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Konstantin Gemenetzis

Selbstsein im Traum und anderswo1

1. Selbstsein im Lichte von Heideggers Sein und Zeit.

"Dasein" ist bekanntlich der Name Heideggers für die Seinsweise des Menschen, d.h. für die wesent-

lichen Möglichkeiten, die der Mensch nicht einfach hat, sondern die der Mensch schlechthin ist.

Die Möglichkeit, die der Mensch, in einer Wendung Heideggers, "zunächst und zumeist" ist, steht

unter dem Titel "Verfallen". Verfallen wohin? In die "öffentliche Ausgelegtheit": Man bewohnt näm-

lich eine Welt, wo alles in einer gewissen Weise schon verstanden und entschieden ist. Selbst Fra-

gen und Zweifel sind vorgefertigt. In diesem Zusammenhang verwendet Heidegger Worte wie "All-

täglichkeit", "Durchschnittlichkeit", "Leichtnehmen" und "Leichtmachen", was alles eine "Entlastung",

eine "Beruhigung" in das Dasein bringt, da es nichts zu "entscheiden" und zu "verantworten" hat.

Dieses Dasein, diese Daseinsmöglichkeit nennt Heidegger das "Man". Das Man, sofern es sich in der

öffentlichen Ausgelegtheit aufhält, ist ein "Niemand".

In der Psychotherapie zeigt sich die Herrschaft der öffentlichen Ausgelegtheit konkreter z.B. in dem,

was die Psychoanalyse "Identifikation" und "Introjektion" nennt. Oder, in einer wenig beachteten

Variation der sogenannten "Übertragung", wo man den Therapeuten ebenfalls als einen "Niemand"

sieht, d.h. zu ihm so spricht, wie irgendeiner zu irgendeinem sprechen würde. Weite Bereiche der

Psychiatrie und der Psychologie sind der Seinsweise des Man nachgebaut. Die öffentliche Ausge-

legtheit hat bereits entschieden, was etwa als "normal" und was als "pathologisch" zu gelten hat.

Auch vorgefertigte Interpretations- und Interventionsmuster des Therapeuten, die unter dem Titel

"Technik" im Umlauf sind, wären im Lande des Man angesiedelt.

Medard Boss behauptet, dass der Träumende nur für "sinnenhaft-gegenwärtig wahrnehmbare Ge-

gebenheiten" offen ist, also sich in einem sowohl räumlich als auch zeitlich begrenzten Horizont

bewegt. Insofern ihm die Weitsicht, das Nachdenken, die Geistigkeit weitgehend fehlt, wäre auch

Bosses Träumender eine Variation des Man. Und so wie Heideggers Man die Augen für sein eigenes

Selbst öffnen kann, kann Bosses Träumer im Wachen für die ihm im Traum angedeuteten Möglich-

keiten hellsichtiger werden. Boss erwähnt zum Beispiel einen wiederkehrenden Traum Heideggers,

1 Vortrag am 29. Mai 2009 in Wien im Rahmen des Zyklus "Daseinsanalyse - 'Selbstsein' in der Praxis
der Psychotherapie" des Österreichischen Daseinsanalytischen Institutes.

1
wo dieser seine Maturitätsprüfung am Konstanzer Gymnasium ablegt und vor Prüfern steht, die ihn

mit harten Fragen bedrängen. Boss schreibt:

Die Sicht seines Träumens jedoch war jeweils so hochgradig abgeblendet, dass er in ihm

vom Bestehen aller möglichen Reifeprüfungen jeweils immer nur die Situation des Gymnasi-

almaturs in den Blick bekommen konnte. Seine eigentliche und wesentliche Selbstverwirkli-

chung hatte er offenbar mit der wachen Entdeckung des Sachverhaltes erreicht, dem er

den Namen "Das EREIGNIS" gab.1

Die "Beruhigung" des Man schließt nicht Spannungen aus. Ich fasse z.B. diesen Vortrag als eine Prü-

fung. Ich muss dem Bild entsprechen, das Sie von mir angeblich erwarten. Das quält mich. Nach

manchen ähnlichen Qualen suche ich einen Therapeuten auf. Wie soll er mir helfen? Er soll mich

stärken, so dass ich Ihnen gegenüber selbstbewusst auftreten kann. Überall hier bewege ich mich

innerhalb der öffentlichen Ausgelegtheit: Ich bin Ihrem Urteil ausgeliefert. Wenn Sie den Gemenet-

zis gut finden, dann bin ich gut; wenn Sie den Gemenetzis schlecht finden, dann bin ich schlecht.

Von der Psychotherapie erwarte ich, dass ich in Situationen wie diese nicht schwach sondern stark

bin, dass ich Sie kontrolliere und überzeuge. In Heideggers Terminologie bliebe ich so oder so ein

Niemand. Anders ausgedrückt: Die anfänglichen Erwartungen von der Psychotherapie sind in der

Regel kein Weg zur Lösung des Problems, sondern Teil des zu lösenden Problems.

Nun der von Sein und Zeit inspirierte Therapeut wird es vielleicht anders sehen. Er wird mich, wenn

auch unausgesprochen, darauf aufmerksam machen, dass meine Qual "eigentlich" nicht von der

heutigen Situation und von Ihren kritischen Blicken und Ohren herkommt. Der "eigentliche" Prüfer sei

nicht Ihr kritischer Blick, sondern der "Ruf meines Gewissens". Dieser weise mich auf eine Vergessen-

heit hin. Er mahne mich, was ich hier und jetzt zu sagen habe, könne mir niemand abnehmen, es

sei meine "jemeinige" Entscheidung und Verantwortung. Dieser Ruf sei der eigentliche Auftrag,

dem mein Dasein "überantwortet" ist, dieser sei der Prüfstand, an dem gemessen wird, ob ich ein

Niemand bleibe oder ob ich mein Selbst gewinne.

Das wäre ein Hinweis auf die zweite Daseinmöglichkeit: das Man in Richtung "Eigentlichkeit", in

Richtung Selbstsein zu überwinden. Dieser Möglichkeit bleibe ich "eigentlich" schuldig. In diesem

1 Von der Spannweite der Seele, Bern 1982, S. 220.

2
Sinne des Auftrags, der Verantwortung und der dazugehöriger "Vereinzelung" erfährt Heidegger

das Dasein als "Last".

2. Selbstsein im Lichte von Heideggers Identität und Differenz.

Der Vortrag Heideggers Der Satz der Identität kreist hauptsächlich um ein Fragment des Vorsokrati-

kers Parmenides, das in einer geläufigen Übersetzung lautet: "Das selbe nämlich ist Vernehmen und

Sein". Heidegger versteht das "Selbe" als das Subjekt des Satzes und entsprechend hört er es als

Zusammengehören von Vernehmen und Sein, und dieses in der Tonart: Zusammengehören: "Das

Zusammen wird jetzt aus dem Gehören bestimmt."1 Das Selbe ergibt erst Vernehmen und Sein. Die

beiden gehören zusammen, indem das eine dem anderen "vereignet" bzw. "zugeeignet" bleibt.2

Der Ort des hier angesprochenen Eigenen ist nun weder der Mensch noch das Sein, sondern das

Selbe, das Heidegger unter den Titeln "Ereignis" und "Lichtung" fasst. In den späteren Schriften kreist

Heideggers Denken nicht mehr um das Selbstsein des Daseins. Das "Selbe" ist nun ein Vor-name des

sogenannten "Ereignisses", des Zusammengehörens.

Hier und anderswo wird die genannte Zusammengehörigkeit als das Verhältnis von Angespro-

chenwerden und Entsprechen bezeichnet. Dieses Schema, auf das Alltagsleben übertragen, könn-

te vielleicht am folgenden Beispiel dargestellt werden: Hunger wäre kein inneres Bedürfnis, das

mich zum Brotkasten in der Küche treibt. Vielmehr ist Hunger ein Ruf. Das Brot spricht mich an, es

ruft mich zu sich, es will gegessen werden. Ich entspreche seinem An-ruf, indem ich auf es zugehe

und es in den Mund nehme. Ich bin satt heißt: Das Brot spricht nicht mehr an, es ruft mich nicht

mehr zu sich. Es bleibt stumm. Nun gewinne ich mein Selbst, wenn ich die Stimme des Brotes klar

höre, d.h. wenn ich sie nicht mit einer anderen verwechsle, etwa mit der Stimme einer anderen

Leere, die nicht vom Magen herkommt. Im Gegenteil verfehle ich mein Selbst, wenn ich den Ur-

sprung der Stimme nicht erkenne, oder wenn ich nicht auf sie achte, z.B. wenn ich weiterhin esse,

wo die Stimme des Brotes längst verstummt ist. Selbstsein hieße, mit einem Wort Heideggers, "hörig"

sein.

1 Identität und Differenz, Tübingen 1976, S. 16.


2 a.a.O., S. 24.

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In bezug auf die daseinsanalytische Traumauslegung kommt das Verhältnis von Anspruch und Ent-

sprechen in der Leitfrage "Wie zu Was?" ins Spiel. Das Was wäre das mich jeweils Ansprechende;

das Wie mein ihm entsprechendes Verhalten. Medard Boss stellt die Frage wie folgt:

... für welches Vernehmen von welchen Begebenheiten ... [ist] das Existieren eines bestimm-

ten Menschen in seinem augenblicklichen Traumzustand offen...1

Hanspeter Padrutt, sowohl aus Heideggers Denken als auch aus seiner Parmenidesauslegung her-

aus, formuliert es folgendermaßen:

Wie verhalte ich mich zu was - wie zu was? Es träumte mir: die Szene im Operationssaal mit

ihrem Wie zu Was. Es träumte mir, es - jenes unsagbare "Ereignis des Seins", in welchem mein

mit dem Wie genanntes Existieren und das Anwesen des mit jenem Was genannten Anwe-

senden untrennbar zusammengehören.2

Beim späteren Heidegger klingt immer noch die Emphase des Selbstseins nach, denn erst aus dem

vereignend-zueignenden Spiel des Zusammengehörens von Angesprochenwerden und Entspre-

chen kommen die Spielbeteiligten, Menschen und Dinge, wie Heidegger oft sagt, zu ihrem je "Ei-

genen", z.B. ich als Hungernder und das Brot im Kasten. Die im betonten Gehören gemeinte Selbig-

keit erscheint auch im Namen der alles einräumenden, Jeglichem sein Eigenes gebenden "Lich-

tung". In der Schrift Besinnung heißt es: "Selbst aber heißt: Entschlossenheit in die Lichtung des

Seyns"3.

In Bosses Traumauffassung können uns die Träume, wie gesagt, auf das uns im Wachen Anspre-

chende "höriger" werden lassen. Deswegen können in der Psychotherapie Gespräche über Träu-

me, wie wir von Boss bereits anhand des Prüfungstraumes Heideggers hörten, zur "eigentlichen und

wesentlichen Selbstverwirklichung" des Träumenden oder, wie Padrutt an anderer Stelle schreibt,

"zu Wesentlichem und Eigenem führen"4.

1 in: Holger Helting, Einführung in die philosophischen Dimensionen der psychotherapeutischen Da-
seiinsanalyse, Aachen 1999, S. 135.
2 Daseinsanalyse 24-2008, S. 59.
3 GA 66, S.329
4 Daseinsanalyse, a.a.O., S. 63

4
Sei es in der Sicht von Sein und Zeit, sei es in der späteren Sicht Heideggers, ist das Selbst ein Ge-

suchtes, eine Aufgabe, zu der eine Wendung Heideggers passen könnte: "Auf einen Stern zuge-

hen..."1. Nach Boss wären die Träume eine "via regia", ein königlicher Weg zum Stern des Selbst-

seins. Diese Sicht versetzt die Psychotherapie in ein besonderes Licht. Zwischen den Zeilen wird et-

wa gesagt: "Der Ort, wo du dich aufhältst, ist nicht dein heimatlicher Ort. Verfallen, verloren, irrst du

auf dieser Erde herum. Dein wahrer Ort liegt an jenem Stern. Auf den wollen wir zugehen." Die Psy-

chotherapie, nicht nur die daseinsanalytisch orientierte, wird oft vom Heimweh nach der Stern-

stunde des wie auch immer verstandenen Eigenen, des Selbstseins getrieben.

3. Niemand (Zen-Buddhismus)

Ich mache jetzt eine Probe. Ich will das "Selbe" des Parmenides nicht zu einem "Zusammengehö-

ren" umdeuten. Ich will dieses schlichte Wort schlicht hören: dasselbe. Aber wie? Wie soll denn Ver-

nehmen und Sein dasselbe sein? Vor einigen Jahren bin ich auf eine Geschichte gestoßen, die

Byung-Chul Han, ein in Basel lehrender koreanischer Philosoph, erzählt:

Einst ging Meister Hui-tang mit dem Laien Huang-schan-gu in die Berge. Wohlgeruch strömte

ihnen auf einmal entgegen. Hui-tang frug: "Vernimmst du den Duft der Reseden?" Als Hu-

ang-schan dies bejahte, sagte Hui-tang zu ihm: "Ich habe dir nichts zu verbergen."2

Was heißt hier "Ich habe dir nichts zu verbergen"? Han schreibt: "Der Duft der Reseden ent-innerlicht

Hui-tang." Innerlichkeit ist ein Name für den heimatlichen Ort, den das Ich, das Subjekt, die Seele,

der Geist, das Denken und das Gefühl, das Bewusstsein und das Unbewusste, die Identität und das

Man und das Selbst stiften. Diese Worte sind eben keine Begriffe; sie sind Orte, die wir bewohnen.

Der Duft der Reseden lässt bei Hui-tang nichts von all dem bestehen. Hui-tang geht in den Duft der

Reseden auf. Er hat kein Inneres und deswegen hat er nichts zu verbergen. Hui-tang ist "draußen

bei den Dingen" in einem radikalsten Sinne. Er ist kein "In-der-Welt-sein" sondern, wie Han anderswo

schreibt, einfach "Welt-sein".

In einem Seminar mit Boss während meiner Lehrjahre am Zürcher Daseinsanalytischen Institut war

von der Phantasie die Rede. Ein Kollege aus Korea sagte in einem auffallend bestimmten und ver-

1 GA 13, S. 76
2 Byung-Chul Han, Philosophie des Zen-Buddhismus, S.118.

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werflichen Ton, die Phantasie sei nichts. Boss empörte sich. Er warf ihm seinerseits vor, er sei ein "Wis-

senschaftler". Der Koreaner wusste nichts weiter zu sagen. Er wiederholte ein paarmal, die Phanta-

sie sei nichts. Viel viel später glaubte ich zu sehen, was er sagte: Der Ort der Phantasie ist ein Ort der

Innerlichkeit, die nicht unbedingt als etwas "Inneres" zu fassen ist, sondern auch als ein Haus, als

eine kleine Welt, wo ich zuhause bin und wohinein ich das Phantasierte eben mir ein-bilden kann.

Beim ent-innerlichten Menschen gibt es keinen Ort, wo das Phantasierte sich bilden könnte.

In der so gemeinten Ent-innerlichung höre ich den Satz des Parmenides "Vernehmen und Sein: das-

selbe" in seinem wortwörtlichen Laut: Kein Zusammengehören, kein Entsprechen, sondern schlicht

und einfach dasselbe. Hui-tang und Resedenduft: dasselbe. Dann wären das "selbe" des Parmeni-

des und des Heraklit, und das "Nichts" oder die "Leere" des Zen-Buddhismus Nachbarn.

Hier wäre der Vernehmende ebenfalls "Niemand", aber nicht im Vergleich zu einem "eigentlichen

Selbst", nicht in dem abwertenden Sinne des Man. "Niemand" hieße hier nackt, obdachlos, nämlich

frei vom Dach, vom schützenden und zugleich einengenden Haus eines Bewusstseins, einer Identi-

tät, eines Selbst. In solchen Häusern wäre er eher Tourist als Einwohner.

Der Tourist ist in einem gewissen Sinne offener als der Einwohner. "Offen" würde hier heißen, erstens,

nicht ein Selbst, das sein Offensein als eigene Aufgabe und Verantwortung übernimmt und voll-

zieht. Zweitens, "offen" würde eine Seinsweise heißen, wo selbst das Offensein zurückbleibt, nicht

thematisiert wird, nicht in Betracht kommt. "Offen" wäre, drittens, kein Prädikat des Daseins, sondern

die uneingeschränkte und deswegen nicht ins Auge fallende Selbigkeit des "und" von Vernehmen

und Sein, aber auch von Hungerhaben und Brotessen. "Offen" hieße nicht-Denken. Ein Patient von

Hanspeter Padrutt soll einmal einen Spruch eines alten Mannes aus den griechischen Bergen gele-

sen haben:

Es ist zwecklos, sich zu sorgen, weder über Dinge, die man nicht ändern kann, denn da sei

sowieso nichts zu machen, noch über veränderbare Dinge, denn da kann man ja etwas

tun.1

"Sorgen", das, weit gefasst, dem Denken gleichkommt, hat für diesen Alten keinen Sinn... Es klingt

verwandt mit dem Spruch eines Zen-Meisters, der sagte, wenn er Hunger habe, dann esse er; wenn

1 Gesprächsführung – Führung des Gesprächs oder des Gesprächs Führung? Vortrag am Symposi-
um "Überraschung als Anstoß von Wandlungsprozessen" am 14. Dezember 2002 in Rüschlikon.

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er schläfrig sei, dann gehe er schlafen. Die zwei Sprüche wären auch Beispiele für ein ent-

innerlichtes Vernehmen, das dermaßen mit dem Sein verschmolzen ist, dass selbst die Namen "Ver-

nehmen" und "Sein", aber auch "eigentlich" und "uneigentlich" nichts mehr nennen.

In unserem Beispiel von Hungerhaben und Brotessen ginge es jetzt nicht mehr um den Hunger als

Ruf und das Essen als Entsprechung zu ihm und um das Zusammengehören beider. Jetzt würde das

Geschehen von Hungerhaben und Brotessen eigentlich in einem Meer des Schweigens ablaufen.

Natürlich können Namen fallen: Hunger, Bäckerei, Brotkaufen, Nachhause gehen, Tellerholen,

Brotessen usw. Aber all diese Worte wären eher wie der Schaum, den die Woge des Schweigens

mal hervorbringt, mal nicht. In dem Prosastück Der Namenlose sagt Samuel Beckett von den Wör-

tern: Drops of silence in silence – Tropfen von Schweigen ins Schweigen.1

Gestatten Sie mir nun, die Sache in einer anderen Sicht darzustellen. Manchen von Ihnen ist der

sogenannte "Rorschach-Test” bekannt. Es ist eine Reihe von Klecksen, die absichtlich nichts Eindeu-

tiges darstellen. Man wird aufgefordert, an den amorphen Figuren imaginierte Gestalten zu erken-

nen und er wird entsprechend ausgewertet. In einer Sicht sind die Dinge unserer Welt wie die Ror-

schach-Figuren und wie die Gestalten, die wir an ihnen zu sehen meinen. Solche Gestalten sind z.B.

unsere Bilder vom Beruf, von der Ehe und den Kindern und von der Scheidung; solche Gestalten

sind die Traumdeutungen und die psychologischen Probleme, die Bilder, die wir von uns selbst und

von den Anderen machen, von Gott und vom Teufel. Oft glauben wir, dass die Dinge die Gestalt

haben, die wir ihnen zusprechen im Sinne unserer Wahrnehmungen, Vorstellungen, Meinungen,

Erklärungen und Überzeugungen, und auch was wir im Namen des "Wesens", der "Wahrheit" und

des "Irrtums" vertreten.

Ich denke jetzt an das Werk derjenigen, die ich meine Lehrer nannte und das, wie ich es heute se-

he, auf eine gemeinsame Richtung hin sich bewegte: den Schritt zurück und das Beherzigen des

Amorphen, des Gestaltlosen, des Schweigens, das unseren Atem begleitet. Zur Verdeutlichung

einige Verse aus T. S. Eliots East Coker:

[...] Haben sie uns betrogen,

Oder haben sie sich selbst betrogen, die sanftsprechenden Alten,

1 Samuel Beckett, The Unnamable [Der Namenlose].

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Indem sie uns einfach ein Rezept des Betruges vermachten?

Die Heiterkeit nur ein absichtlicher Habitus,

Die Weisheit nur ein Kenntnis von toten Geheimnissen

Nutzlos im Finsternis, das sie anstarrten,

Oder von dem sie ihre Augen abwendeten [...]1

Und wenig später:

[...] Ich mag nicht

Von der Weisheit der Alten hören, sondern eher von ihrer Torheit,

Von der Furcht vor der Furcht und von der Manie, von ihrer Furcht vor dem Besitz,

Vor dem Gehören zu einem Anderen, oder zu Anderen, oder zu Gott.2

4. Wem träumte es vergangene Nacht? (Medard Boss)

Ein Traumbuch von Medard Boss trägt bekanntlich den Titel "Es träumte mir vergangene Nacht".

Hier betont Boss, das Subjekt des Traumes sei dasselbe mit dem Subjekt des Wachens. Dies ist wohl

keine spezifisch daseinsanalytische Einsicht, denn in der westlichen Kultur gibt es kaum eine Traum-

auffassung, die es nicht für selbstverständlich halten würde. Bei Boss ist allerdings neu, dass diese

Selbigkeit eine Differenzierung erfährt: Wie erwähnt ist der Träumende näher zu dem, was in Sein

und Zeit das "Man-Selbst" heißt und der Wachmensch ist eher für die Möglichkeit des "eigenen

Selbst" offen. Um ein weiteres Wort von Sein und Zeit einzuflechten: Der Traum ist "je meiniges". Im

Sinne von Boss heißt dies, es sei mein Traum und es sei meine Aufgabe, auf seine Zeichen zu ach-

ten, die mich auf den Weg zu meinem eigenen Selbst hinweisen.

Achten wir nun auf den Sprachgebrauch. Wenn ich Ihnen einen Traum von mir erzähle, dann kann

ich die Erzählung mit dem Satz einleiten: "Es träumte mir vergangene Nacht...". Im alltäglichen

1 Had they deceived us / Or deceived themselves, the quiet-voiced elders, / Bequeathing us


merely a receipt for deceit? / The serenity only a deliberate hebetude, / The wisdom only the
knowledge of dead secrets / Useless in the darkness into which they peered / Or from which they
turned their eyes
2 [...] Do not let me hear / Of the wisdom of old men, but rather of their folly, / Their fear of fear and
frenzy, their fear of possession, / Of belonging to another, or to others, or to God.

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Sprachgebrauch ist, außer der altväterlichen Ausdrucksweise, nichts Besonderes daran. Höchstens

kann es klären, es sei ein Traum von mir und nicht einer, den mir etwa Herr Förster von sich erzählt

hat. Was hat es nun für einen Sinn, wenn ich das mir im erwähnten Sinne der Jemeinigkeit eigens

betone? Es ist wie wenn in meinem Anwesen ein Hauptgebäude gäbe namens "Wachen" und ir-

gendwo beim Zaun ein Häuschen namens "Träumen" und ich unterstreichen müsste, das Häuschen

befinde sich ebenfalls auf dem Grundstück meines Anwesens. Der Satz hätte einen Sinn, nur wenn

ich mich als denjenigen sehen würde, der dieses Anwesen zu pflegen und zu wahren und zu hüten

hätte, damit nicht mein Anwesen und das benachbarte des Herrn Förster ihre Grenzen verlieren

und unsere Nachbarschaft in das Mischmasch einer Man-Beziehung verkommen würde, wo Je-

meiniges und Jeseiniges nicht zu unterscheiden wären. Dem auf das eigene Selbst verweisenden

mir des Satzes "Es träumte mir..." würde ein Bild von Nachbarschaft vorschweben, wo Förster und

Gemenetzis, nach einem von Heidegger zitierten Wort Hölderlins, "nahe wohnen auf getrenntesten

Bergen". Wir kommen noch darauf zurück.

Der libanesische Dichter Khalil Gibran schreibt: "Eure Kinder sind nicht eure Kinder". Wie wär’s, wenn

für die Menschen als Menschen der possessive Pronomen nicht nur bei Kindern, sondern überhaupt

keinen Sinn und keinen Platz hätte? Wie wär’s, wenn unsere Träume nicht unsere Träume wären?

Wie wär’s, wenn sogar mein Name nicht mein Name wäre? Als ich einmal ein Curriculum Vita ver-

fassen musste, fing ich mit dem Satz an: "Konstantin Gemenetzis wurde 1944 geboren..." und fast

wäre es weitergegangen: "... und starb...". Schon als Kind wurde mein Name zur Aporie. Die Leute

hießen mich "Kostas...", "Konstantin", "Gemenetzis..." Einmal fragte ich mich: Werde ich ganz von

meinem Namen erfasst? Meine Antwort war eindeutig: Nein! Diejenigen, die mich so ansprechen,

wenden sich mir zu. Wenn nun das "Konstantin" das "mir" nicht deckt, hat eigentlich dieser Pro-

nomen einen Namen, anstelle dessen er gesagt wird? Auch diesmal war meine Antwort eindeutig:

Nein! Viele Jahre später sah ich erleichtert, dass ich mit meiner Aporie nicht alleine stand. Irgendwo

bei Kierkegaard las ich: "Ich blicke ins Dasein - und sehe nichts". Die Frage fing an, sich zu beruhi-

gen und an ihrer Stelle kam allmählich die Akzeptanz eines lichten "Nichts", das mein Ich viel eher

vertritt denn irgendein Name; Akzeptanz eines lichten "Nichts", das meinen Namen begleitet, ihn

von aller absoluten Setzung befreit, ihn der Wiege seiner Vergänglichkeit anvertraut und jedem

"geboren" das "gestorben" hinzuschreibt.

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Denken wir nun an die Geschichte des Hui-tang mit dem Resedenduft. Die Geschichte legt nahe,

dass das Spiel von Vernehmendem und Vernommenem nicht nur im Sinne von "Ich vernehme et-

was" zu fassen ist, sei es als Subjekt-Objekt-Beziehung, sei es als Zusammengehören von An-spruch

und Ent-sprechen; jetzt hat der Vernehmende "nichts zu verbergen"; er geht in das Vernommene

auf, so dass, nach Parmenides, Vernehmender und Vernommenes dasselbe ist. In dieser Land-

schaft der zen-buddhistischer Leere oder der vorsokratischen Selbigkeit würde das Pronomen mir

nicht auf den Namen des Einwohners in der Innerlichkeit seines Anwesens oder in der Ortschaft

seines Selbst hinweisen, sondern eher auf einen namenlosen oder vielnamigen Wanderer, der unter

anderem zuweilen auch in das Gasthaus eines Traumes eintritt und nach diesem genannt wird,

solange er dort weilt.

Solch ein Niemandsland könnte auch gelegentlich ein Treffpunkt von Förster und Gemenetzis sein,

wo Gastgeber und Gast sich frei von der einen Gestalt zur anderen übergehen. Es könnte in dem

Satz gefasst werden: Förster sei Gemenetzis' Traum; Gemenetzis sei Försters Traum.

Lassen Sie mich für einen Augenblick, es detaillierter beschreiben. Herr Förster. Ich sehe ihn. Der

Satz "Ich sehe ihn" heisst zugleich, er sieht mich, gleich ob sein Blick auf mich gerichtet ist oder

nicht. Er sieht mich, wie wenn sein Aussehen, gleich einem Zauberstab, mich berührte und schlag-

artig mich entleerte und zu Förster rhythmisierte. Ich bin wie ein Baum, an desen Wuchs die vorherr-

schenden Winde in dieser Gegend erscheinen, oder wie ich als Autofahrer zum Bestandteil der

Maschine werde, oder so wie der Resedenduft den Chinesen durchdringt. Ich habe nichts zu ver-

bergen. Zwar kenne ich Herrn Förster seit 35 Jahren, und ich bin Autofahrer seit fast 50 Jahren, aber

die Vertrautheit hat nichts zu bedeuten. Dasselbe gilt für alle und alles, etwa für eine mir unbekann-

te Dame, die gerade vor mir sitzt.

Wenn ich Herrn Förster nach langer Zeit wieder treffe, so frage ich ihn, wie es ihm gehe, ich erzähle

ihm, wie es mir gehe, wir können ein Paar angenehme Stunden zusammen verbringen. Das andere

kommt nicht, und kann nicht zur Sprache kommen. Es läuft in einem Meer des Schweigens ab.

5. Das psychotherapeutische Geschehen.

•Dau-wu und Djian-yuan kamen in ein Haus, um Trostworte auszusprechen. Djian-yuan klopfte auf

den Sarg und sagte: Lebt er oder ist er tot? Dau-zu erwiderte: Ich sage nicht, er lebe, und sage

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auch nicht, er sei tot. Djian-yuan sagte: Warum sagt Ihr nichts? Dau-wu erwiderte: Ich sage nichts,

ich sage nichts. Sie wandten sich zur Rückkehr und kamen auf den Weg, der nach dem Kloster

führte. Djian-yuan sagte: Ehrwürdiger, so saget es mir doch geschwind! Wenn Ihr nichts sagt, so

muss es damit enden, dass ich den Ehrwürdigen geschlagen hätte! Dau-wu erwiderte: Was Schla-

gen angeht, schlag mich eben! Was Sagen angeht, sage ich nichts. So gab dann Djian-yuan dem

Dau-wu einen Schlag. Später, nachdem Dau-wu in die Verwandlung eingegangen [sc. gestorben]

war, kam Djian-yuan zu Schi-schuang und legte ihm die hier erzählte Unterredung vor. Schi-

schuang sagte: Ich sage nichts, ich sage nichts. Bei diesen Worten ging Djian-yuan mit einem

Schlag das Licht auf.1

•Ute gar an gnoies to ge me eon (u gar anyston) / Ute phrasais

Weder kennenlernen nämlich könntest du dieses N i c h t i s t (nicht wäre es ja zu vollbringen) / Noch

es sagen.2

Meine Damen und Herren,

Ich spreche zu Ihnen aus der Sicht des Therapeuten, d.h. ich teile mit Ihnen eine Sicht, die mir in

meiner Praxis, auf dem Sessel hinter dem liegenden Gesprächspartner eröffnet. Ein Phänomen, das

mir immer wieder begegnet, ist, dass ich im Laufe einer Sitzung nicht ein für allemal weiß, wen ich

höre und zu wem ich spreche. Es gibt Momente, wo zu mir ein Kind spricht, dann wieder höre ich

die Mutter oder den Vater aus seinem Mund sprechen, dann spricht zu mir ein Freund, und dann

ein Bruder, und dann ein Sohn, dann ein Namenloser usw.

Was ich gerade gesagt habe stimmt, und stimmt wieder nicht. Denn, wenn ich es wörtlich gemeint

hätte, wäre ich ein Verrückter, der ständig einen anderen Menschen vor sich sieht. Nun, ich meine,

ich sei nicht verrückt. Wie kann ich dann diese Worte sagen? Welcher ist der Unterschied zwischen

mir und einem Verrückten? Für ihn haben Kind, Mutter, Vater, Freund, Bruder usw. ihre jeweils feste

1 Byung-Chul Han, Philosophie des Zen-Buddhismus, Stuttgart, 2002, S. 111.


2Parmenides, Frg. II/7-8, In: Hanspeter Padrutt, Und sie bewegt sich doch nicht, Zürich, 1991, S. 644-
645.

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substantielle Identität; deswegen hat er immer wieder andere Menschen vor seinen Augen. Er er-

lebt Metamorphosen.

Und wie ist es mit mir, dem nicht Verrückten? Sehe ich etwa in all den wechselnden Gestalten eine

dahinterliegende, immer eine und die selbe feste substantielle Identität? Dann würde mein Ge-

sprächspartner wie ein Kind, wie seine Mutter usw. sprechen. Aber ich höre doch ein Kind und eine

Mutter! Kein Wie klingt in meinen Ohren, kein Wie erscheint vor meinen Augen. Das Gehörte und

das Gesehene werden nicht im Hintergrund eines zugrundeliegenden Selbst des Sprechenden ge-

hört und gesehen. Aber jetzt bin ich nicht ganz ehrlich. Denn das erste mal, wo ich merkte, dass es

nicht selbstverständlich ist, wer zu mir und zu wem ich gerade spreche, befiel mich ein Schwindel.

Für einen Augenblick befand ich mich fast in der Lage des Verrückten, der ein Zeuge von Meta-

morphosen ist. Alsbald konnte ich tiefer atmen. Ich war von der Neigung befreit, die jeweiligen

Subjekte des Sprechens unter das Dach der Identität eines Selbst unterzubringen. Es war, wie wenn

die Figuren eines Bildes sich aus dem Rahmen gelöst hätten und frei im Raume schwebten.

Ein Beispiel: Eine Frau schlägt manchmal einen anderen Ton an - sie spricht schroff, hart, ihr Körper

wirkt angespannt und steif. Als ich diesen Unterschied eigens merke, teile ich ihn ihr mit und frage

sie, ob sie es auch so empfindet. Sie bejaht es. Dann frage ich, ob ihr dieser Ton bekannt vor-

kommt. Sie sagt überrascht, es sei der Ton ihrer Mutter. Sie sei es, die aus ihrem Mund spreche!

Das erste Mal, wo ich erfahren habe, dass es so etwas gibt, war bei der Lektüre von Platons Dialog

Phaidros. Dieser ist ein jünger Mann, der sich mit Sokrates trifft und ihm von einer Rede Lysias, eines

Rhetorikers, über den Eros begeistert berichtet. Darauf hält auch Sokrates eine Rede zum selben

Thema. Er ist schon am Weggehen, als er wie angeschlagen stillsteht und zum Phaidros zurückkehrt.

Im darauf folgenden Dialog sagt Sokrates:

Sokrates: Wie denn? Hältst du den Eros nicht für der Aphrodite Sohn und einen Gott?

Phaidros: Das sagt man von ihm.

Sokrates: Nicht aber Lysias sagt es, noch auch deine Rede, welche durch meinen von dir

bezauberten Mund ist gesprochen worden.1

1
Phaidros 242 E, übersetzt von Friedrich Schleiermacher. Hervorhebung von mir.

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Zurück zu unserem Beispiel. Es ist die Mutter, die durch den bezauberten Mund von Frau x spricht.

Bald wurde es mir klar, dass es verfehlt wäre, in solchen Momenten sie als die Frau x anzusprechen,

was dieses "Frau x" immer heißen mag, denn hier war es nicht mehr die gewohnte Frau x, die mich

hörte, sondern ihre Mutter. Zugleich wurde mir die Aporie klar, warum wir früher in solchen Situatio-

nen uns nicht verständigen konnten – ich sprach Frau x an, aber diejenige, die meine Worte hörte,

war die Mutter.

Was ist hier am Spiel? Die Präsenz der Mutter ist viel zu schwer; will sagen, die Mutter ist zu viel als

substantielles Selbst der Tochter gegenüber aufgetreten, etwa nach dem Motto: "Werde, wie ich

es von dir will!" Frau x wurde fremdbestimmt. Das wäre eine Variation des heideggerschen Man, zu

dem Frau x verfallen wäre.

Man könnte meinen, die therapeutische Aufgabe wäre, die Fremdbestimmung zu entlarven und

die Frau zu ihrem eigenen Selbst, zur Selbst-ständigkeit zu verhelfen. In meinen Augen geht es nicht

darum, dass diese Frau etwa ihre Fremdbestimmung erkennt und überwindet, sich vom Joch der

Mutter befreit und zu ihrem wahren Selbst kommt. Wenn die Selbstbestimmung die Aufgabe der

Frau dem sie fremdbestimmenden Verhalten der Mutter gegenüber wäre, dann hätte sie die von

der Mutter gestellten Spielregeln angeeignet, sie hätte die hingeworfene Handschuh gehoben und

wäre in den Kampf eingetreten nach dem Motto: "Wer hat in meinem Leben das Sagen? Sie oder

ich?" Es wäre ein Kampf um Leben und Tod. Ein in dieser Weise von all den fremden Stimmen be-

freites und nunmehr selbst-ständiges Selbst wäre das ärmliche Überbleibsel eines Ich, das ständig

bemüht wäre, sich von jeglichem Du abzugrenzen. Dieses Ich wäre im besten Fall eine kleine Fes-

tung der Jemeinigkeit. Oft liegt das Leiden gerade an der offenen oder versteckten Bemühung um

derartige Abgrenzungen.

Für den Daseinsanalytiker ist es nicht der Leidensdruck die treibende Kraft, die die Frau vor die Tür

des Psychotherapeuten führen wird. Der heimliche Führer wäre der Ruf ihres Gewissens: die Frau ist

ihrem Selbst-sein oder, wie es auch heißt, ihrem "eigensten Seinkönnen" schuldig geblieben. Dieses

kann nicht durch die kämpferische Abgrenzung gegen die Mutter gewonnen werden. Der Ruf des

ΣΩΚΡΑΤΗΣ: Τι ουν; τον Ερωτα ουκ Αφροδιτης και θεον τινα ηγει; / ΦΑΙ∆ΡΟΣ: Λεγεται γε δη. /
ΣΩΚΡΑΤΗΣ: Ου τι υπο γε Λυσιου, ουδε υπο του σου λογου, ος δια του εµου στοµατος
καταφαρµακευθεντος υπο σου ελεχθη.

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Gewissens ist kein Aufruf zum Kampf, sondern zu ihrem eigenen Selbst, zu ihren eigenen Seinsmög-

lichkeiten, die sie zu übernehmen hat und die ihr keiner abnehmen kann. Ein Schlüsselwort für den

Gang einer entsprechenden Psychotherapie wäre das "Seinlassen", besser noch das "Selbstseinlas-

sen". Voraussetzung wäre, dass der Therapeut zu seinem Selbstsein gekommen ist und der Frau in

der sogenannten "vorausspringenden Fürsorge" begegnet. Wie geht das? Heidegger:

Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden

Anderen "sein" zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringendbe-

freienden Fürsorge mitzuerschließen. Das entschlossene Dasein kann zum "Gewissen" der

Anderen werden.1

Im psychotherapeutischen Miteinandersein wird der Ruf meines Gewissens aus dem Munde meines

Therapeuten vernehmbar. Er lässt mich sein, indem er mich auf mein eigenes Wesen hinweist. Ge-

rade das soll das vor- der vorspringenden Fürsorge leisten, oder das zuvor- der "zuvorkommenden

Zurückhaltung", wie es anderswo steht, und von Hanspeter Padrutt für die Psychotherapie fruchtbar

gemacht wurde.2 Weder Anweisungen und Ratschläge gibt er mir, noch übernimmt er meine Sa-

che.

Hier kann ich nicht über die daseinsanalytische Psychotherapie weiter ausholen. Unser Thema ist

das Selbstsein. Heidegger schwebt eine Form des Mitseins vor, wo die Betroffenen, um bei der

schon erwähnten Wendung zu bleiben, "nahe wohnen auf getrenntesten Bergen". Die Berge wä-

ren Aufenthaltsorte für das Selbstsein des jeweiligen Daseins. Sie sind voneinander abgründig ge-

trennt, insofern jedes Dasein sein Jemeiniges ausdrücklich übernimmt und vereinzelt da ragt.

Zugleich waltet eine Nähe insofern, wie bereits gesagt, jedes Dasein das andere sein lässt und so

erst es für sein Selbstsein offen hält.

Der Sachverhalt, der im Satz "Das entschlossene Dasein kann zum 'Gewissen' der Anderen werden"

kommt in späteren Schriften wieder. Es hört sich nun weniger heroisch, entspannter, ja wärmer.

Wichtig ist auch, dass er sich nicht nur im Rahmen des Mitseins begrenzt bleibt, sondern als Prinzip

des Mit-Anwesens alles Seienden überhaupt angesehen wird. In der eigenwilligen Übersetzung ei-

nes Spruches des Anaximander heißt es:

1 Sein und Zeit, § 60, S. 395


2 Vgl. u.A.: Zärtlichkeit, Schweizerische Ärztezeitung, Bd. 63, 1982, Heft 29, 21.7.82

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... gehören nämlich lassen sie [das Seiende] Fug somit auch Ruch [im Sinne von Rücksicht]

eines dem anderen ...1

Und in einer Heraklit-Vorlesung spricht er von der "Filia", der Freundschaft, die er als "Gunst" und

"Gewähr" versteht, wie folgt:

Eines gönnt sich dem anderen und vergönnt so dem anderen die Freiheit seines eigenen

Wesens.2

Der neue Ton ist vor allem in Schriften hörbar, die frei vom streng Philosophischen sind. In der Tisch-

rede zum 70. Geburtstag seines Bruders lautet das Wort fürs Mitsein "Gruß":

Der einfachste aber zugleich innigste Gruß ist jener, durch den das Gegrüßte erst eigens in

sein Wesen neu zurückkehrt, wie ein Anfängliches erscheint und sich wie zum ersten Mal fin-

det.

Und weiter:

Sofern der Grüßende überhaupt und in einer Hinsicht notwendig von sich sagt, sagt er gera-

de, dass er für sich nichts will, sondern alles dem Gegrüßten zuwendet, alles das nämlich,

was im Grüßen dem Gegrüßten zugesagt wird. Das ist all jenes, was dem Gegrüßten ge-

bührt, als dem, das es ist.

Ein anderes Wort, das Heidegger in dieser Beziehung seltener verwendet, ist die "Liebe". Schon in

einem Brief vom 11. Januar 1928 an Elisabeth Blochmann heißt es:

Ich vertraue meinem Gewissen [es ist die Phase von Sein und Zeit: der "Ruf des Gewissens"!],

dass ich der Größe und Weite Ihres Herzens dienen darf. Volo ut sis, ich will, dass Du seiest, so

interpretiert einmal Augustinus die Liebe. Und er erkennt sie damit als innerste Freiheit des Ei-

nen zum Anderen.

Gut 20 Jahre später, in der Ansprache zum 80. Geburtstag Ludwig von Fickers, kommt das Wort von

Augustinus wieder:

1 GA 5, S. 372.
2 GA 55, S. 131.

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Wohl die tiefste Deutung dessen, was Liebe ist, steht bei Augustinus in dem Wort, das lautet:

'amo volo ut sis', ich liebe, das heißt, ich will, dass das Geliebte sei, was es ist. Liebe ist das

Seinlassen in dem tieferen Sinn, demgemäß es das Wesen hervorruft.

Das folgende Zitat fasst zusammen, was in der "vorausspringenden Fürsorge" gemeint ist und als

Motto einer daseinsanalytisch orientierten Psychotherapie dienen könnte:

Im echten Gruß verbirgt sich [...] jene geheimnisvolle Strenge, durch die jedesmal die

Sichgrüßenden in die Ferne ihres eigenen Wesens und seiner Bewahrung gewiesen werden;

denn alles Wesenhafte ist je durch sein Eigenes unbedingt fern dem anderen. Doch diese

Ferne allein verbürgt auch die Augenblicke des Überganges von Einem zum Anderen. Ech-

tes Grüßen ist eine Weise solchen Überganges.

Das "eigene Wesen"… Meine Damen und Herren, ich will nicht philosophieren. Als ich nach der letz-

ten Sitzung meiner Lehranalyse das Haus des Analytikers verließ, dachte ich erleichtert: Jetzt kann

ich leben, so wie ich leben kann, ohne darüber nachdenken zu müssen! Der Traum des "eigentli-

chen Selbst" war ausgeträumt. Der Weg zum einen Stern wurde mir zum Holzweg. Das "… nahe

Wohnen auf getrenntesten Bergen" glaube ich zwar, kennengelernt zu haben. Aber ich wünschte

mir einen Blick, der auch für andere Landschaften des Mitseins Augen hätte, so wie auf Erden aller-

lei anzutreffen ist. Ich wünschte mir einen Blick, der nicht gerichtet ist, nicht denkt, nicht vergleicht,

nicht bewertet. Trotzdem bin ich ein Leben lang Psychotherapeut geblieben.

Kehren wir nun zur Frau x zurück. Was ich ihr in vielerlei Variationen sagte, ist folgendes: Du brauchst

es nicht, in das Spielfeld der Mutter einzutreten; vielleicht geht es nicht um die Frage, wer bestimmt;

es geht nicht um Fremd- oder Selbstbestimmung, auch nicht um Man-Selbst oder eigentliches

Selbst. Vielleicht kann diese Frage schon als Frage verschwinden; sie braucht nicht unbedingt ein

Thema zu sein. Der Ort deines Lebens wäre dann nicht die beengende, gehetzte Atmosphäre des

Spielfeldes allein, nicht der lästige Kampf und die Bilanz von Niederlage und Sieg, sondern das

Wandern im Freien, in der offenen Landschaft des Niemands- und Allerlandes, wo kein Personal-

oder Demonstrativpronomen die Wegmarken und die Aufenthaltsorte bestimmt.

Was ist hier geschehen? Ich habe dem Selbstsein einen Durchstrich zugefügt, indem ich es von der

Aufgabe und von dem Pflicht und von dem Ruf des Gewissens zu seiner Selbstbestimmung befreit

habe. Der Durchstrich reißt die Wände des Hauses namens "Selbst" nieder, er nimmt dem Dasein

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die Schuld seiner Existenz ab, indem er das Selbst ent-äußert und die Existenz de-faktifiziert. Der

Durchstrich annulliert das Selbst nicht. Er befreit es von der Last der Jemeinigkeit. In dieser Perspek-

tive würden weiterhin viele Stimmen aus dem Mund von Frau x sprechen, aber diesmal wäre das

quälende "Wer spricht?" nicht mehr da – weder aus- noch ausgesprochen. An die Stelle der fast

dämonischen Aufgabe des Selbstseins wäre ein lichtes Pandämonium getreten.

Das deutsche Wort für die Atmosphäre solcher Gespräche wäre vielleicht "Muße". Das alte griechi-

sche ist "s-chóle". Es meint weder Arbeit und Leistung noch Freizeit und Faulenzen. In der s-chóle

hat man Zeit, viel Zeit, unendliche Zeit. Es waltet sicherlich kein "therapeutischer Eifer", vor dem

schon Freud gewarnt hat, aber auch kein Imperativ zwängt die Beteiligten in sein Joch ein. Ande-

rerseits ist nichts von einer gelockerten "frère et cochon" Beziehung da. So gibt es viel, unendlich

viel zu sagen, und genauso viel nicht zu sagen. Diese Therapie ist kein Trainingslager für das "Leben

draußen", sondern eine neue Erfahrung, die aber dann alles in einem anderen Licht erscheinen

lassen könnte.

6. Gleichnisse

Wittgenstein beschließt eine Vorlesung mit den Worten:

Ich habe versucht, den Blickpunkt zu ändern. Alles hat die Form 'Schau es so an!', 'Vergleich

es nicht mit diesem, sondern mit jenem!' Die Frage [...] verschwindet, sobald wir aufhören,

die betreffenden Phänomene mit Phänomenen zu vergleichen, die sich im Inneren von Din-

gen und vor uns verborgen abspielen.1

Thrasyboulos Georgiades, ein Musikhistoriker, der in Deutschland lebte und mit Gadamer befreun-

det war, schreibt einmal:

Die Andersartigkeit meines Vorgehens lässt sich schon daran erkennen, dass die Darstellung

eine bevorzugte Verwendung von Analogien (Metaphern, Bildern) aufweist. Eine Analogie

aber ist kein Beweis; sie kann nur auf das Nicht-Beweisbare, wohl aber Einleuchtende eines

1 Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946-47, S. 451

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Sachverhalts, eines Phänomens, eines Faktums hinweisen; sie kann lediglich helfen, das Phä-

nomen einzusehen.1

Die Behauptung, dass das Phänomen erst mittels Analogien "einsehen" lässt, also indem wir einen

gewissen Abstand vom Phänomen nehmen, klingt paradox. Doch die Paradoxie besteht nur inso-

fern wir uns nach dem "Was ist..?" richten, nur insofern wir auf das "Wesen" der Sache, nämlich auf

die "Sache selbst" aus sind.

In meiner Sicht geht es in der psychotherapeutischen Praxis nicht ums Wesen. Manchmal stoßen wir

z.B. auf das Phänomen der sogenannten "Ambivalenz", auf das "Jein". Gelegentlich frage ich: "An-

genommen es sind da zwei Gestalten; die eine vertritt das Ja, die andere das Nein. Wie würden Sie

diese Gestalten beschreiben?" Aus meiner Frage ist keine Definition, kein Wesen der Ambivalenz

herauszulesen. Ein anderes Mal würde ich zum "Jein" etwas anderes sagen, oder vielleicht gar

nichts. Jedenfalls scheint es mir, dass im Lichte eines solchen Gleichnisses das "Jein" viel deutlicher

vor den Augen tritt, denn die Ambivalenz, so gesehen, erscheint nicht mehr als ein mysteriöser Kon-

flikt in einem geheimnisvollen Inneren. Er wird zwischen zwei Figuren da draußen ausgetragen, wie

etwa auf der Bühne - oder wie in einem Traum. Das "Jein" wird, wie Georgiades sagt, "einleuch-

tend", oder, vielleicht besser, einfach leuchtend. Sonst nichts. Selbst dem so üblichen psychologisti-

schen Sprung, diese Figuren seien "eigentlich" er/sie "selbst", bleibt kein Raum für seinen Anlauf.

Wie nun, wenn wir eine Traumdeutung, gleich welcher Provenienz, nicht als das fassten, was der

Traum "eigentlich" sagt; wie wär’s, wenn wir aufs Wesentliche verzichteten und eine Traumdeutung

einfach als Gleichnis sehen würden? Am Zürcher Daseinsanalytischen Institut mussten wir zum Ab-

schluss einen Traum schriftlich deuten – nicht deuten: auslegen. Da ich im Laufe der vergangenen

Jahre diesbezüglich oft dies und jenes auszusetzen hatte, war Gion Condrau erstaunt, als ich bei

der Prüfung eine tadellose Traumauslegung vorlegte. Ich antwortete ihm: "Ich schrieb ja, was Sie

von mir erwartet haben!", worauf wir beide lachten.

Heute würde ich wohl zu meiner Traumauslegung stehen – aber eben als Gleichnis. Und, wenn bei

der Prüfung die Zeit gereicht hätte, hätte ich noch mehrere Variationen hinzugelegt, etwa nach

dem Vorbild Bachs, der für seinen Schüler Johann Gottlieb Goldberg, den Hauscembalisten des

1 Nennen und Erklingen, Göttingen 1985, S. 18

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Grafen Keyserlingk zu einem Grundthema 31 Variationen komponierte, dass der Graf dadurch, wie

der Chronist schreibt,

in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte. Bach glaubte, diesen

Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können, die er bisher, der stets gleichen

Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte. Für das vollendete Werk

habe Bach dann einen goldenen Becher, welcher mit 100 Louis d’ or angefüllt war, erhalten.

Was, meine Damen und Herren, wenn Sie mir die Weitschweifigkeit entschuldigen, auf einen Traum

bringt, den mir eine Frau vor einigen Jahren erzählte: Sie kommt in die Analyse. Ich bin mit einem

neugeborenen Kätzchen beschäftigt. Ich sage ihr, sie solle sich um das Kätzchen kümmern, denn

das einzige, was ich ihm bieten kann, sei - tiefer Schlaf…

Zum Schluss ein kleiner Text von Franz Kafka mit dem Titel Von den Gleichnissen. Er lautet:

Viele beklagen sich, dass die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse seien, aber

unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir. Wenn der Weise sagt:

"Gehe hinüber", so meint er nicht, dass man auf die andere Seite hinübergehen solle, was

man immerhin noch leisten könnte, wenn es das Ergebnis des Weges wert wäre, sondern er

meint irgendein sagenhaftes Drüben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht

näher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse

wollen eigentlich nur sagen, dass das Unfassbare unfassbar ist, und das haben wir gewusst.

Aber das, womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.

Darauf sagte einer: "Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen folgen, dann wäret

ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der täglichen Mühe frei."

Ein anderer sagte: "Ich wette, dass auch das ein Gleichnis ist."

Der erste sagte: "Du hast gewonnen."

Der zweite sagte: "Aber leider nur im Gleichnis."

Der erste sagte: "Nein, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast du verloren."

Der zweite hat in Wirklichkeit gewonnen, da er nur innerhalb der Wirklichkeit sagen kann: "Ich wet-

te, dass auch das ein Gleichnis ist." Wer selbst Gleichnis geworden ist, wird nie vom Gleichnis spre-

chen, so wie nach einem Beispiel Wittgensteins ein Grammophon nie sagen würde: "Ich bin bloß

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eine Maschine."

Meine Damen und Herren, so sind wir, "Wirklichkeit" und "Gleichnis". Im "und", in seinen Möglichkei-

ten und Unmöglichkeiten wird das Spiel eines Lebens gespielt. Friedrich Hölderlin nennt es folgen-

dermaßen:

Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde.1

1 In lieblicher Bläue…

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