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Spiritual Care 2018; 7(1): 99–100

Das Stichwort

Eckhard Frick*

Emisch / etisch
https://doi.org/10.1515/spircare-2017-0024 begrifflich ausgeschlossen wird (Neubert 2016). „Spiritua-
Vorab online veröffentlicht 7. Juni 2017 lität“ ist in emischer Perspektive heute häufig eine „at-
traktive Selbstbezeichnung“ für viele „Menschen auf der
Diese beiden Kunstwörter wurden von Pike (1967/1999) in Straße“ (Streib & Keller 2015). Sollte Spiritualität indes als
Anlehnung an die linguistischen Begriffe „phonemisch“ etisches Konzept verabschiedet werden (so Streib & Hood
und „phonetisch“ geprägt. In der Sprachwissenschaft 2011: 448 f.)?

nennt man „Phonem“ einen Laut mit einer bestimmten MacDonald et al. (2015) möchten die Frage, ob Spiri-
linguistischen Funktion, zum Beispiel ein „r“, auch wenn tualität ein emisches oder ein etisches Konstrukt sei, durch
dieser je nach Region ganz unterschiedlich ausgesprochen transkulturelle und transreligiöse Vergleiche klären. Ihre
wird, etwa als Zungen- oder Rachen-R oder als kaum hör- Antwort ist widersprüchlich: Einerseits bescheinigen sie
barer Seufz-Laut. Im Deutschen ist die phonetische Unter- einigen der besprochenen Instrumente zur Messung von
scheidung zwischen Zungen- und Rachen-R unerheblich. Spiritualität gute psychometrische Eigenschaften. Dies lie-
Wer aber Italienisch oder Spanisch lernen will, muss das fert empirische Argumente für Spiritualität als etisches
Zungen-R ggf. üben. Pike zufolge betrachtet die etische Konstrukt. Andererseits bleibt das Problem erheblicher
Perspektive (nicht zu verwechseln mit „ethisch“) ein Ver- Kulturabhängigkeit, was für die vorwiegend emische Be-
halten oder eine Kultur genauso von außen, wie die Pho- trachtungsweise spricht.
netik Lautvariationen im Sprachenvergleich erfasst, un- Der jüdische Religionswissenschaftler Huss (2014) nu-
abhängig davon, ob jede dieser Varianten innerhalb einer anciert sowohl die Tendenz, Spiritualität etisch zu ver-
bestimmten Sprache ein Bedeutungsträger ist. Im Gegen- stehen, als auch die westliche Sicht auf Religion als uni-
satz hierzu beschränkt sich die emische Perspektive auf versale Kategorie. Er spricht sich dafür aus, sowohl
eine einzige Kultur oder ein bestimmtes Verhalten, in Ana- „Religion“ als auch „Spiritualität“ als kulturabhängige, im
logie zur Beschreibung eines Phonems im Kontext einer Diskurs konstruierte Begriffe zu verstehen.
bestimmten Sprache.

Tab. 1: Differenzierung zwischen emischen und etischen Blickweisen Fazit: Spiritual Care und das
nach Pike (1967/1999)
Dilemma zwischen etischer und
emisch etisch emischer Betrachtungsweise
Kulturbetrachtung spezifisch komparativ (vergleichend)
theoretische Kon- keine, sondern durch den Forscher Spiritual Care umfasst kommunikative Kompetenzen, die
struktion Entdeckung sich nicht auf eine beobachtende Dritte-Person-Perspekti-
Standpunkt, Krite- systemintern extern, kulturübergrei- ve beschränken lassen, weder in der Begegnung mit kran-
rien fend, universalierend ken Menschen noch mit Kollegen aus dem eigenen Beruf
Verschiedenheit unterschiedliche durch absolute oder mit anderen Gesundheitsberufen. Spiritual Care ist
(Differenz) Verhaltensweisen instrumentelle Messung nie ein ausschließlich unter Fachleuten geführter Diskurs,
innerhalb des festgestellt
sondern auch ein Dialog mit Patienten und Angehörigen.
Systems
Insofern kommt ein exklusiv etisches Modell für Spiritual
Care nicht in Frage, sondern eine „Demokratisierung“ von
Begriffsbildung, Forschung, Handlungsplanung, die stets
„Religion“ und „Spiritualität“ werden im Diskurs konstru- die emische Perspektive einschließt.
iert, teilweise durch Abgrenzung gegenüber dem, was Dies führt zum „Emic-Etic-Dilemma“, das in den Kul-
turwissenschaften schon seit langem reflektiert wird
*Korrespondenzautor: Eckhard Frick, München, (Eckensberger 2015). „Spiritualität ist genau – und aus-
E-Mail: eckhard.frick@tum.de schließlich – das, was der Patient dafür hält“ (Roser 2011:
100 Eckhard Frick: Emisch / etisch

47): Dieser radikal-emische Standpunkt ist deswegen un- MacDonald DA, Friedman HL, Brewczynski J, Holland D, Salagame
verzichtbar, weil er den Patienten vor „Kolonialismus“ KKK, Mohan KK, Gubrij ZO, Cheong HW (2015) Spirituality as a
jeder Art schützt (durch Medizin, Religion, Wissenschaft, scientific construct: Testing its universality across cultures and
languages. PLoS ONE 10:e0117701.
Familie usw.). Jedoch entsteht dadurch ein Dilemma, dass
Neubert F (2016) Die Unterscheidung von „Religion“ und „Nicht-Reli-
ebenso der etische Gesichtspunkt der Forschung (medizi- gion“. In: Die diskursive Konstitution von Religion. Wiesbaden:
nisch, theologisch, soziologisch usw.) sowie in Traditio- Springer Fachmedien Wiesbaden. 109–152.
nen und sozialen Strukturen der Glaubensgemeinschaften Peng-Keller S (2017) „Spiritual Care“ im Werden. Zur Konzeption
für Spiritual Care bedeutsam ist. Die Kulturwissenschaften eines neuen interdisziplinären Forschungs- und Praxisgebiets.
Spiritual Care 6:187–193.
lösen ihr Dilemma nicht durch Ausblenden entweder
Pike KL (1967/1999) Language in relation to a unified theory of the
des etischen oder des emischen Pols. Dasselbe gilt für structure of human behavior. In: McCutcheon RT (Hg.), The
Spiritual Care als Forschungs- und Praxisgebiet „im Wer- insider/outsider problem in the study of religion: a reader.
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