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Die Ordnungsethik und die Böckenförde-These:

Auf welche Hintergrundannahmen sind moderne Gesellschaften angewiesen?

Christoph Lü tge

Einleitung: Die Böckenförde-These und die moralischen Mehrwerte

Diskursethik und Ordnungsethik basieren auf sehr unterschiedlichen


Voraussetzungen. Ich werde hier versuchen, einige dieser Voraussetzungen zu
benennen und ihre Konsequenzen fü r moderne Gesellschaften sichtbar zu machen.
Zwischen dem Vater der Diskursethik, Jü rgen Habermas, und dem damaligen
Kardinal Ratzinger (spä ter Benedikt XVI.) fand im Jahr 2004 in Mü nchen ein berü hmt
gewordenes Gesprä ch statt.1 Es ging dabei nicht nur um das Verhä ltnis von Vernunft
und Religion, sondern auch um eine Kernfrage der Politischen Philosophie, nä mlich
das Problem, wie eine demokratische Gesellschaft stabil bleiben kann. Habermas
berief sich dabei auf eine vielzitierte These, die der ehemalige deutsche
Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Bö ckenfö rde 1967 aufstellte. Sie lautet:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren
kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher
Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bü rgern gewä hrt, von
innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenitä t der Gesellschaft,
reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskrä fte nicht von sich aus, das heißt, mit
den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine
Freiheitlichkeit aufzugeben und - auf sä kularisierter Ebene - in jenen Totalitä tsanspruch
zurü ckzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bü rgerkriegen herausgefü hrt hat.“
(Bö ckenfö rde 1967/1991, 112)

Meistens wird allerdings nur der erste Satz zitiert, wonach der Staat von
Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht herstellen kö nne. Mit dieser These habe ich
mich ausfü hrlich befasst2, allerdings weniger anhand von Bö ckenfö rdes Position, die
mir nicht hinreichend ausgebaut erscheint, um fü r eine lä ngere Diskussion geeignet
zu sein. Die These wurde im Ü brigen bereits von Wilhelm Rö pke (1944/1979)
vertreten – und ihre Vorgeschichte geht weiter zurü ck.
Die Frage danach, was menschliche Gesellschaften zusammenhä lt, ist ein uraltes
Problem der Philosophie. Ä ußerungen dazu finden sich zu allen Zeiten – von Platon
und Aristoteles ü ber Hobbes, Hume, Kant und Hegel bis heute. Wä hrend des
vergangenen Jahrhunderts, und insbesondere seit Beginn der Globalisierung, ist

1
Vgl. Habermas/Ratzinger 2005.
2
Vgl. Lü tge 2007, 2015 und 2016.

1
diese Frage noch dringlicher geworden: Moderne Gesellschaften sehen sich einem
kulturellen, sozialen und ö konomischen Pluralismus gegenü ber, der eine neue
Dimension angenommen hat. 3 Es ist dabei nicht klar, ob und wenn ja, in welcher
Weise traditionelle Antworten auf die Frage nach gesellschaftlicher Stabilitä t
tragfä hig sein kö nnen fü r soziale Probleme der Moderne. Dieses Verhä ltnis soll hier
nä her beleuchtet werden.
Ein Großteil der zeitgenö ssischen Positionen in Politischer Philosophie und
Sozialphilosophie diskutiert die folgende Frage: Gegeben den Fall, dass Akteure in
modernen Gesellschaften nach ihrem eigenen Vorteil streben, brauchen wir dann
noch einen zusä tzlichen sozialen ‚Kitt’ ü ber das Eigeninteresse hinaus, um
Gesellschaften zusammenzuhalten? Diesen sozialen Kitt nenne ich den moralischen
Mehrwert. Ein moralischer Mehrwert ist eine Fä higkeit oder Eigenschaft, welche die
Bü rger einer modernen Gesellschaft annehmen sollen, um die Stabilitä t ihrer
Gesellschaft zu sichern. Dieser moralische Mehrwert ist – nach Auffassung dieser
Positionen – zusätzlich zu Regeln, Gesetzen und Anreizstrukturen notwendig.
Im Folgenden werde ich zwei zeitgenö ssische Positionen diskutieren: Es handelt
sich dabei um die Ansä tze von J. Habermas und K. Binmore. Wä hrend Habermas die
Ansicht vertritt, dass moderne Gesellschaften auf einen moralischen Mehrwert
angewiesen sind, um ihre eigene Destabilisierung zu verhindern, sieht Binmore dies
anders. Da diese Ansä tze hier nicht umfassend behandelt werden kö nnen, werde ich
mich bei ihrer Diskussion darauf beschrä nken, einen moralischen Mehrwert zu
rekonstruieren und zu untersuchen, ob dieser angesichts systematisch
zuwiderlaufender Anreize stabil bleiben kann.
Diese Frage kann in folgender Weise expliziert werden: Das klassische Modell fü r
eine Situation mit desaströ sen Anreizen fü r alle beteiligten Akteure liefert das
Gefangenendilemma (PD). 4 Die Akteure in Gefangenendilemma-Situationen sehen sich
der permanenten Mö glichkeit ausgesetzt, bei eigenem kooperativen Verhalten von den
anderen Beteiligten ausgebeutet zu werden. Daher stellen sie selbst ihre Kooperation
ein, sie defektieren. Dies fü hrt zu einer Situation, in der sich alle – rationalen,
eigeninteressierten – Akteure schlechter stellen, und keiner besser. Die Akteure kö nnen
aus dieser Situation nicht durch eigenes Handeln entkommen; einseitige Kooperation im

3
vgl. etwa Stiglitz 2002 sowie Leggewie 2003.
4
Zum Gefangenendilemma vgl. grundlegend Axelrod 1984/1991.

2
Gefangenendilemma fü hrt zur Ausbeutung und ist geradezu selbstmö rderisch. Binmore
wä hlt das Gefangenendilemma ü brigens als seinen konzeptionellen Ausgangspunkt.
Ich werde hier die These vertreten, dass Habermas’ moralischer Mehrwert angesichts
von systematisch zuwiderlaufenden Anreizen in Gefangenendilemma-Situationen nicht
stabil bleiben kann.

1) J. Habermas: Rationale Motivation


Die Diskursethik setzt voraus, dass sich die an Diskursen beteiligten Akteure in ihrem
Handeln zumindest teilweise durch eine „rationale Motivation“ bewegen lassen. 5 Mit
Hilfe dieses Konzepts wird der Unterschied zwischen strategischer und kommunikativer
Rationalitä t expliziert: Wä hrend strategisches Handeln durch Anreize und Sanktionen
beeinflusst ist, beruht kommunikatives Handeln gerade auf rationaler Motivation.
Habermas begrü ndet die rationale Motivation unter Rü ckgriff auf die Theorie der
Sprechakte. Er geht davon aus, dass Sprechakte Akteure dazu zwingen kö nnen,
bestimmte Handlungen zu vollziehen oder zu unterlassen. Kern dieser Annahme ist
der Begriff des performativen Widerspruchs: Der rational Motivierte lä sst sich davon
leiten, einen performativen Widerspruch zu vermeiden.
Lä sst sich einem Sprechakt eine solche Bindungswirkung sinnvoll zusprechen? Mit
diesem Problem setzt sich Habermas ausfü hrlich auseinander, und zwar im Gesprä ch
mit einem fiktiven ‚Skeptiker’. Dieser Skeptiker zieht die bindende Wirkung von
Sprechakten und damit die Wirkung von rationaler Motivation in Zweifel. Habermas
erwidert ihm, dass er durch eine konsequente Diskursverweigerung lediglich „seine
Position stumm und eindrucksvoll behaupten“6, aus der kommunikativen Alltagspraxis
jedoch nicht aussteigen kö nne. Versuche er dies, so ende er in „Schizophrenie und
Selbstmord“7. Unsere Lebenswelt sei unweigerlich immer schon von kulturellen
Traditionen und Sozialisation geprä gt; Prozesse der Tradition und Sozialisation
vollzö gen sich allein ü ber das kommunikative Handeln und damit ü ber die rationale
Motivation. Eine Wahl hä tten wir dabei nicht. Damit hä lt Habermas die Widerlegung des
Skeptikers fü r gesichert: Er kö nne nicht zwischen strategischem bzw. anreizmotiviertem
Handeln einerseits und kommunikativem bzw. rational motiviertem Handeln
andererseits auswä hlen.

5
Vgl. Habermas 1981, Bd. 1, 50.
6
Habermas 1983/1999, 53-125, hier: 109.
7
Habermas 1983/1999, 112.

3
Es bleiben jedoch Fragen offen. So ist unklar, ob der analytische Zugriff Habermas’
auf die kommunikativen Prozesse der Alltagspraxis der einzig mögliche Zugriff ist. Ist
es sinnvoll, davon auszugehen, dass solche Prozesse nicht allein durch strategisches
Handeln gesteuert werden? Habermas behauptet dies und impliziert damit
offensichtlich auch, dass wir in der lebensweltlichen Kommunikation aufgrund von
rationaler Motivation gegen Anreize verstoßen kö nnen. Der Wunsch oder die Kraft,
einen performativen Widerspruch vermeiden zu wollen, mü sste somit als stä rker
angesehen werden als Anreize in Gefangenendilemma-Situationen.
Tatsä chlich kö nnen auch alltagspraktische Zusammenhä nge als mit solchen
Gefangenendilemma-Situationen durchsetzt rekonstruiert werden.8 Bei diesen
Situationen handelt es sich oft nicht um manifeste, sondern um überwundene
Dilemmata. Die daran beteiligten Individuen konnten erfolgreich Interaktionen
aufbauen, soziale Fallen (durch formelle oder informelle institutionelle Lö sungen)
ü berwinden und Kooperationsvorteile gewinnen. Das Dilemma kann aber durchaus
wieder aufbrechen. In einer Betrachtungsweise jedoch, die bei den Phä nomenen
stehen bleibt, werden ü berwundene Dilemmata nicht sichtbar.
In den „Erlä uterungen zur Diskursethik“ wird das Problem des Skeptikers wieder
aufgeworfen. Zunä chst betont Habermas, die Diskursethik mü sse keineswegs
behaupten, dass die moralische Einsicht schon ein hinreichendes Motiv fü r
moralisches Handeln abgebe: Moralische Gebote und Einsichten kö nnten fü r sich
„nur die schwach motivierende Kraft guter Grü nde“9 reklamieren. Gebote und
Einsichten implizierten zwar eine moralische Verpflichtung; es kö nne jedoch sein,
dass diese aufgrund von Willensschwä che nicht befolgt werde. Und kurz darauf heißt
es:

„Die Gü ltigkeit moralischer Gebote ist an die Bedingung geknü pft, dass diese als Grundlage einer
allgemeinen Praxis generell befolgt werden.“ (Habermas 1991, 136; Hervorhebungen im Original)

Hier ist der Gedanke enthalten, dass der Grad der Befolgung von Normen auf die
Gültigkeit dieser Normen durchschlä gt. Dies impliziert: In einer Gefangenendilemma-
Situation kann die Norm „Du sollst kooperieren!“ fü r den Einzelnen keine Gü ltigkeit
haben, da er von der Defektion aller anderen ausgehen muss. Dieser Gedanke ginge
ü ber die ursprü ngliche Idee Habermas’ hinaus, dass die Befolgung von Normen
aufgrund von Willensschwä che mö glicherweise nicht hinreichend gesichert sei,

8
Vgl. etwa Homann/Suchanek 2005.
9
Habermas 1991, 135.

4
gleichzeitig aber die Gültigkeit dieser Normen davon nicht angetastet werde.
Konsequenterweise dü rfte dann auch nicht mehr von einer Wirksamkeit rationaler
Motivation gesprochen werden. Denn diese rationale Motivation kö nnte dann ja
offensichtlich nicht gegen die von der Situation ausgehenden Anreize bestehen.
Direkt im Anschluss an den zitierten Satz spricht Habermas jedoch nur noch von
einer „Zumutbarkeitsbedingung“10. Damit schwä cht er das Vorangegangene ab, denn
Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit (der Befolgung) einer Norm sagt offensichtlich
noch nichts ü ber die Gü ltigkeit dieser Norm aus. Auch die spä ter folgende
Prä zisierung, wonach aus einer als einzig angemessen erkannten Norm ein Urteil
folgen kö nne, das von den Akteuren in dieser konkreten Situation eine „existenziell
unzumutbar[e]“11 Handlung fordere, ist eine Abschwä chung: Die Frage nach der
Zumutbarkeit entstehe nä mlich, so Habermas, erst in rechtstheoretischen Diskursen,
noch nicht in der Ethik. Im Recht gebe es eine Argumentationsfigur, wonach Normen
„unangesehen ihrer Gü ltigkeit nicht zumutbar“ 12 seien, wenn mit einer allgemeinen
Normbefolgung nicht zu rechnen sei. Dieser Ü bergang zum Recht hat fü r Habermas
die Funktion, Institutionen in seine Konzeption einzufü hren:

„Erst eine rechtliche Institutionalisierung kann die allgemeine Befolgung moralisch gü ltiger
Normen sichern.“ (Habermas 1991, 199)

Damit zeigt sich folgende Entwicklung: Wä hrend in den Arbeiten vor den
„Erlä uterungen“ Institutionen nur eine geringe Rolle spielten 13, erkennt Habermas
nun, dass die Frage der Durchsetzung, der tatsä chlichen Wirksamkeit von diskursiv
begrü ndeten Normen eine grö ßere Rolle spielen muss als gedacht. Er erkennt, dass
es weder ausreicht, die Existenz rationaler Motivation einfach zu postulieren, noch
auf performative Widersprü che zu vertrauen, noch sich – zur empirischen Stü tzung –
ausschließlich auf die Entwicklungspsychologie Kohlbergs zu berufen. Habermas
sucht sich der Unterstü tzung einer weiteren Disziplin zu versichern: der
Rechtstheorie. Mit ihrer Hilfe soll die Notwendigkeit von Institutionen begrü ndet
werden, ohne gleichzeitig die rationale Motivation als Konzept aufzugeben.
Diese Argumentationslinie wird in „Faktizitä t und Geltung“ weiterverfolgt: Hier
stellt Habermas zwar die Bedeutung von rechtlich kodifizierten und mit Sanktionen
10
Habermas 1991, 136.
11
Habermas 1991, 198.
12
Habermas 1991, 199.
13
Vgl. etwa Habermas (1983/1999), 102: Dort wird von den „trivialen Notwendigkeiten der
Institutionalisierung von Diskursen“ (Hervorhebungen im Original) gesprochen, was darauf hindeutet, das
die Bedeutung von Institutionen noch nicht in ihrer vollen Schä rfe erkannt wurde.

5
versehenen Normen in den Mittelpunkt. Gleichzeitig aber sollen die diesen Normen
unterworfenen Bü rger weiterhin außerrechtliche normative Geltungsansprü che
anerkennen, die aus bestimmten idealisierenden Voraussetzungen sprachlicher
Argumentation folgen 14. Und diese Anerkennung sieht Habermas auch weiterhin als
handlungswirksam an: Er geht nach wie vor von einer „Koordinierung von
Handlungsplä nen“ durch Sprache aus, die – nach dem bisher Gesagten – die Existenz
rationaler Motivation voraussetzen muss.15
Zusammenfassend erkennt die Diskursethik zwar die Rolle von Anreizen und
Institutionen an, gesteht ihnen aber nur eine Rolle unter vielen im ‚Konzert’ der
sozialen Einflü sse zu. Rationale Motivation kö nne die von sozialen Strukturen, etwa
Dilemmastrukturen, und Institutionen ausgehenden Anreize neutralisieren. Das
scheint mir fraglich.

2) K. Binmore: Die Anlage zur Empathie

Mit „Game Theory and the Social Contract“ hat Ken Binmore (1994; 1998) eine
ausgearbeitete, auf vö llig anderen Voraussetzungen als die Diskursethik basierende
Vertragstheorie geliefert, die sowohl auf spieltheoretische als auch auf
soziobiologische Konzepte zurü ckgreift. Er selbst nennt seinen Ansatz
„naturalistisch“ und bringt seine Kritik an anderen sozialphilosophischen
Konzeptionen auf die Formel: Keine commitments! Zunä chst werde ich daher auf die
commitments eingehen. Anschließend diskutiere ich das Konzept der Anlage zur
Empathie, die nach Binmore die notwendige normative Ressource fü r das
Funktionieren einer modernen Gesellschaft darstellt. Es wird sich allerdings zeigen,
dass sich diese Anlage in ihrem theoretischen Status von anderen moralischen
Mehrwerten deutlich unterscheidet.
Nach Binmores Auffassung wird die Stabilitä t von Gesellschaften in den
allermeisten sozialphilosophischen Ansä tzen durch Instanzen legitimiert, die
letztlich metaphysischen Charakter aufweisen. Zu den in dieser Weise
argumentierenden Autoren zä hlt er etwa J. Rawls, J. Harsanyi, D. Gauthier und R.
Nozick. Gemeinsam sei ihnen vor allem die Auffassung, dass es Akteuren in

14
Vgl. etwa Habermas 1992, 34 sowie 678ff.
15
Habermas 1992, 34.

6
gesellschaftlichen Interaktionen mö glich sei, sogenannte commitments16,
Verpflichtungen oder Bindungen, einzugehen, deren Einhaltung nicht durch
Sanktionen und Anreize gewä hrleistet werde.
Ein commitment definiert Binmore als ein bindendes unilaterales Versprechen, d.h.
als ein Versprechen, dessen Einhaltung nicht (letztlich) rü ckgä ngig zu machen ist und
– so meine Interpretation – gerade deswegen auch nicht durch Sanktionen gesichert
wird bzw. werden muss. Ein commitment ist damit nicht gleichzusetzen mit einer
Regel R, der A folgt, weil A erwartet, dass R insgesamt mehr Vorteile erwarten lä sst,
auch wenn R im Einzelfall Nachteile fü r A bringen mag.
Die wesentliche Schwierigkeit bei der Annahme von commitments liegt in der
Konstruktion eines glaubwü rdigen Durchsetzungsmechanismus.17 Es ist sowohl
schwierig, ein echtes commitment zu tä tigen, als auch andere davon zu ü berzeugen,
dass man ein commitment getä tigt hat. Man kann hier auf drohende Sanktionen oder
auf die Stellung von ‚Geiseln’ aufbauen. Beispielsweise kö nnte ein Unternehmen, das
ein commitment zum Umweltschutz getä tigt hat, dieses dadurch glaubwü rdiger
machen, dass es eine große finanzielle Summe (etwa bei einer Bank) hinterlegt. Das
Unternehmen legt vertraglich fest, dass das Geld eingezogen wird, sollte das
commitment ü bertreten werden. Binmore weist aber darauf hin, dass commitments
meist auf viel subtilere Weise, insbesondere ü ber Reputationsmechanismen,
gesichert werden.
Binmore schlä gt demgegenü ber aber ein anderes Konzept vor. Er greift dabei auf
Harsanyis „erweiterte Sympathie-Prä ferenzen“ (Harsanyi 1977) zurü ck, zieht jedoch
den Begriff „empathische Prä ferenzen“ vor.18 Der intuitive Gedanke dabei ist, dass ein
rationaler Akteur, um sein Verhalten besser an das der anderen Akteure anzupassen,
deren Verhalten voraussagen kö nnen muss. Binmore grenzt Sympathie- und
empathische Prä ferenzen folgendermaßen voneinander ab:
Akteur A offenbart nach Binmore eine Sympathie-Präferenz, wenn sich aus seinem
Verhalten schließen lä sst, dass er sich in die Situation eines Akteurs B hineinversetzt
und dabei die Prä ferenzen des B als seine eigenen übernimmt.19

16
Ich werde diesen Begriff auch im Folgenden im Original belassen, da alle Ü bersetzungsversuche m.E.
unbefriedigend sind und stets wesentliche Nuancen vermissen lassen.
17
Vgl. Binmore 1994, 162.
18
„Empathetic preferences“, vgl. insbesondere Binmore 1994, 28, 58ff. sowie Kap. 4.3.1 und Binmore
1998, Kap. 2.5.4.
19
Binmore 1994, 286.

7
Eine empathische Präferenz offenbart dagegen derjenige Akteur, aus dessen Verhalten
sich schließen lä sst, dass er sich in die Situation eines Akteurs B hineinversetzt, dabei
aber seine eigenen Prä ferenzen beibehält.20 A unterscheidet dann weiterhin zwischen
seiner und B’s Nutzenfunktion. A kann trotz des Sich-Hineinversetzens in B noch seine
eigenen Prä ferenzen mit denen von B vergleichen oder letztere aus seiner eigenen Sicht
bewerten.
In der Anlage zur Empathie21 (und gerade nicht in der zur Sympathie!22) sieht
Binmore eine entscheidende Qualitä t des Menschen, die seine ‚Menschlichkeit’
wesentlich ausmache.23 (Ob sie genetisch bedingt ist, wie Binmore meint, will ich nicht
entscheiden.) Die Frage ist: Kann die Anlage zur Empathie als ein moralischer Mehrwert
von der gleichen Art wie etwa Habermas’ rationale Motivation oder Rawls’
Gerechtigkeitssinn angesehen werden? Aus meiner Sicht gibt es einen gravierenden
Unterschied zwischen diesen Konzepten: Die Anlage zur Empathie kann nicht
ausgebeutet werden. Dies wird plausibel mit folgender Ü berlegung:
Wenn sich A im Gefangenendilemma oder in vergleichbaren Situationen selbst
Verhaltensbeschrä nkungen – etwa mittels rationaler Motivation – auferlegt, dann
besteht die Gefahr der Ausbeutung durch Akteur B, es sei denn, B handelt ebenso wie A,
indem B sich die gleichen Beschrä nkungen auferlegt (etwa aufgrund von Sanktionen).
Wenn A jedoch in den gleichen Situationstypen ü ber empathische Prä ferenzen verfü gt,
besteht diese Ausbeutungsgefahr nicht automatisch, vor allem gerade auch dann nicht,
wenn B nicht in der gleichen Weise handelt wie A. Angenommen, dass in einer
Gefangenendilemma-Situation einer von beiden (A) ü ber einen Gerechtigkeitssinn
verfü gt. Wenn der andere (B) dies weiß, sich selbst aber nicht den Luxus eines
Gerechtigkeitssinns leistet, so kann er A problemlos ausbeuten. Wenn nun aber A
lediglich ü ber empathische Prä ferenzen verfü gt, so heißt dies nur, dass A antizipieren
kö nnte, wie B auf A’s Handlungen reagieren wü rde. A kö nnte dieses Wissen
beispielsweise auch verwenden, um zu versuchen, B auszubeuten. In jedem Fall aber
20
Vgl. Binmore 1994, 288.
21
Die grundsä tzliche Anlage zur Empathie ist nach Binmore zu unterscheiden von den „empathischen
Prä ferenzen“. Empathische Prä ferenzen sind solche Prä ferenzen, die ein Akteur im konkreten Fall in Bezug
auf einen oder mehrere andere Akteure offenbart. Diese kö nnen und werden sich von Akteur zu Akteur
und von Fall zu Fall unterscheiden.
22
Im ausdrü cklichen Gegensatz etwa zu Elster (1989), der die Ansicht vertritt, dass „love and duty“ – d.h.
gerade das, was Binmore unter Sympathie fasst – den ‚Zement der Gesellschaft’ bildeten. Dem hä lt
Binmore (1994, 24) pointiert entgegen: Moderne Gesellschaften brauchten keinen Zement, sie glichen
einer Trockensteinmauer, in der jeder Stein nur durch die anderen Steine, d.h. durch Reziprozitä t, an
seinem Platz gehalten wird. Zur Aufrechterhaltung dieser Reziprozitä t wiederum genü gten Gier und
Furcht.
23
Vgl. Binmore 1994, 289.

8
kann B aus dem Wissen um A’s empathische Prä ferenzen keinen einseitigen Vorteil
ziehen. Denn B mü sste ja damit rechnen, dass es A gelingt, sich in B’s Lage
hineinzuversetzen und dessen Ü berlegungen nachzuvollziehen. Daher ist die Anlage zur
Empathie anders angelegt als andere Kandidaten fü r moralische Mehrwerte: Sie ist nicht
ausbeutbar. Allerdings ist sie immer noch eine Fä higkeit von Akteuren.

3) Ordnungsethik als Alternative: Stabilität aus Vorteilen und Anreizen

Der Gedanke hinter dem von mir im Folgenden skizzierten Ansatz fü r die
Wirtschaftsethik ist, Normen als funktional fü r soziale Stabilitä t zu rekonstruieren und
dabei die Annahmen ü ber die Akteure mö glichst schwach zu halten. Ziel ist es, den
moralischen Mehrwert zu minimieren und sich von der – auch bei Binmore noch
vorhandenen – Fokussierung auf Fä higkeiten von Akteuren zu lö sen. Diese alternative
Sichtweise ist eine Konzeption von Ethik als Ordnungsethik, die systematisch vom
Problem der Normimplementierung, und gerade nicht vom Problem der
Normbegrü ndung ausgeht.24
In der ethischen Tradition sind die Probleme der Normimplementierung und
Normbegrü ndung im Allgemeinen zusammengedacht worden, aber in der Regel ohne
dass dies expliziert wurde.25 Die Ursache hierfü r liegt darin, dass die Implementierung
von Normen in vergangenen Jahrhunderten nicht als besonderes Problem angesehen
wurde, und zwar aus zwei Grü nden: Zum einen war der moderne Wertepluralismus
noch nicht hinreichend ausgebildet, und zum anderen waren die sozialen Beziehungen
noch nicht so anonym wie in der Moderne. Insbesondere konnten allgemein akzeptierte
Normen wesentlich leichter mit Hilfe von Face-to-Face-Sanktionen durchgesetzt
werden.
Diese Situation hat sich seit Beginn der Moderne drastisch verä ndert. Moderne
Gesellschaften haben sich in soziale Subsysteme ausdifferenziert. Die Akteure mü ssen in
diesen Subsystemen unter vö llig unterschiedlichen Mechanismen (‚Codes’) handeln, was
im Hinblick auf die Ethik oft zum Beklagen von gesellschaftlichem ‚Werteverfall’ fü hrt.
In dieser Situation erhä lt die Frage der Normimplementierung eine vö llig neue
Dringlichkeit fü r die Ethik. Die Konzeption einer Wirtschaftsethik als Ordnungsethik, die
auf Vorteile und Anreize als zentrale Mechanismen setzt, stellt die
24
Vgl. zu diesem Ansatz etwa Homann 2002 sowie Lü tge 2014, 2015, 2016, Lü tge/Armbrü ster/Mü ller
2016 und Lü tge/Mukerji 2016.
25
Vgl. Homann 2002, Kap.8.

9
Implementierungsfrage daher an den konzeptionellen Anfang. Eine solche Konzeption
stellt in Rechnung, dass die Akteure ihren – keineswegs nur materiellen – Vorteil
verfolgen, und sie zielt darauf ab, geeignete Anreize zu setzen, damit die Verfolgung des
Eigeninteresses nicht nur im einseitigen, sondern im wechselseitigen Interesse liegt.
Die Ordnungsethik kann aus einem Gedankenexperiment entwickelt werden. Ich
berufe mich hier auf B. Ackerman (1980), der die klassische vertragstheoretische
Argumentation mit Hilfe eines Science-Fiction-Szenarios erneuert hat, und zwar in
folgender Weise:26
Eine Gruppe von Raumfahrern landet auf einem neu entdeckten Planeten und
versucht, dort eine Gesellschaft aufzubauen. Die Raumfahrer mü ssen sich ü ber die
Regeln dieser Gesellschaft verstä ndigen, in der gleichen Weise wie Akteure in der
Rawls’schen original position. Ackerman verwendet dieses Szenario jedoch in
eigenartiger Weise, und zwar zu dem Zweck, die Frage zu umgehen, wie die Regeln,
nachdem ihnen alle zugestimmt haben, auch tatsä chlich durchgesetzt werden kö nnen.
Ackerman nimmt an, dass in seinem Szenario Regelverletzungen sofort und automatisch
mit Hilfe ü berlegener Technologie (Laserwaffen) sanktioniert werden kö nnen.27
Ich sehe hierin jedoch gerade die zentrale Schwierigkeit in Ackermans Konzept. Es
kann – auch und gerade in einem Gedankenexperiment – nicht sinnvoll sein,
Umsetzungsprobleme erst nachträ glich und sekundä r, quasi mit Hilfe eines deus ex
machina (Laserkanonen), zu behandeln. Wenn man in der Weise Ackermans vorgeht,
konstruiert man zunä chst ein ideales Modell, dessen Umsetzungschancen dann erst im
Nachhinein – scheibchenweise – berü cksichtigt werden (sollen). Dabei handelt man sich
systematisch einen ‚Abgrund’ zwischen Modell und Umsetzung ein, der nicht
nachträ glich beseitigt, sondern hö chstens – mit Hilfe waghalsiger Brü cken-
Konstruktionen – notdü rftig ü berspannt werden kann.
Ich schlage daher vor, Ackermans Szenario in folgender Weise zu modifizieren: Die
Technologie zur garantierten Durchsetzung einmal getroffener Arrangements steht
nicht zur Verfü gung. Es gibt keine Waffentechnologie, die sicherstellt, dass die im
Konsens gefundenen Regeln auch eingehalten werden. Dies bedeutet, dass sich die
Raumschiffinsassen schon bei der Einigung auch ü ber Durchsetzungsmechanismen
Gedanken machen mü ssen. Diese Mechanismen mü ssen nach der Landung zur
Verfü gung stehen und robust gegenü ber den Handlungen der (eigeninteressierten)

26
Vgl. Lü tge 2007, Kap. 2, sowie Lü tge 2015, Kap. 2.
27
Ackerman 1980, 34.

10
Akteure sein. Außerdem verfü gen die Raumschiffinsassen ü ber unterschiedliche
kulturelle Hintergründe. Sie tragen ihre kulturelle Geschichte mit sich, ihre
unterschiedlichen Wertvorstellungen und Normen. Obwohl es um die Gestaltung der
Ordnung einer neuen Gesellschaft geht, mü ssen Relikte einer alten Ordnung
berü cksichtigt werden. Eine gemeinsame Moralkonzeption etwa kann nicht als
vorhanden oder als in Sicht angenommen werden. Die Insassen haben unterschiedliche
und mit großer Wahrscheinlichkeit auch konfligierende Moralvorstellungen. Das
Ergebnis ist somit eine Situation, in der Regeln fü r eine von erheblichem
Wertpluralismus geprä gten Gesellschaft erfunden werden mü ssen.28
Vor dem Hintergrund dieses modifizierten Gedankenexperiments kö nnen die
Hauptthesen einer Ordnungsethik in vier Schritten abgeleitet werden:
1) Wirtschaftsethik als Ordnungsethik ist auf ein bestimmtes Problem
zugeschnitten. Dieses Problem ist das Problem der sozialen Ordnung:29 Wie
kann eine soziale Ordnung unter den Bedingungen des modernen
Wertepluralismus stabil bleiben?
2) Dieses Problem kann nicht durch eine Individualethik gelö st werden, die –
idealtypisch – annimmt, dass moralisch problematische Zustä nde durch
unmoralische Motive oder Prä ferenzen der Akteure verursacht werden. Diese
Position fordert daher konsequenterweise eine Ä nderung der Motive oder einen
Bewusstseinswandel. (Moralische) Appelle werden somit zum zentralen
Steuerungsmechanismus in modernen Gesellschaften, mö glicherweise gestü tzt
durch Erziehung.
3) In den in modernen Gesellschaften vorherrschenden Dilemmasituationen bleibt
jedoch eine Ethik fruchtlos, die sich vorrangig an das Individuum richtet. Eine
Ordnungsethik geht demgegenü ber davon aus, dass moralisch problematische
Zustä nde nicht durch unmoralische Prä ferenzen, sondern durch spezifische
Interaktionsstrukturen verursacht werden. Daher sollten moralische
Forderungen darauf gerichtet sein, die fü r alle Akteure geltenden
Rahmenbedingungen (die Spielregeln) zu verä ndern. Der zentrale
Steuerungsmechanismus fü r moderne Gesellschaften ist in dieser Konzeption
die Gestaltung der Anreizstrukturen. Moralische Normen dü rfen nicht in
Gegensatz zu bestehenden Anreizen geraten. Ich bin nicht gegen eine Rolle fü r

28
Dies wird weiter ausgefü hrt in Lü tge 2007, Kap. 2.
29
Vgl. klassisch etwa Hayek 1980-81, Bd. 1, Kap. 2.

11
„gute Grü nde“, nur darf zwischen ihnen und Anreizen kein systematischer
Gegensatz entstehen.
4) Schließlich muss der theoretische Rahmen des Gesellschaftsvertrages teilweise
modifiziert werden. Zwei Ä nderungen – oder vielmehr Klarstellungen – seien
hier genannt: Erstens kö nnen Akteure, im Gegensatz zu den Behauptungen
mancher Kritiker der Vertragstheorie, in die Zukunft investieren. Sie kö nnen in
bessere Regeln investieren, aber auch in moralisches Verhalten und in
funktionierende Normen. Auch in einer Ordnungsethik auf
vertragstheoretischer Basis gibt es Raum fü r ‚moralisches’ Verhalten von
Akteuren im traditionellen Sinn, nur kann dieses Verhalten mit Hilfe des
Konzepts der offenen Verträ ge erklä rt werden: Da viele in modernen
Gesellschaften abgeschlossene Verträ ge – und Regeln selbst sind Verträ ge der
Gesellschaft – systematisch offen oder unvollstä ndig sind, mü ssen die Akteure
die Lü cken in diesen Verträ ge mit eigenem‚ moralischen’ Verhalten ausfü llen –
aus eigenem Interesse.30

Die in den vorangegangenen Abschnitten vorgebrachten Argumente haben deutlich


werden lassen, dass es nicht fruchtbar ist, Normativitä t systematisch auf
anthropologischen Fä higkeiten oder Eigenschaften, auf moralischen Mehrwerten
aufzubauen. Die Ordnungsethik schlä gt als Alternative vor, einen alternativen sozialen
Steuerungsmechanismus nicht auf anthropologische Gegebenheiten (auch nicht auf eine
Anlage zur Empathie), sondern auf Situationen zu grü nden: Eine moderne Gesellschaft,
die die Vorteile von Spezialisierung und Wettbewerb einfahren will, muss auf Regeln als
Steuerungsmechanismus umschalten. Diese Vorteile kö nnen mit vormodernen
Steuerungsmechanismen nicht angeeignet werden.
Welche Regeln und welche Steuerungsmechanismen fü r eine spezifische Interaktion I
erforderlich sind, hä ngt allein von den situationalen Bedingungen von I ab.
Beispielsweise mag es Situationen geben, in denen informelle Regeln (noch) greifen und
in denen die Interaktionspartner auf annä hernd gleiche oder wenigstens ä hnliche
normative Hintergrü nde zä hlen kö nnen. In solchen Situationen kö nnen moralische
Normen (noch) ihre Steuerungswirkung entfalten. Solche Fä lle sind jedoch in modernen
Gesellschaften, insbesondere unter Bedingungen der Globalisierung, nicht allzu hä ufig.31

30
Vgl. zu dieser Argumentation im Detail Homann/Lü tge 2004/2013, Kap. 2.
31
Vgl. etwa Ostrom 1990/1999.

12
Die Zahl der Interaktionen zwischen Akteuren mit stark unterschiedlichen kulturellen,
sozialen und normativen Hintergrü nden nimmt stä ndig zu. Diese Akteure kö nnen sich
nicht auf (gemeinsame) moralische Mehrwerte verlassen, sie kö nnen sich nur noch auf
gemeinsame, wechselseitig akzeptierte Regeln verlassen – oder sie kö nnen sich
mö glicherweise neue, auf ihre Situation zugeschnittene Regeln selbst geben.
Die Frage ist, ob selbst in diesen Fä llen der Regelsteuerung eine oder mehrere
schwache, nicht anthropologische, aber situationsbezogene Fä higkeiten notwendig sind.
Von den hier diskutierten Konzepten wä re die Anlage zur Empathie ein Kandidat, da sie
nicht ausbeutbar ist. Ich will jedoch den Versuch unternehmen, drei noch schwä chere,
minimale Annahmen zu skizzieren, die sich von jeglichen moralischen Mehrwerten
unterscheiden, die aber dennoch in funktionaler Hinsicht Voraussetzungen zur
Erhaltung der Steuerungsfä higkeit durch Regeln darstellen: Sozialitä t, Kommunikations-
und Investitionsfä higkeit.32
Die ersten beiden sind eher trivialer Natur: Es muss erstens eine soziale Gruppe
vorhanden sein, d.h. es geht nicht um die Probleme einzelner Individuen. Es muss
zweitens irgendeine Form von Kommunikation in dieser Gruppe geben. Der dritte Punkt
ist der wichtige: Akteure, die stets nur ihren kurzfristigen Nutzen maximieren, kö nnen
keine stabile Gesellschaft bilden. Dies ist wenig spektakulä r und nicht beschrä nkt auf
soziale Stabilitä t oder Moral: Jedes Unternehmen kann in die Zukunft investieren.
Tatsä chlich erfordert jede planvolle Handlung und Kooperation Investieren, d.h. das
Aufsparen einiger Ressourcen, um langfristig grö ßere Vorteile zu erzielen.
Zusammengenommen kö nnten diese drei Annahmen eine minimale Basis fü r
moderne Gesellschaften unter Globalisierungsbedingungen abgeben, die weder auf
gemeinsame kulturelle Hintergrü nde noch auf moralische Mehrwerte angewiesen ist.
Die Akteure mü ssen kommunizieren und investieren kö nnen. Eine Ordnungsethik kann,
hierauf aufbauend, die Akteure – in deren eigenem Interesse – dazu auffordern, sich a)
an die Regeln zu halten und sich b) fü r die Weiterentwicklung der Regeln in
wechselseitig vorteilhaften Bahnen einzusetzen. Solche Weiterentwicklungen kö nnen
nur wirksam werden, wenn die Akteure ihnen zustimmen; sie sind – im Hinblick auf
Dilemmasituationen – systematisch nicht gegen die Wü nsche der Akteure durchsetzbar.
Es gibt darü ber hinaus jedoch Raum fü r Heuristiken. Unter Heuristiken verstehe ich
hier Werte und Gedanken aus philosophischen, wissenschaftlichen, religiö sen,
literarischen, kü nstlerischen oder anderen Traditionen. Diese Heuristiken kö nnen den
32
Vgl. Lü tge 2007, Kap. 4.

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Akteuren neue Wege aufzeigen, auf denen neue, wechselseitig fruchtbare und
vorteilhafte Kooperationen mö glich werden kö nnen. Aber diese Heuristiken sind von
moralischen Mehrwerten deutlich zu unterscheiden. Vor allem sind sie nicht gegen die
Logik der Vorteile und Anreize konzipiert. Das fü hrt auch dazu, dass sie in
Dilemmasituationen nicht erodieren. Moralische Mehrwerte wie die von Habermas
vertretenen sind dagegen gegen Interessen, gegen Vorteile und Anreize konzipiert.
Sowohl die Anlage zur Empathie als auch die Fä higkeit zur Investition weisen einen
theoretischen Vorteil auf: Sie verlangen von den Individuen nicht, gegen Anreize zu
verstoßen, insbesondere nicht in Dilemmasituationen. Eine praktische Anwendung
dieses Vorteils kö nnte in der Erkenntnis liegen, dass eine Moral-Semantik, die etwa in
der politischen Sphä re auf scharfe Gegensä tze zwischen Werten und Interessen,
zwischen rationaler Motivation und Anreizen beispielsweise setzt, systematisch in
Sackgassen und Theorieblockaden fü hrt.
Eine modifizierte Semantik jedoch, die statt dessen auf Begriffe wie „investieren“,
„wechselseitiges Eigeninteresse“ oder „Win-win-Situationen“ setzt, kann u.U. auch den
hinter moralischen Mehrwerten stehenden Gedanken fruchtbar werden lassen. Diese
Mehrwerte ließen sich dann im Rahmen einer Ordnungsethik – unter Verwendung einer
modifizierten Semantik – als Heuristiken interpretieren, die im eigenen Interesse des
Akteurs oder der Akteure liegende Investitionen empfehlen. Mö glicherweise – dies
mü sste Gegenstand weiterer Untersuchungen sein – liegen einige der Differenzen
zwischen Ordnungsethik und Diskursethik damit weniger in der Sache als in den
verwendeten unterschiedlichen Semantiken begrü ndet.

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