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© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S.

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Zeit und Handlung — Eine vergessene Theorie
Niklas Luhmann
Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie
Time and Action —A Forgotten Theory
A b s t r a c t : The work of VAUVENARGUES (1715-1747) contains the proposal to define action as a
countermovement which is made necessary by the continuous vanishing of the present. This was, at his time, an
unsuccessful theory because a moralistic and later an utilitarian concept of action prevailed. The sociological theory
of action systems, on the other hand, began with a critique of the utilitarian conception of action systems and
never arrived at any depth in apprehending the relation of time and action. This historical case study is used to
discuss problems of the sociology of knowledge and of action theory as well. It is shown that theories with incom­
mensurable conceptual bases (action as movement and action as event) can nevertheless be compared. And it is
proposed to replace the subject/action scheme by a time/action scheme.
I n h a 11: Im Werk von VAUVENARGUES (1715-1747) findet sich der Vorschlag, Handlung zu definieren als
Gegenbewegung gegen den Zeitstrom, die dadurch notwendig wird, daß die Gegenwart in jedem Moment entschwin­
det. Zu seiner Zeit war dies eine wenig erfolgreiche Theorie, da damals moralistische und später utilitaristische Be­
griffe des Handelns bevorzugt wurden. Die dann anschließende soziologische Theorie der Handlungssysteme hat sich
mit einer Kritik des Utilitarismus begnügt und hat nicht auf Vorgängertheorien zurückgegriffen. Sie ist niemals zu
einem ausreichenden Verständnis der Beziehung zwischen Zeit und Handlung gelangt. Anhand dieser historischen
Fallstudie werden einige Probleme der Wissenssoziologie und der Handlungstheorie zur Diskussion gestellt. Vor al­
lem wird gezeigt, daß Theorien mit inkommensurablen begrifflichen Grundlagen (Handlung als Bewegung, Hand­
lung als Ereignis) gleichwohl verglichen werden können, und es wird vorgeschlagen, für Zwecke der Handlungssy­
stemtheorie das Subjekt/Handlungs-Schema durch das Zeit/Handlungs-Schema zu ersetzen.

I. stellt hatte, hat sich bis heute von ihr nicht ge­
trennt. Er hat lediglich die Zeitstruktur aus dem
Die soziologischen Bemühungen, Handlungstheo­ Zweck/Mittel-Schema wieder herausabstrahiert
rie oder action research wieder in den Vorder­ und sie als Differenz von instrumenteller (zu­
grund der Theoriediskussion zu bringen, haben kunftsorientierter) und konsummatorischer (ge­
sich vorschnell auf das Subjekt und auf dessen genwartsorientierter) Handlungsbestimmung be­
Motive festgelegt. Es geht ihnen nicht in erster nutzt, um sein allgemeines Aktionsschema zu
Linie um das Handeln selbst, sondern um den, konstruieren (PARSONS 1959). Unabhängig also
der handelt. Anhand der These, daß man Han­ von allen (ohnehin sehr vordergründig geführ­
deln nur verstehen könne, wenn man den vom ten2) Kontroversen um „Handlungstheorie“ oder
Handelnden gemeinten Sinn und seine Situa­ „Systemtheorie“ kann man mithin sagen, daß
tionsauslegung kenne, hangelt dieser Theorievor­ die soziologische Theorie heute unbestritten da­
schlag sich zum Subjekt und dessen Motiven von ausgeht, daß der Handelnde nach seinen
oder Interessen zurück1. Am Handeln läßt sich Intentionen handelt und daß seine Zeitvorstel­
dann vorführen, wie unentbehrlich dieses Sub­ lung die Struktur seiner Intentionen bestimmt,
jekt ist für jede adäquate Erkenntnis der sozialen etwa die Weite seines Zeithorizontes, seine Risi­
Wirklichkeit. In diese Konzeption läßt sich dann kobereitschaft, seine Bereitschaft zur Vertagung
Zeit einbauen als Zeitdifferenz von Zweck und von Befriedigungen.
Mittel. Zweck und Mittel sind involviert, wenn
man rationales Handeln unterstellt, und rationa­ Muß man sich auf diese Prämissen einlassen?
les Handeln ist nach MAX WEBER die zweck­ Oder kann man ihre Verknüpfung kappen, näm­
mäßigste Unterstellung, wenn man als Soziologe lich die Zeitlichkeit des Handelns gegen die Mo­
die soziale Wirklichkeit erklären will. Auch TAL- tivstruktur verselbständigen? Man wird nicht be­
COTT PARSONS (1937), der diese Auffassung streiten wollen, daß der Handelnde nach seinen
WEBERS als Motto seinen Analysen vorange­ Intentionen handelt. Aber kann das nicht auch
heißen, daß er, wenn er handelt, sich Intentio-
Unauthenticated
1 Vgl. für viele: COLEMAN 1976; CROZIER und Download Date | 7/21/17 10:43 AM
FRIEDBERG 1977. 2 Speziell hierzu LUHMANN 1978 a.
64 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81
nen zu beschaffen hat? Wenn aber diese Auffas­ versuchsweise durch eine gegenbegriffliche, rein
sung möglich ist, und sie wird für den Motivbe­ physikalische Handlungstheorie ersetzt (HOB­
griff in der Tat vertreten (MILLS 1940; WHITE BES). Diese Theoriewende war am Kausalbe­
1958; BLUM und McHUGH 1971), kann man griff orientiert gewesen und hatte die Finalur­
dann im Aufbau einer Theorie die Zeitlichkeit sachen durch kausalmechanische Ursachen er­
des Handelns so spät einführen, nämlich erst als setzt3. Entsprechend ging man vom guten Le­
Moment einer unter sozialen Pressionen elabo- ben auf das Leben schlechthin zurück. Diese
rierten Sinnintention? Ist, nochmals anders ge­ Umkonstruktion war indes zu radikal, war
fragt, mit der Bezugnahme auf das Subjekt des vielleicht auch am falschen Problem vollzogen
Handelns oder auf das Individuum überhaupt worden. Jedenfalls erzeugte sie zunächst mehr
eine theoretisch durchdachte, Zeitlichkeit mit­ offene als beantwortete Fragen. Sie hinterließ
intendierende Aussage verbunden? Oder dient dem 18. Jahrhundert eine offene Diskussion
die Berufung auf Titel wie Subjekt oder Indivi­ über das Verhältnis von physikalischen und mo­
duum lediglich dazu, der „Handlungstheorie“ ralischen Handlungsbestimmungen, die beide nur
in den gegenwärtigen Diskussionen Überholpre­ prätendierten, Natur zu sein. Ungelöst war vor
stige zu verleihen? allem die Lokalisierung von Selbstreferenz
(Selbstliebe, Eigeninteresse) im semantischen
Im folgenden soll versucht werden, jene Letzt­ Raum von Sozialität4. In dieser Theorielage war
herrschaft des Subjekts (oder: Individuums) über das Überwinden der Differenz von Egoismus
die Handlung in Frage zu stellen, und zwar mit und Altruismus durch ein Tieferlegen von Selbst­
Rückgriff auf einen wissenschaftssoziologischen referenz, waren die Rehabilitation der natür­
Umweg. Wir gehen davon aus, daß auch die Wis­ lichen Selbstliebe und eine Rekonstruktion so­
senschaft sich evolutionsförmig entwickeln kann, zialer Reziprozität das Hauptanliegen der Theo­
nämlich über Variation, Selektion und Retention rieentwicklung. Anschlußfähig war, was diese
von Gedankengut. Das heißt, daß auch Variatio­ Probleme zu lösen half oder was sich der domi­
nen möglich sind, die im Zeitpunkt ihres Auftre­ nierenden Kontroverse von physikalischem Mo­
tens keinen Erfolg haben. Das Nichtaufgreifen nismus (Materialismus) und natürlicher Moralität
bzw. Vergessen gehört mit in den Prozeß der zuordnen ließ. Entsprechend konnte man De­
Stabilisierung dessen, was sich durchsetzt. In terminist oder Indeterminist sein. Das waren ver­
weitem Zeitrahmen gesehen kann die Wissen­ ständliche Positionen. Ein Theorievorschlag, der
schaftsgeschichte deshalb nicht nur Unbrauchba­ sich zu all dem quer stellte (aber dies nun auch
res, sondern auch Brauchbares ausscheiden, weil wieder nicht deutlich genug zum Ausdruck
ihre Selektoren zu kurzfristig zugreifen, zu brachte), hatte daher kaum Chancen, wahrge­
schnell handeln müssen. Eine Variation mag im nommen zu werden.
Zeitpunkt ihres Auftretens nicht anschlußfähig
sein oder ihre theoretisch-methodische Imple­ LUC de CLAPIERS MARQUIS de VAUVENAR-
mentation mag für die Ressourcen ihrer Zeit zu GUES (1715—17475*) geht bei der Bestimmung
komplexe Anforderungen stellen. Oder sie ver­ seines Handlungsbegriffs nicht vom Kausalpro­
fehlt den Bezug auf das dominierende Problem­ blem aus, sondern von der Zeit. Von vornherein
bewußtsein. Sie bleibt dann in der Zufallsform sind dadurch Fragen der Ursächlichkeit und des
und dem Assoziationskontext ihrer Entdeckung Erfolgs oder Mißerfolgs und ebenso Fragen der
stecken. Sie wird nicht normalisiert, sie wird moralischen Bewertung als gut oder schlecht
aber auch nicht trivialisiert, und sie kann unter sekundär. Der Begriff wird hinter alle binären
Umständen reaktiviert werden, wenn der rezep­ Schematismen zurückgenommen. Das Handeln
tive Kontext sich ändert. ist eine Notwendigkeit der Zeit selbst.

II. 3 Die hier liegende Wende hat im übrigen auch KUHN


„an einem denkwürdigen (sehr heißen) Sommertage“
zur Entdeckung seiner Theorie wissenschaftlicher
Wie wohl nie zuvor und nie wieder hatte das Revolutionen geführt. Vgl. KUHN 1977: 33.
17. Jahrhundert in Bezug auf das Verständnis 4 Zu den Mißverständnissen, die HOBBES in dieser
Hinsicht auf sich gezogen hat, vgl. GERT 1967.
von Handlung eine offene Situation geschaffen, 5 Er wird im UEBERWEG (1953: 426) wegen seiner
Unauthenticated
Das überlieferte naturteleologische Handlungs­ Wärme undDate
Download edlen Gesinnung,
| 7/21/17 10:43nicht
AM aber wegen sei­
konzept wurde scharf kritisiert und zunächst ner Theorie gerühmt.
N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 65

Die Textstelle, an der dies am deutlichsten ge­ schwingen, deren Nichtidentität und deren un­
sagt wird, findet sich in den Riflexions sur divers widerbringliches Entschwinden zu bestätigen,
sujets, § 356. Sie lautet: „On ne peut condamner und trotzdem ihren Zusammenhang als Zeit
l’activitd sans accuser l’ordre de la nature. II est zu konstituieren. Ähnlich wird später Kant das
faux que ce soit notre inquidtude qui nous ddrobe Fundierungsverhältnis von Zeitform und Bewe­
au präsent: le prisent nous echappe de lui-m&me, gung umkehren und die Erscheinungsform der
et s’an&antit malgre nous. Toutes nos pensdes Zeit als Sukzession auf die transzendentale Be­
sont mortelles, nous ne les saurions retenir; et si wegung der Synthesis gründen.
notre äme n’6tait secourue par cette activitd in-
fatigable qui r£pare les dcoulements perpdtuels Was damit gewonnen ist, hat VAUVENARGUES,
de notre esprit, nous ne durerions qu’un instant; sein Werk früh und fragmentarisch hinterlassend,
telles sont les lois de notre £tre . . . Nous ne nur zu Bruchteilen sehen und formulieren kön­
pouvons retenir le pr&sent que par une action nen. Der wohl wichtigste Folgegedanke ist: daß
qui sort du present. II est tellement impossible das aus zeitnaturalen Gründen notwendige Han­
ä l’homme de subsister sans action que, s77 veut deln jenseits von Freiheit und Unfreiheit notwen­
semp&cher d ’agir, ce ne peut &tre que par un dig ist7. Handeln bedarf jedoch bestimmender
acte encore plus laborieux que celui auquel il Instanzen, das sind Empfindungen und Ideen, in
soppose; mais cette activitd qui ddtruit le prä­ Abhängigkeit von denen sich erst ein Wille formt
sent, le rappelle, le reproduit, et charme les im Wechsel von Situation zu Situation; und erst
maux de la vie.“ in Bezug darauf kann man sinnvoll fragen, ob
und wie weit das Handeln äußerer Gewalt folgt
Die Aussage ist eingebaut in eine Vorstellung oder dem, was der Handelnde als Eigenes em­
von Zeit, die als Natur ausgegeben wird, die pfindet: ,,La violence que nos dösirs souffrent
aber ihrerseits zweifellos spezifisch neuzeitlichen des objets du dehors est entiärement distincte
Ursprungs ist. Die Gegenwart wird nicht als de la ndcessitd de nos actions: une action in-
Dauer begriffen, sondern als punktuelle, jeweils volontaire n’est point libre; mais une action nd-
gerade jetzt stattfindende Aktualität. Es ist von cessaire peut 6tre volontaire, et libre, par con-
da her nicht mehr sinnvoll, Handeln als Streben sdquent“ (VAUVENARGUES 1970: 205). Be­
nach einem Ort und einer Zeit der Ruhe (oder achtet man, daß schon Handlung Selektion, und
moderner: nach Befriedigung von Bedürfnissen) zwar Notwendigkeit von Selektion ist, liegt hier
aufzufassen, da es Ruhe in der Zeit nicht gibt, die wichtige Einsicht vor, daß auch unfreies
zumindest als Gegenwart nicht gibt. Trotzdem Handeln seine Selektivität nicht verliert und daß
behält Handeln seinen durch Zeit gestifteten freies Handeln seine Freiheit nicht seiner Selek­
Sinn; es wird aber jetzt die Gegenbewegung zur tivität verdankt.
Selbstannihilation der Zeit. Es ist nicht die sinn­
hafte Bestimmung, die das Handeln zum Han­ Diese Unterscheidung hat, soziologisch gesehen,
deln macht, sondern die Notwendigkeit, Gegen­ (das heißt: wenn man statt Natur bei VAUVEN­
wart von Moment zu Moment zu reproduzie­ ARGUES Gesellschaft setzt), weittragende Kon­
ren. In diesem Sinne ist Handeln notwendig und sequenzen, denn sie bietet einen Ausgangspunkt
Nichthandeln nur als Unterdrückung von Han­ für Analysen der Strukturabhängigkeit der Selek­
deln durch Handeln möglich. (Auf die abwei­ tivität bzw. Kontingenz des Handelns im Ge­
chende, in gewisser Hinsicht weiterführende Ana­ sellschaftssystem, die auf einer anderen Ebene
lyse Rousseaus komme ich noch zurück). Han­ liegen als Problemkreise wie Herrschaft und Frei­
deln ist temporale Integration von Moment zu heit, Konsumzwang und Manipulation. Erst auf
Moment, und dies (da VAUVENARGUES das der Grundlage strukturell eröffneter Selektivi­
überlieferte Moment des Wählens im Handlungs­ tät spielt der Gegensatz von Freiheit und Unfrei­
begriff fortführt) als Selektion. Mit einer über den heit eine Rolle, und Verschiebungen oder Un­
Autor hinausführenden Formulierung wird man gleichverteilungen werden erst zum Problem,
auch sagen können, daß es gerade der seligieren- wenn Handeln als selektiv konstituiert ist und
de Charakter des Handelns ist, der es ermög­ in seiner Selektivität sozusagen belastbar ist.
licht, sich von Gegenwart zu Gegenwart zu Erst dann entstehen Probleme wie Entfremdung
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6 Ich zitiere nach der Ausgabe von GILBERT (1970: 7 Download
Vgl. hierzuDate
den| 7/21/17
Traite sur le libre
10:43 AM arbitre (VAU­
94 f.; Hervorhebungen durch mich). VENARGUES 1970: 190-219).
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oder relative Deprivation oder Bildung zur In­ NEWTONschen Physik10). Dieser Gedanke steht
dividualität. Der Handlungsbegriff hat, mit an­ jedoch im Widerspruch zu der Grundannahme,
deren Worten, das Subjekt nicht schon mitge­ daß die Gegenwart durch ihr Vergehen die Ak­
setzt, das nun sein Recht auf Freiheit gegen die tion katapultiert; denn das müßte auch dann
Verhältnisse einklagen kann. Er läßt vielmehr der Fall sein, wenn es keinerlei Omnipräsenzen
offen - aber gerade das ist nun theoretisch be­ gäbe. Eliminiert man diesen Theoriedefekt (der
deutsam —, wie weit der Handelnde zur Selbst­ bei VAUVENARGUES intensive Bezugnahmen
zurechnung und Selbstausnutzung seines Han­ auf den Gottesbegriff der Religion ermöglicht),
delns kommt. Daß Handeln notwendig ist und kommt man zu einer Basistheorie für Positivis­
daß, fügen wir hinzu, seine Selektivität gesell­ men aller Art, und sicher hatte AUGUSTE
schaftsstrukturell gesteigert werden kann, macht COMTE diese Lagerung des Handlungsbegriffs
den Grad an Selbstbezogenheit der Handlungs­ vor Augen, als er sich auf VAUVENARGUES
bestimmung für den Einzelnen und den Grad an berief (VIAL 1938: 158).
Individualisierung der Handlungsbestimmung
für die Gesellschaft zum Problem. Wie immer Wenn das menschliche Leben weder im Sinne
aber dieses Problem gelöst wird und mit welchen der aristotelischen Tradition immanent auf sitt­
Folgen im Bereich von möglichen Motivationen liche Ziele gerichtet (aber korrumpierbar bzw.
und sozialen Spannungen: das ändert nichts da­ durch Sündenfall korrumpiert) ist noch in­
ran, daß gehandelt wird und daß Handeln so­ folge Ablehnung dieses Konzepts als kausalme­
wohl die Person als auch die Gesellschaft kon­ chanisch und materialistisch interpretiert wer­
stituiert. den muß, sondern zunächst und immer not­
wendig handelnd seligieren muß, weil es anders
Die zweite noch erwähnenswerte Auswertungs­ keine Kontinuität haben kann, muß man von
linie nutzt die eigentümliche Distanz des Hand­ hier aus fragen: wie ein solches Leben sein Aus­
lungsbegriffs zu moralischen Bewertungen und gesetztsein in die Kontingenz bewältigt. VAU­
zu Erfolgen und Mißerfolgen. Bei VAUVEN- VENARGUES selbst zeigt nur die Wege der
ARGUES wird dieser Aspekt ins Heroische sti­ Religion und der Moral, nämlich (1) sich gerade
lisiert, wird mit einer Art aristokratischer Tu­ in dieser Situation Abhängigwissen von Gott
gend des Für-den-Moment- und des Um-des- und (2) Streben nach „gloire“ als dem Prinzip,
Handeln-selbst-willen-Handelns durchsetzt und das der Aktion in ihrer Unmittelbarkeit Zukunft
auf die zu seiner Zeit längst obsolete Orien­ gibt und sie genießbar macht11. Diese „zweiten
tierung an „gloire“ bezogen8. Diese Aufmachung Optionen“ charakterisieren für die literarische
vor allem hat seine literarische Gestalt geprägt. Öffentlichkeit, für Nachfolger, vielleicht auch für
Unter dem Gesichtspunkt einer Theorieerrungen­ ihn selbst seine theoretische Position. In der all­
schaft ist für uns die Distanz des Grundbegriffs gemeinen Tendenz seines Jahrhunderts, die An­
zu den Werten wichtiger, die übrigens auch den thropologie von statisch über unruhig-bewegt in
Hauptwert „gloire“ einbezieht9. Da Handeln Richtung auf dynamisch-aktiv zu transformie­
eine Notwendigkeit ist, kommt es erst in zwei­ ren12, bildet sie eine frühe und extrem liegende
ter Linie darauf an, ob Erfolge oder Mißerfolge Version von Aktionismus, die sich gegen einen
eintreten und wie sie bewertet werden. VAU- auf der zweiten Ebene der Bedürfnisse, Gewohn­
VENARGUES akzeptiert dann zwar, ähnlich wie heiten und Interessen operierenden Utilitarismus
bald darauf ROUSSEAU, eine doppelbödige
Moral, indem er das Handeln selbst als Natur
nochmals durch Moral absichert und die Gewiß­
heit ihrer Prinzipien behauptet (im Vergleich zur 10 Reflexions sur divers sujets (VAUVENARGUES
1970: 110 ff.).
11 „L’action fait sentir le present; l’amour de la gloire
approche et dispose mieux Favenir; il nous rend
agreable le travail que notre condition rend neces-
8 Speziell im Discours sur la gloire (VAUVENAR- saire“ (Discours sur la gloire, VAUVENARGUES
GUES 1970: 128-137). 1970: 129). Hinzuzufügen wäre, daß hierzu eine
9 „Je veux que la gloire nous trompe“, heißt es z.B. Selbsttäuschung nötig ist (vgl. oben Anm. 9), deren
im Discours sur la gloire, „les talents qu’elle notre Funktion mit der Doppelbödigkeit der Moral kor­
fera cultiver, les sentiments dont eile remplira notre respondiert. Unauthenticated
ame, repareront bien cette erreur“ (VAUVENAR- 12 Download
In dieser Weise unterscheidet PERKINS (1969:
GUES 1970: 132). 39 f.) drei Perioden.
Date | 7/21/17 10:43 AM
N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 67
nicht durchsetzen konnte. Die beginnende Sozio­ gäbe es keine Zeiterfahrung und keine Möglich­
logie, die sich dann polemisch gegen den vor­ keit, Motive mit Neuheitswert aufzuladen. ,,Les
herrschenden Utilitarismus hat durchsetzen müs­ retours frequens que nous faisons sur nous-
sen, konnte diese früher formulierte Alternative m6mes, renouvelle, pour ainsi dire, nos gouts.“ 15
einer Handlungstheorie nicht mehr wahrnehmen Die Reflexion frischt sozusagen die Objekte auf,
und hat ihre Handlungstheorie daher mit Bezug indem sie es ermöglicht, zeitweilig von ihnen ab­
auf andere Problemstellungen entwickelt, vor zusehen bzw. sie nur in Relation zum eigenen
allem mit Bezug auf das Problem des Verhältnis­ Ich zu betrachten.
ses von individueller Rationalität der Interessen­
verfolgung und sozialer Ordnung. Daß Handeln nur einem „Subjekt“ zugerechnet
werden könne, also einen Träger erfordere, der
Ein interessanter Kontrast zur Handlungstheorie zur Selbstreferenz fähig sei, wird heute von einer
VAUVENARGUES’ findet sich in zeitgenös­ sich fortschrittlich gebenden Handlungstheorie
sischen Überlegungen zur Psychologie und Moral ohne jede Begründung behauptet. Auch hier
des Glücksspiels13. Besonders in der ersten Hälfte scheint ein Trivialisierungsprozeß der Geschichte
des Jahrhunderts wird die moralische Verurtei­ nur noch die Resultate, nicht mehr die Gründe
lung des Glückspiels durch psychologische Re­ älteren Nachdenkens zu überliefern. Es ist nur
konstruktion des Interesses aufgehalten und fast noch evident, daß ein Objekt, dem man Handeln
neutralisiert. Das Glücksspiel ermöglicht im zurechnen kann, ein selbstreferentielles „Sub­
Unterschied zu Geschicklichkeitsspielen das Still­ jekt“ sein muß. Mit solcher Reduktion gibt man
stellen der Aktivität, das Warten auf Zufall und indes die Kontrolle darüber auf, ob und weshalb
damit die Kombination von regungsloser Ruhe die These in eine sich wandelnde Theorieland­
und höchster Erregung in einem Bewußtsein — schaft noch paßt.
aber eben nur für den Moment. Es bietet
„Glück“ im Doppelsinne von bonheur und for­
tune, aber nur als Augenblicksglück ohne Ver­
gangenheit und ohne Zukunft. Ihm fehlt, in den III.
Begriffen der Tradition gesprochen, die Seins­
fülle; ihm fehlt, mit VAUVENARGUES gesehen, Der Direktbezug von Handlung auf Zeit, den
die Handlung, die den Handelnden der Vergäng­ VAUVENARGUES vor Augen hat, konnte
lichkeit des Augenblicks entreißt. sich im 18. Jahrhundert nicht durchsetzen, ja
wohl nicht einmal verständlich machen. Die
Auch der Handelnde selbst und seine Motive ge­ geläufige Argumentation war zu stark durch die
winnen am Beginn des 18. Jahrhunderts ihre Differenz von Sinnlichkeit und Vernunft, von
Subjektivität aus einem Bezug zur flüchtigen Passion und Interesse, von Natur und Moral, be­
Zeit —wenn auch wiederum nur in freiläufigen stimmt, und das Zeitproblem wurde deshalb
und daher knappen Analysen. So macht die mit diesen Begriffen eingefangen. Die Beschrän­
Aufwertung von „plaisir“ einen traditionell kung auf die Gegenwart galt als typisch für sinn­
durch Abwechslung definierten Begriff zum liche Formen des plaisir oder für Passionen,
Zentralmotiv menschlichen Handelns. Unruhe und entsprechend übertrug man der Vernunft
und Abwechslung werden zum Lebenselexier, oder der Klugheit (prudence) die Aufgabe, brei­
und das gibt aller Stabilität eine nur noch se­ tere Zeitorientierungen zur Geltung zu bringen,
kundäre, kompensatorische Relevanz, die gerade um die Passionen zu domestizieren. Zukunft
nicht Subjekt sein kann14. Andererseits tritt und Vergangenheit werden ins Spiel gebracht,
Selbstreferenz in den Dienst der Zeit, ohne sie um die Vernunft gegenüber den Passionen stark

15 So DESLANDES 1715: 32. Die Bemerkung steht


13 Vgl. als Überblick MAUZI 1958. nicht in einem handlungstheoretischen, wohl aber
14 Vgl. z.B. Le SAGE (1718) mit Bezug auf Besitz in einem zeittheoretischen Kontext. Sie setzt die
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von Meinungen (Fanatismus) und Gütern. Aufwertung
Download Datevon „plaisir“
| 7/21/17 voraus.
10:43 AM
68 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81
zu machen16. Dabei weiß man natürlich, daß die sich additiv zu einer linearen Gesamtzeit zu­
Zukunft und Vergangenheit sich unterscheiden sammenfügen lassen, deren Zukunft unsicher,
so wie Hoffnungen und Befürchtungen auf der deren Vergangenheit sicher ist. Es fehlt eine Mit­
einen und Erfahrungen auf der anderen Seite; einbeziehung des Horizont-Charakters von Zu­
aber dieser Unterschied bleibt für die Funktion, kunft und Vergangenheit, und dies ist vermutlich
Passionen zu sublimieren, ohne Belang17. Das der Grund, weshalb bei VAUVENARGUES die
Problem ist hier: eine kurzsichtige Beschränkung Selektivität des Handelns unterbelichtet bleibt
auf nur gegenwärtige Befriedigung zu vermeiden. und erst im Zusammenhang mit dem Freiheits­
Das Problem VAUVENARGUES’ ist: sich dem problem zum Thema wird.
Schwund der Gegenwart zu entziehen, die Ge­
genwart zu überleben. Erst auf dem Umwege über einen Negationsver­
such kommt ein weiterführender Gedanke zu
Daß Zukunft und Vergangenheit zwar unterschie­ Papier, aber eben nicht als Konzept für Handeln,
den, aber in einem Atemzug genannt werden, sondern als Konzept für Nichthandeln. Wenn
so als ob es sich um „links und rechts“ handele, die nur momenthafte Gegenwärtigkeit von Zeit
deutet auf einen noch relativ undifferenzierten Handeln erzwingt — könnte man dann auf Han­
Zeitbegriff hin. In der Mitte des 18. Jahrhun­ deln verzichten, indem man auf Zeit verzichtet?
derts wird Zeit noch vorwiegend als Sukzession Diese Überlegung vollzieht ROUSSEAU in den
von Augenblicken bestimmt — ordo successivo- Reveries d’un promeneur solitaire (5me prome­
rum in serie continua existentium heißt es bei nade)18 auf der Suche nach Glück. Auf Zeit
CHRISTIAN WOLFF (1736: § 574). Es mag verzichten kann nun aber nicht heißen: auf Ge­
auch diese Schmalspurigkeit des Zeitbegriffs ge­ genwart verzichten. Wegdenken und damit eli­
wesen sein, die die weitere Entwicklung einer minieren kann man nur Zukunft und Vergangen­
hier angesetzten Handlungstheorie verhinderte heit, sofern sie die Gegenwart bedrängen, ihr
oder aufspaltete in einen Utilitarismus einerseits Grenzen setzen, sie auf ihr momenthaftes Verge­
und betont irrationale Überhöhungen eines Wil­ hen hinweisen. Gelingt es, Zukunft und Vergan­
lensprinzips, eines Machtgedankens, einer action genheit aus dem Zeitbewußtsein auszu schal ten,
pour faction andererseits. Zukunft und Ver­ wird die Gegenwart rückverwandelt in reine Dauer,
gangenheit sind von hier aus nur Streckenbegrif­ die zu ihrer Fortdauer keines Handelns bedarf,
fe, zeitpunktrelativ anzusetzende Zeitstrecken, ja auch gar nicht in der Lage wäre, Handlung
aus sich zu entlassen (es sei denn: durch Been­
dung dieses Zustandes durch Wiedereinschalten
von Zukunft und Vergangenheit). Die Gegenwart
kommt so ohne Handeln zur Ruhe, die Seele
16 Vgl. Formulierungen wie: Der Vernunftgebrauch fühlt sich auf einen Zustand reiner Existenz zu-
bestehe „dans le souvenir du passe et dans la pre- rückgeflihrt, „sans avoir besoin de rappeier le
voiance de l’avenir, aussi bien que dans l’attention
au present. Ces trois raports du temps sont essen- pass£ ni d’enjamber sur l’avenir; oü le temps ne
tiels a notre conduite. Elle (die Vernunft) doit soit rien pour eile, oü le present dure toujours
nous inspirer le soin de choisir dans le temps pre­ sans neanmoins marquer sa dur£e et sans aucune
sent pour le temps avenir, des moiens que dans trace de succession, sans aucun autre sentiment
le temps passe nous aions reconus les plus propre de privation ni de jouissance de plaisir ni de
a parvenir au bonheur“ - bei BUFFIER 1726:
23 f. Oder über „prudence“: „Elle profite du pas­
se et de Pavenir pour ne se point egarer dans le
moment present“ bei MABLY 1784: 150. Quelle
für all dies: Die Abgrenzung von Mensch und
Tier nach Maßgabe der Extension von Zeithorizon­ 18 Zitiert nach ROUSSEAU 1959. Bereits erheblich
ten bei CICERO 1968: I c IV, 11, S. 21. früher finden sich ganz ähnliche Formulierungen
17 Der Gedanke hätte ausgearbeitet werden können im Artikel Delicieux der Encyclopedie (Anonym
zu der These, daß es gerade die Differenz von Zu­ 1754: 783 f.). Der, der repos delicieux genießt,
kunft und Vergangenheit und in diesem Sinne Zeit wird wie folgt beschrieben: „II ne lui restoit dans
ist, was die Vernunft befähigt, Passionen zu diszi­ de moment d’enchantement et de foiblesse (!), ni
plinieren. Aber dafür sind mir keine Belege bekannt, memoire du passe, ni desir de l’avenir, ni inquie­
und solches Denken hätte wohl auch dem Optimis­ tude sur le present. Le tems avoit cesse de couler
mus widersprochen, mit dem man es für möglich pour lui, parce qu’il existoit tout en lui meme.“ Vgl.
hielt, aus der Vergangenheit Lehren für die Zukunft zum Thema auch die Analysen von RAYMOND
Unauthenticated
zu ziehen. 1964: 87-105.
Download Date | 7/21/17 10:43 AM
N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 69
peine, de desir ni de crainte que celui de notre gibt, daß der Augenblick, der nicht dauern kann,
existence.“19 durch nichts ersetzt wird. Daß Handeln, oder
verstärkt sogar: Arbeit, von ennui befreit, gilt
Ob nun auf der Isle de St. Pierre am Ufer des als bekannt; aber es fehlt eine Tiefenanalyse des
Sees oder auf dem Hocker einer amerikanischen Verhältnisses von Zeit und Handlung, die ver­
Bar (CAVAN 1966) oder in den Elendsvierteln ständlich machen könnte, wie dies geschieht21.
einer Großstadt (BITTNER 1967), ob auf der
Suche nach Glück oder im Ausweichen vor Un­ Von hier aus gesehen, ist Träumerei mehr als
glück: Die Eliminierung der Zeithorizonte Zu­ bloßes Verweilen im Augenblick, ist sogar kon­
kunft und Vergangenheit eliminiert mit den zentriertes Handeln zur Ausschaltung des Han­
Möglichkeiten auch die Notwendigkeit des Han­ delns. So bestätigt sich VAUVENARGUES’
delns. Das Plätschern der Wellen des Sees oder These, Handeln sei nur durch sehr viel aufwen­
des small talk an der Bar registriert zwar die digeres Handeln zu unterdrücken. Allerdings
Zeit noch als etwas, das stattfindet: aber es gibt ist dies für ROUSSEAU nicht mehr vergebliches
der Zeit die Form einer Monotonie, an der man Bemühen, sondern Reflexion der Temporalität
nicht eigentlich teilnimmt, im Verhältnis zu des Handelns, das Nichthandeln bewirkt und da­
der man sich vielmehr ausruht von dem Zwang, mit Glück als Erlösung von Zeit erlebbar macht.
sich selbst durch Handlung mit Handlungen zu
identifizieren. Gerade die Entlastung von Hand­ All das mag zeitbedingt sein: daß und wie die
lung und die Ausschaltung von Zukunft und moderne Gesellschaft teils in ihrer Literatur,
Vergangenheit als Zeithorizonten der unvermeid­ teils aber auch in ihren Realsituationen Kon­
lichen aktuellen Gegenwart erlaubt im übrigen traste zu sich selbst erzeugt, die vom Handeln
ein Vagabundieren in Zukunft und Vergangen­ dispensieren, indem sie Zeithorizonte ausklinken.
heit, erlaubt Träumereien oder auch Konversa­ Diese Kontraste haben, man mag auch an Fern­
tion mit frisierter Vergangenheit und Zukunft. sehen denken, ihre eigene Wirklichkeit und ihr
eigenes Recht, und sie scheinen ihrerseits über
Wenn aber nun die Gegenwart handlungslos Rekontrastierung (wie über Negation von Nega­
dauert, nimmt sie ebenfalls negative Züge an; tion) einen Bedarf für besonders aktive Aktio­
sie wird zum „ennui“. Auch ,,ennui“ ist ein nen zu erzeugen (GOFFMAN 1967). Das lassen
Zeitbegriff. Über die Grundbedeutung der Lange­ wir hier beiseite. Uns interessieren Rückschlüsse
weile hinaus verstärkt der Begriff seine negati­ auf Begriff und Theorie des Handelns.
ven Züge in Richtung auf Verzweiflung, auf Ge­
genwärtigkeit des Nichts, und er tritt in einen Wenn die Ausschaltung von Zukunft und Ver­
Gegensatz zur Ruhe (tranquillity), indem gerade gangenheit Handeln eliminiert (und umgekehrt),
,,ennui“ keine Ruhe läßt, weil das fehlt, was ist zu vermuten, daß die Einschaltung von Zu­
sie ausfüllen müßte20. Nicht ungestraft ignoriert kunft und Vergangenheit Handeln erzwingt (und
man also das Gebot der Zeit, sich dem Ent­ wiederum: auch umgekehrt). Daß die Gegen­
schwinden des Augenblicks durch Handlung zu wart entschwindet und man deshalb handeln
entziehen; man fällt zwar nicht aus der Zeit, muß (und umgekehrt: „que faction fait sentir
aber man erfährt jene Leere, die sich daraus er­ le präsent“), ist dann wohl nur eine andere For­
mulierung dafür, daß Zukunft und Vergangen­
heit divergieren und als Differenz aufeinander­
zurücken und so Handlung aus der Gegenwart
19 ROUSSEAU 1959: 1046. Anzumerken ist noch, herauspressen. Die Punktualisierung der Gegen­
daß für ROUSSEAU mit Zukunft und Vergangen­ wart entsteht im gesellschaftlichen Zeitbewußt­
heit zugleich Sukzessivität entschwindet. Das Sich-
hinausträumen aus der Zeit bedarf keiner genauen sein in dem Maße, als Zukunft und Vergangen­
Analyse des Zeitbegriffs, und es ist daher müßig, heit als different erfahrbar werden und in dieser
darüber zu spekulieren, wie weit ROUSSEAU hier
die Vorstellung der Zeit als bloßer Sukzession von
Augenblicken schon überwunden hatte.
20 Vgl. MEHNERT 1956: 151 ff., der Briefe zweier 21 ,,On ne peut bien dfinir ce que le travail opere sur
Salondamen (Mme du DEFFAND und Mile de les esprits; le vuide immense qu’il remplit: c’est une
LESPINASSE) untersucht. Festzuhalten ist vor al­ mechanique dont Unauthenticated
les effets sont aussi certains et
lem die durchaus vor-romantische Zeitlage dieser aussi sensible, que la maniere en est ignoree“, meint
Begriffsentwicklung. PERNETTI (1748: 122 f.).
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70 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81

Differenz so eng zusammenrücken, daß die Zeit­ Bewegung. Sie bedurfte, um sich daran zu erin­
strecke der Gegenwart sich auf einen Moment nern, des Wellenschlags, „II n’y faut ni un repos
verkürzt, vor dem und nach dem die Verhältnis­ absolu ni trop d’agitation, mais un mouvement
se schon wieder anders sind. Dann bleibt immer uniforme et mod6r6 qui n’ait ni secousse ni
weniger Zeit, um im Einklang mit den Gesetzen intervalle“ (ROUSSEAU 1959: 1047). Also ist
und Prozessen der Natur, sie imitierend und er­ Handeln im Kontrast dazu zu verstehen und
gänzend, zu wirken; dann muß man durch Han­ ist etwas anderes als bloße Bewegung, die sich
deln Tempo gewinnen, um dem, was geschieht, im stillen Einverständnis mit der Zeit davontra­
zuvorzukommen, oder das, was nicht von selbst gen läßt. Das Handeln gleitet nicht mit der Zeit,
geschehen würde, so rechtzeitig zu erwirken, daß es entwindet sich der Zeit, die ihm damit ent­
anderes anschließen kann. Wir halten, mit ande­ gleitet. Es fließt nicht mit dem, es identifiziert
ren Worten, das Divergieren von Zukunft und sich gegen den Strom der Zeit. Es tut etwas, was
Vergangenheit für das primär Geschehene und nicht geschieht und nicht geschehen würde.
die Momenthaftigkeit der Gegenwart, den Zeit- Diese Alternative von Handlung und Bewegung
und Beschleunigungsdruck für eine davon ab­ vor dem Hintergrund eines gegensätzlichen Ver­
hängige Bewußtseinslage. Historisch gesehen hältnisses zur Zeit bleibt festzuhalten. Sie hat
wird allerdings die Punktualisierung der Gegen­ jedoch zunächst theoretisch nicht weitergehol­
wart, weil sie der Erfahrung am nächsten liegt, fen, und man kann sehen weshalb. Es konnte
zuerst bewußt (POULET 1950), und die Vor­ nicht geklärt werden, wie nun eigentlich das
stellung, die Menschheit selbst sei auf Anders­ Handeln eine den Zeitschwund übergreifende
werden angelegt, wächst erst im 18. Jahrhundert Dauer gewährleisten könne. Statt dessen führte
nach. Eine gesellschaftsstrukturelle Analyse des eine andere Argumentationslinie die Analyse der
Problems der Veränderung und (möglicherweise) Zeitlichkeit zu rascherem Erfolg. Sie setzte bei
Steigerung des Handlungsbewußtseins im Über­ der Reflexion an und belegte, daß man infolge
gang zur modernen Gesellschaft müßte demnach einer sich auf sich selbst richtenden Erfahrung
bei der Frage ansetzen, wie es kommt, daß Zu­ immer schon weiß oder wissen kann, daß man
kunft und Vergangenheit zugleich stärker und mit sich selbst identisch ist. Dies Wissen um die
kurzfristiger zu divergieren beginnen und so eigene Identität erfaßt nicht nur eine begriff­
Handlungsdruck produzieren auch in Bereichen, liche Abstraktion aller zeitverschiedenen Zu­
in denen man sich früher sozusagen mit der stände, die ein Einzelner je einnimmt; es erfaßt
Natur zu bewegen glaubte, zum Beispiel in der als je gegenwärtiges Wissen den, der es weiß, in
Erziehung. seiner vollen Individualität, und es hat in der
inkommunizierbaren Intimität der Selbsterfah­
Zusätzlich zu solchen gesellschaftstheoretischen rung eine eigentümlich konkrete Sicherheit.
Analysen der strukturell bedingten Variation von Diese zunächst durchaus empirische Vorgabe
Temporalstrukturen, Handlungsbewußtsein und kann in der Transzendentalphilosophie als Fak­
Handlungs-Semantik könnten die aufgewiesenen tum des Bewußtseins ausgewertet und mit der
theoretischen Grundlagen aber auch benutzt wer­ These der Subjektität des Bewußtseins ver­
den, um den Handlungsbegriff selbst zu klären knüpft werden. Das führt zu dem Versuch, die
und seine Anwendung in der soziologischen Zeit selbst einer Bewußtseinsanalyse zu unter­
Theorie zu überprüfen. Ein Aufgreifen der bei werfen, sie als Form des Bewußtseins zu begrei­
VAUVENARGUES und ROUSSEAU gefunde­ fen. Dies könnte immer noch eine Selbsttäu­
nen Ansätze könnte schließlich mit dazu beitra­ schung des Bewußtseins sein, etwa nach Art der
gen, das viel beklagte zeittheoretische Defizit alten successio als Form, in der Endliches für
der soziologischen Theorie (MARTINS 1974) sich selbst zugänglich ist, oder nach Art der hi­
in einen ganz anderen BegrifTsrahmen zu ver­ storischen Zeit HERDERS, die „nur Bild der
lagern; es nämlich nicht mehr am Prozeßbegriff Ewigkeit“ ist. Aber dann entdeckt das Bewußt­
oder am Fehlen einer Theorie gesellschaftlichen sein sein eigenstes Operieren als zeitlichen Sche­
Wandels zu beklagen, sondern es auf einer sehr matismus, die transzendentale Synthesis als Be­
viel elementareren Begriffsebene am Begriff wegung. Zeit wird als „Universalform aller egolo­
des Handelns aufzuspüren. gischen Genesis“ ein Apriori jeder möglichen
Sinnhaftigkeit und damit notwendige Form der
Selbst die ekstatische Passivität, in die ROUS­ Subjektheit schlechthin (HUSSERL 1950 § 37:
Unauthenticated
SEAU sich einträumt, war immer noch eins: 109; BRAND 1955).
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N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 71

Die Form, in der Gegenstände Zeitbezug haben, setzte nicht (oder nur sehr indirekt) beim Zeit­
ist damit zurückgeführt auf die Art und Weise, problem an. Mit der Generalisierung des Inter­
in der Bewußtsein zeitlich abläuft, ohne daß bei­ essenbegriffs war die Möglichkeit gegeben, indi­
des gleichgesetzt würde. Die Zeitlichkeit des Be­ viduelle und kollektive (soziale, öffentliche) In­
wußtseins ist als Bedingung der Identifizierbar- teressen zu unterscheiden. Deren Differenz
keit und des Sinnüberschusses (der „Horizonte“) wurde zum Problem der Theorien, die die neu
der Gegenstände selbst noch nicht eigentlich entstandene bürgerliche Gesellschaftsordnung
Zeit; aber sie ist schon so weit Einheit von Kon­ zu begreifen suchten, und die Soziologie endet
tinuität und Veränderung, daß sie sich selbst als (wenn auch bis heute nicht einstimmig) beim
zeitlich erfahren, als zeitlich konstituieren und Verzicht auf ein Rationalitätskontinuum, das
zu der am Gegenstand erfahrenen Zeit in Bezug von individuellen zu sozialen Interessen führt
setzen kann. Daraus ergibt sich ein Synchronisa­ und so mit der Rationalität des Handelns ganz
tionszwang von Bewußtsein und Gegenstand, der allgemein auch dessen Erkennbarkeit garantiert.
die Weltzeit auf der Basis der Gleichzeitigkeit Weder kann, so muß man heute wohl zugeste­
von Bewußtsein und Gegenstand, das heißt auf hen, die Rationalität individueller Interessen­
der Basis von Gegenwart konstituiert. verfolgung aus einer Dekomposition der Erfor­
dernisse sozialer Ordnung gewonnen werden im
Dies Resultat können wir als ausgereiftes End­ Sinne der alten Statuslehre, noch umgekehrt
produkt einer historisch-semantischen Entwick­ die soziale Ordnung mit Hilfe einer (sichtbaren
lung aufs Lager nehmen. Einer Handlungstheorie oder unsichtbaren) Aggregation individuellen
ist man damit um keinen Schritt näher gekom­ Zweckstrebens. Hat es dann aber noch Sinn, auf
men. einen allgemeinen Handlungsbegriff, auf einen
Begriff ohne Systemindex, zurückzugehen?
IV. PARSONS’ Theorie des allgemeinen Handlungs­
systems ist der einzige diesem Problemstand ge­
Inzwischen hatte die Theorie des Handelns sich wachsene Versuch, genau dies zu tun. Im An­
dem Prinzip des Interesses verkauft. Von VAU- schluß an DÜRKHEIM akzeptiert PARSONS die
VENARGUES abgelehnt im Hinblick auf edlere Diskontinuität von individueller und sozialer
Motive22, erwies das Prinzip des Interesses zu­ Rationalität. Daraus folgt für ihn, daß Handlung
sammen mit Selbstliebe sich im 18. Jahrhundert ein Mehr-Komponenten-Begriff ist, nämlich im­
als generalisierbar auf den Gesamtbereich von mer im Hinblick auf einen Handelnden-in-einer-
Handeln überhaupt; man mußte nur ein beson­ Situation artikuliert werden muß. In dieser Ab­
deres Tugendinteresse und ein besonderes Ver­ straktionslage lassen sich noch keine Interessen
nunftinteresse postulieren, um Interesse und angeben, die das Handeln motivieren. Deshalb
Handlung in Deckung zu bringen. Im Begriff wird das, was hier Interesse sein kann, als Gren­
des Interesses konnte man eine zwar subjektive ze gefaßt, und das, was hier Rationalität sein
aber trotzdem relativ zeitbeständige Handlungs­ kann, als Zeit. Die Besonderung, auf die jedes
grundlage ansetzen, in Bezug auf die dann für Handeln sich einlassen muß, erzwingt einen
den Einzelnen Rationalitätsansprüche und für Unterschied von Außen und Innen mit grenzer­
den sozialen Verkehr Regulierungen zu formulie­ haltenden Strukturen und Prozessen im System.
ren waren. Die Frage, weshalb Handeln notwen­ Und die Rationalität, die man vordem als Ver­
dig und wie Handeln überhaupt möglich ist, hältnis von Mittel und Zweck begriffe hatte,
wurde nicht mehr gestellt. wird für PARSONS zum Problem der Gleichzei­
tigkeit der Betreuung von Zukunft und Gegen­
Auch die soziologische Kritik dessen, was man wart im System, zum Problem der strukturel­
dann „utilitaristische“ Handlungstheorie nannte, len Ermöglichung von Vorsorge und von Befrie­
digung (im Hinblick auf welche Interessen auch
immer). Da beide Dimensionen dichotomisch
22 „La noblesse est la preference de l’honneur a l’inte- formuliert sind, kann man kreuztabellieren. So
ret; la bassesse, la preference de l’interet a l’honneur, entsteht jenes bekannte Schema der vier Funk­
L’interet est la fin de l’amour-propre; la generosite tionen, in dem allesUnauthenticated
weitere, unter anderem
en est le sacrifice“ (Introduction a la connaissance
de l’esprit humain. VAUVENARGUES 1970: 1-62 auch der Ausgleich von individueller und sozia­
ler Rationalität, sich ab wickelt (PARSONS
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(60).
72 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81
1959). Jede Einzelhandlung (unit act) involviert unzureichende Information und als in diesem
mithin alle vier Funktionen, ist letzter Aus­ Sinne defizitär. Die Zeit kommt dann als knap­
gleichspunkt ihrer unterschiedlichen Anforde­ pe Ressource ins Spiel. Sie reicht nicht aus, um
rungen und in diesem Sinne selbst System. zu einer vollgültig rationalen Entscheidung zu
kommen. Dies trifft natürlich zu und ist als Ein­
Das Verhältnis dieses Theorievorschlages zur sicht für sich genommen nicht zu kritisieren.
Tradition, die er aufnimmt und fortsetzt, kann Aber man wird gleichwohl die Frage aufwerfen
unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert müssen, welcher Handlungsbegriff und welcher
werden. Manchen geht es um die Richtigkeit Zeitbegriff solchen Theorieentwicklungen zu
und Genauigkeit, mit der PARSONS selbst seine Grunde liegen. Diese Frage greift, logisch wie
Vorläufer interpretiert; anderen geht es um die historisch, hinter die Unterscheidung von mo­
Vollständigkeit bzw. Selektivität seiner Rezep­ tivational-erklärender und rational-normieren-
tion. Geht man mit VAUVENARGUES von ei­ der Handlungswissenschaft zurück. Kann sie bei
nem (wie immer unbegriffenen) Fundierungs­ VAUVENARGUES anknüpfen?
verhältnis von Zeit und Handlung aus, kommen
ganz andere Probleme zum Vorschein. Vor al­
lem wird man sich fragen müssen, ob es über­ V.
haupt nötig und richtig war, an Interesse und
Rationalität anzuschließen und von da aus zu VAUVENARGUES hatte seinen Gedanken nur
abstrahieren, um eine Theorie des Handelns ge­ als Einfall formuliert. Er hat ihn als Aperpu
winnen (bzw. angesichts fortschreitender Kom­ stehen lassen und ihm nicht die ausgearbeitete
plexität der Wissenschaft noch halten) zu kön­ Form eines theoretischen Forschungsprogramms
nen. Eine Reihe historisch-semantischer Dispo­ geben können. So faszinierend die Idee ist, daß
sitionen bleiben so in der Abstraktion, die sie das Handeln sich gleichsam im Gegenstromprin­
überwindet, noch erhalten. Die Rationalität zip von der wegfließenden Gegenwart abhebt:
des Handelns wird im Zweck/Mittel-Schema ge­ In dieser Form hat der Gedanke keine Tradition
sehen, dieses wird in die Differenz instrumen- bilden können. Erkenntnis wird nicht in Einzel­
teller und konsumatorischer Aspekte des Han­ stücken gehandelt, nicht über intuitiv erfaßte
delns umgeformt, und diese Differenz wird als Evidenzen tradiert.
Verhältnis des Handelns zur Zeit interpretiert.
Die Zeit wird dann als Differenz von künftiger Fragt man nach tieferen, wissenschaftssoziolo­
und gegenwärtiger Interessenbefriedigung in die gisch faßbaren Gründen für diese Wirkungslosig­
Theorie aufgenommen. Das mochte adäquat keit, genügt es nicht, auf die Konkurrenz er­
sein für Probleme der Wirtschaft, und nicht zu­ folgreicherer Theorieangebote hinzuweisen, etwa
fällig ist Economy and Society das erste Thema, auf die Erklärung des Handelns aus ihm zu
das PARSONS unter diesem Schema abhandelt Grunde liegenden Interessen, aus einem vorge­
(PARSONS und SMELSER 1956). Man wird je­ stellten Nutzen, aus verständlichen Motiven.
doch kaum behaupten können, daß eine lange Denn es ist ja gerade die Frage, weshalb andere
Tradition des Nachdenkens über Zeit damit Theorien die rascheren Erfolgschancen für sich
adäquat eingearbeitet ist. gewinnen konnten. Erst recht wird es nicht
überzeugen, wenn man annimmt, die Wahrheit
Daß die Subjektseite so stark betont wird (da­ habe gegen VAUVENARGUES entschieden.
mit man sagen kann: eine Person handelt), Damit wäre die Geschichte ein für allemal er­
bringt den Handlungsbegriff außerdem in die ledigt, vor allem aber auch das Alternativpro­
Nähe des Erkenntnisbegriffs, so daß Entschei­ gramm in seiner Problemlösungskraft unter­
dungsprobleme wie Erkenntnisprobleme be­ schätzt. Es muß andere Gründe geben, und diese
handelt werden23. Dann erscheint das Handeln vermuten wir in den Schwierigkeiten, den Ge­
selbst als notwendig voreilig, als gegründet auf danken von VAUVENARGUES für wissenschaft­
liche Kommunikation argumentierfähig aufzu­
bereiten24.
23 Bei TOURAINE (1964: 5) heißt es charakteristi­
scherweise: „L’action est par definition la relation
du sujet agissant et de l’objet qu’il pose en face de Unauthenticated
lui.“ 24 Siehe hierzu und zum Folgenden:
Download Date | 7/21/17 10:43 AM BÖHME 1975.
N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 73
Wissenschaftliche Kommunikation ist eine sehr pen, Rationalitätsbedingungen als soziale aggre­
spezielle Form des Austausches von Mitteilun­ gieren könne27.
gen. Sie ist angewiesen auf Formen der Auf­
lösung von Gegenständen in Relationen, die es Damit war die Handlungstheorie, um der Plausi­
ermöglicht, etwas als etwas zu bestimmen, al­ bilität und Lebensweltnähe ihrer Grundlagen
so ein Thema festzuhalten, in bezug auf welches willen, dazu vorbestimmt, Motivationstheorien
Bestimmungen hinzugefügt oder abgesprochen oder Rationalitätstheorien oder Kombinationen
werden können und solchen Bestimmungen zu­ aus beiden (MAX WEBER) zu produzieren. Das
gestimmt oder widersprochen werden kann. Erst Verhältnis von Handlung und Zeit konnte dann
eine solche Grundstruktur gibt Kristallisations­ an sekundärer Theoriestelle reproduziert werden,
punkte für wissenschaftliche Argumentation, in etwa als Problem des „deferred gratification“
deren Verlauf Argumente zu Theorien verdich­ oder als Problem von Unsicherheit und Risiko
tet und ihrerseits mögliche Themen werden. Eine bei Entscheidungen. Für die Grundidee VAU­
solche theoriegenerierende Entwicklung ließ sich VENARGUES’, daß die Zeit selbst durch ihren
an den Einfall VAUVENARGUES’ jedoch Seinsmodus der Selbstannihilation Handeln er­
schlecht anschließen. Er hatte dazu zu wenig zwingt, weil etwas doch anders sein muß als
Anhaltspunkte in Vorverständnissen der gesell­ bloßes Verschwinden, für diese Grundidee bot
schaftlichen Alltagswelt. das auf Person/Handlung gegründete Theorie­
muster keinen Platz. Zeit/Handlung wäre ein
Es war natürlicher, viel leichter und unmittelbar ganz anderes Dual gewesen als Person/Handlung.
plausibel, als Auflösungsschema der Themenbil­ Will man den Vergleich überhaupt durchhalten,
dung die Differenz von Person und Handlung zu hätte man statt eines Verhältnisses von Träger
wählen. Sie konnte entlang den Zurechnungsge­ zu Handlung ein Verhältnis von Nichtträger zu
pflogenheiten des täglichen Lebens konstruiert Handlung denken — und nicht nur gedanklich
werden. Noch heute hört man in wissenschaft­ postulieren, sondern auch analytisch zu Grunde
lichen Kommunikationszusammenhängen das legen müssen. Dazu war das 18. Jahrhundert bei
scheinbar schlagende Argument: Es könnten aller Kritik des traditionellen Schemas von Sub­
schließlich nur Personen (Menschen, Individuen, stanz und Akzidenz nicht bereit.
Subjekte) handeln25. Das Argumentschema der
wissenschaftlichen Kommunikation wird damit Man sieht an diesem Beispiel: Theorieentwick­
parallelgeschaltet zum, und gebunden ans, All­ lung kann nicht beliebig ablaufen. Sie bleibt
tagsschema der Zurechnung von Handlungen auf auf Kommunikation und damit auf eine in ge­
Personen. Analog zum Schema Substanz/Akzi- gebenen geschichtlichen Situationen plausible
denz oder Ding/Eigenschaft wird Person/Hand- Dekomposition von Kompakteindrücken ange­
lung als dasjenige Dual genommen26, das die wiesen. Solche Dekompositionen müssen Refe­
Aussagenvariation im wissenschaftlichen Kom­ renzen festhalten können, um mit bezug auf
munikationszusammenhang steuert. Man kann sie Aussagen variieren und um auch im Dissens
dann, in normierender oder in erklärender Ab­ Sicherheit bieten zu können, daß man über das­
sicht, darüber diskutieren, welche Personen wie selbe verschiedener Meinung ist. Die Anfänge
handeln (sollen). Entlang von Annahmen über einer neu sich ausdifferenzierenden Theorieent­
Interessen, Motive, Naturnormen und Rationali­ wicklung — und davon kann man für Handlungs­
tätsbedingungen konnte so eine Art von Hand­ wissenschaften seit der Mitte des 17. Jahrhun­
lungswissenschaft ausdifferenziert werden, deren derts sprechen (JONAS 1966) —erfordern für
Hauptproblem bis in die neueste Zeit geblieben einen solchen Referenzen-Schematismus Alltags­
ist, ob und wie man Präferenzen, Handlungsty- nähe, Konkretheit und anschauliche Plausibili­
tät; denn nur so kann gewährleistet werden, daß
die Beteiligten dieselben Grundmodelle vor Au­
gen haben, wenn sie miteinander über daraus ab­
25 Zur Unterstützung dieses Arguments und zum Nie­
geleitete Fragen diskutieren. All das zwang die
dermachen des Gegners wird nicht selten hinzuge­ Handlungstheorie in die Nähe des lebensweltlich
fügt: Wer das leugne und anders ansetze, „reifiziere“
seine theoretische Projektion.
26 BÖHME (1975: 245) spricht von Paarbegriffen und 27 Vgl. aus der neuesten Literatur etwa VANBERG
Unauthenticated
nennt ebenfalls Person/Akt als einen von ihnen. 1975; BOHNEN
Download 1975. 10:43 AM
Date | 7/21/17
74 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81
praktizierten Zurechnungsschematismus. Hin und ihre Elemente jeweils aktuell über Punkt-für-
wieder sollte man jedoch überlegen, ob diese hi­ Punkt Beziehungen mit der Umwelt abzustim­
storischen Bedingungen uns nach wie vor zwin­ men (PARSONS 1970: 30f.). Das ist einerseits
gen. der Grund für die Notwendigkeit von Struktu­
ren, von Redundanzen, von Interdependenzun­
terbrechungen und Störungstoleranzen im Sy­
VI. stem; und andererseits Ausgangspunkt für die
Möglichkeit, Prozeßsequenzen aufzubauen, für
Inzwischen hat sich die Theorielandschaft erheb­ die es in der Umwelt des Systems keine Paral­
lich gewandelt. Wissenschaftssoziologisch gesehen lelen gibt. Da solche System weder in all ihren
verträgt Theoriediskussion heute einen größeren Elementen jederzeit auf Umweltstützung ange­
Abstand vom Alltagsverständnis des Handelns. wiesen sind, noch über vollständige Interdepen­
Vor allem interdisziplinäre Kontaktbegriffe wie denzen in all ihren Elementen gestört werden,
Sinn, Komplexität, System, Evolution, Kom­ wenn eines ausfällt, ist ihre abrupte Gesamtzer­
munikation, Selektion erzwingen geradezu hö­ störung in normalen Umwelten hinreichend un­
here Abstraktionslagen, zumal dann, wenn man wahrscheinlich, obwohl emergente Ordnungen
sie mit dem Radikalthema Zeit in Verbindung dieser Art von den Ausgangstagen ihrer Entwick­
setzen will. Man kann daher durchaus versuchen, lung her gesehen ihrerseits unwahrscheinlich
auch die „natürliche“ Assoziation von Person sind.
und Handlung zu knacken.
Auch der Begriff der Emergenz läßt sich von
Es muß an dieser Stelle genügen, einige viel be­ den Begriffen Element und Relation her entwik-
nutzte, anschlußfähige Begriffe an unser Thema keln und einer Komplexität zuschreiben. Üb­
heranzuführen. Wir beginnen mit Komplexität. licherweise wird mit diesem Begriff die Unab-
Man kann eine Gesamtheit von Elementen im­ leitbarkeit der Ordnung und ihrer Eigenschaften
mer dann als komplex bezeichnen, wenn es nicht aus den Elementen, die sie bilden, betont30. Man
mehr möglich ist, jedes Element mit jedem an­ kann auch umgekehrt sagen, daß die Ordnungs-
deren jederzeit zu verknüpfen28. Komplexität er­ typik eines Systems aus einer komplexen Um­
fordert, mit anderen Worten, ein notwendig se­ welt auswählt, was als in der Ordnung des Sy­
lektives Relationieren der Elemente. Das Rela- stems nicht weiter auflösbares Element fungie­
tionierungspotential hängt von der Aufnahme­ ren kann. Temporalisierung von Komplexität
kapazität der Elemente ab. Es kann jedoch im­ heißt dann: Temporalisierung der Elemente. Ele­
mer erweitert werden, wenn die Möglichkeit ge­ mente einer solchen Ordnung sind unabhängig
schaffen wird, in einer Gesamtheit nacheinander von Zeit nicht zu verstehen und nicht zu ver­
verschiedene Relationierungsmuster zu realisie­ wenden, sie sind nur als Ereignisse möglich.
ren, die als gleichzeitige inkompatibel wären.
Gesamtheiten, die ihre Komplexität in diesem Unter diesen Voraussetzungen ist es möglich,
Sinne temporalisieren können, gewinnen als Emergenz geradezu zeitbezogen zu definieren,
Systeme dadurch die Fähigkeit, sich durch Än­ nämlich als Ordnung von Zeitverhältnissen in
derung ihrer Zustände ihrer Umwelt anzupas­ der Zeit31. Die „Neuheit“ der emergenten Ei­
sen. Sehr komplexe Systeme sind daher stets
Systeme mit temporalisierter Komplexität29.
30 Vgl. z.B. GROBSTEIN 1973. Für den besonderen
Systeme, die Zeit brauchen, um eine Vielzahl Fall von Handlungssystemen vgl. PARSONS 1937:
739: „ . . . it has been shown that action systems
von Relationierungsmuster hintereinanderschal- have properties that are emergent only on a certain
ten zu können, müssen darauf verzichten, alle level of complexity in the relations of unit acts to
each other. These properties cannot be identified
in any single unit act considered apart from its rela­
tion to others in the same system. They cannot be
28 Vgl. ausführlicher LUHMANN 1975. derived by a process of direct generalization of the
29 Die Unterscheidung von Differenzierung im Neben­ properties of the unit act.“
einander und Differenzierung im Nacheinander 31 So, im Anschluß an MEAD, McHUGH 1968: 24 ff.
findet sich bereits bei SIMMEL 1890: 143 ff. Vgl. - die einzige mir Unauthenticated
bekannte soziologische Abhand­
auch PRINGLE 1951: 184 ff.; ferner LUHMANN lung, die den hier verfolgten Intentionen nahe­
1978b. kommt. Date | 7/21/17 10:43 AM
Download
N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 75
genschaften ist nicht nur eine sachliche Abwei­ sen der Sinn- und Sprachabhängigkeit des Han­
chung von dem, was bisher war oder was sonst delns ausschlaggebende Bedeutung besitzen;
ist32; sie leistet eine jeweils eigenständige Ge­ denn Verwendung von Sinn und von Sprache
genwärtigkeit der Gesamtzeit, indem sie ereig­ zu Selektionszwecken heißt immer und not­
nisbezogen (handlungsbezogen, kommunikations­ wendig: Beibehaltung von Ambiguität und Aus­
bezogen) Vergangenes und Zukünftiges selektiv gesetztsein, ja Attraktivität für Negationen.
relevant werden läßt. Und das ist unerläßlich,
wenn ein System nicht nur Selektivität, sondern
auch den Wechsel von Selektionsmustern in VII.
nichtbeliebigen Abfolgen organisieren muß. Ein
solches System muß das Neuheitserleben an die Für eine Wiederbegegnung mit VAUVENAR-
Zeit selbst binden Jeder Moment hat Neuheits­ GUES kann man heute also, wie hier nur kurz an­
qualität und ist von da her offen für Kontinuie- gedeutet werden konnte, auf Theoriematerialien
ren oder Diskontinuieren, Erhalten oder Ver­ sehr verschiedener Provenienz und sehr unter­
ändern, Konformbleiben oder Abweichen im schiedlichen Reifezustandes zurückgreifen, für
Sinne eines sachlich-thematischen Vergleichs. die in allen Fällen das Verhältnis von Handlung
Entsprechend entsteht die Doppelmöglichkeit und Zeit (und nicht: das Verhältnis von Hand­
einer konservativen und einer progressiven Ideo­ lung und Person) kritische Bedeutung hat. Zu­
logie im Sinne einer abstrakten Präferenz und gleich ist der heute formierbare Theorieansatz
Richtlinienpolitik für die Behandlung dessen, auch „wissenssoziologisch“ brauchbar; er kann
was qua Zeit ohnehin immer neu ist. nämlich begreifbar machen, weshalb der Zeit­
bezug des Handelns im 17. und 18. Jahrhundert
Emergenz kann nur über evolutionstheoretische aufgegriffen, aber nicht theoretisch ausformu­
Annahmen erklärt werden33. Evolutionstheorien liert worden ist.
benutzen die Unterscheidung von Variation, Se­
lektion und StabÜisierung. Es gibt bisher keinen Blicken wir noch einmal auf die theoretischen
ausgearbeiteten Versuch, die Entwicklungsge­ Vorgaben zurück, die im 17. und 18. Jahrhun­
schichte von Handlungssystemen schlechthin als dert verfügbar waren, dann scheint der Umbau
Evolution zu begreifen34*. Das Grundproblem der zeitthematischen Semantik theoretisch ab­
ist, wie man erklären kann, daß trotz laufender leitbaren Linien zu entsprechen. Sehr charakte­
Selektion und trotz Einsatz stabilisierender Me­ ristisch ist eine neuartige Problematisierung von
chanismen genug Variabilität im System bleibt, Zeit. Vergleicht man etwa CICERO (de officiis
so daß der Variationsmechanismus nicht, wie I c.IV, 11) und HOBBES (Leviathan I ch. 12),
in der organischen Evolution, auf fehlerhafte gehen beide Autoren davon aus, daß der Mensch
(mutierende) bzw. bisexuelle Reproduktion an­ sich vom Tier durch Bezug seiner Gegenwart auf
gewiesen bleibt. Speziell hierfür dürften Analy- Vergangenheit und Zukunft, also durch Fähig­
keit zur temporalen Integration unterscheidet.
Für CICERO heißt das: bessere Kontrolle der
Gegenwart durch prudentia. Für HOBBES heißt
32 Das war bis in die Neuzeit hinein der einzig denk­ das: unermeßliche Extension des Kausalfeldes,
bare Begriff von Neuheit. Vgl. FREUND 1957. Abhängigkeit von behelfsmäßigen Reduktionen
Mit der Betonung des sachlich Abweichenden war (eigene Imagination, fremde Autorität) und in­
zunächst eine negative Wertung, mindestens ein folgedessen: Angst.
Verdachtsmoment verbunden gewesen. Erst in den
letzten drei Jahrhunderten scheint sich eine posi­
tive Wertung des Neuen durchgesetzt zu haben, die Diese Wendung zu einer auf Negation der Nega­
darauf beruht, daß man das Neue sachlich (aber tivität angewiesenen Anthropologie wird jedoch
immer noch: sachlich!) mit Vergangenem vergleicht. nicht durch entsprechende zeittheoretische Ana­
33 Und „Erklärung“ heißt hier bestenfalls: das Wahr­
scheinlichwerden des Unwahrscheinlichen erklären; lysen aufgefangen; vielmehr bleibt die traditio­
nicht aber: den emergenten Zustand mit Hilfe von nelle Bindung der Zeitanalyse an den Begriff
Gesetzen aus vorherigen Zuständen ableiten. der Bewegung und dessen Probleme erhalten.
34 Der bisher wichtigste (von Vertretern der „Hand­ Die Gegenwart wird, in Abwendung von kompli­
lungstheorie” bisher nicht hinreichend ausgewertete) zierteren theologischen Vorstellungsmustern, im
Beitrag ist: WEICK 1969. WEICK bezieht seine Unauthenticated
Analysen jedoch auf organisierte Gruppen in einem Anschluß
Downloadan Descartes
Date | 7/21/17punktualisiert
10:43 AM und dis-
sehr weiten, unscharf abgegrenzten Sinne. kontinuiert. Das erfordert, theologisch gesehen,
76 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81

Weltneuschöpfung von Moment zu Moment Die oben skizzierten Zusammenhänge von Kom­
(creatio continua), die sich außerhalb des plexität, System, Emergenz und Evolution treten
menschlichen Erfahrungsbereichs vollzieht, die aus dieser Tradition heraus. Sie machen einer­
aber immerhin etwaige theologische Einwände seits verständlich, daß man bei zunehmender
gegen eine jeweils gegenwärtig neue Rekon­ Komplexität Erfahrungsgehalte mehr und mehr
struktion der selektiven Beziehungen zu Ver­ temporalisieren muß. Daß dafür zunächst die in
gangenheit und Zukunft neutralisiert35. Ent­ der historischen Semantik verfügbaren Denk­
sprechend stehen im Bereich des menschlichen mittel, vor allem Bewegungsbegriffe, herhalten
Handelns für das 18. Jahrhundert Erhaltungs­ müssen, liegt ebenfalls auf der Hand. Insofern
und Steigerungsprobleme zur Diskussion, wo­ benutzt unsere Analyse wissenssoziologische
bei eine Kombination (Steigerung auf der Basis Hypothesen über Covariation von Sozialstruktur
von Erhaltung bzw. Erhaltung mittels Steige­ und Semantik. Der Theorieapparat der Tradi­
rung) die typische Form der Problemlösung ist36. tion, der Zeit und Handlung als Bewegung prä­
Schließlich ist die im letzten Drittel des 18. sentiert, erscheint in dieser Analyse jedoch
Jahrhunderts sich durchsetzende Historisierung nicht mehr als begriffliche Verpflichtung ihrer
des Zeitbegriffs ein Beleg dafür, daß die Refe­ eigenen Theorie, sondern nur noch als histori­
renz aller Entitäten und Geltungen auf etwas sche Semantik, die für Korrelierüberlegungen
bezogen wird, was selbst als in Bewegung ge­ zur Verfügung steht. Die Semantik der Bewe­
dacht wird (JÖNS 1956; LEPENIES 1976; KO- gungsbegriffe vermag nicht durchsichtig zu ma­
SELLECK 1977). Dem entspricht in der Er­ chen, weshalb sozialstrukturelle und temporal­
kenntnistheorie der Begriff der transzendentalen strukturelle Veränderungen korrelieren.
Bewegung als Synthesisvollzug bei KANT, dem
Raumbegriffe (z.B. Linie) und Zeitbegriffe (z.B. Mit diesen Bemerkungen ist zugleich vorgezeich­
Sukzession) nachgeordnet werden (KAULBACH net, in welchen Hinsichten die soziologische
1965: 68ff.). Bewegung wird zu derjenigen Re­ Handlungstheorie Abstand gewonnen hat und
ferenz, in der Subjekt und Objekt zusammenfal­ daher den Gedanken von VAUVENARGUES
len. nicht mehr im Bezugsfeld seines Denkens auf­
nehmen kann. Die Veränderungen, die über
Der Gesamteindruck ist: daß auf Komplexitäts­ Komplexität, System, Emergenz und soziale
erfahrungen, die sich im Übergang zur modernen Kommunikation vermittelt sind, lassen sich in
Gesellschaft verstärkt ergeben, in der Zeitdimen­ drei Thesen zusammenfassen:
sion und mit Zeitbegriffen reagiert wird; daß (1) Handlung ist nicht Bewegung, sondern
dies aber noch, sozusagen spätzenonisch, auf der Ereignis31. Nur als Ereignis kann es Ele­
Basis von raumbezogenen Vorstellungen wie ment komplexer Systeme sein. Nur als
Punkt oder Bewegung geschieht. Gegen diese zeitstellenfixiertes Ereignis (und nicht
Problemfassung etabliert sich die Lehre von der als Streben oder als Prozeß der Zweck­
creatio continua ebenso wie der Handlungsbe­ realisierung) ist die Einzelhandlung ele­
griff von VAUVENARGUES. Bewegung ist zu­ mentar und isolierbar genug, um für wech­
gleich das, was unausweichlich gedacht werden selnde Kombinationen, offene Erwartun­
muß, wenn man Einheit des Mannigfaltigen gen und nachträgliche Umdeutungen zur
denkt; also bestimmt sich das Verständnis von Verfügung zu stehen; und nur so kann die
Komplexität durch das Problem der Bewegung. Handlung ein soziales Leben riskieren.
Nur als Ereignis, schließlich, kann Handeln
an jede Art von Überraschung anschließen.
35 Diese Neutralisierungsfunktion der Lehre von der (2) Die Zeitlichkeit des Handelns hat ihre Re­
creatio continua ist besonders dort erkennbar, wo ferenz in einer jeweils sozialen Gegen­
gesagt wird, daß dieser Vorgang lediglich die Anni­
hilation der Realität von Moment zu Moment rück­ wart3738. An die Stelle der transzendentalen
gängig macht; daß er der Realität aber nichts weg­
nimmt und nichts hinzufügt und eben deshalb auch 37 Dies gegen die auch heute noch verbreitete Auffas­
nicht erfahrbar sei. So ABBE JOANNET 1775: sung von Handlungstheorie als Prozeßtheorie. Nur
308, Anm. ein Beispiel: ELGER 1975.
36 Unter diesem Gesichtspunkt ist das 18. Jahrhundert 38 Dieser Gesichtspunkt ist besonders von MEAD aus­
auch für heutige Diskussionen wieder relevant ge­ gearbeitet worden.Unauthenticated
Vgl. ferner McHUGH (1968)
worden. Vgl. SOMMER 1977; ferner EBELING zum Zusammenhang
Download von10:43
Date | 7/21/17 zeitlichem
AM „emergence“
1978. und sozialem „relativity“.
N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 77
Bewegung tritt die soziale Kommunika­ der Problematisierung von Zeit auswechseln.
tion, die es erst ermöglicht, daß die pure Daß Zeit zum Problem wird, ist ein Reflex ge­
Sequentialität der eigenen Erlebnisverar­ sellschaftlicher Komplexität. Wie Zeit zum Pro­
beitung transzendiert und auf Zeithorizon­ blem wird, ist eine Frage der semantischen Tra­
te bezogen wird, in denen Platz hat, was dition, deren Veränderungen sich selbst bedin­
auch andere erlebt haben bzw. erleben gen, insoweit aber auch strukturellen Verände­
werden. Und erst so entsteht überhaupt rungen des Gesellschaftssystems und steigendem
das Problem einer selektiven Integration Zeitdruck folgen können.
von Vergangenheit und Zukunft in einer
Gegenwart, deren Aktualität nicht aus­ Das Zeitproblem der Tradition hatte sich aus
reicht, um alles auf alles zu beziehen. der Analyse von Bewegung ergeben, die im Mit­
(3) Weil die temporale Integration von Hand­ telalter über die Bezugspunkte der aristotelischen
lung als Vermittlung von Vergangenheit Theorie (Quantität, Qualität, Ort) hinaus erwei­
und Zukunft soziale Kommunikation vor­ tert und radikalisiert worden war (MAIER 1958).
aussetzt, sind für die Konstitution von Dabei ging es primär um ein Verständnis der
Handlungen Zurechnungsprozesse unerläß­ Möglichkeit, Diskontinuität mit Bewegung zu
lich. Für die Beteiligten muß feststehen überbrücken, und die Radikalisierung hatte diese
oder ermittelbar sein, wo die Selektion Problemstellung auch auf die Diskontinuität der
stattfindet und für wen sie jeweils Erleben Dauer des substantiellen Seins bezogen. Daraus
bzw. Handeln ist (LUHMANN 1978c). Ein folgte die Vorstellung des Verschwindens der
Kausalschema für Handeln wird deshalb, Zeit in sich selbst am Ende jeden Augenblicks,
soweit überhaupt, so offen konstituiert, gegen die VAUVENARGUES das Handeln setzt.
daß innerhalb kausaler Zusammenhänge Geht man statt dessen von der Komplexität so­
von Ursachen und Wirkungen Akzentuierun­
gen über Zurechnung noch möglich sind39. zialer Systeme aus, lautet das Grundproblem,
wie man wechselnde Handlungsrelationen in be­
grenzter Zeit unterbringen und koordinieren
VIII. kann. Die Zeithorizonte Vergangenheit und Zu­
kunft werden dann zu Kalkulationsräumen für
Anschließend sollen zwei weitere Fragen aufge­ ein nur gegenwärtig-vollziehbares Handeln. Zeit
worfen und ansatzweise verfolgt werden. Die wird, soweit sie zu sozialer Koordination be­
erste lautet: Ist eine gewisse Vergleichbarkeit nutzt wird, knapp; denn soziale Koordination
mit dem Grundgedanken VAUVENARGUES’ setzt Stückelung, Befristung, Terminierung der
trotz eines so weitgehenden Theorieaustausches Zeit voraus40. Die Gegenwärtigkeit der Zeit
noch gegeben? Wie steht es, mit anderen Wor­ ermöglicht dann zwar, ganz im Sinne CICEROS
ten, mit der Übersetzbarkeit trotz inkommen­ (vgl. Anm. 16), gesteigerte Disponibilität durch
surabler Theoriebasen (Bewegung/Ereignis)? selektives Relevantmachen von Vergangenem
Und zweitens: Welche Möglichkeiten der Fein­ und Zukünftigem. Aber Handeln ist immer zu­
artikulation kommen in Sicht, wenn man Hand­ gleich zeitbindende Disposition, die über den
lung von Zeitproblemen und nicht von mehr Moment hinaus Gedächtnis nachfüllt, Prämissen
oder weniger rationaler Interessenverfolgung für weiteres Handeln festlegt und Zeit für an­
her denkt? dere und für den Handelnden selbst knapp
macht.
Um Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit zu
gewinnen, muß man die Kontraststellung des Der Angelpunkt eines Vergleichs mit VAU­
Handelns gegen Zeit festhalten und den Kontext VENARGUES liegt im Zeitbindungseffekt des
Handelns. Wenn man mit VAUVENARGUES
Zeit als Selbstannihilation der Realität auf­
39 Damit ist die alte Streitfrage umgangen, ob Kausali­
tät Zurechnung fundiert oder umgekehrt Zurech­
nung Kausalität. Hierzu z.B. RITSCHL 1901: 57 ff.; 40 Das Problem der Diskontinuität in der Zeit ergibt
ferner KELSEN 1941. In jedem Falle werden Sche­ sich hier also nichtUnauthenticated
aus einer abstrakten Logik der
matisierung und Zurechnung vorgängig durch soziale Bewegung, sondern aus einer von System zu System
Systeme reguüert. unterschiedlichen
Download Logik 10:43
Date | 7/21/17 sozialer
AMKoordination.
78 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81
faßt, dann wird Zeitbindung zur Rettung der nicht weiter dekomponierbaren Elemente Ereig­
Realität hochstilisiert. Die Rettung der Realität nisse sind. Handlung individuiert sich als Ereig­
wird im Sicheinstimmen auf den Willen Gottes nis. Diese Individuierung erfolgt nicht nur als
vollzogen. Dem Handelnden, der sich nur selbst­ Schnittpunkt von Bewegungen oder Einflüssen44,
referentiell motivieren kann, erscheint sie als sondern durch selektive Reduktion von Kom­
„gloire“. Insofern ist Handeln Schicksal und plexität. Was Ereignisse im allgemeinen und
Mission zugleich. Geht man statt dessen von Handeln im besonderen „neu“ macht, ist also
einer Theorie komplexer sozialer Systeme aus, nicht ein Mehr, sondern ein Weniger im Ver­
kommt ebenfalls alles auf den Zeitbindungs­ gleich zu dem, was vorher möglich war. Aber
effekt an41. Handeln ist dann nicht Gegenbe­ Ereignisse sind nicht, das wäre wieder eine sta­
wegung gegen die in der Diskontinuität ver­ tische Konzeption, kleine Löcher, in denen das
schwindende Zeit, sondern zeitbindendes Ereig­ Mögliche nach und nach versickert. Sie benutzen
nis42. Durch zeitbindende Ereignisse werden vielmehr selektive Reduktionen, um Relations­
Strukturen gebildet, an denen Zeit überhaupt muster zu wechseln Nach einer Handlung sind
erst erscheinen kann. Bindung ist Bedingung andere Handlungszusammenhänge relevant als
für Modifikation, Durchgehaltenes ist Bedingung vorher, und das ist nur über Verminderung und
für Änderung. Handeln investiert sich mithin Neuentwurf von Möglichkeiten zu leisten. Bei­
selbst als Grundlage für Bestätigungen und Über­ des bedingt sich wechselseitig und geschieht
raschungen, Rückwärtsdeutungen und Anschluß­ uno actu. Insofern ist Handlung unauflösbares
handeln; es projektiert und vollzieht eine Art Systemelement. Es ist dadurch Element, daß es
Lebensprovisorium, das eine zeitlang vorhält dies leistet. Andererseits heißt Elementsein
und die Entwicklung weiterer Handlungsgrund­ nicht etwa Einfachsein — weder in dem Sinne,
lagen ermöglicht43. Es bleibt in seiner Augen- daß ein System aus vorwegbestehenden ein­
blickshaftigkeit hinreichend ambivalent und fachen Elementen zusammengesetzt werden
bindet infolgedessen ambivalent. Eben deshalb kann wie ein Haus aus Bausteinen; noch in dem
bleibt, obwohl immer schon gehandelt worden Sinne, daß die Forschung, wenn sie auf Elemen­
ist, jeder Moment als neu erfahrbar. Die Zeit te stößt, am Ende wäre. Viel mehr ist das Fun­
wird, obwohl knapp, nicht verbraucht, sondern gieren als Element in komplexen Systemen eine
laufend rekonstituiert. sehr voraussetzungsreiche Leistung, die in den
üblichen Motiv- oder Rationalitätskonzepten
Zeitbindung ist jedoch zunächst nur ein Wort nicht erfaßt, sondern schlicht vorausgesetzt wird.
für einen noch nicht ausreichend analysierten Im Hinblick darauf war oben von Forschungs­
Sachverhalt. Es stehen weder Handlungstheo­ programm die Rede, und dessen Thema ist: wie
rien noch Zeittheorien zur Verfügung, die es Handlungssysteme Handeln überhaupt ermögli­
ermöglichen würden, einen Begriff der Zeitbin­ chen.
dung zu definieren. Es fehlen dafür gesicherte
Anschlußbegriffe. Immerhin kann, und darauf Forschungen in dieser Richtung werden stärker
laufen unsere Analysen hinaus, ein Problem­ als zuvor Zeitbezüge beachten müssen und dies
bewußtsein artikuliert und ein Forschungspro­ in dem bekannten Doppelsinne des Unterschie­
gramm skizziert werden. des von Vergangenheit und Zukunft einerseits
und des ständig gegenwärtigen Wechselns (An­
Der Ausgangspunkt läge danach in einer Ana­ fangens und Endens) von Aktualität andererseits.
lyse von Systemen mit temporalisierter Komple­ Offenbar verschmilzt Handlung beide Aspekte
xität, also von Systemen, in denen die letzten, von Zeit zu einer operativen Einheit, indem es
die temporale Integration von Vergangenem und
Künftigem gerade durch den Wechsel der je ak­
41 Das gilt im übrigen für Systeme mit temporalisierter tuellen Themen ermöglicht; ebenso aber auch
Komplexität schlechthin. Für Gehirne siehe z.B. umgekehrt den Wechsel selbst an momentan re­
PRIBRAM 1971: 26: Zeitbindungsfunktion als levanten Ausblicken in Vergangenheit und Zu­
„most basic property of the nervous system“ kunft steuert. Vielleicht kann die von ALFRED
42 Zur Parallelidee des „fluxus“ aus einem Punkte
vgl. KAULBACH 1965: 147 ff. SCHÜTZ (1932: 93 ff.) erarbeitete Unterschei-
43 Auch dies sind im 18. Jahrhundert entwickelte
Ideen. Vgl. POULET (1952) speziell zu MARI­ Unauthenticated
VAUX, LACLOS und JOUBERT. 44 Download
So die Skizze
Date |bei PARSONS
7/21/17 10:43 1937:
AM 741.
N. Luhmann: Zeit und Handlung - Eine vergessene Theorie 79
dung von Weil-Motiven und Um-zu-Motiven hier nicht zu begreifen sein. Ohne sie ist auch die
eingebaut werden, um zu verdeutlichen, daß Scheinkonfrontation von Handlungstheorien und
hierzu operative Sinnfixierungen im Vergangen- Systemtheorien nicht zu überwinden. VAUVEN-
heits- bzw. Zukunftshorizont, die ihrerseits von ARGUES hatte ein Problem gesehen, daß ganz
Situation zu Situation wechseln, unerläßlich in der Nähe liegt, hatte aber Zeit und Handlung
sind. Allerdings ist damit noch keineswegs aus­ zu hart kontrastiert und hatte damit keine Theo­
gemacht, daß solche Blockierungen des Und-so- rie im Sinne eines Forschungsprogramms anbie­
weiter in Richtung Vergangenheit und Zukunft, ten können. Seine Intuition dürfte, in einen heu­
die dem Handeln erst Sinn geben, auch geeigne­ te möglichen Theorierahmen übersetzt, aber
te Ansatzpunkte sind für seine soziale Regulie­ gleichwohl richtiger liegen als das unentwegte
rung, ganz zu schweigen von einer soziologischen Insistieren auf der These, daß nur Subjekte han­
Erklärung, wie MAX WEBER sie vor Augen hat­ deln können.
te. Trotzdem scheint eine temporäre Schließung
offener Zeithorizonte Voraussetzung dafür zu
sein, daß Vergangenheit und Zukunft in der Ge­ IX.
genwart des Handelns überhaupt aufeinander
bezogen werden können. Für die heutige Theoriediskussion ist das Ideen­
gut eines Autors wie VAUVENARGUES Ver­
Weitere Teilkomplexe eines Handlungskonzepts gangenheit. Was rechtfertigt es, sich trotzdem
liegen in den PARSONSschen Begriffen „actor“ mit ihm zu befassen? So kann man auch gene­
und ,Situation“ vor. Wir würden lieber von Zu­ rell fragen: Wo liegt die erkenntnistheoretische
rechnung und von Situationsdefinition sprechen, Legitimation der Befassung mit Wissenschafts-
um anzudeuten, wie komplex die Forschungs­ geschichte? Inwiefern können vergangene Kon-
bereiche sind, die hier einbezogen werden müß­ zeptualisierungsversuche dem etwas hinzufügen,
ten. Über Zurechnung auf Handelnde (die ihr was gegenwärtig ohnehin theoriefähig ist46?
Handeln überdauern) und über Situationsdefini­ Geht es nur um Maximierung von kumulativen
tionen gewinnt der Sinn des Handelns eine Sta­ Erfolgen, nur darum, nichts möglicherweise
bilität, die das Handeln als Ereignis nicht haben Wertvolles aus den Augen zu verlieren? Oder
kann. Damit wird jener Zeitbindungseffekt er­ geht es um eigenartige Möglichkeiten der Rück­
reicht, der im Ereignis allein noch nicht liegt. wärtsentdeckung, der Wiederbelebung verkann­
Zugleich erweitern Zurechnung und Situations­ ter Genies?
definition die Anschlußfähigkeit weit über das
hinaus, was sich aus dem „gemeinten Sinn“ des Weder die eine noch die andere Antwort befrie­
Handelns unmittelbar ergibt. Man kann den digt. Der vorgeführte Fall, die Konzeption des
Handelnden wegen seines Handelns befragen und Verhältnisses von Zeit und Handlung bei VAU­
zur Rechenschaft ziehen, kann in Situationen VENARGUES, liegt jedoch komplex genug, um
komplementär oder gegenwirkend und gleich­ auch in der Grundfrage des Verhältnisses von
wohl situationsadäquat Handlung an Handlung Epistemologie und Wissenschaftsgeschichte diffe­
anschließen, usw. renziertere Überlegungen anzuregen.
Offenbar ist hier jedoch eine Feinmechanik des Der Gedanke selbst ist historisch geworden und
laufenden Abstimmens von zeitweise festgehal­ hat darin seine formulierte, tradierbare Identi­
tenen Vergangenheits- und Zukunftsbezügen mit tät. Man kann ihn jederzeit zur Kenntnis neh­
aktuell und ereignishaft vollzogenen Selektionen men. Das macht ihn nicht relevant. Man muß
vorausgesetzt, die mit Begriffstiteln wie Zurech­ mit hinzunehmen, daß er sich in seiner Zeit
nung oder Situation nur sehr global bezeichnet nicht durchsetzen konnte, weil er die zeittheo­
ist45. Ohne hier anzusetzende Begriffsarbeit und retischen und die handlungstheoretischen Kon­
Detailforschung wird das Zustandekommen von texte, die Bestimmung von Zeit über Bewegung
selektiver Variation mit Zeitbindungseffekten und die Bestimmung von Handlung über Per-

45 Einen Eindruck von Detaillierungserfordernissen 46 Zur FragestellungUnauthenticated


vgl. im Anschluß vor allem an
speziell für „Situation“ vermittelt JÜRGEN BACHELARD FICHANT 1969. Siehe ferner
MARKOWITZ (1978). DIEDERICH
Download Date1974.
| 7/21/17 10:43 AM
80 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 8, Heft 1, Januar 1979, S. 63 - 81

son, nicht vermitteln konnte. Erst die Relation können, der für sie Gegenwart war. Nur so
von Idee und (aufnahmebereitem bzw. nicht kommt man zu einer Rerelationierung von Idee
aufnahmebereitem) semantischem Kontext und Kontext. Man muß andererseits die gegen­
macht einen Rückgriff interessant. Denn da­ wärtige Vergangenheit aktualisieren können, das
durch wird die feststehende Aussage zum Pro­ heißt darüber urteilen können, was für die Ge­
blem, für das in einem veränderten Theoriekon­ genwart erledigte bzw. rekurrenzfähige Vergan­
text Lösungen gesucht werden können. genheit ist. Die erkenntnistheoretische Relevanz
von Wissenschaftsgeschichte ergibt sich, das
Wenn dieser Befund typisch ist, dann liegt der jedenfalls läßt unsere Fallanalyse vermuten, erst
erkenntnistheoretische Sinn von Wissenschafts­ daraus, daß man beide Temporalperspektiven
geschichte nicht im Erhalten oder Wiederent­ trennt und aufeinander bezieht.
decken von Wahrheiten. Und es geht auch nicht
nur um ständige Überprüfung der Rekurrenz,
ständige Neuauswahl unter gegenwärtig gerade
anerkannten Wahrheitsgesichtspunkten. Das alles
hat sein Recht. Darüber hinaus enthält jedoch
speziell die Theoriegeschichte latente Problem­ Literatur
stellungen gespeichert, die in veränderten Kon­ ANONYM, 1754: Art. Delicieux. Encyclopedic ou
texten aktivierbar sein können. Dabei ist nicht Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des
nur an die Probleme gedacht, die man mit vor­ metiers. Paris 1751 ff. Bd. IV.
geschlagenen Theoriefiguren lösen wollte. Die BITTNER, E., 1967: The Police on Skid-Row: A
wären in diesem Falle von Bewegungs- oder Study of Peace-Keeping. American Sociological
Personproblemen abhängig geblieben. Sondern Review 32, 699-715.
BLUM, F. /McHUGH, P., 1971: The Social Ascription
es gibt außerdem eine Schicht tieferliegender of Motives. American Sociological Review 36,
Probleme, die für ein mismatching im Theorie­ 98-109.
arrangement oder auch für eine Marginalisierung BLUMENBERG, H., 1960: Paradigmen zu einer Meta-
von Theoriefiguren bestimmend sind und auf phorologie. Bonn.
BÖHME, G., 1975: Die Ausdifferenzierung wissen­
die man kommt, wenn man solche Phänomene schaftlicher Diskurse. In: Wissenschaftssoziologie:
auf ihre Gründe hin befragt. Will man dies, dann Studien und Materialien, hersg. von N. Stehr /R.
muß man auch die Vorgaben der Problemstel­ König. Opladen: 231-253.
lungen auflösen, an denen die historischen Theo­BOHNEN, A., 1975: Individualismus und Gesellschafts­
rieleistungen hingen. Hierfür gibt es kaum noch theorie: Eine Betrachtung zu zwei rivalisier enden
soziologischen Erkenntnisprogrammen. Tübingen.
Seitenführung - es sei denn in einem aktuellen BRAND, G., 1955: Welt, Ich und Zeit: Nach unver­
Theorieinteresse, das man sich im Umweg über öffentlichten Manuskripten Edmund Husserls. Den
die Geschichte verdeutlichen, anreichern und Haag.
von tradierten Verstellungen befreien kann. BUFFIER, C., 1726: Traite de la societe civile. Paris.
CAVAN, Sh., 1966: Liquor License: An Ethnography
of Bar Behavior, Chicago.
Will man das Auflösevermögen einer Wissen­ CICERO, 1968: De officiis. Ausgabe Loeb Classical
schaft über ihre grundlegenden Problemstellun­ Library. London.
gen und über ihre Metaphorik47 hinaustreiben, COLEMAN, S., 1976: Social Structure and a Theory
wird ihre Geschichte zur operativen Ressource, of Action. In: Approaches to the Study of Social
Structure, hersg. von P.M. Blau. London, 76-93.
vielleicht zur einzigen dann noch Struktur ge­ CROZIER, M. /FRIEDBERG, E., 1977: L’acteur et le
Systeme: Les contraintes de Taction collective. Paris.
benden Ressource. Zugleich wird man ganz an­ DESLANDES,
ders als bei normalen nichttemporalisierten M., 1715: L’art de ne point s’ennuyer.
Amsterdam.
Wahrheitsfeststellungen, an die Gegenwart rück­ DIEDERICH, W. (Hersg.), 1974: Beiträge zur diachroni­
gebunden. Das erfordert es, zwei verschiedene schen Wissenschaftstheorie. Frankfurt.
Temporalperspektiven zu unterscheiden, also den EBELING, H., 1978: Selbsterhaltung und Selbstbe­
einfachen Rückblick auf Geschichte zu differen­ wußtsein: Beiträge zur Analytik von Freiheit und
Tod. Ms.
zieren. Man muß einerseits die vergangenen Ge­ ELGER, A.J., 1975: Industrial Organization - A Pro-
genwarten erkennen, das heißt eine Theorielage cessual Perspective. In: Processing People: Cases
der Vergangenheit auf den Kontext beziehen in Organizational Behaviour. London, 91-149.
FICHANT, M., 1969:Unauthenticated
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| 7/21/17 10:43 AM
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Unauthenticated
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Download Date | 7/21/17 10:43 AM

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