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R eclam
Einleitung
Johann Gottlieb Fichte wurde am 19. Mai 1762 zu Ram
menau, einem Dorf in der Oberlausitz, als erstes Kind einer
kinderreichen Familie - er hatte noch sieben Geschwister -
geboren und wuchs in dürftigen Verhältnissen auf. Sein Va
ter, Christian Fichte, war Bandwirker (Weber), ein redlicher
und sittenstrenger Mann, dem der Sohn zeitlebens in Ver
ehrung anhing. Schon bald erregte die große Begabung des
Knaben die Aufmerksamkeit der Leute im Dorf. Die sehr
gute Wiedergabe einer Sonntagspredigt bewog den in der
Gegend ansässigen, reichen Gutsbesitzer, Freiherrn von Mil
titz, sich der Ausbildung des begabten Knaben anzunehmen.
Er nahm ihn mit auf sein Schloß zu Siebeneichen und über
gab ihn zur weiteren Ausbildung dem Pfarrer von Nieder
au, bei dem er zwei Jahre die Vorbereitung für den höheren
Unterricht empfing. Anschließend besuchte Fichte die Schule
zu Meißen; im Oktober 1774 wurde er in die Fürstenschule
zu Pforta aufgenommen, in der er bis Herbst 1780 blieb.
Im Wintersemester 1780/81 begann Fichte seine Universi
tätsstudien, zunächst in Jena und dann in Leipzig. Anfangs
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 9348 studierte er ausschließlich Theologie, wurde jedoch bald,
Alle Rechte Vorbehalten vornehmlich durch die Lektüre der Ethik Spinozas, zur Phi
© 1972 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart losophie gedrängt und studierte auch Philosophie. Während
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2016 der ganzen Zeit seines Studiums mußte Fichte, da sein Gön
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und ner, Freiherr von Miltitz, verstorben war und die Unter
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken stützung ausblieb, in äußerst bedrängten Verhältnissen durch
der Philipp Reclam jun. G m bH Sc Co. KG, Stuttgart Privatunterricht seinen Unterhalt verdienen. Im Jahre 1788,
ISBN 978-3-15-009348-1
als er wegen gänzlicher Mittellosigkeit am Rande der Ver
www.reclam.de zweiflung und des Selbstmordes angelangt war, wurde ihm
eine Hauslehrerstelle in Zürich angeboten, die er bis 1790
4 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 5
bekleidete. Während dieser Zeit lernte er Johanna Maria Wissenschaften. Herausgegeben von Reinhard Lauth und
Rahn, eine Nichte Klopstocks, kennen, mit der er sidi ver Hans Jacob”, Bd. III 1, Stuttgart 1968. S. 167, Brief
lobte. Infolge der ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse N r. 63). Und am 5. März 1791 schreibt er an seinen Bruder
erfolgte die Eheschließung erst 1793. Samuel Gotthelf: »Aus Verdruß w arf ich mich in die
K a n t i s c h e Philosophie die eben so herzerhebend, als
kopfbrechend ist. Ich fand darin eine Beschäftigung, die
Im Frühjahr 1790 kehrte Fichte nach Leipzig zurück. Hier Herz und Kopf füllte; mein ungestümer Ausbreitungs Geist
wurde er durch einen Studenten, den er in der kantischen schwieg: das waren die glücklichsten Tage, die ich je verlebt
Philosophie zu unterweisen hatte, veranlaßt, sich mit Kant habe. Von einem Tage zum ändern verlegen um Brod war
zu beschäftigen. Er las die K ritik der praktischen Vernunft, ich dennoch damals vielleicht einer der glücklichsten Men
die Kritik der Urteilskraft und schließlich auch die Kritik schen auf dem weiten Rund der Erde« (Briefwechsel, Hrsg.
der reinen Vernunft. Das Studium der kantischen Philoso Schulz, Bd. I, 21930, S. 136, Brief N r. 68; in: Gesamtaus
phie ergriff ihn derart, daß sie eine völlige Revolution in gabe, Hrsg. Lauth/Jacob, Bd. III 1, 1968, S. 221, Brief
seinem Denken bewirkte und seine fernere Entwicklung N r. 77).
grundlegend bestimmte. Fichte selbst sah das Bekanntwerden Im Frühjahr 1791 begab sich Fichte nach Warschau, um dort
mit Kant als den entscheidenden Augenblick seines Lebens
an. Das bezeugen viele seiner Briefe. So schreibt er im Sep eine Stelle als Hauslehrer anzutreten. Da ihm die Stelle nicht
tember 1790 an Friedrich August Weißhuhn, einen seiner zusagte, reiste er alsbald nach Königsberg und suchte Kant
ältesten Schul- und Universitätsfreunde: »Ich lebe in einer auf, dem er anstatt einer Empfehlung das Manuskript seiner
neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft ersten ganz im Sinne Kants schnell vom 13. Juli bis 18. Au
gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unum gust des gleichen Jahres entworfenen Abhandlung: Versuch
stößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, einer Critik aller Offenbarung vorlegte. Fichte gewann mit
sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der Begriff einer ihr das Wohlwollen Kants, der ihm eine Hauslehrerstelle bei
absoluten Freiheit, der Pflicht u. s. w. sind mir bewiesen, und Danzig und einen Verleger für seine Erstlingsschrift ver
ich fühle mich darüber nur um so froher. Es ist unbegreiflich, schaffte. Bei Erscheinen des Werkes 1792 (im Verlag der
welche Achtung für die Menschheit, welche K raft uns dieses Hartungschen Buchhandlung, Königsberg) blieb aus Verse
System giebt! Doch was sage ich das Ihnen, der Sie es längst hen, wie der Verleger später behauptete, mit der nachge
werden empfunden haben, wie ich! Welch ein Segen für ein reichten Vorrede auch der Name des Autors auf dem Titel
Zeitalter, in welchem die Moral von ihren Grundfesten aus blatt weg, so daß das anonyme Werk allgemein, auch von
zerstört, und der Begriff P f l i c h t in allen Wörterbüchern den Rezensenten der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung
durchstrichen war« (J. G. Fichte, Briefwechsel. Kritische Ge für eine Publikation Kants gehalten wurde. Nachdem Kant
samtausgabe. Gesammelt und herausgegeben von Hans den Irrtum offenbarte und den wahren Urheber jener Schrift
Schulz.”' Bd. I, Leipzig 21930. S. 123, Brief N r. 55; in: beim Namen nannte, wurde Fichte mit einem Schlage be
J. G. Fichte - Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der rühmt.
* im folgenden zitiert als: Briefwedtsel, Hrsg. Schulz ” im folgenden zitiert als: Gesamtausgabe, Hrsg. Lauth/Jacob.
6 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 7
Am 16. Juni 1793 kehrte Fichte nach Zürich zurück. Dort wohl schon ahndete daß selbst nach Kants, u. Reinholds Ar
genoß er die anregende Gesellschaft Pestalozzis, der einen beiten die Philosophie noch nicht im Zustande einer Wißen-
nachhaltigen Einfluß auf seine erzieherischen Neigungen ge schaft ist« (Briefwechsel, Hrsg. Schulz, Bd. I, 21930, S. 315,
wann. Er verfaßte eine Flugschrift, in welcher er mit den Brief Nr. 140; in: Gesamtausgabe, Hrsg. Lauth/Jacob,
Zensurmethoden, mit denen er in Preußen geplagt worden Bd. III 2, 1970, S. 18, Brief N r. 168).
war, abrechnete und die Freiheit des Denkens als unver Hierin lag nun für Fichte der Anstoß, eine Neubegründung
äußerliches Recht forderte. Die Schrift trug den Titel: Zu der kritischen Philosophie vorzunehmen, eine Philosophie
rückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens, darzustellen, die sich als allgemeingültige Wissenschaft aus
die sie bisher unterdrückten. Eine Rede. Heliopolis, im letz einem einzigen Grundsatz entwickeln lasse. Das bringt Fichte
ten Jahre der alten Finsterniß (o. O. u. o. J.), Danzig 1793 im letztgenannten Brief zum Ausdruck, wenn er schreibt,
anonym. Am 22. Oktober heiratete er Johanna Maria Rahn. daß er sich beim Studium des Aenesidemus davon überzeugt
Nach der etwa einwöchigen Hochzeitsreise machte er sich hat, »daß nur durch Entwickelung aus einem einzigen Grund
mehrere Monate mit großer Intensität an seine philosophi sätze Philosophie Wißenschaft werden kan n ,. . . daß es einen
schen Arbeiten. Im Aufträge der Allgemeinen Literatur-Zei solchen Grundsaz giebt, daß er aber als solcher noch nicht
tung hatte er einige Rezensionen zu schreiben, darunter vor aufgestellt ist«. Im Dezember 1793 schreibt er an seinen
allem die des anonym erschienenen Aenesidemus (der Schrift Freund Heinrich Stephani: »Haben Sie den Aenesidemus
von Gottlob Ernst Schulze Über die Fundamente der von gelesen? Er hat mich eine geraume Zeit verwirrt, R e i n -
Herrn Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilo h o l d bei mir gestürzt, K a n t mir verdächtig gemacht,
sophie. Nebst einer Verteidigung des Skepticismus gegen die und mein ganzes System von Grund aus umgestürzt. Unter
Anmaßung der Vernunftskritik). Fichte setzte sich intensiv freiem Himmel wohnen geht nicht! Es half also Nichts; es
mit den in dieser Schrift von Schulze vorgebrachten Ein mußte wieder angebaut werden. Das thue ich nun, seit unge
würfen gegen Reinholds Elementarphilosophie und Kants fähr 6 Wochen, treulich. Freuen Sie sich mit mir der Aernte:
K ritik auseinander (vgl. Fichtes Rezension: »Aenesidemus, ich habe ein neues Fundament entdeckt, aus welchem
oder über die Fundamente der von dem Hrn. Prof. Reinhold die gesammte Philosophie sich sehr leicht entwickeln läßt. -
in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Ver- K a n t hat überhaupt die richtige Philosophie; aber nur in
theidigung des Skepticismus gegen die Anmaßungen der ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen. Dieser einzige
Vernunftskritik, o. O. 1792, 445 S., 8.« erschienen in den Denker wird mir immer wunderbarer; ich glaube, er hat
N rn. 47, 48 und 49 der Jenaer Allgemeinen Literatur-Zei einen Genius, der ihm die W ahrheit offenbart, ohne ihm
tung, >Dienstags, den 11. Februar 1794< und >Mittwochs, die Gründe derselben zu zeigen! Kurz, wir werden, wie ich
den 12. Februar 1794c, Coll. 369-374, 377-383, 385-389, ab glaube, in ein Paar Jahren eine Philosophie haben, die es der
gedruckt in: Gesamtausgabe, Hrsg. Lauth/Jacob, Bd. 1 2, Geometrie an Evidenz gleich thut« (Briefwechsel, Hrsg.
1965, S. 41 ff.). Schulz, Bd. I, 21930, S. 319, Brief Nr. 145; in: Gesamtaus
Ende des Jahres 1793 schrieb er an Johann Friedrich Flatt, gabe, Hrsg.Lauth/Jacob, B d .III2,1970, S.28, Brief Nr.171).
Professor der Philosophie am Tübinger Stift: »Aenesidemus, Und zu Beginn des Jahres 1794 schreibt er an den Oberhof
den ich unter die merkwürdigen Produkte unsers Jahr- prediger Franz Volkmar Reinhard in Dresden: »Aeneside
zehends zähle, hat mich von dem überzeugt, was ich vorher mus hat meine Ueberzeugung, daß die Philosophie in ihrem
8 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 9
gegenwärtigen Zustande gar noch nicht Wissenschaft sey, voll Eine zweite, erweiterte Auflage unter dem gleichen Titel,
endet; die andere aber, daß sie wirklich Wissenschaft werden aber ohne den Zusatz >als Einladungsschrift.. .< erschien
könne, und in Kurzem es werden müsse, nur noch verstärkt 1798 bei Christian Ernst Gabler zu Jena und Leipzig (XVIII
. . . Entweder es muß möglich seyn, eine Philosophie als all und 77 Seiten).
gemeingültige Wissenschaft zu begründen, oder nicht. Ist es
nicht möglich, so muß sich diese Unmöglichkeit darthun las Seine öffentlichen Vorlesungen über den Sinn und die Be
sen, . . . ist es aber möglich, so muß es sidi auch wirklich rechtigung des wissenschaftlichen Bemühens des Gelehrten,
machen lassen . .. Aber die Philosophie kann nicht, wie die die er einstündig hielt, hatte Fichte unter dem Titel De
Geometrie und die Mathematik, überhaupt ihre Begriffe in officiis eruditorum (Über die Bestimmung des Gelehrten)
der A n s c h a u u n g c o n s t r u i r e n ? - Recht wohl; angekündigt. Noch während des Sommersemesters wurden
und es wäre sehr schlimm, wenn sie dies könnte; denn dann die ersten fünf Vorlesungen von Fichte selbst unter dem Ti
hätten wir keine Philosophie, sondern Mathematik; - aber tel Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten
sie kann und soll sie aus einem einzigen Grundsätze, den bei Christian Ernst Gabler zu Jena und Leipzig (1794) ver
jeder zugeben muß - durch Denken d e d u c i r e n « (Brief öffentlicht. Die Privatvorlesungen über die Grundlage der
wechsel, Hrsg. Schulz, Bd. I, 21930, S. 326, Brief Nr. 149; in: gesamten Wissenschaftslehre wurden sofort in demselben
Gesamtausgabe, Hrsg. Lauth/Jacob, Bd. III 2, 1970, S. 39 f., Verlag gedruckt und während des Ganges der Vorlesungen
Brief Nr. 175). den Zuhörern bogenweise als Handschrift ausgegeben
{Grundlage der gesummten Wissenschaftslehre als Hand
Während Fichte nun mit dem Entwurf der Grundlegung der schrift für seine Zuhörer, Leipzig 1794).
Philosophie als systematischer Wissenschaft beschäftigt war, Nach zwei turbulenten Semestern, in denen er mit dem Senat
erhielt er zu Beginn des Jahres 1794 einen Ruf auf den frei der Universität und zum ändern mit der Studentenschaft in
gewordenen Lehrstuhl Karl Leonhard Reinholds (1758 bis eine heftige Auseinandersetzung geriet, so daß er sich im
1823) in Jena, der nach Kiel übergesiedelt war. Obwohl Sommersemester 1795 gezwungen sah, seine Vorlesungstä
Fichte zuerst einen zeitlichen Aufschub von einem Jahr er tigkeit einzustellen, nahm er im Wintersemester 1795/96
bat, um zunächst selbst mit seinen Gedanken ins Reine zu seine Lehrtätigkeit wieder auf und verbrachte die folgenden
kommen, folgte er dennoch dem Ruf und nahm bereits im drei Jahre unangefochten und lehrte mit großem Erfolg, bis
Sommersemester 1794 seine Lehrtätigkeit in Jena mit öffent der Atheismusstreit ausbrach.
lichen und privaten Vorlesungen auf. Zuvor - etwa Ende In dieser Zeit erschienen außer den beiden Einleitungen in
April - hatte er das Manuskript zur Grundlegung der Phi die Wissenschaftslehre {Erste Einleitung in die Wissenschafts
losophie als systematischer Wissenschaft abgeschlossen und lehre. In; Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teut-
sie als Einladungs- bzw. Programmschrift in deutscher scher Gelehrten. 1797, Bd. V, S. 1-49 und Bd. VII, S. 1-20
Sprache für die Jenaer Studenten und Gelehrten mit dem unter dem Titel: >Versuch einer neuen Darstellung der Wis-
Titel Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der so senschaftslehrec; Zweite Einleitung in die WissenschaftsLehre
genannten Philosophie, als Einladungsscbrift zu seinen Vor für Leser, die schon ein philosophisches System haben. In:
lesungen über diese Wissenschaft (VIII und 60 Seiten) im Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehr
Verlage des Industrie-Comptoirs zu Weimar veröffentlicht. ten. 1797, Bd. V, S. 319-378 und Bd. VI, S. 1-43) die zwei
10 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 11
auf den Prinzipien der Wissenschaftslehre fußenden Systeme 22. März 1799 an ein Mitglied der Regierung, Geheimrat
der Rechts- und Sittenlehre: Grundlage des Naturrechts nach Voigt, daß er einen etwa durch den Senat ergehenden Ver
Principien der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig 1796, weis mit seiner Demission beantworten werde (Briefwechsel,
zweiter Teil 1797 und Das System der Sittenlehre nach den Hrsg. Schulz, Bd. II, 21930, S. 55, Brief Nr. 349). Fichtes
Principien der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig 1798. Schreiben erregte in Weimar heftiges Mißfallen. Es wurde
als Gesuch um Verabschiedung ausgelegt. Fichte erhielt dar
Wäre es nach ihm gegangen, hätte Fichte wahrscheinlich auf nicht nur einen scharfen Verweis wegen Unvorsichtigkeit,
keine Veränderung mehr gesucht. Um so tiefer mußte ihn sondern obendrein die Entlassung. Er mußte Jena verlassen
jene Affäre treffen, die seinen Weggang aus Jena zur Folge und siedelte nach Berlin über, wo sich der preußische König
hatte, nämlich der sogenannte Atheismusstreit. Friedrich Wilhelm III. ihm gegenüber sehr wohlwollend
Dieser hatte seinen Anlaß darin, daß ein ehemaliger Schüler zeigte und ihm Duldung zusicherte.
namens Forberg für das von Fichte im Verein mit Nietham
mer seit 1797 (ab Bd. V) redigierte Philosophische Journal In den ersten Jahren des Berliner Aufenthaltes war Fichte
im achten Band, H eft 1, 1798 einen Aufsatz über die Ent vornehmlich literarisch tätig. Es entstanden:
wicklung des Begriffs der Religion geschrieben hatte. Ob Die Bestimmung des Menschen (Berlin 1800) und seine
wohl dieser Beitrag Fichte mißfiel, nahm er ihn dennoch in Staatsutopie Der geschloßne Handelsstaat. Ein philosophi
das Journal auf, schickte aber als mildernde Einleitung eine scher Entwurf als Anhang zur Rechtslehre, und Probe einer
eigene kurze Abhandlung voraus, der er den Titel gab: künftig zu liefernden Politik (Tübingen 1800). Außerdem
Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche W elt Re suchte er durch die Veröffentlichung der Schrift Sonnenkla
gierung (Bd. V III, H eft 1, S. 1-20). Die Kursächsische Re rer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche
gierung beschlagnahmte die Aufsätze, verbot die Zeitschrift Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum
und verlangte von der Weimarer Regierung, Fichte und For Verstehen zu zwingen (Berlin 1800) die Mißverständnisse
berg zu bestrafen mit der Drohung, anderenfalls ihren auszuräumen, die durch die Auslegungen seiner vorgelegten
Untertanen den Besuch der Universität Jena zu verbieten. Wissenschaftslehre entstanden waren.
Die Regierung zu Weimar beschloß darauf, den Herausge In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, daß in
bern des Journals wenigstens formell einen Verweis wegen diese Zeit auch Fichtes Auseinandersetzung mit Schelling
Unbedachtsamkeit durch den akademischen Senat erteilen zu fiel, von dem er 1794 in Jena zum erstenmal gehört hatte.
lassen. Als Fichte erfuhr, daß ihm ein Verweis zugehen sollte, H atte Fichte Schelling zu dieser Zeit sehr geschätzt und seine
verfaßte er zwei in heftigem Tone gehaltene Verteidigungs Erstlingsschrift Über die Möglichkeit einer Form der Philo
schriften (Appellation an das Publikum über die Durch ein sophie überhaupt (Tübingen 1795) wiederholt als Kommen
Kurf. Sachs. Confiscationsrescript ihm beigemessenen athe tar zu seiner Wissenschaftslehre empfohlen, so bezeichnete er
istischen Aeußerungen. Eine Schrift, die man erst zu lesen jetzt Schellings Schriften Erster E ntw urf eines Systems der
bittet, ehe man sie confiscirt, Jena, Leipzig und Tübingen Naturphilosophie (Jena und Leipzig 1797) nebst der kleinen
1799, und Der Herausgeber des philosophischen Journals ge Schrift Einleitung zu seinem Entw urf eines Systems der N a
richtliche Verantwortungsschriften gegen die Anklage des turphilosophie oder: Uber den Begriff der spekulativen
Atheismus, Jena 1799) und erklärte in einem Brief vom Physik und die innere Organisation eines Systems der Wis
72 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 13
senschaft (Jena und Leipzig 1799) und das System des tran lehre . . . in Vorlesungen gehalten zu Berlin im Jahr 1806
szendentalen Idealismus (Tübingen 1800) als Produkte der (Berlin 1806) sowie die von ihm zu Erlangen im Sommer
Schwärmerei, wodurch es zum offenen Bruch mit Schelling semester 1805 gehaltene Vorlesung Ueber das Wesen des Ge
kam. Bitter enttäuscht war Fichte nur darüber, daß Hegel lehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit. In
mit seiner ersten Veröffentlichung Differenz des Fichte’sehen öffentlichen Vorlesungen, gehalten zu Erlangen, im Som-
und Schelling’sehen Systems der Philosophie (Jena 1801) mer=Halbjahre 1805 (Berlin 1806).
offen Partei für Schelling ergriff. Die Auseinandersetzung
zwischen Fichte und Schelling fand ihr Ende mit den beiden Der Ausbruch des Krieges mit Frankreich und die Besetzung
die gegnerische Position darstellenden und beurteilenden Berlins durch die Franzosen setzte der Vorlesungstätigkeit
Schriften: Schellings Darlegung des wahren Verhältnisses in Berlin im Sommersemester 1806 ein Ende. Fichte ging nach
der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’sehen Lehre, Königsberg, wo er im Wintersemester 1806/07 an der Uni
einer Erläuterungsschrift der ersten (Tübingen 1806) und versität Vorlesungen hielt. Als die Franzosen auch Königs
Fidites Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und berg besetzten, floh er nach Kopenhagen, wo er bereits an
die bisherigen Schicksale derselben (geschrieben 1806), ver den berühmten Reden an die Deutsche Nation arbeitete, die
öffentlicht 1846 (/. G. Fichte’s sämmtliche Werke. Herausge er im Winter 1807/08 unter hoher persönlicher Gefahr in
geben von I. H. Fichte. Bd. V III. Berlin 1846. S. 361-407). dem von französischen Truppen besetzten Berlin im Gebäude
Seit 1801 hielt Fichte in Berlin als Privatmann auch Vorle der von Leibniz gegründeten Akademie der Wissenschaften
sungen vor einem größeren Kreis gebildeter Männer und hielt (Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808). In diesen
einflußreicher Beamter, zu denen der damalige österreichi rief er das deutsche Volk, das nach Fichtes Ansicht bisher
sche Gesandte Fürst von Metternich gehörte. In diesem nur seinem eigenen Nutzen diente, dessen Selbstsucht durch
Kreis trug Fichte die Darstellung der Wissenschaftslehre. äußere Gewalt nun vernichtet worden war, zur sittlichen
Aus dem Jahre 1801 sowie Die Wissenschaftslehre. Vorge Erneuerung auf, die er durch eine gänzlich umgestaltete Er
tragen im Jahre 1804 vor, die aber erst nach dem Tod Fichtes ziehung gewährleistet sah. Um diese sittliche Erneuerung
von seinem Sohn Immanuel Hermann Fichte veröffentlicht anzubahnen und durchzuführen, betrieb er die Errichtung
wurden. (/. G. Fichte’s nachgelassene Werke. Herausgegeben der Universität Berlin. Sie sollte der Ausgang einer gänzlich
von I. H. Fichte. Bd. II. Bonn 1834. S. 87-314.) umgestalteten Erziehung werden.
Im Jahre 1805 erhielt Fichte eine Professur an der damali Nach der Gründung der Universität im Herbst 1810 wurde
gen preußischen Universität Erlangen, wo er aber nur ein Fichte in den Lehrkörper berufen und trat als erster gewähl
Semester (Sommersemester 1805) las. Das Jahr 1806 hatte ter Rektor an die Spitze der neuen Universität. Er legte je
sich für Fichte sehr fruchtbar gezeigt. Drei Werke wurden doch dieses Amt vorzeitig (im Wintersemester 1811/12) nie
publiziert, die von ihm in Berlin in den beiden Winterseme der, weil er im Kampf gegen studentische Mißstände vom
stern 1804/05 und 1805/06 gehaltenen Vorlesungen: Die akademischen Senat im Stich gelassen wurde.
Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters . . . in Vorlesungen, Zu den Vorlesungen, die Wissenschaftslehre betreffend, die
gehalten zu Berlin im Jahre 1804-5 (Berlin 1806); Die A n Fichte in dieser Zeit in Berlin gehalten hat, gehören:
weisungen zum seeligen Leben, oder auch die Religions Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse (Berlin
14 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 15
1810), die von Fichte selbst noch zum Drude vorbereitete, kende Wort >Wissenschaftslehre<, welches später dem groß
aber posthum erschienene Vorlesung Die T hat sachen des angelegten Versuch eines ganzen Systems den Namen geben
Bewußtseyns. Vorlesungen, gehalten an der Universität zu sollte. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen, ein System
Berlin im Winterhalbjahre 1810-11 (Stuttgart und Tübingen ausdeuten zu wollen, das Fichte selbst in immer neuen An
1817); ferner die erst nach seinem Tod von seinem Sohn läufen bearbeitet, verändert und umgebaut hat. Darum soll
I. H. Fichte publizierten Vorlesungen Ueber das Verhältniß im folgenden, um den Kern der vorliegenden Schrift Fichtes
der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik. Vor deutlich zu machen, lediglich der für das entscheidende
lesungen, gehalten von Michaelis bis Weihnachten 1812 Stadium seiner Erörterungen notwendige Problemhorizont,
(/. G. Fichte’s nachgelassene Werke. Hrsg. v. I. H . Fichte. soweit er einer Aufhellung bedarf, kurz umrissen werden.
Bd. I. Bonn 1834. S. 575 ff.); ferner Die Thatsachen des Be
wußtseins. Vorgetragen zu Anfang des Jahres 1813 (eben Das Grundthema der vorliegenden Schrift Fichtes ist, wie
da S. 401 ff.) und schließlich Die Einleitungsvorlesungen in bereits erwähnt, die Neubegründung der kritischen Philo
die Wissenschaftslehre. Vorgetragen im Herbste 1813 auf der sophie, die Entwicklung der Philosophie als allgemeingülti
Universität zu Berlin (ebenda S. 1 ff.); außerdem Die Wis ger Wissenschaft aus einem einzigen Grundsatz, und darun
senschaftslehre, vorgetragen im Jahre 1812 (ebenda Bd. II, ter versteht Fichte die Erklärung und Begründung des ge
S. 315 ff.) und Die Wissenschaftslehre, vorgetragen im Früh samten Wissens aus einem einzigen Grundprinzip, das als
jahre 1813, aber durch den Ausbruch des Krieges unvoll schlechthin gewiß gelten muß. Fichte stellt sich darin er
endet geblieben (ebenda Bd. II, S. 1 ff.). klärtermaßen die Aufgabe, gleichsam einen Plan zu entwer
fen, nach welchem die Wissenschaftslehre aufgebaut werden
Fichte starb am 29. Januar 1814, einem Nervenfieber er soll.
liegend, welches durch seine Frau, die sich der Krankenpflege Diese Aufgabe entsteht aus dem Bedürfnis, das Programm
in den Lazaretten widmete und selbst von der Ansteckung der Neubegründung der Philosophie Kants, das sich durch
wieder genas, auf ihn übertragen worden war. die Frage: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? for
mulieren läßt, wieder aufzunehmen und den Weg, welchen
die kantische Philosophie beschritten hat, fortzusetzen, und
Wie sich aus dem Vorangegangenen entnehmen läßt, hat das bedeutet, ein Prinzip zu finden, woraus sich die kanti-
Fichte sieben verschiedene Fassungen seiner Wissenschafts schen Ergebnisse ableiten lassen. Somit wird das, was bereits
lehre vorgelegt: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre das Grundthema der kantischen Philosophie war, nämlich
(1794), Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschafts die Bedingungen der Möglichkeit objektiv gültigen Wissens
lehre (1797), Darstellung der Wissenschaftslehre (1801), Die zu ermitteln, um dadurch eine Begründung der positiven
Wissenschaftslehre (1804), Die Wissenschaftslehre in ihrem Erkenntnis oder Erfahrung zu geben, auch zum fundamen
allgemeinen Umrisse (1810), Die Wissenschaftslehre (1812), talen Anliegen der Wissenschaftslehre Fichtes, wobei diese
Die Wissenschaftslehre (Frühjahr 1813, unvollendet). über Kant hinausgeht, indem sie den Versuch unternimmt,
In der vorliegenden Schrift Uber den Begriff der Wissen den kantischen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand zu
schaftslehre oder der sogenannten Philosophie gebraucht überwinden.
Fichte zum erstenmal öffentlich das zunächst rätselhaft wir
16 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 17
In Karl Leonhard Reinhold hatte Fichte bereits seinen Vor als Kontrahenten sowohl der kantischen Philosophie als auch
gänger, der im Versuch, die kantische Philosophie fortzu seiner eigenen Position gegenüber auftreten, sind der dogma
führen, in seiner Elementarphilosophie erklärte, daß die von tische und der skeptische Standpunkt. Für Fichte haben so
K ant musterhaft gelieferte Theorie der Erkenntnisvermögen wohl der dogmatische als auch der skeptische Standpunkt bei
als Fundament die Einheit des Grundsatzes fordere, der den Kant-Interpreten ihre Wurzel in dem gleichen Mißver
nichts anderes aussage als eine zweifelsfreie, weder der inne ständnis der kantischen Philosophie, insofern beide davon
ren noch äußeren Erfahrung entnommene, ursprüngliche, je ausgehen, daß Kant mit dem Ding an sich keine ideelle, son
dem einleuchtende Tatsache, die zu ihrer Bejahung des blo dern eine reale vom Bewußtsein unabhängige Wesenheit ge
ßen Bewußtseins bedürfe und mit diesem Zusammenfalle, meinthabe. Dabei ist der Dogmatismus von der außerhalb des
so daß die Tatsache des Bewußtseins der einzig mögliche Bewußtseins liegenden Existenz des Dinges an sich überzeugt
Inhalt jenes ersten Grundsatzes sei. und will es solchermaßen zum Grund der Erfahrung erheben,
Während aber Reinholds Theorie auf dem Satz des Bewußt während der Skeptizismus beweisen will, daß die Dinge an sich
seins gründet, der in dem Satz formulierte Sachverhalt als prinzipiell unerkennbar sind, und damit einen Einwand gegen
Tatsache, die wir in uns vorfinden, nur die Qualität einer die kritische Philosophie zu erheben glaubt. Indem jedoch der
empirischen Selbstbeobachtung hat und nicht freier Akt der Skeptizismus diese Einwände vorbringt, fußt er nach Fichte
Intelligenz ist, sucht Fichte diesen determinierenden An auch auf der dogmatischen Auffassung des Dinges an sich.
spruch zu unterbinden, indem er als höhere Voraussetzung
den freien A kt der Intelligenz (Akt der Setzung) ansetzt, In diesem Sinne weist Fichte bereits in seiner Widerlegung
der den Satz des Bewußtseins erst ermöglicht. Fichte wendet des Aenesidemus, der gerade vorgibt, gegen den dogma
daher gegen Reinhold ein: Wird unter Tatsache des mensch tisch nach realistischer Seite hin modifizierten Kantianismus
lichen Bewußtseins alles im menschlichen Bewußtsein mögli skeptische Argumente ins Feld führen zu können, Schulze
cher- und tatsächlicher weise Vorfindliche verstanden, dann selbst eine dogmatische Fehlinterpretation Kants nach. Denn
wird deutlich, daß der höchste Grundsatz niemals Tatsache indem er das Ding an sich, aus dessen Unerkennbarkeit er
des menschlichen Bewußtseins sein oder werden kann, denn seine Folgerungen gegen die H altbarkeit der kantischen
als Tatsache wäre er aus dem menschlichen Bewußtsein ab Lehre ziehe, als einen widerspruchsvollen Begriff bezeichne,
leitbar, folglich bedingt und nicht erster Grund. Aus diesem mache er wie der Dogmatismus das Ding an sich zum Real
Grunde kann niemals eine Tatsache des menschlichen Be grund der Dinge. In diesem Sinne begreife er die Dinge als
wußtseins erster Grundsatz sein oder werden. Der oberste notwendige Wirkungen, die aus dem Ding an sich durch eine
Grundsatz soll und muß vielmehr als solcher allem menschli Kausalkette hervorgingen und verknüpft seien, so daß seine
chen Bewußtsein zugrunde liegen und dasselbe allererst er Argumente ihre Stärke nur so lange behielten, als das Ding
möglichen, so daß auf ihn so etwas wie Tatsachen des Be an sich ohne das wahre Verständnis der Sache dogmatisch
wußtseins begründet werden können. gefaßt werde.
Die wesentlichen Gegenpositionen zur kritischen Philosophie Setzt man nach Fichte das Ding an sich in der bezeichneten
Kants, mit denen sich Fichte auf dem Wege zu seiner Kon Fassung als erkennbar, so ist die kritische Philosophie an die
zeption der Wissenschaftslehre auseinandersetzt, sofern sie dogmatische verloren. Das erkennende Subjekt wird dabei
18 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 19
ohne Untersuchung vorausgesetzt, und die Erkenntnis be undenkbar. Da jegliches, durch welches wir einen Gegen
greift nur die Dinge der Natur, nicht aber ihre eigenen stand vorstellen, im Bewußtsein enthalten sein muß und sich
Begriffe. Die Identität von Welt und Erkenntnis, auf Wel nicht außerhalb des Bewußtseins befinden kann, kann das
cher die Erkenntnis beruht, ist eine unreflektierte. Denn es Ding an sich auch nicht als äußere Ursache des im Bewußt
erweist sich bei kritischer Betrachtung, daß es nirgendwo sein gegebenen Stoffes unserer Vorstellung gelten. Daher
einen Ansatz gibt, wo sich das Ding in ein Objekt der Vor bleibt für Maimon als einziges Prinzip der Erkenntnis das
stellung wandeln kann. Dieser Schritt kann von der dogma Bewußtsein übrig. Da aber die Objekte unserer Erfahrung
tischen Position her nicht begründet werden, genausowenig wie den Charakter einer gegebenen Erkenntnis haben und ihre
der, daß die Intelligenz aus dem Ding an sich hervorgeht. Ursache nicht außerhalb des Bewußtseins befindlich sein
Daher ergibt sich für Fichte, sofern die Kausalkette des kann, muß sie in uns sein, so zwar, daß sie nicht in unserem
Dogmatismus immer einseitig bleibt und nie vom Sein zur Erkenntnisvermögen enthalten ist, da sonst der Gegenstand
Vorstellung gelangt, als Konsequenz der Selbständigkeit des nicht gegeben, sondern erzeugt und seine Ursache völlig be
Dinges an sich, daß sich der Mensch im Horizont dieses Den kannt wäre. Aus diesem Grund ist für Maimon auch im Be
kens als bloße Wirkung einer von ihm unabhängigen Ursache reich unserer Erfahrung keine vollständige, d. h. allgemeine
betrachten muß, und das bedeutet zugleich die Selbstauf und notwendige Erkenntnis möglich.
gabe der Freiheit. Denn der Mensch im dogmatischen Ver
stände ist, so Fichte, ein bloßes Produkt eines außer ihm Obzwar Maimon also das verneint, was Kant bejaht, die
liegenden Grundes und nicht produzierendes, d. h. freies und Allgemeinheit und Notwendigkeit der Erfahrungserkennt
tätiges Wesen. Zudem ist nach Fichte der Dogmatismus auf nis, beurteilt er die Erkenntnis von einem transzendentalen
grund seines Prinzips vollkommen unfähig, die Erkenntnis Standpunkt und stimmt in dieser Hinsicht mit Kant überein.
zu erklären und damit ebenso außerstande, sich selbst zu Mit ihm ist die kritische Perspektive der Kant-Interpretation
erklären. Sein Anspruch, ein Erkenntnissystem zu sein, hebt gewonnen. Es wird zugleich aber auch deutlich, was Fichte in
sich daher selbst auf, sein Standpunkt bedeutet die Ver der Vorrede der zugrunde liegenden Schrift meint, wenn er
nichtung des Bewußtseins. Indem Fichte dem Dogmatismus sagt, »daß die Philosophie, selbst durch die neuesten Be
abspricht, eine erkenntnisfähige Philosophie zu sein und die mühungen der scharfsinnigsten Männer noch nicht zum
skeptischen Einwürfe des Aenesidemus gegen den kritischen Range einer evidenten Wissenschaft erhoben sei«.
Standpunkt überhaupt als einen skeptischen Dogmatismus
disqualifiziert, eröffnet er bereits wesentliche Voraussetzun Indem Fichte sowohl den skeptischen Standpunkt des Aene
gen für den Problemhorizont seiner Wissenschaftslehre. sidemus als auch die kritischen Einwände des Maimon ein
bezieht, versteht er das Anliegen seiner Wissenschaftslehre
Überdies geben die skeptischen Vorstellungen Maimons nachdrücklich aus dem Geiste der kantischen Philosophie, die
(1753-1800), die selbst unter dem kritischen Standpunkt es zu vollenden gilt. Für Fichte ist die kantische Philosophie
stehen, für Fichte zu seiner Konzipierung der Wissenschafts noch keine grundlegend kritische Philosophie, wenngleich sie
lehre bedeutsame Anregungen. Maimons Standpunkt fußt den Ansatz zur kritischen Philosophie in sich birgt, sofern
ebenfalls auf der Einsicht in die Unmöglichkeit des Dinges sie sich vom philosophischen Naturalismus bzw. dem un
an sich. Für ihn ist es nicht nur unerkennbar, sondern auch reflektierten Verhältnis des Dogmatismus zum erkennenden
20 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 21
Subjekt abwendet und die Dinge nicht mehr als Dinge der Damit ist der Anspruch, den die kritische Philosophie nach
N atur begreift, sondern als Gegenstände der Erkenntnis, Fichte erfüllen muß, deutlich: durch die Einsicht in die all
d. h. als Inhalte des Bewußtseins ansieht. Für Fichte besteht gemeine Struktur von Wissen überhaupt muß das Grund
daher die Aufgabe der kritischen Philosophie über Kant prinzip der allgemeinen und notwendigen Erkenntnis oder
hinaus, den Grund der Erfahrung zu sichern und das heißt, Erfahrung bestimmt werden, damit sich die Philosophie als
ein Prinzip zur Deduktion zu finden. Erst wenn dieses als Ganzes systematisch begründen läßt. N ur so kann sich die
das Fundament der Erfahrung bestimmt ist, kann es über Philosophie als Wissenschaft verstehen und die Erkenntnis
haupt eine positive Erfahrung bzw. eine positive Erkenntnis als eine wahre legitimieren. Aus diesem Horizont nennt
geben. Um aber dieses Prinzip zu begreifen, muß die Philo Fichte die Thematik des Problems, das ihn beschäftigt, >die
sophie ihre eigenen Begriffe begreifen und nach Möglichkeit Wissenschaftslehrec. Um Wissenschaft in den verschiedenen
deren objektive Gültigkeit aufweisen. In diesem Sinne muß Bereichen zu sichern, bedarf es zuallererst einer Klärung im
sie das System unserer Erfahrung, aber entgegen der Auf Hinblick auf die Möglichkeit und Bedingung des wissen
fassung Maimons, als System allgemeiner und notwendiger schaftlichen Denkens überhaupt. Im Umkreis dieses Denkens
Vorstellungen begründen, deren Grund vor aller Erfahrung zielt daher das Fragen daraufhin, was Wissenschaft über
und darum außerhalb derselben liegen muß. Nach Fichte haupt ist, wie Wissenschaft selbst überhaupt möglich ist. So
kann daher die Philosophie ihre Objekte nur finden, indem mit erweist sich die Wissenschaftslehre gewissermaßen als
sie von der Erfahrung abstrahiert, d. h. die Erfahrung in Voraussetzung für alle Wissenschaften im Hinblick auf ihre
ihre Elemente zerlegt und diese zum Objekt des Denkens Wissenschaftlichkeit und hat universalen Charakter.
bzw. der Analyse macht. Diese Elemente sind, da die Erfah
rung in der Verbindung von Vorstellung und Ding besteht, Eine philosophische Betrachtung, die in diesem Problem
auf der einen Seite der von aller Erfahrung unabhängige horizont ihren Gegenstand findet, hat die Erkenntnis selbst
Grund der Vorstellung, die Intelligenz an sich, auf der an zum Objekt, die Begründung der Erkenntnis überhaupt, und
deren Seite der von aller Erfahrung unabhängige Grund der dies heißt nichts anderes als die Begründung der Wissen
Dinge, das Ding an sich. Ist das Objekt der kritischen Philo schaft überhaupt. Mit der Wissenschaftslehre trifft Fichte
sophie der außerhalb aller Erfahrung liegende Grund der daher ein Problem, das bis heute nichts an Aktualität einge
Erfahrung, dann muß sie entweder die Intelligenz an sich büßt hat, nämlich das der Möglichkeit von Wissenschaft
oder das Ding an sich zu ihrem Prinzip machen. Da sich der überhaupt.
Anspruch der dogmatischen Philosophie, ein Erkenntnis
system zu sein, von selbst ausschließt, wie sich vorher zeigte, In jüngster Zeit ist der systematische Gedankengang Fichtes
ist deutlich, daß sich die kritische Philosophie nur auf die kritisch angegangen worden. So hat Dieter Henrich in seiner
Intelligenz an sich, die sie allerdings im Unterschied zu Rein- Abhandlung Fichtes ursprüngliche Einsicht (in: Subjektivität
holds Auffassung als freien Akt, nämlich den der Produk und Metaphysik, Festschrift für W olf gang Cramer, 1966,
tion, zu begreifen hat, gründen kann und den idealistischen S. 188 ff.) den Begriff der Setzung untersucht. Er stellt im
Standpunkt einnehmen muß, sofern sie sich ihrem Anliegen Fortgang der Wissenschaftslehre Fichtes drei verschiedene
gemäß als Erkenntnissystem legitimieren will. Bedeutungen des Begriffes heraus, die sich kritisch ergänzen:
1. >Das Ich setzt schlechthin sich selbstc (1794) (a. a. O.
22 Einleitung des Herausgebers Einleitung des Herausgebers 23
S. 198), 2. >Das Ich setzt sich schlechthin als sich setzende bung unter Beibehaltung der originalen Auszeichnung abzu
(1797) (a. a. O. S. 202), 3. Das Ich wird zu einer Tätigkeit, drucken. Aus Gründen der technischen Unvollkommenheit der
>der ein Auge eingesetzt ist< (1801) (a. a. O. S. 206). Wolf Erstdrucke lagen der Texterstellung zum Vergleich zwei O ri
gang Janke weist in seiner Untersuchung: Fichte. Sein und ginalexemplare zugrunde, und zwar das Exemplar der Stadt
Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970, bibliothek Trier mit der Signatur A o 358 und das der Uni
ebenfalls parallel drei Ich-Versionen auf: Das Ich setzt sich versitätsbibliothek Bochum mit der Signatur G A 30672.
schlechthin als setzend (1794), das Wissen erblickt sich in der Alle zweifelsfrei erkennbaren Druckfehler sowie die von
intellektuellen Anschauung als absolutes Wissen (1801), der Fichte am Ende der Erstausgabe angegebenen und die des
Verstand versteht sich als Bild des absoluten Wissens (1804). von Fichte im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-
Hans Radermacher hat in Fichte und das Problem der Dia Zeitung (Numero 59 mittwochs, den 18. Juni 1794) ver
lektik (vgl. Studium Generale 21, 1968, S. 475 ff.) und in öffentlichten Druckfehlerverzeichnisses zur ersten Auflage
Fichtes Begriff des Absoluten, Frankfurt 1970, die Aporien (D. V.) wurden im Text korrigiert. Alle Korrekturen sind
im Begriff der Produktion genannt. Diese Aporien betreffen durch veränderten Druck (gesperrt gerade) gekennzeichnet, die
sowohl die Fassungen der Wissenschaftslehren des frühen als Originalversion ist in den textkritischen Bemerkungen - ge
auch des späten Fichte. Insofern sei Fichte insgesamt zu kri kennzeichnet durch kleine Buchstaben - unverändert aufge
tisieren. Zudem ist gesagt, Fichtes Argumentationen seien führt. Die zweifelsfrei erkennbaren, aber von Fichte nicht
kontrollierbarer als die Hegels. Schließlich wird die Funk gekennzeichneten Fehler wurden in die textkritischen Be
tion der Wissenschaftslehre d min gesehen, daß es zu einem merkungen nicht aufgenommen.
Begriff des Experimentes von 'dialektischen Argumentatio Die Abweichungen und Varianten der zweiten Auflage
nen kommt. So liegt die Bedeutung der Arbeiten der ge (Jena und Leipzig bei Christian Gabler), sofern sie sich nicht
nannten Autoren in der, wenn auch unterschiedlichen, kri auf eine bloße Transposition in eine andere Orthographie
tischen Sondierung der einzelnen Gedankengänge Fichtes. erstrecken, wurden - gekennzeichnet durch große Buch
staben - in den textkritischen Bemerkungen berücksichtigt,
ebenso sind die in den von I. H. Fichte herausgegebenen
Zur Textgestalt sämtlichen Werken aufgeführten, auf handschriftliche Ver
besserungen J. G. Fichtes zurückgehenden Marginalzusätze
Die hier vorgelegte Ausgabe der Einladungs- bzw. Pro- in den beigefügten Anmerkungen angezeigt. Als Grundlage
grammsdirift Fichtes für die Jenaer Studenten und Gelehr für die Vergleichung der ersten mit der zweiten Auflage
ten, erschienen unter dem Titel Über den Begriff der Wissen sowie für die Anführung der Vorrede und der angefügten
schaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Ein Beilagen der zweiten Auflage wurde das Originalexemplar
ladungsschrift zu seinen Vorlesungen über diese Wissenschaft der zweiten Auflage 1798 der Universitätsbibliothek Münster
(VIII und 60 S.) 1794, zweite erweiterte Auflage (XVIII mit der Signatur S1 3345 und die Gesamtausgabe, Hrsg.
und 77 S.) 1798, folgt dem Text der ersten Auflage Weimar Lauth/Jacob, hinzugezogen.
im Verlag des Industrie-Comptoirs 1794 und versucht ihn in Die in eckigen Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen
seiner Urgestalt ohne Änderung der Orthographie sowie der sich auf die Paginierung der Erstausgabe.
für Fichte charakteristischen Interpunktion und Großschrei Edmund Braun
Über den
Begriff der Wissenschaftslehre
oder
der sogenannten Philosophie,
als
Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen
über diese Wissenschaft
von
JO H A N N GOTTLIEB FICHTE,
designirten ordentlichen Professor der Philosophie
auf der Universität zu Jena,
Weimar,
Im Verlage des Industrie-Comptoirs
1794.
[III] Vorrede.*