Sie sind auf Seite 1von 56

SDAJ

Grundlagenschule
SDAJ Grundlagenschule

Inhalt

Marxistische Philosophie 2

Politische Ökonomie 11

Wissenschaftlicher Sozialismus 20

Imperialismus 25

Strategie und Taktik 30

Staat und Revolution 38

Antimilitarismus 42

Antifaschismus 48

Proletarischer Internationalismus 51

1
SDAJ Grundlagenschule

M arxistische Philosophie
Was verstehen wir unter Philosophie? auf diese überirdischen Kräfte zurückgeführt. Das
Denken der Menschen war noch sehr stark von my-
Jede Wissenschaft hat die Aufgabe, einen bestimm- thologischen Vorstellungen beherrscht. Nach der
ten Bereich der Natur oder der Gesellschaft auf sei- Auflösung der Urgesellschaft und der Entstehung
ne grundlegenden Eigenschaften, Strukturen und der Klassengesellschaft änderte sich das Leben der
Gesetzmäßigkeiten zu erforschen. Die Kenntnisse Menschen sehr rasch. Insbesondere in den Stadt-
darüber dienen uns als eine Grundlage für unser staaten der griechischen Sklavenhaltergesellschaft
praktisches Handeln. Die Erkenntnisse der Physik vollzogen sich einschneidende Veränderungen,
über die Gesetze der mechanischen Bewegung, der welche die frühere Lebensweise und Denkweise der
Thermodynamik, der Elektrodynamik, der Optik Menschen erschütterten. Die rasche Entwicklung
usw. gestatten uns, Werkzeugmaschinen, Motoren, der Produktivkräfte auf Grundlage des Privateigen-
Elektrogeräte, optische Geräte usw. zu konstruieren, tums an Produktionsmitteln (Begriffserklärung im
zu bauen und praktisch anzuwenden. Allgemeiner Anhang und an anderer Stelle in der GLS), die Ent-
können wir das so formulieren: Naturwissenschaf- faltung des Handwerks und des Handels, das Auf-
ten, Gesellschaftswissenschaften und technische kommen des Geldes, des Wuchers und des Zinses
Wissenschaften setzen uns durch die Erforschung führten dazu, dass sich schärfere Klassengegensätze
der Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft herausbildeten. Es kam zu heftigen Klassenkämpfen
in die Lage, die Naturkräfte und Naturprozesse in zwischen der grundbesitzenden Sklavenhalteraris-
den Dienst der Menschen zu stellen, die Natur im- tokratie und den Handwerk, Gewerbe und Handel
mer besser zu beherrschen und zu gestalten, ebenso betreibenden Schichten der Sklavenhalterklasse, in
wie wir durch die Erkenntnisse der Gesetzmäßigkei- deren Verlauf das gesellschaftliche und politische
ten in der Gesellschaft die menschliche Gesellschaft Leben grundlegend verändert wurde. Die überliefer-
verändern und das menschliche Zusammenleben ten religiösen Auffassungen, welche die Herrschaft
verbessern können. der Aristokratie begründeten, gerieten ebenso ins
Wanken wie die bisherigen Normen, Regeln und
Wodurch unterscheidet sich die Philoso- Gewohnheiten des Zusammenlebens und Verhal-
tens der Menschen. In der Auseinandersetzung mit
phie von den Einzelwissenschaften? der religiösen Mythologie entwickelten sich die wis-
senschaftliche Erkenntnis und die Philosophie, um
Die Philosophie richtet ihre Untersuchung auf die
Antworten auf die neuen Fragen zu geben, welche
allgemeinen Zusammenhänge und Eigenschaften
die Menschen damals bewegten.
der Welt und aller Erscheinungen, auf die allgemei-
ne Natur des Menschen und seiner Fähigkeiten, auf
das Verhältnis des Menschen zur Welt. Sie versucht Grundfrage der Philosophie, Materialis-
im Unterschied zu den verschiedenen Wissenschaf- mus, Idealismus
ten, die sich mit bestimmten Teilbereichen der Welt
befassen, die Welt als Ganzes denkend zu erfassen Engels hat sie in folgenden Worten formuliert: „Die
und so eine umfassende Weltanschauung zu entwi- große Grundlage aller, speziell neueren Philosophie
ckeln. Die Griechen beispielsweise wollten schon ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein
vor Jahrhunderten durch die Philosophie alles Wis- ... je nachdem diese Frage so oder so beantwortet
sen der Menschen eine wissenschaftliche Zusam- wurde, spalten sich die Philosophen in zwei große
menfassung der Einzelwissenschaften. Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geis-
tes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter
Warum entstand die Philosophie, was wa- Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annah-
men..., bildeten das Lager des Idealismus. Die an-
ren die Ursachen dafür? dern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen,
gehören zu den verschiedenen Schulen des Mate-
In der Urgesellschaft gab es noch keine Philosophie
rialismus.” (F. Engels: „Ludwig Feuerbach und der
und keine Wissenschaft. Die unerklärlichen Natur-
Ausgang der klassischen deutschen Philosophie”)
vorgänge wurden dem Wirken höherer Mächte (Göt-
Doch wie ist das zu verstehen?
ter, Dämonen, Geister etc.) zugeschrieben. Auch
Das Verhältnis von Sein und Denken oder allgemei-
die feste Ordnung des gesellschaftlichen Lebens
ner von Materie und Bewusstsein bildet den Inhalt
und das Schicksal des einzelnen Menschen wurde

2
M arxistische Philosophie

der Grundfrage der Philosophie. In der bloßen Wahr- gen, dass weder Masse noch Energie vernichtet oder
nehmung finden wir nicht zwei getrennte, vonein- aus Nichts erschaffen werden können. Wir wissen
ander unabhängige Welten, eine „Welt der Materie” weiter aus der Erforschung der Geschichte unserer
und eine „Welt des Bewusstseins”. Bewusstsein Erde, dass es auf ihr vor einigen Milliarden Jahren
finden wir nur als menschliches Bewusstsein, als noch kein Leben gab. Folglich konnte es auch keine
Produkt der Sinnes- und Hirntätigkeit und der prak- mit Bewusstsein begabten Lebewesen geben. Erst
tischen gesellschaftlichen Tätigkeit des Menschen. nach längeren Entwicklungsprozessen entstanden
Es existiert immer nur als Bestandteil des materi- Formen belebter Materie. Aus deren Evolution gin-
ellen Lebensprozesses der Menschen. Warum ist es gen schließlich auch die ersten Menschen hervor,
für die Menschen wichtig, das Verhältnis zwischen und mit ihnen entstand erst ein voll ausgebildetes
Materie und Bewusstsein, zwischen realem Sein Bewusstsein. Die materialistische Beantwortung der
und Denken richtig zu bestimmen? Ist das vielleicht Grundfrage der Philosophie besagt zweitens, dass
nur eine „philosophische Spinnerei”, eine künst- das Bewusstsein ein Entwicklungsprodukt der Ma-
lich ausgedachte Frage? Keineswegs! Wenn wir uns terie ist, welches auf der Grundlage besonders hoch
mit unserer Umwelt praktisch auseinandersetzen, organisierter Materie, des menschlichen Gehirns,
im Arbeitsprozess auf sie einwirken und sie ent- als eine qualitativ besondere Eigenschaft der Mate-
sprechend unseren Bedürfnissen verändern, bilden rie entsteht. Diese besondere Eigenschaft besteht in
unsere materielle praktische Tätigkeit und die geis- der Fähigkeit, die materielle Welt in ideellen Formen
tige Tätigkeit unseres Bewusstseins eine untrenn- widerzuspiegeln, ideelle innere Modelle der äuße-
bare Einheit. Sie sind eng miteinander verflochten. ren Welt zu bilden, sich bewusst Ziele zu setzen
Wenn wir hierbei aber erfolgreich sein und die an- und das Verhalten nach bestimmten Programmen
gestrebten Resultate auch wirklich erreichen wol- zweckmäßig zu lenken. Das Bewusstsein ist ein
len, müssen wir es lernen, deutlich zwischen den Produkt der naturgeschichtlichen und gesellschaft-
Gegenständen der materiellen Welt einerseits und lichen Entwicklung. Diese These des dialektischen
unseren Wahrnehmungen, Vorstellungen und Ge- und historischen Materialismus gründet sich auf
danken über diese Welt andererseits zu unterschei- die philosophische Verarbeitung eines riesigen Tat-
den. Und genauso müssen wir zwischen der materi- sachenmaterials und wichtiger Erkenntnisse vieler
ellen praktischen Tätigkeit, welche die Gegenstände Wissenschaften. Friedrich Engels hat diesen Prozess
tatsächlich verändert, und den gedanklichen Ope- wie folgt beschrieben: „Arbeit zuerst, nach und dann
rationen des Bewusstseins unterscheiden, die allein mit ihr die Sprache - das sind die beiden wesent-
überhaupt nichts verändern können. lichsten Antriebe, unter deren Einfluss das Gehirn
eines Affen in das bei aller Ähnlichkeit weit größe-
Was verstehen wir unter Materialismus re und vollkommenere eines Menschen allmählich
und Idealismus? übergegangen ist... Die Rückwirkung des Gehirns
und seiner dienstbaren Sinne, des sich mehr und
Die materialistische Beantwortung der Grundfra- mehr klärenden Bewusstseins, Abstraktions- und
ge der Philosophie besagt erstens, dass die Materie Schlussvermögens auf Arbeit und Sprache gab bei-
dem Bewusstsein zeitlich vorausgeht. Die Materie den immer neuen Anstoß zur Weiterbildung...” (F.
existiert vor dem Bewusstsein, denn sie ist ewig und Engels, „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung
unendlich. Das Bewusstsein aber entsteht erst auf des Affen”).
einer bestimmten Entwicklungsstufe der Materie. Diese Auffassung ist in der Folgezeit durch die An-
Seine Existenz hängt von ganz bestimmten Bedin- thropologie, die Neurophysiologie und die Psycho-
gungen ab, deshalb ist es vergänglich, bedingt und logie in vollem Umfang bestätigt und auf der
endlich. Die Einsicht, dass die Materie ewig ist, dass Grund- lage der neuen For-
sie weder vernichtet noch erschaffen werden kann, schungsergebnis-
ist eine gesicherte philosophische Erkenntnis von se weiter präzi-
grundlegender Bedeutung. Sie gründet sich siert worden. So
auf umfassendes und unumstöß- ist das mensch-
liches wissenschaftli- liche Bewusst-
ches Beweismaterial, sein also ein
insbesondere auf Entwicklungs-
die physikali- produkt der Na-
schen Erhaltungs- tur und der Ge-
sätze, die besa- sellschaft. Seine

3
M arxistische Philosophie

materiellen Grundlagen sind sowohl die besonders bewusst Ziele zu setzen, Erfahrungen zu sammeln,
hoch organisierte Materie des Gehirns und seine zu lernen und ideell entworfene Programme und
Tätigkeit als auch die materiellen gesellschaftli- Projekte materiell zu realisieren. Der Materialismus
chen Verhältnisse der Menschen und ihre materi- in allen seinen historischen Formen stand stets im
elle praktische Tätigkeit. Zwischen diesen beiden Gegensatz zum Idealismus und hat sich in ständi-
Seiten der materiellen Grundlage des Bewusstseins ger Auseinandersetzung mit dem Idealismus entwi-
besteht eine enge Wechselwirkung. Das Gehirn als ckelt. Der Idealismus ist die philosophische Grund-
Organ des Bewusstseins ermöglicht und vermittelt richtung , die davon ausgeht, dass das Bewusstsein,
die aktive Auseinandersetzung des Menschen mit das Denken, der Geist, der Wille, also irgend etwas
seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Ideelles, Immaterielles primär, grundlegend, bestim-
Und diese Umwelt bestimmt in entscheidendem mend ist; die Materie, die Natur, die materielle Welt
Maße den Inhalt der Hirntätigkeit. Die materialis- sei von diesem hervorgebracht oder abhängig. Der
tische Beantwortung der Grundfrage der Philoso- Kampf des Materialismus gegen den Idealismus ist
phie besagt drittens, dass das Bewusstsein eine ide- eng mit dem Kampf der Wissenschaft gegen die Re-
elle Widerspiegelung der materiellen Welt ist. Das ligion verbunden. Der Materialismus ist dem Idea-
Bewusstsein erzeugt seine Inhalte nicht aus sich lismus und der Religion prinzipiell entgegengesetzt.
selbst, sie fließen ihm auch nicht aus übernatür- Er bestreitet die Existenz Gottes oder anderer über-
lichen Quellen zu, sondern es gewinnt sie aus der natürlicher Kräfte und ist folglich Atheismus. Der
geistigen Aneignung und Widerspiegelung der ma- Idealismus ist eng mit der Religion verbunden; er ist
teriellen Welt in Empfindungen, Wahrnehmungen, ihr direkter oder indirekter theoretischer Ausdruck
Vorstellungen, Begriffen, Aussagen, Theorien usw.. und ihre theoretische Begründung.
Der Inhalt des menschlichen Bewusstseins ist also
eine Widerspiegelung, eine Abbildung der materi- Erkennbarkeit der Welt - Marxistische Er-
ellen Welt. Diese Widerspiegelung entwickelt sich kenntnistheorie
auf der Grundlage der jeweils gegebenen Entwick-
lungsstufe der gesellschaftlichen Praxis des Men- Erkennen ist eine besondere Art der bewussten Wi-
schen, sie ist also historisch bestimmt. Dank seinem derspiegelung der objektiven Welt im gesellschaft-
ideellen Charakter ist das Bewusstsein in der Lage, lichen Bewusstsein, die sich durch charakteristi-
die materielle Welt widerzuspiegeln. Es kann so ver- sche Merkmale auszeichnet. Worin bestehen sie?
allgemeinernde und abstrahierende Abbilder we- Erkennen ist theoretische Aneignung der objektiven
sentlicher Eigenschaften und Zusammenhänge der Welt, dass heißt eine Widerspiegelung, die sich auf
äußeren Welt schaffen, sie speichern und mit ihnen die wesentlichen Eigenschaften, die allgemeinen
operieren. Das Bewusstsein widerspiegelt nicht nur Strukturen und die Gesetzmäßigkeiten der objekti-
die Gegenstände, Prozesse, Strukturen und Gesetz- ven Welt richtet. Ihr Ziel ist, möglichst exakte ge-
mäßigkeiten der objektiven Welt, sondern immer dankliche Abbilder dieser Eigenschaften, Struktu-
auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, Interessen ren und Gesetzmäßigkeiten zu gewinnen und diese
und Bedürfnisse, auf deren materieller Grundlage in Form von Begriffen, Gesetzesaussagen, Formeln,
es entsteht und sich entwickelt. Die materialisti- Hypothesen, Theorien usw. zu einem gedanklichem
sche Beantwortung der Grundfrage der Philosophie Modell von Bereichen der Natur und Gesellschaft
besagt viertens schließlich, dass das Bewusstsein zu verarbeiten. Die stimmigen Abbilder von we-
den Menschen als Mittel der aktiven Umgestaltung sentlichen Eigenschaften, Strukturen und Gesetz-
der Welt dient. Widersprechen wir damit nicht der mäßigkeiten der objektiven Welt, die Erkenntnisse,
Behauptung, das Bewusstsein sei sekundär, abge- dienen den Menschen als theoretische Grundlage
leitet und von der Materie bestimmt? Zwar ist das ihrer zweckmäßigen Tätigkeit. Sie ermöglichen es
Bewusstsein sekundär gegenüber der Materie. Sie ihnen, diese Eigenschaften, Strukturen und Gesetz-
war vor dem Bewusstsein da, hat das Bewusstsein mäßigkeiten zum Zweck der planmäßigen Verände-
aus sich hervorgebracht und ist auch der Inhalt des rung und Beherrschung von Naturprozessen und
Bewusstseins. Aber daraus folgt überhaupt nicht, Gesellschaftsprozessen praktisch auszunutzen und
dass es keine bedeutende Rolle spielen kann. Das anzuwenden.
Bewusstsein ist ein notwendiger Bestandteil des „Wie verhalten sich unsere Gedanken über die uns
gesellschaftlichen Lebensprozesses. Dieser ist als umgebende Welt zu dieser Welt selbst? Ist unser
aktive Aneignung, Veränderung und Umgestaltung Denken imstande, die wirkliche Welt zu erkennen,
der Welt nur möglich, weil das Bewusstsein die vermögen wir in unsern Vorstellungen und Begrif-
Menschen befähigt, diese Welt zu erkennen, sich fen von der wirklichen Welt ein richtiges Spiegelbild

4
M arxistische Philosophie

der Wirklichkeit erzeugen? Diese Frage heißt in der gung der Materie auf, deren Quelle und Triebkraft in
philosophischen Sprache die Frage nach der Identi- der Materie selbst, in ihren inneren Widersprüchen
tät von Denken und Sein und wird von der weitaus liegt. Die ganze materielle Welt bildet ein System
größten Zahl der Philosophen bejaht... Daneben gibt qualitativ verschiedener Entwicklungsstufen, die
es aber noch eine Reihe andrer Philosophen, die die entwicklungsgeschichtlich miteinander zusammen-
Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch hängen. Die großen Entwicklungsstufen - anorgani-
einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten... Die sche Materie, organische Materie, menschliche Ge-
schlagendste Widerlegung dieser wie aller andern sellschaft - gehen eine aus der anderen hervor. Jede
philosophischen Schrullen ist die Praxis, nämlich dieser großen Entwicklungsstufen der Materie weist
das Experiment und die Industrie. Wenn wir die wiederum in sich zahlreiche Entwicklungsstufen
Richtigkeit unsrer Auffassung eines Naturvorgangs auf. Alle Entwicklungsprozesse verlaufen jeweils
beweisen können, indem wir ihn selbst machen, auf eine Art und Weise, die durch die Beschaffen-
ihn aus seinen Bedingungen erzeugen, ihn oben- heit und die Gesetzmäßigkeiten des betreffenden
drein unsern Zwecken dienstbar werden lassen, so Systems bedingt ist. Zugleich besitzen sie alle aber
ist es mit dem Kantschen unfassbaren ‘Ding an sich’ auch bestimmte gemeinsame Züge. Diese kommen
zu Ende” (F. Engels, „Ludwig Feuerbach...”). in den allgemeinen Entwicklungsgesetzen zum Aus-
„The proof of the pudding is in the eating. In dem druck, die die Dialektik untersucht und formuliert.
Augenblick, wo wir diese Dinge, je nach den Eigen- Die wichtigsten dieser allgemeinen Gesetzmäßig-
schaften, die wir in ihnen wahrnehmen, zu unserm keiten sind die Grundgesetze der Dialektik: Erstens
eignen Gebrauch anwenden, in demselben Augen- das Gesetz von der Einheit und dem „Kampf” der
blick unterwerfen wir unsre Sinneswahrnehmun- Gegensätze. Zweitens das Gesetz vom Umschlagen
gen einer unfehlbaren Probe auf ihre Richtigkeit quantitativer Veränderungen in neue qualitative Zu-
oder Unrichtigkeit. Waren diese Wahrnehmungen stände. Drittens das Gesetz der Negation der Nega-
unrichtig, dann muss auch unser Urteil über die tion. Das Gesetz von der Einheit und dem „Kampf”
Verwendbarkeit eines solchen Dings unrichtig sein, der Gegensätze erklärt die Quelle, die Ursachen und
und unser Versuch, es zu verwenden muss fehl- die Triebkräfte der Entwicklung. In jedem natürli-
schlagen. Erreichen wir aber unsern Zweck, finden chen und gesellschaftlichen System befinden sich
wir, dass das Ding unsrer Vorstellung von ihm ent- bestimmte Elemente, Kräfte, Tendenzen, Prozesse
spricht, dass es das leistet, wozu wir es anwandten, usw. in einer aktiven Wechselwirkung. Sie bilden
dann ist dies positiver Beweis dafür, dass innerhalb im Rahmen des Systems eine Einheit, bedingen ein-
dieser Grenzen unsre Wahrnehmung von dem Ding ander, aber schließen einander zugleich aus, wir-
und von seinen Eigenschaften mit der außer uns ken in entgegengesetzter Richtung, das heißt, sie
bestehenden Wirklichkeit stimmen” (F. Engels „Die liegen sozusagen im „Kampf” miteinander. Dieser
Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur „Kampf” der Gegensätze, die sich im Verhältnis der
Wissenschaft”). Einheit und des gleichzeitigen „Kampfes” befinden,
bilden einen dialektischen Widerspruch. Alle ma-
Dialektik - Grundgesetze und Triebkräfte teriellen Systeme und Prozesse sind durch dialek-
der Entwicklung tische Widersprüche charakterisiert. Diese dialek-
tischen Widersprüche bestimmen die Struktur und
Die materialistische Dialektik ist „die Wissenschaft die Entwicklung der materiellen Systeme, sie sind
von den allgemeinen Bewegungs- und Entwick- die eigentliche Quelle der Bewegung und Entwick-
lungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft lung. Aus diesem Grund hat Karl Marx auch den
und des Denkens“ (Engels, „Anti-Dühring”). Widerspruch als „die Springquelle aller Dialektik”
Die materielle Welt befindet sich in einem ständigen bezeichnet („Das Kapital”, Bd.1), und Lenin nannte
Entwicklungsprozess. Unter Entwicklung versteht die Lehre vom Widerspruch den „Kern der Dialek-
man in der materialistischen Dialektik eine Bewe- tik” („Konspekt zu Hegels Wissenschaft der Logik”).
gung in aufsteigender Linie, in deren Verlauf neue Beispiele: Das Atom besteht aus dem positiv ge-
Qualitäten entstehen und ein nicht umkehrbarer ladenem Kern und der negativ geladenen Elektro-
Übergang von niederen zu höheren, von einfachen nenhülle; in jedem Organismus vollziehen sich die
zu komplizierteren Qualitäten erfolgt. Diese Ent- entgegengesetzten Prozesse der Assimilation und
wicklung in der materiellen Welt wird nicht durch Dissimilation; die gesellschaftliche Entwicklung be-
äußere Einwirkungen verursacht, etwa durch einen ruht allgemein auf dem Widerspruch zwischen Natur
göttlichen ersten Beweger. Die materialistische Di- und Gesellschaft, der ständig in der Produktion ge-
alektik fasst die Entwicklung also als Selbstbewe- löst und neu gesetzt wird; die Produktion wiederum

5
M arxistische Philosophie

ist charakterisiert durch den Widerspruch zwischen


Produktivkräften und Produktionsverhältnissen,
der in den antagonistischen Klassengesellschaften
- Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus - seinen
Ausdruck im Klassenkampf findet. Das Gesetz vom
Umschlagen quantitativer Veränderungen in neue
qualitative Zustände erklärt den allgemeinen Ent-
wicklungsmechanismus. Es charakterisiert also eine
weitere wesentliche Eigenschaft aller Entwicklungs-
prozesse. In der Bewegung beliebiger materieller
Systeme erfolgen ständig Veränderungen quantita-
tiver Art. Diese quantitativen Veränderungen voll-
ziehen sich jedoch im Rahmen, in den Grenzen der
gegebenen Qualität. Erst an einem ganz bestimm-
ten Punkt führen die kontinuierlichen quantitati-
ven Veränderungen zu einem plötzlichen Übergang
in eine neue Qualität. Dann wird die allmähliche
Veränderung, die evolutionäre Phase der Entwick-
lung, durch eine sprunghafte Veränderung, durch
die revolutionäre Phase der Entwicklung, abgelöst.
Evolution und Revolution machen also das Wesen
der Entwicklung aus. Die Evolution, die quantita-
tiven Veränderungen, bereiten die Revolution, den
qualitativen Sprung, vor, in dessen Verlauf das alte
System grundlegend umgestaltet beziehungsweise
beseitigt wird und ein neues System mit einer völ- ren. Das Gesetz der Negation der Negation erklärt
lig neuen Qualität entsteht. Diese neue Qualität bil- die allgemeine Richtung der Entwicklung als Fort-
det zugleich mit den ihr gemäßen Quantitäten eine schreiten vom niederen zum höheren und zeigt den
neue Einheit. Der weitere Entwicklungsprozess ver- inneren Zusammenhang der Entwicklungsstadien.
läuft auf der Grundlage der neuen Qualität zunächst Die Entwicklung der materiellen Welt vollzieht sich
wieder in Form quantitativer Veränderungen, bis ein in Entwicklungszyklen, die jeweils als Negation der
erneuter Umschlag in eine neue Qualität erfolgt. Die Negation auftreten. Die Entwicklungszyklen sind
Entstehung einer neuen Qualität im Entwicklungs- aber keine geradlinige Höherentwicklung, sondern
prozess bedeutet, dass die alte Qualität „negiert” gleichen eher einer Spirale, die mit der Höherent-
(verneint) wird. Die dialektische Negation bedeutet, wicklung zugleich in gewisser Hinsicht eine Rück-
dass im Entwicklungsprozess die Qualität, in deren kehr zum Ausgangspunkt des Entwicklungszyklus
Rahmen die Entwicklung bisher erfolgte, aufge- verbindet, weil bestimmte Züge, Eigenschaften usw.
hoben, beseitigt, überwunden wird und eine neue der früheren Entwicklungsstufe auf höherem Ent-
Qualität entsteht. Aber die alte Qualität wird nicht wicklungsniveau wiederkehren. Lenin nannte dies
einfach vernichtet, sie verschwindet nicht spurlos. eine „Entwicklung, die die bereits durchlaufenen
Vielmehr wird bei dieser Negation das bisherige Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber
positive Entwicklungsresultat aufbewahrt, es wird anders, auf höherer Stufe, eine Entwicklung, die
in die neue Qualität übernommen und dient hier nicht geradlinig, sondern sozusagen in der Spirale
als Grundlage der weiteren Entwicklung. Nachdem vor sich geht.” (Lenin, „Karl Marx”)
eine neue Qualität entstanden ist, vollzieht sich die
weitere Entwicklung in ihrem Rahmen. Wenn die Bedeutung der Praxis in der marxistischen
quantitativen Veränderungen ein bestimmtes Maß Philosophie
erreicht haben, erfolgt erneut der Umschlag in eine
neue Qualität, das heißt, die frühere Qualität wird „In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit... sei-
ebenfalls negiert. Diese war die Negation der voran- nes Denkens beweisen” (Marx, „Thesen über Feuer-
gegangenen Qualität, nun wird sie ihrerseits negiert. bach”)
Betrachten wir den ganzen Entwicklungszyklus in Praxis ist die gesellschaftliche, materiell-gegenständ-
seinem Verlauf und Zusammenhang, dann können liche Tätigkeit der Menschen, die darauf gerichtet
wir ihn als Negation der Negation charakterisie- ist, die natürliche und gesellschaftliche Umwelt

6
M arxistische Philosophie

entsprechend den Zwecken der Menschen bewusst „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens
und zielgerichtet zu verändern. In der Praxis, in gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von
der materiellen Produktion, der politischen Tätig- ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Pro-
keit usw. werden die über Natur und Gesellschaft duktionsverhältnisse, die einer bestimmten Ent-
gewonnenen Erkenntnisse angewandt. Bei dieser wicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte
Anwendung zeigt sich, wieweit sie mit der objekti- entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktions-
ven Realität übereinstimmen. Wenn eine Erkenntnis verhältnisse bildet die ökonomische Struktur der
bei ihrer Anwendung zu den im Voraus berechneten Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristi-
Ergebnissen führt, dann ist das ein unwiderlegbarer scher und politischer Überbau erhebt und welcher
Beweis dafür, dass diese Erkenntnis ein wahres Ab- bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen
bild des betreffenden Gegenstandes oder Vorganges entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen
ist. Dann wissen wir, dass dieses Abbild tatsächlich Lebens bedingt den sozialen, politischen und geis-
mit der objektiven Realität übereinstimmt. tigen Lebensprozess überhaupt” (Marx, „Zur Kritik
„Die Herrschaft über die Natur, die sich in der Praxis der politischen Ökonomie” - Vorwort).
der Menschheit äußert, ist das Resultat der objektiv „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das
richtigen Widerspiegelung der Erscheinungen und Ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches
Vorgänge der Natur im Kopfe des Menschen, ist der Sein, dass ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer ge-
Beweis dafür, dass diese Widerspiegelung (in den wissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materi-
Grenzen dessen, was uns die Praxis zeigt) objektive, ellen Triebkräfte der Gesellschaft in Widerspruch
absolute, ewige Wahrheit ist.” (Lenin, „Materialis- mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen
mus und Empiriokritizismus”) oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist,
mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren
Entwicklungsgesetze der menschlichen sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsfor-
Gesellschaft men der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse
in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche
Historischer Materialismus - Marxistische sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der
Geschichtsauffassung ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze un-
geheure Überbau langsamer oder rascher um. In der
„Wir müssen... damit anfangen, dass wir die erste Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets
Voraussetzung aller menschlichen Existenz, also unterscheiden zwischen der materiellen, naturwis-
auch aller Geschichte konstatieren, nämlich die Vo- senschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung
raussetzung, dass die Menschen imstande sein müs- in den ökonomischen Produktionsbedingungen und
sen zu leben, um ‚Geschichte machen’ zu können. den juristischen, politischen, religiösen, künstleri-
Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trin- schen oder philosophischen, kurz, ideologischen
ken, Wohnung, Kleidung und noch einiges andere. Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts
Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man
der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was
die Produktion des materiellen Lebens selbst, und es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine
zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbe- solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein
dingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor beurteilen, sondern muss vielmehr dieses Bewusst-
Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden sein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens,
muss, um die Menschen nur am Leben zu erhalten... aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesell-
Das Zweite ist, dass das befriedigte erste Bedürfnis schaftlichen Produktivkräften und Produktionsver-
selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon hältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation
erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt
Bedürfnissen führt - und diese Erzeugung neuer sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Pro-
Bedürfnisse ist die erste geschichtliche Tat... Das duktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor
dritte Verhältnis, was hier gleich von vornherein in die materiellen Existenzbedingungen derselben
die geschichtliche Entwicklung eintritt, ist das, dass im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet
die Menschen, die ihr eignes Leben täglich neu ma- worden sind. Daher stellt sich die Menschheit im-
chen, anfangen, andre Menschen zu machen, sich mer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer
fortzupflanzen - das Verhältnis zwischen Mann und beobachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe
Weib, Eltern und Kindern, die Familie” (Marx/En- selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingun-
gels, „Die deutsche Ideologie”). gen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens

7
M arxistische Philosophie

im Prozess ihres Werdens begriffen sind... Die bür- einen unter die anderen und schließlich in der Spal-
gerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte tung der Gesellschaft in Klassen ihren Ausdruck. Die
antagonistische Form des gesellschaftlichen Produk- Sklaverei war ein notwendiges gesellschaftliches
tionsprozesses, antagonistisch nicht in dem Sinn Produktionsverhältnis. Die Inangriffnahme großer
von individuellem Antagonismus, sondern eines Produktionsvorhaben wie Bauwerke oder Bewässe-
aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der rungsanlagen lediglich mit Handarbeit und bei völli-
Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber gem Desinteresse der unmittelbaren Produzenten (da
die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich ent- diesen aus dem Mehrprodukt kein Nutzen erwuchs)
wickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die setzte die Kooperation großer Massen von Arbeitern
materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antago- voraus, die durch schärfsten Zwang zusammenge-
nismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt halten wurden. Wieder andere Formen gegenseitiger
daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesell- gesellschaftlicher Beziehungen brachte die Art und
schaft ab” (Marx, „Zur Kritik der politischen Ökono- Weise der bäuerlichen Arbeit im Mittelalter hervor:
mie”, Vorwort). das Eigentum des Feudalherrn an Grund und Boden
und dessen Bewirtschaftung durch Bauern, die den
Ökonomische Basis und gesellschaftlicher größten Teil des erzeugten Mehrproduktes an die
Überbau Feudalherren abzuliefern hatten. Vielfältig sind die
Formen, in denen sich die kapitalistische Lohnar-
„Die materialistische Anschauung der Geschichte beit, die Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die
geht von dem Satz aus, dass die Produktion, und Bourgeoisie, historisch herausbildete und in Er-
nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, scheinung trat. Sie beruht einerseits auf dem Eigen-
die Grundlage aller Gesellschaft ist; dass in jeder ge- tum des Kapitalisten an den Produktionsmitteln und
schichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung andererseits auf den Produzenten, welche lediglich
der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung über die eigene Arbeitskraft verfügen. Auch dieses
in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was Produktionsverhältnis entspricht einem bestimmten
und wie produziert und wie das Produzierte aus- Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Er findet
getauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen insbesondere in der großen Industrie Ausdruck und
aller gesellschaftlichen Veränderungen und politi- ist durch ein vielfach differenziertes System gesell-
schen Umwälzungen zu suchen, nicht in den Köp- schaftlicher Arbeitsteilungen, durch weit vorange-
fen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht triebene Spezialisierung der menschlichen Arbeit
in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in und durch die Zusammenarbeit großer Gruppen von
Veränderungen in der Produktions- und Austausch- Arbeitern im Maßstab großer Unternehmen gekenn-
weise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, zeichnet.
sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche”
(Engels, „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der
Wissenschaft”).
Die Art und Weise der Herstellung und Handhabung
der Produktionsinstrumente in der Urgesellschaft
setzte noch keine differenzierte Arbeitsteilung, kei-
ne vielfach gegliederte gesellschaftliche Produktion
voraus. Sie zwang den Menschen jedoch, um des
Überlebens Willen in Horden zusammenzuleben.
Größeres Wild konnte mit den primitiven Jagdwaf-
fen nur durch das Zusammenwirken einer Gruppe
von Menschen erlegt werden. Die Höherentwick-
lung der Produktivkräfte, die Entwicklung einer
gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die allmähli-
che Steigerung der Produktivität der menschlichen
Arbeit (Mehrprodukt) führten dann zu einer immer
differenzierteren gesellschaftlichen Gliederung. Die-
se fand in einer ungleichen Verteilung der Güter
zwischen den Menschen, in der Herausbildung des
Privateigentums, in der Entstehung von Abhängig-
keiten zwischen Menschen, in der Unterordnung der

8
M arxistische Philosophie

Kurze Begriffsklärung
Produktivkräfte:
Assimilation und Dissimilation (Biologie): Als Dis- Alle Kräfte, die benötigt werden, um materielle
similation bezeichnet man den Abbau der durch Güter zu Befriedigung menschliche Bedürfnisse
Assimilation oder Nahrungsaufnahme aufgebauten herzustellen: körperliche und geistige Kräfte des
Energiespeicher. Dissimilation kommt vom lateini- Menschen selbst, Naturkräfte und -stoffe, entweder
schen dissimilis = unähnlich. Dies ist im Gegensatz in unbearbeiteter Form als Rohstoffe, Wasserkraft
zu Assimilation (lat. assimilatio = Angleichung) zu und ähnliches oder in bereits bearbeiteter Form als
verstehen: hier werden aus der Umgebung aufge- Produktionsmittel (also Maschinen, Werkzeuge, Ge-
nommene, körperfremde organische oder anorgani- räte, Technik, die Verwendung wissenschaftlicher
sche Stoffe zu körpereigenen. Bei der Dissimilation Erkenntnisse). Produktionsverhältnisse und Produk-
werden diese Stoffe wieder zu körperfremden Stof- tivkräfte bilden zusammen die Produktionsweise.
fen, die ausgeschieden werden.
Juristischer und politischer Überbau:
Antagonismus: Der Antagonismus (griechisch Das ganze System des Staates und seiner Organe:
ανταγωνισμός, andagonismós - der Widerstreit, Wett- Gesetzgebende und Verwaltungsorgane, Polizei, Jus-
bewerb, von αντι~, anti~ - gegen~ und αγώνας, tiz und Armee, die politischen Parteien und andere
agónas - der Wettstreit, das Rennen bzw. vom An- gesellschaftliche Organisationen, kulturelle Einrich-
tagonisten abgeleitet) bezeichnet allgemein einen tungen wie Bildungswesen, Presse, Rundfunk und
unversöhnlichen Gegensatz oder Widerstreit. Die Fernsehen, künstlerische Institutionen, die Kirche
beiden einander widerstreitenden Gegebenheiten und anderes mehr.
(z. B. Funktionen oder Personen) werden in Bezug
aufeinander Antagonisten genannt. Es ist relativ Gesellschaftliche Bewusstseinsformen:
willkürlich, welchen von íhnen man den Agonis- Die Ideen, Auffassungen, Überzeugungen, Theo-
ten (und damit den anderen „seinen” Antagonisten) rien über das gesellschaftliche Leben, Ideologien,
nennt, doch haben sich auf manchen Sachgebie- Rechtsnormen, moralische Regeln, künstleri-
ten Sprachgewohnheiten für die Benennung sche Darstellungen, die Religion, Welt-
einer konkret bezeichneten Gegebenheit als anschauungen; sie stehen in einer
den Agonisten innerhalb einer antagonis- engen Wechselwirkung zum „juris-
tischen Beziehung ausgebildet. Antagonis- tischen und politischen Überbau.“
mus ist weit verbreitet und könnte
zusammen mit Polarität und Kom- Sozialer Lebensprozess:
plementarität als Aspekt(e) der Die Gliederung der Menschen
Dualität in allen Bereichen der in die unterschiedlichsten ge-
Realität (Wirklichkeit) gegeben sellschaftlichen Gruppierun-
sein. Antagonistische Klassenge- gen, vor allem und in erster Linie
sellschaft: sich aufgrund der in ihr natürlich in Klassen, aber auch in Stadt- und
innewohnenden Widersprüche und Landbevölkerung, in Berufe oder andere Tä-
Kämpfe- sich selbst auflösend und tigkeitsbereiche, in Familien oder andere auf
überflüssig werdend... gemeinsame Abstammung, Verwandtschaft oder
Herkunft beruhende soziale Einheiten. Ausgehend
Produktionsverhältnisse: von der grundlegenden Bedeutung der Produktion
Soziale Beziehungen, die die Menschen in der Pro- und Reproduktion des materiellen Lebens für die
duktion und Reproduktion ihres materiellen Lebens menschliche Gesellschaft, deckten Marx und Engels
untereinander eingehen, weil die Produktion immer in den Produktionsverhältnissen jene gesellschaftli-
auf gesellschaftliche Weise, im Zusammenwirken chen Verhältnisse auf, von deren Charakter der Cha-
vieler Menschen vonstatten geht; sie umfassen das rakter aller übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse
(z.B. private oder gesellschaftliche) Eigentum an letztlich abhängt. Die Produktionsweise ist also von
den Produktionsmitteln sowie den Austausch und grundlegender Bedeutung für das gesellschaftliche
die Verteilung der erforderlichen Tätigkeiten bzw. Leben: Sie ist erstens die grundlegende menschli-
erzeugten Güter (Die Verteilungsverhältnisse der che Lebenstätigkeit; ohne sie würde die Gesellschaft
kapitalistischen Gesellschaft werden z.B. darin aus- zugrunde gehen, hätten die Menschen keine Mittel,
gedrückt, dass die Arbeiter Arbeitslohn und die Ka- um ihr physisches Leben aufrechtzuerhalten. Die-
pitalisten Profit erhalten). se allgemeine Funktion ist auf den verschiedenen

9
M arxistische Philosophie

Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung dieselbe. derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so
Zweitens ist sie in dem Sinne von grundlegender sind sie. Was sie sind fällt also zusammen mit ih-
Bedeutung, dass von der konkreten Art der Produk- rer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren,
tion die Art und Weise des gesellschaftlichen Lebens als auch damit, wie sie produzieren” (Marx/Engels,
insgesamt abhängt. Die Art und Weise der Produk- „Die deutsche Ideologie”).
tion unterscheidet sich auf den verschiedenen Stu-
fen der gesellschaftlichen Entwicklung bedeutend. Diesen letztlich in einer bestimmten Entwicklungs-
Marx und Engels haben selbst den Zusammenhang stufe der Produktivkräfte wurzelnden Gesamtzusam-
und den Unterschied dieser beiden Gesichtspunkte menhang des gesellschaftlichen Lebens bezeichnet
unterstrichen: „Diese Weise der Produktion ist nicht der historische Materialismus als ökonomische Ge-
bloß nach der Seite hin zu betrachten, dass sie die sellschaftsformation. Wir kennen die ökonomischen
Reproduktion der physischen Existenz der Indivi- Gesellschaftsformationen der Urgesellschaft, der
duen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art, Sklavenhaltergesellschaft, des Feudalismus, des Ka-
ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise pitalismus und des Kommunismus.

Arbeitsfragen

1. Nenne die drei Grundgesetze der Dialektik und beschreibe sie mit Deinen eigenen Worten.
2. Was waren die Vorraussetzungen für die Entstehung der Philosophie?
3. Worin unterscheidet sich die marxistische Philosophie von den verschiedenen bürgerlichen?
4. Schafft es die marxistische Philosophie tatsächlich alle Einzelwissenschaften zusammenzufassen und
miteinander in ein Verhältnis zu setzen? Was bedeuted das für unser Verhältnis zur Philosophie?
5. Diskutiert darüber, warum es trotz der weitreichenden Erkenntnisse in den Wissenschaften heute im-
mernoch Glauben/Religion und Idealismus gibt.
6. Diskutiert das Verhältnis des Bewußtseins zur Materie.

10
SDAJ Grundlagenschule

..
Politische Okonomie
Reproduktion und Gegenstände der Arbeit in den verschiedenen
historischen Epochen. Zum anderen - und damit in
Die Politische Ökonomie ist die Wissenschaft, die Wechselwirkung - unterscheiden sich die Verhält-
sich mit der Herstellung der materiellen Grundla- nisse, die Menschen in Bezug auf den Produktions-
gen der menschlichen Gesellschaften beschäftigt. prozess einnehmen, die Klassenverhältnisse. Eine
Sie dreht sich um die Frage, auf welche Weise die antike Sklavin nimmt eine andere gesellschaftliche
Menschen in den verschiedenen historischen Epo- Stellung ein als ein Leibeigener oder ein Arbeiter,
chen den Produktionsprozess organisieren und wel- ein Feudalherr eine andere als ein Kapitalist. Die
che Verhältnisse sie untereinander in Bezug auf die- Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Klas-
sen Prozess eingehen. Im Gegensatz zum Tier wirkt sen – das Verhältnis von Sklavenhalter und Sklavin
der Mensch vermittels der Arbeit bewusst auf die ist ein anderes als das von Kapitalistin und Lohn-
Natur ein, verändert sie nach seinen Vorstellungen arbeiter – unterscheiden sich ebenso wie die Ver-
und schafft sich so aktiv die Gegenstände und Le- hältnisse innerhalb der jeweiligen Klassen. Die im
bensbedingungen, die er benötigt. Die Herstellung Familienverbund wirtschaftenden hörigen Bauern
der lebensnotwendigen Güter ist kein einmaliger des Mittelalters stehen anders zueinander als die
Vorgang, der irgendwann abgeschlossen wäre. Der Arbeiterinnen eines sozialistischen Industriebe-
Produktionsprozess muss fortwäh- triebes, das Konkurrenzverhältnis unter Kapi-
rend erneut beginnen. Lebensmit- talisten unterscheidet sich grundle-
tel werden verbraucht, Maschinen gend von den Beziehungen unter
abgenutzt, Gebäude verfallen. Die römischen Patriziern. Auch diese
Menschen müssen daher beständig Klassenverhältnisse bilden sich
die Bedingungen wiederherstellen innerhalb der Entwicklung einer
(reproduzieren), die sie in die Lage Gesellschaft immer wieder neu.
versetzen, die Produktion erneut Während die Menschen sich
aufzunehmen. Aufgebrauchte Roh- selbst und die Mittel und Gegen-
stoffe müssen ebenso ersetzt werden wie stände ihrer Arbeit reproduzie-
abgenutzte oder veraltete Werkzeuge und ren, stellen sie zugleich auch die
Maschinen. Aber auch die Menschen selbst Verhältnisse wieder her, die diese
müssen sich selbst beständig ‚wiederherstel- spezifische Gesellschaft konstitu-
len’. Sie benötigen Nahrung und Erholung zur Wie- ieren. Ein Leibeigener reproduziert
derherstellung ihrer im Produktionsprozess veraus- mit seiner Arbeit sich selbst, seine Frau und seine
gabten Kräfte. Sie benötigen Ersatz für verschlissene Kinder als Leibeigene. Auch ernährt er den Feudal-
Kleidung oder verfallene Gebäude. Sie benötigen die herren und gibt diesem die Mittel, die ihn zum Feu-
Auffrischung der Fertigkeiten und Kenntnisse, die dalherren machen. Der Leibeigene reproduziert also
sie im Produktionsprozess anwenden. Schließlich mit seiner Arbeit das Feudalsystem. Zusammenfas-
benötigen sie Ersatz für sich selbst. Alte und Kranke send können wir festhalten, dass der Begriff des Re-
scheiden aus dem Produktionsprozess aus, für sie produktionsprozesses bei Marx drei Dimensionen
müssen immer wieder genügend junge Menschen umfasst: Neben die beständige Wiederherstellung
mit entsprechenden Fähigkeiten und Kenntnissen der sachlichen Bedingungen (der Produktionsmit-
bereitstehen. tel) und der persönlichen Bedingungen (der Produ-
Der Reproduktionsprozess bildet die materielle Ba- zenten) des Produktionsprozesses tritt drittens die
sis aller menschlichen Gesellschaften. Deshalb steht Wiederherstellung der gesellschaftlichen Bedingun-
er in enger Wechselwirkung mit allen Bereichen des gen, d.h. der ökonomischen, sozialen, politischen
gesellschaftlichen Lebens, also etwa der Politik, der und ideologischen Verhältnisse, unter denen sich
Kultur, des Rechtswesens, der Ideologie, den Fami- die Produktion vollzieht.
lienverhältnissen etc. Er ist jedoch nicht in allen
Gesellschaften auf die gleiche Weise organisiert, in Ausbeutung
urgesellschaftlichen Gemeinschaften anders als in
antiken Sklavenhaltergesellschaften, im Kapitalis- Wie oben dargestellt, beruhen die Klassenverhält-
mus, Feudalismus oder im Sozialismus. Zum einen nisse auf der ungleichen Stellung der Menschen
unterscheiden sich die Technologien, die Mittel zum Prozess der materiellen Produktion. Seit dem

11
..
Politische Okonomie

Ende der Urgesellschaft ist der Mensch in der Lage, bekäme der Arbeiter den ganzen Arbeitstag bezahlt.
regelmäßig mehr zu produzieren, als er für sein ei- Erst die wissenschaftliche Analyse macht deut-
genes Überleben benötigt. Die technische Entwick- lich, dass hinter dem liberalen Handel und Wandel
lung erreichte ein Niveau, das es ermöglichte, die Zwangsverhältnisse stehen, die den Arbeiter mit
notwendige Arbeitszeit, d.h. die für die Versorgung ebensolcher Gewalt zum Ausbeutungsobjekt degra-
der eigenen Familie erforderliche Zeit, auf einen dieren wie die Knute den Sklaven oder Leibeigenen.
Teil des Arbeitstages zu beschränken. Mit den in Sie zeigt auf, dass der Reichtum der Oberschichten
der verbleibenden Zeit hergestellten Dingen, dem heute nicht weniger Produkt der Aneignung frem-
so genannten Mehrprodukt, konnten nichtarbeiten- der Arbeit ist als in der Antike oder im Mittelalter.
de Bevölkerungsteile versorgt werden, z.B. Priester, Die Methoden dieser Aneignung, die Funktionswei-
Soldaten, Künstler oder Staatsdiener. Die Fähigkeit, se des kapitalistischen Wirtschaftssystems unter-
kontinuierlich über den eigenen Bedarf hinaus zu scheidet sich jedoch grundlegend von der früherer
produzieren, ist die wichtigste ökonomische Er- Epochen.
rungenschaft in der Entwicklung der Menschheit.
Es wurde zugleich zur Basis von Ausbeutung und Die Ware
Unterdrückung. Sobald sich bestimmte Teile der Be-
völkerung als herrschende Klasse etablieren konn- Grundlegendes Merkmal der kapitalistischen Repro-
ten, beschränkten sie den Konsum der arbeitenden duktionsprozesses ist die dominierende Rolle, die
Menschen auf ein mehr oder minder großes Mini- die Warenproduktion in den ökonomischen Prozes-
mum und eigneten sich das Mehrprodukt an. Sie sen einnimmt. Um den fundamentalen Unterschied
nutzten es zur Bestreitung ihres eigenen, in aller zu vorkapitalistischen Gesellschaften zu verstehen,
Regel extrem luxuriösen Lebensstandards, ebenso muss man sich klarmachen, dass bei Weitem nicht
wie zum Aufbau von politischen und ideologischen jedes Produkt menschlicher Arbeit auch zugleich
Unterdrückungsapparaten, die verhinderten, dass Ware ist. Zur Ware wird ein Produkt nur dann, wenn
die Arbeitenden sich aus den ihnen feindlichen es gegen andere Dinge ausgetauscht bzw. für den
Zwangsstrukturen befreien konnten. Alle Klassen- Austausch hergestellt wird. Die Wareneigenschaft
gesellschaften beruhen auf der unentgeltlichen An- liegt nicht in der Natur der gehandelten Gegenstän-
eignung der Produkte fremder Arbeit. Die Formen de selbst begründet. Das von einer Köchin im Re-
dieser Aneignung sind jedoch historisch sehr ver- staurant zubereitete Essen ist eine Ware, serviert sie
schieden. In der Sklaverei scheint es so, als erhielte es aber zu Hause ihrer Familie, ist es das nicht. Die
die Sklavin gar nichts für ihre Arbeit. Doch dieser Kartoffelernte des Großbauern wird auf dem Markt
Schein trügt: Auch sie benötigt Nahrung, Kleidung verkauft und ist somit Ware. Die zum Selbstverzehr
und Unterkunft. Auch der brutalste Sklavenhalter angebauten Kartoffeln des Hobbygärtners, mögen
kann sich vom Arbeitsprodukt seiner Sklaven nur sie auch genauso dick sein, sind es nicht. Man kann
den Teil aneignen, der nach Abzug des Lebensnot- eine Ware zerlegen und unter dem Mikroskop un-
wendigsten übrig bleibt. Handelte er anders, er wäre tersuchen, nirgends wird so etwas wie ein spezi-
bald kein Sklavenhalter mehr. Im Feudalismus ist das elles „Warenatom” zu finden sein. Ob ein Produkt
Verhältnis von notwendiger und Mehrarbeit relativ zur Ware wird entscheidet nicht seine physische
offensichtlich. Der Bauer wusste genau, wann er auf Beschaffenheit, sondern die Beziehung zwischen
eigenem Feld arbeitete und wann er Frondienst auf den Menschen, die es herstellen und/oder aneig-
den Feldern seines Herrn leistete. Er wusste, wel- nen. Es spielt dabei für die Wareneigenschaft
chen Teil seiner Ernte seine Familie verbrau- dieses Produktes keine Rolle, ob
chen und welchen er dem Pfaffen als Zehnt es materieller oder imma-
abliefern musste. Im Kapitalismus ist die terieller Natur ist, ob es
Ausbeutung hingegen versteckt. Ar- sich um Gegenstände
beiter und Kapitalist treten oder beispielsweise
sich in der Regel als um Dienstleistungen
juristisch freie und handelt, entscheidend
gleiche Menschen ist seine Bestimmung
gegenüber. Sie ge- zum Austausch mit
hen Vertragsver- anderen Produkten.
hältnisse mitein- Ebenso wenig, wie
ander ein und alle Produkte Waren
es scheint so, als sind, sind alle Gesell-

12
..
Politische Okonomie

schaften warenproduzierende Gesellschaften. In setz. Es besagt, dass der Wert einer Ware durch die
den Urgesellschaften sind die Produkte der Arbeit zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendige
Gemeineigentum des Stammes. Auch die antike menschliche Arbeitszeit bestimmt ist. Alle Waren
Sklavin tauschte ihre Produkte nicht aus. Sie wa- sind Produkte menschlicher Arbeit; im Austausch
ren, ebenso wie sie selbst, von vornherein Eigentum setzen die Warenbesitzer qualitativ unterschiedli-
ihres Herrn. Der leibeigene Bauer war in erster Linie che Produkte menschlicher Arbeit einander gleich:
Selbstversorger. Zwar musste er einen bedeutenden „Mein Tisch ist soviel wert wie deine vier Kästen
Teil seiner Erträge an Adel und Kirche abliefern, je- Bier“. Das Verhältnis, in dem Arbeitsprodukte mit-
doch erhielt er dafür keine Gegenleistung. Lediglich einander in Beziehung gesetzt werden, wird dabei in
gewisse Überschüsse konnten zum Markt gebracht letzter Instanz durch die Menge der in ihnen verge-
werden und erhielten somit Warencharakter. Wäh- genständlichten notwendigen Arbeitszeit bestimmt.
rend die Warenproduktion in den vorkapitalisti- Damit ist die Arbeitszeit gemeint, die durchschnitt-
schen Gesellschaften in der Regel auf Randbereiche lich qualifizierte Arbeitskräfte, denen eine zum ge-
beschränkt blieb, wurde sie im Kapitalismus do- gebenen Zeitpunkt durchschnittliche Technologie
minierend und bestimmt alle Bereiche des gesell- zur Verfügung steht, für die Produktion dieser Ware
schaftlichen Lebens. Nahrung, Kleidung, Grund aufwenden müssen. Ein Tisch, in dem 12 Stunden
und Boden, Kulturgüter, Bildung und Sexualität, es gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit verwirk-
gibt nichts, was nicht ge- und verkauft würde. Für licht sind, hätte demnach den vierfachen Wert eines
das Verständnis der Ökonomie unserer Epoche ist es Bierkastens, für dessen Herstellung nur 3 Stunden
daher unabdingbar, sich näher mit dem Begriff der erforderlich sind. Es ist wichtig zu betonen, dass
Ware zu beschäftigen. nicht die tatsächlich aufgewendete Arbeitszeit wert-
bildend wirkt, sondern die unter gegebenen gesell-
Der Wert der Waren schaftlichen Bedingungen üblicherweise erforderli-
che. Wenn ein besonders fauler oder ungeschickter
Waren können, wie andere Produkte auch, bestimm- Arbeiter 20 Stunden für die Herstellung eines Ti-
te menschliche Bedürfnisse befriedigen. Brot stillt sches benötigt, den ein durchschnittlicher Kollege in
Hunger, Kleidung wärmt, Autos dienen der Fortbe- 12 Stunden produzieren kann, wird dieses Produkt
wegung etc. Diese Eigenschaften der Waren nen- dadurch natürlich nicht wertvoller. Umgekehrt: ge-
nen wir ihren Gebrauchswert. Waren haben aber lingt es einer Arbeiterin, ihre Ware in kürzerer als
noch eine andere Seite: Sie ermöglichen es ihrem der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit herzu-
Besitzer, sie gegen andere Waren auszutauschen. stellen, dann hat sie in kürzerer Zeit dieselbe Wert-
Als Besitzer einer Ware, sagen wir eines Tisches, menge geschaffen. Aus dem Gesagten ergibt sich,
kann ich andere Waren erwerben. Ich kann mei- dass der Wert einer bestimmten Ware nicht ein für
nen Tisch beispielsweise gegen zwei Paar Schuhe, allemal Gegebenes ist. Er verändert sich durch den
gegen vier Kästen Bier oder gegen drei Bände des technologischen Fortschritt, aber auch durch Fakto-
‚Kapital’ eintauschen. Diese Eigenschaft einer Ware ren wie die Verfügbarkeit von Rohstoffen, politische
ist ihr Tauschwert. Die zwei Paar Schuhe, die vier Rahmenbedingungen etc. Je weiter die technische
Bierkästen oder die drei Bücher wären in unserem Entwicklung voranschreitet, desto mehr Produkte
Beispiel die Tauschwerte des Tisches. Da jede Ware kann ein durchschnittlicher Arbeiter in einer gege-
beide Seiten, Gebrauchswert und Tauschwert auf- benen Zeiteinheit – zum Beispiel einer Woche – her-
weist, sprechen wir vom so genannten ‚Doppelcha- stellen. Der Wert der einzelnen Ware aber sinkt. Die
rakter der Waren’. Nun sind die Tauschwerte der notwendige Arbeitszeit beinhaltet nicht nur die Zeit
Waren quantitativ sehr unterschiedlich, ein Auto innerhalb der unmittelbar am Endprodukt gearbei-
oder ein Goldbarren hat einen sehr viel höheren tet wird, sondern auch alle erforderlichen Vorarbei-
Tauschwert als ein Tisch oder ein Brot. Die Höhe ten wie die Förderung der Rohstoffe, die Herstellung
des Tauschwertes einer Ware hat nichts mit ihrem der Vorprodukte, notwendige Transporte etc. Auch
Gebrauchswert zu tun. Zwar kann ich für ein Auto der Wert der Maschinen und Werkzeuge geht an-
sehr viel mehr Dinge eintauschen als für ein Brot, teilsmäßig auf das Endprodukt über. Eine Maschi-
es ist jedoch sinnlos zu sagen, das Brot sei weni- ne, deren Herstellung 100 Arbeitsstunden erfordert
ger nützlich. Die Größe des Tauschwertes ist vom und mit der im Laufe ihres Lebens durchschnittlich
Gebrauchswert der Ware unabhängig. Dies wirft die 1000 Produkte gefertigt werden können, überträgt
Frage auf, was die Größe der Tauschwerte bestimmt, auf jedes Stück ein tausendstel ihres Wertes, also
was hinter den verschiedenen Austauschrelationen 6 Minuten. Maschinen, Baulichkeiten, Rohstoffe
steht. Die Antwort auf diese Frage liefert das Wertge- etc. werden vom Kapitalisten vorgeschossen. Marx

13
..
Politische Okonomie

spricht hier vom konstanten Kapital, weil diese Din- eine Sonderstellung gegenüber den anderen Waren
ge ihren Wert lediglich auf das Endprodukt übertra- einnahmen. In ihnen und mit ihnen wurde der Wert
gen, aber keine neuen Werte schaffen. Zusammen- aller anderen Waren gemessen, gegen sie konnten
fassend lässt sich sagen, dass sich der Wert einer alle anderen Waren jederzeit ausgetauscht werden.
Ware aus der Summe der ‚lebendigen’, das heißt der Eine solche besondere Ware nennen wir Geldware,
von den Arbeitern in ihrem unmittelbaren Produkti- das Austauschverhältnis einer Ware mit der Geld-
onsprozess verausgabten Arbeit und der ‚toten’, d.h. ware ist ihr Preis. Viele Waren haben in den ver-
der für die Herstellung der Rohstoffe, Maschinen, schiedensten Gesellschaften die Funktion der Geld-
Gebäude etc. benötigten Arbeit ergibt. Als Formel ware übernommen, beispielsweise Vieh, Bernstein,
geschrieben: Muscheln, geflochtene Bänder etc. Schon früh
haben sich jedoch die Edelmetalle als Geldwaren
Wert = l + c durchgesetzt. Durch ihre natürlichen Eigenschaften
(einheitliche Qualität, Haltbarkeit, Prägbarkeit etc.)
(wobei l für die lebendige Arbeit und c für die tote waren sie für diese Funktion prädestiniert. Insbe-
Arbeit, das so genannte konstante Kapital steht) sondere das Gold wurde zur Geldware und somit
zum Symbol des Reichtums schlechthin. Der Wert
Selbstverständlich wird der Wert nicht so bestimmt, der Geldware ist genauso bestimmt, wie der Wert
dass jemand mit der Stoppuhr neben den Arbei- aller anderen Waren - also durch die Arbeitszeit, die
tern stünde und aus den Messergebnissen die Aus- zur Produktion einer bestimmten Menge dieser Ware
tauschverhältnisse kalkulierte. In der entwickelten benötigt wird. Im Falle des Goldes schließt dies die
Warenproduktion – dem Kapitalismus - setzt sich Zeit ein die Goldminen zu finden, sie auszubeuten,
das Wertgesetz vielmehr hinter dem Rücken der das Gold zu Barren einheitlicher Qualität zu gießen,
handelnden Menschen durch, selbst dann, wenn gegebenenfalls zu münzen und sicher an seinen Be-
diese nichts davon wissen. Die Produzenten versu- stimmungsort zu transportieren. Maßstab der Preise
chen ihre Ware zu bestmöglichen Konditionen zu wurden die entsprechenden Mengen der Geldware.
veräußern, die Abnehmer suchen den günstigsten Statt zu sagen, mein Tisch ist soviel Wert wie vier
Anbieter. Vielleicht schaffen es die Anbieter einer Bierkästen oder zwei Paar Schuhe oder drei Bände
Branche, ihre Waren über Wert loszuschlagen und ‚Kapital’ kann ich nun angeben, er hätte den Wert
sich damit anderen gegenüber Vorteile zu verschaf- einer sechstel Feinunze Gold, der Bierkasten den
fen. Die Aussicht auf solche Vorteile wird aber über einer vierundzwanzigstel Feinunze. In genau defi-
kurz oder lang Konkurrenten auf den Plan rufen, die nierten Metallmengen zur Münze gepresst wurden
ebenfalls in dieser Branche tätig werden. In der Fol- Edelmetalle als Zahlungsmittel leicht handhabbar.
ge drückt ein zusätzliches Angebot die Austausch- Viele Währungen, etwa die Mark oder das Pfund,
verhältnisse wieder auf das Normalmaß. Anders- verdanken ihre Namen daher ursprünglich Ge-
herum: In einer Branche, die nicht in der Lage ist, wichts- einheiten oder gehen historisch auf als
den Wert ihrer Produkte zu realisieren, Geldware verwendete Edelme-
werden so lange Anbieter abwandern talle zurück, so beispielsweise
oder in Konkurs gehen, bis das Ange- der Taler (Dollar) auf das Joa-
bot hinreichend verknappt ist, um chimstaler Silber. Geldschei-
wieder mindestens durchschnitt- ne und Münzen aus min-
liche Verhältnisse zu gewährleis- derwertigen Metallen sind
ten. Innerhalb dieses beständig nach dieser Sichtweise kein
wirkenden Prozesses bildet der Geld, sondern Geldzei-
Wert das Gravitationszentrum, chen. Wenn ich im Besitz
um das die Austauschverhält- eines Papierscheines bin,
nisse schwanken. den jeder jederzeit gegen
eine bestimmte Menge
Das Geld der Geldware (Gold) ein-
tauschen kann, dann
Im Zuge der historischen benötige ich die Geld-
Entwicklung der Waren- ware zum Warenkauf
produktion haben sich nicht. Der Verkäufer
immer wieder bestimmte wird den Geldschein
Waren herausgebildet, die an Stelle des Goldes

14
..
Politische Okonomie

akzeptieren, denn er kann ihn auf Wunsch jederzeit oder monatsweise. Der Wert der Ware Arbeitskraft
in Gold verwandeln. Der Umlauf von Geldscheinen bemisst sich genauso wie der Wert jeder anderen
kann sich daher gegenüber der Geldware weitge- Ware auch. Er ist bestimmt durch die für die (Re-)
hend verselbständigen und sogar den Anschein völ- Produktion dieser Ware gesellschaftlich notwendige
liger Eigenständigkeit erhalten. Sobald sie aber ihre Arbeitszeit. Gemeint ist hier die Arbeitszeit, die not-
Funktion als Geldzeichen verlieren – d.h. sobald sie wendig ist, um die Dinge zu produzieren, die der Ar-
sich nicht mehr jederzeit gegen die Geldware aus- beiter zum Leben braucht. Damit der Arbeiter seine
tauschen lassen, werden sie wertloser als das Papier, Arbeitskraft dem Kapitalisten täglich aufs Neue zur
auf dem sie gedruckt wurden. Verfügung stellen kann, benötigt er Nahrung, Klei-
dung und ein Dach über dem Kopf. Er braucht zu
Die Zirkulation (der Kreislauf) von Ware weilen Medikamente und medizinische Hilfe. Für
und Geld qualifizierte Arbeiten ist ein Minimum an Bildung
und Ausbildung erforderlich. Er muss, da er selbst
Mit dem Auftreten der Geldware erhält der Waren- eines Tages aus dem Produktionsprozess ausschei-
austausch eine neue Form. Der direkte Tausch Ware den wird, für seine Kinder, d.h. seine Nachfolger
gegen Ware fällt auseinander in zwei getrennte Tau- sorgen. Angenommen, die Waren, die ein Arbeiter
schakte Ware-Geld und Geld-Ware. Zusammenge- täglich für sich und seine Familie benötigt, ließen
fasst: sich in durchschnittlich drei Stunden herstellen,
dann würden diese drei Stunden den Tageswert
Ware – Geld – Ware (W – G – W) seiner Arbeitskraft bilden. Es ist wichtig zu beto-
nen, dass sich der Wert der Arbeitskraft nicht allein
Eine Handwerkerin bringt ihre Ware, sagen wir ein durch das physische Existenzminimum des Arbei-
Kleid, auf den Markt und tauscht sie gegen Geld ters bestimmt, sondern durch das Produktquantum,
aus (W-G). Dieses Geld verwendet sie, um die für das in einer bestimmten historischen Situation für
sie notwendigen Anschaffungen zu tätigen, also den Arbeiter gesellschaftlich als notwendig aner-
beispielsweise um Lebensmittel oder den Stoff für kannt wird. Diese Größe ist historisch durchaus va-
die Herstellung neuer Kleider zu kaufen (G-W). Der riabel. Durch Streiks oder politische Kämpfe können
Anfangs- und Endpunkt der betrachteten Bewegung Arbeiterinnen und Arbeiter die gesellschaftliche
sind Waren gleichen Wertes, aber unterschiedlichen Anerkennung ihrer Bedürfnisse durchsetzen. Es be-
Gebrauchswertes. Die Warenbesitzerin veräußert stehen jedoch gewisse Mindest- und Höchstgrenzen
ihre Ware, die für sie bloßen Tauschwert darstellt, für den Wert der Ware Arbeitskraft. Zwar versuchen
um eine andere Ware zu erhalten, deren Gebrauchs- die Kapitalisten immer wieder, die Arbeitslöhne auf
wert sie benötigt. Sie verkauft, um zu kaufen. Eine ein Elendsniveau zu drücken, auch wird zugelas-
Arbeiterin vollzieht eine ähnliche Bewegung, nur sen, dass einzelne Arbeiter oder sogar ganze ‚über-
mit dem Unterschied, dass sie kein Produkt besitzt, flüssige’ Bevölkerungsteile von den notwendigsten
das sie auf dem Markt veräußern könnte. Die einzige Lebensgrundlagen abgeschnitten werden. In länge-
Ware, die sie anbieten kann, ist sie selbst – genauer rer Sicht muss die Reproduktion der Arbeiterklasse
gesprochen: ihre eigene Arbeitskraft. Den Wert ihrer als Ganzes jedoch gewährleistet bleiben, denn ohne
Arbeitskraft erhält sie in Geldform erstattet (W-G) Arbeiter gäbe es keine kapitalistische Produktion.
und kann dafür die von ihr und ihrer Familie benö- Auf der anderen Seite können die Löhne innerhalb
tigten Waren (G-W) erwerben. des Kapitalismus niemals so hoch steigen, dass sie
die Profite der Kapitalisten dauerhaft ernstlich ge-
fährden. Einer solchen Entwicklung stünden zum
Ware Arbeitskraft einen die ‚Sachzwänge’ des Marktes, zum anderen
ein energisches Eingreifen des bürgerlichen Staates
In der entwickelten Warenproduktion (dem Kapi- entgegen.
talismus) erscheinen nicht nur alle lebensnotwen-
digen Güter als Waren. Die Arbeitskraft, d.h. die
Fähigkeit des Arbeiters zu arbeiten, wird selbst zu Das Kapital
einer Ware, die auf dem Arbeitsmarkt gehandelt
wird. Da der Lohnarbeiter über keine Produktions- Neben der oben beschriebenen Bewegung W – G – W
mittel verfügt, keine Maschinen, Werkzeuge, Roh- existiert eine zweite Zirkulationsform, der Tausch
stoffe oder Fabrikhallen besitzt, ist er gezwungen, von Geld gegen Ware (G – W) und von Ware gegen
seine Arbeitskraft zu verkaufen. Nicht auf einmal Geld (W – G):
– sonst wäre er Sklave – sondern tage-, wochen-

15
..
Politische Okonomie

Geld - Ware - Geld (G – W – G) hen. Bei genauerem Nachdenken erweist sich diese
Erklärung jedoch als wenig stichhaltig. Sicherlich
Im Gegensatz zu ersten scheint diese zweite Kreis- kann sich ein einzelner Kapitalist durch Betrug
laufform zunächst sinnlos zu sein. Der Anfangs- Vorteile verschaffen. Gelingt es ihm, seine Waren
und Endpunkt der Bewegung sind qualitativ iden- zu teuer zu verkaufen, macht er einen Extraprofit.
tisch, Geld wird gegen Geld getauscht. Einen Sinn Wir müssen aber nicht nur den zufälligen Profit ei-
bekommt das Ganze erst, wenn die Geldsummen nes windigen Geschäftemachers erklären, sondern
am Anfang und am Ende unterschiedlich sind, aus die Herkunft der Profite aller Kapitalisten. Gesamt-
Geld also mehr Geld wird: gesellschaftlich handelt es sich bei solchem Betrug
um ein Nullsummenspiel: der eine gewinnt, was ein
G – W – G’ anderer verliert. Gelänge es allen Gesellschaftsmit-
gliedern, immer ‚zu teuer’ zu verkaufen, dann ge-
(wobei der kleine Strich am G eine zusätzliche Geld- wönne niemand mehr, denn das, was sie beim Ver-
menge bezeichnet) kauf zusätzlich in die Tasche steckten, verlören sie,
sobald sie erneut kauften. Wir benötigen also eine
Womit wir es hier zu tun haben, ist der Kreislauf Erklärung für die Herkunft des Profits, die sich nicht
des Kapitals. Unter Kapital verstehen wir bloß auf Kategorien wie Betrug oder Übervorteilung
eine Wertmenge (in Geld- oder Waren- stützt. Eine, die im Einklang
form), die vorgeschossen wird, um mit dem Wertgesetz steht. Die
eine größere Wertmenge zurückzu- Kapitalisten machen auch und
erhalten. Kapital ist also, wie Marx gerade dann Profit, wenn unter-
etwas altmodisch formuliert, Wert stellt wird, dass alle Waren zu ihren
heckender Wert. Dieser Begriff von Werten ausgetauscht werden. Dies gelingt ihnen,
Kapital unterscheidet sich von der weil sie auf dem Markt eine Ware vorfinden, die in
umgangssprachlichen Verwendung der Lage ist, mehr Wert zu schaffen, als sie selbst
des Wortes. Wer beispielsweise seinen wert ist. Diese Ware ist die menschliche Arbeits-
Sparstrumpf als ‚sein Kapital’ bezeichnet, drückt kraft. Der Wert der Arbeitskraft ist, wie oben dar-
sich ökonomisch gesehen nicht korrekt aus. Nicht gelegt, bestimmt durch die zu ihrer Reproduktion
jede Geldsumme ist Kapital, und auch Maschinen, notwendige Arbeitszeit. Also durch den Wert der
Werkzeuge oder Rohstoffe erhalten nur unter be- Waren, die ein Arbeiter benötigt, um sich und seine
stimmten Umständen die Kapitaleigenschaft. Zu Familie am Leben zu erhalten. Nehmen wir an, ein
Kapital werden Geld und Waren nur dann, wenn sie durchschnittlicher Arbeiter benötige drei Stunden,
sich verwerten, d.h. wenn sie dazu dienen, ihrem um den Wert zu schaffen, der dem Wert der von ihm
Besitzer größere Wertmengen zu verschaffen, als er täglich verbrauchten Güter entspricht. Unser Arbei-
ursprünglich vorgeschossen hat. ter arbeitet aber nicht drei, sondern acht Stunden
täglich. In den ersten drei Stunden reproduziert er
Kapital & Mehrwert den Wert, den er in Form von Lohn erhält. Aber auch
in den verbleibenden fünf Stunden schafft er Wert,
Damit stehen wir jedoch vor einem theoretischen der in seinen Produkten vergegenständlicht ist. Die
Dilemma: Wir müssen die Frage beantworten, wieso Differenz zwischen dem in drei Stunden produzier-
der Kapitalist Geld gegen mehr Geld tauschen kann. ten Wert, den unser Arbeiter als Lohn erhält, und
Mit dem Wertgesetz scheint das Kapital unverein- dem von ihm in acht Stunden produzierten Wert,
bar zu sein. Kaufe ich eine Ware zu ihrem Wert (G- nennt Marx den Mehrwert. Da die Arbeitsprodukte
W) und verkaufe sie anschließend wieder zu ihrem dem Kapitalisten gehören, gehört diesem auch der
Wert (W-G), dann halte ich nach Abschluss dieser Mehrwert.
Operation dieselbe Geldsumme in der Hand wie am
Anfang. Ich hätte mir die Mühe sparen können. Die Das ganze lässt sich formelmäßig ausdrücken:
ebenso nahe liegende wie irreführende Lösung be-
steht in der Behauptung, der Profit der Kapitalisten l=v+m
stamme aus einem Verstoß gegen das Wertgesetz.
Entweder würde er unter Wert einkaufen oder über Dabei steht l, wie oben dargelegt, für die gesamte
Wert verkaufen. Er würde also seine Kundinnen vom Arbeiter an einem Tag geleistete lebendige Ar-
und/oder seine Lieferanten – zu denen gewisserma- beit. v, das variable Kapital, ist der Gegenwert des
ßen auch seine Arbeiter zählen – über den Tisch zie- Lohns, den der Arbeiter vom Kapitalisten ausgezahlt

16
..
Politische Okonomie

bekommt – in unserem Beispiel 3 Stunden. Die Dif- l, also sowohl den Wert des variablen Kapitals v als
ferenz zwischen l (8h) und v (3h) ist der Mehrwert auch den Mehrwert m (W’ = c + l = c + v + m).
m (5h), der unentgeltlich an den Kapitalisten fällt. Weil in W’ mehr Wert (Mehrwert) enthalten ist als in
W, können diese Waren auch für mehr Geld verkauft
werden, G’ ist daher größer als G. An keiner Stelle
|----- v (3 h) -----||------------ m (5 h) -------------------| dieses Kreislaufes ist gegen das Wertgesetz versto-
ßen worden, alle Waren wurden zu ihren Werten ge-
|--------------------- Gesamtarbeit l (8h)-------------------| tauscht. Dennoch ist der Kapitalist am Ende reicher
denn je. Der Arbeiter hingegen verbraucht seinen
Anteil am von ihm geschaffenen Neuwert für die
Das Verhältnis der bezahlten zur unbezahlten Arbeit Wiederherstellung seiner während der Produktion
nennen wir Ausbeutungs- oder Mehrwertrate (m’). verausgabten Arbeitskraft. Will er danach weiter-
leben, ist er gezwungen, seine Arbeitskraft erneut
Als Formel geschrieben ergibt sich: zu verkaufen. Unser Arbeiter hat also durch seine
Arbeit auf dreifache Weise zur Reproduktion der
m’ = m/v Gesellschaft beigetragen: Er hat erstens seine Ar-
beitskraft, d.h. sich selbst und seine Familie repro-
In unserem Beispiel wäre die Mehrwertrate = 5h / duziert. Er hat zweitens das Kapital des Kapitalisten
3h = 1,66 oder 166%. Einfacher formuliert: Für je- reproduziert. Und er hat damit drittens die gesell-
den Euro, den der Kapitalist seinen Arbeitern zahlt, schaftlichen Verhältnisse reproduziert, die ihn zum
steckt er sich 1,66 EUR in die Tasche. Es ist wich- Arbeiter und den Kapitalisten zum Kapitalisten ma-
tig festzuhalten, dass die Arbeiter dabei nicht über chen.
den Tisch gezogen werden. Sie erhalten den vollen
Gegenwert für ihre Ware, die Arbeitskraft. Dass der Akkumulation
Gebrauch dieser Ware (die Arbeit) dem Kapitalisten
mehr einbringt, als sie ihn kostet, ergibt sich nicht Was geschieht nun mit dem Mehrwert? Prinzipiell
aus einer individuellen Betrügerei, sondern aus den kann der Kapitalist auf zwei Arten damit verfahren.
Gesetzen der Warenproduktion. Einen Teil des Mehrwertes muss er für seine indi-
viduellen Konsumbedürfnisse verwenden, also das
Wir können unsere obige Kreislaufformel nun ge- standesgemäße Leben seiner Familie finanzieren, Lu-
nauer formulieren: xusgüter und Statussymbole aufhäufen, oder auch
als Mäzen und Wohltäter auftreten. Den anderen Teil
Arbeitskraft seines Mehrwertes kann er seinem ursprünglichen
G–W< ... P … W’ – G’ Kapital hinzufügen. Die Kapitalisierung von Mehr-
Produktionsmittel wert oder die Verwendung von Mehrwert als Kapital
nennt man Akkumulation. Wie groß die jeweiligen
Dabei steht G für das Geld, das unser Kapitalist vor- Anteile sind, steht dem Kapitalisten juristisch frei,
schießt und mit dem er die für den Produktionspro- ökonomisch jedoch nicht. Würde er seinen gesam-
zess benötigten Waren erwirbt. Für einen Teil dieses ten oder auch nur einen zu großen Teil seines Mehr-
Geldes (das so genannte konstante Kapital c) kauft er wertes individuell verzehren, geriete er früher oder
seine Produktionsmittel, also Maschinen, Rohstoffe später gegenüber seinen akkumulierenden Klas-
usw. Den anderen Teil (das variable Kapital v) in- sengenossen ins Hintertreffen, sein Kapital ginge
vestiert er in den Ankauf menschlicher Arbeitskraft. im Konkurrenzkampf unter. Der Heißhunger nach
Beides zusammen sind die notwendigen Bestand- Mehrwert ist daher keine individuelle Marotte der
teile des Produktionsprozesses P. Innerhalb dieses Kapitalisten, keine schlechte Charaktereigenschaft
Produktionsprozesses wird einerseits der Wert des und geht auch nicht zwangsläufig mit persönlicher
konstanten Kapitals auf das Produkt übertragen, Gier einher. Es ist vielmehr eine notwendige Funkti-
andererseits durch die geleistete Arbeit neuer Wert on, die der Kapitalist als Repräsentant eines gesell-
geschaffen und im Produkt vergegenständlicht. Das schaftlichen Verhältnisses ausüben muss. Appelle
Resultat ist eine Warenmenge W’, die unser Kapita- an das soziale Gewissen der Kapitalisten sind daher
list nun verkaufen kann. Die Waren W’ sind wert- ebenso naiv wie pathetische Anklagen gegen deren
voller als die Waren W, denn sie enthalten neben Gewinnsucht. Erst recht unhaltbar sind Versuche,
dem Wert des vernutzten konstanten Kapitals c den die Ausbeutung nur einer bestimmten Gruppe von
gesamten, durch die Arbeit neu geschaffenen Wert Kapitalisten anzulasten, wie es etwa Nazi-Propa-

17
..
Politische Okonomie

gandisten gegenüber dem ‚jüdischen Kapital’ ver- und Hunger hat es in der Geschichte immer wieder
suchen. Nicht sein Charakter, seine Religion, seine gegeben. In früheren Epochen waren sie jedoch in al-
Staatsbürgerschaft oder seine ‚Rasse’ machen den ler Regel die Folge von außerökonomischen Einflüs-
Kapitalisten zum Ausbeuter, sondern seine Stellung sen - Missernten, Seuchen oder Naturkatastrophen
in einer auf spezifische Weise organisierten Gesell- nahmen der Bevölkerung die Lebensgrundlagen und
schaft. Der Akkumulationsprozess führte in der Ge- führten zu Massenelend. Heutzutage verfügt die
schichte der kapitalistischen Gesellschaftsordnung Menschheit allerdings längst über die technischen
zu tief greifenden Veränderungen. Einzelne Kapitale Mittel, um zu verhindern, dass äußere Einflüsse die
wuchsen zu gewaltiger Größe an. Kleinere Kapitale Reproduktion nachhaltig stören – schlechte Ernten
wurden einverleibt oder vernichtet, selbstständige oder harte Winter bedeuten zumindest in den In-
Handwerker und Kleinkapitalisten verloren ihre dustriestaaten längst keine Katastrophen mehr. Im
Existenz. Zugleich organisierten die großen Konzer- Kapitalismus bringt nicht die Natur, sondern die
ne riesige Menschenmassen unter ihrer Herrschaft. ökonomische Struktur der Gesellschaft das Elend
Arbeiteten in einem zünftigen Handwerksbetrieb hervor. Wirtschaftskrisen brechen nicht aus, weil zu
eine handvoll Menschen zusammen, in den früh-
kapitalistischen Manufakturen in der Regel einige
Dutzend, so beschäftigen moderne Großkonzer-
ne zehntausende oder gar hunderttausende von
Arbeiterinnen und Arbeitern. Zugleich steht die
Akkumulation in enger Wechselwirkung mit dem
technischen Fortschritt. Der Einsatz der modernen
industriellen Produktionsverfahren erfordert riesi-
ge und stets wachsende Kapitalmassen. In vielen
Wirtschaftszweigen sind die für eine rentable Pro-
duktion nötigen Investitionen so gigantisch, dass
sie selbst von den reichsten Kapitalisten nicht mehr
aufgebracht werden können. Banken und Aktienge-
sellschaften sorgen hier für die Zusammenfassung
unzähliger Einzelkapitale.

Kleine und große Krisen

Der Akkumulationsprozess des Kapitals vollzieht


sich nicht reibungslos. Weltweite Wirtschaftskri-
sen und Arbeitslosigkeit gehören ebenso zum Kapi-
talismus wie Warentausch und Profit. Auf Zeiten
rasanten Wirtschaftswachstums folgen mit Notwen-
digkeit ökonomische Talfahrten. In regelmäßigen
Abständen von 7 bis 10 Jahren gerät der kapitalisti-
sche Reproduktionsprozess ins Stocken. Unterneh-
men finden für ihre Produkte keinen Absatz mehr, wenig, sondern weil ‚zu viel’ produziert wird. Men-
Maschinen stehen still, Arbeiter werden entlassen. schen geraten in Not, weil die Lager überquellen,
Die kaufkräftige Nachfrage bricht ein. Jeder Betrieb, Arbeitslose sitzen auf der Straße, weil modernste
der in Konkurs geht, bringt andere in Gefahr. Zu- Maschinen stillstehen. Dennoch stellt der norma-
lieferer verlieren ihre KundInnen, SchuldnerInnen le Konjunkturzyklus für die Stabilität des Kapita-
können nicht mehr zahlen, Gläubiger bleiben auf ih- lismus keine Bedrohung dar. Zwar stürzt er regel-
ren Außenständen sitzen und geraten selbst in wirt- mäßig Millionen von Menschen ins Elend, für das
schaftliche Schwierigkeiten. Die Löhne und Preise kapitalistische System bedeutet er jedoch eine not-
geraten ins Rutschen. Es entwickelt sich eine sich wendige Regenerationsphase. Die Märkte werden
selbstverstärkende Abwärtsspirale, die das gesamte bereinigt, insbesondere kleine Betriebe verschwin-
Wirtschaftssystem erschüttert und Millionen von den von der Bildfläche. Mit jedem Unternehmen,
Menschen um ihre Existenz bringt. Nicht dass die das in der Krise pleite macht, verschwindet für die
gesellschaftliche Reproduktion ab und an ins Sto- übrig gebliebenen ein Konkurrent. Die Arbeitslosig-
cken gerät, ist dabei das Besondere. Zeiten von Not keit schwächt die Gewerkschaften, drückt auf die

18
..
Politische Okonomie

Löhne und schafft damit günstige Voraussetzungen gen letztlich erfolglos – den herrschenden Eliten ge-
für noch erfolgreichere Ausbeutung. Das gesunkene lang es, ihre ‚Lösungen’ der gesellschaftlichen Pro-
Lohn- und Preisniveau bedeutet eine gute Ausgangs- bleme durchzusetzen: Imperialismus, Faschismus
basis für neue, profitable Investitionen und damit und Krieg.
für eine neue Akkumulationsdynamik. Der Über-
gang von Krisen und Stagnationsphasen zu einem
neuen Aufschwung ist jedoch kein Automatismus, Abkürzungsverzeichnis
der sich mit naturgesetzlicher Sicherheit einstellt.
Die Entwicklung des Kapitalismus führt an Gren- Ak: Arbeitskraft (Die Fähigkeit des Arbeiters zu ar-
zen, an denen die ‚Selbstheilungskräfte des Mark- beiten, nicht zu verwechseln mit der Arbeit selbst.)
tes’ versagen. Sowohl in der Gründerzeitkrise nach c: konstantes Kapital (Kapital in Form von Produk-
1873 als auch in der Weltwirtschaftskrise nach dem tionsmitteln)
‚Black Thursday’ am 24. Oktober 1929 war dieser G: Geld (genauer: Wert in Geldform)
Punkt erreicht. Solche so genannten ‚großen Krisen’ G’: „mehr Geld als vorher“
bringen keine selbsttragende Aufschwungdynamik l: lebendige Arbeit (Arbeit, die von den Arbeitern
mehr hervor. Die Abwärtsspirale geht ins Boden- während des laufenden Produktionsprozesses ge-
lose und bedroht alle gesellschaftlichen Bereiche. leistet wird. Im Gegensatz zu ‚toten Arbeit’, die sich
Ihre Überwindung erfordert tief greifende Verände- in vorangegangenen Produktionsprozessen in Pro-
rungen in den gesellschaftlichen Strukturen. Damit duktionsmitten vergegenständlicht hat.)
bilden die großen Krisen nicht nur ökonomische, m: Mehrwert (Differenz zwischen dem von den Ar-
sondern zugleich auch politische Wendepunkte der beitern geschaffenen und dem ihnen in Form ihres
Entwicklung. In ihnen wird deutlich, dass der Ka- Lohns ausgezahlten Wert)
pitalismus von inneren Widersprüchen zerrissen m’: Mehrwertrate (quantitatives Verhältnis von
ist, dass es ein liberales ‚weiter so’ nicht mehr ge- Mehrwert und variablem Kapital)
ben kann. Die wirtschaftlichen, aber auch die po- Pm: Produktionsmittel (Maschinen, Werkzeuge,
litischen und ideologischen Fundamente der bür- Rohstoffe, Vorprodukte etc.)
gerlichen Gesellschaft geraten ins Wanken. Wie der v: variables Kapital (Kapital in Form von mensch-
Ausweg aus einer solchen Krise aussieht, ist nicht licher Arbeitskraft bzw. Wert der vom Kapitalisten
nur eine ökonomische, sondern auch eine politische gekauften Arbeitskraft)
Frage, eine Frage von Klassenkämpfen. In Deutsch- W: Ware (genauer: Wert in Warenform)
land führten sowohl die Gründerzeitkrise als auch W’: „Ware von mehr Wert als vorher“
die Weltwirtschaftskrise zu einem Aufschwung der
revolutionären Kräfte. Doch blieben diese Bewegun-

19
SDAJ Grundlagenschule

Wissenschaftlicher Sozialismus
Was verstehen wir unter wissenschaftli- sozialen und politischen Denkens, soziale Utopien
chem Sozialismus? und gesellschaftliche Bewegungen, die das Streben
der Werktätigen nach Befreiung von Ausbeutung
Als wissenschaftlichen Sozialismus (oder auch und Unterdrückung widerspiegelten, Missstände
wissenschaftlichen Kommunismus) verstehen wir der Ausbeuterordnung kritisierten und Vorstellun-
neben der marxistischen Philosophie und der po- gen von einer neuen, gerechteren Gesellschaftsord-
litischen Ökonomie einen der drei Bestandteile der nung entwickelten. Zu ihnen gehörten vor allem
marxistischen Weltanschauung. Häufig wird dieser jene, die als sozialistische Utopien, als utopischer
Begriff aber auch im weiteren Sinne für die gesam- Sozialismus, in die Geschichte eingegangen sind
te marxistische Lehre benutzt. Als Bestandteil des und historische Vorläufer des wissenschaftlichen
Marxismus-Leninismus hat der wissenschaftliche Sozialismus bilden. Dieser vormarxsche Sozialis-
Sozialismus sowohl grundlegende Gemeinsam- mus begann sich in der Zeit des Übergangs vom
keiten mit den anderen beiden Bestandteilen, als Feudalismus zum Kapitalismus in Europa herauszu-
auch spezifische Aufgaben. Er ist bilden. Seine wichtigsten Vertreter
eine eigenständige Wissenschafts- waren C.-H. de Saint-Simon, C. Fou-
disziplin und besitzt einen eigenen rier und R. Owen. Der vormarxsche
Gegenstand. Der wissenschaftliche Sozialismus konnte jedoch in seiner
Sozialismus „...untersucht die Ge- Gesamtheit für die Arbeiterklasse
setzmäßigkeit der Vorbereitung, He- und alle Werktätigen kein realisier-
rausbildung und Entwicklung der bares politisches Kampfprogramm
kommunistischen Gesellschaftsfor- begründen. Die Hauptursachen da-
mation und damit der Verwirkli- für lagen im damaligen niedrigen
chung der welthistorischen Mission Entwicklungsstand der kapitalisti-
der Arbeiterklasse...(Er ist)...die Wis- schen Produktionsweise und ihrer
senschaft vom Klassenkampf der Ar- Widersprüche, in der Unreife der Ar-
beiterklasse und der sozialistischen beiterklasse und ihres Kampfes und
Revolution, vom Aufbau des Sozia- auch in der damals vorherrschenden
lismus und Kommunismus als eines idealistischen Auffassung über die
einheitlichen sozialen Organismus, Gesellschaft. „...Der utopische Sozi-
vom revolutionären Weltprozess und alismus war jedoch nicht imstande,
von der wissenschaftlichen Füh- einen wirklichen Ausweg zu zeigen.
rung dieser Entwicklung durch die Er vermochte weder das Wesen der
Arbeiterklasse und ihre marxistisch-leninistische kapitalistischen Lohnsklaverei zu erklären noch die
Partei...“ (Kleines Politisches Wörterbuch). Auf ver- Gesetze der Entwicklung des Kapitalismus zu ent-
schiedene Aspekte dieses weiten Spektrums wird im decken, noch jene gesellschaftliche Kraft zu finden,
weiteren Verlauf der Grundlagenschule noch näher die fähig ist, Schöpfer einer neuen Gesellschaft zu
eingegangen. So gibt es zur revolutionären Strategie werden...“ (Lenin). Erst im ersten Drittel des 19.
und Taktik einen eigenen Abschnitt; auf die sozi- Jahrhunderts waren die Voraussetzungen für die
alistische und kommunistische Gesellschaftsord- Entwicklung des Sozialismus von einer Utopie zur
nung wird im Kapitel „Staat und Revolution“ näher Wissenschaft herangereift. Auf ökonomischem Ge-
eingegangen. Daher wollen wir uns zunächst auf die biet hatte sich in einigen Ländern im Gefolge der
Entstehung des wissenschaftlichen Sozialismus, auf industriellen Revolution die kapitalistische Produk-
die Thematik von Klassen und Klassenkampf sowie tionsweise herausgebildet und es wurde der Über-
auf die Grundzüge der sozialistischen Gesellschaft gang vom Manufaktur- zum Industriekapitalismus
beschränken. vollzogen. Die grundlegenden Klassengegensätze
und ihre Unversöhnlichkeit traten immer deutlicher
zutage. Auf wissenschaftlich-theoretischem Gebiet
Die Entwicklung des Sozialismus von der war das fortschrittliche Denken zu wesentlichen
Utopie zur Wissenschaft neuen Erkenntnissen und Fragestellungen gelangt.
Der welthistorische Verdienst von Marx und Engels
Bereits Jahrhunderte vor der Entstehung des wissen- besteht darin, dass sie „... dank der völligen Beherr-
schaftlichen Sozialismus wirkten Strömungen des schung alles dessen, was die frühere Wissenschaft

20
Wissenschaftlicher Sozialismus

zu bieten hatte...“ (Lenin) einen umfassenden wis- zes in einem bestimmten System der gesellschaftli-
senschaftlichen Nachweis der Notwendigkeit zur chen Wirtschaft...“
Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus Eine Klasse besteht und definiert sich also als eine
gaben. Die neue Gesellschaftsordnung wurde jetzt große soziale Gruppe, die sich in Bezug auf ihre Rol-
aus den objektiven gesellschaftlichen Bewegungs- le im System der gesellschaftlichen Produktion von
gesetzen als unvermeidliches Resultat der revoluti- anderen durch gemeinsame Merkmale unterschei-
onären Lösung der Widersprüche des Kapitalismus det. Diese soziale Gruppe besteht nicht als eine mo-
begründet. Marx und Engels entdeckten im Proleta- nolithische, unveränderliche Struktur, sie befindet
riat jene gesellschaftliche Kraft, der aufgrund ihrer sich in einer ständigen geschichtlichen und struk-
objektiven Existenzbedingungen und Eigenschaften turellen Entwicklung. Ihre Grenzen gegenüber an-
die historische Aufgabe zukommt, die Ausbeuterge- deren Klassen sind nicht starr. Das Bewusstsein der
sellschaft zu beseitigen und die neue, klassenlose Zugehörigkeit zu einer Klasse ist nicht unbedingt
Gesellschaft aufzubauen. Der wesentliche Unter- und nicht automatisch identisch mit der strukturel-
schied zum utopischen Sozialismus besteht also in len, objektiven Erfüllung bestimmter sozialer Merk-
der Erforschung der Klassen und des Klassenkamp- male. Marx, Engels und auch später Lenin machten
fes. darauf aufmerksam, dass zum Begriff der „Klasse“
auch das Element der sozialen Dynamik und der
Klassen und Klassenkampf Bewusstheit gehört. Am Beispiel des französischen
Kleinbauerntums zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Die Existenz von Klassen und Klassengesellschaften verdeutlichte Marx, dass deren rein zahlenmäßige
ist keine Erfindung von Marx oder Engels. Klassen- Stärke nur „...eine einfache Addition gleichnamiger
gesellschaften gibt es schon seit vielen tausend Jah- Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kar-
ren, nicht erst seit der Entstehung des Kapitalismus. toffelsack bildet...“ darstellt. Weiter heißt es: „...In-
Ihre Existenz ist auch nicht erst von Marx oder En- sofern Millionen von Familien unter ökonomischen
gels aufgedeckt worden. „...Was mich anbetrifft, so Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise,
gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz ihre Interessen und ihre Bildung von denen der an-
der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ih- dern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenü-
ren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerli- berstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur
che Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern
historische Entwicklung dieses Kampfes der Klas- besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Ge-
sen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische meinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine
Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden
war 1.nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klas-
bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen seninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein
der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassen- Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu
kampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müs-
3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur sen vertreten werden...“
Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Nicht anders sah es später W. I. Lenin: „...Klasse ist
Gesellschaft bildet...“ (Marx). Eine bis heute sehr ein Begriff, der sich im Kampf und in der Entwick-
prägnante und wissenschaftlich klare Definition lung herausbildet. Keine Wand trennt eine Klas-
des Begriffs „Klasse“ finden wir in der Arbeit von se von der anderen. Die Arbeiter und Bauern sind
W. I. Lenin „Die große Initiative“: „...Als Klassen nicht durch eine chinesische Mauer voneinander
bezeichnet man große Menschengruppen, die sich getrennt. .. Es wäre absurd, zu behaupten, das Pro-
voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in ei- letariat hätte sich sofort als Klasse organisieren kön-
nem geschichtlich bestimmten System der gesell- nen. das dauerte Jahrzehnte....“
schaftlichen Produktion, nach ihrem größtenteils
in Gesetzen fixierten (und formulierten) Verhältnis Bourgeoisie und Proletariat
zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der
gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folg- In den „Grundsätzen des Kommunismus“ schreibt
lich nach der Art der Erlangung und der Größe des Engels, dass mit der industriellen Revolution „...
Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den zwei neue, allmählich alle übrigen verschlingenden
sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, Klassen geschaffen worden (waren), nämlich
von denen die eine sich die Arbeit einer anderen an- I. Die Klasse der großen Kapitalisten, welche
eignen kann, infolge der Verschiedenheit ihres Plat- in allen zivilisierten Ländern schon jetzt fast aus-

21
Wissenschaftlicher Sozialismus

schließlich im Besitz aller Lebensmittel und der zur der klassischen industriellen Arbeiter. Der Arbeiter-
Erzeugung der Lebensmittel nötigen Rohstoffe und anteil an der Gesamtheit der lohnabhängig beschäf-
Instrumente (Maschinen, Fabriken) sind. Dies ist die tigten Arbeiterklasse beläuft sich nach den neusten
Klasse der Bourgeois oder die Bourgeoisie. Daten des statistischen Bundesamtes von Anfang
II. Die Klasse der gänzlich Besitzlosen, welche 2006 derzeit auf noch knapp 26 % (produzieren-
darauf angewiesen sind, den Bourgeois ihre Arbeit des Gewerbe plus Bauwirtschaft). Fast 72 % der Er-
zu verkaufen, um dafür die zu ihrem Unterhalt nöti- werbstätigen sind im Dienstleistungsbereich tätig.
gen Lebensmittel zu erhalten. Diese Klasse heißt die Natürlich gibt es auch im Kapitalismus noch andere
Klasse der Proletarier oder das Proletariat...“ Klassen, z.B. die Bauern. In etlichen Ländern gibt es
Später präzi- auch heute noch die Klasse
sierten Marx des Adels. Aber, so schrie-
und Engels ben Marx und Engels im
aufgrund ihrer „Kommunistischen Mani-
ökonomischen fest“ von 1848: „...Unsere
Studien diese Epoche, die Epoche der
allgemeine De- Bourgeoisie, zeichnet sich
finition dahin- jedoch dadurch aus, dass
gehend, dass sie die Klassengegensätze
sie nicht vom vereinfacht hat. Die ganze
Verkauf der Gesellschaft spaltet sich
„Arbeit“ son- mehr und mehr in zwei
dern der „Ar- große feindliche Lager, in
beitskraft“ als zwei große, einander di-
typisches Klas- rekte gegenüberstehende
senmerkmal Klassen: Bourgeoisie und
des Proletari- Proletariat...“ So wie es in-
ats sprachen. nerhalb der beiden Haupt-
In einer Erläu- klassen auch nach vielen
terung zur Herausgabe der englischen Ausgabe des Merkmalen sich unterscheidende Untergruppen
„Kommunistischen Manifest“ von 1888 schrieb En- (z.B. nach Art der beruflichen Qualifikation, un-
gels dann auch: „...Unter Bourgeois wird die Klasse terschiedlicher Lohn- und Gehaltshöhe, religiöser
der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer Zugehörigkeit, regionalen und nationalen Herkunft
der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und usw.) gibt, so gibt es auch zwischen diesen beiden
Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletarier die Klasse Hauptklassen wichtige „soziale Schichten“ (z.B. die
der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eige- lohnabhängige Intelligenz, freiberuflich Tätige, das
nen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen traditionelle oder auch neu entstehende Handwer-
sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu kertum), deren Zahl auf Grund der dynamischen
können...“ Unter „Arbeiterklasse“ verstanden Marx Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Re-
und Engels also nicht nur die in der direkten ma- volution in den letzten Jahrzehnten stark zugenom-
teriellen Produktion tätigen industriellen (Maschi- men hat. Aufgrund ihrer starken Binnendifferen-
nen-)Arbeiter im engeren Sinn. Diese bilden jedoch, zierung und der sowohl in Richtung Arbeiterklasse
da sie direkt in der Waren- und Mehrwertproduk- wie in Richtung Bourgeoisie fließenden Übergänge
tion tätig sind, und oft auch zu zehntausenden in sprechen wir hier nicht von einer eigenen „Klasse“,
Großbetrieben zusammengefasst und zum großen sondern von „Schichten“. In Deutschland lässt sich
Teil auch gewerkschaftlich organisiert sind, den zu Beginn des 21. Jahrhunderts grob folgende pro-
„Kern“ der Arbeiterklasse. Hier gibt es die größten zentuale Aufteilung der Klassenstruktur auflisten:
Kampf- und Streikerfahrungen, hier ist der Grad der • Produktive, d.h. an der Produktion und Realisie-
betrieblichen und gewerkschaftlichen Organisiert- rung des Mehrwerts beteiligte Lohnarbeiterklasse:
heit am höchsten. Der traditionelle Arbeiteranteil 77%,
ist in den letzten Jahrzehnten gegenüber der schnell • Selbst arbeitende Eigentümer: 7%,
anwachsenden Zahl der Angestellten im Gefolge • lohnabhängige Bedientenklasse (mit Beamten):
der Ausweitung des Dienstleistungssektors deutlich 12%,
zurückgegangen. Seit Mitte der 70er Jahre übertrifft • Kapitalistenklasse und Grundbesitzer: 3%,
in Deutschland die Zahl der Angestellten die Zahl • Lumpenproletariat : 1%.

22
Wissenschaftlicher Sozialismus

Marxisten sehen in der Arbeiterklasse die entschei- nicht in das Eigentum der einzelnen übergehen
dende soziale Kraft und Potenz für grundlegende kann, außer individuellen Konsumtionsmitteln. ...
soziale, antikapitalistische und revolutionäre Ver- (es) herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch
änderungen. Lenin hat dies einmal in folgendem von Warenäquivalenzen, es wird gleich viel Arbeit
knappen Satz auf den Punkt gebracht: „...Das Wich- in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer an-
tigste in der Marxschen Lehre ist die Klarstellung dern ausgetauscht. Dies gleiche Recht ist ungleiches
der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats als Recht für ungleiche Arbeit ... Aber diese Missstände
des Schöpfers der sozialistischen Gesellschaft...“ sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommu-
nistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapita-
Die sozialistische Gesellschaft listischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen
hervorgegangen ist...” Der Sozialismus ist also noch
Der alles entscheidende Unterschied zwischen ka- nicht der entwickelte Kommunismus, die klassenlo-
pitalistischer und sozialistischer Gesellschaft be- se Gesellschaft, sondern eine erste Etappe auf dem
steht in der Frage des Eigentums an den wichtigs- Wege dahin. Er setzt den revolutionären Bruch mit
ten Produktionsmitteln (den Fabriken, Maschinen, dem Kapitalismus voraus. Die entscheidende Ver-
etc.). Im Kapitalismus gehören die Produktionsmit- änderung zum Kapitalismus besteht aus folgenden
tel privaten Eigentümern, eben den Kapitalisten. Hauptmerkmalen:
Dabei ist egal, ob die bürgerliche Rechtsform eine a) Politische Macht der Arbeiterklasse und der
Privatfirma im Stil eines Familienbetriebs, eine Ak- anderen Werktätigen und der Enteignung der Bour-
tiengesellschaft oder etwas anderes ist. Im Sozia- geoisie,
lismus ist das Eigentum ein „gemeinschaftliches“, b) Wegfallen der ökonomischen Ausbeutung
entweder in Form von Genossenschaften oder in der Lohnarbeiter (der Mehrwert wird gesamtgesell-
Form von demokratisch kontrolliertem Eigentum ei- schaftlich “konsumiert” und nicht mehr privat). Die
nes neuen sozialistischen Staates. Marx und Engels “Lohnsklaverei” im Sinne der politisch-ökonomi-
unterschieden inhaltlich zwei Stufen innerhalb der schen Ausbeutung entfällt.
nach-kapitalistischen Gesellschaftsformation. Marx c) Die gesellschaftliche Planung der Produk-
charakterisierte sie in seiner “Kritik des Gothaer tion auf Basis des gesellschaftlichen Eigentums an
Programms”, von 1875. (Dies war eine Auseinander- den wichtigsten Produktionsmitteln.
setzung mit dem ersten Parteiprogramm der neuen Friedrich Engels drückte diese Hauptunterschiede
Sozialdemokratischen Partei, die sich 1875 einer- zwischen Kapitalismus und Sozialismus so aus:
seits aus der Partei von August Bebel und Wilhelm „Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und
Liebknecht und andererseits aus den Anhängern verwandelt kraft dieser Gewalt die den Händen der
von Ferdinand Lassalle zusammengeschlossen hat- Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Pro-
te.) Marx schrieb: “...Zwischen der kapitalistischen duktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch die-
und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Pe- sen Akt befreit es die Produktionsmittel von ihrer
riode der revolutionären Umwandlung der einen in bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihrem gesell-
die andre. Der entspricht auch eine politische Über- schaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durch-
gangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann zusetzen. Eine gesellschaftliche Produktion nach
als die revolutionäre Diktatur des Proletariats..” In vorherbestimmten Plan wird nunmehr möglich. ....
dieser “Übergangsperiode“ existiert laut Marx “... Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der ge-
eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie schichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre
sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur
sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalis- selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufe-
tischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Bezie- nen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen
hung ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewusstsein
mit den Muttermerkmalen der alten Gesellschaft, zu bringen, ist die Aufgabe des theoretischen Aus-
aus deren Schoß sie herkommt....” Zu den “ökono- drucks der proletarischen Bewegung, des wissen-
mischen Muttermerkmalen” zählt die Fortexistenz schaftlichen Sozialismus...“ (Engels).
des Leistungsprinzips und der Warenproduktion. Auch der Kommunismus ist nicht erreichbar ohne
“Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den eine oder mehrere Zwischenstufen und Perioden, in
Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleich- denen sich die politischen, sozialen und ökonomi-
wertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil schen Strukturen herausbilden müssen, auf deren
unter den gegebenen Umständen niemand etwas ge- Grundlagen erst diese kommunistische, klassenlo-
ben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits se Gesellschaft aufgebaut werden kann. In den 50er

23
Wissenschaftlicher Sozialismus

Jahren des 20. Jahrhunderts hatte man in China 1918. Das erste Programm der KPD stellte auch die
während der Zeit des „Großen Sprunges“ versucht, bekannte Parole auf: “Sozialismus oder Untergang
mit einem einfachen gewaltigen Kraftakt von einem in der Barbarei”. Weiter hieß es darin: “Das Wesen
eben noch feudalistisch - kapitalistischen Staat mit der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass
einem Satz in den Kommunismus zu springen. Die- die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte
ses Experiment führte in eine ziemliche Katastrophe Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und
und scheiterte. Auch die chinesischen Kommunis- wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster
ten sahen dann später ein, dass die durch die so- freier Selbstbestimmung lenkt”. Die KPD bezeichne-
zialistische Revolution eingeleitete Umwandlung te das Resultat der siegreichen sozialistischen Revo-
der Macht- und Eigentumsverhältnisse erst den lution als “Diktatur des Proletariats und deshalb die
Anfangspunkt der historischen Entwicklung zu wahre Demokratie”. In der DDR gab es unter Walter
einer nichtkapitalistischen, sozialistisch-kommu- Ulbricht, dem damaligen Generalsekretär der „So-
nistischen Ökonomie darstellt, an deren Endpunkt zialistischen Einheitspartei Deutschlands – SED“,
die kommunistische, klassenlose Gesellschaft steht. im Jahre1968 die These von der “relativen Eigen-
Das Ganze erfordert eine so tief greifende soziale ständigkeit” dieser sozialistischen Phase. Damit
und politische Umwälzung, dass der Begriff „Re- wurde auch eine längere historische Dauer dieses
volution“ auch hierfür genau der Richtige ist. Die “Zwischenstadiums” angenommen. Diese Vorstel-
Dauer des Anfangsstadiums, des Sozialismus, ist lung wurde aber bald zugunsten des Konzepts der
historisch nicht genau zu definieren. Marx und En- “entwickelten sozialistischen Gesellschaft” fallen
gels gingen noch von einer nur kurzen Phase aus. gelassen, die über einen längeren Zeitraum die “ma-
Lenin in den ersten Jahren nach der Oktoberevo- teriell-technische Basis des Kommunismus” schaf-
lution auch. Erst mit Ausbleiben der westeuropä- fen würde.
ischen Revolution orientierte er sich auf eine län-
gere sozialistische Phase und auf den “Aufbau des Arbeitsfragen
Sozialismus in einem Land” um. Diese Orientierung
wurde nach Lenins Tod durch Stalin gegen seinen 1. Wodurch unterscheidet sich der wissenschaftli-
politischen Gegenspieler Trotzki durchgesetzt. che vom utopischen Sozialismus? Was waren die
Noch zu Lenins Lebzeit schrieb er das neue Partei- Vorrausetzungen für die Entwicklung des Sozialis-
programm der Bolschewiki ab März 1918 (der VII. mus von der Utopie zur Wissenschaft?
Parteitag brachte auch die Umbenennung in “Kom- 2. Wäre eine Befreiung der Menschen von Ausbeu-
munistische Partei Russlands (B)”) und schrieb den tung und Unterdrückung vor der kapitalistischen
Begriff “Sozialismus” eindeutiger als im vorherigen Gesellschaft möglich gewesen? Warum scheiterten
Programm fest. Die Bolschewiki benutzten nun das alle diese Versuche (Sklavenaufstände, Bauernkrie-
Wort “Sozialismus” zur Typisierung der neuen Ord- ge etc.)?
nung als einer “Übergangsperiode” zur endgültigen 3. Woraus begründen sich die drei Grundbedingun-
kommunistischen Formation. Sie nahmen damit ei- gen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung?
gentlich genau den Gedanken auf, den Marx in sei- Gibt es weitere?
ner „Kritik am Gothaer Programm“ skizziert hatte. 4. Diskutiert Lenins Klassendefinition. Was ist das
Lenin schätzte auf dem VII Parteitag im März 1918 Hauptmerkmal und wie verhält es sich zu den an-
ein, dass man in Russland trotz der erfolgreichen deren Merkmale ?
Oktoberrevolution erst den „Übergang zum Sozi- 5. Diskutiert die besondere Rolle des Kerns der Ar-
alismus“ begonnen habe. “Wie viele Etappen des beiterklasse. Kann das Industrieproletariat aufgrund
Übergangs zum Sozialismus noch vor uns liegen, seiner Stellung alleine die sozialistische Gesellschaft
wissen wir nicht und können wir nicht wissen.” erkämpfen? Welche Bedeutung hat diese Frage für
(Referat über die Revision des Parteiprogramms und unsere Strategie und Taktik?
die Änderung des Namens der Partei, Lenin Werke
Band 26, S.). Rosa Luxemburg benutzte den Begriff
“Sozialismus” in ähnlichem Sinne in ihrer Rede
auf dem Gründungsparteitag der KPD im Dezember

24
SDAJ Grundlagenschule

Imperialismus
Lenin stellte 1916 in seiner Schrift „Der Imperialis- statt. Denn als nur noch eine geringe Zahl von
mus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ fest, marktbeherrschenden Unternehmen jeweils einer
dass sich der Kapitalismus wie Marx und Engels Branche übrig blieben, konnten sie Absprachen dar-
ihn im 19. Jahrhundert untersucht hatten, zu einem über treffen, wer welchen Markt und welche Roh-
neuen Stadium entwickelt hatte. Er knüpfte dabei stoffquellen bekommt, wer wie viel produziert und
an Engels’ Hinweisen an, die er in seinen letzten wie hoch die Preise sein sollen. Diese Möglichkeit
Lebensjahren machte. So beobachtete er die Entste- war vorher bei den vielen existierenden Unterneh-
hung immer größerer Unternehmen als Aktienge- men in einem Markt nicht möglich. Lenin nannte
sellschaften, die sich gemeinsam zusammenschlos- diese neuen Großunternehmen Monopole, das neue
sen und Kartelle bildeten, d.h. sie teilten den Markt Stadium des Kapitalismus Monopolkapitalismus.
unter sich auf, trafen Absprachen über Preise, Löhne Als entscheidendes Merkmal des Monopolkapitalis-
und zu produzierende Produktmengen und schalte- mus benannte er daher das Umschlagen der freien
ten damit die freie Konkurrenz aus. Bürgerliche Ge- Konkurrenz in das Monopol. Das bedeutet jedoch
schichtsschreiber bezeichnen als Imperialismus die nicht, dass keine Konkurrenz mehr existiert, denn
Kolonialzeit von 1880 bis 1914 oder eine besonders schließlich führen die Unternehmen untereinander
aggressive Außenpolitik. Lenin stellte fest, dass der einen Kampf, der so heftig wie nie zuvor ist. Anders
Imperialismus nicht bloß eine bestimmte Politik ist, als im frühen Kapitalismus geht es nämlich nicht
die je nach Interessenslage angewandt wird, son- mehr darum, ob eins von tausenden Unternehmen
dern eine ökonomische und politische Veränderung vom Markt gedrängt wird, sondern um riesige Kapi-
des Kapitalismus, die um die Jahrhundertwende in tale, riesige Märkte, um alles oder nichts. Die Über-
den hoch industrialisierten Ländern wie England, nahmeschlachten zwischen den Großkonzernen
Frankreich, Deutschland und USA abgeschlossen werden mit aller Härte geführt, teilweise begleitet
war. von nationalistischen Medienkampagnen. Wo das
Er stellte folgende grundlegende Merkmale des Im- Ausschalten des Konkurrenten nicht möglich ist,
perialismus fest: besteht jedoch die Möglichkeit der Herstellung des
Monopols durch Absprachen oder alleinige Domi-
Konzentration der Produktion und Bil- nanz eines Unternehmens. Des Weiteren existie-
dung von Monopolen ren immer noch kleine und mittlere Unternehmen
(KMU). Diese sind im Gegensatz zum früheren
Die durch die kapitalistische Konkurrenz beding- Kapitalismus jedoch völlig abhängig von den Mo-
te ständige Kapitalanhäufung und –zentralisation nopolen. Die Abnehmer von Konsumgütern wie
führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Lebensmittel etwa, die Großhandelsunternehmen,
Bildung von Großunternehmen. Aus der Masse der diktieren den KMU die Preise. Beim Verkauf sind
kleinen und mittleren Unternehmen wuchsen stän- sie dann sogar noch in der Lage, die Preise zu erhö-
dig größere und mächtigere Unternehmen hervor. hen. Damit entsprechen diese Preise zeitweise nicht
Einerseits durch Kapitalkonzentration, andererseits mehr wie früher im Durchschnitt dem Warenwert,
durch freiwillige oder unfreiwillige Zusammen- sondern bringen den Monopolen Extraprofite. Diese
schlüsse von Kapitalen (Fusionen und Übernahmen), Möglichkeit sichert ihnen ihre Existenz und verhin-
also Kapitalzentralisation. Zahlreiche revolutionäre dert die Niederlage in der Konkurrenz mit nicht-
technische Entwicklungen ab der zweiten Hälfte monopolistischen Unternehmen. Imperialismus ist
des 19. Jahrhunderts führten zu neuen Industrien daher eine Verbindung von Monopolherrschaft mit
wie Maschinenbau, Elektrotechnik, Autoindustrie, der freien Konkurrenz.
Hütten- und Stahlindustrie. Diese Industriezweige Die Monopole machten schon zu Lenins Zeiten
erhöhten die Mindestgröße des notwendigen Kapi- zahlenmäßig in Deutschland nur 0,9% aller Unter-
tals und der notwendigen Produktionsausmaße. Da nehmen aus, beschäftigten aber 38% der Arbeiter.
kleine Unternehmen nicht in der Lage waren mit- Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit beschäf-
zuhalten, beschleunigte sich die Kapitalkonzentra- tigen 0,2% der Unternehmen in der EU 21,5% der
tion noch einmal. Die Unternehmen wurden jedoch Arbeiter. Seit den 50er Jahren ist die Anzahl der
nicht nur quantitativ größer. Sie besaßen nicht nur Betriebe mit einer Größe von über 1000 Beschäftig-
mehr und bessere Produktionsmittel sowie Geld- ten zurückgegangen. Die Macht der Großkonzerne
kapital, es fand auch eine qualitative Entwicklung ist jedoch weiter gestiegen. Sie haben lediglich die
Produktionseinheiten verkleinert und Outsourcing

25
Imperialismus

Monopole in der Industrie bildeten sich aus einer


Vielzahl von kleinen Banken eine geringe Zahl von
Bankmonopolen. Kleine und mittlere Banken wur-
den schnell verdrängt, da sie die Kreditbedürfnisse
der Monopole nicht befriedigen konnten. Die ver-
bliebenen Bankmonopole waren nun ebenso wie die
Industriemonopole zu gemeinsamen Absprachen in
der Lage, beispielsweise zur Kreditvergabe.

Verschmelzung von Bank- und Industrie-


kapital zum Finanzkapital

Die Beziehungen zwischen Banken und Industrie


veränderten sich im Imperialismus. Bis zur Bildung
der Monopole bestanden sie hauptsächlich aus Kre-
ditvergabe für eine bestimmte Zeit ohne eine enge-
re Bindung. Nach Abzahlung eines Kredites durch
ein Unternehmen riss die Verbindung ab. Für einen
neuen Kredit suchte sich das Unternehmen bei ei-
nem besseren Angebot eine andere Bank. Mit der
betrieben. Formal selbstständige „mittelständische“ Bildung der Bankmonopole und der Aufhebung der
Unternehmen sind fast immer derart abhängig von freien Konkurrenz konnten die Kreditnehmer nicht
Monopolen, dass sie wie oftmals tatsächlich gesche- mehr zwischen verschiedenen Banken wählen, son-
hen eher ausgelagerte Abteilungen großer Konzerne dern waren an eine Bank gebunden. Sie waren nun
sind. gezwungen, ihre gesamten finanziellen Operatio-
nen über diese Bank abzuwickeln. Diese langfristige
Die Banken Bindung an eine Bank hat für die Industrieunter-
nehmen jedoch auch Vorteile, da ihnen so die be-
Im Kapitalismus der freien Konkurrenz war die Rolle nötigten hohen Kredite sicher sind. Für die Banken
der Banken darauf beschränkt, dem Industrie- und bedeutet dies, dass sie nicht mehr nur wie früher
Handelskapital Kredite zu gewähren, deren Geld- die Kreditwürdigkeit für eine bestimmte Kreditdau-
kapital auch umgekehrt als Kredit entgegenzuneh- er kennen, sondern langfristig die Verwendung des
men („Einlagen“) und Zahlungen zu vermitteln. Die Kredites durch die Unternehmen kontrollieren müs-
Differenz zwischen den Einnahmen aus Zinsen der sen. Die Tätigkeit der Banken bleibt jedoch nicht nur
Kreditnehmer und Ausgaben aus Zinsen der Kredit- die Kreditvergabe. Sie kaufen Aktien von Industri-
geber waren ihr Gewinn. Sie waren nicht direkt an eunternehmen, gründen neue Aktiengesellschaften,
Industriekapital beteiligt und spielten eine relativ investieren in profitable Unternehmen, strukturie-
geringe Rolle. Mit zunehmender Konzentration des ren unrentable Unternehmen um. Dadurch werden
Kapitals wurden die gewährten Kredite ebenso wie sie selber zu direkten Eigentümern der Produktions-
die Einlagen größer. Mit jedem Investitionszyklus, mittel. Umgekehrt drängt das Industriekapital ins
in dem sich ein Kapital reproduzierte, wurde das Bankkapital. Industriemonopole kaufen Aktien von
benötigte fixe Kapital, also das Kapital welches in Banken und eröffnen sogar eigene Banken. Damit
Produktionsanlagen investiert wird, größer. War es haben sie teil am Bankprofit und erhalten Kredite
im vormonopolistischen Kapitalismus für ein Unte- zu Vorzugskonditionen. Das Bank- und Industrie-
nehmen noch möglich, die Mittel zum neuen Repro- kapital verflechtet sich und verschmilzt miteinan-
duktionszyklus aus eigenem Kapital bereitzustellen, der. Das gegenseitige Kaufen von Aktien spiegelt
wurde es bei den gigantischen Unternehmen im Im- sich auf der Personalebene wider: Banken schicken
perialismus unmöglich. Der Anteil des geliehenen ihre Vertreter in die Aufsichtsräte und Vorstände
Kapitals am Gesamtkapital eines Unternehmens der Industrie, die wiederum ihre Vertreter in die
und damit die Bedeutung der Banken für die Ka- Leitungen der Banken schickt. Dieses neue Kapital
pitalanhäufung wuchs. Die entstandenen Indus- nannte Lenin Finanzkapital. Die frühere Trennung
triemonopole brachten immer größere Profite her- von Bankiers und Industriekapitalisten ist aufgeho-
vor, von denen ein großer Teil zunächst ungenutzt ben. Die Tendenz des Kapitalismus, dass sich die
bei den Banken brachlag. Parallel zur Bildung der Kapitalfunktion, d.h. das managen eines Betriebes

26
Imperialismus

vom Kapitaleigentum trennt, nimmt im Imperialis- das Verhältnis zwischen den Monopolbourgeoisien
mus immer stärkere Formen an. Das Management der entwickelten Länder selber beim Kampf um die
eines Industrieunternehmens wird nicht mehr von besten Anlagemöglichkeiten.
den Kapitalisten selbst, sondern von bezahlten An-
gestellten ausgeführt. Bei den Banken selbst trennt Die Aufteilung der Welt unter den Mono-
sich ebenfalls Verwaltung der Aktien und Wertpa- polen
piere bzw. der Handel mit ihnen, das von den frühe-
ren Bankiers erledigt wurde, vom Einstreichen der Das Auftreten gigantischer Unternehmen auf dem
Gewinne. Weltmarkt führte zu einem internationalen Konkur-
renzkampf. Was auf nationaler Ebene möglich wur-
Kapitalexport de, die Aufteilung des Marktes mit Hilfe von Ab-
sprachen, entstand auch auf internationaler Ebene.
Das angehäufte Kapital wuchs derart an, dass es Unternehmen der jeweiligen Branche schlossen ein-
zu einem gewissen Teil nicht mehr profitabel in zelne Vereinbarungen ab oder bildeten Kartelle, die
den Heimatländern der Monopole angelegt werden den Weltabsatzmarkt und die Rohstoffquellen un-
konnte. Zeitgleich zur Entstehung dieses Kapitalü- tereinander aufteilten. Diese Absprachen sind im-
berschusses entstand die Möglichkeit zum Kapita- mer nur von begrenzter Dauer, da sich die einzelnen
lexport in andere Länder, d.h. das Investieren von Unternehmen unterschiedlich schnell entwickeln,
Kapital ins Ausland. Dies waren zunächst die be- neue Produktionszweige und damit neue Märkte
reits früher eroberten Kolonien. Dort wurden Eisen- entstehen und Rohstoffquellen versiegen können.
bahnen und andere Verkehrswege und Infrastruktur Dies macht eine Neuaufteilung auf Grundlage der
fertig gestellt oder gebaut, die einen internationa- jeweiligen Stärke der Monopole nötig.
len Waren- und Kapitalstrom neuen Ausmaßes er-
möglichten. Die bereits früher kolonisierten Länder Die Aufteilung der Welt unter den Groß-
wurden damals in den Warenaustausch mit den ka-
pitalistischen Ländern einbezogen. Der Imperialis- mächten
mus änderte diese Rolle dahin, dass sie nun auch
in die Produktion einbezogen wurden. Das in den Die Eroberung von Kolonien ist im Imperialismus
kapitalistischen Metropolen überschüssige Kapital eine Notwendigkeit für das Monopolkapital. Die
floss in die Kolonien und versklavte die abhängigen Formen der Kolonialisierung unterscheiden sich
Völker ökonomisch. Zum einen durch den extrem dabei. Eine Kolonialmacht kann sich durch direk-
niedrigen Lohn, der den Monopolen Extraprofite si- te politische und militärische Herrschaft ein Land
cherte, zum anderen wurden die abhängigen Länder unterordnen, durch ökonomische Abhängigkeit mit
als Lieferanten für meist nur wenige Rohstoffe be- Hilfe von immer neuen Krediten, die nie abbezahlt
nutzt, so dass sich keine selbstständig entwickelnde werden können, durch formal gleichberechtigte Ab-
Wirtschaft bilden konnte. Diese Tendenz ist nicht kommen wie Freihandelszonen, die in der Praxis
neu, hat sich aber seit den 70er Jahren des 20. Jahr- jedoch nur dem übermächtigen „Partner“ nützen,
hunderts enorm gesteigert. durch die Installation von Marionettenregierungen,
Die Ausbeutung der Lohnarbeiter der Kolonien ist durch Spaltung der Bevölkerung eines Landes in
entweder direkte Ausbeutung durch ausländische Religionsgruppen oder Stämme, durch die Teilung
Monopole, oder Gewährung von Krediten an ein- eines Landes in mehrere kleine Staatengebilde oder
heimische Kapitalisten, also indirekte Ausbeutung. durch diplomatischen Druck. Oft mischen sich diese
Dies erfordert meist auch eine indirekte politische Formen. Die Intensität der kolonialen Beherrschung
Herrschaft durch reaktionäre Regierungen und Mo- ist unterschiedlich. Im internationalen Kampf der
narchien. In jedem Fall erfordert der Kapitalexport Monopole um Absatzmärkte ist die Aussicht auf Er-
einen Kampf der Monopole gegen Unabhängigkeits- folg mit eigenen Kolonien besser, da diese notfalls
bewegungen der abhängigen Länder. der Konkurrenz verschlossen werden können und
Überschüssiges Kapital wird jedoch auch in ent- zu alleinigen Märkten werden. Ebenfalls nur durch
wickelte kapitalistische Länder exportiert und dort Kolonien kann die Zufuhr von Rohstoffen erfolgen,
angelegt. Damit entstehen international zwei be- da diese zu einem großen Teil aus den abhängigen
sonders wichtige Arten von Beziehungen zwischen Ländern kommen. Und schließlich ist die Erobe-
den Ländern: Das Verhältnis zwischen der Mono- rung fremder Länder auch unter militärischen Ge-
polbourgeoisie und den ausgebeuteten Völkern der sichtspunkten für das Kapital interessant, denn jede
unterentwickelten Länder auf der einen Seite und Kolonie bietet die Möglichkeit von militärischen

27
Imperialismus

Stützpunkten und Aufmarschgebieten. Zusammensetzung des Kapitals werden wegen der


Zu Beginn des imperialistischen Stadiums des Ka- niedrigeren Profitrate vom Staat übernommen. So
pitalismus waren die für das Kapital interessanten wurden die zunächst privaten preußischen Eisen-
Kolonien unter den Imperialisten aufgeteilt. Das bahnen nach und nach vom Staat aufgekauft, weil
Streben nach Kolonialbesitz erforderte daher die sie in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren.
Neuaufteilung der Kolonien und Einflussgebiete. 1920 wurden die Länderbahnen dann zur Reichs-
Insbesondere Länder, die bei der Verteilung beson- eisenbahn, der späteren Reichsbahn, vereinigt. Die
ders schlecht abgeschnitten haben, also ihrer Stärke für moderne Hochtechnologie erforderlichen Mittel
entsprechend zu wenig vom kolonialen Kuchen ab- für Forschung und Entwicklung übersteigt die Mög-
bekommen haben sowie Länder, deren Rohstoffquel- lichkeiten einzelner Monopole, so dass der Staat als
len in Gefahr sind, drängen auf eine Neuaufteilung. Instrument des Monopolkapitals einspringen muss.
Die Grundlage, nach der die Imperialisten die Welt Die auf Grund der ungleichmäßigen Entwicklung
unter sich aufteilen ist die jeweilige wirtschaftliche, sich verschärfenden Struktur- und Regionalkrisen
militärische, politische und finanzielle Stärke. machen regulierende Eingriffe des Staates nötig.
Die Stärke der einzelnen imperialistischen Staaten Heute befasst sich die Mehrzahl der Ministerien mit
ändert sich allerdings ungleichmäßig, denn eine der Regulierung ökonomischer Probleme: Vom Ein-
gleichmäßige Entwicklung der einzelnen Unterneh- satz des Staatseigentums, über Steuer-, Wachstums-
men, Monopole, Industriezweige und Länder kann und Währungspolitik bis zur Wissenschafts- und
es im Kapitalismus nicht geben. Bildungspolitik. Der Staat wird zu einem wesent-
Die durch Spontaneität und Anarchie geprägte kapi- lichen Moment der ökonomischen Reproduktion.
talistische Produktionsweise bringt gesetzmäßig eine Monopolistischer Kapitalismus in diesem Stadium
ungleiche ökonomische Entwicklung hervor. „Unter wird staatsmonopolistischer Kapitalismus genannt.
dem Druck des Konkurrenzkampfes entwickeln sich
bereits die einzelnen Betriebe innerhalb eines Zwei- Der Platz des Imperialismus in der Ge-
ges ungleichmäßig, einzelne machen einen Sprung schichte
nach vorn, was andere wiederum zu verstärkter
Akkumulation veranlasst. Diese Ungleichmäßigkeit Der Kapitalismus befand sich bis zum letzten Drittel
setzt sich innerhalb einer Volkswirtschaft und zwi- des 19. Jahrhunderts in einem aufsteigenden, pro-
schen den Volkswirtschaften kapitalistischer Länder gressiven Stadium. Die kapitalistische Produktions-
fort. Ursachen dieser Entwicklung sind insbesonde- weise überwand seit dem 15. Jahrhundert Schritt
re die unterschiedliche Akkumulationskraft infolge für Schritt die Feudalwirtschaft, die für die Produk-
unterschiedlicher Ausbeutungsraten in den einzel- tivkräfte zu einem Hemmnis geworden war. Zu-
nen Ländern und die Möglichkeiten, die in dem nächst in den Manufakturen, später in der Industrie
immer rascheren Entwicklungstempo der Technik konnten sich die Produktivkräfte voll entfalten und
liegen.“ (Ökonomisches Lexikon, Berlin 1969). dafür sorgen, dass die neu entstandenen Märkte be-
Daher brechen solche Kämpfe immer wieder auf. friedigt wurden. „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum
Entweder „friedlich“, d.h. durch Wirtschaftskriege hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere
und Diplomatie oder militärisch durch Stellvertre- und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als
terkriege in den Kolonien oder durch direkte Kriege alle vergangenen Generationen zusammen. Unter-
zwischen den imperialistischen Ländern. Der erste jochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung
und der zweite Weltkrieg waren die verheerendsten der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampf-
zwischenimperialistischen Neuaufteilungskämpfe. schifffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen,
Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung
Der Staat der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte
Bevölkerungen - welches frühere Jahrhundert ahn-
Der Staat im Imperialismus sorgt nicht mehr für die te, dass solche Produktionskräfte im Schoß der ge-
besten Verwertungsbedingungen für die gesamte Ka- sellschaftlichen Arbeit schlummerten.“ (K. Marx, F.
pitalistenklasse schlechthin, sondern vor allem für Engels, Manifest der Kommunistischen Partei). Bis
das Monopolkapital. Zu Zeiten des frühen Kapitalis- zum Eintritt in das imperialistische Stadium hatte
mus übte der Staat nur eingeschränkt ökonomische der Kapitalismus nur eine Tendenz: schnellstmög-
Funktionen aus. Im Imperialismus mischt er sich liche technische Entwicklung. Zwar hatte zu dieser
direkt in die Produktion und Verteilung ein und be- Zeit jeder einzelne Kapitalist das Interesse, seine Er-
teiligt sich in phasenweise unterschiedlichem Maße findung oder technische Neuerung geheim zu hal-
daran. Bereiche mit besonders hoher organischer ten, damit er eine gewisse Zeit Extraprofit machen

28
Imperialismus

konnte. Dies war jedoch nur für eine gewisse Zeit zuvor, bei einer Befreiung der Wissenschaft von der
möglich, bis sich die Konkurrenten seine Neuerun- Monopoldiktatur wäre allerdings längst ein höhe-
gen aufgrund des Erfolgs kopierten. Im Imperialis- res technisches- und Lebensniveau, die Beseitigung
mus kommt eine zweite, der ersten entgegengesetzte von Umweltzerstörung und Krankheiten möglich.
Tendenz hinzu. Die Tendenz zu Stagnation in der Der Kapitalismus ist also nicht mehr ein Antrieb für
Technikentwicklung. Dies erscheint zunächst frag- die Entwicklung der Produktivkräfte, sondern zu ei-
würdig, hat doch das 21. Jahrhundert die wissen- nem Hemmnis für sie geworden.
schaftlich-technische Revolution, die Erfindung der Der heutige Stand der Produktivkräfte verlangt
Mikroelektronik, Computer, künstliche Intelligenz nach Abschaffung dieses Hemmnisses. Diese Not-
usw. hervorgebracht. Der Imperialismus hebt die wendigkeit wird ergänzt durch die Möglichkeit des
Konkurrenz nicht auf Dauer auf. Auch Monopole ste- Sozialismus und seine Vorbereitung innerhalb des
hen vor allem international in Konkurrenz zueinan- Kapitalismus bis aufs Äußerste. Die Arbeiterklasse
der, wenn sie sich nicht einig werden. Dennoch, da ist zur übergroßen Mehrheit der Gesellschaft gewor-
wo die freie Konkurrenz aufgehoben wird, sinkt die den, während die herrschende Klasse im Gegensatz
Notwendigkeit für technische Neuerung. Die Sche- zum früheren Kapitalismus oder zu anderen frühe-
re zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und ren Klassengesellschaften keinerlei Funktion mehr
ihrer Anwendung klafft immer weiter auseinander. hat. Sie hat längst nicht mehr Organisation und Lei-
Lenins Charakterisierung des tung der Produktion inne, son-
Imperialismus als „faulender dern führt ein rein parasitäres
Kapitalismus“ bedeutet, dass Dasein: der heutige Kapitalis-
die Monopole die technische mus selbst hat sie überflüssig
Entwicklung hemmen. Au- gemacht. Die Produktion des
tos könnten schon längst mit gesellschaftlichen Reichtums
ökonomischerer Antriebstech- vollzieht sich längst nicht mehr
nik fahren, die Verflechtung in tausenden voneinander iso-
von Öl- und Autoindustrie lierten Betrieben sondern in
verhindert dies. Längst sind riesigen, planwirtschaftlich
die technischen Möglichkei- geführten Produktionseinhei-
ten für einen schrankenlosen ten. Das letzte Hindernis zu ei-
elektronischen Informations- ner gesellschaftlich geplanten
austausch geschaffen, doch Wirtschaftsweise, bei der nicht
Monopole lassen sich massen- Einzelne über das Schicksal
haft Software (also letztlich von Millionen Menschen ent-
mathematische Formeln und scheiden, in der statt Fremdbe-
Algorithmen) patentieren, um stimmung Selbstbestimmung
ihr Monopol aufrecht zu er- der Produzenten herrscht, ist
halten. Wissen über wichtige das private Eigentum. Sämtli-
Medikamente lagert in den che Bedingungen für die Ablö-
Schubladen der Pharmakon- sung des Kapitalismus durch
zerne, weil es 20 andere profitable Medikamente den Sozialismus sind heutzutage gegeben. Der Im-
ersetzen würde. Obwohl jedes Großunternehmen perialismus ist also das letzte Stadium des Kapita-
planwirtschaftlich geführt wird, gibt der Imperia- lismus, der „Vorabend der sozialen Revolution des
lismus eine gesamtgesellschaftliche Planung nicht Proletariats.“ (Lenin).
her. Dort wo Neuerungen stattfinden, werden sie oft
in mehreren Unternehmen unabhängig voneinan- Arbeitsfragen
der parallel entwickelt, obwohl im Gegensatz zum
früheren Kapitalismus eine Planung im gesamtge- 1. Welche Bedeutung hat der Imperialismus für
sellschaftlichen Maßstab möglich wäre. Diese Liste Deutschland? Was bedeutet die Monopolbildung
ließe sich beliebig lang fortsetzen. Der Unterschied z.B. für Arbeitslosigkeit oder Bildung?
zum früheren Kapitalismus ist also die Tendenz zur 2. Wie ist das Verhältnis zwischen den imperialisti-
Verhinderung technischen Fortschritts nicht nur schen Staaten untereinander und zu den Monopo-
für Konkurrenten, sondern sogar im eigenen Unter- len? Was bedeutet das für die Strategie der SDAJ?
nehmen. Zwar sind während des imperialistischen 3. Wie kann der Kampf gegen die Monopole am ef-
Stadiums die Produktivkräfte gewachsen wie nie fektivsten geführt werden?

29
SDAJ Grundlagenschule

Strategie und Taktik


Von Lenin stammt der Satz „Die revolutionäre The- der Beschränktheit dieses spontanen Bewusstseins
orie ist kein Dogma. Sie nimmt nur in engem Zu- ergibt sich die Notwendigkeit einer organisierten,
sammenhang mit der Praxis einer wirklichen Mas- bewusstseinsbildenden Kraft in der Arbeiterklas-
senbewegung und einer wirklich revolutionären se. Marx und Engels analysierten, dass die soziale
Bewegung endgültige Gestalt an.“ Dies gilt natürlich Befreiung der Arbeiterklasse nur auf politisch-revo-
in verstärktem Maße für Fragen der Strategie und lutionärem Weg möglich ist. Daraus leitet sich die
Taktik. Weder Marx, Engels noch Lenin waren aus- Notwendigkeit einer politischen Organisation, einer
schließlich Theoretiker des Sozialismus. Ihre The- Arbeiterpartei auf dem Boden des wissenschaft-
orie beeinflusste und festigte einerseits die Arbei- lichen Sozialismus ab. Über sie heißt es im Kom-
terbewegung ungemein, andererseits entwickelten munistischen Manifest, sie unterscheide sich von
die „Klassiker“ viele theoretische Grundsätze auch anderen proletarischen Vereinigungen einerseits
erst in und durch die konkreten Erfahrungen der dadurch, dass sie „in den verschiedenen nationalen
Klassenkämpfe an denen sie teilnahmen. Marx und Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der
Engels, insbesondere aber Lenin prägten grundle- Nationalität unabhängigen Interessen des gesam-
gende strategische und taktische Leitlinien, die all- ten Proletariats“ hervorhebe, andererseits dadurch,
gemeingültigen Charakter für die Arbeiterbewegung dass sie „in den verschiedenen Entwicklungsstufen,
und die kommunistischen Parteien tragen. Dies be- welche der Kampf zwischen Proletariat und Bour-
trifft die Frage der Rolle der KP, die Frage der Kampf- geoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamt-
formen, der Stellung zum gewerkschaftlichen und bewegung“ vertrete. „Die Kommunisten sind also
parlamentarischen Kampf und die Dialektik von Re- praktisch der entschiedenste, immer weitertreiben-
form und Revolution. Das Wissen um diese Prinzi- de Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben
pien bedeutet für uns auch, die Strategie und Taktik theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats
heute – ausgehend von der Analyse unserer Kampf- die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die
bedingungen – konkret auszuarbeiten. allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung
voraus“. Die Notwendigkeit einer revolutionären
Rolle und Aufgaben der kommunistischen Arbeiterpartei war für Marx und Engels allgemein-
Partei und des revolutionären Jugendver- gültig: „In unserer Taktik steht eins fest für alle mo-
dernen Länder und Zeiten: die Arbeiter zur Bildung
bands einer eigenen, unabhängigen und allen bürgerlichen
Parteien entgegengesetzten Partei zu bringen.“
Vor der Revolution – und nur darum soll es hier ge- Die kommunistische Partei muss die Avantgarde
hen – ist die Hauptaufgabe der Kommunistischen (Vorhut) der Arbeiterklasse sein. Klar ist, dass sie
Partei die Entwicklung von Klassenbewusstsein. Sie diese Rolle nicht durch Wunsch, Definition oder
ist die Organisation, die den politischen Kampf als Gesetz innehat, sondern sich dies nur im Kampf he-
Klassenkampf begreift und führt. Im Klassenkampf rausbilden kann. Zumindest der Anspruch, Avant-
wächst das Klassenbewusstsein. Die entscheidende garde zu sein, sollte die Partei aber stets auszeich-
Bedeutung des Klassenbewusstseins und der Klas- nen. Sie kann nur die kämpferische Avantgarde der
senorganisation ergab sich für Marx und Engels Arbeiterklasse sein, wenn sie auch deren theoreti-
aus der Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen Be- sche Avantgarde ist. Dabei bedeutet Avantgarde kei-
wusstseinsinhalte, die sich unter den Arbeitern auf neswegs, alles besser zu wissen, sondern das bes-
der Basis ihrer sozialen Lage spontan herausbilden, sere und weiterschauende Führen der Tageskämpfe
einem (wenn überhaupt) rein gewerkschaftlichen und in ihnen immer den Gesamtzusammenhang im
Bewusstsein entsprechen. Dabei handelt es sich Blick zu haben. Die Partei muss die Massen schulen
zwar um eine elementare Erfassung des Gegensat- und in eine selbständige politische Kraft verwan-
zes zwischen Arbeitern und Kapitalisten, um die deln. Allerdings ist es keineswegs ausreichend, Vor-
Überzeugung, dass man sich in Verbänden zusam- hut zu sein. Entscheidend für den Erfolg ist die Ver-
menschließen muss, um gemeinsam für die unmit- bundenheit der Partei mit der Masse der Arbeiter.
telbaren ökonomischen Interessen zu kämpfen. Das Besondere Bedeutung in der Parteitheorie Lenins
Bewusstsein umfasst aber weder die gesamtgesell- hat die Hervorhebung des unnachgiebigen Kamp-
schaftliche Dimension des Klassengegensatzes zwi- fes gegen alle Formen des Opportunismus in The-
schen Proletariat und Bourgeoisie, noch die ökono- orie und Praxis. Dies ist für die Partei unerlässlich,
mischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus. Aus weil sie sich nur so gegen die aus der gesamten

30
Strategie und Taktik

Gesellschaft auf die Arbeiterklasse einwirkenden Auseinandersetzungen im Kapitalismus, haben zu-


(klein)bürgerlichen Einflüsse schützen, ihre revolu- gleich aber auch spezifische Probleme und Interes-
tionäre Identität über Flut und Ebbe der Bewegung sen (geringe politische Rechte, Ausbildungsmangel,
wahren, ihre Aktionsfähigkeit entwickeln und ihrer Bildungs- und Freizeitabbau…). Lenin stellte fest,
Rolle als Avantgarde gerecht werden kann. dass sich die Jugend deshalb „zwangsläufig auf an-
Die Organisationsprinzipien der KP, die bereits Marx deren Wegen dem Sozialismus nähert, nicht auf dem
und Engels ausarbeiteten, umfassen zwei Grundele- Wege, nicht in der Form, nicht in der Situation“ wie
mente: die demokratische Diskussion und Erarbei- ihre Eltern. Ohne die „vollständige Selbständigkeit
tung der Politik und die koordinierte, einheitliche wird die Jugend nicht imstande sein, sich zu guten
Aktion, die für eine Partei mit großen historischen Sozialisten zu entwickeln.“ Für Lenin besteht die
Zielen und mächtigen, ihrerseits gut organisier- Hauptaufgabe der Jugendverbände darin zu lernen,
ten Gegnern unerlässlich ist. „Einheit der Aktion, den Sozialismus zu studieren. Dabei geht es natür-
Freiheit der Diskussion und Kritik – so lautet un- lich nicht nur um Bücherwissen. „Ihr sollt aus euch
sere Definition. … Die Kommunisten erziehen. Die Aufga-
Kraft der Arbeiterklas- be des Jugendverbandes ist es, seine
se ist die Organisation. praktische Tätigkeit so zu gestalten,
Ohne Organisation der dass diese Jugend, indem sie lernt,
Massen ist das Prole- sich organisiert, sich zusammen-
tariat nichts. Organi- schließt und kämpft.“ Die Jugendver-
siert ist es alles. Orga- bände dürfen sich beim Lernen also
nisiertheit ist Einheit nicht im Studierzimmer einschließen,
der Aktion, ist Einheit sondern müssen sich aktiv und eigen-
des praktischen Han- ständig an den Tageskämpfen der ar-
delns.“ Um dies zu er- beitenden und lernenden Jugend be-
reichen, ist Zentralisa- teiligen, sie formen und im Studieren
tion und Disziplin in und Kämpfen ihren eigenen Weg im
der Partei notwendig. Klassenkampf gehen.
Ebenso unerlässlich
ist die Unterordnung Strategie und Taktik allgemein
der Minderheit unter
die Mehrheit. Auch Unser Kampf hat ein klar definier-
diese Grundprinzipien tes Ziel: die klassenlose Gesellschaft
müssen der konkreten ohne Ausbeutung und Not. Als Stra-
Kampfsituation ange- tegie kann man das Kampfkonzept zur
passt werden, müssen Erreichung dieses Ziels auf Grundla-
z.B. in der Illegalität ge der gegebenen Etappe der gesell-
anders gehandhabt schaftlichen Entwicklung bezeichnen.
werden als heute. Demgegenüber ist die Taktik ein Teil
Große Bedeutung maß Lenin auch der ständigen der Strategie und ihr untergeordnet. Die Strategie
Kritik und Selbstüberprüfung der Parteiarbeit bei. ergibt sich aus der Analyse der Klassenkonstellati-
„Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Feh- on und bedeutet die Festlegung der Hauptkraft der
lern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriteri- Revolution (für uns die Arbeiterklasse) und ihrer
en für den Ernst einer Partei und für die tatsächliche potentiellen Reserven (z.B. Bauern, Kleingewerbe-
Erfüllung ihrer Aufgaben gegenüber der Klasse und treibende…). Die Strategie bleibt in einer gegebenen
den werktätigen Massen.“ Etappe (in unserem Fall bis nach der sozialistischen
Revolution) weitgehend unverändert. Die Taktik ist
Revolutionäre Jugendverbände wie die SDAJ sind die Festlegung der Linie für verhältnismäßig kurze
keine kleinen kommunistischen Parteien für junge Zeiträume der „Flut oder Ebbe“ der revolutionären
Leute und können die KP keinesfalls ersetzen. Karl Bewegung. Taktische Mittel sind z.B. die Ersetzung
Liebknecht und Lenin traten vehement für die or- von Kampf- und Organisationsformen, sowie von
ganisatorische Selbständigkeit des sozialistischen/ Losungen durch variierte oder neue. Die Strategie
kommunistischen Jugendverbands gegenüber der hat also das Ziel des Sturzes des Imperialismus, die
marxistischen Arbeiterpartei ein. Jugendliche ste- Taktik unterschiedliche Ziele, z.B. die erfolgreiche
hen einerseits mitten in den gesellschaftlichen Durchführung einer Kampagne.

31
Strategie und Taktik

Die Strategie und Taktik des revolutionären Kamp- wäre Unsinn. Man muss selbst einen Kopf auf den
fes kann jeweils nur auf der Grundlage einer allsei- Schultern haben, um sich in jedem einzelnen Fall
tigen Analyse der ökonomischen und politischen zurechtzufinden.“
Situation und Tendenzen erarbeitet werden. „Nur
die objektive Berücksichtigung der Gesamtheit der Heran an die Massen!
Wechselbeziehungen aller Klassen … und der objek-
tiven Entwicklungsstufe dieser Gesellschaft … kann Bei der Aufstellung der Tageslosungen geht es nicht
als Grundlage für eine richtige Taktik … dienen. um „Reinheit der revolutionären Lehre“, sondern um
Dabei werden alle Klassen und alle Länder nicht in Losungen, die geeignet sind, die Massen (oder die
ihrer Statik, sondern in ihrer Dynamik betrachtet“. Azubis in deinem Betrieb/die Schüler deiner Klasse)
Die Taktik muss selbstverständlich in einer Phase in Bewegung für ihre Interessen zu bringen, damit
der politischen Stagnation, der relativ friedlichen sie eigene Erfahrung sammeln können. Erst dadurch
Entwicklung oder eines rasanten Aufschwungs der kann sich Klassenbewusstsein entwickeln. Zwar ist
revolutionären Bewegung jeweils unterschiedlich die Gewinnung der Avantgarde der Arbeiterklasse
sein (àKampfformen). für die kommunistische Partei Voraussetzung für
einen revolutionär-sozialistischen Kurs, aber Lenin
Kompromisslos zum Sozialismus? betont: „Mit der Avantgarde allein kann man nicht
siegen. Damit aber wirklich die ganze Klasse, damit
Der Weg zum Ziel verläuft nicht linear, die Bewe- wirklich die breiten Massen der Werktätigen“ die
gung durchläuft immer verschiedene Phasen, die Avantgarde unterstützen, „dazu ist Propaganda al-
Flexibilität und immer wieder auch Kompromisse lein, Agitation allein zu wenig. Dazu bedarf es einer
erforderlich machen. Auch die Geschichte der Bol- eigenen politischen Erfahrung dieser Massen. Das
schewiki war vor und nach der Oktoberrevolution ist das grundlegende Gesetz aller großen Revoluti-
voll von Kompromissen, darunter auch mit bürger- onen (…).“
lichen Parteien. Es ist klar, dass die Kommunisti-
sche Partei – ideologische Festigkeit vorausgesetzt Kampfformen – Welche sind wann sinn-
– taktisch sehr flexibel agieren muss. Lenin wand- voll?
te sich vehement gegen „linke“ Dogmatiker, die
jeden Kompromiss ablehnen. „Krieg führen zum Die Gewinnung der Massen ist das zentrale Ziel.
Sturz der internationalen Bourgeoisie, … der hun- Daraus folgt auch, dass die Kampfformen grundsätz-
dertmal schwieriger ist als der hartnäckigste der lich so gewählt werden müssen, dass die Massen die
gewöhnlichen Kriege…, und dabei im voraus auf Bereitschaft entwickeln, die Vorhut zu unterstützen,
das Lavieren, auf die Ausnutzung von (wenn auch was nur durch eigene Erfahrung im Klassenkampf
zeitweiligen) Interessensgegensätzen zwischen den zu erreichen ist.
Feinden, auf Übereinkommen und Kompromisse Die Avantgarde und die Arbeiterklasse müssen ler-
mit möglichen (wenn auch zeitweiligen, unbestän- nen, alle Formen und Methoden des Kampfes zu
digen, schwankenden…) Verbündeten verzichten beherrschen. Dabei muss der Klassenkampf nach
– ist das nicht über alle Maßen lächerlich?“ Aller- drei Seiten – der theoretischen, der politischen und
dings ist es bei allen Zwischenstationen und Kom- der ökonomischen – geführt werden. Als Faustregel
promissen unabdingbar, das Ziel klar im Auge zu kann gelten, dass die legalen Kampfformen voll aus-
behalten und zu verfolgen. Eine einfache Antwort genutzt werden sollten, gleichzeitig aber auch die
auf die Frage welche Kompromisse zulässig sind, Vorbereitung auf die Anwendung illegaler Kampf-
kann es nicht geben. Lenin verweist auf Streiks, formen stattfinden sollte. Grundsätzlich gilt, dass
bei denen die Forderungen der Arbeiter nicht voll die revolutionäre Klasse „gerüstet sein muss, aufs
durchgesetzt werden konnten. Jeder könne den Un- schnellste und unerwartetste die eine Form durch
terschied erkennen „zwischen einem Kompromiss, die andere zu ersetzen… Unerfahrene Revolutio-
der durch die objektiven Verhältnisse erzwungen ist näre meinen oft, legale Kampfmittel seien opportu-
… und einem Kompromiss von Verrätern, die ihren nistisch, weil die Bourgeoisie auf diesem Gebiet die
Eigennutz…, ihre Empfänglichkeit für Einschüchte- Arbeiter besonders häufig… betrogen und übertöl-
rungen,… für Überredungskünste, für Almosen, für pelt hat, illegale Kampfmittel dagegen seien revolu-
Schmeicheleien der Kapitalisten, hinter objektiven tionär. Das ist jedoch nicht richtig. Richtig ist, dass
Ursachen verbergen.“ Klar ist, dass diese Analyse Opportunisten und Verräter an der Arbeiterklasse
nicht immer einfach ist. „(…) eine allgemeine Regel diejenigen Parteien und Führer sind, die (grundsätz-
… (»keinerlei Kompromisse«) fabrizieren zu wollen lich) nicht fähig oder nicht gewillt sind…, illegale

32
Strategie und Taktik

Kampfmittel anzuwenden. Aber Revolutionäre, die kamen nach der Novemberrevolution ultralinke Po-
es nicht verstehen, die illegalen Kampfformen mit sitionen auf, die den Austritt aus den Gewerkschaf-
allen legalen zu verknüpfen, sind sehr schlechte Re- ten forderten und die Schaffung einer syndikalisti-
volutionäre.“ schen „Arbeiter-Union“ propagierten. Luxemburg,
Auch die Frage der Kampfformen kann nur konkret Liebknecht u.a. sowie Lenin teilten die Analyse,
historisch beantwortet werden. Während für vie- dass die Gewerkschaften in Deutschland von einer
le Kommunisten (z.B. in Kolumbien) der bewaff- Arbeiteraristokratie geführt werden, die „beruflich
nete Kampf unabdingbar ist, wäre es für uns zur beschränkt, borniert, selbstsüchtig, verknöchert,
Zeit natürlich selbstmörderisch, zum bewaffneten eigennützig, spießbürgerlich, imperialistisch ge-
Kampf aufzurufen. In solchen Phasen stellt sich sinnt und vom Imperialismus bestochen“ ist. Der
die Aufgabe, alle Wege der legalen Entwicklung zur Kampf gegen die sozialpartnerschaftlich und z.T.
Formierung und Schulung der Arbeiterklasse aus- offen verräterisch agierende Führung müsse des-
zunutzen. In Phasen der Flut der revolutionären halb mit aller Schärfe aufgenommen werden. „Doch
Bewegung und in extrem zugespitzten gesellschaft- den Kampf gegen die »Arbeiteraristokratie« führen
lichen Situationen gewinnt die illegale Arbeit und wir im Namen der Arbeitermassen und um sie für
die Vorbereitung auch auf gewaltsame Angriffe des uns zu gewinnen; den Kampf gegen die opportunis-
Klassengegners zunehmend an Bedeutung. tischen und sozialchauvinistischen Führer führen
wir, um die Arbeiterklasse für uns zu gewinnen…
Arbeit auch in reaktionären Gewerkschaf- Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten
ten? heißt, die ungenügend entwickelten oder rückstän-
digen Arbeitermassen dem Einfluss der reaktionä-
Gewerkschaften sind die elementaren Klassenorga- ren Führer überlassen.“ Um Klassenbewusstsein zu
nisationen der Arbeiter. Die Notwendigkeit des ge- schaffen und die Arbeiter für den Sozialismus zu
werkschaftlichen Kampfes begründeten Marx, En- gewinnen, muss man – so Lenin weiter – „unbedingt
gels und Lenin einmal rein ökonomisch, damit die dort arbeiten, wo die Massen sind. Man muss jedes
Arbeiter der kapitalistischen Tendenz entgegenwir- Opfer bringen und die größten Hindernisse über-
ken können, den Marktpreis der Ware Arbeitskraft winden können, um systematisch… in allen…Ver-
– den Lohn – auf ein Minimum zu drücken, aber einen und Verbänden Propaganda und Agitation zu
auch als Voraussetzung für die höheren, politischen treiben, in denen es proletarische Massen gibt. Die
Kampfformen. Gleichzeitig sind die Grenzen des Gewerkschaften sind aber gerade Organisationen,
rein gewerkschaftlichen Kampfes offensichtlich. die Massen erfassen.“ Dies gilt heute noch immer,
Die Konjunkturen des Marktes für die Ware Arbeits- trotz Mitgliederschwund der DGB-Gewerkschaften.
kraft liegen außerhalb der Einwirkungsmöglichkei- „Denn die ganze Aufgabe der Kommunisten besteht
ten der Gewerkschaften. Sie können deshalb das darin, dass sie es verstehen, die Rückständigen zu
Lohngesetz nicht umstürzen; sie können im besten überzeugen, unter ihnen zu arbeiten und sich nicht
Fall die kapitalistische Ausbeutung in die jeweilig durch ausgeklügelte, kindische »linke« Losungen
„normalen“ Schranken weisen, keineswegs aber die von ihnen ab(zu)sondern.“
Ausbeutung selbst stufenweise aufheben. Von ihrer Die Arbeit in den Gewerkschaften muss allerdings
ganzen Anlage her sind Gewerkschaften im Kapita- um erfolgreich zu sein in Partei und Jugendverband
lismus nicht mehr und nicht weniger als die „organi- geplant, abgesprochen und systematisch betrieben
sierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe werden und darf nicht zur privaten bzw. individuel-
des Profits, als die Abwehr der Arbeiterklasse gegen len Aktivität einzelner Genossen werden.
die herabdrückende Tendenz der kapitalistischen
Wirtschaft“. Wenn man Sozialismus will, müssen Haltung von revolutionären Sozialisten
Revolutionäre den Klassenkampf deshalb nicht nur zum Parlamentarismus
rein ökonomisch, sondern auch politisch führen.
Was aber wenn die Gewerkschaften ihre Rolle als Wenn von legalen Kampfmitteln die Rede war,
Klassenorganisation gar nicht oder nur unzurei- dann ist damit an wichtiger Position auch die Teil-
chend ausfüllen und ihre sozialdemokratische Füh- nahme an Wahlen zu bürgerlichen Parlamenten
rung ausschließlich auf „Sozialpartnerschaft“ mit gemeint. Die unbedingte Ausnutzung aller legalen
den Kapitalisten setzt? Die Ansicht, dass Kommu- Wege durch die KP beinhaltet grundsätzlich auch
nisten nicht in reaktionären Gewerkschaften arbei- ihre Kandidatur zu Wahlen. Dabei muss aber klar
ten sollten, nennt Lenin im „Linken Radikalismus“ sein, dass die Erringung der Macht auf parlamenta-
„lächerlichen, kindischen Unsinn“. In Deutschland rischem Weg unmöglich ist und die außerparlamen-

33
Strategie und Taktik

tarischen Kämpfe immer Vorrang haben müssen. formellen Seite der Demokratie rechnet, die ande-
Die Beschränktheit der bürgerlichen Demokratie re Seite aber, ihren reellen Inhalt völlig außer acht
ergibt sich aus dem grundsätzlichen Charakter des lässt.“ Lenin nannte den von Kautsky propagierten
Staates im Kapitalismus als Staat der Kapitalisten. parlamentarischen Weg „waschechten, trivialsten
Solange es verschiedene Klassen gibt, kann man Opportunismus, die Preisgabe der Revolution in der
nur von Klassendemokratie sprechen. Trotz forma- Tat bei Bekenntnis zu ihr in Worten.“
ler Gleichheit stößt man in der bürgerlichen Demo- Einige mögen fragen, warum sich die Kommunisten
kratie auf Tausende tatsächliche Begrenzungen und denn überhaupt an bürgerlichen Wahlen beteili-
Manipulationen. Offensichtlichstes Beispiel ist die gen sollten. Uns mag klar sein, dass wir durch den
Außenpolitik. „In keinem, selbst nicht in dem de- Parlamentarismus keine entscheidenden Schritte
mokratischsten bürgerlichen Land wird sie offen be- zum Sozialismus machen können und dass im Par-
trieben“ (Fragen von Krieg und Frieden, des Militärs lament nicht die realen Entscheidungen fallen. Es
und der Geheimdienste werden nicht nur an der kommt aber darauf an, „dass wir das, was für uns
Öffentlichkeit, sondern auch am Parlament vorbei erledigt ist, nicht als erledigt für die Klasse, nicht
entschieden). Reale Beschränkungen gibt es für die als erledigt für die Massen betrachten“ (Lenin). Auf-
Arbeiter aber auch in der Nutzung der Presse- oder gabe der Kommunisten ist es zwar gerade nicht auf
Versammlungsfreiheit, schon allein aus finanziellen das Niveau der rückständigen Schichten der Klas-
Gründen. „Die Teilnahme am Parlament (das in der se herabzusinken, sondern ihnen ihre bürgerlich-
bürgerlichen Demokratie nie über die wichtigen Fra- demokratischen und parlamentarischen Vorurteile
gen entscheidet: diese Fragen werden von der Börse, aufzuzeigen. „Aber zugleich seid ihr verpflichtet,
von den Banken entschieden) ist den werktätigen den tatsächlichen Bewusstseins- und Reifegrad
Massen durch tausenderlei Hindernisse versperrt, eben der ganzen Klasse nüchtern zu prüfen.“ Vor
und die Arbeiter wissen und … fühlen ausgezeich- dem Hintergrund des schwach entwickelten politi-
net, dass das bürgerliche Parlament eine ihnen frem- schen Bewusstseins in großen Teilen der Klasse, ist
de Einrichtung ist, ein Werkzeug zur Unterdrückung die „Beteiligung an den Parlamentswahlen und am
der Proletarier durch die Bourgeoisie (…).“ Hinzu Kampf auf der Parlamentstribüne für die Partei des
kommt, dass es keinen Staat gibt, in dem es in der revolutionären Proletariats unbedingte Pflicht …,
Verfassung nicht Hintertürchen gäbe, die den Herr- gerade um die unentwickelte, geduckte und unwis-
schenden die Möglichkeit sichern „bei Verstößen sende Masse aufzurütteln und aufzuklären“ . Dies
gegen Ruhe und Ordnung“ Militär gegen die Arbei- gilt solange, wie die Kommunisten noch nicht in der
ter einzusetzen (Notstandsgesetze, Diskussion über Lage sind, das reaktionäre Parlament durch prole-
Bundeswehreinsatz im Inneren in Deutschland). Es tarisch-demokratische Organe zu ersetzen, also bis
kann keine wirkliche Gleichheit in einem Klassen- zur Revolution. Dabei muss aber immer klar sein,
staat geben zwischen Ausgebeuteten und den Aus- dass Massenaktionen, z.B. ein großer Streik, immer
beutern, die viele Generationen lang durch ihre Bil- wichtiger sind als die parlamentarische Aktion.
dung, durch ein Leben in Reichtum und durch ihre Allerdings sind auch diejenigen im Unrecht, die
Routine eine Sonderstellung einnahmen. Solange einen Verzicht auf die Beteiligung an bürgerlichen
die militärische und bürokratische Staatsmaschine Parlamenten generell für unzulässig erklären. Unter
der Bourgeoisie nicht zerschlagen ist (à Staat und bestimmten Umständen kann auch eine Wahlboy-
Revolution), ist eine Mehrheit im Parlament für die kottkampagne Erfolg versprechend sein, wenn die
Arbeiterklasse und ihre Verbündeten entweder un- außerparlamentarischen Bewegungen sehr stark
möglich (weil die Bourgeoisie im Notfall stets die sind.
Verfassung oder das Wahlgesetz ändern wird) oder Die Kommunistische Partei sollte Wahlkampf und
unverlässlich (z.B. könnten die Wahlen für ungül- Parlamentstribüne ausnutzen, um das reaktionäre
tig erklärt, die KP verboten, das Parlament aufgelöst Wesen der Bourgeoisie zu entlarven, die Massen zu
werden usw.). erziehen und die revolutionären Kräfte zu sammeln.
In der sozialistischen und kommunistischen Bewe- Kommunisten müssen einen Parlamentarismus her-
gung wurden bis heute mehrfach verschiedene For- vorbringen, „der mit Opportunismus und Karrieris-
men des parlamentarischen Weges zum Sozialismus mus nichts zu tun hat… Sie dürfen mit dem Volk
propagiert. Ihnen ist die Missachtung der marxis- nicht in gelehrter Sprache reden, dürfen nicht im
tischen Lehre vom Staat gemein. Rosa Luxemburg geringsten auf einen »Sitz« im Parlament erpicht
stellte fest: „Die Idee einer sozialdemokratischen sein, sondern müssen überall das Denken wachrüt-
(heute kommunistischen) Parlamentsmehrheit er- teln, die Masse in Bewegung bringen und das Volk
scheint als eine Kalkulation, die bloß mit der einen, mit dem Bolschewismus so vertraut machen, wie

34
Strategie und Taktik

das sonst niemals außer während Wahlkampagnen Revolutionäre müssen immer den Doppelcharakter
möglich war.“ von Reformen beachten. Dieser beinhaltet, dass ei-
nerseits ohne den Kampf um Reformen kaum Klas-
Reform und Revolution senbewusstsein entstehen kann und andererseits
der erfolgreiche Kampf um Reformen immer auch
Nach Marx, Engels und Lenin ist der Klassen- Illusionen nähren kann. Es beginnt bei dem Punkt,
kampf der Arbeiter seinem historischen Ziel nach dass eine Einstellung genährt wird, dass der Gegner
ein Kampf um die Überwindung des Kapitalismus doch nicht unversöhnlich gegenübersteht (schließ-
durch den Sozialismus. Seinem jeweiligen Inhalt lich macht er Zugeständnisse). Es geht über die ide-
nach ist es der dieses Ziel unbeirrbar anstrebende ologische Verfestigung dieser Einstellung, es gäbe ja
Kampf für die ökonomischen, politischen und mo- eine „Sozialpartnerschaft“, in der Kapitalisten und
ralischen Interessen der Arbeiterklasse. Sie kann im Arbeiter ihre Gegensätze ausgleichen könnten, bis
Rahmen des Kapitalismus zwar einzelne Verbesse- zur Vorstellung, dass gesellschaftlicher Fortschritt,
rungen ihrer Situation erreichen, ihre soziale, po- sogar der Weg zu einer gerechteren, sozialistischen
litische und geistig-moralische Emanzipation aber Gesellschaft über eine Anhäufung von Reformen zu
nur durch eine sozialistische Umwälzung. Wenn im erreichen sei. Diese Ideologie ist in weiten Teilen
Tageskampf nicht das sozialistische Ziel im Auge der Arbeiterbewegung vorherrschend. Sie ist/war
behalten wird, würde die Bewegung orientierungs- die ideologische Basis der traditionellen Sozialde-
los werden, andererseits wird das Ziel nicht allein mokratie.
durch Propagierung des Ziels, sondern durch die Reformisten sehen die Bedeutung von Reformen da-
Kämpfe erreicht, die die Erfahrung und die Kräfte rin, dass sie „die kapitalistische Ausbeutung selbst
der Arbeiterklasse steigen lassen. stufenweise einschränken, der kapitalistischen Ge-
Der Kampf um Reformen ist also dem revolutionä- sellschaft immer mehr ihren kapitalistischen Cha-
ren Ziel untergeordnet, dennoch ist der Platz der rakter nehmen und den sozialistischen aufprägen“
Sozialisten „in den Reihen der Kämpfer für jeden . Die monopolkapitalistischen Eigentums- und
unmittelbaren Erfolg, der im Interesse der Arbeiter- Staatseinrichtungen entwickeln sich aber tatsäch-
klasse zu erzielen ist“. Der Kampf um Reformen ist lich in die entgegengesetzte Richtung. Während
ein Muss für Kommunisten. die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen
Der alltägliche Kampf um soziale Reformen, um die Gesellschaft sich einerseits der sozialistischen im-
Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeiten- mer mehr annähern, errichten die politischen und
den Menschen und um demokratische Einrichtun- rechtlichen Verhältnisse andererseits zwischen der
gen bildet den entscheidenden Weg, den Klassen- kapitalistischen und der sozialistischen Gesell-
kampf zu leiten und auf das Ziel der Ergreifung der schaft eine immer höhere Wand. „Diese Wand wird
politischen Macht hinzuarbeiten. Auch wenn der durch die Entwicklung der Sozialreform wie der
Staat auch in einer demokratischen Republik eine Demokratie nicht durchlöchert, sondern umgekehrt
Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch fester und höher gemacht. Wodurch sie also nieder-
eine andere bleibt, bedeutet das nicht, „dass die gerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag
Form der Unterdrückung dem Proletariat gleichgül- der Revolution, d.h. die Eroberung der politischen
tig sei, wie manche Anarchisten »lehren«. Eine brei- Macht durch das Proletariat“.
tere, freiere, offenere Form des Klassenkampfes und Demnach bereitet der Kampf um Reformen (oder
der Klassenunterdrückung bedeutet für das Prole- gegen Verschlechterungen) dem Sozialismus nicht
tariat eine riesige Erleichterung im Kampf um die objektiv den Weg, sehr wohl aber subjektiv, indem
Aufhebung der Klassen überhaupt“ . er Klassenbewusstsein und Erkenntnis über die
Zwischen Reform und Revolution besteht also ein Notwendigkeit der Revolution vermitteln kann, al-
unzertrennlicher Zusammenhang, indem der Kampf lerdings nur, wenn man die (positiven) Ergebnisse
um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwäl- des Kampfes nicht als Schritte auf einer Stufenleiter
zung aber der Zweck ist. Demokratische und soziale zum Sozialismus darstellt. In einer revolutionären
Reformen dienen einerseits der unmittelbaren He- Strategie muss im Gegensatz dazu, die Eroberung
bung der Lage der Arbeiter und damit der Verbes- der politischen Macht dem gewerkschaftlichen und
serung der Kampfbedingungen. Zum anderen kann sozialreformerischen Kampf „als Leitstern vorausge-
nur der gewerkschaftliche und politische Kampf um hen“ (Luxemburg).
Reformen die Arbeiterklasse, d.h. den subjektiven Der dialektische Materialismus geht davon aus, dass
Faktor der sozialistischen Umwälzung auf die Revo- sich die antagonistischen Widersprüche in einem
lution vorbereiten. System solange entwickeln und verschärfen, bis sie

35
Strategie und Taktik

in einem revolutionären Umschlag aufgehoben wer- helferin jeder alten Gesellschaft, die mit einer neu-
den. Dies gilt analog auch für die gesellschaftlichen en schwanger geht“, das Werkzeug, womit sich die
Widersprüche im Kapitalismus (z.B. dem zentralen gesellschaftliche Bewegung durchsetzt. Lenin kam
zwischen gesellschaftlichem Charakter der Produk- zu dem kategorischen Schluss, dass „die Ablösung
tion und privater Aneignung). Reformisten hinge- des bürgerlichen Staates durch den proletarischen
gen wollen die Widersprüche objektiv nicht durch ohne gewaltsame Revolution unmöglich (ist).“
ihre konsequente Entwicklung aufheben, sondern Klar ist, dass wir jede Möglichkeit einer friedlichen
ihnen die Spitze abbrechen, sie abstumpfen. „Wer Entwicklung zum Sozialismus nutzen wollen und
sich daher für den Reformweg anstatt und im Ge- werden (z.B. indem wir die Polizei und das Militär
gensatz zur Eroberung der politischen Macht und zersetzen und funktionsunfähig machen). Kommu-
zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt nisten müssen sowohl auf eine friedliche als auch
tatsächlich nicht einen ruhigeren, sichereren, lang- auf die nichtfriedliche Entwicklung vorbereitet
sameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein sein. Tun sie letzteres nicht, können die Arbeiter
anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer politisch und ideologisch entwaffnet werden, weil
neuen Gesellschaftsordnung bloß quantitative Ver- sie auf bewaffnete Angriffe der Bourgeoisie nicht
änderungen in der alten.“ Wegen ihres fehlenden vorbereitet sind. Die Geschichte zeigt, dass Gewalt
Widerspruchs zum kapitalistischen System und der nach innen wie nach außen (bis hin zur Errichtung
Angst vor der Zuspitzung können Reformisten auch faschistischer Diktaturen) stets das Mittel reaktionä-
die Tageskämpfe nicht in aller Konsequenz führen rer herrschender Klassen war, die ihre Macht und
und verraten nicht nur den revolutionären, sondern ihre Privilegien gegen ökonomisch und politisch
auch den konsequent-reformerischen Kampf. unterdrückte Klassen verteidigten, und die damit
Dennoch müssen wir natürlich auch mit Menschen diesen Klassen keinen anderen Ausweg ließen, als
mit reformistischen Illusionen im Rahmen der von ihrerseits Gewalt anzuwenden.
uns angestrebten Aktionseinheit der Arbeiterklasse Die Revolution ist gezwungen, „alle ihre Kräfte zu
zusammenarbeiten (denn vor allem in den Kämpfen konzentrieren gegen die Staatsgewalt“, nicht die
um Reformen können wir mit ihnen in die Debatte Verbesserung der Staatsmaschinerie, „sondern ihre
um die Begrenztheit des Reformkampfs treten). Der Zerstörung“ ist deshalb ihre Aufgabe (Lenin, Staat
Reformismus ist aber einer unserer ideologischen und Revolution). Für Marx und Engels war es die
Hauptgegner in der Arbeiterbewegung. entscheidende Lehre der Pariser Kommune, „dass
die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine
Kann es einen friedlichen Übergang zum einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen
Sozialismus geben? Zwecke in Bewegung setzen kann“ (Marx/Engels,
Vorrede zum „Manifest“ von 1872). Einen klassen-
Marx sprach in den 1870ern von der Möglichkeit ei- losen Staat oder einen Staat, der über den Klassen
nes friedlichen Übergangs zum Sozialismus in En- steht, kann es nicht geben. Deshalb wandte sich
gland und Amerika, allerdings als Ausnahme vom Lenin auch in schärfster Form gegen Modelle u.a.
gewaltsamen Weg „als Hebel der Revolution“. Dieser Kautskys, die eine friedliche Einführung des Sozi-
Satz wurde u.a. von Kautsky aufgegriffen und zum alismus über verschiedene „Übergangsstufen“ oder
generellen theoretischen Leitmodell der II. Inter- ökonomische Etappen propagierten. „Zwischen
nationale gemacht. Lenin kämpfte vehement gegen dem Staat der Kapitalisten… und dem Staat des
eine solche Grundlinie an, vor allem mit Verweis auf Proletariats… gibt es viele Übergangsstufen“, so
die Marxsche Lehre vom Staat: „Erstens hielt Marx Vandervelde (ein führender Vertreter der II. Inter-
auch damals diese Möglichkeit für eine Ausnahme. nationale). Dazu erklärt Lenin: „Der Eklektiker will
Zweitens gab es damals noch keinen monopolis- keine allzu absoluten Behauptungen, um seinen
tischen Kapitalismus, d.h. keinen Imperialismus kleinbürgerlichen Wunsch, die Revolution durch
(Anm.: Der Imperialismus zeichnet sich durch sehr »Übergangsstufen« zu ersetzen, anbringen zu kön-
geringe Friedfertigkeit und entwickelten Militaris- nen. Dass die Übergangsstufe zwischen dem Staat
mus aus). Drittens gab es damals gerade in England als Herrschaftsorgan der Kapitalistenklasse und
und Amerika kein stehendes Heer (jetzt gibt es ein dem Staat als Herrschaftsorgan des Proletariats eben
solches) als wichtigsten Apparat der bürgerlichen die Revolution ist, die im Sturz der Bourgeoisie und
Staatsmaschinerie.“ Grundsätzlich müssen Revo- im Zerbrechen… der Staatsmaschine der Bourgeoi-
lutionäre sich auch auf eine gewaltsame Revoluti- sie besteht, darüber schweigen die Kautsky und
on einstellen. Gewalt spielt – so Marx im „Kapital“ Vandervelde… (Sie) verkleistern alles Konkrete und
- auch eine revolutionäre Rolle. Sie ist „die Geburts- Exakte im Klassenkampf, indem sie den allgemei-

36
Strategie und Taktik

nen Begriff des »Übergangs« unterschieben, hinter die Revolution genutzt werden. Unabhängig davon
dem man die Abkehr von der Revolution verbergen bleibt auch die Notwendigkeit einer strategischen
kann. (…) vermittels der Phrase »Übergang…« kann Bündnispolitik der kommunistischen Parteien auch
man den ganzen Unterschied zwischen Revolution mit nichtproletarischen Klassen und Schichten.
und Reform… umgehen.“ Eine eigenständige poli-
tisch-ökonomische Etappe zwischen Kapitalismus Arbeitsfragen
und Sozialismus kann es nicht geben. Historische
Revolutionen beinhalteten jedoch oft eine Phase der 1. Was ist unter dem Begriff der Avantgarde der Ar-
„Doppelherrschaft“ (so zwischen Februar und Ok- beiterklasse zu verstehen?
tober 1917 in Russland). Ein solcher Zustand strebt 2. Warum ist die organisatorische Unabhängigkeit
allerdings in kürzester Zeit und mit aller Macht zur des sozialistischen Jugendverbands von der KP
Entscheidung zugunsten oder zuungunsten der Re- sinnvoll?
volution. 3. Welche Ziele verfolgen KommunistInnen mit
Diese Erkenntnis bedeutet nicht die illusionäre Vor- der Beteiligung an Wahlen zum bürgerlichen Parla-
stellung, dass die sozialistische Revolution auf einen ment?
Schlag möglich wäre. Die sozialistische Umwälzung 4. „Der Kampf um die Sozialreform ist das Mittel,
setzt einen langen und hartnäckigen Kampf voraus, die soziale Umwälzung aber der Zweck.“ Ist unsere
wobei das Proletariat wahrscheinlich mehr als ein- Haltung zu Reformen also rein taktisch?
mal zurückgeworfen werden wird. Ebenso wenig 5. Wie kann es gelingen, gemeinsam mit Kollegen
kann damit die Notwendigkeit von Zwischenzielen mit parlamentarischen und reformistischen Illusio-
der revolutionären Bewegung bestritten werden, nen zu kämpfen und gleichzeitig den Kampf gegen
die sich jedoch nicht auf den zentralen Ebenen des die Ideologie des Reformismus zu führen?
Staatsapparats abspielen werden. Nur in begrenztem 6. Wie stehen KommunistInnen zur Frage der Ge-
Umfang (z.B. Betriebsräte, Teile der Justiz) können walt?
Bastionen des bürgerlichen Staates erobert und für

37
SDAJ Grundlagenschule

Staat und Revolution


Für die Entwicklung einer revolutionären Strategie lichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht
und Taktik, die notwendig ist, um unser Ziel, eine dort, dann und insofern, wo, wann und inwiefern
Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung, die Klassengegensätze objektiv nicht versöhnt wer-
zu erreichen, ist die Frage des Staates von großer Be- den können...Nach Marx ist der Staat ein Organ der
deutung. Welchen Charakter besitzt der Staat im Ka- Klassenherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung
pitalismus? Ist er eine über den Klassen stehende, der einen Klasse durch die andere, ist die Errichtung
quasi naturgegebene Einrichtung, die jede Gesell- derjenigen `Ordnung`, die diese Unterdrückung
schaft, unabhängig von ihrer ökonomischen Basis sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt der
benötigt? Hat es den Staat immer gegeben und wird Klassen dämpft.“ (Lenin).
es ihn immer geben? Lässt sich der heutige Staat,
sofern die Arbeiterklasse erstmal die Macht erobert In allen bisherigen Klassengesellschaften, also in
hat, dazu benutzen, um auf seiner Grundlage die so- der Sklavenhaltergesellschaft, im Feudalismus und
zialistische Gesellschaft aufzubauen? Lenin schrieb im Kapitalismus, hat es Staaten gegeben. Gemein-
in der Einleitung zu seinem Werk „Staat und Revo- sam haben sie alle im wesentlichen zwei Faktoren:
lution“ zur Bedeutung dieser Frage: „ Der Kampf um Ersten „...kennzeichnet sich der Staat...durch die
die Befreiung der werktätigen Massen vom Einfluss Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Ge-
der Bourgeoisie im allgemeinen und der imperia- biet...“, also nicht wie in der Urgesellschaft nach Ge-
listischen Bourgeoisie im besonderen ist ohne Be- schlechtern und Stämmen. Dazu gehört auch, dass
kämpfung der opportunistischen Vorurteile in Be- es ein fest definiertes Staatsvolk gibt, die Menschen
zug auf den Staat unmöglich.“ Im folgenden Kapitel im jeweiligen Gebiet werden also nach Staatsbür-
der Grundlagenschule wollen wir uns also mit allen gern und Menschen, die diese Staatsangehörigkeit
diesen Fragen beschäftigen. Beginnen müssen wir nicht besitzen unterteilt. Zweitens „...die Errich-
zunächst mit der Frage, was wir überhaupt unter ei- tung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr
nem Staat verstehen. zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete
Macht organisierenden Bevölkerung...Diese öffent-
Was ist ein Staat? liche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht
nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern
Friedrich Engels setzte sich in seiner Schrift „Der auch aus „...Gefängnissen und Zwangsanstalten al-
Ursprung der Familie, des Privateigentums und des ler Art...“(Engels). Zur Sicherung ihrer Herrschaft
Staates“ ausführlich mit der Entstehung des Staa- ist jede herrschende Klasse gezwungen, besondere
tes im Verlauf der Entwicklung der menschlichen Formationen bewaffneter Menschen (also Polizei,
Gesellschaft auseinander. Er wies nach, dass es den stehendes Heer, Justizorgane) zu unterhalten, da die
Staat keineswegs schon immer gegeben hat, son- allgemeine Volksbewaffnung (d.h. die Bewaffnung
dern dass er erst zu einem bestimmten Zeitpunkt, auch der unterdrückten Klassen) ein unkalkulierba-
nämlich mit der Entstehung des Privateigentums res Risiko für die Ausbeuterklasse darstellt. Zur Fi-
und der daraus resultierenden Spaltung der Ge- nanzierung dieser Organe sind Steuern und Staats-
sellschaft in verschiedene Klassen, entstanden ist: schulden notwendig. Um diese einzutreiben und zu
„Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft verwalten wird wiederum eine weitere Gruppe von
von außen aufgezwungene Macht...Er ist vielmehr Menschen erforderlich: Beamte. Diesen räumt jeder
ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Ent- Staat eine privilegierte Stellung ein. Engels schreibt
wicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese dazu: „Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des
Gesellschaft sich in einem unlösbaren Widerspruch Rechts der Steuereintreibung stehn die Beamten
mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche nun da als Organe der Gesellschaft über der Gesell-
Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohn- schaft...“. Diese privilegierte Stellung zeichnet sich
mächtig ist.“ In der Urgesellschaft, in der es kein aus durch eine Reihe „...Ausnahmegesetze über die
Privateigentum und keine Klassen gab, existierte Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Beamten...“
also auch kein Staat. Dieser wurde erst notwendig, (Lenin), in der Regel also durch eine bessere Bezah-
als mit den Klassen auch der Klassenkampf aufkam. lung und – insbesondere in Deutschland – durch
Diese Erkenntnis ermöglicht es uns, seine grundle- eine gesonderte Altersvorsorge und einen beson-
gende Funktion, sein Wesen zu erkennen: „Der Staat deren Kündigungsschutz. Diese Faktoren gelten im
ist das Produkt und die Äußerung der Unversöhn- Grunde für alle bisherigen Ausbeutergesellschaften.
Im Kapitalismus zeichnen den Staat aber noch eine

38
Staat und Revolution

werden entweder repressiv bekämpft (z.B. KPD-Ver-


bot) oder durch Korrumpierung in das System ein-
gebunden (PDS). Die modernen Massenmedien, die
sich in der Regel in den Händen von Großkonzer-
nen befinden, tun ihr übriges. Somit ist das allge-
meine Stimmrecht nicht mehr als ein Werkzeug der
Herrschaft der Bourgeoisie, oder, nach Engels „...der
Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kann
und wird es nicht sein im heutigen Staat...“.

Eine weitere Besonderheit des Staates im Kapitalis-


mus ist seine Rolle als „ideeller Gesamtkapitalist“,
dessen Aufgabe es ist, zwischen den durch die ka-
pitalistische Konkurrenz verursachten unterschied-
lichen Interessen der einzelnen Kapitalisten bzw.
Monopolen zu vermitteln und das Gesamtinteresse
der Klasse zu erkennen und durchzusetzen. Über
die jeweils im Sinne der Herrschenden richtige
Politik kann es natürlich unterschiedliche Vorstel-
Reihe von Besonderheiten aus. lungen geben. Daneben ist es zur Eindämmung des
Klassenkampfes und zur Integration reformistischer
Der Staat im Kapitalismus Bewegungen notwendig, diesen (wenn auch nur in
sehr geringem Maße) bestimmte Mitspracherechte
„...Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, einzuräumen. Im Kapitalismus ist der Staat daher
zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klas- „Herrschaftsinstrument und Feld des Klassenkamp-
sengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesell- fes zugleich“ (Programmentwurf der DKP).
schaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große Der Staat kann im Kapitalismus durchaus sehr ver-
feindliche Lager, in zwei große, einander direkt ge- schiedene Formen annehmen (Monarchie, parlamen-
genüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proleta- tarische Republik, faschistische Diktatur etc.). Ihnen
riat...“, analysierten Marx und Engels im Manifest. allen ist aber eines gemeinsam: Sie sind Diktaturen
Im Kapitalismus treten die Klassengegensätze deut- der Bourgeoisie, Diktaturen einer Minderheit über
licher und unverkennbarer hervor als in den vergan- eine Mehrheit. Trotz dieser Gemeinsamkeit ist es
genen Ausbeutergesellschaften, da sich alle anderen für den Kampf der Arbeiterklasse keinesfalls gleich-
Klassen und Schichten nach und nach immer mehr gültig, welche konkrete Herrschaftsform das Kapital
in den beiden Hauptklassen auflösen. Daher ist das wählt. „...Wir sind für die demokratische Republik
Kapital gezwungen, seine Herrschaft stärker als zu- als die für das Proletariat unter dem Kapitalismus
vor zu verschleiern. Das wirksamste Mittel hierzu beste Staatsform, aber wir dürfen nicht vergessen,
ist die bürgerliche Demokratie mit dem allgemei- dass auch in der allerdemokratischsten Republik
nen Stimmrecht, das den Beherrschten vorgaukelt, Lohnsklaverei das Los des Volkes ist...“ (Lenin).
es habe ebensoviel Einfluss auf die Geschicke des Spätestens die Erfahrungen mit dem deutschen Fa-
Staates wie die herrschende Klasse. „... In der demo- schismus haben die Arbeiterbewegung gelehrt, dass
kratischen Republik übt der Reichtum seine Macht die bürgerliche Demokratie ihr die besten Voraus-
indirekt, aber umso sicherer aus...“ und zwar ers- setzungen für ihren Kampf bietet und daher gegen
tens durch die „...direkte Beamtenkorruption...“ und alle reaktionären Veränderungen verteidigt werden
zweitens durch die „...Allianz von Regierung und muss. Gleichzeitig darf dies nicht zu Illusionen über
Börse...“ (Engels). Für beide Methoden lassen sich den Charakter des bürgerlichen Staates führen.
unzählige Beispiele finden, seien es die sog. „Be-
stechungsskandale“ oder der muntere Personalaus- Die sozialistische Revolution
tausch zwischen politischen Spitzenpositionen und
Managerposten von Großkonzernen. Die Wahlmög- Den grundlegenden Gedanken über die Rolle des
lichkeiten in der parlamentarischen Demokratie be- Staates in der proletarischen Revolution haben Marx
schränken sich in der Regel auf bürgerliche Parteien, und Engels schon im Kommunistischen Manifest
die sich höchstens durch taktische Fragen vonein- entwickelt: „...Das Proletariat wird seine politische
ander unterscheiden. Reale Oppositionsparteien Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach

39
Staat und Revolution

und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produkti- die Spaltung der menschlichen Gesellschaft in Klas-
onsinstrumente in den Händen des Staats, d.h. des sen überwunden. Mit dem Verschwinden der Klas-
als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu sen wird nach und nach auch der Staat überflüssig,
zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte er stirbt ab. „... Der erste Akt, worin der Staat wirk-
möglichst rasch zu vermehren....“ Mit der Erkämp- lich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auf-
fung der politischen Macht durch die Arbeiterklas- tritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im
se bekommt der Staat einen völlig neuen Charakter: Namen der Gesellschaft -, ist zugleich sein letzter
erstmals in der Geschichte ist er nicht mehr Instru- selbständiger Akt als Staat...“ (Engels).
ment zur Unterdrückung einer Mehrheit durch eine Dies wird natürlich nicht ohne erbitterten Wider-
Minderheit, sondern umgekehrt: Das Proletariat be- stand der gestürzten Kapitalistenklasse möglich sein,
nutzt den Staat zur Unterdrückung der Reste der al- wie die Erfahrungen der Länder des realen Sozialis-
ten Ausbeuterklasse. Damit hört der Staat zugleich mus gezeigt haben. Erst recht nicht, wenn die Ar-
auf, Staat im eigentlichen Sinne zu sein. Die Klassi- beiterklasse zunächst nur in einem oder in wenigen
ker verwandten daher auch Begriffe wie „Halbstaat“ Ländern gesiegt hat. Daher ist die Unterdrückung
oder „Gemeinwesen“. Von großer Bedeutung ist aber der ehemaligen Kapitalistenklasse und damit die Si-
die Frage, wie dieser proletarische Staat beschaffen cherung der Herrschaft der Arbeiterklasse die erste
sein muss. Kann die Arbeiterklasse einfach die exis- und wichtigste Aufgabe des proletarischen Staates.
tierende bürgerliche Staatsmaschine übernehmen „...In Wirklichkeit ist diese Periode unvermeidlich
oder muss sie sich ein eigenes, völlig neues Instru- eine Periode unerhört erbitterter Klassenkämpfe,
ment schaffen. In ihren frühen Schriften ließen unerhört scharfer Formen dieses Kampfes, und folg-
Marx und Engels diese Frage weitgehend offen. Erst lich muss auch der Staat dieser Periode unvermeid-
die konkreten Erfahrungen aus den bürgerlichen Re- lich auf neue Art demokratisch (für die Proletarier
volutionen 1848-1851 sowie der Pariser Kommune und überhaupt alle Besitzlosen) und auf neue Art
1871 ließen sie zu der Überzeugung kommen, dass diktatorisch (gegen die Bourgeoisie) sein...“ (Lenin).
der bürgerliche Staatsapparat mit seinem stehen- Daher nannten die Klassiker des Marxismus-Leni-
den Heer, seiner im Kampf gegen die Arbeiterbe- nismus diese Übergangsperiode von der Klassen-
wegung geschulten Polizei und seinem parasitären gesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft Diktatur
Beamtenkörper dazu völlig ungeeignet ist. Vielmehr des Proletariats. Diese -relativ- kurze Phase der Un-
schlussfolgerten sie, dass die gewaltsame Zerschla- terdrückung zur Errichtung einer Gesellschaft ohne
gung des bürgerlichen Staatsapparates Vorrausset- Ausbeutung und Unterdrückung wurde von den
zung für den Sieg der Arbeiterklasse ist. „...Alle Opportunisten aller Spielarten (Sozialdemokraten,
früheren Revolutionen haben die Staatsmaschinerie Anarchisten, Trotzkisten und „demokratischen“ So-
vervollkommnet, man muss sie aber zerschlagen, zialisten) immer als Vorwand genutzt, um die kom-
zerbrechen. Diese Folgerung ist das Hauptsächliche, munistische Bewegung zu diffamieren. Ein Marxist
das Grundlegende in der Lehre des Marxismus vom ist daher nur „...wer die Anerkennung des Klassen-
Staat...“ (Lenin). kampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Pro-
letariats erstreckt...“ (Lenin).
Diktatur des Proletariats / Die sozialisti- Der Staat in der Periode der Diktatur des Proletariats
sche Gesellschaft muss sich aber nicht nur in seinem Wesen (Herr-
schaft der Mehrheit über die Minderheit) sondern
Wie wir gesehen haben, kann die Arbeiterklasse den auch in seiner Form von allen bisherigen Staaten
bürgerlichen Staat nicht für ihre Zwecke überneh- unterscheiden. Als wichtigste Faktoren nennt Lenin
men. Stellt sich also die Frage, wie der proletarische hier:
Staat beschaffen sein muss. Dazu müssen wir uns • Beseitigung aller besonderen Formationen bewaff-
zunächst vor Augen führen, welche Aufgaben die- neter Menschen (stehendes Heer, Polizei) und allge-
sem zufallen. Im oben angeführten Zitat aus dem meine Volksbewaffnung.
Kommunistischen Manifest sagten Marx und En- • Vollkommene Wählbarkeit und jederzeitige Ab-
gels, die erste Aufgabe sei es, der Bourgeoisie nach setzbarkeit aller Amtspersonen. Die Beseitigung al-
und nach alle Produktionsmittel zu entreißen, sie ler finanziellen Privilegien der Beamten und die Re-
in den Händen des proletarischen Staats zusam- duzierung der Gehälter aller Amtspersonen im Staat
menzufassen und möglichst rasch zu vermehren. auf das Niveau des Arbeiterlohnes
Mit der Überführung der Produktionsmittel in ge- • Die Überwindung der Trennung zwischen gesetz-
sellschaftliches Eigentum wird die Ausbeutung des gebender und vollziehender Gewalt und die Um-
Menschen durch den Menschen beendet und damit wandlung der Vertretungskörperschaften in arbei-

40
Staat und Revolution

tende Körperschaften (Rätesystem) Der eine ist stärker, der andere schwächer, der eine
• Ein demokratischer Zentralismus, d.h. eine frei- ist gesund und der andere krank, der eine hat mehr
willige Verschmelzung der proletarischen Kommu- Kinder als der andere usw.
nen Marx schreibt hierzu: „...Bei gleicher Arbeitsleis-
Wie die Erfahrungen des realen Sozialismus zei- tung und daher gleichem Anteil an dem gesell-
gen, sind diese Faktoren notwendig, damit auch bei schaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine
langen Übergangsperioden vom Kapitalismus zum faktisch mehr als der andere...Um diese Mißstände
Kommunismus das Bewusstsein erhalten bleibt, zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich, un-
dass der sozialistische Staat nichts anderes als das gleich sein...“ Dafür ist aber ein sehr hoher Stand
als herrschende Klasse organisierte Proletariat ist. der Produktivkraftentwicklung notwendig, der erst
im Verlauf der sozialistischen Gesellschaft erreicht
Das Absterben des Staates/Die kommunis- werden kann. Solange dieses ökonomische Ni-
tische Gesellschaft veau noch nicht erreicht ist, hat der sozialistische
Staat darüber zu wachen, dass die Ergebnisse der
Wie wir gesehen haben, ist für den Übergang vom gesellschaftlichen Arbeit unter den Mitgliedern
Kapitalismus zum Kommunismus eine Übergangs- dieser Gesellschaft gleich verteilt werden. Dies
phase notwendig, in der das Proletariat alle Pro- ist gewissermaßen die letzte Aufgabe des Staates
duktionsmittel in den Händen des Staates vereinigt überhaupt in der menschlichen Gesellschaft. „...
(und somit der Existenz von Klassen allmählich Der Staat stirbt ab, insofern es keine Kapitalisten,
den Boden entzieht) und die gestürzte Kapitalisten- keine Klassen mehr gibt und man daher auch keine
klasse unterdrückt. Diese Periode nennen wir Dik- Klasse mehr unterdrücken kann. Der Staat ist aber
tatur des Proletariats oder Sozialismus. Wie lange noch nicht ganz abgestorben, denn noch bleibt die
diese Periode dauert, hängt von vielen Faktoren ab, Wahrung des `bürgerlichen Rechts`, das die fakti-
nicht zuletzt davon, wie schnell die Arbeiterklasse sche Ungleichheit sanktioniert. Zum vollständigen
nicht nur in einem oder wenigen Ländern, sondern Absterben des Staates bedarf es des vollständigen
weltweit siegt. Ein weiterer Faktor ist die Frage, wie Kommunismus...“(Lenin). Erst wenn die Produk-
schnell es dem proletarischen Staat gelingt, alle Mit- tivkräfte soweit entwickelt sind, dass das Prinzip
glieder der Arbeiterklasse zur Lenkung des Staates „Jeder nach seinen Fähigkeiten - Jedem nach seinen
bzw. des Gemeinwesens zu befähigen und damit auf Bedürfnissen“ verwirklicht ist und das Bewusstsein
eine gesonderte Stellung von Beamten verzichten der Menschen durch die sozialistische Erziehung
zu können. Diese „Erziehung der Produzenten“ ver- diesem Prinzip entspricht, ist der Staat vollständig
langt ein hohes Maß an gesellschaftlicher Bildung, überflüssig geworden und die Menschen können
die erst unter sozialistischen Voraussetzungen ver- die Staatsmaschine dorthin versetzen „...wohin sie
wirklicht werden kann. Entscheidend ist aber die dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, ne-
ökonomische Entwicklung. Lenin charakterisiert ben das Spinnrad und die bronzene Axt.“ (Engels).
die „niedere Phase“ des Kommunismus (also den
Sozialismus) folgendermaßen: „...Die Produktions- Arbeitsfragen
mittel sind schon nicht mehr Privateigentum ein-
zelner Personen. Die Produktionsmittel gehören der 1. Was waren die Vorraussetzungen für die Entste-
ganzen Gesellschaft. Jedes Mitglied dieser Gesell- hung des Staates? War diese Entwicklung unver-
schaft leistet einen gewissen Teil gesellschaftlich meidlich?
notwendiger Arbeit und erhält von der Gesellschaft 2. Warum ist der bürgerliche Parlamentarismus für
einen Schein darüber, dass es ein gewisses Quan- das Kapital die geeignetste Staatsform? Unter wel-
tum Arbeit geliefert hat. Auf diesen Schein erhält chen Vorraussetzungen kann sich das ändern?
es ein entsprechendes Quantum Produkte aus den 3. Ist Staatseigentum im Kapitalismus gleich gesell-
gesellschaftlichen Vorräten an Konsumtionsmitteln. schaftliches Eigentum? Wie verhält sich dies im So-
Nach Abzug des Arbeitsquantums, das für die ge- zialismus?
meinschaftlichen Fonds bestimmt ist, erhält jeder 4. Nach Lenin muß sich der sozialistische Staat
Arbeiter also von der Gesellschaft so viel zurück, nicht nur in seinem Wesen sondern auch in seiner
wie er ihr gegeben hat. Es herrscht gewissermaßen Form vom bürgerlichen Unterscheiden. Welche Fol-
Gleicheit...“ Diese Gleicheit bedeutet aber noch gen hat eine Abweichung von den genannten Fakto-
nicht Gerechtigkeit, denn es bedeutet die Anwen- ren für eine sozialistische Gesellschaft?
dung von gleichen Maßstäben auf ungleiche Indivi- 5. Wovon hängt die Dauer des Übergangs vom Sozi-
duen. Die Menschen sind aber nunmal nicht gleich. alismus zum Kommunismus ab?

41
SDAJ Grundlagenschule

Antimilitarismus
Was ist Militarismus? „Als Militärmacht, die die kapitalistischen Staaten
bei ihren äußeren Zusammenstößen einsetzen (Mi-
Kriege hat es nicht immer gegeben. Auch wenn bür- litarismus nach außen) und als Waffe in den Hän-
gerliche Ideologen immer wieder versuchen, die den der herrschenden Klasse zur Niederhaltung
Ursachen des Krieges in den Bereich der Biologie aller (ökonomischen und politischen) Bewegungen
oder Psychologie zu legen. Sie setzen individuelle des Proletariats (Militarismus nach innen).” (Lenin,
Aggressivität mit der gesellschaftlichen Erschei- Werke, Bd. 15, S. 187)
nung des Krieges gleich und wollen uns einreden, Auch in der BRD heute ist der Militarismus ein weit
Kriege resultierten letztlich aus der menschlichen verzweigtes und verflochtenes System. Neben der
Genstruktur oder seien ein triebhafter Vorgang. Bundeswehr umfasst er Soldaten- und Reservisten-
Wenn es Kriege aber schon immer gab und wenn verbände, zahlreiche Wehrkundegesellschaften und
sie zum Wesen des Menschen gehören, dann Freundeskreise, militaristische Zeitschriften
gibt es auch keine Möglichkeit, Kriege zu und Verlage, Braintrusts und Aka-
verhindern, dann ist der Kampf um demien. Bürgerliche Zeitungen
eine „andere Welt”, um eine revo- richten Wehrkunde- und Rüs-
lutionäre Veränderung der Ge- tungstagungen aus, im Parla-
sellschaft perspektivlos. Das ist ment sitzen Lobbyisten der
der Kern der Botschaft, die wir Rüstungskonzerne und das
glauben sollen. Tatsächlich ist „Verteidigungs”ministe-
der Krieg und damit auch der rium, Rüstungsindustrie
Militarismus ein Auswuchs der und Armee tauschen per
Klassengesellschaft und damit „Drehtüreffekt” Personal
erst rund 5.000 Jahre alt. Die aus. Die Bundeswehr
weitaus längste Zeit ihrer drängt verstärkt in die
Existenz (Urgesellschaft) Öffentlichkeit: mit
lebte die Menschheit in Werbeveranstaltungen
Gesellschaften, die keine für Schulklassen, mit
Kriege kannten, in denen Lehrmaterial für Lehrer,
schon aus Gründen der Arter- mit speziellen Veranstaltungen
haltung kooperatives Verhalten für Mädchen und junge Frauen wird für
gefragt war. Wenn es Kriege also nicht die Armee geworben. Jugendarbeitslosigkeit
„schon immer” gab, dann gibt es auch die und Ausbildungsplatzkatastrophe sind ein wich-
Perspektive einer Gesellschaft, die ohne Krieg und tiger Nährboden für militaristische Propaganda.
Militarismus auskommt. Mit seiner Schrift „Mili- Immer stärker wird das Fernsehen eingespannt. In
tarismus und Antimilitarismus” untersuchte Karl TV-Serien dürfen Journalisten in Kampfjets fliegen
Liebknecht 1907 das Wesen des kapitalistischen und Kriegsszenarien nachspielen. Auf dem Compu-
Militarismus und begründete die Notwendigkeit der terspielemarkt kommen Programme für reale und
antimilitaristischen Arbeit insbesondere der Arbei- virtuelle Militärpiloten aus einer Hand. In den ver-
terjugendorganisationen. Er arbeitet heraus, dass gangenen 15 Jahren wurde die Macht der Generäle
der Militarismus in den kapitalistischen Ländern systematisch ausgebaut. Das so genannte „Primat
ein ganzes Netzwerk bildet, das die gesamte Gesell- der Politik” wird immer weiter zurückgedrängt. Das
schaft durchdringt. Netzwerk zwischen bürgerlichem Politikbetrieb,
„Der Militarismus tritt (…) auf: Erstens als Armee Rüstungswirtschaft und Militär wird immer enger.
selbst, sodann als ein über die Armee hinausgehen- Sämtliche Generäle und zahlreiche Offiziere, die
des System der Umklammerung der ganzen Gesell- die Bundeswehr aufbauten, stammten aus der fa-
schaft durch ein Netz militaristischer und halbmili- schistischen Wehrmacht. Ihr Weltbild lebt in der
taristischer Einrichtungen, ferner als ein System der Truppe weiter. Unter den Bedingungen einer „Ar-
Durchtränkung unseres ganzen öffentlichen und pri- mee im Einsatz” spüren auch die reaktionärsten
vaten Volkslebens mit militaristischem Geiste (Karl Kräfte in der Bundeswehr wieder Aufwind. Sie pro-
Liebknecht: Militarismus und Antimilitarismus).“ pagieren das Bild vom „archaischen Kämpfertyp”,
Dabei hat der Militarismus eine doppelte Funktion. machen die „Innere Führung” lächerlich und prei-
sen den „heldenhaften Kampf” der faschistischen

42
Antimilitarismus

Wehrmacht und die „Tugenden” des deutschen Sol- te Kredite fordert, entzieht sich Karl Liebknecht der
datentums. Neofaschistische Skandale in der Trup- sozialdemokratischen Fraktionsdisziplin. „Dieser
pe reißen nicht ab. Dabei geht es nicht um Exzesse Krieg (…) ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen
von Wehrpflichtigen – der eigentliche Skandal ist oder eines anderen Volkes entbrannt. Es handelt
der reaktionäre Wasserkopf in der Generalität und sich um einen imperialistischen Krieg, einen Krieg
im Offizierskorps der Bundeswehr. um die kapitalistische Beherrschung des Weltmark-
tes, um die politische Beherrschung wichtiger Sied-
Antimilitarismus und Arbeiterbewegung lungsgebiete für das Industrie- und Bankkapital.”
Liebknecht verweigert die Bewilligung der Kriegs-
Als der deutsche Imperialismus die internationale kredite.
Arena betrat, war die Welt schon weitgehend unter Als Antwort auf die rassistische und chauvinisti-
die imperialistischen Konkurrenten aufgeteilt. Le- sche Hetze der deutschen Militaristen schreibt Karl
nin vergleicht ihn mit „einem jungen und starken Liebknecht im Mai 1915 sein berühmtes Flugblatt,
Räuber”, der „an den Tisch des kapitalistischen in dem er klar legt, dass die Fronten nicht zwischen
Schmauses” tritt „als die Plätze schon besetzt” sind. den Völkern, sondern zwischen den Kriegstreibern
(LW 24, S. 401, Staat und Revolution) und dem Volk verlaufen. „Der Hauptfeind des deut-
Erklärtes Ziel ist deshalb von Anfang an die Neu- schen Volkes steht in Deutschland: Der deutsche Im-
aufteilung der Welt. Seine besondere Aggressivität perialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche
beweist der deutsche Imperialismus und Militaris- Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Land
mus mit der Entfesselung des 1. Weltkrieges und gilt’s für das deutsche Volk zu bekämpfen (…) Wir
mit dem faschistischen 2. Weltkrieg. Zum ideologi- wissen uns eins mit dem deutschen Volk – nichts
schen Arsenal des Militarismus zählen dabei nicht gemein haben wir mit den deutschen Tirpitzen und
nur Nationalismus, Rassismus und die Lockung mit Falkenhayns, mit der deutschen Regierung der po-
Beuteversprechungen. Seine Kriegsziele (Neuauf- litischen Unterdrückung, der sozialen Knechtung.
teilung der Kolonien, Absatzgebiete und Rohstoffe) Nichts für diese, alles für das deutsche Volk.” Der
im 1. Weltkrieg verbarg der deutsche Imperialismus Internationale Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart
auch hinter einer hemmungslosen Friedensdemago- hatte eine Resolution August Bebels mit Abände-
gie. Kaiser Wilhelm II behauptet noch in seinem rungsvorschlägen von Rosa Luxemburg, Lenin und
„Aufruf an das deutsche Volk” vom 6. August 1914: L. Martow angenommen, in der es hieß:
„Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre Mein „Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbei-
und Meiner Vorfahren heißes Bemühen gewesen, tenden Klassen und deren parlamentarische Vertre-
der Welt den Frieden zu erhalten und in Frieden tungen in den beteiligten Ländern verpflichtet (…)
unsere kraftvolle Entwicklung zu fördern. Aber die alles aufzubieten, um durch die Anwendung der
Gegner neiden uns den Erfolg unserer Arbeit (…) ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den
So muss denn das Schwert entscheiden. Mitten im Ausbruch des Krieges zu verhindern (…) Falls der
Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht,
Waffen!” Propagandistisches Hauptgeschütz ist die für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit
vorgespiegelte Gefahr, Deutschland könne von der allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg
„russischen Dampfwalze” überrollt werden und un- herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise
ter die Herrschaft der zaristischen Despoten geraten. zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und da-
Mit der „zaristischen Gefahr” werden auch die So- durch die Beseitigung der kapitalistischen Klassen-
zialdemokraten weich gekocht. Am 4. August 1914 herrschaft zu beschleunigen.”
bewilligt die Reichstagsfraktion der SPD einstimmig Der Verrat der meisten Führer der Sozialistischen
die Kriegskredite in Höhe von 5 Milliarden Mark, Internationale an ihren eigenen Beschlüssen und
den die deutsche Regierung zur Führung des impe- ihr Übergang zur Politik der Vaterlandsverteidigung
rialistischen Krieges verlangt. Dann stimmt sie der und des Burgfriedens mit „ihren” Herrschenden be-
Entmachtung des Parlamentes für vier Monate zu. deutete auch die Spaltung der Arbeiterbewegung.
Damit hat die Sozialdemokratie mit ihrer revolutio- Bis Anfang der 1930er Jahre orientierte danach die
nären und antimilitaristischen Tradition gebrochen. Kommunistische Internationale auf die Umwand-
Drei Tage vor der Sitzung hatte Reichskanzler Beth- lung imperialistischer Kriege in den Bürgerkrieg
mann-Hollweg noch zur Eile gedrängt. „Ich muss und die sozialistische Revolution. Ihre Strategie
meine Kriegserklärung an Russland sofort haben fußte auf der These, dass unter den Bedingungen
(…) Sonst bekomme ich die Sozialdemokraten nicht des Imperialismus, der Stärke des Opportunismus
mit.” Als am 2. Dezember 1914 die Regierung erneu- und der Schwäche der Friedenskräfte, der Ausbruch

43
Antimilitarismus

von Kriegen unvermeidlich sei. die Spaltung des Landes und die Remilitarisierung
„Der Krieg ist untrennbar vom Kapitalismus. Daraus in den Westzonen. Gegen eine breite und mobili-
folgt, dass eine ‚Abschaffung’ des Krieges nur mög- sierungsfähige Friedensbewegung konnte der Im-
lich ist durch die Abschaffung des Kapitalismus, das perialismus den Aufbau der Bundeswehr nur mit
heißt, den Sturz der bürgerlichen Ausbeuterklas- jahrelanger Verzögerung durchsetzen. Wie die Herr-
se durch die Diktatur des Proletariats, den Aufbau schenden den Zusammenhang zwischen Militaris-
des Sozialismus und die Vernichtung der Klassen mus nach außen und Repression nach innen sehen,
(…) Das Proletariat bekämpft diese Kriege der im- machten sie mit dem Verbot der Freien Deutschen
perialistischen Staaten untereinander mit dem Pro- Jugend (1951) und der KPD (1956) deutlich, die zu
gramm der Niederlage der eigenen Regierung und den konsequentesten und aktivsten Gegnern der Mi-
der Verwandlung des imperialistischen Krieges in litarisierung gehörten.
den Bürgerkrieg (Aus den Thesen über den Kampf Nach der Niederlage des Sozialismus in Europa
gegen den imperialistischen Krieg und die Aufga- hat sich der Imperialismus an eine Neuaufteilung
ben der Kommunisten, angenommen auf dem VI. der Welt, der Einflusszonen, Absatzmärkte, der
Kongress der Kommunistischen Internationale, 29. menschlichen und natürlichen Ressourcen ge-
August 1928).“ macht. In den neuen imperialistischen Kriegen wird
Die Analyse der veränderten politischen Situation sowohl das gemeinsame Interesse an der Sicherung
und die Notwendigkeit der Verhinderung der Profitwirtschaft, wie auch das Konkur-
eines vom deutschen Faschismus ausge- renzverhältnis der mächtigen imperialis-
henden Weltkrieges führte die Kom- tischen Staaten sichtbar. Militärische In-
intern Mitte der 1930er Jahre zu ei- terventionspolitik findet in Absprache,
ner Veränderung ihrer Politik. Auf arbeitsteilig, in Alleingängen einzelner
dem VII. Weltkongress der Komin- Staaten oder in offenem Konflikt miteinan-
tern im August 1935 erklärte Ge- der statt. Die Entwicklung der letzten Jahre
orgi Dimitroff in seinem Schluss- hat gezeigt, dass die Antikriegsbewegung
wort: wieder erstarkt und dass auch unter den
„Unser Kongress ist ein Kongress des aktuellen Bedingungen – einer Welt ohne
Kampfes für die Erhaltung des Friedens, starken sozialistischen Block – der Kampf
gegen die Gefahr des imperialistischen Krie- gegen den Krieg mit beachtlicher Wirkung
ges. An diesen Kampf gehen wir jetzt auf neue geführt werden kann. So konnte zwar der Krieg
Weise heran. Unser Kongress lehnt die fatalistische gegen den Irak nicht verhindert werden, aber es
Haltung gegenüber imperialistischen Kriegen, die entstand eine Bewegung auf allen Kontinenten, die
von den alten sozialdemokratischen Vorstellungen Menschen unterschiedlicher Weltanschauung und
herrührt, entschieden ab. Es ist richtig, dass die sozialer Schichten vereinte. Ihr gelang es, dass die
imperialistischen Kriege ein Produkt des Kapitalis- Bush-Regierung den Krieg nur um den Preis des völ-
mus sind, dass nur der Sturz des Kapitalismus allen ligen Verlustes ihrer internationalen Glaubwürdig-
Kriegen ein Ende bereiten wird, aber ebenso rich- keit führen konnte.
tig ist es, dass die werktätigen Massen durch ihre
Kampfaktionen den imperialistischen Krieg verhin- Der deutsche Militarismus nach der Nie-
dern können.” derlage des realen Sozialismus in Europa
Nach dem Sieg über den deutschen Faschismus
konnte sich die weltweite Antikriegsbewegung auf Nach der Einverleibung der DDR war einer der ersten
ein starkes sozialistisches Lager stützen. Das galt politischen Akte der Sieger die Auflösung der NVA
unabhängig von der weltanschaulichen Position der DDR. Was in Teilen der Friedensbewegung als
und unabhängig davon, ob das bewusst wahrge- Abrüstung missverstanden und in der Bundeswehr
nommen wurde oder nicht. Die Brechung des Atom- als „Schaffung der Armee der Einheit” verklärt wur-
waffenmonopols der USA durch die Sowjetunion de, war die Liquidierung der gegnerischen Armee
durchkreuzte die Pläne des US-Imperialismus, den und der Beginn des Umbaus der Bundeswehr zu ei-
Sozialismus per Angriffskrieg von der Weltkarte zu ner kapitalistischen Interventionsarmee. Alle Polit-
tilgen. Der Kampf der nationalen Befreiungsbewe- offiziere wurden entlassen, kein General oder Admi-
gungen bekam großen Aufschwung und schuf zu- ral in die Bundeswehr übernommen, fast 90 Prozent
sätzliche Möglichkeiten, dem Imperialismus Zügel der Offiziere ausgemustert. Schritt für Schritt wur-
anzulegen. de die Bundeswehr in ihrer militärischen Struktur,
In Deutschland kämpften die Kommunisten gegen Bewaffnung und Strategie auf internationale Einsät-

44
Antimilitarismus

Kapital seine Inter-


essen abzustecken
oder zu sichern
gedenkt. SPD und
Grüne sorgten auch
für die ideologische
Zerstörung des
Nachkriegskonsen-
ses der BRD: „Nie
wieder Faschismus
– nie wieder Krieg”,
indem sie mit einer
hemmungslosen
Lügenpropaganda
den Angriffskrieg
gegen Jugoslawien
als „humanitären“
Krieg verkauften,
der gegen Völker-
mord und KZ-La-
ger geführt werden
müsse.
Die Neudefinition
des Begriffes „Ver-
teidigung” (Interes-
ze außerhalb des NATO-Gebietes ausgerichtet. Mit senverteidigung statt Landesverteidigung) brachte
einer Salamitaktik wurde die Truppe an immer grö- der sozialdemokratische „Verteidigungs”minister
ßere und „robustere” Militäreinsätze herangeführt. Struck am prägnantesten auf den Punkt, indem er
Beginnend mit Sanitätssoldaten in Kampuchea bis von der Verteidigung Deutschlands am Hindukusch
zum völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die sprach. Der deutsche Imperialismus spielt eine
Bundesrepublik Jugoslawien. Zur politischen Tak- führende Rolle bei der Militarisierung der Europä-
tik der CDU-geführten Bundesregierung gehörte es ischen Union. Unter deutschem Vorsitz wurden im
dabei, das Grundgesetz der BRD nicht zu ändern, ersten Halbjahr 1999 die entscheidenden Beschlüs-
sondern im Gegenteil Fakten zu schaffen, die dann se für den Aufbau einer EU-Interventionsarmee und
vom Bundesverfassungsgericht 1994 abgesegnet die Militarisierung der EU-Außenpolitik gefasst.
wurden. Mit einem juristischen Kunstgriff wurde Gleichzeitig spielt Deutschland eine wichtige Rol-
der Sinn der Verfassung auf den Kopf gestellt und le beim Umbau der NATO zum weltweit agieren-
das Militärbündnis NATO zu einem „System kol- den Militärpakt und beim Aufbau einer schnellen
lektiver Sicherheit” umdefiniert. Auslandseinsätze NATO-Interventionstruppe.
der Bundeswehr sind seither mit mehrheitlicher Im Zusammenspiel mit Paris setzte die Berliner Re-
Zustimmung des Parlamentes möglich, obwohl das gierung die entscheidenden militaristischen Artikel
Grundgesetz lediglich von „Verteidigung“ spricht. im EU-Verfassungsvertrag durch: die Gründung ei-
Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen über- ner Rüstungsagentur und die forcierte Militärpoli-
nahm die entscheidenden Aufgaben bei der „Entta- tik unter Umgehung des Einstimmigkeitsprinzips
buisierung des Militärischen” (Schröder) in Deutsch- – die so genannte „strukturierte Zusammenarbeit”.
land. Sie setzte die Teilnahme der Bundeswehr beim Gemeinsam mit der britischen und französischen
Angriffskrieg gegen Jugoslawien durch und sorgte Regierung betreibt die Bundesregierung die Aufstel-
dabei gleichzeitig für die Ruhigstellung der Gewerk- lung von EU-Kampfverbänden (battle groups) für
schafts- und Teilen der Friedensbewegung. Mit den die schnelle Verlegung und Kampfeinsätzen auch
Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 21. Mai unter extremen klimatischen und geografischen
2003 wurden die letzten Schranken eingerissen. Bedingungen. Der Aufbau der EU-Militärmacht er-
Künftige Einsätze der Bundeswehr lassen sich da- folgt dabei in einem widersprüchlichen Interessen-
nach „weder hinsichtlich ihrer Intensität noch ge- geflecht, in dem gemeinsame und konkurrierende
ografisch eingrenzen”. Einsatzort der Bundeswehr Interessen zwischen EU und der imperialistischen
ist der gesamte Globus – wo immer das deutsche

45
Antimilitarismus

Führungsmacht USA aufeinander treffen. Innerhalb Antimilitaristen zu treiben. Eine beliebte Propa-
der EU gibt es Widersprüche und Gemeinsamkei- gandaformel war dabei stets das Märchen von der
ten zwischen den Führungsmächten Deutschland, kommunistischen Unterwanderung der Friedens-
Frankreich, Großbritannien und den mittleren und bewegung. Solche Spaltungsversuche müssen auch
kleinen Staaten, zwischen einer deutsch-französi- in Zukunft zurückgewiesen werden. Politische Pa-
schen Achse und Großbritannien, zwischen dem zifisten betonen in ihren Stellungnahmen zu Krieg
deutschen und dem französischen Imperialismus. und Kriegsursachen heute ebenso wie Antimilita-
Solche Widersprüche zu analysieren und gegebe- risten die kriegstreiberische Funktion militärisch-
nenfalls auszunutzen ist eine wichtige Aufgabe an- industrieller Komplexe, analysieren die Rolle von
timilitaristischer Politik. Profit- und Rohstoffinteressen der imperialistischen
Länder und treten für die Überwindung der kapita-
Antimilitarismus und Pazifismus listischen Profitwirtschaft und für eine alternative
Weltordnung ein. Unterschiedliche Auffassungen
Marxisten haben in der Vergangenheit den Begriff zwischen Antimilitaristen und Pazifisten sollten
„Pazifismus“ für sehr unterschiedliche politische solidarisch diskutiert werden. Sie ändern nichts an
Positionen gebraucht. So wurde er für prinzipielle der Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes ge-
Gegner des Krieges verwendet, mit denen Antimi- gen Kriegspolitik. Für Marxisten ist die Solidarität
litaristen gemeinsam kämpften, aber auch für jene, mit bewaffneten Befreiungskämpfen wie in El Sal-
die nur zeitweilig oder aus taktischen Gründen ge- vador oder Nikaragua und die Unterstützung von
gen diesen oder jenen Krieg Stellung be- Verteidigungskriegen gegen imperialisti-
zogen und schließlich auch für solche, die sche Aggressionen wie in Vietnam oder der
nur heuchlerisch vom Frieden redeten und militärische Kampf gegen den Faschismus
dabei den Krieg vorbereiteten. Als Kautsky, Teil ihres politischen Selbstverständnisses.
der bedeutendste Theoretiker der II. (sozi- Dabei verabsolutieren sie den bewaffneten
alistischen) Internationale, gegen Ende des Kampf nicht, sondern betrachten ihn als
I. Weltkrieges gegen Annexionen der impe- eine mögliche Kampfform über die jeweils
rialistischen Konkurrenten Deutschlands unter Berücksichtigung der konkreten Um-
auftrat, sich aber über die Raubzüge des deutschen stände zu entscheiden ist. Antimilitaristen halten es
Imperialismus ausschwieg, nannte Lenin das „sozi- für notwendig, alle Möglichkeiten des Kampfes ge-
alistischen Pazifismus”. (LW 23, S. 184) gen den Militarismus auszunutzen. Dazu kann die
Kriege brechen nicht einfach aus wie Naturkatast- Verweigerung des Kriegsdienstes genau so gehören
rophen. Sie entspringen den inneren Entwicklungs- wie die antimilitaristische Arbeit in der Armee und
gesetzen des Imperialismus. Solange der Imperialis- mit den Soldaten.
mus das einzige oder bestimmende Weltsystem war,
war Kampf gegen den Krieg deshalb für Marxisten Antimilitarismus heute
gleichbedeutend mit dem Kampf um die revoluti-
onäre Überwindung des Imperialismus. Das Pre- Antimilitaristische Arbeit und der Kampf gegen die
digen allgemeiner Friedensbotschaften, statt den von den imperialistischen Ländern geführten Krie-
konkreten Kampf gegen imperialistische Kriege und ge ist heute eine der wichtigsten Aufgaben für jun-
Kriegsvorbereitungen zu führen, war für Marxisten ge Sozialisten und Kommunisten. Ideologisch muss
„bürgerlicher Pazifismus“. In allen wichtigen frie- dabei die Lüge von den angeblichen „humanitären
denspolitischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte in Interventionen“ entlarvt werden. Der angebliche
unserem Land spielte die gemeinsame Aktion von „Krieg gegen den Terror“ ist in Wahrheit ein Krieg
Pazifisten und Antimilitaristen eine entscheiden- um die Sicherung von Einflusszonen, Rohstoffquel-
de Rolle. Beim Kampf gegen die Remilitarisierung len und Absatzmärkten und die militärische Absi-
der BRD und bei den Demonstrationen gegen die cherung des Profitsystems. Zu analysieren ist, wie
Atombewaffnung der Bundeswehr. In der Bewe- sich in die Friedensdemagogie des deutschen Impe-
gung gegen die Stationierung von atomaren Mittel- rialismus immer stärker Elemente mischen, die offen
streckenraketen und Marschflugkörpern, bei den und aggressiv Imperialismus und Kolonialismus als
Aktionen gegen den NATO-Krieg gegen Jugoslawien „Segnungen“ für die Welt preisen. Militarismus und
und die neuen Kolonialkriege, die unter der dema- Demokratie sind unvereinbar. Der Kampf um Ver-
gogischen Losung „Krieg gegen den Terror” geführt teidigung und Ausbau demokratischer Rechte muss
werden. Immer wieder wurde daher von den Herr- daher einen breiten Raum im antimilitaristischen
schenden versucht, Keile zwischen Pazifisten und Kampf einnehmen. Die Herrschenden in unserem

46
Antimilitarismus

Land sind dabei, die Fesseln, die dem deutschen material auch verbraucht wird und neues Material
Militarismus in der Vergangenheit angelegt werden hergestellt werden kann. Diese gegenseitige Beein-
konnten, Stück für Stück zu lockern. So wird ver- flussung versteht man unter MIK.
sucht, die Entscheidungsbefugnis des Bundestages
über Bundeswehreinsätze weiter einzuschränken. Arbeitsfragen
Auf der Ebene der EU hat das EU-„Parlament“ bei
Kriegseinsätzen und bei der weiteren Militarisie- 1. Was sind die Ursachen von Kriegen? Warum ist
rung der Außenpolitik so gut wie keine Kompeten- Krieg keine natürliche „menschliche Eigenschaft“?
zen. Antimilitaristen stellen den Zusammenhang 2. Können Kriege unterschiedliche Charaktere ha-
zwischen dem Ausbau des Militärapparates und ben? Gibt es fortschrittliche Kriege?
dem Abbau sozialer Errungenschaften her. Mit den 3. Wie ist das Verhältnis der EU zu den USA zu be-
Beschaffungsprojekten der Bundeswehr werden für werten? Wird deutsche Kriegspolitik durch die US-
Jahrzehnte gigantische Milliardenbeträge verplant, Politik bestimmt? Welche Standpunkte herrschen in
die dann für soziale Projekte fehlen. Im EU-Verfas- der Friedensbewegung vor und welche sollten wir
sungsvertrag wurde gar die Pflicht der Mitglied- in Bündnissen vertreten?
staaten zur permanenten Aufrüstung formuliert.
Antimilitaristen arbeiten für breite Bündnisse und
Bewegungen gegen Aufrüstung und Krieg. Insbeson-
dere die Gewerkschaften und die Beschäftigten in
den Betrieben müssen für solche Bündnisse gewon-
nen werden. Der Kampf für Frieden und Abrüstung,
gegen Militarismus und imperialistische Kriegspo-
litik muss auch international stärker vernetzt und
koordiniert werden. Junge Sozialisten und Kom-
munisten stehen dabei in der Verantwortung, die
Kriegspolitik der „eigenen“ Regierung zu entlarven
und zu bekämpfen.

Begriffserklärung:

Primat der Politik meint: Die Politik hat Vorrang. In


der Frage beim Militarismus geht es darum, ob die
Politik bestimmt was das Militär macht... Wenn „das
Primat der Politik“ zurückgedrängt wird, hieße das,
dass die Gefahr besteht, dass künftig das Militär ei-
genständig entscheiden könnte, wo und wann Krie-
ge geführt werden und diese Kriegseinsätze nicht
mehr politisch gerechtfertigt werden oder durch die
Politik/Diplomatie nicht mehr verhindert werden
könnten.

Militärisch- Industrieller Komplex(MIK): Der Staat


ist eigentlich für die Friedens- und Kriegspolitik ver-
antwortlich, aber es gibt auch unzählige Rüstungs-
betriebe, die für diese Politik Waffen und Geräte
herstellen. MIK meint: Der Staat und die Rüstungs-
betriebe arbeiten Hand in Hand um Kriegsmaterial
herzustellen und beeinflussen sich gegenseitig. Ent-
wickelt z.B. ein Konzern eine neue Waffe, sorgt der
Staat dafür, dass diese Waffe auch hergestellt und
in großer Stückzahl gekauft wird. Bereitet der Staat
einen Krieg vor, gibt das Großaufträge an die Rüs-
tungskonzerne... Deshalb wird z.B. dafür gesorgt,
dass ein Krieg schön lange dauert, damit das Kriegs-

47
SDAJ Grundlagenschule

Antifaschismus
Der Klassencharakter des Faschismus wirklich aufgehoben werden kann - darum fürchtet
man in der herrschenden Klasse bis heute die Auf-
Die Wahrheit über den deutschen Faschismus ist deckung von Klasseninteressen als der Quelle des
nicht nur ein Geschichtsthema, sie ist von brisanter Faschismus wie der Teufel das Weihwasser. Zum
Aktualität. Unbesehen wird offiziell die verlogene Beweis des Klassencharakters des Faschismus sind
Selbstbenennung der Faschisten als „Nationalsozi- gerade unter den heutigen Bedingungen auch Tatsa-
alisten” übernommen; in den Medien werden die chen aus der Zeit des Weges zur Macht aufschluss-
faschistischen Verbrechen als „unfassbares Phä- reich. Dimitroff hatte 1935 erklärt: „Der Faschis-
nomen” oder „Ausfluss des Bösen in der Natur mus - das ist nicht eine über den Klassen stehende
des Menschen” erklärt; den Faschismus als eine Macht, auch nicht die Macht des Kleinbürgertums
Herrschaftsform des Kapitals zu werten wird syte- oder des Lumpenproletariats über das Finanzkapital
matisch kriminalisiert. So gehört es zum Standar- (wie gängige „Theorien” behaupteten). Der Faschis-
trepertoire des „Verfassungsschutzes”, jeden zum mus - das ist die Macht des Finanzkapitals selbst”.
„Verfassungsfeind” zu stempeln, Aus diesen Gesellschaftskreisen
der die Charakterisierung des wurde die faschistische Dik-
Faschismus auf dem VII. Welt- tatur vorbereitet. 1930, in der
kongress der Kommunisrtischen tiefsten Wirtschaftskrise, stellte
Internationale, 1935, für zutref- der Hoesch-Konzern in seiner
fend hält. Dort hatte Georgi Di- Werkszeitung „die Frage des
mitroff nicht undifferenziert von Führertums”; den „Willen der
Kapitalherrschaft gesprochen, gesamten Gesellschaft” kann
sondern den „Faschismus an der nur ein Führer darstellen, „der
Macht” präzise benannt als „die allein den echten Staat verkör-
offene terroristische Diktatur der pern kann”. In einem Brief, mit
reaktionärsten, am meisten chau- dem sie im November 1932 den
vinistischen, am meisten imperi- Reichspräsidenten Hindenburg
alistischen Elementen des Finanz- aufforderten, die Kanzlerschaft
kapitals.“ Es wäre töricht, wollten an Hitler, „den Führer der größ-
wir uns darüber entrüsten, dass ten nationalen Gruppe” zu über-
man diese historisch stichhaltige tragen, erklärte ein großer Kreis
Definition mit dem Stigma „or- führender Vertreter des Indus-
thodox-kommunistisch” als un- trie- und Bankkapitals: „Wir er-
wissenschaftlich abqualifizieren kennen in der nationalen Bewe-
will. Vielmehr haben wir tref- gung, die durch unser Volk geht,
fende Gründe, offensiv über den den verheißungsvollen Beginn
Klassencharakter des Faschis- einer Zeit, die durch Überwin-
mus aufzuklären. Die zwölf Jahre dung des Klassengegensatzes
der Naziherrschaft, das war die die unerlässliche Grundlage für
Exekution einer „terroristischen Diktatur”, wie sie einen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft erst
brutaler nicht hätte sein können: mit der staatster- schafft.“ Hitler selbst hatte sich und seine Bande
roristischen Zerschlagung der Arbeiterbewegung, den Spitzen des Großkapitals wärmstens anemp-
mit rassistischer Verfolgung bis zum Holocaust, mit fohlen. Am 27.1.1932 brüstete er sich vor 700 Wirt-
dem Terrorsystem der KZ-Lager, der SS und Gesta- schaftsführern im Deutschen Industrieclub als Füh-
po, mit den Eroberungs- und Vernichtungsfeldzü- rer der „einzigen Partei, die in sich nicht nur den
gen der Wehrmacht im zweiten Weltkrieg, mit milli- internationalen, sondern auch den demokratischen
onenfacher Versklavung und Völkermord - und alles Gedanken restlos überwunden hat” und: „Wir haben
diktiert von dem Weltherrschaftsstreben der „am den unerbittlichen Beschluss gefasst, den Marxis-
meisten imperialistischen Elementen des Finanz- mus bis zur letzten Wurzel in Deutschland auszu-
kapitals.“ Weil diese Schuld und Verantwortung, rotten.“ Am 20.2.1933 diente sich dieser Führer der
dieser Zusammenhang von Kapitalismus und Fa- Partei, die in ihrem Namen den Anspruch „sozialis-
schismus, zwar geleugnet und verdrängt, aber nicht tisch” und „Arbeiter” trug, führenden Industriellen
als Garant des kapitalistischen Eigentums an: „Pri-

48
Antifaschismus

vatwirtschaft im Zeitalter der Demokratie ist nicht unwirksam helfen sie so dem Kapital, seine Unfä-
aufrechtzuerhalten; sie ist nur denkbar, wenn das higkeit zur Lösung sozialer Probleme zu verschlei-
Volk eine tragende Idee von Autorität und Persön- ern. Die Hitlerleute verklärten kapitalistische Aus-
lichkeit besitzt.” Die Anbetung des Kapitals und die beutung, indem sie dem „raffenden”-jüdischen, das
Verdammung des Klassenkampfes geht im Einklang „schaffende”-deutsche Kapital gegenüberstellten.
mit heutigen Äußerungen bis in bestürzende Details. Die Neonazis von heute haben bereits wieder den
Die „Deutsche Arbeitgeber-Zeitung”schrieb am 22. „anständigen deutschen Unternehmer” entdeckt
März 1931: „Als besonders verhängnisvoll hat sich und in einer Situation schärfster Angriffe des Ka-
auf dem Gebiete des Tarifvertragsrechtes die Unab- pitals, die zum Widerstand herausfordern, predigen
dingbarkeit des Tarifvertrages, d.h. der Ausschluss sie „Volksgemeinschaft statt Klassenkampf”. Stets
abweichender Vereinbarungen und dessen Festhal- war und ist Sozialabbau der günstigste Nährboden
tung durch die Gewerkschaften erwiesen.“ Ganz in für die soziale Demagogie von Faschisten.
diesem Sinne wusste Hitler in den „Führerbriefen”
vom 8.September 1931: „Eine wirksame Wandlung Über Neofaschisten zu neuem Faschis-
in der Wirtschafts- und Lohnpolitik wird sich da- mus?
her sichern lassen, wenn man die Bedeutung der
Gewerkschaften wesentlich zurückdrängt und das Eine der wichtigsten Erfahrungen aus der Zeit vor
Interesse der Arbeitnehmer an den Gewerkschaften 1933 ist die notwendige Verteidigung bürgerlich-
abschwächt.“ demokratischer Rechte und Freiheiten zur Wahrung
der Kampfbedingungen der Arbeiterbewegung ge-
Soziale Demagogie - ein Markenzeichen gen das Kapital, zur Abwehr der faschistischen Dik-
der Faschisten tatur. Wilhelm Pieck sprach 1935 auf dem VII. Welt-
kongress der Kommunistischen Internationale von
Wurden also die Faschisten vom Großkapital zu Fehlern, die sich „aus der absolut falschen Vorstel-
den elitärsten Vollstreckern seiner Klasseninter- lung” ergaben, „dass sämtliche bürgerliche Parteien
essen erkoren, bleibt es eine wichtige Erfahrung, faschistisch seien, dass es ‚keine zwei Herrschafts-
dass der Faschismus gerade in Deutschland um eine methoden der Bourgeoisie’ gebe, dass es den Kom-
Massenbasis bemüht war. Dimitroff sprach 1935 munisten nicht gezieme, die Reste der bürgerlichen
deshalb von der Aufgabe: „Man muss diesen wirk- Demokratie zu verteidigen.“ Die deutsche Großbour-
lichen Charakter des Faschismus besonders stark geoisie hat sich nach der mit Misserfolg von ihr an-
unterstreichen, weil der Deckmantel der sozialen gewandten Herrschaftsmethode der faschistischen
Demagogie dem Faschismus die Möglichkeit gege- Diktatur für die bürgerlich-parlamentarische De-
ben hat, in einer Reihe von Ländern, die durch die mokratie entschieden, aus Überlebensinteresse und
Krise aus ihrem Geleise geworfenen Massen des zu ihrem Vorteil. Der deutsche Imperialismus war
Kleinbürgertums und sogar manche Teile der rück- in die komfortable Stellung der europäischen Zen-
ständigsten Schichten des Proletariats mitzureissen, tralmacht und wieder zur Kriegsmacht aufgestie-
die niemals dem Faschismus gefolgt wären, wenn gen. Doch brachte gerade diese „Erfolgsgeschichte”
sie seinen wirklichen Klassencharakter, seine wahre durchgängig Demokratieabbau hervor. 2006, im 50.
Natur begriffen hätten.“ Das trifft im Wesen heute Jahr des KPD-Verbots von 1956, stehen Auseinan-
noch zu. Aus sozialer Demagogie, die an Erfahrun- dersetzungen um innenpolitische Verschärfungen
gen der Hitlerfaschisten anknüpft, erklärt sich der bis zum Einsatz der Bundeswehr im Innern an. Da
Einbruch neonazistischer Denkmuster bis in die ar- ist es kein Anachronismus, dass Neofaschismus als
beitende und arbeitslose Bevolkerung. Im Kern geht eine sich aus der kapitalistischen Gesellschaft her-
es darum, eine richtige Orientierung des Widerstan- aus produzierende politische Erscheinung zur aktu-
des gegen die sozialreaktionäre Politik von Kapital ellen Gefahr geworden ist. Da die deutsche Groß-
und Kabinett zu verhindern, vom Klassenkampf bourgeoisie kein Interesse daran haben kann, den
abzulenken, indem die sozialen Probleme im nati- Anspruch oder Anschein demokratischer Solidität
onalistisch-rassistischen Sinne verfälscht werden. preiszugeben, der sich für sie machtpolitisch aus-
Waren bei den Hitlerfaschisten „die Juden” die Sün- zahlt, andererseits jedoch zwecks Machtsicherung
denböcke, sind es heute in verschiedenen Varianten verschärfte Einschränkungen der Demokratie be-
„die Ausländer.“ Wie raffiniert immer die Neonazis treibt, aber sich zu keiner wirksamen Unterbindung
- wie schon ihre braunen Vorläufer - in „Antikapi- des Treibens der Neofaschisten aufrafft, „geziemt” es
talismus” machen - am nationalistisch-rassistischen sich für uns, die „Reste der Demokratie” zu verteidi-
Touch entlarvt sich ihre Demagogie. Doch nicht gen. Der Kampf um Demokratie ist ein unabdingba-

49
Antifaschismus

rer Bestandteil des • Die Funktion der ter-


Kampfes für den roristischen Provoka-
Sozialismus. Auch tion gegen demokrati-
wenn das Kapital sche, antifaschistische
nicht unmittelbar Kräfte, der Einschüch-
die neofaschisti- terung gegenüber der
schen Kräfte zur Öffentlichkeit.
Errichtung einer
faschistischen Durch diese Funktio-
Diktatur braucht, nen bildet der Neofa-
wachsen denen für schismus eine echte
das Kapital nützli- Gefahr in unserem
che und geradezu Land, auch wenn dar-
systemnotwendi- aus nicht auf einen
ge Funktionen zu, unmittelbaren Über-
woraus sich ihre gang in eine neue fa-
schonsame Dul- schistische Diktatur
dung durch die zu schliessen ist. Die
herrschende Klas- Entscheidung über die
se erklärt. Das politische Herrschafts-
Spektrum dieser form wird sich das
Funktionen ist Großkapital mit Macht
durchaus entwick- selbst vorbehalten. Da-
lungsträchtig. Hier seien einige aufgeführt, die in rum jedoch ist die Nützlichkeit des Neofaschismus
der gegenwärtigen Entwicklung erkennbar zur Gel- ein gewichtiger Kritikpunkt in der Auseinanderset-
tung kommen: zung mit der Macht des Großkapitals.

• Die Funktion, Protestpotentiale aufzufangen und Arbeitsfragen


von Klassenpositionen in eine für das Kapital erträg-
liche, nationalistisch-rassistische Richtung abzulei- 1. Wie wird der Klassencharakter des Faschismus
ten. bestimmt? Was unterscheidet diesen von der Klas-
• Die Alibifunktion für reaktionäre Regierungspo- senbasis?
litik, indem zum Beispiel durch forcierten Auslän- 2. Was verstehen wir unter sozialer Demagogie und
derhass es der Exekutive erleichtert wird, ihre rest- was ist deren Aufgabe? Wie verhalten wir uns, wenn
riktive Einwanderungs-, Asyl- und Abschiebepolitik Faschisten mit den selben Forderungen auftreten
zu praktizieren. wie wir?
• Die Antreiberfunktion in der Rechtsentwicklung, 3. Neofaschistische Bewegungen haben in der bür-
indem Regierungs- und Parlamentsparteien Forde- gerlichen Gesellschaft verschiedene Funktionen.
rungen und ideologische Positionen der Neonazis Unter was für Bedingungen kommen welche davon
aufnehmen und ihren Rechtsdrall als wirksame „Be- zum Tragen?
kämpfung des Rechtsextremismus” ausgeben. 4. Besteht derzeit mit dem Anwachsen der neofa-
• Die Funktion der Unterstützung offizieller ideo- schistischen Bewegung die Gefahr einer neuen fa-
logischer Prozesse und Kampagnen, wie sie in der schistischen Diktatur? Unter welchen Bedingungen
„Geschichtsbild-Revision” bestehen, aktuell durch könnte dies der Fall sein?
das zielgerichtete Hochspielen des „Vertreibungs”-
Themas.

50
SDAJ Grundlagenschule

Proletarischer Internationalismus
Die Entstehung der Nationen War die Bourgeoisie in ihrem Kampf um die politi-
sche Macht noch auf das Bündnis mit den Volks-
Wie alle anderen gesellschaftlichen Erscheinun- massen angewiesen, machten sich bald die Klas-
gen untersucht der Marxismus auch die Nationen senwidersprüche bemerkbar. Waren die Appelle an
in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Sie sind an die Nation und das Vaterland im Kampf gegen den
die Entstehung des Kapitalismus gebunden, um ei- Feudalismus noch fortschrittlich, schlugen sie nun
nen inneren in den Händen der Bour-
Markt für den geoisie in ihr Gegenteil um.
Warenabsatz Die bürgerlichen National-
zu schaffen. staaten, zusammengehal-
Dabei galt es ten von den unsichtbaren
vor allem, die Fesseln der Warenproduk-
Kleinstaaterei tion, schotteten sich von-
mit ihren Zoll- einander ab, da der Kampf
schranken zu um die Märkte entbrannt
überwinden. war. Die einheimischen Ka-
In allen eu- pitalisten wollen ihren hei-
ropäischen mischen Markt schützen
Ländern ent- und gleichzeitig die ande-
wickelten ren erobern. Nationalismus
sich deshalb mit Beginn des 18. Jhds Bewegungen, und Chauvinismus waren geboren und hetzten die
die von der damals fortschrittlichen Bourgeoisie ge- Völker aufeinander und verdeckten gleichzeitig die
führt, für den Zusammenschluss der Nation und die soziale Frage, den Klassenkampf.
Bildung von Nationalstaaten eintraten. Die gemein-
same Sprache ist dabei ein wichtiges Moment, ge- Die Wurzeln des proletarischen Internati-
nauso wie eine gemeinsame Kultur. „Die Nation ist onalismus
eine historisch entstandene, stabile Gemeinschaft
von Menschen, entstanden auf der Grundlage der In der Arbeiterbewegung spielte diese Frage eine
Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des große Rolle, gilt es doch auch heute noch, den Na-
Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft tionalismus zu bekämpfen und die gemeinsamen
der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.“ Interessen der Arbeiterklasse in den Vordergrund
(Stalin, Marxismus und nationale Frage, 1913) zu stellen. Da das Proletariat keine Produktionsmit-
Um Missverständnissen vorzubeugen sei hierzu fol- tel besitzt, hat es keine Interessen, die es in einen
gendes ergänzt: Unter einer Nation verstehen wir Widerspruch zu anderen Nationen bringt. Seine ge-
eine „Gemeinschaft von Menschen“, die nicht ver- samten Klasseninteressen drängen im Gegenteil zur
wechselt werden darf mit dem bürgerlichen Natio- internationalen Vereinigung und Koordinierung des
nalstaat. So gibt es eine Reihe von Nationen ohne Kampfes. So war schon der erste Zusammenschluss
eigenen Staat (z.B. Kurdistan). Zur „psychischen der revolutionären Arbeiter, der Bund der Kommu-
Wesensart“ ist anzumerken, dass diese natürlich nisten, in dessen Auftrag das kommunistische Ma-
nicht biologisch bedingt ist, sondern sich historisch nifest entstand, ein internationaler Verband. In ihm
durch verschiedene Faktoren entwickelt hat und na- hatten sich Menschen aus ganz Europa zusammen-
türlich im Verlauf der weiteren Entwicklung verän- geschlossen. Im Manifest begründeten Marx und
derbar ist. Engels erstmals den Internationalismus:
„Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der
Nationalismus und Chauvinismus Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der
Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfrei-
In den westeuropäischen Ländern formierten sich heit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der in-
die Nationen im Kampf gegen den Feudalismus und dustriellen Produktion und der ihr entsprechenden
bildeten Nationalstaaten. In anderen Staaten, etwa Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats
dem zaristischen Russland, entwickelten sich viele wird sie noch mehr verschwinden machen. Verei-
Nationen, die allerdings blutig unterdrückt wurden. nigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder,

51
Proletarischer Internationalismus

ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung. schaftlichen Macht der Monopole. Sie nutzen auch
(...) Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der die politische und militärische Macht ihrer imperi-
Nationen fällt die feindliche Stellung der Nationen alistischen Staaten, um im Warentausch zusätzliche
gegeneinander.“ Profite zu bekommen. Über diesen so genannten
nichtäquivalenten Warentausch sichern sich die
Die 1. Internationale Monopole zusätzlichen Profit aus dem Mehrwert,
den die Arbeiter in den abhängigen Ländern schaf-
Die 1. Internationale, gegründet 1864, war die ers- fen. Mittel zur Ausbeutung durch das Finanzkapital
te internationale Massenorganisation. Ihre Aufgabe war von Anfang an das Kreditsystem. Heute durch-
war es, die verschiedenen Strömungen der Arbei- geführt von IWF und Weltbank wird dadurch in den
terbewegung (Anarchismus, Trade-Unionismus) abhängigen Ländern Mehrwert gestohlen und in die
zu einigen und theoretisch eine gemeinsame Linie Zentren umgeleitet. In diesem System spielt auch
auf Grundlage des wissenschaftlichen Kommunis- der zeitweise Nachlass von Schulden keine Rolle.
mus auszuarbeiten. In den industriell entwickelten Diese sind zum einen meistens durch staatliche
Ländern sollten selbständige Arbeiterparteien für Bürgschaften für die Banken gesichert, so dass sie
den politischen Kampf aufgebaut werden. Im Grün- von den Arbeitern der Zentren (die ja hauptsächlich
dungsdokument, der Inauguraladresse, werden zum zur Finanzierung des Staatshaushaltes beitragen)
ersten Mal Grundgedanken des Internationalismus gezahlt werden. Zweitens wird das System dadurch
festgehalten: „in die Geheimnisse der internationa- erst wieder in Gang gebracht. Durch neue Schulden
len Politik einzudringen, die diplomatischen Akte werden die abhängigen Länder immer tiefer in die
ihrer respektiven Regierungen zu überwachen, ih- Abhängigkeit getrieben und damit die steigenden
nen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig Profite des Finanzkapitals gesichert. Aus eben die-
zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen sen Profiten kann dann auch die Arbeiteraristokra-
Denunziationen und die einfachen Gesetze der Mo- tie in den Zentren bestochen werden
ral und des Rechts, welche die Beziehungen von Pri-
vatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze Die 2. Internationale
des Verkehrs von Nationen geltend zu machen. Der
Kampf für solch eine auswärtige Politik ist einge- Doch zurück zum Kampf der Arbeiterbewegung:
schlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipa- 1889 wurde die 2. Internationale gegründet. Ihre ent-
tion der Arbeiterklasse. scheidende Aufgabe war der Aufbau von Massenpar-
Karl Marx und Friedrich Engels spielten bei der teien in den einzelnen Ländern und der Kampf ge-
Gründung und Entwicklung der Internationale eine gen bürgerliche Einflüsse in der Arbeiterbewegung.
wichtige Rolle. Nachdem sich mit der Herausbil- Der erste gemeinsame Kampf war der 1. Mai 1890,
dung von Arbeiterparteien auf marxistischer Grund- der Beginn des Kampftages der internationalen Ar-
lage die Ziele erfüllt und neue Aufgaben der inter- beiterklasse, mit der zentralen Forderung nach dem
nationalen Zusammenarbeit ergeben hatten, wurde 8-Stunden-Tag. Ähnlich wurde der 8. März als Frau-
die 1. Internationale 1876 aufgelöst. entag geschaffen. Seit 1893 war zudem die Friedens-
frage zentral. Zahlreiche Beschlüsse verpflichteten
Veränderte Bedingungen durch den Impe- die Arbeiterparteien zum Kampf für den Frieden.
rialismus 1907 wurde auf der Stuttgarter Konferenz festgelegt,
dass im Falle eines Krieges alles getan werden sollte,
Mit dem Übergang des Kapitalismus in seine reak- um ihn zu verhindern und die Situation zum Sturz
tionäre Phase, den Imperialismus, veränderte sich des Kapitalismus zu nutzen. Mit der Entwicklung
auch die Grundlage für den proletarischen Internati- des Kapitalismus zum Imperialismus setzten sich in
onalismus und er musste weiterentwickelt werden. der 2. Internationale immer mehr die opportunisti-
Durch die Herausbildung der Monopole und des schen Kräfte durch, was schließlich 1914 zum Verrat
Finanzkapitals und mit ihnen des Kapitalexports an der Arbeiterklasse führte. Vor allem die Führung
änderte sich die ökonomische Situation der abhän- der SPD ließ sich vom Chauvinismus der deutschen
gigen Länder und der imperialistischen Länder un- Bourgeoisie einlullen und ließ die Arbeiter im Na-
tereinander. Die ökonomische Aufteilung der Welt men der Befreiung Russlands vom Zarismus auf den
betonierte schon zu Beginn des 20. Jhds das imperi- Schlachtfeldern verbluten. Der „Burgfrieden“ der
alistische System. Wenige Staaten beuten den Rest meisten Arbeiterparteien mit „ihren“ Kapitalisten
der politisch abhängigen, wie unabhängigen Länder zerstörte die 2. Internationale.
aus. Möglich ist dies nicht nur aufgrund der wirt-

52
Proletarischer Internationalismus

Die nationalen Befreiungsbewegungen


und die Arbeiterbewegung

Durch die Krise des Imperialismus, die ihren Aus-


druck im 1. Weltkrieg fand, trat deutlich ein neu-
er Akteur auf. In den Kolonien erhoben sich die
Menschen zu nationalen Befreiungsbewegungen.
Sie fanden in der Arbeiterbewegung und der jun-
gen Sowjetunion einen verlässlichen Bündnispart-
ner. Denn schnell wurde erkannt, welchen Einfluss
die unterdrückten Länder auf den Imperialismus
haben. Ist er in der Lage, sie in aller Ruhe auszu-
beuten, stärkt es den Imperialismus und es wer-
den neue Quellen für die Bestechung der Arbeiter
erschlossen. Erhebt sich eine Bewegung gegen die
nationale Unterdrückung durch den Imperialismus,
werden damit auch die Kampfbedingungen der Ar-
beiterklasse in den Zentren unterstützt. Sie haben
objektiv die gleichen Interessen und ihre Befreiung
ist nicht möglich, ohne ein festes Bündnis beider
Bewegungen. Die Arbeiterbewegung in den Zentren
hat dabei die Aufgabe, die Befreiungsbewegung ge-
gen die „eigenen“ Imperialisten zu unterstützen.

Das Selbstbestimmungsrecht der Natio-


nen ab. Natürlich ist nicht jede nationale Bewegung per
se fortschrittlich. Ausgehen muss man: „erstens von
Eine wichtige Forderung des proletarischen Interna- einer genauen Einschätzung der konkreten histori-
tionalismus ist daher auch das Selbstbestimmungs- schen und vor allem der ökonomischen Situation;
recht der Nationen. Gemeint ist damit das Recht zweitens von einer klaren Herauslösung der Inter-
jeder Nation auf Lostrennung und eigenständige essen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen,
staatliche Existenz. Ohne diese Forderung bis zur der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff
letzten Konsequenz zu unterstützen ist die Solidari- der Volksinteressen schlechthin, der die Interessen
tät der Arbeiter aus den Zentren nur eine Phrase, da der herrschenden Klasse bedeutet; drittens von ei-
sie sich damit auf die Seite der Unterdrücker stellt. ner ebenso klaren Unterscheidung zwischen unter-
Ohne diese Forderung bis zur letzten Konsequenz drückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten und
zu verteidigen ist es unmöglich, die Nationen auf unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten
freiwilliger Basis zu vereinigen und damit die natio- Nationen, im Gegensatz zu dem bürgerlich-demo-
nalen Borniertheiten zu überwinden. kratischen Lug und Trug“ (Lenin)
„Hieraus ergeben sich zwei Seiten, zwei Tendenzen Zusätzlich muss es darum gehen bei dieser Einschät-
in der nationalen Frage: die Tendenz zur politischen zung nicht nur einen Teil, sondern seinen Zusam-
Befreiung von den imperialistischen Fesseln und menhang mit dem Ganzen zu betrachten, d.h. die
zur Bildung eines selbstständigen Nationalstaats, Befreiungsbewegung in den weltweiten antiimpe-
eine Tendenz, die auf Grundlage der imperialisti- rialistischen Kampf und seine Aufgaben zu stellen.
schen Unterdrückung und kolonialen Ausbeutung Die Arbeiterbewegung der Zentren muss weiterhin
entstanden ist, und die Tendenz zur wirtschaftli- beachten, dass es im Umgang mit den Menschen der
chen Annäherung der Nationen, die sich aus der unterdrückten Länder darauf ankommt, die natio-
Bildung des Weltmarktes und der Weltwirtschaft nalen Besonderheiten und auch die jahrelange Un-
ergeben hat.“ (Stalin) terdrückung durch „ihr“ Land zu berücksichtigen
Damit ist das Selbstbestimmungsrecht der Natio- und nicht darum, es „ihren“ Imperialisten gleich
nen auch die stärkste Waffe des proletarischen In- zu tun. Dies gilt auch im Zusammenhang mit der
ternationalismus, denn sie ist der direkte Angriff Bewertung der politischen Praxis der Befreiungsbe-
auf den Nationalismus und gräbt ihm das Wasser wegung, auch im Umgang mit Nationalismus und

53
Proletarischer Internationalismus

Patriotismus. KI durch eine strikte Disziplin und einen ausgereif-


„Man muss unterscheiden zwischen dem Nationa- ten demokratischen Zentralismus gekennzeichnet.
lismus einer unterdrückenden Nation und dem Na- Geleitet wurde sie vom Exekutivkomitee (EKKI). Be-
tionalismus einer unterdrückten Nation, zwischen schlüsse wurden in den Sektionen umgesetzt, was
dem Nationalismus einer großen Nation und dem zu einem einheitlichen und damit mächtigen In-
Nationalismus einer kleinen Nation. Was die zweite strument für die Befreiung der Menschheit wurde.
Art von Nationalismus betrifft, so haben wir Ange- Allerdings ergaben sich auch Gefahren und Konflik-
hörigen einer großen Nation uns in der geschichtli- te. Die dominierende Rolle der KPdSU, die sich al-
chen Praxis fast immer einer Unzahl von Gewaltta- lein schon durch die Tatsache ergab, daß die UdSSR
ten schuldig gemacht, ja mehr als das, unmerklich das zunächst einzige Land der Welt war, in der die
für uns selbst fügen wir den anderen eine Unzahl Arbeiterklasse die Macht erobert hatte, konnte nicht
von Gewalttaten und Beleidigungen zu... Deshalb ohne Auswirkungen auf die Entwicklung der Poli-
muss der Internationalismus seitens der unterdrü- tik der KI bleiben und musste zu Konflikten führen.
ckenden oder so genannten „großen“ Nationen (...) So ergaben sich mehrfach Interessensunterschiede
darin bestehen, nicht nur die formale Gleichheit der zwischen den jeweiligen taktischen Erwägungen
Nationen zu beachten, sondern auch solch eine Un- der Außenpolitik der UdSSR und den Erfordernis-
gleichheit anzuerkennen, die seitens der unterdrü- sen des Klassenkampfes im jeweiligen Land. Durch
ckenden Nation, der großen Nation, jene Ungleich- die Fehleinschätzung der Rolle der Sozialdemokratie
heit aufwiegt, die sich faktisch im Leben ergibt.“ etwa wurde der Kampf gegen den Faschismus behin-
(Lenin) dert. Erst mit dem VII. Weltkongress 1935 setzte sich
die Faschismusdefinition in allen Sektionen der KI
Die sozialistische Nation durch und es konnte entsprechend der Volksfrontpo-
litik gehandelt werden. Mit der Durchsetzung einer
Durch die konsequente Umsetzung dieser Politik er- gemeinsamen Strategie und Taktik in den kommu-
reichten die Bolschewiki die Vereinigung der Natio- nistischen Parteien hatte die KI ihre Aufgabe erfüllt.
nen in der Sowjetunion. Dies fand seinen Ausdruck Hinzu kamen die vollkommen unterschiedlichen
in umfangreichen Rechten der Nation des ehemals Kampfbedingungen in den verschiedenen Ländern.
zaristischen Russlands und der engen wirtschaftli- So wurde die KI 1943 aufgelöst. 1947 folgte ihr mit
chen Zusammenarbeit. So trat an die Stelle der bür- dem kommunistischen Informationsbüro (Komin-
gerlichen Nation die sozialistische. Sie wird nicht form) ein weiterer Zusammenschluss auf internati-
mehr vom Kitt des Privateigentums und Nationalis- onaler Ebene. Allerdings diente es mehr dem Aus-
mus zusammengehalten, sondern von gegenseitigem tausch und der Koordinierung der Aktivitäten und
Vertrauen und der Zusammenarbeit der Nationen. es wurden keine verbindlichen Beschlüsse mehr
Die sozialistische Nation ist dem proletarischen In- gefasst. Es existierte bis 1957. Die kommunistischen
ternationalismus verpflichtet und bildet damit die und Arbeiterparteien treffen sich seit dem zu Konfe-
Grundlage für die Vereinigung der Menschheit. Ähn- renzen, um Standpunkte zu diskutieren und Aktio-
lich dem Staat werden auch die Nationen absterben, nen abzusprechen. Mit der Befreiung Europas vom
da im Verlauf der sozialistischen Entwicklung die Faschismus durch die Sowjetunion wurde nicht nur
(historisch bedingten) Unterschiede zwischen den das Lager der sozialistischen Staaten in Europa ge-
Nationen mehr und mehr verschwinden. schaffen, sondern auch eine Epoche der nationalen
und antikolonialen Bewegung. Die Imperialismus
Die 3. Internationale musste eine Reihe von Niederlagen einstecken:
1949 China, 1950 Indien, das gesamte Kolonialsys-
Als Schlussfolgerung aus den neuen Kampfbedin- tem brach zusammen, spätestens 1974 mit der Be-
gungen und den Erfahrungen vor dem 1. Weltkrieg freiung Portugals vom Faschismus, die gleichzeitig
wurde 1919 die 3. Internationale, die kommunisti- den Erfolg des langjährigen Unabhängigkeitskampf
sche Internationale (KI) gegründet. Ihre Aufgaben in den Kolonien bedeutete. Vielleicht eines der bes-
waren zu Beginn die Verteidigung der Sowjetunion ten Beispiele, wie die Arbeiterbewegung und die na-
durch breite internationale Solidarität und die Bol- tionale Befreiungsbewegung zusammen kämpfen.
schewisierung der kommunistischen Parteien. In der Mit der Niederlage des Sozialismus wirkte auch das
KI wurden die Theorien und die praktischen Erfah- nationalistische Gift der Bourgeoisie wieder und die
rungen der KPdSU verallgemeinert und so nutzbar Nationen wurden aufeinander gehetzt, um sie bes-
für den weltweiten Kampf gegen den Imperialismus ser unterdrücken zu können. Vor allem die ehema-
gemacht. Im Gegensatz zur 2. Internationale war die ligen sozialistischen Staaten wurden durch dieses

54
Proletarischer Internationalismus

Gift gegeneinander ausgespielt. Einen neuen Anlauf nischen GenossInnen, die vor dem Putsch fliehen
der nationalen Befreiung erleben wir gegenwärtig mussten, Boykottkampagnen gegen das Apartheids-
in Lateinamerika. Vorangetrieben durch das Vorbild regime in Südafrika, Solidaritätsmissionen nach
des sozialistischen Cuba und dem bolivarianischen Palästina und Spendensammlungen für Nicaragua.
Venezuela erwacht der Kampf gegen den US Impe- 1947 war der WBDJ der Initiator der 1. Weltfestspie-
rialismus auf dem Kontinent. Neben der Befreiung le und schaffte damit eine Tradition, die mit den 16.
der (indigenen) Nationen spielt hier die wirtschaft- Weltfestspielen 2005 in Venezuela ihren vorläufigen
liche Zusammenarbeit der einzelnen Nationen die Abschluss fand. Dieses Festival gibt Jugendlichen
hervorragende Rolle, um die USA abzuschütteln. aus aller Welt die Möglichkeit zum Austausch und
zur Diskussion aber auch der konkreten Abspra-
Der WBDJ chen. So ein konkretes Ergebnis sind die Solipro-
jekte der SDAJ mit dem sozialistischen Cuba. Heute
Solidarisch verbunden mit diesen Kämpfen war sind im WBDJ mehr als 140 Jugendorganisationen
von Anfang an die fortschrittliche Jugend der Welt. mit über 30 Millionen Mitgliedern vertreten. Er ist
Während des 2. Weltkrieges kam sie erstmals zu- als NGO beratendes Mitglied der Unicef. Die SDAJ
sammen, um zu diskutieren, wie die Welt vor ei- arbeitet als Mitglied des WBDJ in Deutschland an
nem neuen Rückfall in die Barbarei geschützt wer- der Umsetzung seiner Zielstellung und ist aktiv in
den konnte. Am 10. November 1945 wurde daraus der Umsetzung seiner Beschlüsse.
dann der Weltbund der demokratischen Jugend. In
der Gründungserklärung heißt es: „Wir geloben, die Arbeitsfragen
Einheit aller jungen Menschen in der Welt zu schaf-
fen, Menschen aller Rassen, jeglicher Hautfarbe, 1. Was unterscheidet den marxistischen Begriff der
aller Nationalitäten und jeglicher Konfession; alle Nation von einem bürgerlichen Nationalstaat?
Überreste des Faschismus von dieser Erde zu tilgen, 2. Profitiert die Arbeiterklasse in den imperialisti-
eine tiefe und ehrliche internationale Freundschaft schen Zentren von der Ausbeutung der abhängigen
aller Völker der Welt zu fördern; einen gerechten Länder?
und dauernden Frieden zu erhalten und Not und 3. Unter welchen Bedingungen ist eine nationale
erzwungene Betätigungslosigkeit auszumerzen.“ Bewegung fortschrittlich oder reaktionär?
Der WBDJ hat in seiner Geschichte zahlreiche So- 4. War die Auflösung der Komintern ein Fehler?
lidaritätsaktionen gestartet, z.B. ein Krankenhaus in Bräuchten wir heute nicht wieder eine Internatio-
Vietnam gebaut; es gab Unterstützung für die chile- nale und wie müßte diese aussehen?

55

Das könnte Ihnen auch gefallen