Sie sind auf Seite 1von 4

Philosophisches Seminar – Die Religionsphilosophie Immanuel Kants

Handout 21.06.2023 (Andreas Löw)

Philosophische Religionslehre, Viertes Stück: „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft
des guten Prinzips, oder: Von Religion und Pfaffentum“, „Zweiter Teil: Vom Afterdienst Gottes in
einer statuarischen Religion“: B 255-296

Thema des vierten Kapitels insgesamt ist die moralische Entwicklung der Menschheit, nachdem die
„Herrschaft des guten Prinzips“ „öffentlich“ geworden ist. Kant behandelt in diesem Kapitel zusam-
menfassend die Grundsätze der Vernunftreligion, das Verhältnis von Vernunftreligion zu Kirchen-
glauben und die Unterscheidung von Gottesdienst und Afterdienst. Dieses Kapitel setzt die vorange-
henden voraus. Es ist eine Zusammenfassung und Weiterentwicklung der bisherigen Darstellungen.
Formal ist auffällig, dass Kant in B 255ff. der Religionsschrift erstmals Paragraphen für die Kapitel-
überschriften wählt.

Im einleitenden Absatz B 255 definiert Kant als Religionswahn die Verwechslung der nur auf Ver-
nunft gegründeten, universalen, einen Vernunftreligion mit dem auf historische Statuten gegrün-
dete, partikularen und in „gleich guten Formen“ möglichen Kirchenglaubens. Er definiert Wahn als
„die Täuschung, die bloße Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst für gleichbedeutend zu hal-
ten.“ (B 256) und beschreibt ihn in einer Anmerkung als Verwechslung von Mittel und Zweck.

Kant formuliert vier Schritte:


§ 1 (B 257-260): Vom allgemeinen subjektiven Grund des Religionswahns
Warum ist der Kirchenglauben so attraktiv für den einzelnen? Es ist nur zum Teil der Anthropomor-
phismus als solcher, der auch in theoretischen Überlegungen unvermeidbar, aber reflektiert ist. Er
ist „höchst gefährlich“ (B 257), wenn er in praktischer Hinsicht nicht mehr nur didaktisches Hilfsmit-
tel ist, sondern zu einer Verwechslung von Idee und Anschaulichkeit führt oder gar zur Maxime ge-
macht wird (B 260): „Wir machen uns einen Gott, wie wir ihn am leichtesten zu unserem Vorteil ge-
winnen können“ (B 257). Bsp.: Das uns nur durch unser moralisches Bewusstsein zugänglich Sitten-
gesetz, können wir metaphorisch als moralische Autorität, anthropomorphistisch als Geber des Sit-
tengesetzes fassen. Es kann nun die Pflicht gegenüber dem Sittengesetz mit dem Gehorsam gegen-
über einem in einem personalen Gottesbegriff gefassten Gegenüber verwechselt werden, und der
Gehorsam nicht mehr dem Sittengesetz, sondern „Gott“ gegenüber erbracht werden und gedacht
werden, „Gott“ nehme diesen Gehorsam anstelle eines moralischen Verhaltens an.
Warum ist das so attraktiv für den Menschen? Bequemlichkeit mit Bezug auf die eigenverantwort-
lich zu lebende Moralität. (B 257)

§ 2 (B 260-269): Das dem Religionswahne entgegengesetzte Prinzip der Religion


Kant kontrastiert in diesem Kapitel die Vernunftreligion, „die Religion des guten Lebenswandels“ (B
269) mit dem religiösen Aberglauben und dem religiösen Wahn. Für die Vernunftreligion ist nur das
der Vernunft zugängliche Sittengesetz die Handlungsnorm; sie geht von „Wirklichem“ (B 266) aus.
Jedes andere Tun, und sei es nur, dass Offenbartes an sich für wahr gehalten werden müsse, um
Gott wohlgefällig zu sein, ist Aberglaube (B 261). Der Trost der Vernunftreligion ist, dass sie „ohne
zu wissen, wie das, was sie hofft [nämlich vor Gott gerecht zu sein, A.L.] zugehe“ auf Gott vertraut
(B 263). Ein Tugendwahn gibt es also nicht (B 266).
Jede religiöse Abweichung von der Vernunftreligion ist entweder religiöser Aberglaube, d.h. ein
Glaube, der darin besteht, „durch religiöse Handlungen des Kultes etwas in Ansehung der Rechtfer-
tigung vor Gott auszurichten“ (B 267). Oder er ist religiöse Schwärmerei, die meint, mit besonderen
übersinnlichen Mitteln einen „vermeintlichen Umgange mit Gott“ zu haben.
§ 3 (B 269-287): Vom Pfaffentum als einem Regiment im Afterdienst des guten Prinzips
Der Paragraph 3 hat zwei Teile: Im ersten Teil geht es noch einmal um eine Kontrastierung von Kir-
chenglauben und Vernunftreligion, dieses Mal aber unter zeitlicher Perspektive und mit Blick auf die
Leistung der Organisation. Im zweiten Teil fragt Kant, welche Bedeutung der gelehrten Religion im
Zeitalter der Aufklärung zukommt.

Kant schildert zunächst die Entwicklung vom historisch früheren Tempel- zum Kirchendienst (B 269-
270); letzterer ist schon auf „moralische Bildung“ (ebd.) bezogen. Entscheidend ist nun ob als obers-
tes Konstitutionsprinzip der Kirche das moralische Prinzip oder der Religionswahn verstanden wird.
Im zweiten Fall ist die Kirche ein Mittel, um Einfluss auszuüben auf Gott, der als „vernünftiges We-
sen“, dem „Wille“ zugesprochen wird (B 271). Im ersten Fall ist die Kirche Endzweck der Welt. Die-
ser Begriff von Religion setzt Gott als Idee einer moralischen Weltursache voraus, weil nur diese
Idee garantiert, dass der denkbare Endzweck auch dem Endzweck der Welt entspricht. In der Be-
hauptung eines Wissens um eine Autorität, die höher ist als die Vernunft, sieht Kant die politische
Gefahr des Religionswahns.
Den Dienst in einer Kirche als Fetischdienst verstanden bezeichnet Kant als Pfaffentum.

Im zweiten Teil des § 3 diskutiert Kant die Frage, welche Bedeutung der gelehrte Religion im Zeital-
ter der Aufklärung zukommt. Kant betont, dass die Vernunftreligion nicht nur Sache der Gebildeten,
sondern „selbst der Unwissende oder an Begriffen Eingeschränkteste“ (B 278) muss daran Anteil
nehmen. Es gilt das Bewusstsein eines jeden auf das schon immer aktive moralische Bewusstsein zu
lenken. Es gilt, die Erziehung zur Religion mit der Tugendlehre zu beginnen, ihn beständig den Ruf
zur Aufklärung zu begleiten und die demotivierende Erfahrung, dass man am moralischen Sittenge-
setz immer wieder scheitert, durch die Gottseligkeitslehre zu neutralisieren, indem man „was nicht
zu ändern ist, als abgetan vorstellt“ (B 284). Gottseligkeitslehre ist also die „Vollendung“ der Tu-
gend, „um mit der Hoffnung der endlichen Gelingung aller unserer guten Zwecke bekrönt werden
zu können“ (B 286f.) Der „Moralischgläubige“ ist auf zweierlei Weise „offen […] für den Geschichs-
glauben“ (B 280): er wählt die Riten, die ihm als bestes Mittel „zur Belebungseiner reinen Religions-
gesinnung zuträglich“ (ebd.) erscheinen und er kann sich an jeden geltenden Ritus anpassen.

§ 4 (B287-296): Vom Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen (Genetiv subjektivus)


Glaubenssachen, also Religion bezeichnet Kant im Einleitungssatz als „bedenklichste[…] morali-
sche[…] Entschließungen“ (B 287). Er handelt in ihm von der notwendigen Bindung der Religion an
das moralische Bewusstsein, an das Gewissen. Kant hat bis 1792 diesen Begriff nur sehr sparsam
verwendet: einmal in der KpV, gar nicht in der GMS; dreimal in der 1791 erschienen Theodizee. Des-
halb ist die doppelte Definition an dieser Stelle grundlegend.
1. Definition: „Das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist.“ (B 287 ) Es ist
schwierig zu denken, wie ein Bewusstsein Pflicht sein kann (vgl. MdST A 37 – Gewissen kann
nicht erworben werden; Gewissen kann nicht Pflicht sein).
2. „Man könnte das Gewissen auch so definieren: es ist die sich selbst richtende moralische Ur-
teilskraft“ (B 288).
Kant geht vom moralischen Grundsatz aus: „man soll nichts auf die Gefahr wagen, daß es unrecht
sei“ (B287). Dem Gewissen kommt bei der Handlungsabwägung nicht die Rolle des Urteilens zu, ob
eine bestimmte Handlung vor dem Sittengesetz gerechtfertigt werden kann oder nicht, sondern das
Gewissen ist das Bewusstsein darüber, ob überhaupt moralisch-praktisch geurteilt wurde: „hier
rechtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurteilung der Handlungen mit aller Be-
hutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe“ (B 288). Er führt aus, dass nur von
der eigenen Vernunft gerechtfertigte Handlungen diesem Anspruch genügen, nie aber nur histori-
sche, statuarische Gebote. (Ketzerrichter (B 289f), Festsetzung Feiertag (B 291).
Zur Freiheit werden Menschen nur dadurch reif, dass sie in Freiheit gesetzt werden. (B 292).
Kant kritisiert die „sogenannte Sicherheitsmaxime“, die unter dem Namen Pascalsche Wette be-
kannt wurde scharf. Sie lautet: „Ist es wahr, was ich von Gott bekenne, so habe ich´s getroffen; ist
es aber nicht wahr, … so habe ich es bloß überflüssig geglaubt“. Sie ist abzulehnen, weil der Grund-
satz, auf Verdacht zu glauben, der Pflicht zur Wahrhaftigkeit widerspricht. Er ist schädlich, weil er
eine Pädagogik befördert, die nur auf Auswendiglernen und Heuchelei setzt, nicht die Aufklärung
und Autonomie.
020026 (SE): Philosophisches Seminar – Die Religionsphilosophie Immanuel Kants
LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. theol. Christian Danz

Handout 21.06.2023 (Andreas Löw)

Philosophische Religionslehre, Viertes Stück: „Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft
des guten Prinzips, oder: Von Religion und Pfaffentum“, „Zweiter Teil: Vom Afterdienst Gottes in
einer statuarischen Religion“: B 255-296

Thema: Die moralische Entwicklung der Menschheit, nachdem die „Herrschaft des guten Prinzips“
„öffentlich“ geworden ist.

Kant formuliert vier Aspekte:


§ 1 (B 257-260): Vom allgemeinen subjektiven Grund des Religionswahns
Warum ist der Kirchenglauben so attraktiv für den einzelnen?
Anthropomorphismus in praktischer Hinsicht, der nicht mehr nur didaktisches Hilfsmittel ist, führt
zu einer Verwechslung von Idee und Anschaulichkeit oder wird gar zur Maxime gemacht (B 260).
Warum ist das so attraktiv für den Menschen? Bequemlichkeit mit Bezug auf die eigenverantwort-
lich zu lebende Moralität. (B 257)

§ 2 (B 260-269): Das dem Religionswahne entgegengesetzte Prinzip der Religion


Kant kontrastiert in diesem Kapitel die Vernunftreligion, „die Religion des guten Lebenswandels“ (B
269) mit:
a) religiösem Aberglauben: ein Glaube der darin besteht, „durch religiöse Handlungen des Kul-
tes etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten“ (B 267)
b) religiösem Wahn: religiöse Schwärmerei, die meint, mit besonderen übersinnlichen Mitteln
einen „vermeintlichen Umgange mit Gott“ zu haben.

§ 3 (B 269-287): Vom Pfaffentum als einem Regiment im Afterdienst des guten Prinzips
Der Paragraph ist zweigeteilt. Im ersten Teil geht es noch einmal um eine Kontrastierung von Kir-
chenglauben und Vernunftreligion, dieses Mal aber unter zeitlicher Perspektive, mit Blick auf die
prinzipielle Egalität aller Glaubensformen (B 270f.), mit der Beziehung und Hierarchie zwischen Kir-
chenglauben und Vernunftreligion (B 271f) und dem „Fetischmachen“ (B 273f.). Im zweiten Teil (B
278ff.) fragt Kant, welche Bedeutung der gelehrten Religion im Zeitalter der Aufklärung zukommt.

§ 4 (B287-296): Vom Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen (Genetiv subjektivus)


Kant handelt im Paragraph 4 von der notwendigen Bindung der Religion an das moralische Bewusst-
sein, an das Gewissen.
1. Definition: „Das Gewissen ist ein Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist.“ (B 287; vgl.
MdST A 37 – Gewissen kann nicht erworben werden; Gewissen kann nicht Pflicht sein).
2. „Man könnte das Gewissen auch so definieren: es ist die sich selbst richtende moralische Ur-
teilskraft“ (B 288).
Kant führt aus, dass nur von der eigenen Vernunft gerechtfertigte Handlungen dem Anspruch des
Gewissens genügen, nie aber nur historische, statuarische Gebote. Der Ketzerrichter (B 289f.) rich-
tet gewissenlos, weil er gegen das oberste Gebot in Glaubensdingen verstößt, nämlich nichts zu tun,
wovon er nicht wissen kann, ob es unrecht ist. Er kann Gottes Willen nicht kennen. Aber was er wis-
sen kann, ist, dass es unrecht ist, über einen anderen Menschen in Glaubenssachen zu richten.

In einer Anmerkung bezieht Kant Stellung zur Frage, ob und wann Menschen Freiheit zuzugestehen
ist: Zur Freiheit werden Menschen nur dadurch reif, dass sie in Freiheit gesetzt werden. (B 292).

Kant kritisiert die Pascalsche Wette (Sicherheitsmaxime): „Ist es wahr, was ich von Gott bekenne, so
habe ich´s getroffen; ist es aber nicht wahr, … so habe ich es bloß überflüssig geglaubt“ (B 293).

Kant endet mit einer hymnischen Anrufung von Asträa (Ovid, Met. I,149f.), der Aufrichtigkeit.

Das könnte Ihnen auch gefallen