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Geist und Verstehen: Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik — Précis

Author(s): Wolfgang Detel


Source: Zeitschrift für philosophische Forschung , 2012, Bd. 66, H. 4 (2012), pp. 583-587
Published by: Vittorio Klostermann GmbH

Stable URL: http://www.jstor.com/stable/23492042

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DISKUSSIONEN UND BERICHTE

Wolfgang Detel, Frankfurt am Main

Geist und Verstehen

Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik — Precis1

Das Projekt einer modernen Hermeneutik

Die grundlegende Idee meines hermeneutischen Projektes ist, die Hermen


als allgemeine Theorie des Verstehens im Rahmen der gegenwärtigen Th
des Geistes neu zu rekonstruieren. Diese Strategie ist in der Tradition de
meneutik bisher nicht verfolgt worden, liegt in der heutigen Forschung
schaft jedoch mehr als nahe. Zwar werden viele Details der modernen
Theorie kontrovers diskutiert, doch zeichnet sich auf der grundlegenden
ein bemerkenswerter Konsens ab. Demnach sind geistige Zustände genau
Gehirnzustände, die repräsentational oder phänomenal bewusst oder bei
gleich sind. Martins Angst vor der morgigen Mathematik-Klausur repräsen
zum Beispiel (d.h. hat den semantischen Gehalt), dass morgen eine schw
Mathematik-Klausur stattfinden wird, ist aber auch mit einem phäno
bewussten Angsterlebnis (etwa dem Erleben von Herzrasen oder Bauchs
zen) korreliert. Repräsentationale Zustände haben ferner einen psycho
schen Modus, d.h. sind zum Beispiel eine Absicht, eine Uberzeugung ode
Hoffnung, und sie sind im sprachlichen Fall syntaktisch gegliedert. Aus
Perspektive lassen sich zwei grundlegende Formen des Verstehens von geist
Zuständen (d.h. des Gedankenlesens, mind-reading) unterscheiden:

- das Erfassen (die rationale Rekonstruktion) von repräsentationalen G


zuständen (samt ihres psychologischen Modus und ihrer Syntax), und
— der Nachvollzug (die geistige Simulation) von phänomenal-bewusste
zifisch erlebten Gehirnzuständen.

1 Thema der nachfolgend zusammengestellten Beiträge sind Thesen, die Wol


Detel in seinem Buch Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer mode
Hermeneutik (Frankfurt am Main 2011) vertritt. Auf ein Precis, in dem Dete
Hauptgedanken seines Buches im Überblick vorstellt, folgt je ein Kommentar
Oliver R. Scholz und Axel Bühler/Jan M. Böhm. Abgeschlossen wird die D
sionseinheit durch Repliken von Detel. - Detels Buch wird als „GuV [Seiten
zitiert, auf das Precis wird in der Form „P [Seitenzahl]" Bezug genommen. In
Repliken verweisen Zahlen in runden Klammern auf Seitenzahlen der Kom
re. Hervorhebungen in Zitaten entsprechen stets denen im jeweiligen Original

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Dieses hermeneutische Verstehen richtet sich also gerade auf jene beiden Aspekte
von Gehirnzuständen, die für den Geist kennzeichnend sind.
Beide Formen des Verstehens sind ihrerseits Repräsentationen und stellen
daher meist Metarepräsentationen dar. Repräsentationale Gehirnzustände
weisen ebenso wie viele Äußerungen und Texte Korrektheitsbedingungen auf
(d.h. sind veridisch normativ) und sind rational miteinander vernetzt (d.h. sind
logisch normativ). Phänomenal-bewusste Zustände sind Evaluationen innerer
oder äußerer Zustände, die auf bestimmte Weise erlebt werden können (d.h.
sie sind affektiv normativ). Die methodische Autonomie des Verstehens und
der verstehenden Wissenschaften hängt vornehmlich davon ab, dass sich ihre
veridische, logische und affektive Normativität nicht vollständig in Begriffen
der Physik und Biologie erfassen lässt. Der hermeneutische Verstehensbegriff
lässt sich auch auf das Verstehen von Äußerungen und Texten anwenden, deren
Repräsentationalität meist Bedeutung heißt.
Wir sprechen allerdings in vielfältiger Weise vom Verstehen. Der Rückgriff
auf den hermeneutischen Verstehensbegriff ist primär dadurch motiviert, dass
dieser Verstehensbegriff in all jenen Wissenschaften fest verankert ist, die sich
heute mit dem Verstehen als kognitiver Fähigkeit beschäftigen - in der Philoso
phie des Geistes, kognitiven Psychologie, Linguistik, Primatologie und Neuro
biologie. So untersucht zum Beispiel die kognitive Psychologie die faszinierende
Entfaltung des Gedankenlesens bei menschlichen Kleinkindern im Alter zwi
schen ein und vier Jahren. In der Primatologie wird diskutiert, inwieweit Pri
maten zum Gedankenlesen in der Lage sind. Und die Neurobiologie hat jüngst
nachgewiesen, dass sich die beiden Grundformen des Verstehens eindeutig den
neuronalen Aktivitäten zweier benachbarter Regionen des menschlichen Ge
hirns zuordnen lassen.
Eine moderne Hermeneutik muss daher interdisziplinär angelegt sein. Sie
muss die einschlägigen Theorien des Verstehens aus den genannten Wissen
schaften zur Sprache bringen und theoretisch miteinander integrieren. Das
bedeutet, dass neben dem professionellen Verstehen auch die kognitiven Be
dingungen des Verstehens, das vorsprachliche Verstehen und das schnelle, an
strengungslose Verstehen (das Parsen) zu thematisieren sind. Zugleich sollte
die geist-theoretische Hermeneutik jedoch unter dem Titel Hermeneutik nicht
einfach den Gegenstandsbereich wechseln, sondern anschlussfähig an die Tra
dition der Hermeneutik bleiben.
Mein hermeneutisches Projekt umfasst zwei Teile. Das Buch Geist und
Verstehen stellt den ersten Teil dar und diskutiert primär die Anschlussfähig
keit der geist-theoretischen Hermeneutik an die klassische Hermeneutik. Der
geist-theoretische Hintergrund der Hermeneutik wird zwar im Umriss skiz
ziert, doch vornehmlich soll gezeigt werden, dass sich weite Teile der Geschich
te der Hermeneutik aus geist-theoretischer Perspektive neu lesen, integrieren
und bewerten lassen. Dabei werden nicht nur die Klassiker der Hermeneutik
sowie Semiotik, Philosophische Hermeneutik und postmoderne Theorie des

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Textzuganges behandelt, sondern auch einige weitere Ansätze, die aus geist
theoretischer Perspektive interessant sind (namentlich Webers Hermeneutik
sowie die logisch-empiristische, kognitive, interkulturelle und naturalistische
Hermeneutik). Erst der zweite Teil des Projekts soll unter dem Titel Kognition
und Interpretation. Systematische Grundlagen der Hermeneutik die interdiszipli
nären Fundamente der Theorie des Verstehens im Einzelnen vorstellen und
konsistent zusammenfügen.

Eine neue Lektüre der klassischen Hermeneutik

Aus geist-theoretischer Sicht ist die klassische Hermeneutik zu großen Einsich


ten vorgestoßen und hat sich Schritt für Schritt zum heutigen geist-theore
tischen Bild vom Verstehen vorgearbeitet. So hat - um nur einige Beispiele
zu nennen — Piaton in seinem frühen Dialog Ion ein Simulationsmodell des
Verstehens entworfen und in seinem späten Dialog Sophistes mit der Antwort
auf die Frage, was falsche Sätze besagen, die Grundlage einer seriösen Reprä
sentationstheorie gelegt. Aristoteles und die Stoiker haben eine logische Her
meneutik entworfen, die später von den logischen Empiristen aufgenommen
wurde. Augustinus entwarf wie nach ihm Meier, Lambert, Peirce und Morris
eine allgemeine Zeichentheorie, die das Verstehen repräsentationaler Zeichen
als Spezialfall des Verstehens von natürlichen Zeichen ausweisen sollte. Da
bei zeigt sich allerdings schnell, dass diese semiotischen Ansätze den grund
legenden Unterschied zwischen natürlichen und repräsentationalen Zeichen
marginalisieren und die metarepräsentationale Form des Verstehens aus den
Augen verlieren. Das historische Verdienst der protestantischen Hermeneutik
war demgegenüber die erstmalige Ausweisung der Textinterpretation als eines
wissenschaftlichen und rationalen Verfahrens.
Auf dieser Grundlage entwickelten frühmoderne Pioniere der Hermeneutik
wie Dannhauer und Clauberg erstmals ein detailliertes Konzept einer allge
meinen, wissenschaftlichen Hermeneutik, in dem das Verstehen ausdrücklich
als Gedankenlesen bzw. Interpretieren von Texten betrachtet wird, das vom
Wahrheitswert der zu interpretierenden Gedanken und Texte unabhängig ist
und durch eine Reihe von Rationalitätsunterstellungen geleitet wird.
Schleiermacher, Dilthey und Weber haben der Hermeneutik einen weite
ren Schub vermittelt. Schleiermacher konzeptualisiert das Verstehen eindeutig
als rationale, wissenschaftsfähige Rekonstruktion und keineswegs (wie meist
angenommen) als unwissenschaftliches Einfühlen. Er zeigt, inwiefern das
grammatische und psychologische Verstehen zugleich objektiv und individu
ell sein kann, unterstellt einen semantischen Holismus und unterstreicht das
Modell des Gedankenlesens anhand ihrer expressiven (vor allem sprachlichen)
Zeichen. Dilthey fügt diesem attraktiven Entwurf weitere Einsichten hinzu.
Vor allem hat er die Anwendbarkeit des hermeneutischen Verstehens auf die

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Erlebnisse, die Institutionen, die künstlerischen Produkte sowie Handlungen


und Geschichte postuliert. Auf dieser Grundlage konnte Dilthey der Herme
neutik und dem Projekt der Geisteswissenschaften eine anti-naturalistische
Wende geben. Allerdings hat erst Max Weber dem Verstehen den Bereich der
Handlungen und Geschichte theoretisch erschlossen. Denn Weber hat nicht
nur den Sinnzusammenhang (d.h. den Zusammenhang von repräsentationa
len Gehirnzuständen bzw. von semantisch gehaltvollen Sätzen) als Ausdruck
formaler Rationalität gefasst und das Verstehen als rationales Erfassen eines
semantischen Netzes betrachtet, er hat vor allem Handlungen als Verhalten ge
kennzeichnet, das mit einer semantisch gehaltvollen Absicht korreliert ist und
im Erfassen dieser Absicht verstanden werden kann.

Evaluierung der Hermeneutiken des 20. Jahrhunderts

Unter den Hermeneutiken der letzten 50 Jahre teilen naturalistische und kogni
tive Hermeneutik mit der geist-theoretischen Hermeneutik die Uberzeugung,
dass das Verstehen rationalistisch orientiert ist und eine wissenschaftliche Form
annehmen kann. Die wesentlichen Differenzen bestehen darin, dass die natu
ralistische Hermeneutik keinen relevanten Unterschied zwischen Geistes- und
Naturwissenschaftlichen sieht und die kognitive Hermeneutik nicht in einem
geist-theoretischen Rahmen operiert. Die philosophische Hermeneutik Gada
mers sowie die postmodernen Theorien des Textzuganges (etwa bei Derrida)
haben zwar eine Reihe hermeneutischer Themen formuliert, die über den Ho
rizont der klassischen Hermeneutik hinausweisen (zum Beispiel den Bezug der
Interpretation auf historische Kontexte und Wahrheit sowie die Formierung
semantischer Relationen), doch haben weder Gadamer noch Derrida ein theo
retisches Rüstzeug entwickeln können, um diese Fragen angemessen bearbeiten
zu können. Vielmehr weisen ihre Theorien aus geist-theoretischer Sicht gravie
rende Defizite auf.
So betont die philosophische Hermeneutik die enge Korrelation von Verste
hen und Wahrheit, doch sind die angeführten Wahrheitskriterien, die sich von
strenger wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit unterscheiden sollen, kaum trenn
scharf. Damit droht eine unzulässige Vermischung von Verstehen und Wahr
heitsfeststellung. Auch die Historizität der Interpretation ist kein aussagekräf
tiges Kriterium, denn viele naturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche
Theorien sind ebenfalls irreduzibel in einen historischen Kontext eingebunden.
Verheerend ist aber vor allem die zentrale These Gadamers, dass der klassi
sche, am Gedankenlesen orientierte Verstehensbegriff zu einem interpretativen
Weltverhältnis verallgemeinert werden muss, welches die menschliche Existenz
kennzeichnet. Zum universellen interpretativen Weltverhältnis gehört nämlich
keineswegs nur das Gedankenlesen, sondern auch das perspektivische Betrach
ten von Natur und gesellschaftlichen Funktionen, also die einfache Repräsen

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tation. Daher geht mit dieser hermeneutischen Universalisierung die Unter


scheidung von einfacher Repräsentation und Metarepräsentation verloren, die
in der modernen Theorie des Geistes so fundamental ist. Überdies ist gerade
nicht die repräsentationale Weltorientierung, sondern vielmehr das metareprä
sentationale Verstehen humanspezifisch. Die philosophische Hermeneutik be
raubt sich daher auch der Möglichkeit, den von ihr selbst eingeforderten Bezug
des Verstehens und der Geisteswissenschaften auf das Humane angemessen
auszubuchstabieren.
Die postmoderne Theorie des Textzuganges disqualifiziert sich durch eini
ge exzentrische Übertreibungen. Die semantischen Netzwerke hinter unseren
Gedanken, Äußerungen und Texten wandeln sich zum Beispiel zuweilen unter
dem Einfluss neuer Erkenntnisse und sind manchmal nicht frei von Wider
sprüchen. Autoren wie Derrida behaupten jedoch, dass unsere semantischen
Netzwerke zur Gänze einem ständigen Wandel unterzogen sind und verbreitete
Widersprüche aufweisen. Aus dieser Sicht kann auch das Verstehen keine Stabi
lität, Eindeutigkeit oder gar Wissenschaftlichkeit aufweisen und sollte eher den
verborgenen Widersprüchen als der offiziellen Logik von Texten nachgehen.
Diese Thesen sind aus geist-theoretischer Perspektive falsche Übertreibungen,
denn semantische Instabilität kann nur aufgrund verbreiteter Stabilität, lokaler
Widerspruch nur aufgrund verbreiteter Konsistenz identifiziert werden. Das
hermeneutische Verstehen bleibt die Grundlage auch für jene interpretativen
Bemühungen, die den postmodernen Denkern so sehr am Herzen liegen.
Aufgrund dieser und anderer Vorbehalte kann eine geist-theoretisch inspi
rierte Hermeneutik kaum an die gegenwärtig leitenden Hintergrundtheorien
der Geisteswissenschaften, also Semiotik, philosophische Hermeneutik und
postmoderne Theorien des Textzugangs anknüpfen. Vielmehr arbeitet sie am
Projekt der klassischen Hermeneutik weiter, allerdings in einem modernen
theoretischen Rahmen, zu dem unter anderem der davidsonianische Interpre
tationismus gehört. Erst in diesem Rahmen lassen sich, wie im zweiten Band ge
nauer gezeigt werden soll, die evolutionären, anthropologischen, ethischen und
kulturtheoretischen Dimensionen des hermeneutischen Verstehens sowie sein
Bezug auf das Humane angemessen ausbuchstabieren. Metarepräsentationales
und simulatives Verstehen ermöglichen die Übernahme der Perspektive anderer
geistiger Wesen und erweisen sich als Grundlage der wichtigsten menschlichen
Leistungen - der Sprachfähigkeit, der kumulativen Kulturentwicklung und der
Moral. Damit erhält auch der Bezug der Geisteswissenschaften auf das Huma
ne eine neue Wendung. Insgesamt empfiehlt sich daher eine geist-theoretisch
informierte Hermeneutik in der heutigen Forschungslandschaft als attraktive
Hintergrundtheorie der verstehenden Wissenschaften.

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