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Der Bezug auf die Lebenspraxis konstituiert nidit nur eine besondere theologische
Disziplin, sondern die Theologie insgesamt. Daß Theologie die göttliche als die alles
bestimmende Wirklichkeit in ihrer Strittigkeit zum Gegenstand hat, das hängt ja
damit zusammen, daß die Wirklichkeit im ganzen noch unabgeschlossen ist. Die
Fragen nach der alles bestimmenden Wirklichkeit und nach dem Sinnzusammenhang
des Lebens greifen darum über das Vorhandene und theoretisch Feststellbare hinaus
auf das noch nicht Vorhandene über, und damit auch auf das durch menschliche
Praxis Hervorzubringende.
Der praktische Charakter der Theologie als ganzer ist ihr in ihrem Selbstver-
ständnis als praktische Wissenschafl1 nur in beschränkter Weise bewußt geworden.
Der die Theologie in dieser Auffassung konstituierende Bezug auf Gott als den
letzten Zweck und das höchste Gut des Mensdien wurde gewöhnlich eingeengt auf
die Frage nach den Bedingungen und Mitteln des individuellen Heils. Sogar Calvin
hat die Kirche unter die äußerlidien Mittel, die zum Heil führen, eingereiht. Daß im
Heilsziel selber Individuum und Gesellschaft zusammengehören, weil die christliche
Hoffnung auf das Reich Gottes die Vollendung der Gesellschaft als Bedingung des
Heils der Individuen zum Inhalt hat, — das trat gegenüber der Präponderanz der
individuellen Heilsfrage bei der Konstruktion der Theologie als praktisdier Wissen-
schaft in den Hintergrund. Allerdings hat der Gedanke des Reiches Gottes in der
neueren Geschichte des Christentums erhebliche Wirkungen gehabt. Die englische
Revolution des 17. Jahrhunderts und der Puritanismus sind ohne ihn nicht zu den-
ken. In der deutschen Aufklärung wurde er seit Leibniz ethisch gewendet zum Ziel-
begriff der sittlichen Bestimmung des Menschen. In der Religionsphilosophie Kants
hat der sozialethisdie Sinn der Idee des Reiches Gottes klaren Ausdruck gefunden,
obwohl die politische Relevanz des Gedankens gebrochen wurde durch Kants Ent-
gegensetzung von Recht und Moral.2 In der Theologie des 19. Jahrhunderts sind
diese Motive bis zu A. Ritsehl und darüber hinaus bis zum religiösen Sozialismus
des 20. Jahrhunderts wirksam geblieben, aber stets auf der Basis der sozialen Ver-
pflichtung individueller sittlicher Selbstverwirklichung. Die Kirche konnte in diesem
Sinne als institutionelle Gestalt des, wie Ritsehl meinte, von Jesus begründeten sitt-
liehen Reiches Gottes erscheinen; sie konnte auch, wie bei R. Rothe, aufgehen im
sittlichen Staat. In beiden Fällen blieb jedodi der ethische Individualismus die
Grundlage. Das Verhältnis von Kirche und Staat, sowie seine neuzeitliche Geschichte,
sind kaum unter dem Gesichtspunkt der im Gedanken des Reiches Gottes gesetzten
und zugleich aufgehobenen Dialektik von Individuum und Gesellschaft in den Blick
gekommen. Daß der ethische Individualismus die einseitige Grundlage der ethischen
Interpretation der Reich-Gottes-Idee blieb, kann zum Verständnis der Tatsache bei-
tragen, daß es von da aus nicht zu einer Oberwindung der individualistischen Eng-
führung im Begriff der Theologie als praktischer Wissenschaft gekommen ist, son-
dern allenfalls zu einer sekundären Ausweitung auf die ethische Lebenspraxis des
Christentums. Überdies aber war der Begriff der Theologie insgesamt als praktischer
Wissenschaft im Protestantismus so eng mit der analytischen Methode der ortho-
doxen Dogmatik verbunden gewesen, daß er mit deren Niedergang im 18. Jahrhun-
dert in den Hintergrund getreten war. Statt dessen hatte sich ein anderes Verständ-
nis von »praktischer Theologie« herausgebildet.
In seiner Institutio theologiae moralis hat J. F. Buddeus 1711 die Moraltheologie
als im spezifischen Sinne »praktische« Theologie charakterisiert, sofern sie mit den
agenda im Unterschied zu den credenda befaßt ist. Zwar heiße die gesamte Theolo-
gie scientia practica im Hinblick auf ihren Zweck. Für ihren handlungswissenschaft-
lichen Teil aber sei dieser Name noch in einem spezielleren und strikten Sinne üblich,
nämlich als Bezeichnung auch des Gegenstandes der dazu gehörigen Disziplinen. 1
Die Bezeichnung »praktische Theologie« für die Moraltheologie geht auf einen älte-
ren, aber engeren Sprachgebrauch zurüdk, der unter diesem Titel die auf Seelsorge
und Beichtpraxis bezüglichen Kenntnisse zusammenfaßte. Für diese Aufgabe war
seit der 4. Lateransynode 1215 jeder Metropolitankirche die Anstellung eines Magi-
sters vorgeschrieben. Er sollte außer der heiligen Schrift vor allem die Kenntnisse
vermitteln, die sich auf die Seelsorge beziehen (quae ad curam animarum spectare
noscuntur). Die entsprechende Literatur wurde im Unterschied zur spekulativen als
praktische Theologie bezeichnet.4 In diesem Sinne ist auch auf der Dordrechter
Synode von einer theologia practica die Rede, die sich auf die verschiedenen Gewis-
sensfragen bezieht. 6 Entsprechend bezeichnet nach J. H . Aisted (1623) der Begriff
theologia practica »in den Schulen« die theologia casuum.· Dieses Thema konnte zu
3
J. F. BUDDEUS: Institutio theologiae moralis. Leipzig 1711. prol. § 4 (p. 6): Ea vero
theologiae pars . . . quae agenda seorsum considerat, practica vocari solet, ab obiecto scilicet,
non a fine. Ratione finis enim omnia theologia practica est. Dicitur et moralis, voce ista
latius aeeepta. Die letztere Einschränkung wird § 10 p. 9 dahingehend erläutert, daß neben
der Moral im engeren Sinne noch die iurisprudentia divina und die prudentia christians als
Disziplinen circa agenda zu berücksichtigen wären. Cf. audi J. F. Buddei Isagoge historico-
theologica ad theologiam universam singulasque eius partes. Leipzig 1727. p. 545: Quae
circa agenda versatur theologia, practica vocari solet, itemque moralis, voce hac in latiori
significatione aeeepta. In strictiori enim si sumitur, theologia moralis eam theologiae prac-
ticae partem denotat, qua docet, quo pacto homo regenitus in vitae sanetae studio rite pro-
gredi atque proficere debeat.
* E. Chr. ACHELIS: Lehrbuch der praktischen Theologie I (1890) 3. Aufl. Leipzig 1911.
S. 9 f. nennt besonders J. MOLANUS: Theologiae practicae compendium. Köln 1590, und ver-
weist im übrigen auf J. Fr. v. SCHULTE: Die Geschichte der Quellen und Literatur des Cano-
nischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart II. 1877. S. 521 f. Das Verhältnis zwischen
diesem Sinn des Begriffs »praktische Theologie« und dem einer »Theorie des frommen Le-
bens« (ACHELIS: S. 5 ff.) scheint mir fließend zu sein.
4
ACHELIS: а . а . O . , S . 1 2 .
* J. H . ALSTED: Methodus ss. theologiae. Hannover 1623. p. 121: Usitata est in Sdiolis
distinetio Theologiae in positivam, sdiolasticam et in controversara... (122:) Theologia
practica illis specialiter dicitur theologia casuum.
einer christlichen Ethik oder Moraltheologie ausgeweitet werden, wie es bei Calixt
und unter dem Namen einer praktischen Theologie bei H . Nyssen geschah. 7 1646
faßte Gisbert Voetius in seiner disputatio de theologia practica Moraltheologie,
Aszetik und »Kirdienpolitik« zusammen, wobei die letztere Liturgik, Kirchenzucht
und Homiletik umfaßte. 8 Hier sind die besonderen Aufgaben des Pfarrers in den
allgemeinen Rahmen einer theologischen Handlungswissenschaft einbezogen, die
ihre Basis in der Moraltheologie hat. In der Folgezeit ist jedoch der Begriff der prak-
tischen Theologie, wie schon bei Buddeus angebahnt·, ganz mit dem der Moraltheo-
logie identifiziert worden, so daß die Pastoraltheologie 10 als Inbegriff des speziellen
Berufswissens des Pfarrers aus diesem Begriff herausfiel.
So hat G. J. Planck 1795 Moraltheologie und praktische Theologie als Wechsel -
begriffe genommen, während er die Pastoraltheologie als »angewandte« Theologie
aus dem Begriff der theologischen Wissenschaft ausschloß. 11 Soldie Eliminierung ist
konsequent, wenn diese Disziplin sich lediglich an den verschiedenartigen Berufs-
bedürfnissen des Pfarrers orientiert, ihren Gegenstand jedoch nicht als ein notwen-
dig zum Begriff der Theologie gehöriges Moment aus diesem zu entwickeln vermag
und sich statt dessen mit dem Status einer »angewandten Wissenschaft« begnügt. 12
Angesichts dieser Problemlage ist es verständlich, daß Schleiermachers Konzeption
einer »Praktischen Theologie« im Rahmen seiner theologischen Enzyklopädie ge-
radezu als Neubegründung der um eben diese Zeit zum eigenen Universitätslehrfadi
gewordenen Disziplin 1 1 wirken konnte, die, in Schleiermadiers eigenen Worten,
' ACHELIS: а. а. O., S. 5 ff. Achelis verfolgt die Gegenüberstellung von theoretischer und
praktischer Theologie über G. J. Planck hinaus bis zu Marheineke und M. Kahler.
Β G. VOETIUS: Selectae disputationes theologicae pars III. 1646, zit. nach ACHELIS: а. а. O.,
S. 1 2 .
* Man beadite in den oben Anm. 3 zitierten Sätzen, wie Buddeus noch einen engeren und
einen weiteren Sinn von Morahheologie unterscheidet, wobei nur der letztere mit dem Be-
griff der praktischen Theologie zusammenfällt.
10
Zur Literatur der Pastoraltheologie seit Erasmus Sarcerius: (Pastorale oder Hirtenbuch
vom Ampt, Wesen und Disziplin der Pastoren und Kirchendiener usw., 1550) siehe C. F.
STAUDLIN: Lehrbuch der Encyklopädie, Methodologie und Geschichte der theologischen Wis-
senschaften. Hannover 1821. S. 341.
11
G. J. PLANCK: Einleitung in die theologischen Wissenschaften II. 1795, gebraucht p. 543
die Begriffe Moraltheologie und praktische Theologie als gleichsinnig. Dagegen behandelt er
»diejenige theologische Wissenschaften, die zu der angewandten Theologie gehören«, nur an-
hangweise (593 ff.). Denn: »Für den Theologen mögen sie unentbehrlich sein — wiewohl
nicht einmal für jeden — aber zu der Theologie selbst können sie es nicht sein!« ( 5 9 8 ) . Sie
tragen nichts bei »zu einer deutlicheren, entwickelteren und festen Erkenntnis der Religions-
wahrheiten selbst« ( 5 9 8 f.), verdienen audi nicht den Namen eigener Wissenschaften ( 5 9 9 ) ,
sondern wenden lediglich Rhetorik und Pädagogik auf den theologischen Stoff an: »Es ist
also bei diesen angeblichen eigenen Wissenschaften gar kein Gegenstand zu einem eigenen
wissenschaftlichen Studio vorhanden« (600).
12
Die Auffassung der praktischen Theologie als einer »angewandten« Wissenschaft ist
später audi von K. R . HAGENBACH (Encyklopädie 11. Aufl. 1844. S. 422 f.) und von G.
H E I N R I C I (Theologische Encyklopädie. 1893. S . 283 f.), sowie neuerdings von H . SCHRÖER
(Der praktische Bezug der theologischen Wissenschaft auf Kirche und Gesellschaft. In: H. SIE-
M E R S / H . - R . REUTER (Hg.): Theologie als Wissenschaft in der Gesellschaft. Göttingen 1970.
S. 156 ff.; bes. S. 164) befürwortet worden. Dabei scheinen sich diese Autoren jedoch nicht
darüber im klaren zu sein, daß — wie die Kritik von Planck gezeigt hat — diese Auffassung
darauf hinausläuft, der praktischen Theologie die Stellung eines notwendigen Elementes der
theologischen Wissenschaft abzusprechen. Gegen ihre Auffassung als angewandte Wissen-
schaft hat sich im 19. Jahrhundert u. a. Chr. D. F. PALMER (Zur practischen Theologie. In:
Jahrbuch für dt. Theologie 1856, I. S. 317—361, 323, zit. bei HAGENBACH: S. 422) gewandt,
sowie in der heutigen Diskussion G. Otto. (G. OTTO (Hg.): Praktisch-theologisdies Hand-
buch. Hamburg 1970. S. 24).
18
Auf katholischer Seite war die Pastoraltheologie 1777 in Wien auf Grund der Studien-
reform der Kaiserin Maria Theresia von 1774 selbständige Universitätsdisziplin geworden
»bisher mehr in bezug auf das Kleine und Einzelne, als auf das Große und Ganze
als Theorie behandelt« worden war.14 Sdileiermacher wies in seiner »Kurzen Dar-
stellung des theologisdien Studiums« 1811 der praktischen im Unterschied zur phi-
losophischen und historischen Theologie die Darstellung der »Technik« der kirchen-
leitenden Tätigkeit zu. ls Da nun nach Sdileiermacher die Aufgabe der Theologie
insgesamt auf die Bedürfnisse der Kirchenleitung bezogen ist und die theologisdien
Disziplinen nur in diesem praktischen Bezug ihre Einheit haben sollen (§ 5 f.), so ist
in der Tat der ganze Theologiebegriff schon auf die praktische Theologie hin ent-
worfen, und umgekehrt wird diese trotz der etwas dürren Beschreibung ihrer Auf-
gabe als Darstellung einer Tedinik des kirchlichen Handelns doch aus dem Theolo-
giebegriff selbst abgeleitet als Abschluß und »Krone des theologischen Studiums«1'.
Die Problematik dieser Lösung hängt mit dem Formalismus von Sdileiermadiers
Theologiebegriff überhaupt zusammen: Es zeigte sich, daß die Einheit der Theologie
auch bei ihm faktisch keineswegs nur aus der Beziehung der versdiiedenen Diszipli-
nen auf die Aufgabe der Kirdienleitung, sondern durchaus auch innerlich aus dem
Wesen des Christentums begründet ist, obwohl dieser faktisdie Begründungszusam-
menhang in Schleiermachers expliziten Theologiebegriff nicht eingegangen ist. Wenn
aber der Bezug auf die Aufgabe der Kirchenleitung entgegen Schleiermadiers Ver-
sicherung faktisdi audi bei ihm gar nicht die Einheit der Theologie begründet, diese
vielmehr auch bei ihm im Wesen des Christentums verankert ist, dann stellt sich die
Herleitung der praktischen Theologie als einer bloßen Technik des kirchenleitenden
Handelns als eine Scheinlösung der Aufgabe dar, die Notwendigkeit der praktischen
Theologie aus dem Begriff der Theologie selbst zu erweisen. Eine Folge des Forma-
lismus in Sdileiermadiers enzyklopädischer Begründung der praktischen Theologie
dürfte übrigens die Tatsache sein, daß er in seinen Einzelausführungen den gegebe-
nen institutionellen Rahmen der Gemeindepraxis unbesehen übernommen und zum
Ausgangspunkt seiner Darstellung gemacht hat, so daß W. Jetter urteilen konnte, im
ganzen sei Sdileiermadiers Entwurf »doch ein Konzept für die Pastorenkirche ge-
blieben, fast sogar deren Rechtfertigung geworden«.17
Eine sachgerechte Lösung der Aufgabe, die Disziplin der praktischen Theologie
aus dem Theologiebegriff überhaupt zu begründen, muß anders, als es bei Sdileier-
macher geschehen ist, vom Wesen des Christentums selbst ausgehen. In dieser Ridi-
tung ist denn audi nicht zufällig die Diskussion um die Grundlegung der prakti-
schen Theologie nach Schleiermadier weitergegangen.
(vgl. dazu H. Schuster im: Handbuch der Pastoraltheologie. Praktische Theologie der Kirdie
in ihrer Gegenwart I, 1964, 40—92). Auf evangelischer Seite wurde die Forderung des Hype-
riussdiülers W. Zepper von 1595 nadi Anstellung eines professor practicus (Achelis: Lehr-
buch I 3. Aufl. 1911, 12) erst 1794 mit der Schaffung eines Lehrstuhls in Tübingen erfüllt
(D. RÖSSLER: Prolegomena zur praktischen Theologie. ZThK 64 (1967), S. 357).
1 4 F. SCHLEIERMAGHER: Kurze Darstellung des theologischen Studiums. 1. Aufl. 1811 p. 8,
§ 32 (Scholz 10).
™ ebd. 2. Ausg. 1830, § 35. Vgl. § 260 (Scholz 100): »Die praktische Theologie will nicht
die Aufgabe riditig fassen lehren; sondern indem sie dieses voraussetzt, hat sie es nur zu tun
mit der richtigen Verfahrensweise bei der Erledigung aller unter den Begriff der Kirchen-
leitung zu bringenden Aufgaben.« Für die richtige Fassung der Aufgabe selbst sei »durch die
Theorie nichts weiter zu leisten, wenn philosophische und historische Theologie klar und im
richtigen Maß angeeignet sind« (ebd.).
i« ebd. 1. Ausg. 1811, p. 8, % 31 (Scholz 10).
IEA Vgl. hierzu W. PANNENBERG: Wissenschaftstheorie und Theologie. Frankfurt 1973.
S. 216 ff.
" W. JETTER: Die Praktische Theologie. ZThK 64 (1967) S. 451 ff., Zitat S. 463. Vgl.
dazu §§ 277 ff. der zweiten Ausgabe von Sdileiermadiers Kurzer Darstellung.
gestellt, sondern mit dem Glanz einer »Verwirklichung des Reiches Gottes in der
Kirdie und durch die Kirdie in der Welt« (A. D. Müller) umgeben werden.
Gegenüber solchen Aporien, die sich aus der Abhängigkeit der praktischen Theo-
logie von einem dogmatischen Kirchenbegriff ergeben, hat D. Rössler auf das »Ver-
mächtnis« Chr. Palmers zurückgegriffen, nämlich auf Palmers Vorschlag von 1856,
die praktische Theologie nicht auf die Dogmatik, sondern auf die Ethik zu begrün-
den. Während der Dogmatik nach Palmer das »Durchsichtigmachen der göttlichen
Tatsachen« in ihrer Notwendigkeit zukommt, stehe solcher Notwendigkeit gegen-
über »dasjenige, was noch nicht Tatsache ist, es aber werden soll, und zwar nicht im
Sinne einer göttlichen Notwendigkeit, sondern durch menschliche Freiheit«." Auf
die Freiheit des Menschen beziehen sich nun nadi Palmer sowohl die Ethik als auch
die praktische Theologie. Die Sittenlehre habe es mit dem christlichen Leben zu tun,
die praktische Theologie mit dessen kirchlicher Gestalt, mit dem kirchlichen Leben.
Palmer erneuert damit im Prinzip die Konzeption, die Voetius im 17. Jahrhundert,
allerdings ohne Palmers prinzipielle Trennung von Dogmatik und Ethik, entwickelt
hatte. Palmer betont damit gegen Marheineke, daß das Christentum überhaupt in
erster Linie Sache des Lebens sei und erst in zweiter Linie Sache des Gedankens. Dar-
um sieht er die praktischen Disziplinen in der Nähe zur Geschichte, aber im Gegen-
satz zur Dogmatik. Palmer steht damit, obwohl er Schleiermachers Beschränkung
der praktischen Theologie auf eine »Technik« des kirchlichen Handelns nicht folgt,
seiner Gesamtkonzeption recht nahe; denn auch für Schleiermadier gehörten ja Ethik
und Geschichte zusammen. Das Verhältnis zwischen beiden hat sich bei Palmer um-
gekehrt, aber die These, daß die praktische Theologie mit der Ethik in der histori-
schen Theologie verankert sein müsse, liest sich wie eine Weiterbildung Schleier-
macherscher Ansätze in der Richtung, in der Dilthey ihre Grundlagen umgestalten
sollte. Allerdings, so wenig Schleiermacher die Ethik der Geschichte ein- und unter-
ordnete, so sehr hat er das im Hinblick auf die Dogmatik getan, die Palmer nun, der
Abgrenzung gegen die spekulative Theologie zuliebe, jenen beiden entgegensetzte.
Die immanenten Schwierigkeiten von Palmers Konzeption treten schon dadurch
zutage, daß er selber nicht um Anleihen bei der Dogmatik herumkam. Auch er
konnte weder den Kirchenbegriff, noch die Gedanken der Erlösung und Versöhnung
durch Christus entbehren. Die Auskunft, daß es sidi bei den diesbezüglichen Aussa-
gen nicht um Lehnsätze aus der Dogmatik handle, sondern um einen selbständigen
Zugang zu denselben Themen*®, ist wenig überzeugend. Sie wird überhaupt nur ver-
ständlich auf dem Hintergrund von Palmers übersteigerter Forderung eines Nach-
weises der göttlichen Notwendigkeit in den Tatsachen der Offenbarungsgeschichte
durch die Dogmatik. Demgegenüber ist es allerdings richtig, daß es andere, histo-
risch-empirische Zugangsweisen zur Realität der Kirche und zur Erfahrung der Er-
lösung und Versöhnung durch Christus gibt. Aber in diesem Lebenszusammenhang
ist doch auch die dogmatische Reflexion immer schon verwurzelt. Das hat Schleier-
macher richtiger gesehen. Historisch-Faktisches läßt sich nicht in Notwendiges auf-
lösen. Das kann also auch nicht Aufgabe der Dogmatik sein. Ebenso einseitig bleibt
es, menschliche Freiheit lediglich durch ihren Gegensatz zur Notwendigkeit zu be-
stimmen. Eine Theorie der konkreten Freiheit und ihrer geschichtlichen Vermittlung
» Chr. D. F. PALMER: Zur praktischen Theologie (Jahrb. f. dt. Theologie 1856/1. S. 317
bis 361. Zitat S. 331) bei D. RÖSSLER: Prolegomena zur Praktischen Theologie. ZThK 64
(1967) S. 367.
« S o RÖSSLER: а . а . O . , S . 3 7 0 .
44
durch das christliche Glaubensbewußtsein, wie Hegel sie angebahnt hat , würde den
Schein einer abstrakten Gegensätzlichkeit von Dogmatik und Ethik auflösen. 25
Der Versuch Palmers ist darum so lehrreidi, weil die heute verbreitete Forderung
nach einer empirisdi-kritischen im Gegensatz zur historisch-kritischen Theologie und
speziell nach einer wissenschaftstheoretischen Begründung der praktischen Theologie
im Rahmen der sozialen Handlungswissenschaften*· auf eine Wiederholung dieses
Versuchs mit anderen Akzentsetzungen hinauslaufen könnte. Wie gegenüber Palmer
die Unablösbarkeit christlicher Ethik von dogmatischen Voraussetzungen zu zeigen
ist, so gegenüber einer sich wissenschaftstheoretisch verselbständigenden Handlungs-
wissenschaft deren Angewiesenheit auf dem jeweiligen Handeln vorgegebene und
Handeln überhaupt erst ermöglichende Sinnerfahrung.*7 Dabei ist Sinn nicht primär
als Sinngebung in der Weise einer intentionalen Sinntheorie zu verstehen. Sinn ist
nidit in erster Linie in Sinnformeln und (wohl gar »geschlossenen«) Sinnsystemen 28
zu finden. Vielmehr geht das Erlebnis von Sinn von dem in der Einzelerfahrung
mitgesetzten Kontext aus, der jener Einzelerfahrung erst Bedeutung verleiht und
der durch Sinnformeln oder Sinnsysteme sekundär als Sinnzusammenhang erfahre-
ner Einzelbedeutung konstruiert und rekonstruiert werden kann, ohne aber dadurch
erschöpft oder mit derart »gesdilossenen« Sinnentwürfen vertauschbar zu werden.
Im Lebenszusammenhang solcher geschichtlichen Sinnerfahrimg ist sowohl die dog-
matische als auch die ethische Reflexion des christlichen Bewußtseins verwurzelt, und
dasselbe gilt für praktisch-theologische Theorien kirchlichen Handelns. Aus diesem
Grunde läßt sich in der Tat weder die Ethik noch die praktische Theologie einlinig
24
Siehe dazu meinen Vortrag: Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels.
In: Gottesgedanke und menschliche Freiheit. München 1972.78—113. Ich stimme mit T. Rend-
torff darin überein, daß »das Problem der Konstitution von Freiheit« das »zentrale Problem«
der Theologie unter den Bedingungen der Neuzeit ist (T. RENDTORFF: Theologie als Kritik
und Konstruktion. In: Theorie des Christentums. Gütersloh 1973. S. 182—200. Zitat S. 197).
Doch scheint »das Interesse an der reinen Erfassung des Selbstbewußtseins als Subjekt seiner
Bedingungen« (S. 194) eine fragwürdige Antwort auf dieses Problem nahezulegen, im Sinne
der These von der Selbstkonstitution des Subjekts, mit der schon Fichte gescheitert ist (D.
HENRICH: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Frankfurt 1 9 6 7 ) . Die Konstitution von Freiheit
(und damit des Subjektes selbst) wird erst dadurch zum Problem, daß sie nicht als Selbstset-
zung des Subjektes und also nicht schlechthin als Autonomie begreifbar ist.
25
Die Tatsache, daß es zu solchen Entgegensetzungen gekommen ist, läßt sich als Aus-
druck der emanzipativen Tendenzen der Aufklärung gegenüber der christlichen Glaubens-
überlieferung begreifen. Aber Emanzipation ist noch nicht Freiheit (siehe G. ROHRMOSER:
Emanzipation und Freiheit. München 1970). Sie kann, wie es Hegel als den in der Tradi-
tionskritik der Aufklärung verborgenen Widerspruch erkannte, die Grundlagen des Bewußt-
seins der Freiheit selbst zerstören, wenn dieses durch eben die Tradition vermittelt ist, von
der man sich zu emanzipieren strebt.
26
Eine derartige Forderung wird heute von verschiedenen Seiten erhoben, so einerseits
von H.-D. BASTIAN (Vom Wort zu den Wörtern. Karl Barth und die Aufgaben der prakti-
schen Theologie. EvTheol 2 8 ( 1 9 6 8 ) S. 2 5 — 5 5 , bes. S. 4 0 ff. im Anschluß an G. KRAUSE.
ZThK 6 4 ( 1 9 6 7 ) S . 4 8 4 ) und andererseits von H. SCHRÖER (art. cit. o. Anm. 1 2 , S . 1 6 0 ) .
Schröers Anknüpfung an Habermas' Begriff von erkenntnisleitenden Interessen durch die
Versicherung, daß Glaube das erkenntnisleitende Interesse der Theologie sei (S. 166 f.) hat
allerdings nur den Charakter metaphorischer Adaptation einer eingängigen Vokabel. H. R.
Reuter hat im gleichen Band S. 187 f. die Inkommensurabilität von Habermas' Begriffsbil-
dung mit ihrer Verwendung durch Schröer treffend hervorgehoben.
27
Dazu W. PANNENBERG: Wissenschaftstheorie und Theologie. Frankfurt 1 9 7 3 . S. 7 1 — 8 8 ,
bes. S. 8 1 ff., S. 8 8 f.
28
So K.-W. D A H M : Religiöse Kommunikation und kirchliche Institution. In: D A H M / L U H -
MANN/STOODT: Religion — System und Sozialisation. Darmstadt/Neuwied 1 9 7 2 . S . 1 3 3 — 1 8 8 ,
bes. S. 174 und S. 182. Diese Formulierungen erklären sich auf dem Boden der intentionalen
Sinntheorie von N. Luhmann, über die hinaus Dahm jedoch offensichtlich (S. 175 f., S. 182)
einen ursprünglicheren Zugang zur Sinnerfahrung sucht.
von Dogmatik, Ethik und praktischer Theologie erscheint, impliziert keine Histori-
sierung der Theologie im Sinne einer Absorbierung durch antiquarische Stoffe. In
diese Sackgasse gerät nur ein historisches Bewußtsein, das im Partikularen stecken
bleibt und nicht mehr auf die Totalität der Geschichte reflektiert. Eine auf die Tota-
lität der noch unvollendeten Geschichte bezogene Beschäftigung mit historischen The-
men wendet sich immer wieder zur Gegenwart und zur Praxis zurück. Sie gewinnt
durch Auseinandersetzung mit der Geschichte ein nur so erreichbares inhaltsvolles
Verständnis der Gegenwart und eine Orientierung der Praxis an den Implikationen
begriffener Geschichte.
Jede Grundlagenreflexion über Sinn und Aufgabe praktischer Theologie muß den
Begriff der Praxis klären, dem diese Disziplin ihren Namen verdankt. Was Praxis
heißt, versteht sich nicht von selbst. Darum ist die Frage nach dem Verhältnis von
Theorie und Praxis neuerdings mit Recht in den Mittelpunkt der Diskussion über
das Selbstverständnis praktischer Theologie gerückt.** Die weit über ein bloßes Po-
lieren von Vokabeln hinausreichende Relevanz solcher Fragestellung erhellt schon
daraus, daß die soeben abgewiesene Herleitung der praktischen Theologie aus der
Dogmatik auf einer ganz bestimmten Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
beruht, nämlich darauf, daß die Theorie als Postulat der Wirklichkeit gegenübertritt
und die Praxis als äußerliche Realisierimg dieses Sollens erscheint. Eine solche Auf-
fassung entspricht jedoch eher der aristotelischen poiesis als der praxis, die es nicht mit
der Realisierung eines Modells durch herstellendes Handeln zu tun hat, sondern mit
dem ausübenden Vollzug einer gewählten Lebensform.*8
Das theoretische Erkennen ist nach Aristoteles zwar vom praktischen wie vom
poietisdien zu unterscheiden. Dennoch ist die geistige Sdiau eine Form der Tätigkeit,
ja sogar die höchste Tätigkeit, wie sie den Göttern zukommt und deren Seligkeit aus-
macht.*4 Daher kann Aristoteles das theoretische Leben, das sein Telos in sich selbst
hat, auch das wegen seiner eupraxia im höchsten Sinne praktische nennen.**
Die Selbstgenügsamkeit der theoretischen Schau, die geradezu in sich selbst die
höchste Form der Praxis darstellt, hängt hier, wie M. Theunissen treffend bemerkt**,
»eng damit zusammen, daß an dem immer schon vollendeten Sein, dessen Selbst-
genügsamkeit sie ihre eigene Autarkie verdankt, nichts mehr aussteht«. Von dieser
griechischen Theoria ist eine auf Verwirklichung zielende Theorie, die das Vorhan-
dene als Geschichte auf eine offene Zukunft hin beschreibt, wie es die kritische Theo-
rie der Frankfurter Schule im Gegensatz zur traditionellen Theorie tut*7, grund-
legend verschieden. Die von der Theorie beschriebene Wirklichkeit wird hier als
noch nicht vollendet vorausgesetzt. M. Theunissen hat die Grundlagen eines der-
artigen Wirklichkeitsverständnisses und der ihm entsprechenden Verbindung von
theoretischen Lebens bei Piaton vgl. B. SNELL: Theorie und Praxis. In: Die Entdeckung des
Geistes. 3. Aufl. Hamburg 1955. S. 401—421; bes. S. 406 ff.
3 6 Arist. Pol. 1325 b 21. Vgl. dazu F. DIRLMEIER in seinem Kommentar zur Nikomadii-
1969. S. 7.
3 7 M. HORKHEIMER: Traditionelle und kritische Theorie (1937). In: Kritische Theorie II.
Theorie und Praxis »in jüdisch-christlichem Boden« vermutet.88 Daß das Denken
sich überhaupt als Theorie verstehen kann, verdankt es freilich auch hier seinem
griechischen Erbe, aber das ist modifiziert dadurch, daß Theorie nicht nur auf die
noch offene Zukunft einer geschichtlich begriffenen Welt und so auf Praxis bezogen,
sondern daß sie audi »ihrerseits in den Strom einer Praxis eingebettet ist, der auch
nodi durch sie hindurchfließt«.®· Dabei kann freilich für christliches Denken die end-
gültige Vollendung nicht schlechthin als in der gegenwärtigen Welt noch ausstehend
gelten, so daß im Lichte erhoffter Vollendung die gegenwärtige Welt nur kritisch
ihrer Unmensdilidikeit zu überführen und ihre radikale Veränderung zu fordern
wäre. Vielmehr ist für das Bewußtsein des christlichen Glaubens das Endgültige
durch Jesus Christus schon in dieser vorhandenen Welt trotz Ungerechtigkeit, Leid
und Tod gegenwärtig, und ihre nodi ausstehende Vollendung kann nur die geschicht-
liche Verwirklichung der von Jesus Christus her schon in der Welt gegenwärtigen
und wirksamen Versöhnung zum Inhalt haben.40
Dieser im christlichen Glauben selbst angelegten Verhältnisbestimmung von Theo-
rie und Praxis kann eine praktische Theologie nur so entsprechen, daß sie den in der
Geschichte Jesu Christi begründeten und in der Gesdiidite des Christentums weiter-
wirkenden, teilweise auch gehemmten Praxisbezug des christlichen Glaubens thema-
tisiert und die gegenwärtige Praxis der Kirchen aus dem Zusammenhang der christ-
lichen Versöhnungsgeschidite begreift und kritisch durdileuditet, um so zur Entwick-
lung von Modellen gegenwärtiger kirchlicher Praxis zu gelangen. Kirchliche Praxis
wird ja wohl der spezifische Gegenstand der praktischen Theologie bleiben müssen,
wenn sie sich nicht zu einer allgemeinen christlichen Ethik erweitern will, in deren
Rahmen dann die soziale Gestalt christlichen Handelns als eines kirchenbildenden
und kirchlichen Handelns einen besonderen Themenkreis bilden würde. Doch auch
wenn kirchliche Praxis ihr eigentlicher Gegenstand bleibt, braucht praktische Theo-
logie keine bloße Pastoraltheologie zu sein, die in die traditionellen Tätigkeitsberei-
che des Gemeindepfarrers einführt, wie sie in der Unterteilung der praktischen
Theologie in Homiletik, Katechetik, Seelsorge und Liturgik ihren Ausdruck gefun-
den haben. Eine Theologie des kirchlichen Handelns, die der gegenwärtigen Wirk-
lichkeit der Kirche nicht mit irgendeinem dogmatischen Normbegriff von Kirche
unvermittelt gegenübertritt, sondern sich (dem in der christlichen Geschichte angeleg-
ten Praxisbezug entsprechend) als Moment einer durch sie selbst hindurchgehenden
Bewegung geschichtlicher Praxis begreift, wird auch die vorhandene Wirklichkeit des
Gemeindepfarramtes mit seinen Tätigkeitsbereichen, denen jene traditionellen pasto-
raltheologischen Disziplinen entsprechen, nicht einfach überspringen. Aber sie wird
diese Wirklichkeit des Gemeindepfarramtes in einem größeren Zusammenhang
kirchlicher Praxis im Rahmen der gesellschaftlichen Lebenswelt des Christentums
einordnen und damit audi seiner sachgerechten Weiterbildung dienen.
Der Gesichtspunkt der sozialen und also kirchenbildenden und kirchlichen Gestalt
christlicher Praxis sichert der praktischen Theologie ihren eigenen Zugang zur Kir-
die dreifache Aufgabe gestellt, die in der Inkarnation objektiv vollbrachte und auch in der
Geschichte des einzelnen und der Menschheit sdion angebahnte Versöhnung zu begreifen,
sidi selbst als Moment dieses Prozesses zu verstehen und so »drittens der weltlichen Versöh-
nung, die in der Geschichte noch aussteht«, zu dienen.
che und ihrer Geschichte, bei aller unumgänglichen Berührung mit der dogmatischen
Lehre von der Kirche wie auch mit der Kirchengeschichte. Als eine die Geschichte der
Kirche mit einbeziehende Theorie der kirchlichen Praxis wird die praktische Theo-
logie für ihre Gesamtthematik der Missionswissenschaft fundamentale Bedeutung
zuerkennen müssen41; handelt es sich doch bei der auf die ganze Menschheit gerich-
teten Mission nicht nur um die die Existenz der Kirche ursprünglich begründende
Praxis, sondern auch um den weitesten Horizont für das Verständnis alles kirch-
lichen Lebens überhaupt. Durch ihren Ursprung aus der Mission ist die einzelne Ge-
meinde einbezogen in eine Geschichte göttlidier Erwählung auf die Zukunft des
Gottesreiches hin und so in einem ihre Partikularität übergreifenden Zusammenhang
einer diristlichen Lebenswelt. Erst im Rahmen des aus der Mission erwachsenen ge-
schichtlichen Lebenszusammenhanges der Kirche läßt sich der Ort der einzelnen Ge-
meinde im Leben der Christenheit bestimmen, einerseits in bezug auf die regionalen
und universalen Organisationsformen kirchlichen Lebens, andererseits im Hinblick
auf das Verhältnis von Kirche und Christentum. In dieser Perspektive wäre also der
Gegensatz zwischen der protestantischen Darstellungsweise der praktischen Theolo-
gie, die von der Einzelgemeinde, und der römisch-katholischen, die vom Kirchen-
regiment ausgeht, zu überwinden. Daß aber auch das Verhältnis von Kirche und
Christentum sich unter dem Gesichtspunkt der Missionsthematik erschließt, wird
deutlich, wenn man sich klar macht, daß die Differenz zwischen Kirche und Reich
Gottes damit zusammenhängt, daß Kirche durch Mission auf die Zukunft des Reiches
Gottes und so auf die ganze Menschheit hin begründet ist. C. J. Nitzsch hat die Un-
entbehrlichkeit des Reich-Gottes-Gedankens für die Bestimmung des Verhältnisses
von Christentum und Kirche deutlich gesehen: »Vermöge dieses Unterschiedes (sc.
zwischen Kirche und Reich Gottes) ist und bleibt das kirchliche Leben ein Moment
des christlichen, sowie die Kirche Produkt des Verwirklichungsprozesses des gött-
lichen Reiches, und doch wieder wird das kirchliche Leben ein den Fortschritt und
die Vervollkommnung des christlichen und sittlichen bedingendes Leben.« 41 Der Ge-
danke des Reiches Gottes in seiner Differenz zur Kirche hindert die Kirche auf allen
Ebenen ihrer Organisation daran, sich als Selbstzweck zu begreifen, und kann sie
theologisch dazu motivieren, sich auch innerhalb der Christenheit als eine Organisa-
tion neben anderen zu erkennen und ihre Tätigkeit als Dienst an einer für sich nicht
kirchlichen und heute religiös überwiegend pluralistischen Gesellschaft zu verstehen.
Das gilt insbesondere für ihr Verhältnis zum Staat. Es gehört zu den Schranken von
Nitzschs Entwurf der praktischen Theologie, daß er nicht gesehen hat, wie der Ge-
danke des Reiches Gottes von seinem ursprünglich politischen Sinn her die Differenz
1830. § 298) eine »Theorie des Missionswesens« im Rahmen der praktisdien Theologie gefor-
dert, »welche bis jetzt noch so gut als gänzlich fehlt«, freilich nur als Funktion einer bereits
bestehenden Gemeinde, die als »örtliche Gemeinde« (§ 277) den Ausgangspunkt seiner Ein-
zeldarstellung der praktischen Theologie bildet. Während die Mission bei C. J . Nitzsch zwar
ebenfalls zur praktischen Theologie geredinet wird, aber nur als untergeordnetes Element
erscheint (Praktische Theologie I. 1847. S. 479 ff., vgl. S. 133), schreibt E. Chr. Achelis unter
Berufung v o r allem auf Ehrenfeuchter: »Die Theorie des Missionswesens wird die praktische
Theologie nicht entbehren können, weil das Missionieren zu den notwendigen Lebensbetäti-
gungen der Kirche gehört und vom Begriff der Kirche gefordert wird« (Lehrbuch der prakti-
schen Theologie I. 1890. 3. Aufl. 1 9 1 1 . S. 29).
4 4 C . J. NITZSCH: Praktische Theologie I. 1837. S. 14. Nitzschs ethizistische Deutung des
Reiches Gottes wirkt sich in diesem Zusammenhang weniger als Schranke aus als seine Ver-
kennung des Zusammenhangs der Mission mit Kirche und Reich Gottes, der erst die Ge-
schichtlichkeit im Verhältnis der beiden letzten Glieder erschließt.
von Kirche und Staat ebenso übergreift wie die von Kirche und Christentum4*, daß
daher das Verhältnis von Kirche und Staat als ein Verhältnis innerhalb der Chri-
stenheit als des »neuen Gottesvolkes« zum Problem werden konnte. Das zugunsten
einer kirchlichen Binnenperspektive zu übersehen, ist ebenso einseitig wie die ent-
gegengesetzte These von R. Rothe, daß die Kirche im Protestantismus dazu be-
stimmt sei, sich in den sittlichen Staat aufzulösen. Eine praktische Theologie, die sich
der Frage nach der allgemeinen Wahrheit der Einheit Gottes mit den Menschen in
Jesus von Nazareth, der Gegenwart des kommenden Reiches in ihm, als Hoffnung
für die Menschheit und als Thema kirchlicher Praxis verpflichtet weiß, wird die Ent-
wicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche in der Neuzeit neu analysieren
müssen, um das Verhältnis der Kirchen zu den gesellschaftlichen Aufgaben der Ge-
genwart richtig bestimmen zu können. Dabei ist den religiösen Implikationen der
politischen Ordnungsformen und der revolutionären Bewegungen der Neuzeit eben-
so Rechnung zu tragen wie andererseits den Folgen der Kirchenspaltung für die
Emanzipation des Staates von ausdrücklich religiösen Bindungen und der Tragweite
der ökumenischen Bewegung unserer Zeit zu einer Einheit ohne Uniformität für
diese Gesamtproblematik von Kirche und Gesellschaft. Die Gründe für die Notwen-
digkeit der expliziten Wahrnehmung der religiösen Thematik durdi kirchliche Insti-
tutionen in Differenz zum Staat sind ebenso zu berücksichtigen wie die Mitverant-
wortung der Kirchen für die Gesellschaft. Alle diese Themen konzentrieren sich in
der Frage nach Begriff und Möglichkeit der Freiheit, deren Natur nicht von unge-
fähr sowohl religiös als auch politisch ist. So weit muß die praktische Theologie den
Bezugsrahmen spannen, wenn ihre traditionellen, pastoraltheologischen Sachgebiete
neue Relevanz durch einen deutlicheren Bezug zur Frage nach der Praxis des Chri-
stentums insgesamt gewinnen sollen.
« Nitzsch sieht а. а. O., S. 266 ff. den Staat nur als ein »göttliches Conservativum« (S. 271)
in einem positiven Bezug zur Kirche.