitisch ist, rechtfertigt der
Philosoph seine Aufklärung des institutionalisierten Rechts dabei virtuell
immer vor der gesamten Weltöffentlichkeit.103 Denn nur vor der virtuel-
len Weltöffentlichkeit kann gerechtfertigt werden, ob das positive Recht
dem Anspruch genügt, dass sich die ihm unterworfenen Rechtssubjekte
zugleich als seine autonomen Urheber verstehen können. Publizität wird
deshalb bei Kant „zur notwendigen Bedingung des Rechts“:104
Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich
nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.105
Fassen wir zusammen: Sowohl in der Erkenntnis als auch im Recht und
in der Moral sind Aufklärung, der Anspruch auf Universalität,
Kosmopolität und Autonomie für Kant eng verbunden. Entgegen der
eingangs skizzierten Kritik an der Aufklärung wird mit dieser
Kosmopolität jedoch nicht die Bedeutung der sozialen Bindungen des
Individuums negiert. Vielmehr hat sich gezeigt, dass das Individuum
nach Kant nur in einer kosmopolitisch verfassten Rechtsordnung seine
durch diese Bindungen bestimmten Vorstellungen von einem guten Le-
99
Gerhardt 1995, 40.
100
Gerhardt 1995, 101.
101
Gerhardt 1995, 101; 108.
102
Die „Freiheit der Feder“ ist deshalb „das einzige Palladium der Volksrechte“ (TP
AA 8, 304). Dabei hat Kant primär die universitären Philosophen im Auge. Diese vermit-
teln als freie Lehrer des Rechts (im Gegensatz zu den die positive Rechtsordnung bloß
auslegenden Juristen) (SF AA 7, 89) zwischen der Allgemeinheit und den Herrschern, um
letztere über die Rechte von ersterer aufzuklären (Deligiorgi 2005, 76f.). Allerdings
scheint Kants Forderung nach bloßer Freiheit des öffentlichen Vernunftgebrauchs zu an-
spruchslos, da dieser sich auch in Handlungen niederschlagen muss und bestimmter
Kommunikationsmittel bedarf (O’Neill 1986, 529).
103
Gerhardt 1995, 196.
104
Gerhardt 1995, 198.
105
ZeF AA 8, 381.
122 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
ben frei entfalten und in einem kosmopolitischen Reich der Zwecke op-
timal realisieren kann.
1
Deligiorgi 2005, 63; O’Neill 1986, 530.
2
Der private Vernunftgebrauch ist also in der Tat ein privativer und unvollständiger
Modus des Vernunftgebrauchs, da der Kommunikation hier eine unausgesprochene Beru-
fung auf eine Autorität zu Grunde liegt (O’Neill 1989, 17; dies. 1992b, 298; Deligiorgi
2005, 63f.).
3
O’Neill 1989, 34.
4
Prol AA 4, 277. Schon der Terminus der „‚Rechtmäßigkeit‘ eines Urteils“, die garan-
tiert sein muss, zeigt an, dass es sich hierbei um eine ethische Verpflichtung handelt (KU
AA 5, 280).
5
O’Neill 1989, 20; 35.
6
Habermas 1988, 29; Brandt 2003b, 49.
124 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
7
O’Neill 1986, 531f.
8
O’Neill 1986, 528; Recension Schulz AA 8, 14; KrV B 848ff./A 820ff.
9
KrV B 864f./A 836f.; Prol AA 4, 255.
10
KrV B 864/A 836.
11
Kants Anforderung an die Aufklärung wird auch in der Unterscheidung zwischen
Überzeugung und Überredung deutlich: Überzeugung ist ein für jedes menschliche Sub-
jekt gültiges Fürwahrhalten aus objektiven Gründen. Überredung ist hingegen ein bloßer
Schein, bei dem ein subjektiver Grund für objektiv und damit allgemeingültig ausgegeben
wird (KrV B 848ff./A 820ff.; KpV AA 5, 13; vgl. Schmucker 1990, 15). Sofern der Aufklä-
rungsdiskurs auf solche bloß subjektiven Voraussetzungen rekurriert, werden die Adres-
saten unter Vortäuschung der Objektivität der vorgebrachten Gründe also nur überredet.
Diese Überredung widerspricht der Idee der Aufklärung, da sie den autonomen Verstan-
desgebrauch des überredeten Subjekts negiert.
12
KrV B 780/A 752.
13
KrV B 774f./A 746f.
14
Vgl. KrV B 775/A 747.
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 125
15
KrV B 642/A 614.
16
Denkfreiheit besteht so nach Kant darin, dass das Denken sich nach jederzeit gülti-
gen, objektiven Gründen bestimmen kann und nicht durch kontingente, nur subjektiv
bestimmende Ursachen determiniert wird (Recension Schulz AA 8, 14). Insofern lässt sich
der kategorische Imperativ auf das Denken übertragen: Im Denken sollen wir nur auf
Grund solcher Prinzipien verfahren, die andere teilen können (O’Neill 1989, 25).
17
Dieser Gedanke wird entwickelt von Ginsborg 1990, 154.
126 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
schen Ich vollzogen werden, sind gerade Produkt der Determination des
empirischen Ichs. Spontane und damit autonome Verknüpfungen kann
das Ich hingegen nur vollziehen, sofern es als transzendentales Ich ver-
standen wird. Die Selbstzuschreibung einer Überzeugung als frei her-
vorgebrachtes Urteil setzt deshalb die Verknüpfung von Vorstellungen
durch das transzendentale Ich nach von diesem Ich selbst erzeugten Re-
geln voraus. Die Möglichkeit der Selbstzuschreibung eines Urteilsakts
kann nicht nur unter der Bedingung empirischer Subjektivität erfolgen,
sondern impliziert die transzendentale Einheit der Apperzeption, die
Kant als den Verstand selbst bestimmt.
Kants Aufklärungsmodell, das verlangt, dass das Subjekt sich als Ur-
sprung seiner eigenen Gedanken verstehen kann, setzt also sein Apper-
zeptionsmodell voraus.18 Sich in seinem Urteil seines Verstandes zu be-
dienen bedeutet, ein Urteil ausschließlich unter den Bedingungen der
transzendentalen Einheit der Apperzeption zu vollziehen. 19 Dieses
Selbstbewusstsein ist mitsamt seinen Kategorien bzw. Urteilsformen
aber strukturell mit dem jedes anderen Subjektes identisch.20 Deshalb ist
eine Erkenntnis, wenn es sich wirklich um eine solche handelt, zugleich
meine und universell gültig. Umgekehrt ist nur eine solche Erkenntnis
allgemeingültig, die ich wirklich in dem Sinne als meine verstehen kann,
dass der Grund dieser Erkenntnis in meinem Verstand liegt. Selbstden-
ken im strengen Sinne bedeutet damit zugleich, an der Stelle jedes ande-
ren zu denken. Diese meine Erkenntnis mag an mein Selbstbewusstsein
und meinen Verstandes- und Vernunftgebrauch zurückgebunden sein,
denn sonst könnte ich gar nicht von meinem Denken sprechen, aber als
reine Vernunft und reiner Verstand sind Verstand und Vernunft in ihren
Operationen nur insofern von denen anderer Subjekte unterschieden, als
diese Operationen in meinem Selbstbewusstsein und nicht in dem eines
anderen Subjekts gegründet sind. Strukturell sind diese Vollzüge und die
vollziehende Instanz identisch. Wir sehen also, dass Aufklärung als öf-
fentlicher Vernunftgebrauch, der an autonome Subjekte adressiert ist,
ohne Voraussetzung universeller Erkenntnisstrukturen für Kant gar
nicht möglich ist.
18
Merritt 2011b, 70.
19
Auch bei nicht autonomen Urteilen ist freilich die transzendentale Apperzeption mit
im Spiel, da sie notwendige Bedingung für die empirische Begriffsbildung ist (Longuenes-
se 1998, 53; 165).
20
So, wie es auch nur eine reine Vernunft gibt (MdS AA 6, 207).
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 127
21
Deligiorgi 2002, 144f.
22
Vgl. hierzu: O’Neill 1989 25; 46f.
23
Deligiorgi 2002, 146. Vgl. ebenso: Neiman 1994, 98.
24
KU AA 5, 295.
25
KU AA 5, 294. Diese Maxime führt Kant als Ergänzung der „Maxime der aufgeklär-
ten Denkungsart“, nämlich jederzeit selbst zu denken, ein.
26
KU AA 5, 294f.; vgl. hierzu auch Scholz 2009, 36.
27
Deligiorgi 2012, viii.
28
KU AA 5, 294f.
29
Refl 505 AA 15, 219.
128 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
nen.30 Das urteilende Subjekt muss sich gemäß dieser Maxime also den
Urteilen anderer als äußeres Kriterium für die Richtigkeit seiner eigenen
Urteile zuwenden.31 Da wir als empirische Wesen zwar vernünftig, aber
nicht die Vernunft selbst sind und deshalb unsere Vorurteile leicht mit
allgemeingültigen Gründen verwechseln, gibt es kein anderes Mittel, uns
Gewissheit über die Wahrheit unserer Urteile zu verschaffen, als die
Vergleichung mit den Urteilen anderer.32
Die Maxime erweiterter Denkungsart macht deutlich, dass noch unser
eigenes Selbstdenken unter den Bedingungen der Publizität steht.33 Nur
durch ihre Berücksichtigung können wir uns vergewissern, tatsächlich
die Maxime aufgeklärten Denkens befolgt und selbst gedacht zu haben.
Für das menschliche Individuum ist die öffentliche Kommunikation mit
anderen Menschen und die Rechtfertigung des eigenen Urteils vor ihnen
insofern eine Methode, sich des eigenen Selbstgedachthabens zu versi-
chern. 34 Die Befolgung der zweiten Maxime beugt insofern der Ver-
wechslung echten Selbstdenkens mit dem von Kant kritisierten logischen
Egoismus vor. Während sich der Selbstdenker seines eigenen Verstandes
bedient und also im Urteil zwei Vorstellungen nach notwendigen Geset-
zen im transzendentalen Subjekt verknüpft, assoziiert der logische Ego-
ist zwei Vorstellungen in seiner empirischen Subjektivität.35 Als kognitiv
unvollkommenes Wesen ist diese Verwechslung für den Menschen zu-
mindest immer eine Möglichkeit. Fordert die eine Maxime deshalb den
eigenen Verstandesgebrauch, so fordert die andere die kognitive Unter-
mauerung der Allgemeingültigkeit und des Selbstgedachthabens in der
Kommunikation mit anderen.36
Das hermeneutische Problem ist nun aber, dass Kants Forderung,
vom Standpunkt jedes anderen vernünftigen Subjekts aus zu denken,
wiederum eine gewisse Ambiguität impliziert: Einerseits scheint er mit
30
Bartuschat 2009, 13f. Nach O’Neill ist Kants Forderung, an der Stelle jedes anderen
zu denken, deshalb nur in sehr verzerrter Weise als „dialogisch“ zu kennzeichnen, da
Kant dies nicht als Forderung nach einem tatsächlich stattfindenden Reflexionsprozess auf
die Überzeugungen anderer verstehe (O’Neill 2001, 47).
31
Anth AA 7, 128; Allerdings folgt aus der Nichtübereinstimmung nicht, dass man
seine Urteile unbedingt verwerfen müsse. Vgl. hierzu: Log AA 9, 57; Scholz 2009, 36.
32
Natürlich ist die faktische Übereinstimmung aller bekannten Urteilenden kein posi-
tives Kriterium für die Allgemeinheit des Urteils, da sie ja ebenso auf einem kollektiven
Vorurteil beruhen könnte, sondern nur ein negatives Kriterium für die Gewissheit der
Wahrheit der eigenen Urteile (Anth AA 7, 129).
33
Arendt 1992, 40.
34
Deligiorgi 2002, 151; Arendt 1992, 42; vgl. AA 10, 122; WDO AA 8, 144; SF AA 7,
32.
35
Letzteres kritisiert Kant an Herder (Recension Herder AA 8, 45).
36
KrV B 849/A 821.
Aufklärungsdiskurs und kosmopolitischer Vernunftgebrauch 129
44
Diese Einsicht lässt sich nun auch auf den Rechtsdiskurs übertragen: Die metaphysi-
schen Grundlagen des Rechts formulieren nur die nicht verhandelbaren Grundlagen einer
Rechtsgemeinschaft, in der alle Mitglieder in ihrer Freiheit anerkannt werden. Darüber
hinausgehende Bestimmungen sind hingegen im öffentlichen Diskurs verhandelbar.
45
WDO AA 8, 140.
132 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Resümieren wir noch einmal das Problem, das wir im Folgenden thema-
tisieren wollen: Die Möglichkeit, Urteile a priori in den öffentlichen
Aufklärungsdiskurs einzubringen ist innerhalb des kantischen Paradig-
mas unproblematisch, weil sie per se allgemeingültig sind. Nun machen
empirische Urteile jedoch einen wesentlichen Teil dieses Diskurses aus.
Erfahrung ist aber notwendig limitiert und damit sind a posteriorische
Urteile nicht im gleichen Sinne allgemeingültig. Die Frage, die sich uns
stellt, ist also, unter welchen Bedingungen auch empirische Urteile in
den weltbürgerlichen Aufklärungsdiskurs eingebracht werden können.
Zunächst diskutieren wir hierzu nun die Kategorien als durch den Ver-
stand gesetzte transzendentale Rahmenbedingungen weltbürgerlicher
Kommunikation.
Erfahrung und Erfahrungsurteile sind bekanntlich nach Kant nur
möglich unter der Voraussetzung der Kategorien. Da diese Kategorien
sich nicht unmittelbar auf zeitlich-räumliche Anschauungen beziehen
können, bedarf es noch der Schematismen der Verstandesbegriffe, die
zwischen den reinen Verstandeskategorien und den zeitlich-räumlichen
5
Schulte 2002, 25.
134 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
gen von Subjekt und Prädikat gemäß einer logischen Urteilsform, nicht
allerdings notwendig gemäß einer Kategorie. Die assoziativen Verbin-
dungen des empirischen Ichs basieren damit nicht auf unveränderlichen,
spontan erzeugten Regeln, sondern auf der psychologisch-empirisch be-
gründeten Assoziation und damit der kontingenten Verfasstheit des em-
pirischen Subjekts.14 Urteile mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit un-
terwerfen sich also einer Regel und damit einem Standard von Richtig-
keit oder Falschheit, wohingegen Privaturteile gar nicht von anderen auf
ihre Richtigkeit hin überprüft werden können, da sie nur ein Faktum
über das psychische Innenleben des Urteilenden ausdrücken.15 Deshalb
besitzt das Privaturteil nur „Privatgültigkeit“. 16 Denn die subjektiven
Ursachen für die Verbindung zweier Vorstellungen in einem empiri-
schen Individuum können immer nur subjektive Notwendigkeit in Be-
zug auf dieses so verfasste Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt
haben. 17 In diesem Sinne unterscheidet Kant privat gültige Wahrneh-
mungsurteile, in denen Wahrnehmungen „in einem Bewußtsein meines
Zustandes“ verknüpft werden, von öffentlich kommunikablen Erfah-
rungsurteilen, in denen Wahrnehmungen „in einem Bewußtsein über-
haupt“ verbunden werden.18 Nur letztere bestimmen den Urteilsgegen-
stand nach Kant objektiv und damit allgemeingültig.19 Anders als Erfah-
rungsurteile können Wahrnehmungsurteile zwar nicht falsch sein, sie
sind aber nicht kommunikabel, da sie anders als Erfahrungsurteile nicht
auf eine gemeinsame Welt und damit auf eine mögliche universale Erfah-
rung bezogen sind.20
Diesen Unterschied zwischen den zwei Typen von Verknüpfung wol-
len wir nun genauer analysieren: Die allgemeingültige Urteile begrün-
dende Synthesisleistung des transzendentalen Subjekts kann nur gemäß
14
KrV B 139f.; vgl. hierzu: Klemme 1996, 197. Gegen die Reduktion von Wahrneh-
mungsurteilen auf bloße Vorstellungsassoziation vgl. dagegen Longuenesse 1998, 193f.
15
Pinkard 2002, 31.
16
KrV B 849/A 821.
17
KpV AA 5, 12.
18
Prol AA 4, 300.
19
Prol AA 4, 304f. Nach KrV existiert dasjenige, „dessen Verbindung mit dem Wirkli-
chen bestimmt ist in Übereinstimmung mit den allgemeinen Bedingungen der Erfahrung“
(Formen der Anschauung, Kategorien und Prinzipien des Verstandes), notwendig
(Friedman 2012, 245; KrV B 266/A 218). Beispiele für solche Urteile sind die Aussagen
„Alle Körper sind schwer“ oder „Luft ist elastisch“ (vgl. hierzu auch MAN AA 4, 500).
20
Dörflinger 2000, 228. Wahrnehmungsurteile sind in gewisser Weise für Kant deshalb
defizitäre Urteile, da sie die Form des Urteils in Anspruch nehmen („x ist p“), die durch
diese Form verlangte Funktion aber nicht einlösen, nämlich die Beziehung von Vorstel-
lungen auf einen Gegenstand (Longuenesse 1998, 172; 177).
136 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
21
Diese Kategorien sind „die subjectiven Bedingungen der Spontaneität des Denkens“
(ÜE AA 8, 223).
22
Ginsborg 1990, 106.
23
KrV B 197/A 158.
24
Prol AA 4, 298f.
25
Prol AA 4, 299. Nach Ginsborg hingegen wird im Urteil „Der Raum ist warm“ der
Gegenstand objektiv durch die intensive Qualität der Wärme bestimmt (Ginsborg 1990,
124). Das ist aber nicht der Fall. Anders als in dem Urteil: „Der Raum hat eine Tempera-
tur von 26 Grad Celsius“, in dem der Raum objektiv bestimmt wird, handelt es sich bei
dem vorigen Urteil nur um eine Empfindung, die der Raum auf mich bewirkt. Das Urteil
ist nur eine façon de parler für „Der Raum ruft in meinem gegenwärtigen Zustand ein
Wärmegefühl in mir hervor.“ Das Urteil bringt also nur eine Privatempfindung zum Aus-
druck (vgl. Log AA 9, 113; Longuenesse 1998, 189f.).
Minimalbedingungen 137
31
Esser 1995, 10.
32
Prol AA 4, 298.
33
Brief an Beck vom 1.7.1794 AA 11, 515.
34
Nach Koch sind jedoch bereits die Empfindungen nicht bloß „logisch privat[e] Zu-
stände, über die nur das Subjekt, das sie jeweils hat, Verläßliches wissen könnte, sondern
Fälle perzentuellen Anscheinens publiker Gegebenheiten“ (Koch 2004a, 84). Das „Mir-
Minimalbedingungen 139
40
Prol AA 4, 290.
41
Prol AA 4, 297.
42
KrV B 165; A 130; Neiman 1994, 52.
43
EEKU AA 20, 210.
44
Allison 2004, 258f.
45
Zammito 1992, 158.
46
Buchdahl 1969, 474f.; Neiman 1994, 52.
Minimalbedingungen 141
47
Die Schematismen der Einbildungskraft müssen zwischen der transzendentalen Uni-
versalität der Kategorien und der empirischen Partikularität der sinnlichen Anschauungen
vermitteln, indem sie die Kategorien auf die Zeit als allgemeinste Bedingung sinnlicher
Anschauung applizieren (Makkreel 1990, 30).
48
MAN AA 4, 469f.; Basile 2013, 16; OP AA 21, 407. Warum Kant dieses Projekt in
OP erneut in Angriff nimmt, ist in der Forschung umstritten. Vgl. hierzu: Friedman 1992,
136; 139; Tuschling 1971, 37; Wartenberg 1992, 237; Förster 2000, 4; 59ff.
49
Im Besonderen werden dabei die Möglichkeit der durch zwei Grundkräfte konstitu-
ierten Materie a priori und ihre allgemeinen Bestimmungen entwickelt (Tuschling 1971,
35).
50
KrV B 873/A 845. Es ist dabei umstritten, ob Kant überhaupt spezifische Naturge-
setze als a priori annimmt (O’Shea) oder ob er dies negiert und sie nur eine Funktion in
der systematischen Einheit der Vernunft erfüllen (Buchdahl; Allison) (O’Shea 1997, 224).
Nach Guyer wäre es mit Kants Konzeption konkreter Naturgesetze sogar vereinbar,
wenn diese nicht strikte, sondern bloß probabilistische Gültigkeit besäßen (Guyer 1987,
240).
142 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
damit der Aufklärung der Natur weniger, dass jedes Ereignis durch eine
Ursache nach einem unveränderlichen Gesetz bestimmt ist, sondern das
konkrete spezifische Gesetz, nach dem ein oder mehrere Ereignisse be-
stimmt sind.51 So unternimmt Kant in MAN den Versuch, bereits spezi-
elle Gesetze der Physik wie das Gravitationsgesetz zu deduzieren und
damit als Rahmenbedingungen naturwissenschaftlicher Aufklärung zu
etablieren. Insofern diese als Bedingung der Möglichkeit empirischer
Physik a priori deduzierbar sind, ist die Physik in dieser Hinsicht
prädeterminiert. Die allgemeingültigen Begriffe und Gesetze a priori der
Metaphysik der Natur stellen als Konkretisierung der bloßen Verstan-
desformen die spezifischen Rahmenbedingungen a priori der weltbür-
gerlichen Kommunikation der empirischen Physik dar. 52 So kann der
Physik auch nur deshalb der Status einer Naturwissenschaft im strengen
Sinne zugeschrieben werden, weil ihr mit den Gesetzen der Metaphysik
der Natur Gesetze a priori zu Grunde liegen, die den Charakter strengs-
ter Notwendigkeit besitzen.53 Damit beruht der naturwissenschaftliche
Aufklärungsdiskurs auf Regeln, die notwendig von allen Diskursteil-
nehmern spontan hervorgebracht werden. Jede „eigentliche Naturwis-
senschaft“ muss einen solchen reinen Teil aufweisen, durch den die apo-
diktische Gewissheit der anderen Sätze begründet werden kann.54 Eine
Wissenschaft, die anders als die Physik nur auf empirischen Gewisshei-
ten basiert, wäre keine Wissenschaft.55 Ohne metaphysische Grundlagen
ließe sich kein nach allgemein verbindlichen Regeln geordneter öffentli-
cher Diskurs führen.56
Die Metaphysik der Natur liefert nun aber nur den Diskursrahmen
der Physik und ist nicht eigentliche Physik, die immer empirisch ist.57
Die empirische Physik kann jedoch nur innerhalb dieses transzendenta-
51
So besteht Humes skeptizistischer Fehlschluss bezüglich der Kategorien nach Kant
gerade darin, von der tatsächlichen Erfahrungsabhängigkeit konkreter empirischer Geset-
ze auf die Erfahrungsabhängigkeit der Verknüpfung von Ursache und Wirkung als sol-
cher zu schließen (KrV B 794/A 766; Longuenesse 2005, 59–61).
52
MAN AA 4, 468; KrV B 17.
53
MAN AA 4, 468.
54
MAN AA 4, 469.
55
MAN AA 4, 468.
56
MAN AA 4, 472; Friedman 1992, 137. So leugnet Kant den wissenschaftlichen Rang
der Psychologie auf Grund des Fehlens solcher spezifischen Rahmenbedingungen für ei-
nen weltbürgerlichen Diskurs (EEKU AA 20, 237f.; MAN AA 4, 471; KrV A 381). Auch
die Chemie basiert nach MAN nur auf Erfahrungsgesetzen (AA 4, 468), weshalb ihr Kant
den Status einer Naturwissenschaft abspricht (ibid., 470f.; Klemme 1996, 234f.). Dieses
Urteil revidiert Kant später in OP in Anbetracht der Revolutionen in der Chemie (Fried-
man 1992, 217f.).
57
GMS AA 4, 388.
Minimalbedingungen 143
67
KU AA 5, 406; KrV B 165; Zuckert 2007, 8.
68
KU AA 5, 183.
69
KU AA 5, 183.
70
Buchdahl 1992, 170.
71
Longuenesse 2005, 43.
72
KrV B xx; B 380/A 323; B 692/A 664.
Minimalbedingungen 145
schaft und nur ein an der Idee systematischer Ganzheit orientierter Dis-
kurs weltbürgerlich.73
Wir können also Folgendes festhalten: Neben den transzendentalen
Strukturen setzt jeder weltbürgerlich-öffentliche Aufklärungsdiskurs ei-
ne Orientierung an den regulativen Ideen der Vernunft voraus. Sie füh-
ren sowohl unseren Verstandesgebrauch als auch den weltbürgerlicher
Diskurs auf systematische Einheit. Um dies zu explizieren, wollen wir
zunächst die Funktion skizzieren, die Kant den Vernunftideen für die
Erkenntnis zuschreibt:
Die regulativen Ideen sind der Grund für die Suche nach systemati-
scher Einheit in unserer Erfahrung und Erkenntnis. Sie sind aber nur
von der Vernunft gestellte Aufgaben für den Verstand, den Regress in
den Bedingungen gegebener Sachverhalte auf ihre Totalität hin fortzu-
setzen. Sie leiten als heuristische Voraussetzung der Systematizität und
Vernünftigkeit der Natur unsere empirische Naturforschung an und nä-
hern sie „asymptotisch“ dem Ideal wissenschaftlicher Vollständigkeit
an. 74 Es ist jedoch nur „eine notwendige Maxime der Vernunft, nach
dergleichen Ideen zu verfahren“.75 Sie ordnet die Verstandesbegriffe nach
dieser Maxime und bringt die Erkenntnisse dadurch unter eine Einheit.76
Die Idee ist so in Analogie zum Schema der Sinnlichkeit nur eine Regel,
um die systematische Einheit „der mannigfaltigen Erkenntnisse unter ei-
ner Idee“ herzustellen.77
Den spekulativen Ideen kommt also nur relativ auf unseren systemati-
schen Vernunftgebrauch Bedeutung, Realität und Objektivität zu. Die
Ideen der Vernunft liefern zwar kein Wissen, aber bilden ein transzen-
dentales Fundament für unsere wissenschaftliche Praxis.78 Sie fungieren
dabei als eine Art Fluchtpunkt, auf den unser empirischer Verstandesge-
brauch zusteuert. Die in den Ideen sich artikulierende Einheit der Ver-
nunft ist nicht in der Erfahrung gegeben und überhaupt kein Gegenstand
möglicher Erfahrung, sondern dem menschlichen Vernunftgebrauch als
Problem aufgegeben.
Übertragen wir dies nun auf das Konzept des weltbürgerlichen Auf-
klärungsdiskurses: Die Praxis des Aufklärungsdiskurses setzt eine End-
absicht voraus, die als Idee nur durch die Vernunft gesetzt werden
73
MAN AA 4, 468; OP AA 21, 524.
74
Friedman 1992, 48.
75
KrV B 699/A 671; WDO AA 8, 137.
76
KrV B 671f./A 643f.
77
KrV B 860/A 832; vgl. auch B 694/A 665; B 710/A 682.
78
Wartenberg 1992, 233f.
146 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
87
KrV B 364/A 307.
88
KrV B 502f./A 474f.
89
KrV B 644/A 616.
90
Neiman 1994, 63.
91
Grier 2001, 11; KrV B 673/A 645.
92
Refl 5553 AA 18, 223.
93
Betont Refl 5441 noch die Analogie zwischen Verstandesspontaneität und morali-
scher Autonomie als Selbstbestimmung des Willens (AA 18, 182; Henrich 1994, 81), so
unterscheidet Refl 5442 die „logische freyheit in Vernunfthandlungen“ von der transzen-
dentalen Freiheit (AA 18, 183; Henrich 1994, 82).
94
„Ideen sind nicht bloße Begriffe sondern Gesetze des Denkens die das subject ihm
selbst vorschreibt. Avtonomie.“ (OP AA 21, 93.)
148 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
ses also als selbstbestimmt. Indem sie in dieser Orientierung über die
Sinnenwelt hinausgehen, müssen sie sich selbst als reine Intelligenzen be-
trachten, die ihren empirisch-beschränkten Standort transzendieren
können.95 Weil die Ideen anders als die Kategorien keine konstitutiven
Prinzipien, sondern nur heuristische Begriffe sind, muss sich jeder Dis-
kursteilnehmer seinen selbst erzeugten Ideen frei unterwerfen, er muss
sie frei anerkennen.96 Er unterwirft seine Praxis öffentlichen Vernunftge-
brauchs einem Prinzip, das er sich selbst in autonomer Weise vorgibt.
Die Idee ist so zwar ein universelles Prinzip des öffentlichen Vernunft-
gebrauchs, aber gleichzeitig ein freies Produkt der Selbstgesetzgebung
jedes Einzelnen. Ihre Funktion für den öffentlichen Vernunftgebrauch
können die Ideen erst nach ihrer transzendentalen Aufklärung ausüben,
in der sie eben als autonome Setzungen der Vernunft (als Maximen, de-
nen sich die Vernunft in ihrem öffentlichen Gebrauch selbst unterwirft,)
erkannt sind. Weil die Möglichkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs
die autonome Vernunft voraussetzt, ist er selbst ein Produkt der Frei-
heit.97
Fassen wir noch einmal zusammen: Damit ein empirisches Urteil An-
spruch auf Publizität erheben kann, muss der eigene Verstandesgebrauch
über die Relation zu synthetischen Prinzipien a priori dem Prinzip der
Systematisierung der Verstandesurteile unterworfen werden.98 Dies ent-
spricht der Maxime des gesunden Menschenverstandes (der Maxime der
Vernunft), einstimmig mit sich selbst zu denken.99 Erst durch die Befol-
gung dieser Maxime kann das konstituiert werden, was Kant öffentli-
chen Vernunftgebrauch nennt. Die Ideen regulieren nämlich den öffent-
lichen Diskurs dadurch, dass die kontingenten Erfahrungen in der Ori-
entierung an ihnen in eine systematische Einheit gebracht werden. Ein
Diskurs ist ja überhaupt nur dann sinnvoll, wenn seine Teilnehmer, die
ihre unterschiedlichen Erfahrungen einbringen, diese systematisieren
wollen, das heißt auf eine Einheit bringen wollen. In öffentlichen empiri-
schen Urteilen muss das urteilende Subjekt seine Urteile also nicht nur
den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung un-
terwerfen, sondern auch dem sich aus den Ideen der Vernunft ergeben-
den Prinzip der Systematizität. Andererseits zeigt sich dadurch, dass die-
se Ideen inhaltlich unbestimmte, nur regulative Prinzipien unseres öf-
95
GMS AA 4, 452.
96
KrV B 799f./A 771f.
97
Neiman 1994, 59.
98
„Without concepts, intuitions remain blind; without ideas, concepts are incoherent
and useless.“ (Brandt 1989, 179; vgl. auch: Neiman 1994, 44).
99
Prol AA 4, 359.
Minimalbedingungen 149
1
Der Autonomiegrundsatz ist in der Tätigkeit der Welterkenntnis deshalb erfüllt, weil
die Vernunft das Gesetz nicht einfach der Natur entnimmt, sondern es ihr immer noch
vorschreibt (Prol AA 4, 320).
150 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
13
EEKU AA 20, 213; KU AA 5, 185.
14
EEKU AA 20, 203; KU AA 5, 179f.
15
EEKU AA 20, 209.
16
KU AA 5, 185.
17
EEKU AA 20, 204.
18
KU AA 5, 185; 187.
Reflektierende Urteilskraft 153
[S]o muß die Urtheilskraft für ihren eigenen Gebrauch es als Princip a priori an-
nehmen, daß das für die menschliche Einsicht Zufällige in den besonderen (em-
pirischen) Naturgesetzen dennoch eine für uns zwar nicht zu ergründende, aber
doch denkbare gesetzliche Einheit in der Verbindung ihres Mannigfaltigen zu
einer an sich möglichen Erfahrung enthalte.19
Dieses Prinzip ist nun nicht konstitutiv für die Natur, sondern nur für
die Möglichkeit unserer Naturerkenntnis: Wir können nicht urteilen,
dass die Natur rational durchdringbar ist, müssen aber so urteilen, als ob
sie rational durchdringbar wäre und dem Bedürfnis unserer sinnlich be-
dingten Erkenntnis entspricht.20 Um die Andersartigkeit dieses Prinzips
im Vergleich mit den Kategorien zum Ausdruck zu bringen, spricht
Kant ihm nur subjektive Notwendigkeit zu. Es ist gleichzeitig transzen-
dental und subjektiv und ohne es könnten wir empirische Naturer-
kenntnis nicht einmal als möglich denken.21 Das Prinzip der Zweckmä-
ßigkeit der Natur ist damit transzendental, weil es eine allgemeine, wenn
auch subjektive Bedingung a priori ist, ohne die Naturerscheinungen gar
nicht Gegenstand unserer Erkenntnis werden könnten. Der subjektive
Status dieses transzendentalen Prinzips unterscheidet es von transzen-
dentalen und zugleich metaphysischen Prinzipien, die ebenfalls Bedin-
gungen a priori möglicher Naturerkenntnis sind, durch die jedoch empi-
risch gegebene Begriffe „a priori weiter bestimmt werden können“.22 Es
handelt sich bei diesem Prinzip also um keine objektive Bestimmung der
Natur, durch die diese kategorial determiniert würde, aber doch um eine
subjektiv notwendige transzendentale Voraussetzung unserer Naturbe-
trachtung.23
Systematische Naturerkenntnis ist nur unter der Bedingung möglich,
dass das nach Erkenntnis strebende Subjekt die Natur so denkt, als wäre
sie in Relation zu seinen Erkenntnisvermögen zweckmäßig eingerichtet,
19
KU AA 5, 183f.
20
Zuckert 2007, 36f.; KU AA 5, 185.
21
Ein allgemeingültig sein sollendes Urteil muss auf ein a priori gültiges Prinzip bezo-
gen sein (EEKU AA 20, 239).
22
KU AA 5, 181; Allison 2001, 36.
23
EEKU AA 20, 209.
154 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
so dass sie keinen solchen Grad an Heterogenität aufweist, der eine em-
pirische Systematisierung der Natur unmöglich machen würde, 24 son-
dern als ein durch empirische Gesetze konstituiertes System verstanden
werden kann.25 Diese subjektiv-transzendentale Voraussetzung der Ur-
teilskraft bezeichnet Kant als das a priorische Prinzip der Zweckmäßig-
keit der Natur.26 Die empirischen Bestimmungen der Verstandesgesetze
werden gemäß diesem Prinzip so betrachtet, als ob die Natur durch ei-
nen Verstand zum Zwecke der Möglichkeit unserer Erkenntnis bearbei-
tet worden wäre.27 Diese Übereinstimmung der Natur mit unserem Er-
kenntnisbedürfnis ist an sich selbst als zufällig zu beurteilen, in Bezug
auf unser Erkenntnisbedürfnis aber als notwendig.28 Für unsere Natur-
erkenntnis und den empirischen Aufklärungsdiskurs ist das Prinzip ge-
nauso notwendig wie die objektiv gültigen Verstandesgesetze.29
In welcher Funktion bestimmt das Prinzip der Zweckmäßigkeit je-
doch die Urteilskraft? Die bestimmende Urteilskraft, die das Besondere
unter das Allgemeine subsumiert,30 scheidet aus, da sie durch den Ver-
stand determiniert wird. Würde also die bestimmende Urteilskraft durch
dieses Prinzip bestimmt, so müsste es sich bei dem Prinzip der Zweck-
mäßigkeit der Natur um ein Verstandesprinzip handeln. Der Verstand
konstituiert die Natur aber nach objektiven Regeln. Jede Naturerschei-
nung müsste dann objektiv zweckmäßig sein und nicht nur so beurteilt
werden, als wäre sie zweckmäßig. Aber auch wenn Kant den transzen-
dentalen Charakter des Prinzips der Zweckmäßigkeit behauptet, so han-
delt es sich doch um ein bloß subjektives Prinzip.31
Hieraus ergibt sich, dass noch ein weiteres Vermögen der Urteilskraft,
die „das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen“ denkt,32 ange-
nommen werden muss, das Kant als reflektierende Urteilskraft bezeich-
net. Subsumiert die bestimmende Urteilskraft das Besondere unter gege-
bene Begriffe, so geht die reflektierende Urteilskraft dagegen vom Be-
24
EEKU AA 20, 209.
25
KU AA 5, 184.
26
KU AA 5, 183.
27
KU AA 5, 180; EEKU AA 20, 243. Umgekehrt ist es ein Kriterium für die tatsächli-
che Geltung aufgestellter, empirischer Naturgesetze, inwieweit sie diesem Prinzip ent-
sprechen und sich damit in den systematischen Zusammenhang der Naturbetrachtung
einfügen (Emundts 2004, 7).
28
KU AA 5, 186.
29
KU AA 5, 186f.
30
Die Urteilskraft als solche vermittelt zwischen Verstand und Vernunft (EEKU AA
20, 242).
31
KU AA 5, 184.
32
KU AA 5, 179.
Reflektierende Urteilskraft 155
33
EEKU AA 20, 212. Die Tätigkeit der Reflexion besteht nach Anth in der Verbin-
dung des Mannigfaltigen der Vorstellung nach einem Begriff als Regel der Einheit des
Mannigfaltigen unter Anwendung der transzendentalen Schemata auf die empirische Syn-
thesis (Anth AA 7, 141).
34
Guyer 2003, 2. So besteht eine wesentliche Neuerung von KU nach Guyer darin,
dass Kant nicht mehr annimmt, dass wir nur ein empirisches Wissen von individuellen
Naturgesetzen haben, sondern er versteht diese Gesetze nun als Einheit von empirischen
und nicht-empirischen Annahmen (Guyer 2005, 39). Dabei ist es das Ideal der Systemati-
zität, das zwischen Strukturen a priori und empirischen Anschauungen vermittelt (ibid.
49). Diesem Ideal könne sich das menschliche Wissen aber nur asymptotisch annähern
(ibid., 44, 53, 79, 93, 99, 176).
35
EEKU AA 20, 215.
36
KU AA 5, 387.
37
EEKU AA 20, 202.
38
EEKU AA 20, 209.
39
Zuckert 2007, 5.
156 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
40
KU AA 5, 389.
41
KU AA 5, 180.
42
EEKU AA 20, 214.
43
Zuckert 2007, 5.
44
KU AA 5, 186. Subjektiv ist das Prinzip der Zweckmäßigkeit also auch deshalb, weil
dieses Prinzip die eigene Urteilspraxis des Subjekts bestimmt (Zuckert 2007, 77).
45
Im Auffinden eines Gesetzes, das andere Gesetze vereint, das heißt im gesetzmäßi-
gen Gebrauch dieser Freiheit, empfinden wir so auch nach Kant Lust, die zugleich Lust an
der Zweckmäßigkeit der Natur für unser autonomes Erkenntnisvermögen ist (KU AA 5,
187).
46
Dieses Konzept der Zweckmäßigkeit ist auch gegen Leibniz gerichtet, der die Ver-
nunft als objektive Ordnung der Natur versteht, die der Grund unserer
Verstehensmöglichkeit ist (Neiman 1994, 13), so dass die menschliche Vernunft die ihr
vorgegebene Ordnung nur passiv aus der Natur abliest (ibid., 26). Damit würde die Ver-
nunfttätigkeit des Menschen jedoch zu etwas mechanischem, heteronom bestimmten
(ibid., 31–33).
47
So betont Kant vor allem in OP, dass es nur eine Erfahrung und nicht mehrere Er-
fahrungen gibt (Beiser 2002, 117; AA 21, 89; 99).
Reflektierende Urteilskraft 157
schlossen wird, das über die Naturwissenschaft hinausgeht. Dass ein na-
turwissenschaftlich-weltbürgerlicher Diskurs möglich ist, scheint wenig
kontrovers, da er bereits wirklich ist. Dass ein weltbürgerlicher Aufklä-
rungsdiskurs auch im Bereich der Ästhetik über kulturelle Grenzen
hinweg möglich ist, dürfte weit weniger zustimmungsfähig sein. Kant
glaubt jedoch, auch für solch einen Diskurs die transzendentalen Grund-
lagen bereitstellen zu können. Wir werden im Folgenden deshalb zu-
nächst den besonderen Status der reinen Geschmacksurteile in KU un-
tersuchen (a). In einem zweiten Schritt analysieren wir, mittels welcher
Annahmen Kant unsere Praxis ästhetischer Geschmacksurteile rechtfer-
tigt (b). In einem letzten Schritt werden wir dann darlegen, inwieweit
dies für die Aufklärung als weltbürgerliche Kommunikation relevant ist
(c).
Das Geschmacksurtheil sinnt jedermann Beistimmung an; und wer etwas für
schön erklärt, will, daß jedermann dem vorliegenden Gegenstande Beifall geben
und ihn gleichfalls für schön erklären solle.57
Mit dem Ausdruck „ansinnen“ will Kant den besonderen Status der All-
gemeinheit reiner ästhetischer Urteile zum Ausdruck bringen: Weder
erwartet oder erhofft der Urteilende faktisch die Zustimmung aller urtei-
lenden Subjekte, noch fordert er sie normativ.58 Anders als im bloß pri-
vat gültigen Empfindungsurteil behauptet der Urteilende im reinen Ge-
schmacksurteil jedoch „eine allgemeine Stimme für sich zu haben und
macht Anspruch auf Beitritt von jedermann“.59 Er „urtheilt nicht bloß
für sich, sondern für jedermann“. 60 Dieser Anspruch ist essentiell für
reine Geschmacksurteile.61 Der Urteilende versteht sein Urteil nicht als
bloßes Privaturteil, sondern als öffentliches Urteil. Reine Geschmacksur-
teile werden also mit dem Anspruch auf weltbürgerliche Kommunikabi-
lität gefällt. Diesen Anspruch rechtfertigt Kant durch seine transzenden-
tale Grundlegung ästhetischer Urteile.62
Problematisch ist nun aber, dass dieses Urteil für das urteilende Sub-
jekt einzig und allein auf dem Gefühl seines Wohlgefallens in der Beur-
56
Universalität bedeutet hierbei nur: „Gültig für jedes Subjekt“, nicht: „Gültig für alle
Objekte der Art x“. Das reine Geschmacksurteil bezieht sich nämlich immer auf Einzel-
gegenstände. Urteile über Allgemeinbegriffe sind hingegen ästhetisch begründete logische
Urteile. Trotz der beanspruchten Allgemeingültigkeit urteilt das Subjekt jedoch im Ge-
schmacksurteil anders als im objektiven Erkenntnisurteil nicht als Subjekt überhaupt,
sondern explizit als dieses einzelne Subjekt, für das dieser Gegenstand schön ist (Vossen-
kuhl 1995, 112; vgl. auch Makkreel 1990, 92).
57
KU AA 5, 237.
58
„Ansinnen“ ist Werben um Zustimmung aller Anderen (KU AA 5, 237). Nach Lon-
guenesse sind ästhetische Urteile dagegen nicht deskriptiv, sondern normativ (Longuenes-
se 2005, 12).
59
KU AA 5, 216.
60
KU AA 5, 212.
61
KU AA 5, 214.
62
Ich beschränke mich im Folgenden auf das Geschmacksurteil über die Schönheit ei-
nes Gegenstandes und im Besonderen auf die Beurteilung von Naturgegenständen und
klammere das Urteil über das Erhabene aus.
160 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
63
KU AA 5, 221.
64
KU AA 5, 215f.; Zuckert 2007, 3.
65
KU AA 5, 231; 281; 284; 286. Die rationalistischen ästhetischen Theorien zur Zeit
Kants begründen Schönheit dagegen über den Begriff der Vollkommenheit: Ein Gegen-
stand ist genau dann schön, wenn er alle für diese Art Gegenstand erforderlichen Eigen-
schaften aufweist (Zuckert 2007, 183). „Schönheit“ bezeichnet dann eben nur die unklare,
sinnliche Auffassung dieser Vollkommenheit im Gegensatz zu ihrer klaren, intellektuellen
Auffassung (ibid. 227). Diese rationalistische Begründung von Schönheitsurteilen basiert
nach Kant jedoch auf dem falschen Verständnis sinnlicher Vorstellungen als diffuse ver-
nünftige Vorstellungen (ibid., 9).
66
KU AA 5, 293.
67
KU AA 5, 285; 281.
68
Schönheit kann also, wenn die Verbindung von einem Gegenstand mit dem Prädikat
„schön“ ohne Vermittlung jeglicher Kategorie erfolgt, kein Akzidenz des Gegenstandes
sein. Eben deshalb kann es auch keine objektive Eigenschaft des Gegenstandes sein.
69
KU AA 5, 285.
Reflektierende Urteilskraft 161
Wir haben festgestellt, dass Kant mit seiner Behauptung der Kommuni-
kabilität des Schönheitsurteils seine früheren Kriterien zur Unterschei-
dung zwischen bloß privat gültigen und deshalb nicht kommunikablen
Wahrnehmungsurteilen und weltbürgerlich kommunikablen Urteilen
70
KU AA 5, 188f.
71
EEKU AA 20, 225.
72
KU AA 5, 212.
73
KU AA 5, 281; 285.
74
KU AA 5, 188. Bartuschat folgert hieraus, dass der Mensch in der ästhetischen Er-
fahrung gar nicht die Erfahrung von einem Gegenstand, sondern „von sich selbst macht“
(Bartuschat 1995, 51).
75
KU AA 5, 203f.
76
KU AA 5, 215.
77
Ginsborg 1990, 77.
78
KU AA 5, 215.
162 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
unterwandert. Dies ist nur möglich durch die Entdeckung neuer Prinzi-
pien, gemäß denen diese Urteile legitimer Weise Anspruch auf Kommu-
nikabilität erheben können. Jenseits der Frage nach der Beurteilungs-
möglichkeit der Wahrheit spezifischer Geschmacksurteile ergibt sich al-
so das Problem, welches Prinzip der Kommunikabilität von
Geschmacksurteilen als Ersatz für die transzendentalen Gesetze der
Möglichkeit von Erfahrung überhaupt den Schönheitsurteilen zu Grun-
de gelegt werden kann.
Wie wir sahen, gründet sich das Schönheitsurteil nach Kant nicht auf
eine Regel. Das Schönheitsurteil ist durch eine subjektive Wirkung
(Wohlgefallen) begründet, die der schöne Gegenstand auf das urteilende
Subjekt entfaltet und sich in einem Gefühl der Lust manifestiert. Soll das
Schönheitsurteil dennoch kommunikabel sein, so darf diese Wirkung
nun nicht durch kontingente Bestimmungen des Urteilssubjektes be-
dingt sein. In der Explikation der Bedingungen des Schönheitsurteils
verfährt Kant deshalb zunächst via abstractionis, um diese Kontingenz
auszuschließen:
Gewöhnliche Lust-Unlust-Empfindungen (die Empfindungen des
Angenehmen) gründen nach Kant auf einem Interesse des Subjektes an
der Existenz eines Gegenstandes oder seinem Begehren.79 Dieses Interes-
se ist aber abhängig von der kontingenten Beschaffenheit des Subjekts,
so dass das Urteil nur private Geltung besitzt. Ein allgemeingültiges äs-
thetisches Urteil muss deshalb von den Bedingungen der Privatheit abs-
trahieren und das bedeutet nach Kant, dass es vom Interesse des urtei-
lenden Subjekts an der Existenz des als schön beurteilten Gegenstandes
unabhängig sein muss. Ein allgemeingültiges ästhetisches Urteil muss
deshalb auf dem interesselosen Wohlgefallen des Subjekts am Urteilsge-
genstand gründen.80 Wenn der Wirkung des Gegenstandes auf das Sub-
jekt nämlich kein privates Interesse des urteilenden Subjekts zu Grunde
liegt, so kann das Gefühl des Schönen nicht in der kontingenten Beschaf-
fenheit des urteilenden Individuums gründen.81 Das interesselose Wohl-
gefallen ist deshalb nach Kant das einzige, allerdings unzuverlässige Kri-
terium des reinen Geschmacksurteils. 82 Das Desinteresse bezieht sich
dabei auf die Existenz des Gegenstandes, das Wohlgefallen auf die reine
79
KU AA 5, 211.
80
KU AA 5, 267. Kant nennt dieses interesselose Wohlgefallen auch „contemplative
Lust oder unthätiges Wohlgefallen“ (MdS AA 6, 212) und bezeichnet das entsprechende
Urteil als „bloß contemplativ“ (KU AA 5, 209). Zum Übergang von der Interesselosigkeit
zur Universalität vgl. u. a. Allison 2001, 100f.
81
KU AA 5, 211.
82
Kulenkampff 1995, 35.
Reflektierende Urteilskraft 163
83
Vgl. etwa auch Refl. 550 (1776–78) AA 15, 239.
84
KU AA 5, 212.
85
KU AA 5, 294.
86
KU AA 5, 294; vgl. auch ibid., 223–226.
87
KU AA 5, 273.
88
KU AA 5, 211.
164 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
89
KU AA 5, 211.
90
KU AA 5, 211.
91
Kulenkampff 1995, 34; Makkreel 1990, 47.
92
Nach Zammito kommt den ästhetischen Urteilen deshalb auch a priorische Not-
wendigkeit zu, weil letztlich auch sie auf a priori gültigen, universellen Regeln basieren,
nämlich den a priorischen Strukturen des menschlichen Bewusstseins (Zammito 1992,
111).
93
Anders als im reinen Geschmacksurteil, in dem die Einbildungskraft in ihren Synthe-
sen frei spielt, gibt im Erkenntnisurteil der Verstand der Einbildungskraft Regeln vor,
nach denen sie synthetisiert (Longuenesse 1998, 63). So sind zwar auch empirische Er-
kenntnisurteile auf dem Wege der reflektierenden Urteilskraft gewonnen, lassen sich dann
aber unter Begriffe bringen, die der Einbildungskraft Regeln vorschreiben und insofern
bestimmende Urteilskraft involvieren. Bei ästhetischen Urteilen kann das nie der Fall sein
(ibid., 164).
94
KU AA 5, 287.
95
Refl 1931 AA 16, 160.
Reflektierende Urteilskraft 165
96
Refl 1926 AA 16, 158f.
97
Einbildungskraft und Verstand werden in der ästhetischen Erfahrung „unabsichtlich
in Einstimmung versetzt“ (KU AA 5, 190).
98
KU AA 5, 241f.
99
Ginsborg 2015, 56.
100
KU AA 5, 219; Allison 2001, 54.
101
KU AA 5, 218.
102
Ginsborg 1997, 40.
103
KU AA 5, 290; Zuckert 2007, 175.
104
KU AA 5, 217f.
166 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
den.105 Dass der Verstand dieses Prinzip vorgibt, ist jedoch ausgeschlos-
sen, wenn Kant die Eigenständigkeit des Schönheitsurteils gegenüber
dem Erkenntnisurteil aufrechterhalten will.
Bestimmen wir deshalb zunächst den Status dieses Prinzips: Da das
Schönheitsurteil dem beurteilten Gegenstand keine objektive Eigen-
schaft zuspricht, kann dieses Prinzip kein objektiv-metaphysisches sein,
sondern nur ein subjektiv-transzendentales. 106 Als transzendentales
Prinzip konstituiert es jedoch zugleich den Unterschied zwischen der
subjektiven Notwendigkeit bloßer Gewohnheit und der subjektiven
Notwendigkeit a priori. Dieses Prinzip besteht in der subjektiven
Zweckmäßigkeit als der Angemessenheit der Form eines Objekts zum
menschlichen Erkenntnisvermögen.107 Die Naturschönheit, die das Prin-
zip der Zweckmäßigkeit der Natur in Bezug auf unsere Urteilskraft of-
fenbart, erfreut uns dadurch, dass uns ein Objekt so erscheint, als wäre
es für unsere Erkenntnisvermögen eingerichtet.108 Diese Zweckmäßigkeit
ist subjektiv, weil sie dem Objekt nicht als intrinsische Eigenschaft zuge-
schrieben wird, sondern bloß in Relation auf unser menschliches Er-
kenntnisvermögen. 109 Sie wird von Kant als „Zweckmäßigkeit ohne
Zweck“ gedacht. Um einen Gegenstand als schön zu beurteilen, müssen
wir ihn nämlich nicht auf einen konkreten (inneren) Zweck oder eine
Absicht von uns beziehen.110
Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne
Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.111
105
EEKU AA 20, 239; KU AA 5, 278; 280. Zur Genealogie dieses Prinzips bei Kant
vgl. Guyer 1997, 25ff.
106
KU AA 5, 238.
107
KU AA 5, 279.
108
Förster 2000, 8; 10.
109
KU AA 5, 193.
110
KU AA 5, 207. Beim Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne Zweck handelt es sich auch
insofern um ein subjektives Prinzip, als es ein Prinzip für die ästhetische Beurteilung eines
Gegenstandes ist (vgl. hierzu: Zuckert 2007, 279ff.). In dieser Beurteilung synthetisiert die
Einbildungskraft die heterogenen, sinnlich-wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegen-
standes zweckmäßig ohne Zweck (das heißt nicht im Hinblick auf einen vom Verstand
vorgegebenen Begriff) und verbindet damit die sinnlichen und heterogenen Eigenschaften
zu einer Einheit, die nicht begrifflich vorbestimmt ist (ibid., 279). Die Einbildungskraft
verfährt in ihrer Synthesistätigkeit genau so, als ob sie durch einen Begriff (einen Zweck)
dazu bestimmt wäre und damit zweckmäßig (ibid., 281).
111
KU AA 5, 236.
Reflektierende Urteilskraft 167
118
KU AA 5, 293.
119
Klemme 2006, lx.
120
KU AA 5, 239.
121
„Muster“ meint dabei nach Klemme „das Urbild des Geschmacks“ und keinen
exemplarischen Fall von Schönheit (Klemme 2006, xlvii).
122
Nach Pippin beruht der Allgemeinheitsanspruch ästhetischer Urteile auf der sozia-
len Norm, dass wir uns gegenseitig verpflichten, die Natur als zweckmäßig wertzuschät-
zen (Pippin 1996, 551).
123
Esser 1995, 19.
124
KU AA 5, 214.
125
„Der Geschmack macht bloß auf Autonomie Anspruch. Fremde Urtheile sich zum
Bestimmungsgrunde des seinigen zu machen, wäre Heteronomie.“ (KU AA 5, 282; vgl.
auch V-Lo/Philippi AA 24, 370.)
126
Zammito 1992, 93.
Reflektierende Urteilskraft 169
127
KU AA 5, 210. Wären wir „bloß reine Intelligenzen“, wäre diese Freiheit „in uns
gar nicht anzutreffen“ (ibid., 271).
128
KU AA 5, 231. Vgl. auch: Refl 1787 AA 16, 114; Refl 1823 AA 16, 129. Nach Makk-
reel ist die ästhetische Einbildungskraft zwar selbsttätig, allerdings nicht autonom, da sie
keine Gesetze begründet (Makkreel 1990, 46).
129
KU AA 5, 237.
130
Ginsborg 1997, 40.
131
Bartuschat 1995, 60.
132
Cohen 1982, 224; KU AA 5, 232.
133
Vossenkuhl 1995, 116f.
134
Kulenkampff 1995, 47.
135
Anth AA 7, 241.
170 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Austausch darüber, ob man etwas für schön hält, sondern die Beteili-
gung am Bildungsprozess des ästhetischen Gemeinsinns.136 Damit sich
der ästhetische Gemeinsinn ausbilden lässt, muss das Geschmacksurteil
kommunikabel sein. Diese Kommunikabilität bildet sich nun aber gerade
nicht nur in der bloßen wechselseitigen Mitteilung darüber aus, was man
selbst alles als schön beurteilt, sondern bildet sich im Streit über diese
Urteile, wobei der Rückzug auf den eigenen Privatgeschmack schon
deshalb ausgeschlossen ist, weil damit die Bedingungen der Kommuni-
kabilität aufgehoben würden.137 Streiten lässt sich eben nur, wenn man
auf Konsens hoffen kann.138 Wo keine Übereinkunft möglich ist, erüb-
rigt sich weltbürgerliche Kommunikation. Bei Schönheitsurteilen ist es
aber der Streit bzw. die weltbürgerliche Kommunikation selbst, die die
Norm, dank derer eine solche Übereinkunft idealer Weise erzielt werden
könnte, überhaupt erst realisieren kann. Deshalb haben Ungesellige kei-
nen Geschmack.139 Am Geschmack zeigt sich damit im Besonderen die
Bedeutung der Gesellschaft für die Ausbildung der geistigen Vermögen
und Aufklärung des Menschen.140 Obwohl also gerade das ästhetische
Urteil von den vielfältigen Prägungen des urteilenden Subjekts abhängig
zu sein scheint, ist es ein paradigmatischer Fall weltbürgerlicher Kom-
munikabilität und Aufklärung.141
Aus mehreren Gründen sind ästhetische Urteile also für die Aufklä-
rung von Interesse: Die Form der Zweckmäßigkeit, die dem reinen Ge-
schmacksurteil zu Grunde liegt, legitimiert die menschliche Hoffnung,
dass die Natur systematisiert werden kann und die Welt eine systemati-
sche Struktur aufweist.142 In ästhetischen Urteilen manifestiert sich zu-
dem eine freie Selbstbestimmung, die spezifisch menschlich ist, nämlich
die kreative Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung kann sich nur in
gemeinschaftlicher Kommunikation ausbilden. Ihre Voraussetzung ist
dabei die rationale und zugleich sinnliche Natur des Menschen. Das rei-
ne Geschmacksurteil im Besonderen und die reflektierende Urteilskraft
im Allgemeinen vermitteln so auch die „unübersehbare Kluft zwischen
136
Kulenkampff 1995, 46. Der Person, die sich zur ästhetischen Autonomie bildet,
setzt Kant den ästhetischen Egoisten entgegen: „Der ästhetische Egoist ist derjenige, dem
sein eigener Geschmack schon gnügt […]. Er beraubt sich selbst des Fortschritts zum Bes-
seren, wenn er sich mit seinem Urtheil isolirt, sich selbst Beifall klatscht und den
Probirstein des Schönen der Kunst nur in sich allein sucht“ (Anth AA 7, 129f.).
137
KU AA 5, 278.
138
KU AA 5, 338.
139
Refl 806 AA 15, 351–358.
140
Arendt 1992, 14.
141
Refl 767 AA 15, 334.
142
Makkreel 1990, 63.
Reflektierende Urteilskraft 171
dem Gebiete des Naturbegriffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des
Freiheitsbegriffs, als dem Übersinnlichen“.143
In der ästhetischen Kommunikation bilden die Mitglieder einer Ge-
sellschaft nämlich nicht nur ihren Geschmack, sondern auch ihr Interes-
se an der Moral aus. So erweckt das Naturschöne ein unmittelbares intel-
lektuelles Interesse, das in Wahrheit wirklich kommunikabel ist, weil es
„mit der geläuterten und gründlichen Denkungsart aller Menschen über-
ein[stimmt], die ihr sittliches Gefühl cultivirt haben“.144 Humanität be-
steht in dem allgemeinen Gefühl der Teilnahme und im „Vermögen sich
innigst und allgemein mittheilen zu können“.145 Beide Momente konsti-
tuieren menschliche Geselligkeit. Ästhetische Kommunikation ist also
Aufklärung in einem doppelten Sinn. In der gesellschaftlichen Kommu-
nikation klärt sich die ästhetische Urteilskraft auf. Gleichzeitig klärt sich
die Gemeinschaft in der ästhetischen Kommunikation über ihr morali-
sches Interesse auf.
Zuletzt hat die ästhetische Erfahrung auch eine essentielle Funktion
für den Aufklärungsdiskurs, weil wir in der Erfahrung des Naturschö-
nen eine Naturordnung entdecken, die uns die Natur als für unsere
menschliche Urteilskraft und Erkenntnisfunktionen sinnvoll geordnetes
Ganzes erfahren lässt.146 Damit motiviert sie uns, die Natur als physikali-
sche Wirklichkeit, aber auch als Ort der Geschichte für unsere reflektie-
rende Urteilskraft als geordnetes Ganzes zu betrachten. 147 Durch das
Naturschöne können wir die Natur so betrachten, als gäbe sie uns „einen
Wink“ von einem ihr immanenten Grund, der sie für uns und damit
auch für unser moralisches Interesse an der Realisierung moralischer
Zwecke zweckmäßig verfasst sein lässt.148
143
KU AA 5, 175f.
144
KU AA 5, 299.
145
KU AA 5, 355.
146
Allison 2001, 59.
147
KU AA 5, 246.
148
KU AA 5, 300; vgl. hierzu auch Allison 2001, 228.
172 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Wir haben gesehen, dass Kant Zweckmäßigkeit als Prinzip der Urteils-
kraft explizit als epistemisches Prinzip menschlicher, das heißt sinnlich
bedingter Erkenntnis konzipiert. In diesem Prinzip manifestiert sich
Kants Anerkennung der sinnlichen Bedingtheit menschlicher Urteilspra-
xis.149 Eine analoge Anerkennung sinnlicher Bedingtheit findet sich etwa
in Kants Betrachtung der menschlichen Handlungspraxis: Der kategori-
sche Imperativ ist ja überhaupt nur ein Imperativ für vernünftige Wesen,
die zugleich sinnliche Wesen mit Neigungen, Begierden und Affekten
sind.150
Freilich, Kant macht deutlich, dass Moral nur durch die Vernunft be-
gründet werden kann.151 Auf moralische Handlungen bezogene Urteile
müssen einzig und allein auf den Prinzipien a priori der reinen prakti-
schen Vernunft gründen. Dies impliziert aber nicht, dass Kant die sinnli-
che Bedingtheit des Menschen nicht zur Kenntnis nehmen würde. Kant
selbst versucht ja noch in den frühen 1760er Jahren, eine universell gülti-
ge Moral vermittelt über das moralische Gefühl zu begründen.152 Dieser
Versuch wird in Kants kritischer Philosophie jedoch aus dem durchaus
überzeugenden Grund kritisiert, dass Neigungen und Gefühle per se
nicht verallgemeinerbar sind. Niemand kann einem anderen ein morali-
sches Urteil auf Grund seiner eigenen Neigungen oder Gefühle ansin-
149
Zuckert 2007, 11.
150
KpV AA 5, 61. Anth enthält sogar eine „Apologie für die Sinnlichkeit“ (AA 7, 143).
So urteilt Gerhardt zu Recht: „Der kategorische Imperativ ist immer auch auf die End-
lichkeit eines leibhaftig in Raum und Zeit existierenden, empfindenden und fühlenden
Wesens bezogen“, das um diese seine Endlichkeit weiß (Gerhardt 2003, 282).
151
GMS AA 4, 389.
152
Dazu müssten anerzogene Gefühle, die auf privaten Gewohnheiten und Vorurteilen
gründen, von natürlichen Gefühlen unterschieden werden, die allen Menschen gemeinsam
sind (V-PP/Herder AA 27,1, 6).
Reflektierende Urteilskraft 173
153
GMS AA 4, 442f.
154
KpV AA 5, 58.
155
GMS AA 4, 398. Vgl. hierzu auch Wood 2008, 27.
174 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
156
GMS AA 4, 413.
157
Ein Sonderfall sind freilich das Interesse der Vernunft und die Achtung.
158
GMS AA 4, 432.
159
Was der Pflicht ihren höheren Wert gegenüber einem natürlichen gutartigen Tempe-
rament verleiht, ist gerade, dass ihre Realisierung in unserer Verfügungsgewalt steht (GMS
AA 4, 398).
160
GMS AA 4, 390; V-Mo/Collins AA 27, 301; vgl. Louden 2000, 9f.
161
V-Mo/Collins AA 27, 244; vgl. hierzu: Louden 2000, 8; 28 ;Wood 2003, 44.
162
Louden 2000, 11.
163
MdS AA 6, 212f.
Reflektierende Urteilskraft 175
169
Düsing 1986, 26; Wood 2003, 40; GMS AA 4, 388; V-Mo/Mron II AA 29, 599; vgl.
hierzu Louden 2011, 64.
170
MdS AA 6, 217; Kleingeld 1995a, 57.
171
OP AA 21, 557; MdS AA 6, 217. Aufgeklärte Erziehung ist für den Menschen not-
wendig, da er nur Mensch im Sinne eines autonomen Wesens werden kann, wenn er hier-
zu erzogen wird (Päd AA 9, 441; 443; Louden 2000, 20f.; 39f.). So gesteht vor allem die
spätere Philosophie Kants der Anthropologie als „Aufklärung fürs gemeine Leben“ (V-
Anth/Mensch AA 25, 853) eine immer größere Rolle zu.
172
Nach Beck könnte moralische Erziehung im strikten Sinne deshalb unmöglich sein
(Beck 1960, 235).
173
MdS AA 6, 387.
Reflektierende Urteilskraft 177
ßen die Anerkennung des Menschen als autonomes Wesen und Zweck
an sich äußerlich auf. Auch wenn gesellschaftliche Umgangsformen blo-
ßer Schein sind, manifestiert sich in ihnen das menschliche Interesse an
Autonomie. Deshalb kann dieser äußere Schein dann auch in die Gesin-
nung übergehen.174 Insofern schreibt Kant auch den kontingenten gesell-
schaftlichen Formen äußerer Sittlichkeit einen Wert für die moralische
Aufklärung des Subjekts zu.
Wir können zusammenfassen: Das Subjekt der anthropologischen
Aufklärung durch Erziehung ist bei Kant der empirische Mensch in sei-
ner sinnlichen und kulturellen etc. Bedingtheit. Dieser Aspekt der Auf-
klärung richtet sich gerade nicht auf das Noumenon Mensch, sondern
auf den phänomenalen Menschen und die Aktualisierung seiner Freiheit
im Reich der Erscheinungen, die sowohl eingeschränkt als auch zerstört
werden kann.175 Die Möglichkeit der Aktualisierung dieser Freiheit setzt
aber bereits die noumenale Selbstbestimmung des Menschen zur Freiheit
in der Revolution seiner Denkungsart voraus.
Das hier behandelte Moment der Aufklärung intendiert also die
Konkretisierung und Aktualisierung noumenaler Freiheit im gesell-
schaftlich situierten Menschen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Be-
deutung, die Kant der Tugend als aktualisierter Freiheit beimisst.176 Tu-
genden sind Realisierungen individueller innerer Freiheit. Je tugendhaf-
ter ein Individuum ist, umso freier ist es nicht unter dem Gesichtspunkt
transzendentaler Freiheit, sondern aktualisierter, erscheinender Frei-
heit.177 Der Grad dieser Freiheit lässt sich nach der Größe der Hindernis-
se bestimmen, die dank der Tugenden überwunden werden können. In
ihrer – für uns unerreichbaren – Vollkommenheit würde nicht mehr der
Mensch die Tugend besitzen, sondern die Tugend den Menschen, da er
mit Notwendigkeit jedes Hindernis der Pflicht überwinden würde. 178
Der Mensch, der von der Tugend besessen wird, herrscht über sich
selbst, indem er alle Neigungen unter die Gewalt seiner vernünftigen
Freiheit bringen kann.179 Die Entwicklung dieser Tugend und damit die
Verwirklichung der Freiheit können sich aber nur in einer aufgeklärten
Gesellschaft adäquat vollziehen.
174
KpV AA 5, 151f.
175
Guyer 2000, 149.
176
Ausführlich hierzu: Esser 2004; Louden 2011, 3-15.
177
MdS AA 6, 394.
178
MdS AA 6, 406.
179
MdS AA 6, 408.
178 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Der Übergang aus dem wilden Zustand in den bürgerlichen, aus dem rohen in
den verfeinerten (Üppigkeit) des Geschmaks und der Kunst, aus der unwissen-
heit in den Aufgeklärten der Wissenschaft, kurz: aus der Unmündigkeit in die
Mündigkeit ist der schlimste. [...] Eine generation muss die andre erziehen. und
nur die gattung, nicht das individuum, erreicht ihre Bestimmung. [...] Die Be-
stimmung erreicht er durch Erziehung, Religion und Staatsverfassung.
Dreyerley art der Unmündigkeit.185
186
Anth AA 7, 322.
187
KU AA 5, 431.
188
Päd AA 9, 449f.; Louden 2000, 40.
189
Vgl. hierzu auch Louden 2000, 143. Man kann etwa daran denken, dass die techno-
logische Entwicklung den Menschen von seiner ständigen Sorge um Nahrung, Kleidung
und Wohnung befreit.
190
Louden 2000, 40; Päd AA 9, 464, 444; Refl 1497 AA 15, 766ff. Dass die Kultivierung
dennoch nicht unmittelbar moralischen Interessen folgt, zeigt sich schon darin, dass sie
nach Idee seiner „Ungeselligkeit“ entspringt (Louden 2000, 143; AA 8, 22).
191
KU AA 5, 432.
192
Refl 993 AA 15, 438; vgl. hierzu auch: KU AA 5, 267; 354. Louden 2000, 109.
180 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
den Mann zu bringen“ und so andere Menschen für unsere Zwecke ge-
brauchen zu können.193 Auch sie hat jedoch moralische „Nebenwirkun-
gen“: So fällt unter die Zivilisierung des Menschen nicht nur die Verfei-
nerung der Neigung, seine Empfindungen zu kommunizieren, 194 son-
dern auch der Eintritt in die Gemeinschaft des Rechts und eine ethische
Gemeinschaft.195 Nur durch diesen Eintritt in eine bürgerliche Gesell-
schaft und weltbürgerliche Rechtsgemeinschaft kann der Mensch nicht
nur seine technisch-praktischen und moralischen Anlagen vervoll-
kommnen, sondern vor allem seine äußere Freiheit realisieren und seine
Naturanlagen entwickeln.196
Das Menschliche Geschlecht erreicht endlich seine Bestimmung völlig. Diese ist
nur durch die vollkommenheit der bürgerlichen Verfassung und dadurch der
Staatverfassung, d. i. des Natur und Volkerrechts möglich.197
193
Päd AA 9, 486; 450; Anth AA 7, 322; vgl. Louden 2000, 40f.
194
KU AA 5, 297.
195
Raedler 2015, 210.
196
KU AA 5, 432; TP AA 8, 307.
197
Refl 1501 AA 15, 789.
198
Idee AA 8, 26.
199
Nach Herman können Menschen sich und andere in Idee nur unter der Vorausset-
zung einer bürgerlichen Gesellschaft als Subjekte moralischer Autorität verstehen. Des-
halb müsse die bürgerliche Gesellschaft auch durch die Natur hervorgebracht werden. In
GMS spiele dies dagegen keine Rolle, weil sie mit der Frage der sozialen Bedingungen der
Autonomie des Menschen nicht befasst sei (Herman 2009, 160).
200
Anth AA 7, 333.
201
ZeF AA 8, 366.
202
Kleingeld 2009, 174.
Reflektierende Urteilskraft 181
Wir haben gesehen, dass die Prozesse der Kultivierung, Zivilisierung und
Moralisierung von Kant als geschichtliche Entwicklungsprozesse ge-
dacht werden. Damit tritt die historische Dimension des Menschseins in
den Fokus seines Aufklärungsprojekts. Mit der Betrachtung der ge-
schichtlichen Entwicklung überschreitet Kant die ihm von Aufklärungs-
kritikern vorgeworfene Fokussierung auf das abstrakte, a-historische
Subjekt. 206 Dabei steht das Interesse im Vordergrund, wie sich der
Mensch als Gattungswesen vervollkommnen und seine Bestimmung er-
reichen kann.207 Denn die Erziehung des Menschen durch Kultivierung,
Zivilisierung und Moralisierung, sowie die Erziehung im eigentlichen
Sinne (als Pädagogik) unterliegen selbst einem historischen Prozess – ei-
ner „Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung über-
liefert“:208
Jede Generation, versehen mit den Kenntnissen der vorhergehenden, kann im-
mer mehr eine Erziehung zu Stande bringen, die alle Naturanlagen des Men-
schen proportionirlich und zweckmäßig entwickelt und so die ganze Menschen-
gattung zu ihrer Bestimmung führt.209
203
Raedler 2015, 210.
204
Päd AA 9, 451; Idee AA 8, 26; V-Anth/Mensch AA 25, 1198; vgl. Louden 2000, 41f.
205
„Wir haben den hochsten Grad der cultur, den wir ohne Moralitaet besitzen können;
die civilitaet hat auch ihr maximum. Die Bedürfnis in beyden wird endlich die
moralisirung erzwingen, und zwar durch Erziehung, Staatsverfassung und Religion. Jetzt
ist die Religion nichts anderes als eine civilisirung durch eine disciplin.“ (Refl 1460 AA 15,
641.)
206
Ameriks 2009, 48f.
207
Louden 2000, 54; Idee AA 8, 18f.; 23; Refl 1499 AA 15, 781–785; V-Anth AA 25,
1417; 696; V-Mo/Collins AA 27, 471; V-PP/Powalski AA 27, 234f.
208
Idee AA 8, 19.
209
Päd AA 9, 446.
182 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Mit dem Konzept der reflektierenden Urteilskraft kann Kant diese ge-
sellschaftlichen Aufklärungsprozesse systematisch in seine Aufklärungs-
philosophie integrieren: Die empirische Geschichte des Menschen kann
durch die reflektierende Urteilskraft nach dem Prinzip der Zweckmä-
ßigkeit so betrachtet werden, als ob sie Wirkung einer verständigen und
zugleich moralischen Ursache wäre, die vermittelst der Geschichte die
Freiheit des Menschen realisieren will.
Die Betrachtung der Geschichte als Historie der Verwirklichung
menschlicher Freiheit ist dabei im Hinblick auf die moralphilosophi-
schen Grundlagen Kants jedoch nicht unproblematisch. So sieht
Schleiermacher einen Widerspruch zwischen Kants Theorie der Freiheit
einerseits und seiner Anthropologie andererseits. 210 Kant müsste sich
entscheiden, entweder anthropologisch die Entscheidungen des Men-
schen zu naturalisieren und seine Moralität hinsichtlich ihrer empiri-
schen Einflüsse zu betrachten oder die Natur des Menschen transzen-
dentalphilosophisch als zeitfreie Wahl zu verstehen. 211 Anthropologie
auf Grundlage der kantischen „Denkungsart“, die das handelnde Subjekt
als frei von aller Natur setzt, sei „gar nicht möglich“ und eigentlich die
„Negation aller Anthropologie“.212 Dies ignoriert jedoch, dass Geschich-
te bei Kant gemäß dem subjektiven Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne
Zweck nur so betrachtet wird, als ob sie zweckmäßig wäre.
Kants Denken scheint jedoch zunächst überhaupt keine Geschichte
menschlicher Freiheit zuzulassen, da das Subjekt der Freiheit als Nou-
menon nicht unter geschichtlichen Bedingungen steht. Um dieses Di-
lemma aufzulösen, muss man zunächst berücksichtigen, dass der trans-
zendentale Diskursrahmen der Geschichtsbetrachtung unter dem Ge-
sichtspunkt der Freiheit ein anderer ist als der der Naturwissenschaften.
Den Diskursrahmen für erstere kann Kant erst mit der Entdeckung der
reflektierenden Urteilskraft bereitstellen. Ohne sie und ihr Prinzip der
Zweckmäßigkeit wäre es nicht möglich, die weltbürgerliche Kommuni-
210
Die entsprechende Rezension Schleiermachers erschien anonym in Schlegels Athe-
naeum 2. Band 2. Teil pp. 300ff.
211
Frierson 2003, 2. Cohen will das Problem dadurch lösen, dass Humanwissenschaf-
ten kein Wissen im Sinne von wahren Aussagen liefern, sondern ein ausschließlich prag-
matisches Ziel verfolgen, nämlich die Menschen dabei zu unterstützen, ihre Zwecke zu
realisieren (Cohen 2009, xii). Dennoch müssen die Aussagen aber weltbürgerlich kommu-
nikabel sein. Wenn Geschichte wesentlich zum Aufklärungsdiskurs gehören soll, muss sie
auch die Bedingungen weltbürgerlicher Kommunikation erfüllen können. Gleiches gilt
für die Anthropologie: Auch sie muss kosmopolitisch sein, als Reflexion auf die gesamte
Gattung Mensch (Anth AA 7, 120).
212
Schleiermacher 1984, 366.
Reflektierende Urteilskraft 183
ZeF AA 8, 362). „Vorsehung“ hingegen bringt eher die moralische Absicht zum Aus-
druck (ZeF AA 8, 361f.; TP AA 8, 310; 312; Kleingeld 1995a, 123–125).
220
KU AA 5, 383.
221
KU AA 5, 382f.
222
Auf diesen Unterschied gehen wir später ausführlicher ein.
223
Allison 2009b, 24f.; Idee AA 8, 29.
Reflektierende Urteilskraft 185
224
KU AA 5, 179.
225
Idee AA 8, 27.
226
Vgl. auch Kleingeld 1995a, 28.
227
Yovel kritisiert dagegen Kants Idee von einem Plan der Natur als dogmatisch, da es
für sie keine rationale Begründung gebe. Kant unterstelle der Natur Absichten (Yovel
1980, 127; 140; vgl. auch Deligiorgi 2005, 105).
228
ZeF AA 8, 368. Nach Kleingeld interessiert Kant in KU und Idee spekulativ die
„Ordnung der Erscheinungswelt“, das regulative Prinzip ist hierbei die teleologische Ge-
schichtsauffassung. In Gemeinspruch und ZEF wolle Kant hingegen die Ausführbarkeit
des moralischen Gebots nachweisen (Kleingeld 1995a, 85).
229
Hierin sieht Kant auch den Unterschied zwischen sich und Herder: Herders Anth-
ropologie in den Ideen erhebe sich nicht über die theoretische Erkenntnis des Menschen.
Gleichzeitig ist Kants Anth eine Kritik an Platners Versuch einer rein physiologischen
Anthropologie, die den Menschen nicht als frei Handelnden betrachtet im Hinblick da-
rauf, was er aus sich machen kann und soll (Louden 2011, 80f.; Anth AA 7, 119).
186 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
1
KU AA 5, 294.
2
KrV B 581/A 553; B 583/A 555; Refl 4849 AA 18, 7.
3
GMS AA 4, 457.
Reine Voraussetzungen 187
I. Reines Selbstbewusstsein
4
KrV B xl. Die „Reinheit“ des Selbstbewusstseins soll dabei nicht so verstanden wer-
den, dass Selbstbewusstsein rein für sich bestehen könnte. Da sich die transzendentale
Einheit der Apperzeption im Akt der Synthesis konstituiert, ist es vielmehr je schon auf
zu Synthetisierendes angewiesen (vgl. hierzu auch Sturma 1985, 56; Düsing 1997, 106;
Förster 2012, 42). So stellt sich die Einheit der Apperzeption erst im „Akt des Aufneh-
mens“ von Mannigfaltigem her (Horstmann 2007, 139). Die synthetische Einheit der Ap-
perzeption hat deshalb den Primat gegenüber der analytischen Einheit der Apperzeption
(KrV B 134).
5
KrV B 131. Vgl. hierzu: Allison 1996, 47; Düsing 2004, 101; Kitcher 2011, 11.
6
Sturma 1985, 30.
7
Kitcher 2011, 7.
8
Log AA 9, 101.
9
Vgl. hierzu: Sturma 1985, 32–34.
188 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
10
Prol AA 4, 318.
11
KrV B 157–159; B 278; Anth AA 7, 134. Zu dieser Differenz vgl. etwa Sturma 1985,
74f.; 83. Die den Kategorien entsprechenden logischen Urteilsfunktionen sind „Modi des
Selbstbewußtseins“ (KrV B 406). Die innere Erfahrung ist hingegen „das Materielle des-
selben und ein Mannigfaltiges“ (Anth AA 7, 141).
12
Anth AA 7, 141.
13
KrV B 157f.; 420; Förster 2012, 40.
14
KrV A 354. Dagegen: Crone 2007, 163.
15
KrV B 404/A 346.
16
KrV A 350; vgl. hierzu etwa auch Ameriks 2000a, 54.
17
Düsing 1997, 106.
18
KrV A 118; B 422; Longuenesse 2008, 17; 24; Sturma 1985, 63; Ameriks 2000b, 15;
Allison 2004, 172.
Reine Voraussetzungen 189
29
„Es gibt keinen transzendentalen Akteur über das empirische Subjekt, über die kon-
krete, raumzeitliche Person hinaus; der transzendentale Akteur ist vielmehr ein unselb-
ständiger, durch Abstraktion isolierter Zug der Person.“ (Koch 2004a, 114.) Vgl. auch
ibid., 150.
30
Klemme 1996, 194.
31
Longuenesse 2008, 17; 24.
32
So sind transzendentales und empirisches Subjekt dasselbe Subjekt. Sie sind nur der
Form, aber nicht dem Inhalt nach verschieden (Anth AA 7, 134). Ich als denkendes Wesen
und als Sinnenwesen sind identisch, aber als Gegenstand der Anschauung erscheint sich
das Ich nur als Erscheinung, nicht als reine Spontaneität (ibid., 142).
Reine Voraussetzungen 191
33
Dagegen stellt Kants Theorie der Apperzeption nach Kitcher eher einen „phänome-
nalen, wenn auch hoch abstrakten, Aspekt des Selbsts“ (Kitcher 1990, 139; 123; 127) dar.
34
So kann Kant schreiben, dass sich der Mensch dadurch, dass er eine Vorstellung von
Ich hat, „unendlich über alle andere auf Erde lebende Wesen“ (Anth AA 7, 127) erhebt.
Nach Ameriks ist dies jedoch ein unglückliches Relikt früher Versuche Kants, Personali-
tät an theoretische Spontaneität zu binden und nicht an die praktisch-moralische Freiheit
(Ameriks 2000a, 129).
35
Longuenesse 2013, 103; Anth AA 7, 127.
36
KrV A 366.
37
RGV AA 6, 26; vgl. auch: MdS AA 6, 223.
38
KrV B 408f. Kant macht zugegeben einen äußerst vielfältigen Gebrauch von den Be-
griffen „Personalität“ und „moralisches Ich“. Von diesen Differenzierungen wollen wir
zunächst absehen.
39
Persönlichkeit setzt ein Bewusstsein des Sittengesetzes voraus. Denn ohne ein sol-
ches Bewusstsein würden wir uns unserer Freiheit und der Zurechnungsfähigkeit unserer
Handlungen nicht bewusst (RGV AA 6, 26).
192 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Die Anlage für die Persönlichkeit ist die Empfänglichkeit der Achtung für das
moralische Gesetz, als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür.41
Person zu sein heißt also, sich als Adressat von durch die Vernunft auf-
erlegten Pflichten zu verstehen und damit als Wesen, das sich nach Frei-
heitsprinzipien selbst bestimmt.42 Eine Person muss sich damit immer
auch als Noumenon betrachten.43
Kant konzipiert deshalb den Adressaten der Aufklärung als ein empi-
risches Individuum, das sich zugleich als noumenaler Akteur und damit
als Person verstehen muss. Wenn die Forderung nach Aufklärung näm-
lich gerechtfertigt sein soll, dann muss ihr Adressat als ein Akteur ver-
standen werden, der nicht nur empirischen Kausalgesetzen unterworfen
ist, sondern sich selbst durch reine praktische Vernunft und zeitlos gülti-
ge moralische Normen bzw. Gründe zum Handeln bestimmen kann.44
Dazu wiederum muss er sich als noumenaler Akteur verstehen, der die
Maximen seines Handelns frei wählen kann (libertas noumenon) und
nicht wie die Erscheinungen durch vorherige Zustände determiniert ist.45
Dieses reine moralische Selbst ist aber gerade „das Selbst des morali-
schen Weltbürgers“.46
Um Adressat der Aufklärungsforderung sein zu können, muss sich
das Individuum also unter zwei Aspekten betrachten: Es muss sich nicht
nur als Naturobjekt verstehen, sondern sich auch als den freien Grund
seiner Handlungen betrachten. Dies ist nur möglich, sofern es sich nicht
bloß als empirisches Ich versteht, sondern zugleich als noumenales Ich
bzw. Subjekt transzendentaler Freiheit. 47 Die theoretische Philosophie
zeigt nach Kant, dass wir durch die gegebene Wirklichkeit auch nur in-
sofern bestimmt sind, insofern wir uns als empirischer Gegenstand in der
40
Anth AA 7, 324; MdS AA 6, 434.
41
RGV AA 6, 27.
42
MdS AA 6, 435.
43
OP AA 21, 62.
44
MdS AA 6, 216. In der Redeweise von Sellars und McDowell könnte man also sagen,
dass der Mensch als moralischer Akteur sich selbst mit seiner Vernunft im „Raum der
Gründe“ verorten muss. Betrachten wir uns nur als empirische, durch Naturgesetze de-
terminierte Objekte, so bleibt unser Selbstverständnis unvollständig (Sedgwick 2008, 46).
45
KpV AA 5, 97f.; OP AA 21, 418.
46
Brandt 2003b, 68f.
47
Dieses Subjekt der Freiheit kann nicht Erscheinung, also kein Gegenstand möglicher
Erfahrung sein (Prol AA 4, 343).
Reine Voraussetzungen 193
54
Allison 1996, xivf.
55
GMS AA 4, 450; Beck 1960, 31. Vgl. hierzu auch: GMS AA 4, 458; 448; Allison 2004,
35; 48.
56
Reath 2006, 276f. Auch wenn wir den Willen als frei verstehen, sind die menschli-
chen Handlungen als seine Erscheinungen „eben so wohl als jede andere Naturbegeben-
heit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt“ (Idee AA 8, 17). Nach Allison sind wir
deshalb sowohl kausal determiniert als auch frei (Allison 1996, 19). Wichtig ist aber, dass
im Rahmen von Kants transzendentalem Idealismus die Handlungen als empirische Vor-
gänge nicht „an sich selbst bestimmt“, sondern nur für das erkennende Subjekt „be-
stimmbar“ sind (Heidemann 2012, 36).
57
Nach Beck konfundiert Kant hingegen zwei Formen von Freiheit, nämlich Freiheit
als Spontaneität und Freiheit als Autonomie (Beck 1993, 38f.).
58
V-Met/Mron AA 29, 896ff.
Reine Voraussetzungen 195
59
MdS AA 6, 213; 226.
60
KrV B 830/A 802; V-Met-L1/Pölitz AA 28, 255; 257; 267-270. Unser Wille drückt
damit nicht die Begierden selbst aus, sondern die Gründe, die wir den Begierden zu-
schreiben (Korsgaard 1989, 111f.). Im Akt der Deliberation muss sich auch der Determi-
nist diese Freiheit zuschreiben.
61
Allison 1996, 109; 119; 131; ders. 1990, 40; 96; vgl. auch: Pinkard 2002, 50.
62
KrV B 830/A 802. „Der Mensch wird dadurch nicht vom Natur-Mechanismo be-
freit, daß er bey seiner Handlung einen actum der Vernunft vornimmt. Jeder Actus des
Denkens, Ueberlegens ist selbst eine Begebenheit der Natur […]; z. E. ist dies der ge-
wöhnliche Fall, wenn wir die Vortheile, Nachtheile oder andere Folgen der Handlung als
ihre Ursache überlegen“ (MdS Vigilantius AA 27, 503f.; vgl. Brandhorst 2012, 293).
63
KrV B 831/A 803.
64
KrV B 830/A 802; MdS AA 6, 213f.
65
Willaschek 1992, 95; vgl. auch Beck 1960, 73.
66
Allison 1996, 132; ders. 1990, 54. Mit McDowell gesprochen: „Der Raum der Grün-
de ist der Raum der Freiheit.“ (McDowell 2012, 29.) Dagegen: Brandhorst 2012, 295–297.
196 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
77
GMS AA 4, 446f. Kant bestimmt Autonomie als eine „Beschaffenheit des Willens“,
wodurch er sich selbst „ein Gesetz ist“ (ibid., 440). Es scheint deshalb kein guter Ein-
wand, dass die kantische Moral keine autonome Moral sei, da man sich ja mit der Ver-
nunft nicht notwendig identifizieren müsse (Tugendhat 2004, 46).
78
Ameriks 2013, 57.
79
So ist das moralische Gesetz ratio cognoscendi der Freiheit, Freiheit ratio essendi des
moralischen Gesetzes (KpV AA 5, 3f.; 29f.). Die Realität der Freiheit wird durch ein Fak-
tum der praktischen Vernunft bestätigt (ibid., 6).
80
Allison 2011, 283; ders. 2013, 134.
81
Prol AA 4, 345.
82
V-Met Arnoldt AA 29, 1019.
83
Korsgaard 1992, 78; KpV AA 5, 33; 43.
198 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
Wir haben gesehen, dass man sich nur unter Voraussetzung eines nou-
menalen, transzendental freien und autonomen Selbst als Subjekt der
Aufklärung im Sinne Kants verstehen kann: Einerseits, weil wir uns nur
unter dieser Voraussetzung als ein mit normativen Ansprüchen konfron-
tierter Akteur verstehen können und die Forderung Kants sich aufzuklä-
ren ein solcher normativer Anspruch ist. Andererseits kann den Akt des
sich Aufklärens, wenn dieser in der Realisierung der Vernunftautonomie
besteht, nur ein freies Selbst vollziehen. Dieses Selbst oder Ich ist nun
aber nicht frei im Sinne einer Wahlfreiheit, sondern autonom. Für den
Akt der Aufklärung ergibt sich damit aber dasselbe Problem wie für alle
moralischen Handlungen: Inwiefern ist das Verbleiben im Zustand der
Unmündigkeit dem Unmündigen überhaupt zurechenbar bzw. selbst
verantwortet? Wenn nämlich freies Handeln sittlich-autonomes Han-
deln ist und dem freien Handeln das Naturgeschehen gegenübersteht, so
scheint es außer dem sittlichen Handeln kein freies Handeln, sondern
eben nur Naturgeschehen zu geben, für das das handelnde Subjekt nicht
84
Das Begründungsverhältnis, in das Kant moralisches Bewusstsein und Freiheitsbe-
wusstsein setzt, ändert sich jedoch. Der Grund hierfür ist allerdings umstritten: vgl. u. a.
Kersting 1984, 25; Prauss 1983, 69; Iber 2005, 98; Henrich 1994, 82f.; Ameriks 2003, 190.
85
Recension AA 8, 14.
86
Wood 1999, 60. Die Vernunft ist ein aktives Vermögen, autonom zu urteilen (Log
AA 9, 76; SF AA 7, 27).
Reine Voraussetzungen 199
Hat für Kant jede Ursache einen empirischen Charakter, durch die der
empirische „modus operandi“ ihrer Wirksamkeit bestimmt ist,89 so kann
man dem empirischen Charakter des Menschen noch einmal einen intel-
ligiblen Charakter zu Grunde legen. 90 Diesen noumenalen Charakter
wählt sich das noumenale Ich in einer intelligiblen, als von Zeit und Ort
unabhängigen Wahl. Die empirischen Handlungen und der daraus resul-
tierende empirische Charakter sind die räumlich-zeitlichen Manifestati-
onen dieser noumenalen Wahl. 91 Unser individueller „Lebenszusam-
menhang als ganzer“92 ist als Resultat der freien Selbstbestimmung unse-
res Willens und seiner Charakterwahl zu interpretieren, die sich in
unserem phänomenalen Charakter manifestiert. Mit dem Gedanken die-
ser Wahl wird die Quelle sowohl des Guten als auch des Bösen im Men-
schen radikal an seinen Willen zurückgebunden: Sein Wille und nicht
seine Natur, Neigungen oder Vernunft ist der Ursprung des Guten und
des Bösen in ihm.93
Bereits in KrV fungiert der empirische Charakter als das „sinnliche
Zeichen“ oder „sinnliche Schema“ (d. h. die Verdeutlichung) des an sich
unbekannten intelligiblen Charakters.94 Der empirische Charakter, der
sich in der erfahrbaren Sinnesart artikuliert, wird gedacht als transzen-
87
Prauss 1983, 81; Allison 1990, 2; Bernstein 2002, 13f.
88
Prauss 1983, 94.
89
Allison 1990, 30.
90
Allison 1990, 32.
91
Die Behauptung, jemand hätte in einer bestimmten Situation anders handeln können,
meint nach Willaschek eigentlich, dass er ein anderer intelligibler Charakter hätte sein
können (Willaschek 1992, 144).
92
Willaschek 1992, 145.
93
Bernstein 2002, 12f.
94
KrV B 574/A 546; B 581/A 553.
200 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
sem Konzept sollen alle sittlichen Handlungen auf einen vom morali-
schen Subjekt zu verantwortenden einheitlichen Vernunftursprung be-
ziehbar sein, der nicht in einem zeitlichen Verhältnis zu seinen einzelnen
Taten steht, sondern sich in jeder einzelnen Handlung manifestiert.110
Die noumenale Wahl besteht darin, ob der moralische Akteur sich unbe-
dingt an das Sittengesetz binden will, d. h. in der grundsätzlichen Ver-
hältnisbestimmung der Maxime der Sittlichkeit zur Maxime der Selbst-
liebe: Die Wahl, letztere ersterer unterzuordnen begründet dabei einen
guten, die Unterordnung ersterer unter letztere dagegen einen bösen
Charakter. Dieser manifestiert sich dann im empirischen Charakter als
Tugend der äußerlichen Befolgung gesetzmäßiger Handlungen.111
In der noumenalen Wahl wird also die grundsätzliche Gesinnung ei-
nes Menschen gewählt, sie ist der „erste subjective Grund“ dafür,112 wie
das moralische Subjekt von seiner Freiheit Gebrauch macht. Dem Ge-
brauch seiner Freiheit liegt mit der Wahl des Charakters ein subjektiver
Grund zu Grunde, der selbst ein Akt der Freiheit ist. Dieser Akt der
Freiheit ist der erste Grund, konkretere gute oder schlechte Maximen
anzunehmen und begründet damit das Gute oder Böse im Menschen.113
Nur auf Grund dieses subjektiven Grundes können ihm seine Handlun-
gen (der Gebrauch seiner Willkür) sittlich zugerechnet werden.114
stand möglicher Erfahrung, so würde sie auf eine bloße Erscheinung reduziert und so der
Zeitlichkeit unterworfen. Das Subjekt der Freiheit würde „als bloße Erscheinung vorge-
stellt“ (Prol AA 4, 343; KrV B xxviif.).
110
RGV AA 6, 41.
111
RGV AA 6, 47. Nach Johnson meint Kant mit dem guten Willen sehr
wahrscheinlich eine „disposition to make choices of a certain kind, a disposition to act on
certain policies and not others“ (Johnson 2009, 23). Diese Disposition würde das Subjekt
moralische Entscheidungen treffen lassen, auch wenn es faktisch nie moralischen Ent-
scheidungen ausgesetzt ist.
112
RGV AA 6, 25.
113
RGV AA 6, 21.
114
RGV AA 6, 26.
Reine Voraussetzungen 203
115
Reath 2006, 287.
116
Allison 1990, 153.
117
RGV AA 6, 31. Nach Wood ist die Lehre vom radikal Bösen kein theologisches
oder metaphysisches, sondern ein anthropologisches Lehrstück (Wood 1999, 291). Dage-
gen scheint mir mit McMullin die Lehre vom radikalen Bösen nur als „a transcendental
condition for practical reason’s understanding of itself as morally responsible“ (McMullin
2013, 67).
118
RGV AA 6, 44; 58. Die Unterordnung des Moralgesetzes unter die Selbstliebe iden-
tifiziert Kant mit der Erbsünde als der Trennung von Gott in Folge des Ungehorsams ge-
genüber dem göttlichen Willen (dem Sittengesetz) (Wood 2014, 32).
119
RGV AA 6, 32.
204 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
men und der Entscheidung, diese Triebfeder nicht mit anderen Triebfe-
dern zu verbinden oder ihnen zu subordinieren.128
Weder die intelligible Tat als Grund des radikalen Bösen in uns noch
die Revolution in unserer Gesinnung sind uns jedoch als mögliche Ge-
genstände der Erfahrung zugänglich.129 Empirisch zugänglich ist uns die
Reform der Sinnesart. Was aus intelligibler Perspektive eine Revolution
ist, erscheint aus empirischer Perspektive als Reform: als Kultivierung
der Wertschätzung der Pflicht im Herzen des Einzelnen.130 Die Revolu-
tion der Denkungsart ist nur als transzendentale Ursache für die zeitlich
prozessuale Reform der Sinnesart unseres empirischen Charakters vo-
rauszusetzen. Die Voraussetzung eines solchen revolutionären Willens-
entschlusses ist notwendig, da die sittliche Besserung uns sonst als äußer-
liches Geschehen widerfahren würde und uns nicht zugerechnet werden
könnte. Damit könnte aber die Kategorie der Moralität gar nicht auf die
Reform angewandt werden.131 Tugend kann zwar äußerlich habitualisiert
werden, als empirischer Prozess liegt hier aber nur eine äußere Verhal-
tensmodifikation vor. Um diese Habitualisierung als tugendhaft denken
zu können, muss ihr eine noumenale „Herzensänderung“ vorausgesetzt
werden.132 Die Habitualisierung muss deshalb von Kant als kontinuierli-
che Besserung der Gesinnung verstanden werden, die von der sittlichen
Revolution transzendental verursacht ist, in dem Sinne, dass diese Revo-
lution in jedem Moment der Habitualisierung gleich wirksam ist.133 Der
revolutionierte Mensch nähert sich der Idee eines heiligen Willens an,
der tatsächlich die reine Sittlichkeit zum Bestimmungsgrund all seiner
Handlungsmaximen machen würde.134 So sei der noumenal wiedergebo-
rene Mensch nur „auf der Wage der reinen Vernunft“, nicht „nach empi-
rischem Maßstabe“ ausschließlich gut.135 Denn auch der beste Mensch
besitzt nach Kant weiterhin einen Hang zum Bösen, das heißt sein intel-
ligibler Charakter ist zu schwach, angenommene Maximen immer und
128
RGV AA 6, 46.
129
Willaschek 1992, 159.
130
RGV AA 6, 48.
131
RGV AA 6, 60.
132
RGV AA 6, 47. Nach Willaschek kann diese Reform nur die Legalität der Handlun-
gen betreffen (Willaschek 1992, 161). Die Reform würde darin bestehen, in einem konti-
nuierlichen Prozess „überhaupt keine gesetzwidrigen Handlungen mehr zu vollziehen“
(ibid., 162). Einem durchgängig legalen empirischen Charakter könnten wir dann einen zu
Grunde liegenden radikal guten intelligiblen Charakter unterstellen (ibid., 161; 163).
133
RGV AA 6, 68.
134
RGV AA 6, 46f.
135
RGV AA 6, 25.
206 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
allein der Sittlichkeit wegen immer zu befolgen.136 Der Hang zum Bösen
kann so nie vollständig ausgelöscht werden.137
Da die noumenale Wahl isoliert von den Lebensvollzügen ist, fragt
sich jedoch, wie sie ein Interpretament für biographische Entwicklungs-
linien und Brüche sein soll. Kant charakterisiert die Revolution des Cha-
rakters als eine Tat der Freiheit, die sich in unserem wahrnehmbaren
Handeln nur manifestiert. Dies muss heißen, dass uns in Bezug auf die
Reform der Sinnesart nur das Wollen dieser Reform zugeschrieben wer-
den kann. Das Gelingen oder Misslingen oder die graduelle Ausprägung
dieser Reform scheint hingegen dann nicht mehr frei zuschreibbar zu
sein, sondern von äußeren Umständen abzuhängen.138 Das Problem ist
nun aber, dass damit immer noch nur die intelligible Tat moralischen
Wert hat, seine Sinnesart reformieren zu wollen. Da die noumenale Wahl
eine einzige und zeitfreie ist – bestehend in der Überordnung der Sitt-
lichkeit über das Streben nach Glückseligkeit – ist nicht verständlich, wie
diese Revolution ihrerseits Grade zulassen könnte. Damit wäre dann das
Gelingen der Reform völlig von den Gegebenheiten abhängig und nicht
mehr selbst Ausdruck des freien Willens. Es leuchtet also nicht ein, dass
der Grad der Reformierung noch einmal moralischen Wert besitzen
könnte. Dies bedeutet für den Prozess der Aufklärung: Nur der Ent-
schluss, den Stand der eigenen Unmündigkeit zu verlassen, ist moralisch
werthaft, nicht aber die graduelle Realisierung von selbigem.
Fassen wir zusammen: Die noumenale Wahl des guten Charakters be-
steht in einer Revolution der Denkungsart, in der der Mensch sich im
Ausgang von seinem radikal verderbten Charakter entscheidet, fortan
seine Selbstliebe der Maxime der Sittlichkeit unterzuordnen. Diese Wahl
soll unabhängig von allen empirischen Bedingungen erfolgen. Damit
bleibt auf Grund des asymmetrischen Verhältnisses zwischen Den-
kungsart und individuellen Lebensvollzügen jedoch unklar, wie diese
Revolution der Denkungsart bzw. Gesinnung in die individuelle Biogra-
136
RGV AA 6, 29f.
137
So wird nach Guyer in der Entwicklung der Tugend der Selbstbeherrschung Auto-
nomie realisiert. Autonomie im Vollsinne, nämlich die Unabhängigkeit von der Neigung
durch Befolgung des Vernunftgesetzes, könne nur prozessual realisiert werden (Guyer
2013, 77; vgl. V-Mo/Collins AA 27, 360ff.).
138
So interpretiert etwa Frierson den Kampf gegen die schlechte Sinnesart als Aus-
druck des revolutionierten Willens. Die Reform des eigenen Charakters ist für ihn Aus-
druck des freien Willen (Frierson 2003, 9).
Reine Voraussetzungen 207
phie des jeweils wählenden Subjekts integriert werden kann. Die freie
Wahl der Revolution der Denkungsart ist zwar eine Ursache, die sich in
der empirischen Welt äußert, die empirische Welt übt aber keinen Ein-
fluss auf die freie Wahl aus. Empirische Einflüsse verändern nur die Er-
scheinungsweisen der freien Wahl, ohne reziprok auf die Wahl selbst zu-
rückwirken zu können.139 Öffentliche Aufklärung, Erziehung etc. kön-
nen also diese Wahl nicht nur nicht äußerlich erzwingen, sondern ihnen
kann überhaupt kein Einfluss auf die freie Wahl zugeschrieben werden.
Das gilt auch für den Entschluss sich aufzuklären.
Wir wollen abschließend ausschließlich die Problematik der Konzepte
der noumenalen Wahl, der Revolution der Denkungsart und des radikal
Bösen für Kants Aufklärungskonzeption betrachten. Die Voraussetzung
einer noumenalen Charakterwahl ist für Kant notwendig, damit der Ein-
zelne sich seine Unmündigkeit als selbstverschuldet und dann auch den
Ausgang aus selbiger selbst zuschreiben kann bzw. muss. Unmündigkeit
und Revolution der Denkungsart, die der eigenen persönlichen Aufklä-
rung und dem Streben nach Autonomie im Handeln und Denken zu
Grunde liegen, müssen als dem intelligiblen Charakter zuschreibbare
Akte der Freiheit gedacht werden. Diese Akte können nicht in die Zeit
fallen und nicht empirisch bedingt sein. Ansonsten ließen sie sich nicht
als Akte reiner Freiheit verstehen, sondern wären durch zeitlich vorher-
gegangene Zustände nezessitiert. Insofern die noumenale Wahl von allen
empirischen Umständen unbedingt ist, kann Kant mittels dieser Kon-
zeption die Unmündigkeit des Menschen als selbstverschuldet bezeich-
nen. Mittels des Konzepts der Revolution der Denkungsart kann man
auch erklären, warum Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner
Unmündigkeit verstanden werden muss. Der Hang zur Unmündigkeit
muss in dem natürlichen Hang des Menschen, seine Vernunftautonomie
der Selbstliebe unterzuordnen, gründen. Der Ausgang muss auf noume-
naler Ebene als Revolution gedacht werden, auf phänomenaler Ebene
dagegen als Reform der Sinnesart. Insofern ist die Realisierung dieser
Revolution im empirischen Dasein dem Einzelnen nicht zuschreibbar,
sondern von äußeren Ursachen abhängig.
Für die öffentliche Aufklärung ergibt sich daraus jedoch, dass sie auf
die noumenale Wahl, sich aus der Unmündigkeit befreien zu wollen,
keinen Einfluss üben kann. Diese Revolution der Denkungsart ist aber
der eigentliche Akt der Freiheit. Die Einflussmöglichkeit öffentlicher
Aufklärung setzt also diese Revolution beim Einzelnen voraus und wirkt
dann nur noch auf die Reform des empirischen Charakters. Diese ist als
139
Frierson 2003, 97.
208 Aufklärung als weltbürgerliche Urteilspraxis
empirischer Prozess bedingt und damit dem Einfluss der Aufklärung zu-
gänglich. Kants Aufklärungsprojekt muss sich also damit bescheiden,
nur die Reform des empirischen Charakters oder des phänomenalen
Selbst zu betreffen.140 Aufklärung würde nur die Manifestation der Frei-
heit in der Erscheinung betreffen. Dies scheint jedoch eine sehr starke
Selbstbescheidung. Denn die Aufklärung stellt Gründe in den öffentli-
chen Raum, die sich das Subjekt in freier Weise zu eigen machen kann
und die dadurch in seine Deliberations- und Denkprozesse integriert
werden. Dadurch werden sie Momente der Selbstaufklärung.141 Dass für
das Selbstdenken relevante Gründe für das Subjekt überhaupt zu Grün-
den werden können, hängt dann davon ab, ob diese im öffentlichen
Raum zugänglich sind. Damit hätte die Zeitlichkeit oder der geschichtli-
che Stand Rückwirkungen auf den intelligiblen Charakter und seine
Freiheit und diese Freiheit müsste graduell verstanden werden. Gerade
das scheint Kant aber abzulehnen. Andererseits wäre dann nämlich die
Revolution der Denkungsart aus kantischer Sicht ein Ereignis in der Zeit
und damit Resultat eines natürlichen Prozesses. Insofern lässt Kant nur
einen Einfluss auf die empirische Manifestation der Moralität und Frei-
heit zu. Er müsste dementsprechend auch in zweifachem Sinne von der
Zeitfreiheit der Freiheit und des moralischen Selbsts sprechen. In einem
strengen Sinne als außerhalb jeglicher Zeitlichkeit stehend, in einem an-
deren Sinne nur insofern, als das Subjekt durch rationale Gründe be-
stimmt ist, die keinen zeitlichen Charakter haben und von Naturursa-
chen unterschieden werden müssen.
Fassen wir zusammen: Entgegen seiner Kritiker begreift Kant durch-
aus das konkrete Individuum als Adressat und Akteur der Aufklärung
und macht dessen historische Bedingtheit zu einem eigenen Thema theo-
retischer Aufklärung. Die abstrakten transzendentalen Strukturen des
erkennenden und moralisch handelnden Subjekts sind hingegen einer-
seits die Rahmenbedingungen der Möglichkeit eines weltbürgerlichen
Aufklärungsdiskurses, in dem die Selbstbestimmung aller potentiellen
Diskursteilnehmer anerkannt werden soll. Andererseits sind sie die Be-
dingung der Möglichkeit, an das historisch situierte Individuum die For-
derung nach Selbstaufklärung stellen zu können bzw. aus der Perspekti-
ve des Individuums diesen Anspruch anerkennen zu können. Das Prob-
lem ist aus unserer Sicht aber, dass Kant keine Rückwirkung der
historischen Bedingtheit auf diese transzendentalen Voraussetzungen
140
Dem stehen allerdings Stellen entgegen, die durchaus einen möglichen Einfluss der
Aufklärung auf die Revolution der Denkungsart nahelegen (vgl. etwa Anth AA 7, 294.)
141
Zum Zusammenhang von Aufklärung der Vernunft und Integration bei Kant vgl.
Henrich 1982, 47ff.
Reine Voraussetzungen 209
zulassen kann und sie absolut setzt. Spätestens bei der Konzeption der
Freiheit ergibt sich aber ein Problem, wenn das Konkrete keine Rück-
wirkung auf das Noumenale entfalten kann, da dies die Frage aufwirft,
welche Wirkung auf die Freiheit und die Entscheidung zum Selbstden-
ken bzw. der Revolution der Denkungsart Aufklärung dann noch entfal-
ten kann. Als Alternative zu dieser Aufklärung wollen wir deshalb im
folgenden Kapitel Jacobis Projekt einer anderen Aufklärung im Ausgang
von seiner Kritik an der Unbedingtheit von Kants transzendentaler
Strukturierung des Subjekts entwickeln.
KAPITEL 3
PERSONALE VERNUNFT ALS GRUNDLAGE EINER
ANDEREN AUFKLÄRUNG
A. Jacobis Kant-Kritik
Sollte nicht ein Unterschied zwischen dem Ich u dem Selbst gemacht werden
müßen? – Ich selbst involviert Identität, u kann nicht auf dieselbe Weise genera-
lisiert werden wie das Ich.2
Kants Konzeption des Ichs als formaler Selbstbezug hebt nach Jacobi die
Individualität des Selbst auf und ersetzt sie durch eine allgemeine forma-
le Struktur. An die Stelle der Person setzt Kant eine „unpersönliche Per-
sönlichkeit“ bzw. die „bloße Ichheit des Ich ohne Selbst“.3 Jedoch wird
hierbei für Jacobi nicht einfach nur ein falscher Sachverhalt beschrieben,
vielmehr ist diese Ich-Konzeption das notwendige Resultat der Dialektik
eines Denkens, welches das individuelle Selbst, das für Jacobi das Fun-
dament unserer rationalen Weltdurchdringung ist, seinerseits restlos
1
In der Tat „constituirt“ bzw. macht sich das Subjekt nach Kants OP selbst (AA 21,
85; 92f.).
2
Kladde VI, 131 Schneider 1986, 234.
3
JaF JW 2,1, 212. Kants Ich ist „nur ein Abstractum […], welches mein Verknüpfender
Verstand mit den Empfindungen des äußern Sinnes erzeugt, indem er das mannigfaltige
derselben, an einander reiht, u sich dieser Handlung bewußt ist, u sich auf diese Weise
selbst erzeugt“ (Kladde VI, 51 Schneider 1986, 220f.).
212 Personale Vernunft
aufklären möchte. Hierzu muss sich dieser Grund allen Denkens und
Handelns selbst begreifen. Begreifen besteht nun aber, wie Kant zu
Recht vor Augen legt, in der spekulativen Konstruktion dessen, was be-
griffen werden soll. Zum Zwecke der Konstruktion des Ichs muss das
Denken deshalb nach Jacobi folgende Schritte vollziehen: Die aufkläreri-
sche Tendenz des Denkens verlangt zunächst, das Selbst mit seinen indi-
viduellen Bestimmungen in einem spekulativen Abstraktionsverfahren
zu annihilieren. Denn das Individuelle ist gerade das, was nicht begriff-
lich konstruiert werden kann. Anschließend muss das Ich im Denken
mit seinen Bestimmungen wieder rekonstruiert werden. Nach Jacobi
geht zwischen beiden Schritten jedoch gerade das verloren, was Grund
unserer Denk- und Handlungsvollzüge ist, nämlich die konkrete Indivi-
dualität dessen, der Ich bin. Da das Denken nur Allgemeinheiten kon-
struieren kann, muss es notwendig am personalen Individuum scheitern.
Dieses Scheitern verschleiert sich das aufklärerische Denken jedoch da-
durch, dass es die individuelle Bestimmtheit des Selbst aus seiner Kon-
zeption von Ich als unwesentlich annihiliert. Die Aufhebung des Indivi-
duums zu Gunsten einer bloßen Ichheit ist dementsprechend kein Ab-
weg des Denkens, auf den Kant zufällig geraten ist, sondern Ausdruck
der aufklärerischen Tendenz des Denkens, das Individuum als nicht auf-
klärbaren, weil nicht konstruierbaren Grund aus dem Denken zu eska-
motieren.4
Was sich an der Transzendentalphilosophie (wie vorher bereits an der
Philosophie Spinozas) zeigt, ist gerade, dass das Individuum sich nicht
konstruieren, sondern eben nur in seinem unbegreiflichen Dasein als
Grund unserer praktischen und theoretischen Vollzüge vor Augen stel-
len lässt. Diese Unbegreiflichkeit in ihrem Dasein vor Augen zu stellen,
ist ein wesentliches Moment von Jacobis „anderer“ Aufklärung der Da-
seinsenthüllung, die er gegen Kants Aufklärungsprojekt etablieren
möchte.
Nun wäre freilich mit dem bloßen Beharren auf der Individualität al-
lein wenig gewonnen. Sowohl Schlegel als auch Hegel werfen Jacobi
vielmehr vor, gegen das spekulative Denken nur seine eigene, subjektive
Existenz retten zu wollen, deren Überwindung gerade Aufgabe der Phi-
losophie sei.5 Insofern sich Jacobi auf seine verabsolutierte „Friedrich-
Heinrich-Jacobiheit“6 zurückziehe, verabschiede er sich von vornherein
4
„Das Weiße, wohin der Verstand zielt, das er treffen will, ist das Nichts; oder das All,
minus Diversität, Individualität, Personalität“ (Kladde VIII, 1041 Schneider 1986, 32).
5
Jacobi macht dagegen deutlich, dass er sich nicht auf sein subjektives Gefühl beruft
(Bouterwek 173).
6
KFSA 2, 68.
Jacobis Kant-Kritik 213
aus dem philosophischen Diskurs und damit a fortiori auch aus dem
Aufklärungsdiskurs. Wenn Jacobis „andere Aufklärung“ sich also nicht
in einer trotzigen Behauptung des eigenen Selbst und seines Innenlebens
gegen alles Denken erschöpfen will, muss er zumindest zeigen, dass die
von ihm kritisierte Aufklärung des Subjekts an ihren eigenen Maßstäben
scheitert. Und dieser Maßstab kann sich eben nicht in der Selbstbehaup-
tung der je eigenen Individualität erschöpfen. Jacobi versucht deshalb zu
zeigen, dass die Transzendentalphilosophie an zwei Problemen scheitert:
Zum einen kann sie das Selbstbewusstsein nicht verständlich machen,
zum anderen kann sie den Übergang von den reinen Formen des Den-
kens zum Bestimmten nicht konstruieren.
ad 1.) Wie Dieter Henrich in Fichtes ursprüngliche Einsicht versteht
auch Jacobi Kants Selbstbewusstseinsmodell als Reflexionsmodell.7 Die-
sem Reflexionsmodell, das Selbstbewusstsein als vermittelt durch einen
denkerischen Identifikationsakt versteht, in dem das Subjekt des Den-
kens sich mit sich selbst identifiziert, setzt Jacobi eine Konzeption von
Selbstbewusstsein als unmittelbarem „Seins-“ oder „Selbstgefühl“ entge-
gen. Der Begriff des „Gefühls“ ist dabei für Jacobi nur ein Hilfsaus-
druck, um die besondere Natur des Selbstbewusstseins via negationis zu
bestimmen. Da Selbstbewusstsein allem Handeln und Erkennen zu
Grunde liegt, kann es nicht Resultat eines Reflexionsaktes, einer Synthe-
sis, eines Vergleichs oder einer Identifikation sein. Denn all diese Akte
setzten wie jeder geistige Akt immer schon die Selbigkeit dieses Selbsts
voraus.8
Eines für sich und ohne anderes ist der Mensch sich selbst durch seinen Geist,
den eigenthümlichen, durch welchen er der ist, der er ist, dieser Eine und kein
anderer. Als diesen Einen, der allein ist dieser Eine, und derselbe bleibt unter
allen möglichen Veränderungen, findet er sich nicht erst hintennach durch
Selbstvergleichung […]; denn worin geschähe die Vergleichung und Einbildung;
worin würde das Selbst dem Selbste gleich? und was wäre das noch nicht gleich-
gesetzte Selbst, das Selbst noch ohne eigenes Seyn und Bleiben, das durch gleich-
ungleich- und zusammensetzen, durch verknüpfen erst zu einem Selbste mit
eigenem Seyn und Bleiben, mit Selbstseyn würde? Was endlich verübte alles
dieses? – Er findet sich als dieses Wesen durch ein unmittelbares, von Erinne-
rung vergangener Zustände unabhängiges Wesenheitsgefühl, nicht durch Er-
kenntniß [.]9
7
Dagegen: Koch 2004a, 156.
8
Spin1 JW 1,1, 105; Sandkaulen 2004, 230f. Sandkaulen geht davon aus, dass Fichte sei-
ne „ursprüngliche Einsicht“ bezüglich der Zirkularität des Reflexionsmodells von Jacobi
übernommen hat (Sandkaulen 2017, 29).
9
GD JW 3, 26f.
214 Personale Vernunft
Nun könnte man gegen Jacobi einwenden, dass zwar in der Tat jeder
geistige Akt einen Einheitsgrund voraussetzt, der die Möglichkeit haben
muss, sich auf sich selbst zu beziehen, damit man sich diese Akte als die
seinigen zuschreiben kann. Eben deshalb können wir diesen Einheits-
grund mit Recht Ich nennen. Daraus folgt aber noch nicht notwendig,
dass dieser Einheitsgrund sich in allen seinen Akten permanent auf sich
selbst beziehen und sich damit seiner selbst bewusst sein muss. So ver-
langt Kant auch nur, dass das Ich alle seine Vorstellungen begleiten kön-
nen müsse. Eben dies ist aber aus Sicht Jacobis das Problem des Reflexi-
onsmodells. Denn für das Selbst ist das Bewusstsein seiner Selbigkeit ge-
rade konstitutiv. Ein Gleichsetzen kann nicht das Selbst erzeugen, weil
das Selbst nur im Selbst dem Selbst als Selbst gleichgesetzt werden kann.
Wäre das Bewusstsein des Selbst von sich selbst aber ein sekundärer Ref-
lexionsakt, der dem Selbst als solchem nachrangig ist, dann wäre das
Selbst einerseits Produkt einer Vergleichung (insofern „Selbst“ eben
nichts anderes bedeutet als etwas, das sich seiner Identität mit sich selbst
bewusst ist), andererseits würde das Selbst im Akt der Vergleichung,
durch den es hervorgebracht werden soll, bereits vorausgesetzt. Jeder
Versuch, das Selbst als Resultat eines Vorstellungs- oder Reflexionsaktes
zu begreifen, muss also scheitern. Dennoch wird dieses Selbst (das im-
mer ein Bewusstsein von sich selbst impliziert) in allen Akten des Selbsts
in Anspruch genommen, auch wenn dieses Bewusstsein seiner Selbst
nicht denselben Grad an Distinktheit aufweist, wie wenn sich das Selbst
selbst thematisiert. Eben deshalb kann sich Jacobi aber umso mehr be-
rechtigt fühlen, via negationis von einem Selbstgefühl statt –bewusstsein
zu sprechen.10
ad 2.) Wie später Hegel, so argumentiert bereits Jacobi, dass Kant mit
der Apperzeption eine Einheit setzt, ohne zu zeigen, wie sich aus und in
ihr die in seiner Transzendentalphilosophie in Anspruch genommenen
Unterschiede entwickeln lassen.11 Zu diesem Zweck führt er Kants for-
melle Einheit und abstrakte Identität von Bewusstsein, Raum und Zeit –
auf, nach Hegel, „wahrhafte Weise, nämlich dialektisch“ – in ihren Ab-
grund reiner „Nichtigkeit“. 12 Anders als für Hegel ist für Jacobi eine
10
So zieht er den französischen Begriff „le sentiment de l’être“ dem deutschen
„(Selbst-)Bewusstsein“ vor, da letzterer „etwas von Vorstellung und Reflexion zu invol-
vieren“ scheint (Spin1 JW 1,1, 105). Auch Kant spricht in Prol vom Ich als einem Daseins-
gefühl (AA 4, 334).
11
VGPh SW 20, 346.
12
JW GW 15, 15.
Jacobis Kant-Kritik 215
Sein bloßes reines Bewußtseyn ist ein bloßer leerer Raum des Denkens, den er
selbst nicht erfüllen; den er darum auch nicht unterbrechen kann, um durch eine
solche Unterbrechung wenigstens sich selbst in seiner Nichtigkeit zu wiederho-
len, und sein eigenes Echo, ein Ich bin – des Nichts hervorzubringen.16
So wird nach Jacobi bei Kant nicht klar, wie sich reines Bewusstsein
entweder immanent bestimmen oder durch ein anderes Unbestimmtes
bestimmt werden könnte. Der Übergang von reinem Raum, reiner Zeit
13
Deshalb bleiben Jacobis Überlegungen für Hegel dialektisch und werden nicht spe-
kulativ (JW GW 15, 15f.).
14
JaF JW 2,1, 195; vgl. KrV B 47f./A 32; Refl 4086 AA 17, 409f.; Prol AA 4, 286; Dörf-
linger 2000, 109; 114.
15
Der Spinozismus kann, wie bereits erwähnt, „nur von der Seite seiner Individuatio-
nen mit Erfolg angegriffen werden“ (Spin2 JW 1,1, 234). Denn Individualität erfordert ei-
nen bestimmten Grad an Selbstbestimmung, ansonsten löst sich das Individuum in Relati-
onen auf.
16
GD JW 3, 14f.
216 Personale Vernunft
Sollte nämlich eine Synthesis a priori erklärt werden, so hätte man zugleich eine
reine Antithesis erklären müssen. Doch es findet sich auch nicht die leiseste
Ahndung dieses Bedürfnisses. Vielmehr spricht Kant von einer Synthesis des
Gleichartigen ohne vorhergegangne Antithesis, als wäre ihre Möglichkeit nicht
dem geringsten Zweifel unterworfen.25
17
Krit JW 2,1, 289.
18
Krit JW 2,1, 264.
19
„Alle Verknüpfung setzt ein zu Verknüpfendes voraus, jede Handlung des Verbin-
dens, das ist, des Vereinigen, setzt Veruneinigtes zum voraus.“ (Krit JW 2,1, 287f.)
20
Epistel JW 2,1, 151f.
21
Dass bei Kant bereits der Raum als reine Anschauung differenziert sein müsste,
ergibt sich für Jacobi etwa aus Kants Feststellung, der Raum sei „das Mannigfaltige der
Anschauung a priori zu einem möglichen Erkenntnis“ (KrV B 137).
22
Epistel JW 2,1, 151f.
23
Kant ignoriert nach Jacobi dieses Problem, weil ihm die Logik und damit die Mög-
lichkeit analytischer Urteile „etwas schon ganz ausgemachtes ist“ (Krit JW 2,1, 265).
24
KrV B 138.
25
Krit JW 2,1, 271.
Jacobis Kant-Kritik 217
Kant muss also nach Jacobi die Möglichkeit einer reinen Antithesis klä-
ren, da diese selbst Bedingung der Möglichkeit der reinen Synthesis ist.
Denn reine Synthesis ist nach Kant eine Handlung, die eine a priori in
Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit verbindet. 26 Begriffe und
Grundsätze a priori setzen „reine Anschauungen, Anschauungen a prio-
ri“27 (im Plural!) voraus. Die Frage ist also, ob Kant eine solche reine
Antithesis denken kann. Hierfür gibt es mehrere Möglichkeiten, die Ja-
cobi durchspielt und zurückweist:
1. Das Ding an sich scheidet als möglicher Bestimmungsgrund des
theoretischen Bewusstseins aus, da es für selbiges nur ein negativer
Grenzbegriff ist, auf den die Erkenntnis sich nicht positiv beziehen
kann.28
2. Die zweite Möglichkeit, von der Kant nach Jacobi tatsächlich Ge-
brauch macht, besteht darin, die Differenziertheit empirisch vorauszu-
setzen. Dies ist aber insofern illegitim, als für die Erklärung der Mög-
lichkeit synthetischer Urteile a priori ja gerade von der Empirie abstra-
hiert werden soll. Wären Differenz und Bestimmtheit nur der Empirie
zu entnehmen und würden synthetische Urteile a priori diese Differenz
(in Form von Mannigfaltigkeit) zu ihrer intrinsischen Möglichkeit be-
reits voraussetzen, dann würde es sich eben nicht um Urteile a priori
handeln.29 Denn sie müssen zumindest „von allem Empirischen abge-
sondert, für sich allein vorgestellt und gedacht werden können“.30
3. Eine andere Alternative wäre, dass Raum und Zeit sich als reine An-
schauungen in sich selbst bestimmen. Damit die reinen Anschauungs-
formen Raum und Zeit a priori für die Synthesis des Verstandes eine
Mannigfaltigkeit bereitstellen können, müssten sie in und durch sich
selbst bestimmbar sein. Raum und Zeit als unendlich Unbestimmte
müssten in sich selbst Maß und Zahl setzen können. Die Sinnlichkeit ist
aber nur bestimmbar und in sich selbst unbestimmt. Insofern kann sie
nicht Prinzip von Bestimmung sein.31
4. Der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf der Subjektseite
korrespondiert nach KrV A mit dem transzendentalen Gegenstand auf
26
KrV B 103/A 77. KrV B 130 heißt es: „denn wo der Verstand vorher nichts verbun-
den hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstel-
lungskraft hat gegeben werden können“.
27
Epistel JW 2,1, 132.
28
Krit JW 2,1, 277.
29
Krit JW 2,1, 271.
30
Krit JW 2,1, 299.
31
Krit JW 2,1, 281. Zeit als Sukzession soll deshalb auch nach Kant erst durch die Ein-
bildungskraft entstehen (ibid., 301). Für Jacobi hingegen ist Zeit ursprünglich Sukzession,
da reine Zeit nicht in bestimmte Zeiten übergehen könnte.
218 Personale Vernunft
42
GD JW 3, 24.
43
GD JW 3, 24.
44
Krit JW 2,1, 278.
45
Krit JW 2,1, 279.
46
Krit JW 2,1, 278; vgl. auch ibid., 293; 295. Die kantische Philosophie müsste damit
konsequenterweise in Schellings Indifferenzphilosophie übergehen, in der das Subjekt
und das Objekt als eigenständige annihiliert werden und in der Indifferenz beider, der
„Kopula an sich“, untergehen (DBFK JW 2,1, 362).
47
KrV B 152.
48
Krit JW 2,1, 266.
49
Krit JW 2,1, 290.
220 Personale Vernunft
gorien mit der Anschauungsform der Zeit vermittelt werden, zeigt sich
die Bedeutsamkeit der Zeit für das menschliche Bewusstsein. 50 Kants
proton pseudos besteht für Jacobi nur eben darin, dass das reine Be-
wusstsein zunächst als zeitfrei konzipiert und erst nachträglich auf die
Zeit bezogen wird (zumindest der logischen Ordnung nach). Demge-
genüber ist für Jacobi menschliches Bewusstsein ursprünglich zeitlich
strukturiert.51
Kehren wir aber zu Jacobis Rekonstruktion der transzendentalen
Einbildungskraft Kants zurück: Sie ist nach Jacobi das „ursprüngliche
Vermögen sowohl absoluter Antithesis als Synthesis“.52 Ihre Tätigkeit ist
die Voraussetzung dafür, dass der Verstand überhaupt spontan tätig sein
kann. Sie ist aber ohne den Verstand selbst nur „ein blindes Treiben“,
„eine Urgeschäftigkeit aus und zu Nichts“;53 „ein reines leeres Dichten
hin und her, ohne hier und dort [also ohne Bestimmtes], […] eine reine
Actuosität im reinen Bewustseyn“.54 Auch sie kann also kein Vermögen
ursprünglichen Bestimmens sein, sondern setzt ein Bewusstsein voraus,
das durch eine nicht zu erklärende Mannigfaltigkeit (Bestimmtheit) der
Anschauung bereits bestimmt (vermannigfaltigt) ist, damit sie dann Ein-
heiten hervorbringen kann.55
7. Letzte Möglichkeit für die Erklärung von Bestimmtheit im reinen
Bewusstsein wäre die Vernunft selbst. Dieser entspringt ja die Idee vom
Unbedingten und Absoluten. Aber auch diese Idee des Unbedingten ist
selbst wiederum eine unbestimmte, „durch und durch leere Vorstel-
lung“ 56 und kann insofern nicht den Übergang zur Bestimmtheit be-
gründen.
Fassen wir zusammen: Kants Erklärung der Möglichkeit synthetischer
Urteile a priori setzt für Jacobi zu spät an: Sie setzt nämlich bereits die
Erklärung einer reinen Antithesis als Bestimmung des Unbestimmten
voraus. 57 Kant hätte nach Jacobi also zunächst die Möglichkeit einer
50
„Also sey dem Himmel für die Zeit gedankt, weil ohne sie kein Verstand verständig
würde und das reine Bewußtseyn selbst wohl den Geist aufgeben müßte.“ (Epistel JW 2,1,
138.)
51
Jacobi sieht hierbei eine gewisse Ambivalenz, insofern KrV nach Epistel nahelege,
dass das reine Bewusstsein „die eigentliche wahre Zeit“ selbst sei (JW 2,1, 142; vgl. auch
ibid., 150).
52
Krit JW 2,1, 279.
53
Krit JW 2,1, 280.
54
Krit JW 2,1, 282.
55
Krit JW 2,1, 286. Kant verschleiert sich diese Unmöglichkeit nach Jacobi dadurch,
dass er die produzierende und die reproduzierende transzendentale Einbildungskraft sich
wechselseitig voraussetzen lässt (ibid., 291).
56
Krit JW 2,1, 282.
57
Krit JW 2,1, 271.
Jacobis Kant-Kritik 221
58
Krit JW 2,1, 319.
59
Krit JW 2,1, 271. Die Notwendigkeit reiner Synthesis unabhängig von allem Empiri-
schen ergibt sich für Jacobi aus Kants Behauptung des Verstandes als „eine für sich selbst
beständige, sich selbst gnugsame, und durch keine äußerlich hinzukommende Zusätze zu
vermehrende Einheit“ (KrV B 89f./A 65). Nur wenn diese Selbstgenügsamkeit des Ver-
standes möglich wäre, könnte Kant zu Recht behaupten, dass aus dem Verstand eine reine
und allgemeine Elementarlogik hervorgeht. Ansonsten wären der Verstand und seine
Formen immer schon mit Empirie kontaminiert. Jacobi sieht aber, dass der Verstand auch
nach Kant erst durch die „Gemeinschaft mit der Sinnlichkeit“ zu einem Bewusstsein sei-
ner selbst als Verstand kommen kann (Krit JW 2,1, 280).
60
Krit JW 2,1, 321.
61
Krit JW 2,1, 289.
62
Krit JW 2,1, 321.
222 Personale Vernunft
Nach Kant verdankt der Mensch seine Würde seinem autonomen Wil-
len. Der Wille darf dabei durch keinen externen Zweck bestimmt sein, da
63
Krit JW 2,1, 289.
64
Krit JW 2,1, 321.
65
Krit JW 2,1, 294.
66
Krit JW 2,1, 321.
67
GD JW 3, 15; Krit JW 2,1, 321.
Jacobis Kant-Kritik 223
der Mensch ansonsten sich, seine Freiheit und seine Vernunft zu einem
bloßen Mittel für diesen vorausgesetzten Zweck macht.68
Man muss vielleicht nicht behaupten, dass der Mensch bei Kant nur
durch realisierte Autonomie Würde erlangt, aber es ist doch erst seine
Möglichkeit zur moralischen (Selbst-)Gesetzgebung, durch die er Würde
hat. 69 Nur insofern die Willkür des Menschen durch reine praktische
Vernunft bestimmt werden kann, ist er Zweck an sich. Sein absoluter
Wert resultiert nur aus dem, was er „in voller Freiheit“ tut.70
Hinsichtlich ihrer Möglichkeit autonomer Selbstbestimmung sind
nach Kant alle menschlichen Individuen gänzlich ununterschieden. Denn
diese wird gerade nur dann realisiert, wenn dem normativen Anspruch
des Sittengesetzes Folge geleistet wird. Adressat und zugleich Konsti-
tuent dieses Anspruchs ist der Mensch als „Menschheit in seiner Person“
bzw. homo noumenon71 und dieser ist der Gegenstand eigentlicher Ach-
tung, der Zweck an sich ist und nicht als Mittel gebraucht werden darf –
sowohl in der eigenen Person als auch der des Anderen.72 Eben deshalb
darf das Individuum sich selbst und den Anderen nicht zum bloßen Mit-
tel machen, weil es dadurch die Menschheit in der eigenen Person oder
der Person des Anderen instrumentalisieren würde. Damit trennt Kant
die empirische Person von dem universalen Aspekt seiner im eigentli-
chen Sinne achtungswürdigen Persönlichkeit.73 Nur unter seiner abstrak-
ten Bestimmung betrachtet besitzt das Individuum seine Würde. Eine
Pflicht besitzen wir deshalb auch nur gegen „die Würde der Menschheit
in uns“,74 nicht gegen den Menschen in seiner Konkretion als dieser in-
68
KpV AA 5, 87; GMS AA 4, 428; 449f.; V-NR/Feyerabend AA 27, 1319f.; vgl. hierzu
auch Horn 2014, 142. Dagegen setzen Interpreten wie O’Neill, Korsgaard oder Herman
den Grund für die Würde des Menschen in seine Fähigkeit, freie Zwecke zu setzen (Pip-
pin 1999, 80; Korsgaard 1996, 22; 114; vgl. hierzu: MdS AA 6, 392). Dagegen wendet Pip-
pin zu Recht ein, dass es Kant um moralisch realisierte Autonomie geht, nicht um bloße
Deliberation, die noch ein Fall von Heteronomie sein kann (nämlich dann, wenn die
Zwecksetzung durch empirische Ursachen bedingt ist) (Pippin 1999, 81ff.). So ist die Fä-
higkeit zur Setzung externer Zwecke nicht an sich selbst Grund von Würde, sondern als
Resultat der Möglichkeit autonomer Willensbestimmung des Menschen als gleichzeitigem
Sinnenwesen akzidentell mit der Würde verknüpft. Eigentlich handelt es sich dabei um
eine problematische Depravationsformen menschlicher Selbstbestimmung. Der Mensch
gibt seine Persönlichkeit auf, wenn er sich zum Mittel eigener Triebbefriedigung macht
(MdS AA 6, 425).
69
GMS AA 4, 434f.
70
KU AA 5, 208f. „Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und
jeder vernünftigen Natur.“ (GMS AA 4, 436.)
71
MdS AA 6, 423.
72
MdS AA 6, 436; 429.
73
Sandkaulen 2004, 232.
74
MdS AA 6, 436.
224 Personale Vernunft
Das Schöne hat mit allem Ursprünglichen [dem Guten und Wahren] das gemein,
daß es ohne Merkmale erkannt wird. Es ist u zeigt sich; es kann gewiesen, aber
nicht bewiesen werden.80
75
Denn der einzelne Mensch ist „unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person
muß ihm heilig sein“ (KpV AA 5, 87). Vgl. hierzu auch Korsgaard 1996, xi.
76
MdS AA 6, 429.
77
MdS AA 6, 470f. So kann Dieter Henrich feststellen, dass die andere Person und ihre
Hilfsbedürftigkeit in meiner moralischen Absicht, ihm helfen zu wollen, nur Anwen-
dungsgelegenheiten für die Universalisierbarkeit meines rationalen Willens sind (Henrich
1994, 102f.).
78
Henrich 1994, 103.
79
Epistel JW 2,1, 158.
80
Kladde X,111-121 Schneider 308f.
Jacobis Kant-Kritik 225
81
MdS AA 6, 337.
82
Der deutsche Rechtswissenschaftler A. B. Carpzov hatte 1678 seiner Dissertatio de
jure aggratiandi das Recht, im Gesetz festgelegte Strafen abzumildern oder aufzuheben, zu
einem essentiellen Aspekt souveräner Macht erklärt, weil dem Souverän die absolute
Macht positiver Gesetzgebung zukäme (Carpzov 1678 I I VII).
226 Personale Vernunft
Freiheit des Menschen hervorgeht, nur der Freiheit und Majestät des In-
dividuums dient:
„Ja, ich bin der Atheist und Gottlose, der, dem Willen der Nichts will zuwider –
lügen will, wie Desdemona sterbend log […] weil […] das Gesetz um des Men-
schen willen gemacht ist, nicht der Mensch um des Gesetzes willen. […] [M]it
der heiligsten Gewißheit, die ich in mir habe, weiß ich – daß das privilegium
aggratiandi wegen solcher Verbrechen wider den reinen Buchstaben des absolut
allgemeinen Vernunftgesetzes, das eigentliche Majestätsrecht des Menschen; das
Siegel seiner Würde, seiner Göttlichen Natur ist.“83
An Jacobis Formulierung ist auffällig, dass er statt von einem ius vom
privilegium spricht, weil in der Tradition des Römischen Rechts das Pri-
vileg sich gerade nicht auf die Gesamtheit aller Rechtssubjekte bezieht,
sondern explizit immer einzelne Personen adressiert. Mit seiner Wort-
wahl macht Jacobi deutlich, dass sich dieses Privileg immer nur an den
Einzelnen in seiner Individualität richten kann. Denn in der Entschei-
dung, ob der Geist des Moralgesetzes durch die Inanspruchnahme des
Privilegs als Ausnahme der allgemeinen Gesetzesregel tatsächlich erfüllt
wird, ist der Einzelne letztlich auf sich gestellt, wohingegen sich der
Buchstabe der allgemeinen Vernunft in gleicher Weise an alle richtet.
Der Mensch muss in seiner Inanspruchnahme des Privilegs, die Geltung
eines Gesetzes im konkreten Handeln zu suspendieren, als Individuum
also den Mut haben, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen.
Für Jacobi kann nicht nur die Moralität selbst nicht auf ein absolutes
Gesetz gegründet werden, das universell in jeder konkreten Situation
gelten würde, sondern auch die Anerkennung des Anderen kann nicht
darauf basieren, was er mit allen anderen Vernunftwesen gemeinsam hat.
Vielmehr muss sie auf dasjenige gegründet werden, was ein Individuum
zu diesem besonderen und von allen anderen Vernunftwesen unter-
scheidbarem Individuum macht. Damit scheidet aber die reine Vernunft,
die ihrer kantischen Konzeption nach in allen Menschen ununterscheid-
bar gleich ist, aus, um Grund der Anerkennung des Anderen zu sein.
Denn sie kann gar nicht der Grund für die besondere Lebensführung ei-
nes Individuums und seiner Entscheidungen sein und so auch nicht der
Grund, einer konkreten Person ihren „eigenthümlichen individuellen
Werth“ zuzuschreiben.84 Grund dieser Anerkennung muss vielmehr die
jeweilige Individualität sein:
83
JaF JW 2,1, 211.
84
Allwill2 JW 6,1 228.
Jacobis Kant-Kritik 227
Was die eigene Sinnesart, den eigenen festen Geschmack hervorbringt, jene
wunderbare innerliche Bildungskraft, jene unerforschliche Energie, die alleinthä-
tig, ihren Gegenstand sich bestimmt, ihn ergreift, festhält – eine Person annimmt
– und das Geheimniß der Sklaverey und Freyheit eines jeden insbesondere aus-
macht: das entscheidet.85
Es ist eben so unmöglich, daß der Mensch der reinen Vernunft lüge oder betrü-
ge, als daß die drey Winkel eines Dreyecks nicht zwey rechten gleich seyn. Aber
wird das wirkliche mit Vernunft begabte Wesen sich von dem abstracto seiner
85
Allwill2 JW 6,1 228f.
86
Koch 2013, 139.
87
Koch 2013, 134.
88
Kladde V, 751 Schneider 1986, 210.
228 Personale Vernunft
Vernunft wohl so in die Enge treiben, von einem Gedankendinge durch ein
Wortspiel so ganz sich gefangen nehmen lassen? – Nimmermehr!89
Fassen wir zusammen: Reine Vernunft allein kann weder das Subjekt
zum moralischen Handeln motivieren noch Grundlage der Liebe und
Anerkennung anderer Personen sein. Wenn die reine Vernunft vom Ge-
fühl isoliert wird und beide als heterogene Bestimmungen des Menschen
auseinanderfallen, dann ist nach Jacobi auch nicht klar, wie die reine
Vernunft im Menschen noch ein Gefühl wie das der Achtung hervorru-
fen können soll. Dies wird nur dann verständlich, wenn Vernunft und
Gefühl nicht grundsätzlich distinkte und heterogene Elemente des Men-
schen sind, sondern Momente einer ursprünglichen, unmittelbaren Ein-
heit, die erst in der nachträglichen Reflexion „künstlich“ auseinandertre-
ten.
Kants reiner oder vernünftiger Wille, insofern er weder durch Zwecke
noch durch Inhalte oder Gefühle bestimmt ist, ist für Jacobi seiner Kon-
zeption nach „ein Nichts wollendes Wollen“.90 Das einzige, was Kants
moralischer Wille eigentlich will, ist sein eigenes Wollen. So lässt sich für
Jacobi der kategorische Imperativ aus „dem Triebe der mit sich selbst
Uebereinstimmung“ ableiten:91 Dem reinen Interesse der Vernunft steht
beim sinnlichen Wesen das häufig unvernünftige Interesse des empiri-
schen Individuums entgegen und entzweit dieses mit sich selbst. Der ka-
tegorische Imperativ fordert die Aufhebung dieses Widerspruchs durch
die Unterordnung der sinnlichen Interessen unter das Interesse der Ver-
nunft und in dieser Forderung will die Vernunft dann nichts anderes als
sich selbst, nämlich ihre reine Identität mit sich selbst. Was das Sittenge-
setz vom Menschen fordert, ist deshalb nichts Bestimmtes in Form eines
Zwecks, sondern nur die abstrakte Identität mit sich selbst durch das
Absehen von allen Bestimmungen:
Das Moral-Princip der Vernunft: Einstimmigkeit des Menschen mit sich selbst;
stete Einheit – ist das Höchste im Begriffe; denn es ist diese Einheit die absolute,
unveränderliche Bedingung des vernünftigen Daseyns überhaupt; folglich auch
89
Spin2 JW 1,1, 166; Allwill2 JW 6,1, 228f. Hegel sieht hier übrigens ein ähnliches Prob-
lem: Sedgwick 2012, 2.
90
Schlosser JW 5,1, 230.
91
JaF JW 2,1, 213. In dieser Bestimmung des Prinzips der kantischen Pflicht folgt He-
gel Jacobi, wenn er feststellt, dass Kant die Pflicht durch nichts anderes bestimmt „als die
Form der Identität, des Sich-nicht-Widersprechens, was das Gesetzte des abstrakten Ver-
standes ist“ (VGPh SW 20, 368). Fichte bringt nach Jacobi die kantische Willensbestim-
mung in seiner Bestimmung des Gelehrten auf ihren wahren, abstrakten Begriff, nämlich
als praktische Applikation des Verstandesgesetzes der Identität (JaF JW 2,1, 214).
Jacobis Kant-Kritik 229
alles vernünftigen und freyen Handelns; in ihr und mit ihr allein hat der Mensch
Wahrheit und höheres Leben.92
Aufklärung, die die Vernunft von allen ihr fremden Elementen befreien
will, strebt also letztlich nach einer Vernunft, die nur noch identisch mit
sich selbst ist. Aus der Perspektive von Kants praktischer Vernunft ist
jede Pflichtübertretung ein Widerspruch in unserem Willen: Wir können
die Verallgemeinerung unserer Handlungsmaxime entweder nicht wider-
spruchsfrei denken oder wollen. Damit gestehen wir zwar die objektive
Notwendigkeit des Sittengesetzes zu, machen aber subjektiv eine Aus-
nahme für uns und verneinen damit subjektiv die Geltung des Geset-
zes.93 Ein Widerspruch in unserem Willen wäre gar nicht möglich, wenn
wir rein vernünftige Wesen wären. Als sinnlich-empirische Wesen kön-
nen wir uns aber diesen Widerspruch verschleiern, indem wir das Sitten-
gesetz praktisch auf eine bloß generell gültige Regel reduzieren.94
In dieser Reduktion der Moral auf abstrakte Einheit manifestiert sich
für Jacobi der Höhepunkt eines Moments spinozistischer Vernunftauf-
klärung, in der die spekulative Vernunft unter dem Namen praktischer
Vernunft zur Begründung unserer moralischen Praxis sich selbst genü-
gen soll. In Kant vollendet sich für Jacobi eine Denkungsart, die die Au-
tonomie der Vernunft dadurch herstellt, dass sie sie von allen nicht
durch sie selbst gegebenen Momenten reinigt. Dieser Aufklärung setzt
Jacobi seine andere Aufklärung entgegen, in der die Vernunft sich nicht
als Antagonist des Gefühls, sondern in ihrer unmittelbaren Einheit mit
dem Gefühl begreift.
Wenn der Moral ein Interesse reiner Vernunft zu Grunde liegt, so
scheint reine Vernunft zumindest durch dieses Interesse handlungswirk-
sam sein zu können. Dies versucht Jacobi, wie wir sahen, aber gerade zu-
rückzuweisen. 95 Für Jacobi lässt sich die Interessiertheit der Vernunft
mit der Konzeption reiner Vernunft gar nicht erklären. Vielmehr zeigt
sich im Interesse der Vernunft, dass diese immer schon eine Einheit mit
dem Trieb bildet. So liegt auch der vermeintlich reinen Vernunft selbst
ein Trieb zu Grunde, der von der Aufklärung Spinozas und Kants gar
nicht als solcher durchschaut ist und zwar der Selbsterhaltungstrieb der
92
JaF JW 2,1, 212.
93
GMS AA 4, 424.
94
GMS AA 4, 424; KpV AA 5, 19.
95
„Aber diese Einheit selbst ist nicht das Wesen, ist nicht das Wahre. Sie selbst, in sich
allein ist öde, wüst und leer. So kann ihr Gesetz auch nie das Herz des Menschen werden,
und ihn über sich selbst wahrhaft erheben“ (JaF JW 2,1, 212).
230 Personale Vernunft
Das Prinzip (oder das a priori) der Grundsätze überhaupt, ist die ursprüngliche
Begierde des vernünftigen Wesens, sein eigenes besonderes Daseyn, das ist, seine
Person zu erhalten, und was ihre Identität verletzen will, sich zu unterwerfen.100
Weil der Trieb nur auf die Identität der unbestimmten Persönlichkeit
mit sich selbst geht, schließt er andere mit ein:
Aus eben diesem Triebe fließt eine natürliche Liebe und Verbindlichkeit zur Ge-
rechtigkeit gegen andre. Das vernünftige Wesen kann sich als vernünftiges We-
sen (in der Abstraction) von einem andern vernünftigen Wesen nicht unter-
scheiden. Ich und Mensch ist Eins; Er und Mensch ist Eins: also sind er und ich
eins. Die Liebe der Person schränkt also die Liebe des Individui ein, und nöthigt
seiner nicht zu achten.101
96
„Chaque individu a donc une essence et une existence à lui bien déterminée et réelle,
quoique infiniment relative; et cette essence de l’individu, jointe à sa dépendance, est ce
que nous appelons dans les différens êtres leur nature particulière./La conservation et
l’amélioration de cette nature particulière est l’objet du désir absolu de l’individu.“
(Laharpe JW 5,1, 180.)
97
Spin2 JW 1,1, 158. Jedes Individuum versucht sich nach Jacobis Spinoza zu erhalten,
„allein um sich zu erhalten, und weil dies seine Natur, oder die Kraft, mit welcher es das
ist, was es ist, so verlangt. Dieses Streben nennen wir den natürlichen Trieb“ (Spin1 JW
1,1, 76).
98
Spin2 JW 1,1, 159.
99
Spin2 JW 1,1, 160.
100
Spin2 JW 1,1, 161; JaF JW 2,1, 246.
101
Spin2 JW 1,1, 161f.; JaF JW 2,1, 246.
Jacobis Kant-Kritik 231
1
„Das Vermögen der Selbstanschauung ist Vnft.“ (Kladde X, 281 Radrizzani 1998, 48.)
2
Spin1 JW 1,1, 20.
Die Personalität der Vernunft 233
nem Selbstbewusstsein setzt Jacobi deshalb das Bewusstsein von sich als
einer personalen individuellen Substanz, auf Grund derer man dieser
und kein anderer ist.3 Dieses Bewusstsein, das er explizit als Gegenent-
wurf zu Kants Selbstbewusstsein charakterisiert, bezeichnet Jacobi als
ein all unseren kognitiven und praktischen Akten zu Grunde liegendes
„Fundamentalgefühl“:
Individualität ist ein Fundamentalgefuhl; Individualität ist die Wurzel der Intel-
ligenz und aller Erkenntniß; ohne Individualität keine Substanzialität, ohne Sub-
stanzialität uberall nichts. Ichheit als eine bloße Handlung des Gleichsetzens von
– Nichts, als Nichts, in Nichts, durch Nichts, ist ein baarer Un-Gedanke […].
Reine Selbstheit ist reine Derselbigkeit ohne Der. – Der oder das ist nothwendig
immer ein Individuum. Also liegt der Identität Substanzialität, der Substanziali-
tät Individualität schlechterdings zum Grunde. Bewußt ist ein Adjectiv; es kann
ohne Substantiv nicht gedacht werden, und dieser Substantivus ist das, was sich
im Gefühl der Identität unanschaubar darstelt.4
3
Brief an Lavater vom 14.11.1787 JB 1,7, 11; DH1 JW 2,1, 58; 81f.
4
Brief an Jean Paul vom 16.3.1800 JNa 1, 238.
234 Personale Vernunft
Menschen, wobei Jacobi mit Spinoza unter der Substanz „das Seyn einer
Sache“ versteht, das keine Beschaffenheit ist, sondern das ist, „was allen
Eigenschaften, Beschaffenheiten und Kräften zum Grunde liegt“.7 Sie ist
„der Geist, woraus die ganze lebendige Natur des Menschen gemacht ist:
durch sie besteht der Mensch; er ist eine Form, die sie angenommen
hat.“8 Diese substantive Vernunft ist nicht nur eine Fackel, also ein In-
strument für die Erkenntnis, sondern „die Sehkraft selbst“, das ganze
Erkennen des Menschen.9 Sie ist keine Eigenschaft, die der Mensch ne-
ben anderen Eigenschaften oder Vermögen besitzt (von Jacobi auch ad-
jektive Vernunft genannt), sondern der Mensch ist umgekehrt ihr Besitz,
insofern sie seine Weise der Lebendigkeit bestimmt.10 Demgegenüber ist
die bloß „adjektive“ Vernunft – das von Gefühl und Leben isolierte Ref-
lexionsvermögen des Menschen – „für sich kein Wesen, sondern nur Ei-
genschaft und Beschaffenheit eines Wesens“.11
Ist die spinozistische Aufklärung einzig durch die adjektive Vernunft
bestimmt, so richtet sich Jacobis Aufklärungsprojekt auf die substantive
Vernunft.12 Seine Aufklärung will das Dasein einer Vernunft enthüllen,
die nicht bloß eine am Menschen auftretende Fähigkeit zu urteilen, zu
schließen etc., sondern als Geist des Menschen Prinzip all seiner Er-
kenntnis und Freiheit ist.13 Diese Vernunft strebt nach Jacobi ursprüng-
lich nach einer Erkenntnis, die ihn als ganzen Menschen und nicht nur
unter einer abstrakten Bestimmung befriedigt. Anders formuliert: Der
Mensch versucht sich sein Fundamentalgefühl aufzuklären. Als Geist
bedarf das menschliche Individuum daher einer „Kopf und Herz befrie-
digenden Wahrheit“,14 weil eben nicht nur das logische Vermögen des
Menschen, sondern auch seine Sinnlichkeit und seine Emotionen als
Geistige vernünftig sind. Der Mensch will sich in seinem Selbstverständ-
nis in seiner ganzen und ursprünglich ungeteilten Einheit verstehen. Das
Interesse von Jacobis anderer Aufklärung ist deshalb gerade die Selbster-
fahrung des ganzen, ungeteilten Menschen. Im Modus der Daseinsent-
hüllung will sie die substantive Vernunft des Menschen, „das substantiel-
le Geistsein des Daseins selbst“,15 aufklären. Die spinozistisch-kantische
Aufklärung reduziert dagegen für Jacobi die substantive Vernunft voll-
7
Spin1 JW 1,1, 59.
8
Spin2 JW 1,1, 260. Vgl. ebenso: Fromm JW 5,1, 127; JaF JW 2,1, 232.
9
DH1 JW 2,1, 88.
10
Vgl. hierzu: JaF JW 2,1, 232f.; Spin2 JW 1,1, 259f.
11
JaF JW 2,1, 232.
12
Spin2 JW 1,1, 260.
13
JaF JW 2,1, 232.
14
VSpin3 JW 1,1, 339.
15
Sandkaulen 1997, 359.
236 Personale Vernunft
ständig auf die adjektive.16 In dieser Reduktion besteht für Jacobi das
Defizit dieser Aufklärung. Sie betrachtet die Wirklichkeit und insbeson-
dere den Menschen selbst immer schon unter einem nur eingeschränkten
Gesichtspunkt. Dem setzt Jacobi seine Aufklärung des ungeteilten Men-
schen (der Person) und ihres Personbewusstseins entgegen:17
Mir ist Personalität α und ω; und ein lebendiges Wesen ohne Persönlichkeit
scheint mir das Unsinnigste, was man zu denken vorgeben kann. Seyn, Realität,
ich weiß gar nicht, was es ist, wenn es nicht Person ist.18
16
FB WW VI, 147.
17
Spin2 JW 1,1, 260.
18
Brief an Lavater 14.11.1787 JB 1,7, 11; Spin2 JW 1,1, 220. Vgl. hierzu Sandkaulen
2004, 219f., die dementsprechend bei Jacobi von einer „Philosophie der Personalität“
(ibid., 225) spricht.
19
Sandkaulen 2004, 231.
20
Sandkaulen 2004, 220. Insofern muss, wie wir noch sehen werden, personales Selbst-
bewusstsein für Jacobi auch immer schon eine duale Struktur aufweisen und auf ein Du
bezogen sein, von dem es sich unterscheidet.
21
GD JW 3, 26.
Die Personalität der Vernunft 237
muss, überhaupt erst ermöglicht.22 Das Individuum ist nach Jacobi also
nur dadurch eine objektive oder reale Einheit, dass die Vernunft als inne-
re Kraft die Momente zu einer Einheit vereinigt und in der Auseinander-
setzung mit Anderem als Einheit erhält.23 Ist es grundsätzlich bei allen
Organismen der Fall, dass das Ganze als Einheitsgrund vor seinen Teilen
gedacht werden muss und sie reale Ganze bilden, die sich auch als solche
zu erhalten streben,24 so kommt bei Personen diese substanzielle Einheit
und Kraft zum Bewusstsein ihrer selbst.
Anders als Kant bestimmt Jacobi das Ich des Menschen also nicht als
reine Spontaneität, sondern als eine Form von Kraft oder eine bestimmte
Seinsweise. Bewusstsein ist eine bestimmte Weise des Lebendigseins
(nicht eine Bestimmung oder Eigenschaft), so wie Lebendigsein eine be-
stimmte Weise des Seins ist.25 Die besondere Seinsweise mit Selbstbe-
wusstsein verbundener, vernünftiger Lebendigkeit ist Personalität.26
Fassen wir zusammen: Der Geist ist Grund der Einheit und Identität
des Menschen, durch den er sich nicht nur seiner Einheit bewusst ist,
sondern in seinen existentiellen Vollzügen dieser ist und bleibt und kein
vollkommen anderer wird. Dieses Prinzip individuellen Denkens und
Handelns können wir jedoch nicht vorstellen, sondern nur unmittelbar
erfassen. Vorstellungen können wir nämlich nur von Eigenschaften oder
Bestimmungen haben, nicht jedoch von dem, was Träger dieser Eigen-
schaften ist. Wie Kant denkt deshalb auch Jacobi, dass diese substanzielle
Form nicht Gegenstand einer Vorstellung werden kann, weil sie sich da-
durch vergegenständlichen und veräußern müsste, wodurch sie nicht
mehr das wäre, was sie eigentlich ist.27 Wir besitzen aber ein unmittelba-
res Bewusstsein unserer Substantialität. Jacobi erweitert hier Kants Ge-
danken, dass Sein kein reales Prädikat ist, sondern die Position aller Prä-
dikate, darauf hin, dass auch Bewusstsein und Lebendigsein keine realen
22
DH1 JW 2,1, 82f. Kant ist hier „kritischer“, d. h. er vermeidet die Annahme eines
metaphysischen Prinzips (etwa: OP AA 21, 196; 210).
23
DH1 JW 2,1, 81; Etwas JW 4,1, 308.
24
Jacobi unterscheidet also zwischen bloßen Aggregaten und Konkreta. Konkreta sind
organische Einheiten, bei denen das Ganze den Teilen vorhergeht. Aggregaten unterstel-
len wir bloß Einheit (DH1 JW 2,1, 84).
25
DH1 JW 2,1, 84.
26
DH1 JW 2,1, 65. An anderen Stellen gelten Persönlichkeit und Lebendigkeit nicht
nur als Seinsweisen, sondern als einzige Seinsweise: „Seyn ohne Selbstseyn ist durchaus
und allgemein unmöglich. Ein Selbstseyn aber ohne Bewußtseyn, und wieder ein Bewußt-
seyn ohne Selbstbewußtseyn, ohne Substanzialität und wenigstens angelegte Persönlich-
keit, vollkommen eben so unmöglich“ (GD JW 3, 30).
27
„Die Seele, um eine Vorstellung von sich zu haben, müßte sich von sich selbst unter-
scheiden, sich selbst äusserlich werden können.“ (DH1 JW 2,1, 83.) Vgl. auch GD JW 3,
26f.
238 Personale Vernunft
Sie ist dasjenige, was ich im eigentlichsten Verstande mich selbst nenne, und von
dessen Realität ich die vollkommenste Ueberzeugung, das innigste Bewustseyn
habe, weil es die Quelle selbst meines Bewustseyns, und das Subject aller seiner
Veränderungen ist.28
30
So setzt nach Horstmann Jacobis Nihilismusvorwurf gegenüber Kants transzenden-
taler Einheit der Apperzeption „eine substantialistische Deutung“ von selbiger voraus
(Horstmann 2007, 136).
31
Jedoch ist sich Jacobi dieses Unterschiedes bei Kant durchaus bewusst (Epistel JW
2,1, 136). Aus Gründen, die wir später noch deutlich machen werden, hält er diese Diffe-
renzierung nur für unzulänglich.
32
Ameriks 2000a, xiv-xvii.
33
KrV B 404/A 346.
34
Jacobis Personkonzeption ist also geradezu ein Gegenentwurf zu Kants Identität des
transzendentalen Subjekts, die explizit nicht als „Identität der Person“, „Bewußtsein der
Identität seiner eigenen Substanz, als denkenden Wesens, in allem Wechsel der Zustände“
zu verstehen ist (KrV B 408).
35
Diese „Metaphysik […] findet sich in der Kantischen Kritik nicht besonders abge-
handelt, ergiebt sich aber daselbst, gleich den andern Metaphysiken, aus der Grundeigen-
schaft des Gemüths, nehmlich aus der productiven und reproductiven transscendentalen
Einbildungskraft“ (Krit JW 2,1, 279).
36
Kitcher 1990, 73.
240 Personale Vernunft
Dieses außerzeitliche, bloß inwendige, von dem auswendigen und zeitlichen auf
das klarste sich unterscheidende Bewußtseyn, ist das Bewußtseyn der Person,
welche zwar in die Zeit tritt, aber keineswegs in der Zeit entsteht als ein blos
zeitliches Wesen.39
Hier nimmt Jacobi die Charakteristik von Verstand und Vernunft in An-
spruch, die er Kant unterstellt. Denn der Verstand ist nach Jacobi bei
Kant auf die Sinnlichkeit und damit das Zeitliche gerichtet, die Vernunft
hingegen mit ihren Ideen des Unbedingten auf das Außerzeitliche. In der
Erkenntnis dominiert nun nach Jacobi-Kant der Verstand, im morali-
schen Handeln hingegen die Vernunft. Weder in der Erkenntnis noch in
der moralischen Praxis gehen Vernunft und Verstand aber eine reale
Einheit ein, vielmehr negieren sie wechselseitig ihre Ansprüche: In der
Erkenntnis herrscht der isolierte Verstand, in der moralischen Praxis die
isolierte Vernunft. Damit kann Kant nach Jacobi jedoch gerade nicht
zwei voneinander unabhängige Perspektiven in ihrem Eigenrecht zur
Geltung bringen, sondern pervertiert sowohl den Verstand als auch die
Vernunft. Denn der isolierte Verstand „leugnet den Geist und Gott“ und
damit Freiheit, die isolierte Vernunft hingegen „leugnet die Natur und
37
Dieses Defizit versucht Kant erst in KU zu beheben. In OP heißt es dann in erstaun-
licher Nähe zu Jacobi: „Ein lebend Wesen das sich seiner selbst bewust ist, enthält ein
immaterielles Princip und ist Person“ (OP AA 21, 66; vgl. auch ibid., 60; 83; 100). Nach
Grier ist der Unterschied zwischen der Einheit der Apperzeption und der Einheit des
denkenden Subjekts bei Kant gerade der zwischen logischem Subjekt und metaphysi-
schem Objekt (Grier 2001, 167).
38
GD JW 3, 27. Ähnliche Bestimmungen der Person finden sich in OP. Allerdings ist
Personbewusstsein für Kant nur die erste aller Eigenschaften, die dem denkenden Wesen
zukommen (AA 21, 14).
39
GD JW 3, 27.
Die Personalität der Vernunft 241
macht sich selbst zum Gott“.40 In diesem Sinne muss die spekulative Phi-
losophie Kants spinozistisch werden, die praktische letztlich fichtea-
nisch. Die Konsequenzen beider Perspektiven wurden bereits deutlich
gemacht: die Leugnung der Freiheit. Dem setzt Jacobi nun das Funda-
mentalbewusstsein der ungeteilten Person entgegen:
Der ganze, unzerstückte, wirkliche und wahrhafte Mensch, ist zugleich vernünf-
tig und verständig; glaubet ungetheilt und mit einerley Zuversicht – an Gott, an
die Natur, und an den eigenen Geist.41
Wenn nun aber Personalität als Fundamentalgefühl das alpha und omega
des Menschen ist, so stellt sich die Frage, warum Jacobis andere Aufklä-
rung der Daseinsenthüllung überhaupt notwendig ist, wenn uns die Ein-
heit scheinbar je schon in einem ursprünglichen Gefühl gegeben ist. Zu-
nächst einmal wird diese andere Aufklärung durch die Aufklärung spi-
nozistisch-kantischer Prägung notwendig. Diese scheitert nämlich
notwendig an dem, wovon das Fundamentalgefühl Bewusstsein ist: dem
konkreten Individuum, das ein unbegreifliches Faktum bleiben muss,
weil seine Daseinsweise nur enthüllt, aber nicht konstruiert werden
kann. Wie die Aufklärung Spinozas gezeigt hat, scheitert notwendig je-
der Versuch, das Individuum in seinem Eigensein begrifflich zu fassen.
Rational kann das Sein des Endlichen nur als Einschränkung oder Limi-
tation des Unendlichen und damit als dessen Privationsform begriffen
werden. Individualität als vom Ur-Sein abgelöstes, eigenständiges Dasein
kann nicht begriffen werden, da der Übergang vom Unendlichen zum
separat existierenden Endlichen unbegreiflich ist.42 Da Sein nach Jacobi
nur als Selbständigkeit gedacht werden kann, muss er gegen Spinoza „an
der Selbständigkeit des Endlichen vor dem Unendlichen festhalten“.43 In
diesem Sinne selbständig sind aber nur Individuen.44
Ebenso unbegreiflich wie die Individualität ist aber auch der personale
Geist des Menschen, da er als Einheit entgegengesetzter gedacht werden
muss: als Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit, Spontaneität und
Rezeptivität, Bedingtheit und Unbedingtheit. Weder lässt sich dieses
40
GD JW 3, 27.
41
GD JW 3, 27. „Als Individua leben, denken und fühlen wir; uns selbst nicht ver-
ständlich und begreiflich, weil wir dann aufhören würden Individuen zu seyn, begreifend
nur in und mit dieser Individuation.“ (Krit JW 2,1, 321).
42
Henrich 1992, 53.
43
Henrich 1992, 63.
44
Individuen können nicht nur von außen her bestimmt werden, sondern müssen sich
durch die Gesetze ihrer eigenen Natur selbst bestimmen. Das Individuum muss an und
für sich etwas sein, um etwas für ein anderes sein zu können (DH1 JW 2,1, 77).
242 Personale Vernunft
Prinzip begrifflich konstruieren noch lässt es sich durch einen klaren Be-
griff erfassen. Nicht ohne Grund hat ja Descartes versucht, den Geistbe-
griff aus der Philosophie zu eskamotieren und durch den klareren Be-
griff der res cogitans zu ersetzen. Damit hat er nur ein Moment der
Geistigkeit des Menschen durch Abstraktion und Reflexion isoliert und
zu einer eigenen Entität erklärt. Die Philosophie bis Kant hat dieses
Moment des menschlichen Geistes dann immer weiter aufgeklärt (und
damit von ihm äußerlichen Elementen befreit), bis er am Ende nur noch
die Tätigkeit einer Tätigkeit war und damit ein Nichts produzierendes
Nichts, eine Bewegung von Nichts aus Nichts zu Nichts. Denn nur so
lassen sich reine Spontaneität, Unbedingtheit und Unendlichkeit aus der
Perspektive des Menschen begreifen.
Das Resultat dieser Aufklärung ist nun aus Jacobis Sicht einerseits ein
negatives, andererseits ein positives: Denn insofern sich das Ich des Men-
schen in der vernünftigen Durchdringung dieser Aufklärung selbst anni-
hiliert, wird das Bewusstsein dieser Selbstannihilation zur elastischen
Stelle, von der aus sich das Selbst zur anderen Aufklärung als Daseins-
enthüllung des eigenen Individualitätsbewusstseins fortschwingen
kann.45 Die spinozistisch-kantische Aufklärung hat aber auch ein positi-
ves Resultat, denn ansonsten wäre die andere Aufklärung Jacobis ja nur
wieder ein Rückzug in das vor-aufklärerische, naive Fundamentalgefühl.
Das positive Resultat besteht darin, dass sich das Individuum nach der
Aufklärung gerade als unbegreifliche Einheit von Gegensätzen bewusst
ist und die Begreifbarkeit (im Sinne aufklärerischer rational-begrifflicher
Konstruktion) in ihren Abgrund versenkt hat. So zitiert Jacobi in seinen
Spinozabriefen Leibniz’ Diktum, dass man keine „physische Communi-
cation zwischen der Seele und dem Körper“ denken könne, sondern nur
eine „metaphysische […], zufolge welcher die Seele und der Körper eines
und dasselbige Subject, oder was man Person nennt, ausmachen“.46 Für
Jacobis andere Aufklärung gilt es deshalb, Personsein als eine lebendige
Einheit zu enthüllen, deren Möglichkeit wir nicht konstruieren können.
45
„[E]s ist aber die geistlose Nothwendigkeit und Substanz die Schwungfeder, welche
mich hebt, vermöge eines festen und kräftigen Auftretens auf dieselbe.“ (VSpin3 JW 1,1,
348.)
46
Spin2 JW 1,1, 237.
Die Personalität der Vernunft 243
47
AB II, 463. Vgl. ebenso: VSpin3 JW 1,1, 349.
48
Zur Legitimität dieser Annahme vgl. Klemme 2012, 203f.
49
JB 1,8, 72f. Offensichtlich weiß Jacobi seine Konzeption der Freiheit von Kant nur
äußerst unzulänglich verstanden (JB 1,8, 324; 1,8, 288; 295f.)
50
Mit seiner aristotelischen Bestimmung des Triebes nach Ehre wendet sich Jacobi ge-
gen Hobbes, für den Ehre nur eine äußerliche Anerkennung durch andere ist (Leviathan
EW 3, 76).
51
Brief W. v. Humboldts vom 7.2.1789 JB 1,8, 161.
52
Spin1 JW 1,1, 142f.
244 Personale Vernunft
ben.53 Die handelnde Person bindet sich also an Grundsätze, aber nicht
im Hinblick auf ein abstraktes Selbstverständnis als reines Vernunftwe-
sen, sondern auf die konkrete Person, zu der sie sich im Handeln selbst
realisieren möchte. Diese Selbstbindung erfährt die Person nicht als
Zwang, sondern als freie Selbstbestimmung.54 Wer nur nach dem Prinzip
der Ehre leben würde, der wäre damit ein freier Mensch.55 Sofern der
Mensch sich unter dem Aspekt der Ehre betrachtet, betrachtet er sich
auch als frei.56 Diese Kraft der Freiheit bildet die Person in Form von
Tugenden aus.57
Nun scheint diese Konzeption des Selbstentwurfs trotz ihrer Ferne zu
Kants Gesetzesmoral seiner Charakterkonzeption nicht unähnlich. Denn
für Kant besitzt man nur durch die Bindung an Grundsätze Charakter.
Für Jacobi ist diese Bindung jedoch kein noumenaler Freiheitsakt jen-
seits der Zeit, sondern ein in der Zeit erfolgender Entwurf auf die Zu-
kunft. Zukunftsentwurf und Selbstbindung transzendieren zwar das
bloße Nacheinander des Zeitstroms, sind aber wesentlich zeitlicher Na-
tur. Außerdem wird im Konzept der Ehre die interpersonale Fundierung
aller Moral deutlich gemacht. Im Streben nach Ehre sind wir nämlich je
schon nicht nur auf uns selbst bezogen, sondern unmittelbar auf die an-
deren, insofern es ein Streben ist, das nur in einem Mitsein mit anderen
relevant ist. Das Individuum erfasst so im Streben nach seinem Selbst
zugleich, dass es nur ein gemeinschaftlich konstituiertes Dasein besitzt. 58
Wir werden uns unseres Selbst und unserer Freiheit nur im Anderen be-
wusst. Wir können uns selbst als wir selbst nur in den Menschen um uns
herum wie in einem Spiegel erkennen: „Ihre Achtlosigkeit ist Vernichti-
gung; ihre Verachtung Hölle.“59 Umgekehrt ermöglicht das Streben des
Individuums nach Ehre die Gesellschaft dadurch, dass die in ihr assozi-
ierten Personen tatsächlich das sein wollen, als was sie öffentlich schei-
53
Nicht ein Gefühl der Achtung vor dem Gesetz, sondern das Gefühl der Ehre ist bei
Jacobi also „ratio cognoscendi der Wirklichkeit der Freiheit“ (Stolzenberg 2004, 31). Vgl.
hierzu auch JB 1,1, 119.
54
„Das Gefühl der Ehre erscheint Jacobi daher als ein phänomenologisches Zeugnis
dafür, daß dem moralischen Bewußtsein einer Person gar nicht das Bewußtsein der Nöti-
gung oder des Zwangs zugrundeliegt, sondern allein das Prinzip einer reinen Selbsttätig-
keit, das das Grundprinzip seiner geistigen Natur ist.“ (Stolzenberg 2004, 30f.)
55
Freiheit ist so „l’energie absolue du principe de l’honeur“ (JB 1,8, 106f.).
56
Vgl. Bollnow 1933, 121.
57
Jacobi setzt damit Kants Pflichtethik die aristotelische Tugendethik entgegen (Stol-
zenberg 2004, 31).
58
Kunstgarten JW 7,1, 127.
59
Kunstgarten JW 7,1, 126. Bei Jacobi ist es nun aber nicht die Selbstwidersprüchlich-
keit oder die Aufhebung der Maxime, die die Publizität bestimmter Handlungen verhin-
dert, sondern eben das Ehrgefühl (Allwill1 JW 6,1, 63).
Die Personalität der Vernunft 245
nen.60 Im Trieb nach Ehre enthüllt sich der Mensch also zugleich seine
Unbedingtheit (freie Selbstbestimmung) als auch die Bedingtheit seiner
Freiheit, insofern sein Selbstsein ein zeitlich-überzeitliches und nur in
Gemeinschaft mögliches Dasein ist.
Die Freiheit und ihre systematische Stellung gegenüber dem System
des Wissens und der Moral gilt Jacobi einerseits als fundamentale Ge-
meinsamkeit zwischen ihm und Kant, andererseits als der fundamentale
Differenzpunkt. Beide gingen sie nämlich davon aus, dass der Freiheit
kein Ort im System des spekulativen Wissens zukommen könne, gleich-
zeitig behaupten beide die Notwendigkeit der Voraussetzung von Frei-
heit, sofern das praktische Selbstverständnis des Menschen als einer indi-
viduell für ihr Handeln verantwortlichen Person nicht als bloße Selbst-
täuschung enthüllt werden soll. Nicht innerhalb eines spekulativen
Systems, sondern nur in seiner Selbsterfahrung als vernunftbestimmt
handelnder Person wird der Mensch seiner Freiheit inne.61 Freiheit ist
„aus prinzipiellen Gründen nicht objektivierbar“ und deshalb auch kein
Gegenstand einer durch objektive Gründe absicherbaren spekulativen
Erkenntnis.62 Trotz allem sind die Differenzen zwischen den Freiheits-
konzeptionen beider augenfällig. Auf den unterschiedlichen Ort der
Freiheit bei Jacobi und Kant werden wir später noch angemessen einge-
hen. Im Folgenden wollen wir zunächst den unterschiedlichen Begriffs-
gehalt der Freiheit bei Kant und Jacobi analysieren.63 Dabei gehen wir in
zwei Schritten vor: Zunächst analysieren wir den unterschiedlichen Sinn
von positiver und negativer Freiheit bei Kant und Jacobi (a). Anschlie-
ßend werden wir Jacobis metaphysische Grundlage der Freiheit untersu-
chen, die fundamental von Kants Konzeption abweicht (b).
60
Laharpe JW 5,1, 172. Jacobi nennt Wahrhaftigkeit in diesem Sinne „die größte, die
göttlichste aller Eigenschaften“ (JB 1,2, 35). Ehre ist die „erhabenste aller Tugenden, wel-
che zugleich die allgemeinste Anwendung verträgt, die übrigen alle schützt, vermehrt, ge-
biert“ (Allwill1 JW 6,1, 63). Wer immer wahr sein wolle, der müsse sich auch immer recht-
schaffen verhalten. „Wer der Ehre huldigt, schwört zum Altare des Unbekannten Gottes.
Er verspricht einem Wesen zu gehorchen, welches das Innere siehet: denn das ist der
Dienst der Ehre, daß wir seyn was wir scheinen; kein angenommenes Gesetz willkührlich
oder insgeheim übertreten; kurz, unverbrüchliches Wort: WAHRHEIT!“ (Spin1 JW 1,1,
142.)
61
Einl JW 2,1, 395.
62
Hutter 2004, 248.
63
Peetz hat auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, dass sich bei Jacobi keine ex-
plizite Darstellung seiner Freiheitskonzeption findet (Peetz 1995, 16). Nichtsdestotrotz
lässt sich Jacobis Freiheitslehre aus verschiedenen Texten entwickeln.
246 Personale Vernunft
Unsere Skizze des Triebs der Ehre hat gezeigt, dass Jacobi in der Be-
stimmung dessen, was Kant „negative Freiheit“ nennt, insofern mit Kant
übereinstimmt, dass diese Freiheit darin besteht, sich nicht unmittelbar
durch sinnliche Handlungsanreize bestimmen lassen zu müssen, sondern
sich an Entwürfe und Prinzipien binden zu können.64 Umgekehrt gilt:
Wenn der Mensch seinen Trieben nachgibt, so gibt er ihnen „mit Ab-
sicht“ nach.65 Anders als bei Kant ist diese negative Freiheit bei Jacobi
aber nicht transzendental verursacht, sondern an ein Maß an Lebendig-
keit gebunden. So weist jedes lebendige Wesen einen gewissen Grad an
Selbsttätigkeit auf. Dieser bei den übrigen Lebewesen bloß graduelle
Unterschied schlägt beim Menschen in eine qualitative Differenz um,66
durch die sich der Mensch durch die Setzung von Zwecken bestimmen
kann. Insofern der Mensch seine Selbsttätigkeit bewusst bestimmen
kann, findet sich bei ihm eine solche Lebendigkeit, deren höherer Grad
eine neue Qualität begründet, da er damit ein Bewusstsein seiner eigenen
Selbsttätigkeit besitzt und sich seine Tätigkeit als von ihm selbst verur-
sacht zuschreibt. Dadurch besitzt der Mensch nicht nur Selbsttätigkeit,
sondern Handlungsbewusstsein. Freie Handlungen, in dem Sinn, dass
nicht unmittelbar auf Handlungsanreize reagiert werden muss, sind des-
halb nach Jacobi nur möglich für ein Lebewesen mit einem bestimmten
„Grade des Bewußtseyns seiner Selbstthätigkeit“ oder mit freiem Hand-
lungsbewusstsein.67 In unserem Bewusstsein als Handelnde machen wir
zugleich die Erfahrung, dass wir uns nicht durch unsere Begierden be-
stimmen lassen müssen, sondern uns von ihnen distanzieren können.68 In
der Erfahrung dieser negativen Freiheit offenbart sich dem Individuum
nach Jacobi die „Unabhängigkeit des Willens von der Begierde.“69 So
kann die Vernunft schlechthin über die Begierden, Neigungen und Af-
fekte herrschen. Diese Herrschaft führt insofern eine neue Qualität ein,
als bereits das Tier seine Begierden „ökonomisch“ regulieren und in der
Erwartung größerer Triebbefriedigung unmittelbare Triebe überwinden
kann. Der Mensch hingegen kann nicht nur seine Begierden ökonomisch
64
Vgl. auch OP AA 21, 470.
65
RuG JW 4,1, 270.
66
Diese qualitative Differenz macht Jacobi später durch die terminologische Differen-
zierung von Verstand (bloß graduell) und Vernunft (qualitativ) deutlich.
67
JaF JW 2,1, 248.
68
Stolzenberg 2004, 25.
69
JaF JW 2,1, 248.
Die Personalität der Vernunft 247
abwägen, sondern absolut über sie herrschen.70 Man könnte also folgen-
de Stufung vornehmen: Pflanzen besitzen Selbsttätigkeit, die beim Tier
zu einer bewussten Selbsttätigkeit wird und beim Menschen ein selbst-
bewusstes Handlungsbewusstsein (= Personbewusstsein) begründet.71
Eine Kontrastfolie zu dieser negativen Freiheit zeichnet Jacobi mit
seiner Romanfigur Allwill, die die höchste Erfüllung menschlichen Le-
bens darin zu finden glaubt, ihre Empfindungen zu empfinden und ihre
Gefühle zu fühlen.72 Der Mensch brauche im Handeln keine Grundsät-
ze, sondern allein „starke Gefühle, lebhafte Bewegungen, Leidenschaf-
ten.“73 Dabei verwechselt Allwill seine ständig wechselnden Neigungen
und Leidenschaften mit der beständigen Liebe zu einem Gegenstand und
die individuell gebildeten Grundsätze, in denen sich diese Liebe manifes-
tiert, mit dem toten Buchstaben rein äußerlicher Gesetze. Zu Recht setzt
Allwill aus Jacobis Sicht zwar gegen den toten moralischen Rationalis-
mus „Bild und Sache“ sowie „Idee und Empfindung“ einander streng
entgegen und sieht, dass nur Leidenschaften uns edel handeln lassen.74
Da vor allem Allwill diese Leidenschaften aber auf unmittelbare Emp-
findungen reduziert, verpflichtet er sich auf nichts mehr, sondern gibt
jeder momentanen Neigung nach. Er ist „allgegenwärtig – und nirgend
wo; alles – und nie etwas“75 und realisiert deshalb nie ein Selbst.76 Seine
Philosophie ist eine „Theorie der Unmäßigkeit, Grundsätze der ausge-
dehntesten Schwelgerey“.77 Wer sich auf diese Weise von unmittelbaren
Empfindungen bestimmen lässt, ist daher weder Person im vollen Sinne
noch frei. Noch die Einbildungskraft solcher Menschen wird nur durch
Affekte regiert und ist deshalb kein „freyeres Geistes-Vermögen“.78
70
„Die Vernunft soll über die Begierden herrschen nicht bloß ökonomisch, sondern
absolut“ (Kladde X, 271 Radrizzani 1998, 47).
71
In seinen frühen Schriften betont Jacobi stärker den graduellen Zusammenhang alles
Lebendigen, in seinen späteren Schriften dagegen die qualitative Differenz. Dies wird be-
sonders durch seine bereits erwähnte Neubestimmung der Vernunft in der Neuauflage
des David Hume deutlich.
72
Allwill1 JW 6,1, 73f.
73
Allwill1 JW 6,1, 59; vgl. auch ibid., 55; 60.
74
Allwill1 JW 6,1, 64.
75
Allwill1 JW 6,1, 67.
76
In ihm ist kaum „soviel Einerley“, dass er noch nicht einmal „einerley Alter“ besitzt:
Clerdon behauptet mal, er sey 22, mal gerade 20, eine Urkunde, die Amalia findet, weist
ihn als 25 aus (Allwill2 JW 6,1, 144).
77
Allwill1 JW 6,1, 71.
78
Allwill2 JW 6,1 191.
248 Personale Vernunft
Die Vollkommenheit dieses Zustandes ist ein eigentlicher Mysticismus der Ge-
setzesfeindschaft, und ein Quietismus der Unsittlichkeit.79
Selbstseyn ist das letzte Ziel aller Menschlichen Bestrebungen, das Ideal der
Vernunft – Gott ist in sich und durch sich; alles geht von ihm aus. Sein Wirken
79
Allwill2 JW 6,1, 191.
80
Allwill1 JW 6,1, 75.
81
Brief an Clermont vom 12.6.1792 JB 1,10, 27.
82
Brief an Clermont vom 12.6.1792 JB 1,10, 27f.
83
Woldemar3 JW 7,1, 309.
Die Personalität der Vernunft 249
ist Erschaffen. Der Mensch erschafft auch, aber er erschafft nur Veränderun-
gen.84
Es giebt kein Ding in der Welt, zu dem man eine Lust u Liebe, die immer
durchhielte, faßen könnte. Darum ist Treue nöthig u ein fester Muth, den die
Seele sich selbst zu machen lernen muß. Wer dies lernt erwirbt Freyheit, erwirbt
etwas von der großen Eigenschaft, sein Leben zu haben in sich selbst, welches
der eigentliche Stein der Weisen ist.87
84
Kladde VII, 73 Koch 2013, 142.
85
Die Möglichkeit von Freiheit bzw. Selbsttätigkeit kann nicht erkannt werden, son-
dern nur ihre Wirklichkeit „durch die That“ (JaF JW 2,1, 247).
86
In einem Brief an Pestalozzi vom 24.3.1794 schreibt Jacobi: „[A]lles unter Menschen
beruht auf Wort und Treue; darauf, daß Ja, Ja, und Nein, Nein bleibe“ (JB 1,10, 342).
87
Kladde X, 181 Schneider 1986, 127; vgl. ebenso: Woldemar3 JW 7,1, 321; JB 1,11, 15.
88
„Die bloßen Triebe zum Guten und Edeln, ungeläutert und sich selbst überlassen,
diese Triebe mit ihren unmittelbaren zufälligen Aeusserungen, sind noch nicht die Tu-
gend; sie machen nur ihren Stoff aus.“ (Woldemar3 JW 7,1, 304.) „Der Trieb zum edlen,
schönen u guten liegt im Menschen aber nicht der Trieb zur Tugend, das ist der Trieb zur
Selbstverläugnung (Selbstverläugnung widerstrebt jeder Natur).“ (Kladde IV, 81 Schneider
1986, 293; vgl. auch: Kladde X, 731-741 Schneider 1986, 293f.)
250 Personale Vernunft
fekte nur gewinnen, wenn sie als handlungsleitende Begriffe und Grund-
sätze habitualisiert sind.89 Nur so können sie wirkmächtig und bestim-
mend für das Leben des Individuums werden. Diese Habitualisierung ist
aber dem positiven Affekt nicht entgegengesetzt, vielmehr tendiert der
positive Affekt (wie auch der böse Affekt) zu seiner eigenen Habituali-
sierung. Der Affekt intendiert seine eigene Form, weil diese ihm Dauer
verleiht. Der Trieb produziert seine Form. Das Resultat der Habituali-
sierung der auf gute Affekte gegründeten Begriffe und Grundsätze ist ein
„Leben in sich selbst“, „Unabhängigkeit” von unmittelbaren, aber nur
temporären Affekten und damit positive „Freyheit“.90
b. Metaphysische Freiheit
Soll also über das Endliche hinausgegangen werden, so muß über das Causali-
tätsgesetz, welches das Gesetz des Endlichen ist, hinausgegangen werden, wel-
ches nicht zuläßt, daß eine Handlung sich selbst anfange. Wie eine Handlung
sich selbst anfangen möge, ist dem nur immer fortsetzenden und voraussetzen-
den Verstande unbegreiflich.93
89
Allwill2 JW 6,1, 230.
90
Allwill2 JW 6,1, 231.
91
Allwill1 JW 6,1, 76.
92
Nach Peetz sind Kants transzendentale Freiheit und Jacobis Begriff der Freiheit
weitgehend deckungsgleich (Peetz 1995, 22). Demgegenüber werden wir im Folgenden
auf wesentliche Differenzen hinweisen.
93
VSpin3 JW 1,1, 345.
94
Spin2 JW 1,1, 122; vgl. ebenso ibid., 164.
Die Personalität der Vernunft 251
nen Begriff vor dem Begriffe hervorzubringen, oder einen Begriff der
vor seinem Gegenstande und die vollständige Ursache seiner selbst wäre,
so wie auch ein[en] Wille[n], der das Wollen würkte und durchaus sich
selbst bestimmte“.95 Der Determinismus kann dagegen nach Jacobi nicht
nur nicht von freien Handlungen, sondern eigentlich überhaupt nicht
von Handlungen sprechen:
Ein absichtsloses Verursachen ist ein blindes Thun, kein Handeln. Wir sagen,
nicht von der Natur, daß sie handle, sondern nur, daß sie wirke [.]96
Auch Vernunft kann nach Jacobi nicht ohne Freiheit gedacht werden,97
da sie ansonsten „nur ihrer selbst inne werdende blinde Nothwendig-
keit“ wäre. 98 Die Vernunft muss zumindest zu ihren eigenen Bestim-
mungsgründen in einem nicht naturkausal determinierten Verhältnis ste-
hen. Wenn etwas als Grund wirksam wird, kann dies nicht selbst nur das
Resultat äußerer Ursachen sein, sonst handelt es sich nicht um eine Be-
stimmung durch Gründe. So muss auch der Wissenschaft als einer durch
Gründe bestimmten Praxis menschlicher Vernunft Freiheit zu Grunde
liegen.99 Denn fasst man Wissenschaft nicht als Produkt einer freien Ver-
nunft auf, muss man sie selbst als notwendiges Produkt von Naturpro-
zessen verstehen. Eben dann sind aber die Gründe, die für oder gegen
eine wissenschaftliche Theorie sprechen, letztlich nur Ausdruck psycho-
logischer oder physiologischer Dispositionen.100
Darum finden sich auch in unserem Bewustseyn Vernunft und Freyheit unzer-
trennlich mit einander verknüpft, nur nicht dergestalt, daß von der Vernunft
(dem Adjectivo) das freye Vermögen; sondern so, daß von dem freyen Vermö-
gen (dem Substantivo) die Vernunft abgeleitet werden muß.101
95
Spin1 JW 1,1, 19. Demgegenüber kann der konsequente Determinist nur annehmen,
dass ich „blos gemäß meinem Willen [handle], so oft es geschieht, daß meine Handlungen
ihm entsprechen; aber es ist nicht mein Wille was mich handeln macht.“ (Ibid., 74.)
96
GD JW 3, 101; vgl. auch Spin2 JW 1,1, 163.
97
Etwas JW 4,1, 307.
98
GD JW 3, 40. So macht der Determinismus letztlich „den vollkommenen Skepticis-
mus nothwendig“ (Spin1 JW 1,1, 28).
99
Eben deshalb hat auch jede Wissenschaft einen Geist (JaF JW 2,1, 233).
100
„Wenn es lauter würkende und keine Endursachen giebt, so hat das denkende Ver-
mögen in der ganzen Natur blos das Zusehen; sein einziges Geschäffte ist, den Mechanis-
mus der würkenden Kräfte zu begleiten. Die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinan-
der haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber“ (Spin1 JW 1,1, 20f.).
101
JaF JW 2,1, 234.
252 Personale Vernunft
Die Wirklichkeit dieser Freiheit bezeugt sich „mit der That, da keine,
auch nicht die geringste Handlung ohne den Einfluß des freyen Vermö-
gens, ohne Zuthun des Geistes geschehen kann“.102 In der Erfahrung des
Handelns zeigt sich, dass die Vernunft die Tätigkeiten des Menschen
nicht begleitet, sondern sie hervorbringt. 103 Als frei erfährt sich der
Mensch außerdem, insofern er sich von der Natur unterscheidet und sich
über sie erhebt.104 Er befreit sich aber bereits von der Natur, indem er sie
gebraucht. So ist noch die instrumentelle und wissenschaftliche Vernunft
in der menschlichen Freiheit begründet. Denn ohne Freiheit könnte sich
der Mensch nicht von der Natur distanzieren und sie zu einem Werk-
zeug machen.105
Wir stellten jedoch fest, dass sich nach Jacobis anderer Aufklärung die
Möglichkeit der Freiheit und die Vereinigung von Geist und Natur im
Menschen nicht begreifen (konstruieren) lässt, sondern für den Men-
schen unmittelbare Wirklichkeit ist, die sich in seinem Handeln manifes-
tiert und deren Dasein nur enthüllt werden kann. In der spekulativen
Rekonstruktion oder Vermittlung dieses Faktums der Freiheit wird sel-
bige wie bei Spinoza notwendig in den systematischen Zusammenhang
des Naturganzen aufgehoben und damit im Versuch ihrer spekulativen
Rekonstruktion annihiliert. Die Aufgabe der anderen Aufklärung be-
steht für Jacobi dementsprechend darin, die spekulative Unvermittelbar-
keit der Freiheit darzutun und das Dasein menschlicher Freiheit zu ent-
hüllen.106 Dieses Dasein manifestiert sich uns unmittelbar und ohne Be-
weise im „Grundtrieb der menschlichen Natur“,107 der sich über alles
sinnlich-kontingente Interesse zu tugendhaften Handlungen erhebt. Die-
ses Bewusstsein unserer Fähigkeit, uns über die Tierheit in uns mit dem
Geist erheben zu können und zu sollen ist in unserer Handlungspraxis
für uns die höchste Wahrheit.108 Denn ohne dieses Bewusstsein stünden
all unsere Reflexionsakte und Vernunftvollzüge immer unter dem Vor-
behalt, bloße Eiphänomene unserer Neigungen und Affekte zu sein. Die
Tugenden sind für Jacobi hingegen verschiedene Realisierungen und
Habitualisierungen unserer Freiheit, in denen sich das Dasein der Frei-
heit enthüllt, deren Möglichkeit nicht begriffen werden kann:
102
JaF JW 2,1, 235.
103
JaF JW 2,1, 233f.
104
JaF JW 2,1, 218.
105
JaF JW 2,1 234.
106
Spin2 JW 1,1, 261f.
107
GD JW 3, 61.
108
GD JW 3, 62.
Die Personalität der Vernunft 253
Ich kenne die Natur des Willens, einer sich selbst bestimmenden Ursache, ihre
innere Möglichkeit und deren Gesetze nicht. Denn ich bin nicht durch mich
selbst. Aber ich fühle eine solche Kraft als das innerste Leben meines Daseyns;
ahnde durch sie meinen Ursprung, und lerne im Gebrauch derselben, was mir
Fleisch und Blut nicht offenbaren konnten.109
Im strengen Sinne beweist sich die Freiheit aber nicht in diesen Phäno-
menen, denn hierzu müsste sie der einzig mögliche Erklärungsgrund die-
ser Phänomene sein, was nicht der Fall ist. In seiner Entgegensetzung der
Thesen „Der Mensch hat Freiheit“ und „Der Mensch hat keine Freiheit“
zeigt Jacobi, dass die vollendete spinozistische Aufklärung durchaus in
der Lage ist, die Phänomene der Tugend (wie auch unser Bewusstsein
von Wille, Person, Freiheit, Recht etc.) zu erklären. Das Defizit dieser
Erklärungen besteht jedoch in der Vernichtung des Gehalts und eigen-
tümlichen Sinns dieser Phänomene. Freiheit ist nicht mehr Freiheit, son-
dern sich ihrer selbst bewusste Notwendigkeit;110 Moral ist nicht mehr
Moral, sondern verschleiertes Selbsterhaltungsinteresse; 111 das Recht
nicht mehr Recht, sondern die Macht des Stärkeren. Die sich in Spinoza
vollendende spekulative Aufklärung kann diese Phänomene deshalb
zwar erklären, aber nicht verständlich machen. Sie reduziert die ihnen
entsprechenden Begriffe auf eine Funktion im System und beraubt sie
damit ihrer eigentlichen Bedeutung, nämlich Ausdruck der Freiheit und
Selbstbestimmung des Menschen zu sein. Begriffen werden kann das Da-
sein eines Phänomens nämlich nur, insofern es abhängig von anderen
Daseienden und insofern vermittelt ist. Darin besteht eben das Wesen
begründender Erkenntnis: den Grund einer Sache, ihre Abhängigkeit
einsehen. Begreifen heißt, die Bedingungen der Möglichkeit einer Sache
einsehen. Selbsttätigkeit, da sie unvermittelt ist – ansonsten wäre sie
nicht Selbsttätigkeit – kann hingegen nicht begrifflich vermittelt werden.
Da ein Begreifen der Selbsttätigkeit nicht möglich ist, können wir nur
„ihre Wirklichkeit, welche sich unmittelbar im Bewußtseyn darstellt,
und durch die That beweist“, erfahren.112 Die Freiheit ist wirklich, stellt
sich im Bewusstsein individuell dar und wird durch die Tat bewiesen.113
109
Spin1 JW 1,1, 144.
110
Die Annahme eines besonderen Vermögens zu wollen gründet bei Spinoza dagegen
in der menschlichen Unwissenheit: Die Menschen wissen zwar, was sie wollen, aber nicht,
warum sie es wollen (Spin1 JW 1,1, 76).
111
Moralität ist nach Jacobi-Spinoza ein Produkt des Selbsterhaltungsinteresses ratio-
naler Lebewesen, die ihre Triebe und Impulse zum Zwecke der Selbsterhaltung koordi-
nieren müssen (vgl. hierzu Peetz 1995, 24f.).
112
Spin2 JW 1,1, 163f.
113
Sandkaulen 2000, 194.
254 Personale Vernunft
In ihrer Vermittlung muss das Denken sie jedoch annihilieren. 114 Die
vollendete Aufklärung führt so zur Leugnung willentlicher Selbstbe-
stimmung durch die Setzung von Endursachen und jeglicher spontanen
Handlung. Freiheit als Spontaneität wie auch Handeln aus Zwecken
werden deshalb von Spinoza verworfen. Die Konsequenz des Spinozis-
mus und dieser Form von Aufklärung ist ein Fatalismus, der das Be-
wusstsein der Freiheit in seinem spekulativen Begreifen annihiliert. 115
Damit annihiliert sich die adjektive Vernunft jedoch selbst bzw. die Wis-
senschaft ihren Geist. Denn die adjektive Vernunft ist nicht einfach ein
anderes Vermögen als die substantive Vernunft, sondern die Manifestati-
on dieser substantiven Vernunft bzw. der menschlichen Freiheit. Sie mis-
sinterpretiert aber ihre abhängige Selbsttätigkeit als absolute Selbsttätig-
keit und ignoriert ihre Abhängigkeit von der ihr vorausgesetzten absolu-
ten Vernunft und Freiheit des Menschen. Dadurch hebt sie ihre eigene
Substantialität, ihre Freiheit gerade auf.
Freiheit hat bei Jacobi also einen anderen systematischen Stellenwert
als bei Kant: Freiheit und Vernunft machen nicht nur einen Aspekt der
menschlichen Natur aus, dem Naturmechanismus und Sinnlichkeit ge-
genüberstehen, sondern in der Vernunft bilden beide Momente eine un-
mittelbare Einheit. Bedingtheit und Empfindung setzen bereits ein un-
bedingtes Selbstsein voraus. Freiheit ist so nicht der Gegensatz zum wis-
senschaftlichen Mechanismus, sondern die Bedingung der Möglichkeit
mechanischer Verknüpfung. Sie ist der Grund für die Möglichkeit wis-
senschaftlicher Systembildung. Als Grund kann sie nicht innerhalb des
Systems entwickelt werden. Andererseits sind menschliche Vernunft und
Freiheit immer schon durch Sinnlichkeit bedingt. Menschliche Freiheit
und Vernunft sind immer schon zeitlich situiert. Kants abstrakte
Entgegensetzung von Bedingtheit und Unbedingtheit führt nicht nur
spekulativ auf Antinomien, vielmehr führt die Isolierung der Idee reine
vernünftiger Selbstbestimmung zu einer Verminderung der Wirkmäch-
tigkeit der Vernunft oder der Möglichkeit des Menschen, sich selbst
durch die Vernunft zu bestimmen.
Jacobi teilt aus seiner Sicht mit Kant also die Annahme, dass prakti-
sche Freiheit ohne die Voraussetzung „metaphysischer“ Freiheit nicht
114
So ist die Freiheit des Menschen nach Spinoza auch nicht das Vermögen wollen zu
können, da das Wollen je schon durch die Ursachen bestimmt ist, durch die es vermittelt
ist, sondern „man ist in dem Maße frei, indem man sich seinem Wesen annähert. Gott,
welcher nur aus dem Grunde handelt und handeln kann, aus dem er ist, und der nur durch
sich selbst ist, besitzt demnach die absolute Freyheit“ (Spin1 JW 1,1, 78f.).
115
Kladde I, 3 Sandkaulen 2000, 56. Ebenso: „[D]er Determinist, wenn er bündig seyn
will, muß zum Fatalisten werden“ (Spin1 JW 1,1, 18).
Die Personalität der Vernunft 255
116
„Ich finde nemlich hier eine zwiefache Freyheit; die eine bestimmt den intelligiblen
Charakter, und die andere soll den moralischen Charakter bestimmen können. Diese letz-
te scheint mir auch die eigentliche Freyheit zu seyn, die gemeynt ist, und die man heraus-
haben will. So wäre die erste nur ein arbitrium brutum, also gar keine Freyheit. Wie geht
es nun zu, daß die Vernunft, wenn sie die höchste Gewalt hat, d. h., wahrhaft frey ist,
nicht überall allein das Gesetz giebt?“ (Epistel JW 2,1, 161). „Nicht zu vergeßende Be-
merkungen über die Kantische Freiheitslehre. – Die Kantische Freiheit ist das radicale Bö-
se.“ (Kladde VIII, 261 Radrizzani 1998, 46f.)
117
Vgl. Michalson 1990, 8; 31; 63; 65ff.; 69.
118
Dieser Exkulpation unserer sinnlichen Natur, dass nicht sie, sondern unsere Freiheit
Ursache des Bösen ist, will auch Kant mit seiner Konzeption einer ursprünglichen Wahl
Rechnung tragen (Michalson 1990, 69).
119
Veranschaulichen wir uns dies durch eine etwas schiefe, „mechanische“ Analogie: In
einem Raum mit einer sehr hohen Anzahl schwerer Gewichte könnten wir vielleicht prin-
zipiell jedes einzelne dieser Gewichte hochheben, jedoch nicht alle nacheinander. Je mehr
Gewichte wir immer wieder stemmen, umso mehr werden wir in Zukunft stemmen kön-
nen etc.
256 Personale Vernunft
Gäbe es nun neben dem Hang zum Bösen nicht einen ebenso natürli-
chen Hang zum Guten, einen angeborenen Instinkt, auf Grund dessen
der Mensch ursprünglich nach dem Guten strebt, der sich als dem Hang
zum Bösen entgegengesetzte Kraft manifestiert und dessen Realisierung
einen eigenständigen Genuss impliziert, wäre die Wirkmächtigkeit der
praktischen Vernunft nach Jacobi überhaupt nicht verständlich:
Ich bin wider Kant der Meynung des Apostels Paulus, daß nicht allein das
Fleisch wider den Geist, sondern auch der Geist gelüstet wider das Fleisch.120
Für Jacobi ist der Geist des Menschen diese „eigenthümlich[e] Kraft“.121
Auf Grund seiner Geistigkeit besitzt der Mensch einen natürlichen, auf
die Realisierung seiner Geistigkeit gerichteten Instinkt und deshalb auch
unmittelbar eine Neigung zum Guten:
Es gehört also zur Natur des Menschen, und ist sein eigentlicher Instinkt: die
gemeinen Triebe, einem ungemeinen höheren Triebe unterzuordnen; oft, was
schmerzhaft ist, zu wählen; freywillig dem Vergnügen zu entsagen; Begierden
und Leidenschaften zu unterdrücken; Freyheit und Leben aufzuopfern.122
So besitzt der Mensch von Beginn an ein unmittelbares, wenn auch indi-
viduelles Bewusstsein vom Guten:123 das „θεῖον im Menschen“.124 Zwar
muss unser Wollen durch Überlegung und damit auch durch Vernunft
bestimmt sein, wenn es freies Wollen sein soll, dabei muss die Vernunft
jedoch entweder selbst als eine Kraft oder ein Streben verstanden werden
oder es muss ihr eine Kraft in Form eines Instinkts, Triebs oder Gefühls
zu Grunde gelegt werden. Jacobi setzt damit die Idee eines moral sense
der britischen Aufklärung nicht einfach fort, greift aber eines ihrer Moti-
120
Kladde V, 751 Schneider 1986, 210. Diese menschliche „Richtung auf das Ewige“,
die Jacobi gegen Kant voraussetzen zu müssen meint, ist „der intellectuelle Trieb, das
Prinzip reiner Liebe“ (Spin2 JW 1,1, 168). „Unvertilgbar [...] waltet im Menschen das Be-
wußtseyn eines Vermögens und eines Triebes, sich über alles, was blos Natur ist, mit dem
Geiste, mit Absicht, Vorsatz und Gedanken – zu erheben.“ (GD JW 3, 40.)
121
JaF JW 2,1, 235.
122
Woldemar3 JW 7,1, 445; vgl. auch: Allwill1 JW 6,1, 89f.; JaF JW 2,1, 252. Das Telos
dieses Instinkts ist „die Erhaltung und Erhöhung des persönlichen Daseyns (des Selbst-
bewußtseyns; der Einheit des reflectierten Bewußtseyns mittelst continuirlicher durch-
gängiger Verknüpfung: - Zusammenhang -)“ (Allwill2 JW 6,1, 90; JaF JW 2,1, 252). Abs-
trahiert man von dem vernünftigen Wesen als „Träger“ dieses Instinktes und betrachtet
den rationalen Trieb nur für sich selbst, so zielt er allein „auf Personalität, mit Ausschlie-
ßung der Person und des Daseyns, weil Person und Daseyn Individualität verlangen, wel-
che hier nothwendig wegfällt.“ (Allwill2 JW 6,1, 90; JaF JW 2,1, 252.)
123
Woldemar3 JW 7,1, 267.
124
Spin2 JW 1,1, 167.
Die Personalität der Vernunft 257
ve auf: nämlich die Frage, wie Vernunft das Individuum zur Handlung
bestimmen kann. Kant versucht dieses Problem durch die Konzeption
der Achtung als ein durch die Vernunft selbst bewirktes Gefühl aufzulö-
sen. Grundlegend ist hierbei Kants Überzeugung, dass ein moralisches
Gefühl keinen moralischen Begriff erzeugen, sondern nur aus diesem re-
sultieren kann.125 Für Jacobi hingegen kann die Vernunft nicht durch ein
durch sie selbst erst erzeugtes Gefühl wirkmächtig für unser Handeln
werden, sondern durch ein mit ihr verbundenes Streben zum Guten, das
dem Menschen je schon immanent ist. Gegen die moral sense Denker ist
dieses Streben aber in sich vernünftig, weil die Neigungen und Gefühle
des Menschen immer schon durch Vernunft bestimmt sind. Jacobi be-
zeichnet diese Kraft deshalb als den vernünftigen Instinkt oder Trieb des
Menschen. 126 Die substantive Vernunft ist keine abgesonderte Entität,
sondern manifestiert sich in Trieben und Instinkten, so wie sie sich auch
in Akten der Reflexion manifestiert. Die Bestimmung des Handelns
durch einen vernünftigen Instinkt ist für Jacobi so auch nicht wie für
Kant „die der Blinden leitung der Freyheit nach einem moralischen Ins-
tinkt“,127 weil der Instinkt durch seine unmittelbare Einheit mit der Ver-
nunft eben je schon „sehend“ ist. Wie die Seele ganz in jedem Teil des
Körpers ist, so ist die substantive Vernunft oder der Geist des Menschen
ganz in jedem psychisch-lebendigen Akt. Die Vernunft ist nicht bloß ein
Vermögen der Deliberation, sondern selbst eine Form von gerichteter
Kraft oder Wirksamkeit:128 „le désir absolu de l’individu“.129 Diese Be-
gierde ist nichts anderes als das geistige Wesen des Individuums. Nur
durch diese Begierde ist das Individuum überhaupt Individuum.130
Metaphysische Freiheit ist für Jacobi deshalb die Kraft des Geistes, die
im einzelnen Individuum jeweils eine bestimmte Form annimmt. Jeder
realisiert seine Freiheit in individueller Weise, gleichzeitig manifestiert
sich die Freiheit nur in ihrer Aktualisierung in individuellen Lebensvoll-
zügen. Freiheit ist die Kraft, sich mit dem Geist über die Notwendigkeit
125
„Das moralische Gefühl folgt auf den moralischen Begrif, bringt ihn aber nicht her-
vor; noch viel weniger kan es ihn ersetzen, es setzt ihn voraus.“ (Refl 6757 AA 19, 150.)
Vgl. Werkmeister 1979, 18.
126
Bei Kant hingegen wirkt die Vernunft „selbst nicht instinctmäßig“ (Idee AA 8, 19).
127
Refl 6863 AA 19, 184. Zu Kants Kritik am moralischen Gefühl/Instinkt während
seiner „stummen Jahre“ vgl. Werkmeister 1979, 17f.
128
JaF JW 2,1, 250.
129
Laharpe JW 5,1, 179.
130
Woldemar3 JW 7,1, 309. Diesem Trieb ist der auf Eigennutz gehende Trieb entge-
gengesetzt, der eigentlich aber nur der pervertierte vernünftige Trieb ist. Die ganze prakti-
sche Vernunft ist deshalb für Jacobi „nur über Einem Grundtriebe erbaut“ (JaF JW 2,1,
245).
258 Personale Vernunft
131
GD JW 3, 62.
132
Allwill2 JW 6,1, 229.
133
Brief an Wizenmann vom 9.2.1787 JB 1,6, 21.
134
Stolzenberg 2004, 35.
135
Stolzenberg 2004, 35.
136
GD JW 3, 62. Glückseligkeit wird hierbei von Jacobi mit Kant als ein bloßes „Ideal
der Einbildungskraft“ (ibid., 64) verstanden.
137
GD JW 3, 64.
138
Stolzenberg 2004, 34.
139
„Moralisch handeln heißt daher für Jacobi gar nichts anderes, als der wesentlichen
Tendenz seiner geistigen Natur folgen.“ (Stolzenberg 2004, 31.)
140
Spin1 JW 1,1, 86f.
Die Personalität der Vernunft 259
Grundes mit dem der Ursache. Denn wenn aus dem Ursache-
Wirkungsverhältnis die Zeitlichkeit eskamotiert wird, wird die Ursache
„zu einem blos logischen Wesen“.141 Das Verhältnis von Ursache und
Wirkung wird zum logischen Implikationsverhältnis von Grund und
Folge. Der Grund als bloß logischer Begriff ist mit seiner Folge in der
Tat gleichzeitig, hier wird aber nur ein logisches Abhängigkeitsverhältnis
bezeichnet. Das Ursache-Wirkungs-Verhältnis impliziert nach Jacobi
hingegen eine zeitliche Abfolge, in der etwas von etwas anderem hervor-
gebracht wird. Das Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht in der
Verknüpfung zweier nacheinander abfolgender Ereignisse, eines objekti-
ven Werdens.142 Implikation und Hervorbringung bezeichnen zwar bei-
de Bedingungsverhältnisse, insofern der Ursachebegriff jedoch Tätigkeit
impliziert, Tätigkeit aber wiederum einen prozessualen Verlauf und eine
sukzessive Abfolge, „so sitzt man mit dem Begriffe der Ursache […] in
der Zeit unbeweglich fest“.143 Zeit ist also die spezifische Differenz zwi-
schen logischer und ursächlicher Abhängigkeit. Insofern die Relation
zwischen Ursache und Wirkung bei Kausalität aus Freiheit für Kant nun
aber kein Zeitverhältnis impliziert, liegt aus Jacobis Sicht überhaupt kein
Kausalverhältnis vor. Freiheit ist nämlich nur dann Freiheit, wenn das
Subjekt einer Tätigkeit als Ursache auf Grund einer Absicht eine Hand-
lung hervorbringt und dabei diese Handlung ursprünglich von selbst an-
fängt.144 Freie Ursachen können deshalb nicht außerhalb der Zeit und
des Naturmechanismus stehen, sondern sind in die Zeit und mit dem
Naturmechanismus in gewissem Sinne immer schon verwoben:
Eine nicht mechanische Verkettung ist eine Verkettung nach Absichten oder
vorgesetzten Zwecken. Sie schließt die wirkenden Ursachen, folglich auch Me-
chanismus und Nothwendigkeit nicht aus, sondern hat allein zum wesentlichen
Unterschiede, daß bey ihr das Resultat des Mechanismus, als Begriff vorhergeht,
und die mechanische Verknüpfung durch den Begriff, und nicht, wie in dem an-
dern Falle, der Begriff im Mechanismus gegeben wird. Dieses System wird das
System der Endursachen, oder der vernünftigen Freyheit genannt.145
141
Spin2 JW 1,1, 256. Zu diesem Problemkomplex augenöffnend: Sandkaulen 2000.
142
DH1 JW 2,1, 50.
143
Spin2 JW 1,1, 257. Kant unterscheidet zwar zwischen Realgrund (Ursache) und logi-
schem Grund (Longuenesse 1998, 346-356), identifiziert diese Unterscheidung aber mit
der zwischen synthetisch und analytisch. Für Jacobi setzt die Differenzierung von Ursa-
che und Grund hingegen das Konzept der Zeit voraus. Wenn a als Bedingung von b die-
sem nicht zeitlich vorhergeht, liegt nur ein Grund-Folge-Verhältnis vor.
144
Einl JW 2,1, 396.
145
Spin2 JW 1,1, 230.
260 Personale Vernunft
Ich bin der – Ich bin; der – Ich war; der – Ich werde seyn. Vergangenheit, Ge-
genwart und Zukunft, in dem Gefühl des Selbst- und in sich Seyns unzertrenn-
lich verknüpft; das ist Geistesbewußtseyn [.]147
Wenn das Bewusstsein der Person im Strom der Zeit mitverlaufen wür-
de, dann könnte sie nicht Ursache sein, sie könnte nicht eigentlich han-
deln. Sie muss den Zeitverlauf übergreifen. Allerdings ist diese überzeit-
liche Identität der Person als Bewusstsein der Einheit von Vergangen-
heit, Gegenwart und Zukunft in der eigenen Person zeitlich
strukturiert.148 Die Identität der Person ist weder außerzeitlich noch Re-
sultat eines Ablaufs von Geschehnissen, sondern Durchdringung von
Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart.
Schon weil Handlungen einer Person zurechenbar sind, Personen aber
zeitlich strukturiert sind, sitzen wir mit der Freiheit in der Zeit fest. Das
Handeln einer Person ist für Jacobi deshalb immer ein Ereignis in der
Zeit und damit eine „konkrete historische Tat“.149 Unter Aufhebung von
Raum und Zeit gibt es für den Menschen „keine Wirksamkeit und kei-
nen Willen“. 150 In ihrem Handeln ist die Person bedingt durch ihre
vergegenwärtigbare Vergangenheit, ihren Selbstentwurf in die Zukunft
und ihr jeweiliges hic et nunc. Andererseits bricht sie durch ihren Bezug
auf Vergangenheit und Zukunft das strikte zeitliche Nacheinander von
mechanischer Ursache und Wirkung auf. Indem sie Zwecke setzt, richtet
sie sich auf eine mögliche Zukunft und macht diese mögliche Zukunft
zur Ursache einer Veränderung in der Gegenwart. Die Vorstellung von
der Zukunft ist dabei nicht vollständig durch das faktische So-Sein der
146
Sandkaulen 2000, 194.
147
GD JW 3, 113.
148
Sandkaulen 2000, 202.
149
Koch 2013, 134.
150
Kladde VI, 201-221 Schneider 1986, 139.
Die Personalität der Vernunft 261
Person bestimmt, sondern davon, wer diese Person sein will. Die Person
transzendiert insofern den bloß natürlichen Zeitverlauf, als sie in ihrer
Handlung der Zeit vorgreift, ein zukünftiges Ereignis intendiert und
damit wiederum gleichzeitig ihr gegenwärtiges So-Sein bestimmt. Der
Grund menschlicher Handlungen erschöpft sich deshalb nicht im Trieb
nach Selbsterhaltung der eigenen Persönlichkeit als solcher, sondern in
der Selbstbestimmung der Person, die wir sind, daraufhin, wer wir sein
wollen.151
Jacobi entwickelt seine eigene Freiheitskonzeption damit als Gegen-
modell zu der Spinozas: Nach Spinoza ist die Freiheit des Menschen die
Kraft, das zu sein, was er ist.152 Das Individuum ist dann im höchsten
Maße frei, wenn es gemäß seinen Wesensgesetzen handelt.153 Bei Jacobi
ist der Mensch hingegen dadurch bestimmt, dass er sich durch die Set-
zung von Zwecken selbst zu etwas bestimmen und auf ein zukünftiges
Selbst verpflichten kann.154 Freiheit besteht also wesentlich in der Mög-
lichkeit des Entwurfs eines eigenen Selbsts und der Treue zu diesem
Entwurf im eigenen Handeln. Durch die Realisierung der vom Willen
gesetzten Handlung macht sich die Person erst zu demjenigen, der sie
sein will. Gleichzeitig bewertet sie rückblickend ihre Handlungen als ih-
re eigenen, durch die sie sich zu der Person gemacht hat, die sie ist. So
haben Person- und Freiheitsbewusstsein eine fundamental zeitliche
Struktur. Im Vorsatz, der für die Handlung leitend ist, wird die Zukunft
antizipiert, in der Billigung und Reue wird das eigene Handeln rückbli-
ckend bewertet.155
Ein Phänomen menschlicher Praxis, an dem sich der Entwurfscharak-
ter der Freiheit enthüllt, ist nach Jacobi das Versprechen. Im Verspre-
chen sind Gegenwart und Zukunft insofern verschränkt, als eine zukünf-
tige Handlung antizipiert wird als eine solche, die ausgeführt werden
wird. Diese Antizipation meint aber nicht eine Vorhersage im Sinne blo-
ßer Wahrscheinlichkeit auf Grundlage gegenwärtiger Umstände, son-
dern eine Selbstverpflichtung auf ein zukünftiges Handeln, das gerade
151
Selbstachtung ist entsprechend das Resultat freier Selbstbestimmung, durch die wir
das geworden sind, was wir sein wollten (JaF JW 2,1, 258).
152
Spin1 JW 1,1, 79.
153
Spin1 JW 1,1, 78f.
154
Koch definiert Freiheit bei Jacobi deshalb als „die Freiheit eines Einzelnen als Ein-
zelnen, der sich im tatsächlichen willentlichen Handeln aus Zweckbegriffen als dieser und
kein anderer entwirft und anerkennt. Freiheit bedeutet nach Jacobi m. a. W. die individu-
ell-personale Selbstbindung als eine Verbindlichkeit sui generis im Modus der Endursäch-
lichkeit“ (Koch 2013, 42).
155
Sandkaulen 2000, 201.
262 Personale Vernunft
156
Freilich mag es Umstände geben, die außerhalb der Verfügungsgewalt des Verspre-
chenden liegen und die Einhaltung des Versprechens unmöglich machen.
157
Sandkaulen 2000, 216.
158
Kladde VII, 64 Sandkaulen 2000, 186.
159
Sandkaulen 2000, 81.
160
„Was wir im Menschen Vernunft nennen, ist die Vorsehung in ihm. Je mehr ein
Mensch für die Zukunft zu sorgen weiß, desto vernünftiger finden wir ihn.“ (Kladde IV,
48 Sandkaulen 2000, 201.) „Freyheit und Vorsehung sind voneinander unzertrennlich“
(Einl JW 2,1, 395).
161
Bereits in RuG wird den sinnlichen Trieben eine Vernunft entgegengesetzt, die nicht
der kalkulierende Verstand, sondern eine vorhersehende Vernunft ist (JW 4,1, 286). So
bedeutet dort „Vernunft“ nicht einfach folgerichtiges Denken, sondern die Fähigkeit,
nach Zweckbegriffen zu entscheiden (Hammacher 1969, 98ff.).
162
Sandkaulen 2000, 221.
Die Personalität der Vernunft 263
Der Mensch ist ein strebendes Geschöpf; er empfindet in der Zeit, die nie still
steht, keinen eigentlichen Moment hat. [...] Ein Ding der Zukunft ist der
Mensch, und streben muß er unaufhörlich!163
163
FB WW VI, 202f. „[D]ie Seele ist die Seele durch ihr Streben, ihre Tätigkeit, ihre
Begierde“ (Kladde V, 701 Schneider 1986, 354).
264 Personale Vernunft
Subjekt und Adressat der Aufklärung ist nach Jacobi die Person. Von ih-
rer Konzeption hängt deshalb wesentlich Jacobis Projekt einer anderen
Aufklärung ab. Sie ist nämlich kein abstrakter Akteur, sondern das kon-
krete, historisch situierte Individuum. Deshalb soll im Folgenden Jacobis
Personkonzeption in mehreren Schritten analysiert werden: Zunächst
untersuchen wird die Momente personalen Selbstbewusstseins (I), an-
schließend skizzieren wir die konstitutive Funktion der Interpersonalität
für das Personbewusstsein (II).
1
Vgl. KrV B 74f./A 50f. Die konkrete Anschauung konstituiert sich wiederum aus Ma-
terie (Empfindung) und Form (Anschauungsform). Die Form der Sinnlichkeit ist rein,
enthält nichts von Empfindung (B 34f./A 20f.; A 29). Damit sind auch die Materie der Er-
kenntnis (Empfindungen) und die Formen der Erkenntnis (reine Anschauung und Den-
ken) heterogen (B 118/A 86).
2
KrV B 29/A 15; B 33/A 19.
3
KrV B 75f./A 51f.; B 194f./A 155f.; B 291; vgl. außerdem: Prol AA 4, 355; KrV B 139;
OP AA 21, 82. Kant spricht jedoch davon, dass die „zwei Stämme der menschlichen Er-
kenntnis“ „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel ent-
springen“ (KrV B 29/A 15). Heidegger identifiziert diese Wurzel mit der transzendentalen
Einbildungskraft (Heidegger 2010, 138). Dies tut bereits Jacobi: Die Einbildungskraft sei
„die eine Grundkraft des Gemüths, und alle übrigen angeblich verschiedenen Kräfte des-
selben nur Modificationen von ihr“ (Krit JW 2,1, 266). Dagegen: Henrich 2008, 37f.
4
KU AA 5, 401; KrV B 118/A 85; B 92f./A 68; B 33/A 19; Prol AA 4, 288; 316; EEKU
AA 20, 227.
Die Momente personaler Vernunft 265
ren können, behauptet jedoch ihre Isolierbarkeit.5 Auf Grund ihrer He-
terogenität müssen Kategorien und Anschauung deshalb durch ein Drit-
tes (transzendentales Schema/Synthesis der Einbildungskraft) äußerlich
vermittelt werden.6
Für Jacobi hängen dagegen bereits die reinen Verstandesbegriffe in ih-
rer Formation von der sinnlichen Wahrnehmung ab.7 Rezeptivität und
Spontaneität bzw. ihre Produkte sind nicht voneinander unabhängig, um
dann anschließend synthetisiert zu werden, sondern bedingen einander
bzw. sind schon ursprünglich miteinander verbunden. Der Sinn bildet
mit dem Verstand eine unmittelbare Einheit.8 Verstand und Sinn sind
nur reziproke Aspekte derselben Kraft (des menschlichen Geistes), deren
Grad der Rezeptivität vom Grad ihrer Spontaneität abhängt und umge-
kehrt.9 Der Grad, in dem ein Lebewesen empfindet, bestimmt den Grad,
in dem es Formen erzeugen kann.10 Der Grad, in dem ein Lebewesen
Formen erzeugen kann, bestimmt hinwiederum den Grad seiner Emp-
findungen.11 Rezeptivität bildet insofern nicht den Gegensatz zur Spon-
taneität, sondern die Voraussetzung dafür, dass und inwieweit sich ein
5
KrV B 87; 89f./A 62; 64f. Kant vergleicht sein eigenes Vorgehen mit dem eines Che-
mikers, der die Elemente isoliert, um sie in ihrem reinen Zustand darlegen zu können (B
xxi; B 870/A 842). Wenn dieser Vergleich ernst genommen wird, dann nimmt Kant sogar
eine Isolierbarkeit dieser Elemente de re und nicht nur de dicto an (vgl. auch Friedman
1992, 96). Dagegen: Neiman 1994, 56; Kitcher 1990, 39f.; Koch 2004a, 93.
6
„Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einer-
seits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema.“
(KrV B 177 /A 138.) Vgl. hierzu auch: Pinkard 2002, 39. Zur Vermittlungsfunktion der
Synthesis der Einbildungskraft vgl. auch Longuenesse 1998, 61f.
7
Es gibt sicherlich gute Gründe, eine solche Korrelation auch für Kant anzunehmen:
So ist etwa für Heidegger das Denken bei Kant „wesensmäßig auf die Anschauung bezo-
gen“ und muss deshalb eine „innere Verwandtschaft“ mit der Anschauung aufweisen
(Heidegger 2010, 22).
8
GD JW 3, 22. So antizipiert Jacobi Hegels Kritik an den Schematismen und der Ein-
bildungskraft Kants, dass diese Denken und Sinnlichkeit nicht eigentlich vermitteln, da sie
nur „auf äußerliche, oberflächliche Weise verbunden werden, wie ein Holz und Bein
durch einen Strick“ (VGPh SW 20, 348).
9
Mit dieser Kritik an Kants Synthesis als Vereinigung äußerlicher Elemente stimmt
auch Hegel überein (JW GW 15, 14; WdL GW 21, 82f.). Demgegenüber wird in der For-
schung häufig bloß der Charakter der Rezeptivität der Sinnlichkeit für Jacobi im Gegen-
satz zu Kant festgestellt (vgl. etwa Metz 2004, 4).
10
„Die reinste und reichste Empfindung hat die reinste und reichste Vernunft zur Fol-
ge.“ (DH1 JW 2,1, 90.)
11
DH1 JW 2,1, 67. „Wir schreiben einem Menschen vor dem andern einen höheren
Grad der Vernunft zu, in demselbigen Maaße, wie er einen höheren Grad von Vorstel-
lungskraft äussert. Die Vorstellungskraft äussert sich aber nur reagierend, und entspricht
genau der Fähigkeit, von den Gegenständen mehr oder weniger vollkommne Eindrücke
anzunehmen; oder, die Spontaneität des Menschen ist wie seine Receptivität.“ (Ibid., 65f.)
Vgl. auch GD JW 3, 17.
266 Personale Vernunft
Wesen in seiner Begriffsbildung frei äußern kann.12 Für Jacobi ist des-
halb zwar Vernunft nicht identisch mit einem gewissen Empfindungs-
grad, sie ist jedoch nur möglich für Lebewesen, die einen bestimmten
Grad an Empfindung erreicht haben. In jeder Empfindung manifestiert
sich bereits Vernunft. Individuell verweist eine Schwäche an Empfin-
dungen deshalb immer auf ein Defizit an Vernunft.13
Das Verhältnis des Gegenstandes an sich zur Rezeptivität des mensch-
lichen Geistes besteht dabei nach Jacobi nicht in einer strukturell unbe-
stimmten Affektion des menschlichen Geistes, vielmehr muss das Sub-
jekt bereits bestimmte Strukturbestimmungen der Dinge an sich rezipie-
ren. Durch diese Bestimmungen muss der menschliche Geist bestimmt
sein, weil ansonsten das Problem aufträte, wie sich der reine Geist des
Menschen selbst bestimmen kann. Eben dieses Problem löst aber, wie
wir sahen, Kant nach Jacobi nicht. Rezeptivität und Spontaneität müssen
strukturell aufeinander bezogen sein.14 Damit ein Mensch wahrnehmen
kann, muss das Wahrgenommene in sich differenziert sein, weil er erst
an diesem so Strukturierten sein Wahrnehmen lernt. Deshalb hebt Jacobi
die Passivität des Geistes mitunter gegenüber seiner Aktivität hervor,
etwa wenn er die menschliche Vernunft als „Vernehmen“ und „Wahr-
Nehmung“ bestimmt.15 Sollen geistige Produkte wie Begriffe, Worte und
Zeichen etwas von der Sache mitteilen, dann muss das Mitgeteilte schon
geordnet sein und die Ordnungsstrukturen müssen einander entspre-
chen.16 Andererseits kann die Bestimmung eines Individuums nur „nach
den Gesetzen seiner eigenen Natur“ erfolgen.17 Die wahrgenommenen
Gegenstände können unsere Tätigkeiten von Denken, Begriffsbildung,
Empfinden und Vorstellen nicht hervorbringen, sondern dies kann nur
der menschliche Geist in aktiver Weise.18 Allerdings ist dieser Geist eben
bereits eine unmittelbare Einheit von Rezeptivität und Passivität:
12
DH1 JW 2,1, 66f.; 98f.
13
„Empfindungen, Begierden und Leidenschaften müssen da seyn, wenn menschliche
Vernunft da seyn soll. Aus stumpfen Sinnen werden nie helle Begriffe hervorgehen; und
wo Schwäche der Triebe und Begierden ist, da kann weder Tugend noch Weisheit eine
Stelle finden.“ (Woldemar3 JW 7,1, 309.)
14
GD JW 3, 14.
15
JaF JW 2,1, 201; 209.
16
GD JW 3, 14.
17
DH1 JW 2,1, 77.
18
„Der äusserliche Gegenstand kann eben so wenig irgend eine Bestimmung des Den-
kens, als solche, hervorbringen, als er das Denken selbst, oder die denkende Natur her-
vorbringen kann.“ (DH1 JW 2,1, 77.) Aus Jacobis Ableitung des Begriffs „Vernunft“ von
„Vernehmen“ folgt somit auch nicht, dass die Vernunft für Jacobi im Gegensatz zu Kant
nur „eine wesentlich-empfangende Funktion“ hat (Cassirer 1931, 12).
Die Momente personaler Vernunft 267
Der erklärende nach-weisende Verstand hat im Menschen nicht das Erste und
nicht das Letzte Wort. [...]. Nichts im Menschen hat es. Es ist überall in ihm kein
Erstes und kein Letztes Wort; kein Alpha, kein Omega. Er wird angeredet; und
wie er angeredet wird, so antwortet es aus ihm – erst mit Gefühlen; [...] dann mit
Empfindungen, mit Gedanken und Worten.19
Anders als bei Kant wird bei Jacobi deshalb der menschliche Geist durch
Dinge an sich selbst nicht affiziert, vielmehr „offenbart“ sich der Gegen-
stand in seiner Wahrnehmung dem menschlichen Geist.20 Dies bedeutet,
dass sich in der Wahrnehmung etwas vom Gegenstand selbst zeigt. Da-
mit behauptet Jacobi jedoch keinen naiven Realismus, nach dem der
menschliche Geist die Dinge unmittelbar so wahrnehmen würde, wie sie
an sich selbst beschaffen sind.21 Vielmehr schreibt Jacobi – wie Kant –
dem Denken eine produktiv-konstitutive Rolle im Prozess der Erfah-
rung bzw. Wahrnehmung zu.22 Den zentralen Unterschied zu Kant sieht
Jacobi darin, dass sowohl Kants transzendentaler Gegenstand als auch
das Ding an sich nur als „äquivoke“ Ursachen der Erscheinung konzi-
piert sind, bei der Ursache und Wirkung keine gemeinsamen Strukturbe-
stimmungen aufweisen. Kants reine Verstandesbegriffe sind für Jacobi
entsprechend „blos subjective Wesen, bloße Bestimmungen unseres ei-
genen Selbstes“.23 Dem stellt er die Position von Leibniz gegenüber, dass
sich Ordnung zwar nur im Denken offenbaren kann, die Bedingungen
dieser Ordnung aber (die Verknüpfungen) in den Beschaffenheiten des
Gegenstandes begründet sind.24 Jacobi behauptet also nicht, dass die ob-
jektiven Bestimmungen der Dinge, die der menschliche Geist wahr-
nimmt, nicht vom Geist produktiv geformt sind, sondern dass zumindest
ein homomorphes Verhältnis zwischen den Bestimmungen der Dinge an
sich und unseren Wahrnehmungen vorliegen muss.25 Damit ist gemeint,
dass unsere Wahrnehmungen die wirklichen Dinge nicht exakt abbilden,
aber zumindest ein homomorphes Abbildungsverhältnis vorliegen muss,
zwischen den von uns wahrgenommenen Relationen zwischen den Din-
19
GD JW 3, 13f.
20
Dagegen ist für Jacobi nach Kants Kritik der Verstand, da er auf die Sinnlichkeit an-
gewiesen ist, die nichts von den Dingen an sich selbst offenbart, vom Wahren vollständig
abgeschnitten (GD JW 3, 20f.).
21
Jacobi hebt deshalb immer wieder hervor, dass er in der Mitte zwischen Positivisten
und logischen Enthusiasten steht (JaF JW 2,1, 261). Dagegen etwa: Pinkard 2002, 95.
22
DH1 JW 2,1, 32. Dagegen: Baum 1969, 38–40; 86; 105f.
23
DH1 JW 2,1, 110.
24
DH1 JW 2,1, 108.
25
Mit Hemsterhuis spricht Jacobi von einer Analogie zwischen unseren Wahrnehmun-
gen und den Dingen an sich selbst (DH1 JW 2,1, 35).
268 Personale Vernunft
gen und den Relationen der Dinge an sich.26 Dazu muss das rezipierte
Mannigfaltige aber bereits in sich strukturiert und bestimmt sein.27 Mit
diesem „System absoluter Objectivität“ will Jacobi nicht behaupten, dass
die Dinge sich uns in der Wahrnehmung auf absolute, sondern nur auf
eingeschränkte Weise so offenbaren, wie sie an sich sind.28 So offenbart
die naturwissenschaftliche Verknüpfung von Ursache und Wirkung die-
selbe Relation zwischen Dingen an sich wie die mythische Auffassung
der Wirklichkeit als eine von lebendigen Wesen bevölkerte, die alle Ver-
änderungen in der Welt durch ihre Tat hervorbringen.29 In der Kraft der
Ausgestaltung dieser Formen besteht gerade die freie Produktivität des
menschlichen Denkens. 30 Kant restringiert für Jacobi die tatsächliche
Aktivität des menschlichen Geistes auch dadurch, dass für ihn nur be-
stimmte Begriffe als durch Verstand und Vernunft erzeugt sind, wohin-
gegen für Jacobi alle Begriffe in ihrem Ursprung lebendige Begriffe
sind.31
Mit seiner Kritik an Kants Synthesis als Vereinigung getrennter Ele-
mente zu einer nachträglichen Einheit, in der sich die Elemente aber
immer äußerlich bleiben, leugnet nun Jacobi nicht die Möglichkeit der
Synthesis von Begriff und Anschauung.32 Das Kriterium für die Wahr-
heit eines Begriffes ist vielmehr, dass es sich um eine unmittelbare Ein-
heit von Spontaneität und Rezeptivität handelt. Die Trennung dieser
Momente ist hingegen erst das Resultat einer späteren Reflexion auf die-
se ursprüngliche Einheit, in der selbige aufgelöst wird. 33 Begriffe sind
Ausdruck der Spontaneität unseres individuellen Geistes und sie formie-
ren unsere Wahrnehmungen. Auf der anderen Seite ist die Begriffsbil-
dung in einem gewissen Grade durch unsere Anschauungen bestimmt
(nicht jede Form passt für jede Wahrnehmung). Aber die Anschauungen
determinieren nicht die spezifischen Formen, durch die wir sie ordnen.
Somit ist die Spontaneität eines individuellen Geistes nicht darauf be-
schränkt, prädeterminierte Formen einfach nur zu applizieren, sondern
26
DH1 JW 2,1, 34f. Eine solche Homomorphie scheint nach Koch auch bei Kant be-
reits auf der Ebene der kategorialen Synthesis vorliegen zu müssen, da das unserem
„ektypischen Verstand“ Gegebene zumindest so beschaffen sein muss, dass es überhaupt
von ihm synthetisiert werden kann (Koch 2004a, 180f.).
27
GD JW 3, 24.
28
Einl JW 2,1, 391.
29
DH1 JW 2,1, 54.
30
Auch für Kant ist Denken freilich ein spontaner Akt, „aber nicht produktiv und
schon gar nicht kreativ“ (Düsing 1997, 105).
31
DH1 JW 2,1, 91.
32
Dagegen: WdL GW 21, 83.
33
Epistel JW 2,1, 129f.
Die Momente personaler Vernunft 269
ist ein Vermögen, diese Formen kreativ zu erzeugen.34 Daher ist die Ein-
heit von spontaner Begriffsbildung und Rezeption von Wahrnehmungen
nicht durch eine zusätzliche Operation des Geistes vermittelt, sondern
unmittelbar in dem Sinne, dass sie eine organische Ganzheit bilden, in
der das Ganze den Momenten vorhergeht.35 Anders formuliert, jede An-
schauung ist zumindest in ihrem Ursprung eine begriffliche Anschauung
und jeder Begriff ein angeschauter Begriff.36 Was Jacobi deshalb als un-
mittelbare Anschauung des Geistes beschreibt, ist keine passive Wahr-
nehmung eines Dinges an sich selbst, sondern bereits eine organische
Einheit aus Spontaneität und Rezeptivität. Diese Einheit kann entweder
Anschauung oder (lebendiger) Begriff genannt werden: „Jede Wahrneh-
mung ist folglich an sich schon ein Begriff.“37 Diese „anschauende Er-
kenntniß“ bezeichnet Jacobi auch als Intuition.38 Wahrnehmungen sind
nicht nur repräsentationale Vorstellungen von diesen verschiedenen Ge-
genständen und der Verstand ist nicht nur ein Vermögen zur Reflexion
dieser Vorstellungen.39 Erst in der diskursiven Erkenntnis tritt ihre Ein-
heit auseinander. Diese Diskursivität steht aber in unmittelbarem Zu-
sammenhang mit unserem Lebensinteresse. Denn der menschliche Geist
kann nur eine begrenzte Anzahl individueller Vorstellungen erfassen, die
er deshalb trennen und zerteilen und auf abstrakte strukturelle Relatio-
nen hin abstrahieren und durch Zeichen festhalten muss.40
In der Wahrnehmung als unmittelbarer Einheit von Rezeptivität und
Aktivität bilden nun nach Jacobi ebenfalls Selbstwahrnehmung und
Fremdwahrnehmung eine unmittelbare Einheit. 41 Die Wahrnehmung
34
Weil sie aber eine unmittelbare Einheit mit der Wahrnehmung bilden, sind sie objek-
tiv. Kant hingegen würde die Kategorien „zu bloßen Vorurtheilen des Verstandes [...] ma-
chen; zu Vorurtheilen, von welchen wir geheilt werden müssen, indem wir erkennen ler-
nen, daß sie sich auf nichts, was den Gegenständen an sich zukommt, beziehen, folglich
keine wahre objective Bedeutung haben“ (DH1 JW 2,1, 60).
35
Die Bedeutung von Begriff und Anschauung bzw. Empfindung als organischer Ein-
heit ignorieren sensualistische Deutungen Jacobis (vgl. Herms 1976, 134–137; 142).
36
Wilhelm von Humboldt notiert in seinem Tagebuch, Jacobi hätte ihm gegenüber
1788 Folgendes ausgeführt: Wir nehmen nicht nur die Bilder äußerer Dinge wahr, son-
dern diese selbst modifiziert durch unsere Relation zu ihnen und allen anderen Dingen in
der Welt, durch eine Art Offenbarung (Humboldt 1916, 58).
37
DH1 JW 2,1, 86.
38
Betrachtung JW 4,1, 14f.
39
Einl JW 2,1, 390. Zu Jacobis Kritik am Vorstellungs- oder Repräsentationsmodell
des Bewusstseins vgl. Sandkaulen 2017, 19.
40
Betrachtung JW 4,1, 15. Anders als das Tier, das seine limitierte Umwelt unter den
für seine Lebenstätigkeit relevanten Aspekten komplett erfassen kann, muss der Geist des
Menschen, der sich potentiell auf alles richten kann, abstrahieren (ibid., 16).
41
GD JW 3, 49. So tritt das Bewusstsein vom äußeren Gegenstand als einem äußeren
„ohne irgend eine Operation des Verstandes“ ein; damit wendet Jacobi sich gegen eine
270 Personale Vernunft
von Etwas als Etwas setzt Selbstwahrnehmung voraus, weil darin Diffe-
renz zum Wahrnehmenden impliziert ist. Das Individuum unterscheidet
sich in seinem Wahrnehmungsakt unmittelbar vom Gegenstand seiner
Wahrnehmung. Der Grad dieses Selbstbewusstseins korreliert wiederum
direkt mit dem Grad seiner Spontaneität und seiner Rezeptivität.42 Spon-
taneität, Rezeptivität und Selbstbewusstsein bestimmen sich also wech-
selseitig.43 Nur durch die Reflexion auf ihre ursprüngliche Einheit treten
sie als unterschiedene Aspekte auseinander, und diese nicht separat exis-
tierenden Elemente44 werden in Gedanken isoliert.45 Ursprünglich kön-
nen sie aber gar nicht anders gedacht werden denn als Momente einer
unmittelbaren Ganzheit.
Eben deshalb versteht Jacobi Geistigkeit als eine Weise von
Organizität. Unser Bewusstsein ist eine Einheit von „in einander grei-
fende[n] Momente[n] des Thuns und Leidens, der Würkung und Ge-
genwürkung [...], die ein reales, in sich bestimmtes und selbstthätiges
Principium voraus setzen“. 46 Das personale Selbst ist eine unteilbare,
unmittelbare Einheit aus den genannten Momenten. Dadurch ist es ein
Individuum und nicht ein aus isolierbaren Elementen zusammengesetz-
tes Aggregat. Eine solche Einheit nennt Jacobi auch eine unmittelbare
Einheit. Gegenstandsbewusstsein und Selbstbewusstsein müssen eine
solche unmittelbare Einheit bilden. Die Wahrnehmung des Bewusstseins
ist nicht ohne Gegenstand möglich und die Wahrnehmung des Gegen-
standes nicht ohne Bewusstsein. Die Wahrnehmung des Gegenstandes
offenbart in einem ungeteilten Akt die Wirklichkeit des Selbst und des
Gegenstandes.47 Zum Bewusstsein oder Gefühl unserer selbst gelangen
Theorie, die von der Empfindung eines Gegenstands oder einer Vorstellung auf die Äu-
ßerlichkeit des Gegenstandes erst schließt (DH1 JW 2,1, 38).
42
„Wie die Receptivität, so die Spontaneität, wie der Sinn, so der Verstand. Der Grad
unseres Vermögens, uns von den Dingen ausser uns intensiv und extensiv zu unterschei-
den, ist der Grad unserer Personalität“ (DH1 JW 2,1, 98f.).
43
DH1 JW 2,1, 86.
44
Schlosser JW 5,1, 231.
45
So unterscheidet Jacobi abstrakte Begriffe von ursprünglichen, lebendigen Begriffen
(DH1 JW 2,1, 90; vgl. auch Schlosser JW 5,1, 231f.). Jacobis spätere Trennung von Ver-
nunft als Vermögen der Wahrnehmung und Verstand als Vermögen der Begriffe verun-
klart diese Einheit, da er hier von zwei unterschiedlichen Vermögen zu sprechen und sich
Kants Theorie von Rezeptivität und Spontaneität anzueignen scheint. Der Sache nach liegt
aber immer noch eine unmittelbare Einheit vor (Einl JW 2,1, 426). Der Grund für diese
Redeweise ist, dass Jacobi in diesen Passagen das Problem beschäftigt, wie die ursprüngli-
che Einheit von Anschauung und Begriff nach ihrem Auseinandertreten wiederhergestellt
werden kann.
46
DH1 JW 2,1, 56.
47
„Der Gegenstand trägt eben so viel zur Wahrnehmung des Bewußtseyns bey, als das
Bewußtseyn zur Wahrnehmung des Gegenstandes. Ich erfahre, daß ich bin, und daß et-
Die Momente personaler Vernunft 271
wir nur durch Dinge außer uns, von denen wir uns unterscheiden.48 Der
Unterscheidungsgrad konstituiert wiederum den Grad unseres Selbst-
bewusstseins.49 Was wir im Unterschied zu den Tieren Vernunft nennen,
ist nur ein höherer Grad dieses Selbstgefühls.
Damit ist auch die Vernunft keine reine Vernunft, sondern eine orga-
nische Einheit bzw. eine bestimmte Entwicklungsstufe einer solchen or-
ganischen Einheit. 50 Nur ein schlechthin selbständiges und uneinge-
schränktes Wesen könnte reine Person oder reines Selbstbewusstsein im
positiven Sinne sein. Solch ein Wesen wäre nämlich nur durch sich selbst
und als es selbst im schlechthinnigen Sinne bestimmt (sum qui sum). Das
menschliche Individuum kann sein Selbst aber nicht selbst konstituieren,
vielmehr ist es in vielfacher Weise bedingt und durch diese Bedingungen
bestimmt. Es kann nur ein bestimmtes „Ich“, Person und Individuum
sein. Die Rede von einem „reinen Ich“ oder „reiner Personalität“ kann
deshalb zuletzt nur Resultat einer Abstraktion von den das Individuum
oder die Person konstituierenden Bedingungen sein.51 Eben damit wird
das Individuum aber gerade verfehlt.
Wir können also festhalten: Vernunft bzw. Spontaneität sind für Jaco-
bi keine isolierbaren Entitäten oder Vermögen, sondern wirkende Kräf-
te, Manifestation der besonderen Art menschlicher Lebendigkeit. Reine
Vernunft, die kein Abstraktum ist, müsste absolut selbständig sein, in ih-
ren Vollzügen nicht bedingt durch Anderes ihrer selbst. Gerade das ist
nicht der Fall bei der menschlichen, endlichen Vernunft. Menschliche
Vernunft und Personbewusstsein sind „nur geliehen, von Andern ge-
nommen, ein gebrochener Stral des transcendentalen Lichts, des allein
Lebendigen.“52 Aus der Perspektive des endlichen Menschen wäre eine
absolute oder reine Vernunft zugleich ein Nichts von Allem.53 Kants rei-
was ausser mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick [...]. Keine Vorstellung, kein
Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung. Nichts tritt in der Seele zwischen die
Wahrnehmung des Würklichen ausser ihr und des Würklichen in ihr. Vorstellungen sind
noch nicht; sie erscheinen erst hinten nach, als Schatten der Dinge, welche gegenwärtig
waren.“ (DH1 JW 2,1, 37.)
48
DH1 JW 2,1, 86.
49
DH1 JW 2,1, 86f.
50
DH1 JW 2,1, 86. „Die vollkommenere Perception, und der höhere Grad des Bewußt-
seyns der damit verknüpft ist, darinn besteht das Wesentliche desjenigen Vorzugs unserer
Natur, den wir Vernunft heissen.“ (Ibid., 89.)
51
DH1 JW 2,1, 62.
52
Brief an Lavater vom 14.11.1787 JB 1,7, 11.
53
Auf die Notwendigkeit ihrer Voraussetzung werden wir später zurückkommen: „Es
muß, da überhaupt Vernunft vorhanden ist, auch eine reine Vernunft, eine Vollkommen-
heit des Lebens vorhanden seyn. Alle andre Vernunft ist von dieser nur Erscheinung oder
272 Personale Vernunft
ne Vernunft ist deshalb „ein Gedicht, oder ein bloßes Abstractum“.54 Ja-
cobi sieht nun sehr wohl, dass sich Zeitanschauung, Verstandesbegriffe
und Selbstbewusstsein bei Kant wechselseitig bedingen.55 Da aber trans-
zendentale Einheit der Apperzeption als Spontaneität und Sinnlichkeit
als Rezeptivität heterogene, voneinander isolierbare Elemente und nicht
Momente einer unmittelbaren Einheit sind, können sie sich nicht wech-
selseitig bestimmen. Weil diese Momente nach Jacobi eine ursprüngliche,
unmittelbare Einheit bilden, ist die Annahme eines reinen Selbstbewusst-
seins sinnlos und damit entfällt die Unterscheidung zwischen reinem
und bedingten Selbstbewusstsein. Die Konzeption eines reinen Bewusst-
seins ist vielmehr nur das hypostasierte Reflexionsprodukt eines Denk-
prozesses, der von den Bedingungen des menschlichen Bewusstseins und
dem Abstraktionsprozess selbst abstrahiert.56
Hermeneutisch ergeben sich für unsere Analyse des Selbstbewusst-
seins und seiner Momente als einer unmittelbaren Einheit nun aber ge-
wisse Probleme. Zum einen bestimmt Jacobi an mehreren Stellen seines
Werks den Begriff, der auf Allgemeines geht, als Gegensatz der An-
schauung, die immer Einzelnes erfasst: „Jede Anschg ist Vstllg eines ein-
zelnen Wesens, u dadurch dem Begriffe entgegengesetzt“. 57 Verstand
bzw. Vernunft gelten denn auch mitunter als „das bloße Vermögen Ver-
hältnisse deutlich wahrzunehmen, d. i. den Satz der Identität zu formiren
und darnach zu urtheilen“.58 Diesem Vermögen, damit es operieren (das
heißt Identitätsverhältnisse einsehen) kann, müssen nach Jacobi erst Ge-
genstände durch die Wahrnehmung gegeben sein. 59 Dieses 1787 noch
Vernunft genannte Vermögen bezeichnet Jacobi später als Verstand und
setzt diesem unter dem Namen der Vernunft ein scheinbar neues Ver-
mögen zur Wahrnehmung des Übersinnlichen entgegen.60 Von der Ter-
minologie abgesehen scheint dem Denken in beiden Fällen nur die
Funktion einer nachträglichen Reflexion auf eine Wahrnehmung zuzu-
kommen. Andererseits sind lebendige Anschauungen immer begrifflich,
Wiederschein. Und diese Vernunft ist gewiß im strengsten Sinne Einzig und Allein“ (All-
will2 JW 6,1, 228).
54
DH1 JW 2,1, 63. Die Idee einer reinen Vernunft verdankt sich nach Jacobi der Abs-
traktion von allem Inhalt.
55
Epistel JW 2,1, 138.
56
Epistel JW 2,1, 125.
57
Kladde X, 281 Radrizzani 1998, 48.
58
DH1 JW 2,1, 9.
59
„So lange ich mich besinne, hat mir das angeklebt, daß ich mit keinem Begriffe mich
behelfen konnte, dessen äusserer oder innerer Gegenstand mir nicht anschaulich wurde.
Objective Wahrheit und Würklichkeit, war in meinem Sinne eins, so wie deutliche Vor-
stellung des Würklichen und Erkenntniß.“ (DH1 JW 2,1, 39.)
60
Einl JW 2,1, 377.
Die Momente personaler Vernunft 273
lebendige Begriffe immer anschaulich.61 Eben hierin liegt auch die Lö-
sung des hermeneutischen Problems: Im Falle der nachträglichen Refle-
xion auf eine Anschauung oder einen Begriff sind Anschauung und Be-
griff bereits auseinandergetreten und nicht mehr lebendig. Dies geschieht
bereits im Urteilen, das ein Trennen des ursprünglich Vereinigten und
damit ein Akt der Reflexion ist.62 Insofern bezeichnet das, was Jacobi an
besagten Stellen Vernunft bzw. später Verstand nennt, eine geistige Ope-
ration, für die Anschauung und Begriff bereits auseinander getreten sind,
und damit eine Operation, die der ursprünglichen Einheit äußerlich
bleiben muss. Die reflektierende Trennung ist für Jacobi das Wesen der
spekulativen Aufklärung im Sinne Spinozas und Kants. Diese von Jacobi
auch als symbolisch bezeichnete Erkenntnisform ist zu unterscheiden
von der ursprünglich lebendigen Erkenntnis. 63 Erstere achtet „nicht
mehr auf die eigentlichen Gegenstände“.64 Ihr Resultat ist die Unterord-
nung des Urbilds (der ursprünglichen Wahrnehmung) unter das Abbild
(den Reflexionsbegriff).65 In Kants unterschiedlichen Reinheiten mani-
festiert sich deshalb für Jacobi die spekulative Aufklärung, die die Mo-
mente der unmittelbaren Einheit des Selbstbewusstseins als reine Sinn-
lichkeit, reiner Verstand und reine Vernunft voneinander isoliert.66
61
JB 1,8, 153.
62
Einl JW 2,1, 426. Auch diese Trennung ist jedoch in gewissem Sinne notwendig. So
macht erst sie die klare Unterscheidung des sinnlich Gegebenen vom übersinnlich Gege-
benen möglich (ibid., 401).
63
Cachet JW 4,1, 369. Auch das naturwissenschaftliches Wissen ist Reflexion (GD JW
3, 96) oder symbolische Erkenntnis der Natur und als solche völlig legitim.
64
Cachet JW 4,1, 370.
65
Einl JW 2,1, 379; 404f.; Brief an Dohm vom 4.5.1790 JB 1,8, 391. Damit rückt die
Frage ins Zentrum, wie die ursprüngliche, unmittelbare Einheit wiederhergestellt werden
kann. Auch die wiederhergestellte Einheit ist wiederum nur in einem „von der Vernunft
erleuchteten Verstande und Willen möglich“, weil kein Bewusstsein ohne Verstand mög-
lich ist (Einl JW 2,1, 378). Vgl. hierzu ausführlich: Schick 2006.
66
GD JW 3, 27. Nur weil Wahrnehmung schon Einheit von Begriff und Anschauung
ist und damit kognitiven Charakter hat, kann Jacobi die unmittelbare Wahrnehmung als
„Wissen ohne Beweise“ bezeichnen, das dem reflexiven „Wissen aus Beweisen“ vorher-
geht (Einl JW 2,1, 375).
274 Personale Vernunft
67
JB 1,2, 27f. Vgl. außerdem: JB 1,2, 381f.; JB 1,11, 241; DH1 JW 2,1, 85; 99; DH2 JW
2,1, 95; JaF JW 2,1, 194; Einl JW 2,1, 393; Kunstgarten JW 7,1, 125f.; 179; Allwill JW 6,1,
135f.; FB WW VI, 169; 177. Hammacher bezeichnet dies in Anlehnung an Buber als das
„dialogische Prinzip“ der jacobischen Philosophie (Hammacher 1969, 38).
68
„[O]hne Du, ist das Ich unmöglich“ (Spin1 JW 1,1, 116). „[I]n demselben Maaße wie
das Du deutlicher wird, wird auch das Ich deutlicher. – Es entsteht Begriff, Wort, Per-
son.“ (DH1 JW 2,1, 86.)
Die Momente personaler Vernunft 275
sein seiner selbst als freie, spontane und vernünftige Ursache oder seiner
selbst als Person (persönliche Vernunft). Dieses Selbst, das zugleich
Empfindung seines Selbst und seines Andern ist und nicht reine Subjek-
tivität, ist nach Jacobi Grund allen Erkennens und Handelns.69
Für Jacobi besteht das Problem von Personalität und Interpersonalität
also nicht darin, wie wir vom Bewusstsein unseres eigenen Selbst (= Per-
son) zum Bewusstsein anderer Personen außer uns gelangen, vielmehr ist
unser Selbst (das ja nichts anderes ist als Personbewusstsein) gleich ur-
sprünglich mit unserem Bewusstsein von anderen Personen. 70 Der
scheinbar notwendige Ausgang von der ersten Person ist dagegen nicht
die selbstevidente Wahrheit, für die er sich hält, sondern ein historisch
übernommenes Vorurteil, das sich nicht zuletzt in der Grammatik euro-
päischer Sprachen manifestiert, die die Bildung der anderen Personen
nach der ersten Person bestimmt. Die Grammatik der semitischen Spra-
chen, bei denen die dritte Person die Bildung der übrigen bestimmt,
drückt hingegen die „gewisse Wahrheit“ aus, „daß bey allen endlichen
Naturen das Er oder Es und das Du vor dem Ich gesetzt werden muß“.71
Der Gedanke des Selbst oder das Selbstbewusstsein ist also nicht als
reine und unterschiedslose Identität zu denken, sondern als eine unmit-
telbare Einheit von Selbstbezug und Bezug auf ein personales Gegen-
über. 72 In seinem Personbewusstsein ist dem Individuum deshalb zu-
gleich das Bewusstsein seines nicht-Absolutseins mitgegeben. Das einge-
schränkte Selbstsein des Menschen ist auf Mitsein gegründet. 73
Andererseits ist ihm ein Bewusstsein seiner Selbständigkeit gegeben, weil
sein Selbst nicht durch reines Mitsein vermittelt sein kann, sondern Mit-
sein das Selbstsein der Mitseienden voraussetzt.
Diesen Gedanken entwickelt Jacobi systematisch in Auseinanderset-
zung mit Kants reinem Ich. Dieses ist weder Selbst noch Bewusstsein, da
beides eine Differenz (eine Antithesis) impliziert, die durch Kants Ich-
Konzeption nicht erklärt wird.74 Grundlegend ist dabei Jacobis bereits
skizzierte Einsicht, dass Bewusstsein immer schon eine Einheit von The-
69
Schlosser JW 5,1, 233.
70
„[A]uch bey der allerersten und einfachsten Wahrnehmung, [müssen] das Ich und
das Du, inneres Bewußtseyn und äusserlicher Gegenstand, sogleich in der Seele da seyn
[…]; beydes in demselben Nu, demselben untheilbaren Augenblicke, ohne vor und nach“
(DH1 JW 2,1, 38).
71
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121. „Ich gehe, wie die Morgenländer in ih-
ren Conjugationen von der dritten, nicht von der ersten Person aus“ (Spin2 JW 1,1, 157).
72
„Das Thier hat ein Selbst, kann aber nicht sagen: Ich selbst, weil es nicht sagen kann:
Ich – ein – Anderer.“ (FB WW VI, 169.)
73
GD JW 3, 27f.
74
GD JW 3, 14f.
276 Personale Vernunft
sis, Antithesis und Synthesis sein muss, da ein reines Bewusstsein nie-
mals von seiner reinen Unbestimmtheit differenzloser Identität zur Be-
stimmtheit übergehen könnte.75 Anders als Kant denkt Jacobi deshalb,
dass im menschlichen Personbewusstsein Selbst und Bezug auf das An-
dere seiner Selbst eine unmittelbare Einheit bilden. Mit dem gleichur-
sprünglichen Bezug auf das Du ist das Selbst auf ein „Gleichartiges aber
Anderes, d. i. ein ihm zugleich Nicht-gleiches und Doch-gleiches, ein
von ihm verschiedenes und von ihm doch nicht verschiedenes Wesen“
bezogen.76 Dieser Bezug tritt nicht ex post an die schon konstituierte
Identität des Selbst heran. Selbstbezug und Fremdbezug würden sonst
nie eine echte Einheit und Identität eingehen. Das eine Selbst würde auf-
hören Identität zu sein und zu einem bloßen Aggregat zweier realdis-
tinkter Akte.77 Deshalb können Identität und Andersheit „nur in einan-
der und zugleich gedacht werden [...], als forma substantialis alles Den-
kens und Seyns“.78
Wir haben bisher gesehen, dass Personbewusstsein für Jacobi eine
Gleichursprünglichkeit von Selbstbezug und Du-Bezug, von Identitäts-
und Differenzbewusstsein impliziert: Für Jacobi sind hiermit aber von
Anfang an (anders als für Kant) nicht primär logische Verhältnisse ge-
meint. Deshalb begründet Jacobi den Gedanken von der Notwendigkeit
der Gleichursprünglichkeit von Ich und Du auch nicht nur über eine
Strukturanalyse des Selbstbewusstseins. Menschliches Personbe-
wusstsein setzt nämlich nicht nur logisch die Unterscheidung von einem
Du voraus, um sich seiner selbst als Selbst bewusst zu werden. Vielmehr
kann das konkrete Individuum auch existentiell nur im und durch das
Zusammenleben mit einem Du Person werden. Dieses Bewusstsein exis-
tentieller Abhängigkeit vom Du ist konstitutiv für das menschliche Per-
sonbewusstsein:
Er fühlet, erfährt ursprünglich, und kann es auch erkennen, daß seine Selbstän-
digkeit wie seine Abhängigkeit eingeschränkt ist; daß er eben so nothwendig Ei-
ner nur seyn kann unter Anderen, unmöglich ein Erster und Einziger; als er, um
75
Krit JW 2,1, 294f.
76
Krit JW 2,1, 309.
77
Dies ist bei Kant der Fall: „Ich habe nun achtzehn Jahre lang zu begreifen gesucht,
und es ist mir mit jedem Jahre nur unbegreiflicher geworden, wie ihr ein Mannichfaltiges,
zu welchem die Einheit; und eine Einheit, zu welcher das Mannichfaltige – nur hinzu-
kommt, euch vorzustellen, oder diese reine Begebenheit auf irgend eine Weise zu denken
vermögt.“ (Krit JW 2,1, 289.)
78
Krit JW 2,1, 289.
Die Momente personaler Vernunft 277
zu seyn Einer unter Anderen, nothwendig seyn muß Einer und kein Anderer;
ein selbständiges, ein wirkliches, ein persönliches Wesen.79
ausgerechnet dieses Begriffs lässt sich als Kritik an Kant verstehen, der Meinungen als nur
subjektiv begründete Überzeugung kritisiert. Für Jacobi hingegen können wir uns von
diesen Meinungen nicht vollständig distanzieren, sondern sie herrschen über uns. Damit
greift Jacobi ein Argument des Aufklärungskritikers Burke auf, nach dem all unser politi-
sches Denken immer schon von Vorurteilen und Voraussetzungen ausgeht, die wir nicht
wiederum selbst einer voraussetzungslosen Kritik unterwerfen können. Diese Vorurteile
seien notwendig für das Funktionieren jeder Gemeinschaft (Fleischacker 2013, 47; Burke
2014, 90). Zu Jacobis Haltung zu Burke vgl. u. a. JB 1,9, 13f.; 29.
84
Für Jacobi ist so die Historizität des Menschen Bedingung der Möglichkeit dafür,
dass er eine hexis oder zweite Natur haben kann: „Haltung hat ein historisches Wesen
allein“ (JB 1,9, 129).
85
Deswegen sind diese Überzeugungen entgegen Hegels Kritik in Glauben und Wissen
nach Jacobi für das Individuum durchaus heilig (FB WW VI, 200f.).
86
Ganz ähnlich: Wittgenstein 1984, 149f.
87
Spin1 JW 1,1, 115; vgl. auch: Etwas JW 4,1, 338. Damit antizipiert Jacobi einen Ge-
danken Wittgensteins: „Alle Prüfung, alles Bekräftigen und Entkräften einer Annahme
geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dies System nicht ein mehr oder
weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unsrer Argumente, sondern
es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das System ist nicht so sehr
der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argumente.“ (Wittgenstein 1984, 141; vgl.
153.)
Die Momente personaler Vernunft 279
88
Eine Verwandtschaft dieser Analyse Jacobis zu Wittgensteins relativer Transzenden-
talität bestimmter Lebensformen in Über Gewißheit arbeitet Gabriel 2004 heraus.
89
ZEeD JW 5,1, 202.
90
ZEeD JW 5,1, 202; vgl. hierzu auch JB 1,9, 217; 352 sowie Hof 1970, 51f.
91
Für Allwill etwa ist es „ein Lumpenkram um alle gelernte Religionen und alle gelern-
te Moral“ (Allwill2 JW 6,1, 201).
92
„Alle Vorurtheile ablegen, heißt alle Grundsätze ablegen. Wer keine Grundsätze hat,
wird theoretisch und praktisch durch Einfälle regiert.“ (FB WW VI, 134.)
93
Dagegen thematisieren Jacobis Romane nach Frank die „Überlegenheit der natürli-
chen Sittlichkeit gegenüber der öffentlichen Moralität“ (Frank 1998, 74).
94
DH1 JW 2,1, 94.
95
DH1 JW 2,1, 93.
96
Wenn nach Hegel der kategorische Imperativ deshalb leer ist, weil sich aus ihm we-
der konkrete Pflichten entwickeln noch konkrete Maximen als pflichtwidrig zurückwei-
sen lassen (Allison 1996, 143; Sedgwick 2012, 29), dann findet sich diese Kritik bereits bei
280 Personale Vernunft
bleibt leer, wenn er nicht durch die Sphäre der Gesellschaft vermittelt
und durch die für sie konstitutive Sittlichkeit konkretisiert ist. Gleiches
gilt, wenn wir die freie Bestimmung in unserem Handeln auf die aufklä-
rerische Idee der Vollkommenheit gründen, nach der wir etwas werden
wollen, das wir noch nicht sind. Bestimmtheit gewinnen diese Ideen erst
in Gesellschaft, in deren Sittlichkeit diese Unbestimmtheit konkretisiert
wird.
Auch wenn also, wie wir sahen, das Streben der menschlichen Freiheit
sich bei Jacobi immer schon in unbestimmter Weise auf das Gute richtet,
muss dieses Streben auf Grund seiner Unbestimmtheit die bestimmte
Form des Geistes des jeweiligen Zeitalters annehmen oder durch diesen
konkretisiert sein. 97 Diese objektive Sphäre leistet gewissermaßen die
Vermittlung des Allgemeinen (das Gute) mit dem Individuellen, zwi-
schen der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Teilhabe am Abso-
luten.98 Indem Kant die Notwendigkeit dieser Vermittlungsleistung im
Bereich der Sittlichkeit und Erkenntnis negiert, bleiben seine Diskursre-
geln für Erkenntnis und Moral leere Formalismen. Gleiches gilt für seine
Aufklärungsmaximen: Das Denken des Einzelnen ist immer schon durch
und in einer objektiven Sphäre konkretisiert. Diese ist für Jacobi nicht
der Gegensatz zur individuellen Freiheit, sondern das notwendige Medi-
um, in dem sich die Freiheit des Menschen allein verwirklichen kann.
Losgelöst von der individuellen Freiheit wird sie allerdings zum toten
Buchstaben leerer Tradition.99
Jacobi. Der mit Hegel assoziierte Vorwurf des leeren Formalismus ist so eigentlich jacobi-
schen Ursprungs.
97
JB 1,9, 11.
98
Vgl. hierzu auch Schumacher 2003, 213.
99
Auch dies zeigt sich etwa in der Konstellation des Woldemar: Zum bloßen Buchsta-
ben geworden schränken Sitten und Gebräuche die Glieder der Gesellschaft ein und ver-
üben am Individuum „eine Art von Gewaltthätigkeit“ (Kunstgarten JW 7,1, 121).
Historische Aufklärung 281
D. Historische Aufklärung
Für Kant ist öffentliche Aufklärung nur unter der Bedingung nicht-
kontingenter, universeller Rahmenbedingungen möglich. Die vorigen
Ausführungen haben nun gezeigt, dass diese Voraussetzung universell
geltender, transzendentaler Strukturen für Jacobi ein Ungedanke ist. Für
ihn ist die menschliche Vernunft nämlich immer schon durch die kon-
kret-historischen Beziehungen des Einzelnen zu anderen Personen, sei-
ner Umwelt und objektiven sozialen Strukturen konstituiert. Ohne diese
Beziehungen ist nicht nur keine bestimmte, sondern überhaupt keine
menschliche Vernunft möglich.1 Deshalb sind weder Erkenntnisformen
noch die Prinzipien unserer Moral jemals rein a priori, sondern immer
durch eine vorgängige gesellschaftliche Praxis bedingt. Wir haben auch
gesehen, dass diese Praxis nicht im Gegensatz zur individuellen Selbstbe-
stimmung steht, sondern diese erst ermöglicht. So ist sie auch nicht der
Gegensatz aufklärerischen Selbstdenkens, sondern das Medium, inner-
halb dessen sich Selbstdenken und Aufklärung jeweils vollziehen müs-
sen. Vor diesem Hintergrund wollen wir nun Jacobis andere Aufklärung
analysieren: Zunächst betrachten wir dazu Jacobis Verhältnisbestim-
mung des Geistes der Zeiten zum individuellen Denken (I) und an-
schließend die sich hieraus ergebende Möglichkeit historischer Aufklä-
rung (II).
Wir haben gesehen, dass für Jacobi Vernunft identisch mit Personsein ist
und wir zu unseren Überzeugungen nicht in einem äußerlichen Verhält-
nis stehen, weil diese unser Personsein und damit auch unsere Vernunft
bestimmen.2 Sie sind konstitutive Elemente unseres personalen Selbst-
verständnisses. Damit wird Kants Unterscheidung zwischen allgemeinen
und bloß individuellen Geltungen in gewisser Weise obsolet. Denn All-
gemeinheit ist keine vom Individuum unabhängige Kategorie und umge-
kehrt, sondern Allgemeinheit und Individuum werden wechselseitig
durcheinander bestimmt. Das Objekt einer Erkenntnis wird vermittelt
über das konkrete Netz aus Überzeugungen erst durch das Individuum
als so bestimmtes Objekt konstituiert. Eine Objektivität „ungeachtet der
1
ZEeD JW 5,1, 206.
2
ZEeD JW 5,1, 206.
282 Personale Vernunft
Hierin: daß jeder Mensch in dem was ihm Wahrheit ist sein Leben hat, hat die
Gewalt der Meynung ihren Ursprung.8
3
KrV B 849/A 821.
4
KrV B 850/A 822.
5
Jacobi muss also nicht erst durch Hegel darüber belehrt werden, „daß das Allgemeine
nicht im unmittelbaren Wissen ist, sondern eine Folge ist der Bildung, der Erziehung, der
Offenbarung des Menschengeschlechts.“ (VGPh SW 20, 326.)
6
ZEeD JW 5,1, 201.
7
GD JW 3, 59.
8
ZEeD JW 5,1, 203.
9
Spin1 JW 1,1, 131f. Da niemand aus den Kategorien, in denen er die Wirklichkeit ver-
steht, heraustreten kann, werden auch die Überzeugungen und Begriffe anderer niemals
von einem reinen Standpunkt aus, sondern immer nur durch das eigene Begriffssystem
verstanden. Wie Herder antizipiert Jacobi also die Kritik MacIntyres und anderer an der
Idee einer leeren Vernunft und Subjektivität, die von der Aufklärung an die Stelle des
konkreten Individuums gesetzt wird. Deren Konkretion ist nämlich nicht nur akzidentell,
sondern konstitutiv.
Historische Aufklärung 283
ben, ist auch keine absolute Unvernunft möglich.10 Die Vernunft ist, wie
wir sahen, für Jacobi keine reine Entität, sondern bestimmt durch ein
Netz von Überzeugungen. Personsein ist keine leere Einheit, sondern
immer schon bestimmt durch Begriffe, Urteile und ein grundlegendes
Normverständnis. Gegenüber dieser Wirkmächtigkeit für das personale
Selbstverständnis ist nach Jacobi die Wahrheit dieser Überzeugungen se-
kundär:
Wahr oder falsch, der Nachdruck ist derselbe, wenn die Meynung nur lebendig
ist; denn in unserer Meynung, sie sey welche sie wolle, erkennen wir uns allein,
sie allein macht uns unser Daseyn wahr und wirklich.11
10
DH1 JW 2,1, 65.
11
ZEeD JW 5,1, 206. Vgl. auch WMB JW 1,1, 273: „Je lebhafter und ausführlicher die
Vorstellung von den Gründen unserer Meynung ist; je mehr unser Bewustseyn nur das
Bewustseyn unserer Einsichten geworden: desto größer wird unser Abscheu gegen alles
was sie zweifelhaft zu machen droht; denn unser Bewustseyn selbst, unsere ganze Exis-
tenz scheint dabey Gefahr zu laufen.“ „Mit Recht aber behaupten wir eifriger und nach-
drücklicher als Gut und Blut eine innere Ueberzeugung, die wir nicht aufgeben können,
ohne unsere Vernunft, unser persönliches Daseyn mit aufzugeben“ (GD JW 3, 60).
12
Jacobi am 28. 7. 1788 an Nicolai JW 5,1, 152. „Der Mensch wird durch Triebe, Lei-
denschaften, allgemeines Beyspiel u Meynungen geformt u regiert, nicht durch
Raisonement u Imagination a priori“ (JB 1,6, 270). Vgl. hierzu Jaeschke 2004, 214.
13
Spin1 JW 1,1, 130.
14
Spin1 JW 1,1, 132.
15
Spin1 JW 1,1, 133.
284 Personale Vernunft
Der unsichtbare Geist, der einmal entwichen ist, wird in die verlassene Hülle nie
zurück kehren; er hatte sie ausgebraucht; im Gebrauch sie zerstört. Nachbilden
– ja, das können wir einigermaßen: aber was ist diese Nachbildung? – Eine hohle
Wachspuppe[.]22
Jacobi glaubt also, dass die Prinzipien der Geister der Zeiten durch die
absolute Vernunft abgeurteilt und geleitet werden, da die absolute Ver-
nunft nicht als blindes Schicksal wirksam ist, sondern eine notwendige
und vernünftige Geschichte regiert, in der das Absolute zum menschli-
chen Bewusstsein kommt.23 Die „unwandelbare objective Vernunft“ hält
„die subjective mit Gewalt noch immer so weit im Gleise, daß sie nicht
vollends umwerfen kann.“24 Die Geschichte hat dementsprechend einen
Sinn, den es als Manifestation und evolutive Realisierung absoluter Frei-
heit aufzuklären gilt.25
20
Cachet JW 4,1, 368f.
21
ZEeD JW 5,1, 217.
22
Woldemar3 JW 7,1, 298.
23
„Vorstellungsarten und herrschende Systeme – überall weniger Ursache als Wirkung
des Geistes der Zeit, den sie jedesmal nur offenbaren, darstellen; freylich auch entwickeln
und befördern – gehen auf und gehen unter vor dem unveränderlichen Geiste der Wahr-
heit, den sie weder leiten noch verführen können.“ (ZEeD JW 5,1, 199.)
24
DH1 JW 2,1, 94. „Die Vorsehung wird jeden ihrer Wege rechtfertigen, und die unter
Wahn und Dünkel fast erloschene Erkenntniß: daß Gottes Bild im Menschen, die einzige
Quelle aller Einsicht des Wahren, so wie aller Liebe des Guten sey, in ihrem vollen Glan-
ze wieder hervorgehen lassen, und nach so vielen zertrümmerten Formen der Menschheit,
diese Einzige Beste, unzerstörbar darstellen.“ (Spin1 JW 1,1, 136.)
25
Woldemar3 JW 7,1, 323.
286 Personale Vernunft
Also würden wir annehmen müssen, daß es der Lauf der Welt sey, der die je-
desmalige Beschaffenheit der menschlichen Vernunft bestimmt; und daß die je-
desmalige Beschaffenheit der menschlichen Vernunft nie durch die Vernunft an
sich bestimmt werde. In jeder Periode und an jedem Ort, wären die Menschen
also gerade nur so einsehend und vernünftig, als sie Gott an diesem Ort und an
dieser Zeit will seyn lassen, wenn sie gleich die Meynung von sich haben, daß sie
allemal und überall so einsehend oder so vernünftig seyn können, als es ihnen
gefällt.27
Ueberhaupt ist die Vernunft im Menschen nur dan erst wirklich practisch, wenn
ihre Forderungen die Natur der Vorurtheile angenommen haben, wenn sie mit
unserm Geschmack, mit unsern Neigungen einmahl gemeine Sache gemacht ha-
ben. Jedes verschiedene Zeitalter hat eine verschiedene Practische Vernunft.29
Lebendige Philosophie ist Geschichte, die Wahrheit einer Zeit in sich ge-
fasst. Sie erschafft ihren Gegenstand nicht, sondern entnimmt ihn der
Geschichte: Sie muss selbst geschichtlich sein, indem sie den Geist ihrer
jeweiligen Gegenwart in sich fasst.30 So nimmt Jacobis andere Aufklä-
rung ihren Ausgang vom Geist ihrer Zeit, der spinozistischen Aufklä-
rung.
Um wirkmächtig werden zu können, muss wahre Aufklärung zu-
nächst den positiven Wert der Meinungen und Vorurteile anerkennen.
Nicht nur Kant, sondern großen Teilen der Aufklärung gelten die Mei-
nungen und Vorurteile dagegen als bloßer Wahn. Wenn man aber die
Meinungen auf diese Weise trivialisiert, können sie gar nicht über ihre
Defizite aufgeklärt werden. Aufklärung, die dem herrschenden Zeitgeist
nur widerspricht, muss notwendig scheitern, da sie Natur, Geschichte
und Erfahrung ignoriert und sich diesen durch bloßes Raisonnieren ent-
gegenstellen zu können glaubt.31 Um wirkmächtig zu sein, muss Aufklä-
rung vielmehr den wahren Grund der Meinung offenlegen, nämlich dass
die Meinung nicht ein privativer Modus autonomer Erkenntnis und Mo-
ral ist, sondern uns den Zugang zu Wahrheit und Sittlichkeit erst ermög-
licht. 32 Gleichzeitig ist der Ursprung jeder Meinung, wie wir gesehen
haben, zunächst die lebendige Einheit von Wahrnehmung, Begriff,
Selbstbewusstsein, Bewusstsein des Du und des Absoluten:
Auf Grund dieses ihres Ursprungs können Meinungen auch nicht ab-
solut unwahr sein.33 Unwahrheit ist vielmehr Resultat der Trennung die-
ser ursprünglichen Einheit und der Verabsolutierung eines ihrer Mo-
mente, vornehmlich des begrifflichen Moments. Die Begriffe werden in
der Reflexion und Abstraktion zu einer eigenständigen Sache gemacht,
der nicht erst in der Einheit mit den anderen Momenten, sondern an sich
29
Brief an Clermont vom 4.1.1791 JB 1,9, 11.
30
Spin1 JW 1,1, 132f.
31
Brief an Nicolai vom 28.7.1788 JB 1,8, 21.
32
„Alle Meynungen wurden im Schoosse der Wahrheit empfangen; alle Wahrheiten im
Schoosse der Meynung.“ (ZEeD JW 5,1, 202.)
33
ZEeD JW 5,1, 208; DH1 JW 2,1, 62; 65. Die Wahrheit „ist zwar in sich selbst nur Ei-
ne; für endliche Geschöpfe aber, die nur Theile von ihr fassen können, eben so mannich-
faltig und verschieden, als der Irrthum. Vollständig kann so wenig Dieser als wie Jene bei
irgend einem von uns angetroffen werden.“ (Cachet JW 4,1, 368.)
288 Personale Vernunft
sich an dessen Stelle zu setzen. Die Kritik des Buchstabens besteht dann
darin, ihn auf seinen ursprünglichen Geist zurückzuführen, der ihn le-
bendig gemacht hat. Die Rekonstruktion dieser ursprünglichen Einheit
erfolgt über eine Dekonstruktion des Verselbständigungsprozesses des
Buchstabens, so wie wir es in der natürlichen Dialektik der Aufklärung
gesehen haben. Durch die Möglichkeit dieser Dekonstruktion sind die
Meinungen „der Vernunft nicht unüberwindlich“, 41 sofern es sich bei
Meinungen eben nur noch um verselbständigte Formen ohne Gehalt
handelt. Ein Modus dieser Kritik ist etwa die Sprachkritik. Denn der
Sprache inhäriert die Tendenz, die bloßen Ausdrücke mit Dingen selbst
zu verwechseln. In diesem Sinne definiert Jacobi das eigentliche Wesen
der philosophischer Aufklärung als „ein weiteres Ergründen der Sprach-
erfindung.“42 So haben wir bereits gesehen, dass für Jacobi die Priorisie-
rung des Ich vor dem Du, die sich in Descartes’ cogito ausdrückt und
von Kant vollendet wird, in der abendländischen Grammatik begründet
ist, die durch die Verben der ersten Person die Bildung der zweiten und
dritten Person bestimmt. Diese grammatische Bestimmung abendländi-
schen Denkens verdeckt die Wahrheit, dass das Du gleichzeitig mit dem
Ich gesetzt ist.43 Insofern sich die Vernunft beim Menschen notwendig in
Sprache manifestiert, besteht hier immer die Tendenz der Verabsolutie-
rung grammatisch-linguistischer Voraussetzungen des eigenen Denkens.
Aufklärung muss deshalb Aufklärung dieser für die Geschichte der Phi-
losophie so bedeutungs- aber auch verhängnisvollen Verwechslung von
Wort und Sache sein.
Neben der Dekonstruktion dieser Verwechslung muss aber der Buch-
stabe auch auf seine Einheit mit dem Geist zurückführt werden. Dies
setzt wiederum die Rekonstruktion des historischen Umfeldes voraus,
unter dem sich eine Meinung entwickelt hat. Denn die legitimen Gründe
für eine Meinung können immer nur vor dem konkreten historischen
Hintergrund der Meinung einsichtig werden: So führt Jacobi die aufklä-
rerische Kritik am angeblichen Unsinn früherer Polytheismen auf die
Unkenntnis der spezifischen historischen Umstände zurück, unter denen
sich diese entwickelten. Diese a-historische Kritik ist also nicht Aufklä-
rung, sondern Verabsolutierung der eigenen isolierten Kenntnisse und
Gegenwart. Vor den isolierten Kenntnissen einer anderen Zeit oder Kul-
tur über die aufgeklärte Gegenwart ließen sich reziprok auch viele von
deren Überzeugungen, Normen, Gebräuchen oder Episoden nur schwer
41
ZEeD JW 5,1, 207.
42
FB WW VI,1, 165; vgl. auch DH JW 2,1, 53f.
43
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121.
Historische Aufklärung 291
44
Rech JW 4,1, 101.
45
Rech JW 4,1, 103.
46
„Die Religion eines Volkes muß in dem vollständigsten Zusammenhang mit der na-
türlichen, bürgerlichen, politischen und gelehrten Geschichte desselben studirt werden
können, sonst ist kein wahrer Begriff von ihr möglich. Sie aus diesem Zusammenhange
herausreissen; eine isolierte Kenntniß davon erhaschen wollen, heist die unfruchtbarste
aller Bemühungen unternehmen.“ (Rech JW 4,1, 100.)
47
DH1 JW 2,1, 42f.; Erinnerungen JW 4,1, 360.
48
Davidson 1993, 85.
49
Davidson 1993, 86.
50
Spin2 JW 1,1, 152; Brief an Windisch-Graetz 9. Februar 1789 JB 1,8, 169; Otto 2004,
108; 113. Interessant ist hierbei, dass Jacobi die Lektüre des Docteur Angélique und des
Doctor Diabolique als Einheit auffasst. Er rekonstruiert Bruno in seiner historischen Ge-
nese aus Thomas.
51
Sandkaulen 2000, 37.
292 Personale Vernunft
davon so gering ist, den man nicht mit Vortheil hörte. Ich entdeckte die-
se Spur; verfolgte sie unter Lebendigen und Todten“.52
Die Kunst in der Auseinandersetzung mit anderen Gedankensyste-
men besteht also darin, deren Wahrheitsmoment ausfindig zu machen.53
Glauben wir, eine Person denke ungereimt, so verstehen wir sie häufig
nur nicht, weil wir ihre Ideen nicht genau genug bestimmen – das heißt
ihre Bedeutung nicht rekonstruieren.54 Wir bemerken nicht, dass sie mit
ihren Worten etwas anderes meint als wir. Jacobi glaubt sogar beweisen
zu können, „daß schlechterdings keine unwahre Idee in irgend einem
Geiste Platz finden könne, und daß sogar der Tollhäusler eben so richtig
schliesse, als der größte Philosoph“.55 Wer eine Meinung einfach wider-
legen will, der findet deshalb auch kein Gehör. Denn diejenigen, die die-
ser Meinung anhängen, haben ja Gründe für ihre Meinung, formulieren
diese jedoch in einer anderen philosophischen Sprache. Sie hören einem
deshalb nur zu, wenn man beweist, dass man ihre Meinung (und ihre
Sprache) nicht nur versteht, sondern besser versteht, als sie selbst. Wer
deshalb die Meinung seiner Zeitgenossen aufklären will, muss versuchen,
„der Meynung, womit er sich befassen will, wie gefährlich sie ihm auch
scheinen möge, in allem, was sie gegründetes hat, volle Gerechtigkeit wi-
derfahren zu lassen.“56 Dazu müssen fremde und eigene Philosophie ge-
wissermaßen immer wieder ineinander übersetzt werden.
Diese Übersetzung fremder Vorstellungsarten in die eigene klärt die
Vernunft über sich und ihre individuellen Bedingtheiten auf, so wie man
auch die Strukturen der eigenen und einer fremden Sprache dadurch
aufklären kann, dass man verschiedene Sprachen ineinander zu überset-
zen versucht. Unsere Identität und Persönlichkeit ist Resultat unserer
Entwicklung. Diese Entwicklung ist jedoch nicht abgeschlossen, sondern
in einem ständigen Entwicklungsprozess begriffen. Die Fähigkeit, sich
graduell von den eigenen Ansichten distanzieren und die eigene Vorstel-
lungswelt transzendieren zu können, ist gerade Ausdruck der Spontanei-
tät der Vernunft. Dadurch können wir unsere Meinungen aufklären:
Eben darin beweiset die Vernunft ja ihre Kraft, daß sie über jede particuläre An-
sicht frey mit ihrem Urtheile sich erhebt, und eine Einsicht zu Wege bringt, wel-
52
Spin1 JW 1,1, 14. Übereinstimmend hiermit: Adrastea FHA 10, 78.
53
Rech JW 4,1, 98.
54
So heißt es auch bei Wittgenstein: „Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich
die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutungen der Wörter.“ (Wittgenstein 1984,
132.) Aufklärung setzt also erst einmal voraus, die spezifischen Regeln des jeweiligen
Sprachspiels zu verstehen.
55
Rech JW 4,1, 99.
56
ZEeD JW 5,1, 214.
Historische Aufklärung 293
Diese Haltung setzt aber voraus, dass dem Interesse an der eigenen Mei-
nung eigentlich ein Interesse an der Vernunft oder dem menschlichen
Geist zu Grunde liegt: „in demselben Grade, wie man die Vernunft lieb
hat, ist man denen zuwider, die nur ihre Meynung lieb haben“.58 Aber
erst die Einsicht, dass es Gewohnheit und Autorität sind, die unsere
Vernunft, Identität und Persönlichkeit bestimmt haben, eröffnet uns die
freie Möglichkeit einer kritischen Aufklärung.59 Wie durch den Vergleich
verschiedener Sprachen hinter der Verschiedenheit der Wörter und der
Syntax ein einheitlicher Sinn sichtbar wird – sonst wäre Übersetzung
nicht möglich – so zeigen sich im Vergleich verschiedener Überzeu-
gungssysteme hinter den verschiedenen Ausdrucksformen der Vernunft
das Wahre und die Vernunft selbst.60 Diese Übersetzungsleistung zeigt
uns einerseits, dass keine Meinung die Vernunft selbst ist, andererseits
erscheint aber in diesen Meinungen die Vernunft. 61 Nur durch diese
Übersetzung und das Studium des Partikularen können wir das Univer-
selle hinter der Partikularität, das ihr zu Grunde liegt, erkennen. Das
Universelle kann nur im Besonderen erkannt werden. Dazu muss man
aber zuerst den anderen Zeiten, Kulturen und ihrer Sprache Gerechtig-
keit widerfahren lassen.62
Diese Übersetzungsleistung kann jedem Menschen zugemutet wer-
den, da sie nicht die eigene Überzeugung einer fremden unterwerfen,
sondern beide wechselseitig kritisch aufklären soll. Insofern wird weder
die eigene Autonomie noch die des Gegenübers der anderen unterwor-
fen, sondern beide treten in einen freien Dialog:
Eine einmal erworbene klare Einsicht aufzugeben, darf und soll man keinem
Menschen zumuthen; wohl aber daß er sich die Mühe nehme, seine Einsichten
noch mehr zu erweitern, seine Begriffe vollständiger und überall zusammenhan-
gend zu machen.63
57
GD JW 3, 57.
58
Fromm JW 5,1, 126.
59
ZEeD JW 5,1, 207.
60
ZEeD JW 5,1, 210.
61
„Das Gute und Wahre in jeder Verwandlung, welche sie auf Erden leiden, zu erken-
nen, und keine dieser Um- und Ein-Bildungen für das wesentliche Wahre, und das we-
sentliche Gute selbst zu halten“ (ZEeD JW 5,1, 211). Zu Recht urteilt Schiller über Jacobis
ZEeD: „Die Liberalität, mit der sie über die Schonung menschlicher Vorstellungsarten
sprechen, athmet den Geist der ächtesten und humansten Philosophie“ (JB 1,11, 51).
62
ZEeD JW 5,1, 214.
63
ZEeD JW 5,1, 214. Vgl. auch: Cachet JW 4,1, 368f.
294 Personale Vernunft
64
Foucault 2005a, 702.
65
Vgl. ebenso: Foucault 2005a, 703.
Das Individuum im Recht 295
1
1782 schreibt Jacobi an die Fürstin von Gallitzin: „Ich arbeite gegenwärtig an einer
Abhandlung über die Frage: Was ist Freyheit? Meist in politischer Hinsicht. Dennoch
nehm ich den Begriff in seinem ganzen Umfange u laß ihn unzertheilt. Meine Hauptab-
sicht ist die Aufklärung der Materie des Rechts“ (JB 1,3, 6).
2
Mehrmals berichtet Jacobi Forster von seiner intensiven Beschäftigung mit der fran-
zösischen Revolution (JB 1,8, 303; 318; 331). 1790 schreibt er an Müller, dass er eine Ab-
handlung „über die Philosophie der neuen französischen Gesetzgebung“ angefangen habe
(ibid., 412). Vgl. ebenso: ibid., 414f.; 418f.; 432. Zimmermanns Bemerkung über die „ge-
waltigen Kräfte“ Mirabeaus (Zimmerman 1790, 309) bezieht Jacobi auf sich und nimmt es
als Beleg, dass er „nichts weniger als ein Antirevolutionist“ sei, sondern „sogar zu den
enragés gehöre“ (JB 1,8, 385).
3
JB 1,8, 357.
4
JB 1,9, 128f.
5
Jaeschke 2004, 204.
6
Jaeschke 2004, 213. Sein Etwas will Jacobi so 1785 nach einer Neubearbeitung „unter
dem Titel: Ueber die Grenzen des Zwanges“ neu herausgeben (JB 1,4, 104). Dabei will er
auch Kants Idee „näher auf den Leib rücken“, in der das menschliche Individuum zum
bloßen Instrument der Entwicklung der Gattung Mensch gemacht und als Tier bestimmt
werde, das in Gemeinschaft mit anderen Mitgliedern seiner Gattung einen Herren nötig
hat (vgl. JB 2,4, 282f.).
296 Personale Vernunft
ihrer Freiheit durch andere Bürger.7 Gesetze sollen nur solche Handlun-
gen verhindern, die die Freiheit der anderen gewaltsam einschränken. Sie
als Quelle des Guten (der Tugend oder Glückseligkeit) zu gebrauchen,
würde den Sinn äußerer Gesetze pervertieren, denn die einzige Quelle
des Guten ist die innere Freiheit, die nicht äußerlich erzwungen werden
kann.8 Das Recht soll hingegen nur die äußere Willkür einschränken.9
Die äußere Freiheit des Menschen darf also im Recht und im Staat bei
Jacobi wie auch bei Kant ihre Grenze nur an der äußeren Freiheit der
anderen Menschen finden. Der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft ist
nichts anderes als d-ie Garantie dieser äußeren Freiheit.10 So ist die Ver-
einigung der Bürger zu einem Staat unter Gesetzen die „Vereinigung zu
einem Ganzen, um für die Glieder desselben Sicherheit und Freiheit zu
bewürken.“11 Hobbes Konzeption des Gesellschaftsvertrages, nach der
der Mensch durch den Eintritt in den Staat seine Unabhängigkeit zu
Gunsten seiner Sicherheit aufgibt, ist nach Jacobi bereits deshalb unsin-
nig, weil der Mensch je schon Teil einer Gemeinschaft und niemals völlig
unabhängig ist. Die relative Unabhängigkeit des nicht-staatlichen Zu-
standes wird beim Eintritt in den staatlichen Zustand eben nur in Form
formaler Gesetze als Recht bestimmt, konkretisiert und gesichert. Diese
Überlegungen wollen wir im Folgenden weiter ausführen: Ausgangs-
punkt ist dabei Jacobis Konzept der Freiheit als Legitimationsgrund
staatlichen Zwangs (a). Von hier aus entwickeln wir seine Kritik einer
repressiven Vernunft (b).
7
Etwas JW 4,1, 310.
8
Die Tugenden sind das Produkt innerer Freiheit und nicht des äußeren Zwangs. Das
gleiche gilt für Aufklärung (Etwas JW 4,1, 312).
9
„Die Herrschaft des innerlichen Rechts in menschlichen Händen ist mir von jeher
unter allen Uebeln als das größte erschienen“ (JB 1,8, 390). Hieraus lässt sich auch Jacobis
kritische Haltung der französischen Revolution gegenüber erklären. Sie ist nicht Aus-
druck von Jacobis Konservativismus, denn eine reaktionäre Konterrevolution lehnt Jacobi
ebenfalls ab (JB 1,10, 307). Vielmehr sind sowohl Revolutionäre als auch Reaktionäre
Feinde der Freiheit. In der französischen Revolution manifestiert sich zudem politisch die
Dialektik der Aufklärung, in der sich Freiheit und Vernunft gegen sich selbst richten.
10
Cachet JW 4,1, 389f.
11
Cachet JW 4,1, 411.
Das Individuum im Recht 297
Die bürgerlichen Gesetze sind nach Jacobi Mittel für die Garantie gesi-
cherter Freiheit.12 Bürgerliche Freiheit ist dabei die äußere Freiheit, „sei-
nen wahren Vortheil auf alle Weise nach Vermögen zu befördern“.13 Die
bürgerliche Gesellschaft dient für Jacobi idealerweise nur der gesicherten
Wirklichkeit dieser Freiheit ihrer Mitglieder. Der Mensch tritt also nicht
in die bürgerliche Vereinigung ein, um nur einen Überrest seiner natürli-
chen Rechte zu sichern, sondern um Sicherheit für alle seine Rechte und
Freiheiten zu erwerben.14
Um die Sicherheit von allen Rechten durch die Erfüllung aller Pflichten zu er-
halten, ohne welche diese Rechte nicht bestehen und nicht gelten können [.]15
Weil Freiheit der Legitimationsgrund des Rechts ist, bedarf der das
Recht notwendig begleitende Zwang bei jedem Gesetz einer Legitimie-
rung gegenüber dem Individuum, dessen Freiheit eingeschränkt wird.
Denn jeder Mensch ist „vermöge einer absoluten Nothwendigkeit aus-
schließlicher Eigenthümer seiner Person“. 16 Auferlegte Rechtspflichten
greifen in dieses Eigentum ein. Deshalb muss diesem Eingriff in ihr
Recht reziprok ein rechtlicher Nutzen für die Person entsprechen, die
nur in einem dafür gewährten Recht bestehen kann.17 Gerechtigkeit be-
steht darin, dass in Bezug auf das Individuum jeder Pflicht ein entspre-
chendes Recht korrespondiert. Das heißt, der Einforderung eines Rechts
gegenüber Mitbürgern muss reziprok die Anerkennung von Pflichten
entsprechen.
Dieses zunächst horizontale Gleichgewicht muss für Jacobi auch auf
das vertikale Verhältnis des Herrschers zu seinen Untertanen übertragen
werden.18 So verpflichtet das Recht des Herrschers auf den Gehorsam
der Untertanen diesen umgekehrt auf den Schutz des Eigentums und der
Freiheit seiner Untertanen. Der Eintritt in den Staat bedeutet, wie wir
sahen, für Jacobi so auch nicht die Aufopferung von Unabhängigkeit zu
Gunsten von Sicherheit, sondern den Übergang von einer unbestimmten
12
Cachet JW 4,1, 411.
13
Etwas JW 4,1, 319.
14
Cachet JW 4,1, 389.
15
Etwas JW 4,1, 328. Den Begriff der Menschenrechte lehnt Jacobi ab, da er ignoriere,
„was ein Recht sey und wie es geltend werde“ (JB 1,8, 358). Ein Recht ist eben nur als
verwirklichtes Recht ein Recht.
16
ZPR JW 4,1, 220.
17
ZPR JW 4,1, 221.
18
ZPR JW 4,1, 222.
298 Personale Vernunft
Die Freiheit eines Menschen hat, von Rechtswegen, keine andre Gränzen, als die
gleiche Freiheit eines andern Menschen. Da sie allen auf dieselbe Weise zuge-
hört, so kann Niemanden die ungereimte Befugniß, sein Wohl auf Kosten andrer
zu befördern, zugestanden werden, ohne allen Uebrigen ein Gleiches einzuräu-
men … Diese nothwendige und offenbare Gränze ist keine Einschränkung der
Freiheit, sondern ihre Brustwehr[.]23
Form des politischen Despotismus als der Jacobis.24 Anders als für viele
seiner Zeitgenossen ist dieser für Jacobi gefährlicher als jeder Aberglau-
be, weil er die Wirklichkeit menschlicher Freiheit und damit „die Ver-
nunft in ihrem Keime“ angreift.25
Jeder Despotismus – man könnte sagen, die bloße Willkürherrschaft
der Herrschenden – gründet nach Jacobi auf der Identifizierung bloßer
Gewalt oder Stärke als Quelle des Rechts. Dies gilt auch für Demokra-
tien, in denen die Mehrheit der Minderheit ihre Willkür aufzwingt.
Denn auch hier versteht der Souverän die Gewalt bzw. Stärke – hierbei
resultierend aus der bloß quantitativen Übermacht – als Quelle des
Rechts.26 Seine säkulare Legitimation erhält er durch Hobbes’ Verständ-
nis des Gesellschaftsvertrags, nach der der Bürger alle Freiheitsrechte
abgibt.27 Es ist jedoch Wieland, der nach Jacobi in seinem Aufsatz Über
das göttliche Recht der Obrigkeit (1777) die Konfusion von Recht und
Gewalt auf ihren Begriff bringt,28 indem er das Recht des Souveräns ge-
genüber seinen Untertanen „in dem höhern Rechte der Natur der Dinge
und der Nothwendigkeit (dem wahren göttlichen Rechte)“ begründet.29
Um ihr Überleben zu sichern, müssten sich die Menschen regieren las-
sen. Sie müssten also vom Naturzustand in einen staatlichen Zustand
übertreten und sich einem Herrscher unterwerfen. Soweit stimmen
Hobbes und Wieland überein. Wieland ist in gewissem Sinne aber kon-
sequenter als Hobbes. Denn die Unterwerfung unter den Souverän er-
folgt bei Wieland nicht wie bei Hobbes in einem Gesellschafts- oder
Unterwerfungsvertrag, dem die Unterworfenen freiwillig zustimmen
würden. Vielmehr ermächtigt sich der Stärkste im Naturzustand durch
die aktive Unterwerfung seiner Untertanen und nicht durch einen
Unterwerfungsvertrag selbst zum Herrscher. In der Ordnung der
24
Jaeschke 2004, 204.
25
JB1,3, 118; vgl. auch ibid., 73.
26
„Die gesezlose Gewalt der Menge, ist wie die gesezlose Gewalt von Einem: Despo-
tismus.“ (Erinnerungen JW 4,1, 361f.) „Aristokraten u Demokraten. Jene wollen mit der
completten Unvernunft die halbe Vernunft von diesen unterdrücken u zu paaren treiben –
anstatt ihnen complette Vernunft, die siegen könne, entgegen zu setzen.“ (Kladde V, 371
Schneider 1986, 142.)
27
Zu Jacobis Kritik an der Idee eines göttlichen Herrschaftsrechts vgl. Cachet JW 4,1,
380. In der französischen Revolution erkennt Jacobi nur die säkularisierte Form dieser
Idee.
28
Später will Wieland dieses Argument nur noch als ironische Kritik des aufkläreri-
schen Kontraktualismus verstanden wissen (Walter 1999, 60). Jacobi ist aber umso mehr
berechtigt, die Ernsthaftigkeit dieses Textes zu unterstellen, als Wieland Jacobi bereits
1776 in einem Brief bittet (und die Erlaubnis erhält), aus dem Allwill „einige garstige Zei-
len über den Dienst großer Herren [Fürstendienst] wegstreichen“ zu dürfen (JB 1,2, 44).
29
Wieland 1777, 123.
300 Personale Vernunft
nicht von der Drohung des Herrchens unterscheiden, das mit einem
Stock vor der Nase seines Hundes wedelt. Insofern also Wieland die
Freiheit als Bedingung des Rechts überhaupt nicht ins Spiel bringt, muss
seine Rechts- und Herrschaftsbegründung misslingen und in einer Legi-
timierung des Despotismus resultieren.
Der Mensch kann nach Jacobi also nur deshalb Adressat von Normen
und Gesetzen sein, weil er frei ist.35 Ohne Freiheit als grundlegendem
Rechtsbegriff kann der Begriff des Rechts nicht konsistent gedacht wer-
den. Der von Wieland propagierte „Begrif einer natürlichen Notwendig-
keit, oder eines Rechts der Natur der Dinge“ 36 zur Grundlegung des
Rechts ist für Jacobi dagegen ein Widerspruch in sich. Weder habe der
Jagdhund das Recht, die Fährte des Wildes zu riechen noch der Mensch
ein Recht auf Sprache.37 Ansonsten wären auch die Naturgesetze eine
Rechtsquelle.38 In Bezug auf Wirkursachen und physikalische Ereignisse
von „Recht“ zu sprechen, macht den Begriff des Rechts sinnlos. Der Be-
griff des Rechts kann dagegen nur auf „Ding[e] der Wahl“ angewendet
werden, bei denen das wahrgenommene Ereignis nicht nur als Produkt
von Naturnotwendigkeit, sondern zugleich als „Folge der Selbstbestim-
mung nach vernünftigen Gründen“ eines Handelnden verstanden wird.39
Nur dasjenige kann unter die Kategorie des Rechts fallen, „dessen nächs-
te Ursache die Freiheit des Menschen ist, oder, was unmittelbar aus dem
Vermögen desselben entspringt, sich nach eigenen deutlichen Vorstel-
lungen von dem, was ihm gut oder böse sei, zu bestimmen.“40 Morali-
sche Freiheit ist so wie bei Kant auch bei Jacobi nicht Gegenstand des
Rechts, aber doch eine Voraussetzung, ohne die das Recht nicht gedacht
werden kann.
Freiheit ist also eine Voraussetzung des Rechts, das voraussetzt, dass
seinen Adressaten deren Handlungen zugeschrieben werden können.
Die moralische Freiheit ist aber auch deshalb Grund des bürgerlichen
Rechts, da nur Untertanen mit einem Interesse an Freiheit ein Interesse
an einer freiheitlichen, bürgerlichen Ordnung haben können. Nur ein
freies Wesen, das an der Verwirklichung dieser Freiheit Interesse hat,
kann auch ein Interesse an äußerer Freiheit haben. So können die Geset-
ze, die nur die äußerliche Freiheit regeln sollen, keine Tugenden (als
35
Etwas JW 4,1, 307.
36
RuG JW 4,1, 266.
37
RuG JW 4,1, 266f., 270ff.
38
RuG JW 4,1, 272f.
39
RuG JW 4,1, 267.
40
RuG JW 4,1, 267.
302 Personale Vernunft
41
Etwas JW 4,1, 320f.
42
„Gute politische Gesetze sind Würkungen der Tugend und der Weisheit; nicht ihre
erste Ursache.“ (Etwas JW 4,1, 320.) Eine fundamentale Rolle kommt dem Prinzip der
Ehre zu, als demjenigen Prinzip, kraft dessen der Mensch zu seinen Versprechen und Ab-
sichtserklärungen steht: „le désir d’être heureux est la base et a été le principe de toute
société“ (Laharpe JW 5,1, 172).
43
Etwas JW 4,1, 321f.
44
Etwas JW 4,1, 322.
45
Cachet JW 4,1, 391f. „Tugend und Religion sind die Sache des Menschen und nicht
des Bürgers; sie sind die allgemeinen und ewigen Triebfedern im Reiche der Geister, zu
edel und zu erhaben, um nur Räderwerk in einer Maschiene zu vergänglichen Zwecken
vorzustellen. Und das ist vollends widersinnig, wenn man mit den elenden Gewichten
einer solchen Maschiene jene Triebfedern selbst in Bewegung sezen will.“ (Ibid., 392.) Als
„äußerliches Mittel gebraucht“ verursachen Religion und Tugend nur Böses (ibid., 392f.).
46
Rech JW 4,1, 68.
47
Cachet JW 4,1, 391.
Das Individuum im Recht 303
Ich bin, wie bekannt, im Bürgerlichen Regimente nicht für den Grundsatz des
allgemeinen Besten, der von jeher das που στω gewesen ist, wo der Despotismus
seinen Archimedischen Hebel angesetzt hat, um Freyheit von der Stelle zu brin-
gen und persönlicher Würde das Genick zu brechen[.]48
In dieser Hinsicht ist Wieland für Jacobi kein untypischer Vertreter der
Aufklärung. Denn viele Aufklärer pervertieren nach Jacobi Recht und
Herrschaft, indem sie sie als Instrumente zur zwangsweisen Ausbreitung
des Guten, Wahren und der Glückseligkeit verstehen.49 In dieser politi-
schen Agenda, die die äußere Freiheit der Staatsbürger zu Gunsten von
Tugend, Glück oder Wahrheit einschränken will, manifestiert sich nach
Jacobi die Dialektik der repressiven Aufklärung, die die Vernunft im
ganz wörtlichen Sinne herrschend machen will und sich damit am deut-
lichsten als Unvernunft zu erkennen gibt.50 Die Vorstellung von der po-
litischen Herrschaft der reinen Vernunft ist für Jacobi geradezu „l’erreur
du siècle“.51 Denn eine „herrschende Gewalt“, die ihre Untertanen zu
Einsicht, Glück und Tugend zwingen will, lädiert für Jacobi das Recht.
Das Recht als Schutz der äußeren Freiheit auch in ihrer Unvernunft ist
umgekehrt die Bedingung dafür, dass sich Vernunft, Wahrheit und
Glück entfalten können. Die Vernunft, die herrschend sein will, bringt
deswegen niemals „Echte Wahrheit und Würkliche Wohlfahrt“ hervor,52
die nur aus der Freiheit entspringen können.53 Wenn die Vernunft sich
mit Gewalt durchsetzen will, dann führt dies zu Tyrannei und Zerstö-
rung von Freiheit und Vernunft. 54 Der Widerstand gegen diese Form
staatlich-gesetzlicher Zwangsaufklärung und –beglückung entspringt
deshalb „dem Urgeiste der Freyheit“ und „dem ewig regen Triebe der
Vernunft“.55
48
Berichtigung JW 2,1, 118; vgl. auch Jacobis Brief an Rehberg vom 2.5.1788 JB 1,7,
194.
49
Etwas JW 4,1, 305.
50
Vgl. hierzu die glänzende Studie Jaeschke 2004.
51
Laharpe JW 5,1, 175. Die in Unvernunft umgeschlagene Vernunft erkennt man gera-
de in ihrem Anspruch auf Herrschaft (Jaeschke 2004, 201).
52
Etwas JW 4,1, 306.
53
Hierüber streitet Jacobi in Briefen auch mit Forster. Denn dieser glaubt: „Ist die
Welt erst tugendhaft, dann wird sie von selbst frey.“ (Brief von Forster vom 29.8.1783 JB
1,3, 201.)
54
Laharpe JW 5,1, 191.
55
Etwas JW 4,1, 306.
304 Personale Vernunft
Kranke müssen freylich curirt werden; aber Gott bewahre uns vor einer Zunft
von Aerzten, welche sich das Recht anmaßten, uns ungefragt in die Kur zu neh-
men.59
Jacobi lehnt deshalb die aufklärerische „manière fixe d’être gouverné par
la raison“ ab.60 Nach Jaeschke ist Jacobi jedoch nicht konsequent in der
Ablehnung der Herrschaft der Vernunft, fordert er doch letztlich die
Herrschaft der Vernunft über Sinnlichkeit und Neigungen. Eben damit
öffne er aber wiederum die Tür für den Anspruch auf die politische
Herrschaft der Vernunft im Namen der Unterdrückung der Leiden-
schaften. Tatsächlich ist Jaeschke insofern Recht zu geben, als Jacobi die
Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften fordert und sich der
Zwangscharakter der Gesetze auf die Leidenschaften richtet. Die Ab-
sicht legitimer Staatsverfassungen ist so auch „der reinen praktischen
Vernunft einen Leib zu geben“.61 Denn eigentlich ist die Vernunft „die
Einzige Quelle des Rechts“.62 Wenn Jacobi sich nicht selbst widerspre-
chen will, so kann mit dieser Vernunft jedoch nur die mit dem Freiheits-
56
Versteht man unter Gegen-Aufklärung die Einschränkung individueller Freiheit und
Selbstbestimmung zu Gunsten eines Rechts der Gemeinschaft (Seidman 1983, 51; Gerrard
2006a, 4), so ist Jacobi (wie auch Herder) ganz offensichtlich dem Rechtsideal der Aufklä-
rung verpflichtet.
57
Die französische Revolution etwa verwechselt ihre willkürlichen Meinungen mit
„ewigen Gesetzen der Vernunft“ (Brief an Reinhold vom 11.2.1790 JB 1,8, 358).
58
Brief an Campe vom 1.11.1782 JB 1,3, 349.
59
Brief an Campe vom 1.11.1782 JB 1,3, 76.
60
Brief an Forster vom 14.10.1789 JB 1,8, 303.
61
FB WW VI, 152.
62
RuG JW 4,1, 269.
Das Individuum im Recht 305
63
Etwas JW 4,1, 319.
64
Etwas JW 4,1, 317.
65
„Derjenige Zwang, ohne welchen die Gesellschaft nicht bestehen kann, hat nicht,
was den Menschen gut; sondern was ihn böse macht, zum Gegenstande: keinen positiven,
sondern einen negativen Zweck.“ (Etwas JW 4,1, 322.)
66
Etwas JW 4,1, 312; vgl. auch Brief an Elise Reimarus vom 15.3.1781 JB 1,2, 285.
67
Deshalb plädiert Jacobi auch für die Unterordnung der Exekutive unter die Legisla-
tive (Kladde IV, 441; XIII, 121 Schneider 291).
68
Ohne Ich kein Du und umgekehrt. Im Anderen sehe ich mich. Ich kann mir selbst
nicht Rechte zuschreiben, die ich anderen abspreche.
69
Etwas JW 4,1, 319f.
70
Etwas JW 4,1, 335. „Also wo die wahren Gesetze der Freyheit in der That regieren,
da muß ihr Wille der lebendige Wille des Volkes selbst seyn.“ (Ibid., 336.)
306 Personale Vernunft
Hätte der Mensch immer den besten Willen, so könte er nie mit Recht einen
Zwang zu dulden haben. Aber weil er nicht immer den besten Willen hat, so kan
er oft mit Recht gezwungen werden. Das Mittel, nur mit Recht gezwungen zu
werden, ist dasjenige, was wir eine Regierungsform zu nennen pflegen.76
Weil Gesetze mit der Befugnis zu zwingen verbunden sind, ist jede Ge-
sellschaft notwendig mit einem gewissen Maß an Unterdrückung infi-
ziert:
L’oppression est nécessaire sur la terre, des-que les hommes y doivent vivre en
société; il ne faut dont que calculer le minimum d’oppression nécessaire.77
Jacobi sieht hier stärker als Kant das Problem, dass Zwang vom Delin-
quenten auch als solcher erfahren wird. Eine Gemeinschaft rein tugend-
hafter Bürger, die ihre innere Freiheit vollständig realisiert hätte, bedürf-
te keiner Zwangsgesetze. Diese gehen somit zwar aus der Vernunft des
Menschen (der Anerkennung der Freiheit aller) hervor, richten sich aber
71
„Il le pourra, puisqu’il n’y a rien que les hommes en général haïssent autant que
l’égalité, rien qu’ils aiment autant, que de primer, d’opprimer, de régner.“ (Laharpe JW
5,1, 171.)
72
RuG JW 4,1, 286. Die „hohe Meinung von der Causalität der reinen Vernunft“ „ver-
blendet“ nach Jacobi die Demokraten der französischen Nationalversammlung (JB 1,8,
388).
73
Etwas JW 4,1, 310.
74
„In einer Unterredung, die ich mit ihm [Lessing] hatte, kam er einmal so sehr in Ei-
fer, daß er behauptete, die bürgerliche Gesellschaft müsse noch ganz aufgehoben werden;
und so toll dieses klingt, so nah ist es dennoch der Wahrheit. Die Menschen werden erst
dann gut regiert werden, wenn sie keiner Regierung mehr bedürfen.“ (JB 1,2, 285.)
75
Brief an Herder vom 24.4.1785 JB 1,4, 88.
76
RuG JW 4,1, 286.
77
Kladde II, 971 Schneider 290.
Das Individuum im Recht 307
Fassen wir zusammen: Wir waren ausgegangen von der Kritik, die Auf-
klärung setze als ihren Akteur und Adressaten an die Stelle des sozial si-
tuierten Individuums ein abstraktes Subjekt. Dabei identifiziere die Auf-
klärung jedoch nur ihre eigenen sozialen Bindungen mit universell gülti-
gen Strukturen der Vernunft und schlage zuletzt in ein Herrschafts-
instrument um.
Einleitend zeigten wir, dass diese Vorwürfe gegen bestimmte Aufklä-
rer berechtigt sind, aber gerade nicht das Projekt der Aufklärung als sol-
ches betreffen. Vielmehr fordert konsequente Aufklärung die Überwin-
dung dieser Vorurteile. Bei Kant sahen wir anschließend, dass er zwar
universelle Strukturen der Subjektivität als Bedingungen der Möglichkeit
weltbürgerlicher Aufklärung voraussetzt, diese aber vornehmlich Rah-
menbedingungen für einen Diskurs sind, in dem alle Teilnehmer sich
und ihre konkrete Individualität autonom einbringen können. Jacobi an-
dererseits negiert die Möglichkeit solch universeller transzendentaler
Strukturen und setzt dagegen das konkrete, historisch situierte Individu-
um als Fundament seiner anderen Aufklärung. Nur durch die Anerken-
nung dieser Bedingtheit könne Aufklärung dem Menschen zu seiner in-
tellektuellen und praktischen Selbstbefreiung verhelfen. Interessanter
Weise stimmen aber Kant und Jacobi darin überein, dass im Recht die
äußere Freiheit des Individuums Grund und Grenze staatlichen Zwangs
ist. Denn für beide muss jedes an seiner freien Selbstbestimmung interes-
sierte Individuum reziprok auch das Freiheitsinteresse aller anderen In-
78
Etwas JW 4,1, 307f.; RuG JW 4,1, 286.
79
Etwas JW 4,1, 309.
80
Etwas JW 4,1, 310.
308 Personale Vernunft
1
WA AA 8, 41; Gay 1995, 8; 37. Dagegen: Dieckmann 1972, 25; Himmelfarb 2008, 18f;
50.
2
Israel 2002, 6f.; Israel/Mulsow 2014, 7; 11.
3
Zur Begründung dieser These identifiziert Israel Vernunftautonomie und Radikalität
mit Prädikaten wie „säkular“ und „spinozistisch“ (Israel 2006, 523). Die Berechtigung
dieser Identifikationen ist jedoch sowohl philosophisch als auch historisch fragwürdig
(vgl. etwa Asal 2010; Cassirer 2007, 74; Philosophe Enc 12, 509; Schröder 2014, 187).
4
Phillips 2000, 258.
5
Habermas 1988, 70.
6
Habermas 2009, 137.
7
Diese Neuinterpretation des Aufklärungsprojektes sieht Habermas als Alternative
sowohl zum Idealismus als auch zum Poststrukturalismus (Bahr 1988, 102).
312 Aufklärung und Religion
8
Habermas 2010, 9.
9
Habermas interessiert dabei vor allem die Rolle der Religion im politischen Diskurs.
Hierbei steht die Frage im Mittelpunkt, mit welcher Legitimität säkulare Bürger ihren
religiösen Mitbürgern Normen auferlegen dürfen. Wären aufgeklärte und religiöse Über-
zeugungen völlig inkommensurabel, dann müssten sich die religiösen Bürger den aus ei-
nem säkularen öffentlichen Diskurs abgeleiteten Normen zuletzt unterwerfen, ohne sich
als autonome Mitkonstituenten dieser Gesetze verstehen zu können. Vgl. hierzu: Lafont
2009, 130f.
10
Habermas 2010, 7.
11
Habermas 2009, 137.
12
Die aufklärerische Forderung an narrative Diskurse, sich in der Weise zu rechtferti-
gen, wie dies wissenschaftliche Behauptungen tun müssen, ist nach Lyotard der Terror
eines Sprachspiels gegen ein anderes. Erschwerend käme hinzu, dass der wissenschaftliche
Diskurs zu seiner reflexiven Rechtfertigung sich wiederum des narrativen Diskurses be-
dienen müsste.
13
Dörflinger 2009, 172.
Aufklärung und Religion 313
Gegen diese scheinbare Aporie werden wir nun die kritischen Ver-
nunftbegriffe von Religion und Glaube bei Jacobi und Kant analysieren.
Die Konstellation Kant–Jacobi ist hierbei aus drei Gründen von beson-
derer Relevanz: 1. Beide entwickeln ihren Religionsbegriff aus einer der
Philosophie rein immanenten Perspektive. 2. Beide markieren systema-
tisch die Mitte zwischen einer Philosophie, die die Religion zu einem
Gegenstand der bloßen Vernunftkritik macht, und einer Philosophie, die
selbige spekulativ in die Vernunft aufhebt (wie etwa Hegel oder Schel-
ling). 3. Beide beziehen sich kritisch auf die Konzeption des jeweils an-
deren, so dass die in dieser Kritik geltend gemachten Defizite gegenei-
nander abgewogen werden können. Die zentrale Frage beider Autoren –
und dementsprechend der folgenden Überlegungen – ist dabei nicht, wie
es um die Rationalität bestimmter religiöser Gehalte bestellt ist, sondern
i) welchen vernunftimmanenten Grund es für das philosophische Den-
ken gibt, sich in ein Verhältnis zur Religion zu setzen bzw. einen Ver-
nunftbegriff von Religion zu entwickeln; ii) was hieraus für den Ver-
nunftbegriff selbst folgt; und iii) welches kritische Potential dies für die
Reflexion auf konkrete Religionen besitzt.
Die Überlegungen zu Jacobi gehen dabei davon aus, dass sein Kon-
zept des Glaubens als immanenter Voraussetzung der Vernunft primär
nicht religiös oder theistisch,14 sondern handlungstheoretisch begründet
ist.15 Gleichzeitig wird gezeigt, dass dieser Glaube die Gewissheit eines
Anderen der menschlichen Vernunft und damit einen theoretisch und
praktisch motivierten Übergang zur Religion impliziert. Insofern nimmt
die Religion einen systematischen Ort in Jacobis Konzeption einer
selbstbestimmten und sich selbst aufklärenden Vernunft ein.16 Bei Kant
scheint zumindest die religiöse Offenbarung keinen großen systemati-
schen Stellenwert einzunehmen.17 Von einer konstitutiven Funktion der
Offenbarung oder der positiven Religion für sein Aufklärungsprojekt
scheint man schon gar nicht sprechen zu können. Religion scheint bei
Kant vielmehr auf ein Epiphänomen der Moralität reduzierbar zu sein.18
Gegenüber dieser rein kritischen Lesart von Kants Religionskonzeption
versuchen die folgenden Überlegungen jedoch zu zeigen, dass der Of-
fenbarung und dem religiösen Glauben auch in Kants Aufklärungspro-
jekt eine konstitutive Rolle zukommt.
14
Sandkaulen 2000, 60.
15
Sandkaulen 2000, 26. Vgl. hierzu auch Jonkers 2012.
16
Religiosität wird also bei Jacobi „säkular“ begründet (vgl. auch Giovanni 1994, 43).
17
Wie es Kant persönlich mit der Religion hielt, soll uns nicht interessieren (vgl. hier-
zu: Kühn 2007, 16f.; dagegen: Palmquist 2016, 1).
18
Dagegen: Palmquist 2016, 5; Dierksmeier 1998, 3f.
314 Aufklärung und Religion
1
So bereits Thomasius 1692, Vorrede 10f. und Wolff 1736, 423ff. Vgl. hierzu: Byrne
2007, 9; Timm 1974, 21f.
2
Cassirer 2007, 143; vgl. ebenso: Schulte 2002, 43.
3
Riem 1789, 284; ders. 1790, 102f.; Der Freydenker, 4; FLA 11,1, 26.
4
Reinhold 2004, 185f.; Semler 2009, 16.
5
Liscow 1732, 32.
316 Zwischen Kritik und Anerkennung
Es lässt sich also nicht von vornherein behaupten, dass diese modera-
ten Formen der Aufklärung das Ideal intellektueller Autonomie verfeh-
len, bloß weil sie Religion nicht radikal ablehnen. Denn auch die mode-
rate Aufklärung intendiert primär nicht einfach eine Apologie religiöser
Glaubensgehalte, sondern deren kritische Untersuchung durch die auto-
nome Vernunft.6 Dagegen würden gerade die radikalen Religionskritiker
keinen autonomen Gebrauch von ihrer Vernunft machen. Die religions-
feindlichen „Freygeister“ würden ihr Denken nämlich nicht nur keinen
fremden Autoritäten, sondern auch nicht den autonomen Gesetzen der
Vernunft selbst unterwerfen. 7 Nur da sie „zu faul [seien,] die Gründe
der Religionen zu untersuchen“,8 hielten sie alle Religionen für bloße
Menschensatzungen. Echt radikale Religionskritik müsse die Religionen
demgegenüber zunächst einmal von Seiten ihrer Überzeugungskraft vor-
stellen.9
Wenn die legitimen Ansprüche einer positiven Religion sich durch die
Vernunft rechtfertigen lassen müssen, so stellt sich aus aufgeklärter Per-
spektive allerdings die grundsätzliche Frage nach dem Mehrwert positi-
ver Religion und religiöser Offenbarung gegenüber einer reinen Natur-
oder Vernunftreligion. Das Spektrum der Antworten auf diese Frage ist
in der deutschen Aufklärung erwartungsgemäß äußerst breit: Radikale
Deisten wie Lau, Edelmann, Mauvillon oder Reimarus gestehen der Of-
fenbarung keinerlei Eigenrecht gegenüber einer natürlichen Religion aus
reiner Vernunft als einzig wahrer Religion zu.10 Nur der Deismus könne
als natürliche Religion einen legitimen universalen Geltungsanspruch er-
heben, da andere Formen von Religion immer vom Zufall der Geburt
6
J. Israel müsste also erst einmal zeigen, dass dieses Projekt im Unterschied zur radika-
len Religionskritik notwendig scheitert.
7
Mehlig 1758a, 678.
8
Rezensionen 1751 FLA 2, 254. Lessing kennt dabei seit 1750 das Denken der radika-
len Religionskritiker La Mettrie und Edelmann (Nisbet 2008, 187).
9
Rezensionen 1751 FLA 2, 254. Eine solche Begründung unternimmt Lessing in
Christentum der Vernunft (ca. 1752) für das Trinitätsdogma, das für Wolff noch ein über-
vernünftiges Mysterium der Offenbarung ist. Später distanziert er sich allerdings von die-
sen Versuchen (FLA 11,2, 643). Andererseits finden sich Mitte der 70er Jahre in seinen
Schriften Wissowatius, Leibniz und Adam Neuser wiederum Apologien der Trinitätslehre
(Timm 1974, 33). In Erziehung interpretiert er die Trinität jedoch neu als ein Konzept das
die Vereinbarkeit der Einheit Gottes mit einer gewissen Form von Vielheit zeige. Mit Ja-
cobi lässt sich dies als Hinweis auf seinen späteren Spinozismus und dessen Verhältnisbe-
stimmung von absoluter Substanz und Einzeldingen verstehen.
10
Lau 1992, 66; 76; 124. Die Bezeichnung dieser Denker als Atheisten (Mehlig 1758b,
50f.; Mehlig 1758a, 127; 593) ist dagegen eher eine Zuschreibung ihrer Kritiker, da sie
selbst durchaus noch den Glauben an Gott verteidigen (Reimarus 1781, 47f.; 217) oder
sogar von Offenbarung sprechen, diese dann jedoch z. B. im Sinne Spinozas mit der Na-
tur identifizieren.
Zwischen Kritik und Anerkennung 317
(Zeit, Ort, Familie etc.), von der politischen Herrschaft und der Gesell-
schaft abhängig seien.11 Die Abweichung historischer Religionen von der
rationalen oder natürlichen Religion stellt für diese Kritiker keinen
Mehrwert, sondern nur ein auf irrationalen Vorurteilen basierendes De-
fizit dar, das der Verwirklichung aufgeklärter Erkenntnis, Moral und Po-
litik im Wege steht.12 Allein die Differenzen der positiven Religionen un-
tereinander würden bereits jeden in einer positiven Religion offenbarten
ethischen und dogmatischen Universalitätsanspruch ad absurdum füh-
ren. 13 Der Bedingtheit historischer Glaubensbekenntnisse, wie dem
christlichen, stellen diese Aufklärer deshalb die Unbedingtheit der
menschlichen Vernunft und die Universalität der durch sie allein be-
gründeten Vernunftreligion entgegen. 14 Die vermeintlich rationalen
Rechtfertigungen über die Vernunftreligion hinausgehender Glaubens-
dogmen würden dagegen nur für den ohnehin schon gläubigen Men-
schen auf Grund seiner zufälligen und unfreiwilligen religiösen Prägung
und Dressur Überzeugungskraft besitzen und die Vernunft zu einem
Werkzeug herabwürdigen, „dasjenige zu erweisen und zu rechtfertigen,
was sie schon zum voraus wünschten wahr zu finden“.15 So ist der einzig
legitime Modus, in dem sich die Vernunft auf religiöse Gehalte richten
kann, allein die kritische Negation ihrer von der natürlichen Religion
unterschiedenen Gehalte (Trinität, Inkarnation, Exodus etc.).16
Den positiven Gehalten der historischen Religionen komme besten-
falls noch ein historisch-instrumenteller Wert zu: Zum Zwecke der Ver-
gemeinschaftung der Religion musste man sich in einer Gesellschaft
einmal auf bestimmte Inhalte einigen, um eine Gleichartigkeit in der Re-
ligionsausübung zu garantieren. Wie beim positiven Recht seien diese
11
Lau 1992, 73; 98; Mauvillon 1787, 9ff.; Ferguson 1800, 89.
12
Ernst und Falk FLA 10, 33.
13
Vgl. etwa Mauvillon 1787, 32ff.; BvG FLA 10, 193; vgl. hierzu auch Eisenstein-
Barzalay 1956, 2.
14
Mauvillon 1787, 21; Rettungen FLA 3, 210; Duldung FLA 8, 116f.; 120; 189; 193;
198f.; 212; 131; Reimarus 1781, 47; Reimarus 1786, 430f.; Reimarus 1972, 50; Reimarus
1994a, 423; PP DD 1, 290.
15
Reimarus 1972, 41f.; 96; Reimarus 1786, 418f.; Reimarus 1972, 41f.; 44; Duldung
FLA 8, 175; vgl. ebenso: Fischer 1789, 223f.; Nathan FLA 9, 553.
16
Reimarus 1972, 43; 46ff.; 51; 53; Duldung FLA 8, 184; 210; 214–216; 229; 236-246.
Vgl. ebenso Bahrdt 1779, 10–13; PP DD 1, 299f.; La Mettrie 2009, 24; ÜEgR FLA 5,1,
423. Auch die vermeintlich historischen Wahrheiten (Auszug aus Ägypten, Wundererzäh-
lungen etc.) der Offenbarungsschriften, die sich naturgemäß ohnehin nicht aus der Ver-
nunft deduzieren ließen, überstehen, zumindest für Reimarus, auf Grund ihrer
Unplausibilität und der Unzuverlässigkeit der Zeugen etc. keine historische Kritik (Rei-
marus 1994b, 466–468; ders. 1972, 51; 264; 280ff.; 286ff.; 302–326; vgl. hierzu Allison
2009a, 35; 37).
318 Zwischen Kritik und Anerkennung
17
ÜEgR FLA 5,1, 424.
18
Reimarus 1972, 54. Radikalere Kritiker greifen dabei die These von den drei Betrü-
gern Moses, Jesus und Mohammed auf (etwa: Edelmann 1999, 143f.; Anonymus1992; ab-
gemildert: Herrenhuther FLA 1, 938f.; Einsiedel 1957, 84ff.; 182ff.), die bereits im Mittel-
alter in einem nie aufgefundenen Buch vertreten worden sein soll, dessen Autor so lange
gesucht wurde, bis es die Aufklärer schließlich gleich zweimal selbst geschrieben haben.
Der deutsche Autor der lateinischen und 1761 von J. C. Edelmann ins Deutsche übersetz-
ten und kommentierten Version ist J. J. Müller (1661–1733) (ibid., 46). Der Verfasser der
französischen Version (ed. Anonymus 1992) ist unbekannt.
19
Cassirer 2007, 140f.
20
Einsiedel 1957, 78. Vgl. ebenso Edelmann1999, 152.
21
Einsiedel 1957, 89.
22
Einsiedel 1957, 125.
23
Einsiedel 1957, 126.
24
So wird den Neologen vorgeworfen, dass sie den historischen Gehalt, die göttliche
Inspiration der Bibel, die Trinität, die Göttlichkeit Christi und die Erbsünde aus dem
Christentum eliminieren (Kühn 2014, 157).
Zwischen Kritik und Anerkennung 319
für das religiöse Ansprüche vom Absoluten her zu denken sind,25 seine
rationale Kritik durch die eben skizzierte Aufklärung nur schwer aner-
kennen kann, ist offensichtlich.26 Um dem Selbstverständnis des religiö-
sen Bewusstseins Rechnung zu tragen, plädiert Lessing in Wissowatius
deshalb für eine strikte Trennung der miteinander inkommensurablen
offenbarungsreligiösen und rationalistisch-philosophischen Diskurse.
Durch die Reduktion des religiösen Narrativs auf Wahrheiten der Ver-
nunft bleibe nur ein Abstraktum zurück, das die Religion gewaltsam ih-
res eigenen Selbstverständnisses beraube. 27 Das daraus entstehende
„Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen“28 schade Vernunft und
Religion gleichermaßen. Das Absehen von der Geschichte als wesentli-
cher Wurzel der Religion verstümmle selbige, anstatt sie zu reinigen. In
diesem Sinne kritisiert Lessing auch den Versuch, das Glaubensdogma
von Christus als dem Erlöser des Menschen durch seine Reduktion auf
einen frommen Mann und „zärtlichen Kinderfreund“ zu popularisie-
ren.29 Die christliche Orthodoxie würde darin zu Recht eine „Verstüm-
melung“ ihrer Soteriologie erblicken.30 Die Reduktion von geoffenbarten
Wahrheiten auf solche der Vernunft und Moral lasse nur ein „unendlich
abgeschmackte[s] und lästerliche[s]“ caput mortuum des Christentums
zurück.31 So fordert Lessing die radikale Trennung von Vernunftwahr-
heiten und religiösen Geschichtswahrheiten.32
Stehen diese Wahrheitstypen bei Lessing nun aber zunächst in einem
unmittelbaren Gegensatzverhältnis inkommensurabler Wahrheitsnarra-
tive, so integriert er diesen Gegensatz später mittels der Analogie von
25
Dierksmeier 1998, 99f.
26
So kritisiert etwa Leo Strauss die moderate (jüdische) Aufklärung für ihre Zurück-
führung der jüdischen Religion auf die reine Vernunft, die die Notwendigkeit des religiö-
sen Gesetzes und der göttlichen Offenbarung obsolet mache. Damit würde das Judentum
als Religion verschwinden (Pelluchon 2014, 38f.). Hiergegen setzt er gerade die Aufklä-
rungskritik Jacobis (ibid. 40f.).
27
Wissowatius FLA 7, 580. In ÜBGK (1777) klagt Lessing dann aber selbst über
„de[n] garstige[n] breite[n] Graben“, der historische Tatsachenwahrheiten und notwendi-
ge Vernunftwahrheiten trennt und „über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich
ich auch den Sprung versucht habe“ (FLA 8, 443). Vgl. hierzu auch Cassirer 2004, 95;
Guthke 1965, 13.
28
Brief an Karl Lessing vom 2. 2. 1774 FLA 11,2, 615.
29
BNLb FLA 4, 599f.; vgl. auch: ibid., 471; 482; 602; 605.
30
BNLb FLA 4, 600.
31
FLA 11,2, 615; FLA 12, 245; Wissowatius FLA 7, 578. Wie Lessing plädiert auch
Saul Ascher für eine Trennung von Vernunft und Glauben: Der Versuch, den Glauben
vernünftig zu machen, führe zur Entrechtung der Vernunft durch die Kirchen, die Reduk-
tion des Glaubens auf bloße Vernunftwahrheiten untergrabe die gesamte Religion (Ascher
1792, 85f.).
32
Allison 2009a, 36.
320 Zwischen Kritik und Anerkennung
41
APGBM FHA 4, 16; vgl. auch: ibid., 16; 22.
42
APGBM FHA 4, 22.
43
Urkunde FHA 5, 250.
44
VGEP FHA 5, 690.
45
VGEP FHA 5, 690; 698f.
46
APGBM FHA 4, 17f.
Zwischen Kritik und Anerkennung 323
47
Urkunde FHA 5, 238.
48
„Wie tausendmal mehr töricht, wenn du einem Kinde deinen philosophischen Deis-
mus, deine ästhetische Tugend und Ehre, deine allgemeine Völkerliebe voll toleranter Un-
terjochung, Aussaugung und Aufklärung nach hohem Geschmack deiner Zeit großmütig
gönnen wolltest!“ (APGBM FHA 4, 19.)
49
APGBM FHA 4, 18.
50
Urkunde FHA 5, 277; 239; 250; 206; 216.
51
Urkunde FHA 5, 207.
52
Gadamer 1987, 325.
53
Urkunde FHA 5, 237.
54
Urkunde FHA 5, 205; 185; FAM SWS 6, 86f.
324 Zwischen Kritik und Anerkennung
Jeder Versuch, die Standards aufgeklärter Vernunft etwa auf das Alte
Testament zu übertragen, impliziert für Herder zwangsläufig einen Ka-
tegorienfehler, nämlich die Übertragung der für die Aufklärung gültigen
Kategorien auf ein für sie unpassendes Zeitalter.55 Eine adäquate Ausle-
gung biblischer Schriften muss sich dagegen in ihre Rezipienten „einfüh-
len“.56 So wie sich in der aufgeklärten Gottesvorstellung der Geist Euro-
pas im 18. Jahrhundert ausdrückt, so manifestiert sich in der Genesis der
Geist der Morgenländer.57 Ein adäquates Verständnis des Alten Testa-
ments erschließt sich deshalb nur, wenn man selbiges nicht als philoso-
phische Abhandlung, sondern als poetische Dichtung versteht.58 Ein Wi-
derspruch zur aufgeklärten Philosophie kann dabei gar nicht auftreten,
da die Kategorien nicht aufeinander übertragbar sind. Die Aufgabe exe-
getischer Aufklärung dieser Schriften besteht deshalb nicht in rationaler
Kritik, sondern in der Aufschlüsselung der Symbolik und der Entde-
ckung des ihr zu Grunde liegenden Geistes. Demgegenüber präsentiert
Herder Kants moralphilosophische Auslegung der Bibel – ihre
„Transmoralisation“59 – als ungelehrten Skandal. Die „Sinnesarten aller
Zeiten und Länder“60 würden in die Ideenwelt Kants transferiert und
verfremdet. Die Philosophie habe sich in Kants Kritik der Religion da-
mit „außer ihren Grenzen erlustigt“,61 wie Herder just dem Autor vor-
wirft, dessen Denken sich dem eigenen Anspruch nach stets innerhalb
der Grenzen reiner Vernunft und damit reiner Philosophie bewegt.
Versteht man Herders Kritik an den Auslegungsmaßstäben der Auf-
klärung nun als Gegen-Aufklärung, verfehlt man ihren Sinn. Herder in-
tendiert keine Apologie vergangener Zeiten und trauert schon gar nicht
der guten alten, aber vergangenen Zeit nach, sondern versucht diese zu
verstehen und ihr Aufklärungspotential zu entbergen.62 Der autoritäre
Geist der Patriarchenzeit etwa, der der damaligen Entwicklungsstufe
menschlicher Bildung angemessen und darum notwendig war,63 gehört
55
FAM SWS 6, 33.
56
FAM SWS 6, 19; 56. Diesem Gedanken des Verstehens liegt m. E. Herders metaphy-
sischer Spinozismus zu Grunde: „Gott ist alles in seinen Werken.“ (Ideen SWS 13, 10.)
„Indessen ist auch jeder falsche Schimmer von dir dennoch Licht und jeder trügliche Al-
tar, den er dir baute, ein untrügliches Denkmal nicht nur deines Daseins sondern auch der
Macht des Menschen, dich zu erkennen und anzubeten.“ (Ideen FHA 6, 162.)
57
„Bild der Gottheit! Menschlicher Geist! - du bist mein Offenbarer über die Philoso-
phie!“ (FAM SWS 6, 89.)
58
Urkunde FHA 5, 258; FAM SWS 6, 19.
59
VRLG FHA 9,1, 815.
60
VRLG FHA 9,1, 815.
61
VRLG FHA 9,1, 817.
62
Wood 2009, 323.
63
APGBM FHA 4, 17.
Zwischen Kritik und Anerkennung 325
64
APGBM FHA 4, 18.
65
APGBM FHA 4, 22.
66
APGBM FHA 4, 39.
67
APGBM FHA 4, 40.
2. KAPITEL: PRAKTISCHER GLAUBE BEI
KANT UND JACOBI
1
KrV B 391/A 334; vgl. auch B 608/A 580.
2
Die Schrift ist damit zugleich „Höhepunkt und das letzte Zeugnis von Kants Zutrau-
en in die dogmatische Metaphysik“ (Kreimendahl/Oberhausen 2011, xix). Kant greift das
Argument allerdings ein Jahr später noch einmal in seiner Schrift Untersuchung über die
Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral auf. Erstmals
greifbar wird das Argument in Nova Dilucidatio (ibid., liv ff.; Schmucker 1980).
328 Praktischer Glaube
vii. Aus dem Begriff Gottes als dem allem Möglichen zu Grunde lie-
genden notwendigen Dasein lassen sich die Prädikate des notwendigen
Daseins bestimmen. 9 Denn mit dem notwendigen Dasein Gottes sind
auch alle vollkommen realen Prädikate notwendig gesetzt, von denen al-
le anderen möglichen Prädikate nur Einschränkungen sind. Die einge-
schränkten Prädikate wären nicht möglich, wenn die vollkommenen
Prädikate nicht gesetzt wären, und die vollkommenen Prädikate können
nur gesetzt sein, wenn ihr Subjekt als ihr Träger gesetzt ist. Alles, was
möglich ist, ist nur möglich, weil es durch Gott „als einen Grund gege-
ben ist“. 10 Die Data alles Möglichen haben ihren ersten Realgrund in
Gott.11 Er ist der Grund aller möglichen Wirklichkeit, weil ihm alle rea-
len Prädikate zukommen.
In BDG versteht Kant Gott also als notwendiges Dasein, das als
Grund aller möglichen Prädikate und der logischen Möglichkeit auch
Grund des Denkens selbst ist. Denn Denkmöglichkeit ist nichts anderes
als die Relation bloßer Widerspruchsfreiheit zwischen zwei gesetzten
Prädikaten. Die den Gottesbegriff bestimmenden Prädikate leitet Kant
dabei aus der Notwendigkeit des Daseins Gottes und dessen Funktion
für mögliche logische Urteile ab. In jedem möglichen Gedanken oder
Urteil muss zumindest implizit bereits das Dasein Gottes vorausgesetzt
sein. Damit verfährt BDG in ganz anderer Weise als der ontologische
Gottesbeweis, der von den bereits als gegeben betrachteten Prädikaten
Gottes auf dessen Dasein schließt, das als ein besonderes Prädikat ver-
standen wird. Auf dieser Voraussetzung gründet auch die spätere Kritik
am ontologischen Gottesbeweis in KrV, nach der Sein nur ein logisches
und kein reales Prädikat ist:12 Einem Begriff Dasein zuzusprechen be-
deutet nicht, ihn durch ein weiteres Prädikat zu bestimmen, sondern die
unter dem Begriff gedachten Prädikate als wirklich gesetzt zu denken.13
9
UD AA 2, 297.
10
BDG AA 2, 83.
11
Anders als Spinoza denkt Kant dabei das Verhältnis von Grund und Begründetem
nicht als Inhärenzverhältnis, sondern als bloßes Dependenzverhältnis (Henrich 1994, 27;
ÜE AA 8, 224).
12
Dieses Argument wurde von Seiten der modernen Logik weitgehend akzeptiert. Zur
Kritik hieran vgl. hingegen Hintikka 1981.
13
Wäre Dasein eine inhaltliche Begriffsbestimmung bzw. ein reales Prädikat, könnten
wir nach Kant keinen Begriff als existierend denken, da der existierende Begriff dann in-
haltlich anders bestimmt wäre als der nicht als existierend gedachte Begriff. Der durch die
Prädikatenmenge P ohne das Prädikat {mächtig} bestimmte Begriff ist ein anderer als der
durch die Prädikatenmenge P2, die alle Prädikate von P1 und zusätzlich das Prädikat
{mächtig} enthält, bestimmte Begriff. Analoges müsste dann von {existierend} gelten,
wenn „Existenz“ ein reales Prädikat wäre. Der nur mögliche Begriff vom kann sich des-
halb vom realisierten Begriff nicht durch ein reales Prädikat unterscheiden, da er ansons-
330 Praktischer Glaube
Anstatt eines Prädikats ist Sein so nur „die Position eines Dinges, oder
gewisser Bestimmungen an sich selbst“.14 Mit der Negation der Existenz
Gottes werden also zugleich alle seine Bestimmungen oder Prädikate
aufgehoben, so dass überhaupt kein Widerspruch zwischen den Prädika-
ten auftreten kann.15
An Argumentationsschritt (v) kritisieren nun sowohl Wood als auch
Guyer den Schluss von „Es ist notwendig, dass (irgend)etwas existiert“
auf „Es gibt etwas, das notwendigerweise existiert“ als Fehlschluss. 16
Diese Kritik ist im Rahmen von Kants vorkritischer Prädikatenlehre je-
doch zumindest problematisch. Denn wenn das, was existiert, nur in
kontingenter Weise existieren würde, wären auch die von diesem kon-
tingenten Existierenden abhängenden Prädikate kontingent. Mit der An-
nihilation dieses Existierenden könnten die von ihm abhängenden Prädi-
kate nicht mehr gedacht werden. Ohne notwendiges Dasein wäre also
die logische Möglichkeit jedes Urteils selbst kontingent, weil dessen
Denkbarkeit kontingent wäre. Das widerspräche aber dem Begriff der
logischen Möglichkeit. Die im Begriff logischer Möglichkeit enthaltene
Notwendigkeit kann deshalb nur durch ein in sich notwendiges Dasein
begründet werden. Der Grund für die innere Möglichkeit alles logisch
Möglichen, der erste „Realgrund dieser absoluten Möglichkeit“,17 muss
deshalb die Denkbarkeit aller möglichen Prädikate mit Notwendigkeit
begründen. Dazu genügt es jedoch, dass es die vollkommen realen Prä-
dikate begründet, da in diesen die Möglichkeit aller anderen Prädikate als
bloßer Einschränkungen von jenen bereits enthalten ist. Das Dasein
Gottes als das Dasein des vollständig bestimmten Wesens, in dem alle
realen Prädikate notwendig gesetzt sind, ist damit die Voraussetzung,
dass überhaupt etwas prädikativ bestimmt werden kann.
ten nicht der Begriff des realisierten Begriffes wäre (vgl. BDG AA 2, 72; Henrich 1967,
158f.).
14
KrV B 626/A 598; vgl. auch BDG AA 2, 73.
15
Kant macht dies am Beispiel des Prädikats „Allmacht“ deutlich: Selbst wenn sich die
Allmacht als Prädikat nicht von dem Subjekt Gott als allerrealstem und allervollkom-
menstem Wesen abtrennen lässt, so heißt dies nur: Wenn Gott gesetzt ist, so ist auch die
Allmacht als eine seiner Bestimmungen gesetzt. Daraus folgt aber nicht, dass Gott als da-
seiendes Subjekt überhaupt gesetzt sein muss (KrV B 623/A 595).
16
Wood 1978, 70.
17
BDG AA 2, 79.
Der Glaube der Praxis bei Kant 331
18
Nach KrV nehmen alle nicht ontologischen Gottesbeweise zuletzt den ontologi-
schen Gottesbeweis und seine Identifikation des notwendigen Wesens mit dem allerreals-
ten Wesen in Anspruch (KrV B 666/A 638; B 653/A 625; B 657f./A 629f.). Man schließe
von der Idee eines notwendigen Existierenden darauf, dass dieses das allerrealste Wesen
sei. Diesem Schluss liege der ontologische Gottesbeweis zu Grunde. Nach Wood scheitert
Kants Widerlegung der traditionellen Beweise für die Existenz Gottes jedoch unter ande-
rem an seiner nicht nachgewiesenen Behauptung, dass der kosmologische und der physi-
kotheologische Beweis vom ontologischen abhängen. Kant zeige höchstens, dass diese
Beweise nicht das Dasein des ens realissimum oder eines intelligenten Schöpfers beweisen
können (Wood 1978, 148).
19
Reich 1937, 8; zitiert nach Schmucker 1980, 142. Vgl. ebenso: Förster 2000, 95;
Knudsen 1972, 16.
20
KrV B 653/A 625; Reich 1937, 7; zitiert nach Schmucker 1980, 143.
21
Reich 1937, 8; zitiert nach Schmucker 1980, 142. Zur vorkritischen Widerlegung der
vorkantischen Gottesbeweise in BDG vgl. ausführlich Schmucker 1983.
22
BDG AA 2, 156.
23
BDG AA 2, 82.
332 Praktischer Glaube
24
Schmucker 1980, 146.
25
So bleibt Kant nach Chignell von der Tragfähigkeit seines Beweises überzeugt,
schätze jedoch den epistemischen Status seiner Schlussfolgerung anders ein (Chignell
2012, 669).
26
In BDG unterscheidet Kant zudem noch nicht „zwischen der absoluten Notwendig-
keit von Dingen und der unbedingten Notwendigkeit von Urteilen“ (Förster 2000, 96).
27
Dies bedeutet nicht, dass Kant in BDG logische oder grammatische Negation und
reale Negation vermengen würde, auch wenn Kant erst in seinem späteren, wenn auch im
selben Jahr wie BDG erschienenen Versuch eine genaue Differenzierung zwischen logi-
scher und realer Opposition vornimmt. (Guyer 1992a, 7).
28
Henrich 1967, 146.
29
Oberhausen und Kreimendahl weisen in ihrer Einleitung zu BDG zu Recht darauf
hin, dass der Grundgedanke von BDG von Kant in KrV nicht einfach aufgegeben wird,
sondern in „subjektivierter Gestalt“ als „depotenzierte Ontotheologie“ als Ideal der rei-
nen Vernunft weiter seine Berechtigung hat (Kreimendahl/Oberhausen 2011, xix). So
heißt es denn auch in V-Phil-Th Politz aus der kritischen Periode mit Bezug auf seinen
früheren Beweisgrund, dass man die Idee Gottes als ens realissimum, sowie alle Prädikate,
die aus ihm fließen, als Hypothese für unsere spekulative Vernunft notwendig annehmen
Der Glaube der Praxis bei Kant 333
BDG setzt voraus, dass jedes existierende Etwas im Hinblick auf seine
Prädikate tatsächlich vollständig bestimmt ist. Dasein impliziert so voll-
ständige begriffliche Bestimmtheit. Diese ist nur dadurch möglich, dass
die Totalität aller möglichen realen Prädikate gegeben ist, wobei jedem
Existierenden von diesen Prädikaten entweder dieses reale Prädikat oder
dessen Einschränkung bzw. Negation zukommt.30 Nach dem transzen-
dentalen Ideal ist die Materie des Denkbaren dagegen nicht mehr in ei-
nem absolut notwendigen Wesen gegeben, sondern durch das Ganze der
sinnlich gegebenen Realität.31 Die Gewinnung empirischer Begriffe ver-
dankt sich nicht einer Totalität realer Begriffe, sondern dem
„unabschließbaren Prozess empirischer Erkenntnis“ und Erfahrung. 32
Dieses Ganze aller möglichen Prädikate ist jedoch kein abgeschlossenes
oder seinerseits vollständig bestimmtes Ganzes, weshalb auch die logi-
sche Bestimmung eines Gegenstandes niemals abgeschlossen werden
kann. 33 Nur für die Anschauung ist das Existierende vollständig be-
stimmt, nicht aber begrifflich.34 Die Prädikate werden vielmehr durch die
Reflexion auf die sinnlich gegebene Wirklichkeit gewonnen.35 Der Inbe-
griff der Realität ist so kein objektives Prinzip mehr, sondern nur eine
Setzung der Vernunft, „die alle Realität in einen Inbegriff zusammen-
faßt“.36
Aus Perspektive von Kants Aufklärungsprojekt ist dabei Folgendes
wichtig: Die Gewinnung der Prädikate ist nach KrV eine eigenständige
Leistung des menschlichen Denkens. Ebenso ist es eine eigenständige
Leistung des Denkens, in der Bestimmung des Existierenden immer wei-
ter voranzuschreiten. Denn das Denken operiert hierbei nur unter der
Voraussetzung der Vorstellung vollständiger Bestimmbarkeit, durch die
ein Existierendes durchgängig begrifflich bestimmt wäre. Das Denken
setzt aber nicht ein solches es selbst transzendierendes Bestimmtes vo-
raus. Damit gibt Kant den Gedanken auf, dass die empirische Wirklich-
keit rational vollständig bestimmt ist und der Verstand diese rationale
Ordnung der Welt nur noch auffassen muss. Im Gegenzug dafür wird
die rational-begriffliche Ordnung des Empirischen zu einer genuinen
müsse, um erkennen zu können, worin im Allgemeinen die Möglichkeit von etwas besteht
(Chignell 2012, 636f.; AA 28, 1034).
30
Longuenesse 2005, 126f.
31
Longuenesse 2005, 126.
32
Longuenesse 1998, 297.
33
Log AA 9, 99. Wood 1978, 18f. Nur Individuen sind durchgängig bestimmt, Univer-
salien hingegen nicht (das menschliche Wesen ist weder jung noch alt etc.) (ibid., 38).
34
Longuenesse 2005, 215.
35
Longuenesse 2005, 220.
36
Henrich 1967, 144.
334 Praktischer Glaube
ausdrückt und im Ideal der Vernunft vereinigt ist, entweder dieses selbst,
seine Einschränkung oder seine Negation zukommt. Dabei setzt die Ne-
gation eines Prädikats, das eine Realität ausdrückt, eben dieses negierte
Prädikat selbst voraus. Die durchgängige Bestimmung der existierenden
Dinge beruht dann auf der Einschränkung dieses Ideals, insofern dem
Existierenden Prädikate, die eine Realität ausdrücken, abgesprochen
werden. Jedes existierende Etwas, das nicht das Ideal der Vernunft ist, ist
also durch die Negation bestimmter realer Prädikate ein bestimmtes Et-
was.
Soweit sind die Überlegungen aus KrV und BDG also weitgehend
identisch. Die kritische Transformation der notwendigen Voraussetzung
unseres Verstandesgebrauchs wird jedoch dadurch möglich und not-
wendig, dass KrV die vom Denken aufgefassten Bestimmungen der exis-
tierenden Gegenstände nicht mehr als dem Denken vorgegebene
Bestimmtheiten der Dinge an sich auffasst. Da die Objekte der Erfah-
rung Erscheinungen und keine Dinge an sich sind, sind sie nicht an sich
vollständig bestimmt, sondern im Versuch ihrer rationalen Durchdrin-
gung durch prädikative Bestimmung muss das menschliche Denken sie
nur als vollständig bestimmt denken. Indem die Objekte unserer Erfah-
rung aus kritischer Perspektive nicht mehr an sich vollständig bestimmte
Entitäten sind, deren ebenso an sich vorhandene Prädikate wir im Er-
kennen nur ablesen, sondern diese Objekte erst im Denken prädikativ
bestimmt werden, ist die vollständige Bestimmtheit eines Gegenstandes
nur ein durch die Vernunft vorausgesetztes, aber nie realisierbares End-
ziel unserer Verstandesoperationen. Die Bestimmung existierender Ge-
genstände ist also eine genuine Leistung des Denkens, die der Verstand
unter der Voraussetzung des Ideals der Vernunft vollzieht. KrV ersetzt
damit die Vorstellung der vollständigen ontologischen Bestimmtheit der
empirischen Dinge an sich durch die Idee der vollständigen epistemi-
schen Bestimmbarkeit der Erscheinungen. Das menschliche Denken
setzt damit nicht mehr das es transzendierende reale Dasein eines allerre-
alsten Wesens, sondern nur mehr das durch es selbst gesetzte Ideal eines
vollständig bestimmten Wesens voraus, das alle realen Prädikate in sich
vereinigt 45 und unserer Verstandespraxis prädikativer Gegenstandsbe-
stimmung zu Grunde liegt. Aus der objektiven Bedingung der Möglich-
keit der Dinge an sich wird also eine subjektive Voraussetzung des empi-
rischen Denkens.46
45
KrV B 605f./A 577f.
46
Förster 2012, 93.
336 Praktischer Glaube
Auch wenn die Rationalisierung der Welt durch ihre begriffliche Durch-
dringung eine genuine Leistung des Verstandes bzw. der Urteilskraft ist,
so muss das Subjekt doch voraussetzen, dass diese Welt seinem begriffli-
chen Denken zugänglich ist. Wir sahen jedoch bereits im vorigen Teil,
dass für den Verstand die spezifischen Formen der Naturgegenstände
zufällig sind. Nach KrV macht es das spekulative Interesse der Vernunft
und ihre Forderung nach Einheitlichkeit der Natur deshalb notwendig,
die spezifische Ordnung in der Welt so zu betrachten, als hätte sie ihren
Grund in der Absicht einer höchsten Vernunft.49
„Das Ideal des höchsten Wesens ist nach diesen Betrachtungen nichts anders, als
ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen,
als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge“.50
47
KrV B 611/A 583.
48
KrV B 633/A 605; B 641/A 613; B 644/A 616; B 620/A 592; B 633/A 605.
49
KrV B 714/A 686. Die Welt als „Summe von Erscheinungen“ bedarf eines transzen-
dentalen Grundes (B 724/A 696; vgl. hierzu auch Klemme 2006, xxxviii).
50
KrV B 647/A 619; B 714/A 686.
Der Glaube der Praxis bei Kant 337
51
KrV B 709/A 681; B 707/A 679.
52
KrV B 709/A 681; Prol AA 4, 357.
53
KrV B 854/A 826.
54
KrV B 629/A 601.
55
KrV B 722/A 694.
56
KrV B 725/A 697.
57
KrV B 698f. /A 670f. Im Erkennen muss der Mensch alle Verbindungen von Er-
scheinungen so ansehen, „als ob sie Anordnungen einer höchsten Vernunft wären, von
der die unsrige ein schwaches Nachbild ist“ (B 706/A 678). Dies stellt nach Friedman eine
radikale Neuinterpretation der Physiko-Theologie dar (Friedman 1992, 48). Gott sei nur
mehr der „focus imaginarius“ unserer spekulativen und moralischen Praxis (ibid., 51).
58
KrV B 724/A 696.
338 Praktischer Glaube
59
Die positive Theologie der spekulativen Vernunft ist deshalb „gänzlich fruchtlos und
ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig“ (KrV B 664/A 636). Die legitime
transzendentale Theologie hat dagegen einen nur negativen Gebrauch: „eine beständige
Zensur unserer Vernunft, wenn sie bloß mit reinen Ideen zu tun hat“ (B 668/A 640). Sie
muss die Vernunft über ihr Missverständnis der Idee Gottes, die ein bloß regulatives Prin-
zip ist, als Ursache und damit konstitutives Prinzip aufklären (B 721f./A 693).
60
Die Idee ist nur ein „Schema jenes regulativen Prinzips, wodurch die Vernunft, so
viel an ihr ist, systematische Einheit über alle Erfahrung verbreitet“ (B 710/A 682). Vgl.
auch: KrV B 702/A 674.
61
KrV B 725/A 697.
62
KrV B 726/A 698.
Der Glaube der Praxis bei Kant 339
63
WDO AA 8, 137. „Die Gantze Natur ruft der menschlichen Vernunft zu: es ist ein
Gott d. i. eine höchste Macht welche die Welt erschaffen und sie zweckmäßig nach Regeln
geordnet hat die wir uns nicht anders als nach der Analogie mit einer Ursache (die wir in
uns wahrnehmen indem wir die Wirkung auf Zwecke beziehen) die Verstand hat vorstel-
lig machen können weil wir nur durch unser Vermögen eines Verstandes uns einen Zu-
sammenhang der Dinge nach Zwecken denken können wodurch sich uns die Idee einer
obersten Ursache als höchste Intelligenz unwiederstehlich aufdringt.“ (OP AA 21, 344.)
64
Zuckert 2007, 39.
65
KU AA 5, 405.
66
KU AA 5, 370.
67
KU AA 5, 373f.
68
Vgl. hierzu etwa Zuckert 2007, 118f.
340 Praktischer Glaube
69
Vgl. hierzu KU AA 5, 370–372.
70
Vgl. hierzu Zuckert 2007, 126.
71
KU AA 5, 378.
72
Es handelt sich um „eine Maxime der Beurtheilung der innern Zweckmäßigkeit
organisirter Wesen“ (KU AA 5, 376), um die Struktur von Organismen erforschen zu
können.
73
Zuckert 2007, 135.
74
KU AA 5, 396.
75
KU AA 5, 379. Zur Frage der Notwendigkeit dieses Übergangs vgl. Zuckert 2007,
128.
76
KU AA 5, 380.
77
KU AA 5, 382.
78
KU AA 5, 399.
79
KU AA 5, 395; 398f.; vgl. hierzu Zuckert 2007, 29; 80; 119. Die Begründung ist fol-
gende: Die Idee von Zweckursächlichkeit (ein späterer Zustand bestimmt einen früheren)
ist der Natur der Zeit und der wirkursächlich bestimmten objektiven Zeitordnung entge-
gengesetzt, gemäß der ein späterer Zustand immer durch einen früheren bestimmt wird.
Der Glaube der Praxis bei Kant 341
Aus den vier genannten Punkten ergibt sich für die Idee Gottes und
ihre Funktion für die reflektierende Urteilskraft Folgendes: In theoreti-
scher Hinsicht hat die Idee Gottes keine objektive Realität, sie sagt
nichts über eine tatsächliche Relation der Gegenstände unserer Erkennt-
nis zu einer Ursache aus. Sie hat nur subjektive Notwendigkeit für unse-
re Praxis der Erkenntnis der Natur im Hinblick auf die teleologische
Verfasstheit der Organismen und ihrer als Ganzer. Diese Idee einer „ab-
sichtsvoll-wirkende[n] oberste[n] Ursache der Welt“ ist deshalb nur
„subjektiv für den Gebrauch unserer Urtheilskraft in ihrer Reflexion
über die Zwecke in der Natur“ legitimiert.80 Es handelt sich um ein sub-
jektives Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zum „Leitfaden der Re-
flexion“ und nicht um ein objektives Prinzip der bestimmenden Urteils-
kraft.81 Einzig die reflektierende Urteilskraft ist deshalb berechtigt so zu
urteilen, als ob es eine solche Ursache gäbe, oder die Welt unter der Idee
eines verständigen Schöpfers zu betrachten. Denn sowohl die Auffas-
sung des Lebendigen als innerer Zweckmäßigkeit als auch der Welt als
zweckmäßigem Ordnungszusammenhang ist für unser Denken nur un-
ter der Annahme einer vernünftigen Ursache der Welt vorstellbar.82 Als
Vernunftidee muss deshalb ein absolut notwendiges Wesen vorausge-
setzt werden, ohne dass ihm jedoch jemals objektive Realität zugeschrie-
ben werden könnte.83
Fassen wir noch einmal zusammen: Mit der Unterscheidung von be-
stimmender und reflektierender Urteilskraft kann Kant Aussagen über
die Idee Gottes machen, ohne diese Idee objektiv begrifflich zu bestim-
men. Bezogen auf die Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisver-
mögens lässt sich das Vorhandensein der Ordnungsstruktur der Natur
nur in Relation auf eine nach Absichten wirkende Ursache denken. Dies
ist jedoch keine objektive Bestimmung der Natur, sondern nur ein sub-
jektiver, wenn auch notwendiger Grundsatz zur Erklärung organisierter
Wesen und der Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen.84 Das
Prinzip der Zwecke in der Natur ist „ein heuristisches Princip“ der re-
Objektiv tritt die Bestimmung eines früheren Zustands durch einen späteren nur bei in-
tentional Handelnden auf, insofern das antizipierte Ende der Handlung Ursache für ihren
Beginn ist (ibid., 143). Insofern führt uns das Konzept des Naturzwecks notwendig auf
das Konzept einer intentional-verständig handelnden Ursache. Andererseits verhindert
die natürliche Zeitordnung eine Schematisierung der Zweckursächlichkeit und kann des-
halb kein bestimmendes Urteil begründen (ibid.).
80
KU AA 5, 399.
81
KU AA 5, 389.
82
KU AA 5, 400.
83
KU AA 5, 402.
84
KU AA 5, 398.
342 Praktischer Glaube
von einem verständigen Wesen nach Zwecken erschaffen worden wäre, können wir sie
auch so denken, als ob wir durch Freiheit auf sie im Sinne unseres Endzwecks einwirken
könnten (Klemme 2006, xxxix).
91
KrV B 703/A 675.
92
Zum Unterschied zwischen logischer und objektiver Möglichkeit vgl. KrV B 267f./A
220f.
93
KrV B 627/A 599; B 667/A 639.
94
KrV A 95.
95
KrV B 298/A 239.
96
KrV B 702f./A 674f.
97
WDO AA 8, 142.
98
ÜE AA 8, 188f.; KrV B 335/A 279.
99
KrV B 667/A 639. Kants Terminologie scheint mitunter zwischen den Ausdrücken
„objektive Realität“ und „objektive Gültigkeit“ zu changieren. Nach Guyer lassen sich
beide Begriffe folgendermaßen unterscheiden: „Objektive Realität“ bedeutet, dass es min-
destens eine Instantiierung eines Begriffs gibt, „objektive Gültigkeit“, dass der Begriff auf
alle möglichen Objekte der Erfahrung angewendet werden kann (Guyer 1992b, 125).
344 Praktischer Glaube
100
Hieran ändert sich auch in KU nichts, da die reflektierende Urteilskraft zwar zu ih-
rem immanenten Gebrauch die Idee Gottes, aber nicht deren Dasein setzt.
101
KrV B 591/A 563.
102
KrV B 593f./A 565f.; B 634/A 606.
103
Die Bedeutung der transzendentalen Theologie besteht deshalb nach Kant neben der
Ausräumung des Atheismus nur in der Negation der (anthropomorphen) Prädikate von
Gott, die seinem transzendentalen Begriff widersprechen (KrV B 668f./A 640f.).
104
Zur Kritik an Kants Gebrauchsweise des Begriffs „Deismus“ vgl. Wood 2002, 90.
105
KrV B 661/A 633. Jacobi und Kant stimmen so beide darin überein, dass der Deis-
mus in der Bestimmung Gottes zu wenig leistet, da Gott weder als lebendig, noch als wei-
se oder wollend bestimmt wird (Wood 2002, 89; V-Phil-Th Politz AA 28, 1031–1062;
1001f.; Fromm JW 5,1, 116). „Ohne Moralität würde die Hypothesis [von Gott als Welt-
urheber] immer ungegründet seyn und die Zwekmaßigkeit im Universum allerhochstens
auf einen Spinosism oder emanation führen.“ (Refl 6280 AA 18, 547.)
106
KU AA 5, 437. „Auf solche Weise ergänzt die moralische Teleologie den Mangel
der physischen und gründet allererst eine Theologie“ (ibid., 444).
Der Glaube der Praxis bei Kant 345
haltlichen Bestimmungen zu.107 Denn für sie besitzt diese Idee objektive
Realität und ist inhaltlich hinreichend bestimmt, um für das religiöse
Bewusstsein in der Hinsicht akzeptabel zu sein, anerkennen zu können,
dass hier vom selben Gegenstand gesprochen wird, den es „Gott“ nennt.
Die praktische Philosophie muss also drei Fragen beantworten, die
wir im Folgenden analysieren wollen: Inwiefern legt die praktische Ver-
nunft der Idee Gottes Realität bei (a); wie rechtfertigt sie ihre inhaltliche
Bestimmung der Idee Gottes (b); wie legitimiert sie gegenüber dem reli-
giösen Bewusstsein den Primat der Moral gegenüber der Religion (c)?
In KpV formuliert Kant „das Räthsel der Kritik“, „wie man dem über-
sinnlichen Gebrauche der Kategorien in der Speculation objective Reali-
tät absprechen und ihnen doch in Ansehung der Objecte der reinen
praktischen Vernunft diese Realität zugestehen könne“.108 Die folgenden
Überlegungen zeigen, dass Kant dieses Rätsel durch eine Ausdifferenzie-
rung der spekulativen und der praktischen Verwendungsweise des
scheinbar univoken Begriffs der objektiven Realität löst. Dazu themati-
sieren wir zunächst diese Differenz, um dann den Wirklichkeitsstatus
der Idee des höchsten Guts zu analysieren. Anschließend betrachten wir
die Einführung Gottes als Bedingung der Möglichkeit des höchsten
Guts. Zuletzt betrachten wir die praktische Bedeutung und das prakti-
sche Dasein Gottes.
In seiner theoretischen Verwendung bedeutet die objektive Realität
eines Begriffs, „daß ihm gemäß ein Object möglich“ ist. 109 Objektive
Gültigkeit haben Begriffe nur in Bezug auf empirische Anschauungen.110
Ist es nicht möglich, dass einem Begriff eine Anschauung korrespondiert,
so gibt es keine mögliche Erfahrung von seiner Instanziierung und es ist
nicht einmal möglich, dass ihm objektive Realität zukommt.111 Bloß lo-
gisch mögliche Begriffe bleiben leer, sofern „die objektive Realität der
Synthesis, dadurch der Begriff erzeugt wird, nicht besonders dargetan
wird; welches aber jederzeit, wie oben gezeigt worden, auf Prinzipien
möglicher Erfahrung und nicht auf dem Grundsatze der Analysis (dem
107
Vgl. KU AA 5, 438f.; 440; 442; 469.
108
KpV AA 5, 5.
109
KU AA 5, 396.
110
KrV B 298/A 239.
111
KrV B 630/A 602.
346 Praktischer Glaube
renz von Praxis und Spekulation geschuldet. Auch wenn Kant nämlich
von der „Realität“ der Ideen in ihrer regulativen Funktion spricht, muss
ihnen doch in der Erkenntnis objektive Realität insofern abgesprochen
werden, als sie uns – zumindest unmittelbar – nichts an einem Gegen-
stand erkennen lassen. Innerhalb der Spekulation ist dies jedoch wesent-
lich, um einem Begriff objektive Realität zusprechen zu können. Bezo-
gen auf die theoretische Vernunft muss der Begriff „objektive Realität“
deshalb in univoker Bedeutung genommen werden. Ganz anders verhält
es sich für die aufs Handeln bezogene praktische Vernunft.118 Im Unter-
schied zur theoretischen Vernunft, die bloß das vorstellt, „was da ist“,
bezieht sich die praktische Vernunft nämlich auf das, „was dasein
soll“. 119 Letztere will nicht Objekte erkennen, sondern hervorbringen.
Sie setzt damit die Wirklichkeit ihrer Objekte nicht voraus, sondern hat
sie „wirklich zu machen“.120 Sind im Erkenntnisakt die realen Objekte
immer die „Ursachen“ der Vorstellungen, so sind beim willentlichen
Handeln umgekehrt die Vorstellungen die Ursache der realen Objekte.121
Die praktische Vernunft setzt also nicht voraus, dass ihre Gegenstände in
der Erfahrung gegeben sind, sondern dass durch sie Gegenstände als
Vorstellungen gesetzt sind, die durch eine willensinduzierte Handlung
wirklich werden sollen. 122 Der für die praktische Vernunft relevante
Möglichkeitsbegriff ist nicht der möglicher Erfahrung, sondern der der
möglichen Wirkung eines freien Willens.123 Ebenso ist die Realität eines
Begriffs für die praktische Vernunft nicht auf Prinzipien der Erfahrung
und auf dem, was da ist, gegründet.124 Denn Begriffe als Regeln haben in
Bezug auf das Handeln eine völlig andere Funktion als in Bezug auf das
Erkennen. Den Schluss von der spekulativen Nichtanwendbarkeit eines
Begriffs auf seine praktische Nichtanwendbarkeit und damit fehlende
Realität kritisiert Kant deshalb als pöbelhafte Berufung auf die allgemei-
ne Erfahrung. Aus der Unmöglichkeit einer empirischen Anschauung
wahrer Freundschaft folgt so zwar, dass der Begriff wahrer Freundschaft
für unsere Erkenntnis keine objektive Realität besitzt, aber eben nicht,
dass er sie nicht für unser Handeln besitzen kann. Im Gegenteil: Die
praktische Vernunft fordert uns auf, diesen Begriff zu aktualisieren und
118
Vgl. hierzu auch: Esser 2004, 153ff.
119
KrV B 661/A 633. Die spekulative Vernunft bestimmt ihren Gegenstand, die prakti-
sche Vernunft bringt ihn selbst hervor (KrV B x).
120
KpV AA 5, 89; vgl. auch Beck 1960, 67.
121
KpV AA 5, 44f.; OP AA 21, 419.
122
Deshalb kommt der praktischen Vernunft auch eine eigenständige Kausalität zu
(Engstrom 2010, 32).
123
KpV AA 5, 57.
124
KrV B 624/A 596.
348 Praktischer Glaube
125
EAD AA 8, 333.
126
KU AA 5, 175. Zwar geht Kant Ende 1773 noch davon aus, dass der Begriff der
Realität „in der Anwendung auf das practische“ leer sei (AA 10, 145), nichtsdestotrotz
behauptet er, dass auch ein bloß intellektueller Begriff „Bewegkraft haben“ und „eine ge-
rade Beziehung auf die erste Triebfedern des Willens“ besitzen müsse (ibid.). Dies ist es,
was später als praktische Realität charakterisiert wird.
127
KpV AA 5, 3; vgl. auch ibid., 66. Nach Schmucker stellt sich deshalb für das Gebiet
des Praktischen gar nicht das „Problem der Realgültigkeit, d. h. der Übereinstimmung der
Ideen mit der Wirklichkeit“, da hier die Ideen „wirkende Ursachen der Handlungen und
ihrer Gegenstände“ seien (Schmucker 1990, 35; vgl. auch ibid., 44f.). Wir modifizieren
diese Deutung dahingehend, dass sich das Problem der Realgültigkeit bzw. Realität der
Ideen in fundamental anderer Weise stellt.
128
KrV B 372/A 315.
129
KpV AA 5, 56.
130
Ferreira 2013, 11.
Der Glaube der Praxis bei Kant 349
140
KpV AA 5, 110f.
141
KU AA 5, 450.
142
KpV AA 5, 113; 62f.
143
RGV AA 6, 5.
144
RGV AA 6, 7; KU AA 5, 175.
145
RGV AA 6, 5; Sedgwick 2008, 58.
Der Glaube der Praxis bei Kant 351
Realisierung des Zwecks unserer Handlung. Wenn wir etwa einen Er-
trinkenden retten, wollen wir nicht nur unsere Handlung selbst, sondern
auch, dass der Ertrinkende tatsächlich gerettet wird. Wollen wir den
Zweck unserer Handlung nun nicht unter einer einschränkenden Bedin-
gung, sondern unbedingt, so scheinen wir auch ein unbedingtes Interesse
an seiner Realisierung zu haben. Wüssten wir, dass der von uns inten-
dierte Zweck unmöglich zu realisieren ist und unser Wollen notwendig
frustriert wird, so könnten wir eigentlich gar nicht handeln wollen. Der
Gegenstand des Wollens muss zumindest als möglich gedacht werden
können.146 Wenn nun das höchste Gut ein notwendiger Zweck unseres
Wollens ist, so muss seine Realisierung zumindest als möglich gedacht
werden können. Über die empirische Möglichkeit des höchsten Guts
wissen wir nun aber gar nichts, da es kein Gegenstand der Erfahrung ist.
Sofern wir moralisch handeln, handeln wir jedoch so, als wäre seine Rea-
lisierung möglich.147 An seiner Realisierung müssen wir jedoch mit mo-
ralischer Notwendigkeit mitwirken, obwohl wir theoretisch nichts über
seine empirische Möglichkeit wissen. Wir müssen so handeln, als wäre
die Realisierung des höchsten Guts möglich. Da wir ein notwendiges
moralisches Interesse an der Wirklichkeit des höchsten Guts besitzen,
müssen wir auch so handeln, als ob die Voraussetzungen für die Mög-
lichkeit seiner Realisierung gegeben wären.148 Da das höchste Gut ein
notwendiger Gegenstand unseres moralischen Wollens ist, ist unser Wil-
le notwendig auf die Bedingungen seiner Möglichkeit als notwendigen
Voraussetzungen unseres moralischen Handelns bezogen. Diese Not-
wendigkeit ist aber nur eine praktische Notwendigkeit. In der prakti-
schen Setzung dieser Bedingungen besteht der moralische Glaube.149
146
So kann ein Arzt keine lebensrettende Operation an einer Leiche vornehmen wollen
(zumindest sofern er weiß, dass der vor ihm liegende Mensch bereits tot ist), weil die Rea-
lisierung des Zwecks der Handlung unmöglich ist. Vgl. hierzu etwa auch Wood 1970, 23;
29f.
147
Übertragen wir dies auf unser Beispiel: Der Arzt, der lebensrettende Maßnahmen an
einem Schwerverletzten durchführt, handelt so, als wäre die Lebensrettung als Gegen-
stand seiner Handlung möglich, selbst wenn er theoretisch nichts über deren Möglichkeit
ausmachen kann. Damit setzt er praktisch (in Bezug auf seine Willensbestimmung) das
Gegebensein all der äußeren Bedingungen voraus, die für das Gelingen seiner Maßnahmen
notwendig sind. Das heißt nichts anderes, als dass er so handelt, als wären die Bedingun-
gen für das Gelingen seiner Handlung tatsächlich gegeben. Gleiches muss in verstärktem
Maße für das höchste Gut gelten.
148
Neiman 1994, 113.
149
„Glaube (als habitus, nicht als actus) ist die moralische Denkungsart der Vernunft
im Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntniß unzugänglich ist. Er ist
also der beharrliche Grundsatz des Gemüths, das, was zur Möglichkeit des höchsten mo-
352 Praktischer Glaube
Wir haben bisher gezeigt, dass die praktische Notwendigkeit der Idee
des höchsten Guts uns zur praktischen Voraussetzung aller Bedingungen
der Möglichkeit dieses Guts zwingt. Eine dieser notwendigen Bedingun-
gen der Möglichkeit des höchsten Guts ist (neben der Unsterblichkeit)
nach Kant das Dasein Gottes. 150 Die praktische Vernunft nötigt den
Menschen, praktisch „eine Macht anzunehmen, welche diesen den gan-
zen in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstim-
menden Effect verschaffen kann“.151 Wenn wir in unserem moralischen
Handeln notwendig die Realisierung des höchsten Guts als Zweck set-
zen, dann müssen wir in unserem Handeln auch die Möglichkeit seiner
Realisierung setzen. Wenn es also Pflicht ist, zur Realisierung des höchs-
ten Guts beizutragen, nötigt uns die praktische Vernunft, im morali-
schen Handeln a priori die Möglichkeit der Realisierung dieser Idee vo-
raussetzen.152 Nun weiß der einzelne Mensch, dass seine Annahme einer
moralischen Gesinnung noch keine hinreichende Bedingung zur Ver-
wirklichung des höchsten Guts ist. Die Möglichkeit seiner Realisierung
ist an so anspruchsvolle Bedingungen an uns selbst, an die übrigen mora-
lischen Subjekte und an den von uns nur partiell beeinflussbaren Welt-
verlauf geknüpft, dass es aus Perspektive der theoretischen Vernunft
keine Anhaltspunkte gibt, die sein Wirklichwerden objektiv möglich er-
scheinen lassen. Müsste die praktische Vernunft diese Perspektive über-
nehmen, würde ihr Moralgesetz, das die Beförderung des höchsten Guts
unbedingt fordert, selbst zu einer Täuschung werden.153
Fassen wir kurz zusammen: Die Beförderung des höchsten Guts ist
ein „a priori nothwendiges Object unseres Willens“, das notwendig mit
dem Moralgesetz zusammenhängt.154 Eine der beiden „einzigen für uns
denkbaren Bedingungen“ der Möglichkeit ist (neben der Unsterblichkeit
der Seele) Gott.155 Die eigene Einhaltung der moralischen Gesetze ge-
nügt nicht, damit in der Welt Glückswürdigkeit und Glückseligkeit zu-
sammenstimmen. In der Reflexion auf die eigene, autonom begründete
moralische Praxis stellt die Vernunft ein Defizit fest, das zum Gedanken
Gottes führt: Die Verbindung zwischen Glückseligkeit und Moralität
der Welt ist empirisch kontingent.156 Gott ist deshalb für die autonome
ralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen nothwendig ist, wegen der Verbind-
lichkeit zu demselben als wahr anzunehmen“ (KU AA 5, 471).
150
Beiser 2006, 606.
151
RGV AA 6, 104; vgl. auch ibid., 7f.
152
KU AA 5, 471.
153
KU AA 5, 471.
154
KpV AA 5, 114.
155
KU AA 5, 469.
156
Dörflinger 2004, 162f.
Der Glaube der Praxis bei Kant 353
dieser Idee notwendig sind. 166 Die praktische Vernunft bestimmt die
Willkür also so zu handeln, als ob Gott wirklich wäre.167 Dies bezeichnet
Kant explizit als die „moralisch-praktische Realität“ einer Idee:
In Bezug auf das Praktische ist das, was für die theoretische Vernunft
nur ein regulatives Prinzip ist, deshalb „zugleich constitutiv, d. i. prak-
tisch bestimmend“.169 Der moralische Glaube an Gott ist notwendig, da
das höchste Gut von der praktischen Vernunft notwendig als letzter
Zweck gesetzt ist und „ich gewiß weiß, daß niemand andere Bedingun-
gen kennen könne, die auf den vorgesetzten Zweck führen“.170 Prakti-
sche Realität impliziert damit jedoch keine epistemische Überzeugung.171
Das Postulat Gottes meint nur die unbedingte Forderung, so zu „han-
deln, als ob“ die Bedingungen zur Realisierung des höchsten Guts gege-
ben wären.172 Der moralische Glaube hat damit nur praktische Bedeu-
tung, aber impliziert keinen epistemischen Zustand des Fürwahrhaltens
des Daseins Gottes im Handlungssubjekt. Praktische Realität haben die
Ideen des höchsten Guts und die Idee Gottes als Bedingung ihrer Mög-
lichkeit für das Handlungssubjekt vielmehr insofern, als sie wirkmächtig
in seinem Handeln werden.173 Hieraus ergibt sich der besondere Charak-
ter des Vernunftglaubens an Gott: Dieser ist kein epistemisches Für-
wahrhalten, sondern eine „moralische gewisheit“, die das Subjekt mora-
lisch dazu verbindet, den Gegenstand dieses Glaubens in seinen Hand-
lungen als verbindlich zu Grunde zu legen.174
166
Ein „Postulat ist ein a priori gegebener, keiner Erklärung seiner Möglichkeit (mithin
auch keines Beweises) fähiger praktischer Imperativ.“ (VNAEF AA 8, 418.)
167
„Die Vernunft im Bewußtsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfniß ein
Genüge zu thun, dehnt sich bis zu überschwenglichen Ideen aus, die jenen Mangel ergän-
zen könnten, ohne sie doch als einen erweiterten Besitz [epistemisches Fürwahrhalten]
sich zuzueignen.“ (RGV AA 6, 52.)
168
VNAEF AA 8, 416; KrV B 662/A 634.
169
KU AA 5, 457.
170
KrV B 852/A 824; vgl. auch B 856/A 828.
171
Dagegen: Guyer 2005, 214.
172
EAD AA 8, 337; KU AA 5, 469f.
173
Nach Dörflinger darf der Mensch den Gottesgedanken in seiner Praxis hingegen
„nicht wirksam werden lassen“, „denn eine solche Einwirkung würde [...] die Tendenz
zur Passivität einführen“ (Dörflinger 2008, 66).
174
Refl 5645 AA 18, 292.
Der Glaube der Praxis bei Kant 355
175
KpV AA 5, 4f.
176
VNAEF AA 8, 418.
177
KrV B 856/A 828.
178
WDO AA 8, 139.
179
So heißt es in KrV B: „[D]ie Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische
Gewißheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so
356 Praktischer Glaube
ven Notwendigkeit oder Gültigkeit etwa der Idee des Guten in KU aber
vor allem dann, wenn er deutlich machen möchte, dass es sich hierbei
bloß um eine notwendige Setzung der praktischen Vernunft und nicht
um eine Anerkennung der Wirklichkeit der Idee des Guten oder der Idee
Gottes durch die theoretische Vernunft handelt. 180 Vor allem in KU
macht er deutlich, dass das höchste Gut nur ein notwendiger Zweck für
moralische Wesen und nicht zur objektiven Bestimmung der Natur ge-
eignet ist.181
In OP scheint Kant in letzter Konsequenz die Annahme einer Realität
Gottes außerhalb der menschlichen Vernunft dann ganz abzulegen. 182
Gott ist nicht als eine außer der Vernunft vorhandene Substanz oder Ur-
sache zu denken, sondern ausschließlich als eine in der Vernunft selbst
gesetzte Idee.183 Die Forderungen der moralischen Vernunft sind göttlich
und beweisen die Realität der Freiheit, aber sie beweisen die Realität
Gottes nicht in dem Sinne, dass sie die substantielle Existenz Gottes be-
weisen würden. 184 Gott ist vielmehr nur mehr eine „Idee (Selbstge-
schöpf)“ der Vernunft, ein „Gedankenwerk“ und keine Substanz oder
Sache an sich. 185 „Gott existiert“ bedeutet nur: „Gott existiert in der
praktischen Vernunft“. 186 Nach Förster verabschiedet OP deshalb die
frühere Postulatenlehre.187 Nach unserer Deutung klärt Kant hier hinge-
gen nur deutlicher den Status der praktischen Realität Gottes im Gegen-
satz zu seiner möglichen theoretischen Realität.188 Mit der Feststellung,
muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern, ich bin
moralisch gewiß etc.“ (KrV B 857/A 829.)
180
KU AA 5, 450; 453.
181
KU AA 5, 453.
182
Dagegen: Winter 2000, 477.
183
OP AA 21, 144; 153.
184
OP AA 21, 26. „Gott ist nicht ein ausser mir bestehendes Ding, sondern mein eige-
ner Gedanke. Es ist ungereimt zu fragen ob ein Gott sey.“ (Ibid., 26f.)
185
OP AA 21, 26f. Teilweise identifiziert Kant Gott sogar mit der praktischen Ver-
nunft, die so im vernünftigen Handlungssubjekt gebietet, als ob sie eine Person wäre
(ibid., 37). „Gott ist die moralisch//practische sich selbst gesetzgebende Vernunft – Daher
nur ein Gott in mir um mich und über mir.“ (Ibid., 145.) „Gott muß nicht als Substanz
ausser mir vorgestellt werden, sondern als das höchste moralische Princip in mir“ (ibid.,
144). In diesem Sinne schreibt Rousset, Gott sei „notre raison pratique personnifiée,
l’impérative moral hypostasié“ (Rousset 1967, 636).
186
Förster 2000, 142.
187
Förster 1998, 362; OP AA 21, 81.
188
So hat Heidegger sicher nicht völlig Unrecht, dass „die Frage, ob und wie und in
welchen Grenzen der Satz ‚Gott ist’ als absolute Position möglich sei, der geheime Stachel
[ist], der alles Denken der ‚Kritik der reinen Vernunft’ antreibt und die nachfolgenden
Hauptwerke bewegt.“ (Heidegger 1976, 455.) Dies impliziert jedoch keine grundsätzliche
religionsphilosophische Orientierung von Kants Gesamtwerk (Winter 2000, 429) – im
Gegenteil.
Der Glaube der Praxis bei Kant 357
dass Gott nur ein Gedanke ist, bestimmt Kant die praktische Realität
Gottes im Gegensatz zur theoretischen Realität, nach der ein reales Ding
als „empirische Vorstellung“ verstanden werden muss.189 Im selben Sinn
bezeichnet Kant auch das Ding an sich als „ein Gedankending ohne
Wirklichkeit“. 190 So ist jedes Noumenon als Gegenstück zur Erschei-
nung „nicht als ein besonderes Ding sondern als Act des Verstandes“ zu
verstehen. 191 Das Urteil der praktischen Vernunft: „Es ist ein Gott“,
kann damit nicht die Setzung einer die Vernunft transzendierenden Sub-
stanz meinen, die „dieses Wesen für die Sinne repräsentirte“.192 Denn als
reales Objekt für die praktische Vernunft ist Gott Noumenon und kein
Sinnengegenstand.193 Der Begriff „Gott“ ist damit jedoch „keine Dich-
tung (willkürlich gemachter Begriff conceptus factitius), sondern ein der
Vernunft nothwendig gegebener (datus)“.194 Der Glaube an die prakti-
sche Realität Gottes „überwieget“ vielmehr „alle vorwahrhaltung aus
Logischen Gründen bey weitem“:195
Gott ist eine bloße Vernunftidee aber von der größten inneren u. äußeren practi-
schen Realität.196
Will die Vernunft dem für sie selbst notwendigen Begriff Gottes inhalt-
lich gerecht werden, muss sie die von ihr postulierte Idee als praktisch
real setzen,197 was gleichbedeutend damit ist, die Willkür so zu bestim-
men, als würde Gott existieren und als wäre das höchste Gut deshalb
realisierbar. Sie muss die Wirklichkeit der Idee Gottes praktisch und
nicht spekulativ beweisen. Ohne diese Voraussetzungen kann das Indi-
viduum weder an seiner eigenen Selbstaufklärung noch an der weltbür-
gerlichen Aufklärung mitwirken. Denn den Ausgang aus seiner selbst
189
OP AA 21, 148.
190
OP AA 22, 31.
191
OP AA 22, 94.
192
OP AA 21, 64.
193
„Gott ist kein durch Sinne des Menschen erkennbares Wesen.“ (OP AA 21, 142.)
194
OP AA 21, 63. Auch wenn manche Stellen das durchaus nahezulegen scheinen:
„Wir müssen uns ein Wesen machen gegen welches wir Dankbarkeit, Verehrung so wie
auch Wohltätigkeit etc. ausüben“ (ibid., 144). Nach Yovel bedeutet der Satz „Es gibt ei-
nen Gott“ bei Kant nichts anderes, als „Es muss notwendig etwas (in der Struktur der
Welt oder des Menschen) geben, das die Verwirklichung des höchsten Guts durch
menschliche Tätigkeit möglich macht.“ (Yovel 1980, 126.) Die Idee Gottes ist praktisch
jedoch bereits dadurch real, dass der menschliche Wille sich durch das praktische Gesetz
so bestimmt, als wären die Voraussetzungen für die Realisierung des Objekts des Willens
gegeben – unabhängig von seiner empirischen Möglichkeit.
195
V-Lo/Blomberg AA 24, 149.
196
OP AA 21, 142.
197
OP AA 22, 109.
358 Praktischer Glaube
Wir haben nun den Ort des Gottesbegriffs in seiner praktischen Realität
im kantischen Projekt der Aufklärung bestimmt. Allerdings muss er da-
bei als Setzung der autonomen praktischen Vernunft verstanden werden:
als Resultat des Zusammenfalls von Glückswürdigkeit und Glückselig-
keit als notwendigem Zweck menschlichen Handelns. Der gute Wille er-
schöpft damit zwar nicht die Fülle des Guten, aber er konstituiert sie. Er
ist die notwendige Bedingung, unter der ein handelndes Subjekt der
Glückseligkeit würdig ist.198 Für ein religiöses Bewusstsein, das Moral als
Forderung Gottes an den Menschen versteht, muss diese Interpretation
jedoch unzulänglich sein. Wir wollen deshalb im Folgenden nach der
Möglichkeit einer Vermittlung zwischen religiösem Bewusstsein und
Kants moralischem Bewusstsein fragen. Dabei gehen wir von dem Prob-
lem der Identifizierbarkeit der Gottesvorstellung des religiösen Bewusst-
seins mit dem Gottesbegriff der praktischen Vernunft aus:
Seine inhaltliche Bestimmung erhält der Begriff Gottes bei Kant durch
die praktische Vernunft. Wie dies strukturell zu denken ist, können wir
am Begriff der Freiheit verständlich machen: Der Begriff der Freiheit,
der für die theoretische Vernunft nur negativ als Nichtbestimmtsein
durch Naturkausalität bestimmbar ist,199 besitzt für die praktische Ver-
nunft positive Bestimmtheit als „Begriff einer den Willen unmittelbar
[…] bestimmenden Vernunft“.200 Für die Erkenntnis bleibt der Begriff
der causa noumenon leer,201 für das sittliche Handeln besitzt er hingegen
auch ohne Anschauung eine sich in Gesinnungen und Maximen konkre-
tisierende Bedeutung. So erhält dieser Begriff erst durch das moralische
Gesetz bestimmte Bedeutung.202 Allgemeiner gesprochen bleibt der Be-
griff des Unbedingten für die theoretische Vernunft unbestimmt, da ihm
keine mögliche Anschauung korreliert. Anders verhält es sich für die
198
V-Mo/Mron II AA 29, 599f.
199
KpV AA 5, 54
200
KpV AA 5, 48.
201
KpV AA 5, 56.
202
KpV AA 5, 55f.
Der Glaube der Praxis bei Kant 359
praktische Vernunft.203 Für sie wird die Idee des Unbedingten nämlich
vermittelt über das moralische Gesetz durch dessen Anwendung be-
stimmt.204
Genauso wird nun auch die Idee Gottes, die für die theoretische Ver-
nunft unbestimmt bleibt, durch die praktische Vernunft bestimmt. So ist
der praktisch gewonnene Begriff von Gott bestimmt als „Begriff eines
einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens“.205 Um von
der Idee Gottes praktischen Gebrauch machen zu können, muss die
praktische Vernunft ihn als wollendes, intelligentes Wesen begreifen.206
Denn ihre Funktion für die praktische Vernunft ist die mögliche Verei-
nigung von Moralität und Glückseligkeit. 207 Deshalb müssen ihm alle
moralischen Beschaffenheiten, die sich durch die theoretische Vernunft
nicht als notwendige Eigenschaften Gottes begreifen lassen, für ihren
praktischen Gebrauch beigelegt werden. 208 Führt die rein theoretische
Philosophie deshalb nur auf einen deistischen Gottesbegriff mit trans-
zendentalen Eigenschaften wie Ewigkeit und Allgegenwart, der sich mit
dem Spinozismus noch vereinbaren ließe, so führt erst die praktische
Philosophie auf den durch moralische Begriffe wie „Güte“ und „Gerech-
tigkeit“ bestimmten theistischen Begriff Gottes. Dadurch „ergänzt die
moralische Teleologie den Mangel der physischen und gründet allererst
eine Theologie“.209 Selbst die physische Teleologie in KU, die nach Kant
zwar die Suche nach der Theologie motivieren kann,210 gelangt nur zum
Begriff einer verständigen Ursache, die noch sämtlicher moralischer
Qualitäten entbehrt. Die moralischen Eigenschaften Gottes werden erst
in einer moralischen Weltbetrachtung gegeben.211 Vermittelst der Moral
und damit der praktischen Vernunft kann Gott als weiser Schöpfer und
Herrscher bestimmt werden.212 Der Idee Gottes muss für ihre praktische
„Verwendbarkeit“ nämlich alles das zugeschrieben werden, was der Zu-
203
KpV AA 5, 48. So heißt es in der Vorrede KrV B, dass sich in der „praktischen Er-
kenntnis“ der Vernunft „Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbe-
dingten zu bestimmen“ (KrV B xxi).
204
KpV AA 5, 49f. Ähnlich erhält etwa auch die Idee vom Ende aller Dinge erst durch
ihren Gebrauch in der Moral inhaltliche Bestimmtheit. Für die spekulative Erkenntnis ist
sie leer und anwendungslos, „in praktischer Absicht“ wird sie uns jedoch „von der ge-
setzgebenden Vernunft selbst an die Hand gegeben“ (EAD AA 8, 332).
205
KrV B 842/A 814.
206
KpV AA 5, 125.
207
TP AA 8, 279.
208
Förster 1998, 341; 355.
209
KU AA 5, 444.
210
KU AA 5, 440.
211
KU AA 5, 442.
212
Guyer 2005, 284; KrV B 839/A 811; B 842/A 814.
360 Praktischer Glaube
213
RGV AA 6, 5. Insofern bleibt die Idee Gottes zwar ein „selbst gemachtes“ Gedan-
kending in der Vernunft, „was wir uns selbst, aber doch nicht durch seinen ganz leeren,
sondern in Beziehung auf uns selbst und die Maximen der inneren Sittlichkeit, mithin in
praktischer innerer Absicht fruchtbaren Begriff machen“ (MdS AA 6, 241).
214
Da die Kategorien spontan vom Verstand selbst hervorgebracht werden, können sie
auch auf nicht in der Anschauung gegebene Objekte appliziert werden. Kategorien kön-
nen dabei Bedeutung haben (KpV AA 5, 136).
215
KU AA 5, 444; vgl. RGV AA 6, 139; MpVT AA 8, 257.
216
MpVT AA 8, 256.
217
KU AA 5, 443.
Der Glaube der Praxis bei Kant 361
218
KU AA 5, 444.
219
Refl 6894 AA 19, 198. In OP wird der Satz „Es gibt einen Gott“ folgendermaßen
begründet: Die Übertretung des Moralgesetzes hat keine natürlichen negativen Konse-
quenzen. Aber ein Gesetz, dessen Übertretung keine Konsequenzen hätte und die ich mir
selbst vergeben könnte, wäre kein Gesetz (Förster 2000, 140).
220
„Der erstere ist der Ankläger, dem entgegen ein rechtlicher Beistand des Verklagten
(Sachwalter desselben) bewilligt ist. Nach Schließung der Acten thut der innere Richter,
als machthabende Person, den Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische
Folgen der That“ (MdS AA 6, 439).
221
Refl 7181 AA 19, 265.
222
MdS AA 6, 439.
223
OP AA 21, 141.
362 Praktischer Glaube
Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und
der Dogmatism der Metaphysik [...] ist die wahre Quelle alles der Moralität wi-
derstreitenden Unglaubens[.]226
224
SF AA 7, 9f.
225
MdS AA 6, 438f.
226
KrV B xxx. Der von Kant explizit gemachte Sinn dieser Aussage ist freilich, dass der
spekulativen Vernunft ihre Anmaßungen genommen werden müssen, damit die Naturleh-
re und der Naturmechanismus in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt werden können.
Der Glaube der Praxis bei Kant 363
Wieso muss das Wissen aktiv aufgehoben werden, um Platz zum Glau-
ben zu bekommen? Wieso ist der metaphysische Dogmatismus mit sei-
ner Behauptung der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele
die Quelle „alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens“? Im Fol-
genden wird dafür argumentiert, dass die Antwort auf beide Fragen in
der Autonomie der praktischen Vernunft zu suchen ist: Ein (vermeintli-
ches) Wissen von Gott würde zwangsläufig die Möglichkeit der morali-
schen Autonomie des Menschen aufheben. Diese moralische Autonomie
ist jedoch die einzig legitime Quelle eines Glaubens an Gott.
Resümieren wir hierfür einige bisher entwickelte Ergebnisse: Aus-
gangspunkt für die Entwicklung von Kants kritischem Glaubensbegriff
sind die unbedingten Geltungsansprüche der praktischen Vernunft. Da-
mit ist zunächst einmal impliziert, dass die Geltung moralischer Gesetze
von der Existenz Gottes unabhängig ist. Daneben ist auch die Möglich-
keit, moralisch zu handeln, vom theoretischen Fürwahrhalten der Exis-
tenz Gottes unabhängig. Anders als John Locke, der zwar nicht die Exis-
tenz Gottes selbst, aber doch den Glauben an die Existenz Gottes zu ei-
ner Voraussetzung menschlicher Moralität macht, ist der epistemische
Glaube an Gott für Kant also keine notwendige Triebfeder moralischen
Handelns.227 Wäre die Möglichkeit moralischen Handelns abhängig vom
Glauben an ein transzendentes Wesen, so würde dies die Möglichkeit
moralischer Autonomie aufheben. Wer nur auf Grund des Glaubens an
einen allmächtigen Richtergott moralisch handelt, der handelt überhaupt
nicht moralisch. Der These vom religiösen Glauben als Voraussetzung
der Moralität setzt Kant also eine Moralkonzeption entgegen, nach der
sich der Mensch selbst als autonome Ursache der moralischen Normen
für sein Handeln verstehen muss und auch als derjenige, der die Zwecke
der Vernunft zu realisieren hat.228 Als praktisches Vernunftwesen kann
der Mensch seine Pflicht selbständig erkennen und bedarf keiner weite-
ren Triebfeder, um selbige zu tun.229 Es bedarf so auch keines Glaubens
an Gott, um moralisch und tugendhaft sein zu können. 230 Die einzig
notwendige und zugleich legitime Triebfeder moralischen Handelns ist
die Achtung vor dem Gesetz und nicht die Verantwortung gegenüber
227
KU AA 5, 451ff. So können nach Kant auch Atheisten in der Gesellschaft geduldet
werden, sofern sie Gott nicht aus einem moralischen Grund, sondern aus einem logischen
Grund leugnen (V-PP/Herder AA 27,1, 11).
228
„Das Thun muß als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte
entspringend und nicht als Wirkung vom Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursa-
che, in Ansehung deren der Mensch sich leidend verhielte, vorgestellt werden“ (SF AA 7,
42f.).
229
RGV AA 6, 3.
230
Zu Kants Kritik des Atheismus vgl. allerdings Denis 2003.
364 Praktischer Glaube
1. Die unbedingte Geltung der Moral und ihre unbedingte Verbindlichkeit für
den Menschen setzen weder die Existenz noch die Idee Gottes voraus.
2. Wer die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes aus der Idee Gottes herlei-
tet, pervertiert die Verbindlichkeit des Gesetzes.
Aus der bisher festgestellten Unbedingtheit der Moral folgt jedoch noch
nicht, dass man das Wissen von Gott notwendig aufheben muss, damit
moralische Autonomie möglich ist. Diese These besagt vielmehr, dass die
kritische Reflexion auf die Geltungsansprüche der theoretischen Ver-
nunft, in der sich das Scheitern der natürlichen Theologie als einem spe-
kulativen Wissen von Gott zeigt, Voraussetzung für die menschliche
Möglichkeit moralischer Autonomie ist. Erst diese Einsicht macht Platz
für moralische Autonomie und damit für den moralischen Vernunft-
glauben. Das wollen wir im Folgenden ausführen.
Dass die Beweise für die Nicht-Existenz Gottes zurückgewiesen wer-
den müssen, damit überhaupt ein moralischer Vernunftglaube möglich
ist, ist in einem sehr trivialen Sinne offensichtlich: Dasjenige, dessen
Nicht-Existenz gewusst wird, an dessen Existenz kann man nicht mehr
glauben (nicht einmal praktisch), weil man nach Kant dann nicht mehr
nur subjektive Gründe des Fürwahrhaltens hat, sondern objektiv zurei-
chende Gründe. Warum aber ist es notwendig für die Möglichkeit der
Moral, die spekulative Unbeweisbarkeit der „Kardinalsätze unserer rei-
nen Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben“234 zu demonst-
231
TP AA 8, 282.
232
RGV AA 6, 3.
233
RGV AA 6, 3.
234
KrV B 769/A741.
Der Glaube der Praxis bei Kant 365
235
KrV B 769/A 741.
236
KrV B 395.
237
KrV B 492/A 464.
238
KpV AA 5, 147.
239
Vgl. hierzu auch Sedgwick 2008, 13.
240
KpV AA 5, 147.
366 Praktischer Glaube
Aus dem bisher Entwickelten wird klar, dass die Idee Gottes in ihrem
praktischen Gebrauch eine reine Setzung der praktischen Vernunft ist
und deshalb Religion auf Moral reduziert werden kann. Für das religiöse
Bewusstsein muss dieses Resultat jedoch wenig anschlussfähig bleiben.246
So stellt sich die Frage nach dem Mehrwert, den Kant der Religion ge-
genüber der Moral einräumt, bzw. die Frage, ob es für Kant einen Un-
terschied zwischen praktischem und religiösem Glauben gibt. Kant
selbst ist in dieser Frage leider nicht unbedingt eindeutig. Manche seiner
Aussagen reduzieren den religiösen Glauben vollständig auf die Moral
(„Religion ist Gewissenhaftigkeit“247), andere Stellen hingegen etablieren
die Religion als eigenständigen „Vernunftbegriff a priori“.248 Im Folgen-
den werden wir den Glaubensbegriff Kants so rekonstruieren, dass Reli-
gion als eigenständiger Vernunftbegriff für endliche Vernunftwesen ge-
dacht werden kann, um das religiöse Bewusstsein so in Kants Aufklä-
rungsprojekt zu integrieren. Zu diesem Zweck entwickeln wir einen
Mehrwert des religiösen gegenüber dem moralischen Glauben. Dieser
Mehrwert besteht nach unserer Deutung in der moralisch gerechtfertig-
ten Hoffnung auf die reale Verwirklichung der moralischen Zwecke.249
Dazu gehen wir in drei Schritten vor: Zunächst zeigen wir, dass der reli-
giöse Glaube eine Hoffnung ist, die nur moralisch gerechtfertigt werden
kann (a). Dann explizieren wir den religiösen Charakter dieser Hoffnung
(b). Zuletzt bestimmen wir den Gegenstand dieser Hoffnung (c).
Moral also führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines
machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen erweitert, in
dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der
Endzweck des Menschen sein kann und soll.250
246
Vgl. etwa Pelluchon 2014, 44.
247
OP AA 21, 81. Der religiöse Glaube ist ein moralischer. Die Theologie, die diesen
Glauben zum Gegenstand hat und von der sittlichen Ordnung auf Gott als freien und
vernünftigen Welturheber schließt, nennt Kant „Moraltheologie“ (KrV B 660/A 632 vgl.
auch: OP AA 21, 101). Etwas ambig ist folgende Stelle: „Es ist ein Gott. – Denn es ist ein
categorischer Pflichtimperativ vor dem sich alle Knie beugen“ (ibid., 64).
248
RGV AA 6, 12; vgl. hierzu: Dierksmeier 1998; Palmquist 1992; ders. 2016.
249
Nach Palmquist vermittelt RGV damit wie KU zwischen Natur und Freiheit
(Palmquist 2016, 5).
250
RGV AA 6, 6; vgl. auch: TG AA 2, 372f.; Guyer 1992a, 9.
368 Praktischer Glaube
251
So schreibt Kant: Die Annahme Gottes ist erforderlich, um das höchste Gut als Rea-
lität und nicht nur als ein Ideal zu verstehen (WDO AA 8, 139; vgl. auch: TP AA 8, 309).
Dagegen: Ferreira 2013, 20.
252
Hierbei hat er sogar zwei Möglichkeiten: Er kann es einfach nicht affirmativ für
wahr halten, dass diese Bedingungen gegeben sind (logischer Agnostiker), oder er kann es
affirmativ für wahr halten, dass diese Bedingungen nicht gegeben sind (logischer Atheist).
Der Glaube der Praxis bei Kant 369
praktischen, aber keinen „religiösen“ Glauben. Dies lässt sich nun auf
die Mitwirkung an der Realisierung des höchsten Guts anwenden: Das
moralisch selbstbestimmte Subjekt muss in jedem Fall so handeln, als
wären die Bedingungen der Verwirklichung des höchsten Guts gegeben,
da ihn hierzu die Pflicht nötigt. Damit muss er moralisch notwendig so
handeln, als ob Gott existiert (d. h. als praktischer Theist). Insofern muss
man ihm den moralischen Glauben an Gott zuschreiben. Dies sagt aber
nichts über seine epistemischen Überzeugungen aus, außer, dass er kein
objektives Wissen von Gottes Nicht-Existenz besitzen kann.253 Insofern
der Handelnde seiner Pflicht gehorcht, spielt es für seinen moralischen
Glauben an das Dasein Gottes also keine Rolle, ob er als Agnostiker das
Dasein Gottes nicht affirmativ für wahr hält oder ob er sogar als logi-
scher Atheist das Nichtdasein Gottes affirmativ für wahr hält. Was man
ihm dann jedoch nicht zuschreiben kann, ist die Hoffnung auf die tat-
sächliche Realisierung des höchsten Guts und damit eben auch nicht den
religiösen Glauben an das Dasein Gottes.254 Unsere Differenzierung er-
laubt es deshalb, das Selbstverständnis des moralischen Atheisten bzw.
Agnostikers zu affirmieren.255
Es stellt sich freilich die Frage nach textimmanenten Gründen, Kant
diese Differenzierung in der Weise zu unterstellen, dass er sie aus syste-
matischen Gründen besser getätigt hätte. Anders gefragt: Was ist mit die-
ser Differenzierung im Hinblick auf eine adäquate Interpretation von
Kants Denken gewonnen? Folgende Argumente scheinen hierfür sinn-
voll:
1. Kant unterscheidet die Frage „Was soll ich tun?“ von der Frage
„Was darf ich hoffen?“.256 Letztere weist er der Religion zu und stellt
fest, sie erst in RGV beantwortet zu haben.257 Insofern kann sie nicht be-
reits in der früheren Postulatenlehre beantwortet worden sein. Der mo-
ralische Glaube ist Gegenstand der Moralphilosophie, Gegenstand der
Wüsste er hingegen, dass die Bedingungen definitiv nicht gegeben sind, könnte er nur
noch Lebensrettung „spielen“.
253
Diese Möglichkeit schließt Kant bereits in KrV aus, da der Begriff Gottes keinen lo-
gischen Widerspruch in sich enthält und ein sonstiger Beweis für die Nichtexistenz Gottes
nicht denkbar ist.
254
So schreibt Kant in einer Reflexion: „Der Gottesleugner handelt unklug, wenn ers
wagt aufs Daseyn Gottes, oder wie ein Bösewicht.“ (Refl 4886 AA 18, 19.)
255
Da Wood nicht zwischen dem eigentlichen moralischen Glauben und dem mora-
lisch begründeten religiösen Glauben unterscheidet, schreibt er auch dem Agnostiker Re-
ligiosität zu (Wood 2002, 96).
256
Palmquist 1992, 135.
257
Brief an Stäudlin 4.5.1793 AA 11, 429.
370 Praktischer Glaube
retten, weil die Moralität ohne Hinblick auf ihre Konsequenzen an sich
einen unbedingten Wert besitzt. Aber als empirische Wesen kann Ver-
zweiflung unser Engagement vermindern oder lähmen.262 Es sind also
zwei unterschiedliche Einstellungen, so zu handeln, als wäre das Errei-
chen eines Ziels möglich, solange nichts seine Unmöglichkeit beweist,
oder in der tatsächlichen Hoffnung zu handeln, das Erreichen des Ziels
wäre möglich.263 Erlaubt ist solch eine Hoffnung genau dann, wenn sie
uns nicht aus unserer moralischen Verantwortung entlässt, sondern auf
dem Bewusstsein unserer moralischen Verantwortung gründet.
2. Ein zweites, textimmanentes Argument für die Unterscheidung des
moralischen vom religiösen Glauben ist Kants bereits thematisierte, et-
was changierende Applikation der Kategorie des Subjektiven auf den
Glauben an Gott, die der objektiven Realität, die er dieser Idee anderer-
seits zuschreibt, etwas widerstreitet. So bezeichnet Kant den Glauben in
KrV als ein Fürwahrhalten, das „subjektiv zureichend“ ist und „zugleich
für objektiv unzureichend gehalten“ wird, sich also seiner eigenen objek-
tiven Unzulänglichkeit bewusst ist.264 Dies können wir nun so auflösen,
dass die Objektivität ganz dem rein moralischen Glauben und der Wil-
lensbestimmung vorbehalten ist, die Subjektivität hingegen die zwar mo-
ralisch gerechtfertigte, aber nicht deduzierbare Hoffnung auf die Reali-
sierung des höchsten Guts und den Glauben an das Dasein seiner Bedin-
gungen bezeichnet. Dieser Glaube hat bloß subjektive Geltung, weil er
nicht objektiv verpflichtend und willensbestimmend, sondern eine epi-
stemische Überzeugung ist. Die Annahme Gottes ist eine bloß subjekti-
ve Notwendigkeit (ein notwendiges Vernunftbedürfnis) und keine
Pflicht.265 Denn da die Vernunft das höchste Gut als letzten Zweck mo-
ralischen Handelns setzt, kann sie seiner Realisierung nicht gleichgültig
gegenüberstehen. Sie besitzt notwendig ein Interesse an seiner Verwirk-
lichung. Die Hoffnung auf seine Realisierung ist deshalb keine beliebige
Hoffnung unter anderen, die der Mensch haben kann oder nicht, son-
dern eine Hoffnung, die durch die praktische Vernunft begründet ist. In-
sofern ist auch der Glaube an das Dasein Gottes als notwendiger Vo-
262
So heißt es in Anth, dass eine durch keine Hoffnung gelinderte, „versinkende Trau-
rigkeit“, das Leben selbst bedroht (AA 7, 254). Hoffnung ist hingegen Freude „über das
Künftige“ (Refl 1072 AA 15, 476).
263
„Die moralische Gesetze haben wohl das principium obligandi in sich, aber
obligiren nicht ohne religion, weil sie nicht durch ihre Natur Verheißung der
Glükseligkeit bey sich führen.“ (Refl 7279 AA 19, 301.) Die Funktion des Glaubens für
die Hoffnung wird ignoriert, wenn man bloß die praktische Relevanz des Glaubens als
notwendiger Voraussetzung moralischen Handelns sieht (etwa Neiman 1994, 160f.).
264
KrV B 850/A 822.
265
KpV AA 5, 125.
372 Praktischer Glaube
277
Gründet die theologische Moral die Sittlichkeit unzulässiger Weise auf das Dasein
Gottes, so gründet die Moraltheologie die Annahme des Daseins Gottes auf die Sittlich-
keit (KrV B 660/A 632).
278
Der religiöse Glaube kann also ausschließlich moralisch gerechtfertigt werden (Bei-
ser 2006, 591). Dagegen versteht Chignell 2013 das „Dürfen“ in „Was darf ich hoffen?“
ausschließlich als rationale Rechtfertigung dieser Hoffnung. Damit verwandelt er die Fra-
ge in ein epistemisches Problem, auch wenn die rechtfertigenden Gründe moralischer Na-
tur sind.
279
TP AA 8, 281.
280
1770/1771 schreibt Kant diesem motivationalen Einfluss noch den Status der Not-
wendigkeit zu: „Es ist wahr: ohne Religion würde die moral keine triebfedern haben, die
alle von der Glükseeligkeit müssen hergenommen seyn.“ (Refl 6858 AA 19, 181.) Vgl.
hierzu auch Werkmeister 1979, 25.
281
Guyer 2000, 336.
282
Guyer 2000, 364f. Hieraus folgt jedoch nicht, dass die Postulatenlehre in den Be-
reich menschlicher Psychologie fällt (so ibid., 367). Denn die Postulatenlehre bezeichnet
nur den Sachverhalt, so zu handeln, als ob Gott wirklich wäre. Betrachten wir den Glau-
ben als religiösen, so ist er zunächst nur ein Resultat aus der moralischen Postulatenlehre
und unserem Vernunftinteresse an der Realisierung unserer moralischen Zwecke. Aller-
dings hat der religiöse Glaube psychologische Auswirkungen auf unseren empirischen
Charakter.
Der Glaube der Praxis bei Kant 375
Dieser ist also nicht geboten, sondern als freiwillige, zur moralischen (gebote-
nen) Absicht zuträgliche, überdem noch mit dem theoretischen Bedürfnisse der
Vernunft einstimmige Bestimmung unseres Urtheils, jene Existenz anzunehmen
und dem Vernunftgebrauch ferner zum Grunde zu legen, selbst aus der morali-
schen Gesinnung entsprungen; kann also öfters selbst bei Wohlgesinnten biswei-
len in Schwanken, niemals aber in Unglauben gerathen.284
287
Hier irren Epikureismus und Stoizismus, die Moral und Glückseligkeit qua Natur
verbinden und damit die „moral von der religion unabhängig machen“ (Refl 6876 AA 19,
188). Da die Natur diese notwendige Verbindung nicht enthält, kann nur die Religion
Hoffnung auf die Realität des summum bonum geben.
288
Refl 8106 AA 19, 649; vgl. auch Klemme 1999, 128; 143.
289
Briefentwurf an Lavater nach dem 28.4.1775 AA 10, 180.
290
„Unter dem moralischen Glauben verstehe ich das unbedingte Zutrauen auf die
göttliche Hülfe, in Ansehung alles guten, was, bey unsern redlichsten Bemühungen, doch
nicht in unserer Gewalt ist.“ (AA 10, 178.)
291
RGV AA 6, 52.
Der Glaube der Praxis bei Kant 377
Wir haben soeben festgestellt: Die Religion dient der für den Menschen
als Sinnenwesen notwendigen Hoffnung auf die Realisierung der Morali-
tät. Religion ist damit keine Voraussetzung der Moral, sondern Resultat
einer autonomen Setzung der praktischen Vernunft, die in ihrer Selbstre-
flexion die Grenzen ihrer eigenen Wirkmächtigkeit anerkennt. Um diese
religiöse Hoffnung besser in das Aufklärungsprojekt Kants integrieren
zu können, wollen wir nun ihren Gegenstand, das höchste Gut, genauer
betrachten. Hierzu können wir von der Interpretation des höchsten
Guts durch Jacobi ausgehen:
Wie viele Interpreten Kants versteht Jacobi Glückseligkeit und Pflicht
als schlechthin heterogene Elemente. In dieser Trennung sieht Jacobi so-
gar „den wahren Geist der Kantischen Moralphilosophie“.294 Die Pflicht
fordere bei Kant unbedingten Gehorsam. Andererseits könnten wir aber
unseren Trieb nach Glückseligkeit nicht auslöschen. Damit müsse sich
die Willensfreiheit zwischen Pflicht und Glück entscheiden. Die Idee der
moralischen Regierung Gottes solle dann zwischen diesen heterogenen
Elementen zumindest äußerlich wieder vermitteln. 295 Die postulierte
292
RGV AA 6, 118.
293
RGV AA 6, 20.
294
ZEeD WW 1, 304.
295
Wenn sich Tugend und Glückseligkeit in der Idee des höchsten Guts bereits ohne
Vermittlung durch ein Drittes wie Grund und Folge im höchsten Gut vereinigen ließen,
378 Praktischer Glaube
dann müssten sie in irgendeiner Weise homogen sein. Die qualitative Differenz würde
aufgehoben (GD JW 3, 63).
296
Krit JW 2,1, 328; vgl. auch Kladde V, 441 Schneider 1986, 212.
297
Vgl. etwa: Neiman 1994, 174; Allison 1996, 114.
298
GMS AA 4, 418.
299
KrV B 834/A 806.
300
GMS AA 4, 418.
301
KU AA 5, 453; 430.
302
GMS AA 4, 418; KpV AA 5, 36.
303
KpV AA 5, 25.
304
KpV AA 5, 120f.; Idee AA 8, 21.
Der Glaube der Praxis bei Kant 379
bunden“ 305 und Freiheit die Ursache der Glückseligkeit. 306 Denn
menschliches Glück kann nicht losgelöst von Vernunft und Freiheit ge-
dacht werden, sonst handelt es sich nur um Wohlbefinden.307 Menschli-
che Glückseligkeit hat ihren Wert anders als das bloße Wohlbefinden in
ihrem Ursprung: der menschlichen Freiheit.308
Der Mensch soll nach dem Plan der Natur nur die Glückseligkeit erlan-
gen, „die er sich selbst frei von Instinct, durch eigene Vernunft, ver-
schafft hat“.310 Erst wenn er sich zur größtmöglichen „Vollkommenheit
der Denkungsart“ „emporgearbeitet“ hat, soll er auch größtmögliche
Glückseligkeit (als Erfüllung seiner Zwecke) erlangen.311 Glückseligkeit
besteht für Kant also nicht in einer Akkumulation menschlicher Vergnü-
gungen. 312 Vielmehr ist erst „die durch die Vernunft belehrte Gesin-
nung“ der Ermöglichungsgrund der Glückseligkeit. 313 So differenziert
Kant auch begrifflich zwischen Gut und Wohl bzw. zwischen „gut“ und
„angenehm“.314 Die von Gott zu bewirkende Glückseligkeit des Men-
schen ist so nicht als der ewige Besitz „der Zufriedenheit mit seinem
physischen Zustande“, 315 sondern als kontinuierliche Verwirklichung
seiner sich im Guten fortentwickelnden Gesinnung und damit seiner
Selbstbestimmung zu verstehen.316 Menschliches Glück als Moment des
höchsten Gutes ist im Unterschied zum bloß sinnlichen Wohlbefinden
305
Kleingeld 1995a, 145.
306
KrV B 837/A 809. Nach Förster hingegen ist der Glücksbegriff in KrV noch
„durchgängig empirisch gefaßt“ (Förster 1998, 348).
307
Himmelmann 2003, 207.
308
In Reflexion 6867 spricht Kant so von einer „Epigenesis der Glükseeligkeit nach all-
gemeinen Gesetzen der freyheit“ (AA 19, 186). Guyer 2000 zeigt, wie sich Kants frühe
Position, in der die Vernunft nur der Systematisierung der Glückseligkeitszwecke dient,
hin zu einer Glückseligkeit wandelt, in der der Freiheit selbst der zentrale Wert zukommt.
309
Refl 7202 AA 19, 276.
310
Idee AA 8, 19.
311
Idee AA 8, 20.
312
KU AA 5, 208.
313
Refl 7202 AA 19, 277; vgl. hierzu: Guyer 2000, 107.
314
KpV AA 5, 59ff ; Kleingeld 2016, 36.
315
RGV AA 6, 67.
316
RGV AA 6, 67.
380 Praktischer Glaube
Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Exis-
tenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstim-
mung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Be-
stimmungsgrunde seines Willens.319
326
Vgl. auch Guyer 2000, 118f.
327
Unter Berücksichtigung der Naturgesetzformel könnte man das höchste Gut viel-
leicht auch so formulieren, dass der implizite Wille des moralisch Handelnden, die Maxi-
me seiner Handlung möge ein universelles Naturgesetz werden (GMS AA 4, 421), tat-
sächlich zum Naturgesetz wird.
328
Vgl. ebenso: Kleingeld 2016, 40.
329
RGV AA 6, 93.
330
OP AA 21, 117.
331
Dies schließt freilich auch das einzelne Subjekt ein. Damit dieses seine eigene
Glückseligkeit befördern darf, muss es zuvor jedoch seinen Standpunkt erweitern und die
anderen Subjekte mit einschließen (KpV AA 5, 34).
Der Glaube der Praxis bei Kant 383
Der Gebrauch der freyheit, der ein Grund der Glükseeligkeit nach einer allge-
meinen Regel ist, ist die würdigkeit glüklich zu seyn. Uns liegt es ob, die
Glükseeligkeit einer Regel zu unterwerfen.333
Damit steht die Idee des höchsten Guts in engem Zusammenhang mit
den unvollkommenen Pflichten, die uns auffordern, unsere eigenen Ta-
lente zu kultivieren und die Glückseligkeit Anderer zu befördern. Denn,
auch wenn Kant dies nicht explizit sagt, diese Pflichten können ja nur
insofern Pflichten sein, sofern wir unsere Talente und die Glückseligkeit
anderer unter dem Gesichtspunkt der Moralität bzw. Freiheit betrach-
ten. Denn ganz offensichtlich wollen Menschen ja viele Dinge, die in
Widerspruch zur Moralität stehen, insofern sie der Autonomie dritter
oder ihrer eigenen widersprechen. Die moralisch geforderte Beförderung
der Glückseligkeit anderer kann deshalb nicht bedeuten, ihnen undiffe-
renziert in der Erfüllung ihrer unmittelbaren Wünsche behilflich zu sein.
Deshalb ist es eben so wichtig, dass die Idee des höchsten Guts die Vo-
raussetzung der Glückswürdigkeit ist. Dies lässt der Ausübung unvoll-
kommener Pflichten aber immer noch einen weiten Ermessensraum da-
332
GMS AA 4, 393.
333
Refl 6844 AA 19, 177. Vgl. hierzu: Werkmeister 1979, 19f.
384 Praktischer Glaube
für, auf welche Weise man die Glückseligkeit anderer befördert. Dass al-
le vom guten Willen verschiedenen Glücksgüter einen ambivalenten
Charakter haben, stellt Kant gleich zu Beginn der GMS fest. Sie können
von ihrem Besitzer nämlich zum Guten und zum Schlechten gebraucht
werden. Wer glückswürdig ist, ist gewissermaßen auch der endlichen
Güter würdig, das heißt er gebraucht diese ambivalenten Güter nicht
zum Schlechten, sondern zum Guten, das heißt zur Beförderung der
menschlichen Autonomie.334 Insofern ist die Moralität die Bedingung da-
für, dass die Glückseligkeit als Realisierung des angestrebten Objekts
überhaupt als Gut gelten kann.335 Umso mehr gilt dies für Güter, die nur
relativ auf die Glückseligkeit gut sind. Es gibt also neben dem obersten
Gut keine anderen Güter, die unabhängig von ihrer Beziehung auf das
moralisch Gute gut sind, sondern sie sind nur in Abhängigkeit vom mo-
ralisch Guten gut.
Zentral für die Glückswürdigkeit ist deshalb von Beginn an nicht die
Negation der eigenen Neigungen, sondern die Unterordnung der Selbst-
liebe unter das moralische Gesetz.336 Derjenige, dessen primärer Zweck
das Fortschreiten seiner selbst und aller anderen in der moralischen Ge-
sinnung ist, will alles unter dem Aspekt dieses Fortschreitens. Unter die-
sem Zweck betrachtet er auch die Beförderung der Glückseligkeit und
Talente anderer: Diese sind ihm nur Instrument, damit der Andere seine
und die Autonomie der anderen realisieren kann. Damit erscheinen auch
moralisch indifferente Talente unter dem Aspekt autonomer Lebensfüh-
rung. So ist es eben bedeutend leichter, ein mündiger Bürger zu sein,
wenn man nicht in ökonomisch prekären Verhältnissen lebt. Freiheit im
Denken setzt ganz offensichtlich auch Bildung und die Entwicklung in-
tellektueller Fähigkeiten voraus. Die Maxime, autonom zu denken, ist
nun aber eine moralische Forderung an alle Menschen. Deshalb müssen
wir auch all die Bedingungen bereitzustellen versuchen, unter denen je-
des Individuum diese Autonomie realisieren kann. Hiermit erscheint
dann der Anspruch Kants, unter die er die intellektuelle Mündigkeit
stellt, unter neuen Vorzeichen. Dass de facto nicht jeder fähig ist, selbst
zu denken, heißt nur, dass die empirischen Bedingungen vieler Men-
schen ihnen dies verunmöglichen. Wir müssen es uns aber als unbeding-
ten Zweck voraussetzen, dass sie ihr Selbstdenken realisieren können.
Kant fordert mit dem höchsten Gut also implizit soziale Reformen: Da
die intellektuelle Freiheit jedes Einzelnen unbedingt gefordert ist, müs-
334
KpV AA 5, 93; GMS AA 4, 399.
335
KpV AA 5, 111.
336
RGV AA 6, 36.
Der Glaube der Praxis bei Kant 385
337
Es dürfte nicht allzu schwer sein, Elemente dieser Rahmenbedingungen zu konkre-
tisieren: universelle Schulbildung und ökonomische Unabhängigkeit seien nur zwei ge-
nannte Elemente.
338
KpV AA 5, 111–113; 117; Refl 6607 AA 19, 106f.; Förster 1998, 342.
339
So heißt es in Refl 6857: „Die würdigkeit glüklich zu seyn besteht im Verdienst,
welches die Handlungen um die Glükseeligkeit haben, die, so viel an der freyheit liegt,
auch wirklich, wenn sie allgemein wären, sich so wohl als andre glüklich machen wür-
den.“ (AA 19, 181.)
340
Die Erkenntnis der Verbindlichkeit des Sittengesetzes muss der aus ihr resultieren-
den Zufriedenheit vorhergehen. Dieses moralische Gefühl muss nach Kant sogar kulti-
viert werden (KpV AA 5, 38).
341
Kleingeld 1995, 107.
386 Praktischer Glaube
Mit der Hoffnung auf die Realisierbarkeit des höchsten Guts ist der reli-
giöse Glaube die hoffnungsvolle Einstellung gegenüber dem eigenen mo-
ralischen Schicksal und dem der gesamten Menschheit. 344 Gegenstand
der religiösen Hoffnung ist dementsprechend die harmonische Austei-
lung von Glückseligkeit für das Individuum im proportionalen Verhält-
nis zu seiner individuellen Glückswürdigkeit. In KrV ist nun der eigent-
liche Gegenstand der Religion als der Verbindung von Theologie und
Moral die Unsterblichkeit. 345 Das legt nahe, dass die Realisierung des
höchsten Guts offensichtlich nicht im Diesseits erwartbar ist und der
Mensch selbige nur in einem Jenseits erhoffen kann. Die religiöse Hoff-
nung wird die individuelle Verbindung von Glückswürdigkeit und
Glückseligkeit also erst im Jenseits erwarten. Dies legt nahe, dass sich
zumindest nach KrV der spezifisch religiöse Charakter dieser Hoffnung
aus ihrem Jenseitsbezug ergibt.
Diesen ursprünglichen Gedanken hat Kant nach Ansicht nicht weni-
ger Interpreten in seinen späteren Schriften aufgegeben und durch den
Gedanken einer Realisierung des höchsten Guts in einem diesseitigen
historischen Prozess, die nur noch für die Gattung erwartet werden darf,
ersetzt. Hieraus wird nun von manchen Autoren geschlossen, die Rolle
der Unsterblichkeit als notwendiger Idee würde aus dem Denken Kants
verschwinden und die Idee Gottes auf die Idee der Vernunft in der Ge-
schichte reduziert.346 Die religiöse Hoffnung auf Unsterblichkeit scheint
damit durch die reflektierende Betrachtung der Universalgeschichte er-
setzt zu werden, die ohne jegliche religiöse Konnotation einen hoff-
nungsvollen Blick auf die Zukunft freigibt und eine naturimmanente
342
KpV AA 5, 112.
343
KpV AA 5, 110f.
344
O’Neill 1996, 281.
345
KrV B 395.
346
Förster 1998, 345f.; Kleingeld 2016, 34; dies. 1995b, 104 Dagegen: Beiser 2006, 606.
Vgl. hierzu: KrV B 836f./A 808f.; RGV AA 6, 5; TP AA 8, 280.
Der Glaube der Praxis bei Kant 387
347
Yovel 1980, 72; Idee AA 8, 30; vgl. hierzu auch Neiman 1994, 178; Makkreel 1990,
140; ders. 1991, 58.
348
Förster 1998, 349; Brandt 2003a, 100. Anth AA 7, 329. „Am Menschen […] sollten
sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in
der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln.“ (Idee AA 8, 18.) Daraus
folgt jedoch, dass die früheren Individuen nur um der späteren willen da sind (ibid., 20;
23).
349
Jerusalem JubA 8, 162–164.
350
Vgl. auch Wood 2009, 6 (Manuskript).
351
RGV AA 6, 20.
352
So etwa Moran 2012, 50; Taylor 2010, 7f.
388 Praktischer Glaube
353
RGV AA 6, 67.
354
RGV AA 6, 72.
355
RGV AA 6, 76.
356
RGV AA 6, 72.
357
RGV AA 6, 72f. „Sinnesänderung ist [...] ein Ausgang vom Bösen und ein Eintritt
ins Gute, das Ablegen des Alten und das Anziehen des neuen Menschen“ (ibid., 74).
Der Glaube der Praxis bei Kant 389
358
Michalson 1990, 4.
359
Dierksmeier 1998, 77ff. Dierksmeier bezeichnet dies als den „transzendentalen Kon-
flikt“ des Menschen als reflexives, „zugleich unbedingtes und bedingtes Wesen“ (ibid.,
77).
360
RGV AA 6, 116.
361
Refl 6882 AA 19, 191.
362
RGV AA 6, 72.
363
RGV AA 6, 74.
364
Noch in V-Anth/Pillau begründet Kant übrigens ein Recht des gebesserten Delin-
quenten auf Straferlass und über die Unvollkommenheit der Identität des menschlichen
Selbst (AA 25, 736).
365
RGV AA 6, 48.
390 Praktischer Glaube
366
Wolterstorff 2009, 57f.
367
Vgl. auch Michalson 1990, 89f.
368
Nach Wolterstorff hat der Mensch, der wirklich einen guten Charakter entwickelt
hat, also einen Anspruch auf Vergebung (Wolterstorff 2009, 61). Dies würde aber die kri-
tische Perspektive Kants überschreiten. Wir können nur auf Vergebung hoffen. Vgl. hier-
zu auch Duplá 2016, 258.
369
Refl 8085 AA 19, 629.
370
RGV AA 6, 44.
Der Glaube der Praxis bei Kant 391
Aber gerade diese Hoffnung ist das spezifische Moment der religiösen
Perspektive, das sie von der rein moralischen Perspektive unterscheidet.
Diese „Hoffnung auf die Lossprechung des Menschen von seiner
Schuld“371 macht jedoch nur Sinn für denjenigen, in dem die moralisch
gute Gesinnung schon wirklich geworden ist. Die „Religion des guten
Lebenswandels“ 372 besteht also in folgender Hoffnung: Wenn der
Mensch alle Anstrengung aufbringt, ein besserer Mensch zu werden und
somit seine Anlage zum Guten nutzt, dann wird Gott das, was er nicht
vermag, ergänzen.373 Damit zeigt sich, dass Kant in RGV den religiösen
Charakter des Glaubens und den Jenseitsbezug der Hoffnung beibehält.
Dies lässt sich in folgender Weise mit den geschichtsphilosophischen Re-
flexionen Kants in Einklang bringen: Die Geschichtsbetrachtung der re-
flektierenden Urteilskraft mit dem Fortschritt der Spezies wird im reli-
giösen Glauben durch die individuelle Hoffnung auf moralische Vollen-
dung im Jenseits erweitert. Stellen aus OP legen sogar nahe, dass der
phänomenale Fortschritt der Spezies gewissermaßen ein Symbol für die
Vollendung des individuellen moralischen Fortschritts im Jenseits (der
noumenalen Welt) ist.374 Kant selbst stellt nämlich fest, dass in der histo-
rischen Realisierung des höchsten Guts ein Problem für das menschliche
Gerechtigkeitsverständnis liegt. Dieser augenscheinliche Mangel an Ge-
rechtigkeit drängt sich nach Kant dem menschlichen Gemüt als das
größte Problem in der Theodizee auf.375 Denn wenn nur eine zukünftige
Menschheit des höchsten Guts und des moralischen Fortschritts teilhaf-
tig wird, dann sind alle vorhergehenden Generationen von dieser Ge-
rechtigkeit ausgeschlossen. Die älteren Generationen wären dann nur
Mittel zum Zweck für die Realisierung der Glückseligkeit und Glücks-
würdigkeit der späteren Generationen. Es erschiene uns jedoch unge-
recht, dass einer Unzahl verlorener Generationen die Vollendung von
Glückswürdigkeit und entsprechende Austeilung von Glückseligkeit
versagt bliebe, da dies dem Begriff des Menschen als Zweck an sich wi-
derspricht. Diese Ungerechtigkeit lässt sich jedoch durch das Postulat
der Unsterblichkeit und die Annahme einer jenseitigen Realisierung des
höchsten Guts auflösen.376 Das höchste Gut hat damit einen Doppelcha-
rakter: Es soll für alle zukünftig Lebenden in der Geschichte (histori-
371
RGV AA 6, 76.
372
RGV AA 6, 51.
373
RGV AA 6, 52.
374
OP AA 21, 345f.
375
MpVT AA 8, 260.
376
Idee AA 8, 20.
392 Praktischer Glaube
sches Projekt einer Gemeinschaft von Akteuren377), aber eben auch für
jeden Einzelnen individuell im Jenseits realisiert werden.378
377
Nach Moran 2012, 51 ist dies die reife Position Kants. Das höchste Gut wird auf der
Erde realisiert (ibid., 243).
378
Nach Moran ist dies hingegen nur Kants frühe Sicht in KpV (Moran 2012, 52).
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 393
Mit Kant glaubt sich Jacobi nicht nur darin einig, dass „Gott, Freyheit,
Unsterblichkeit“ die „wesentlichen Gegenständ[e] der Philosophie“
sind, sondern auch darin, dass diese nicht im Modus des Wissens, son-
dern allein im Modus des Glaubens erfasst werden können. 10 So vertei-
digt er in WMB (1786) seine Glaubenslehre gegen den Vorwurf der Ver-
nunftlästerung und des blinden Fideismus mit Verweis auf die Bedeu-
tung des Glaubens in KrV:
Wie, Darum? – und Kant, der dasselbige seit mehr als sechs Jahren lehrt: hat die
Vernunft nicht gelästert, ist kein Schwärmer, will nicht einem blinden oder
Wunderglauben forthelfen?11
14
WDO AA 8, 134.
15
WDO AA 8, 143.
16
WDO AA 8, 134.
17
Allerdings distanziert sich Kant in einem Brief an Jacobi vom 30.8.1789 von der Ber-
liner Polemik gegen Jacobi (AA 11, 77).
18
Dagegen: KFSA 8, 442; ebenso: ibid., 588-591.
19
Vgl. Brief an Hamann vom 5.9.1786 JB 1,5, 348.
396 Praktischer Glaube
einen blinden Glauben zu lehren, besteht deshalb gar nicht darin, hier
eine gemeinsame Position zu konstatieren. Vielmehr hat Jacobi gute
Gründe, dass der Vorwurf eines blinden Glaubens eigentlich Kant und
nicht ihn treffen müsse. Denn Kant lasse für die Ideen Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit ausschließlich einen blinden Glauben zurück,20 wohin-
gegen sein Glaube die von jedem Menschen immer schon vorausgesetzte
Grundlage allen Wissens und Handelns und damit das Element aller
praktischen und spekulativen Vollzüge der Vernunft meine.21 Wie Kant
seinen Vernunftglauben also als explizite Alternative zu Jacobis Glauben
konturiert, so legt umgekehrt auch Jacobi seine eigene Konzeption von
Glauben als Alternative zu Kant an.
Um der fideistisch-religiösen Fehldeutung seines Glaubensbegriffs
durch seine Kritiker entgegenzuwirken, beruft sich Jacobi bekanntlich
auf Hume und dessen Verwendung des Begriffs „belief“.22 Humes Leis-
tung besteht dabei für Jacobi in der Einsicht, dass alle Erkenntnis und
alles Handeln auf einem „bloßen“ Glauben (belief) beruhen, der durch
demonstrative Vernunftbeweise nicht gerechtfertigt, sondern in diesen
immer schon vorausgesetzt wird. Mit welchem Recht Jacobi Hume für
sich vereinnahmt, ist jedoch seit jeher umstritten. Sachlich ist diese Inan-
spruchnahme selbst dann noch problematisch, wenn man dem Glau-
bensbegriff Jacobis zunächst keine religiösen Konnotationen beilegt. 23
Wir wollen zunächst jedoch nicht nach den sachlichen Übereinstim-
mungen zwischen Jacobis und Humes Glaubensbegriff fragen, sondern
nach der Intention von Jacobis Inanspruchnahme Humes. Hier ergibt
sich folgender Befund: Mit der Berufung auf Hume will Jacobi seinen
Glaubensbegriff von jeglicher religiöser Konnotation befreien und im
Aufklärungsdiskurs selbst verorten.24 Immerhin bezeichnet Kant, der Ja-
cobi für seine vermeintliche Schwärmerei kritisiert, Hume als denjenigen
Denker, der ihn aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt habe.25
Resultat dieses Erweckungserlebnisses sei seine Aufklärung der Vernunft
20
DH1 JW 2,1, 61.
21
Dafür, dass auch bei Kant mit der Voraussetzung des Dinges an sich ein Glaube
(faith) allen Erkenntnisvollzügen zu Grunde liegt, argumentiert Palmquist 1984.
22
In Einl stellt Jacobi fest, DH sei nur geschrieben worden, um dem Vorwurf zu be-
gegnen, er sei „ein Vernunftfeind“, „Papist“ und „Prediger des blinden Glaubens“ (JW
2,1, 375).
23
Vgl. etwa Anonymus 1788b, 105–107; Feder 1788, 129.
24
Jacobi betont in diesem Dialog, Mendelssohn hätte ihm „ohne die geringste Veran-
lassung, christliche Gesinnungen aufgebürdet, die weder christlich noch die meinigen wa-
ren“ (DH1 JW 2,1, 21).
25
Prol AA 4, 260.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 397
26
Die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss von Hume auf Kants kritisches Projekt
soll hier weder gestellt noch beantwortet werden. Andere Stellen behaupten nämlich, dass
es das Problem der Antinomien gewesen sei, das ihn „aus dem dogmatischen Schlummer
zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb“ (AA 12, 258; KrV B
433f./A 407). Vgl. hierzu: Klemme 1996, 38–46; Forster 2008, 14f.; 24f.; 31f.
398 Praktischer Glaube
Gründe? Ich habe etwas Besseres, worüber man nicht so schlechterdings herfah-
ren, oder es nur gerade zu unter die Bank schieben darf, wie Gründe: ich habe
eine Autorität.27
Durch die ironisch gebrochene Berufung auf Hume macht Jacobi also
deutlich, dass die bisherige Aufklärung in zweierlei Hinsicht aus ihrem
„dogmatischen Schlummer“ zu wecken ist: zum einen, insofern sich die
Vernunft selbst bei Kant noch nicht über ihre eigenen Grundlagen auf-
geklärt hat; zum anderen, weil die bisherige Aufklärung immer noch in
einem dogmatischen Glauben an Autoritäten befangen ist, in dem diese
mehr gelten als Vernunftgründe, weswegen ein herrschaftsfreier Aufklä-
rungsdiskurs gar nicht möglich ist.
Strukturell beschränkt Jacobi die Gemeinsamkeit zwischen seinem
und Humes Glaubensbegriff zunächst darauf, dass „jede Bejahung, die
nicht auf Vernunftgründen beruhe“, 28 als Glaube bezeichnet werden
könne.29 Funktional liegt sowohl für ihn als auch für Hume jeder ratio-
nal-diskursiven Begründung ein solcher Glaube zu Grunde. So setzt jede
Demonstration „als Fortschritt in identischen Sätzen“30 bereits Gewiss-
heiten voraus, von denen aus durch Vergleiche neue Gewissheiten er-
zeugt werden.31 Sind diese Gewissheiten nun ihrerseits diskursiv vermit-
telt, müssen sie wiederum von anderen Gewissheiten abhängen etc. Jedes
diskursive Verfahren setzt also erste Gewissheiten voraus, die zuletzt
nicht diskursiv vermittelt, sondern nur unmittelbar intuiert sein können.
Diese müssen ohne Vermittlung durch Vernunftgründe (d. h. ohne Ver-
gleich mit anderen Gewissheiten) unmittelbar geglaubt werden.32 Dies
gilt nach Jacobi sowohl für grundlegende Sachverhalte als auch für fun-
damentale Prinzipien der Demonstration wie den Satz vom Wider-
spruch. Beide Formen von Gewissheit, da sie in allen Beweisen immer
schon vorausgesetzt werden, können nicht bewiesen, sondern nur als
unmittelbar gewisse Sachverhalte geglaubt werden.33
27
DH1 JW 2,1, 23f. Die Ironie dieser Bemerkung wird auch durch Jacobis Verweis auf
Descartes Berufung auf die Autorität der Sorbonne deutlich, die für Descartes „selbst kei-
ne Autorität war“ (ibid., 24; Gabriel 2004, 148).
28
DH1 JW 2,1, 19.
29
DH1 JW 2,1, 22.
30
Spin2 JW 1,1, 124.
31
Spin1 JW 1,1, 115.
32
„Wir können nur Aehnlichkeiten demonstriren; und jeder Erweis setzt etwas schon
Erwiesenes zum voraus, wovon das Prinzipium Offenbarung ist.“ (Spin1 JW 1,1, 124.)
Davon unterschieden ist ein Glaube, der aus der bloßen Undeutlichkeit der Gründe ent-
springt und also eine privative Form des Wissens ist (DH1 JW 2,1, 60).
33
„Die höchsten Grundsätze, worauf sich alle Beweise stützen, sind, unverkleidet,
blosse Machtsprüche, denen wir [...] glauben.“ (ZEeD JW 5,1, 202.)
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 399
Seine These, dass alles vermittelnde Erkennen der Vernunft sich der
unmittelbaren Gewissheit fundamentaler Sachverhalte verdankt, glaubt
Jacobi zudem dem vorkritischen Kant selbst entnehmen zu können. Die-
ser postulierte ja, dass der Metaphysiker nur durch „ein unmittelbares
augenscheinliches Bewußtsein“34 alle Eigenschaften aufsuchen solle, die
mit Gewissheit im Begriff einer Sache liegen. Damit rekurriert er aus
Sicht Jacobis auf die unmittelbare Gegebenheit einer begrifflichen An-
schauung. Die begriffliche Zergliederung dieser unmittelbar angeschau-
ten Sachverhalte ist dann für Jacobi nur als eine nachträgliche Vermitt-
lungsleistung des Verstandes zu denken, die die unmittelbare Gegeben-
heit selbiger je schon voraussetzt. Die demonstrative Entwicklung der
Möglichkeit eines Sachverhaltes ist also Produkt eines vermittelnden
Reflexionsaktes, der die unmittelbare Gegebenheit des Sachverhaltes be-
reits in Anspruch nimmt. Den Evidenzmodus der unmittelbaren Ge-
wissheit solcher Sachverhalte bezeichnet Jacobi als „Glaube“. Die ratio-
nal-begriffliche Aufklärung der Welt ist damit bestenfalls eine Aufklä-
rung zweiter Ordnung, die eine andere Aufklärung in Form der
Enthüllung des Daseins solcher Sachverhalte als Aufklärung erster Ord-
nung immer schon voraussetzt und sich an dieser als ihrem Maßstab
messen lassen muss.35
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Glaube als „Element aller
menschlichen Erkenntnis und Würksamkeit“, wie Jacobi ihn bestimmt,
nicht eine Alternative oder ein Gegensatz zum rational vermittelten Wis-
sen ist, sondern das Medium, in dem alles vermittelte Erkennen sich im-
mer schon vollziehen muss.36 Dies gilt auch für die von Jacobi kritisierte
Aufklärung, die sich im Medium unbefragter Glaubensgewissheiten und
Autoritäten vollzieht. Gegenüber dieser Verwendung des Glaubensbe-
griffes scheint jedoch Vorsicht geboten zu sein: Die Einsicht, dass die
demonstrierende Vernunft nicht sämtliche ihrer eigenen Prinzipien und
Voraussetzungen demonstrieren kann, weil sie selbige im Beweis dieser
Prinzipien bereits in Anspruch nimmt, rechtfertigt noch nicht die Ver-
wendung des Begriffs „Glauben“ und lässt auch die Berufung auf Hume
zunächst unnötig erscheinen. Dass es Prinzipien mit einem besonderen
Status gibt, die nicht in gleicher Weise bewiesen werden können, wie
34
UD AA 2, 286.
35
Insofern der Glaube im Wissen je schon vorausgesetzt ist, ist die Bestimmung des
Verhältnisses von Glaube und Wissen bei Jacobi als dualistisch (Folkers 1998, 386; 390)
offensichtlich unzulänglich.
36
So auch Herder: „Niemand also sollte das Wort glauben blind verschwärzen und
verleumden, da Glaube die Basis aller unsrer Urteile, unsres Erkennens, Handelns und
Genießens ist“ (Über Wissen FHA 8, 301).
400 Praktischer Glaube
das, was durch sie begründet wird, ist spätestens seit Aristoteles Diskus-
sion des Widerspruchsprinzips in Metaphysik IV alles andere als eine
philosophische Sensation.37 Diesen unmittelbaren Evidenzmodus erster
Prinzipien kann man jedoch offensichtlich nicht einfach auf Gott, Frei-
heit und Unsterblichkeit als die nach Jacobi „wesentlichen Gegenstände
der Philosophie“ übertragen. Würde Jacobis Explikation des Glaubens-
begriffs hier stehen bleiben, so wäre der Vorwurf seiner Kritiker gerecht-
fertigt, dass er verschiedene Modi von Gewissheit und Fürwahrhalten
konfundiert und aus der Legitimität des einen Modus die Berechtigung
des anderen herleitet. Jacobis Rechtfertigung der Wirklichkeit von Frei-
heit, Gott und Unsterblichkeit würde damit von Anfang an auf der kon-
fundierenden Operation mit zwei äquivoken Glaubensbegriffen basie-
ren. Seine Behauptung, dass Glaube das Element aller menschlichen Er-
kenntnis und Handlung sei, wäre ein philosophisch letztlich nicht zu
rechtfertigendes Spiel mit Begrifflichkeiten.
Wenn Jacobi seine Verwendung des Begriffs „Glauben“ rechtfertigen
will, so muss er also zeigen, dass diese unterschiedlichen Formen von
Glauben nicht einfach äquivok sind. Genau hier kommt systematisch für
Jacobi nun Hume ins Spiel. Denn diesem verdankt die Philosophie nach
Jacobi die Einsicht, dass nicht nur bestimmte Prinzipien oder Sachver-
halte allein im Modus des Glaubens zugänglich sind. Vielmehr hat er ge-
zeigt, dass es die Realität oder das wirkliche Dasein der Gegenstände des
Bewusstseins und ihrer Eigenschaften selbst ist, das nicht im Modus der
Demonstration vermittelt werden kann, sondern sich ausschließlich in
einem unmittelbaren Gefühl offenbart, das nach Jacobi als Glaube be-
zeichnet werden muss. Glaube ist für Jacobi also nicht nur ein Gewiss-
heitsmodus, sondern der Erkenntnismodus, in welchem dem Subjekt das
Dasein der Dinge unmittelbar gegenwärtig ist. So meint der Glaube an
die Realität der Außenwelt bei Jacobi von Anfang an nicht das Fürwahr-
halten eines bestimmten propositionalen Sachverhalts der Form „Die
Außenwelt existiert (unabhängig von meinem Bewusstsein)“, sondern
die unmittelbare Erfahrung des Individuums von der Wirklichkeit oder
dem Dasein dieser Außenwelt. 38 Sieht die Vernunft bloß Verhältnisse
ein, so offenbart der Glaube nicht nur ein „Verhältniß“, sondern „das
würkliche Daseyn selbst von Dingen und Eigenschaften“.39 Der Glaube
ist also ein Bewusstseinsmodus, in dem die Wirklichkeit der Welt dem
Individuum vor jedem Reflexionsakt immer schon als Wirklichkeit er-
37
Vgl. hierzu ausführlich Schick 2010.
38
DH1 JW 2,1, 9. Ob dies auch der Sinn bei Hume ist, kann und soll hier nicht beant-
wortet werden.
39
DH1 JW 2,1, 9.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 401
Durch den Glauben wissen wir, daß wir einen Körper haben, und daß außer uns
andre Körper und andre denkende Wesen vorhanden sind. Eine wahrhafte,
wunderbare Offenbarung!45
nun fragen, ob es aus Jacobis Sicht Gründe gibt, dass Kant sich sein
Problem der Wirklichkeitserfahrung hätte stellen sollen. Das heißt, gibt
es für Jacobi ein Defizit innerhalb der Philosophie Kants, das auf der
Missachtung des Glaubens als Element aller Wirksamkeit und Erkennt-
nis gründet?
Wir haben gesehen, dass Jacobi sich nicht zuletzt deshalb auf Hume be-
ruft, um die Notwendigkeit zu zeigen, noch Kants transzendentale Auf-
klärung durch eine andere Aufklärung aus ihrem dogmatischen
Schlummer zu wecken. Denn auch in KrV bleibe noch verdeckt, dass
sich die Wirklichkeit nicht im Modus demonstrativen Erkennens, son-
dern nur im Modus eines alle Erkenntnis begründenden unmittelbaren
Glaubens offenbart. Dieses Defizit Kants hat für Jacobi notwendige sys-
tematische Konsequenzen. So kann Kant gerade nicht die objektive Rea-
lität der von ihm deduzierten Kategorien begründen. Vielmehr reduziert
er sie auf subjektive Allgemeinheiten – ein Vorwurf, den später Hegel
aufgreift.
Bisher haben wir nicht klar gemacht, worin für Jacobi nun eigentlich
genau diese Offenbarung von Realität oder Wirklichkeit besteht. Dieses
Defizit unserer bisherigen Explikationen gilt es nun zu beheben. Hierfür
bietet sich eine Passage aus dem David Hume an, in der Jacobi das eben
skizzierte Defizit der kantischen Philosophie thematisiert, nämlich seine
eigene Deduktion der Begriffe Ursache, Individualität, Realität, Ausdeh-
nung und Sukzession. In dieser Deduktion versucht Jacobi zu zeigen,
dass diese Begriffe allen endlichen, selbstbewussten Wesen gemein sein
und objektive Realität aufweisen müssen.52 Diese Deduktion setzt Jacobi
explizit Kants Kategoriendeduktion entgegen, „nach welcher diese Be-
griffe und Urtheile aus einem in sich selbst fertigen reinen Verstande
hervorgehen, der nun den in ihm selbst allein gegründeten Mechanismus
seines Denkens in die Natur blos überträgt, und so nur ein logisches Er-
kenntnißspiel treibt“.53
52
DH1 JW 2,1, 60; 109.
53
DH1 JW 2,1, 61. Vgl. hierzu auch Epistel JW 2,1, 133–136. Man könnte Jacobis De-
duktion von Anfang an für verfehlt halten, da sie genetisch die Evolution der Kategorien
betrachtet. Dagegen stellt Kant fest: „Ich beschaftige mich nicht mit der Evolution der
Begriffe […], sondern blos mit der obiectiven Gültigkeit derselben.“ (Refl 4900 AA 18,
23.) Für Jacobi lassen sich diese Aspekte jedoch nicht trennen.
404 Praktischer Glaube
54
Krit JW 2,1, 265.
55
Einl JW 2,1, 391. Zum Problem der Anzahl der Kategorien vgl. Guyer 1992b, 134–
136.
56
DH1 JW 2,1, 110f.; 124. Metz spricht deshalb in Bezug auf Jacobi von einer „realisti-
sche[n] Deduktion der Kategorien“, in der Jacobi mit Kant und gegen Hume die Not-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit der Kategorien behaupten will, aber gleichzeitig ihre
Gültigkeit für Dinge an sich zeigen möchte (Metz 2004, 13). Entgegen Kant sind die Rela-
tionen zwischen den Gegenständen nicht nur vom Subjekt projiziert, sondern der erkann-
ten Ordnung muss eine objektive Reale Ordnung zumindest homomorph sein (vgl. ibid.,
5).
57
DH1 JW 2,1, 107.
58
Epistel JW 2,1, 129.
59
DH1 JW 2,1, 111.
60
Epistel JW 2,1, 126.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 405
perzeption und ist damit „durch u durch rein subjectiv“.61 Sie wird nur
objektiv genannt, sofern sie sich auf Anschauungen bezieht.62 Kant rettet
also die Objektivität der Erfahrung nach Jacobi nur dadurch, dass er den
Sinn des Begriffs „Objektivität“ in unzulässiger Weise transformiert.
Wir werden nun nicht untersuchen, ob diese Vorwürfe der kantischen
Kategoriendeduktion gerecht werden. Denn uns geht es nicht darum, Ja-
cobi als an philologischen Kriterien gemessen „guten“ Kritiker Kants zu
präsentieren. Es kann zugestanden werden, dass sich gegen diese Kritik-
punkte aus Sicht Kants einiges einwenden lässt. Stattdessen wollen wir
die Alternative, die Jacobi präsentiert, in ihrer eigenständigen Bedeutung
für sein Projekt der Aufklärung etablieren. Unsere Frage lautet deshalb,
wie nach Jacobi eine Kategoriendeduktion vollzogen werden muss, die
zum einen die Kategorien tatsächlich genetisch entwickelt und zum an-
deren ihre objektive Realität im Sinne Jacobis absichert, die sich nur im
Glauben unmittelbar offenbaren kann. Was wir hiermit letztlich inten-
dieren, ist die Frage nach Jacobis Begriff von Realität und dem systema-
tischen Ort des Glaubens in seiner Philosophie in ihrem Verhältnis zur
Vernunft.
Der Satz des Grundes läßt sich leicht erklären und beweisen; er sagt weiter
nichts aus, als das totum parte prius esse necesse est [.]69
Für Jacobi verlässt Kant in seiner Deduktion der Kategorien aus den lo-
gischen Urteilsformen also gar nicht den Boden des Rationalismus.
Durch die Betrachtung der Ursache als reinen Verstandesbegriff wird
von Kant zunächst die Zeitlichkeit aus ihr eskamotiert. Dabei wird das
Verhältnis von Ursache und Wirkung, das das Verhältnis eines in der
Zeit verlaufenden Hervorbringens meint, in das logische Implikations-
verhältnis von Grund und Folge transformiert. Damit lässt sich dann
letztlich das „principium generationis aus dem principio compositionis
herleiten“.70 In der logischen Entfaltung der Folgen aus einem Grund
werden wir uns nämlich nur sukzessiv „des Mannichfaltigen in einer
Vorstellung“ (des Grundes der Mannigfaltigkeit) bewusst.71 Wir expli-
zieren also nur das, was implizit bereits in einer Vorstellung oder einem
Begriff enthalten ist. Die Momente, die auseinander entwickelt werden,
sind dabei objektiv gleichzeitig vorhanden. Nur für unser diskursives
Denken liegt eine zeitliche Abfolge vor, objektiv sind die Folgen gleich-
zeitig mit ihrem Grund und in diesem vereinigt. Dagegen bezeichnen die
Begriffe „Ursache“ und „Wirkung“ ein Entstehen oder „objective[s]
Werden“, das Sukzession impliziert.72 Leitet man deshalb die Kategorien
von Ursache und Wirkung aus dem Vernunftbegriff oder aus einer Ur-
teilsform ab, die Grund und Folge verbindet, so verliert man damit gera-
de das wesentliche Charakteristikum des Ursachebegriffs, nämlich das
objektiv-zeitliche Verhältnis von Entstehen und Vergehen.73 Kant leistet
also entweder zu viel mit seiner Kategoriendeduktion oder zu wenig:
Will er bloß das zeitfreie Abhängigkeitsverhältnis zweier Sachverhalte
69
DH1 JW 2,1, 50.
70
DH1 JW 2,1, 49.
71
DH1 JW 2,1, 50.
72
DH1 JW 2,1, 50.
73
DH1 JW 2,1, 50f.
408 Praktischer Glaube
bestimmt.78 Der Ursprung unseres Begriffs von Ursache kann nicht aus
unseren Urteilsformen gewonnen werden, sondern er ist ein Handlungs-
begriff. Wenn wir „nur anschauen und urtheilen könnten“,79 dann wür-
den wir niemals über einen Begriff von Ursache verfügen. Der Ursache-
begriff hat seinen Ursprung in der Selbsterfahrung des Individuums als
einer lebendigen Kraft, die Handlungen bewirkt. Ohne diese „Grunder-
fahrung“, die wir als lebendige Wesen mit Personbewusstsein machen,
hätten wir keinen Begriff von Ursache und Wirkung.80 Wir haben von
Kausalität „nicht die geringste Ahndung […], ausgenommen unmittelbar
durch das Bewußtseyn unserer eigenen Causalität, das ist, unseres Le-
bensprinzips“:81
Kraft, Handlung, Ursache und Wirkung, sind freylich keine Dinge, die wir aus-
ser uns wahrnehmen können. Ihrer Natur nach können sie sich nur im eigenen
lebendigen Bewußtseyn darstellen. Aus unserer inneren Erfahrung tragen wir sie
in die äussere Erfahrung über, wir objectiviren sie.82
Der Ursprung des Begriffs der Ursache in der Selbsterfahrung des Men-
schen als handelnder Ursache zeigt sich für Jacobi auch in dem „Instinct
der Vernunft“83 philosophisch noch nicht aufgeklärter Völker. Für sie ist
die Welt mit handelnden Wesen bevölkert, die alle Bewegungen und
Veränderungen in der Welt hervorbringen.84
Jacobis Position lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Der
Begriff der Ursache ist ein Erfahrungsbegriff, den wir durch unsere
Selbsterfahrung als Handelnde gewinnen – im Gegensatz zum bloß idea-
lischen Begriff des Grundes.85 Sind für Kant Kraft und Handlung „Fol-
gebegriffe“ der Verknüpfung von Ursache und Wirkung,86 so dreht Ja-
78
Meine Vorstellungen JW 2,1, 3.
79
DH1 JW 2,1, 53.
80
DH1 JW 2,1, 54. Ähnlich Herder: Metakritik FHA 8, 364f.; 368.
81
Spin2 JW 1,1, 263.
82
Epistel JW 2,1, 148.
83
Spin2 JW 1,1, 262.
84
„Jene erblicken überall lebendige Wesen, und wissen von keiner Kraft, die nicht sich
selbst bestimmte. Jede Ursache ist ihnen eine solche lebendige sich selbst offenbare,
freythätige, persönliche Kraft, jede Würkung That.“ (DH2 JW 2,1, 54.) Vgl. ebenso: Rech
JW 4,1, 104f.
85
Henrich 1992, 57.
86
Prol AA 4, 257; KrV B 249f./A 204f. „Er [Kant] führt den Begriff der Erzeugung auf
den Begriff ursprünglicher Handlung zurück, wo er allerdings liegt. Bey ihm aber ist dies
ein Hysteron proteron; denn Handlung ist in seinem System ein abgeleiteter Begriff, wel-
cher der Kantischen Theorie der Causalität gemäß erklärt und in seiner Anwendung eben
so bestimmt werden muß.“ (Epistel JW 2,1, 148.) Allgemein lässt sich feststellen, das Ja-
cobi Kants Verhältnis zwischen Kategorien und von ihnen abhängenden Prädikabilien
410 Praktischer Glaube
cobi das Verhältnis um: Nur weil wir eben nicht nur urteilende und an-
schauende, sondern auch handelnde Wesen sind, die sich als wirkende
Kraft erfahren, haben wir überhaupt einen Begriff von Ursache und
Wirkung.87 In unserem Handeln machen wir in uns die lebendige Erfah-
rung einer sich ihrer selbst bewussten, freien Kraft.88 Ursache verdankt
sich „dem Bewußtseyn unserer Causalität und Paßivität“ 89 bzw. der
menschlichen „Grunderfahrung“ von sich als einer lebendigen und per-
sönlichen Kraft.90 Erst aus dieser Grunderfahrung des Handelns heraus
gewinnen wir einen theoretischen Begriff von Ursache und Wirkung.
Ursprünglich ist „Ursache“ aber kein spekulativer Begriff,91 sondern hat
primär „praktischen Ursprung und Gehalt“.92 Der Begriff der Ursache
setzt deshalb mit dem Begriff der Kraft den Begriff einer Handlung not-
wendig voraus. Jede Handlung (als reale Veränderung in der Welt, die
durch jemanden hervorgerufen wird) erfolgt aber in der Zeit, so dass der
Begriff der Ursache zeitlich „kontaminiert“ ist. Unser Handlungsver-
mögen ist so die Bedingung der Möglichkeit für die Begriffe Zeit, Ursa-
che und Wirkung, Sukzession. Diese Konzepte sind wiederum die Be-
dingung der Möglichkeit aller theoretischen Welterkenntnis.93
Ich habe die Vorstellung der Ursache blos dadurch, daß ich mich selbst als Ursa-
che erfahre, daß ich mich selbst bestimme. Der Begriff der Causalität ist der Be-
griff der Kraft u[nd] Handlung, u[nd] Kraft u[nd] Handlung sind nicht bloße
Folgebegriffe des Begriffs der Causalität als einer Categorie.94
Auch wenn der Ursachebegriff für Jacobi also wie für die Empiristen ein
Erfahrungsbegriff ist, so gewinnen wir den Begriff von Ursache nicht
durch sinnliche Eindrücke oder die Beobachtung äußerer Vorgänge,
sondern durch unser Handlungsbewusstsein. 95 Damit sind wir wieder
bei Jacobis These von der Gleichursprünglichkeit von Ich und Du.
umdreht: Für Kant sind Kraft, Handlung und Leiden der Kategorie der Ursache, Gegen-
wart und Widerstand der Kategorie der Gemeinschaft, Entstehen, Vergehen und Verände-
rung der Kategorie der Modalität untergeordnet (KrVB 108/A 82).
87
DH1 JW 2,1, 53; Kladde VII, 13 Sandkaulen 2000, 199. Handeln ist sowohl in der
Zeit als auch durch die Verschränkung von Anfang und Ende das bloße Nacheinander des
Zeitverlaufs transzendierend.
88
DH1 JW 2,1, 54.
89
Spin2 JW 1,1, 256.
90
DH1 JW 2,1, 54.
91
Sandkaulen 2000, 184.
92
Sandkaulen 2000, 181.
93
Koch 2013, 63.
94
Kladde VII, 63 Sandkaulen 2000, 208.
95
Sandkaulen 2000, 81.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 411
96
DH1 JW 2,1, 86.
97
„Wir müssen uns von Etwas unterscheiden. Also zwey würkliche Dinge ausser ei-
nander, oder Dualität. / Wo zwey erschaffene Wesen, die ausser einander sind, in einem
solchen Verhältnisse gegen einander stehen, daß eins in das andre würkt, da ist ein ausge-
dehntes Wesen. / Mit dem Bewustseyn des Menschen und einer jeden endlichen Natur,
wird also ein ausgedehntes Wesen gesetzt; und zwar, nicht blos idealisch, sondern würk-
lich.“ (DH1 JW 2,1, 57.)
98
Dieses Bewusstsein haben nur organisch verfasste Individuen: räumlich ausgedehnte
Einheiten, deren Teile zu einer wesentlichen Einheit verknüpft sind. Weil unser Geist nur
vermittelst des Körpers mit anderen Körpern „kommunizieren“ kann, muss er „noth-
wendig mit einem organischen Cörper vereinigt seyn“ (DH1 JW 2,1, 72).
99
DH1 JW 2,1, 59.
100
DH1 JW 2,1, 58f.
412 Praktischer Glaube
rung des Cartesianischen Satzes: cogito ergo sum, den ich lieber umkeh-
ren möchte“.111 Primär sind wir handelnde Wesen, also freie Ursachen.
Die Erkenntnis folgt dem Leben, weil der Verstand dem Willen folgt.112
Ist für Kant deshalb nur das real, was unter Verstandesbegriffe gebracht
werden kann, so setzt für Jacobi Begriffsbildung bereits ein vorgängiges
Bewusstsein von Dasein voraus, das heißt die Selbsterfahrung des Indi-
viduums als einer Handlungsinstanz, die die Wirklichkeit in ihren Hand-
lungen gestaltet.113
„Glaube“ ist für Jacobi also zunächst ein Name für unser unmittelba-
res Handlungsbewusstsein. Denn – so Jacobi mit Hume – wir wissen
nicht, wie diese Kraft wirkt. Dies bedeutet für Jacobi, wir können den
Zusammenhang zwischen unserem Wollen und Wirken nicht begrifflich
konstruieren, sondern er offenbart sich uns im Handeln. Aber in jedem
Handlungsakt empfinden wir die Objektivität dieses Zusammenhangs.114
b. Wirklichkeit
Nichts tritt in der Seele zwischen die Wahrnehmung des Würklichen ausser ihr
und des Würklichen in ihr. Vorstellungen sind noch nicht; sie erscheinen erst
hinten nach, als Schatten der Dinge, welche gegenwärtig waren.115
Im Handeln ist die Person also immer unmittelbar in und bei der Welt.
Profilieren wir diesen Gedanken durch seine Absetzung von der Kon-
zeption Kants: Für Kant ist das menschliche Bewusstsein repräsentatio-
nal. Die Inhalte des Bewusstseins haben präpositionalen Charakter „Es
ist der Fall, dass p“ oder „es scheint, dass“. Weil sie diesen präpositiona-
111
Brief an Forster vom 20.12.1788 JB 1,8, 121.
112
Spin1 JW 1,1, 144.
113
DH1 JW 2,1, 53.
114
DH1 JW 2,1, 55.
115
DH1 JW 2,1, 37.
414 Praktischer Glaube
len Charakter besitzen, muss das Ich alle diese Vorstellungen begleiten
können, das heißt, in den Gedanken umwandeln können: „Ich denke,
dass p“.116 Für Jacobi sind wir nun aber nicht primär vorstellend auf die
Welt bezogen. Unser ursprünglicher Bezug auf die Welt ist nicht ein
theoretisch-propositionaler, sondern unser handelnder Umgang mit der
Welt. Der repräsentationale Bezug auf die Welt ist demgegenüber se-
kundär-reflektierend und in ihm beziehen wir uns dann tatsächlich nur
noch auf Vorstellungen.
Weil wir uns in der Reflexion aber nur auf Vorstellungen beziehen,
können wir uns in ihr nie auf das Wirkliche selbst beziehen, sondern nur
auf Bestimmungen des Wirklichen. Wie für Kant ist Sein also auch für
Jacobi keine zum Begriff „blos hinzukommende Bestimmung“,117 son-
dern die Wirklichkeit der Bestimmungen. In und durch diese Wirklich-
keit sind die Bestimmungen überhaupt erst gesetzt. Im Vorstellen bezie-
hen wir uns jedoch nur noch auf die Eigenschaften des Seins, nicht mehr
auf das Sein der Eigenschaften. „Also kann in der bloßen Vorstellung das
Würkliche selbst nie dargestellt werden“, sondern nur die Beschaffenhei-
ten des Wirklichen.118 Anders als für Kant meint „Wirklichkeit“ bei Ja-
cobi allerdings von vornherein nicht nur „realitas", sondern „actus“ als
„tätige Wirklichkeit“. Äußere Wirklichkeit bezieht sich dementspre-
chend auf die Kraft, die sich der „inneren“ Wirklichkeit eines tätigen
und seiner selbst bewussten Individuums entgegensetzt.119 Deshalb kann
man nach Jacobi im eigentlichen Sinne von „Sein“ nur in Bezug auf or-
ganische Wesen sprechen. Sein kann für Jacobi nicht gedacht werden
ohne Selbstsein und Selbstsein impliziert zumindest ein minimales Maß
an Bewusstsein.120 Dasein oder Wirklichkeit kommt deshalb nur leben-
digen Wesen zu, da nur diesen im eigentlichen Sinne Aktivität zuge-
schrieben werden kann.
Insofern Kant vom Begriff der Vorstellung ausgeht, muss er aus dem
Begriff der Wirklichkeit den Aspekt des Tätigseins eliminieren. Eine
Vorstellung von Kraft wirkt aber eben nicht auf das bloß vorstellende
Individuum, vielmehr wird Kraft vom handelnden Individuum unmit-
telbar empfunden. Erst in einem zweiten Schritt kann die Reflexion aus
116
Koch 2004a, 170.
117
DH1 JW 2,1, 37.
118
DH1 JW 2,1, 69. Jacobi bezeichnet den praktischen Standpunkt, von dem aus die
Wirklichkeit erfahren werden kann, auch als Standpunkt des Lebens im Gegensatz zum
Standpunkt der Spekulation (ibid., 70). Fichtes Wissenschaftslehre ist deshalb die Vollen-
dung der kantischen Philosophie, weil sie sich unter Negation des Standpunktes des Le-
bens ganz auf den Standpunkt des Wissens einschränkt (Zöller 2004, 44).
119
DH1 JW 2,1, 84.
120
GD JW 3, 30.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 415
der Kraft eine Vorstellung machen, der dann aber die Wirklichkeit fehlt.
Umgekehrt erfährt sich auch das Individuum selbst ursprünglich als Ur-
sache seines Handelns und nicht als Bündel von Vorstellungen oder Sub-
jekt der Erkenntnis.121 Für ein handelndes Individuum sind Kraft und
Handlung ursprünglich praktische Begriffe, die die theoretischen Kate-
gorien erst begründen. Kant hingegen leitet den Begriff der Handlung
aus einer bestimmten Form der Kausalität (Gleichzeitigkeit von Wir-
kung und Ursache) ab und aus diesem den Begriff der Kraft und der
Substanz. 122 Dabei meint „Handeln“ in diesem Zusammenhang noch
nicht einmal das spezifisch menschliche Handeln, sondern „Bewirken
schlechthin“. Als solches ist es die Aktualisierung einer Kraft (als aktua-
lisierte Wirkungsmöglichkeit), die einer Substanz zukommt.123
Für Jacobi werden damit die tatsächlichen kategorialen Verhältnisse
verkehrt: Denn als handelnde Wesen erfahren wir die Wirklichkeit von
uns und Dingen außer uns im selben, unteilbaren Augenblick. Wir erfah-
ren uns selbst als Kraft, indem wir die Erfahrung von uns entgegenge-
setzten Kräften machen, die wir durch unsere Kraft überwinden können.
Die Vorstellung von Kraft entsteht uns dabei nur durch unser Bewusst-
sein einer Kraft in uns, Widerstände (also der Kraft in uns entgegenge-
setzte Kräfte) zu überwinden. 124 Die Begriffe von Wirklichkeit, Kraft
und Widerstand sind also unmittelbar miteinander verbunden und wer-
den primär handlungstheoretisch gewonnen, nämlich aus der Erfahrung
des Individuums als eines tätigen, mit der, in der und gegen die Welt
agierenden Wesens.125 Der Unterschied zwischen bloßen Vorstellungen
und wirklichen Wahrnehmungen ist für Jacobi nichts anderes als ihre
Wirklichkeit, das heißt der Widerstand, den sie für das handelnde Indi-
viduum setzen. Vorstellungen implizieren hingegen keinen solchen Wi-
derstand.126 Im handelnden Umgang mit der Welt manifestiert sich dem
121
Meine Vorstellungen JW 2,1, 3.
122
KrV B 249/A 204; JB 1,8, 72. „Handlung ist in seinem System ein abgeleiteter Be-
griff […]. Das alles kommt daher, weil seine Vorstellungsart durchaus keine ursprüngliche
Wahrnehmung, keine Wahrnehmung v etwas wahrhaft objectivem verträgt.“ (Kladde IV,
54 Sandkaulen 2000, 209.)
123
Willaschek 1992, 38f.
124
DH1 JW 2,1, 55. In OP basiert unsere Erfahrung der Bewegungsgesetze der Materie
auf dem Bewusstsein unserer Bewegungskräfte und der Wahrnehmung der Gegenreaktion
(OP AA 22, 506; Förster 2000, 112). Unsere Fähigkeit körperlicher Selbstbewegung wird
dabei nicht weiter eingesehen (ibid., 110; OP AA 21, 213).
125
Diese Handlungserfahrung ist kategorial verschieden von der Begründungserfah-
rung des rein theoretischen Bewusstseins (Sandkaulen 2000, 89). So impliziert die Her-
kunft der Begriffe aus der Erfahrung auch keinen Empirismus oder Sensualismus (ibid.,
115). Dagegen: Baum 1969, 87f.; 108.
126
DH1 JW 2,1, 69.
416 Praktischer Glaube
Handelnden also unmittelbar sowohl die eigene Wirklichkeit als auch die
Wirklichkeit der Welt.127
Verdeutlichen wir uns abschließend noch einmal den zentralen Unter-
schied zwischen Jacobi und Kant: Indem sich die reinen Verstandesbe-
griffe bei Kant nicht auf Dinge an sich beziehen, lehrt er aus Jacobis
Sicht einen blinden und erkenntnisleeren Glauben.128 Denn, wie wir im
folgenden Abschnitt sehen werden, die Fassung der Kategorien als bloß
subjektive Erkenntnisformen und die Verkehrung der Vernunftverhält-
nisse von Praxis und Theorie resultiert letztlich in der Leerheit von
Kants Vernunftglauben:
Ein System, welches alle Ansprüche an Erkenntniß der Wahrheit bis auf den
Grund ausrottet, und für die wichtigsten Gegenstände nur einen solchen blinden
ganz und gar Erkenntnißleeren Glauben übrig läßt, wie man den Menschen bis-
her noch keinen zugemuthet hat.129
lichen Welt, die unserem Wollen und Handeln widersteht und der wir in
unserem Handeln widerstehen, gleichursprünglich. Wenn Jacobi sagt,
der Unterschied zwischen bloßen Einbildungen und realen Wahrneh-
mungen bestehe in einem Gefühl,131 so ist dies das Gefühl der ursächli-
chen Wechselwirkung von uns und der Wirklichkeit. Dieses Gefühl
kann nicht willkürlich in der Einbildung hervorgerufen werden, denn
sonst müssten uns die Produkte der Einbildungskraft einen realen Wi-
derstand entgegensetzen. Dieses sich in unserem Handlungsbewusstsein
offenbarende doppelte Wirklichkeitsgefühl ist das, was Jacobi als Glaube
bezeichnet.132 Glaube ist also das Gefühl der aktiven Kraft des Individu-
ums und der sich dieser Kraft widersetzenden Kraft, die seiner Aktivität
entgegenwirkt.133
Die theoretische Einstellung zur Wirklichkeit ist insofern für Jacobi
sekundär gegenüber der praktischen Einstellung. Wir sind zunächst han-
delnde Wesen und setzen diese praktische Einstellung zur Welt implizit
auch in unserer Erkenntnis voraus, mehr noch, die Bestimmtheit unserer
Erkenntnis ist abhängig von der Weise, wie wir uns handelnd auf die
Wirklichkeit beziehen. So ist auch der Glaube, der all unserer Erkenntnis
zu Grunde liegt, ein praktischer, nämlich an die Wirksamkeit unseres
Willens. Da dieser Glaube aber jeglichem Handeln zu Grunde liegt, ist er
zunächst einmal weit weniger „theologisch“ konnotiert als Kants Ver-
nunftglaube, da er noch keinen inhaltlichen Bezug zu Gott und Unsterb-
lichkeit hat. Als unmittelbares Selbstbewusstsein freier Ursächlichkeit
begründet dieser Glaube andererseits unsere Erkenntnis und unsere spe-
kulativen Vernunftvollzüge. Damit – und dies ist für viele Aufklärer zu
Jacobis Zeit das Ärgernis – gründet die Möglichkeit spekulativer Aufklä-
rung auf einem rational nicht weiter beweisbaren praktischen Glauben.
Die Etablierung dieses Primats des praktischen Handlungsbewusst-
seins gegenüber der bloßen Spekulation ist ein wesentliches Moment von
Jacobis anderer Aufklärung gegenüber der spekulativen Aufklärung, die
ihre Vollendung in Spinoza findet. Letztere begreift die Vernunft des
Menschen zunächst von ihrer theoretischen Funktion her. Von ihrer
Vollendung her lässt sich der praktische Aspekt der Vernunft, die freie
Selbstbestimmung der Person, jedoch nicht mehr nachträglich integrie-
ren. Vielmehr wird diese freie Ursächlichkeit des Individuums, da sie
sich nicht spekulativ deduzieren lässt, von ihr als Schein entlarvt. Dem-
gegenüber versucht Jacobi in seiner bereits skizzierten Dialektik der
spekulativen Vernunft zu zeigen, dass die Spekulation ihren Ursprung in
131
DH1 JW 2,1, 28.
132
DH1 JW 2,1, 29.
133
DH1 JW 2,1, 37.
418 Praktischer Glaube
der menschlichen Praxis hat. Wer diese anerkennen will, der kann nicht
einfach den Weg der Spekulation weiter beschreiten, sondern muss einen
Salto mortale vollziehen, der das Verhältnis von Praxis und Spekulation
umkehrt, das heißt, die Praxis und die Freiheit als ihren Grund nicht aus
der Spekulation entwickeln, sondern diese aus der Praxis verstehen. Da-
mit wird dann aber die Freiheit im freien Vollzug des Salto mortale
selbst zum Grund einer anderen Aufklärung.
Nun scheint es wenig angemessen, diese Behauptung vom Primat des
Praktischen und der Freiheit gerade gegen Kant ausspielen zu wollen.
Denn auch Kant spricht ja der praktischen Vernunft den Primat gegen-
über dem bloß spekulativen Vernunftgebrauch zu.134 So liegt der vor-
nehmliche Wert der Vernunftideen nicht in ihrer regulativen Funktion,
sondern darin, einen Übergang von den Naturbegriffen zu den prakti-
schen Begriffen notwendig zu machen.135 Der eigentliche Zweck der Me-
taphysik – als der Wissenschaft des reinen theoretischen Vernunftge-
brauchs – besteht so nach Kant nicht in ihrem epistemischen Nutzen,
sondern darin, zur praktischen Realität der Ideen von Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit zu gelangen.136 Freiheit ist für Kant der „Schlussstein“
seiner gesamten Philosophie, also der Stein, der architektonisch am
höchsten Punkt eines Gewölbes selbiges trägt und durch den das Ge-
wölbe selbsttragend wird. Die Freiheit ist also nach Kant zugleich der
höchste Punkt seines Denkens als auch dasjenige, wodurch seine Philo-
sophie selbsttragend wird. Jacobi selbst konstatiert deshalb eine nicht zu
leugnende Verwandtschaft zwischen sich und Kant. In Kants Postulaten-
lehre manifestieren sich so für Jacobi der Instinkt der menschlichen Ver-
nunft, der Freiheit, Gott und Unsterblichkeit unmittelbar voraussetzt,
sowie der Primat der praktischen vor der spekulativen Vernunft.137 Al-
lerdings könne Kant dieses unbedingte Interesse des Praktischen nicht in
ein konsistentes Verhältnis zu seiner Kritik der spekulativen Vernunft
setzen. Den Grund hierfür sieht Jacobi in Kants Verkehrung der Ver-
hältnisse von der Vernunft als Bewusstsein der Freiheit und der spekula-
tiven Vernunft oder der ihnen korrespondierenden Grundbegriffe Ursa-
che und Grund. In dieser Verkehrung der Vernunftverhältnisse ist Kant
für Jacobi ein Vollender der spinozistischen Aufklärung.
Worin genau besteht aber diese Verkehrung der Vernunftverhältnisse?
Spekulativ bringt Kant nach Jacobi zunächst die Vernunft unter die
Herrschaft des Verstandes und reduziert ihre Bedeutung auf eine rein
134
KpV AA 5, 119–121.
135
KrV B 386/A 329.
136
KrV B 395.
137
Koch 2013, 78.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 419
138
JaF JW 2,1, 214; vgl. auch Epistel JW 2,1, 155.
139
GD JW 3, 19. Dagegen schreibt Kant in OP: „Ideen sind Selbstgeschaffene subjecti-
ve Principien der Denkkraft: nicht Dichtungen sondern gedacht“ (AA 21, 29). Allerdings
spricht Kant in OP an anderen Stellen ebenfalls von den Ideen als „(Dichtungen) der rei-
nen Vernunft“ (ibid., 101; vgl. ebenso: ibid., 102).
140
GD JW 3, 19.
141
Krit JW 2,1, 283f.
142
Krit JW 2,1, 285.
420 Praktischer Glaube
143
In der Rekonstruktion des praktischen Glaubens bei Jacobi spielt also nur das eine
Rolle, was wir in unserer Rekonstruktion als religiösen Glauben bezeichnet haben. „In
der practischen Philosophie wird Gott aus einem moralischen Intereße gesetzt […]. – Er
wird wirklich geglaubt (aber nur freywillig) damit an den Effect oder Befolgung des Sit-
tengesetzes wirklich geglaubt werde, ohne welchen Effect ich an das Sittengesetz selbst
nicht wirklich glauben könnte.“ (Kladde VIII, 32f. Schneider 1986, 216; vgl. hierzu auch
Koch 2013, 65.)
144
Brief an Wieland vom 20.8.1772 JB 1,1, 160.
145
Diese Kritik Wizenmanns ist eine der wenigen, auf die Kant in seinen Hauptschrif-
ten namentlich antwortet.
146
Hutter 2003, 66.
147
KpV AA 5, 144.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 421
jektivität Anspruch erheben kann, nicht in der Lage, die Realisierung des
höchsten Guts objektiv zu ermöglichen. In KrV bestreitet Kant jedoch
die Möglichkeit, dass den Ideen der Vernunft Objektivität zukommen
könnte. Wenn die praktische Vernunft also unbedingt fordert, dass der
Mensch so handelt, als hätte die Vernunftidee Gottes objektive Realität,
so verlangt sie etwas Unmögliches. Nach Jacobi ist es deshalb unmög-
lich, so zu handeln als wäre Gott wirklich, wenn die theoretische Ver-
nunft erst einmal eingesehen hat, dass diese Ideen „bloße subjective Fic-
tionen“ der Vernunft sind, „denen jede objective Realität mangelt“, und
der spekulativen Vernunft uneingeschränkte theoretische Geltung zuge-
schrieben wird.148 Das praktische Bedürfnis der Vernunft löst dieses Di-
lemma nicht, sondern bringt die praktische Vernunft vielmehr in Miss-
kredit, da sie Unmögliches fordert:
Die Größe des Bedürfnisses hebt nicht die Unmöglichkeit auf, gewissen Ideen
objective Existenz zu verleihen, sobald die Subjectivität derselben außer allen
Zweifel gesetzt ward.149
Wir haben zuvor gezeigt, dass sich dieser Widerspruch durch den unter-
schiedlichen Gebrauch des praktischen und des theoretischen Realitäts-
begriffs auflösen lässt. Für Jacobi würde diese Trennung jedoch eine
schizophrene Haltung des Individuums voraussetzen, damit es sich mal
als praktisch und mal als theoretisch verstehen könnte. Den Wider-
spruch zwischen praktischer und spekulativer Vernunft durch die Un-
terscheidung zweier legitimer Standpunkte aufzuheben, von denen aus
der Mensch sich betrachten kann, scheidet für Jacobi also aus. Entweder
„Religion und Freyheit“ kann schlechthin „Realität zugeschrieben wer-
den“ oder sie gehören „ins Reich der subjectiven Ideen und Dichtun-
gen“.150
Das grundsätzliche Problem, das sich hier nach Jacobi zeigt, ist Fol-
gendes: Werden praktische und spekulative Vernunft als ursprünglich
isoliert betrachtet und dieser Isolierung ihr Recht gelassen, so lassen sie
sich nicht mehr nachträglich vereinigen. Der isolierte Standpunkt der
Spekulation, dessen Vollendung in Spinoza und Kant erfolgt, lässt sich
148
Krit JW 2,1, 324; vgl. auch ibid., 281. „Was Gott sey, hat Kant schon vorlängst dar-
gethan; nehmlich ein nothwendiges Gedicht der Vernunft. Es folgt aus dem was er ist, daß
er nicht ist. Aus der zuläßigkeit seines Begriffs ergiebt seine Unzuläßigkeit als ein Gegen-
stand außer der menschlichen Vernft. Begriffe laßen sich nur an Empfindungen realisie-
ren, wahr machen.“ (Kladde VIII, 111–121 Schneider 1986, 126; vgl. auch Kladde VIII, 261
Schneider 1986, 217.)
149
Krit JW 2,1, 324.
150
Krit JW 2,1, 322f.
422 Praktischer Glaube
Die Vernunft, nachdem sie, als kritische, die Augen, mit welchen sie zu sehen
nur wähnte, sich selbst herzhaft ausgestochen hat, gebietet nun, noch viel herz-
hafter, sich selbst, der offenbaren Finsterniß, die in ihr ist, in rein praktischer
Absicht, zu trotzen, durch einen blinden, d. i. ganz Erkenntnißleeren Glauben.151
151
Krit JW 2,1, 278. Vgl. ebenso Kladde VI, 191 Schneider 1986, 209.
152
Krit JW 2,1, 277f.
153
VGPh SW 20, 324.
154
Vgl. hierzu auch Sandkaulen 2011, 22.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 423
hat.155 Die Einheit von Spekulation und Praxis kann aber nur dadurch
wiederhergestellt werden, dass die verkehrten Verhältnisse von prakti-
scher und spekulativer Vernunft vom Kopf auf die Füße gestellt werden
und man die Spekulation in der Praxis begründet bzw. der spekulativen
Vernunft das praktische Handlungsbewusstsein als ihren Grund voraus-
setzt. Diese Umkehrung lässt sich als Salto mortale bezeichnen.
Der für alle Praxis grundlegende Begriff ist jedoch der freier Ursäch-
lichkeit und so gründet alle Theorie, die mit sich selbst nicht in Wider-
spruch geraten möchte, auf dem Bewusstsein der Freiheit. In der Praxis
stehen wir eigentlich immer schon auf dem archimedischen Standpunkt
außerhalb des Vermittlungszusammenhanges natürlicher Ursachen, ohne
uns das dabei unmittelbar gefühlte Dasein der Freiheit selbst bewusst zu
machen. 156 Die Enthüllung dieses Daseins der Freiheit ist deshalb die
Hauptintention von Jacobis anderer Aufklärung, zu der man sich –
nachdem Praxis und Spekulation auseinandergetreten sind – aber nur via
contradictionis von der vollendeten spinozistischen Aufklärung auf-
schwingen kann.
Pointiert lässt sich Jacobis Differenz zu Kant noch einmal so zusam-
menfassen: Bei Jacobi ist der Mensch gerade kein Bürger zweier Welten,
vielmehr konstituiert die Welt der personalen Freiheit die Welt der The-
orie.157 Ohne Voraussetzung der Freiheit lässt sich kein Begriff von Pra-
xis denken, auch nicht die Tätigkeit des Denkens und die Praxis der Spe-
kulation. Unser „personal[es] Handlungsbewusstsein“158 liegt all unseren
Akten zu Grunde, auch unseren theoretischen Vernunftvollzügen.159 So
stellt die mechanische Kausalität für Jacobi nicht eine von der Kausalität
aus Freiheit unabhängige Art in der Gattung der Kausalität dar, sondern
ist als Einschränkung derjenigen Ursächlichkeit zu denken, die ur-
sprünglich allen Ereignissen zu Grunde gelegt wird, nämlich der Selbst-
tätigkeit.160 Ursächlichkeit muss sich uns in unserer freien Selbständig-
keit bereits als „Urbild des Seyns von Allem“161 offenbart haben, um sie
in der Natur wiedererkennen zu können.162 Im Verhältnis von Freiheit
und mechanistischer Kausalität ist das zu Grunde liegende Wirkliche die
155
Vgl. hierzu auch Henrich 1994, 59.
156
Kahlefeld 2000, 49.
157
Koch 2013, 108.
158
Sandkaulen 2009, 270.
159
Ohne Freiheit bzw. Selbsttätigkeit könnte nach Jacobi nicht einmal Euklids erstes
Axiom (von jedem Punkt zu jedem anderen die Strecke ziehen zu können) gedacht wer-
den (JB 1,8, 462).
160
Brief an Kleuker vom 13.10.1788 JB 1,8, 73.
161
Allwill2 JW 6,1, 224.
162
Einl JW 2,1, 408.
424 Praktischer Glaube
163
Sandkaulen 2000, 85; 112; 118ff. Freiheit kommt hier also gleich in einem zweifa-
chen Stellenwert vor.
164
Brief an Hamann vom 11.1.1785 JW 1,4, 15.
165
JaF JW 2,1, 214.
166
JaF JW 2,1, 237.
167
Spin2 JW 1,1, 165.
168
GD JW 3, 18.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 425
serem Bewusstsein der Freiheit gründet. Damit kehrt sich auch das
Problem um, wie sich Freiheit vor dem Naturdeterminismus rechtferti-
gen lässt. Denn der Ursachebegriff entspringt unserer Selbstwahrneh-
mung als freier Ursache und wird von da aus auf die Natur übertragen.
Ohne Freiheit könnten wir deshalb keine Kausalverknüpfung, ohne Un-
bedingtheit keine Bedingtheit denken. Kants Fehldeutung dieses Ver-
hältnisses führt in der theoretischen Kritik dazu, die Vernunft dem Ver-
stand zu unterwerfen, um dann in der praktischen Kritik die Vernunft
wieder über den Verstand zu erheben.169 Kant gibt zunächst zu Gunsten
der Wissenschaft theoretisch die Metaphysik auf, um sie dann praktisch
wiederzubeleben und dafür die Wissenschaft aufzugeben.170 Denn seine
Isolierung von Theorie und Praxis als unterschiedliche Funktionen der
Vernunft lässt keinen Übergang von der Theorie zur Praxis, von der
spekulativen Vernunft zur Freiheit zu.171 Wird der Glaube als Bewusst-
sein menschlicher Freiheit nicht als Fundamentalbegriff aller menschli-
chen Praxis und Spekulation zu Grunde gelegt, so ist nur noch Raum für
einen blinden Glauben. Für viele Aufklärer muss es freilich einen Skan-
dal darstellen, das ein Glaube aller Rationalität und Aufklärung immer
schon uneinholbar vorausliegen soll.
169
GD JW 3, 85; Einl JW 2,1, 381f.
170
GD JW 3, 88; JaF JW 2,1, 196; Einl JW 2,1, 395.
171
Dies macht Jacobi deutlich, wenn er in seiner Epistel zwischen die Erklärung der
theoretischen Vernunft und der praktischen einfügt: „Ende der Vernunft und Anfang der
Freyheit.“ (Epistel JW 2,1, 156.)
172
JaF JW 2,1, 237.
426 Praktischer Glaube
dem sich der menschliche Geist auf diesen Grund des Wissens bezieht,
kann deshalb nicht der des Wissens sein, sondern muss via negationis als
„Glauben“, „wissendes Nichtwissen“ oder „Ahndung“ bestimmt wer-
den. Dieser Glaube begründet nach Jacobi seine eigene „Unphilosophie,
die ihr Wesen hat im Nicht-Wißen“.173
Dieser Glaube als Bewusstsein freier Selbsttätigkeit hat zunächst keine
religiöse Konnotation. Für Jacobi ist unser Freiheitsbewusstsein jedoch
notwendig auf einen personalen Gott bezogen. In scheinbar ähnlicher
Weise resultiert auch bei Kant aus dem Freiheitsbewusstsein das Postulat
Gottes. Jacobis Argumentation ist aber eine völlig andere. Insofern die
Freiheit das Unbedingte im Menschen ist, bleiben zwei Alternativen:
Der Mensch ist selbst Ursache seiner Unbedingtheit oder er verdankt sie
einer anderen Ursache. Nach Jacobi erkennt nun die menschliche Ver-
nunft in der Reflexion auf ihre eigenen Vollzüge ihre eigene Bedingtheit
und damit die Notwendigkeit, sich auf eine ihr vorausgesetzte Ursache
hin zu transzendieren. Als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit und der
Möglichkeit ihrer praktischen und spekulativen Operationen muss sich
die menschliche Vernunft eine unbedingte und von ihr verschiedene
Vernunft voraussetzen (die wir Gott nennen). Kant hingegen, der die
menschliche Vernunft nicht in ihrer metaphysischen, sondern nur in ih-
rer epistemischen Begrenztheit setzt, verkehrt deshalb für Jacobi wiede-
rum die wahren Vernunftverhältnisse, indem Gott als Ursache der
menschlichen Vernunft bei ihm von einer Voraussetzung zu ihrer Set-
zung wird.
Um Gott aus der Vernft darzuthun, muß er als etwas die Vnft bedingendes dar-
gethan werden – Wenn die Vernunft ihn bedingt, so ist er nicht. – Die Vnft muß
aus ihm hervorgegangen seyn, nicht (wie bey Kant) er aus der Vnft.174
173
JaF JW 2,1, 194; vgl. ebenso: ibid., 215.
174
Kladde VIII, 341 Schneider 1986, 216. Vgl. auch JaF JW 2,1, 193.
175
Die Natur als bloßer Mechanismus scheidet bei Jacobi als mögliche Ursache der
Freiheit aus (GD JW 3, 11).
176
JB 1,8, 462. „Sie können sich vorstellen, wie merkwürdig das für mich seyn muß,
daß Kant mit mir den Glauben an Gott auf das factum der Causalität menschlicher Ver-
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 427
Ich erhebe mich nehmlich über meine menschliche Vernunft, indem ich, Kraft
meiner Vernunft, ihren Urheber, eine unabhängige Intelligenz, das ist – die
Gottheit denke, die als ein schlechterdings Erstes und Einziges, mir schlechter-
dings unbegreiflich bleiben muß. Wer auf eine andre Weise, d. i. nicht mit, aus
und durch Vernunft, sondern ohne sie und außer ihr mit seinem Dünkel, mit
seinen Vorurtheilen sich über sie erhebt, der ist Fanatiker [.]177
182
JaF JW 2,1, 207.
183
„Ich verstehe unter dem Wahren etwas, was vor und außer dem Wißen ist; was dem
Wißen, und dem Vermögen des Wißens, der Vernunft, erst einen Werth giebt.“ (JaF JW
2,1, 208.)
184
JaF JW 2,1, 199.
185
JaF JW 2,1, 199.
186
JaF JW 2,1, 198.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 429
Wissen. In dieser Analyse weiß sich Jacobi mit Kant ganz einig: Das bloß
Gegebene kann sich so und auch anders verhalten und kann damit nicht
mit absoluter Gewissheit gewusst werden. Nur was von der menschli-
chen Vernunft mit Notwendigkeit selbst gesetzt wird, ist für sie wirk-
lich. In der aus diesem Gedanken resultierenden Revolution des Spino-
zismus überbietet Fichte sogar noch einmal letzteren:
Jede Wissenschaft will alle in ihr zu erklärenden Phänomene mög-
lichst auf ein einziges Prinzip zurückführen. Das bedeutet aber, dass das
Denken in der Wissenschaft des Wissens zuletzt noch die Teilung zwi-
schen Vernunft und Sein aufheben muss. Ziel wissenschaftlichen Den-
kens ist damit – so Jacobi – die Gleichung Subjekt=Objekt oder Ver-
nunft=Sein. Dabei gibt es zunächst zwei Möglichkeiten: Entweder man
leitet wie Spinoza innerhalb der Philosophie das Subjekt aus dem Objekt
(die Vernunft aus der Substanz) ab und setzt damit das Objekt an den
Anfang der Gleichung. Oder man leitet wie Fichte alles aus dem Subjekt
bzw. der Vernunft her. Die Wissenschaftslehre ist damit nicht irgendeine
beliebige Alternative zu Spinoza, sondern eben ein „umgekehrte[r] Spi-
nozismus“.187 Fichtes Ausgang vom Subjekt hat aber den Vorteil, dass
hier das Denken, welches das System entwirft, nicht außerhalb des be-
griffenen Gegenstandes – des Absoluten – bleibt, sondern mit diesem
identisch ist. Die Wissenschaft und ihr Gegenstand sind identisch, das
Denken in seinem Vollzug ist zugleich der Gegenstand des Denkens. Ja-
cobi versteht die Wissenschaftslehre also als die Selbstexplikation ihres
Gegenstandes, des Absoluten. 188 Damit vollendet Fichte zugleich das
Anliegen der transzendentalen wie der spinozistischen Aufklärung: die
absolute Selbstsetzung der autonomen Vernunft.
Denn was passiert hier mit den Gegenständen, die im reinen Wissen
gewusst werden sollen? Der Mensch kann nur begreifen was er selbst
hervorgebracht hat: Einen Gedanken begreifen heißt ihn zu konstruie-
ren.189 Die Vernunft muss ihre Voraussetzungen als bloß positive Set-
zung aufheben und als Resultat ihres eigenen Konstruierens selbst ent-
stehen lassen. Die Vernunft annihiliert dabei alle ihre Voraussetzungen,
um sie aus sich selbst zu entwickeln.190 Das Seiende wird in seinem ob-
jektiven An-sich-Sein aufgehoben, um subjektiv als Setzung des Ich her-
187
JaF JW 2,1, 195.
188
Freilich ist fraglich, ob Fichtes frühe Wissenschaftslehre sich als Selbstexplikation
des Absoluten versteht.
189
„Der Kern der Kantischen Philosophie ist die von ihrem tiefdenkenden Urheber zur
vollkommensten Evidenz gebrachte Wahrheit: daß wir einen Gegenstand nur in so weit
begreifen, als wir ihn in Gedanken vor uns werden zu lassen, ihn im Verstande zu erschaf-
fen vermögen.“ (GD JW 3, 78; vgl. hierzu KrV B xiii.)
190
JaF JW 2,1, 201.
430 Praktischer Glaube
Offenbar muß alles in und durch Vernunft, im Ich als Ich, in der Ichheit allein
gegeben und in ihr schon enthalten seyn, wenn reine Vernunft allein, aus sich
allein, soll alles herleiten können.192
191
JaF JW 2,1, 230.
192
JaF JW 2,1, 200f.
193
VSpin3 JW 1,1, 344.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 431
sondern ihre Macht ist vielmehr die der Negation.194 Sie transformiert
deshalb das substantive Sein in das relative Sein der Kopula:
Das Ist des überall nur reflectirenden Verstandes ist überall auch nur ein relati-
ves Ist, und sagt mehr nicht aus, als das bloße einem Andern gleich seyn im Be-
griffe; nicht das substanzielle Ist oder Seyn.195
Die sich als unbedingt begreifende menschliche Vernunft kann nach Ja-
cobi nur nach dem Prinzip idem est idem verfahren, „aus welchem das
Facit eines directen simpeln Esse sich nie ergeben kann“.196 Das absolute
Ich Fichtes setzt dementsprechend kein Sein aus sich heraus, sondern
was es setzt, setzt es explizit nur als seine eigene Tätigkeit: Es setzt kein
vom Ich unabhängiges An-und-Für-sich-Sein, sondern nur ein Für-das-
Ich-Sein. Anders formuliert: Fichtes Aufklärung, indem sie alles Sein in
eine Setzung des Ich aufhebt, transformiert das substantielle Sein (das
Dasein) in ein bloß relationales Verhältnis der Gleichheit mit und
Entgegensetzung zum Ich. Das Nicht-Ich ist relational bestimmt als rei-
ne Entgegensetzung gegen das Ich. Aber auch das absolute Ich Fichtes
ist selbst reine Relation: die bloße Gleichheit mit sich selbst. Das Ich
(oder die Vernunft) der reinen Spekulation ist nur noch die reine, selbst-
bezügliche Tätigkeit der Gleichsetzung mit sich allein, ohne ein von die-
ser Tätigkeit verschiedenes Produkt oder Produzierendes, Gleichsetzen-
des oder Gleichgesetzes. Die Gleichheit wird nur mit sich selbst gleich-
gesetzt. Dem Ich Fichtes kommt „kein eigentliches Seyn, kein Bestehen
zu [...]. Die Intelligenz ist dem Idealismus ein Thun, und absolut nichts
weiter“.197 Fichtes Ich kann daher für Jacobi als subjektive Umkehrung
der spinozistischen Substanz verstanden werden: denn beide müssen
causa sui sein.198 Fichte kann sich nach Jacobi sogar rühmen, dem Begriff
der causa sui seine Widersprüchlichkeit genommen zu haben, indem hier
nicht nur Ursache und Wirkung zusammenfallen, sondern beide noch
einmal identisch sind mit dem actus des ursächlichen Hervorbringens
der Wirkung. Die Vollendung der Aufklärung der Vernunft ist hier des-
halb erreicht, weil die Vernunft noch sich selbst in ihrem Selbstbegreifen
als gegebenes Sein annihiliert und sich selbst nur als ihr eigenes Handeln
anschaut. Das wird aus der Perspektive Jacobis aber damit erkauft, dass
dieses Ich (= Vernunft), das sich selbst setzt, eine Ursache ist, die selbst
194
FB WW VI, 166.
195
Einl JW 2,1, 424.
196
DH1 JW 2,1, 27.
197
Versuch GA 1,4, 200.
198
Vgl. GWL GA 1,2, 259.
432 Praktischer Glaube
nichts ist, und eine Wirkung zeitigt, die ebenso nichts ist. Die absolute
Selbstsetzung der Vernunft mit sich selbst ist deshalb für Jacobi der
Übergang „aus Nichts, zu Nichts, für Nichts, in Nichts“.199
Nun kann für Jacobi eine Tätigkeit, deren Tätiges und Getätigtes bei-
de nichts sind, selbst nur nichts sein. Indem sie autonomer Grund ihrer
selbst sein will, vernichtet die Vernunft zum Schluss noch ihr eigenes
Selbstsein und hebt mit ihrem Selbstsein und ihren Wirkungen ihre eige-
nen Vollzüge auf. Die Verabsolutierung der Vernunft (indem sie sich
selbst als ihre eigene unbedingte Voraussetzung setzt) führt konsequen-
ter Weise zu ihrer Annihilation:200
Alles außer ihr ist Nichts, und sie selbst nur ein Gespenst; ein Gespenst, nicht
einmal von Etwas; sondern, ein Gespenst an sich: ein reales Nichts; ein Nichts
der Realität.201
Aus diesem Nihilismus der autonomen Vernunft lässt sich nach Jacobi
jedoch wiederum unmittelbar gegen selbige und ihre Voraussetzung (die
Freiheit des Ich ist ihr eigener Seinsgrund) schließen.202 Die Vernunft, die
nicht Grund ihres Seins sein kann, erkennt, dass sie sich selbst und ihre
eigenen Vollzüge in einem rein immanenten Wissen vernichten würde.
Diese Einsicht motiviert das Heraussetzen des Grundes des Wissens aus
der Immanenz der eigenen Vollzüge. Sofern die Vernunft ist und sofern
sie vernünftig ist, muss sie den Grund ihres Seins und ihrer Tätigkeit sich
selbst und ihrer Tätigkeit voraussetzen. Dieser Grund muss in der Lage
sein, Sein nicht nur als Relation, sondern als Substanz zu setzen:
So gewiß ich Vernunft besitze, so gewiß besitze ich mit dieser meiner menschli-
chen Vernunft nicht die Vollkommenheit des Lebens, nicht die Fülle des Guten
und des Wahren […]. Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung
nicht: Ich; sondern, Mehr als Ich! Beßer als ich!203
Die Vernunft kann und vermag nicht aus sich selbst zu sein, ohne eine
ihr vorausgesetzte absolute Vernunft, „welche das Wesen selbst der
199
JaF JW 2,1, 202.
200
„Ich bin alles, und ausser mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und Ich, mein
Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk von Etwas; die Form einer
Form; gerade so ein Gespenst, wie die andern Erscheinungen die ich Dinge nenne, wie die
ganze Natur, ihre Ordnung und ihre Gesetze.“ (DH1 JW 2,1, 61.)
201
JaF JW 2,1, 207. Vgl. hierzu auch: Müller-Lauter 1975, 127.
202
JaF JW 2,1, 215. Insofern ist der Nihilismus kein defizitäres Denken, sondern not-
wendige Konsequenz und Voraussetzung für die Möglichkeit des Vollzugs des Salto mor-
tale (Baum 1969, 36).
203
JaF JW 2,1, 209f.
Die Praxis des Glaubens bei Jacobi 433
Wahrheit ist, und in sich die Vollkommenheit des Lebens hat“,204 der sie
ihr eigenes Sein und die Vernünftigkeit ihrer eigenen Vollzüge verdankt.
Die menschliche Vernunft muss sich als Eigentum einer höheren, abso-
luten Vernunft begreifen und den Grund ihrer Unbedingtheit aus sich
heraussetzen.205 Dies kann jedoch nicht auf dem Wege einer bloß logi-
schen Operation geschehen, sondern setzt eine Entscheidung voraus.
Das Individuum muss wählen zwischen dem Nichts und einem Grund,
der absolute Selbständigkeit ist. 206 Die Selbständigkeit des Menschen
setzt sich dabei als eingeschränkt durch seine Abhängigkeit von einem
absolut Selbständigen. Andererseits ist er auch ein persönliches Wesen
und als dieses „Einer und kein Anderer“.207 Die Möglichkeit dieser Rela-
tion setzt nun nach Jacobi eine Persönlichkeit voraus, die nicht auf An-
dere angewiesen ist, eine vollendete Selbständigkeit:
Gott allein ist der Eine der nur Einer ist, der Alleinige; Er ist das Eine ohne An-
deres im ausnehmenden, im höchsten Sinne; in keinem Sinne Einer nur unter
andern, kein einzelnes, durch Vor- und Mitdaseyn bedingtes Wesen, sondern
das ausschließlich in sich selbst genugsame, unbedingt selbstständige – das allein
vollkommene, allein ganz wahrhafte Wesen.208
nunft des Menschen vorausgesetzt werden, die die Vernunft des Men-
schen überhaupt erst ermöglicht und vernünftig sein lässt. Die Vernunft
muss sich in ihrer Selbstreflexion als bedingt durch eine ihr vorausge-
setzte unbedingte Vernunft erkennen. Nur in ihrer Relation zu dieser sie
transzendierenden Vernunft kann sich die menschliche Vernunft als Ur-
sache verstehen, das heißt selbst als etwas bedingt Unbedingtes.210 Die
menschliche Vernunft muss sich als „Geschöpf“ einer absoluten Ver-
nunft betrachten.211 In dieser Geschöpflichkeit, das heißt als etwas von
der absoluten Vernunft außer ihr hervorgebrachtes, versteht sich die
Vernunft als selbständige Substanz.
Wir können abschließend zusammenfassen: Wenn Schelling in seiner
Denkmalsschrift Jacobi darin in Gegensatz zu Kant bringt, dass Letzte-
rer das wissenschaftliche Denken nicht zum Atheismus führen, sondern
in der Frage nach Gott unentschieden lässt,212 so tut er dies zu Recht.
Denn diese Neutralität ist für Jacobi deshalb unhaltbar, da das Unbe-
dingte schon für die theoretische Vernunft nicht nur eine regulative Idee
ist, die als Fluchtpunkt des Denkens die Verstandeserkenntnisse ordnet,
sondern es ist der immer schon vorausgesetzte konstitutive Grund aller
Leistungen der Vernunft. Die Idee Gottes ist nicht nur Gegenstand der
Vernunft, sondern Voraussetzung ihres Seins. Deshalb kann die Ver-
nunft kein indifferentes Verhältnis zu Gott haben, sondern muss ihn zu
erkennen und damit in sich selbst aufzuheben suchen. Als Resultat der
Einsicht in das Scheitern dieses rein rationalen Versuchs, das Unbedingte
zu wissen, setzt sie es aus sich heraus.
Was bleibt dann aber nach dem Heraussetzen des Grundes aus der
Vernunft? Für Jacobi eine endliche Vernunft, die nicht nur sich selbst
vernimmt, sondern die ihr transzendente absolute Vernunft,213 der Glau-
be an einen Gott. Dieser „ist dem Menschen natürlich, wie seine aufge-
richtete Stellung.“214 Wenn der Glaube an Gott für uns ein Glaube an ein
Gespenst geworden ist, dann werden wir letztlich selbst zu Gott werden.
Aber eben auch nur als Gespenst. Sein und Wesen werden für uns zu
Gespenstern werden: „Das Wahreste kann nur so wahr seyn als Gott le-
bet, nur so wahr als daß ein Gott im Himmel, das heißt, selbstständig
außer der Natur und über ihr vorhanden ist“ als „ihr freyer Urheber“.215
210
Dagegen ist die Vernunft bei Jacobi nach Larkin kein Zweck an sich selbst, sondern
nur ein Mittel, um zur Wahrheit vorzudringen: „In itself reason is empty, desolate and
void“ (Larkin 2000, 401).
211
DBFK JW 2,1, 351.
212
Vgl. Denkmal SW I,4, 425.
213
GD JW 3, 13f.
214
GD JW 3, 13.
215
GD JW 3, 9.
3. KAPITEL: RELIGION BEI KANT UND JACOBI
A. Kant
Im vorigen Kapitel haben wir den religiösen Glauben bei Kant als Modi-
fikation des moralischen Glaubens bestimmt. Von diesem „reinen Reli-
gionsglauben“ unterscheidet Kant nun wiederum den „Kirchenglauben“
an eine heilige Schrift oder eine religiöse Tradition:
Glaubenssätze, welche zugleich als göttliche Gebote gedacht werden sollen, sind
nun entweder blos statutarisch, mithin für uns zufällig und Offenbarungslehren,
oder moralisch, mithin mit dem Bewußtsein ihrer Nothwendigkeit verbunden
und a priori erkennbar, d. i. Vernunftlehren des Glaubens. Der Inbegriff der ers-
teren Lehren macht den Kirchen-, der anderen aber den reinen Religionsglauben
aus.1
1
SF AA 7, 49.
436 Religion bei Kant und Jacobi
Verwendet Kant also den Begriff des moralischen Glaubens einmal für
den reinen praktischen Glauben und zum anderen für den religiösen
Glauben der Hoffnung, so verwendet er andererseits auch den Begriff
des Religionsglaubens als Oberbegriff für beide Formen moralisch be-
gründeten Glaubens, diesmal eben in Opposition zu einem moralisch
unbegründeten Kirchenglauben. Das Verhältnis beider Glaubensformen
lässt sich dabei auf den ersten Blick folgendermaßen bestimmen: Der
moralisch begründete Religionsglaube ist der einzig mögliche Maßstab
für die Legitimität jedes historisch begründeten Kirchenglaubens. Sofern
letzterer in Widerspruch zu ersterem steht, kann er keinen Anspruch auf
einen göttlichen Ursprung erheben. 2 Da kein Kirchenglaube mit dem
reinen Religionsglauben vollkommen identisch ist, sondern immer eine
„Mischung“ aus moralisch begründeten Grundsätzen und dogmatischen
und rituellen Zusätzen, muss man jeden Kirchenglauben entsprechend
seiner Annäherung an den reinen Religionsglauben beurteilen. Der Kir-
chenglaube, sofern er inhaltlich vom Religionsglauben abweicht und
dennoch von der Vernunft gerechtfertigt und in das Aufklärungsprojekt
integrierbar sein soll, kann dabei „nichts anderes sein als eine Veranstal-
tung, das moralische Bewußtsein zu fördern“.3 Letztlich sollten alle auf-
geklärten Gläubigen jedoch an der Überwindung des Kirchenglaubens
durch das universelle „Glaubensbekenntnis der reinen, moralischen, Re-
ligion“4 mitwirken. Denn nur dieses ist mit der Autonomie des gläubi-
gen Subjekts und damit der Aufklärung vereinbar.
Kants Religionslehre wäre so verstanden aber zumindest in zwei Hin-
sichten problematisch:
1. Kants Entgegensetzung von einem „blos statutarischen“, „zufälli-
gen“ und letztlich unaufgeklärten Kirchenglauben und dem notwendi-
gen, vernünftigen und deshalb aufgeklärten Religionsglauben, impliziert,
dass jeder Kirchenglaube im Prozess der Aufklärung durch den reinen
Religionsglauben abgelöst werden sollte. Die für das kirchengläubige
Bewusstsein konstitutiven Inhalte werden damit als unaufgeklärt abge-
wertet, insofern sie das Individuum auf Handlungen und Glaubenssätze
verpflichten, deren Gründe durch das autonome Subjekt nicht einsehbar
sind. Diese Haltung dürfte für kirchengläubige Individuen jedoch eher
unzumutbar sein. Denn diese denken Absolutheit gerade nicht vom In-
dividuum und seiner endlichen Vernunft, sondern von dem sich offenba-
renden Gott her. Dadurch besitzt die Botschaft, in der sich Gott für den
Menschen entäußert, eine absolute Würde, die sich einer Kritik durch
2
SF AA 7, 63.
3
Horkheimer 1989, 623.
4
Reinhold 2004, 185.
Kant 437
die menschliche Vernunft entzieht.5 Wenn nun Ameriks Recht hat, dass
Kant in seinen Kritiken darauf zielt, durch regressives Verfahren die
notwendigen Bedingungen menschlicher Erfahrung (sei diese nun theo-
retisch, moralisch oder ästhetisch) herzuleiten,6 sollte dies zumindest in
eingeschränkter Weise auch für die religiöse Erfahrung gelten. Kants
Konzeption von Religion sollte sich deshalb an dem Anspruch messen
lassen, die religiöse Erfahrung des Menschen entweder zu begründen
oder zumindest verständlich zu machen.7
2. Trotz der notwendigen Behauptung des universellen Standpunkts
seiner eigenen Religionsphilosophie lässt sich Kant nicht von einem ge-
wissen voreingenommenen Blick auf das Christentum freisprechen. Bei
aller Kritik lässt für ihn doch einzig der christliche Kirchenglaube eine
Interpretation zu, die mit seinem Konzept eines reinen Religionsglau-
bens in Einklang gebracht werden kann.8 Hieraus könnte man nun wie-
der folgern, dass Kants Idee einer rein moralischen Religion letztlich nur
das aufklärerische caput mortuum des christlichen Glaubens ist, eine Art
abstrakt-rationaler Überrest spezifisch christlicher Überzeugungen. In-
sofern wäre Kants Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft
selbst wiederum nur das Resultat seiner christlich-aufklärerischen Vor-
urteile.
Kants Religionsphilosophie erscheint also sowohl aus religiöser als
auch aus aufgeklärter Sicht defizitär: Aus religiöser Perspektive kann
man Kant vorwerfen, dass er dem religiösen Selbstverständnis nicht ge-
recht zu werden versucht.9 Aus aufgeklärter Perspektive erscheint hinge-
gen seine Orientierung an der christlichen Lehre als Bruch mit seinen
kosmopolitischen Aufklärungsansprüchen.10 Unsere Interpretation ver-
5
Dierksmeier 1998, 100.
6
Ameriks 2003, 4; 8.
7
So sieht Wolterstorff in Kants Religionsphilosophie nicht den Versuch einer Reduk-
tion der Religion auf die Moral, sondern das Bemühen um Gründe für zentrale religiöse
Glaubenssätze (Wolterstorff 1991, 41).
8
Von „orientalischer Weisheit“ wären wir deshalb nach Kant besser „verschont ge-
blieben“; aus ihr lasse sich nichts lernen, sondern bestenfalls ein Sinn hineintragen, der
aber der okzidentalen Bildung entspringe (Refl 789 AA 15, 345). Diese Kritik richtet sich
vor allem gegen Hamann und Herder (Zammito 1992, 40).
9
Aus Perspektive eines gläubigen Christen dürfte Kants Rekonstruktion des christli-
chen Glaubens etwa wegen seiner Negation der Gottessohnschaft Christi (RGV AA 6,
63f.) inakzeptabel sein (vgl. u. a. Off SW I,6, 496; Duplá 2016, 257; Jahae 2005, 482;
Wimmer 2004, 175; Cassirer 1979, 86).
10
Vgl. McCarthy 1986, 56ff. Gegen diese Kritik argumentiert Höffe, Kant entdecke
deshalb wesentliche Momente seiner Moralphilosophie im Christentum, da er so lange
von dessen christlichem Charakter abstrahiere, bis nur noch eine Lehre autonomer Moral
438 Religion bei Kant und Jacobi
zurückbleibe (Höffe 2014, 20). Im Grunde sei Kants Religion deshalb eine „kosmopoliti-
sche Theologie“ (ibid., 21).
11
Diese These vertreten Sala 1992, 144; Cortina 1984, 280; 292f.; Cassirer 2001, 367; di
Giovanni 2003, 369; Kulenkampff 2010, 337.
12
Dierksmeier 1998, 81; vgl. auch Palmquist 1992.
13
Nach Wood richtet sich RGV primär an eine lutherische Leserschaft, die Kant davon
überzeugen will, dass es keinen Konflikt zwischen Vernunftmoral und christlicher Le-
bensführung geben muss (Wood 2014, 31).
Kant 439
Wir haben festgestellt, dass jeder Kirchenglaube für Kant zunächst eine
Art dogmatisches System ist, das bestimmte Handlungen und Überzeu-
gungen vorschreibt, sich also aus theoretischen und praktischen Inhalten
konstituiert. Die folgenden Abschnitte wollen anhand von Kants Ausei-
nandersetzung mit der christlichen Religion analysieren, wie Kant ver-
sucht, diese dogmatischen Gehalte in sein Aufklärungsprojekt zu integ-
rieren.
17
„Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben.“
(RGV AA 6, 107.)
18
„Cultus externus kann also nicht einen Unterschied machen in den Religionen, nur
in den formalitaeten derselben, denn es kann nur eine wahre und nicht viele Religionen
geben.“ (V-PP/Powalski AA 27,1, 186.)
19
RGV AA 6, 12.
20
RGV AA 6, 12.
Kant 441
21
V-PP/Powalski AA 27,1, 169.
22
„Das historische Erkenntniß, welches keine innere, für jedermann gültige Beziehung
hierauf hat, gehört unter die Adiaphora, mit denen es jeder halten mag, wie er es für sich
erbaulich findet.“ (RGV AA 6, 43.)
23
RGV AA 6, 157.
24
Unter diesen ist nach Kant „das Christenthum, so viel wir wissen, die schicklichste
Form“ (SF AA 7, 36).
25
RGV AA 6, 104. „Von dem Kultus der Religion ist nichts zu sagen, als daß er ganz
gleichgültig sey. In der Religion die nicht soll abgöttisch seyn, muß er nur als Mittel be-
trachtet werden, und nicht als wenn man sich dadurch Gott unmittelbar könnte wohlge-
fällig machen.“ (V-PP/Powalski AA 27,1, 174.)
26
Briefentwurf an Lavater nach dem 28.4.1775 AA 10, 179.
442 Religion bei Kant und Jacobi
ßer Täuschung. Dieser Begriff kann aber weder durch die Sinne noch
durch den Verstand gegeben sein, da weder die Sinne noch der Verstand
das Unendliche erfassen können. Die Vernunft hingegen liefert zwar
keine positiven Kriterien, die eine Offenbarung erfüllen muss, um tat-
sächlich göttlich zu sein. Sie kann aber kritisch feststellen, wenn kein Fall
göttlicher Offenbarung vorliegt, nämlich dann, wenn ein Widerspruch
zur praktischen Vernunft impliziert ist. Schriftstellen, die die Vernunft
„übersteigende Lehren enthalten, dürfen“, Stellen, die der Vernunft wi-
dersprechen, „müssen“ deshalb im Rahmen religiöser Aufklärung zu
Gunsten der Vernunft ausgelegt werden.30 Als besonders eklatantes Bei-
spiel einer offensichtlich falschen Offenbarung gilt Kant die Forderung
Gottes an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern.31 Diese widerspricht
eindeutig der praktischen Vernunft und damit auch ihrer Idee Gottes als
moralischem Gesetzgeber. Eine Religion, die auf solchen Erzählungen
gründet, muss nach Kant letztlich an ihrem Widerspruch zur Vernunft
zu Grunde gehen. Denn „eine Religion, die der Vernunft unbedenklich
den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“.32
Würde nicht jeder Mensch immer schon mit seiner Vernunft auch
über den praktischen Vernunftbegriff von Religion verfügen, so wäre die
religiöse Aufklärung nicht kommunikabel. Denn für das religiöse Be-
wusstsein würde die aufklärerische Kritik an seinem Glauben dann im-
mer nur von einem diesem Glauben äußerlichen Maßstab aus kritisiert
werden können, von dem aber gar nicht gezeigt werden könnte, dass er
für die eigene Glaubensart Verbindlichkeit besitzt. Wenn aber die wahre
moralische Religion die Voraussetzung der Möglichkeit positiver Religi-
on ist, so muss sie einen verpflichtenden Maßstab für letztere darstellen.
Denn mit der Aufhebung der Voraussetzung würde auch die positive
Religion aufgehoben.
Zentral für den auf der Moral begründeten reinen Religionsglauben ist
aber die Autonomie, denn ohne Autonomie gibt es keine Moral. Damit
ergibt sich zwangsläufig eine Kritik an den unbedingten Geltungsan-
sprüchen statutarischer, religiöser Vorschriften, die über die rein morali-
schen Gesetze hinausgehen. Diese müssten nämlich als Setzungen eines
Willkürgottes verstanden werden, der den ihm unterworfenen Menschen
beliebige kultische Vorschriften aufoktroyiert. Der Religionsdienst des
30
SF AA 7, 38; 33.
31
„Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: ‚Daß ich
meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst,
Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden’, wenn sie auch vom
(sichtbaren) Himmel herabschallte.“ (SF AA 7, 63.)
32
RGV AA 6, 10.
444 Religion bei Kant und Jacobi
33
Refl 8087 AA 19, 630f.
34
RGV AA 6, 115.
35
RGV AA 6, 170.
36
Anth AA 7, 200.
37
RGV AA 6, 83.
38
„[D]aß die Religion nichts als eine Art von Gunstbewerbung und Einschmeichelung
bey dem höchsten Wesen sey, in Ansehung deren die Menschen sich nur durch die Ver-
schiedenheit ihrer Meinungen, von der Art, die ihm die beliebteste seyn möchte, unter-
scheiden ist ein Wahn, der, er mag auf Satzungen oder frey von Satzungen gestimmet
seyn, alle moralische Gesinnung unsicher macht und auf Schrauben stellt, dadurch, daß er,
ausser dem guten Lebenswandel, noch etwas anderes als ein Mittel annimmt, die Gunst
Kant 445
des Höchsten gleichsam zu erschleichen und sich dadurch der genauesten Sorgfalt in An-
sehung des ersteren gelegentlich zu überheben, und doch auf den Nothfall eine sichere
Ausflucht in Bereitschaft zu haben“ (AA 10, 192f.). Vgl. ebenso: RGV AA 6, 106; V-
Mo/Collins AA 27,1, 328.
39
Vgl. hierzu Dörflinger 2004. Die Begriffe, die etwa in der Moraltheologie verwendet
werden und auch in der Moralphilosophie Bedeutung haben, werden in der transzenden-
talen Theologie von sinnlichen Beimengungen gereinigt (KrV B 669f./A 641f.).
40
„Auf solche Weise müssen alle Schriftauslegungen, so fern sie die Religion betreffen,
nach dem Princip der in der Offenbarung abgezweckten Sittlichkeit gemacht werden und
sind ohne das entweder praktisch leer oder gar Hindernisse des Guten. – Auch sind sie
alsdann nur eigentlich authentisch, d. i. der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir
niemand verstehen als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Ver-
nunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als
durch Begriffe unserer Vernunft, so fern sie rein=moralisch und hiemit untrüglich sind,
erkannt werden kann.“ (SF AA 7, 48.)
41
RGV AA 6, 12.
42
SF AA 7, 6. Dass Kant mit diesen Bemerkungen auf das königliche Rescript reagiert,
impliziert keinen Mangel an Authentizität.
446 Religion bei Kant und Jacobi
Religion.43 Die bloß natürliche Religion ist, „eine gute aber unvollständi-
ge Religion. Sie ist gut und liegt auch jeder Religion zu Grunde. Sie ist
eine Grundlage revelatae Religionis“:44
Man muß seine Kräfte anwenden, der Natürlichen Religion Genüge zu leisten,
und dann kann man hoffen, die übernatürliche als das Supplementum der natür-
lichen Religion zu genießen.45
Kant glaubt freilich nicht, dass seine Interpretation der Bibel ein willkür-
liches „Hineinlesen“ vernünftiger Gehalte in die Bibel ist. Vielmehr zeigt
bereits eine Reflexion aus den 1760er Jahren, dass es für ihn die Schwär-
mer und Sekten sind, die ihre Hirngespinste und ihre Dogmen nicht in
der Bibel finden, sondern in diese hineinlesen. 46 Aus der spezifischen
Perspektive der Aufklärung kann für Kant auch nicht die Tradition,
sondern nur der reine Religionsglaube das angemessene Interpretations-
werkzeug zum Verständnis einer historischen Glaubensart sein. 47 Die
Aufgabe des historischen Verständnisses einer positiven Religion kommt
dagegen den Theologen zu. Analog kann ja auch die Rechtsgeschichte
nicht Geltungsgrund einer Rechtsnorm sein und fällt somit nicht in die
Kompetenz des Rechtsphilosophen. Die Theologen und Rechtsgelehrten
sollten jedoch die Stimme des philosophischen Vernunftlehrers für ihre
Interpretation zur Kenntnis nehmen.
rung und die Autonomie des Menschen dar. Die Moralisierung mora-
lisch indifferenter dogmatischer und kultischer Glaubensgehalte unter-
wirft den Menschen Pflichten, die er sich nicht in autonomer Weise
selbst vorschreiben kann, sondern die ihm von Autoritäten vorgegeben
werden. Außerdem gaukelt ihm die Einhaltung dieser Pflichten eine mo-
ralische Vervollkommnung vor, die keine ist. Zuletzt, aber vielleicht am
schädlichsten, ist der Hang, moralisch indifferente religiöse Pflichten
Dritten aufzuzwingen. So sind die bestehenden positiven Religionen für
Kant in der Tat ein Haupthindernis schlechthin für die Selbstbefreiung
des Menschen. Interpreten wie Dörflinger ziehen hieraus den Schluss,
Kants Religionsphilosophie sei ausschließlich Kritik positiver Religio-
nen. 48 Demgegenüber stellt Dierksmeier fest, dass der Vernunftbegriff
(bzw. das Noumenon) von Religion zwar Legitimations- und Limitati-
onsgrund aller religiösen Ansprüche ist, es Kant aber dennoch nicht um
eine kritische Reduktion von Religion auf reine Rationalität geht.49
Für die Frage nach dem Stellenwert des Kirchenglaubens bei Kant ist
zunächst aufschlussreich, dass Kant in SF den religionsphilosophischen
Gegensatz zwischen Kirchenglauben und Religionsglauben in Entspre-
chung zum erkenntnistheoretischen Gegensatz zwischen Empirismus
und Rationalismus setzt.50 Nehmen wir diese Analogie ernst, so scheint
Kant seine kritische Religionsphilosophie als Vermittlung zwischen ei-
nem religiösen Positivismus, für den Religion etwas durch Offenbarung
äußerlich dem Menschen vorgegebenes ist, und einem religiösen Ratio-
nalismus, für den die positiv gegebenen Momente einer Religion als dem
vernünftigen Subjekt äußerlich vorgegeben und kontingent per se un-
wahr sind, zu verstehen. Damit würde er für seine Religionslehre in An-
spruch nehmen, dass sie den scheinbaren Gegensatz zwischen religiösem
Positivismus und Rationalismus als Missverständnis entlarvt und da-
durch aufhebt, so wie er es mit dem epistemologischen Gegensatz von
Rationalismus und Empirismus tut. So wie dann seine Transzendental-
philosophie die Möglichkeit empirischen Wissens begründet, so hätte sie
auch die Möglichkeit des positiven religiösen Glaubens zu begründen.51
Damit würde Kants religiöses Aufklärungsprojekt dann auch für das re-
ligiöse Bewusstsein anschlussfähig.
48
Vgl. hierzu Dörflinger 2004. Nach Wood ist die Funktion der Offenbarungsreligion
hingegen historisch oder sozial (Wood 2002, 91).
49
Dierksmeier 1998, 8. Ebenso geht es auch nach Wood Kant nicht um eine Reduktion
der Religion auf praktische Vernunft, vielmehr bilde letztere nur die Basis, die alle Religi-
onen teilen müssten, weil ihre Anerkennung und die Erfüllung moralischer Pflichten von
allen eingefordert werden könne (Wood 1970, 202).
50
SF AA 7, 50.
51
Vgl. auch Palmquist 1992, 138.
448 Religion bei Kant und Jacobi
52
RGV AA 6, 132.
Kant 449
53
Dierksmeier 2005, 79.
54
RGV AA 6, 65.
55
Anth AA 7, 191. Alle Erkenntnis von Gott ist nach Kant ausschließlich symbolisch.
Versteht man die Charakterisierungen Gottes als verständig, willentlich handelnd etc.
nicht symbolisch, so gerät man in den Anthropomorphismus (KU AA 5, 353). Ebenso ist
die sichtbare Kirche selbst ein Symbol, weil die unsichtbare Kirche, wie der Name schon
sagt, nie in der Anschauung gegeben sein kann (ibid., 351). Die Jungfrauengeburt ist eben-
falls ein für unsere Praxis relevantes Symbol „der sich selbst über die Versuchung zum
Bösen erhebenden [...] Menschheit“ (RGV AA 6, 80) und der „Freiheit der Kinder des
Himmels“ (ibid., 82). Auch die Erzählungen vom Antichristen, Sündenfall, Chiliasmus
und Weltende „können vor der Vernunft ihre gute symbolische Bedeutung annehmen“
(ibid., 136; EAD AA 8, 327; O’Neill 1996, 294f.).
56
Sofern Kant in RGV manchmal von „Schematisierung“ statt „Symbolisierung“
spricht, nehme ich mit Recki an, dass der Begriff der Schematisierung hier weiter gefasst
ist und Symbolisierung mit einschließt (Recki 2009, 245). Zur Differenz zwischen Symbol
und Schematismus vgl. Dierksmeier 1998, 40-48.
57
KU AA 5, 343.
450 Religion bei Kant und Jacobi
scher Vollkommenheit gemessen werden. (ibid., 409). Wesentlich für die Praxis ist dann
der Unterschied zwischen bloßer Nachahmung und Nachfolge (Autonomie) dieses Mus-
ters. Vgl. hierzu: V-Mo/Collins AA 27, 334; Louden 2011, 93.
66
RGV AA 6, 60.
67
Dierksmeier 1998, 89f.
68
RGV AA 6, 61; SF AA 7, 39.
69
RGV AA 6, 82.
70
Dierksmeier 2005, 77f.
71
MdS AA 6, 383. So kann die moralische Nachfolge Christi auch nicht in der Nach-
ahmung des historischen Jesus bestehen. In der Moral gibt es keinen Platz für bloße
Nachahmung. Moralische Vorbilder können deshalb nicht an die Stelle der Idee der Moral
in der Vernunft selbst treten (GMS AA 4, 409).
452 Religion bei Kant und Jacobi
72
RGV AA 6, 64.
73
Dierksmeier 2005, 76; KrV B 597/A 569.
74
RGV AA 6, 61.
75
RGV AA 6, 62.
76
RGV AA 6, 62.
77
RGV AA 6, 62.
78
RGV AA 6, 63.
Kant 453
für die Moral zugeschrieben werden. Es erfolgt also zwar keine Reduk-
tion des Kirchenglaubens auf Moralität, aber doch seine Transformation
zu einem Organon der Moral.
Kants Feststellung, dass jede Offenbarungsreligion aus Perspektive
der Vernunft zwar eine „außerwesentlich[e]“, „an sich zufällige Glau-
benslehre“, „darum aber doch nicht [...] unnöthig und überflüssig“ ist,79
ist deshalb in folgender Weise zu deuten: Zum einen ist keine Offenba-
rung moralisch notwendig. Denn auch ohne jegliche religiöse Offenba-
rung wäre das einzelne Individuum in gleicher Weise moralisch ver-
pflichtet, sich sittlich zu vervollkommnen. Jede Offenbarung ist aber
auch insofern kontingent, als die konkrete religiöse Schematisierung der
Idee empirisch bedingt ist. Sie ist damit aber nicht überflüssig, hilft sie
doch einem Mangel des Menschen als empirischem Vernunftwesen ab.80
Denn es ist nach Kant ein natürliches Bedürfnis der Vernunft, zu den
höchsten Vernunftbegriffen „immer etwas Sinnlich-Haltbares, irgend ei-
ne Erfahrungsbestätigung u. d. g. zu verlangen“.81 Die religiöse Offenba-
rung dient also der „Befriedigung eines Vernunftbedürfnisses“ 82 und
trägt der sinnlichen Bedingtheit des Vernunftwesens Mensch Rech-
nung.83 Insofern ist es die praktische Vernunft selbst, die in einem sinnli-
chen Wesen zum Begriff der Offenbarung hinausgeht. 84 Besäße die
menschliche praktische Vernunft nicht selbst ein immanentes Interesse
an Offenbarung, so wäre es unverständlich, warum eine Religionskritik
in den Grenzen bloßer Vernunft überhaupt ein Interesse an der symboli-
schen Interpretation etwa der biblischen Erzählungen besitzen und diese
thematisieren sollte. Kant behauptet aber, dass diese Symbole im Interes-
se der Moralität ausgelegt werden müssen.85 Die daraus resultierende In-
tention einer reflexiven Aneignung religiöser (im Besonderen christli-
cher) Gehalte widerstreitet deshalb nicht Kants insgesamt religionskriti-
schem Unternehmen, philosophisch über die Legitimität dieser Gehalte
79
SF AA 7, 9.
80
Die Vernunft erkennt nur das als sichere Erkenntnis an, was sie selbst a priori er-
kennt. Daraus folgt für Jahae, dass geschichtliche Wahrheiten keine Rolle spielen für die
Frage, was Religion ist und sein soll (Jahae 2005, 478f.).
81
RGV AA 6, 109.
82
SF AA 7, 9.
83
„Die übernatürliche [Religion] ist die Ergänzung des natürlichen durch einen höhe-
ren göttlichen Beystand.“ (V-PP/Collins AA 27,1, 309.)
84
„Offenbarung kann zum Begriff einer Religion nur durch die Vernunft hinzugedacht
werden, weil dieser Begriff selbst, als von einer Verbindlichkeit unter dem Willen eines
moralischen Gesetzgebers abgeleitet, ein reiner Vernunftbegriff ist.“ (RGV AA 6, 156.)
85
O’Neill 1996, 296f.
454 Religion bei Kant und Jacobi
Denn sofern das religiöse Symbol nicht als Symbol durchschaut wird,
unterwirft sich der Mensch der Religion. Die aufklärerische Kritik der
religiösen Symbole erlaubt dagegen echt religiöse, autonome Verehrung.
Verehren könne der Mensch nämlich nur, was Gegenstand seiner freien
Achtung ist, das heißt, was der Mensch durch eigene Einsicht als vereh-
rungswürdig erkennt. Deshalb muss sich alles, was Verehrung fordert,
der Kritik unterwerfen.92 So kann eine heilige Schrift nur durch eine phi-
losophische Interpretation Gegenstand menschlicher Verehrung werden.
Die Grundsätze der Schriftauslegung müssen die der Vernunft sein:
„[D]er Gott in uns ist selber der Ausleger, weil wir niemand verstehen
als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft
mit uns redet“.93 Der Vernunftglaube als Interpretament aller positiven
Religion und kritischer „Wegweiser oder Compaß“, mit dem man die
mögliche Heiligkeit einer Schrift oder Schriftstelle beurteilen kann, 94
hebt für Kant also nicht die Verehrung der Heiligkeit der Schrift auf,
sondern ist Bedingung ihrer Möglichkeit. Indem wir eine religiöse Dar-
stellung von ihrer äußeren Gestalt befreien und den sittlichen Geist hin-
ter ihr freilegen, erkennen wir ihre symbolische Allgemeingültigkeit und
Verbindlichkeit.
Dank der Schwäche der menschlichen Natur bedarf der Mensch einer
kirchlich gebundenen religiösen Praxis und nicht nur der Religion der
Vernunft.98 Als „Kirche“ versteht Kant dabei eine Gemeinschaft von In-
dividuen, die sich unter bestimmten öffentlichen Gesetzen zu einer Ge-
meinschaft verbinden. Diese Gesetze können teils moralisch, teils bloß
positiv sein, sofern sie vom Sittengesetz abweichen und keinen intrinsi-
schen moralischen Wert aufweisen. Sie sind unmittelbar nur Gesetze zur
kirchlichen Vergemeinschaftung, haben damit aber vermittelt einen in-
strumentellen Wert zur Realisierung menschlicher Moralität und Frei-
heit, insofern sie in Form dieser Kirche eine öffentliche sittliche Gemein-
schaft konstituieren. Sämtliche Gesetze einer Kirchengemeinschaft als
ethischer Gemeinschaft sind keine Zwangsgesetze, sondern Gesetze, de-
nen sich das Mitglied nur freiwillig unterwerfen kann, da sie ja die Mora-
lität ihrer Mitglieder befördern sollen. 99 Alle Akteure wirken dabei
durch die freiwillige Unterwerfung zusammen an der Entwicklung ihres
moralischen Charakters mit. 100 Die Mitglieder einer Kirchengemein-
schaft können sich also nur freiwillig den Gesetzen ihrer Kirche unter-
werfen und nicht äußerlich zur Einhaltung selbiger gezwungen werden.
Denn zum einen können Maximen nicht erzwungen werden, zum ande-
ren dürfen sie nicht erzwungen werden, weil Zwang der Realisierung der
Autonomie entgegensteht. Einer der großen Fortschritte der Geschichte
der Religion, die religiöse Aufklärung ermöglicht, besteht deshalb in der
Schaffung des Rechtsinstituts der Glaubensfreiheit: zum einen, weil die
96
Die verschiedenen Glaubensarten und Schriften sind „nur das Vehikel der Religion,
was zufällig ist und nach Verschiedenheit der Zeiten und Örter verschieden sein kann,
enthalten“ können (ZEF AA 8, 367).
97
SF AA 7, 37. „Die religiöse Metapher ist ‚Vehikel’ im Selbstgespräch des Menschen
mit seinem sittlichen Fundament“ (Dierksmeier 1998, 61).
98
RGV AA 6, 94.
99
RGV AA 6, 98.
100
Moran 2012, 21.
Kant 457
also ein Moment der Aufklärung, das jedoch die Tendenz hat, sich zum
Ganzen zu verabsolutieren. Im Prozess der Aufklärung muss der Kir-
chenglaube deshalb in den reinen Vernunftglauben aufgehoben werden.
Die Realisierung dieser Aufhebung ist selbst Gegenstand religiöser
Hoffnung. Der Ausdruck, dass Gott einstmals „alles in allem“ 110 sein
wird, muss deshalb so verstanden werden, dass der Kirchenglaube ir-
gendwann „in einen reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religi-
onsglauben übergehen werde“.111 Die unterschiedlichen Meinungen da-
rüber, welches Vehikel besser geeignet ist zur moralischen Besserung,
bewirken verschiedene Kirchensekten, deren einheitsstiftendes Moment
die „unsichtbare Kirche“ der allgemeinen Religion ist. Dabei teilen alle
Sekten aber eine gemeinsamen Erwartung: dass die Zeit sie der Religion
selbst näher bringt.112 So kann man die Geschichte des Kirchenglaubens
für Kant geradezu als „beständigen Kampf zwischen dem gottesdienstli-
chen und dem moralischen Religionsglauben“ rekonstruieren.113 In die-
ser Rekonstruktion stehen kirchlich-religiöse und moralisch-religiöse
Lebensform in einem antagonistischen Verhältnis zueinander. Der Kir-
chenglaube versucht dabei den reinen moralisch-religiösen Glauben un-
ter sich zu bringen. Auf Seiten des moralischen Glaubens findet sich die
Hoffnung, dass er zuletzt „seinen Anspruch auf den Vorzug, der ihm als
allein seelenbesserndem Glauben zukommt“,114 behauptet. Als Vehikel,
das nur der Beförderung einer rein rationalen Religion dient, müsste die-
ses Vehikel in einer vernünftigen Historie letztlich an seiner eigenen
Selbstabschaffung mitwirken.115 Die Funktion des Kirchenglaubens ent-
fällt, sobald der reine Religionsglaube sich „durch Vernunftgründe selbst
erhalten kann“. 116 Als pädagogisches Mittel für unterschiedliche Men-
schentypen muss der Kirchenglaube historisch unterschiedliche Formen
110
RGV AA 6, 135.
111
RGV AA 6, 135. Das gilt für Katholiken, Protestanten und Juden gleichermaßen (SF
AA 7, 42; 53). Nach Katz lehnt Kant das Judentum dagegen ab, weil er von der Überle-
genheit des Christentums überzeugt sei (Katz 1980, 66). Das jüdische Gesetz gilt Kant
zwar als der „Inbegriff bloß statutarischer Gesetze“ (RGV AA 6, 125) und insofern stellt
das Christentum eine Revolution in der Glaubensart dar. Kant wendet sich jedoch explizit
gegen die „Träumerei einer allgemeinen Judenbekehrung“ (SF AA 7, 52) zum messiani-
schen Christentum, da die Christen besser die statutarischen Gesetze aus ihrer eigenen
Religion entfernen sollten.
112
SF AA 7, 52.
113
RGV AA 6, 124.
114
RGV AA 6, 124.
115
Cohen 1966, 12. So versucht Kants Anerkennung des christlichen Glaubens nach
Sala 1992, 154f. nur darüber „hinweg[zu]täuschen“, dass dieser nur ein Vehikel mit be-
stimmter Verfallszeit ist.
116
RGV AA 6, 84.
460 Religion bei Kant und Jacobi
117
Cassirer 2001, 371. „Von der Richtigkeit und der Nothwendigkeit des moralischen
Glaubens kan ein ieglicher, nachdem er ihm einmal eröfnet ist, aus sich selbst, ohne histo-
rische Hülfsmittel überzeugt werden, ob er gleich ohne solche Eröfnung von selbst darauf
nicht würde gekommen seyn.“ (AA 10, 178.)
118
Wimmer 1990, 168f.
119
Brief an Lavater vom 28.4.1775 AA 10, 177.
120
Wood 2000, 73.
121
„Allein es ist eine besondere Schwäche der menschlichen Natur daran Schuld, daß
auf jenen reinen Glauben niemals so viel gerechnet werden kann, als er wohl verdient,
nämlich eine Kirche auf ihn allein zu gründen.“ (RGV AA 6, 103.)
122
RGV AA 6, 106.
Kant 461
123
RGV AA 6, 121.
124
RGV AA 6, 115.
125
RGV AA 6, 112.
126
RGV AA 6, 112.
127
RGV AA 6, 94.
128
Klemme 1999, 127.
129
RGV AA 6, 97.
462 Religion bei Kant und Jacobi
KpV AA 5, 82.
145
152
„Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach Vor-
schrift dieser Idee eine ethische, und sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine
ethisch=bürgerliche (im Gegensatz der rechtlich-bürgerlichen) Gesellschaft, oder ein ethi-
sches gemeines Wesen nennen. Dieses kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen
und sogar aus allen Gliedern desselben bestehen […]. Aber jenes hat ein besonderes und
ihm eigenthümliches Vereinigungsprincip (die Tugend) und daher auch eine Form und
Verfassung, die sich von der des letztern wesentlich unterscheidet.“ (RGV AA 6, 94.)
153
RGV AA 6, 136.
154
RGV AA 6, 94. Vgl. hierzu auch: Deligiorgi 2002, 143f.
155
RGV AA 6, 93.
156
RGV AA 6, 94.
466 Religion bei Kant und Jacobi
unter der sich die Menschen zu einer Kirche vereinigen, verbinden die
Menschen zu einer Gemeinschaft, die den Individuen helfen soll, ihre
moralischen Vermögen zu entwickeln. 157 Wenn wir diese Feststellung
nicht nur als anthropologischen Pessimismus (im Sinne Rousseaus) lesen
wollen, ist es essentiell, noch einmal die Analogie zum Rechtszustand zu
betrachten. Dementsprechend bezeichnet Kant den Zustand a-religiöser
Vergemeinschaftung in Analogie zum rechtlichen Naturzustand, in dem
die äußere Freiheit des Menschen auf Grund der bloßen Kollision von
unkoordinierten äußeren Freiheitssphären permanent gefährdet ist, als
„ethischen Naturzustand“. Der ethische Naturzustand ist die „öffentli-
che wechselseitige Befehdung der Tugendprincipien und ein Zustand der
inneren Sittenlosigkeit“. 158 Die „profane“ Gemeinschaft der Menschen
führt zwar häufig dazu, dass der Mensch seinen „Hang zur Faulheit“
überwindet, bringt aber zugleich eine der Moral entgegengesetzte Wir-
kung hervor, indem die Menschen einander verderben und sich zu „Ehr-
sucht, Herrschsucht oder Habsucht“ anstacheln.159 Im ethischen Natur-
zustand ist also die moralische Autonomie des Menschen durch das un-
koordinierte Aufeinandertreffen sittlicher und unsittlicher Gesinnungen
gefährdet. Die sittlichen Einstellungen müssen deshalb koordiniert wer-
den, da nur durch eine solche Koordinierung die Realisierung allgemei-
ner Autonomie möglich ist.160 Deshalb ist es Pflicht, aus dem ethischen
Naturzustand herauszutreten um in eine sichtbare ethisch-bürgerliche
Gemeinschaft einzutreten, die sich als bloß sinnliches Symbol der un-
sichtbaren Kirche versteht. Denn die Idee eines solchen Gemeinwesens
impliziert notwendig eine „potestas legislatoria“.161 Dieser Gesetzgeber
ist der Idee nach ein absolut vernünftiges und freies Wesen, das nur Ge-
setze der moralischen Freiheit gibt. Solch ein Gesetzgeber könnte nur
Gott selbst sein. So verstehen die Kirchen sich dann zu Recht als Kir-
chen Gottes, wenn sie sich als Schematisierungen der unsichtbaren Kir-
che verhalten.
Es ist für Kant also die moralische Pflicht des Menschen, eine solche
„bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte“ Kirche zu errichten.162
Erst als Mitglied einer solchen Gemeinschaft überwindet der Mensch
seinen ethischen Naturzustand. Dem Ideal nach vereinigen sich in der
157
Fleischacker 2013, 26.
158
RGV AA 6, 97.
159
Idee AA 8, 21.
160
Vgl. zum Vorangehenden Lutz-Bachmann 2005, 213–215.
161
OP AA 22, 126.
162
RGV AA 6, 94.
Kant 467
einfacher ist, das Neue Testament als „Buch, was einmal da ist“ (RGV AA 6, 132), zur
Grundlage einer äußeren Kirchenverfassung zu machen.
170
Vgl. Wood 1999, 283.
171
„Religion ist derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der
Moralität des Menschen setzt: Heidenthum, der es nicht darin setzt“ (SF AA 7, 49). Vgl.
ebenso: Ibid., 50.
172
Selbst wenn man zugesteht, dass die moralischen Gebote Gebote Gottes sind, so
konnte sie Gott nur durch die Vernunft allen Menschen in Anerkennung ihrer Autonomie
mitteilen (Cortina 1984, 287).
173
SF AA 7, 50.
174
RGV AA 6, 101; 192.
175
RGV AA 6, 101.
176
„Alle verdienen gleiche Achtung, so fern ihre Formen Versuche armer Sterblichen
sind, sich das Reich Gottes auf Erden zu versinnlichen; aber auch gleichen Tadel, wenn sie
Kant 469
Der Gedanke ist insofern einleuchtend, als das einzige Interesse der
Vernunft an der sichtbaren ethischen Gemeinschaft die Realisierung der
menschlichen Autonomie ist, eine äußere Verpflichtung auf einen be-
stimmten Kultus aber immer Heteronomie implizieren würde. Die Auf-
klärung muss deshalb die moralische Arbitrarität der äußeren Kirchen-
verfassung offenlegen. Dies bedeutet aber nicht, sie zwangsläufig ver-
nichten zu müssen, sondern nur ihren Status aufzuklären. 177 Gottes-
dienstliche Handlungen können aber gerade dann als Symbol des wahren
moralischen Glaubens verstanden werden, wenn sie vom Individuum in
freier Weise als Medium der Moralität gewählt sind.178
Kant macht die Wahrheit einer positiven Glaubenslehre also davon
abhängig, welcher praktische Wert ihr zugeschrieben wird. Ob sie tat-
sächlich von Gott offenbart ist, ist dagegen irrelevant. Für einen Gläubi-
gen wird dies jedoch schwer akzeptabel sein. Ähnlich problematisch
scheint Kants Feststellung, dass kein positiver Kirchenglaube als Verfas-
sung einer alle Menschen verbindenden Kirche geeignet ist, weil damit
das Arbiträre zu etwas Wesentlichem erhoben würde. Seine Anhänger
müssen vielmehr die durch ihn begründete Kirche als eine besondere,
sichtbare Darstellung des moralischen Reichs Gottes auf Erden, soweit
dies durch Menschen möglich ist, begreifen.179 Nur die Idee eines un-
sichtbaren, ethischen Gemeinwesens umfasse die gesamte Menschheit, ja
eigentlich alle Vernunftwesen. Eine einzelne, ethische Gesellschaft oder
Kirche könne dieses Ideal hingegen nur anstreben und zu realisieren ver-
suchen. Hierzu müssen die Gläubigen ihre Konfession aber gerade als
arbiträres Schema des ethischen Gemeinwesens begreifen, das zwischen
der Idee der unsichtbaren Kirche und der empirischen Wirklichkeit ver-
mittelt. Sobald sie ihre Kirche mit der Idee selbst identifizieren, hört sie
auch schon auf, sichtbare Darstellung zu sein. So drückt sich nach Kant
im Universalitätsanspruch des Christentums nur dann ein wahrer An-
spruch aus, wenn es selbst dadurch universell werden soll, dass es sich
der Idee des religiösen Gemeinwesens immer mehr annähert. Dieser An-
spruch wird aber mit der Forderung, alle Menschen sollten sich den ei-
genen besonderen Statuten unterwerfen, gerade pervertiert.
Wir sind in diesem Abschnitt von der Annahme eines rein kritischen Re-
ligionsverständnisses Kants ausgegangen, in dem Aufklärung die positi-
die Form der Darstellung dieser Idee (in einer sichtbaren Kirche) für die Sache selbst hal-
ten.“ (RGV AA 6, 175.)
177
RGV AA 6, 179.
178
Dörflinger 2004, 167.
179
RGV AA 6, 101.
470 Religion bei Kant und Jacobi
B. Jacobi
1
KFSA 8, 445; 586f.
2
Altmann 1982, 83; Larjo 2006, 82; Fischer 1955, 79; 114.
3
Brief Herders vom 6.6.1785 JB 1,4, 110.
4
Brief an Herder vom 2.9.1785 JB 1,4, 165.
472 Religion bei Kant und Jacobi
Für ein besseres Verständnis von Jacobis Verhältnis zur Religion wollen
wir im Folgenden nicht von seinen „Bekenntnissen“ zum Glauben, son-
dern von seiner Verhältnisbestimmung zu Kants Religionsphilosophie
ausgehen. Ein wesentliches Resultat dieser Philosophie ist nach Jacobi
die Irrelevanz der historischen Wirklichkeit und Wahrheit der Offenba-
rung. Der historische Glaube sei für Kant bestenfalls das völlig arbiträre
Vehikel reiner Vernunftideen. Wahr und wirklich sei ein historischer
Glaube aus dieser Perspektive nur insoweit, als er als Vehikel der Etab-
lierung dieser reinen Vernunftidee und ihres Wirkmächtigwerdens in der
moralischen Praxis diene. Letztlich müsse die historische Religion je-
doch an ihrer eigenen Überwindung mitwirken, damit die reine Ver-
nunftidee an und für sich wirkmächtig werde. Für Jacobi stellt sich
Kants Religionsphilosophie damit als eine Position dar, die er in Analo-
gie zum epistemischen Idealismus als „religiösen Idealismus“ bezeichnet.
Für letzteren sei der Gegenstand der Erkenntnis nur insofern relevant,
als er eine Bestimmung des eigenen Bewusstseins sei.6 Ob der Gegen-
stand mit seinen Bestimmungen eine Entsprechung außerhalb des Be-
wusstseins besitzt, sei für ihn insofern irrelevant, als er außerhalb der
Möglichkeit des von uns Erfahrbaren liege. Das Bewusstsein habe in der
Erkenntnis bloß die Bestimmungen des eigenen Selbst zum Gegenstand.
In analoger Weise kommt es nach Jacobi auch dem religiösen Idealisten
nur darauf an, was der Gegenstand des religiösen Bewusstseins für des-
sen Subjekt ist, und nicht darauf, was dieser Gegenstand an sich ist. So
sei es für den religiösen Idealisten bezüglich der Person Jesus Christus
ganz gleichgültig, ob Christus außer dem Begriff, den das religiöse Be-
wusstsein von ihm hat, je existiert hat. Für den religiösen Idealisten re-
duziere sich die Wirklichkeit Christi auf seinen Status als von der Ver-
nunft gesetztes Ideal der Tugendhaftigkeit. Was Christus darüber hinaus
zugeschrieben werde, sei nur eine unwesentliche, historische Einklei-
dung dieser Idee, um ihr bei nicht aufgeklärten Menschen leichteren Zu-
gang zu verschaffen. Die durch die Idee im Subjekt induzierte Zuversicht
bezüglich der eigenen moralischen Vervollkommnung solle letztlich den
Glauben an eine wirkliche Offenbarung ablösen. Dieser sei wie die posi-
tive Religion überhaupt nur eine „leidige Eselsbrücke“, von der die reli-
5
DH1 JW 2,1, 21.
6
DH1 JW 2,1, 106f.
Jacobi 473
12
GD JW 3, 71.
13
GD JW 3, 47.
14
GD JW 3, 47f.
15
GD JW 3, 48.
16
Fromm JW 5,1, 110.
17
Fromm JW 5,1, 120.
18
Fromm JW 5,1, 123.
19
Stolberg JW 5,1, 251.
Jacobi 475
Der Gott der Bibel ist erhabner, als der Gott, welcher nur ein Absolutes ist, wie
sehr man dieses auch schmücke, und mit Flitterwerk der Phantasie umgebe.
Darum fragt meine Philosophie: wer ist Gott; nicht: was ist er? Alles Was gehört
der Natur an.26
Trotz seiner Kritik an Kant ist Jacobi aber in zweierlei Hinsicht zu-
nächst nicht allzu weit von Kant entfernt: Zum einen behauptet auch
20
An Sophia Stolberg schreibt Jacobi im August 1800 anlässlich ihres und ihres Man-
nes Konversion zum Katholizismus: Wer papistisch werde, der glaube, „der Geist des
Menschen müsse wieder in Knechtschaft kommen, und der Buchstabe als Buchstabe ihm
überall das Gesetz geben.“ (Sophronizon 11,3, 115.)
21
Stolberg JW 5,1, 253.
22
Stolberg JW 5,1, 251.
23
GD JW 3, 69.
24
Entwurf VGD2 JW 3, H1 159; 165.
25
Fromm JW 5,1, 115ff.; JB 1,7, 11; vgl. hierzu Sandkaulen 2004, 220.
26
VSpin3 JW 1,1, 342.
476 Religion bei Kant und Jacobi
Kant einen lebendigen, persönlichen Gott;27 zum anderen denkt auch Ja-
cobi, dass die biblische (oder jede andere äußere) Offenbarung gar nicht
zu uns sprechen könnte, wenn Gott sich nicht bereits in unserem perso-
nalen Selbst offenbaren würde.28 Für Jacobi offenbart sich der Gott des
Theismus zunächst weder in der Natur noch in einer Schrift, sondern im
menschlichen Freiheits- und Personbewusstsein als deren eigene Voraus-
setzung. So kann sich Gott auch in der Natur nur dadurch offenbaren,
dass er sich bereits im Inneren offenbart hat. Wir finden den Gott in der
Chiffernschrift der Natur, den wir bereits auf Grund unseres Bewusst-
seins in ihr suchen.29 Die Erkenntnis der auf Gott verweisenden Ver-
nünftigkeit der Natur entnehmen wir nämlich nicht der Natur, sondern
finden oder anerkennen sie in ihr, weil wir ein inneres Bewusstsein der
Vernunft haben.30
Wer Gott nicht siehet, für den hat die Natur kein Angesicht; dem ist sie ein Ver-
nunftloses, Herz- und Willenloses Unding; eine gestaltende düstere Unge-
stalt[.]31
Wie nun die innere Offenbarung der Lektüreschlüssel für eine Naturaus-
legung ist, in der diese nicht nur als mechanisches System, sondern als
Ausdruck schöpferischer Freiheit verstanden werden kann, so ist die in-
nere Offenbarung auch das einzige Interpretament zur Auslegung religi-
öser Offenbarungsschriften. Wie für Kant sind auch für Jacobi die Er-
zählungen der Bibel letztlich nur Symbole, aber besonders gelungene
Symbole, da sie ihren eigenen Symbolcharakter verraten: So ist etwa die
Genesis-Erzählung, nach der Gott den Menschen mit seinen Händen ge-
formt hat, deshalb gelungen, da sie „offenbar symbolisch“ ist.32
Gott offenbart sich uns in der Natur und in den Heiligen Schriften
nach Jacobi also nur dann äußerlich, wenn er sich uns bereits im Be-
wusstsein unserer Freiheit innerlich offenbart hat. In unserem Person-
bewusstsein offenbart sich uns Gott als die ratio essendi unserer Perso-
nalität, das Bewusstsein unserer freien Personalität ist entsprechend die
27
Hierauf verweist Jacobi selbst (VSpin3 JW 1,1, 342).
28
GD JW 3, 41; SpinBlMr JW 1,1, 116.
29
Hierbei beruft sich Jacobi auf Kant. In seinem Allwill 1792 zitiert Jacobi als Motto
eine Stelle aus Kants KU, wandelt diese jedoch völlig um. Will Kant in KU deutlich ma-
chen, dass ein Nachdenken über die Schönheit der Natur gar nicht möglich wäre ohne
jegliches moralisches Interesse, so spricht bei Jacobi die Natur „in ihren schönen Formen“
„figürlich“ zum Menschen in einer „Chiffernschrift“, die wir dank unseres personalen
Selbstbewusstseins auslegen können (Allwill2 JW 6,1, 93).
30
Betrachtung JW 4,1, 24f.
31
GD JW 3, 12.
32
Brief an Reimarus vom 29. 12. 1790 JB 1,8, 462.
Jacobi 477
Der Grad unseres Vermögens, uns von den Dingen ausser uns intensiv und ex-
tensiv zu unterscheiden, ist der Grad unserer Personalität, das ist, unserer Geis-
teshöhe. Mit dieser köstlichsten Eigenschaft der Vernunft erhielten wir Gottes-
ahndung; Ahndung dessen, Der Da Ist: eines Wesens, das sein Leben in ihm
selbst hat.38
33
Spin2 JW 1,1 198f.
34
FB WW VI, 191.
35
GD JW 3, 75.
36
DH1 JW 2,1, 46f.
37
Brief an Kleuker vom 4.4.1782 JB 1,3, 19; Brief an Herder vom 30.6.1784 JB 1,3, 326;
JaF JW 2,1, 234.
38
DH1 JW 2,1, 99.
39
DH1 JW 2,1, 31.
478 Religion bei Kant und Jacobi
Denn das ist der Geist des Menschen, daß er Gott erkennet [...]. Das ist seine
Vernunft, daß ihm das Daseyn eines Gottes offenbarer und gewisser als das ei-
gene ist. Sie ist nicht, wo diese Offenbarung nicht ist.41
Sowohl Gott als auch der Mensch sind Person, das heißt, sie können zu
sich selbst sagen: „Ich bin, der Ich bin.“ Beim Menschen ist dieses Be-
wusstsein jedoch dadurch gebrochen, dass die Möglichkeit dieses Selbst-
bewusstseins auf ein Du angewiesen ist. Der Mensch ist nicht nur er
selbst, sondern immer schon ein Anderer im Verhältnis zu einem Ande-
ren, der ebenfalls ein Selbst ist. Im Bewusstsein seines Selbstseins ist je-
doch als Moment das Bewusstsein reinen Selbstseins unmittelbar mitge-
geben, genauso wie das Bewusstsein, nicht selbst dieses reine Selbstsein
zu sein. Dieses Bewusstsein reinen Selbstseins, das ich nicht selbst sein
kann, ist eine innere Offenbarung. Wer sich selbst versteht oder sich sei-
nes Selbsts bewusst ist, der besitzt eben in diesem Bewusstsein ein Be-
wusstsein von Gott als dem absoluten Selbst:
Also spricht der Unsinnige in seinem Herzen: es ist kein Gott! dem Verständi-
gen ist er wie die eigene Seele gegenwärtig.42
40
Krit JW 2,1, 329.
41
GD JW 3, 10.
42
GD JW 3, 66.
43
„Gott lebet in uns, und unser Leben ist verborgen in Gott. Wäre er uns nicht auf die-
se Weise gegenwärtig, unmittelbar gegenwärtig durch sein Bild in unserm innersten
Selbst: was außer Ihm sollte Ihn uns kund thun?“ (GD JW 3, 41).
44
GD JW 3, 40.
Jacobi 479
stimmtheit der menschlichen Personalität nur möglich ist durch ein an-
deres Du, so ist sein endliches, personales Selbst nur möglich durch ein
göttliches Du:45
Der in sich selbst gewisse Geist des Menschen bedarf aber, zu seinem Selbstlau-
te, der Mitlaute Natur und Gott um sein Daseyn auszusprechen, oder richtiger:
er ist kein reiner Selbstlaut.46
53
„Es kann einen äußerlichen Cultus, aber keine äußerliche Religion geben.
Aeußerliche Gottesverehrung ist eine äußerliche Seele, ein körperlicher Geist.“ (FB WW
VI, 240.)
54
Brief an Stolberg vom 29.1.1794 JB 1,10, 310. Vgl. auch: JB 1,9, 26; JB 1,11, 241.
55
GD JW 3, 42.
56
VSpin3 JW 1,1, 341.
57
JaF JW 2,1, 209f.; vgl. auch Woldemar3 JW 7,1, 269.
58
GD JW 3, 104.
59
Spin2 JW 1,1, 122. „Der Glaube an ein höchstes Wesen überhaupt, als der Quelle al-
les Seyns und alles Werdens; und der Glaube an einen Gott, der ein Geist ist, sind beyde
dem Menschen in der unerforschlichen Thatsache seiner Spontaneität und Freyheit [...]
gegeben.” (Allwill2 JW 6,1, 240.)
Jacobi 481
Was der späte Jacobi „Vernunft“ nennt, ist so letztlich das Hand-
lungs- und Personbewusstsein der eigenen Freiheit, in dem sich „ein
Geist in ihm“ und „ein Geist über ihm“ offenbart.60 Nur mit dieser Ver-
nunft, dem Bewusstsein unserer personalen Freiheit, können wir unser
eigenes Selbst transzendieren und uns über unsere Vernunft erheben. Ei-
ne nur von außen kommende Offenbarung könnte dies hingegen nicht:
Gleichwohl erkenne auch ich eine Erhebung über die Vernunft. Ich erhebe mich
nämlich über meine, meine menschliche Vernunft, indem ich ihren Urheber, eine
unabhängige Intelligenz, das ist – die Gottheit denke, die als ein schlechterdings
Erstes und Einziges, mir schlechterdings unbegreiflich bleiben muß. Wer auf ei-
ne andere Weise, d. i. nicht mit, aus und durch Vernunft, sondern ohne sie und
außer ihr, mit seinem Dünkel, mit seinen Vorurtheilen sich über sie erhebt, der
ist Fanatiker[.]61
Wir können noch einmal zusammenfassen: Mit dem Gefühl der eigenen
Persönlichkeit, der eigenen Freiheit und Vernunft ist dem Menschen zu-
gleich das Bewusstsein einer ihn transzendierenden Persönlichkeit, Frei-
heit und Vernunft als Ursache seiner selbst gegeben. Das Bewusstsein
der eigenen Freiheit ist ratio cognoscendi der vollkommen freien Person,
nämlich Gottes, die wiederum ratio essendi der menschlichen Freiheit
ist. Der menschliche Wille ist „ein Funken aus dem ewigen reinen Lich-
te, und eine Kraft der Allmacht“.62 Soll dem Menschen Freiheit zukom-
men, so muss in ihm „ein andrer Geist, als der bloße Geist des Syllogis-
mus“63 wohnen: der „Othem Gottes“.64 Dieser ist gegenwärtig in freien
Handlungen, denn erst dieser Geist ermöglicht die Freiheit des Men-
schen. Das Bewusstsein der Freiheit hingegen, gewonnen in ihrer Betäti-
gung, verweist zurück auf ihren Ursprung, indem es unmittelbar „den
Glauben an eine Erste allerhöchste Intelligenz; an einen verständigen
Urheber und Gesetzgeber der Natur, an einen Gott, der ein Geist ist“,
lehrt.65 Dieser Glaube impliziert eine Transzendierung des Ichs. In sei-
nem Glauben (Bewusstsein der Freiheit) transzendiert der Mensch un-
mittelbar die reine Immanenz dieses Glaubens, indem er den Glauben an
einen höheren Grund der eigenen Persönlichkeit impliziert: „Ich glaube
60
VSpin3 JW 1,1, 341. „Vernunft ist das Bewußtseyn des Geistes“ (FB WW VI, 170);
vgl. GD JW 3, 40; 21.
61
Brief an Graf Holmer vom 5.8.1800 Sophronizon 11,3, 118.
62
Spin1 JW 1,1, 144.
63
Spin2 JW 1,1, 166.
64
Spin2 JW 1,1, 166.
65
Spin2 JW 1,1, 167; vgl. auch ZEeD JW 5,1, 218ff.
482 Religion bei Kant und Jacobi
66
Spin1 JW 1,1, 20.
67
Vgl. hierzu Michalson 1990, 8f.
68
GD JW 3, 41.
69
GD JW 3, 39.
70
GD JW 3, 40.
71
GD JW 3, 42; JB 1,11, 241. „Weißheit, Gerechtigkeit, Wohlwollen, freye Liebe, sind
keine Bilder sondern Kräfte, von denen man die Vorstellung nur im Gebrauch Selbsthan-
delnd erwirbt. Es muß also der Mensch Handlungen aus diesen Kräften schon verrichtet,
Tugenden und ihre Begriffe erworben haben, ehe ein Unterricht von dem Wahren Gott
zu ihm gelangen kann.“ (JaF JW 2,1, 219; GD JW 3, 42.)
72
Woldemar3 JW 7,1, 322.
Jacobi 483
lich: Nur „durch sittliche Veredelung erheben wir uns zu einem würdi-
gen Begriff des höchsten Wesens“.73 Der einzige Weg zu Gott ist deshalb
– wie bereits bei Kant – der praktische. Es gibt keinen bloß syllogisti-
schen Weg zur Erkenntnis Gottes.74 Im Unterschied zu Kant ist Gott für
Jacobi jedoch nichts anderes als die lebendige Freiheit selbst, so dass sich
uns Gott in unserem lebendigen Vollzug der Freiheit offenbart und nicht
als Konsequenz des Sittengesetzes von der praktischen Vernunft postu-
liert wird. Im Vollzug der menschlichen Freiheit (als Kraft, entgegen
dem egoistischen Interesse zu handeln) manifestiert sich das Dasein eines
Gottes, der die Liebe selbst ist.75 Die im Handeln realisierte Liebe zum
Ewigen, Wahren, Guten und Gerechten im Menschen enthüllt den gött-
lichen Ursprung des Menschen.76 Deshalb kann der Mensch Gott nur
erkennen, indem er göttlich lebt. 77 So konstituieren die Tugendhaften
durch ihre Tugendhaftigkeit auch bei Jacobi eine unsichtbare Kirche, die
sich auf die Offenbarung des Daseins Gottes im tugendhaften Handeln
begründet.78 Freiheit und Tugend sind „eine Offenbarung des göttlichen
Wesens, weil sie selbst göttlich sind“.79 Der Mensch erkennt Gott durch
ein göttlich geführtes Leben, also im Vollzug vernünftiger Freiheit. Der
Offenbarung Gottes liegt deshalb die „Annahme überirrdischer Gesin-
nungen“80 voraus, nicht nur eine bloße Verstandesanstrengung. Hand-
lungen aus dem „Vermögen reiner Liebe“ 81 sind „göttliche Handlun-
gen“, ihre Quelle „göttliche Gesinnungen“.82 Je freier wir handeln, umso
mehr erfahren wir im Gebrauch unserer Freiheit uns selbst als unbeding-
te Ursachen und damit auch das absolut Unbedingte als den Ursprung
unserer bedingten Unbedingtheit. Dieser Ursprung kann nicht die Natur
sein, denn sie offenbart uns, wenn wir sie nur in sich selbst betrachten,
einen bloßen Mechanismus, bei dem jeder neue Zustand durch die vor-
herigen Zustände vermittelt und bedingt ist. Gott offenbart sich deshalb
ursprünglich nur im eigenen Handeln:
73
JaF JW 2,1, 219.
74
Spin1 JW 1,1, 145.
75
Hammacher 1999, 136.
76
Spin2 JW 1,1, 168.
77
GD JW 3, 65; VSpin3 JW 1,1, 342.
78
JNa 2, 224; WMB JW 1,1, 310; VSpin3 JW 1,1, 353.
79
Krit JW 2,1, 329.
80
Spin1 JW 1,1, 137.
81
„Aber dieser Glaube erhält erst seine volle Kraft und wird Religion, wenn im Herzen
des Menschen das Vermögen reiner Liebe sich entwickelt.“ (Spin2 JW 1,1, 167.)
82
Jacobis innere Offenbarung ist also eine praktische Offenbarung im moralisch-freien
Handeln und nicht eine bloße pietistische Empfindelei. Vgl. auch Spin1 JW 1,1, 137; JB
1,2, 243.
484 Religion bei Kant und Jacobi
Geist meiner Religion ist also das: der Mensch wird, durch ein göttliches Leben,
Gottes inne; und es giebt einen Frieden Gottes, welcher höher ist, denn alle Ver-
nunft; in ihm wohnt der Genuß und das Anschauen einer unbegreiflichen Lie-
be.83
Wie lässt sich nun aber das, was man allgemein „Offenbarungsreligion“
nennen würde, in diese Konzeption integrieren? Der christliche Glaube
– als Offenbarungsreligion – hat nach Jacobi die veränderliche Natur des
Menschen zum Gegenstand. Er hat die endliche und zufällige Natur des
Menschen zum Objekt.84 Jedoch lehrt er den Menschen nicht seine bloße
Kontingenz, sondern unterrichtet ihn gerade über die Möglichkeit, sich
zu einem Leben der Freiheit und damit zu einer „höheren Erkenntniß“85
hinaufzuschwingen. Die Heilige Schrift bezieht sich damit auf den Ge-
brauch, den wir vom freien Willen machen sollen.86 Dabei unterrichtet
sie den Menschen, wie er seine Freiheit realisieren kann. Für den, der
Gottes Gesetzen und damit den Gesetzen der Freiheit gemäß handelt,
werden diese zu „Flügel[n] für die Seele [...], sich in seine [Gottes] Ge-
genwart hinauf zu schwingen“.87 In Christus stellt das Neue Testament
eine Person dar, die in ihrem Freiheitsgebrauch und ihrer Tugendhaftig-
keit ein exemplarisches Individuum sein kann.
Andererseits kann auch nach Jacobi das Maß der Tugend nicht durch
äußere Vorbilder und Beispiele gegeben werden, sondern äußere Beispie-
le und Vorbilder werden am inneren Maß gemessen und erst dadurch zu
Vorbildern.88 Dieses Maß ist jedoch unbestimmt und bedarf der konkre-
tisierenden Anschauung, um überhaupt wirksam werden zu können. So
muss der Mensch einerseits schon ein unbestimmtes Maß etwa der Ge-
rechtigkeit (Ahndung/Instinkt) besitzen, bedarf aber konkreter Vorbil-
der, um dieses Maß konkretisieren zu können. Das Unbedingte muss ei-
ne bestimmte Form für den Menschen annehmen. Für Jacobi ist die end-
liche Vernunft auf konkrete Formen angewiesen, die das Unbedingte für
ihn annimmt und ihn in endlicher Weise darüber belehrt, wie das Unbe-
dingte im Handeln in endlicher Weise verwirklicht werden kann.89 Die-
ser „höhere Unterricht“ durch eine konkrete Form wird für den Men-
83
Spin1 JW 1,1, 117. Vgl. ebenso: JaF JW 2,1, 216; JB 1,4, 16 Kladde I, 1, 39 Schuma-
cher 2003, 102.
84
Spin1 JW 1,1, 116.
85
Spin1 JW 1,1, 117.
86
Brief an Hamann vom 11.1.1785 JW 1,4, 15.
87
Spin1 JW 1,1, 137.
88
GD JW 3, 43.
89
Fromm JW 5,1, 120.
Jacobi 485
schen deshalb immer notwendig sein.90 Vernunft allein kann keine Of-
fenbarung Gottes und Selbsterkenntnis im eigenen Handeln hervorbrin-
gen, „als zu demjenigen Verhältnisse, welches allein Religion genannt
werden kann, erfordert wird“.91
Die innere Offenbarung der personalen Freiheit ist also auf eine äuße-
re Form, der menschliche Geist auf einen historisch gewachsenen Buch-
staben angewiesen, damit das Individuum seine Freiheit realisieren kann.
Die verschiedenen Glaubenslehren (als äußere Formen) verhalten sich
dabei zur inneren Offenbarung (Geist) „wie sich die verschiedenen
Staatsverfassungen zum Princip der Geselligkeit verhalten, dessen Da-
seyn und Nichtdaseyn sie zugleich voraussetzen, und in diesem Wider-
spruch ihr Wesen haben“.92 Die Wahrheit einer Religion hängt in diesem
Sinne von ihrer Lebendigkeit ab. Ist sie nur noch ein toter Buchstabe,
der keine Form zur Realisierung der menschlichen Freiheit ist, sondern
diese Freiheit als toter Buchstabe und äußerliches Gesetz vielleicht sogar
unterdrückt, so ist sie in diesem Sinne unwahr. Ist sie jedoch lebendig als
eine Form, in der sich menschliche Freiheit aktualisieren kann, so ist sie
in dem Maße, in dem sie lebendig ist, auch wahr. Die Wahrheit einer Of-
fenbarung oder religiösen Vorstellung leitet sich also aus ihrer Leben-
digkeit her. Wenn die Offenbarung in ihr lebendig ist, offenbart sich in
ihr tatsächlich das Absolute. Wir sahen bereits mehrfach, dass diese Le-
bendigkeit keine Eigenschaft eines Begriffs oder einer Vorstellung sein
kann, sondern sich aus einem relationalen Zusammenhang mit den Sub-
jekten ergibt, durch die dieser Begriff lebendig ist. Anders gesagt: Die
Wahrheit einer Religion bestätigt sich im Leben der ihr anhängenden
Personen. Da das Absolute Freiheit ist, muss sich die Wahrheit und Le-
bendigkeit einer Offenbarung des Absoluten im Leben des Gläubigen
äußern. Andererseits kann sich das Unbedingte dem Menschen letztlich
auch nicht im Erkennen, sondern nur im Handeln offenbaren. Im freien
Handeln macht der Mensch eben die Erfahrung des Unbedingten. Wie
für Kant ist es auch bei Jacobi das Christentum, das in seiner reinen
Form eine oder sogar die Religion der Freiheit wäre. Die Geschichte
läuft letztlich auf das Ziel der Form zu, die in idealer Weise für die Frei-
heit geeignet ist.
Die Vorsehung wird jeden ihrer Wege rechtfertigen, und die unter Wahn und
Dünkel fast erloschene Erkenntniß: daß Gottes Bild im Menschen, die einzige
90
Fromm JW 5,1, 122f.
91
Fromm JW 5,1 120. Vgl. bereits Jacobis Brief an Kopstadt vom Februar 1765 JB 1,1,
20.
92
Brief an Stolberg vom 29.1.1794 JB 1,10, 310.
486 Religion bei Kant und Jacobi
Quelle aller Einsicht des Wahren, so wie aller Liebe des Guten sey, in ihrem vol-
len Glanze wieder hervorgehen lassen, und nach so vielen zertrümmerten For-
men der Menschheit, diese Einzige Beste, unzerstörbar darstellen.93
Wir hatten bereits gesehen, dass für Jacobi im Zentrum des Glaubens das
Bewusstsein der Freiheit und Individualität steht. Dies muss nach ihm
auch den Geist jeder rechtfertigbaren Religion ausmachen. Wenn nun
aber eine Religion oder eine bestimmte Interpretation von Religion die
individuelle Freiheit des Individuums unterdrückt, so kann es sich nicht
um eine wahre Religion handeln, sondern nur um eine Perversion selbi-
ger. Dies gilt insbesondere vom Christentum, dessen Geist der Geist der
Freiheit ist. Wenn nun aber das Christentum despotisch interpretiert
wird, so wird der Geist des Christentums negiert, der Geist unter den
Buchstaben gebracht: „Im Grunde ist jede Religion antichristisch, wel-
che die Gestalt zur Sache, den Buchstaben zum Wesen macht.“94 Dies ist
nicht mehr Glauben, sondern Aberglauben: So fänden sich im unaufge-
klärten Christentum Formen des Aberglaubens, gemäß denen Gott wie
ein „eigensinnige[r] Despo[t]“ regiert, „dessen willkührliche Gesetze
man nur darum befolgen müsse, weil er, nach eigenem Gefallen, Gutes
und Böses austheilen könne.“95 Was schon in der Politik eine Pervertie-
rung legitimer Herrschaft darstellt, nämlich eine Herrschaft, die ihr
Recht aus der Gewalt ableitet, muss in höherem Maße von der göttlichen
Herrschaft gelten. Dies gilt umso mehr, als wir ja gesehen haben, dass
Gott der Grund der Freiheit des Menschen ist und sich nur in der Frei-
heit des Menschen offenbart. Insofern kann er durch keine äußere Of-
fenbarung diese innere Offenbarung negieren. Gott offenbart sich als
Gott der Freiheit und diese Offenbarung ist der kritische Maßstab jeder
äußeren Offenbarung. Das despotische Verständnis Gottes infiziert „den
edelsten Theil der Seele, die lautere Empfindung des Wahren und Guten,
mit einem tödlichen Gifte“.96 Moralität ist nicht möglich, wenn man nur
einen Mächtigen für sich gewinnen will. Dies ist aber die Folge, wenn
man nur an eine äußere Offenbarung durch Propheten und Wunder
glaubt. Diesen kann man sich dann nur noch unterwerfen.97 Der eigentli-
che Beweis der Wirklichkeit Gottes ist aber gerade das Gegenteil von
Unterwerfung, nämlich Freiheit.
93
Spin1 JW 1,1, 136; vgl. ebenso: JB 1,3, 256.
94
FB WW VI, 240.
95
Rech JW 4,1, 107.
96
Rech JW 4,1, 107.
97
GD JW 3, 71.
Jacobi 487
Bei aller Differenz stimmt Jacobi darin mit Kant überein, dass der inne-
ren Offenbarung gegenüber der äußeren Offenbarung der Primat zu-
kommt. Bewusstsein vom Absoluten besitzt der Mensch nur durch die
innere Erfahrung seiner Freiheit. Diese innere Offenbarung ist Bedin-
gung der Möglichkeit jeder äußeren Offenbarung. Gott muss zunächst
im Menschen durch göttliches (= freies) Handeln wirklich werden. 100
Wenn wir nicht schon einen inneren Begriff von Gott und den göttlichen
Dingen hätten, so wäre es nach Jacobi unmöglich für uns, das Göttliche
durch „bloß historische Mittel“101 in etwas äußerlich Gegebenem zu er-
kennen. Nichtsdestotrotz will Jacobi seine Konzeption göttlicher Of-
fenbarung von dem unterschieden wissen, was er „religiösen Idealismus“
nennt und mit Kants Religionsphilosophie identifiziert. Diese Diffe-
renzbestimmung Jacobis beruht dabei nicht nur auf der Berichtigung
von Kants insuffizientem Religionsverständnis, sondern auf der für Ja-
cobi notwendigen Korrektur der durch Kant verkehrten Vernunftver-
hältnisse. Kants proton pseudos ist für Jacobi auch hier wiederum die
Voraussetzung einer reinen menschlichen Vernunft. Demgegenüber be-
ansprucht Jacobi gezeigt zu haben, dass diese Voraussetzung eine Fikti-
on ist.102 Zwar ist die menschliche Vernunft selbständig, ihre Selbstän-
digkeit hängt aber von einer von ihr verschiedenen, absoluten Vernunft
ab, die sich in der Selbsttätigkeit der menschlichen Vernunft nur offen-
bart. In dieser Offenbarung zeigt sich der Vernunft gleichzeitig ihre Ab-
hängigkeit. Im Ausgang von diesen korrigierten Vernunftverhältnissen
versucht Jacobi dann dem Selbstverständnis des religiösen Materialisten
98
GD JW 3, 38.
99
Olivetti 1979, 182; Rech JW 4,1, 107. Brief an Hamann vom 11.1.1785 JB 1,4, 15.
100
GD JW 3, 42.
101
Brief an Kleuker vom 4.4.1782 JB 1,3, 19.
102
Fromm JW 5,1, 123.
488 Religion bei Kant und Jacobi
107
Brief an Kleuker vom 4.4.1782 JB 1,3, 19.
108
GD JW 3, 42.
490 Religion bei Kant und Jacobi
schen von sich selbst als frei handelndem Individuum und so ist jede äu-
ßere Offenbarung insofern eine wahre Offenbarung, wenn sie für den
Menschen eine lebendige Darstellung des absoluten Grundes seiner
Freiheit ist und von daher als Selbstentäußerung der absoluten Freiheit
verstanden werden kann, die der Mensch in seinen Freiheitsvollzügen zu
realisieren versucht.
Die Wahrheit äußerer Offenbarung besteht für Jacobi also gerade in
der Verlebendigung des Freiheitsbewusstseins. Der religiöse Idealismus
unterbietet für Jacobi notwendig diese Leistung äußerer Offenbarung als
Darstellung der Selbstentäußerung der absoluten Freiheit, von der wir
uns in unserer eigenen Freiheitserfahrung abhängig wissen. Ein reiner
Begriff der menschlichen Vernunft kann dies deshalb nicht leisten, da
reine Begriffe der Vernunft immer schon als Selbstsetzungen des ver-
nünftigen Subjekts durchschaut sein müssen und so gerade keine Erfah-
rung einer Selbstentäußerung der absoluten Freiheit im Subjekt generie-
ren können. Auf einen solchen selbst gesetzten Begriff lässt sich nach Ja-
cobi weder vertrauen noch ihm gegenüber irgendein Gefühl
entwickeln.109 Sobald eine religiöse Idee als bloße Idee verstanden ist,
kann sie nicht einmal das leisten, was sie nach Kant leisten soll, nämlich
Grund von Hoffnung sein.110 Aus kantischer Perspektive lässt sich gegen
diese Kritik replizieren, dass Jacobi die Ideen der Vernunft von vornhe-
rein als bloße Setzungen des menschlichen Subjekts missversteht, so dass
sie den Status praktischer objektiver Notwendigkeit einbüßen, der ihnen
bei Kant zukommt. Jacobi muss sie aber gemäß seiner Denkkategorien
und vor allem gemäß seiner eigenen Vernunftkonzeption in diesem Sinne
verstehen, da die Rede von einer absoluten menschlichen Vernunft eine
Hypostasierung darstellt, weil sich die absolute Vernunft zwar in der
menschlichen Vernunft offenbart, aber eben nur in einer endlichen
Form. Da Kant die Natur der menschlichen Vernunft missversteht, kann
er auch das Phänomen des Religiösen nicht adäquat verstehen.
Wir haben gesehen, dass die Wahrheit äußerer Offenbarung darin be-
steht, Darstellung der Entäußerung der absoluten Freiheit und Selbstän-
digkeit, das heißt Gottes, zu sein. Der Vorzug des Christentums besteht
nun darin, dass die Person Christi nicht nur eine solche Darstellung ist,
sondern gleichzeitig die Selbstentäußerung in einer menschlichen Person
ist. 111 In der Person Christi hat die Gottheit als absolute Person und
Freiheit Fleisch und Blut und die Gestalt einer menschlichen Person an-
genommen. In Christus ist damit für Jacobi die Vermittlung zwischen
109
GD JW 3, 54.
110
Der Gott Kants ist kein „Gott, zu welchem man beten kann“ (VSpin3 JW 1,1, 339).
111
Brief an Sprickmann vom 23.11.1784 JB 1,3, 391f.
Jacobi 491
112
Spin1 JW 1,1, 145.
113
So schreibt Jacobi in einem Brief an Herder vom 13.11.1784: „Was wäre Religion
ohne einen Christus, ohne nahes und gewisses Band des Niedrigsten und Höchsten?“ (JB
1,3, 384).
114
Brief an Herder 13.11.1784 JB 1,3, 384; vgl. auch JB 1,4, 14; Spin1 JW 1,1, 117f.
115
Brief an Stolberg vom 29.1.1794 JB 1,10, 310.
116
Vgl. JB 1,2, 382; FB WW VI, 192.
492 Religion bei Kant und Jacobi
117
Spin1 JW 1,1, 117.
Schluss
ziehen diesen Umschlag nämlich einer Kritik und versuchen die Grund-
lagen ideologiefreier Aufklärungsdiskurse freizulegen. So ist „Universa-
lität der Aufklärung“ bei Kant kein Dogma, sondern ein Anspruch, den
die Aufklärung einzulösen hat. Aufklärung soll nach Kant kosmopoli-
tisch werden. Hierfür expliziert Kant die aus seiner Sicht transzendenta-
len Grundlagen wissenschaftlicher, ästhetischer, historischer, ethischer,
rechtlicher und religiöser Aufklärungsdiskurse, die die Bedingungen der
Möglichkeit von deren „Weltbürgerlichkeit“ und Universalität sind. Ja-
cobi unterzieht noch diese vermeintlich universellen Grundlagen einer
Kritik, insofern er zu enthüllen versucht, dass es sich auch bei diesen
Grundlagen noch um „Vorurteile“ handelt, ohne die ein Diskurs in einer
bestimmten historischen Situation zunächst einmal faktisch gar nicht
möglich wäre. Durch diesen Vorbehalt wird jedoch der Möglichkeit ih-
rer Überwindung im historisch unabschließbaren Prozess der Aufklä-
rung wiederum Raum gegeben. Die einzige Bedingung der Möglichkeit
hierfür ist für Jacobi, dass die eigenen Vorurteile nicht durch politische
Machtmittel durchzusetzen versucht werden (also eine Art herrschafts-
freier Diskurs).
3. Abstrakte Subjektivität statt konkreter, historisch-kulturell beding-
ter Individualität: In der Tat setzt Kant ein transzendentales bzw. nou-
menales Subjekt als Bedingung der Möglichkeit aufgeklärter Selbstbe-
stimmung voraus. Wir sahen jedoch, dass damit keine metaphysischen
Entitäten bezeichnet sind, die neben oder über dem empirischen Indivi-
duum existieren, sondern vom konkreten Individuum abstrahierte Züge,
die das Individuum abstrahieren können muss, wenn es sich überhaupt
als Adressat epistemischer, moralischer oder rechtlicher Ansprüche ver-
stehen können will. Demgegenüber setzt Jacobi als Grundlage seines
Aufklärungsprojekts die Person als historisch situiertes Individuum.
Beide stimmen aber darin überein, dass als Konstituent und Adressat des
Rechts dieses Individuum nur in seiner abstrakten Bestimmung als an
seiner freien Selbstbestimmung Interessierter in den Blick treten darf.
Der Grund hierfür ist, dass nur auf diese Weise die unterschiedlichsten,
individuellen Ansprüche auf Ausgestaltung dieser Selbstbestimmung in
einer Gesellschaft inhomogener Individuen in fairer Weise miteinander
koordiniert werden können. Das Interesse an freier Selbstbestimmung,
eben weil es so abstrakt ist, muss und kann bei jedem Individuum vo-
rausgesetzt werden, denn sollte jemand ein solches Interesse nicht haben,
dann könnte er ja auch keine Probleme mit der staatlichen Einschrän-
kung seiner Freiheit haben.
4. Vielfalt der Aufklärungen statt einheitliches Projekt: Durch die In-
anspruchnahme zweier Autoren, die in ihren philosophischen Grundla-
Schluss 495
gen doch eher weiter auseinanderliegen, sollte der Tatsache der Vielfalt
der Aufklärungen Rechnung getragen werden. Diese Diversität sollte
durch die Beschäftigung mit Herder, Lessing und weiteren vor allem
deutschen Aufklärern noch klarer vor Augen geführt werden. Gleichzei-
tig zeigt sich an der Intensität der Auseinandersetzung von Kant und Ja-
cobi miteinander, aber eben auch den weiteren, genannten Autoren, über
das Aufklärungsprojekt, dass die Denker der Aufklärung nicht einfach
verschiedene Aufklärungsphilosophien entwickeln. Vielmehr versuchen
sie ihre Projekte jeweils in ein Verhältnis zu setzen und sogar ineinander
zu integrieren. Leitend ist dabei ein gemeinsamer Anspruch, nämlich die
Realisierung der Selbstbestimmung der menschlichen Vernunft durch
Aufklärung (wobei die Vernunft Subjekt und Objekt dieser Selbstbe-
stimmung sein soll).
5. Einebnung des Religiösen: Kann die Aufklärung das Selbstver-
ständnis des religiösen Bewusstseins in ihr Projekt integrieren? Dies ist
in der Tat schwierig, sofern dieses Bewusstsein sich selbst so versteht,
dass es einem absoluten Anspruch unterworfen ist, der sich jeder auto-
nomen Aneignung durch das menschliche Denken entzieht. Wir haben
aber an Kant gesehen, dass Aufklärung nicht notwendig dazu führt, das
das religiöse Bewusstsein auf ein philosophisches Bewusstsein reduziert
wird. Vielmehr kann nach Kant religiöse Aufklärung gar nicht mehr leis-
ten, als die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu ana-
lysieren. Darin ist eben auch eine Selbstbescheidung seines Aufklärungs-
anspruchs impliziert, in der die Eigenständigkeit bestimmter religiöser
Bewusstseinsformen gerade anerkannt wird. Für Jacobi bleibt diese An-
erkennung jedoch noch zu abstrakt. Auch Jacobi anerkennt zwar die
Differenz zwischen einer rein rationalen religiösen Aufklärung und ei-
nem religiösen Glauben, der seine Gehalte als Gaben oder Offenbarun-
gen eines Absoluten versteht, das jede rationale Durchdringung durch
das menschliche Denken gerade ausschließt. Jacobi sieht aber deutlicher
als Kant, dass in diesem Anspruch noch einmal ein Aufklärungspotential
für das aufgeklärt-säkulare Denken selbst und seiner Vorurteile besteht,
so dass der Versuch einer kritischen Integration des „religiösen Materia-
lismus“ gerade aus der Perspektive des Aufklärungsprojekts lohnend ist,
trotz der Anerkennung der Andersheit dieser Bewusstseinsform.
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Privat Aus einem Privatschreiben (1800)
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105, 123, 132, 294, 311f., 454 zyklopädist) 87
Hamann, Johann Georg (1730–1788) Jenisch, Daniel (1762–1804; lutheri-
9, 19, 30, 78f., 83, 437, 491 scher Theologe) 20, 22
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
(1770–1831) 106, 210, 212, 214f., Knoblauch, Karl von (1756–1794;
228, 265, 268, 278f., 282, 313, 321, deutscher Jurist und Philosoph) 20,
393, 403, 405, 422, 427 83
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356 La Mettrie, Julien Offray de (1709–
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1802; deutscher Schriftsteller und deutscher Jurist und Philosoph) 19,
Buchhändler) 16, 20, 76 22, 316f.
Hennings, August Adolph von Lavater, Johann Caspar (1741–1801;
(1749–1826; dänisch-schleswig- reformierter Pfarrer, Philosoph
holsteinischer Publizist und Politi- und Schriftsteller) 9
ker) 20f., 24, 84 Le Trosne, Guillaume-François
Herder, Johann Gottfried von (1744– (1728–1780; französischer Jurist
1803) 9, 12, 22, 68, 76–84, 86, 88ff., und Physiokrat) 298
98f., 101f., 128, 185, 282, 284, 292, Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646–
304, 321–325, 399, 409, 437, 445f. 1716) 16, 32, 37, 156, 242, 267
471, 495 Lessing, Gotthold Ephraim (1729–
Heydenreich, Karl Heinrich (1746– 1781) 6f., 18f., 60, 87f., 92, 295, 306,
1801; deutsche Philosoph und 315–321, 387, 495
Schriftsteller) 20, 91 Lichtenberg, Georg Christoph
Hillmer, Gottlob Friedrich (1756– (1742–1799) 20f., 85, 87
1835) 47 Liscow, Christian Ludwig (1701–
Hirschel, Moses (1754–1823; deut- 1760; deutscher Diplomat und Sati-
scher Schriftsteller; Maskil) 1, 22 riker) 315
Locke, John (1632–1704) 22, 96, 363
532 Personenregister