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Wissenschaftstheorie WiSe 20/21, 1.

Einheit

1. Was ist Wissenschaft?


Wissenschaft: komplexe Terminologie, keine unstrittige Definition, Probleme mit dem
Begriffsumfang:
sogar zwischen den Sprachen sehr unterschiedlich, zB dt. Wissenschaft = engl. science + arts
bzw. humanities; lat. scientia ist Wissen = Wissenschaft; griech. epistéme ebenso von
epístamai = ver-stehen > Wissen/schaft; heute: Epistemologie = Erkenntnistheorie
Eule der Minerva

41 siehe Text 1: G. Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie


Fragestellungen:
besonders wichtig für die Geisteswissenschaften; sie sind auch Themen der Erkenntnistheorie.
7) Gibt es eine objektive Wahrheit bzw. eine objektiv erkennbare Realität?
8) Welcher Zusammenhang besteht zwischen Wissenschaft und Werturteilen?

S. 26f: Schurz formuliert 5 Grundannahmen der Erkenntnistheorie:


2 Schurz, Einführung in die Wissenschaftstheorie
1. Minimaler Realismus: es gibt eine Realität, fraglich ist nur, wie weit wir sie erkennen
können
2. Fallibilismus – kritische Einstellung (Irrtümer unvermeidbar, jede Erkenntis muß immer in
Frage gestellt werden können)
3. Objektivität und Intersubjektivität anzustreben – jede hinreichend kompetente Person mit
hinreichendem Zugang zur Datenlage muss zu überzeugen sein
4. Minimaler Empirismus – Gegenstandsbereich muß der Beobachtung zugänglich sein (Viren
in Cäsars Nase)
5. Logik und Präzision der Begriffe und Aussagen
(in der Geschichte nicht immer; aber: hinterfragen! Was ist Kultur, Ethnizität, Erinnerung?)

5 Es gibt 2 Kriterien, was Wissenschaft ist:


1. Allgemeine wissenschaftliche Methode (allg.; historische s.u.)
Unterscheidet sich von der Wissensgewinnung im Alltag (ich ‚schaue nach’, suche
Informationen), und von der im Internet (Algorithmen)
aber auch von der Weitergabe und Bewahrung bewährten Wissens in vormodernen
Gesellschaften
a. Suche nach neuen Erkenntnissen, nach Erweiterung des Wissens;
b. Hinterfragen von bisher verfügbaren Informationen (Kritik);
c. systematische Berücksichtigung aller erreichbaren Informationen;
d. Nachvollziehbarkeit des Erkenntnisprozesses.

6 Von der geoffenbarten Wahrheit zur Empirie


Isaac Newton (1642-1726) und das Gesetz der Gravitation: Beobachtungen über fallende
Gegenstände (z.B. Apfel) führen zur Aufstellung eines allgemeinen Gesetzes

7 Wege der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis:


Nicolaus Kopernikus (1473-1543) – Beobachtung der Gestirne und Berechnung ihrer Bahnen
führt zum heliozentrischen Weltbild – nicht die Sonne kreist um die Erde, sondern die Erde
und die Planeten um die Sonne
1
Die Nummern entsprechen den Folien der PPP.
1
Albert Einstein (1879-1955) – einzelne Beobachtungen und Berechnungen führen zur
Aufstellung einer neuen Theorie (Relativitätstheorie), die erst danach durch empirische
Beobachtungen schrittweise bestätigt werden kann

8 Modelle des Erkenntnisgewinns


Lange stellt man sich wiss. Erkenntnis so vor (zB auch im Positivismus des 19. Jhs, siehe
später): Annahme einer Wirklichkeit > Einzelbeobachtungen > induktive Folgerungen > wiss.
Theorien (zB durch Planetenbeobachtung, wie bei Kopernikus)
Aber wir gehen immer schon von bestimmten Vorstellungen aus, daher ist die Abfolge eher:
kreativer Entwurf konsistenter wiss. Theorien (zB Heliozentrismus. Das kopernikanische
System war ja lange aufgrund von Beobachtungen unentscheidbar) > logische Folgerungen >
Bestätigung oder Verwerfung dieser Theorie > vorläufige Definition der Wirklichkeit

 Was ist Theorie? Hypothese ist Einzelannahme, Theorie allgemeiner, oft auch
verstanden als Rahmen von Gesetzen, Modellen, Begriffsdefinitionen,
Verfahrensmustern.
Hypothesen und Theorien müssen sich allerdings bewähren – es geht weniger darum, ob sie
richtig oder falsch sind, sondern ob sie eine plausible Erklärung von Daten ermöglichen
Zwischen konkurrierenden Theorien und Paradigmen wird oft nicht objektiv entschieden.

9 Thomas Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962)


Die Wissenschaft schreitet nicht linear fort, sondern durch grundlegende Paradigmenwechsel.
Dabei kann der Mainstream-Konsens verzögernd wirken – neue Theorien werden oft zunächst
abgelehnt (aber: nicht alle neuen Theorien sind richtig, weil neu).
.
Was kann die Wissenschaftstheorie daraus schließen?
10 Karl Popper (1902 Wien -1994) - Schule des kritischen Rationalismus
Eigentlich ist keine Theorie mehr letztlich beweisbar – auch Bestätigung durch Erfahrung gilt
nicht als Beweis. Was tun? Theorie kann trotzdem gelten, solange sie nicht falsifiziert ist. Sie
muß aber 1.) auch falsifizierbar sein! (zB: ‚Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, ändert sich
das Wetter oder es bleibt, wie es ist)’;
2.) muß nach Falsifizierung systematisch gesucht werden;
3.) Wahrheitswert der Aussagen wird durch Konsens (in der Forschung) festgelegt, und zwar
nach in der Wissenschaft jeweils gültigen Techniken. Notwendig dazu ist wiederum eine
offene Gesellschaft, die Raum für die freie, verantwortlichen Entscheidung des Individuums
bietet

Zusammenfassung:
was als wissenschaftl. richtig akzeptiert wird, ist also bestimmt durch:
Konsens innerhalb der Wissenschaft/ state of the art (kann den Fortschritt aufhalten,
verhindert aber Beliebigkeit und Dilettantismus.)
Bewährung in der praktischen Forschung (Begründungsrationalität >>
Bewährungsrationalität) – hilft eine Theorie, neue Beobachtungen zu erklären?

Die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts geht also ab vom ‚klassischen’


Wissenschaftsverständnis (ein ähnlicher Schritt wie der zur Moderne in der Malerei, die auch
von der einfachen Wiedergabe einer Wirklichkeit abgeht)
– klassisch: Wahrheit existiert, muß nur entdeckt werden, ist messbar; zB Physik als
Beziehung fester Grund-Größen (Descartes: Materie, Raum, Bewegung, Zeit)
zunehmend: Hinterfragung dessen, was gegeben, selbstverständlich erscheint

2
gesellschaftliches Wissenssystem, das bestimmt was wahr und falsch ist, was möglich und
unmöglich ist etc.

Zweites Kriterium, was Wissenschaft ist:


11 Soziale Funktion als autonomes, nach eigenen Regeln funktionierendes Subsystem der
Gesellschaft
Dabei ist sie Gegenstand der Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsgeschichte.
Gesellschaftlich anerkannt ist die Figur des professionellen Wissenschaftlers, der sich auf
seine Arbeit spezialisiert und eine wesentliche gesellschaftliche Rolle erfüllt, und der
institutionell abgesichert wird.
Autonomie: ‚Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei‘
Begriff „Wissenschaftler“ stammt aus dem 19. Jh. - in Antike/Mittelalter: Philosoph,
geistlicher Gelehrter
Allerdings: heute wächst auch Ablehnung gegenüber der Wissenschaft (zB
Verschwörungstheorien, Internetblasen , ‚alternative facts‘)

Wissenschaftsgeschichte behandelt also nicht nur den Fortschritt des Wissens und der
Methodik, sondern auch die Veränderung der gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaft; wie
die Wiss. wahrgenommen und abgegrenzt wird, und: wie Wissen definiert wird, bestimmt
wieder, was erkannt, was gewusst wird. In der Kulturwissenschaft hat sich dafür der Begriff
Wissens- oder Wissenschaftskulturen durchgesetzt
Wissenschaft ist also eingebettet in gesellschaftliche Denkformen und Verhaltensmuster.
Erst so gerät auch ein wichtiger Zusammenhang ins Blickfeld: das gesellschaftliche Interesse
an der Produktion und Weitergabe von Wissen. Was will eine Gesellschaft wissen (bzw. wer
darin will was wissen, produziert welches Wissen oder gibt es weiter?)
Darin liegen auch die Voraussetzungen der Erkenntnis, die sich innerhalb bestimmter
Wissenssysteme und innerhalb sozialer Räume bewegt.
Wissenschaftsgeschichte muss also auch die Zirkulation des Wissens, seine Rezipienten (oder
seine Zurückweisung) berücksichtigen.

Wissenschaftsgeschichte wird oft als Fortschrittsgeschichte erzählt: vom Aberglauben zur


Wissenschaft, oder dreiteilig: religiöses – metaphysisches – wissenschaftliches Denken (Drei-
Stadien-Gesetz von Auguste Comte)
12 Francis Bacon (1561–1626) Wissenschaft als Weltverbesserung:
„Würde und Fortgang der Wissenschaft“ könnten das Werk, das die Reformation auf
religiösem Gebiet begonnen hatte, zu einer allgemeinen ‚Reformation’ ausweiten; viel eher
als die Politik könnte die Wissenschaft durch neue Entdeckungen und Erfindungen das Los
der Menschen verbessern. Es gibt daher ein gesellschaftliches Interesse an Bildung und
Wissen.

13 Ansätze zur wissenschaftlichen Erforschung der Wissenschaft:


* Wissenschaftstheorie – als Zweig der Philosophie
* Wissen(schaft)ssoziologie: Erforschung der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen
Wissenschaft betrieben wird
* Wissenschaftskulturen (als Thema der Kulturwissenschaft):
- Wiss. als kulturelle Praxis, nicht nur das Finden, auch die Verbreitung des Wissens wird
untersucht;
- Wahrheitsfindung als sozialer Prozeß; abgehen von der Siegergeschichte (Positionen, die
sich durchsetzen); Interesse für überwundene Paradigmen. Auch der Irrtum kann ein Element
wissenschaftlichen Fortschritts sein, weil er anzeigt, welche Lösungen nicht in Frage
kommen.
3
Wissen wird erworben, bewahrt, weitergegeben, und angewandt.

12 Interessen der Gesellschaft an der Wissenschaft


Jürgen Mittelstraß (Buch: Die Häuser des Wissens): 3 Kriterien für die Bedeutung der
Wissenschaft:
Wahrheit, Nutzen, Verantwortung
1. Wahrheitsanspruch (früher: teils quasi-religiös) – möglichst vollständige Erkenntnis der
Welt (Eigendynamik) – in vielen Bereichen; dahinter steht aber die Idee von der Einheit der
Rationalität: „Wissenschaft wird nicht als ein Ensemble unterschiedlicher Wissensformen,
sondern als die Einheit dieser Wissensformen in der Einheit der sie konstituierenden
Rationalität gesehen“ (Mittelstraß 91). System der Wissenschaft, das von einem gemeinsamen
Vernunftzweck geleitet wird: die Welt zu einer rationalen machen.
2. Nutzen (formuliert schon vom Aufklärer Leibniz) – Vielfalt von Verwertungszwecken:
technische Anwendungen (heute etwa: Gentechnik, medizinische Forschung,
Materialforschung, Umwelttechnologie)
Hohe Problemlösungskapazität, aber auch: shortcuts – vereinfachte Aneignung wiss.
Ergebnisse; Legitimierung des Bestehenden (Affirmation eines Weltbildes)
3. Verantwortung. Liegt auch an der Art der Probleme: nicht alles ist technisch lösbar.
Mittelstraß: „Wir leben in einer Welt, die das Werk des Menschen ist“ – Leonardo-Welt
(durch den Menschen bereits geformt und angeeignet), zum Unterschied von Kolumbus-Welt
(die fremd ist und entdeckt werden kann).
Viele Probleme der heutigen Gesellschaft sind das Resultat der Wissenschaft und Technik, die
bei der Lösung eines Problems andere schaffen und dabei immer größere Zerstörungs-
potentiale aufbaut (zB: Klimawandel). Dabei steigen die ‚Reparaturkosten’ zB an der
Umwelt.

Dagegen hilft aber nicht Wissensverweigerung, new age, neue Romantik, sondern mehr bzw.
andere Forschung und die Verantwortung der Forschenden und ihrer Auftraggeber. Viele
Probleme entstehen durch sorgloses Ignorieren der Folgen technischer Lösungen infolge
spezialisierter Fragestellungen und durch Unüberblickbarkeit der Folgen; daher ist es nötig,
größere Zusammenhänge zu erkennen. Es droht ein Verlust der Orientierung (wissenschaftl.
Verstand und praktische Vernunft entwickeln sich auseinander).
Immer schnellere Veränderung des Wissens? Bild von der Wissenskugel (wenn die Menge
des Wissens als wachsende Kugel vorgestellt wird, führt sie zu einer immer größeren
Oberfläche, die an das Nichtwissens stößt).
Was ist sinnvolles Wissen? Besonders im Internet – die Fähigkeit, richtig von falsch, wichtig
von unwichtig zu unterscheiden, wird immer wichtiger – Orientierungswissen eher als
Faktenwissen.

* Spannungsfelder:
- Spezialisierung – Beitrag zur Welterklärung, Öffentlichkeitswirksamkeit
- angewandte Forschung – Grundlagenforschung
„Zwei Wissenschaftskulturen“:
1. Naturwiss.: science, Zukunft, Verfügungswissen: über Ursachen und Mittel, ‚können’
2. Geisteswissenschaften: humanities, Literatur, Vergangenheit, Orientierungswissen: über
Ziele und Zwecke, ‚sollen’

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