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Georg Stenger

Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller


Ph%nomenologie
© Felix Meiner Verlag 2015 | ?https://doi.org/10.28937/PHAEFO-2015 | 2567549420151 | Ruhr-Universtiät Bochum | 08.08.2021

Der Beitrag mçchte zwei Ebenen ansprechen, oder besser gesagt, zwei Wegrich-
tungen einschlagen, die sich in ph%nomenologischer Hinsicht wechselseitig er-
hellen und erschließen sollen: Die eine Seite widmet sich einigen Anfragen, die
sich zwischen „Lebenswelt“ und „Lebensform“ auftun, die andere versucht in-
terkulturelle Motive mit Bezug auf Ostasien ins Spiel zu bringen, welche die
„Arbeit an den Lebensformen“ n%her aufweisen sollen. Mit dem Terminus „Auf-
weisen“ mçchte ich einen genuin ph%nomenologischen Wahrnehmungs- und zu-
gleich Denkstil stark machen, insofern dieser sich aus der Konstitutionsarbeit
herkommend versteht, also eher „bottom up“ denn „top down“ vorgeht, wie
dies in der Regel einem logisch-rational operierenden Argumentationsstil zu ei-
gen ist. Ich schließe mich hier an Bernhard Waldenfels an, wenn er schreibt:
„Ph%nomenologie zeichnet sich aus durch einen besonderen Denk- und Frage-
stil, den man als aufweisendes Denken charakterisieren kann. Dies besagt, dass
Begriffskl%rung, Argumentation und Systematik, so bedeutsam sie sind, nicht
einseitig das Feld beherrschen.“1

1. „Lebenswelt“ als Ausgangspunkt aller Bewusstseinsleistung und


Bewusstseinshabe resp. Erfahrung und zugleich als kritische Instanz f!r
Wissenschaft und Philosophie

Macht schon der Tagungstitel „Lebenswelt und Lebensform“ auf eine gewisse
Verwandtschaft beider Topoi aufmerksam, so komme ich f$r mein Vorhaben,
das ich mit „Arbeit an den Lebensformen“ benenne, nicht umhin, auf einige
wichtige von Husserl erarbeiteten Grundz$ge der „Lebenswelt“ zur$ckzugrei-
fen.
Galten Husserls ph%nomenologische Bem$hungen zun%chst und $ber mehre-
re Schrittfolgen hinweg v. a. dem Aufweis des Bewusstseinslebens als „Bewusst-

1 Bernhard Waldenfels: Bew%hrungsproben der Ph%nomenologie. In: Philosophische

Rundschau 57 (2010). 154 – 178. 157.

Ph%nomenologische Forschungen 2015 · " Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0342-8117
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sein von etwas“, mithin dem, wollte man es zusammenfassend sagen, sinnstiften-
den Moment der intentionalen Grundstruktur mit dem Focus „Welt- oder Uni-
versalhorizont“, so wurde es mit den Analysen zur „Lebenswelt“ mçglich, das
„Weltph%nomen“ selbst unmittelbar thematisch, gleichsam greifbar, anschaulich
und erfahrbar zu machen, und dies mit einer eigenen Anspr$chlichkeit und an
Konsequenzen reichen Herausforderung. Die Lebenswelt taucht bei Husserl be-
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kanntlich als kritische Instanz gegen die Grundkrise der europ%ischen Wissen-
schaften auf, indem sie zum einen ein allt%gliches, vorwissenschaftliches Feld
unmittelbarer Anschauung resp. Erfahrung reklamiert, zum anderen aber die
Wissenschaften auf ihre vergessenen, in sich selber abgelagerten Sinnschichten
(„Sedimentierungen“) aufmerksam macht. Es geht um die (Wieder)gewinnung
der grundlegenden „Lebensbedeutsamkeit“2 der Wissenschafts- aber auch All-
tagskultur, um das Aufnehmen eines umfassenden „Welthorizonts“, der dem
Menschen seine Sinnfolien und Sinnstiftungen wieder zur$ckgibt bzw. $ber-
haupt erst erçffnet. Der Erfolg wird daran h%ngen, inwieweit der subjekt-relati-
ve Aspekt aller Welterfahrung, dem stets eine bestimmte „Einstellung“ korre-
spondiert, Ber$cksichtigung findet. Genau in der Preisgabe dieser Einsicht und
dem daraus hervorgehenden Objektivit%tsglauben der Wissenschaften, die ur-
spr$nglich ja um eines hçheren „Humanums“ willen angetreten waren, liegt be-
kanntlich der eigentliche Krisenherd der Wissenschaften, und man darf erg%n-
zend hinzuf$gen, auch der Philosophie. Das heißt, man erkennt das
transzendentale Grundprinzip nicht mehr als methodisch bestimmend an. Die
Sinnstiftungsinstanz scheint verloren. Die Thematisierung der Lebenswelt kçnn-
te daher eine Lçsung aus dieser Krisis sein, insofern sie den Universalhorizont
sowohl f$r die Wissenschaften als auch die allt%gliche Erfahrung abgibt. Dem
auf bloßen Fortschritt aus seienden „patenten Fl%chenleben“ der auf Empiris-
men und Objektivationen einerseits und Idealisierungen andererseits bezogenen
„wissenschaftlichen Einstellung“ stellt Husserl das „latente Tiefenleben“ der
subjekt-relativen Lebenswelt entgegen, das auf die „Tiefensph%ren aller Erkennt-
nis“ aufmerksam macht.3 Versuchsweise kçnnte man sagen, dass sich das Tiefen-
leben auf der Subjektseite als Vernunft, als personale Freiheit und Geschichtlich-
keit, auf der Objektseite als Sinn, als Wertestruktur kulturell-geschichtlicher
Hervorbringungen und als lebensweltlich verankertes, kulturelles Leben dar-
stellt. Deren Verklammerung, deren korrelative Struktur, kommt im Personsein,
dem „Horizont unserer Mitmenschheit“, wie „in jedem aktuellen Konnex mit

2 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europ%ischen Wissenschaften und die Transzenden-

tale Ph%nomenologie. Husserliana IV. Hg. von Walter Biemel. Den Haag 21962. § 2, 3 f.
3 Vgl. ebd. 122 f.
Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 295

Anderen“ zum Ausdruck.4 Das Tiefenleben, zu dem ebenso die Analyse „histo-
rischer Sinngenesis“ gehçrt, legt also nicht nur tiefere, d. h. dimensional vonein-
ander abzuhebende Schichten frei, es vermag dadurch auch die intentionalen,
korrelativen Grundstrukturen von Noesis und Noema in all ihren Vielf%ltigkei-
ten aufzuzeigen, wie diese nicht nur hinsichtlich wahrnehmungs- und erkennt-
nism%ßiger, sondern auch hinsichtlich sinnlicher und leiblicher,5 personaler und
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ethischer, kultureller und geschichtlicher Ebenen auftreten. Neben weiteren


konstitutiven Grundz$gen der Lebenswelt wie Generativit%t in ihrer „transzen-
dental-historischen Funktion“6 und Normalit%t, die sich als „stets bereite Quelle
von Selbstverst%ndlichkeiten“ erweist, macht sich das Eigent$mliche bemerk-
bar, dass Erkenntnisse wie Praktiken der Wissenschaften gewissermaßen perma-
nent in die Lebenswelt „einstrçmen“,7 geradezu dort Wurzeln schlagen und so
die Lebenswelt erst konkret erfahrbar werden lassen. Die Lebenswelt zeigt sich
zunehmend mehr von den wissenschaftlichen Ergebnissen kontaminiert, ja gera-
dehin mitkonstituiert, weshalb ihr urspr$nglich „antiwissenschaftlich“ ausge-
richtetes Gegengewicht sich relativiert und in einen beide Seiten, wissenschaftli-
ches wie vorwissenschaftliches Paradigma, umfassenden „Universalhorizont“
$bergeht. Dies ist aber nur mçglich, weil zum einen Wissenschaft wie Wissen-
schaftler durchgehend eine, wenngleich unthematisch bleibende Vertrautheit (Si-
tuationsgebundenheit) mit der sog. vorwissenschaftlichen Welt haben, und zum
anderen in der lebensweltlichen Auffassung von Anfang an schon (bspw. „Gera-
deauseinstellung“) eine Grundtendenz zum „Objektivieren“ selbst angelegt ist.
Erst dieser Zusammenhang von Wissenschafts- und Lebenswelt l%sst den
Schluss zu, dass es sich mit der „Lebenswelt“ schließlich doch um den „Univer-
salhorizont“ handelt, der zuvor als Letzthorizont aller mçglichen Verweisungs-
zusammenh%nge fungierte. Vergessen darf man bei alledem nat$rlich nicht Hus-
serls umfangreiche Analysen zum „inneren Zeitbewusstsein“,8 worin es um ein
aller Gegebenheit vorausgehendes Zeitigungsgeschehen von Retention, Urim-
pression und Protention geht, welches von elementarer Bedeutung ist, auf die
ich hier aber nicht n%her eingehen kann, und die auch unter den Ph%nomenolo-

4 Vgl. ebd. 124.


5 Vgl. Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und For-
schungsmanuskripten (1918 – 1926). Hua XI. Hg. von Margot Fleischer. Den Haag 1966; vgl.
hierzu Ichiro Yamaguchi: Passive Synthesis und Intersubjektivit%t bei Edmund Husserl. Den
Haag/Boston/London 1982.
6 Vgl. Dan Zahavi: Husserls Ph%nomenologie. T$bingen 2003/2009. 143.
7 Vgl. Husserl: Die Krisis der europ%ischen Wissenschaften. 115, passim.
8 Vgl. Edmund Husserl: Zur Ph%nomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893 – 1917).

Hua X. Hg. von Rudolf Boehm. Den Haag 1966.


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gen in Japan ein gewisses offenes Deutungspotential nach sich gezogen hat.9 Mit
dem Ph%nomen der Lebenswelt als „Tiefenleben“ erw%chst also nicht nur die
implizit kritische Instanz aller Philosophie und Wissenschaftlichkeit, es vermag
auch zum Aufweis deren Generierung und Genese beizutragen. Der philosophi-
sche Wissenschaftsbegriff von Neuzeit und Moderne f$hrt nicht nur seine „Kri-
sis“ als implizites Moment mit sich, er l%uft geradewegs auf diese zu, ja er er-
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zeugt sie. Die Lebenswelt ist der kritische Aufschrei, der „von unten“ kommend
gegen eine Idealisierung „von oben“ hervorbricht. Sie beordert also die schein-
bar objektive Wissenschaftswelt auf ihre Erfahrungsvoraussetzungen („Urstif-
tungen“ usw.) zur$ck, zeigt ihr – in der Form der „Habitualit%ten“ (Subjektbe-
zug) und „Sedimentierungen“ (Objektbezug) – ihre Voraussetzungsschichten,
ohne welche sie gar nicht wissenschaftlich t%tig sein kçnnte.10 Dass man sich mit
diesen Bestimmungen der Lebenswelt aber auch einigen Schwierigkeiten und
Problemstellungen gegen$bersieht, die v. a. zwischen der Welt als Universalhori-
zont und dem, was mit „Lebenswelt“ angezeigt ist, mithin also auch zwischen
dem „transzendentalen Ur-Ich“ (Fluss- bzw. Strommetapher) und einem im
Hier (Ort) und Jetzt (Zeit) verankerten jeweiligen „Ich“, was wiederum zwi-
schen dem „Subjekt f$r die Welt und dem Objekt in der Welt zugleich“11 oszil-

9 Vgl. zur Zeitproblematik auch Rudolf Bernet u. a.: Edmund Husserl. Darstellung seines

Denkens. Hamburg 21996. 104 ff.; vgl. ebenso vor dem Hintergrund der Analysen von Husserl
hinsichtlich der drei zu unterscheidenden Dimensionen der Zeitlichkeit, n%mlich „die objekti-
ve Zeit erscheinender Objekte, die subjektive oder pr%empirische Zeit der Akte und Erfahrun-
gen, und schließlich den pr%ph%nomenalen absoluten Fluss des inneren Zeitbewusstseins“ (vgl.
Husserl: Zur Ph%nomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hua X. 1996. 73 ff., insbes. 83,
358 – 382; ebenso Beilage VI. Erfassung des absoluten Flusses. 111 – 115) Zahavi: Husserls Ph%-
nomenologie. 82 ff., wo das Augenmerk auf den Entstehungsprozess von Zeit gelegt wird, der
als Prozess einen eigenen Bewegungstyp hervortreibt, in welchem Retention vor der Reflexi-
on, sprich vor der Spontaneit%t im Sinne Kants „statthat“, sowie zum „absoluten Bewusstsein“
als „absolutem Fluss“, ders. 89 – 96.
10 Verwiesen sei hier, ohne an dieser Stelle n%her darauf eingehen zu kçnnen, auf die innere

Differenzierung der Lebenswelt. So unterteilt sie sich in „Sonderwelten“ (Berufswelt, Famili-


enwelt, technische Welt, usw.), wie auch in das Konstitutionsgeschehen von Heim- und Fremd-
welt, worin der Weltbegriff bspw. im Modus der Vertrautheit und eines Bekanntheitsstils auf-
taucht. „Welt“ erscheint hier sozusagen direkter, wenn sie als eigene oder auch fremde
Kulturwelt angesprochen wird (Sprache, allt%gliche Umgangsweisen, usw.), sie meldet sich un-
mittelbar als ganze. Vgl. hierzu Georg Stenger: Philosophie der Interkulturalit%t. Erfahrung
und Welten – Eine ph%nomenologische Studie. Freiburg/M$nchen 2006. 160 – 180.
11 Bernhard Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfah-

rung. Frankfurt a.M. 2009. 28. An dieser Stelle f%hrt Waldenfels weiter: „Husserl sieht einen
Widerspruch darin, daß die Menschheit als ein Teilbestand der Welt das Weltganze konstitu-
iert. ,Der Subjektbestand der Welt verschlingt sozusagen die gesamte Welt und damit sich
selbst.‘ Das R%tsel liegt in dem fraglichen Zugleich von Subjekt und Objekt.“
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liert, darauf hat Waldenfels hingewiesen, wenn er von „Zweideutigkeiten und


Paradoxien der Lebenswelt“ spricht.12

2. Lebensform/en – ph"nomenologisch gesehen


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A. Zu Wittgensteins „Flussbett-Metapher“

Ist mit „Lebenswelt“ der Name Edmund Husserl verbunden, so mit „Lebens-
form“ der Name Ludwig Wittgenstein, der – auf den ersten Blick – nun keines-
wegs der Ph%nomenologie zuzurechnen ist. Gleichwohl, auf den zweiten Blick
lassen sich viele Passagen aus den v. a. sp%teren Schriften Wittgensteins so verste-
hen, dass sie nicht nur ph%nomenologisches Potential bergen, sondern direkte
ph%nomenologisch relevante Einsichten zu Tage fçrdern. Gewiss, Wittgenstein
verstand sich als Sprachphilosoph, und dies durch und durch, aber zugleich ar-
beitete er in einer Weise an der Sprache, die man ansatzweise als ph%nomenolo-
gisch bezeichnen kçnnte. „Es ist [so Henning Ritter, Wittgenstein auszugsweise
zitierend] die solipsistische Versuchung, ,die Welt‘ zu beschreiben, ,wie ich sie
vorfand‘ (Wittgensteins ehrgeizigstes Projekt, das nie zur Ausf$hrung kam). Es
ist aber auch die besonnene Einsicht, dass das Unvergleichbare den Vorrang vor
dem Vergleichbaren hat. Diese Einsicht wurde von Wittgenstein in die $berra-
schend b$ndige Formulierung eines Programms gebracht. Es scheine ihm, be-
merkt er im Herbst 1948 zu Drury, Hegel wolle immer sagen, ,dass die Dinge,
die verschieden aussehen, in Wirklichkeit gleich sind, w%hrend es mir um den
Nachweis geht, dass Dinge, die gleich aussehen, in Wirklichkeit verschieden
sind.‘“13 Eine der Konsequenzen, die Wittgenstein aus solchen und %hnlichen
)berlegungen gezogen hat, ist einerseits der Gedanke der „Familien%hnlich-
keit“, die Wittgenstein zwischen bestimmten Spielarten am Werk sieht, die sich
nicht irgendwelchen Synthesisleistungen f$gen, sondern die Einsicht reifen las-
sen, wonach „wir ein kompliziertes Netz von !hnlichkeiten [sehen], die einan-
der $bergreifen und kreuzen. !hnlichkeiten im Großen und Kleinen.“14 „Sag
nicht: ,Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ,Spiele‘ – son-
dern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. […] Wie gesagt: Denk nicht,
sondern schau“!15 Versch%rft wird das Ganze, wenn Wittgenstein unmittelbar
im Anschluss daran auch die „Zahlenarten“ eine „Familie“ oder „indirekte Ver-

12 Vgl. Waldenfels: Ortsverschiebungen. 26 – 30.


13 Henning Ritter: Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts. M$nchen 2008. 55.
14 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [PU], WA Bd.1. Frankfurt a.M.
9
1993. 278. § 66.
15 Ebd. 277. § 66.
298 Georg Stenger

wandtschaft“ nennt: „Und wir dehnen unseren Begriff der Zahl aus, wie wir
beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die St%rke des Fadens
liegt nicht daran, dass irgend eine Faser durch sein ganze L%nge l%uft, sondern
darin, dass viele Fasern einander $bergreifen.“16 Ich mçchte nach dieser $beraus
prominenten Passage aber weiterfahren, weil erst so das Spezifische des Wittgen-
stein’schen Gedankens deutlich wird: „Wenn aber Einer sagen wollte: ,Also ist
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allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, – n%mlich die Disjunktion aller dieser
Gemeinsamkeiten‘ – so w$rde ich antworten: hier spielst du nur mit einem
Wort. Ebenso kçnnte man sagen: es l%uft ein Etwas durch den ganzen Faden, –
n%mlich das l$ckenlose )bergreifen dieser Fasern.“17 Entscheidend bei all dem
scheint des sp%ten Wittgenstein best%ndiger Versuch zu sein, „[m]$hsam und
schrittweise [die] Bande zwischen Wort und Bedeutung neu [zu kn$pfen], aber
nur soweit, wie solche Verkn$pfung f$r das Funktionieren unserer Alltagsspra-
che unentbehrlich ist“.18 Anders gesagt: Mit dem Sprachspiel, das sich nicht erst
aus Wçrtern, S%tzen und grammatischen Regeln zusammensetzt, sondern das
jeweils ein „Sinnfeld“ voraussetzt, wodurch Sinn und Wortsetzung festgelegt
werden (kçnnen), resonieren Lebensformen, sozusagen als außersprachliche
Partner. Zu meinen, dass jedes Wort per se eine Bedeutung habe, die dem Wort
zugeordnet sei, und die wiederum f$r den Gegenstand st$nde, f$r welchen das
Wort steht,19 erweist sich als sprachphilosophischer Kurzschluss, zudem damit
auch noch keineswegs bestimmte T%tigkeiten und Handlungsvollz$ge ins Auge
gefasst sind, die in die Sprechakte eingebettet sind, was der bekannte Satz „Die
Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“20 „im Grunde“ zum
Ausdruck bringt.21 Deshalb entziehen sich „Lebensformen“ auch einer exakten

16 Ebd. 278. § 67.


17 Ebd.
18 Ritter: Die Eroberer. 55 f.
19 Vgl. Wittgenstein: PU. 237 f. PU 1.
20 Ebd. 262. PU 43.
21 In einem anderen Zusammenhang, und ph%nomenologisch artikuliert: „Wenn Husserl

versichert: ,Der Anfang ist die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung, die nun erst zur
Aussprache ihres eigenen Sinnes zu bringen ist‘ (Hua I, 77), so n%hert er sich Merleau-Pontys
,Paradox des Ausdrucks‘. Was sprachlich oder sonst wie zum Ausdruck kommt, ist weder au-
ßerhalb noch innerhalb der Sprache vorhanden; sprechend überqueren wir eine Schwelle des
Schweigens, die Erfahrung und Ausdruck zugleich verbindet und trennt. Sprache bedeutet
selbst mehr als fertige Sprache; sie verweist auf eine Vor-Sprache, die erst in der Sprache zum
Vorschein kommt. Was zu sagen ist, geht hinaus über das, was schon gesagt ist. In Anspielung
auf Prousts livre interieur umschreibt Merleau-Ponty das Wunder des Ausdrucks wie folgt:
,Reden und Schreiben bedeutet, eine Erfahrung zu übersetzen, die doch erst zum Text wird,
durch das Wort, das sie selbst wachruft.‘ (Bernhard Waldenfels: Das Paradox des Ausdrucks.
In: Deutsch-Franzçsische Gedankeng%nge. Frankfurt a.M. 1995. 115.) „Die Sprache kreist
nicht in und um sich selbst, wenn sie auf kreative Weise etwas zur Sprache bringt; dieser Um-
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sprachlichen, sprich begrifflichen Wiedergabe, denen daher eher mit „Sprach-


bildnern“22 begegnet werden kann, gerade dann, wenn es um die Rahmen- und
Ordnungsbedingungen von Sprache und Lebensform geht. Einem „alles Zur-
Deckung-Bringen-(Wollen) von Gesehenem und Gesagtem, [das letztlich] zu ei-
ner Philosophie [f$hrte], die eine ,Verhexung‘ unseres Verstandes ist“,23 stellt
Wittgenstein sein Credo „sprachphilosophischer ,Landschaftsskizzen‘“24 gegen-
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$ber. Eine solche Skizze, ein solches Sprachbild stellt die ebenfalls ber$hmte
„Flussbett-Metapher“ in Wittgensteins Sp%twerk )ber Gewißheit25 dar, anhand
derer sich das Arbeiten zwischen Sprache und Lebensform gut zeigen l%sst:
Ich mçchte im Folgenden einige Paragraphen, sprich „Basiss%tze“ im Umfeld
der Flussbettmetapher nacheinander zitieren, um gleichsam das gleißende Oszil-
lieren zwischen Sprache und Lebensform, welches sich in metaphorische Bilder
zu retten scheint oder dies gar muss, vor Augen zu f$hren:26
„94. Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit
$berzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit $berzeugt bin. Son-
dern es ist der $berkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und
falsch unterscheide. [139]
95. Die S%tze, die dies Weltbild beschreiben, kçnnten zu einer Art Mytholo-
gie gehçren. Und ihre Rolle ist %hnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann
man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen. [139]
96. Man kçnnte sich vorstellen, dass gewisse S%tze von der Form der Erfah-
rungss%tze erstarrt w%ren und als Leitung f$r die nicht erstarrten, fl$ssigen Er-
fahrungss%tze funktionierten; und daß sich dies Verh%ltnis mit der Zeit %nderte,
indem fl$ssige S%tze erstarrten und feste fl$ssig w$rden. [140]
97. Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken
sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im
Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der bei-
den nicht gibt. [140]
99. Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner
oder einer nur unmerklichen !nderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald
hier bald dort weg- und angeschwemmt wird. [140]
105. Alle Pr$fung, alles Bekr%ftigen und Entkr%ften einer Annahme geschieht
schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dieses System nicht ein mehr oder

setzungsprozeß ist weder fundamentalistisch noch konstruktivistisch zu fassen.“ (Waldenfels:


Bew%hrungsproben. 157 f.)
22 Ritter: Die Eroberer. 58.
23 Ebd. 56.
24 Ebd.
25 Ludwig Wittgenstein: )ber Gewißheit. WA Bd. 8. Frankfurt a.M. 1984. 113 – 257. 139 ff.
26 Die besonders bildhaften Paragraphen kennzeichne ich kursiv.
300 Georg Stenger

weniger willk$rlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unserer Argumen-


te, sondern es gehçrt zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen. Das
System ist nicht so sehr der Ausgangspunkt, als das Lebenselement der Argu-
mente. [141]“
Man kçnnte, ja m$sste sich hier l%nger aufhalten, alleine wenn man den hier
verwendeten Begriffen, Semantiken, Metaphern, Bildern n%her nachgehen woll-
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te. Ich mçchte hier lediglich auf eine, aber wie mir scheint entscheidende Pointe
etwas eingehen, die den )bergang von „Lebenswelt“ zu „Lebensform“ markie-
ren kçnnte: Zun%chst im Bild gesprochen: Es geht offenkundig um nicht weni-
ger als um das Formen der Rahmenbedingungen und -kriterien (Flussbett) und
dies in st%ndiger Gestaltungskorrespondenz mit jeder Welle, ja jeden Tropfen
Wassers (erstarrte Erfahrungss%tze, sprich „Mythologien“, die stets zu fl$ssigen
werden kçnnen und umgekehrt). Erfahrungss%tze wiederum stehen in engster
Korrespondenz mit dem, was oben den Zusammenhang von Sprachspiel, Le-
bensform und Sinnfeld bildete.
Eine Ph%nomenologie der Lebenswelt, die zugleich Arbeit am Ph%nomen der
Lebenswelt bedeutet, „$ber-setzt“ oder „geht $ber“ in eine Ph%nomenologie
der Lebensform, was wiederum kein Primat einer der beiden bedeutete. Beide
zehren voneinander, wenngleich die Lebenswelt gleichsam „sprachlos“, sprich
ohne Sprachproblem daherkommt, daf$r aber alle $brigen und fundierenden
konstitutiven Parameter aufweist; indes die Lebensform von Anfang an Sprache
zu ihrem Ausgangs- und vielleicht auch Zielpunkt erkoren hat, wozu konstitu-
tiv Erfahrung, Welt u. a. gehçren, ohne dass diese allerdings eigens thematisiert
werden. „Du mußt bedenken“, so Wittgenstein, „daß das Sprachspiel sozusagen
etwas Unvorhergesehenes ist. Ich meine: Es ist nicht begr$ndet. Nicht vern$nf-
tig (oder unvern$nftig). Es steht da – wie unser Leben.“27 Beide sind gleichsam
„unthematisch“ gegeben oder mitpr%sent, bilden aber doch unterschiedliche Pro-
file aus: Wie immer man es wenden oder zuschreiben mçchte, „Lebensform“
spricht st%rker die Gestaltung, die Lebensweise und Lebensart, Lebensf$hrung
und Daseinsweise an, und damit den Akteur selbst, es mag sich um das „Ich als
Einzelner“ oder um ein „Ich in Gemeinschaft“, „im Wir“ usw. handeln; Lebens-
form appelliert an eine „bestimmte Qualit%t“ (ihres Auftretens), gleich ob sie
einem mainstream folgt oder extravagant daherkommt. Vielleicht ist in der „Le-
bensform“ eine grçßere gegenseitige Respondenz und auch Responsivit%t von
(gesprochener) Sprache, Erfahrung und deren jeweiliger Rahmengebung im
Spiel. Aber sie bleibt auch vereinzelter, daf$r aber von Anfang an plural ange-
legt, w%hrend die „Lebenswelt“ sich gerne ins Visier zwischen Universalismus
und Partikularismus genommen sieht, ohne dass ihr das allerdings grçßeren

27 Ebd. § 559. 232.


Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 301

Schaden zuzuf$gen imstande w%re. Man kann daher auch mit guten Gr$nden
von einem „Apriori der Lebenswelt“ sprechen, insofern ihr eine nicht relative,
sondern zumindest morphologisch unwandelbare Grundstruktur eignet. Und
auch wenn sie bis auf ihre Grundlagen und -bedingungen herausgefordert wird,
wie etwa durch die aufs%ssig bleibenden Ph%nomengehalte, wie sie sich zwi-
schen Eigenwelt und Fremdwelt auftun, so kann sie sich stets auch immer ihres
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zun%chst raumzeitlichen Weltganzen versichern, wie ihr dies bspw. die Natur als
zumindest formal scheinbar $berall identische, mithin also universale zu spie-
geln scheint. Sie bleibt daher gelassener, teilt das Fiebrige und Suchende der Le-
bensform nicht – und wenn doch einmal ein Wort, eine Metapher wie „Fluss“
sich bei beiden kreuzen, so finden sich diese doch in sehr unterschiedlichen Ph%-
nomenfeldern wieder, wie v. a. der „Sprache“ bei der Lebensform und der „Zeit“
als Bewusstseinsstrom bei der Lebenswelt.28

B. Drei flankierende Diskurslinien zur „Lebensform“

Ich mçchte hier drei sehr unterschiedlich gelagerte Diskursangebote erw%hnen,


die jeweils sozial, intersubjektiv, kulturell, medial, sprachtheoretisch, selbstrefle-
xiv usf. vermittelt als „Mitarbeit an den Lebensformen“ verstanden werden und
produktiv eingebunden werden kçnnen. An dieser Stelle kann ich die Konzepte
indes nur andeuten, sehe in ihnen aber gleichsam intrinsisch Ph%nomenologien
angelegt, auch wenn diese nicht als solche ausgewiesen oder gar aufgezeigt wer-
den.

a) Bez$glich der Frage des Zusammenhangs resp. des Verh%ltnisses von Universa-
lit%t und/oder Partikularit%t von Lebenswelt resp. Lebenswelten und Lebens-
form/en sucht Julian Nida-R$melin29 mit R$ckgriff auf Descartes’ Denkansatz

28 Aus strukturph"nomenologischer Sicht hat Heinrich Rombach anhand der Analyse des

„Grundph%nomens der Situation“ ein Angebot gemacht, die vorg%ngigen, sprich konstitutiven
wie genetischen Prozesse dessen zu thematisieren, was sowohl Lebenswelt wie Lebensform zu
dem werden lassen, als was wir sie wahr- und aufnehmen. Vgl. Heinrich Rombach: Strukturan-
thropologie. ,Der menschliche Mensch‘. Freiburg/M$nchen 1987 / 21993 / Studienausgabe
2012. 133 – 345. Zum Zusammenhang von Sprache, Lebensform und Situation vgl. ders.: Ph%no-
menologie des sozialen Lebens. Grundz$ge einer Ph%nomenologischen Soziologie. Freiburg/
M$nchen 1994. Kapitel I.4. Die Sprache als transzendentale Ordnung. 56 – 74, und Kapitel I.5.
Wittgensteins Ann%herungen an das transzendentale Ph%nomen der Sprache. 74 – 79.
29 Julian Nida-R$melin: Universalit%t und Partikularit%t. In: Tradition und Traditions-

bruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven. Hg. von
Claudia Bickmann u. a. Studien zur Interkulturellen Philosophie 16. Amsterdam/New York
2006. 147 – 166; ders.: Demokratie als Kooperation. Frankfurt a.M. 2001. Kapitel 5; ders.: Phi-
losophie und Lebensform. Frankfurt a.M. 2009.
302 Georg Stenger

der „Certitude“ und Wittgensteins „lebensweltliches Orientierungswissen“ auf


eine „Einheit der Lebenswelten“ zuzusteuern, indem er v. a. mit den Aspekten
der „Verst%ndigung der Sprachgemeinschaft“ und der „Handlungskompetenz
der Individuen“ die „einheitsstiftende Rolle“ der Lebenswelt, die in allen Le-
benswelten t%tig sei, hervorhebt. Er vertritt hier einen „unaufgeregten Realis-
mus“,30 in dem sich die „Einheit der Lebenswelt“ intra- und interpersonell in
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einer „Koh%renz der Lebenwelt/en“ spiegelt, was letztlich in das Konzept einer
„Demokratie als Kooperation“ m$nden soll. In seinem Buch Philosophie und
Lebensform finden wir gleich zu Beginn jene Zitationsfolgen aus Wittgensteins
)ber Gewißheit vor, die ich zum großen Teil ebenfalls aufgenommen habe, aber
anders, sprich auf eine andere Richtung hin lese. W%hrend der erkenntnistheore-
tische Zugang Nida-R$melins die „Wittgenstein’sche Perspektive“31 auf potenti-
elle „Regeln des Begr$ndens“ hin ausgerichtet sieht, und daf$r einerseits – hier-
bei durchaus einer g%ngigen, zumindest postmodern instruierten Wittgenstein-
Lekt$re folgend – von einem epistemischen Relativismus ausgeht, den er ande-
rerseits durch den Ansatz eines „lebensweltlichen Realismus und universalen
Wahrheits- resp. Geltungsanspruchs“32 eingefangen oder entrelativert sieht, stel-
len sich ph%nomenologisch gesehen die Fragen, wie es zu mçglichen Regeln
kommt und was wir unter „Begr$nden“ verstehen wollen, $berhaupt, was „Be-
gr$ndungen“ im Grunde denn leisten, bzw. was alles schon – normativ wie em-
pirisch, idealiter wie realiter – vorausgesetzt sein muss, um sich rational auf
Gr$nde beziehen zu kçnnen, und inwiefern beider Verbund, der selbst schon
normative Geltung beansprucht, eine Letztinstanz aller Verst%ndigung zukom-
men soll. Die Wittgenstein’schen Passagen im Umfeld der Flussbettmetapher er-
scheinen mir jedenfalls wesentlich ph%nomenoffener, ph%nomenkonsistenter
und damit philosophisch produktiver zu sein, weil sie die Rahmenbedingungen
des Verstehens und auch Begr$ndens selbst zur Frage erheben, d. h., wenn man
sie auf ihre konstitutive Genesis hin liest, denn auf eine, auf einem eigent$mlich
unkritisch veranschlagten Begriff von „Realismus“ fußende Geltungsoption zu-
r$ckbezieht, der man „Regeln des Begr$ndens“ ablauscht. Es zeichnet sich je-
denfalls das ph%nomenologische Desiderat ab, wonach die Bedingungen gegen-
seitigen Verstehen- und Wahrnehmenkçnnens, intersubjektiver, sozial veran-
kerter Sprachgemeinschaften und vieles andere mehr hinsichtlich der in den Le-
bensformen mittransportierten kulturellen Standards, Normen usw. auf ihre
konstitutiven, d. h. diese bewohnbaren Architekturen hin zum Thema erhoben

30 Nida-R$melin: Universalit%t. 164.


31 Vgl. Nida-R$melin: Philosophie und Lebensform. 25 f.
32 Vgl. Nida-R$melin: Universalit%t. 151, 165.
Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 303

und beschrieben werden m$ssten, weit vor einem „Realismus“, der ja nicht ein-
fach vorliegt, sondern selbst einem bestimmten Rationalit%tsdiskurs gehorcht.33

b) Pierre Hadot wiederum w%hlt einen anderen Zugang, indem „Philosophie als
Lebensform“34 anzugehen versucht wird, worin Motive der „Weisheit“ als verlas-
sene Quelle philosophischer Selbstverst%ndigung gleichsam reanimiert werden
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sollen. Mit R$ckgriff auf „antike und moderne Exerzitien der Weisheit“ mçchte
ein meist vergessenes Anliegen und zugleich intrinsischer Habitus des Philoso-
phierens selbst erneut in Erinnerung gebracht sein, worin es nicht nur um die
rational-reflexive Aufnahme und Besch%ftigung mit bestimmten Sachverhalten,
Begrifflichkeiten, Logiken, Denkans%tzen, Theorien usf. zu tun ist, sondern eine
bestimmte Art des Betrachtens und Wahrnehmenlernens im Vordergrund steht.
Ein „formendes“ und zugleich „transformierendes“ Moment bildet hierbei die
argumentative Gegenfigur zu jenem „informierenden“, setzt ein solches doch
schon Verst%ndnisweisen und –formen voraus, die selbst nicht mehr zur Debatte
gestellt werden. Damit einher geht auch eine neue Praxis des Philosophierens
selbst, welche habituell sedimentiert eine reale )bungspraxis protegiert, woraus
wiederum eine jeweilige „Lebensform“ oder auch ein jeweiliger „Lebensstil“ re-
sultiert. Hadot, der sich in seinen Darlegungen auf Husserls „Lebenswelt“ und
Merleau-Pontys Analysen, insbesondere aber auf Foucaults !sthetik der Exis-
tenz35 bezieht, ist an der Arbeit des Ich an sich selbst interessiert, welche zu einer
Transformation des Ich f$hren soll, deren Fokus der „Weisheit“ anhand der drei
Parameter der „ataraxia“ (Seelenfrieden), der „autarkia“ (Freiheit) und einem
„kosmischen Bewusstsein“ auf eine „asketische Lebensform“ zielt. Gleichwohl,
ob ein solcher Blick zur$ck zu v. a. antiken Exerzitien einen wirklichen Fort-
schritt erbringt, bleibt aufgrund seines antirationalen Gestus’ mehr als fraglich,
wie auch der Schwenk von Philosophie zur Weisheit und ein damit verbundenes
Praxisverst%ndnis, das zwar mit der „)bung“ die konkrete Kçrper- und Leibar-
beit betont, Gefahr laufen, das Kind mit dem Bade auszusch$tten. Gewiss, die
hier in Aussicht gestellte, eigentypische „Lebensform“ soll nicht in Abrede ge-
stellt werden, aber ihr eignet doch eine eigent$mliche Exklusivit%t, die ph%nome-
nologisch „$bersetzt“ ihre philosophische Tragf%higkeit erweisen kçnnte, jen-
seits von Weisheit versus Philosophie.

33 Vgl. hierzu Marcus Steinweg: Philosophie der )berst$rzung. Berlin 2013. 61 – 75, der

eine g%nzlich andere Wittgenstein-Perspektive als die $blichen vorschl%gt: Irgendwo dazwi-
schen mçchte man ein ph%nomenologisches Forschungsauge platziert wissen.
34 Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit.

Frankfurt a.M. 22005. Insbes. 164 – 181.


35 Michel Foucault: !sthetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Frankfurt a.M. 2007.
304 Georg Stenger

c) In ihrem Buch „Kritik von Lebensformen“36 nimmt sich Rahel Jaeggi eben-
falls der Lebensformen an, indem sie diese nun aber nicht als unhintergehbare
Gegebenheiten hinnimmt und in Zuschreibungen wie Geschmackssache, Wert-
frage und %hnlichem auf sich beruhen l%sst, sondern nach ihren impliziten und
intrinsischen Ideologien, Entfremdungspraktiken und v. a. ihrer Kritisierbarkeit
fragt. Sie setzt Lebensformen eher als „tr%ge B$ndel“ und „Ensembles sozialer
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Praktiken“ an, die sich durch bestimmte kollektive Deutungsmuster entwickeln.


Eignen diesen zwar bestimmte Tr%gheitsmomente und Gewohnheiten, so erwei-
sen sich diese bei n%herem Hinsehen doch immer auch schon jeweiligen Interpre-
tationen unterworfen. Lebensformen sind Instanzen, die auf Problemstellungen
Antwort suchen und zu geben versuchen, weshalb sie „nicht nur [als] Gegen-
stand, sondern immer auch als Resultat von Auseinandersetzungen“37 zu begrei-
fen sind. Es geht darum zu erfassen, dass Lebensformen Probleme lçsen kçnnen,
wobei die „Probleme nicht etwa das ,Menschsein per se‘ betreffen, sondern in
einer bestimmten historischen und sozialen Situation eingebettet und von be-
stimmten normativen Erwartungen gepr%gt sind“. 38 Gegen ein bloßes Ergriffen-
sein oder gar Ausgeliefertsein an Lebensformen macht Jaeggi auf eine kritische
Distanzstellung aufmerksam, wodurch auch ein Vergleich von Lebensformen
mçglich wird, der %hnliche oder auch gemeinsame Problemstellungen ersicht-
lich werden l%sst. So kçnnen Lebensformen in Krisen geraten, von verdeckten
Konflikten durchzogen oder von bestimmten Dysfunktionalit%ten untergraben
sein – allesamt Bestimmungsfaktoren, die man diagnostizieren kann und muss.
Hier kommt die Bedeutung der Sprache, einer Sprachbildung wie einer Sprach-
kultur ins Spiel, die es ermçglichen, sich auf Lebensformen zu beziehen, die wie-
derum durch Sprache jene Erfahrungen sich profilieren lassen, aber eben auch
blockieren kçnnen, die genau an diesen Lebensformen konstitutiv (mit)arbeiten.
Die allseits bekannten wie aufs%ssigen „L$cken der Sprache“ kommunizieren
sozusagen die Fragilit%t der mit den Erfahrungen einhergehenden Lebensfor-
men, weshalb vieles an den jeweiligen Artikulationsmçglichkeiten h%ngt. Insge-
samt pl%diert Jaeggi – was gewiss auch f$r interkulturelle Problemstellungen at-
traktiv sein d$rfte39 – f$r die Aufrechterhaltung der Pluralit%t von Lebens-
formen, welche aber kein monadisches Nebeneinander meint, sondern „einen
Pluralismus der Auseinandersetzung um die richtige Lçsung des Problems der

36 Rahel Jaeggi: Kritik der Lebensformen. Berlin 2014.


37 Ebd. 13.
38 Vgl. Rahel Jaeggi: Lebensformen sind nicht nur Geschmackssache. In: Der Standard/

Wien. Interview mit Beate Hausbichler. 15. 01. 2014.


39 Vgl. Jaeggi: Kritik der Lebensformen. 12. Tendenziell auch das Schlusskapitel Ein experi-

menteller Pluralismus. 448 ff.


Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 305

gelingenden Lebensform“.40 „Lebensformen als Experimente“ verstehen und in


den „Problemlçsungsversuchen“ und dem „Problemlçsungshandeln“41 ad%qua-
te Antworten auf die Krisis, d. h. auch Kritisierbarkeit und Kritikf%higkeit von
Lebensformen selbst zu sehen, daran h%ngt f$r Jaeggi die Mçglichkeit, „Lebens-
formen als historisch sich entwickelnde und mit normativem Anspruchsniveau
versehene Lernprozesse verstehen [zu] lassen“.42 In den Strategien der „Lebens-
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bew%ltigung“ ist denn auch das „emanzipatorische Interesse“ dieser „Kritik von
Lebensformen“ zu verorten, die sich selbst als „individuelle wie kollektive
Emanzipationsprozesse“43 auffassen lassen.
Ließe sich der Ansatz von Nida-R$melin, der von einem „unaufgeregten Rea-
lismus“ und empirisch ges%ttigter, normativer Anspr$chlichkeit getragen ist, als
die „neutralste“ der drei Positionen umschreiben, so stellen die Konzepte von
Hadot und Jaeggi die jeweils entgegengesetzten Pole dar, insofern es Hadot um
das Aufzeigen einer, oder genauer, der „Philosophie als Lebensform“ zu tun ist,
indes Jaeggi mit emanzipatorischen Impetus eine Theorie der „Kritik von Le-
bensformen“ entwirft. W$rde erstere Position sich einer „ph%nomenologischen
Kritik“ wohl entziehen wollen, obwohl auch da mçgliche Ankn$pfungspunkte
zu finden w%ren, scheinen mir sowohl bei Hadot’s wie bei Jaeggi’s Ans%tzen,
wenngleich in unterschiedliche Richtungen weisend, Potentiale vorzuliegen, die
ph%nomenologisch – ich gestatte mir hier, durchaus auch poststrukturalistische
sowie „postph%nomenologische“ Ang%nge mit in Betracht zu ziehen –, verfl$s-
sigt noch einmal andere Mçglichkeiten aufweisen kçnnen. Alle drei Ans%tze ber-
gen wichtige Implikaturen, die ihre sachliche )berzeugungskraft m. E. aber erst
dann erhalten, wenn sie ph%nomenologisch $bersetzt werden, d. h. aus dem
Blickwinkel der Konstitution, sprich konstitutiver Prozesse angegangen wer-
den, in der die Frage leitend wird, wie etwas zu dem wird, als was wir es (in
seinem „ist“) kennen und voraussetzen.

40 Ebd. 451.
41 Vgl. ebd.
42 Ebd. 14. Vgl. 327 ff.
43 Ebd. 12.
306 Georg Stenger

3. „Zwischen“ – ein Topos mit interkultureller Relevanz


,zwischen‘ Lebenswelt und Lebensform

A. Japanische Denkerfahrungen und Lebensformen

Der Begriff der „Lebensform“ erweist sich in ostasiatisch-japanisch gepr%gter


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Perspektive stark von einem Naturverst%ndnis gepr%gt, das nicht erst als natural-
technisierte „Umwelt“ und kulturell-soziale „Lebenswelt“ sich sedimentiert
und habitualisiert hat, sondern in seiner „formgebenden“, wenn man so will
auch „formfindenden“ und zugleich „-gestaltenden“ Kraft gesehen und gepflegt
wird. Mit den damit verbundenen Fragen und Problemstellungen wird einer-
seits die „Natur als ganze“ thematisch – f$r das japanische Denken gilt der
Mensch als Teil der „großen Natur“, er steht ihr nicht, wie dies aus christlich-
westlich-wissenschaftlicher Sicht selbstverst%ndlich erscheint, gegen$ber, um
mit ihr umzugehen, sie untertan und urbar zu machen, zu kultivieren und zu
domestizieren, was den Hiatus zwischen Natur und Kultur unverr$ckbar instal-
liert zu haben scheint –, andererseits ist damit eine Debatte eingel%utet, die k$nf-
tig wohl nurmehr weltweit, sprich unter globalen Maßst%ben zu f$hren sein
wird. Was auff%llt ist, dass die einschl%gige Literatur hierzu westlich-amerika-
nisch-europ%isch gepr%gt ist, und dass man, wenn ich mich nicht t%usche, etwa
seitens asiatischer resp. ostasiatischer Debatten sich allzu gerne und mit der
Hoffnung auf Problemlçsungsvorschl%ge an die westliche Denkzivilisation an-
schließt. Mir erscheint dies nicht nur wichtig und angesichts der Problemstellun-
gen – man denke nur an „Fukushima“ und die Folgen – auch konsequent, ich
mçchte aber gleichwohl auf einen anderen Aspekt aufmerksam machen, der
zwar im Hintergrund latent gegenw%rtig sein mag, dem m. E. aber – gerade auch
in seinen mçglichen Konsequenzen f$r den Umgang mit und das Verst%ndnis
von Natur – eine weitaus grçßere Bedeutung zukommt bzw. zuwachsen wird.
Natur und Umwelt haben zwar globale, die Menschheit umfassende Relevanz
(positive wie „negative“ Aspekte wie Klimaver%nderungen, Erderw%rmung,
Wasserknappheit, Energiegewinnung resp. –ressourcen und anderes mehr), zu-
gleich ist aber auch offenkundig, dass – kontrastiert man einmal die westlich-
ostasiatischen Denk- und Erfahrungsprofile – der Naturbegriff signifikant diffe-
riert. Das hat nat$rlich seine Konsequenzen auch f$r die jeweiligen lebensweltli-
chen, kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverst%ndnisse und Handlungsvoll-
z$ge, die sich als konstitutive Grçßen in einer Lebensform bekunden.
Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 307

Bez$glich des Zusammenhangs von „Denkerfahrung und Lebensform/en“


sei hier lediglich eine kursorische Skizzierung gestattet,44 die ich gleichwohl
auch hinsichtlich sozialer und politischer Belange f$r notwendig erachte, auf die
ich, gerade auch im Hinblick auf die Stellung der sog. „Kyoto-Schule“, an ande-
rer Stelle und in kritischer Absicht noch n%her eingehen werde. Vor dem Hinter-
grund ostasiatischer Denk- und Erfahrungskulturen, die seitens der japanischen
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Philosophie im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die konstruktive Aufnahme


und Durcharbeit abendl%ndisch-westlicher Philosophie ein gesteigertes Pro-
blembewusstsein deutlich werden ließen, erscheinen mir folgende Hinweise be-
sonders wichtig: Nishida Kitaros Philosophie einer „reinen Erfahrung“ sowie
einer „Ortlogik“ erçffnet eine erneute und grundlegende Auseinandersetzung
dar$ber, was unter Denken, unter Erfahrung usw. zu verstehen sein kçnnte,
geht man deren kategoriale Selbstverst%ndnisse unter interkulturellen Vorzei-
chen an.45 Watsuji Tetsuro macht in seinem Buch F#do. Wind und Erde auf den
konstitutiven Zusammenhang von klimatischen Gegebenheiten und Denkwei-
sen der Kulturen aufmerksam, um sp%ter eine „Ethik als Wissenschaft vom Men-
schen“, mithin eine „Ethik der menschlichen Existenz“ anzuschließen.46 Nishita-
ni Keiji arbeitet Grundlagen des ostasiatisch-buddhistischen Grundbegriffs der
„shunyata“ als der „Lehre“ der „Leere“ aus, was gegen$ber dem westlichen
„Subjekt-ich“ resp. „Selbst“ zu einem vorg%ngigen „Nicht-Selbst“ f$hrt.47 Ueda
Shizuteru zeigt an Grundbegriffen wie dem „Nichts“, dem „selbstlosen Selbst“
u. a. mehr Entsprechungslagen, aber auch Asymmetrien und Nichtvergleichbar-
keiten zwischen zenbuddhistischer Denkweise und europ%ischer Mystik. So
wird etwa im sino-japanischen Wort „shi-zen“ (=Natur) „Natur“ als „so sein,
wie es von sich selbst her ist“ (shi=von sich selbst her / zen=so sein) verstanden,

44 N%heres hierzu vgl. Georg Stenger: Philosophie der Interkulturalit%t – Erfahrung und
Welten. Eine ph%nomenologische Studie. Freiburg/M$nchen 2006. Bes. 371 – 459 und 532 –
541. Vgl. auch ders.: ,Selbst’ als Grundwort im Spannungsfeld zwischen Heideggers und ost-
asiatischem Denken. In: Heidegger und das ostasiatische Denken. Hg. von Ryosuke Ohashi, S.
Kadowaki u. a. (Bd. VII. des Heidegger-Jahrbuches) Freiburg/M$nchen 2013. 75 – 102.
45 Kitaro Nishida: )ber das Gute (Zen no kenky(). Eine Philosophie der Reinen Erfah-

rung. )bers. von P. Pçrtner. Frankfurt a.M. 21990; ders.: Selbstidentit%t und Kontinuit%t der
Welt. In: Die Philosopie der Ky,to-Schule. Texte und Einf$hrung. Hg. von Ryosuke Ohashi.
Freiburg/M$nchen 1990 / 32014. 54 – 118; ders.: Logik des Ortes. Der Anfang der modernen
Philosophie in Japan. Hg. und $bers. von Rolf Elberfeld. Darmstadt 1999; ders.: Die morgen-
l%ndischen und die abendl%ndischen Kulturformen in alter Zeit vom metaphysischen Stand-
punkt aus gesehen. In: Zusammenh%nge. Jahrbuch f$r Asiatische Philosophie, Bd. 1. Hg. von
H. Schneider. Hamburg 200. 5 – 24.
46 Tetsuro Watsuji: F(do. Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kul-

tur. )bers. von Dora Fischer-Barnicol und Okochi Ryogi. Darmstadt 1992; ders.: Ethik als
Wissenschaft vom Menschen. )bers. von Hans Martin Kr%mer. Darmstadt 2005.
47 Keiji Nishitani: Was ist Religion (Sh(ky, towa nanika). )bers. von D. Fischer-Barnicol.

Frankfurt a.M. 1982 / 2001.


308 Georg Stenger

was wiederum soviel wie „Freiheit“ als auch „Wahrheit (im Sanskrit „Tathat&“
= „So-heit“ / „So-wie-dies-heit“) bedeuten kann.48 0hashi Ryosuke49 zeigt,
dass und wie der „Wind“ als Grundbegriff der japanischen Kultur verstanden
werden kann. Jenseits klassisch naturphilosophischer oder auch metaphorischer
Zuschreibung zeigt 0hashi, dass einerseits in der „Kunst“ die Natur freigesetzt
und in der „Technik“ beherrscht wird – das kann hier und da auch umgekehrt
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sein –, andererseits kann Natur auch als „Freiheit“ angesetzt werden, die dem
„Freiheitscharakter des ,Windes‘ entspricht. Das „Wesentliche“ (der Kunst) liegt
hierbei nicht in der, „wenn auch meisterlichen Konstruktion“, sondern darin,
„dass am Ende dieser Konstruktion das K$nstliche $berhaupt verschwindet und
im Innersten des Werkes das Nat$rliche wieder aufgeht und weht“. 0hashi
nennt etwa das Beispiel der japanischen Gartenkunst: „Begriffe wie […] f(ry(
(,Windstrom‘) oder f(ga (,Windanmut‘) werden dort konkret und ,real‘. In ihr
kommt die Natur, durch die feinste (und insofern k$nstliche) Pflege hindurch,
wieder zu sich.“ Am Beispiel des Shinto-Schreins wird etwa deutlich, dass „das
Innerste der %sthetischen Konstruktion […] der Eingang in den tiefsten Schoß
der Natur [ist]. Das Ende der Kunst ist der Anfang der Natur, dort, wo erst der
geif(, der ,Wind der Kunst‘, weht und das Kunstwerk belebt. Jeder K$nstler
wird erkannt durch seinen ,Wind der Kunst‘, d. h. durch seine Darstellungswei-
se. Die Kunst ist hier nicht die Repr%sentation der Natur, sondern vielmehr das
Entschwinden in die Natur.“50
Sprechen wir von „Umwelt“, so sprechen wir von „Natur“, von innerer und
%ußerer Natur. Wir sprechen zugleich von „Umwelten“, von „Naturen“, von
„Lebenswelten“, „Lebensformen“, von „Kulturen“, ja mehr noch, wir sprechen
von „Welten“, die ihren jeweiligen Erfahrungsstil, ihre jeweilige Sprach- und
Sprechweise und damit vielleicht auch ihre eigene Denkweise und Denkform,
ihr Verstehen von Handlung und Praxis – $ber Letzteres m$sste eigens gehan-
delt werden – haben. Wenn ich hier auf den Naturbegriff resp. auf das Naturver-
st%ndnis japanischer Provenienz etwas eingegangen bin und nicht etwa gefragt
habe, wie von verschiedenen kulturellen Gesichtspunkten aus das globale Um-
weltproblem direkt anzugehen sein kçnnte, so muss ich u. U. mit harten kriti-
schen Einw%nden rechnen: Was hilft der R$ckgang auf einen Naturbegriff ange-
sichts drastisch zunehmender Umweltprobleme? Kommt dies nicht einem
Euphemismus gleich, oder ist dies gar an der anvisierten Themenstellung vorbei-
gesprochen? Hart formuliert: Was hilft uns das? – Andererseits: L%ge mit den

48 Shizuteru Ueda: Wer und was bin ich? Zur Ph%nomenologie des Selbst im Zen-Buddhis-

mus. Freiburg/M$nchen 2011.


49 Ryosuke 0hashi: Japan im interkulturellen Dialog. M$nchen 1999. 23 – 39.
50 Ebd. 36 f.
Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 309

angedeuteten Kontexten nicht ein – wenn auch nicht sofort offenkundig – Natur-
verst%ndnis zugrunde, welches auch f$r das japanische Technik- resp. Umwelt-
verst%ndnis von grçßerer Bedeutung sein kçnnte als gewçhnlich angenommen?
Ganz zu schweigen davon, dass diese Einsicht auch f$r ein westlich-europ%i-
sches Natur- und Umweltverst%ndnis hilfreich sein kçnnte, wo dort doch Natur
von altersher als untergebene, als zu bearbeitende und bewerkstelligende ange-
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setzt wird? Insofern „Technik“, durchaus im weiten Sinne von techn3, immer
auch und zugleich als kreativ, hervorbringend und gestaltend verstanden wird
oder werden kann, ist ihr durchaus eine konstitutive N%he zur Kunst und damit
auch zur Natur als einer gewissermaßen „tiefer liegenden Natur“ zu attestieren.
Als bloße Ressource w%re Natur jedenfalls unter ihren Mçglichkeiten angesetzt,
und auch noch eine „Umweltethik“ scheint von dieser Optik nicht frei zu sein.
Zugegeben, meine )berlegungen mçgen der „real“ vorliegenden Situation der
Umweltproblematik wenig entsprechen, aber war „Realit%t“ (im Sinne empiri-
scher Faktizit%t) jemals ein guter Ratgeber f$r jene im Grunde angezielte „Wirk-
lichkeit“, auf die hin Mensch- und Natursein in ihrem gegenseitig sich konstitu-
ierenden Hervorgangsgeschehen unterwegs sind? Vielleicht h%tten wir erneut
eine „Epoch. zu $ben“ und zu vollziehen, dieses Mal aber nicht allein eine be-
wusstseinsbezogene, sondern auch eine erfahrungsbezogene, lebensrelevante
und im humanen Sinn (Natur >< Kultur) lebenssteigernde, die uns zugleich –
und daran hinge nicht wenig – f$r ein unter globalen Vorzeichen stehendes inter-
kulturelles Erfahrungsdenken und damit auch f$r divergierende Lebensformen
çffnete und sensibilisierte.

B. Kulturelles Erfahrungsdenken und Sprachgenerierung.


Einige Beispiele aus dem Japanischen

Ein weiterer Hinweis mag auch die Besonderheit sein, dass im Japanischen der
Topos „Mensch“ („Menschliche“) – jap.: „nin-gen“ oder auch „hito“ eigentlich
„Zwischen Mensch und Mensch“51 bedeutet, was im Weiteren auch „Zwischen
Mensch und Natur“ bzw. vor allem als „ningen“ der „gesellschaftliche Mensch“
oder „Existenz als Zwischensein“52 genannt wird. Dieses „Zwischen“ wiederum
– jap.: „aida“, manchmal auch „aidagara“, deren Wurzel dem altjapanischen

51 Vgl. Kimura Bin: Zwischen Mensch und Mensch – Strukturen japanischer Subjektivit%t.

)bers. und hg. von Elmar Weinmayr. Darmstadt 1995.


52 Watsuji: Ethik. Einleitungskapitel.
310 Georg Stenger

Wort „awai“ entstammt – hat im japanischen Denken eine zentrale Rolle inne.53
Mit Toru Tani halte ich diesen Grundbegriff insbesondere auch f$r das interkul-
turelle Denken f$r %ußerst hilfreich, weist er doch auf eine Grundkonstellation
hin, die einerseits „Offenheit“ signalisiert, also auch das Offene und sich-/ff-
nende hochsch%tzt, andererseits auf ein wechselseitiges Dynamisierungsgesche-
hen zielt, worin sich angestammte, kulturell impr%gnierte Selbstverst%ndnisse
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aus ihren zumeist stereotypen Verfasstheiten zu lçsen vermçgen, indem sie auf-
einander respondierend und resonierend sich in Bewegung setzen und sich trans-
formieren. Teils schon erw%hnte bekannte japanische Denker wie Watsuji, Nish-
ida, Nishitani, Ueda, Kimura, Sakabe u. a. nehmen in grundlegender Weise
Bezug auf diesen Topos, den ich f$r einen philosophischen Grundbegriff halte,
der aber m. W. noch in keiner philosophischen Begriffsgeschichte auftaucht.
Dass die Sprache lebensform- und welterschließende Kraft hat, ist uns seit
Humboldt, Herder, Heidegger, Gadamer, Wittgenstein, Austin, Habermas u. a.
bekannt. Dass sie aber eine Welt nicht nur erschließt, sondern anhand ihrer ver-
schiedenen Sprachebenen (Grammatik, Syntax, Semantik, Pragmatik usw.) die
dazugehçrigen Lebensformen gar erzeugt, wie umgekehrt die Sprache aus ihrer
kulturellen Lebensform hervorgeht, dies mag vielleicht noch nicht so deutlich
sein. Es ist jedenfalls auffallend, dass die indogermanischen Sprachkulturen und
-strukturen eine substanz- und subjektzentrierte Grammatik ausgebildet haben,
im Unterschied etwa zum Japanischen, das eher geschehenszentriert gebaut und
zudem weitaus kontextbezogener ausgerichtet ist. „So ist z. B. im deutschen Satz
,Der Ball rollt‘ das Subjekt ,Ball‘ das Zugrundeliegende, das durch das Pr%dikat
,rollt‘ nur attributivisch n%her bestimmt wird. Im japanischen Pendant des Sat-
zes hingegen (,b,ru ga korogaru‘) ist das Pr%dikat ,rollen (korugaru)‘ das Wesent-
liche, und das Subjekt ,Ball (b,ru)‘ ist nur Attribut, das jenes n%her bestimmt.“54
Man kann unschwer die Differenz zwischen Subjektzentriertheit und Gesche-
henszentriertheit feststellen. Im Japanischen wird das Satzsubjekt oft nicht ge-
nannt, was – ber$cksichtigt man im Weiteren die offenkundige Kontextbezogen-
heit und Ortgebundenheit vor allem von Verbum und Personalpronomen – auf
eine vçllig andere Satzstruktur hinweist, die ihr Zentrum im Verbum hat. „Den
logischen Mittelpunkt des japanischen Satzes bildet das Verbum als Vorgangs-
oder Geschehensbezeichnung, der gegen$ber alle $brigen Satzglieder nur attri-
butive Bedeutung haben. D. h. in der japanischen Sprache kommt Wirklichkeit
nicht als eine Ansammlung von substanziellen, feststehenden Dingen bzw. f$r

53 Vgl. hierzu Toru Tani: ,Zwischen’ und Begegnung – im Zusammenhang mit Megumi Sak-

abes Interpretation der Moderne. In: Geschichte – Gesellschaft – Geltung (Deutsches Jahr-
buch f$r Philosophie). Hg. von Michael Quante. Hamburg 2016 (i.E.).
54 Vgl. Hubertus Busche: Kultur – Begriff und Erkl%rungsrahmen. In: Einf$hrung in das

Studium der Kulturwissenschaften. Kursband FernUniversit%t Hagen 2004. 3 – 33. 31.


Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 311

sich seienden Subjekten, die sich dann auch noch in Geschehnissen und Vorg%n-
gen aufeinander beziehen kçnnen, zum Vorschein, sie zeigt sich vor allem und
zuerst als ein Geschehen, das sich in sich hinsichtlich seiner Bez$ge, Richtungen
und Orte dann noch n%her bestimmt und bestimmen l%sst. Das Satzsubjekt ist
dem Pr%dikat nicht vorausgesetzt, sondern sozusagen im Pr%dikat eingewickelt,
involviert, weswegen es meist gar nicht genannt werden muss.“55 Das (Satz)Sub-
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jekt erfasst sich also eher als Bezugsort, gleichsam als Moment, der aus dem Ge-
schehen mithervorgeht.56 Schon aus diesen kurzen Andeutungen mag der wech-
selseitig konstitutive Bedingungszusammenhang zwischen „Sprachspiel“,
„Lebensform“, „kultureller Lebensform“, „Situativit%t“, „Ortgebundenheit“,
„Ortlogik“ und anderen mehr ersichtlich werden.57
Was aber, so w%re festzuhalten, bedeutete dies f$r das gegenseitige Verstehen-
kçnnen und f$r die in den Lebensformen mittransportierten kulturellen Stan-
dards, Normen usw., wenn bspw. ein f$r das westliche Denken so zentraler
Grundbegriff wie das „Subjekt“ eine vergleichsweise sekund%re Rolle ein-
nimmt? Schon an diesen kleinen Beispielen kommen kulturelle Hintergr$nde
zu Wort, die erst mit der jeweiligen Praxis als diese hervortreten und sodann
durchaus normative Qualit%t annehmen kçnnen. Bevor dies aber mçglich ist,
hat eine bestimmte „Verantwortlichkeit“ schon gesprochen, hat geantwortet auf
etwas, das mit ihrer Antwort, ihrem Sprechen erst hervorgeht.
Versteht man die Sprache als jeweilig eingeschrieben in kulturell-gesellschaft-
liche Zusammenh%nge, d. h. in einem gegenseitigen Antwortgeschehen als aus-

55 Vgl. Elmar Weinmayr: Aspekte des )bersetzens zwischen Heidegger und Japan. In: De-

struktion und )bersetzung. Zu den Aufgaben von Philosophiegeschichte nach Martin Heideg-
ger. Hg. von T. Buchheim. Weinheim 1989. 177 – 196. 191 f.
56 Vgl. hierzu Bin Kimura: Zwischen Mensch und Mensch. 97 ff. Es gibt im Japanischen

verschiedenste Personalpronomina f$r ,Ich’, aber da fast f$r jede Situation, f$r jedes Gescheh-
nis, jede Beziehungsstruktur ein anderes ,ich’ gebraucht wird, l%sst man es in der Regel weg; es
taucht auch nicht im konjugierten Verb auf, da es ein solches im Japanischen gar nicht gibt.
Weinmayr macht etwa mit Kimura darauf aufmerksam, dass jenes bei Martin Buber verwende-
te „Du“ im Japanischen meist mit „nanji“ $bersetzt wird, was eigentlich in einem pejorativen
und respektlosen Sinn gebraucht „jemanden in der Beziehung niedriger Stehenden“ meint, bei
Buber aber gerade als gegenteiliger Ausdruck „achtender und respektvoller Anerkennung“ Ver-
wendung findet, in welchem letztlich „Gott“ als „Du“ dahinter steht. )bersetzte man also,
wie geschehen, „Wort f$r Wort“, so hat man schon im Vorhinein einen bestimmten rein sprach-
lichen Vergleichsmaßstab angelegt, der der kulturellen Verstehens- und Erkenntnisweise, und
damit ihrer Lebensform nicht gerecht wird.
Zum )bersetzungsproblem vgl. auch Georg Stenger: )bersetzen $bersetzen. Zur Ph%no-
menologie des )bersetzens. In: )bersetzung als Medium des Kulturverstehens und sozialer
Integration. Hg. von J. Renn, J. Straub und S. Shimada. Frankfurt a.M. 2002. 93 – 122; jap. auch
in: Ris,. 671 (2003). 154 – 169 und 672 (2004). 168 – 179.
57 Vgl. hierzu auch Rolf Elberfeld: Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorien-

tierung. Freiburg i.Br. 32014 / 2012. Bes. 165 – 181. 216 – 228. 252 – 259. 303 – 312. 322 – 336.
358 – 376.
312 Georg Stenger

einander hervorgegangen und hervorgehend, also auch als gegenseitige Formen-


gestaltung, so mag man die philosophisch $beraus bedeutsame Reichweite
sprachlicher (sprich satzlogischer, syntaktischer, grammatischer, semantischer,
pragmatischer etc.) Architekturen ermessen. Noch ein Grundwort wie „Ki“
(chines. „Chi“) kann nahezu alles bedeuten, was wir unter der „geistigen“ Ebene
subsumieren, und es kann zugleich leibhaftige Energie, Kraft, Fluss, Fluidum,
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Hauch, Atem usw. bedeuten, wo Natur und Geist niemals getrennt sind.58
Der konstitutive, sich wechselseitig bedingende Zusammenhang von Erfah-
rung und Sprache, der selbst der Arbeit an den kulturell impr%gnierten Lebens-
formen entspringt, scheint offenkundig zu sein. Es sei an dieser Stelle jene schon
oben zitierte Passage wieder aufgenommen, die man jetzt eventuell mit noch-
mals anderer Intention und Aufmerksamkeit wahrnimmt: „Erfahrung“ kann nie-
mals „bloße“ Erfahrung sein; sie bliebe, wie Husserl sagt, „stumm“, und dies
gerade deshalb, weil sie als unmittelbare und gleichsam unkritische gegen sich
selbst verharrte. Merleau-Ponty hat dies auf seine unnachahmliche, geradezu
„chiasmische“ Sprechweise so zum Ausdruck gebracht: „Reden und Schreiben
bedeutet, eine Erfahrung zu $bersetzen, die doch erst zum Text wird durch das
Wort, das sie selbst wachruft.“59

4. Im „Zwischen” kultureller Perspektiven, oder: Ai Weiwei –


interkulturelle Readymades zwischen Kunst und Politik

Ich mache abschließend einen Sprung in die Gegenwart: Kaum ein K$nstler ist
derzeit mehr im Gespr%ch als der chinesische Konzeptk$nstler, Bildhauer und
Kurator Ai Weiwei. Seine Arbeiten bewegen sich in den Spannungsr%umen zwi-
schen individuellen resp. sozialen Lebensformen und kulturellen resp. gesell-
schaftspolitischen Lebenswelten, also genau dort, wo gesellschaftliche, kulturel-
le und politische Kr%fte geweckt werden, die sich gewissermaßen ereignishaft,
sprich nicht vorwegnehmbar konstituieren. Ai Weiwei ist, wo es geht, konkret
vor Ort, greift bei bestimmten, meist politisch prek%ren Vorkommnissen unmit-
telbar ein, indem er die Geschehnisse durch k$nstlerische „Einspr$che” (Spiege-
lungen etc.) aufzukl%ren sucht. Als Beispiel sei hier etwa seine im Rahmen der

58 Vgl. hierzu Ichiro Yamaguchi: Ki als leibhaftige Vernunft. M$nchen 1997. Vgl. zum

„Zwischen“ mit japanischen Bez$gen auch Bernhard Waldenfels: Sozialit%t und Alterit%t.
Modi sozialer Erfahrung. Berlin 2015. 218 ff.
59 Vgl. Bernhard Waldenfels: Deutsch-franzçsische Gedankeng%nge. Frankfurt a.M. 1995.

115. Die aus dem franzçsischen Original zitierte und $bersetzte Stelle (Maurice Merleau-
Ponty: R.sum.s de Cours. Coll+ge de France 1952 – 1960. Paris 1968. 41) fehlt in der deut-
schen )bersetzung (Vorlesungen I. Berlin 1973. 41).
Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 313

Ausstellung „So sorry“ entworfene Arbeit Remembering (100 x 10 m) f$r die


Fassade am Haus der Kunst in M$nchen (2009) angef$hrt, die aus 9.000 eigens
angefertigten Rucks%cken besteht und die sich auf das Erdbeben in Sichuan be-
zieht, wo 2008 insgesamt ca. 80.000 Menschen ihr Leben verloren haben. Jeder
Rucksack hat eine von insgesamt 5 verschiedenen Farben, deren Anordnung in
chinesischen Schriftzeichen den Satz ergibt: „Sieben Jahre lang lebte sie gl$ck-
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lich in dieser Welt“, mit dem die Mutter eines Erdbebenopfers ihrer Tochter ge-
dachte. Die Namen der toten Kinder mediatisieren sich in diesen Rucks%cken,
erzeugen Resonanzen und rufen schlummernde Respondenzen wach. Nicht je-
der mag Ai Weiweis mediale Transparenztendenz f$r zielf$hrend halten, wo
sich jeder und alles im Anderen und Dritten gespiegelt sieht. Man w$nschte sich
vielleicht mehr Aufmerksamkeiten f$r Asymmetrien, Alterit%ten, Differenzen,
aber genau diese mçchte er ja fruchtbar machen, wenn er die, d. h. f$r ihn zu-
n%chst die spezifisch chinesische Kultur mitsamt ihrer vergleichsweise langen
Geschichte (3 bis 4 tausend Jahre) auf ihre genetische und generative, zwischen
Normalit%t und Konventionalit%t auf der einen und Anomalit%t und Unkonven-
tionalit%t auf der anderen Seite arbeitende wie oszillierende „lebendige Kultur“
als erlebte und gelebte Kulturformen erinnert, die nicht gegen Institutionen und
dergleichen steht oder gar vorgeht, sondern diese eben mit jener „gelebten“, d. h.
auch in sich kritisch bleibenden „Kultur“ f$llt, ohne selbst eine erneute Instituti-
on werden zu wollen. Ai Weiwei versteht sich daher als „Anreger“, auch als
„Aufreger“, wo man hinschauen muss, aber nicht aus Amusement oder %hnli-
chem, sondern weil man darin sich selber, weil darin jeder Einzelne sich selber
„erkennen“ kann – zwischen der Konvention eines „Abbildes“ und dessen inne-
rem Widerstreit bzw. Fremdheitskoeffizienten mit dem Aus- und Aufbruch von
nachebbenden und vorspringenden, gleichsam vorflutenden Bildern.
Ai Weiweis Arbeiten sind %ußerst vielschichtig gelagert, er bedient sich aller
nur erdenklichen medialen Inszenierungen, $berschreitet durchgehend die
Schwellen von Privatheit und /ffentlichkeit, thematisiert kulturelle und gesell-
schaftspolitische Problemzonen und l%sst doch darin zugleich tiefenstrukturelle
Dimensionen und Zusammenh%nge zur Erscheinung kommen. Sich auch persçn-
lich vollkommen aussetzend, greift er zugleich mit dem Stilmittel ironischer Dis-
tanz in die Konstitutionsprozesse gesellschaftlicher, hier vor allem chinesischer
Selbstverst%ndigung ein. Weder betreibt er dabei eine !sthetisierung des Politi-
schen noch interessiert ihn eine Politisierung der Kunst, zumal beides ohnehin
zum Kitsch neigt. Seine „Bilder“ kommen mit Jean-Luc Nancy gesprochen aus
jenem Grund, der selbst nie erscheinen kann und der doch best%ndig nach kreati-
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Abb. 1 – A.a) Ai Weiwei: Dropping a Han Dynasty Urn, 1995/2004


(Serie von 3 Schwarz-Weiß-Prints, 148 x121 cm).

ver Gestaltung und Selbstkl%rung verlangt.60 Mag sein, dass sich insbesondere
von daher erkl%ren l%sst, warum sich die einstmals fundamental-kritische Stel-
lung chinesischer Politik und ihrer Behçrden zu Ai Weiweis Arbeiten inzwi-
schen auf die Wahrnehmungsweisen westlicher Politik und Feuilletons verlagert
hat, die bei Ai Weiwei ein sich Andienen an China argwçhnen, was ja nur eine
Abkehr von westlichem Demokratieverst%ndnis bedeuten kçnne,61 so dass Ai
Weiwei und sein Anliegen sich mehr denn je „zwischen den St$hlen sitzen”, also
zwischen den St$hlen Chinas und Europas sitzen sehen. Aber, wer h%tte denn
mehr zu „St$hlen” zu sagen als Ai Weiwei selbst?62
Eine etwa 2000 Jahre alte chinesische Keramikvase wird „fallen gelassen“.
Die 2000, ja beinahe 4000 j%hrige chinesische Geistesgeschichte muss zun%chst
fallen gelassen, es muss ihrer zun%chst, einen Augenblick lang entbehrt werden:
Innehalten, gewissermaßen die Luft anhalten. Und doch wie beil%ufig geschieht
dies: Einerseits sammelt, ordnet, „harmonisiert“ China alles, eminent stolz auf
seine große Vergangenheit, andererseits wird alles Alte – nicht nur mit Mao und
der Kulturrevolution – als wertlos betrachtet, zerstçrt und $ber Bord geworfen.
Ai Weiwei verdichtet ein kulturelles und politisches Selbstverst%ndnis auf eine
kurze, im )brigen zun%chst eher zuf%llig entstandene Performance – und China

60 „Im Bild erscheint der Grund als das, was er ist, indem er verschwindet. Als verschwin-

dender geht er ganz ins Bild $ber, ohne dadurch zu erscheinen, und das Bild ist weder seine
Erscheinungsform noch sein Ph%nomen. Der Grund ist die Kraft des Bildes, sein Himmel und
sein Schatten. Diese Kraft dr%ngt sich ,in den Grund’ des Bildes, oder besser: sie ist der Druck,
den der Grund auf die Oberfl%che aus$bt.“ So bleibt der Grund zwar ein „ungreifbarer Nicht-
Ort“, aber so zu verstehen, dass der „nicht-wahrnehmbare (intelligible) Sinn des Bildes als sol-
cher am Bild vernommen wird“. (Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder. Berlin 2006. 20.)
61 Vgl. die j$ngeren Interviews und Berichte in den einschl%gigen deutschen Zeitungsforen

wie der ZEIT, der FAZ und der SZ, nachdem Ai Weiwei im Herbst 2015 nach Berlin gekom-
men war, um eine Gastprofessor an der Universit%t der K$nste (UdK) anzutreten.
62 Vgl. seine umfangreichen Arbeiten mit zumeist aus dem %lteren und alten China stam-

menden St$hlen, wie etwa das Fairytale-Projekt auf der documenta 12 in Kassel 2007.
Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 315

sieht sich selbst angeblickt. Dies zeigen die umfangreichen Reaktionen und Ent-
r$stungen seither deutlich. Ai Weiweis Gesichtspose %ndert sich dabei kaum,
nach dem Motto: „Schaut her: Hier geschieht nichts, und doch %ndert sich al-
les!”
Ai Weiweis „Botschaft“ lautet nun: Das – gemeint ist eben die große, umfas-
sende Kultur Chinas mit ihren unglaublichen Erzeugnissen und Errungenschaf-
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ten – ist alles „richtig“ (ironischer Grundgestus) und doch „im Grunde“ falsch:
Das ist alles vitriniert, festgestellt, dogmatisiert, auch die „Revolution“ Maos. Es
ginge hingegen um eine Selbstgestaltung, eine innere wie %ußere freie Entfal-
tung, es ginge um einen Prozess, der jene Kr%fte freisetzt, von denen China zwar
schon immer getr%umt hat, nie aber zu wagen sich getraut hat. „Wir m$ssen
nichts anderes machen, aber alle anders!”, so Ai Weiwei. Darum erst einmal:
Fallen-Lassen, Entbehren, um $berhaupt diesen Dreh, diese Umwendung, diese
Umkehr wahrzunehmen: Man kçnnte dies als eine neuerliche Form des „Epo-
ch.-)bens“ * la Husserl bezeichnen, dieses Mal aber unter bildlich-politischer
Hinsicht, ein genuin „praktisches Epoch. )ben“, um sich neu „geben zu las-
sen“, $berhaupt „Gebungs- und Gabeweisen“ zu verstehen und in Erfahrung zu
bringen. „Alles ist Bewusstsein”, kçnnte noch Husserl gesagt haben, „Alles ist
Kunst, Alles ist Politik!“, sagt Ai Weiwei.
Einer ersten Wahrnehmung wird der Konflikt zwischen dem Fortschreiten
der modernen chinesischen Kunst und der Erhaltung der traditionellen Kunst
offensichtlich. Gleichwohl – und auch dies nimmt man wahr – geht es dabei
nicht darum, mit dem moralischen Zeigefinger auf etwas zu zeigen oder gar f$r
eine der beiden Seiten sich zu entscheiden. Vielmehr scheint es darum zu gehen,
Ordnungen, Epochen, Seh- und Wahrnehmungsepochen und -formen, die sich
widerstreiten, auf eine bestimmte Art miteinander zu verbinden, ohne sie verbin-
den zu kçnnen. Eine mçgliche Auflçsung ließe sich vielleicht darin finden, dass
man so etwas wie ein „Sich lçsen“ sp$rt, das schnell – und zun%chst leiblich anhe-
bend – von einem Schmunzeln ins Lachen $bergleitet, darin ganz dem Ph%no-
menarsenal des „Witzes“, des Humors, der Ironie verwandt. Wer einen Witz er-
kl%ren mçchte, ja schon der Versuch einer Erkl%rung desselben, macht den Witz
kaputt, versteht gar nicht, worum es dem Witz zu tun ist.
Worum geht es hier konkret? Um die Zerstçrung des „Klassischen“ oder um
ein Evolutionsprodukt des Konvergenten? Oder: sowohl als auch, oder: weder
noch? Anders gesagt: Das Bemalen der Han-Dynastie (206 v. – 9 n. Chr.) mit
dem unbestrittenen Logo der globalen Konsumwelt (Coca-Cola; vgl. Andy War-
hol) „bohrt“ an dem ambivalenten Selbstverst%ndnis, dem sich China in seinem
Engagement mit dem Westen gegen$bersieht: Es zeitigt sowohl destruktive Kon-
sequenzen wie kreative Mçglichkeiten. Pop meets Classics – das Allt%gliche, die
Alltagskultur trifft auf Hoch-, man kçnnte auch sagen Tiefenkultur. Diese Ar-
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Abb. 2 – A.b) Ai Weiwei, Han Keramik/Vase/Topf mit Coca-Cola-Logo $bermalt, 1995. Stein-
gut, Farbe; H. 9 7/8 Zoll (25 cm). Diam. 11 in. (28 cm). Von M + Sammlung Sigg, Hongkong
Fastenzeit. " Ai Weiwei.

beit hier bezieht seine Bedeutung aber nicht etwa nur aus dem Logo, sondern
aus seiner „Beziehung“, ja gewissermaßen „)berformung“ mit der Han-Dynas-
tie-Keramik. Das Cola-Logo scheint die Keramik, gleichsam eine Reliquie aus
altehrw$rdigen Zeiten, zu verunstalten, aber die etwas verblasste Farbgebung
des Logos scheint $ber die Abgr$nde hinweg das „Gespr%ch“ zu suchen, und
gegen die allein selig machende, alles dominierende und auch aggressiv vorgehen-
de Industriekultur ein Gesp$r dahingehend wecken zu wollen, dass und wie
„Tradition und Innovation“, „Vergangenheit und Gegenwart“ miteinander ko-
existieren kçnnten, „in Harmonie“ versteht sich, die einen eigenen „Spannungs-
raum“ erçffnen kçnnte – und „China“ f$hlte sich verstanden. Ai Weiwei steht
regungslos da und schmunzelt.
China als Modell der Weltkarte: Trotz unendlicher geografischer Weite, Viel-
falt der Vçlker, Ethnien und Sprachen – das Ganze ist in m$hseliger Arbeit aus
einzelnen Tragbalken, T$r-, Fenster-, Stuhlrahmen, Kunststatuen und Ge-
brauchsplastik zusammengesetzt, sozusagen Archive gebauter Alltagskultur –,
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Abb. 3 – B.a) Map of China, 2004. Eisenholz (Tieliholz) von Tempeln der Qing-Dynastie
(1644 – 1911), 51 x 200 x 200 cm.

erfasst sich China als homogen, als gewachsenes Selbstbild, so homogen und har-
monisiert, dass es verzahnt, geçlt, gewachst, gleichsam „auf ewig“ auf den So-
ckel seiner selbst gestellt erscheint. China, das ist tiefes Geschichtsbewusstsein,
Wertegemeinschaft und Volksrepublik mit neu entfachtem Nationalbewusst-
sein, wozu Ai Weiwei meint: „man redet $ber all das zuviel, hohles, leeres Gere-
de, Selbstbeweihr%ucherung“. Was versteht ihr unter Werten, Volk, Republik,
Geschichte, Demokratie usw.? Und wie versteht ihr das? Es gibt vielleicht in der
Tat eine „Hoffnung auf Gl$ck“,63 aber – alles h%ngt dabei von der freien Entfal-
tungs- und Gestaltungsmçglichkeit ab. Und in der Tat kçnnen und sollten auch
die altehrw$rdigen Traditionen des Daoismus und Konfuzianismus behilflich
sein, gibt es doch mit R$ckgriff auf diese die großen Ethiken, wie etwa Mengzis
konfuzianische Ethik, woraus eine eigene Aufkl%rung entwickelt werden kann
und, wie die aktuellen Menschenrechtsdiskurse zeigen, auch schon auf den Weg
gebracht ist, was zudem eine „eigene” Demokratieform ermçglichen kann, die
sich zurecht gegen eine )berst$lpung westlicher Vorstellungen zur Wehr setzt:
Heiner Roetz in einem SZ-Artikel hierzu: „[…] durch Reichtum und hohe Stel-
lung nicht verlocken und durch Autorit%t und Gewalt nicht beugen lassen. […]

63 Vgl. Wolfgang Bauer: China und die Hoffnung auf Gl$ck. Paradiese, Utopien, Idealvor-

stellungen in der Geistesgeschichte Chinas. M$nchen 1971.


318 Georg Stenger

Gegebenenfalls seinen Weg allein gehen.“64 Ai Weiwei wird da konkreter und


sozusagen kreativer: „Auf die Mçglichkeit der Kunstwerkentstehung kommt es
mir an. China ist selbst ein Kunstwerk, ich muss es nur sehen – in vielerlei Hin-
sicht. Wann es zu dem wird, was es ist oder sein kçnnte.”65 Die wechselseitig
konstitutive Bedingtheit von einzelnem Ich und pluralem oder auch gemein-
schaftlichem Wir ansprechend heißt es bei Waldenfels: „Man kann eine Lebens-
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form $bernehmen und einer Lebenswelt zugehçren, aber man kann nicht in sie
aufgenommen werden wie in einen Verein oder in eine B$rgerschaft […].“66 Es
ginge also um „gelebte Kulturen“,67 und Ai Weiweis Selbstverst%ndnis von
Kunst scheint mir in einer solchen „Arbeit an den Lebensformen und Lebens-
welten“ zu liegen, die sich jedes Mal politisch, sozial, kulturell ihrer Sprengkraft
versichert, um sich k$nstlerisch gestaltend und aktiv eingreifend „im Zwischen“
sog. kultureller Selbstverst%ndnisse zu bewegen. Diese Arbeit ist zugleich ein
Arbeiten an den Ordnungen selbst, insofern diese mit jedem Schritt angegangen,
angefragt, angeregt werden, und darin nicht mehr dem Bild einer Vorausgesetzt-
heit, einer Festschreibung etc. gehorchen. „Kulturbereiche betritt man wie Land-
schaften, nicht wie Territorien, an deren Grenzen Grenzw%chter, Grenzsteine
oder Schlagb%ume stehen. […] Ein leibhaftiges Europa, […] ein leibhaftiges Zwi-
schen, worin sich inter-kulturelle Lebensformen erfahren.“68 Dass Ai Weiwei so-
wohl von westlicher wie von chinesischer Seite vereinnahmt wird, ist nur mçg-
lich, weil er beiden „Seiten“ etwas, ja Grunds%tzliches zu sagen, ja zu geben hat.
„Es fragt sich, wie Herausforderungen aussehen kçnnen, die nicht bloß Abwehr-
kr%fte wachrufen, sondern kreative Kr%fte eines gesellschaftlichen Imagin%ren
wecken.“69
Die einfache Plastik Map of China zeigt – hier seitlich gelagert (Abb. 4) –
,China‘ als tiefenstrukturell verankertes „Lebewesen“, aus edlem Holz, klarge-
putzt, mit klarer Formensprache, das aber stets den chinesischen Drachen in sich
entweder zum inneren und %ußeren Aufruhr bringen oder aber zum tragenden
Grundelement einer Kultur kann werden lassen.
Der Mensch sitzt im Reiskochtopf (Abb. 5), der selbst wiederum Chinas Reis-
kultur repr%sentiert. Reis ist nur genießbar im gekochten Zustand, er schmeckt
auch nur so, und er n%hrt dadurch, dass mit dem Kochen die N%hrstoffe erst

64 Heiner Roetz: Die Kritik der reinen Anti-Vernunft. China, Ai Weiwei und die Aufkl%-

rung. In: S$ddeutsche Zeitung. 12. April 2011.


65 Ai Weiwei. In: Kunstforum 194 (2008). 231.
66 Bernhard Waldenfels: Sozialit%t und Alterit%t. Modi sozialer Erfahrung. Frankfurt a.M.

2015. 431.
67 Ebd.
68 Ebd. 439 f.
69 Ebd. 442.
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Abb. 4 – Siehe Abb. 3. „Map of China“, seitlich gelagert.

Abb. 5 – „Ai Weiwei im Kochtopf“, 2011


320 Georg Stenger

aufgeschlossen werden. „Reiskultur“ hat hier den Sinn von Kochen, das durch
und durch geht, das einen mit Haut und Haar betrifft, im )brigen eine Art ritu-
eller Initiations- und Transformationsprozess, den alle Kulturvçlker irgendwie
kennen, und sei es im Untertauchen ins Wasser, um neu daraus hervorzugehen.
Einerseits kann und will man sich dem nicht entziehen – man muss da durch –,
andererseits ist oder kann es eine Folter sein, die einem den Tod bringt, oder die
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L%uterung. Durch das Gekochtwerden – und dies ist die Gegenfigur – wird man
im $bertragenen Sinn „abgekocht“, „abgebr$ht“, vielleicht auch „stillgestellt“,
aber man ist hindurch gegangen und steht sozusagen „dar$ber“. )berm%chti-
gung und Erm%chtigung bedingen sich gegenseitig, und so entpuppt sich Essen
von Reis als eine Art inkarnatives Geschehen, welches die kulturelle Mutter-
milch von Grund auf aufsaugt. Man sitzt sozusagen darin, als Thronender oder
als Gefangener oder als beides zugleich. Man versteht „Buddha“, weil man „Bud-
dha“ ist. Reis kochen und essen ist eine Realmeditation, ein in sich Sitzen, ein
Buddha-Sitzen. Ai Weiwei spielt mit all diesen Mçglichkeiten, unterl%uft ihre
Realit%t mit wechselseitig ironischen Brechungen, um das Vielgliedrige und in
verschiedene Richtungen Laufende, in einem bestimmten Blick harmonisch und
transparent Erscheinende zugleich auf seinen Widerstreit, seine Befremdung,
sein Ausgesetztsein, sein gerade Nichtstimmigsein, seine kçrperliche Revolte
usw. hin anzugehen, anzusprechen, anzurempeln. Deshalb entziehen sich seine
Installationen, Performances, Kunstobjekte jedem „gegenst%ndlichen Ja-Wort“,
worauf Paul Klee hinsichtlich seines eigenen Kunstschaffens schon hingewiesen
hatte, und ertappen einen erst einmal in einem erstaunten Stutzigwerden, um –
bei ansatzweise gelingender „Lebensformahnung“ – in ein erkennendes Staunen
umzuspringen.
Die Kunst Ai Weiweis ist eine von unendlich vielen Mçglichkeiten, die Bedeu-
tung und Kraft der Kunst und der Bilder vor Augen zu f$hren. Was man mit Ai
Weiwei aber besonders gut sehen kann, ist die F%higkeit der Kunst, Grenzen zu
$berschreiten, auch Grenzen zwischen Kunst und Politik, Religion und Gesell-
schaft, Lebenswelt und Institutionen usw., die selbst „Kçrper” im umfassenden
Sinne sind. Auch der eigene Kçrper-Leib ist so gesehen ein eminent politischer,
gesellschaftlicher Kçrper, der an seine eigenen Grenzen geht. Vor allem w%h-
rend seiner langen Zeit in New York von Marcel Duchamp, den er dort f$r sich
entdeckte, inspiriert, und den er im $brigen einen „Taoisten“ nennt – die wohl
hçchstmçgliche Auszeichnung seitens eines Chinesen –, reißt auch er an den an-
gestammten W%nden des Kunstbetriebs, der Ausstellungstempel etc., ebenso
wie – das unterscheidet ihn von Duchamp – an den W%nden politischer, staatli-
cher wie menschenrechtlicher Mauern, aber nur, um die Rahmengebungen und
Rahmenbedingungen, die Referenzrahmen von Kunst $berhaupt zur Frage zu
machen, so dass es letztlich um Rahmenfindungen und deren kreative Gestal-
Arbeit an den Lebensformen. Aspekte interkultureller Ph%nomenologie 321

tung zwischen allen Bereichen kulturellen und gesellschaftlichen Lebens geht.


Ja, es geht um nicht weniger als um Lebensformen, die niemals bloß feste Grç-
ßen sind, da mit ihnen in der Tat Leben realiter geformt wird, im konkreten,
lokalen, „orthaften“ wie im globalen, „ortlosen“ Maßstab. Alle Arbeiten, ja jede
Arbeit von Ai Weiwei sind in diesem Sinne lebensgeformte und v. a. lebensfor-
mende, mithin inter-social und inter-cultural Readymades.
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W%hrend seines Besuches in einem Zen-Tempel in Japan 1978 wurde Michel


Foucault von einem Zen-Mçnch gefragt, ob das „çstliche Denken“ einen Bei-
trag zur offenkundigen Krise des abendl%ndischen Denkens, die Europa gegen-
w%rtig beherrsche, liefern kçnne? Foucault erwiderte: „Wenn es also eine Philo-
sophie der Zukunft gibt, dann muss sie außerhalb Europas entstehen, oder sie
muss als Folge von Begegnungen und Ersch$tterungen zwischen Europa und
Nicht-Europa entstehen.“70

70 Michel Foucault: (angelegentlich seiner beiden Besuche in Japan, Gespr%ch mit C.

Polac.) In: Schriften in vier B%nden. Dits et Ecrits. Band III 1976 – 79. 1978. 781.
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PR!MIE RTE R ESSAY Z UR PREI SFRAGE DER
DEU TSCHE N GES ELLSCHAF T F )R
PH !N OMENOLOGISCH E F ORSCHUNG
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Bernhard Obsieger

Husserls Frage: „Kann ich mein Leben leben,


ohne dass ich es wollen kann?“

Um den Sinn von Husserls Frage zu verstehen und sie erçrtern zu kçnnen, ist es
notwendig, zun%chst die in ihr zur Sprache kommenden Ph%nomene kurz darzu-
legen. Dabei soll das in Husserls Frage anklingende Paradox herausgestellt wer-
den, indem gezeigt wird, worin die scheinbare Unmçglichkeit besteht, ein Le-
ben zu leben, das der es Lebende nicht wollen kann. Anschließend soll dieses
Paradox aufgelçst werden durch den Nachweis, warum und wie ein solches Le-
ben dennoch mçglich ist. Schließlich sollen die Gr!nde eines solchen Lebens
dargestellt werden, die in unserer Zeit nicht mehr nur Gr$nde seiner Mçglich-
keit sind, sondern Gr$nde seiner Unvermeidlichkeit zu werden drohen, sofern
uns die Mçglichkeit eines „Lebens, das ich wollen kann“ ihrerseits fragw$rdig
geworden ist.

1. Mein Leben leben

Das gewçhnlich intransitive Verb „leben“ kann transitiv verstanden werden und
bezieht sich dann auf das Substantiv „Leben“, das den Lebensprozess in seiner
Ganzheit meint und scheinbar nur in einer Substantivierung des Verbs „leben“
besteht. Was gelebt wird, sofern etwas gelebt wird, ist das Leben selbst. Darin
verr%t sich ein Selbstbezug der im Verb ausgedr$ckten T%tigkeit des Lebens. Das
Merkw$rdige an dieser T%tigkeit ist, dass sie mit der Existenz eines bestimmten
Seienden zusammenf%llt, das darum das Lebewesen genannt wird. Existieren ist
gewçhnlich ein unbez$glicher bzw. nicht-intentionaler Prozess, und sofern „le-
ben“ die nackte Existenz des Lebewesens meint, ist es daher ein intransitives
Verb. Bei einem besonderen Lebewesen, dem Menschen, wird dieses Verb aber

Ph%nomenologische Forschungen 2015 · " Felix Meiner Verlag 2015 · ISSN 0342-8117

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