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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften vom Leben

– Bruch oder Kontinuität?


Author(s): Sebastian Luft
Source: Phänomenologische Forschungen , 2015, (2015), pp. 47-65
Published by: Felix Meiner Verlag GmbH

Stable URL: https://www.jstor.org/stable/24775207

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Sebastian Luft

Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische


Wissenschaften vom Leben - Bruch oder Kontinuität ?

Folgender Versuch soll im Wesentlichen den zwei Fragen nachgehen, (erstens)


was eine phänomenologische Lebensweltwissenschaft leisten kann und (zwei
tens) was ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften, die das Thema „Leben" for
schend thematisieren, sein kann und sein sollte. Zu diesem Zweck erfolgt zu
nächst (ad 1) eine Exposition, wie eine solche Phänomenologie der Lebenswelt
konzipiert ist. Hierbei beziehe ich mich orientierungshalber auf das phänomeno
logische Grundprogramm Husserls. Ihm zufolge ist die Phänomenologie eine
nicht-empirische Wissenschaft von der Welt des von einem Bewusstsein erfahre
nen Lebens. Subjektivität und Lebenswelt bilden damit eine untrennbare Korre
lation. Eine solche Wissenschaft ist demnach, als eine philosophische Disziplin,
für Husserl eine transzendentale Wissenschaft von der Welt, einer Welt, wie sie
von einem verleiblichten, mit Intelligenz, Wünschen und Wollen ausgestatteten
Bewusstseinswesen, wovon der Mensch als homo sapiens sapiens ein Repräsen
tant ist, erlebt wird.
Mit der Formulierung „verleiblichten etc. Bewusstseinswesen, wovon der
Mensch ein Repräsentant ist", ist vom Husserl'schen Standpunkt aus klar eine
Abgrenzung vorgenommen, und zwar zu anderen wissenschaftlichen Erfor
schungen des Menschen als Lebewesen in der Welt, wobei die Hauptabgrenzung
die zwischen wissenschaftlicher Erforschung in Form von empirischen Diszipli
nen und der Phänomenologie als apriorischer (bzw. transzendentaler) Wissen
schaft ist. Die zweite Frage (ad 2) betrifft somit das Verhältnis beider Arten von
Wissenschaften, der Phänomenologie einer- und den Lebenswissenschaften an
dererseits. Die Frage hierbei muss zunächst lauten, was diese empirischen Wis
senschaften vom Leben umfasst.

Ich schlage vor, dass zu solchen Wissenscharten einmal die neuerdings so ge


nannten „Life sciences" gehören, die Leben eher als biologisches Phänomen ver
stehen, also etwa die Biochemie, Virologie, aber auch Ernährungswissenschaf
ten. Es handelt sich hier um Naturwissenschaften, die Leben thematisieren,
wobei Leben im biologischen Sinn verstanden wird. „Leben" kann aber auch
einen spezifisch menschlichen Sinn haben. So gehören zu Lebenswissenschaften
auch solche, die das menschliche Leben untersuchen. Sie bezeichnen damit eine

Phänomenologische Forschungen 2015 ■ ©Felix Meiner Verlag 2015 • ISSN 0342-8117

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andere Großgruppe von empi


tionelleren Begriff als „Geis
menschliche Leben in seinen
sionen erforschen. In einer f
zu sprechen, sind die biolog
plinen von der Dritte-Person
pirisch, sowohl Wissenschaft
son-Perspektive.
Was diese Wissenschaften im
schaftstypen für sich, die Ph
dem Tagungsthema entsprec
und zu erforschen. Aber die
den empirischen Wissenschaf
bereitzustellen, der in wesentl
der anderen Wissenschaften hi
losophische Repetition des sc
darauf). Ob das der Fall sein k
logie über sie hinausgeht, ist e
ge nach der Abgrenzung beid
dass beide Fragen - nach dem
ihr Verhältnis zu anderen Disz
Hierbei war für Husserl die B
ser „anderen" Wissenschafte
ist eine deskriptiv-apriorische
alle anderen Wissenschaften
Wissenschaften wie die Math
ren das weltlich Erlebte selbs
tiv. Die Phänomenologie ist d
ben, wie Husserl bereits in I
lungsänderung notwendig ist
die sich durch den Bruch mit
verschiedenen Boden befinde
stellt. Damit kann die Phäno
sein, aber sie ist auch keine Ge
nomenologie und Psychologi
Themen der Geisteswissensch
- nur eben „anders".
Allerdings ist dieser Husserl
nomenologie als eidetischer W
schen Wissenschaften vom Leb

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 49

die mögliche Alternative, dass zwischen beiden in Wahrheit eine Kontinuität be


stünde, ist ebenso wenig überzeugend, sofern die termini a quo und ad quem
noch zu undeutlich sind. Was kann eine Kontinuität hier heißen? Und allein
schon, wenn man bedenkt, wie Husserl selbst betont, dass die Phänomenologie
vom Leben und empirische Wissenschaften vom Leben gewisse, vielleicht sogar
viele, Themen gemeinsam haben, wenn hier also Parallelen bestehen, kann von
einer Kontinuität beider nicht gut die Rede sein. Wie verhalten sich nun beide
zueinander ?
Um vorausdeutend meine Antwort vorwegzunehmen, plädiere ich für ein
„entspannteres" Verständnis einer phänomenologischen Behandlung der Lebens
welt, die sich nicht immer an Husserls Ideal einer eidetischen Wissenschaft zu
orientieren braucht. Die Aufsuchung der Typenstruktur und des Wesensstils der
Lebenswelt hat m. E. wesentliche ( ! ) Grenzen. Andererseits können die Bemü
hungen der empirischen Wissenschaften nicht einfach abgetan werden mit dem
Hinweis, sie stünden alle „auf dem Boden der natürlichen Einstellung", als ob
sie damit vorurteilsbehaftet wären (mit dem größten aller Vorurteile, dem Glau
ben an die erfahrungsunabhängige Existenz der Welt) und damit aus der „Digni
tät" der phänomenologischen Betrachtungsweise herausfallen. Jedoch ist die (im
plizite) Antwort, die heute oftmals von Vertretern z.B. der Kognitions
wissenschaften gegeben wird, dass die Grenze zwischen beiden Wissenschaften,
sofern sie die Erfahrungsperspektive thematisieren, fließend ist und man daher
den hohen Anspruch der Phänomenologie getrost ignorieren kann, ebenso unbe
friedigend. Denn das übersieht den genuin philosophischen Anspruch der Phäno
menologie, eine Form von Transzendentalphilosophie zu sein. Was das freilich
bedeutet, das soll hier besprochen werden.
Es ist die These zu verteidigen, dass Husserls Originalprogramm, als phäno
menologisch verstandenes Forschungsprogramm, weiterhin Bestand hat, es sich
aber dann am besten umsetzen lässt, wenn man den Husserl'schen Anspruch er
heblich herunterschraubt. Konkret bedeutet das, dass die von Husserl stets be
tonte „Bindung an das Faktum", die fallen gelassen werden muss, soll man zur
eidetischen Wissenschaft voranschreiten, beibehalten werden sollte. Der Weg zu
einer phänomenologischen Philosophie transzendentaler Ausrichtung ist somit
eröffnet, die sich um „reine Wesenserfassung" nicht (immer) bemühen muss,
wenn es um die Auslegung der Lebenswelt in ihrer Reichhaltigkeit geht.
Am Ende ergibt sich so auch eine neue Perspektive auf eine phänomenologi
sche Metaphysik, die für Husserl die Lehre vom Faktum der Welt ist. Ich plädie
re in diesem Sinne (in einem Ausblick) für eine Phänomenologie, die als For
schungsthema maßgeblich die Lebenswelt zum Thema hat, und als das eine den
empirischen Wissenschaften vom Leben aufgeschlossene, jedoch von ihnen auch
unabhängige Transzendentalphilosophie ist.

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1. Zu einer phänomenologis
und deren Bruchstell

Zunächst zum Programm de


wobei gerade schon in der Ko
schein kommen, die das Prob
(oder besser: nach-)phänome
selbst deutlich machen. Anha
sophie, wo Husserl einen selten
problem in Husserls Systema
Husserls geschuldet ist, dass
der Welt vom Erfahrungsstand
Als Einstieg kann man fragen
nologie „an sich" und der Ph
delt es sich bei letzterer um
logie ? Man mag manche der
- etwa Wahrnehmung, Erinn
der Phänomenologie sehen, al
seiner „Konkretion", worin a
traktiv auseinanderdividiert
den erfahrenen Zeitobjekten
Schichten der Weltkonstitut
häufig und ist durchaus legitim
bei der Beschreibung einer le
(als Beispiel) nur künstlich ab
tion (con-crescere), die Analyse
In diesem Sinne ist das Them
das dem Bewusstsein Bewusst
vor aller Theorie, wobei natürl
auf einen gewissen Phänomen
der Theorie, erfordert, welche
erforscht. Alles dem Bewusst
dent, d. h. draußen in der W
gung der Möglichkeit der Erfa
Sinne würde ich dafür plädie

1 Vgl. die berühmte Wahrnehm


Synthesis. Aus Vorlesungs- und F
von Margot Fleischer. Den Haag 1
tisch vorgeht, dann die Leiblichke
stimmte Aspekte der verschiedenen

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Lebenswelt keine Subdisziplin der Phänomenologie ist. Vielmehr ist die Lebens
welt der universale Horizont aller Erfahrung. Sofern die Phänomenologie die
Erfahrung und das darin Erfahrene beschreibt, ist „Lebenswelt" nichts anderes
als ein glücklicher Terminus für den Inbegriff des für ein Bewusstseinslebewesen
Erfahrbaren. Alles Erfahrene ist damit weltlich, d. h. es ist prinzipiell stets hori
zonthaft vorgegeben, und es ist „lebendig", wenn man damit versteht, dass es
aus lebendigen, d.h. sinnhaften Zusammenhängen erwächst, die das Bewusst
sein für sich konstituiert hat und aus denen und in denen es sich und seine Welt
allein konstituieren und damit verstehen kann. Erforderlich für die Erforschung
dieser Konstitution ist freilich die Suspension der natürlichen Einstellung und
die Rückführung der erfahrenen Welt und ihrer Dinge auf das konstituierende
Bewusstsein. Somit ist die Phänomenologie transzendental, sofern sie nicht die
Dinge „an sich", sondern die Konstitution der Dinge im Bewusstsein - gene
tisch und intersubjektiv - als Gegenstände für uns (Phänomene) beschreibt.
Diese Lesart von „Lebenswelt" und die Identifikation von Phänomenologie
mit einer transzendentalen Interpretation der Lebenswelt wird weiterhin plausi
bel, wenn man einen anderen Aspekt hinzufügt, der in Husserls Spätphase im
mer weiter in den Vordergrund tritt. Denn Husserl betont, dass die Lebenswelt
stets als erste und unmittelbare uns gegeben ist, vor aller Theoretisierung, und
dass die Theoretisierung immer der primären Evidenz nachkommt. Diese erste
Evidenz ist das für uns Erste, sie ist der Grund für alle weiteren Aktivitäten. Die
Lebenswelt ist der erste Grund auch solcher Tätigkeiten, die diesen Grund befra
gen und in Frage stellen. Damit ist die Phänomenologie als Erforschung dieser
vortheoretischen, immer schon gegebenen Sphäre, also als Theorie der Un-Theo
rie, die „letztbegründende, [sie erbringt] nicht die mindere, sondern dem Wert
nach höhere [Universalität]"2 gegenüber der Universalität der objektiven Wissen
schaften von der Welt. Damit „muss aufgeklärt, also zur letzten Evidenz ge
bracht werden, wie alle Evidenz objektiv-logischer Leistungen, in welcher die
objektive Theorie [...] nach Form und Inhalt begründet ist, ihre verborgenen
Begründungsquellen in dem letztlich leistenden Leben hat",3 wie Husserl in der
Krisis schreibt. Die Phänomenologie erbringt damit eine Universalwissenschaft
vom Subjektiven, in dem sich die Universalwissenschaft vom Objektiven zur
Gegebenheit bringt.
Was die Phänomenologie damit leistet, ist nicht eine Letztbegründung in ei
nem axiomatischen Sinn, als wäre das leistende Leben so etwas wie ein funda
mentum inconcussum. Das leistende Leben ist vielmehr dasjenige, was die Welt

2 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie. Hua VI. Hg. von Walter Biemel. Den Haag 1976.127.
3 Ebd. 131.

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52 Sebastian Luft

konstituiert, worin alles We


wenn alle anderen Wissenschaf
so ist die Phänomenologie die E
ierenden Lebens selbst. Es ist
vom Standpunkt der Phänomen
von Bewusstseinssubjekten erf
Dieser Sinn vom an sich Ers
Sinn von Phänomenologie als e
in der gleichnamigen Vorlesun
als „Wissenschaft von der erk
die allem Geleisteten systemat
füllt in Form einer echten Wi
alle anderen Wissenschaften
streng wissenschaftlichen Anf
gang. Erst mit einer strengen
überhaupt, einephilosophiapere
de zwar, sofern Unendlichkeit
in der Wesensform der Endgül
Erforschung der leistenden Su
iert, sind die zitierten Worte a
krete Lebenswelt [...] zugleich
gründende[n] Boden"8 bezeichn
welt, auf der sich erst Sachen
zuwenden, ist die Phänomenolo
Dies möge als Antwort auf
nung von erster Philosophie
ren wollen. Das heißt aber nich
me stößt, sobald er diese S
Wissenschaften ausbuchstabie
Wie steht es nun mit der Kons
tung, die diese Objektivität he
etwas radikal anderes als das

4 Das ist der phänomenologisch ve


vgl. Edmund Husserl: Transzend
Hua XXXVI. Hg. von Robin D. Ro
5 Edmund Husserl: Erste Philoso
Hua VII. Hg. von Rudolf Boehm. D
6 Ebd. 6.
7 Ebd.
8 Husserl: Krisis. Hua VI. 134.

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 53

beide Sphären radikal verschieden sind und man den „Gang zu den Müttern"
nur durch einen radikalen Bruch mit der natürlichen Einstellung antreten kann.
Das heißt z.B., dass der Akt des Hörens, worin sich eine Melodie konstituiert,
etwas radikal anderes als die gehörte Melodie selbst ist. Bekanntlich ist die Phä
nomenologie Korrelationsforschung, d. h. jeder Akt hat einen Inhalt, jeder Noe
sis korreliert ein Noema. Wie soll man sich also das Verhältnis vom „leistenden
Leben" und dem Geleisteten vorstellen ? Freilich - und dies zu unterscheiden ist
wichtig - ist das Verhältnis von Noesis und Noema etwas, was sich innerhalb
des Korrelationsapriori abspielt. Das Noema ist nicht die Melodie, sondern das
Melodie-Noema, was von der Melodie als in der Welt existierender Gegenstand
radikal unterschieden ist. Und die wissenschaftliche Erforschung der Melodie,
wenn sie hinreichend komplex ist, obliegt der Musikologie, ihr Gegenstand ist
nicht das Melodie-Noema, sondern „die Neunte Symphonie".
Aber ist dies wirklich so einfach zu trennen ? Oder gibt es nicht doch Paralle
len zwischen dem Hören als Konstitutionsphänomen und dem konstituierten
Gegenstand „Melodie"? Es geht, nochmals, um das Verhältnis von subjektivem
Leben, worin das Weltliche konstituiert wird - der Gegenstand der Phänomeno
logie -, und dieses Weltliche selbst, was Gegenstand von weltlichen Wissenschaf
ten ist. Und hier gibt es nun doch auch eine Korrelation, die nicht die bekannte
Korrelation von Erfahrungsakt und dem darin gemeinten Erfahrungsinhalt (also
Noesis und Noema) ist. Es handelt sich hier um das „ganz große Bild", um die
Korrelation von der universalen Wissenschaft alles Objektiven (also die Totali
tät aller Wissenschaften von weltlichem Sein) und einer hierzu korrelierenden
Wissenschaften alles Subjektiven: „Eine universale Wissenschaft von diesem Be
wusstseinsmäßigen und einer Subjektivität überhaupt [...] umspannt also thema
tisch alles mögliche Subjektive des Erkennens aller Wissenschaften in ähnlicher
Weise, wie eine Logik in ihren Begriffen und Gesetzen thematisch alles mögliche
Objektive aller Wissenschaften umspannt. Anders ausgedrückt, eine Logik als
rationale Wissenschaft von der Objektivität überhaupt [...] hätte als notwendi
ges Gegenstück eine Logik des Erkennens, eine Wissenschaft [...] von der Er
kenntnis überhaupt; beide Wissenschaften, und vielleicht beide in zusammenge
hörige Gruppen von einzelnen Disziplinen sich gliedernd, ständen im Verhältnis
notwendiger Korrelation."9
Diese Korrelation umspannt Wissenschaft „im Großen", und die Phänomeno
logie ist in diesem Szenario die subjektive Seite von Wissenschaft „im Ganzen".
Wie die weltlichen Wissenschaften ebenso in Sonderdisziplinen eingeteilt sind
und man doch von der „vollumfassenden Wissenschaft" des Objektiven spre
chen kann - wie er in Bezug auf die Mathematik sagt: „Niemand wird ja auch

Husserl: Erste Philosophie I. Hua VII. 45.

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sonst etwa eine Wissenschaft


senschaft von den Kreisen et
Bewusstsein, in dessen Erfor
tungen der Wahrnehmung, Er
wie jede Gestalt apriorischen
rens".11 Diese enumeratio deut
wertende und praktische Sub
„Kritik der Vernunft" sein s
Jahrzehnt des 20. Jahrhunder
der Erforschung der apriorisch
den und praktischen Subjektiv
den jeweils in diesen Erlebn
des ästhetischen Genießens u
selbst, das dabei bewusst ist, is
sein, in dem es bewusst ist. W
tisch genießt, ist dieses eine, d
eigenheiten",13 und als so
Phänomenologie ist das Bewu
Der Ästhetik korreliert som
schen Erfahrens. Man kann, al
von Objekten ausgehen und v
hen, wie man auch umgekehr
Objektivitäten gehen und von
kann. In Husserls Worten, e
seinseinheiten jederzeit für e
theoretischen Objekten werden
beziehen können und in der
ästhetischen Objekten, wie e
chen Gütern usw. Danach wi
kennenden Subjektivität auch
sen des Einheiten welcher
erstrecken müssen."14
Wie das zu verstehen ist, ist v
symbolischen Formen zu illu
Husserls „Sonderwelten" - ke

10 Ebd. 46.
11 Ebd. 47.
12 Vgl. die Studien zur Struktur d
13 Husserl : Erste Philosophie I. H
14 Ebd. 50 f.

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 55

tieren aus pluralen transzendentalen Anschauungsweisen der Welt. Die verschie


denen symbolischen Blicke, die wir als animalia symbolica haben, sind, wie Cass
irer auch sagt, „Organe der Realität".15 Somit wäre also die Kunstwissenschaft
die Wissenschaft vom Kunstschönen, welches eine Produktion des menschlich
bildenden Kulturwesens ist. Dazu parallel wäre die Phänomenologie also eine
Wissenschaft vom subjektiven Geist, während die Philosophie der symboli
schen Formen eine des objektiven Geistes wäre. Aber schon bei Cassirer ist die
se Trennung nicht so leicht zu machen; denn die Untersuchungen der Sprache
oder des Mythos sind keine Parallelwissenschaften zu Sprechakten oder mytho
logischem Bewusstsein; wenn Cassirer Band II seines Hauptwerks als Das my
thische Denken bezeichnet, ist es klar, dass hier beides, das Bewusstsein vom
Mythos und das mythische Bewusstsein, in eins gefasst werden. Aber so wie bei
Cassirer hat es Husserl hier eindeutig nicht gemeint, aber der Kontrast zu jenem
kann Husserls Auffassung erhellen; denn er (Husserl) ist der Meinung, es gäbe
eine echte Parallele in der Sache zwischen der jeweils subjektiven wie objektiven
Wissenschaft; beide beziehen sich jeweils auf „dasselbe", nur einmal nach Seiten
der subjektiven Konstitution, das andere Mal nach Seiten des schon konstituier
ten Objekts.
Jedoch, wie immer Husserl sich diese Parallele zwischen der jeweils subjekti
ven und objektiven Wissenschaft vorgestellt hat, so scheint aber doch das eine
klar zu sein, dass die Phänomenologie nicht beides sein kann, erste Philosophie
und subjektive Parallelwissenschaft zur objektiven Wissenschaft. Für diesen Be
fund spricht mehreres. Gibt es eine Parallelität in beiden großen Klassen der Wis
senschaften, die nicht nur global besteht, sondern sich auf die Einzeldisziplinen
hinein erstreckt - etwa Phänomenologie des ästhetischen Erfahrens hier und Äs
thetik da -, dann kann sie keine letztgründende sein. Entweder sie ist die erste
oder eine jeweils parallele Wissenschaft, nicht beides. Ferner gibt es in der Tat
parallele Wissenschaften in der Weise, wie Husserl es darstellt, dann kann es kei
nen radikalen Bruch zwischen beiden Einstellungsweisen geben; die Rede vom
„neuen Kontinent", die Husserl ansonsten sehr ernst meint, würde damit bedeu
tungslos. Weiterhin ist die Parallele zwischen dem subjektiven Erfahren hier und
dem darin Erfahrenen da nicht gerade einleuchtend, sofern manche objektiven
Wissenschaften ebenfalls Erfahrungsweisen thematisieren; dies gilt, wie es auf
der Hand liegt, gerade von den der Kunst gewidmeten Disziplinen, aber durch
aus auch z. B. in den Wirtschaftswissenschaften, wo es nicht immer nur um wirt
schaftliche Fakten, sondern auch den menschlichen Umgang mit ihnen geht, wie
man an den der subjektiven Stimmung ausgesetzten Finanzmärkten sehen kann.

15 Ernst Cassirer: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Hamburg 2009.
109 f.

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56 Sebastian Luft

Und stimmt es überhaupt, das


eine subjektive Seite hat? Wa
Ingenieurswissenschaft korreli
nur um bestimmte Sub-Sub-Ar
Man sieht, dass nicht nur beid
nomenologie und der weltliche
ten Spannung stehen. Gerade
beider Wissenschaften betont
einleuchtende Beispiele hinausg
durchgehenden Parallelität auf
erstrecken soll, ist allenfalls d
menologie als „an sich erster"
der ersten Person als den erste
se Betonung nicht viel, und m
senschaftsarten hätten eben w
sich in keiner Weise beeinfluss
es handelte sich bei beiden Wss
denen Kontinenten unterwegs
schieden sind, so dass die We
werden, vollkommen verschi
wenig befriedigend, da hier d
durchgehende Korrelation zw
ends, wenn nicht widerlegt, so
Wie kommt man hier weiter ?

2. Transzendentale Phänomen
Leben - gegenseitige Bereicher

Meine Absicht ist nicht, das H


ge zu machen, es sinnvollerwei
Zustimmung. Ich möchte dah
nomenologie als erste Philoso
Wissenschaft - so deuten kan
gar nicht in Konflikt geraten.
Fangen wir mit der Idee des
gründend" unnötiger Weise a
darauf verweisen, dass „Ersth
tonung des radikal individuelle
gular. Im trivialen Sinn beginn

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 57

und von mir erfahren wird. Erfahre ich es nicht, ist es für mich auch nichts, aber
alles, was ist, ist im Prinzip von einem Bewusstsein erfahr bar. Das ist, wie schon
erwähnt, die phänomenologische Fassung des transzendentalen Idealismus.
Der Anfang mit der ersten Person Singular ist aber nicht trivial, wenn man
darauf verweist, dass das Streben nach Objektivität ein offenbar subjektives Be
dürfnis ist, in dem Moment, wo man das subjektiv als richtig und wahr Erkannte
anderen an- und zumuten will. Vom Anmuten einer subjektiv wahr scheinenden
Einsicht einer anderen Person gegenüber - also von inter subjektiver Wahrheit
von Ich zu Du - läuft das Bedürfnis, zu Wahrheit „an sich" zu gelangen, auch
wenn dies ein endloses Ziel sein mag. Aber es ist zu allem Anfang ein radikal
subjektiv empfundenes Erleben, dass das, was einem selbst als wahr scheint,
wirklich wahr ist, objektiv, also über mein subjektives Wahr-Erlebnis hinausge
hen muss. Das heißt, in der bekannten Terminologie von Thomas Nagel, dass
der Blick von irgendwo die Aussicht auf den Blick von nirgendwo eröffnet, auf
Wahrheit, die unabhängig von einem Erfahrungsstandpunkt gilt, wenn auch nur
als Idee. Wichtig ist mir, dass das Streben dorthin erst vom subjektiven Stand
punkt aus empfunden wird, in ursprünglicher Evidenz. In den Worten Crowells,
„[o]n Husserl's view, all reasons ultimately refer back to direct seeing for their
authority; put otherwise, the concept of Evidenz is the root concept from which
the notion of a Justification of reason' derives its sense".16
Die Erforschung dieser subjektiv empfundenen Evidenz in vorprädikativer
und vorwissenschaftlicher Erfahrung und der Gang von hier zum wissenschaft
lich gesicherten Urteil, - das ist die Aufgabe der genetischen Phänomenologie.
Umgekehrt gesagt, letztere leistet die prinzipiell mögliche Rekonstruierbarkeit
von erfahrungsunabhängiger Wahrheit aus lebensweltlicher Evidenz. Diese Re
konstruktion als Rückführung höherer Evidenzen auf die subjektive erfahrenen
der jeweils radikal individuierten der ersten Person Singular ist die rechtmäßige
Weise, wie man Phänomenologie als Wissenschaft vom „an sich Ersten" ausle
gen kann. Sie ist damit aber nicht „letztgründend".17
Wie ist weiterhin die Parallele von Phänomenologie und Wissenschaften vom
Objektiven zu verstehen ? Zunächst einmal kann Husserls Idee von einer phäno
menologischen Parallelwissenschaft zu jeder weltlichen Einzelwissenschaft

16 Stephen Crowell: Normativity and Phenomenology in Husserl and Heidegger. Cam


bridge 2013. 93.
17 In diesem Sinn fährt Crowell später fort: "[W]e see that the notion of ultimate grounding
can retain a sense even if we abandon the idea of an apodictic grounding" (ebd. 94), was mit
meinen Ausführungen oben in Einklang steht. Ich stimme aber nicht mit ihm überein, dass die
Radikalisierung des daraus folgenden Ideals der Selbstverantwortlichkeit zu einer "existential
turn" (ebd. 99 f.) führt, - jedenfalls nicht, wenn man Husserl folgt (aber Crowell folgt hier
auch Heidegger).

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ohne Übertreibung als wilde Ph


sichtlich nicht so etwas wie
en gemeint, sondern Wissensch
Bereichs, wie an Husserls Bei
Parallelwissenschaft deutlich
wissenschaft etwa zur Biolog
vom „Das-Biologische-Erfahr
fährt (und vielleicht anders er
triviale Einsicht, die sicher n
wusstseins führen würde.
Husserls Behauptung einer P
schaft ist überzogen, wenn d
soll, aber in Grenzen nicht gan
eller Leistung ein Gebilde de
nicht jede kann damit eine P
ben. Wo bestehen dann Parall
schaften vom menschlichen L
diesem Leben beschäftigen, sof
menschliches Leben zum Them
le vorhanden, wo es in gewis
lelwissenschaft geben kann, di
Ergebnisse bereitstellt.
Nehmen wir Beispiele aus de
schaft thematisiert die res ges
aber nicht nur Narration, so
nis und Urteilskraft erfordert
ren Präzision und Definition
reicht, etwa in der Frage, wa
ist philosophisch, aber nicht
auf Geschichte reflektiert, t
Sein ausgehend - die Geschic
sichten, die hierbei erbracht w
dass Wahrheit, aber auch Tra
damit aber auch ständiger M
dass geschichtliches Leben sich
in ständigem Flux, aber in fest
schrieben werden kann.
Untersucht die Phänomenolo
wusstseins, kann es im gut v
litischen und des Sozialen, de

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 59

Phänomenologie beschreibt jeweils die genuine Bewusstseins- und Erfahrungs


weise dieser Regionen menschlichen Lebens, sofern sie für uns Bedeutung haben
und d. h., vom Standpunkt der Phänomenologie, von bedeutungsgebenden Ak
ten beseelt sind. Die Phänomenologie hat damit wesentliche Parallelen mit den
Geisteswissenschaften, nicht jedoch mit den Lebenswissenschaften wie der Bio
logie oder der Ökonomie, sofern letztere entweder Leben im biologischen Sinn
meinen oder Wissenschaften sind, die vom Erfahrungsstandpunkt abstrahieren.
Die Frage, wie sich die Phänomenologie und die Geisteswissenschaften zuein
ander verhalten, ist jedoch nicht hinreichend mit dem Hinweis auf eine Parallele
zu beantworten. Vielmehr ist es so, dass die Phänomenologie auf eine Dimensi
on verweist, die sonst gar nicht oder nur teilweise, und dann nur unsystematisch,
untersucht wird. Von daher ist Husserls Wahl des Beispiels aus dem Bereich der
Ästhetik durchaus überzeugend. Spätestens seit der Romantik wird das subjekti
ve Element beim Kunstschaffen erkannt, etwa unter dem Titel einer „Ästhetik
des künstlerischen Schaffens oder Erlebens". Aber man wird nicht behaupten
können, dass die Ästhetik als bereits bestehende Wissenschaft eine eigene Diszi
plin des künstlerischen Sehens oder allgemein des Erfahrens herausgebildet hät
te (selbst nicht als „Bilderbuchphänomenologie") mit der Präzision der Phäno
menologie mit einer allumfassenden Beschreibung, angefangen von der
schlichten Wahrnehmung. Dies hat die Phänomenologie herausgebildet, wie
man an Husserls beeindruckenden Detailanalysen der Wahrnehmung und Auf
merksamkeit sehen kann. Und erst wenn man eine eingehende Beschreibung der
Wahrnehmung eines Kunstwerkes gegeben hat, wird man behaupten können,
Kunst selbst richtig verstanden zu haben. Aber zum richtigen Verstehen gehören
auch Kunstgeschichte, Rezeptionsgeschichte und so weiter. Das vollständige Be
greifen des künstlerischen Gegenstands ist ein im Unendlichen liegendes Ideal,
an das sich diese Disziplinen und Subdisziplinen zusammen mit der Phänomeno
logie komplementär (und nicht konkurrierend) annähern.
Es handelt sich dann bei der Phänomenologie des künstlerischen Bewusst
seins nicht um eine Parallelwissenschaft zur Kunstwissenschaft, sondern um
eine der letzteren kaum bewusste und teils verborgene Wissenschaft, die jene
ergänzt und um neue Erfahrungsweisen bereichert, und zwar eine systematische
Wissenschaft nach bestimmten Prinzipien und einer klar definierten Methode.
Sie ist der Kunstwissenschaft weder fremd, noch ist die Dimension, die die Phä
nomenologie erforscht, für die Kunstwissenschaft fremd, sondern es ist eine wis
senschaftliche Disziplin, die das in Rede stehende Phänomen - Kunst - besser
und umfassender zu verstehen hilft.18

18 Hiermit spreche ich keiner „Heterophänomenologie" das Wort, die neben der Perspekti
ve der ersten Person auch noch solche Einsichten der dritten Person hinzuzieht. Natürlich

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60 Sebastian Luft

Schwieriger wird die Frage, w


serl selbst betont - in „vollk
die Psychologie. Phänomeno
wusstseins, und das Thema
menschliches, tierisches, pat
was darüber hinaus erbringen
heute sagen können, was eins
es zu beschreiben, vorher töt
schen Abhandlungen vorkom
gibt es die Tendenz zur Objekt
eines weltlichen Phänomens wi
Erhebungen betreibt. Für ge
unerlässlich. Jedoch wird man
logie und Kognitionswissenscha
son Singular und des genuin
tieren fruchtbare gegenseitig
Psychologie, man denke etwa
Binswanger, und Forscher wie
Aber hier sind es gerade éin
haben, einzelwissenschaftlich
Ich stelle keine allzu kühne T
men der Phänomenologie wic
So ist Husserls These von der fundamentalen Leiblichkeit des Bewusstseinwe

sens nicht nur ein anerkannter Paradigmenwechsel in der Erforschung unseres


Seins, sie ist auch ein philosophischer Wendepunkt in der Philosophie der Moder
ne, der den Cartesischen Substanzdualismus überwindet. Und das Thema der
Lebenswelt ist insofern von Einfluss gewesen, als durchweg anerkannt wird,
dass das Subjekt nicht ohne die Welt, in der es lebt, gedacht werden kann, und
dass diese Welt einen klar definierten Forschungsbereich darstellt, wie es wieder
um die „klassischen" Themen der Lebensweltphänomenologie Husserls deut
lich machen, wie etwa Umwelt, Fremdwelt, Vertrautheit, Welt als intersubjekti
ves Phänomen und als versehen mit einer Horizontstruktur. All diese Einsichten
sind Konsequenzen der Einsicht in die fundamentale Korrelation von Subjektivi

bedarf es für das Verständnis der Kunst auch die genannten Disziplinen der dritten Person;
aber die Phänomenologie ist die streng wissenschaftliche Erforschung einer Dimension, von
der jeder mit der Kunst Erfahrene bereits weiß, aber vielleicht nicht weiß, dass von ihr eine
Wissenschaft möglich sein soll, eine Wissenschaft vom Subjektiven mit eigener wissenschaftli
cher Strenge.
19 Vgl. Paul Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Hg. von Sebastian
Luft. Darmstadt 2013.

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 61

tat und Lebenswelt. Die Psychologie hat damals wie, und vermehrt, heute längst
gelernt, diese Paradigmen ernst zu nehmen, aber damit ist auch nichts weiter
Provokantes gesagt.
Aber bei der Betonung der wechselseitigen Befruchtung von Phänomenolo
gie und Psychologie stellt sich erst recht die Frage, was die Phänomenologie
noch zusätzlich bereitstellen soll, ob man nicht besser die höheren Ambitionen
Husserls aufgeben und die weiterführenden Themen am Paradigma der Intentio
nalität weiter verfolgen sollte. Was wäre daran auszusetzen ?
Die Antwort hierauf ist schon zu Husserls Zeiten: Das liefe auf einen Natura
lismus hinaus, der philosophisch unbegründbar und damit unhaltbar ist. Man
mag natürlich als Phänomenologe die Ergebnisse der Psychologie durchaus stu
dieren und sollte sich ihnen nicht a priori verschließen, aber man darf dadurch
nicht in einen Reduktionismus der Phänomenologie auf die Psychologie und der
transzendentalen Subjektivität auf die menschlich-naturale Spezies homo sapiens
sapiens verfallen. Ich stimme Zahavi zu, der schreibt, wenn man dies täte, „one
would ... abandon the properly philosophical aspect of phenomenology. One
might retain a form of psychological or sociological phenomenology, but one
would no longer be dealing with phenomenology in the sense of a philosophical
discipline, tradition, and method."20 Was man aufgeben würde, ist das, was Zah
avi „the transcendental perspective"21 nennt. Aber um welche Perspektive han
delt es sich, wenn doch in der Sache eine Parallelität herrschen mag ? Nun, es ist
die entscheidende philosophische Einsicht, dass das Subjekt, das die Welt hat,
nicht nur ein Objekt in der Welt ist. In Husserls Worten, was notwendig für die
Phänomenologie als philosophische Disziplin ist, ist die transzendental-phäno
menologische Reduktion auf das transzendentale Ich, die damit die Phänomeno
logie als Transzendentalphilosophie (und transzendentalen Idealismus) begrün
det: „Das transzendentale,Residuum' meines menschlichen Daseins ergibt mein
transzendentales Ich als das sich als Menschen apperzipierende und das Welt ap
perzipierende, in der ich, dieser Mensch, lebe und von der ich, dieser Mensch, in
der natürlichen Weise Erfahrungskenntnis, Wissen usw. habe. Das transzenden
tale Ich, das ich gewinne, das bin ich selbst, reduziert auf dasjenige Sein, in dem
mein menschliches Ich und die Welt dieses Ich, in der damit menschliches Be
wusstseinsleben, menschliche Erkenntnis, Handlung etc. sind, sich konstituiert
als die mir (mir, dem transzendentalen, und wieder mir, dem menschlichen Ich)
geltende Welt."22

20 Dan Zahavi: Phenomenology. In: D. Moran (Ed.): The Roudedge Companion to Twenti
eth Century Philosophy. London 2008.661 -692.686.
21 Ebd.
22 Edmund Husserl: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Kon
stitution. Texte aus dem Nachlass (1916-1937). Hua XXXIX. Hg. von Rochus Sowa. New

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62 Sebastian Luft

Gleich welchen ontologische


es ist nicht das menschliche Ic
senschaft verstanden werden
sche, wenngleich sie am desk
ist auch nicht nötig. Das bedeu
sie sich um die transzendentale
aber dem philosophischen An
zen und Wahrheitsbehauptung
tabel. Aber die Forderung n
tung kann nicht eingeimpft w
werden. Oder wie Flusserl sa
Urstiftung, die ursprünglich
phie hineingeraten".23
Aber mit dieser transzenden
nicht an ihre höchste Stufe ge
nologie zur Wesenswissenscha
zu reinen Allgemeinheiten, d
scher Wissenschaft rechtfertig
on, worin die „Bindung an d
Phantasievariation. Meine mens
punkt, um Erfahrung-an-si
ben. Erst die eidetische Varia
und befestigt ihren Status als
Husserls zu bewerten?
Zunächst ist zu fragen, ob der Phänomenologie als Beschreibung transzenden
taler Strukturen der Weltkonstitution etwas abgeht, wenn sie diese Reinheit unter
bietet. Anders gefragt: Wie weit kann die Bindung an das Faktum aufgegeben
werden und bleibt nicht immer etwas davon „hängen"? Die Analysen zur Wahr
nehmung, zum Zeitbewusstsein und anderer Bereiche der phänomenologischen
Deskription sind durchaus als rein eidetisch zu bezeichnen, sofern sie in freier
Phantasievariation durchführbar sind. Die Frage ist aber, ob das eidetische Ni
veau stets eingehalten werden kann. Sobald man über die ersten Stufen der Be
schreibung genetisch aufsteigt und zu so etwas wie Kulturgegenständen kommt -
die Husserl ausdrücklich in seine Forschung einbezieht -, dann kann die eideti

York 2008. 119. Wichtige Randnotiz Husserls hierzu: „Transzendentale Reduktion meiner
selbst äquivalent mit der der Welt."
23 Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenolo
gischen Reduktion. Hua VIII. Hg. von Rudolf Boehm. Den Haag 1959.19.
24 Vgl. hierzu Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der
Logik. Hamburg 1985, v.a. 403-408.

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 63

sehe Beschreibung höchstens zu sehr wenigen und vagen eidetischen Begriffen


führen. Man nehme etwa z.B. den bei Husserl beliebten und sehr hilfreichen Be
griff der Typik. Dass die Lebenswelt als mir eigene eine Typik, einen „Wesens
stil" hat und als das trotz des heraklitischen Bewusstseinsflusses etwas Festes,
sich Durchhaltendes ist, mag durchaus eine sachhaltige, apriorische Einsicht sein.
Aber die Beispiele Husserls zur „Kulturumwelt" lassen sofort erkennen, dass es
sich hier nur um ein anthropologisches Apriori handeln kann, also ein solches,
was ich über die Spezies homo sapiens hinaus nicht erheben kann: „Ich bin in
China. Auf dem Markt Handel und Wandel, aber in fremder Typik. Ich weiß,
dass er eine Typik hat, aber ich kenne sie nicht; aber wohl die Leute dort auf dem
Markte. Die Typik ist nicht eine im äußeren Hantieren allein gelegene, die ich
schnell auffassen mag, sondern <sie liegt auch> in dem Zwecksinn, dem typi
schen Vorhaben der Leute, und den Weisen, sie im Verkehr zu verwirklichen."25
Husserl spielt hier auf die anthropologischen Typen Europa - China an. Aber
wird man je über diese Typen als anthropologische hinauskommen können?
Freilich gibt es Stufen der Allgemeinheit, und in „unreiner" Weise kann man
durchaus vom „Wesensstil" Chinas, oder der Moderne versus dem der Antike,
sprechen, sofern man entsprechend eine Region einkreist und sich an sie bindet
(etwas, was in der Phantasie entschieden wird). Aber wird man jemals über diese
wesentlichen Bindungen hinauskommen, wie es Husserl fordert ? Wird man je in
Reinheit die Frage stellen können, ob transzendentale Subjekte Märkte haben
und Handel treiben ? Wie sollte ich das aus eidetischer Variation erschließen kön
nen ? Kann man in eidetischer Reinheit entscheiden, dass Bewusstseinssubjekte
Kunst und Technik ausbilden ? Ich meine, solche Einsichten können nur über
das menschliche Subjekt, das wir kennen können, ausgesagt werden (die mensch
liche Spezies in ihrer kulturanthropologischen Entwicklung), sowie erdenkliche
Möglichkeiten ausgehend von diesem Faktum (das ist das Metier von Science
Fzctzozz-Literatur). Es handelt sich um Wesenseinsichten mit dem Umfang
„Mensch", und es ist die Frage, ob der hier zentrale Begriff der Typik, so frucht
bar und notwendig er in der deskriptiven Arbeit ist, überhaupt den Status reiner
Allgemeinheit haben kann. Zur Frage, wie weit solche Wesensbeschreibungen
über das Korrelationsapriori „Mensch in der Lebenswelt" hinausreichen, kann
man m. E. nur antworten, dass dies eine metaphysisch-spekulative Frage ist, und
dass Phänomenologen in ihrer deskriptiven Arbeit sich an solcher Spekulation
nicht beteiligen sollten. Das wäre spekulative Metaphysik im schlechten Sinn.
Zur nochmaligen Klärung: Es wird hier nicht gegen die Formulierung von
Wesenseinsichten, wo dies möglich ist, argumentiert, aber doch behauptet, dass
man sich in der Beschreibung der Lebenswelt - des „fruchtbaren Bathos" - nicht

25 Husserl: Die Lebenswelt. Hua XXXIX. 159.

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64 Sebastian Luft

von der Forderung nach rei


spruch, sich immer der Norm
weder möglich, noch stets einf
den, ohne dass dies der Stre
bleibt, ist eine transzendenta
Subjekt in seiner Lebenswelt in
dental-phänomenologische A
scher Untersuchungen zu be
spektive" aufzugeben.26

Schluss und Ausblick: Ein


zu einer phänomenologis

Die phänomenologische Besch


ihrer Welt ist nichts anderes
ter Philosophie"). Ist eidetisc
phie, so ist Metaphysik damit
ger. Damit bildet sie aber den
eine solche Metaphysik doch
me Disziplin an sich selbst gelt
einzig mögliche Welt, die zur W
griff Tengelyis, eine „Metaphy

26 Es ist klar, dass mit dieser For


meneutik der Faktizität") das Wort
serl'schen Ansatz nach wie vor um
delt.
27 Vgl. Läszlö Tengelyi: Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Meta
physik. Freiburg/München 2014. 180 -227. Nicht stimme ich Tengelyi allerdings darin zu, dass
in Husserls Spätwerk und mit der Bedeutung der Zufälligkeit (oder Irrationalität) des Faktums
„die Unterscheidung zwischen der transzendentalen Phänomenologie als ,Erster Philosophie'
und der Metaphysik der Faktizität als ,Zweiter Philosophie' [in sich zusammen] bricht"
(ebd. 184). Nichts könnte der Husserl'schen Konzeption ferner liegen, sofern natürlich jedes
Faktum von einem (imaginierten, reinen) Wesen abhängt und die Bestimmung des Faktums nur
aus der Sicht der eidetischen Variation möglich ist. Ferner ist auch nur durch die Herausstellung
des Apriori die „Methode der Rationalisierung des Faktums". Was für die folgenden Beispiele
gilt, gilt also für jedes Faktum : „Wir betrachten Kameradschaften, Freundschaften, Ehen, Fami
lieneinheiten, Volksgemeinschaften, Staaten etc. und versetzen, was wir so im Faktum <ste
hend> nennen, in das Reich reiner Möglichkeiten, betrachten nicht faktische Personen, sondern
Personen überhaupt in reiner Möglichkeit und was für Sinngehalte und was für Wahrheitsgehal
te (Vernunftgehalte) durch den Sinn solcher Formen vorgezeichnet ist, wenn sie sollen nicht
bloß Ehen überhaupt, sondern,wahre',,echte', .vernünftige' Ehen sein können oder .echte' Fa
milien, vernünftige Staaten usw. [...]." (Edmund Husserl: Zur Lehre vom Wesen und zur Me

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Phänomenologische Lebensweltwissenschaft und empirische Wissenschaften 65

ser Faktizität zwar anerkennt, damit aber auch einer rationalen Erklärung zu
führt. Als „absolute Wissenschaft von der faktischen Wirklichkeit" ist sie erst
echte, nämlich wissenschaftliche Metaphysik mit dem Forschungsprogramm
„faktische Welt als Welt der Wahrheit": „Es gibt unendlich viele mögliche Wel
ten als anschauliche Abwandlungen der jeweilig uns geltenden. Aber diese ist
notwendig - ins Unendliche für uns und jede erdenkliche Subjektivität - ,Er
scheinung', und die möglichen Welten <sind> erdachte Abwandlungen dieser
Erscheinung. Letztlich aber zeigt sich, dass nur eine einzige, die faktische Welt
denkbar ist als Welt der Wahrheit [...] ."28
Für Husserl hat die Abwandlung des Faktums der Welt den Sinn, ihre absolu
te Teleologie zu erkennen und damit die „Methode der Rationalisierung des Fak
tums"29 auszubilden. Aber diese Frage, wie auch die nach dem absoluten Ur
sprung, sind „höchste und letzte Fragen, Fragen nach dem Sinn der Welt",30 die
bewusst an die Grenzen der phänomenologischen Beschreibung gehen. Es han
delt sich damit um Fragen, die sich eine über das Faktum der Welt hinausgehen
de phänomenologische Metaphysik bei Gelegenheit stellen kann. Aber in ihrer
täglichen Arbeit muss sich der tägliche Phänomenologe darum nicht beküm
mern. Um mit Kant zu enden, solche Fragen sind „Mutmaßungen", und für sie
gilt: „Im Fortgange einer Geschichte Mutmaßungen einzustreuen, um Lücken
in den Nachrichten auszufüllen, ist wohl erlaubt",31 aber solche Mutmaßungen,
etwa über den Anfang der Menschengeschichte, sind nach Kant „Lustreisen",32
und Lustreisen macht man sonntags. Für den Rest der Woche bleibt die Faktizi
tät das täglich' Brot.33

thode der eidetischen Variation. Texte aus dem Nachlass [1891-1935]. Hua XLI. Hg. von Dirk
Fonfara. New York 2014.319).
28 Edmund Husserl: Grenzprobleme der Phänomenologie. Analysen des Unbewusstseins
und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik. Texte aus dem Nachlass 1908-1937. Hua XLII.
Hg. von Rochus Sowa und Thomas Vongehr. New York 2014.251.
29 Husserl: Zur Lehre vom Wesen und zur Methode der eidetischen Variation. Hua
XLI. 320.
30 Ebd.
31 Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). In ders.: Werke.
Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. vo
Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1964. 85.
32 Ebd.
33 Dank an Andrea Staiti, der eine frühere Version dieses Textes gelesen und kommentiert
hat, sowie an die Diskutanten auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologi
sche Forschung in Landau im Herbst 2015, insbes. Christian Bermes, Thomas Bedorf, und
anderer. Dank auch an Christian Bermes, den damaligen Präsidenten der Gesellschaft, un
Annika Hand, damalige Generalsekretärin, für die Einladung zu einer perfekt ausgerichteten
Tagung.

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