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B.

E X K U R S Ü B E R D E N D R E I F A C H E N
G E G E N S T A N D DER P S Y C H O L O G I E

Vorbetrachtung

Wir haben im ersten Hauptteil unsere nichtempiristisdie wissenschaftstheore-


tische Gesamtkonzeption in groben Umrissen dargelegt und von dieser Kon-
zeption aus den systematischen Ort und die allgemeine Eigenart der Auf-
gabenstellung dieses Buches herausgearbeitet, wobei wir die Beziehung
zwischen „Theorie" und „Experiment" als eine Beziehung zwischen „theore-
tischen Sätzen" und „experimentellen Sätzen" spezifizierten und das entschei-
dende Problem der „Bedeutsamkeit" oder des „Aussagewertes" möglicher
experimenteller Befunde für theoretische Annahmen als Problem der „Re-
präsentanz" der Realitätsaussagen in „experimentellen Sätzen" für die Reali-
tätsaussagen in „theoretischen Sätzen" näher charakterisierten. Im zweiten
Hauptteil werden wir der Eigenart und Bedeutung des „Repräsentanz"-Pro-
blems innerhalb der psychologischen Experimentalforschung bis in die Einzel-
heiten nachgehen.
Bevor wir dazu kommen, müssen wir jedoch in einem eingeschobenen
Exkurs eine für die weiteren Erörterungen unerläßliche Vorfrage diskutieren,
nämlich die Frage, welchen „Gegenstand" die Psychologie denn eigentlich
habe (wobei in dem Begriff „Gegenstand" hier natürlich nichts von „Ding"
oder „Sache" mitgemeint ist; „Gegenstand" heißt in diesem Zusammenhang
lediglich das irgendwie geartete „Etwas", mit dem die Psychologie sich be-
schäftigt). Über den Gegenstand der Psychologie herrscht innerhalb und
außerhalb des Faches immer noch beträchtliche Uneinigkeit. Die immer wieder
unternommenen Versuche, aus dieser Uneinigkeit über den Gegenstand der
Psychologie einen Ausweg zu finden, scheinen uns - soweit sie uns bekannt
sind - durchweg nicht voll befriedigend zu sein. Da wir nun ohne eine gewisse
Klarheit darüber, womit sich die Psychologie denn eigentlich beschäftigt,
kaum Aussicht haben, das „Repräsentanz"-Problem bei psychologischem Ex-
perimentieren angemessen zu behandeln, bleibt uns nichts anderes übrig, als
die Frage nach dem Gegenstand der Psychologie selbst noch einmal zu durch-
denken, wobei wir uns allerdings, eben weil wir beim Verfolgen dieser Frage
uns außerhalb der engeren Zielsetzung dieses Buches befinden, kurz fassen
und auch bei der Heranziehung fremder Arbeiten Beschränkungen auferlegen
werden.
Bei den folgenden Erörterungen werden wir die Feststellung, daß sich die
Psychologie mit der „Seele", mit „seelischen", „psychischen" Erscheinungen

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Vorbetrachtung 39
u. ä. beschäftigt, grundsätzlich vermeiden, und zwar deswegen, weil diese Fest-
stellung ohne nähere Bestimmung, was unter „Seele", „seelisch", „psychisch"
verstanden werden soll, nicht mehr beinhaltet, als daß „Psychologie" eben
„Psychologie" sei; man müßte hier also andere Begriffe zur Verdeutlichung
des Gemeinten heranziehen; es erscheint uns nun aber sinnvoll, diese verdeut-
lichenden Begriffe direkt zur Bestimmung des Gegenstandes der Psychologie
anzusetzen, also auf die „Dazwischenschaltung" der Worte „Seele", „see-
lisch", „psychisch" zu verzichten. Damit ist durch die Viclbezüglichkeit und
Inhaltsarmut dieser Worte kaum etwas verloren, es sind aber viele Anlässe
zu Irrtümern und Mißverständnissen beseitigt.1
Die „Gegenstände" der einzelnen Wissenschaften sind nicht etwa - wie es
dem naiven Verstände vielleicht scheinen mag - in der Alltagswirklichkeit ein-
fach „da", so daß die Wissenschaften die Alltagswirklichkeit nur noch wie ein
Stück Torte unter sich aufzuteilen brauchten. Die jeweiligen wissenschaftlichen
Gegenstandsgebiete sind vielmehr vor dem Einsatz des je besonderen einzel-
wissenschaftlichen Fragens noch gar nicht gegeben. Es gibt keinen „Gegen-
stand" der Physik ohne die Physik. Nur durch bestimmte für den Charakter
einer Wissenschaft grundlegende Denkoperationen wird der je spezielle „Ge-
genstand" dieser Wissenschaft überhaupt erstaus der vorwissenschaftlichen All-
tagswirklichkeit „gewonnen", indem man die Alltagswirklichkeit durch Reali-
sation der Grunddenkansätze der Wissenschaft seligierend umgestaltet. Der
Gegenstand der Physik etwa besteht nicht in irgend etwas „draußen" in der
natürlichen Welt, sondern in eben jenen technisch-handwerklich hergestellten,
zu wesentlichen Teilen aus Meßgeräten bestehenden Versuchsanordnungen,
die das Realisationsprodukt bestimmter theoretischer Ideen sind und mit denen
die Physiker allein als mit dem „Gegenstand" ihrer Wissenschaft umgehen.
Wenn man die Eigenart des Gegenstandes einer Wissenschaft angemessen
verstehen will, so muß man die genannten je wissenschaftsspezifischen Denk-
operationen der „Gegenstandsgewinnung" analysierend erfassen.
Bei unseren Bemühungen um Klärung der Frage nach dem Gegenstand
der Psychologie muß es uns also darauf ankommen, die Operationen, durch
welche dieser Gegenstand aus der Alltagsrealität „gewonnen" wird, möglichst
genau zu kennzeichnen. - Bei näherem Hinsehen auf das, womit man sich
in der Psychologie tatsächlich beschäftigt, erwies es sich nun, daß der Gegen-
stand der psychologischen Forschung keinesfalls durch Aufweis einer einzigen
Operation der Gegenstandsgewinnung hinreichend gekennzeichnet werden
kann, sondern daß dazu der Rückgriff auf mindestens drei Arten solcher

1 Zu dem — etwa von WELLEK (1950) — aufgeworfenen Problem, wieweit man

eine „Psychologie ohne Seele" konzipieren solle, haben wir damit keinesfalls Stellung
genommen, da sich das bei WELLEK erörterte Problem ohne irgendwelche Einbußen
an Prägnanz oder Differenziertheit auch ohne die Heranziehung des Begriffes „Seele"
aufweisen läßt.
4 Holzkamp GSt

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40 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
Operationen nötig ist. Auf der anderen Seite hinderte uns aber ein gewisser
innerer Zusammenhang, der zwischen den durch die drei Operationsarten ge-
wonnenen Gegenstandsarten zu bestehen scheint, daran, einfach von drei
Gegenständen der Psychologie zu reden. So kamen wir zu der Formulierung
von dem „dreifachen Gegenstand der Psychologie". Wir wollen jetzt die drei
Gegenstandsarten der Reihe nach durchsprechen.

I. „Erlebnisse als soldie" („Phänomene")


als Gegenstandsart der Psychologie

1. Unklarheiten über den Sinn der „phänomenalen" Vorgehensweise


in der Psychologie

Als erste Art von Gegenständen, mit welchen sich die psychologische For-
schung beschäftigt, nennen wir die „Erlebnisse als solche". Die Gegenstandsart
der „Erlebnisse als solche" - die, in einer bestimmten Bedeutung des Wortes,
auch „Phänomene" genannt werden - ist dadurch zu gewinnen, daß man von
der konkreten, zeiträumlich besonderten Wirklichkeit der Welt „in" mir und
„um" mich, wie sie im Alltag vorliegt, absieht und den Blick auf den Um-
stand, daß diese Wirklichkeit mir in der Weise von Erlebnissen gegeben ist,
und des weiteren auf die jeweils charakteristische Eigenart dieser Erlebnisse
richtet. Von dieser Betrachtungsweise aus ist die in der allgemeinen Weltsicht
vordergründige Tatsache, daß ich jetzt traurig bin oder daß dort eine far-
bige Postkarte liegt, nicht von Interesse; es geht hier darum, die besondere
Eigenart des Erlebnisses „Traurigkeit" oder „Farbigkeit" überhaupt aufzu-
weisen.
Die beschriebene Operation der Gewinnung des Gegenstandes „Erleb-
nisse als solche" durch Absehen von der alltäglichen Realität unserer Welt
und die Heraushebung ihrer Gegebenheitsweise bilden in radikaler und
„reiner" Form das Fundament der phänomenologischen Philosophie. H u s -
SERL hat die phänomenologische Grundoperation der „Ausschaltung", „Ein-
klammerung" der natürlichen Einstellung und damit schließlich der Gewin-
nung des „reinen Bewußtseins" in vollkommener Klarheit dargestellt (vgl.
etwa HUSSERL 1913, S. 53 ff.). Wir brauchen jedoch innerhalb unserer Er-
örterungen über den Gegenstand der einzelwissenschaftlichen Psychologie
diesen ausschließlich philosophischen Gedankengängen nicht im einzelnen
nachzugehen.
Welchen wissenschaftlichen Sinn, welche Legitimität von allgemeineren
wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten aus hat nun aber die Beschäfti-
gung mit „Erlebnissen als solchen" innerhalb der Psychologie? Wir machen

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.Erlebnisse als solche" 41

uns zunächst klar, daß wir dieser Frage durch Rückgriff auf die Funktion,
welche der Phänomenologie in der Philosophie zugewiesen wird, nicht bei-
kommen können. Für die philosophische Phänomenologie wird der Anspruch
erhoben, daß hier der Aufweis von irgendwie gearteten fundamentalen Letzt-
heiten unseres Erlebens und Erkennens möglich ist, daß hier Wesenheiten ge-
fördert werden können, die den Charakter absoluter Gewißheit tragen, weil
sie in jede besondere Feststellung über Erkenntnisse oder „Erfahrungen"
immer schon mit eingehen. H U S S E R L spricht von der Phänomenologie als
„einer Wissenschaft der ,Ursprünge'" (1913, S. 108). Wir wollen uns in die
Diskussion darüber, wieweit und auf welche Weise der damit gekennzeichnete
Anspruch der Phänomenologie zu rechtfertigen ist, nicht mit voreiligen Stel-
lungnahmen einmischen. Für uns ist es hinreichend, wenn wir feststellen, daß
die Psychologie niemals auf Letztheiten, erste Fundamentierungen, Apriori-
täten irgendwelcher Art ausgeht, sondern es als Einzelwissenschaft stets mit
Abgeleitetem, bereits Ausgesondertem, anderweitig Fundiertem zu schaffen
hat. Demnach kann sie die Zielsetzungen der philosophischen Phänomenolo-
gie nicht zum Aufweis des Sinnes irgendeiner ihrer Vorgehens- und Denk-
weisen, auch nicht des Rekurses auf „Erlebnisse als solche" heranziehen. Zur
deutlichen Kennzeichnung der damit getroffenen Ausgrenzung und zur Ver-
meidung unerlaubter Grenzüberschreitungen der Psychologie wollen wir hier
eine terminologische Unterscheidung vornehmen. Wir sprechen, soweit „Er-
lebnisse überhaupt" zum Gegenstand von Bemühungen innerhalb der einzel-
wissenschaftlichen Psychologie gemacht werden, nicht von „Phänomenologie",
„phänomenologischer Methode" o. ä., sondern benutzen weniger prätentiöse,
hier und da bereits gebrauchte Termini wie „Phänomenanalyse", „phäno-
menale Betracht ensiveise" o. ä.
W e n n also die Frage nach dem Sinn phänomenanalytischen Vorgehens
durch Hinweis auf Letztbegründungsabsichten irgendwelcher Art nicht be-
antwortet werden kann, wie will man dann die Funktion und Berechtigung
der Beschäftigung mit „Erlebnissen als solchen" innerhalb der Psychologie
umschreiben? Bei den vorliegenden Versuchen, den Sinn und die Eigenart des
phänomenalen Vorgehens klarzulegen, findet sich oft mehr oder weniger ex-
plizit der Hinweis auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung des „Erlebnis-
aspektes" in der Psychologie und damit die Absetzung von einer bloß be-
havioristisch-„operationistischen" Grundhaltung (vgl. dazu bes. W E L L E K ,
etwa 1955b). Zur Kennzeichnung der phänomenalen Betrachtung werden
darüber hinaus im wesentlichen drei allgemeine Bestimmungen getroffen: Das
phänomenale Vorgehen ist ein schlichtes Hinsehen auf die Erlebnisgegeben-
heiten, dadurch mitgemeint ist eine weitgehend theoriefreie Betrachtung des
Gegebenen - diese beiden Bestimmungen werden in dem Terminus schlichte
„Beschreibung" oder „Deskription" zusammengefaßt - die „Deskription"
richtet sich dabei auf das im Erleben unmittelbar Vorgefundene.
4*

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42 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
Nach KIRCHHOF? (1958, S. 67) ist die phänomenale Vorgehensweise das „... in
wirklichkeitsoffener Erkenntnisgesinnung gründende Verfahren einer radikal Vor-
urteils- und deutungsfreien Materiengewinnung und -formung durch Deskription,
Analytik und (eidologisch-) abstraktive Verdichtung des in der psychologischen Re-
gion (mithin im Feld von Erleben und Verhalten) (unmittelbar) Antreffbaren...".
HERRMANN (I960, S. 113) ergänzt dazu von einem etwas anderen Aspekt aus: „Phä-
nomenale Aussagen sind vergleichsweise schlichte Deskriptionen des Faktischen;
funktionale (theoretische) Aussagen tragen an ein Phänomen die Schablone mit-
gebrachter Ordnungsgesichtspunkte heran...". LERSCH (1956) kommt über das phä-
nomenale Vorgehen zu folgender Formulierung: „Die Aufgabe der phänomenolo-
gischen Erhellung wird damit erfüllt, daß die seelischen Inhalte in ihrem unmittel-
baren Gegebensein, gleichsam in ihrem inneren Antlitz betrachtet und in den wesent-
lichen Zügen dieses Gegebenseins bestimmt werden" (S. 37). Damit haben wir hier
nur drei Äußerungen über die Eigenart und den Sinn des phänomenalen Vorgehens
wiedergegeben; wir wollen es dabei bewenden lassen und auch keine genaue Analyse
der angeführten Formulierungen auf dem Hintergrund der umfassenderen Konzep-
tionen der genannten Forscher vornehmen.

Die Arbeiten, aus denen die angeführten Bestimmungen der phänomena-


len Vorgehensweise entnommen sind, u n d viele ähnlich gerichtete, von uns
nicht genannte Abhandlungen sind zumeist sehr differenziert angelegt u n d
stehen auf beachtlichem formalen Niveau. Dennoch sind die hier benutzten,
von uns nicht im einzelnen darzustellenden Argumente, wie uns scheinen will,
eigentlich nur f ü r den überzeugend, der ohnehin die gleichen Grundansichten
wie die Autoren hat, der sozusagen aus dem „gleichen Lager" kommt. Die
Gedankengänge sind jedoch zu wenig eindeutig und zwingend, um einen For-
scher, der bisher der Ansicht war, d a ß er ohne die phänomenale Vorgehens-
weise auskommen könne, zur Änderung dieser seiner Ansicht zu bringen. Die
phänomenale Betrachtensweise steht deshalb - m a n sollte sich darüber nicht
hinwegtäuschen - gegenwärtig weitgehend außerhalb der internationalen
wissenschaftlichen Diskussion. - W a s wollte m a n vom Standpunkt der phä-
nomenalen Vorgehensweise, wie wir sie kurz gekennzeichnet haben, z. B. auf
die direkt u n d „naiv" gestellte Frage antworten, wo denn n u n eigentlich die
angeblich so schlicht u n d unmittelbar beschreibbaren „Phänomene" seien; man
solle sie doch einmal zeigen, damit sie jeder sehen könne. W e n n etwa L E R S C H
(1956) v o n der „Langeweile" in phänomenaler Betrachtensweise aussagt, sie
stellt „ . . . gleichsam den N u l l p u n k t des Lusterlebens dar - sie ist absolute
Lustlosigkeit, dabei aber immer durchtönt von einer E r w a r t u n g der L u s t . . . "
(S. 197): was wollte m a n gegen die A n f r a g e ausrichten, w o sich denn die von
L E R S C H hier so „schlicht" „beschriebene" Langeweile befindet und ob es sich
nicht letzten Endes n u r um LERSCHS eigene Langeweile handelt, die er hier
beschreibt, womit denn etwa ein Buch wie „Aufbau der Person" in seinen
phänomenalen Teilen eigentlich ein Buch über P H I L I P P L E R S C H wäre. Wie
wollte man sich weiter gegen die Behauptung schützen, d a ß die phänomenalen
Darlegungen mit Wissenschaft wenig zu tun hätten u n d genau genommen

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.Erlebnisse als s o l c h e " 43

nichts weiter als sehr wortreiche quasiliterarische Ventilationen seien 2 und


daß man hier über keinerlei Kriterien verfüge, um zu entscheiden, welche
Aussagen zu akzeptieren und welche zurückzuweisen sind, womit denn jede
Art phänomenaler Betrachtung vollständig beliebig und willkürlich wäre
und genauso gut anders lauten könnte. - Es ist unseres Erachtens wenig sinn-
voll, solche Argumentationsweisen einfach als primitiv und „banausisch" ab-
zutun; ebenso unzweckmäßig erscheint es uns aber, eine Verteidigung des
phänomenalen Standpunktes lediglich unter Aufbietung des bereits installier-
ten „phänomenalen" Vokabulars zu versuchen, da dieses Vokabular ja nur
für den verständlich und überzeugend ist, der den phänomenalen Standpunkt
bereits - mindestens im Prinzip - für sich übernommen hat. Es hilft einem
nichts, man wird bei dem Versuch der Rechtfertigung des phänomenalen Vor-
gehens zu Argumenten greifen müssen, die so „handfest" sind, daß sie auch
außerhalb der Sphäre einer bestimmten spezifisch deutschen Tradition des
Denkens verstanden und angenommen werden können, selbst wenn dabei
einiges an Subtilität des Betrachtens verloren gehen sollte. Ein solcher Verlust
- wenn er in Grenzen bleibt - wäre zu verschmerzen durch die erreichte För-
derung der wissenschaftlichen Arbeit, die ja notwendigerweise eine Gemein-
schaftsarbeit ist. W i r werden innerhalb unserer Darlegungen über das „Re-
präsentanz"-Problem bei psychologischem Experimentieren der phänomena-
len Betrachtensweise eine zentrale Funktion einzuräumen haben und müssen
deshalb wenigstens ansatzweise eine Klärung des Sinnes phänomenalen Vor-
gehens versuchen.

2. Versuch der Entwicklung einer eindeutigen und begründbaren Konzeption


über Wesen und Funktion der „Phänomenanalyse" innerhalb der psychologi-
schen Forschung

Die Voraussetzungen für eine deutliche Herausarbeitung des Sinnes und der
Funktion der phänomenalen Vorgehensweise sind nur dann zu schaffen, wenn
man sich zunächst einmal klarmacht, daß die phänomenale Betrachtensweise
nicht dasselbe ist wie die Berücksichtigung des Erlebnis-Aspektes 3 in der Psy-
chologie. Zwar geht es in der Phänomenanalyse um „Erlebnisse als solche";
Erlebnisse sind aber darüber hinaus auch noch auf ganz andere Weise zum
Gegenstand der Psychologie zu machen. Bei der Besprechung der anderen
Gegenstandsarten wird von uns aufzuzeigen sein, wie Erlebnisse auf nicht-
phänomenale Art zum Objekt psychologischer Bemühungen werden. Wir

2 TOMAN etwa ist der Meinung, daß bei LERSCHS Bemühungen „ . . . nichts weiter

als ein umständliches, schöngeistiges... B u c h . . . herausgekommen i s t . . ( 1 9 5 4 , S. 20).


3 Zu der von K . BÜHLER (1927) inaugurierten „Aspektenlehre" vgl. etwa LERSCH

(1952/53), KIRCHHOFF (1957, S. 33ff.), WELLEK ( 1 9 5 9 a ) und HERRMANN (1960).

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44 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
halten die Gepflogenheit, wahllos und unpräzise immer dann Begriffe wie
„phänomenal" oder „phänomenologisch" zu benutzen, wenn man auf irgend-
eine Weise von Erlebnissen spricht, für nid/t vertretbar.
Sodann ist - wenn man die Rechtmäßigkeit der phänomenalen Betrach-
tensweise eindeutig belegen will - von vornherein darauf zu verzichten, das
phänomenale Vorgehen als „Methode" psychologischen Forschens herauszu-
stellen und anderen Methoden, etwa der „experimentellen" oder (wie H E R R -
MANN 1958) der „operationalen" Methode, gleichzuordnen. Das phänomenale
Verfahren ist vielmehr zu den definitorischen Bemühungen im allerweitesten
Sinne zu rechnen 4 . In der Phänomenanalyse innerhalb der einzelwissenschafl-
lichen Psychologie muß es darum gehen, möglichst klar aufzuweisen, was ge-
meint ist, wenn von bestimmten Erlebnissen die Rede ist. Die Worte, mit
welchen wir im täglichen Leben über die Welt „in" und „um" uns sprechen,
erweisen sich, sobald man von der jeweilig in ihnen angesprochenen konkreten
Tatsächlidikeit absieht und auf die besondere Art der Erlebnisgegebenheit
dieser Welt reflektiert, als unzulänglich und unklar. Wenn man für das
phänomenanalytische Vorgehen die Zielsetzung formuliert, daß dadurch eine
Klärung unserer Redeweise erreicht und so eine bessere Verständigung dar-
über, was wir meinen, wenn wir bestimmte Worte gebrauchen, ermöglicht
werden soll, dann dürfte die Berechtigung dieser Zielsetzung auch außerhalb
des „phänomenalen Lagers" kaum angezweifelt werden. Was man anzwei-
feln könnte, ist allerdings, ob es nicht andere Mittel gibt, um das gesteckte
Ziel zu erreichen, und weiter, ob man die genannte Klärungsabsicht denn tat-
sächlich mit Hilfe der Phänomenanalyse verwirklichen kann.
Die Ansicht, daß man die Klarheit der Redeweise über den Gegenstand
der Psychologie dadurch erhöhen könne, daß man den Akt des Abhebens auf
den spezifischen Erlebnischarakter dessen, was der Psychologie als Gegenstand
gegeben ist, nicht vollzieht, also die „Gewinnung" der Gegenstandsart „Er-
lebnisse als solche" unterläßt, und statt dessen das, womit sich die Psychologie
beschäftigt, operational definiert, beruht auf einem Irrtum. Die Frage, was
unter „Trauer" oder unter „Farbigkeit" zu verstehen ist, läßt sich nicht durch
Festlegungen darüber beantworten, anläßlich welcher experimentellen Anord-
nungen und/oder Verhaltensweisen der Vp. die Worte „Trauer" oder „Far-
bigkeit" benutzt werden sollen 5 . - Ebensowenig ist eine Klärung darüber,
was mit Begriffen wie „Trauer" oder „Farbigkeit" gemeint sein soll, dadurch
zu erreichen, daß man etwa hundert Leute darüber befragt, was sie unter
„Trauer" oder „Farbigkeit" verstehen. Im weitesten Sinne „definitorische"
Bemühungen - zu welchen wir die Phänomenanalyse zählen wollten - be-

4
Diese Festlegung ist mit dem Wesen des phänomenalen Vorgehens keineswegs
so unvereinbar, wie es vielleicht zunächst scheinen mag.
6
Die Fehlerhaftigkeit der hier genannten „operationalen" Auffassung ist von
WELLEK an verschiedenen Stellen (etwa 1 9 5 5 b, S. 249) prägnant aufgewiesen worden.

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.Erlebnisse als solche" 45
zwecken ja nicht Feststellungen darüber, was faktisch unter diesem oder jenem
Begriff verstanden wird, sondern liefern Informationen, was innerhalb einer
bestimmten Art von Wissenschaftssprache unter diesem oder jenem Begriff
verstanden werden soll. Noch so viele Äußerungen anderer darüber, was sie
mit einem Begriff meinen, entheben midi nicht der Verpflichtung, festzulegen,
was ich mit diesem Begriff meine.
Warum verwendet man indessen zur Klärung der Redeweise über das
„Etwas", womit man sich in der Psychologie beschäftigt, nicht das in anderen
Wissenschaften bewährte Verfahren der Definition i. e. S., das heißt der Ein-
ordnung eines Begriffes in eine Begriffspyramide durch Angabe des genus
proximum und der differentia specifica? Die Definition i. e. S. liefert nur dann
Klarheit darüber, was mit einem bestimmten Begriff gemeint sein soll, wenn
das „Etwas", welches definiert worden ist, allgemein zugänglich und „vor-
zeigbar" ist. Die Definition des Fisches als eines „Wirbeltiers mit Kiemen-
atmung" hat nur für den klärenden Wert und ermöglicht ihm so eine eindeutige
Durchordnung realer Verhältnisse, der „Fische" bereits irgendwie kennt, der
fischähnliche Wesen, die in der Realität für ihn wie für jeden anderen prin-
zipiell zugänglich sind, auf das Zutreffen der Bestimmungen der Definition
hin überprüfen kann. Für jemanden, der noch nie einen Fisch gesehen hat, ist
die Definition, daß es sich dabei um ein „Wirbeltier mit Kiemenatmung" han-
delt, völlig nichtssagend. - Die Voraussetzung der allgemeinen Zugänglich-
keit und „Vorzeigbarkeit" ist nun aber für die Erlebnisse als Gegenstände
wissenschaftlichen Bemühens nicht erfüllt. Die „Langeweile", deren von
L E R S C H gelieferte phänomenale Umschreibung wir anführten, ist tatsächlich
und ausschließlich L E R S C H S Langeweile. - Man könnte versuchen, durch die
Feststellung, daß L E R S C H hier nicht seine individuelle Langeweile, sondern
das „Wesen" der Langeweile beschrieben hat, die Behauptung, daß sich phä-
nomenale Aussagen nur auf je private Erlebnisse beziehen, zu entkräften. Wir
verzichten indessen - im Interesse der Erhöhung der Verbindlichkeit unserer
Darlegungen auch für nicht phänomenal eingestellte Forscher - ausdrücklich
auf eine derartige Argumentationsweise. Ebenso soll von uns erst gar nicht
der Versuch gemacht werden, zu leugnen, daß „Farbigkeit", sobald man dieses
Wort nicht auf alltagssprachliche Weise zur unanalysierten Kennzeichnung
einer konkreten Tatsächlichkeit benutzt, sondern auf die besondere Eigenart
des hier Gemeinten als „Erlebnis als solches" abhebt, nur jeweils für den „ge-
geben" ist, der die Kennzeichnung der Erlebniseigenart der „Farbigkeit" ver-
sucht, keinesfalls aber als allgemein „vorzeigbar" betrachtet wenden kann.
Wie ist nun aber trotz der „Nicht-Vorzeigbarkeit" von „nilebnissen als
solchen", wodurch eine Definition i. e. S. unmöglich wird, hier eine „Ver-
ständigung über Gemeintes" sinnvoll anzustreben? Eine solche Verständi-
gung wird in dem Maße erreicht, als es gelingt, über die bloße Merkmals-
bestimmung hinaus die Eigenart des je zur Frage stehenden Erlebnisses selbst

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46 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

„aufzuweisen". Dem Partner der Verständigungsbemühung muß das Erlebnis


in seinem vollen, unverkürzten Charakter nahegebracht werden, damit er
dieses Erlebnis innerhalb seines eigenen Erlebnisbestandes ausgliedern und als
das vom anderen gemeinte Erlebnis identifizieren kann. Die allgemeine „Vor-
zeigbarkeit" bei nichtphänomenalen Gegebenheiten wird hier ersetzt durch
die „Umschreibung" des gemeinten Erlebnisses mit dem Ziel, daß dadurch das
„Erlebnis selbst" von dem Verständigungspartner „gehabt" wird.
Die Phänomenanalyse ist - so gesehen - ein Verfahren, um die Möglich-
keit der Klärung und Vereindeutigung der Redeweise über Erlebnisse zu
schaffen und damit eine Verständigung über das jeweils Gemeinte herbei-
zuführen, obgleich „Erlebnisse als solche" durch die Weise, wie sie als Gegen-
standsart der Psychologie gewonnen werden, nur „jeweils mir" gegeben sind.
Durch die phänomenanalytischen Bemühungen soll - sozusagen - eine „Brücke"
der Verständigung über die je individuellen „icheingeschlossenen" Gegeben-
heitsweisen der Erlebnisse geschaffen werden.
In der Phänomenanalyse wird dabei keinesfalls das „Dasein" eines auf-
zuweisenden „Phänomens" in jeder individuellen Erlebniswelt notwendiger-
weise vorausgesetzt. Es mag durchaus Erlebnisweisen geben, die manchen
Menschen prinzipiell nicht „gegeben" sind, etwa das Erlebnis der Ergriffen-
heit von einem Kunstwerk oder das Erlebnis der religiösen Offenbarung. In
den phänomenanalytischen Darlegungen ist lediglich ausgesagt, daß dem ge-
meinten Erlebnis gewisse Eigenarten zukommen sollen, falls es einem be-
stimmten Menschen „gegeben" ist.
Um nun die früher angeführte Auffassung, daß im phänomenalen Vor-
gehen eine „schlichte", theoriefreie Deskription des im Erleben unmittelbar
Vorgefundenen geliefert werde, von den inzwischen angestellten Ober-
legungen her zu spezifizieren: „Schlichte" Deskription bedeutet hier keines-
falls eine Beschreibung von Sachverhalten in der „naiven" Weitsicht des „täg-
lichen Lebens". Der Akt der Gewinnung des Gegenstandes „Erlebnisse als
solche" und damit die Einsicht, daß es an den Bestandstücken der Welt „in"
und „um" uns außer ihrer konkreten Faktizität noch Eigenarten ihrer Ge-
gebenheitswezie festzustellen gibt, setzen vielmehr eine der alltäglichen Ein-
stellung fremde, sehr reflektierte und „gebrochene" Denkhaltung voraus, die
gerade von „naiven" Menschen schwer zu erreichen ist. Mit der Formulierung
von der „schlichten", theoriefreien6 Beschreibung des unmittelbar Vorfind-
lichen ist vielmehr die „Reinheit" der phänomenanalytischen Vorgehensweise
gefordert. Im phänomenanalytischen Verfahren soll weder davon gesprochen
werden, wie wir uns das Zustandekommen bestimmter Erlebnisse erklären,
noch, worauf die Erlebnisse zurückzuführen sein sollen, noch auch, was wir

6
Die Forderung nadi „Theoriefreiheit" ist natürlich niemals absolut zu erfüllen,
sondern immer nur bis auf die i. w. S. „theoretischen" Bezüge, die bereits in der
sprachlichen Formulierung des Gemeinten notwendig impliziert sind.

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„Erlebnisse als solche" 47
über diese Erlebnisse wissen oder zu wissen glauben, sondern es soll - vor
allen weiteren Einordnungen - lediglich möglichst klar und präzise aufge-
wiesen werden, von welcher Art „Erlebnis" in einem bestimmten Fall die
Rede sein soll. Die Reinigung der Operation des Aufweises des Gemeinten
von Deutungs- und Wissensmomenten ist eine notwendige Forderung an sinn-
volles phänomenanalytisches Vorgehen und der Inbegriff der „Strenge" der
Phänomenanalyse.
Wenn man sich die damit entwickelte Auffassung zu eigen macht, daß die
Phänomenanalyse keine wissenschaftliche Methode ist, sondern zu den i. w. S.
„definitorisdien" Bemühungen gehört, so hat man die Möglichkeit, unberech-
tigte Einwände gegen das phänomenanalytische Vorgehen eindeutig zurück-
zuweisen. Es gibt eigentlich nur fünferlei sinnvolle Stellungnahmen zu Ergeb-
nissen phänomenanalytischer Bemühungen: 1. Die Kundgabe, daß mit einer
fremden phänomenanalytischen Umschreibung ein im eigenen Erlebnisbestand
Vorfindlidies überzeugend getroffen wurde; damit wäre das Ziel der „Ver-
ständigung über Gemeintes" optimal erreicht. 2. Die Kundgabe, daß die
fremde phänomenanalytische Umschreibung ein Erlebnis nicht genau genug
t r i f f t , etwa verbunden mit einem Vorschlag zur Korrektur und/oder Ergän-
zung der Phänomenanalyse. 3. Die Abgrenzung einer eigenen gegen eine
fremde Phänomencharakterisierung, der Hinweis darauf, daß mit der eigenen
Umschreibung etwas anderes gemeint sei als mit einer fremden Umschreibung.
4. Die Kundgabe, daß das mit einer bestimmten phänomenanalytischen Um-
schreibung Gemeinte im eigenen Erlebnisbestand nicht vorfindbar ist. 5. Die
kritische Feststellung, daß eine bestimmte phänomenale Beschreibung nicht
„rein" bzw. „streng", sondern durch auf irgendeine Weise „Hinzugedachtes"
verfälscht sei. - Unangemessen ist demnach etwa die Anwendung der Begriffe
„falsch" - „richtig" auf phänomenanalytisdie Umschreibungen; es kann z.B.
prinzipiell keine „falschen" Phänomenanalysen geben, sondern nur solche,
die eine bestimmte Erlebnisgegebenheit nidit treffen, in denen etwas anderes
„gemeint" ist. Unangemessen ist weiter die Behauptung, daß es eine be-
stimmte, in einer fremden Phänomenanalyse umschriebene Erlebnisweise in
Wirklichkeit überhaupt nicht gibt-, der Versuch, gewisse deskriptiv aufge-
wiesene Phänomene einfach „wegzudiskutieren", stellt in jedem Falle eine
fehlerhafte Argumentationsweise dar; es darf hier lediglich festgestellt wer-
den, daß diese Phänomene im eigenen Erlebnisbestand nicht vorfindbar sind.
Unsinnig ist weiter die Forderung, daß die Ergebnisse phänomenanalytischer
Bemühungen empirisch geprüft werden müßten, da es sich hier zunächst nur
um unbewiesene „Spekulationen" handle; in der Phänomenanalyse wird näm-
lidi gar nichts über reale Gegebenheiten behauptet, was empirisch geprüft
werden könnte, hier wird lediglich der logisch vorgeordnete Versudi unter-
nommen, den Partnern der wissenschaftlichen Kommunikation zur Klarheit
darüber zu verhelfen, wovon eigentlich die Rede sein soll. Die Forderung

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48 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
nach empirischer Überprüfung von phänomenanalytisdien Darlegungen ist
ungefähr genauso sinnvoll, als wenn man auf die Definition des „Fisches" als
„Wirbeltier mit Kiemenatmung" antworten wollte, daß das schließlich erst
einmal empirisch „bewiesen" werden müsse. Unter den unangemessenen Stel-
lungnahmen zu phänomenanalytischen Bemühungen soll abschließend nur
noch die Ansicht erwähnt werden, daß die phänomenalen Darlegungen um-
ständliche quasiliterarische Ergüsse darstellen. Die „Umständlichkeit" der
phänomenanalytischen Ausführungen ist bedingt durch den besonderen Cha-
rakter des phänomenalen Aufweises, der häufig eine mehrfache „Umschrei-
bung" und „Umkreisung" eines Phänomens nötig macht, da nur auf diese
Weise trotz der „Nicht-Vorzeigbarkeit" des Phänomens eine zureichende
Verdeutlichung des Gemeinten erreicht werden kann 7 ; eine „Umständlich-
keit" phänomenanalytischer Ausführungen ist stets solange gerechtfertigt, als
dabei das gemeinte Phänomen klarer aufgewiesen, besser „getroffen" und die
„Reinheit" der phänomenalen Vorgehensweise nicht durch „Hinzugedachtes"
beeinträchtigt wird.
Um schließlich zur Frage der Verbindlichkeit phänomenanalytischer Dar-
legungen Stellung zu nehmen: Phänomenale Charakterisierungeil von Erleb-
nisweisen sind als im weitesten Sinne „definitorisch" gemeinte Formulierun-
gen zwangsläufig nur f ü r den verbindlich, der sich dazu entschließt, sie als
verbindlich anzuerkennen, indem er sie als „treffend" akzeptiert. Eine solche
Anerkennung ist also f ü r sich genommen nicht zu erzwingen; sie kann auch
unterbleiben. Sowohl die Anerkennung wie die Leugnung der Angemessenheit
einer phänomenanalytischen Kennzeichnung hat aber ihre Konsequenz: Wer
eine phänomenanalytische Bestimmung geliefert oder akzeptiert hat, der muß
nun auch dafür sorgen, daß das aufgewiesene Phänomen durch theoretische
Einordnungen tatsächlich gedeckt und bei empirischen Bemühungen tatsächlich
realisiert wird. „Eine . . . Theorie, die am Ende des von ihr geschilderten Ent-
stehungsprozesses etwas anderes findet als das, dessen Entstehung sie ergrün-
den wollte, ist gerichtet" (E. S T E I N 1 9 1 7 , S. 2 3 ) . Wer eine phänomenanaly-
tische Bestimmung nicht akzeptiert, dem obliegt es, aufzuweisen, was er sonst
mit dem zur Frage stehenden Erlebnis-Begriff meint, und er ist dann an seine
neuerliche phänomenale Umschreibung der gemeinten Erlebnisweise gebunden.
Natürlich kann man auch ganz und gar auf die Heraushebung von „Erleb-
nissen als solchen" und phänomenanalytische Klärungen verzichten und die
Worte f ü r bestimmte Erlebnisse einfach aus der Alltagssprache übernehmen.
Dabei wird dann stillschweigend vorausgesetzt, daß jeder schon „ungefähr
weiß", was damit gemeint ist. Durch ein solches Vorgehen kommen jedoch
in vielen Fällen so beträchtliche Unklarheiten und Vieldeutigkeiten in die
„theoretische" Diskussion, daß die Vertretbarkeit des wissenschaftlichen
7
Vgl. dazu etwa die Ausführungen von SCHELER ( 1 9 5 7 , S. 3 9 1 ff.) über das phä-
nomenologische „Einkreisen" des Gemeinten.

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.Erlebnisse als solche" 49

Argumentierens entscheidende Einbußen erleidet - wir kommen noch darauf


zurück.
Abschließend sei noch einmal hervorgehoben, d a ß nicht nur zum „Ich" ge-
hörige Tatbestände wie Absichten, Befindlichkeiten usw. phänomenanaly-
tischer Klärung zugänglich sind, sondern daß auch Menschen u n d Dinge der
„ W e l t " unter Absehung von ihrem alltäglichen Realitätscharakter auf ihre
besondere Weise der Erlebnisgegebenheit hin analysiert werden können. (Zur
Phänomenanalyse der „Dingwelt" vgl. etwa die Arbeit von SCHAPP [1910]
„Beiträge zur Phänomenologie der W a h r n e h m u n g " , den Artikel von GUR-
wrrscH [1929] über die Beziehungen zwischen Gestalttheorie u n d Phänomeno-
logie, die instruktive Abhandlung von L I N K E [1930] über „Phänomenologie
und Experiment in der Frage der Bewegungsauffassung", die Arbeit von
M E R L E A U - P O N T Y zur Phänomenologie der W a h r n e h m u n g [1962] u . a . m . Auf
die phänomenanalytische Klärung der Gegebenheitsweise des anderen Men-
schen sind unter vielen anderen etwa Bemühungen von SCHELER [1923,
S. 244ff.], L I T T [1948, S. 169ff.], K I R C H H O F F [1957, S. 115ff.] undHoLZKAMP
[1957] gerichtet. Der Versuch einer phänomenalen Analyse der Gegebenheits-
weise der sozialen Bezogenheiten des Menschen wird von M A C L E O D [1947]
unternommen.) - Durch phänomenanalytische Bemühungen ist nun aber - wie
sich nach unseren früheren Darlegungen von selbst versteht - nicht etwa die
K l ä r u n g von jeder A r t Begrifflichkeit innerhalb der Psychologie sinnvoll an-
zustreben, sondern n u r von Begriffen, sofern sie sich unmittelbar auf „Ge-
gebenes" beziehen. Begriffe, die als „constructs" lediglich gedachte Ver-
knüpfungsregeln oder „Erklärungsprinzipien" implizieren, wie etwa „habit",
„Vektor", „Gestalt" (nicht im alten WERTHEiMERschen, sondern im modernen
„dynamischen" Sinne) oder - in anderem K o n t e x t - Begriffe, in denen „Dis-
positionelles", „Strukturelles" gemeint ist, wie „Intelligenz", „Zuverlässig-
keit", „Gefühlsanspredibarkeit", sind prinzipiell niemals durch phänomen-
analytische Anstrengungen klärbar, weil hier eben keine möglichen „Phäno-
mene" angesprochen werden. (In ähnlichem Sinne grenzt K I R C H H O F E [1958,
S. 67] die „originären" von den bloß „derivativen" phänomenologischen Aus-
sagen ab 8 .)

8
Der Versuch von HERRMANN ( 1 9 5 8 ) , die Kritik WEINSCHENKS ( 1 9 5 6 ) an LERSCHS
Lehre von der „Affinität" und „Diffugität" von Charaktereigenschaften (LERSCH
1 9 5 6 , S. 44 ff.) mit dem Argument zu entkräften, daß LERSCHS Betraditensweise
„phänomenologisch", die von WEINSCHENK aber „operational" sei und deswegen das
von LERSCH Gemeinte nicht betreffe, ist deswegen — trotz allen Scharfsinns und aller
Differenziertheit der HERRMANNsdien Gedankenführung — als anfechtbar zu be-
trachten. „Charaktereigenschaften" sind als „nichtphänomenale", „strukturelle"
Tatbestände gedacht und deswegen einer phänomenalen Analyse grundsätzlich nicht
zugänglich. Die WEiNSCHENKsdien Einwendungen bestehen nach wie vor zu Recht.

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50 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

II. Die „anschauliche "Welt" als Gegenstandsart der Psychologie


in Abhebung von der „metrischen W e l t f o r m "

Wir kommen nun zur Darstellung der zweiten „Gegenstandsart" der Psycho-
logie, der „anschaulichen Welt" in Abhebung von der „metrischen Weltform".
(Den Terminus „anschauliche Welt" übernehmen wir von METZGER [1954,
S. 14]; der Terminus „metrische Weltform" stammt von HOFSTÄTTER [1944,
S. 3].) Die „anschauliche Welt" ist, das sei vor allen näheren Explikationen
festgestellt, ein Aspekt der Außenwelt des Menschen im alltäglichen Sinne,
also der Welt, in die wir alle gestellt sind, in der wir leben müssen und in der
wir Wissenschaft treiben, ohne daß diese Welt in ihrem „unhintergehbaren"
primären Realitätscharakter von den Ergebnissen unseres wissenschaftlichen
Nachdenkens irgendwie berührt wird. Die „anschauliche Welt" ist also „Welt
für uns alle"; die Reflexion auf eine „Welt für jeden einzelnen" als möglichen
Gegenstand der Wissenschaft ist für diese Gegenstandsart nicht vollzogen
worden 9 . Bei der Gewinnung des Gegenstandes „anschauliche Welt" wird
auch nicht die Operation des Absehens von dem alltäglichen Realitätscharak-
ter der Welt und der Heraushebung ihrer Gegebenheitsweise für uns durch-
geführt - diese Operation ist ja die Grundlage für die Gewinnung der „Erleb-
nisse als soldhe" als Gegenstand der „Phänomenanalyse" - , „anschauliche
Welt" ist vielmehr „Welt" in ihrer alltäglichen, konkret-inhaltlichen Be-
sondertheit.
Betrachten wir nun die Operation der Gewinnung der „anschaulichen
Welt" als einer Art des Gegenstandes psychologischen Forschens etwas ge-
nauer.
Im Alltag selbst ist, trotz all ihrer eben herausgehobenen „alltäglichen"
Charakteristika, von einer „anschaulichen Welt" nicht die Rede. Hier gibt es
nur „die" Welt da draußen und weiter nichts. Die „anschauliche Welt" ist
vielmehr das Ergebnis eines an der Alltagswelt ansetzenden, bestimmt ge-
arteten Aktes der „Gegenstandsgewinnung".
Die „metrische Weltform" entsteht durch das früher gekennzeichnete
„Herausschneiden" von prinzipiell eindeutig quantitativ bestimmbaren Kon-
stanzen aus der Alltagsrealität durch Realisationshandlungen auf Grund
„idealwissenschaftlicher" Elementarformen (wie „Ebene", „Gerade", „gleich-
förmige Bewegung", „gleichförmige Beschleunigung" usw.) als Möglichkeits-
bedingungen des „Messens".
Die „Objekte" der metrischen Weltform, die von uns nach eindeutigen
Handlungsanweisungen geschaffen werden, sind u. a. Gegenstand der Physik.
(Eine Gleichsetzung von „metrischer" und „physikalischer" Weltform ist
trotzdem nicht angängig, da der Gegenstand der Physik nicht ausschließlich
9 Vgl. dazu unsere genaueren Darlegungen über die Unterscheidung zwischen

der „Welt für uns alle" und der „Welt für jeden einzelnen" auf S. 66ff.

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.Anschauliche Welt" 51

„idealwissenschaftlicher" Art ist und da die idealwissenschaftlichen Kon-


struktionen, die den Gegenstand der Physik ausmadien, keinesfalls die ein-
zig möglichen sind). Die jeweiligen Konstruktionen, die etwa in der Phy-
sik zum Maßstab für die Genauigkeit der aus der Alltagsrealität „heraus-
geschnittenen" metrischen Invarianzen gemacht werden, können nun aber
auch auf die Alltagsrealität zurückbezogen werden, indem man die Alltags-
realität auf ihre Beziehungen zu den der metrischen Weltform zugrunde lie-
genden Konstruktionen betrachtet. Wir nennen die Alltagswelt, soweit sie
durch möglichst eindeutige Kennzeichnung ihrer Beziehungen zu den Kon-
struktionen der metrischen Weltform zum Gegenstand wissenschaftlichen
Forschens gemacht wird, die „anschauliche Welt" als eine Gegenstandsart der
Psychologie.
Die Operation des Versuchs einer Darstellung der „anschaulichen Welt"
durch Aufweis ihrer Beziehungen zur „metrischen Weltform" wird von HOF-
STÄTTER (1944) eindringlich und präzise dargestellt. Die unreduzierte, quali-
tätenreiche „anschauliche Welt" wird deswegen auf die „metrische Weltform"
bezogen, weil die „metrische Weltform" als invariant und stets mit beliebiger
Genauigkeit reproduzierbar die Voraussetzungen für die Entwicklung ein-
deutiger „Übersetzungsregeln" zur Kennzeichnung der „anschaulichen Welt"
bietet. „Eben weil die metrische Weltform kaum und praktisch überhaupt
nicht streut, benutzt man sie als Bezugssystem" (1944, S. 5). „Um sich über
seine bildhafte Weltform 1 0 zu verständigen, übersetzt man sie in die Termino-
logie der metrischen Weltform. Die Modi dieser Ubersetzung sind die grund-
legenden Erkenntnisse der Wahrnehmungslehre. Die Eignung der metrischen
Weltform für die ihr bei diesem Beginnen zufallende Aufgabe liegt, wie schon
ausgeführt wurde, in ihrer geringen interindividuellen Verschiedenheit" (S. 10;
Hervorhebung von mir). - Zu in mancher Hinsicht ähnlichen Feststellungen
über die Art des Inbeziehungsetzens zwischen „anschaulicher Welt" und
„metrischer Weltform" kommt BRUNSWIK (1934) (er spricht statt von „an-
schaulicher Welt" von „unmittelbaren Gegebenheiten" und statt von „metri-
scher Weltform" von „Gegenstandswelt"): Es ist „...das unmittelbar Ge-
gebene im Bewußtsein zuerst d a . . . und das Gegenständliche..." wird
„ . . . daraus erst nachträglich durch Konstruktion ermittelt" (1934, S. 11). Das
Gegenständliche ist das, „ . . . was sich den unmittelbar gegebenen Inhalten in
einer bestimmten Weise als Ideal zur Seite stellen läßt" (S. 3). Das Problem der
„intentionalen Zuordnung" - ein Grundproblem des BRUNSWiKschen An-
satzes - ist die „ . . . Zuordnung eines Gegebenen zu einer denkmäßigen Kon-
struktion aus einer ganz bestimmten Art von Gegebenheiten, nämlich den bei
Messungen erhaltenen" (S. 23 f.). BRUNSWIK kommt beim weiteren Ausbau sei-
nes Ansatzes, besonders in seinen späteren Arbeiten, zu sehr festgelegten und
1 0 „Bildhafte Weltform" ist der HopsTÄTTERsche Terminus für das, was wir „an-

schauliche Welt" nennen.

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52 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

teilweise angreifbaren Konsequenzen, die uns hier noch nicht zu beschäftigen


braudien (vgl. dazu unsere Ausführungen auf S. 123 ff.).
Die „anschauliche W e l t " ist Forschungsgegenstand der („äußeren") Psydio-
physik v o n FECHNER bis zur Gegenwart (vgl. bes. die durdi S. S . STEVENS an-
geregte moderne psychophysische Forschung) u n d darüber hinaus eines H a u p t -
zweiges der psychologischen Wahrnehmungslehre. (Von dem anderen H a u p t -
zweig w i r d später noch zu reden sein.) Die Bemühungen sind hier legitimer-
weise ausschließlich darauf gerichtet, vertretbare theoretische Ansätze über die
A r t der Beziehungen zwischen „anschaulicher W e l t " und „metrischer W e l t -
f o r m " zu konzipieren u n d dadurch die „anschauliche W e l t " vom Bezugs-
system „metrische W e l t f o r m " aus durch Angabe entsprechender „Uber-
setzungsregeln" zu kennzeichnen 1 1 . Die metrischen „idealwissenschaftlichen"
Konstruktionen, die den anschaulichen Gegebenheiten gegenübergestellt wer-
den, können dabei ganz verschiedener A r t sein. Es k a n n hier etwa die an-
schauliche Länge eines Dinges mit der gemessenen „objektiven" Länge, aber
auch mit der „projektivischen" Länge, d. h. der Länge, die ihm nach der opti-
schen Konstruktion eines „Netzhautbildes" zugesprochen wird, in Beziehung
gesetzt werden (vgl. dazu die - übrigens in mancher Hinsicht anfechtbare -
von H E I D E R [ 1 9 3 9 ] eingeführte Unterscheidung zwischen „distal" und
„proximal Stimuli"). Die metrischen Variablen, von denen aus m a n die Be-
dingungen des Farbensehens erfassen will, können in Angaben über Winkel-
grade an Farbkreiseln, aber auch in Angaben über Wellenlängen der Schwin-
gungen des Lichtes bestehen. Andere mögliche Gegenüberstellungen sind etwa:
gleichförmige oder gleichförmig beschleunigte Bewegung u n d anschauliche Be-
wegung, „metrische" Gliederung von optischen oder akustischen Einheiten und
die entsprechende anschauliche Gliederung, Veränderungen der gemessenen
Entfernung eines Dinges vom Betrachter u n d die entsprechenden gesehenen
Entfernungen u. ä. m. Dabei m u ß man sich keineswegs an die Konstruktions-
formen halten, die einem bereits von der Physik vorgegeben sind. Es kann
sich vielmehr als nötig erweisen, zur angemessenen Charakterisierung be-
stimmter Eigentümlichkeiten der „anschaulichen W e l t " durch Abhebung von
der „metrischen W e l t f o r m " neue „idealwissenschaftliche" Konzeptionen zu
entwickeln u n d zu realisieren, die den besonderen Erfordernissen der psycho-
logischen Problemstellung angepaßt sind (vgl. etwa nur die v o n JOHANSSON
[ 1 9 5 0 ] zur Erforschung der Bedingungen der „event perception" konstruier-

11
Man hatte sich diese „Ubersetzungsregeln" ursprünglich extrem einfach vor-
gestellt, man glaubte nämlich an eine simple Punkt-für-Punkt-Zuordnung zwischen
metrisch gewonnenen Daten und anschaulichen Gegebenheiten. Seit nunmehr rund
vierzig Jahren ist man sich innerhalb der Psychologie jedoch im klaren darüber, daß
diese „Konstanzannahme" (KÖHLER) eine unhaltbare theoretische Konzeption dar-
stellt und daß man hier andere, kompliziertere „Übersetzungsregeln" zu entwickeln
hat.

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„Anschauliche Welt" 53

ten und realisierten mannigfachen metrischen Bewegungs- und Veränderungs-


folgen; Grundsätzliches dazu bei GIBSON [1950]).
W i r haben zur Charakterisierung der „anschaulichen W e l t " in ihrer Ab-
gehobenheit von der „metrischen "Weltform" als Gegenstandsart der Psycho-
logie Formulierungen gebraucht, die von den hier sonst gebräuchlichen
Formulierungen in mancher Hinsicht abweichen, und zwar nicht etwa des-
wegen, weil wir das Bedürfnis hätten, uns besonders originell auszudrücken,
sondern weil wir gewisse Unstimmigkeiten und "Widersprüchlichkeiten ver-
meiden wollten, die in vielen der üblichen Formulierungen enthalten sind.
Der Grund für diese Unstimmigkeiten und "Widersprüchlichkeiten ist die
- explizit ausgesprochene oder implizit mitgedachte - Auffassung, daß die
metrische oder, wie man sich meist ausdrückt, „physikalische" "Welt ein erleb-
nis- oder bewußtseinsjenseitiger Tatbestand ist und daß nur die anschauliche
"Welt eine Erlebnisgegebenheit für uns darstellt. (So unterscheidet etwa METZ-
GER [1954, S. 14] ausdrücklich „physikalische oder erlebnisjenseitige und an-
schauliche oder erlebte "Welt".) Die Beziehungen zwischen der erlebnisjenseiti-
gen und der erlebten Welt müssen, nachdem die Auffassung von diesen „zwei
Welten" einmal konzipiert worden ist, zwangsläufig so gedacht werden, daß
die physikalischen Dinge, die uns nicht gegeben sind, irgendwelche „Reize"
aussenden und daß aus diesen Reizen sich dann in unserem Organismus das
uns gegebene anschauliche Ding konstituiert. W i r haben hier eine Verdoppe-
lung der Welt in eine Welt der physikalischen Wellen und Impulse, die auf
unseren Organismus einwirken, und eine Welt der durch diese Einwirkungen
verursachten anschaulichen Gegebenheiten und somit auch eine Verdoppelung
etwa eines Baumes in einen „physikalischen" Baum und in einen „erlebten"
Baum. Die „erlebte Welt", also auch der „erlebte Baum", muß dabei unaus-
weichlich als in unserem Organismus lokalisiert betrachtet werden. Diese
sensualistische „Hereinnahme" der Welt in den Organismus wurde von
AVENARIUS als „Introjektion" bezeichnet und ausführlich kritisch untersucht.
„Auf dem Boden der Introjektion ist . . . das Objekt als außenweltlicher
Gegenstand zur Ursache der Wahrnehmung im Subjekt geworden" (AVENA-
RIUS 1 9 1 2 , S . 5 8 ) .

Die Lehre von den „zwei Welten", der bewußtseinstranszendenten physi-


kalischen Welt „draußen" und der erlebten Welt „in uns", gerät durch den
nicht wegzuleugnenden Umstand in große Schwierigkeiten, daß die Welt, wie
sie uns gegeben ist, eben nicht „in uns" liegt, sondern uns gegenübersteht, so
daß wir uns in ihr bewegen, uns an ihr „stoßen" können usw. Was soll die
Behauptung für einen Sinn haben, daß wir uns an etwas „in unserem Organis-
mus" „stoßen"? An der bewußtseinstranszendenten physikalischen Welt hin-
gegen können wir uns auch nicht „stoßen", da sie uns ja nicht gegeben sein
soll. Die Trennung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommener und
somit nicht zum Subjekt gehöriger Welt ist offensichtlich unaufhebbar, wenn

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54 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

m a n zu einer angemessenen Bestimmung unseres Verhältnisses zur uns ge-


gebenen W e l t kommen will.
Es kann nun natürlich der Versuch unternommen werden, die Tatsache,
daß die erlebte W e l t uns als „draußen" gegenübersteht, mit der T r e n n u n g
zwischen der bewußtseinsjenseitigen physikalischen und der in unserem O r g a -
nismus liegenden erlebten W e l t vereinbar zu machen, indem man zu mehr
oder weniger komplizierten Annahmen darüber greift, wie die „eigentlich"
„in uns" liegende erlebte W e l t f ü r unser Bewußtsein nach „draußen" kommt.
I n solchen Annahmen bemüht m a n sich darum, den zunächst geleugneten
Tatbestand, daß der Baum unabhängig von uns „draußen" ist, nun doch
wieder irgendwie zu „erklären". W i r wollen uns mit der Problematik der-
artiger „Erklärungen" nicht näher befassen, da - wie wir glauben - alle hier
vorliegenden Schwierigkeiten durch den von uns dargelegten andersgearteten
Denkansatz vermieden werden können.
Mit unseren Ausführungen über die „anschauliche W e l t " in ihrer Abge-
hobenheit von der „metrischen W e l t f o r m " sollte gezeigt werden, daß wir bei
der psychologischen Erforschung der W a h r n e h m u n g nicht etwa gezwungen
sind, die Wahrnehmungsdinge in unseren Organismus zu verlegen u n d von
den nicht erlebten physikalischen Bedingungen der W a h r n e h m u n g abzuheben.
Psychologisches Denken bedeutet keinesfalls notwendigerweise sensualistisches
Denken. W i r können vielmehr auf die problematische „Verdoppelung" der
Welt verzichten, indem wir die „anschauliche W e l t " u n d die „metrische W e l t -
f o r m " als zu der einen realen, uns „gegebenen" Welt gehörig betrachten. Die
„metrische W e l t f o r m " ist unserer Konzeption nach lediglich eine besondere
A r t des Betrachtens dieser W e l t und des Handelns in diese W e l t hinein, näm-
lich des Entwurfes von eindeutigen „idealwissenschaftlichen" Relationsgefügen
und des realisierenden „Herausschneidens" von Invarianzen aus der Realität
gemäß diesen Relationsgefügen. „Die metrische W e l t f o r m ist zweifelsohne
notwendig u n d darum berechtigt; dabei darf aber nicht übersehen werden,
d a ß sie uns nicht ursprünglich gegeben ist, sondern daß wir sie gemacht haben"
(HOFSTÄTTER 1944, S. 3). Die „anschauliche W e l t " ist die uns unmittelbar ge-
gebene Alltagsrealität, deren besondere Eigenart durch Abhebung v o n der
„metrischen W e l t f o r m " sichtbar wird.
V o n da aus lassen sich auch gewisse Feststellungen über den wissenschafts-
theoretischen O r t der Physiologie der W a h r n e h m u n g treffen. - Zunächst ist
festzuhalten, daß die Konzeption von Modell Vorstellungen über „Abbil-
dungsverhältnisse" o. ä. auf der „ N e t z h a u t " keineswegs schon eine physio-
logische Betrachtens weise der Wahrnehmungsvorgänge bedeutet. „Fortunately,
it is not necessary to understand the events within the nervous s y s t e m . . . in
order to be able to make a scientific attack on the problem of perception. O n e
can by-pass the nervous system and jump f r o m the retinal image directly to
the perceptual experience" (GIBSON 1950, S. 51). Die „Abbildungsverhält-

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.Anschauliche Welt" 55

nisse" stellen vielmehr zunächst nichts weiter dar als eine besondere Art von
metrischen Konstruktionen, die als Bezugssystem zur Erforschung der Eigenart
der „anschaulichen Welt" zu entwickeln sind. LINSCHOTEN, mit dessen Grund-
auffassungen über die theoretischen Prinzipien der Wahrnehmungslehre wir
ganz und gar übereinstimmen, hat aufgewiesen, daß das „Netzhautbild" bei
der psychologischen Erforschung der Wahrnehmung, wenn Unstimmigkeiten
und Widersprüche vermieden werden sollen, nicht als ein irgendwie geartetes
„natürliches" Organ, sondern als ein auf bestimmte Weise konstruiertes „Ord-
nungsschema" zu betrachten ist. Man muß sich klarmachen, „ . . . daß das Ord-
nungsschema nur eine Abstraktion ist aus dem phänomenal optisch Gegebenen.
.Netzhautbild" hat hier also uneigentliche Bedeutung. Sucht man . . . nadi dem
Zusammenhang von Netzhautbild mit dem Wahrgenommenen, so sucht man
in Wirklichkeit nach dem Zusammenhang zwischen dem Wahrgenommenen
und dessen abstrakten Eigenschaften. Oder weniger paradox gesagt, man be-
schäftigt sich mit einer Strukturanalyse des phänomenalen optischen Feldes als
solchen, mit Hilfe eines abstrakten Ordnungsschemas" (LINSCHOTEN 1 9 5 6 ,
S. 11). LINSCHOTEN ersetzt demgemäß den mißverständlichen Terminus „Netz-
hautbild" durch den theoretischen „construct" „Sehfeld", „...eine frontal-
parallele imaginäre Fläche, auf die die Sehdinge in einem geordneten Verhält-
nis projiziert werden" (S. 11). Damit ist für die „...Sinnespsychologie eine
Autonomie gegenüber der Sinnesphysiologie erreicht..." (S. 11). Die nicht-
sensualistische und damit von „schiefen" Fragestellungen und unechten Pro-
blemen gereinigte Grundkonzeption LINSCHOTENS bewährt sich in seiner
hervorragenden theoretischen und experimentellen Strukturanalyse des bino-
kularen Tiefensehens (vgl. auch unsere Ausführungen auf S. 146ff.).
Die theoretischen Ansätze über die „anschauliche Welt" sind - wie aus
dem eben Gesagten hervorgeht - ausschließlich unter dem Gesichtspunkt zu
beurteilen, wieweit hier eine angemessene Erfassung der jeweils zur Frage
stehenden anschaulichen Gegebenheiten gelungen ist. Die Frage, in welchem
Verhältnis die anschaulichen Gegebenheiten zu den jeweils als zugeordnet an-
genommenen physiologischen Prozessen stehen, ist als eine neue, selbständige
und unabhängige Problemstellung anzusehen. Dabei versteht es sich nach
unseren früheren Ausführungen von selbst, daß die sinnesphysiologischen Vor-
gänge niemals als Ursache von Wahrnehmungsgegebenheiten betrachtet wer-
den dürfen. Die Ausschaltung der „Introjektion" führt zu der Konsequenz,
daß physiologische Prozesse im Organismus nicht als konstituierend für die
uns gegebene Welt anzusehen sind, sondern - wie alle spezifischen „Gegen-
stände" wissenschaftlicher Bemühungen - als nachträglich durch bestimmte
Denkoperationen aus der präexistierenden und in ihrer Existenz unangetaste-
ten All tagsrealität „gewonnen" werden. Ebenso geht aus unseren Darlegungen
hervor, daß die anschaulichen Gegebenheiten keineswegs in irgendeiner Weise
auf physiologische Prozesse „reduzierbar" sind; eine solche Reduktion wäre
5 Holzkamp GSt

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56 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

nichts weiter als ein Akt des „Gegenstandsentzuges"; man redet nach dem
Reduktionsakt plötzlich nicht mehr von anschaulichen Gegebenheiten, sondern
nur noch von physiologischen Prozessen. - Wir kommen später (S. 189 ff.)
noch einmal in anderem Zusammenhang auf das Verhältnis zwischen Psycho-
logie und Physiologie zurück.

I I I . „Andere Menschen" als konkrete, in unserer Alltagswelt vorfind-


bare Individuen als Gegenstandsart der Psychologie

1. Die Operation der „Gewinnung" der psychologischen Gegenstandsart


„andere Menschen"

Nachdem wir die „anschauliche Welt" als zweite Gegenstandsart der Psy-
chologie abgehandelt und dabei die Fragwürdigkeit einer unter Psycho-
logen weitverbreiteten, sensualistischen Denkweise der „Introjektion" auf-
gezeigt haben, kommen wir nun zur dritten Art von „Gegenständen" der
Psychologie, und zwar den „anderen Menschen"12, wie sie als je besondere,
in der Mehrzahl vorkommende Individuen in unserer Alltagswelt vorhanden
sind. Bei der Gewinnung dieser Gegenstandsart wird den „anderen Menschen"
ihre konkrete, reale Besonderung gelassen, die ihnen im täglichen Leben zu-
kommt; es wird also hier keinesfalls der Akt des Absehens von dem inhaltlich
konkreten Realitätscharakter und der Hinwendung auf die Weise der Er-
lebnisgegebenheit des Menschen vollzogen wie innerhalb der phänomen-
analytischen Betrachtung, soweit sie sich auf Menschen bezieht. Es wird aber
auch nicht der Mensch als Wahrnehmungsobjekt unter anderen Wahrneh-
mungsobjekten in seiner vollen Alltagswirklidikeit zu bestimmten „metri-
schen" Variablen in Beziehung gesetzt, wie das bei psychologischem Forschen
innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche Welt" geschehen kann; der Um-
stand, daß außer der alltäglichen Weltsicht noch eine andere, metrische Welt-
sicht möglich ist, wird hier gar nicht in die Betrachtung einbezogen, und inso-
fern steht die dritte Gegenstandsart der Psychologie der wissenschaftlich
unberührten Alltagswelt in gewisser Hinsicht näher als selbst die „anschau-
liche Welt". Jedoch sind auch bei der Gewinnung der „anderen Menschen"
als Gegenstand psychologischen Forschens bestimmte Operationen des Ober-
den-Alltag-Hinausdenkens zu vollziehen, mit denen wir uns jetzt beschäf-
tigen wollen.

1 2 Wir verzichten in unserer gedrängten problemanalytischen Betrachtung über

die Gegenstandsarten der Psychologie auf die Einbeziehung der Tierpsychologie in


die Erörterungen. Die damit vernachlässigten Gesichtspunkte werden, soweit nötig,
später in anderen Zusammenhängen nachgetragen.

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„Andere Menschen" 57

W i r setzen mit unseren Überlegungen ein bei dem kaum zu bezweifelnden


Umstand, daß jede A r t von Denkart oder Urteil, also auch jede Aussage über
„äußere Realität", an ein „Ich" gebunden ist, von dessen „Standort" aus
diese Aussage abgegeben wird. Es gibt keine äußere Realität, die nicht Reali-
t ä t für jemanden ist, u n d es gibt - das ist hier hinzuzufügen - auch kein Idi,
dem nicht eine äußere Realität als seine Umgebung zugeordnet wäre. Diese
notwendige, in der alltäglichen Weitsicht vorgefundene u n d unaufhebbare
Z u o r d n u n g von Gegebenheiten, die idi mir selbst zurechne (etwa Gefühle,
Entschlüsse, wertende Stellungnahmen), und Gegebenheiten, die ich der Welt
zuredine (wie etwa Bäume, Häuser, andere Menschen), wird v o n A V E N A R I U S
durch eine besondere terminologische Feststellung herausgehoben: Die „Zu-
sammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Ich-Erfahrung u n d der U m -
gebungserfahrung in jeder Erfahrung, welche sich verwirklicht; diese prinzi-
pielle Zuordnung u n d Gleichwertigkeit beider Erfahrungswerte, indem beides:
Ich u n d Umgebung zu jeder Erfahrung, und z w a r im selben Sinne gehören;
mit einem W o r t : diese aller E r f a h r u n g eigentümliche Koordination, in wel-
cher das ,Ich'-Bezeichnete das eine (relativ) konstante Glied, ein Umgebungs-
bestandteil - z.B. das ,Baum'- oder .Mitmensch'-Bezeichnete - das andere
(relativ) wechselnde Glied bildet, bezeichne ich als die empiriokritisd)e Prin-
zipialkoordination" (1912, S. 83 f.) 1 3 . Von da aus k o m m t A V E N A R I U S zu einer
weiteren - wie uns scheinen will - sehr glücklichen, handlichen und präzisen
terminologischen Bestimmung: „Das menschliche Individuum als das (relativ)
konstante Glied einer empiriokritischen Prinzipialkoordination bezeichne ich
als das Zentralglied derselben; u n d den Umgebungsbestandteil - mag er nun
wieder ein Mensch oder ein Baum u. dgl. sein - als das Gegenglied" (1912,
S. 84).
Aus diesen Auseinanderlegungen ist nun eine eigentlich recht selbstver-
ständliche, aber dennoch zur K l ä r u n g bestimmter Grundlagenprobleme in
der Psychologie sehr bedeutsame Feststellung abzuleiten: Je konkret in der
Mehrzahl vorfindbare einzelne Menschen als Gegenstand der Forschung sind
notwendigerweise immer „andere" Menschen, das heißt, daß hier zwangs-
läufig ein jeweiliges „Ich" als „Zentralglied" mitzudenken ist, von dem aus
die konkreten, in der Mehrzahl vorfindbaren Menschen „Umgebungsbestand-
teile", „Gegenglieder" sind. Das „Zentralglied" ist in unserem Falle der je
„individuelle Forscher", die die jeweils - v o n ihm aus gesehen - „anderen"
Menschen zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Bemühungen macht.

13
Der Begriff „Idi" wird hier also in einem sehr schlichten, unvorgreiflidien Sinne
gebraucht: Zu meinem „Idi" in diesem Sinne gehört, was idi mir selbst zuschreibe,
wie „meine" Traurigkeit, „mein" Einfall, „mein" Urteil usw.; zu meiner Umgebung
gehört das für mich Vorgefundene, das ich nicht mir selbst zuschreibe. — Die Bezeich-
nung „empiriokritisth" ist aus dem Kennwort „Empiriokritizismus" abgeleitet, mit
welchem AVENARIUS seine philosophische Grundhaltung kennzeichnet.
5*

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58 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

Im „täglichen Leben" wird der andere Mensch mit Selbstverständlichkeit


als ein „Mensch wie ich" betrachtet. Ich zweifele hier also niemals daran, daß
bei anderen Menschen ebenfalls die Prinzipialkoordination verwirklicht ist,
zu der ein für den anderen vorfindbares „Ich" als „Zentralglied" und eine
vorfindbare Umgebung als „Gegenglied" gehört, wobei ich selbst möglicher
Bestandteil dieser Umgebung des „anderen Menschen" bin. (Wir haben den
damit gekennzeichneten Tatbestand an anderer Stelle als „deskriptive Per-
sonalität" [HOLZKAMP 1957, S. 300ff.] bezeichnet.) An dieser Alltagssicht
vom anderen Menschen setzt nun die Operation der Gewinnung des „anderen
Menschen" als Gegenstandsart der Psychologie ein.
Zunächst wollen wir die „anderen Menschen" als Gegenstand psycholo-
gischen Forschens durch eine negative Bestimmung kennzeichnen, nämlich
durch den Hinweis darauf, daß bestimmte Operationen, die zur Gewinnung
des „Menschen" als Gegenstand anderer Wissenschaften führen, hier nicht
vollzogen werden. Der Mensch wird innerhalb der Psychologie auf der einen
Seite nicht unter Durchdringung seiner je konkreten Besondertheit auf sein
Wesen und den Sinn seines Daseins hin durchleuchtet wie in der philosophi-
schen Anthropologie oder - ebenfalls unter Absehung von seiner konkreten
Individualität - als unselbständiges Bestandstück übergeordneter sozialer
Gebilde betrachtet wie in der Soziologie. Auf der anderen Seite wird - sofern
der andere Mensch Gegenstand psychologischen Forschens ist - aber auch
keine Analyse seiner personalen Einheit vorgenommen und der Blick auf
kleinere Einheiten gerichtet, etwa auf „die Organe", „die Zellen" usw. in
ihren chemisch-physikalischen Funktionszusammenhängen zueinander, wie
etwa in der Physiologie. Wenn innerhalb der Psychologie vom „Denken",
der „Motivation" die Rede ist, so meint man dabei stets das „Denken", die
„Motivation" des Menschen als Ganzen, nicht aber eines Organs usw. Der
andere Mensch - soweit er zum Forschungsgegenstand der Psychologie ge-
macht wird - verbleibt in der „realen" Konkretion, aber auch in der „natür-
lichen" Größenordnung, in der er uns in der alltäglichen Begegnung gegeben
ist. - Die damit versuchte Abgrenzung des „anderen Menschen" als Gegen-
stand der Psychologie gegen den „Menschen", wie ihn andere Wissenschaften
zu ihrem Gegenstand machen, ist natürlich nur äußerst grob und skizzenhaft;
unsere Abgrenzung deckt auch vielleicht nicht eindeutig die Psychologie in
all ihren faktischen historischen Ausprägungsformen. Immerhin dürfte sich
bei gründlicherem analytischen Vorgehen erweisen lassen, daß auch der Ort
für die hier zur Frage stehende Gegenstandsart der Psychologie im System
der wissenschaftlichen Gegenstände durchaus nicht schwerer zu bestimmen ist
und mehr Fragwürdigkeiten in sich birgt als bei anderen Wissenschaften, wenn
man nur nicht versucht, die psychologischen „Gegenstände" quasi „aus dem
Nichts" zu konstruieren, sondern den Bück auf die „Gewinnung" dieser Ge-
genstände aus der Realität des täglichen Lebens richtet.

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.Andere Menschen" 59

W e n n nun aber - wie aus dem eben Gesägten hervorgeht - die „anderen
Menschen", sofern sie Gegenstand psychologischen Forschens sind, audi in
ihrer „alltäglichen" Konkretion und Größenordnung belassen werden, so
v e r h a r r t man doch bei psychologischem Erfassen des Menschen nicht etwa
in jeder Hinsicht auf dem Standort des „täglichen Lebens". Bei der Gewin-
nung der „anderen Mensdien" als Gegenstandsart der Psychologie wird viel-
mehr - wie das bei jeder A r t wissenschaftlicher Gegenstandsgewinnung not-
wendigerweise der Fall ist - der Alltagsstandpunkt auf eindeutig angebbare
Weise überschritten. D a m i t sind wir an dem Kernstück unserer gegenwärtigen
Erörterung angelangt.
Die genaue Stelle, an welcher die Denkoperation der „Gegenstandsgewin-
nung" des „anderen Mensdien" f ü r die Psychologie ansetzt, ist eben die ge-
nannte selbstverständliche, alltägliche Überzeugung, daß der Mitmensch ein
Mensch ist wie ich, bei dem also wie bei mir die „Prinzipialkoordination"
vorliegt. Bei näherer analytischer Betrachtung erweist es sich, daß meine
Überzeugung von der Ichhafligkeit u n d der erlebten W e l t des anderen Men-
schen aus wesentlich anderen Quellen stammt als meine Konstatierung, daß
ich traurig bin oder daß dort ein Baum ist. W ä h r e n d meine Traurigkeit als
Zentralglied u n d der von mir gesehene Baum als Gegenglied von meinem
Standpunkt aus f ü r mich unmittelbar vorgefunden werden, ist in dem mir
gegebenen Gegenglied „anderer Mensdi" notwendigerweise nichts von seiner
Traurigkeit u n d dem von ihm gesehenen Baum unmittelbar vorfindlidi, son-
dern nur der Mensch als ein Wahrnehmungsding unter Wahrnehmungsdingen.
Die Traurigkeit des anderen Mensdien und der von ihm gesehene Baum ge-
hören nicht von meinem Standort aus zum Vorgefundenen, sondern eben nur
v o n dem Standort des anderen Mensdien aus, also einem Standort, den ich
nicht einnehme u n d den idi wegen meiner prinzipiellen und unaufhebbaren
Icheingeschlossenheit auch niemals erreichen kann. Der andere Mensch gehört
mithin nur soweit zu dem f ü r midi Vorgefundenen, als er bloßes „Gegen-
glied" meiner „Prinzipialkoordination", Bestandteil meiner U m w e l t ist; die
Ansicht, daß der andere Mensch nicht allein Bestandteil meiner Umwelt, also
bloßes „Ding" ist, sondern daß ich es hier mit einem anderen „Ich" als dem
Inbegriff von Zentralgliedern u n d einer zugehörigen „anderen" U m w e l t als
Inbegriff von Gegengliedern zu tun habe, ist zu der großen Klasse irgendwie
gearteter „Annahmen" zu rechnen. A V E N A R I U S spricht hier davon, d a ß in
dem „natürlichen Weltbegriff", sofern er sich auf die anderen Menschen be-
zieht, eine „Hypothese" eingeschlossen ist. „Der hypothetische Bestandteil
meines natürlichen Weltbegriffs l i e g t . . . darin, d a ß ich den mitmensdilidien
Bewegungen 1 4 , welchen - sofern sie nur als ein von meinem örtlichen Stand-

14
Zu den mitmensdilidien „Bewegungen" sind hier, wie AVENARIUS an anderer
Stelle (1912, S. 7) ausführt, audi die sprachlichen Äußerungen zu redinen, die, sofern
man sie als bloßes Gegenglied betrachtet, nur „Töne und Geräusche" sind, während

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60 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
punkt aus Vorgefundenes betrachtet werden - tatsächlich nur eine mechanische
Bedeutung zukommt, eine mehr-als-mechanische Bedeutung zuschreibe" (AVE-
NARIUS 1912, S. 192f.). - Zum angemessenen Verständnis dieser Darlegun-
gen hat man sich stets vor Augen zu halten: Es wird hier nirgends behauptet,
daß dem anderen Menschen, der zunächst als bloßes „Ding" vorliegt, durch
einen irgendwie gearteten Denkakt sein „Ich" mit der zugeordneten Um-
gebung nachträglich beigelegt werde. Es wird lediglich behauptet, daß sich bei
der analytischen Prüfung der Frage, was an dem anderen Menschen, wie wir
ihn im täglichen Leben betrachten, von jeweils „meinem" Standort aus vor-
findbar ist, der unausweichliche Tatbestand ergibt, daß das andere Ich als
Zentralglied mit seiner Umgebung als Gegenglied nicht zu diesem von meinem
Standort aus Vorfindlichen gehört™.
In den damit abgeschlossenen Darlegungen haben wir den Tatbestand
„andere Menschen" umschrieben, soweit er auf legitime "Weise zum Gegen-
stand der Psychologie wird. Innerhalb der Psychologie wird der andere
Mensch als fremdes Ich nicht wie im täglichen Leben naiv für unmittelbar und
zweifelsfrei vorfindlich angesehen, man muß sich vielmehr den Umstand mit
aller Klarheit gegenwärtig halten, daß der andere Mensch als Gegenstand der
wissenschaftlichen Bemühungen des „individuellen Forschers" nur soweit zum
unmittelbar Vorgefundenen gehört, wie er Gegenglied der Prinzipialkoordi-
nation des individuellen Forschers ist, daß aber Aussagen über den anderen
Menschen als ein „Ich" mit der dazugehörigen Umwelt, also als fremde Prin-
zipialkoordination, notwendigerweise „mittelbaren" Charakter tragen, in-
sofern, als hier nicht über Vorgefundenes, sondern über auf irgendeine Weise
„Angenommenes" gesprochen wird.
Während die geschilderte Operation der Gewinnung der Gegenstandsart
„andere Menschen" unserer Auffassung nach innerhalb der Psychologie all-
gemeinverbindlich ist, kann man nun bei der Herleitung prinzipieller Kon-

die Einordnung der sprachlichen Äußerungen als „Aussagen" die Annahme des Ge-
gebenseins einer fremden Prinzipialkoordination impliziert.
l s Man findet gelegentlich die Ansicht ausgesprochen, daß der „andere Mensch"

als Ausdrucksträger für uns in seiner „inneren" Befindlichkeit unmittelbar gegeben


sei. „Wir können auch Andere ,innerlich wahrnehmen', insofern wir ihren Leib als
Ausdrucksfeld für ihre Erlebnisse erfassen" (SCHELER 1923, S. 6). Nun läßt es sich
nicht leugnen, daß uns phänomenal die Traurigkeit eines anderen Menschen in seinen
Ausdruckserscheinungen unmittelbar „wahrnehmbar" erscheint. Wir „sehen", daß er
traurig ist. Diese fremde Traurigkeit des anderen bleibt aber nichtsdestoweniger
Gegenglied unserer Prinzipialkoordination, Bestandteil unserer Welt. Die Traurig-
keit des anderen ist für uns nicht vorgefunden wie unsere eigene Traurigkeit, es ist
uns vielmehr in der Wahrnehmung der Traurigkeit des anderen unmittelbar mit-
gegeben, daß es seine Traurigkeit ist, die hier wahrgenommen wird, also eine Traurig-
keit, die für den anderen zum unmittelbar Vorfindlichen gehört. — Das Faktum der
unaufhebbaren Icheingeschlossenheit jedes Menschen ist auch durch ausdruckspsydio-
logische Überlegungen nicht in Frage zu stellen.

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.Andere Menschen" 61

Sequenzen aus dem Tatbestand der Mittelbarkeit aller Aussagen über das
fremde Ich (mit zugeordneter Umwelt) zwei grundsätzlich verschiedene Wege
gehen. Man kann nämlich einmal das Postulat aufstellen, daß nichts anderes
als für den Forscher direkt Vorfindbares Gegenstand wissenschaftlichen For-
schens werden darf, demgemäß die fremde Prinzipialkoordination kurzer-
hand aus der Wissenschaft ausschließen und den anderen Menschen als bloßes
Gegenglied der je eigenen Prinzipialkoordination, mithin als bloßes „ D i n g "
ohne jede „mehr-als-mechanische" Bedeutung, betrachten. Man kann aber
auch von dem Postulat ausgehen, daß Aussagen über den anderen Menschen
als fremdes Ich, dem seine nur ihm unmittelbar zugängliche „Welt" zugeord-
net ist, trotz der unvermeidlichen Mittelbarkeit solcher Aussagen innerhalb
der wissenschaftlichen Psychologie zulässig sind.

2. Die Verfehltheit des behavioristischen Verbots der wissenschaftlichen Ver-


wertung von Daten über den „anderen Menschen" als „fremdes Zentralglied"
mit zugeordnetem „Gegenglied") (Avenarius)

Der erste der beiden geschilderten Wege, die Ausschaltung des „fremden Zen-
tralglieds" (mit zugeordneter „Welt") aus der wissenschaftlichen Psychologie
und die Behandlung des „anderen Menschen" samt seiner - verbalen und
nichtverbalen - Äußerungen als bloßes „Gegenglied" der „Prinzipialkoordi-
nation" des Forschers, mithin ohne jede „mehr-als-mechanische" Bedeutung,
ist, wie schon einsichtig geworden sein wird, der Weg des Behaviorismus als
allgemeiner psychologischer Denkrichtung. „The behaviorists have in com-
mon the conviction that a science of psychology must be based upon a study
of that which is overtly observable: physical Stimuli, the muscular movements
and glandulär secretions which they arouse, and the environmental products
which ensue. The behaviorists differ somewhat among themselves as to what
may be inferred in addition to what is measured, but they all exclude self-
observation (introspection) as a legitimate scientific method" (HILGARD 1958,
S. 48 ff.) 1 6 . Wenn wir im folgenden von „Behaviorismus" sprechen, so meinen
wir damit jede psychologische Lehre, welcher das Verbot der Benutzung
von Daten über den „anderen Menschen "als „fremdes Zentralglied" (mit zu-
geordnetem „Gegenglied") zugrunde liegt, einerlei, welche besondere Aus-

1 6 Es erscheint uns zweckmäßig, die verstaubte und unpräzise Bezeichnung

„Selbstbeobachtung" bzw. „introspection" allmählich endgültig aus der Wissensdiafts-


sprache zu verbannen. Der Terminus „introspection" legt nämlich einmal die Vor-
stellung nahe, daß der „introspectionalist" lediglich durch die Beobachtung „seiner
selbst", vom „arm diair" aus, die Psychologie als empirische Wissenschaft aufbauen
wolle (einen derartigen „Introspektionalisten" hat es nie gegeben); zum anderen,
und das ist viel wichtiger, trifft dieser Ausdruck den hier zur Frage stehenden Sach-
verhalt nur äußerst schlecht; wenn man die „mehr-als-mechanische" Betrachtung des

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62 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

prägung eine solche Lehre sonst noch hat, und einerlei, ob sich die Vertreter
dieser Lehre selbst als „Behavioristen" bezeichnen oder nicht.
W i r wollen an dieser Stelle nicht etwa in eine ausführliche Diskussion der
verschiedenen behavioristischen Theorien eintreten; auch die Unterscheidung
zwischen „älterem" u n d „neuerem" Behaviorismus ist hier f ü r uns irrelevant.
Deswegen vernachlässigen wir auch die differenzierteren Gesichtspunkte, wie
sie in den kritischen Analysen beigebracht wurden, die z. B. von K A F K A (1932),
KÖHLER (1933, S. 1 - 2 2 ) , THOMAE (1954; 1955), WELLEK (1955b; 1959b)
u n d BERGIUS (1960) stammen. W a s wir allerdings im Interesse unserer wei-
teren Ausführungen leisten müssen, ist eine kritische Erörterung des genann-
ten, allem „Behaviorismus" gemeinsamen Verbotes der wissenschaftlichen
Verwertung von D a t e n über den anderen Menschen als „fremdes Zentral-
glied".
Die behavioristische Festlegung, daß nur das „von außen" konstatierbare
„Verhalten", nicht aber die „privaten" Erlebnisse des Menschen legitimer
Gegenstand der Psychologie sind, bezieht sich auf andere Menschen als Ge-
genstand psychologischer Forschung. Die „Prinzipialkoordination" gehört
hier dem „individuellen Forscher" an, das „Gegenglied" dieser „Prinzipial-
koordination" ist der „andere Mensch" als Forschungsgegenstand. Die Aus-
schaltung des „anderen Menschen" als „Zentralglied" einer eigenen „Prin-
zipialkoordination" geschieht mit dem Argument, daß nur das äußere
Verhalten eines Menschen intersubjektiv zugänglich sei, nicht aber sein „pri-
vater", nur ihm gegebener Erlebnisbestand. - W i r wollen es auf sich beruhen
lassen, ob die Behauptung der Intersubjektivität der „Gegenglieder" zu Recht
besteht, u n d statt dessen einen anderen Gesichtspunkt in die Diskussion ein-
führen.
Psychologie als Wissenschaft verwirklicht sich nicht nur in der Beziehung
zwischen dem je „individuellen Forscher" u n d dem Gegenstand seiner For-
schungsbemühungen, in diesem Falle dem „anderen Menschen"; Psychologie
ist - wie jede Wissenschaft - ihrem Wesen nach Mitteilung an andere; nur
durch das gesprochene oder geschriebene W o r t , das verstanden und berück-
sichtigt wird, ist Wissenschaft als Realität denkbar. Es ist also der genannten
Beziehung zwischen dem „individuellen Forscher" u n d dem „anderen Men-
schen" als Gegenstandsart der Psychologie eine andere zwischenmenschliche
Beziehung an die Seite zu stellen, nämlich die Beziehung zwischen dem „in-
dividuellen Forscher" und den „anderen Forschern" als Partnern der wissen-
schaftlichen Kommunikation. Auch innerhalb dieser Beziehung ist dem je

„anderen Menschen" als „fremdes Zentralglied" als illegitim ansieht, so wendet man
sich damit nicht nur gegen irgendeine Art von „Selbstbeobachtung", sondern man
schließt den Gesichtspunkt aus der Psychologie aus, nach welchem die „Erfahrungen"
eines Menschen, und zwar die „Erfahrungen" von ihm selbst und von der „Welt",
nur jeweils diesem Menschen selbst gegeben sind.

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.Andere Menschen" 63
„individuellen Forscher" als Vorfindlicbes nur sein Ich als „Zentralglied" und
der „andere Forscher" als bloßes „Gegenglied" seiner eigenen, „privaten"
Prinzipialkoordination gegeben, und auch hier erhebt sidi demnach die Frage,
ob die „mittelbare", nicht auf Vorfindlidies bezogene Annahme, daß der
andere Forscher „Zentralglied" einer fremden Prinzipialkoordination sei, zu-
gelassen werden soll oder nicht.
H a t man die Problemsituation erst einmal bis zu diesem Punkt ent-
wickelt, so offenbart sich die entscheidende Fragwürdigkeit des „behaviori-
stisdien Verbots" eigentlich von selbst. Welche Stellung soll der Behaviorist
zu der hier zur Frage stehenden Beziehung zwischen dem „individuellen For-
scher" und den „anderen Forschern" einnehmen? In Konsequenz zu seiner
eigenen Grundauffassung müßte der Behaviorist auch den „anderen Forscher",
wie den „anderen Menschen" überhaupt, unter Ausklammerung seiner „pri-
vaten" Erlebnisse als bloß „äußere" „physikalische" Tatsache betrachten,
womit auch die - mündlichen oder schriftlichen - sprachlichen Äußerungen
des „anderen Forschers" als rein „physikalische" Gegebenheiten anzusehen
wären. Damit hätte der Behaviorist sich indessen die Möglichkeit genommen,
irgendeine nicht von ihm selbst stammende wissenschaftliche Äußerung als
sinnvolle Mitteilung eines anderen Menschen zu betrachten, also stellung-
nehmend auf diese Äußerung einzugehen, seine Lehren in den Zusammenhang
installierter wissenschaftlicher Grundauffassungen zu stellen u. ä. m. Auf diese
Weise wäre aber, wie die Wissenschaft überhaupt, auch der Behaviorismus
selbst gar nicht als möglich zu begreifen. Diese Argumentation ist indessen
nodi zuzuspitzen. D a der Behaviorist als „individueller Forscher" ja nicht
der einzige Behaviorist ist, sondern der Behaviorismus eine zahlenmäßig sehr
starke wissenschaftliche Bewegung darstellt, müßte der Behaviorist in Kennt-
nis der Grundkonzeption des Behaviorismus nicht nur die anderen Forscher
als bloße „Gegenglieder" betrachten, er hätte darüber hinaus damit zu rech-
nen, daß die anderen Forscher, soweit sie Behavioristen sind, ihn selbst als
bloßes „Gegenglied" ihrer Prinzipialkoordination ansehen und deshalb seine
wissenschaftlichen Äußerungen nicht als sinnvolle Kundgaben, sondern nur
als „physikalische" Sachverhalte einordnen. Damit wäre es denn überflüssig
für den Behavioristen, irgendwelche wissenschaftliche Mitteilungen auszuspre-
chen oder zu verfassen, es sei denn, er richte diese Mitteilungen nicht an seine
Mitbehavioristen, sondern an nichtbehavioristische Forscher, die bereit sind,
seine Verlautbarungen als den Niederschlag der - notwendigerweise „pri-
vaten" - Meinungen eines anderen Menschen zu akzeptieren. W i r wollen
diesen Gedankengang nicht bis zum Aufweis weiterer Unsinnigkeiten fort-
führen. - Angesichts der damit geschilderten Problemlage dürfte dem Be-
havioristen wohl nichts anderes übrigbleiben, als seine Grundüberzeugung
einzuschränken und die Festlegung zu treffen, daß die Ausschaltung „priva-
ter" Erlebnisse und „mentalistischer" Begriffe nur dann vorzunehmen sei,

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64 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

wenn die anderen Menschen Gegenstand psychologischer Forschung sind, nicht


aber, wenn es sich bei den anderen Menschen um andere Torseber handelt. Der
Behaviorist müßte es sich dann allerdings gefallen lassen, daß man ihm die
Berechtigung zu einer solchen Einschränkung abspricht. Der Sinn der Elimi-
nierung der „privaten" Erlebnisse des anderen Menschen sollte ja in der
Sicherung der Intersubjektivität der wissenschaftlichen Daten liegen. Die wis-
senschaftlichen Daten liegen ja aber ausschließlich in Form von sprachlichen
Mitteilungen „individueller Forscher" über ihre je persönlichen, notwendiger-
weise privaten Beobachtungen vor. Wenn man sich dazu entschließt, die Mit-
teilungen der Forscher nicht als „physikalische", sondern als sinnvermittelnde
Tatbestände aufzufassen, wäre mithin das ganze Vorhaben der Sicherung der
Intersubjektivität hinfällig geworden.
Wir halten es für möglich, daß behavioristisch eingestellte Forscher über
die Art unserer Argumente gegen den Behaviorismus etwas verwundert sind.
Man ist innerhalb des behavioristisdien „Lagers" offensichtlich noch niemals
auf den Gedanken gekommen, seine wissenschaftlichen Grundkonzeptionen
über den Menschen auch auf sich selbst anzuwenden. Der Forscher erscheint
hier als ein quasi „höheres Wesen", der sich mit Selbstverständlichkeit von
seinen eigenen Festlegungen über den Menschen ausnimmt. D I N G L E R hat für
diese Art von Fehlhaltung das schöne Wort vom „naiven Dogmatismus" ge-
prägt. Er kennzeichnet die „naiv dogmatische" Auffassung wie folgt: „...es
wird in ihr gar nicht berücksichtigt, daß diese Auffassung nur möglich ist,
wenn jemand da ist, 3er diese Auffassung hat, jemand, der die Welt so auf-
faßt. Es kommt in ihr nicht zur Geltung, daß hinter dieser Auffassung ein
lebendiges Ich stehen muß, ein Geist, der sich diese Auffassung schafft, und
der sich nicht selbst durch diese Auffassung aufzuheben vermag" ( D I N G L E R
1932, S. 10; Hervorhebung von mir) 1 7 .
17
Zu ähnlichen, wenn auch auf etwas anderen Wegen gewonnenen Positionen
gegenüber dem Behaviorismus kommt SMEDSLUND ( 1 9 5 5 ) : The epistemological
foundations of behaviorism. A critique. — Der „private" Charakter der wissen-
schaftlichen Forschung überhaupt wird — von allgemeineren philosophischen Positio-
nen aus — von REININGER in seiner Lehre vom „methodischen Solipsismus" heraus-
gehoben (vgl. etwa 1 9 3 1 ) . Aber audi in BRIDGMANS Arbeiten finden sich immer wie-
der Hinweise darauf, daß Wissenschaft nicht „public", sondern „private" ist (vgl.
etwa „Science: public or private?", 1 9 4 0 ) . Diese Auffassung BRIDGMANS wird von
den empiristischen Anhängern seines „operationalen" Denkansatzes (vgl. dazu un-
sere Darlegungen auf S. 195 ff.) gelegentlich kritisiert, meist aber als „unpassend"
einfach beiseite gelassen. So beklagte sich BRIDGMAN in den Schlußbemerkungen zu
dem von BORING im PSYCHOLOGICAL REVIEW veranstalteten Symposium über den
„Operationismus": „The various discussions have forced again on my attention the
curious and almost universal reluctance to accept what seems to me one of the most
immediate consequences of the operational point of view. Several of the contributors
have referred to science as of necessity being public in character; I believe on the
other hand that a simple inspection of what one does in any scientific enterprise will
show that the most important part of science is private" ( 1 9 4 5 , S. 2 8 1 ) .

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.Andere Menschen" 65
Nach dem Aufweis des naiv-dogmatischen Charakters und damit der
Unhaltbarkeit des behavioristischen Verbots der wissenschaftlichen Verwer-
tung von Daten über den „anderen Menschen" als „fremdes Zentralglied"
können wir zusammenfassend feststellen: Die Annahme, daß jeweils „Ich"
und die jeweils „anderen Menschen" insofern prinzipiell einander gleich sind,
als sie sich als Menschen gegenüberstehen und als Menschen voneinander
erfahren können, ist ein unaufhebbarer Grundbestandteil jeder sinnvollen
wissenschaftlichen Weltsicht. Es sind die Aussagen über den für midi als wis-
senschaftlich Forschendem vorfindbaren „anderen Menschen" nicht ausschließ-
lich und in jedem Falle auf diesen Menschen als bloßen Inbegriff seiner zu
meiner Umwelt gehörigen „dinglichen" Beschaffenheiten zu beziehen; „mittel-
bare" Aussagen über den „anderen Menschen" als „fremdes Ich" mit zugeord-
neter „eigener" Umwelt müssen vielmehr in der Psychologie als voll legitim
betrachtet werden.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei abschließend noch auf folgendes
hingewiesen: Mit unserer Kritik an dem dargestellten „behavioristischen Ver-
bot" soll nicht etwa behauptet sein, daß der Aspekt auf den „anderen Men-
schen" als „fremdes Zentralglied" notwendigerweise immer und überall in
psychologischen Theorien anzuwenden sei und daß wir nun unsererseits die
Formulierung von theoretischen Annahmen über den „anderen Menschen"
ohne Berücksichtigung des „fremden Ich" (mit zugeordneter Umwelt) „ver-
bieten" wollten. Ebensowenig sollte aus unseren Darlegungen der Schluß ge-
zogen werden, daß sich unsere kritischen Feststellungen durchgehend und
zwangsläufig auch auf die von Behavioristen entwickelten speziellen theore-
tischen Ansätze, etwa über das Lernen, beziehen. Wir wandten uns lediglich
gegen die dogmatische Einengung der psychologischen Forschung durch das
„behavioristische Verbot". Die innerhalb des Behaviorismus konzipierten ein-
zelnen Theorien haben dagegen ihren wissenschaftlichen Wert in freier Kon-
kurrenz mit anderen Theorien zu erweisen.

3. „Umgebung" und „Situation"

Wir müssen unsere bisherigen Darlegungen über die psychologische Gegen-


standsart „andere Menschen" noch in einer bestimmten Hinsicht weiter aus-
bauen und präzisieren. Dazu weisen wir zunächst darauf hin, daß das von
uns herangezogene AvENARiussche Konzept der „Prinzipialkoordination" mit
den Instanzen des „Zentralgliedes" als des „Ich-Bezeichneten" und des
„Gegengliedes" als des „Welt-Bezeichneten" für sich genommen nichts weiter
ist als eine erkenntnislogische Konstruktion, bei welcher über die nähere
Eigenart der „Koordination" und der Beziehung zwischen „Ich" und „Welt"
nichts Näheres ausgesagt wird. Es ist jedoch zweckmäßig, zur klareren Cha-

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66 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
rakterisierung unserer Konzeption den Umstand herauszuheben, daß die
„Welt", die dem Menschen gegeben ist, auf zweierlei gänzlich verschiedene
Weisen begrifflich näher spezifiziert werden kann. Einmal kann man unter
„Welt" die Welt verstehen, wie sie „für uns alle" vorliegt und wie sie jedem
von uns, wenn er sie überhaupt „wahrnimmt", auf im Prinzip gleiche Weise
gegeben ist. Abweichungen der verschiedenen Sichtweisen der Welt erscheinen
unter diesem Aspekt als notwendig bedingt durch „subjektive" Verfälschun-
gen, durch „Täuschungen", die eine angemessene Wahrnehmung „der" Welt
verhindern. Neben der Konzeption der „Welt" als einer „Welt für uns alle"
kann unter „Welt" aber auch die „Welt für jeden einzelnen" verstanden wer-
den. In dieser - erkenntniskritisch rigoroseren - „Welt"-Konzeption geht
man von der Feststellung aus, daß die „Welt" eines Menschen eigentlich doch
zu ihm als je besonderem Individuum gehört, daß es mithin so viele „Welten"
wie Menschen gibt und daß in dieser Sichtweise für die „eine", allen gemein-
same „Welt" nirgends ein Platz bleibt. Von diesen beiden „Welt"-Konzeptio-
nen ist keinesfalls eine auf die andere zurückzuführen; wenn man unter „Welt"
lediglich die „Welt f ü r jeden einzelnen" verstehen wollte, wäre das Phäno-
men der Welt, in der wir alle leben und über die wir uns doch verständigen
können, nicht begreifbar; auf der anderen Seite kann aber auch der Umstand,
daß „Welt" nur bei jedem einzelnen von uns zur „Realität" wird und so in
gewissem Sinne zum einzelnen gehört, nicht gut wegdiskutiert werden. Die
Frage nach der Beziehung dieser beiden „Welten" zueinander ist ein grund-
legendes und schwerwiegendes Erkenntnisproblem, dem wir indessen hier nicht
näher nachzugehen brauchen. 18 Die Unterscheidung zwischen den beiden Kon-
zeptionen von „Welt" ist jedoch, wie sich ja bereits anläßlich der Abhandlung
der Gegenstandsart „anschauliche Welt" gezeigt hat, auch innerhalb des
engeren Rahmens psychologischer Betrachtung von großer Wichtigkeit. Wir
wollen deswegen dieser Unterscheidung auch eine handliche terminologische
Form geben und reden deshalb, sofern die „Welt" des Menschen im Sinne der
„Welt f ü r uns alle" aufgefaßt wird, von der „Umgebung" eines Menschen,
wobei wir den „Umgebungs"-Begriff also enger fassen als A V E N A R I U S in
den zitierten Ausführungen über die „Prinzipialkoordination"; wenn wir
die „Welt" des Menschen als Inbegriff der „Welt für jeden einzelnen" auf-
fassen, reden wir dagegen von der „Situation" eines Menschen, wobei wir
die „Situation" als die „Welt"-Seite- des „Lebensraumes" des Menschen im
LEWiNschen Sinne ansehen 19 . Die Unterscheidung zwischen „Umgebung" und

18
HEIDEGGER formuliert dieses Erkenntnisproblem mit aller Schärfe: „Ist ,Welt'
gar ein Seinscharakter des Daseins? Und hat dann ,zunächst' jedes Dasein seine
Welt? Wird so ,Welt' nicht etwas .Subjektives'? Wie soll denn noch eine .gemein-
same' Welt möglich sein, ,in' der wir doch sind? Und wenn die Frage nach der ,Welt*
gestellt wird, welche Welt ist gemeint?" (1927, S. 64).
19
Die Übernahme des „Lebensraum"-Begriffes bedeutet aber nicht, daß wir da-
mit irgendwelche anderen Konzepte der LEWiNsdien Feldtheorie mitübernehmen.

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.Andere Menschen" 67
„Situation" wird für unsere späteren Darlegungen noch öfter sehr bedeutsam
werden.
Die „anschauliche Welt" als Gegenstandsart der Psychologie ist, wie aus
unseren früheren Darlegungen hervorgeht, als „Umgebung" des Menschen im
eben geschilderten Sinne anzusehen. Die „anschauliche Welt" ist ja nicht
durch die Beziehung zwischen Wahrnehmung und wahrnehmendem Men-
schen, sondern durch die Beziehung zwischen Wahrnehmung und metrischer
Eigenart des Wahrgenommenen („Reizsituation") charakterisiert. Innerhalb
der Gegenstandsart „andere Menschen" ist „Wahrnehmung" dagegen Wahr-
nehmung von „Situationen", sofern die Wahrnehmungsweise hier als ab-
hängig vom je individuellen wahrnehmenden Subjekt betrachtet wird 20 .
Wir können nunmehr dem im Kapitel über die „anschauliche Welt" ge-
nannten Hauptzweig der Wahrnehmungslehre, in welchem die Beziehung der
unmittelbaren „Wahrnehmung" zu der metrischen Beschaffenheit des wahr-
genommenen „Gegenstandes" untersucht wird, einen anderen Hauptzweig
gegenüberstellen, in welchem das Wahrgenommene nicht als „Umgebung",
sondern als „Situation" (in unserem Sinne) aufgefaßt wird, und in dem mit-
hin die Beziehung der Wahrnehmung zum wahrnehmenden Subjekt zur Frage
steht. Eine derartige Einordnung der Wahrnehmung wird etwa vollzogen,
wenn L E W I N innerhalb seiner „Lebensraum"-Betrachtung von „Valenzen"
spricht, die phänomenal als den Weltgegebenheiten eines Menschen zukom-
mende anziehende oder abstoßende Kräfte gedacht sind, funktional dagegen
als mit der je besonderen Bedürfnislage des Menschen in Wechselwirkung
stehend angenommen werden. In den „situationsbezogenen" Zweig der Wahr-
nehmungslehre gehört aber auch die heute gemeinhin mit dem Namen „new
look" belegte, von B R U N E R und P O S T M A N inaugurierte Richtung der „social
perception"-Forschung, in welcher die Beziehung zwischen der Wahrneh-
mung und den Bedürfnissen und Einstellungen des Wahrnehmenden oder,
in einer besonders von K L E I N und F R E N K E L - B R U N S W I K vertretenen Version,
die Beziehung zwischen der Wahrnehmung und der „Persönlichkeit" des
Wahrnehmenden untersucht worden ist. Die beiden verschiedenen Arten der
Wahrnehmungsforschung sind, wie hoffentlich aus unseren Darlegungen klar
geworden ist, nicht konkurrierende Wahrnehmungstheorien, wobei man etwa
die auf die „metrische Weltform" bezogene als die „ältere" und die „person-
20
Die Zuordnung der „Umgebungswahrnehmung" zur Gegenstandsart „anschau-
liche Welt" und der „Situationswahrnehmung" zur Gegenstandsart „andere Men-
schen" ist allerdings nur solange eindeutig, als man den Mensdien als Wahrnehmenden
betrachtet. Der Mensch als „Wahrnehmungsgegenstand" ist dagegen unter bestimmten
Voraussetzungen sowohl als „Umgebung" wie als zur Gegenstandsart „andere Men-
schen" gehörig einzuordnen, wodurch an dieser Stelle sozusagen eine „Uberschnei-
dung" des Einteilungsgesiditspunktes „anschauliche Welt"—„andere Menschen" und
des Einteilungsgesichtspunktes „Umgebung"—„Situation" vorliegt. Wir kommen dar-
auf zurück.

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68 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
bezogene" - wie es in dem Scherznamen „new look" angedeutet zu sein
scheint - als die „modernere" Art der Wahrnehmungslehre betrachten dürfte.
Die beiden „Wahrnehmungs"-Aspekte schließen vielmehr logisch einander
aus; deswegen ist der eine prinzipiell niemals durch den anderen „er-
setzbar".

4. Abschließende Bemerkungen

Wir sind am Ende unserer Darlegungen über die psychologische Gegenstands-


art „andere Menschen". W i r fassen die wesentlichen Momente der „Gewin-
nung" dieser Gegenstandsart zusammen: In der Psychologie werden die
„anderen Menschen" in ihrer realen Konkretion und „natürlichen" Größen-
ordnung des „täglichen Lebens" belassen. Auch die alltägliche Überzeugung,
daß der „andere Mensch" ein „Mensch wie ich" ist, wird in der hier zur Frage
stehenden wissenschaftlich-psychologischen Einstellung beibehalten. Es wird
jedoch als Ergebnis einer analytischen Denkoperation konstatiert, daß der
„andere Mensch" jeweils f ü r mich nur als „Gegenglied" meiner „Prinzipial-
koordination", als Bestandteil der f ü r mich vorliegenden „Welt" tatsächlich
vorfindbar ist, daß aber sein „Ich" als Inbegriff des Innewerdens seiner selbst
und die „Welt", wie sie ihm gegeben ist, f ü r mich nicht zum Vorfindlichen
gehören und mir - wegen meiner unaufhebbaren Icheingeschlossenheit - auch
niemals unmittelbar gegeben sein können. Ich als „individueller Forscher"
kann mich von der Eigenart des Selbst- und Welterlebens des „anderen Men-
schen" niemals selbst überzeugen, sondern ich bin darauf angewiesen, daß ich
vom „anderen Menschen" - sei es in Worten, sei es durch vorher verabredete
Handlungen, etwa das Niederdrücken einer Taste, oder auf noch andere
Weise - Kunde erhalte. Die Einsicht in die notwendige Mittelbarkeit der
Daten über den „anderen Menschen" als „fremdes Zentralglied" (mit zu-
geordnetem „Gegenglied") darf nicht, wie das im Behaviorismus geschieht,
zum Anlaß f ü r ein Verbot dieser Sichtweise auf den Menschen genommen
werden. Es stellt indessen ein methodisches Hauptproblem der Psychologie
vom „anderen Menschen" dar, wie die Verbindlichkeit der „mittelbaren" Aus-
sagen über das Selbst- und Welterleben des „anderen Menseben" zu sichern
sei. Die Vergegenwärtigung dieses Verbindlichkeitsproblems ist ein wesent-
liches Charakteristikum der wissenschaftlich-psychologischen in Abhebung
von der alltäglichen Sichtweise auf den „anderen Menschen".

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I V . Übergreifende Betrachtung
der drei psychologischen Gegenstandsarten

Wir haben unsere Darstellung der drei Arten von Gegenständen der Psy-
chologie beendet. Es sollen nunmehr noch in übergreifender Betrachtung die
Beziehungen der drei Gegenstandsarten zueinander gekennzeichnet werden,
wobei wir uns kurz fassen können, weil wesentliche Hinweise auf die Relatio-
nen zwischen den drei Arten von Gegenständen bereits in den Einzelerörte-
rungen enthalten sind.
Wir vergegenwärtigen uns zunächst einen entscheidenden Unterschied
zwischen der Gegenstandsart „Erlebnisse als soldie" auf der einen Seite und
den Gegenstandsarten „anschauliche Welt" und „andere Menschen" auf der
anderen Seite. - Bei der Gewinnung der Gegenstandsart „Erlebnisse als
solche" nimmt man von dem für mich und nur für mich Vorgefundenen, der
Wirklichkeit meines Ich und meiner Welt den Ausgang. Dabei wird von dem
jeweilig inhaltlich konkreten Realitätscharakter des mir Gegebenen abgesehen
und der Blick auf den Umstand, daß dieses Gegebene mir in der Weise von
Erlebnissen gegeben ist, und auf die jeweils besondere Eigenart der Erlebnis-
weisen gerichtet. Bei der phänomenanalytischen Umschreibung soll die je
charakteristische Eigenart von Erlebnissen als solchen, wie sie mir gegeben
sind, durch die sprachliche Formulierung möglichst klar aufgewiesen werden,
damit eine Verständigung über das jeweils Gemeinte trotz der unaufhebbaren
„Jemeinigkeit" der Erlebnisse möglich ist. (Der Terminus „Jemeinigkeit"
stammt von HEIDEGGER.) Die Abhebung auf „Erlebnisse als solche" und die
Phänomenanalyse gehören also zu den Bemühungen um die Klärung von
Begrifflichem und damit die Vereindeutigung und Verfeinerung der sprach-
lichen Verständigung. - Bei der Gewinnung der Gegenstandsarten „anschau-
liche Welt" und „andere Menschen" dagegen wird der Blick nicht auf die
besondere Gegebenheitsweise der Realität für mich, sondern auf die jeweilig
konkrete, raumzeitlich besonderte Realität selbst gerichtet. Es geht hier nicht
um die Klärung von Begriffen über Gemeintes, sondern um die Erforschung
von „Tatsachen"; bestimmte empirisch-wissenschaftliche Allgemeinaussagen
über reale Verhältnisse - sei es die „anschauliche Welt" in Abhebung von der
„metrischen Weltform", seien es die „anderen Menschen" - werden formuliert
und in empirischem Forschen daraufhin überprüft, wieweit sie sich an den
realen Verhältnissen selbst realisieren lassen. - Aus diesen gegenüberstellen-
den Betrachtungen wird einsichtig, daß die Phänomenanalyse als allgemeines
Klärungsgeschäft dem Umgang mit den anderen beiden Gegenstandsarten
pragmatisch vorgeordnet ist, da die Verständigung darüber, was mit be-
stimmten Begriffen gemeint sein soll, eine Voraussetzung für die sinnvolle
empirische „Tatsachenforsdiung" darstellt. Mit dem Umstand der pragmati-
schen Vorgeordnetheit der Phänomenanalyse ist aber nun keinesfalls gesagt,

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70 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
daß auch faktisch die phänomenanalytische Besinnung der Erforschung der
„anschaulichen Welt" oder der „anderen Menschen" in jedem Falle vorher-
gehen muß. Man kann Begriffe wie „Bewegung", „Farbigkeit", „Vorurteil",
„Sympathie", „Versagung" vorab einer phänomenanalytischen Klärung unter-
ziehen, man kann aber auch einfach voraussetzen, daß „jeder weiß", was mit
diesen Begriffen gemeint ist, und gleich darangehen, die Begriffe, so wie sie
aus der Alltagsspradie für uns vorhanden sind, in „funktionale" theoretische
Zusammenhangsgefledite einzuordnen und realisierend auf reale Verhältnisse
zu beziehen. (Die Vertretbarkeit einer Vernachlässigung der phänomen-
analytischen Klärung hängt von der Eigenart der jeweils benutzten Begriffe
ab; wir werden später noch genauer auf die damit angedeuteten Probleme zu
sprechen kommen, stellen aber jetzt schon fest, daß viele Unzulänglichkeiten
der experimentellen Forschung in der Psychologie gerade auf die ungerecht-
fertigte Vernachlässigung der phänomenanalytischen Klärungsarbeit zurück-
zuführen sind.) Durch die pragmatische Vorgeordnetheit der Phänomen-
analyse ist dieses Verfahren nun aber keineswegs zur bloßen Vorarbeit oder
Vorbereitung für die empirische „Tatsachenforschung" degradiert. Genauso,
wie man empirische Forschung ohne phänomenanalytische Klärungen be-
treiben kann, bleibt auch die Berechtigung der phänomenanalytischen Vor-
gehensweise unabhängig davon bestehen, wieweit man sich die Ergebnisse der
phänomenanalytischen Besinnung bei der empirischen Forschung zunutze
macht oder nicht. Die Vereindeutigung und Verfeinerung unserer sprachlichen
Verständigung über Erlebnisse ist in jedem Falle ein voll vertretbares und
wissenschaftlich wertvolles Unternehmen.

Nach dieser allgemeinen Gegenüberstellung der Gegenstandsart „Erleb-


nisse als solche" auf der einen Seite und der Gegenstandsarten „anschauliche
Welt" und „andere Menschen" auf der anderen Seite wollen wir noch ge-
wisse Eigenarten der Beziehung der Gegenstandsarten eins und drei, „Erleb-
nisse als solche" und „andere Menschen", gesondert herausheben. - Wie wir
feststellten, besteht der phänomenanalytisdie Umgang mit „Erlebnissen als
solchen" in einem Aufweis dessen, was „jeweils mir" gegeben ist. Ich bemühe
mich, Klärungen darüber zu vermitteln, was ich unter bestimmten Erlebnis-
begriffen verstehen will. Innerhalb der von uns herausgehobenen dritten
Gegenstandsart geht es ja aber gerade um das Verhalten und Erleben der
jeweils anderen Menschen. Man kann mithin zur Kennzeichnung des Unter-
schiedes zwischen den Gegenstandsarten eins und drei ein von D I N G L E R ein-
geführtes Begriffspaar heranziehen, und zwar das Begriffspaar „Psychologie
von mir" („Autopsychologie") und „Psychologie von den anderen" („Allo-
psydiologie"). (Diese Unterscheidung hat D I N G L E R wohl das erste Mal in
seinen „Grundlagen der Naturphilosophie" [1913, S. 133 ff.] ausführlich ab-
gehandelt.) - Von dem „autopsychologischen" Charakter der Gegenstandsart
„Erlebnisse als solche" und dem „allopsychologischen" Charakter der Gegen-

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Übergreifende Betrachtung 71
standsart „andere Menschen" aus ist verständlich, daß die psychologische
Grundkategorie „Erlebnis" bei der Beschäftigung mit den beiden Gegenstands-
arten in ganz verschiedene Sinnzusammenhänge gestellt wird. Bei den phä-
nomenanalytischen Bemühungen geht es darum, die besondere Eigenart eines
gemeinten Erlebnisses möglidist klar und differenziert aufzuweisen; bei der
Erforschung der „anderen Menschen" kann u. a. versucht werden festzustellen,
ob bestimmte Selbst- oder Welterlebnisse bei „anderen Menschen" faktisch
vorliegen. Wenn etwa die Begriffe „Vorurteil" oder „Sympathie" zur Frage
stehen, so geht es im Kontext phänomenanalytischer Besinnung um den Auf-
weis, was unter einem „Vorurteil" oder unter „Sympathie" verstanden wer-
den soll; im Kontext der Erforschung „anderer Mensdien" hingegen wird
danach gefragt, ob bestimmte Mensdien Vorurteile haben oder ob sie be-
stimmte Beurteilungsobjekte sympathisch finden. Es können auch die „an-
deren Menschen" darüber befragt werden, was sie unter einem Vorurteil oder
unter Sympathie verstehen. In jedem Falle geht es aber im Bereich der Gegen-
standsart „andere Menschen" nicht um irgendwie geartete Bedeutungsanalysen
von Erlebnisbegriffen, sondern um die Gewinnung von Aussagen über real
und faktisch bei „anderen Menschen" vorfindbare Erlebnisse. (Auch das Re-
sultat der Befragung, was „andere Menschen" unter einem Vorurteil oder
unter Sympathie verstehen, gibt nichts anderes wieder als bestenfalls ein
Faktum. Das Problem, was innerhalb der Wissenschaftssprache unter Sym-
pathie oder Vorurteil verstanden werden soll, bleibt von diesem Resultat
völlig unberührt. Es können lediglich die eruierten Meinungen über die Be-
deutungen des „Vorurteils"- oder „Sympathie"-Begriffes mit den entsprechen-
den phänomenanalytischen Umschreibungen verglichen werden, um festzu-
stellen, wieweit in den Meinungsäußerungen dasselbe wie in meiner phä-
nomenanalytischen Umschreibung gemeint ist.)
Die zweite der von uns herausgehobenen Gegenstandsarten, die „anschau-
liche Welt", ist von dem Einteilungsgesichtspunkt „Psychologie von mir" und
„Psychologie von den anderen" her nicht einzuordnen. Es geht hier weder
um „mich" noch um „andere Mensdien", sondern eben um die Erforschung
der uns gegebenen „Welt" unter Ansetzung des Bezugssystems „metrische
Weltform". Die zweite Gegenstandsart steht deswegen aber nicht fremd und
unverbunden zwischen den anderen Gegenstandsarten; es ist auch hier die für
die psychologische Vorgehensweise überhaupt charakteristische Räckbezogen-
heit auf den Menschen mitgedacht. Die „ansdiaulidie Welt" ist eben die Welt,
in die wir alle gestellt sind, in der wir leben und uns orientieren müssen; es
wird hier auf dem Hintergrund der in die Realität hineingebauten metrischen
Invarianzen zu erforschen versucht, wie wir uns in der uns gegebenen Welt
„orientieren", welche Abgehobenheiten, Zusammenordnungen, Konstanzen
usw. von uns erlebt werden. D a bei dieser Betraditensweise der Unterschied
zwischen „mir" und „den anderen" keine Rolle spielt und da auch von in-
6 H o l z k a m p GSt

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72 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

dividuellen Unterschieden abgesehen wird, könnte man die Psychologie von


der „anschaulichen Welt" mit einiger Vorsicht als eine auf die Welt gerichtete
„Psychologie von uns allen" betrachten. - Die Grundkategorie „Erleben",
die wir eben im Zusammenhang mit den beiden anderen Gegenstandsarten
diskutiert haben, ist im Prinzip auch auf die Gegenstandsart „anschauliche
Welt" anzuwenden. Man könnte die „anschauliche Welt" auch als die un-
mittelbar erlebte Welt bezeichnen im Gegensatz zur „metrischen Weltform",
die das Ergebnis realisierender Veränderungen nach idealwissenschaftlichen
Ideen darstellt. Wir haben den Terminus „Erleben" nur deshalb nicht zur
Kennzeichnung der hier gemeinten Gegenstandsart benutzt, um nicht das
Mißverständnis der Gegenüberstellung der „erlebten" Welt zu einer erlebnis-
transzendenten „physikalischen" Welt zu fördern; wie wir ausführlich dar-
legten, ist die „metrische Weltform" uns zwar nicht von vornherein gegeben,
aber die in die Realität hineingebauten metrischen Invarianzen sind deshalb
nicht erlebnistranszendent, sondern gehören ebenfalls zu dem für uns Vor-
liegenden.
Unsere - hier nur grob skizzierte - Auseinanderlegung des Gegenstandes
der Psychologie in drei „Gegenstandsarten" wäre durch eine quasi „senkrecht"
auf der Einteilung in „Gegenstandsarten" stehende psychologische „Kate-
gorienlehre" zu ergänzen. Dabei würde es sich erweisen, daß es bestimmte
psychologische „Grundkategorien" gibt, die, in jeweils verschiedenem Kon-
text, in allen drei Gegenstandsarten anwendbar sind, wie etwa „Erlebnis" oder
„Wahrnehmung", daß andere Kategorien hingegen nur in zwei Gegenstands-
arten anzusetzen sind, wie etwa „Lokomotion" oder „Steuerung" nur inner-
halb der Gegenstandsarten zwei und drei, und daß schließlich noch andere
Kategorien nur innerhalb jeweils einer Gegenstandsart angewendet werden
können, wie etwa „Individualität" und demgemäß „Persönlichkeit", „Struk-
tur" (im KRUEGERschen Sinne) usw. nur innerhalb der Gegenstandsart „andere
Menschen". Ehe eine solche Kategorienlehre sinnvoll entwickelt werden
könnte, müßte man eine gründliche Durchmusterung der in der Psychologie
benutzten Begriffe auf ihre „kategorialen" Grundlagen vornehmen und sich
Herleitungsprinzipien erarbeiten, von denen aus die Kategorieneinteilung als
notwendig begreifbar und eine beliebige Vermehrung oder Verminderung der
Kategorien zu verhindern wäre. Die damit gekennzeichnete, im Interesse der
Geordnetheit wissenschaftlichen Handelns in der Psychologie zentrale Auf-
gabe ist bisher - abgesehen von wenigen Ansätzen (vgl. etwa KAMINSKI 1959,
S. 52 ff., 65 ff. und 68 ff.) - kaum in ihrer Wichtigkeit erkannt und ernsthaft
bearbeitet worden. Auch wir müssen das hier vor uns liegende Feld für die
psychologische Grundlagenbesinnung wegen der andersgearteten Zielsetzung
dieses Buches unbearbeitet lassen.

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V. Das Experiment
innerhalb der drei psychologischen Gegenstandsarten

1. Das „Veranschaulichungsexperiment" als „uneigentliche" Experimentier-


weise innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse als solche"

Wir kommen innerhalb unserer allgemeinen Ausführungen über die drei Arten
von „Gegenständen" der psychologischen Forschung nun noch auf die für spä-
tere Darlegungen wichtige Frage zu sprechen, ob und auf welche Weise inner-
halb der drei Gegenstandsarten der Psychologie die Möglichkeit zum Experi-
mentieren besteht. Dabei gehen wir die drei Gegenstandsarten einzeln durch
und behandeln zunächst die erste Gegenstandsart „Erlebnisse als solche".
Wenn man sich die von uns früher herausgearbeitete Eigenart der Phä-
nomenanalyse als den einzelwissenschaftlich-psychologischen Umgang mit
„Erlebnissen als solchen" vergegenwärtigt, so mag man zu dem Urteil ge-
langen, daß ein experimentierendes Vorgehen hier von vornherein unmöglich
ist. Die Phänomenanalyse ist, wie wir feststellten, ein im weitesten Sinne
„definitorisches" Verfahren, mit welchem eine Verständigung erreicht werden
soll über unsere Weise, von Erlebnissen zu sprechen. Es werden, so mag man
meinen, in der Phänomenanalyse Festlegungen oder Vereinbarungen über
Gemeintes angestrebt, die jedem experimentellen Handeln pragmatisch vor-
geordnet und demnach nicht selbst experimentell anzugehen sind; das Vor-
haben einer experimentellen Phänomenanalyse sei ungefähr genauso vernünf-
tig, als wenn man die Definition: „Der Fisch ist ein Wirbeltier mit Kiemen-
atmung" experimentell überprüfen wollte.
Die damit entwickelte Auffassung ist völlig korrekt, sofern man an das
eigentliche und „echte" Experimentieren denkt, d. h. das Verfahren, aus
„theoretischen Sätzen" „experimentelle Sätze" als „Behauptungen über Hand-
lungs-Ereignis-Relationen" herzuleiten und diese Behauptungen soweit wie
möglich herstellend zu realisieren, wonach Angaben über den empirischen Wert
des zur Frage stehenden „theoretischen Satzes" zu machen sind. Ein derartiges
Experimentieren ist tatsächlich innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse als
solche" von vornherein als unmöglich zu betrachten. Nun gibt es aber eine
zwar nicht im echten Sinne experimentelle, jedoch in gewisser Hinsicht ex-
perimentähnliche Verfahrensweise, die mit dem phänomenanalytischen Vor-
gehen durchaus zu vereinbaren ist und tatsächlich öfter in Verbindung mit
phänomenanalytischen Bemühungen angewendet worden ist. - Die Möglich-
keit zu einem solchen experimentähnlichen Verfahren ist durch eine besondere
Eigenart der Phänomenanalyse gegeben, und zwar eine Eigenart, welche das
phänomenanalytische Vorgehen von allen i. e. S. definitorischen Bemühungen
abhebt. Gemeint ist der Umstand, daß in der Phänomenanalyse die jeweils
zur Frage stehende Erlebnisweise nicht bloß zu bestimmen ist, sondern durch
6*

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74 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
entsprechende umschreibende Formulierungen so weit „aufgewiesen" werden
muß, daß f ü r den Partner der Verständigungsbemühung diese Erlebnisweise
im eigenen Erlebnisbestand zu identifizieren oder die Nichtvorfindbarkeit der
Erlebnisweise zu konstatieren ist. Dieses Verfahren des phänomenanaly tischen
„Aufweises" kann nun mit bestimmten Herstellungsanweisungen und Her-
stellungsakten gekoppelt werden, insofern nämlich, als man gewisse Anord-
nungen schafft und/oder die Schaffung gewisser Anordnungen empfiehlt,
innerhalb welcher die jeweils gemeinten Erlebnisweisen auf besonders klare
und eindrückliche Art zutage treten sollen. S C H E L E R bezeichnet derartige An-
ordnungen, da sie „ . . . nur der Veransdiaulidiung eines . G e m e i n t e n ' . . d i e -
nen (1923, S.245), als „ ,Veranschaulichungsexperimente', durch die eine im
Wesen des betreffenden Erlebnisgehaltes liegende Stufe seiner Bildung zu un-
mittelbarer Anschauung gebracht wird . . . " (1957, S. 389; Hervorhebung von
mir). „Veranschaulichungsexperimente" 21 sind mithin „Experimente" nur in
einem „unechten" und „uneigentlichen" Sinne, weil sie nicht, wie die „editen"
Experimente, im Zusammenhang der Bemühungen um systemtranszendente
Verbindlichkeit des Theoretisierens stehen; es geht hier, wie innerhalb der
Phänomenanalyse überhaupt, ausschließlich um die systemimmanente Klärung
der wissenschaftlichen Redeweise und damit Förderung der Verständigung;
die mögliche „Widerständigkeit des Realen" findet in „Veranschaulichungs-
experimenten" schlechterdings keinen Angriffspunkt. Die „Veranschau-
lichungsexperimente" sind darüber hinaus keinesfalls Verfahrensweisen, die
bei der Phänomenanalyse notwendigerweise angewendet werden müssen. Die
phänomenanalytischen Klärungen können vielmehr in jedem Falle auch ohne
besondere Anordnungen einfadi im Blick auf das im eigenen und im fremden
Erlebnisbestand Vorfindlidie angestrebt werden. Damit soll aber nicht gesagt
sein, daß das „veranschaulichende Experimentieren" überflüssig oder wertlos
sei; es kann nämlich u. U. gelingen, das mit bestimmten Erlebnisbegriffen
Gemeinte durch „Veranschaulichungsexperimente" differenzierter und "klarer
aufzuweisen als unter Verzicht auf die Herstellung „quasiexperimenteller"
Konstellationen 22 .

Die besondere Eigenart der „veranschaulichenden Experimente" ist innerhalb der


Psychologie kaum erkannt worden; deswegen kam es verschiedentlich dazu, daß
„veranschaulichendes Experimentieren" genauso betrachtet und eingeordnet wurde,
als wenn es sich dabei um „echtes" und „eigentliches" Experimentieren handele, wor-

21
Wir übernehmen den Terminus „Veransdiaulichungsexperiment", da er uns be-
sonders glücklich und treffend scheint, wobei wir allerdings vor Verwechselungen und
Mißverständnissen warnen müssen, die daraus entstehen können, daß „Veranschau-
lichungsexperimente" nicht etwa innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche Welt",
sondern eben innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse als solche" angesiedelt sind.
22
Ein ähnliches Konzept wie „Veransdiaulichungsexperiment" ist der von BAADE
(1916, 1918) eingeführte Begriff .Darstellungsexperiment". Das „Darstellungsexpe-

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Das Experiment innerhalb der Gegenstandsarten 75

aus überhöhte Ansprüche und Fehlargumentationen entstehen mußten. Wir werden


auf diesen Umstand später noch zu sprechen kommen.
„Veranschaulichende Experimente" können sowohl angesetzt werden, wenn es
um den Aufweis von Erlebnissen geht, die zum „Ich" als dem „Zentralglied" der
„Prinzipialkoordination" gehören, wie auch, wenn das aufzuweisende Erlebnis der
„Welt" eines Menschen als „Gegenglied" der „Prinzipialkoordination" zuzuredinen
ist. Wir bringen zur Erläuterung unserer Darlegungen über das „veranschaulichende
Experimentieren" hier lediglich ein Beispiel von Experimenten im Rahmen der
phänomenanalytischen Klärung zum „Idi" gehöriger Erlebnisweisen.
Die Experimente, die von dem Forscherkreis der Würzburger Schule (KÜLPE,
BÜHLER, MARBE, MESSER USW.) durchgeführt wurden, sind zu/einem großen Teil bloß
„veranschaulichende Experimente". Wir wollen diesen Umstand an einem bestimmten
Fall exemplifizieren und richten den Blick dazu auf das BüHLERsdie Experiment über
„Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge" (1907; 1908a),
das als Anlaß zu der berühmten Kontroverse zwischen BÜHLER und WUNDT geschicht-
liche Bedeutsamkeit erlangt hat.
Eines der wesentlichen Anliegen des BÜHLERschen Experiments ist die Zurück-
weisung der Auffassung, daß das Denken generell oder auch nur vorwiegend ein Ver-
knüpfen von anschaulichen Vorstellungen sei. BÜHLER weist auf, daß es zur adäqua-
ten Beschreibung der Denkerlebnisse erforderlich ist, „Gedanken" als eine selb-
ständige, unanschauliche Erlebnisform von den Vorstellungen abzuheben. Diese
„Gedanken" sind nach BÜHLER die eigentlichen Träger des Denkgeschehens, während
die Vorstellungen mehr sekundären, begleitenden Charakter haben: „ . . . etwas, was
so fragmentarisch, so sporadisch, so durchaus zufällig auftritt im Bewußtsein wie die
Vorstellungen in unseren Denkerlebnissen, kann nicht als Träger des festgefügten
und kontinuierlichen Denkgehalts angesehen werden" (BÜHLER 1907, S. 317). Die
Zufälligkeit und Unwesentlichkeit der Vorstellungen für den Denkakt kommen darin
zum Ausdruck, daß die „Gedanken" auch gänzlich ohne jeden Vorstellungsrest ge-
geben sein können. „Es gibt Gedanken, ohne jede nachweisbare Spur irgend einer An-
schauungsgrundlage" (1907, S. 318). BÜHLER kommt sodann zu sehr differenzierten
Unterscheidungen von verschiedenen Momenten an Gedankenerlebnissen; wir brau-
chen ihm hier nicht weiter zu folgen.
Die BÜHLERschen Ausführungen, wie wir sie wiedergegeben haben, stellen sich als
eine phänomenale Analyse des Denkvorganges dar, bei der eine besondere Art von
Erlebnisweisen, die „Gedanken", im phänomenalen Aufweis gegen andere Erlebnisse
abgegrenzt und in ihrer besonderen Eigenart herausgehoben werden. Welche Funk-
tionen hat nun aber innerhalb der BÜHLERschen Untersuchung das Experiment?
BÜHLER hat — nach dem Vorbild z. B. MARBES — eine Anordnung geschaffen, in wel-
cher eine „experimentelle Selbstbeobachtung" möglich sein soll. Die jeweilige Ver-
suchsperson wurde an einen Tisch gesetzt, der Versuchsleiter setzte sich in ihre Nähe.
Sodann wurden der Versuchsperson vom Versuchsleiter bestimmte Fragen vorgelesen,
etwa: „Bedeutet der Monismus wirklich die Verneinung der Persönlichkeit?" oder:
„Können wir mit unserem Denken das Wesen des Denkens erfassen?" (1907, S. 304);

riment" hat im Gegensatz zum „Kausalexperiment", das „ . . . einen Beitrag zur Er-
forschung der zwischen einem Objekt A und einem Objekt B bestehenden Kausal-
abhängigkeit liefert..." (1916, S. 7), die Funktion, „ . . . die direkte Beobachtung und
das Kennenlernen von psychischen Ereignissen . . . " zu ermöglichen (1916, S. 1). Der
Wert der BAADEschen Auseinanderlegungen wird indessen durch das Einfließen von
fragwürdigen wissenschaftstheoretischen und psychologischen Grundannahmen — auf
die hier nicht näher eingegangen werden soll — wesentlich beeinträchtigt.

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76 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

der Vp. war die Instruktion erteilt worden, die Fragen jeweils mit einem „ J a " oder
einem „Nein" zu beantworten und den Denkvorgang, der zu dem „Ja" oder „Nein"
geführt hatte, dann möglichst genau und vollständig zu beschreiben; jede Äußerung
der Vp. wurde vom VI. protokolliert. BÜHLER fügte Zitate aus den Protokollen lau-
fend in seine Darlegungen über die Denkvorgänge ein.
Gegen die damit gekennzeichnete Vorgehens weise sind von WUNDT (1907) heftige
methodische Einwände erhoben worden — er nannte die BüHLERschen Versuche
„Scheinexperimente" und sprach verächtlich von der „Ausfragemethode" —, worauf
BÜHLER (1908b) seine Experimente verteidigte, was WUNDT (1908) zu einem neuer-
lichen Angriff auf BÜHLER veranlaßte. Innerhalb dieser Methodendiskussion ging
WUNDT autoritativ von seinen als absolut gültig gesetzten Vorstellungen über das
psychologische Experiment und über das Denken aus, während BÜHLER den Stand-
punkt einer „lebensnäheren", weniger durch dogmatische Festlegungen eingeengten
Psychologie vertrat. Wir brauchen indessen die Argumente der einen und der anderen
Seite an dieser Stelle nicht näher zu analysieren und gegeneinander abzuwägen, weil
die methodischen Probleme, um die es hier ging, unserer Auffassung nach sekundärer
Natur sind, und weil die besondere Eigenart und der systematische Ort der BüHLER-
schen Experimente weder von der einen noch von der anderen Partei erfaßt wur-
den. — Die Frage, von deren Beantwortung die Einordnung der BüHLERschen Vor-
gehensweise ganz und gar abhängt, lautet: Ist die Heranziehung der durch die
geschilderten Anordnungen gewonnenen Protokolle ein entscheidendes Charakteristi-
kum der Gedankenführung BÜHLERS, oder können die Protokolle auch einfach weg-
bleiben, ohne daß sich dabei an der prinzipiellen Eigenart der BÜHLERJCAC» Dar-
legungen etwas ändert? Es läßt sich nun leicht aufzeigen, daß die Ausführungen
'BÜHLERS als phänomenanalytische Klärungsbemühungen einzuordnen sind, einerlei,
ob dabei die Protokolle mit in Betracht gezogen werden oder nicht. Phänomenale
Umschreibungen wie die der Besonderheit der „Gedanken" als unanschaulicher Er-
lebnisweisen in Abhebung von den anschaulichen Vorstellungen sind nur möglich im
Blick auf den eigenen Erlebnisbestand; es geht hier um den Aufweis, was von „jeweils
mir" mit den zur Frage stehenden Erlebnisbegriffen gemeint ist. Daran ändert sich
auch nichts, wenn dabei die Äußerungen anderer Menschen herangezogen werden.
BÜHLER befand sich in einem fundamentalen Irrtum, wenn er glaubte, daß es mit
der von ihm angewandten Methode gelingen könne, „ . . . die psychischen Tatsachen
des Denkens unmittelbar selbst zu erfassen" (1907, S. 299). Was ihm, BÜHLER, vor-
liegt, das sind notwendigerweise nur die Aussagen seiner Vpn. über ihre Erlebnisse;
die Erlebnisse selbst haben natürlich immer nur die je individuellen Vpn. Die Heran-
ziehung der Protokolle bedeutet also nicht etwa eine irgendwie geartete Bestätigung,
Sicherung oder auch nur Prüfung der BüHLERschen Feststellungen. Was hier legitimer-
weise möglich ist, ist lediglich der Hinweis, daß, den Protokollen nach zu urteilen,
sich im Erlebnisbestand der Vpn. anscheinend ähnliche Phänomene vorfinden wie
diejenigen, die BÜHLER in seinen phänomenanalytischen Umschreibungen aufweisen
will. Die Protokollzitate haben hier also lediglich illustrative, „veranschaulichende"
Bedeutung. — Die Beziehung zwischen BÜHLER und seinen Versuchspersonen unter-
scheidet sich im Prinzip nicht von der Beziehung, in welcher verschiedene Forscher
stehen, die sich über das mit bestimmten Erlebnisbegriffen Gemeinte auf phänomen-
analytischem Wege verständigen wollen; der Umstand, daß die Vpn. ihre Erlebnisse
nicht selbst fixieren und phänomenanalytisch auswerten, sondern daß das durch
BÜHLER geschieht, macht in diesem Zusammenhang keinen Unterschied. Es ist offen-
sichtlich, daß eine „Verständigung über Gemeintes", die unserer bereits begründeten
Auffassung nach als das Ziel phänomenanalytischer Bemühungen anzusehen ist, zwi-
schen BÜHLER und seinen Vpn. in Hinsicht auf die besondere Eigenart der „Gedanken-

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Das Experiment innerhalb der Gegenstandsarten 77
erlebnisse" ohne weiteres gelingen müßte. Dieser Tatbestand nimmt allerdings nicht
weiter wunder, da ja die von BÜHLER hauptsächlich benutzten Vpn. ebenfalls Forscher
aus dem Würzburger Kreis waren, nämlich Professor KÜLPE und Dr. DÜRR. (In
etwas überspitzter Formulierung könnte man behaupten, daß sich die beiden Forscher
lediglich als Vpn. „verkleidet" hätten und daß eine Verständigung über das zwischen
BÜHLER, KÜIPE und DÜRR Gemeinte hier auch quasi auf „direktem Wege", sozu-
sagen »von Forscher zu Forscher" hätte erfolgen können. 23 )

Damit ist unsere Darstellung des „veranschaulichenden Experimentierens"


als einer experimentähnlichen Vorgehensweise zur Ergänzung phänomen-
analytisdier Bemühungen innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse als solche"
beendet. Wir mußten hier etwas ausführlichere Erörterungen anstellen, weil
es galt, die bisher weitgehend übersehene Besonderheit des „veranschaulichen-
den Experimentierens" in Abhebung vom „editen", „eigentlichen" Experi-
mentieren möglichst klar herauszuheben, und weil wir uns die Voraussetzun-
gen dafür schaffen wollten, „veranschaulichend experimentierende" Züge an
jeweils vorliegenden Experimenten einwandfrei zu identifizieren (vgl. dazu
unsere Ausführungen auf S. 89fF.). Bei dem Hinweis auf die Möglichkeit des
Experimentierens innerhalb der beiden anderen Gegenstandsarten, „anschau-
liche Welt" und „andere Menschen", sind derartige prinzipielle Abgrenzungen
nicht nötig. Wir können uns deshalb im folgenden auf einige Bemerkungen
beschränken.

2. Das Experiment innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche Welt"

Beim Durchdenken der Frage nach der Möglichkeit des Experimentierens


innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche Welt" erweist es sich, daß hier
die Beziehung zwischen der Gegenstandsart und dem experimentellen Vor-
gehen von besonderer Eigenart ist. Während gemeinhin der jeweilig zu unter-
suchende Gegenstand mehr oder weniger unabhängig davon ist, ob man sich
ihm mit dem experimentellen Verfahren nähert oder nicht, ist es in Hinsicht
auf die Gegenstandsart „anschauliche Welt" keineswegs gleichgültig, ob hier
die Schaffung experimenteller Anordnungen vollzogen oder unterlassen wird.
Der Gegenstand „anschauliche Welt" liegt nämlich ohne die Durchführung
von Experimenten in weitesten Bereichen überhaupt nicht vor, und zwar des-
wegen, weil der Akt der Gewinnung der Gegenstandsart „anschauliche Welt"
weitgehend identisch ist mit der Herstellung experimenteller Anordnungen.
2 3 WELLEK kennzeichnet die Eigenart der denkpsydiologisdien Experimente, wie

sie BÜHLER durchgeführt hat, ähnlich wie wir, wenn er feststellt: „Es handelt sich ge-
wissermaßen nur noch um eine geregelte Form der Konversation und Verständigung
über ein Thema, die die Sache im Grunde nicht .exakter', ja auch nicht wissenschaft-
licher macht als das schlichte einsame Nachdenken darüber ,am Schreibtisch'" (1955a,
S. 196).

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78 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
Es ist nicht schwer, sich von der Berechtigung dieser Feststellung zu über-
zeugen, wenn man sich unsere früheren Darlegungen über den Akt der Ge-
winnung des Gegenstandes „anschauliche Welt" in Erinnerung bringt. Da die
„anschauliche Welt" als die uns unmittelbar gegebene Welt in Abhebung von
der „metrischen Weltform" definiert ist, gehören zu jeder Aussage über irgend-
welche Eigenarten „anschaulicher" Gegebenheiten immer und notwendiger-
weise Angaben über zweierlei Daten, nämlich Daten über bestimmte metrisch-
idealwissenschaftliche Verhältnisse und Daten über bestimmte unmittelbar
erlebte Gegebenheiten, wobei die metrischen Daten als Bezugssystem zur
Kennzeichnung der Gegebenheitsdaten dienen. Allein in der Konzeption die-
ser Datenzweiheit, die im Akt der Gewinnung des Gegenstandes „anschauliche
Welt" enthalten ist, wird die Herstellung von experimentellen Konstella-
tionen in den allermeisten Fällen zwangsläufig implizit mitgedacht. Es muß
nämlich, wenn die „anschauliche Welt" als Untersuchungsgegenstand vor-
liegen soll, praktisch fast immer ein jeweils individueller Mensch in eine
Situation gebracht werden, in welcher bestimmte, zur „Welt" gehörige T a t -
bestände metrisch erfaßt sind, damit die Angaben des Menschen über be-
stimmte, unmittelbar erlebte Eigenarten dieser Tatbestände mit den entspre-
chenden metrischen Daten in Beziehung gebracht werden können. Im allge-
meinen werden die metrisch-idealwissenschaftlichen Tatbestände, mit denen
ein Beobachter konfrontiert wird, innerhalb der hier zur Frage stehenden Art
des wahrnehmungspsychologischen Experimentierens in „künstlichen" Labo-
ratoriumsanordnungen technisch-handwerklich hergestellt, handle es sidi da-
bei nun zum Zwecke der Erforschung der Farbwahrnehmung um die Her-
stellung von Farbkreiseln mit verstellbaren, in ihrem Winkel genau zu
messenden Sektoren oder, wenn bestimmte Probleme des Tiefeneindrucks
untersucht werden sollen, um die Schaffung von Konstellationen, in welchen
die metrische Entfernung gewisser Wahrnehmungsobjekte relativ zum Be-
obachter variiert werden kann, oder z.B. auch, falls es um die Erforschung
des „Bewegungssehens" geht, um die Ermöglichung der sukzessiven Dar-
bietung von Wahrnehmungsobjekten mit meßbaren Zeitintervallen oder die
Herstellung gleichförmiger oder gleichförmig beschleunigter oder sonstwie
planmäßig veränderter Objektbewegungen; f ü r die Untersuchung vieler und
sogar so grundsätzlicher Wahrnehmungsprobleme wie das Problem der Re-
alisierbarkeit der Gestaltprinzipien (im alten WERTHEiMERschen Sinne) wer-
den nur gewisse, mehr oder weniger geometrisch konstruierte Zeichnungen
hergestellt und dem Beobachter dargeboten. Es handelt sich hier stets um
irgendwie geartete Realisationen von „Elementarformen" (DINGLER), die das
konstante und reproduzierbare „Bezugssystem" für die Kennzeichnung der
„anschaulichen Welt" bilden. - In manchen, wenn auch selteneren Fällen (so
etwa in gewissen Größenkonstanzuntersuchungen von GIBSON) werden keine
Versuchsanordnungen handwerklich-technisch geschaffen, sondern der Be-

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Das Experiment innerhalb der Gegenstandsarten 79

obachter wird in „natürliche" Freiluftsituationen gestellt, wobei die natür-


lichen Tatbestände auf irgendeine Weise metrisch erfaßt werden (eine solche
Vorgehensweise ist z. B. stets dann unerläßlich, wenn bei der Erforschung des
Tiefensehens Entfernungen etwa von mehreren hundert Metern oder noch
weiterer Erstreckung in die Betrachtung gezogen werden, also Entfernungen,
die sidi in keine Laboratoriumsanordnung einbeziehen lassen); das Herstel-
lungsmoment der Realisationshandlung ist hier gegenüber den Laboratoriums-
untersuchungen erheblich reduziert, es besteht lediglich in der Schaffung einer
Konstellation zwischen einem Beobachter und der metrisch erfaßten „natür-
lichen" Realität; aber auch hier handelt es sich noch um herstellendes Reali-
sieren, also Experimentieren in unserem Sinne. (Lediglich der nur f ü r wenige
Wahrnehmungsprobleme denkbare Grenzfall, daß bestimmte Gegebenheiten
„zufällig" beobachtet und erst hinterher metrisch erfaßt werden, würde ein
rein auswählendes Realisieren darstellen; dieser Grenzfall berührt aber nicht
die prinzipielle Angemessenheit unserer Darlegungen über die Beziehungen
zwischen der Gegenstandsart „anschauliche Welt" und dem experimentellen
Vorgehen.) - Wir heben abschließend noch einmal heraus, daß das Experi-
ment ein entscheidendes Konstituens der Gegenstandsart „anschauliche Welt"
darstellt, weil die „Gewinnung" dieser Gegenstandsart weitgehend dasselbe
ist wie das Herstellen experimenteller Konstellationen.

3. Das Experiment innerhalb der Gegenstandsart „andere Menschen";


das „materialschaffende" Experiment als „uneigentliche" Experimentierweise

Die besondere Weise des Experimentierens innerhalb der Gegenstandsart


„andere Menschen" läßt sich nicht - wie das Experimentieren innerhalb der
anderen beiden Gegenstandsarten - von allgemeinen Gesichtspunkten aus
kennzeichnen. Weder ist es hier möglich, bestimmte, für die Gegenstandsart
charakteristische experimentelle Situationen aufzuzeigen, noch kann man
generelle Feststellungen über den Zusammenhang zwischen der Art der Gegen-
standsgewinnung und dem experimentellen Vorgehen treffen. Der Grund für
diesen Umstand ist darin zu suchen, daß „andere Menschen" als Gegenstand
der psychologischen Forschung, wie wir feststellten, in viel höherem Maße in
den Bezügen des „täglichen Lebens" belassen werden, als dies bei den anderen
Gegenstandsarten der Fall ist. In dem Akt der „Gegenstandsgewinnung"
werden hier nicht so festgelegte und strukturierte theoretische Ideen mitver-
wirklicht, daß schon im Blick auf die „Gegenstandsart" Gesichtspunkte f ü r
die klare Einordnung und Charakterisierung methodischer Vorgehensweisen
zu gewinnen sind. Genauere Angaben über das Experimentieren innerhalb der
Gegenstandsart „andere Menschen" können demnach nicht im Rahmen unse-
rer vorbereitenden Betrachtungen gemacht werden, sondern müssen späteren

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80 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
eingehenderen Ausführungen vorbehalten bleiben. - Was uns hier zu kon-
statieren bleibt, ist lediglich das bloße Faktum, daß experimentelles Vorgehen
auch innerhalb der Gegenstandsart „andere Menschen" möglich ist. Die all-
gemeinste Voraussetzung für die Anwendbarkeit des experimentellen Ver-
fahrens ist das Gegebensein einer gegenwärtig vorfindbaren, f ü r uns zugäng-
lichen und durch unseren Eingriff veränderbaren selbständigen Realität. D a ß
diese Voraussetzung bei der Gegenstandsart „andere Menschen" erfüllbar ist,
wird niemand mit vernünftigen Argumenten leugnen können. Schon wenn
ich einen Menschen ins Psychologische Institut bestelle und ihn dort bitte,
sich bestimmte Silbenpaare einzuprägen, ihm danach nur jeweils die erste
Silbe eines Paares vorlese und ihn auffordere, die zu dem Paar gehörige an-
dere Silbe zu nennen etc., habe ich einen Eingriff in die f ü r midi vorliegende
Realität „andere Menschen" vorgenommen. Die bloße Konstatierung, daß
innerhalb der Gegenstandsart „andere Menschen" Experimente möglich sind,
ist natürlich noch durch genauere Bestimmungen zu ergänzen, auf die wir
bald zu sprechen kommen.
Es sei noch darauf hingewiesen, daß es innerhalb der Gegenstandsart
„andere Menschen" eine „uneigentliche" Sonderform des experimentellen
Vorgehens gibt, die - formal gesehen - Ähnlichkeiten mit dem „veranschau-
lichenden Experimentieren" innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse als
solche" hat. Man kann nämlich bestimmte experimentelle Anordnungen ein-
fach deswegen herstellen, weil man sich „Material" über mögliche Eigenarten
gewisser Erlebnisse oder Verhaltensweisen „anderer Menschen" schaffen will;
es wird hier erst einmal festzustellen versucht, was f ü r verschiedene Erlebnis-
äußerungen oder Verhaltensweisen in einem bestimmten Bereich überhaupt
vorkommen, und es werden die erhaltenen Daten systematisch gesichtet und
klassifikatorisdi geordnet. Dieses „materialschaffende Experimentieren" - wie
wir uns ausdrücken wollen - ist wie das „veranschaulichende Experimentie-
ren" von „unechtem" und „uneigentlichem" Charakter, weil auch hier keine
Prüfung der Realisierbarkeit „experimenteller Sätze" vorgenommen wird,
also die entscheidende Bestimmung des „echten" Experimentierens, daß dabei
die theoretischen Annahmen durch Herstellungsakte der möglichen Falsifizier-
barkeit ausgesetzt und damit eindeutig auf systemtranszendent Reales be-
zogen werden, nicht erfüllt ist. Bei „veranschaulichendem Experimentieren"
geht es darum, das in bestimmten phänomenanalytischen Umschreibungen
Gemeinte beispielhaft zu verdeutlichen, während bei „materialschaffendem
Experimentieren" eruiert werden soll, was es innerhalb eines bestimmten Be-
reiches überhaupt an Erlebnisäußerungen und Verhaltensweisen „so alles
gibt"; die Unterschiedlichkeiten der beiden Arten des „uneigentlichen Expe-
rimentierens" verstehen sich aus den Verschiedenheiten der Gegenstandsarten
„Erlebnisse als solche" und „andere Menschen". - Das „materialschaffende
Experimentieren" kommt selten für sich vor, sondern stellt meist ein Stadium

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Das Experiment innerhalb der Gegenstandsarten 81
innerhalb umfassender, „eigentlicher" experimenteller Untersuchungen dar,
die häufig den Charakter von „Erkundungsexperimenten" (vgl. S. 90) haben.
„Materialschaffendes Experimentieren" hat in vielen Fällen eine wesent-
liche Funktion f ü r die psychologische Forschung - wir kommen später dar-
auf zurück.

4. Der Tatbestand „Versuchsperson" beim Experimentieren innerhalb der drei


psychologischen Gegenstandsarten; das Problem der „Verdinglichung"
des Menschen im psychologischen Experiment

Zum Beschluß unserer allgemeinen Betrachtungen über das Experimentieren


innerhalb der drei Gegenstandsarten der Psychologie beschäftigen wir uns
noch kurz mit einem Tatbestand, der in unseren späteren Überlegungen eine
wesentliche Rolle spielen wird, und zwar dem Tatbestand „Versuchsperson''
( „ V p . " ) " . „Versuchspersonen" sind Menschen, die außer dem „Versuchs-
leiter" („Vi."), das ist in der Regel der Experimentator selbst, in die experi-
mentelle Anordnung einbezogen werden. - Beim „veranschaulichenden Ex-
perimentieren" innerhalb der Gegenstandsart „Erlebnisse überhaupt" wird
- wie wir berichteten - , soweit dabei die Möglichkeit zur angemessenen Er-
lebnisschilderung auf quasiexperimentellem Wege verbessert werden soll, eine
Anordnung hergestellt, in welcher eine „Arbeitsteilung" besteht zwischen
demjenigen, der seine Erlebnisse schildert, und demjenigen, der die Erlebnis-
schilderungen protokolliert; die „Versuchsperson" ist also hier integrierender
Bestandteil der experimentellen Konstellation. Beim auf Weltgegebenheiten
gerichteten „veranschaulichenden Experimentieren" ohne Schaffung von Pro-
tokollierungssituationen, wobei also nur bestimmte Anordnungen empfohlen
werden, durch welche man sich die gemeinten Gegebenheitsweisen besonders
eindringlich zur Anschauung bringen kann, ist die Einbeziehung der „Ver-
suchsperson" in die experimentelle Situation nicht vorgesehen: die empfohle-
nen Anordnungen sollen vielmehr von dem jeweiligen Partner der wissen-
schaftlichen Kommunikation selbst hergestellt werden. - Beim Experimentie-
ren innerhalb des Gegenstandsbereiches „anschauliche Welt" können die
Daten über die unmittelbaren Wahrnehmungsgegebenheiten prinzipiell von
dem gleichen Menschen, der auch die metrischen Daten eruiert, nämlich vom
Experimentator selbst, geliefert werden; es dürfte sogar praktisch immer so
sein, daß der Forschende bestimmte theoretische Annahmen über Eigenarten
anschaulicher Gegebenheiten zunächst durch die eigene „Beobachtung" zu
realisieren trachtet oder bestimmte eigene „Zufallsentdeckungen" zum Anlaß

24
Wir behalten den unglücklichen Terminus „Versuchsperson" samt der Abkür-
zung „Vp." bei, weil diese Bezeichnungen seit langem innerhalb der deutschsprachigen
Psychologie eingebürgert sind.

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82 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

für seine theoretischen Überlegungen nimmt. Wenn aber hier die „Versuchs-
person" auch nicht notwendig in die experimentelle Situation einbezogen
werden muß, so müssen doch in den allermeisten Fällen zur sinnvollen
Durchführung von Experimenten innerhalb der Gegenstandsart „anschauliche
W e l t " außer dem Experimentator noch andere Menschen, mithin „Vpn.", als
„Beobachter" in die experimentelle Anordnung hineingenommen werden. -
Bei der Durchführung von Experimenten innerhalb des Gegenstandsbereiches
„andere Menschen" ist sehr häufig durch die Fragestellung und durch Erfor-
dernisse der Versuchsplanung die Heranziehung von „Versuchspersonen" er-
forderlich. Immerhin sind auch hier, wenn auch nur als Grenzfall, Versuchs-
anordnungen denkbar, in welche der Experimentator selbst sich als einzige
„Quasi-Versuchsperson" einführt. (Man denke dabei nur an die in diesem Zu-
sammenhang immer wieder zitierten EBBINGHAussehen Experimente [ 1 8 8 5 ] ,
die zur Grundlage für die psychologische Gedächtnisforschung geworden sind;
diese Experimente führte EBBINGHAUS ausschließlich an sich selbst durch.)
Wenn nun also, wie aus unseren zusammenfassenden Darlegungen hervor-
geht, psychologisches Experimentieren auch keineswegs mit dem Experimen-
tieren unter Einbeziehung von „Versuchspersonen" identisch ist, so kann doch
die „Versuchsperson" praktisch als eine Art „Schlüsselfigur" innerhalb der
Problematik des psychologischen Experiments angesehen werden.
An dieser Stelle kommen wir auf einen Vorwurf zu sprechen, der dem
experimentierenden Psychologen besonders von philosophischer Seite öfter
gemacht wird, nämlich daß er den Menschen, indem er ihn zur „Versuchs-
person" mache, auf unzulässige Weise „vergegenständliche" und ihn damit
seiner Würde als Mensch beraube. So kritisiert etwa LITT auf herbe Weise die
„naturwissenschaftliche Psychologie", die als eine „vergleichgültigende Ob-
jektwissenschaft" (1953, S . 5 6 1 ) sich, durch das Vorbild der „exakten Natur-
wissenschaften" verführt, zum Ziele gesetzt habe, „ . . . das Subjekt zum
- Objekt zu formieren" (1953, S.559). Dadurch sei der experimentierende Psy-
chologe in dauernder Gefahr, sich von seiner Bindung und Verpflichtung
gegenüber seinem Mitmenschen auf verantwortungslose Weise zu entlasten.
„Das Verhältnis zu meinesgleichen hat es nun einmal an sich, daß es zwischen
meinem inneren Schicksal und demjenigen meines Partners eine tiefgehende
Solidarität der Verantwortung stiftet. Diese Solidarität zu vergessen und die
aus ihr entspringenden Verpflichtungen in den W i n d zu schlagen bin ich
immer dann in Versuchung, wenn ich gegenüber meinesgleichen die Haltung
des prüfenden und berechnenden Beobachters einnehme" (LITT 1948, S. 202).
Derartige Auffassungen, die dem der psychologischen Forschungsarbeit
Fernstehenden als reiner Ausdrude der Sorge um den Menschen erscheinen
mögen, haben für den experimentierenden Psychologen stets etwas tief Ver-
ärgerndes und Verletzendes, da hier seine Bemühungen auf globale Weise
verdächtig gemacht werden und ihm die Besorgtheit um den Menschen, von

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Das Experiment innerhalb der Gegenstandsarten 83
der der jeweilige Kritiker so sehr erfüllt ist, rundweg abgesprochen wird.
Die Zurückweisung derartiger „Vorwürfe" ist für den Psychologen eine Frage
der Selbstachtung, weshalb wir diese Vorwürfe, wenigstens kurz, analysieren
wollen.
Zuvörderst sollte man sich über folgendes klar werden: „Versuchsperso-
nen" sind in keinem Sinne Gegenstand, sondern stets nur Medium der grund-
wissenschaftlichen experimentellen Forschung in der Psychologie; der Tat-
bestand „Vp." läßt sich keiner der drei psychologischen Gegenstandsarten
zuordnen. Diese Feststellung, deren Berechtigung vielleicht nur in Hinsicht
auf die ersten beiden Gegenstandsarten ohne weiteres einleuchtet, trifft - wie
aus unseren früheren Ausführungen zu entnehmen ist - nichtsdestoweniger
auch auf die Gegenstandsart „andere Menschen" zu; auch hier ist die experi-
mentelle Forschung nicht auf die „Vp." als je individuellen Menschen, auf
„Herrn X . " , gerichtet; es geht vielmehr wie bei allen i. e. S. wissenschaftlichen
Bemühungen um die Realisierung von Allgemeina.ussa%en, in diesem Falle
über „andere Menschen", und das einzelne Individuum ist auch hier lediglich
Medium für den Versuch der Realisierung von allgemeinen theoretischen An-
nahmen.
Der für Außenstehende naheliegende Gedanke, daß man den Mensdien,
wenn man ihn zur „Versuchsperson" macht, notwendigerweise in seiner
Würde als Individuum antastet, ist unrichtig, und zwar deswegen, weil der
Mensch, da er in der experimentellen Anordnung lediglich die Funktion eines
„Forschungsmediums" innehat, als je individuelles, „privates" Subjekt in
seinen kernnäheren Bereichen durch die experimentelle Handlung überhaupt
nicht berührt wird. Dem Experimentator geht es in keinem Sinne um die
„Vp." selbst, sondern es geht ihm etwa um die Bedingungen der Größenkon-
stanz oder um das Zustandekommen von Urteilen in der Gruppe, und er hofft
lediglich, mit Hilfe der „Vp." etwas über die Probleme, die ihn interessieren,
zu erfahren. - Man könnte nun etwa einwenden, darin liege ja gerade die ge-
fährliche „Verdinglichung" des Menschen, daß man beim Experimentieren
nicht an ihm als an einem Subjekt interessiert sei, sondern ihn nur als „Mittel"
zur Erforschung wissenschaftlich interessierender Fragen benutze. Dabei
würde man sich aber einer unzulässigen Vermengung von Betrachtungsebenen
schuldig machen. Der Umstand, daß ich einen Menschen darum bitte, mir als
„Vp." bei der Erforschung bestimmter wissenschaftlicher Fragen zu helfen,
ist absolut unabhängig von meiner Haltung diesem Mensdien als Subjekt
gegenüber. Die Feststellung, daß ich beim Experimentieren den Menschen
notwendig vom „Zweck an sich selbst" zum bloßen „Mittel" mache, ist des-
wegen unangemessen, weil ich ihn als Individuum in meinem experimentellen
Tun überhaupt nicht intendiere, wodurch meine Einstellung zu ihm als Men-
schen also hier gar nicht zur Debatte steht. Wenn man dieser Argumen-
tation nicht folgen wollte, so müßte man es etwa audi als eine unzuläs-

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84 Der dreifache Gegenstand der Psychologie
sige „Verdinglichung" eines Menschen betrachten, wenn ich diesen Menschen
auf der Straße nach dem Weg frage, da ich ja hier ebenfalls nicht auf
den Menschen als Subjekt gerichtet bin, sondern eben etwas über den Weg
erfahren will. Prinzipiell dieselbe Situation besteht überall, wo man Men-
schen zu Hilfe nimmt, um über „sachliche" Gegebenheiten Auskunft zu er-
halten, etwa in jeder Art von Lehrbetrieb, in der Schule oder an der Universi-
tät. - Unsere Zurückweisung der Auffassung, daß der Mensch als „Vp."
„verdinglicht" werde, stellt natürlich für jeden eine Selbstverständlichkeit
dar, der, mit experimentellem Vorgehen in der Psychologie vertraut, selbst
mit Hilfe von „Vpn." experimentiert und selbst in Experimenten die Rolle
der „Vp." übernommen hat; ihm ist die Lächerlichkeit des Gedankens offen-
bar, daß in dem früher angeführten denkpsychologischen Experiment Herr
Dr. B Ü H L E R die Herren Professor K Ü L P E und Dr. D Ü R R , die ihm als „Vpn."
dienten, in ihrer Würde als menschliche Subjekte angetastet haben könnte
oder daß z. B. W E R T H E I M E R ( 1 9 1 2 ) in seinem berühmten Experiment über das
Phi-Phänomen die Herren Dr. W O L F G A N G K Ö H L E R und Dr. K U R T K O F F K A ,
die neben Frau K O F F K A in seinem Versuch die Rolle der „Vpn." übernahmen,
auf ethisch nicht vertretbare Weise „zum Objekt gemacht" hätte, worauf dann
später alle drei gemeinsam die Berliner Schule der Gestaltpsychologie begrün-
deten. Dem experimentell Forschenden ist einsichtig, daß sowohl seine Men-
schenliebe oder Menschenverachtung im allgemeinen wie auch die Art seiner
persönlichen Beziehung zu den Menschen, die er als „Vpn." heranzieht, mit
dem Tatbestand, daß er mit Hilfe von „Versuchspersonen" psychologische
Experimente durchführt, nicht das geringste zu tun haben, und er würde dem-
gemäß auch niemals zögern, etwa seine Frau oder seinen besten Freund um
die Mitarbeit als „Vp." zu bitten, soweit nicht irgendwelche methodischen
Überlegungen dagegen sprechen. - So selbstverständlich und banal unsere
Darlegungen für den innerhalb der Psychologie experimentell Arbeitenden
sein müssen, so groß ist das Mißtrauen, welches dem Tatbestand „Versuchs-
person" immer wieder von Außenstehenden entgegengebracht wird, seien
diese Außenstehenden nun psychologisch „naive" potentielle „Vpn.", die sich
anscheinend oft gar nicht vorzustellen vermögen, daß der Experimentator
nicht an der Ergründung ihres „privaten" Charakters und an der Entschleie-
rung ihrer Intimsphäre interessiert sein könnte, oder handle es sich bei den
Außenstehenden um Philosophen, deren tiefe Sorge um den Menschen mit
einer nicht ganz so tiefgehenden Vertrautheit mit den Problemen des grund-
wissenschaftlichen psychologischen Forschens und der Wirklichkeit des psy-
chologischen Experimentierens einhergeht.
Aus unserer bisherigen Diskussion geht hervor, daß die Beziehung zwi-
schen Vi. und Vp. mit der Vorstellung vom Vi. als beobachtendem „Subjekt"
und der Vp. als beobachtetem „Objekt" unrichtig erfaßt ist. Die „Haltung
des prüfenden und berechnenden Beobachters", von der L I T T spricht, nimmt

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Das Experiment innerhalb der Gegenstandsarten 85

der Vi. nicht der Vp. als Individuum gegenüber ein, seine „Prüfungen" und
„Berechnungen" gelten vielmehr den Daten, welche die Vp. ihm über das
gerade untersudite psychologische Problem liefern soll oder geliefert hat. Die
„ Vp." wird also hier keinesfalls „zum - Objekt formiert", sondern gerade in
ihrer Funktion als „Subjekt" angesprochen. Angemessen gekennzeichnet ist
die Beziehung Vi. - Vp. durch die Feststellung, daß es sich dabei um ein Ver-
hältnis der Zusammenarbeit handelt. Die Vp. hat sich in den allermeisten
Fällen aus freien Stücken dazu entschlossen, dem Experimentator bei seinen
Untersuchungen zu helfen - aus welchen Motiven dieser Entschluß auch immer
entstanden sein mag. Dabei ist der Vi. ganz und gar auf den guten Willen und
die Kooperationsbereitschaft seiner Vpn. angewiesen. Wenn die Vpn. nicht
„mitmachen" wollen, wird er niemals seine wissenschaftlichen Ziele erreichen.
Unabhängig von der, wie wir gesehen haben, unsinnigen Behauptung, daß
der Mensch als „Versuchsperson" notwendigerweise vom „Subjekt zum
- Objekt formiert" werde, ist nun allerdings das Problem, ob es nicht be-
stimmte „Mißbräuche" beim Experimentieren mit „Vpn." gebe. Von solchen
„Mißbräuchen" mag man etwa sprechen, wenn den „Versuchspersonen" vom
Experimentator besondere Belastungen oder Entbehrungen zugemutet wer-
den, wenn der Experimentator den Vpn. nicht die Wahrheit sagt und wenn
die Vpn. vom Experimentator ohne ihr Wissen beobachtet werden. Wieweit
man die den Vpn. zugemuteten Belastungen und den Umstand, daß den Vpn.
vom Experimentator nicht die Wahrheit gesagt wird, als „Mißbräuche" be-
trachten muß, das hängt u. a. davon ab, wie „gut" man mit seinen Vpn. „steht",
bis zu welchem Grade man also ihre Hilfsbereitschaft strapazieren kann bzw.
wieweit die „Unwahrheit", die man den Vpn. sagt, sich nur auf sachlidie
Gegebenheiten bezieht oder persönliche Bereiche tangiert. Selbst im ungün-
stigsten Falle wird man hier aber nicht von einer „Entwürdigung" des Men-
schen reden können, da die experimentelle Situation für die „Vp." ja keine
„Ernstsituation" darstellt, sondern den Charakter einer bloßen „Durchgangs-
situation" trägt, die keinerlei Folgen für das „eigentliche" Leben der Vp. hat;
es geht hier ja eben nicht um die „Vp." selbst, sondern um ein „Problem". Die
unbemerkte Beobachtung der Vp. erscheint uns allerdings, wenn auch nicht
geradezu als eine „Entwürdigung", so doch als eine grobe Taktlosigkeit, die
audi durdi die sachlichen Motive des Experimentators nicht zu rechtfertigen
ist und ganz aus der experimentellen Forschungspraxis verschwinden sollte.
Generell ist hervorzuheben, daß die damit genannten möglichen „Miß-
bräuche" bei psychologischem Experimentieren nur in seltenen Sonderfällen
überhaupt diskutabel sind, wobei diese Sonderfälle vermieden werden kön-
nen, ohne daß das von wesentlicher Bedeutung für die experimentell-psycho-
logische Forschung ist. Die Kennzeichnung der experimentellen Vorgehens-
weise in der Psychologie durch Hinweis auf die „Mißbräuche" ist also
ungerechtfertigt und unsachlich.

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86 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

Eine gänzlich andere Problemlage ist nun allerdings gegeben, wenn man
die Betrachtung nicht gleich uns auf die grundwissenschaftliche Psychologie
beschränkt, sondern sein Augenmerk auf den U m g a n g mit Menschen richtet,
wie er innerhalb der im weitesten Sinne angewandten Psychologie gepflogen
wird. Hier ist nämlich der konkrete individuelle Mensch nicht wie in der
grundwissenschaftlichen Forschung stets nur Medium zur Klärung „sachlicher"
Probleme, vielmehr meint man in weiten Bereichen angewandt-psychologi-
schen Handelns, so innerhalb der gesamten Psychodiagnostik, den Menschen
als „privates" Individuum selbst. Beim psychodiagnostischen Einsatz von
Testverfahren etwa, der dem Laien häufig als Inbegriff psychologischen Tuns
überhaupt erscheint, geht es tatsächlich um nichts weiter als um die Erfassung
der Leistungsmöglichkeiten, der Weise der Daseinsbewältigung und u. U . auch
der Lebensprobleme von „ H e r r n X . " als jeweiligem individuellen „Proban-
den". D a s Interesse an „Herrn X . " entspringt hier, obgleich bei der psycho-
diagnostischen Bemühung wissenschaftliche Denkmittel und Verfahrensweisen
angewendet werden können, außerwissenschaftlichen, „praktischen" Zielset-
zungen. - Mit der Feststellung, daß innerhalb der angewandten Psychologie
häufig der konkrete andere Mensch nicht nur als „Medium", sondern als „pri-
vates" Individuum selbst gemeint ist, soll natürlich keinesfalls gesagt sein,
daß deshalb der Mensch wenigstens in diesem Bereich psychologischen H a n -
delns notwendigerweise „ v o m Subjekt zum - Objekt formiert" und damit in
seiner menschlichen W ü r d e angetastet wird. So sind etwa alle Arten an-
gewandt-psychologischer Bemühungen, die eindeutig als im Dienste der H i l f e
für den Menschen stehend ausgewiesen werden können, von vornherein von
dem Verdacht der „Verdinglichung" des Menschen freizusprechen. Gleichwohl
aber hat das Problem der Entpersönlichung und damit Entwürdigung des
individuellen Einzelmenschen, wenn es nicht im Rahmen der grundwissen-
schaftlichen, sondern der angewandten Psychologie abgehandelt wird, unver-
hältnismäßig mehr Ernst und Schwere. Der praktisch arbeitende Psychologe
ist nämlich tatsächlich innerhalb mancher seiner Wirkungsbereiche in der Ge-
fahr, im Dienst von Instanzen, die an der - sei es wirtschaftlichen, sei es politi-
schen - Einplanung des Menschen unter Ausschaltung seines freien Willens
interessiert sind, sich in seiner beruflichen Sphäre von der Bindung und Ver-
pflichtung gegenüber jedem einzelnen seiner Mitmenschen zu entlasten, und
es gehört hier zu den schwersten persönlichen Problemen, denen der Psycho-
loge sich zu stellen hat, wie er die Loyalität gegenüber seinem Dienstherrn,
von dem er bezahlt wird, mit seiner mitmenschlichen Verantwortung ver-
einbaren könne. Jeder Mißbrauch der Psychologie und der Psychologen
zur nivellierenden „Vergegenständlichung" und damit Entwürdigung des
Einzelmenschen muß mit genau der Leidenschaft und Unerbittlichkeit be-
kämpft werden, mit denen etwa LITT die experimentell forschende Psycholo-
gie überhaupt angreift. W a s wir Argumentationsweisen wie den L n r s c h e n

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Das Experiment innerhalb der Gegenstandsarten 87

zum Vorwurf machen, ist nicht ein Mangel an Einsicht in die Gefährdungen
des Menschen und an gutem Willen, diesen Gefährdungen steuern zu helfen.
Man richtet jedoch hier seinen Blick - noch dazu auf vergröbernde Weise -
ausschließlich auf gewisse Probleme innerhalb umgrenzter Teilgebiete der an-
gewandten Psychologie, im wesentlichen der Psychodiagnostik, erweckt aber
mit jeder Formulierung den Anschein, als wenn durch seine kritischen Fest-
stellungen „die" ganze Psychologie betroffen wäre; es findet sich nirgends ein
Hinweis darauf, daß der Kernbereich der Psychologie, nämlich die grund-
wissenschaftliche psychologische Forschung, von all den verdächtigenden Dar-
legungen über die Entpersönlichung und damit Entwürdigung des Mitmen-
schen usw. überhaupt nicht berührt wird. Darin kommen eine Abhängigkeit
von in der „öffentlichen Meinung" gängigen Verwechselungen gewisser,
äußerlich vordergründiger „angewandter" Teilgebiete der Psychologie mit
der Psychologie selbst, eine Unvertrautheit mit dem Ausmaß und dem Ge-
wicht der grundwissenschaftlichen psychologischen Forschung und damit eine
sachliche Oberflächlichkeit und Sorglosigkeit zum Ausdruck, die innerhalb
von Ausführungen, welche geeignet sind, eine ganze Wissenschaft und deren
Vertreter zu diffamieren, nicht entschuldigt werden können 20 .

26
Dieser Vorwurf ist z. B. auch gegenüber der — im übrigen streckenweise äußerst
scharfsinnigen und erhellenden — Abhandlung von KUNZ (1957) „Über den Sinn und
die Grenzen des psychologischen Erkennens" zu erheben. KUNZ stellt zwar in einem
seltsam angeklebt wirkenden und möglicherweise als Berücksichtigung fremder Be-
denken ex post formulierten, einschränkenden Passus fest, daß „...die im enge-
ren Sinne experimentelle Psychologie..." in seinem Aufsatz „...kaum zu Worte
kommt...", was KUNZ seltsamerweise als „eine Folge der besonderen Themastellung"
seiner Arbeit bezeichnet (S. 7), und er klammert damit in gewisser Hinsicht die
„Psychologie selbst" aus seiner Betrachtung aus. Er nimmt sich aber sodann nach
einigen vergröbernden Darlegungen über die „Schamlosigkeit und die Unverantwort-
lichkeit" innerhalb der, wie er selbst zugibt, ihm nicht sonderlich vertrauten psycho-
logischen „Testpraxis" das Recht zu folgender Feststellung: „Alles spricht dafür, daß
an der Testpraxis nur am aufdringlichsten sichtbar wird und den lautesten Widerhall
im Publikum gefunden hat, was stiller und verborgener die ganze moderne Psycho-
logie durchsetzt: das langsame Abbröckeln jenes Bodens, aus dem sich die reine Ge-
sinnung des eigentlichen Erkennens nährt...", wobei KUNZ eben die „Schamlosigkeit
und die wissenschaftliche Unverantwortlichkeit als die zwei Grundzüge dieses Pro-
zesses" heraushebt (S. 10). Damit macht KUNZ die Einschränkung in der Vorbemer-
kung seines Buches wieder rückgängig und verleiht, indem er von einem ihm nicht
voll vertrauten, sehr engen Teilgebiet der Psychologie unsachgemäß Folgerungen auf
das ihm wohl kaum besser vertraute Gesamt der einzelwissenschaftlichen Psycho-
logie ableitet, seinen für sich schon schlecht begründeten, verdächtigenden Ausführun-
gen ein Gewicht und eine Relevanz, die ihnen tatsächlich nicht zukommen. KUNZ ist
hier möglicherweise das Opfer des Umstandes geworden, daß die grundwissenschaft-
liche psychologische Arbeit, wie jede i. e. S. wissenschaftliche Arbeit, überhaupt keinen
„Widerhall im Publikum" findet, sondern in der Stille vor sich geht, und man sich
demnach ein angemessenes Bild über die Psychologie nicht nach dem, was „man so
hört" oder liest, schaffen kann, sondern daß man sich dazu in intensivem Zeitschriften-
7 Holzkamp

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88 Der dreifache Gegenstand der Psychologie

I n den dargestellten u n d ähnlichen V o r w ü r f e n gegen die Psydiologie ist


häufig auch mehr oder weniger deutlich die A u f f a s s u n g formuliert, d a ß in
psychologischer Sicht das eigentliche „ W e s e n " des Menschen nicht erfaßbar
sei. W i r stellen zunächst fest, daß diese Behauptung mit d e m Problem der
„ E n t w ü r d i g u n g " des Menschen in der experimentellen Situation nichts zu
tun hat, d a hier nicht v o n „ V p n . " , sondern v o n „anderen Menschen" als p s y -
chologischer Gegenstandsart die R e d e ist. Weiter räumen wir ein, daß über
das „ W e s e n " „ d e s " Menschen mit Mitteln der empirischen Psychologie aller-
dings nichts ausgesagt werden kann. I n der einzelwissenschaftlich-psycholo-
gischen Forschung geht es d a f ü r um das allgemeine theoretische Verständnis
„ d e r " Menschen in ihrer konkreten Tatsächlichkeit. O b m a n das radikalisierte
Fragen nach den „ersten" oder „ l e t z t e n " Gründen des menschlichen Daseins
u n d damit das Absehen v o n der V i e l f a l t u n d Vielgestaltigkeit der „wirklich
v o r g e f u n d e n e n " Menschen f ü r wichtiger hält oder ob m a n nicht das über den
Menschen „ v o m Schreibtisch a u s " H e r l e i t b a r e als das „Interessantere" be-
trachtet, sondern gerade das Hinschauen auf die „empirischen" Menschen,
wobei m a n allein mit „ N e u e m " u n d „ U n b e k a n n t e m " konfrontiert ist, f ü r
wissenschaftlich „ b e f r i e d i g e n d e r " erachtet, das sollte nicht z u m A n l a ß f ü r
irgendwelche Wertungen oder gar Abwertungen der einen oder der anderen
Angehensweise an den Menschen genommen werden. M a n sollte vielmehr
einsehen, daß es sich hier um zwei Weisen v o n auf den Menschen gerichteten
Erkenntnisbemühungen handelt, v o n denen die eine nicht durch die andere
ersetzbar ist, u n d sollte auch dem, der sich f ü r die jeweils „ a n d e r e " Sichtweise
entschieden hat, den Ernst u n d die Reinheit seines wissenschaftlichen Wollens
nicht absprechen.

Studium den empirisch-wissenschaftlichen Originalarbeiten und damit der „Sache


selbst" zuwenden muß. Ein solches intensives Studium ist mit so viel Aufwand an
Zeit und Kraft verbunden, daß man es normalerweise niemandem, dem die empirisch-
psychologische Forschungsarbeit nicht Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Bemühens
ist, zumuten kann. In diesem Falle sollte man sich aber, eben zur Vermeidung von
„wissenschaftlicher Unverantwortlidikeit", trotz aller etwa aufgestauten einschlägi-
gen Affekte jedes Pausdialurteils über „die" Psychologie schlichtweg enthalten.

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