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Elena Esposito
I.
Die vorliegende Zeitschrift fühlt sich der Systemtheorie verpflichtet, und die
Systemtheorie formuliert bekanntlich sehr genaue Hypothesen zur Rolle und
zum Funktionieren der Wissenschaft innerhalb der modernen Gesellschaft
wie auch zu den Publikationsbedingungen - also zur Verbreitung der wissen-
schaftlichen Kommunikationen durch die Massenmedien. In diesem Beitrag
möchte ich die Praxis und die Bedingungen wissenschaftlicher Kommunika-
tionen mit den Mitteln der Systemtheorie betrachten, um mich dann auf die
spezifischen Eigenschaften der soziologischen Kommunikation zu konzen-
trieren: Welche Rolle kommt gemäß systemtheoretischer Prämissen in der
modernen Wissenschaft Publikationen zu?
Die Funktion der Wissenschaft wird in den meisten theoretischen Ansätzen
weitgehend übereinstimmend in der Erzeugung von Wissen gesehen, die sich
in der Produktion von Wahrheiten ausdrückt - wobei Wahrheiten entweder
aus empirischer Arbeit oder aus theoretischer Reflexion, ursprünglich jedoch
unabhängig von ihrer Publikation gewonnen werden. Später werden die For-
schungsergebnisse durch Veröffentlichung verbreitet. Dabei kann man von
einer zweiten, der Wahrheitsgewinnung untergeordneten Phase ausgehen.
Worauf es wirklich ankommt, ist (so meint man zumindest) die von Theorien
und Methoden geregelte wissenschaftliche Praxis; die Publikation ist eher ein
Die Darstellung der Wahrheit und ihre Probleme 167
daraus abgeleitete Temporalisierung voraus und ist nur mit der Unterstützung
von Veröffentlichungen möglich.
Obwohl das Wissenschaftssystem natürlich auch sehr viele Interaktionen
(Kolloquien, Tagungen, Meinungswechseln) und auch nicht-kommunikative
Operationen einschließt, kann man deshalb sagen, dass die moderne Wissen-
schaft nur in Form von Publikationen autopoietische Anschlussfähigkeit
gewinnt, und die Produktion von neuem Wissen an die Stelle der Klassifizie-
rung und der Ordnungssuche tritt (Luhmann 1990, 432ff.; Stichweh 1987,
458f.)· Obwohl scheinbar sekundär, ist die Publikation der Forschungsergeb-
nisse eine unerlässliche Bedingung für die Schließung des Systems - und
dann auch faktisch für seine Existenz als autonomer Bereich der modernen
Gesellschaft. Man kommt dennoch (und gerade deshalb) nicht umhin, eine
merkwürdige Inkongruenz festzustellen: ein derart wesentlicher Aspekt der
Wissenschaftsdynamik wird durch die Wissenschaft völlig unkontrolliert sich
selbst überlassen.
Luhmann (1990, 443) führt diesbezüglich den Unterschied von methodisch
kontrollierter Herstellung und Darstellung des Wissens1 - praktisch: von Pro-
duktion und Veröffentlichung des Wissens - ein. Die Wissenschaft verfügt
bekanntlich über Theorien und Methoden, pflegt und perfektioniert sie und
macht die Annahme der Kommunikation von der Befolgung ihrer Vorschriften
abhängig. Diese Methoden regeln aber nur die Herstellung und nicht die Dar-
stellung des Wissens, die durch Wissenschaft ganz und gar unkontrolliert
bleibt. Hier haben wir es faktisch mit der Produktion von Publikationen zu
tun, die von Wissensinhalten völlig getrennt und unabhängig verläuft; sie
betrifft alle Probleme, die mit einer angemessenen, verständlichen und wirk-
samen Darstellung der Forschungsergebnisse verbunden sind: Kohärenz und
Deutlichkeit der Auslegung, Antizipation der Kritik, Fähigkeit, von der Sicher-
heit der Ergebnisse zu überzeugen. Man unterscheidet eine gute von einer
nicht gelungenen Darstellung aufgrund von Regeln und Kriterien, die sich auf
das Doppelproblem beziehen, Kommunikation zu erleichtern und Kritik zu
verwalten. Dies wiederum wirkt sich auf die Dynamik der wissenschaftlichen
Kommunikation aus, also auf die Produktion von weiterer Kommunikation
und auf die Autopoiesis des Systems. Diese Regeln haben jedoch nichts mit
denjenigen zu tun, welche die echte Forschung, also die Herstellung neuen
Wissens leiten - außer in den Fällen, in denen die Einstellung der Forschung
selbst die Möglichkeiten der Publikation der Ergebnisse beachtet. Man kann
aber falsche Ergebnisse gut und wissenschaftlich korrekte Ergebnisse wenig
wirksam darstellen - dafür fehlt es nicht an Beispielen.
1 Auch diese Unterscheidung setzt offensichtlich die Verfügbarkeit von Schrift voraus, die
ermöglicht, beide Momente zu trennen.
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Die auf dieser Ebene wirksamen Kriterien sind also keine wissenschaftlichen
Kriterien. Das Wissenschaftssystem setzt sich hier Kriterien und Relevanzen
anderer Systemen aus: es kann von den Prioritäten von Organisationen wie
Universitäten oder Verlage, von den Richtlinien des Systems der Massenme-
dien oder auch einfach von der Mode geleitet werden. So entwickelt sich eine
Umweltsensibilität, die an sich - wie alle Formen der »Öffnung« von auto-
poietischen Systemen auf der Ebene der Programme - auch positive Aspekte
haben kann, solange die sich dadurch kristallisierenden Formen für die For-
schung nicht gleichgültig sind und sich auf die Gewinnung wissenschaftlicher
Wahrheiten selbst auswirken können. Durch Publikationen und ihre Realisie-
rung wird die Forschung manchmal auch von Umständen beeinflusst, die mit
wissenschaftlicher Wahrheit und ihrer Verfolgung nichts zu tun haben, was
eventuell gravierende Konsequenzen nach sich ziehen kann. Wie gesehen,
sind Publikationen denn auch eine grundlegende Komponente der Dynamik
der modernen ausdifferenzierten Wissenschaft.
II.
2 Zur Frage der Evolution aus der Sicht der Systemtheorie siehe Luhmann 1997, Kap. 3, insbes.
498ff.
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der Wahrheit unabhängig sind, ist also nicht an sich negativ und kein Grund
für Kritik: Die Wahrheit allein kann und muss bei der Darstellung der Beiträge
nicht ausschlaggebend sein. Wenn Reputation oder Publikationskriterien
einer Orientierung an wissenschaftliche Wahrheit Punkt für Punkt entspre-
chen würden, würden sie ihrer Funktion nicht nachkommen können. Was
Sorge bereiten muss, ist also nicht die Unabhängigkeit der Reputation von der
Wahrheit an sich, sondern das eventuelle Fehlen von Gleichgewicht und
Koordination zwischen Herstellung und Darstellung, in einer Situation, in der
die Konditionierung nicht als Tausch und gegenseitiger Einfluss operiert (man
publiziert schließlich, was wissenschaftlich relevant ist), sondern dazu neigt,
einseitig in eine einzige Richtung zu gehen. Die Möglichkeit des Zugangs zu
Publikationen kann dann zum ersten Kriterium der Forschungsmotivation,
der Themenwahl und des Theoriebezugs werden, wobei Namen, Moden oder
kontingente Verlagslagen wichtiger als Sachinhalte oder theoretische An-
schlüsse werden. Es geht aber in diesem Fall nicht um ein Problem der Dar-
stellung (die eher zu gut funktioniert), sondern um ein Problem der Wahrheit
(die nicht gut zu funktionieren scheint). Eine solche Situation kann (wie wir
sehen werden) für den heutigen Stand der soziologischen Forschung vermu-
tet werden.
III.
3 Wie anfangs antizipiert und von den in diesem Heft publizierten Praxisberichte bestätigt.
Die Darstellung der Wahrheit und ihre Probleme 173
(vgl. Luhmann 1995, etwa 164ff.), neigt sie natürlich auch dazu, riskante oder
zu radikal innovative Kommunikation zu entmutigen und stattdessen die
Bestätigung von gemeinsamen Voraussetzungen und eine auf Redundanz
bezogene Variation zu privilegieren. Das ist auch in den die Bedürfnisse der
Forschung nicht immer begünstigenden Eigenschaften soziologischer Publi-
kationen beobachtet worden (vgl. Luhmann 1979, 5; 1992, 69; 1990,452ff.): die
Exegese nimmt einen immer breiteren Raum ein auf Kosten der Entwicklung
neuer Ideen, die dagegen einer zureichend entwickelten theoretischen Anlage
bedürfte, um interdisziplinäre Kontakte und die Fähigkeit zu entfalten, sich
mit den Reflexionstheorien anderer Systeme auseinanderzusetzen. Die Sozio-
logie privilegiert die Interpretation der Klassiker, selbstproduzierter Daten (die
so genannte empirische Forschung) und interner Begriffe, mit der Konsequenz
einer offensichtlichen Dysbalance zugunsten von Selbstreferenz und auf
Kosten von Fremdreferenz.4 Die Soziologie neigt also dazu, sich mehr und
mehr mit sich selbst zu beschäftigen, eher Textprobleme als Sachprobleme zu
behandeln und Konstruktionen zu privilegieren, die es ermöglichen, eher
eigene Lektüreleistungen und Geschicklichkeit zu demonstrieren, als einen
Problembezug aufzuzeigen.5 Das macht auf der einen Seite eine Form von
Variation möglich, die eine gewissen Artikulation der Aussagen und die Fähig-
keit aufweist, Redundanzen in Bezug auf Namen (Klassiker) zu ordnen, auf
der anderen Seite büsst man aber die Anschlussfähigkeit für externe Fra-
gestellungen ein. Beispielhaft ist diesbezüglich die »Manie« des kritischen Ver-
gleichs, der - immer noch laut Luhmann - keine Mühe kostet und dazu dient,
eher sich selbst zur Schau zu stellen, als Wissen in den Vordergrund zu rücken
(vgl. Luhmann 1990, 297ff.). Unter diesen Umständen ist es nicht leicht, zwi-
schen soziologischen Publikationen und Wissenschaftsjournalismus eine
deutliche Grenze zu ziehen.
Es überrascht dann nicht, dass es ebenso schwierig ist, die spezifische wis-
senschaftliche Trennung zwischen verschiedenen Publikationsformen, etwa
Zeitschriftenartikel (mit der Funktion der Selektion wissenschaftlicher Kom-
munikationen) und den für Restabilisierung zuständigen Bücher aufrechtzu-
erhalten: selbst Verleger beobachten diesen Umstand, dem mit Massnahmen
ausserhalb des zuständigen Bereichs der Wissenschaftskommunikation nur
schwer entgegenzutreten ist. Die Trennung soll dann nicht Ergebnis einer
Verlagsregel sein. Auch überrascht die abnehmende Fähigkeit der Publikatio-
nen kaum, die wissenschaftliche Arbeit einzuteilen und Periodenbildung zu
4 Wie auch die externe Beobachtung zum Beispiel von einem Wirtschaftswissenschaftler wie
Akerlof bestätigt, der einen Unterschied zwischen der Haltung der Soziologie und seiner Dis-
ziplin feststellt: in der Soziologie »studiert man die Klassiker und versucht zu verstehen, was
sie sagen« - was ein Wirtschaftswissenschaftler auf der Suche nach Problemen und Verbin-
dungen sehr ungeduldig macht (vgl. Swedberg 1990, Kap. III).
5 Koenen spricht in seinem Beitrag in diesem Band von Funktionsverschiebung der Fachzeit-
schriften von der Fachkommunikation zur Kompetenzpräsentation.
Die Darstellung der Wahrheit und ihre Probleme 175
ermöglichen: Man forscht eher mit Blick auf die Publikation und weniger, um
Forschungsergebnisse zu publizieren; die Publikation selbst erfüllt nicht
mehr die Rolle eines externen Moments, dem die Forschung den eigenen
Einteilungsbedarf »anhängen« kann.
Publikationen reflektieren indirekt auch einen weiteren Differenzierungsman-
gel der soziologischen Forschung, diesmal gegenüber den Erfordernissen von
Organisationen (wobei hier in erster Line an Universitäten zu denken ist). Das
berüchtigte Gesetz des »publish or perish« hat eigentlich nichts mit der Rolle
von Publikationen für die Autopoiesis der Wissenschaft zu tun, wie die oft
sehr geringe wissenschaftliche Anschlussfähigkeit der von diesem Prinzip
geleiteten Publikationen zeigt. Stattdessen sind hier externe Dynamiken im
Spiel: die Dynamik wissenschaftlichen Organisationen und die Dynamik, die
bei der Vergabe von Stellen innerhalb der Universitäten entfacht wird. Publi-
kationen werden hier von rekursiven Kriterien geleitet zum Zweck des Auf-
baus von im Wettbewerb um Ressourcen erworbener Reputation, die wie-
derum nur sehr wenig mit den Erfordernissen der Forschung zu tun hat: Unter
dem Druck des »publish or perish« werden Beiträge angeboten, die auf die in
der Selektion von Zeitschriften und Verlagen etablierten und normalisierten
Kriterien ausgerichtet und durch den Bezug auf Verbreitung und Publikum
und nicht durch die Unwahrscheinlichkeit wissenschaftlicher Kommunikation
gekennzeichnet sind - eine Tendenz, die von der Publikation selbst weiter
konsolidiert wird und von Organisationen problemlos genutzt werden kann.
Literatur