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Virchow
und im lebendigen Austausch bleibende Ehe bis
zuletzt geführt zu haben. Er selbst meisterte mit
Bravour die Klippen des Älterwerdens, bis er sich

ein Stratege der Macht


zuletzt, mit über 80 Jahren, auf dem Weg zu einem
eigenen Vortrag, beim Absprung aus der noch fah-
renden Tram, einen Oberschenkelhalsbruch zuzog,
woraufhin er etwa ein halbes Jahr später verstarb.
Ein Bruchteil dessen, was er geleistet hat, würde
Autor: Johann Siegfried Mohr für andere genügen, eine herausragende Ehre ih-
res Lebens darzustellen! Orden und Auszeichnun-
gen hatte er genug in seinem Leben erhalten, doch
Rudolf Virchow (1821–1902), dessen Vorname Einführung der staatlichen Fleischbeschau zur Vor- wichtig waren sie ihm nicht. Bei Gelegenheit einer
von seinem Vater beharrlich mit ph am Ende ge- beugung der Trichinose zurück. Vom Preußischen anstehenden Verleihung des selten vergebenen
schrieben wurde und der seinen Nachnamen wie Ministerium kurz nach seiner Promotion beauftragt, Ritter-Kreuzes 1. Klasse schrieb er noch schnell an
bei einem F als Anfangsbuchstaben und natürlich die medizinischen Ursachen einer in Oberschlesien den Minister, er möchte mich noch verschonen (Brief
ohne das w am Ende ausgesprochen wissen wollte, aufgetretenen Seuche zu erkunden, scheute sich 25.1.1856), und über seinen Geheimrats-Titel, mein-
gilt als Epoche machender Mediziner, der mit sei- der junge Virchow nicht, in der Zeit harter Bandagen te er zu seinem Vater, wollen wir lieber schweigen;
nen Forschungen und Ansichten die Medizin des und staatspolizeilicher Unterdrückungsmaßnah- dass ich lieber simpler Professor bin, weißt Du ja (Brief
19. Jahrhunderts auf naturwissenschaftliche Grund- men der Metternichschen Restaurationspolitik sei- 1856). Als er schließlich einmal in die Notwendigkeit
lagen gestellt hat und als unmittelbarer Wegberei- ne Überzeugungen von den seiner Auffassung nach kam, seine Orden das erste Mal spaziren [zu] führen,
ter der heutigen Schulmedizin anzusehen ist. Als in Frage kommenden politischen Ursachen, ver- hoffte er, einen richtigen Affen der Civilisation darstel-
kleiner hinterpommerscher Bauernsohn nahm er knüpft mit heftigen Vorwürfen an die Regierung, zu len zu können ( Brief 22.9.1860).
in kurzer Zeit eine steile Karriere über sein Medi- veröffentlichen. Während der Berliner Aufstände im War nun Rudolf Virchow wirklich ein solcher Ritter Abb 1: Rudolf Virchow
zinstudium in Berlin mit Promotion und schneller März 1848 nahm er mit an den Barrikadenkämpfen ohne Furcht und Tadel? Da nun an das Thema, der
Habilitierung bis zur Professur in pathologischer teil, wenn auch im letzten Moment nicht als Aktivist. Frage des Plagiates der zentralen Virchowschen Klarstellung, die einen Vorwurf bedeutet, vornahm
Anatomie, die seinen Weltruf begründete. Auch in Karl Marx hätte ihn gerne für seine Sache gewonnen Leistung, seiner <Cellularpathologie>, herangegan- und sich Virchow Offenheit und Öffentlichkeit auf die
manch anderen Disziplinen wie der Anthropologie, gehabt und startete über einen Arzt einen erfolglo- gen wird, so mag das zunächst erscheinen, als ob die eigenen Fahnen schrieb, ist die Berechtigung zu
der Ethnologie und als prähistorischer Archäologe, sen Akquirierungs-Versuch. Virchow war ein uner- notorische Suche nach dem dunklen Fleck auf der folgender kritischer Betrachtung gegen prinzipielle
mit insgesamt über 1800 Fachbeiträgen von seiner müdlicher Arbeiter, der rastlos Tag für Tag ein ge- weißen Weste eingesetzt hätte, weil die Anhäufung Einwände autorisiert.
Hand, galt er als Koryphäe. waltiges Pensum bewältigte und emsig am Ausbau so vieler und so herausragender Leistungen und Fä-
Virchow war schon als Schüler Primus mit einer Be- seines epochalen Werkes, der <Cellularpathologie>, higkeiten in einer Person manchem unerträglich sei.
gabung für Sprachen: neben dem Lateinischen und wirkte. Schon zu seinen Lebzeiten geisterte sein an- Doch diese scheinbar ihn bemäkelnde Fragestellung I. <Der kleine Virchow>
Altgriechischen lernte er noch auf dem Gymnasium geblicher Ausspruch, bei all seinen Sektionen keine befindet sich mit der Devise Virchows in Einklang: und seine große Laufbahn
freiwillig Hebräisch, konnte passabel Französisch Seele gefunden zu haben, umher. Mit dem ihm ei- Offenheit und Öffentlichkeit werden stets meine Fahnen
und erlernte während seines Studiums noch auto- genen Sinn für Humor konterte er diese Legende in sein (Brief 26.1.1843). In dieser Frage dem wirklichen Am 13.10.1821 wurde der kleine Rudolph Ludwig
didaktisch Italienisch und Englisch, das Arabische einer parlamentarischen Rede am 22.2.1877 damit, Sachverhalt Recht widerfahren zu lassen, ist eine Carl als einziges Kind der Eheleute Johanna Maria
konnte er zumindest lesen. Seine besonderen Vor- dass er sie so formulierte, ob er denn die Religion (medizin-) historische Notwendigkeit, die allerdings Hesse (1785–1857) und Carl Christian Virchow (1785–
lieben schon während seiner Schuljahre waren Poli- schon mit seinem Seziermesser entdeckt habe und die Biographen Virchows mit Ausnahme von Erwin 1864) im hinterpommerschen Städtchen Schivel-
tik und Geschichte, in denen er sich später praktisch anfügte, ich könnte… sagen, es wäre mir auch nicht ge- Ackerknecht nie aufgegriffen haben! Umso mehr bein geboren. Der Ort gehört heute zu Polen und
engagieren sollte, u. a. im Preußischen Abgeord- lungen, den Aberglauben durch das Seziermesser zu kommt der Aussage des mit Virchow in lebenslan- heißt Swidwin. Sein Vater hatte dort als Erbe ein
netenhaus und im Deutschen Reichstag – für vier entdecken… (Andree, 10). ger Freundschaft verbundenen Anatomen Koelliker Haus mit 1 ½ Hufe Land (ca. 50 Morgen Land; 1
Jahrzehnte und mit Tausenden von Reden (Andree, Auch im Privaten gelang ihm anscheinend ein so- hier Bedeutung zu, der in seiner Autobiographie, Morgen galt in Preußen 25,532 a = 2553,22 m²) über-
107)! Darüber hinaus leistete er Hervorragendes für lides Ehe- und Familienleben mit sechs Kindern, die noch zu Lebzeiten Virchows erschien (1899), nommen und neben seiner Tätigkeit als Stadtkäm-
die Hygiene Berlins, was Trinkwasser- und Abwas- ohne Affären oder Prostataprobleme. Mit seiner die Unterschlagung durch seinen Freund öffentlich merer mehr schlecht als recht Landwirtschaft be-
serversorgung angeht. Auf seine Initiative geht die um elf Jahre jüngeren Frau schien er eine innige machte. Wenn also schon sein guter Freund diese trieben, die er ab 1828 ausschließlich ausübte
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und zu der er als ehemaliger Sohn eines Fleischer- Verschweigen bedeutet, werden wir im letzten Kapi- Für Naturwissenschaften, Geschichte und Geogra- Wichtigster „Vermittler“ des angestrebten Studi-
meisters, der zu den wohlhabensten und geachtetsten tel eher prüfen können, da seit 2001 zum ersten Mal phie zeigte er besondere Neigungen und in Latein enplatzes war ein Bruder des Vaters, Johann Chris-
Grundbesitzern des Ortes gehörte (Vossische Zeitung, eine historisch-kritische Ausgabe der Virchowschen gefiel dem Fachlehrer sein für einen Dreizehnjäh- toph Virchow (1788-1856), der in Berlin als Major
c.n. Feddersen, 46) und zugleich Brennerei und Land- Briefe, soweit sie nicht vernichtet wurden, aus dem rigen ungewöhnliches Wissen (Becher, 1). Nach vier präsent war und genügend Einfluss hatte, vor Ort
wirtschaft (Posner) betrieb, etwas praktische Erfah- Zeitraum 1839–64 vorliegt, die weit mehr Briefe (ca. Jahren bestand er dann Ostern 1839 sein Abitur, schon mal die Weichen für die Aufnahme in die mi-
rungen, jedoch weit größere Leidenschaft hatte. 900 Druckseiten) enthält als die fast hundert Jahre jedoch nicht ohne einen Zwischenfall. Während litärärztliche Akademie zu stellen. Trotz mangeln-
Außer der von Rudolf Virchow mit 17 Jahren verfass- frühere Briefedition, und die damals von der Her- ihm sein Lateinlehrer gewogen war, hegte sein der schulischer Ausbildungsmöglichkeit hatte sich
ten <Meldung zur Reifeprüfung>, von seiner Tochter ausgeberin zensierten Briefe nun vollständig bietet. Lehrer für Altgriechisch dauerndes Misstrauen dieser Onkel als Soldat hervorgetan, später die Of-
Maria Rabl und Herausgeberin seiner Briefe <Der Aus diesem komplettierten Briefkonvolut lassen und Verdächtigungen an Betrugsmanövern gegen fiziersprüfung bestanden und entscheidende Ver-
kleine Virchow> genannt, gibt es keine biographi- sich einige Rückschlüsse ziehen, um ein Bild seiner ihn, da er durch seinen früheren Privatlehrer darin besserungen der militärischen Heeresausrüstung
schen Quellen für seine Kindheits- und Jugendjahre, Persönlichkeit zeichnen zu können. geschult war, ohne Grammatikkenntnisse Wendun- eingeführt, die ihm sowohl vom Hannoverschen
sowenig wie er selbst autobiographische Angaben gen und ganze Sätze auswendig übersetzen zu kön- König wie vom Preußischen König einen Orden ein-
hinterlassen hat. Diesen Mangel dürfte er durchaus Schon früh interessiert an bebilderten Büchern nen. Im Abitur schließlich ließ es sich der misstrau- gebracht hatten.
bewusst in Kauf genommen haben, hat er doch in aus dem Buchbestand seines Vaters, besonders ische Lehrer nicht nehmen, gegen ihn zu stimmen, Aber auch die Rolle seines Onkels mütterlicher-
seiner Dankesrede am 25.6.1868 für seinen verstor- Tier- und Pflanzenkupfer(drucke) und dem freudi- da ihm die unvorstellbaren Altgriechisch-Kenntnis- seits, Ludwig Ferdinand Hesse, darf in seiner Medi-
benen Schwiegervater Dr. Carl Mayer, einem der Be- gen Wiedergeben von kleineren Erzählungen seiner se seines Schülers suspekt waren, und ihm dieser zinlaufbahn nicht unterschätzt werden. Dieser war
gründer der modernen Gynäkologie, klar und wie für Wärterin, verflossen meine ersten Lebensjahre […] Schüler daher nicht die „moralische Reife für die Architekt und ehemaliger Schinkel-Schüler, leitete
sich selbst ausgesprochen: Hier muß ich offen geste- ruhig und ohne bedeutendere Ereignisse, die für mein Universität“ zu besitzen schien. Trotz dieser be- die Schlossbaukommission und war Baumeister
hen, dass ich es für ganz unmöglich halte, den Entwick- späteres Leben von größerer Wichtigkeit gewesen wä- einträchtigenden Einzelbeurteilung bestand R.Vir- u.a. der Königlichen Theater, der Tierarzneischu-
lungsgang eines Mannes in voller Deutlichkeit darzule- ren… (1907, Briefe, 1). Schreiben und Lesen lernte chow das Abitur, im Rang sogar als Erster auf der le und der neuen Charité. Onkel Hesse saß als
gen, der so wenig durch den Zufall äußerer Verhältnisse er bei einer großen Wissbegierde fast spielend (ebd.) Absolventenliste. technisches Mitglied im Curatorium für die Kranken-
bestimmt, der so sehr aus inneren Antrieben gestaltet von seinem Vater noch vor dem Schuleintritt. Im Aus den Briefen des Vaters wissen wir, dass R. haus- und Thierarzneischul-Angelegenheiten (Brief
wurde. Nur eigene Aufzeichnungen des Verstorbenen Alter von sieben Jahren besuchte er die städtische Virchow nicht aus Berufung das Medizinstudium 7.4.1843), R. Virchows oberste Behörde, nachdem
können hier aushelfen, allein, so musterhaft er in der Volksschule und erhielt vom Rektor zusätzlichen wählte, sondern dies den väterlichen Überlegungen er später in der Charité arbeiten sollte. Über den
unmittelbaren Niederschreibung seiner ärztlichen Ta- Privatunterricht in Latein und Französisch. Weil die- entsprang. Sein eigener Wunsch wäre ein Theolo- Onkel Hesse berichtet Rudolf Virchow aufschluss-
gebücher war, so wenig hat er daran gedacht, Tagebü- ser Unterricht aber unvollkommen war, wechselte gie-Studium gewesen, um als Gottesdiener sein heil- reich in einem seiner Briefe an den Vater, dass er
cher seiner persönlichen Erlebnisse fortzuführen. Was er auf eine deswegen eigens vom Vater angeregte bringendes Evangelium zu verkünden und als ein gu- auch unter den Brüdern Maurern einen höheren Rang
für den denkenden Betrachter am meisten lehrreich Privatschule des Superintendenten, was durch die ter Hirte über das Seelenheil der mir Anvertrauten zu eingenomen. Der Protektor des Ordens, der Prinz
ist, die Kenntnis des Entwicklungsganges, das, was für damalige fehlende Schulpflicht möglich war. Nach wachen (c.n. Goschler, 36). Lediglich sein „schlech- von Preußen, hat die beiden großen Logen hier ver-
unser menschliches Interesse am meisten ansprechend zwei Jahren ging dieser Schul-Versuch ein und der tes (Sprech-) Organ“ habe ihn von der Durchset- einigt, und bei der Gelegenheit hat der Onkel einen,
und daher auch für unser Gedächtnis am meisten dau- kleine Rudolf musste wider Willen in die alte Schule zung dieses Vorhabens abgehalten. Doch war ein wer weiß, wie hohen, Rang erschwungen (4.12.1842).
erhaft ist, das Verständnis der Persönlichkeit in ihrer zurück. Dort wurde der vom Rektor geschätzte Pri- Universitätsstudium des Sohnes für den schlecht Somit standen zwei äußerst einflussreiche Fami-
geschichtlichen Veränderung, das in ausreichender mus mit Nachhilfeaufträgen überfordert, sodass ihn wirtschaftenden Vater nicht finanzierbar, während lienangehörige Pate zu der väterlichen Idee, ihm
Weise darzustellen, liegt nicht mehr in der Möglich- sein Vater im Herbst 1832 wiederum in eine andere das Medizin-Studium am militärärztlichen Berliner zu einer günstigen medizinischen Ausbildung und
keit (c.n. Briefe, 1907, V). Dass Virchow selbst dieses Privatschule brachte. Diese wurde nach einem hal- Friedrich-Wilhelm-Institut auf Staatskosten weitge- Karriere zu verhelfen.
Manko an Informationen über seine Entwicklung ben Jahr aufgelöst, doch konnte Rudolfs Vater den hend erschwinglich war und „nur“ quartalsweise So konnte R. Virchow am 26.10.1839, gerade 18 Jah-
aufgrund seiner Bescheidenheit, andere mit seinen Lehrer, einen Prediger, dazu bewegen, seinem Sohn Zulagen aufgebracht werden mussten. Doch in den re alt geworden, in das Pépinière (Baum-/Pflanz-
persönlichen Angelegenheiten zu verschonen, nicht weiterhin – als einzigem Schüler – Privatunterricht späten dreißiger Jahren herrschte großer Andrang auf schule) genannte, und 1795 zur Militär-Akademie
geändert hat, ist ein zu vermutender wesentlicher zu erteilen, zu dem auch noch das Altgriechische ge- diese Plätze, die bereits auf Jahre voraus vergeben wa- umgewandelte medizinische Ausbildungs-Institut
Grund. Doch bei einer Persönlichkeit, die so bedeu- hörte. Nach diesem schulischen Hin und Her genoss ren. Soziale Kontakte spielten bei der Aufnahme eine als sogenannter Eleve (=Schüler) eintreten, in der
tend in der Medizin- wie Zeitgeschichte gestanden er nun für zwei Jahre den Unterricht als privilegierter wesentliche Rolle, während die Aufnahmeprüfung nur er während des vierjährigen Studiums auch verbil-
hat wie er, ist eine solche Unterlassung auch mit Einzelschüler bei seinem verehrten Lehrer und war die Rolle des Eignungstests spielte (Goschler, 37). Die ligt Kost und Logis erhielt.
Fragen verknüpft; denn das Schweigen darüber ist danach in der Lage, an das Gymnasium der Stadt Entscheidung für das Medizin-Studium hatte schon Auf den wissbegierigen neuen Studenten gewann
zugleich ein elegantes Verfahren, seine Karten nicht Köslin, ca. 50 km entfernt, zu wechseln. 2 Jahre vor dem Abitur zu erfolgen und musste in vor allem das Denken seines großen Lehrers Johan-
aufdecken zu brauchen. Ob das Schweigen auch ein Am 1.5.1835 zog er dorthin und trat in die Tertia ein. einem Deutschaufsatz begründet werden. nes Müller, eines bedeutenden Physiologen
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und Anatomen, großen Einfluss. Müller kennzeich- rungsabsichten mit geeigneten Personen und in deren Integrität über gewisse Breitengrade hinaus
nete ein universales Wissen, das in seinen vielsei- entsprechenden Positionen zu etablieren. Durch die nicht gestört sein darf (c.n. Andree, 42). Sodann be-
tigen Vorlesungen und Übungen in Physiologie, Vermittlung des Generalstabsarztes Grimm arbei- stimmte er den Weg der Forschung über Krankheit
Anatomie, vergleichende Anatomie, pathologische tete Virchow als Assistent des Prosektors der Cha- und Heilung ebenfalls dreifach: die Klinik mittels
Anatomie und Embryologie ausgebreitet wurde. rité, a.o. Professor Robert Froriep (1804–1861), im Physik und Chemie unter oberster Leitung von
Ein zweiter großer Lehrer war ihm Johann Lukas Leichenhaus. Froriep förderte neidlos andere, die für Physiologie und Anatomie; den experimentellen
Schoenlein in der speziellen Pathologie, von dem die wissenschaftliche Arbeit Sinn und Neigung zeigten. Tierversuch; die Mikroskopie bei der Pathologie.
er nach eigenen Worten mächtigste Anregungen er- Bereitwillig gab er Anregungen und Fingerzeige… Am Das war starker Tobak für die versammelten Ärzte,
hielt. ausgiebigsten mit ist Virchow von Froriep gefördert wor- die noch in spekulativen Vorstellungen lebten und
Als eine scheinbar exotische Rarität des Studien- den (Weber, 17). Ihm hatte Virchow die Überlassung die „mechanische“ (damit ist gemeint: keine von
programms, das heute „Studium generale“ ge- des Themas Phlebitis und den Hinweis auf die vor- außerhalb kommende Ursache) und zelluläre Ba-
nannt würde, hörte er bei dem Dichter Friedrich liegende französische Fachliteratur zu verdanken, sis von Leben und Krankheit als Herausforderung
Rückert über <Arabische Dichter>, und konnte von deren eigene pathologische Untersuchung ihn den empfanden. Doch mit dieser Rede hatte sich der
Persönlichkeiten wie Alexander von Humboldt, den pathogenetischen Zusammenhang Thrombose-Em- kühne Doktor Respekt verschafft. Seine Vorgesetz-
Brüdern Grimm und dem Philosophen F. Schelling bolie klar machte. Froriep sorgte sogar persönlich ten, darunter der Direktor der Anstalt, lobten ihn
Vorträge oder Vorlesungen besuchen. Zu Schelling für die Veröffentlichung der Arbeit Virchows in sei- dafür.
schrieb er seinem Vater sarkastisch: Dabei werden nem eigenen Journal. Durch Froriep kam er so zum Deswegen wohl durfte er drei Monate später zur
wir immer gelehrter durch Zuzug aus dem Auslande, ersten eigenständigen wissenschaftlichen Arbeiten Feier des Gründungstages der Pépinière eine zwei-
und es gehört schon zur Mode, bei Schelling Philoso- auf dem Gebiet der pathologischen Anatomie, die te Festrede halten, diesmal mit dem Titel <Die No-
phie zu hören. Freilich verstehen ihn schon jetzt die er sich bald darauf zu seinem Revier erkor. thwendigkeit einer Bearbeitung der Medizin vom
Philosophen von Profession nicht mehr, oder vielmehr, Zur Feier des traditionellen Gründer-Geburts- mechanischen Standpunkt, erläutert durch das
wie sie behaupten, Schelling versteht sich selbst nicht tags-Jubiläums der Pépinière, Johann Goercke, Beispiel der Venenentzündung>. In gleicher Weise
mehr und fördert den allerabstrusesten Unsinn zuta- Abb 2: der junge Rudolf Virchow wurde dem bei seinen Vorgesetzten beliebten führte er hierbei den neuen, mechanischen Ansatz
ge, allein das hindert nicht, dass Professoren aus al- Jungarzt die Ehre zuteil, die Festrede über ein von in der naturwissenschaftlich begründeten Medizin
len Fakultäten, Staatsbeamte aus allen Fächern, Mi- Besonderheit an der Pépinière, die R. Virchows ihm gewähltes Thema halten zu dürfen. Der Gene- am Beispiel seiner von Froriep angeregten Unter-
litairs, hiesige und fremde Privatpersonen, jüdische, Neigung sehr entgegengekommen sein dürfte –, ralarzt Eck, der ihn mit der Rede beauftragt hatte, suchung seine Ergebnisse zu Thrombose und Em-
christliche und türkische Studenten ihn hören (Brief der ihn über seine Heimat befragt hatte, schrieb wusste wohl mitsamt dem Direktorium, dass er ein bolie vor, und erntete diesmal für seinen umwälze-
13.12.1841). der immer an Geschichte Interessierte eine Ab- Zugpferd vor sich hatte, als er dazusetzte: „Man risch(en), wenigstens ganz unpreussisch(en) Vortrag
R. Virchow war ein eifrig Studierender, der mit we- handlung über die Geschichte des Kartäuser-Klos- muß endlich mit Eklat hervortreten“ (Brief 7.4.1845)! nur bei den leitenden Militärärzten seiner Anstalt
nig Schlaf auskam und ein Wochenpensum von 54 ters zu Schivelbein, die 1843 publiziert wurde. Die Rede wurde ein vollständiges medizinisches Anerkennung.
Stunden absolvierte, wonach erst die Privatarbei- Zu Ostern 1843, im vierten Studienjahr, erhielt er den Glaubensbekenntnis des jungen Virchow. Sie war Dass ein solcher Fortschrittsgeist ausgerechnet in
ten einsetzen konnten. Er war aber kein trockener Antrag auf eine chirurgische Stelle in der Charité, für betitelt: <Das Bedürfniß und die Möglichkeit einer dieser Militärakademie vorhanden war, wird rein äu-
Streber, der nur zwischen Vorlesungen und Stu- die er die Bedingung einer Zeitdauer von 1 ½ Jahre Medizin vom mechanischen Standpunkt, nachge- ßerlich an ihren berühmten Absolventen nochmals
dierzimmer hin- und herpendelte, sondern nahm erfolgreich stellte. So zog er dann am 1.4. 1843 gleich wiesen an Beispielen. Die Therapie der Blutungen. deutlich, es gehörten dazu von Helmholtz und eine
reichlich über seine Kontakte bei ihm wohlgeson- dahin um und durchlief mehrere Abteilungen, wo Das entzündliche Blut. Die Säuferdyskrasie.> In ihr Reihe vorzüglicher Hochschullehrer. Ganz beson-
nenen Professoren und über seine beiden Onkel, „der kleine Doktor“ durch seine aufmerksame und formulierte er, die Medizin will nicht bloß eine einige ders aber waren die Ideen von Johannes Müller, des
die er regelmäßig mindestens einmal wöchentlich zugewandte Art teilweise von den Patienten sehr Wissenschaft, sie will Naturwissenschaft und zwar die „berühmtesten Physiologen der Welt“ (c.n. Winter,
(„Onkel Major“) oder an Festtagen („Onkel Hes- geschätzt wurde. Im Juli 1843 bestand er sein Dok- höchste und schönste Naturwissenschaft sein. Lang 20) und von Johann Lukas Schoenlein von Bedeu-
se“) aufsuchte und die ihm einflussreiche Kreise torexamen und im Oktober schließlich war er mit verschollene Gedanken aus den Philosophenschulen tung. Müller lehrte die auf exakte, naturwissen-
erschlossen, gerne an Festivitäten teil und war ein seiner Dissertation <Über das Rheuma besonders des Alterthums sind in ihr wieder wach geworden. … schaftliche Tatsachen gestützte Forschungsmetho-
begeisterter Tänzer. In den Semesterferien unter- der Cornea> promovierter Arzt. Allerdings fehlte Das Leben ist seinem Wesen nach Zellenthätigkeit. de, ohne seine Schüler auf Dogmen zu verpflichten,
nahm er ausgiebige Reisen, die ihn mit Land und ihm nun noch das Staatsexamen. …Das Leben höherer Organismen, insonderheit des weshalb er keine eigentliche Schule im Sinne eines
Leuten bekannt machten. Auf Anregung seines Ge- Ihren „besten Absolventen“ (Andree) suchten die Menschen, ist nach der Entwicklung der Zelle zu Or- Lehrsystems gründete. Schoenlein, der nur zwei wis-
schichts-Professors – auch das sonst nicht für ein leitenden Militärärzte weiterhin zu protegieren, ganen und Organsystemen hauptsächlich durch die senschaftliche Arbeiten verfasst hat, die zusammen
Medizinstudium übliche Fach Geschichte war eine um auch ihre eigenen Interessen und Modernisie- drei Faktoren Blut, Nerven und Organmasse bedingt, nicht länger als vier (!) Druckseiten umfassen,
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war ebenfalls ein auf naturwissenschaftliche Beob- und verfolgte nun die Habilitation. Sein Chef in der Pionier König ist. Zwar ist erst eine wahre Da- etc. mündeten und die er für die Entstehung der
achtung zielender Pathologe, dem seine Schüler der Charité, Froriep, weihte ihn über seine Absicht, naiden-Arbeit zu leisten, da in der Medizin nichts Seuche verantwortlich machte.
„wenig System, viel Thatsachen“ attestierten und von Berlin wegzugehen, ein und ihn, Virchow, als ordentlich untersucht ist, aber die Genugtuung, dass Virchows Ansatz zeigt deutlich, wie stark in ihm das
der einzigartig in seiner Klinik Mikroskop und che- Nachfolger vorzuschlagen. Damit eröffnete sich für ich jetzt in wissenschaftlichen Dingen von jedem in der Geschichtliche und Politische verankert war, das er
mische Untersuchungsmittel einsetzte. Die andere Virchow die Möglichkeit, endlich aus der Militär- Charité als Autorität betrachtet werde, und dass je- schon seit seiner Schulzeit favorisierte, wie beson-
nicht unwesentliche Seite, bei der der fortschrittli- arzt-Laufbahn auszuscheren, statt die lange Chaus- der meinen Angaben glaubt… war ein ermutigender ders seine wohl persönlich motivierten Notizbü-
che Geist und das Wohlwollen seiner Vorgesetzten see der militärärztlichen Heerstrasse fortzuwandeln Preis dafür. Ich, der ich so kurze Zeit gearbeitet, und cher der vier letzten Schuljahre zeigen, in denen er
so uneingeschränkt Virchow zugute kamen, dürfte (Brief 15.10.1845), und eine wissenschaftliche ein- der ich so unendlich viel nicht weiß, ich eine Autori- in chronologischer Folge die wichtigsten politischen
in dem Ansehen und Einfluss seiner beiden Onkel zuschlagen, denn die pathologische Anatomie, so tät? Es ist wirklich lächerlich! Wie wenig müssen die Tagesereignisse (Vasold, 20) aufgezeichnet hatte.
liegen, die diese bei den Direktoren der Militärärz- schrieb er seinem Vater, entbehrt jeder Bearbeitung erst wissen, die mich wenig Wissenden fragen (Brief Auch seine späteren Studien auf den Gebieten der
te besaßen und in seinem Fleiß, seiner Intelligenz, (Brief 14.12.1845). Den Posten als Prosektor an der 24.7.1845)! Anthropologie, Ethnologie und als prähistorischer
seinem enormen Selbstbewusstsein und seinem Charité, also die Leitung des Seziersaales, erhielt Auf seinen Reisen 1847, bei denen er viele Besuche Archäologe lassen dieses Geschichtlich-Politische
Überzeugungsvermögen. Von daher sahen die Mi- dann R. Virchow tatsächlich am 11.5.1846, trotz vor- an deutschen und ausländischen Universitäten als Zentrum seines wissenschaftlichen Wesens er-
litärärzte die Möglichkeit, ihren Einfluß über ihr läufiger ressortmäßiger Einwände anderer Stellen, und ihren Gelehrten durchführte, nahm er auch kennen. Von daher sind seine Definition der Me-
„Ziehkind“ (Pépin) Virchow in die Charité (Prosek- namentlich von Schoenlein, „interimistisch“, d.h. Kontakt zu dem holländischen Physiologen, Hygie- dizin als soziale Wissenschaft sowie seine Formulie-
tor-Stelle) und die Universität (Habilitation) aus- vorübergehend. Dabei kam ihm auch der Macht- niker und Ophthalmologen Franz Cornelis Donders rung: Der Organismus ist keine einheitliche, sondern
dehnen zu können. kampf der preußischen Militärmedizin mit der Zi- auf, der alle Möglichkeiten mikroskopischen Arbei- eine soziale Einrichtung, nicht griffige oder tenden-
Die entscheidenden Personen in den obersten vilmedizin zugute, die mit diesem Schachzug das tens ausschöpfte, und dies in einem so innovativen ziöse Metaphern, sondern stimmige Einordnungen
Rängen der Militär-Akademie, die ihn auch in den Eindringen von Zivilärzten zu verhindern suchten. Maße, wie es späteren Ärztegenerationen kaum noch aus seiner Sicht, die auch umgekehrt seine Ansich-
späteren Jahren vorbehaltlos unterstützten, waren: Er war ja einer der ihren. Vorschriftsmäßig wurde er oder erst wieder mit der Elektronenmikroskopie mög- ten über Politik klarstellen: sie ist weiter nichts als
Johann Wilhelm von Wiebel (1767–1847), Chef des am 6.4.1847 aus dem militärärztlichen Dienst ent- lich war, wie der Medizinhistoriker Andree (S. 49) Medicin im Großen (Vasold, 100).
Militär-Medizinalwesens, ein recht primitiver Mensch lassen. Zwischenzeitlich hielt er an der Universität schreibt. So berichtete er seinen Eltern von diesen Das Resultat seiner amtlichen Reise war somit
[…], der bei Vorträgen selig schlief (Weber, 16). Privat-Vorlesungen und konnte sich am 6.11.1847 Reisen: Ich kenne jetzt fast alle deutschen Universitä- eine ziemlich schonungslose Anklageschrift gegen
Johann Karl Jacob Lohmeyer (1776–1852), Gene- habilitieren. Ohne die erforderliche Wartezeit von ten und den größten Teil der deutschen medizinischen die staatlichen Zustände bei seinem ministerialen
ralarzt und 2. Generalstabsarzt der Pépinière, ab drei Jahren vom Staatsexamen ab, bekam er aber- Größen, und was nicht minder wichtig ist, sie kennen Auftraggeber, verbunden mit seiner Forderung
1847 1. Generalstabsarzt mals durch die Gunst seiner Vorgesetzten, die von mich. (Brief 27.10.1847) nach freier und unumschränkter Demokratie. Dies in
Heinrich Gottfried Grimm (1804–1884), Gene- ihm überzeugt waren, die Zulassung zum Privatdo- Das entscheidende Ereignis meines Lebens (c.n. der spannungsgeladenen Zeit des Vormärz 1848!
ralstabsarzt, der die Leitung der Studien bei der zenten. Mittlerweile hatte Virchow seit Jahren an Andree, 14), wie er es rückblickend zur Feier sei- Seinem Begleitschreiben an die Regierungsbehör-
Pépinière unter sich hatte und die eigenartige den bislang unbekannten Zusammenhängen von nes 80. Geburtstages formulierte, trat im Februar de fügte er kühn hinzu: Ich glaube nicht nöthig zu
Begabung einzelner leicht erkannte und ausgiebig Thrombose und Embolie, sowie über die Leukämie 1848 ein, als der junge Sporn im Auftrag der Re- haben, die Freimüthigkeit, mit der ich diese Abhand-
förderte (Weber, 3), seit 1851 Leiter des preußischen pathologisch gearbeitet und trat mit seinen neuen gierung mit einer Forschungsreise zusammen mit lung geschrieben habe, entschuldigen zu dürfen; das
Militär-Medizinalwesens, ein feiner Weltmann (Vir- Erkenntnissen und zugleich von ihm stammenden dem höchsten preußischen Medizinalbeamten, Interesse der Menschheit verlangte von mir, dasjenige
chow). Grimm veranlasste, dass Virchow die Stelle neuen Fachbegriffen in Fachartikeln hervor. Mit sei- Ober-Medizinalrat Stephan Friedrich Barez, nach zu sagen, was mir als wissenschaftliche Wahrheit galt
als Prosektor unter Froriep erhielt. nem Kollegen Benno Reinhardt gab er dann ab Ap- Oberschlesien betraut wurde. Dort herrschte eine (c.n. Andree, 16). Nachteilige Folgen hatte sein Be-
Johann Arnold Joseph Büttner (1768–1844), 2. Ge- ril 1847 seine eigene medizinische Zeitschrift <Ar- Seuche, die als Hungerpest/Typhus angesehen richt jedoch nicht, denn zu jener Zeit war einiges
neralstabsarzt und Stellvertreter von Wiebels, treu- chiv für pathologische Anatomie und Physiologie wurde und für deren wissenschaftliche Ursachen- in Gärung begriffen. Wer nichts wagte, konnte auch
herziges, aber ein wenig derbes Benehmen (Virchow). und für klinische Medizin> heraus, deren Ansehen klärung alleine R. Virchow zuständig war. Aus nichts gewinnen, und R. Virchow, der seine wissen-
Carl Ferdinand von Graefe (1787–1840), 3. General- von der ersten Nummer an beständig gewann. Der heutiger Sicht wird diese Epidemie als durch Klei- schaftliche Karriere nie aus den Augen ließ (Balk-
stabsarzt und Mitdirektor, o. Professor und Direk- Titel seiner Zeitschrift war in Anlehnung und Ab- derläuse übertragene Fleckfieber-Erkrankung iden- hausen, 84), spielte auf Einsatz. Hinzu kam, dass
tor des klinisch-chirurgische-augenärztlichen Insti- grenzung zu der seines großen Lehrers Johannes tifiziert. In jenen 16 Tagen nahm Virchow weitläufi- Virchow die Protektion hoher militärischer und ziviler
tuts der Berliner Universität. Müller zu sehen, dessen Titel lautete: <Archiv für ge Erkundigungen vor Ort und in Gesprächen mit Beamter genoss. Sein besonderer Protektor war jetzt
Generalarzt Gottlieb Wilhelm Eck (1795–1848), Ins- Anatomie und Physiologie und für wissenschaft- Kollegen vor, die in einen umfassenden kausal-me- Geheimrat J.H. Schmidt (1804–1852) (Ackerknecht,
titutsdirektor und Königlich Geheimer Medizinalrat liche Medizin>. Virchows Selbstbewusstsein darf dizinischen Zusammenhang von Bodenbeschaf- 9), der im Ministerium saß. Schmidt war Mitglied
Im Frühjahr 1846 bestand Virchow seine Staats- als ausgesprochen stark bezeichnet werden, und fenheit, Witterungsbedingungen, Ernährungsge- der wissenschaftlichen Deputation für das Medizi-
examina „sehr gut mit dem Prädicat Operateur“ er wusste, dass auf diesem unbearbeiteten Gebiet wohnheiten, sozialen und politischen Mißständen nalwesen und a.o. Professor der Geburtshilfe
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größerer Reichweite oder eine größere Anzahl Bür-


ger um sich gehabt? – Aber erst nachdem er in der
Charité Flugblätter für seine demokratischen Ziele
ausgelegt hatte und angezeigt wurde, entzog man
ihm wegen „agitatorischer Wahlumtriebe“ die freie
Kost und das Logis seiner Charité-Stellung.
Passend erreichte ihn der Ruf der unterfränkischen
Universität Würzburg, die für ihren Lehrstuhl für
pathologische Anatomie einen geeigneten Nach-
folger für den verstorbenen Inhaber Bernhard
Mohr suchten. Nachdem Virchow, etwas irritiert,
seine Zusicherung abzugeben hatte, „bei sich etwa
ergebender Gelegenheit nicht auch Würzburg zum
Tummelplatz seiner früher kundgegebenen radika- Abb 4: R. Virchow, links, stehend, als neuer Lehr-
len Tendenzen“ zu machen, trat er zum Winterse- stuhlinhaber mit seinen Würzburger Kollegen
mester 1849/50 seine Professur an der Julius-Maxi-
milian-Universität an. Bayerischen Ministerium einen Auftrag, die „Not
Zu seinen Kollegen zählten vor allem der Anatom im Spessart“ zu untersuchen, bei der er dann ge-
Koelliker, mit dem ihm eine lebenslange Freund- mäßigter im Urteil über die politischen Ursachen
schaft verknüpfen sollte und unter anderen Franz vorging.
von Leydig, einem Forscher, der die entscheidenden Die Frucht seiner Würzburger Arbeit sollte dann
Impulse zur theoretischen Ausformung der Zellular- in der ab 1856 erfolgenden Rückkehr nach Berlin
pathologie gab (Andree, 55). Seinen Eltern teilte er erfolgen, wo er dann nach zwei Jahren in 20 Vorle-
bald darauf sein noch Ende der Berliner Zeiten ent- sungen das Manifest der naturwissenschaftlichen
Abb 3: Barrikadenkämpfe am Berliner Alexanderplatz in der Nacht vom 18. zum 19. März 1848 sprungenes Verliebtheitsverhältnis zu der Tochter Medizin formulierte: die <Cellularpathologie>.
jenes Geheimen Rates Mayer, eines Mitbegründers Johannes Müller selbst hatte nach dem Tod von
der modernen Gynäkologie, mit, die er bald darauf Heinrich Meckel von Hemsbach, a.o. Professor und
heiratete. Unter ihrem Einfluss ließ sich R. Virchow Prosektor der Charité, einen eigenen Lehrstuhl für
sowie Direktor der entsprechenden Abteilung an rung bei einer Großkundgebung verschärft hatten nun einen Bart wachsen, der ihn dann weit über 50 pathologische Anatomie an der Berliner Universi-
der Charité. Dieser hatte selbst eine „pseudoradi- und zu Barrikadenkämpfen führten. Virchow, der Jahre zieren sollte. Aus der Ehe gingen sechs Kin- tät vorgeschlagen, mit R. Virchow als Inhaber, was
kale“ (Ackerknecht) Schrift über eine Medizinal- weder privat noch politisch ein Hitzkopf war, jedoch der hervor. überraschenderweise vom König und Ministerium
reform verfasst. Bekannt geworden war Virchow durch und durch überzeugter Republikaner, nahm Durch seinen sich ständig steigernden Ruf als in- genehmigt wurde. Müller wollte niemand anderen
mit ihm über einen medizinischen Kreis um sei- daran teil und beschrieb seinem Vater, in welcher novativer pathologischer Anatom schaffte Virchow als Virchow haben, so dass seine Mitbewerber R.
nen späteren Schwiegervater, dem Gynäkologen Weise er „auf die Barrikaden gegangen war“: … an seiner neuen Universität eine stetig wachsende Remak und Th. Billroth ohne Chancen blieben.
und Geheimen Sanitätsrat Carl Mayer. Mayer als meine Beteiligung an dem Aufstande war eine relativ Zahl an Medizinstudenten von zunächst 85 Hörern Billroth schrieb denn auch an einen Freund: Alles
Präsidenten stand stellvertretend eben jener Josef unbedeutende. Ich habe einige Barrikaden bauen hel- bis auf 400 Immatrikulierte im Jahre 1856. Beschei- Schweinerei (…) Von einer wissenschaftlichen Rück-
Hermann Schmidt als Vizepräsident zur Seite. Im- fen, dann aber, da ich nur ein Pistol bekommen hatte, den relativierte er in seinem Brief an den Vater vom sicht ist kaum die Rede; Alles ist Cabale, Partei-Inte-
merhin organisierten sich zu Beginn der Revolution nicht wesentlich mehr nützen können, da die Solda- 2.1.1855 den eigenen Anteil an dieser steilen Rate: resse, Principien-Reiterei einzelner Parteien; und im
fast ¾ der Berliner Ärzte (Balkhausen, 91) in einer ten meist in zu großer Entfernung schossen, und ein Daß meine Anwesenheit Viele herzieht, ist wohl sicher, Ganzen weiß man nicht, was man will (c.n. Goschler,
medizinischen Reformgesellschaft. Der aktivste Handgemenge bei der geringen Zahl der Bürger, we- allein ebenso sicher ist auch, dass der schlechte Zu- 158). Müller wusste allerdings genau, wen und was
Kopf war Robert Remak, an zweiter Stelle Rudolf nigstens an meiner Barrikade (…) nicht möglich war. stand der preußischen medicinischen Fakultäten dazu er wollte. Obwohl Müller mit keinem seiner Schü-
Virchow. Inwiefern wir morgen eingreifen, werden wir morgen sehr viel beiträgt. Zu seinen Studenten in Würzburg ler so eng wissenschaftlich zusammengearbeitet
Nach seiner Rückkehr nach Berlin geriet er in die in einer Versammlung bei dem Geheimen Rat Mayer zählte unter anderen Ernst Haeckel, der später hatte wie mit seinem ehemaligen Schüler Robert
dortigen März-Unruhen, die sich nach den blutigen besprechen (Brief 19.3.1848). Was wäre aus Virchow mit seinem übersteigerten darwinistischen Monis- Remak, den er hoch schätzte, hatte dieser aber
militärischen Ausschreitungen gegen die Bevölke- geworden, hätte er zufällig eine Schusswaffe mit mus hervortreten sollte. 1852 erhielt Virchow vom aufgrund seiner jüdischen Konfession und
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wissenschaftlichen Tätigkeit, die nicht in erster Li- fessor zum Duell forderte, falls Virchow nicht durch stellte die Taktik des Ministerpräsidenten Bismarck Andree unabdinglich, wobei letzterer zudem als
nie in anatomischer Pathologie ihren Schwerpunkt eine Ehrenerklärung diese Notwendigkeit abwende! bloß, der die Angelegenheit der Duellforderung Herausgeber der historisch-kritischen Virchow-Aus-
hatte, keine echte Chance. Selbst Virchows frühere Die Kernaussage Virchows, die Bismarck monier- über die Hintertür in die sensationslüsterne Pres- gabe handschriftliche Aufzeichnungen Virchows
Gegner waren inzwischen von seinem Ruf angetan! te, war rhetorisch geschickt formuliert in einem se – für deren Grundrecht auf Pressefreiheit in den entziffert und mit weiteren Fundstücken wertvolles
Seine Bedingungen nach dem Neubau eines patho- Wenn-dann-Konditionalsatz verpackt: Aber, wenn er Jahrzehnten der Karlsbader Beschlüsse unter der Material erschlossen hat.
logischen Instituts, einer eigenen Krankenabteilung ihn gelesen hat und sagen kann, es seien keine solche Metternichschen Restaurationspolitik sich viele
in der Charité und einem bestimmten Jahresgehalt Erklärungen darin, so weiß ich in der That nicht, was ich stark gemacht hatten – lanciert hatte, um auf Vir-
wurden bereitwillig akzeptiert. von seiner Wahrhaftigkeit denken soll. Bismarck hatte chow Druck auszuüben. – Ein Verfahren, das Bism- II: Die <Cellularpathologie> Virchows
Seine weitere Laufbahn wurde nun in erheblichem sich schon einmal im Jahr 1852 mit einem Abgeord- arck mit der Emser Depesche 1870 mit großem Er-
Maß von seinen Interessen und Engagement breit neten duelliert, allerdings hatten beide Duellanten folg wieder auflegte. – Doch Virchow hatte sich nicht Virchows <Cellularpathologie> von 1858 bedeutete
aufgefächert, da er die von ihm gesehene Verbin- aus geringer Entfernung nicht getroffen. Somit lehn- einschüchtern lassen und entging dem Versuch, an eine neue Ära in der Geschichte der Medizin, deren
dung von Sozialem und Medizin: Die Medizin ist eine te Virchow den reiz- wie ehrenvollen Vorzug ab, mit sich ein Exempel statuieren zu lassen, indem er öf- Manifest er damit schrieb. Um es besser verste-
sociale Wissenschaft und die Politik ist weiter nichts, einem einzigen, straffreien Treffer die Geschicke des fentlich von dem Machtpolitiker Bismarck abgebis- hen zu können ist es nötig, von unserem heutigen
als Medicin im Großen, praktisch umsetzte. Als ge- zukünftigen Deutschlands und der europäischen sen werden sollte. Im Gegenteil gelang es ihm, mit Standort aus zurückzugehen zu der Zeit Virchows,
wählter Abgeordneter nahm er regelmäßig und ak- Geschichte auf einen anderen Weg gebracht zu geschickten Mitteln Bismarck nicht zum Zug kom- als noch ganz andere Vorstellungen das Denken
tiv an der Berliner Stadtverordnetenversammlung haben, was ihm im nachhinein gesehen zum aller- men zu lassen und ihm ungestraft die Meinung zu und Handeln der Medizin prägten. Diese Zeitepo-
seit dem Juni 1859 teil. Zusammen mit Theodor größten Verdienst und Ruhm gereicht haben würde! sagen. che wird rückschauend als die des Biedermeier und
Mommsen und anderen gründete er im Juni 1861 die In seinem <Kriegstagebuch von 1870/71> schrieb der Romantik bezeichnet. In ihr formierten sich all-
<Deutsche Fortschrittspartei> und wurde im Mai der spätere Friedrich III., der nur wenige Monate als Die so tief verwurzelten geschichtlichen Interessen mählich die Gegenströmungen zum Idealismus, mit
1862 ins Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Kaiser regierte, zu Bismarck nieder: Bismarck hat uns Virchows kommen besonders in seinen reichen der Inthronisation des Materialismus, wie z.B. in der
1880 erfolgte seine Wahl in den Deutschen Reichs- groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Arbeiten zur prähistorischen Archäologie, der An- Theologie durch <Das Leben Jesu> von D.F. Strauß,
tag, die bis 1893 andauerte. Aus dieser mit starkem Freunde, die Sympathien der Welt und – unser gutes thropologie und Völkerkunde zum Ausdruck. Zu in den Naturwissenschaften durch Büchners <Kraft
Einsatz betriebenen Tätigkeit gingen Tausende von Gewissen. Ich beharre noch heute fest bei der Ansicht, Heinrich Schliemann, der immer noch als Entde- und Stoff> und Darwins <On the Origin of Species
Reden mit dem Resultat wesentlicher Verbesserun- dass Deutschland ohne Blut und Eisen („Eisen und cker Trojas gilt (s.d. R. Schrott, Gilgamesh), hatte er by means of Natural Selection, or the Preservation of
gen für die Berliner und das Deutsche Reich hervor, Blut“ war Bismarcks charakteristische Formel in sei- freundschaftliche Beziehungen und reiste vor Ort, favoured Races in the Struggle of Life>, in Philoso-
die hier nur unvollständig aufgezählt werden kön- ner Rede vor dem preußischen Abgeordnetenhaus um dort seine eigenen Studien zu unternehmen. Als phie und Gesellschaftswissenschaften durch Marx
nen: die amtliche Fleischbeschau auf Trichinose, am 30.9.1862) allein mit seinem guten Rechte „mora- Forscher wie als gefragter Wissenschaftler besuchte und Engels <Historischen Materialismus> u.a.. Nun
eine vorbildliche Kanalisation und Trinkwasserver- lische Eroberungen“ machen und einig, frei und mäch- er so Orte und Versammlungsstätten europa- und wurde der Materialismus zum neuen Götzen.
sorgung für Berlin. tig werden konnte. Dann erlangte es ein ganz anderes weltweit. Die Spannweite seines umfangreichen Mehr oder weniger wurden naturwissenschaftliche
Virchow war von Anfang an ein erklärter Gegner Bis- Übergewicht als lediglich durch die Gewalt der Waffen, Werkes und seiner Tätigkeit als Pathologe, Medizin- Methoden anstelle spekulativer Ideen zum Kennzei-
marcks, dessen „Theorie“ der Lücke hinsichtlich der weil deutsche Kultur, deutsche Wissenschaft und deut- reformer, Hygieniker, Anthropologe, Ethnologe, prä- chen der neuen medizinischen Ära, wie sie von den
von den preußischen Abgeordneten verweigerten sches Gemüt uns Achtung, Liebe und – Ehre gewinnen historischer Archäologe, Politiker, wird seit Jahren in Berliner Stammvätern J. Müller und J. Schoenlein
Zustimmung zum Budget er deutlich als willkürliche mussten. Der kühne, gewalttätige Junker hat es anders einer historisch-kritischen Gesamtausgabe in ca. 71 an ihre Schüler erfolgreich weitergegeben wurden.
Ignoranz verfassungsmäßiger Rechte bezichtigte. gewollt. Virchows Versäumnis war somit ein welt- Bänden erschlossen. Virchow, der mit seinem Kernsatz omnis cellula e
Selbst noch an Bismarcks 80. Geburtstag im Jahr geschichtliches. Indem er den Unfug „alter Zöpfe“ Für seine Biographie allerdings gibt es meiner Mei- cellula , d.h. jede Zelle geht aus einer Zelle hervor
1895 blieb er unerbittlich, indem er seine Partei von wie eines Duells des Ministerpräsidenten mit einem nung nach noch keine Arbeit, die den Ansprüchen (Anmerkung: Die von Virchow wiederverwendete
der offiziellen Huldigungszeremonie für den ‚Ei- Abgeordneten als argumentatio ad hominem auf- eines solchen Unternehmens genügen würde und lateinische Diminutiv-Form cellula soll die mikros-
sernen Kanzler’ fernhielt, dessen Enthebung eine fasste, verweigerte er sich der Forderung Bismarcks ein überzeugendes Persönlichkeitsprofil ausge- kopische Kleinheit der Zelle gegenüber der üblichen
Vorbedingung für die Genesung des Volksgeistes (c.n. und konnte sich besonders auf die Unterstützung arbeitet hätte. Es soll deshalb ein skizzenartiger Bedeutung von cella = Mönchszelle zum Ausdruck
Vasold, 369) gewesen sei. Mit Bismarck sollte er in des Präsidenten des Abgeordnetenhauses stützen, Versuch im abschließenden Kapitel dieses Artikels bringen. Im Deutschen ist das unnötig. Für diesen
eine persönlich genommene Auseinandersetzung der eine solche unpolitische Praxis zu unterbinden (2. Teil) erfolgen, Akzente seiner Persönlichkeit zu Hinweis danke ich Herrn Dr. R. Volz) die Zelle als
geraten, als jener sich durch seine Bemerkung bei trachtete. analysieren, ohne damit eine alles umfassende bio- kleinste Einheit des Organismus in die „pathologi-
einer scharfen (Andree, 97) Rede im Parlament am Auf geschickte Weise bekräftigte R. Virchow am graphische Darstellung bieten zu wollen. Als Vorar- schen“ Vorgänge einordnete, bezog sich damit auf
2.6.1865 in seiner Ehre verletzt fühlte und andern- 17.6.1865 in seiner parlamentarischen Rede noch- beiten dazu erscheinen mir vor allen die fundier- eine biologische Basis der Erkrankung, die er in al-
tags in dessen Entgegnung im Parlament den Pro- mals seine vorige Aussage mit einem Beweis und ten Arbeiten von W. Becher, C. Goschler und Chr. ler Konsequenz beibehielt. Was das bedeutet,
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wird besonders an seiner Haltung bei der Krebs- Pathologen seiner Zeit aus der tonangebenden ‚Wie- der (pathologischen) Physiologie gehörig, so dass
erkrankung deutlich, der er sein besonderes Augen- ner Schule’, Carl Rokitansky, der wie sonst niemand Rokitanskys Dogma, die pathologische Anatomie
merk widmete. Er lehnte es dabei ab, eine wie immer Tausende von Sektionen durchgeführt hatte. Sein Be- enthalte alles, „was es an positivem Wissen und an
auch geartete Fremdsteuerung anzuerkennen und streben war zu zeigen, dass alle Krankheiten in jedem Grundlagen und zu solchem in der Medicin giebt“,
ließ nur zelleigene Modifikationen zu. Virchow reprä- ihrer Stadien mit einer materiellen Veränderung im unserer Überzeugung und unserer Erfahrung aufs Ent-
sentierte einen neuen Typus des naturwissenschaft- Körper einhergingen. schiedenste [widerspricht] (ebd, 50). Virchows Kritik
lich geschulten Forschers, der nun mit Mikroskop, Wie verträgt sich das aber mit der Ansicht, statt der war gnadenlos und kompetent zugleich. Rokitansky
tierexperimentellen Versuchen und chemischem für einen Pathologen einzig greifbaren Stoffe der Or- reagierte, indem er die monierten Stellen bei der
Laboratorium dem Geschehen des „Krankheitspro- gane und Gewebe dann doch den formlosen Säften Neuauflage tilgte.
zesses“ erkenntnismäßig zu Leibe rückte. die Oberhoheit zu überlassen, die ihm doch quasi Demgegenüber all diesen spekulativen Krankheits-
Bis dahin waren nach dem allmählichen Versiegen zwischen den Fingern zerrinnen? Es war den Patho- vorstellungen trat nun Virchow 1855 mit einem gleich-
der Humoralpathologie, über die gleich noch zu logen eben bei vielen Allgemeinerkrankungen und lautenden Artikel und schließlich 1858 in der <Zel-
sprechen sein wird, vor allem die Ideen jenes schon einigen speziellen anderen nicht möglich, einen sol- lularpathologie>, wie der Titel schon zum Ausdruck
erwähnten Philosophen F. W. Schelling maßgebend, chen anatomisch-pathologischen Befund festzustel- bringt, mit einem biologisch fundierten, zellularen
der als „Oberpriester“ (Fischer-Homberger) der so- len. Daher blieb Rokitansky als Ausweg nur übrig, den Krankheitskonzept hervor. Durch seine jahrelang
genannten „romantischen Medizin“ ein geistiges primären Vorgang aller Erkrankungen im Blut (Diepgen, an verstorbenen Patienten vorgenommenen Sektio-
System als Erklärungsversuch aller bekannten Natu- 145) zu suchen. Als er 1846 sein dreibändiges <Hand- nen, die er mit besten mikroskopischen Apparaten
rerscheinungen in seiner „Bibel“ <Entwurf eines Sys- buch der pathologischen Anatomie> veröffentlichte, durchführte, und gegründet auf seine umfassenden
tems der Naturphilosophie> von 1799 unternommen in dem er seine paradox scheinende Krasenlehre Kenntnisse originalsprachlicher Fachveröffentlichun-
hatte. Für Schelling waren sämtliche Naturerschei- niederlegte, nutzte der gerade approbierte 25jährige gen, war er nun in der Lage, erstmalig ein naturwis-
nungen Ergebnis eines unendlichen, aber nie vollend- Virchow entschlossen die Gelegenheit, einen ver- senschaftlich fundiertes allgemeingültiges Krank-
baren Bestrebens eines Weltgeistes [… ], sich zu reali- nichtenden Angriff auf den führenden Kopf in der heitskonzept vorweisen zu können. Die biologische
sieren. …Die Naturerscheinung war immer nur unfertige Wiener Medizin-Hochburg zu starten. Dem 17 Jahre Basis war die Zelle als die organische Einheit, als der
Realisierung der „Idee“, „sichtbar“ war sie nur immer älteren Professor bescheinigte der Newcomer zu- einfachste Träger des Lebens (c.n. Weber, 78), an die Abb 5: Rudolf Virchow
in ihrer Unvollständigkeit, ihr Wesen aber musste kraft nächst in Anerkennung, der „Linné der Pathologie“ jeder normale Prozess wie auch jedes pathologische
des Geistes auf dem Hintergrund ihrer Idee „geschaut“ zu sein und gegen seine Erkenntnisse, die er als Pa- Geschehen gebunden sei.
werden. … Damit lag die Auffassung der Wissenschaft thologe in seinem Buch anführe, nichts einzuwenden Für uns heute nahezu eine Selbstverständlichkeit, zu erst von Virchows Zeitgenossen, Robert Remak, auf
als Gottesschau und des Wissenschafters als Teilhaftiger zu haben, – danach aber kanzelte er ihn mit seiner jener Zeit eben ein Novum, besonders weil die Biolo- den noch zurückzukommen sein wird, festgestellt.
der Offenbarung (…) nahe (Fischer-Homberger, 96f.). Krasenlehre ab wie einen dummen Schuljungen. gie damals die Zellstruktur (Zellorganellen) noch gar Virchow kodifizierte (Fischer-Homberger) diese neue
In Schellings Sicht stellte Krankheit einen Rückfall auf Virchow wies unbewiesene Annahmen des großen nicht erkannt hatte und die Frage der Zellvermehrung Zellenlehre schon vor seiner <Cellularpathologie>
eine tiefere Stufe der Evolution (ebd.) dar: Mit diesem Pathologen als nicht naturwissenschaftlich gerecht- nicht geklärt war. Die herrschende Auffassung dar- mit dem Schlüsselsatz: omnis cellula e cellula, d.h. jede
Grad der Irritabilität, bei welchem du dich krank fühlst, fertigt zurück, zeigte auf, dass er chemische Differen- über stammte von Schwann, der die von Schleiden Zelle stammt von einer Zelle ab in seinem gleichna-
würde sich eine tieferstehende Organisation trefflich zen construirt, wo sich nur physikalische oder morpholo- erkannte zelluläre Basis pflanzlicher Organismen migen Artikel von 1855. Aus der spontan gedachten
befinden (ebd. 97). War ursprünglich Krankheit als gische vorfinden, – Differenzen, von so eigenthümlicher auch in den tierischen Organismen beobachtet hatte. Zellbildung wurde somit eine kontinuierliche. Vir-
Sünde theologisiert worden, so war nun die anach- Art, dass sie unserem ganzen chemischen Wissen total Schleiden und Schwann postulierten nun eine Zellbil- chow hatte diese Ansicht nicht bloß übernommen,
ronistische Entwicklung zum Maß der in jedem Fall widersprechen (c.n. Weber, 49) und setzte noch nach, dung spontaner Art, eine freie Zellbildung, die wie ein sondern selbst seit langem darüber geforscht. An-
fehlerhaft auftretenden Krankheit geworden. Alter dass Rokitansky einen – vielleicht unbewusst gebrauch- Auskristallisieren vor sich gehen sollte. Infolge dieser geblich sollte bei einer Entzündung durch die da-
Wein in neuen Schläuchen. ten – Kunstgriff durchführe, der in der Erhebung jeder „organischen Krystallisation“, einer Art „Erstarrungs- bei austretende Flüssigkeit aus den Blutgefäßen,
Eine weitere spekulative „Methode“ bildete das aus möglichen Combination zum Range einer Thatsache be- prozess“, sollten die Zellkeime, die Cytoblasten, aus das „plastische Exsudat“, die Auskristallisierung
der Antike stammende Konzept der Krasenlehre steht (ebd.). Dass Rokitansky die Auffassung vertrete, einer homogenen Proteinmasse, „Blastem“ genannt, der Zellmassen hervorgehen. Virchow, der 1843 sei-
oder Humoralpathologie, die auf die Zusammen- „jede Krankheit [könne] auf jedem ihrer Stadien der durch Urzeugung hervorgehen. Auch Virchow war ne Dissertation <über das Rheuma der Hornhaut>
setzung der vier Körpersäfte: Galle, schwarze Galle, Gegenstand anatomischer Studien sein“, sei ein salto lange Jahre Anhänger dieser Theorie. Demgegenüber geschrieben hatte, beobachtete jedoch an der ge-
Schleim und Blut als Grundlage für Diagnose und mortale! Denn in bestimmten Fällen finde sich kein gab es schon seit 1832 die Ansicht der Zellteilung als fäßlosen Augen-Hornhaut ebenfalls Entzündungen
Therapie zielte. Ihre moderne Anwendung erhielt sie anatomisches Korrelat dafür, doch sei diese verän- Vermehrungsvorgang in pflanzlichen Organismen. und Gewebsneubildungen nach Unfällen oder ent-
zu Virchows Zeiten ausgerechnet von dem führenden derte Erscheinung in den Zuständigkeitsbereich Für tierische Organismen wurde diese Ansicht zu- sprechenden Augenerkrankungen – aber ohne
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„plastisches Exsudat“. Ebenso erging es ihm beim Selbst höhere Organisationen, wie etwa das Gehirn, als Das Leben als solches aber kann nicht kämpfen, son- sondern sein eigenes Wesen, das wir erforschen (c.n.
untersuchten Knorpel. Der Knorpel gehört zum Bin- Zentrum des Zellebens gibt es – [für Virchow] – nicht dern nur das lebendige Wesen… (c.n. Weber, 89). Weber, 107). Demgemäß gab es auch für ihn nicht die
degewebe, das zu Virchows Zeiten als zellfrei galt und (Diepgen, 115). Der biologische Ausgangsort Zelle Es lag Virchow aber fern, ein einheitliches Erklärungs- Einteilung in gutartige oder bösartige Krebserkran-
durch seine Entdeckung jetzt als ebenso zellhaltig. wurde nun auch die Basis für den (pathologischen) modell aus einem Prinzip zu liefern, bevor nicht alle kungen, wie sein Lehrer Müller es aufgestellt hatte
Selbst bei gefäßhaltigen Geweben fand er nicht das Ausgangsort der Krankheit. Tritt nun eine „Störung“ pathologisch-anatomische Fakten gesammelt waren. und für ihn zu sehr nach der botanischen Unterschei-
postulierte amorphe, eiweißhaltige Exsudat, sondern im Leben der Zelle auf, so wird diese zugleich das von Ein geschickter Schachzug, der ihm aus der Erklä- dung in giftige und ungiftige Pflanzen geartet war. So
Zellen. Allerdings war mit den entzündeten Zellen ihr versorgte Zellterritorium schädigen. Damit verlegte rungsnot seines eingeschränkten pathologischen fortschrittlich und notwendig die Untersuchung von
auch die Umgebung, das zur Zelle gehörige Gebiet Virchow die Krankheit aus dem Bereich außerhalb Ansatzes heraushalf, auch wenn sein Lokalismus raf- Krankheitsvorgängen auf pathologischer Ebene war,
der Grundsubstanz mit ergriffen, was er in seiner Ter- der Zelle, von den „Säften“, in die Zelle selbst. Dabei finierter war als derjenige von Rokitansky, weil er be- so sehr geschah sie durch ihn im „Geist“ der Zeit:
minologie Zellterritorium (c.n. Weber, 77) nannte. Es legte er klar, dass zwischen Leben und Krankheit kein merkte, dass nicht jede lokale pathologische Störung Virchow war der Materialist der „Zellautonomie“,
umfasste also auch die Interzellularsubstanz. Obwohl wesentlicher Unterschied besteht (Diepgen, 148). Die eine anatomische Läsion hinterlässt (Ackerknecht, 47). wo die biologische Bezugsebene in Form der Zelle
seine Beobachtungen der herrschenden Auffassung Erscheinung der sogenannten Krankheit sind nur unge- Einen Schwerpunkt seiner Forschungen bildete die verkündet und als neues Manifest in seiner <Cel-
widersprachen, brauchte Virchow noch zwölf Jahre, hörige, aber nicht fremdartige Erscheinungen des Le- Krebserkrankung. Er lehnte die damals aufgebrachte lularpathologie> „kodifiziert“ (Fischer-Homberger)
um seine neue Erkenntnis zu formulieren. bens, ungehörig sei es dem Maasse oder dem Orte oder Ansicht ab, der Krebs entstehe nach einem ganz neu- wurde, sodass nunmehr die Krankheit in eine Zelle
Zwischendurch schlug er eine Verbindung zum so- der Zeit ihres Vorkommens nach, aber innerhalb der en Plane, nach einem ganz neuen Gesetz (c.n. Weber, gesperrt wurde. Wenn auch Krankheit eine Äußerung
genannten Vitalismus, der an eine nicht naturwis- einmal gegebenen Schranken und Formen der mensch- 94). In konsequenter biologischer Haltung begriff er des Lebens ist, nur ungehörig bezüglich Ort, Zeit und
senschaftlich erweisbare „Lebenskraft“ als Prinzip lichen Lebensäußerungen. Nur die Krankheitsursachen, stattdessen, dass jede Art der Geschwulstbildung, sie Maß, und damit fremde Einflüsse oder unbiologische
des Lebens glaubte. Jede Zelle ist als solche eine nicht die Krankheitserscheinungen sind von specifischer mag sein, wie sie will, im Wesentlichen übereinstimmt Exzesse ausgeschlossen werden, so reißt mit der Eta-
geschlossene Einheit, die in sich selbst den Grund, Eigenthümlichkeit (c.n. Weber, 105). Die Krankheit ist mit bekannten typischen Bildungen des Körpers, und blierung der Zelle im Sinne Virchows die Möglichkeit
das Princip ihres Lebens aufgenommen hat, die in selbst Leben, Leben unter veränderten Bedingungen, dass der wesentlichste Unterschied der verschiedenen ab, einen Zusammenhang zwischen der seelischen
sich selbst die Gesetze ihrer Existenz trägt und die ge- mögen diese Bedingungen durch äußere oder innere Geschwülste unter sich darin beruht, dass Gewebe des Verfassung und der Krankheitsgenese zu suchen,
genüber der übrigen Welt eine bestimmte Autonomie Ursachen verändert sein (Diepgen, 148). Das Wesen Körpers, die an sich normal sind, bald in Form von Ge- wie sie längst im Volkswissen verankert war. War es
besitzt (c.n. Weber, 78). Obwohl er die Potenz einer der Krankheit, das „ens morbi“, sitzt also innerhalb schwülsten entstehen inmitten von Stellen, welche diese Ironie, als Virchow zu der zarten Leber eines sezier-
Zelle, ihre „Lebenskraft“, so auffasste, dass sie der Zelle. Gewebe im Normalzustande enthalten, bald dagegen ten Tieres meinte, es habe wohl nie Ärger in seinem
schließlich als der Ausdruck einer bestimmten Zu- Wie aber steht es dann mit den sogenannten In- an Stellen, welche dieses Gewebe normal nicht enthal- Leben gehabt? Mit seinem medizinischen Credo, das
sammenwirkung physikalischer und chemischer Kräfte fektionskrankheiten, die von seinem Zeitgenossen ten. Das erste nenne ich Homologie, das zweite Hetero- einen „raffinierten“ Lokalismus und „Mechanismus“
gedacht werden muss (ebd., 87), waren ihm die Er- Robert Koch als Krankheitserreger mikroskopisch logie (c.n. Weber, 95). Damit blieb Virchow unbedingt einleitete, nahm er damit auf die Einstellung der neu-
scheinungen des Lebens […] nicht einfach als eine Ma- festgestellt wurden? Virchow wollte auf keinen Fall auf dem Weg, den sein Lehrer J. Müller eingeschlagen en Medizinergenerationen tiefgehenden Einfluss, der
nifestation der den Stoffen inhärirenden Naturkräfte zu zugestehen, dass solche bunten Kommachen, wie hatte, als der 1838 in seiner Untersuchung <Über den auch heute noch trotz korrigierter und vollständige-
begreifen, sondern er glaubte, als den wesentlichen er unter dem ersten Eindruck der mikroskopierten feineren Bau und die Formen der krankhaften Ge- rer Erkenntnisse, die Haltung der Schulmedizin prägt.
Grund des Lebens eine mitgetheilte, abgeleitete Kraft Cholerabazillen lachend meinte, eine Seuche machen schwülste> geschrieben hatte: …das Carcinom ist kein Schon zu seinen Lebzeiten, in den beiden letzten
von den Molecular-Kräften unterscheiden zu müssen (c.n. Schleich, 193). Später beschrieb er es arrangie- heterologes Gewebe und die feinsten Theile seines Ge- Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, begann er zuneh-
(c.n. Weber, 87), die er, der Naturwissenschaftler, rend als Kampf der Zellen gegen die parasitären Mik- webes unterscheiden sich nicht wesentlich von den Ge- mend ins Abseits der medizinischen Entwicklung
sich nicht scheute, „Lebenskraft“ zu nennen. Dieser roorganismen bzw. gegen die Bakterien. Augenschein- webetheilen gutartiger Geschwülste und den primitiven abzudriften, als die Bakteriologie und die Krebsfor-
frappierende Wechsel Virchows vom Mechanismus lich treten hier zwei lebende Mikroorganismen feindlich Geweben des Embryo (c.n. Diepgen, 122). Somit konnte schung voran schritten, was seinen Ruhm als Patholo-
zum Neo-Vitalismus lag hauptsächlich darin, dass gegenüber: die mikroskopischen Zellen, die vitalen Ele- Virchow die Ansichten der sich entwickelnden Onko- gen und naturwissenschaftlichen Begründer der Me-
er in seinem neu gewählten Bezugspunkt, die Zelle, mente des Körpers einerseits, die noch kleineren Pilze, logie nicht teilen, die bei Tumorzellen häufig Verän- dizin – und natürlich als Wohltäter Berlins und des
mit der er nur scheinbar die vagen Vorstellungen der diese niedersten Pflänzchen andererseits. Beide sind derungen in Form vergrößerter Zellkerne, Mehrker- Deutschen Reichs, sowie als großer Forscher in wei-
alten Humoralpathologie entfernt hatte, wiederum mit eigenem Leben, also auch mit eigener Thätigkeit, nigkeit etc. beobachtet, da dies seiner Meinung nach teren Disziplinen - jedoch nicht schmälern konnte.
eine unbekannte Größe enthalten hatte, die wenigs- mit eigenen Kräften ausgestattet. Welcher von beiden keine spezifische Eigenthümlichkeit in den sonstigen Als er am 5.9.1902 an einem sanften (Herzschwäche)
tens einen Namen brauchte. Einer seiner Kritiker ist der Angreifer? Wie macht er seinen Angriff? Wi- biologischen wie pathologischen Zellprozessen aus- Tod verstorben war, nahmen an seiner Begräbnisfeier
befürchtete denn auch, dass damit ein neuer „Dog- dersteht der andre und vermittelst welcher Eigenschaf- mache. Tausende Berliner und viele Delegationen aus Über-
matismus“ aufgestellt würde und eine Renaissance ten? Welcher von beiden wird vernichtet? Das sind die Es ist nicht mehr die Krankheit, welche wir suchen, see teil. Die Stadt Berlin gedachte ihres großen, toten
des Giftes der leeren Phrasen und des Romantizismus Fragen, die nach seiner Ansicht zu beantworten sind. sondern das veränderte Gewebe; es ist nicht mehr ein Ehrenbürgers mit der erstmalig beschlossenen Bei-
(c.n. Ackerknecht, 47) einsetze. Dass die Krankheit ein Kampf sei, ist eine alte These…. fremdartiges, in dem Menschen eingedrungenes Wesen, setzung auf Kosten der Stadt.
30 WISSENSCHAFFTPLUS – Das Magazin 5/2015 WISSENSCHAFFTPLUS – Das Magazin 5/2015 31

III. Urheber oder Plagiator? nen fast alle weiteren histologischen Lehrbücher bis 1845 in all seinen Veröffentlichungen von den zel- gelernt und kannte ihn daher aus persönlicher An-
Zeugen der Anklage ins 20. Jahrhundert hinein ihren Ausgang nahmen ligen Elementen als den eigentlichen Trägern und schauung. Zudem war sein Vater ein ehemaliger
(Diepgen, 120). Zusammen mit Henle galt er als ein Vermittlern der Lebensvorgängen ausgegangen. Studiengenosse R. Virchows gewesen. In seinen
Mit seiner <Zellularpathologie>, welche die Medizin Meister der mikroskopischen Forschung, der überall Allerdings geriet er in Zweifel über die allgemeine Lebenserinnerungen mit dem Titel <Besonnte Ver-
erstmals auf ein biologisch-naturwissenschaftliches neue Funde oder neue Klärung in schon bekannte Er- Gültigkeit seiner Erkenntnis und räumte daher der gangenheit> schilderte er aus seiner Erinnerung
Fundament stellte, ist Virchows epochale medizin- gebnisse brachte (ebd, 119 f). Damit ist klar, dass die spontanen Zellbildung teilweise Rechte ein, da Vir- lebendige Szenen von Virchows Verhalten, seinen
geschichtliche Bedeutung verknüpft. Da, wie anfangs Freundschaft Virchows mit Koelliker in stärkstem chow selbst im Jahre 1851 noch an dieser Theorie Respekt vor dessen Lebenswerk, aber auch seine
angedeutet, einige Vorbehalte gegen seine Priorität Maße in einem wissenschaftlichen Austausch be- festhielt. Erst durch Virchows Mitteilungen über die Kritik an ihm. Auf S. 197 schrieb er:
angemeldet wurden, sollen diese angesehen werden gründet gewesen war. pathologische Zellenbildung kam auch ich dazu, die Freilich, allein gehört ihm der Ruhm des ursprüng-
und die Frage, ob Virchow zu recht oder zu unrecht Nachdem Koelliker sich 1897 in den Ruhestand be- freie Zellenbildung ganz aufzugeben und wie bei der lichen Gedankens nicht, wenn auch die Ausführung
dieses Verdienst zukommt, geprüft werden. In einem geben hatte, veröffentlichte er 1899 seine <Erinne- embryonalen Entwickelung auch für den Erwachsenen allein ihm, Rudolf Virchow, dem Schivelbeiner, ge-
seiner letzten Briefe an den Vater wandte er ein, dass rungen aus meinem Leben>, in denen der loyale und für pathologische Fälle den Satz aufzustellen, dass lang. Erstens hat er unbegreiflicherweise den alten
er viele Feinde habe, und es ist mir oft schwer, mich an Mann interessante Angaben zu Virchows <Cellu- alle Zellen des Organismus in ununterbrochener Form- Kölliker in Würzburg mit ganz ähnlichen Gedanken
dem Platze zu behaupten, auf dem ich stehe, aber an larpathologie> angebracht hat. Denn Virchow hat- folge von der Eizelle an sich entwickeln (S. 200). über die Zellenlehre, wie Virchow sie selbst später
meiner Ehrlichkeit hat noch keiner dieser Feinde sich te ja jahrelang noch an der „Blastemtheorie“, der proklamierte, jahrelang bekämpft (so erzählt Köl-
versucht. Dies schrieb er am 2.4.1864, also sechs Jahre spontanen Zellbildung aus einer amorphen Masse Aus Koellikers präziser Beschreibung erhellt somit, liker in seiner Selbstbiographie), und zweitens war
nach der Veröffentlichung seiner <Cellularpatholo- festgehalten, obwohl ihm seine eigenen Studien dass Virchow die Erkenntnisse kontinuierlicher Zel- ein junges, mit 27 Jahren verschiedenes Genie, Karl
gie>. Ist allein diese Behauptung so richtig? anderes gezeigt hatten. In der Würzburger Zeit trat lenbildung von anderen übernommen hatte und sei- Reinhard, laut Zeugenschaft meines Vaters, der
jedoch allmählich seine Wende ein, die somit in ne Leistung in der Übertragung auf pathologische mit beiden intim verkehrte, der Urheber des geni-
nächster Nähe und in einer entscheidenden wis- Zellenbildung liegen soll. Ebenso deutlich wird aber alen Gedankens, die Schwannsche Zellenlehre für
senschaftlichen Frage Koellikers geschah. Koelliker auch, dass er die bei Koelliker angeführten Forscher die Pflanzen auf die menschliche Organisation zu
schrieb dazu über Virchow: unterschlagen hat. Zudem wird in vielen medizinge- übertragen. So ist die erste Arbeit über die Zellen in
Nach und nach trat nun aber in dieser Frage ein Um- schichtlichen Werken darauf hingewiesen, dass Vir- <Virchows Archiv> nicht von ihm, sondern eben von
schwung ein, indem Virchow durch Beobachtungen an chows berühmte lateinische Formel schon 1831 von Karl Reinhard, während Virchow in den ersten Bän-
Bindegewebszellen und an pathologischen Bildungen dem Begründer der Histochemie, François-Vincent den nur Aufsätze über allgemeine Fragen… publi-
allmählich dazu kam, anzunehmen, dass in patho- Raspail (1794–1878), veröffentlicht worden war. zierte. Ja, in dem VI. Bande dieses <Archivs> kann
logischen Neubildungen die Zellenbildung von den man nicht nur zwischen den Zeilen der Virchow-
schon vorhandenen Zellen ausgehe, in denen die Ker- schen Rede am Grabe Karl Reinhards lesen, dass
ne sich durch Teilung vermehren und endogene Zellen dieser früh dahingeraffte, ungewöhnliche Mensch
Zeuge Nr. 1 um sich bilden. die überaus fruchtbare Divination gehabt hat, eine
1855 kam Virchow damit zum Abschluß und brach- zellulare Pathologie, die Virchow allerdings mit un-
Wenden wir uns dem ersten Zeugen zu, Albert te dies in seiner berühmten Formel: omnis cellula erhörter Konsequenz durchgeführt hat, zu schaffen,
Koelliker (1817–1905), Professor für Anatomie und e cellula in seinem Aufsatz <Cellularpathologie> ja, Virchow hat dies auch direkt bekundet. War der
Physiologie, der von 1847 an fünfzig Jahre in Würz- zum Ausdruck. Gedanke auch nicht sein, die Tat gehörte ihm al-
burg lehrte, wo auch Virchow bekanntlich von Meiner und der Bestrebungen von Reichert, Bischoff, lein.
1849–56 seinen Lehrstuhl innehatte und beide in Bergmann und Remak, die wir für die normale Entwick-
lebenslanger Freundschaft verbunden blieben. lung schon längst die ununterbrochene Formfolge der Leider lässt sich zu der von Schleich erwähnten
Koelliker war ebenfalls ein Schüler von Johannes Zellen bewiesen hatten, gedenkt Virchow bei all seinen Zeuge Nr. 2 Person Karl Reinhard, mit dem zusammen der äl-
Müller, hatte den Dr. phil. und den Dr. med. inne Deduktionen mit keinem Worte und so kam es dazu, tere Schleich und Virchow manche frohe und erns-
und war Prosektor bei dem bedeutenden Mikros- dass er auch im Gebiete der normalen Zellenlehre als Carl Ludwig Schleich (1859–1922) wurde als Er- te Zecherstunde genossen (Schleich, 72) hatten, in
kopiker und Anatomen Jakob Henle gewesen. An- der Begründer des eben angeführten Schlagwortes an- finder der Lokalanästhesie (1894) berühmt, al- medizingeschichtlichen oder Werken über die Ge-
fang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts schrieb er gesehen wurde und galt (S. 199). lerdings erst nach einer Hexenjagd, die seine schichte der Naturwissenschaften nichts finden,
das erste <Handbuch der Gewebelehre> und eine Koelliker, der sich selbst unbeschadet der Verdiens- erzürnten Kollegen deswegen auf ihn veranstalte- so dass Schleichs Angaben hochinteressant, aber
<Mikroskopische Anatomie und Gewebelehre des te von Schwann, als den eigentlichen Begründer der ten. Er hatte Mitte der 80er Jahre in der Berliner als persönliche Erlebnisse zunächst nicht weiter
Menschen>, die so bedeutend waren, dass von ih- Cellularphysiologie (S. 193) betrachtete, war schon Charité als „Unterassistent“ bei Rudolf Virchow verwertbar sind.
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zessen keine Originalität beanspruchen kann! Es um seinen besten Mann beim Mikroskopieren anfrag- daher jetzt jene Thesis noch genauer dahin formulieren
dürfte als ausgeschlossen gelten, dass Virchow die- te, vermittelte der ihm Remak. Doch auch Schoenlein zu können, dass es sich bei den krankhaften Geschwüls-
se Veröffentlichungen nicht gekannt hat. Ein Regis- vermochte nicht, Remak besser zu positionieren, so- ten nicht um eine Neubildung von Geweben, sondern um
ter des privaten Zeitschriften- und Buchbestandes dass die Prosektor-Stelle an der Charité 1846 an Vir- eine Umbildung normaler Gewebe handelt, mit Erzeu-
Virchows, bzw. der Würzburger Universitätsbiblio- chow bzw. die militärärztliche Lobby vergeben wur- gung von Bestandtheilen, welche den normalen in Form
thek vor 1855, würde hier entscheidenden Einblick de. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen, und Mischung entweder ähnlich (homolog) bleiben,
geben. Da aber bei Rudolf Virchow mindestens von auf die auch Alexander von Humboldt aufmerksam oder durch fortschreitende Entartung sich in Form und
„normaler“ wissenschaftlicher Forschungstätigkeit geworden war und der ihn beim preußischen König Mischung von dem erzeugenden Gewebe entfernen (he-
auszugehen ist – was bei ihm einer ziemlichen Un- empfahl, erhielt er 1847 ohne Habilitationsprüfung terologe Gewebe) (c.n. Schmiedebach, 183). Eine frap-
tertreibung gleichkommt –, wäre spätestens damit die Venia legendi. Erst 1859, nachdem ein Wechsel pierende terminologische Übereinstimmung mit der
Zeuge Nr. 3 auch seine Originalität und Priorität mit seiner in der Regierung stattfand und damit die Feinde Re- später von Virchow abgelieferten Ausführung über
<Cellularpathologie> vom Tisch! maks im Ministerium ausgeschaltet waren, interve- homologes und heterologes Gewebe, die im vorigen
Friedrich Günsburg (1820–1859), ein Pathologe, nierte A. v. Humboldt erfolgreich, so dass Remak zum Kapitel wiedergegeben wurde!
der als Privatdozent in seiner Heimatstadt Breslau außerordentlichen Professor, allerdings ohne Gehalt, Schmiedebach geht der Frage nach, warum Virchow
wirkte, über den ich in acht medizingeschichtli- ernannt wurde. die Ergebnisse Remaks unterschlagen hat und weist
chen Werken keine Erwähnung gefunden habe und Remak und Virchow kannten sich und standen zeit- auf die Berufungsvorgänge Virchows von Würzburg
nur einiges spärliche bei Ackerknecht, hatte im 2. weilig in direktem Kontakt. Zum einen war der po- nach Berlin hin. Dabei stand Remak als Konkurrent
Band seiner <Studien zur speciellen Pathologie> litisch aktive Remak ebenfalls Teilnehmer an den an zweiter Stelle, unterstützt von so gewichtigen
von 1848, im dreizehnten Abschnitt, folgendes nie- Berliner Barrikadenkämpfen gewesen (drei jüngere Gönnern wie A. von Humboldt und J. Schoenlein!
dergelegt: Brüder flohen wegen ihrer politischen ‘48er-Aktivitä- Daher kommt Schmiedebach zu der Annahme, dass
Die Zeugung der neuen Zelle aus der vorhandenen ten als Studenten nach Amerika) und setzte sich sehr Virchow schon im Hinblick auf eine spätere Konkurrenz
beruht auf Theilung oder Endogenese… Die Vermeh- intensiv für Reformen im Medizinalwesen ein. Aus mit Remak dessen Vorarbeiten zur Zellularpathologie
rung der pathologischen Zelle durch Theilung der der Zeit vom April 1848 stammt jedenfalls ein erhal- 1855 nicht besonders in seinem Essay hervorheben wollte
geschwellten Kerne, welche während der Entwickelung tener Brief Remaks an Virchow, um ihn als Mitglied (Schmiedebach, 189 f). Das erfordert allerdings zwin-
im Vergleich zur ursprünglichen centralen Lage eine Zeuge Nr. 4 eines politischen Vereins zu werben. Virchow kannte gend, dass Virchow 1855 schon von einer kommenden
Ortsveränderung annehmen, und die darauf folgen- Remaks Veröffentlichungen über Zellteilungsvorgän- Berufung nach Berlin und der bevorstehenden Kon-
de Furchung der Zelle, die wirkliche Theilung dersel- Auf den Namen des Mediziners und Forschers Robert ge und hatte früher auch daraus zitiert. kurrenzsituation mit Remak gewusst hätte! Das kann
ben habe ich 1843 nach den mit Bräuer gemachten Remak (1815–1865) wurde schon hingewiesen. Er kam Schmiedebach, der in seiner Habilitationsschrift allerdings nach Lage der Umstände, die dazu geführt
Beobachtungen in Meletemata circa evolutionem ac aus einer armen jüdischen Familie, hatte dennoch – über R. Remak auch den speziellen Aspekt zu Vir- hatten, ausgeschlossen werden.
formas cicatricum, Vratisl. 1843 (….) und bildlich dar- wohl mittels privat beschaffter Gelder der Familie – chow behandelt, belegt aus dessen Schriften, dass Jedenfalls reagierte Remak auf Virchows ersten Auf-
gestellt. Dieses Prioritätsrecht zu reklamiren bin ich an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Medi- Remak schon im Jahr 1845 erstens Kern- und Zelltei- satz von 1855 zur <Cellularpathologie> sehr scharf
genöthigt durch den Mangel an literarischen Hilfsmit- zin studiert und, wie bei Virchow war Johannes Müller lungsvorgänge im menschlichen Organismus beob- (ebd., 190). Er wies Virchow in einem Brief auf dessen
teln oder die vornehme Nichtbeachtung, welche sich einer seiner Lehrer. Ein weiterer einflussreicher Leh- achtet und beschrieben hatte. Dass er zweitens die frühere Anhängerschaft an die Cytoblastemtheorie
die Jahresreferenten gewisser Archive zu Schulden rer war der Zoologe Christian Gottfried Ehrenberg Unwahrscheinlichkeit spontaner Zellenbildung nach- hin und machte ihn auf seine eigene Veröffentlichung
kommen lassen (S. 360 ff). (1795–1876), bei dem er mikroskopische Studien des gewiesen und drittens an pathologischem Gewebe von 1854 aufmerksam, wo er die „pathologische Zel-
An anderer Stelle dieses Werkes belegt er noch- Nevensystems betrieb. Schon im zweiten Studien- Umbildungsvorgänge aus Gewebszellen festgestellt lentheilung“ nachgewiesen habe und setzte damit
mals unmissverständlich: Die pathologische Zelle jahr forschte der begabte Student eigenständig und hatte. 1852 schließlich führte Remak aus, dass die pa- fort Virchow vorzuwerfen, den Satz: omnis cellula e
befolgt also die gleichen Gesetze der Vermehrung, wie entdeckte u. a. das Axon der Nevenzelle. Müller ver- thologischen Gewebe eben so wenig wie die normalen cellula als den Ihrigen hinzustellen, ohne auch nur mei-
die normale Zelle aller Organismen. Die Mannigfal- öffentlichte regelmäßig ab 1836 in seinem wissen- in einem extracellären Cytoblastem sich bilden, sondern nen Namen zu nennen. Daß Sie sich vor den Eingeweih-
tigkeit der Entwicklungsgrade ist aber Charakter der schaftlichen Journal die Ergebnisse seines begabten Abkömmlinge und Erzeugnisse normaler Gewebe des ten dadurch lächerlich gemacht haben (da Ihnen die
pathologischen Zelle (S.365). Schülers und zitierte sie in seinem <Handbuch der Organismus sind (c.n. Schmiedebach, 182 f). 1854, als nöthigen embryologischen Erfahrungen doch gar nicht
menschlichen Physiologie>. 1838 beendete Remak Virchow noch an die Blastemtheorie glaubte, griff er… zu Gebote stehen) kann ich und Niemand rückgängig
Wir müssen nun Koellikers Darstellung insofern sein Medizinstudium mit Auszeichnung und bemüh- Schwann und Virchow an und warf ihnen vor, die Ent- machen. Wenn Sie aber eine öffentliche Besprechung
korrigieren, dass R. Virchow auch bei der Formu- te sich um die Habilitierung, die allerdings Juden in wicklung krankhafter Geschwülste aus einem „amorphen dieser Angelegenheit vermeiden wollen, so würde ich
lierung der Zellenbildung bei pathologischen Pro- Preußen nicht gestattet war. Als Schoenlein Müller Blastem“ abzuleiten (ebd, 183). Er erklärte: Ich glaube Sie bitten, mir umgehend davon Kenntniß zu
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geben, wie und wann Sie das zu thun gedenken. Es Keimblätter in ihrer funktionellen Bedeutung erfasst Deliktes. Wie sowohl an Günsburgs dokumentierten embryonale Krebstheorie), Weigert (nekrotische Ent-
versteht sich von selbst, dass ich mir vorbehalte, falls und beschrieben hat, war Robert Remak 1855. Er teilte Ergebnissen als auch aus Remaks Selbstnachweisen zündungstheorie) und Waldeyer (epithelialer Ursprung
Ihre spätere Erklärung nach Inhalt und Form mir nicht sie ein als oberes, äußeres sensorielles Blatt, aus dem ersichtlich geworden ist, kann Virchow unzweifelhaft des Karzinoms)… In den achtziger Jahren mussten die
genügen sollte, meine Rechte noch selbständig wahr- sich Gehirn, Sinnesorgane, Haut entwickeln. Dann nicht die Priorität auf pathologischem Gebiet mit Angriffe der Bakteriologen beantwortet werden. Von
zunehmen (c.n. Schmiedebach, 190). das innere oder untere, trophische Blatt, aus dem der in seiner <Cellularpathologie> aufgestellten For- 1858 bis zu Virchows Tod wurden diese mehr defensiven
Virchow war gehalten, dem Vorwurf zu begegnen. die epithelialen Wandteile des Darmrohres, Leber, mel über die Zellenbildung für sich beanspruchen. Handlungen von einer unermüdlichen Propagierung
Wie aber tat er es? In einem Archivbeitrag im Janu- Pankreas und Lunge, evtl. Nieren, abstammen und Ackerknecht erwähnt bezeichnenderweise im Zu- und Interpretation der Zellular-Pathologie in zahlrei-
arheft 1857 räumte er ein, dass wenn auch Remak als drittes das mittlere, motorisch-germinative Blatt, sammenhang mit Virchows literarischen Äußerun- chen Reden und Aufsätzen begleitet. Edith Heisch-
das Verdienst zukomme, die Sätze von der Lehre der mit den Organen der willkürlichen Muskulatur, Blut- gen zur medizinischen Reformbewegung von 1848, kel-Artelt hat mit Recht nachgewiesen, dass ein Teil von
Kernteilung in ihrer dogmatischen Form zuerst ausge- gefäße, Wirbelsäule, Herz Extremitäten, Geschlechts- dass von seinen besonders packenden Schlagworten Virchows Erfolg, seine Zeitgenossen zu überzeugen, auf
sprochen zu haben, so dürfte die Gerechtigkeit doch organe. Dieses dritte Blatt wiederum unterteilte er in viele von Freunden stammten (Ackerknecht, 13). Er be- seiner propagandistischen Geschicklichkeit beruht, die
auch gebieten, zu erklären, dass nicht er es war, der ein parietales somatisches Hautfaserblatt und ein saß also einige Übung im verwertenden Umgang mit er in seiner frühen politischen Betätigung erworben ha-
zuerst die empirischen Beweise, und zwar namentlich viscerales splanchnisches Darmfaserblatt. dem geistigen Eigentum anderer! ben könnte (Ackerknecht, 101).
auf pathologischem Gebiet geliefert hat (c.n. Schmie- Remak mit seinen klinischen, pathologischen, in ver- Zwar ist ihm nicht abzusprechen, sich mit der Thema- So durch seinen falschen Ansatz, den er brachial
debach, 190 f). Schmiedebach weist zurecht darauf gleichender Anatomie und embryologischen Kennt- tik und Problematik der spontanen Zellenbildung seit durchgesetzt hatte, in Erklärungsnöte gebracht, warf
hin, dass das aber gar nicht Gegenstand von Remaks nissen, die zur erstmaligen Formulierung der Funkti- frühester Zeit, im Medizinstudium, und auch nicht er sich etwa 10 Jahre nach seiner <Cellularpatholo-
Vorwurf war, sondern es um die Unterschlagung sei- onalität der drei Keimblätter führten, verbunden mit bloß sporadisch, durch eigene Beobachtungen und gie> auf ein neues Gebiet, die Anthropologie, um
nes Namens ging! Virchow versuchte mit diesem seinem therapeutischen Impetus, wäre der ungleich spezielle Untersuchungen in seiner Forschungstätig- sich hier weitere Meriten verdienen zu können! Nach
Ablenkungsmanöver offensichtlich, die Nase vorn bessere Kandidat gewesen, eine „Reform der Medi- keit bekannt gemacht zu haben, doch blieb er unge- mehr als zwanzig Jahren der intensivsten schöpferi-
zu behalten – fair war das nicht. Ist es da weit her- zin“ auf naturwissenschaftlicher Basis herbeizufüh- achtet seiner Beobachtungen bis 1854 noch immer schen Tätigkeit in der pathologischen Anatomie… hörte
geholt, wenn die eingangs erwähnte Briefstelle an ren! Ihm war aus eigener Forschung die Bedeutung ein Vertreter der Blastemtheorie. Einigkeit besteht Virchow gegen Ende der sechziger Jahre des achtzehn-
den Vater um seine angeblich nie infrage gestellte der Keimblätter wie die der zellularen Pathologie nur darin, dass er dann mit der Übernahme dieser Er- ten Jahrhunderts, bevor er sein fünftes Lebensjahrzehnt
Ehrlichkeit auch bei seinen Feinden als Fiktion be- bestens bekannt und er hatte 1862 die Embryologen kenntnis eine konsequente und epochale Eroberung beendet hatte, fast abrupt auf, der pathologischen
zeichnet werden muss? aufmerksam gemacht auf die noch unverstandene auf medizinischem Gebiet geleistet hat. Originalität Anatomie neue Beiträge zuliefern (ebd., 100). Wie
Schließlich kam es zumindest brieflich zu einer An- Rolle der Zellmembran bei den Zellteilungsvorgän- und Genie kann R. Virchow auf diesem Gebiet nicht recht hatten 1858 die nordamerikanischen Verleger
näherung der beiden. gen (Otis, 183). Zwar glaubte Remak 1841 noch an eine für sich in Anspruch nehmen. Als Virchow kurze Zeit Blanchard und Lee in Philadelphia, die es abgelehnt
Als Remak mit seiner Galvanotherapie im Oktober „parasitäre“ Erscheinung der Krebserkrankung, doch nach der Übernahme des Berliner Lehrstuhls seine hatten, einen derartigen spekulativen deutschen Text
1858 erneut beim Kultusministerium eine Ernen- so wie er übersah niemand soviel an Grundlagenfor- <Cellularpathologie> im Jahr 1858 veröffentlichte und (Goschler, 197 f) wie die <Cellularpathologie> als
nung zum Extraordinarius beantragte, war einer schung auf verschiedensten Fachgebieten. Virchow so erfolgreich wurde, hätten ihm die weiteren For- englische Übersetzung zu verlegen. Auch wenn Vir-
der zwei Gutachter Rudolf Virchow. Beide äußerten hatte bei weitem nicht solche innovativen Ansätze zu schungen, die dann auch von seinen Schülern mitbe- chow sich gegen einen Vergleich mit der Persönlich-
sich ungünstig über Remaks Therapieform, Virchow bieten. Doch Virchow hatte ihn wiederholt ins Abseits trieben wurden, nicht lange auf sich warten lassen, bis keit Bismarcks mit Händen und Füßen gewehrt hät-
aber sprach sich direkt gegen Remak aus, dem damit und letztlich in die Vergessenheit gedrängt. ihm die reifen Früchte in den Schoß gefallen wären? te: er hat, genauso wie sein politischer Gegner, auf
wiederum der Weg zur Professur und klinischen For- Doch aus gutem Grund sah die Realität anders aus. seinem Gebiet mit einer rücksichtslosen, „brutalen“
schung versagt schien. Zahlreiche Freunde und lebhafte Feinde (Virchow, c.n. (Lanka) Machtpolitik einen großen Sieg eingefahren!
Wie heutzutage jeder Oberstufenschüler wissen Nachdem die befragten „Zeugen“ zum Vorwurf Ackerknecht, 82) sorgten dafür, dass er reichlich zu
kann, kommt eine Organbildung nicht durch stetige eines Plagiates von Virchow mit seiner <Cellular- tun hatte und seine Aussagen immer wieder ändern
Zellteilungsvorgänge ab dem Moment der Befruch- pathologie> ihre Aussagen vorgebracht haben, ist und anpassen musste. Während der fünfziger und
tung von Eizelle und Spermium zustande, sondern deutlich geworden: die noch gemäßigt gehaltene frühen sechziger Jahre wandte Virchow viel Zeit und Quellen:
nach einer ersten Folge von Zellteilungen findet eine Feststellung Koellikers, Virchow habe bei der „nor- Energie auf, um seine neue Zellular-Pathologie gegen Abb 1, 5, 8: Charité – Universitätsmedizin,
Gastrulation statt, die zur Ausbildung der Keimblät- malen Entwicklung“ der Zellenbildung ihn und an- alte Gegner wie Henle, Spieß, Wunderlich und Robin Institut für Geschichte und Ethik der Medizin (Quelle)
ter führt. Genau genommen bilden sich die Keim- dere Forscher, die lange vor Virchow die Zellteilungs- zu verteidigen. Dann musste er sein System den neu- Abb 2, 4, 6: Rudolf Virchow, Briefe an seine Eltern
blätter nicht, sondern aus der vorigen omnipotenten vorgänge bei der Zellvermehrung erkannt hatten, en Funden der Freunde und Schüler anpassen, wie von 1839 bis 1864, herausg. von Marie Rabl, Leipzig 1907
Keimschicht der Blastula lösen sich determinierte unerwähnt gelassen und sei so unverdienterweise Recklinhausen (extrazelluläre Flüssigkeitszirkulation im
Keimblätter ab. Erst diese Keimblätter sind als or- in den Ruf geraten, auch in der Biologie als deren Bidegewebe, Wanderzellen), Cohnheim (Diapedese der Abb 7: C. L. Schleich, Besonnte Vergangenheit,
ganbildende Gewebe anzusehen. Der erste, der die Entdecker zu gelten, ist nur die Hälfte des wirklichen weißen Blutkörperchen, vasculäre Entzündungstheorie, Stuttgart Berlin 1941

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