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Georg-August-Universität Göttingen

Philosophisches Seminar
Semester: XX
Proseminar: XX
Dozent:in: XX
Name und Matrikelnummer: XX
Mail: XX
Studienfach und Semester: XX
Wortzahl des Essays: 1.580

Essay 2: Aufgabenstellung (Interpretation und Diskussion)


Erläutern und diskutieren Sie das folgende Zitat aus Rawls‘ Theorie der Gerechtig-
keit vor dem Hintergrund von §11, §82, S. 587-589 und wahlweise unter Berücksich-
tigung der Kritik am Intuitionismus in §7 sowie weiterer im Seminar besprochener
Abschnitte:

Die Menschen im Urzustand sind also von einer bestimmten Hierarchie von Interessen
geleitet. Als erstes müssen sie ihr Interesse höchster Stufe und ihre grundlegenden Ziele
(die sie nur in allgemeiner Form kennen) sichern, und das drückt sich darin aus, daß sie
der Freiheit den Vorrang geben; die Erlangung von Mitteln zur Befriedigung ihrer Be-
dürfnisse und Ziele ist dem untergeordnet. (Rawls 1971/1979, S. 589)

1. Einleitung
Gerechtigkeit ist keine Standpunktfrage. In seiner Theorie der Gerechtigkeit positio-
niert sich John Rawls klar gegen einen moralischen Relativismus und entwirft ein
Verfahren, das es ermöglichen soll, einen objektiven Maßstab zur Beurteilung der
Gerechtigkeit einer Gesellschaftsstruktur zu finden. Eine zentrale Rolle spielt dabei
die Überzeugung, dass „alle sozialen Werte [...] gleichmäßig zu verteilen sind, so-
weit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“ (Rawls
1971/1979, 83) Im Folgenden erläutere ich im ersten Schritt die zwei von Rawls
formulierten Grundsätze der Gerechtigkeit und deren lexikalische Ordnung. Im zwei-
ten Schritt stelle ich Rawls‘ Begründung für den Vorrang des Freiheitsgrundsatzes
vor. Abschließend diskutiere ich, wie überzeugend die Grundsätze im Allgemeinen
und der Vorrang der Freiheit im Besonderen sind.

2. Die zwei Grundsätze der Gerechtigkeit


In seiner Theorie der Gerechtigkeit geht es Rawls weniger um Maximen des persön-
lichen moralischen Handelns, sondern vielmehr um die Formulierung von Grundsät-
zen der institutionellen Gerechtigkeit. Darunter versteht er solche, die die sogenannte

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Grundstruktur der Gesellschaft bestimmen, indem sie Rechte und Pflichten zuweisen
sowie die gesellschaftlichen und sozialen Güter verteilen, wodurch sie entscheidend
die Lebenschancen der Menschen beeinflussen. Um den Gedanken der Unparteilich-
keit und Gerechtigkeit (im Sinne von Abwesenheit unverdienter Ungleichheiten) in
der Grundstruktur der Gesellschaft zu verankern, entwirft Rawls eine ideale Ent-
scheidungssituation, die des Urzustandes hinter dem Schleier des Nichtwissens. Hier
gibt es Rawls zufolge bestimmte Grundsätze der Gerechtigkeit, die allen Menschen
im Urzustand, unabhängig von ihren Fähigkeiten, Wünschen oder ihrer Lebenssitua-
tion, evident und nicht vernünftig bestreitbar erscheinen müssen. Die zwei Grundsät-
ze der Gerechtigkeit, die Rawls zufolge aus diesem Gedankenexperiment konkret
hervorgehen, lauten (in einer ersten Formulierung):

1. Jedermann soll das gleiche Recht auf das umfangsreichste System gleicher Grundfrei-
heiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünf-
tigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Posi-
tionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen. (Rawls 1971/1979, 81)

Dabei stehen die zwei Grundsätze nicht gleichberechtigt nebeneinander. Sie sind
„lexikalisch geordnet“ (Rawls 1971/1979, 82), sodass der erste Grundsatz der glei-
chen Grundfreiheiten absoluten Vorrang vor dem zweiten genießt: Die Freiheit darf
nur um der Freiheit aller willen eingeschränkt werden. Umgekehrt ist es unter keinen
Umständen zulässig, dass die Beschneidung von Grundfreiheiten durch größere wirt-
schaftliche oder gesellschaftliche Vorteile aufgewogen wird (Rawls 1971/1979, 587).
Die Grundfreiheiten dürfen nur eingeschränkt werden, wenn sie die gleichen Freihei-
ten der anderen Menschen bedrohen, oder wenn nur durch deren Einschränkung eine
Verbesserung des derzeitigen Zivilisationsniveaus möglich ist, die schließlich zur
Verwirklichung von mehr Grundfreiheiten für alle führt (Rawls 1971/1979, 587). In
diesen Vorrangregeln sieht Rawls ein geeignetes Instrument zur Lösung von Situati-
onen, in denen die Grundsätze miteinander in Konflikt geraten, und zugleich eine
direkte Folgerung aus der Natur der Menschen im Urzustand, indem durch den Vor-
rang der Freiheit die „Interessen höchster Stufe“ gesichert werden (Rawls 1971/1979,
589). An dieser Stelle lohnt es, die Menschen im Urzustand genauer zu betrachten,
um die „Hierarchie [ihrer] Interessen“ und den Grund für den Vorrang der Freiheit zu
untersuchen (ebd.).

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3. Die Gründe für den Vorrang der Freiheit
Rawls geht davon aus, dass jeder Mensch eine bestimmte Lebensvorstellung hat und
zu ihrer Verwirklichung auf bestimmte materielle und gesellschaftliche Güter ange-
wiesen ist, deren Verteilung von der Grundstruktur der Gesellschaft bestimmt wird.
Rawls nimmt an, dass ihre Lebensvorstellung das höchste Interesse der Menschen ist,
sie diese also bei gegebener (materieller) Sicherheit als oberstes Ziel verfolgen. In
einer „wohlgeordneten“ und Rawls zufolge idealen Gesellschaft sind die Menschen
mit ihren bestimmten höchsten Interessen zudem als moralische Subjekte frei und
gleichberechtigt. Zudem werden sie durch das Bewusstsein dieser Bedingungen und
die Anerkennung der gegenseitigen moralischen Ansprüche miteinander verbunden
(Rawls 1971/1979, 588). Wenn sich diese Menschen im Urzustand gemeinsame Ge-
rechtigkeitsgrundsätze geben, befinden sie sich zwar hinter dem Schleier des Nicht-
wissens und kennen ihre Interessen nur in „allgemeinen Zügen“ (Rawls 1971/1979,
588). Sie sind sich zum Beispiel überhaupt der Existenz dieser Art von Interesse be-
wusst und treten folglich dafür ein, dessen Verwirklichung allgemein zu ermögli-
chen. Gleichzeitig wissen sie aber auch, dass die ganz bestimmte Ausgestaltung ihres
speziellen Interesses nicht völlig austauschbar ist und es deswegen nicht ausreicht,
eine bestimmte Ausprägung dieses Interesses in den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu
bevorzugen.
Dieser Gedanke lässt sich beispielhaft an der Religionsfreiheit verdeutlichen:
Nehmen wir an, jeder Mensch hat eine bestimmte Einstellung zur Religion – vom
strengen Anhänger einer Weltreligion über eine lokale Schamanin einer kaum ver-
breiteten Naturreligion oder eine vehemente Atheistin bis hin zu einem gleichgülti-
gen Pragmatisten haben alle diese Menschen ein Interesse daran, ihre eigene ganz
bestimmte Lebensvorstellung, die mehr oder weniger eng mit dieser Religion ver-
knüpft sein mag, möglichst uneingeschränkt zu verwirklichen. Im Urzustand haben
bei der Bestimmung der Grundsätze zudem alle das gleiche Recht auf Berücksichti-
gung dieser eigenen Interessen, sodass Rawls zufolge die einzige mögliche Konfigu-
ration der Grundsätze, die alle akzeptieren können, jene ist, bei der die Interessen
aller Beteiligten durch die Grundfreiheiten geschützt werden. Die grundlegenden
Ziele der Menschen sieht Rawls somit im Bereich des ersten Grundsatzes der Ge-
rechtigkeit (dem der Grundfreiheiten), sodass die Menschen diesem aufgrund der
Bedeutung ihrer wichtigsten Ziele und höchsten Interessen den Vorrang gegenüber
dem zweiten Grundsatz einräumen würden (Rawls 1971/1979, 588).

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Selbstverständlich ist die Verwirklichung selbst der höchsten Interessen nicht
immer das unmittelbar drängendste Anliegen. In Gesellschaften, in denen ein starker
materieller Mangel oder Unsicherheit herrschen, etwa durch Hungersnöte oder be-
waffnete Konflikte, erscheint es eher zynisch als gerecht, die Verwirklichung von
Grundfreiheiten wie dem Wahlrecht kompromisslos über die Sicherung materieller
Bedürfnisse zu stellen (im Beispiel etwa eine ausreichende Nahrungsversorgung oder
die Stabilisierung der Krisenregion). Diese intuitive Einschätzung teilt auch Rawls
und gestattet gewisse Ausnahmeregelungen: „Die gleichen Freiheiten für alle können
nur verweigert werden, wenn es zur Verbesserung des Zivilisationsniveaus nötig ist,
sodass in absehbarer Zeit jeder in den Genuß dieser Freiheit kommt.“ (Rawls
1971/1979, 587) Dabei zeigt Rawls sich optimistisch: „Die wirksame Verwirkli-
chung aller dieser Freiheiten ist die langfristige Tendenz der beiden Grundsätze und
der Vorrangregeln, wenn sie unter einigermaßen günstigen Bedingungen konsequent
befolgt werden.“ (ebd.) Verbessert sich die gesellschaftliche oder materielle Situati-
on, so treten die höheren Interessen auch auf der individuellen Ebene immer stärker
zu Tage, bis sie wie in einer „wohlgeordneten Gesellschaft unter günstigen Bedin-
gungen [...] bestimmend [werden] und ihr Vorrang erkennbar [wird].“ (Rawls
1971/1979, 589) Zu betonen ist an dieser Stelle, dass Rawls davon ausgeht, dass sich
ab einem bestimmten Wohlstandsniveau der individuelle Wert ökonomischer und
sozialer Vorteile gegenüber einer selbständigen Lebensplanung verringert. Zu diesen
entstehenden höheren Interessen gehört für Rawls auch das Interesse daran, die
Grundstruktur so mitzubestimmen, dass die Menschen ihre eigenen Ziele und Kultur-
formen verfolgen können (Rawls 1971/1979, 589).

4. Diskussion
Wie sind die von Rawls vorgeschlagenen Grundsätze und ihre lexikalische Ordnung
nun zu beurteilen? Eine Stärke der Struktur von Rawls‘ Herangehensweise ist meiner
Einschätzung nach die Unterteilung der Grundsätze in zwei Bereiche der Gesell-
schaft: einen Bereich, der die Grundrechte und -freiheiten bestimmt und somit vom
ersten Grundsatz behandelt wird, und einen anderen, der die Verteilung von gesell-
schaftlichen und wirtschaftlichen Gütern bestimmt, was dem Inhalt des zweiten
Grundsatzes entspricht. Diese Unterteilung ermöglicht es, konkrete Fragestellungen
zur Zulässigkeit gesellschaftlicher Ordnungen zu untersuchen. Dabei tragen die Vor-

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rangregeln weiter zur Schärfung dieses Instruments bei, indem sie in Konfliktfällen
Orientierung bieten.
Auf der anderen Seite ist nicht sicher, ob diese Bereiche immer so klar voneinan-
der abgegrenzt werden können, wie es die Ordnung voraussetzt, insbesondere, weil
die Liste der Grundfreiheiten unvollständig ist. Rawls erhebt selbst nicht den An-
spruch der Vollständigkeit, wenngleich er einige unstrittige Beispiele für Grundfrei-
heiten nennt, etwa das Recht auf Meinungsfreiheit oder körperliche Unversehrtheit
(Rawls 1971/1979, 82). Fraglich ist, ob auch das Recht auf persönliches Eigentum,
das Rawls in diese Liste aufnimmt, ein solches unabdingbares Recht ist. Hier sind
große Überschneidungen mit dem zweiten Grundsatz, der die Verteilung von Ein-
kommen und Vermögen bestimmt, offenkundig. Es drängen sich Fragen der Abwä-
gung auf, wie: Ist jedes private Eigentum als Grundfreiheit geschützt? Wie würde
Rawls zum Beispiel die Enteignung von Immobilienbesitzenden beurteilen, um in
Ballungsgebieten Wohnraum für sozial benachteiligte Gesellschaftsgruppen zu
schaffen, wenn dies die einzige wirksame Maßnahme wäre, um einer Krise zu be-
gegnen? Welcher Grad der sozialen Ungleichheit und Not muss bestehen, damit eine
solche Maßnahme gerechtfertigt wäre?
Das führt zu einer zweiten Bemerkung: Rawls grenzt sich klar vom Utilitarismus
ab und führt explizit zum Schutz vor der aus seiner Sicht inakzeptablen Bevorzugung
des Gemeinwohls gegenüber den individuellen Rechten im Utilitarismus den Vor-
rang der Freiheit als Grundsatz ein. Diese Festlegung erscheint überzeugend, denn
die gegenteilige Annahme, freie und gleiche Menschen würden sich hinter dem
Schleier des Nichtwissens dem Risiko aussetzen wollen, ihre eigenen Freiheiten für
das Gemeinwohl zu opfern, erscheint unplausibel.
Ähnlich verhält es sich mit möglichen Einwänden gegen die fehlende Praktikabili-
tät des Vorrangs der Freiheit, denen Rawls mit der Einführung von Ausnahmeregeln
zu begegnen versucht. Diese sollen es unter bestimmten Umständen rechtfertigen,
Grundfreiheiten vorübergehend einzuschränken. Die Kriterien für diese Ausnah-
meregelungen erscheinen mir ebenfalls grundsätzlich sinnvoll, allerdings zugleich
etwas unscharf zu sein. Die Absicht, die hinter der Einschränkung des absoluten Vor-
rangs der Freiheit steht, ist intuitiv plausibel. Schließlich kann niemandem daran ge-
legen sein, ein derartiges Prinzip über das Leben zu stellen. Gleichzeitig lehnt Rawls
aber die Intuition als letzte beurteilende Instanz als unzuverlässig ab, sodass seine
Kriterien für Ausnahmeregelungen unklar bleiben. Es sind gesellschaftliche, wirt-

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schaftliche oder politische Umstände denkbar, in denen diese „Notstandsregelungen“
(wie sie mit bereits negativer Konnotation genannt werden könnten) missbräuchlich
zur Anwendung gebracht werden, wie die historische Erfahrung zeigt. Damit wäre
dieser Teil der Theorie ein mögliches Einfallstor für Vereinnahmungen, die nicht im
Sinne einer Ordnung verstanden werden können, die Rawls mit „Gerechtigkeit als
Fairneß“ bezeichnen würde.

Literatur
Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit (Orig. 1971: A Theory of Jus-
tice). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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