Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
E X K U R S Ü B E R D E N D R E I F A C H E N
G E G E N S T A N D DER P S Y C H O L O G I E
Vorbetrachtung
eine „Psychologie ohne Seele" konzipieren solle, haben wir damit keinesfalls Stellung
genommen, da sich das bei WELLEK erörterte Problem ohne irgendwelche Einbußen
an Prägnanz oder Differenziertheit auch ohne die Heranziehung des Begriffes „Seele"
aufweisen läßt.
4 Holzkamp GSt
Als erste Art von Gegenständen, mit welchen sich die psychologische For-
schung beschäftigt, nennen wir die „Erlebnisse als solche". Die Gegenstandsart
der „Erlebnisse als solche" - die, in einer bestimmten Bedeutung des Wortes,
auch „Phänomene" genannt werden - ist dadurch zu gewinnen, daß man von
der konkreten, zeiträumlich besonderten Wirklichkeit der Welt „in" mir und
„um" mich, wie sie im Alltag vorliegt, absieht und den Blick auf den Um-
stand, daß diese Wirklichkeit mir in der Weise von Erlebnissen gegeben ist,
und des weiteren auf die jeweils charakteristische Eigenart dieser Erlebnisse
richtet. Von dieser Betrachtungsweise aus ist die in der allgemeinen Weltsicht
vordergründige Tatsache, daß ich jetzt traurig bin oder daß dort eine far-
bige Postkarte liegt, nicht von Interesse; es geht hier darum, die besondere
Eigenart des Erlebnisses „Traurigkeit" oder „Farbigkeit" überhaupt aufzu-
weisen.
Die beschriebene Operation der Gewinnung des Gegenstandes „Erleb-
nisse als solche" durch Absehen von der alltäglichen Realität unserer Welt
und die Heraushebung ihrer Gegebenheitsweise bilden in radikaler und
„reiner" Form das Fundament der phänomenologischen Philosophie. H u s -
SERL hat die phänomenologische Grundoperation der „Ausschaltung", „Ein-
klammerung" der natürlichen Einstellung und damit schließlich der Gewin-
nung des „reinen Bewußtseins" in vollkommener Klarheit dargestellt (vgl.
etwa HUSSERL 1913, S. 53 ff.). Wir brauchen jedoch innerhalb unserer Er-
örterungen über den Gegenstand der einzelwissenschaftlichen Psychologie
diesen ausschließlich philosophischen Gedankengängen nicht im einzelnen
nachzugehen.
Welchen wissenschaftlichen Sinn, welche Legitimität von allgemeineren
wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten aus hat nun aber die Beschäfti-
gung mit „Erlebnissen als solchen" innerhalb der Psychologie? Wir machen
uns zunächst klar, daß wir dieser Frage durch Rückgriff auf die Funktion,
welche der Phänomenologie in der Philosophie zugewiesen wird, nicht bei-
kommen können. Für die philosophische Phänomenologie wird der Anspruch
erhoben, daß hier der Aufweis von irgendwie gearteten fundamentalen Letzt-
heiten unseres Erlebens und Erkennens möglich ist, daß hier Wesenheiten ge-
fördert werden können, die den Charakter absoluter Gewißheit tragen, weil
sie in jede besondere Feststellung über Erkenntnisse oder „Erfahrungen"
immer schon mit eingehen. H U S S E R L spricht von der Phänomenologie als
„einer Wissenschaft der ,Ursprünge'" (1913, S. 108). Wir wollen uns in die
Diskussion darüber, wieweit und auf welche Weise der damit gekennzeichnete
Anspruch der Phänomenologie zu rechtfertigen ist, nicht mit voreiligen Stel-
lungnahmen einmischen. Für uns ist es hinreichend, wenn wir feststellen, daß
die Psychologie niemals auf Letztheiten, erste Fundamentierungen, Apriori-
täten irgendwelcher Art ausgeht, sondern es als Einzelwissenschaft stets mit
Abgeleitetem, bereits Ausgesondertem, anderweitig Fundiertem zu schaffen
hat. Demnach kann sie die Zielsetzungen der philosophischen Phänomenolo-
gie nicht zum Aufweis des Sinnes irgendeiner ihrer Vorgehens- und Denk-
weisen, auch nicht des Rekurses auf „Erlebnisse als solche" heranziehen. Zur
deutlichen Kennzeichnung der damit getroffenen Ausgrenzung und zur Ver-
meidung unerlaubter Grenzüberschreitungen der Psychologie wollen wir hier
eine terminologische Unterscheidung vornehmen. Wir sprechen, soweit „Er-
lebnisse überhaupt" zum Gegenstand von Bemühungen innerhalb der einzel-
wissenschaftlichen Psychologie gemacht werden, nicht von „Phänomenologie",
„phänomenologischer Methode" o. ä., sondern benutzen weniger prätentiöse,
hier und da bereits gebrauchte Termini wie „Phänomenanalyse", „phäno-
menale Betracht ensiveise" o. ä.
W e n n also die Frage nach dem Sinn phänomenanalytischen Vorgehens
durch Hinweis auf Letztbegründungsabsichten irgendwelcher Art nicht be-
antwortet werden kann, wie will man dann die Funktion und Berechtigung
der Beschäftigung mit „Erlebnissen als solchen" innerhalb der Psychologie
umschreiben? Bei den vorliegenden Versuchen, den Sinn und die Eigenart des
phänomenalen Vorgehens klarzulegen, findet sich oft mehr oder weniger ex-
plizit der Hinweis auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung des „Erlebnis-
aspektes" in der Psychologie und damit die Absetzung von einer bloß be-
havioristisch-„operationistischen" Grundhaltung (vgl. dazu bes. W E L L E K ,
etwa 1955b). Zur Kennzeichnung der phänomenalen Betrachtung werden
darüber hinaus im wesentlichen drei allgemeine Bestimmungen getroffen: Das
phänomenale Vorgehen ist ein schlichtes Hinsehen auf die Erlebnisgegeben-
heiten, dadurch mitgemeint ist eine weitgehend theoriefreie Betrachtung des
Gegebenen - diese beiden Bestimmungen werden in dem Terminus schlichte
„Beschreibung" oder „Deskription" zusammengefaßt - die „Deskription"
richtet sich dabei auf das im Erleben unmittelbar Vorgefundene.
4*
Die Voraussetzungen für eine deutliche Herausarbeitung des Sinnes und der
Funktion der phänomenalen Vorgehensweise sind nur dann zu schaffen, wenn
man sich zunächst einmal klarmacht, daß die phänomenale Betrachtensweise
nicht dasselbe ist wie die Berücksichtigung des Erlebnis-Aspektes 3 in der Psy-
chologie. Zwar geht es in der Phänomenanalyse um „Erlebnisse als solche";
Erlebnisse sind aber darüber hinaus auch noch auf ganz andere Weise zum
Gegenstand der Psychologie zu machen. Bei der Besprechung der anderen
Gegenstandsarten wird von uns aufzuzeigen sein, wie Erlebnisse auf nicht-
phänomenale Art zum Objekt psychologischer Bemühungen werden. Wir
2 TOMAN etwa ist der Meinung, daß bei LERSCHS Bemühungen „ . . . nichts weiter
4
Diese Festlegung ist mit dem Wesen des phänomenalen Vorgehens keineswegs
so unvereinbar, wie es vielleicht zunächst scheinen mag.
6
Die Fehlerhaftigkeit der hier genannten „operationalen" Auffassung ist von
WELLEK an verschiedenen Stellen (etwa 1 9 5 5 b, S. 249) prägnant aufgewiesen worden.
6
Die Forderung nadi „Theoriefreiheit" ist natürlich niemals absolut zu erfüllen,
sondern immer nur bis auf die i. w. S. „theoretischen" Bezüge, die bereits in der
sprachlichen Formulierung des Gemeinten notwendig impliziert sind.
8
Der Versuch von HERRMANN ( 1 9 5 8 ) , die Kritik WEINSCHENKS ( 1 9 5 6 ) an LERSCHS
Lehre von der „Affinität" und „Diffugität" von Charaktereigenschaften (LERSCH
1 9 5 6 , S. 44 ff.) mit dem Argument zu entkräften, daß LERSCHS Betraditensweise
„phänomenologisch", die von WEINSCHENK aber „operational" sei und deswegen das
von LERSCH Gemeinte nicht betreffe, ist deswegen — trotz allen Scharfsinns und aller
Differenziertheit der HERRMANNsdien Gedankenführung — als anfechtbar zu be-
trachten. „Charaktereigenschaften" sind als „nichtphänomenale", „strukturelle"
Tatbestände gedacht und deswegen einer phänomenalen Analyse grundsätzlich nicht
zugänglich. Die WEiNSCHENKsdien Einwendungen bestehen nach wie vor zu Recht.
Wir kommen nun zur Darstellung der zweiten „Gegenstandsart" der Psycho-
logie, der „anschaulichen Welt" in Abhebung von der „metrischen Weltform".
(Den Terminus „anschauliche Welt" übernehmen wir von METZGER [1954,
S. 14]; der Terminus „metrische Weltform" stammt von HOFSTÄTTER [1944,
S. 3].) Die „anschauliche Welt" ist, das sei vor allen näheren Explikationen
festgestellt, ein Aspekt der Außenwelt des Menschen im alltäglichen Sinne,
also der Welt, in die wir alle gestellt sind, in der wir leben müssen und in der
wir Wissenschaft treiben, ohne daß diese Welt in ihrem „unhintergehbaren"
primären Realitätscharakter von den Ergebnissen unseres wissenschaftlichen
Nachdenkens irgendwie berührt wird. Die „anschauliche Welt" ist also „Welt
für uns alle"; die Reflexion auf eine „Welt für jeden einzelnen" als möglichen
Gegenstand der Wissenschaft ist für diese Gegenstandsart nicht vollzogen
worden 9 . Bei der Gewinnung des Gegenstandes „anschauliche Welt" wird
auch nicht die Operation des Absehens von dem alltäglichen Realitätscharak-
ter der Welt und der Heraushebung ihrer Gegebenheitsweise für uns durch-
geführt - diese Operation ist ja die Grundlage für die Gewinnung der „Erleb-
nisse als soldhe" als Gegenstand der „Phänomenanalyse" - , „anschauliche
Welt" ist vielmehr „Welt" in ihrer alltäglichen, konkret-inhaltlichen Be-
sondertheit.
Betrachten wir nun die Operation der Gewinnung der „anschaulichen
Welt" als einer Art des Gegenstandes psychologischen Forschens etwas ge-
nauer.
Im Alltag selbst ist, trotz all ihrer eben herausgehobenen „alltäglichen"
Charakteristika, von einer „anschaulichen Welt" nicht die Rede. Hier gibt es
nur „die" Welt da draußen und weiter nichts. Die „anschauliche Welt" ist
vielmehr das Ergebnis eines an der Alltagswelt ansetzenden, bestimmt ge-
arteten Aktes der „Gegenstandsgewinnung".
Die „metrische Weltform" entsteht durch das früher gekennzeichnete
„Herausschneiden" von prinzipiell eindeutig quantitativ bestimmbaren Kon-
stanzen aus der Alltagsrealität durch Realisationshandlungen auf Grund
„idealwissenschaftlicher" Elementarformen (wie „Ebene", „Gerade", „gleich-
förmige Bewegung", „gleichförmige Beschleunigung" usw.) als Möglichkeits-
bedingungen des „Messens".
Die „Objekte" der metrischen Weltform, die von uns nach eindeutigen
Handlungsanweisungen geschaffen werden, sind u. a. Gegenstand der Physik.
(Eine Gleichsetzung von „metrischer" und „physikalischer" Weltform ist
trotzdem nicht angängig, da der Gegenstand der Physik nicht ausschließlich
9 Vgl. dazu unsere genaueren Darlegungen über die Unterscheidung zwischen
der „Welt für uns alle" und der „Welt für jeden einzelnen" auf S. 66ff.
11
Man hatte sich diese „Ubersetzungsregeln" ursprünglich extrem einfach vor-
gestellt, man glaubte nämlich an eine simple Punkt-für-Punkt-Zuordnung zwischen
metrisch gewonnenen Daten und anschaulichen Gegebenheiten. Seit nunmehr rund
vierzig Jahren ist man sich innerhalb der Psychologie jedoch im klaren darüber, daß
diese „Konstanzannahme" (KÖHLER) eine unhaltbare theoretische Konzeption dar-
stellt und daß man hier andere, kompliziertere „Übersetzungsregeln" zu entwickeln
hat.
nisse" stellen vielmehr zunächst nichts weiter dar als eine besondere Art von
metrischen Konstruktionen, die als Bezugssystem zur Erforschung der Eigenart
der „anschaulichen Welt" zu entwickeln sind. LINSCHOTEN, mit dessen Grund-
auffassungen über die theoretischen Prinzipien der Wahrnehmungslehre wir
ganz und gar übereinstimmen, hat aufgewiesen, daß das „Netzhautbild" bei
der psychologischen Erforschung der Wahrnehmung, wenn Unstimmigkeiten
und Widersprüche vermieden werden sollen, nicht als ein irgendwie geartetes
„natürliches" Organ, sondern als ein auf bestimmte Weise konstruiertes „Ord-
nungsschema" zu betrachten ist. Man muß sich klarmachen, „ . . . daß das Ord-
nungsschema nur eine Abstraktion ist aus dem phänomenal optisch Gegebenen.
.Netzhautbild" hat hier also uneigentliche Bedeutung. Sucht man . . . nadi dem
Zusammenhang von Netzhautbild mit dem Wahrgenommenen, so sucht man
in Wirklichkeit nach dem Zusammenhang zwischen dem Wahrgenommenen
und dessen abstrakten Eigenschaften. Oder weniger paradox gesagt, man be-
schäftigt sich mit einer Strukturanalyse des phänomenalen optischen Feldes als
solchen, mit Hilfe eines abstrakten Ordnungsschemas" (LINSCHOTEN 1 9 5 6 ,
S. 11). LINSCHOTEN ersetzt demgemäß den mißverständlichen Terminus „Netz-
hautbild" durch den theoretischen „construct" „Sehfeld", „...eine frontal-
parallele imaginäre Fläche, auf die die Sehdinge in einem geordneten Verhält-
nis projiziert werden" (S. 11). Damit ist für die „...Sinnespsychologie eine
Autonomie gegenüber der Sinnesphysiologie erreicht..." (S. 11). Die nicht-
sensualistische und damit von „schiefen" Fragestellungen und unechten Pro-
blemen gereinigte Grundkonzeption LINSCHOTENS bewährt sich in seiner
hervorragenden theoretischen und experimentellen Strukturanalyse des bino-
kularen Tiefensehens (vgl. auch unsere Ausführungen auf S. 146ff.).
Die theoretischen Ansätze über die „anschauliche Welt" sind - wie aus
dem eben Gesagten hervorgeht - ausschließlich unter dem Gesichtspunkt zu
beurteilen, wieweit hier eine angemessene Erfassung der jeweils zur Frage
stehenden anschaulichen Gegebenheiten gelungen ist. Die Frage, in welchem
Verhältnis die anschaulichen Gegebenheiten zu den jeweils als zugeordnet an-
genommenen physiologischen Prozessen stehen, ist als eine neue, selbständige
und unabhängige Problemstellung anzusehen. Dabei versteht es sich nach
unseren früheren Ausführungen von selbst, daß die sinnesphysiologischen Vor-
gänge niemals als Ursache von Wahrnehmungsgegebenheiten betrachtet wer-
den dürfen. Die Ausschaltung der „Introjektion" führt zu der Konsequenz,
daß physiologische Prozesse im Organismus nicht als konstituierend für die
uns gegebene Welt anzusehen sind, sondern - wie alle spezifischen „Gegen-
stände" wissenschaftlicher Bemühungen - als nachträglich durch bestimmte
Denkoperationen aus der präexistierenden und in ihrer Existenz unangetaste-
ten All tagsrealität „gewonnen" werden. Ebenso geht aus unseren Darlegungen
hervor, daß die anschaulichen Gegebenheiten keineswegs in irgendeiner Weise
auf physiologische Prozesse „reduzierbar" sind; eine solche Reduktion wäre
5 Holzkamp GSt
nichts weiter als ein Akt des „Gegenstandsentzuges"; man redet nach dem
Reduktionsakt plötzlich nicht mehr von anschaulichen Gegebenheiten, sondern
nur noch von physiologischen Prozessen. - Wir kommen später (S. 189 ff.)
noch einmal in anderem Zusammenhang auf das Verhältnis zwischen Psycho-
logie und Physiologie zurück.
Nachdem wir die „anschauliche Welt" als zweite Gegenstandsart der Psy-
chologie abgehandelt und dabei die Fragwürdigkeit einer unter Psycho-
logen weitverbreiteten, sensualistischen Denkweise der „Introjektion" auf-
gezeigt haben, kommen wir nun zur dritten Art von „Gegenständen" der
Psychologie, und zwar den „anderen Menschen"12, wie sie als je besondere,
in der Mehrzahl vorkommende Individuen in unserer Alltagswelt vorhanden
sind. Bei der Gewinnung dieser Gegenstandsart wird den „anderen Menschen"
ihre konkrete, reale Besonderung gelassen, die ihnen im täglichen Leben zu-
kommt; es wird also hier keinesfalls der Akt des Absehens von dem inhaltlich
konkreten Realitätscharakter und der Hinwendung auf die Weise der Er-
lebnisgegebenheit des Menschen vollzogen wie innerhalb der phänomen-
analytischen Betrachtung, soweit sie sich auf Menschen bezieht. Es wird aber
auch nicht der Mensch als Wahrnehmungsobjekt unter anderen Wahrneh-
mungsobjekten in seiner vollen Alltagswirklidikeit zu bestimmten „metri-
schen" Variablen in Beziehung gesetzt, wie das bei psychologischem Forschen
innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche Welt" geschehen kann; der Um-
stand, daß außer der alltäglichen Weltsicht noch eine andere, metrische Welt-
sicht möglich ist, wird hier gar nicht in die Betrachtung einbezogen, und inso-
fern steht die dritte Gegenstandsart der Psychologie der wissenschaftlich
unberührten Alltagswelt in gewisser Hinsicht näher als selbst die „anschau-
liche Welt". Jedoch sind auch bei der Gewinnung der „anderen Menschen"
als Gegenstand psychologischen Forschens bestimmte Operationen des Ober-
den-Alltag-Hinausdenkens zu vollziehen, mit denen wir uns jetzt beschäf-
tigen wollen.
13
Der Begriff „Idi" wird hier also in einem sehr schlichten, unvorgreiflidien Sinne
gebraucht: Zu meinem „Idi" in diesem Sinne gehört, was idi mir selbst zuschreibe,
wie „meine" Traurigkeit, „mein" Einfall, „mein" Urteil usw.; zu meiner Umgebung
gehört das für mich Vorgefundene, das ich nicht mir selbst zuschreibe. — Die Bezeich-
nung „empiriokritisth" ist aus dem Kennwort „Empiriokritizismus" abgeleitet, mit
welchem AVENARIUS seine philosophische Grundhaltung kennzeichnet.
5*
W e n n nun aber - wie aus dem eben Gesägten hervorgeht - die „anderen
Menschen", sofern sie Gegenstand psychologischen Forschens sind, audi in
ihrer „alltäglichen" Konkretion und Größenordnung belassen werden, so
v e r h a r r t man doch bei psychologischem Erfassen des Menschen nicht etwa
in jeder Hinsicht auf dem Standort des „täglichen Lebens". Bei der Gewin-
nung der „anderen Mensdien" als Gegenstandsart der Psychologie wird viel-
mehr - wie das bei jeder A r t wissenschaftlicher Gegenstandsgewinnung not-
wendigerweise der Fall ist - der Alltagsstandpunkt auf eindeutig angebbare
Weise überschritten. D a m i t sind wir an dem Kernstück unserer gegenwärtigen
Erörterung angelangt.
Die genaue Stelle, an welcher die Denkoperation der „Gegenstandsgewin-
nung" des „anderen Mensdien" f ü r die Psychologie ansetzt, ist eben die ge-
nannte selbstverständliche, alltägliche Überzeugung, daß der Mitmensch ein
Mensch ist wie ich, bei dem also wie bei mir die „Prinzipialkoordination"
vorliegt. Bei näherer analytischer Betrachtung erweist es sich, daß meine
Überzeugung von der Ichhafligkeit u n d der erlebten W e l t des anderen Men-
schen aus wesentlich anderen Quellen stammt als meine Konstatierung, daß
ich traurig bin oder daß dort ein Baum ist. W ä h r e n d meine Traurigkeit als
Zentralglied u n d der von mir gesehene Baum als Gegenglied von meinem
Standpunkt aus f ü r mich unmittelbar vorgefunden werden, ist in dem mir
gegebenen Gegenglied „anderer Mensdi" notwendigerweise nichts von seiner
Traurigkeit u n d dem von ihm gesehenen Baum unmittelbar vorfindlidi, son-
dern nur der Mensch als ein Wahrnehmungsding unter Wahrnehmungsdingen.
Die Traurigkeit des anderen Mensdien und der von ihm gesehene Baum ge-
hören nicht von meinem Standort aus zum Vorgefundenen, sondern eben nur
v o n dem Standort des anderen Mensdien aus, also einem Standort, den ich
nicht einnehme u n d den idi wegen meiner prinzipiellen und unaufhebbaren
Icheingeschlossenheit auch niemals erreichen kann. Der andere Mensch gehört
mithin nur soweit zu dem f ü r midi Vorgefundenen, als er bloßes „Gegen-
glied" meiner „Prinzipialkoordination", Bestandteil meiner U m w e l t ist; die
Ansicht, daß der andere Mensch nicht allein Bestandteil meiner Umwelt, also
bloßes „Ding" ist, sondern daß ich es hier mit einem anderen „Ich" als dem
Inbegriff von Zentralgliedern u n d einer zugehörigen „anderen" U m w e l t als
Inbegriff von Gegengliedern zu tun habe, ist zu der großen Klasse irgendwie
gearteter „Annahmen" zu rechnen. A V E N A R I U S spricht hier davon, d a ß in
dem „natürlichen Weltbegriff", sofern er sich auf die anderen Menschen be-
zieht, eine „Hypothese" eingeschlossen ist. „Der hypothetische Bestandteil
meines natürlichen Weltbegriffs l i e g t . . . darin, d a ß ich den mitmensdilidien
Bewegungen 1 4 , welchen - sofern sie nur als ein von meinem örtlichen Stand-
14
Zu den mitmensdilidien „Bewegungen" sind hier, wie AVENARIUS an anderer
Stelle (1912, S. 7) ausführt, audi die sprachlichen Äußerungen zu redinen, die, sofern
man sie als bloßes Gegenglied betrachtet, nur „Töne und Geräusche" sind, während
die Einordnung der sprachlichen Äußerungen als „Aussagen" die Annahme des Ge-
gebenseins einer fremden Prinzipialkoordination impliziert.
l s Man findet gelegentlich die Ansicht ausgesprochen, daß der „andere Mensch"
Sequenzen aus dem Tatbestand der Mittelbarkeit aller Aussagen über das
fremde Ich (mit zugeordneter Umwelt) zwei grundsätzlich verschiedene Wege
gehen. Man kann nämlich einmal das Postulat aufstellen, daß nichts anderes
als für den Forscher direkt Vorfindbares Gegenstand wissenschaftlichen For-
schens werden darf, demgemäß die fremde Prinzipialkoordination kurzer-
hand aus der Wissenschaft ausschließen und den anderen Menschen als bloßes
Gegenglied der je eigenen Prinzipialkoordination, mithin als bloßes „ D i n g "
ohne jede „mehr-als-mechanische" Bedeutung, betrachten. Man kann aber
auch von dem Postulat ausgehen, daß Aussagen über den anderen Menschen
als fremdes Ich, dem seine nur ihm unmittelbar zugängliche „Welt" zugeord-
net ist, trotz der unvermeidlichen Mittelbarkeit solcher Aussagen innerhalb
der wissenschaftlichen Psychologie zulässig sind.
Der erste der beiden geschilderten Wege, die Ausschaltung des „fremden Zen-
tralglieds" (mit zugeordneter „Welt") aus der wissenschaftlichen Psychologie
und die Behandlung des „anderen Menschen" samt seiner - verbalen und
nichtverbalen - Äußerungen als bloßes „Gegenglied" der „Prinzipialkoordi-
nation" des Forschers, mithin ohne jede „mehr-als-mechanische" Bedeutung,
ist, wie schon einsichtig geworden sein wird, der Weg des Behaviorismus als
allgemeiner psychologischer Denkrichtung. „The behaviorists have in com-
mon the conviction that a science of psychology must be based upon a study
of that which is overtly observable: physical Stimuli, the muscular movements
and glandulär secretions which they arouse, and the environmental products
which ensue. The behaviorists differ somewhat among themselves as to what
may be inferred in addition to what is measured, but they all exclude self-
observation (introspection) as a legitimate scientific method" (HILGARD 1958,
S. 48 ff.) 1 6 . Wenn wir im folgenden von „Behaviorismus" sprechen, so meinen
wir damit jede psychologische Lehre, welcher das Verbot der Benutzung
von Daten über den „anderen Menschen "als „fremdes Zentralglied" (mit zu-
geordnetem „Gegenglied") zugrunde liegt, einerlei, welche besondere Aus-
prägung eine solche Lehre sonst noch hat, und einerlei, ob sich die Vertreter
dieser Lehre selbst als „Behavioristen" bezeichnen oder nicht.
W i r wollen an dieser Stelle nicht etwa in eine ausführliche Diskussion der
verschiedenen behavioristischen Theorien eintreten; auch die Unterscheidung
zwischen „älterem" u n d „neuerem" Behaviorismus ist hier f ü r uns irrelevant.
Deswegen vernachlässigen wir auch die differenzierteren Gesichtspunkte, wie
sie in den kritischen Analysen beigebracht wurden, die z. B. von K A F K A (1932),
KÖHLER (1933, S. 1 - 2 2 ) , THOMAE (1954; 1955), WELLEK (1955b; 1959b)
u n d BERGIUS (1960) stammen. W a s wir allerdings im Interesse unserer wei-
teren Ausführungen leisten müssen, ist eine kritische Erörterung des genann-
ten, allem „Behaviorismus" gemeinsamen Verbotes der wissenschaftlichen
Verwertung von D a t e n über den anderen Menschen als „fremdes Zentral-
glied".
Die behavioristische Festlegung, daß nur das „von außen" konstatierbare
„Verhalten", nicht aber die „privaten" Erlebnisse des Menschen legitimer
Gegenstand der Psychologie sind, bezieht sich auf andere Menschen als Ge-
genstand psychologischer Forschung. Die „Prinzipialkoordination" gehört
hier dem „individuellen Forscher" an, das „Gegenglied" dieser „Prinzipial-
koordination" ist der „andere Mensch" als Forschungsgegenstand. Die Aus-
schaltung des „anderen Menschen" als „Zentralglied" einer eigenen „Prin-
zipialkoordination" geschieht mit dem Argument, daß nur das äußere
Verhalten eines Menschen intersubjektiv zugänglich sei, nicht aber sein „pri-
vater", nur ihm gegebener Erlebnisbestand. - W i r wollen es auf sich beruhen
lassen, ob die Behauptung der Intersubjektivität der „Gegenglieder" zu Recht
besteht, u n d statt dessen einen anderen Gesichtspunkt in die Diskussion ein-
führen.
Psychologie als Wissenschaft verwirklicht sich nicht nur in der Beziehung
zwischen dem je „individuellen Forscher" u n d dem Gegenstand seiner For-
schungsbemühungen, in diesem Falle dem „anderen Menschen"; Psychologie
ist - wie jede Wissenschaft - ihrem Wesen nach Mitteilung an andere; nur
durch das gesprochene oder geschriebene W o r t , das verstanden und berück-
sichtigt wird, ist Wissenschaft als Realität denkbar. Es ist also der genannten
Beziehung zwischen dem „individuellen Forscher" u n d dem „anderen Men-
schen" als Gegenstandsart der Psychologie eine andere zwischenmenschliche
Beziehung an die Seite zu stellen, nämlich die Beziehung zwischen dem „in-
dividuellen Forscher" und den „anderen Forschern" als Partnern der wissen-
schaftlichen Kommunikation. Auch innerhalb dieser Beziehung ist dem je
„anderen Menschen" als „fremdes Zentralglied" als illegitim ansieht, so wendet man
sich damit nicht nur gegen irgendeine Art von „Selbstbeobachtung", sondern man
schließt den Gesichtspunkt aus der Psychologie aus, nach welchem die „Erfahrungen"
eines Menschen, und zwar die „Erfahrungen" von ihm selbst und von der „Welt",
nur jeweils diesem Menschen selbst gegeben sind.
18
HEIDEGGER formuliert dieses Erkenntnisproblem mit aller Schärfe: „Ist ,Welt'
gar ein Seinscharakter des Daseins? Und hat dann ,zunächst' jedes Dasein seine
Welt? Wird so ,Welt' nicht etwas .Subjektives'? Wie soll denn noch eine .gemein-
same' Welt möglich sein, ,in' der wir doch sind? Und wenn die Frage nach der ,Welt*
gestellt wird, welche Welt ist gemeint?" (1927, S. 64).
19
Die Übernahme des „Lebensraum"-Begriffes bedeutet aber nicht, daß wir da-
mit irgendwelche anderen Konzepte der LEWiNsdien Feldtheorie mitübernehmen.
4. Abschließende Bemerkungen
Wir haben unsere Darstellung der drei Arten von Gegenständen der Psy-
chologie beendet. Es sollen nunmehr noch in übergreifender Betrachtung die
Beziehungen der drei Gegenstandsarten zueinander gekennzeichnet werden,
wobei wir uns kurz fassen können, weil wesentliche Hinweise auf die Relatio-
nen zwischen den drei Arten von Gegenständen bereits in den Einzelerörte-
rungen enthalten sind.
Wir vergegenwärtigen uns zunächst einen entscheidenden Unterschied
zwischen der Gegenstandsart „Erlebnisse als soldie" auf der einen Seite und
den Gegenstandsarten „anschauliche Welt" und „andere Menschen" auf der
anderen Seite. - Bei der Gewinnung der Gegenstandsart „Erlebnisse als
solche" nimmt man von dem für mich und nur für mich Vorgefundenen, der
Wirklichkeit meines Ich und meiner Welt den Ausgang. Dabei wird von dem
jeweilig inhaltlich konkreten Realitätscharakter des mir Gegebenen abgesehen
und der Blick auf den Umstand, daß dieses Gegebene mir in der Weise von
Erlebnissen gegeben ist, und auf die jeweils besondere Eigenart der Erlebnis-
weisen gerichtet. Bei der phänomenanalytischen Umschreibung soll die je
charakteristische Eigenart von Erlebnissen als solchen, wie sie mir gegeben
sind, durch die sprachliche Formulierung möglichst klar aufgewiesen werden,
damit eine Verständigung über das jeweils Gemeinte trotz der unaufhebbaren
„Jemeinigkeit" der Erlebnisse möglich ist. (Der Terminus „Jemeinigkeit"
stammt von HEIDEGGER.) Die Abhebung auf „Erlebnisse als solche" und die
Phänomenanalyse gehören also zu den Bemühungen um die Klärung von
Begrifflichem und damit die Vereindeutigung und Verfeinerung der sprach-
lichen Verständigung. - Bei der Gewinnung der Gegenstandsarten „anschau-
liche Welt" und „andere Menschen" dagegen wird der Blick nicht auf die
besondere Gegebenheitsweise der Realität für mich, sondern auf die jeweilig
konkrete, raumzeitlich besonderte Realität selbst gerichtet. Es geht hier nicht
um die Klärung von Begriffen über Gemeintes, sondern um die Erforschung
von „Tatsachen"; bestimmte empirisch-wissenschaftliche Allgemeinaussagen
über reale Verhältnisse - sei es die „anschauliche Welt" in Abhebung von der
„metrischen Weltform", seien es die „anderen Menschen" - werden formuliert
und in empirischem Forschen daraufhin überprüft, wieweit sie sich an den
realen Verhältnissen selbst realisieren lassen. - Aus diesen gegenüberstellen-
den Betrachtungen wird einsichtig, daß die Phänomenanalyse als allgemeines
Klärungsgeschäft dem Umgang mit den anderen beiden Gegenstandsarten
pragmatisch vorgeordnet ist, da die Verständigung darüber, was mit be-
stimmten Begriffen gemeint sein soll, eine Voraussetzung für die sinnvolle
empirische „Tatsachenforsdiung" darstellt. Mit dem Umstand der pragmati-
schen Vorgeordnetheit der Phänomenanalyse ist aber nun keinesfalls gesagt,
Wir kommen innerhalb unserer allgemeinen Ausführungen über die drei Arten
von „Gegenständen" der psychologischen Forschung nun noch auf die für spä-
tere Darlegungen wichtige Frage zu sprechen, ob und auf welche Weise inner-
halb der drei Gegenstandsarten der Psychologie die Möglichkeit zum Experi-
mentieren besteht. Dabei gehen wir die drei Gegenstandsarten einzeln durch
und behandeln zunächst die erste Gegenstandsart „Erlebnisse als solche".
Wenn man sich die von uns früher herausgearbeitete Eigenart der Phä-
nomenanalyse als den einzelwissenschaftlich-psychologischen Umgang mit
„Erlebnissen als solchen" vergegenwärtigt, so mag man zu dem Urteil ge-
langen, daß ein experimentierendes Vorgehen hier von vornherein unmöglich
ist. Die Phänomenanalyse ist, wie wir feststellten, ein im weitesten Sinne
„definitorisches" Verfahren, mit welchem eine Verständigung erreicht werden
soll über unsere Weise, von Erlebnissen zu sprechen. Es werden, so mag man
meinen, in der Phänomenanalyse Festlegungen oder Vereinbarungen über
Gemeintes angestrebt, die jedem experimentellen Handeln pragmatisch vor-
geordnet und demnach nicht selbst experimentell anzugehen sind; das Vor-
haben einer experimentellen Phänomenanalyse sei ungefähr genauso vernünf-
tig, als wenn man die Definition: „Der Fisch ist ein Wirbeltier mit Kiemen-
atmung" experimentell überprüfen wollte.
Die damit entwickelte Auffassung ist völlig korrekt, sofern man an das
eigentliche und „echte" Experimentieren denkt, d. h. das Verfahren, aus
„theoretischen Sätzen" „experimentelle Sätze" als „Behauptungen über Hand-
lungs-Ereignis-Relationen" herzuleiten und diese Behauptungen soweit wie
möglich herstellend zu realisieren, wonach Angaben über den empirischen Wert
des zur Frage stehenden „theoretischen Satzes" zu machen sind. Ein derartiges
Experimentieren ist tatsächlich innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse als
solche" von vornherein als unmöglich zu betrachten. Nun gibt es aber eine
zwar nicht im echten Sinne experimentelle, jedoch in gewisser Hinsicht ex-
perimentähnliche Verfahrensweise, die mit dem phänomenanalytischen Vor-
gehen durchaus zu vereinbaren ist und tatsächlich öfter in Verbindung mit
phänomenanalytischen Bemühungen angewendet worden ist. - Die Möglich-
keit zu einem solchen experimentähnlichen Verfahren ist durch eine besondere
Eigenart der Phänomenanalyse gegeben, und zwar eine Eigenart, welche das
phänomenanalytische Vorgehen von allen i. e. S. definitorischen Bemühungen
abhebt. Gemeint ist der Umstand, daß in der Phänomenanalyse die jeweils
zur Frage stehende Erlebnisweise nicht bloß zu bestimmen ist, sondern durch
6*
21
Wir übernehmen den Terminus „Veransdiaulichungsexperiment", da er uns be-
sonders glücklich und treffend scheint, wobei wir allerdings vor Verwechselungen und
Mißverständnissen warnen müssen, die daraus entstehen können, daß „Veranschau-
lichungsexperimente" nicht etwa innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche Welt",
sondern eben innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse als solche" angesiedelt sind.
22
Ein ähnliches Konzept wie „Veransdiaulichungsexperiment" ist der von BAADE
(1916, 1918) eingeführte Begriff .Darstellungsexperiment". Das „Darstellungsexpe-
riment" hat im Gegensatz zum „Kausalexperiment", das „ . . . einen Beitrag zur Er-
forschung der zwischen einem Objekt A und einem Objekt B bestehenden Kausal-
abhängigkeit liefert..." (1916, S. 7), die Funktion, „ . . . die direkte Beobachtung und
das Kennenlernen von psychischen Ereignissen . . . " zu ermöglichen (1916, S. 1). Der
Wert der BAADEschen Auseinanderlegungen wird indessen durch das Einfließen von
fragwürdigen wissenschaftstheoretischen und psychologischen Grundannahmen — auf
die hier nicht näher eingegangen werden soll — wesentlich beeinträchtigt.
der Vp. war die Instruktion erteilt worden, die Fragen jeweils mit einem „ J a " oder
einem „Nein" zu beantworten und den Denkvorgang, der zu dem „Ja" oder „Nein"
geführt hatte, dann möglichst genau und vollständig zu beschreiben; jede Äußerung
der Vp. wurde vom VI. protokolliert. BÜHLER fügte Zitate aus den Protokollen lau-
fend in seine Darlegungen über die Denkvorgänge ein.
Gegen die damit gekennzeichnete Vorgehens weise sind von WUNDT (1907) heftige
methodische Einwände erhoben worden — er nannte die BüHLERschen Versuche
„Scheinexperimente" und sprach verächtlich von der „Ausfragemethode" —, worauf
BÜHLER (1908b) seine Experimente verteidigte, was WUNDT (1908) zu einem neuer-
lichen Angriff auf BÜHLER veranlaßte. Innerhalb dieser Methodendiskussion ging
WUNDT autoritativ von seinen als absolut gültig gesetzten Vorstellungen über das
psychologische Experiment und über das Denken aus, während BÜHLER den Stand-
punkt einer „lebensnäheren", weniger durch dogmatische Festlegungen eingeengten
Psychologie vertrat. Wir brauchen indessen die Argumente der einen und der anderen
Seite an dieser Stelle nicht näher zu analysieren und gegeneinander abzuwägen, weil
die methodischen Probleme, um die es hier ging, unserer Auffassung nach sekundärer
Natur sind, und weil die besondere Eigenart und der systematische Ort der BüHLER-
schen Experimente weder von der einen noch von der anderen Partei erfaßt wur-
den. — Die Frage, von deren Beantwortung die Einordnung der BüHLERschen Vor-
gehensweise ganz und gar abhängt, lautet: Ist die Heranziehung der durch die
geschilderten Anordnungen gewonnenen Protokolle ein entscheidendes Charakteristi-
kum der Gedankenführung BÜHLERS, oder können die Protokolle auch einfach weg-
bleiben, ohne daß sich dabei an der prinzipiellen Eigenart der BÜHLERJCAC» Dar-
legungen etwas ändert? Es läßt sich nun leicht aufzeigen, daß die Ausführungen
'BÜHLERS als phänomenanalytische Klärungsbemühungen einzuordnen sind, einerlei,
ob dabei die Protokolle mit in Betracht gezogen werden oder nicht. Phänomenale
Umschreibungen wie die der Besonderheit der „Gedanken" als unanschaulicher Er-
lebnisweisen in Abhebung von den anschaulichen Vorstellungen sind nur möglich im
Blick auf den eigenen Erlebnisbestand; es geht hier um den Aufweis, was von „jeweils
mir" mit den zur Frage stehenden Erlebnisbegriffen gemeint ist. Daran ändert sich
auch nichts, wenn dabei die Äußerungen anderer Menschen herangezogen werden.
BÜHLER befand sich in einem fundamentalen Irrtum, wenn er glaubte, daß es mit
der von ihm angewandten Methode gelingen könne, „ . . . die psychischen Tatsachen
des Denkens unmittelbar selbst zu erfassen" (1907, S. 299). Was ihm, BÜHLER, vor-
liegt, das sind notwendigerweise nur die Aussagen seiner Vpn. über ihre Erlebnisse;
die Erlebnisse selbst haben natürlich immer nur die je individuellen Vpn. Die Heran-
ziehung der Protokolle bedeutet also nicht etwa eine irgendwie geartete Bestätigung,
Sicherung oder auch nur Prüfung der BüHLERschen Feststellungen. Was hier legitimer-
weise möglich ist, ist lediglich der Hinweis, daß, den Protokollen nach zu urteilen,
sich im Erlebnisbestand der Vpn. anscheinend ähnliche Phänomene vorfinden wie
diejenigen, die BÜHLER in seinen phänomenanalytischen Umschreibungen aufweisen
will. Die Protokollzitate haben hier also lediglich illustrative, „veranschaulichende"
Bedeutung. — Die Beziehung zwischen BÜHLER und seinen Versuchspersonen unter-
scheidet sich im Prinzip nicht von der Beziehung, in welcher verschiedene Forscher
stehen, die sich über das mit bestimmten Erlebnisbegriffen Gemeinte auf phänomen-
analytischem Wege verständigen wollen; der Umstand, daß die Vpn. ihre Erlebnisse
nicht selbst fixieren und phänomenanalytisch auswerten, sondern daß das durch
BÜHLER geschieht, macht in diesem Zusammenhang keinen Unterschied. Es ist offen-
sichtlich, daß eine „Verständigung über Gemeintes", die unserer bereits begründeten
Auffassung nach als das Ziel phänomenanalytischer Bemühungen anzusehen ist, zwi-
schen BÜHLER und seinen Vpn. in Hinsicht auf die besondere Eigenart der „Gedanken-
sie BÜHLER durchgeführt hat, ähnlich wie wir, wenn er feststellt: „Es handelt sich ge-
wissermaßen nur noch um eine geregelte Form der Konversation und Verständigung
über ein Thema, die die Sache im Grunde nicht .exakter', ja auch nicht wissenschaft-
licher macht als das schlichte einsame Nachdenken darüber ,am Schreibtisch'" (1955a,
S. 196).
24
Wir behalten den unglücklichen Terminus „Versuchsperson" samt der Abkür-
zung „Vp." bei, weil diese Bezeichnungen seit langem innerhalb der deutschsprachigen
Psychologie eingebürgert sind.
für seine theoretischen Überlegungen nimmt. Wenn aber hier die „Versuchs-
person" auch nicht notwendig in die experimentelle Situation einbezogen
werden muß, so müssen doch in den allermeisten Fällen zur sinnvollen
Durchführung von Experimenten innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche
W e l t " außer dem Experimentator noch andere Menschen, mithin „Vpn.", als
„Beobachter" in die experimentelle Anordnung hineingenommen werden. -
Bei der Durchführung von Experimenten innerhalb des Gegenstandsbereiches
„andere Menschen" ist sehr häufig durch die Fragestellung und durch Erfor-
dernisse der Versuchsplanung die Heranziehung von „Versuchspersonen" er-
forderlich. Immerhin sind auch hier, wenn auch nur als Grenzfall, Versuchs-
anordnungen denkbar, in welche der Experimentator selbst sich als einzige
„Quasi-Versuchsperson" einführt. (Man denke dabei nur an die in diesem Zu-
sammenhang immer wieder zitierten EBBINGHAussehen Experimente [ 1 8 8 5 ] ,
die zur Grundlage für die psychologische Gedächtnisforschung geworden sind;
diese Experimente führte EBBINGHAUS ausschließlich an sich selbst durch.)
Wenn nun also, wie aus unseren zusammenfassenden Darlegungen hervor-
geht, psychologisches Experimentieren auch keineswegs mit dem Experimen-
tieren unter Einbeziehung von „Versuchspersonen" identisch ist, so kann doch
die „Versuchsperson" praktisch als eine Art „Schlüsselfigur" innerhalb der
Problematik des psychologischen Experiments angesehen werden.
An dieser Stelle kommen wir auf einen Vorwurf zu sprechen, der dem
experimentierenden Psychologen besonders von philosophischer Seite öfter
gemacht wird, nämlich daß er den Menschen, indem er ihn zur „Versuchs-
person" mache, auf unzulässige Weise „vergegenständliche" und ihn damit
seiner Würde als Mensch beraube. So kritisiert etwa LITT auf herbe Weise die
„naturwissenschaftliche Psychologie", die als eine „vergleichgültigende Ob-
jektwissenschaft" (1953, S . 5 6 1 ) sich, durch das Vorbild der „exakten Natur-
wissenschaften" verführt, zum Ziele gesetzt habe, „ . . . das Subjekt zum
- Objekt zu formieren" (1953, S.559). Dadurch sei der experimentierende Psy-
chologe in dauernder Gefahr, sich von seiner Bindung und Verpflichtung
gegenüber seinem Mitmenschen auf verantwortungslose Weise zu entlasten.
„Das Verhältnis zu meinesgleichen hat es nun einmal an sich, daß es zwischen
meinem inneren Schicksal und demjenigen meines Partners eine tiefgehende
Solidarität der Verantwortung stiftet. Diese Solidarität zu vergessen und die
aus ihr entspringenden Verpflichtungen in den W i n d zu schlagen bin ich
immer dann in Versuchung, wenn ich gegenüber meinesgleichen die Haltung
des prüfenden und berechnenden Beobachters einnehme" (LITT 1948, S. 202).
Derartige Auffassungen, die dem der psychologischen Forschungsarbeit
Fernstehenden als reiner Ausdrude der Sorge um den Menschen erscheinen
mögen, haben für den experimentierenden Psychologen stets etwas tief Ver-
ärgerndes und Verletzendes, da hier seine Bemühungen auf globale Weise
verdächtig gemacht werden und ihm die Besorgtheit um den Menschen, von
der Vi. nicht der Vp. als Individuum gegenüber ein, seine „Prüfungen" und
„Berechnungen" gelten vielmehr den Daten, welche die Vp. ihm über das
gerade untersudite psychologische Problem liefern soll oder geliefert hat. Die
„ Vp." wird also hier keinesfalls „zum - Objekt formiert", sondern gerade in
ihrer Funktion als „Subjekt" angesprochen. Angemessen gekennzeichnet ist
die Beziehung Vi. - Vp. durch die Feststellung, daß es sich dabei um ein Ver-
hältnis der Zusammenarbeit handelt. Die Vp. hat sich in den allermeisten
Fällen aus freien Stücken dazu entschlossen, dem Experimentator bei seinen
Untersuchungen zu helfen - aus welchen Motiven dieser Entschluß auch immer
entstanden sein mag. Dabei ist der Vi. ganz und gar auf den guten Willen und
die Kooperationsbereitschaft seiner Vpn. angewiesen. Wenn die Vpn. nicht
„mitmachen" wollen, wird er niemals seine wissenschaftlichen Ziele erreichen.
Unabhängig von der, wie wir gesehen haben, unsinnigen Behauptung, daß
der Mensch als „Versuchsperson" notwendigerweise vom „Subjekt zum
- Objekt formiert" werde, ist nun allerdings das Problem, ob es nicht be-
stimmte „Mißbräuche" beim Experimentieren mit „Vpn." gebe. Von solchen
„Mißbräuchen" mag man etwa sprechen, wenn den „Versuchspersonen" vom
Experimentator besondere Belastungen oder Entbehrungen zugemutet wer-
den, wenn der Experimentator den Vpn. nicht die Wahrheit sagt und wenn
die Vpn. vom Experimentator ohne ihr Wissen beobachtet werden. Wieweit
man die den Vpn. zugemuteten Belastungen und den Umstand, daß den Vpn.
vom Experimentator nicht die Wahrheit gesagt wird, als „Mißbräuche" be-
trachten muß, das hängt u. a. davon ab, wie „gut" man mit seinen Vpn. „steht",
bis zu welchem Grade man also ihre Hilfsbereitschaft strapazieren kann bzw.
wieweit die „Unwahrheit", die man den Vpn. sagt, sich nur auf sachlidie
Gegebenheiten bezieht oder persönliche Bereiche tangiert. Selbst im ungün-
stigsten Falle wird man hier aber nicht von einer „Entwürdigung" des Men-
schen reden können, da die experimentelle Situation für die „Vp." ja keine
„Ernstsituation" darstellt, sondern den Charakter einer bloßen „Durchgangs-
situation" trägt, die keinerlei Folgen für das „eigentliche" Leben der Vp. hat;
es geht hier ja eben nicht um die „Vp." selbst, sondern um ein „Problem". Die
unbemerkte Beobachtung der Vp. erscheint uns allerdings, wenn auch nicht
geradezu als eine „Entwürdigung", so doch als eine grobe Taktlosigkeit, die
audi durdi die sachlichen Motive des Experimentators nicht zu rechtfertigen
ist und ganz aus der experimentellen Forschungspraxis verschwinden sollte.
Generell ist hervorzuheben, daß die damit genannten möglichen „Miß-
bräuche" bei psychologischem Experimentieren nur in seltenen Sonderfällen
überhaupt diskutabel sind, wobei diese Sonderfälle vermieden werden kön-
nen, ohne daß das von wesentlicher Bedeutung für die experimentell-psycho-
logische Forschung ist. Die Kennzeichnung der experimentellen Vorgehens-
weise in der Psychologie durch Hinweis auf die „Mißbräuche" ist also
ungerechtfertigt und unsachlich.
Eine gänzlich andere Problemlage ist nun allerdings gegeben, wenn man
die Betrachtung nicht gleich uns auf die grundwissenschaftliche Psychologie
beschränkt, sondern sein Augenmerk auf den U m g a n g mit Menschen richtet,
wie er innerhalb der im weitesten Sinne angewandten Psychologie gepflogen
wird. Hier ist nämlich der konkrete individuelle Mensch nicht wie in der
grundwissenschaftlichen Forschung stets nur Medium zur Klärung „sachlicher"
Probleme, vielmehr meint man in weiten Bereichen angewandt-psychologi-
schen Handelns, so innerhalb der gesamten Psychodiagnostik, den Menschen
als „privates" Individuum selbst. Beim psychodiagnostischen Einsatz von
Testverfahren etwa, der dem Laien häufig als Inbegriff psychologischen Tuns
überhaupt erscheint, geht es tatsächlich um nichts weiter als um die Erfassung
der Leistungsmöglichkeiten, der Weise der Daseinsbewältigung und u. U . auch
der Lebensprobleme von „ H e r r n X . " als jeweiligem individuellen „Proban-
den". D a s Interesse an „Herrn X . " entspringt hier, obgleich bei der psycho-
diagnostischen Bemühung wissenschaftliche Denkmittel und Verfahrensweisen
angewendet werden können, außerwissenschaftlichen, „praktischen" Zielset-
zungen. - Mit der Feststellung, daß innerhalb der angewandten Psychologie
häufig der konkrete andere Mensch nicht nur als „Medium", sondern als „pri-
vates" Individuum selbst gemeint ist, soll natürlich keinesfalls gesagt sein,
daß deshalb der Mensch wenigstens in diesem Bereich psychologischen H a n -
delns notwendigerweise „ v o m Subjekt zum - Objekt formiert" und damit in
seiner menschlichen W ü r d e angetastet wird. So sind etwa alle Arten an-
gewandt-psychologischer Bemühungen, die eindeutig als im Dienste der H i l f e
für den Menschen stehend ausgewiesen werden können, von vornherein von
dem Verdacht der „Verdinglichung" des Menschen freizusprechen. Gleichwohl
aber hat das Problem der Entpersönlichung und damit Entwürdigung des
individuellen Einzelmenschen, wenn es nicht im Rahmen der grundwissen-
schaftlichen, sondern der angewandten Psychologie abgehandelt wird, unver-
hältnismäßig mehr Ernst und Schwere. Der praktisch arbeitende Psychologe
ist nämlich tatsächlich innerhalb mancher seiner Wirkungsbereiche in der Ge-
fahr, im Dienst von Instanzen, die an der - sei es wirtschaftlichen, sei es politi-
schen - Einplanung des Menschen unter Ausschaltung seines freien Willens
interessiert sind, sich in seiner beruflichen Sphäre von der Bindung und Ver-
pflichtung gegenüber jedem einzelnen seiner Mitmenschen zu entlasten, und
es gehört hier zu den schwersten persönlichen Problemen, denen der Psycho-
loge sich zu stellen hat, wie er die Loyalität gegenüber seinem Dienstherrn,
von dem er bezahlt wird, mit seiner mitmenschlichen Verantwortung ver-
einbaren könne. Jeder Mißbrauch der Psychologie und der Psychologen
zur nivellierenden „Vergegenständlichung" und damit Entwürdigung des
Einzelmenschen muß mit genau der Leidenschaft und Unerbittlichkeit be-
kämpft werden, mit denen etwa LITT die experimentell forschende Psycholo-
gie überhaupt angreift. W a s wir Argumentationsweisen wie den L n r s c h e n
zum Vorwurf machen, ist nicht ein Mangel an Einsicht in die Gefährdungen
des Menschen und an gutem Willen, diesen Gefährdungen steuern zu helfen.
Man richtet jedoch hier seinen Blick - noch dazu auf vergröbernde Weise -
ausschließlich auf gewisse Probleme innerhalb umgrenzter Teilgebiete der an-
gewandten Psychologie, im wesentlichen der Psychodiagnostik, erweckt aber
mit jeder Formulierung den Anschein, als wenn durch seine kritischen Fest-
stellungen „die" ganze Psychologie betroffen wäre; es findet sich nirgends ein
Hinweis darauf, daß der Kernbereich der Psychologie, nämlich die grund-
wissenschaftliche psychologische Forschung, von all den verdächtigenden Dar-
legungen über die Entpersönlichung und damit Entwürdigung des Mitmen-
schen usw. überhaupt nicht berührt wird. Darin kommen eine Abhängigkeit
von in der „öffentlichen Meinung" gängigen Verwechselungen gewisser,
äußerlich vordergründiger „angewandter" Teilgebiete der Psychologie mit
der Psychologie selbst, eine Unvertrautheit mit dem Ausmaß und dem Ge-
wicht der grundwissenschaftlichen psychologischen Forschung und damit eine
sachliche Oberflächlichkeit und Sorglosigkeit zum Ausdruck, die innerhalb
von Ausführungen, welche geeignet sind, eine ganze Wissenschaft und deren
Vertreter zu diffamieren, nicht entschuldigt werden können 20 .
26
Dieser Vorwurf ist z. B. auch gegenüber der — im übrigen streckenweise äußerst
scharfsinnigen und erhellenden — Abhandlung von KUNZ (1957) „Über den Sinn und
die Grenzen des psychologischen Erkennens" zu erheben. KUNZ stellt zwar in einem
seltsam angeklebt wirkenden und möglicherweise als Berücksichtigung fremder Be-
denken ex post formulierten, einschränkenden Passus fest, daß „...die im enge-
ren Sinne experimentelle Psychologie..." in seinem Aufsatz „...kaum zu Worte
kommt...", was KUNZ seltsamerweise als „eine Folge der besonderen Themastellung"
seiner Arbeit bezeichnet (S. 7), und er klammert damit in gewisser Hinsicht die
„Psychologie selbst" aus seiner Betrachtung aus. Er nimmt sich aber sodann nach
einigen vergröbernden Darlegungen über die „Schamlosigkeit und die Unverantwort-
lichkeit" innerhalb der, wie er selbst zugibt, ihm nicht sonderlich vertrauten psycho-
logischen „Testpraxis" das Recht zu folgender Feststellung: „Alles spricht dafür, daß
an der Testpraxis nur am aufdringlichsten sichtbar wird und den lautesten Widerhall
im Publikum gefunden hat, was stiller und verborgener die ganze moderne Psycho-
logie durchsetzt: das langsame Abbröckeln jenes Bodens, aus dem sich die reine Ge-
sinnung des eigentlichen Erkennens nährt...", wobei KUNZ eben die „Schamlosigkeit
und die wissenschaftliche Unverantwortlichkeit als die zwei Grundzüge dieses Pro-
zesses" heraushebt (S. 10). Damit macht KUNZ die Einschränkung in der Vorbemer-
kung seines Buches wieder rückgängig und verleiht, indem er von einem ihm nicht
voll vertrauten, sehr engen Teilgebiet der Psychologie unsachgemäß Folgerungen auf
das ihm wohl kaum besser vertraute Gesamt der einzelwissenschaftlichen Psycho-
logie ableitet, seinen für sich schon schlecht begründeten, verdächtigenden Ausführun-
gen ein Gewicht und eine Relevanz, die ihnen tatsächlich nicht zukommen. KUNZ ist
hier möglicherweise das Opfer des Umstandes geworden, daß die grundwissenschaft-
liche psychologische Arbeit, wie jede i. e. S. wissenschaftliche Arbeit, überhaupt keinen
„Widerhall im Publikum" findet, sondern in der Stille vor sich geht, und man sich
demnach ein angemessenes Bild über die Psychologie nicht nach dem, was „man so
hört" oder liest, schaffen kann, sondern daß man sich dazu in intensivem Zeitschriften-
7 Holzkamp