Sie sind auf Seite 1von 19

Francesca Michelini

Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas

1. Was ist die Teleologie?

Ist es heute noch möglich, über eine ‚natürliche Teleologie‘ zu spre-


chen? Und was wird unter diesem Begriff verstanden? Präziser ge-
fragt: Kann man noch – und unter welchen Umständen – die Teleo-
logie für eine Diskussion des Lebendigen fruchtbar machen?
Wie bekannt, ist die Teleologie lange von jeder wissenschaftlichen
Erörterung, die die Natur betrifft, ausgeschlossen worden. Die wis-
senschaftliche Revolution der Neuzeit und danach der Darwinismus
schienen ihr ein Ende gesetzt oder, um Karl Marx‘ berühmt gewor-
denen Ausdruck zu verwenden, ihr den „Gnadenschuss“ gegeben zu
haben.
Trotzdem stellte die Teleologie weiterhin ein wichtiges Reflexions-
thema dar, wenn nicht gar eine intellektuelle Plage, für alle dieje-
nigen, die nach einer Alternative zur gängigen, aber als zu simpel
erachteten, mechanischen Auffassung des Lebendigen suchten. Nach
Phasen der „Verdunkelung“ und der „Wiedergeburt“ ist die teleo-
logische Rede vor allem in den letzten Jahrzehnten wieder in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Philosophen und teilweise auch
der Biologen gerückt. Jedoch in welcher Form und aus welchen Grün-
den wird heute von Teleologie gesprochen?
Ein wichtiger Punkt scheint der folgende zu sein: Um rechtmäßig
in naturwissenschaftlichen Kontexten in Betracht gezogen werden zu
können, muss die Teleologie von einigen Implikationen gereinigt wer-
den, die sie traditionell begleitet haben, zumindest jedoch von den
folgenden drei Aspekten, die den Anlass für die gängigsten und weit
verbreitesten Einwände gegen den Rückgriff auf finalistische Inter-
pretationen des Lebendigen oder noch allgemeiner der ganzen Natur
boten.1

1 Diese werden auch von J. Lennox, „Teleology“, in E. Fox Keller, E. Lloyd (Eds.), Key-
words in Evolutionary Biology, Cambridge MA 1992, S. 331, beleuchtet.
26 Francesca Michelini

(1) Vitalismus-Verdacht: Die Behauptung, teleologische Argumen-


tation liefen zur Beschreibung und Erklärung der Lebensphänomene
auf die Unterstellung spezifischer Lebenskräfte hinaus, die zusätzlich
zu den chemischen und physikalischen Grundkräften wirken, wie z. B.
im Falle des Postulats einer Entelechie durch Hans Driesch. (2) Back-
ward Causation: Die Behauptung, finalistische Überlegungen unter-
stellten eine Umkehrung des Ursache-Wirkungsverhältnisses, da das
zeitlich Spätere zur Ursache des zeitlich Früheren gemacht wird. Die-
sen Vorwurf hatte dem teleologischen Denken bereits Spinoza gemacht:
Spinoza zufolge stellt die Rede von Finalursachen die Ordnung der
Natur auf den Kopf, indem sie „das was in Wirklichkeit eine Ursache
ist“2 als Wirkung betrachtet, und damit das als das Spätere auffasst,
was in Wahrheit das Frühere ist. So macht sie etwa aus dem auf die
Lebewesen gestrahlten Licht die Ursache der Sonne, wohingegen die
Sonne in Wirklichkeit die Ursache des Lichts ist.3 (3) Anthropomor-
phismus-Vorbehalt: Die Behauptung, die teleologische Beurteilung von
Lebewesen oder der Natur insgesamt liefe auf eine Vermenschlichung
hinaus, sodass (als Konsequenz) auch nichtmenschlichen Entitäten
menschliche Eigenschaften zugesprochen werden, die sie jedoch in
Wahrheit nicht besitzen.
Vor diesem Hintergrund ist für eine aktuelle Verwendung teleo-
logischer Argumente zu fragen: Wie ist es möglich, einen Begriff der
natürlichen Zweckhaftigkeit zu formulieren, der nicht notwendiger-
weise diese Implikationen mit sich führt? Oder sind sie die drei klas-
sischen ‚Vorwürfe‘ unvermeidbare Konsequenzen eines jeden Kon-
zepts von Teleologie? Welchen Sinn kann es also noch haben, heute
von „Teleologie“ zu sprechen, sollten sich diese drei Implikationen –
wie es vor allem die Einwände ihrer Widerstreiter nahelegen – nicht
als zufällige Folgen der Teleologie erweisen, sondern als wesentliche
Bestandteile ihres Begriffs und damit als konstitutive Folgen jeglicher
teleologischer Deutung, die auf untrennbare Weise mit dem Gedan-
ken einer teleologischen Verfasstheit des Lebens verbunden sind?
Das Problem, das auch einige der aktuellen Versuche in der Philo-
sophie der Biologie charakterisiert, besteht also vor allem darin, eine
Formulierung zu finden, in der Teleologie nicht anthropozentrisch auf
der Vorstellung eines bewusst Zwecke setzenden Agenten beruht. Die

2 B. de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt in: Spinoza, Sämtliche


Werke, Leipzig 2010, Bd. 2, S. 87.
3 Spinoza, Ethik, S. 83.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 27

gesuchte neue Fassung des Teleologischen soll nicht auf eine Konzep-
tion reduziert sein, die davon ausgeht, Naturdinge seien nach einem
vernünftigen Plan designed. Zugleich darf jedoch die solchermaßen
entschärfte Teleologie andererseits nicht Gefahr laufen, bloß eine wis-
senschaftliche Konstruktion zu sein – ein bloßer Anschein der Zweck-
mäßigkeit, welcher letztlich durch die Wechselwirkung von Variation
und Selektion erklärbar wäre. Emblematisch in diesem Sinn ist der in
der Biologie vielfach verwendete Begriff „Teleonomie“, der zweck-
hafte Strukturen und Verhaltensweisen von Organismen bezeichnet,
welche freilich durch die Gesetze von Mutation und Selektion gewis-
sermaßen blind entstanden sind.4
In gewissem Sinne scheinen ausschließlich zwei „extreme“ Wege
für die teleologische Rede über Natur gangbar, tertium non datur. Der
erste, der zu Recht als „inflationary“ bezeichnet wurde,5 ist der Weg,
mit dem die Anwendung teleologischer Rede auf Natur dieser sehr
viel mehr zuschreiben würde als ihr tatsächlich zukommt, nämlich die
Fähigkeit, vernünftige Zwecke zu setzen und diese zielführend zu
verfolgen. Der zweite Weg, die „deflationary“ Alternative, ginge dann
davon aus, dass Teleologie nichts Geheimnisvolles ist, sondern viel-
mehr vollkommen „mondän“. Zwecke wären in diesem Fall nichts
anderes als „Wirkungen“ der evolutiven Kraft der Natur, die als eine
Art absichtsloser Entwerfer verstanden werden könnte.6

4 Nach Mayr sind „teleonomic explanations […] strictly causal and mechanistic“. E.
Mayr, „Teleological and teleonomic. A new analysis“, in: ders., Evolution and the
diversity of life, Cambridge, London 1976, S. 403. Gemäß der Deutung von Löw
und Spaemann wird mit „Teleonomie“ eine effektive Zweckmäßigkeit in einer voll-
ständig a-teleologischen Welt indiziert. Vgl. R. Löw, R. Spaemann, Die Frage Wo-
zu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 1981,
S. 218.
5 P. Lipton, „Introduction: The pull of teleology“, in: Studies in History and Phi-
losophy of Biological and Biomedical Sciences, 31/2000, S. 1.
6 „At the other extreme, we have the deflationary view of teleological concepts,
according to which teleology is unmysterious because mundane. Goals, functions,
and purposes are simply effects, and carry no more metaphysical burden than does
causation generally“. Lipton, „Introduction: The pull of teleology“, S. 1-2. Zu die-
ser zweiten Kategorie gehört meiner Meinung nach auch die Ansicht von Daniel
Dennett. Für Dennett ist die natürliche Teleologie die Wirkung einer Design Stance,
die vergleichbar ist mit der Zweckmäßigkeit, die für Artefakte gültig ist, aber die
das Produkt einer nicht intentionellen Handlung wäre. Im Fall von Organismen
wäre die Teleologie dann der absichtslosen Aktion einer natürlichen Auslese zu-
zuschreiben. D. C. Dennett, Kinds of minds: toward an understanding of con-
sciousness, New York 1996, S. 19 f. Obwohl aber im Fall von Artefakten das Subjekt
28 Francesca Michelini

Ist es möglich – und wenn ja, auf welche Weise – andere Wege als
die bezeichneten einzuschlagen?7
Ich glaube, dass es gerade aus unter den genannten Problemlagen
fruchtbar sein könnte, sich heute auf einen Philosophen wie Hans
Jonas zu beziehen: Durch seine Überlegungen ist es möglich, eine
Form von Teleologie zu begreifen, die als einen „dritten Weg“ eröff-
nen könnte. Die Teleologie im Sinn von Jonas unterscheidet sich von
jeder Reduktion der Teleologie auf ein bloß gedankliches Konstrukt
ohne gleichzeitig in die drei oben genannten Gefahren zurückzufallen
und den genannten Einwänden zu unterliegen. Oder vielmehr: Sie
vermeidet die ersten zwei – und weicht gerade dem letzten Vorwurf
nicht aus, sondern beantwortet ihn konstruktiv. So ist eine bestimmte
Form des Anthropomorphismus nach Jonas eben kein Grund für einen
Einwand gegen das Erklärungskonzept, sondern er ist vielmehr eine
unvermeidliche Voraussetzung jeglicher Naturerfassung: Der Anthro-

eines Designs mit Absicht handeln würde, während bei Lebewesen ein solches
Design nicht intentionell wäre, scheint das Erklärungsgrundmodell doch in beiden
Fälle dasselbe zu sein, wobei wir mit Kant von einer äußeren oder linearen Zweck-
mäßigkeit sprechen könnten.
7 Genau auf dieser Suche nach einem „dritten Weg“ beziehen sich heute viele Auto-
ren auf den Begriff von Selbstorganisation und nehmen in diesem Sinn einige An-
regungen der kantischen Philosophie wieder auf. Die kantische Idee der inneren
Zweckmäßigkeit als Selbstorganisation hätte, auf einer Seite, die Lebewesen von der
Notwendigkeit eines Entwerfers befreit („No external force, no divine architect, is
responsible for the organisation of nature“, E. Fox Keller, „Ecosystems, Organisms,
and Machines“, in: BioScience 55/2005, S. 1070). Auf der anderen Seite wäre ein
solcher Ansatz mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien zu verbinden, ohne
zu einer Scheinform oder einem Surrogat der Teleologie (wie in Form der Teleono-
mie) reduziert werden zu müssen. Insbesondere im Anschluss an die Chaostheo-
rien, die Theorien der Komplexität und der Theorien dissipativer Systeme hat eine
solche Revitalisierung des Begriffs des Organismus als selbstorganisiertes System
im kantischen Sinne stattgefunden. Zum Thema siehe u. a.: W. Krohn, G. Küppers,
„Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants Ansätze zu einer Theorie der Selbst-
organisation“, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität 3/1992, S. 15-30; J.
Steigerwald, „Kant’s concept of natural purpose and the reflecting power of
judgement“, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 37/2006,
S. 712-734; G. Toepfer, Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Be-
urteilung biologischer Systeme, Würzburg 2004; D. M. Walsh, „Organisms as na-
tural purposes: The contemporary evolutionary perspective“, in: Historical Studies
in the Physical and Biological Sciences 37/2006, S. 771-791; A. Weber, F. J. Varela.,
„Life after Kant: Natural purposes and the autopoietic foundations of individua-
lity“, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 2/2002, S. 97-125.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 29

pomorphismus wird damit zum wesentlichen Ausgangspunkt für eine


angemessene Auffassung von Natur.
Im Folgenden werde ich versuchen, die Bedeutung dieses Verständ-
nisses von Teleologie und ihren Nexus zum Organismus bei Hans
Jonas zu bestimmen. Insbesondere soll gezeigt werden, wie sie eng sie
mit einer Dynamik des Mangels und dessen Befriedigung verbunden
ist, die schon auf dem primitiven Niveau der organischen Natur ge-
genwärtig ist. Abschließend werde ich versuchen zu erklären, in
welchem Sinn der Anthropomorphismus für Jonas nicht nur nicht
vermeidbar ist, sondern vielmehr fruchtbare Ergebnisse zeitigt. Den
Gegenstand für meine Untersuchung und die Grundlage für meine
These bilden die „ursprünglichen“ Reflexionen, die der Philosoph in
Organismus und Freiheit und in der damit verbundenen Schrift Bio-
logical Foundations of Individuality vorlegt. Weniger im Zentrum
stehen dann die ethischen Implikationen, die später in Das Prinzip
Verantwortung ausgeführt worden sind und die teilweise über das,
was hier entfaltet werden soll, hinausgehen.

2. Die Teleologie bei Hans Jonas

2.1 Die Teleologie als „a priori-Dekret der modernen Wissenschaft“

Für Hans Jonas ist die Eliminierung der Teleologie die Konsequenz eines
generelleren Verbotes: des vom Anthropomorphismus. Es handele sich
dabei allerdings um kein induktives Ergebnis der modernen Wissen-
schaft, sondern vielmehr um ein a priori-Dekret.8 Demnach wäre das
Verbot anthropomorpher Deutungen von Natur ein evidentes Fak-
tum, das keiner weiteren Erklärung oder Begründung bedarf – eine Art
„unbestrittener Glaubensartikel“. Ein solches Verbot betrifft nicht die
transzendente Teleologie, quasi die Teleologie „des Projektes“, die Te-
leologie also, die als Werk eines Planes verstanden werden kann, den
ein „göttlicher Ingenieur mit höchster Kunst“9 in der Welt verwirk-
licht hat, ein Ingenieur mit gänzlich unergründbaren Absichten. Diese
Art von Teleologie kann nach Jonas als harmlos, wenn nicht sogar als

8 H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie,


Göttingen 1973, S. 55.
9 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 54.
30 Francesca Michelini

willkommen betrachtet werden, denn der in ihr zum Ausdruck kom-


mende wissenschaftliche Begriff der Welt ist mit einem Universum
mechanischer Art ganz und gar vereinbar. Unabhängig vom anfäng-
lichen Impuls der Schöpfung, der die Frucht eines unbekannten und
unerkennbaren Plans Gottes über die Natur sein mag, wird die Ar-
beitsweise der Natur selbst nach diesem Verständnis ausschließlich
der wirkenden Ursache anvertraut, in die die anfängliche Finalur-
sache überführt wird.
Insofern betraf und betrifft das Verbot anthropomorpher Deutun-
gen und finaler Erklärungen noch heute eine Form der Teleologie, die
der Natur selbst immanent ist, eine Teleologie also, die als ein „Kau-
salmodus“ der Natur aufgefasst werden kann.10 Das Problem liegt damit
in der Idee einer der Natur oder, um genauer zu sein, den Organis-
men in ihrer selbst innewohnenden, inneren Teleologie. Wenn man
diese Überlegung verallgemeinern möchte, wendet sich das Verbot
somit gegen eine Zweckmäßigkeit nach aristotelischem oder besser
pseudo-aristotelischem Vorbild.
Aber aus welchem Grund ist es zu einem a priori-Verbot dieser Art
gekommen? Für Jonas ist es im Endeffekt nicht so sehr der modernen
Wissenschaft an sich zuzuschreiben als vielmehr der Metaphysik, die
sie stützt.11 Entsprechend dieser die neuzeitliche Naturwissenschaft
leitenden Metaphysik würden Finalursachen der Sphäre des Menschen,
nicht aber der des Universums zugehören. Die Trennung beider Be-
reiche setzt einen Wesensunterschied von Mensch und Natur voraus,
der beinhaltet, dass man nicht vom einen zum anderen Bereich schlie-
ßen kann und folglich ein solches Vorgehen wegen der mit ihnen ver-
bundenen Kategorienfehler verboten ist. Anders ausgedrückt ist das
Verbot somit das Ergebnis einer Metaphysik dualistischer Art, die die
beiden Sphären kategorisch trennt, wie es exemplarisch die Kartesia-
nische Konzeption zum Ausdruck bringt:
„Unter dem Titel der res extensa wurde äußere Realität gänzlich
von der Innenwelt des Denkens abgetrennt und bildete hinfort ein
selbstgenügsames Feld für die universale Anwendung mathemati-
scher und mechanischer Analysis“.12
Subjekt und Objekt werden in diesem Ansatz als zwei komplett
heterogene Reiche betrachtet; jede Übertragung von Eigenschaften von

10 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 53.


11 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 55.
12 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 55-56.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 31

der inneren Erfahrung zur Interpretation der Außenwelt wird – um


Jonas’ Worte zu gebrauchen – „mit strengem Bann“ belegt.13 Für Jonas
ist der Ausschluss der Teleologie ein Dogma in jeder dualistischen
Metaphysik, was in der Metaphysik der neuzeitlichen Naturwissen-
schaften besonders offensichtlich wird. Dennoch darf man daraus nicht
den Schluss ziehen, dass der Rückgriff auf eine monistische Onto-
logie bereits ausreichend wäre, um die Rehabilitierung der Teleologie
zu garantieren. Der Monismus hat jedoch zumindest den Verdienst,
die „teleologische“ Frage wieder zu eröffnen. Damit führt er jedoch,
wie wir sehen werden (vgl. Abschnitt 3), zu zwei extremen und ab-
solut gegensätzlichen Folgen.

2.2 Die Rehabilitierung der Teleologie

Dennoch ist für Jonas die Anerkennung von Endursachen etwas ganz
Natürliches für den menschlichen Geist. Gerade wegen dieser Selbst-
verständlichkeit sind sie von der Wissenschaft verbannt worden. Mit
dieser Einsicht zeigt Jonas, dass er einen der wesentlichen Aspekte der
Moderne deutlich erfasst hat, nämlich die Verbannung von natürli-
chen und konstitutiven Aspekten der menschlichen Subjektivität, um
diese so „neutral“ wie möglich in die neue wissenschaftliche Weltan-
schauung integrieren zu können. Paradoxerweise stimmt er in dieser
Standpunktbestimmung mit der genealogischen Analyse überein, die
von einem der größten Widerstreiter der Teleologie in der Neuzeit vor-
gelegt wurde: Baruch de Spinoza. Auch für Spinoza sind die Final-
zwecke eine Folge der Beschaffenheit der menschlichen Natur selbst.
Sie sind wesentlich in ihr verwurzelt, so dass sie für das menschliche
Wesen ganz ‚natürlich‘ sind. Die Neigung, finalistische Erklärungen
auf Ereignisse und Strukturen der Natur anzuwenden, erklärt sich
somit aus dem Umstand, dass der Mensch weiß, dass er in seinen
Handlungen seinen „Vorteil“ anstrebt, er kennt jedoch nicht die Ur-
sachen, die ihn zu einem solchen Streben bestimmen.14 Trotz dieser
Ähnlichkeiten zieht Jonas, im Gegensatz zu Spinoza, nicht den Schluss,
dass solchermaßen durch Rückbezug auf den Menschen begründete
finalistische Erklärungen als lediglich „menschliche Fiktionen“ zu be-
werten, aus der Naturerklärung auszuschließen und für die Deutung

13 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 56.


14 Spinoza, Ethik, S. 81.
32 Francesca Michelini

der Natur folglich zu vermeiden wären. Er sucht vielmehr im Gegen-


teil nach einem Weg, die Selbstverständlichkeit des menschlichen Um-
gangs mit den Zweckursachen als einen Ausgangspunkt dafür zu ver-
wenden, die Teleologie zu rehabilitieren. Aber wie ist unter heutigen
Bedingungen eine solche Rehabilitierung möglich?
„Zweckhaftigkeit“ – schreibt Hans Jonas in Organismus und Frei-
heit – „ist in erster Linie ein dynamischer Charakter einer gewissen
Weise zu sein, zusammenfallend mit der Freiheit und Identität der
Form relativ zum Stoff, und erst in zweiter Linie ein Faktum der
Struktur oder physischen Organisation, wie es im zweckdienlichen
Verhältnis der organischen Teile (‚Organe‘) zum Ganzen und in der
funktionellen Tauglichkeit des Organismus überhaupt vorliegt“.15
Es ist wichtig zu bemerken, dass die Teleologie auch ein Faktor der
physischen Organisation ist, aber dass dieser Aspekt nicht hinrei-
chend ist, um Teleologie vollständig zu charakterisieren: Sie ist vor
allem eine gewisse besondere Weise zu existieren, die mit der Freiheit
und Identität der Form relativ zum Stoff zu tun hat. In welchem Sinn
gilt dieses? Was Jonas mit Freiheit meint, ist bekannt: Gegen die Auf-
fassung, Freiheit finde sich ausschließlich im Bereich des Humanen,
des Geistes oder des Willens, setzt Jonas die These, dass schon der Zell-
stoffwechsel, jenes Grundphänomen des Lebens, eine erste Form von
Freiheit konstituiere. Im Stoffwechsel bilde sich erstmals ein gänzlich
anderes Verhältnis von „Stoff“ und „Form“ als in der leblosen Mate-
rie. Kurz gefasst besagt seine These das Folgende: Der Organismus
bleibt durch seine Beziehung zur umgebenden Welt, d. h. über die
ständige Aufnahme und Ausscheidung von Materie und Energie, die
der Stoffwechsel erzeuge, hindurch, stets derselbe. Obgleich ein Orga-
nismus folglich vom Standpunkt der Materie aus betrachtet in kei-
nem Augenblick identisch ist, erhalte er sich als dieses identische
Selbst geradezu kraft dessen, dass er niemals dieselbe Stoff ist: „Es
[das Lebewesen] ist niemals stofflich dasselbe und dennoch beharrt es
als dies identische Selbst gerade dadurch, dass es nicht derselbe Stoff
bleibt“.16 Nach dieser Überlegung erhält das Lebewesen seine Identi-
tät eben mittels des Durchgangs fremder Materie durch sein räum-
liches System. Die Freiheit, die sich im Stoffwechsel zeigt, besteht daher
in dem erstmaligen Hervortreten eines realen Unterschieds zwischen
Materie und Form, oder, in Jonas’ Worten, in der „Emanzipation der

15 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 137.


16 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 120.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 33

Form“ von einer unmittelbaren Identität mit dem Stoff.17 Während


also im Anorganischen die Form unlösbar an die unveränderliche
Materie gekettet ist – Form dort folglich bloß ein Akzidens der per-
sistierenden Materie sein kann –, ist die lebende Form eine „aktive,
organisierende“, während die ständig wechselnde Materie zu „Zu-
stände[n] ihres identisch bleibenden Seins“ wird.18
Mit dem Auftreten des Lebens ist man daher nach Jonas mit einer
geradezu paradoxen Situation konfrontiert, nämlich mit einer sub-
stantiellen Identität, die eine Art Freiheit gegenüber ihrer eigenen
Substanz genießt, indem sie gänzlich unabhängig von eben der Ma-
terie ist, aus der sie besteht. Nur bezüglich des lebenden Organismus’
ist es also möglich, von einer wahrhaften biologischen Individualität
zu sprechen, oder, anders gesagt: Die Sphäre der Individualität erstreckt
sich auf die des Biologischen. Insofern sie von Jonas als „substantielle
Qualität“ verstanden wird – und nicht einfach im gewöhnlichen Sinne
als „numerische Einzelheit“ –, ist Individualität ein einzigartiges, das
Organische auszeichnende Phänomen.19 Umgekehrt stehen wir nach
Jonas im Fall des Anorganischen vor einer ‚einfachen‘ Identität, vor
etwas Statischem, dessen Überdauern der Zeit einfaches Beharren und
kein kontinuierlicher Prozess ist, etwas, das lediglich durch eine äußere,
raumzeitliche Kontinuität charakterisiert ist, der es sich eingliedert.20
Helmut Plessner hat in diesem Sinne in die Stufen des Organischen
und der Mensch über das Anorganische als den „komplikationsfreien“
Körper gesprochen.21
Doch die Identität des Anorganischen ist, so Jonas, eben deswegen
nicht autonom: Gerade seine Bedürfnislosigkeit und somit seine Un-
abhängigkeit, mache das Anorganische unfrei. Die faktische Selbstän-
digkeit sei ausschließlich ein Zeichen der puren Notwendigkeit seines
Daseins; etwas also, das ihm „äußerlich“ bleibe.
An dieser Stelle erreichen wir den zentralen Punkt in Jonas’ Cha-
rakterisierung der biologischen Individualität: Das grundlegende Be-
stimmungsstück ist nämlich weder die Form allein – welche als die
Kontinuität des Prozesses verstanden wird –, noch die stetig wech-

17 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 128.


18 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 127.
19 H. Jonas, „Biological Foundations of Individuality“, in: ders. Philosophical Essays:
From Ancient Creed to Technological Man, Chicago 1980, S. 187.
20 Jonas, „Biological Foundations of Individuality“, S. 188-189.
21 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philo-
sophische Anthropologie (1928), Berlin, New York 1975, S. 129.
34 Francesca Michelini

selnde Materie, noch gar ein aristotelisches synholon von Materie und
Form, das vielmehr auch für das Anorganische in Geltung bleibe.22
Biologische Individualität besteht hingegen in einer durch das „Spek-
trum der zu einem Organismus gehörenden Bedürfnisse“23 hervorge-
rufenen ständigen Selbsterneuerung. Die Bedürftigkeit – diejenige
der Angewiesenheit und des Mangels – ist dem Leben derart ange-
boren, dass erst sie ihm die eigenste Möglichkeit zu existieren gibt:
Zu existieren bedeutet für den Organismus, kontinuierlich Anderes,
außerhalb seiner selbst Liegendes zu benutzen und somit dessen zu
bedürfen.24 Diese Bedürftigkeit darf jedoch nicht ausschließlich als etwas
Fehlerhaftes oder Desideratives verstanden werden, als etwas, das durch
die Rückkehr zu einer prä-existenten Identität zu überwinden wäre,
so als ob das Lebende einfach etwas wäre, dem noch etwas erman-
gelte. Die wirkliche Bedeutung der Bedürftigkeit des Lebens besteht
nach Jonas vielmehr in der kontinuierlichen Dynamik von Mangel
und Befriedigung. Die organische Ganzheit ist nach dieser Überle-
gung etwas, das sich durch seine eigene Aktivität selbst erfüllt und
aufbaut. Freiheit und Autonomie des Organismus bestehen folglich
nicht in seiner angeblichen Selbständigkeit, sondern vielmehr in der
aufgezeigten ‚Dialektik‘: Das Lebewesen ist ständig bedürftig, lebt stets
riskant, gerade weil es sich in seiner Bedürftigkeit der Welt öffnet.
Und es ist deswegen zwar der Erfahrung fähig, aber doch auch der
Gefahr ausgesetzt. Das Paradox der Freiheit besteht sonach letztlich
darin, sich nur durch die Beziehung zu jener äußeren Welt, die für den
Organismus „Bedingung vom ersten Beginn“ ist, verwirklichen zu
können, und daher nur in Abhängigkeit von dieser Welt existieren zu
können:
„So ist ‚Welt‘ da vom ersten Beginn, und die grundsätzliche Be-
dingung für Erfahrung: ein Horizont, aufgetan durch die bloße Tran-
szendenz des Mangels, die die Abgeschlossenheit innerer Identität in
einen korrelativen Umkreis vitaler Beziehung ausweitet. Das Welt-
Haben, also die Transzendenz des Lebens, in der es notwendig über
sich hinausreicht und sein Sein in einen Horizont erweitert, ist ten-
denziell schon mit seiner organischen Stoff-Bedürftigkeit gegeben, die
ihrerseits in seiner formhaften Stoff-Freiheit gründet.“25

22 Jonas, „Biological Foundations of Individuality“, S. 194.


23 Jonas, „Biological Foundations of Individuality“, S. 196.
24 Jonas, „Biological Foundations of Individuality“.
25 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 133.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 35

Darüber hinaus kann gesagt werden, dass gerade im Ausgang von


der Bedürftigkeit der organischen Individualität auch Teleologie ihre
Anwendung findet. Sie wird in diesem Fall jedoch nicht darin gese-
hen, dass der Organismus einen Zustand der Vollständigkeit (oder
Perfektion) anstrebt, sondern vielmehr gerade in der genannten kon-
tinuierlichen Dialektik von Mangel und Befriedigung. Das authenti-
sche Sein des Organismus – und also seine teleologische Dimension –
besteht in der kontinuierlichen Interaktion mit der Umwelt, die es
dem Organismus ermöglicht, sich zwischen diesen beiden Polen der
Bezogenheit und der Autonomie selbst zu erneuern.26 Die Teleologie
ist deswegen gleich ursprünglich mit dem Mangel. Der Organismus
ist in fundamentaler Weise mangelhaft, weil er immer etwas begehrt.
Die organische Individualität wird somit gegen das Andere der Ma-
terie und der fremden Individuen gewonnen, und resultiert gerade aus
dem Umstand, dass sie als Ziel immer bedroht ist. In dieser Bedroht-
heit des zu erreichenden Ziels wird das organische Selbstsein teleo-
logisch.
Von der Tradition der philosophischen Anthropologie her sind wir
daran gewöhnt, den Begriff des Mangels mit der Auffassung zu ver-
binden, die spätestens seit Herder existiert und insbesondere von Ar-
nold Gehlen mit seiner Definition des Menschen als Mängelwesen
entwickelt worden ist. Es ist fast überflüssig zu unterstreichen, dass
der von Jonas explizierte Sinn des Mangels etwas Anderes meint als
dieser Begriff des Mängelwesens, und dieses mindestens aus zwei Grün-
den: Erstens ist in Jonas’ Auffassung der Mangel eine Kategorie, welche
allen organischen Wesen und nicht nur dem Menschen zugeschrieben
werden kann. Mangel bezeichnet so keine exklusive und charakteris-
tische Eigenschaft des Menschen. In Gehlens Auffassung hingegen
wird Mangel als ein Spezifikum des Menschen bestimmt und dieser
damit einer Natur entgegengesetzt, die als selbständig „vollendet“
oder, zumindest auf physischer und morphologischer Ebene als besser
ausgestattet gilt als der Mensch, welcher als Kompensation des Man-
gels auf eine „zweite Natur“ zurückgreifen müsse. Man muss aller-
dings auch hervorheben, dass Jonas, ohne Gehlen offen zu zitieren,27
jede Theorie, die den Mensch „als ein Geschöpf des Mangels und Ver-

26 Jonas, „Biological Foundations of Individuality“, S. 197.


27 Zu den möglichen Gründen, weshalb Jonas nie die Anthropologie offen zitiert
siehe den interessanten Aufsatz von V. Rasini, „Jonas e l’antropologia filosofica
tedesca“, in: Rivista di filosofia, 2/2010, S. 269-284.
36 Francesca Michelini

langens in Rechnung stellt“ grundsätzlich nicht unbegründet findet.


Im Gegenteil, behauptet er nämlich, eine solche Auffassung sei der
mechanischen Auffassung vom Menschen vorzuziehen, die uns von
der Kybernetik offeriert wird. 28
Aber gleichzeitig interpretiert Jonas – und damit kommen wir zum
zweiten Punkt, der seinen Ansatz von Gehlen unterscheidet – den
Mangel auf eine Weise, die sicherlich grundlegender ist, als der Sinn,
den Gehlen ihm verliehen hat. Jonas reflektiert über eine ursprüng-
liche Verfasstheit des Lebendigen überhaupt und findet in dessen Be-
dingungen und Strukturen die Wesenszüge des Mangels und dessen
Behebung.29 Der Mangel kann deshalb nicht im Sinne Gehlens als
eine Lücke oder Fehlstelle betrachtet werden, die durch die Mechanis-
men von Kultur, Sprache usw. kompensiert werden müsste. Der Man-
gel repräsentiert auch nicht die schlichte Leere, die mittels einer Stra-
tegie der „Ausgleichslogik“ zu beantworten wäre. Mangel ist vielmehr
notwendiges Glied einer steten und unaufhebbaren Dynamik. Der
Mangel existiert also immer schon als die unaufhörliche „Dynamik“
des Lebendigen selbst.
Ein treffender Ausdruck für diese Betonung der Prozessstruktur
des Organischen wurde von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geformt:
Tätigkeit des Mangels.30 In dieser Redewendung liegt freilich die Be-
tonung nicht allein auf dem „Mangel“, sondern ebenso oder vor allem
auf der „Tätigkeit“. Tätigkeit des Mangels bedeutet, dass Bedürftig-
keit nicht als Verirrung oder Versagen zu werten ist, die sich in Rück-
bewegung zu einer präexistierenden Einheit der Vollkommenheit und
Vollendung überwinden ließen. Es handelt sich somit in der Tätigkeit
des Mangels nicht um einen Prozess, der auf Erhalt einer „statischen“
Einheit gerichtet wäre, die sich ihrer selbst in unveränderter Form
versicherte. Es handelt sich vielmehr um einen unaufhörlich progres-
sierenden Prozess der Aufhebung von konkreten Unzulänglichkeiten
bei gleichzeitigem Erhalt der Mangelstruktur als solcher, ein dia-
lektischer Prozess, der eine Art ‚Widerspruch‘ im Lebendigen selbst

28 Vgl. Jonas, Organismus und Freiheit, S. 186 f.


29 Man könnte eine solche Auffassung dem annähern, was Varela in seinen späteren
Schriften ein „permanent lack in the living“ genannt hat. F. J. Varela, „Patterns of
Life: Intertwining Identity and Cognition“, in: Brain and Cognition 34/1997, S. 75.
30 G. W. F. Hegel, Zum Mechanismus, Chemismus, Organismus und Erkennen, in:
Hegel, Gesammelte Werke, hrsg. F. Hogemann, W. Jaeschke, Hamburg 1981, Bd. 12,
S. 278.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 37

ausmacht. In diesem Sinne formuliert Hegel in seiner Philosophie der


Natur:
„Nur ein Lebendiges fühlt Mangel; denn nur es ist in der Natur
der Begriff, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Ent-
gegengesetzten ist. Wo eine Schranke ist, ist sie eine Negation nur
für ein Drittes, für eine äußerliche Vergleichung. Mangel aber ist sie,
insofern in einem ebenso das Darüberhinaussein vorhanden, der Wi-
derspruch als solcher immanent und in ihm gesetzt ist. Ein solches,
das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen
fähig ist, ist das Subjekt.“31
Der Mangel ist an sich selbst etwas, das nicht im Sinne einer Aus-
gleichslogik verstanden werden kann, weil seine Natur aus dem „In-
Beziehung-Stellen“ oder aus dem „Jenseits-Sein“ besteht. Er ist ur-
sprünglich die Tätigkeit der Transzendenz von allem, das über sich
hinaus auf eine bedeutungsvolle Beziehung zu sich und zu anderem
seiner selbst aus ist. Und dieses Über-sich-hinaus-Sein bestimmt ins-
besondere das dynamische Verhältnis des Lebendigen zu seiner Um-
welt und zu sich selbst.
Auf eine Weise, die Hegel näher ist als Gehlen, sind auch für
Jonas „lebende Dinge [...] Geschöpfe des Bedürfnisses und handeln
aufgrund von Bedürfnissen“.32 Jonas interpretiert die Bedürfnisse
deshalb als Symptome einer grundlegenden Besorgnis: der Sorge des
Lebens um sich selbst. Diese Besorgnis überträgt sich auf tierischer
Ebene in das Gefühl, das somit das Wiedererscheinen – auf einem
komplexeren Niveau – desselben Anreizes des Bedürfnisses ist, wel-
ches schon im Bereich des Stoffwechsels tätig war. Gerade aus diesem
Grund ist mit Gefühl für Jonas etwas viel Grundlegenderes bezeich-
net als die besonderen Fähigkeiten, die als biologische Fähigkeiten von
Tieren genannt werden, wie etwa Wahrnehmung oder Bewegung.

31 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse,


in: Hegel, Gesammelte Werke, hrsg. W. Bonsiepen, H.-C. Lucas, Hamburg 1992,
Bd. 20, § 359 A.
32 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 185.
38 Francesca Michelini

3. Anthropomorphismus

Ist diese Auffassung von Teleologie als Ausdruck einer Tätigkeit des
Mangels nun eine Form, die sich den drei oben genannten ‚Gefahren‘
und den mit ihnen verbundenen Einwänden entzieht? Ohne Zweifel
kann sie gegen die ersten beiden Einwände bestehen. Sie ist weder vi-
talistisch konnotiert noch ist sie Ausdruck einer rückwärtswirkenden
Kausalität. Die mit dem Bedürfnis verbundene Tätigkeit gründet für
Jonas nicht auf irgendeiner im Organismus vorhandenen speziellen
Kraft oder einem Feld von Bedingungen, sondern wurzelt vielmehr
„einerseits in der Notwendigkeit ständiger Selbsterneuerung des Or-
ganismus mittels des Stoffwechsels, anderseits im elementaren Drang
des Organismus, auf solche prekäre Weise sein Dasein fortzusetzen“.33
Gleichzeitig gibt es auf der Ebene des Stoffwechsels keine Vorherse-
hung von künftigen Zuständen, die implizieren würden, man wolle
die gegenwärtigen Zustände nach Art der Rückhandlung erklären.
Vielmehr tritt die Dimension der Zukunft in einer der organischen
Erfahrung innewohnenden Transzendenz auf den Plan, vermittels der
Tatsache, dass der Organismus gemäß seiner Systembedingungen
immer schon über sich selbst hinaus projiziert ist.34 Die Prozessnatur
des Organismus bringt – um die Worte von Jonas zu gebrauchen – mit
sich, dass „es das eigene Sein, wie es [momentan] ist, gehen lassen
muss, um es zurückholen zu können, wie es sein wird“.35

33 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 185.


34 Vgl. u. a. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 129. Bei Plessner ist das Lebe-
wesen mit jener intrinsischen Lockerung ausgestattet, die es ihm erlaubt, sich in
die zwei Richtungen des „über sich hinaus“ und des „sich entgegen“ zu über-
schreiten. Das Lebendige „verwirklicht“ seine Grenze, indem es sie überschreitet.
Die kontinuierliche Überwindung der physischen Kontur des Lebewesens erzeugt
so die Versöhnung der beiden traditionellerweise entgegengesetzten Sphären der
Immanenz und Transzendenz. Mit dem Gesetz der Positionalität sucht Plessner
von Beginn an beide Extremfälle zu vermeiden: Indem er seine eigene Grenze be-
sitze, konstituiere der belebte Körper den Übergang von sich in sein Umfeld. Diese
Transzendenz ist daher eine „immanente“, die im Sich-In-Beziehung-Setzen des
Körpers zu seiner Umwelt bestehe, in seinem „Positionsfeld“.
35 „What, in its total effect, appears to be the maintaining of the given condition is in
fact achieved by way of a continuous moving beyond the given condition. There is
an openness, a horizon, intrinsic to the very existence of the organic individual.
Concerned with its being, engaged in the business of it, it must for the sake of this
being let go of it as it is now so as to lay hold of it as it will be. Its continuation is
always more than mere preservation. Organic individuality is achieved in the face
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 39

Auch wenn die beiden ersten Einwände – der Vitalismus-Einwand


und der Einwand rückläufiger Kausalität – somit nicht den Ansatz von
Jonas treffen, muss noch untersucht werden, inwiefern sich die Teleo-
logie, wie sie von Jonas gedacht wird, auch dem dritten der genannten
Einwände entziehen kann. Ist sie berechtigt dem Anthropomorphis-
mus-Vorwurf auszusetzen? Ist die Konzeption von Jonas in der ge-
nannten Hinsicht anthropomorph? Auf diese Frage muss zunächst
schlicht eine bejahende Antwort gegeben werden. Es bleibt allerdings
weiter zu fragen, ob unter den Kautelen von Jonas’ Ansatz dieses
Zugeständnis in ähnlicher Weise fatal ist, wie es bei Geltung der
geschilderten Bedingungen des Anthropomorphismus-Verbots wäre.
Ist mit Jonas’ Überlegung also eine nicht legitime Vermenschlichung
von anderen Lebewesen oder der Natur insgesamt verbunden? Es ist
in dieser Hinsicht wichtig, genauer zu verstehen, was Jonas unter
Anthropomorphismus versteht.
Nach Jonas ist der Anthropomorphismus keine sinnvoll zu ver-
meidende Haltung. Es existiert vielmehr im Gegenteil eine „legitime
Form“ von Anthropomorphismus, die weder Anthropozentrismus noch
uneingeschränkte Herrschaft über die Natur impliziere. Diese an-
thropomorphe Einstellung ist zudem nicht lediglich als unabwendbar
hinzunehmen, sie erlaubt zudem darüber hinaus, sich dem Leben und
seinem angemessenen Verständnis zu öffnen. „Leben kann nur von
Leben erkannt werden.“36 Mit dieser berühmten Behauptung bringt
Jonas zum Ausdruck, dass wir eine immer schon vorgängige Be-
kanntschaft mit dem Leben haben. Wir sind in der Lage, das Leben zu
erkennen, weil wir selbst lebendig sind. Durch die „Zeugenschaft des
Leibes“ (des organischen Körpers) haben wir einen Zugang zum Le-
bendigen und sind in der Lage, es zu verstehen.37
Indem der Mensch die Erfahrung des Lebendigen macht, und zu-
gleich selbst lebendig ist, steht er im Zentrum des Phänomens „Leben“
und stellt es nicht einfach sich gegenüber, als ob es ein „neutrales“
Objekt seiner Erkenntnis wäre. Er erlebt das Leben vielmehr zugleich

of otherness, as its own ever challenged goal, and is thus teleological“. (Jonas, „Bio-
logical Foundations of Individuality“, S. 197).
36 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 142.
37 Es ist zu Recht bemerkt worden, dass Jonas keinerlei Aufmerksamkeit auf ein Thema
richtet, das der phänomenologischen Tradition lieb ist, das heißt das des Unter-
schieds zwischen Leib und Körper, und er verwendet sie beide gleichermaßen. Vgl.
J. Dewitte „L’anthropomorphisme, Voie d’Accès Privilégiée au Vivant. L’apport de
Hans Jonas“, in: Revue Philosophique De Louvain 100/2002, S. 450.
40 Francesca Michelini

„von Innen“. Und nur aufgrund dieser psychophysischen Ganzheit –


und nicht etwa kraft seiner Vernunft oder kraft seines ‚absoluten‘
Selbstbewusstseins (insofern ein solches überhaupt angenommen wer-
den kann) –, kann der Mensch als ein Organismus inmitten einer
Welt von Organismen „das Maß aller Dinge“ sein, wie Jonas in ab-
weichender Verwendung eines antiken Ausdrucks formuliert.38 Inso-
fern ist jede Erkenntnis des Lebendigen notwendig nicht nur in der
Hinsicht anthropomorph, dass das erkennende Subjekt ein Mensch
ist, sondern auch in der weiteren Hinsicht, dass das erkannte Objekt
mittels des Zugangs über im Menschen erfahrbare Eigenschaften er-
schlossen wird.
Der Anthropomorphismus-Vorwurf hat zudem für Jonas nicht so
sehr mit der Auffassung der Erkenntnis als einer möglicherweise ver-
fehlten Projektion von menschlichen Eigenschaften im Allgemeinen
zu tun, sondern bezieht sich vielmehr auf eine besondere Art der
Übertragung oder (unangebrachten) Anwendung von Eigenschaften,
nämlich solcher, die eigentlich der subjektiven Sphäre (des Menschen)
angehören, auf die objektive Sphäre (der Natur). Die Idee des verfehl-
ten Anthropomorphismus setzt somit den radikalen Unterschied zwi-
schen Subjekt und Objekt voraus – als Dogma einer jeden dualisti-
schen Metaphysik, die Jonas widerlegen will. Da Jonas diesem Dogma
nicht folgt, sondern mit dem Rekurs auf das Leben im Gegenteil eine
mittlere Ebene und Verbindungszone zwischen belebter Natur und
ebenfalls belebtem Menschen zum Ausgangspunkt seiner Überlegun-
gen nimmt, ist sein anthropomorpher Ansatz dem Vorwurf der Ver-
menschlichung nur bedingt zu unterwerfen. Insofern ist Jonas’ Bezug
auf den Anthropomorphismus, wie zu Recht hervorgehoben wurde,
stets ein „kritischer“ Bezug. Einerseits ist für ihn der Appell an die
menschliche Erfahrung notwendig und unabtrennbar für ein Verständ-
nis des Lebendigen, aber gleichzeitig ist es andererseits notwendig,
von den darin enthaltenen Gefahren der Vermenschlichung der Natur
Abstand zu nehmen. Es gilt in dieser Hinsicht naive Projektionen zu
vermeiden, vor denen uns die Wissenschaft der Neuzeit zu Recht
warnt. Das Heilmittel gegen die Gefahren des Anthropomorphismus
ist jedoch nicht sein radikaler Ausschluss, sondern vielmehr seine kon-
trollierte und kritische Anwendung.39

38 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 39.


39 Dewitte, „L‘anthropomorphisme“, S. 458.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 41

Dennoch hat nach Jonas die moderne Naturwissenschaft den An-


thropomorphismus aus dem Naturzugang so nachhaltig verbannt, dass
sich der Mensch selbst paradoxerweise nicht mehr anthropomorphisch
auffassen könne. Unter diesen Bedingungen ist letztlich nur folgende
Alternative gangbar:
„[…] entweder die Anwesenheit zweckgerichteter Innerlichkeit in
einem Teil der physischen Ordnung, nämlich im Menschen, als gül-
tiges Zeugnis für die Natur jener weiteren Wirklichkeit zu verstehen,
die sich aus sich hervorgehen ließ, und das, was sie in sich selbst
offenbart, als Teil der allgemeinen Evidenz anzunehmen; oder die
Normen mechanischer Materie bis ins Herz der anscheinend hetero-
genen Klasse von Phänomenen auszudehnen und Teleologie sogar
aus der ‚Natur des Menschen‘ zu verbannen, von wo aus sie die
‚Natur des Universums‘ verunreinigt hatte – das heißt, den Men-
schen sich selbst zu entfremden und der Selbsterfahrung des Lebens
die Echtheit abzusprechen.“40
Wie wir schon oben am Ende des zweiten Kapitels angedeutet
haben, ist das, was hinsichtlich Jonas’ Versuch ins Spiel kommt, die
Entscheidung zwischen zwei Optionen, die beide monistisch sind: Ent-
weder man gibt der Natur einen Teil der Würde zurück, die ihr min-
destens mit der wissenschaftlichen Revolution in der Neuzeit entzo-
gen wurde, und man führt in sie jene Subjektivität ein, die aus ihr
ausgeschlossen wurde – womit auch der Mensch das Reich, aus dem
er verstoßen wurde, wieder betreten dürfte. Oder aber man findet sich
mit einer ausnahmelosen Form des Materialismus ab, der sich auf alle
menschlichen Handlungen und Aktivitäten erstreckt und diese voll-
kommen durch Naturwirkungen bestimmt sein lässt. Jenseits dieser
beiden Alternativen ist nur die Möglichkeit denkbar, dass die teleolo-
gische Dimension mit dem Menschen zusammen „aus dem Himmel“
gefallen ist, womit dieser auf unverständliche Weise mitten unter die
Naturdinge gestürzt wäre. Das ist der „ontologische Sprung“, der einen
Dualismus unvermeidbar machte, und letztlich nicht nur die Natur,
sondern den Menschen selbst ausdörrte.
Angesichts dieser Alternativen kann eine Hermeneutik des Le-
bens – oder eine philosophische Biologie –, die sich gegen den künst-
lichen Dualismus wenden und dessen Folgen vermeiden möchte und
die insofern den Organismus nicht nur als funktionale, sondern auch

40 Jonas, Organismus und Freiheit, S. 59.


42 Francesca Michelini

als psychophysische Einheit verstehen will, eine Position also, die seine
Innerlichkeit und Subjektivität anerkennt, auch die Grundlage einer
schlüssigen Philosophie des Menschen bilden. Dieser Ansatz ermög-
licht somit eine Überführung von Biophilosophie in Anthropologie.

Literatur

Dennett, Daniel Clement: Kinds of minds: toward an understanding of consciousness,


New York 1996.
Dewitte, Jacques: „L’anthropomorphisme, Voie d’Accès Privilégiée au Vivant. L’apport
de Hans Jonas“, in: Revue Philosophique De Louvain 100/2002, S. 437-465.
Fox Keller, Evelyn: „Ecosystems, Organisms, and Machines“, in: BioScience 55/2005,
S. 1069-1074.
Hegel, Georg Wilhelm Friederich: Zum Mechanismus, Chemismus, Organismus und
Erkennen, in: Hegel, Gesammelte Werke, hrsg. Friedrich Hogemann, Walter Jaeschke,
Hamburg 1981, Bd. 12.
Hegel, Georg Wilhelm Friederich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
im Grundrisse, in: Hegel, Gesammelte Werke, hrsg. Wolfgang Bonsiepen, Hans-
Christian Lucas, Hamburg 1992, Bd. 20.
Jonas, Hans: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göt-
tingen 1973.
Jonas, Hans: „Biological Foundations of Individuality“, in: ders., Philosophical Essays:
From Ancient Creed to Technological Man, Chicago 1980, S. 185-205.
Krohn, Wolfgang, Küppers, Günther: „Die natürlichen Ursachen der Zwecke. Kants
Ansätze zu einer Theorie der Selbstorganisation“, in: Selbstorganisation. Jahrbuch
für Komplexität 3/1992, S. 15-30.
Lennox, James: „Teleology“, in: Fox Keller, Evelin, Lloyd, Elisabeth (Eds.), Keywords in
Evolutionary Biology, Cambridge MA 1992, S. 324-333.
Lipton, Peter: „Introduction: The pull of teleology“, in: Studies in History and Philo-
sophy of Biological and Biomedical Sciences, 31/2000, S. 1-10.
Löw, Reinhard, Spaemann, Robert: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentde-
ckung des teleologischen Denkens, München 1981.
Mayr, Ernst: „Teleological and teleonomic. A new analysis“, in: ders., Evolution and the
diversity of life, Cambridge, London 1976, S. 383-404.
Plessner, Helmut: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die phi-
losophische Anthropologie (1928), Berlin, New York 1975.
Rasini, Vallori: „Jonas e l’antropologia filosofica tedesca“, in: Rivista di filosofia, 2/
2010, S. 269-284.
Spinoza, Baruch: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, in: Spinoza, Sämtliche
Werke, Leipzig 2010, Bd. 2.
Steigerwald, Joan: „Kant’s concept of natural purpose and the reflecting power of
judgement“, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences, 37/2006,
S. 712-734.
Toepfer, Georg: Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung bio-
logischer Systeme, Würzburg 2004.
Teleologie und Dynamik des Mangels bei Hans Jonas 43

Walsh, Denis M.: „Organisms as Natural Purposes: The Contemporary Evolutionary


Perspective“, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences, 37/
2006, S. 771-791.
Varela, Francisco Javier: „Patterns of Life: Intertwining Identity and Cognition“, in:
Brain and Cognition 34/1997, S. 72-87.
Weber, Andreas, Varela, Francisco Javier: „Life after Kant: Natural purposes and the
autopoietic foundations of individuality“, in: Phenomenology and the Cognitive
Sciences, 2/2002, S. 97-125.

Das könnte Ihnen auch gefallen