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Tradition und «Unbewußtes»

Wir haben bereits an anderem Ort die Rolle der Psychoanalyse im Werk der Subversion dargetan, das im
Gefolge der materialistischen «Verfestigung» der Welt die zweite Phase des antitraditionellen Kampfes, diesem
Charakteristikum der ganzen Moderne, darstellt.1 Wir müssen hierauf nochmals zurückkommen, denn seit
einiger Zeit stellen wir fest, daß die psychoanalytische Offensive immer weiter vordringt, derart, daß sie durch
den direkten Angriff auf die Tradition unter dem Vorwand, sie erklären zu wollen, nun auf gefährlichste Weise
deren Begriff selbst zu deformieren trachtet. In dieser Hinsicht ist eine Unterscheidung zwischen den ungleich
«fortgeschrittenen» Spielarten der Psychoanalyse angebracht: so wie sie zuerst von Freud konzipiert worden
war, blieb sie noch bis zu einem gewissen Punkt durch die materialistische Haltung begrenzt, die er stets zu
bewahren dachte; natürlich hatte sie deswegen nicht weniger einen entschieden «satanischen» Charakter, aber
wenigstens hinderte sie dies daran, Zugang zu gewissen Bereichen zu beanspruchen, bei denen sie es, selbst
wenn sie darauf abzielte, tatsächlich nur mit recht groben Fälschungen zu tun hatte, woher Begriffsverwirrungen
rührten, die noch leicht zu beseitigen waren. Wenn etwa Freud von «Symbolik» sprach, war das, was er
fälschlicherweise so bezeichnete, in Wirklichkeit nur ein Produkt der menschlichen Phantasie, das von
Individuum zu Individuum variiert und in Wahrheit nichts mit der echten traditionellen Symbolik gemein hat.
Dies war nur die erste Phase, und es war anderen Psychoanalytikern vorbehalten, die Theorien ihres «Meisters»
im Sinne einer falschen Spiritualität zu verändern, um sie durch eine viel subtilere Verwirrung zu einer
Interpretation der traditionellen Symbolik selbst zu benutzen. Das war besonders bei C. G. Jung der Fall, dessen
erste Versuche in diesem Bereich schon recht weit zurückliegen; 2 bemerkenswert ist hierbei, denn das ist sehr
bezeichnend, daß er für diese Interpretation von einem Vergleich ausging, den er zwischen bestimmten
Symbolen und von Kranken geschaffenen Zeichnungen glaubte ziehen zu können.
Man muß zugestehen, daß diese Zeichnungen manchmal zu den echten Symbolen eine Art «parodistische»
Ähnlichkeit aufweisen, die immer wieder Anlaß zur Beunruhigung über die Kräfte gibt, die sie inspiriert haben.
Was die Dinge sehr verschlimmert hat, ist der Umstand, daß Jung, um zu erklären, wozu rein individuelle
Faktoren nicht auszureichen schienen, sich zu der Hypothese eines sogenannten «kollektiven Unbewußten» hat
verleiten lassen, welches in gewisser Weise in und unterhalb des Seelenlebens aller menschlichen Individuen
existiert und auf das er gleichzeitig und unterschiedslos den Ursprung der Symbole selbst und den ihrer
pathologischen Karikaturen zurückzuführen können glaubte. Selbstverständlich ist dieser Begriff des
«Unbewußten» gänzlich unzutreffend und dasjenige, was er bezeichnen soll, - sofern diesem irgendeine Realität
zukommen kann – gehört in den Bereich dessen, was die Psychologen geläufiger das «Unterbewußte» nennen,
d.h. das Gesamt der niederen Ausläufer des Bewußtseins. Wir haben schon an anderer Stelle auf die Verwirrung
hingewiesen, die ständig zwischen dem «Unterbewußten» und dem «Überbewußten» angerichtet wird: da
letzteres schon seiner Natur nach aus dem Bereich fällt, auf den sich die Forschungen der Psychologen
erstrecken, lassen sie sich es nie entgehen, falls ihnen irgendeine seiner Erscheinungsweisen begegnen sollte, sie
dem «Unterbewußten» zuzuschreiben. Eben diese Verwirrung finden wir hier wieder: daß die von den
Psychiatern beobachteten Hervorbringungen der Kranken dem «Unterbewußtsein» entstammen, steht sicherlich
außer Zweifel. Hingegen kann alles, was aus der traditionellen Ordnung kommt und besonders die Symbolik, nur
dem «Überbewußten» zugeschrieben werden, d.h. dem, wodurch eine Kommunikation mit dem «Über-
Menschlichen» sich herstellt, während das «Unterbewußte» im Gegenteil dem «Unter-Menschlichen» zuneigt.
Hier liegt also eine echte Verkehrung vor, die charakteristisch für das betreffende Erklärungsmuster ist. Und was
ihm den Schein einer Begründung gibt, ist, daß in Fällen, wie in dem von uns zitierten, das «Unterbewußte»
dank seiner Verbindung mit seelischen Einflüssen niederster Art das «Überbewußte» tatsächlich «nachäfft». Für
jene, die auf diese Fälschungen hereinfallen und die unfähig sind, die wahre Natur zu erkennen, wird daraus die
Illusion, die zu der von uns so genannten «Spiritualität mit umgekehrten Vorzeichen» führt. Durch die Theorie
des «kollektiven Unbewußten» glaubt man die Tatsache erklären zu können, daß das Symbol dem «individuellen
Denken vorausgeht» und es überschreitet. Die eigentliche Frage, die man sich nicht einmal zu stellen scheint,
wäre, in welche Richtung es denn das individuelle Denken überschreitet, ob nach unten, wie es dieser Hinweis
auf das angeblich «Unbewußte» nahelegt, oder nach oben, wie es im Gegensatz dazu alle traditionellen Lehren
ausdrücklich behaupten. Wir haben in einem kürzlich erschienenen Aufsatz einen Satz hervorgehoben, der diese
Verwirrung in größtmöglicher Deutlichkeit sichtbar macht: «Die Deutung der Symbole ist das offene Tor zum
Großen Ganzen, d.h. der Weg, der durch das Labyrinth der dunklen Niederungen unseres Individuums zum
höchsten Licht führt.» Leider bestehen große Chancen, daß man beim Gang durch die «dunklen Niederungen»
ganz woanders als im «höchsten Licht» ankommt. Beachten wir auch die gefährliche Zweideutigkeit des
«Großen Ganzen», das ebenso wie das «kosmische Bewußtsein», in das manche einzugehen streben, hier nichts
mehr und nichts anderes als das diffuse Seelenleben der niedersten Bereiche der geistigen Welt sein kann; und so
führen die psychoanalytische Deutung der Symbole und ihre Deutung in der Tradition in Wirklichkeit zu
diametral entgegengesetzten Zielen.
An dieser Stelle ist noch eine wichtige Bemerkung angebracht: zu den sehr verschiedenartigen Dingen, die das
«kollektive Unbewußte» erklären soll, muß natürlich die «Folklore» gezählt werden, und das ist einer der Fälle,
wo die Theorie einen Schein von Wahrheit bieten kann. Genau genommen müßte man hier von einer Art
«kollektivem Gedächtnis» sprechen, das im menschlichen Bereich wie ein Ebenbild oder ein Widerschein des
«kosmischen Gedächtnisses» ist, welches einem Aspekt der Symbolik des Mondes entspricht. Indes, von der
Natur der «Folklore» auf den Ursprung der Tradition selbst schließen wollen, heißt einen ganz ähnlichen, heute
weitverbreiteten Fehler begehen, der darin besteht, etwas als «ursprünglich» anzusehen, was nur das Ergebnis
einer Entartung ist. Es ist offensichtlich, daß die «Folklore», die im wesentlichen aus Elementen erloschener
Traditionen besteht, im Verhältnis zu letzteren einen unvermeidlich verkommenen Zustand darstellt; im übrigen
ist dies das einzige Mittel, durch das etwas hiervon gerettet werden kann. Man müßte sich auch fragen, unter
welchen Bedingungen diese Elemente dem «kollektiven Gedächtnis» anvertraut worden sind; wie wir bereits bei
Gelegenheit gesagt haben,3 können wir darin nur das Ergebnis einer völlig bewußten Handlung der letzten
Vertreter althergebrachter traditioneller Formen sehen, welche vom Aussterben bedroht waren. Eines ist sicher,
daß nämlich der kollektive Geist, sofern es etwas gibt, was so genannt werden kann, sich im eigentlichen Sinn
auf ein Gedächtnis beschränkt, was in Begriffen einer astrologischen Symbolik seinen Ausdruck findet, die
besagt, daß das Gedächtnis von der Natur des Mondes ist. Anders gewendet, es kann einen bestimmten
Erhaltenszweck erfüllen, worin eben die «Folklore» besteht, aber es ist gänzlich außerstande, irgend etwas
hervorzubringen oder auszugestalten, und vor allem keine Dinge der transzendenten Ordnung, wie es jedes
Element der Tradition seiner Definition nach ist.
Die psychoanalytische Interpretation zielt in Wirklichkeit auf die Leugnung dieser Transzendenz der Tradition,
aber, so könnte man sagen, auf eine neue und andere Art als die bisher geläufigen: es geht nicht mehr wie beim
Rationalismus in all seinen Formen entweder um eine brutale Negation oder um ein schlichtes Ignorieren der
Existenz jedwelcher «nicht menschlicher» Tatsache. Man scheint im Gegenteil zuzugestehen, daß die Tradition
in der Tat einen «nicht menschlichen» Charakter hat, wobei man aber die Bedeutung dieses Wortes völlig
verkehrt. So lesen wir am Ende des bereits oben zitierten Aufsatzes folgendes: «Wir werden vielleicht auf diese
psychoanalytischen Deutungen unseres spirituellen Traditionsschatzes zurückkommen, dessen «Konstante»
durch verschiedene Zeiten und Kulturen hindurch den traditionellen, nicht menschlichen Charakter beweist,
wenn man das Wort «menschlich» in einem separativen, individuellen Sinn nimmt». Dies zeigt vielleicht am
besten, welche wahre Intention alldem eigentlich zugrunde liegt, eine Intention, die, wie wir übrigens gern
glauben wollen, nicht immer jenen bewußt ist, die solche Dinge schreiben, denn hier muß deutlich geworden
sein, daß es in dieser Hinsicht nicht um diese oder jene denkerische Individualität geht, sei es auch die eines
«Schule machenden» Denkers wie Jung, sondern um eine sehr suspekte «Inspirationsquelle», aus der diese
Deutungen hervorgehen.
Man braucht nicht besonders weit im Studium der traditionellen Lehren vorgedrungen sein, um zu wissen,
wenn von einem «nicht menschlichen» Element die Rede ist, welches wesentlich Teil der über-individuellen
Zustände des Seins ist, daß das Gemeinte absolut nichts mit einem «kollektiven» Faktor zu tun hat, der an sich
nur dem menschlichen individuellen Bereich zugehört, ebensowenig wie das, was hier als «separativ» bezeichnet
wird und was darüber hinaus durch seinen «unterbewußten» Status in jedem Fall eine Kommunikation mit
anderen Zuständen nur in Richtung auf das «Unter-Menschliche» eröffnen kann. Man begreift hier unmittelbar
das subversive Verfahren, das darin besteht, sich gewisser traditioneller Begriffe zu bemächtigen und sie in ihr
Gegenteil zu verkehren, indem das «Unterbewußte» an die Stelle des «Überbewußten», das Unter-Menschliche
an die des Über-Menschlichen gesetzt wird. Ist diese Subversion nicht in ganz anderer Weise gefährlich als die
einfache Negation und wird man uns der Übertreibung verdächtigen, wenn wir sagen, daß sie den Weg zu einer
wirklichen «Gegen-Tradition» bereiten hilft, die zum Vehikel dieser «Spiritualität mit umgekehrten Vorzeichen»
dient, deren offensichtlicher, vorübergehender Triumph gegen Ende des gegenwärtigen Zyklus die «Herrschaft
des Antichrist» andeuten soll?
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1. cf. Le Règne de la Quantité et les Signes des Temps, Kap. XXXIV.
2. Cf. Zu diesem Thema: A. Préau: La Flaur d’or et le Taoisme sans Tao.
3. Cf. Kap. IV: Le Saint Graal.

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