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Der Gott der Philosophen und die kritische Funktion

der Religion
Zw Schellings Philosophie der Offenbarung*

Professor D. Dr. Wolf gang T r i 11 h a a s , Tuckermannweg 19, Göttingen

In piam memoriam Hermann Zeltner

Die Spätphilosophie Schellings ist ein Kapitel aus der Geschichte


des deutschen Idealismus, und zwar das letzte Kapitel aus seiner Ge-
schichte. Wir selber sind keine Idealisten mehr; wir sind auch keine
»Nachidealisten«. Der deutsche Idealismus ist für die heute Lebenden
und Denkenden eine vergangene Periode. Was suchen wir also noch in
jenen Studierzimmern und Hörsälen?
Wir versuchen zu verstehen. Aber niemand steigt zweimal in den-
selben Fluß. Darum kann alles Verstehen des Vergangenen nur eine Neu-
begegnung sein, und das heißt, daß die Aufgabe der historischen Inter-
pretation eben doch ein verborgenes Element von Neuheit in sich trägt.
Einerseits ist es die Frage, ob vergangene Probleme auch als solche
schon erloschene Probleme sein müssen. Es könnte ja dazu kommen, daß
sich überraschenderweise das Alte im neuen Kontext bestätigt, oder daß
unsere Probleme im Spiegel alter Philosopheme eine neue Erhellung
finden. »Der Gott der Philosophen« — was heißt das überhaupt und
heute? 1 Meint diese Formel den Gott, an den Philosophen »wirklich«
glauben oder den sie sich »denken« oder zu denken sich bemühen (»der
— allenfalls — denkbare Gott«)? Oder geht es um eine Abgrenzung der
Bedingungen, unter denen für diejenigen, welche zu glauben vorgeben,
ein Gottesgedanke möglich sein könnte? Eröffnet sich vielleicht im Stu-
dium der Philosophiegeschichte ein verschütteter Zugang zu dieser The-
matik? Dann wäre immerhin diese Vergangenheit nicht ohne Nach-
wirkung.
Andererseits: Immer wieder stoßen wir auf die Tatsache, daß die
damalige Thematik ehrlicherweise nicht mehr nachvollziehbar ist. Man
kann natürlich unter Einsatz unseres historischen Wissens und unserer
geschichtlichen Einfühlung die damalige Terminologie genuin gebraudien
und mit ihr logisch schlüssig operieren. Aber das reicht doch kaum weiter
als zu einem philosophischen Kostümfest; was an solchen Argumenta-

* Überarbeitete Fassung eines am 27. September 1979 in Zürich im Rahmen der


Schelling-Tagung gehaltenen Vertrages.
1
Die Frage im Anschluß an das Werk von Wilhelm Weischedel: Der Gott der
Philosophen, 2 Bde. 1971 u. 1972.

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tionen allenfalls dann doch zu überzeugen vermag, ist keinesfalls deren


Schlüssigkeit und ihr verbaler Sinn in der Meinung ihrer Urheber, son-
dern ihre Verstehbarkeit in den veränderten Horizonten der Gegenwart.
Für Schelling ging es darum, das, was wir sonst nur glauben (um
mich einmal konventionell auszudrücken), zu »wissen« bzw. wissend zu
erkennen. Das Erkennen Gottes war für Schelling — wörtlich —
»Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung«, sein Anliegen war »wis-
senschaftlicher Theismus« (VIII, 55)2. Aber was ist das für eine Wissen-
schaft? Was wir so nennen, doch wohl kaum. Wir kennen Epochen der
seitherigen Geschichte der Theologie, insbesondere der sog. »heils-
geschichtlichen« Theologie und des (heute wieder neu auflebenden) Bibli-
zismus, in denen die Spurelemente Schellings deutlich greifbar sind. Wie-
weit sich heutige Theologie in diesen Zeugnissen des Biblizismus wieder-
zuerkennen vermag, das muß hier unerörtert bleiben. Schelling aber
wäre darin zu ehren, daß die Frage eine Antwort fände: Was ist in alle-
dem das Philosophische? So, wie den alten Mann zuletzt, nach seinen
Wanderungen durch den Wald der Mythologie und der Offenbarung die
vorausliegenden Probleme der »negativen Theologie«, und das heißt
praktisch der rationalen Legitimation des Wissens um den Gott der
Offenbarung gequält haben.

I.

Schellings ganze Philosophie ist trächtig von philosophischer Gottes-


lehre, von philosophischer Theologie. In seiner Schrift gegen Jacobi
(1812) schreibt er doch gewiß nicht nur beiläufig: »Philosophie ist nur
solange wirklich Philosophie, als noch die Meinung oder Gewißheit übrig
ist, daß sich durch sie über Dasein oder Nichtdasein Gottes etwas wissen-
schaftlich aussagen lasse« (VIII, 42). Nun, das bestätigt sich zwar an
Schellings frühem Philosophieren gewiß nicht unmittelbar und vorder-
gründig, aber für das rasch vordringende Denken Schellings ist dann
doch sehr früh die Einsicht erreicht: »Das absolute Ich ist das einige
Ewige« (I, 200), vom Ewigen im Menschen, von der »reinen absoluten
Ewigkeit in uns« (I, 318 f.) bis zu der Absolutheit als solcher, die sich
nicht in das subjektiv empirische Ich einschränken läßt, sind wir in weni-
gen radikalen Schritten bei dem Thema, das dann Schellings Denken bis
an sein Ende beherrschen wird.
Daran haben auch die immer neuen Problemgebiete nichts geändert,
welche Schelling in der Folge seines bewegten Denkens betreten hat;
gewiß: die Firmierungen wechseln, unter denen das Gottesproblem, je

2
Die Stellennachweise nach Band und Seitenzahl der (Stuttgarter) Erstausgabe, die
bei unterschiedlicher Reihenfolge der Schriften auch von der 2. (Münchener) Ge-
samtausgabe (hg. von Manfred Schröder) übernommen sind.

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nach dem wandlungsreichen Kontext Gestalt annimmt: »Das absolute


Ich«, das »Absolute«, die absolute Indifferenz, die totale Indifferenz des
Subjektiven und Objektiven, die Weltseele. — Das alles bedeutet nicht,
daß darin Gott einen »Namen« hätte, sondern »Gott« ist ein Wechsel-
begriff, der aus dem Zusammenhang des Systems jeweils nach neuen
Auslegungen verlangt; nach Auslegungen, die außerordentliche Spann-
weiten innerhalb weniger Jahre sichtbar machen, vom »Pantheismus«
und Spinozismus angefangen (Begriffe, die mindestens ebenso Interpre-
tamente der anderen als eigene Bekenntnisse Schellings bedeuten) bis hin
zu den dann sehr vernehmbar vorgebrachten Bekenntnissen zum Begriff
der Persönlichkeit Gottes — seit der Freiheitsphilosophie von 1809.
Aber es soll mir hier nicht auf diese alten Themen der Schelling-
Forschung ankommen, sondern auf den — wenn ich mich so ausdrücken
darf — Cantus firmus dieser philosophischen Theologie: Schelling hat
die Lehre von Gott, die Existenz Gottes nie in Zweifel gezogen. Er hat
dem Atheismus in keiner Spielart in seinem Philosophieren Raum ge-
geben. Er war durch die Bezichtigung Jacobis auf Atheismus aufs höchste
gereizt. Für ihn war Gott das höchste und letzte Thema der Wissenschaft,
was in dem von Fichte diktierten Sprachgebrauch zwar »Philosophie«
bedeutet, aber eben doch Inbegriff von dem wissenschaftlich Möglichen
und darum auch Geforderten: Es gilt Gott zu erkennen, Gott zu »wis-
sen«, das Was und das Daß Gottes. Darum bei Schelling, wie bei Hegel,
die immer erneuten apotropäischen Gesten gegen eine Religion, die sich
auf das Gefühl, auf Ahndungen beruft und die kritische Wissenschaft
und in jedem Falle die Philosophie als Weg zur Erkenntnis Gottes ab-
weist. Für Schelling war hier über lange Jahre Fr. H. Jacobi der Prügel-
knabe, und es gereicht ihm immerhin zur Ehre, daß er — anders als
Hegel in seiner geschmacklosen Entgleisung gegen Schleiermacher — eben
diesen aus dem Spiel gelassen hat. Aber bei beiden drängt sich immer
wieder ein Interesse an den Gottesbeweisen hervor. Diese Idealisten sind
trotz Kant und nach Kant — vom Beweisthema nie herunter gekommen.
Schon ganz am Anfang findet sich in der Korrespondenz der beiden
Stiftsfreunde die ironische, fast schadenfrohe Freude an den Bemühungen
der kantianischen Dogmatiker unter den Theologen, ihre dogmatischen
Reste nun an dem seidenen Faden des moralischen Gottesbeweises auf-
hängen zu wollen. Später dann ist doch beim alten Schelling hinter der
immer neu aufgegriffenen Parallelität von negativer und positiver Phi-
losophie bei aller weit auseinanderklaffenden Einschätzung ihrer Mög-
lichkeiten ein geheimes Interesse an der gegenseitigen Bestätigung zweier
korrespondierender Systeme wahrzunehmen. Diese seltsame Figur der
gegenseitigen Bestätigung zweier Ungleichheiten dann wieder in der
Wahrnehmung der schon im Heidentum aufscheinenden Wahrheit des
Christentums. Und hinwiederum: die Mythologie bestätigt — »beweist«
die Wahrheit der Ursprünge, wobei das Alte Testament als die Schwelle

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der Mythologie und der christlichen Offenbarung in Anspruch genommen


wird. Bis in den Tenor der letzten großen Vorlesungen setzt sich das
Bedürfnis, Beweise zu liefern und zu empfangen durch: im großen Stil
vollzieht sich das im argumentativen Rückgriff auf die Mythologie und
späterhin in der an sich ja althergebrachten Methode des »Schriftbewei-
ses«, für den aber doch das Vorbild Schellings in seinem Jahrhundert
eine neue Epoche eröffnet hat.

II.

Schellings philosophische Theologie hat, je länger, tiefer und aus-


schließlicher sie sein Philosophieren überhaupt beherrscht, einen eigen-
tümlichen Zug: So ursprünglich und unmißverständlich sie Philosophie
sein will, so dient sie offenbar nicht dem Zweck, sich gegen die traditio-
nelle Theologie abzusetzen. In allen Phasen des Schellingschen Philoso-
phierens kommt es zum Ausdruck, daß weder die Theologie noch der
Glaube die Philosophie zu fürchten habe, und vollends, nachdem der
breite und wechselvolle Strom dieser Philosophie über den letzten Kata-
rakt in sein letztes Stadium eingetreten ist, gibt er seiner philosophischen
Theologie einen Namen, der zwar schon vordem (z. B. in den Fragmen-
ten »Die Weltalter«) gelegentlich, wenn auch mehr marginal auftaucht,
aber nun unübersehbar wird: »Philosophie der Offenbarung«. Mit die-
sem Begriff hatte sich bislang die christliche Theologie gegen alle Ein-
flüsse der Philosophie abgeriegelt, er bezeichnete den Gegensatz zur
»natürlichen« oder »rationalen« Theologie, die freilich als solche immer
eines der vier Hauptthemen der traditionellen Metaphysik gewesen war.
Aber das ist nun wirklich ein Novum: Nicht, was man von Gott durch
das Licht der Vernunft erkennen kann, sondern was er uns selber von
sich aus mitteilt, soll Thema der Philosophie sein; und mehr als das, mehr
als nur Belehrung ist die Absicht der Offenbarung: Ein durch den Sohn
vermitteltes neues Verhältnis zu Gott. Zweck der Offenbarung ist die
Wiederbringung des Menschen und dadurch zuletzt der ganzen Schöp-
fung. In diesem Offenbarungsbegriff geht es nicht mehr, wie noch kaum
achtzig Jahre vorher bei Lessing, um Einsichten, die eben — als Offen-
barungen — früher gewonnen werden, als es der Vernunft allein aus
sich heraus möglich gewesen wäre. Diese Offenbarung ist nicht etwas
a priori zu Begreifendes, sondern was da zu begreifen ist, das geht offen-
bar allem Begreifen voraus, d. h. es kann nur a posteriori begriffen wer-
den; diese Philosophie der Offenbarung ist eine Philosophie der Er-
fahrung.
Offenbar ist nun diese Berufung auf Erfahrung, die Wahrnehmung
dessen, was Gott von sich selbst kundgibt, der Anlaß für eine termino-
logische Seltsamkeit bei dem alten Sdielling. Er belegt nämlich die ganz
und gar in der Vernunft gegründete Transzendentalphilosophie mit dem

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Namen der »negativen Philosophie«. Wohl hatte Schelling auch schon


vordem sein Philosophieren auf Anschauung gegründet — die Natur-
philosophie lebt aus der Fülle der Anschauung —, aber je weiter sich die
Spekulation von dem sinnlich Anschaubaren entfernt, je unmittelbarer
sich das Denken auf sich selbst gestellt sieht, desto mehr gerät es
— könnte man sagen — von der Anschaulichkeit her, vor dem Bedürfnis
des Auges in Beweisnot. Das ist die Wurzel des so doppelsinnigen Be-
griffes der »intellektuellen Anschauung«, den sich Schelling von Fichte
her zu eigen macht. Audi in der Spekulation regiert »Anschauung«, aber
es ist eine Anschauung, in der Kraft des Intellekts vollzogen, ein Sehen
mit dem geistigen Auge, wie es schon 1804 (VI, 53) heißt: »Gott, dessen
Wesen dem geistigen Auge ebenso unmittelbar, durch sich selbst sichtbar
und offenbar ist, als das sinnliche Licht dem sinnlichen Auge«. Aber den
alten Schelling überwältigt das Bedürfnis nach einer deutlicheren Unter-
scheidung: Mag es sich mit dieser intellektuellen Evidenz verhalten wie
auch immer, zweierlei Mängel haften dieser an sich unentbehrlichen und
niemals mehr zu widerrufenden Transzendentalphilosophie an: Sie lebt
nicht aus der Fülle der Erfahrung, und sie kann im Grunde nie weiter
greifen (wenn dieses Wort überhaupt zulässig sein sollte) als bis zur
Wahrnehmung dessen, was in der Hierarchie des Seins »möglich« sein
muß. »Negative Philosophie« — damit hat Schelling nie gemeint, daß
er sich von diesem seinem ursprünglichen Philosophieren getrennt hat,
sondern er hat — rückgreifend — auch seine späteren Einsichten an den
ursprünglichen immer wieder gemessen.
Aber dieses letzte, ungreifbare Sein legt sozusagen eine Sperre für
das Denken und zwingt es zur Umkehr. Was sich hier ereignet, hat
Schelling in der Schrift »über das Wesen der menschlichen Freiheit«
(1809) großartig erörtert. Denn um Ereignisse handelt es sich hier, nicht
um Sachverhalte, die in sich ruhen. Wie so manches Mal beleuchtet und
verdeutlicht der biblische Bezug und die unvermittelt eingeführte neu-
testamentliche Terminologie das Gemeinte: »Die Natur ist das erste oder
alte Testament, da die Dinge noch außer dem Centro und daher unter
dem Gesetze sind. Der Mensch ist der Anfang des neuen Bundes, durch
welchen als Mittler, da er selbst mit Gott verbunden wird, Gott. . . auch
die Natur annimmt und zu sich macht. . .« (VII, 411). Bis zu diesem
Wendepunkt gilt, daß »der Begriff der Indifferenz allerdings der einzige
vom Absoluten mögliche ist. Wird er nun allgemein genommen, so wird
das Ganze entstellt, es folgt dann auch, daß dieses System die Personali-
tät des höchsten Wesens aufhebt.« Hier nähert sich Schelling dem Kern
des Problems, das ihn plagt: daß im Kontext »jener abstrakten Systeme«
alle Persönlichkeit überhaupt unmöglich ist. Wie aber ist die Persönlich-
keit, also nicht allein die unwiederholbare menschliche Individualität,
sondern der Gedanke des persönlichen Gottes der Vernunft selber zu-
gänglich zu machen?

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Gewiß: die Offenbarung ist für Sdielling die Folge eines absolut
freien Willens, sie »setzt einen Actus außer dem Bewußtsein und ein Ver-
hältnis voraus, das die freieste Ursache, Gott, nicht notwendig, sondern
durchaus freiwillig sich zum menschlichen Bewußtsein gibt oder gegeben
hat« (XIV, 3).
Sdielling nähert sich in seiner Philosophie der Offenbarung erklärter-
maßen den »wahren Offenbarungsgläubigen«, also dem biblischen Chri-
stentum, weitaus genauer als der rationalistischen Vorstellung,, als ob es
sich in der Offenbarung um die Vermittlung von Vernunftwahrheiten
handelte. Dennoch liegt seine Philosophie von beidem weitab. Schellings
Philosophie der Offenbarung meint eine »durch Offenbarung erlangte
Wissenschaft unter der allgemeinen Kategorie des durch Erfahrung uns
zu Teil werdenden Wissens«. Aber diese Erfahrung vollzieht sich nun in
einem Prozeß, der — wenn ich mich so ausdrücken darf — aus dem
Dunklen ins Helle führt, aus der Notwendigkeit in das Reich der Frei-
heit, ein Prozeß, der ebenso als theogonisdier wie im menschlichen Be-
wußtsein sich wiederholender Prozeß beschrieben werden kann. 3 Darum
geht der Weg der Philosophie der Offenbarung über die Philosophie der
Mythologie. Mythologie, für Sdielling ein reelles Phänomen, der Natur
vergleidibar4, entsteht in einem theogonisdien Prozeß (XII, 7 f.), zu
dessen Enträtselung erst der Monotheismus den Schlüssel haben wird.
Die Mythologie ist mit und vor der Offenbarung darum ein philosophi-
sches Thema, weil diese das Problem ihrer Wahrheit aufwirft. Sie wird
von der Offenbarung nicht dementiert werden, sondern vielmehr erhellt.
Die Philosophie der Offenbarung — im Klartext also des Christen-
tums — und die Philosophie der Mythologie gehören der Sache nach
zusammen; denn »die Philosophie der Mythologie (ist) die wahre Be-
gründung einer Philosophie der Offenbarung« (XIII, 183). »Das Chri-
stentum hat selbst das Heidentum als seine Voraussetzung erklärt«
(XIII, 184). Drücken wir es auf eigene Verantwortung modern aus, so
kann man sagen: Die Mythologie und die Offenbarung stellen sich als
Phasen der Religionsgesdiidite dar. Diese trat ohnehin in den Jahrzehn-
ten des späten Sdielling zunehmend in den Liditkreis des wissensdiaft-
lidien Interesses: durch Creutzer in Heidelberg, was die indische Mytho-
logie anbelangt durch Schopenhauer. Nun werden Mythologie und Chri-
stentum durch Sdielling vollends auf ihren Wahrheitsgehalt befragt, wo-
bei freilich Sdiellings Grundüberzeugungen der Elastizität des Verstehens
mitunter einiges zumuten: Gewiß ist »das Christentum« gegenüber der
Mythologie die unüberbietbare Steigerung, andererseits aber ist es »vor
Christus in der Welt, ja so alt als die Welt« (XIII, 182 ff. — in ganz

3
Nicht nur das Bewußtsein von Gott, sondern gleichsam Gott selbst wird »heller«
was sich dann in der Formel »der werdende Gott« ausdrückt.
4
Keines Menschen Werk, keine Art von Poesie.

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anderem Zusammenhang XIV, 332: »vorbereitet von Grundlegung der


Welt her .. .«). Das Christentum ist der Gipfel des Prozesses der Offen-
barung und befindet sich immerfort im Prozeß, denn es ist seinem Wesen
nach Geschichte.

III.

Was nun die Ausführung dieser Philosophie der Offenbarung be-


trifft, so sieht sich der erstaunte Leser spätestens von der 24. Vorlesung
(XIV) ab in den Hörsaal eines biblizistischen Dogmatikers des 19. Jahr-
hunderts versetzt. Gewiß, die Grundidee des Christentums wird philo-
sophisch abgeleitet, noch in den Anfängen der Christologie kommen die
Prinzipien der vorausgegangenen Seins-Philosophie zum Einsatz. Aber
dann fehlt kein Thema der klassischen Dogmatik mehr, angefangen von
der Lehre von der Präexistenz Christi und der Menschwerdung des
Sohnes, die Naturenlehre, die Lehre von der Versöhnung, von Tod und
Auferstehung Christi, seiner Himmelfahrt und seiner Erhöhung. Aber
nicht nur diese Kapitel, die an die böse Kritik Albrecht Ritschis erinnern,
die er angesichts der in ihrer Art großartigen Dogmatik von G. Thoma-
sius geäußert hat: »Hier wird Dogmatik erzählt«, Schelling, einmal
spekulativ in Fahrt gekommen, trägt eine ausführliche Dämonologie und
Satanologie vor (die ja schon 1816 in Karl Daubs »Judas Ischarioth«
unter Schellings Einfluß ein theologisches Modell gefunden hatte). Man
sieht: Das ganze Christentum wird zur »Geschichte«, die sich in einer
Entwicklungsgeschichte der Kirche, angefangen mit einer Apostel-
geschichte fortsetzt. Mit der Reflexion über das petrinische und pauli-
nische Prinzip und einem emphatischen Bekenntnis zum Johanneischen
Christentum gipfelt und endet dann die Darstellung dieser Geschichte.
Schelling als Biblizist! Auf weite Strecken hin lesen sich diese Vor-
lesungen wie Bibelstunden. Denn die Spekulation eilt hier geradezu auf
die Auslegung zentraler Bibelstellen zu, die tiefe Verwurzelung Schel-
lings im Pietismus seiner Heimat ebenso wie die Spuren seiner intensiven
Mitarbeit in dem Erlanger Bibelverein unter Christian Krafft treten
— soll man sagen: verschämt oder geradezu herausfordernd — ans
Licht. Dabei war Schelling offenkundig von der damaligen kritischen
exegetischen Arbeit nicht unberührt, und er hat sich insbesondere die ja
nicht ungefährliche Nachbarschaft von D. Fr. Strauß auf eine seltsam
doppelte Weise auf Distanz gehalten: Er hat die Evangelisten, sofern es
sich nicht um die großen Apostel handelte, merkwürdig abwertend er-
wähnt, als kleine Geister, die den großen Dingen nicht gewachsen waren,
von denen sie zu schreiben genötigt waren. Andererseits aber hat er »die
Hypothese mythischer Verherrlichung des Lebens Jesu« eben zu einem
Beweis für seine — Schellings — Auffassung der Evangelien als Zeug-
nissen einer »höheren Geschichte« gemacht (XIV, 232).

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Sie endet tatsächlich nicht; denn diese Geschichte ist »höhere Ge-
schichte«. Und das bedeutet auf der einen Seite wohl eben Geschehnisse
in der »geschichtlichen Zeit«, historische und datierbare Vorgänge und
Ereignisse, aber andererseits Tatsachen, die mit den Kategorien der
Historie nicht zu fassen sind.

IV.

Der Begriff der Geschichte erweist sich in der Tat als ein Achsen-
begriff im Denken Schellings. Er meint von Anfang an mehr als das, was
in den sog. historischen Fächern das gelehrte Interesse in Anspruch
nimmt. Auch die Formel, welche bis in die Mitte unseres Jahrhunderts
hinein jedenfalls die evangelische Theologie beschäftigt und verwirrt
hat, »Gott in der Geschichte«, deckt sich nicht mit dem Schellingschen
Geschichtsbegriff. Das Christentum selbst ist »Geschichte« in diesem
Sinne. In ihm vollzieht sich die Offenbarung, nach der wir fragen. »Da
aber Gott die absolute Harmonie der Notwendigkeit und Freiheit ist,
diese aber nur in der Geschichte im Ganzen, nicht im einzelnen aus-
gedrückt sein kann, so ist auch nur die Geschichte im Ganzen — und auch
diese nur eine successiv sich entwickelnde Offenbarung Gottes« (VI, 57);
und gleich anschließend heißt es: »Die Geschichte ist ein Epos, im Geiste
Gottes gedichtet.« Immer wieder nimmt Schelling Anlaß zu betonen, daß
es sich hier um eine »höhere Geschichte« handelt, in der die kleine Indivi-
dualität kaum mehr ein Interesse beanspruchen kann, es sei denn, daß sie
an der großen Gesamtwirkung der Geschichte teilhätte. Diese »höhere
Geschichte« hat ein unmittelbares Verhältnis zu Gott: »In der idealen
Welt, also vornehmlich der Geschichte, legt das Göttliche die Hülle ab,
sie ist das laut gewordene Mysterium des göttlichen Reiches«, so heißt es
1803 in der zukunftsträchtigen 8. Vorlesung über die Methode des aka-
demischen Studiums (V, 289). Diese »höhere Geschichte«, die Schelling
seit dem System des transzendentalen Idealismus in immer neuen
Systementwürfen in drei Perioden gegliedert annimmt, hat nun ihr
stärkstes Echo in der gleichzeitigen Theologie des Biblizismus gefunden,
das geniale Konzept des großen Werkes von J. Chr. K. (von) Hofmann:
Der Schriftbeweis (1852/55) ist ohne die Inspiration durch Schelling un-
denkbar. Zwar spricht Schelling von der »großen historischen Richtung
des Christentums«, von der »Synthese mit der Geschichte, ohne welche
Theologie selbst nicht gedacht werden kann« aber in der dadurch gefor-
derten »höheren christlichen Ansicht der Geschichte« geht dann doch das
Concretum des historischen Stoffes, bis hin zu den despektierlichsten
Äußerungen über die Einfalt der Evangelisten, unter.
Im Sinne dieser »höheren« Betrachtung wird nun der Begriff des
»Christentums« zu einem weiteren Achsenbegriff der »Philosophie der
Offenbarung« Schellings. Denn das »Christentum« ist die eigentliche

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Offenbarung; es ist das Phänomen, in dem die Religionsgeschichte gip-


felt, es ist die Summe seiner Ideen, es ist insofern »so alt als die Welt«
(XIII, 182 ff., vgl. XIV, 332), es überbietet, wie Schelling nicht müde
wird zu betonen, die Wahrheit des Heidentums, und hat diese Wahrheit
doch ganz und gar in sich aufgenommen. Aber daß dieses Christentum
— historisch betrachtet — keine selbstverständliche Eindeutigkeit mit
sich führt, hat Schelling nie beunruhigt. Immerhin ist er der Anfänger
einer Theologie geworden, deren Kernfrage bis hin zu Harnack (1900)
die nach dem »Wesen des Christentums« ist. Bei Sdielling wurde neben
dieser ins Große greifenden Frage dann sogar das Interesse an Jesus
selbst, seinem Geschick, seiner Lehre, seinem irdischen wie seinem neuen
Leben in der Gemeinde, eben das Interesse am »historischen Jesus«
nebensächlich.
Geht man zu diesem großen, ausladenden Bild der Geschichte der
Offenbarung auf Distanz, nimmt man alle jene Züge des Heilsgeschehens
in sich auf, die durch keine reale Geschichte, durch keinen historischen
Bericht mehr dokumentiert sind, dann kann man sich ja des Eindrucks
nicht erwehren, daß — wie vordem die Philosophie der Mythologie das
Tor zur Philosophie der Offenbarung aufschließen sollte, eben diese
Mythologie den Schlüssel zur Offenbarung bedeutet. Denn diese Ge-
schichte, zu deren »höherer«Ansicht wir aufgefordert werden, erweist
sich als Abfolge von Symbolen, von Äußerungen (»Handlungen«), in
denen die Ideen des Christentums anschaulich werden. Und eben diese
Ideen sind das Wesentliche, was in der »Geschichte« offenbar wird.
Sdielling spricht gelegentlich von »denjenigen Ideen des Christentums,
die in den Dogmen symbolisiert wurden, und die in diesen nicht auf-
gehört haben, von ganz spekulativer Bedeutung zu sein, da ihre Symbole
kein von der Bedeutung unabhängiges Leben in sich selbst erlangt haben,
wie die der griediisdien Mythologie« (V, 294). Diese engste Nachbar-
schaft von christlichem Dogma und Mythologie legt es nahe, die An-
schaulidikeit der Ideen des Christentums eben selbst in ihrer mytholo-
gischen Gestalt zu finden. Die dann achtzig Jahre später unternommene
»Entmythologisierung« der Offenbarungsgeschidite erscheint wie eine
Bestätigung und ein Widerspiel dieser — bei Schelling im Verborgenen
gehaltenen — Tatsache.
Noch zwei Beobachtungen mag am Rande Raum gewährt werden.
Die eine betrifft die sdion mehrfach hervorgehobene Charakterisierung
als »höherer Geschichte«. Sie betrifft, wie wir sehen können, durchweg
eben die Ideen des Christentums, vor allem die von dem »Menschgewor-
denen Gott, Christus als Gipfel und Ende der alten Götterwelt«, dann
die Idee der »Dreieinigkeit«, ohne daß hier die in den späteren Vorlesun-
gen verhandelten Themen im einzelnen noch einmal aufgezählt werden
müßten. Diesen vergleichsweise »großen« Themen gegenüber fällt nun
im Blick auf die herkömmliche Theologie der Wert der Exegese erheb-

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lieh zurück. Schelling hält (1802) von der neueren Aufklärerei nichts, die
meint, dem ursprünglichen Sinn des Christentums dadurch näher zu
kommen, daß man es auf seine erste Einfachheit zurückführt, »in welcher
Gestalt sie es auch das Urchristentum nennen« (V, 300). Die Tendenz
dieses Urteils berührt sich mit dem bekannten Spott Hegels über die
vermeintliche Wichtigkeit exegetischer Forschung. Aber das für uns ent-
scheidende ist etwas anderes. Es ist die immerhin erstaunliche Tatsache,
daß der eigentliche Kern des »geschichtlichen« Christentums die Dogmen
sind, oder jedenfalls das, was in ihnen zur Aussage kommt. (Wiewohl
Schelling jede dogmatische Absicht weit von sich weist — XIV, 233).
Die andere Beobachtung ergibt sich in unmittelbarem Anschluß
daran. Die uns so vor Augen geführte, zur »Anschauung« gebrachte
Geschichte wird zum Schauspiel! Schon einmal hat Schelling (im System
des transzendentalen Idealismus, 1800, III, 602) die Geschichte mit
einem Schauspiel verglichen, allerdings unter dem Gesichtspunkt, welcher
Art die Rolle ist, die wir in diesem Schauspiel spielen: nämlich relativ
frei und insofern als Mitdichter des Ganzen, andererseits aber als solche
die ausführen, was der Dichter gedichtet hat. Wenn aber zu Beginn der
33. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung von dem rationalistisch
Erzogenen die Rede ist, der unvorbereitet »dem Christentum gegenüber-
gestellt« wird, so ist die Aufgabe, dieses Christentum zu erklären, zu-
nächst der vergleichbar, die Mythologie zu erklären. Aber es gibt da
einen Unterschied. Er liegt zu unserer Überraschung nicht etwa darin,
daß wir angesichts des Christentums zu mehr aufgefordert wären, als
nur zu erklären, sondern lediglich darin, daß die Erscheinung des Chri-
stentums so weit in die Zeit der beglaubigten Geschichte hereinfällt, wo-
bei an der historischen Wahrheit nach Schelling kein Zweifel möglich ist.
Wäre er möglich, so wäre kein Unterschied zwischen Mythologie und
Offenbarung (XIV, 229 f.). »Der Inhalt der Offenbarung ist nichts ande-
res als eine höhere Geschichte, die bis zum Anfang der Dinge zurück und
bis zu deren Ende hinausgeht« (XIV, 30 f.). Ein großes heilsgeschicht-
liches Drama spielt sich vor unseren Augen ab und wir sind gewürdigt,
es anzuschauen und zu verstehen.

V.

Schelling hat es gelegentlich und mehr beiläufig weit von sich ge-
wiesen, seine Philosophie als »religiöse Philosophie«, wir würden sagen:
als »Religionsphilosophie« zu bezeichnen (XIII, 134). Man kann dar-
über hinaus sagen: er ist dem Begriff der Religion förmlich ausgewichen.
Er hat nur an ganz wenigen Stellen seines breit dahinfließenden Philo-
sophierens der Religion einige Aufmerksamkeit gewidmet und trotz
einiger Versuche zu schematisieren und »einzuteilen«, etwa in »wissen-
schaftliche und nichtwissenschaftliche« Religion (XIII, 192 ff.) oder

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»exoterische« und »esoterische« (V, 304 ff., VI, 65—68) nirgends so


etwas wie eine Wesensbestimmung der Religion versucht. Er schreibt am
3. Juli 1801 an A. W. Schlegel: »Ich muß Ihnen noch schreiben, daß ich
ein sehr eifriger Leser und Verehrer der Reden über die Religion gewor-
den bin. . . . Ich ehre jetzt den Verfasser als einen Geist, den man nur auf
der ganz gleichen Linie mit den ersten Original-Philosophen betrachten
kann. Ohne diese Originalität ist es nicht möglich, so das Innerste der
Spekulation durchdrungen zu haben, ohne auch nur eine^Spur der Stufen,
die man durchgehen mußte, zurückzulassen. Das Werk, wie es ist, scheint
mir bloß aus sich selbst entsprungen, und ist dadurch nicht nur die
schönste Darstellung, sondern zugleich selbst ein Bild des Universums,
und gleichzeitig muß, wer etwas der Art hervorbringen will, die tiefsten
philosophischen Studien gemacht haben, oder er hätte durch blinde gött-
liche Inspiration geschrieben« (Plitt I, 345)5. Schelling hat, soviel ich
sehe, hernach nur noch zweimal auf Schleiermacher Bezug genommen,
1807 in einer einfühlsamen, kongenialen Rezension der »Weihnachts-
feier« 6 und dann nach Schleiermachers Tode in einer Rede als Präsident
der Münchener Akademie der Wissenschaften7. In diesen beiden Äuße-
rungen ist die Aussparung jeder Betonung eines Gegensatzes geradezu
mit Händen zu greifen. Um so leidenschaftlicher gerät ihm die Polemik
gegen Jacobi, der ihm eine Auffassung von Religion repräsentiert, die
sich auf das Gefühl, auf die Ahndung beruft und im Schema des Gegen-
satzes von Glauben und Wissen die Kompetenz der Wissenschaft in
göttlichen Dingen bestreitet. Diese Polemik steigert sich 1812 zu ver-
letztender Schärfe in »F. W. J. Schellings Denkmal der Schrift von den
göttlichen Dingen des Herrn Friedrich Heinrich Jacobi« (VIII, 23 ff.),
um, der Sache nach ungebrochen, 15 Jahre später 1827 in den Münchener
Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (X, 165 ff.) wieder auf-
zuleben.
An den wenigen Stellen, an denen von Schelling aus der Begriff der
Religion ins Spiel gebracht wird, findet sich — wie ich schon sagte, —
weder eine Wesensbestimmung noch irgend eine Folge für den Gesamt-
zusammenhang. Das gilt für die 8. und 9. Vorlesung über die Methode
des akademischen Studiums (V, 286 ff.) ebenso wie — über einen weiten
Zeitraum hinweg — für die 7. und 9. Vorlesung über die Philosophie der
Offenbarung (XIII, 134 und 189 ff.). Auf den Begriff des Glaubens
kommt Schelling zwar im 2. Teil der Philosophie der Offenbarung zu
sprechen (XIV, 13—17), unverkennbar konzessiv, aber er löst das

5
Aus Schellings Leben in Briefen, hg. von G. L. Plitt. Erster Band (1775—1803),
Leipzig 1869, S. 345.
0
Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch. Von Friedrich Schleiermacher. Halle, 1806.
Aus der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung, 1807, Nro. 58. 59. VII 498—510.
7
Rede zum fünfundsiebzigsten Jahrestag der Akademie, IX 463—465.

N. Zeitschr. f. syst. Theologie 22 9

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128 Wolfgang T r i l l h a a s

Thema alsbald in psychologische Betrachtungen auf, was schon damals


ein Indiz für philosophische Minderwertigkeit war, um es alsbald wieder
fallen zu lassen.
An diesem im Zuge des Schelling-Studiums nur beiläufig wahr-
nehmbaren Defizit ist natürlich eine in der Sache selbst liegende Schwie-
rigkeit schuld, die jedenfalls in den Schleiermacherschen Kategorien sehr
deutlich bezeichnet werden kann: Religion ist keine Gottesmetaphysik,
sie artikuliert sich nicht spekulativ, und umgekehrt ist der metaphysische
Gott kein religiöses Problem. Schleiermacher hat in der zweiten seiner
»Reden über die Religion« — und Schelling hat, wie wir sahen, den
Text gekannt — die Religion von den klassischen Religionsideen der
Aufklärung, ausdrücklich jedenfalls von dem Gottesbegriff und dem
Gedanken der Unsterblichkeit unabhängig gemacht. Er hat in diesem
Zusammenhang sogar das Wort Atheismus in Gelassenheit einen Augen-
blick hörbar gemacht, und d. h. jenen Begriff am Horizont des Denk-
baren aufscheinen lassen, der, aus der Feder Jacobis erflossen, Schelling
bis zur Weißglut gereizt hat. Aber ebenso ist es nicht im Horizont des
Denkbaren, daß man sich ohne Religion zu Gott bekennen, daß man ihn
ohne Religion erkennen könne.
Diese Sätze bedürfen nun freilich der Interpretation.8 Denn einmal
läßt sich die Religion nicht eindeutig beschreiben, etwa nur als Gefühl
als Ahndung u. dergl., und zum ändern keinesfalls exklusiv zum Wissen
oder im Gegensatz zur Wissenschaft. Insofern hatte daher Schelling bei
seinen vernichtenden Schlägen gegen Jacobis Religionsbegriff das Recht
auf seiner Seite, wenn für ihn auch entscheidend sein mochte, daß sich die
von Jacobi so beschriebene Religion keiner Spekulation einfügen lassen
würde. Natürlich hatte Schelling Jacobi sozusagen in seiner Naivität
ertappt, der mit seinem Religionsbegriff in Gegensatz zum philosophi-
schen Erkennen geraten mußte und wollte. Aber man kann sich der
»Religion« nicht dadurch erwehren, daß man sie an die Kompetenz der
Psychologie verweist.
Aber es muß im Interesse der Interpretation des Religionsbegriffs
noch auf etwas anderes verwiesen werden. Die Religion erweist sich in
»religiösen Akten«, um an diesen Zentralbegriff Max Schelers zu er-
innern: im Glauben und Vertrauen zu Gott, im Gebet, im »Hören des
Wortes«, das zu uns gesprochen wird und das sich an unser Herz wendet;
in allen Formen des Transcendierens von der Erfahrung von »Welt«»
indem wir etwa den zufälligen Nebenmenschen als unseren »Bruder«
und »Nächsten« entdecken, erweist sich »Religion«. Diese Religion ist
immer ein eigentümlicher Modus von »Erfahrung«, und immerhin hat
der alte Schelling sich auch auf »Erfahrung« bezogen und sie zu einer
kompetenten Instanz der Philosophie der Offenbarung erklärt.
8
Ich verweise hierzu im übrigen auf meine Religionsphilosophie, Berlin 1972.

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Der Gott der Philosophen und die kritische Funktion der Religion 129

Aber was kommt nicht alles im Lichte dieser Erfahrung zutage! Ich
möchte in dem begrenzten Rahmen dieser Darlegung nur auf zweierlei
aufmerksam machen. Erstens auf dieses: Alle denkbaren »religiösen
Akte« haben ihre Kehrseite, d. h. sie sind auch im negativen Modus be-
kannt: Das Ruhen in Gott wird zur Gottverlassenheit, die offene Tür
des Gebets verschließt sich im Schweigen Gottes, an die Stelle des Ver-
trauens und der Geborgenheit tritt die Verzweiflung; die Freude an der
Geschöpflichkeit der Schöpfung wandelt sich in die reine Profanität. In
der Erfahrung des Leides finden wir keinen »Sinn« mehr. Und doch ge-
hört auch dieses Bewußtsein von Sinn-Bedürftigkeit in die Phänomene
von »Religion«. Denn in jedem Modus, in dem der positiven Erfahrung
wie in der finsteren Kehrseite der »religiösen Akte« befinden wir uns
nicht außerhalb der menschlichen Vernunft 9 .
Das andere ist dieses: Die Erfahrung der lebendigen und konkreten
Religion ist unsere Religion. Wir erfahren uns selbst in ihr, wir sind in
ihr, oder, um die bekannte Wendung Tillichs in Erinnerung zu rufen:
Religion handelt von dem, was uns unmittelbar angeht. Fremde Religion
und was wir von ihr wissen können, wie sie sich in der Religions-
geschidite manifestiert — das ist ein anderes Kapitel, von dem hier nicht
die Rede ist. Ebenso ist es ein anderes, hier nicht zu verhandelndes Kapi-
tel, wie sich diese »unsere« Religion in unserem Bewußtsein manifestiert.
Denn es gibt da viele Übergänge von der ursprünglichen Erfahrung zur
Kopie, zur Konvention, sowie von der vollen Bewußtheit zur Latenz,
zum Vergessen usw. Wir haben hier keine Religionspsychologie im Sinn.
Aber auf jeden Fall ist die lebendige und konkrete Religion unsere Reli-
gion, anders ausgedrückt: sie ist existentiell10.
Um auf Schelling zurückzukommen: Eine so verstandene Religion
wird zur kritischen Instanz der spekulativen Gotteslehre. Denn diese
»Religion« wird kein Denken ohne Erfahrung ertragen; sie wird nicht
zulassen, daß das konkrete, persönliche Ich ins Absolute entgleitet und
daß wir uns angesichts des Dramas einer spekulativen Heilsgeschichte,
einer »höheren Geschichte«, mit der Rolle von Zuschauern zufrieden
geben.

Schelling war eine leuchtende Gestalt. Er stand nach einem strahlen-


den Aufgang in jugendlichen Jahren schon im Lichte des öffentlichen
Bewußtseins. Er war ein Fürst der Philosophie. Er hat in immer neuen
Entwürfen,das Denken seiner Epoche in Bewegung versetzt, er hat viel
versprochen, viele Hoffnungen erweckt, er hat die Könige seiner Epoche
fasziniert.
9
Vgl. hierzu auch Dietrich Rössler: Die Vernunft in der Religion. Serie Piper 135,
München 1976.
10
Darum bedeutet in der Predigt »existentielle« Interpretation eines Textes so viel
wie religiöse Interpretation, vgl. Paul Tillichs »Religiöse Reden«.

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130 Wolfgang T r i l l h a ä s

Sdielling hat sich, nachdem 1809 im Sterben der Caroline der


Todesengel sein Leben überschattet hatte, dann lange Zeit in den Mantel
des Schweigens gehüllt und im Weiterschreiten nur zögernd neue Hori-
zonte aufgeschlossen, immerfort Fragmente hinter sich lassend11.
Der alte Sdielling hat die nachkommene Generation, die nach Er-
kenntnis der Realität begierig war, nicht nur auf eine ideale Ansicht der
Natur, sondern mehr noch auf eine höhere Geschichte verwiesen, in
welcher die Menschen der Zeit ihre Welt nicht mehr wiederfanden und
sich selbst nicht wiedererkannten. Auch der von ihm inspirierte, wenn
auch wahrhaftig nicht inaugurierte Biblizismus war schon im selben
Augenblick, in dem er neu entfaltet wurde, von der historischen Kritik
wie vom nüchternen Pragmatismus der Ritschlschen Theologie über-
rundet.
So ging der alte Sdielling aus der über ihn hereinbrechenden Ver-
einsamung ins Vergessen. Ob es gelingen wird, diese Gestalt noch einmal
zu einem Gesprächspartner unseres Geschlechtes zu erwecken?

11
Der unbestechliche und vornehme Adolf Trendelenburg sagt in seiner Akademierede
vom 21. März 1861: Die Akademie der Wissenschaften unter der Regierung des
Königs Friedrich Wilhelm des Vierten (Kleine Schriften von A. Trendelenburg,
Erster Theil. Leipzig 1871): Wahrscheinlich fühlte sich der König selbst durch ihn
angezogen, durch Schellings ideale Anschauung der Kunst, durch die ans Positive
anklingende Betrachtung des Christlichen (sie!), durch die klare Schönheit seiner
Sprache, vielleicht auch durch die klassische Vornehmheit seines persönlichen
Wesens...« Und weiter heißt es dann: »Schellings akademische Abhandlungen, im
Problem spannend, aber immer vor der Lösung abbrechend, meistens von Aristote-
les ausgehend, aber zu Unaristotelischem hinstrebend, liegen jetzt in dem heraus-
gegebenen Nachlaß in einem größeren Zusammenhang vor, in welchem sie sich
ergänzen mögen«, (a. a. O. S. 302 f.)

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