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Universität Freiburg

Fachbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit

Route des Bonnesfontaines 11, 1700 Freiburg

Seminararbeit, FS22

Proseminar Sozialstaat und Wohlfahrtsregime –

Aktuelle Herausforderungen für den Sozialstaat im Umgang mit


Vulnerabilitäten

Diskussion über die Rolle des Staates im Zusammenhang


mit Vulnerabilität.
Entwicklung und Stellung des Individuums: Wie kann das Konzept des
Wohlfahrtsstaates überdacht werden?

« In einer Situation, in der das vielleicht schwerwiegendste Problem nicht die Marginalität einiger
Menschen gegenüber der Gesellschaft ist, sondern die Marginalität der gesamten Gesellschaft
gegenüber sich selbst, welchen Sinn hat es, so zu tun, als ob die zentrale Frage die individuelle
Unangepasstheit an das Soziale bleibt? » (Barel 1990: 98)

Fanny Dumont

Matrikelnummer: 21-206-396

Rue de la Sarine 4, 1700 Fribourg

Fanny.dumont@unifr.ch +41 79 905 23 19

Dozentin: Doktorassistentin Silvia Staubli und Dr. Eveline Manuela Odermatt

Abgabetermin: 20. Januar 2023

Erstsprache: Französisch
Proseminar Sozialstaat und Wohlfahrtsregime Fanny Dumont
Seminararbeit FS22

Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG .................................................................................................... 3

WAS VERSTEHT MAN UNTER DEVIANZ UND WAS UNTER NORMEN?........................ 3


SOZIOLOGISCHE THEORIEN ZUR DEVIANZ .............................................................. 4
WAS VERSTEHEN WIR UNTER SOZIALER KONTROLLE? ........................................... 5
LEITENDE FRAGE ................................................................................................... 6

2. DIE ROLLE DES STAATES ............................................................................... 7

ROLLE WÄHREND DER GOLDENEN DREISSIG JAHRE ................................................ 7


ROLLE AB DEN 1970ER JAHREN ............................................................................. 7
WARUM WERDEN MANCHE MENSCHEN VON DER GESELLSCHAFT ALS UNGEEIGNET
ANGESEHEN? .......................................................................................................... 9
WIE WIRD MAN DEVIANT? .................................................................................... 12

3. WARUM WIRD TROTZ ALLER STAATLICHER UNTERSTÜTZUNG DIE


VULNERABILITÄT NICHT VERRINGERT UND ABWEICHENDES VERHALTEN NICHT
REDUZIERT? ........................................................................................................ 13

DER AUFSTIEG DER UNSICHERHEITEN ................................................................. 13


DAS KONZEPT DER " MENSCHENWÜRDIGEN GESELLSCHAFT ".............................. 15
DIE VULNERABILITÄT NEU BETRACHTEN ............................................................. 16

4. SCHLUSSFOLGERUNG.................................................................................... 20

5. LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................. 22

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1. Einleitung

Die Vulnerabilität ist ein Konzept, das den Zustand einer Person oder einer Gruppe von Personen
beschreibt, die potenziellen Risiken oder Schäden ausgesetzt sind. Es kann auf verschiedene Beriche
wie Gesundheit, Wirtschaft, Sicherheit und soziale Beziehungen angewendet werden. Die Vulnerabilität
kann durch zahlreiche Faktoren wie Armut, soziale Ausgrenzung, Ungleichheit, Diskriminierung,
Klimawandel, bewaffnete Konflikte und humanitäre Krisen verursacht werden. Gefährdete Menschen
haben möglicherweise einen besonderen Bedarf an Schutz und Unterstützung, um diesen Risiken zu
begegnen, und es ist die Aufgabe von Behörden und Organisationen der Gesellschaft. Die Vulnerabilität
wird häufig als Schlüsselkonzept für das Verständnis von Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der
Gesellschaft angesehen. Denn die Beobachtung, wie die Gesellschaft mit schutzbedürftigen Menschen
umgeht, kann Aufschluss über die Strukturen, Normen und Werte geben, die die Gesellschaft
bestimmen. Verletzliche Menschen sind häufig am stärksten von Ungleichheit und Ungerechtigkeit
betroffen, und ihre Behandlung kann systemische Probleme in der Gesellschaft aufdecken. Dies kann
auch diskriminierende Einstellungen und Verhaltensweisen der Gesellschaft gegenüber Menschen, die
als verletzlich gelten, aufzeigen, wie Stigmatisierung, Marginalisierung oder auch Ausgrenzung.
Heute muss man feststellen, dass sich der Begriff der Vulnerabilität mit dem Konzept der Devianz
überschneidet. Tatsächlich kann eine verletzliche Person als deviant angesehen werden, verletzlich
durch ihre Verletzlichkeit und ihren Mangel an Schutz, deviant durch ihre Identität und ihr Verhalten.
Daher halten wir es für sinnvoll, in der Einleitung einige Begriffe zu definieren, bevor wir in unseren
Überlegungen weitergehen.

Was versteht man unter Devianz und was unter Normen?

Im Gegensatz zum Gehorsam bedeutet Devianz, dass es "einen Mangel an Übereinstimmung mit einer
bestimmten Norm oder einem Satz von Normen gibt, die von einer ausreichend großen Anzahl von
Personen in einer Gemeinschaft oder Gesellschaft akzeptiert werden" (Giddens 1999: 189). Der Begriff
"Norm" stammt ursprünglich aus dem Lateinischen und bedeutet: Winkelmaß, Richtschnur , Regel
(CNRTL: 2022). Was wir hier bemerken können, ist, dass durch die Etymologie dieses Wortes eine
gewisse Strenge und latente Unflexibilität in seiner Funktion als Sprecher der "Standards" des sozialen
Verhaltens beweist. Die Rolle der Normen besteht darin, zu sagen, wie etwas beschaffen sein sollte oder
wie diese Sache von allen respektiert werden sollte. Es handelt sich dabei um "normative Urteile", die
sich auf das Moralische beziehen, im Gegensatz zu "Tatsachenurteilen", auch "Werturteile" genannt, die
sich eher auf persönliche und subjektive Urteile beziehen. Ein weiterer wichtiger Begriff, der hier
erläutert werden muss, ist, dass die Norm von der Gesellschaft geschaffen wird und das Verhalten jedes
einzelnen Mitglieds dieser Gesellschaft beeinflusst. Diese soziale Normativität und damit diese Regeln

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implizieren eine bestimmte Struktur, die sich in sozialen Verpflichtungen manifestiert. Emile Durkheim
(1858 -1917) definiert diese Struktur durch soziale Tatsachen. Seiner Meinung nach : « Eine soziale
Tatsache ist jede mehr oder weniger bestimmte Handlungsweise, die die Fähigkeit besitzt, auf das
Individuum einen äußeren Zwang auszuüben; oder die allgemein im Bereich einer bestimmten
Gesellschaft auftritt, während sie ein von ihren individuellen Erscheinungsformen unabhängiges
Eigenleben führt » (Durkheim 2007: 114). Die Hauptfunktion sozialer Normen besteht also darin, den
"freien Willen" in den Beziehungen zwischen den Menschen einzuschränken. Normierung bedeutet
dann, das erwünschte Verhalten der Gesellschaftsmitglieder zu institutionalisieren sowie verbindliche
Regeln und Standards festzulegen. Indem der Staat bestimmte Normen auswählt, schließt er de facto
andere Möglichkeiten aus. Jede Normierung ist also mit einer Auswahl verbunden, die von der
individuellen Besonderheit absehen muss und auch den Werten entsprechen muss, die von der großen
Mehrheit geteilt werden. Dieser Punkt wirft eine ungleiche soziale Realität auf, da die Wahl der Normen
oft von Personen mit einem hohen Status in der Gesellschaft diktiert wird, deren Lebensstil auferlegt
wird und nicht mit allen Bereichen der Gesellschaft übereinstimmt. Wenn ein Mensch sich nicht an
diese strukturellen Regeln hält, wird er von der Gesellschaft und seinen Mitmenschen als abweichend
betrachtet.

Soziologische Theorien zur Devianz

Bis heute gibt es zwei Hauptströmungen des Denkens in Bezug auf Devianztheorien, eine ätiologische
und eine interaktionistische. Wir haben uns entschieden, nur über diese beiden Theorien zu sprechen,
aber es gibt noch weitere, da das Phänomen der Devianz seit langem ein zentrales Thema des
soziologischen Denkens ist.
Für die erste Denkrichtung können wir hier als Beispiel Emile Durkheim und sein wenig bekanntes
Buch " Lektionen über Kriminalsoziologie"1 anführen. In diesem Buch behandelt Durkheim das
Verbrechen (und damit die Devianz), indem er nacheinander versucht, die Natur, die Entwicklung, die
Faktoren, die Typologie und schließlich die möglichen Heilmittel zu erklären. Es geht hier also um die
Pluralität der abweichenden Verhaltensweisen von Individuen angesichts der normativen Struktur der
Gesellschaft (Béra 2022:6-8).
Im Gegensatz zu diesem Denkansatz gibt es auch die sogenannten "modernen" interaktionistischen
Theorien, nach denen der Einzelne mehr tut, als nur eine sozial akzeptierte Norm zu übertreten (
ETH:1994). Für Howard Becker ist Devianz immer das Ergebnis einer Interaktion: Sozial geprägtes
Verhalten entsteht zum Teil aus der Art des Verhaltens des Akteurs und zum Teil aus dem, "was andere
daraus machen". Seiner Meinung nach ist es daher unangemessen, nur aufgrund einer psychologischen
Besonderheit zu inkriminieren. Nach Ansicht des Autors muss sich die Devianz auch mit den

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Es ist in Wirklichkeit eher eine Sammlung von Notizen, die ein Student machte, als Emile Durkheim diese
Vorlesung zwischen 1889 und 1890 hielt.

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Bedingungen befassen, unter denen Normen eingeführt werden, denn manchmal sind es gerade diese
Normen, die eine abweichende Kultur hervorrufen (Becker 1963: 8-9).

Heute versuchen viele Soziologen, eine Brücke zwischen diesen beiden gegensätzlichen Perspektiven
zu schlagen, indem sie den Fokus auf andere Themen wie Anthropologie, soziokulturelle Positionen
oder auch gesellschaftliche Verwundbarkeit legen( ETH: 1994).Was diese Theorien und
Fragestellungen jedoch unweigerlich aufwerfen, sind umfassendere Fragen nach den Grundlagen der
sozialen Ordnung und ihren ständigen Herausforderungen, nach der soziologischen Untersuchung der
sozialen Kontrolle und nach der Untersuchung sozialer Probleme.

Was verstehen wir unter sozialer Kontrolle?

Als Reaktion auf abweichendes Verhalten wird der Staat also mit Sanktionen reagieren, mit dem Ziel,
Konformität zu erzwingen. Wie bei den Normen muss man bei den Sanktionen neben der regulierenden
Funktion auch die handlungsleitende Funktion sehen, d. h. nicht nur die Funktion der Herstellung von
Konformität der normativen Handlungsstruktur, sondern auch ihre Orientierungsfunktion und ihre
Ordnungsstruktur (Schäfers 2016 : 35).
Was wir verstehen müssen, wenn wir von sozialer Kontrolle sprechen, ist, dass sie « ...alle Strukturen,
Prozesse und Mechanismen (...) umfasst, mit deren Hilfe eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe
versucht, ihre Mitglieder dazu zu bringen, sich an ihre Normen zu halten » (Korte und Schäfers 2008:
108)

Diese Konformität kann erreicht werden, indem ein als positiv angesehenes Verhalten gelobt wird. In
diesem Fall spricht man von positiven Sanktionen. Bei einer Abweichung von einem als wünschenswert
angesehenen Verhalten wird das breite Spektrum von Missbilligung bis hin zur Inhaftierung als negative
Sanktion bezeichnet. Ähnlich wie die Vielfalt der Normen und die Differenzierung der Erwartungen an
die Träger sozialer Rollen lassen sich auch Sanktionen auf unterschiedliche Weise klassifizieren, z. B.
nach ihrer Erwartbarkeit, ihrer Verbindlichkeit oder ihrer Ausdrucksform (mündlich, schriftlich, nur
durch Gestik, Mimik usw.) ( Schäfers 2016 : 34).

Aus diesem Grund ist die soziale Kontrolle ein zentrales Element aller Prozesse der sozialen Integration,
da sie als offizieller Regulator der Bevölkerung und als Richter über das menschliche Verhalten fungiert.

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Leitende Frage

Da die Frage der Vulnerabilität das zentrale Element des Seminars war, erscheint es wichtig, im
Hauptteil dieses Textes ein Kontinuum zu bilden. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Sichtweise
des Staates seit den 1980er Jahren in Bezug auf das Bild des Straftäters von einem unvollständigen
Individuum, dessen Defizite aufgrund sozialer und gesellschaftlicher Benachteiligung verbessert und
ausgeglichen werden müssen (Idee der Rehabilitation), zu einer individuellen Verantwortung (soziale
Ursachen werden nicht mehr für die Kriminalität verantwortlich gemacht) gewandelt hat, besteht das
Ziel dieser Arbeit darin, diese Entwicklung kritisch zu betrachten und ihre Berechtigung in Frage zu
stellen. Denn in den zahlreichen zeitgenössischen Werken, die sich mit sozialen Fragen beschäftigen,
weisen Begriffe wie die Gesellschaft der Leere (Barel 1982: 1984:1990), die zersplitterten
Gesellschaften (De Bal 1984, 1985) oder auch der Anstieg der Unsicherheiten (Castel 2009) auf eine
Realität hin, in der die Vulnerabilität in unserer modernen Gesellschaft noch sehr präsent ist und viele
Wissenschaftler in Frage stellt. 1990 fasste Barel die zentrale Frage und Herausforderung, die in dieser
Problematik steckt, meisterhaft zusammen:
« In einer Situation, in der das vielleicht schwerwiegendste Problem nicht die Marginalität einiger
Menschen gegenüber der Gesellschaft ist, sondern die Marginalität der gesamten Gesellschaft
gegenüber sich selbst, welchen Sinn hat es, so zu tun, als ob die zentrale Frage die individuelle
Unangepasstheit an das Soziale bleibt ? » (Barel 1990 : 98 )

Um zu versuchen, eine umfassende Antwort auf diese Fragestellung zu geben, werden im


Zusammenhang mit dem Begriff der Vulnerabilität folgende konkrete Fragen gestellt:
-Welche Rolle spielt der Staat?
-Warum gibt es Menschen, die als unangepasst gelten? Woher kommen sie?
-Wie werden Menschen abweichend?
- Warum wird trotz aller staatlicher Unterstützung die Vulnerabilität nicht verringert und abweichendes
Verhalten nicht reduziert? Können wir anders denken ?

Um diese Fragen - soweit möglich - zu beantworten, werden wir zunächst die Rolle des Staates seit dem
Ende des Zweiten Weltkriegs definieren. In einem zweiten Schritt werden wir uns auf der Grundlage
einer Literaturrecherche mit der Frage beschäftigen, warum bestimmte Menschen im Vergleich zum
Rest der Gesellschaft als unpassend angesehen werden und welche Mechanismen dazu führen, dass
jemand abweichend wird. Drittens werden wir kurz auf einen Denkanstoß eingehen, warum
Vulnerabilität und abweichendes Verhalten fortbestehen. Schließlich werden wir eine Diskussion
zwischen mehreren Wissenschaftlern vorschlagen, um die Überlegungen für konstruktive Analysen zu
öffnen.

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2. Die Rolle des Staates

Rolle während der goldenen dreissig Jahre

Um die Einhaltung der festgelegten sozialen Ordnung zu gewährleisten, wird der Staat Normen
anwenden, um eine gewisse Konformität zu erreichen. Die Rolle des Staates und die Art der Sanktionen
haben sich jedoch im Laufe der Zeit verändert. Bis in die 1970er Jahre waren Kriminalität und Gewalt
relativ gering (Staubli 2021). Die Gründe dafür sind, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeit der
"goldenen dreissig Jahre" und die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates den Bürgern eine gewisse
Sicherheit bieten. In dieser Zeit wurde die Industrialisierung immer stärker und die Hoffnung auf ein
besseres Leben führte zu einer starken Landflucht (Fellay 2021). Die Gesellschaft basiert auf der
Lohnarbeit, was bedeutet, dass der Lohn Zugang zu Rechten verschafft und die Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben sowie die Unabhängigkeit des Einzelnen ermöglicht. Die Lohnintegration wird
zu dem, was Robert Castel als "Unterstützung" für die Integration bezeichnet. Die Lohngesellschaft
bietet somit das, was der Autor als "Stütze, um ihre Unabhängigkeit zu festigen" bezeichnet (Er spricht
hier von der Rente) ( Châtel und Soulet 2003: 57). “ Diese Entwicklung des sozialen Eigentums hat die
Verallgemeinerung oder, wenn man es vorzieht, die Demokratisierung eines positiven Status des
Individuums in der Lohngesellschaft ermöglicht” (Castel 2003).
Parallel zu dieser Konsumgesellschaft wird durch die Entwicklung der öffentlichen Dienstleistungen
und der Sozialversicherung ein sogenanntes Reparaturschema eingeführt, da die Mehrheit der
Bevölkerung in ein Resozialisierungsideal eingebunden ist, in dem die Menschen vor den
Unwägbarkeiten des Lebens geschützt sind und die Rolle des Wohlfahrtsstaates sowohl in der Betreuung
von Straftätern als auch in deren Bestrafung und Kontrolle besteht. Wenn eine Person nicht ausreichend
integriert ist, ist es die Pflicht des Sozialarbeiters (und damit des Staates), einzugreifen und diese
Fehlfunktion zu beheben, indem er seine spezifischen beruflichen Fähigkeiten einsetzt. Umfassende
Betreuung und Aufbau eines Vertrauensklimas sind die Schlüsselbegriffe der vorgeschlagenen
Begleitung (Dartiguenave 2010: 118).

Rolle ab den 1970er Jahren

Ab den 1970er Jahren führen jedoch verschiedene Faktoren zu einer Krise des Sozialstaats und einem
Anstieg der Kriminalität. Um nur einige Faktoren zu nennen, können wir z. B. von Veränderungen der
Familienstrukturen, der demografischen Alterung oder Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sprechen.
Mehrere Autoren weisen auf die Schwierigkeiten hin, die diese Faktoren für die Bevölkerung mit sich
bringen:

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"Diese Veränderungen in der Familienstruktur haben weitreichende Auswirkungen auf die


Funktionsweise des Sozialstaats, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg strukturiert wurde und sich auf die
Absicherung des Einkommens des Familienvaters konzentrierte. Die Instabilität der Ehe und die
zunehmende Beteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt haben dieses Modell überholt. Diese
Entwicklungen erfordern eine Individualisierung der sozialen Rechte, die Gewährung von Leistungen,
die nicht mehr vom Familienstand abhängig sind, und eine "Externalisierung der Haus- und
Familienarbeit", worunter die Organisation der Betreuung von Kindern, Behinderten oder
pflegebedürftigen älteren Menschen zu verstehen ist." (F. Bertozzi, G.Bonoli, B. Gay-des-Combes 2008:
37)

Gosta Esping-Andersen weist auf eine Herausforderung hin, die durch die Alterung der Bevölkerung
verursacht wird und an die man weniger spontan denkt:

« Der Zusammenprall der Generationen. "Da der Durchschnittswähler älter ist, wird die Wählerschaft
zunehmend zugunsten der Interessen der Rentner verzerrt sein. Tatsächlich nähert sich der
Durchschnittswähler bereits den 50er Jahren. Wenn man dann noch bedenkt, dass ältere Bürger eher
politisch aktiv sind und die zukünftigen Jugendkohorten - aufgrund der niedrigen Fertilität - eher klein
sind, ist es verständlich, dass die politische Landschaft deutlich zugunsten der Seniorenlobby ausfällt.
Dies könnte zu einem Nullsummenszenario führen: Großzügigkeit gegenüber den Alten,
Unterinvestitionen auf Kosten von Kindern, Schulen und Familien » ( Esping-Anderson 2008: 107).

Schließlich können wir in Bezug auf die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt die Tertiärisierung der
Beschäftigung (oder die strukturelle Arbeitslosigkeit) erwähnen. Dieser Sektor ist nicht in der Lage, den
Überschuss an Arbeitskräften aus der Industrie zu integrieren, die aufgrund der Automatisierung und
der Reduzierung der industriellen Arbeit ihren Arbeitsplatz verlieren. Zwar schafft der
Dienstleistungssektor Arbeitsplätze, aber "das Hindernis bestand eher in dem qualitativen
Missverhältnis zwischen den beruflichen Anforderungen der im Dienstleistungssektor geschaffenen
Arbeitsplätze und den Fähigkeiten der vom Industriesektor ausgegrenzten Personen. Die Arbeitnehmer,
die auf der Strecke bleiben, erlegen den Sozialstaaten somit neue Zwänge auf, insbesondere im Hinblick
auf die Arbeitslosigkeit "(F. Bertozzi et al. 2008: 35)

So führt diese Diskrepanz zwischen dem, was der Staat vermitteln will, und den Schwierigkeiten, mit
denen die Bevölkerung konfrontiert ist (allgemeine Prekarisierung der Beschäftigung, Anstieg der

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Arbeitslosigkeit), zu seinem Niedergang. Die Bürger ( und vor allem die Jugendlichen) stellen die
Prinzipien der staatlichen Institutionen in Frage, und es entsteht ein Klima des Misstrauens und des
Vertrauens (Staubli 2021). Um dieser Situation entgegenzuwirken, ändert die vom Staat ausgeübte
soziale Kontrolle ihren Ansatz und tritt in eine neue Ära ein: die Ära der Kultur des Kontrolle (Garland
2008:127f zit. Nach Schlepper 2014: 11). Mit der Verbreitung der "Nothing Works"-These wird die
Ineffizienz des Resozialisierungsansatzes propagiert und führt zu einer grundlegenden Infragestellung
der wohlfahrtsstaatlichen Behandlung von Kriminalität. Diese Entwicklung wird auch als "The New
Punitiveness" bezeichnet (Pratt , Brown , Hallsworth and Morrison 2005) Dieser Wandel wird von
Wacquant (1998) als eine Entwicklung "vom wohlwollenden zum strafenden Staat" beschrieben, in
deren Folge die Kriminal- und Sicherheitspolitik zu einer wichtigen Bühne wird, auf der der Staat
Sicherheitsprobleme " in den Griff" nehmen kann. Neben dem Trend zu historischen Höchstständen bei
den Haftquoten zeigt er sich auch im "Niedergang des Sanierungsideals"(Garland 2008 : 50 zit nach
Schlepper 2014 : 12) - in der Abkehr vom Ziel des Strafvollzugs, nämlich der Resozialisierung und
Wiedereingliederung des Straftäters in die Gesellschaft, hin zu einem bloßen Vollzug der Verwahrung.
Folglich sollte der Schutz der Bevölkerung nicht mehr durch die Änderung, sondern durch die
Unschädlichmachung des Straftäters durch Entfernung aus der Freiheit erfolgen. Carrier ( 2010) spricht
in diesem Zusammenhang auch von "post-disciplinary penaltiy". Er bezieht sich damit auf Foucault und
meint, dass das Gefängnis nicht mehr auf Normalisierung abzielt. Stattdessen wird der Schutz der
Bevölkerung zum Hauptziel der Kriminalpolitik.

In diesem ersten Teil haben wir die Ambivalenz festgestellt, die zwischen der Rolle des Staates als
aufwertende Institution, die die Autonomie der Menschen fördert und ihre dauerhafte
Wiedereingliederung in die Gesellschaft anstrebt, und der strengen sozialen Kontrolle und den
Sanktionen besteht, mit denen die Menschen bestraft werden, die als abweichend angesehen werden,
ohne sie zu resozialisieren. Auf diese Weise schützt der Staat nur einen Teil der Bevölkerung, nämlich
den, der als der Mehrheit entsprechend angesehen wird.

Warum werden manche Menschen von der Gesellschaft als ungeeignet angesehen?

Die Ungewissheit der Zukunft speist sich heute nicht nur aus der Unsicherheit im Zusammenhang mit
dem Arbeitsmarkt. Unsere Gesellschaften durchlaufen wichtige und tiefgreifende Veränderungen. So
erfüllen die Institutionen nicht mehr die Schutzfunktion, die sie früher in modernen Gesellschaften
hatten, und vor allem sind sie nicht mehr sinnstiftend. Die Menschen sehen sich im Laufe der Jahre mit
dem Niedergang bestimmter prägender Normen konfrontiert, wie etwa der Stellung der Familie, der
Rolle der Gemeinschaft, der Arbeitsstruktur oder der Stellung der Religion. Darüber hinaus hat die

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Aufgabe der großen Ideologien dazu geführt, dass es keinen gemeinsamen Sinn mehr gibt, der die
gesamte Gesellschaft verbindet. Der Sinn wird also zerstückelter und individualistischer.

Wir alle sind aufgefordert, unser Leben erfolgreich zu gestalten, ein erfülltes Sexualleben zu leben,
Risiken einzugehen und uns dabei zu schützen und uns in verschiedenen Sphären zu entfalten. So setzt
eine berufliche Erfüllung ("Karriere machen") eine erhöhte Mobilität voraus, d. h. man muss physisch
und psychisch fast vollständig verfügbar sein. Um Karriere machen zu können, muss man sich mit Leib
und Seele hingeben und engagieren können, was im Widerspruch zu der Aufforderung steht, sich in der
Familie zu entfalten, weil der Aufbau einer Familie mehr Bindungen, mehr Verwurzelung voraussetzt.
Darüber hinaus kann dies auch im Widerspruch zur Selbstverwirklichung stehen, die voraussetzt, dass
man Zeit für sich selbst usw. hat (Fellay 2021). Während die Gesellschaft die Menschen also mit der
Aufforderung "Sei du selbst" dazu auffordert, sich aus der Umklammerung des Sozialen zu befreien,
stehen sie in Wirklichkeit vor einem mit Hindernissen gespickten Weg zur Selbstverwirklichung.
Erstens haben sie je nach ihrer Sozialisation oder ihrer sozialen Herkunft nicht alle die Mittel, um auf
diese Aufforderungen zu reagieren. Zweitens, weil diese Aufforderungen miteinander in Widerspruch
stehen.

Danilo Martucelli (2007) beschreibt vier große Herausforderungen, durch die sich das moderne
Individuum in seinem Individuationsprozess bewährt. Da ist zunächst die Herausforderung in der
Schule, die Selbstvertrauen oder dauerhafte Demütigung bewirken kann. Dann kommt die berufliche
Herausforderung, die dem Individuum je nach seinem beruflichen Engagement symbolische und
materielle Anerkennung (Gehalt) verschaffen kann. Die dritte Herausforderung ist die räumliche (oder
städtische). Sie verkörpert sich zwischen einer Aufforderung zur Mobilität und der Notwendigkeit für
den Einzelnen, eine gewisse Verwurzelung in der Nähe seiner selbst zu bewahren. Die letzte
Herausforderung, die der Familie, ist durch die Aufforderung gekennzeichnet, Selbstverwirklichung mit
der Hingabe an die Familie in Einklang zu bringen.
So entspricht jede Herausforderung einer Spannung, einem Widerspruch, dem sich der Einzelne stellen
muss. Diese Herausforderungen laufen über Institutionen, über die Beziehung des Einzelnen zu anderen,
und der Einzelne muss durch seine Herausforderungen weniger Gehorsam und Unterwerfung gegenüber
der Institution als vielmehr Flexibilität und Anpassungsfähigkeit beweisen. In Martucellis Werk ist es
wichtig zu betonen, dass, obwohl der Einzelne seine Herausforderungen individuell und nach bestem
Wissen und Gewissen bewältigen muss, diese Herausforderungen auf kollektive Herausforderungen
verweisen, die der Gesellschaft inhärent sind.
Wir haben es also mit einer neuen Ambivalenz zu tun, mit der Utopie auf der einen Seite, dass jeder
Bürger die gleichen Fähigkeiten besitzt, um " Meister " seines Lebens zu sein, und der Realität auf der
anderen Seite, dass die Individuen nicht die gleichen Startchancen haben und somit nicht auf der

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gleichen Stufe stehen. Mit anderen Worten: Nicht jeder ist ein Individuum, denn Menschen mit besseren
Startchancen sind von Natur aus eher berechtigt, sich in die Gesellschaft zu integrieren.

Für Robert Castel und Haroche (2001) sind Supports die objektiven Bedingungen, die es einem
Individuum ermöglichen, ein Individuum zu sein. Er sagt: "Aus soziologischer Sicht gibt es Individuen
und Individuen, weil die Individuen unterschiedlich mit den notwendigen Grundvoraussetzungen
ausgestattet sind, um sich in der Gesellschaft als Akteure zu verhalten, die in der Lage sind, ihre
Unabhängigkeit aus eigener Kraft zu sichern" (Castel, Haroche 2001: 216 ). Danilo Martucelli gibt uns
eine ausführlichere Definition, um besser zu verstehen, was Supports konkret sind: "Supports
bezeichnen eine Gesamtheit von Faktoren, materiell oder symbolisch, nah oder fern, bewusst oder
unbewusst, aktiv strukturiert oder passiv erlitten, immer real in ihren Auswirkungen, und ohne die es,
genau genommen, kein Individuum geben könnte." Es kann sich also um Institutionen handeln, aber
auch um verinnerlichte Werte, Einstellungen, verinnerlichte soziale Verhaltensweisen, Normen etc.
Zusammengefasst sind es "die - bewussten oder unbewussten - Haltungen, die das Individuum
einnimmt, um sich selbst das zu geben, was es braucht, um eine bestimmte Situation zu bewältigen". (
Martucelli 2017)

Diese objektiven Supports sind jedoch nicht zeitlich unveränderlich. In den traditionellen Gesellschaften
war Gott einer der ersten Supports, während in der Lohngesellschaft die sozialen Rechte und die
erworbene Solidarität an die Stelle dieser ersten Supports getreten sind. Wenn es dem Einzelnen also
nicht gelingt, sich zu integrieren, ist er selbst schuld (z. B. daran, dass er langzeitarbeitslos ist oder sich
scheiden lässt), weil er es nicht geschafft hat, sich dem zeitgenössischen Lebensideal anzupassen. Wenn
die Lebensbedingungen unsicherer werden (unsichere Verträge, befristete Arbeitsverträge usw.), sind
die Supports und damit die Fähigkeit, diese Lebensentwürfe zu verwirklichen, gefährdet (Fellay 2021).

Aus diesem Grund sind die heutigen Gesellschaften von einer ungewissen Zukunft geprägt
(Gesundheitskrise, Naturkatastrophen, Terrorismus, Umweltkatastrophen usw.). Diese strukturelle
Unsicherheit wird existenziell und nährt eine Müdigkeit des "Selbstseins". Diese für die heutige
Gesellschaft charakteristische Pathologie ergibt sich aus den Aufforderungen zu Leistung, Erfolg und
Selbstverantwortung. Es wird erwartet, dass der Einzelne mit begrenzten Mitteln und brüchig
werdenden Supports immer mehr leistet. Es handelt sich also um einen endlosen Leistungswettlauf, in
dem sich der Einzelne erschöpft, dessen Scheitern als persönlich angesehen wird und in dem die
persönlichen Fähigkeiten des Einzelnen und nicht die Anweisung, leistungsfähiger zu sein, in Frage
gestellt wird. Hier wird also nicht berücksichtigt, dass jedes Individuum und der Platz, den es in der
Gesellschaft einnehmen kann, von spezifischen (wirtschaftlichen, kulturellen, symbolischen,
schulischen usw.) Kapitalien abhängt, die individuelle Ressourcen sind. Wir können also sagen, dass

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die Gesellschaft nicht jeden integriert (Eingliederungskrise) und dass es eine Ambivalenz zwischen
individueller Verantwortung und einer schlechten Konjunktur gibt. In diesem unsicheren Kontext wird
die Devianz enthüllt und nimmt zu, da die Menschen, die nicht am Produktionsprozess teilnehmen
können - "die Unproduktiven" -, abgelehnt werden und zu "Nutzlosen der Welt" werden (Castel 1995)

Wie wird man deviant?

Laut Howard Becker (1963) lässt sich der Begriff der Karriere auf abweichendes und kriminelles
Verhalten anwenden, indem man "den Weg oder die Fortschritte einer Person im Laufe des Lebens(oder
eines bestimmten Teils davon)" betrachtet. Der Vorteil dieses Konzepts besteht darin, dass es sowohl
soziale Faktoren als auch die individuelle Wahrnehmung der Situation berücksichtigt. Er ermöglicht es,
ein Verhalten als Ergebnis einer Reihe von miteinander verbundenen Schritten zu verstehen, obwohl die
Dauer, die Organisation und die Kontexte dieser Schritte zwischen den Individuen variieren
können. Howard Becker stellt fest, dass in jeder Phase der Karriere einige Menschen aufhören, während
andere weitermachen und sogar in der Karriere vorankommen, indem sie in die nächste Phase eintreten,
je nachdem, wie die Handlungen aufeinander folgen. So kann ein Element, das in einer Phase der
Karriere eine entscheidende Rolle spielt, in einer anderen Phase eine völlig unbedeutende Rolle spielen
- und umgekehrt. Je weiter eine Person in ihrer Karriere voranschreitet, desto eingeschränkter sind die
Wahlmöglichkeiten, die sich ihr bieten, was auf eine Art Trichtereffekt zurückzuführen ist: "In dem
Maße, wie eine Person in ihrer 'Karriere' voranschreitet, neigen die Entscheidungen, die sie bereits
getroffen hat, dazu, die noch offenen Alternativen einzuschränken" (Becker 1963: 37 ).

Darüber hinaus spielt auch der Prozess der Etikettierungen eine wichtige Rolle. Denn die Tatsache, dass
man - zu Recht oder zu Unrecht - als abweichend bezeichnet wird, ist ein zentrales Element für das
Vorankommen in der Karriere. Je mehr sich also eine Person in einer abweichenden Laufbahn engagiert,
desto größer ist das Risiko, als abweichend erkannt und kategorisiert zu werden. Diese beiden
Dimensionen befruchten sich also gegenseitig. Das bedeutet also, dass die Delinquenz zwar einen
autonomen Ursprung haben kann, die Etikettierung aber oft früh einsetzt und eine diffuse Rolle bei der
Verfolgung abweichender Aktivitäten spielt. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass diese
Etikettierung selten einseitig auferlegt wird, sondern vielmehr Gegenstand einer Ko-Konstruktion durch
die Beziehungen und Interaktionen zwischen den Individuen ist. Das Ergebnis ist häufig Stigmatisierung
(Becker 1963 :17). Etymologisch bezeichnet das Stigma eine dauerhafte Markierung auf der Haut (
CNRTL 2022). Goffman (1963) wandelt den Begriff in ein soziologisches Konzept um, indem er seine
Definition auf "jedes abwertende soziale Attribut, ob körperlich oder nicht" ausdehnt ( Goffman 1963:
57). Wie die Etikettierung als abweichend wird auch das Stigma in der Interaktion mit anderen definiert.
Goffman beobachtet also, dass es ein ganzes Spiel möglicher Identitätsverhandlungen gibt, solange das

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Stigma nicht vor aller Augen enthüllt wird, d. h. solange ein Individuum noch nicht offen diskreditiert
ist, sich aber aufgrund seiner Eigenschaften oder seines Verhaltens als potenziell diskreditierbar erweist.

Becker (1963) erweitert diese Perspektive, um einen umfassenderen Einblick in die Art und Weise zu
erhalten, wie Menschen als abweichend stigmatisiert werden. Für ihn ist es wichtig, zwei Arten von
sogenannten "Moralunternehmern" zu unterscheiden: diejenigen, die zur Schaffung von Normen
beitragen, einerseits und diejenigen, die diese Normen verbreiten und durchsetzen, andererseits (Becker
1963: 147 -148 ). Ein letzter Punkt, den es hier zu betonen gilt, ist, dass die herrschenden Klassen umso
weniger Chancen haben, als abweichend wahrgenommen zu werden, je mehr es ihnen gelingt, die
Vorstellung zu verbreiten, dass die in ihrem sozialen Umfeld geltenden Normen universell sind,
während sie gleichzeitig über die Ressourcen verfügen, ihre eigenen Abweichungen zu maskieren und
jedem Versuch der Etikettierung zu widerstehen.

3. Warum wird trotz aller staatlicher Unterstützung die Vulnerabilität nicht


verringert und abweichendes Verhalten nicht reduziert?

Der Aufstieg der Unsicherheiten

Robert Castel (2009) gibt uns in seinem Buch "Der Anstieg der Unsicherheiten" einen Denkanstoß,
indem er beschreibt, was er als "Risikogesellschaft" bezeichnet hat. So meint der Autor: "Eine
Gesellschaft, die immer mehr zur "Gesellschaft der Individuen" wird, ist auch eine Gesellschaft, in der
die Ungewissheit virtuell exponentiell zunimmt, weil es an kollektiven Regulierungen mangelt, um alle
Unwägbarkeiten des Lebens zu beherrschen. Es ist daher eine Gesellschaft, in der "der Bezug auf das
Risiko allgegenwärtig wird und zu einer totalisierenden Darstellung der heutigen Gesellschaft führt"
(Castel 2009 :31 ). Wenn der Autor von einer "Risikogesellschaft" spricht, will er damit sagen, dass wir
in unsicheren Zeiten leben. So schlägt Robert Castel drei Risikokonstellationen vor: Die erste ist um den
Begriff des” sozialen Risikos” herum organisiert, die zweite spricht von den "Risikopopulationen" und
die letzte umfasst die "neuen Risiken" (Castel 2009 :32-36). Die erste Konstellation, die sich nach dem
Zweiten Weltkrieg und seinen dramatischen Folgen für Europa demokratisiert hat, besteht in der
Entstehung der Wohlfahrtsstaaten und dem Aufbau einer "Versicherungsgesellschaft". So war die
Bevölkerung durch die Einführung von Sozialversicherungen wie der Pflichtversicherung oder der
Erwerbsausfallversicherung einige Jahrzehnte lang teilweise abgesichert. Eine der wichtigsten Folgen
der gegenwärtigen "großen Transformation" ist jedoch, dass sie schwächer wird. In der Tat stehen die
Systeme zur Risikoabsicherung heute vor zwei großen Herausforderungen. Die erste besteht darin, dass
die Massenarbeitslosigkeit und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse nicht nur die Finanzierung
des weitgehend auf Lohnbeiträgen basierenden Systems gefährden, sondern auch die
Allgemeingültigkeit seiner Struktur selbst in Frage stellen, da ein wachsender Teil der Bevölkerung, der

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nicht erwerbstätig ist oder sich in sehr unsicheren Arbeitsverhältnissen befindet, nicht mehr durch diese
Form der Risikoübernahme "abgedeckt" werden kann. Die zweite Herausforderung besteht darin, dass
in den letzten zwanzig Jahren neue soziale Risiken entstanden sind, wie das der Pflegebedürftigkeit
aufgrund der längeren Lebenserwartung, aber auch aufgrund der Faktoren, die zur Auflösung von
Familien führen.

So stellt das System der Risikodeckung bis heute die wirksamste Lösung dar, die zur Bekämpfung der
sozialen Unsicherheit gefunden wurde, aber diese Lösung ist heute sowohl in ihrer Finanzierung als
auch in ihrer Struktur gefährdet. Robert Castel meint jedoch: "Die Problematik der sozialen Risiken
kann weiterhin von diesem Rahmen aus gedacht werden, aber es gibt eine schwierige Debatte zu führen
und ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem, was unter die persönliche Verantwortung fallen kann,
und dem, was unter die nationale Solidarität bei der Deckung der sozialen Risiken fallen muss" (Castel
2009: 32)

Was die zweite Konstellation betrifft, so ist die Beobachtung der "Risikopopulationen" das Ergebnis der
Veränderung der Sichtweise während des 20. Jahrhunderts, bei der sich der Begriff der Gefährlichkeit
auf den des Risikos verlagerte. Für den Staat und seine Bevölkerung gibt es gefährliche
Bevölkerungsgruppen oder solche, die als gefährlich wahrgenommen werden und die eingeschränkt
oder eingesperrt werden müssen. Diese Interventionstechnologien sind jedoch schwerfällig, teuer und
haben keinen präventiven Wert, da die Bestrafung in der Regel erst dann erfolgt, wenn der Schaden
bereits eingetreten ist.
Wenn wir jedoch den Begriff des Risikos anstelle des Begriffs der Gefährlichkeit betrachten, können
wir auf ganz andere Weise argumentieren. Wenn wir nämlich in Begriffen wie "Risikofaktoren" denken,
bietet dies die Möglichkeit, ein unerwünschtes Ereignis zu antizipieren, bevor es eintritt. Robert Castel
sagt dazu: "Man stellt keine Gefahr fest, sondern konstruiert eine Kombination von Faktoren, die sie
mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Dieses Risikodenken fördert eine neue Art der
Überwachung, das vorausschauende Management der Bevölkerung aus der Ferne." (Castel 2009 :34) .
So verfügt der Staat heute über die Fähigkeit, eine virtuelle Gefahr in völliger Abwesenheit der Person,
die sie trägt, zu erkennen. Mit anderen Worten: "Risikopopulationen werden aus der Dekonstruktion
von Individuen konstruiert: Es gibt keine Individuen aus Fleisch und Blut mehr, sondern Wolken aus
statistischen Korrelationen" (Castel 2009: 34). Die Problematik, die sich daraus ergibt, ist, dass ein
solcher Risikoansatz gleichzeitig eine echte Veränderung der Art und Weise fördert, wie auf andere
Menschen eingewirkt wird, und dass dadurch eine ganz andere Art von Fachleuten oder Experten
entsteht (z. B. hat sich das Verhältnis zwischen Arzt und Patient oder die Rolle des Sozialarbeiters
verändert). Darüber hinaus können wir uns folgende Fragen stellen: Wenn es stimmt, dass " Vorsorge
besser ist als Nachsorge ", kann es zwar wertvoll sein, über die Möglichkeit eines unerwünschten

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Ereignisses informiert zu werden, bevor es eintritt, aber wer baut diese Daten auf, wer kontrolliert sie
und welche Ziele werden genau verfolgt?

Was schließlich die dritte Konstellation betrifft, so geht der Autor hier auf die Tatsache ein, dass die
Menschen begonnen haben, von "neuen Risiken" zu sprechen, vor allem, um die negativen Folgen zu
bezeichnen, die als Bumerang-Effekt der Entwicklungen in Wissenschaft und Technik und der
unkontrollierten Ausbeutung der Ressourcen des Planeten auftreten (Atomkatastrophe von Tschernobyl,
Treibhauseffekt, globale Erwärmung usw.).

Die Ausmerzung aller möglichen Risiken und damit der Mythos einer risikofreien Gesellschaft ist
jedoch unmöglich. Diese Verbreitung von Risiken hat dazu beigetragen, die Fähigkeit des Sozialstaats,
seine Funktion zu erfüllen, in Frage zu stellen. Doch wie kann es dann gelingen, ein Gleichgewicht
zwischen Autonomie und sozialer Kontrolle zu finden? Mehrere Autoren bieten uns weitere
Perspektiven für unsere Überlegungen.

Das Konzept der " menschenwürdigen Gesellschaft "

Dieses von Avishai Margalit (1996) behandelte Konzept bedeutet: "Eine anständige Gesellschaft ist
eine, die den Menschen, die durch ihre Institutionen ihrer Autorität unterworfen sind, Respekt
entgegenbringt " (Margalit 1996: 17). Der Autor unterscheidet zwischen einer anständigen Gesellschaft
und einer zivilisierten Gesellschaft. Der Unterschied besteht darin, dass bei der zivilisierten Gesellschaft
die Mitglieder sich nicht gegenseitig erniedrigen. Um zu verstehen, inwiefern Institutionen demütigend
sein können, muss man zunächst verstehen, worauf der Begriff der Beschämung abzielt und wie er in
der Funktionsweise von Institutionen auftritt. So kann der Begriff der Beschämung wie folgt verstanden
werden: "Beschämung liegt immer dann vor, wenn ein Verhalten oder eine Situation jemandem, ob
Mann oder Frau, einen triftigen Grund zu der Annahme gibt, dass er in seiner Selbstachtung verletzt
wurde " (Margalit 1996 : 21). Dem Autor zufolge ist Beschämung eine Emotion, die entsteht, wenn
eine Person uns aufgrund unserer Zugehörigkeit oder dessen, was wir sind, herabsetzt oder unsere
Selbstachtung verliert. Seiner Ansicht nach ist diese Emotion ein relevantes moralisches und politisches
Kriterium für die Bewertung von Gesellschaften.

Zu verstehen, wie eine Gesellschaft eine Person beschämt, ist jedoch komplexer als zu verstehen, wie
eine Person dies tun kann. Mit dieser Neuformulierung löst Margalit das Problem des subjektiven
Charakters der Beschämung, da die Einbeziehung unseres Rechts ein objektives Kriterium bietet:
Unabhängig von der subjektiven Empfindung des betroffenen Individuums liegt eine Beschämung durch
die Institutionen vor, wenn diesem Individuum sein Recht verweigert wird. Dies kann in verschiedenen
Gesellschaftsformen vorkommen, aber diejenige, die uns interessiert, ist diejenige, die bürokratische

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Effizienz fördert. Diese beruht auf der Behandlung von Individuen als unpersönliche Datensätze, was
bedeutet, dass ihre Zugehörigkeit zur Menschheit nicht mehr anerkannt wird. In der Tat verwandelt sich
die kleinste Geste in ein Zeichen der Zugehörigkeit oder des Ausschlusses, wodurch die
Ausgeschlossenen beschämt werden.

Dennoch: "Welches Element der menschlichen Natur, wenn es überhaupt eines gibt, rechtfertigt es, alle
Menschen zu respektieren, nur weil sie Menschen sind?" (Margalit 1996: 61).Die Antwort lautet: keins.
Denn unsere sogenannten menschlichen Eigenschaften, wie z. B. der Besitz von Vernunft, sind an sich
nicht respektwürdig: Nur unsere Werke können respektwürdig sein. Und nicht alle von uns vollbringen
die gleichen Werke. Das Einzige, was wir gemeinsam haben, ist die menschliche Natur, aber das ist ein
rein abstrakter Begriff, der auf keiner bestimmten Eigenschaft beruht und sich mit den Vorstellungen,
die wir uns von ihr machen, verändert. Margalit erklärt: "Gerade weil der Mensch keine feste, konkrete
Natur hat, besteht die einzige Möglichkeit, die Menschheit zu erhalten, nicht darin, sie zu kennen (das
ist unmöglich), sondern sie anzuerkennen (in dem doppelten Sinne, sie zu identifizieren und ihr einen
Wert zuzuweisen). Deshalb können wir also von anderen, insbesondere von Institutionen, Respekt
verlangen: Nur so kann die Menschheit existieren.

Aber wie erklären wir dann die Faktoren, die den Einzelnen beeinflussen, in der heutigen Zeit, die von
einem zunehmenden Individualismus und einer risiko- und vertrauensorientierten Gesellschaft geprägt
ist?

Die Vulnerabilität neu betrachten

In diesem Sinne fordert uns Marc-Henry Soulet auf : "das Interesse zu bedenken, das es gibt, in Begriffen
der sozialen Vulnerabilität anstelle von Ausgrenzung zu argumentieren, um die zeitgenössischen
Phänomene der Schwächung und Ausgrenzung bestimmter Individuen zu erfassen und so die Formen
der Intervention zu verstehen, die sie erfordern" ( Soulet 2005 :24) .

Diese Methode ist jedoch nicht selbstverständlich, da der Verweis auf Ausgrenzung seit Jahrzehnten
weit verbreitet ist, um problematische soziale Situationen zu erklären, und der Begriff der Vulnerabilität
nur einen Teil der offengelegten Zustände der Fragilität darstellt, die oft in bestimmten Individuen
verkörpert sind. Der Autor schlägt daher vor, das Verständnis eines Prozesses (Ausgrenzung) an die
Stelle der Bestimmung eines Zustands (Vulnerabilität) zu setzen, um die Kombination von
wirtschaftlichen, sozialen und symbolischen Faktoren, die zu dieser Vulnerabilität beitragen, besser zu
verstehen (Soulet 2005: 24).

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Damit die Vulnerabilität in vollem Umfang genutzt werden kann, muss ihre strukturelle Dimension und
ihre Beziehung zu den allgemeinen Veränderungen des sozialen Systems hervorgehoben werden. Es
kommt also darauf an, die sozialen Verbindungen zu verstehen, die Individuen schwächen oder in einem
Zustand der Vulnerabilität halten können. Tatsächlich ist die Vulnerabilität mit der Beziehung zwischen
einem Individuum mit besonderen Merkmalen und einem gesellschaftlichen Kontext verbunden, der die
Autonomie wertschätzt. Marc Henry Soulet betont, dass Vulnerabilität keine Bedeutung an sich hat,
sondern mit variablen Bedingungen verbunden ist, die ungleich auf die Individuen verteilt sind ( Soulet
2005: 25). Die Logik einer solchen Argumentation lässt sich wie folgt darstellen: Da das Potenzial,
verletzt zu werden, aufgrund des strukturellen Charakters der Vulnerabilität gemeinsam ist, wird
derjenige, der verletzt wird, aufgrund seiner einzigartigen Merkmale (weil er weniger wachsam, weniger
vorsichtig, weniger vorausschauend, schwächer oder weniger geschützt ist) verletzt. Es wird also
derjenige verletzt, der nicht in der Lage ist, die Anforderungen der Gesellschaft mit seinen eigenen
Ressourcen zu bewältigen.

Der gesellschaftliche Kontext, der Menschen auf die Probe stellt und auswählt, betrachtet diejenigen,
die versagt haben, als schwach. Die Beziehung zur Integration in die Gesellschaft bezieht sich auf die
Grenzen und Unsicherheiten jedes Einzelnen sowie auf mögliche Misserfolge und dauerhafte
Unzulänglichkeiten. Der daraus resultierende Schmerz ist der, eine begrenzte und unvollständige Person
zu sein, gemessen an den Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, die ihr geboten werden. So basieren
die politischen Ansätze zum Thema Leid auf der Individualisierung der sozialen Probleme. Die
Gesellschaft bietet eine doppelte Antwort an:

1) Aktive Förderung und Wertschätzung einer neuen Kultur des Wohlbefindens und des
Selbstmanagements für diejenigen, die vulnerabel sind, um ihre Fähigkeit zu stärken, ihren
zukünftigen Lebensweg zu gestalten. Diese Kultur des Selbstmanagements ähnelt der
Entwicklung des Humankapitals in all seinen Dimensionen, was sich in der Betonung der
persönlichen Pflege sowie der Förderung guter Verhaltensweisen wie gesunde Ernährung
und Schutz widerspiegelt ( Soulet 2005: 28).
2) Umsetzung einer leichteren Form der Psychologie, um die Auswirkungen des Leidens, das
die Menschen in ihrem psychologischen und sozialen Wesen beeinträchtigt, einzudämmen.
Dieser Ansatz, der eher mit Zuhören und Mitgefühl als mit Solidarität zu vergleichen ist,
besteht darin, Unterstützung zu leisten, um die Schwierigkeiten zu mildern und den
Einzelnen in die Lage zu versetzen, sie aus eigener Kraft zu überwinden. Dies zeigt sich in
der Entwicklung verschiedener Einrichtungen zum Zuhören und zur Unterstützung, wie z.
B. bürgernahe Polizei, Mediatoren, Kliniken für psychische Gesundheit usw ( Soulet 2005
: 28).

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Schließlich stellt Marc-Henry Soulet auch fest, dass die Aufmerksamkeit, die der psychischen
Gesundheit und der Vulnerabilität gewidmet wird, zu einem zentralen Aspekt der zeitgenössischen
sozialen Fragen wird und die Beziehungen zwischen dem Psychologischen und dem Sozialen neu
konfiguriert. Die Überschneidung von psychischer Gesundheit und Prekarität weist auf ein neues
Unbehagen in der Gesellschaft hin, und die Kämpfe um Anerkennung, denen sich vulnerable Individuen
ausgesetzt sehen, sind zu zentralen Fragen der Gesellschaft geworden ( Soulet 2005 : 29).

Die Neukonfiguration von Schutzmaßnahmen

Kehren wir nun zu Robert Castel (2009) zurück, der den Begriff der Schutzfunktion des Staates selbst
hinterfragt. Für ihn lautet die Frage, die es zu stellen gilt: "Besteht der Sozialschutz darin, allen die
Bedingungen für den Zugang zur sozialen Bürgerschaft zu geben, oder darin, eine Mindestuntergrenze
an Ressourcen zu garantieren, um den völligen Abstieg der am stärksten benachteiligten
Bevölkerungsgruppen zu verhindern" ( Castel 2009 : 247) Der Autor argumentiert, dass die aktuelle
Tendenz in den westeuropäischen Ländern darin besteht, den Umfang der Sozialschutzsysteme
einzuschränken, indem die Leistungen an bestimmte Einkommensbedingungen oder Schwierigkeiten
geknüpft werden. Dieser Ansatz, den der Autor als zunehmend "assistenzialistisch" (Ewald 1986 zit
nach Castel 2009 : 249) ansieht, geht nicht angemessen auf den breiteren sozialanthropologischen
Aspekt des Sozialschutzes ein, der als die Gesamtheit der Ressourcen und Rechte definiert wird, die den
Einzelnen in die Lage versetzen, voll an der Gesellschaft teilzuhaben. Der Autor ist der Ansicht, dass
das Bedürfnis nach Schutz tief im modernen Menschsein verwurzelt ist und dass die Gesellschaft mit
zunehmender Individualisierung auch immer stärker auf Schutz angewiesen ist, um die sozialen
Bindungen aufrechtzuerhalten. Der Autor legt nahe, dass der Sozialschutz eine notwendige
Voraussetzung für die Schaffung und Aufrechterhaltung einer funktionierenden Gesellschaft ist und
dass die derzeitige Tendenz, den Anwendungsbereich des Sozialschutzes einzuschränken, kritisch
betrachtet werden sollte, da die Art des in einer Gesellschaft bestehenden Schutzes eine soziale
Entscheidung und eine politische Entscheidung ist.

Um eine zeitgemäße Lösung zu finden, schlägt der Autor eine Reform der Sozialschutzsysteme vor, die
auf die Wahrung des öffentlichen Interesses ausgerichtet sein und sich gleichzeitig an die Gesetze des
Marktes und die sich ändernden Beschäftigungsbedingungen anpassen sollten. Er schlägt zwei
Möglichkeiten vor, den Staat umzugestalten: zum einen durch die Ausweitung seines Aktionsradius auf
globaler Ebene, da der Bedarf an Schutz zunehmend international geworden ist, und zum anderen durch
die Nutzung des Arbeitsrechts als Instrument zur Gewährleistung des Schutzes von Arbeitnehmern in
nicht-traditionellen Beschäftigungsarrangements, die er als "Grauzonen" zwischen abhängiger
Beschäftigung und Selbstständigkeit bezeichnet. Um hier Abhilfe zu schaffen, schlägt er die Einführung

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einer Mindestgarantie für soziale Sicherheit vor, die auf zehn Rechten beruht, wie dem Recht auf
Gesundheit, Wohnung, angemessene Sozialleistungen für diejenigen, die nicht arbeiten können, und
dem Recht auf Bildung. Diese Mindestsicherheit wäre die Grundlage für die Sozialbürgerschaft, die
Castel zufolge notwendig ist, um gleiche Rechte für alle Menschen unabhängig von ihrem beruflichen
Status zu gewährleisten. Der Autor geht jedoch nicht auf die Frage ein, wie diese ständige Garantie von
Rechten für mobile Arbeitnehmer organisiert und finanziert werden soll.

Der Autor Castel schlägt vor, dass eine zweite Möglichkeit zur Reform des Staates darin besteht, ihn in
die Lage zu versetzen, besser auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen, indem er ihnen näher steht,
während er sie im Gegenzug stärker in die Verantwortung nimmt. Ebenso wie Marc-Henry Soulet
(2005) , weist der Soziologe jedoch auf die Risiken und Ambivalenzen dieser Individualisierung des
Schutzes hin. Er erinnert daran, dass nicht alle Menschen über die gleichen Ressourcen oder Stärken
verfügen, um sich an die aktuelle, von der Regierung geförderte Logik der Rechte und Pflichten zu
halten : "[...] die Fähigkeit, ein Individuum zu sein, ist nicht von vornherein und ein für alle Mal
gegeben, weil das Individuum keine Substanz, sondern eine historische Konstruktion ist" ( Castel 2009 :
26). Er veranschaulicht auch die negativen Auswirkungen von Dezentralisierungsmaßnahmen, die eine
Antwort auf die Bedürfnisse des Einzelnen bieten sollen, in Wirklichkeit aber zu Ungleichheiten beim
Zugang zu Rechten führen können.

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4. Schlussfolgerung

Mit dieser Arbeit haben wir versucht, die Herausforderungen zu verstehen, denen sich der
Wohlfahrtsstaat in unserer heutigen Zeit stellen muss. Wir haben in der Literatur gesehen, dass er mit
erheblichen organisatorischen Veränderungen konfrontiert ist, sei es in der Arbeitswelt, in der
Beziehung zur Familie oder auch in der demografischen Entwicklung. Wir konnten besser verstehen,
wie komplex die Analyse von Vulnerabilität und abweichendem Verhalten ist und wie viele Faktoren
berücksichtigt werden müssen, wie z. B. die Rolle des Staates, seine Entwicklung im Laufe der Zeit und
die Veränderung der Wahrnehmung, die sich im Umgang mit abweichenden Personen vollzogen hat.
Indem wir die Worte von Barel (1990) aufgreifen, der die Frage nach der wesentlichen Herausforderung
stellt, die Marginalität der Gesellschaft als das derzeit vorherrschende Problem zu betrachten, anstatt die
Marginalität bestimmter Individuen gegenüber den Machtinstitutionen, konnten wir feststellen, dass es
keine einfache Antwort auf diese Frage gibt. Tatsächlich sind Individuum und Gesellschaft miteinander
verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Gesellschaft die
Individuen hervorbringt, diese aber durch die Normen und Werte, die die Gesellschaft ausmachen,
konstruiert werden. In Anlehnung an Durkheims Vision ist das Individuum zweifach. Denn es ist sowohl
ein individuelles als auch ein soziales Wesen, es gibt also einen Teil von uns, der die Gesellschaft ist.
Aus Durkheims Sicht ist der Mensch sozial konstruiert, er wird zu jeder Zeit von dieser Gesellschaft
durchdrungen. Daraus ergibt sich ein sozialer Konflikt, bei dem der Mensch zwischen dem Moralischen
und dem Individuellen hin- und hergerissen ist (Durkheim 1914).

Darüber hinaus ist es nicht einfach, die seit Jahrzehnten bestehende soziale Ordnung zu ändern, und es
ist eine große Herausforderung für die gesamte Gesellschaft, die ein kollektives Nachdenken und eine
Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen betroffenen Akteuren erfordert. Anhand mehrerer
Denkanstöße aus der Literatur konnten wir zeigen, dass es zumindest Teillösungen gibt, die Antworten
liefern und dabei helfen können, die Frage der Vulnerabilität zu dekonstruieren und so den öffentlichen
Institutionen einen anderen Ansatz zu ermöglichen.

Wir haben jedoch festgestellt, dass unsere moderne Gesellschaft vor allem durch Orientierungslosigkeit
und ein Gefühl der Leere des Daseins gekennzeichnet ist. Derzeit sind wir nicht mehr mit einem
Durchbruch der Wissenschaft oder der Vernunft gegen den Obskurantismus konfrontiert, sondern
vielmehr mit der wirtschaftlichen Globalisierung, die wichtige Paradigmen in Frage stellt und die
Menschen dazu bringt, neue Haltungen oder Strategien anzunehmen, um sich anzupassen. Die Frage
nach Orientierungspunkten ist aktuell, da die Standardisierung von Geschmäckern, Marken und
Wünschen in Verbindung mit Geld als wichtigstem Wert Unbehagen auslöst. Diese Situation, in der der
Kapitalismus hegemonial über die Individuen herrscht, schafft diese "gesetzlose" Situation oder

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Anomie, die von Emile Durkheim als ein Zustand der Wahrnehmung von Orientierungsverlust in einem
Raum ohne Normen beschrieben wird, der einer Situation der Anarchie ähnelt (Wickert 2022).

Und diese Sinnsuche ist umso wichtiger, wenn wir uns mit der Frage der Zufriedenheit der Jugendlichen
und ihrer zunehmenden Nichtbeteiligung an der Gesellschaft beschäftigen. Tatsächlich ist die Jugend
(als konstruierte soziale Kategorie) Zielscheibe einer beeindruckenden, anstrengenden und heterogenen
Reihe von Anforderungen, Modellen und Signalen, die insbesondere von der pädagogischen,
moralischen, medialen und wirtschaftlichen Sphäre ausgehen. Durch das Zusammenwirken dieser
verschiedenen Belastungen werden die Jugendlichen zwischen einem Übermaß an Vorschriften,
Symbolen und Gutem einerseits und einem psychosozialen und kulturellen Vakuum oder einem Mangel
an Werten, Orientierungspunkten und einem stabilen Sinn des Daseins andererseits hin- und hergerissen.
Diese Zerrissenheit wird durch zwei Schlüsselfaktoren noch verschärft: wenn die Arbeit als
grundlegende Struktur oder wesentliche Quelle der sozialen Integration dauerhaft fehlt und/oder an
Bedeutung verliert; wenn die Intensität der zwischenmenschlichen Beziehungen als Quelle der sozialen
Integration abnimmt und die Gefahr der Vereinsamung zunimmt. In einem solchen Kontext taucht das
"Jugendproblem" oder das abweichende und problematisierte Verhalten von Jugendlichen auf. In
diesem Sinne können wir die Jugend wirklich als einen empfindlichen Spiegel unserer Gesellschaft
betrachten, die ihren Krisen und Erschütterungen sehr ausgesetzt ist.

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Ehrenwörtliche Erklärung

Ich bestätige mit meiner Unterschrift, dass ich die Arbeit persönlich erstellt und dabei nur die
aufgeführten Quellen und Hilfsmittel verwendet sowie wörtliche Zitate und Paraphrasen als
solche gekennzeichnet habe. Ich weiss was ein Plagiat ist. Diese Arbeit wird nur am deutsch-
sprachigen Bereich Soziologie, Sozialpolitik, Sozialarbeit im Rahmen der Lehrveranstaltung
«Proseminar Sozialstaat und Wohlfahrtsregime – Aktuelle Herausforderungenfür den
Sozialstaat im Umgang mit Vulnerabilität» eingereicht.

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