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to Phänomenologische Forschungen
1. Zu einer phänomenologis
und deren Bruchstell
Lebenswelt keine Subdisziplin der Phänomenologie ist. Vielmehr ist die Lebens
welt der universale Horizont aller Erfahrung. Sofern die Phänomenologie die
Erfahrung und das darin Erfahrene beschreibt, ist „Lebenswelt" nichts anderes
als ein glücklicher Terminus für den Inbegriff des für ein Bewusstseinslebewesen
Erfahrbaren. Alles Erfahrene ist damit weltlich, d. h. es ist prinzipiell stets hori
zonthaft vorgegeben, und es ist „lebendig", wenn man damit versteht, dass es
aus lebendigen, d.h. sinnhaften Zusammenhängen erwächst, die das Bewusst
sein für sich konstituiert hat und aus denen und in denen es sich und seine Welt
allein konstituieren und damit verstehen kann. Erforderlich für die Erforschung
dieser Konstitution ist freilich die Suspension der natürlichen Einstellung und
die Rückführung der erfahrenen Welt und ihrer Dinge auf das konstituierende
Bewusstsein. Somit ist die Phänomenologie transzendental, sofern sie nicht die
Dinge „an sich", sondern die Konstitution der Dinge im Bewusstsein - gene
tisch und intersubjektiv - als Gegenstände für uns (Phänomene) beschreibt.
Diese Lesart von „Lebenswelt" und die Identifikation von Phänomenologie
mit einer transzendentalen Interpretation der Lebenswelt wird weiterhin plausi
bel, wenn man einen anderen Aspekt hinzufügt, der in Husserls Spätphase im
mer weiter in den Vordergrund tritt. Denn Husserl betont, dass die Lebenswelt
stets als erste und unmittelbare uns gegeben ist, vor aller Theoretisierung, und
dass die Theoretisierung immer der primären Evidenz nachkommt. Diese erste
Evidenz ist das für uns Erste, sie ist der Grund für alle weiteren Aktivitäten. Die
Lebenswelt ist der erste Grund auch solcher Tätigkeiten, die diesen Grund befra
gen und in Frage stellen. Damit ist die Phänomenologie als Erforschung dieser
vortheoretischen, immer schon gegebenen Sphäre, also als Theorie der Un-Theo
rie, die „letztbegründende, [sie erbringt] nicht die mindere, sondern dem Wert
nach höhere [Universalität]"2 gegenüber der Universalität der objektiven Wissen
schaften von der Welt. Damit „muss aufgeklärt, also zur letzten Evidenz ge
bracht werden, wie alle Evidenz objektiv-logischer Leistungen, in welcher die
objektive Theorie [...] nach Form und Inhalt begründet ist, ihre verborgenen
Begründungsquellen in dem letztlich leistenden Leben hat",3 wie Husserl in der
Krisis schreibt. Die Phänomenologie erbringt damit eine Universalwissenschaft
vom Subjektiven, in dem sich die Universalwissenschaft vom Objektiven zur
Gegebenheit bringt.
Was die Phänomenologie damit leistet, ist nicht eine Letztbegründung in ei
nem axiomatischen Sinn, als wäre das leistende Leben so etwas wie ein funda
mentum inconcussum. Das leistende Leben ist vielmehr dasjenige, was die Welt
2 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie. Hua VI. Hg. von Walter Biemel. Den Haag 1976.127.
3 Ebd. 131.
beide Sphären radikal verschieden sind und man den „Gang zu den Müttern"
nur durch einen radikalen Bruch mit der natürlichen Einstellung antreten kann.
Das heißt z.B., dass der Akt des Hörens, worin sich eine Melodie konstituiert,
etwas radikal anderes als die gehörte Melodie selbst ist. Bekanntlich ist die Phä
nomenologie Korrelationsforschung, d. h. jeder Akt hat einen Inhalt, jeder Noe
sis korreliert ein Noema. Wie soll man sich also das Verhältnis vom „leistenden
Leben" und dem Geleisteten vorstellen ? Freilich - und dies zu unterscheiden ist
wichtig - ist das Verhältnis von Noesis und Noema etwas, was sich innerhalb
des Korrelationsapriori abspielt. Das Noema ist nicht die Melodie, sondern das
Melodie-Noema, was von der Melodie als in der Welt existierender Gegenstand
radikal unterschieden ist. Und die wissenschaftliche Erforschung der Melodie,
wenn sie hinreichend komplex ist, obliegt der Musikologie, ihr Gegenstand ist
nicht das Melodie-Noema, sondern „die Neunte Symphonie".
Aber ist dies wirklich so einfach zu trennen ? Oder gibt es nicht doch Paralle
len zwischen dem Hören als Konstitutionsphänomen und dem konstituierten
Gegenstand „Melodie"? Es geht, nochmals, um das Verhältnis von subjektivem
Leben, worin das Weltliche konstituiert wird - der Gegenstand der Phänomeno
logie -, und dieses Weltliche selbst, was Gegenstand von weltlichen Wissenschaf
ten ist. Und hier gibt es nun doch auch eine Korrelation, die nicht die bekannte
Korrelation von Erfahrungsakt und dem darin gemeinten Erfahrungsinhalt (also
Noesis und Noema) ist. Es handelt sich hier um das „ganz große Bild", um die
Korrelation von der universalen Wissenschaft alles Objektiven (also die Totali
tät aller Wissenschaften von weltlichem Sein) und einer hierzu korrelierenden
Wissenschaften alles Subjektiven: „Eine universale Wissenschaft von diesem Be
wusstseinsmäßigen und einer Subjektivität überhaupt [...] umspannt also thema
tisch alles mögliche Subjektive des Erkennens aller Wissenschaften in ähnlicher
Weise, wie eine Logik in ihren Begriffen und Gesetzen thematisch alles mögliche
Objektive aller Wissenschaften umspannt. Anders ausgedrückt, eine Logik als
rationale Wissenschaft von der Objektivität überhaupt [...] hätte als notwendi
ges Gegenstück eine Logik des Erkennens, eine Wissenschaft [...] von der Er
kenntnis überhaupt; beide Wissenschaften, und vielleicht beide in zusammenge
hörige Gruppen von einzelnen Disziplinen sich gliedernd, ständen im Verhältnis
notwendiger Korrelation."9
Diese Korrelation umspannt Wissenschaft „im Großen", und die Phänomeno
logie ist in diesem Szenario die subjektive Seite von Wissenschaft „im Ganzen".
Wie die weltlichen Wissenschaften ebenso in Sonderdisziplinen eingeteilt sind
und man doch von der „vollumfassenden Wissenschaft" des Objektiven spre
chen kann - wie er in Bezug auf die Mathematik sagt: „Niemand wird ja auch
10 Ebd. 46.
11 Ebd. 47.
12 Vgl. die Studien zur Struktur d
13 Husserl : Erste Philosophie I. H
14 Ebd. 50 f.
15 Ernst Cassirer: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Hamburg 2009.
109 f.
2. Transzendentale Phänomen
Leben - gegenseitige Bereicher
und von mir erfahren wird. Erfahre ich es nicht, ist es für mich auch nichts, aber
alles, was ist, ist im Prinzip von einem Bewusstsein erfahr bar. Das ist, wie schon
erwähnt, die phänomenologische Fassung des transzendentalen Idealismus.
Der Anfang mit der ersten Person Singular ist aber nicht trivial, wenn man
darauf verweist, dass das Streben nach Objektivität ein offenbar subjektives Be
dürfnis ist, in dem Moment, wo man das subjektiv als richtig und wahr Erkannte
anderen an- und zumuten will. Vom Anmuten einer subjektiv wahr scheinenden
Einsicht einer anderen Person gegenüber - also von inter subjektiver Wahrheit
von Ich zu Du - läuft das Bedürfnis, zu Wahrheit „an sich" zu gelangen, auch
wenn dies ein endloses Ziel sein mag. Aber es ist zu allem Anfang ein radikal
subjektiv empfundenes Erleben, dass das, was einem selbst als wahr scheint,
wirklich wahr ist, objektiv, also über mein subjektives Wahr-Erlebnis hinausge
hen muss. Das heißt, in der bekannten Terminologie von Thomas Nagel, dass
der Blick von irgendwo die Aussicht auf den Blick von nirgendwo eröffnet, auf
Wahrheit, die unabhängig von einem Erfahrungsstandpunkt gilt, wenn auch nur
als Idee. Wichtig ist mir, dass das Streben dorthin erst vom subjektiven Stand
punkt aus empfunden wird, in ursprünglicher Evidenz. In den Worten Crowells,
„[o]n Husserl's view, all reasons ultimately refer back to direct seeing for their
authority; put otherwise, the concept of Evidenz is the root concept from which
the notion of a Justification of reason' derives its sense".16
Die Erforschung dieser subjektiv empfundenen Evidenz in vorprädikativer
und vorwissenschaftlicher Erfahrung und der Gang von hier zum wissenschaft
lich gesicherten Urteil, - das ist die Aufgabe der genetischen Phänomenologie.
Umgekehrt gesagt, letztere leistet die prinzipiell mögliche Rekonstruierbarkeit
von erfahrungsunabhängiger Wahrheit aus lebensweltlicher Evidenz. Diese Re
konstruktion als Rückführung höherer Evidenzen auf die subjektive erfahrenen
der jeweils radikal individuierten der ersten Person Singular ist die rechtmäßige
Weise, wie man Phänomenologie als Wissenschaft vom „an sich Ersten" ausle
gen kann. Sie ist damit aber nicht „letztgründend".17
Wie ist weiterhin die Parallele von Phänomenologie und Wissenschaften vom
Objektiven zu verstehen ? Zunächst einmal kann Husserls Idee von einer phäno
menologischen Parallelwissenschaft zu jeder weltlichen Einzelwissenschaft
18 Hiermit spreche ich keiner „Heterophänomenologie" das Wort, die neben der Perspekti
ve der ersten Person auch noch solche Einsichten der dritten Person hinzuzieht. Natürlich
bedarf es für das Verständnis der Kunst auch die genannten Disziplinen der dritten Person;
aber die Phänomenologie ist die streng wissenschaftliche Erforschung einer Dimension, von
der jeder mit der Kunst Erfahrene bereits weiß, aber vielleicht nicht weiß, dass von ihr eine
Wissenschaft möglich sein soll, eine Wissenschaft vom Subjektiven mit eigener wissenschaftli
cher Strenge.
19 Vgl. Paul Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode. Hg. von Sebastian
Luft. Darmstadt 2013.
tat und Lebenswelt. Die Psychologie hat damals wie, und vermehrt, heute längst
gelernt, diese Paradigmen ernst zu nehmen, aber damit ist auch nichts weiter
Provokantes gesagt.
Aber bei der Betonung der wechselseitigen Befruchtung von Phänomenolo
gie und Psychologie stellt sich erst recht die Frage, was die Phänomenologie
noch zusätzlich bereitstellen soll, ob man nicht besser die höheren Ambitionen
Husserls aufgeben und die weiterführenden Themen am Paradigma der Intentio
nalität weiter verfolgen sollte. Was wäre daran auszusetzen ?
Die Antwort hierauf ist schon zu Husserls Zeiten: Das liefe auf einen Natura
lismus hinaus, der philosophisch unbegründbar und damit unhaltbar ist. Man
mag natürlich als Phänomenologe die Ergebnisse der Psychologie durchaus stu
dieren und sollte sich ihnen nicht a priori verschließen, aber man darf dadurch
nicht in einen Reduktionismus der Phänomenologie auf die Psychologie und der
transzendentalen Subjektivität auf die menschlich-naturale Spezies homo sapiens
sapiens verfallen. Ich stimme Zahavi zu, der schreibt, wenn man dies täte, „one
would ... abandon the properly philosophical aspect of phenomenology. One
might retain a form of psychological or sociological phenomenology, but one
would no longer be dealing with phenomenology in the sense of a philosophical
discipline, tradition, and method."20 Was man aufgeben würde, ist das, was Zah
avi „the transcendental perspective"21 nennt. Aber um welche Perspektive han
delt es sich, wenn doch in der Sache eine Parallelität herrschen mag ? Nun, es ist
die entscheidende philosophische Einsicht, dass das Subjekt, das die Welt hat,
nicht nur ein Objekt in der Welt ist. In Husserls Worten, was notwendig für die
Phänomenologie als philosophische Disziplin ist, ist die transzendental-phäno
menologische Reduktion auf das transzendentale Ich, die damit die Phänomeno
logie als Transzendentalphilosophie (und transzendentalen Idealismus) begrün
det: „Das transzendentale,Residuum' meines menschlichen Daseins ergibt mein
transzendentales Ich als das sich als Menschen apperzipierende und das Welt ap
perzipierende, in der ich, dieser Mensch, lebe und von der ich, dieser Mensch, in
der natürlichen Weise Erfahrungskenntnis, Wissen usw. habe. Das transzenden
tale Ich, das ich gewinne, das bin ich selbst, reduziert auf dasjenige Sein, in dem
mein menschliches Ich und die Welt dieses Ich, in der damit menschliches Be
wusstseinsleben, menschliche Erkenntnis, Handlung etc. sind, sich konstituiert
als die mir (mir, dem transzendentalen, und wieder mir, dem menschlichen Ich)
geltende Welt."22
20 Dan Zahavi: Phenomenology. In: D. Moran (Ed.): The Roudedge Companion to Twenti
eth Century Philosophy. London 2008.661 -692.686.
21 Ebd.
22 Edmund Husserl: Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Kon
stitution. Texte aus dem Nachlass (1916-1937). Hua XXXIX. Hg. von Rochus Sowa. New
York 2008. 119. Wichtige Randnotiz Husserls hierzu: „Transzendentale Reduktion meiner
selbst äquivalent mit der der Welt."
23 Edmund Husserl: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenolo
gischen Reduktion. Hua VIII. Hg. von Rudolf Boehm. Den Haag 1959.19.
24 Vgl. hierzu Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der
Logik. Hamburg 1985, v.a. 403-408.
ser Faktizität zwar anerkennt, damit aber auch einer rationalen Erklärung zu
führt. Als „absolute Wissenschaft von der faktischen Wirklichkeit" ist sie erst
echte, nämlich wissenschaftliche Metaphysik mit dem Forschungsprogramm
„faktische Welt als Welt der Wahrheit": „Es gibt unendlich viele mögliche Wel
ten als anschauliche Abwandlungen der jeweilig uns geltenden. Aber diese ist
notwendig - ins Unendliche für uns und jede erdenkliche Subjektivität - ,Er
scheinung', und die möglichen Welten <sind> erdachte Abwandlungen dieser
Erscheinung. Letztlich aber zeigt sich, dass nur eine einzige, die faktische Welt
denkbar ist als Welt der Wahrheit [...] ."28
Für Husserl hat die Abwandlung des Faktums der Welt den Sinn, ihre absolu
te Teleologie zu erkennen und damit die „Methode der Rationalisierung des Fak
tums"29 auszubilden. Aber diese Frage, wie auch die nach dem absoluten Ur
sprung, sind „höchste und letzte Fragen, Fragen nach dem Sinn der Welt",30 die
bewusst an die Grenzen der phänomenologischen Beschreibung gehen. Es han
delt sich damit um Fragen, die sich eine über das Faktum der Welt hinausgehen
de phänomenologische Metaphysik bei Gelegenheit stellen kann. Aber in ihrer
täglichen Arbeit muss sich der tägliche Phänomenologe darum nicht beküm
mern. Um mit Kant zu enden, solche Fragen sind „Mutmaßungen", und für sie
gilt: „Im Fortgange einer Geschichte Mutmaßungen einzustreuen, um Lücken
in den Nachrichten auszufüllen, ist wohl erlaubt",31 aber solche Mutmaßungen,
etwa über den Anfang der Menschengeschichte, sind nach Kant „Lustreisen",32
und Lustreisen macht man sonntags. Für den Rest der Woche bleibt die Faktizi
tät das täglich' Brot.33
thode der eidetischen Variation. Texte aus dem Nachlass [1891-1935]. Hua XLI. Hg. von Dirk
Fonfara. New York 2014.319).
28 Edmund Husserl: Grenzprobleme der Phänomenologie. Analysen des Unbewusstseins
und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik. Texte aus dem Nachlass 1908-1937. Hua XLII.
Hg. von Rochus Sowa und Thomas Vongehr. New York 2014.251.
29 Husserl: Zur Lehre vom Wesen und zur Methode der eidetischen Variation. Hua
XLI. 320.
30 Ebd.
31 Immanuel Kant: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786). In ders.: Werke.
Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. vo
Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1964. 85.
32 Ebd.
33 Dank an Andrea Staiti, der eine frühere Version dieses Textes gelesen und kommentiert
hat, sowie an die Diskutanten auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologi
sche Forschung in Landau im Herbst 2015, insbes. Christian Bermes, Thomas Bedorf, und
anderer. Dank auch an Christian Bermes, den damaligen Präsidenten der Gesellschaft, un
Annika Hand, damalige Generalsekretärin, für die Einladung zu einer perfekt ausgerichteten
Tagung.