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to Zeitschrift für philosophische Forschung
Dieses hermeneutische Verstehen richtet sich also gerade auf jene beiden Aspekte
von Gehirnzuständen, die für den Geist kennzeichnend sind.
Beide Formen des Verstehens sind ihrerseits Repräsentationen und stellen
daher meist Metarepräsentationen dar. Repräsentationale Gehirnzustände
weisen ebenso wie viele Äußerungen und Texte Korrektheitsbedingungen auf
(d.h. sind veridisch normativ) und sind rational miteinander vernetzt (d.h. sind
logisch normativ). Phänomenal-bewusste Zustände sind Evaluationen innerer
oder äußerer Zustände, die auf bestimmte Weise erlebt werden können (d.h.
sie sind affektiv normativ). Die methodische Autonomie des Verstehens und
der verstehenden Wissenschaften hängt vornehmlich davon ab, dass sich ihre
veridische, logische und affektive Normativität nicht vollständig in Begriffen
der Physik und Biologie erfassen lässt. Der hermeneutische Verstehensbegriff
lässt sich auch auf das Verstehen von Äußerungen und Texten anwenden, deren
Repräsentationalität meist Bedeutung heißt.
Wir sprechen allerdings in vielfältiger Weise vom Verstehen. Der Rückgriff
auf den hermeneutischen Verstehensbegriff ist primär dadurch motiviert, dass
dieser Verstehensbegriff in all jenen Wissenschaften fest verankert ist, die sich
heute mit dem Verstehen als kognitiver Fähigkeit beschäftigen - in der Philoso
phie des Geistes, kognitiven Psychologie, Linguistik, Primatologie und Neuro
biologie. So untersucht zum Beispiel die kognitive Psychologie die faszinierende
Entfaltung des Gedankenlesens bei menschlichen Kleinkindern im Alter zwi
schen ein und vier Jahren. In der Primatologie wird diskutiert, inwieweit Pri
maten zum Gedankenlesen in der Lage sind. Und die Neurobiologie hat jüngst
nachgewiesen, dass sich die beiden Grundformen des Verstehens eindeutig den
neuronalen Aktivitäten zweier benachbarter Regionen des menschlichen Ge
hirns zuordnen lassen.
Eine moderne Hermeneutik muss daher interdisziplinär angelegt sein. Sie
muss die einschlägigen Theorien des Verstehens aus den genannten Wissen
schaften zur Sprache bringen und theoretisch miteinander integrieren. Das
bedeutet, dass neben dem professionellen Verstehen auch die kognitiven Be
dingungen des Verstehens, das vorsprachliche Verstehen und das schnelle, an
strengungslose Verstehen (das Parsen) zu thematisieren sind. Zugleich sollte
die geist-theoretische Hermeneutik jedoch unter dem Titel Hermeneutik nicht
einfach den Gegenstandsbereich wechseln, sondern anschlussfähig an die Tra
dition der Hermeneutik bleiben.
Mein hermeneutisches Projekt umfasst zwei Teile. Das Buch Geist und
Verstehen stellt den ersten Teil dar und diskutiert primär die Anschlussfähig
keit der geist-theoretischen Hermeneutik an die klassische Hermeneutik. Der
geist-theoretische Hintergrund der Hermeneutik wird zwar im Umriss skiz
ziert, doch vornehmlich soll gezeigt werden, dass sich weite Teile der Geschich
te der Hermeneutik aus geist-theoretischer Perspektive neu lesen, integrieren
und bewerten lassen. Dabei werden nicht nur die Klassiker der Hermeneutik
sowie Semiotik, Philosophische Hermeneutik und postmoderne Theorie des
Textzuganges behandelt, sondern auch einige weitere Ansätze, die aus geist
theoretischer Perspektive interessant sind (namentlich Webers Hermeneutik
sowie die logisch-empiristische, kognitive, interkulturelle und naturalistische
Hermeneutik). Erst der zweite Teil des Projekts soll unter dem Titel Kognition
und Interpretation. Systematische Grundlagen der Hermeneutik die interdiszipli
nären Fundamente der Theorie des Verstehens im Einzelnen vorstellen und
konsistent zusammenfügen.
Unter den Hermeneutiken der letzten 50 Jahre teilen naturalistische und kogni
tive Hermeneutik mit der geist-theoretischen Hermeneutik die Uberzeugung,
dass das Verstehen rationalistisch orientiert ist und eine wissenschaftliche Form
annehmen kann. Die wesentlichen Differenzen bestehen darin, dass die natu
ralistische Hermeneutik keinen relevanten Unterschied zwischen Geistes- und
Naturwissenschaftlichen sieht und die kognitive Hermeneutik nicht in einem
geist-theoretischen Rahmen operiert. Die philosophische Hermeneutik Gada
mers sowie die postmodernen Theorien des Textzuganges (etwa bei Derrida)
haben zwar eine Reihe hermeneutischer Themen formuliert, die über den Ho
rizont der klassischen Hermeneutik hinausweisen (zum Beispiel den Bezug der
Interpretation auf historische Kontexte und Wahrheit sowie die Formierung
semantischer Relationen), doch haben weder Gadamer noch Derrida ein theo
retisches Rüstzeug entwickeln können, um diese Fragen angemessen bearbeiten
zu können. Vielmehr weisen ihre Theorien aus geist-theoretischer Sicht gravie
rende Defizite auf.
So betont die philosophische Hermeneutik die enge Korrelation von Verste
hen und Wahrheit, doch sind die angeführten Wahrheitskriterien, die sich von
strenger wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit unterscheiden sollen, kaum trenn
scharf. Damit droht eine unzulässige Vermischung von Verstehen und Wahr
heitsfeststellung. Auch die Historizität der Interpretation ist kein aussagekräf
tiges Kriterium, denn viele naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche
Theorien sind ebenfalls irreduzibel in einen historischen Kontext eingebunden.
Verheerend ist aber vor allem die zentrale These Gadamers, dass der klassi
sche, am Gedankenlesen orientierte Verstehensbegriff zu einem interpretativen
Weltverhältnis verallgemeinert werden muss, welches die menschliche Existenz
kennzeichnet. Zum universellen interpretativen Weltverhältnis gehört nämlich
keineswegs nur das Gedankenlesen, sondern auch das perspektivische Betrach
ten von Natur und gesellschaftlichen Funktionen, also die einfache Repräsen