Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
1 Diese werden auch von J. Lennox, „Teleology“, in E. Fox Keller, E. Lloyd (Eds.), Key-
words in Evolutionary Biology, Cambridge MA 1992, S. 331, beleuchtet.
26 Francesca Michelini
gesuchte neue Fassung des Teleologischen soll nicht auf eine Konzep-
tion reduziert sein, die davon ausgeht, Naturdinge seien nach einem
vernünftigen Plan designed. Zugleich darf jedoch die solchermaßen
entschärfte Teleologie andererseits nicht Gefahr laufen, bloß eine wis-
senschaftliche Konstruktion zu sein – ein bloßer Anschein der Zweck-
mäßigkeit, welcher letztlich durch die Wechselwirkung von Variation
und Selektion erklärbar wäre. Emblematisch in diesem Sinn ist der in
der Biologie vielfach verwendete Begriff „Teleonomie“, der zweck-
hafte Strukturen und Verhaltensweisen von Organismen bezeichnet,
welche freilich durch die Gesetze von Mutation und Selektion gewis-
sermaßen blind entstanden sind.4
In gewissem Sinne scheinen ausschließlich zwei „extreme“ Wege
für die teleologische Rede über Natur gangbar, tertium non datur. Der
erste, der zu Recht als „inflationary“ bezeichnet wurde,5 ist der Weg,
mit dem die Anwendung teleologischer Rede auf Natur dieser sehr
viel mehr zuschreiben würde als ihr tatsächlich zukommt, nämlich die
Fähigkeit, vernünftige Zwecke zu setzen und diese zielführend zu
verfolgen. Der zweite Weg, die „deflationary“ Alternative, ginge dann
davon aus, dass Teleologie nichts Geheimnisvolles ist, sondern viel-
mehr vollkommen „mondän“. Zwecke wären in diesem Fall nichts
anderes als „Wirkungen“ der evolutiven Kraft der Natur, die als eine
Art absichtsloser Entwerfer verstanden werden könnte.6
4 Nach Mayr sind „teleonomic explanations […] strictly causal and mechanistic“. E.
Mayr, „Teleological and teleonomic. A new analysis“, in: ders., Evolution and the
diversity of life, Cambridge, London 1976, S. 403. Gemäß der Deutung von Löw
und Spaemann wird mit „Teleonomie“ eine effektive Zweckmäßigkeit in einer voll-
ständig a-teleologischen Welt indiziert. Vgl. R. Löw, R. Spaemann, Die Frage Wo-
zu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 1981,
S. 218.
5 P. Lipton, „Introduction: The pull of teleology“, in: Studies in History and Phi-
losophy of Biological and Biomedical Sciences, 31/2000, S. 1.
6 „At the other extreme, we have the deflationary view of teleological concepts,
according to which teleology is unmysterious because mundane. Goals, functions,
and purposes are simply effects, and carry no more metaphysical burden than does
causation generally“. Lipton, „Introduction: The pull of teleology“, S. 1-2. Zu die-
ser zweiten Kategorie gehört meiner Meinung nach auch die Ansicht von Daniel
Dennett. Für Dennett ist die natürliche Teleologie die Wirkung einer Design Stance,
die vergleichbar ist mit der Zweckmäßigkeit, die für Artefakte gültig ist, aber die
das Produkt einer nicht intentionellen Handlung wäre. Im Fall von Organismen
wäre die Teleologie dann der absichtslosen Aktion einer natürlichen Auslese zu-
zuschreiben. D. C. Dennett, Kinds of minds: toward an understanding of con-
sciousness, New York 1996, S. 19 f. Obwohl aber im Fall von Artefakten das Subjekt
28 Francesca Michelini
Ist es möglich – und wenn ja, auf welche Weise – andere Wege als
die bezeichneten einzuschlagen?7
Ich glaube, dass es gerade aus unter den genannten Problemlagen
fruchtbar sein könnte, sich heute auf einen Philosophen wie Hans
Jonas zu beziehen: Durch seine Überlegungen ist es möglich, eine
Form von Teleologie zu begreifen, die als einen „dritten Weg“ eröff-
nen könnte. Die Teleologie im Sinn von Jonas unterscheidet sich von
jeder Reduktion der Teleologie auf ein bloß gedankliches Konstrukt
ohne gleichzeitig in die drei oben genannten Gefahren zurückzufallen
und den genannten Einwänden zu unterliegen. Oder vielmehr: Sie
vermeidet die ersten zwei – und weicht gerade dem letzten Vorwurf
nicht aus, sondern beantwortet ihn konstruktiv. So ist eine bestimmte
Form des Anthropomorphismus nach Jonas eben kein Grund für einen
Einwand gegen das Erklärungskonzept, sondern er ist vielmehr eine
unvermeidliche Voraussetzung jeglicher Naturerfassung: Der Anthro-
eines Designs mit Absicht handeln würde, während bei Lebewesen ein solches
Design nicht intentionell wäre, scheint das Erklärungsgrundmodell doch in beiden
Fälle dasselbe zu sein, wobei wir mit Kant von einer äußeren oder linearen Zweck-
mäßigkeit sprechen könnten.
7 Genau auf dieser Suche nach einem „dritten Weg“ beziehen sich heute viele Auto-
ren auf den Begriff von Selbstorganisation und nehmen in diesem Sinn einige An-
regungen der kantischen Philosophie wieder auf. Die kantische Idee der inneren
Zweckmäßigkeit als Selbstorganisation hätte, auf einer Seite, die Lebewesen von der
Notwendigkeit eines Entwerfers befreit („No external force, no divine architect, is
responsible for the organisation of nature“, E. Fox Keller, „Ecosystems, Organisms,
and Machines“, in: BioScience 55/2005, S. 1070). Auf der anderen Seite wäre ein
solcher Ansatz mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien zu verbinden, ohne
zu einer Scheinform oder einem Surrogat der Teleologie (wie in Form der Teleono-
mie) reduziert werden zu müssen. Insbesondere im Anschluss an die Chaostheo-
rien, die Theorien der Komplexität und der Theorien dissipativer Systeme hat eine
solche Revitalisierung des Begriffs des Organismus als selbstorganisiertes System
im kantischen Sinne stattgefunden. Zum Thema siehe u. a.: W. Krohn, G. Küppers,
„Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbst-
organisation“, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität 3/1992, S. 15-30; J.
Steigerwald, „Kant’s concept of natural purpose and the reflecting power of
judgement“, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 37/2006,
S. 712-734; G. Toepfer, Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Be-
urteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004; D. M. Walsh, „Organisms as na-
tural purposes: The contemporary evolutionary perspective“, in: Historical Studies
in the Physical and Biological Sciences 37/2006, S. 771-791; A. Weber, F. J. Varela.,
„Life after Kant: Natural purposes and the autopoietic foundations of individua-
lity“, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 2/2002, S. 97-125.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 29
Für Hans Jonas ist die Eliminierung der Teleologie die Konsequenz eines
generelleren Verbotes: des vom Anthropomorphismus. Es handele sich
dabei allerdings um kein induktives Ergebnis der modernen Wissen-
schaft, sondern vielmehr um ein a priori-Dekret.8 Demnach wäre das
Verbot anthropomorpher Deutungen von Natur ein evidentes Fak-
tum, das keiner weiteren Erklärung oder Begründung bedarf – eine Art
„unbestrittener Glaubensartikel“. Ein solches Verbot betrifft nicht die
transzendente Teleologie, quasi die Teleologie „des Projektes“, die Te-
leologie also, die als Werk eines Planes verstanden werden kann, den
ein „göttlicher Ingenieur mit höchster Kunst“9 in der Welt verwirk-
licht hat, ein Ingenieur mit gänzlich unergründbaren Absichten. Diese
Art von Teleologie kann nach Jonas als harmlos, wenn nicht sogar als
Dennoch ist für Jonas die Anerkennung von Endursachen etwas ganz
Natürliches für den menschlichen Geist. Gerade wegen dieser Selbst-
verständlichkeit sind sie von der Wissenschaft verbannt worden. Mit
dieser Einsicht zeigt Jonas, dass er einen der wesentlichen Aspekte der
Moderne deutlich erfasst hat, nämlich die Verbannung von natürli-
chen und konstitutiven Aspekten der menschlichen Subjektivität, um
diese so „neutral“ wie möglich in die neue wissenschaftliche Weltan-
schauung integrieren zu können. Paradoxerweise stimmt er in dieser
Standpunktbestimmung mit der genealogischen Analyse überein, die
von einem der größten Widerstreiter der Teleologie in der Neuzeit vor-
gelegt wurde: Baruch de Spinoza. Auch für Spinoza sind die Final-
zwecke eine Folge der Beschaffenheit der menschlichen Natur selbst.
Sie sind wesentlich in ihr verwurzelt, so dass sie für das menschliche
Wesen ganz ‚natürlich‘ sind. Die Neigung, finalistische Erklärungen
auf Ereignisse und Strukturen der Natur anzuwenden, erklärt sich
somit aus dem Umstand, dass der Mensch weiß, dass er in seinen
Handlungen seinen „Vorteil“ anstrebt, er kennt jedoch nicht die Ur-
sachen, die ihn zu einem solchen Streben bestimmen.14 Trotz dieser
Ähnlichkeiten zieht Jonas, im Gegensatz zu Spinoza, nicht den Schluss,
dass solchermaßen durch Rückbezug auf den Menschen begründete
finalistische Erklärungen als lediglich „menschliche Fiktionen“ zu be-
werten, aus der Naturerklärung auszuschließen und für die Deutung
selnde Materie, noch gar ein aristotelisches synholon von Materie und
Form, das vielmehr auch für das Anorganische in Geltung bleibe.22
Biologische Individualität besteht hingegen in einer durch das „Spek-
trum der zu einem Organismus gehörenden Bedürfnisse“23 hervorge-
rufenen ständigen Selbsterneuerung. Die Bedürftigkeit – diejenige
der Angewiesenheit und des Mangels – ist dem Leben derart ange-
boren, dass erst sie ihm die eigenste Möglichkeit zu existieren gibt:
Zu existieren bedeutet für den Organismus, kontinuierlich Anderes,
außerhalb seiner selbst Liegendes zu benutzen und somit dessen zu
bedürfen.24 Diese Bedürftigkeit darf jedoch nicht ausschließlich als etwas
Fehlerhaftes oder Desideratives verstanden werden, als etwas, das durch
die Rückkehr zu einer prä-existenten Identität zu überwinden wäre,
so als ob das Lebende einfach etwas wäre, dem noch etwas erman-
gelte. Die wirkliche Bedeutung der Bedürftigkeit des Lebens besteht
nach Jonas vielmehr in der kontinuierlichen Dynamik von Mangel
und Befriedigung. Die organische Ganzheit ist nach dieser Überle-
gung etwas, das sich durch seine eigene Aktivität selbst erfüllt und
aufbaut. Freiheit und Autonomie des Organismus bestehen folglich
nicht in seiner angeblichen Selbständigkeit, sondern vielmehr in der
aufgezeigten ‚Dialektik‘: Das Lebewesen ist ständig bedürftig, lebt stets
riskant, gerade weil es sich in seiner Bedürftigkeit der Welt öffnet.
Und es ist deswegen zwar der Erfahrung fähig, aber doch auch der
Gefahr ausgesetzt. Das Paradox der Freiheit besteht sonach letztlich
darin, sich nur durch die Beziehung zu jener äußeren Welt, die für den
Organismus „Bedingung vom ersten Beginn“ ist, verwirklichen zu
können, und daher nur in Abhängigkeit von dieser Welt existieren zu
können:
„So ist ‚Welt‘ da vom ersten Beginn, und die grundsätzliche Be-
dingung für Erfahrung: ein Horizont, aufgetan durch die bloße Tran-
szendenz des Mangels, die die Abgeschlossenheit innerer Identität in
einen korrelativen Umkreis vitaler Beziehung ausweitet. Das Welt-
Haben, also die Transzendenz des Lebens, in der es notwendig über
sich hinausreicht und sein Sein in einen Horizont erweitert, ist ten-
denziell schon mit seiner organischen Stoff-Bedürftigkeit gegeben, die
ihrerseits in seiner formhaften Stoff-Freiheit gründet.“25
3. Anthropomorphismus
Ist diese Auffassung von Teleologie als Ausdruck einer Tätigkeit des
Mangels nun eine Form, die sich den drei oben genannten ‚Gefahren‘
und den mit ihnen verbundenen Einwänden entzieht? Ohne Zweifel
kann sie gegen die ersten beiden Einwände bestehen. Sie ist weder vi-
talistisch konnotiert noch ist sie Ausdruck einer rückwärtswirkenden
Kausalität. Die mit dem Bedürfnis verbundene Tätigkeit gründet für
Jonas nicht auf irgendeiner im Organismus vorhandenen speziellen
Kraft oder einem Feld von Bedingungen, sondern wurzelt vielmehr
„einerseits in der Notwendigkeit ständiger Selbsterneuerung des Or-
ganismus mittels des Stoffwechsels, anderseits im elementaren Drang
des Organismus, auf solche prekäre Weise sein Dasein fortzusetzen“.33
Gleichzeitig gibt es auf der Ebene des Stoffwechsels keine Vorherse-
hung von künftigen Zuständen, die implizieren würden, man wolle
die gegenwärtigen Zustände nach Art der Rückhandlung erklären.
Vielmehr tritt die Dimension der Zukunft in einer der organischen
Erfahrung innewohnenden Transzendenz auf den Plan, vermittels der
Tatsache, dass der Organismus gemäß seiner Systembedingungen
immer schon über sich selbst hinaus projiziert ist.34 Die Prozessnatur
des Organismus bringt – um die Worte von Jonas zu gebrauchen – mit
sich, dass „es das eigene Sein, wie es [momentan] ist, gehen lassen
muss, um es zurückholen zu können, wie es sein wird“.35
of otherness, as its own ever challenged goal, and is thus teleological“. (Jonas, „Bio-
logical Foundations of Individuality“, S. 197).
36 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 142.
37 Es ist zu Recht bemerkt worden, dass Jonas keinerlei Aufmerksamkeit auf ein Thema
richtet, das der phänomenologischen Tradition lieb ist, das heißt das des Unter-
schieds zwischen Leib und Körper, und er verwendet sie beide gleichermaßen. Vgl.
J. Dewitte „L’anthropomorphisme, Voie d’Accès Privilégiée au Vivant. L’apport de
Hans Jonas“, in: Revue Philosophique De Louvain 100/2002, S. 450.
40 Francesca Michelini
als psychophysische Einheit verstehen will, eine Position also, die seine
Innerlichkeit und Subjektivität anerkennt, auch die Grundlage einer
schlüssigen Philosophie des Menschen bilden. Dieser Ansatz ermög-
licht somit eine Überführung von Biophilosophie in Anthropologie.
Literatur