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VERSUCHE ZU PHILOSOPHISCHER POLITIK

Erich Unger

Politik und Metaphysik

VERLAG DAVID / BERLIN


Bant

http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglitf/unger1921/0005

© Universitätsbibliothek Freiburg
1. Veröffentlichung.

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Politik und Metaphysík.

Ein einziger Gedanke, eine einzige bestimmte Umschaltung der Daseins-


Empfindung soll sowohl in dieser programmatischen Ausführung als in allen von
ihr fortgehenden Darlegungen zum BewuBtsein gebracht werden. Dieser Gedanke
betrifft das Auseinander oder das Zusammen zweier AuBerungsweisen des Lebens,
betrifft hier die Beurteilung einer Beziehung, in der wir nichts weniger als einen
Lebenspunkt — oder als einen nodus letalis — alles menschlich Existierenden sehen.
Jedwede Einrichtung und jedes Fortbestehen von unkatastro-
phalen Menschen-Ordnungen — jede unkatastrophale Politik — íst
unmetaphysisch nicht möglich. Politik und Metaphysik sind die beiden
ÄuBerungsbereiche, deren Zusammenrücken in Frage steht. Wie ist das möglich?
Die jeden Augenblick unumgänglich zu realisterende praktische Notwendigkeit
— Politik — und eine noch nicht einmal theoretisch auch nur im entferntesten
erledigte Angelegenheit — Metaphysik —, wie kann das anders als literarisch
zusammengebracht werden? Wie kann man ein Greifbares und ein Unegreifbares,
ein Endliches und konkret Bestimmbares wie jede politische Wirklichkeit mit einem
Unabsehbaren „vereinheitlichen“? Und wie kann von solcher „Einheit“ gar eine
Linie zur Auflösung harter, konkreter — sozialer Problematik führen, anders als ín
einer schwimmenden Unwirklichkeit?
Und dennoch elauben wir dieses abenteuerlichste Verfahren zugleich als das
realste und nüchternste, ja als das einzige aufweisen zu können, wofern es nur
gelingt, einesteils für den Endgültigkeitscharakter, der in temporären und scheinbar
noch so variablen Perioden beschlossen liegt, den Blick zu öffnen, anderenteils
die beiden fraglichen Begriffe so weit zu präzisieren, daB sie exakt zu handhaben
sind. Das erste bedeutet eine rechnungsmäBbige Aufrollung und Abschätzung der
objektiven Möelichkeiten staatlichen und sozialen Geschehens, das zweite den
Zugang zur Praxis.
Es gilt vorerst, die Art der Geistesverfassung anzugeben, von der aus diese
ja nur überblickhafte Überlegung allein mitzumachen ist, ohne im Vorhinein an
tausend Einwänden zu ersticken, denen der weitere Rahmen vorbehalten ist. Das
ist diejenige Einstellung, die ein Maximum an Hoffnungslosigkeit enthält: aus
allen Elementen und Faktoren der gegenwärtigen oder vergangenen

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politischen Erfahrung jemals eine ethisch befriedigende Ordnung
menschlichen Zusammendaseins entstehen zu sehen — — ohne den
Anspruch darauf aufzugeben oder (was dasselbe ist) in die Ferne zu
vertagen — — eine Einstellung, die also in denkbarster KraBheit das Gegen-
einander dieses Dilemmas, das Probiem in seiner wirklichen Gespanntheit spüren
läBt. Somit wendet sich dieser Gedankengang zuerst an die, welche in den
politischen Fakten dieses Menschenalters keine ethisch-produktiveren Kräfte finden
als in denen der vergangenen und für die „Geschichter nur den Sinn hat „Ge-
schichte des Fehlschlagens“. Geschichte als das von der ethischen Norm Ab-
stechende ist ein Ablauf, dessen Stigma MiBlingen ist (während Mythos ein
Ablauf ist, dessen Stigma Gelingen ist).
Die hieraus folgende fundamentalste Voraussetzung alles Weiteren ist: jede
scheinbare „Annäherung“ an einen irgendwie „idealen Zustand” als ein Auf-
der-Stelle-treten zu durchschauen und jedes dahin-zielende Manöver auf das schärfste
abzulehnen. „Annäherung* ist der jeder Generation freistehende Einwand gegen
das Ansinnen, eine Idee oder einen ethisch geforderten Inhalt in ihrem Menschen-
alter und restlos zu realisieren. Hier spielt die moralische Empfindung dafür
hinein, ob ein endgültiger ethischer Status gleichsam ein „hohes Verdienst: der
Menschheit vorstelle, folgeweise ein Ziel, nach dessen Erreichung eine Vollkommen-
heit statuiert sei, die einem andauernd „vorschwebt", die also nicht anders als in
fernster Zukunít gedacht werden kann, weil man offenbar sich nicht vorstellen
kann, was man nach Verwirklichung von „Idealzuständen“ mit der Welt noch
anfangen sollte — — es spielt, sagten wir, hier die moralische Empfindung dafür
hinein, ob die Welt in einem Erfüllungsstadium aufhöre oder — anfange. In der
Tat fehlt das zur Konkretisierung jeder Absicht vorher notwendige „Erfahrungs-
bild im Geiste“ für die Situation nach Idealzuständen, und darum sind sie
„unerreichbar“. Ganz ernsthaft aber ist Kampf, Streit, Disharmonie und ihre Be-
seitigung ein Inhalt, ein Erfahrungsgehalt, während eine Endgültigkeit scheinbar
keinen weiteren Raum läBt — es sei denn für Wiederholungen. Den Idealzustand
sofort zu denken — das ist ein anderer Ausdruck für lächerliche und undískutier-
bare Absurdität für diejenige Daseinsempfindung, der damit das Ende der
Tage gegeben schiene, WUmgekehrt aber ist derjenigen Geistesverfassung, die
auch nach einer vollkommenen Situation Inhalte anzugeben vermag, der Ideal-
zustand kein Endpunkt, überhaupt keine Angelegenheit, der man sich in endlosen
Generationen „annähert« — — sondern eine unausweichliche Voraussetzung, deren
Erfüllung kein „Verdienst“, sondern deren Nichterfüllung das Maximum an ethischer
td sonstiger Minderwertigkeit vorstellt, das in der Welt überhaupt aufzutreiben ist.
Diese Ansicht wird vorausgesetzt. Diese Ansicht aber wird von einer Bewegung
geteilt, welche die Aufrichtung ethisch normhafter Zustände ebenfalls für eine bloBe
Voraussetzung ansieht, aber nicht in der Lage ist anzugeben, für welche Inhalte sie

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die Voraussetzung ist. Das ist der Kommunismus und Anarchismus jeder
Schattierung. Kommunismus sieht wenigstens das Zeit- Problem sozialer Verände-
rungen in der hier bejahten Überzeugung, daB Menschen nicht nötig haben, sich als
Objekt menschlichen Geschehens anzusehen, menschlichen Dingen wie naturhaften
gegenüberzustehen, gleichsam sich (wie man sein soll) dem — sich (wie man ist)
unterzuordnen — — er sieht den ethisch geforderten Status, den ganzen, und nicht
nur ein Stückchen seiner als augenblickliche Forderung an, d. h. er bezieht
eine eventuelle Ruhepause im Erreichen nicht schon im Vorhinein in sein”
Programm ein, insofern er es garnicht erst auf einen Bruchteil, auf ein „Scherflein®
und eine „Annäherung” einstellt — —. Die annäherungsweise Erlangung eines
im Geiste „vorgesetzten" Zustandes ist das Erzeugnis einer nachherigen An-
schauung des Weges von der Absicht bis zu ihrer Konkretisierung: die rück-
schauende Betrachtung einer Linie, die zu einem erreichten Punkte führt, kann
Annâherungs-Abschnitte feststellen — — aber die Absicht kann diese Annäherungs-
Punkte nicht wirklich einbeziehen, sonst stellt sie garnicht echt, sondern nur
scheinbar auf den Zielpunkt, in Wahrheit auf den ersten Zwischenpunkt ab. Be-
zieht schon die Absicht oder der Wille die Ruhepausen zwischen den Etappen
in das Programm ein, so bejaht er mehr als zulässig die Widerstände der wider-
strebenden Materie, die auf alle Fälle zu verneinen seine einzige Aufgabe ist —
eine Verneinung, deren speziellen Modus zu finden die Aufgabe der Vernunft ist.
Das „Annäherungs“-Verfahren ist mithin eine Ubertragung der historischen Denk-
weise auf teleologische Verhältnisse. Rein ethisch ist im Verlaufe der rationalen
Geschichte nach der zuvor angenommenen Perspektive keine Annäherung an einen
ideengemäBen Zustand jemals zu konstatieren (das beweist allein die latsache,
daf3 es ein „vernünftiges® Geschichtsprinzip empirisch-wissenschaftlich d. h. anders
als in philosophischer Spekulation nicht gibt) — — rein causaliter sind nur
Annäherungen an irgendwelche mehr oder weniger willkürlich herausgehobenen
Geschichtssituationen festzustellen. Folglich streichen wir sowohl aus logischen
wie empirischen Gründen das Prinzip des Annäherungs-Verhaltens aus dieser
Einstellung.
Die hier nur als Resultat formulierte Erkenntnis der völligen Unbrauchbar-
keit aller tatsächlichen politischen Gebilde und Tendenzen für irgendeine unheil-
lose Ordnung, sofern sie von unpathetischer und realer Berechnung erwartet werden
kann, hat sich zuvor unter eben diesen Gebilden und Tendenzen unrblicken müssen.
Sie hat vor allem feststellen müssen, da jede sogenannte Partei das Stigma des
Unzulänglichen in eminenter Weise trägt. Schon deshalb, weil jede ein Bruch-
stück von Richtigem enthält: — ein Bruchstück, das sich dennoch nicht mit den
anderen zur ganzen Wahrheit „zusammensetzen“ läBt. Dieses „Zusammensetzen*
nämlich ist ja Ursache wieder einiger Parteien: der „vermittelnden“ — — und
gerade diese zeigen in ganzer Schärfe die Unmöglichkeit, entgegengesetzte Prin-

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zipien, wie auch immer, einander zu akkomodieren. Daher denn auch die extremsten
Ausdrücke der Parteiung, die ultra-konservative und die ultra-revolutionäre,
logisch genommen die diskutabelsten sind. Immerhin halten diese beiden Prin-
zipien einander mit Recht die schwersten Fehler vor, die man nimmermehr dadurch
vermeidet, daf man, wie die „Mittel“-Partei jeder Art tut, beide Prinzipien da-
durch „eint:, da man beide — aufgibt. Sollte nämlich in der Tat die Wahrheit
darauf angewiesen sein, Entgegengesetztes zu vereinen, so könnte diese Vereinigung
niemals auf Kosten des Entgegengesetzten geschehen, vielmehr wâre sie wohl oder
übel genötiet, einen Ausdruck darzustellen, der zwar eine Einheit vorstellt, in
der aber das ehemals Entgegengesetzte jedes voll und ganz aufrecht erhalten
ist. Das dürfte, wenn auch nicht unlösbar, so doch schwieriger sein, als zu „ver-
mitteln“, indem man die zu vermittelnden Forderungen — fallen läbt oder was
dasselbe ist, sich nicht „festleat«. Vor die Aufvabe gestellt, zwischen der Bedingung,
ein Dreieck zu zeichnen und der entgegenstehenden Bedingung, gleichwohl eine
Figur, deren Winkelsumme gröber als zwei rechte sei, zu zeichnen — — der Aufgabe,
in dieser Alternative zu „vermiiteln®, entzieht man sich nicht, indem man ein Viereck
zeichnet, sondern man kann ihr nur gerecht werden, wenn man die ganze
Ebene der Planimetrie verläBt, und ein sphârisches Dreieck zeichnet. Dieses
„die ganze Ebene verlassen“ hat, wie sich herausstellen wird, für jeden Fall schein-
bar unvereinbaren Widerstreits eine mehr als gleichnishafte Bedeutung.
Jede Parteideduktion enthält ein Gemenge von Richtigem und Falschem, je
nachdem, ob sie prinzipielle oder konkrete Gegebenheiten meint, wobei in anti-
podischen Parteien Irrtümer oder Unterschlagungen faktisch schematisch überkreuz
zu ordnen sind. Ist etwa die Wert-Ungleichheit der Menschen eine kaum
bestrittene Tatsache und die aus ihr folgende Notwendigkeit des Gegliedert-
seins von Menschen-Gesamtheiten eine schwer abweisbare Forderung, so wird
diese prinzipielle Forderung, deren Evidenz konservative Parteien für sich aus-
zunutzen pilegen, sofort zu einer Absurdität, wenn die konkrete Gliederung in
Augenschein genommen wird, die nach allen andern als Wert-Mabstäben vor-
genommen zu sein scheint, und deren eleichfalls evidente Unsinnigkeit von jeder
Art volksherrschaftlicher Bestrebung dazu mibbraucht wird, das Prinzíip zu
levenen und eine Gleichheit zu stabilieren, die zwar insofern wirklich ist, als
sie den konkreten Klassifizierungsstatus Lügen straft, auBerhalb desselben aber
weder vorhanden noch ethisch leeitimiert ist.
In Wahrheit aber löst sich alle Parteitheoretik, wenigstens was die gegen-
wärtigen Kulturvölker angeht, für den auf moralische oder philophische Funda-
mentierung Ausgehenden auf in ein vorgeschobenes Gerede zur Stützung der
allein motivierenden wirtschaitiichen Interessen. „Die Wirtschaft® ist der bei
weitem umfangreichste und plausibelste Erklärungsgrund fast sämtlichen politischen
Verhaltens, der Schlüssel zu jeder Mafnahme jeder Partei, zu jeder ÄuBerung,

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mag sie auch noch so abstrakt anheben. Mehr oder weniger offen auch partei-
theoretisch zugestanden, besteht das „wirtschafiliche Interesse“ der Saturierten in
Verteidigung des Erreichten, der „Ordnung*, Konservativismus, das der Enterbten
im Umstürzen des Bestehenden, revolutionärer Bewegung, das der Dazwischen-
stehenden in geringer Umänderung. Das Problem jeder Partei besteht bloB darin,
ihr Privatinteresse so allgemeingültig als irgend möglich zu formulieren,
gegebenenfalls sogar faktische Kompromisse zu schlieBen, an deren Ende jedoch
jedesmal die bestimmende Absicht einer bestimmten wirtschaftlichen Schicht steht.
Das wirtschaftliche Interesse ist mit einer solchen Wucht auf allen Wegen
moderner Politik entscheidend, daf der Feststellung kaum Widerspruch begegnen
wird: daB, unerachtet des Bestehens eines Komplexes níicht-wirtschaftlicher Beweg-
gründe, es doch die Ausnahme ist, wenn das wirtschaftliche Interesse nicht
die Richtung anweist,
Politik — das heiBt heute im wesentlichen: Wirtschaft. Wir wollen
nicht „den Geist: gegen „das Materielle® in dem Sinne ausspielen, da wir „dem
Materialismus" die üblichen Vorwürfe machen und ihm gegenüber auf die ideellen
„Güter“ des Lebens weisen und eine Rettung in einer „Abkehr# vom Materiellen
und im „Geistigen” eine „Zuflucht* erblicken. Wir haben keineswegs die Ab-
sicht, eine Alternative: Körper oder Geist aufzustellen. Wir wagen sogar die
ÄuBerune, daB wir kaum der Wichtiekeit, die dem Materiellen, mehr oder weniger
„übertragen“: körperhaften Interesse der Menschen zuerkannt wird, Abbruch tun
wollen. Wir wollen nur feststellen, daf dieses Interesse nicht vertreten und nicht
wahrgenommen werden kann — — von ihm selbst. Wir wollen eine der Orund-
tendenz heutiger Politik widersprechende und ihr ungeheuerlich erscheinende Um-
kehrung zum Ausdruck bringen: als völlig selbstevident scheint heute zu gelten,
da niemand anders als der Interessierte selbst sein Interesse wahrnehme. Wir
wollen dem die Möglichkeit entgegenstellen, da6 der Interessierte selbst absolut
unzustândig sei, sein Interesse zu vertreten, wenn er sich inmitten eines Interessen-
chaos befindet. Aber, wird man entgegenhalten, die Unzuständigkeit des Inter-
essierten selbst wird ja korrigiert dureh das Gegen-Interesse, das, gleichviel
nach welchem Vertretunegssystem, seinem Umfang entsprechend in die „Regierung
gelangt — in der sich Interessen und Gegen-[nteressen so „ausgleichen“ müssen,
daB der objektiven Gerechtigkeit Genüge geschieht. Hierzu ist zu sagen: das,
was heute „Regierung” heit, ist — selbst im gerechtesten Falle — der Schau-
platz des verkürzten Interessenkampfes und das verkürzte Bild der Macht-
quanten, die im Staate unverkürzt toben. Woher sollte aus dieser bloBen
Verkürzung ein ethisches Moment gewonnen werden, d. h. wie sollte durch die
Umwandlung des direkten Widerstreites der Wirtschaftsschichten in den ihrer Ver-
treter der Charakter des Kampfes beseitigt werden, in dem der Stärkere siegt,
der Schwächere unterliegt. Der Charakter des Kampfes soll garnicht beseitigt

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werden, das Zeichen des „friedlichen Kampfes® ist das KompromiB, auf das
sich die Partner einigen müssen, wird behauptet werden. Nun, der „friedliche
Kampf“ oder das Kompromib, das Hauptelement heutiger Politik, ist der latente
offene; Kompromib ist immer, muB immer aufgeschobene Vergewaltigung sein -
KompromiB ist die momentane Einieung zweier Feinde, weil die Uberlegenheit
des einen nicht ausreicht; Kompromib ist das, wenn auch noch so sehr alle offene
Gewalt verschmähende, dennoch ín der Mentalität der Gewalt liegende Produkt,
weil die zum Kompromib führende Strebung nicht von sich aus, sondern von
auBen, eben von der Gegenstrebung, motiviert wird, weil aus jedem KompromiB,
wie freiwillig auch immer aufgenommen, der Zwangscharakter nicht weggedacht
werden kann. „Besser wäre es anders“, ist das Orundempfinden jeden Kom-
promisses. Das Kompromifì oder die Resultante aus einander widerstrebenden
wirtschaftlichen und politischen Tendenzen ist zwar der Ausdruck der augenblick-
lichen Kraft-Verteilung, aber nie der Ausdruck einer ethisch normierten Situation.
Denn diese ist nicht mit dem KompromiB identisch, es set denn, daf} man als
Mabstab des Rechts Macht oder Machtausgletch setzt. Dann aber trägt das „Recht*
zugleich die Verantwortung für alle Katastrophen, die dte Macht-Verschiebung
bedingt, und wir, die wir das eänzliche Fernsein irgendwie vernichtender Um-
wälzungen als das Symptom einer moralischen Ordnung aufstellten, können diese
Identifikation von Recht und Macht nicht vornehmen lassen — können somit den
Kampf, auch nicht den „friedlichens, das KompromiB, in keinerlei Gestalt als
Vertreter der Gerechtigkeit fungieren lassen.
Wir müssen dem Begriff des „Kräfte-Ausgleichs“, des Komproimisses, hier
wenigstens andeutungsweise die Vorstellung einer anderen Möglichkeit entgegen-
stellen, gemäB der ein Kräftekomplex sich verhalten kann: es können Krâfte, sich
subtrahierend oder verstärkend, sich irgendwie mechanisch „ausgleichen“ — und
es können Kräfte sich so „ausgleichen*“, dab sie ein „System® bilden. Das Kräfte-
System ist das Gegenstück des Kräfte-Kompromisses. Ein Kräfte-Kompromifs
im Sinne des Ausgleichs oder der Kraít-Resultante gibt es überall ín der Natur,
auch in jeder noch so gewillkürten und chaotischen Konstellation — das Kräfte-
System nur im Falle des „Organismus“. Beim Kräfte-Ausgleich wirkt jede Kraft
rein von sich aus und wird erst im Treffpunkt von den anderen beeinflubt,
gehemmt oder gefördert, der Ausgleich wirkt mechanisch — beim Kräfte-System
wirkt jede Kraft so, als ob die anderen von vornherein in sie einbezogen wâren,
wirkt jede Kraft so, als ob eine Realität des Auf-Ein-Mal aller beteiligten Kräfte
vor jeder einzelnen existent und wirksam gewesen wâre, eine Realität des
Lusammen, von der aus eine die einzelnen Krâäfte differenzierende und ordnende
Tendenz ausgegangen wäre — als ob jede Kraft gleich im Beginn, im
Entstehunespunkt die Wirkung und Beeinflussung aller anderen erfahren
hätte — so entstehen sie gleich geordnet, — der Ausgleich wirkt organisch.

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Dieses Moment der Beeinflussung vor der Entstehung, der ganzen Realität
vor der einzelnen, liegt nicht innerhalb des Bereichs der einzelnen
Kräfte — weil diese eben als Einzelheiten Verselbständigungen sind, die sie
nicht hätten werden können, wenn sie nicht nacheinander als Elemente der
„Entwicklung“ auf den Plan getreten wären, um irgendwann mechanisch auf ein-
ander zu prailen — — weil eben diese Einzelkräfte Verselbständigungen sind, die sie
nicht hätten werden können, wenn sie als im Vorhinein, gleichzeitig einander
bestimmende Tendenzen aufgetreten wären, die sich wie Organelemente hätten
zueinander einstellen müssen. Der Schauplatz eines solchen ursprünglichen
Zusammen der Einzelkräfte aber wâre tm Anbeginn ein geistiger gewesen: —
ihr organisches Gefügtsein wäre in einer Conception vorerst existent gewesen.
Die Ganzheit ist aus dem ganzen Umkreis der Teile nicht zu ermitteln,
weil die Teile verselbständigte Teile sind.
Exemplifizieren wir diesen allgemeinen, in groben Umrissen angegebenen
Gedankengang auf den konkreten Sachverhalt, so ergibt sich:
Die Tendenzen der Wirtschaftswelt zeigen sich als im Konflikt befindlich.
Also sind es selbständige Kräfte, die sich bestenfalls im Zustande mechanischen
Ausgleichs halten.
Aus diesen Selbstândigkeiten aber läbt sich ihre ursprüngliche Ganzheit
oder ein Analogon ihres organhaften Zusammen deshalb nicht mehr ermitteln,
weil die Tendenzen als Konflikt ermöglichende d. i, als Selbständigkeiten eine
andere Gestalt und eine andere Richtung angenommen haben, als sie im
Zustande ihrer organischen Verbundenheit aufgewiesen hätten.
Aus keiner Kombination oder Permutation der Partei-Tendenzen kann eine
normative Ordnung des Wirtschaftsganzen je sich ergeben, weil das, was ihnen
Wirtschaft heit, mehr oder weniger eine Konjunkturformel sein mu und das,
was in Wahrheit Wirtschaft ist, nicht aus den Einzelerscheinungen der erkrankten
Wirtschaftswelt ableitbar ist, sondern, wie jede organische Ganzheit, selbst wieder
nur aus einer auBerhalb ihrer liegenden Zweckvorstellung begriffen und
vollzogen werden kann.
Das heiBt:
Das Problem der Wirtschaft — das Hauptthema aller menschlichen
Kämpfe — ist innerhalb seines eigenen Gebiets nicht zu lösen.
Aber es ist auch mit „dem Geists nicht zu lösen.
Es ist in letzter Zeit in Deutschland und auBerhalb der Versuch gemacht
worden, die politische Chaotik dadurch zu reparieren, daf} man sich auf die
Forderung Platons besann und das von Natur aus selbstverständliche Gebot, daf
der „Vernunít® auch die „Herrschaft® zukomme, dadurch in die Realität zu
übersetzen trachtete, daf man „den Geistigen“ auch irgendwie die Macht
zuzuerteilen gedachte.

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Dieser rein logisch unbezweifelbar einwandfreie Gedanke war und muô nur
deshalb zu völliger Sterilität verurteilt bleiben, weil die intensivst erforderliche
Einsicht fehlte, daf ein solcher Versuch zwar einer richtigen Idee entsprechen
würde, diese aber absolut formal sei. |
Denn so sicher „der Geist® der Inbegriff aller Lösungen aller Fragen ist, so
sehr hängt jede konkrete Lösung von einem ganz bestimmten [nhalt dieses
sonst ganz formalen Inbegrifis ab und so sicher ist dieser Inhalt nicht: de
faktische Gesamtheit der empirisch vorhandenen „Geistigen”. Durch deren
Sammlung würde für den Geist bestenfalls etwas wie eine „Atmosphäre“ ge-
schaffen, bessere „Arbeitsbedingungen* — ein Vorteil, der hundertfach zu tever
bezahit wäre durch die so bestechende wie alles vernichtende Vorstellung, daî
die so gesammelten Geistigen sich nur angelegentlichst mit Politik zu befassen
brauchten, damit die Leitung menschlicher Angelegenheiten in der Tat den denkbar
besten Händen anvertraut sei, Hier werden nämlich &ie relativ mehr oder minder
Geistigen, bestimmte empirische Personen, an die Stelle gcsetzt, die logisch „dem
Geist zukommt, eine Verwechselung, die durch das banale Sophisma: „der Geist=
existiere eben nur in einzelnen konkreten Personen, gestützt wird. Die Banalität,
daf geistige Realitäten ohne emptrische Trâger nicht vorstellbar sind, wird dazu
benutzt, um zu dem Schlufì zu verführen, daB man „Geist“ „sammle“, wenn man
die Träger addiert. Da nun aber jede mögliche „Sammlung“, Potenzierung des
„Geistes“ als solchen völlig die Angelegenheit eines psychischen Innen ist und
somit auf einer gänzlich anderen Ebene vor sich geht als die Beziehungen der
physischen „Geistigen“ — nämlich auf einer psychischen oder Denkebene und
nicht auf einer irgendwie „äuBeren* — so erhellt zunächst, daf} eine Sammlung
der Geistigen zur Steigerung des „Geistes“ bestenfalls eine Beziehung hat wie
etwa eine gute „Arbeitsstube“ zur Lösung eines Gedankenganges. Geist mub
„gesammelt* werden, um nach aufben zu treten. Völlig richtig. Aber diese
Sammlung geschieht nicht in derjenigen Sphäre, in der sich die physiologischen
„Verkörperungen” geistiger Begebenheiten aufhalten. Aber, so argumentiert der
sogenannte Aktivismus, es kommt auf Potenzierung des Geistes als soichen ja
garnicht oder höchstens insofern an, als es zur Bewältigung praktischer Probleme
vonnöten ist. Dazu ist zu sagen: es ist jene gänzlich formale Auffassung von
Geist, welche die Gleichsetzung von „Geist» und „Geistigen” möglich macht. Die
Geistigen sind Personen, welche eine Beziehung zum „Geist“, d. í, zum âuBersten
denkbaren Steigerungspunkt geistiger Bewegungsmöglichkeiten, aufweisen. Diese
Beziehung äuBert sich weitaus am häufigsten unpolitisch. Es ist nun auf keine
Weise einzusehen, wie jene unpolitische Beziehung zum Geist dazu fruchtbar
gemacht werden sollte, gerade politische Werte zu produzieren. Diese Art
„Geistigen* sind quoad Politik um nichts zuständiger als politische Fachleute,
denen aber diese unpolitische Beziehung zum Geist fehlt. Und diejenigen

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Geistigen, die eine politische Beziehung zum Geist aufweisen, sich also politisch
betätigen, werden, wie dargetan, durch ZusammenschlubB ihre geistige Be-
gabung nicht vertiefen. Aber es soll nichts vertieft werden, meint der Aktivis-
mus, es soll gewirkt werden. Man besinne sich: zum Wirken gehört ein
Angriffspunkt, der ein Berührungspunkt ist zwischen Wirkendem und Material.
Wenn zwischen einer geïstigen Norm oder einer geistigen Haltung einerseits und
den Faktoren der Erfahrungswelt andererseits ein Abstand klafit, der eine direkte
Berührung nicht zuläbt, so kann momentan nicht gewirkt werden — — wenn
man die geistige Hlaltune nicht verläbt und „Realpolitik® treibt. (Ein umfassendes
Beispiel bietet etwa die Geschichte der Sozialdemokratie) Diese Realpolitik ist
das, was allenthaiben bereits betrieben wird, und sie stellt schon den Abstieg
dar aus jenen der Menschheit Ja nicht unbekannten geistigen Haltungen. Der
Aktivismus w Il noch einmal verkürzt dieses Herabsteigen ad oculos demonstrieren.
„Geist: heit ja gerade: Nicht-Wirkung, wenn praktisches Kompromif er-
forderlich, heit: Bewahren des Richtungspunktes bis zur Wirkungs-Möglichkeit.
Geist, der wirkt — ist unversehens „Realpolitik# und unterscheidet sich in nichts
von der beftriebenen. Geist zielt nicht überhaupt auf Unwirksamkeit und
Esoterik, sondern nur so lange als Wirkung — Zugeständnis bedeutet. Und dag
ohne Zugeständnisse ein angriffsloses Visavis von Norm und Erfahrung besteht,
kann kaum bestritten werden.
Aber man vergegenwärtige sich doch einmal: was bedeutet denn diese viel
gebrauchte Vorstellung „geistig®, wenn es sich um Bearbeitung politischer oder
wirtschaftlicher Materie handelt? Was heiBt „geistige Behandlung” sozialer Proble-
matik? Hier sind zwei Faktoren: die politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten und
das geistige Vermögen. Dem geïstigen Vermögen kann einzig und allein díe
Aufgabe zufallen, diese Gegebenheiten in einer Weise zu ordnen, nach Ursache
und Wirkung in fausenderlei Gestalt einzuteilen und diese Geteiltheiten so zu
rangieren, dab die also hergestellte Ordnung reibungslos läuft. Das aber
versucht die politische Überlegung seit Menschengedenken. Aber es muB „geistig*
versucht werden. Was bedeutet geistig? Bedeutet es „durch einen geistigen
Menschen“? — und es können nur die bisher Un politisch-Geistigen gemeint sein —
so ist wahrhafuúg die Hoffnung gering, etwa von einer Befähigung zur Gefühls-
gestaltung die Ordnung wirtschaftlicher Phänomene zu erwarten. Denn der dem
so Befähigten eigene Grad von „Kultur“, von „Menschlichkeit®, welcher der
Politik „gut täte“, ist es ja gerade, der den also Ausgezeichneten unpolitisch
macht, weil zwischen seiner geistigen Einstellung und den Tatsachen jener Rif
klafft, der ihn ahnen oder wissen lieB, daB seine „Menschlichkeits auf dem Wege
vom unwirksamen Geist zu den Bedingungen der Wirtschaftswelt sich ín Nichts
verwandle, — — oder, aufrecht erhalten, sich in jenen weiterhin unwirksamen
Beschwörungen der Ailgemeinheit ausdrückt, die man aus den AuBerungen der

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„politischen Dichters kennt, und die maBlos verschieden sind und sein müssen
von der äuBersten politischen Produktivität, die das Ganze der sozialen Komplexe
begreift. Denn es läBt sich zeigen, daB gewisse normative, psychologisch und
ethisch begründete Einzel-Forderungen, die zu den Situationen der aktueïlen
politischen Welt kontrastieren, — dafà solche Einzelforderungen, wie sie von
geistigen Menschen, die sich der Politik zuwenden, auszugehen pflegen, sich zwar
in einem Einzel-Gesetz formulieren lieben, — — daf} aber die Durchführung solchen
Gesetzes die ganze aktuelle politische Welt revolutionierte, und von einer Einzel-
Schwierigkeit zu prinzipielten führt, weil nicht zwei Einzelheiten, nicht Symptoime,
sondern ganze Ebenen gegeneinander stehen. Das bedeutet, dad hier nichts
geschieht, wenn Dichter oder Wissenschaftler sich sammeln und politisch werden —
hier, wo der politische Genius selbst beansprucht wird. Die âubere „Sammlung“
der Geistigen aber als das Moment „geistiger« Politik einzustellen, ist, abgesehen
davon, daf es genau so anfechtbar, wie der Gedanke des Parlamentarismus
überhaupt — ist, wie ausgeführt, jene Verwechslung, welche „Internationale des
Geistes* sagt und „Internationale der Schriftsteller" bedeutet.
Oder heiBt „geistig* eine besondere Methode der Behandlung politischen
Materials? Dann könnte es nur den Sinn eines logischen Verfahrens haben.
Hier aber ist nicht das Gebiet der reinen Logik, da durch Beegriffe und Schlüsse
„richtig® und „falsch® entschieden wird. Dab die Linien der Kausalität, nicht wie sie
verlaufen, sind logisch regelbare Angelegenheiten, und die Logik ist so durch und
durch Allesemeinwissenschaft, daB sie für ein Spezialgebiet zu einem Sonder-
verfahren gestalten zu wollen, zu einem leeren Prunken mit einer unkonkretisier-
baren Über-Berechtigeung werden muf.
Das Prädikat „geistig“ als Attribut der Politik bezeichnet also eine leere
Wünschbarkeit und eine ethische Forderung wie das Postulat „guts — so lange
unter den Bedeutungen, die ihm seine Erfinder gaben, kein reales Agens zur
Bewältigung höchst drastischer und gefährlicher Notlagen enthaiten ist. Es ver-
flächtigt sich zu einem formalen Erfordernis.
Geist als solcher ist nichts Hinzukommendes, heibt nur das formal richtige
Umgehen mit den Gegebenheiten, und die Unmöglichkeit, eine katastrophenlose
Ordnung dieser herzustellen, kann an den Gegebenheiten liegen oder an dem
Nicht-Vorhandensein anderer. Wie eine Aufgabe unlösbar sein kann, wenn die
Zahl der bekannten Faktoren zu kìein und die der unbekannten zu grof ist, so
kann die Unlösbarkeit des politisch-wirtschaftiichen Problems daran liegen, dab
die Faktoren, die in Ordnung gebracht werden sollen, so, wie sie sind, nicht
ausreichen. Nicht, als ob neue wirtschaftliche Fakten zu eruieren seien — gs
kónnte sein, da das gesamte Wirtschafts-Gefüge deshalb nicht in Ordnung
gebracht werden kann, weil es als ein in sich geschlossenes, ruhendes Ganzes

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betrachtet und in Angriff genommen wird, während es in Wirklichkeit eine (als
Ganzes) abhängige GröBe ist.
In dem bloB-wirtschaftlichen Material finden sich diejenigen Elemente, welche
machen, dab alle anderen zueinander „passen”, nicht, und in der zu dieser Wirt-
schaftswelt gehörenden geistigen finden sie sich auch nicht.
Denn — und dies ist ein Sachverhalt von einer vielleicht anfangs befremd-
lichen, indessen kaum zu überschätzenden Bedeutung —: Diese Wirtschafts-
welt und diese — scheinbar doch ganz heterogene — „geistiges Welt mit-
samt allen ihren das Wirtschaftsdasein revolutionierenden Forderungen, mitsamt
allen ihren scheinbar materie-fernen Betätigungen — — bedingen einander.
Das will sagen: wenn das geistige Verhalten, das wir als in einem Um-
kreise herrschend beobachten können, der weit über den Unterschied von „Ge-
bieten“ oder „Strömungen* oder „Richtungen" innerhalb des Geisteslebens hinaus-
geht, nichtein bestimmtes Stigma aufwiese (zu dessen bloBer Sichtbarmachung
schon die Aufstellung eines anderen Types geiïstiger Möglichkeit notwendig ist
und hier versucht werden soll), das es in der Tat aufweist, so könnte diese
äuBere Ordnung der Dinge nicht diese totale Unberührbarkeit von geistiger
Motivation aufweisen, die sie in der Tat aufweist. Da das Prinzip der „Herr-
schaft des Geistes“ in formaler Weise richtig ist, so muB diese vollkommene
Unangreifbarkeit der materialen, politischen, wirtschaftlichen Welt durch den „Geist
daran liegen, daf es keine inhaltliche geistige Wesenheit gibt, — wie weit
man auch diesen tatsächltch vorhandenen Bereich geistiger Gegebenheiten durch-
läuft — — die diesen äuBeren Komplex sogleich zu bewegen vermöchte.
Da sich vom Geist her nichts faktisch ändert, so mufì geschlossen werden:
Dieses Wirtschaftschaos und diese geistige Welt passen zusammen.
Es findet sich in dieser kein eingreifendes Motiv (auBer dem allgemeinen, formalen).
Woran liegt das?
Es liegt daran, daB die mabgebende geistige Einstellung, die durchgängig
ist und die mit dem konkreten Dasein dieser Epochen übereinstimmt, die ist: daf
alle geistige Wirkung keine augenbliekliche nach Art der körperlichen,
sondern eine an Unsichtbarkeit grenzend ferne und allmähliche ist: dab mithin
geistige Faktoren nur nach langen Abläufen irgendwie merkbar und wertbar,
materielle Faktoren aber augenblicklich und sofort einsetzbar und wirkend gewertet
werden: dab somit allem Geistigen emme zeitliche Nachträglichkeit eigen sei,
der die Regelung des Körperlichen zeitlich voranzugehen habe: daf} Körper-
haftes überall die Notwendigkeit momentaner Regelung zeige, demgegeniber
Geistiges jedweden unbestimmten Aufschub vertrage.
Diese Auffassung ist im innersten identisch mit jener, dab das Geistige nur
der „Überbau“ der materialen Welt sei, deren eigentlich bestimmende Máächte
m ihr selbst iägen.

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Aber die gegenteilige, „idealistisches Perspektive, dab der „Geist“ es sei, der
die bewegende Kraft bedeute, macht es sich zu leicht, wenn sie die Wirkung
dieses bewegenden Agens „schlieBlich und endlich® einmal in mehr oder weniger
ferner Zukunít erwartet — —. Denn mit der Aberkennung der sofortigen
Wirkungsfähigkeit des Geistigen mubB dieses wohl oder übel zum unnotwendigen
„Überbaur werden, mögen auch die „Idealisten“ noch so intensiv das Gegenteil
behaupten. Was nicht in bestimmten Sachlagen sofort „da ist“, ist überhaupt
nicht da, muf bei der Ordnung der wichtigsten Sachlagen unausweislich ver-
nachlässiet, d. í. zum „Uberbau“ werden.
Der Geist, als etwas Nicht-Augenblickliches an Wirkungsfähigkeit ver-
standen, ist das Stigma, das diese gesamte geistige, kulturelle Welt zeichnet und
sie zu etwas der augenblickltichen Eingriffs-Fähigkeit und „Notwendigkeit des
körperhaften Daseins“ Nachgeordnetem macht und zu etwas allen Ver-
renkungen und Erkrankungen dieses körperhaften „wirtschaftlichen“ Daseins ein-
griffsunfähieg Gegenüberstehendem, zu etwas — im Effekt — dazu Passendem.
Äber man wird entgegenstellen: das sei nicht das Stigma dieser geistigen
Welt, das sei das Stigma des Geistes überhaupt, als solchen — auf eine andere
Weise als mehr oder weniger allmâählich und ferne zu wirken, sei sämtlichen
Müteln des Geistes überhaupt unmöglich — Geist heifbe im Gegensatz zu Körper:
Fernwirkung.
Darauf antworten wir: Sollte dies so sein, sollte diese „Fernwirkune' auch
zeitlich unumstöBliches Gesetz sein, so gilt es, sich darauf gefaBt zu machen,
daB die körperhaften, materiellen Bewegungen vom Geist überhaupt niemals
eingeholt werden.
Es gibt keinerlei exakten Anhait dafür, daB sich nicht ständig und ewig körper-
hafte Notwendigkeiten vor geistige Erfordernisse drängen und diese ín infinitum
hinausschieben, es gibt — abgesehen von einem transzendentalen Dogma von
ewiger Weltverbesserung — keinerlei Garantie, mit Sicherheit aber keinerlei hand-
habbares Moment dafür, daô unter dieser Perspektive nicht das Chaos in
Permanenz erklärt wird samt allen theoretisch ungeheuerlichen Konsequenzen, die
bis zur Selbstaufhebung jeder Geltung führen.
Man gewöhne sich, in Alternativen zu denken, und hüte sich, „Unmöglich-
keiten“ zu stabilieren, deren antipodisch entsprechende „Möglichkeit“ nur zu Ende
geführt, noch nicht einmal — denkbar ist.
Wir werden also, von undenkbaren Folgerungen genötigt, eine Weile bei der
Erwägung von Möeglichkeiten zu verharren haben, die, wenn auch zu einem Teil
als Aussichtslosigkeiten verschrieen, dennoch eigentlich niemals — wie es doch
bei echten Aussichtslosigkeiten sein müBte — zu Gleichgültigem und zu Nichts
geworden sind, sondern, wenn auch problematisch, immer dringend dagewesen
sind: der Móöglichkeit einer unmittelbaren und augenblicklichen geistigen Wirk-

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samkeit, einer Eventualität, die allerdings aus einer Realitätsempfindung stammt,
die unter den Krâften, die diese Kulturwelt ausmachen, nicht anzutreffen ist.
Die Möglichkeit geistiger Momentanwirkung ist mithin unerläBlich — —
oder: es ist logische Anarchie zu gewärtigen.
Es entsteht die Frage nach dem Paradigma einer solchen Wirkung. Es
zeigt sich, daB nur ein Fall eines sogleich sichtbaren Effekts geistiger Einwirkung
bekannt ist: der der physiologischen Beherrschung des Körpers durch geistige
Momente — — auf dem ganzen übrigen Felde des „Geistes“ aber nichts der-
gleichen bekannt ist.
Es gibt also eine solche Gegebenheit, aber sie gehört nicht in die Politik.
Gibt es nun im ganzen Umkreis des auBerphysiologischen Bereichs keinen
Anhalt für eine Eingriffsmöglichkeit des Geistes in die Dinge der menschlichen
AuBenwelt nach Art des Körpers?
Wir müssen antworten: es gibt keinen — — wenn nicht „die Natur”,
das Naturgegebene des psychophysiologischen Phänomens — modifizierbar,
behandelbar ist.
Hier ist ein kritischer Punkt von kaum überschätzbarer Wesentlichkeit: eine
Stelle, an der „Tatsachen auf ihre „Tatsächlichkeit® hin zu überprüfen sind. Daher
ein Punkt jahrhundertelangen Stockens.
Worauf kommt es an?
Es muB dem Wirken des Geistes die Möglichkeit gegeben sein, mit der
gleichen Unmittelbarkeit, mit der gleichen unzweifelhaften, unmetaphorischen
Drastik und Plötziichkeit da zu sein wie dem des Körpers — — sonst verbürgt
nichts das Aufhören seiner ewigen Nachträglichkeit.
Augenblicklich einsetzbar aber ist nichts absolut Körperloses. Der Geist
oder eine geistige Gegebenheit als soïiche ist nicht augenblicklich einsetzbar.
Um die Dinge des AuBen anzugreifen wie ein Arm, wie eine Maschine oder
wie ein Zahlmittel genügt nicht ein — im Vergleich zur übrigen Erfahrungswelt:
gestaltloses Etwas, wie es selbst die bestimmteste Überlegung ist und das deut-
lichste Gefühl.
Selbst die genaueste Reflexion und die intensivste Empfindung verlieren,
den widerstrebenden Reflexionen und Empfindungen, die die Erfahrungskôrper-
lichkeit auf ihrer Seite haben, im Kampfe ausgesetzt, ihren undurchbrochenen
Umrib, ihre Härte, die absolute Bestimmtheit, die im Geiste Ersatz des Körper-
haften bedeutet — — sie verlieren ihre unantastbare Eindeutigkeit und damit ihr
Wesen und ihre Einsetzbarkeit.
Hier ist keine Mathematik: also gibt es keine Unbezweifelbarkeit, die ver-
möge anschauungsmäBiger Logik durchdringt. Mathematik nämlich heibt Geist
und Körperhaftes, d. ì. gesetzmäbige Anschauung.

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Etwas der Mathematik Entsprechendes ist notwendig.
GesetzmäBige Anschauung ist die Betätigung des Geistes auf der Ebene der
Sinne, ist „reine Sinnlichkeit.
Gibt es also zu dem Gebiet der nichtindividuellen Realitäten keine Sinnen-
haftigkeit, kein Feld gesetzmäbiger Anschauung, keine Sinne — so ist der „Geist*
ewig ein, im buchstäblichsten Sinne: „losgelösters Schemen, der ewig dem Zwang
der körperhaften, sogenannten »„Wirklichkeit« weichen muô.
Diese Alternative gilt es sich in ihrer ganzen KraBheit zu vergegenwärtigen:
es wird zur Auflösung der Probleme der Menschen-Ordnung, zur Aufhebung der
ganzen zwischenindividuellen Pathologie nicht weniger verlangt als eine Modi-
fizierbarkeit des Naturgegebenen: der psychophysischen Sinnlichkeit.
Man mag das íür unmöglich erklâren — aber man sei sich zunächst darüber
klar, daf man damit implicite fast alles für absolut unmöglich erklärt, das aus
der unaufhörtichen Katastrophe des Völkerdaseins herausführen könnte — man
sei sich dann bewubt, dad man damit nicht nur jedes politische Beginnen, dessen
Notwendigkeit doch urnausweichlich ist, dennoch für zweck- und sinnlos erklärt
dafì man einen ewigen Irrsinn damit von diesem Augenblick an statuiert.
Ehe man sich zu dergleichen entschlieBt, sieht man wohl auch eine soge-
nannte Unmöglichkeit noch einmal genauer an. —
Um die Verantwortung für die Behauptung der UnerläBlichkeit eines Aben-
teuers, wie es die Bewältigung eines bis heute sicherlich nicht durchdrungenen
Feldes darstellt, übernehmen zu können, ist vorerst klarzustellen, wie denn über-
haupt ein sozialer Problemkomplex mit einem — (mit Einschränkung gesagt):
naturwissenschaftlichen zusammenhängen könne, sodann, wie sie derart verknotet
sein können, daf} hier eine leben- und todbedingende Verbindung liege.
Wir wollen zuerst mit einigen dogmatischen Worten angeben, welche Be-
ziehung hier gemeint ist.
Politik gilt gemeinhin als die Aufgabe der konkreten Ordnung von Menschen-
gesamtheiten unter einstweiliger Beiseitesetzung der naturwissenschaftlichen und
philosophischen Möeglichkeiten des Menschen.
Politik betraf gleichsam nur die Ordnung des physiologischen Nebenein-
ander, indessen die psychische Sphäre, die kulturelle, der Bereich der „Bestimmung
des Menschen“, als Reservat des Einzelnen angesehen war.
Letzteres war darum auch nicht „bindends, es lag aufierhalb des „Staates”.
Die [deen, die der Einzelne sich über seine personale Existenz machte, waren für
die Welt des Staates höchstens insofern da, als er ihnen irgendeine kulturele
Institution überlieB, und damit war dieses Gebiet neben dem staatlichen bestimint,
das seinerseits von eigenen Faktoren kausiert wurde.
Der Ursachen- und damit der Zielpunkt aller gegenwärtigen
Politik liegt, im Kern, immer noch in der Regelung des physischen

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Ausgleichs, sei es der Einzelnen, sei es der Völkergesamtheiten
untereinander.
Die Politik blickt auf Vielheit, der Einzelnen oder der Völker, und will sie
rangieren.
Nach Erreichung dieser Ordnung hätte die Politik als solche kein Programm
mehr, sie würde, heute vor eine solche Frage gestellt, antworten: alles “Fernere®
werde sich „dann“ ergeben, es handle sich heute um den Zwang der augen-
bliekliehen „Wirklichkeit® und nicht um eine entlegene „Möglichkeits.
Unter Zugrundelegung des hier ausgeführten Gedankens, der die Umkehrung
von all dem ist und der sagt: dafò sich diese sogenannte „Wirklichkeit® durchaus
nicht „verwirklichen“, durchaus praktisch auf keine Weise einrichten lasse, ohne
iene „Möglichkeit® vorher einbezogen zu haben — daf Politik, für sich ge-
nommen, spezialisiert, abgetrennt, als „Politik“ gehandhabt, mit Katastrophen-
pelitik ewig identisch sein müsse, dab jene realitätferne Möglichkeit vorher ge-
regelt zu haben augenblicklich praktisch unerläBlich seí, daf es also einen Fehler
von unabsehbaren Konsequenzen bedeute, das teleologische Gebiet neben statt
vor das staatliche zu lokalisieren, auBer Kausalnexus statt in den bestimmenden
Kausalnexus zu setzen, und zwar nicht, wie gewöhnlich geglaubt wird, um des
Kulturellen, sondern um des Physiologischen willen — unter Zugrundelegung
dieser Erwägung müssen wir also ein anderes Bild von „Politik® gewinnen.
Es wird hier, das sei wiederum unterstrichen, keine „idealistische Politik
gegen eine materialistische gefordert — nicht „Geist“ gegen „Materien ausgespielt,
sondern eine weitergespannte Vorstellung des psychophysischen Verhältnisses
gegen eine zu enge.
Der Begriff von Politik, den wir im Auge haben, ist genötiet, alle Ungelöst-
heit, die sich zunächst in einem psychischen [nnen abspielt, einzubeziehen und
auf irgendeine Weise vor der Praxis zur Entscheidung zu bringen, nicht nur
um der sogenannten „Kultur" willen (der etwa eine rein materielle Sphâäre
gegenüberstünde), sondern gerade und erstrecht um dieser materiellen
Sphäre willen.
Diese materielle Sphâre, die heute so verzweifelt umkämpft wird, schätzen
wir nicht etwa als zu grof, wir urteilen, daB sie zu klein sei, und daf ihr Erweiterung
not tue. Es müssen mehr und andere materielle Angelegenheiten in den Ge-
sichtskreis der Politik gebracht werden, um die Regelung der physischen Welt
zu ermöglichen — das politische Unternehmen scheitert, wie in manchem anderen
Fall, nicht an der Gröbe, sondern an der Kleinheit seines Umfanges. Die
Erweiterung und Einbeziehung heute als apolitisch angesehener Komplexe bringt
nämlich eine Verschiebung des Wertakzentes herbei, der auf den einzelnen
materiellpolitischen Tatbeständen ruht: sie verhindert Überbewertungen, die im
zwischenmenschlichen Organismus zu psychischen Verknotungen und fixen

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Gebilden werden, von denen Sterilität und Auflösung ausgeht. Um konkret zu
sein: eine so ungeheure Bedeuturg das rein wirtschaftliche Interesse immerhin für
den Einzelnen haben mag, so gibt es dennoch auch für diesen Werte, hinter die
es, selbst bei krassestem Materialismus, zurücktritt. Das sind alle naturhaften
Momente im Dasein des Einzelnen (Anfang, Ende, Fortsetzung, naturhafte Bedrohung
u.s. f.), die ja sogar das Urmotiv auch seines wirtschaftlichen Interesses sind,
aber, wie bekannt, nur zu einem geringen Bruchteil durch dieses letztere: zu
sichern sind. Diese naturhaften Momente aber sind im wesentlichen aufierhalb
der Vielheits-Existenz, sie gehen den Einzelnen an. Sie gelten als gemeinschaïts-
gemäB, d. í. als politisch irrelevante Fakta. Es gilt, daB „naturgesetzlich®" die
Kausalreihe der Biologie und die der Soziologie nebeneinander nicht ineinander
laufen. Die soziologische Tendenz kann auf die biologische nur vermittels dieser
einwirken. LieBe sich nun dennoch ein nicht vermittelter Zusammenhang
aufdecken zwischen diesen naturhaften Gegebenheiten und der Vielheits- Tatsache,
so erhielte die letztere mit einem Schlage eine dringende Realität für den Einzelnen,
und aus einer bloBen „Vorstellung“, die die Einzelnen zusammenfaîte, würde
plötzlich realiter und drastisch das, was jeder Nationalismus nur metaphorisch
meinen kann (und z. T. meinen muB, weil diejenige Vielheit, auf die er abzielt,
meistens als solche tot ist). Wird also die „Natur® von der Vielheit erfabt, so
sind die Einzelnen einer solchen Vielheit in der Intensitât ihres (z. B. wirtschaft-
lichen) Gegeneinander eingeschränkt, aus körperhaftem Interesse in ihrem
Widerstreit von sich selbst aus begrenzt, weil die eigene physiologische Lebendig-
keit von einem Gesamtheitsmoment völlig unmetaphorisch mit bedingt ist.
Dieser Zusammenhang, der naturgemäb weder ein „reingeistiger”
noch ein blof biologisch-kausaler sein kann (denn beide erfüllen die
angegebenen Bedingungen nicht) ist — existierend oder nicht, conditio
sine qua non und die einzige einer katastrophenlosen Ordnung. Denn
nur so kann niemals das körperhafte Interesse des Einzelnen bis zur Explosions-
gefahr gegen die Gesamtheit oder Teile von ihr gerichtet sein.
Die Frage eines solchen Zusammenhangs aber ist aller auf „Einzelsinnlichkeits
abgestellten Wissenschaft unzugänglich. Es gilt im Ausmaf dieses Gedanken-
ganges nicht, das Bestehen dieser Verbindung evident zu machen, es gilt, das
Abhängigkeitsverhältnis aller soziologischen Fragestellung von dem Gegebensein
oder Nichtgegebensein jener Verbindung aufzuzeigen und methodologisch darzutun,
daf dieses Problem real ist, der Ausfall seiner Lösung alles entscheidet, und dab}
seine umfänglichste Inangriffnahme und Fortführung Anfang und Zentrum aller
wirklichen Politik ist, dab alles übrige „politische« Tun letzten Endes und nicht
nur letzten Endes ein sinn- und erfolgloses Umherirren sein muf.
Dieses Problem ist nämlich nichts anderes als ein Ausdruck des
psychophysiologischen, und wir haben auch hier die Möglichkeit, aus einer

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scheinbaren Häufung von Schwierigkeiten — da die Fragwürdigkeiten zweier
Bereiche auf einer Zone zusammentreffen — Vorteil zu ziehen, weil so neue
Faktoren in die Rechnung eintreten.
Das wollen wir in gröbter Zusammendrängung andeuten:
Wir können nämlich vermuten und werden es bestätigt finden, dab die un-
erhörte Widerstandskraft der psychophysiologischen Verkettungsfrage zu einem
groBen Teil davon bedingt ist, dab wir dauernd eine psychische GröBe mit
Materialität innerhalb des Einzelindividuums in Verbindung zu bringen
trachteten, das möglicherweise garnicht den Treffpunkt bildet, oder nur von der
physiologischen Seite aus gesehen bilden müBte, nicht notwendig aber von der
psychischen Seite aus. Denn der Geist und sein Organismus sind insofern
unhomogen und in keine Kommensurabilität zu bringen, weil der Körper in einen
biologischen Vielheits-Nexus eingestellt ist, wofür sich in allen Elementen des
„naturgegebenen“ Bewubtseins kein Analogon und kein Anhalt findet. I[nfolge-
dessen empfindet das Bewubtsein, dem nur begreifbar sein kann, was aus ihm
selbst deduzierbar íst,‚ den Körper als etwas auberhalb seiner Entstandenes, als
ein buchstäblich „Hetero-genes“. Dieses Bewubtsein ist für den Körper in
gewissem Sinne zu kurz. Es gibt scheinbar kein BewubBtseinselement, das mir
die Konstruktion meines Körpers vermittelt. Während es für den Gebrauch
meines Körpers Anschauungsformen des Geistes gibt, gibt es für seine Anlage
scheinbar nichts dergleichen. Für Körper von auben gibt es Formen, für Körper
von innen nicht. Die Einzel-Sinnlichkeit reicht logisch (nicht etwa historisch)
nicht so weit wie die Genetik des eigenen Körpers, und sie kann nicht so weit
reichen, weil es für das restlose Begreifen der eigenen Materialität — womit in der
Tat das psychophysiologische Problem gelöst wäre — nicht auf die zyklisch-biolo-
gische, sondern auf die einmalig-kausale Genese ankommt. Einmalig-kausale
Genese bedeutet, im Gegensatz zu der sich immer wiederholenden biologischen
causa, in der ein Ablauf bereits vorgezeichnet ist, die causa zu dieser Vorzeich-
nung — die Konstruktions-Ursache, welche nicht gemäB naiver Vermutung eine
Einzei-Ursache, nur am „Änfang#, sondern eine Quer- oder Konzentrations-
Ursache wäre. Ein Anschauunegesmoment für die einmalig-kausale Genese aber
kann in dem Umkreis einer Einzel-Sinnlichkeit unmöglich anzutreffen sein, denn
diese ist wiederum keine kommensurable psychische GröBe für den Umfang eines
Ereignisses wie das einer allen biologischen Kreislauf konzentrierenden Kausalität.
So kommen psychische und physiologische Data nicht zusammen d. í. so
bleibt das psychophysiologische Problem unhandlich wegen der völligen Un-
geklärtheit des Vrelheitsmoments.
Die Realität einer Vielheitsexistenz ist also der Punkt, von dem
in gleicher Weise das psychophysiologische wie im tiefsten Grunde
das soziologische Problem abhängt, und damit ist die Unerläflichkeit einer

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Entscheidung der naturwissenschaftlichen Grenz-Aufgabe für ein die wirkliche Macht
der Uberlegung einsetzendes politisches Beginnen eegeben.
Die historisch verstandene „Politik“ beurteilt alles so, als ob es nur den
Einzelnen in n-facher Wiederholung gäbe, und übersieht, daf} dieser Wiederholung
ein Sinn zukommen mub, demzutolge die Vielheit als solche eine ebenso
originâre Existenz-Geltung haben könnte als „Einzelheites. Vielheit ist nicht als
das blofì „geistige Band” der „allein realen” Einzelnen, sie ist selbst als Realität
zu-verstehen, deren Sinn zu ermitteln ist. Soll nun nicht die logisch wie ethisch
eteich gefährliche Loslösung der Zweck- und Sinnhaftiekeit von der Frage der
Existenz stattfinden, wobei es für die Systematik, die eine transzendente Realität
einsetzt, nur darauf ankommt, nicht diese mit empirischer Realität zu vermengen,
denn diese ist für die Sinnfrage belanelos, jene entscheidend d. h. sollen
also nicht Beziehungen zwischen psychischen Einheiten ohne das Fundament einer
Wirklichkeit statuiert werden, so bleibt entweder die Doematik des entschiedenen
Materialismus, nach der der faktischen Vielheit einzig im quantitativen Verstande
ein Sinn zukommt, oder es gilt die nachstehende Móöetlichkeit:
Da Addition in geistigem Betracht nicht möglich ist, so kann, soll Vielheit
auf der Ebene der psychischen Realität überhaupt eine Bedeutung haben, unter
Ausschluf des oben Dargestellten die Existenz von Vielheit auf dieser Ebene
gteichfalls nur die Möelichkeit einer Steigerbarkeit bedeuten. Diese Intensivierung
kann aber nicht, wie durch physiologische Anhäufung, in die Breite gehen und
von der zahlenmäfbigen Vervielfachung abhängen, sie kann, da Bewubtsein ein
prinzipielles „Innen“ von unbegrenzter AusschlieBlichkeit ist, nur in einer Erweiter-
barkeit dieses Innen liegen, d.h. in einer Einbeziehung ursprünglich
fremder psychischer Faktoren in eine einzige Bewubtheit.
Alle philosophischen Fragwürdigkeiten, und nicht nur die phiosophischen,
wie wir dartun wollen, laufen nm psychophysiologischen Problem zusammen, das
quer durch jede beliebige Systematik, von der materialistischsten bis zur illusio-
nistischen, einen Rif durch das Denken treibt, den weder diese noch jene, noch
eine parallelistische Schematisterung zu heilen vermögen, und der sich der jeweiligen
Erkläruneshypothese hartnäckie als die Beziehungslosigkeit aufdrängt, die zwischen
einer Begebenheit, deren Körperhaftiekeit zum mindesten ungreifbar ist, der
psychischen, und ihrem physischen Parallelvorgang oder — bei anderer Dogmatik
zwischen der Empfindung des BewuBtseins und der Empfindung der Ausdehnung
klafft (denn dadurch, daf ich beides subjektiv fasse und es etwa „Empfindungen”
oder ähnlich nenne, habe ich wieder den auseinanderstrebenden Inhalt solcher
Empfindungen keineswegs überbrückt).
Da nun in dem Umkreis der bekannten BewubBtheiten ein Zusammentreffen des
psychischen und des materiellen Moments noch nicht zu finden ist, so mubì dies

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darauf zurückzuführen sein, dals dessen Inhalt, der, wohin auch immer durch ein
Schema gewendet, im Prinzip derselbe bleibt, als solcher zu klein ist.
Bei einer methodologischen Untersuchung, welche Faktoren denn nun unter den
zunächst logisch systematischen Elementen eines BewubBtseins fehlen oder als
solche verkannt sein könnten, würde man auf die Frage der direkten Beziehung
von verschiedenen Bewuftseinseinheiten stofhen. Diese scheint zu fehlen. Wenigstens
vermöchten wir für sie tm Gegensatz zu der direkten Beziehung von Bewubtsein
und eigener Materialität, d. t. Körper, im Gegensatz sogar zu der direkten Beziehung
zwischen Bewubtsein und fremder Materialität, ohne weiteres keine Form anzugeben.
—_ Tech bin mir fremder Materie unmittelbar gewib und sollte es fremder Bewubt-
heit nur durch deren Vermittlung sein? (Der Einwand, ich wäre des eigenen
BewuBtseins auch nur „mittels* der Materíalität, nämlich der eigenen, gewib, trifft
deshalb nicht, weil diese GewiBheit sowohl des eigenen Bewubtseins wie der
fremden Materialität sich bis zu einem Modus der „Wahrnehmung* — wenn
auch der inneren — verdichtet, auf den allein es hier ankommt; die externe Be-
wulbtheit als solche aber könnte in dem angenommenen Fall lediglich „erschlossen*
werden, und es ist logisch-systematisch zwmindest nicht einzusehen, warum die
Perception fremder Bewubtheit an der Wahrnehmbarkeit — wenn auch nicht
„von auben# — nicht teilhaben sollte, die ja auch „mittels® der Materialität vor
sich gehen könnte: aber als Empfindbarkeit, nicht als — Syllogismus.) Die
Perception eines Phänomens, das meiner Personalität der Struktur nach näher
sein mub, als das der fremden Materialität, sollte glteichwohl auf entferntere
Methode als die Perception dieser Matertalität vor sich gehen? Nun, eine ge-
nauere Untersuchung würde zeigen, dal, wenn dem so wäre, der Solipsismus
recht hätte und ein jeder sich nur einer Unzahl von fremden Automaten gegen-
über fühlte.
Dieses Minus an Umkreis des Einzelbewuftseins deutet ebenfalls auf die
transzendente Realität der Vielheit im Sinne einer — da es „BewuBtsein von
auBens als solches nicht geben kann — Potenzierune einer einzelnen BewubBtseins-
gröBe, in deren Erweiterungskreis alsdann diejenigen körperhaften Momente fallen
mübten, die auberhalb der unmodifizierten psychischen Einheit liegen: wie schon
angedeutet, die genetischen. Es leuchtet ein, dab für die Konception gerade des
genetisch-konstruktiven Elements des Organismus die Vorstellung einer sozusagen
psychischen Gesamteinheit logisch unerläBlich ist; denn nur in dieser ist überhaupt
das geistige Komplement, das geistige Parallelfaktum zu der eine biologische
Einmaligkeit zum Ausdruck bringenden einmaligen Körper-Kausalität vorhanden,
aus der allein dessen Konstruktion begreifbar werden kann. Da es sich hierbet
keineswegs um eine bloB-logische, sondern durchaus um eine der Exaktheit der
Sinneserfahrung adäquate, unmittelbare Erfahrung handelt, so ist zumindest der Be-
griff gegeben, in dem oben von einer Erweiterung der „gesetzmäbigen Anschauung”,

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also der Behandelbarkeit eines Naturgegebenen, die Rede war. Naturgegeben
kann nämlich nicht notwendie unveränderlich bedeuten, am weniesten dann, wenn
die Naturgegebenheit ín sich so zwiespältig ist, dab sie das Vorhandensein eines
echten Problems zuläbt. Denn es ist nicht angäneie, alles Problemhafte in uns
zu verlegen, gleich als ob diesem „Uns“ noch ein zur Fehlerlosigkeit fähiges
subjekt entspräche. Dies ist nicht immer der Fall, am wenigsten aber bei den
der „Unlösbarkeit® verdächtigen Problemen. Diese bedeuten einen Fehler in
„unserer Natur”, von dem nicht gesagt ist, dafì er nicht korrigierbar wäre: aber
ein anderes ist ein logischer oder verstandesmäbiger, ein anderes ein Sinnenfehler,
der wiederum nicht mit einer „Täuschung” zu verwechseln ist, sondern eine Be-
grenzung der Sinnenhaftigkeit ausdrückt, der wir uns nur auf Grund einer anderen
überhaupt bewubt werden können: sodaô jede wahre Problem-Empfindung nur auf
Grund des Keimes einer anderen („erweiterten® oder wie immer) Sinnlichkeit über-
haupt erst zu begreifen ist.
Wir stehen vor folgenden Mösglichkeiten:
Ist das psychophysiologische Problem lösbar, so gelingen tm Prínzip
zwei Dinge:
Erstens: Das Bewubtsein bestimmter physiologischer Einzelindividuen fst
keine konstante Gröbe, sondern einer Modifizierbarkeit durch psychische Faktoren
einer Vielheit zugänglich, für die ein unmetaphorischer psychophystologischer
Zusammenhang existent ist.
Zweitens: Mit eben dieser Potenzierung, deren materialreiche Technik Thema
eines ganzen Wissenschaftsbereichs ist, ist ein Vorrücken in der Erfahrbarkeit der
eigenen Materialität, d. í. des Körpers, nach der Richtung seines Zustandekommens
hin gegeben, d. h. ein Zusammentreffen und Ineinsrücken des Bewubtseins mit den
genetischen d. 1. den konstruktiven Kräften des Organismus (die sonst weit auber-
halb des Bewubtseins lagen); das bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger als
das Prinzip, sie zu handhaben, als eine Verschiebung der Zugänglichkeitsgrenze
bis in vorher verschlossene Gebiete.
Hiermit hätten wir das Paradigma jener erweiterten Sinnenhattugkeit, die
geistige Leistungen von momentaner Wirksamkeit einzusetzen hätte, deren politische
Relevanz wir nochmals in konkreto aufzuweisen haben.
Aller Fortgang der Philosophie liegt in einer gesteigerten Analysterbarkeit der
eigenen Materialität oder des BewuBtseins von ihr. Und wie die Exaktheit der
Mathematik und mit ihr die Gesetzlichkeit der ganzen physikalischen Welt aus
einem bestimmten Status unserer Sinnenhaftigkeit folgt, so ist, um zu einer
gesetzmäbBbigen Anschauung der soziologischen Welt zu gelangen, eine gesteigerte
Erfahrbarkeit der eigenen Materialität notwendig, weil nur in dieser oder, wenn
man will, in der „reinen Form“ derselben alle Exaktheit beschlossen liegt.

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Diese Beziehung von unmodifizierter Sinnenhaftigkeit und objektiver Natur
(im engeren Sinne) einerseits und von modifizierter „Anschauung“ und der
„Seinesgleichen-Welt# (d. 1. der naturhaften Wertung der Wiederholung des
Einzelnen) andererseits ist auch systematisch evident (man miBverstehe übrigens den
Terminus „Anschauung” nicht, der ja z. B. auch Zeit als Form der „Anschauung?
umfaft). Die Naturerfahrung ist gestaltet, als ob es nur einen Einzelnen gäbe,
die Vielheitstatsache ist für sie irrelevant, sie wird entscheidend für die soziologische
Problematik. Die diesem Komplex gewidmete Wissenschaft aber stellte sich so
ein, als ob der Natur-Begriff vor diesem Komplex zu Ende sei, und lieb eine
entwurzelte Normation ohne Entscheidung über ein Exístenz-Fundament einsetzen
(die an anderer Stelle wohl beeriffene Notwendigkeit transzendenter Realität hier
übersehend), gleich als ob die „eigene Natur” ein gelöstes Problem sei. (Dab
nebenbei die Autonomie der Normation oder die Willensfreiheit durch die Kenntnís
der Gesetzmäbigkeit eines Erfahrungsbereichs aufgehoben werden sollte, ist am
allerwenigsten dann zu begreifen, wenn eine Gesetzmäbigkeit zwar vorhanden
ist, aber aus der Personalität selbst stammt.) Natur-Erfahrung ist so gestaltet, als
ob es nur einen Einzelnen gäbe. Abgesehen von dem höchst beachtenswerten
Faktum der sogenannten „Allgemeingültigkeit®, in dem bereits ein intensiver
Ausdruek für die Möglichkeit externer Bewubtheit liegt, bedeutet Natur-Erfahrung
dennoch im wesentlichen eine Erfahrung meiner selbst, so weit ich ein biologisch-
Einzelner bin. Die Perception der Vielheit aber bedeutet ebenfalis die Perception
meiner selbst, nur nicht biologisch-einzelhaft, sondern biologisch-einmalig, arche-
typisch-kausal. Es ist (mythologisch ausgedrüekt) der Unterschied zwischen
Zeuguneg und („Schöpfung oder) Konstruktion. Der Körper, soweit er willkür-
liches Erfahrungsinstrument ist, eechört dem biologisch Einzelnen — der Körper
seiner Konstruktion nach gehört zu einer Einheit, in den die biologische
Vervielfachung rückgängig gemacht ist.
Wenn somit das Thema der soziologischen Wissenschaft, die Vielheit, für
die Aufhellung des eigentlichsten Natur-Problems relevant wird, also in die Natur-
wissenschaft hineingezogen wird, so darf angenommen werden, daf} damit die
soziologische Fragestellung von dieser naturhaften Wertung der Vielheit ent-
scheidend beeinflubt werden wird.
Der Staat wird Natur, die Antithese hört auf, nicht im banalen Rousseau-
schen Sinne durch Rückkehr zu einem verflossenen Status, sondern durch
Weitertreiben beider Pole, nicht nur des Staates, sondern auch der — psycho-
physiologischen — Natur über ihren gegenwärtigen Endpunkt. Nichts als diese
gesteigerte Perception meiner selbst aber ist es, die einen Fortgang in Richtung auf
das konstruktive Element und eine modifizierte gesetzmäbige Anschauung bedeutet.
So wie unsere unmodifizierte Sinnenhaftigkeit die physikalische Welt ergibt,
so ergibt die modifizierte in gleicher Weise die Erfahrbarkeit bis dahin trans-

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zendenter Verhältnisse (über diese phystkalischen d.i. über die biologisch-einzel-
haft-eigenen Grenzen hinaus), buchstäblich metaphysischer Verhältnisse, zu denen
auch — so wenig man es bísher glauben mochte — die soziologischen gehören.
Alles endlose MiBlingen des soziologischen Problems ruht darauf, dab man
es zu kurz fassen wollte und sich nicht in die gewaltige Unternehmune meta-
physischer Untersuchung, die allerdings nicht rein-spekulativ zu bewältigen ist, ver-
stricken wollte. Aber es gibt dennoch keinen anderen Ausweg.
Der Mensch ist diejenige Form, die in der Systematik der Ganzheit dabei
angekommen ist, daf er seine eigenen Verhältnisse nur universal regeln kann.
Darum ist Metaphysik für ihn kein an sich nicht lebensnotwendiger Luxus und
Überbau, es ist seine eigene, ihm typische und leben- und todentscheidend
unerläBliche Methode, mit sich und seinesgleichen auszukommen.
Das Tier ist fertig, der Mensch unfertig: er muf über die Gesamt-Problematik
hinweg, um sich auch nur mit sich und seinesgleichen einrichten zu können.
Ein vernunftgemäBer Ausdruck der Typenvielfalt der Tierwelt ist bisher ver-
schlossen. Zum Fressen und Zeugen und Dasein bedarf es ihrer nicht. Jeden-
falls aber können wir annehmen, daf der Sinn ihrer Existenz, welcher er auch
immer sein mag, einlinig und schwankungsios ist. Die Vieldeutigkeit und Mehr-
Linigkeit menschlicher Existenz aber kann nicht verstanden werden, wenn es nicht
Beziehungslinien aller Totalität sind, die in ihm zusamrtmenlaufen. Er kann sich
nicht für eine einlineare Richtung entscheiden, ohne sich tierhaft zu verhalten,
der Struktur seiner Vielheit entgegenzuhandeln und sich und seinesgleichen nicht
zur Ruhe kommen zu lassen.
Nicht als ob sein Wesen die bloBe soziologische Ordnung wäre, aber selbst
diese ist aubberhalb seines telos nicht zu erreichen.
Weil alles in ihm auf Gesamtheit abgestelit ist, so kommt er nicht aus, wenn
er dominierende Einzelbereiche für sich, abgesondert, regeln will, er kommt
materiell nicht aus, wenn er nicht diese Materialität in seine Gesamttendenz
einstellt, wenn er sie nicht an ihren Ort stellt, der ganz allein universal, d. í.
metaphysisch, zu bestimmen ist.
Somit ist Metaphysik nicht entiegene Theorie, sondern, sogar ob lösbar oder
nicht, der erste Schritt aller Praxis.
Freilich nicht eine Metaphysik der körperlosen Abstraktion, nicht eine vom
Körper abgelöste Spekulation, welche den Ausgangspunkt aller Philosophie, die
psycho-physiologische Verknüpftheit unter den FüBen verloren hat, nicht eine
entwurzelte Dogmatik, die direkt an makrokosmische Fragwürdigkeiten heran-
will, die allerdings so lange zu leeren Hülsen und unerfahrbaren Formeln werden
müssen, als der Weg zu ihrer Erfahrung auBerhalb der Überlegung bleibt, als
die psychophysiologische Problematik nicht angegriffen, sondern dahingestellt
wird — — nicht all dies, sendern eine Transzendental-Wissenschaft, die, sich vor

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Unmögtichkeits-Erklärungen hütend, aus der disproportionierten Beleuchtung der
Körper-Erfahrung und des theoretischen BewuBtseins eine wechselweise Aufhellung
und ein experimentales Eindringen versucht. |
Metaphysik in diesem Betracht bedeutet also keine logische Nicht-Erfahrung,
die Unmöglichkeit, auf metaphysischem Felde je etwas auszurichten, wird nicht
schon in seine Definition gelegt als prinzipielle Nicht-Erfahrbarkeit — wobei
man sich dann nicht wundern kann, wenn in der Tat nichts ausgerichtet und eine
Unmöglichkeit bewiesen wird Metaphysik bedeutet nicht logische, sondern
nur eleichsam-historische Nicht-Erfahrung. Wir sagen „gleichsam-historischs,
weil Metaphysik und Empirie dennoch nicht in einem Zeit-BewuBtsein auf
einander folgen, wie sonst ein „Fortschritt“ (dies eben lie sie als prinzielle Gegen-
sätze erscheinen), sondern weil sie aufeinander folgen wie zwei Bewuötseins-Modí.
Und tm MaBe der Transeresston in die selbsteigene Unbekanntheit mub
eine Aufdeckung externer Beziehungen fortschreiten, so notwendig, als Auöen
und Innen ein korrelatives Ganzes bilden.
Um nun überhaupt eine Vorstellung von dem geben zu können, was in den
Bewubtseinskreis eines also gesteigerten Anschauungs-Vermögens eintreten könnte,
müssen wir seine Möglichkeit, da ja seine Wirklichkeit auBerhalb der hier
allein möglichen theoretischen Demonstrationen liegt, zunächst so lange setzen,
als wir die Konsequenzen dieser Möglichkeit im System dieses ;(Gedankenkreises
als systematisch-bedenkenfrei erweisen müssen. Das heit: aus dieser Mögtlich-
keit einer Steigerung müssen sich Konsequenzen ergeben, die geeignet sind, das
zu leisten, was sonst auf keine Weise zur Ordnung des soziologisch-menschiichen
Problems geieistet werden kann.
Welche gegenwärtig hauptsächiich verschlossene Erscheinung nun mübte
durch jene Erweiterung einiges Licht erhalten? Zunächst die, die vorausgesetzt
werden muB, um solche Ausdehnung des Gesichtsfeldes überhaupt erst zu ermög-
chen: der psychophysiologische Zusammenhang einer bestimmten Vielheit,
der über den rein generativen hinausgeht. Und zwar insofern, ais er durch einen
psychischen Konnex ergänzt wird, der zu körperhafter Wirkung gebracht werden
kann, weil die mit dem psychischen Moment der Vielheit zusammenhängende
Intensivierung eines BewuBtseins-Inhalts ein Vordringen in die eigene psycho-
physiologische Verknüpitheit gestattet. Diese körperhafte Wirkung aber würde
beweisen, da es sich hier nicht um einen „rein geiïistigen” Zusammenhang
unter den empirischen Repräsentanten einer solchen Vielheit handeln kann, um
eine bloB-psychische Beziehung, wie sie in jeder „Kultur-Gemeinschaft“ auch
vorkommt, um nichts Übertragenes und nichts nur schattenhait-Wirkliches, sondern
um eine unmetaphorisch-reale Verbindung, die — auberhalb des biologisch-zeit-
chen, läângsfolgenden: des generativen — einen Nexus quer durch die Zahl
der zu einer solchen Vielheit gehörenden darstellt.

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Die Existenz einer solchen Einheit einer bestimmten empirischen
Vielheit ist das Grundelement und die Bedingung katastrophenloser
soziologischer Ordnung.
Die Realität der Gesamtheit ist keine in der „logischen Luft“ über den
Einzelnen schwebende, durch einen theoretischen Machtspruch zur „Realität”
ernannte Metapher, wie die Begriffsbildungen der Romantiker von „Volksgeiste
und dergleichen, sondern die Realität der Gesamtheit ist eine Erscheinung am
Einzelnen, eine am Einzelnen empirisch und logisch aufzuzeigende Modifi-
zierbarkeit, ist die am Einzelnen empirisch auftretende und in ihm sich lokali-
sierende, erscheinende Potenz einer Gesamtheitsgröbe.
Diese Einheit, deren Realitätsindizien zur Erscheinung zu bringen sind und
die doch nicht nur ín die Psyche (das. wäre die metaphorische), sondern bis zu
deren Treffpunkt mit der Physis des Einzelnen reicht, kann verfallen, sich lösen
uad aufhören, ohne diese Physis mitzureiBen. „Letzten Endes’, d. h. auf dem
Umweg über die soziologische Verheerung, reiBt sie sie mit. Ja, diese
Generationen überdauernden Exptosionen in den Völkern beweisen den voll
ständigen Verfall solcher Einheiten. Was heute lebt, ist, was díe sogenannten
Kulturvölker anlangt, in der Tat nur der Einzelne in n-facher Wiederholung, und
oberhalb seiner hat die reale Einheit so gut wie aufgehört zu existieren und an
ihre Stelle ist die metaphorische, die „historische, d. 1. lebendig-tote, gefolgt, in
deren künstlichen Schranken und in deren erstorbenen Grenzen sich die Völker
in Krämpíen winden. Denn es ist etwas verloren gegangen, wovon vielleicht
das, was heute, in mediumistisch-umgedeutetem Treiben, „der Kreis“ genannt
wird, eine schwächliche Vorstellung geben kann.
Stellen wir nun die wesentlichsten Konsequenzen einer solchen realen
Verbindung zusammen, so ergibt sich zunächst das Hervortreten einzelner em-
pirischer Individuen, nämlich derjenigen, in deren BewuBtheit intensiv eine Steige-
rung zum Ausdruck kommt. Diese Steigerung aber ist keine rein-interne
Angelegenheit, wie etwa der gesteigerte Gesichtskreis der „Philosophen“ bei
Platon, welche deshalb nach ihm den „Staat“ regieren sollen, solche Potenzierung
mu nach auBen treten, weil sie, wie dargetan, eine gesteigerte Beherrschung
des psychophysiologischen Apparats bedeutet. Sie muô sich als eine — über die
bis dahin normalerweise vorhandene psychophysiologische Einwirkungsmöglichkeit
hinausliegende Fähigkeit der Handhabung körperlicher Phänomene äuBern.
Ein solches Vorrücken im Bereiche der organischen Beziehungen bedeutet,
soweit der medizinische und naturwissenschaftliche Forschungskreis in Frage
steht, Selbst- und Endzweck.
In dem uns vorliegenden Felde soziologischer Problematik aber hat es die
nicht abzuschätzende Bedeutung einer Leeitimation.

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Einer Legitimierung nämlich für diejenigen Individuen, deren psychische
Intensitât einer Steigerung über die normale Ebene fähig ist.
Mit diesem Kennzeichen, das den Priester der alten Völker zum Arzt und
Regenten machte, ist nämlich jenes soziologisch unerläbliche Kriterium eines
objektiven Ranges der Menschen gegeben, an dessen Mangel alle Gemein-
schaft scheitert. Denn alle Chaotik staatlichen und gemeinschaftlichen Daseins,
alle sinn- und regellosen und verzweifelten Organisierungsversuche, alles Durch-
uad Gegeneinander der Einzelnen springt aus der völligen Dunkelheit, die über
jedem Anhalt, jedem Anzeichen ruht, die Menschen naturhaft, d. t. mit all-
vemeingültiger Exaktheit und widerstandausschlieBender sinnenhafter Evidenz, zu
gruppieren.
Ein objektives Kriterium menschlicher Rangordnung kann nicht intern und
mnerlich sein und wenn tausendmal der psychische Wert der entscheidende
Ist — — es mubb die Physiís ergreifen.
In der primitivsten Ordnung menschlicher Gemeinschaft war das Prinzip
der Stufenfolge soziologischen Organisiertseins nur physisch oder vornehmlich
physisch: der Stärkste seines Stammes der Mächtigste. Das war objektiv und
sinnenfällig.
Der nur-psychische MaôBstab, nur-geistige Wertunterschied bedeutet aber
das Fehlen jeden soziologischen Klassifizierungs-Prinzips, weil er,
wenn auch zweifellos existent, so doch intern ist.
Darum kommt der platonischen Staats-Konception und allen den anderen
ihr folgenden, die, eíner nicht abzuweisenden Empfindung Genüge leistend, den
psychischen Wert als MabBstab anthropologischer Ordnungen ansetzen, bei for-
maler Gültigkeit eine restlose Unwirklichkeit zu.
Einen anderen Ausweg (auf den jene tieferen Geister nicht verfielen) aus dem
hoffnungslosen Dilemma: einerseits eine Wertdifferenz unter Menschen anerkennen
zu müssen, andererseits diese Differenz unmöglich allgemeingültig formulieren zu
können, bildet der. gewaltsame EntschluB: die unleugbare Wertdifferenz aus dem
Staatsleben dennoch einfach zu streichen und die Menschen gleich zu setzen, weil
man sie nicht klassifizieren kann. DaB aber, wenn Ungleichheit Realität ist, Gleich-
heit Chaos bedeutet, daB damit der Staat zur Anarchie oder zum Zuchthaus
wurde, sah man nicht oder wollte es nicht schen.
AuBer dem physischen und auBer dem unrealisierbar-psychischen Kenn-
zeichen, d. i. der totalen Abwesenheit eines solchen, aber gibt es das auf dem
Wege über die Psyche wieder physisch sichtbar werdende Kriterium, und
dieses ist das einzige, keinem logischen Einwand unterworfene, mit der ganzen
Evidenz der Sinne auftretende, d.i, mit der Unwiderstehbarkeit physischer Gewip-
heit wirksame Organisierungsprinzip menschlicher Gesamtheiten.

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Damit ist aber erst die physische Seite der Umgestaltung der psychophysio-
logischen Situation getroffen und vor allem noch nicht der Inhalt dessen um-
schrieben, wofür jene Legitimierung das Zeichen ist. Denn der physiologischen
Erweiterung entspricht notwendig ein Vortragen der psychischen Bewubtheit
sowohl des körperhaft-eigenen wie — auf Grund jener hinlänglich erkannten Ver-
krüpftheit zwischen sinnenhaften Elementen und Verstand einerseits und der
„Natur“ andererseits — wie des körperlich-fremden Obiekts, das heit der
Erkenntnis-Grenze überhaupt — — dies aber nicht im Sinne einer privaten, von
der Empirie abgelösten, und somit für eine Gesamtheit unverbindlichen Speku-
lation, sondern als eine eben durch das gegebenenfalis auftretende Ergreifen
physiologischer Verhältnisse sich als exakt ausweisende Orientierung in bis
dahin metaphysischen Beziehungen.
Damit ist folgendes gegeben: eine geistige Leistung, die, obzwar die Struktur
eines scheinbar fernen Auben zum Thema habend, dennoch in engstem Anschlub
an eine sinnenhaft organische Evidenz steht, und in ununterbrochener Verbindung
bis an ein körperlich-fundamentales Interesse reicht und es trifft, das noch pri-
mârer als das ökonomisch-materiale ist.
Dem Träâger dieser geistigen Leistung Widerstand bieten, hieBe heute sich
gegen den Arzt oder den Techniker in seinem eigenen Bezirk zu empôren, nur
dafs beide sich zu jenem verhalten wie die Kopie zur Realität.
Anstatt der Wirtschaít wird Leben, Vitalität und Tod in die Mitte des Staats
gerückt.
Lier liegt somit jene eingangs geforderte geistige Produktion vor, die nicht
wie die gegenwärtige Geistigkeit weit hinter der materialen Notwendigkeit einher-
schwebt, sondern die geeignet ist, momentan eingesetzt zu werden, weil sie
sowohl an Drastik wie an Interesse der primärsten Materialität nicht nur eben-
bürtig, sondern sogar vorgeordnet ist, und dennoch und gerade deswegen
psychisch die Perception der fernsten Beziehungen in sich trägt.
Das ist es, was wir augenblickliche Wirksamkeit des Geistes nannten,
und sie kann — da zur Augenblicklichkeit Materialität nicht entbehrlich ist
nur metaphysisch ausfallen, weil Geist und Körper ein transzendentes Verhältnis
bedeuten.
Flier ist die Einsetzbarkeit des Geistes gegeben, der sich als Hervorbringungs-
prinzip an die Spitze der materialen Bewegung setzt, statt als Erktärungsprinzip
hinter ihr her zu „geistern“. Der Inhalt dieser geistigen Begebenheiten ist zwar
das, was heute „metaphysisch® heiBt, aber in einer gänzlich veränderten Empfindung
seiner Gegenwärtigkeit. Jetzt bezeichnet diese Sphäre ein Entlegenes, von allem
Materiellem Fernstes, dann bezeichnet es die Perception, die Wahrnehmung, die
Erfahrung des Materiellen selbst — — dann ist es ein Mittel, das so in
Gemeinschaftsverhältnisse eingreift wie heute die Technik, aber ein weit

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intensiveres, weil in ihm, das über die „Kunst“, die „Technik®, die ihren Ersatz-
charakter noch immer hat spüren lassen, hinweggreift, die Tendenz des Bewuôt-
seins (die, von Sein oder „Natur" alleingelassen, die „Künstlichkeit« bedeutet)
und die des Objekts selbst wieder so zusamrmentreffen wie in allem „bewult-
Existierenden”.
Und wenn alles BewuBtsein, das als „Wissen“ im weitesten Sinne wesent-
lich wird, im Grunde: Vorher-Wissen meint, so muô, wenn irgend etwas, die
metaphysische Perspektive das leisten, was das konkreteste Ziel des Geistes ist:
den Lauf des Materíiellen zu überholen.
Das kann nicht als „Ideal“ gelten — denn es ist praktisch unerläblich; es
gibt keinen anderen Gedanken, der theoretisch den Punkt bezeichnet, von dem
aus das blinde Drângen in den Beweegungen sozialer Gesamiheiten zu bändigen
ist. Wenn irgend jemand, so ist der „Staatsmann® verpflichtet — voraus-
zuwissen.
Aber die Aufhellune jener metaphysischen Beziehungen wird schon deshalb
für die Vielheit verbindlich, weil sie ohne das Element der realen Gesamt-
heit unzugänglich bleibt. Es ist ein Verhalten der Gesamtheit erfordert,
damit auf einer Ebene etwas erreicht werde, für die gegenwärtig gerade die Viel-
heit das gleichgültigste auf der Welt ist.
Dieses Verhalten ist das Thema der metaphysischen Gesetzgebungen alter
Völker, und mit ihm entsteht das, was in den neueren Zeiten höchstens gelegent-
lich vage und unwissenschaftlich zu formulieren versucht ward, meistens aber und
als Praxis überhaupt unbekannt ist: Das Volk mit einem schlüssig aufzeigbaren
Programm — mit einer Bestimmung, welche die blobe Ökonomie, die heute
das Richtungsprinzip abeibt, deshalb weit übergreiit, weil sie die Leiblichkeit noch
radikaler angeht als jene.
Hier gebraucht der extreme „Idealismus“ als Argument den extremen „Mate-
rialismus* — denn im Körper kommt der bedingungsloseste Materten-Instinkt mit
dem Weg des entlegensten Geistigen zusammen.
Es tritt in einem Volke der metaphysische Zweck auf‚ nicht als eín
„idealistisches“, d. it. ewig vor tauben Ohren tönendes Postulat, sondern als Be-
dingung körperhafter Existenz. Mit dem Vorhandensein dieser zwar teleologischen,
aber dennoch unübertragen körperhaften Bewegungsrichtung, in der Körper und
Geist nur zugleich motivieren, ist für die Gesamtheit die Gefahr desjenigen Riísses
vermieden, der droht, wenn die Körper-lendenzen der Einzelnen oder von Gruppen
solcher gegeneinander zu wirken beginnen, was unfehibar eintreten mub, wenn
sie sich verselbständigen, d. í, nicht in dieser psychophysiologischen Einheit
zusammengeschlossen sind: Hier wird die Verbindung des einzelnen organischen
Lebens mit der Gesamtheit sichtbar, folglich rückt die Bedeutung des Okono-
mischen an die zweite Stelle — — indessen es im Falle des Zerrissenseins des

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metaphysischen Nexus zwischen Körperhaftem und Geistigem notwendig an der
ersten Stelle stehen muB. „Okonomie® aber heift bestenfalls: KompromiB von
Gegeneinander und jeder Appell an eine blo6B-geistige oder historische oder
entlegen generative Einheit, um den Zwiespalt zu beschwören, muB wirkungstos
verhallen, wenn die reale Einheit, d. í. die Gemeinschaft der intensivsten theo-
retisch-konkreten Interessiertheit, verloren gegangen ist.
Volk — das hie6 einstmals, als Geistiges und Körperliches noch nicht aus-
einanderstrebten: Stammesgesamtheit, denn in ihr lag das Seelische beschlossen.
Heute gibt es keine Völker.
Und was es geben wird, wird Stammes- und Problemgemeinschaít, Gemein-
schaft der dringendsten theoretisch-leibhaftigen Fragwürdigkeit sein.

[.
Es ist notwendig, die Luft der politischen Welt vollständig zu verändern. Es
legen heute keine Möelichkeiten in ihr, und höchstens kristallisieren sich tn
ihr geringfügige und mühsame Varianten des Vergangenen oder platte Umkeh-
rungen des Bestehenden (die zuletzt durchaus nichts anderes, sondern nur dessen
im Orunde identisches Negativ sind). Zum Bewuôtsein dieser wahrhaft unge-
heuren, erstickenden Sterilität des soziologischen Bereichs kann indessen niemand
kommen, der nicht die Sphäre anderer Konstellationen gespürt hat.
Unfruchtbarkeit gehört nicht zur Wirklichkeit.
Die hiesigen Denker und Dichter haben entweder das Volk in eine furcht-
bare Gedankenrichtung hineingedrängt, oder sie sind selbst der Ausdruck dieser
verheerenden Tendenz: dafì nur im „Reiche des Gedankens” Reichtum, Buntheit
und Fülle zu erleben sei, daf} das Gehirn „weit“, die Realität aber „eng” sei, dal
der Geist und die Phantasie blühend, die Wirklichkeit nüchtern sei, weshalb man
aus dieser zu jenen „flüchtet”. Letzten Endes hat das Kantische „Nein” zu aller
erfahrbaren Metaphysik einen geradezu ertötenden Erfolg für das ganz konkrete
Dasein gehabt — — oder es ist, wie angedeutet, selbst die ÄuBerung einer un-
erhörten Möglichkeitsarmut im „Realens.
Daf die Welt einen unglaublichen Grad der Langeweile oder der tierischsten
Sensation (die sehr zusammenhängen) erreicht hat, liegt daran, daô sie von dem
realisierbaren und lohnenden AnschluB an die Möglichkeiten des Geistes ab-
geschnitten wurde.
Der Erkenntnis Schranken setzen heiBt nämlich dem konkreten Dasein das
Blut abschnüren und heit bereits innerhalb des rein Theoretischen einem Triebe

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Grenzen setzen, der sich schon darum nicht begrenzen läBt, weil er mit der Logik
schaffenden Fähigkeit selbst zu innerst identisch ist: dem Erkenntnis-Trieb. Hier
verlangt ein voluntarisches Element logische Ausdrückbarkeit und eine Legitimie-
rung als logische, nicht als voluntarische GröBe: hier ist der Punkt, wo Trieb
und Syllogistik angewiesen sind übereinzukommen, nicht zu divergieren, wie sie
es gemälò} dem Kantischen Votum tun müssen, das den Erkenntnis-Trieb
schweigen heibt. Hier íst der Orenzfall, wo die Nichtbefriedigung eines volun-
tarischen Erfordernisses einen logischen Fehler bedeuten mub, wo dieses
voluntarische Erfordernis gletchwohl logisch zufriedengestelit werden muf und
nicht durch irgend einen Machtspruch der Voluntas. Die umfangreichere volun-
tarische Befriedigung bedeutet hier zugleich die gröBere logische Systematisier-
barkeit, und da Ôdigkeit und Verdorrtheit des konkreten Daseins entweder die
Folge der verschlossenen Realisierbarkeit inhaltreicherer Möglichkeiten ist, die
vorerst nur „im Geiste“ existieren, oder beides der Ausdruck der gleichen Un-
fruchtbarkeit — — so ist die vielfältigere, an Auswegen, Mitteln und Môöglich-
keiten reichere, mannigfaltigere rein voluntarisch befreiende, buntere, „angenehmere*
Tendenz zugleich die theoretisch tiefer gegründete, die willensmäBig erwartete
zugleich die — logisch richtigere: die metaphysische Atmosphäre — die
jederzeit alles ermöglichende — — zugleich die exakter Überlegung und
Einstellung entstammende.
An den Anfang allier sozialproblematischen d. 1. politischen Besinnung muf
daher unumgänglich zu der Einsicht gelangt werden: Alles ist möglich — Un-
möglichkeit in menschlichen Dingen ist Übersehen von Mitteln. Denn konkretes
Dasein und äuberste Theorie hängen sprunglos zusammen, und nur die Zer-
reibung dieses Zusammenhangs schafft den Gegensatz zwischen beiden. Es gilt,
sich jederzeit bewuBt zu halten, dab die entlegenste Forschung: erkenntnistheore-
tische, transzendentale, grenzmathematische Untersuchung, daf gerade im Bereich
des von aller Konkretheit fernsten Gedankenfeldes der Umkehrungspunkt zur
rückläufigen Richtung und gerade dort der Aufhellungspunkt für die Konvulsionen
der Praxis liegt, wofern man nur die Linie, die von dort zur drastischen Welt
führt, an jeder Stelle ihres Laufes erkennt. Der Sinn aller Theorie ist Praxis
— — und der Sinn aller Praxis Theorie, und wenn in diesem Weitauseinander-
legenden die Einheit, die praktikable Identität nicht begriffen wird, müssen beide
steril bleiben.
Im Theoretischen liegen die Moöglichkeiten und wenn es gelingt, die
pathologische Empirie anzuschlieBen, so gelten sie auch für diese.
Es steht nicht fest, was gegeben ist. Es gibt kein Gegebenes, keine Wirk-
lichkeit über der Theorie.
Wo die Theorie Nein sagt, ist die Realität in Frage gestellt. Denn Realität
ist eine Frage der „Zusammenfassung“, eine Frage darüber, was zu einer Einheit

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gehört. Diese Zusammentassung aber ist erst „objektiv®, wenn die Theorie die
äuBersten Punkte einer transzendenten Realität festgelegt hat und eine objekt-
mäBige Struktur im Subjektiven, kraft deren sie reale Einheiten zu bezeichnen
und von fiktiven zu unterscheiden vermag. Aus bloBem Dasein kann nichts
entscheidend ergeben, was Wirklichkeit werden wird und was nicht; nur dann,
wenn auf dies Dasein ein Begreifungstypus beziehbar ist, der aus einem wenn
auch vorerst transzendenten Legitimationsbereich stammt, nicht, wenn seine Einheit,
unter der es begriffen wird, einer empirischen oder nach nicht einmal empirisch
restlosen Systematik entstammt,
Man kann aber nicht denken: mag dort die umfänglicher systematisierte
Begriffseinheit sein hier ist dennoch das Faktische auf Seiten der vor-
läufigen Schematisierungen und das Faktische ist doch wirklich, und das wirk-
lichere Zeichen existiert nur „im Geistes wir sagen: man kann nicht so
denken. Denn jenes Unbekannte, X, das die Einheiten erfüllt, das Substrat der
Wirklichkeit, die Drastik als solche, ist beweisend für die jeweils tiefste Form der
Realität: das „Ideal“, das nur im Geiste dem Faktischen gegenüber verbleibt, und
dies nicht logisch und also empirisch notwendig herbeizieht, wie die tiefere Ebene
das Wasser aus der flacheren ist das Trugbild eines „Ideals« oder sein Schatten.
Wo Drastik ist, da ist die jeweils gegründetste Form des Wirklichen, und wenn
sie noch so verneinenswert ist. Denn entweder gelingt der tieferen Systemati-
sierung der Experimentalbeweis oder sie ist keine.
Und dennoeh ist die Faktizität nicht entscheidend für Realität.
Dennoch ist mancherlef da, was nicht real íst — — weil das Kriterium der
Wirklichkeit nicht aus der Oberflächen-Optik kommt, in der willkürliche Einheiten
auftreten, die als wirklich gelten, weil sie materiell abgrenzbar sind, indessen die
Grenzführung echter Wirklichkeit nicht nur von den Linien der Materialität, sondern
von. denen aller Elemente der Welt gezeichnet werden mub. Denn Realität heibt
letzten Endes: „standhalten”, und das Wachsein ist nur darum „realer” als der
Traum, weil es den Kriterien nach mehr Elementen standhält als dieser.
Das Experiment mulö dieser Perspektive rechtgeben: die leere Realität muf
vor der erfüliteren zusammenbrechen.
Es gibt vielerlei „Zusammenfassungen*, aber wie tief sie an Objektität, an
Realität teïlhaben, das erweist sich erst, wenn eine tiefer gegründete Wirklichkeit
sich neben ihnen bildet, — vor der sie erscheinen, wie ein Bild aus drei Farben
gegen eins aus sieben.
Vor den Kriterien der Wirklichkeit aber muB sich alles bloB „Vorhandene
ausweisen und vordem ist nichts gegeben und alles möglich.
Das BewubBtsein, dab die Hauptmasse des „Bestehenden“ nicht real ist, ist
selbst ein realitâtschaffender und zerstöórender Faktor — eine vorerst rein psychische
Einstellung, der erste Schritt in eine intensivere Wirklichkeit.

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Das Primäre ist darum nicht das Angefülitsein der soziologischen Welt mit Be-
stehendem und das Sekundâäre, das von diesem „Freigelassene”, der „Rest, das
noch Mögliche, sondern umgekehrt ist eben dies noch Leere das bei weitem Um-
fänelichere und nur sehr weniges darf sich als wirklich bezeichnen und eine
Richtune zu weisen beanspruchen. Denn das den Raum wegnehmende Bestehende
als das ewige Hemmnis verdankt seine Konsistenz vorerst einem rein Psychischen:
seiner Geltung als Wirktichkeit. Fällt diese Anerkennung, so ist die Atmosphäre
gereiniet und die Welt realiter ebenso weit wie das „Gehirne.
Hier sollen die praktischen Situationen und Forderungen wie sie sich,
gesehen in dem Medium dieser metaphysischen Atmosphâre, darstellen, angegeben
werden: die soziologische Welt ist erfüllt mit unwirklichen Vorhandenheiten. Das
sind, — wofür oben die wesentlichsten theoretischen Momente angeführt wurden, —
die meisten der groben Zusammenfíassungen generativer Gesamtheiten, die wir
unter dem Namen der einzelnen Nationen kennen.
Ein von Grund aus anhebendes Einsehen und Eingreifen in die soziologische
Wirklichkeit — und nur ein solches hat auch nur die Aussicht, über die Ebene
des ewigen politischen Zusammenbrechens einmal hinauszugelangen — kann
vorerst alle diese Zusammenfassungen nicht anerkennen.
Wohl beachtet: können unter solcher Perspektive nur diese nicht anerkannt
werden, nicht etwa zu Gunsten einer Streichung von nationsähnlichen Einheiten
überhaupt und nicht zu Gunsten einer Atomisierung der Völker in die „allein
realen Einzeinen”.
Das, was es an Gegebenheiten gibt, die sich den Namen „Volk® beilegen,
kann nicht anerkannt werden.
Denn es hat — im GroBen gesehen — für sich selbst kein unmetaphorisches
Leben mehr, sondern wird nur noch „gedacht#.
Es ist möglich (in geringem AusmaB sogar wahrscheinlich), daB innerhalb
einer oder der anderen dieser historischen Einheiten, die Engeland, Frankreich,
RuBland, Deutschland, Italien, Tschechien, Irland oder wie immer heiBen, noch
Elemente einer echteren Einheit sich finden, aber diese würden nicht in eine der
Hüllen passen, wie sie heute um díe Uberbleibsel der einstigen lebendigen
Urgebilde aller dieser GröBen — schlottern.
Das erst gilt es sich vor allem anderen bewuBt zu machen: da6 diese un-
geheuerlichen, die ganze Welt ausfüllenden, überall entscheidenden GröBen trotz
aller Konkretheit ihrer AuBerungen, trotz fühlbarster Drastik ihrer Einrichtungen,
trotzdem von ihnen Tod und Erhaitung ausgeht, — — daf diese allgegenwärtigen
Gebilde eine Seite der Scheinbarkeit aufweisen, nicht etwa zu Gunsten der
realen physiologischen Einzelperson — was oft gesehen wurde — sondern
gerade zu Gunsten einer Realität ihrer eigenen Gattung. (Nicht nur
diesseits der „Fiktion*, die die Einzelnen zusammenfaBt, liegt eine Realität —

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eben diese physiologischen Einzelnen — sondern auch jenseits der Fiktion beginnt
wieder eine Realität: nämlich die echte d. 1. am bestimmten Individuum sichtbar
werdende Zusammenfassung der Einzelnen). Das heiBt: diese gegenwärtigen
politischen GröbBen sind durchdringlich, nicht, wie oft kindisch gewähnt wurde,
von der Realität der Einzelnen, körperhaften Personen, der „Menschen®, um
„derentwillen schlieBlieh doch alles da sei®, diese GröBen sind durchdringlich
für eine Realität ihrer eigenen Gattung, vor der allein sie ihre Unwirklichkeit
d. í. ihre Bestandlosigkeit und gleichzeitig ihre konkrete Angreitbarkeit enthüllen
müssen, wofern es nicht, was unwahrscheinlich ist, in einem oder dem anderen
Falle gelingen sollte, in ihnen Elemente von gleicher Konsistenz aufzuweisen.
Für den physiologischen Einzelnen ist die Welt vermauert und verschlossen,
er ist ausweglos einer gefährlichen Irrealitât ausgeliefert, für die Körperlichkeit einer
metaphysischen Einheit ist die Welt leer, und alle diese kolossalischen Hemmnisse
sind von geringerer Dichte.
Es gilt also einzusehen, daB es nicht hotwendig ist, daB das Gegebene
die Richturg der „Entwicklung“ des Geschehens weist, sondern daB für gewisse
Realitäiwen die Welt frei steht — und das Bewubtsein dieser Situation ist selbst ein
objektives, produzierendes Element und erzeugt zunächst das, was wir die meta-
physische Atmosphâre nannten.
Diese für den Raum des soziologischen Ablaufs geltende Modiîizierbarkeit
führt zueleich eine die Zeit-Empfindung betreffende Umschaltung herbei. Wenn
nämlich der Bereich dieses Ablaufs frei wird von den überall vorhandenen starren
politischen Gebilden, die ständig das Minimum eines noch übrigen Platzes für
etwaige Veränderungen übriglassen und bestimmen — — wenn diese dauernde
Unmöglichkeitsperspektive aufgehoben wird, so tritt gleichzeitig an die Stelle einer
unendlich langsamen, den Blick ständig auf kommende und ferne Generationen
gerichteten Progression das augenblickliche, d. h. längstens eine Generation
umfassende Zeitmab für endgükige politische Ziele: denn diese werden ja möglich.
Es tritt das Zeitmaf der Einzelperson in Verbindung (nicht, wie jetzt, mit Teilen)
sondern mit dem Ganzen âuBerster soziologischer Erfordernisse. Denn es wäre
absurd, wenn die Möglichkeit endgüluiger Erfüllungen in den Gesichtskreis tritt,
lediglich sozusagen wegen der GröBbe des Ziels die Erreichung zu vertagen.
„ideals und „Zukunft® sind gegenwärtig so innig verknotete Assoziationen geworden,
daf „Ideal in der „Gegenwart“ vorzustellen gegen alle Denkgewohnheit geht.
Und doch ist das nicht nur die Voraussetzung allen nur halbwegs ernst zu nehmenden
soziologischen Vorgehens, es ist nicht nur die eigentliche, ursprüngliche, naiv-
selbstverständliche Einstellung — — so wie jemand bei Einrichtung seines Einzel-
daseins doch auf dessen Dauer und allenfalls die der Nachfahren, die er erlebt,
abstellt, andernfalls aus einem direkten und lebensvollen Motiv ein begriffliches,
schales und übertragenes würde — es bietet zugleich das Kriterium: alle politischen

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Unternehmungen abzulehnen, die nicht mit bestimmten, aus der Dauer eines Einzel-
lebens entnommenen ZeitmaBen und deren Garantien operieren, analog den Ueber-
legungen jemandes, der von einem Endziel, das er in einem bestimmten Zeitpunkt
seines Daseins setzt, den Fortgang veranschlagt.
Flieran sind insbesondere alle Parteien zu erkennen, die ständig für irgend
etwas „kämpfen und bís zu jeder beliebigen Majorität anschweilen können, ohne
dab sich das Bild der AuBenwelt in wesentlichen Zügen ändert, weil sie zwar
zuweilen ein Ziel angeben, aber nicht den Zeitpunkt dieses Ziels, der ad libitum
zu vertagen ist — — indessen als untrügliches Kennzeichen gelten sollte, daB jede
Programmatik in dem Moment als widerlegt gelten kann, in dem evident
wird, daB sie nach den gemachten Anfängen in ihrer Generation nicht zu
erfüllen ist.
Jahrzehntelang werden die Anhänger sämtlicher Parteien mit irgendwelchen
Fortschritten genarrt, die in ihrer Wesentlichkeit für ein Einzeldasein und-für den
Einzelnen lächerlich sind, und die Veränderungen, die über dieses Nichts hinweg-
täuschen, sind die unwirklichen Variationen in den parteipolitischen Konfigurationen,
die für den Einzelnen schon insofern total irrelevant sind, als ihnen jeder End-
gültigkeitscharakter fehlt.
Die metaphysische Perspektive also enthält zwei Wahrnehmungen:
Erstens: Das Wesentliche soziologischer Wünschbarkeiten ist möglich.
Zweitens: Es ist sofort möglich.
Hiernach erst tritt die aus der Struktur der theoretischen Einleitung folgende
Ueberlegune nach konkreten Gestaltungen auf.
Nationalismus und Internationalismus haben in gleicher Weise recht und
unrecht. Im Vorhinein steht bei jedem uralten Streit zu erwarten, daf} in dem
Streitgegenstand etwas Phantomartiges vorhanden sein mub, das ihn scheinen
läBt, was er nicht ist — anderenfalls sofort und eindeutig zu erkennen sein mub,
ob er bejahens- oder verneinungswürdig ist. Der Streit der Bewegungen um „die
Nation” ist eine Antinomie, die sich dadurch auflöst, dab das Streitobjekt, „die
Nation“, seines Doppelgesichts beraubt wird, das aus einem empirischen und einem
ideenmäBigen besteht, und daB an die Stelle dieser Doppeltheit die reale Zusammen-
gefalìtheit gesetzt wird, von der aus gesehen Nationalismus und Internationalismus
einen zwar reziproken aber genau gleichen Wahrheits- und Irrtumsgehalt aufweisen.
Der Internationalismus verneint die empirischen Nationen: das ist richtig; aber
er verneint die Nation überhaupt: das ist falsch.
Der Nationalismus bejaht die Nation überhaupt: das ist richtig; aber er bejaht
auch die empirische: das ist falsch.
Der absolut zu bejahende, d. i. metaphysische Begriff der Nation bejaht das
Prinzip der Nation überhaupt: sofern wirkt er national; und verneint die empirischen:
sofern wirkt er international.

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Wenn es keine Völker gäbe, so müften welche geschaffen werden. Nun
aber gibt es keine Völker.
Was könnte also überhaupt geschehen?
Hier mul einen Augenblick eine Vergegenwärtigung des prinzipiellen Kausal-
vorganges der Wesenheit „Volk“ stattfinden: und unter den möglichen Annahmen
über diesen ProzeB die Auswahl getroffen werden.
Es gibt zwei denkbare Vorstellungen über die biologisch-kausalen Antecedentien
eines „Volkes“: die eine Vorstellune läBt in der Biogenese eines Volkes keinen
prinzipiell anderen Vorgang sehen als in der Genese eines physiologischen Einzel-
individuums., Danach gibt es eine Biogenese des Volkes als solchen überhaupt
nicht, sondern jedes Einzelindividuum kann bei Erfüllung der physiologischen
Fortpflanzungsbedingungen sich zum „Volke“ vermehren: jedes Individuum hat
potentiell die Eigenschaft des „Stammvaters“. „Volk“ ist die lediglich begriffliche
Zusammenfassung dieser vielen Einzelnen. Die andere Vorstellung läBt eine zu-
nehmende qualitative biologische Veränderung in denjenigen Individuen erblicken,
die sich in der aufsteigenden Linie befinden, insofern nur diesen proportional
der zunehmenden Aszendenz das Aitribut des Stammindividuums nicht nur wegen
ihrer zeitlichen Stellung, sondern auch als biologische Qualifikation zukommt -
bis zum letzten Einzelnen der Aszendentenreihe, der nicht nur historisch, sondern
eben auch biologisch „der Stammvater“ ist.
Es ist unschwer einzusechen, daB die erste Anschauung einen Primat des
Körpers bedeutet, sofern es nämlich lediglich von dem Zeugungswillen und den
accidentiellen Bedingungen dazu abhängt, eine beliebige Anzahl von Individuen
zu kausieren, während jede Begrenzung dieser Möglichkeit eben die qualitative
biologische Andersheit bedeutet, die das aszendente Individuum ven den deszen-
denten scheidet.
Wir legen die zweite Anschauung zu Grunde.
Diese Begrenzung bedeutet die Grenze des Volksumfanges, das vorher
bestimmte, präformierte Volk, und zu ihrem Zustandekommen mubB ein psychisches
Element herangezogen werden: wenn nicht das Psychische lediglich die Wirkung
der materiellen Vermehrung sein soll, (soda so viel Personalitäten zur Verfügung
zu stehen hätten als eben Körper erzeugt werden.) so mubB das psychische Element
als von Anbeginn íür den Umfang der möglichen Vervielfachung mitbestim-
mend gedacht werden. Die biolegische Eigenschaft, die das „Stammindividuum®
heraushebt, ist nun das Verhältnis seines Körpers zu eben der psychischen Gröbe,
die den Umfang der mêglichen Vervielfachung mitbestimmt.
Diese Beziehung bedeutet also zugleich eine bestimmte psychische Wertig-
keit in Bezug auf die Stellung im Deszendenz-System. Der Beeriff
„otammindividuum® hat nicht nur einen biologischen, sondern auch einen psychischen
Inhalt. Er bedeutet eine ganz besondere psychische Sttuktur, die aber in Hinstich

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zum Körperlichen stehen muB. Ebenso wie etwa die männliche und wetbliche
Differenzierung gleichzeitig zumindest das Vorhandensein einer psychischen
Typus-Differenz bedeutet (selbst wenn eine wissenschaftliche Formulierung dieser
Differenz noch nicht gelänge) — — ebenso muf eine genealogische psychische
Differenz in Geltung sein, wenn sie auch erst „im GroBen*“ sichtbar wird und
im unmittelbaren Verhältnis der Generationen überhaupt nicht zuzutreffen braucht.
Um sogleich diese psychische Divergenz anzugeben, deren schematische
Grundlegung wir in dieser Erörterung nicht mehr hineinzuziehen haben, soll ge-
sagt werden: dafì das alleemeine Moment, welches die psychische Wertiekeit in
Bezug auf die Stellung fm Abstammungs-System kennzeichnet, die Enge des
Anschlusses der geistigen Welt an die körperliche und umgekehrt ist, die
proportional der Aszendenz zunimmt, proportional der Deszendenz abnimimt —
freilich nicht notwendig in dem Verhältnis benachbarter Generationen, wohl
aber tm prinzipiellen Verhältnis der Pole einer Generationslinie überhaupt, die
sich einmal als der „erzeugende“ und der „abstammende“ gegenüberstehen.
Es gilt hierbei, sich bewuBt zu bleiben, daf die Aufzeigung dieser Phäáno-
mene zwar empirisch möglich sein muB, daB sie aber in gewisser Weise nichts
anderes als die Formen des psychischen Prozesses selber darstellen, sofern den-
selben eine Kontinuítät über Geschlechter zukommt und daf} das Verhältnis solcher
Formen apriorisch bestimmbar sein muf, wenn es unter psychischen Möglich-
keiten ein Prinzip der logischen Reihenfolge gibt, was, unerachtet aller Hegelsch en
oder sonstigen Doegmatik, kaum abgewiesen werden kann.
Hier ward also als die Situation des „Anfangs“ (nicht etwa eine geringere
geistige Valenz sondern) eine umfangreichere und intimere Bezogenheit von
psychischer und materialer Wirklichkeit aufeinander angegeben.
Dem entspricht die Un willkürlichkeit der geïstigen Hervorbringangen
in den primâren Individuen infolge der zahireicheren und ungehemmteren Kom-
munikationen zwischen Geist und Körper. Daher die alte Zeit und insonderheit
die Urzeit durch das „Gelingen" der geistieen Unternehmungen charakterisiert
ist, weil das Psychische in engerem Zusammenhang mit dem Körperlichen über
umfänglichere und reichere Mittel gebot, aber zugleich auch eben als Psychisches
d. 1. als distant zum Körperlichen weniger hervortrat. Das bedeutet gleichzeitig
die Sicherheit gegen die geringere eigentliche BewuBtheit. Der Weeg war den
Früheren intensiver vorgezeichnet:
Dem alten Volk war sein psychisches Programm mitgegeben.
Alle Teleologie stand dem Physischen näher, und sie war folgeweise mit
dem genealogischen Zusammenhang schon mitgegeben: durch die Stammeseinheit
war das geistige Ziel verbürgt und mehr oder weniger mit ihr identisch. Aber
in dem Mafe, in dem diese unmittelbare Verknüpitheit und der spielende Verkehr
zwischen der psychischen und der materiellen Realität nachlassen d. h. ín dem

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beide auseinandertreten, das Materielle eine extreme AuBeriheit und das Geistige
eine extreme BewuBtheit annehmen, in eben dem MaBe verliert sich die relative
Kürze der Verbindung zwischen geistiger und körperlicher Wesenheit.
Damit ist jener typisch und ewig gegenwärtige Zustand gegeben, in dem
das Bewufitsein, von der Fühlungnahme mit der Welt des Körperlichen abge-
schnitten, auf sich selbst angewiesen ist und aus sich selbst die tausend Auswegs-
Systeme hervorbringt, denen allen die Irrealität d. í. die Unkörperlichkeit anhaftet.
Diese Berührungslosigkeit der beiden Pole der Wirklichkeit bedeutet Sterilität und
Chaos. Die Ebene des Körperhaften ist verschlossen und von ihr aus ist also
nichts zu entnehmen, was dennoch die Probleme des leibhaftigen Daseins auf-
lösen könnte. Was ehedem der Geist leistete in dichtem Anschlut an die körper-
hafte Gegebenheit und ähnlich schwankungslos wie diese, das verfiel mit diesem
Zusammenhang. Die Bewubtheit zerstörte diesen Zusammenhang, denn sie er-
weiterte maBlos die Distanz zu allem Physischen. Diese chaotische Konstellation
ist die ewige Gegenwart: allen geistigen Strebungen und Mitteln entspricht kein
Körperliches.
Die „rein geistigen“ Vorschläge, Ideen dieser Epoche entstammen dem
richtigen Instinkt, daB auf dem Wege über die entlegenste Bewubtheit zur Lösung
zu gelangen sei, aber sie wagen sich nicht weit genug in diese Entlegenheit
hinein, weil sie sich allzuweit von den „Tatsachen“ zu entfernen fürchten und
nicht vermuten, daf nicht nur diesseits sondern auch jenseits des Blof-
Geistigen die Körperlichkeit beginnt d. í, dab der Geist noch auf eine andere
Weise mit der Materialität zusammenzutreffen vermag als auf die dem Bewuft-
sein entzogene oder veräuBerlichte. Die weitest getriebene Bewubtheit trifft wieder
auf den Körper, nicht mehr nur auf dessen empirische, sondern auf dessen ehe-
dem vor-empirische Seite.
Dort liegen die Handhaben, den zerrissenen Nexus zwischen materieller und
psychischer Welt wiederzuknüpfen und die, ewige Unfruchtbarkeit mit sich führende,
Diskrepanzzwischen teleologischem und physiologischem Verhalten zu indifferenzieren.
Das Schema zeigt die umgekehrte Sachlage als „im Anbeginn®:
Vormals: die Physis bringt das geistige Telos mit sich. Ein biologischer
Tatbestand verbúrgt einen geistigen.
Danach: die Physis und das geistige Telos differieren. Geist und Materie
entarten zu beziehungslosen pathologischen Selbständiekeiten.
Sodann: das Telos wird zu einem konstruktiven Element einer bis dahín
prinzipiell nicht gekannten Physis. Ein geistiger Tatbestand verbürgt einen
biologischen.
Das alte Volk ward mit seinem Programm geboren.
Ein künftiges Volk kann auf Grund einer geistigen Realität gegründet
werden in einer Weise, daB die physiologischen Kriterien einer solchen Einheit,

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der biologische Zusammenhaneg quer durch die Reihe der Einzelnen, ebenso
evident werden, wie beim einstmals „natürlichen“ Volk.
Aber in allem, was den Geist angeht, überbietet das „Künstliche® die „Natur“.
Denn was nicht im BewubBtsein ist, kann verloren werden, was aber im Be-
wuBtsein ist, kann stabilisiert werden, und wenn das BewuBtsein die Körperwelt
auf einem bis dahin metaphysisch erachteten Wege wieder erreicht, so ist seine
Absichtlichkeit der ehemaligen Natürlichkeit schlechthin überlegen; wie denn,
wenn es überhaupt ein „vernünftiges« transzendentales Geschehens-Prinzip gibt,
ein solches lediglich darin gesehen werden könnte, da6 etwas, was vormals auf
blindem, „natürlichem# Wege vor sich ging (und darum irgendwann in die
Irre ging), durch das BewuBtsein hindurch müsse, um Subjekt und Objekt ein-
sinnie zu gestalten, welches die einzige Möglichkeit einer sogenannten „Welt
ordnung, zu sein scheint, wofern das Bewuftsein nur nicht im BloB-Psychischen
haften bleibt.
Das alte Volk, das heiBt: ein geistiges Programm ward physiologisch
geboren.
Einst gewährte die Körperwelt eine geistige Aufgabe: eine Teleologie, jetzt
stehen wir vor der Möglichkeit, daf eine geistige Notwendigkeit eine Körperlich-
keit zusammenzusetzen habe, die auf dem Wege der ehemals wirksamen „Natur”
nimmermehr zu erreichen ist.
dieser fehlerhafte Gedanke: — die Menschengesamtheit einem Ziele entgegen-
zuzüchten — ist gedacht worden. Von Nietzsche und anderen. Er ist nur denkbar,
wenn die Gesamtheit, die ein Telos zu erfüllen hat, als reale Einheit schon
besteht. Von einer schon bestehenden wirklichen ZusammengefaBtheit und
deren BewuBtsein aus, das unverlierbar zu machen ist, kann die Natur fortwirken,
aber ohne diese Realität und deren BewuBtsein gilt wieder nur der blinde Weg
der Materie, die, ohne in die Form der Einheits-Körperlichkeit gefangen zu sein,
vom Geiste nicht angreifbar und also nicht lenkbar ist: es wiederholte sich noch
rapider der Irrgang, der schon einmal aus einer Erfüllungs-Epoche heraus in die
„Gegenwart geführt hat.
Es kann nicht mehr, wie einstmals, die reale Gemeinschaft einer Teleologie
gezeugt werden.
Die realen „Völker“ aber sind tot.
Somit kann in diesem Zeitpunkt der Welt eine körperhafte Zusammen-
gefaBtheit, ein reales „Volk“, nur noch durch ihre schon vorbestehende psychische
Wirklichkeit — geeründet werden.
Jetzt ist eine psychische Gegebenheit das Erste — aber ein Psychisches,
das im weiteren Verfolg physische Konsequenzen hat —; sein Inhalt entsteht, so
oft eine Seite der äuBersten entscheidenden Problemsphäre eine augenblickliche,
konkrete, zur momentanen Lösung gespannte Gestalt annimmt; und diejenige

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Vielheit von beliebigen Einzelnen, auf die jene Gestalt der Frage nicht als nur
„philosophische“ d. í. ewig Zeit-habende, sondern als private d. i. befristete und
persönliche absolut lösungs-verlangende und -mögliche Angelegenheit übergreift,
in jenen Einzelnen liegen die Elemente einer „realen Einheit“. Denn die Lösungs-
möglichkeit und -Notwendigkeit, die den allein betrachteten physiologischen
Einzelnen übersteigt, erzeugt hier auf dem psychophysischen Felde etwas, was
sonst nur aus der physischen Ebene bekannt ist: die Steigerbarkeit d. h. eine
reale Wertigkeit der Einzelnen in Bezug auf andere d. í, als Summanden —
und erzwingt damit zuletzt eine nicht begriffliche, sondern physische Einheit be-
stimmter Individuen.
Das Instrument zu deren Zusammenstellung ist also ein vorerst geistiger
Ausdruck der Lösungsmöglichkeit einer nicht letztlich als „Wissenschaft“ sondern
als sozusagen private Notwendigkeit empfundenen Frage — ist eine solche
Lösungsmöglichkeit mit allen íhren Konsequenzen für das konkrete Dasein, die
zusammen eine „kulturelle“ Atmosphäre bildet, in der die Gesamtheit der von
dieser Möglichkeit Betroffenen lebt-
Denn von dieser Lösung und dieser reafen Gesamtheit derivieren, wie oben
dargelegt, die Auflösungen der Probleme des kon kreten Daseins.
Diese Konstituierung einer Gesamtheit „von oben her“, von der ent-
scheidensten und letzten Frag-Würdigkeit her, bedeutet die radikale Umkehrung
der Richtlinie des ewigen MiBlingens: dem Aufbau-Versuch „von unten her”
d. h. von der Vor-Behandlung der Probleme des sogenannten praktischen Da-
seins vor den „geistigen”.
Diese praktischen Probleme, voran die der „Wirtschaft* sind, für sich ge-
nommen und vorerst behandelt, unlösbar. Das bedeutet die jahrtausendalte
Katastrophe in diesen Dingen.
Damit sicherte sich das Geistige letzten Endes vor der völligen Vergessenheit.
So gültieg das Prinzip von unten nach oben bei der Konstruktion physikalischer
Verhältnisse, so ungültig ist es bei der Konstruktion menschlicher. Das ist eine
immense Schwierigkeit und gleichzeitig die Garantie, die einzige, des Niícht-
Materialismus: dab noch die Stillung des Hungers, sicherlich was das Ganze
angeht, von der Erfüllung äuberster, vorerst geistiger Voraussetzungen abhângt.
Die Fälle dieser Kristallisationen von Einheiten um eine teleologische Auf-
gabe waren in der alten Form und werden in der kommenden Art die die
Geschichte lenkenden sein.
Aber die „reale Einheit« war und ist der Ausnahme-Fall des „Ireffens“ unter
den zahllosen Möeglichkeiten des Geschehens, und unter diesen diejenige, von
der aus die anderen Sinn und MaB bekommen.
Dieser als „ausgezeichneter” zugleich seltenste Fall mubte gleichwohl ín seiner
endgültigen, typischsten Gestalt der Schein-Existenz und Metaphorik als anderem

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Pot entgegengestellt werden, weil allein die antipodisch restlose Umschreibung
der Realität überhaupt erst Deutung und Wertung alles Übrigen, Vor-endgültigen
gestattet.
Die reale Einheit nimmt ihren Ausgang von „Oberhalb des Bestehenden,
von einem bestimmten Grad geistiger Spannung und ihr Anfang sieht völlig anders
aus als „Politik, 8
Sie muBte aber vorerst gezeichnet werden, weil sie den Typus abgibt für
eine Struktur, die auch das „Bestehende“ erfassen kann, vorausgesetzt, dafò
Kräfte da sind, die einer anderen Form bedürfen.
Was ist nun das soziologisch „Bestehende“?
Es ist alles unter Ausschaltung des teleologischen BewuBtseins Gewordene,
aber es ist zugleich Reservoir und Material auch der echten d. í. unter Mitwirkung
dieses teleologischen BewuBtseins zustande kommenden Realität. Da aber die
Tendenz des teleologischen BewuBtseins ín den Situationen des „Anbeginns®, der
Urzeit, von der „Natur“ d. h. in einer unwillkürlichen Form gewahrt ist, so
laufen, zwischen der Epoche des „Anfangs® und einer vom teleologischen
Bewubtsein zu bewirkenden zukünftigen, Verbindungslinien, die nur durch die
„Gegenwart® verwirrt und, wenn auch nicht unterbrochen, so doch teilweise
unsichtie gemacht werden — weil wir, im Gegensatz zu den realen Einheiten des
Ehemaligen und Kommenden im Gegenwärtigen den Abschnitt der illusionären
soziologischen Zusammenfassungen durchlaufen, die dem Chaos in der psycho-
physischen Beziehung entstammen.
Aber diese illusionären Einheiten werden irgendwelche Elemente der einstigen
realen enthalten und auf Grund der Geltung alles „Beginnenden® für das Teleo-
logische werden auch diese Schein-Gesamtheiten des „Bestehenden*“, soweit sie
noch von der primären Realität bruchstückhaft einen — vornehmlich genealogischen
— Anteil haben, wesentlich für die zukünftig zu erreichenden Kristallisationen
existenter Volkseinheiten — — werden gerade gewisse von einst unverschrt ver-
erbten Elemente in den im übrigen nur begrifflichen VielheitsgröBen, „Staatens,
auf die Gestaltungen der kommenden Zusammenfassungen ansprechen.
Wie stark nun überhaupt in dem sogenannten Bestehenden, den Einheiten
der soziologischen Welt, umfassenderen und untergeordneten, Verwandlungsmächte
vorhanden sind, läBt sich so lange nicht mit Sicherheit entscheiden, solange die
logische, reale Möglichkeit einer anderen Bildung als der bestehenden nicht ge-
geben ist. Denn blind kann so wenig ein Schritt gemacht werden, als Erfahrung
ohne die Voraussetzungen, die sie ermöglichen. Es können die stärksten Ände-
rungs-Gewalten vorhanden sein, aber sie sind genötigt, einander aufzuheben,
wenn sich nicht ein Gefäb öffnet, ihre Wirkung aufzufangen.
Alle erdachten Ordnungen aber, ob kapitalistische oder kommunistische,
sind Schein-Gefäbe, denn sie verkürzen eine Seite des Existierenden ‘und lassen

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ein Wesentliches drauBen. Ihre Konkretisierung bedeutet notwendig neue Kon-
vulsionen, denn letzten Endes ist die logische Restlosigkeit ein Attribut und In-
gredienz der Wirklichkeits-Fähigkeit.
Hier wurde unternommen, die reale Einheit als die widerspruchsloseste Form
aufzuzeigen und ihre Strukturlinien sollen somit als normative [nhalte formuliert
werden, die das Bestehende annehmen kann, wenn anders ihm als solchen die
prinz pielle Unzulängtichkeit vindiziert werden mub.
Aber in einer Atmosphäre, die über dem Durcheinander wittert, das aus
Realitätsüberbleibseln und Fiktionen besteht und die heutigen „Staaten* bildet —
in einer solchen Atmosphäre können diese Inhaite weder eigentlich wahrgenommen,
noch etwa gar kompetenzgerecht zur Entscheidung gestellt werden. — —
Diese Inhalte setzen bereits eine grundsätzlich andere Anschauungsebene
voraus, von der aus sie überhaupt erst systematisch und konkret zugängtich sind,
ein Einstellungsniveau, das hier durch die „metaphysische Atmosphäre“ bestimmt
wurde, deren erstes Zeichen ist, daf die bestehenden Einheiten als reale Gröben
überhaupt geleugnet werden und demzufolge nicht als zu konservierende Fakta
in Rechuung gestellt werden. Genauer: Leugnung, nicht im Sinne einer grund-
sätzltchen Aufhebung dessen, was vorhanden ist, sondern im Sinne seiner Auf-
hebung für den Fail seiner tieferen Irrealität; ausnahmsloses und grundsätzliches
Zitieren aller politischen Einheiten dieser Kulturwelt — auch der hehrsten,
„geschichilich gewordensten“ und gefühlsbetontesten — vor dies Gericht der Realität,
vor dessen Entscheidung diese nicht anerkannt werden kann: auch wenn eine
der an Alter ehrwürdigsten Zusammenfügungen auf dem Spiele steht, (die für eine
weit umfänglichere Vielheit verbindlich zu sein beansprucht als die ist, für die
sie realiter noch verbindiich ist) d. h. wenn solche historische Einheit buchstäblich
eines halluzinatorischen Charakters teilhaft wird.
Um es noch einmal zu sagen: nicht aus einer platt-internationalistischen
Perspektive heraus waren alte Einheiten zu bekämpfen, nicht aus dem Dogma des
„allein reaten Einzelnen*“ heraus — dies geseizt, gäbe es überhaupt keine soziale
Problematik — sondern zu Gunsten neuer d. 1. wirklicherer Einheiten.
Die Zwischen-Erscheinungen zwischen der „realen Zusammengefalitheit#
und dem, quoad „Volk“, körperlosen Status haben wir vor uns: wenn der Kriístallisa-
tionspunkt einer Gesamtheit zwar deutlich gegeben ist, aber doch noch nicht der
(den Streit zwischen BewuBtsein und Materie ordnenden) metaphysischen Intensitât
entstammt, d. h. ín einem mehr physischen oder mehr geistigen Bereich liegt
(etwa einem nationalen oder einem ökonomischen) — — indessen das „gegenwärtige“
Schein-Gesamtheitsgebilde überhaupt keinen Schwerpunkt hat, oder deren eine
ganze Reihe, die sich nicht endgültig auseinanderzusetzen vermöógen und die
zentrifugalen Erschütterungen in allen „Staaten“ bedeuten. Diese Konvulsionen führen
nicht etwa aus Gründen einer übergeordneten bindenden Energie: „des Staatess,

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nicht zur ZerreiBung des Ganzen, sondern nur deshalb, weil sie einander entgegen-
wirken und sich paralysieren, wobei der Staat nicht etwa die Rolle des stärksten
Dritten, sondern nur die des bewuBten oder tatsächlichen Krafít-Wenders spielt.
Solche Zwischen-Erscheinungen zwischen realer und illusionärer Einheit sind
gegeben, sobald die Bindungs-Energie von Teil-Gesamtheiten eine zentrifugale
Tendenz annimmt d. í. stärker wird als die Bewertung der Staats-Ganzheit, weil
in der Teil-Gesamtheit ein eröberes Deckungs-Verhältnis von Einzelnem und Ganz-
heitauftrittund eben damit diese untergeordnetere Zusammenfassune „wirklicher« wird.
Insofern sind gewisse Parteien „wirklicher* als der ihnen übergeordnete „Staat”,
und eine Politik, die „Realität# zum Richtungspunkt hat, wird hier vor der Möglich-
keit einer faktischen Scheidung, sofern sie bestünde, keineswegs zurückschrecken.
Wo die Ansätze oder Keime wirklicherer Gebilde sich zeigen, die in anderen
Gruppierungen oder ZusammenschlieBungen zu erkennen sind, sich um wirt-
schaftliche, abstammungsmäBige, religiöse oder andere Bindungszentren
gebildet haben: Klassen und Parteien — da hätte ihnen die von teleologischer
Einstellung gelenkte Überlegung bedenkenlos die Entscheidungsfrage zu stellen:
Ob solche Zusammenschlüsse, mit denen die Struktur ihrer historisch über-
geordneten staatlichen Einheit unvereinbar widerstreitet, die Intensität und den
Inhaltsretchtum zur eigenen Lebendigkeit in sich tragen und demzufolge aus der
alten Einheit auch formenmäBig heraustreten wollen oder nicht.
Generationen währendes Parteigezänk müfte mit dem Auftreten dieser Möglich-
keit verstummen und alles blof} taktische Manövrieren gegeneinander mit einem
Schlage seinen übrigbleibenden wahren Absichts-Kern enthüllen:
Die meisten der innerstaatlichen oder querstaatlichen Bindungen würden sich
vor solcher Alternative als unfähig zur eigenen Existenz bekennen müssen.
Sollte aber einmal diese Frage bejaht werden können: etwa von der zum alten
Staat am stärksten zentrifugalen, wirtschaftlichen Schicht, dem „vierten Stand”,
der für sich eine neue Wirtschaftsordnung erfunden zu haben glaubt, sollte eine
solche ganze Klasse in sich eine Kraft des Eigenlebens wahrnehmen, so hätte die
metaphysische Perspektive den Blick auf etwas zu lenken, das seit langen Zeiten —
von geringen, intensitätlosen und aufs Kasuelle gerichteten Gedanken abgesehen —
aus dem Gesichtskreis der weltpolitischen Ueberlegung geraten ist:
Die Wanderung von Völkern und Gesamtheiten als Ganzes.
Wohl tauchte gelegentlich die „Abwanderung“ von mehr oder weniger zahl-
reichen Einzelnen, die in eine andere Volksgesamtheit eindringen, als „Ausweg#
vor „Übervölkerung“ auf > aber kaum ward in neuerer Zeit je ernsthaft ein Unter-
nehmen zu entwerfen versucht, des eleichzeitigen, Millionen umtassenden Sich-
in-Bewegung-Setzens ganzer Volksschichten, eine regelrechte Völker-
wanderung mit dem Ziel einer neuen territorialen Einheit als Lösungsmittel
anders nicht lösbarer Verkrampfungen.

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Alle wirtschaftlichen Verteilungs-Künste werden in einem Falle fruchtlos
bleiben müssen — und die ewige Sterilität und Aussichtslosiekeit aller politischen
Kämpfe zeigt diesen Status — wenn das zu Verteilende, oder die Materie, die zum
Leben der Völker verbraucht wird, fm Verhältnis zum Umfang der Gesamtheiten
nicht ausreicht: Länder oder Rohstoffe. Vergeblich werden sich Ideen von
Wirtschafts-Ordnungen bekämpfen, wenn die Zusammenfassungen von Menschen-
Gesamtheiten unnatürliche sind.
Solange der Verkehr der Welt hindernislos läuft, kann das Mifverhältnis
von Land und Gesamtheit ausgeelichen werden, aber damit schneidet eine einzige
gröfere der tausend möglichen Störungen allen Völkern den Atem ab, die aus
eigenem Material nicht zu existieren vermögen.
So gibt es nur ein logisches Entweder-Oder: reibungsloser Verkehr oder
Wanderung der Völker: das ist entweder Transport der Güter des physio-
logischen Daseins oder Aufsuchen dieser.
Hier kann bei weitem nicht von den Ländern die Rede sein, die unberührt
im ÜbermaB daliegen, noch von allem Einzelnen dieser Möelichkeiten — denn
es kann nicht bestritten werden, daf letzten Endes die gesamte Menschheit von
der Summe der bearbeiteten Länder erhalten wird — nur eine prinzipielle Über-
legung ist anzudeuten:
Der Sturmlauf gegen das „kapitalistische System“ muB ewig vergeblich sein
am Orte seiner Geltung. Der Kapitalismus ist das mächtigste und tiefste aller
Systeme und kann jeden Einwand gegen sich einbeziehen im Gebiet seines
In-Kraft-seins. Um gegen den Kapitalismus überhaupt etwas auszurichten, ist
es vor allem unerläblich, aus seinem Wirkungsbereich herauszutreten, denn
innerhalb dessen vermag er jede Gegenwirkung aufzusaugen. Das räumliche
Verlassen der kapitalistischen Herrschaftsgebiete ist somit unausweichliches Gebot
für alle Zusammentfassunegen, die sich einen anderen Grundrib ihres materiellen
Daseins erstreben und für diejenigen, die das durchaus nicht erstreben, würde
diese Loslösung zuletzt doch die Befreiung von einer ebenso wenig abzuweisenden
wie zufriedenzustellenden Macht bedeuten.
Betraf dieses Prinzip der Völkerwanderung, das in manchem Betracht den
Bürgerkrieg ablösen kann, eine weseniliche Voraussetzung zur Entstehung wirk-
heherer Einheiten: die Entwirrung der zentrifugalen Tendenzen, die den Tod jeder
realen ZusammengefaBtheit im Anbeginn bedeuten müBten — betraf dieses Prinzip
der Verselbständigung von Gesamtheiten die äubere Umgrenzung des Materials
zu einer möglichen realen Einheit, so gilt es noch die unumgänglichsten Be-
dingungen ihrer inneren Struktur in normativen Fassungen aufzustellen.
Es handelt sich um die Zentral-Frage aller Gesamtheitsordnung: die der
Klassifizierunge von Menschen.

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In der realen Einheit ist gemäB dem in der theoretischen Ableitung An-
gegebenen, das Problem des objektiven Ranges gelöst.
Auf alle soziologischen Erscheinungen, die vor diesem typischen vollendeten
Fall eines Zusammen liegen, sind nun dessen fundamentale Gültigkeiten sogleich
dergestalt zu übertragen:
Da die psychophysischen Attribute oder deren Konsequenzen, die in der
realen Einheit als objektive Kennzeichen gewisse Individuen herausheben, in allen
Vorstadien einer metaphysischen Gesamtheit in Gestalt strikter, momentan zu er-
üllender Forderungen gesetzt werden, denen die eine Lenkung des ganzen be-
anspruchenden Individuen sich zu unterwerfen haben, wiewoh! ihnen die aus
einer metaphysischen Gebundenheit resultierende Steigerung ihrer Fähigkeiten
noch nicht zur Verfügung steht.
Das heiBt: es ist eine metaphysische Perspektive anzusetzen, obzwar die
Voraussetzungen des vollendeten Status noch nicht oder nur unvollkommen
(etwa nur vorwiegend psychisch) gegeben sind.
Dennoch gibt es keinen anderen Modus, weder einen über das empirische
Niveau hinaus legenden Zustand zu erreichen, noch objektive Kriterien für realiter
rangunterschiedene Einzelne zu stabilteren, als die Bedingungen dieses Erfüllungs-
Stadiums vorher gewillkürt zu setzen: das ist die in einer metaphysischen
Atmosphäre zutreffende Optik.
Damit geschieht eine vollkommene Umkehrung aller der die „gegenwärtige“
ungesteigerte Situation beherrschenden Geltungen für den Typus des zu
einer „Regierung“ Befugten.
Eine unumgängliche Vorbedingung dafür, daf} ein bestimmtes Individuum
kein psychophysiologisch abgetrennter Einzelner sei, sondern bis in die empirie-
bedingend-matertale Existenz hinein über das gewöhnliche MaB eine Gesamtheits-
Realität darstelle, ist selbstverständlich díe, daB nicht gerade durch die Beziehung
zur GesamtheitsgröBe dieses psychophysiologische Abgetrenntheits-Dasein
irgendwie gestärkt und gefördert werde, wodurch der Accent immer auf dieses
letztere fällt: dahin gehören sämtliche materiellen, der psychophysiologischen
Einzelperson zukommenden Vorteile, die die illusionäre Societas verschwenderisch
auf ihre Leitenden ausschüttet. Jede Entgeltlichkeit und gar die Gestaltung
der entscheidenden Einwirkungsmöglichkeit auf eine soziologische Einheit als ein
Beruf bedeutet im Vorhinein das Zerschneiden der Verbindungslinien, ohne die
eine reale ZusammengefaBtheit nicht konstituiert werden kann: die absolute
Entschädigungslosigkeit der irgendwie richtunggebenden Einzelnen
ist somit erste indíiskutabelste Voraussetzung. Es sei hinzugefügt, daf das un-
bedingt Lebensnotwendige nicht ausgeschlossen sein kann, dab aber im Hinblick auf
das Einzelsein die entscheidenden Elemente in einer nicht scheinbaren

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Vielheit eher der schlechtestgestellten als der bestgestellten ökonomischen
Schicht zu gleichen haben.
In der metaphorischen „Gesamtheit® bleibt der Einzelne, der an die Führung
herantritt, insofern ein Einzelner, als er nur das, was er nach „bestem Wissen und
Gewissen“ ausrichtet, zu vertreten hat und nur für den „outen Willen“ verant-
wortlich ist. Das Mibglücken wird ihm nicht zugerechnet, denn er tat, was
„in seinen Kräften stand® — er haftet nur sozusagen für diligentia quam suis, für
die Anspannung, die er in eigenen Sachen, in den Dingen seines Einzeldaseins
einsetzt: er bleibt, wiewohl Lenkender einer Gesamtheit dennoch ein Einzelner,
solange — im Orofen — die bona fides seine Verantwortung beerenzt.
Bei jeder Art der wirklichen ZusammengefaBtheit oder im Falle der Ortien-
tierung nach ihr haftet der Richtunggebende einer Gesamtheit für den
Erfolg. Es tritt eine völlig-veränderte Beanspruchung an ihn heran, in dem Moment,
da an die Stelle der empirischen eine teleologische Perspektive eingesetzt wird,
deren Kennzeichen nicht mehr ist „guter Wille“ — sondern das Können schlecht-
hin und nur dieses und ohne die Begrenzung des „Menschenmöglichen”.
Es fällt jede Rücksicht auf eine private Bewubtheit, jedes in Rechnungstellen
des besten Willens oder des Einsetzens aller Kräfte eines solchen Einzelnen: es
gilt einzig und allein der Erfolg.
Und er haftet für diesen mit seiner physiologischen Existenz: die Ver-
antwortung íst unbedingt eine leibliche: das MiBlingen einer von ihm ge-
leiteten gesamtheitlichen Unternehmune trifft ihn ausnahmslos körperltch; er
steht nicht mit seinem „Ansehen“ und seinem „Ruf“ für die selbstverständlich
bona fide vorgenommenen sozialen Operationen ein, sondern mit seinem Leben.
Nicht anders steht es bei der Verbundenheit von Societas und einzelner physio-
logischer Existenz und anders kann es folgeweise auch nicht bei einer Einrichtung
nach dieser, einstweilen metaphysischen, Ordnung gelten — — indessen alle die
„Achtung“ und den „Namen“ eines Leitenden treffenden Konsequenzen recht aus
dem Geiste der Metaphorik stammen und der illusionären Gesamtheitsgebilde:
denn noch immer hatte der also „Betroffene“ einen Partei-Anhang um sich, der
ihm sein gutes Gewissen und das Bewubtsein, „das Beste gewollt“ zu haben
erhielt und ihn die „Namensschädigung“* ohne Beschwerden ertragen lief.
So befremdlich und so „überwunden“ ín dieser Kultu:-Atmosphäre das
Verhalten antiker oder naturhafter Volkseinheiten anmuten mag, die den fehl-
greifenden Staatsmann oder den geschlagenen Heerführer an Leib und Leben
straften — nicht weil es ihm an bestem Willen und äuBerster Einsetzung, sondern
am Gelingen fehlte — — so viel näher ist diese Einstellung der objektiven Er-
kenntnis vom Wesen einer wirklichen Gesamtheit.
Gänzlich andere Lebens-Bedingungen gelten für das Individuum, das der
Gesamtheit sozusagen „verfallen” ist, als für das mehr oder weniger private

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(— — obzwar ín der realen Einheit niemand privat’ ist, wenngleich alle an
wesensverschiedene Orte der Societas gestellt sind). An dem entscheidenden
Punkte einer realen Einheit, bei dem man an eine unmetaphorische psychische
„Höhe“ zu denken genötigt ist, beginnt nicht nur die Möglichkeitsebene des
Vorauswissens — — diesen Punkt innezuhaben bedeutet vor allem für den
oder die bestimmten Einzelnen das Auf-sich-nehmen der Bedingung des Vor-
herwissens auf jeden Fall. Denn auch, wenn die psychophysiologischen Voraus-
setzungen der Steigerung nicht oder noch nicht erfüllt sind, so mu dennoch
dieses Erfordernis fixiert bleiben, weil es Ingredienz und Richtungspunkt zu einer
objektiven soziologischen Einheit íst — — es mufì diese Forderung bestehen,
selbst wenn ihre Aufstellung und der Versuch, sie zu befriedigen, in Folge jener
„normalen“ ungesteigerten Situation jedes Risiko in sich birgt.
Diese Belastung ist ein Symptom, daf man es hier mit der zentralen An-
gelegenheit des Einzel- und Gesamtheitsdaseins zu tun hat, und daf dieses
Problem, ein individuell unlösliches, auch nur durch jene körperhafte Ver-
bindung dieser'beiden Existenzformen lösbar ist, die oben analysiert wurde
— — diese Sachlage läBt ein Problem in die Mitte aller „politischen“ Operationen
und in den Interessenpunkt alles öffentlichen Geschehens rücken, statt da es wie
gegenwârtig am Rande aller Konkretheit, in ferner spezialphilosophischer Be-
frachtung eine späârliche und seltene Belichtung erfährt.
In dieser Umstellung, dieser Vertauschung von möglichen Schwerpunkten
soziologischer Wesenheiten, in dem Hervorziehen der fundamentalen Fragwürdig-
keiten gegenüber den provisorischen und in ihrem Hineinziehen in das materielle
Dasein, erkennt man unschwer das Unterscheidungsmoment, das die naiven,
betreffs des Ziels, des telos, in einer einzig möglichen, unbefangenen, selbstver-
stâändlichen Einstellung befindlichen voreuropäischen oder nichteuropäischen Ge-
samtheitsgebilde von dem typisch „europäischen“ trennt: die Erheblichkeit des
„Prophetismus“ für das ganze soziologische Gefüge.
Aber auch ohne daB die psychophysiologischen Gegebenheiten einer Gemein-
schaft so weit potenziert sind, dafò sie als eine reale anzusprechen ist, ist allen diesen
für den Typus der entscheidenden Personen einer Vielheit normierten Gesetzen
zu genügen; denn die Vebernahme aller dieser Bedingungen durch jene Individuen
ist das einzige Kriterium der Erkennbarkeit eines realen Wertunterschiedes von
Einzelnen in einer Gesamtheit und der objektiven und sichtbaren Klassifizierung
in einer solchen. Die objektive Klassifizierbarkeit aber ist essentielle Voraussetzung
einer wirklichen Einheit.
Welche Inhalte in einem gegebenen Falle ein soziologisches Unternehmen
zu verwirklichen habe, liegt weit auBerhalb des Umkreises dieser allgemeineren
Untersuchung, in der aber einiges über die Mittel der Auffindung der für die

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Fr

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Auístellung dieser Inhalte nicht entbehrlichen und nicht ersetzbaren Einzelnen
aus dem Zusammenhange des Ganzen zu folgern war.
Generel! aber sei für die Aussichten eines teleologischen Vorhabens daran
erinnert: —
Zum Wesen einer „theoretischen# Unternehmung gehört durchaus das Ein
setzen der Materie.
Keineswegs kann von einem irgendwie „geistigen” Versuch eine Einwirkungs-
Garantie erwartet werden.
Die Materie aber nach Art der empiristischen politischen Gewalten wirken
zu machen kann nicht im Verfahren eines von der psychischen Ebene, „von
oben“ aus anhebenden soziologischen Gebiides liegen:
Die Macht der illusionären Einheiten bedeutet: die Verbindung dieser meta-
phoríischen Gesamtheit mit der technischen Behandlung der Materie.
Es gibt aber noch einen anderen Zugang zur Materie — das ist der, der
über das psychische Vermögen zu ihr auf dem Wege geht, der an den körper-
mäbigen Entstehungspunkt der wirklichen Einheit führt (wie oben analystert
wurde), in deren Wesen ihre Stellung zum Materiellen und ihre Machtmitte
begründet sind.
Es handelt sich nicht um „Geiste und nicht um „Materie#, sondern um
ihre Auseinandersetzung d. 1. Metaphysik.

IL
Aber die Energien, die entstehen, so oft und wo überall die Einsicht gelingt,
daB die Katastrophe dieser Soziologie ewig sein müsse — diese Energien, die
die Luft der politischen Welt laden, werden an einem Kristallisationsgebilde
niederschlagen und sich dort binden. Dieses Gebilde einer Zusammenfassung,
der Träger solcher Kräfte und Einstellungen wird der Ausgangsort einer im Ver-
hältnis zum Einstmals umgekehrten Entstehungsart einer unmetaphorischen, im
Reiche des Objektiven, existierenden Gesamtheit: — der psychophysischen (statt
der physopsychischen) Genesis; der naturhaft-bewubBten (statt der naturhaft-
unbewuBten). Der Ort eines solchen Beginns ist, im Gegensatz zu einer vom
bestehenden Staate abzweigenden Forschungseinrichtung eine vor der Staaten-
«Wirklichkeit« liegende und solche erst begründende metapolitische univer-
sitas: ein Indifferenzpunkt der soziologischen Realität, aus dem diese überhaupt
erst hervorgeht und ihre Kompetenz nimmt.

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Aber das Problem, das diese universitas zu lösen stellt, ist unmittelbar
kein politisches, sondern ein fundamentales; der formale ZusammenschluB
zu seiner Lösung ist das Politische an ihr. Das erste „Politische”, „Politik«
im „Uranfang® ist zunächst unwillkürliche Begleiterscheinung einer
sich auf weit Zentraleres richtenden BewuBtseinsreihe.
Deren wirkliche Problematik ist identisch mit einem Ausdruck der meta-
physischen und das Soziologische ist hierbei die Hervorbringung einer die Span-
nung zur Auflösung dieser Aufgabe steigernden Atmosphäre, die aus der Aner-
kennung aller der Geltungen sich ergibt, die eine reale Gesamtheit zu konstituieren
vermögen und aus der Bearbeitung desjenigen Feldes, das um jene zentrale Frag-
würdigkeit liegt. (Es gilt nicht die „Sammlung von Geistigen“ zwecks poli-
tischer Betätigung — sondern eine Akkumulierung der geistigen Fähigkeit als
solcher zwecks Bezwingung der ihr an sich, eigentümlich gestellten erkennt-
nismäâBigen Aufgabe.)
Das bedeutet den Arbeitsbereich jener metapolitischen universitas durch
folgende Zielsetzungen abzugrenzen:
Es gilt vorerst die Umschaltung in der Wertung der Möglichkeit — Metaphysik:
Gerade die entlegenste philosophische Theoretik ist nicht um „reiner
Erkenntnis® willen da, sondern um der konkreten Bewältigung aller Existenz-
Pathologie einschlieBlich der soziologischen willen — — ohne um deswillen
vpraktisches „Weltweisheits werden zudürfen. Das Ziel der „Philoso-
phie“ ist nicht Erkenntnis, sondern Bewältigung aller
Konkretheit — — aber dieses Ziel ist nurerreichbar, wenn
sie die Richtung auf reine Erkennfnis innehält.
Das Richtunggebende ist die Dígnítät und Unaufschiebbarkeit gerade der
empirie-fernsten Untersuchung und Einstellung.
Die metapolitische universitas ist gleicherweise selbst der Archetypus einer
realen Einheit wie auch das der Ermittelung der Bedingungen solcher gewidtmete
Unternehmen:
Sofern sie das erste ist, kann sie eben damit nicht umhin, bereits
eine bestimmte universale d.i. aber völlig „politikferne“ Problem-Gestalt zum
Zentrum ihrer Existenz zu machen; sofern sie das zweite ist, wird sie, auf das
„Bestehende® blickend, in diesem die Materialien der realen Einheit aufzu-
suchen und so weit dieselben im Vergangenen und Gegenwärtigen den AuBen-
anblick solcher Einheiten darstellen, die Masse des Tatsachen haften zu-
sammenzubringen haben. (Die dennoch beileibe nicht „Geschichte, sondern
Erzielung von Orientierungspunkten ín einem höchst aktuellen, noch
kaum gegenwärtigen Bereich bedeutet.)
Die Untersuchung des Wesens der realen Einheit, sofern sie fak-
tisch ist, wird sich in zwei Hauptrichtungen begeben: in die eine: die der

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Gewinnung der Principien zur Konstituieruneg einer wirklichen (d. í.
als Volk wirklichen, nicht als Einzelnen-Begriffs-Gesamtheit existierenden) Zu-
sammengefaBtheit, welche Principien identisch sein werden mit bestimmten
psychischen Ausdrücken, die im Zentrum dieses oder jenes realen „Volkes«
gestanden haben oder stehen — — und in die andere: die der Sichtung der
materiellen, psychophysiologischen Konsequenzen und Er-
scheinungsformen der realen Einheit. Zwei sehr umfangreiche Arsenale sind zu
erschöpfen:
Was das sogenannte „Kultur-Volk# angeht, so gibt es Fälle der realen
Einheit nur ín der alten Zeit (und nur unter dieser Perspektive wird es gelingen
zu den ebenso provozierenden wie uneinreihbaren Gegebenheiten der „mytho-
logischen Geschichtes überhaupt eine andere als die hilflos umdeutende Stellung
zu finden) — das Natur-Volk existiert in dem Status der wirklichen Ge-
samtheit auch ín der gegenwärtigen Periode oder besser: ist in dieser Zeit
vorhanden, weil eine Art „geschichtslosen” Daseins ihm eignet, die es zu einem
Volk einer „ewigen Urzeit# macht, wie es mit gutem Grunde genannt wurde.
Hier ist das psychophysiologische Material, das auf Kosten einer realen
Volks- Bindung kommt, ín Sicherheit zu bringen und zu systematisieren.
Dieser Behandlung des Bestehenden: — einer Sichtung desselben zur kon-
struktiven Bearbeitung — entspricht eine abwehrende: der Zusammen-
tragung der empírisch-vorhandenen Elemente in Fällen der realen Einheit korre-
spondiert die Kritik der ungleich näheren soziologischen Gegebenheiten, die aus
unwirklichen „Gesamtheiten® bestehen, und die Zerstörung dieser Tendenzen zur
metaphorischen Einheit. Hier werden vornehmlich alle ldeologien sämt-
licher Parteien zu treffen und zu destruieren sein, nicht etwa von einer
„übergeordneten” Staatsganzheit aus, die selbst nichts anderes ist als eine Partei,
sondern weil diese Ideologien ständig auf einem nur peripheren Prínzip
ruhen, das eben wegen dieser Peripherität niemals eine wirkliche Totalität
soziologischer Komplexe konstituieren kann, die allein lebendig d. í. katastrophenlos
sein kann und die nur von einem sie universal d. í. zen tral beherrschenden
Punkt aus ergriffen werden kann — — also nicht von einer empirischen „Staats-
ganzheit aus (die doch nur Teil ist) sondern von einem, logisch erfordert,
universalen Hervorbringungs-Ort aus, in dem alle denkbaren peripheren
Gesichtspunkte, alle Partei-Teleologien nicht etwa „verbunden“, sondern auf-
gegangen sind. Aufgehoben aber deswegen, weil der Punkt umfassender
Perspektive apriorisch vorher die verschiedenen: Strebungen konzentrisch ent-
hält, von denen die Parteiformulationen nachträgliche losgerissene Verselbständi-
eungen sind, aus denen nimmermehr eine Einheit „kombiniert« werden kann,
weil diese nur mechanisch ausfallen könnte. Die umfassende metapolitische
Finstellung nämlich enthält die antinomischen Tendenzen zwar miteinander

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auseinandergesetzt, aber implicite, weil ihre explicite Form auf etwas
anderes, nämlich auf den oben bezeichneten erkenntnismäBigen Lösungs-Aus-
druck gerichtet ist — obwohl von diesem Anderen aus nun gleichfalls explicite
ein notwendiges Verhalten derjenigen soziologischen Komplexe analysiert werden
kann, die von der Parteidogmatik mit Beschlag beleet werden.
somit wird die negierende Wirksamkeit der metapolitischen universitas sein:
durch Vergleich mit der an eine Endgültigkeit geketteten soziologischen Rege-
lung die ihrem Wesen nach vorläufige Partei-Systematik zu zerstören: hier
muB jede Partei in gleicher Weise zu entlarven sein: denn keine kann an wirklich
übergeordneter Einstellung teilhaben ohne ihren Begriff aufzugeben.
Alle konkreten Versprechungen der Parteien müssen hinfällie sein, weil
Parteien ihrem Wesen nach (als „Teiler von Natur aus) nicht weit genug gehen
können, da die extremste Radikalität einer TeilgröBe mit Notwendiekeit —
Hypertrophie, damit aber Gewaltsamkeit wird, ohne diese Hypertrophie aber
jedes Ans-Ziel-gelangen unmöglich bleibt. Alle Parteien müssen zu unradikal
bleiben, wollen sie nicht offenbare Katastrophenpolitik treiben, alle sind nur vor
die Wahl eines Zuviel oder Zuwenig gestellt und ihrer Natur nach ewig davon
ausgeschlossen den organ-konstituierenden Punkt zu treffen. Dies BewuBtsein
des vollkommen hoffnungslosen und unentrinnbaren Nichts allen parteipolitischen
Aufwandes gilt es hervorzubringen und zwingend überallhin zu fundieren; es
gilt im konkreten Fall die Behauptungen einer Partei zunichte zu machen, nicht
von der Basis ihrer Gegenparteien, sondern von ihrer eigenen, aber ge-
steigerten Tendenz aus, die, als in einem übergeordnet Anderem — der
realen ZusamrmengefaBtheit und ihrer Teleologie — enthalten, auf diese andere
Ebene gebracht, sich nicht nur mit den Prinzipien der Gegenstrebung „verträgt#,
sondern sogar auch deren Intensivierung voraussetzt: wie etwa, wenn es einen
organisch-„natürlichen" „Vertreter« einer Gesamtheit gâbe, (von dem der so-
genannte „geniale Staatsmann® ein zufâälliges und einseitig-ungenaues Abbild ist
und von dessen wissenschaftlicher ErfaBbarkeit hier die Rede war), der nicht
durch eine nur-politische Konstruktion dazu „gemacht# ist, — in diesem âuberste
Volksherrschaft und extremste Autokratie in eins treffen müôten.
Der notwendige Abstand jeder Partei-Programmatik, das Zurückbleiben ihrer
eigenen Forderungen hinter den Gegebenheiten, die durch die Seiten der wirk-
lichen soziologischen Ganzheit ausgedrückt werden, und in Sonderheit die
zeitliche Einstellung der parteihaften Bewegungen sind geeignet, das notwendig
Unzureichende auch bei den Mengen derer sinnfällig zu machen, die die obersten
Bedingungen weder übersehen können noch müssen; die aber durch die Evidenz
jenes Abstandes und der unausweichlichen Alternative zwischen Gewalt oder
ewiger Aufschiebung dennoch in unbegrenztem AusmaB den Parteien abwendig
gemacht werden können.

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Aber eine solcherart zersetzende Auswirkung der metapolitischen universitas
wäre, sowohl der Entfernung von ihrem eigentlichen Zentrum nach die âuBerste
als auch die ihr sichtbarlich antinomischen soziologischen Gegebenheiten am
drastischsten und leichtesten treffende. Bezeichnender aber, differentialdiagnostisch
die Art und Herkunft ihrer Wirkungen — gegenüber anderswoher. kommenden
Angriffen — auf das politische AuBen schärfer beleuchtend, schwieriger zu sehen,
aber von gröberer symiptomatischer Intensität, spannungsvoller ist das Verhalten
der metapolitischen universitas zu dem relativen Innen jener AuBenwelt, zu deren
unmittelbarer Geistigem: zu deren wissenschaftlicher Erscheinung und zu
jener nach innen hin gewandten Energie, die „Kunst heiôt.
Aus dem Wesen der metapolitischen universitas folgt für das Faktum „Wissen-
schaft“ zuerst, daf es eine Freiheit des Geistes genauer eine solche des
Forschens im geltenden Verstande nicht geben kann, und wenn auch diese Frei-
heit nicht von auBen eingeschränkt werden kann, so ist doch der Geist selbst
eine verbietende und gewährende Instanz und ein prinzipielles Gewähren aller
Geistesbetätigungen liegt dann nicht in seiner Natur, wenn in dieser ein Ge-
richtetsein und eine teleologische Struktur angesetzt ist. Es stünde danach nícht
frei, beliebige Antriebe der Untersuchung, auch wenn ihnen noch so exakt Folge
geleistet werden könnte, und auch wenn sie unter die Kategorie einer bestehenden
Disziplin fielen, unter der Idee der „Wissenschaft® zu begreifen. Zu der bisher
einzigen Bedingung der Wissenschaftlichkeit, nämlich der Methode des Vor-
gehens, tritt vielmehr noch die einer von einem obersten Problem-Aus-
druck ununterbrochen fortlaufend legitimierbaren Fragestellung. Es
hätte die denkbaar intensivste Verkürzung des gesamten Wissenschaífts-
Bereichs statizufinden, der zu einer einzigen Gerichtetheit und Übersehbarkeit
zusammenzuziehen wâre, indem der Abstand, ja der Bruch zwischen der Be-
tätigung auf einem konkreten Erfahrungsfelde und der von diesem abgewandten
Einstellung durch die aktuellste, ín keinem Moment aussetzende Kommunikation
— indem diese Diskrepanz als Hemmungsmoment einer einzigen Lebendigkeits-
gröBe so ausgeschaltet wird. Der RiB entstand, indem aller wiBbare Inhalt in
das Erfahrungsreservoir und seine Erkenntnis glitt, der „Philosophie® aber kaum
mehr als die Form des Wissensmöglichen übrig blieb. Das ist der gegenwârtige
Status. Ist indessen, wie oben gesehen wurde, die oberste Problematíik
eine solche, daB ihr trotz ihres transzendentallogischen Charakters
gewisse Inhalte mit Notwendigkeit eigentümlich vorbehalten bleiben,
so wird der ständig momentane Zusammenhang mit der Erfahrungs-Durch-
forschung bestehen und zugleich eine Architektonik der Fragestellungen, die die
absolute Einheit aller Wissenschaftsbewegung sicherstellt Die Scheidung in
Materie, als Objekt der Erfahrungswissenschaften und in das (von allem Empi-
rischen möglichst) „reine“ Bewuôtsein, als Objekt der Philosophie, ergibt mit

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Notwendigkeit einesteils die völlige Unverwertbarkeit der „Philosophie“ für die
Erfahrung, anderenteils ihre absolute Bewegungslosigkeit in bezug auf ihre eigene
Aufgabe. Diese Scheidung involviert Unfruchtbarkeit. Gelingt es aber, eine
prinzipielle und exakte Scheidung in „fremde” und „eigene“ Materialität auf-
zuweisen, davon die erste der Naturwissenschaft zu überweisen ist, die zweite
rein durch das BewuBtsein zur Darstellung zu bringen und dem Denken als
solchen zuzuerteilen ist, so enthält die Philosophie nicht nur die für die Auf-
hellung der an sie zu richtenden Forderungen notwendigen Inhalte, sondern
auch einen Angriffspunkt für die Erfahrung — ein Gelingen also, das uner-
läBliche methodologische Bedingungen für eine konkrete Wesentlichkeit und
Weiterbewegungs-Fähigkeit der Philosophie ist.
Äber bei dieser Konzentration, die die Weite und chaotische Verlaufenheit
wieder zu einem bestimmt gerichteten UmríiB zurückzuhoten hätte, würden nicht
wenige wissenschaftliche Unternehmungen fallen. Zahllose Fragen und die von
ihnen motivierten Bearbeitungen, die sich nicht in diesen Nexus einer bestimmten
Struktur eingliedern lassen, hätten zu pausteren und, wenn ihnen eine Legitimierung
durch das oberste Telos überhaupt nicht zukommt, aufzuhören. Das heibt: Das
„Entbehrliche® irgendwelchen Wissens ist oft behauptet worden. Aber diese Be-
hauptung ist im Falle des mangelnden Kriteriums sinnlos, am sinnlosesten aber,
wenn die empirische „Praxis“ das Entscheidungsinstrument abgeben sollte. Die
hier bezeichnete Aufgabe aber wäre, auf jede Weise darzutun und im eigenen
Geltungsbereich verbindlich zu erfüllen: nämlich alle „wissenschaftliche“ Bewegung,
die über den Umrif der auf einem angebbaren Zweck konzentrierten Wissen-
schaftsgestaltung — der das Kennzeichen ist — hinausragt,abzuschneiden und
zu verursachen, daf diese Hypertrophien bildenden Kräfte durch Unterbindung
sich in ihrem Anteil an der Konstituierung des eigentlichen teleologischen
Organons entbinden müssen.
Aber diese zu einem Teil auflösende Wirkung der metapolitischen universitas
ist das Anzeichen einer neu auftretenden prinzipiellen Möglichkeit; es ist nämlich
hier dem Gedanken an eine überall denkbare Handhabe Raum zu geben, die
Verwandlung eines mit unreduzierbaren Entartungen affizierten Erscheinungs-
zusammenhanges zu erzwingen: es gilt nämlich das Mittel des Eliminierens
rein als solches einmal in Rechnung zu stellen: es ist a priori zu erwarten, daB
eine — wo auch immer angesetzte — umfassende Zurückdrängung und Unter-
drückung an und für sich notwendig eine aus dem Grunde kommende Ver-
änderung heraufbringt und also diese durch jene bedingt ist. Dennoch gilt es der
schweren MiBdeutung auszuweichen, als ob so „Negation um der Negation willen
gefordert würde. Evidentermaben kann allerdings — da die pathologischen Ge-
gebenheiten in einem solchen verneinten Erfahrungskomplex ohnehin unter der
Perspektive ihrer Aufhebbarkeit resultatlos gewertet werden — nur eine Unter-

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bindung von solchen ÄuBerungsformen jenes Komplexes in Frage stehen, die im
Vorhinein zu den völlig legitimierten gehören. Zweifellos nämlich ist gerade
die Konzentration der angreifenden Strebungen auf die als Krankheitsherde
erkannten soziologischen Gebilde, welche eine positive Wertung der übrigen
impliciert, Ursache der unablässigen Sterilität dieses Vorgehens — diese Beschränkung,
die ersetzt werden mub durch eine bei weitem umfänglicher ausgreifende Bearg-
wöhnung gerade der „gesundesten“ und erstrebtesten Gegenden geistiger Wirksamkeit.
Denn: wenn die ewige Unlösbarkeit der katastrophalen Phänomene nicht
schicksalmäfdig „in der Natur der Sache” liegen, sondern einen Grund haben soll,
so mub realiter allerdings ein unterirdischer Zusammenhang, ein sonst verborgener
Ausdruck gleïichlaufender Tendenz der standige unheilvollen und der immer von
aller „Schuld« freien Gebiete menschlichen Agierens zu Tage kommen.
Die Idee ist also diese:
Einer an unheilbaren MiBbildungen erkrankten Erfahrungs-Gesamtheit gegen-
über erweist sich der Angriff auf die als entartet erkennbaren Komplexe ständig
als fruchtlos, während einer Zeitdauer, die rein als solche ein maBloses MiBver-
hältnis und eine Fehlerquelle bedeutet. (Denn die Welt hat nicht für Alles „ewig
„Zeit#) Es gilt sich also darauf zu besinnen, da es ein Mittel der Umwandlung
jener Gesamtheit auf jeden Fall gibt: die Unterdrückung von Energien schlecht-
hin, rein als solche. Diese ist gleichsam a priori gegeben.
Davon fortschreitend wird die Überlegung überhaupt erst darauf geführt,
völlig gerechtfertigte, ja geförderte Phänomene unter der Perspektive ihrer Negierung
zu sehen, um auf diese Weise, heuristisch, zu der Auffindung einer bis dahin ver-
borgenen Identität gewisser konkreter „schuldlosers, ja höchstgewerteter Daseins-
âuBerungen mit jenen schuldverstrickten gebracht zu werden.
Nun aber genügt dieses, obzwar von einer ratio geführte, aber dennoch
vornehmlich zur Willens-Bestimmung vorangehend notwendige Prinzip allein
weder zu der Auffindung des angedeuteten nicht offen liegenden Zusammenhanges
noch zu der konkret durchzusetzenden Zurückdrängung völlig anerkannter und
nicht nur anerkannter Erscheinungen. Was vorerst die Sichtbarmachung jenes
Konnexes zwischen dem intensivst beanstandeten Gebiet: — dem der soziologischen
Problematik — und irgendwelchem anderen noch unbekannten bisher gültigen
Tätigkeits-Feld des Geistes antrifft, so ist klar, daB es eines Dritten bedarf: eines
tertium comparationis, eines Berührungs-Zentrums, an dem gemessen, solcherlei
Zusammenhänge überhaupt erst evident werden können. Dieses Dritte aber ist
die wissenschaftlich transzendentale Einstellung. Deren Antithetik mit der em-
pirisch-soziologischen Pathologie ist hier auseinander gelegt worden. Hâätte diese
Einstellung noch mit einer anderen feindlichen Einwirkung zu rechnen, so
wäre diese als eine mit dem befehdeten soziologischen Status verbundene, ihn
auf irgend eine Weise stützende Instanz zu werten.

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Es gibt nun einen Komplex von Bezeugungen, die den Argwohn auf sich
lenken, im Effekt jener von Grund aus anhebenden Orientierungstendenz ent-
gegenzuarbeiten, indem sie die Intensität eines realen, zu entscheidenden
Hervorbringungen in der soziologischen Welt (und damit nicht nur in ‘dieser)
fähigen, metaphysischen Ansatzes dauernd ablösen.
Der Verdacht: Ursache davon zu sein, dab es nie zu einer metaphysischen
Spannung kommt — die in ihren Konsequenzen unabsehbare Anschuldigung,
diese hervorbringende Spannung immer wieder durch ein Ersetzen ihrer
abzuspannen, trifft alle Kunst in beinahe sämtlichen weiten Be-
reichen ihrer Erscheinungsformen.
Hier ist nun die an die anderen Unternehmungen der metapolitischen uni-
versitas anschlieBende Aufgabe von allesbedingendem Gewicht: zu entscheiden
über die Möglichkeit einer maBlos zerstörerischen Gewalt, die unablässig das Ent-
stehen einer realen metaphysischen Konzentration auflöst, indem sie ihre eigenen,
jener âähnlichen Wirkungen unterschiebt — durch umfängliche Untersuchungen
wäre die Gewibheit zu schaffen über das Bestehen einer Macht, die die Ansamm-
lung jener empirieeründenden Intensität durch ihre eigenen „kleinen“ trans-
empirischen Entladungen ableitet oder verteilt und „unschädlich® macht, damit
aber der katastrophalen AuBensphäre von ihrem gefährlichsten Gegner hilft — —
es wäre strikt zu entscheiden, ob Kunst nicht so eine tiefe Gemeinsamkeit mit
jenem Aufen bilde und dessen ebenbürtiges „Innen“ abgebe.
Dies scheidet den aus metaphysischer Richtung stammenden Angriff von
allen blo6 „kunstfeindlichen”. Die Kunst, die irgendetwas von der Dienität einer
„anderen Ordnung“ besitzt, wird nie den Argumentationen der „Praxis“ und der
„irdischen Not“ erliegen, die mit dem SchluB ihrer „Uberflüssigkeit® oder ähn-
lichem operieren — etwa in der Dialektik Platons oder Tolstois, und niemals
können diese Beweisgründe die Kompetenz zu ihrer Eliminierung aufbringen.
Denn nicht aus einer dem Motiv zur Kunst entgegengerichteten, empirischen,
sondern einzig aus einer diesem Motiv gleichgerichteten, aber dessen äuBerst
mögliche Erfüllung zu überholen fêhigen Triebkraft, die die Tendenz zur Kunst
so weit treibt, da sie über den Beeriffsumfang „Kunst weit hinausträgt — —
kann ein Legitimiertsein zur Aufhebung der Kunst stammen — —. Nicht aus
einer die Absicht der Kunst verneinenden, sondern einzig und gerade aus
der ihr selbst innewohnenden, aber sie übersteigernden, vom Bild
zur Wirklichkeit davonführenden Energie kann auch nur die Fähigkeit kommen,
jene Kräfte, die die nicht zureichenden Zwischengebilde („Kunst* genannt)
hervorbringen, zu unterbinden — um sie, durch Sammlung, bis an den Kristalli-
sationspunkt einer — der „zweiten“ — Realität zu zwingen. Die konkrete Form
aller dieser Verhinderungen und Unterdrückungen wird lediglich und zureichend

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den Ausdruck der ritualartigen Verbannung solcher Wirkungen und Wertungen
für die sich dieser Perspektive Unterstellenden annehmen.
Die Vorstellung dieser verschieden vorgehenden Manifestationen der meta-
politischen universitas könnte die Idee dieser universitas verschleiern, wenn sie
nicht den Gedanken ausschlieBt, daB alle diese ÄuBerungen das Stigma der
„Fheorie“ zu einer unabhängig von ihr existierenden „Praxis“ trügen; daf sie gar
als Bearbeitungen des Bezirks der „kulturellen“ Politik zu gelten hätten, eleich als
ob es diesen und daneben andere „Bezirke“ oäbe; dab die universitas „zunächst”
ein „Gebiet“ umfasse, und daf} daneben andere „Gebiete“ anerkannt würden, die
sie „spâter“ möglicherweise einzubeziehen habe. Diese Deutung würde das Prinzip
der metapolitischen universitas verfehlen und alie diese Scheidungen wären schief.
Denn es gehört zum Wesen jeder Einzelaktion, die von einer präzis als meta-
physisch zu bezeichnenden Einstellung ausgeht, überdeutig zu sein:
Das heift: die „Gebiete“, die eine empiristische „Entwicklung“ geschaffen
hat, passen nur sehr bedingt für das mit dem Kriterium eines metaphysischen
Ablaufs zu bestimmende Geschehen. Die durch Beeriffe „Theorie“ und „Praxis“
und die durch teils in ihnen enthaltene Unter-Kollektiva teils anders definierten
Bereiche, wie Politik, Kunst, Wirtschaft, Wissenschaft, die in der pathologischen
Wirrnis parallel und hauptsächlich getrennt — wenn auch mit „Grenz-
einwirkung“ — fortschreiten, konvergieren in einem als metaphysisch zu bezeich-
nenden processus dergestalt, daf} in einem bestimmten Status dieses Verlaufs
jeder Vorgang gleichzeitig ein Bewirken in allen jenen Bereichen vor-
stellt; sodafì solches Vorgehen als theoretisch und praktisch in einem (näâm-
lich als die in jenem Stadium einzig mögliche Praxis, neben der es eine andere —
jedenfalls metaphysisch orientierte — garnicht gibt, während es eine em-
piristische Praxis fortwährend neben dem Theoretischen gibt); als „politisch® wie
„philosophisch“ wie „wirtschaftlich® tn einem (nämlich als der in jenem Moment
einzig vorhandene Existenzmodus aller dieser Typen) zu erkennen ist.
Es beruhte somit auf einem vollendeten Fehischlub, im Stadium der
Bearbeitung einer bestimmten metaphysischen Problematik zu fragen, wo dem-
gegenüber etwa die Behandlung der wirtschaftlichen sei; vielmehr ist in solcher
Epoche das Einzige, was zur Auflösung der Fragen wirtschaftlicher Soziologie zu
geschehen hat, eben jene von thr völlig absechende Erkenntnis.
Die Idee der metapolitischen universitas kann also nicht wie etwa das Prínzip
der Universität ein „Gebiet®, die „Wissenschaft®, für sich okkupieren und die
vanderen“ anderen Mächten überlassen, sondern sie muB, wohl oder übel, prâten-
dieren, das Indifferenz-Gebilde aller denkbaren „Gebiete“ zu sein und nicht nur
das „theoretische“ — weil sie das Dasein einer übrigen Praxis garnicht anerkennen
kann. Sie sieht einem nur-wissenschaíftlichen Unternehmen der gegenwärtigen

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Empirie einzig deshalb ähnlich, weil diejenige apriorische Einheitlichkeit divergenter
Erfahrungsbereiche, die deren Bewältigung ermöglicht, (entgegen der natürlich-
embryonalen Indifferenziertheit, die zum Chaos geführt hat) im Denken stattfindet;
denn Metaphysik ist nur die entschlossenste d. í. am weitesten gehende Theoretik.
In dieser Überdeutiekeit ist das Auf-Ein-Mal des körperkonstituierenden
Prinzips wiederzuerkennen, das vorherige Zusammen alles später Differenzierten,
das zuvor archetypisch aufeinander bezogen worden sein mubB — denn sie ist ein
essentiale eines empiriekonstituierenden d.i. metaphysischen Vorgehens überhaupt.
Nun wird dem Denken das besondere Prädikat, Einheit von Differentem zu
sein, gewif} koncediert werden, aber es wird nicht eingesehen werden, wie denn
der Übergang von solcher Art Einheiten zu den Bestimmtheiten der Erfahrung
beschaffen sein solle.
Und allerdings wird auf diese Frage nur zweierlei möglich sein: entweder
ein allmähticher völliger Verzicht auf Erfüllung der ewig an das Denken zu stellenden
Forderungen (welche Forderungen nicht etwa als ein beliebiges „Ansinnen“, sondern
selbst als logische Notwendigkeiten auszuweisen sind) das ist entweder eine Auf-
hebune der Erkenntnis selbst. — oder die Sichtbarmachung einer die ganze
Geschichte des Fehlschtages widerlegenden Möglichkeit einer unvergleichbar zu
erhöhenden Leistungsfähigkeit des Denkens.
Es gibt für den Forteang des philosophischen Denkens einen prinzipiell
kritischen Punkt. Er kann nicht anders bezeichnet werden als durch die Frage
einer prinzipiellen Zuwachs-Möeglichkeit, die allein einen Gegensatz zu der langen
machtlosen Vergangenheit des Denkens bedeutet und somit diese nicht zum Mal-
stab werden läbt. Dieser Zuwachs kann nirgendwoher kommen als aus einer
erweiterten Perception der eigenen Materialität, einem Moment, in dem, wie oben
analysiert wurde, gleichzeitie das Vorhandensein der empirischen körpermäbigen
Subjekts-Vielheit akut wird. Jener Entscheidungspunkt der Erkenntnis wird also
bezeichnet durch eine ganz bestimmte Problematik der „Mehrfachheit“. Das heiôt:
die Philosophie wird sich nicht weiter bewegen als durch die Stellung und Be-
herrschung des Problems der Auswertbarkeit einer extensiven Gegebenheit,
jener Mehrfachheit, für eine intensive. Die eigenen typischen Fragestellungen
des Denkens werden über den toten Punkt, an dem sie seit geraumer Zeit ruhen,
nicht hinausgelangen als durch neue Mittel, die aus der Möglichkeit einer Steiger-
barkeit stammen, die objektive wie subjektive Geltung hat d. í. die sowohl als
heuristische Tatsache der Erkenntnis wie als dynamische Quelle der Er-
kennens-Intensität verstanden werden muB.
DieseVielheits-Problematik istaberzugleichinnerstes
Thema und Auflösunes-Punkt aller Fragwürdigkeit, die
politisch heiBen kann. Und indem jenes Problem die der Erkenntnis

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als solcher zugehörige, eigenste, nicht von aufien ihr „aufgegebene“ Angelegenheit
ist, ist die solcherart determinierte Erkenntnís zugleich die neutrale
d. í. nicht von auBen „bestimmte”, nur den eigenen Motiven folgende — — ist
das keineswegs als „politische Philosophie“ zu begreitende Erkennen überhaupt,
dennoch das Denken der Politik.
Das Ziel der Gesamtheit ist das eleiche wie das des Einzelnen; das der
„Politik“ — auch der materiellsten das gleiche wie das des Einzeldaseins: und
nur durch beider Verknüpfung zugânelich: eine Verknüpfung, die für das Vielheits-
Ganze die Lösung der materialen, für den Einzelnen die Lösung der theoretischen
und personalen Problematik ergibt; und für beide die ErfaBbarkeit und Flandhabung
einer bis dahin transzendenten Sachlage.

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