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Das Problem des Anfangs in der Philosophie wurde mit vollem Recht immer
als äußerst heikel angesehen. Denn Anfangen heißt alle Voraussetzungen aus-
schließen. Während man sich aber in der Naturwissenschaft mit objektiven
Voraussetzungen konfrontiert sieht, die durch eine strenge Axiomatik ausge-
schlossen werden können, sind die philosophischen Voraussetzungen subjek-
tiv ebenso wie objektiv. Objektive Voraussetzungen nennt man Begriffe, die
durch einen gegebenen Begriff explizit vorausgesetzt werden. So will etwa
Descartes in der zweiten Meditation den Menschen nicht als animal rationale
definieren, da eine derartige Definition die Begriffe des Vernünftigen und des
Sinnenwesens explizit als bekannt voraussetzt: Indem er das Cogito als eine
Definition darstellt, behauptet er also alle objektiven Voraussetzungen - zu
bannen, die die mit Gattung und Differenz operierenden Verfahrensweisen
belasten. Es ist dennoch offenkundig, daß er Voraussetzungen anderer Art,
nämlich subjektiven oder impliziten, nicht entkommt, d. h. Voraussetzungen,
die in einem Gefühl und nicht in einem Begriff verpuppt sind: Es wird
vorausgesetzt, daß jedermann ohne Begriff weiß, was Ich, Denken, Sein
bedeute. Das reine Ich des Ich denke ist also ein Anschein von Anfang nur,
weil es alle seine Voraussetzungen ins empirische Ich verlegt hat. Und auch
wenn bereits Hegel dies Descartes vorhält, scheint er seinerseits nicht anders
zu verfahren: Das reine Sein ist seinerseits ein Anfang nur, indem es alle seine
Voraussetzungen ins empirische, sinnliche und konkrete Sein verlegt. Eine
derartige Haltung, die in der Zurückweisung der objektiven Voraussetzungen
besteht, vorausgesetzt allerdings, daß entsprechend viele subjektive Vorausset-
zungen vorgegeben werden (die übrigens vielleicht dieselben in anderer Form
sind) - eine derartige Haltung nimmt noch Heidegger ein, wenn er sich auf ein
vorontologisches Verständnis des Seins beruft. Daraus läßt sich der Schluß
ziehen, daß es keinen wahren Anfang in der Philosophie gibt, oder vielmehr,
daß der wahre philosophische Anfang, d.h. die Differenz, an sich selbst
bereits Wiederholung ist. Diese Formel aber, und die Erinnerung an die
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1 Vgl. Descartes: La rccherchc dc La vkrite par la lumi&c naturel/elDic Suche nach der
Wahrheit durch das natürliche Licht, hg. v. G. Schmidt, Würzburg 1989.
DAS BILD DES DENKENS 171
Kenntnis zu erhalten, was alle Welt weiß, und in aller Bescheidenheit abstrei-
tet, was doch jedermann wiedererkennen2 soll. Einen, der sich nicht repräsen-
tieren läßt, der aber ebensowenig was immer auch repräsentieren mag. Nicht
ein Privatmann [particulier] mit gutem Willen und naturwüchsigem Denkver-
mögen, sondern ein Einzelner [singulier]3 voll bösen Willens, dem das Denken
mißlingt, in der Natur ebenso wie im Begriff. Er allein ist ohne Voraussetzun-
gen. Er allein beginnt wirklich und wiederholt wirklich. Und für ihn sind die
subjektiven Voraussetzungen ebenso Vorurteile wie die objektiven, sind
Eudoxus und Epistemon ein und derselbe Betrüger, dem man zu mißtrauen
hat. Auf die Gefahr hin, den Idioten zu spielen, wollen wir dies wenigstens
nach russischer Art tun: ein Mann aus dem Kellerloch, der sich in den subjek-
tiven Voraussetzungen eines naturwüchsigen Denkvermögens ebensowenig
wiedererkennt wie in den objektiven Voraussetzungen einer Kultur seiner Zeit
und nicht über den Kompaß verfügt, um einen Kreis zu beschreiben. Ach ja,
Schestow, und die Fragen, die er zu stellen weiß, der böse Wille, den er zu
demonstrieren weiß, die Unfähigkeit zu denken, die er ins Denken hinein-
bringt, die doppelte Dimension, die er in diesen drängenden Fragen entfaltet,
den radikalsten Anfang und die hartnäckigste Wiederholung zugleich betref-
fen.
Eine Menge Leute verfolgen ihr eigenes Interesse mit der Behauptung, daß
jedermann ,,dies“ wisse, daß jedermann dies anerkenne, daß niemand dies
abstreiten könne. (Sie haben einen leichten Sieg, solange sich nicht ein verdros-
sener Gesprächsteilnehmer mit der Antwort erhebt, er wolle nicht auf diese
Weise repräsentiert werden, er streite dies ab und er erkenne diejenigen, die in
seinem Namen sprechen, nicht an.) Freilich geht der Philosoph unparteiischer
vor: Was er als allgemein anerkannt setzt, ist nur die Bedeutung von Denken,
Sein, Ich, d.h. nicht ein Dies, sondern die Form der Repräsentation oder der
Rekognition überhaupt. Doch enthält diese Form Materie, allerdings eine
reine Materie, ein Element. Dieses Element besteht nur in der Setzung des
Denkens als natürlicher Ausübung eines Vermögens unter Voraussetzung
eines naturwüchsigen Denkens, das zum Wahren fähig und geneigt ist, und
zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und
einer rechten Natur des Denkens. Denn jedermann denkt von Natur aus, und
jedermann sollte doch implizit wissen, w’as Denken bedeutet. Die allgemeinste
Form der Repräsentation liegt also im Element eines Gemeinsinns als rechter
Natur und guten Willens (Eudoxus und Orthodoxie). Die implizite Voraus-
setzung
.. der Philosophie findet sich im Gemeinsinn als cogitatio natura univer-
salis, von der aus die Philosophie ihren Ausgang nehmen kann. ES ist zweck-
De facto läßt es sich nicht von selbst verstehen, daß Denken die natürliche
Ausübung eines Vermögens sei, daß dieses Vermögen eine gute Natur und
einen guten Willen besitze. ,,Jedermann“ weiß sehr wohl, daß die Menschen
de facto selten und eher unter Einwirkung eines Schocks als im Eifer einer
Vorliebe denken. Und der berühmte Satz von Descartes, der gesunde Men-
schenverstand (das Vermögen zu denken) sei die bestverteilte Sache der Welt,
beruht bloß auf einem alten Scherz, da er ja in der Erinnerung daran besteht,
daß sich die Menschen allenfalls über einen Mangel an Gedächtnis, Einbil-
dungskraft oder gar Gehör beklagen, hinsichtlich der Intelligenz und des
Denkens aber stets annähernd dieselbe Meinung teilen. Wenn aber Descartes
Philosoph ist, so deshalb, weil er sich dieses Scherzes bedient, um ein Bild des
Denkens, wie es de jure ist, zu prägen: Die gute Natur und die Neigung zum
Wahren würden dem Denken von Rechts wegen zukommen, wie groß die
Schwierigkeit auch sein mag, den Rechtsanspruch in die Tatsachen zu überset-
zen oder ihn hinter den Tatsachen wiederzufinden. Der naturwüchsige Men-
schenverstand oder Gemeinsinn wird folglich als Bestimmung des reinen Den-
kens begriffen. Sinn und Verstand bleibt es vorbehalten, ihre eigene Universa-
lität zu präjudizieren; und sich als von Rechts wegen universal, als von Rechts
wegen mitteilbar zu postulieren. Zur Erhebung, zur Wiederauffindung des
4 Feuerbach gehört ZU denen, die hinsichtlich des Problems des Anfangs am weitesten
gegangen sind. Er prangert die impliziten Voraussetzungen in der Philosophie im
allgemeinen und in der Philosophie Hegels im besonderen an. Er zeigt, daß die
Philosophie nicht von ihrem Einverständnis mit einem vor-philosophischen Bild,
sondern von ihrer ,,Differenz“ zur Nicht-Philosophie ausgehen muß. (Er glaubt
allerdings, daß diese Forderung nach dem wahren Anfang ausreichend verwirklicht
ist, wenn man vom empirischen, sinnlichen und konkreten Sein ausgeht.) - Vgl. Zur
Kritik der Hegelschen Philosophie, in: Gesammelte Werke, hg. v. W. Schuffenhauer,
Berlin 1970, Bd. 9, S. 38-39.
174 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
Spiel gebracht werden. Wenn nämlich der Gemeinsinn vom Standpunkt des
reinen Ichs und der Form eines ihm entsprechenden Objekts überhaupt aus
die Identitätsnorm darstellt, SO ist der gesunde Menschenverstand vom
Standpunkt der empirischen Ichs und der jeweils einzeln qualifizierten
Objekte aus die Verteilungsnorm
- (dasjenige,
- weswegen er sich universal ver-
teilt glaubt). Der gesunde Menschenverstand ist es, der den Beitrag der Ver-
mögen in jedem einzelnen Fall bestimmt, wenn der Gemeinsinn die Form
des Selben liefert. Und wenn das Objekt überhaupt nur als qualifiziertes
existiert, so vollzieht sich umgekehrt die Qualifizierung nur durch die
Annahme des Objekts überhaupt. Wir werden später sehen, wie gesunder
Menschenverstand und Gemeinsinn damit ganz zwangsläufig einander im
Bild des Denkens ergänzen: Sie beide allein bilden die beiden Hälften der
Doxa. Für den Augenblick genügt es, die Voreiligkeit der Postulate selbst zu
kennzeichnen: das Bild eines von Natur aus richtigen Denkens, das zudem
weiß, was Denken bedeutet; das reine Element des Gemeinsinns, das sich
daraus ,,von Rechts wegen“ herleitet; das Modell der Rekognition oder
bereits die Form der Repräsentation, die sich ihrerseits daraus ergibt. Es
wird angenommen, das Denken sei von Natur aus richtig, weil es kein Ver-
mögen wie die anderen ist, sondern, bezogen auf ein Subjekt, die Einheit
aller anderen Vermögen, die bloß seine Modi darstellen und von ihm auf
die Form des Selben im Modell der Rekognition hin ausgerichtet werden.
Das Modell der Rekognition ist im Bild des Denkens notwendig einge-
schlossen. Und wenn man Platons Theaitetos, Descartes’ Meditationes, die
Kritik der reinen Vernunft betrachtet, so ist es immer noch dieses Modell,
das gebietet und die philosophische Analyse dessen, was Denken bedeutet,
,,ausrichtet“.
Eine derartige Ausrichtung ist für die Philosophie fatal. Denn die Annahme
der dreifachen Ebene eines von Natur aus richtigen Denkens, eines von
Rechts wegen natürlichen Gemeinsinns, einer Rekognition als transzendenta-
les Modell kann nur ein Orthodoxieideal ergeben. Die Philosophie verfügt
über keinerlei Mittel mehr, ihr Projekt, den Bruch mit der Doxa, ZU ver-
wirklichen. Sicher verwirft die Philosophie jede besondere Doxa; sicher hält
sie keinen einzigen besonderen Satz des gesunden Menschenverstands oder
des Gemeinsinns aufrecht. Sicher anerkennt sie nichts im besonderen. Sie
bewahrt aber das W esentliche der Doxa, nämlich die Form; und das Wesent-
liche des Gemeinsinns, nämlich das Element; und das Wesentliche der Reko-
gnition, nämlich das Modell (Übereinstimmung der Vermögen, die im als
universal begriffenen denkenden Subjekt gründet und sich auf das Objekt
überhaupt wendet) Das Bild des Denkens ist nur die Gestalt, in der man die
Doxa universalisiert indem man sie auf rationale Ebene hebt. Man bleibt
aber Gefangener der Doxa wenn man bloß von ihrem empirischen Inhalt
abstrahiert, während man den Gebrauch der Vermögen wahrt, der ihr ent-
spricht und implizit am Wesentlichen des Inhalts festhält. Mag man auch
eine überzeitliche Form oder gar unterzeitliche, unterirdische erste Materie
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oder Urdoxa [i.O.dt.] entdecken - man wird dennoch keinen Schritt voran-
kommen, Gefangener derselben Höhle oder der Ideen der Zeit, mit deren
,,Wiederfinden“ man bloß kokettiert, indem man sie mit dem Zeichen des
Philosophischen segnet. Niemals hat die Rekognition anderes als das
Wiedererkennbare und Wiedererkannte5 geheiligt, niemals hat die Form
anderes als Konformitäten eingegeben. Und wenn die Philosophie auf einen
Gemeinsinn als ihre implizite Voraussetzung zurückgeht, WOZU braucht der
Gemeinsinn dann die Philosophie, er, der - leider! - tagtäglich beweist, daß
er sie nach seiner Fasson zurichten kann? Eine doppelte, zum Ruin führende
Gefahr für die Philosophie. Einerseits ist es offenkundig, daß die Rekogni-
tionsakte existieren und einen großen Teil unseres täglichen Lebens einneh-
men: Das ist ein Tisch, das ist ein Apfel, das ist ein Wachsstück, guten Tag,
Theaitetos. Wer aber kann glauben, daß hierin das Schicksal des Denkens
auf dem Spiel steht und daß wir denken, wenn wir erkennen? Man mag
wohl wie Bergson zwei Rekognitionstypen unterscheiden, die Rekognition
der Kuh angesichts des Grases und die des Menschen, der seine Erinnerun-
gen wachruft - der zweite Typ kann dennoch ebensowenig wie der erste ein
Modell dessen, was Denken bedeutet, abgeben. Wir sagten, man müsse das
Bild des Denkens hinsichtlich seiner recht-mäßigen Ansprüche und nicht den
tatsächlichen Einwänden zufolge beurteilen. Was aber diesem Bild des Den-
kens zum Vorwurf gemacht werden muß, liegt eben darin, daß es sein ver-
meintliches Recht auf die Extrapolation gewisser Tatsachen, auf die Extrapo-
lation besonders insignifikanter Tatsachen, auf die alltägliche Banalität
höchstpersönlich, die Rekognition, gegründet hat, als ob das Denken seine
Modelle nicht in ferneren und riskanteren Abenteuern suchen dürfte. Neh-
men wir das Beispiel Kants: Unter allen Philosophen ist es Kant, der das
ungeheure Gebiet des Transzendentalen entdeckt. Er gleicht einem großen
Entdecker; keine andere Welt, sondern Gebirge oder Höhlenlandschaft die-
ser Welt. Doch was macht er? In der ersten Auflage der Kritik der reinen
Vernunft beschreibt er detailliert drei Synthesen, die den jeweiligen Beitrag
der Denkvermögen ermessen, wobei sie alle in der dritten gipfeln, in der
Synthese der Rekognition, die sich in der Form des Objekts überhaupt als
Korrelat des Ich denke ausdrückt, auf das sich alle Vermögen beziehen. Es
ist klar, daß Kant damit die sogenannten transzendentalen Strukturen auf die
empirischen Akte eines psychologischen Bewußtseins durchpaust: Die trans-
zendentale Synthese der Apprehension wird unmittelbar von einer empiri-
schen Apprehension
-- induziert usw. Zur Vertuschung eines so deutlich sicht-
baren Vorgehens unterdrückt Kant diesen Text in der zweiten Auflage. Bes-
5 Frz. reconnaissa ble bzw. reconn 24: von reconnattre, das hier in einer Ambiguität von
,,erkennen”, ,,w iedererkennen“ und ,,anerkennen” verwendet ist; vgl. Fußnote 2, So
171 [A.d.ü.].
DAS B I L D DES DENKENS 177
bleibt?‘). Man sieht, bis zu welchem Punkt die Kantische Kritik letztendlich
ehrenwert ist: Niemals werden die Erkenntnis, die Moral, die Reflexion, der
Glaube selbst infragegestellt, da sie für Entsprechungen natürlicher Interessen
der Vernunft gehalten werden, sondern nur der Gebrauch der Vermögen, den
man gemäß des einen oder anderen dieser Interessen für gerechtfertigt oder
ungerechtfertigt erklärt. Überall legt das variable Modell der Rekognition den
richtigen Gebrauch fest, in einer Eintracht der Vermögen, die durch die
Vorherrschaft eines Vermögens unter einem Gemeinsinn bestimmt wird.
Darum läßt sich der illegitime Gebrauch (die Illusion) nur dadurch erklären:
daß das Denken in seinem natürlichen Stand seine Interessen durcheinander-
bringt und seine Herrschaftsgebiete widerrechtlich aufeinander’ übergreifen
läßt. Was nicht verschlägt, daß es im Grunde über eine gute Natur, ein gutes
Naturgesetz verfüge, dem die Kritik ihre bürgerrechtliche Billigung entgegen-
bringt; und daß die Herrschaftsgebiete, Interessen, Grenzen und Besitztümer
geheiligt und auf einem unveräußerlichen Recht gegründet seien. Alles ist in
der Kritik vorhanden, ein Friedensgericht, eine Registrierbehörde, ein Kata-
steramt - nur nicht die Macht einer neuen Politik, die das Bild des Denkens
stürzen würde. Selbst der tote Gott und das gespaltene Ego sind bloß ein
ungünstiger Moment, der vorübergeht, der spekulative Moment; besser einge-
bunden und zuverlässiger denn je, selbstsicherer erstehen sie von neuem,
allerdings in einem anderen Interesse, im praktischen oder moralischen Inter-
esse.
Dies ist die Welt der Repräsentation allgemein. Wir sagten oben, die Repräsen-
tation definiere sich durch gewisse Elemente: durch die Identität im Begriff,
den Gegensatz in der Bestimmung des Begriffs, die Analogie im Urteil, die
Ähnlichkeit im Objekt. Die Identität des Begriffs überhaupt konstituiert die
Form des Selben in der Rekognition. Die Bestimmung des Begriffs impliziert
den Vergleich der möglichen Prädikate mit ihrem jeweiligen Gegensatz, und
zwar in einer doppelten, regressiven wie progressiven Reihe, welche einerseits
y Zum Gemeinsinn und zum Fortbestand des Modells der Rekognition vgl. Maurice
Merleau-Pony Phenom&logie de la perception, Paris 1961, S. 276ff. u. 366ff.;
dtJ’b&zomenoZogie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 281 ff. u. 363 ff. - Zur kanti-
schen Theorie der Gemeinsinne vgl. vor allem: Kritik der Urteilskraft, § 18-22 und
40. Ebenso die Grundsatzerklärungen der Kritik der reinen Vernunft: ,,[. . -1 die
höchste Philosophie [kann es] in Ansehung der menschlichen Natur [*. l 1 nicht
weiterbringen [. . .], als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat
angedeihen lassen“; der ,,bloße Mißbrauch“ der Ideen der reinen Vernunft ,,muß es
allein machen, daß uns von ihnen ein trügerischer Schein entspringt; denn sie sind
uns durch die Natur unserer Vernunft aufgegeben, und dieser oberste Gerichtshof
aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüng-
liche Täuschungen und Blendwerke enthalten” (Werke, a.a.O., Bd. 4, S. 695 und
582).
180 D IFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
,,Ich zeige dir also, sprach ich, wenn du es siehst, in den Wahrnehmungen
einiges, was gar nichtdie Vernunft zum Nachdenken auffordert, als werde es
schon hinreichend durch die Wahrnehmung bestimmt, anderes hingegen, was
auf alle Weise jene herbeiruft zum Nachdenken, als ob dabei die Wahrneh-
mung nichts Gesundes ausrichte. - Offenbar, sagte er, meinst du, was sich nur
von Ferne zeigt und was nach Licht und Schatten gezeichnet ist. - Diesmal,
8 Zur doppelten Unterordnung der Differenz unter die begriffene Identität und die
wahrgenommene Ähnlichkeit in der ,,klassischen“ Welt der Repräsentation vgl.
Michel Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966, S. 66ff. und 82 ff.; dt.: Die
Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971, S. 84 ff. und 103 ff.
DAS BILD DES DENKENS 181
sprach ich, hast du nicht SO recht getroffen, was ich meine . . .cC9. Dieser Text
unterscheidet also zwei Arten von Dingen: diejenigen, von denen das Denken
nicht behelligt wird, und (Platon wird es weiter unten sagen) diejenigen, die
zum Denken nötigen. Die ersteren sind die Objekte der Rekognition. Das
Denken und all seine Vermögen mag mit ihnen hinreichend beschäftigt sein;
das Denken mag sie sich angelegen sein lassen, aber diese Angelegenheit und
diese Beschäftigung haben nichts mit Denken zu tun. Bei ihnen wird das
Denken nur mit einem Bild seiner selbst erfüllt, in dem es sich um so besser
erkennt, als es die Dinge erkennt: Das ist ein Finger, das ist ein Tisch, guten
Tag, Theaitetos. Daher die Frage von Sokrates’ Gesprächspartner: Denkt man
wahrhaft dann, wenn man nicht oder nur mit Mühe erkennt? Der Gesprächs-
partner scheint bereits Kartesianer zu sein. Es ist aber klar, daß uns das
Zweifelhafte nicht aus dem Standpunkt der Rekognition heraustreten läßt.
Darum ruft es auch nur einen lokalen Skeptizismus hervor, oder eine verall-
gemeinerte Methode, wenn nur das Denken bereits den Willen zur Erkenntnis
dessen hat, wodurch sich Gewißheit und Zweifel wesentlich unterscheiden.
Mit den zweifelhaften Dingen verhält es sich wie mit den gewissen: Sie setzen
den guten Willen des Denkenden und die gute Natur des Denkens voraus, die
als Ideal der Rekognition begriffen werden, jene vorgebliche Neigung zum
Wahren, jene qxhicx, die zugleich das Bild des Denkens und den Begriff der
Philosophie vorherbestimmt. Und die gewissen Dinge nötigen ebensowenig
wie die zweifelhaften zum Denken. Daß die drei Winkel eines Dreiecks not-
wendig zwei rechten Winkeln gleich sind - damit wird das Denken vorausge-
setzt, der Wille zum Denken, der Wille, ans Dreieck und noch an seine
Winkel zu denken: Descartes bemerkte, daß man diese Gleichheit nicht leug-
nen könne, wenn man sie denkt, daß man aber sehr wohl denken, selbst ans
Dreieck denken könne, ohne an diese Gleichheit zu denken. Alle Wahrheiten
dieser Art sind hypothetischer Natur, da sie unfähig sind, den Akt des Den-
kens im Denken entstehen zu lassen, da sie all das voraussetzen, was infrage-
steht. In Wahrheit bezeichnen die Begriffe immer nur Möglichkeiten. Ihnen
fehlt eine Kralle, die die der absoluten Notwendigkeit wäre, d. h. einer
ursprünglichen Gewalt, die dem Denken zugefügt würde, einer Fremdheit,
einer Feindschaft, die allein es aus seinem naturwüchsigen Stupor oder seiner
ewigen Möglichkeit heraustreiben könnte: so sehr gibt es Denken nur als
unwillkürliches, als im Denken hervorgerufenen Zwang, der um so mehr
absolute Notwendigkeit besitzt, als er einbruchartig aus dem Zufälligen der
Welt entsteht . Am Anfang des Denkens steht der Einbruch, die Gewalt, der
Feind, und nichts setzt die Philosophie voraus, alles beginnt mit einer Misoso-
phie. Zählen wir nicht auf das Denken, um die relative Notwendigkeit dessen,
9 Platon: Politeia, VIII, 523 b ff. [Sc hl eiermachers Übersetzung leicht verändert;
A.d.ü.1.
182 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
10 Ebd., 524 a-b - Man wird bemerken, wie Gaston Bachelard in Le rationalisme
dppZique (Paris’ 1949, S. 55-56) das P r o bl em oder das Träger-Objekt des Problems
dem kartesianischen Zweifel gegenüberstellt und das Modell der philosophischen
Rekognition denunziert.
DAS BILD DES DENKENS 183
Übereinstimmung mit anderen Texten Platons, das Problem oder die Frage
mit dem singulären Objekt eines transzendentalen Gedächtnisses identifizie-
ren, das einen Lernprozeß auf diesem Gebiet ermöglicht, indem es das
erfaßt, was nur erinnert werden kann? Alles weist darauf hin; denn die Pla-
tonische Wiedererinnerung will tatsächlich das Sein der Vergangenheit fas-
sen, Unvordenkliches oder memorandum, und zugleich mit einem wesentli-
chen Vergessen geschlagen, gemäß dem Gesetz des transzendenten
Gebrauchs, das bestimmt, daß das, was nur erinnert werden kann, zugleich
unmöglich (im empirischen Gebrauch) zu erinnern ist. Es besteht ein großer
Unterschied zwischen diesem wesentlichen Vergessen und einem empiri-
schen Vergessen. Das empirische Gedächtnis wendet sich an Dinge, die auf
andere Weise erfaßt werden können oder gar müssen: Was ich erinnere, muß
ich gesehen, gehört, mir vorgestellt oder gedacht haben. Im empirischen Sinn
ist das Vergessene dasjenige, was man nicht wieder ins Gedächtnis zu rufen
vermag, wenn man es ein zweites Mal sucht (es liegt zu weit zurück, das
Vergessen trennt mich von der Erinnerung oder hat sie gelöscht). Das trans-
zendentale Gedächtnis aber erfaßt das, was beim ersten Mal, vom ersten Mal
an nur erinnert werden kann: nicht eine kontingente Vergangenheit, sondern
das Sein der Vergangenheit als solcher, seit jeher vergangen. Als vergessenes -
so erscheint das Ding leibhaftig, und zwar dem Gedächtnis, das es dem
Wesen nach auffaßt. Es wendet sich nicht ans Gedächtnis, ohne sich
zugleich ans Vergessen im Gedächtnis zu wenden. Das memorandum ist hier
zugleich das Unerinnerbare, das Unvordenkliche. Das Vergessen ist nicht
mehr eine kontingente Unfähigkeit, die uns von einer selbst kontingenten
Erinnerung trennt, es existiert vielmehr in der wesentlichen Erinnerung als
der n-ten Potenz des Gedächtnisses, hinsichtlich seiner Grenze oder hin-
sichtlich dessen, was nur erinnert werden kann. Dasselbe galt für die Sinn-
lichkeit: Dem kontingenten Sinnlichen, das für unsere Sinn; im empirischen
Gebrauch zu klein und zu weit entfernt ist, steht ein wesentliches Unsinn-
liches gegenüber, d a s mit dem verschmilzt, was vom transzendenten
Gebrauch-aus gesehen nur empfunden werden kann. Nun also nötigt die
Sinnlichkeit, die durch die Begegnung genötigt wurde, das sentiendum ZU
empfinden, ihrerseits das Gedächtnis, sich des memorandum zu erinnern,
dessen, was nur erinnert werden kann. Und schließlich nötigt - drittes
Merkmal - das transzendentale Gedächtnis seinerseits das D enken dazu, das
zu erfassen, was nur gedacht werden kann, das cogitandum, das YO@OV,
das Wesen: nicht das Intelligible, denn dieses ist immer noch bloß der
Modus, in dem man denkt, was nicht unbedingt nur gedacht werden muß,
sondern das Sein des Intelligiblen als höchster Potenz des Denkens und
zugleich das Undenkbare. Vom sentiendum zum cogitandum hat sich die
Gewalt dessen entfaltet, was zum Denken nötigt. Jedes Vermögen ist aus
seinen Angeln gehoben. Was aber sind die Angeln, wenn nicht die Form des
Gemeinsinns, der alle Vermögen kreisen und konvergieren ließ? Jedes davon
hat seinerseits und in seiner Ordnung die Form des Gemeinsinns, der es im
184 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
und dessen, was nur erinnert werden kann; denn diese zweite Instanz wird
nur in Form der Gleichartigkeit in der Wiedererinnerung begriffen. Und
zwar in einem Maße, daß sich derselbe Einwand erhebt; die Wiedererinne-
rung verwechselt das Sein der Vergangenheit mit einem vergangenen Sein
und beruft sich, da sie keinen empirischen Moment festmachen kann, an
dem diese Vergangenheit gegenwärtig war, auf eine ursprüngliche oder my-
thische Gegenwart. Die Größe des Begriffs der Wiedererinnerung (und der
Grund, warum er sich radikal vom kartesianischen Begriff des Angeboren-
seins unterscheidet) liegt darin, daß er die Zeit, die Dauer der Zeit ins Den-
ken als solches einführt: Dadurch erwirkt er eine dem Denken eigentüm-
liche Opazität und bezeugt dabei eine böse-Natur wie einen bösen Willen,
die von außen, durch die Zeichen erschüttert werden müssen. Weil aber,
wie wir gesehen haben, die Zeit hier nur als physischer Zyklus und nicht in
ihrer reinen Form oder ihrem Wesen eingeführt ist, unterstellt man dem
Denken immer noch eine gute Natur, eine strahlende Klarheit, die sich in
den Widrigkeiten des natürlichen Zyklus’ bloß verdunkelt oder verirrt
haben. Die Wiedererinnerung bietet dem Modell der Rekognition noch
Zuflucht; und nicht weniger als Kant kopiert Platon den Gebrauch des
transzendentalen Gedächtnisses nach der Figur des empirischen Ge-
brauchs (wie es in der Darstellung des Phaidon ganz deutlich zu erkennen
ist).
Was die dritte Instanz betrifft, die Instanz des reinen Denkens oder dessen,
was nur gedacht werden kann, so bestimmt Platon sie als den abgetrennten
Gegensatz: die Größe, die nichts anderes als groß ist, die Kleinheit, die
nichts anderes als klein ist, die Schwere, die nur schwer, die Einheit, die nur
eine ist - dies also werden wir unter dem Druck der Wiedererinnerung zu
denken genötigt. Folglich ist es die Form der realen Identität (das Selbe als
(li!~O ~aCYc&o begriffen), die nach Platon das Wesen definiert. All das gip-
felt im großen Prinzip: daß es trotz und vor allem eine Affinität, eine Filia-
tion oder, wie man vielleicht besser sagen würde, ein Philiation des Denkens
zum Wahren gibt, kurz: eine gute Natur und ein gutes Verlangen, die in
letzter Instanz auf der Analogieform im Guten gründen. So daß Platon, der
den Text der Politeia schrieb, auch der erste war, der das dogmatische und
moralisierende Bild des Denkens erstellte, das diesen Text neutralisiert und
ihn nur noch als eine ,,Bußübung”” funktionieren läßt. Wo Platon den
höheren oder transzendenten Gebrauch der Vermögen entdeckt, ordnet er
ihn den Formen des Gegensatzes im Sinnlichen, der Gleichartigkeit in der
Wiedererinnerung, der Identität im Wesen und der Analogie im Guten
11 Frz. wpcntir: Reue, Buße, aber auch die Abänderung einer Zeichnung beziehungs-
weise eines Gemäldes bei der Ausführung oder die Korrekturen während des Schrei-
bens [A.d.Ü.]. .
186 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
unter; damit bereitet er der Welt der Repräsentation den Boden, er vollzieht
die erste Verteilung ihrer Elemente und verdeckt bereits den Gebrauch des.
Denkens mit einem dogmatischen Bild, durch das es voraussetzt und preisge-
geben wird.
Die transzendentale Form eines Vermögens verschmilzt mit seinem geson-
derten, höheren oder transzendenten Gebrauch. Transzendent bedeutet
keineswegs, daß sich das Vermögen an Objekte außerhalb der Welt rich-
tet, sondern im Gegenteil, daß es innerhalb der Welt das erfaßt, von dem ’
es ausschließlich betroffen ist und in der Welt erzeugt wird. Wenn der
transzendente Gebrauch kein Abklatsch des empirischen sein darf, so
gerade deshalb, weil er auffaßt, was nicht von einem Gemeinsinn aus
erfaßt werden kann, welcher die empirische Anwendung aller Vermögen
beurteilt, und zwar nach Maßgabe dessen, was jedem von ihnen in der
Form ihrer Zusammenarbeit zukommt. Darum untersteht das Transzen-
dentale seinerseits einem höheren Empirismus, der allein dessen Herr-
schaftsbereich oder dessen Gebiete zu erforschen vermag, d a es, im
Gegensatz zu Kants Ansicht, nicht aus den gewöhnlichen empirischen
Formen, wie sie unter der Bestimmung des Gemeinsinns erscheinen,
erschlossen werden kann. Der Mißkredit, in den heute die Lehre von den
Vermögen geraten ist, dieses trotz allem durchweg notwendige Teilstück
im System der Philosophie, erklärt sich durch die Verkennung dieses spe-
zifisch transzendentalen Empirismus, den man vergeblich durch einen
Abklatsch des Transzendentalen vom Empirischen ersetzte. Jedes Vermö-
gen muß an den äußersten Punkt seiner Störung getrieben werden, an dem
es gleichsam zur Beute einer dreifachen Gewalt wird, der Gewalt dessen,
wodurch es zum Vollzug genötigt wird, der Gewalt dessen, was zu erfas-
sen es genötigt wird und was allein es zu erfassen vermag, obgleich dieses
(vom Standpunkt des empirischen Gebrauchs aus) auch das Unfaßbare ist.
Dreifache Grenze der letzten Macht [puissance]. Jedes Vermögen stößt
dann auf die Leidenschaft, die ihm eignet, d.h. auf seine radikale Diffe-
renz und seine ewige Wiederholung, auf sein differentielles und repetitives
Element, gleichsam die augenblickliche Zeugung seines A kts und d a s ewige
Wiederkäuen seines Objekts, seine Ar t z u entstehen, indem e s bereits
wiederholt. Wir fragen etwa: Was nötigt die Sinnlichkeit dazu, zu empfin-
den? Und was kann nur empfunden werden? Und ist zugleich das Nicht-
Sinnliche? Und diese Frage müssen wir überdies nicht nur hinsichtlich des
Gedächtnisses und des Denkens stellen, sondern auch hinsichtlich der Ein-
bildungskraft - gibt es ein imaginandum, ein cpawadov, das zugleich
die Grenze, das unmöglich Imaginierbare ist? Gibt es für die Sprache ein
loquendum, das zugleich Schweigen ist ? Und für andere Vermögen, die
ihren Platz wiederum in einer vollständigen Lehre finden würden - die
Vitalität, deren transzendentes Objekt auch das Ungeheuer wäre, die
Soziabilität, deren transzendentes Objekt auch die Anaichie wäre -, und
schließlich hinsichtlich noch ungeahnter Vermögen, die zur Entdeckung
Das B ILD DES DENKENS 187
anstehen 12. Denn es läßt sich nichts im Voraus sagen, man kann der Suche
nicht vorgreifen: Möglich, daß sich bei manchen, bekannt-allzubekannten
Vermögen das Fehlen einer eigenen Grenze, eines Verbaladjektivs herausstellt,
da sie nicht aufgezwungen werden und sich nur in Form des Gemeinsinns dem
Gebrauch stellen; möglich aber auch, daß neue Vermögen aufkommen, die
durch diese Form des Gemeinsinns verdrängt wurden. Diese Ungewißheit
hinsichtlich der Ergebnisse der Suche, diese Komplexität im Studium des
besonderen Falls jedes Vermögens sind für eine Lehre allgemein keineswegs
beklagenswert; der transzendentale Empirismus ist im Gegenteil das einzige
Mittel dafür, das Transzendentale nicht von den Gestalten des Empirischen
abzupausen.
Wir beschäftigen uns hier nicht mit der Erstellung einer derartigen Lehre der
Vermögen. Wir versuchen nur, die Natur ihrer Forderungen zu bestimmen. In
dieser Hinsicht aber können die platonischen Bestimmungen nicht befriedi-
gend sein. Denn es sind nicht schon vermittelte und auf die Repräsentation
bezogene Gestalten, sondern im Gegenteil freie oder wilde Zustände der
Differenz an sich selbst, die die Vermögen an ihre jeweiligen Grenzen zu
treiben vermögen. Nicht der qualitative Gegensatz im Sinnlichen, sondern ein
Element, das an sich selbst Differenz ist, erzeugt zugleich die Qualität im
Sinnlichen und den transzendenten Gebrauch in der Sinnlichkeit: Dieses Ele-
ment ist die Intensität als reine Differenz an sich, es ist das Unsinnliche für die
empirische Sinnlichkeit, welche Intensität nur insofern erfaßt, als sie bereits
durch die von ihr erzeugte Qualität verdeckt und vermittelt ist; und es ist
doch zugleich dasjenige, was nur empfunden werden kann, und zwar von der
transzendenten Sinnlichkeit aus, die es unmittelbar in der Begegnung auffaßt.
Und wenn die Sinnlichkeit ihren Zwang auf die Einbildungskraft überträgt,
wenn sich die Einbildungskraft ihrerseits zum transzendenten Gebrauch
erhebt, so ist es das Phantasiegebilde, die Disparität im Phantasiegebilde, die
12 Der Fall der Einbildungskraft:Dieser Fall ist der einzige, in dem Kant ein von der
Form des Gemeinsinns-gelostes Vermögen in Betracht zieht und, was sie betrifft,
einen legitimen und wahrhaft ,,transzendenten“ Gebrauch entdeckt. Freilich unter-
steht die schematisierende Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft noch
dem sogenanten logischen Gemeinsinn; untersteht die reflektierende Einbildungs-
kraft im Geschmacksurteil noch dem ästhetischen Gemeinsinn. Im Erhabenen aber
ist die Einbildungskraft nach Kant genötigt, gezwungen, ihrer eigenen Grenze zu
trotzen, ihrem cpov’too’~Iov, ihrem Maximum, das zugleich das Unvorstellbare, das
Formlose oder Ungestalte in der Natur ist (Kritik der Urteilskraft, § 26). Und sie
überträgt ihren Zwang aufs Denken, das seinerseits genötigt ist, das Übersinnliche
zu denken, als Grund der Natur und des Denkvermögens: Denken und Einbil-
dungskraft begeben sich hier in eine wesentliche Diskordanz, in eine wechselseitige
Gewalt, die einen neuen Typ von Einklang bedingt (§ 27). So daß das Modell der
Rekognition oder die Form des Gemeinsinns im Erhabenen zu Gunsten einer ganz
anderen Konzeption des Denkens ins Unrecht gesetzt werden (§ 29).
188 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
das cpccv~c~o-c~ov bildet, dasjenige, was nur imaginiert werden kann, das empi-
rische Nicht-Imaginierbare. Und wenn der Augenblick des Gedächtnisses
eintritt, so ist es nicht die Gleichartigkeitkeit in der Wiedererinnerung, son-
dern im Gegenteil das Unähnliche in der reinen Form der Zeit, das das
Unvordenkliche eines transzendenten Gedächtnisses ausmacht. Und es ist ein
durch diese Form der Zeit gespaltenes Ego, das sich schließlich genötigt sieht,
dasjenige zu denken, was nur gedacht werden kann, nicht das Selbe, sondern
jenen transzendenten ,, aleatorischen Punkt“, das von Natur aus stets Andere,
in dem alle Wesenheiten als Differentiale des Denkens umhüllt werden und
das die höchste Macht [puissance] des Denkens nur dadurch meint, daß es
immer auch das Undenkbare oder die Unfähigkeit [impuissance] zu denken in
der empirischen Anwendung bezeichnet. Man erinnere sich der profunden
Texte Heideggers, die zeigen, daß das Denken, solange es bei der Vorausset-
zung seiner guten Natur und seines guten Willens, unter der Form eines
Gemeinsinns, einer ratio, einer cogitatio natura universalis verharrt, gar nichts
denkt und Gefangener der Meinung, in einer abstrakten Möglichkeit erstarrt 8
bleibt . . .: ,,Der Mensch kann denken, insofern er die Möglichkeit dazu hat.
Allein dieses Mögliche verbürgt uns noch nicht, daß wir es vermögen“; das
Denken denkt nur, insofern es angesichts dessen, was ,,zu denken gibt“, des
Bedenklichen, dazu gezwungen und genötigt wird - und das Bedenkliche ist
zugleich das Undenkbare oder das Nicht-Denken, d.h. das beständige Fak-
tum, daß ,,wir noch nicht denken“ (gemäß der reinen Form der Zeit)13.
Freilich geht auf dem Weg, der auf das Bedenkliche hinführt, alles von der
Sinnlichkeit aus. Vom Intensiven zum Denken - stets ist es eine Intensität,
durch die uns das Denken zustößt. Das Privileg der Sinnlichkeit als Ursprung
erscheint darin, daß das, was zur Empfindung nötigt, und das, was nur
empfunden werden kann, in der Begegnung ein und dasselbe sind, während
die beiden Instanzen in den anderen Fällen voneinander geschieden sind.
Denn das Intensive, die Differenz in der Intensität, ist zugleich das Objekt der
Begegnung und das Objekt, zu dem die Begegnung die Sinnlichkeit empor-
hebt. Nicht die Götter sind es, denen man begegnet; selbst als verborgene sind
die Götter bloß Formen für die Rekognition. Man begegnet vielmehr den
Dämonen, Mächten des Sprungs, des Intervalls, des Intensiven oder des
l3 Heidegger: Was beißt Denken ?, Tübingen 1954, S. 1-2. - Allerdings hält Heidegger
am Thema eines Wunsches, einer qxhia fest, am Thema einer Analogie oder besser
Homologie zwischen dem Denken und dem, was gedacht werden muß. Das kommt
daher, daß er den Vorrang des Selben beibehält, selbst wenn von diesem angenom-
men wird, daß es die Differenz als solche versammle und enthalte. Daher die
Metaphern der Gabe, die die der Gewalt ersetzen. In all diesen Hinsichten verzichtet
Heidegger nicht auf das, was wir oben die subjektiven Voraussetzungen genannt
haben. Wie man es in Sein und Zeit (Tübingen 1972, S. 5-6) sieht, gibt es tatsachlich
ein vorontologisches und unausdrückliches Seinsverständnis, obwohl sich, wie Hei-
degger präzisiert, der explizite Begriff nicht daraus ergeben darf.
DAS BILD DES DENKENS 189
Augenblicks, die die Differenz nur mit Differentem ausfüllen; sie sind die
Zeichen-Träger. Und das ist das Wichtigste: Von der Sinnlichkeit zur Einbil-
dungskraft, von der Einbildungskraft zum Gedächtnis, vom Gedächtnis zum
Denken - wenn jedes gesonderte Vermögen dem anderen die Gewalt über-
trägt, die es an seine eigene Grenze treibt - erweckt jedesmal eine freie Gestalt
der Differenz das Vermögen, erweckt sie es als das Differente dieser Differenz.
Entsprechend die Differenz in der Intensität, die Disparität im Phantasiege-
bilde, die Unähnlichkeit in der Form der Zeit, das Differential im Denken.
Der Gegensatz, die Ähnlichkeit, die Identität und selbst die Analogie sind nur
Effekte,- die durch diese Darstellungen [prhentations] der Differenz hervorge-
rufen wurden, und sie sind nicht die Bedingungen, die sich die Differenz
unterwerfen und aus ihr etwas Repräsentiertes machen. Niemals läßt sich von
einer cplhia sprechen, die einen Wunsch, eine Liebe, eine gute Natur oder
einen guten Willen bezeuge, durch die die Vermögen bereits das Objekt - ein
Objekt, zu dem sie durch die Gewalt emporgehoben werden - besitzen oder
anstreben und durch die sie eine Analogie mit ihm oder eine Homologie
untereinander darstellen würden. Jedes Vermögen, das Denken inbegriffen,
kennt kein anderes Abenteuer als das Unwillkürliche; die willkürliche Anwen-
dung bleibt dem Empirischen verhaftet. Der Logos zerspringt in Hierogly-
phen, von denen jede die transzendente Sprache eines Vermögens spricht.
Selbst der Ausgangspunkt, die Sinnlichkeit in der Begegnung mit dem, was zu
empfinden nötigt, setzt keinerlei Affinität oder Prädestinierung voraus. Im
Gegenteil, Zufall oder Kontingenz der Begegnung sind es, die die Notwendig-
keit dessen, was durch sie zu denken genötigt wird, gewährleisten. Keine
Freundschaft - wie etwa die des Ähnlichen mit dem Selben oder noch dieje-
nige, die die Gegensätze vereint - verbindet die Sinnlichkeit bereits mit dem
sentiendum. Es genügt der dunkle Vorbote, der das Differente als solches
kommunizieren läßt und es mit der Differenz kommunizieren läßt: Der dunk-
le Vorbote ist kein Freund. Der Gerichtspräsident Schreber griff die drei
Momente Platons auf seine Weise auf, indem er sie in ihrer ursprünglichen
u n d kommunikativen Gewalt wiederherstellte: die Nerven und der Nervenan-
hang, die geprüften Seelen und der Seelenmord, das erzwungene Denken oder
der Denkzwang.
Gerade das Prinzip einer Kommunikation - und geschähe sie auch mit Gewalt -
scheint die Form eines Gemeinsinns aufrechtzuerhalten. Dem ist jedoch nicht
so. Zwar existiert eine Verknüpfung der Vermögen und eine Ordnung in
dieser Verknüpfung. Aber weder Ordnung noch Verknüpfung implizieren ein
Zusammenspiel bezüglich einer Form eines der Annahme nach selben Objekts
oder einer subjektiven Einheit in der Natur des Ich denke. Es ist eine erzwun-
gene und aufgebrochene Kette, die die Stücke eines aufgelösten Ichs wie die
Ränder eines gespaltenen Ego durchzieht. Die transzendente Anwendung der
Vermögen ist eine im eigentlichen Sinn Paradoxale Anwendung, die sich ihrem
d u r c h einen Gemeinsinn regulierten Gebrauch widersetzt. Daher kann der
Einklang der Vermögen nur als ein diskordanter Einklang erzeugt werden, da
190 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
jedes davon dem anderen nur die Gewalt mitteilt, durch die es mit seiner
Differenz und seiner Divergenz zu allen anderen konfrontiert wird14. Kant hat
als erster das Beispiel eines derartigen Einklangs durch Diskordanz gezeigt, .
und zwar mit dem Fall des Verhältnisses von Einbildungskraft und Denken,
wie sie sich im Erhabenen vollziehen. Es gibt also etwas, das sich von einem
Vermögen zum anderen mitteilt, sich aber verwandelt und keinen Gemeinsinn
ergibt. Ebenso könnte man sagen, daß es Ideen gibt, die alle Vermögen
durchlaufen und doch nicht Gegenstand von irgendeinem im Besonderen sind.
Vielleicht muß man tatsächlich, wie wir sehen werden, den Namen Ideen nicht
den reinen cogitanda, sondern eher den Instanzen vorbehalten, die von der ’
Sinnlichkeit zum Denken und vom Denken zur Sinnlichkeit reichen und in
der Lage sind, in jedem Fall gemäß einer ihnen eigentümlichen Ordnung das
Grenz- oder transzendente Objekt eines jeden Vermögens zu erzeugen. Die
Ideen sind die Probleme, die Probleme aber liefern nur die Bedingungen, unter
denen die Vermögen zu ihrem höheren Gebrauch gelangen. Unter diesem
Gesichtspunkt gehen die Vermögen, weit davon entfernt, in einem gesunden
Menschenverstand (bon Sens] oder Gemeinsinn [sens commun] ihr Medium zu
finden, auf einen Para-Sinn [para-sens] zurück, der die einzige Kommunika-
tion zwischen den gesonderten Vermögen bestimmt. Daher werden sie nicht
durch ein natürliches Licht beschienen; sie schimmern vielmehr wie differen-
tielle Funken, die überspringen und sich verwandeln. Gerade die Vorstellung
eines natürlichen Lichts ist untrennbar mit einem bestimmten Wert, den man
bei der Idee voraussetzt, dem ,,klar und deutlich“, und mit einem bestimmten
vorausgesetzten Ursprung, dem ,,Angeborensein” verbunden. Aber das Ange-
borensein repräsentiert nur die gute Natur des Denkens, und zwar vom
Standpunkt einer christlichen Theologie oder - allgemeiner - der Erforder-
nisse der Schöpfung aus (darum stellte Platon die Wiedererinnerung dem
Angeborensein gegenüber und machte diesem zum Vorwurf, daß es die Rolle
einer Form der Zeit in der Seele in Abhängigkeit vom reinen Denken vernach-
lässige, oder auch die Notwendigkeit einer formalen Unterscheidung zwischen
einem Vorher und einem Nachher, die das Vergessen in dem, was zu Denken
nötigt, zu begründen vermag). Das ,,klar und deutlich” selbst ist nicht vom
Modell der Rekognit ion als Instru ment jeglicher - und sei es rationaler -
Orthodoxie zu trennen. Das Klare und Deutliche ist die Logik der Rekogni-
tion, wie das Angeborensein die Theologie des Gemeinsinns; alle beide haben
die Idee bereits an die Repräsentation überwiesen. Die Restitution der Idee in
der Lehre der Vermögen bringt eine Zersplitterung des Klaren und Deutlichen
mit sich, oder die Entdeckung eines dionysischen Werts, demzufolge die Idee
notwendig dunkel ist, sofern sie deutlich ist, um so dunkler, je deutlicher sie
l4 Der Begriff eines ,,diskordanten Einklangs“ wird von Kostas Axelos zutreffend
bestimmt, der ihn auf die Welt anwendet und sich eines besonderen Zeichens
bedient (,,oder/und”), um die ontologische Differenz in diesem Sinne zu bezeichnen
(vgl. Vers La pensee plandaire, Paris 1964).
DAS BILD DES DENKENS 191
ist. Das Deutlich-Dunkle wird hier zur wahren Klangfarbe in der Philosophie,
zur Symphonie der diskordanten Idee.
Es gibt kein besseres Beispiel als den Briefwechsel zwischen Jacques Riviere
und Antonin Artaud. Riviere hält am Bild einer autonomen Denkfunktion
fest, die mit einer Natur und einem Willen de jure ausgestattet ist. Natürlich
bereitet uns das Denken die größten Schwierigkeiten de facto: Mangel an
Methode, an Technik oder Applikation, Mangel sogar an Gesundheit. Aber
diese Schwierigkeiten sind Glücksfälle: nicht nur weil sie die Natur des Den-
kens daran hindern, unsere eigene Natur zu verschlingen, nicht nur weil sie
das Denken ins Verhältnis zu den Hindernissen als entsprechend vielen ,,Fak-
ten“ setzen, ohne die es sich nicht orientieren könnte, sondern auch weil
unsere Anstrengungen zu ihrer Überwindung uns ermöglichen, ein Ideal des
Ichs im reinen Denken zu bewahren, gleichsam einen ,,höheren Grad von
Identität mit uns selbst“, über alle Variationen, Differenzen und Ungleichhei-
ten hinweg, die uns de facto unaufhörlich affizieren. Erstaunt stellt der Leser
fest, daß sich Riviere, je mehr er Artaud nahezukommen und ihn zu verstehen
glaubt, um so weiter von ihm entfernt und von etwas anderem spricht. Selten
gab es ein derartiges Mißverständnis. Denn Artaud spricht nicht einfach von
seinem ,,Fall“, ahnt vielmehr in diesen Jugendbriefen bereits, daß sein Fall ihn
mit einem verallgemeinerten Denkprozeß konfrontiert, der sich nicht mehr
hinter dem beruhigenden dogmatischen Bild verschanzen kann und, im
Gegenteil, mit der völligen Zerstörung dieses Bilds verschmilzt. Daher dürfen
die Schwierigkeiten, die er zu verspüren behauptet, nicht als Fakten, sondern
nur als Schwierigkeiten de jure begriffen werden, die das Wesen dessen, was
Denken bedeutet, betreffen und affizieren. Artaud sagt, daß das Problem (für
ihn) nicht darin liege, sein Denken zu orientieren, noch darin, den Ausdruck
dessen, was er denkt, zu vervollkommnen, noch darin, Applikation und Me-
thode zu erwerben oder seine Gedichte zu perfektionieren, sondern darin,
ganz einfach dahin zu gelangen, etwas zu denken. Für ihn ist dies das einzig
denkbare ,,Werk”; es setzt einen Impuls, einen Zwang zu denken voraus, der
alle Arten von Gabelungen durchläuft, von den Nerven ausgeht und sich der
Seele mitteilt, um zum Denken zu gelangen. Folglich ist das, was zu denken
das Denken genötigt ist, zugleich seine zentrale Erschütterung, sein Riß, seine
eigene natürliche ,,Unfähigkeit“ [impouvoir], die mit der größten Macht [puis-
sance] verschmilzt, d. h. mit den cogitanda, jenen geheimen Kräften, wie mit
ebenso vielen Diebstählen und Einbrüchen im Denken. In all dem verfolgt
Artaud die schreckliche Offenbarung eines bildlosen Denkens und die Erobe-
rung eines neuen Rechts, das sich nicht repräsentieren läßt. Er weiß, daß die
Schwierigkeit als solche und ihr Gefolge von Problemen und Fragen kein
Zustand de facto ist, sondern eine Struktur de jure des Denkens. Daß es ein
Azephales im Denken wie ein Moment von Amnesie im Gedächtnis gibt, ein
Aphasisches in der Sprache und ein Agnostisches in der Sinnlichkeit. Er weiß,
daß Denken nicht angeboren ist, sondern im Denken erzeugt werden muß. Er
weiß, daß das Problem nicht darin liegt, ein von Natur und de jure präexisten-
192 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
Es geht nicht darum, dem dogmatischen Bild des Denkens ein anderes, etwa
der Schizophrenie entlehntes gegenüberzustellen. Sondern eher darum, in
Erinnerung zu rufen, daß die Schizophrenie nicht nur ein menschliches Fak-
tum ist, daß sie vielmehr eine Möglichkeit des Denkens ist, die sich als solche
nur in der Beseitigung des Bilds offenbart. Es ist nämlich bemerkenswert, daß
das dogmatische Bild seinerseits nur den Irrtum als Mißgeschick des Denkens
anerkennt und alles auf die Figur des Irrtums reduziert. Dies ist in unserer
Zählung sogar noch ein fünftes Postulat: der Irrtum, dargestellt als das einzige
,,Negative“ des Denkens. Und zweifellos hängt dieses Postulat von den ande-
ren ab, wie die anderen von ihm: Was kann einer Cogitatio natura universalis,
die einen guten Willen des Denkers sowie eine gute Natur des Denkens
voraussetzt, anderes passieren, als sich zu täuschen, d.h. das Falsche für das
Wahre zu halten (das Falsche nach der Natur für das Wahre dem Willen
zufolge)? Und zeugt nicht der Irrtum selbst von der Form eines Gemeinsinns,
da es unmöglich einem Vermögen allein passiert, daß es sich täuscht, sondern -
hinsichtlich ihrer Zusammenarbeit - wenigstens zweien, wobei das Objekt
des einen Vermögens mit einem anderen Objekt des anderen verwechselt
wird? Und was ist ein Irrtum, wenn nicht immer schon eine falsche Rekogni-
tion? Und woher rührt der Irrtum, wenn nicht von einer falschen Aufteilung
der Elemente der Repräsentation, von einer falschen Einschätzung des Gegen-
15 Antonin Artaud: Korrespondenz mit Jacques Rivi&e, in: Frühe Schriften, München
1983, S. 7-9. - Z u d iesen Briefen siehe die Kommentare Maurice Blanchots: Le livre
d venir, Paris 1959.
DAS BILD DES DENKENS 193
satzes, der Analogie, der Ähnlichkeit und der Identität? Der Irrtum ist nur die
Kehrseite einer rationalen Orthodoxie und spricht noch zu Gunsten dessen,
wovon er sich entfernt, zu Gunsten einer Rechtschaffenheit, einer guten Natur
und eines guten Willens dessen, der sich angeblich täuscht. Der Irrtum huldigt
also d e r ,,Wahrheit“ in dem Maße, wie er, der keine Form besitzt, dem
Falschen die Form des Wahren verleiht. In diesem Sinne entwirft Platon im
Theaitetos, und zwar unter offenbar ganz anderen Vorzeichen als in der
Politeia, zugleich das positive Modell der Rekognition oder des Gemeinsinns
und das negative Modell des Irrtums. Nicht nur übernimmt das Denken das
Ideal einer ,,Orthodoxie”, nicht nur findet der Gemeinsinn seinen Gegenstand
in den Kategorien von Gegensatz, Gleichartigkeit, Analogie und Identität;
vielmehr ist es der Irrtum, der an sich selbst diese Transzendenz eines
Gemeinsinns gegenüber den Empfindungen und einer Seele gegenüber allen
Vermögen impliziert, die durch ihn in der Form des Selben zur Mitarbeit
(d&hoylo@q) bestimmt werden. Wenn ich nämlich nicht zwei Dinge, die ich
wahrnehme oder begreife, miteinander verwechseln kann, so kann ich doch
stets ein Ding, das ich wahrnehme, mit einem anderen, das ich begreife oder
an das ich mich erinnere, verwechseln, wie in dem Fall, in dem ich das
gegenwärtige Objekt meiner Empfindung in das Engramm eines anderen
Objekts meines Gedächtnisses stecke - also etwa ,,Guten Tag, Theodoros“
sage, wenn Theaitetos vorübergeht. Noch in seiner Mißlichkeit spricht der
Irrtum für die Transzendenz der Cogitatio natura. Man könnte vom Irrtum
behaupten, er sei eine Art Versager des gesunden Menschenverstands in der
Form eines Gemeinsinns, der intakt und unbescholten bleibt. Damit bestätigt
er die vorangehenden Postulate des dogmatischen Bilds, insofern er sich dar-
aus ableitet und für sie einen apagogischen Beweis erbringt.
Freilich ist dieser Beweis völlig unwirksam, da er sich im selben Element wie
die Postulate selbst vollzieht. Was die Vereinbarkeit des Theaitetos mit dem
Text der Politeia betrifft, so läßt sie sich womöglich leichter ausfindig machen,
als es zunächst schien. Nicht von Ungefähr ist der Theaitetos ein aporetischer
Dialog; und die Aporie, mit der er schließt, ist eben die der Differenz oder
diaphora (so sehr das Denken für die Differenz eine Transzendenz bezüglich
der ,,Meinung“ fordert, so sehr fordert die Meinung für sich selbst eine
Immanenz der Differenz). Der Theaitetos ist die erste große Theorie des
Gemeinsinns, der Rekognition und der Repräsentation und des Irrtums als
Korrelat. Die Aporie der Differenz aber zeigt von Anbeginn an deren Schei-
tern und die Notwendigkeit, eine Lehre des Denkens in einer ganz anderen
Richtung zu suchen: in einer Richtung, die mit dem siebten Buch der Politeia
angezeigt wird? . . . Mit diesem Vorbehalt jedoch wirkt das Modell des Theai-
tetos weiterhin unterschwellig fort, gefährden die hartnäckigen Elemente der
Repräsentation noch die neue Sichtweise der Politeia.
Der Irrtum ist das ,,Negative”, das sich naturgemäß in der Hypothese der
Cogitatio natura universalis entfaltet. Dennoch verkennt das dogmatische Bild
keineswegs, daß dem Denken andere Mißgeschicke widerfahren als der Irr-
194 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
16 V g1. Hegel: Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 41: ,,Der Dogmatismus der
Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes als die
Meinung, daß das Wahre in einem Satz, der ein festes Resultat ist oder auch der -
unmittelbar gewußt wird, bestehe. Auf solche Fragen: wann Cäsar geboren worden,
wie viele Toisen ein Stadium betrug usf., soll eine nette Antwort gegeben werden
[. . .]. Aber die Natur einer solchen sogenannten Wahrheit ist verschieden von der
Natur der philosophischen Wahrheiten.”
DAS BILD DES DENKENS 195
In gewisser Weise haben die Philosophen stets ein lebhaftes Bewußtsein dieser
Notwendigkeit besessen. Nur wenige verspürten nicht das Bedürfnis, den
Begriff des Irrtums mit Bestimmungen anderer Natur anzureichern. (Zitieren
wir einige Beispiele: den Begriff des Aberglaubens, wie er von Lukrez, Spi-
noza und den Philosophen des 18. Jahrhunderts, insbesondere Fontenelle,
ausgeführt wurde. Es ist klar, daß sich der ,,Widersinn“ eines Aberglaubens
nicht auf seinen irrtümlichen Kern reduzieren läßt. Entsprechend unterschei-
det sich die Unwissenheit oder das Vergessen Platons vom Irrtum wie die
Wiedererinnerung selbst vom Angeborensein. Der stoische Betriff der stultitia
meint zugleich Wahnsinn und Dummheit. Die kantische Vorstellung einer
inneren, der Vernunft immanenten Illusion unterscheidet sich radikal vom
äußerlichen Mechanismus des Irrtums. Die Entfremdung der Hegelianer
bedingt eine tiefgreifende Überarbeitung des Verhältnisses wahr/falsch. Die
schopenhauerschen Begriffe der Gewöhnlichkeit und der Dummheit implizie-
ren eine vollständige Verkehrung des Verhältnisses Wille/Verstand.) Was aber
diese ergiebigeren Bestimmungen daran hindert, sich für sich selbst zu entfal-
ten, ist trotz allem das Festhalten am dogmatischen Bild und, in seinem
Gefolge, an den Postulaten des Gemeinsinns, der Rekognition und der Reprä-
sentation. Die Korrektive können dann nur als ,,Bußübungen“i erscheinen,
die das Bild für einen Augenblick komplizieren oder trüben, ohne dessen
implizites Prinzip zu stürzen.
Die Dummheit ist nicht das Wesen des Tiers. Dem Tier verbürgen spezifische
Formen eine Absicherung gegen das ,,Dumm”-Sein? Man hat oft formale
Entsprechungen zwischen dem menschlichen Gesicht und den Tierköpfen,
d. h. zwischen individuellen Differenzen beim Menschen und artbildenden
Differenzen beim Tier hergestellt. Auf diese Weise aber wird man der Dumm-
heit [betise] als spezifisch menschlicher Vertiertheit [bestiditk] nicht gerecht.
Wenn der Satiriker alle Register der Beleidigung zieht, so bleibt er nicht bei
den tierischen Formen stehen, sondern geht noch weiter zurück, von Fleisch-
fressern zu den Pflanzenfressern, und landet schließlich bei einer Kloake, bei
einem allesverdauenden und vegetativen Urgrund. Tiefer noch als die äußere
Geste des Angriffs oder die Bewegung der Gefräßigkeit liegt der innere Pro-
zeß der Verdauung, die Dummheit mit den peristaltischen Bewegungen.
Darum hat der Tyrann nicht nur einen Ochsenkopf, sondern einen Birnen-,
Kohl- oder Kartoffelkopf. Niemals steht einer ober- oder außerhalb dessen,
wovon er profitiert: Der Tyrann institutionalisiert die Dummheit, aber er ist
der erste Diener seines Systems und als erster im Amt, stets ist es ein Sklave,
der den Sklaven gebietet. Und wie könnte auch hier noch der Begriff des
Irrtums dieser Einheit aus Dummheit und Grausamkeit, aus Groteskem und
Schrecklichem, die den Lauf der Welt verdoppelt, gerecht werden? Die
Gemeinheit, die Grausamkeit, die Niedertracht, die Dummheit sind nicht bloß
körperliche Mächte oder charakterliche und soziale Tatsachen, sondern Struk-
turen des Denkens als solchen. Die Landschaft des Transzendentalen belebt
sich; man muß in ihr den Platz des Tyrannen, des Sklaven und des Dumm-
kopfs umreißen - ohne daß der Platz demjenigen ähnelt, der ihn besetzt, und
ohne daß das Transzendentale jemals Abklatsch der empirischen Gestalten
wäre, die es ermöglicht. Was uns daran hindert, aus der Dummheit ein tran-
szendentales Problem zu machen, liegt stets an unserem Glauben an die
Postulate der Cogtatio: Die Dummheit kann nur eine empirische Bestimmung
sein, die auf die Psychologie oder die Anekdote - schlimmer noch: auf Pole-
mik und auf Beleidigungen - und auf die Stilblütensammlung als besonders
abscheuliche pseudo-literarische Gattung verweist. Wessen Fehler aber? Liegt
der Fehler nicht zuerst bei der Philosophie , die sich vom Irrtumsbegriff
überzeugen ließ, wenn sie ihn selbst auch den Fakten entnahm, allerdings
wenig signifikanten und äußerst willkürlichen Fakten? Die schlechteste Litera-
tur fabriziert Stilblüten; die beste aber wurde vom Problem der Dummheit
heimgesucht, das sie bis an die Pforten der Philosophie heranzuführen ver-
mochte, indem sie ihm seine ganze kosmische, enzyklopädische und gnoseolo-
gische Dimension verlieh (Flaubert, Baudelaire, Bloy). Die Philosophie hätte
dieses Problem nur mit ihren eigenen Mitteln und der nötigen Bescheidenheit
aufgreifen müssen, eingedenk dessen, daß die Dummheit nie die des anderen,
sondern der Gegenstand einer spezifisch transzendentalen Fragestellung ist:
Wie ist die Dummheit (und nicht der Irrtum) möglich?
Sie ist möglich dank des Bands, das zwischen Denken und Individuation
besteht. Dieses Band reicht wesentlich tiefer als dasjenige, das im Ich denke
erscheint; es knüpft sich in einem Intensitätsfeld, das bereits die Sinnlichkeit
des denkenden Subjekts konstituiert. Denn das Ego oder Ich sind vielleicht
bloß Artmerkmale: die Menschheit als Art und Teile. Sicher ist die Art zu
einer impliziten Verfassung im Menschen übergegangen; so daß das Ego, als
Form, der Rekognition und der Repräsentation als universales Prinzip dienen
kann, während die expliziten artspezifischen Formen von ihm bloß erkannt
werden und die Spezifikation nur die Regel eines der Elemente der Repräsen-
tation ist. Das Ego ist also keine Art, aber eher deswegen, weil es implizit
enthält, was die Gattungen und Arten explizit entfalten, nämlich das Reprä-
sentiert-werden der Form. Sie haben ein gemeinsames Los, Eudoxus und
Epistemon. Demgegenüber hat die Individuation nichts mit einer irgendwie
verlängerten Spezifikation zu tun. Sie unterscheidet sich nicht nur wesentlich
von jeglicher Spezifikation, sondern ermöglicht sie und geht ihr voraus, wie
wir sehen werden. Sie besteht in Feldern aus fließenden intensiven Faktoren,
die ebensowenig die Form des Ego oder Ichs belehnen. Die Individuation als
solche, wie sie in allen Formen wirkt, läßt sich nicht von einem reinen Unter-
grund trennen, den sie auftauchen läßt und nicht los wird. Es ist schwierig,
diesen Untergrund und zugleich den Schrecken und die Anziehung, die er
erregt, zu beschreiben. Den Untergrund aufwühlen ist die gefährlichste Be-
DAS BILD DES DENKENS 197
19 Flaubert: Bouvard und Pecuchet, Frankfurt/M. 1979, S. 297. - Über das Böse
(Dummheit und Bösartigkeit), über seine Quelle, die gleichsam der autonom gewor-
dene Untergrund (in einem wesentlichen Bezug zur Individuation) ist, und über die
ganze Geschichte, die daraus folgt, schrieb Schelling glänzende Seiten (Philosophi-
sche Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, in: Werke, hg. V. M.
Schröter, Bd. 4, München 1927 [Nachdruck 1958], S. 269-272): Gott ließ ,,den
Grund in seiner Independenz wirken [. . .].“
198 DIFFERENZ UND W IEDERHOLUNG
toren intensiver Individuation halten sich dann für Objekte, und zwar so, daß
sie das höchste Element einer transzendenten Sinnlichkeit, das sentiendum
bilden; und von Vermögen zu Vermögen wird der Untergrund ins Denken
hineingetragen, stets als Nicht-Gedachtes und Nichts-Denkendes, aber dieses
Nicht-Gedachte ist zur notwendigen empirischen Form geworden, in der das
Denken im gespaltenen Ego (Bouvard und Pecuchet) schließlich das cogi-
tandum denkt, d. h. das transzendente Element, das nur gedacht werden kann
(die Tatsache, ,, daß wir noch nicht denken“, oder: Was ist die Dummheit?).
Schon die Lehrer wissen recht gut, daß man in den ,,Schulaufgaben” (außer in
den Übungen, in denen man Satz für Satz übersetzen oder ein feststehendes
Ergebnis erzielen muß) selten Irrtümer oder etwas Falsches antrifft. Vielmehr
Unsinniges, Bemerkungen ohne Belang und Bedeutung, wichtig genommene
Banalitäten, Verwechslungen von gewöhnlichen ,,Punkten“ mit singulären,
schlecht gestellte oder abwegig formulierte Probleme - das ist das Schlimmste
und geschieht am häufigsten, unheilschwanger dennoch, unser aller Los.
Wenn die Mathematiker polemisieren, so wird man bezweifeln, daß einer dem
anderen vorwirft, er habe sich in seinen Resultaten oder Berechnungen
getäuscht; eher machen sie einander zum Vorwurf, ein insignifikantes Theo-
rem, ein unsinniges Problem geschaffen zu haben. Die Philosophie muß die
Konsequenzen daraus ziehen. Das Element des Sinns [sens] wurde von der
Philosophie wohl erkannt und ist uns sogar sehr vertraut geworden. Indessen
genügt dies vielleicht noch nicht. Man definiert den Sinn als Bedingung des
Wahren; da man aber annimmt, daß die Bedingung eine größere Extension als
das Bedingte behält, begründet der Sinn die Wahrheit nicht, ohne auch den
Irrtum zu ermöglichen. Ein falscher Satz bleibt also dennoch ein sinnvoller
Satz. Und der Unsinn wäre das Merkmal dessen, was weder wahr noch falsch
sein kann. Man unterscheidet an einem Satz [proposition] zwei Dimensionen:
die Dimension des Ausdrucks, derzufolge der Satz etwas Ideelles aussagt,
ausdrückt; und die der Bezeichnung, der-zufolge er Gegenstände anzeigt und
bezeichnet, auf die sich die Aussage oder das Ausgedrückte bezieht. Das eine
wäre die Dimension des Sinns, das andere die des Wahren und des Falschen.
Damit aber würde der Sinn die Wahrheit eines Satzes nicht begründen, ohne
hinsichtlich dessen, was er begründet, indifferent zu bleiben. Das Wahre und
das Falsche wären eine Sache der Bezeichnung (wie Russe11 sagt: ,,die Frage
von Wahrheit und Falschheit betrifft dasjenige, was die Terme und Aussagen
anzeigen, nicht was sie ausdrücken“). Man befindet sich dann in einer seltsa-
men Lage: Man entdeckt das Gebiet des Sinns, aber man verlegt ihn bloß in
ein psychologisches Gespür oder einen logischen Formalismus. Je nach Bedarf
fügt man den klassischen Werten des Wahren und des Falschen einen neuen
Wert hinzu, den des Unsinns oder Widersinnigen. Aber man nimmt an, das