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Parmenides

Sein
und
Welt
Die Fragmente
neu übersetzt und
kommentiert von
Helmuth Vetter

VERLAG KARL ALBER B


Parmenides
Sein und Welt

Die Fragmente
neu übersetzt und kommentiert
von Helmuth Vetter

VERLAG KARL ALBER A


Das »Lehrgedicht« des Parmenides, das nur in Fragmenten erhalten
ist, gehört zu den Grundtexten der antiken Philosophie. Die For-
schungen zu Parmenides gehen mehrheitlich davon aus, dass das Sein
als abstrakter Begriff jenseits von Zeit und Werden, die Welt dagegen
als bloßer Schein zu verstehen sei. Die hier vorliegende Interpreta-
tion geht demgegenüber von einem grundlegend anderen Ansatz aus:
1. Das Sein ist nicht überzeitlich und kein abstraktes Eines, sondern
es einigt und hält die in der überlieferten Kosmologie aufgebrochenen
Gegensätze zusammen. 2. Die Welt ist nur für die im Irrtum befan-
genen Sterblichen bloßer Schein; sie wird von Parmenides nicht ver-
neint, sondern auf ihre Wahrheit zurückgeführt. 3. Die in der Tradi-
tion immer wieder von neuem gestellte Frage nach der Einheit der
Fragmente erhält dadurch eine Basis für weitere Untersuchungen.

Ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Helmuth Vetter, geb. 1942. Bis zum Ruhe-
stand Professor für Philosophie an der Universität Wien. Mitbegrün-
der und zehn Jahre Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft
für Phänomenologie sowie Begründer und Mitherausgeber der Reihe
der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie. Herausgeber
von Band 23 der Heidegger-Gesamtausgabe, Geschichte der Philoso-
phie von Thomas von Aquin bis Kant. Frankfurt a. M. 2006. – Ar-
beitsschwerpunkte: Phänomenologie, Hermeneutik, Philosophie der
Antike. Zahlreiche Publikationen, namentlich zu Heidegger. Zuletzt:
Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk. Hamburg
2014.
PD Dr. Alfred Dunshirn, geb. 1977. Klassischer Philologe und Philo-
soph. Arbeitsschwerpunkt: Philosophie der Antike. Publikationen
u. a. zum homerischen Epos, zu Platon und zu Heideggers Interpreta-
tionen zur Antike. Letzte Buchveröffentlichungen: Logos bei Platon
als Spiel und Ereignis. Würzburg 2010. Griechisch für das Philoso-
phiestudium. Wien 22013.
Parmenides

Sein und Welt


Die Fragmente
neu übersetzt und kommentiert
von Helmuth Vetter

Verlag Karl Alber Freiburg / München


2. Auflage 2017

© VERLAG KARL ALBER


in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier

ISBN (Buch) 978-3-495-48801-0


ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81801-5
Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1. Exposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
a. Problemanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
b. Herausforderung und Aneignung . . . . . . . . . . 14
2. Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
a. Hinweise zur Interpretation . . . . . . . . . . . . 16
b. Philosophie und Philologie . . . . . . . . . . . . . 20

I. Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1. Die Vorsokratiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
a. Vorbemerkung zur Terminologie . . . . . . . . . . 22
i. »Vorsokratiker« . . . . . . . . . . . . . . . . 22
ii. »Philosophie« · »Ontologie« . . . . . . . . . . 25
b. Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
i. Spekulation und System . . . . . . . . . . . . 27
ii. Historische Methode . . . . . . . . . . . . . . 29
iii. Vorgänger in der östlichen Literatur . . . . . . 32
iv. Λόγον διδόναι – Europa? . . . . . . . . . . . 35
2. Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
a. Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
b. Die Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
i. Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
ii. Titel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
iii. Lehrgedicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
iv. Dichtung und Philosophie . . . . . . . . . . . 44

5
Inhalt

3. Tradition · Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
a. Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
i. Orphik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
ii. Pythagoreer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
iii. Xenophanes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
b. Eleaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
i. Zenon von Elea . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
ii. Melissos aus Samos . . . . . . . . . . . . . . 50
c. Heraklit von Ephesos . . . . . . . . . . . . . . . . 51
i. Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
ii. Gemeinsames · Trennendes . . . . . . . . . . . 53
4. Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
a. Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
b. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
c. Die Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
d. Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

II. Text · Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68


1. Zur Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
2. Text · Übersetzung · Worterklärungen . . . . . . . . . . 70
B1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
B2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
B3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
B4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
B5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
B6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
B7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
B8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
B9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
B 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
B 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
B 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
B 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
B 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
B 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
B 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
B 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
B 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
B 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

6
Inhalt

III. Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152


1. Initiation (B 1.1–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
2. Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8) . . . . . . . . . . . . 154
a. Die Göttin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
b. Der Kuros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
3. Sein und Denken (B 3 · B 8.34) . . . . . . . . . . . . . 166
a. Νοεῖν . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
b. Εἶναι . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
c. Αὐτό . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
d. Das Worumwillen . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
4. Die Schau (B 4 · B 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
a. An- und Abwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
b. Ursprungslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
5. Wege, die keine sind (B 6 · B 7) . . . . . . . . . . . . . 172
a. Ausweglosigkeit: Das Nichts . . . . . . . . . . . . 173
b. Irrwege: Die unwissenden Sterblichen . . . . . . . 173
6. Der Weg des Seins (B 8.1–51) . . . . . . . . . . . . . . 175
a. Ἔλεγχος und λόγος . . . . . . . . . . . . . . . . 175
b. Strukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
c. Die Zeichen des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . 178
i. Das Ganze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
ii. Die Unversehrtheit der Kugel des Seins . . . . . 181
iii. Notwendigkeit: Ἀνάγκη und Μοῖρα . . . . . . 182
iv. Die πίστις ἀληθής . . . . . . . . . . . . . . . 183
7. Das Sein und die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
a. Vorgriff auf Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . 183
b. Profane Zeit · heilige Zeit . . . . . . . . . . . . . . 187
8. Die scheinbare Welt (B 8.51–61) . . . . . . . . . . . . . 189
a. Die Sterblichen und die Irre . . . . . . . . . . . . . 189
i. Setzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
ii. Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
b. Sein und Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
9. Die Kosmologie des Parmenides (B 9 – B 19) . . . . . . . 195
a. Wahrheit und Unwahrheit . . . . . . . . . . . . . 196
b. Sein, Schein und Erscheinung . . . . . . . . . . . . 199
Synopsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Corollaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

7
Inhalt

IV. Indices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204


1. Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
2. Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
3. Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
4. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
5. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides . . . . . . . 231

8
Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit versteht sich als Einladung zu einer neuen


Lektüre des Parmenides. Dies soll auf verschiedenen Wegen erreicht
werden: mit einer vollständigen neuen Übersetzung und einem neu-
en Kommentar. Die Beweisführung beider verteilt sich auf zwei Ebe-
nen: als Wortkommentar zu jedem einzelnen der 153 in griechischer
und 6 in lateinischer Sprache überlieferten Fragmente – hier domi-
niert die philologisch-historische Forschung; und als Kommentar, der
das Ganze der Schriften im Auge hat – hier hat die Philosophie den
Vorrang. Außerdem hofft der Verfasser, zum wechselseitigen Ver-
ständnis von Philosophie und Philologie beitragen zu können.
Indirekt betrifft dies auch die Wahl der Sekundärliteratur. Soweit
dies nötig ist und verantwortet werden kann (auch dazu gibt es Be-
gründungen in den beiden Kommentaren), kommen Arbeiten sowohl
aus der Philosophie als auch der philologisch-historischen Forschung
zur Sprache; dass angesichts ihrer Fülle nur ein relativ kleiner Teil
berücksichtigt werden konnte (soll nämlich auf sie wirklich eingegan-
gen werden und nicht nur mit einem belanglosen »s. a.« oder »vgl.«),
mögen manche als Manko betrachten; doch enthalten viele der im
Buch genannten Arbeiten zahlreiche zusätzliche bibliographische
Hinweise, die einer weiteren Erarbeitung von Nutzen sein könnten.
Der Einleitung folgen drei Teile, die ineinander verschränkt sind;
sie machen den Hauptinhalt dieses Buches aus. Ein vierter Teil dient
der Information, ihm folgt ein Anhang zu neuerer Parmenides-Lite-
ratur.
Der I. Teil – H i s t o r i e – vermittelt historische Belege und geht
von der üblichen Zuordnung aus: Ihr zufolge war Parmenides ein
Vorsokratiker und Begründer der Schule der Eleaten. Wieweit dies
aber mit bestimmten Interpretationsvorgaben kompatibel ist, ist an-
hand verschiedener Beispiele zu befragen. Einigen wenigen Daten zu
Leben und Werk des Parmenides folgen Beispiele seiner Nach-
wirkung in der Philosophie der Antike.

9
Vorbemerkung

Der II. Teil – Te x t – umfasst zwei Abschnitte. Der erste behan-


delt Fragen der nachfolgenden Übersetzung. Der zweite Abschnitt
enthält den originalen Text und die Übersetzung sämtlicher Frag-
mente sowie abweichende Lesarten, die vollständige Neuüberset-
zung, Worterklärungen im Kommentar zu den einzelnen Wörtern
sowie Gründe für die Bevorzugung bestimmter Lesarten gegenüber
anderen.
Der III. Teil – K o m m e n t a r – hat im Unterschied zu den Wort-
erklärungen des II. Teils, die sich vor allem auf Details beziehen, alle
Fragmente des Parmenides in Gänze zum Gegenstand. Der Kommen-
tar bezieht sich damit auf die zentralen Themen, wobei er im All-
gemeinen den Fragmenten in ihrer Aufeinanderfolge nachgeht; Text-
grundlage ist die Ausgabe von Diels/Kranz. Der Interpretation liegt
hier die These der reziproken Zusammengehörigkeit von Denken
und Sein zugrunde. Im Resultat widerspricht die Arbeit schon mit
ihrem Titel in zumindest zwei Hinsichten den wirkungsgeschichtlich
dominanten Interpretationen: 1. Das S e i n ist nicht das Resultat
einer Abstraktion. 2. Die We l t ist ausschließlich aus der Sicht der
»Sterblichen« bloßer Schein. Demgegenüber ist meinem Verständnis
zufolge das Sein der einigende Grund der Welt, und die Welt er-
scheint in ihrer Wahrheit und Konkretion – nicht im Schein der δό-
ξαι, sondern als Erscheinung qua ἀ-λήθεια. Am Ende des III. Teils
steht eine Synopsis. Sie enthält die Zusammenfassung des Ganzen
unter Hervorhebung der einzelnen Schwerpunkte.
Zum IV. Teil – I n d i c e s – gehören das Siglenverzeichnis, ein
Abriss zur Chronologie, Angaben zu Personen der Antike, nament-
lich zu Philosophen, die für Parmenides eine größere Rolle spielen,
eine Liste aller im Buch zitierten Literatur sowie ein Sachregister.
Im Anhang folgt der von Alfred Dunshirn verfasste Bericht über
neuere Literatur zu Parmenides.
Mit Ausnahme der Originalzitate wird die neue Rechtschrei-
bung verwendet. Ausschließlich wegen der besseren Lesbarkeit gelten
alle einschlägigen Wörter sowohl für das weibliche als auch für das
männliche Geschlecht.

Die Arbeit hat Lukas Trabert in das Programm des Verlags Karl Alber
aufgenommen. Dafür und nicht zuletzt auch für seine Geduld: gra-
tiam ago. Dem gesamten Team des Alber-Verlags möchte ich für die

10
Vorbemerkung

so ansprechende graphische Gestaltung meinen herzlichen Dank aus-


sprechen. Mein Dank gilt auch Hans Rainer Sepp für seine Hilfe. Für
den Gedankenaustausch mit Alfred Dunshirn und dessen Korrek-
turen namentlich des griechischen Textes: χάριν ἔχω.
Das Buch ist Franz Danksagmüller zugeeignet, quod musica ars
sit pars eruditionis philosophicae.

Wien, im Herbst 2016

11
Einleitung

»Das einzig Wichtige ist, aus den Werken der Vergan-


genheit das herauszulesen, was über alle Zeiten wirk-
sam und wichtig ist.« (Nicolaus Harnoncourt) 1

1. Exposition

a. Problemanzeige

Erstens. Cui bono? Wem nützt die Beschäftigung mit einem Philoso-
phen, der vor etwa zweieinhalbtausend Jahren in Süditalien gelebt hat
und von dem 153 Verse in einem altgriechischen Dialekt und 6 latei-
nische Verse überliefert wurden? Die noch heute maßgebliche Edition
stammt aus dem 19. Jahrhundert. Damals gab es bekanntlich noch
einen lebendigen Forschergeist, was nicht allein mit dem bewun-
derungswürdigen Fleiß der Forscher zu tun hatte, galten doch »die
Griechen« als ein Ideal, an dem sich namentlich »die Deutschen« zu
orientieren hätten, sodass es schon als moralische Pflicht erschien, die
Dokumente der »Alten« zu ordnen und für künftige Generationen
aufzubewahren. Dieser Optimismus scheint heute kaum noch vor-
handen zu sein (man mag darüber denken, wie man will). Manches
wird noch von Institutionen vorbildlich betreut, doch ist es nicht so,
dass sich im Geheimen (macht man sich nichts vor) der Zweifel an der
Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns regt?
Zweitens. Gesetzt, es soll interpretiert werden (was ja in dieser
Arbeit geschieht): Woran misst sich die Gültigkeit einer Interpreta-
tion? Auch hier ist das 19. Jahrhundert in der besseren Position. Es

1 Booklet zur DVD der Zürcher Aufführung von Claudio Monteverdi: Il ritorno
d’Ulisse in patria, 13.

13
Einleitung

gibt Hegels geniale Geschichte der Philosophie und Philosophie der


Geschichte, es gibt die Hegelianer, und überragende Historiker der
Philosophie wie Eduard Zeller sammeln ein gewaltiges Material.
Und noch im 20. Jahrhundert hat Ulrich von Wilamowitz-Moellen-
dorff das Gesamtgebiet seines Faches überblickt. Andere wären zu
nennen, vor allem Karl Reinhardt – ohne mit den hier nicht Genann-
ten Wertungen zu verbinden.
Drittens. Doch um ein Maß zu wählen, setzt dies ein gewisses
Augenmaß beim Interpreten voraus, d. h. eine Ahnung davon, wo-
rauf es ihm ankommt.
Viertens. Interpretieren ist eine Sache der Hermeneutik, nicht
der Hermetik. Der Interpret soll vermitteln, was ihm allenfalls an
Einsichten zugewachsen ist. Das Geschäft der Vermittlung ist beson-
ders in diesem Fall wichtig, wo es um die Überbrückung sprachlicher
und kultureller Ferne geht – um eine Annäherung an den Gegenstand
– also Parmenides – und an potentielle Leserinnen und Leser.
Fünftens. Cui bono? Wo steckt das Problem? Die Arbeit heißt
»Sein und Welt«. Vielleicht lohnt es sich, darüber gleich am Anfang
kurz nachzudenken. Um auf die Frage zurückzukommen: Sie wird
griffiger, wenn der Titel nicht nur als Überschrift, sondern als Pro-
blem genommen wird.

b. Herausforderung und Aneignung

Solange Parmenides nicht aus seinem Umfeld »herausgelesen« wird


(um ein Wort des großen Dirigenten Nicolaus Harnoncourt zu ge-
brauchen – wobei in »lesen« auch ein Sich-Sammeln und gar auf
etwas »Erlesenes«, Kostbares gemeint sein könnte), ist und bleibt Par-
menides – bei allem Aufwand an noch so respektablen Interpretatio-
nen und Forschungen – jemand, der für uns Heutige mehr oder min-
der vergangen (und dann, horribile dictu, abgetan) sein könnte und
faktisch nicht selten auch ist. Es ginge ihm gar wie dem Spinoza, nach
Lessings bekanntem Wort, die Leute gingen mit ihm um wie mit
einem toten Hund.
Parmenides und sein Umfeld: Verlangt dies nicht mehr als nur
die Rekonstruktion vergangener Einflüsse? Worin liegt dieses
»Mehr«? Parmenides ist aus seiner Situation heraus zu interpretie-
ren. Das heißt: ihn befragen, was ihm widerfahren ist, sodass es ihn
herausgefordert, gepackt hat, entscheidend für ihn wird – und ihn

14
Exposition

deshalb zur Stellungnahme veranlasst, gar zum Anstoß wird, alles


Bisherige zu überdenken. Auch wenn Aristoteles dies etwas anders
gemeint haben wird, ist es doch eine treffende Charakteristik des hier
angedeuteten Vorgangs: ἀναγκαζόμενος δ’ ἀκολουθεῖν τοῖς φαινο-
μένοις sei Parmenides genötigt gewesen, dem zu folgen, »was sich
ihm gezeigt hat«. 2
Zur Frage wird die Begegnung mit der Situation, wenn sie den
Betroffenen dazu bringt, nach neuen Antworten zu suchen, Sinn-
zusammenhänge, die möglicherweise in Verlust geraten und eben da-
her fraglich sind, neu zu knüpfen. Und dies scheint der Fall des Par-
menides zu sein.
Die Situation, der er sich gegenübersieht, ist die Kosmologie der
milesischen Philosophen. Sie führt zu Verwerfungen hinsichtlich der
alten von Mythen getragenen Kosmologie. In Gefahr gerät dadurch
das Heilige – was freilich noch zu erhärten ist. Denn eine solche Be-
hauptung beruht auf der Hypothese, dass das Heilige zwar zum We-
sen des Mythos gehört, nicht aber in gleicher Weise zur Kosmologie.
Wie steht es aber dann um die Heiligkeit der Welt? Diese Frage – die
allerdings erst im Kommentar näher begründet werden kann (°III.2.
a) – wird für Parmenides zur großen Herausforderung.
Seine Antwort läuft aber alles andere als auf eine Rückkehr zum
Mythos hinaus; mit ihr betritt er die Auseinandersetzung mit der
Kosmologie. Doch wird das Heilige – gesetzt, dass in dessen Rettung
Parmenides seine vornehmlichste Aufgabe erblickt – nur dann plau-
sibel, wenn diese Antwort das Niveau der Kosmologen überbietet.
Dies geschieht so, dass die entscheidenden Weisungen der Fragmente
zwar von einer Göttin ausgehen, deren wahrhaft fundamentale For-
derung jedoch darin besteht, »ihren« Mythos zu prüfen, d. h. Rechen-
schaft über ihn abzulegen (die spätere Formel: λόγον διδόναι) und
ihn einem ἔλεγχος auszusetzen: Die scheinbare Paradoxie: Rettung
des Mythos durch den Logos (was geradezu eine Umkehr der weit
verbreiteten Wegbeschreibung »vom Mythos zum Logos« 3 bedeutet).

2 Aristoteles Metaph. A 5, 986b31 (Zur Art der Zitation °IV.4 Vorspann).


3
Nestle 1942, Buchtitel.

15
Einleitung

2. Durchführung

a. Hinweise zur Interpretation

Es ist die These, dass sich Parmenides einer bestimmten Herausforde-


rung gewärtig und deshalb zu einem »neuen« Denken genötigt war.
Diese Behauptung braucht Interpretation. Sie ist auf zwei Wegen zu
bewerkstelligen (was in der Vorbemerkung schon angedeutet wurde).
Der eine Weg ist jener der philologisch-historischen Unter-
suchung; der zweite der philosophischer Hermeneutik. Zu beiden
kann hier nur das Nötigste gesagt werden – nicht zuletzt aufgrund
der vielfältigen Vorstellungen über jene und diese. Auch können als
maßgebende Zeugen für diese Versuche nur jeweils einer ihrer
Hauptvertreter zu Wort kommen.
Die philologisch-historische Untersuchung beschränkt sich nicht
auf die Textkritik, doch gehört diese zu ihren wichtigsten Aufgaben.
Ein Autor beschreibt sie als die »philolog. Methode zur Überprüfung
in ihrer Authentizität nicht gesicherter bzw. fragwürdiger Texte«. 4 In
summa gehört dazu die Korrektur jener Irrtümer, die auf mangelhaf-
te Überlieferung zurückgehen, und einiges mehr:
»Schreibfehler des Kopisten aus Unachtsamkeit, Flüchtigkeit und mangeln-
dem Verständnis e. Stelle, Lesefehler durch Fehlen von Worttrennung und
Interpunktion in der Antike, bewußte Änderungen in Lautstand und Or-
thographie je nach der Mundart des Schreibers oder des Bestellers, Ver-
änderungen im Wortlaut durch Ersetzung unverständl. oder veralteter
Wörter zwecks leichterer Verständlichkeit, Kürzungen, Erweiterungen
durch Einschub unechter Zeilen {…} und Glossen, versehentl. Auslassung
durch Überspringen von Zeilen (bes. zwischen zwei gleichen Wörtern) oder
ganzer (evtl. in der Vorlage entfernter) Seiten, beim Diktieren mangelnde
Aufmerksamkeit oder Hörfehler u. a. m. Da für die antiken Werke fast gar
keine {…} Originalhss. oder authent. Texte vorliegen und selbst die erhal-
tenen Abschriften bei antiken Werken oft um ein Jahrtausend {…} vom
Original entfernt sind, werden derartige Fehler im Zuge mehrfachen Ab-
schreibens nicht nur übernommen und vermehrt, sondern auch, wo sie Un-
verständliches ergeben, nach Auffassung des Schreibers ›verbessert‹.« 5
Die Rekonstruktion des Textes umfasst drei Hauptstufen:

4 Wilpert 1989, 931.


5
Wilpert 1989, 931 f.

16
Durchführung

(1) Rezension = »Sammlung und krit. Sichtung aller bestehenden Zeugnis-


se«, (2) Examination = »krit. Prüfung und Wertung des als überliefert fest-
gestellten Textbestandes im Hinblick auf seine Echtheit«, (3) Konjektur
bzw. Emendation = »auf Vermutung des Herausgebers beruhende Verände-
rung des überlieferten Textbestandes und seine möglichst weitgehende An-
näherung an den vermutlichen Originalwortlaut über die Unzulänglichkei-
ten der Überlieferung hinaus«. 6
Dass dies für antike Texte und namentlich für das frühe griechische
Denken von besonderer Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Hier sei
einer der großen Philologen als Zeuge genannt. Hermann Diels hat
gegen die Lesart °B 1.29 εὐφεγγέος (bei Proklos) anstelle von εὐκυ-
κλέος (bei Simplikios) drei Grundsätze herausgestellt:
»1) Die Majorität der Zeugen entscheidet nicht. | 2) Die leichtere, sofort
verständliche Lesart ist voraussichtlich falsch. | 3) Die aus einer Hds. des
Autors direct geflossene Ueberlieferung bietet voraussichtlich das Wahre.« 7
Die Punkte 1) und 3) verstehen sich wohl unmittelbar von selbst. Im
Punkt 2) bezieht sich Diels auf die lectio difficilior, die Bevorzugung
nicht der unmittelbar einleuchtenden, sondern der schwierigeren
Lesart, »die in den meisten Fällen als original anzusehen ist und in-
folge ihrer Schwierigkeit zur Fehlerquelle wurde«. 8
Nach diesen Bemerkungen zur philologisch-historischen For-
schung folgen noch einige unter dem Stichwort »Hermeneutik«.
Nach schon längst vorhandenen Spezialhermeneutiken (bereits in
der Antike gibt es bedeutende Arbeiten zu diesem Thema in den Be-
reichen der Philologie, Theologie und Jurisprudenz) wird F. D. E.
Schleiermacher zum Begründer der allgemeinen und philosophischen
Hermeneutik; sie wirkt im 20. Jahrhundert vor allem durch Wilhelm
Dilthey, Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer (wenn auch in
ganz unterschiedlichen Ausprägungen) weiter. 9
Es ist für Schleiermacher, den Übersetzer Platons, bezeichnend,
dass er Hermeneutik und philologische Kritik zusammen nennt und
beide sogar unter dieser subsumiert:
»Hermeneutik und Kritik, beide philologische Disziplinen, beide Kunstleh-
ren, gehören zusammen, weil die Ausübung einer jeden die andere voraus-

6 Wilpert 1989, 932 f.


7 Diels 2003, 54.
8
Wilpert 1989, 932 f.
9 Dilthey GW V; Dilthey 1965; Heidegger GA 2; Heidegger GA 63; Gadamer 1974;

Gadamer GW 1; Gadamer GW 2.

17
Einleitung

setzt. Jene ist im allgemeinen die Kunst, die Rede eines andern, vornehm-
lich die schriftliche, richtig zu verstehen, diese die Kunst, die Echtheit der
Schriften und Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden
Zeugnissen und Datis zu konstatieren.« 10
Schleiermacher zählt eine Reihe von »Kanones« auf; für ihn sind es
die maßgebenden Regeln des Verstehens. Die ersten zwei lauten:
»Erster Kanon. Alles, was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer
gegebenen Rede, darf nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprüng-
lichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden.« 11
Damit ist die Kontextualität der Auslegung gemeint. Doch enthält
jeder Text etwas Unbestimmtes, z. B. einzelne zusammenhanglose
Sätze, Archaismen, technische Ausdrücke u. dgl. »Wie erfahren wir
aber, was für Leser sich der Verfasser gedacht? Nur durch den all-
gemeinen Überblick über die ganze Schrift.« 12 Die vielen oft unklaren
Einzelfälle konfrontieren mit der Aufgabe, die Regel in ihrer All-
gemeingültigkeit anzuwenden. Damit kommt zur »grammatischen«
Seite des Verstehens mit der »Tatsache im Denkenden« die »psycho-
logische« oder »technische«. Anwendung des Allgemeinen auf das
Einzelne ist »Kunst« (ein »technisches« Verfahren in der Bedeutung
des griechischen τέχνη) und Sache der Urteilskraft – Kants Verständ-
nis zufolge das Besondere als Fall einer Regel aufzusuchen. 13 »Daher
auch eben diese Regel eine Kunstregel ist deren glückliche Anwen-
dung auf einem richtigen Gefühle beruht.« 14 Somit befindet sich die
Hermeneutik in größerer Nähe zur Kunst als zur Wissenschaft, in
aristotelischen Termini: Sie ist der τέχνη näher als der ἐπιστήμη. 15
Die Bemerkungen zum Kontext und zum Verhältnis von Einzel-

10 Schleiermacher 1977, 71. Zu Schleiermachers Stellung in der Geschichte der Phi-


losophie: Braun 1990, § 39.
11
Schleiermacher 1977, 101.
12 Schleiermacher 1977, 102.

13
Unerachtet von Kants weitergehenden Unterscheidungen in der Kritik der Urteils-
kraft bediene ich mich seiner Definition aus der Anthropologie: »Wenn nun Verstand
das Vermögen der Regeln, die Urteilskraft das Vermögen, das Besondere, sofern es ein
Fall dieser Regel ist, aufzufinden, ist, so ist die Ve r n u n f t das Vermögen, von dem
Allgemeinen das Besondere abzuleiten und dieses letztere also nach Prinzipien und als
notwendig vorzustellen« (Kant WA XII, 509).
14 Schleiermacher 1977, 102.

15
Zur Unterscheidung der Kunst (τέχνη) von der Wissenschaft (ἐπιστήμη) genüge
hier ein Hinweis auf die fünf Wege, auf denen Wahrheit sich zeigt: Aristoteles EN Z 3,
1139b15–17.

18
Durchführung

nem und Allgemeinem enthalten bereits einen Hinweis auf den so-
genannten hermeneutischen Zirkel:
»Zweiter Kanon. Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle
muß bestimmt werden nach seinem Zusammensein mit denen die es um-
geben.« 16
Der Name »Zirkel« geht auf Aristoteles zurück, doch meint dieser
etwas anderes. Er stellt in den Ersten Analytiken die Frage, wie es
möglich sei, dass sich aus falschen Prämissen etwas Wahres ergibt,
und analysiert im 5. Kapitel des 2. Buchs den so genannten Zirkel-
beweis (er sagt κύκλος »Kreis«). Dieser circulus vitiosus gilt später
als ein Fehler im Beweis: Was bewiesen werden soll, wird schon vo-
rausgesetzt. Übertragen auf den »hermeneutischen« Zirkel hieße
dies: Das Ganze ist die Voraussetzung, um die Teile zu beweisen, vice
versa werden diese als Beweis für das Ganze vorausgesetzt.
Dies betrifft jedoch nicht den hermeneutischen Zirkel. Denn
Einzelnes (z. B. das einzelne Wort) und Ganzes (z. B. alle Fragmente)
werden nicht auseinander bewiesen; vielmehr tritt am Einzelnen das
Ganze nur umrisshaft in Erscheinung; mit fortschreitender Lektüre
bei Vermehrung der Details wird auch das Ganze entsprechend klarer.
Es gibt hier keine Beweise, allenfalls Berichtigungen, und von einem
vitiosum kann ebenso wenig die Rede sein wie auch das Bild des Zir-
kels leicht in die Irre führt. Dem gemeinten Sachverhalt kommt mög-
licherweise das Bild einer Spirale näher.
Die Kritik ist auf die Historie angewiesen – Schleiermacher steht
hier dem späteren Zeller näher als Hegel: 17
»Da die historische Kritik kein Begriff a priori ist, sondern mit dem Ge-
schäft selber erst sich gebildet und erweitert hat, so kann man auch nur
auf diesem Wege zu seiner richtigen Erklärung gelangen.« 18
Ein Beispiel:
»Es enthalte eine Handschrift alle Schriften eines und desselben Verfassers,
darunter aber sei eine, der es an der gehörigen Identität mit den andern
fehlt, so daß der Verdacht entsteht, sie sei nicht von dem Verfasser, wie ist
dieser Fall anzusehen? Sind Zeugnisse und Gründe genug da, daß die Hand-
schrift nur Schriften desselben Verfassers enthalten soll, steht auch z. B.
durch die Überschrift fest, daß der, von dem die Handschrift ausgeht, alles

16
Schleiermacher 1977, 116.
17 °I.1.b.i; °I.1.b.ii.
18
Schleiermacher 1977, 247.

19
Einleitung

als Schrift desselben Verfassers ansah, so sagt dies Zeugnis als Tatsache aus,
daß der Verfasser auch jene Schrift verfaßt habe. Wenn nun die Schrift doch
verdächtig ist, so ist eine Differenz zwischen der Relation und der Tatsache,
und diese Differenz ist auszumitteln. Dieser Fall gehört der sogenannten
höheren Kritik an.« 19

b. Philosophie und Philologie

Für Schleiermacher gehören beide, Hermeneutik und Kritik, zusam-


men; überdies sind sie oft ein wichtiges Korrektiv für- und manchmal
auch gegeneinander. Denn nur zu oft bedient sich die Kritik nicht
weiter geprüfter »Vorurteile« 20 und rekurriert deshalb stillschwei-
gend auf den gesunden Menschenverstand, den sie für selbstver-
ständlich hält. Nun verbittet sich aber Kant in den Prolegomena mit
gutem Grund »die Entscheidung vermittelst der Wünschelrute des so
genannten g e s u n d e n M e n s c h e n v e r s t a n d e s , die nicht jeder-
mann schlägt, sondern sich nach persönlichen Eigenschaften rich-
tet«. 21
Auf der anderen Seite begegnet man bei Philosophen (auch sol-
chen von Rang) nicht selten Behauptungen, die sich als unhaltbar
herausstellen, sobald sie auf genauere Textkenntnis bezogen und
durch Kritik einer näheren Prüfung unterzogen werden. Beidem sei
hier begegnet. Dabei hat bei den Worterklärungen im II. Teil die phi-
lologisch-historische Kritik das größere Gewicht, im Kommentar des
III. Teils die philosophische Hermeneutik. Doch sind beide stets auf-
einander bezogen; das den Überschriften vorausgehende Zeichen °
soll dies auch optisch zum Ausdruck bringen.
Zur Sekundärliteratur (auch zu ihr darf auf die Vorbemerkung
hingewiesen werden) sei nur noch gesagt, dass die Auswahl notwen-
digerweise Beschränkungen unterliegt, wenn auch nur von ferne so

19
Schleiermacher 1977, 249.
20 Das Wort »Vorurteil« wird hier nicht negativ, sondern neutral aufgefasst und wie
von Gadamer mit lat. praeiudicium verbunden. »Es bedarf einer grundsätzlichen Re-
habilitierung des Begriffes des Vorurteils und einer Anerkennung dessen, daß es le-
gitime Vorurteile gibt, wenn man der endlich-geschichtlichen Seinsweise des Men-
schen gerecht werden will« (Gadamer GW 1, 281). Allerdings stellt Gadamer kritisch
fest, das Vorurteil der Aufklärung (d. h. der ungeprüften Annahme, es gebe keine
Vorurteile) sei »das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmach-
tung der Überlieferung« (ebd. 275).
21
Kant WA V, 247.

20
Durchführung

etwas wie eine Art von Dialog mit den gewählten Autoren möglich
sein soll. Die Berücksichtigung von allem und jedem ist für den Leser
kaum von Nutzen und schlimmstenfalls Symptom einer Profilie-
rungsneurose des Urhebers. Dass sich davon der Verfasser dieses
Buches nicht von vornherein ausschließt, bemerkt er nur, um all-
fälligen Einwänden zu begegnen.

21
I. Historie

1. Die Vorsokratiker

a. Vorbemerkung zur Terminologie

i. »Vorsokratiker«
Der Terminus »Vorsokratiker« (engl. presocratic, presocratics, frz.
présocratique, présocratiques) ist eine Wortbildung des 19. Jahrhun-
derts. Seine Erfinder gehen davon aus, dass die griechische Philoso-
phie ihren Gipfel mit Sokrates, Platon und Aristoteles erreicht und
dass alles, was diesen »Klassikern« vorausgeht, vorläufig und daher
auch unvollkommen ist. Diese Auffassung ist heute aus mehreren
Gründen in Frage zu stellen.
Dies gilt zum einen für die Philosophen und namentlich für Par-
menides – worauf noch ausführlich einzugehen sein wird. Doch ist
der Begriff des Klassischen und der Klassik auch aus historischer
Sicht ein Problem.
Die Bezeichnung »Sokratiker« (Sokratikoi) geht vermutlich auf
das philosophiegeschichtliche Werk des Peripatetikers Sotion aus
Alexandria zurück; 1 von »Vorsokratikern« ist aber erst in der Neuzeit

1 °IV.3. »Nach der Theorie des Sotion, die vor allem bei Diog. Laert. vorliegt, sind alle
Gründer philos. Schulen des 4. Jh.s Schüler des Sokrates gewesen; in den {…} Schulen
lebt also die διαδοχή der sokrat. Lehre fort« (KP 5, 257; H. D). »Er {Sotion} kam zu
zwei Ausgangspunkten: dem jonischen und dem italienischen Ursprung der Philoso-
phie. Die erste Sukzessionslinie geht von Thales über die mittlere Akademie bis Chry-
sipp, die zweite führt von Pythagoras über die Skeptiker zu Epikur. Sotion erliegt hier
der Versuchung, die Ergebnisse der Analyse der philosophischen Situation seiner Ge-
genwart auf die ganze frühere Geschichte der Philosophie zu projizieren, insbesonde-
re aber auch auf die Vorsokratiker. Es ist bekannt, wie sehr diese Zweiteilung die
spätere Geschichtsschreibung prägen sollte. Diogenes Laertius wird sie übernehmen
und zum organisierenden Prinzip seiner Geschichte machen. Wir finden sie noch bei

22
Die Vorsokratiker

die Rede. »Der Name ist das Produkt einer philologisch orientierten
Historiographie der Philosophie, wie sie sich – die alte Doxographie
ablösend – seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. entwickelt. Die Anfänge
des Philosophierens in den Blick nehmend, differenziert J. A. Eber-
hard zwischen der ›poetischen‹ und der ›wissenschaftlichen Philoso-
phie‹. Die ›vorsokratische Philosophie‹ firmiert bei ihm als erste Peri-
ode der ›wissenschaftlichen Philosophie‹«. 2
Für Johann Jakob Brucker (1696–1770) sind die frühen grie-
chischen Philosophen Ionier und Italiker – er folgt dabei, wie schon
gesagt, Sotion und Diogenes Laertius. 3 Seine Historia critica (mit
einem Umfang von über 7.000 Seiten; das Gesamtwerk umfasst mehr
als 20.000 Seiten) wird Vorbild für die spätere Geschichte der Phi-
losophie. Auch jene, die ihm nicht folgen, zitieren ihn (so auch
Hegel).
Brucker verzichtet – was neu ist – auf das enzyklopädische Wis-
sen der Polyhistorie. An dessen Stelle treten einzelne Disziplinen: ein
Vorgriff auf das Spezialistentum des 19. Jahrhunderts. Seine Darstel-
lung der frühen Philosophen atmet den Geist der Aufklärung. Daher
rechtfertigt er immer dann die »heidnischen« Philosophen, wenn sich
diese dem Aberglauben ihrer Zeit widersetzen und (wie etwa Anaxa-
goras) ihre Thesen mit Vernunftgründen untermauern. 4
Hermann Diels 5 veröffentlichte 1897 die Ausgabe Parmenides
Lehrgedicht, dieser folgten 1903 Die Fragmente der Vorsokratiker.
Seine Edition ist bis heute Grundlage für die Mehrzahl aller Interpre-

Brucker, der 1742 in seiner Historia Critica von Zenon auf Pythagoras zurückgeht.
Diese Zweiteilung sollte also mehr als zeitausend Jahre überdauern« (Braun 1990, 27).
2 HWPh 1, 1222 (H. Hüni). Ausführlich HWPh 1, 1222–1226 s. v. »Vorsokratisch;

Vorsokratiker« (H. Hüni).


3 »Jakob Brucker, der die monumentale und für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts

maßgebliche Historia critica philosophiae (1742–1767) verfasst hat, kannte den Be-
griff der ›Vorsokratiker‹ nicht. Er kannte ihn schlicht deshalb nicht, weil man die
Epochen der antiken Philosophie zu seiner Zeit noch nicht mit den Begriffen einer
unabdingbaren, linearen historischen Entwicklung unterteilt hatte, die erst ab etwa
1800 zu finden sind« (Gemelli I, 373).
4 »Anaxagoras zum Beispiel findet seine Zustimmung, weil er versucht hat, Behaup-

tungen auf Beweise und Erfahrung zu stützen« (Braun 1990, 135).


5 Hermann Diels (1848–1922) studierte Philologie bei Hermann Usener (1834–1905);

seine Doktorarbeit baute er zu den monumentalen Doxographi Graeci (1879) aus.


Von Eduard Zeller nach Berlin geholt, wurde er 1881 Mitglied der Akademie der
Wissenschaften und 1883 Universitätsprofessor. Zusammen mit einem internationa-
len Mitarbeiterstab edierte Diels die antiken griechischen Aristoteles-Kommentare
(26 Bände in 57 Teilen). (Vorwort von Walter Burkert, in: Diels 2003, XXIII.)

23
Historie

tationen und Kommentare zur frühen griechischen Philosophie. Mit


Walther Kranz als zweitem Herausgeber wird die in zahlreichen Auf-
lagen vorliegende Sammlung als »Diels/Kranz« (DK) zitiert und ist
ein unverzichtbarer Bestandteil der Forschung.
Nimmt man für die Biographie des Parmenides als ungefähres
Datum 500 v. Chr. an, dann gehört er zur griechischen Staatenwelt in
klassischer Zeit, welche die Jahre 500 bis 336 v. Chr. umfasst. Peter
Funke, der Autor des einschlägigen Beitrags in der Geschichte der
Antike, 6 lässt aber Vorsicht mit dem von ihm untersuchten Begriff
erkennen:
»Die Ausbildung neuer Formen in der Musik, in der bildenden Kunst und
im literarischen Schaffen stand in einer fruchtbaren Wechselwirkung mit
der Entwicklung neuer Ideen und Denkweisen in der Philosophie. Wie die
Tragödie sucht auch die Philosophie Antworten auf die Herausforderungen
der Zeit. Im 6. und frühen 5. Jh. hatten die ionischen Naturphilosophen in
Kleinasien (u. a. Thales, Heraklit, Anaximander und Xenophanes) sowie Py-
thagoras und seine Schüler und die ›Eleaten‹ in Unteritalien (Parmenides,
Zenon) bereits die Bahnen vorgezeichnet, in denen sich dann auch in Athen
philosophisches Denken bewegte und alle Wissenschaftsbereiche durch-
drang. Anaxagoras aus dem kleinasiatischen Klazomenai gehörte zu den
Vordenkern einer neuen Aufklärungsphilosophie, die mit ihren rationalis-
tischen Erklärungsmodellen die traditionellen kosmologischen Vorstellun-
gen in Frage stellte und einem Skeptizismus das Wort redete, der an den
Grundfesten der geltenden Normen rüttelte.« 7
Diese Darstellung ist zugegebenermaßen überaus verkürzt und trotz-
dem sehr informativ, weil sie deutlich macht, wie zeitbedingt die Kos-
mologie (namentlich die eines Anaxagoras) den alten Kosmos-Ge-
danken in Frage stellte und damit auch die Bedeutung des Heiligen.
Damit ist die Herausforderung angedeutet, die Parmenides auf seine

6 Gehrke/Schneider 2013, 145–210.


7
Funke, in: Gehrke/Schneider 2013, 207. Zum Epochenbegriff der »Klassik« schreibt
Funke: »Dieser Begriff ist einer vornehmlich kunsthistorisch orientierten Betrach-
tungsweise verpflichtet und hat vor allem die Werke der bildenden Kunst und Lite-
ratur der damaligen Zeit im Blick, die dann auch schon in der Antike als Spitzen-
leistungen künstlerischen Schaffens angesehen und entprechend kanonisiert
wurden. Aufgrund seiner stilgeschichtlichen Provenienz ist der Begriff jedoch nur
bedingt geeignet, um als allgemeiner Epochenbegriff für diesen Zeitraum zu dienen.
Die Fokussierung auf das ›Klassische‹ im Sinne höchster Vollendung verstellt allzu
leicht den Blick für die Vielfalt der Entwicklungen in Politik, Kultur und Gesellschaft
der damaligen griechischen Staatenwelt« (Gehrke/Schneider 2013, 145 f.).

24
Die Vorsokratiker

nur ihm eigene Art sich anzueignen genötigt war (°E.1.b). Doch es
kommt noch etwas anderes hinzu.
Das scheinbar harmlose »Vor-« enthält eine Wertung. Schon von
Sotion wird Sokrates zum klassischen Philosophen stilisiert, und mit
ihm empfangen Platon und Aristoteles die Würde von Klassikern 8, an
denen jeder andere Philosoph zu messen sei. Ihre Vorgänger erschei-
nen aus dieser Perspektive als Vorläufer – doch sind »Vordenker«
(wie oben vom Historiker geschildert) nicht grundsätzlich mehr als
nur Vorläufer? Und wird der Vielfalt solcher Vordenker die Reduk-
tion auf Vorgänger jener Klassiker gerecht?
Heute kann der Terminus »Vorsokratiker« zweierlei meinen:
erstens ein Werturteil, mit dem das Vorläufige, aber auch Unvoll-
kommene der frühen Philosophen ausgedrückt wird; zweitens einen
Epochenbegriff.
Die Ausgabe von Diels/Kranz enthält 90 Autoren. Die ältesten
stammen aus dem 6. und 5. Jh. v. Chr. – es handelt sich um die Dich-
tung der Orphiker. 9 Am anderen Ende befinden sich die sogenannten
ΔΙΣΣΟΙ ΛΟΓΟΙ, »die um 400 {…} ein dorisch schreibender, na-
mentlich von Protagoras beeinflußter Sophist hielt«. 10
Innerhalb dieser rund 150 Jahre fungiert der Terminus »Vor-
sokratiker« als neutraler Epochenbegriff. Ausschließlich in dieser Be-
deutung wird er in vorliegender Arbeit (und angesichts der Proble-
matik des Klassik-Begriffs) gebraucht. 11

ii. »Philosophie« · »Ontologie«


Ist Parmenides ein Philosoph? Wird von Parmenides gesagt, διὰ ποιη-
μάτων φιλοσοφεῖ, 12 er habe »durch Dichtungen philosophiert«, ist
dies nur eine späte Zuschreibung des Diogenes Laertius und entbehrt
wie in anderen Fällen der historischen Beglaubigung. Als erster nennt

8
»Klassik (lat. classicus = zur 1., höchsten Steuerklasse gehörig, nach der Ver-
mögensstufung der röm. Bürger durch Servius Tullius, daher = materiell und geistig
hervorragend; seit Gellius, 2. Jh. n. Chr., erscheint ›scriptor c.‹ als mustergültiger
Schriftsteller ›1. Ranges‹), bezieht sich seit der Anerkennung des antiken Vorbildes
in der Renaissance auf Kultur, Kunst und Lit. des griech.röm. Altertums« (Wilpert
1989, 455).
9 KP 4, 356; K. Z.

10
DK II, 4051. Zur Stellung der Vorsokratiker-Interpretation: Gadamer 1996, 169 ff.
11 Von hier an (außer bei Originalzitaten) mit »VS« abgekürzt.

12
28 A 1.

25
Historie

sich Pythagoras einen Philosophen 13 (vermutlich eine »Rückprojizie-


rung aus späterer Zeit«), 14 und Heraklit von Ephesos, ein Zeitgenosse
des Parmenides, gebraucht den Ausdruck φιλοσόφους ἄνδρας, »phi-
losophische Männer«. 15 Außerdem wird ihm der Satz zugeschrieben:
χρὴ γὰρ εὖ μάλα πολλῶν ἵστορας φιλοσόφους ἄνδρας εἶναι. 16
Wenn im Folgenden zuweilen Begriffe wie »Ontologie«, »onto-
logisch«, »ontisch« »transzendental« oder »systematisch« verwendet
werden, handelt es sich aus historischer Perspektive um Anachronis-
men. So ist das Wort »Ontologie« für Parmenides noch unbekannt,
auch wenn für ihn als ersten das Sein zum Grundthema eines Den-
kens wird (und er deshalb als »Vater« der Ontologie gilt). Erst zwei
Jahrhunderte später ist die Ontologie Thema der Untersuchungen des
Aristoteles, allerdings wieder unter anderem Namen: Sie heißt jetzt
πρώτη φιλοσοφία, »Erste Philosophie«. Am Anfang des vierten Bu-
ches der später so genannten Metaphysik steht der Satz:
Ἔστιν ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὂν καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καθ’
αὑτό. »Es gibt eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes betrachtet
und das diesem hinsichtlich seiner selbst Zugrundeliegende.« 17
Und noch einmal etliche Jahrhunderte darnach tritt »Ontologie« als
Terminus in Erscheinung: Rudolf Goclenius gebraucht 1613 das Wort
in seinem Lexicon philosophicum. 18
Vergleichbares gilt hier wie für den Terminus »VS«: Solange mit
solchen und ähnlichen Worten keine anachronistische Wertung ver-
bunden ist (die sich nicht selten auf die Autorität eines Platon oder
Aristoteles berufen kann), ist gegen einen neutralen Gebrauch sol-
cher Termini nichts einzuwenden.

13 DL I, 10.
14 HWPh 7, 573 (M. Kranz).
15 22 B 35.

16 22 B 35. »(Denn) gar vieler Dinge kundig müssen weisheitsliebende Männer sein.«

(DK I, 159) Doch ist Vorsicht geboten: »Das einzige Vorkommen des Adjektivs bei
HERAKLIT: VS 22, B 35 kann als doxographische Hinzufügung angezweifelt werden«
(HWPh 7, 576; G. Bien).
17 Metaph. Γ 1, 1003a21–22.

18
HWPh 6, 1189 (K. Kremer).

26
Die Vorsokratiker

b. Interpretationen

Einleitend wurde die Frage cui bono? gestellt. Wozu die Beschäfti-
gung mit einem Philosophen solchen Alters, zumal sich seiner Inter-
pretation einige Hindernisse in den Weg stellen?
Solche Fragen wurden schon früher implizit gestellt und auf die
eine oder andere Weise beantwortet. Ich wähle vier Beispiele unter-
schiedlicher Interpretationen: Hegels Vorlesungen über die Geschich-
te der Philosophie, Eduard Zellers Philosophie der Griechen in ihrer
geschichtlichen Entwicklung, Walter Burkerts Arbeiten über die Zeit
vor den Griechen, wofür paradigmatisch sein Buch Die Griechen und
der Orient. Von Homer bis zu den Magiern stehen kann, schließlich
der vorliegende Versuch, der von der Frage nach einer gemeinsamen
Einheit der verschiedenen Interpretationen geleitet ist und von der
Intention des Parmenides bestimmt wird.

i. Spekulation und System


»Die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte der Entdeckung
der Gedanken über das Absolute, das ihr Gegenstand ist.« 19 Dieser
Satz aus Hegels Enzyklopädie ist für seine Vorlesungen über die Ge-
schichte der Philosophie von grundlegender Bedeutung. Sie beginnen
mit der »orientalischen« Philosophie und setzen sich bis zu Hegels
Gegenwart fort. 20
Das Absolute wird in den Vorlesungen näher bestimmt: »Das
Absolute ist der Geist. Doch bei der Auffassung des Geistes kommt
es auf die bestimmte Form an, in welcher der Geist vorgestellt wird.
Sprechen wir vom Geiste als allgemeinem, so wissen wir, daß er für
uns nur in der innerlichen Vorstellung ist; daß es aber dahin komme,
ihn nur in der Innerlichkeit des Denkens und Vorstellens zu haben,
ist selbst erst infolge eines weiteren Weges der Bildung geschehen.« 21
So erscheint die Geschichte der Philosophie in Gestalt eines Pro-

19 Hegel WA 8, 22.
20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hält die Vorlesungen über die Ge-
schichte der Philosophie zuerst 1816/17 in Heidelberg, dann wiederholt in Berlin,
zuletzt 1829/30. Er legt in ihnen »seine Theorie der Philosophiegeschichte dar und
betrachtet die bisherigen philosophischen Positionen auf der Basis seines Systems. –
Die Philosophie ist die höchste Form der Selbsterfassung des Geistes« (Volpi 1, 642;
F. Longato).
21
Hegel WA 12, 211 f.

27
Historie

zesses, der mit dem Geist beginnt und diesen in dialektischen Schrit-
ten bis zum absoluten Geist entfaltet. Hegel gebraucht dafür den
Ausdruck »Enzyklopädie«. 22 Sie beginnt mit dem Versuch, durch
Nachdenken die Wahrheit zu erkennen, hält aber an einzelnen Ver-
standesbestimmungen fest.
Drei Arten, die Geschichte zu betrachten, zählt Hegel auf: »a) die
ursprüngliche Geschichte, b) die reflektierende Geschichte, c) die phi-
losophische«. 23 Die erste ist jene der Geschichtsschreiber (Herodot
und Thukydides werden genannt). An zweiter Stelle stehen jene His-
toriker, die über ihre Gegenwart hinausgehen. Zu ihnen gehören je-
ne, die den historischen Stoff verarbeiten und eine allgemeine Ge-
schichte schreiben; dazu jene, die sich mit einer Welt beschäftigen,
die nicht die ihre ist; schließlich jene, die allgemeine Gesichtspunkte
ausbilden und damit den Schritt zur philosophischen Weltgeschichte
tun. Diese ist vom Glauben an die Vernunft getragen und von der
allgemeinen Überzeugung, »daß Vernunft in der Welt und ebenso in
der Weltgeschichte geherrscht habe und herrsche«. 24
Hegel deutet den Gang der Geschichte der Philosophie als Ein-
heit eines Systems, das als ein in sich kreisender Prozess verläuft: Der
Geist geht aus sich heraus, entfaltet sich dialektisch und kehrt dorthin
zurück, wo er immer schon war. Dies gilt sowohl für den Gang der
Weltgeschichte als auch für die Geschichte der Philosophie. 25
Nach einem Vorbericht zur orientalischen Philosophie (ein-
schließlich der Chinesen und Inder) beginnt Hegel mit der Philoso-
phie der Ionier, setzt bei den Pythagoreern fort und gelangt dann zu
den Eleaten; er folgt dabei weitgehend der Doxographie des Aristote-
les. 26 Wo steht hier Parmenides?
Parmenides ist für ihn »eine ausgezeichnete Figur« in der eleati-
schen Schule. 27 Zur Darstellung kommen F0 und in Grundzügen F1,
wobei Hegel den Text teilweise mit eigener Übersetzung wiedergibt. 28
Seine Trennung in F1 und F2 folgt der üblichen Zweiteilung in einen
Wahrheitsteil und einen Teil, der die bloß scheinbare Welt zum Inhalt

22 Wörtlich: Eine Bildung (παιδεία) die im Kreis (ἐν κύκλῳ) zur Entfaltung kommt.
23 Hegel WA 12, 11.
24 Hegel WA 12, 23.

25 »Auf diesen Unterschied kommt der ganze Unterschied in der Weltgeschichte an«

(Hegel WA 18, 40).


26
°I.4.b. – »Aristoteles ist die reichhaltigste Quelle« (Hegel WA 18, 190).
27 Hegel WA 18, 284.

28
Zu den Siglen vgl. IV.1.

28
Die Vorsokratiker

hat. Vergleicht man den betreffenden Abschnitt mit jenem über He-
raklit, 29 lässt sich allerdings kaum eine besondere Nähe zu Parmeni-
des feststellen.

ii. Historische Methode


1856 bis 1868 entsteht Die Philosophie der Griechen in ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung, eine Darstellung der griechischen Phi-
losophie von Thales bis Boethius. Ihr Verfasser ist Eduard Zeller, 30
und es handelt sich um die bis auf weiteres umfangreichste histori-
sche Darstellung dieses Gegenstandes.
Trotz einer gewissen Nähe zu Hegel verneint Zeller die Voraus-
setzungen von dessen Entwurf. Er leugnet zwar keineswegs die Be-
deutung der Vernunft, lehnt es allerdings ab, sie als das absolute
Prinzip zu begreifen. Doch bedeutet dies nicht, damit nun alles auf-
zugreifen und einzubeziehen, was bei den Griechen »Philosophie«
heißt und was sie in ihren Schriften hinterlassen. Denn die Merkma-
le, welche die Zuordnung zur Philosophie begründen, sind selbst dem
Begriff der Philosophie zu entnehmen. Voraussetzung dafür ist, dass
die Arbeit von einem Vorbegriff der Philosophie und insbesondere
der griechischen Philosophie geleitet wird.
Zeller unterscheidet die Philosophie von den Einzelwissenschaf-
ten. Diese haben jeweils ein besonderes Gebiet zum Gegenstand ihrer
Forschung, jene dagegen das Ganze – mit Zellers eigenen (und wohl
mit Blick auf Aristoteles gewählten) Worten: Die Philosophie fasst
»die Gesamtheit des Seienden als Ganzes ins Auge«. 31
Wie weit reicht der Umfang der griechischen Philosophie? Ist er
von vornherein durch das Volk der »Hellenen« begrenzt, oder muss
das ganze hellenische »Bildungsgebiet« berücksichtigt werden? Endet

29
»Von ihm ist der Anfang der Existenz der Philosophie zu datieren; er ist die blei-
bende Idee, welche in allen Philosophen bis auf den heutigen Tag dieselbe ist, wie sie
die Idee des Platon und Aristoteles gewesen ist« (Hegel WA 18, 336 f.).
30 Eduard Zeller (1814–1908) gehört ursprünglich zur Tübinger Schule der Theolo-

gie, muss aber seinen Marburger theologischen Lehrstuhl aufgrund der Einwände
gegen seine liberale Theologie aufgeben. Er geht nach Heidelberg, 1862 nach Berlin
und lehrt dort bis 1894. Philosophisch orientiert er sich zuerst an Hegel, dann an
Kant. 1856 bis 1868 entsteht Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen
Entwicklung, seine sechsbändige Darstellung der griechischen Philosophie von Thales
bis Boethius. Dass er den Terminus »Erkenntnistheorie« geprägt hat, trifft allerdings
nicht zu (HWPh 2, 683; A. Diemer).
31
Zeller I/1, 8.

29
Historie

die Geschichte der »griechischen Wissenschaft« mit dem Übergang


zu den Römern und zur orientalischen Welt, oder ist deren Nachwir-
kung »bis auf unsere Gegenwart herab« zu verfolgen? Zeller meint,
es sei »das Natürliche«, »die Philosophie so lange eine griechische zu
nennen, als das Hellenische in ihr über das Fremde im Übergewicht
ist, sobald sich dagegen dieses Verhältnis umkehrt, auf jenen Namen
zu verzichten«. 32 Diese Antwort mag plausibel erscheinen, enthält
aber einen durchaus zu hinterfragenden Vorrang des »Hellenischen«.
Denn es bleibt erstens offen, auf welche Weise dem Hellenischen
durch das »Fremde« Grenzen gezogen werden; zweitens stellt sich
die Frage, ob es denn »das Natürliche« sei, die Fortwirkung der grie-
chischen Philosophie bis in die Gegenwart zu verfolgen.
Zeller bindet sich in seiner historischen Forschung an keine be-
sonderen Vorgaben, es sei denn an eine »den Deutschen« besondere
Vorliebe zu »den Griechen«. Die großen und bewunderungswürdigen
Unternehmungen eines Boeckh oder Diels bis hin zu Wilamowitz-
Moellendorff, die Bedeutung des Griechisch-Unterrichts in den
Gymnasien, die intensive Auseinandersetzung mit der Dichtung des
Griechentums und mit seiner Geschichte, nicht zuletzt die wachsende
Bedeutung Friedrich Hölderlins 33 lassen dies auf vielfältige Art er-
kennen. Zwar erklärt Zeller im Rückgang auf die »orientalische Spe-
kulation« die griechische Philosophie aus ihren Ursprüngen; doch
das, was den Griechen vorausgeht, ist das »Fremde«. Die Lehren sol-
cher Vorgänger lassen sich zwar nicht »aus der einheimischen Tradi-
tion der Griechen« erklären; doch bleibt derartigen Quellen das Un-
bekannte – »weil alles, was man nicht kennt, die Einbildungskraft zu
reizen und in dem geheimnisvollen Nebel, durch den es gesehen wird,
sich weit größer auszunehmen pflegt, als es in der Wirklichkeit ist«. 34
Zeller ist, wie schon angedeutet, alles andere als ein Sammler
historischer Daten. Er weist eine solche Standpunktlosigkeit entschie-
den von sich: »Wer keinen philosophischen Standpunkt hat, ist des-

32 Zeller I/2, 9.
33 Sie verdankt sich vor allem Norbert von Hellingrath (1888–1916), der über Hölder-
lins Pindar-Übertragungen dissertiert und die Historisch-kritische Ausgabe der Wer-
ke Hölderlins begründet hat. Er meint, die Deutschen würden sich als »Volk Goethes«
verstehen, doch sei diesem Begriff jener vom »Volk Hölderlins« vorzuziehen. Dieses
Wort (und die nicht ungefährliche Auffassung von einem »geheimen Deutschland«)
steht aber im Zeichen von Hölderlins Entdeckung eines »ursprünglicheren« Grie-
chentums (s. a. Vetter 2014, 125 f.).
34
Zeller I/1, 23.

30
Die Vorsokratiker

halb doch nicht überhaupt ohne Standpunkt; wer sich über philoso-
phische Fragen keine wissenschaftliche Überzeugung gebildet hat, der
hat darüber eine unwissenschaftliche Meinung; sollen wir zur Ge-
schichte der Philosophie keine eigene Philosophie mitbringen, so
heißt dies, wir sollen für ihre Behandlung den unwissenschaftlichen
Vorstellungen vor wissenschaftlichen Begriffen den Vorzug geben.« 35
Zellers Absicht unterscheidet ihn von Hegel: »Was wir ver-
langen, ist {…} nur die vollständige Durchführung eines rein histo-
rischen Verfahrens, wir wollen die Geschichte nicht von oben herab
konstruiert, sondern von unten herauf aus dem gegebenen Material
aufgebaut wissen; dazu gehört allerdings auch, daß dieses Material
nicht im Rohzustande belassen, daß durch eine eindringende ge-
schichtliche Analyse das Wesen und der innere Zusammenhang der
Erscheinungen erforscht werde.« 36
Damit wird Hegels »Geschichtskonstruktion« nicht verneint,
wohl aber relativiert: »Wenn sie wenigstens richtig verstanden wird,
kann sie nie dazu führen, daß den Tatsachen Gewalt angetan und die
freie Bewegung der Geschichte einem abstrakten Formalismus ge-
opfert wird; denn nur die geschichtlichen Überlieferungen und Tat-
sachen selbst sind es, aus denen wir auf den Zusammenhang des Ge-
schehenen schließen, nur in dem frei Erzeugten soll die geschichtliche
Notwendigkeit aufgesucht werden.« 37
Zur wahren Philosophie gelangt man allein auf dem Weg his-
torischen Verstehens: Geschichte und Philosophie bedingen einander.
»Dieser Kreis ist auch nie ganz zu durchbrechen: die Geschichte der
Philosophie ist die Probe für die Wahrheit der Systeme, und ein phi-
losophisches System ist die Bedingung für das Verständnis der Ge-
schichte; je wahrer und umfassender eine Philosophie ist, um so voll-
ständiger wird sie uns die Bedeutung der früheren erkennen lehren,
und je unverständlicher uns die Geschichte der Philosophie bleibt,
umso mehr Grund haben wir, an der Wahrheit unsrer eignen phi-
losophischen Begriffe zu zweifeln. Was aber hieraus folgt, ist nur
dieses, dass wir die wissenschaftliche Arbeit auf dem geschichtlichen
so wenig als auf dem philosophischen Gebiete jemals für beendigt
halten dürfen.« 38

35 Zeller I/1, 20.


36
Zeller I/1, 18.
37 Zeller I/1, 18.
38
Zeller I/1, 20.

31
Historie

iii. Vorgänger in der östlichen Literatur


Hegel zählt zur »orientalischen Philosophie« die Philosophie der Chi-
nesen; zu ihr gehören der Konfuzianismus 39 und der Taoismus. Der
Zeit vor den Griechen geht auch die indische Philosophie mit dem
»Samkhja-System« 40 und dem Buddhismus voraus. Doch trotz aller
Würdigung dieser Erkenntnisweisen und der Weisheitslehrer dieser
Epochen beginnt für Hegel das wahre Philosophieren bei den Grie-
chen: »Bei dem Namen Griechenland ist es dem gebildeten Menschen
in Europa, insbesondere uns Deutschen, heimatlich zumute.« 41
Diese Tendenz, sich primär an der griechischen Philosophie zu
orientieren, wird erst im 20. Jahrhundert in Frage gestellt. Neue und
neueste Forschungsergebnisse (namentlich die Entzifferung der Hie-
roglyphen und der Keilschrift) haben dazu ebenso wie ein unbefan-
gener Blick beigetragen – nicht zu vergessen eine Distanz zu politi-
schen Vorurteilen. Denn wie Walter Burkert (einer der Bahnbrecher
in der Erforschung von Kulturen, die den Griechen vorausgehen) ge-
zeigt hat, geht die Entdeckung der indogermanischen Sprachwissen-
schaft Hand in Hand mit der Errichtung einer Barriere: in Abgren-
zung zu »den ›Semiten‹, {…} den Hebräern des Alten Testaments«. 42
Homer erscheint als »Genie des hellenischen Ursprungs«, was der
Bemühung nicht förderlich ist, den Alten Orient neu zu entdecken.
Der Umschlag erfolgt, was nahe liegt, erst mit Ende des sogenannten
Dritten Reiches.
Auch hier soll die besondere Position des Parmenides kurz ange-
sprochen werden. Im Hinblick auf Späteres ist folgende Feststellung
besonders wichtig: »{…} die Bücher, die die sogenannten Vorsokrati-
ker damals schrieben, entstehen nicht im leeren Raum. Sie haben
indirekte Vorgänger in der längst bestehenden ›östlichen‹ Literatur,
in den sogenannten Weisheitstexten einerseits, in kosmogonischer
Mythologie und Spekulation andererseits.« 43
Burkert führt dazu weiter aus: »Wir können Kontinuitäten,
Kontakte, Vorzeichnungen der griechischen Philosophie in mannig-
fachen Formen in den älteren Hoch- und Schriftkulturen feststellen.
Deutlich ist, daß die Vorsokratiker die mythische Tradition zumindest

39 Auf dessen Vermittlung durch Leibniz er eigens hinweist (Hegel WA 18, 142).
40 Hegel WA 18, 152.
41
Hegel WA 18, 173.
42 Burkert 2009, 10.
43
Burkert 2009, 55.

32
Die Vorsokratiker

als Gerüst benützen, dem folgend sie die eigenen Entwürfe, und auch
ihre Gegenentwürfe konstruieren. Es wäre nicht gut ohne das Gerüst
gegangen; einige Verbiegungen freilich dürften darauf zurückzufüh-
ren sein, daß man sich dem Gerüst anpaßte. Und doch ist sonst nir-
gends daraus Philosophie in jener Form entstanden, wie sie sich seit
den Vorsokratikern entwickelt hat. {…} Auch zu Mathematik und
Astronomie läßt sich zeigen, wie die Griechen ganz neue, bislang
nicht dagewesene Formen in Gestalt ihrer deduktiven Geometrie ent-
wickelt haben.« 44
Solche für die Griechen eigentümlichen Besonderheiten meint
Burkert bei Parmenides zu finden: »Besonders eigentümlich aber ist
Parmenides mit seiner besonderen Art des Argumentierens und Be-
weisens. Parmenides’ berühmte, paradoxe These, daß ›das Seiende
ist‹, Nicht-sein aber nicht ist und darum weder Werden noch Ver-
gehen möglich seien, weil sie das Nichtsein voraussetzen würden,
scheint in einer Hinsicht ganz aus der Sprache zu wachsen, und zwar
aus der griechischen Sprache, die den scharfen Aspektgegensatz kennt
zwischen einer Dauer überhaupt – ausgedrückt etwa durch den Ver-
balstamm es- – gegenüber den markanten Anfangs- und Endpunkten
einer Handlung – ausgedrückt durch den Aoriststamm wie phu- oder
gen-, physis, genesis. Zugleich aber, und dies ist das Merkwürdige, ist
in der These des Parmenides ein Satz erfaßt, der mit gewissen Modi-
fikationen bis heute unser wissenschaftliches Weltbild beherrscht: das
Prinzip von der Erhaltung von Materie-Energie. Nichts kann aus pu-
rem Nichts entstehen, und nichts kann zunichte werden – daher un-
sere Probleme mit der Entsorgung des Unvernichtbaren.
Auch hier kann man aber noch die Sprache des kosmogonischen
Mythos wahrnehmen, oder vielmehr die Distanzierung von diesem.
›Werden und Vergehen‹, ›Schaffen und Zerstören‹ sind als sprach-
liche Antithesen und damit als verallgemeinerte Denkformen in der
Welt-Spekulation längst etabliert, im Mesopotamischen und Ägyp-
tischen wie dann im Griechischen. Im Enuma elish etwa wird der
Gott Anshar angeredet: ›Du bist von weitem Herzen, Bestimmer der
Bestimmungen. Was geschaffen wird, vernichtet wird, existiert in
Verbindung mit dir‹ ; man spricht also von ›Vorhanden sein‹ (bashû)
zwischen ›Werden‹ bzw. ›Schaffen‹ (banû) und ›Vergehen‹ bzw. ›Zer-
stört werden‹ (hulluqu) und bezeichnet so einen verallgemeinerten
Dreischritt der Wirklichkeit. Später aber sprechen die Götter zu Mar-

44
Burkert 2009, 76.

33
Historie

duk: ›Sprich Vernichten und Erschaffen: Es wird gelten‹, und offenbar


muß eben dies die Macht des Gottes beweisen, wie dann auch der
christliche Gott aus dem Nichts schafft, indem er sein ›es werde‹
spricht. Das kann er nicht, sagt Parmenides, und ebensowenig kann
etwas zunichte werden; und unser Wissen pflichtet ihm bei.« 45
Mit Burkerts Ausblick und einer Frage schließe ich diesen Ab-
schnitt: Nehmen wir einen »eurozentrischen« Standpunkt ein, wenn
wir mit Parmenides darauf bestehen, dass Denken und Sprechen dem
Seienden adäquat sein sollte? Oder sollten wir einfach etwas vorsich-
tiger sein? »Die ›Weisheit‹ des just so ist versunken. Fragen und Ar-
gumentationen sind geblieben.« 46
Im Hinblick auf unterschiedliche Texttypen schließt an Burkert
die Klassische Philologin und Religionswissenschaftlerin Laura Ge-
melli Marciano an. 47 Sie hinterfragt die vor allem für Hegel und Zel-
ler maßgeblichen hermeneutischen Vorgaben: »Unsere kollektiven
Prämissen wurzeln vor allem in den Interpretationen Hegels und Zel-
lers. Auf methodologischer Ebene besteht die wichtigste (und zu-
gleich am schwersten erkennbare) Auswirkung von Zellers Ansatz
darin, dass die moderne Forschung der so genannten Vorsokratiker
nicht zwischen verschiedenen Texttypen unterscheidet.« 48
Dieser Mangel an Differenzierung hat zur Folge, »für Poesie wie
für Prosa, für esoterische wie für exoterische Schriften dieselben In-
terpretationskriterien« anzuwenden. 49 So soll eine zusammenhän-
gende philosophische Lehre gewonnen werden – ein Verfahren, das
nicht zuletzt und besonders wirksam der klassischen Edition der VS
von DK zugrundeliegt. Die VS sind aber keine »Denkergemeinschaft
in einem homogenen Kontext«, 50 und dies schon deshalb nicht, weil
viele Theorien mündlich und von verschiedenen Seiten verbreitet
wurden und dabei vieles verloren ging. Sogenannte Einflüsse können
auf ganz unterschiedliche Quellen zurückgehen und von »variablen
zeitlichen, geographischen und persönlichen Fakten« 51 abhängig sein.

45 Burkert 2009, 76 f.
46 Burkert 2003, 136.
47 Laura Gemelli Marciano war während einiger Jahre wissenschaftliche Mitarbeite-

rin von Walter Burkert und ist Herausgeberin der in drei Bänden erschienenen Aus-
wahl Die Vorsokratiker.
48 Gemelli I, 382.

49
Gemelli I, 382.
50 Gemelli I, 383.

51
Gemelli I, 384.

34
Die Vorsokratiker

So wichtig die dadurch gewonnenen Erkenntnisse auch sind (auf


Gemellis Beobachtungen zu den Themen »Mythos und Logos« oder
das »Problem der Ursprünge« kann hier nur hingewiesen werden, um
sie gegebenenfalls am entsprechenden Ort wieder aufzunehmen), in
einem Punkt ist aber Vorsicht geboten: Der alleinige Rückgang zu den
Quellen (an dem auch Walter Burkerts Forschungen wesentlichen
Teil haben) 52 reicht nicht aus. Damit kommt zu den bisher lediglich
typologisch umrissenen drei Arten, sich Parmenides anzunähern,
eine vierte hinzu.

iv. Λόγον διδόναι – Europa?


Lässt sich z. B. Parmenides im Rückgang auf die Religionsgeschichte
zureichend verstehen? Um direkt auf die FF einzugehen: Führt F0
(angenommen, es handle sich hier um den Prozess einer Initiation)
gleichsam von selbst zu F1 und damit zum fundamentalen Thema von
Denken und Sein? 53 Oder müsste mehr darauf geachtet werden, was
bei Parmenides an wirklich Neuem herauskommt? Dass er sich zwar
auf ältere Traditionen einlässt (hier stehen der Forschung noch wei-
tere Aufgaben bevor), diese jedoch auf seine und nur ihm eigene Wei-
se aneignet, weil ihn die Tradition – wiederum für ihn ganz spezifisch
– herausfordert und zu neuen Fragen veranlasst – darin sehe ich den
Sinn seiner verschiedenen Zurufe der Göttin an den Kuros: λεῦσσε δ’
ὅμως ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως· »Schau’ auf das Seiende, ob-
gleich es abwesend ist: für das geistige Auge ist es da auf zuverlässige

52 Burkert 2003; Burkert 2008.


53 Es ist m. E. ein Mangel, wenn Peter Kingsley die für Parmenides relevanten kultur-
geschichtlichen Hintergründe zwar kenntnisreich und umsichtig einbezieht, das Motiv
der philosophischen Aussagen des Parmenides jedoch vernachlässigt. Ich teile daher
Martina Stemichs Kritik: »Ein Haupteinwand gegenüber dieser Deutung, die zugege-
benermaßen auf den ersten Blick überzeugt, liegt darin, dass diese Sichtweise für eine
Interpretation des parmenideischen Denkens nicht hinreicht. Denn, obwohl Kingsleys
Deutung viele übersehene Aspekte des Eleatischen Denkens in den Vordergrund stellt,
berücksichtigt sie zu wenig, dass der Weg der Forschung des Parmenides zu einer geis-
tesklaren, kritisch nachprüfbaren Erkenntnis führen soll. Strenggenommen verführt
Kingsleys These zur Assoziation von Parmenides’ Lehre mit Schamanenartigem, wel-
che gerade Parmenides’ Wahrheitslehre, aber auch seinen wissenschaftlichen Frag-
menten im zweiten Teil des Lehrgedichtes, widerspricht. Schließlich reicht Kingsleys
Parmenidesinterpretation, die Parmenides’ Wirken als Heiler, Höhlenpriester und Po-
litiker hervorhebt, nicht, um Parmenides’ Seinslehre besser zu verstehen. Nicht zuletzt
ist diese Interpretation, weil sie einzig auf dem Prooimion aufbaut, für Parmenides’
philosophisches Gedankengebäude nicht zugänglich« (Stemich 2008, 20 f.).

35
Historie

Weise.« (B 4.1) Und vor allem: κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδειριν ἔλεγχον,


»Entscheide doch auch durch Rechenschaftslegung den viel be-
stritt’nen Beweis« (B 7.5). Dieses λεύσσειν und dieses κρίνειν ist
die dem Parmenides eigentümliche Antwort, die nicht einfach aus
der Vergangenheit herauswächst, sondern sich nur aus einer »kriti-
schen« (κρίνειν!) Auseinandersetzung mit dieser ergibt. – Eine frühe
Urkunde europäischen Denkens?
Es ist kein Widerspruch zu Gemelli (abgesehen von unterschied-
lichen Auffassungen in Einzelfragen) und präzisiert nur ihren An-
satz, wenn an sie die Frage gerichtet wird, wieweit es dem Parmenides
gerecht wird, ihn ohne weiteres einen Philosophen zu nennen. Wozu
diese dem Anschein nach möglicherweise unnötige Vorsicht und Zu-
rückhaltung? Der so gewaltige Platon hat es gezeigt und exemplarisch
vorgeführt, wie rasch das Spätere (zumal wenn es so überzeugend
und gründlich wie von ihm, doch auch von Aristoteles argumentiert
wird) Früheres überwölbt und für lange Zeit völlig ausgeblendet wer-
den kann: Die Auslegung der δόξα aus der Perspektive der αἴσθησις
führt dies aus interpretationshistorischer Sicht nur zu eindrucksvoll
vor Augen (°III.8.b).
Lässt sich Parmenides umstandslos als »Philosoph« bezeichnen?
Was meint überhaupt damals das Wort »Philosophie«, das bekanntlich
erst mit den Pythagoreern zum Terminus wird, bei Parmenides aber
noch nicht vorkommt? Meiner Auffassung nach sollte ein wesentli-
cher Gewinn darin bestehen, zu erkennen, dass bei Parmenides etwas
Neues zum Durchbruch kommt. Wird dieses unbedacht von einem
späteren Begriff von Philosophie her gedeutet (wozu wir seit Platon
verführt sind: °I.4.a), entzieht es sich. Ich erinnere deshalb daran, dass
der Terminus »VS« im Rahmen dieser Arbeit keinerlei Wertung ent-
hält, sondern ausschließlich chronologisch gemeint ist (°I.1.a).
Auch wenn F0 durch die Wortwahl den Prozess einer Initiation
nahelegt und sich damit als Thema einer historischen Analyse anbietet,
ist dies noch keine Grundlage, um das Ziel der FF zu verorten. Dieses
findet sich erst in F1, wenn die Göttin ihren Mythos der Wege erzählt
und ihr Gegenüber einlädt, ihren Worten zu folgen (κόμισαι δὲ σὺ
μῦθον ἀκούσας, »höre du aber den Mythos und eigne ihn an«, B 2.1).
Bietet der Rekurs auf die Geschichte der Interpretation eine
Vielfalt von Möglichkeiten, denen es nachzugehen gilt, so der Rekurs
auf die Philosophie die durch den Weg des Seins gestiftete Einheit
und die entsprechenden Aufgaben der Interpretation – bei aller Acht-
samkeit auf die unterschiedlichen Textsorten.

36
Parmenides

Ich sehe es als unumgängliche Aufgabe der Interpretation, die


aus historisch-philologischer Analyse geschöpfte Vielheit mit der
durch das philosophische Ziel vorgegebenen Einheit zu vermitteln
und solcherart beiden – der Geschichte wie der Philosophie – so weit
als möglich gerecht zu werden. Dass dieser Auffassung zufolge der
Philosophie ein Vorrang zukommt (was noch zu begründen sein
wird), enthält keinerlei Missachtung von Philologie und Historie (wie
die fortlaufenden Hinweise auf deren Forschungen belegen werden).
Daraus ergibt sich über die bisher genannten drei Möglichkeiten
hinaus (Apriori der Philosophie, Aposteriori der Geschichte, unter-
schiedliche Texttypen) – eine vierte Möglichkeit; sie ist durch das
komplexe Verhältnis von Geschichte und Philosophie und in eins da-
mit durch das Ineinander von Vielheit und Einheit bestimmt, wobei
dieser der Vorrang zukommt.

2. Parmenides

Von Parmenides sind nur wenige biographische Daten überliefert. Obwohl


seine Schrift schon im Altertum einen großen Ruf besaß, wurde sie doch
wenig gelesen. Die quantitativ sehr ungleiche Überlieferung geht auf die
unterschiedliche Wertschätzung zurück: Während F0 vollständig und F1 in
teils umfangreichen Fragmenten vorliegt, gibt es von F2 nur kleinere
Bruchstücke. Es handelt sich um wirkliche Fragmente, nicht etwa um Auf-
zeichnungen von der Art der Pensées eines Pascal.

a. Leben

Über das Umfeld des Parmenides schreibt Lesky in seiner Literatur-


geschichte:
»Die Lebenszeit des Parmenides fällt in die zweite Hälfte des 6. und die erste
des 5. Jahrhunderts. Elea, seine unteritalische Heimat, war uns eben in ihrer
Bedeutung für Xenophanes begegnet und ihre Nähe zu den Zentren des
Pythagoras stellt es außer Frage, daß der Einfluß dieser Bewegung auch in
ihr wirksam war. Die immer wieder behaupteten Beziehungen zu Heraklit
sind schwer zu sichern, aber die älteren Ioner hat er gekannt, und manches
bei ihm setzt Anaximander und Anaximenes voraus.« 54

54Lesky 1963, 236. Was die Deutung der Schrift des Parmenides anlangt, hält sich der
Autor an das Übliche.

37
Historie

Diogenes Laertius schreibt in seiner Sammlung über Leben und Mei-


nungen berühmter Philosophen: 55
»Parmenides aus Elea, Sohn des Pyres, war ein Schüler des Xenophanes
{…}. Obwohl er Schüler des Xenophanes war, teilte er seine Auffassungen
nicht. Wie Sotion berichtet, schloß er sich auch an Ameinias an, den Sohn
des Diochaitas, einen Pythagoräer, der zwar arm, aber ein ganz hervor-
ragender Mann war. Seinen Auffassungen neigte er auch mehr zu, und als
Ameinias starb, errichtete ihm Parmenides, der aus einem angesehenen Ge-
schlecht stammte und reich war, ein Heroenheiligtum: ihm, nicht Xeno-
phanes verdankte er seine Wendung zum kontemplativen Leben. {…} Seine
Blütezeit fällt in die 69. Olympiade [d. h. 504–501] {…}. Wie Speusipp in
seiner Schrift Über die Philosophen berichtet, soll er auch als Gesetzgeber
für die Bürger gewirkt haben.« 56
In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat man
in Velia einige Porträt-Hermen gefunden.
»Eine kopflose Herme trägt die Inschrift: ›Parmeneides, Sohn des Pyres,
Uliades, physikos‹.
Drei weitere Inschriften, die auf einer Statue bzw. auf zwei Hermen
eingraviert sind, sind je einem Oulis und Arzt (iatros) gewidmet, der in
verschiedenen Jahren (auch die Zeitangaben sind rätselhaft) als pholarchos
›Herr der Höhle‹ gedient hat {…}. Es handelt sich also um die Porträts der
Vorsteher einer Ärzteschaft, die sich auf Parmenides berief. Der Beiname
des Parmenides, physikos, kann in diesem Kontext nicht nur ›Naturphilo-
soph‹ bedeuten, wie üblich in der späteren Zeit, sondern auch ›Arzt‹ {…}.« 57

55 Bei Parmenides fällt die Knappheit der Darstellung ins Auge, vergleicht man ihn
etwa mit Heraklit (und den recht seltsamen Geschichten, die ihm angedichtet wer-
den).
56 Mansfeld 1995, 23 (DK 28 A 1).

57 Gemelli II, 43. »Ouliades«, »Oulis«: οὔλω »ganz, heil sein, gesund sein, kommt nur

im imperat. οὔλέ τε καὶ μέγα χαῖρε vor, Od. 24, 402« (Pape 2, 414). »But the word
Ouliadês isn’t just a longer form of the name Oulis. It also has a longer history; can be
traced back further in time. And this makes it easier to see what parts of the Greek
world it had the closest links with. | The place where it was most popular of all was one
particular area of Anatolia. That was the mountainous region to the south of Phocaea
called Caria – the same Caria where Apollo Oulios was worshipped, where Apollo’s
title Phôleutêrios came from, where it was natural to compare lying down at an incu-
bation shrine with lying down in a phôleos or lair.« (Kingsley 1999, 107 f.) – Diese
enge Verbindung von Philosophie und Heilkunde findet sich auch später, etwa in
Platons Höhlengleichnis. Die Befreiung der leiblich wie geistig in der Höhle Gefange-
nen nennt Platon αὐτῶν λύσιν τε καὶ ἴασιν τῶν τε δεσμῶν καὶ τῆς ἀφροσύνης
(Platon R. 515 c), Lösung und Heilung (ἴασις: ἰατρός = »Arzt«) von ihren Fesseln
und ihrem Unverstand.

38
Parmenides

Von Parmenides heißt es auch, er sei ein φυσιολόγος gewesen, also


ein der φύσις Kundiger. Demzufolge war er nicht nur Philosoph,
sondern auch Arzt – in einem wie dem anderen Fall ein des Heiles
Kundiger. Man sollte dies – ebenso die Verbindung zu älteren, vor-
griechischen Kulturen 58 – ernst nehmen, ohne das philosophische
Anliegen des Parmenides – sein Kernthema »Sein und Denken« –
aus dem Auge zu verlieren (°III.3). Dies enthält also auch Hinweise
auf eine (genauer nicht bekannte) aktive Rolle in Elea und nicht nur
auf sein philosophisches Werk.
Nicht zuletzt soll Parmenides seiner Geburtsstadt Gesetze ge-
geben haben – so Speusipp in seinem Buch über die Philosophen:
λέγεται δὲ καὶ νόμους θεῖναι τοῖς πολίταις, ὥς φησι Σπεύσιππος
ἐν τῷ Περὶ φιλοσόφων. 59
Parmenides wurde demnach in Velia oder Elis (Elea) geboren.
Die Stadt, an der Westküste Unteritaliens gelegen, »war kurz nach
540 v. Chr. von Griechen, die ihre kleinasiatische Heimat unter dem
Druck der Perser verlassen hatten, neugegründet worden und hat sich
als wohlhabender Handelsort bis in die Römerzeit behauptet«. 60
Zwei Autoren werden für die Lebensdaten des Parmenides
immer wieder genannt: Apollodor von Athen und Platon. Apollodor 61
gibt 544/541 v. Chr. als Geburtsjahr an. Allerdings neigt dieser Chro-
nist dazu, Jahreszahlen zu harmonisieren. Das betrifft etwa die An-
gabe der ἀκμή, der »Blüte« eines Autors, die umstandslos auf das
40. Lebensjahr festgesetzt wird. Xenophanes hatte demnach 540
v. Chr. seine ἀκμή, Parmenides um 500 v. Chr. und Zenon von Elea
weitere 40 Jahre darnach. 62
In seinem nach Parmenides benannten Dialog schreibt Platon,
jener habe als 65jähriger den etwa 20jährigen Sokrates getroffen
(Prm. 127a–d); auch im Theaitetos weist Sokrates auf seine Begeg-
nung als junger Mann mit Parmenides hin (Tht. 183e; Sph. 217c).

58 »{…} die Bücher, die die sogenannten Vorsokratiker damals schrieben, entstehen
nicht im leeren Raum. Sie haben indirekte Vorgänger in der längst bestehenden ›öst-
lichen‹ Literatur, in den sogenannten Weisheitstexten einerseits, in kosmogonischer
Mythologie und Spekulation andererseits« (Burkert 2003, 55).
59 28 A 1. »{…} noch in späteren Zeiten wurden ihre geordneten Verhältnisse auf ihn

zurückgeführt« (Heitsch 1974, 59).


60
Heitsch 1974, 58. – Lageplan: Padrutt 1991, 17.
61 °IV.3.

62
Mit »Blüte« (ἀκμή) wird der Höhepunkt im Schaffen eines Autors bezeichnet.

39
Historie

Geht man davon aus, wäre das Geburtsjahr des Parmenides mit etwa
515 v. Chr. anzusetzen.
Diogenes Laertius nennt Parmenides zwar einen Schüler des Xe-
nophanes, schränkt aber gleichwohl ein, jener habe dessen Auffas-
sungen nicht geteilt und habe sich dem Amenias 63 angeschlossen –
er beruft sich dazu auf Sotion (°I.1.a). Dem Pythagoreer Amenias
habe Parmenides seine Wende zum kontemplativen Leben, zur ἡσυ-
χία (»Ruhe, Frieden«) verdankt und ihm dafür ein Heiligtum er-
richtet. 64

b. Die Fragmente

i. Überlieferung
Die Fragmente des Parmenides sind bei verschiedenen Autoren, vor-
nehmlich der Spätantike, sowohl in griechischer wie lateinischer
Sprache überliefert. Die umfangreichsten Zitate aus Parmenides’
Lehrgedicht finden sich bei Sextus Empiricus und Simplikios. Eine
mustergültige Zusammenstellung der Fragmente bietet die Ausgabe
von Hermann Diels (°I.1.a).

63 Der von der Mehrzahl der Autoren nicht weiter erwähnte Amenias wird von Kings-
ley in einem eigenen Kapitel behandelt. »What Ameinias taught Parmeneides wasn’t
anything to do with thinking as we understand thinking, or philosophical reflection. It
had to do with incubation.« (Kingsley 1999, 181) Wenn Diogenes Laertius schreibt,
dem Amenias, nicht dem Xenophanes habe Parmenides »seine Wendung zum kontem-
plativen Leben« verdankt, οὐχ ὑπὸ Ξενοφάνους εἰς ἡσυχίαν προετράπτη (DK 28
A 1), so erklärt dies Kinsley so: »For hêsychia and phôleos are two words that happen
to belong together: repeatedly they occur side by side in ancient Greek. When Strabo
tried to describe what happened at the incubation shrine near Acharaca he wasn’t the
only writer who chose to sum up the experience of lying motionless – just like an
animal in a phôleos or lair – by using the word hêsychia« (Kingsley 1999, 181 f.).
64 Das Wort ἡσυχία kann im 5. Jh. v. Chr. »unmöglich im Sinne der ›Ruhe des kon-

templativen Lebens‹ der hellenistischen Philosophen interpretiert werden. Denn das


Wort ist mit dem pythagoreischen Schweigen und der besonderen Ruhe verbunden,
durch die auch prophetische Träume hervorgerufen werden {…}. Hesychia taucht
aber auch {…} im Zusammenhang mit der Inkubation auf. So lässt sich die Gesetz-
gebung und die Iatromantik des Parmenides in einem Kontext erklären, der auf den
Pythagoreismus und auf die apollonische Heilkunst verweist« (Gemelli II, 46).

40
Parmenides

ii. Titel
»Das Gedicht des Parmenides trug im Altertum den Titel ›Über die
Natur‹, und Simplicius zweifelte nicht daran, daß es des Autors eige-
ne Überschrift war.« 65 Im Übrigen tragen die Schriften dieser frühen
griechischen Philosophen häufig den Titel Περὶ Φύσεως. Doch wäh-
rend etwa bei Heraklit die Φύσις eine tragende Rolle spielt, ist dies
bei Parmenides nicht der Fall. Das Wort φύσις kommt bei ihm nicht
oft vor (B 10, 1 und 5; B 16, 3), was freilich noch nicht besagt, damit
sei auch ihre sachliche Bedeutung ausgeschlossen.
Was ist mit φύσις gemeint? Das transitive Verbum φύω bedeutet
»wachsen lassen, schaffen«, 66 das Substantiv φύσις (oder Φύσις 67)
einen Prozess, in dem alles, was ist, wächst, also zunehmend in Er-
scheinung tritt. Götter und Menschen, Gesteine, Tiere und Pflanzen,
Himmel, Erde und Unterwelt erscheinen. Am Rande sei angemerkt,
dass ein solches Geschehen keine weitere Ursache hat und sich da-
durch vom Gedanken einer Schöpfung aus dem Nichts unterscheidet.
Wenn sich das Wort »Sein« auf alles, was es überhaupt gibt,
bezieht (°B.3) und mit dem Substantiv φύσις das Erscheinen all des-
sen, was ist, angezeigt wird, lässt sich auch der Titel Περὶ Φύσεως
sachlich begründen, mag er nun vom Autor der FF gebraucht worden
sein oder nicht.

iii. Lehrgedicht
Der üblichen Gliederung zufolge beginnen die Fragmente mit dem
Proömion oder Eingangslied, ihm folgen der erste und zweite Teil.
Hauptthema des ersten Teils ist die ἀλήθεια, des zweiten die δόξα. 68
Die FF unterscheiden sich deutlich in ihrem Umfang: F0 ist voll-
ständig erhalten; von F1 sind FF von unterschiedlicher Größe über-
liefert; von F2 gibt es nur meist kurze Bruchstücke. Die Edition von
DK enthält 18 FF mit 153 Versen in griechischer und ein F mit 6 Ver-
sen in lateinischer Sprache.

65 Reckermann, in: Hölscher 2014, 60.


66 natura creatrix, »die Natur, die hervorbringt« (DK III); »θεία, ἡ τῶν πάντων φύ-
σις« (Gemoll); »hervorbringen, wachsen, entstehen lassen« (Pape).
67 Groß und Kleinschreibung (Φύσις oder φύσις) ist wie hier auch anderswo zu ver-

nachlässigen.
68 Siglen: »F« = »Fragment«, »FF« = Fragmente, »F « = Proömion, »F « = erster Teil,
0 1
»F2« = zweiter Teil.

41
Historie

Diese 19 FF werden meist der Gattung »Lehrgedicht« zugeord-


net. Das deutsche Wort stammt aus der Barockzeit und bezieht sich
auf alle Formen gereimter Lehrdichtung. 69 Als literarische Form gibt
es das Lehrgedicht freilich schon in der Antike. Eines der berühmtes-
ten Beispiele sind die Phainomena des Aratos, 70 eine Sternkunde in
Hexametern mit insgesamt 1154 Versen, die geradezu kanonischen
Charakter erhielt. 71
Parmenides schreibt wie Aratos in Hexametern. Doch damit er-
schöpft sich der Vergleich. Das betrifft sowohl den Inhalt (Parmeni-
des: »Sein«, Aratos: »Gestirne«) als auch die Vertrautheit mit einem
bereits bekannten Thema. Der Stoff, den Aratos gestaltet, ist vor-
gegeben und wird nur noch in eine Form gebracht, die seiner Rezep-
tion dient. Dagegen ist das Thema des Parmenides neu und muss dem
Verstehen erst nahe gebracht werden. Auch wenn hier gleichfalls di-
daktische Momente im Spiel sind, 72 so wird doch nicht die Über-
nahme einer bestehenden Lehre verlangt, sondern die Entscheidung
für einen Weg.
Ein besonderes Problem stellt die Einheit der FF dar; dies betrifft
vor allem den inneren Zusammenhang von F1 und F2. Dahinter steht
zunächst eine Abwertung von F2, was freilich die Frage aufwirft, wa-
rum dann Parmenides so viel Aufwand mit etwas getrieben hat (die
vorhandenen FF von F2 lassen dies zumindest vermuten), das für ihn
selbst nur von allenfalls untergeordneter Bedeutung war.
Ein Beispiel für den Umgang mit dieser Verlegenheit bietet
Friedrich Nietzsche. Seine Abhandlung Die Philosophie im tragi-
schen Zeitalter der Griechen enthält den Versuch einer Erklärung:
»Parmenides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen
Moment der allerreinsten, durch jede Wirklichkeit ungetrübten und völlig
blutlosen Abstraktion gehabt; dieser Moment – ungriechisch wie kein ande-
rer in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters – dessen Erzeugniß

69
Wilpert 1989, 505.
70 °IV.3.
71 »Schon im 2. Jahrhundert v. Chr. entnahmen die Gebildeten dem Gedicht alles, was

sie über die Sternbilder und Wetterzeichen wissen wollten, und aus diesem Grund
wurde es in den Gymnasien zur Grundlage des Astronomieunterrichtes; das blieb es
bis ins Mittelalter. Für die Dichter diente es als Handbuch astronomischer und meteo-
rologischer Motive« (Aratos 1971, 115).
72
Die Göttin der FF erzählt dem Kuros (°III.2.b) ihren besonderen Mythos und for-
dert ihn auf, sich diesen anzueignen (κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας, αἵπερ ὁδοὶ
μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι B 2.1–2).

42
Parmenides

die Lehre vom Sein ist, wurde für sein eignes Leben zum Grenzstein, der es
in zwei Perioden trennte: zugleich aber zertheilt derselbe Moment das vor-
sokratische Denken in zwei Hälften, deren erste die Anaximandrische, deren
zweite geradezu die Parmenideische genannt werden mag.« 73
Nietzsche interpretiert den Unterschied von F1 und F2 biographisch.
Zuerst habe sich Parmenides die Kosmologie des Anaximander zu
eigen gemacht; im höheren Alter sei eine Phase der Abstraktion ge-
folgt. Doch offenbar konnte es dabei nicht bleiben, und so kam es zu
einer Rückbesinnung:
»Doch scheint er nicht alle väterliche Pietät gegen das kräftige und wohl-
gestaltete Kind seiner Jugend verloren zu haben, und er half sich deshalb zu
sagen: ›Zwar giebt es nur einen richtigen Weg; wenn man aber einmal auf
einen andern sich begeben will, so ist meine ältere Ansicht, ihrer Güte und
Consequenz nach, allein im Recht.‹ Mit dieser Wendung sich schützend hat
er seinem früheren physikalischen Systeme einen würdigen und aus-
gedehnten Raum selbst in jenem großen Gedicht über die Natur gegönnt,
das eigentlich die neue Einsicht, als den einzigen Wegweiser zur Wahrheit
proklamiren sollte. Es ist diese väterliche Rücksicht, selbst wenn durch sie
ein Irrthum eingeschlichen sein sollte, ein Rest von menschlicher Empfin-
dung, bei einer durch logische Starrheit ganz petrificierten und fast in eine
Denkmaschine verwandelten Natur.« 74
Diese biographische Erklärung ist unhaltbar. Doch die Matrix einer
solchen Interpretation (mit der Trennung von F1 und F2) findet sich in
abgewandelter Form selbst bei einem so bedeutenden Philosophie-
historiker wie Eduard Zeller:
»So schroff aber Parmenides die Wirklichkeit der Erscheinung, das ver-
nünftige Denken den Täuschungen der Sinne entgegensetzt, so kann er sich
doch nicht enthalten, im zweiten Teil seines Lehrgedichts zu zeigen, welche
Weltansicht sich auf dem Standpunkt der gewöhnlichen Vorstellung er-
geben würde, und wie das einzelne von hier aus zu erklären wäre.« 75
Karl Reinhardt erbringt 1916 den Nachweis der inneren Zusammen-
gehörigkeit von F1 und F2 – ein Durchbruch in der Parmenides-For-
schung. 76

73 Nietzsche KSA 1, 836. »Aufzeichnungen über die vorsokratische Philosophie las-


sen sich im Nachlaß vom Sommer 1872 an feststellen; eine druckmanuskriptartige
Fassung unter dem Titel Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen {…}
bringt N im April 1873 mit nach Bayreuth« (KSA 14, 108).
74
Nietzsche KSA 1, 836.
75 Zeller I/1, 700 f.

76
»Es hat dem Verständnis sehr zum Schaden gereicht, daß man die beiden Teile des

43
Historie

iv. Dichtung und Philosophie


Welche Bedeutung hat die formale Gestaltung dieses Werkes? Parme-
nides schreibt nicht in Prosa, sondern dichtet in Versen, um seine
Philosophie auszudrücken. Gibt es einen inneren Zusammenhang
zwischen der dichterischen Form und seinem Denken?
Man kann die verschiedenen Urteile etwa so zusammenfassen:
1. Die Wiedergabe in Versen geht auf äußere Einflüsse zurück. 77
2. Sie ist nicht geglückt. 78 3. Sie ist ein Rückschritt, da schon vor Par-
menides für philosophische Texte der Prosa der Vorzug gegeben wur-
de. 79 4. Die Dichtung ist mythische Einkleidung des Denkens. 80
5. Zwischen dem Denken, um das es primär geht, und dessen Aus-

Gedichtes nur getrennt, als gänzlich unvereinbar und selbst unvergleichbar zu be-
trachten sich gewöhnt hat. Für Parmenides ist keiner der beiden ohne den anderen
denkbar, und zusammen erst ergeben sie ein Ganzes« (Reinhardt 2012, 32).
77 Verwandt mit der »Literaturgattung der Ὑποθῆκαι, der belehrenden und war-

nenden Dichtungen, wie sie Hesiod an seinen Bruder Perses, Theognis an seinen
jungen Freund Kyrnos richtete«, müsse man sich dennoch hüten, »eine im einzelnen
durchgeführte Allegorese darin zu suchen, wie dies im Altertum und teilweise auch
noch von neueren Erklärern geschehen ist. Aber d e n Gedanken werden wir aller-
dings als den Sinn dieser dichterischen Einkleidung festhalten dürfen, daß es für die
Erkenntnis der Wahrheit einer Losreißung von allem Irdischen, eines völligen
Bruchs mit der Alltagsmeinung der Menschen bedürfe« (Zeller I/1, 728 f.). – »Die
frühesten Philosophen, Anaximander, Anaximenes und Herakleitos schrieben alle in
Prosa und die einzigen Griechen, die überhaupt jemals Philosophie in Versen schrie-
ben, waren eben diese beiden, Parmenides und Empeklos; denn Xenophanes war von
Haus aus nicht mehr Philosoph als Epicharmos. Empedokles ahmte Parmenides nach
und dieser war ohne Zweifel von Xenophanes und den Orphikern beeinflußt. Aber
die Sache war eine Neuerung und zwar eine, die sich nicht erhielt« (Burnet 1913,
158).
78 »In der Antike und heute ist man sich gleichermaßen einig, daß das schriftsteller-

ische Talent des Parmenides gering einzuschätzen ist. Er besitzt im Ausdruck wenig
Gewandtheit, und das Ringen darum, neue, schwierige und hoch abstrakte philoso-
phische Gedanken in eine metrische Form zu zwingen, endet häufig in unauslöslicher
Unklarheit, besonders in syntaktischer Unklarheit. Andererseits erreicht er in den
weniger argumentativen Passagen des Gedichts doch einen unbeholfenen hohen Stil«
(Kirk & al. 1994, 265). Noch härter urteilt bereits 1897 Diels, demzufolge »die ganze
Einkleidung sich nicht über eine dürftige Allegorie erhebt, der jeder poetische Nerv
fehlt« (Diels 2003, 22).
79 »Bleibt Parmenides nicht wirklich hinter der Entwicklung, die die kritische Reflek-

tion genommen hatte, zurück?« (Heitsch 1974, 66).


80 Nestle (Herausgeber der 6. Auflage von 1919) schreibt, dass Zeller »die künstler-

ische Einkleidung, die Parmenides seinem Lehrgedicht gegeben hat, unberücksichtigt


gelassen« habe. »Der Dichter führt seine Philosophie ein in der mythischen E i n -
k l e i d u n g e i n e r O f f e n b a r u n g « (Zeller I/1, 726).

44
Tradition · Wirkung

druck wird nicht klar unterschieden. 81 6. Auch die didaktische Ver-


mittlung ist ein Motiv. 82 7. In der dichterischen Einkleidung steckt
ein besonderer Sinn. 83 8. Es handelt sich um einen literarischen
Kunstgriff, der die Merkfähigkeit der Rezipienten untertützt. 84
Bei aller Verschiedenheit der Urteile über die dichterische Ge-
staltung der FF: Wirkt nicht die durchgehende Form des Hexameters
wie eine Klammer, die das Ganze zusammenhält, gleichsam als Ele-
ment der Einheit des Ganzen?

3. Tradition · Wirkung

Wiederholt wird Parmenides in die Nähe zu Pythagoras gerückt, manche


sehen in ihm überhaupt einen Pythagoreer, andere auch einen Orphiker.
Bezüglich des Xenophanes haben Platon und Aristoteles wesentlichen An-
teil an der Behauptung, jener sei der Lehrer des Parmenides gewesen. Was
die »Schule« von Elea betrifft: Nur zwei Philosophen sind als Nachfolger
des Parmenides anzusehen: der Eleate Zenon und Melissos.

81 »Die Bildersprache ist ebenso eindrucksvoll, wie sie auch durchsichtig war für die
mit dieser Sprache Vertrauten. Es geht immer um das Denken; und dabei wird, nach
archaischer Art, nicht scharf unterschieden zwischen dem Denkprozeß, dem Gehalt
der Gedanken, und drittens ihrer Formulierung und Verlautbarung im Gedicht«
(Fränkel 1993, 4007).
82
»Indeed, Parmenides, convinced he has discovered an essential, basic, and funda-
mental truth, wants to communicate his discovery, and in order to do so he presents
his Poem as a real course in philosophy, in which a professor (in the text, an anony-
mous goddess) explains to a pupil (in the text, an enthusiastic but inexperienced
youth) how to go about seeking truth« (Cordero 2004, 15).
83 »Die Schlüsselfrage ist dabei, ob die Dichtung des Eleaten nur die gewählte Ein-

kleidung des philosophischen ›Gehalts‹ in eine bestimmte Form der Darstellung oder
ob das poetische Element als unwillkürlicher Träger mythischer Assoziationen auch
eine der Grundlagen und Ursachen, der Ursprünge und Quellen seiner geistigen Ein-
sichten ist« (Böhme 1980, 9).
84 »Zu den Kunstgriffen dieser Art gehört das Mittel der Wiederholung {…}. Dieses

Mittel wird für ein Publikum benutzt, das nicht liest, sondern dem durch den Ver-
fasser gesprochenen Vortrag des Textes folgt. Das ist kennzeichnend für die vorlite-
rarische Kulturepoche, mit der wir es hier zu tun haben. Darum darf die Wieder-
holung nicht als Zufall angesehen werden. Sie gehört zur Mnemotechnik, wie man
wohl sagen darf, und zwar ebenso auf seiten des Rhapsoden wie auf seiten des Hörers.
Daraus geht hervor, daß der Text des Parmenides auch vom literarischen Standpunkt
durchaus nicht archaisch ist, sondern sich als vorzüglich artikulierte Komposition dar-
stellt – auch durch ›Wiederholung‹« (Gadamer 1996, 161).

45
Historie

a. Vorläufer

i. Orphik
Der Name »Orphiker« geht auf die mythische Gestalt des Orpheus
zurück. Die historischen Bezüge zu Parmenides sind ungewiss. Or-
pheus ist im Mythos der bekannteste Zeuge für die Macht der Musik.
Daraus hat man den Schluss gezogen: »Wenn O. der älteste Sänger,
also auch der älteste Dichter war, mußte er logischerweise auch der
Erfinder des als das älteste geltenden Versmaßes sein, in dem die un-
ter seinem Namen umlaufenden Dichtungen abgefaßt waren: des ver-
sus heroicus, des Hexameters.« 85
Zu den bekanntesten Fragmenten gehört jenes vom Körper (σῶ-
μα) als dem Grab (σῆμα) der Seele. 86 Auch bedürfen die dem Kreis
des Orpheus Zugehörigen der Weihe: θύρας δ’ ἐπίθεσθε βέβηλοι.
»Macht aber die Türen zu, ihr Uneingeweihten!« 87

ii. Pythagoreer
»Orpheus ist und bleibt Mythos, und a l s M y t h o s bietet er sich als
Idee dar.« 88 Auf Pythagoras trifft dies freilich nicht zu.
Ionien war, so berichtet Herodot, unter die Fremdherrschaft der
Perser geraten. 89 Nur die Bewohner von Milet blieben verschont,
denn sie hatten mit Kyros II. ein Bündnis geschlossen. 90 Doch unter
dessen Nachfolger Dareios kam es zur Katastrophe, »da die meisten
Männer von den langhaarigen Persern erschlagen, ihre Weiber und
Kinder zu Sklaven gemacht und ihre Heiligtümer, der Tempel und das
Orakel in Didyma, geplündert und verbrannt wurden«. 91 Den Über-
lebenden wies man Wohnsitze unweit vom Roten Meer zu. Lediglich
die Samier wollten nicht bleiben und machten sich nach Sizilien zu-
sammen mit den zu ihnen geflüchteten Milesieren auf. 92 In diesem

85 KP 4, 353; K. Z.
86 DK 1 B 3.
87 DK 1 B 7 = DK I, 9.
88 Kerényi 1940, 6.
89 Zu Herodot: Lesky 1963, 337–361.
90
Herodot I 169.
91 Herodot 2001, 480 (= VI 19).
92
Herodot VI 22.

46
Tradition · Wirkung

neuen Umfeld entstanden Neuerungen in Philosophie und Religion,


die mit dem Denken der Ionier kaum noch Gemeinsames hatten.
»Die neuen Anschauungen waren in Ionien wahrscheinlich so natürlich
und allmählich emporgewachsen, daß ein plötzlicher Konflikt und eine Re-
aktion mit ihren gewaltsamen Folgen vermieden worden waren; aber dies
konnte nicht so bleiben, als die Anschauungen in Gegenden übertragen
wurden, wo die Menschen nicht im geringsten darauf vorbereitet waren,
sie zu übernehmen.« 93
Pythagoras wurde um 570/60 v. Chr. auf der Insel Samos geboren. Er
verließ seine Heimat wegen der Tyrannis des Polykrates und ging um
530 nach Kroton, der damals mächtigsten Stadt in Unteritalien. Seit
dieser Zeit war die Gemeinschaft der Pythagoreer maßgeblich an der
Gestaltung des öffentlichen Lebens beteiligt. Aufgrund ihrer wach-
senden politischen Bedeutung kam es zu einem Aufstand, worauf
Pythagoras nach Metapont flüchtete, wo er Anfang des 5. Jh.s v. Chr.
starb. 450 v. Chr. wurde der Versammlungsort der Pythagoreer nie-
dergebrannt, sie selbst wurden erschlagen. In anderen Städten Süd-
italiens gab es die Bewegung noch bis in die zweite Hälfte des 4. Jh.s
v. Chr. 94

iii. Xenophanes
Die Blüte des Xenophanes wird mit etwa 540 v. Chr. angegeben. Mit
25 Jahren soll er sein unstetes Wanderleben begonnen und noch im
Alter von 92 gedichtet haben. Dem Zeugnis des Theophrast 95 zufolge
hat er Anaximander gehört. Aus seiner kleinasiatischen Geburtsstadt
vertrieben, ging er nach Sizilien und trug dort seine Elegien und Sa-
tiren vor. Es sind etwa 200 Verse in Hexametern und Distichen.
Sicherlich weist das umfangreiche Œuvre des Xenophanes Paral-
lelen zu Parmenides auf; bei näherem Hinsehen treten allerdings die
Differenzen deutlich hervor. Weder ist der Gott des Xenophanes mit
dem Sein des Parmenides identisch, noch liegt dessen Begriff der δό-
ξα auf einer Ebene mit dem δόκος des Xenophanes.
Die Kritik des Xenophanes an den überlieferten Gottesvorstel-
lungen bezieht sich vor allem auf Homer und Hesiod: »Alles haben

93
Burnet 1913, 67.
94 Gemelli I, 170.
95
°IV.3.

47
Historie

den Göttern Homer und Hesiod angehängt, | was nur bei Menschen
Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Be-
trügen.« 96 Diese menschlich-allzumenschlichen Vorstellungen von
Göttern sind relativ: »Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen
Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bil-
den wie die Menschen, | so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen
ochsenähnliche Göttergestalten malen | und solche Körper bilden, wie
jede Art gerade selbst ihre Form hätte.« 97 Entsprechend die Selbstaus-
sagen verschiedener Völker: »Die Äthiopier behaupten, ihre Götter
seien stumpfnasig und schwarz, | die Thraker, blauäugig und rot-
haarig.« 98
Gerade an der Gottesvorstellung zeigt Xenophanes die Be-
schränktheit und Situiertheit menschlichen Wissens auf. Doch wenn
auch der menschliche Anteil an der Findung der Wahrheit begrenzt
ist, hat dies nicht nur negative Bedeutung. Anders als im Mythos
werden neue Entdeckungen nicht mehr als Geschenk der Götter be-
trachtet, sondern als Ergebnis menschlichen Forschens: »Wahrlich
nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles enthüllt,
| sondern allmählich finden sie suchend das Bessere.« 99
Xenophanes vertritt einen strengen Monotheismus: εἷς θεός, ἔν
τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος, | οὔτι δέμας θνητοῖσιν
ὁμοίιος οὐδὲ νόημα. »Ein einziger Gott, unter Göttern und Men-
schen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an
Gedanken.« 100 οὖλος ὁρᾷ, οὖλος δὲ νοεῖ, οὖλος δέ τ’ ἀκούει. »Gott
ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr.« 101
Angesichts dieser Gottheit ist dem Wissen der Sterblichen eine
prinzipielle Grenze gezogen. Dafür gebraucht Xenophanes das Ha-
paxlegomenon δόκος. Es entspricht dem Substantiv δόκησις, drückt
demnach eine »Meinung, die nicht begründet ist«, aus: 102 δόκος δ’
ἐπὶ πᾶσι τέτυκται. »Schein(meinen) haftet an allem.« 103

96 21 B 11.
97 DK I, 132 f. (21 B 15).
98 DK I, 133 (21 B 16).

99 DK I, 133 (21 B 18).

100 21 B 23 (DK I, 135).

101
21 B 24 (DK I, 135).
102 Pape 1, 653.

103
21 B 34 (DK I, 137).

48
Tradition · Wirkung

d. Eleaten

Von einer Schule von Elea kann bei Zenon die Rede sein, bei Melissos ist
dies eher fragwürdig. Nach diesen beiden gibt es keine weiteren Vertreter,
wobei die Argumente der Genannten die Atomisten und Sophisten vorbe-
reiten. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, das Eine Sein des Parmenides
argumentativ zu untermauern: Zenon auf dem Weg der Dialektik, Melissos
durch eine umfassende Interpretation. »Mit Zeno trifft Melissus 104 in dem
Bestreben zusammen, die Lehre des Parmenides gegen die herrschende Vor-
stellungsweise zu verteidigen. Während aber jener diese Verteidigung auf
indirektem Wege, durch Widerlegung der gewöhnlichen Annahmen, ver-
sucht und infolge davon den Gegensatz beider Denkweisen aufs äußerste
gespannt hatte, will Melissus direkt zeigen, daß das Seiende nur so gedacht
werden könne, wie Parmenides seinen Begriff bestimmt hatte; wobei er sich
aber doch, wie wir finden werden, in einer nicht ganz unerheblichen Bezie-
hung von seinem Lehrer entfernt.« 105

i. Zenon von Elea


Zenon von Elea (* um 495 v. Chr., mit Zenon, dem Begründer der
Schule der Stoa, nicht zu verwechseln) gilt antiken Zeugnissen zu-
folge als Schüler und Geliebter des Parmenides. Ein Tyrann soll ihn
zu Tode gefoltert haben.
Folgenreich – nicht zuletzt für die Rezeption des Parmenides –
war Zenons Versuch, die These, es gäbe nur das eine Sein, zu ver-
teidigen. Dazu gebraucht er Beweise, die sich gegen den offenkundi-
gen Anschein (παρὰ δόξαν) richten: die sogenannten zenonischen
Paradoxien.
Für Aristoteles ist Zenon der Erfinder der Dialektik. 106 Sie ist
Burnet zufolge »hauptsächlich gegen die Pythagoreer gerichet«, 107
näherhin »gegen eine gewisse Anschauung von der Einheit«. 108 In
seiner Physik gibt Eudemos den Ausspruch Zenons wieder, »wenn
irgendeiner ihm sagen könnte, was das Eine sei, so würde er seiner-
seits imstande sein zu sagen, was die Dinge sind«. 109 Dazu Simplikios

104 Zeller: lateinische Schreibweise.


105 Zeller I/1, 765 f. – Xenophanes von Kolophon wird von manchen als Begründer
dieser »Schule« angesehen: °I.3.a.iii.
106 DL IX 25.

107
Burnet 1913, 285.
108 Burnet 1913, 286.

109
Simplikios Physik, zit. Burnet 1913, 286.

49
Historie

in der Physik: »Wie Eudemos erzählt {…}, versuchte Zeno, ein Schü-
ler des Parmenides, zu zeigen, es sei unmöglich, daß die Dinge ein
Vieles seien, weil er sah, daß keine Einheit in den Dingen war, wo-
gegen Viele eine Anzahl von Einheiten bedeutet.« 110

ii. Melissos aus Samos


Über Leben und Denken des Melissos schreibt Diogenes Laertius:
»Melissos, des Ithagenes Sohn, war ein Samier. Er war ein Schüler des Par-
menides. Doch kam er auch in wissenschaftliche Berührung mit Heraklei-
tos, aus welchem Anlaß er ihn auch den Ephesiern, die von seiner Bedeu-
tung keine Vorstellung hatten, empfahl, wie Hippokrates den Demokrit den
Abderiten empfahl. Auch als Staatsmann war er bedeutend und stand bei
seinen Mitbürgern in hoher Achtung. Daher wurde er auch zum Seebe-
fehlshaber gewählt, in welcher Stellung er noch größere Anerkennung
und Bewunderung fand wegen der ihm eigenen hohen Vorzüge.
Sein philosophischer Standpunkt war folgender: Die Welt sei unend-
lich und unveränderlich und unbeweglich, eine sich selbst gleiche Einheit
und durchaus gefüllt; Bewegung gebe es nicht, wohl aber den Schein der-
selben. Aber auch über die Götter, sagte er, dürfe man sich nicht auf Erörte-
rungen einlassen, denn es gebe keine strenge Erkenntnis derselben.
Apollodor sagt, seine Blütezeit liege in der 84. Olympiade (444/1
v. Chr.).« 111
Dass Apollodor die ἀκμή des Melissos in die 84. Olympiade verlegt,
hängt mit dem einzig verlässlichen biographischen Datum zusam-
men: Unter dem Kommando des Melissos wurden 441 v. Chr. in einer
Seeschlacht die Athener geschlagen, so der folgende Bericht:
»Denn als er [sc. Perikles] die Segel setzen ließ, blickte Melissos, Sohn des
Ithagenes, ein Philosoph, der damals in Samos das Kommando innehatte,
voller Verachtung auf die geringe Zahl der Schiffe oder auf die Unerfahren-
heit ihrer Kommandanten und überredete die Bürger, die Athener an-
zugreifen. Es kam zu einer Schlacht, die die Samier gewannen. Sie nahmen
so viele der Athener gefangen und zerstörten derart viele Schiffe, daß sie die
Seehoheit hatten und von dem, was zur Kriegführung nötig ist, so viel
opferten, wie sie bis dahin noch nie besessen hatten. Von Melissos wurde,
wie Aristoteles sagt, in einer früheren Seeschlacht auch Perikles selbst ge-
schlagen.« 112

110 Zit. Burnet 1913, 287; DK 19 A 21.


111
DL 171 f. (IX 4). Apollodor: °IV.3.
112 Kirk & al. 1994, 426. Das Zeugnis des Aristoteles stand in der verlorenen Verfas-

sung der Samier.

50
Tradition · Wirkung

Von ihm sind einige größere Fragmente überliefert, deren Wirkung


aber schon in der Antike gering ist; sie sind wieder in Prosa verfasst.
Die Schrift des Melissos trägt den Titel Περὶ Φύσεως ἢ περὶ τοῦ
ὄντος. Sie verteidigt die Lehre der Eleaten von der Einheit des Seins
gegen Empedokles und gegen die Atomistik.
Zeugnisse des Aristoteles über Melissos: Metaph. A 5, 986b25;
Ph. Δ 6, 213b12; SE 5, 167b13; Ph. A 2, 185a32.
Vermutlich hat das ungünstige Urteil des Aristoteles dazu bei-
getragen, dass Melissos in der Literatur nicht gebührend berücksich-
tigt wird. 113
»Mit Zeno trifft Melissus 114 in dem Bestreben zusammen, die Lehre des
Parmenides gegen die herrschende Vorstellungsweise zu verteidigen. Wäh-
rend aber jener diese Verteidigung auf indirektem Wege, durch Widerle-
gung der gewöhnlichen Annahmen, versucht und infolge davon den Gegen-
satz beider Denkweisen aufs äußerste gespannt hatte, will Melissus direkt
zeigen, daß das Seiende nur so gedacht werden könne, wie Parmenides sei-
nen Begriff bestimmt hatte; wobei er sich aber doch, wie wir finden werden,
in einer nicht ganz unerheblichen Beziehung von seinem Lehrer ent-
fernt.« 115
»Wie das Problem des Widerspruchs die Eleaten trieb, die Welt der Sinne zu
verwerfen, zeigt am deutlichsten Melissos als der beste Kommentator zur
Δόξα des Parmenides.« 116

e. Heraklit von Ephesos

i. Zeitgenossen
In seiner Metaphysik des Altertums zieht Julius Stenzel folgenden
Vergleich zwischen Heraklit und Parmenides:
»Alles tritt zurück gegenüber der Bedeutung des parmenideischen Eleatis-
mus. Heraklit hält den Grundgedanken der Einheitslehre durchaus fest
(B 10 am Schluß: καὶ ἐκ πάντων ἕν καὶ ἐξ ἑνὸς πάντα). Er greift aber das
damit neu gestellte Problem der Vielheit mit radikaler Kraft auf: für ihn ist

113 »ungerechtfertigter Weise unterschätzt« (Burnet 1913, 299); »unduly neglected«

(Loenen 1959, 125).


114 Zeller bedient sich der lateinischen Formen.

115
Zeller I/1, 765 f. – Auf Xenophanes von Kolophon, der für manche als Begründer
dieser »Schule« gilt, gehe ich im Kommentar näher ein (°III.2.a).
116
Reinhard 2012, 202.

51
Historie

das ἕν die Gesamtheit aller Dinge; deren Existenz ist auch für ihn abgeleitet,
sekundär gegenüber dem Einen, aber das Eine ist ebenso wesensmäßig auf
die ihm gegenüberstehende Vielheit angewiesen, es ist das Ganze, das not-
wendig Teile braucht, es ist die Einheit des Mannigfaltigen. Diese Funktion
der Einheit erscheint bei Heraklit zunächst scheinbar eingeschränkt, in der
Tat ist sie aber intensiviert als Einheit desjenigen Mannigfaltigen, das sich –
scheinbar – der Einheit am stärksten entzieht, ihr wesensmäßig zu wider-
streben scheint, der E i n h e i t d e s G e g e n s ä t z l i c h e n . Wenn Heraklit
die Einheit der Gegensätze nachweist, glaubt er die umfassende – eleatische
– Wahrheit mitbewiesen zu haben, daß ›alles eins‹ ist.« 117
Stenzel hält sich zwar nicht an die übliche Unterscheidung zwischen
Parmenides als dem Denker des unveränderlichen Seins und jenem
des steten Werdens, hält aber gleichwohl am »abstrakten« Sein des
Parmenides fest. Damit entgeht ihm die bei ihm doch selbst angelegte
weiterführende Möglichkeit seiner Interpretation: das Festhalten des
Parmenides am einzigen wahren Weg und die Eröffnung der Plurali-
tät von Wegen bei Heraklit. »Damit ist aber in dem komplexen Be-
griff des eleatischen ἕν eine wichtige Umlagerung eingetreten.« 118
Der Gegensatz zwischen Parmenides und Heraklit wird also
schon früh einem Schema unterworfen. So schreibt Aristoteles 119 in
seiner Abhandlung über den Himmel, Melissos und Parmenides hät-
ten Werden und Vergehen gänzlich aufgehoben, beide würden uns
nur so scheinen. 120 Dagegen ließen andere alles werden und fließen,
sodass es nichts Festes und Dauerhaftes gebe, sondern nur Eines, aus
dem alles durch Umgestaltung hervorginge – dies wollten offenbar
viele andere sagen, auch Heraklit, der Ephesier. 121 Dieses Konstrukt
bestimmt die Philosophiegeschichte bis heute: hier das ewige unwan-
delbare Sein des Parmenides, dort das unaufhörliche Werden des He-
raklit.
Der Gegensatz liegt auch nicht darin, dass Heraklit in Prosa
schreibt, die FF des Parmenides aber in Hexametern verfasst sind.

117
Stenzel 1931, 56 f.
118 Stenzel 1931, 57.
119 Auch Simplikios nimmt Bezug darauf (°B 19.2).

120 οὐθὲν γὰρ οὔτε γίγνεθαί φασιν οὔτε φθείρεσθαι τῶν ὄντων, ἀλλὰ μόνον δο-

κεῖν ἡμῖν, οἷον οἱ περὶ Μέλισσόν τε καὶ Παρμενίδην (Aristoteles De caelo Γ 1,


298b15–17).
121 οἱ δὲ τὰ μὲν ἄλλα πάντα γίνεσθαί φασι καὶ ῥεῖν, εἶναι δὲ παγίως οὐθέν, ἓν δέ

τι μόνον ὑπομένειν, ἐξ οὗ ταῦτα πάντα μετασχηματίζεσθαι πέφυκεν· ὅπερ ἐοί-


κασι βούλεσθαι λέγειν ἄλλοι τε πολλοὶ καὶ Ἡράκλειτος ὁ Ἐφέσιος (Aristoteles
Cael. Γ 1, 298b29–33).

52
Tradition · Wirkung

Denn auch jene des Heraklit sind nicht ohne Rhythmus, wenn dieser
auch nicht so fassbar wie bei Parmenides ist. 122
Allgemein ist für die griechische Kultur des Lesens das Folgende
festzustellen:
»Ein für allemal soll zunächst daran erinnert werden {…}, daß die Alten und
besonders auch Heraklit laut gelesen werden müssen. So oft es bereits ge-
schehen ist, es muß zuerst und immer gerade auch, wenn es um Fragen des
Rhythmus geht, daran erinnert werden, daß auch das Lesen seine Geschich-
te hat, und daß wir uns in vielem den Weg zu den Alten versperren, wenn
wir ihre Sätze nicht hören, sondern allein mit dem Auge aufnehmen, also
nur, oder in erster Linie nur, ihren Inhalt. Sind wir doch unserer Gewohn-
heit gemäß mit wenigen Ausnahmen geneigt, Buchstaben, Wörter, Sätze,
ganze Werke nur als praktische Zeichen der Gedankenübermittlung anzu-
sehen, nicht auch als Erscheinungen, die ohne das Akustische nicht existier-
ten. Ja, das laute Lesen scheint uns besonders bei bestimmter Prosa dem
Verständnis fast ein Hindernis zu sein, das von dem Inhalt des Geschriebe-
nen und Gedruckten ablenken könnte. Anders eben bei den Griechen und
erst recht bei ihren ältesten Schriftstellern einschließlich solchen, bei denen
die Formel dominiert, die der Logik etwa oder der Mathematik. Auch die
Eleaten mit ihren abstrakten Argumentationen sprachen, wenn sie gelesen
wurden, zum Ohr. Die Form des Syllogismus prägte sich nicht nur durch
das äußere Bild seines Aufbaues, sondern auch auf dem Wege über das laute
Lesen der einzelnen Glieder ein, ein Lesen, das dann aber auch seine Beson-
derheit hatte. Es muß dem Gegenstand entsprochen haben, ein Lesen mit
innerer Konzentration gewesen sein, das wir uns dementsprechend als lang-
sam vorstellen werden.« 123

ii. Gemeinsames · Trennendes


Jene, die den Weg der Göttin nicht mitgehen, nennt Parmenides οἱ
βροτοί, »die Sterblichen«. 124 Auch bei Heraklit findet sich dieser
Gegensatz:
αἱρεῦνται γὰρ ἓν ἀντὶ ἁπάντων οἱ ἄριστοι, κλέος ἀέναον θνη-
τῶν· οἱ δὲ πολλοὶ κεκόρηνται ὅκωσπερ κτήνεα. »Eins gibt es, was
die Besten allem anderen vorziehen: den Ruhm{,} den ewigen{,} den

122 »Auf den Klang hinhörend, sollen, entsprechend Heraklits Grundgedanken, die

Leser nicht überrascht sein, wenn sich in seiner Sprache Gleichheit und Identität des
Entgegengesetzten spiegeln, also Rhythmus herrscht« (Deichgräber 1963, 485).
123 Deichgräber 1963, 481 f.

124
B 1.30, B 6.4, B 8.39, B 8.51, B 8.61.

53
Historie

vergänglichen Dingen. Die Meisten freilich liegen da vollgefressen


wie das liebe Vieh.« 125

Κρῖναι λόγῳ – λόγος


Die Schrift des Heraklit ist in jonischer Prosa verfasst. 126 Auch bei
Heraklit lautet der Titel Περὶ Φύσεως. Antiker Überlieferung zufol-
ge hat seine Schrift aus drei Teilen bestanden. 127 Doch sind nur ein-
zelne FF vorhanden – eine Rekonstruktion des Ganzen erweist sich
als unmöglich.
Gemeinsam ist Parmenides und Heraklit die Abgrenzung der
Philosophen von den übrigen Menschen. Bei Parmenides heißen sie
οἱ βροτοί, die Sterblichen, bei Heraklit οἱ πολλοί, die Vielen. Doch
zeigt sich schon hierin ein Unterschied. Eine Annäherung soll Hera-
klits erstes Fragment bringen:

τοῦ δὲ λόγος τοῦδ’ ἐόντος ἀεὶ »Vom Logos, obwohl er doch da ist,
ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι καὶ gewinnen die Menschen nie ein
πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαν- Verständnis, sowohl bevor sie ihn
τες τὸ πρῶτον· γινομένων γὰρ hören, und sogar da sie ihn erst-
πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε mals gehört haben. Denn während
ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι alles gemäß dem Logos geschieht,
καὶ ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, sind sie Unerfahrenen ähnlich,
ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι κατὰ φύ- wenn sie solche Worte und Werke
σιν διαιρέων ἕκαστον καὶ φράζων erproben, wie ich sie berichte, in-
ὅκως ἔχει. τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώ- dem ich jegliches seiner Physis ge-
πους λανθάνει, ὁκόσα ἐγερθέν- mäß unterscheide und zeige, wie
θες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕ- sich’s verhält. Den anderen Men-
δοντες ἐπιλανθάνονται (22 B 1). schen aber ist verborgen, was sie als
Wachende, so wie sie vergessen,
was sie als Schlafende tun.« 128

Eine Gliederung des Fragments ergibt die folgenden Themen: Der


λόγος und die Distanz zu den Menschen, die Zuordnung des ἀεί,
der Widerspruch der Menschen, das Tun des Heraklit, das ἐγώ.

125 22 B 29, Übersetzung Diels. Zur Deutung vgl. Stemich Huber 1996, 54 ff.
126 Die Logosinterpretation in der Heraklitforschung von Schleiermacher bis Kahn
zeigt »eine Entwicklung von den idealistischen zu den rationalistischen und zu den
materialistischen Logosauffassungen« (Bartling 1985, 5).
127 Zeller I/2, 788.

128
Übersetzung Vetter.

54
Tradition · Wirkung

Der λόγος. Ich lasse das Wort vorläufig unübersetzt (die Schrei-
bung mit großem oder kleinem Lamda kann ohnedies unberücksich-
tigt bleiben). Dass damit gleich am Anfang ein entscheidendes Thema
zur Sprache kommt, ist unübersehbar. 129 Entscheidend ist dieser Ein-
satz, weil er zwischen dem, was Heraklit intendiert, und dem, was die
anderen Menschen nicht verstehen, radikal trennt.
Die Zuordnung des ἀεί ist unklar, was schon Aristoteles in der
Rhetorik festgestellt hat. 130 Zwei Versionen sind möglich: {ii1} Der
λόγος ist immer da, doch die Menschen verstehen ihn nicht. {ii2} Der
λόγος ist da, doch die Menschen haben für ihn nie ein Verständnis.
Plausibler scheint {ii2} zu sein. Denn dass der λόγος immer da ist,
ergibt sich auch in anderen Zusammenhängen und müsste nicht
eigens betont werden. Dagegen verstehen die Menschen (qua πολλοί:
22 B 17, 22 B 104) niemals den λόγος, obwohl er doch da ist.
Heraklit vergleicht die πολλοί mit Unerfahrenen und stellt da-
mit einen Widerspruch heraus: ἄπειροι – πειρώμενοι, »wie Un-
erfahrene – trotz all ihrer Erfahrung« 131 (πεῖρα als tertium compara-
tionis). Die Unerfahrenheit erscheint zweimal: im Wachzustand als
λανθάνειν (etwas bleibt verborgen) und nach dem Erwachen aus
dem Schlaf als ἐπιλανθάνεσθαι (etwas wird vergessen). Was verbor-
gen bleibt, sagt 22 B 50: οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας
ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι. Snell: »Habt ihr nicht mich,
sondern den Sinn vernommen, so ist es weise im gleichen Sinn zu
sagen: E i n s ist alles.« 132 Verborgen bleibt den Menschen die Einheit
von Allem, und sie vergessen sie, obwohl diese doch ihrem ganzen
Verstehen zugrunde liegt.
Heraklit erläutert das, was er tut, mit folgenden Worten: ἐγὼ
διηγεῦμαι κατὰ φύσιν διαρέων ἕκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει.
Jegliches wird auf die φύσις bezogen und auseinandergenommen
und damit entschieden. 133 Dies geschieht κατὰ Φύσιν (auch »Physis«
bleibt vorläufig unübersetzt, wird aber, anders als bei DK und Snell,

129 »Vorher ging etwa Ἡράκλειτος Βλόσωνος Ἐφέσιος τάδε λέγει« (DK I, 150).
130 Aristoteles Rh. Γ 5, 1407b14–18.
131 Snell (Heraklit 2007, 7). – Anders Mansfeld: »Wenn man – nicht auf mich, son-

dern – auf die Auslegung hört, ist es weise, beizupflichten, daß alles eins ist« (Mans-
feld VS I, 257).
132
Heraklit 2007, 19.
133 διαιρέω »auseinandernehmen« (Homer Il. 20, 280); »entscheiden« (Herodot 4,

23).

55
Historie

groß geschrieben). Es wird gezeigt, ὅκως ἔχει, »wie es sich verhält«,


d. h. durch die διαίρεσις wird ein Verhältnis angezeigt.
Heraklit thematisiert sein ἐγώ, das eigene Ich: ἐδιζησάμην
ἐμωυτόν. »Ich suchte mich selbst« (22 B 101). 134 Nicht zuletzt da-
durch unterscheidet er sich von Parmenides. Dazu gehört auch die
(bei Parmenides gänzlich fehlende) Polemik gegen bestimmte Per-
sonen: gegen Homer, Hesiod oder Pythagoras.

δαίμονες – ἐγώ
»Den Milesiern hatte sich die Seele als Problem noch nicht gezeigt,
Parmenides bekam nur die Erkenntnisfrage zu Gesicht; erst Heraklit
›durchforschte sich selbst‹, erst er entdeckte die Seele für die Erkennt-
nis; er durchzog ihr unbekanntes Reich in allen Richtungen und
konnte an kein Ende gelangen, so unergründlich fand er ihren
Logos.« 135

4. Rezeption

Wie bereits erwähnt, wurde Parmenides in der Antike nur wenig gelesen,
doch war seine Wirkung von überragender Bedeutung. Wirkungsgeschicht-
lich besonders bedeutsam sind vier Autoren und deren Gedanken: Platon,
Aristoteles, die Stoa und der Skeptizismus.

a. Platon

Abgesehen von den schon erwähnten biographischen Bemerkungen


(°I.2.a), enthalten Platons Schriften vor allem zwei grundlegende
Stellungnahmen zur Philosophie des Parmenides; ihr Einfluss auf
seine Wirkungsgeschichte kann wohl kaum überschätzt werden.
Es handelt sich um die These, Erkenntnis sei gleich Sinneswahr-
nehmung, ἐπιστήμη = αἴσθησις, die in drei Schritten zurückgewie-
sen wird. Dass sie ihre Wirkung auch in der Neuzeit nicht verloren
hat, zeigt sich schon an deren Anfang: Descartes gebraucht durchaus
vergleichbare Argumente. (i) Platon: Die Wahnsinnigen oder die
Träumenden stellen Falsches vor (ψευδῆ δοξάζουσιν); jene halten

134
Stemich 2008139 mit Parallelstellen; ausführlich zu Heraklit 22 B 101: Stemich
Huber 1996, 92–107.
135
Reinhardt 2012, 201.

56
Tradition · Wirkung

sich für Götter, diese meinen, zu fliegen, obwohl sie träumen. Des-
cartes: Die Wahnsinnigen halten sich für Könige, obwohl sie bettel-
arm sind, oder sie meinen, aus Glas zu sein u. dgl. (ii) Platon: Es ist
überaus schwierig, ein Kennzeichen zu finden, um klar zu entschei-
den, ob wir jetzt wachen oder träumen. Descartes: Wachsein und
Träumen lassen sich nicht durch sichere Kennzeichen unterscheiden.
(iii) Platon: Die sinnliche Wahrnehmung ist nicht nur bei verschiede-
nen Menschen verschieden, sondern sogar beim selben Menschen
unter verschiedenen Umständen. Trinke ich als gesunder Wein, er-
scheint er mir lieblich und süß, einem Kranken dagegen erscheint er
bitter. Descartes: Weil die Sinne zuweilen täuschen, ist es ein Gebot
der Klugheit (prudentiae est), ihnen niemals zu trauen (Platon Tht.
158 a ff.; Descartes 1973, 32 f. = Meditationes I 3–4).
Platon bezieht sich wiederholt auf Parmenides. Biographische
Zeugnisse enthalten die Dialoge Theaitetos und Parmenides, 136 be-
sonderes Gewicht für eine kritische Auseinandersetzung kommt
dem Dialog Sophistes zu.
Platon geht davon aus, dass seine Vorgänger in der Bestimmung
des Seienden unverständlich geblieben seien; auch Parmenides ist
keine Ausnahme:
Εὐκόλως μοι δοκεῖ Παρμενίδης ἡμῖν διειλέχθαι καὶ πᾶς ὅστις πώποτε
ἐπὶ κρίσιν ὥρμησε τοῦ τὰ ὄντα διορίσασθαι πόσα τε καὶ ποῖά ἐστιν.
»Etwas obenhin {εὐκόλως} scheint Parmenides mit uns umgegangen zu
sein und wohl alle, die jemals zu jener Scheidung schritten, welche im Be-
stimmen der Seienden besteht, welcherlei und wievielerlei sie sind.« 137
In Platons Sophistes sagt der Fremde (der Hauptunterredner des Dia-
logs):
»Jeder, scheint es, hat uns eine Geschichte erzählt wie Kindern: Der eine,
dreierlei wäre das Seiende, es läge aber bisweilen einiges davon miteinander
im Streit, dann jedoch wieder sei alles freund, da es dann Hochzeiten gibt
und Zeugungen und Auferziehungen des Erzeugten. Ein anderer beschreibt
es als zwiefach, feucht und trocken oder warm und kalt, und bringt beides
zusammen und stattet es aus. Unser eleatisches Volk aber, vom Xenophanes
und noch früher her beginnend, trägt seine Geschichte so vor, als ob das,
was wir Alles nennen, nur Eins wäre. Gewisse ionische und sizilische Mu-
sen aber haben späterhin gemerkt, es wäre sicherer, beides zusammenflech-

136
Wenig überzeugende Einwände gegen Platons Parmenides: Angehrn 2000, 266–
304.
137
Platon Sph. 242 c; SW 4, 214.

57
Historie

tend zu sagen, das Seiende sei Vieles und auch Eines und werde durch
Feindschaft und Freundschaft zusammengehalten. Denn als sich verunei-
nigend vereinige es sich immer, sagen die strengeren Musen; die weicheren
aber lassen nach, daß sich dies immer so verhalten solle, und sagen abwech-
selnd sei das Ganze bisweilen Eins und durch Aphrodite befreundet, dann
wieder Vieles und sich selbst feindselig, erregt durch den Streit. Ob nun an
dem allen einer von ihnen etwas Wahres gesagt hat oder nicht, das ist
schwierig, und es ist wohl auch frevelhaft, so hochberühmten Männern
des Altertums Vorwürfe zu machen; soviel aber kann man doch, ohne sich
irgend zu vergeben, behaupten.«
Seinem jungen Gesprächspartner zugewandt meint der Fremde:
»{…} verstehst denn du, Theaitetos, bei den Göttern, jemals etwas
hiervon, was sie meinen?« 138 Es erzähle doch jeder dieser Leute einen
anderen μῦθος.
In dieser Aufzählung des Fremden steht an erster Stelle offenbar
Pherekydes aus Syros, ein jüngerer Zeitgenosse des Anaximander. 139
Seiner Auffassung nach tritt das Seiende in drei Gestalten auf, ὡς
τρία τὰ ὄντα. 140 Die Namen entlehnt Pherekydes den Mythen,
bringt aber durch ihre Umformulierung das für ihn Neue zum Aus-
druck: Er nennt sie Zas, Chronos und Chthonie, alle sind ewig: Ζὰς
μὲν καὶ Χρόνος ἦσαν ἀεὶ καὶ Χθονίη. 141
Ein anderer (wohl einer der milesischen Kosmologen) nimmt
eine Zweiheit des Seienden an, δύο δὲ ἕτερος εἰπών, 142 und erblickt
die Einheit in den Gegensätzen von feucht und trocken, warm und
kalt.
Zur dritten Gruppe gehört das eleatische Volk, Ἐλεατικὸν
ἔθνος, das mit Xenophanes beginnt. Dieser behauptet, ὡς ἑνὸς ὄντος
τῶν πάντων καλουμένων οὕτω διεξέρχεται τοῖς μύθοις, dass das,
was wir in den Mythenerzählungen Vieles nennen, Eines sei.
Es folgen die ionischen und sizilischen Musen, Heraklit und Em-
pedokles. Sie flechten beides zusammen und behaupten, das Seiende
sei sowohl Vieles als auch Eines und werde durch Feindschaft und
Freundschaft, ἔχθρᾳ τε καὶ φιλίᾳ, 143 zusammengehalten.

138 Platon SW 4, 214 f.


139 Dass Platon Pherekydes meint, hat schon Zeller vermutet (Zeller I/1, 102).
140 Platon Sph. 241 c.
141
DK 7 B 1.
142 Platon Sph. 241 d.
143
Sph. 241 e.

58
Tradition · Wirkung

Die Art, wie sich der Fremde der Position des Parmenides nähert,
lässt den Beginn einer genaueren Untersuchung erkennen; es handelt
sich um das Problem des Benennens. Parmenides gehe demnach da-
von aus, ἕν που μόνον εἶναι, dass das Sein irgendwie Eins ist. 144 Doch
hier meldet sich ein innerer Widerspruch: Indem »eins« als Name,
ὄνομα, und »Sein« als πρᾶγμα, Sache, zum Thema werden, wird das
Eine durch eine Zweiheit erweitert und ist daher nicht mehr eins.
Parmenides meint zwar das Ganze des Seienden, lässt aber offen,
ob es vom seienden Einen verschieden oder mit ihm identisch ist: τὸ
ὅλον ἕτερον τοῦ ὄντος ἑνὸς ἢ ταὐτόν. 145 Dazu wird B 8.43–45 zitiert;
das Seiende sei πάντοθεν εὐκύκλου σφαίρης ἐναλίγκιον ὄγκῳ, |
μεσσόθεν ἰσοπαλὲς πάντῃ· τὸ γὰρ οὔτε τι μείζον | οὔτε τι βαιό-
τερον πελέναι χρεόν ἐστι τῇ ἢ τῇ. »{…} von allen Seiten her, einer
wohlgerundeten Kugel Masse ähnlich, | inmitten überall gleich; denn
nicht etwas größer, | noch etwas kleiner ist Not, dass es ist, da oder
dort.« 146
Parmenides behauptet also, dass das Seiende Mitte und Enden,
d. h. Teile hat. Dies läuft für Platon auf vier Widersprüche hinaus:
1. Wenn das ὄν nur πώς, »irgendwie«, identisch ist, dann kann es
keine Identität geben. 2. Wenn das ὄν nicht ὅλον ist und wenn jedoch
dieses ist, dann fehlt dem ὄν etwas. 3. Wenn ὄν und ἕν jedes ihr
eigenes Wesen haben, ihre ἰδία φύσις, dann geht alles über das ἕν
hinaus und ist mehr als eins. 4. Wenn es das Ganze, τὸ ὅλον, nicht
gibt, dann kann τὸ ὄν auch nicht geworden sein, denn aus dem Wer-
denden entsteht immer ein Ganzes.
Aus dieser Problemlage heraus entwickelt Platon seine γιγαντο-
μαχία περὶ τῆς οὐσίας, 147 den Kampf der Giganten mit Bezug auf
das Sein mit dessen prägender Bedeutung für die Interpretation der
δόξα (°III.8.a.).
Diese Einwände führen später dazu, dass das parmenideische ὄν
einer grundsätzlichen Kritik unterzogen wird. Im ἐὸν ἔμμεναι (B 6.1)
erblicken die Interpreten eine Abstraktion; das Vorurteil der Petrifi-
zierung (um Nietzsches Wort zu gebrauchen) wird fortan leitend, die
Welt wird als Schein interpretiert.

144 Vgl. Sph. 244 b.


145
Sph. 244 d.
146 Sph. 244 e.
147
Sph. 246 a.

59
Historie

Nicht die δόξα ist Schuld am »Sündenfall« der Erkenntnis, 148


sondern deren einseitige Zuordnung zum Schein. Denn τὰ δοκοῦντα
sind nicht nur Schein, sondern Erscheinendes schlechthin. Zu ihnen
gehört alles, was sich zeigt: das Sein sowohl als auch der Kosmos, sei
er aufgrund der Namensetzung der Sterblichen bloßer Schein oder
zeige er sich aus der Sicht der Göttin in der Fülle seiner Erscheinun-
gen (°III.8.b).
Die Gleichsetzung von Schein und Erscheinung geht auf Platon
zurück und ist für die Mehrzahl der späteren Interpretationen des
Parmenides von maßgeblicher Bedeutung. Die Weichen dazu werden
u. a. im Theaitetos gestellt. 149
Sokrates führt hier ein Gespräch mit den Mathematikern Theo-
doros und Theaitetos. An Letzteren stellt er die das Gespräch weiter-
hin bestimmende Frage: τί σοι δοκεῖ εἶναι ἐπιστήμη; »Was scheint
dir Erkenntnis zu sein?« 150 Das Ziel ist die endgültige Widerlegung
des Satzes: ἐπιστήμη = αἴσθησις, »Wahrnehmung«. Die Zurück-
haltung, mit der sich Sokrates der Lösung dieser Aufgabe nähert,
hat mit Parmenides zu tun:
»Den Melissos zwar und die andern, welche sagen, das Ganze sei ein unbe-
wegliches Etwas (οἵ ἓν ἑστὸς λέγουσι τὸ πᾶν), scheue ich, daß wir sie nicht
etwas täppisch mustern (μὴ φορτικῶς σκοπῶμεν), minder jedoch sie
scheuend, als den einen Parmenides. Parmenides aber ist nach dem Home-
ros ›ehrenwert mir‹ (αἰδοῖός τέ μοι) und zugleich ›furchtbar‹ (δεινός τε).
Denn ich habe Gemeinschaft mit dem Manne gehabt noch ganz jung, da er
schon alt war, und es offenbarte sich mir eine ganz seltene und herrliche
Tiefe des Geistes (μοι ἐφάνη βάθος τι ἔχειν παντάπασι γενναῖον).« 151
Neben dem schon erwähnten biographischen Hinweis (°I.2.a) ist die-
se Würdigung des Parmenides vielleicht nicht ganz frei von sokrati-
scher Ironie, enthält aber wohl einiges, das der Wahrheit entspricht.
Parmenides ist demnach ehrenwert, αἰδοῖος, einer, dem αἰδώς, Ach-
tung, gebührt, doch ist er auch δεινός, »furchtbar« – somit »außer-
ordentlich« und »erstaunlich«. Ihm, dem Sokrates, sei das βάθος γεν-
ναῖον, die angeborene Tiefe, des Parmenides erschienen. 152

148 Reinhardt 2012, 27 (°B 1.30).


149 Überblick und Literatur: Erler 2007, 97–100.
150 Platon Tht. 146 c.

151 Platon SW 4, 150 / Tht. 183 e.

152
Meint Sokrates nicht zumindest auch ein wahrnehmbar-sinnliches Erscheinen?
Doch wäre dies, seinen späteren Ausführungen nach, nicht bloß seine Einbildung,
δόξα? (°III.8.a.)

60
Tradition · Wirkung

Die Beweisführung beginnt mit der Unterscheidung zwischen


dem, was zum Leib gehört, τοῦ σώματος; durch dessen Vermittlung
wird Warmes, Hartes, Leichtes und Süßes wahrgenommen, θερμὰ
καὶ σκληρὰ καὶ κοῦφά καὶ γλυκέα. 153 Dies sind αἰσθητά, wahr-
nehmbare Gegenstände. Unter ihnen gibt es solche, die man hören
kann – sie werden mit dem Gehör, der ἀκοή, wahrgenommen; andere
kann man sehen, sie werden durch den Gesichtssinn, die ὄψις, ver-
mittelt. Diese spezifischen Wahrnehmungen sind alle Ton, Farbe (ὅτι
ἀμφοτέρω ἐστόν) und eine von der anderen verschieden (ἑκάτερον
ἑκατέρου μὲν ἕτερον), mit sich selbst aber identisch (ἑαυτῷ δὲ ταὐ-
τόν). 154 Doch gibt es kein leibliches Organ, mit dessen Hilfe Verschie-
denheit oder Selbigkeit erfasst werden können – insbesondere betrifft
dies die οὐσία, die doch bei allen am meisten da ist. 155 Sokrates
schließt daraus: Nicht der Leib, sondern »die Seele scheint mir ver-
mittels ihrer selbst das Gemeinschaftliche in allen Dingen zu erfor-
schen« (ἀλλ’ αὐτὴ δι’ αὑτῆς ἡ ψυχὴ τὰ κοινά μοι φαίνεται περὶ
πάντων ἐπισκοπεῖν). 156
Das Sein – Thema der γιγαντομαχία περὶ τῆς οὐσίας – setzt zu
seiner Erfassung ὅμοιον καὶ τὸ ἀνόμοιον καὶ τὸ ταὐτὸν καὶ ἕτε-
ρον, 157 Gleiches und Ähnliches voraus, Selbiges und Verschiedenes.
Mit dem Leib lassen sich diese Bestimmungen nicht gewinnen – doch
wie sollte jemand überhaupt die Wahrheit, ἡ ἀλήθεια, erreichen kön-
nen, und wie Erkenntnis, ἡ ἐπιστήμη, wenn er nicht einmal über
einen Begriff des Seins verfügt? Die vorläufige weitere Schlussfolge-
rung: Οὐκ ἄρ’ ἂν εἴη ποτέ, ὦ Θεαίτητε, αἴσθησίς τε καὶ ἐπιστήμη
ταὐτόν. »Auf keine Weise also, o Theaitetos, wäre Wahrnehmung
und Erkenntnis dasselbe.« 158

153
Tht. 184 e.
154 Tht. 185 a.
155 τοῦτο γὰρ μάλιστα ἐπὶ πάντων παρέπεται, Tht. 186 a.

156 Platon SW 4, 152 / Tht. 185 d–e. Auf die allerdings grundlegende Unterscheidung

Platons zwischen σῶμα und ψυχή, Leib und Seele, kann hier nicht näher eingegangen
werden; dazu »Dualismus (LeibSeeleVerhältnis«) in: Schäfer 2007, 99–101 (Martin
Thurner). Die frühe griechische Philosophie kennt diesen Dualismus ebenso wenig
wie die Festlegung der δοκοῦντα auf die δόξα.
157 Platon Tht. 186 a.

158
Tht. 186 e / SW 4, 154.

61
Historie

b. Aristoteles

DK verweist fünfmal auf Aristoteles: 159 Metaph. A 5, 986b18; Cael.


Γ 1, 298b14; Ph. Γ 6, 207a9; GC B 3, 330b13; PA B 2, 648a25.
i. In der Metaphysik räumt Aristoteles dem Parmenides einen
Platz in der Doxographie ein. 160 Deren Leitfaden ist die ἀρχή, d. h.
die von den Vorgängern gestellte Ursprungsfrage. Parmenides sucht
über das materielle Prinzip des Thales hinaus (das Wasser als ἀρχή)
ein zweites Prinzip als Ursache der Veränderung. Parmenides wird
damit zum Vertreter der Auffassung, das Eine und die ganze Natur
seien unbeweglich: τὸ ἓν ἀκίνητόν φασιν εἶναι καὶ τὴν φύσιν ὅλην
οὐ μόνον κατὰ γένεσιν καὶ φθοράν. 161 Doch gelte dies nicht nur mit
Bezug auf Werden und Vergehen, denn dies sei alt und alle stimmten
darin überein; sondern es beziehe sich auch auf jeden anderen Um-
schlag, καὶ κατὰ τὴν ἄλλην μεταβολὴν πᾶσαν. 162
ii. In De Caelo meint Aristoteles, unter den früheren Philoso-
phen einen Zwiespalt zu erkennen, πρὸς ἀλλήλους διηνέχθησαν. 163
Im Gegensatz zu jenen, die nur ein Werden annehmen, 164 sagten an-
dere, es gebe weder ein Werden noch ein Vergehen des Seienden,
sondern dies scheine uns nur so, οὐθὲν γὰρ οὔτε γίγνεσθαι οὔτε
φθείρεσθαι τῶν ὄντων, ἀλλὰ μόνον δοκεῖν ἡμῖν. 165
iii. Der Physik zufolge hat Parmenides besser als Melissos ge-
sprochen. Denn dieser sagt, das Ganze sei unbegrenzt, ἄπειρον τὸ
ὅλον φησίν, 166 jener aber, das Ganze sei begrenzt, »inmitten überall
gleich«, τὸ ὅλον πεπεράνθαι, ›μεσσόθεν ἰσοπαλές‹. 167 Weil sie das
Unbegrenzte mit dem »alles umfassen« (τὸ πάντα περιέχειν) und
»das Ganze in sich haben« (τὸ πᾶν ἐν ἑαυτῷ ἔχειν) verbinden, legen
sie dem ἄπειρον aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit mit dem Gan-
zen die Heiligkeit bei, λαμβάνουσι τὴν σεμνότητα κατὰ τοῦ ἀπεί-

159
28 A 24, 25, 27, 35, 52.
160 Aristoteles als »Historiker«: Braun 1990, 17–21. Die Doxographie besteht darin,
»Meinungen (doxai, placita) von Philosophen unter eine Reihe feststehender Rubri-
ken zu sammeln und zu ordnen« (Braun 1990, 22).
161 Metaph. 984a31 f.

162 Metaph. 984a33.

163 Cael. 298b14.

164 Aristoteles bezieht sich auf Hesiod, die ersten Naturphilosophen (φυσιολογήσαν-

τες) und Heraklit.


165
Cael. 298b15 f.
166 Ph. 207a16.

167
Ph. 207a16 f.; °B 8.44.

62
Tradition · Wirkung

ρου, διὰ τὸ ἔχειν τινὰ ὁμοιότητα τῷ ὅλῳ. 168 Doch so werde nicht
»Leinen mit Leinen verbunden« (d. h. Passendes mit Unpassendem).
Aristoteles kritisiert die Gleichsetzung des Ganzen (ὅλον) mit dem
Unbegrenzten (ἄπειρον). Dieses ist zwar der Möglichkeit nach (δυ-
νάμει) das Ganze, doch nicht der Wirklichkeit nach (ἐντελεχείᾳ).
Aus dieser Verwechslung folgt, dass das Ganze, als unbegrenzt auf-
gefasst, auch unerkennbar (ἄγνωστον) ist. 169
iv. Die Abhandlung De Generatione et Corruptione übt Kritik an
der Kosmologie des Parmenides und der Zahl der Elemente (στοι-
χεῖα). Denn jener nehme zwei an, Feuer und Erde, 170 er hingegen
vier. Doch unter seiner, des Aristoteles, Annahme von vier Elemen-
ten, stünden diese nur von einem her in einem Gegensatz: die Erde
zum Trockenen, das Feuer zum Warmen. 171 Doch reichen diese Ele-
mente als Ursachen (αἰτίαι) nicht aus, denn sie erklären nicht aus-
reichend die Bewegung (τὴν κίνησιν). Ist die Form die Ursache, wes-
halb erzeugt sie dann nicht immer kontinuierlich (συνεχῶς), sondern
bald doch, bald nicht? 172
v. In De Partibus Animalium erörtert Aristoteles einen empiri-
schen Befund.
Insgesamt bezieht sich die aristotelische Kritik auf unterschied-
liche Annahmen des Parmenides; auf dessen Verneinung von Werden
und Vergehen und deren Interpretation als Schein (i.–ii.); auf die Ver-
kennung der Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit (iii.); auf
die Kosmologie (iv.); schließlich auf eine fehlerhafte Beobachtung (v.).
Wirkungsgeschichtlich kommt besonderes Gewicht der Annah-
me zu, das Sein sei unveränderlich und ohne Bewegung, das Werden
und Vergehen hingegen bloßer Schein (i.–ii.).

c. Die Stoa

Sextus Empiricus 173 referiert in seiner Schrift Gegen die Gelehrten


die von den Stoikern praktizierte allegorische Auslegung von F0. 174

168 Ph. 207a18 ff.


169 Ph. Γ 6, 207a15–32 = 28 A 27.
170 Parmenides spricht von Feuer und Nacht (B 8.56–59).
171 Aristoteles GC B 3, 330b13–15.
172
Aristoteles GC B 9, 336a36 = 28 A 35.
173 °IV.3.
174
Belege zur allegorischen Mythendeutung: Nestle 1942, 128–131.

63
Historie

Für ihn ist Parmenides ein Schüler des Xenophanes, der das auf Mei-
nen gegründete Denken verwirft (τοῦ μὲν δοξαστοῦ λόγου κατέ-
γνω), das Denken dagegen, das der Erkenntnis fähig und unfehlbar
ist, als Kriterium annimmt (τὸν δ’ ἐπιστημονικόν, τουτέστι ἀδιά-
πτωτον, ὑπέθετο κριτήριον). Auch sei Parmenides gegenüber der
Glaubwürdigkeit der Wahrnehmungen auf Distanz gegangen (ἀποσ-
τὰς καὶ τῆς τῶν αἰσθήσεων πίστεως). Im Einzelnen ergibt sich fol-
gender Vergleich: 175

1 ἵπποι ταί με φέ- »In diesen Versen meint Parmenides nämlich,


ρουσιν daß die vernunftlosen Antriebe und Bestrebun-
gen der Seele (τὰς ἀλόγους τῆς ψυχῆς ὁρμάς τε
καὶ ὀρέξεις) ihn als ›Stuten tragen‹«
2 ὁδὸν {…} πολύφη- »{…} ›den ruhmvollen Weg der Gottheit‹ gehen
μον heißt, die Untersuchung gemäß dem philosophi-
schen Denken führen (πορεύεσθαι τὴν κατὰ
τὸν λόγον θεωρίαν), das nach Art eines gött-
lichen Geleiters zur Erkenntnis aller Dinge den
Weg weist (ὃς λόγος προπομποῦ δαίμονος τρό-
πον ἐπὶ τὴν ἁπάντων ὁδηγεῖ γνῶσιν)«.
5 κοῦραι »die Wahrnehmungen führen ihn als seine
Jungfrauen (κούρας δ’ αὐτοῦ προάγειν τὰς αἰ-
σθήσεις)
7–8 δοιοῖς {…} κύ- »Über das Hören spricht er in verrätselter Weise
κλοις (ὧν τὰς μὲν ἀκοὰς αἰνίττεται), indem er sagt,
sie [die Achse] werde ›getrieben […] von zwei
wirbelnden Rädern‹, d. h. durch die Räder der
Ohren, durch die sie Töne aufnehmen«
9–10 Ἡλιάδες κοῦ- »das Sehen (τὰς δὲ ὁράσεις) nennt er (›Helia-
ραι {…} δώματα denmädchen‹), die ›das Haus der Nacht‹ hinter
Νυκτός {…} εἰς sich ließen und sich ins Licht stürzten, da das
φάος, ὠσάμεναι Sehen ohne Licht unmöglich ist (διὰ τὸ μὴ χωρὶς
φωτὸς γίγνεσθαι τὴν χρήσιν αὐτῶν)«

175 Erste Spalte: Verse aus B 1. Zweite Spalte: Paraphrase nach Sextus. – Übersetzung:

Mansfeld 1981, 37. Die Allegorien sind unterstrichen.

64
Tradition · Wirkung

14 Δίκη πολύποι- »Daß er zur ›unerbittlichen Dike‹ kommt, welche


νος ἔχει κληῖδας die [für Tag und Nacht] ›wechselnden Schlüssel‹
ἀμοιβούς hat, bedeutet, daß er zum Denken kommt, wel-
ches das sichere Erfassen der Dinge gewährleistet
(τὴν διάνοιαν ἀσφαλεῖς ἔχουσαν τὰς τῶν πρα-
γμάτων καταλήψεις).«
22 ὑπεδέξατο »Nachdem diese ihn aufgenommen hat, kündigt
sie an, ihn diese zwei Dinge zu lehren (δύο ταῦτα
διδάξειν)«
29 ἀληθείης εὐκυ- »Sowohl das unerschütterliche ›Herz der Wahr-
κλέος ἀτρεμὲς ἦτορ heit‹, d. h. den unverrückbaren Sitz der Erkennt-
nis (ὅπερ ἐστὶ τὸ τὴς ἐπιστήμης ἀμετακίνη-
τον βῆμα)«
30 βροτῶν δόξας »zweitens aber ›die Meinungen der Sterblichen,
{…} ἀληθής denen keine wahre Verläßlichkeit innewohnt‹,
d. h. all das, was in den Bereich des bloßen Mei-
nens gehört, weil es unbeständig ist (τουτέστι
τὸν ἐν δόξῃ κείμενον πᾶν, ὅτι ἦν ἀβέβαιον)«

An die Stelle wörtlichen Verstehens tritt die allegorische Deutung:


Ein Wort sagt etwas anderes (ἄλλο ἀγορεύει), als es unmittelbar
meint. Demzufolge werden die Pferde als Sinne gedeutet, der Weg
der Gottheit entspricht dem philosophischen Denken, die Jungfrauen
sind die Wahrnehmungen, die Räder des Wagens die Ohren, die He-
liaden das Sehen. Dike gewährleistet ein sicheres Erfassen der Dinge,
das Herz der Wahrheit erscheint als unverrückbarer Sitz der Erkennt-
nis und das Fehlen wahrer Verlässlichkeit der Sterblichen fällt in den
Bereich bloßen Meinens. 176

d. Skeptizismus

Die Kritik durch Platon und Aristoteles und deren Autorität führen
dazu, dass man F2 eine wesentlich geringere Bedeutung als F1 zubil-
ligt; dies hat sowohl für die Überlieferung von F2 Folgen (sie können

176
Für eine detailliertere Ausführung °I.4.d.

65
Historie

an der Anzahl der FF gemessen werden) als auch für die Interpreta-
tion des sogenannten Doxa-Teiles.
Doch findet sich mindestens ein Beispiel außerhalb der allgemei-
nen und üblichen Sicht. Es stammt von Plutarch, u. zw. aus dessen
Abhandlung Adversos Colonos. 177 Als Anhänger Platons verteidigt
Plutarch in diesem Brief Parmenides gegen die Einwendungen des
Epikureers Kolotes. 178

ἀλλ’ ὅ γε Παρμενίδης οὔτε πῦρ »Aber weder hat Parmenides, wie


ἀνῄρηκεν οὐθ’ ὕδωρ οὔτε κρη- Kolotes [dessen Parmenidesinter-
μνὸν οὔτε πόλεις – ὥς φησι Κω- pretation Plutarch hier bekämpft]
λώτης – ἐν Εὐρώπῃ καὶ Ἀσίᾳ κα- [zu Unrecht] behauptet, das Feuer
τοικουμένας· ὅς γε καὶ abgeschafft, noch das Wasser, noch
διάκοσμον πεποίηται καὶ στοι- den gefährlich-steilen Abhang,
χεῖα μιγνὺς τὸ λαμπρὸν καὶ σκο- noch die bewohnten Städte in
τεινόν, ἐκ τούτων τὰ φαινόμενα Asien und Europa. Im Gegenteil: er
πάντα καὶ τὰ διὰ τούτων ἀποτε- hat sogar eine Weltordnung be-
λεῖ. καὶ γὰρ περὶ γῆς εἴρηκε schrieben und, indem er Elemente
πολλὰ καὶ περὶ οὐρανοῦ καὶ – das Helle und das Dunkle – sich
ἡλίου καὶ σελήνης καὶ ἄστρων, miteinander vermischen läßt, bil-
καὶ γένεσιν ἀνθρώπων ἀφήγη- det er aus ihnen und durch sie alle
ται· καὶ οὐδὲν ἄρρητον, ὡς ἀνὴρ Phänomene. Hat er doch gar vieles
ἀρχαῖος ἐν φυσιολογίᾳ καὶ συν- über Erde und Himmel, Sonne und
θεὶς γραφὴν ἰδίαν (καὶ οὐκ ἀλλο- Mond und Sterne gesagt, die Ent-
τρίαν διαφορῶν) τῶν κυρίων πα- stehung der Menschen behandelt
ρῆκεν. ἐπεὶ δὲ καὶ Πλάτωνος καὶ und überhaupt keine wichtige Fra-
Σωκράτους ἔτι πρότερος συεῖ- ge unerörtert gelassen – d. h. na-
δεν, ὡς ἔχει τι δοξαστὸν ἡ φύσις, türlich, insofern letzteres einem
ἔχει δὲ καὶ νοητόν, ἔστι δὲ τὸ μὲν frühen und übrigens originellen
δοξαστὸν ἀβέβαιον καὶ πλανη- Naturphilosophen (der sich nicht
τὸν ἐν πάθεσι πολλοῖς καὶ μετα- mit fremden Federn schmückte)
βολαῖς τῷ φθινεῖν καὶ αὔξεσθαι möglich war. Früher als Sokrates
καὶ πρὸς ἄλλον ἄλλως ἔχειν καὶ und Platon hat er nämlich begrif-
μηδ’ ἀεὶ πρὸς τὸν αὔτὸν ὡσαύτως fen, daß die Wirklichkeit sowohl
τῇ αἰσθήσει, τοῦ νοητοῦ δ’ ἕτε- einen erkennbaren als einen mein-
ρον εἶδος, ἔστι γὰρ {οὐλομελές τε baren Teil enthält und daß das

177
Text und Übersetzung: Mansfeld I, 310/311 f. (Klammern [ ] wie im Text).
178°IV.1. – Kolotes: »Aus Lampsakos, Schüler Epikurs, wohl seit 309/06; * also kaum
später als 325« (KP 3, 275; G. Schm.).

66
Tradition · Wirkung

καὶ ἀτρεμὲς ἠδ’ ἀγένητον} ὡς αὐ- Meinbare etwas Unzuverlässiges


τὸς εἴρηκε, καὶ {ὅμοιον ἑαυτῷ} ist, in vielerart Zuständen und
καὶ {μόνιμον ἐν τῷ εἶναι} –, ταῦ- Wandlungen Befindliches, indem
τα συκοφαντῶν ὁ Κωλώτης καὶ τῷ es untergeht und wächst und sich
ῥήματι διώκων οὐ τῷ πράγματι jedem andern gegenüber anders
τὸν λόγον ἁπλῶς φησι πάντ’ und für die sinnliche Wahrneh-
ἀναιρεῖν τῷ ἓν ὂν ὑποτίθεσται mung nicht immer in derselben
τὸν Παρμενίδην. ὁ δ’ ἀναιρεῖ μὲν Weise demselben gegenüber ver-
οὐδετέραν φύσιν, ἑκατέρᾳ δ’ hält, während das Erkennbare an-
ἀποδιδοὺς τὸ προσῆκον. derer Art ist; es ist nämlich aus
einem Glied und unbeweglich und
nicht entstanden, wie er selbst sagt,
und mit sich selbst identisch und
bleibend im Sein. Indem nun Kolo-
tes einzelnes aus seinem Zusam-
menhang löst und es dann wörtlich,
und d. h. falsch, interpretiert und
sich statt auf die Sache auf den
Buchstaben beruft, behauptet er,
daß Parmenides alles abschafft,
wenn er annimmt, daß das Seiende
eins ist. Parmenides jedoch schafft
keine von beiden Naturen ab, son-
dern gibt jeder Natur [d. h. der er-
kennbaren wie auch der mein-
baren] das ihr Zukommende.«

67
II. Text · Übersetzung

Teil II enthält den griechischen Text und die vollständige Neuübersetzung.


Letztere geht nach Möglichkeit parallel mit den Zeilen des Originals, allein
die Interpunktion wird da oder dort geändert. Alle FF werden mit »B«
ohne Autorenziffer zitiert, und jedem F folgt ein Abschnitt mit Worterklä-
rungen und Beispielen aus der Literatur; falls nötig, wird auf abweichende
Lesarten Bezug genommen, vor allem aber die Übersetzung einzelner
Wörter (namentlich im Unterschied zur Mehrzahl der Übersetzungen) be-
gründet.
Von DK abweichende Lesarten sind kursiv hervorgehoben, Ziffern
zwecks Gliederung fett gedruckt. Zusätze und Kürzungen des Verfassers
stehen in geschwungenen Klammern = { }, {…}. Ein hochgestellter kleiner
Kreis 1 verweist auf die Worterklärungen (z. B. °B 1.1) und vice versa auf den
Kommentar (z. B. °III.1.a.i).

1. Zur Übersetzung

Die sprachliche Form der FF ist der Hexameter (°I.2.b.iv). Dem Über-
setzer stellt sich daher auch die Frage, ob er dem Original folgen oder
eine Übersetzung in Prosa bevorzugen sollte. In respektvollem Ab-
stand erinnere ich dazu an Wolfgang Schadewaldt. In seiner Überset-
zung der Ilias imitiert er in freien Rhythmen deren Versmaß, wäh-
rend er die Odyssee in Prosa wiedergibt – und hat für die Wahl beider
Möglichkeiten gute Gründe.
Zu seiner Neuübersetzung der Ilias schreibt Schadewaldt:
»Die neue Übersetzung von Homers Ilias, die ich hier bringe, unterscheidet
sich nicht wenig von den zahlreichen sonstigen deutschen Übersetzungen.
Das Wesentliche: Sie verzichtet auf die Beibehaltung des sechsfüßigen

1
Der cum grano salis auch als hermeneutischer Zirkel aufgefasst werden könnte.

68
Zur Übersetzung

Hexameters der originalen Form, versucht aber auf der anderen Seite, die
Sprache und die Art Homers mit größter Treue zu bewahren.« 2
Schadewaldt denkt natürlich an Johann Heinrich Voß, der 1781 die
Odyssee, 1793 die Ilias übersetzt hat. So erfolgreich er damit auch
war, hat er sich vielleicht allzu sehr dem Zwang des fremden Vers-
maßes unterworfen: Das quantifizierende Metrum der Antike und
der akzentuierende Rhythmus des späteren Abendlandes sind von
Grund auf verschieden. 3
Man kann die Details von Schadewaldts Argumentation überge-
hen (Parmenides ist ja nicht Homer); konkret stellt sich die Frage,
welchen Vorteil es haben sollte, einen philosophischen Text im Vers-
maß des Originals wiederzugeben. Nochmals Schadewaldt:
»Wenn ich für diese Übersetzung der homerischen Odyssee – nach man-
chen eigenen Versuchen mit dem Hexameter – die Prosaform gewählt habe,
so bin ich mir bewußt, daß mit dem Verzicht auf den durchgehenden
Rhythmus, der der Sprache die höhere Musikalität und den Glanz verleiht,
ein erhebliches Opfer gebracht ist. Doch haftet dieser Glanz und diese Mu-
sikalität untrennbar an dem originalen griechischen Vers und Wort, und
opfert man sie, so opfert man, was die deutsche Übersetzung angeht, wohl
gar nur einen falschen Glanz. Doch wird dieser notgedrungene Verzicht
dadurch wettgemacht, daß der Übersetzer mit der Prosaform ein völliges
sprachliches Neuland betritt und es, unbehindert durch die nun einmal ge-
schichtlich vorgeprägte Sprachform des Voßschen Hexameters, unterneh-
men kann, die eigene Art, wie Homer sieht, denkt und spricht, in deutscher
Zunge nachzubilden.« 4
Vor beide Möglichkeiten gestellt, habe ich mich dafür entschieden,
auf die ohnehin kaum machbare Nachbildung des Hexameters zu ver-
zichten, doch nicht völlig auf eine vorsichtige Rhythmisierung. Als
Beispiel zitiere ich B 1.1 – links der quantifizierende Hexameter,
rechts der akzentuierende Rhythmus:

2 Schadewaldt, in: Homer 1975, 425.


3
»Die antike Metrik und Prosodie beruhen (ähnl. der ind., arab. und hebr.) auf dem
konventionell fixierten Unterschied von Längen {…} und halb so langen Kürzen, die
als Maßstab die Zeitdauer von einer bzw. zwei Moren erhalten, ohne Rücksicht auf die
Betonung, da der altgriech. Akzent musikalisch war, d. h. nur auf Höhe und Tiefe des
Tones beruhte.« Ab dem 3. Jh. n. Chr. trat »ein akzentuierendes Prinzip« ein (Wilpert
1989, 733 f.). More: »metr. Einheit in quantitierender Dichtung: der Zeitwert (Aus-
sprachedauer) e. kurzen Silbe {…}; e. Länge entspricht zwei M.en« (Wilpert 1989,
590). Beispiele für die »Trennung von sprachlichem und musikalischem Rhythmus
im abendländischen Vers«: Georgiades 1958, 30 ff.
4
Schadewaldt, in: Homer 1958, 323.

69
Text · Übersetzung

ἵπποι ταί με φέρουσιν, ὅσον τ’ Stuten sind’s, die mich tragen, bis
ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι dorthin, wohin ein Selbst gerade
noch reicht

Es ist nicht zu überhören (und dank der unterstrichenen Vokale auch


nicht zu übersehen): Den sechs Hebungen des Originals stehen acht
der Übersetzung gegenüber. Es fragt sich nun, wie sinnvoll eine
rhythmisierende Übersetzung ist. Ein Vergleich macht allerdings
deutlich, dass die Unterschiede beider Versionen nicht selten äußerst
gering sind.
Dies trifft schon auf die Übersetzung selbst zu. Ein Beispiel:
»Das Rossegespann, das mich trägt, zog mich fürder, soweit ich nur
wollte {…}«. 5 Ob eine Übersetzung das Gemeinte adäquat wiedergibt,
hat weniger damit zu tun, ob das Original rhythmisch oder in Prosa
übersetzt wird. Ein anderes Prosa-Beispiel: »Die Stuten, die mich
bringen, so weit nur die Sehnsucht gelangt {…}«. 6 Wenn hier »Sehn-
sucht« für θυμός steht, im ersten Beispiel θυμός unübersetzt bleibt,
muss dieses Wort genauer erklärt werden – wieder unabhängig da-
von, ob der Vers nun in Prosa oder leicht rhythmisiert übersetzt wird.
Die Lesefreundlichkeit hängt wohl kaum an der einen oder anderen
Version.
In summa: Der Unterschied zwischen Rhythmus und Prosa ist
nicht allzu erheblich, vor allem geht es um Verständlichkeit und
Werktreue.

2. Text · Übersetzung · Worterklärungen

Dieser Versuch einer Neuübersetzung des griechischen Textes basiert auf


der Ausgabe von DK. Von ihr abweichende Lesarten sind durch Kursive
gekennzeichnet, signifikante Unterschiede zu anderen Übersetzungen wer-
den in den Worterklärungen begründet. Mit dem Zeichen ▶ wird das
(manchmal nur vorläufige) Ergebnis angezeigt, ein hochgestellter Kreis °
verweist auf die wechselseitige Erläuterung der Teile II und III. 7 Es versteht
sich wohl von selbst, dass andere Übersetzungen und Kommentare bei aller
Kritik mit Gewinn herangezogen wurden.

5
Diels 2003, 29.
6 Gemelli II, 11.
7
Ein Zeichen für den hermeneutischen Zirkel (°E.2.a).

70
B1

B1

1 ἵπποι ταί με φέρουσιν, ὅσον Rosse, Stuten sind’s, die mich tra-
τ’ ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι, gen, bis dorthin, wohin ein Selbst
gerade noch reicht,
2 πέμπον, ἐπεὶ μ’ ἐς ὁδὸν βῆ- geben Geleit, da sie mich auf den
σαν πολύφημον ἄγουσαι Weg, den reiche Kunde bringenden,
führen,
3 δαίμονος, ἣ κατὰ πάντ’ ἄστη {auf} der Göttin {Weg}, der über alle
φέρει εἰδότα φῶτα· Wohnstätten hin trägt den Men-
schen, der etwas gesehen hat.
4 τῇ φερόμην· τῇ γάρ με πο- Auf dem ward’ ich davongetragen;
λύφραστοι φέρον ἵπποι denn dorthin bringen mich fort die
vielverständigen Rosse
5 ἅρμα τιταίνουσαι, κοῦραι δ’ und ziehen gestreckten Laufes den
ὁδὸν ἡγεμόνευον. Wagen; Koren aber weisen den Weg.
6 ἄξων δ’ ἐν χνοίῃσιν ἵει σύ- In den eisernen Büchsen knarrt die
ριγγος ἀυτήν Radnabe mit der Achse,
7 αἰθόμενος (δοιοῖς γὰρ ἐπεί- steht in Flammen (getrieben beider-
γετο δινωτοῖσιν seits von zwei kreisrunden
8 κύκλοις ἀμφοτέρωθεν), ὅτε Rädern); da eilen, um das Gefährt
σπερχοίατο πέμπειν nach Hause zu bringen,
9 Ἡλιάδες κοῦραι, προλιποῦ- des Helios Töchter, die hinter sich
σαι δώματα Νυκτός lassen das Haus der Nacht
10 εἰς φάος, ὠσάμεναι κράτων zum Licht hin; sie stoßen mit ihren
ἄπο χερσὶ καλύπτρας. Händen die Schleier von ihren
Häuptern zurück.
11 ἔνθα πύλαι Νυκτός τε καὶ Dort ist das Tor der Bahnen der
Ἤματός εἰσι κελεύθων, Nacht und des Tages,
12 καί σφας ὑπέρθυρον ἀμφὶς ein Türsims hält es auf beiden Seiten
ἔχει καὶ λάινος οὐδός· und eine steinerne Schwelle;
13 αὐταὶ δ’ αἰθέριαι πλῆνται es ist aus Luft vom Wohnsitz der
μεγάλοισι θυρέτροις· Götter gemacht und gefüllt mit ge-
waltigen Türen;

71
Text · Übersetzung

14 τῶν δὲ Δίκη πολύποινος ἔχει von denen aber hat Dike, die viel-
κληῖδας ἀμοιβούς. strafende, die passenden Schlüssel.
15 τὴν δὴ παρφάμεναι κοῦραι Der nun sprechen die Mädchen zu
μαλακοῖσι λόγοισιν, mit zärtlichen Worten,
16 πεῖσαν ἐπιφραδέως, ὥς σφιν bitten sie klug und verständig, ihnen
βαλανωτὸν ὀχῆα den zapfenbewehrten Riegel
17 ἀπτερέως ὤσειε πυλέων flugs vom Tore zu stoßen; dieses
ἄπο· ταὶ δὲ θυρέτρων aber der Türen
18 χάσμ’ ἀχανὲς ποίησαν ἀνα- weitaufgähnende Kluft tut es auf.
πτάμεναι πολυχάλκους Auf fliegt’s und dreht die reich mit
Erz beschlagenen
19 ἄξονας ἐν σύριγξιν ἀμοιβα- Torpfosten wechselweis’ in den
δὸν εἰλίξασαι Pfannen,
20 γόμφοις καὶ περόνῃσιν ἀρη- beide mit Zapfen und Dornen ge-
ρότε· τῇ ῥα δι’ αὐτέων fügt; durch dieses also
21 ἰθὺς ἔχον κοῦραι κατ’ ἀμα- halten die Mädchen den Fahrweg
ξιτὸν ἅρμα καὶ ἵππους. entlang Wagen und Rosse.
22 καί με θεὰ πρόφρων ὑπεδέ- Und eine Göttin empfängt mich ge-
ξατο, χεῖρα δὲ χειρί neigten Sinnes, mit ihrer Hand
23 δεξιτερὴν ἕλεν, ὧδε δ’ ἔπος fasst sie die rechte von mir. So aber
φάτο καί με προσηύδα· nimmt sie das Wort und redet mich
an:
24 ὦ κοῦρ’ ἀθανάτοισι συνάο- Jüngling, unsterblichen Wagenlen-
ρος ἡνιόχοισιν, kerinnen gesellt,
25 ἵπποις ταί σε φέρουσιν ἱκά- du bist zu unserem Haus gelangt
νων ἡμέτερον δῶ, mit Stuten, welche dich überbrin-
gen,
26 χαῖρ’, ἐπεὶ οὔτι σε μοῖρα freu’ dich! Kein schlimmes Geschick
κακὴ προὔπεμπε νέεσθαι hat dich heimzukehren geleitet
27 τὴνδ’ ὁδόν (ἦ γὰρ ἀπ’ ἀν- den Weg (denn vom Fußsteig der
θρώπων ἐκτὸς πάτου ἐστίν), Menschen ist er wahrlich weitab),
28 ἀλλὰ θέμις τε δίκη τε. χρεὼ sondern es waren Satzung und
δέ σε πάντα πυθέσθαι Recht. Not aber ist, dass du alles er-
fährst:

72
B1

29 ἠμὲν ἀληθείης εὐκυκλέος sowohl der Wahrheit wohlgerunde-


ἀτρεμὲς ἦτορ tes, ruhiges Herz
30 ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ als auch der Sterblichen Meinungen,
ἔνι πίστις ἀληθής. in denen nicht wahres Vertrauen
wohnt.
31 ἀλλ’ ἔμπης καὶ ταῦτα μαθή- Aber auch dies wirst du lernen, dass
σεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα das, was erscheint,
32 χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παν- notwendig ist und, indem sich’s ein
τὸς πάντα περῶντα. Ansehen gibt, durch alles hindurch
alles durchdringt.

B 1.1
ἵπποι ταί: Aus den FF geht die Dominanz des weiblichen Elementes
hervor. 8 1. Für diese Fahrt und das besondere Gefährt 9 scheinen Stu-
ten 10 besser geeignet zu sein, weil sie »leichter zu lenken« 11 sind. 2. Es
gibt einen Zusammenhang zwischen dem Feuer und dem Weiblichen,
woraus folgt, dass es sich besser als das Männliche verstehen lässt. 12
3. Das weibliche Element dominiert in den FF (°III.2.a). ▶ Die em-
phatische Wiedergabe mit »Rosse, Stuten« unterstreicht das Femini-
num.
με: Ausdrückliche Bezugnahme auf das »Subjekt« dieser Reise.
»Verstanden sich die vorsokratischen Denker, mehr als die homeri-
schen Helden, als autonome Individuen?« 13
φέρουσιν: Die Stuten tragen den Reisenden davon. »{…} the
route ›carries the man {…} (a long journey)‹«. 14 »Dahintragen« 15

8 »The universe he describes is a feminine one; and if this man’s poem represents the
starting point for western logic, then something very strange has happened for logic
to end up the way it has« (Kingsley 1999, 49); »Vorzüge des einen oder anderen Ge-
schlechts« (Deichgräber 1958, 2581). °III.2.a.
9
»The mares were preferred for charioteer races« (Tarán 1965, 9), °B 1.5.
10 DK I, 228: »Rosse«. »Stuten«: Bormann 1971, 29 = Gemelli II 10; »mares«: Coxon

2009, 48, Tarán 1965, 8.


11 Deichgräber 1958, 658.

12 »P.s choice here is motivated by his view {…} that the female constitution is ›hotter‹

than the male and therefore more akin to the element of fire or light, which is the
source of ›better and purer understanding‹« (Coxon 2009, 270).
13
Stemich 2008, 55.
14 Mourelatos 2008, 17 .
21
15
DK I, 228.

73
Text · Übersetzung

klingt eher passiv, »tragen« 16 zu allgemein; ▶ »davongetragen« ent-


spricht vielleicht am ehesten diesem Aufbruch ins Unbekannte.
θυμὸς: Die Übertragung ins Deutsche wirft mehrere Probleme
auf. 1. Schon im Griechischen wird θυμός mehrdeutig gebraucht, so-
wohl semantisch 17 als auch kulturgeschichtlich 18. 2. Die Wiedergabe
durch deutsche Wörter muss auf deren sprachgeschichtliche Entwick-
lung Rücksicht nehmen. 19 3. Es kommen besonders bei der Überset-
zung von θυμός mit »Mut«, »Wille« u. dgl. philosophische Vorgaben
ins Spiel. 20 4. Übersetzungen: »soweit mein Sinn vorwärts begehr-
te«; 21 »soweit jeweils mein Verlangen reicht«; 22 »soweit ich nur woll-
te«; 23 »soweit nur die Lust mich ankam«; 24 »soweit nur die Sehnsucht
gelangt«; 25 »soweit nur immer mein Mut gelangt«; 26 »soweit jeweils
mein Gemüt verlangt«; 27 »so weit nur mein Wille dringt«; 28 »so weit
nur mein Mut reicht«; 29 »so weit die Regung reicht«; 30 »Soweit mein

16 Z. B. Mansfeld 1995, 5, Riezler 2001, 25, Kirk & al. 267. – Frisk I, 720: »kommen,
gelangen, erreichen«.
17
»Geist, Mut, Zorn, Sinn« (Frisk I, 693). – »1. Leben, Lebenskraft, 2. Leidenschaft –
a. Mut, Tapferkeit, b. Heftigkeit, 3. Empfindungsvermögen, Gemüt, Herz, 4. Geist,
Verstand« (Gemoll 379). »soul, spirit, as the principle of life, feeling and thought«
(LSJ 810). – »1) L e b e n , L e b e n s k r a f t , Lebensfülle, deren Sitz in der Brust, στῆ-
θος, und bestimmter im Zwerchfell, φρένες, ist; {…} 2) {…} a) Ve r l a n g e n , Tr i e b ,
N e i g u n g {…} b) M u t h , der sich auch durch lebhaftes Athmen äußert, als beson-
dere Thätigkeit der Lebenskraft erscheint {…} c) Zornmut, Z o r n , d) übh. E m p f i n -
d u n g , G e f ü h l , wo wir gew. H e r z sagen {…} G e s i n n u n g , S i n n {…} G e d a n -
k e , E r w ä g u n g « (Pape 1, 1224; zahlreiche Belege).
18
Stellung des θυμός in der griechischen Adelszeit: »Zorn, Appetit, Mitleid, Mut«
(Grønbech I, 63). »Thymos ist bei Homer das, was die Regungen verursacht, und
Nóos das, was die Vorstellungen bringt: auf diese zwei verschiedenen geistig-see-
lischen Organe ist das Geistig-Seelische gewissermaßen verteilt« (Snell 2000, 19).
19 »Mut« in der Bedeutung von Kühnheit und Unerschrockenheit hat ahd. und mhd.

einen größeren Bedeutungsumfang als heute; so bedeutet ahd. muot »›Kraft des Den-
kens, Seele, Herz, Gemütszustand, Gesinnung, Gefühl, Absicht, Neigung‹ (8. Jh.)«
(Pfeifer 1997, 903).
20 Siehe HWPh 12, s. v. »Wille«.

21
Jaeger 1953, 112.
22 Bormann 1971, 29.

23 Diels 2003, 29.

24 DK I, 228.

25 Gemelli II, 11.

26 Günther 1998, 13.

27 Heidegger GA 35, 108.

28
Hölscher 2014, 5; beinahe gleich: Thanassas 1997, 275.
29 Mansfeld 1995, 5.

30
Padrutt 1991, 25.

74
B1

Sinn begehrt«; 31 »as far as my will wishes to go«; 32 »as far as ever my
spirit reached«; 33 »aussi loin que le cœur le désire me portaient« /
»quanto oltre il cuore aspira a giungere«; 34 »as far as ever my heart
may desire; 35 »conforme allo slancio della mia volontà«. 36 5. Die Wie-
dergabe von θυμός mit »das Selbst« ist allerdings erklärungsbedürf-
tig, weil es das entsprechende Wort bei Parmenides nicht gibt. Zwar
sagt sein Zeitgenosse Heraklit: ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν, 37 »ich er-
forschte mich selbst«, doch ein vergleichbarer Selbstbezug fehlt bei
Parmenides (trotz με: B 1.1). 6. Gleichwohl ist die Übersetzung mit ▶
»das Selbst« für θυμός nicht ungeeignet. Auch wenn »das Selbst«
erst in der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität als Grund-
begriff fungiert, 38 schließt dies dessen »Vorgeschichte« nicht aus,
wie der Religions- und Kulturhistoriker Vilhelm Grønbech mit Be-
rücksichtigung anderer Grundbegriffe der frühen Griechen ausführt:
»Das Selbst, die Persönlichkeit, die den Namen Thymos trägt, hat nichts
Vages, Unbestimmtes an sich. Sie kann ganz praktisch als Kydos, Kleos
und Arete bestimmt werden. Das ist dieser Thymos, der im Jüngling wächst
und langsam durch Lehre und Erfahrung zur Männlichkeit reift. Eines
schönen Tages findet er sich selbst, er entdeckt, daß er ein Mann ist, wenn
er hört, was das Volk von ihm, dem Sohne eines großen Mannes, erwartet.
Er hat gelernt und er weiß, was recht und was unrecht ist, und das bedeutet
für ihn, was seine Ehre und Pflicht, seine Aidos und Nemesis ist. Er erwacht
zur Gewißheit, ein Mann zu sein, weil er Entrüstung fühlen und in Mut
entflammen kann, weil er imstande ist, Pläne zu schmieden und sie ins
Werk zu setzen. Dieser Thymos bricht in seinem Mut, seinem Zorn, seiner
Freude und seiner Lust hervor. Was wir Gemütszustand nennen, ist nichts
anderes als sein Thymos, der sich, gleich seiner Arete, nach den Forderun-
gen der Stunde abstimmt, sich zum Willensakt konzentriert, in Gefühlen
entfaltet, sich zu Gedanken klärt, sich bei Beleidigungen im Zorn versteift,
sich zu Sehnsucht erhitzt oder sich zu einem Klumpen von Mißmut zusam-
menzieht.« 39

31 Riezler 2001, 25.


32
Cordero 2004, 191.
33 Coxon 2009, 48.

34 Di Giuseppe 2011, 13 / 29.

35 Tarán 1965, 8.

36 Untersteiner 1958, 121.

37 22 B 101.

38 »›S.‹ gilt als ein Konzept, das erst innerhalb der Subjektivierungstendenzen des

neuzeitlichen Denkens philosophische Bedeutung gewinnen konnte und deshalb kei-


ne Vorgeschichte hat« (HWPh 9, 292; Red.).
39
Grønbech I, 62.

75
Text · Übersetzung

ὅσον τ’: Die Wiedergabe von ὅσον τ’ ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι mit ▶ »bis
dorthin, wohin ein Selbst gerade noch reicht«, bezeichnet den Punkt,
zu dem der Erzähler von F0 mit äußerstem Einsatz seines »Selbst«
gerade noch imstande ist, hinzukommen. Der unbestimmte Artikel
könnte darauf anspielen, dass dieser Mensch noch nicht im vollen
Besitz seiner Kräfte ist. In diesem Zusammenhang ist das ὅσον τ’ zu
sehen: Mit dem ▶ τ’ 40, »etwa«, wird angedeutet, dass der Erzähler
zwar alles, was in seiner Macht steht, gibt, doch dort, wo es ums
Äußerste geht, auf göttliche Hilfe angewiesen ist (°III.2.a).
ἱκάνοι: ἱκάνειν »ankommen, hingelangen«, auch im Zusam-
menhang mit Zuständen und Stimmungen, die einen berühren. 41
»{…} the optative is that of indefinitive frequency, as in σπερχοίατο
[›made haste‹] in {B} 1.8«. 42

B 1.2
πέμπον: πέμπειν drückt das Besondere der Fahrt aus: Die begleiten-
den Rosse geben feierliches Geleit. 43 Möglicherweise klingt auch
»heimsenden« an, 44 begibt sich doch der Erzähler auf eine Reise, die
ihn zu sich selbst, gleichsam nach Hause bringen soll.
ὁδὸν: Weg (ὁδός) und Methode (μετὰ τὴν ὁδόν, »hinter einem
Weg her«) sind trotz sprachlicher Verwandtschaft aus philosophi-
scher Sicht zu unterscheiden (°III.6). 45

40 »{…}« schließt sich vorangehenden, namentlich gern relativen Wörtern an« (Ge-
moll 731).
41 μέγα πένϑος Ἀχαιΐδα γαῖαν ἱκάνει (Homer. Il. 1, 254). – S. a. Frisk I, 720, s. v.

ἵκω.
42 Coxon 2009, 270.

43 πομπή »Festzug«; lat. pompa, »feierlicher Aufzug, Pracht, Prunk« (Pfeifer 1997,

1027); Lehnwort »Pomp«. πέμπω »auch Adj. ›geleitend, Kunde bringend‹« (Frisk II,
502).
44
Drei Hauptbedeutungen von πέμπειν: »entsenden«: 1. »entsenden, schicken«;
2. »entlassen«, auch »heimsenden«; 3. »geleiten (z. B. πομπήν, einen Festzug)« (Ge-
moll 589).
45 Dies gilt nicht nur für den von Descartes inaugurierten neuzeitlichen Methoden-

begriff, sondern bereits für den vorliegenden Text. »Die philosophische Sprache der
späteren Zeit prägte das ähnliche Wort μέθοδος, das ebenfalls den Weg zu einem Ziel
bezeichnet, aber wie leer, wie bloß ›methodisch‹ erscheint der Sinn dieser Metapher
im Vergleich mit dem Wege des Parmenides {…}« (Jaeger 1953, 116). – Zu Descartes
vgl. Regulae ad directionem ingenii, Präambel zur 2. Regel: »Circa illa tantum objecta
oportet versari, ad quorum certam et indubitatam cognitionem nostra ingenia viden-
tur sufficere.« »Nur mit solchen Gegenständen darf man umgehen, zu deren zuver-
lässiger und unzweifelhafter Erkenntnis unsere Erkenntniskraft offenbar ausreicht«

76
B1

πολύφημον: »vielgerühmt« 46 für Tarán unhaltbar. »Φήμη does


not mean ›fame‹, but ›news‹, ›intelligence‹, ›meaningful word‹.« 47 Da-
her ▶ »den Weg, den reiche Kunde bringenden«. 48
ἄγουσαι: »mit sich nehmen« sollte das Ungewöhnliche, ja Ge-
waltsame dieser Fahrt andeuten: 49 gewaltsam, weil der Weg von den
ἄστη wegführt, die den βροτοί Schutz gewähren (°B 1.3).

B 1.3
δαίμονος: Zwei Lesarten: 1. δαίμονες, »die Dämonen (die Göttin-
nen)«, »d. i. Ἡλιάδες«. 50 2. δαίμονος, »der Göttin«; 51 »der Gott-
heit«. 52 »Der ›Weg der Gottheit‹ bleibt unbestimmt wie andere De-
tails der ersten Verse. Epos und Lyrik sprechen von einem ›Weg der
Götter‹, der den Menschen unzugänglich ist.« 53 Ist der Weg von We-
sen gesäumt, die Göttinnen gleich sind, oder ist es nicht gerade des-
halb der Weg der ▶ Göttin, weil er ihr eigen ist, indem er zu ihr führt
und insgeheim von ihr geleitet wird?
κατὰ πάντ’ ἄστη: Drei Lesarten: 1. κατὰ πάντ’ ἄστη, »über
alle Wohnstätten hin« (DK): 54 Der Erzähler hat sich auf eine Fahrt
eingelassen, die ihn über alles bisher Vertraute hinwegführt (°III.2.
a). 2. κατὰ πάντ’ ἀδαῆ, »durch alles Dunkle hin«: 55 Der Weg führt

(Descartes 1973, 6). Ein solcher methodischer Vorgriff, der bestimmte Gegenstände
von vornherein ausschließt, wenn sie den Forderungen von certitudo und indubitatio
nicht genügen, ist ungriechisch, wie sich etwa bei Aristoteles zeigen lässt: Λέγοιτο δ’
ἂν ἱκανῶς, εἰ κατὰ τὴν ὑποκειμένην ὕλην διασαφηθείη (EN A 1, 1094a 11 f.). Auch
Aristoteles fordert Durchsichtigkeit, doch hat für ihn, anders als für Descartes, die
Mathematik nicht paradigmatische Bedeutung.
46 »vielgerühmten« (Diels 2003, 29).

47 Tarán 1965, 10. – πολύς 3 »›viel, zahlreich, häufig‹ (seit Il.). Als Vorderglied unbe-

grenzt produktiv« (Frisk II, 502). – »In Homer the word πολύφημος [›of much dis-
course‹] characterises ἀοιδός [›bard‹] and ἀγορήν (assembly) and means ›with many
stories or voices‹« (Coxon 2009, 271).
48
»{…} der Weg heißt πολύφημος, nicht ›vielgerühmt‹, {…} sondern ›reiche Kunde
bringend‹, entsprechend den ἵπποι πολύφραστοι« (Becker 1937, 140).
49
Kroisos zu Kyros auf die Frage, ob die Perser nicht des letzteren Stadt plündern:
φέρουσί τε καὶ ἄγουσι τὰ σά, »sie nehmen und führen gewaltsam mit sich das Deine
weg« (Herodot I, 88).
50 DK I, 228 und 228 . »Die Götter im ganzen heißen δαίμονες ebensogut wie δω-
19
τῆρες« (Wilamowitz I, 356 f.).
51 Diels 2003, 29. Bormann 1971, 28/29.

52 Gemelli II, 11.

53
Gemelli II, 73. Vgl. Homer Od. 13, 112.
54 DK I, 228.

55
Gemelli II, 11.

77
Text · Übersetzung

den Erzähler durch das Dunkel der Unwissenheit hindurch und zum
Wissen empor. 3. κατὰ πάντ’ ἄ{ν}τη{ν}, »through every stage to
meet her face to face«: 56 Jeder dieser Schritte erfolgt im Angesicht
der Göttin (°B 1.3). 57 Alle drei Lesarten lassen sich begründen. Die
Entscheidung für ▶ 3 ergibt sich parallel zu B 1.27: ἦ γὰρ ἀπ’ ἀνθρώ-
πων ἐκτὸς πάτου ἐστίν, »denn vom Fußsteig der Menschen ist er
wahrlich weitab«.
εἰδότα φῶτα: 1. εἰδὼς φώς wird meist wiedergegeben mit »der
wissende Mann«, 58 obwohl doch jemand zu Beginn einer solchen Rei-
se noch gar nicht wissen kann, wie sie ausgeht. 59 Das soll auch deut-
licher aus der Übersetzung hervorgehen. 2. Der εἰδὼς φώς gehört
zwar noch nicht zu den Wissenden; trotzdem hat er schon etwas ge-
sehen – für ihn ein entscheidendes Motiv, sich auf diese gefährliche
Reise zu begeben (was auch noch dadurch betont wird, dass εἰδώς zur
Mysteriensprache gehört) 60. 3. Der εἰδὼς φώς ist demzufolge zwar
nicht »der wissende Mann«, aber ein ▶ »Mensch, der etwas gesehen
hat«. 61 4. φώς, ▶ »Mensch« wähle ich statt »Mann«, um so die wenig
sinnvolle Aufeinanderfolge Mann B 1.3, Jüngling B 1.24, zu ver-
meiden. 62

56 Coxon 2009, 48.


57 ἄντην »1. entgegen, gegenüber, 2. ins Angesicht, 3. vor aller Augen, offen« (Ge-
moll 77).
58 »{…} den ›eingeweihten Mann‹« (Diels 2003, 49, mit Literaturhinweisen).

59 »Das Wort bezeichnet hier unmöglich den Menschen, der die Wahrheit schon

kennt {…}, weil die Reise noch nicht begonnen hat und eine solche Bedeutung im
5. Jahrhundert v. Chr. ungewöhnlich gewesen wäre (Empedokles Fr. 186 verwendet
in Bezug auf Pythagoras εἰδώς mit dem Akkusativ-Objekt ἀνὴρ περιώσια εἰδώς ›ein
Mann, der übermäßig viel weiß‹)« (Gemelli II, 74).
60
»{…} εἰδώς absolut gebraucht, gehört zur Mysteriensprache« (Diels 2003, 49). °
III.2.a.
61
Auch etymologisch und grammatisch lässt sich dies begründen: εἰδω *ϝιδ, lat. vi-
deo, ahd. wizzan, Perfekt οἶδα (Gemoll 242). Das Perfekt hat zwar die Bedeutung von
»wissen, verstehen, kennen«, als Perfekt genommen bedeutet es εἴδω »gesehen ha-
ben«.
62 Etwas andere Deutung: »Im dritten Vers bezeichnet sich der Kuros als wissenden

Mann, was ohne weiteres als Widerspruch zum Begriff ›Kuros‹ als den einzuweihen-
den Jüngling gelesen werden kann. Doch das Nebeneinander von κοῦρος und wissen-
dem Mann macht klar, dass der Terminus ›Kuros‹ im Lehrgedicht als Arbeitsbegriff
dient und nicht den Eleaten als jung und unterworfen charakterisieren will« (Stemich
2008, 60).

78
B1

B 1.4
πολύφραστοι: Sie werden deshalb »die vielverständigen Rosse« 63 ge-
nannt, weil sie den Weg kennen. 64

B 1.5
ἅρμα τιταίνουσαι: ἅρμα: Streit- oder Triumphwagen. 65 Dies lässt,
wie die folgenden Verse zeigen, an eine schnelle und wagnisreiche
Fahrt denken. Vielleicht deutet ein solches Kampfgefährt – im Kon-
text von F0 – auch auf den Streit mit der Lebensform der anderen
Menschen hin (κατὰ πάντ’ ἄστη B 1.3; πολύδηριν ἔλεγχον B 7.5), 66
d. h. der βροτοί (B 1.30, B 6.4, B 8.39, B 8.51, B 8.61). Der Geschwin-
digkeit dieser Wagenfahrt entspricht auch »und ziehen gestreckten
Laufes den Wagen«. 67
κοῦραι: κόρη, jon. κούρη, poet. κόρα und κούρα (Fem. von κό-
ρος, »Jüngling«), »Mädchen, Jungfrau, öfter von Göttinnen«. 68 »κοῦ-
ραι [›maidens‹]: the word is emphatic, since female charioteers are
unusual.« 69

B 1.6
σύριγγος: Übersetzungen von ἵει σύριγγος ἀυτήν u. a.: »{…} mit
pfeifendem Tone«; 70 »{…} einer Syrinx Laut«; 71 »Pfeifton«; 72 »Schrei
der Pfeife«. 73 Während die Mehrzahl der Übersetzer mit σῦριγξ eine
Flöte assoziiert, meint Kingsley das Zischen einer Schlange. 74 ▶ Eine

63
Bormann 1971, 29; »sagacious mares« (Coxon 2009, 48); die unsterblichen Rosse
des Achill: Di Giuseppe 2011, 168.
64 »because they know the way« (Tarán 1965, 12, mit Hinweis auf Homer Il. 19, 401).

65 »chariot, esp. warchariot, Homer Il. 5, 231« (LSJ 242). – Genaue Beschreibung

derartiger Fahrzeuge: Greenhalgh 1973.


66 Von dem an Schnelligkeit unübertrefflichen Achill heißt es (Il. 22, 23): »Stürmend

wie ein preistragendes Pferd mit dem Wagen, | Das leicht dahineilt, gestreckten Laufes
durch die Ebene« (Homer 1975, 366).
67 Anders z. B. »den Wagen ziehend« (DK I, 228) oder »den Wagen eilends ziehend«

(Bormann 1971, 28).


68 Gemoll 447.

69 Coxon 2009, 273.

70 Diels 2003, 29.

71 Bormann 1971, 28.

72 Gemelli II, 11.

73 Padrutt 1991, 641.

74
»The word for ›pipe‹ that Parmenides keeps using is syrinx. It had a very particular
spread of meanings. Syrinx was the name either for a musical instrument or for the
part of an instrument that makes a piping, whistling sound – the sound called syrig-

79
Text · Übersetzung

genauere Besichtigung des ἅρμα lässt jedoch vermuten, dass es sich


um die in ihren eisernen Büchsen (ἐν χνοίῃσιν) knarrende Radnabe 75
handelt.

B 1.7
αἰθόμενος: Aufgrund der hohen Geschwindigkeit des Wagens steht
die Radachse in Flammen. Das kann zweierlei bedeuten: 1. Sie selbst
ist entflammt, d. h. in Glut geraten; 2. sie steht in Flammen, indem sie
wie in grelles Licht getaucht erscheint. Der αἰθήρ (verwandt mit αἴ-
θω) erscheint bei Homer als Raum des strahlenden Himmelsglanzes.
▶ Somit wäre der ἄξων angestrahlt und deshalb »in Flammen«, weil
der Wagen von den Töchtern des Helios εἰς φάος, empor zum Licht
des ἥλιος geleitet wird (B 1.9 f.).

B 1.8
ὅτε σπερχοίατο πέμπειν: Sie beeilen sich, das Gefährt nachhause zu
bringen, d. h. εἰς φάος, »zum Licht hin« (B 1.10).

B 1.9
Ἡλιάδες κοῦραι: Sind die κοῦραι B 1.9 und B 1.5 identisch? B 1.8
steht ὅτε σπερχοίατο πέμπειν, »da eilen {die Ἡλιάδες κοῦραι}, das
Gefährt nach Hause zu bringen«. Diese Koren weisen den Weg (κοῦ-
ραι δ’ ὁδὸν ἡγεμόνευον: B 1.5). Es handelt sich B 1.5 und 1.9 um
dieselben Koren oder Heliaden, wobei diese jene (als Lichtbringer)
näher charakterisieren.
δώματα Νυκτός: das Haus der Nacht. Zunächst scheint nahe zu
liegen, dass hier ein Schritt aus nächtlicher Finsternis in die Helle des
Sonnenlichtes getan wird. Allerdings liegen die Verhältnisse nicht so
einfach. Der Rückgang auf bestimmte Zeremonien in Delphi lässt
erkennen, dass den Frauen die mit Dionysos verbundenen Auferste-
hungszeremonien anvertraut wurden. 76 Dies würde bedeuten, dass
die Koren nicht allein zur oberen Welt der Sonne gehören, sondern
auch zum Reich des Dionysos: »Er war der Vertraute und Genosse der

mos. But there’s one aspect of these words that you have to bear in mind: for Greeks
this sound of piping and whistling was also the sound of the hissing made by snakes«
(Kingsley 1999, 128).
75
ἀϋτή »of the creaking of the axle« (LSJ 279, mit ausdrücklichem Verweis auf B 1.6);
»hole in the nave of a wheel« (LSJ 1731 s. v. σύριγξ), ein Loch in der Nabe des Rades.
76
Plutarch, Griechische Fragen 12; Aristophanes, Frösche 373–96, mit Scholien.

80
B1

Totengeister.« 77 Wenn die Heliaden aus dem Reich der Nacht empor-
steigen, so verlassen sie damit nicht den einen Ort ihres Aufenthalts,
um ihn mit einem anderen einfach zu vertauschen; der nächtliche Ort
erinnert an eine Gefahr, von der die Sonnentöchter – und der, dem sie
ihr Geleit geben – nie ganz frei sind. »In welcher Sphäre sind wir
nun? Es kann kein Zweifel sein, daß es die des Todes ist. Auch die
Schrecken der Vernichtung, die den ganzen Lebensraum durchzit-
tern, gehören als schauerliche Lust dem Reiche des Dionysos an. Der
Ungeheure, dessen geisterhafte Doppelheit aus der Maske zu uns
spricht, ist mit einer Seite seines Wesens der e w i g e n N a c h t zu-
gewandt.« 78
Helios: Ist damit ein reines Lichtreich gemeint? Es bestehen Be-
denken. Im Kult hat die Sonne zwar »nur eine untergeordnete Rolle
gespielt«, doch haben griechische Religion und Mythologie »Züge
alter ›unterirdischer‹ Hierophanien der Sonne bewahrt«, »ebenso
chthonische wie infernalische Bedeutungen«. 79 Es ist nicht zu leug-
nen, dass Helios »Beziehungen zu gewissen Mächten der Finsternis:
Hexerei und Unterwelt« unterhält. Er »ist Vater der Magierin Circe
und Großvater Medeas {…}; von ihm hat Medea jenen von geflügel-
ten Schlangen gezogenen Wagen {…}. Pferde und Schlangen gehören
in erster Linie in den Bereich chthonischer Totensymbole. Der Ein-
gang zum Hades hieß das ›Tor der Sonne‹ {…}. Die Polarität Licht-
Finsternis, solarisch-chthonisch konnte also als wechselnde Erschei-
nungsform ein und derselben Realität gefaßt werden.« 80 Ist das, was
die Göttin vom Kuros verlangt (°B 7.5), eine Entscheidung zugunsten
des Lichtes und gegen die Nacht, wenn die Fahrt vor den πύλαι Νυκ-
τός τε καὶ Ἤματος anhält, »dem Tor der Bahnen der Nacht und des
Tages« (B 1.11)?
Offen bleibt, ob Parmenides das Haus der Nacht von Hesiod
übernommen hat. 81 Es gebe zwar, so Michael Bartling, »hesiodsche
Motive«, doch hätten »in seinem Bewußtsein entweder nur Tag oder

77 Otto 2011, 49.


78 Otto 2011, 104.
79 Eliade 1954, 169. Attribute: πύθιος (Hinweis auf die Spiele in Delphi zu Ehren

Apollons), παιάν (Παιάν: ein Arzt der Götter), χθόνιος (der Unterwelt angehörig),
πλούτων (Πλούτων: Hades, der Gott der Unterwelt), τιτάν (die Titanen – ein von
Zeus gestürztes Göttergeschlecht).
80 Eliade 1954, 75. E. Alc. 855: κόρη ist Persephone.

81
Bartling 1985, 105.

81
Text · Übersetzung

nur Nacht in dem Haus der Nacht Platz«. 82 Würde aber Parmenides
mit diesem die Gegensätze ausschließenden Entweder-Oder nicht auf
die Stufe der βροτοί zurückfallen? Auch sind es nicht πύλαι Νυκτός
ἢ Ἤματος κελεύθων, sondern Νυκτός τε καὶ Ἤματος κελεύθων,
es ist also ein Tor, das beide Eingänge enthält. Erst dadurch wird es für
den Kuros möglich, eine Entscheidung zu treffen. Unterstützt wird er
dabei von den Sonnenmädchen, die das Haus der Nacht verlassen,
ihre Schleier zurückstoßen, d. h. was sie verhüllt hat, sichtbar ma-
chen, »entbergen« (B 1.10), und den Wagen hinauf zum Licht gelei-
ten (B 1.10). Nachdem sie Dike, die Türhüterin darauf eingestimmt
haben (B 1.16), öffnet sich die Kluft (B 1.18), fliegen die Tore auf
(B 1.18), und der Kuros steht vor der Göttin (B 1.22).
ὠσάμεναι: ὠθέω »zurückstoßen«. Ein Moment der Gewaltsam-
keit (das auch dem Ritus der Initiation nicht fremd ist) liegt im
»stießen {…} zurück«. 83

B 1.10
καλύπτρας: καλύπτρα »Schleiertuch«, verwandt mit καλύπτω »ver-
hüllen, bergen«, als Gegenüber = ἀληθεύειν, »enthüllen, entbergen«
– ein Wortspiel? Der Schleier lässt etwas sehen und enthält zugleich
ein Versprechen auf Unsichtbares.

B 1.11
πύλαι Νυκτός τε καὶ Ἤματος: Das »Haus von Tag und Nacht« hat
bei Hesiod und Heraklit Entsprechungen. 84 Nύξ, »Nacht«, könnte
auch den Hinweis auf eine Strafe enthalten. 85

B 1.13
αἰθέριαι: Mit αἰθήρ ist der heitere Himmel gemeint, die obere Luft-
schicht, in der die Götter wohnen (°B 1.7), mit ἀήρ die untere, dicke
Luft, erfüllt von Nebel und Dunkelheit. Weil die Reise von der Nacht
zum Licht geht, umschreibe ich αὐταὶ δ’ αἰθέριαι mit ▶ »es ist aus
Luft vom Wohnsitz der Götter«.

82 Bartling 1985, 106.


83 »mit Gewalt und Anstrengung von der Stelle bringen« (Pape 2, 1408).
84
Bartling 1985, 104–107.
85 Aischylos, A. 356, 460 ff., bestrafen Νύξ und Zeus die ungehorsamen Götter. Vgl.

Böhme 1980, 12–82.

82
B1

B 1.14
Δίκη πολύποινος: i. »Dike, die vielstrafende«, und »die viel strafende
Dike«; 86 »Dike, die gewaltige Rächerin«; 87 »die hartstrafende Dike«; 88
»die vergeltende Dike«; 89 »Dike, die genau vergeltende«; 90 »der un-
erbittlichen Dike unterstellt«; 91 »die vielrächende Dike«; 92 »Dike, die
Göttin der Vergeltung«; 93 »Dike, whose vengeance is stern«. 94 »Unter
den göttlichen Wesen, die das Wesen des Rechts bezeichnen und als
Götternamen erscheinen, begegnen am meisten θέμις und δίκη.« 95 –
ii. Ist an eine Gottheit oder die Göttin der Rechtsprechung zu den-
ken? Während für die meisten Übersetzer Δίκη eine Göttin ist, sagt
Coxon »retributive justice« 96 und versteht sie als Gerechtigkeit im
juristischen Sinn. »From the fact that this expression also occurs in
an Orphic fragment {…} it must not be inferred that Parmenides took
it over from Orphic conceptions«. 97 ▶ Mit »Dike, die vielstrafende«,
ist hier, anders als B 1.28, wohl die Göttin gemeint. 98
κληῖδας ἀμοιβούς: »wechselnd« von ἀμείβω med. »an die Stel-
le eines anderen treten«, »abwechseln«. 99 κλείς »Schlüssel«. Es sind
»passende Schlüssel«, weil sie für beide Schlüssellöcher geeignet sind
und daher sowohl das Tor des Tages als auch jenes der Nacht auf- und
zuschließen können.

B 1.17
ἀπτερέως: ἀπτερής »ursprünglich ein Vogel, der beide Flügel zu-
gleich schlägt«, 100 daher ▶ »flugs«.

86 DK und Gemelli II, 11.


87 Diels 2003, 28.
88 Bormann 1971, 31.

89 Heitsch 1974, 11.

90 Hölscher 2014, 5.

91 Mansfeld 1995, 5.

92
Riezler 2001, 25.
93 Wolf 1950, 287.

94
Tarán 1965, 8.
95 Wolf 1950, 22.

96 Coxon 2009, 50.

97 Tarán 1965, 15.

98 Angehrn 1996, 297. Böhme 1980, 21–73.

99 Böhme spricht von einer »altorpheischen Dike«: »Diese Δίκη πολύποινος mit den

Wechsel-Schlüsseln lässt sich aber vom Tor – den πύλαι da sich die Wege von Nacht
und Tag begegnen – natürlich nicht abtrennen, denn: zu diesem Jenseitstor hat sie die
Schlüssel, dieses Tores waltet sie« (Böhme 1980, 21).
100
Diels 2003, 52.

83
Text · Übersetzung

B 1.18
χάσμ’ ἀχανὲς: »Parmenides kann den gähnenden Schlund nur dank
besonderer göttlicher Gnade überwinden. Bei Hesiod ist der ›riesige
Schlund‹ (Th. 740–743) für die Menschen nicht betretbar und sogar
für unsterbliche Götter schrecklich: Denn wer durch die Tore hinein-
träte, würde durch furchtbare Stürme bald hierhin, bald dorthin ge-
rissen und käme nicht einmal im Laufe eines Jahres zum Grund.« 101
Die »weitaufgähnende Kluft« entspricht diesem Befund.

B 1.22
θεά: Hat die Göttin einen Namen? Es gibt eine Reihe von Vermutun-
gen, die von Persephone bis Mnemosyne reichen, oder es bleibt ihre
Anonymität gewahrt (°III.2.a).

B 1.23
δεξιτερὴν ἕλεν: Jemanden bei der rechten Hand nehmen.
προσηύδα: Sie redet ihn feierlich an, vgl. Homer Il. 1, 92: καὶ
ηὔδα μάντις ἀμύμων.

B 1.24
ὦ κοῦρ’: κοῦρος (jonisch, poetisch): »Knabe, Jüngling; inbes. a. jun-
ger Held, b. Sohn«; »boy, lad (even before birth)«. 102 Coxon präferiert
den Helden: »the word κοῦρος [›youth‹] is used by Homer of heroes
aged up to thirty or more (cf. Il. N 91–95, O 281–284), and it is diffi-
cult to suppose that P.’s poem is the work of a younger man than
thirty.« 103 κοῦρος ist ein Begriff der Mysterienliteratur und kommt
in der Philosophie nicht vor Parmenides vor: »Kouros is an ancient
word, older even than the Greek language. Often it’s a title of honour,
never an expression of contempt. When the great poets before Par-
menides used the term it was always to communicate a sense of nobil-
ity. It was the kouros, more than anyone else, who was a hero.« 104
»Der Begriff ›Kuros‹ bezieht sich in der Mysterienliteratur rituell
auf einen einzuweihenden Jüngling. Kein Philosoph wendet diesen
Begriff vor Parmenides an. Dann ist der Terminus bei Empedokles
zur Bezeichnung von ›Knabe‹ und ›Sohn‹ zu finden. Parmenides stellt

101 Gemelli II, 77.


102
Gemoll 448; LSJ 981.
103 Coxon 2009, 281.
104
Kingsley 1999, 71 f.

84
B1

sich im Lehrgedicht selbst als Kuros vor, der von einem göttlichen
Wesen belehrt wird.« 105 Die Übersetzung mit »Jüngling« eignet sich
(sofern man nicht »Kuros« unübersetzt lässt), denn dieses Wort »be-
zieht sich in der Mysterienliteratur rituell auf einen einzuweihenden
Jüngling« 106 (°III.2.b).

B 1.25
μοῖρα κακὴ: DK: μοῖρα, »Fügung«, das Schicksal des Kuros. Gemel-
li: der Tod. 107 Wolf: Eine der Gegnerinnen der Dike, die »böse« Eris,
»die zerstörende und vernichtende Zwietracht«. 108 Μοῖρα ist eine je-
ner drei Göttinnen, die den Menschen ihr gutes oder böses Lebens-
geschick zuteilen. Zur zeitlichen Bedeutung von Klotho, Lachesis und
Atropos °III.6.c.iii. ▶ Ich übersetze μοῖρα B 1.26 (das menschliche
Lebensschicksal) und ebenso B 8.37 Μοῖρ’ (die Göttin) mit »Ge-
schick«, weil göttliche Einwirkung und menschliches Los miteinander
verwoben sind; daher μοῖρα κακὴ ein schlimmes Geschick.

B 1.27
ἀπ’ ἀνθρώπων ἐκτὸς πάτου: bezieht sich auf κατὰ πάντ’ ἄστη
B 1.3.

B 1.28
θέμις τε δίκη τε: DK schreibt B 1.14 und B 8.14 Δίκη groß (Göttin)
und B 1.28 δίκη klein (»das Recht«). In den Übersetzungen findet
sich einerseits der juridische Wortgebrauch: »Satzung und Recht«
(Bormann 1971, 33); »right and justice« (Tarán 1965, 9; Coxon 2009,
52); daneben der mythische: »Themis und Dike« (Gemelli II, 13;
Riezler 2001, 27). – Mit Δίκη πολύποινος in B 1.14 kann nur die
Göttin gemeint sein, in B 1.28 liegt die juridische Bedeutung »Sat-
zung und Recht« näher. – Ob Dike und Themis auch auf die biogra-
phische Überlieferung hinweisen (°I.2.a)? Parmenides hat bekannt-

105 Stemich 2008, 52.


106 Stemich 2008, 52; ebd. 45–65 mit zahlreichen Belegen.
107 »Hier wird ohne Zweifel der Tod bezeichnet, denn μοῖρα hat bei Homer gerade

diese Bedeutung (Il. 13, 602: τὸν δ’ ἄγε μοῖρα κακὴ θανάτοιο τέλοσδε. Vgl. auch Il.
16,849; 21,83: μοῖρ’ ὀλοή; Od. 11,61: αἶσα κακή). {…} Das ist eine weitere Bestäti-
gung dafür, dass die Reise des Parmenides eine Reise in die Unterwelt ist« (Gemelli II,
78).
108 Wolf 1950, 47. Zur Gleichsetzung von Dike und Eris verweist Wolf auf Heraklit,

22 B 80.

85
Text · Übersetzung

lich den Einwohnern von Elea Gesetze gegeben (νόμους θεῖναι τοῖς
πολίταις, A 1.1) und seine Vaterstadt durch die besten Gesetze in
Ordnung gebracht (τὴν ἑαυτοῦ πατρίδα διεκόσμησε νόμοις ἀρί-
στοις, A 12).
χρεὼ: Alle Etymologien sind hypothetisch. 109 Das Imperfekt
χρῆν, »es wäre nötig«, drückt aus, dass etwas nicht ausgeführt wird,
»die betreffende Handlung nicht erfolgt ist oder nicht erfolgt«. 110
»χρή and χρεών ἐστι in Archaic Greek do not mean, ›it is necessary‹
{…} but ›it is right, proper, meet‹, {…} it was rightfully {»recht-
mäßig«: θέμις, δίκη}«. 111 Eine einfache Wiedergabemöglichkeit ist
»Not«.
πυθέσθαι: »{…} πεύθομαι hat genaue formale Entsprechungen
in mehreren Sprachen: aind. bódhati {…}, ›wachen, aufmerksam sein,
verstehen‹«. 112 Das Verbum πυνθάνεσθαι 113 hat einen größeren Be-
deutungsumfang als etwa der aristotelische Begriff der ἐμπειρία 114
oder gar der Erfahrungsbegriff des Empirismus; dies beachtend lässt
sich übersetzen mit »dass du alles erfährst«.

B 1.29
ἀληθείης εὐκυκλέος: DK schreibt Ἀληθείης, als wäre hier eine Göt-
tin gemeint. Ich halte dies für inkonsequent, weil als Gegenstück von
ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ B 1.30 βροτῶν δόξας fungieren.
Vor allem aber wird ἀλήθεια hier als philosophischer Terminus ge-
braucht. Das Substantiv ἀλήθεια ist ein Kompositum aus λήθη,
»Verbergung, Verborgenheit«, mit vorangestelltem α privativum,
wörtlich »Un-verborgenheit«. »Jedes λήθειν setzt eine mögliche
Mitwisserschaft voraus; es geschieht nur unter solchen, die ständig
in der Lage sind, daß sie das eine wissen, während sie anderes nicht
wissen, weshalb auch der eine auf das Wissen des anderen angewiesen
sein kann – unter solchen, die einander wissen lassen können, was sie
noch nicht oder nicht mehr gemeinsam wissen.« 115 »So wie das φαί-

109 Frisk II, 1119.


110 Bornemann/Risch 1978, 231. »necessary« Coxon 2009, 54; »necessity« Coxon
2009, 285 mit Hinweis auf B 8, 53 f.
111 Mourelatos 2008, 207.

112 Frisk II, 625. Diskussion von πάντα bei Di Giuseppe 2011, 73.

113 »1. sich erkundigen, forschen, fragen {…} 2. erfahren, vernehmen, hören« (Ge-

moll 659).
114 Aristoteles Metaph. A 1.

115
Boeder 1959, 92.

86
B1

νειν etwas ans Licht bringt und vor Augen hält, wirkt im Gegenzug
dazu auch das λήθειν. Es besagt demnach: jemanden über etwas im
Dunklen lassen, jemandem etwas verhehlen, und sogar: jemanden
hintergehen, jemanden ›hinters Licht führen‹.« 116 Pellikaan-Engel
vergleicht B 1.29–30 mit Hesiod, Theogonie 27–28: 117

ἠμὲν ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρε- ἴδμεν ψεύδεα πολλὰ λέγειν ἐτύ-


μὲς ἦτορ μοισιν ὁμοῖα,
ἠδὲ βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι ἴδμεν δ’ εὖτ’ ἐθέλωμεν ἀληθέα
πίστις ἀληθής. γηρύσασθαι.

»Welche Bedeutung aber hat ἀλήθεια innerhalb der parmenideischen


Philosophie?« 118 Feyerabend erblickt in ἀτρεμὲς ἦτορ eine biologi-
sche Metapher. 119
εὐκυκλέος: »wohlgerundet«, wie εὔκυκλος »well-rounded,
round« (Simplikios). 120 Diels 2003 wählt diese Lesart und begründet
sie mit der lectio difficilior, denn »εὐκυκλέος ist für den ersten Au-
genblick formell und inhaltlich so anstössig, dass es psychologisch
schlechterdings unmöglich ist, sich die Genesis einer solchen Inter-
polation vorzustellen« (°E.2.a). Proklos: εὐφεγγέος – εὐφεγγής
»schön leuchtend, strahlend«. 121 Doch hält es Diels für begreiflich,
»dass ein Mann wie Proclus, der alles im neupythagoreischen Licht
(wörtlich zu verstehen) erblickte, der {…} beim Dociren selbst von
einem Heiligenschein umgeben war {…}, die Lesart εὐφεγγέος selbst
dann für richtig hielt, wenn ihm andere Ueberlieferung bekannt ge-
worden sein sollte. Denn selbst erfunden hat er, wenn wir seinen
Worten trauen, εὐφεγγές nicht. Es ist aber vermutlich irgendwo im
neupythagoreischen Kreise aufgekommen.« 122 Sextus u. a.: εὐπει-
θέος – εὐπειθής »1. (πείθομαι) leicht zu überreden, leicht gehor-
chend, folgsam {…} 2. (πείθω) leicht überredend, überzeugend«. 123
»Auch ältere Philosophen wussten mit εὐκυκλέος nichts anzufangen.
Darum verfielen sie, indem sie eine Zeile weiter lasen ταῖς οὐκ ἔνι

116 Boeder 1959, 93.


117 Pellikaan-Engel 1974, 79 f.
118 Boeder 1959, 65.
119 Zit. in: Di Giuseppe 2011, 462.
120 LSJ 720.
121
Aischylos, Pers. 379.
122 Diels 2003, 55.
123
Gemoll 343.

87
Text · Übersetzung

πίστις ἀληθής, auf εὐπειθέος. Es ist möglich, dass diese Conjectur


recht alt ist, aber echt ist sie nicht.« 124 Cordero 2004 u. a. lesen εὐκυ-
κλέος, Stemich zieht εὐπειθέος vor; der Terminus sei »wortver-
wandt mit πειθώ (überzeugen) und πίστις (Glauben), was auf ein
weiteres Charakteristikum der Wahrheit des Parmenides hin-
weist«. 125 ▶ Könnte aber εὖ nicht auch mit »gut« übersetzt werden
und sich auf den κόσμος beziehen? Daher ▶ »gut gerundet«.

B 1.30
βροτῶν: Die Sterblichen, βροτοί, und die unsterblichen Götter, θεοὶ
ἀθάνατοι – ein Gegensatz bei Homer und dessen Nachfolgern; βρο-
τός ist mit lat. mortuus verwandt. 126 Meijer u. a. unterscheiden zwi-
schen den ἄνθρωποι und den βροτοί, »ordinary people and special
people« – »an important distinction«. 127
δόξας: Vor jeder Analyse sollte auf Gadamers Hinweis geachtet
werden, dass Parmenides nicht δόξα im Singular, sondern ▶ δόξαι
im Plural gebraucht: »Die Wahrheit ist nur eine einzige, während die
Meinungen der Menschen mannigfaltig sind. Die Doxa ist doch wohl
erst ein platonischer Begriff, durch den der Unterschied zwischen den
Meinungen und der einen Wahrheit markiert wird.« 128 δόξα (ver-
wandt mit δοκεῖν °B 1.31) = (1) die Meinung, Vorstellung, Erwar-
tung, die jemand hat (daher ist παρὰ τὴν δόξαν, »paradox«, was der
δόξα zuwiderläuft), z. B. »Einbildung, Wahn, Schein«; (2) die Mei-
nung, die andere von einem haben, daher auch »Ruf, Ruhm, Ehre«. 129
Die Gegenüberstellung von δόξα, »Schein«, und ἀλήθεια, »Wahr-
heit«, geht auf die von Platon geprägte Auslegung zurück. Reinhardt
hält an der einseitigen Deutung der δόξα = Schein fest und lässt die
Göttin darüber »wie von einer Begebenheit der Vorzeit, einer Art
Sündenfalls der Erkenntnis« 130 reden; seiner Interpretation wider-
spricht Beaufret zu Recht: »La vie des δοκοῦντα est sans péché ori-

124 Diels 2003, 55.


125
Stemich 2008, 83.
126 ἀνὴρ βροτός: Homer Il. 5, 361; Gemoll 164.

127 Meijer 1997, 225.

128 Gadamer 1996, 137.

129 Gemoll 225. – »In dem Worte δόξα liegt diese Wendung nach zwei Richtungen,

dieses Schweben zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Aktiv und Passiv durch sei-
ne Bedeutung von ›Ansicht‹ im doppelten Sinne der ›Meinung‹ und des ›Ansehens‹,
da es vom Verbum δοκέω stammt, das schon bei Homer als puto und putor auftritt.«
(Snell 1924, 53) – Sprute 1962, 34–44: »Die Wortbedeutung von δόξα«.
130
Reinhardt 2012, 27.

88
B1

ginel. Le monde de l’illusion n’est pas une illusion de monde« 131


(°III.8.a, °III.9.b).
πίστις: (1) Etymologie, Semantik. »Mit πείθω deckt sich formal
genau das lat. themat. Wz.-präsens fīdō.« 132 – »Es scheint gesichert,
daß als Grundbedeutung der Wurzel bheidh- > peith-, die dem latei-
nischen fid- phonetisch und semantisch entspricht, ›Vertrauen‹ an-
zusetzen ist, und daß die mit pis-t- gebildeten Wörter ursprünglich
eine zweifache Bedeutung zeigen: Es heißt πιστός entweder ›vertrau-
end‹ oder ›vertrauenswürdig‹. Ebenso kann πίστις das aktive wie das
passive Vertrauen bedeuten. Mit dieser semantischen Ambivalenz
steht die schwankende Bewertung des Vertrauens in engem Zusam-
menhang. Vertrauen ist ja stets auf ein Gegenüber angewiesen, wel-
ches es rechtfertigt bzw. in Frage stellt. Die Beziehung des Vertrauens
zu dem Vertrauten, die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Po-
len, die sich in der semantischen Ambivalenz des einen Terminus
ausdrückt, ermöglicht auch die ambivalente Bewertung dieser Bezie-
hung.« 133 (2) Hauptbedeutungen. »1. Treue, Zuverlässigkeit, Red-
lichkeit, Glauben; 2. was Vertrauen erweckt, Beweis, Zusicherung,
Bürgschaft, Unterpfand der Treue«. 134 (3) Wirkung. Den Sterblichen
wohnt kein wahres Vertrauen inne, »which comprise no genuine con-
viction«, 135 οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής (°B 8.28). Übersetzung. Gibt man
βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής (B 1.30), wieder mit »die
Meinungen der Sterblichen, in denen kein wahrer Beweis ist«, 136 geht
der Begriff des Vertrauens verloren.
ἀληθής: °B 1.29; °III.9.α.

B 1.31
μαθήσεαι: μανθάνειν »seinen Sinn auf etwas richten, 1. lernen,
2. kennen lernen, erfahren, vernehmen, hören, einsehen, sich gewöh-
nen«. 137 Zu μανθάνειν, »lernen«, gehört nicht nur die Aufnahme des

131 Beaufret 1973, 58. »Das Leben der δοκοῦντα ist ganz frei von Ur-Sünde. Diese
Welt des Scheins ist doch keine Scheinwelt« (Beaufret 1976, 69 f.).
132 Frisk II, 488.

133 Wolfram 2010, 106. Für den parmenideischen Begriff der πίστις ist dieser Aufsatz

von grundlegender Bedeutung.


134 Gemoll 607.

135 Coxon 2009, 54 und 284.

136 Gemelli II, 13; ähnlich »die Eindrücke der Menschen, die ohne evidenten Beweis

sind« (Heitsch 1974 13). – Besser: »das Scheinwesen menschlicher Setzung, die da
ohne Verlaß ist« (Riezler 2001, 27).
137
Gemoll 483 f.

89
Text · Übersetzung

Wissens, sondern die Aneignung dessen, was gelernt werden soll, »so
daß das μανθάνειν im ›Können‹ wurzelt«. 138
τὰ δοκοῦντα: δοκεῖν 1. transitiv = »die Meinung annehmen,
meinen, glauben, wähnen, dafür halten«, 2. intransitiv = »den An-
schein haben, gelten, sich den Anschein geben«. 139 Diese zweifache
Valenz erlaubt es nicht, δοκεῖν auf »bloße Erscheinung« festzulegen
und daraus auf den Gegensatz von »Sein« und »Schein« zu schließen;
τὰ δοκοῦντα, »das, was erscheint«, kann alles bedeuten, was jemand
»annimmt« (δοκεῖν ist mit δέχεσθαι, »etwas annehmen, hinneh-
men« verwandt). 140 ▶ Unter Berücksichtigung der verschiedenen As-
pekte (°III.8.a.i) schlage ich vor: »das, was erscheint«: Alles, was ist,
erscheint (noch nicht platonisch interpretiert); dies gehört notwendig
zu jedem Seienden. Darunter gibt es auch jenes Erscheinen, das »wie
gute Münze angenommen wird«, 141 aufgrund dieses Anscheins von
Seriosität aber darüber hinwegtäuscht, dass es sich nur um Schein
handelt.
Besondere – und für die weitere Interpretation wichtige – Auf-
merksamkeit widmet Panagiotis Thanassas der besonderen Bedeu-
tung von τὰ δοκοῦντα. (III.9.a.i). 142

B 1.32
χρῆν: Das Imperfekt χρῆν drückt wie χρεών (B 2.5, B 8.15; vernei-
nend B 8.15; °III.6.f) die unabänderliche Notwendigkeit aus. »Wir
müssen, glaube ich, χρῆν δοκιμῶσαι (d. i. δοκιμάσαι) im genauen
Wortsinne nehmen und χρῆν mit dem Infinitiv bedeutet ›sollten ha-
ben‹. Das natürlichste Subjekt für den Infinitiv ist in diesem Falle
βροτούς, während εἶναι von δοκιμῶσαι abhängen und δοκοῦντα
zum Subjekt haben muß. Die Auffassung dieser Worte wird bestätigt
durch fr. 8, 54, τῶν μίαν οὐ χρεών ἐστιν {…}«. 143
δοκίμως: δόκιμος »erprobt, bewährt, tadellos«; von Münzen
»gangbar, gut; bewährt, echt« 144 (δοκίμως wie δόκιμος, »ange-

138 Snell 1924, 73.


139 Gemoll 223.
140 Gemoll 190.

141 Pape 1, 654.

142 Thanassas 1997, 36.

143 Burnet 1913, 170 .


1
144
Schmidt HW 188; »annehmlich, was wie gute Münze angenommen wird« (Pape 1,
654). »{…} mit dem Amte eines treuen Wardeins {d. h. eines Münzprüfers} ver-
glichen, der die Münzen auf Schrot und Korn prüft (δοκιμῶσαι)« (Diels 2003, 63).

90
B1

sehen«). 145 »how the appearances had to be real (for mortals)« 146 – »in
poetry and prose from Heraclitus onwards, is ›acceptable‹ or ›accep-
ted‹ and hence, notable, reliable«. 147 In Ansehen stehend: Zum Schein
gehört es, dass er sich als solcher verbirgt und damit das Ansehen
geben kann, wahr zu sein.
διὰ παντὸς πάντα: Die δόξα ist ausnahmslos überall; erst die
Göttin wird die Täuschung aufdecken (°III.8.a); »immerfort«: 148 »Pa-
rechesis der Formen von πᾶς {…} prosaische Rhetorik« 149 (°B 4.3
πάντῃ πάντως, B 16.4 καὶ πᾶσιν καὶ παντί), »characteristic of P.« 150
– »epexegetic of ὡς and δοκίμως« 151 – »ranging through all things
from end to end«; 152 »überall hindurch«, 153 ▶ »durch alles hindurch«.
περῶντα: Zwei Lesarten: 1. περῶντα »durchdringt«; 154 2. περ
ὄντα Simplikios, »alle ja doch durchaus seiend«; 155 »δοκίμως sind
die δοκοῦντα nur, sofern sie sind«. 156 »{…} the combination with πε-
ρῶντα is odd and strained in itself, but also incongruous in the con-
text of Parmenides’ argument. {…} So we should no longer hesitate to
spell περ ὄντα – which is the better attested reading anyway.« 157
Trotz guter Gründe für περ ὄντα spricht mehr für ▶ περῶντα, 158
»durchdringt«.

145 Vgl. Herodot I 65: Λυκούργου τῶν Σπαρτιητέων δοκίμου ἀνδρὸς ἐλθόντος ἐς

Δελφοὺς ἐπὶ τὸ χρηστήριον {…}. »Als Lykourgos, ein angesehener Spartiat, nach
Delphi kam, um das Orakel zu befragen {…}« (Herodot 2001, 46).
146 Tarán 1965, 214.

147
Coxon 2009, 285.
148 Schmidt HW 590.

149
Diels 2003, 60. S. a. Di Giuseppe 2011, 73.
150 Coxon 2009, 285.

151 Mourelatos 2008, 215.

152 Coxon 2009, 285.

153 Becker 1937, 103.

154 »ganz und gar durchdringt« DK I, 230.

155 Thanassas 1997, 50 – versteht den »Text als den einzig möglichen« ebd. 39.

156
Thanassas 1997, 41.
157 Mourelatos 2008, 214.

158
Auch gegen Thanassas 1997, 37, und mit Fleischer 2001, 149–151.

91
Text · Übersetzung

B2

1 εἰ δ’ ἄγ’ ἐγὼν ἐρέω, κόμισαι Wohlan denn, ich werde reden, höre
δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας, du aber den Mythos und eigne ihn
an,
2 αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός welche als einzige Wege des Suchens
εἰσι νοῆσαι· nämlich zu denken sind:
3 ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς der eine: dass es ist und dass es nicht
οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, sein kann, dass es nicht ist –
4 πειθοῦς ἐστι κέλευθος er ist des Vertrauens Pfad (folgt er
(Ἀληθείῃ γὰρ ὀπηδεῖ), der Wahrheit doch);
5 ἡ δ’ ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς der andere: dass es nicht ist sowohl
χρεών ἐστι μὴ εἶναι, und dass Notwendigkeit besteht,
dass es nicht ist,
6 τὴν δή τοι φράζω παναπευ- bezogen auf diesen Fußsteig zeige
θέα ἔμμεν ἀταρπόν· ich freilich, dass er ganz richtungslos
ist.
7 οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ Denn du könntest das Nichtseiende
ἐὸν (οὐ γὰρ ἀνυστόν) nicht erkennen (nicht ist es ja zu er-
reichen),
8 οὔτε φράσαις. noch könntest du es erklären.

B 2.1
κόμισαι: κομίζω »sorgen, pflegen, warten, erhalten, retten«; 159 »da-
vontragen« (Homer): Das Wort der Göttin soll wie das Gold, das sich
Achilles aneignet, als Beute davongetragen werden; nicht viel anders
steht es mit der Aneignung des Mythos durch den, der sich mit gan-
zer Kraft um ihn »sorgt«, d. h. ihn nicht bloß hört, sondern ihm folgt,
u. zw. auf dem einzig möglichen Weg. 160
μῦθον ἀκούσας: μῦθον ἀκούειν »ein Wort, eine Rede, das Ge-
sagte hören«. 161 ▶ »Mythos« wörtlich: Betont wird dadurch, dass

159 Gemoll 446 s. v. κομίζω mit Hinweis auf κομέω »besorgen, pflegen, warten«.
160
χρυσὸν δ’ Ἀχιλεὺς ἐκόμισσε δαΐφρων; »und das Gold trug Achilleus davon, der
kampfgesinnte« (Homer Il. 2, 875; Homer 1975, 45).
161
Homer Od. 11, 561.

92
B2

auch die Göttin einen Mythos erzählt, wenn auch einen im Gegensatz
zur Überlieferung (°III.2.b).

B 2.2
διζήσιος: δίζησις »Suchen, Untersuchung« = besser als »For-
schung«, 162 da weniger durch Vorgaben der neuzeitlichen Philosophie
belastet; entspricht auch der Aufforderung der Göttin, der Kuros solle
den Weg selbst suchen (°B 6.3, °B 7.2, °B 8.6).

B 2.3
ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι: (1) Beispiele für »Sein« als
Subjekt: »dass IST ist«; 163 »daß ›es ist‹«; 164 »daß (etwas) ist«; 165
»exists«; 166 »that a thing is«; 167 »dass es ›ist‹«. 168 Die Übersetzungen
deuten teilweise schon im Schriftbild auf die Schwierigkeiten der
Wiedergabe hin. Einige wie Coxon beziehen sich auf Seiendes (Höl-
scher 2014, Coxon 2009), andere, darunter DK, Tarán und Gemelli,
meinen wohl (was allerdings nicht völlig klar ist) das Sein. (2) ἔστιν:
Dreifacher existentialer und nicht-kopulativer Gebrauch: »Posses-
sive: ἔστι μοι χρήματα ›I have money‹ | Potential: ἔστι + infinitive
›It is possible, permissible (to do so-and-so)‹ | Veridical: ἔστι ταῦτα,
ἔστι οὕτω ›That is so.‹« 169 ὅπως ἔστιν: »dass es möglich ist«. Der
andere Weg (der in Wahrheit keiner ist, °III.5.a) kann überhaupt
nicht erreicht werden (°B 2.6).

B 2.4
πειθοῦς: DK = Πειθοῦς ▶ Πειθώ als Göttin. 170 In Analogie zu
πίστις ἀληθής (B 1.30, B 8.28) besteht kein Anlass, eine Gottheit

162 Lat. scrutator, »Durchsucher, Untersucher«, Verbum scrutor »umwühlend durch-


suchen, durchstöbern, durchwühlen«, bildlich »nachforschen, durchforschen, unter-
suchen« (Georges 2, 2548).
163 DK I, 231.

164
Bormann 1971, 33.
165 Hölscher 2014, 9.

166 Tarán 1965, 32.

167 Coxon 2009, 56.

168 Gemelli II, 15.

169 Kahn 1973, 228.

170 »›Überredung‹, (bes. die Erotik betreffende Göttin); Tochter des Okeanos {…}. P.

auch mit anderen Gottheiten verbunden (Aphrodite, Artemis). Verbindung mit


Ananke, vgl. Hdt. 8, 111 (δύο θεοὺς μεγάλους Π. τε καὶ Ἀνάγκην) u. Spätere« (KP
4, 591; W. P.).

93
Text · Übersetzung

ins Spiel zu bringen. ▶ Deshalb »Vertrauen« (°B 1.30, °B 8.12,


°B 8.28, °B 8.50).
κέλευθος: »Das Wort κέλευθος wird etymologisch zusammen-
gestellt mit κέλης, κελεύω, κέλλω, vgl. lat. celer, excello. Diese Worte
ordnen sich unter die Grundbedeutung ›treiben‹, ›in rasche Bewe-
gung versetzen‹. Typisches Objekt für dieses Tun ist das Tier {…},
das Pferd. Das ist kein bloßes Befehlen und Zurufen, sondern ein
richtiges Treiben mit der Peitsche, das die Pferde kräftig zum Laufen
bringt.« 171 Passt auch zu ἵπποι (B 1.1) und ἅρμα (B 1.5).
ὀπηδεῖ: ὀπαδέω (ep. und ion. ὀπηδέω) = »das Geleit geben, mit-
gehen, folgen«. 172

B 2.6
παναπευθέα: παναπευθής »utterly inscrutable«. 173 »The way of οὐκ
ἔστιν (fr. 8, 16) is called ἀνόητον ἀνώνυμον, which corresponds to
οὔτε … ἂν γνοίης … οὔτε φράσαις (fr. 2, 7–8), and also to οὐ …
ἀληθής … ὁδός, to which correponds παναπειθέα or παναπευθέα
ἀταρπον (fr. 2, 6).« Dieser Fußsteig ist aber nicht nur unerforschlich,
sondern überhaupt ▶ richtungslos: ἄ-ταρπος (ion. ἄτραπος) ▶ τρέ-
πω = »eine Richtung geben, hinwenden, lenken. 174

B 2.7
ἀνυστόν: »das ist ja unausführbar«, 175 »denn das ist nicht durchführ-
bar«, 176 »for it is impossible«. 177 Mourelatos: »The context requires
that the parenthetic γάρ-sentence should provide an explanation of
the impossibility of knowing what-is-not, not a reiteration of that
impossibility.« 178 Wiesner: »denn das ist unmöglich« als Ausdruck
der »Zwangsläufigkeit«, negativ; positives Gegenstück χρή: 179 »es ist
doch nicht durchführbar«. Anaxagoras: οὐ γὰρ ἀνυστόν πάντων

171
Becker 1937, 7. »Als menschliches Fortbewegungsmittel wird das S c h i f f sehr oft
unter dem Bilde des Pferdes oder besser Gespanns (Wagens) gesehen. So hat denn das
fahrende Schiff seinen κέλευθος, den es durcheilt {…}« (Becker 1937, 9). Gegen den
Zusammenhang mit κελεύω: Pape 1, 1414.
172 Pape 2, 355.

173 LSJ 1296.

174 Gemoll 746.

175 DK I, 231.

176 Bormann 1971, 33.

177
Coxon 2009, 56.
178 Mourelatos 2012, 23 .
36
179
»In negativer und positiver Entsprechung stehen sich hier οὐ ἀνυστόν und χρή

94
B3

πλείω εἶναι. 180 ἀνύειν ὁδόν = »einen Weg vollenden, erreichen« –


ein Wortspiel mit ἀνυστόν? ▶ ἀνυστόν = »erreichbar« ergibt sich
aus der Richtungslosigkeit von ἀταρπός (▶ ἀμηχανίη °B 6.5).

B 2.8
φράσαις: »erklären« setzt »erkennen« voraus, um als Mitteilung
möglich zu sein. Ähnlich wie B 2.7–8 (οὔτε γνοίης – οὔτε φράσαις)
argumentiert Gorgias von Leontinoi indirekt gegen Parmenides. In
Περὶ τοῦ μὴ ὄντος ἢ Περὶ φύσεως verneint er das ὄν in dreierlei
Hinsicht – als solches, hinsichtlich seiner Erkennbarkeit und hinsicht-
lich der Möglichkeit, es mitzuteilen: ἕν μὲν καὶ πρῶτον ὅτι οὐδὲν
ἔστιν, δεύτερον ὅτι εἰ καὶ ἔστιν, ἀκατάληπτον ἀνθρώπῳ, τρίτον
ὅτι εἰ καὶ καταληπτόν, ἀλλὰ τοί γε ἀνέξοιστον καὶ ἀνερμήνευτον
τῷ πέλας. 181

B3

… τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ … das Selbe nämlich ist Denken
εἶναι. sowohl als auch Sein.

γὰρ: Es ist plausibel, in B 3 die Fortsetzung von B 2 zu sehen. 182 Denn


B 2.7–8 zufolge scheitert jede Erkenntnis oder Erklärung des Nicht-
seienden, und B 3 begründet dies (γάρ). Einwand: νοῆσαι, B 2.2, und
νοεῖν, B 3, können nicht gleichgesetzt werden: »{…} it is not at all
necessary to give to νοεῖν ἐστιν the same meaning as to εἰσι νοῆσαι
in frag. 2, 2. If frag. 3 contained the statement ›Only of that which is
can be thought,‹ it would mean, ›Only of that which is, is knowledge
possible.‹ Then ›can be thought‹ would have the meaning ›can be
known by thinking‹. In frag. 2, 2, however, νοεῖν has a different
meaning, viz. ›conceiving, imagining‹. If, then, the word νοεῖν in

zum Ausdruck der Unmöglichkeit und Notwendigkeit gegenüber« (Wiesner 1996,


48).
180 DK 59 B 5.

181 82 B 3; Gorgias 1989, 42–63. – °IV.3.

182 In Erweiterung dieser Zuordnung: »Daß es dem Fragment 8 vorangegangen sein

muß, wird allgemein angenommen« (Fleischer 2001, 58). – Wohl nur wenige Autoren
dürften Gadamer folgen: »Inzwischen hat mich Mansonner überzeugt, daß Fragment
3 überhaupt kein Parmenides-Zitat ist, sondern eine von Platon selbst stammende
Formulierung {…}« (Gadamer 1996, 154). Mit dem fälschlich als »Mansonner« Zitier-
ten bezieht sich Gadamer auf A. Marsoner: La struttura del Proemio di Parmenide, in:
Annali dell’Istituto Italiano per gli Studi Storici 5 [1976–78] 127–181.

95
Text · Übersetzung

these two passages is used in a different sense, this is, indeed, an


argument against Zeller’s interpretation of νοεῖν ἐστιν.« 183 ▶ B 3
setzt B 2 fort, 1. wegen der Begründung mit γάρ und 2. weil dadurch
B 3 besser verständlich wird.
αὐτὸ: Das Selbe, τὸ αὐτό, und das Gleiche, τὸ ὅμοιον, unterschei-
den sich dadurch, dass αὐτό die Identität einer Sache mit sich selbst
meint, ὅμοιον die Beziehung einer Sache auf eine andere mit einem
tertium comparationis. Z. B. gleichen einander mehrere Menschen
hinsichtlich bestimmter Auffassungen, sie sind dann οἱ ὅμοιοι »Leute
ihresgleichen«. 184 Dagegen ist jeder als solcher mit sich identisch. 185
Das Verhältnis von νοεῖν und εἶναι ist reziprok (τε … καὶ); in diesem
Wechselverhältnis kommt dem εἶναι der Vorrang zu (°III.3.a–c). 186
νοεῖν: Man kann νοεῖν mit »gewahren« übersetzen; Vorteil: Der
philosophisch vorbelastete Terminus »denken« wird vermieden. 187
▶ Bei entsprechender Erklärung ist auch »denken« möglich; zudem
tritt dadurch der sprachliche Zusammenhang von νοεῖν, »denken«,
und νόημα, »Gedanke«, hervor (°B 8.34, °III.3).
τε καὶ: »sowohl – als auch«; °III.3.c.

183 Verdenius 1964, 34.


184 Gemoll 541. – »Zum Wesen der Gleichheit gehört Selbigkeit. Gleichheit ist eine
Selbigkeit von Verschiedenem« (Heidegger GA 88, 182). »Zur Selbigkeit bedarf es
nicht verschiedener ›Dinge‹, nicht mehrerer sondern je nur eines; jedes ist (als es
›selbst‹) das selbe« (Heidegger GA 88, 184).
185
Entsprechend sagt Platon im Sophistes mit Bezug auf die obersten Seinsbestim-
mungen, was verschieden sei, sei stets in Beziehung auf ein anderes verschieden,
ἕτερον ἀεὶ πρὸς ἕτερον, für sich selbst aber dasselbe, αὐτὸ δ’ ἑαυτῷ ταὐτόν (Platon
Sph. 255 d und 254 d).
186 Drei Möglichkeiten sind auszuschließen, eine Interpretation bleibt übrig: »Man

kann die Bedeutung ›das Subjekt des Denkens ist mit dem Subjekt des Seins identisch‹
ohne weiteres ausschließen. Dann dächte ja das Seiende selbst, es wäre ein Νοῦς, ein
Geist. Daß das Seiende ein Geist sei, erhellt aber sonst nirgendwo aus dem Lehr-
gedicht. {…} Auch die Umkehrung jener Bedeutung, ›das Denkende ist mit dem Sei-
enden identisch‹, scheidet aus. {…} Wir können weiter noch die Auffassung eliminie-
ren, laut der im Fr. 3 eine monolithische Identität von Sein und Denken gemeint sei.
Denn das Denken des Parmenides ist nicht monistisch in dem Sinne, wie schon erhellt
aus den vielen (πολλά, Fr. 8.2) Kennzeichen, welche im Fr. 8 am Seienden unterschie-
den werden {…}. Das einzig Übrigbleibende ist mithin, daß der Gegenstand des Den-
kens zugleich Subjekt des Seins ist« (Mansfeld 1964, 67).
187 Eine solche Übersetzung findet sich nur bei zwei Autoren: »Dies Selbige nämlich

ist Gewahren wie auch Sein« (Padrutt 1991, 645; s. a. Padrutt 2002, 133 f.). – »Die
Bedeutung des ›Gewahrens‹ für den Gedanken des Parmenides« (Buchheim 1994,
108–115).

96
B4

εἶναι: Das Wort kommt in den FF mit mehr oder weniger weit
gestreuten Bedeutungen neunmal vor 188 (°III.3.b).

B4

1 λεῦσσε δ’ ὅμως ἀπεόντα νόῳ Schau’ auf das Seiende, obgleich es


παρεόντα βεβαίως· abwesend ist: Für das geistige Auge
ist es da auf zuverlässige Weise.
2 οὐ γὰρ ἀποτμήξει τὸ ἐὸν τοῦ Denn nicht wird es trennen das Sei-
ἐόντος ἔχεσθαι ende vom Zusammenhang mit dem
Seienden,
3 οὔτε σκινδνάμενον πάντῃ nicht, wenn es sich überall ganz und
πάντως κατὰ κόσμον gar in die Welt hin verteilt,
4 οὔτε συνιστάμενον. noch, indem sich’s verdichtet.

B 4.1
λεύσσε: »Etymologisch gehört es {λεύσσειν} zu λευκός, glänzend,
weiß, und so beziehen sich von den vier Beispielen der Ilias, wo das
Wort ein Akkusativobjekt bei sich hat, drei auf Feuer und glänzende
Waffen. Da ist es also: etwas Helles schauen. Außerdem heißt es: in
die Weite schauen. Das Wort hat also einen Klang wie das deutsche
Wort ›schauen‹ in Goethes Vers: ›Zum Sehen geboren, zum Schauen
bestellt‹. Es ist ein stolzes, freudiges, freies Sehen.« 189 Das λεύσσειν
wirft »Licht auf den bisher noch nie erprobten Ansatz eines Den-
kers«. 190 Ähnlich »Intuition«, »Kontemplation« und »Wesensschau«
(°III.4). Unterschiedlicher Wortgebrauch: »Im Prooimion meint das
Verb ἀπεῖναι räumliches Entferntsein von Dingen, wogegen das
Verb παρεῖναι an keiner weiteren Stelle des Lehrgedichtes exis-
tiert.« 191 Die Aufgabe des Kuros besteht darin, »die Paradoxie der

188 B 1.32, B 2.3, B 2.5, B 3, B 6.1, B 6.8 mit syn. πέλειν, B 7.1, B 8.32, B 8.39.
189 Snell 2000, 15. – »Es ist mehrfach gesagt worden, daß Sehen nicht nur der Zugang
der Griechen zu ihrer Welt war, sondern daß ihr Verstehen der Welt sich am Akt des
Sehens orientierte. Man kann diese These noch verschärfen durch die Einschränkung,
daß es das ruhende Sehen und das Sehen des ruhenden Gegebenen war, dem die
Griechen den höchsten Rang einräumten« (Blumenberg 1971, 38).
190 Gadamer 1996, 155.

191
Stemich 2008, 182.

97
Text · Übersetzung

ab- oder anwesenden Vielheit in seiner Wahrnehmung mit einer be-


sonderen Art der Schau zu überwinden.« 192
ὅμως: Zwei Lesarten: (1) ὅμως, »gleichwohl, dennoch«, (2) ὁμῶς,
»gleicherweise«. Tarán bezieht sich auf Hölscher und Untersteiner,
die beide ὁμῶς lesen, dem Wort aber unterschiedliche Bedeutung ge-
ben. Hölscher vereint νοῦς mit ἀπεόντα und παρεόντα; dies würde
aber bedeuten, dass Parmenides der Auffassung ist, dass für den Geist
die Dinge abwesend sind, und damit B 4.2 widersprechen. Unterstei-
ner versteht ὁμῶς als ὁμοίως = »ähnlich«, für Tarán ist dies un-
nötig. 193 Mit anderer Begründung Coxon: »In P. here the word quali-
fies ἀπεόντα adversatively, ›in spite of their being absent‹, and it is
best to follow the ms. of Clement in giving it the normal fifth century
accent.« 194 Meijer: »The word ὅμως does not occur in Parmenides, but
ὁμῶς ist not unpopular.« 195 Seiendes ist zwar abwesend, lässt sich aber
»gleichwohl« durch ein λεύσσειν erfassen; An- und Abwesendes sind
»gleicherweise« ἐόντα. Doch (2) nivelliert die Differenz zwischen
An- und Abwesendem, daher ▶ (1) = »gleichwohl, dennoch«.
νόῳ: Eine adäquate Wiedergabe von νοῦς ist aufgrund der Streu-
ung des philosophischen Kontextes nur schwer möglich: »Denken«, 196
»Geist«, 197 »Vernunft«, »Erkennen«, »Verstehen«, 198 »Verständ-
nis«, 199 »Gewahrsein«, 200 »mind«, 201 »intellect«, 202 auch unüber-
setzt. 203 Nach Marcinkowska-Rosół kommt »νόος explizit nur ein-
mal«, »Geist« bei DK jedoch »an drei Stellen« vor, außerdem ist
diese Übersetzung »nicht die einzig mögliche«, und es handelt sich
um »eine über das Sprachliche hinausgehende Dimension«. 204 – Die
Übersetzung mit »Geist« setzt πνεῦμα voraus, doch kommt dieses

192 Stemich 2008, 183.


193 Tarán 1965, 45.
194
Coxon 2009, 306.
195 Meijer 1997, 76.

196
Bormann 1971, 35.
197 Gemelli II, 15; Hölscher 2014, 37; Kirk & al. 1994, 288.

198 Heitsch 1974, 19 und 146.

199 Mansfeld 1995, 9.

200 Padrutt 1991, 113; Buchheim 1994, 108 ff.

201 Tarán 1965, 45.

202 Cordero 2004, 192.

203
»Nous«: Riezler 27; Thanassas 1997, 277; Unterschied zwischen göttlichem und
menschlichem νοῦς: Mansfeld 1964, 6 f.
204
Marcinkowska-Rosół 2010, 205 (Kommentar dazu 206–215).

98
B4

Wort bei Parmenides nicht vor. 205 Um die Zusammengehörigeit von


νόος und νόημα auch im Deutschen zu erhalten, übersetzt Schmitz
»der Bemerk« und »die Bemerkung«. 206 Klemens von Alexandrien
schickt dem Parmenides-Zitat einen Vers des Empedokles voraus
und sagt, »daß man Immaterielles wie die Objekte der Hoffnung
und des Glaubens, das Gerechte und das Schöne sowie die Wahrheit
nicht mit den Augen (τοῖς ὀφθαλμοῖς), sondern nur mit dem geisti-
gen Auge (τῷ νῷ) sehe. Der Empedoklesvers stimmt deshalb zu dieser
Deutung, weil sich ἣν bzw. τήν im Originaltext auf φιλότης (V. 20)
als geistige Kraft bezieht und der Gegensatz von geistigem und sinn-
lichem Sehen (νόῳ – ὀφθαλμοῖς) in V. 21 ausdrücklich thematisiert
ist.« 207 ▶ Daher Umschreibung von νόῳ = »für das geistige Auge«. 208
ἀπεόντα – παρεόντα: »May be interpreted in spatial or in tem-
poral sense.« 209 Zeitlich: Klemens, der das Zitat bringt, fügt als Be-
gründung hinzu, »weil auch der Hoffende wie der Glaubende mit
Hilfe des νοῦς das Denkbare und das Zukünftige sieht« (ὁρᾷ τὰ νοη-
τὰ καὶ τὰ μέλλοντα). 210
βεβαίως: »βεβαίως [›steadily‹]: this is the earliest extant occur-
rence of any form of this word.« 211 »Das βεβαίως hebe ich deshalb
mit Nachdruck hervor, weil es im Lehrgedicht vielfach in Erinnerung
gerufen wird, daß stets erneut die Gefahr besteht, von dem zur Wahr-
heit führenden Weg abzukommen und sich von dem Anschein ver-
locken zu lassen, wonach etwas dann, wenn es eben in Erscheinung
tritt, vorher nicht existiert hat.« 212 Dies betrifft grundsätzlich die Ge-
gensatzspannung von ἀ-λήθεια und δόξα (°III.9.a; °III.5.b).

205 In der milesischen Kosmologie bedeutet πνεῦμα »Luft«, »Atem«, »Wind« sowie

»Hauch«, eine Metapher für »Seele« (DK III, 358 f.). – »Geist« findet sich zwar schon
bei den frühen Griechen, fungiert aber als Grundwort erst in der Bibel (Bauer 1338–
1347, s. v. πνεῦμα, πνευματικός, πνευματικῶς).
206
Schmitz 1988, 65. Zur Kritik an dessen Auslegung Wiesner 1996, 238 ff.
207 Wiesner 1996, 241 f. Empedokles: τὴν σὺ νόῳ δέρκευ, μηδ’ ὄμμασιν ἧσο τεθη-

πώς (31 B 17.21). »Sie {Φιλότης, die Liebe} betrachte mit deinem Geiste (und sitze
nicht da mit den Augen verwundert)« (DK I, 317).
208 Schon Diels hat zuerst »durch des Geistes Auge« (Diels 2003, 33), ändert aber

dann auf »mit dem Geist« (DK I, 232).


209 Tarán 1965, 46.

210
DK I, 232.
211 Coxon 2009, 306.

212
Gadamer 1996, 156.

99
Text · Übersetzung

B 4.2
ἀποτμήξει: ἀποτέμνω »abschneiden«. Theophrast sieht darin einen
methodischen Schritt des Parmenides, 213 doch geht die ontologische
Bedeutung darüber hinaus: Das λεύσσειν schneidet das Seiende nicht
auseinander, trennt also nicht An- und Abwesendes, sondern erblickt
dieses in jenem (°III.4.a). Wenn das ἐόν zweimal genannt wird, ist
damit nicht dessen ontologische Verdoppelung gemeint (An- plus
Abwesendes – dies widerspräche all seinen Bestimmungen), sondern
der Ausschluß der Sicht der βροτοί, die – unfähig zum λεύσσειν –
An- und Abwesendes trennen.

B 4.3
σκιδνάμενον: σκίδναμαι »sich verbreiten, ausbreiten, sich nach
mehreren Seiten hin vertheilen, zerstreuen«. 214 Das Wort kommt
bei den VS nur noch bei Heraklit 22 B 91 vor. 215
Die Verse B 4.3–4 zeigen zwei Folgen des ἀποτέμνειν auf; in
beiden Fällen ist an Heraklit zu denken. Die θνητὴ οὐσία, die ver-
gängliche Substanz, verstreut sich bei ihrer Bewegung (μεταβολή)
und sammelt sich wieder, σκίδνησι καὶ πάλιν συνάγει (22 B 91).
Ähnlich sagt Parmenides, dass sich das Seiende »überall ganz und
gar hin in die Welt verteilt«.
κατὰ κόσμον: Parmenides hat B 4.3 κατὰ κόσμον und B 8.52
κόσμον, nicht aber den Nominativ κόσμος. Übersetzungen: »nach
der Ordnung«, 216 »gemäß der Ordnung«, 217 »von seinem Zusammen-
hang«, 218 »›in regular order‹, as in Homer«. 219 »The difficulty of this

213 Zit. Coxon 2009, 143.


214 Pape 2, 898.
215 »Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen nach Heraklit und nicht

zweimal eine ihrer Beschaffenheit nach identische vergängliche Substanz berühren,


sondern durch das Ungestüm und die Schnelligkeit ihrer Umwandlung zerstreut sie
sich und sammelt sich wiederum und naht sich und entfernt sich«, σκίδνησι καὶ
π ά λ ι ν σ υ ν ά γ ε ι (μᾶλλον δὲ οὐδὲ πάλιν οὐδ’ ὕστερον, ἀλλ’ ἅμα συνίσταται
καὶ ἀπολείπει) κ α ὶ π ρ ό σ ε ι σ ι κ α ὶ ἄ π ε ι σ ι (DK I, 171).
216 DK I, 232. Dies entspricht auch dem sprachlichen Befund. »Die Wurzel ked – oder

mit indogermanischem Ablauf kod – bedeutet ›ordnen‹, ›anordnen‹, κόσμος, entstan-


den aus *κοδσμος, ›gefügte Ordnung‹, und dieses Wort mit seinen Derivaten ist im
Griechischen bereits sehr früh gebraucht worden vom Anordnen in Heeres- oder
Staatsgemeinschaft, also zum Ausdruck einer zweckvollen menschlichen Ordnung«
(Kranz 1958, 8).
217
Heitsch 1974, 19.
218 Mansfeld 1981, 9.

219
Coxon 2009, 308.

100
B5

interpretation is that κόσμος appears {…} to be the ›order‹ (or the


law) of Parmenides’ own Being. But for Parmenides the law of Being
prevents it from being dispersed or coming together.« 220 ▶ Die Über-
setzung mit »Welt« zielt ab auf σκιδνάμενον B 4.3 und συνιστάμε-
νον B 4.4.

B 4.4
συνιστάμενον: Durch Verdickung und Zusammenziehung der Luft
sind Wasser und Erde entstanden: τὸ πᾶν ἐστι ὁ ἀήρ, καὶ οὗτος
πυκνούμενος καὶ συνιστάμενος ὕδωρ καὶ γῆ γίνεται. 221 Wenn Par-
menides B 4.4 sagt, dass das Seiende von seinem Halt an das Seiende
nicht zu trennen ist, »indem sich’s verdichtet«, bezieht er sich auf
Anaximenes. Dieser »stellt die Luft als eine göttliche Kraft dar, die
das Weltgeschehen von Anfang an bestimmt und leitet. Alles, was
wird, was wurde und was sein wird, Götter und göttliche Dinge und
alles Übrige, entstünden aus ihr. Ihre wichtigste Eigenschaft ist die
Fähigkeit, sich zu verwandeln, d. h. beliebig dünn bzw. dicht zu wer-
den (2 C). Bei der ersten Verdichtung der Luft ist die Erde entstan-
den {…}«, 222 also ▶ »indem sich’s verdichtet«.

B5

1 ξυνὸν δέ μοί ἐστιν, Es macht für mich keinen Unter-


schied,
2 ὁππόθεν ἄρξωμαι· τόθι γὰρ wo ich anfangen werde: Dort näm-
πάλιν ἵξομαι αὖθις. lich werde ich wiederum hinkom-
men.

B 5.1
ξυνὸν: Der Wortgebrauch von ξυνόν, »indifferent«, ist ungewöhn-
lich, »preserved only by Proclus«: 223 »Es ist einerlei, wo man mit
dem Ἐόν beginnt.« 224 »Es ist für mich das Gleiche«. 225 »Per me indif-

220 Tarán 1965, 47.


221 Anaximenes 13 A 8.
222 Gemelli I, 87.
223
Tarán 1965, 51.
224 Diels 2003, 67.
225
Hölscher 2014, 9.

101
Text · Übersetzung

ferente«. 226 »ξυνόν dit unité ontologique«. 227 Auch könnte es einen
Bezug zu Heraklit geben, 228 auch finden sich Parallelen zu Hippokra-
tes. 229 Dass es einerlei ist, wohin man zurückkehrt, »bekräftigt offen-
sichtlich die Homogenität, die Einheitlichkeit des seienden ›Seins‹,
ein Thema, das später {…} erneut aufgegriffen wird«. 230

B 5.2
ἄρξωμαι – ἵξομαι: Melissos führt den Gedanken der Anfanglosigkeit
weiter: ὅτε τοίνυν οὐκ ἐγένετο, ἔστι τε καὶ ἀεὶ ἔσται καὶ ἀρχὴν
οὐκ ἔχει οὐδὲ τελευτήν, ἀλλ’ ἄπειρον ἐστιν (30 B 2). »Weil es nun
also nicht entstanden ist, so ist es und war immerdar und wird im-
merdar sein und hat keinen Anfang und auch kein Ende, sondern ist
unendlich.« 231 Das ὁππόθεν ἄρξωμαι besagt: Es gibt keine ἀρχή, d. h.
einen letzten Ursprung (eine ἀρχή wie bei Thales das Wasser nach
Annahme des Aristoteles). Auf Xenophanes weist ἵξομαι (ἱκνέομαι
»kommen, gelangen«) hin: Zu Füßen des einen Gottes ist die obere
Grenze der Erde zu sehen – sie geht in die Luft über; τὸ κάτω δ’ ἐς
ἄπειρον ἱκνεῖται – die untere aber geht ins Grenzenlose. 232
πάλιν: Diels weist auf die Herkunft von πάλιν aus der Orphik
hin. 233 Er verbindet das Bild des Kreises mit der wohlgerundeten Ku-
gel (°B 8.43). 234 Reinhardt sieht dagegen die Kreisbewegung als Teil
der Methode: »{…} sie geht aus vom Seienden und kehrt zum Seien-
den zurück, und jeder der drei Wege, wie man es auch anfängt, führt
zum Ausgangspunkt zurück: τὸ ὂν ἔστιν.« 235
γὰρ: Das begründende γάρ, »nämlich«, bezieht sich auf ξυνόν. 236

226 Untersteiner 1958, 133.


227 Di Giuseppe 2011, 152.
228 »{…} it is possible, as Diels suggests, that the unusual use {…} of ξυνὸν for ὁμοῖον

[›alike‹] or ταὐτό [›the same‹] in the sense of ›indifferent‹ is an allusion to Heraclitus


fr. 103 {22 B 103}« (Coxon 2009, 286 f.; B 5 = Coxon F 2).
229 Coxon 2009, 287.

230
Gadamer 1996, 157 f.
231 DK I, 268 f.

232 21 B 28.

233 »Es ist bekannt, wie in der orphischen Palingenesis der κύκλος γενέσεως eschato-

logischer Terminus geworden ist« (Diels 2003, 67).


234 »Bei Parmenides begreift sich das Bild aus der ihn beherrschenden Anschauung

seines runden Weltsystems« (Diels 2003, 67).


235
Reinhardt 2012, 60. »Kreisförmigkeit der Gedankenführung« (Bormann 1971,
166, zu B 8.26–33).
236
Diels 2003, 33 (B 5 = Diels F 3).

102
B6

B6

1 χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ’ ἐὸν Not ist, dass das, was du sagst und
ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι, denkst, ein Seiendes ist; es ist näm-
lich Sein,
2 μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν· τά σ’ἐγὼ ein Nichts gibt es nicht; das heiße ich
φράζεσθαι ἄνωγα. dich zu bedenken.
3 πρώτης γάρ σ’ ἀϕ’ ὁδοῦ ταύ- So halte ich ab vom ersten Weg die-
της διζήσιος {εἴργω}, ser Forschung,
4 αὐτὰρ ἔπειτ’ ἀπὸ τῆς, ἣν δὴ hierauf von dem, den die Sterb-
βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν lichen, welche nichts wissen,
5 πλάττονται, δίκρανοι· ἀμη- erdichten, die Doppelköpfe; denn
χανίη γὰρ ἐν αὐτῶν Hilflosigkeit in ihrer
6 στήθεσιν ἰθύνει πλαγκτὸν Brust lenkt den irrenden Sinn; sie
νόον· οἱ δὲ φοροῦνται aber schleppen sich fort,
7 κωφοὶ ὁμῶς τυϕλοί τε, τεθη- taub sowohl als auch blind, Anstau-
πότες, ἄκριτα φῦλα, nen ist ihnen eigen, den verworre-
nen Scharen,
8 οἷς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ εἶ- denen das Sein wie das Nichtsein für
ναι ταὐτὸν νενόμισται dasselbe gilt
9 κοὐ ταὐτόν, πάντων δὲ πα- und nicht für dasselbe, in allem
λίντροπός ἐστι κέλευθος. wendet ihr Pfad sich zum Gegenteil.

B 6.1
Maria Marcinkowska-Rosół weist auf die Möglichkeit hin, »dass der
Satz χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ’ ἐὸν ἔμμεναι nicht den ursprünglichen
Text des Gedichtes darstellt«. 237 Unter Beiziehung anderer Arbeiten
kommt sie zu folgendem Vorschlag, der »die beiden an eine plausible
Emendation gestellten Bedingungen« erfüllt: »Erstens ist die Bedeu-
tung des Satzes χρὴ τὸ λέγεις τὸ νοεῖς τ’ ἐὸν ἔμμεναι vollkommen
klar: ›das, was du sagst und denkst, muss ein Seiendes sein‹. Zweitens
stimmt der Satz hervorragend mit der Paraphrase des Simplikios
überein: ὅπερ ἄν τις ἢ εἴπῃ ἢ νοήσῃ τὸ ὄν ἐστι: ›was man sagen
oder denken könnte, ist das Seiende‹.« 238

237 Marcinkowska-Rosół 2010, 106.


238
Marcinkowska-Rosół 2010, 109.

103
Text · Übersetzung

χρή: »es braucht«, »ist nötig«; Substantiv synonym mit ἀνάγκη,


»Notwendigkeit« (und dies mit μοῖρα °B 8.37).
τὸ λέγεις τὸ νοεῖς τ’: Zwar sind Sagen und Denken wechselsei-
tig aufeinander bezogen, doch gibt es eine Rangordnung. Es heißt
zwar, man solle zuerst denken und darnach sprechen. Hier jedoch
ergibt sich die Reihung aus dem Bezug des λέγειν zum κρῖναι δὲ
λόγῳ (B 7.5): Nicht der λόγος als Rede ist gemeint, sondern der λό-
γος als ἔλεγχος, d. h. Widerlegung als Vorbereitung der Entschei-
dung, die ihrerseits das νοεῖν ermöglicht.

B 6.4
βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν: Sind die βροτοί in B 1.30, B 6.4, B 8.39·51·61,
B 9.3, B 16.2 identisch? 239 Sie sind εἰδότες οὐδὲν, d. h. unfähig »to
recognise the possibility of a non-empirical knowledge«. 240 »Die
Menschen, wie Parmenides sie in den Versen 4–7 beschreibt, haben
kein Wissen (εἰδότες οὐδὲν), sie irren umher (πλάττονται), sind
hilflos (ἀμηχανίη), ohne feste Erkenntnis (πλαγκτὸν 241 νόον), taub
und blind (κωφοί, τυφλοί); kurz, sie sind nicht in der Lage, die Ver-
hältnisse zu durchschauen (τεθηπότες). Solche und ähnliche Wörter
dienen in der frühgriechischen Literatur dazu, die Menschen in ihrer
Stellung gegenüber den Göttern zu charakterisieren. Parmenides
übernimmt sie und charakterisiert mit ihnen die Menschen, sofern
sie im üblichen Denken und Sprechen befangen sind, und das heißt:
sofern sie noch nicht seine Einsicht und seinen Sprachgebrauch über-
nommen haben.« 242

B 6.5
πλάττονται: »{…} wie der Dialect zeigt verdorben«; trotzdem »wird
es richtig sein in dem singulären πλάσσονται die parmenideische
Form zu sehen«. 243 »πλάζονται [›stray‹]: The archetype of our mss.
of Simplicius read πλάττονται. Diels 2003 took this {…} for a Byzan-
tine correction of πλάσσονται, which he argued to be an Italian var-
iant form of the epic πλάζονται. P.’s dependence of Homer {…}
makes it in the highest degree unlikely that he used a non-epic and

239 Bormann 1971, 101.


240 Coxon 2009, 100.
241
»πλακτὸν] Nebenform zu πλαγκτὸν wie B 8, 28 ἐπλάχθησαν« (DK I, 2334).
242 Heitsch 1974, 150 f.
243
Diels 2003, 72 f.

104
B6

otherwise unattested form of a common epic verb and it may be re-


garded as certain that πλάττονται is a simple corruption of the nor-
mal epic form {…}.« 244
δίκρανοι: Bormann hört »schmähende Polemik« heraus; 245
Reinhardt ist gegenteiliger Auffassung: »Daß dieser Name keine
Schmähung sein soll, zeigen die übrigen Bezeichnungen, mit denen
er zusammen steht: κωφοὶ ὁμῶς τυφλοὶ τε, τεθηπότες. Wir sahen
bereits {…}, daß man hinter diesen Worten durchaus keine Gereizt-
heit oder persönliche Gegnerschaft zu suchen braucht, vielmehr er-
wiesen sich dieselben Worte in nicht viel späterer Literatur als übliche
und festgelegte Bezeichnungen für die rein sinnliche Erkenntnis; als
Polemik wären sie ohne Beispiel.« 246 Besonders das letzte Argument
überzeugt, ebenso die folgende Erklärung, der auch Spätere folgen. 247
Die βροτοί sind Doppelköpfe, denn sie erdichten einmal dies und
dann das – mit anderen Worten: Bald identifizieren sie Sein und
Nichtsein, bald reißen sie beide auseinander. Coxon meint, dass mit
den δίκρανοι auf eine Schlange des Mythos angespielt wird: »the
fabulous small snake called ἀμφίσβαινα {…}, which was two-headed
and dull-eyed (cf. τυφλοί, {B} 1.7) and, as its name indicates, moved
in either direction indifferently«. 248
ἀμηχανίη: ἀμηχανία »Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, Bedrängnis,
Not«, 249 »Ohnmacht«. 250 μηχανή (davon »Maschine«) ist ein Mittel,
um etwas zu bewerkstelligen. 251

B 6.6
στήθεσιν: στῆθος, »die Brust«, ist Sitz des θυμός (°B 1.1): τοῖσι δὲ
θυμὸν ἐνὶ στήθεσσιν ὄρινεν 252 und des Gedankens (°B 8.34, B 8.50,
B 16.4): οὔτε νόημα γναμπτὸν ἐνὶ στήθεσσι. 253

244 Coxon 2009, 300.


245
Bormann 1971, 37.
246 Reinhardt 2012, 68.

247
So z. B. Tarán 1965, 63.
248 Coxon 2009, 300; ἀμφίσβαινα: »kind of serpent« (LSJ 94), verwandt mit βαίνω.

249 Gemoll 41.

250 »Ohnmacht hielt unseren Mut befangen« (Homer 1958, 116); ἀμηχανίη δ’ ἔχε

θυμόν (Od. 9, 295).


251 μή, φίλα ψυχά, βίον ἀθάνατον | σπεῦδε, τὰν δ’ ἔμπρακτον ἄντλει μαχανάν.

»Kein unsterblich Leben erstrebe, mein Herz, | Doch die durchführbare Arbeit schöpfe
aus« Pindar 132/133 (P. 3, 61 f.).
252 Homer Il. 2, 142.

253
Homer Il. 24, 40 f.

105
Text · Übersetzung

πλαγκτὸν νόον: πλαγκτός »umhergetrieben, irrend« hängt mit


dem Verbum πλάζω zusammen, aktiv »von der rechten Bahn ab-
drängen«, medial »verschlagen werden, unstät herumirren«. 254 Die
Wiedergabe von νοῦς mit »Sinn« zielt nicht auf Bedeutungen wie
»Denken, geistiger Inhalt« ab, sondern auf die indoeuropäische Wur-
zel »*sent- ›eine Richtung nehmen‹«. 255

B 6.7
τεθηπότες: Mit dem Perfekt τέθηπα (θαμβέω) ist das Staunen im
Sinne bloßen Anstaunens gemeint. 256 Diese verworrenen Scharen
sind zu keiner Entscheidung (κρίσις: ἄκριτα φῦλα) imstande. Ihr
Gaffen 257 ist freilich von völlig anderer Art als jenes Staunen, von
dem Platon und Aristoteles sagen, es sei der Anfang der Philoso-
phie. 258
φῦλα: zu »φύω, eigtl. von Natur zusammengehörig und sich von
Andern nach der Art, nach dem Vaterlande od. nach der Blutsver-
wandtschaft unterscheidend«; 259 auch »Schar, Menge«. 260

B 6.8
νενόμισται: νομίζω »glauben, meinen für etw. halten«; auch »altem
Herkommen folgend«; 261 νόμος »Weideplatz«, von νέμω, »austeilen,
verteilen«, also ein Platz, der einem zugeteilt wird.

B 6.9
παλίντροπος κέλευθος: »παλίντονος und παλίντροπος sind zwei
alte Varianten. Bei den modernen Interpreten wird παλίντροπος vor-
gezogen, die in der Polemik des Parmenides {…} gegen diejenigen, die
das Sein und Nichtsein als dasselbe und wieder nicht als dasselbe
betrachten und einen sich umkehrenden Weg gehen (παλίντροπος

254
Gemoll 607.
255 Pfeifer 1997, 1294.
256
»τέθηπα pf. defect. mit Präsensbedeutung (vgl. τὸ τάφος u. θαμβέω) {…} in Er-
staunen geraten, staunen« (Gemoll 731).
257 Homer Od. 17, 367.

258 Platon Tht. 155 d; Aristoteles Metaph. Α 2, 982b12–24. – »Bewunderung trägt

man Dingen entgegen, die nicht radikal fremd sind, die nur schöner und vollkom-
mener sind als das Alltägliche. Das griechische Wort für Bewundern, θαυμάζειν, ist
von θεᾶσθαι abgeleitet, das ›schauen‹ bedeutet« (Snell 2000, 37 f.).
259
Pape 2, 1316.
260 Gemoll 795.

261
Gemoll 524.

106
B7

{…} κέλευθος), eine Kritik an Heraklit sehen wollen {…}. Diese In-
terpretation ist aber nicht näher zu begründen, weil Parmenides aus-
drücklich auf die Menschen im Allgemeinen Bezug nimmt {…}. Fer-
ner ist bei den antiken Autoren παλίντροπος sonst nirgends als
Attribut des Bogens bzw. der Leier belegt, sondern immer in Bezug
auf den Weg gebraucht. Für παλίντονος spricht die homerische For-
mel παλίντονα τόξα (Il. 8,266; 15,443 als rückgespannte Bo-
gen {…})«; 262 »Gemeint wären damit die Herakliteer, denn ταὐτὸν
νενόμισται κοὐ ταὐτόν = πάντα ταὐτὰ κοὐ ταὐτά 22 C 1 I 183, 1
u. dort ähnl. öfter, πέλειν τε καὶ οὐκ εἶναι nach {22}B 49a o. ä. {…},
παλίντροπος κέλευθος nach {22}B 51 (vgl. {22}B 60)«. 263 Gemelli:
παλίντροπος. 264 Jedoch keine Verbindung zu Heraklit (°III.9.a): πα-
λίντροπος, »zur Umkehr gewendet«. ▶ παλίντροπός »Gegen-
weg«, 265 »backwards again«, 266 »backward-turning«. 267

B7

1 οὐ γὰρ μήποτε τοῦτο δαμῇ Nie nämlich kann dies zwingend er-
εἶναι μὴ ἐόντα· wiesen werden, dass es das Nicht-
seiende gibt;
2 ἀλλὰ σὺ τῆσδ’ ἀϕ’ ὁδοῦ du aber, schließe von diesem Weg
διζήσιος εἶργε νόημα den Gedanken des Suchens aus,
3 μηδέ σ’ ἔθος πολύπειρον damit dich nicht allzu kluge Ge-
ὁδὸν κατὰ τήνδε βιάσθω, wohnheit dränge auf diesen Weg,
4 νωμᾶν ἄσκοπον ὄμμα καὶ zu gebrauchen ein zielloses Auge,
ἠχήεσσαν ἀκουήν ein von Geräuschen erfülltes Ohr
5 καὶ γλῶσσαν, κρῖναι δὲ λό- und das Gerede. Entscheide doch
γῳ πολύδηριν ἔλεγχον auch durch Rechenschaftslegung
den viel bestritt’nen Beweis,
6 ἐξ ἐμέθεν ῥηθέντα. den von mir angesagten.

262 Gemelli I, 353.


263 DK I, 2332 ff.
264 Gemelli II, 81.
265
Diels 2003, 35.
266 Coxon 2009, 58 mit Hinweis auf Homer Il. 8, 399, Zeus zu Iris (Coxon 2009, 304).
267
Mourelatos 2008, 100.

107
Text · Übersetzung

B 7.1
οὐ γὰρ: Vermutlich folgt B 7 mit dem »nie nämlich« unmittelbar auf
B 6 und wendet sich gegen die Ansichten der βροτοί. 268 B 7 bis 8:
Gadamer 1996, 162 ff.
δαμῇ: »zwingend erwiesen werden«. 269 Diels bezieht δαμῇ auf
die »Thorheit des Heraklitismus Sein und Nichtsein zu identifici-
ren«. 270 Doch ergibt sich »zwingend« auch aus dem Kontext: Die not-
wendige Entscheidung (κέκριται δ’ οὖν, ὥσπερ ἀνάγκη, »nun aber
ist entschieden worden, wie notwendig« B 8.16) fehlt den unwissen-
den Sterblichen (βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν B 6.4).

B 7.2
διζήσιος: »Suchen« statt »Forschung« (°B 2.2).

B 7.3
πολύπειρον: Die Gewohnheit ist πολύπειρος, »vielerfahren,
klug«. 271 Doch kann diese Art von Klugheit hier nur negativ gemeint
sein, handelt es sich doch um eine »allzu kluge Gewohnheit«, um
keine wirkliche Erfahrung, sondern eine sogenannte Klugheit, die
sich auf eingefahrenen Geleisen bewegt.
βιάσθω: Weil die Gewohnheit solchermaßen »eingefahren« ist,
versucht sie das schon Bekannte mit Gewalt (βίᾳ) durchzusetzen,
solches, das sich den Meinungen der Sterblichen zufolge von selbst
versteht. Grund dieses βιάζειν sind daher die δόξαι (B 1.30, B 8.51).

B 7.4
νωμᾶν: Gadamer 1996, 162.
ἄσκοπον ὄμμα: Das Auge ist auf kein Ziel (keinen σκοπός 272)
gerichtet, sondern darauf, was sich ihm soeben zeigt. ἄσκοπον: Ge-
genstück zu σκοπέω, »untersuchen, prüfen«; ἄσκοπος, »etwas nicht
ins Auge fassend«, d. h. unfähig zu einer genaueren Prüfung.
ἠχήεσσαν ἀκουήν: Das Ohr ist ein Wiederhall (ἠχώ) von dem,

268 »It is likely that fr. 7 followed closely upon fr. 6, for the plural μὴ ἐόντα {…} seems
to echo the plurals ἀπεόντα [›absent‹] and παρεόντα [›present‹] in fr. 6, 1 and the
assertion that things that are not cannot be, to relate to the rejection in fr. 6 of the
conceivability of anything which might sever what is form itself« (Coxon 2009, 308).
269 Bormann 1971, 37; Diels 2003, 35.

270
Diels 2003, 73.
271 Gemoll 619.

272
σκοπός »Ziel, nach dem man schießt« (Gemoll 680).

108
B7

was es gerade hört. ἠχήεις »schallend, tönend, tobend«. 273 Ἀκοή be-
zieht sich nicht nur auf das Hören oder das Ohr als Organ, sondern
meint auch das Gerücht (d. h. das im Hören ohne Prüfung Weiter-
gesagte).

B 7.5
γλῶσσαν: Im selben Vers treffen γλῶσσα und λόγος aufeinander.
Auch γλῶσσα, wörtlich »Zunge«, meint die Sprache, das Sprachver-
mögen und sogar die Redegabe. Doch γλώσσης χάριν bedeutet u. a.
»nur um zu reden, einem nach dem Munde reden«. 274 Mit Bezug auf
die Namengebung der Sterblichen (B 8.38 f.; °III.9.b) ist schon hier
darauf hinzuweisen, »dass das νωμᾶν γλῶσσαν nicht nur nicht mit
dem ὀνομάζειν identisch, sondern diesem genau entgegengesetzt ist,
weil es sich auf keinen wahren Gegenstand bezieht und insofern kei-
nen benennen kann: Es ist das ›Geräusch‹ oder der ›Laut‹ der Theorie
des Antisthenes.« 275
κρῖναι δὲ λόγῳ: Die Bedeutungen der Aktivform des Verbums
κρίνειν 276 spielen hier ineinander: Es handelt sich um ein Sichten und
Wählen, denen die Entscheidung folgt. Diese Aktionen machen das
Eigentümliche des B 7.5 gemeinten λόγος aus und legen ihn damit
auf eine bestimmte Bedeutung fest. Unter den zahlreichen Bedeutun-
gen von λόγος (deren spätere vor allem auf Platon zurückgehen und
daher nur mit einiger Vorsicht gebraucht werden sollten) bietet sich
eine besonders an: ▶ »Rechenschaft«. Denn das Neue bei Parmenides
besteht nicht darin, Überkommenes zu bestätigen, sondern für den
μῦθος ὁδοῖο durch Beweise Rechenschaft abzulegen, also λόγον δι-
δόναι, rationem reddere. – Die Übersetzung von λόγος »beurteilen
mit dem Denken« oder »mit der Vernunft« ist kaum möglich, weil
»λόγος diese Bedeutung in der vorplatonischen Zeit noch nicht

273
Frisk I, 646.
274 Pape 1, 496.
275 Marcinkowska-Rosół 2010, 87. – Der Sokratiker Antisthenes (~450/445 bis ~365)

hat nach der Möglichkeit eindeutiger Erkenntnis gefragt. »Da nun die Erkenntnis eine
absolute Erfassung (ihres Gegenstandes) sei, sei es unmöglich zu widersprechen (οὐκ
ἔστιν ἀντιλέγειν), denn ›sagen‹ oder ›sprechen‹ bedeute, den Gegenstand (die Wahr-
heit) auszusagen, und eine Äußerung, die dies nicht tue, sei daher auch kein Sprechen
oder Sagen, sondern ein bloßes Geräusch« (LA I/1, 133; O. G.).
276 »1. scheiden, sondern, sichten, unterscheiden | 2. absondern, aussondern, auswäh-

len | 3. entscheiden, beschließen, richten, (ver)urteilen« (Gemoll 453).

109
Text · Übersetzung

hat«. 277 Es handelt sich bei λόγῳ um einen modalen Dativ: »die Beur-
teilung findet auf erörternde Weise statt, ist also selbst eine Erörte-
rung« 278 (°III.6.a). In Abgrenzung von den erwähnten Bedeutun-
gen 279 steht »Rechenschaft« im Vordergrund, »account«, der sich als
Rede materialisiert: »decide by discourse the controversial tool«; 280
»giudica col ragionamente la prova con molte discussioni«. 281
πολύδηριν ἔλεγχον: Der ἔλεγχος ist ein Beweismittel, um je-
manden zu überführen. Ein πολύδηρις ἔλεγχος ist demnach ein in
vieler Hinsicht bestrittener Beweis. 282 Gegenstand dieses Streites ist
die Behauptung, das Sein sei geworden oder vergehe (B 8.5 usf.). Bur-
net schreibt: »Die große Neuerung im Gedicht des Parmenides ist die
Methode der Beweisführung.« 283 Das ist deshalb so wichtig, weil es
primär nicht darum geht, dass Parmenides das Werden und Vergehen
zugunsten eines zeitlosen Seins verneint – mag dies auch auf einen
solchen Befund hinauslaufen –, sondern dass er den Befürwortern
von Werden und Vergehen (konkret: den Kosmologen einerseits,
den mythologisierenden Genealogen auf der anderen Seite) zum Vor-
wurf macht, sie würden etwas behaupten, ohne sich dem κρῖναι λό-
γῳ zu unterwerfen. Daher ist der ἔλεγχος auch πολύδηρις, »viel um-
stritten«, weil er gleich nach mehreren Seiten geht.

277 Verdenius 1966–67, 99 f.


278 Verdenius 1966–67, 100. Cordero 2004, 136 f.: »The meaning of logos in Parmeni-
des«.
279 Λόγος meint nicht »thinking«, »understanding, »reason«, sondern »reasoning«,

»argument« (Verdenius 1964, 64).


280 Coxon 2009, 62.

281 Untersteiner 1958, 143; dazu sein Kommentar p. CXXXI ff.

282 »argument of disproof or refutation« (LSJ 531). »Aber wo wäre ein ἔλεγχος bis-

her geliefert oder auch nur angedeutet?« (Reinhardt 2012, 35). Mourelatos stellt fest,
dass es vor B 8 keine »proofs« gibt und meint, »that Parmenides’ ἔλεγχος (masc.) is
closer, in spite of the contrast in gender, to the Homeric τὸ ἔλεγχος, ›reproach, blame,‹
than to ὁ ἔλεγχος, ›refutation, scrutiny,‹ of classical literature {…}. As for πολύδηρις,
on strictly morphological grounds it is more probable that it means ›much-conten-
ding‹ than ›much-contested‹« (Mourelatos 2008, 9146). Das Verbum ἐλέγχω »Lügen
strafen, blamieren« lässt den späteren juristischen terminus technicus, »überführen,
widerlegen«, schon anklingen (Nordheider 1991, 524). ἐλέγχω »crossexamine, ques-
tion« (LSJ 531). οὐκ ἔχει ἔλεγχον (Herodot II 23), »beweist damit nichts« (Herodot
2001, 143); οὐ λέγοντος τὴν ἀληθείην ἤλεγχον οἱ γενόμενοι ἱκέται ἐξηγεύμενοι
πάντα λόγον τοῦ ἀδικήματος (Herodot II 115), »der mit der Sprache nicht heraus
wollte und sich aufs Lügen legte, {wurde} durch die Aussagen der Knechte überführt,
die alles erzählten, was er sich hatte zuschulden kommen lassen« (Herodot 2001, 187).
283 Burnet 1913, 165 – jedoch ist der Unterschied zwischen »Methode« und »Weg« zu

beachten (°B 1.2).

110
B7

λόγῳ: Zu den Grundbedeutungen von λόγος gehören Rede und


Rechenschaft, 284 wobei von jener auszugehen ist. 285 Anders als im Fall
der überlieferten Mythen gehört zum λόγος sowohl die Nachprüf-
barkeit (λόγος qua Rede) als auch – wie hier – die Prüfung selbst
(λόγος qua κρίνειν). Schwierig ist die Wiedergabe von λόγος mit
einem Wort; 286 dies zeigt sich auch an den verschiedenen Übersetzun-
gen (von denen einige anachronistisch sind): »mit dem Denken bring
zur Entscheidung die streitreiche Prüfung«; 287 »entscheide mit dem
Denken das vielumstrittene Gegenargument«; 288 »entscheide, dich
besinnend, die streitvolle Prüfung«; 289 »argumentierend entscheide
die streitbare Beweisführung«; 290 »beurteile mit dem Denken die hart
bestreitende Widerlegung«; 291 »beurteile in rationaler Weise die
streitbare Widerlegung, die ich ausgesprochen habe«; 292 »entscheide

284 Vgl. Gemoll 475 f. s. v. λόγος: I. das Sprechen: 1. mündliche Mitteilung, 2. Erlaub-
nis zum Reden; II. das Berechnen: 1. Rechenschaft, 2. Rechnung, 3. Verhältnis,
4. Vernunft.
285
»Griech. λόγος, stellt den Ablaut vom Verbalstamme λεγ dar und bezeichnet zu-
nächst Tätigkeit und Inhalt des Sprechens. Somit muß von der Bedeutung ›Rede‹ aus-
gegangen werden. Das Wort ist bei Homer noch ungebräuchlich (Belege nur Il. XV
393 und Od. I 56, beide Male nur im Plur.). L. ist mithin jüngstes Mitglied der Syno-
nymen-Familie ἔπος μῦθος αἶνος λόγος. Die großen geistigen Umsetzungen des 6.
und des 5. Jh. tragen zu strenger Differenzierung dieser zunächst bedeutungsver-
wandten Wörter bei. Dabei erfahren ἔπος μῦθος αἶνος starke, vorwiegend abwertende
Bedeutungs-Einschränkungen; λόγος dagegen erfährt eine wertpositive Bedeutungs-
Erweiterung« und ist im Unterschied zu μῦθος »durch das Merkmal der Nach-
prüfbarkeit gekennzeichnet (ἔλεγχος, ἐλέγχειν)« (KP 3, 710; H. D.). Die Grund-
bedeutung von λόγος ist »Zählung«. »Dieser Tätigkeitsaspekt bleibt auch in den
Sonderbedeutungen vorherrschend. Es gibt aber einige Bedeutungen, die man ›Ne-
benbedeutungen‹ nennen könnte, wo der Tätigkeitsaspekt zurücktritt. So bedeutet
λόγος nicht nur das Zählen, sondern auch die Zahl, nicht nur das Erzählen, sondern
auch die erzählte Geschichte, nicht nur das Rechnen, sondern auch die daraus resul-
tierende Rechnung, nicht nur die Begründung, sondern auch den Grund, nicht nur die
Beziehung in dem Sinne einer subjektiven Tätigkeit, sondern auch in dem Sinne einer
objektiven Proportion. Auch die Bedeutung ›Definition‹ gehört wahrscheinlich hier-
her, denn die Definition ist ursprünglich, d. h. in der Sokratischen Praxis, das Resultat
der Tätigkeit des Rechenschaftgebens« (Verdenius 1966–67, 83).
286 »Auch bei Parmenides gibt es {so wie bei Heraklit} kein eindeutiges Beispiel der

Bedeutung ›Wort‹« (Verdenius 1966–67, 87).


287 DK.

288 Bormann 1971, 39.

289 Riezler 2001, 31.

290
Heitsch 1974, 25.
291 Hölscher 2014, 11.

292
Mansfeld 1995, 9.

111
Text · Übersetzung

dich für den in meinen Worten enthaltenen viel umstrittenen Be-


weis«; 293 »judge with reason the much contested argument«; 294
»decide by discourse the controversial test«. 295 Es bahnt sich die spä-
tere philosophische, von Aristoteles ausgehende Bedeutung an.
Dieser begreift den λόγος als Moment der analogen Einheit des auf
vielfache Weise gesagten Seienden. 296 Ich übersetze λόγος etwas um-
ständlich mit ▶ Rechenschaftslegung und betone das Moment der
»Entscheidung« (ἔλεγχον, κρῖναι: B 7.5). 297

B 7.6
ῥηθέντα: Reinhardts Einwand, hier sei kein Beweis angesagt worden
(»Aber wo wäre ein ἔλεγχος bisher geliefert oder auch nur ange-
deutet?« 298), ist entgegen zu halten, dass sich die Göttin nicht auf
etwas bezieht, das sie bereits gesagt hat, sondern auf die künftigen
Beweise der σήματα τοῦ ἐόντος in B 8.

B8

1 … μόνος δ’ ἔτι μῦθος ὁδοῖο … einzig aber der Mythos des


Weges noch
2 λείπεται ὡς ἔστιν· ταύτῃ δ’ bleibt, weil es ihn tatsächlich gibt;
ἐπὶ σήματ’ ἔασι auf diesem Weg aber sind Zeichen,
3 πολλὰ μάλ’ ὡς ἀγένητον ἐὸν viele gar: dass das Seiende unge-
καὶ ἀνώλεθρόν ἐστιν, worden und dem Verderben nicht
unterworfen ist,
4 οὖλον οὐλομελές τε καὶ ganz und einzig in seinem Bau,
ἀτρεμὲς ἠδ’ ἀτέλεστον· unerschütterlich und ohne Ende;
5 οὐδέ ποτ’ ἦν οὐδ’ ἔσται, nicht war es jemals, noch wird es
ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν, sein, da es auf einmal im Augenblick
alles ist,

293 Gemelli II, 19.


294 Tarán 1965, 73.
295 Coxon 2009, 62.

296 τὸ ὂν λέγεται μὲν πολλαχῶς, ἀλλὰ πρὸς ἕν καὶ μίαν τινὰ φύσιν καὶ οὐχ ὁμω-

νύμως (Aristoteles Metaph. Γ 2, 1003a32–33).


297
Laut Duden »Folge von Gedanken, durch die sich jemand vor einer Entscheidung
o. Ä. über etwas klar zu werden versucht«.
298
Reinhardt 2012, 35.

112
B8

6 ἕν, συνεχές· τίνα γὰρ γένναν eines, ununterbrochen; welches Er-


διζήσεαι αὐτοῦ; zeugen wolltest du denn bei ihm er-
forschen?
7 πῇ πόθεν αὐξηθέν; οὐτ’ ἐκ Auf welche Weise gewachsen von
μὴ ἐόντος ἐάσσω wo? Nicht aus dem Nichtseienden
lasse ichs
8 φάσθαι σ’ οὐδὲ νοεῖν· οὐ sagen dich und auch nicht denken;
γὰρ φατὸν οὐδὲ νοητόν nicht nämlich sagbar noch denkbar
9 ἔστιν ὅπως οὐκ ἔστι. τί δ’ ἄν ist, dass es nicht ist. Und welche
μιν καὶ χρέος ὦρσεν Schuld trieb es denn
10 ὕστερον ἢ πρόσθεν, τοῦ μη- später oder früher, beim Nichts
δενὸς ἀρξάμενον, φῦν; anfangend, zu sein?
11 οὕτως ἢ πάμπαν πελέναι So muss es entweder ganz und gar
χρεών ἐστιν ἢ οὐχί. sein oder nicht.
12 οὐδέ ποτ’ ἐκ μὴ ἐόντος ἐφή- Und niemals wird die Macht des
σει πίστιος ἰσχύς Vertrauens zulassen, dass aus Nicht-
Seiendem
13 γίγνεσθαί τι παρ’ αὐτό· τοῦ etwas daneben entstehe; deshalb
εἵνεκεν οὔτε γενέσθαι weder zu werden
14 οὔτ’ ὄλλυσθαι ἀνῆκε Δίκη noch zu verderben hat Dike nachge-
χαλάσασα πέδῃσιν, geben den Fesseln,
15 ἀλλ’ ἔχει· ἡ δὲ κρίσις περὶ sondern sie hält sie; die Unterschei-
τούτων ἐν τῷδ’ ἔστιν· dung über dieses liegt aber darin:
16 ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν· κέκριται Es ist oder es ist nicht; nun aber ist
δ’ οὖν, ὥσπερ ἀνάγκη, entschieden worden, wie notwendig,
17 τὴν μὲν ἐᾶν ἀνόητον ἀνώνυ- den einen undenkbar ohne Namen
μον (οὐ γὰρ ἀληθής zu lassen (denn nicht wahr
18 ἔστιν ὁδός), τὴν δ’ ὥστε πέ- ist der Weg), und dass folglich der
λειν καὶ ἐτήτυμον εἶναι. andere ist und wirklich ist.
19 πῶς δ’ ἂν ἔπειτ’ ἀπόλοιτο Wie aber könnte das Seiende dann
ἐόν; πῶς δ’ ἄν κε γένοιτο; vergehen? Auf welche Art aber
könnte es werden?

113
Text · Übersetzung

20 εἰ γὰρ ἔγεντ’, οὐκ ἔστ(ι), Denn wenn es entstand, ist es nicht,


οὐδ’ εἴ ποτε μέλλει ἔσεσθαι. noch wenn es irgend einmal zu wer-
den gedenkt.
21 τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται So ist Werden gelöscht und Unter-
καὶ ἄπυστος ὄλεθρος. gang unerkundet.
22 οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν, ἐπεὶ Auch ist es nicht teilbar, da gleich in
πᾶν ἐστιν ὁμοῖον· jeder Beziehung.
23 οὐδέ τι τῇ μᾶλλον, τό κεν Auch gibt es dort nicht etwas Stär-
εἴργοι μιν συνέχεσθαι, keres, das es hinderte, zusammen-
zuhalten,
24 οὐδέ τι χειρότερον, πᾶν δ’ noch etwas Schwächeres, ganz und
ἔμπλεόν ἐστιν ἐόντος. gar ist es erfüllt vom Seienden.
25 τῷ ξυνεχὲς πᾶν ἐστιν · ἐὸν Dadurch hält es in jeder Hinsicht
γὰρ ἐόντι πελάζει. zusammen; Seiendes nämlich ist
dem Seienden nahe.
26 αὐτὰρ ἀκίνητον μεγάλων ἐν Doch unbeweglich in Grenzen ge-
πείρασι δεσμῶν waltiger Fesseln
27 ἔστιν ἄναρχον ἄπαυστον, ist’s ursprungslos, unaufhörlich, da
ἐπεὶ γένεσις καὶ ὄλεθρος Werden und Untergang
28 τῆλε μάλ’ ἐπλάγχθησαν, gar weit in die Ferne verschlagen, es
ἀπῶσε δὲ πίστις ἀληθής. verstieß sie das wahre Vertrauen.
29 ταὐτόν τ’ ἐν ταὐτῷ τε μένον Das Selbe im Selben verharrend und
καθ’ ἑαυτό τε κεῖται bei sich selbst ruht es
30 χοὔτως ἔμπεδον αὖθι μένει· und verweilt so beharrlich dort; ge-
κρατερὴ γὰρ Ἀνάγκη waltige Notwendigkeit nämlich
31 πείρατος ἐν δεσμοῖσιν ἔχει, hält in den Banden der Grenze es
τό μιν ἀμφὶς ἐέργει, fest, die es ringsherum einschließt;
32 οὕνεκεν οὐκ ἀτελεύτητον τὸ deswegen ist es Satzung, dass das
ἐὸν θέμις εἶναι· Seiende nicht ohne Vollendung ist;
33 ἔστι γὰρ οὐκ ἐπιδευές· μὴ nicht nämlich ist es bedürftig:
ἐὸν δ’ ἂν παντὸς ἐδεῖτο. Nichtseiendes aber hätte an allem
Mangel.
34 ταὐτὸν δ’ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ Das Selbe aber ist Denken sowohl als
οὕνεκεν ἔστι νόημα. auch dessentwegen ist der Gedanke.

114
B8

35 οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ᾧ Nicht nämlich ohne das Seiende, in


πεφατισμένον ἐστίν, dem es gesagt ist,
36 εὑρήσεις τὸ νοεῖν· οὐδὲν γὰρ wirst du das Denken finden; denn
{ἢ} ἔστιν ἤ ἔσται weder ist, noch wird sein
37 ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, ἐπεὶ anderes außer dem Seienden, weil es
τό γε Μοῖρ’ ἐπέδησεν die Moire bindet,
38 οὖλον ἀκίνητόν τ’ ἔμμεναι· ganz, und zwar unbeweglich zu sein;
τῷ πάντ’ ὄνομ’ ἔσται, deshalb wird alles Name sein,
39 ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πε- was die Sterblichen festgesetzt ha-
ποιθότες εἶναι ἀληθῆ, ben, überzeugt davon, dass es wahr
sei,
40 γίγνεσθαί τε καὶ ὄλλυσθαι, werden sowohl wie verderben, so-
εἶναί τε καὶ οὐχί, wohl sein als auch nicht zu sein,
41 καὶ τόπον ἀλλάσσειν διά τε und den Ort zu wechseln und durch
χρόα φανὸν ἀμείβειν. Farbe das Licht zu tauschen.
42 αὐτὰρ ἐπεὶ πεῖρας πύματον, Doch da eine äußerste Grenze es
τετελεσμένον ἐστί gibt, ist es vollendet
43 πάντοθεν, εὐκύκλου σφαί- von allen Seiten her, ähnlich der
ρης ἐναλίγκιον ὄγκῳ, Masse einer wohlgerundeten Kugel,
44 μεσσόθεν ἰσοπαλὲς πάντῃ· inmitten überall gleich; denn nicht
τὸ γὰρ οὔτε τι μεῖζον etwas größer,
45 οὔτε τι βαιότερον πελέναι noch etwas kleiner ist Not, dass es
χρεόν ἐστι τῇ ἢ τῇ. ist, da oder dort.
46 οὔτε γὰρ οὐκ ἐὸν ἔστι, τό Denn einerseits gibt es nicht Seien-
κεν παύοι μιν ἱκνεῖσθαι des, das es hinderte zu gelangen
47 εἰς ὁμόν, οὔτ’ ἐὸν ἔστιν ὅπως zum Gleichen, andererseits gibt es
εἴη κεν ἐόντος nicht Seiendes, dass vorhanden vom
Seienden
48 τῇ μᾶλλον τῇ δ’ ἧσσον, ἐπεὶ da mehr, dort aber weniger ist, denn
πᾶν ἐστιν ἄσυλον· ganz ist es unversehrt;
49 οἷ γὰρ πάντοθεν ἶσον, ὁμῶς für sich nämlich überall gleich,
ἐν πείρασι κύρει. ists auf dieselbe Weise in seinen
Grenzen.

115
Text · Übersetzung

50 ἐν τῷ σοι παύω πιστὸν λόγον Dadurch beend’ ich für dich meine
ἠδὲ νόημα Vertrauen erweckende Rede und den
Gedanken
51 ἀμφὶς ἀληθείης· δόξας δ’ zu beiden Seiten der Wahrheit; aber
ἀπὸ τοῦδε βροτείας die sterblichen Meinungen von da
an
52 μάνθανε κόσμον ἐμῶν ἐπέων lerne, indem du auf meine Worte
ἀπατηλὸν ἀκούων. hörst mit Blick auf die trügliche
Welt.
53 μορϕὰς γὰρ κατέθεντο δύο Denn ihren Ansichten nach setzten
γνώμας ὀνομάζειν· sie fest, es seien zwei Formen zu
nennen;
54 τῶν μίαν οὐ χρεών ἐστιν – ἐν von denen nicht Not tut eine allein –
ᾧ πεπλανημένοι εἰσίν – sie irren deswegen –,
55 τἀντία δ’ ἐκρίναντο δέμας als Gegensatz hoben sie einen Kör-
καὶ σήματ’ ἔθεντο per heraus und setzten Zeichen
56 χωρὶς ἀπ’ ἀλλήλων, τῇ μὲν voneinander getrennt, da das ätheri-
φλογὸς αἰθέριον πῦρ, sche Feuer,
57 ἤπιον ὄν, μέγ {ἀραιὸν} ἐλα- mild und sehr leicht, mit sich selber
φρόν, ἑωυτῷ πάντοσε τωὐ- in jeder Hinsicht das Selbe,
τόν,
58 τῷ δ’ ἑτέρῳ μὴ τωὐτόν· ἀτὰρ für das Andere aber nicht das Selbe;
κἀκεῖνο κατ’ αὐτό doch auch
59 τἀντία νύκτ’ ἀδαῆ, πυκινὸν im Gegensatz dazu finstere Nacht,
δέμας ἐμβριθές τε. ein dichter und schwerer Körper.
60 τόν σοι ἐγὼ διάκοσμον ἐοι- Von dieser Einrichtung sage ich dir,
κότα πάντα φατίζω, dass sie gleich ist in jeder Hinsicht,
61 ὡς οὐ μή ποτέ τίς σε βροτῶν sodass nie irgendein Wissen der
γνώμη παρελάσσῃ. Sterblichen dich wird übertreffen.

B 8.1
μῦθος ὁδοῖο: »Mythos« wird »Weg-Kunde«, »Rede«, »Wegwort«,
»story« u. dgl. vorgezogen. 299 Wenn die Göttin von einem μῦθος

299
DK I, 235; Bormann 1971, 38; Deichgräber 1983, 11; Coxon 2009, 314. – »A correct

116
B8

spricht, betont sie das Neue in Anknüpfung an das Alte bei gleich-
zeitiger Distanz zu diesem. ▶ Das Besondere am Mythos der Göttin
liegt darin, dass er einer Rechenschaft unterzogen wird (κρῖναι δὲ
λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον: B 7.5). Die Übersetzung mit »Mythos«
entspricht der Dialektik von alt und neu.

B 8.2
λείπεται: λείπομαι pass. und med. »zurückgelassen werden«. In den
FF begegnet mehrmals ein Ausschlussverfahren: Was sich seitens der
Sterblichen als Weg anbietet, ist keiner, sondern erweist sich als un-
gangbar (°III.5.a–b) und scheidet aus; übrig bleibt nur ein einziger
Weg. Ferner hält die Göttin den Kuros von den Aporien der Kosmo-
logen ab (εἴργω: B 6.3) und schließt von einem »Weg« den Gedanken
der Forschung aus (εἶργε νόημα: B 7.2).
ὡς ἔστιν: Bezieht sich »dass es ist« auf das Sein oder auf den
Weg zum Sein? 1. Für »Sein« entscheiden sich Diels und in seiner
Nachfolge so gut wie alle Übersetzer und Kommentatoren: »dass es
ein Sein gibt«; 300 »daß IST ist«; 301 »daß ›es ist‹«; 302 »that a thing is«. 303
2. Trotz zahlreicher und gewichtiger Zeugen – von denen allerdings
einige Schwierigkeiten bei der Darstellung (wohl auch mit dem Sinn)
haben, wie die Schreibweise von DK deutlich macht – spricht für Weg
2.1 das folgende ταύτῃ, »auf diesem Weg«. ὡς ἔστιν wäre dann nicht
mit »dass es ist« wiederzugeben, sondern mit »dass er {der Weg} ist«,
d. h. dass ein solcher Weg überhaupt existiert. Das ist angesichts der
von den βροτοί unüberlegt gewählten Wege (sie erweisen sich so-
gleich als ungangbar) durchaus plausibel. 2.2. ὡς bedeutet nicht nur
in Folgesätzen »dass«, sondern auch ursächlich »weil«; somit könnte
dies heißen: ▶ »weil es ihn tatsächlich gibt« (ἔστιν: B 2) – nämlich
zum Unterschied von den zwei anderen Wegen, die in Wirklichkeit
keine sind.
σήματ’ ἔασι: Coxon meint, zwischen B 8.2 und σήματ’ ἔθεντο
(B 8.55) einen Gegensatz feststellen zu müssen: »the contrast indica-
tes that, while the characteristics of the two Forms into which P. ana-
lyses the physical world are, like the Forms themselves, empirical and

translation is: There is a solitary word still left to say of a way: ›exists‹« (Tarán 1965,
85).
300 Diels 2003, 35.

301
DK I, 235.
302 Bormann 1971, 39.

303
Coxon 2009, 64.

117
Text · Übersetzung

conventional in status, those of Being are objectively real.« 304 Dies


zugestanden, bleibt aber offen, worin der Zusammenhang von »em-
pirisch« und »objektiv« besteht. ▶ Die B 8 aufgewiesenen zahlreichen
σήματα (»very many signs are on this road« 305) sind »hinterlassene
Zeichen«, »Spuren«, auch »Zeichen des Zukünftigen«. 306 Lässt sich
zwischen »Zeichen« und »Spuren« differenzieren? Inwiefern verwei-
sen diese auf Vergangenes und jene auf Kommendes? Eine mögliche
Antwort wäre diese: Wenn die Göttin von Werden und Vergehen und
damit von Nicht-Seiendem spricht (B 8.12–14), bezieht sie sich auf
die überlieferten Mythen bzw. Kosmologien (°III.2.a). Sie findet Zei-
chen auf dem begangenen Weg (z. B. ὡς ἀγένητον ἐὸν καὶ ἀνώλε-
θρόν: B 8.3) und damit auch Spuren (z. B. οὖλον οὐλομελές τε καὶ
ἀτρεμὲς ἠδ’ ἀτέλεστον: B 8.4), die auf den einzig begehbaren Weg,
nämlich jenen des Seins, hinweisen (°III.6.b).

B 8.3
πολλὰ: Der Plural kann als Indiz verstanden werden, dass dem Kuros
auf seinem Weg δόξαι begegnen. Dieser müsste sich ihrer allerdings
vergewissern und auch dies lernen (ἀλλ’ ἔμπης καὶ ταῦτα μαθή-
σεαι: B 1.31), ὡς τὰ δοκοῦντα | χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς
πάντα περῶντα, »dass das Scheinende | notwendig ist und {…} durch
alles hindurch alles durchdringt« (B 1.31 f.). Er müsste, wie schon er-
wähnt, das ἀγένητον und ἀνώλεθρον (B 8.3) im μὴ ἐόν aufspüren,
vorausgesetzt, er hat dazu den nötigen Blick (λεῦσσε δ’, »schau’ aber
hellen Blickes«: B 4.1). Diese Spuren führen im ersten Fall zu He-
siod, 307 im zweiten zu Anaximander, 308 vgl. B 8.3–6.
ἀγένητον: »{…} the earliest genuine occurence of ἀγένητον
[›ungenerated‹], which may be P.s coinage«. 309 Die Übersetzung mit
»ursprungslos« 310 betont den Unterschied zu allen genealogischen
Versuchen, Seiendes auf einen Ursprung zurückzuführen. Dies gilt
für Hesiods Genealogie wie (unter Voraussetzung der aristotelischen
Doxographie: °I.4.b) für die Frage der Milesier nach der ἀρχή.

304 Coxon 2009, 314.


305 Tarán 1965, 85.
306 Gemoll 672.

307 Aus Gaia und Uranos entstehen die übrigen Götter, οἵ τ’ ἐκ τῶν ἐγένοντο (Hesiod

Th. 46).
308
ἀθάνατον … καὶ ἀνώλεθρον (τὸ ἄπειρον) (12 B 3).
309 Coxon 2009, 314.

310
»uncreated, unoriginated« (LSJ 8).

118
B8

ἀνώλεθρόν: Vgl. ἀτρεμὲς ἦτορ B 1.29; ὄλεθρος »ruin, de-


struction, death«. 311

B 8.4
οὖλον: »οὖλον (oder ὅλον) kann besagen, daß etwas in seinen Teilen
vollständig ist, ein Ganzes bildet, das Teile hat {…}. Das trifft jedoch für
Parm. frg. 8,4 nicht zu. Was Teile hat, ist teilbar, was geteilt werden
kann, setzt sich aus Teilen zusammen; das parmenideische Seiende
aber ist nicht teilbar und hat demnach keine Teile. {…} Da das Seiende
keine Teile hat, aber οὖλον ist, ist mit οὖλον die Ganzheit des Seienden
ausgesprochen, ohne daß es innerhalb der Ganzheit Teile gibt. Was
damit gemeint ist, ist aus frg. 8,36–38 zu ersehen: Das Seiende ist οὖ-
λον und ἀκίνητόν, deshalb gibt es nichts ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος.« 312
»Für die Methode des Parmenides ist frg. 8,4 sehr aufschluß-
reich. Aus einem übergeordneten Begriff (οὖλον) werden die unter-
geordneten deduziert, und zwar so, daß die ihm am nächsten stehen-
den Termini zuerst abgeleitet werden, anschließend die entfernter
stehenden.« 313
Schema der Beweisstruktur von B 8.1–21: 314

Thema
Deduktion (das Seiende ist ganz
usw.)
Indirekter Beweis (auf Grund der
in der Deduktion erzielten Resul-
tate)
1) gegen Werden aus dem Nichts 2) gegen Werden aus dem Seienden
a) das Nichts ist undenkbar a) Entstehung aus Seiendem wäre
b) Werden aus dem Nichts ist nicht Entstehung aus dem Nichts, des-
notwendig, daher unmöglich halb
b) ist das Seiende »gefesselt«, Wer-
den und Vergehen sind unmöglich
Abweisung des Nichts durch die
κρίσις

311 LSJ 1213. Homer Il. 11, 174.


312
Bormann 1971, 152. Hinweis auf Platon Prm. 137 c: Coxon 2009, 315.
313 Bormann 1971, 154.
314
Bormann 1971, 160 f.

119
Text · Übersetzung

Sicherung des Resultats (unter


Rückgriff auf Vorausgegangenes)
Beantwortung des Themas

οὐλομελές: 1. οὐλομελές »ganz in seinem Bau«; ἔστι γὰρ οὐλομελές


Plut. adv. Col. u. a.; 315 »aus einem Glied«; 316 »einzig ohne Geschwis-
ter«; 317 »sound of limb«. 318 2. Diels wählt μουνογενές, »ungebo-
ren«, 319 und kommentiert: »μουνογενής] ein latenter Widerspruch.
Das ewige Sein kann nicht geboren, also auch nicht ›eingeboren‹ sein.
{…} Der Widerspruch, den man fühlte, scheint später Aenderungen
des geflügelten Verses hervorgerufen zu haben. So citirt Plutarch
ἔστι γὰρ οὐλομελές, was auch Proclus in seinem Exemplar gelesen
zu haben scheint. Der Anstoss ist unberechtigt. Denn das ziemlich
häufige Wort war offenbar damals bereits abgegriffen. Für uns er-
scheint es zuerst bei Hesiod Erga 376 μουνογενὴς πάις {…}«; 320
»Einzigartiges«; 321 »aux membres intègres«. 322 »einzig«; 323 »einheit-
lich«; 324 »entire {= μουνογενής}, unique, unmoved and perfect«: 325
»›of the solitary kind‹, i. e. ›unique‹«. 326 ▶ Ich ziehe οὐλομελές vor
(»einzig in seinem Bau«) und teile Gadamers Bezugnahme auf das
Universum: »Das Wort οὐλομελές bedeutet soviel wie ›mit heilen
Gliedern‹, eine Formulierung, die an den lebendigen Organismus ge-
mahnt, also an jenes Bild, das oft als Modell benutzt wird, um das
Universum zu beschreiben, und zwar nicht in seiner Vielheit, son-
dern als das Eine, das sein Leben führt und dem es an nichts mangelt,
um es selbst zu sein, ein einziger großer Organismus eben. Das von

315 DK I, 235.
316 Mansfeld 1995, 11.
317
Riezler 2001, 31.
318 LSJ 1270 mit Hinweis auf Parmenides.

319
Diels 2003, 35.
320 Diels 2003, 74.

321 Bormann 1971, 39. »Daß das Seiende ›einzigartig‹ ist, wurde aus seiner Ganzheit

deduziert« (Bormann 1971, 168).


322 Di Giuseppe 2011, 17.

323 Heitsch 1974, 25; Gemelli 19.

324 Hölscher 2014, 11.

325
Coxon 2009, 64.
326 Coxon 2009, 315; Hinweis auf Platon Ti. 31 b, 92 c; »for the termination cf. θηλυ-

γενής, ›of the female sex‹ {…} ὁμοιογενής, ›like in kind‹, etc.« (ebd.).

120
B8

Parmenides gebrauchte Wort οὐλομελές besagt offensichtlich, daß


das Universum eines ist und selbst alles in sich hält.« 327
ἠδ’ ἀτέλεστον: »ἠδ’ † ἀτέλεστον [›and perfect‹]: whenever 1.4
is quoted by itself, even by Simplicius, it ends ἠδ’ ἀγένητον.« Für
Coxon widersprechen Bedeutungen wie »imperfect«, »uninitiated«
oder »untaxed« der B 8.5 folgenden Aussage des Parmenides, das
Seiende habe weder Vergangenheit noch Zukunft. Für ihn hat »the
Homeric clausula (Δ 26)« den wahren Text verdrängt: »The best
emendation is ἠδὲ τέλειον [›and perfect‹]«. 328 ▶ Nun entsprechen
aber ἀτέλεστον und τέλειον einander als kontradiktorischer Gegen-
satz, was die Übersetzung mit »ohne Ende« rechtfertigt.

B 8.5
νῦν: Di Giuseppe sieht in diesem νῦν nichts weniger als eine Bedro-
hung der olympischen Götter: »{…} la marque νῦν (B8,5b) n’est pas,
si l’on peut dire, sans menace pour l’Olympe: par la concentration de
ce monosyllabe, Parménide efface l’éternité des dieux, l’épos qui s’y
étaie et la vocation de l’aède. Que EST soit maintenant – l’instant
éternel – réfute aussi bien la nature des dieux {…}.« 329
νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν, ἕν, συνεχές: Die aristotelische Interpreta-
tion des νῦν ist fernzuhalten (°III.7.a); es meint vielmehr »gegenwär-
tig, von der unmittelbaren Gegenwart«: 330 Kalchas, der Seher, weiß
τὰ ἐόντα {…} ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα. 331 Die Musen erfreuen auf
dem hohen Olymp dem Vater Zeus durch Singen den hohen Sinn,
εἴρουσαι τὰ τ’ ἐόντα τά τ’ ἐσσόμενα πρό τ’ ἐόντα! 332 Aus der Per-
spektive des νοῦς (und nur aus dieser) war das Seiende niemals in der
Vergangenheit, auch wird es nie sein; Begründung: ἐπεὶ νῦν ἔστιν
ὁμοῦ πᾶν, »da es auf einmal im Augenblick alles ist« (B 8.5). – Die
meisten Interpreten betonen die Überzeitlichkeit des Seins, beachten
aber nicht, dass ihr Verständnis von »Zeit« jenem des Aristoteles und
dessen Definition entspricht. Anders der μακρὸς χρόνος in Sopho-
kles’ Ajax: ἅπανθ’ ὁ μακρὸς κἀναρίθμητος χρόνος | φαίνει τ’ ἄδη-

327 Gadamer 1996, 164.


328 Coxon 2009, 315.
329 Di Giuseppe 2011, 141.
330
Gemoll 526.
331 Homer Il. I, 70.
332
Hesiod Th. 38.

121
Text · Übersetzung

λα καὶ φανέντα κρύπτεται. 333 Hier ist die Zeit nicht als Schwinden
einzelner nicht fassbarer Augenblicke gemeint, sondern als Macht,
die das Verborgene offenbar macht und, was verborgen war, erschei-
nen lässt; sie ist κἀναρίθμητος χρόνος, d. h. eine Zeit, die der Zahl
(dem ἀριθμός) nicht unterworfen ist (im Gegensatz zur aristote-
lischen Definition ἀριθμὸς κινήσεως).
πᾶν: wie ὅλος auf Einheit bezogen (»ganz, unversehrt, vollstän-
dig« 334); ἕκαστος dagegen auf Mehrheit bezogen (»jeder Einzelne, im
Gegensatz zu einer Vielheit oder Gesammtheit« 335). Ich stimme mit
Theunissen überein, dass »der jeweils nachfolgende Begriff den vor-
hergehenden expliziert«, teile aber nicht seine Erklärung im einzel-
nen: »Das Wort πᾶν ist dem Mißverständnis ausgesetzt, als meine es
τὰ πάντα, das All als die Gesamtheit der Dinge. Dieses Mißverständ-
nis wehrt das Wort ἕν ab. Die Rede von einem ἕν mag jedoch ihrer-
seits den falschen Eindruck erwecken, als nenne sie bloß Einzelnes,
etwas hier und jetzt auf sich Vereinzeltes. Eine solche Fehleinschät-
zung berichtigt wiederum der letzte Begriff, der des συνεχές. Er cha-
rakterisiert das Eine als ein Kontinuum, das nach seiner maßgeb-
lichen Bedeutung zeitlicher Art ist. Gemäß dem Sprachgebrauch
Homers stellt er klar, dass das Seiende als Eines ununterbrochen
ist.« 336 »Wie immer dieser Satz zu verstehen ist, sicher ist, daß beide
Begriffe, das πᾶν wie das ἕν, aber auch συνεχές nicht aus der Ver-
bindung mit νῦν ἔστι, dem positiven Prädikat nach dem negativen,
niemals ἦν, niemals ἔσται, gelöst werden dürfen. Konstitutives
Merkmal des Seienden ist seine volle Gegenwart, sein stetes Sein
eines nicht in der Vergangenheit gewesenen oder erst in der Zukunft
– nach, ἔπειτα – sich vollendenden ἐόν.« 337

B 8.6
συνεχές: »συνεχές kann in frg. 8,6 im Gegensatz zu frg. 8,25 nicht
das räumliche, sondern nur das zeitliche Kontinuum bedeuten – das
räumliche Kontinuum könnte nicht als Beweis für die Unentstan-
denheit dienen –, greift also auf ἀτέλεστον in frg. 8,4 zurück.« 338

333 Sophokles Aj. 646 f. »Die unermeßlich lange Zeit macht offenbar | alles Verborgne

und verhüllt, was sichtbar ist« (Sophokles 1966, 101).


334 Pape 2, 326.

335 Pape 1, 751.

336
Theunissen 1991, 113. Homer Il. 12, 25–26.
337 Deichgräber 1983, 14.

338
Bormann 1971, 155 f.

122
B8

Gegen die Auffassung, Parmenides gebrauche hier eine noch nicht


ausgebildete philosophische Terminologie und es handle sich bloß
um Metaphern, wendet Bormann ein: »1) Es gibt in den Fragmenten
keinen Hinweis, daß es sich hier um Metaphern handelt. 2) Wenn
ein Sachverhalt deutlich erfaßt ist, finden sich auch die geeigneten
Worte, um ihn darzustellen. {…} 3) Aus anderen Stellen ist erkenn-
bar, daß Parmenides die Räumlichkeit des Seienden nicht als Meta-
pher wertet.« 339
Eugen Fink hat grundsätzlich auf den Unterschied hingewiesen,
welches Modell ein Philosoph gebraucht und woran er sich dabei ori-
entiert. 340

B 8.7
ἐκ: Die Präposition ἐκ, »infolge von«, meint die ἀρχή, die Abstam-
mung bzw. den Ursprung. Definition der ἀρχή bei Aristoteles: πασῶν
μὲν οὖν κοινὸν τῶν ἀρχῶν τὸ πρῶτον εἶναι ὅθεν ἢ ἔστιν ἢ γίγνεται
ἢ γιγνώσκεται. 341 »Allen Ursprüngen ist es gemeinsam, das Erste zu
sein, woher etwas entweder ist oder entsteht oder erkannt wird.« Da-
bei sind der genetische und ontologische Ursprung prinzipiell zu un-
terscheiden: jener wie im genealogischen Mythos des Hesiod (ὅθεν
γίγνεται), dieser als Grund des Seins (ὅθεν ἔστιν) bzw. der Erkennt-
nis (ὅθεν γιγνώσκεται).
ἐάσσω | φάσθαι σ’ οὐδὲ νοεῖν: Die Göttin lässt ein Sagen nicht
zu, das ein Denken des Nichts wäre. Was sie sagt, ihr λόγος, ist ver-
trauenswürdig: {παύω} πιστὸν λόγον ἠδὲ νόημα, »{beend’ ich} mei-
ne Vertrauen erweckende Rede und den Gedanken« (B 8.5). Es gibt
also ein Sagen, aus dem das Denken hervorgeht, der Gedanke des
Seins; und eines, worauf dies nicht zutrifft: τῷ πάντ’ ὄνομ’ ἔσται, |
ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο; »deshalb wird alles Name sein, | was die
Sterblichen festgesetzt haben« (B 8.38 f.). Die Gegensätze: Sagen der
Göttin und der aus ihm entstehende Gedanke / Festsetzung der
Sterblichen; πιστὸς λόγος der Göttin, der auf πίστις beruht / βρο-
τοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ, »was die Sterblichen fest-
gesetzt haben, überzeugt davon, dass es wahr sei«; Wahrheit der Göt-
tin / vermeintliche Wahrheit der Sterblichen.

339
Bormann 1971, 162; die »anderen Stellen« beziehen sich auf B 8.42–49.
340 Fink 1958.
341
Metaph. Δ 2, 1013a17–19.

123
Text · Übersetzung

B 8.8
οὐ γὰρ φατὸν οὐδὲ νοητόν: Nicht der Gedanke geht dem Sagen vo-
raus (nach dem Motto »erst denken, dann reden«), sondern das im
Vertrauen gegründete Sagen macht erst ein Denken möglich.

B 8.9
χρέος: »The phrase τί χρέος … [›what necessity‹] is synonymous in
fifth century poetry with the more colloquial τί χρῆμα … [›what?‹/
›why?‹]; and signifies simply ›what circumstance … ?‹ or ›what mat-
ter … ?‹« 342 Zur Erklärung von χρέος reicht dieser Hinweis auf den
Sprachgebrauch aber nicht aus: »χρέος ist in Od. VIII 353 die Schuld,
die jemand bezahlen muß, der Schadenersatz {…}. Diese Bedeutung
weitet sich zu ›Schuld‹, die eingelöst werden muß, und zwar nicht nur
als Schadenersatz {…}. Die Bedeutung ›Schuld‹ kann sehr weit gefaßt
sein, sodaß χρέος auch die Schuldigkeit, Verpflichtung, Pflicht, Ge-
bühr bezeichnen kann oder auch das Anliegen, die Obliegenheit {…}.
Eine Verpflichtung kann so stark sein, daß sie gleichbedeutend ist mit
Notwendigkeit. {…} Diese Bedeutung hat χρέος bei Parmenides
frg. 8.9: Für das Seiende besteht keine Verpflichtung, keine Notwen-
digkeit, die es treibt, zu irgendeinem Zeitpunkt, früher oder später, in
der Weise zu entstehen, daß es mit dem Nichts beginnt, d. h. daß es
aus dem Nichts entsteht.« 343 ▶ »Schuld«.

B 8.12
πίστιος ἰσχύς: Wer ist diese Macht, ἰσχύς? Und was meint πίστις?
°B 2.4 πειθοῦς κέλευθος (Ἀληθείη γὰρ ὀπηδεῖ). Stets verbunden
mit ἀλήθεια, also stillschweigend auch gegen den Schein. Treue,
Glauben, Vertrauen, Zutrauen: πίστεις καὶ ἀπιστίαι ὤλεσαν ἄν-
δρας, Hes. Op. 370; ἐν ὄμμασι θέσϑαι πίστιν, Pind. N. 8, 44; Aesch.
Pers. 435; θνήσκει δὲ πίστις, βλαστάνει δ’ ἀπιστία, Soph. O. C.
617 (Pape).

B 8.14
Δίκη: »Dike ist die ontische ›Verbindlichkeit‹ oder die ›Wesensnot-
wendigkeit‹, und als solche ist sie für den νόος maßgebend. Nicht die
Fesseln der logischen Verbindlichkeit lassen das Seiende nicht ent-
stehen und vergehen, wie auch Tarán im Gefolge Fränkels annimmt,

342 Coxon 2009, 319.


343
Bormann 1971, 76. »χρέος] so öfter bei Pindar, noch nicht episch« (Diels 2002, 75).

124
B8

sondern die Fesseln der ontischen Verbindlichkeit, d. h. die rechte


Ordnung des Seienden. Was mit ontischer Ordnung oder Verbind-
lichkeit gemeint ist, ist aus Parallelstellen zu erkennen. Frg. 8,30 f.:
›Die starke Notwendigkeit hält es (das Seiende) in den Banden der
Grenze, die es ringsum einschließt‹ ; ferner frg. 8,37 f.: ›Moira band
es (das Seiende), ein Ganzes und ohne Bewegung zu sein‹.« 344
πέδῃσιν: »{…} zu erkennen ist lediglich, daß die Fesselung des
Seienden die Folgerung daraus ist, daß Seiendes nicht aus Seiendem
entstehen kann, weil diese Auffassung gleich der Behauptung wäre,
Seiendes gehe aus dem Nichts hervor«. 345 Die Fesselung des Seienden
in seinen Grenzen hat folgenden Grund: »Die dem Seienden imma-
nente Notwendigkeit hält das Seiende in räumliche Grenzen einge-
schlossen. Daher ist das Seiende vollendet, weil ihm nichts mangelt
(und es sich deshalb nicht bewegt). Das Ende bildet ein direkter Be-
weis: Mangelte dem Seienden etwas, dann wäre es nicht seiend.« 346

B 8.16
κέκριται δ’ οὖν, ὥσπερ ἀνάγκη: κέκριται bezieht sich auf κρίσις
B 8.15; ἀνάγκη °III.6.c.iii.

B 8.17
τὴν μὲν ἐᾶν: bezieht sich auf ἡ ὁδός B 18. Er ist ἀνόητον ἀνώνυμον:
ἀνόητον, weil er sich der νόησις entzieht und deshalb »undenkbar«
ist; ἀνώνυμον, weil es nur ein Name wäre, da bloß eine Festsetzung
der Sterblichen (τῷ πάντ’ ὄνομ’ ἔσται, | ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο,
»deshalb wird alles Name sein, | was die Sterblichen festgesetzt
haben«: B 8.39).

B 8.22
διαιρετόν: »Die Schwierigkeit in der Deutung der Kugelförmigkeit
des Seienden {B 8.43} liegt darin, daß ihm mit der kugelförmigen
Ausgedehntheit auch Teilbarkeit zugeschrieben werden müßte.« 347
πᾶν ἐστιν ὁμοῖον: »Was mit πᾶν ὁμοῖον gemeint ist, läßt sich
aus dem Vorhergehenden entnehmen. 1) Werden und Vergehen sind
nur möglich, wenn es eine Mehrheit von Seiendem gibt. {…} πᾶν

344 Bormann 1971, 158.


345
Bormann 1971, 159.
346 Bormann 1971, 166.
347
Neumann 2006, 45.

125
Text · Übersetzung

ἐστιν ὁμοῖον beinhaltet {…} 2) die Identität des Seienden in der Zeit.
Das Seiende beharrt unveränderlich in der Zeit. 3) Als absolut einfach
und in der Zeit uneingeschränkt mit sich identisch kann das Seiende
keine Teile haben.« 348

B 8.25
πελάζει: »ἐὸν γὰρ ἐόντι πελάζει formulates positively what is ne-
gatively expressed in fr. 4: ›one shall not cut Being from Being.‹« 349

B 8.27
ἄναρχον ἄπαυστον: Das ἐόν ist ἄναρχον, da keine ἀρχή. Dadurch
unterscheidet es sich von der Frage der Milesier nach einem letzten
Ursprung. Daher kann die Göttin auch sagen, es mache für sie keinen
Unterschied, ὁππόθεν ἄρξωμαι, »wo {sie} anfangen werde« (B 5.2) –
ob mit dem Wasser (Thales), dem Apeiron (Anaximander) oder der
Luft (Anaximenes). Es gibt damit auch kein Ende der Forschung;
denn sobald eine jener ἀρχαί erreicht ist, kommt alles weitere Fragen
zum Stillstand, daher ἄπαυστον, »unaufhörlich«.

B 8.28
ἀπῶσε: ἀπωθέω »wegstoßen, vertreiben«, auch mit der Nebenbedeu-
tung »verabscheuen«.
πίστις ἀληθής: Sie wohnt nicht in den Meinungen der Sterb-
lichen (βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής: B 1.30), ist aber
dem Seienden eigen.

B 8.34
νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα: »Daß die Übersetzung von
frg. 8,34 zum Problem wird, welches die Ausdeutung sehr beeinflußt,
beruht darauf, daß οὕνεκεν verschiedene Bedeutungen haben kann,
welche in frg. 8,34 jeweils guten Sinn ergeben, sich auch im Zusam-
menhang nicht von vornherein als abwegig erweisen und darüber
hinaus auf das Parmenides-Verständnis entscheidend auswirken, da
frg. 8,34 ff. eine der grundlegenden Aussagen über das Verhältnis
von Denken und Sein ist.« 350 Simplikios: οὕνεκεν in finaler Bedeu-

348
Bormann 1971, 162. Zur Beweisstruktur B 8.22–25: Bormann 1971, 163 f.
349 Meijer 1997, 77.
350
Bormann 1971, 78; 78 ff. Referat der Interpretationen von Simplikios bis Hölscher.

126
B8

tung; für Diels richtig getroffen, wenn man von der neuplatonischen
Deutung absieht; Fränkel u. a. »daß« oder »weil«; Gadamer »daß«;
andere Autoren: »es ist möglich«; Hölscher: »Das Gesagte ist, hat
Bestand oder beruht im Seienden.« Für Bormann »bleibt als einzige
Möglichkeit, in frg. 8,34 οὕνεκεν die Angabe des logischen Grundes
zu sehen {…} die richtige Übersetzung ist ›weswegen‹«. 351 Bestäti-
gung durch v. Fritz und Schwabl, der aber Verdenius folgt, diesem
auch Vlastos. »Zu übersetzen ist: ›Dasselbe aber ist möglich zu den-
ken und (ist) das, weswegen das Denken ist.‹ ›Das, weswegen das
Denken ist, heißt: Grund für das Denken.‹« 352
Die Zeile nimmt den Gedanken von B 3 auf, erweitert ihn aber
um das οὕνεκεν, »dessentwegen«; der Sinn ist eindeutig, die Zuord-
nung aber zweideutig. Das οὕνεκεν bezeichnet den Grund, doch
Grund wofür? Entweder ist gemeint, das νοεῖν sei Grund für das
νόημα, oder beide gründen im ἐόν gemäß B 8.35–36 οὐ γὰρ ἄνευ
τοῦ ἐόντος {…} εὑρήσεις τὸ νοεῖν: »Denn nicht ohne das Seiende
{…} wirst du das Denken finden.« 353
Es gibt einen zweifachen Vorrang: den des νοεῖν vor dem νόημα.
Ein Beispiel: Telemach will nach dem Verbleib seines Vaters Odysseus
forschen, was Euryklea, dessen Dienerin, erschreckt: τίπτε δέ τοι,
φίλε τέκνον, ἐνὶ φρεσὶ τοῦτο νόημα | ἔπλετο; »Wozu ist dir nur,
liebes Kind, dieser Gedanke in den Sinn gekommen?« 354 Das νόημα,
der Gedanke, ist Teil eines Gedankenganges: Euryklea soll Telemach
Wein schöpfen, ihm Gerstenmehl bringen, das er am Abend holen
wird, um dann mit einem Schiff nach Sparta zu gehen, »um Kunde
einzuholen von der Heimkehr meines Vaters, ob ich irgend davon
höre«. 355 Sind dies nicht verschiedene νοήματα, Gedanken, die dem
Telemach in den Sinn gekommen sind, Absichten, die aber alle ein
νοεῖν ausmachen? 356 Das ἐόν hat einen Vorrang vor dem νοεῖν.

351
Bormann 1971, 81.
352 Bormann 1971, 81 f.
353 Vgl. Gadamer 1996, 167.

354 Homer Od. 2, 363.

355 Homer Od. 2, 360; Homer 1958, 26.

356 Picht bemerkt zur Stelle, »daß die Versreihe B 8.34–41 einen Durchblick durch den

gesamten Aufbau des parmenideischen Denkens gibt; denn sie führt von dem Selben
im Erkennen und ›Seienden‹ über die Fesseln der Moira bis in den Bereich der δόξα«,
ferner »daß diese Versreihe sich in ihrem Aufbau genau an das Fragment {21} B 26 des
Xenophanes anschließt« (Picht 1996, 53).

127
Text · Übersetzung

B 8.35
οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος: »non enim seorsum ab ente, in quo reposi-
tum est, cogitare reperies«. 357
πεφατισμένον: »φατίζω ist das Wort für ›sagen‹, das die Göttin
in der Ankündigung der Kosmologie gebraucht ({B} 8.60). {…} Daß
Parmenides ἔστιν natürlich als Kopula im Sinne von ›existieren‹,
{B 8} 1.2.34 nicht stets als Bezeichnung des wahren Seins gebraucht,
sollte erst recht nicht übersehen werden. {…} Wir übersetzen also:
Man wird das Erkennen, in dem, was gesagt ist, nicht ohne das Sei-
ende finden.« 358

B 8.37
Μοῖρ’: »μοῖρα f. ›Teil, Stück, Grundstück, Anteil, Grad, Los, (böses
oder gutes) Schicksal, Todeslos‹, auch personifiziert ›Schicksalsgöttin‹
(seit Il.)«. 359 Bei Hesiod sind es drei Schicksalsgöttinnen, Klotho, La-
chesis und Atropos: »Diese aber geben | den sterblichen Menschen das
Gute und Schlechte.« 360 In den drei Moiren spiegelt sich die Drei-
dimensionalität der Zeit (°III.6.c.iii). μοῖρα und ἀνάγκη sind Syno-
nyme. 361
ἐπέδησεν: Der Aorist drückt den einmaligen Akt aus, der das
Lebensgeschick der Menschen mit Notwendigkeit bestimmt (ἐπιδέω
»anbinden, verbinden«).

B 8.38
τῷ πάντ’ ὄνομ(α) ἔσται: »sein Name wird ›alle Dinge‹ sein«. 362

B 8.40
εἶναί τε καὶ οὐχί: bezieht sich auf ἄκριτα φῦλα, | οἷς τὸ πέλειν τε
καὶ οὐκ εἶναι ταὐτὸν νενόμισται | κοὐ ταὐτόν, »verworrene Scha-
ren, denen das Sein wie das Nichtsein für dasselbe gilt | und nicht für
dasselbe« (B 6.7–9).

357 S. Karsten: Parmenidis Eleatae carminis rell., Amstelodami 1835, zit.: Deichgräber

1983, 4.
358 Deichgräber 1983, 5.

359 Frisk II 196.

360 Hesiod Th. 905 f.; 1978, 119.

361 »garantisce ora l’integrità {…} il suo nomine è divenuto sinonimo di Ananke« (Un-

tersteiner 1958, p. CLVII149). – Διώρεα Μοῖρ’ ἐπέδησε (Homer Il. 4, 517); Ἕκτορα δ’
αὐτοῦ μεῖναι ὀλοιὴ μοῖρ’ ἐπέδησεν (Il. 22, 5). S. a. Il. 24, 49; Od. 11, 292.
362
Gemelli II, 23 (vgl. ebd. 68 und 88).

128
B8

B 8.41
τόπον ἀλλάσσειν: »den Ort zu wechseln«: Ein Ort wird einem ande-
ren vorgezogen. »das μετέρχεσθαι {Xenophanes 21 B 26.2} wird
durch das τόπον ἀλλάσσειν – ›den Ort wechseln‹ – aufgenom-
men«. 363
διά τε χρόα φανὸν ἀμείβειν: »{…} und durch Farbe das Licht zu
tauschen.« An die Stelle des durchscheinenden Lichtes 364 tritt die Far-
be – ersetzt sie etwa das Weiß des λεύσσειν (B 4.1)? Dann wäre dies
grundsätzlich mehr als nur ein Farbentausch 365 (wobei ja Weiß ohne-
hin keine Farbe ist), dementsprechend auch keine Änderung der Farbe
durch verschiedene Mischung. 366 »Die Zeit vergeht, und auch die Far-
ben vergehen … Das ist die Stimmung im Hintergrund dieses Bildes,
und darauf will der Dichter zweifellos hinaus. Er will die Angst ins
Bewußtsein rufen, welche die Sterblichen darüber empfinden, daß
alles, was entsteht, der Vergänglichkeit anheimfällt, daß alles Ge-
borene sterben muß. Aber die Göttin weiß es besser als die Sterb-
lichen.« 367 ▶ Der Farbwechsel lässt demnach eine Abwehr erkennen:
gegen das, ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο, »was die Sterblichen festgesetzt
haben« (°B 8.39) und womit sie das Sein verfehlen.

B 8.42
πεῖρας πύματον: »Begrenzung und Vollendung bedingen nach Par-
menides einander. Unbegrenzt wäre das Unvollendete; da Begren-
zung dem Seienden zukommt, kann das Unbegrenzte nur das Nichts
sein. Das Nichts ist nicht; folglich existiert das Unbegrenzte nicht.« 368

B 8.43
εὐκύκλου σφαίρης: ὡς Ὀρφεὺς εἶπεν ›ὠεὸν ἀργύφεον‹, »ein weiß-
schimmerndes Ei« (28 A 20). »Die Vorstellung der wohlgerundeten,
völlig ausgewogenen Seinskugel geht insofern auf Anaximander zu-

363 Picht 1996, 53.


364
φανός, »licht, hell, leuchtend; πῦρ Plat. Phil. 16 c; – glänzend weiß, χλαῖνα, σισύ-
ρα, (Ar. Ach. 810)« (Pape 2, 1254).
365 »change their bright complexion to dark and from dark to bright« (Coxon 2009,

334).
366 πῶς ὕδατος γαίης τε καὶ αἰθέρος ἠελίου τε | κιρναμένων εἴδη τε γενοίατο

χροῖά τε θνητῶν | τόσσ’, ὅσα νῦν γεγάσι (Empedokles 31 B 71). »{…} wie durch
Mischung von Wasser, Erde, Äther und Sonne so viele Gestalten und Farben der
sterblichen Dinge entstehen könnten, als jetzt entstanden sind« (DK I, 338).
367 Gadamer 1996, 168.

368
Bormann 1971, 171.

129
Text · Übersetzung

rück, als Anaximander das Feststehen der Erde durch den gleichen
Abstand nach allen Seiten erklärte.« 369 εὖ ἔχειν »in einem guten
Zustand sich befinden«; 370 »comparable au volume d’une sphère à
l’orbe pur«. 371 Zwei Quellen: »{…} d’une part, *εὐκυκλ- est bien un
étymon parménidien; et d’autre part, nous constatons que Simplicius
lisait εὐκυκλέος dans une copie intégrale du poème, témoin d’une
tradition, manuscrite et exégétique, remontant, peut-être, à l’Aca-
démie de Platon.« 372 »That P. uses σφαῖρη here to mean ›sphere‹ and
not simply ›ball‹ is indicated by the epithet εὐκύκλου [›well-rounded‹],
which denotes that its roundness is perfect; that the sphere he has in
mind is nevertheless physical is clear from the terms ὄγκῳ (›volume‹)
and ἰσοπαλές (›equally poised‹).« 373 Simplikios schreibt im Kom-
mentar zur aristotelischen Physik: »Weder wünscht er (nämlich Par-
menides), dass das eine Seiende überhaupt körperlich sei, indem er es
für unteilbar erklärt und sagt: ›Auch ist es nicht teilbar, da gleich in
jeder Beziehung.‹ {B 8. 22} Was er hier sagt, passt nicht gerade für den
Himmel, wie Eudemos berichtet, dass manche unterstellt haben, als
sie den Ausdruck hörten, ›von allen Seiten her, ähnlich der Masse
einer gut gerundeten Kugel‹. Denn der Himmel ist nicht unteilbar,
und er ist nicht gleich einer Sphäre, sondern er ist eine Sphäre, die
genaueste unter den natürlichen Dingen.« 374 Unter Berufung auf die
Kugel kommt Burnet zu dem Schluss, Parmenides sei »nicht, wie
einige gesagt haben, der ›Vater des Idealismus‹ ; im Gegenteil, aller
Materialismus hängt mit seiner Anschauung der Wirklichkeit zu-
sammen.« Ihn deshalb den »Vater des Materialismus« 375 zu nennen,
widerspricht allerdings grundlegenden Aussagen der FF (°B 4.1–2).

B 8.44
ἰσοπαλὲς: »gleich«. »Das tertium comparationis für Kugel und Sei-
endes ist die Gleichmäßigkeit und Homogenität: wie eine überall

369
Bormann 1971, 178; ebd. 171–179: Referat verschiedener Interpretationen des Ku-
gelvergleichs. Zu weiterer Literatur: Neumann 2006, 38–44.
370 Pape 1, 1054.

371 Di Giuseppe 2011, 19.

372 Di Giuseppe 2011, 43.

373 Coxon 2009, 338; »any globe, Parm.8.43« (LSJ 1738).

374 Zit. Coxon 136/137.

375
Burnet 1913, 167. – Doch bemerkt auch Hegel, »die Art und Weise {…}, wie Par-
menides die Empfindung und das Denken erklärte«, könnte »zunächst als Materialis-
mus erscheinen« (WA 18, 292).

130
B8

gleichgewichtige Kugel ist das Seiende in sich stabil (Vers 44), da es


nirgends ein Mehr oder Weniger gibt (Vers 44/45).« 376

B 8.45
βαιότερον: οὔτε τι μεῖζον | οὔτε τι βαιότερον sind quantitative Be-
stimmungen, die auf Αnaximenes hinweisen. Simplikios bringt in
seiner Physik das Zitat, ὅτι ἄλλο μέν ἐστι τὸ κατὰ πλῆθος ἄπειρον
καὶ πεπερασμένον {…}, ἄλλο δὲ τὸ κατὰ μέγεθος ἄπειρον καὶ πε-
περασμένον, 377 d. h. dass die φύσις (er nennt sie ἄπειρον) einerseits
der Menge nach, anderseits hinsichtlich ihrer Größe grenzenlos und
vollendet ist.

B 8.46
παύοι: Der Zurückweisung quantitativer Bestimmungen (οὔτε τι
μεῖζον | οὔτε τι βαιότερον B 8.44–45) der räumlichen Auffassung
(πεῖρας πύματον B 8.42) folgt jetzt die Negation des zeitlichen Ab-
laufs (παύειν »aufhören«).

B 8.47
ὁμόν: »mir sonst unbekannte Fügung«. 378

B 8.48
πᾶν ἐστιν ἄσυλον: »Gemeint ist nicht, daß das Seiende vor Gewalt
sicher ist; der Grund dafür, daß das Seiende ἄσυλον ist, liegt nicht
darin, daß dem Seienden nichts schaden kann, sondern darin, daß
das Seiende allseitig gleich ist und gleichmäßig in seinen Grenzen ist.
Weil es von allen Seiten gleichmäßig in räumliche Grenzen einge-
schlossen ist, ist die Gestalt des Seienden homogen und ›unverletzt‹.
Ferner: Was an seinen Grenzen homogen ist, ist auch in sich selbst
homogen. Daher ist das Seiende nicht nur in bezug auf seine Gestalt,
sondern auch in sich selbst ›unverletzt‹ und vollkommen. ἄσυλον ist
daher das Seiende gemäß seiner Gestalt und seinem inneren Zusam-
menhang.« 379 Hier wie bei ἀνώλεθρόν (B 8.3) und natürlich ἀτρεμὲς
(B 8.4) besteht ein deutlicher Bezug zu ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς
ἦτορ (B 1.29).

376 Heitsch 1974, 175. Literatur zum Kugelvergleich: Untersteiner 1958, p. CLXIII174.
377
DK 13 A 5.
378 Diels 2003, 91.
379
Bormann 1971, 175. ἄσυλος »safe from violence, inviolate« (LSJ 264).

131
Text · Übersetzung

B 8.49
κύρει: κυρέω »treffen, antreffen«, bei den Tragikern »sich befinden,
sein«. 380

B 8.50
παύω πιστὸν λόγον: Die Rede der Göttin ist πιστός, zuverlässig und
glaubwürdig, anders als βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής,
»der Sterblichen Meinungen, in denen nicht wahres Vertrauen
wohnt« (B 1.30). Was sie dem Kuros als ersten Weg kündet, πειθοῦς
ἐστι κέλευθος (Ἀληθείῃ γὰρ ὀπηδεῖ), »ist des Vertrauens Pfad
(folgt er der Wahrheit doch)« (B 2.4). Für die dafür geforderte Schau
gilt für das Anwesende und vor allem für das Abwesende: ὅμως
ἀπεόντα νόῳ παρεόντα βεβαίως, »obgleich es abwesend ist: für das
geistige Auge ist es da auf zuverlässige Weise« (°B 4.1).

B 8.51
ἀμφὶς ἀληθείης: ἀμφίς Genetiv-Präposition, »zu beiden Seiten«:
nämlich in zweifacher Ausrichtung: bezogen auf das Herz der Wahr-
heit und auf die Meinungen der Sterblichen (B 1.29–30).
δόξας: Der Plural drückt die Vielfalt der Meinungen aus, u. zw.
der βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν, der »Sterblichen, welche nichts wissen«
(B 6.4).

B 8.52
μάνθανε: »Aber von hier ab lerne die menschlichen Schein-Meinun-
gen kennen, | indem du meiner Worte trügliche Ordnung hörst« (DK);
»indem du meiner Verse trüglichen Bau anhörst«; 381 »die arglistige
Ordnung«; 382 »die täuschende Ordnung«; 383 »das trügerische Ge-
füge«; 384 »trügendes Gefüge«; 385 »die trügerische Ordnung«; 386 »the

380 οὕνεκ’ ἐκτὸς αἰτίας κυρεῖς »dass du außer Schuld bist« (Aischylos, Pr. 330; Pape
1, 1535).
381 Diels 2003, 39.

382 Bormann 1971, 45.

383 Heitsch 1974, 35.

384
Hölscher 2014, 17.
385 Riezler 2001, 35.

386
Mansfeld 1995, 15.

132
B8

deceptive order«; 387 »hearing the deceptive composition of my


verse«. 388
Alle diese Übersetzungen beruhen auf der Annahme des Gegen-
satzes von B 8.50–51: ἐν τῷ σοι παύω πιστὸν λόγον, »dadurch be-
end’ ich für dich meine Vertrauen erweckende Rede«, und δόξας δ’
ἀπὸ τοῦδε βροτείας | μάνθανε, »aber die sterblichen Meinungen
von da an | lerne«. Im Gegensatz zur verlässlichen Rede, welche die
Göttin dem Kuros zu dessen Sorge anvertraut (κόμισαι δὲ σὺ μῦθον
ἀκούσας, »höre du aber die Kunde und eigne sie an«, B 2.1), steht bei
den meisten Übersetzungen sinngemäß die trügliche Ordnung, be-
zogen auf die Worte der Göttin. Müsste aber daraus nicht folgen, dass
die Göttin F1 »verlässlich« und F2 »trüglich« redet? Doch warum
sollte der Kuros Worten vertrauen, die »trüglich« sind, d. h. die ihn
täuschen?
Ich ziehe daher eine andere Möglichkeit in Betracht (die auch
grammatisch begründbar ist). Die Göttin sagt, der Kuros solle »die
trügliche Welt« (κόσμον ἀπατηλὸν) kennen lernen. Sie ist »trüg-
lich«, weil sie sich auf die δόξαι βρότειαι verlässt und aus diesem
Grund für wahr gehalten wird; doch die δόξαι βρότειαι (ταῖς οὐκ
ἔνι πίστις ἀληθής, »in denen nicht wahres Vertrauen wohnt«:
B 1.30, im Gegensatz zum πιστὸς λόγος der Göttin: B 8.50) geben
sich nur das Ansehen (δοκίμως: B 1.32), als wären sie wahr. Es stellt
sich deshalb die Aufgabe, den alles durchdringenden Schein (διὰ παν-
τὸς πάντα περῶντα: B 1.32) als solchen zu durchschauen. Dazu ist es
aber unumgänglich, »auf meine {der Göttin} Worte zu hören«, ἐμῶν
ἐπέων{…} ἀκούων, 389 um über die trügerische Welt, den κόσμον {…}
ἀπατηλὸν 390 κρῖναι δὲ λόγῳ, »durch Ablegung von Rechenschaft
den viel bestritt’nen Beweis« zur Entscheidung zu bringen« (B 7.5).
▶ Das Resultat: κόσμον {…} ἀπατηλὸν bezieht sich nicht auf die
Worte der Göttin, sondern auf die Welt; die Übersetzung von B 8.52
lautet daher nicht: »indem du meiner Worte trügliche Ordnung
hörst«, sondern: ▶ »lerne, indem du auf meine Worte hörst mit Blick
auf die trügliche Welt«.

387 Tarán 1965, 86.


388 Coxon 2009, 80.
389
ἔπος, »Wort«, findet sich außer an dieser Stelle nur B 1.23, wo es für die ganze
Rede der Göttin steht; ἀκούειν mit Genetiv.
390
Ein accusativus respectus.

133
Text · Übersetzung

B 8.53
κατέθεντο: Auseinandersetzung mit den Milesiern: Gadamer 1996,
140 und 189 ff.

B 8.54
μίαν: »nur eine derselben, das sei unerlaubt«; 391 »von denen man
freilich eine nicht ansetzen sollte«; 392 »von denen eine einzige nicht
(benannt werden) darf«. 393 Nun bedeutet μία »eine einzige«, wäh-
rend bei DK ἑτέραν statt μίαν stehen müsste: eine von beiden. Der
Sinn wäre dann: Eine dieser beiden Formen (z. B. die Nacht) dürfte
man nicht ansetzen.
»Versuchen wir bloß einmal zu übersetzen, indem wir uns folgendes ins
Gedächtnis rufen: gegenüber stehen sich δύο μορφαί und μία (μορφή).
Diese μία μορφή muß, wie das Relativpronomen deutlich zeigt, mit den
δύο μορφαί in enger Beziehung stehen, also: ›zwei Gestalten, von denen
eine Gestalt‹. Dabei darf das τῶν nicht partitiv aufgefaßt und unter der
einen Gestalt nicht ›eine von den beiden‹ verstanden werden, weil ja dann
das Griechische ἑτέρην forderte. | Wenn aber das τῶν nicht partitiv sein
kann, so bleibt immer noch die Möglichkeit des Gegenteils, nämlich einer
kollektiven Auffassung, d. h. das μία muß die Einheit der δύο sein, und so
können wir übersetzen: ›denn sie legten ihre Meinung dahin fest, zwei For-
men zu benennen, von denen eine Eine (d. h. eine einheitliche, die beiden
zusammen erfassende Gestalt) nicht notwendig ist; in diesem Punkte sind
sie in die Irre gegangen‹. Als die eine, die beiden ›Gestalten‹ zusammenfas-
sende ›Gestalt‹ kommt natürlich nur das Sein in Frage, freilich nun als eine
Gestalt der höheren, umfassenden, letzten Ebene und keineswegs in Analo-
gie zu Licht und Dunkelheit: denn wo vom Sein die Rede ist, da kann von
Licht und Dunkelheit nicht mehr die Rede sein.« 394
Ich übersetze deshalb mit Schwabl ▶ »von diesen braucht es nicht
eine allein« und halte fest, dass das Sein weder dem Tag, noch der
Nacht zuzuordnen ist, sondern als »die eine, die beiden ›Gestalten‹
zusammenfassende ›Gestalt‹« zu begreifen ist (°III.6.b–c).

391 Diels 2003, 41.


392 DK I, 239.
393
Bormann 1971, 45.
394 Schwabl 1953, 53 f. Die dafür wichtigen weiteren Ausführungen sind diesem Auf-

satz zu entnehmen.

134
B8

B 8.55
δέμας: Das Verbum δέμω, mit lat. domus verwandt, hat die Bedeu-
tungen »bauen, erbauen, anlegen« (z. B. einen Steinwall, eine Mauer
oder einen Weg); entsprechend bedeutet das Substantiv δέμας »Bau,
Körperbau, Gestalt, Körper«. 395 Das Wort kommt bei Parmenides
noch B 8.59 vor: νύκτ’ ἀδαῆ, πυκινὸν δέμας ἐμβριθές τε (»die
Nacht, ein dichter und schwerer Körper«). Vor Parmenides sagt Xe-
nophanes von den Göttern, sie würden geboren und hätten so wie die
Sterblichen Kleidung, Stimme und Körper (ἐσθῆτα ἔχειν φωνήν τε
δέμας τε, 21 B 14.2); demgegenüber ist der Gott den Sterblichen
weder an Körper noch an Denken gleich (οὔτι δέμας θνητοῖσιν
ὁμοίιος οὐδὲ νόημα, 21 B 23.2). Nach Parmenides findet sich δέμας
bei Empedokles: αὔξει δὲ χθὼν μὲν σφέτερον δέμας, αἰθέρα δ’ αἰ-
θήρ. »Es mehrt die Erde ihre eigene Gestalt, den Äther der Äther«
(31 B 37; s. a. 31 B 62.7).

B 8.60
διάκοσμον ἐοικότα: διάκοσμος wie διακόσμησις »Anordnung,
Einrichtung«. Der aufgrund der Einrichtung der Göttin entworfene
κόσμος ist »gleich in jeder Hinsicht«. Bezieht sich ἐοικότα auf die
gut gerundete Kugel (B 8.43), μεσσόθεν ἰσοπαλὲς πάντῃ, »inmitten
überall gleich« (B 8.44)? Entspricht daher dem in sich vollendeten
Sein der seiner Einrichtung nach überall hin (πάντῃ) vollkommene
Kosmos? Ist er deshalb unübertrefflich, weil es über die Vollkommen-
heit hinaus ja nichts geben kann? Wie steht es aber dann damit, dass
quantitative Bestimmungen wie bei Anaximenes eigens zurück-
gewiesen werden (°B 8.45)? Wird dieser Weltentwurf des Parmenides
nur von Anaximenes nicht übertroffen, oder wird dieser stellvertre-
tend für die milesischen Kosmologen erwähnt?

B 8.61
βροτῶν γνώμη: »Die Vorsokratiker gehen in ihrem Gebrauch von
γνώμη von der Bedeutung ›Einsicht‹ aus. Dabei wird γνώμη jedoch
nicht nur rein als Erkenntnisorgan gefaßt, sondern weiter, fast als
Wille oder als Synonym für νοῦς.« 396

395Gemoll 187.
396
Snell 1924, 35. Beispiele: Heraklit 22 B 41; Epicharmos 23 B 4; Demokritos 68 B
191. – »Wir sehen, daß die ionischen Philosophen stets das Vernünftige der γνώμη
hervorheben. Im charakteristischen Gegensatz dazu steht der Eleat Parmenides, dem

135
Text · Übersetzung

παρελάσσῃ: »Der Grund, warum der Kuros, nachdem er (alles)


über das Seiende und die wahre Erkenntnis gehört hat, nun auch die
wahrscheinliche Welterklärung der Göttin erlernen soll, wird mit
dem Vers B 8.61 evident, der besagt, dass niemand jemals den Kuros
in seinen Schlussfolgerungen überholen solle. Die Begründung der
Göttin ist der Idee nach mit traditionellen epischen Werten ver-
knüpft: Tatsächlich erinnert sie an das homerische Ideal, dass der Held
immer der Beste und stets den Anderen voraus sein sollte.« 397 Doch
warum sollte der Kuros dies? Hier eröffnet die Göttin »eine episte-
misch begründete Diskussion«, die über Homer hinausgeht: »Denn,
wie es Platons Höhlengleichnis suggeriert, dass derjenige, der die
Wahrheit gesehen hat, nochmals ins Dunkle hinabsteigen und der
beste Schattendeuter sein kann, soll der Kuros neben der Seins-
erkenntnis, im Bereich der weltlichen Dinge außergewöhnlich fach-
kundig sein.« 398
Indem die Göttin dem Jüngling ihr Wissen vom Aufbau der Welt
kundgibt, vermittelt sie ihm eine Kosmologie, die von keiner anderen
übertroffen werden kann. Tarán geht wie die meisten Interpreten von
der durchgehenden Scheinhaftigkeit der δόξα aus; daher »is the best
explanation of empirical reality {…} incompatible with Parmenides’
philosophy and with his notion that the world of Doxa is absolute
non-Being« (Tarán 1965, 227). ▶ Dagegen weise ich die Festlegung
auf die Gleichung δόξα = Schein zurück (°B 8.52; III.8.a).

B9

1 αὐτὰρ ἐπειδὴ πάντα φάος Doch da alles Licht war benannt und
καὶ νὺξ ὀνόμασται Nacht,
2 καὶ τὰ κατὰ σφετέρας δυνά- und zwar mit Rücksicht auf ihre
μεις ἐπὶ τοῖσί τε καὶ τοῖς, eigenen Kräfte bei diesen und jenen,
3 πᾶν πλέον ἐστὶν ὁμοῦ φάεος ist alles zugleich des Lichtes voll und
καὶ νυκτὸς ἀφάντου der dunklen Nacht,

nur das reine Denken gilt: γνώμη wird ihm zum Synonym von δόξα« (Snell 1924,
37). Diese Behauptung beruht auf der üblichen Entgegenstellung von milesischem
und eleatischem Denken und ist daher zu verneinen.
397
Stemich 2008, 116 f.
398 Stemich 2008, 117; mit Hinweis auf Platon R. VII, 514 a – 517 a. »Genau: Pl. R.

520c16 {…}« (ebd. 117 f.354).

136
B9

4 ἴσων ἀμφοτέρων, ἐπεὶ οὐδε- die beide einander die Waage halten,
τέρῳ μέτα μηδέν. dass keines von ihnen dem anderen
nachsteht.

B 9.1
πάντα … ὀνόμασται: Es wird alles (πάντα) mit Namen genannt. 399
In den FF ist noch zweimal von Namen, ὀνόματα, die Rede: B 8.38 f.:
τῷ πάντ’ ὄνομ’ ἔσται, | ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο, »deshalb wird alles
Name sein, | was die Sterblichen festgesetzt haben«; B 19.3: τοῖς
ὄνομ’ ἄνθρωποι κατέθεντ’ ἐπίσημον ἑκάστῳ. »Diesen {Dingen}
aber haben die Menschen festgesetzt einen Namen, mit einem Zei-
chen versehen für jedes einzelne Ding.« Handelt es sich um verschie-
dene Arten der Namengebung? Aufgrund seines Bezuges zu πάντα
handelt es sich bei ὀνόμασται um einen ontologischen Namen, da-
gegen sind die ὀνόματα der Sterblichen ontische Namen, 400 d. h. Set-
zungen der scheinbaren Welt. Wenn Jantzen fragt, was mit πάντα
gemeint sei, verkennt er diese Unterschiede. »Man könnte der Mei-
nung sein, daß Parmenides an eine physikalische Theorie der Durch-
dringung der Welt durch bestimmte Grundkräfte denkt. Aber es ist
weder eine derartige Theorie zu seiner Zeit bekannt noch werden
Fr. 8. 50 ff. entsprechende Auffassungen von Parmenides dargelegt;
Licht und Nacht durchdringen die Welt nicht.« 401 Ich stimme Jantzen
(allerdings unter anderen Voraussetzungen) zu, dass Parmenides »in
den auf Fr. 9 folgenden Fragmenten die Bedeutungen von Licht und
Nacht zu einer offenkundig groß angelegten ›Kosmogonie‹ und ›Kos-
mologie‹« ausbreitet. 402 Doch eine solche Absicht würde der Reduk-
tion auf die δόξα widersprechen, denn was hätte Parmenides dann
vor? Etwa den anderen Kosmologen etwas vorzugaukeln, was doch
widersinnig wäre?
φάος καὶ νὺξ: Alles wird Licht und Nacht benannt. B 10 ff. be-
ginnt die Göttin mit der Aufzählung der einzelnen Phänomene: mit
der ätherischen Natur, den Zeichen des Himmels usf. Es wäre freilich

399 »ὀνόμασται] bedenkliche Form, zumal bei vocalischem Anlaut« (Diels 2003, 101).
400 Zu den Termini »ontologisch« und »ontisch« °I.1.a.ii.
401 Jantzen 1976, 46. Da Jantzen von der δόξα-Welt ausgeht, kann er sogar sagen,

darin liege »der parmenideische Versuch, Denken und Sprechen stillzustellen« (ebd.
60).
402
Jantzen 1976, 86.

137
Text · Übersetzung

widersinnig zu meinen, dass nun alles zumindest den Beinamen φάος


oder νύξ erhielte; 403 vielmehr zeigen sich alle Einzeldinge durch das
Licht erhellt und vermittels des Lichtes oder im Dunkel der Nacht
verborgen (°B 9.3). Es wäre auch missverständlich, von einer »Ge-
samtheit der Dinge« zu sprechen, 404 ist hier doch nicht die Summe
aller Einzeldinge gemeint, sondern der Horizont ihres Erscheinens –
sei es dass sie im Licht der Sonnenfackel (ἠελίοιο λαμπάδος B 10.2–3)
stehen oder sich ins Dunkel der Nacht zurückziehen, wie Erde, Sonne
und Mond (πῶς γαῖα καὶ ἥλιος ἠδὲ σελήνη B 11.1). Für alle diese
ontischen Erscheinungen ist τὸ πᾶν die ontologische Bedingung dafür
(ihr »Urtypus« 405), dass sie sich mehr oder minder deutlich zeigen.

B 9.2
δυνάμεις: Sie sind »essential the same as semata«, 406 nämlich σήμα-
τα qua »Himmelszeichen« (B 10.2). Reinhardt: »nach ihren Kräf-
ten«; 407 Mansfeld umschreibend: »{…} und die Einzeldinge ihrer je-
weiligen Einzelstruktur (d. h. Licht-und-Nacht-Struktur) gemäß
benannt worden sind«. 408

B 9.3
πᾶν πλέον ἐστὶν ὁμοῦ φάεος καὶ νυκτὸς ἀφάντου: »Parmenides
selbst nennt die eine ›Gestalt‹ Licht, Flamme und Feuer, die andere
Nacht, und wir haben nun zu erwägen, ob diese mit den pythago-
reischen Begriffen Grenze und Unbegrenztes identifiziert werden
können. Wir haben guten Grund gefunden, zu glauben {…}, daß die
Vorstellung von der atmenden Erde der frühesten Form des Pythago-
reismus angehörte, und es kann keine Schwierigkeit bestehen, diesen
›unbegrenzten Atem‹ mit Dunkelheit zu identifizieren, die sehr pas-
send für das Unbegrenzte eintritt. ›Luft‹ oder Dunst wurde immer als

403 Insofern verneint Schmitz mit Recht, dass in diesem Fall »die reine Frau demnach

›Licht‹, der reine Mann ›Nacht‹ hieße« (Schmitz 1988, 49).


404 Bormann 1971, 137. Vorsichtiger »better to translate ›since light and night have

been given all names‹« (Coxon 2009, 359).


405 »{…} es sollte eine Art Urtypus darstellen, der sich im gesamten Kosmos wie in

jedem Einzelding unendlich abgewandelt wiederhole« (Reinhardt 2012, 19). Rein-


hardt könnte hier an Goethe denken. Zur Entwicklung des Kosmos-Begriffes: Cassirer
2007, 27–35.
406
Tarán 1965, 162, mit Hinweis auf B 8.55.
407 Reinhard 2012, 31 .
1
408
Mansfeld 1964, 149.

138
B 10

das dunkle Element angesehen. Und das, was der unbestimmten Dun-
kelheit Bestimmtheit verleiht, ist gewiß Licht oder Feuer {…}.« 409
ἀφάντου: Korrektur der häufig vorkommenden Übersetzung
von ἄφαντος mit »unsichtbar«: 410 »ἄφαντος heißt nicht ›unsichtbar‹,
sondern ›dunkel, lichtlos‹«. 411 Für Mansfeld entspricht ἄφαντος wie
ἀδαής (B 8.59) »dem Prädikat ἀνόητος des Weges des Nichtseienden,
ἤπιος und der Begriff des Feuers und des Lichts selber entsprechen
der Denkbarkeit des Seienden«. 412 Würde dies zutreffen (was jedoch
nicht der Fall ist), dann wäre die dunkle Nacht für alle weiteren Phä-
nomene bestenfalls eine Täuschung, und nicht die Bedingung der
Möglichkeit ihres Erscheinens (°B 9.1).

B 9.4
ἴσων ἀμφοτέρων: Faktisch liegt zwar in den vorliegenden FF ein deut-
licher Überhang des Lichts gegenüber dem Dunkel vor. Der Grund: Es
gibt ein Mehr oder Weniger an Licht, ohne dass ihm das Dunkel als
selbständige Größe nachgeordnet wäre. Beide sind einander »komple-
mentär: ein Mehr (Weniger) von Hell, Leicht usw. bedeutet notwen-
dig ein Weniger (Mehr) von Dunkel, Schwer usw.«, 413 οὐδετέρῳ μέτα
μηδέν (B 9.4). 414

B 10

1 εἴσῃ δ’ αἰθερίαν τε φύσιν τά Und ferner wirst du kennen die Na-


τ’ ἐν αἰθέρι πάντα, tur, die ätherische, und alles im
Äther,
2 σήματα καὶ καθαρᾶς εὐ- die Himmelszeichen und der reinen
αγέος ἠελίοιο heiligen Sonnenfackel
3 λαμπάδος ἔργ’ ἀίδηλα καὶ verzehrende Werke und woher sie
ὁππόθεν ἐξεγένοντο, geworden,

409 Burnet 1913, 172 f.


410 Z. B. DK I, 241, Heitsch 1974, 37.
411 Gemelli II, 90; °B 8.59 νύκτ’ ἀδαῆ; Pindar N. 8, 34 f.: ἃ τὸ μὲν λαμπρὸν βιᾶται, |

τῶν δ’ ἀφάντων κῦδος. – Vergleich mit ἀδαής (B 8.59): Mansfeld 1974, 133.
412 Mansfeld 1964, 133. »Licht ist Erkenntnis bei Pindar« (N. 7.12–13).

413 Fränkel 1993, 412. »So ist alles nach dem Lichtgehalt geordnet« (Fränkel 1955,

184).
414 »{…} both equally, since there is nothing which does not belong to either« (Tarán

1965, 161).

139
Text · Übersetzung

4 ἔργα τε κύκλωπος πεύσῃ und der rundäugigen Möndin um-


περίφοιτα σελήνης herwandernde Werke wirst du er-
fahren
5 καὶ φύσιν, εἰδήσεις δὲ καὶ und {ihre} Natur, du wirst aber auch
οὐρανὸν ἀμφὶς ἔχοντα den ringsum sich schließenden
Himmel gesehen haben,
6 ἔνθεν [μὲν γὰρ] ἔφυ τε καὶ woher er entstand sowohl und wie
ὥς μιν ἄγουσ(α) ἐπέδησεν ihn treibend die Not in Fesseln legte,
Ἀνάγκη
7 πείρατ’ ἔχειν ἄστρων. um zu halten die Grenzen der Ster-
ne.

B 10.2
σήματα: °B 9.2, B 8.2 und B 8.55.

B 11

1 πῶς γαῖα καὶ ἥλιος ἠδὲ σε- wie Erde und Sonne und wie der
λήνη Mond
2 αἰθήρ τε ξυνὸς γάλα τ’ οὐ- und der gemeinsame Äther, die
ράνιον καὶ ὄλυμπος himmlische Milchstraße und der
Olymp
3 ἔσχατος ἠδ’ ἄστρων θερμὸν am äußersten Ende und der Sterne
μένος ὡρμήθησαν hitzige Kraft in Bewegung sich setzt,
4 γίγνεσθαι. um zu entstehen.

B 11.2
ὄλυμπος: »Wie eine Mauer umgibt der ὄλυμπος ἔσχατος das Welt-
all.« 415

415 Fränkel 1955, 184. »Hier ist der homerische Olymp mit dem Himmelsgewölbe

gleichgesetzt (das bei Parmenides fest ist, vgl. 19 A). Diese Gleichsetzung ist sehr
wahrscheinlich dadurch angeregt worden, dass bei Homer bisweilen Olymp und Him-
mel nebeneinander vorkommen oder miteinander vertauscht werden (Il. 1, 43–97: …
μέγαν οὐρανὸν Οὔλυμπόν τε; Od. 20,103: αὐτίκα δ’ ἐβρόντησεν ἀπ’ αἰγλήεντος
Ὀλύμπου, und 113: ἦ μεγάλ’ ἐβρόντησας ἀπ’ οὐρανοῦ ἀστερόεντος)« (Gemelli II,
91).

140
B 11–12

B 12

1 αἱ γὰρ στεινότεραι πλῆντο Denn die engeren Ringe waren mit


πυρὸς ἀκρήτοιο, ungemischtem Feuer gefüllt,
2 αἱ δ’ ἐπὶ ταῖς νυκτός, μετὰ die nach denen mit Nacht, darnach
δὲ φλογὸς ἵεται αἶσα· aber kommt der Anteil der Flamme;
3 ἐν δὲ μέσῳ τούτων δαίμων ἣ in der Mitte von diesen die Göttin,
πάντα κυβερνᾷ· die alles regiert;
4 πάντα γὰρ {ἣ} στυγεροῖο denn alles beherrscht sie, die todes-
τόκου καὶ μίξιος ἄρχει nahe Geburt und die Mischung des
Fleisches,
5 πέμπουσ’ ἄρσενι θῆλυ μι- zum Männchen schickt sie das
γῆν τό τ’ ἐναντίον αὖτις Weibchen und im Gegenteil dazu
6 ἄρσεν θηλυτέρῳ. das Männchen zum Weibchen.

B 12.1
στεινότεραι: »Danach müssen also die 12, 1 στεινότεραι] nemlich
στεφάναι, identisch sein mit den engern d. h. innern Schichten der
beiden reinen Endsphären, des Firmamentes und der Erde.« 416 Gegen
die Interpretation der »Kronen« als »Sphären« spricht sich Burnet aus:
»Das Wort στέφαναι kann ›Ränder‹ heißen oder ›Rundkanten‹ oder
etwas Derartiges, aber es scheint nicht glaubhaft, daß es für Sphären
angewendet sein sollte. Es spricht auch nichts dafür, daß der feste Kreis,
der alle Kronen einschließt, als sphärisch anzusehen ist.« 417

416 Diels 2003, 105. »Στεφάνη bezeichnet nach Ausweis der Lexika alle möglichen

ringförmigen Gebilde, ausgenommen den Kranz (στέφανος). Cicero schreibt zwar


coronae simile, kennzeichnet aber sofort diesen Vergleich (nicht Terminus) als einen
Notbehelf, indem er das griechische Wort hinzufügt« (Fränkel 1955, 1831). »Nam
Parmenides quidem commenticium quiddam coronae simile efficit (στεφάνην appel-
lat), continente ardore lucis orbem, qui cingit caelum, quem appellat deum; in quo
neque figuram divinam neque sensum quisquam suspicari potest, multaque eiusdem
modi monstra: quippe qui Bellum, qui Discordiam, qui Cupiditatem ceteraque generis
eiusdem ad deum revocat, quae vel morbo vel somno vel oblivione vel vetustate de-
lentur« (Cicero, De natura deorum I, 11, 28 = 28 A 37).
417
Burnet 1913, 173.

141
Text · Übersetzung

B 12.3
ἣ πάντα κυβερνᾷ: »welche den Lauf aller Dinge lenkt«. Deichgräber
hält diese δαίμων für Aphrodite, »wahrhaftig eine Allgöttin«. 418
»Aetios, 419 das heißt Theophrastos, meint, daß dies ›in der Mitte der
gemischten Kronen‹ bedeute, während Simplicius behauptet, daß es
bedeute ›im Mittelpunkte der Welt‹. Es ist nicht sehr wahrscheinlich,
daß einer von beiden einen besseren Anhaltspunkt hatte, als die eben
angeführten Worte des Parmenides, und diese sind zweideutig. Sim-
plicius identifiziert diese Göttin {…} mit der pythagoreischen Hestia
oder dem Zentralfeuer, während Theophrastus dies nicht tun konnte,
weil er wußte und behauptete, daß Parmenides die Erde für rund und
im Mittelpunkte der Welt gelegen hielt.« 420 Die Identifikation der
δαίμων mit Δίκη oder Ἀνάγκη weist Diels zurück. 421

B 12.4
στυγεροῖο τόκου: Das Adjektiv στυγερός ist verwandt mit στύγος,
»Abscheu, Hass, Gegenstand des Abscheus«, und στυγεῖν, »hassen,
verabscheuen, schaudern vor, sich fürchten«. 422 Daher wird στυγε-
ροῖο meist mit »grausig«, »hasserfüllt« u. dgl. übersetzt. 423 Ist die
Geburt also hassenswert? Diels schreibt »weherfüllt« 424 und merkt
zu στυγεροῖο an: »nicht propter ardoris vehementiam, sondern
propter partum. Pessimistische, orphische Gedanken liegen hier fern.
Denn Empedokles 262 {31 B 62.1–2 425} sagt ἀνδρῶν τε πολυκλαύτων
τε γυναικῶν ἐννυχίους ὅρπηκας, wo der Gegensatz vor Irrtum
schützt.« 426 Dasselbe gilt für den Beischlaf. ▶ Nun ist ἡ Στύξ (ver-
wandt mit στυγεῖν) das »Wasser des Grausens«. »Bei dem Wasser
der S. wurde geschworen, und es galt als todbringend für Menschen
und Tier {…}«. 427 Bei Homer »ist Στυγὸς ὕδωρ ein Unterweltsfluß,

418 Deichgräber 1983, 15.


419
IV.3 s. v. »Aëtios«.
420 Burnet 1913, 175.

421
Diels 2003, 107.
422 Gemoll 693 s. v. στυγέω, στύγος.

423 »{…} grausige Geburt und Paarung« (DK I, 243); »{…} hateful birth and union«

(Coxon 2009, 90); »{…} l’odieux enfantement et l’étreinte« (Di Giuseppe 2011, 21);
»{…} il parto odioso e il mischiarsi« (Di Giuseppe 2011, 33).
424 Diels 2003, 43.

425 »{…} wie der viel beweinenswerten Männer und Frauen nachtverhüllte Spros-

sen {…}« (DK I, 335).


426 Diels 2003, 108.

427
KP 5, 402 f.

142
B 13–14

bei dem die Götter schwören.« 428 Wenn die Geburt στυγεροῖος ist,
dieses Adjektiv aber auf den Tod hinweist, dann ist jene insofern
»tödlich« (und nicht unbedingt »verhasst«), als beide zusammen-
gehören: Geburt und Tod. In der Welt des Scheins ist dies ein unauf-
hebbarer Gegensatz, dessen Momente jedoch in der erscheinenden
Welt in einer höheren Einheit aufgehen: die »todesnahe« Geburt,
der στυγεροῖος τόκος, und die μῖξις, die fleischliche Mischung. 429

B 13

πρώτιστον μὲν Ἔρωτα θεῶν μη- Als Ersten ersann sie von allen
τίσατο πάντων … Göttern den Eros …

Ἔρωτα: Für Böhme hat der Eros »in der Kosmogonie den Platz, den
er in der Orpheustradition hat. {…} Die allsteuernde Daimon, die
diesen Eros als ersten der Götter ›ersonnen‹ bzw. erschaffen hat, ent-
stammt ebenfalls der Orpheustradition«. 430 »The verb used, μητίο-
μαι, ›contrive‹, ›devise‹, suggests that the creation by the goddess is
a kind of ›ordering‹ things, i. e., it is nothing else than a mental act.
Such is probably the way in which the δαίμων, πάντα κυβερνᾷ. As
for the gods ›created‹ by the δαίμων, besides Eros, we depend on a
passage of Cicero (N.D. I.11.28: multaque eiusdem monstra, quippe
qui Bellum, qui Discordiam, qui Cupiditatem, ceteraque generis ei-
usdem ad deum revocat, quae vel morbo vel somno vel oblivione vel
vetustate delentur; eademque de sideribus, quae reprehensa in alio
iam in hoc omittantur).« 431

B 14

νυκτιφαὲς περὶ γαῖαν ἀλώμενον bei Nacht leuchtendes, um die Erde


ἀλλότριον φῶς herumirrendes fremdes Licht

ἀλλότριον φῶς: »The information provided by the doxographic tra-


dition about P.’s theory of the moon is that it was formed out of the
denser or cold mixture in the galaxy by separation {…} and is com-
posed of a mixture of ›air‹ and fire {…}. It is of the same size as the

428 KP 5, 403. Hesiod Th. 361 ff., 383 ff., 775 ff.
429
Herodot 3, 101.
430 Böhme 1980, 21.
431
Tarán 1965, 249.

143
Text · Übersetzung

sun {…} and is illuminated by it {…}.« 432 Ἀλᾶσθαι »umherirren«,


auch »eines Dinges beraubt werden«, 433 könnte im zweiten Fall auf
das von der Sonne geborgte, »fremde« Licht hinweisen. – Karl R.
Popper zu B 14 und B 15: »Ich persönlich verdanke Parmenides die
unendliche Freude, die mir sein Gedicht von Selenes Sehnsucht nach
Helios (DK 5 14–15) bereitet hat«. Um dies zu vermitteln, sei hier
Poppers Übersetzung wiedergegeben:
»Bright in the night, with an alien light, | Round the Earth she is drifting. |
Always she wistfully looks | Out for the rays of the Sun.« »Leuchtend bei
Nacht mit | Dem Licht, das er schenkt, | So umirrt sie die Erde. | Immerzu
blickt sie, gebannt, | Hin auf den strahlenden Gott.« 434
»Nach Eudemos erkannte A. als erster, daß der Mond kein eigenes
Licht besitzt, sondern das der Sonne zurückwirft.« 435 »The collocation
ἀλλότριον φῶς is famously wordplay on the Homeric formula ἀλλό-
τριος φώς ›a fellow from elsewhere, someone not known, a
stranger‹.« 436

B 15

αἰεὶ παπταίνουσα πρὸς αὐγὰς immer umherblickend zu den


ἠελίοιο. Strahlen der Sonne.

παπταίνουσα: Plutarch zitiert B 15 und meint den Mond.

B 16

1 ὡς γὰρ ἕκαστος ἔχει κρᾶσιν Wie nämlich jeder hat eine Mi-
μελέων πολυπλάγκτων, schung umher getrieb’ner Organe,
2 τὼς νόος ἀνθρώποισι παρί- so tritt das Denken den Menschen
σταται· τὸ γὰρ αὐτό zur Seite; das Selbe nämlich
3 ἔστιν ὅπερ φρονέει μελέων ist, was der Organe Natur den Men-
φύσις ἀνθρώποισιν schen ansinnt,
4 καὶ πᾶσιν καὶ παντί· τὸ γὰρ allen und jedem; das Größere frei-
πλέον ἐστὶ νόημα. lich ist der Gedanke.

432 Coxon 2009, 373.


433 Gemoll 30.
434
Popper 1998, 174.
435 LA I/1, 119 = O. G.
436
Mourelatos 2012, 28; »full context in Plutarch«, ebd. 29.

144
B 15–16

Kritisch zur Übersetzung von B 16 Popper – für ihn »eines der wich-
tigsten {Fragmente} des Gedichts«. 437 Die Übersetzung mit »Glied-
maßen«, engl. »limb« oder »member«, hält er für unhaltbar, während
Diels »den richtigen Ausdruck ›Organ‹ gebrauchte«. 438 Popper zu-
folge kennen wir den Zusammenhang von B 16 nicht; er sagt aber:
»Würde man mir allerdings die Pistole auf die Brust setzen, dann
würde ich dafür plädieren, daß es zum Weg der Wahrheit in die Nähe
von B 6 gehört«. 439

B 16.1
κρᾶσιν μελέων πολυπλάγκτων: Trotz einiger Übersetzungen, die in
ähnliche Richtung gehen, ist offen, was mit den »immer schwanken-
den« 440 oder »viel schwankenden« 441 Körperteilen gemeint sein könn-
te bzw. mit der »Mischung der vielwandernden Glieder« 442. Mit den
μέλη sind die Glieder des Körpers gemeint, oder mit Diels und Popper
dessen Organe, weil der Leib ein organisches Ganzes ist. 443 Was löst
deren Schwanken oder Wandern aus? Und im Besonderen: Inwiefern
und auf Grund wovon irren die Glieder? Tarán umgeht diese Frage
mit »much-changing body«. 444 Hölscher zitiert dazu Alexander: »Par-
menides meint mit diesen Worten: Wie der Körper sich hinsichtlich
seiner Meinung und Verfassung bei jedem verhält, so verhält sich

437 Popper 1998, 220. »Selbst berühmte Gelehrte haben den (zugegebenermaßen

schwierigen) Text einfach nicht verstanden« (Popper 1998, 132).


438
Popper 1998, 134.
439 Popper 1998, 135.

440 Hölscher 2014, 35.

441 Heitsch 1974, 49.

442 Gemelli II, 39.

443 Bezüglich der ὄργανα vgl. Aristoteles, der das σῶμα der ψυχή als ὀργανικόν be-

stimmt und als Beispiel für ὄργανα τὰ τῶν φυτῶν μέρη angibt (de An. 412a28–
412b1). – Zur Unterscheidung von »Leib« und »Körper«: »Der Begriff Leib (L.) ist
eine der deutschen Sprache eigentümliche Unterscheidung, die einen Körper (K.),
insofern er als beseelt gedacht wird, durch ein besonderes Wort aus der Menge der
übrigen K. heraushebt. Dem griechischen σῶμα, lateinischen ›corpus‹, italienischen
›corpo‹, französischen ›corps‹, spanischen ›cuerpo‹ und englischen ›body‹ stehen be-
sondere Bezeichnungen für L. im Unterschied zu K. nicht zur Seite. Die Unterschei-
dung ergab sich aus der Verdeutschung von ›corpus‹ in der weiten Bedeutung, die es
im Lateinischen bereits hatte, demgegenüber das mittelhochdeutsche ›lîp‹ (zunächst
undifferenziert L. und Leben) allmählich die bestimmte Bedeutung von lebendigem,
beseeltem, eine bestimmte Person darstellenden K. gewann« (HWPh 5, 174, s. v.
»Leib, Körper«; T. Borsche).
444
Tarán 1965, 253.

145
Text · Übersetzung

auch das Denken; wobei angenommen wird, daß das Denken von der
Mischung und Veränderung des Körpers abhängt.« 445 Das Moment
des Schwankens (πλάζομαι, »verschlagen werden, unstät herum-
irren« 446) lässt sich auch so interpretieren, dass der Leib mit seinen
Organen äußeren Einflüssen ausgesetzt ist. Daran würde B 16.4 an-
knüpfen.
Zur Klärung des Sachverhalts sind vor allem die Ausführungen
von Martina Stemich über κρᾶσις und νόος plausibel. »Das Abstrak-
tum κρᾶσις ist weder in der epischen Dichtung noch in vorparmeni-
deischer Lyrik überliefert. Einzig die Verbform κεράννυμι, ver-
mischen, verschmelzen, weist auf den möglichen Gehalt des Wortes
bei Parmenides. {…} Wahrscheinlich hat Parmenides als erster den
Begriff κρᾶσις auf den Menschen bezogen.« 447 »Im hippokratischen
Sinn entsteht κρᾶσις dann, wenn die Elemente im Körper ebenmäßig
verteilt sind. Ohne dieses Gleichmaß aber wird der Mensch krank.
Εὐκρασία, die gute Durchmischung, steht in hippokratischen Texten
selbstredend für Gesundheit.« 448 »Aus der Voraussetzung, dass ge-
mäß B 16 das Denken der dominierende Faktor im Menschen ist,
folgt, dass der Kuros mit seiner Denkkraft die rechte Krasis einüben
kann. Fest steht mit diesem Fragment auch, dass die Krasis der Glie-
der Auswirkungen auf den Geist des Menschen hat. Es ist zudem
plausibel, dass die vielbewegten Glieder (πολύπλαγκτα μέλεα:
B 16.1) dem verwirrten Geist (πλαγκτὸν νόον: B 6.6) der Sterblichen
entsprechen.« 449 Dass sich κρᾶσις μελέων in der »scheinbaren Reali-
tät« entfaltet, »ohne aber vom Doxa-Denken befreit zu werden«, 450
beruht auf dem Vorurteil von der trügerischen Welt. Unhaltbar wäre
dann allerdings auch Burnets Befund: »Bei der Beschreibung der An-
sichten seiner Zeitgenossen war Parmenides, wie wir aus den Frag-
menten ersehen, genötigt, ziemlich viel über physiologische Fragen
zu sagen.« 451 Wäre aber eine ernsthafte Auseinandersetzung über-
haupt möglich, wenn Parmenides seine Ansichten für bloßen Schein
gehalten hätte? Müsste dies nicht auch auf die Schilderungen des
Kosmos zutreffen, wären aber die auf diesen bezüglichen Theorien

445 Heitsch 1974, 194.


446 Gemoll 607.
447 Stemich 2008, 158.
448 Stemich 2008, 159.
449
Stemich 2008, 169.
450 Bormann 1971, 139.
451
Burnet 1913, 178.

146
B 16

wie auch die Fragen der Medizin nicht mehr als bloßer Schein? Könn-
te die Göttin dann sagen, kein Wissen der Sterblichen werde den Ku-
ros übertreffen (B 8.61), vorausgesetzt, ihr διάκοσμος ist für ihn
maßgeblich? Burnet nennt das Beispiel des Alkmaion von Kroton: 452
»Wir kennen auch den Namen eines sehr hervorragenden medizi-
nischen Schriftstellers, der in Kroton zwischen der Zeit des Pythago-
ras und des Parmenides lebte, und die wenigen Tatsachen, die uns
über ihn berichtet werden, setzen uns in den Stand, die physiologi-
schen Ansichten, die Parmenides beschreibt, nicht als vereinzelte
Sonderlichkeiten, sondern als Marksteine zu betrachten, vermöge de-
ren wir den Ursprung und das Wachstum einer der einflußreichsten
medizinischen Theorien verfolgen können, jener, welche die Gesund-
heit als ein Gleichgewicht von Gegensätzen darstellt.« 453 Coxon über-
setzt κρᾶσιν μελέων πολυπλάγκτων mit »the temper which it has of
the vagrant body at each moment«. 454

B 16.2
νόος ἀνθρώποισι παρίσταται: »Der Ausdruck ›νόος zu haben‹ hat in
der epischen Dichtung nicht allein die Bedeutung von Verstand oder
die Fähigkeit, etwas geistig zu durchdenken, sondern auch von Ver-
stand, der ähnlich wie die Sinneserfahrung auf den Menschen zu-
kommt. In den homerischen Texten hat jeder Mensch in verschiede-
nem Maß von Natur aus νόος. Doch ist er bei einigen Menschen
abgestumpft und schwerfällig. Νόος grenzt sich bei Homer von blin-
den Emotionen ab und von Denken im Sinne einer intentionalen,
intellektuellen Aktivität; er meint vielmehr ein geistiges Vermögen,
das analog zur Sinneswahrnehmung aufnehmend und empfänglich
ist. Diese passive Konnotation des Wortes drückt sich vor allem im
Verhältnis des Denkens zu seinem Objekt aus. Letzteres ist dem Den-
ken unmittelbar gegeben, also unabhängig vom Vorgang des Denkens
vorhanden.« 455 Die Unabhängigkeit des Denkens vom »Objekt« (dem
»Sein«: °B 3; °III.3) ist zu bestreiten. Anderseits wird deutlich, dass
nicht (in Vorwegnahme der platonischen Differenz) der Gegensatz
von νοῦς qua Vernunft und αἴσθησις qua Sinneswahrnehmung das

452 °IV.3. – Zu »Alkmaions Theorie der Gesundheit als einer ›Isonomie‹«: Burnet

1913, 179–181.
453
Burnet 1913, 179.
454 Coxon 2009, 94.

455
Stemich 2008, 149 ff.

147
Text · Übersetzung

Entscheidende ist, sondern das Gemeinsame der Passivität; außerdem


besteht kein Gegensatz zwischen νοῦς und Sinnlichkeit, sondern die
Unterschiede beziehen sich auf den νοῦς selbst (Wachheit, Abstump-
fung). Besonderes Gewicht für F2 hat Stemichs Warnung vor »re-
duktionistischen Schlussfolgerungen«, zu ihnen führe eine einseitige
Bestimmung des Wortes νόος, »wie etwa, Parmenides habe die Sin-
neswahrnehmung in der Erkenntnissuche verworfen. Das war eine
verbreitete Meinung in der Antike [Vgl. Arist. GC. A 8,325a13–14;
Philodem. rhet. fr. inc. 3.7 (DK: A 49); Aët. IV 9,1], die auch bei mo-
dernen Autoren zu lesen ist. Vgl. Meijer (1997) 58: ›As Being and
thinking are identical, so perception and Doxa.‹« 456 Die Reduktion
der Welt auf die δόξα erweist sich einmal mehr als Hemmschuh für
die Mehrzahl der Interpreten; sie hat mehr mit Platons Unterschei-
dung von νόησις und αἴσθησις zu tun als mit der Welt, die Parme-
nides sieht, ohne zu behaupten, sie sei bloßer Schein.

B 16.3
φρονέει μελέων φύσις: »Beide Wörter, φρονέω und νόημα, bezeich-
nen eine geistige menschliche Qualität, die fraglos dem Denken des
Kuros und implizite dem Denken der Göttin zukommen.« 457 Aller-
dings ist damit nicht gesagt, das »Subjekt« des νοῦς sei der eine Gott
wie bei Xenophanes. 458

B 16.4
τὸ γὰρ πλέον: Der Gedanke ist gegenüber der φύσις τὸ πλέον, weil
er die irrende φύσις unter seine Herrschaft bringt. Zwar ist der Leib
mit seinen Organen (μελέων φύσις B 16.3) äußeren Einflüssen aus-
gesetzt und schwankt deshalb hin und her; dies trifft πᾶσιν καὶ παν-
τί, für alle und auf jeden zu. Übersetzt man jedoch γάρ nicht mit
»denn«, sondern mit »freilich, allerdings«, ergibt sich daraus dieser
Sinn: Freilich (obwohl der Leib hin und her irrt) – das Größere ist der
Gedanke. Mag der Leib mit seinen Organen noch so sehr schwanken:
Der Geist ist freilich mächtiger. 459

456 Stemich 2008, 150457.


457 Stemich 2008, 168.
458 εἷς θεός 21 B 23; οὖλος ὁρᾷ, οὖλος δὲ νοεῖ, οὖλος δέ τ’ ἀκούει 21 B 24.

459 Homer, Od. 18, 136–137: τοῖος γὰρ νόος ἐστὶν ἐπιχθονίων ἀνθρώπων | οἷον ἐπ’

ἦμαρ ἄγῃσι πατὴρ ἀνδρῶν τε θεῶν τε. »Denn immer nur so ist der Sinn der Erden-
menschen, wie den Tag heraufführt der Vater der Menschen und Götter« (Homer
1958, 238). Odysseus sagt vorher: »Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Men-

148
B 17–19

B 17

δεξιτεροῖσιν μὲν κούρους, λαιοῖ- auf der Rechten die Knaben, zur
σι δὲ κούρας … Linken aber die Mädchen …

B 18

1 femina virque simul Veneris Wenn Frau und Mann zugleich der
cum germina miscent, Liebe Keime mischen,
2 venis informans diverso ex die in den Adern sich bildende Kraft
sanguine virtus aus verschiedenem Blut
3 temperiem servans bene bildet bei Wahrung der Mischung
condita corpora fingit. wohlgefügte Körper.
4 nam si virtutes permixto se- Denn wenn durch vermischten
mine pugnent Samen die Kräfte streiten
5 nec facient unam permixto in und sie nicht in dem gemischten
corpore, dirae Körper eine einzige schaffen,
grauenhaft
6 nascentem gemino vexabunt werden sie heimsuchen das entste-
semine sexum. hende Geschlecht durch zweifachen
Samen.

B 18.3
temperiem servans: temperies bezieht sich auf die richtige Mischung.

B 18.6
gemino vexabunt: ἀνδρογύνους (Diels 2003, 115).

B 19

1 οὕτω τοι κατὰ δόξαν ἔφυ So also ist dies entstanden der Er-
τάδε καί νυν ἔασι wartung gemäß und ist jetzt,
2 καὶ μετέπειτ’ ἀπὸ τοῦδε τε- und nachher sich bildend sind sie
λευτήσουσι τραφέντα· von da an beendet.

schen unter allem, was auf der Erde Atem hat und kriecht« (ebd.). Das fügt sich zum
schwankenden Leib des Menschen.

149
Text · Übersetzung

3 τοῖς δ’ ὄνομ’ ἄνθρωποι κα- Diesen aber haben die Menschen


τέθεντ’ ἐπίσημον ἑκάστῳ. aufbewahrt einen Namen, mit
einem Zeichen versehen für jedes
einzelne Ding.

B 19.1
κατὰ δόξαν: Nicht »nach dem Schein« (DK) und schon gar nicht
»nach dem Wahne«, 460 aber auch nicht nur »nach dem Eindruck (den
die Menschen haben)« 461 sind sie (d. h. ist alles) entstanden, sondern
der Erwartung gemäß, d. h. wie es dem διάκοσμος, der Einrichtung
der Göttin (B 8.60) entspricht.

B 19.2
τραφέντα: τρέφεσθαι »sich verdichten, groß werden, wachsen«; 462
τελευτᾶν »beenden, vollenden«. 463 Die Dinge der Welt wachsen (in-
dem sie sich verdichten – wie B 4.4?). Sie werden dann, »nachdem sie
sich bis zur Reife entwickelt haben, in Zukunft ein Ende nehmen«:
»Warum diese ausführliche Darstellung in das Gedicht aufgenom-
men wurde, bleibt ein Rätsel: Die Göttin sucht die Phänomene so weit
wie möglich zu retten; aber sie weiß und sagt uns, daß das Vorhaben
unmöglich ist.« 464 Ein Rätsel ist dies aber nur dann, wenn von vorn-
herein feststeht, dass es sich hier um eine Scheinwelt handelt. Dies
gilt allerdings schon für Simplikios in dessen Kommentar zu Aristo-
teles, De caelo. Parmenides spricht klar von einem Zyklus: Jetzt steht
es so um die Dinge, sie werden sich weiter entwickeln (ob durch Ver-
dichtung oder in anderer Form, ist offen), um dann an ein Ende zu
kommen: Entstehen, Werden, Vergehen – und »nachher sich bildend
sind sie von da an beendet«.

B 19.3
ὄνομ’ ἄνθρωποι κατέθεντ’ ἐπίσημον ἑκάστῳ: »Diesen aber haben
die Menschen aufbewahrt einen Namen« entspricht ὅσσα βροτοὶ
κατέθεντο (B 8.39), nun nicht mehr mit grundlosem Wahrheits-

460 Diels 2003, 45.


461 Heitsch 1974, 53.
462
Gemoll 746 f.
463 Gemoll 733.
464
Kirk & al. 1994, 288.

150
B 19

anspruch, sondern als Weltentwurf, der von keiner βροτῶν γνώμη


(°B 8.61) jemals zu übertreffen ist. ▶ Daher gebe ich B 8.39 mit »ge-
setzt«, B 19.3 mit »aufbewahrt« 465 wieder. »Nach Simplikios beenden
die Verse den zweiten Hauptteil. Ob damit auch das Gesamtwerk be-
endet war, oder ob noch ein allgemeiner gehaltenes Schlußwort folgt,
wissen wir nicht.« 466

465 γαστέρες αἵδ’ αἰγῶν κέατ’ ἐν πυρί, τὰς ἐπὶ δόρπῳ κατθέμεθα κνίσης τε καὶ

αἵματος ἐμπλήσαντες. »Da liegen Mägen von Ziegen auf dem Feuer, die wir für das
Nachtmahl hingelegt, nachdem wir sie mit Fett und Blut gefüllt« (Homer Od. 18,
44 f.; Homer 1958, 236).
466
Heitsch 1974, 202.

151
III. Kommentar

Vorbemerkung

Den Hinweisen auf die Worterklärungen von II.2 ist ein hochgestell-
ter Kreis ° vorangestellt – gleichsam als Symbol für den hermeneuti-
schen Zirkel; dabei behandelt im Allgemeinen der II. Teil die Details,
der III. Teil das Ganze. 1
Den Inhaltsangaben des Kommentars sind Textstellen zugeord-
net. Der Übersicht halber folgt eine Liste (links das Inhaltsverzeich-
nis, rechts die Fragmente):

Kommentar
1. Initiation: B 1.1–21
2. Begegnung: B 1.22–32 / B 2.1–8
a. Die Göttin: B 1.22
b. Der Kuros: B 1.24
3. Sein und Denken: B 3 / B 8.34
a. Νοεῖν
b. Εἶναι
c. Αὐτό
d. Das Worumwillen (οὕνεκεν): B 8.34
4. Die Schau: B 4–B 5
a. An- und Abwesen: B 4.1–2
b. Ursprunglosigkeit: B 5.1–2

1 »Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen
verstanden werden, und es muß deshalb eine kursorische Lesung, um einen Überblick
des Ganzen zu erhalten, der genaueren Auslegung vorangehen« (Schleiermacher
1977, 97). »Die Antizipation von Sinn, in der das Ganze gemeint ist, kommt dadurch
zu explizitem Verständnis, daß die Teile, die sich vom Ganzen her bestimmen, ihrer-
seits auch dieses Ganze bestimmen« (Gadamer GW 2, 57).

152
Initiation (B 1.1–21)

5. Wege, die keine sind: B 6–B 7


a. Ausweglosigkeit. Das Nichts: B 6.1–3
b. Irrwege. Die unwissenden Sterblichen: B 6.4–9 /
B 7.1–5
6. Der Weg des Seins: B 8.1–51
a. Ἔλεγχος und λόγος: B 8.5
b. Strukturierung
c. Die Zeichen des Seins: B 8.2
i. Das Ganze
ii. Die Unversehrtheit der Kugel des Seins
iii. Notwendigkeit: Ἀνάγκη und Μοῖρα
iv. Die πίστις ἀληθής
7. Das Sein und die Zeit
a. Vorgriff auf Aristoteles
b. Profane Zeit · heilige Zeit
8. Die scheinbare Welt: B 8.51–61
a. Die Sterblichen und die Irre: B 8.53–54
i. Setzungen: B 8.53
ii. Namen: B 8.53
b. Sein und Schein
9. Die Kosmologie des Parmenides: B 9–B 19
a. Wahrheit und Unwahrheit
b. Sein, Schein und Erscheinung

1. Initiation (B 1.1–21)

Jede Initiation ist ein Akt der Einweihung. Dem Initianden wird ein
besonderes Wissen in Aussicht gestellt, sofern er sich bestimmten
Regeln unterwirft. Außerdem wird ihm ein Weg angewiesen, den er
zu gehen hat, um sein Ziel zu erreichen. Dies gilt sowohl für die (im
weiteren Sinn) religiöse Initiation als auch für deren philosophisches
Pendant in F0. Dieses lässt sich zwar nicht auf religiöse Vorbilder
zurückführen, doch lassen sich gewisse Parallelen kaum übersehen.
F0 hat zwar Züge, die unverkennbar an eine Initiation erinnern. Zu-
gleich aber hat es damit hier wie auch in ähnlichen Fällen für Parme-
nides eine besondere Bewandtnis. Er übernimmt Momente der Tradi-
tion, sieht sich durch diese herausgefordert, eignet sie aber auf seine
nur ihm eigene Art an.

153
Kommentar

Dass es dafür »keine einfachen Antworten« gibt, hat Martina


Stemich zu Recht festgesellt und dieses Ineinander von Herausforde-
rung und Bewältigungsanspruch so zusammengefasst: »Vielmehr
vermitteln die überlieferten Texte den Anschein, dass die vorsokrati-
schen Denker ihre Ideen zur gleichen Zeit im Rahmen ihrer Tradition
und diese überwindend formulierten.« 2

2. Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8)

a. Die Göttin

Die Einführung einer Gottheit stellt vor 5 Fragen: 1. Warum ein My-
thos? 2. Weshalb ein göttliches Wesen? 3. Weshalb eine weibliche
Gottheit? 4. Kann sie einer bestimmten Göttin zugeordnet werden?
5. Lässt sich der Weg von F0 mit einer Initiation vergleichen?
1. Was spricht dafür oder dagegen, dass eine Göttin auftritt und
einen Mythos verkündet? B 7.5 wird gefordert, die Zeichen des Seins
vorab einer Prüfung zu unterziehen, u. zw. mit Hilfe des λόγος. Ist
dann der μῦθος ὁδοῖο (B 8.1) eine Inkonsequenz oder ein Rück-
schritt? Sieht man jedoch davon ab, dass hier ein geradliniges Fort-
schreiten »vom Mythos zum Logos« erfolgt (um auf einen bekannten
Buchtitel hinzuweisen), 3 dann erscheint der Mythos der Göttin in
einem anderen Licht: Ihr μῦθος bricht geradezu mit den Mythen der
Tradition. Parmenides schließt den μῦθος nur deshalb nicht aus, weil
er Momente enthält, die ihm unverzichtbar erscheinen – um dafür ein
einziges Wort zu gebrauchen (das wiederum auf die Göttin hinweist):
Der Mythos ist die Genealogie des Heiligen. Gerade nun, weil sich eine
solche Genealogie nicht mehr halten lässt, und nachdem sich die »mo-
dernen« Kosmologien vom Mythos verabschiedet haben, womit sie
dessen zentrales Thema aufgeben, sieht sich Parmenides vor die Auf-
gabe gestellt, einen neuen μῦθος zu inaugurieren, der auch den Kos-
mologien standhält. Er ist es nur dann, wenn er sich der Prüfung durch
den λόγος aussetzt (κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον: B 7.5).
2. Träte dem Kuros (°III.2.b) kein göttliches Wesen entgegen, um
ihm den Weg zur Wahrheit zu weisen, wäre dies im Horizont grie-
chischer Welterfahrung durchaus befremdlich. So wird – um nur die-

2 Stemich 2008, 55.


3
Nestle 1942.

154
Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8)

ses eine Beispiel zu nennen – dem Thales von Milet das Wort zu-
geschrieben: πάντα πλέρη θεῶν. 4 Der Archäologe Karl Schefold sagt
lapidar: »{…} alles empfindet der antike Mensch von Mächten durch-
wirkt. Deshalb muß die Kunst davon zeugen; es gibt keine profane
Sphäre.« 5 Die Kunstgeschichte enthält zu diesem Befund nicht weni-
ge Beispiele, um dies auch anschaulich zu belegen.
3. B 1.22 wird der Kuros von einer Göttin begrüßt. Dass an dieser
für den weiteren Fortgang entscheidenden Stelle dem Mann eine Frau
begegnet, wird von Walter Burkert vor dem religionsgeschichtlichen
Hintergrund gedeutet: »Zur θεά gehört ihr κοῦρος; die Gemeinschaft
der sterblichen Männer braucht, um zu bestehen, das Gegenbild der
›Göttin‹.« 6 F0 rückt damit in die Nähe – und vielleicht mehr als nur
das – zu einer Initiation des Kuros, zu seiner religiös motivierten Ein-
weihung in ein höheres Wissen. Nochmals Burkert, der das Folgende
aber ausdrücklich als Arbeitshypothese verstanden wissen will:
»Zugrunde liegen dem Komplex vom Königs- und Sonnenweg in die Höhle,
zur Göttin anscheinend Initiationsriten von Männerbünden, deren kulti-
sches Zentrum die heilige, ›mütterliche‹ Höhle war. Man weiß, daß Initiati-
onsriten um Tod und neues Leben, um das ›Mysterium der Wiedergeburt‹
kreisen, ob es sich nun um die allgemeine Pubertätsweihe handelt – das
Kind stirbt, ein erwachsener Mensch tritt ins Dasein – oder ob die exzeptio-
nelle Initiation eines Auserwählten sich vollzieht, des Königs, Priesters, Se-
hers oder Schamanen. Wie eindrucksvoll in diesem δρώμενον von Tod und
Wiedergeburt die Höhle sich in Szene setzen ließ, leuchtet ein: der instink-
tive Schauer beim Betreten des dunklen, unergründlichen Raums, und dann
die blendende und zugleich beglückende Wiederbegegnung mit dem Licht.
Auch die uralte Menschenkunst, das Feuer zu beherrschen, ließ sich damit
verbinden, sodaß für den Kundigen das Dunkel sich in Licht verwandelte.
Vom Licht zum Dunkel und vom Dunkel zum Licht, vom Leben zum Tod
und vom Tod ins Leben – dies ist der Weg in die Höhle. Es ist für urtümlich-
konkretes Vorstellen fast selbstverständlich, die Höhle auch als Mutter-
schoß zu sehen, vielmehr: zu erleben. Über die Symbolik von Mutter, Zeu-
gung, Wiedergeburt haben Tiefenpsychologen viel gehandelt. Der Histori-
ker kann sich begnügen festzustellen, daß die Symbolik zu Ritualen gehört
im Rahmen der bekannten Grundkonstellation vorderasiatisch-mediterra-
ner Religion: die große Göttin mit ihrem sterbenden Erwählten.« 7

4 Aristoteles de An. A 5, 411a7 = DK 11 A 22.


5
Schefold 1959, 9.
6 Burkert 2008, 19.
7
Burkert 2008, 17 f.

155
Kommentar

4. Wer ist diese Göttin? Für Kingsley und Gemelli ist es Persephone:
»Parmenides has come down to the underworld, to the goddess who
lives in the realms of the dead. The Greeks called her Persephone.« 8
»{…} aller Wahrscheinlichkeit nach Persephone, eine der Hauptgöt-
tinnen Großgriechenlands, die in mehreren Inschriften einfach als ἡ
θεά oder ἡ θεός bezeichnet ist«. 9
Deichgräber meint, bei der Göttin handle es sich um Dike: »Par-
menides ist ein Mensch der Dike, so hat ihn die Göttin Dike auf-
genommen.« 10 Sie ist πολύποινος, »die vielstrafende« (B 1.14), die
in Gemeinschaft mit Themis den Kuros auf seinen Weg gebracht hat
(B 1.28), sie hält auch das Sein in Fesseln, Δίκη χαλάσασα πέδῃσιν
(B 8.14).
Indizien sind auch für die große Erdmutter Γαῖα vorhanden. Sie
ist die Mutter der Themis (der Erdgöttin Γῆς Θέμιδος 11) (°B 1.28,
B 8.32). »T h e m i s erscheint unter den altgriechischen Göttern als
eine Tochter der Ge oder Gaia, hervorgegangen aus der Vermählung
dieser mütterlichen Gottheit des in sich ruhenden Erdenschoßes, mit
Uranos, dem Vatergott, der den Erdenschoß überwölbt und umfaßt.
Zu Γαῖα gehört das gründend-chthonische Wesen der Tiefe, zu Οὐ-
ρανός das weitend-aitherische Wesen der Höhe. Gaia selbst ist an-
fänglicher und gewaltiger als Uranos, der als Inbegriff des ›die Erde‹
Einhüllenden und Umgebenden (des Horizonts, des gestirnten Him-
melsgewölbes, der Atmosphäre) gleich Πόντος, dem Meer, und
Ὄλυμπος, dem Berg, ihrem Urschoß selber entsprungen ist und
ihrem Bereich angehört. Gaia selbst ist, wie die älteste Sage lautet,
zusammen mit Nyx (dem Nachtenden), Tartaros (der Unterwelt),
Erebos (dem Abgrund) und Eros (dem Zeugenden) eine Geburt aus
dem Chaos.« 12
Zu bemerken ist freilich, dass an jenen zwei Stellen, wo von
Γαῖα ausdrücklich die Rede ist, nicht auf die Göttin Bezug genom-
men wird, sondern auf Erde, Sonne und Mond (B 11.1), auf die Ge-
stirne, Äther und Milchstraße (B 11.2) und die Erde, um welche das

8 Kingsley 1999, 94.


9 Gemelli II, 57. Gegen eine »rein ikonographische Beweisführung« und insbesonde-
re gegen die Orphik wendet Haase ein, »dass Parmenides mit der Metaphorik der
Orphiker spielt, jedoch zentrale Elemente sich von dem unterscheiden, was die Göttin
zu sagen hat« (Haase 2010, 26).
10
Deichgräber 1958, 664.
11 KP 5, 676; Chr. D.

12
Wolf 1950, 24.

156
Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8)

Mondlicht irrt (B 14). Gleichwohl gibt es Indizien, welche die Annah-


me stützen, dass es um Γαῖα geht: ihre Universalität, ihr Vorrang vor
dem Vatergott und die Verbindung mit ihm durch die πύλαι {…}
αἰθέριαι (B 1.11–13), die γάλα οὐράνιον (B 11.2), das χάσμ’ ἀχανές
(B 1.18). Auch scheint eine Nahtstelle zu bestehen zum ταὐτόν τ’ ἐν
ταὐτῷ τε μένον καθ’ ἑαυτό τε κεῖται (B 8.29), dem im Selben ver-
harrenden in sich ruhenden Sein, lässt man den Bezug gelten, dass
Gaia »anfänglich in sich den Wesenszug des Gefügten, Umgrenzten,
Festen, im Licht stehenden« 13 trägt.
Heidegger will mit seiner Antwort, wer diese Göttin sei, »das
Ganze des Lehrgedichts« vorwegnehmen – sie ist Ἀλήθεια: »Die Göt-
tin ist die Göttin ›Wahrheit‹. Sie selbst – ›die Wahrheit‹ – ist die Göt-
tin.« 14 Sie ist keine Göttin neben anderen, sondern hier ist »die Wahr-
heit selbst als die Göttin erfahren«. 15
Gadamer meinte, »recht gut zu wissen, wer die Göttin ist, die mit
dem Denker spricht. Es ist Mnemosyne, die Göttin der Mneme.« 16
Damit wäre sie wie Themis eines der zahlreichen Kinder von Uranos
und Gaia 17 und die Mutter der Musen 18. Doch geht der Philosoph
über diese mythischen Bezüge hinaus. Als Göttin der μνήμη, des Ge-
dächtnisses, stellt sie das Wissen um den Sinn aller Erfahrungen be-
reit: »So gelangen wir zum Beispiel zur wahren Erkenntnis von der
durch die von milesischen Denkern aufgestellten Theorie des Univer-
sums, sobald wir sie zu dem dadurch aufgeworfenen Problem in Be-
ziehung setzen, und das ist die Frage, wie die Einheit des Universums
selbst gedacht werden kann. Dieses Problem der Erinnerung bleibt
natürlich im Hintergrund der Verse des Parmenides, und es kommt
nicht in begrifflicher Gestalt zum Vorschein, sondern nur als dichte-
risches Bild der die Wahrheit offenbarenden Göttin.« 19 Ähnlich wie
Heidegger weist Gadamer bereits über den Mythos hinaus auf dessen
philosophischen Gehalt hin.
Doch wenn auch diese Aussagen mehr oder weniger plausibel

13 Wolf 1950, 24.


14 Heidegger GA 54, 6 f. – »Anders als bei Xenophanes spricht zu ihm wieder die
Göttin, aber diese Göttin ist nicht, wie die Musen, eine Mittlerin, sondern sie ist die
Ἀλήθεια, die Wahrheit, selbst und unmittelbar« (Picht 1996, 54).
15 Heidegger GA 54, 7; s. a. GA 35, 110.

16 Gadamer 1996, 135 (Hervorhebung: H. V.).

17
Hesiod Th. 135.
18 Hesiod Th. 54–61.

19
Gadamer 1996, 136.

157
Kommentar

und jedenfalls innerhalb ihres Kontextes zu sehen sind, wäre es trotz


allem sinnvoll, ließe man die Anonymität der θεά auf sich beruhen. 20
5. Der Altphilologe Hermann Fränkel vergleicht den Anfang von
F0 mit Versen aus Pindars 6. Olympischer Ode (22–27). Ihm zufolge
hängen beide von demselben Original ab. »In diesem Original werden
die übereinstimmenden Züge ähnlich nahe beieinander gestanden ha-
ben wie sie bei Pindar in wenigen Versen vereint sind, während sie
sich bei Parmenides auf eine längere Strecke verteilen.« 21 Es folgt der
Vergleich:

Ὦ Φίντις, ἀλλὰ ζεῦξον ἤδη μοι 1 ἵπποι ταί με φέρουσιν, ὅσον τ’


σθένος ἡμιόνων ᾇ τάχος, ὄφρα ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι, πέμπον, ἐπεὶ
κελεύθῳ τ’ ἐν καθαρᾷ βάσομεν μ’ ἐς ὁδὸν βῆσαν πολύφημον
ὄκχον, ἵκωμαί τε πρὸς ἀνδρῶν ἄγουσαι
καὶ γένος. κεῖναι γὰρ ἐξ ἀλλᾶν 5 … κοῦραι δ’ ὁδὸν ἡγεμόνευον
ὁδὸν ἁγεμονεῦσαι ταύταν ἐπί- 17 f. ταὶ δὲ (πύλαι) | ἀναπτάμεναι
στανται, στεφάνους ἐν Ὀλυμπίᾳ (ließen mich ein in das Reich der zu
ἐπεὶ δέξαντο. berichtenden Wahrheit)

Fränkel dazu: »Beide Dichter überlassen sich auf ihrer Fahrt außer-
persönlichen Gewalten; die musische Kraft trägt und bewegt, lenkt
und führt ihr Schaffen.« 22 Damit ist Parmenides »als Entrückter nicht
nur seiner Weltlichkeit und Menschlichkeit ledig geworden {…}, son-
dern auch seiner Individualität und Zeitlichkeit«. Fränkel muss frei-
lich auch einräumen: »Daß dem Parmenides solches in der Tat wider-
fahren und geglückt ist, läßt sich weder dokumentarisch beweisen
noch zwingend widerlegen. Wohl aber gibt es gewichtige Argumente,
daß Parmenides die unio mystica mit dem wahren Sein persönlich
erfahren hat.« 23
»Nur für eine sehr kurze Zeit, vielleicht nur für Augenblicke, wird Parme-
nides, als Okzidentale, die Entrückung jeweils erlebt haben; bald muß er
wieder in die Niederungen der Scheinwelt zurückgesunken sein, die ihn
dann von neuem umfaßte und beherrschte wie jeden anderen. Es verblieb
ihm aber auch dann sein theoretisches Wissen um die Wahrheit, und die
Fähigkeit dafür Beweise anzutreten, wie sie im Hauptteil des Gedichts ge-

20 »Parmenides had good reasons to leave the goddess anonymous« (Tarán 1965, 16).
»{…} she remains anonymous« (Coxon 2009, 280).
21
Fränkel 1955, 158.
22 Fränkel 1955, 158.

23
Fränkel 1993, 418.

158
Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8)

liefert werden. Und ferner verblieb ihm die Erinnerung an die Tatsache des
Aufstiegs und die Hoffnung auf eine Wiederholung dessen was der Eingang
beschreibt {…}.« 24
Dass der Weg von F0 zu einer ekstatischen Entrückung führt, ist aus
mehreren Gründen bereits historisch ein Problem. So fragt sich, wes-
halb kein antiker Bericht auf eine derartige Einigung zumindest an-
spielt. Dazu kommt, dass eine ἕνωσις μυστική weder terminologisch
noch sachlich dem Denken der VS zugeordnet werden kann und erst
im Neuplatonismus breiten Raum einnehmen wird. 25 Nicht zuletzt
kennen wir aus Berichten der Antike eine Reihe unterschiedlicher
Phänomene der Entrücktheit, ohne dass es erkennbare Beziehungen
zu Parmenides gibt. 26 Darüber hinaus scheint eine Verwechslung der
Ziele vorzuliegen, wie der folgende Abschnitt zeigt.
Trotzdem lässt sich bei aller Vorsicht kaum verkennen, dass F0
Momente einer Initiation enthält. Aus religionsgeschichtlicher Sicht
gehört zu einer solchen »im allgemeinen eine dreifache Offenbarung:
die Offenbarung des Heiligen, des Todes und der Sexualität«. 27 Diese
Momente kehren in der Tat in F0 wieder: das Heilige als Begegnung
mit der Göttin; der Tod als Absterben der bisherigen Lebensform, die
den Menschen »über alle Wohnstätten« (B 1.3) hinwegführt; die Se-
xualität als »Göttin, die alles regiert« (B 12.3). Doch wenn auch der
Religionshistoriker von einer geistigen Zeugung spricht, durch die
man sich »eine übermenschliche Seinsweise« 28 erkämpft, so besteht
doch ein grundlegender Unterschied zwischen dem Prozess archai-
scher Initiationen und dem von Parmenides entworfenen Neuanfang.
Mag auch eine Analogie vorhanden sein, so ist gerade hier zu beden-
ken, dass das Ungleiche in diesem Vergleich größer ist als dasjenige,
worin einander Initiation und Denken des Seins gleichen.
Weshalb dann überhaupt einer solcher Vergleich, ist er mehr als
bloß illustrativ? Er ist es insofern, als dadurch das Neue als Verwand-
lung des Alten erscheint – ein Vorgang, der auch für die Philosophie

24 Fränkel 1993, 419.


25 »JAMBLICH kennt eine θεουργικὴ ἕνωσις, ›eine göttlich machende Einigung‹«
(HWPh 2, 406; P. Heidrich).
26 Josef Mattes belegt solche Erscheinungen mit dem Terminus »Wahnsinn« und lis-

tet nicht weniger als 32 griechische »Wahnsinnsmythen« auf (tabellarische Zusam-


menfassung: Mattes 1970, 26–30).
27 Eliade 1990, 163.

28
Eliade 1990, 171.

159
Kommentar

nicht nur nicht untypisch ist (auch wenn er zum ersten Mal bei Par-
menides begegnet), sondern zu ihrem Wesen gehört. 29
Hält man sich an den Text, spricht ἡ θεά. Nur der Befund ist
eindeutig: Das Wort hat eine Göttin, und alles, worüber sie spricht –
das Sein, der Kosmos – kann vom Göttlichen nicht getrennt werden.
Bei aller Neuerung, die dieses Denken bringt: Hätte sich Parmenides
ganz davon verabschiedet, dass für das frühe griechische Denken (und
dies weit über die klassische Zeit hinaus) die Welt von göttlichen
Mächten erfüllt ist, gäbe es dann einen Grund, dass er die Wahrheit
von einer Göttin verkünden lässt?
Folgt man der Doxographie des Aristoteles, war Thales von
Milet der erste Philosoph. Von ihm heißt es in De anima:
Καὶ ἐν τῷ ὅλῳ δέ τινες αὐτὴν [scil. τὴν ψυχὴν] μεμῖχθαί φασιν, ὅθεν
ἴσως καὶ Θαλῆς ᾠήθη πάντα πλήρη θεῶν εἶναι. »Einige sagen aber auch,
sie [scil. die Seele] sei mit dem All vermischt, weshalb vielleicht auch Thales
glaubte, alles sei voll von Göttern.« 30
Die θεά der FF muss mit keiner bestimmten Göttin identifiziert wer-
den. Wenn hier Namen genannt wurden (°B 1.22, °III.2.a.4), so sind
es nur σήματα, Zeichen (ähnlich wie die Attribute des Seins, °III.6.b).
Wem der Kuros begegnet, was ihn an die Grenze seines θυμός führt
(°B 1.1) und ihn das Folgende zu bedenken heißt (°B 6.2), ist eine
göttliche Macht, die bei Parmenides ἡ θεά heißt. Durch ihren Anruf
wird jener, der alles Vertraute hinter sich lässt, weil er etwas gesehen
hat (B 1.3), zum Kuros, dem wissenden Jüngling (B 1.24).
Die im vorigen Abschnitt genannten mythischen Bezüge und
der Vergleich mit einer Initiation sowie die Gegenüberstellung von
Parmenides und Pindar sind das Eine. Etwas anderes aber ist die Ziel-
vorgabe, die nur dem Parmenides eigen ist. Heidegger hat dazu bün-
dig festgestellt: »Parmenides fährt mit einem Rossegepann zum Hau-
se der Göttin – Ἀλήθεια –. Er legt diesen Weg zur Göttin zurück. {…}

29
Das nächste und wirkungsgeschichtlich bedeutendste Beispiel ist Platons Höhlen-
gleichnis: Τοῦτο δή, ὡς ἔοικεν, οὐκ ὀστράκου ἂν εἴη περιστροφή, ἀλλὰ ψυχῆς
περιαγωγὴ ἐκ νυκτερινῆς τινος ἡμέρας εἰς ἀληθινήν, τοῦ ὄντος οὖσαν ἐπάνοδον,
ἣν δὴ φιλοσοφίαν ἀληθῆ φήσομεν εἶναι (Platon R. VII 521 c). »Das ist nun freilich,
scheint es, nicht wie sich eine Scherbe umwendet, sondern es ist eine Umlenkung der
Seele, die aus einem gleichsam nächtlichen Tag zu dem wahren Tage des Seienden jene
Auffahrt antritt, welche wir eben die wahre Philosophie nennen wollen« (Platon SW 3,
229). Damit vergleichbar sagt Hegel, »daß die an und für sich seiende Welt die verkehrte
der erscheinenden ist« (WW 6, 161).
30
Gemelli I, 18/19. Aristoteles de An. 411a7. DK 11 A 22.

160
Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8)

Dieser Weg und seine Reichweite ist bestimmt durch das ἐφικάνειν
des θυμός, durch das eigene Vor-verlangen des Parmenides. Er selbst
von sich aus macht sich auf den Weg, nicht eine mystisch-mysterien-
hafte Verzauberung und Verzückung reißt ihn weg.« 31
Dies hat für die Interpretation nicht geringe Folgen. B 1.1–21
schildert der zunächst Ungenannte (ein durch με eingeleitetes ἐγώ,
das sich nur indirekt durch seinen θυμός meldet, B 1.1) seine Fahrt.
Er berichtet, dass sie κατὰ πάντ’ ἄστη φέρει εἰδότα φῶτα, »über
alle Wohnstätten hin führt den Menschen, der etwas gesehen hat«
(B 1.3) und somit ungewöhnlich ist. Dies zeigt sich dadurch, dass die-
sen Menschen πολύφραστοι ἵπποι, »vielverständige Rosse« (B 1.4),
fortbringen, dass ihm κοῦραι, »junge Frauen«, den Weg weisen
(B 1.5) und dass ihn Ἡλιάδες κοῦραι, »des Helios Töchter« (B 1.9),
begleiten. Am Ende dieses Weges lässt ihn Δίκη πολύποινος, »Dike,
die vielstrafende« (B 1.14), durch ein im Übrigen recht genau be-
schriebenes Tor hindurch (B 1.17–20). In dieser neuen Umgebung
halten die Stuten mit ihrem Wagen.
B 1.22 erscheint ἡ θεά. Im Augenblick der Begegnung mit ihr
wird der bis dorthin Gebrachte zum Kuros. Er ist dies, weil er nun
alles erfahren soll: χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι, »Not aber ist, dass
du alles erfährst« (B 1.28). Drei Erfahrungen kündigt die Göttin an:
1. ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ, »der Wahrheit wohlgerunde-
tes, ruhiges Herz«; 2. βροτῶν δόξας, ταῖς οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής,
»der Sterblichen Meinungen, in denen nicht wahres Vertrauen
wohnt«; 3. ὡς τὰ δοκοῦντα χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ παντὸς πάντα
περῶντα, »dass das, was erscheint, notwendig ist und, in Ansehen
stehend, durch alles hindurch alles durchdringt« (B 1.29–31).
Dabei bleibt es nicht. Es folgt das Versprechen eines – der Göt-
tin! – Mythos, womit gleichzeitig die Aufforderung an den Kuros
ergeht, das Gesagte anzueignen: κόμισαι δὲ σὺ μῦθον ἀκούσας, »hö-
re du aber den Mythos und eigne ihn an« (B 2.1). Der nun zum Kuros
Gewandelte befindet sich nicht nur, mit einem Bild gesagt, in einer
neuen Umgebung, sondern mit dem Wort χρῆν, »Not«, öffnet sich
ihm auch eine neue Dimension des Denkens.
Damit entfällt jeder Versuch, die FF außerhalb dieses Horizontes
zu verstehen, etwa als unio mystica mit dem Sein: Die Vorgaben für
den Interpreten sind dem Mythos der Göttin zu entnehmen: als Wei-
sung für den einzig möglichen Weg bei gleichzeitiger Abwehr un-

31
Heidegger GA 35, 110.

161
Kommentar

gangbarer, nur scheinbarer Wege (B 2.2–8, B 6.4–9, B 7.3–5); im Aus-


gang vom Grundgedanken der Selbigkeit von Denken und Sein (B 3,
B 8.34); mit einem neuen Blick auf das Seiende (B 4.1); schließlich im
Verfolg der Zeichen, die auf dem Weg (der auch weiterhin als phi-
losophischer Mythos zu verstehen ist: B 8.1) begegnen (B 8.3–49).
Nach diesem Teil der Rede endet die Göttin ihren πιστὸν λόγον
ἠδὲ νόημα ἀμφὶς ἀληθείης, die »Vertrauen erweckende Rede und
den Gedanken zu beiden Seiten der Wahrheit« (B 8.50–51), und es
folgt eine Zäsur: δόξας δ’ ἀπὸ τοῦδε βροτείας μάνθανε κόσμον
ἐμῶν ἐπέων ἀπατηλὸν ἀκούων, »{…} die sterblichen Meinungen
von da an lerne, indem du meine Worte hörst über die trügliche
Welt« (B 8.51–52).
Das Missverständnis, das den δόξαι entspringt (B 8.53–59), be-
trifft die Welt: Nach Auffassung der βροτοί ist sie bloßer Schein. Für
die Göttin beruht jedoch die wahre Einrichtung (διάκοσμον B 8.60)
auf ihrer Einheit. (Dass diese ihrerseits das ἐόν zum Fundament hat,
ist noch zu zeigen: °III.8.a).
Die Hilfe seitens der historisch-philologischen Forschung darf
nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Interpretation ab der An-
rede des Kuros seitens der Göttin (B 1.24) primär im Bereich der Phi-
losophie zu bewegen hat. Deren Grundthemen heißen »Sein« und
»Denken«.
Über mögliche Vorläufer des Parmenides wurde bereits berichtet
(°I.3.a). Es geht aber nicht allein darum, Einflüsse nachzuweisen (was
im Übrigen schon seit Diels der Fall ist, in den Forschungen der letz-
ten Jahrzehnte aber weiter ausgebaut wurde) 32, die Frage stellt sich,
ob und inwieweit sich die Vergangenheit als Herausforderung für
Parmenides erweist. Sind für ihn die Mythen – insbesondere die von
Hesiod überlieferten – etwas, das überwunden werden muss, sodass
erst dadurch die Besonderheit der FF (in Gestalt des neuen Mythos
der Göttin: °III.2.a.1) heraustritt? Und gilt Ähnliches für das kosmo-
logische Denken der Milesier, insbesondere für jene des Anaxi-
mander?
Griechische Mythen sind in der Zeit des Parmenides noch durch-
aus lebendig. Indirekt lässt sich dies an ihrer Kritik durch Xenophanes
ablesen (°I.3.a.iii), auch wenn diese im Werk des Parmenides keinen
unmittelbaren Niederschlag findet. Was ist überhaupt ein Mythos,
worin liegt seine Besonderheit?

32
Diels 2003, Burkert 2003, Burkert 2008, Gemelli II u. a.

162
Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8)

Der griechische Mythos wird nur im Lichte einer bestimmten


Interpretation zugänglich. Um sich dieser und damit ihrem Gegen-
stand anzunähern, unterscheide ich mit Angehrn drei Aspekte: »Un-
tersucht werden können die Logik, die Funktion oder der Inhalt des
Mythos.« 33

Stellungnahme und Aneignung


Bei den VSn findet sich das Wort μῦθος nur selten: zuerst bei Par-
menides, am häufigsten bei Empedokles, später bei Demokrit und
Kritias. 34
B 2.1–2 fordert die Göttin den Kuros auf, auf ihren eigenen My-
thos zu hören und diesen sich anzueignen, κόμισαι δὲ σὺ μῦθον
ἀκούσας. B 8.1–2 leitet zur Aufzählung der Attribute des Seins über,
denn nun nur noch der Mythos des Weges sei übrig, μόνος δ ἔτι
μῦθος ὁδοῖο | λείπεται.
Es ist eine Herausforderung durch etwas, das Parmenides aus der
Überlieferung begegnet und ihn veranlasst, Stellung zu beziehen: ge-
genüber dem Alten und mit Blick auf das Neue. Mit dem Alten sind
der Mythos mit seinen Genealogien gemeint, dazu die Kosmologie im
Geiste des neuen Wissens der milesischen Philosophie; neu ist das
Denken des Seins. Indem die neue Aufgabe ergriffen wird, kann der
alte Mythos zum Anstoß werden.
Mythen sind Schöpfungen vor allem von Homer und Hesiod.
Wie wir heute wissen, ist gerade Letzterer für Parmenides von Be-
deutung, weit mehr als Homer.
»Wenn Parmenides mit seiner Ontologie alle früheren Kosmo-
logien ablehnt, dabei aber von seinen Vorgängern das verwendet, was

33 Angehrn 1996, 31. – Doch gilt dies nur für den griechischen Mythos und kann
»anderweitig nicht aufrecht erhalten werden. Vor allem zeigt sich bei den Kulturen
der Sammler und Jäger, daß es ›den‹ Gott im Sinne einer klar umgrenzten (polytheis-
tischen) Persönlichkeit eigentlich nicht gibt. Vielmehr geht es darum, daß sich das
Göttliche mit den Gestalten der Erfahrung und den Vorstellungen des Bewußtseins –
vielfach in reflexionsloser Objektivität und in gemeinschaftsbezogener Spontaneität –
verbindet und dem Hier und Jetzt des Alltäglichen Sinn verleiht. Zwar kennt die ein-
zelne Erzählung diesen oder jenen ›Gott‹, verglichen mit andern Erzählungen jedoch
zeigt sich eine ständige Metamorphose der göttlichen Gestalten. Was einmal als
Schöpfergott angesprochen ist, ist ein andermal der Urvater, Kulturbringer usw.«
(Dupré 1973, 950 f.).
34 Parmenides: B 2.1; B 8.1. – Empedokles: 31 B 62.3; B 23.11; B 17.14–15; B 24.2;

B 114.1. – Demokrit: 68 A 126 a. – Kritias: 88 B 6.10 (DK III, 288).

163
Kommentar

er als richtig betrachtet, lassen sich bei ihm erste Ansätze zu einer
immanenten Kritik feststellen, insofern er mit den richtigen Lehr-
meinungen seiner Vorgänger deren falsche widerlegt.« 35
Das Herz der Wahrheit. Die Mitte des parmenideischen Denkens
ist für die Göttin ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ, »der Wahrheit
wohlgerundetes, nicht erzitterndes Herz« (B 1.29). Ein solches Herz
kann von außen nicht erschüttert werden, denn es gibt ja kein Außen
(B 8.36–37). Damit ist es unbeweglich, was aber nicht heißt, dass es
nicht eine eigene Art von Bewegtheit hat, ein In-sich-Ruhen: Es ruht
in sich als das Selbe im Selben (B 8.29). 36
Da von einer strikten Trennung zwischen geistigen und körper-
lichen Funktionen abzusehen ist, können hier auch medizinische
Überlegungen hereinspielen. 37

b. Der Kuros

Kuros – »Jüngling« – ist ein Wort aus der Mysterienliteratur


(°B 1.24). 38 Wesentlich ist hier, dass der Mensch, der etwas gesehen
hat und sich deshalb mit allem ihm nur möglichen Einsatz auf eine
gefährliche Reise einlässt (B 1.1, B 1.3), zum Kuros wird, sobald ihm
die Göttin begegnet und auf die Notwendigkeit hinweist, sich allem,
was sie nun sagen wird, auszusetzen: χρεὼ δέ σε πάντα πυθέσθαι.
»Es ist aber Not, dass du alles erfährst« (B 1.28). Er hat dies aber auch
zu »lernen« (μαθήσεαι: °B 1.31), d. h. nicht bloß zur Kenntnis zu
nehmen, sondern anzueignen, indem er dem Weg folgt, den ihm die
Göttin beschreibt, und in eins damit andere Wege – die sich nur als
solche geben – vermeidet.

35
Bormann 1971, 151.
36 Die Übersetzung von ἀκίνητον (B 8.26 und B 8.38) ist allerdings Interpretation.
Denn jedes Verbaladjektiv kann zweierlei bezeichnen: »entweder das Bewirkte: λυτός
gelöst, κρυπτός verborgen, {…} oder (häufiger) das Bewirkbare: λυτός lösbar, διδα-
κτός lehrbar, νοητός denkbar {…}« (Bornemann/Risch 1978, 256). Die Entscheidung
im Text für »unbeweglich« ergibt sich nicht aufgrund des häufigeren Vorkommens,
sondern wird mit B 8.36–37 begründet: οὐδὲν γὰρ {ἢ} ἔστιν ἢ ἔσται | ἄλλο πάρεξ
τοῦ ἐόντος. Im Übrigen darf bei aller Zurückhaltung gegenüber Anachronismen an
den Unbewegten Beweger der aristotelischen Metaphysik erinnert werden.
37
Dönt 1984.
38 »Der Kuros als Lernender«: Stemich 2008, 42–65. »Die Seinsmerkmale aus der

Sicht des Kuros«: Stemich 2008, 197–217.

164
Begegnung (B 1.22–32 / B 2.1–8)

Der Nachvollzug dieser Forderung setzt eine Umkehr der ge-


wohnten Einstellung voraus, denn nur so wird der Blick (B 4.1) auf
solches frei, das nicht unmittelbar vor Augen liegt: für die ἀπεόντα.
Der Kuros muss zuerst das Wagnis jener in F0 beschriebenen Fahrt
auf sich nehmen – es ist seine Initiation (B 1.1–21). Erst wenn er ans
Ende dieser Fahrt gekommen ist und damit sein erstes (ihm zunächst
noch nicht in voller Deutlichkeit vorgegebenes) Ziel erreicht hat (die
Begegnung mit der Göttin: B 1.22), muss er die nächste Aufgabe be-
stehen: Er muss sich einer Prüfung unterziehen (B 7.5). Und erst dar-
nach vermag er die schon angekündigte Voraussetzung seines Weges
zu erkennen, nämlich die Selbigkeit von Denken und Sein (B 3).
Durch diese entscheidenden Schritte auf den Weg gebracht, begegnen
ihm jene Zeichen (°III.6.b), die das Ganze des Seins gleichsam auf-
leuchten lassen – das Wort in der Bedeutung des λεύσσειν (B 4.1)
und nicht etwa als mystisches Erlebnis verstanden: οὐδέ ποτ’ ἦν
οὐδ’ ἔσται, ἐπεὶ νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν, »nicht war es jemals, noch wird
es sein, da es auf einmal nun alles ist« (B 8.5); οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν,
ἐπεὶ πᾶν ἐστιν ὁμοῖον; »es ist nicht teilbar, da gleich in jeder Bezie-
hung« (B 8.22); ἐὸν ἐόντι πελάζει, »Seiendes ist dem Seienden na-
he« (B 8.25); πᾶν ἐστιν ἄσυλον, »ganz ist es unversehrt« (B 8.48);
ταὐτόν τ’ἐν ταὐτῷ τε μένον καθ’ ἑαυτό τε κεῖται, »das Selbe im
Selben verharrend und bei sich selbst ruht es« (B 8.29).
Blick und Prüfung und Kenntnis der Voraussetzungen sind die
wesentliche Grundlage für den Schritt zum Sein. Doch das Aufspüren
der Zeichen ist nur möglich, wenn der Kuros den Weg selbst geht. 39
Mit anderen Worten: Er kommt immer wieder in Gefahr, sich im
Ungangbaren zu verirren und zu verlieren. Dies ist deshalb der Fall,
weil der Kuros zwar die Gewohnheiten und das Gewöhnliche der
βροτοί hinter sich gelassen hat, deshalb aber sein Wesen als βροτός
nicht von sich abgetan hat. Es wäre sogar die äußerste Verblendung,
meinte er, dadurch nicht mehr der δόξα ausgesetzt zu sein. Die Irre
gehört zur Wahrheit, und es wäre wohl die verhängnisvollste Verstri-
ckung in jene, zu meinen, die ἀλήθεια wäre möglich, ohne sich den
δόξαι auszusetzen (°III.8.a.i).

39
°B 1.2, °B 1.32, °B 2.4, °B 2.5.

165
Kommentar

3. Sein und Denken (B 3 · B 8.34)

Das dritte F ist das kürzeste und legt den Grund für alles Weitere.

a. Νοεῖν

B 3 wird meist im Anschluss an B 2.7–8 gelesen: οὔτε γὰρ ἂν γνοίης


τό γε μὴ ἐὸν (οὐ γὰρ ἀνυστόν) | οὔτε φράσαις. »Denn du könntest
das Nichtseiende nicht erkennen (es ist ja nicht durchführbar), | noch
könntest du es erklären.« Parmenides begründet mit diesen zwei Ver-
sen die Unmöglichkeit, das Nichtsein zu erkennen, und damit auch
jene, diese Erkenntnis anderen mitzuteilen. Unmittelbar darauf folgt
B 3 mit der Begründung: … τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.
»… das Selbe nämlich ist Denken sowohl als auch Sein.« Im Vollzug
des νοεῖν (und auf keine andere Weise) stößt der Mensch immer
wieder auf Sein. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Um hier
Klarheit zu schaffen, wird ein Blick auf die Semantik von νοεῖν vo-
rausgesetzt. Kurt v. Fritz hat dessen Entwicklung in einer größeren
Studie 40 untersucht – auf sie hat sich der Großteil der Interpreten
nach ihm bezogen. Anders als diese ist Maria Marcinkowska-Rosół
mit neuen Beobachtungen über v. Fritz hinausgegangen. 41

b. Εἶναι

So wichtig die semantischen und historischen Beobachtungen zu εἶ-


ναι auch sein mögen, sie lassen die entscheidende Frage offen: Wa-
rum stößt Parmenides auf das Sein? B 6.1–2 sagt die Göttin zum
Kuros: χρὴ τὸ λέγεις τὸ νοεῖς 42 τ’ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι, |
μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν· τά σ’ ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα. »Not ist, dass das,
was du sagst und denkst, ein Seiendes ist; es gibt nämlich Sein, | ein
Nichts gibt es nicht; das heiße ich dich zu bedenken.« Um sich einer
Antwort zu nähern, ist nochmals auf das νοεῖν zurückzukommen,
falls nur so und nicht anders (d. h. nur im Vollzug des νοεῖν) der
Mensch das εἶναι entdeckt.

40
Fritz 1968.
41 Marcinkowska-Rosół 2010.
42
Lesart und Übersetzung: Marcinkowska-Rosół 2010, 109.

166
Sein und Denken (B 3 · B 8.34)

Der Sinn dieser Aussage: Sagen und Denken sind intentional,


d. h. ihrem Wesen nach ein Etwas-Sagen und ein Etwas-Denken.
Das erklärt zwar – zumindest vorläufig – das λέγειν und νοεῖν, be-
antwortet aber immer noch nicht die Frage, wie und warum das Sein
zum Grundthema des Parmenides geworden ist. Einen Hinweis ent-
halten die Verse vor und nach dem Zeilenwechsel: ἔστι γὰρ εἶναι, |
μηδὲν δ’ οὐκ ἔστιν. Das Sein ist Thema, weil das Nichts als Heraus-
forderung entgegentritt. Wo geschieht dies?
Wie schon mehrmals erwähnt, ist die Kosmologie der Milesier
jene Herausforderung, auf die sich Parmenides zur Antwort heraus-
gefordert sieht (Herausforderung: das milesische μηδέν – Antwort:
das parmenideische εἶναι). Da unter den Milesiern zu Anaximander
von Milet eine besondere Nähe zu bestehen schein, sei eigens auf
dessen Kosmogonie hingewiesen:
»Die Erde sei schwebend, von nichts überwältigt, beharrend infolge ihres
gleichen Abstandes von allen [Himmelskreisen]. Ihre Gestalt sei rund, ge-
wölbt, einem steinernen Säulensegment ähnlich. Wir stehen auf der einen
ihrer Grundflächen; die andere ist dieser entgegengesetzt. (4) Die Gestirne
entstehen als Feuerkreis durch Abspaltung vom Feuer im Weltall und in-
dem [das Abgespaltene] von Luft eingeschlossen wird. [An ihnen] seien
gewisse röhrenartige Durchgänge vorhanden als Ausblasestellen; an diesen
Stellen seien die ›Gestirne‹ sichtbar. In dieser Weise entstünden auch die
Finsternisse, nämlich durch Verriegelung der Ausblasestellen. (5) Der
Mond erscheine bald als Vollmond, bald als Halbmond infolge der Verrie-
gelung bzw. Öffnung der Ausblasestellen. Der Kreis der Sonne sei 27mal so
groß wie der der Erde, der des Mondes 19mal so groß; die Sonne sei zu-
oberst, die Kreise der Fixsterne hingegen zuunterst angeordnet.« 43
Das Zitat ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil es einen Ver-
gleich mit der Kosmologie des Parmenides ermöglicht.

c. Αὐτό

Das Selbe und das Gleiche. Das Selbe, τὸ αὐτό, ist Denken sowohl als
auch Sein, νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι. Dabei ist vorweg nach der Be-
deutung des αὐτό zu fragen. Unterschieden wurde das Selbe, τὸ ἀυτό,
und das Gleiche, τὸ ὅμοιον (°B 3). Τὸ ἀυτό meint die Identität einer

43
Mansfeld I, 75. DK 12 A 11.

167
Kommentar

Sache mit sich selbst, während sich τὸ ὅμοιον auf eine andere, mit
ihm gleiche Sache bezieht; ein Beispiel:
Im Dialog über den Sophisten stellt Platon fünf oberste Gat-
tungsbegriffe, γένη, auf, um Sein und Bewegung zu erfassen: ὄν,
στάσις, κίνησις, ταὐτόν und ἕτερον. Sie gleichen einander insofern,
als sie aneinander Teil haben. Für sich genommen sind sie aber mit
sich identisch. So kann der Fremde als Wortführer dieses Dialogs
sagen:
Οὐκοῦν αὐτῶν ἕκαστον τοῖν μὲν δυοῖν ἕτερόν ἐστιν, αὐτὸ δ’ ἑαυτῷ ταὐ-
τόν. »Deren doch jedes verschieden ist von den andern beiden, mit sich
selbst aber dasselbe.« 44
Die Reziprozität des αὐτό. Zur Bestimmung der Hierarchie in dieser
Korrelation gibt es drei Möglichkeiten: 1. Das νοεῖν ist konstitutiv;
2. der Vorrang liegt beim εἶναι; 3. weder das eine noch das andere
dominiert, es handelt sich vielmehr um eine gleichgewichtige Korre-
lation.
Ad 1. Die Position ist die des Idealismus; sie wird von Hegel
eingenommen. Dieser bezieht sich allerdings nicht unmittelbar auf
B 3, sondern zitiert bzw. paraphrasiert B 8.34–36:
»Das Denken und das, um weswillen der Gedanke ist, ist dasselbe. Denn
nicht ohne das Seiende, in welchem es sich ausspricht (manifestiert, ἐν ᾧ
πεφατισμένον ἐστίν), ›wirst du das Denken finden; denn es ist nichts und
wird nichts sein außer dem Seienden.‹ Das ist der Hauptgedanke. Das Den-
ken produziert sich; was produziert wird, ist ein Gedanke; Denken ist also
mit seinem Sein identisch, denn es ist nichts außer dem Sein, dieser gro-
ßen Affirmation. Plotin, indem er dies anführt, sagt, daß Parmenides diese
Ansicht ergriff, insofern er das Seiende nicht in den sinnlichen Dingen
setzte.« 45
Der Hinweis auf Plotin stellt klar: Das Denken kommt nicht von
draußen, sondern hat seinen Grund in sich selbst, τὸ νοεῖν οὐκ ἔξω
ἀλλ’ ἐν ἑαυτῷ. Dass es kein Sein außerhalb des Denkens gibt, lässt

44 Platon Sph. 254 d; SW IV, 228.


45 Hegel WA 18, 289 f. – Hegel zitiert die neuplatonische Interpretation dieser Stelle
durch Plotin, Enn. V 1, 8. Demnach habe Parmenides »Seiendes und Geist zusammen-
fallen {lassen} und das Seiende damit nicht unter die Sinnendinge« gesetzt; »denn
dasselbe ist Denken wie Sein«, sagt er; οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος: ὅτι τὸ νοεῖν οὐκ
ἔξω ἀλλ’ ἐν ἑαυτῷ, »weil sein Denken nicht außen ist sondern in ihm selbst« (Plotin I
a, 230/231).

168
Sein und Denken (B 3 · B 8.34)

sich zwar mit Parmenides begründen; daraus folgt jedoch nicht, dass
das Sein als solches unselbständig und nur im Denken enthalten ist.
Ad 2. Man kann hier von der Position des Materialismus spre-
chen. Dies ist weniger eindeutig als bei 1. zu verorten, da es meines
Wissens zwar Hinweise in der Sekundärliteratur gibt, doch kein Phi-
losoph diese Auffassung vertritt. Der Philosophiehistoriker Burnet
erblickt in Parmenides den »Vater des Materialismus«:
»Was ist, ist ein endliches sphärisches, bewegungsloses, körperliches ple-
num und es ist nichts jenseits von ihm. Die Erscheinungen der Vielfältigkeit
und Bewegung, des leeren Raumes und der Zeit sind Täuschungen. Wir
sehen daraus, dass die Ursubstanz, nach der die alten Kosmologen forsch-
ten, jetzt eine Art von ›Ding an sich‹ geworden ist. Sie hat diesen Charakter
niemals wieder ganz abgestreift. Was sich später als die Elemente des Em-
pedokles darstellt, als die sogenannten ›Homoeomerien‹ des Anaxagoras
und als die Atome des Leukippos und Demokritos, ist genau das ›Seiende‹
des Parmenides. Parmenides ist nicht, wie einige gesagt haben, der ›Vater
des Idealismus‹ ; im Gegenteil, aller Materialismus hängt mit seiner An-
schauung der Wirklichkeit zusammen.« 46
Ad 3. Es handelt sich um ein Wechselverhältnis, bei dem jedes Glied
das jeweils andere mitbestimmt; damit ist aber nicht ausgeschlossen,
dass einem der beiden Glieder ein Vorrang zukommt. Die Rezipro-
zität geht aus B 3 τε … καὶ, »sowohl als auch«, hervor, und der Vor-
rang des Seins vor dem Denken ergibt sich aus B 8.34 ταὐτὸν δ’ ἐστὶ
νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα. »Das Selbe aber ist Denken so-
wohl als auch weswegen ist der Gedanke.«

d. Das Worumwillen

Parmenides gebraucht nebeneinander die Termini νοεῖν und νόημα.


Der Unterschied zwischen beiden wird durch das οὕνεκεν, »dessent-
wegen« angegeben: Das νόημα ist des νοεῖν wegen da. Ein Beispiel
dazu aus der Odyssee. Telemach will nach dem Verbleib seines Vaters
Odysseus forschen, was Euryklea, dessen Dienerin, erschreckt: τίπτε
δέ τοι, φίλε τέκνον, ἐνὶ φρεσὶ τοῦτο νόημα | ἔπλετο; »Wozu ist dir
nur, liebes Kind, dieser Gedanke in den Sinn gekommen?« 47 Das νόη-

46
Burnet 1913, 167. (Mit diesem Zitat ist allerdings bereits Burnets Untersuchung zu
den späteren FFn vorweggenommen.)
47
Homer Od. 2, 363 f.

169
Kommentar

μα, der Gedanke, ist Teil eines Gedankenganges: Euryklea soll Tele-
mach Wein schöpfen, ihm Gerstenmehl bringen, das er am Abend
holen wird, um dann mit einem Schiff nach Sparta zu gehen, »um
Kunde einzuholen von der Heimkehr meines Vaters, ob ich irgend
davon höre« (Schadewaldt). Sind dies nicht verschiedene νοήματα,
Gedanken, die dem Telemach in den Sinn gekommen sind, Absichten,
die aber alle ein νοεῖν ausmachen? Pichts Kommentar zu dieser Stelle
lautet, »daß die Versreihe B 8.34–41 einen Durchblick durch den ge-
samten Aufbau des parmenideischen Denkens gibt; denn sie führt
von dem Selben im Erkennen und ›Seienden‹ über die Fesseln der
Moira bis in den Bereich der δόξα«, und »daß diese Versreihe sich in
ihrem Aufbau genau an das Fragment {21} B 26 des Xenophanes an-
schließt«. 48

4. Die Schau (B 4 · B 5)

Wie B 3 so etwas wie einen Kern des Ganzen bildet, ist B 4 für die Sicht-
weise, die dem Denken des Seins entspricht, von zentraler Bedeutung. In
B 5 wird sie auf den Kosmos ausgeweitet.

a. An- und Abwesen

Nach der Meinung einiger Interpreten ist die Einordnung des Frag-
ments umstritten; es sei »ein Rätsel«, weshalb es »in das Gedicht auf-
genommen« wurde«. 49 Demgegenüber halte ich B 4 für das Verständ-
nis der FF für besonders wichtig. 50
Die Göttin ruft dem Kuros zu: λεῦσσε – »schaue«! Diese Schau
bezieht sich auf Anwesendes wie auf Abwesendes, παρεόντα und
ἀπεόντα, doch liegen beide nicht auf derselben Ebene. Anwesend
sind Erscheinungen oder Vorgänge wie die Änderung einer Lage im
Raum oder ein qualitativer Wechsel der Farbe (°B 8.41), auch Inter-
pretationen der Welt (°B 4.3, °B 4.4). Es soll aber auch dasjenige er-
fasst werden, das sich dem unmittelbaren Hinsehen entzieht, also nur

48 Picht 1996, 53.


49
Kirk & al. 1994, 288.
50 Auch Stemich widmet der »Gegensatzspannung« von ἀπεόντα – παρεόντα eine

genauere Untersuchung (Stemich 2008, 184–188).

170
Die Schau (B 4 · B 5)

der »Schau« zugänglich ist, 51 und auf diese Weise begriffen werden,
obgleich (ὅμως B 4.1) es abwesend ist. Damit verliert das Anwesende
(z. B. die Farbe eines Gegenstandes) keineswegs an Bedeutung. Denn
nur unter Bezugnahme auf τὰ παρεόντα kann auch solches, das sich
dem unmittelbaren Sehen entzieht, geschaut werden. Was B 3 als
Fundament einführt und B 4.1 als besondere Art der Intuition he-
rausstellt, wird in B 8 konkretisiert: Die ἀπεόντα sind jene σήματα
(B 8.2), die auf unterschiedliche Weise als Attribute des Seins fun-
gieren.
B 4 wehrt drei Positionen ab: (1) οὐ γὰρ ἀποτμήξει, »nicht wird
es {= das geistige Auge} trennen das Seiende« (B 4.2); (2) οὔτε σκι-
δνάμενον πάντῃ πάντως κατὰ κόσμον, »nicht, wenn es sich überall
{…} hin verteilt« (B 4.3); (3) οὔτε συνιστάμενον, »noch, indem sich’s
verdichtet« (B 4.4). Zusammenfassend: »Genaugenommen benennen
die drei Untersagungen in negativer Formulierung Merkmale des
Seienden; denn sie verwerfen, was das Seiende per definitionem nicht
sein kann.« 52

b. Ursprungslosigkeit

Das ξυνὸν δέ μοί ἐστιν, »es macht für mich keinen Unterschied«
(B 5.1), bezieht sich auf die ἀρχή, »Anfang«. Der Doxographie des
Aristoteles zufolge ist Thales von Milet der ἀρχηγός einer Philoso-
phie, die nach der ἀρχή sucht. Als einzige Ursache gilt ihm der Stoff,
die Materie, ἐν ὕλης εἴδει λεγομένην. 53 Andere von den Alten haben
noch andere Ursachen hinzugefügt. Parmenides gehört jedoch, an-
ders als die Milesier, nicht zu denen, die eigens nach der ἀρχή fra-
gen. 54 Unterscheidet er sich hier von ihnen?

51
Eine solche Schau hat nichts mit mystischen Eingebungen zu tun, wie die Beschrei-
bung zeigt; °B. 4.1.
52 Stemich 2008, 189. Anders formuliert: »Die drei Negationen bestätigen Seins-

merkmale. Der Kuros erlangt ein Objekt des ununterbrochenen Schauens, das weder
veränderbar {…} noch beweglich sondern absolut unwandelbar ist« (Stemich 2008,
191).
53 Aristoteles Metaph. A 3, 984a17 f.

54
Dies entspricht dem Selbstverständnis des Parmenides. Bei Aristoteles erscheint er
allerdings zusammen mit den Pythagoreern unter jenen, für die die Formursache zu
den ἀρχαί gehört (Metaph. A 5).

171
Kommentar

5. Wege, die keine sind (B 6 · B 7)

Es gibt zweierlei Arten, in die Irre zu gehen; in beiden Fällen herrscht


die Meinung vor, es sei ein Weg gefunden, der aber in Wahrheit nir-
gendwohin führt. Er ist ungangbar, denn er landet im Nichts. Es ist
kein πόρος, kein Durchgang, daher ἄ-πορος, unwegsam, nicht zu
passieren, 55 und daher etwas, das in wissenschaftlicher Terminologie
eine Aporie genannt wird; mit ihr einher gehen Ratlosigkeit, Ver-
legenheit, Schwierigkeit 56 – im Grunde, wörtlich genommen: Aus-
weglosigkeit.
Dieser scheinbare Weg mündet im Nichts. Die Göttin drängt aus
eben diesem Grund den Kuros von diesem ersten Weg der (sogenann-
ten) Forschung ab (ἀϕ’ ὁδοῦ ταύτης διζήσιος B 6.3) – denn: μηδὲν δ’
οὐκ ἔστιν, »ein Nichts gibt es nicht«. Doch sie fügt sogleich hinzu: τά
σ’ ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα, »das heiße ich dich zu bedenken« (B 6.2).
Dass es kein Nichts gibt, muss der Kuros eigens für sich erst ent-
decken (φράζεσθαι, das auch »denken« bedeutet). Ausgehend von
B 3 wäre zu sagen, dass die Entdeckung des Nichts erst auf der Ebene
des νοεῖν möglich wird.
Ungangbar sind erstens die milesischen Kosmologien. Diese
konstituieren Gegensätze, gehen aber nicht – wie es rechtens wäre –
von deren Einheit aus. Sie bilden diese erst im Nachhinein – sei es
durch Einfügung der Gegensätze in die Welt (B 4.3) oder durch deren
Verdichtung (B 4.4). In beiden Fällen fehlt der Blick (λεῦσσε B 4.1),
der das Eine vorwegnimmt. Die zweite Gruppe, die sich auf einem
solchen Irrweg befindet, sind die βροτοί, die Sterblichen. Sie halten
sich am Gewohnten fest und gehen nicht κατὰ πάντ’ ἄστη »über alle
Wohnstätten hin« (B 1.3) zum νοεῖν. Parmenides nennt sie δίκρα-
νοι, »Doppelköpfe« (B 6.5), denn sie bejahen bald das, was sie für das
Sein halten, bald jenes, das ihnen als Nichts erscheint, denn ihnen
fehlt die πίστις ἀληθής, das wahre Vertrauen (B 1.30, B 8.28).

55 Pape 1, 332.
56
Herodot 1, 79.

172
Die Schau (B 4 · B 5)

a. Ausweglosigkeit: Das Nichts

Für »Ausweglosigkeit« steht im Griechischen ἀπορία. Als terminus


technicus findet sich das Wort zwar erst nach Parmenides, 57 ist aber
indirekt auch schon für ihn nicht irrelevant (°B 7.5).
Die ἀπορία – sagt Platon in seinen »etymologischen« Erklärun-
gen im Kratylos – ist schlecht, wie alles, was am Gehen und Vor-
wärtskommen hindert, ἐμποδὼν ᾖ τῷ ἰέναι καὶ πορεῦεσθαι. 58 Die-
ses Hindernis erscheint bei Parmenides im »οὔτε … οὔτε« (B 2.7–8),
weshalb es gilt, einen solchen Gedanken abzuwehren (διζήσιος εἶργε
νόημα B 7.2). Er müsste dies freilich nicht eigens betonen, wäre das
Nichts – und um dieses geht es dabei – außerhalb jeder Erfahrung.
Denn die Göttin sagt nicht, der zweite Weg sei nicht zu denken.
Seine ganze Ausweglosigkeit zeigt sich allerdings erst im Horizont
des νοεῖν; erst hier tritt ein solches Vorhaben in seiner ganzen Ver-
geblichkeit in Erscheinung (οὐ γὰρ ἀνυστόν B 2.7). Zweierlei folgt
daraus: Es ist unmöglich, das Nichtsein zu erkennen (οὔτε γὰρ ἂν
γνοίης τό γε μὴ ἐὸν B 2.7); es ist daher auch nicht möglich, das
Nichtsein zu erklären (οὔτε φράσαις B 2.8). Gegenüber dem Mythos
würde dies heißen: Was nicht erkannt werden kann, d. h. wo es kein
κρῖναι λόγῳ (B 7.5), keine auf dem λόγος beruhende Unterschei-
dung gibt, ist es auch nicht möglich, solche Behauptungen sachkundig
zu vermitteln. Wer ist damit gemeint?
Es sind zwei Adressaten, exemplarisch mit zwei Namen verbun-
den: dem des Hesiod und dem des Anaximander; jener steht für den
Mythos, dieser für die Kosmologie der Milesier.

b. Irrwege: Die unwissenden Sterblichen

Von den Aporien, von denen eben die Rede war, sind die Irrwege der
Sterblichen zu unterscheiden. Handelt es sich bei jenen um Kosmo-
gonien oder Kosmologien, so bestimmen hier die Irrwege des Alltags

57 »Das Wort ›Aporie‹ {…} bedeutet Ausweglosigkeit, Not, Verlegenheit und Bedürf-
tigkeit. In Platons Dialogen bezeichnet die A. das Empfinden eines Mangels, die in-
haltliche Problematik eines philosophischen Sachverhaltes oder die Unfähigkeit,
etwas beschaffen zu können. {…} Bei Platon steht die A. in engem Zusammenhang
mit dem Verfahren des Elenchos, dessen ›Resultat‹ die A. beschreibt« (Aporie, in:
Schäfer 2007, 48; Michael Erler).
58
Platon Cra. 413 c.

173
Kommentar

die Meinungen der Sterblichen. Wird im ersten Fall das Sein unzurei-
chend erkannt oder erklärt (B 2.6–7), so ist hier keine Sache des Wis-
sens, sondern ein Weg des Erdichtens – ein Weg, ἣν δὴ βροτοὶ εἰδό-
τες οὐδὲν | πλάττονται, »den die Sterblichen, welche nichts wissen, |
erdichten« (B 6.4–5). Sie meinen bald »Sein« und bald »Nichtsein«,
es sind jene, οἷς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ εἶναι ταὐτὸν νενόμισται | κοὐ
ταὐτόν, »denen das Sein wie das Nichtsein für dasselbe gilt | und
nicht für dasselbe« (B 6.8–9) – daher ihr Name δίκρανοι, »Doppel-
köpfe« (B 6.5). 59
Die Taubheit und Blindheit der δίκρανοι und ihre Unfähigkeit,
zwischen Sein und Nichtsein im Denken zu unterscheiden, gründet
darin, dass sie meinen, auf dem einzig möglichen Weg zu sein, ohne
zu erkennen, dass sie sich verrannt haben. Die Hartnäckigkeit ihrer
δόξα geht darauf zurück, dass sie für wahr halten, was sie selber ge-
setzt hatten: ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ,
»was die Sterblichen festgesetzt haben, im Vertrauen darauf, dass es
wahr ist« (B 8.39). Doch was ist das für ein Vertrauen? Die Göttin
sagt, dass in den Meinungen der Sterblichen (den δόξαι βροτῶν)
οὐκ ἔνι πίστις ἀληθής, »nicht wahres Vertrauen wohnt« (B 1.30).
Ihr Irrtum wird deutlich, erinnert man sich an B 8.34: ταὐτὸν δ’
ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα. »Das Selbe aber ist Denken
sowohl als auch dessentwegen ist der Gedanke.« Denken und Sein
sind in wechselweiser Selbigkeit aufeinander bezogen (B 3). Die βρο-
τοί irren in zweifacher Hinsicht: Zum einen sind sie noch nicht zum
νοεῖν gelangt; deshalb bleiben sie – zweitens – im Bereich einseitiger
Setzung. Dass das Denken nicht Selbstzweck, sondern intentional 60
auf sein Gedachtes bezogen ist, ja mehr noch: dass es durch dieses
überhaupt erst die Möglichkeit erhält, sein Ziel zu erreichen (οὕνε-
κεν 61): diese Erkenntnis verfehlen die Doppelköpfe. Freilich haben
auch sie ihre Intentionalität, nur sind sie taub und blind gegenüber
dem, was ihnen begegnet. Parmenides gebraucht dafür das Wort τε-

59 Dieses Doppelgesicht erinnert an den zweigesichtigen Ianus. Dieser hat freilich


nicht unmittelbar mit den Doppelköpfen zu tun: Ianus ist ein römischer Gott
(»Schirmherr der öffentlichen Tore und Durchgänge, die gleichfalls ianus hießen«:
KP 2, 1311; W. E.), dem keine griechische Gottheit entspricht.
60
Zum Begriff der Intentionalität: Vetter 2004, 297 (H. Kaletha).
61 »Poseidon, versage uns nicht,« οὕνεκα δεῦρ’ ἱκόμεσθα, »um wessentwillen wir

hierher gekommen sind« (Homer Od. 3, 61; Homer 1958, 30).

174
Der Weg des Seins (B 8.1–51)

θηπότες, »sie geraten in Erstaunen« (B 6.7), sie wundern 62 sich über


alles, von dem sie meinen, es sei, und dann wieder meinen, es sei
nicht.
Wenn von Taubheit und Blindheit die Rede ist, so bezieht sich
dies darauf, dass jedes Hören und Sehen jene Intentionalität voraus-
setzt, die hier einseitig der Setzung geopfert wird. Daher schleppen
sie sich fort (φοροῦνται B 6.6), ἀμηχανίη γὰρ ἐν αὐτῶν | στήθεσιν
ἰθύνει πλαγκτὸν νόον, »denn Hilflosigkeit in ihrer | Brust lenkt den
irrenden Sinn« (B 6.5–6). 63 So sind diese Defekte primär keine sol-
chen der Wahrnehmung, sondern grundsätzlich ontologischer Art.
Indem die Sterblichen ihre eigenste Möglichkeit (die Identität von
Denken und Sein) verkennen, treiben sie in der δόξα dahin.

6. Der Weg des Seins (B 8.1–51)

B 8.1 bis B 8.51 stellt den inhaltlichen Hauptteil der FF dar. Er enthält die
Zeichen des Seins, d. h. alle jene Attribute, welche konkretisieren, was mit
dem Sein gemeint ist. Dies geschieht in beständiger Abwehr dessen, was
dem Seinsgedanken entgegensteht: das genealogisch gedachte Werden und
Vergehen. Inwiefern das Sein in dieser Abkehr von einem bestimmten Zeit-
begriff nicht in jeder Hinsicht »zeitlos« ist und seine eigene »Zeit« hat und
welche Bedeutung es für die Einheit der Welt besitzt, sollen die folgenden
Überlegungen zeigen.

a. Ἔλεγχος und λόγος

F 7 fordert die Göttin vom Kuros: κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγ-


χον, »entscheide durch Rechenschaftslegung den viel bestritt’nen Be-
weis«. Die Entscheidung ist klar; sie bezieht sich auf die Alternative
ἔστιν ἢ οὐκ ἔστιν, »es ist oder es ist nicht«, nämlich das Sein. Was
aber ist mit dem λόγος gemeint? Übliche Übersetzungen mit »Den-
ken« oder »Vernunft« sind nicht möglich, weil in dieser Bedeutung
das Wort vor Platon noch nicht vorkommt (°B 7.5) Welchen Sinn hat
dann »Rechenschaft« (λόγον διδόναι, rationem reddere)? Sie wird

62 οἱ δ’ ἀνὰ θυμὸν ἐθάμβεον· οὐ γὰρ ἔφαντο {…}. »Die aber wunderten sich in dem

Gemüte, denn sie hatten nicht gedacht {…}« (Homer Od. 4, 638; Homer 1958, 57).
63 Πλαγκτὰς δή τοι τάς γε θεοὶ μάκαρες καλέουσιν. »Plankten nennen diese die

seligen Götter (das ist: Felsen des Scheiterns« (Homer Od. 12, 61; Homer 1958, 156).

175
Kommentar

nicht (was das Übliche wäre) einer Person gegenüber geleistet, son-
dern betrifft den Vollzug des νοεῖν, also des eigenen Denkens.
Es genügt der Göttin nicht, dass der Kuros das Denken (die alles
entscheidende neue Position gegenüber allem, was ihm begegnet)
vollzieht. Die Göttin verlangt vom Kuros, dass er sich eigens auf die-
ses Denken einlässt, Rechenschaft von ihm gibt und nicht nur Bewei-
se liefert, sondern dies λόγῳ tut: Es geht nicht nur darum, auf Grund
wovon er denkt (instrumentaler Dativ), sondern wie er denkt (moda-
ler Dativ). So legt er Rechenschaft ab.

b. Strukturierung

B 8 ist mit 61 Versen das umfangreichste F, hat aber auch inhaltlich


das größte Gewicht. Der Mythos des Weges (μῦθος ὁδοῖο: B 8.1)
enthält viele Zeichen (σήματα πολλά: B 8.2–3). Auf ihm gibt es po-
sitive und neutrale Attribute, gegen die positiven Attribute positio-
nierte negative Attribute, Beweise und nicht zuletzt Metaphern.
Inhaltlich gesehen sind die wichtigsten Attribute diejenigen,
welche in positiver Form die Ganzheit ausdrücken (πᾶν kommt in
den Versen 5, 22, 24, 25 und 48 vor). Dies ist deshalb so bedeutend,
weil sich um sie herum andere Schwergewichte gruppieren: νῦν und
ὁμοῦ 5, ὁμοῖον 22, ἔμπλεόν 24, ξυνεχὲς und πελάζει 25, ἄσυλον 48.
Bei den negativen Attributen können vier Gruppen unterschie-
den werden, je nach ihrem Bezug auf solches, das Aristoteles als Ka-
tegorien bezeichnet: Negationen mit Beziehung zu Zeitlichem (ἀγέ-
νητον / ἀνώλεθρόν 3, ἄναρχον ἄπαυστον 27), zu Räumlichem
(αὐξηθέν 7, οὐδέ τι τῇ μᾶλλον / οὐδέ τι χειρότερον 23–24), zu
Quantitativem (οὐδὲ διαιρετόν 22), zum Ort (τόπον ἀλλάσσειν
διά τε χρόα φανὸν ἀμείβειν 41), zu Werden und Vergehen (οὔτε
γενέσθαι / οὔτ’ ὄλλυσθαι 13–14).
Als eigene Gruppe wären die Beweise zu behandeln, wobei
mehrheitlich γάρ vorkommt (6, 8, 17, 25, 30, 33, 35, 36, 44, 49, 53).
Weiters kommen die Ausdrucksmöglichkeiten hinzu: οὐ γὰρ
φατὸν οὐδὲ νοητόν (8), οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος {…} | εὑρήσεις τὸ
νοεῖν (35–36).
Nicht zuletzt bilden eine eigene Gruppe die Metaphern. Sie las-
sen sich noch weniger als die anderen Merkmale für sich allein be-
trachten. Weil sie mit einer Reihe anderer Bestimmungen eng zu-
sammenhängen, stellt sich folgende Frage: Wenn das »Sein« von

176
Der Weg des Seins (B 8.1–51)

jeder räumlichen Bestimmung (um nur dieses Beispiel zu nennen)


abzugrenzen ist, wie kann dann von Ferne und Nähe (πελάζει 25,
τῆλε 28) die Rede sein, was bedeuten die Banden der Grenze (πείρα-
τος ἐν δεσμοῖσιν ἔχει 31), innerhalb derer die Notwendigkeit das
Sein festhält, was ist mit der Bindung durch die Moira (Μοῖρ’ ἐπέ-
δησεν 37) gemeint und was bedeutet der Vergleich mit der Masse
einer wohlgerundeten Kugel (εὐκύκλου σφαίρης ἐναλίγκιον ὄγκῳ
43)? Bestätigt dies am Ende nicht doch Burnets Materialismus-These
(°III.3.c)?
Nach diesen Hinweisen auf die verschiedenen Textarten (posi-
tive und negative Attribute, Beweise, Metaphern) sei die Abfolge der
σήματα in B 8 mithilfe einer Paraphrase des Inhalts dargestellt:

1–2 Einleitung Als einziger noch der Mythos des Weges bleibt:
dass es ist; auf diesem Weg gibt es Zeichen.
3–6 Beschreibung Ungeworden und ohne Vergehen ganz und
einzig in seiner Art, unerschütterlich und
endlos, nicht war es jemals noch wird es sein:
Es ist auf einmal nun alles, eines, Zusammen-
halt.
6–10 Einwände Welches Hervorbringen? Gewachsen von wo?
nicht aus dem Nichtseienden sagbar weder
noch denkbar; welche Not, anfangend mit dem
Nichts, zu sein?
11–13 Folgerungen Entweder vollständig sein oder nicht: Niemals
aus Nicht-Seiendem entsteht etwas daneben,
das Selbe im Selben verharrend.
13–15 Grund Weder zu werden, noch zu verderben hat Dike
den Fesseln nachgegeben, sondern hält sie.
15–18 Krisis Unterscheidung: Es ist oder es ist nicht, ent-
schieden auf Grund der Notwendigkeit: Der
eine Weg undenkbar, namenlos, der andere
Weg ist in Wahrheit.
19–21 Rückfragen mit Wie könnte das Seiende vergehen, wie wer-
Folgen den? Wenn entstanden und werden, dann
nicht: Werden gelöscht, Untergang unver-
ständlich.

177
Kommentar

22–25 weitere Folge- Nicht teilbar, kein Stärkeres, kein Schwäche-


rungen res: vielmehr erfüllt vom Seienden, Zusam-
menhalt: Seiendes ist Seiendem nahe.
26–31 Ergebnis Unbeweglich in Grenzen gewaltiger Fesseln,
ursprungslos unaufhörlich, Werden und Un-
tergang vom wahren Vertrauen verstoßen, das
Selbe im Selben verharrend und in sich ru-
hend, beharrliches Verweilen, durch Ananke in
Fesseln der Grenze gehalten.
32–33 Satzung Seiendes nicht ohne Vollendung, da nicht be-
dürftig, Nichtseiendes hätte an allem Mangel.
34–37 Denken und Sein Das Selbe ist Denken und dessentwegen ist der
Gedanke nicht ohne das Seiende, in dem es ge-
sagt ist, ist Denken, nichts außer dem Seien-
den.
37–38 Geschick Bindung durch Moira: ganz = unbeweglich zu
sein
38–39 Einwände Name als Setzung der Sterblichen, überzeugt
davon, es sei wahr.
40–41 Irrtümer Werden / verderben, Ortstausch, Farbwechsel.
42–45 Beschreibung Äußerste Grenze: Vollendung von allen Seiten
vollendet, einer Kugel Masse ähnlich, inmitten
überall gleich = nicht größer, nicht kleiner.
46–48 Begründungen Es gibt kein anderes Seiendes, denn ganz ist es
unversehrt.
49 Schluss Für sich überall gleich, ist’s auf dieselbe Weise
in seinen Grenzen.

c. Die Zeichen des Seins

Wer die Prüfung über sich ergehen hat lassen, ist nun nicht allein im
Besitz einer höheren Erkenntnis; er ist auch bereit, die Rede der Göt-
tin zu hören und vor allem sich anzueignen (κόμισαι δὲ σὺ μῦθον
ἀκούσας: B 2.1), d. h. sich auf den einzig möglichen Weg zu begeben

178
Der Weg des Seins (B 8.1–51)

(μόνος δ’ ἔτι μῦθος ὁδοῖο: B 8.1), wenn anders die Zeichen zu Spu-
ren werden sollen, die zum Sein führen. 64
Von den σήματα ist noch zweimal die Rede: B 8.55 als Ergebnis
der sterblichen Meinungen, B 10.2 als Himmelszeichen.
Vier Fragen stellen sich hier: Was sind das – σήματα? Wo ist ihr
Ort? Was ist der Grund ihres Erscheinens? Was bedeuten die σήματα
von B 8.1–49 im Einzelnen?
Σήματα sind »Merkzeichen«. B 8.2–55 gehören sie zum Mythos
des einzigen Weges, der noch übrig ist (μόνος δ’ ἔτι μῦθος ὁδοῖο |
λείπεται, B 8.1–2). Die anderen Wege erweisen sich als ungangbar
und sind daher keine Wege: der eine aufgrund der Ausweglosigkeit
des Nichts (°III.5.a), der andere als Irrweg der Doppelköpfe (°III.5.b).
Es bleibt also nur der Weg, auf dem es Zeichen gibt, ὡς ἔστιν, »dass
›es‹ ist« (°B 8.2): χρὴ τὸ λέγεις τὸ νοεῖς τ’ ἐὸν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ
εἶναι. »Not ist zu sagen wie zu vernehmen, dass Seiendes ist; es ist
nämlich Sein« (B 6.1). B 8.55 sind mit den σήματα die Setzungen der
βροτοί gemeint (°III.8.a.i), und B 10.2 werden die Sternbilder σήμα-
τα genannt.
Die σήματα sind ταύτῃ, auf diesem Weg (°B 8.2). B 8.52 muss
der Kuros um die trügliche Welt wissen (μἀνθανε κόσμον {…} ἀπα-
τηλὸν), hier ist die Irre der Ort der σήματα (πλάνη: ἐν ᾧ πεπλανη-
μένοι εἰσίν, B 8.54). B 10.1–2 erscheinen alle σήματα an ihrem
himmlischen Ort (ἐν αἰθέρι πάντα, | σήματα καὶ {…}).
Die σήματα auf dem Weg des Seins erscheinen dem Kuros nur,
wenn er auf das Seiende im λεύσσειν blickt: auf das Abwesende im
Anwesenden (B 4.1). Auch hier ist die Abwehr kosmologischer Vor-
stellungen deutlich (°B 4.2; °B 4.3). Das gilt nicht nur für die Zeichen
des Seins, sondern auch für die Erscheinungen der wahren (und nicht
nur der scheinbaren) Welt: die φύσις und alle in ihr aufgehenden
Himmelszeichen: für Sonne und Mond, den Himmel und die Gestir-
ne, den Eros (B 13) und für das Männliche und das Weibliche (B 12.4–
6, B 17, B 18). Werner Jaeger sagt von der Schau des Abwesenden mit
den Stiftern der Mysterien, »daß das tiefste Geheimnis immer nur im
scheinbar Offenkundigen zu finden ist«. 65

64 Jaeger erinnert daran, »daß das griechische Wort für Weg (ὁδός) seit Homer ja
nicht nur die gebahnte Spur oder Straße bezeichnet, sondern auch den Gang als sol-
chen zu einem Ziel, welchen ein Mensch geht« (Jaeger 1953, 118).
65
Jaeger 1953, 117.

179
Kommentar

Vorläufiges Resultat: B 8.50–51


Die Spuren, die zum Sein hinführen, beginnen mit einer Abwehr:
Das Seiende sei ohne Ursprung und dem Verderben nicht unterwor-
fen.
Dass die Zeichen des Seins mit dem Ausschluss von Werden und
Vergehen beginnen, ist keine vorübergehende Feststellung, sondern
begleitet F 8 in immer neuen Wendungen. Jaeger versteht diese
durchgehende Abwehr als Beweis, dass das »naive Weltbild« der mi-
lesischen Kosmologen »die Zielscheibe des Angriffs ist«. 66
Für all diese in F2 zur Darstellung gebrachten Phänomene der
Welt wird F1 in zweifacher Hinsicht vorausgesetzt: durch Aneignung
der auf das Sein verweisenden Zeichen und in eins damit in Abwehr
der irrigen, dem Schein verhafteten Zeichen. Daher sind die σήματα
der FF zwar von unterschiedlicher Art, doch hängen die drei Arten
zusammen: B 8.2 ist Voraussetzung für die σήματα von B 10.12, die
Aneignung der Zeichen führt aber zugleich den Irrtum der Sterb-
lichen (σήματ’ ἔθεντο, B 8.55) durch »logische« Krisis (B 7.5 und B
8.15) auf die Wahrheit zurück.

i. Das Ganze
Den σήματα von B 8.1–49 geht ein Überblick voraus, es folgt eine
Erklärung der einzelnen Zeichen. 67
Gibt es von 8.3 bis 8.49 eine Bewegung vom Anfang hin zum
Ziel mit erkennbaren Zwischenschritten?
Mehrmals erscheint πᾶν: οὐδέ ποτ’ ἦν οὐδ’ ἔσται, ἐπεὶ νῦν
ἔστιν ὁμοῦ πᾶν, »nicht war es jemals noch wird es sein, da es auf
einmal nun alles ist« (B 8.5); οὐδὲ διαιρετόν ἐστιν, ἐπεὶ πᾶν ἐστιν

66
Jaeger 1953, 119.
67 »Dass die Aufzählung dieser vielen Attribute des Seins in Widerspruch zur be-
haupteten Einheit des Seins stehe, ist oft gesagt worden. Es ist aber selbst bei einem
›anfänglichen‹ Denker wie Parmenides kaum plausibel, dass er diesen offenkundigen
Widerspruch nicht bemerkt haben sollte. Man muss also zunächst einmal davon aus-
gehen, dass ›Sein‹ für Parmenides ein mit Inhalten gefüllter und kein leerer Begriff
ist, dessen Einheit offenbar nicht in der leeren Gleichheit seines Inhalts besteht, son-
dern, wie Parmenides ausdrücklich sagt, in der Beziehung aller seiner Momente auf
eine und dieselbe Einheit: ›Als ein Selbes im Selbigen bleibend, hat es sein Sein in
Bezug auf sich selbst‹ ({B 8.}29). Allein die Aussage, dass im Sein ›Seiendes an Seien-
des grenzt‹ ({B 8.}25), setzt voraus, dass Parmenides an Unterschiede innerhalb des
Seins denkt« (Schmitt 2007, 113).

180
Der Weg des Seins (B 8.1–51)

ὁμοῖον, »auch ist es nicht teilbar, da in jeder Beziehung gleich«


(B 8.22); τῷ ξυνεχὲς πᾶν ἐστιν· ἐὸν γὰρ ἐόντι πελάζει, »dadurch
hält es in jeder Hinsicht zusammen; denn Seiendes ist dem Seienden
nahe« (B 8.25); ἐπεὶ πᾶν ἐστιν ἄσυλον, »denn ganz ist es unver-
sehrt« (B 8.48). Das Adverb bzw. substantivisch gebrauchte πᾶν ist
hier umfassend gemeint: »alles«, »in jeder Beziehung«, »in jeder
Hinsicht« wird von der Grundbedeutung »ganz« geeint. 68 Das Sein
ist das Ganze, doch dies impliziert, dass es aus Teilen besteht. Wie
immer dies zu verstehen ist, mit diesem Befund verliert die Meinung,
es handle sich um eine bloße (und damit leere) Abstraktion, etwas
von ihrer Selbstverständlichkeit.
Des Weiteren ist der Zusammenhang von νῦν ἔστιν ὁμοῦ mit
πᾶν zu beleuchten. Für das νῦν bietet sich zwar das νῦν der aristote-
lischen Zeitanalyse im Sinne des Übergangs von einem Moment zum
anderen an; diese Zuweisung würde allerdings daran vorbeigehen,
dass das Ganze Teile »hat«. Temporal bedeutet νῦν »jetzt, soeben,
nun«, τὸ νῦν εἶναι »eben jetzt, von der unmittelbaren Gegenwart«. 69
Da sich aus demselben Grund für νῦν die aristotelische Deutung ver-
bietet, stellt sich die entscheidende Frage, ob sich die Bedeutung von
νῦν in diesen lexikalischen Befunden erschöpft.

ii. Die Unversehrtheit der Kugel des Seins


πᾶν ἐστιν ἄσυλον (B 8.48) ist die Begründung für das, was diesem
Vers vorausgeht: der Kugelvergleich (B 8.43) und die daraus sich er-
gebende Folgerung, dass es kein Größer oder Kleiner und ein dadurch
bedingtes »Da oder Dort« gibt (B 8.44–45). Verneint werden hier
quantitative Bestimmungen und in Verbindung mit ihnen solche des
Ortes. Grund dafür ist, dass das Seiende im Ganzen ἄσυλον ist.
Das Wort lebt seither im Fremdwort »Asyl«, das dazugehörige
Adjektiv ist ἄσυλος, was »ungeplündert« bedeutet und »unverletzt-
lich« – und dies deshalb ist, weil es im Schutz der Götter steht. 70

68 (τὸ) πᾶν, (τὰ) πάντα »im ganzen, ganz und gar, in jeder Beziehung« (Gemoll 584).
– »neut. sg., τὸ πᾶν the whole« (LSJ 1345).
69 Gemoll 526.

70
Pape 1, 379. – τίς γῆν ἄσυλον καὶ δόμους ἐχεγγύους | ξένος παρασχὼν ῥύσεται
τοὐμὸν δέμας; »Doch wo winkt mir die Freistatt, ein Land, ein Haus, | Das den Fremd-
ling bewirtet, sein Leben beschirmt?« (Euripides I, 114/115 = Med. 387 f.)

181
Kommentar

iii. Notwendigkeit: Ἀνάγκη und Μοῖρα


Ἀνάγκη: B 8.28–38
Die Verse B 8.35–38 handeln von der μοῖρα, was hier interpretierend
mit »Schicksal« wiedergegeben wird. Sie setzen als These die Selbig-
keit von Denken und Sein voraus, erläutern und begründen sie. Die
Erläuterung erfolgt in zweifacher Hinsicht: Sein und Denken sind
»das Selbe«; in dieser Reziprozität hat das Sein vor dem Denken den
Vorrang (°B 8.32); das νόημα, der Gedanke ist umwillen des νοεῖν,
des Denkens da (zur Unterscheidung beider °B 8.34). Außerhalb des
Seienden kann es nichts anderes geben. Grund dafür ist die Moira, das
Schicksal: ἐπεὶ τὸ γε Μοῖρ’ ἐπέδησεν, »weil es {das Seiende} das
Schicksal bindet« (B 8.37).

Die bindende Kraft der μοῖρα


34ταὐτὸν δ’ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕ- Das Selbe aber ist Denken sowohl
νεκεν ἔστι νόημα. als auch weswegen ist der Gedanke.
οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ᾧ
35 Nicht nämlich ohne das Seiende, in
πεφατισμένον ἔστιν, dem es gesagt ist,
36εὑρήσεις τὸ νοεῖν· οὐδὲν γὰρ {ἢ} wirst du das Denken finden; denn
ἔστιν ἢ ἔσται weder ist, noch wird sein
37ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, ἐπεὶ τό anderes außer dem Seienden, weil
γε Μοῖρ’ ἐπέδησεν es die Moira bindet,
38οὖλον ἀκίνητόν δ’ τ’ ἔμμε- ganz, und zwar unbewegt zu
ναι {…}. sein {…}.

Würde die Moira in einem einmaligen Akt das Sein binden, bestri-
cken oder bezwingen (so die Bedeutungen von ἐπέδησεν B 8.37),
dann gäbe es außerhalb des Seins noch etwas anderes; eine solche
Annahme widerspräche aber B 8.3 οὐδὲν γὰρ {ἢ} ἔστιν ἢ ἔσται |
ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος. Für dieses »nichts anderes außerhalb« ist
die μοῖρα, das Schicksal, verantwortlich.
In Hesiods Genealogie tritt die hier als Gottheit gedachte Μοῖ-
ρα in drei Gestalten in Erscheinung (°B 8.21): Klotho spinnt den
Lebensfaden, Lachesis teilt das Lebenslos zu, Atropos trennt den Fa-
den auf. In diesen Vorgängen zeigt sich der göttliche Eingriff in das
Leben der Menschen. Doch besteht zwischen göttlichem Eingriff und
menschlichem Leben kein Gegensatz, sondern ein reziprokes Ver-

182
Das Sein und die Zeit

hältnis. 71 Aufgrund dieser gegenseitigen Bindung können sowohl


B 1.26 μοῖρα als auch B 8.37 Μοῖρ’ mit »Schicksal« übersetzt wer-
den (°B 1.26).

iv. Die πίστις ἀληθής


Von einem jüngeren Zeitgenossen des Parmenides, dem Komödien-
dichter Epicharm, 72 ist ein Fragment überliefert, das sich als anthro-
pologisch charakterisieren lässt: νᾶφε καὶ μέμνασ’ ἀπιστεῖν· ἄρθρα
ταῦτα τᾶν φρενῶν. »Nüchtern sei und Mißtrauen übe, das sind des
Geistes Gelenke.« 73 Mit dem ἀπιστεῖν beschreibt Epicharm ein Ver-
hältnis negativer Art; es bestimmt die Grundhaltung der Sterblichen
zum Sein. Dieser muss die Wahrheit immer wieder von Neuem abge-
rungen werden (°III.8.a.i), und erst daraus entsteht die πίστις ἀλη-
θής.

7. Das Sein und die Zeit

a. Vorgriff auf Aristoteles

Im 10. Abschnitt des 4. Buches der Physik handelt Aristoteles von der
Zeit, dem χρόνος. Er geht von zwei Fragen aus: 1. Gehört die Zeit
zum Seienden oder zum Nicht-Seienden? 2. Was ist ihr Wesen? πό-
τερον τῶν ὄντων ἐστὶν ἢ τῶν μὴ ὄντων, εἶτα τίς ἡ φύσις αὐτοῦ. 74
Die Frage, ob es die Zeit überhaupt gibt, hat mit ihrer Flüchtig-
keit zu tun. Dies zeigt sich am Augenblick (τὸ νῦν), der sich nicht
fassen lässt: vergangen ist er nicht mehr, zukünftig ist er noch nicht.
Weil die Teile das Maß für das Ganze sind, kann τὸ νῦν daher auch
kein Teil der Zeit sein. Außerdem ist offen, ob der Augenblick, indem
er Vergangenes und Zukünftiges trennt, immer ein und derselbe ist,
oder ob er dabei anders wird. Bleibt er derselbe, dann sind Ereignisse,
die 10.000 Jahre zurückliegen, mit solchen von heute identisch. Wird
er aber ununterbrochen anders, muss das, was jetzt nicht ist, doch

71 »In gewissem Sinn stehen also Zeus und die Götter über μ., indem sie diese ver-
wirklichen, in gewissem Sinne aber μ. über Zeus und den Göttern, da μ. die Ordnung
ausdrückt, welche diese zu verwirklichen haben« (KP 3, 1394; H. v. G.).
72
°IV.3.
73 23 B 13; DK I, 201.

74
Aristoteles Ph. Δ 10, 217b31 f.

183
Kommentar

früher einmal gewesen, untergegangen sein, sodass eine Identität der


Augenblicke nicht möglich wäre. Aristoteles lässt diese Fragen zu-
nächst unbeantwortet.
Mit der Frage nach dem Wesen der Zeit (τίς αὐτοῦ ἡ φύσις)
berührt er (wenn auch nur indirekt) die VS und deren Thema περὶ
φύσεως. Er bezieht sich hier auf zwei Ansichten der Tradition. Den
einen zufolge ist die Zeit die Bewegung des Ganzen (οἱ μὲν γὰρ τὴν
τοῦ ὅλου κίνησιν εἶναι φασιν). Andere sagen, sie sei mit der Welt-
kugel identisch (οἱ δὲ τὴν σφαῖραν αὐτήν). 75 Die erste Ansicht ver-
wirft er, weil dann die Bewegung selbst die Zeit voraussetzen würde. 76
Im zweiten Fall verweist er auf die Möglichkeit mehrerer Himmels-
kugeln; in diesem Fall würden viele Zeiten nebeneinander bestehen –
eine Meinung, die allzu einfältig 77 sei, um genauer untersucht zu
werden.
Die eigentliche Untersuchung setzt bei einem augenscheinlichen
Befund an; darnach ist die Zeit offensichtlich eine Art der Bewegung:
ἐπεὶ δὲ δοκεῖ μάλιστα κίνησις εἶναι καὶ μεταβολή τις ὁ χρόνος,
τοῦτ’ ἂν εἴη σκεπτέον. 78
Identisch können beide nicht sein. Denn Bewegung ist immer die
eines bestimmten Seienden, dagegen ist die Zeit überall und bei allen
Dingen. Auch sind Bewegungen schneller oder langsamer, was frei-
lich auf die Zeit nicht zutreffen kann; denn »langsam« oder »schnell«
werden ja mittels der Zeit bestimmt.
Anderseits ist die Zeit auch nicht ohne Bewegung. Wenn wir
z. B. schlafen und nicht merken, dass Zeit vergeht, verknüpfen wir
beim Aufwachen sehr wohl das frühere mit dem neuen Jetzt. Es wird
eines, ohne dass wir die Zeit wahrnehmen – der Unterschied der ein-
zelnen Augenblicke bleibt uns verborgen. Offenkundig ist nur dies:
Ohne Bewegung und Veränderung ist Zeit nicht denkbar.
Dieses Ergebnis (die Zeit ist nicht mit der Bewegung identisch
und doch nicht ohne diese) führt zur genaueren Überlegung: τῆς κι-
νήσεώς τι ἐστιν ὁ χρόνος, 79 dass die Zeit etwas an der Bewegung ist.

75 Aristoteles Ph. 217a33–218b1.


76 Wieweit hier der Mythos die Kritik begründet, kann offen bleiben. »Aber alle My-
thologie hat ihren Grund in bestimmten Erfahrungen und ist alles andere als eine
pure Dichtung oder Erfindung« (Heidegger GA 24, 331).
77 εὐηθικώτερον Aristoteles Ph. 218b8. Allerdings unterstellt Aristoteles dabei seine

Kosmologie jener der VS.


78 Aristoteles Ph. 218b9 f.

79
Ph. 219a8 f.

184
Das Sein und die Zeit

Etwas, das bewegt wird, bewegt sich immer von etwas zu etwas;
auch verläuft jede Größe kontinuierlich, συνεχές; somit folgt die Be-
wegung der Größe, ἀκολουθεῖ τῷ μεγέθει ἡ κίνησις. 80 Weil die
Größe συνεχές, kontinuierlich ist, ist dies auch die Bewegung, und
daher auch ὁ χρόνος. Wie lange eine Bewegung dauert, so viel Zeit ist
auch vergangen; infolgedessen bezieht sich das Früher und Später
primär auf den Ort, τὸ δὴ πρότερον καὶ ὕστερον ἐν τόπῳ πρῶτόν
ἐστιν. 81 Auch sagen wir, Zeit sei vergangen, wenn wir etwas an einer
Bewegung wahrnehmen. Wenn wir die beiden gegenüber liegenden
Enden als verschieden von ihrer Mitte begreifen und mit der Seele 82
zwei Augenblicke erfassen, sagen wir, dies sei Zeit – so die Voraus-
setzung. Daraus ergibt sich für Aristoteles diese Definition:
τοῦτο γάρ ἐστιν ὁ χρόνος, ἀριθμὸς κινήσεως κατὰ τὸ πρότερον καὶ
ὕστερον. 83 »Dies nämlich ist die Zeit: Zahl der Bewegung hinsichtlich des
Früher und Später.«
Der aristotelische Zeitbegriff spielt für die Interpretation des parme-
nideischen Seins eine erhebliche Rolle, wenn auch nur indirekt. Um
dies deutlicher zu machen, muss auf eine andere Interpretation einge-
gangen werden, u. zw. Heideggers Auslegung des aristotelischen
Zeitbegriffs. 84 Es handelt sich dabei keineswegs um die Bevormun-
dung durch eine bestimmte Philosophie, sondern um die Rückfüh-
rung der Zeitdefinition des Aristoteles auf deren Voraussetzungen
mit dem Ziel, zu einem umfassenderen Verständnis der Zeit zu ge-
langen.
Heidegger destruiert damit die Voraussetzung des Aristoteles,
seine Definition biete den einzig möglichen Zugang zur Zeit. Seine
Grundlage ist die zählende Wahrnehmung bzw. die Wahrnehmung
des Gezählten. Diese Definition entspricht aber nur einem bestimm-
ten Zeitbegriff. Heideggers Feststellung läuft an diesem Punkt darauf
hinaus, »daß in der Zeitdefinition die Herkunft der vulgär verstande-

80
Ph. 219a11 f.
81 Ph. 219a14 f.
82 ἡ ψυχή ἐστιν ἐντελέχεια ἡ πρώτη σώματος φυσικοῦ δυνάμει ζωὴν ἔχοντος.

»Seele ist die urspüngliche Wirklichkeit eines von Natur gegebenen Körpers, der sei-
ner Möglichkeit nach Leben hat« (Aristoteles de An. B 1, 412a27 f.). Mit »Seele«
meint Aristoteles hier den Vollzug des Denkens.
83 Aristoteles Ph. 219b1 f.

84
Dem »Aufriß der aristotelischen Zeitabhandlung« (α) folgt die »Auslegung des
aristotelischen Zeitbegriffs« (β) (Heidegger GA 24, 336–342); die weiteren Ausfüh-
rungen Heideggers werden hier übergangen. Zum Kontext: Vetter 2014, I. Teil, § 12.

185
Kommentar

nen, d. h. der nächstbegegnenden Zeit, aus der Zeitlichkeit an den Tag


kommt«. 85
Was immer schon an der Bewegung der Größe abgelesen und
daraus auf die Zeit geschlossen wird, geht in die aristotelische Defini-
tion ein: Bewegung, Stetigkeit, Ausdehnung, Ortsveränderung. Hei-
degger führt dies nun auf konkrete Erfahrungen zurück. Als Beispiel
wählt er den Uhrgebrauch (wobei dessen Besonderheiten hier keine
Rolle spielen, z. B. wurden in der Antike Reden oder Wettläufe mit
der Sanduhr gemessen). Im Rückgang auf die Erfahrung wird deut-
lich, dass die Orte kein undifferenziertes Nebeneinander von Hier
nach Dort sind, sondern das Dort stets ein »von dort her« und das
Hier ein »hier hin« bedeutet. Sehen wir auf die Uhr, lesen wir die Zeit
ab, d. h. wir haben »der Uhr schon die Zeit vorgegeben«. 86
Indem Aristoteles der Zeit die Zahl zuweist (als μέτρον ist sie
ἀριθμός), ebenso wenn ich die so gemessene Zeit an der Uhr ablese,
ist dies ein »›mit der Zeit rechnen‹, ›sich nach ihr richten‹, ›ihr Rech-
nung tragen‹« 87 – Zeit, um etwas zu tun. Heidegger kommt somit zu
diesem vorläufigen Ergebnis:
»Das vulgäre Zeitverständnis bekundet sich zunächst ausdrücklich im Ge-
brauch der Uhr, in der Zeitmesssung. Wir messen aber die Zeit deshalb, weil
wir die Zeit brauchen, d. h. weil wir uns Zeit nehmen bzw. Zeit lassen, und
die Art, wie wir die Zeit brauchen, durch bestimmte Zeitmessung ausdrück-
lich regeln und sichern.« 88
Die so definierte Zeit gehört zum Dasein des Menschen; Heidegger
spricht hier von »Weltzeit«. 89 Die Zurückführung auf das Dasein
zeigt sich im Dann, dass ich einer Sache gewärtig bin (diese wird dann
und dann eintreffen); im Damals, dass ich etwas, das geschehen ist,
im Gedächtnis behalte oder vergessen habe; im Jetzt, dass etwas ge-

85
Heidegger GA 24, 342. – Terminologische Zwischenbemerkung: »Heidegger denkt
bei v. wohl an lat. vulgaris, ›allgemein, allen gemein, alltäglich, öffentlich‹. Dabei
bezieht er sich nicht zuletzt auf den gesunden Menschenverstand {…}« (Vetter 2014,
364). – Zum Begriff der Destruktion: »Mit D. (von lat. destruere ›niederreißen‹) be-
zeichnet Heidegger allgemein den Abbau begrifflicher Vorprägungen, die selbstver-
ständlich und damit als solche unkenntlich geworden sind, zugunsten eines Rück-
gangs auf die ursprünglich motivgebende Situation« (Vetter 2014, 112).
86 Heidegger GA 24, 347.

87 GA 24, 365.

88
GA 24, 368.
89 GA 24, 370. Auf den von Heidegger exponierten Weltbegriff wird hier nicht näher

eingegangen.

186
Das Sein und die Zeit

genwärtig ist. Die aristotelische Bestimmung der Zeit wird damit auf
ihren ursprünglicheren Sinn zurückgeführt:
»Diese drei Bestimmungen, die Aristoteles kennt, das Jetzt und die Modifi-
kationen des Damals als Jetzt-nicht-mehr und des Dann als Jetzt-noch-nicht
sind die Selbstauslegung von Verhaltungen, die wir als Gewärtigen, Behal-
ten und Gegenwärtigen charakterisieren.« 90
Weil dieser von Aristoteles begrifflich gefasste χρόνος als selbstver-
ständlich zugrundegelegt wird, meinen nicht wenige Interpreten des
Parmenides, hier seien keine weiteren Fragen bezüglich der Zeit mehr
nötig, und sie stellen der so begriffenen Zeit etwas »Überzeitliches«
gegenüber. Parmenides wird solcherart zum Protagonisten der Zeit-
losigkeit.
Sein wird auf die eine oder andere Weise dem zeitlichen Ablauf
des Werdens und des Vergehens als etwas Überzeitliches gegenüber-
gestellt, wobei sich beide Seiten (Werden und Vergehen und anderer-
seits das Sein) im Horizont des vordem skizzierten aristotelischen
Zeitbegriffs bewegen. Dieser vollständige Rückzug auf das »vulgäre«
Zeitverständnis sieht jedoch davon ab, dass es ein untaugliches In-
strument ist, die Eigentümlichkeit des Seins zu erfassen – mit aller
Vorsicht gesagt: seine spezifische Zeit. Um dies vorwegzunehmen:
Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade unterscheidet die profane
(Heidegger hätte gesagt: die vulgäre) von der heiligen Zeit. Von die-
ser sagt er, sie sei »eine ontologische, eine ›parmenidische‹ {sic} Zeit,
die sich immer gleich bleibt, die sich weder verändert noch er-
schöpft«. 91 Was darunter näherhin zu verstehen ist, sei im Folgenden
betrachtet.

b. Profane Zeit · heilige Zeit

Karl Reinhardt charakterisiert Parmenides als einen, »der keinen


Wunsch kennt als Erkenntnis, keine Fessel fühlt als seine Logik, den
Gott und Gefühl gleichgültig lassen, so sehr, daß es uns befremden
will«. 92 Diesem Urteil widerspricht Werner Jaeger. 93 Denn sollte diese

90 GA 24, 367.
91 Eliade 1990, 63.
92
Reinhardt 2012, 256.
93 Er ist vor allem als Autor der dreibändigen Paideia hervorgetreten und wollte mit

ihr einem »Dritten Humanismus« den Weg bereiten. Jaeger ist 1936 in die USA aus-

187
Kommentar

Beschreibung zutreffen, hätte Parmenides im Kreis der griechischen


Denker kaum einen Platz. Man müsse zwar nicht, so Jaeger, die ein-
zige Wurzel aller Formen des menschlichen Geistes im Religiösen
sehen, doch erledige dies nicht die Frage nach dem Zusammenhang
von Sein und Gott. Wichtig ist Jaegers folgende Präzisierung:
»Unsere Frage ist nicht: hat die Forschung nach dem reinen Sein für ihn
{Parmenides} ein religiöses Ziel, etwa den Beweis des Daseins Gottes im
überlieferten oder gar im christlichen Sinne? sondern: ist die Spekulation
über das wahre Sein für ihren Urheber von einer irgendwie religiös zu qua-
lifizierenden Bedeutung, obgleich er selbst dieses Sein nicht Gott nennt?« 94
Der in Frage stehende Text – fraglich ist, ob er als Zeugnis der »par-
menidischen« Zeit zu lesen ist oder nicht – findet sich B 8.3–48. Er
wird von einem πᾶν gleichsam eingerahmt: νῦν ἔστιν ὁμοῦ πᾶν (»es
ist auf einmal im Augenblick alles«: B 8.5) – πᾶν ἐστιν ἄσυλον
(»ganz ist es unversehrt«: B 8.48).
Die Mehrzahl der Interpreten (seit Platon und bis heute) deuten
das εἶναι als eine Abstraktion von der Zeit und deren Werden und
Vergehen. Sie berufen sich auf B 8.21: τὼς γένεσις μὲν ἀπέσβεσται
καὶ ἄπυστος ὄλεθρος. »So ist Werden gelöscht und Untergang un-
verständlich.« Aufgrund jener Sichtweise ist das Sein überzeitlich,
zeitlos, ewig (wobei sich die Gleichsetzung dieser Attribute auch nicht
von selbst versteht).
Unbestreitbar verneint Parmenides an der genannten Stelle das
Werden und das Vergehen, doch ohne sie schlechthin zu verwerfen.
Was er negiert, ist die Setzung der Sterblichen, weil sie es nicht ver-
mögen, die Zweiheit von Werden und Vergehen in ihrer Einheit zu
denken (°III.6.b–c).
Ist aber das Sein keine Abstraktion und in eins damit ohne Unter-
schiede, was ist dann von ihm zu sagen? Ein Hinweis auf B 8.37 führt
hier im Anschluss an III.4.a weiter: Es gibt nichts außer dem Seienden,
ἐπεὶ τὸ γε Μοῖρ’ ἐπέδησεν, »weil es das Schicksal bindet«.
Die Μοῖρα erscheint im Mythos des Hesiod in drei Gestalten:
als Klotho, Lachesis und Atropos. In der μοῖρα des Parmenides lebt
diese mythische Vorgabe in verwandelter Gestalt auf: Das dreigestal-
tige Schicksal enthält die drei Dimensionen der Zeit: Klotho steht für

gewandert, weil sein Gedanke einer am Ideal der Griechen orientierten Bildung im
Nationalsozialismus keinen Platz finden konnte (Friedrich Solmsen: Jaeger, Werner,
in: Neue deutsche Biographie. Bd. 10. Berlin 1974, 280 f.).
94
Jaeger 1953, 109.

188
Die scheinbare Welt (B 8.51–61)

die Vergangenheit, Lachesis für die Gegenwart, Atropos für die Zu-
kunft. Weil μοῖρα und ἀνάγκη Synonyma sind (°B 8.37), waltet das
Sein aufgrund dieser Notwendigkeit als Zeit. Die göttliche Bindung
durch die μοῖρα erlaubt es, von einer kosmischen Zeit zu sprechen.
Aristoteles nimmt in seiner Zeitanalyse nur kurz die Frage auf, ob die
Zeit mit der Weltkugel identisch ist, 95 verfolgt jene Frage aber im
Zuge seiner Ausarbeitung des Zeitbegriffs nicht mehr weiter
(°III.7.a). Es entgeht ihm daher die Ausfaltung der Problematik, in-
wiefern das Sein aus kosmologischer Perspektive in sich als Zeit be-
griffen werden kann. Aus Sicht des Parmenides stellt sich damit die
Frage, die seit B 8.2 ff. aufgezählten σήματα auf ihren zeitlichen Sinn
hin zu explizieren.

8. Die scheinbare Welt (B 8.51–61)

B 8.51 bis B 8.61 hat den Irrtum der Sterblichen zum Thema und begründet
ihn auch: Weil jene zwei Formen ansetzen, deshalb erscheint ihnen die Welt
als bloßer Schein. Doch reduziert Parmenides die Welt nicht darauf, dass sie
nur Scheinwelt ist. Die Mehrzahl der Interpretationen gehen zwar davon
aus und folgen damit der platonischen Trennung von ἀλήθεια und δόξα
(die auch für die Trennung in F1 und F2 verantwortlich ist). Auf diesem
Boden erfolgt auch die Setzung der Sterblichen, weil diesen die wahre πίσ-
τις fehlt. Demgegenüber ist jedoch zwischen »Schein« und »Erscheinung«
zu unterscheiden, um eine unverstellte Sicht auf die Welt zu ermöglichen.

a. Die Sterblichen und die Irre

i. Setzungen
Nach ihrer langen Rede über das Sein sagt die Göttin zum Kuros:
δόξας δ’ ἀπὸ τοῦδε βροτείας | μάνθανε κόσμον ἐμῶν ἐπέων ἀπα-

95 Aristoteles Ph. 217a33–218b1. »Platon läßt, Tim., 37cff., die Zeit entstehen als be-
wegliches Abbild der Unvergänglichkeit, und so wie er ihr Wesen und ihre Eigenschaf-
ten beschreibt, trifft es durchaus zu, sie sinngemäß als ›Bewegung des Alls‹ zu bezeich-
nen. Für die zweite Bestimmung hat man wesentlich weniger: Archytas soll gesagt
haben, Zeit sei ›die Ausdehnung der gesamten Natur‹ {…}; und bei Aetios {…} findet
sich von Pythagoras berichtet, nach ihm sei die Zeit ›die Kugel des Umfassenden‹ {…}.
Ersteres ist sehr vieldeutig, Letzteres könnte seinerseits durch diese Aristoteles-Stelle
verursacht sein« (Fußnote von Hans Günter Zehl, in: Aristoteles 1987, 266 f.119).

189
Kommentar

τηλὸν ἀκούων. »{…} aber von da an auf die sterblichen Meinungen |


richte dein Augenmerk, indem du auf meine Worte hörst mit Bezug
auf die trügliche Welt« (°B 8.51–52). Wohl die Mehrzahl der Über-
setzer bevorzugt ein anderes Objekt: »Aber von hier ab lerne die
menschlichen Schein-Meinungen kennen, indem du meiner Worte
trügliche Ordnung hörst.« 96
Ich schicke ein längeres Zitat von Karl Reinhardt voraus, um in
Abgrenzung davon einige Gesichtspunkte deutlicher hervorzuheben:
»War das, was es zu verneinen galt, nichts weniger als die gesamte Welt der
Menschen, so war es zumindest kein überflüssiger und kein schlechter Ein-
fall, das Verdammungsurteil einer Göttin in den Mund zu legen. So be-
trachtet erscheint die Form der Offenbarung als die natürliche Hülle und
Haut für diese radikalste aller Philosophien. Doch damit ist zugleich gesagt,
daß hier das Mythologische auch n u r die äußere Erscheinung bildet, n u r
als Ausdrucksmittel verwendet, wenn man will, mißbraucht wird, und da-
rum aus eigenem Trieb ein eigenes Leben nicht entfalten kann. Die Gestal-
ten sind, als Mythologie betrachtet, wesenlos und schemenhaft, und das aus
keinem anderen Grunde, als weil sie ausschließlich Ausdruck der Gedanken
sind, und die Gedanken wiederum können es zu einer kräftigen und leben-
digen Personifikation nicht bringen, weil sie nur mit dem Verstande und
nicht aus den Bedürfnissen des Gefühls gewonnen sind. Daher der Eindruck
des Gemachten und der Kälte. Wer von wahrer Mythologie herkommt, dem
muß das, was er hier sieht, wie eine frostige Allegorie vorkommen; wer auf
umgekehrtem Wege von der späteren Philosophie ausgeht, dem muß das-
selbe wie ein lästiges Verharren in altmodischer, hieratischer Form erschei-
nen. Beide Eindrücke sind falsch, weil sie an fremden Maßstäben gewonnen
sind und mit der archaischen Gebundenheit der Sprache und ihrer natür-
lichen Feindseligkeit gegen das emanzipierte Denken zu wenig rechnen.« 97
Es geht hier nicht um den für die Göttin spezifischen Mythos als
solchen (°III.2.a.1), sondern um den Mythos der scheinbaren Welt. 98
Hier ist ἀπατηλόν, »trüglich«, auf den κόσμος der göttlichen
Rede bezogen, ich beziehe es auf den κόσμος der trüglichen Welt.
Der Unterschied zwischen diesen Bezugspunkten hat weitreichende
Folgen für die Interpretation der Kosmologie des Parmenides. Denn
nicht als solche ist die Welt »trüglich«, sondern sie ist dies nur aus der
Sicht der sterblichen Meinungen (δόξας δ’ ἀπὸ τοῦδε βροτείας B

96 DK I, 239.
97 Reinhardt 2012, 67 f.
98
Für Burnet hätten die Zuhörer des Parmenides sofort verstanden, wie F2 gemeint
war. »Jedenfalls war es die peripatetische Tradition, daß Parmenides im zweiten Teile
des Gedichtes den Glauben der ›Vielen‹ wiedergeben wollte« (Burnet 1913, 168).

190
Die scheinbare Welt (B 8.51–61)

8.51). Aus Sicht der βροτοί (B 8.39) ist die Welt nur eingebildet, ein
bloßer Schein; doch anders verhält es sich für das Denken (B 3, B
8.34): Von diesem her gesehen ist die Welt kein Schein, sondern Er-
scheinung. Sie wird zwar von den Sinnen erfasst und durch diese
immer wieder verfälscht; doch die Sinnlichkeit ist nicht der Grund
für diesen Betrug. 99
Nicht die Sinne sind Schuld, dass die Welt trüglich erscheint.
Der Irrtum gründet vielmehr darin, dass es nicht zum Denken (νοεῖν)
kommt und in eins mit diesem zur Erfahrung des Seins (εἶναι). Statt
die dafür geforderte Umkehr zu vollziehen, folgen die Sterblichen
ihren eigenen Ansichten und Festlegungen: μορϕὰς γὰρ κατέθεντο
δύο γνώμας ὀνομάζειν. »Denn ihren Ansichten nach setzten sie fest,
es seien zwei Formen zu nennen« (B 8.51).
Sein und Erscheinen werden verfälscht – woher aber kommt die
Macht des Scheines? Die Interpretationen lassen sich immer wieder
von der späteren, von Platon initiierten Unterscheidung (°I.4.a) in
einen Bereich des überzeitlichen Seins und einen solchen der sinn-
lichen Wahrnehmung und des Werdens leiten. Deshalb interpretie-
ren sie die Welt des Parmenides als eine solche des bloßen Scheines.
Nimmt man Gadamers Hinweis ernst, dass Parmenides nicht
von der δόξα im Singular spricht, sondern von δόξαι im Plural
(°B 1.30), legt man zudem nicht die Unterscheidung von δόξα und
ἀλήθεια im Sinne Platons zugrunde und vergisst auch nicht, dass
δοκίμως u. a. »erprobt, bewährt, tadellos« bedeuten kann (°B 1.32): 100

99 Ich stimme hier mit Georg Picht überein: »Kein Grieche hätte eine Lehre vom Sein
akzeptiert, die nicht auch den sinnlich sichtbaren Kosmos zu erklären erlaubt. In den
Philosophiegeschichten können Sie lesen, Parmenides habe gelehrt, die sinnlich sicht-
bare Welt sei nur ein Schein. Wer eine solche Theorie für möglich hält, der hat von
den Griechen nur sehr wenig verstanden. Die Natur ist für Parmenides kein leerer
Schein, sie ist etwas anderes, nämlich die Erscheinung des göttlichen Seins. Wäre die
Erscheinung nichts als nur ein Schein, so könnte das göttliche Sein in ihr nicht er-
scheinen. Wäre die Erscheinung umgekehrt mit dem Sein identisch, so wäre sie keine
Erscheinung mehr. Wer den Kosmos als Erscheinung des Seins erklärt, der muß des-
halb etwas Doppeltes leisten. Er muß einerseits die unüberbrückbare Kluft zwischen
Sein und Erscheinung sichtbar machen; denn wenn man das Sein mit seiner Erschei-
nung verwechselt, wird beides – das Sein wie die Erscheinung – verfälscht. Er muß
andererseits zu erklären vermögen, wie trotz dieser Kluft in der Erscheinung das Sein,
wenn auch nur als Erscheinung, sichtbar wird« (Picht 1996, 199). Knapper, jedoch
nicht weniger treffend, Friedrich Wolfram: »Es ist auch nicht die böse Welt, die dem
Menschen etwas vorgaukelt, sondern es ist der Mensch, der sich und andere zu täu-
schen vermag und dem das auch sehr bewußt ist« (Wolfram 2010, 120).
100
Pape 1, 654: Λυκοῦργος τῶν Σπαρτιητέων δόκιμος ἀνήρ (Herodot I, 65).

191
Kommentar

Dann stellt sich die Frage nach dem parmenideischen Sinn dieses
Wortes – ohne damit den Gegensatz zur ἀλήθεια zu vernachlässigen.
Dieser Gegensatz manifestiert sich im Plural. Er findet seinen
Ausdruck in unterschiedlichen ὀνόματα, »Namen« (B 8.38), in allem,
ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ, »was die Sterb-
lichen festgesetzt haben, überzeugt davon, es sei wahr« (B 8.39) –
βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν, »die Sterblichen, welche nichts wissen«
(B 6.4), jene δίκρανοι, »Doppelköpfe«, οἷς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ
εἶναι ταὐτὸν νενόμισται κοὐ ταὐτόν, »denen das Sein wie das
Nichtsein für dasselbe gilt und nicht für dasselbe« (B 6.8–9). Der Plu-
ral δόξαι entspricht eben dieser Einstellung: Ihnen fehlt das, was die
ἀλήθεια auszeichnet, die πίστις ἀληθής, »das wahre Vertrauen«
(B 1.30, B 8.17). Die πίστις, dieses Vertrauen, ist an das Sein gebun-
den. Weil die Sterblichen nach ihrem Belieben bald diese Bindung in
Anspruch nehmen, doch bei nächster Gelegenheit (wie B 6 deutlich
macht) wieder fallen gelassen haben, deshalb πεπλανημένοι εἰσίν,
»gehen sie in die Irre« (B 8.54). Die δόξαι sind nicht deswegen un-
wahr, weil sie den Sinnen vertrauen, sondern sie sind unwahr, weil sie
dem Sein nicht vertrauen, anders gesagt: weil sie nicht den Weg der
Initiation beschritten haben (F0) und zum Denken gelangt sind, daher
auch dessen Identität mit dem Sein nicht erkennen. Denn von Seiten
des Denkens ist das Verhältnis zum Sein wesentlich durch πίστις,
Vertrauen, bestimmt.

ii. Namen
Sich diesem Vertrauen nicht überlassen, heißt soviel wie: Setzung aus
eigenem Vermögen. Der Grund für den Irrtum der Sterblichen liegt
im κατέθεντο, »sie setzten fest« (B 8.53). Festsetzen bedeutet auch:
»für sich zurücklegen, a u f b e w a h r e n , aufheben«. 101 Diese Einsei-
tigkeit – und nicht etwa die Sinnlichkeit – unterläuft die Bindung an
das Sein und deren Vollzug im νοεῖν und liefert die Setzung den
jeweils sich bietenden Umständen aus (°III.5.b). Der Namengebung
der Sterblichen fehlt der intentionale Bezug auf den Gegenstand; sie
ist daher nichts als Zungenfertigkeit und nur ein Geräusch (°B 7.5).
Die Setzung der Sterblichen hat die Namen zur Folge: τῷ πάντ’
ὄνομ’ ἔσται | ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ,

101 Pape 1, 1384 f. Unverkennbar ist dabei die Beziehung zu Hegels idealistischer In-

terpretation (°I.1.b.i).

192
Die scheinbare Welt (B 8.51–61)

»deshalb wird alles Name sein, | was die Sterblichen festgesetzt ha-
ben, überzeugt davon, es sei wahr« (B 8.38–39). Dass der Name nicht
als solcher schon in die Irre führt, ergibt sich aus seiner weiteren
(»positiven«) Verwendung am Ende der FF: τοῖς ὄνομ’ ἄνθρωποι
κατέθεντ’ ἐπίσημον ἑκάστῳ. »Diesen aber {den Dingen} haben die
Menschen gesetzt einen Namen, mit einem Zeichen versehen für
jedes einzelne Ding« (B 19.3). Allerdings ist in beiden Fällen von
einer Setzung die Rede, sogar mit ein und demselben Wort. Die Dif-
ferenz ergibt sich aus dem »überzeugt davon, es sei wahr« und »mit
einem Zeichen versehen«. Ist im ersten Fall die Setzung selbstmäch-
tig und ihrem Selbstverständnis zufolge im Besitz der Wahrheit, so
ist sie im zweiten Fall durch die Intentionalität der Zeichengebung
von vornherein als Zeichen von etwas auf etwas bezogen, das über
sie hinausgeht. 102 Mit aller Vorsicht gesagt: ἐπίσημον kann auch
»Symptom« bedeuten, 103 ein Symptom ist aber Anzeichen eines
Grundes, der nicht anders als in Symptomen zur Erscheinung kommt
(wie etwa das Fieber in der Rötung der Gesichtsfarbe). Ähnlich er-
scheint das Bezeichnete in den zeichenhaft gesehenen Namen. Damit
ändert sich auch der Sinn von »Setzung«: Ist sie im ersten Fall die
selbstmächtige Tat der Sterblichen, so im zweiten jene der Kosmo-
logen.

b. Sein und Schein

Dass die δόξα ihre eigene Notwendigkeit hat und dabei alles durch-
dringt, gibt die Göttin dem Kuros auf, damit er es sich lernend aneig-
net: καὶ ταῦτα μαθήσεαι, ὡς τὰ δοκοῦντα | χρῆν δοκίμως εἶναι διὰ
παντὸς πάντα περῶντα. »Doch ebenso wirst auch dies du lernen,
dass das, was erscheint, | notwendig ist und, in Ansehen stehend,
durch alles hindurch alles durchdringt« (B 1.31–32).
Ich habe für δοκίμως die eher ungewöhnliche Übersetzung »in
Ansehen stehend« gewählt: διὰ παντὸς πάντα περῶντα (»sich’s ein
Ansehen gibt, durch alles hindurch alles durchdringt«: B 1.32). Denn
wenn die δόξα durch alles hindurchgeht und alles bestimmt, verbirgt
sie sich vor den von ihr Betroffenen nicht zuletzt dergestalt, indem sie
von einer bestimmten Ansicht begleitet wird, einer Erwartungshal-

102 °B 8.2.
103
LSJ 655.

193
Kommentar

tung, von Vorstellungen, die sich die Menschen von sich selber und
von den anderen machen, auch von der Meinung, in der die Men-
schen bei anderen stehen: All dies begründet letzten Endes ihre Gel-
tung, ja ihren Ruhm: Ansicht, Erwartungshaltung, Vorstellungen,
Meinungen, Geltung, Ruhm – alle diese Bedeutungen vereinigen sich
im Wort δόξα. 104 Erst dadurch bricht der Gegensatz auf: hier die alles
durchdringende δόξα – dort ἀληθείης εὐκυκλέος ἀτρεμὲς ἦτορ,
»der Wahrheit wohlgerundetes, nicht erzitterndes Herz« (B 1.29).
Doch aus dem so begründeten Gegensatz von δόξα und ἀλήθεια
folgt keineswegs, dass jene zum Sinnlichen gehört, diese zur Ver-
nunft. – Eine solche Trennung wird erst Platon vornehmen und damit
den Großteil der nachkommenden Interpretation der FF bestimmen
(°III.8.a.i). Wäre dies im Griechischen möglich, ließe sich δόξα mög-
licherweise vielleicht am besten mit »Intrige« wiedergeben: So wäre
das Verborgene, auch mehr oder weniger Unbestimmbare (wer ist
»Subjekt«?) zum Ausdruck gebracht, dazu die Verbindung zu frz. in-
triguer »Ränke schmieden«, lat. intricare »verwirren« und ital. intri-
gare, »verwirren, sich einmischen« 105 – das Wort gleichsam dynami-
siert und nicht zuletzt seiner Anbindung an die αἴσθησις entzogen.
Doch woher kommt die Erfahrung der universalen δόξα (dass es
sich um eine Erfahrung handelt, ist eindeutig: χρεὼ δέ σε πάντα
πυθέσθαι, »Not aber ist, dass du alles erfährst«: B 1.28)? Weshalb
gibt es so etwas wie eine Bruchstelle, in der die δόξα als solche auf
den Plan tritt? Wo bricht jenes διὰ παντὸς πάντα περῶντα auf, wo
endet sein Machtbereich? Nirgendwo anders als als auf dem Weg des
νοεῖν (B 3; °III.3.a), dem einzigen Weg der Suche (B 2.1), geschieden
von jenem, dessen Irrgänger die Göttin als βροτοὶ εἰδότες οὐδὲν,
»Sterbliche, die nichts wissen« (B 6.4), beschreibt: jene, die es noch
nicht gewagt haben, κατὰ πάντ’ ἄστη, »über alle Wohnstätten hin«
(B 1.2) zu gehen. Erst aufgrund des Wissens, das dem εἰδὼς φώς
(B 1.3) zuwächst und ihn bis zum νοεῖν führt, wird die alles durch-
dringende δόξα enthüllt, demaskiert (bei Euripides kommt dann der
deus ex machina). Nochmals: nicht αἴσθησις – νόησις (das ist plato-
nisch), sondern (schon interpretierend): Intrige – Enthüllung.
Im euripideischen Hippolytos (428) dringt die Frage des Scheins
bis zu den Göttern vor: Aphrodite und Demeter treten gegeneinander
auf, und Hippolytos wird durch Phädra, die völlig verrückt nach ihm

104 Pape 1, 657.


105
Pfeifer 1997, 589 s. v. »Intrige«.

194
Die Kosmologie des Parmenides (B 9 – B 19)

ist, obgleich selbst ohne Schuld, in diesen für alle tödlichen Konflikt
(darf hier nicht auch von Intrige die Rede sein?) hineingerissen.
Im dritten Standlied des Hippolytos singt der Chor von diesem
totalen Zerfall aller Ordnungen, durch den alles in Wechsel und Wan-
del hineingezogen wird: 106

ἦ μέγα μοι τὰ θεῶν Wen die Gedanken vom Walten der


Götter erfüllen, dem schwindet
μελεδήμαθ’, ὅταν φρένας ἔλθῃ, Schweres Leid von der Seele.
λύπας παραιρεῖ· ξύνεσιν δέ τιν’ Aber die heimliche Hoffnung
ἐλπίδι κεύθων λείπομαι ἔν τε Heiliger Ordnung wankt mir, wenn
τύχαις θνατῶν καὶ ἐν ἔργμασι ich die Leiden und Taten der Men-
λεύσσων· schen betrachte;
ἄλλα γὰρ ἄλλοθεν ἀμείβεται, Alles im ewigen Wechsel!
μετὰ δ’ ἵσταται ἀνδράσιν αἰὼν Leben im ewigen Wandel
πολυπλάνητος αἰεί. Unstet getrieben.

Freilich: Gäbe es da nicht noch die Sorge 107 um die überlieferte Ord-
nung: Weder bei Euripides noch bei Parmenides würde das ἄλλοθεν
ἀμείβεται oder das πολυπλάνητος αἰεί und der irrende Sinn
(πλαγκτὸν νόον: B 6.6) zur erlittenen Erfahrung.
Sorge um die Welt bedeutet nicht, sie zu verneinen, in einen nur
scheinbaren Komos zu verweisen.

9. Die Kosmologie des Parmenides (B 9 – B 19)

In der Vorlesung Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen cha-
rakterisiert Wolfgang Schadewaldt Parmenides und dessen Geburtsort
mit Worten, die das Vorurteil, Parmenides habe nur abstrakt gedacht
oder sei eben vor allem ein »Logiker« gewesen (was immer dies aus
historischer Sicht bedeuten mag), auch unter diesem Aspekt als sol-

106 Euripides V, 256/257 (Hipp. 1104–1110), Übersetzung Ernst Buschor. Was hier er-

littene Erfahrung bedeuten kann, zeigt der Rückblick auf die Aufführung des Hippoly-
tos: »Die ungezügelte Phaidra dieses Dramas erregte bei den Zuschauern schwersten
Anstoß und wurde noch lange Zeit nach der Aufführung von dem Komiker Aristopha-
nes als ›Hure‹ verspottet« (Ernst Buschor: Nachwort, in: Euripides V, 301).
107
Hipp. 1104 μελεδήμαθ’: μελέδημα »Sorge, Bekümmernis«.

195
Kommentar

ches decouvrieren: »Ich habe mir sagen lassen, daß es noch heute dort
besonders leicht sei, ihn zu verstehen, und daß jede abstrakte Deutung
einem vergehen würde in dieser Natur und dieser Landschaft in ihrer
besonderen Gestaltung. Wir werden ihn auch nicht als reinen Logiker
verstehen dürfen, sondern als einen Mann, der das Sein in seiner
Ganzheit, wie er es ausspricht, wirklich vor Augen gehabt hat.« 108

a. Wahrheit und Unwahrheit

Vor einer Analyse der anstehenden Problematik zitiere ich Panagiotis


Thanassas, der – anders als die Mehrzahl der Interpreten 109 – damit
genau jene Probleme berührt, die für die gesamte Erfassung der FF
von grundlegender Bedeutung sind:

108 Schadewaldt 1978, 311. Dagegen »abstraktester Gegensatz von Sein und Nicht-

sein« (Angehrn 2000, 23).


109
Weil mich die Arbeit von Thanassas so sehr überzeugt, soll die Kritik an ihm aus-
führlicher zu Wort kommen: »Thanassas plädiert dafür, daß ›wir uns von der Vor-
stellung freimachen, die Doxa als ein Wahngefüge und Parmenides als einen Welt-
leugner anzusehen‹ (a. a. O., S. 25). Zu 1.31–32: ›Die δοκοῦντα sind!‹, so überschreibt
er einen wichtigen Abschnitt seines Buches (ebd., S. 36). Und alsbald liest man: Die
›Doxai (in denen kein wahres Vertrauen ist, 1.30) […] selbst können zwar nie Gegen-
stand der Akzeptanz (δοκίμως) werden, wohl aber das, was in ihnen angenommen
wird: die δοκοῦντα‹ (ebd., S. 37). Diese sind. Fundament für Thanassas’ Ansatz ist
seine Entscheidung für die Lesart περ ὄντα statt περῶντα am Ende von B 1, 32 (vgl.
ebd., S. 39). Er beruft sich darauf, daß περῶντα nur in einer, περ ὄντα hingegen in
drei Handschriften überliefert sei (vgl. ebd., S. 39, Anm. 31). Bezüglich der Lesart
hatten schon andere Forscher wie er entschieden (darunter Schmitz) und entspre-
chend übersetzt. Thanassas teilt solche Übersetzungen mit und konstatiert: ›Nur
J. Owens scheint die Vershälfte in gleicher Weise wie wir aufgefaßt zu haben (›all
indeed beings‹, ›all indeed existent‹, 1974, S. 385), er hat aber die Konsequenzen da-
raus nicht gezogen‹ (ebd., S. 40, Anm. 32). Für Thanassas sagen die Verse aus: ›alle
δοκοῦντα sind‹, und das ist ›die erste Ankündigung der Wahrheit, der Verweis auf das
Sein. Das Dritte neben Wahrheit und Doxai […] ist die Bejahung des Seins der δο-
κοῦντα (der Dinge dieser Welt), und darin besteht auch der Übergang von den Doxai
in die Aletheia‹ (ebd., S. 41). Unmittelbar anschließend gibt Thanassas seine Überset-
zung der beiden Verse: ›Aber gleichwohl wirst du auch dies begreifen, wie alle δο-
κοῦντα in akzeptierter Weise zu sein hätten: als seiend.‹ (ebd.) {Fleischers Kritik an
der Lesart περ ὄντα stimme ich zu (°B 1.32), nicht aber ihrer Gesamtkritik an Tha-
nassas.} Doxa versteht Thanassas folgendermaßen: ›Die δόξαι sind keine Imaginatio-
nen oder willkürlichen Dafürhaltungen, und ebensowenig bloße trügerische Erschei-
nungen, sondern menschliche Annahmen‹; zu den Annahmen macht er die
Anmerkung: ›Aus dem Wort ist hier freilich die Bedeutung von ›Vermutung‹ oder
›Ansicht‹ fernzuhalten: entscheidend ist der Charakter des bewußten und positiven

196
Die Kosmologie des Parmenides (B 9 – B 19)

»Wie kann (oder muß) die Göttin sich neben der Wahrheit auch auf die
menschlichen Doxai beziehen? Wie verträgt sich deren Mangel an ›wahrer
Gewißheit‹ mit ihrer göttlichen Darlegung, und wann genau verdienen die
δοκοῦντα eine Akzeptanz (δοκίμως, I,32)? Aber vor allem: worin liegt die-
se Wahrheit, die sich aufdrängt, alles Andere bei Seite schiebt und anschei-

Nehmens, des Entgegennehmens und Sich-Aneignens‹ (ebd., S. 44). Und zu den δο-
κοῦντα erläutert er, sie seien ›keine menschlichen Erfindungen, keine Phantome oder
Fiktionen, sondern das, was in den δόξαι angenommen wird: der ›objektive‹ Pol von
δοκεῖν, die durchaus wirklichen Dinge dieser Welt. Nicht diese, sondern die mensch-
lichen Annahmen werden mit der göttlichen Wahrheit konfrontiert, welche das Sein
jener angenommenen Dinge bejaht‹ (ebd., S. 45 f.; der letzte Satz bei Thanassas her-
vorgehoben). Die Annahmen stehen ›für einen Zugang zu δοκοῦντα […], der nur
menschlich bleibt und die einzige Wahrheit notwendigerweise verfehlt. […] Nicht in
den δόξαι | verdienen die δοκοῦντα ihre Akzeptanz, sondern allein als ὄντα‹ (ebd.,
S. 47; der letzte Satz bei Thanassas hervorgehoben).
›Das parmenideische Philosophieren findet […] auf einem Weg des Seins statt, wo
dieses an den δοκοῦντα gesucht und entdeckt wird‹ (ebd., S. 65). ›Durch das Denken
erhebt sich der Mensch aus der Welt der Phänomene, aus den trüglichen und unbe-
ständigen Doxai und aus der Sinneswahrnehmung heraus – […] um diese eine und
einzige, allen gemeinsame Welt endlich mit dem unfehlbaren Auge des νόος und im
Lichte der Seiendheit zu erfassen‹ (ebd., S. 66 f.).
Mit den δοκοῦντα als ὄντα soll ›keinesfalls […] die bloße Gesamtheit des Seienden
gemeint‹ sein (ebd., S. 92). ›Nicht auf die Gesamtheit des Seienden kommt es Parme-
nides an, sondern auf das Sein dieses Seienden‹ (ebd., S. 94; bei Thanassas hervor-
gehoben). Und: ›Sein ist kein Seiendes, wird aber an den Seienden erfahren, an den
δοκοῦντα, sofern sie nicht als diese oder jene, als entstehend oder vergehend, als sich
vermehrend oder verschwindend betrachtet werden, sondern einfach und allein als
seiend‹ (ebd., S. 96). Letzteres geschieht nach Thanassas im Wahrheitsteil des Lehr-
gedichtes. Es überrascht nicht, daß Thanassas mit den Wegmarken auf dem Weg der
Wahrheit nicht viel anfangen kann: ›Die Einführung der vom einen Sein unterschie-
denen Zeichen ist keinesfalls für dieses selbst konstitutiv; sie greift eher auf Differen-
zierungen zurück, wie sie von den menschlichen Doxai und von ihrer ›wissenschaft-
lichen‹ Zusammenstellung in der Gestalt der Physik nahegelegt werden‹ (ebd.,
S. 149 f.). Und: ›In der Einführung der σήματα aber unternimmt der Eleate einen
weiteren Schritt: er geht faktisch zu einem pluralistischen Logos über, der sich zwar
in einer Vielfalt von Bestimmungen äußert, ohne jedoch die Berechtigung dieser Be-
stimmungen eigens aufzuweisen und offenzulegen. Das Verhältnis von Einheit (Sein)
und Vielheit (Zeichen) zeigt also keinen Widerspruch an, wohl aber einen letztlich
ungeklärt bleibenden Status dieser Vielheit von Bestimmungen‹ (ebd., S. 150).
Was ist nun aber das Sein bei Parmenides? ›Sein ist eine Idee‹ (ebd., S. 97). ›Sein ist
hier immer Sein des Seienden, der ὄντα oder der δοκοῦντα, die somit in eine μέθεξις
an jener Idee eintreten, welche für ihre Seiendheit aufkommt und sie als seiend er-
scheinen läßt‹ (ebd., S. 99).
Thanassas fühlt sich Heidegger verpflichtet: ›Der beharrliche Hinweis Heideggers auf
den doppelten Charakter des Partizips ἐόν darf als einer der wichtigsten Beiträge die-
ses Jahrhunderts zur Parmenidesforschung gelten‹ (ebd., S. 107). Verständlich ist
unter diesen Umständen die Bemerkung: ›Eine gewisse Ratlosigkeit erleben wir ange-

197
Kommentar

nend als Maßstab für die Verurteilung menschlichen Wissens gilt? Jede der
in I.29–30 gegenübergestellten Sphären scheint der Überbrückung mit der
anderen zu bedürfen: Nicht nur dem menschlichen Wissen muß die Mög-
lichkeit eines Übergangs angeboten werden, von dem, was man ›zunächst
und zumeist‹ glaubt, in das Wahre hinein; auch die göttliche Wahrheit muß
ihr Wahrsein im Gegensatz zum menschlichen Dafürhalten und Meinen
(also: in bezug auf dieses) aufweisen und zugleich als wahre Erklärung
menschlichen Irregehens auftreten. Diese ›Vermittlung‹ ist man gewohnt,
bei Parmenides zu vermissen, und deswegen das Ausbleiben jedes Verhält-
nisses zwischen Wahrheit- und Doxa-Teil zu bemängeln. Trifft dies aber in
der Tat zu? An diesem Punkt ist philologische Kleinarbeit notwendig.« 110
Nicht nur philologischer, sondern vor allem auch philosophischer
Kleinarbeit bedarf es, um den Fallstricken zu entgehen, die Platon
ausgelegt hat und in welche die meisten Interpretationen geraten –
in der scheinbaren Selbstverständlichkeit (διὰ παντὸς πάντα περῶν-
τα: B 1.32!) liegt die Gefahr.
Das dem deutschen Wort »Wahrheit« entsprechende griechische
Äquivalent ist ἀλήθεια. Das Grundwort ist λήθη, »das Vergessen«,
dazu das alpha privativum (ἀ στερητικόν) als Präfix. Es entspricht
einem ἀν, womit das Wort, dem es vorangestellt ist, aufgehoben oder
geschwächt wird, sowie der Genetiv-Präposition ἄνευ, »ohne«. Ἀ-λή-
θεια besagt demnach: Das Vergessen wird aufgehoben, es wird zu-
gunsten der Erinnerung (der μνήμη) geraubt (worauf auch das στερη-

sichts der Ausführungen von Held: ›das prôton pseûdos der Parmenides-Interpretati-
on liegt in der Annahme, daß ›to eón‹ doppeldeutig sei, daß also bei Parmenides be-
reits von einer Differenz von Sein und Seiendem auszugehen sei‹ (512)‹ ; Thanassas
zitiert außerdem Held, S. 513: ›To eón ist nicht doppeldeutig, meint eindeutig eines:
die ontologische Indifferenz‹ (Thanassas, S. 110 f., Anm. 13). Hier verweise ich auf
meine Anm. 6.
Was nun den Doxateil betrifft, so sieht Thanassas eine ›positive Doxa-Lehre der Göt-
tin‹ gegeben, die zur Seinslehre nicht in Gegensatz stehe und nicht unverträglich mit
ihr sei (vgl. Thanassas, S. 229). Näherhin soll man sich das so denken: ›Die Aletheia
wendet sich dem Sein des Werdenden, der Doxa-Teil aber dem Werden des Werden-
den zu‹ (ebd., S. 230; bei Thanassas hervorgehoben). ›Die an den Menschen | orien-
tierte Doxa und die göttliche Aletheia bestehen parataktisch nebeneinander, beide als
unaufhebbar und selbständig‹ (ebd., S. 237).
Es wird niemanden verwundern, daß ich in der Parmenides-Interpretation Thanassas’
Parmenides nicht wiedererkennen kann. Dennoch möchte ich seinem Buch den Res-
pekt nicht versagen, nicht nur wegen der Konsequenz, mit der er seine Grundthese
durchführt, sondern besonders auch wegen der umfangreichen Verarbeitung von For-
schungsliteratur, die wertvoll ist, auch wo man sich einzelner seiner Stellungnahmen
vielleicht nicht anschließen will« (Fleischer 2001, 149–151).
110
Thanassas 1997, 36.

198
Die Kosmologie des Parmenides (B 9 – B 19)

τικόν, »beraubend«, hinweist). Das bringt aber etwas Besonderes zum


Ausdruck: Die Wahrheit ist nicht problemlos vorhanden, sondern
muss stets von Neuem angeeignet werden. Der Grund liegt in der Ver-
strickung der βροτοί in die δόξα, denn zu dieser gehört das Vergessen
ihrer selbst (°B 1.32). Der Vollzieher dieses Geschehens ist in Einsicht
seiner Verstrickung ἀληθής, »unverhohlen, aufrichtig, wahr«. 111
Die faktisch in die scheinbare Welt verstrickten Sterblichen ste-
hen daher nicht deshalb außerhalb der Wahrheit, weil sie sich dem
Schein entzogen haben; das wäre der Gipfel der Selbsttäuschung: Ge-
rade wenn sie meinen, in ihrer Setzung autark zu sein, πεπλανημέ-
νοι εἰσίν, »werden sie in die Irre getrieben« (B 8.54).
°B 8.61 erinnert an Platons Höhlengleichnis. Wie dort steigt der
Philosoph stufenweise empor bis zur Sonne, um dann in die Höhle
zurückzukehren und den dort Verbliebenen (unter Lebensgefahr, wie
das Schicksal des Sokrates gezeigt hat) die Wahrheit zu bringen. Beide
gehören zusammen: der Auf- und Abstieg, Befreiung von der δόξα
und Auseinandersetzung mit ihr. Erst damit erfüllt sich das schon im
Wort vorgezeichnete Wesen der Wahrheit als ἀ-λήθεια.

b. Sein, Schein und Erscheinung

Platon hat für den Gegensatz von Sein und Schein ein festes Fun-
dament errichtet, das viele (gerade auch in der Interpretation des Par-
menides) überzeugt hat, als verstehe es sich von selbst. Dessen un-
geachtet trifft dies noch nicht auf Parmenides zu, wenngleich auch er
innerhalb der δόξα zwischen Sein, Schein und Erscheinung differen-
ziert. Hier gilt es zu unterscheiden, wie Georg Picht bemerkt, »daß
ein Schein, der dem Echten gleichsieht, sich zum Sein nicht wie ein
Trug sondern wie die Erscheinung verhält – eine Erscheinung, die
freilich alsbald Trug wird, wenn man sie nicht als Erscheinung, son-
dern als Sein auffaßt. Deshalb ist die unerbittliche Unterscheidung
von Sein und Nichtsein, d. h. von Sein und Erscheinung, die unerläß-
liche Bedingung nicht nur für die Erkenntnis der Wahrheit, sondern
auch für die Erkenntnis der Erscheinung als solcher und damit für das
angemessene Begreifen dieser unserer Welt, so wie sie ist«. 112 Es han-
delt sich somit nicht um die Differenz von Sein (εἶναι °B 6.1) und

111 Pape 1, 94.


112
Picht 1996b, 67 (Kursivierung: H. V.).

199
Kommentar

Schein (die δόξαι der βροτοί °B 1.30), sondern um die Gesamtheit


aller Erscheinungen (τὰ δοκοῦντα °B 1.32), die sich erst dann als
bloßer Schein erweisen (δόξας βροτείας °B 8.51), wenn sie meinen,
sich an die Stelle des Seins setzen zu können (κατέθεντο °B 8.53).
Zur genaueren Bestimmung dieses Sachverhaltes ist es nötig,
eine phänomenologische Überlegung einzuschalten. 113 Sie schließt
an das Vorige an. Unterschieden werden nicht allein Sein und Schein,
sondern das beide umgreifende Phänomen der Erscheinung. In par-
menideischen Termini: Der Unterschied betrifft das ἐὸν ἔμμεναι
(B 6.1), die alles durchdringende δόξα (B 1.32) und τὰ δοκοῦντα
(B 1.31) und die gesamte Kosmologie des Parmenides.

Synopsis

Die Synopsis – also Zusammenschau – enthält zweierlei: eine Erklä-


rung des Vorgehens und Corollaria, welche die Hauptthesen dieser
Arbeit zusammenfassen.
Die unter dem Namen des Parmenides überlieferten FF bilden
eine in sich geschlossene Einheit. Diese wird nicht allein durch den
Namen des Autors zusammengehalten (was sich ja mehr oder weni-
ger von selbst versteht), sondern durch die Beziehung der einzelnen
Teile (F0, F1, F2) zueinander (F1 und F2 heißen auch »Aletheia-Teil«
und »Doxa-Teil«, was allerdings schon eine bestimmte Interpretation
impliziert).
Diese mehrfachen Bezüge galt es auch im Gesamtaufbau des
Buches sichtbar zu machen. So verhalten sich der Wortkommentar
(II.2) und der Kommentar (III.) wie die Teile zu einem Ganzen; jener
enthält die Details, dieser ist durchgehend auf das Ganze bezogen. Ein
solches Verhältnis von Ganzem und Einzelnem entspricht bekannt-
lich dem hermeneutischen Zirkel.
Darüber hinaus sind auch die FF aufeinander bezogen. F1 und F2
setzen für ihren Nachvollzug F0 voraus. Denn F0 zeigt den Wandel
des Erzählers zum Wissenden auf dem Weg von der Sicht des Alltags
der Sterblichen bis hin zu einer Schau, aufgrund derer erst die onto-
logische Erkenntnis von F1 möglich wird. Erst dadurch erkennt der

113 Zur deren allgemeiner Bestimmung und ihren wichtigsten Positionen: Phänome-

nologie, phänomenologisch, in: Vetter 2004, 410–425 (H. Vetter).

200
Synopsis

Kuros das Sein, dessen Selbigkeit mit dem Denken und beider rezi-
prokes Verhältnis.
Damit erhält auch die Wahl bzw. die Verwerfung der drei Wege
ihren Sinn. Der eine (die Kosmologie der Milesier) wird als Aporie
zurückgewiesen, der andere (die Pluralität der schwankenden Mei-
nungen der Menschen) als Irrweg ausgeschieden. Im Verfahren des
Elenchos bleibt nur jener eine Weg von F1 übrig, 114 auf dem es Zei-
chen gibt, die auf das Eigentümliche des Seins hindeuten. Das Ergeb-
nis: Das Sein ist keine Abstraktion, sondern weist eine reiche Glie-
derung auf.
Dadurch kann auch die innere Verbundenheit von F1 und F2
nachvollzogen werden: Das in F1 entfaltete Sein erweist sich nun als
die ontologische Bedingung von F2, d. h. der Einheit der Welt in ihrer
kosmologischen Vielfalt.
Um dies zu erkennen, wird allerdings vorausgesetzt, »Sein« und
»Welt« nicht anhand eines Modells zu deuten, das auf späteren (na-
mentlich platonischen bzw. platonisierenden) Interpretationen von
»Wahrheit« und »Schein«, »Vernunft« und »Sinnlichkeit« beruht.
Der Abschied von einer solchen – die meisten Interpretationen leiten-
den – Sicht ändert von Grund auf den Blick auf den Status der Welt.
Sie ist nur aufgrund jener platonisierenden Sichtweise ein Schein;
wird sie von jener frei, tritt die Welt nicht im Horizont der δόξα,
sondern in der Fülle der δοκοῦντα entgegen.
Damit hängt auch die These vom alles durchdringenden Schein
zusammen (διὰ παντὸς πάντα περῶντα). Sie hat Folgen für das Ver-
hältnis von Wahrheit und Schein. Jene ist nur möglich, wird sie ihrem
Wortsinn nach als ἀ-λήθεια begriffen: Sie muss der δόξα abgerun-
gen werden (das α privativum in ἀ-λήθεια). Dies herauszustellen, ist
die Aufgabe einer phänomenologischen Analyse. Ihr Ziel ist es, die
Dualität von Sein und Schein aufzuheben und in der Einheit von
Schein (δόξα), Sein (εἶναι) und Erscheinen (dem περᾶν der δοκοῦν-
τα) zu gründen.
Nicht zuletzt gehört zum Verständnis der Einheit der FF der
Rückgang auf und die Auseinandersetzung mit Mythos und Kosmo-
logie. Diese ist nicht äußeres Beiwerk, sondern eine wesentliche Vo-
raussetzung zur Bestimmung der Stellung des Parmenides innerhalb
der Geschichte der Philosophie.

114 »Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass mit dem ἔλεγχος der Beweis gegen

einen falschen Weg gemeint ist« (Marcinkowska-Rosół 2010, 87).

201
Kommentar

Die zahlreichen Hinweise auf Texte der Sekundärliteratur sind


nicht als Sammlung von Äußerungen anderer Autoren gemeint (so
wichtig auch diese sein mögen). Sie sind ihrem Ziel nach Aneignung
und insofern kritisch (ein κρίνειν), damit aber für jede Form von
Gegenkritik offen, soweit diese nur jenem λόγον διδόναι entspricht,
das sich Parmenides selbst zur Aufgabe gemacht hat. Daher liegt in
der Auswahl der Literatur von vornherein eine Beschränkung. Kritik
und Gegenkritik sind nur möglich, wenn es ein Gegenüber gibt. So
gehört das Eingehen auf Texte der Sekundärliteratur auch zur Gat-
tung des Dialogs (soweit freilich ein solcher außerhalb eines direkten
Gespräches möglich ist), und dies nicht zuletzt um den Preis, den
eigenen Versuch in Frage zu stellen. (Im Übrigen enthalten alle Lite-
raturangaben eine Unzahl bibliographischer Hinweise, die weiteres
Forschen ermöglichen.)
Ein dialogisches Moment gehört auch zur Übersetzung. Indem
sie sich (namentlich im Textteil) auf andere Übersetzungen bezieht,
macht sie sich anfechtbar und erweist sich zudem als work in progress
(was im Übrigen auch auf das Ganze dieser Arbeit zutrifft).
So erweisen sich Übersetzung und Kommentar des Parmenides
als ein Zusammenspiel hermeneutischer, phänomenologischer und
kulturgeschichtlicher Analysen aus den Bereichen der Philosophie
und der philologisch-historischen Forschung, letzten Endes als ein
Versuch, fremdes Verstehen anzueigen, ohne dieses in seiner Anders-
heit auf die eine oder andere Weise »aufheben« zu wollen. Sagt man,
»fremd« sei, was einem anderen gehört – weshalb sollte dieser Ande-
re nicht auch Parmenides sein, und könnte eine solche Auffassung
von Fremdheit nicht auch in den Interpretationen eine gewisse Rolle
spielen? 115
*

115 »Fremd ist erstens, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt (vgl. externum,

extraneum, peregrinum; ξενόν; étranger; foreign) und was in der Form von Fremdling
und Fremdlingin (so noch bei Schiller) personifiziert wird. Fremd ist zweitens, was
einem Anderen gehört (vgl. ἀλλότριον; alienum; alien). Als fremd erscheint, drittens,
was von fremder Art ist und als fremdartig gilt (vgl. insolitum; ξενόν, étrange; stran-
ge). Es sind also die drei Aspekte des Ortes, des Besitzes und der Art, die das Fremde
gegenüber dem Eigenen auszeichnen. Diese Merkmale können unabhängig voneinan-
der variieren. Der Nachbar in der eigenen Stadt kann mir von seinen Sitten her fremd
sein; umgekehrt mag mir das Nachbarhaus, das einem anderen gehört, vertraut sein;
eine Fremdsprache wird selbst dann nicht zur Muttersprache, wenn ich sie fließend
spreche« (Waldenfels 1997, 20).

202
Synopsis

Corollaria 116

Axioma I: Das Sein und die Welt sind in ihrer Ganzheit heilig
(F1 1 F2).
Axioma II: Es gibt Sein, ein Nichts aber ist nicht. (B 6.1–2).
Propositio 1: Das Sein ist kein überzeitliches abstractum, sondern die
Einheit, die das Ganze aller FF gründet und zusammenhält
(F1 1 F2).
Scholium ad prop. 1: Die Annahme der Überzeitlichkeit gründet in
einem Vorgriff auf die Zeitdefinition des Aristoteles.
Propositio 2: Die δόξα ist nicht nur Schein, sondern Erscheinung, die
alles durchdringt (B 1.32 – F2 1 F1).
Scholium ad prop. 2: Die Auslegung von Wahrheit und Schein grün-
det im Vorgriff auf Platons Trennung in νόησις und αἴσθησις.
Propositio 3: Die δόξα ist nicht nur Schein, sondern Erscheinung, die
alles durchdringt (B 1.32 – F0 1 F1 1 F2).
Scholium ad prop. 3: Die Annahme universaler δόξαι beruht auf dem
Vorrang der Sicht der βροτοί, die den einzig möglichen Weg der
Göttin verfehlen (B 8.54).

116
Die Termini sind der Ethik Spinozas entnommen: Baruch de Spinoza: Opera /
Werke. Lat./dt. Zweiter Band: Tractatus de intellectus emendatione / Abhandlung
über die Berichtigung des Verstandes. Ethica / Ethik. Darmstadt 2008.

203
IV. Indices

1. Siglen

{} Einfügungen des Verfassers


{…} Kürzungen des Verfassers
| Ende einer Verszeile oder Absatzwechsel
~ ungefähr (bei Jahresangaben)
▶ Hinweis auf die bevorzugte (und manchmal erst vorläufige)
Übersetzung
° Hinweis auf andere Erklärungen (von Teil II zu III, von Teil III
zu Teil II)
1 verbunden
E Exposition
F Fragment
F0 Proömion
F1 Fragmente, erster Teil (»Aletheiateil«)
F2 Fragmente, zweiter Teil (»Doxateil«)
FF Fragmente
VS Vorsokratiker

Nicht erwähnt sind die üblichen Abkürzungen sowie die des Literaturver-
zeichnisses (IV.4).

204
Zeittafel

2. Zeittafel

Daten zu Philosophie, Dichtung, Kunst, Geschichte und Politik 1


(alle = v. Chr.).

800 – ca. 700 Hesiod aus Askra, Böotien


800 – ca. 2. Hälfte 8. Jhd. Homer, Ilias
ca. 700 spätestens Odyssee entstanden
700 Milet bedeutendste Handelsstadt im westlichen Kleinasien
ca. 610 – 546 Anaximander von Milet
ca. 600 – 500 orphische Dichtung (Orpheus bei DK erster VS) 2
ca. 600 Pythagoras von Samos
ca. 585 – 525 Anaximenes von Milet
540 Neugründung von Elea (Velia)
525/24 – 456/55 Aischylos aus Eleusis
ca. 520 – 460 Heraklit von Ephesos
500 – 493 Aufstand der ionischen Griechen gegen Persien, Zerstö-
rung Milets
500 Xenophanes aus Kolophon
ca. 500 Parmenides
495 – 445 Zenon von Elea
494 Zerstörung von Milet, Versklavung der Einwohner
490 Feldzug des Xerxes. Schlachten bei Artemision, den Thermo-
pylen und Salamis
485 Hieron wird Tyrann in Gela
ca. 484 – nach 430 Herodot aus Halikarnass
480 Parmenides soll Elea das Stadtrecht verliehen haben
ca. 476 ἀκμή des Pindar
441 Melissos von Samos als Feldherr Gegner des Perikles
400 ΔΙΣΣΟΙ ΛΟΓΟΙ (anonymer Sophist, bei DK letzter VS) 3

1
Daten: LAG 13; Schachermeyr 1978.
2 DK I, 1–20.
3
DK II, 405–416.

205
Indices

3. Personen

Aufgenommen sind jene antiken Autoren, die im Zusammenhang


mit Parmenides eigens genannt wurden. Nicht enthalten sind die I.3
und I.4 in eigenen Abschnitten vorgestellten Philosophen. – Jahres-
zahlen ohne weitere Angaben = »v. Chr.« 4
Aëtios: Doxograph, der um 100 n. Chr. ein umfangreiches Werk über
die Sätze der Naturlehre verfasste. »Unter dem Namen des Plu-
tarch ist uns ein wertvoller Auszug {über philosophische Leh-
ren} erhalten.« 5 Es handelt sich um »ein gelehrtes Geschichts-
werk, das (letztlich nach dem Vorbild von Theophrasts Buch
über die Lehren der Naturphilosophen) die gesamte Naturphi-
losophie von Thales und Pythagoras an bis in die Zeit des Posei-
donios nach Problemen verzettelt darstellt«. 6
Alkmaion (Alkmeon) von Kroton: ~ 570–500. Als Arzt und Natur-
philosoph den Pythagoreern nahe, Verfasser einer Schrift περὶ
φύσεως. Alkmaion widmet sich der Erforschung der Sinnesorga-
ne und erklärt die Wahrnehmung durch Annahme von Kanälen
(πόροι), die das Gehirn mit Ohr und Auge verbinden; er soll
auch Operationen am Auge gewagt haben. 7 Unter der Annahme,
»die Seele sei unsterblich wie die Gestirne und befinde sich wie
diese in dauernder (Kreis-)Bewegung«, »scheint {er} als erster
die Stellung des Menschen im Kosmos thematisch herausgear-
beitet zu haben«. 8
Ameinias: Pythagoreer, durch den Parmenides zur Philosophie ge-
kommen sein soll, der ihm daher aus Verehrung ein Heroon er-
richtet habe (°I.2.a). 9
Anaximander von Milet: * ~ 610/599, † ~ 547/46. »Er war der erste,
der eine die Natur erklärende Prosaschrift verfaßte (περὶ φύ-
σιος? frg. A 7); er soll die Sonnenuhr erfunden (frg. A 1), eine
Land und See darstellende Karte entworfen und ein Modell der
Himmelskugel entworfen haben (frg. A 1,2,6). Den Urstoff, der

4 Die Verfasser der Beiträge von KP 1–5 und LA I/1–4 sind, wie dort üblich, nur mit
den Anfangsbuchstaben ihrer Namen genannt; die Abkürzungen werden in diesen
aber auch vollständig wiedergegeben.
5 KP 1, 105 (W. S.).

6 LA I/1, 76 (O. G.).

7
KP 1, 1531 (H. D.).
8 LA I/1, 103 (O. G.).

9
Zeller I/1, 6801.

206
Personen

allem zugrunde liegt, nannte er das ἄπειρον« {12 B 1–3}. 10 Es ist


»eine Explikation des hesiodischen Chaos als Ursprung (ἀρχή)
aller Dinge.« 11
Anaximenes von Milet: ~ 580–520, »wahrscheinlich Schüler des
Anaximandros. Wie dieser, suchte er die Verschiedenheiten der
Elemente aus einem mittleren Stoff herzuleiten. So setzte er die
Luft als Urstoff an {…} und erklärt die übrigen Elemente aus der
Verdünnung der Luft (μάνωσις) – so das Feuer – oder aus ihrer
Verdichtung – so Wasser und Erde. {…} Wie die Seele den Men-
schen regiert und zusammenhält, so umfängt die Luft die ganze
Welt (frg. {13} B 2).« 12 »Die Erde ließ A. wie ein flaches Blatt auf
der Urluft aufruhen. Nach Eudemos erkannte A. als erster, daß
der Mond kein eigenes Licht besitzt, sondern das der Sonne zu-
rückwirft.« 13
Apollodoros von Athen: »Grammatiker des 2. Jhs. v. Chr. Hielt sich
nach seinen Studien in Athen bis zum Jahre 146 in Alexandria
auf und kehrte dann nach Athen zurück.« 14 »Da er seine Χρονι-
κά Attalos II. widmete, ist es nicht ausgeschlossen, daß er zeit-
weise in Pergamon lebte. Den Rest seines Lebens verbrachte er in
Athen. Sein Todesjahr ist unbekannt, fällt aber nach 120/19. Die
vielseitige Produktion des A. umfaßte {…} phil., hist. und my-
thographische Werke.« 15
Aratos: * 310 in Soloi in Kilikien, hörte in Athen den Stoiker Zenon.
Berühmt wurde er durch die Φαινόμενα, das »Lehrgedicht von
Stern- und Wetterzeichen, das als einziges erhalten ist«. 16
Diogenes Laertius: »Das Werk des Diogenes Laertius ist das einzig
vollständig erhaltene Buch des griechisch-römischen Altertums
über Philosophiegeschichte; es stammt – wahrscheinlich – aus
der ersten Hälfte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts, der
Zeit der Blüte der römischen Jurisprudenz und der griechischen
philosophischen Aristoteleskommentierung. Es ist nicht von
einem Philosophen geschrieben, sondern von einem ›Philo-

10 KP 1, 339 (H. D.).


11 LA I/1, 118 (O. G.).
12 KP 5, 329 f. (H. D.).
13 LA I/1, 119 (O. G.).
14
LA I/1, 143 f. (Th. G.).
15 KP 1, 438 (H. D.).
16
Aratos 1971, 112.

207
Indices

logen‹.« 17 Bei allen Vorwürfen, die gegen dieses Werk erhoben


werden, 18 ist es als Quelle kaum zu überschätzen: »Diogenes do-
miniert die Philosophiegeschichte, wie niemand sie sonst domi-
niert hat, da er doch die philosophiegeschichtliche Literatur bis
in die Mitte des 18. Jh. beherrscht. Die Philologen haben schon
sehr früh ein besonderes Verdienst von Diogenes Laertius an-
erkannt, daß er nämlich Informationen bewahrt hat, die wir
ohne ihn nicht kennen würden und die er mit einer eindrucks-
vollen Anzahl von Verweisen mitgeteilt hat.« 19
Epicharmos: »Herkunft umstritten: {…} Lebensdaten ungewiß«, 20
»dor.-sizil. Komödiendichter«, aus Megara oder Krastos, »wirkte
unter Hieron in Syrakus«, Blüte 488/5. »Diels hat kühn, doch
einleuchtend vermutet, bei Platons zweitem Besuch in Syrakus
seien E.-Stücke vor ihm aufgeführt {…} worden«. 21
Herodotos: * nicht lange vor 480 oder 484 in Halikarnass (im Süd-
westen Kleinasiens). Forschungsreisen nach Ägypten, Phoini-
kien, Mesopotamien und ins Skythenland; in Athen zur Zeit
des Perikles († 429). Seine Lebenszeit reicht bis in die ersten Jah-
re des peloponnesischen Krieges. Die 9 Bücher seines Werkes
beginnen mit der Geschichte des Kroisos (~ 560–547) und enden
mit der Eroberung von Sestos. »Kennzeichnend ist das Neben-
einander geographisch-ethnographischer Perihegese {περιήγη-
σις »Erklären«} {…} und eigentlich historischer Darstellung,
die ihre geschlossenste Form in der Behandlung des Xerxeszugs
erreicht.« 22
Hippokrates aus Kos: 460 bis ~ 370, berühmtester Arzt der Antike.
Mindestens 60 Schriften sind als Corpus Hippocraticum überlie-
fert. Der Ärzteschule von Kos steht jene von Knidos gegenüber.
»Die beiden Schulen unterscheiden sich voneinander grundsätz-
lich dadurch, daß die Koer von der Konzeption einer Allgemein-
erkrankung und einer Semeiotik mit individuellen Abwandlun-
gen ausgingen, während die Knidier bestrebt waren, lokalisierte
Einzelerkrankungen zu fixieren und diese in ein mehr oder

17 DL p. XII.
18 Für Burnet z. B. ist die Schrift des Diogenes Laertius nur ein »Sammelsurium«
(Burnet 1913, 334).
19 Braun 1990, 37.

20
LA I/2, 44 (Th. G.).
21 KP 2, 302 f. (W. K.).

22
LA I/2, 224 (W. Bk.).

208
Personen

weniger festes, umfassendes Schema zu stellen; ferner waren die


Knidier viel therapiefreudiger {…} als die Koer.« 23 »Wissen-
schaftlich hat er in der schließlich von Galen {129–199} geschaf-
fenen Gestalt auf die abendländische Medizin bis zur Neuzeit
hin gewirkt«. 24
Plutarch von Chaironeia: »popularphilosoph. Schriftsteller und be-
rühmter Biograph, * kurz nach 45 n. Chr. {…} Das genaue Todes-
jahr steht nicht fest; jedenfalls nach 120.« 25
Sextus Empiricus: »Skeptiker aus der Schule Pyrrhons, ca. 2. H.
2. Jh. n. Chr. {…} Gegen die Gelehrten (Πρὸς μαθηματ-
κούς) {…}, ein Angriff auf Grammatik, Rhetorik, Geometrie,
Arithmetik, Astrologie und Musik.« 26
Simplikios: Neuplatoniker, Schüler des Ammonios. Versucht nach
Schließung der platonischen Akademie (529 n. Chr.) im per-
sischen Reich neu Fuß zu fassen. »Die Harmonisierung von
Aristoteles mit Platon wird von S. auf die Spitze getrieben: alle
Unterschiede sind nur scheinbar«. 27 Fast ausschließlich als Kom-
mentator tätig, der vor allem im Kommentar zur aristotelischen
Physik zahlreiche Zitate der VS überliefert; »daß Empedokles
und Parmenides für uns mehr sind als nur Namen, ist einzig S.
zu verdanken«. 28
Sotion aus Alexandria: Peripatetiker, 2. Jh. v. Chr. Nur durch sein
Hauptwerk διαδοχαὶ τῶν φιλοσόφων (Sukzession der Philoso-
phen) bekannt. »Diesbezüglich stellt seine ›Sukzession der Phi-
losophen‹ den methodischsten Versuch der Philosophiegeschich-
te dar, der vor Diogenes Laertius unternommen worden ist«
(Braun 1990, 26). »Der Begriff διαδοχή = ›legitime Erbfolge‹
deckt sich mit dem staatsrechtlichen Begriff διαδοχή, durch den
die Herrschaft der Nachfolger Alexanders d. Gr. legitimiert
war.« 29 »Sein Einfluß auf Diogenes Laertius scheint groß ge-
wesen zu sein {…}.« 30

23 KP 2, 1169 f. (F. K.).


24 LA I/2, 239 (F. K.).
25 KP 4, 945 (K. Z.).
26 LA/Ph 4, 188 f. (M. S.).
27 LA I/4, 194 (Ph. M.).
28
KP 5, 206 (H. D.).
29 KP 5, 290 (H. D.).
30
LA I/4, 215 (O. G.).

209
Indices

Thales von Milet: Nach der Doxographie des Aristoteles (°I.4.b) war
Thales der erste Philosoph. Was von diesem überliefert ist, geht
auf spätere Autoren, namentlich Aristoteles, zurück. »Lebensz.:
1. H. 6. Jh. v. Chr.; den chronol. Fixpunkt gibt die Sonnenfinster-
nis des 28. Mai 585 (Tag der Schlacht am Halys), die Th. voraus-
berechnete. Mit Bezug darauf wurde vermutl. die ἀκμή auf 585/
584, die Verleihung des Ehrentitels σοφός auf 582/581 ange-
setzt. {…} Daß Th. das Wasser zur Ur-Substanz der Welt erklärt
habe, war nachmals gängiges HB.-Wissen. Aber nur das Zeugnis
des Aristot. metaph. 983b20 erlaubt eine Interpretation; als wei-
teres Faktum war dem Aristot. offenbar bekannt, daß Thales an-
nahm, die Erde befinde sich schwimmend auf dem Wasser. {…}
Wohl ist es oft als der eigentl. Beginn der ion. Naturphilos. ge-
priesen worden, daß sie sich vom Mythos ›emanzipierte‹. Aber
von Th., seinem Leben und seiner Lehre ist zu wenig an Ge-
sichertem erhalten, als daß dem Th. dieser große Schritt zu-
geschrieben werden dürfte.« 31
Theophrastos von Eresos: Schüler und Nachfolger des Aristoteles
im Peripatos. DL V, 2 enthält ein Schriftenverzeichnis und das
Testament des Theophrast, von dessen umfangreichem Schrift-
tum nur Bruchstücke erhalten sind. »{…} überaus wichtig war
die Geschichte der Naturphilosophie (18 Bücher), in der Th. die
Naturphilosophie von Thales bis Platon in systematischer Ord-
nung darstellte und bei jedem anmerkte, was von ihm aus gese-
hen richtig oder falsch war. {…} In seinen späthellenist. Exzerp-
ten ist das Werk heute noch Hauptquelle für die Lehren der
Vorsokratiker.« 32

4. Literatur

Art der Zitation:


Griechische Autoren werden mit vollem Namen zitiert, ihre Schrif-
ten nach LSJ, z. B. Aristoteles Metaph. 986b18. Bei Einzelausgaben
werden der Name des Autors sowie die Jahres- und Seitenzahl ange-
geben, z. B. Aristoteles 2011, 25 = Aristoteles: Über Werden und Ver-
gehen / De generatione et corruptione. Griechisch-deutsch. Hamburg

31 KP 5, 644 f. (H. D.).


32
LA I/4, 273 (O. G.).

210
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

2011, S. 25. Dabei wird einheitlich die griechische Schreibweise an-


gewendet (»Platon«, nicht »Plato«).

VS: Zitiert wird nach DK mit Autorenkennzahl + A für Zeugnisse,


z. B. 22 A 1 = Heraklit, Leben und Lehre, No 1, bzw. mit Auto-
renkennzahl + B für Originalzitate, z. B. 22 B 1 = Heraklit, Frag-
ment No 1.
Parmenides: Die Autorenkennzahl (= No 28) entfällt bei den Frag-
menten, z. B. B 1.24 = Fragment 1, Vers 24.
Sekundärliteratur: Zitiert werden Autor, Erscheinungsjahr des be-
treffenden Werkes und Seitenzahl; z. B. Böhme 1986, 35 =
Robert Böhme: Die verkannte Muse, S. 35.
Wörterbücher: Angegeben sind Autor und Seite, jedoch keine Jah-
reszahl; z. B. Gemoll 343; LSJ 815; gelegentlich wird auf das
Stichwort verwiesen; z. B. LSJ s. v. (»sub voce«) δόξα.
Gesamtausgaben: Zitiert werden der Autor, die Sigle der Ausgabe
sowie Band- und Seitenzahl; z. B. Hegel WA 18, 284 = G. W. F.
Hegel: Theorie Werkausgabe, Band 18, S. 28.
Vor römischen Seitenzahlen steht »p.« oder »pp.« (»pagina«,
»paginae«).
Verfasser von Artikeln in Nachschlagewerken: Der Name des
Autors wird nur in den Fußnoten angegeben, nicht aber im Li-
teraturverzeichnis.
Fußnoten werden durch tiefgestellte Ziffern nach der Seitenzahl an-
gezeigt, z. B. Mourelatos 2008, 1721 = The route of Parmenides.
Revised and Expanded Edition by Alexander P. D. Mourelatos,
S. 17, Fußnote 21.
Auflösung der Siglen °IV.1.

Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften:

Hinweis: Linke Spalte = Kurzform wie im Haupttext; rechte Spal-


te = vollständige Angaben. Weiterführende Literaturangaben finden
sich in zahlreichen der hier genannten Arbeiten. Die Bibliographie
Cordero 2004 ist im Internet abrufbar. 33

33http://www.parmenides.com/images/pdfs/Pbib29Apr05online.pdf (letzter Zugriff


am 19. Oktober 2016).

211
Indices

Aischylos Aischylos: Tragödien und Fragmente. Hg. und über-


setzt von Oskar Werner. München o. J. – A. = Aga-
memnon. Pers. = Persae. Pr. = Prometheus Vinctus.
Angehrn 1996 Emil Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur
Philosophie des Mythos. Frankfurt a. M. 1996.
Angehrn 2000 Emil Angehrn: Der Weg zur Metaphysik. Vorsokra-
tik, Platon, Aristoteles. Weilerswist 2000.
Aratos 1971 Aratos: Phainomena. Sternbilder und Wetterzeichen.
Griechisch-deutsch. Hg. von Manfred Erren. Mün-
chen 1971.
Aristoteles Aristotelis Opera 1–5 edd. Immanuel Bekker. Berlin
1831–70. – Apr. = Analytica priora; Cael. = de Caelo;
de An. = de Anima; GC = de Generatione et Corrup-
tione; Metaph. = Metaphysica; PA = de Partibus
Animalium; Ph. = Physica; Rh. = Rhetorica.
Aristoteles 1987 Aristoteles’ Physik. Erster Halbband: Bücher I (Α) –
IV (Δ). Übersetzt, mit einer Einleitung und mit An-
merkungen hg. von Hans Günter Zekl. Griechisch-
deutsch. Hamburg 1987.
Bartling 1985 Michael Bartling: Der Logosbegriff bei Heraklit und
seine Beziehung zur Kosmologie. Göppingen 1985.
Bauer Walter Bauer: Wörterbuch zum Neuen Testament.
Durchgesehener Nachdruck der 5. Auflage. Berlin/
New York 1971.
Beaufret 1973 Jean Beaufret: Dialogue avec Heidegger. I. Philoso-
phie grecque. Paris 1973.
Beaufret 1976 Jean Beaufret: Das Gedicht des Parmenides, in: ders.:
Wege zu Heidegger. Frankfurt a. M.1976, 62–101.
Becker 1937 Otfrid Becker: Das Bild des Weges und verwandte
Vorstellungen im frühgriechischen Denken. Berlin
1937.
Blumenberg Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirk-
1971 lichkeitspotential des Mythos, in: Terror und Spiel.
München 1971, 11–66 (Poetik und Hermeneutik; 4).

212
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

Boeder 1959 Heribert Boeder: Der frühgriechische Wortgebrauch


von Logos und Aletheia, in: Archiv für Begriffs-
geschichte 4 (1959) 82–112.
Böhme 1980 Robert Böhme: Der Sänger der Vorzeit. Bern/Mün-
chen 1980.
Böhme 1986 Robert Böhme: Die verkannte Muse. Dichtersprache
und geistige Tradition des Parmenides. Bern 1986.
Bormann 1971 Karl Bormann: Parmenides. Hamburg 1971.
Bornemann/ Griechische Grammatik von Eduard Bornemann
Risch 1978 unter Mitwirkung von Ernst Risch. Braunschweig
21978.

Braun 1990 Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte.


Bearbeitet und mit einem Nachwort von Ulrich
Johannes Schneider. Darmstadt 1990.
Buchheim 1994 Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker. Ein philoso-
phisches Porträt. München 1994.
Burkert 2008 Walter Burkert: 1. Das Proömium des Parmenides
und die Katabasis des Pythagoras, in: ders.: Kleine
Schriften VIII. Philosophica. Hg. von Thomas A.
Szlezák und Karl-Heinz Stanzel. Göttingen 2008,
1–27.
Burkert 2009 Walter Burkert: Die Griechen und der Orient. Von
Homer bis zu den Magiern. München 32009.
Burnet 1913 John Burnet: Die Anfänge der griechischen Philoso-
phie. Zweite Ausgabe. Aus dem Englischen übersetzt
von Else Schenkl. Leipzig/Berlin 1913.
Cassirer 2007 Ernst Cassirer: Logos, Dike, Kosmos in der Entwick-
lung der griechischen Philosophie (1941), in: ders.:
Aufsätze und kleine Schriften. Gesammelte Werke.
Hamburger Ausgabe, Band 24. Hamburg 2007, 7–35.
Cordero 2004 Néstor-Luis Cordero: By Being, It Is. The Thesis of
Parmenides. Las Vegas 2004.

213
Indices

Coxon 2009 The Fragments of Parmenides. Revised and Expanded


Edition by A. H. Coxon. Edited with New Transla-
tions by Richard McKirahan. With a New Preface by
Malcom Schofield. Las Vegas & al. 2009.
Deichgräber Karl Deichgräber: Parmenides’ Auffahrt zur Göttin
1958 des Rechts. Untersuchungen zum Prooimion seines
Lehrgedichts. Mainz 1958.
Deichgräber Karl Deichgräber: Rhythmische Elemente im Logos
1963 des Heraklit. Mainz 1963.
Deichgräber Karl Deichgräber: Das Ganze Eine des Parmenides.
1983 Fünf Interpretationen zu seinem Lehrgedicht. Wies-
baden 1983.
Descartes 1973 René Descartes: Regulae ad directionem ingenii /
Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Kritisch
revidiert, übersetzt und herausgegeben von Heinrich
Springmeyer †, Lüder Gäbe, Hans Günter Zekl.
Hamburg 1973.
Di Giuseppe Riccardo Di Giuseppe: Le Voyage de Parménide. Paris
2011 2011.
Diels 2003 Hermann Diels: Parmenides Lehrgedicht mit einem
Anhang über griechische Thüren und Schlösser.
Zweite Auflage mit einem neuen Vorwort von Walter
Burkert und einer revidierten Bibliographie von Da-
niela De Cecco. Sankt Augustin 2003 (Erstausgabe
1896).
DK I–III Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und
deutsch von Hermann Diels. Hg. von Walther Kranz.
Band I. Hildesheim 171974. Band II. Hildesheim
16
1972. Band III. Hildesheim 151975.
DL Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter
Philosophen. Erster und zweiter Band. Hamburg
2004.
Dönt 1984 Eugen Dönt: Die pseudohippokratische Schrift über
das Herz, in: Wiener humanistische Blätter 26 (1984)
31–38.

214
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

Dupré 1973 Wilhelm Dupré: Mythos, in: Handbuch philosophi-


scher Grundbegriffe 4 (1973) 948–956.
Eliade 1954 Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige. Ele-
mente der Religionsgeschichte. Salzburg 1954.
Eliade 1990 Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane. Vom
Wesen des Religiösen. Frankfurt a. M. 1990.
Erler 2007 Michael Erler: Kleines Werklexikon Platon. Stuttgart
2007.
Euripides Euripides: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Grie-
chisch-deutsch. Übersetzt von Ernst Buschor. Band I
bis IV, München 1972. Band V, München 1977. –
Hipp. = Hippolytos. Med. = Medea.
Fink 1958 Eugen Fink: Sein, Wahrheit, Welt. Vor-Fragen zum
Problem des Phänomen-Begriffs. Den Haag 1958.
Fleischer 2001 Margot Fleischer: Anfänge europäischen Philoso-
phierens. Heraklit, Parmenides, Platons Timaios.
Würzburg 2001.
Fränkel 1955 Hermann Fränkel: Wege und Formen frühgriechi-
schen Denkens. Literarische und philosophiege-
schichtliche Studien. Hg. von Franz Tietze. München
21955.

Fränkel 1993 Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des


frühen Griechentums. Eine Geschichte der griechi-
schen Epik, Lyrik und Prosa bis zur Mitte des fünften
Jahrhunderts. München 41993.
Frisk I, II Hjalmar Frisk: Griechisches etymologisches Wörter-
buch. Band I: Α–Κο. Heidelberg 1960. Band II. Κρ–Ω.
Heidelberg 1970.
Fritz 1968 Kurt von Fritz: Die Rolle des ΝΟΥΣ (1943/1945/
1946), in: Hans-Georg Gadamer (Hg.): Um die Be-
griffswelt der Vorsokratiker. Darmstadt 1968, 246–
363.
Gadamer 1968 Hans-Georg Gadamer (Hg.): Um die Begriffswelt der
Vorsokratiker. Darmstadt 1968.

215
Indices

Gadamer 1996 Hans-Georg Gadamer: Der Anfang der Philosophie.


Stuttgart 1996.
Gadamer Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke 1–10. Tü-
GW 1–10 bingen 1990–1995. – GW 1 = Hermeneutik I: Wahr-
heit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik. GW 2 = Hermeneutik II: Wahrheit und
Methode. Ergänzungen/Register. GW 6 = Griechi-
sche Philosophie II. GW 7 = Griechische Philosophie
III: Plato im Dialog.
Gehrke/Schnei- Hans-Joachim Gehrke, Helmuth Schneider (Hg.):
der 2013 Geschichte der Antike. Ein Studienbuch. 4., erweiter-
te Auflage. Stuttgart/Weimar 2013.
Gemelli I–III Die Vorsokratiker. Band I: Thales, Anaximander ·
Anaximenes · Pythagoras und die Pythagoreer ·
Xenophanes · Heraklit. Griechisch-lateinisch-
deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse,
Übersetzung und Erläuterungen von M. Laura Ge-
melli Marciano. Berlin 2007. Band II: Parmenides ·
Zenon · Empedokles. Berlin 2009. Band III: Anaxago-
ras · Melissos · Diogenes von Apollonia · Die antiken
Atomisten: Leukipp und Demokrit. Berlin 22013.
Gemoll Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch
von Wilhelm Gemoll. Durchgesehen und erweitert
von Karl Vretska. Wien/München 91965.
Georges Lateinisch-Deutsch. Deutsch-Lateinisch. Ausführ-
liches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Kleines
deutsch-lateinisches Handwörterbuch. Von Karl
Ernst Georges. Zweite, erweiterte Ausgabe. Berlin
2004 (Digitale Bibliothek; Band 69).
Georgiades 1958 Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei
den Griechen. Hamburg 1958.
Gorgias 1989 Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testi-
monia. Hg. mit Übersetzung und Kommentar von
Thomas Buchheim. Griechisch-Deutsch. Hamburg
1989.

216
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

Greenhalgh Peter A. L. Greenhalgh: Early Greek Warfare. Horse-


1973 men and Chariots in the Homeric and Archaic Ages.
Cambridge 1973.
Grønbech I–II Vilhelm Grønbech: Hellas. Griechische Geistesge-
schichte I. Reinbek 1965. Götter und Menschen.
Griechische Geistesgeschichte II. Reinbek 1967.
Günther 1998 Hans-Christian Günther: Aletheia und Doxa. Das
Proömium des Gedichts des Parmenides. Berlin 1998.
Haase 2010 Frank Haase: Unterwegs im Medium Denken – Par-
menides. München 2010.
Hegel WA Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Theorie Werkausga-
be. Frankfurt a. M. 1971. – WA 6 = Wissenschaft der
Logik I. WA 8 = Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften I. WA 18 = Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie I.
Heidegger GA Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Frankfurt a. M.
1975 ff. – GA 2 = Sein und Zeit. 1977. GA 35 = Der
Anfang der abendländischen Philosophie. Auslegung
des Anaximander und Parmenides. 2012. GA 54 =
Parmenides. 1982. GA 63 = Ontologie (Hermeneutik
der Faktizität). 1982. GA 88 = Seminare (Übungen)
1937/38 und 1941/42. 2008.
Heitsch 1974 Parmenides. Die Anfänge der Ontologie, Logik und
Naturwissenschaft. Die Fragmente hg., übersetzt und
erläutert von Ernst Heitsch. München 1974.
Held 1980 Klaus Held: Heraklit, Parmenides und der Anfang von
Philosophie und Wissenschaft. Berlin 1980.
Heraklit 2007 Heraklit: Fragmente. Griechisch und deutsch hg. von
Bruno Snell. Zürich/München 142007.
Heraklit 2007 Heraklit: Fragmente. Griechisch und deutsch hg. von
Bruno Snell. Zürich/München 142007.
Herodot 2001 Das Geschichtswerk des Herodot von Halikarnassos.
Aus dem Griechischen von Theodor Braun. Frankfurt
a. M./Leipzig 2001.

217
Indices

Herodot I–IX Herodoti Historiae ed. Carolus Hude. Libri I–IV.


Oxonii 31927. Libri V–IX. Oxonii 31927.
Hesiod Hesiodus: Theogonia · Opera et dies · Scutum. Ed.
Friedrich Solmsen. Fragmenta selecta. Ed. Reinhold
Merkelbach et Martin L. West. Oxonii 1970. – Th. =
Theogonia. Op. = Opera et dies.
Hesiod 1966 Hesiod: Werke und Tage. Aus dem Griechischen
übertragen von Albert von Schirnding. München
1966.
Hesiod 1978 Hesiod: Theogonie. Hg., übersetzt und erläutert von
Karl Albert. Kastellaun 1978.
Hölscher 1976 Uvo Hölscher: Der Sinn von Sein in der älteren grie-
chischen Philosophie. Heidelberg 1976.
Hölscher 2014 Parmenides: Vom Wesen des Seienden. Die Frag-
mente. Griechisch-deutsch. Auf der Grundlage der
Edition von Uvo Hölscher † mit einer Einleitung hg.
von Alfons Reckermann. Hamburg 2014.
Homer Homeri Opera edd. David B. Munro et Thomas W.
Allen. Tom. I–II. Oxonii 1962. – Il. = Ilias. Od. =
Odyssea.
Homer 1958 Homer: Die Odyssee. Übersetzt in deutsche Prosa von
Wolfgang Schadewaldt. Hamburg 1958.
Homer 1975 Homer: Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang Scha-
dewaldt. Mit antiken Vasenbildern. Frankfurt a. M.
1975.
HWPh 1–11 Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel/
Stuttgart 1971–1984. Band 1–6, hg. von Joachim Rit-
ter † und (ab Band 5) Karlfried Gründer. Band 7–13,
hg. v. Joachim Ritter † u. Karlfried Gründer und (ab
Band 11) Gottfried Gabriel. Basel 1989–2007.
Jaeger 1953 Werner Jaeger: Die Theologie der frühen griechischen
Denker. Stuttgart 1953.
Jantzen 1976 Jörg Jantzen: Parmenides zum Verhältnis von Sprache
und Wirklichkeit. München 1976.

218
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

Kahn 1960 Anaximander and the Origins of Greek Cosmology.


By Charles H. Kahn. New York 1960.
Kahn 1973 The Verb ›Be‹ and its Synonyms. Philosophical and
Grammatical Studies edited by John W. M. Verhaar
(6). The Verb ›be‹ in Ancient Greek by Charles H.
Kahn. Dordrecht/Boston 1973.
Kant WA I–XII Immanuel Kant: Werkausgabe, hg. von Wilhelm
Weischedel. Band I-XII. – WA V = Schriften zur
Metaphysik und Logik 1. WA XII = Schriften zur
Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und
Pädagogik 2.
Kerényi 1940 Karl Kerényi: Pythagoras und Orpheus. Zweite Aus-
gabe mit einem Anhang über die Seelenwanderungs-
lehre. Amsterdam 1940.
Kingsley 1999 Peter Kingsley: In the Dark Places of Wisdom. Inver-
ness/California 1999.
Kirk & al. 1994 Geoffrey S. Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield:
Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte
und Kommentare. Stuttgart/Weimar 1994.
KP 1–5 Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Band 1–5.
München 1979.
Kranz 1958 Walther Kranz: Kosmos. Archiv für Begriffs-
geschichte. Band 2, Teil 1 und 2. Bonn 1958.
LA I/1–4 dtv-Lexikon der Antike I. Philosophie, Literatur,
Wissenschaft. Band 1–4. München 1969.
Lesky 1963 Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur.
Bern/München 21963.
LfG Lexikon des frühgriechischen Epos. Begründet von
Bruno Snell. Hg. vom Thesaurus Linguae Graecae.
Band 2, Β–Λ. Göttingen 1991.
Loenen 1959 J. H. M. M. Loenen: Parmenides, Melissus, Gorgias.
A Reinterpretation of Eleatic Philosophy. Assen
MXMLIX.

219
Indices

LSJ A Greek-English Lexicon. Compiled by Henry


George Liddell and Robert Scott. With a Supplement
1968. Revised and Augmented throughout by Sir
Henry Stuart Jones with the Assistance of Roderick
McKenzie and with the Co-operation of Many Scho-
lars. Oxford 91940 (Reprint 1977).
Mansfeld 1964 Jaap Mansfeld: Die Offenbarung des Parmenides und
die menschliche Welt. Assen 1964.
Mansfeld 1995 Parmenides: Über das Sein. Griechisch-Deutsch. Mit
einem einführenden Essay. Hg. von Hans von Steu-
ben. Die Fragmente des Lehrgedichts. Übersetzung
und Gliederung von Jaap Mansfeld. Stuttgart 1981.
Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1995.
Mansfeld Die Vorsokratiker. Auswahl, Übersetzung und Erläu-
VS I–II terung von Jaap Mansfeld. Band I, Stuttgart 1983.
Band II, Stuttgart 1986.
Marcinkowska- Maria Marcinkowska-Rosół: Die Konzeption des
Rosół 2010 ›noein‹ bei Parmenides von Elea. Berlin 2010.
Mattes 1970 Josef Mattes: Der Wahnsinn im griechischen Mythos
und in der Dichtung bis zum Drama des fünften Jahr-
hunderts. Heidelberg 1970.
Meijer 1997 P. A. Meijer: Parmenides Beyond the Gates: The
Divine Revelation on Being, Thinking and the Doxa.
Amsterdam 1997.
Mourelatos 2008 The Route of Parmenides. Revised and Expanded Edi-
tion by Alexander P. D. Mourelatos with a New Int-
roduction, Three Supplementary Essays, and an Essay
by Gregory Vlastos. Las Vegas & al. 2008.
Mourelatos 2012 Alexander P. D. Mourelatos: »The Light of Day by
Night«: nukti phaos, Said of the Moon in Parmenides
B 14, in: Richard Patterson, Vassilis Karasmanis,
Arnold Hermann (edd.): Presocratics & Plato. Las
Vegas & al. 2012, 25–58.

220
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

Nestle 1942 Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die


Selbstentfaltung des griechischen Denkens von
Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart
21942.

Neumann 2006 Günther Neumann: Der Anfang der abendländischen


Philosophie. Eine vergleichende Untersuchung zu den
Parmenides-Auslegungen von Emil Angehrn, Günter
Dux, Klaus Held und dem frühen Martin Heidegger.
Berlin 2006.
Nietzsche KSA Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Stu-
dienausgabe, Band 1–15. Hg. von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari. München 1980.
Nordheider 1991 H. W. Nordheider: ἐλεγχείη, ἔλεγχος, ἐλέγχω, in:
Lexikon des frühgriechischen Epos 2 (1991) 523–524.
Otto 2011 Walter F. Otto: Dionysos. Mit einem Nachwort von
Alessandro Stavrou. Frankfurt a. M. 72011 (Erstver-
öffentlichung 1933).
Padrutt 1991 Hanspeter Padrutt: Und sie bewegt sich doch. Parme-
nides im epochalen Winter. Zürich 1991.
Padrutt 1994 Hanspeter Padrutt: »Als allerersten den Eros zwar er-
sann sie von allen Göttern …«, in: Daseinsanalyse 11
(1994) 219–236.
Padrutt 2002 Hanspeter Padrutt: Das Rätsel Parmenides, in:
Daseinsanalyse 18 (2002) 115–149.
Pannwitz 1927 Rudolf Pannwitz: Die Krisis der Europaeischen Kul-
tur. Nuernberg 1927 (Neuauflage 1947).
Pape Griechisch-Deutsch. Altgriechisches Wörterbuch.
Von Wilhelm Pape. Neusatz und Faksimile. Zweite
Ausgabe. Berlin 2006 (Digitale Bibliothek; Band 117).
Pellikaan-Engel Maja E. Pellikaan-Engel: Hesiod and Parmenides.
1974 A New View on their Cosmologies and on Parmeni-
des’ Poem. Amsterdam 1974.
Pfeifer 1997 Wolfgang Pfeifer u. a. (Hg.): Etymologisches Wörter-
buch des Deutschen. München 21997.

221
Indices

Pfeiffer 1970 Rudolf Pfeiffer: Geschichte der klassischen Philologie.


Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus.
Reinbek 1970.
Picht 1996a Georg Picht: Die Fundamente der griechischen Onto-
logie. Mit einer Einführung von Hellmut Flashar.
Stuttgart 1996.
Picht 1996b Georg Picht: Die Epiphanie der Ewigen Gegenwart:
Wahrheit, Sein und Erscheinung bei Parmenides, in:
ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philoso-
phische Studien. Stuttgart 21996, 36–86.
Pindar Pindar: Siegesgesänge und Fragmente. Griechisch
und deutsch hg. und übersetzt von Oskar Werner.
München o. J. (1967). – O. = Olympische Oden. P. =
Pythische Oden. N. = Nemeische Oden.
Platon Platonis Opera. edd. Ioannes Burnet. Tomus I-V.
Oxonii 1901 sqq. – Alc. I = Alcibiades I. Crat. = Cra-
tylus. Phlb. = Philebus. Prm. = Parmenides. R. = Res
publica (Politeia). Smp. = Symposium. Sph. = So-
phistes. Tht. = Theaetetus. Ti. = Timaeus (Stephanus-
Nummerierung).
Platon SW 1–6 Platon: Sämtliche Werke 1–6. In der Übersetzung von
Friedrich Schleiermacher, hg. von Walter F. Otto u. a.
Hamburg 1957–59.
Plotin Plotins Schriften. Griechisch–deutsch. Übersetzt von
Richard Harder. Hamburg 1956–1971. Zitiert unter
Angabe der Enneaden.
Popper 1998 Karl R. Popper: Die Welt des Parmenides. Der Ur-
sprung des europäischen Denkens. München/Zürich
1998.
Reinhardt 2012 Karl Reinhardt: Parmenides und die Geschichte der
griechischen Philosophie. Frankfurt a. M. 52012
(Erstveröffentlichung 1916).
Riezler 2001 Parmenides. Übersetzung, Einführung und Interpre-
tation von Kurt Riezler. Bearbeitet und mit einem
Nachwort von Hans-Georg Gadamer. Frankfurt a. M.
3
2001 (Erstveröffentlichung 1934).

222
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

Schachermeyr Fritz Schachermeyr: Griechische Geschichte. Ent-


1978 wicklung und Zusammenbruch. Erweiterte Ausgabe,
München 1978.
Schadewaldt Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie
1978 bei den Griechen. Tübinger Vorlesungen, Band 1.
Frankfurt a. M. 1978.
Schaeffler 1974 Richard Schaeffler: Verstehen, in: Handbuch philoso-
phischer Grundbegriffe 6 (1974) 1628–1641.
Schäfer 2007 Christian Schäfer (Hg.): Platon-Lexikon. Darmstadt
2007.
Schefold 1959 Karl Schefold: Griechische Kunst als religiöses Phä-
nomen. Hamburg 1959.
Schleiermacher Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik
1977 und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer
Texte Schleiermachers. Herausgegeben und eingelei-
tet von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977.
Schmalzriedt Egidius Schmalzriedt (Hg.): Hauptwerke der antiken
1976 Literaturen. Einzeldarstellungen und Interpretatio-
nen zur griechischen, lateinischen und biblisch-pat-
ristischen Literatur. München 1976.
Schmidt HW Griechisch-deutsches Handwörterbuch herausge-
geben von Johann A. E. Schmidt. Leipzig 21919.
Schmitt 2007 Arbogast Schmitt: Parmenides und der Ursprung der
Philosophie, in: Emil Angehrn (Hg.): Anfang und Ur-
sprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie
und Kulturwissenschaft. Berlin/New York 2007, 109–
139.
Schmitz 1988 Hermann Schmitz: Der Ursprung des Gegenstandes.
Von Parmenides bis Demokrit. Bonn 1988.
Schwabl 1953 Hans Schwabl: Sein und Doxa bei Parmenides, in:
Wiener Studien. Zeitschrift für Klassische Philologie
66 (1953) 50–75.
Snell 1924 Bruno Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wis-
sens in der vorplatonischen Philosophie. Berlin 1924.

223
Indices

Snell 2000 Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur
Entstehung des europäischen Denkens bei den Grie-
chen. Göttingen 82000.
Solmsen 1974 Friedrich Solmsen: Jaeger, Werner, in: Neue deutsche
Biographie. Bd. 10. Berlin 1974.
Sophokles 1966 Sophokles. Tragödien und Fragmente. Griechisch und
deutsch herausgegeben und übersetzt von Wilhelm
Willige †, überarbeitet von Karl Bayer. München
1966. Aj. = Ajax. OC = Ödipus auf Kolonos.
Sprute 1962 Jürgen Sprute: Der Begriff der DOXA in der platoni-
schen Philosophie. Göttingen 1962.
Stemich 2008 Martina Stemich: Parmenides’ Einübung in die
Seinserkenntnis. Heusenstamm 2008.
Stemich Huber Martina Stemich Huber: Heraklit. Der Werdegang
1996 des Weisen. Amsterdam, Philadelphia 1996.
Stenzel 1931 Julius Stenzel: Metaphysik des Altertums. München
und Berlin 1931.
Tarán 1965 Leonardo Tarán: Parmenides. A Text with Translation,
Commentary, and Critical Essays. Princeton, New
Jersey 1965.
Thanassas 1997 Panagiotis Thanassas: Die erste »zweite Fahrt«. Sein
des Seienden und Erscheinen der Welt bei Parmeni-
des. München 1997.
Theunissen 1991 Michael Theunissen: Die Zeitvergessenheit der Me-
taphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5–6a, in:
ders.: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a. M.
1991, 89–130.
Untersteiner Parmenide. Testimonianze e frammenti a cura di
1958 Mario Untersteiner. Firenze 1958.
Verdenius 1964 W. J. Verdenius: Parmenides. Some Comments on his
Poem. Amsterdam 1964.
Verdenius W. J. Verdenius: Der Logosbegriff bei Heraklit und
1966–67 Parmenides, in: Phronesis XI (1966) 81–98; Phronesis
XII (1967) 99–118.

224
Alphabetisches Verzeichnis aller im Buch zitierten Schriften

Vernant 1995 Jean-Pierre Vernant: Mythos und Religion im alten


Griechenland. Frankfurt/New York 1995.
Vetter 2004 Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Unter
Mitarbeit von Klaus Ebner und Ulrike Kadi hg. von
Helmuth Vetter. Hamburg 2004.
Vetter 2014 Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch
zu Leben und Werk. Hamburg 2014.
Volpi 1–2 Franco Volpi (Hg.): Großes Werklexikon der Philoso-
phie. Band 1: A–K. Band 2: L–Z. Stuttgart 1999.
Waldenfels 1997 Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden.
Studien zur Phänomenologie des Fremden 1. Frank-
furt a. M. 1997.
Wiesner 1996 Jürgen Wiesner: Parmenides. Der Beginn der Ale-
theia. Untersuchungen zu B 2, B 3, B 6. Berlin/New
York 1996.
Wilamowitz I–II Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube
der Hellenen. Erster und zweiter Band. Darmstadt
31959.

Wilpert 1989 Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur.


Stuttgart 71989.
Wolf 1950 Erik Wolf: Griechisches Rechtsdenken. Band I: Vor-
sokratiker und frühe Dichter. Frankfurt a. M. 1950.
Wolfram 2010 Friedrich Wolfram: »Wahre Gewissheit« (πίστις
ἀληθής) bei Parmenides. Zur Frühgeschichte des
Themas »Glaube und Vernunft«, in: Hans-Dieter
Klein, Rudolf Langthaler (Hg.): Transzendentale
Konzepte in aktuellen Bezügen. Würzburg 2010,
105–143.

225
Indices

Zeller I/1–III/2 Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer


geschichtlichen Entwicklung. Hildesheim u. a. 1990
(Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1920–1923). I/1 =
Erster Teil. Erste Abteilung. Allgemeine Einleitung.
Vorsokratische Philosophie. Erste Hälfte. I/2 = Erster
Teil. Zweite Abteilung. Allgemeine Einleitung. Vor-
sokratische Philosophie. Zweite Hälfte. II/1 = Zweiter
Teil. Erste Abteilung. Sokrates und die Sokratiker.
II/2 = Zweiter Teil. Zweite Abteilung. Aristoteles und
die alten Peripatetiker. III/1 = Dritter Teil. Erste Ab-
teilung. Die nacharistotelische Philosophie. Erste
Hälfte. III/2 = Dritter Teil. Zweite Abteilung. Die
nacharistotelische Philosophie. Zweite Hälfte.

226
Sachregister

5. Sachregister

A 103, 108, 117, 126, 162, 172, 188,


Allegorese 44, 63, 65 197, 202, 232, 235
Apriori 27, 37 Fragmente 23, 51, 68, 214, 216–218,
Arzt 39, 81 224
Auslegung 88, 99, 217
G
B Ganzheit 196
Bewegung 94, 100, 189 Gedanke, νόημα 114, 174, 182
Beweise 23, 49 Geist 23, 74, 103
Geschichte, Historie 22, 29, 31, 36–
C 37, 213, 215, 217, 222
chthonisch 81 Geschichte der Philosophie 22, 31,
217
D Göttin 15, 36, 42, 53, 60, 71–72, 77–
Denken 17, 98, 104, 111, 135–136, 78, 81–86, 88, 91–93, 116–118,
159, 163, 174, 182, 215, 217, 224 123, 126, 128–129, 132–133, 135–
–, νοεῖν 35, 39, 42–44, 64–65, 79, 95, 137, 141–142, 147–148, 150, 152,
113–116, 127, 144, 160, 164, 166– 154–157, 159–166, 170, 172–176,
170, 178, 182, 191–192, 221–222, 178, 189–190, 193–194, 197–198,
237, 241–247 203, 214, 236–237, 240–242, 247,
Dialektik 49 249–251
Dike, Δίκη, δίκη 113, 156, 177
Doxographie 118, 160, 171, 210 H
Heil 39
E Heilige, das 15, 153, 159, 215
Einheit 36–37, 51 Heliaden 65
Eleaten 45, 51 Hermeneutik 14, 17–18, 20, 212,
Emendation 17 216–217, 223
Entwicklung 23, 27 Herz, ἦτορ 65, 74, 164, 214, 240
Erde 41, 63, 66, 101, 129–130, 138, Himmel 41, 66, 82, 179
140–144, 156, 207, 210
Erfahrung 23, 55, 75, 173 I
Erscheinung 41, 56, 90, 191, Initiation 36
222 Interpretation 22, 34, 36–37, 222
Etymologie 86 Irrtum 142
Examination 17
K
F Klassiker 22, 25
Feuer 63, 66, 73, 97, 116, 129, 138, klassisch 22
141, 151, 155, 207 Kommentar 152
Finsternis 81 Konjektur 17
Forschung, philologisch-historische Kontext 34, 38, 40, 98, 238, 241
9, 17, 24, 29–30, 34–35, 43, 93, Kontextualität 18

227
Sachregister

Kosmologie 15, 24, 43, 63, 99, 128, Philosoph 23, 25, 36, 39, 41, 84, 87,
136, 153, 163, 167, 173, 184, 190, 160, 169, 214, 219
195, 201, 212 Philosophie 9, 22–23, 26, 29, 31, 36–
Kosmos 160, 170, 191, 237, 246 38, 42, 44, 47, 84, 87, 195, 212–213,
Kreis 28 215–219, 221–226, 235–236, 238,
Kritik 17–20, 35, 47, 59, 63, 65, 70, 240–241, 245, 248, 250
99, 107, 162, 164, 184, 196, 202, Philosophiegeschichte 23, 213
223, 238–240 philosophisch 248
Kuros 84, 133, 170 Prozess 36, 41

L R
Lehrgedicht 41–42, 214 Religionsgeschichte 35, 215
Lesarten 10, 68, 77, 91, 98 Rezension 17
Licht 81, 87, 136, 144, 157 Rezeption 49
Logiker, Logik 196 Reziprozität 182
Logos, λόγος 15, 35, 54, 56, 154, 197,
213–214, 221, 238, 250 S
Schein 52, 88, 90–91, 132, 150, 180,
M 191
Menschenverstand, gesunder 20 –, δόξα 124
Metaphysik 210 Schicksal 85, 128, 182, 188
Mischung, κρᾶσις 144, 149 Seele 56, 99
Moment, νῦν 82, 112, 181 Seiendes 97, 112–115, 121, 165, 171,
Mythos 15, 33, 35–36, 42, 46, 48, 92, 177–178, 181–182, 218, 224
105, 112, 116, 123, 154, 157, 161– Sein 35, 39, 41, 49, 52, 67, 90, 93, 95,
163, 173, 176–177, 179, 184, 188, 103, 105–106, 108, 110, 117, 128,
190, 201, 210, 212, 215, 220–221, 157–158, 166, 172, 174, 180–183,
225 188–189, 191–192, 196, 217, 222,
224
N –, εἶναι 42, 52, 59, 129, 134, 160,
Nacht, νύξ 71, 81–82, 116 166–169, 175, 178, 180, 188–189,
Nichts, das, μηδέν 103, 113, 115, 166, 191–192, 196, 215, 220, 223, 235–
172 239, 245–246, 248–249, 251
Nichtseiendes, μὴ ἐόν 113, 177 Sekundärliteratur 9, 20, 169, 202,
Not, χρή 72, 103, 161, 164, 166, 179, 211
194 Selbe, das, ταὐτόν 114, 116, 169, 174,
178, 182
O Selbigkeit 96, 182
Ontologie 26, 217, 222, 235 Situation 14–15, 22, 186
Orphik 156 solarisch 81
Sprache 41
P Sterblichen, die 103, 115–116, 123,
Paradoxien 49 125, 129, 132, 137, 174, 192–194
Persephone 81, 156 –, βροτοί 54, 73, 88–89, 132, 135,
phänomenologisch 200–202, 161, 172, 191
225 Substanz 100
Philologie 23, 222

228
Sachregister

T Z
Tag, ἦμαρ 71 Zeichen, σῆμα 112, 116
Texttypen 34, 37 Zeit 23, 26, 38, 128, 183, 188–189,
207, 217, 224
U Zeit, kosmische 189
Übersetzung 216, 222 Zeitanalyse, Aristoteles 181
Überzeitlichkeit 121 Zirkel, hermeneutischer 19, 70, 152,
unio mystica 158, 161 200
Ursprung, ἀρχή 22
α
V ἀήρ, die untere Luft 82, 101
Venus 149 αἰθήρ, obere Luftschicht 82, 140
Verbergung, λήθη 86 ἄπειρον 102, 118, 207
Vergehen 177 ἅρμα, Streit-, Triumphwagen 79
–, ὄλεθρος 52, 150, 188 ἀρχή, Ursprung, Anfang 123
–, ὄλλυσθαι 115 ἄστυ, Wohnstatt 77, 79
Vertrauen, πίστις 113
Vielfalt 36 β
Vorgriff 23 βροτοί, die Sterblichen 103–104, 108,
Vorsokratiker, VS 22–23, 25, 34, 39, 115, 123, 125, 129, 132, 137, 150,
55, 214, 216, 220 174, 192, 194
Vorurteil 195
γ
W γνώμη, Wissen 116, 151
Wahrheit 10, 18, 43–44, 48, 52, 60–
61, 65, 88, 93, 99, 132, 136, 145, δ
154, 157–158, 160, 162, 164–165, δαίμων, Göttin 71
172, 177, 180, 183, 193, 196, 198– διαίρεσις 56
199, 201, 215–216, 222, 234, 237, διάκοσμος, Einrichtung 116, 135,
240–241, 243, 248–249, 251 162
–, ἀλήθεια 31, 73, 78, 92, 116, 132, δίκη 65, 72, 83, 85, 113, 124, 156, 161
161, 164, 194 δόκιμος, erprobt, bewährt 90
Wahrnehmung 61, 64, 67 δοκοῦντα, das, was erscheint 73, 88
Weg, ὁδός 36, 71–72, 76–77, 107, δόξα, Erscheinung, Meinung, Schein
113 65, 73, 87, 89, 116, 126, 132–133,
Welt 80, 97, 100, 136, 224 161–162, 189–190, 200
–, κόσμος 51, 89, 97, 116, 133, 143,
150, 160, 162, 170, 172, 175, 179– ε
180, 189–191, 215, 220, 222, 235– εἶναι, sein 115, 128
236, 238, 246
Weltgeschichte 28 η
Werden, γίγνεσθαι 52, 114, 150, Ἡλιάδες, Töchter des Helios 64, 71,
177, 188 80, 161
Wort 72, 195
–, ἔπος 36, 41, 72, 78, 97 θ
θυμός, Mut 70–71, 74, 76

229
Sachregister

κ νῦν 121, 180–181


καλύπτω, verhüllen, verbergen 82 νύξ, Nacht 82
κόρη, Mädchen, Jungfrau 79, 81
κοῦραι, Mädchen 64, 71–72 ο
κοῦρος, Jüngling 84 ὁδός, Weg 76
κρᾶσις, Mischung 144–145, 147 ὁμοῦ 180–181

λ π
λήθη, Verbergung, Verborgenheit 86 πᾶν 101, 121–122, 180–181
λόγος 54–55, 72, 109, 111 πέμπειν, geleiten 71
Περὶ Φύσεως 40–41, 51
μ πίστις, Vertrauen 73, 87–89, 113–
μοῖρα 114, 124, 126, 132–133, 161, 172,
–, Geschick 72, 85, 128 174, 183, 192
–, Schicksal 85, 104, 128, 182–183, πολύφημος, bedeutend 64, 71
189 πολύφραστος, vielverständig 71, 161
μῦθος 58, 111, 163, 179
σ
ν σῆμα, Zeichen 179–180
νοεῖν σῦριγξ 79
–, Denken, das 95–96, 103–104, 114–
115, 126–127, 166–170, 172–173, φ
182, 192, 231, 233, 235, 237, 243– φύσις 55, 66, 179
245 –, »Natur« 39, 41, 144, 148
νόημα φώς, Mann (wissender) 71
–, Gedanke 99, 105, 114, 116, 126–
127, 135, 144, 169–170, 174, 182 χ
χάσμα, Kluft 84, 157

230
Alfred Dunshirn:
Neuere Literatur zu Parmenides

Besprochen werden im Folgenden sieben Monographien, die – in den


Jahren 2004 bis 2011 erschienen – zum Teil Retraktationen bekannter
Parmenidesforscher und zum anderen bisher wenig beachtete Werke
darstellen, die originelle Ansätze zur Lösung einiger cruces interpre-
tum aufweisen. So bieten die Werke von Néstor-Luis Cordero und
Panagiotis Thanassas die Gelegenheit, Grundpositionen dieser Ge-
lehrten, die sich seit Jahrzenten mit den Fragmenten des Eleaten aus-
einandersetzen, in verdichteter Form erneut nachzuvollziehen.
Der Nachdruck von Alexander Mourelatos’ grundlegendem
Werk erscheint an sich schon willkommen, war die Ausgabe aus dem
Jahr 1970 doch seit geraumer Zeit vergriffen. Zusätzlich versammelt
die Neuauflage drei Aufsätze, denen man wichtige Stationen von
Mourelatos’ weiterer Ausarbeitung seiner Parmenidesinterpretation
entnehmen kann. Darüber hinaus macht das Buch ein bislang unver-
öffentlichtes Manuskript von Gregory Vlastos zugänglich.
Auf wenig Resonanz stießen in der Parmenidesforschung bis da-
to die sehr unterschiedlichen Arbeiten von Frank Haase, Martina Ste-
mich und Riccardo Di Giuseppe. Haases Büchlein ist der Schlusspunkt
einer Reihe von medientheoretischen Arbeiten desselben Verfassers
zu verschiedenen antiken Autoren. Stemichs postum edierte Habili-
tationsschrift widmet sich dem Pädagogischen in Parmenides’ Lehr-
gedicht, das diese Bezeichnung zu Recht trage – ein Werk, das nicht
einmal in die akribisch ausgearbeitete Dissertation von Maria Mar-
cinkowska-Rosół Eingang fand, die in Bezug auf die Protreptik bei
Parmenides teilweise zu ähnlichen Ergebnissen wie Stemich kommt.
Generell bietet diese Doktorarbeit zu vielen der zentralen Fragmente
in nuce Forschungsberichte – Marcinkowska-Rosół führt wiederholt
zu einzelnen Text- oder Interpretationsproblemen die verschiedens-
ten Positionen minutiös an, sodass ihre Arbeit nicht nur für das The-
ma des νοεῖν als Standardreferenzwerk gelten kann.
Nicht zufällig bildet Di Giuseppes Buch den Abschluss dieses

231
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

kleinen Literaturberichts. Es kann in vielerlei Hinsicht als das bahn-


brechendste der genannten Werke gelten, unternimmt doch der
Autor darin – stets aufbauend auf einer Auswertung der jahrhunder-
telangen Forschung zu Parmenides – in Verknüpfung von philologi-
schen, religionsgeschichtlichen, historischen und philosophischen
Forschungen eine neue Gesamtdeutung des parmenideischen Ge-
dichts als vielschalige Sphaira.

Néstor-Luis Cordero: By Being, It Is. The Thesis of Parmenides. Las


Vegas: Parmenides Publishing 2004.
Dieses Buch ist das dritte in einer Reihe von Werken von Néstor-
Luis Cordero, in denen er sich in unterschiedlichen Hinsichten mit
der Überlieferung von Parmenides’ Fragmenten auseinandersetzt.
Zum einen beleuchtet er die Zitierung des Parmenides bei antiken
und spätantiken Autoren, zum anderen hat er die handschriftliche
Tradition neu kollationiert.
Das Buch aus dem Jahr 2004 beginnt mit biographischen For-
schungen zu Parmenides, die vor allem die Unsinnigkeit der philoso-
phiegeschichtlichen Unterscheidung von ionischen und italischen
Naturphilosophen zeigen soll, da Parmenides der Spross einer pho-
käischen Pflanzstadt war.
Das zweite Kapitel widmet sich einer gründlichen Darlegung der
Bildlichkeit des Proömiums, wobei C. unter anderem die Überliefe-
rungsprobleme des dritten Verses von Frg. 1 in Erinnerung ruft und
sich ausführlich mit den Toren von Tag und Nacht befasst.
Das dritte Kapitel rekapituliert verschiedene Möglichkeiten, wie
das »ist« und »ist nicht« in Frg. 2 verstanden werden kann. Von den
vier Möglichkeiten, die C. auflistet, propagiert er die letzte. Das sub-
jektlose ἔστιν sei weder einem Überlieferungsfehler geschuldet
(Möglichkeit 1), noch müsse man das Seiende von Anfang an als Sub-
jekt ergänzen (Möglichkeit 2), noch sei es völlig subjektlos (Möglich-
keit 3, wie sie Mourelatos postuliere), vielmehr sei das Subjekt ana-
lytisch aus dem betont hingestellten ἔστιν zu erschließen (vgl. z. B.
S. 53).
Kapitel vier referiert Überlegungen der jüngeren Zeit zur Gram-
matik des Verbums εἶναι und setzt sich dann ausführlich mit der
Negation der – wie der Autor sie bewusst nennt – These des ἔστιν

232
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

auseinander, wobei zahlreiche Denker und Logiker zu Wort kommen,


die einen Vorrang der Behauptung vor jeder Negation betonten.
Im knappen Kapitel fünf arbeitet C. anhand der Reziprozität von
εἶναι und νοεῖν die Grundlagen von Parmenides’ »theory of knowl-
edge« heraus. Bemerkenswert ist sein Hinweis auf die allgemein
wenig beachtete Lesart für Frg. 8, 35 ἐφ’ ᾧ, welche auf die Proklos-
Tradition zurückgeht.
Der auf dieses Kapitel folgende Abschnitt wirbt für die Akzep-
tierung der Lesart der Simplikios-Handschriften von Frg. 6, 1: τὸ λέ-
γειν τὸ νοεῖν sowie für die Auffassung der ersten beiden Verse dieses
Fragments als Ausdruck nur des ersten Weges und nicht zweier We-
ge, nach denen im weiteren Fragment ein dritter geschildert werde.
Diese Festlegung auf (nur) zwei Wege führt konsequenterweise zu
der Fragestellung, wie sich die Verse drei und vier anschließen kön-
nen, eine Frage, die in der Parmenidesforschung wiederholt verhan-
delt und beispielsweise durch Annahme einer Lücke erklärt wurde.
Der Verfasser sucht die Lösung wiederum in der Überlieferung, kon-
kret zweifelt er die Angemessenheit von Diels’ Konjektur εἴργω in
Frg. 6, 3 an. C. schlägt als Konjektur ἄρξει vor (S. 124), ein Text, der
gut mit dem »Beginnen« aus Frg. 5 korrespondiere.
Kapitel sieben und acht bemühen sich um eine Widerlegung der
Annahmen eines dritten Weges. Der Autor wendet sich hier gegen
die unparmenideische Auffassung des Doxa-Teiles als Ausdruck des
»Way of Seeming« (S. 140). Mit δόξα sei bei Parmenides ausschließ-
lich die Meinung der Sterblichen bezeichnet, die stets falsch sei (eine
ἀληθὴς δόξα ist demnach für Parmenides – im Gegensatz zu Platon –
nicht denkbar, vgl. S. 154). C. befasst sich in diesem Zusammenhang
auch mit Frg. 8, 53 und der Frage, ob das Zahlwort δύο in diesem Vers
zu μορφάς oder γνώμας gehöre; er plädiert für zweitere Variante, da
dadurch zum Ausdruck komme, dass die Sterblichen (fälschlich) zwei
»Kriterien« (so fasst C. γνώμη) annähmen (S. 156).
Das Abschlusskapitel widmet sich dem wahren Weg und den
σήματα, die vor einem raum-zeitlichen Verständnis bewahrt werden
sollen, wie dies z. B. Melissos’ Aussagen nahelegen, der der Begrün-
der des realen Monismus sei.
In diese Richtung argumentiert auch der Epilog, der sich noch
einmal – und damit kommt C. auf seinen Ausgangspunkt zurück –
mit der antiken Überlieferung zu Parmenides auseinandersetzt. Er
zeichnet nach, wie mit Platon beginnend eine eleatische Schule kon-
struiert wurde, die es als solche nie gegeben habe. Melissos und

233
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

Zenon seien jedenfalls nicht als Schüler oder Erben des Parmenides
anzusehen.

Panagiotis Thanassas: Parmenides, Cosmos, and Being. A Philosophi-


cal Interpretation. Milwaukee, Wis.: Marquette University Press
2007 (Marquette Studies in Philosophy; 57).
Der schmale Band widmet sich nach einer kurzen Einführung in
die Zeugnisse zum Leben des Parmenides und einer Übersicht über
dessen Fragmente der Zusammenschau der antiken Auseinanderset-
zung mit dem sogenannten Doxa-Teil und dem Einfluss von Platons
Charakterisierung des grundlegenden parmenideischen Gedankens
als ἓν καὶ πᾶν (S. 14).
Am ausführlichsten jedoch referiert Panagiotis Thanassas in der
Einleitung Karl Reinhardts bahnbrechendes Werk zur Würdigung
des Doxa-Teiles, das selbst aber noch in den Bahnen von Hermann
Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff bleibe, wenn es die
Doxa als Illusion betrachte (S. 20); dem Doxa-Teil müsse in der Deu-
tung des Gedichts seine eigenständige Bedeutung zuerkannt werden.
Zu einer solchen Interpretation macht sich Th. anhand einer
Auslegung der Endverse von Frg. 1 auf, wobei er Mourelatos’ Text-
gestaltung des Verses mit περ ὄντα aufgreift. Das hier im Partizip
ὄντα vorhandene Verbum sei nicht kopulativ, sondern in seiner Voll-
form als einer »absolute syntactic construction« zu verstehen (S. 24).
Dadurch sei der Übergang vom Bereich der Meinungen der Sterb-
lichen zur ontologischen Wahrheit geebnet (S. 25), für die zu beden-
ken bleibe, dass beide Wege sowie die ontologischen Kategorien des
Seins und Nichtseins zusammengehörten, wenngleich das nicht be-
deute, dass letztere der ersteren ebenbürtig sei (S. 28).
In seiner Übersicht über die verschiedenen Auffassungen der
Bedeutung des ἔστιν in der Formulierung der zwei alternativen
Routen (als verbum substantivum, als Kopula, als spekulative Prädi-
kation nach Alexander Mouraletos etc.) in Kapitel drei bringt Th. die
interessante Überlegung vor, dass, sollte für das ἔστιν ein Subjekt
gesucht werden, nur die δοκοῦντα dafür in Frage kämen (Anm. 4,
S. 31 f.). Seiner Auffassung nach sei das ἔστιν in Frg. 2, 3 jedoch ab-
solut gebraucht.
Die Diskussionen und Selbstkritiken von so wichtigen Theoreti-
kern der Bedeutung des Seins wie Kahn hätten deutlich gemacht, dass

234
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

das Sein, wie es von Parmenides eingesetzt werde, einen »exceptional


use« darstelle (S. 35).
Dennoch sei mit diesem außergewöhnlichen Gebrauch keine
Verabschiedung von der Sprache, sondern vielmehr eine Reinigung
derselben gegeben. Durch den Verweis auf die Wichtigkeit des νοεῖν
sei das Sprechen vom Sein aus seiner Alltäglichkeit herausgehoben,
wo »sein« unauffällig verschiedensten Dingen zugesprochen werde.
Mit der Betonung des νοεῖν werde angezeigt, dass nur dieses das Sein
adäquat fassen könne, da es über das unmittelbar Gegebene hinaus
auch das Abwesende bewahre. Th. unternimmt hier eine wertvolle
Bestimmung von Parmenides’ Idealismus, bei der er darauf hinweist,
wie dieser nicht verstanden werden sollte (beispielsweise im Sinn von
George Berkeley, S. 40).
Im vierten, den σήματα gewidmeten Kapitel stellt sich der Autor
in die Reihe derjenigen Gelehrten, die betonen, das ἐόν sei aus-
schließlich verbal zu verstehen. Das Partizip bezeichne nicht einen
»massive ›block‹ of Being«, sondern zeige die Charakteristiken an,
wie die seienden Dinge in der Welt »sind«, weshalb es gut mit dem
aristotelischen ὂν ᾗ ὄν vergleichbar sei (S. 45). In der Bemühung um
die Betonung des Zeichencharakters der σήματα (gegenüber Inter-
preten, die im Fragment 8 das Herzstück der parmenideischen Phi-
losophie sehen) streicht Th. aber die Unterschiede zwischen Aristote-
les’ Ontologie und dem eleatischen Projekt heraus (S. 55).
Die beiden Schlusskapitel zur Doxa und zum Verhältnis dieser
zur Aletheia leitet der Verfasser mit Betrachtungen zum Adjektiv
ἀπατηλός ein: Es beziehe sich lediglich auf die Verse 53 bis 59 des
achten Fragments. Korrekt sei es, gegenüber der trügerischen Ansicht
der Sterblichen, die zwei voneinander getrennte Prinzipien festsetz-
ten, eine Einheit der verschiedenen Formen anzunehmen. Deshalb
übersetzt Th. die viel diskutierte Vershälfte 8, 54a – in der Nachfolge
von Hans Schwabl – folgendermaßen: »a unity of which is not [dee-
med] necessary [to name]« (S. 66).
Anstelle der vor allem von Cordero als unhaltbar erwiesenen
Konjektur von Diels’ εἴργω in Frg. 6 schlägt Th. ein »I will convey«
vor, ohne einen Textvorschlag für das Original zu machen. Nicht je-
doch folgt er Cordero in der Argumentation, dass es keinen dritten
Weg gebe. Für Th. stellt die Rede von einem dritten Weg keinen Wi-
derspruch zu Frg. 2 dar, da der hier geschilderte Pfad kein Weg der
Forschung, sondern die Schilderung des Herumstreunens der unent-
schiedenen, doppelköpfigen Menschen sei. Ihrem Tun gegenüber sol-

235
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

le in der »positiven« Doxa die Phänomenalität der einen Welt und


nicht einer zweiten, neben dem Sein bestehenden Welt thematisiert
werden. Das Ende des Kapitels bildet eine Auseinandersetzung mit
dem Proömium und seiner Anrede der Göttin an den Jüngling, das
vor allem in Hinblick auf den Ursprung der Philosophie betrachtet
wird.
Die Appendix bietet eine englische Übersetzung der Fragmente.

Alexander P. D. Mourelatos: The Route of Parmenides. Revised and


Expanded Edition, with a New Introduction, Three Supplemental Es-
says, and an Essay by Gregory Vlastos. Las Vegas/Zurich/Athens:
Parmenides Publishing 2008.
Es handelt sich bei diesem Band großteils um einen Nachdruck
von Alexander Mourelatos’ The Route of Parmenides aus dem Jahr
1970, in dem die Seitenzählung der Erstausgabe beibehalten, Druck-
fehler geändert und Formulierungen adaptiert wurden.
Das dem Wiederabdruck vorangestellte Vorwort gibt ausführlich
Auskunft über die intellektuelle Entwicklung des Verfassers, von sei-
ner Dissertation in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in Yale zu
dem vorliegenden Buch, von einer Standardinterpretation des Parme-
nides als eines Vertreters des »Einen« zu seiner Deutung als eines
Denkers des »was ist« (vgl. S. XIX). M. informiert bei dieser Gelegen-
heit die Leserschaft auch über seine philosophische Orientierung an
Wittgenstein und Kant.
Der erste Abschnitt des wiederaufgelegten Werkes, das M.’ über-
arbeitete Dissertation darstellt, bietet einen einleitenden philologi-
schen Teil mit einer Darstellung von Parmenides’ sprachlichen Anlei-
hen bei Homer und Hesiod; der Autor stellt danach wertvolle
literaturwissenschaftliche Überlegungen zur Abgrenzung eines »Mo-
tivs« von einem »Thema« an. Es folgt eine eingehende Auseinander-
setzung mit der Frage nach der Bedeutung des Seins, in der M. – wie
er dies durchgängig in diesem Œuvre hinsichtlich verschiedener grie-
chischer Begriffe tut – sehr behutsam verschiedenste Deutungen ge-
geneinander abwägt, um schlussendlich zu einer eigenen zu kommen.
Im Fall des Wortes »sein« schlägt er vor, es als spekulatives Sein auf-
zufassen, wobei er explizit Bezüge zu Hegel ausschließt. Vielmehr
geht es ihm darum, mit der Deutung des Seins als »what-is« in ge-
wisser Weise die vielfach besprochenen Erscheinungsformen des

236
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

Wortes »sein« als Kopula, Definition (Subsumption unter eine Gat-


tung) und existenzielles Sein zusammenzuführen zu einem Sein, das
ausdrückt, was etwas in Wahrheit ist.
Im dritten Kapitel erfolgt eine kluge Abwägung der verschiede-
nen Übersetzungen von Frg. 8, 54 (τῶν μίαν οὐ χρεών ἐστιν). Die
Leser mögen mit seiner Unterstützung der weit verbreiteten Auffas-
sung der Bedeutung dieses Verses, dass es eine (das μία im Sinn von
ἑτέρα aufgefasst) Form nicht geben sollte, nicht einverstanden sein,
sie erhalten aber jedenfalls Anregungen zum Neudurchdenken dieses
vielleicht unübersetzbaren Abschnittes.
Daran schließt sich der Durchgang durch die Aufreihung der
σήματα mit detaillierten Beobachtungen zum Vokabular (z. B. κι-
νεῖν) sowie der Struktur der Verse und Argumentationsgänge.
Zwei Kapitel zu den Begriffen πίστις und δόξα, in denen M.
anhand zahlreicher Belege aus der Dichtung vor und nach Parmeni-
des eindrucksvoll die Reziprozität und Vielstimmigkeit von Wörtern
der Wortfamilien der Wurzeln πειθ- und δεχ- aufzeigt, rahmen
einen Abschnitt über das Verhältnis von νοεῖν und εἶναι. Zu hinter-
fragen ist wohl seine Übersetzung von Frg. 8, 34: »is to be thought«
(S. 166). Diese lässt vielleicht die Betonung der Selbigkeit von Den-
ken und dem, worumwillen Denken ist, unterbelichtet zugunsten der
Auslegung des Verses in dem Sinn, dass das ταὐτόν, worunter das ὄν
der vorhergehenden Verse zu verstehen sei, denkbar sei.
Wenig Zustimmung in der Forschergemeinschaft hat in den vier
Jahrzehnten seit seiner ersten Veröffentlichung M.’ Deutung von
Frg. 1, 32 gefunden (mit dem von ihm anstelle des περῶντα vertrete-
nen περ ὄντα, S. 214). Sosehr M.’ Textgestaltung der Sache nach be-
rechtigt sein mag, so unterschätzt er eventuell die Möglichkeit, dass
die Göttin davon sprechen kann, wie es kommen konnte (χρῆν – not-
wendig war, nicht unbedingt nur kontrafaktisches »wie es hätte sein
sollen«, vgl. S. 205 ff.), dass die δόξαι »akzeptierterweise« alles
»durchdrungen« haben (wenngleich seine Einwände gegen die Auf-
fassung von περᾶν als »durchdringen« im übertragenen Sinn beden-
kenswert sind).
Gerahmt wird M.’ Route durch ein Kapitel über die trügerische
Doxa, in dem er – ähnlich wie im Eingangskapitel über Motive und
Themen – ein bis dahin seiner Ansicht nach zu wenig beachtetes li-
teraturwissenschaftliches Konzept bemüht, nämlich die Ambiguität
und Ironie. So kann er gut die doppelte Verstehbarkeit der Äußerun-
gen zum trügerischen Kosmos begründen.

237
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

Der zweite Teil dieser Neuausgabe versammelt den Nachdruck


dreier Aufsätze von M. und die erstmalige Veröffentlichung eines
Textes von Gregory Vlastos. Der erste der hier abgedruckten Aufsät-
zen von M. (»Heraclitus, Parmenides, and the Naïve Metaphysics of
Things«, S. 299–332) 1 geht der Frage nach, inwieweit sich eine »Naï-
ve Metaphysics of Things« in der vorphilosophischen Sprache und
Literatur findet und in welchem Ausmaß sich Philosophen in ihrer
Argumentation auf eine derartige naive Metaphysik (als Kontrast-
folie zu ihren eigenen Theorien) beziehen. Heraklit habe gegenüber
der Annahme von unabhängig existierenden »character-powers«
(S. 301) die Sicht einer Logos-strukturierten Welt vertreten. Aller-
dings würden die von ihm vorgebrachten Vermittlungen von Gegen-
sätzen oft mehr zu einer Seite des Gegensatzes tendieren, was ihn für
die Kritik des Parmenides anfällig gemacht habe. Dieser hätte die zu
wenig radikale Trennung der Formen durch die Sterblichen kritisiert.
M. erwägt in diesem Aufsatz als mögliche Bedeutung des εἶναι
in der frühgriechischen Philosophie diejenige von »introduction and
recognition« (S. 303, wie sie sich in Sätzen wie »Das ist Klaus.«
zeige). Daher sei auch die Abwehr des Weges des Nicht-Seins erklär-
bar, weil sich aus der Verneinung von Namen im Unterschied zur
Verneinung von Prädikaten keine neue (sinnvolle) Aussage ergebe
(M. illustriert dies am Beispiel der Suche nach Nicht-Ithaka, die un-
vollendbar und unsagbar wäre, S. 328).
Der zweite Aufsatz (»Determinacy and Indeterminacy, Being
and Non-Being in the Fragments of Parmenides«, S. 333–349) 2 ver-
tieft diese Auffassung von Sein als demjenigen, das mehr oder weni-
ger mit Eigennamen bezeichnete Objekte einführe, wie Helden oder
Inseln, die bestimmte Beschaffenheiten hätten. Im Kontext derartiger
»Namen« sei es sinnlos, Negationen von ihnen angeben oder mit die-
sen etwas benennen zu wollen.
Der dritte von Mourelatos’ wiederabgedruckten Aufsätzen
schließlich (»Some Alternatives in Interpreting Parmenides«,
S. 350–363) 3 bietet einerseits eine Übersicht über die Standardinter-
pretation des parmenideischen Gedichtes, wie sie sich in den 60er und

1 Ursprünglich erschienen in: E. N. Lee, A. P. D. Mourelatos, R. M. Rorty (Hg.): Exe-


gesis and Argument. Studies in Greek Philosophy presented to Gregory Vlastos.
Assen/New York 1973, 16–48.
2
Ursprünglich erschienen in: R. A. Shiner, J. King-Farlow (Hg.): New Essays on
Plato and the Pre-Socratics. Guelph, Ontario 1976, 45–60.
3
Ursprünglich erschienen in: The Monist 62 (1979) 3–14.

238
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

70er Jahren des 20. Jahrhunderts ergeben habe – eine solche Zusam-
menschau ist an sich schon von Interesse, wenn sie von einem so
gründlichen Kenner der Forschungen wie M. unternommen wird. Er
versucht jedoch darauf aufbauend, die Schwächen dieser Deutung zu
zeigen. Die Standardinterpretation sei vor allem deshalb unbefriedi-
gend, weil sie weite Teile des Gedichts nicht erklären könne, sie nicht
beachte oder sie für ihre Deutung nicht bräuchte. M. schlägt Alterna-
tiven dazu vor, die wieder in seinem Seinsverständnis gründen, aber
auch in einer erneuten Herausstellung dessen, wie er die (zu wenig
radikale) κρίσις der Menschen versteht.
Um zu zeigen, warum die Trennung von Licht und Dunkel pro-
blematisch ist, rekurriert er auf die Unterscheidung von »constituti-
ve« und »supervenient negation« (S. 358). Die in den von den Sterb-
lichen vorgebrachten Gegensätzen impliziten Verneinungen seien
constitutive, womit sie sich aber wieder das Problem der Sinnlosigkeit
der Verneinungen von Namen einhandelten. Zur Illustration zieht
M. den bekannten Pindarspruch von den Menschen als Schatten he-
ran, wo Pindar – kongruent zu Parmenides’ Auslassung der Subjekt-
und Objektstelle in seinem Reden vom Sein – die Sein-Stelle in Fra-
gen wie τί δέ τις; und τί δ’ οὔ τις; unausgesprochen gelassen und
damit die Unentschiedenheit der Menschen zum Ausdruck gebracht
habe (S. 360); in diese Richtung könnte man auch die Kritik an Ana-
ximanders A-peiron formulieren, das ein Paradebeispiel für etwas
Unergründliches und Unaussprechbares sei.
Der hier erstmals abgedruckte Aufsatz aus dem Nachlass von
Gregory Vlastos, »›Names‹ of Being in Parmenides« (S. 367–390),
setzt mit einer Diskussion der Problematik des ὄνομ(α) ἔσται vs.
ὠνόμασται (Frg. 8, 38) ein und argumentiert zugunsten der von
Woodbury vertretenen Textgestaltung ὀνόμασται. Vlastos zeigt auf,
dass die gepressten Übersetzungen von Diels und anderen im Sinne
von »bloße Namen« für ὄνομα keine Parallelen im Griechischen
haben.

Martina Stemich: Parmenides’ Einübung in die Seinserkenntnis.


Heusenstamm: Ontos 2008 (Topics in Ancient Philosophy; 2).
Martina Stemich betrachtet in diesem Buch, das ihre postum
erschienene Habilitationsschrift darstellt, die Fragmente des Parme-
nides aus lerntheoretischer Sicht – wie es möglich sei, mit dem Kou-

239
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

ros den Standpunkt der Göttin einzunehmen. Zum anderen fragt sie
nach dem »Geisteszustand des Erkennenden« (S. 9).
Sie deutet das Proömium im Sinne ihrer Betonung der Form des
Lehrgedichts als Ausdruck einer geistigen Veränderung, die weder
Resultat einer Ana- noch einer Katabasis sei, sondern eine graduelle
Entwicklung anzeigt, die auch anderen zugänglich ist. Auf ein hierar-
chisch gegliedertes Schüler-Lehrerin-Verhältnis deuteten die zahlrei-
chen Imperative und andere sprachliche Signale hin, die erst in den
Doxa-Fragmenten von einem »unpersönlichen Bericht« abgelöst
würden (S. 53). Ihre Vorüberlegungen zum Lerncharakter des parme-
nideischen Gedichtes abschließend skizziert St. den »kulturellen Hin-
tergrund zu Parmenides’ Selbstdarstellung« (S. 54), wobei sie auf das
homerische Ich, die vorsokratische Philosophie als Überwindung Ho-
mers und die Wissenssuche des Kouros eingeht. Diese Exkurse sind
jedoch stark generalisierend, beispielsweise wird das inzwischen viel-
fach angezweifelte Diktum vom homerischen Menschen, der keine
freien Handlungen setzen könne, unkritisch wiederholt und ihm der
»vorsokratische« Denker ziemlich holzschnittartig gegenübergestellt
(vgl. S. 55).
Wichtig für St.s weitere Untersuchung ist ihre Positionierung
des Kouros zwischen reiner Passivität und vollständiger Autonomie.
Er werde einerseits auf den Weg der Wissenssuche geführt, beschrei-
te ihn aber auch freiwillig (S. 63).
Das dritte Kapitel widmet sich dem »Lernversprechen« der Göt-
tin und ihrem »Lernauftrag« an den Jüngling (S. 67), wie er in den
Versen 28 bis 30 von Frg. 1 formuliert sei. Die Verfasserin analysiert
gründlich einzelne Wörter dieser Zeilen wie das πυθέσθαι oder
ἦτορ. Gemäß ihrem Programm der Frage nach den lerntheoretischen
Implikationen der Fragmente deutet sie diese Verse als Anleitung für
den Menschen, sowohl die vielfältigen »Scheinmeinungen« (dazu
S. 88–98) wie auch das »unerschütterliche, überzeugende Herz der
Wahrheit« zu erlernen (S. 87). Es gebe einen »dynamischen Bezug«
(S. 97) dieser Bereiche aufeinander. Die ihnen korrespondierenden
Erkenntnisweisen der Sinneswahrnehmung und des Geistes sollten
durch die Kritik der Göttin an den Sterblichen nicht gegeneinander
ausgespielt, sondern im Menschen verbunden werden (S. 98).
Im Folgekapitel beleuchtet die Autorin die Grundlagen der er-
zieherischen Praxis zu Parmenides’ Zeit, nämlich die homerisch-he-
siodeische Epik, die pythagoreischen Bildungskonzepte und das
athenische Erziehungsideal, um Parmenides schließlich zwischen

240
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

homerisch und platonisch geprägter Erziehungspraxis zu positionie-


ren (vgl. S. 116).
Das fünfte Kapitel befasst sich mit einer vertieften Betrachtung
des Lernauftrags der Göttin, der in einzelne Lernschritte am Weg hin
zur Seinserkenntnis gegliedert werden könne, nämlich in das Ken-
nenlernen der Doxai, ihr Verinnerlichen und das kritische Beurteilen
des Gelernten.
Der anschließende Abschnitt umfasst bemerkenswerte Beobach-
tungen zum vergleichsweise selten diskutierten Frg. 16. St. konzen-
triert sich auf den Ausdruck der κρᾶσις, der (rechten) Mischung der
(Körper-)Glieder. Bezogen auf das Thema der Seinserkenntnis bedeu-
te diese Textstelle einen Auftrag an den Jüngling, wie er durch seinen
νόος die »viel schwankenden Glieder« zu einer Einheit bringen
(S. 149) und sie somit einer Eigenschaft des Seins (nämlich dem οὐ-
λομελές) entsprechend werden lassen solle (S. 169). Diese Passage
liefert auch ausführliche Erläuterungen zum Terminus κρᾶσις in
der Philosophie und im medizinischen Kontext (v. a. S. 159 ff.).
Der Deutung von Frg. 16 entsprechend wird im siebten Kapitel
Frg. 4 als Aufforderung zur »Wahrnehmung der Einheit« interpre-
tiert (S. 170), wobei die Autorin dem genauen Bedeutungsgehalt von
λεύσσειν nachgeht.
Im letzten Kapitel vor der abschließenden Zusammenfassung
wird noch einmal ein Kernthema der Parmenidesfragmente aus der
Sicht des lernenden Kouros betrachtet, nämlich die σήματα, die »ein-
zig dem besonderen Denken des Kuros zugänglich« seien (S. 210).
Das Abschlusskapitel widmet sich der Frage, ob Parmenides’
Denken als ein Beitrag zur »Lebenskunst« betrachtet werden kann
und inwiefern es mit Heraklits »Weisheitssuche« vergleichbar ist
(S. 219). Jedenfalls sei die Erkenntnisbewegung, wie sie in den Frag-
menten geschildert ist, nicht als Erleuchtungserlebnis zu fassen. Es
sei ebenso problematisch, in sie Therapeutisches im modernen oder
im Sinn hellenistischer Philosophenschulen hineinzulesen, jedoch
könne das »Bildungsgeschehen im Lehrgedicht zu Recht therapeu-
tisch angelegt genannt werden« (S. 223).
Sowohl Heraklit als auch Parmenides würden einen Aufbruch zu
möglicherweise paradoxen Erkenntnissen beschreiben und die höchs-
te Wahrheit für erreichbar halten (S. 224–227). In der Zusammenfas-
sung ihrer Ergebnisse stellt St. das von ihr Gezeigte den bisherigen
Äußerungen zu pädagogischen Ansätzen in der frühen griechischen
Philosophie gegenüber und betont zum Abschluss eindringlich die

241
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

notwendige Rückbeziehung der ἀλήθεια, von der die δαίμων spricht,


auf den Menschen: »Die vorliegende Untersuchung führt die eleati-
sche Lehre auf den Menschen zurück. Sie erklärt die Wahrheit der
Göttin als Wahrheit für den Menschen […]« (S. 234).

Frank Haase: Unterwegs im Medium Denken – Parmenides. Mün-


chen: kopaed 2010 (Medienwissenschaft in Theorie und Praxis; 6).
Das Büchlein (dessen griechische Zitate fast durchwegs einer
Korrektur bedürfen) bildet den Abschluss einer Reihe von Studien
des Verfassers zur Medialität des Denkens bei antiken Autoren wie
Homer und Platon. Den Ausgang nahmen diese Untersuchungen –
darüber informiert das Vorwort dieser Abhandlung zu Parmenides –
von Jacques Derridas Grammatologie und dessen »These von der
Schriftfeindlichkeit der abendländischen Metaphysik« (S. 8). Frank
Haase betrachtet unter diesen Vorzeichen Parmenides’ Dichtung in
eigentümlicher Weise als System, dessen Ausdruck die σήματα sei-
en, die nämlich ein Zeichensystem darstellten.
Überhaupt kann gesagt werden, dass H. mehrere originelle Ant-
worten zu alten Fragestellungen zu περὶ φύσεως vorbringt, so bietet
er etwa in der Mitte des Buches eine Lösung des Rätsels, wer sich
hinter der θεά verbirgt (S. 53).
Zunächst setzt er sich allerdings eingehend mit dem Proömium
auseinander. In Hinblick auf dessen Auslegungsgeschichte befragt er
kritisch die oftmals anzutreffende Gleichsetzung des parmenidei-
schen Einleitungstextes mit Musenanrufen bei Homer oder Hesiod.
Der Dichter zeige sich gegenüber jenen Vorläufern bewusst nicht als
von der Muse inspiriert, es gebe keine Dichterweihe oder Musen-
anrufung (S. 23). Dies betont der Autor, weil daraus erhelle, dass der
Dichter oder der sich im Proömium aussprechende Kouros nicht als
Medium des Göttlichen zu verstehen sei. Vielmehr werde von der
Göttin das »eigenständige Nachdenken« gefordert (ebd.).
Daneben geht H. auf die Elemente der (Heim-)Reise und Techne
(wie die der Wagenfahrt) ein, die Untersuchung mündet schließlich
in eine Erinnerung an die Entdeckung der Medialität qua Zahl bei
Pythagoras. Sie schreitet dann zu einer Auseinandersetzung mit Zahl
und Schrift bei Platon fort und schließt somit den Kreis des Projekts.
Der oben angesprochene Vorschlag zur Deutung der Göttin, die
den Kouros anspricht, besagt, dass es sich nicht um eine unbestimmt

242
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

bleibende θεά handle, sondern um die Titanin Thea, die in Rückgriff


auf Hesiods Theogonie als »Wesenheit des Unterschieds« verstanden
werden könne (S. 54).
Gegen Ende des Buches (S. 88 ff.) erfolgt eine Reflexion auf das
Nachdenken und die Entwicklung der Scheidung von erinnerndem
Nachdenken und dem Nachgedachten, die an Martin Heidegger ge-
mahnt.
Im Epilog betont der Verfasser nochmals die Eigenständigkeit des
parmenideischen Denkens, wobei man – bei aller Beachtung des Unter-
schieds zwischen der göttlich inspirierten Rede bei den Epikern und der
Erzählung des parmenideischen Kouros – nicht vorbehaltlos der Fest-
stellung zustimmen wird, dass Wahrheit ein »genuin anthropozentri-
scher Begriff« ist, »der seine Relevanz ausschließlich im menschlichen
Denken hat« (S. 98). Folgte man einem solchen anthropozentrischen
Wahrheitsbegriff, würde das Hören auf die göttliche Sprecherin, von
dem in den Fragmenten die Rede ist, unterlaufen werden.

Maria Marcinkowska-Rosół: Die Konzeption des ›noein‹ bei Parmeni-


des von Elea, Berlin/New York: De Gruyter 2010 (Studia Praesocra-
tica; 2).
In dieser eigens dem νοεῖν und verwandten Ausdrücken gewid-
meten Studie werden die bekannten Fragmente des Lehrgedichts –
vor allem auch die in großen Studien wie derjenigen von Mourelatos
ausgesparten Fragmente 3 und 4 – anhand des Leitfadens der Frage
nach der Bedeutung des Denkens sehr gründlich einer Betrachtung
aus neuer Perspektive unterzogen. Maria Marcinkowska-Rosół geht
in ihrer hier vorliegenden überarbeiteten, ursprünglich auf Polnisch
verfassten Dissertation aber ebenso dem Denken im sogenannten Do-
xa-Teil nach.
Sie betrachtet das Wortfeld νοῦς vor dem Hintergrund des Wan-
dels des Begriffskreises von einem schwachen Ausdruck für eine
menschliche Seelentätigkeit bei Homer zu einem philosophischen
Zentralbegriff bei Platon und Aristoteles. Mit ihrer Studie leistet die
Verfasserin einen wichtigen Beitrag zur eigenständigen Würdigung
der Vorsokratiker und ihrer möglichst nicht von der antiken Aus-
legungstradition beeinflussten Deutung. Zugleich kann man der Ab-
handlung entnehmen, wie tendenziös Parmenides von der peripateti-
schen Schule zitiert wurde.

243
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

In einem ausführlichen Einleitungskapitel zur Forschungs-


geschichte werden die bisherigen Äußerungen und Studien zum
νοεῖν bei Parmenides in zwei Gruppen unterteilt. Zuerst kommen
diejenigen Autoren zu Wort, die in mehr oder weniger starker An-
lehnung an Kurt von Fritz’ Untersuchungen zum νοεῖν bei Homer
und den Vorsokratikern dieses als ein weitgehend unfehlbares Erfas-
sen von über die Wahrnehmung hinausgehenden Gehalten betrach-
ten. Davon abgehoben werden die Kritiker an Fritz’ Überlegungen,
die – wie beispielsweise Jonathan Barnes oder James Lesher – sehr
wohl daran festhalten wollen, dass νοεῖν als »denken« gefasst werden
kann und nicht ein bloß rezeptives Vermögen ist, das – stets unfehl-
bar – Inhalte empfängt.
Die Wichtigkeit der Beachtung des νοεῖν als Denken streicht
M.-R. sogleich im folgenden, den Großteil der Abhandlung umfas-
senden dritten Kapitel heraus. Schon hinsichtlich der berühmten Fra-
ge nach dem Subjekt der Aussagen des ἔστιν in Frg. 2 sei es an-
gebracht, daran zu erinnern, dass es sich um Wege für das Denken
oder Wege, die zu denken sind, handelt. Zusätzlich betont die Ver-
fasserin erneut, dass bei Parmenides das Denken in großer Nähe
zum Sprechen und Benennen stehe. Ergo erscheine die Frage nach
dem Subjekt »in einem neuen Licht« (S. 54): »Für einen Namen ist
nicht das Verhältnis zu einem anderen Satzteil, nicht also die syntak-
tische Relation ›Subjekt – Prädikat‹, sondern die Beziehung zu dem
bekannten Objekt grundlegend.« Insgesamt handle es sich bei Frg. 2
nicht um eine »vollständige Argumentation«, es lägen eher Thesen
vor, die durch die folgenden Verse erläutert worden seien (S. 60).
Dieser Auffassung entsprechend bemüht sich die Autorin um
eine Rekonstruktion der in Frg. 2 angedeuteten Argumente durch
Heranziehen der späteren Bruchstücke. Für die Ermittlung der Be-
gründung der These vom Ist-nicht setzt sich M.-R. eingehend mit
Frg. 3 auseinander, das oft als Basis für die Behauptung von der Un-
denkbarkeit des Nichtseins betrachtet werde. Sie stellt die traditionel-
le Auffassung des τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι der von
Eduard Zeller begründeten Deutungsrichtung gegenüber und führt
noch weitere Möglichkeiten der Übersetzung wie diejenige von Her-
mann Schmitz an: »Das Selbe nämlich ist (es für jemand), (etwas) zu
bemerken und (es) zu sein« (S. 64).
Erstaunlich ist, dass M.-R. hier nicht Martin Heidegger erwähnt,
den sie im Kapitel über die Deutungsvarianten des νοεῖν als Arche-
geten der Interpretationsrichtung von Kurt von Fritz nennt (S. 26).

244
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

Hat Heidegger sich doch über weite Strecken seiner Denkwege mit
Frg. 3 befasst und es in unterschiedlichen Weisen übersetzt und aus-
gelegt. 4 Wenn die Verfasserin wiederholt auf die Missverständnisse
hinweist, die sich bei verschiedenen Parmenides-Interpreten auf-
grund eines nicht adäquaten Verständnisses von νοεῖν ergeben hät-
ten, bleibt – bei allen Erwähnungen von unterschiedlichen Deutungs-
absätzen des Wortes Sein (z. B. S. 73, Anm. 123) – einigermaßen
unterbestimmt, wie aus Sicht der Autorin das εἶναι zu fassen ist. So
drängt sich mitunter der Eindruck auf, dass beim Referat verschiede-
ner Argumente für oder gegen die Selbstverständlichkeit der These
vom Nichtseienden »existieren« und »sein« gleichgesetzt werden
(vgl. S. 73). Wo die »existentielle« der »veritativen« Auslegung ge-
genübergestellt wird, wäre es angebracht, zur weiteren Differenzie-
rung von Möglichkeiten, wie das Sein bei Parmenides verstanden
werden kann, auf die Studien von Uvo Hölscher über den »Sinn von
Sein« oder von Arbogast Schmitt zu Parmenides hinzuweisen. 5
Begrüßenswert ist die Anfügung eines Unterkapitels über die
»Argumentation gegen das Nichtseiende in antiken Quellen« (S. 74–
76), das hauptsächlich platonische Stellen heranzieht. Diesen Inter-
pretationsansatz könnte man vermutlich fruchtbringend weiterfüh-
ren mit der Auswertung entsprechender Äußerungen bei den spät-
antiken Platon- und Aristoteles-Kommentatoren. Zum Abschluss
der Rekonstruktion des Arguments gegen das Nichtseiende arbeitet
die Autorin den engen Zusammenhang der Konzepte des λέγειν und
νοεῖν heraus, die im Zusammenhang der Fragmente des Parmenides
nicht zwei verschiedene Erkenntnisweisen bezeichnen könnten
(S. 82 ff.).
Das Unterkapitel über das Verhältnis von Denken und Sein be-
ginnt mit einem ausführlichen Überblick über die unterschiedlichsten
Deutungen von Frg. 6, 1–2. Zur Auflösung der Schwierigkeiten der

4
Z. B. in der Vorlesung im Sommersemester 1932 (Martin Heidegger: Der Anfang
der abendländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides.
Frankfurt a. M. 2012 [Gesamtausgabe Bd. 35], 115–120) oder in einem Vortrag im
Jahr 1957, in dem er Frg. 3 folgendermaßen übertragen hat: »Sein gehört – mit dem
Denken – in das Selbe« (Martin Heidegger: Identität und Differenz. Stuttgart 111999,
15 [Gesamtausgabe Bd. 11, 37]).
5 Uvo Hölscher: Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie. Heidel-

berg 1976; Arbogast Schmitt: Parmenides und der Ursprung der Philosophie, in: Emil
Angehrn (Hg.): Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und
Kulturwissenschaft. Berlin/New York 2007 (Colloquia Raurica; 10), 109–139.

245
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

fünf von M.-R. aufgelisteten Übersetzungsmöglichkeiten von 6, 1 re-


kurriert sie (analog zur Rekonstruktion des Arguments gegen das
Nichtseiende) auf die antiken Zeugnisse über das Sagen des Seienden.
Besonderes Augenmerk legt sie dabei auf Simplikios’ Paraphrase von
Frg. 6, 1 (S. 104–106), der den ersten Teil dieses Verses folgenderma-
ßen aufgefasst habe: »was man sagen oder denken könnte, ist das
Seiende« (S. 105). Von hier ausgehend rekapituliert sie die Überliefe-
rungsgeschichte des Verses und greift schließlich die Emendation der
Zeile durch Ludwig Friedrich Heindorf aus dem Jahr 1810 auf: χρὴ τὸ
λέγεις τὸ νοεῖς τ’ ἐὸν ἔμμεναι.
Sehr gründlich geht die Verfasserin anschließend auch die ver-
schiedenen Probleme in der Übersetzung und Interpretation von Frg.
8, 36–41 durch (S. 113 ff.). Innerhalb der Diskussion um die zeitlose
Ewigkeit oder die fortwährende Dauer des Seienden schlägt sie eine
neue Deutung jener Verse vor. Sie greift die Lesart von Vers 36 οὐδ’
εἰ χρόνος ἐστίν auf und nimmt die Konjektur οὐδ’ οἷ χρόνος ἐστίν
vor (S. 137), mit der sie letztlich auch die Diskussion um Ewigkeit
oder Dauer des Seins lösen könne.
Bedenke man die ursprüngliche Bedeutung des Chronos als
einer zerstörenden Macht, so sei das Dauernde eben gerade das außer-
halb der Zeit Befindliche: »Das Parmenideische Seiende ruht für sich
›als dasselbe in demselben verharrend‹ […] und ›bleibt dort standhaft‹
[…] eben deswegen, weil es außer der Zeit ist« (S. 145). Dieses
Kapitel zur Gleichheit von Denken und Sein lässt M.-R. in einen Ver-
gleich mit dem selbstgenügsamen Kosmos des Timaios und mit Aris-
toteles’ νόησις νοήσεως münden, wobei sie keine platte Gleich-
setzung vornehmen möchte und die Unterschiede der Autoren
betont. So würden im Unterschied zu Aristoteles’ Unbewegt Be-
wegendem dem Sein bei Parmenides »keine Züge eines Lebewesens
zugeschrieben« (S. 156).
Das vierte, dem »Denken in der Welt der ›Doxa‹« gewidmete
Kapitel setzt mit einer Besprechung von Frg. 16 ein. Angesichts der
zahlreichen Diskussionen und Aporien in Zusammenhang mit die-
sem Text betont die Autorin, dass darin keine Erkenntnistheorie an-
gesprochen sei, sondern die Abhängigkeit des menschlichen Denkens
vom Leib (S. 177). Hierbei bemüht sie sich um eine adäquate Deu-
tung der Auseinandersetzung von Theophrast mit Parmenides’ Kon-
zept des φρονεῖν (v. a. S. 178–183). Für den problematischen Halb-
vers τὸ γὰρ πλέον ἐστὶ νόημα (Frg. 16, 4b) schlägt sie als Lösung

246
Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

vor, das τό als Demonstrativum aufzufassen, was den Sinn ergäbe:


»Denn dies ist mehr das Denken« (S. 186).
Zum Abschluss dieses Kapitels unternimmt M.-R. bei der Frage
nach dem Subjekt des ἔχει im ersten Vers von Frg. 16 eine bemer-
kenswerte Untersuchung der Belegstellen von aktivem ἔχειν bei Par-
menides. Sie arbeitet heraus, dass bei sämtlichen der acht Belege die
Konnotation von »herrschen«, »Macht haben« vorliegt. Daraus kann
sie ableiten, dass die Mischung, von der in Frg. 16 die Rede ist, vom
Herrschen der Daimon im Bereich der Doxa abhänge (S. 190–192).
Da damit aber ein Determinismus des Menschen im Gebiet der Doxa
einhergehe, der offensichtlich im Widerspruch zur Autonomie des
Denkens, wie er im Proömium angesprochen zu sein scheint, steht,
widmet die Autorin konsequenterweise das Schlusskapitel dem The-
ma »Erlösung«.
Aufgegriffen wird dabei die in jüngerer Zeit mehrheitlich akzep-
tierte Auffassung der Bildlichkeit des Proömiums als Fahrt zum Haus
der Unterweltsgöttin. Dort geschehe freilich – dies die Pointe von M.-
R. gegenüber anderen Auslegungen – »Nichts« außer dem Vortrag
der Göttin über das Seiende (S. 198). Der Mensch werde von ihr auf-
gefordert, das eigene Denken zu steuern und sich von dem gewohn-
ten Sinnen der zwieköpfigen Sterblichen abzuwenden (S. 201). Da-
rauf folge – wie es in Frg. 4 ausgedrückt sei – eine Aufforderung zur
Kontemplation des Seienden, das sich nicht von sich selbst abtrennen
würde (S. 203 ff.). Die Verfasserin vertritt die Ansicht, Subjekt in
Vers zwei dieses Fragments sei das Seiende, das Verb ἀποτμήξει sei
mit Zeller intransitiv aufzufassen: Das Seiende werde sich also nicht
vom Zusammenhang mit dem Seienden ablösen (S. 210). Hiervon
ausgehend setzt M.-R. anhand des λεύσσε δ’ ὁμῶς ἀπεόντα νόῳ πα-
ρεόντα βεβαίως (Frg. 4, 1) zu einer finalen Übersicht über die Deu-
tungen des Nous an.
Es gehe in diesem Fragment um die Aufforderung zur Kontem-
plation des Seienden, das für den Nous (M.-R. bezieht den Dativ νόῳ
auf παρεόντα) gegenwärtig sei: »Schaue jedoch auf das Abwesende,
das für den Geist fest anwesend ist« (S. 213). Mit dieser Kontempla-
tion sei die von Parmenides vermutlich intendierte Aufforderung zur
Loslösung des Nous und dessen Angleichung an das Ewige verbunden
– hier lassen sich laut M.-R. Verbindungen zum Pythagoreismus und
vor allem Platons Timaios herstellen (S. 225–233).
Analog zum pythagoreischen Dreischritt von Sünde-Strafe-Er-
lösung könne man einen Zusammenhang von Verirrung, begrenzter

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Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

Erkenntnis und Erfassen des wahren Nous bei Parmenides fest-


machen. Vor allem durch die Betonung des Unterschieds von
menschlichem, fehlbarem und von der verderblichen Mischung der
Glieder abhängigem Nous von dem echten, einzig im »sein« seine
Wahrheit findenden Nous kann die Verfasserin am Schluss ihrer Un-
tersuchung Lösungen für einige der zentralen Fragen zum Nous an-
deuten (S. 234–250).

Riccardo Di Giuseppe: Le Voyage de Parménide. Paris: Orizons 2011.


Diese überaus gründlich gearbeitete Studie betrachtet Parmeni-
des im Kreuzungspunkt von Mystik und Logik sowie von Religion
und Philosophie; sie umfasst sieben Kapitel, die sich schwerpunkt-
mäßig unterschiedlichen Fachrichtungen zuordnen lassen. So folgen
auf die einleitenden, eher philologischen Kapitel philosophisch-inter-
pretierende, die von literaturtheoretisch-ästhetischen Betrachtungen
abgelöst werden, welche in realienkundliche Überlegungen zu der Fi-
gur und dem Heimatort des Parmenides, nämlich Hyele, übergehen.
Diesen Kapiteln vorangestellt ist eine griechisch-französische
Textausgabe der Fragmente, gefolgt von einer italienischen Überset-
zung.
Der philologische Teil besteht großteils aus einer eingehenden
Studie zu den als Programm des parmenideischen Gedichts betrach-
teten Versen Frg. 1, 28–32 und den Textproblemen rund um die
Buchstaben ΔΟΚΙΜΩΣ in Frg. 1, 32 (S. 41–80). Diese Zeichenfolge
fasst Riccardo Di Giuseppe als elidierten Infinitiv Aorist zu δοκιμόω
auf. Dieses Verb zeige in Zusammenhang mit dem περῶντα, das als
Akkusativ Singular zu betrachten sei (S. 48 f.), an, dass der Jüngling
erfahren solle, dass einer, der alles durchfährt, akzeptieren müsse,
dass die δοκοῦντα sind. Di Giuseppe gibt am Weg zur Erklärung die-
ser Textgestaltung und seiner Übersetzung eine minutiöse Erläute-
rung der Überlieferungsgeschichte und der Diskussionen von Text-
varianten und Konjekturen in den Parmenidesausgaben der letzten
Jahrhunderte.
Hinsichtlich des vieldiskutierten ἔστιν in Frg. 2, 3 nimmt er an,
dass es zunächst einen subjektlosen Zustand (»état sans sujet«, S. 88)
beschreibe, woraus sich die anderen Formen von »Sein« in der Form
einer ontologischen Deduktion oder Konjugation entwickelten
(S. 101 ff.).

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Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

Rund um diese ontologische Herleitung gruppiere sich bei Par-


menides die allgemeine kosmologische Beschreibung im Ausgang
von Hesiod (Kapitel 4), womit der Verfasser auf die für ihn zentrale
Ringstruktur des parmenideischen Gedichts vorausdeutet, die er
hauptsächlich im fünften Kapitel herausarbeitet. Am Weg dorthin
greift er auf die von Schwabl in der hesiodeischen Theogonie auf-
gezeigte Pentadengliederung und ihre Verwandtschaft zur Anord-
nung der Verse im Proömium des Parmenides zurück. Der Autor
unterzieht die langen Frg. 1 und 8 einer Großgliederung nach Zwan-
zigergruppen, die jeweils eine Abfolge von Zeit- und Raumschil-
derungen darstellten (S. 112 f.).
Er kann durch die weitere Unterteilung jener Abschnitte in Fün-
ferversgruppen interessante Bezüge von einzelnen Pentaden heraus-
arbeiten. So zeigt er etwa Verbindungen zwischen den Achsen und
Naben des Wagens, auf dem der Kouros fährt, zu den Achsen und
Pfannen des Tores, zu dem ihn seine Fahrt führt, auf (vgl. v. a.
S. 195 f.).
Davor stellt Di Giuseppe noch die zugleich dia- wie synchrone
Aufreihung der σήματα dar, die im Sinne einer »ontosphère« (S. 123,
Anm. 2) zugleich eine Unabgeschlossenheit wie auch Abgeschlossen-
heit des Seins anzeigten, welche durch die Rahmung mit den schein-
bar widersprüchlichen Charakterisierungen ἀτέλεστον (Frg. 8, 4)
und τετελεσμένον (Frg. 8, 42) zum Ausdruck käme (v. a. S. 124 f.).
Die Bewegung der Onto-Deduktion gipfle in dem Vergleich mit der
Sphaira. Darauf wiederum aufbauend unternimmt der Verfasser
Überlegungen zur Formulierung vom »unerschütterlichen Herzen
der wohlgerundeten Wahrheit«, worin sich eine Auseinandersetzung
mit der Anthropologie, wie sie im Epos anzutreffen ist, spiegle. Wie
die Psyche im Soma, so verberge sich die Aletheia in der angespro-
chenen Sphaira.
Im Folgekapitel, das den Titel »La gnose parménidienne« trägt,
skizziert Di Giuseppe Parmenides’ Position innerhalb der helle-
nischen Religiosität, in welcher der Eleate durch sein Versetzen allen
Werdens und damit verbunden der Theogonie, Kosmogonie und An-
thropogonie in den Bereich menschlicher δόξαι einen Wendepunkt
darstelle. Die von Parmenides entworfene – dies der Grundzug des
vierten Kapitels über den »troisième enseignement« – »außerordent-
liche« Göttin (»déesse extraordinaire«, S. 150) vereinige alle jene Be-
reiche im Sein.
Der springende Punkt seiner Pentadengliederung, auf die er im

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Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

fünften Kapitel zurückkommt, ist, dass in der fünften Pentade des


ersten Fragments scheinbar ein Vers fehlt, nämlich an der Scharnier-
stelle Frg. 1, 21/22 – hier ist die Schwelle des Übertritts in das Reich
der Göttin beschrieben, die in der Versgliederung zum Verschwinden
gebracht wird. Damit will der Autor auch zeigen, dass der Beginn der
Philosophie im Griechentum in der Auseinandersetzung mit dem
Epos und dessen Formalismen zu sehen ist. Deswegen geht er zu-
nächst auch nicht den Anklängen an Textstellen bei Homer oder He-
siod nach, sondern der zur Theogonie parallelen Gliederung nach
Pentaden.
In der besonderen Übergangsstelle v. 21/22 ist laut Di Giuseppe
das Zentrum der Sphaira-artigen Schilderungen zu sehen, deren äu-
ßerste Schale der Bereich der Doxa bilde. An dieser entscheidenden
Stelle sei auch anhand des Wechsels der Sprecher – es berichtet nicht
mehr der Jüngling von seiner Fahrt, sondern er wird von der Göttin
angesprochen und belehrt – zu beobachten, wie intensiv Parmenides
in die Schule der Dichtung gegangen sei (ein inhaltlicher Anklang an
das Epos sei schon das erste Wort des Proömiums, die ἵπποι, die spä-
ter als πολύφραστοι bezeichnet werden, womit eine Allusion auf die
unsterblichen Stuten des Hades, von denen im Demeterhymnus zu
hören ist, vorliege). Parmenides breche aber hier bewusst mit der
Tradition der Rhapsoden und lasse als neue Art der Verkündung die
Sprache der Weisheit zu Wort kommen (vgl. v. a. S. 165).
Versinnbildlicht werde die wechselweise Trennung verschiede-
ner Bereiche und ihre Zusammenführung innerhalb der σφαῖρα
durch das in mythischer Weise beschriebene Aneinandervorbeiziehen
der Personifizierungen von Tag und Nacht, die je eine Hemisphäre
beherrschen und sich an der einen Schwelle begegnen. Diese Bewe-
gung stünde für die Initiation des Kouros mit ihren (in Anlehnung an
Arnold van Gennep benannten) Etappen »préliminaire, liminaire,
post-liminaire« (S. 182). Dies führt den Verfasser auch zu einer dezi-
dierten Angabe der Aufenthaltsdauer des Jüngling in den jeweiligen
Weltbereichen: Seine Reise dauere 24 Stunden, von denen er jeweils
einen Halbtag dies- und jenseits der angesprochenen Schwelle ver-
bringe (S. 187). Der Übergang könne in vielerlei Hinsicht als Zen-
trum betrachtet werden, als Mittelpunkt des Proömiums wie auch
des Logos, mit dem der weise Mann alles beurteilen soll. Das Über-
schreiten der Schwelle und das Angesprochenwerden durch die Göt-
tin – die »phonophanie« – könne man als Selbstbewusstwerdung be-
trachten (»la première voix de l’autoconscience«, S. 190).

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Alfred Dunshirn: Neuere Literatur zu Parmenides

Das sechste Kapitel geht der Frage nach den Bezügen zwischen
den Opfergeschichten nach, wie sie sich in den Mysterien und vor
allem im Kore-Kult finden, mit ihren Berichten einer καρδιουλκία
und den Anspielungen auf diese Kulte bei Parmenides sowie der Frage
nach »Hyele«, der Beischrift, die sich auf der ältesten in Elea gefun-
denen Münze unter dem Bildnis eines Mädchens findet. Davon aus-
gehend erwägt Di Giuseppe, ob es sich bei Hyele um die Stadt oder
ein so benanntes Mädchen bzw. eine Nymphe, die der Siedlung ihren
Namen gab, handle. Diese Frage ist für den Verfasser deshalb wichtig,
weil die weibliche Figur mit Leukothea, der »weißen Göttin«, und mit
Kore in Verbindung gebracht und als die »blasse Göttin«, aufgefasst
werden kann, die von Parmenides in dessen Gedicht durch die Göttin
Wahrheit substituiert worden sei.
Das kurze Abschlusskapitel widmet sich der Frage nach der
Argumentationsstruktur des »ist und nicht nicht ist«. Durch die
Anwendung des Prinzips vom Widerspruch werde als Drittes das
Meinen der Sterblichen ausgeschlossen (S. 230). Die Doxa, die unent-
schieden zwischen Sein und Nichtsein schwanke, werde im Über-
schreiten der Schwelle von Tag und Nacht geopfert und aufgegeben
zugunsten der Dualität von Sein und Nichtsein, weshalb auch die in
den Fragmenten anzutreffende Verbindung von Mysterien- und Op-
fersprache plausibel sei (S. 233).

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