Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
Die Vorlesung ist eine Einführung in die Erkenntnistheorie mit besonderer Berücksichtigung
der Erkenntnistheorie der Wahrnehmung. Grundbegriffe und -positionen der
Erkenntnistheorie werden vorgestellt und am Beispiel der Wahrnehmung erläutert. Die
Wahrnehmung ist eine wesentliche Quelle der Erkenntnis. Inwiefern unsere Erkenntnis
durch Wahrnehmungen gerechtfertigt werden kann, hängt davon ab, welche Auffassung der
Wahrnehmung wir vertreten.
Inhalt der Vorlesung sind zentrale/klassische Auffassungen der Wahrnehmung und deren
Konsequenzen für die Erkenntnistheorie. Zentrale Positionen der Philosophie der
Wahrnehmung sind Phänomenalismus, Sinnesdatentheorie, indirekter Realismus, adverbiale
Theorie der Wahrnehmung, repräsentationale Theorie der Wahrnehmung, Disjunktivismus
und direkter Realismus.
Antworten auf diese Fragen haben unmittelbare Konsequenzen für die Erkenntnistheorie:
Wie können Überzeugungen mit propositionalem Gehalt gerechtfertigt werden, falls die
Wahrnehmungen selbst keinen propositionalen Inhalt haben?
Können nur Überzeugungen über wahrnehmbare Eigenschaften durch unsere
Wahrnehmungen gerechtfertigt werden?
Wie können wir einzelne Gegenstände oder Individuen erkennen, falls wir nicht in
direktem Kontakt zu ihnen stehen?
Die Vorlesung ist daher in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil dient einer allgemeinen
Einführung in die Erkenntnistheorie (5 Sitzungen), im vertiefenden zweiten Teil geht es um
die Erkenntnistheorie der Wahrnehmung.
Zu jeder Einheit kommt eine Frage (z.B. Was ist naiver Realismus? Wie kann die
Sinnesdatentheorie unser Wissen über die Außenwelt erklären?) – acht können ausgewählt
werden und sind mit einem kurzen Absatz von 10 bis 15 Zeilen zu beantworten. Fehlende
Antworten können durch die besonders ausführliche Beantwortung der übrigen Fragen
ausgeglichen werden. Prüfungsrelevant sind die Folien und die Pflichtlektüre.
Seite 1
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Der Prüfungsstoff wird über moodle zugänglich gemacht. Gute Zusammenfassungen sind…
Bernecker, Sven (2008): Reading Epistemology: Selected Texts with Interactive
Commentary. Wiley-Blackwell. (prüfungsrelevante Kapitel auf moodle)
Crane, Tim; French, Craig (2015): „The Problem of Perception“, Stanford Encyclopedia of
Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/perception-problem/
Siegel, Susanna; Silins, Nicholas (2015) „The Epistemology of Perception”. In: Matthen,
Mohan (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Perception. Oxford University Press.
(prüfungsrelevante Kapitel auf moodle)
Seite 2
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die Erkenntnistheorie der Wahrnehmung stellt die Bedeutung der Wahrnehmung für unser
Wissen ins Zentrum der Überlegungen:
Was können wir sehen? Dinge und ihre Eigenschaften oder nur subjektive mentale
Zustände (Erfahrungen, Sinneseindrücke)?
Gibt uns die Wahrnehmung direkten Zugang zur Außenwelt oder bildet sie einen Schleier
zwischen uns und der Welt?
Wie können unsere Wahrnehmungen unsere Meinungen, Überzeugungen, Gedanken
über die Welt rechtfertigen?
Können sie das angesichts der Sinnestäuschungen?
„Der Gegenstand der Erkenntnis und die Erkenntnis unterscheidet sich von dem Gegenstand
der Meinung und dem Meinen, inwiefern das Erkennen allgemein ist und durch Notwendiges
zustande kommt, das Notwendige aber sich nicht anders verhalten kann, die Meinung
indessen etwas Unsicheres ist.“ (Aristoteles)
Am Beginn der Moderne rückt mit Descartes (1596-1650) die Erkenntnistheorie ins Zentrum
der Philosophie. Descartes will als Antwort auf den Skeptizismus eine absolut gesicherte
Grundlage für unsere Erkenntnis darlegen.
In weiterer Folge können mit Rationalismus (Descartes, Leibniz) und Empirismus (Locke,
Hume) zwei Formen des Fundationalismus unterschieden werden. Der Fundationalismus
geht davon aus, dass es eine sichere Ausgangsbasis unseres Wissens gibt, aus der alle unsere
Erkenntnisse ableitbar sind. Für den Rationalismus sind diese Ausgangsbasis rationale, durch
Vernunft einsehbare Gründe, für den Empirismus die Sinneswahrnehmungen. Beide
vertreten die Auffassung, dass die Gründe für eine Erkenntnis für das Subjekt einsehbar und
zugänglich sind (= Internalismus).
Seite 3
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Als Gegenströmung zum Fundationalismus entsteht im 19. Jhdt. der Idealismus (Hegel,
britischer Idealismus).
Mit der analytischen Erkenntnistheorie (Russell 1914, Carnap 1928) kommt es zu einer
Rückkehr des Fundationalismus. Die analytische Erkenntnistheorie postuliert, dass es mit/in
der Wahrnehmung (z.B. in unmittelbar zugänglichen Sinnesdaten) eine sichere Basis unserer
Erkenntnis gibt und dass sich all unser Wissen logisch auf dieser Basis rekonstruieren lässt.
Eine solche logische Rückführung auf die Empirie ist zugleich eine Rechtfertigung unseres
Wissens. Die analytische Erkenntnistheorie liefert die Grundbegriffe der modernen
Erkenntnistheorie (Was sind Überzeugungen, Wahrheit, Inferenz,…).
In weiterer Folge kommt es zur Kritik des Fundationalismus (Quine 1951, Sellars 1956; auch
durch eine Kritik der Sinnesdatentheorie und des direkten Realismus) und zur Kritik des
Internalismus (Goldman 1967).
Es steht zur Diskussion, ob Erkenntnistheorie als naturalistische Disziplin oder als normative
Disziplin zu betrachten ist. Während Quine (1968) Erkenntnistheorie als Teil der Psychologie
betrachtet (= naturalistisch), ist zu bedenken, dass zentrale Begriffe wie Rechtfertigung und
Wissen normativ und nicht naturalisierbar sind.
Wissen ist gerechtfertigte, wahre Überzeugung („true justified belief“). Ein Beispiel für
Wissen nach dieser Definition: Ich weiß, dass der Eiffelturm in Paris steht.
Insgesamt stellt sich die Frage, ob man Wissen überhaupt vollständig definieren kann.
Die Erkenntnistheorie befasst sich meist mit propositionalem Wissen; d.h. Überzeugungen
und Wissen als propositionalen Einstellungen. Aber es gibt auch nicht-propositionales
Wissen wie z.B. das Kennen von Gegenständen (Objekt-Einstellungen) und praktisches
Wissen wie die Fähigkeit zum Ski- oder Radfahren. Dazu ist anzumerken, dass der
Intellektualismus (Stanley 2011) behauptet, dass auch praktisches Wissen propositional ist
Seite 4
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Überzeugungen sind laut Russell (1921) eine Form von propositionalen Einstellungen, wobei
propositionale Einstellungen die (unterschiedlichen) Relationen eines Subjekts zu einer
Proposition sind (z.B. Das Subjekt S glaubt/wünscht/fürchtet/hofft/…, dass das Wetter warm
wird).
Der Inhalt einer propositionalen Einstellung und somit auch einer Überzeugung wird durch
eine „dass-Klausel“ („that clause“) angegeben. Dazu ist anzumerken, dass faktische
Einstellungen (Wissen) auch mit W-Klauseln („wh-clauses“) verwendet werden können (z.B.
Ich weiß, wo Paul wohnt; Ich weiß, wann Paul kommt).
Polarität („polarity“)
Während Überzeugungen pro-Einstellungen sind (= Man hat eine positive Einstellung
zum Inhalt und bekräftigt ihn), sind Furcht und Zweifel Beispiele für con-Einstellungen.
Faktivität
Während Überzeugungen nicht-faktisch sind (= Ich kann X glauben, obwohl X nicht den
Tatsachen entspricht), ist Wissen faktisch; analoges gilt für Sehen (= faktisch) und
Scheinen (= nicht faktisch; scheinbar sehen).
Komplexität („factoricity“)
Es gibt einfache (z.B. ich fürchte, dass X) und komplexe (z.B. ich glaube, dass ich fürchte;
„ich glaube, mich vor Schlangen zu fürchten“) propositionale Einstellungen.
Überzeugungen sind laut Brentano & Chisholm intentionale Zustände. Sie beziehen sich auf
etwas (Tatsachen, Propositionen, abstrakte Gegenstände wie z. B. mathematische
Gegenstände,…) und können wahr oder falsch sein. Falsch sind sie dann, wenn sie sich auf
etwas beziehen, was nicht der Fall ist. Andere Beispiele für intentionale Zustände sind
Emotionen, Wahrnehmungen, Sätze, Bilder, Karten.
Überzeugungen drücken einen Inhalt aus. Üblicherweise wird der Inhalt als Proposition
aufgefasst. Der propositionale Inhalt wird durch die „dass-Klausel“ angegeben.
Alle propositionalen Einstellungen (z.B. wissen) drücken eine Proposition aus. Im Gegensatz
dazu beziehen sich Objekt-Einstellungen („objectual attitudes“) nur auf einen Gegenstand
(z.B. „Ich kenne Paul“; „Ich sehe ein Haus“).
Laut Frege (1892) drücken Sätze eine Proposition aus, diese ist der Sinn des Satzes. So
drücken z.B. die Sätze „Othello liebt Desdemona“, „Othello loves Desdemona“, „Othello
aime Desdemona“ alle die Proposition <Othello, lieben, Desdemona> aus.
Warum ist Wissen nicht einfach eine Relation („Einstellung“) zu bestimmten Tatsachen?
Warum ist Wissen eine „propositionale“ Einstellung?
S (= Subjekt) weiß (= Einstellung): die Katze liegt auf dem Teppich (= Tatsache).
Überzeugungen können wahr oder falsch sein. Wenn sie falsch sind, besteht eine Differenz
zwischen dem ausgesagten Inhalt (= Proposition) und den Tatsachen.
S (= Subjekt) glaubt (= Einstellung), dass eine Katze auf dem Teppich liegt (= propositionaler
Inhalt). Tatsächlich liegt aber ein Hund auf dem Teppich (= Tatsache).
Wahrheitsbedingungen: Die Proposition gibt die Bedingungen an, unter denen eine
Überzeugung, ein Gedanke, ein Satz wahr sind; d.h. die Proposition gibt die Bedingungen an,
die in der Welt erfüllt sein müssen, damit die Überzeugung wahr ist.
Propositionen sind die primären Träger der Wahrheit. Wahrheit/Falschheit ist primär eine
Eigenschaft von Propositionen. Eine Überzeugung ist wahr in einem abgeleiteten Sinn: Sie ist
dann wahr, wenn sie eine wahre Proposition ausdrückt.
Kombiniert man die beiden Auffassungen, kann man sagen, dass eine Proposition aus
Begriffen und Leerstellen, in die Gegenstände eingefügt werden können, besteht (=
lückenhafter Inhalt bzw. „gappy content”).
Wahre Überzeugungen sind nur dann Wissen, wenn sie gerechtfertigt sind. Rechtfertigung
ist eine (notwendige) Eigenschaft von Überzeugungen. Überzeugungen werden durch
Gründe, Evidenz und/oder Erfahrungen gerechtfertigt:
Gründe:
Eine Überzeugung ist gerechtfertigt, wenn es für sie gute Gründe gibt. Aber müssen die
Gründe mir zugänglich sein? Gründe für eine Überzeugung sind zu unterscheiden von
Gründen, warum ich eine Überzeugung habe.
Evidenz:
Tatsachen, Erfahrung, propositionale Evidenz sind Evidenz. Diese hat verschiedene
Eigenschaften: Evidenz ist immer Evidenz für etwas oder gegen etwas. Sie ist graduell
und kann mit anderer Evidenz kombiniert werden. Evidenz kann durch andere Evidenz
geschwächt werden (= entgegengesetzte Evidenz, Unterminierung von Evidenz durch
zusätzliche Information oder durch neue Alternativen)
Welche Relation muss nun zwischen Gründen/Evidenz und Überzeugungen bestehen, damit
letztere gerechtfertigt sind? Möglich wären
Logische und inferentielle Relation zwischen Gründen/Evidenz und Überzeugung
Statistische Relation
Kausale Relation
Erkenntnistheoretiker fordern eine oder mehrere dieser Relationen als Begründungs-
Relation („basing relation“).
Conclusio/Fazit
Seite 7
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Das Gettier-Problem
Entsprechend der klassische Definition des Wissens kann von Wissen dann gesprochen
werden, wenn drei Bedingungen erfüllt werden:
Wahrheitsbedingung (= Die Proposition p ist wahr true)
Überzeugungsbedingung (= Das Subjekt S glaubt, dass p belief)
Rechtfertigungsbedingung (= S ist gerechtfertigt, p zu glauben justified)
1963 publiziert Edmund Gettier ein kurzes Paper („Is Justified True Belief Knowledge“), in
dem er bestreitet, dass diese drei Bedingungen ausreichen, um Wissen zu definieren.
Vielmehr brauche man eine vierte Bedingung (= Gettier-Bedingung), um Wissen zu
definieren. Die Suche nach dieser vierten Bedingung wird als das Gettier-Problem
bezeichnet.
In seinem Paper bringt Gettier zwei Beispiele für wahre gerechtfertigte Überzeugungen, die
dennoch kein Wissen sind und auch rein intuitiv von uns meist nicht als solches betrachtet
werden (= „Gettier cases“).
Münzen/Job-Beispiel:
Smith und Jones haben sich für denselben Job beworben. Der Personalchef sagt Smith,
dass Jones den Job bekommt. Smith hat außerdem gesehen, dass Jones 10 Münzen in
seiner Tasche hat. Smith schließt daraus: Derjenige, der den Job bekommt, hat 10
Münzen in der Tasche (= Überzeugung p). Tatsächlich bekommt dann aber Smith den Job,
nicht Jones, und ohne es zu merken, hatte auch er selbst 10 Münzen in der Tasche.
P ist wahr und Smith ist gerechtfertigt, P zu glauben (Beobachtung der Münzen,
Aussagen des Personalchefs).
Gettier: Smith glaubt, dass P, aber weiß nicht, dass P. Die Tatsachen, die den Satz wahr
machen, haben nichts mit Smiths Rechtfertigungen für seine Überzeugung zu tun. Seine
Überzeugung ist nur zufällig wahr…
Auto/Barcelona Beispiel:
Smith sieht, dass Jones einen Ford fährt, und jemand sagte ihm, dass Jones einen Ford
besitzt. Smith hat auch einen Freund Brown, der im Ausland reist. Smith weiß nicht, wo
Brown derzeit ist. Smith glaubt folgenden Satz: Entweder Jones besitzt einen Ford oder
Brown ist in Barcelona (= Überzeugung p). Er glaubt diesen Satz nur, weil er sich sicher ist,
dass der erste Teil des Satzes aufgrund seiner Evidenz stimmt. Tatsächlich hat Jones
keinen Ford (mehr), aber zufällig ist Brown tatsächlich gerade in Barcelona.
Smiths Überzeugung p ist wahr und sie ist gut begründet, d.h. gerechtfertigt durch die
Wahrnehmung von Jones im Auto und die Aussage des Freundes.
Gettier: Trotzdem ist es kein Fall von Wissen. Die Überzeugung ist aus reinem Zufall
wahr.
Seite 8
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Auch intuitiv würde man in beiden Fällen nicht von Wissen sprechen, obwohl die
klassischen Bedingungen für Wissen erfüllt sind.
Henry fährt aufs Land und beobachtet die Landschaft. In einem Feld sieht er einen Stadel.
Aufgrund seiner Beobachtung glaubt er richtigerweise, dass hier ein Stadel steht (=
Überzeugung p). In dem Bezirk, den Henry durchquert, stehen aber sehr viele Stadel-
Attrappen – Stadel-Fassaden, die echten Stadeln aus der Ferne verblüffend ähnlich sehen.
Durch Zufall hat Henry einen der wenigen echten Stadel gesehen.
Henry hat also eine wahre Überzeugung, die durch seine Beobachtung gerechtfertigt.
Ist seine Überzeugung also Wissen? Obwohl alle drei klassischen Bedingungen für Wissen
erfüllt sind, werden die meisten Erkenntnistheoretiker diese Frage verneinen. Henry
kann aus der Ferne einen echten Stadel von einer Attrappe nicht unterscheiden. Er hatte
Glück: Seine Überzeugung ist nur zufällig wahr.
Gettier macht mit seinen Beispielen darauf aufmerksam, dass trotz der Erfüllung der drei
klassischen Bedingungen für Wissen Probleme bestehen können, aufgrund deren man nicht
von Wissen sprechen kann:
Gegen Fehlbarkeit
In den Gettier-Fällen ist die Rechtfertigung fehlbar/fallible. Man kann jeweils Gründe
vorbringen, an der Überzeugung zu zweifeln (Jones bekommt den Job nicht; Jones besitzt
keinen Ford; Henry kann den Stadel von einer Attrappe nicht unterscheiden).
Fordert Wissen, dass die Rechtfertigung unfehlbar ist? Dürfen keine Gründe denkbar
sein, die dazu führen, dass die Rechtfertigung falsch ist? Dann muss die vierte Bedingung
lauten: Die Rechtfertigung für die Überzeugung dass p darf nicht fehlbar sein.
Allerdings ist absolute Unfehlbarkeit so selten, dass fast nichts Wissen wäre. Fast keine
Überzeugung ist durch unfehlbare Evidenz begründet, an fast jeder Begründung kann
gezweifelt werden (z.B. Sinnestäuschung, Halluzination,…).
Seite 9
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
In den Gettier-Fällen ist die Überzeugung zufällig wahr („Brown ist in Barcelona“).
Die vierte Bedingung muss lauten: Nur nicht zufällig wahre Überzeugungen sind Wissen.
Allerdings ist der Zufall niemals völlig auszuschließen – ansonsten wäre die Überzeugung
unfehlbar. Wieviel epistemisches Glück ist zulässig, um noch von Wissen sprechen zu
können?
Eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung ist nur dann Wissen, wenn sie nicht auf
falscher Evidenz beruht. Die vierte Bedingung muss daher lauten: Die Rechtfertigung für
die Überzeugung dass p darf nicht falsch sein.
Allerdings ist das völlige Fehlen falscher Evidenz oft nicht erreichbar. Oft stützt eine Fülle
von Evidenz eine Überzeugung (z.B. Beweise/Indizien in einem Mordprozess). Wäre die
Überzeugung kein Wissen mehr, wenn nur eine Evidenz davon falsch ist?
Gegen „Defeater“
Eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung ist dann Wissen, wenn es im Kontext des
Erkennenden keine „Defeater“ für die Rechtfertigung/Evidenz gibt (z. B. im Umfeld von
Henry gibt es keine Stadel-Attrappen). Die vierte Bedingung muss daher lauten: Es gibt
im Kontext des Subjekts S keinen „Defeater“ für die Rechtfertigung der Überzeugung
dass p.
Allerdings ist „Kontext“ vage und nur ungenau definierbar. Gibt es absolut keinen
„Defeater“, ist dies gleichbedeutend mit der Forderung „gegen falsche Evidenz“.
In den originalen Gettier-Fällen wird die Überzeugung von etwas anderem verursacht als
der Tatsache, die die Überzeugung wahr macht („Jones hat einen Ford“ verursacht die
Überzeugung von Smith, aber die Tatsache „Brown ist in Barcelona“ macht sie wahr).
Das, was die Überzeugung wahr macht, sollte sie auch verursachen. Die vierte Bedingung
muss daher lauten: Die Tatsache, die p wahr macht, muss auch die Überzeugung dass p
verursachen.
Seite 10
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Allerdings haben z.B. mathematische Tatsachen keine kausale Wirkung auf meine
Überzeugung. Auch Tatsachen über die Zukunft haben keine kausale Wirkung auf meine
Überzeugung (in der Gegenwart). Ich könnte daher nichts über die Zukunft wissen.
Nach Nozicks „truth-tracking“-Theorie (1981) ist eine Überzeugung dann Wissen, wenn
sie unter allen denkbar möglichen Situationen („kontrafaktischen Situationen“) immer
der Wahrheit folgt („truth-tracking“). Dadurch wird „epistemisches Glück“ vermieden
und die Überzeugungen sind nicht zufällig wahr. Nozick formuliert folgende Bedingungen
für Wissen:
(1) p ist wahr
(2) Subjekt S glaubt p
(3) Wäre p falsch, würde Subjekt S p nicht glauben.
(4) Wäre p wahr, würde Subjekt S p glauben.
Illustration am Gettier-Fall 1: Hätte Smith keine 10 Münzen in der Tasche und bekäme
den Job nicht, würde er immer noch glauben, dass derjenige den Job bekommt, der 10
Münzen hat. Wäre also das falsch, was Smiths Überzeugung wahr macht, würde Smith
trotzdem p glauben. Das ist gegen Nozicks Bedingung (3) und Smith hat daher kein
Wissen.
Illustration am Stadel-Fall: Wäre das von Henry gesehene Objekt kein Stadel (sondern
eine Attrappe), würde Henry immer noch glauben, dass er einen Stadel sah, da er echte
Stadel und Attrappen nicht unterscheiden kann. Nozicks Bedingung (3) ist nicht erfüllt
und Henry hat daher kein Wissen.
Conclusio/Fazit
Wissen ist Überzeugung, die wahr und gerechtfertigt ist und eine Gettier-Bedingung erfüllt.
Welche Bedingung dies sein könnte ist aber den Erkenntnistheoretikern noch unklar. Es
bleibt offen, wie die Gettier-Bedingung zufriedenstellend formuliert werden kann.
Seite 11
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die Rechtfertigung von Überzeugungen ist das zentrale Problem der Erkenntnistheorie.
Internalismus und Externalismus geben eine unterschiedliche Antwort auf die Frage, welcher
Natur die Rechtfertigung sein muss, damit eine Überzeugung gerechtfertigt ist und somit
möglicherweise Wissen ist. Zentrale Frage ist dabei, ob die Rechtfertigung, der Grund für
eine Überzeugung dem erkennenden Subjekt intern sein muss oder extern sein muss/kann,
ob sie subjektiv zugänglich sein muss oder nicht.
Internalismus
Der Internalismus verlangt, dass die Rechtfertigung für eine Überzeugung dem erkennenden
Subjekt zugänglich und intern sein muss, wobei drei Aspekte des Internalismus zu betrachten
sind, die von den einzelnen Erkenntnistheoretikern unterschiedlich betont werden:
Eine Überzeugung ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein Grund oder Evidenz für die
Überzeugung dem Subjekt allein durch Reflexion (Nachdenken, Erinnern,…) zugänglich ist:
Das Überzeugung p des Subjekts S ist zur Zeit t gerechtfertigt, wenn S zur Zeit t zu den
Zuständen, die p rechtfertigen, durch Reflexion Zugang hat.
Die Rechtfertigung muss zu der Zeit zugänglich sein, zu der man die Überzeugung hat. Hat
man die Begründung für eine Überzeugung vergessen, handelt es sich nicht um eine
gerechtfertigte Überzeugung und folglich auch nicht um Wissen.
Seite 12
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Pro-Argumente: Wir haben auch den intuitiven Eindruck, dass eine Überzeugung nur dann
gerechtfertigt ist, wenn wir Gründe für sie angeben können. Weiters wird bei diesem Ansatz
die Bedeutung der subjektiven Perspektive für die Rechtfertigung berücksichtigt.
Mentalismus
Sehr stark einschränkend ist der sogenannte perspektivische Internalismus, wonach nur
Überzeugungen andere Überzeugungen rechtfertigen können.
Pro-Argumente: Beispiel von Conee/Feldman (2001): Bob und Ray sitzen in einem
klimatisierten Hotelzimmer, lesen in der Zeitung, dass es heute sehr heiß ist, und glauben
dies. Ray geht hinaus und spürt die Hitze; er hat also eine zusätzliche Sinnesempfindung und
somit einen (zusätzlichen) mentalen Zustand. Daher ist Ray in seiner Überzeugung stärker
gerechtfertigt.
Tatsächlich inkludiert der Internalismus des Zugangs den Mentalismus, indem er als
Grundlage der Rechtfertigung fordert, dass ein Zugang auf mentale Zustände (=
Evidenz/Gründe) gegeben ist.
Deontologismus
Für viele Internalisten ist Rechtfertigung ein deontologischer Begriff (deon = griech. Pflicht,
Verpflichtung). Eine Überzeugung kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn ich bestimmte
intellektuelle Pflichten erfülle. Gegenüber diesen Pflichten habe ich eine intellektuelle
Verantwortung.
Die Pflicht legt fest, was ich – im normativen Sinn – tun soll. Ich bin verpflichtet, meine
Überzeugungen aufgrund der Evidenz zu bilden (z.B. Naturwissenschaftler sollen ihre
Meinungen aufgrund empirischer Belege bilden; Mathematiker sollen ihre Überzeugungen
aufgrund von Beweisen bilden). Das Ziel der Bildung von Überzeugung ist Wahrheit (im
Seite 13
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Gegensatz z.B. zum Wunschdenken) und ich bin verpflichtet, dieses Ziel der
Überzeugungsbildung einzuhalten.
Pro-Argumente: Wenn ich etwas tun soll, dann muss ich es zunächst tun können („Sollen
impliziert Können“). Ich kann nur dann intellektuelle Pflichten in der Bildung meiner
Überzeugungen einhalten, wenn ich die Bildung meiner Überzeugungen kontrollieren kann
bzw. Kontrolle über meine Überzeugungen habe. Ich kann meine Überzeugungen nur dann
kontrollieren, wenn ich einen internen Zugang zu den Überzeugungen und deren Bildung
habe. Hat man eine deontologische, normative Auffassung von Rechtfertigung, muss man
eigentlich den Internalismus vertreten.
Contra-Argumente: Viele unserer Überzeugungen sind unabhängig von unserem Willen und
daher nicht kontrollierbar; so bilden wir aufgrund unserer Wahrnehmungen automatisch
Überzeugungen, ohne dies zu wollen oder zu kontrollieren. Außerdem garantiert das
Einhalten von intellektuellen Pflichten nicht die Wahrheit der Überzeugungen. Die
deontologische Sicht der Rechtfertigung stellt somit keine Verbindung zwischen
Rechtfertigung und Wahrheit her.
Externalismus Prozess-Reliabilismus
Laut Externalismus können wir gerechtfertigte Überzeugungen haben, ohne zu wissen, dass
diese gerechtfertigt sind – wir müssen also keinen Zugriff auf die Rechtfertigung haben. Wir
sind gerechtfertigt, wenn die Rechtfertigungsbedingung erfüllt ist – auch dann, wenn wir
nicht wissen, dass sie erfüllt ist. Rechtfertigung ist also unabhängig von der „subjektive
Perspektive“ des Erkennenden.
Ein (kognitiver) Prozess verbindet bestimmte Inputs zu einem Output, nämlich einer
Überzeugung. Verlässlich ist ein Prozess dann, wenn er mehrheitlich wahre Überzeugungen
hervorbringt; dies gilt z.B. für unsere Wahrnehmung.
Beispiele für den Input von kognitiven Prozessen sind visuelle oder andere
Sinneswahrnehmungen, Reizungen der Sinnesorgane (Im Unterschied zu Wahrnehmungen
nicht unbedingt bewusst!), Erinnerungen oder auch Schlüsse aus anderen Überzeugungen
(„reasoning“). Dieser Input muss weder zugänglich noch ein mentaler Zustand sein.
Ein Prozess verleiht einer Überzeugung graduell mehr Rechtfertigung, wenn er zu mehr
wahren Überzeugungen führt. Ein verlässlicher Prozess bindet die Rechtfertigung an die
Wahrheit, er ist wahrheitsfördernd („truth-conductive“, „truth-effective“).
Verlässliche Prozesse sind historische Prozess; sie müssen über einen bestimmten Zeitraum
hinweg verlässlich sein.
Seite 14
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Ein Prozess ist dann verlässlich, wenn er auch unter möglichen, aber nicht aktuellen
Bedingungen zu wahren Überzeugungen führen würde (= kontrafaktische Verlässlichkeit).
Würde ich z.B. unter denkbaren, aber nicht aktuellen Bedingungen wahrnehmen, würden
meine Wahrnehmungen dennoch mehrheitlich zu wahren Überzeugungen führen (z.B. bei
einer Reise ins Weltall).
Die Einschätzung der Verlässlichkeit eines Prozesses hängt auch von dessen
Beschreibung ab: je genauer die Beschreibung, desto verlässlicher der Prozess. Dadurch
wird die Zuschreibung von Verlässlichkeit willkürlich (= „generality problem“).
Beispiel: Die Überzeugung „Ich glaube, dass hier ein Gegenstand X steht, weil ich ihn
sehe“ rechtfertigt sich damit, dass die visuelle Wahrnehmung verlässlich ist („Meine
visuelle Wahrnehmung ist verlässlich“). Man könnte diesen Prozess auch genauer
beschreiben bzw. präzisieren (z.B. „Meine visuelle Wahrnehmung bei gutem Licht ist
verlässlich.“; „Meine visuelle Wahrnehmung bei gutem Licht, aus max. 5 Metern
Entfernung und wenn ich ausgeruht bin ist verlässlich.“). Die letzte Beschreibung schließt
einige Fälle aus, bei denen die Wahrnehmung zu Fehlurteilen führt. Der Prozess hat
daher einen höheren Grad an Verlässlichkeit, bringt einen höheren Prozentsatz an
wahren Überzeugungen hervor.
Hellseher-Beispiel (BonJour 1980): Nehmen wir an, jemand kann hellsehen und mit
hoher Verlässlichkeit das Eintreten von Ereignissen vorhersagen (z. B. kann er sagen,
welche prominente Person morgen nach Wien kommt). Seine Hellseher-Fähigkeiten sind
also verlässlich. Aber der Hellseher hat weder Evidenz noch Gründe die rechtfertigen,
dass er diese Fähigkeit hat oder dass sie überhaupt möglich ist. Ist seine Überzeugung
dann überhaupt gerechtfertigt? Ist der Hellseher kohärent? Seine Überzeugungen über
die Möglichkeit (und Seriosität) des Hellsehens widersprechen den Überzeugungen, die
er durch Hellsehen erlangt. Intuitiv handelt es sich also offensichtlich um einen
verlässlichen Prozess – der aber dennoch lt. Intuition eigentlich die Überzeugungen nicht
rechtfertigt.
Seite 15
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Foley (1985) wendet Descartes‘ bösen Geist auf die Rechtfertigung an. Descartes (1641)
nimmt an, es könnte einen bösen Geist geben, der uns in allen Sinneseindrücken täuscht.
Alles was wir sehen, hören etc. könnte von diesem allmächtigen Dämon vorgetäuscht
werden. Alle Überzeugungen über die Welt wären dann falsch. Wir hätten in jedem Fall
dieselben Erfahrungen – unabhängig davon, ob wir getäuscht werden oder nicht. Auch
würden wir dieselben Gründe für unsere Überzeugungen angeben.
Conclusio/Fazit
Seite 16
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Eine Überzeugung ist inferentiell gerechtfertigt, wenn sie aus einer anderen gerechtfertigten
Überzeugung abgeleitet ist (z.B. Überzeugung 1 = Ich sah den Eiffelturm in Paris.;
Überzeugung 2 = Der Eiffelturm steht in Paris.; Überzeugung 2 folgt logisch aus Überzeugung
1, ist also inferentiell gerechtfertigt).
Inferenzen sind deduktive (z.B. aus den beiden Prämissen Sokrates ist ein Mensch & Alle
Menschen sind sterblich folgt zwingend der deduktive Schluss Sokrates ist sterblich),
induktive (z.B. aus Einzelereignissen Ich sah bisher nur weiße Schwäne auf allgemeine
Gültigkeit schließen Alle Schwäne sind weiß) oder probabilistische Schlüsse.
Beim probabilistischen Schluss erhöht die Evidenz e die Wahrscheinlichkeit der Überzeugung
p (z.B. Die Evidenz e Ich sehe dunkle Wolken am Himmel erhöht die Wahrscheinlichkeit der
Überzeugung p Es wird bald regnen) (= P(p│e) > P(p)). Die Überzeugung p wird durch die
Überzeugung e gestützt, auch wenn sie nicht mit Notwendigkeit logisch daraus folgt.
Seite 17
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Dieses Argument kann noch verschärft werden, indem man fordert, dass nicht nur die
Überzeugungen (p, e, e2,…) gerechtfertigt werden müssen, sondern auch die Inferenz von
einer zur anderen, dass also die Überzeugung gerechtfertigt ist, dass p aus e folgt oder durch
e gestützt wird (d. h. p wahrscheinlicher macht).
Dazu ist anzumerken, dass das Regress-Argument ein zentrales Argument für den
Fundationalismus ist, der eben genau diesen Regress stoppen will.
Fundationalismus
Der Fundationalismus postuliert eine Pyramidenstruktur des Wissens. Die beiden zentralen
Thesen besagen, dass…
es nicht-inferentielle Rechtfertigung bzw. grundlegende Überzeugungen („basic beliefs“,
„foundational beliefs“) gibt.
die Rechtfertigung aller anderen Überzeugungen sich auf jene grundlegenden
Überzeugungen zurückführen lässt.
Seite 18
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die wichtigsten Versionen des Fundationalismus sind der klassische Fundationalismus und
der modernere moderate Fundationalismus, der wiederum in phänomenalen
Konservatismus und Reliabilismus unterteilt werden kann.
Die klassische Erkenntnistheorie von Descartes bis Kant vertritt diesen klassischen
Fundationalismus. Für Descartes gibt es grundlegende Überzeugungen, die unzweifelhaft
und durch die Vernunft gegeben sind (z.B. mathematische Wahrheiten oder Sätze wie Ich
denke, also bin ich, deren Wahrheit wir unmittelbar einsehen). Für den Empirismus (Locke,
Hume) sind die Überzeugungen über unsere inneren Sinneseindrücke nicht bezweifelbar
(z.B. dass ich jetzt ein rotes Farberlebnis habe).
Für den klassischen Fundationalismus sind grundlegende Überzeugungen bzw. zumindest die
Rechtfertigung dieser Überzeugungen unfehlbar/infallible. Meist sind diese grundlegenden
Überzeugungen nicht Überzeugungen über die Außenwelt und ihre Gegenstände sondern
Überzeugungen über innere, mentale Zustände (Gedanken, Empfindungen).
Unfehlbare Überzeugung: Subjekt S hat eine unfehlbare Überzeugung, dass p, wenn diese
Überzeugung die Wahrheit von p impliziert; d.h. wenn ich die Überzeugung habe, ist auch
der Inhalt automatisch zwingend wahr (z.B. Ich habe die Überzeugung, dass jemand
Überzeugungen hat; Ich glaube, dass ich existiere). Problematisch ist, dass es nur sehr
wenige solcher Sätze gibt, die in der Realität eine viel zu geringe Basis sind.
Ein Beispiel für unfehlbare Rechtfertigung ist Bertrand Russells „acquaintance theory“ (1912)
bzw. „Wissen durch Bekanntschaft“. Russell nimmt an, dass es so etwas wie einen direkten
Kontakt zwischen erkennendem Subjekt und bestimmten mentalen Ereignissen gibt. Wenn
ich in direktem Kontakt zu X stehe, kann diese „Bekanntschaft“ unmittelbar den Glauben in X
rechtfertigen. (= „knowledge by acquaintance“).
Wenn man z.B. Schmerzen hat, steht man in unmittelbarem Kontakt zu diesem Schmerz. Der
unmittelbare Kontakt zum Schmerz rechtfertigt meine Überzeugung, dass ich Schmerzen
habe. Man kann nicht in direkten Kontakt zu Schmerzen stehen, ohne dass die Überzeugung
wahr wäre (d.h. ich kann nur dann in direkten Kontakt zum Schmerz stehen, wenn ich einen
solchen habe).
Während man laut Russell in direktem Kontakt zu mentalen Zuständen stehen kann, ist
dieser direkte Kontakt laut neueren Auffassungen der „acquaintance“ auch zu Dingen oder
Tatsachen möglich.
Problematisch an diesem Ansatz ist, dass nicht klar ist, wie ich wissen kann, dass ich in
direktem Kontakt („acquaintance“) mit Zustand/Gegenstand X bin. Ich könnte ja mit einem
Seite 19
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Gegenstand Y in Kontakt stehen, der von X ununterscheidbar ist, aber kein X ist. Meine
Überzeugung, dass ich X sehe, wäre dann fehlbar.
Die meisten gegenwärtigen Fundationalisten geben die Forderung nach Unfehlbarkeit auf.
Denn Unfehlbarkeit ist schwer erreichbar und selbst wenn unfehlbare Überzeugungen
vorhanden sind, bieten diese eine zu eingeschränkte Basis für die Rechtfertigung unserer
anderen wahren Überzeugungen.
Der moderate Fundationalismus gibt die Forderung der Unfehlbarkeit auf und gesteht zu,
dass sich die Rechtfertigung für eine grundlegende Überzeugung als falsch herausstellen
kann; sie ist revidierbar und fehlbar (Fallibilismus).
Phänomenaler Konservatismus
Doxastischer Konservatismus (wird kaum vertreten): Wenn man eine Überzeugung p hat,
dann ist man prima facie gerechtfertigt, p zu glauben, solange es für p keinen „Defeater“,
also keine Gegengründe gibt. Eigentlich gibt es hier gar kein Fundament außerhalb der
Überzeugungen, was ja dem Fundationalismus widerspricht – ich bin theoretisch zu jeder
Überzeugung gerechtfertigt, solang es keinen „Defeater“ gibt.
„Scheinen“ heißt, dass es einen phänomenalen Eindruck gibt (z.B. den visuellen Eindruck
eines Rotgefühls). Unwiderlegte Eindrücke, Erscheinungen („appearances“) sind eine Quelle
der Rechtfertigung. Sie „behaupten“ etwas, haben eine „phänomenale Kraft“, die einen
gewissen Grad von Rechtfertigung verleiht.
Allerdings wird damit nichts über die Stärke oder den Grad der Rechtfertigung ausgesagt.
Wissen ist im Gegensatz zum klassischen Fundationalismus sehr leicht, vielleicht zu leicht
zu erlangen („problem of easy knowledge“). Die Forderung wird sehr niedrig angesetzt
und es lassen sich auch Argumentationen konstruieren, die nicht plausibel sind:
Gegenstand X scheint mir rot. Der Gegenstand X ist rot. (= gerechtfertigte
Überzeugung aufgrund des Scheins) Wenn der Gegenstand X rot ist, dann habe ich
keine optische Täuschung, dass Gegenstand X rot ist. Ich habe keine optische
Täuschung.
Seite 20
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Laut Reliabilismus ist eine Überzeugung grundsätzlich dann gerechtfertigt, wenn sie das
Resultat eines verlässlichen Prozesses ist.
Eine grundlegende Überzeugung („basic belief“) liegt lt. Goldman dann vor, wenn der
verlässliche Prozess als Input keine Überzeugungen hat. Der verlässliche Prozess ist dann von
Überzeugungen unabhängig.
Jede Art von Überzeugung kann prinzipiell das Produkt eines solchen Prozesses sein.
Grundlegende Überzeugungen sind also nicht – wie beim internalistischen Fundationalismus
– auf eine bestimmte Art von Überzeugungen eingeschränkt (z. B. nur Wahrnehmungs-
Überzeugungen, Überzeugungen über phänomenale Zustände).
Ein bekannter Einwand gegen den Fundationalismus ist das Dilemma von Sellars (Sellars
1956, BonJour 1985):
Wenn der mentale Zustand einen propositionalen Inhalt hat, dann repräsentiert er die
Welt auf eine bestimmte Weise und diese Repräsentation kann wahr oder falsch sein.
Wenn er die Welt auf spezifische, möglicherweise fehlbare Weise repräsentiert, dann
muss dieser selbst Zustand gerechtfertigt werden. Er kann also selbst nicht die
unmittelbare Rechtfertigung für eine grundlegende Überzeugung sein.
Weiters ist zu bedenken, ob die Basis nicht zu klein ist, um alle wahren Überzeugungen aus
den grundlegenden Überzeugungen abzuleiten. Dies ist ein Problem besonders für den
klassischen Fundationalismus, aber auch für den phänomenalen Konservatismus.
Außerdem ist fraglich, wie Dogmatismus vermieden werden kann, wenn die Erkennenden
für grundlegenden Überzeugungen keine Gründe angeben können (müssen).
Seite 21
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Kohärentismus
Der Kohärentismus wird relativ spät von den britischen Idealisten (1880-1920) entwickelt
und später in der analytischen Philosophie (Otto Neurath, Richard Rorty, Laurence BonJour)
aufgegriffen. Er leugnet, dass es grundlegende Überzeugungen gibt, die selbst nicht durch
andere Überzeugungen gerechtfertigt werden müssen. Vielmehr hängt die Rechtfertigung
bzw. Stützung einer Überzeugungen immer von anderen Überzeugungen ab.
Schiffsmetapher von Otto Neurath: „Es gibt kein Mittel, um endgültig gesicherte saubere
Protokollsätze zum Ausgangspunkt der Wissenschaften zu machen. Es gibt keine tabula rasa.
Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem
Dock zerlegen und aus festen Bestandteilen neu errichten zu können. […] Die unpräzisen
"Ballungen" sind immer irgendwie Bestandteil des Schiffes. Wird die Unpräzision an einer
Stelle verringert, kann sie wohl gar an anderer Stelle verstärkt wieder auftreten.“ (Neurath
„Protokollsätze“, 1932)
Nach dem in der Einleitung besprochenen Regress-Argument muss die Rechtfertigung von
Überzeugungen durch Überzeugungen zwangsläufig unendlich fortschreiten – oder eine
Schleife bilden (= Ausweg aus dem infiniten Regress?):
Zirkulärer Kohärentismus:
A ist gerechtfertigt durch B, B durch C, C wiederum durch A. Diese Schleife soll den
infiniten Regress vermeiden. Allerdings kann man einwenden, dass eine Überzeugung A,
die nicht gerechtfertigt ist, nicht gerechtfertigt werden kann, indem man sich in der
Kette der Rechtfertigung wieder auf A beruft (= circulus vitiosus). Diese Argumentation
ist also nicht plausibel und wird eigentlich auch nicht vertreten.
Ein System von Überzeugungen ist gerechtfertigt, wenn es zu einem hohen Grad
kohärent ist. Eine einzelne Überzeugung ist gerechtfertigt, wenn sie Teil eines
kohärenten Systems von Überzeugungen ist und selbst zur Kohärenz des Systems
beiträgt.
Eine notwendige Bedingung für Kohärenz ist logische Konsistenz bzw. die Tatsache, dass die
Überzeugungen des Systems sich nicht widersprechen.
Seite 22
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Positive Kohärenz ist dann gegeben, wenn die Überzeugungen des Systems sich auch
gegenseitig stützen und verstärken („support“). Dabei gibt es verschiedene Grade von
Stützung zwischen den Einzelüberzeugungen eines Systems bzw. verschiedene
Auffassungen, wann von Stützung/Kohärenz und somit Rechtfertigung eines Systems von
Überzeugungen gesprochen werden kann:
Ewing 1934: Ein System ist kohärent, wenn jede Überzeugung aus den anderen
abgeleitet werden kann (z.B. „p“, „q“, „p und q“: Jeder Satz kann aus den beiden anderen
abgeleitet werden). Das ist eine sehr starke Forderung, die in der Realität nur selten
erfüllt wird.
Lewis 1946: Ein System ist kohärent, wenn die Wahrscheinlichkeit von jeder
Aussage/Überzeugung des Systems durch die Angabe der anderen Überzeugungen
zunimmt (z.B. das System von Überzeugungen q, r, s, t…. erhöht die Wahrscheinlichkeit
von p).
Ein Beispiel für Kohärenz im Sinn von Lewis bringt Olssen (2011): „Hans war am Tatort
zur Zeit des Raubes.“ & „Hans besitzt einen Revolver des Typus der beim Raub verwendet
wurde.“ & „Hans hat am Tag nach dem Raub eine große Geldsumme auf sein Bankkonto
gelegt.“ Die Sätze lassen sich nicht von den anderen logisch ableiten, aber dennoch
wird die Wahrscheinlichkeit jedes Satzes durch die anderen erhöht.
Isolations-Einwand: Ein System kann in hohem Grad kohärent sein, ohne dass es etwas
mit der Realität zu tun hat bzw. ohne wahr zu sein (z.B. realistische Träume, eine gut
durchdachte Geschichte). Ein Überzeugungssystem könnte vollkommen isoliert von der
Wirklichkeit existieren.
Einwand der alternativen Systeme: Es kann zu jedem System von Überzeugungen ein
alternatives System geben bzw. gefunden werden, das denselben Grad an Kohärenz hat
wie das erste. Beide wären dann gleich gerechtfertigt, selbst wenn sie sich
widersprechen.
Es wird natürlich versucht, diesem Einwand (= Kohärenz hat nicht zwingend mit Wahrheit zu
tun) entgegen zu treten. Laut BonJour akzeptieren Kohärenztheorien einen ständigen Input
aus der Wahrnehmung, der sowohl die Isolation als auch die alternativen Systeme langfristig
eliminieren soll:
Die Wahrnehmung dient dabei nicht der Rechtfertigung der Überzeugungen – das wäre
fundationalistisch –, sondern hat nur die Funktion, immer neue, präzisere
Überzeugungen hervorzubringen.
Seite 23
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Conclusio/Fazit
Die zwei wichtigsten Auffassungen über die Struktur des Wissens sind der Fundationalismus
und der Kohärentismus.
Der Fundationalismus nimmt grundlegende Überzeugungen an, gibt allerdings die Ansicht
auf, dass diese Basis unkorrigierbar ist (Fallibilismus).
Seite 24
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Skeptizismus
Der Skeptizismus behauptet, dass wir (in einem bestimmten Bereich) nichts wissen können
(z.B. über den Geist von anderen Personen).
Sowohl in der Antike als auch in der Renaissance gibt es eine starke skeptische Bewegung.
Aktuell gibt es kaum gegenwärtige Philosophen, die einen umfassenden Skeptizismus
(gegenüber der Außenwelt) vertreten. Dennoch spielt der Skeptizismus eine zentrale Rolle in
der Erkenntnistheorie, da er eine permanente Bedrohung unseres Wissens darstellt. Die
Widerlegung skeptischer Argumente ist zentral, um unseren Anspruch auf Wissen zu
verteidigen, unser Wissen abzusichern.
Globaler Skeptizismus (= wir können (fast) nichts wissen) vs. lokale Skeptizismen (= wir
können in einem bestimmten Bereich nichts wissen; z.B. Wissen über den Geist anderer
Personen, Wissen über die Außenwelt, Wissen über moralische Tatsachen, Wissen über
Gott = Agnostiker)
Skeptizismus erster Ordnung (= wir haben kein Wissen über einen bestimmten Bereich)
vs. Skeptizismus zweiter Ordnung (= wir können nicht wissen, ob wir Wissen über einen
Bereich haben; schwächere Form des Skeptizismus)
Die zwei klassischen Positionen des Skeptizismus bilden sich bereits in der Antike heraus,
werden aber auch für die Einteilung zeitgenössischer Auffassungen verwendet. Der
akademische oder auch cartesianische Skeptizismus, der an Platons Akademie vertreten
wird, geht davon aus, dass wir nichts über die Natur der Außenwelt, anderer Geister,…
wissen können. Der pyrrhonische Skeptizismus bestreitet nicht, dass wir etwas wissen
können, empfiehlt aber, sein Urteil auszusetzen, solange man nicht hinreichende Evidenz
hat, da wir andernfalls weder sagen können, dass wir wissen, noch, dass wir nicht wissen.
Seite 25
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Wir sehen die Dinge der Außenwelt und glauben, dass sie vorhanden sind. Aber natürlich
sind immer (skeptische) Szenarien denkbar, die dieselben subjektiven Erfahrungen
ermöglichen, ohne dass diese von einer Außenwelt verursacht werden, ohne dass die
Außenwelt existiert (z.B. Träume: Wie sind Träume von der Wahrnehmung im Wachzustand
zu unterscheiden? Warum weiß ich, dass ich jetzt nicht träume?). Berühmte skeptische
Szenarien sind Descartes´ böser Geist (1642) und Putnams Gehirn im Tank (1981):
Descartes böser Geist: „Ich will daher annehmen, daß zwar nicht der allgütige Gott, der
die Quelle der Wahrheit ist, wohl aber irgend ein ebenso böser, wie mächtiger und listiger
Geist all sein Bestreben darauf richtet, mich zu täuschen; ich will glauben, daß der
Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Töne und alles außerhalb von
uns nur das Spiel der Träume sei, durch die er meiner Leichtgläubigkeit nachstellt. Mich
selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut
noch irgend einen Sinn, sondern glaube dies bloß fälschlicherweise zu haben.“
Putnams Gehirn im Tank: „Imagine that a human being (you can imagine this to be
yourself) has been subjected to an operation by an evil scientist. The person´s brain (your
brain) has been removed from the body and placed in a vat of nutrients which keeps the
brain alive. The nerve endings have been connected to a super-scientific computer which
causes the person whose brain it is to have the illusion that everything is perfectly
normal. There seem to be people, objects, the sky, etc.; but really all the person (you) is
experiencing is the result of electronic impulses travelling from the computer to the nerve
endings.“
Das zentrale Argument für den akademischen Skeptizismus folgt dem Muster des modus
tollens (= wenn der Folgesatz/Konsequens verneint wird, muss auch der
Vordersatz/Antecedens verneint werden; Prämisse 1 = p q , Prämisse 2 = ¬ q; Conclusio =
¬ p):
(1) Wenn ich weiß, dass p (z. B. „dass ich eine Hand habe“), dann weiß ich, dass das jeweilige
skeptische Szenario nicht zutrifft.
(2) Ich weiß nicht, dass das skeptische Szenario nicht zutrifft.
(3) Daraus folgt: Ich weiß nicht, dass p.
Diese Argumentation lässt sich auf jede Form von Wissen über die Außenwelt anwenden; da
ich die skeptischen Szenarien nicht ausschließen kann, kann ich folglich nichts über die
Außenwelt wissen.
Das skeptische Argument beruht in der Prämisse (1) auf dem Prinzip der epistemischen
Geschlossenheit („principle of closure“): Wenn aus der Proposition p die Proposition q folgt
und S gerechtfertigt ist, p zu glauben, dann ist S auch gerechtfertigt, q zu glauben. Aus
diesem Prinzip folgt: Wenn S weiß, dass p (z.B. Besitz einer Hand), dann weiß S auch, dass
alle Propositionen falsch sind, die mit p inkompatibel sind (z.B. Gehirn im Tank). Nach dem
Prinzip der Geschlossenheit müssen alle Szenarien ausgeschlossen werden können, die mit p
in Widerspruch stehen.
Seite 26
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Dieses Prinzip der Geschlossenheit ist relativ selbstevident im Zusammenhang mit Wahrheit
– die Wahrheit wird von p an q weitergegeben. Es ist aber fraglich, ob es auch im
Zusammenhang mit der Rechtfertigung von Wissen gilt – wird auch die Rechtfertigung
weitergegeben?
Die externalistische Antwort umgeht dieses Problem folgendermaßen: Während wir für den
Skeptiker wissen müssen, dass die Wahrnehmung uns über die Außenwelt informiert, und er
nach den Gründen für dieses Wissen fragt, haben wir für den Externalisten Wissen über die
Außenwelt dann, wenn unsere Überzeugungen über die Außenwelt durch einen
verlässlichen Prozess verursacht werden. Wir müssen nicht wissen, dass unsere
Wahrnehmung ein verlässlicher Prozess ist oder dass unsere Überzeugungen wahr sind. Wir
können Wissen über die Außenwelt haben, ohne es rechtfertigen zu müssen. Diese „Lösung“
ist für einen Internalisten nicht zufriedenstellend – er will Gründe für die Rechtfertigung
unserer Überzeugungen, für den Ausschluss skeptischer Szenarien.
In seiner Theorie der relevanten Alternativen (1981) meint Dretske, dass das Prinzip der
Geschlossenheit eine zu starke Forderung ist. Es verlangt, dass wir, um etwas zu wissen, alle
alternativen Szenarien (inkl. skeptische Szenarien) ausschließen können, die mit diesem
Wissen in Widerspruch stehen. Laut Dretske muss das Prinzip auf relevante Alternativen
oder Szenarien eingeschränkt werden, die mit p in Widerspruch stehen, nicht auf alle
denkbaren Alternativen – de facto gibt er damit das Prinzip der Geschlossenheit auf. Um p zu
wissen, muss ich nur alle relevanten Alternativen zu p ausschließen können, nicht alle
denkbaren Alternativen. Für die Bestimmung der relevanten Alternativen gibt es zwei
Ansätze:
Die objektive Wahrscheinlichkeit der Alternative, des Szenarios entscheidet über die
Relevanz.
Die Alternative, das Szenario ist dann relevant, wenn das Subjekt S sie für wahrscheinlich
hält (subjektive Wahrscheinlichkeit).
Ungeklärt ist dabei, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sein soll/muss/darf bzw. ob
subjektive/objektive Wahrscheinlichkeit besser ist.
Auch der Kontextualismus (siehe auch weiter unten) antwortet auf das zentrale Argument
des Skeptizismus – indem er annimmt, dass es verschiedene Bedeutungen, Arten von
„wissen“ gibt, die unterschiedliche epistemische Standards verlangen. Je nach Kontext kann
das Wort „wissen“ niedrige epistemische Standards verlangen (= wissen1) oder sehr hohe
Standards bzw. einen hohen Grad an Evidenz und Gewissheit verlangen (= wissen2). wissen1
wird in alltäglichen Situationen verlangt (Alltagswissen), wissen2 wird in sehr
anspruchsvollen philosophischen Kontexten verlangt.
(1) Wenn ich weiß2, dass ich eine Hand habe, dann weiß2 ich, dass die skeptische Hypothese
nicht stimmt.
(2) Ich weiß2 nicht, dass die skeptische Hypothese nicht stimmt.
(3) Daraus folgt: Ich weiß2 nicht, dass ich eine Hand habe.
Aber es folgt nicht daraus, dass ich nicht weiß1, dass ich eine Hand habe.
Seite 27
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Pyrrhonischer Skeptizismus
Für den pyrrhonischen Skeptizismus ist die Haltung des akademischen Skeptizismus (= wir
wissen nichts) zu dogmatisch (Woher will der akademische Skeptiker wissen, dass wir nichts
wissen?). Der pyrrhonische Skeptiker verlangt, dass wir uns lediglich eines Urteils über
Proposition p enthalten, solange wir dafür keine ausreichende Evidenz haben. Wir können
nach dieser Auffassung weder wissen, dass p, noch nicht-wissen, dass p.
Die pyrrhonische Skeptizismus gibt fünf Argumentationstypen (= Agrippas Tropen) an, die
Gründe sind, um sich in diesen Fällen eines Urteils zu enthalten, um die voreilige
Zustimmung zu einer Proposition zu vermeiden:
Dissens: Verzicht auf Urteil, wenn die eigene Meinung mit anderen in Widerspruch steht
Regress ad infinitum: Jeder Beweis erfordert den Beweis der Prämissen, diese Beweise
haben selbst wieder Prämissen, die bewiesen werden müssen.
Relativität: Jeder Gegenstand, den man erkennt, steht in Relation zu anderen und/oder
wird aus einer Perspektive gesehen. Wenn sich diese Relation/Perspektive ändert, ändert
sich der Gegenstand bzw. das Urteil über den Gegenstand.
Dogmatische Setzung: Eine dogmatische Behauptung (= ohne Begründung) ist
problematisch.
Zirkelschuss
Tatsächlich fallen fast alle potentiellen Urteile in eine diese Kategorien und pyrrhonische
Skeptiker lehnen daher fast alle Urteile ab.
Kontextualismus
Für den Kontextualismus kann sich die Bedeutung von „S weiß, dass p“ je nach Kontext
verändern. Die Bedeutung ändert sich mit den Erwartungen und Interessen der Person, die
den Satz „S weiß, dass p“ behauptet, sowie mit der praktischen Situation, in der sich die
Person befindet.
Es gibt in unserer Sprache zahlreiche Ausdrücke, deren Bedeutung sich je nach Kontext
ändert. Dazu gehören indexikalische Ausdrücke (z.B. ich, hier, jetzt, heute), deren Bedeutung
sich in Abhängigkeit von Sprecher, Zeit und Ort ändert, sowie diverse vage Ausdrücke wie
groß, klein, flach, deren Bedeutung sich ebenfalls mit dem Kontext ändert – so kann z.B. ein
Sessel groß und ein Haus klein sein, obwohl eigentlich im Vergleich der beiden der Sessel
klein und das Haus groß ist. Ist aber das Wort wissen in einem ähnlichen Sinn
kontextabhängig?
Meine Frau und ich fahren am Freitagabend nach Hause. Wir wollen an der Bank halten, um
einen Scheck einzulösen. Als wir bei der Bank vorbeikommen, stellen wir eine lange Schlange
fest, was oft am Freitag abends vorkommt.
Fall A: Obwohl wir meist unsere Schecks sobald wie möglich einlösen, ist es jetzt nicht wirklich
wichtig, den Scheck gleich einzulösen. Ich schlage vor, heimzufahren und den Scheck am
Samstag einzulösen. Meine Frau sagt: „Vielleicht hat die Bank morgen nicht offen. Viele
Seite 28
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Banken sind am Samstag geschlossen.“ Ich antworte: „Nein, ich weiß, dass die Bank offen
hat. Ich war dort vor zwei Wochen an einem Samstag.“
Fall B: Wenn unser Scheck vor Montag nicht auf unserem Bankkonto eingezahlt wird, kann
der Scheck nicht mehr eingelöst werden, was uns in eine sehr schlechte finanzielle Lage
bringt. Und natürlich ist die Bank am Sonntag nicht offen, wie meine Frau betont. Sie sagt
dann: „Banken ändern auch ihre Öffnungszeiten. Weißt du, ob die Bank morgen offen hat?“
Obwohl ich genauso zuversichtlich war wie zuvor, dass die Bank am Samstag offen hat, sage
ich: „Eigentlich, nein. Ich gehe lieber in die Bank hinein und versichere mich nochmals.“
Der Mann schreibt sich also im Fall A Wissen zu, im Fall B aber nicht, obwohl er in beiden
Fällen dieselbe Evidenz für seine Überzeugung hat. Aber während es im Fall B von hoher
praktischer Relevanz ist, ob die Überzeugung Wissen ist, ist dies im Fall A nicht so (high
stakes situation vs. low stakes situation). Im Fall B erfordert die Zuschreibung von Wissen
höhere Standards an Evidenz als im Fall A.
Beide Zuschreibungen von Wissen können wahr sein, nur wird jeweils ein Wissen mit
anderen Standards gemeint. „Ich weißA, dass die Bank samstags offen hat“ drückt eine
andere Proposition aus als „Ich weißB, dass die Bank samstags offen hat“. So, wie mir der
Kontext sagt, welchen Ort hier bezeichnet, sagt mir der Kontext, welches Wissen bezeichnet
wird (wissenA / wissenB).
Der Kontextualismus beruht auf Argumenten über die Natur unserer Sprache. Aber es gibt
auch sprachliche Gegenargumente gegen diese Argumentation:
wissen ist kein gradueller Begriff wie groß, flach,… - das spricht gegen seine Variation in
verschiedenen Kontexten. Intuitiv würde man eher sagen, dass man etwas entweder
weiß oder eben nicht – man weiß es nicht mehr oder weniger. (Stanley 2004)
Die Sprecher wissen nicht, dass wissen kontextabhängig ist; so merkt man z.B. im
skeptischen Argument nicht, dass wissen unterschiedlich verwendet wird.
Die kontextabhängige Vagheit von Begriffen wie klein, flach,… wird in der Konversation
aufgeklärt (z. B. Du meinst, das Haus ist klein im Vergleich zu einem Hochhaus.). Dies ist
nicht der Fall bei wissen. (Hawthorne 2004).
Im Falle der vagen Begriff verschwindet nach der Klärung der Dissens (Im Fall des Hauses
wird man sich einig, dass es zwar größer als ein Stuhl ist, aber klein im Vergleich zu einem
Hochhaus. Im Fall der Öffnungszeiten der Bank könnte der Mann dagegen protestieren,
wenn man behauptet, dass er die Öffnungszeiten nicht weiß. Er könnte darauf bestehen,
dass er es weiß.). Bei Wissen ist das nicht der Fall.
Die kontextualistische Erklärung von Wissen folgt also eigentlich nicht unserem
Sprachgebrauch – obwohl der Gedanke unterschiedlicher Standards an Wissen durchaus
intuitiv nachvollbar ist.
Seite 29
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Relativismus
Der epistemische Relativismus behauptet, dass die Wahrheit von epistemischen Aussagen
(„S weiß, dass p“, „S ist gerechtfertigt, p zu glauben“) relativ ist. Die Wahrheit dieser
Aussagen ändert sich mit bestimmten Faktoren, die unabhängig von den objektiven
Tatsachen der Welt sind.
Der Kontextualismus behauptet dagegen nur, dass die Bedeutung von wissen sich mit dem
Kontext ändert. Wenn durch den Kontext die Bedeutung festgelegt ist, ist der Satz wahr oder
falsch.
Der Relativismus (in seinen unterschiedlichen Formen) behauptet also die Relativität der
Wahrheit und bestreitet daher zumindest eine der folgenden Thesen/Aussagen: Die
Wahrheit einer epistemischen Aussage (z. B. S weiß, dass p) ist…
invariant gegenüber Zeit und Ort sowie dem begrifflichen Bezugssystem.
objektiv.
monistisch, d. h. dass nur eine von in Konflikt stehenden Aussagen wahr sein kann.
Die Wahrheit von epistemischen Aussagen x variiert mit einem bestimmten Faktor y. Die
Wahrheit einer Aussage wie „Galileo war gerechtfertigt zu glauben, dass sich die Erde um die
Sonne dreht“ hängt ab von einem Faktor y (z.B. von kulturellen Normen, von epistemischen
Normen).
Boghossian wendet sich gegen den Relativismus und unterscheidet drei Grundpositionen
bzw. Grundthesen des Relativismus: Relativismus ist…
epistemischer Non-Absolutismus: Es gibt keine Tatsache, durch die man feststellen kann,
ob die Evidenz E die Überzeugung p rechtfertigt.
epistemischer Relationalismus: „Evidenz E rechtfertigt die Überzeugung p“ muss immer
übersetzt werden in „Nach dem epistemischen System C, das das Subjekt S akzeptiert,
rechtfertigt die Evidenz E die Überzeugung p“
epistemischer Pluralismus: Es gibt verschiedene epistemische Systeme, aber es gibt keine
Tatsachen, durch die entschieden werden kann, welches System das korrekte ist.
Auch die Relativität der epistemischen Normen, sprich der epistemische Pluralismus ist ein
Problem. Es gibt keine neutralen Normen (Metanormen), mit denen man epistemische
Konflikte auflösen kann (Beispiel: Galileo beruft sich auf seine Beobachtungen vs. Bellarmin
beruft sich auf die Bibel – sie verwenden unterschiedliche epistemische Normen Welche
soll gelten?). Die Normen müssten außerdem selbst wieder begründet werden. Dies führt
wieder zu den Problemen des Regress-Arguments (Sankey 2010). Relativisten schließen
daraus, dass alle epistemischen Normen in gleichem Grad Geltung haben.
Seite 30
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Ein Problem des Relativismus besteht darin, dass er sich als eigenständige Position vom
Skeptizismus unterscheiden will/muss. Wenn aber keine epistemischen Normen begründet
werden können, kann keine Überzeugung gerechtfertigt werden. Worin unterscheidet sich
diese Position dann vom Skeptizismus? Der Relativismus beruft sich auf die gleichwertige
Geltung unterschiedlicher Systeme von Normen, darauf, dass jedes der Systeme
Rechtfertigung und somit Wissen liefern kann. Er behauptet nicht, dass sich Wissen
überhaupt nicht rechtfertigen lässt.
Conclusio/Fazit
Der Kontextualismus behauptet, dass sich unsere Zuschreibung von Wissen je nach Kontext
ändert. Die Bedeutung von Wissen variiert je nach Kontext.
Der Relativismus bestreitet, dass wir unserer Erkenntnis eine absolute Wahrheit zuschreiben
können.
Seite 31
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Unsere Überzeugungen und unser Wissen beruht auf bestimmten Erkenntnisquellen. Was
sind diese Quellen? Welche Art von Wissen erlangen wir durch sie? Sind die Quellen
unterschiedlich verlässlich?
Jede dieser Quellen bedarf einer eigenen Erkenntnistheorie, die auf die spezifischen
Bedingungen der Erkenntnisquelle eingeht und sich mit diesen Fragen in Bezug auf die
jeweilige Quelle beschäftigt.
Wissen ist eine gerechtfertigte und wahre Überzeugung, dass etwas bzw. eine Proposition p
der Fall ist. Die Proposition p enthält eine Information über einen Zustand der Welt. Diese
Informationen können aus verschiedenen Quellen stammen (z.B. aus der Wahrnehmung).
Auch die Rechtfertigung für die Proposition p kann aus verschiedenen Quellen stammen (z.B.
eine Information aus dem Gedächtnis kann durch Zeugenaussagen von Anderen bestätigt
und gerechtfertigt werden). Die verschiedenen Quellen können auf unterschiedliche Weise
eine Rechtfertigung verleihen und können daher unterschiedliche Grade an Verlässlichkeit
aufweisen.
Die Philosophie kennt fünf klassische Quellen der Erkenntnis, wobei vier dem Individuum
gegeben sind und die fünfte der sozialen Interaktion entstammt. Dies sind…
Introspektion: Durch Introspektion erlangen wir Wissen über unsere inneren, mentalen
Zustände (Gefühle, Gedanken,…). Manche Philosophen vertreten die Auffassung, dass
Introspektion eigentlich eine Form von Wahrnehmung ist.
Vernunft: Durch Vernunft erlangen wir Wissen über Wahrheiten a priori, also vor der
Erfahrung/Beobachtung (z.B. notwendige Wahrheiten der Mathematik, der Logik), und
können aus vorhandenem Wissen andere Wahrheiten logisch ableiten (= Inferenzen bzw.
logische Schlüsse).
Zeugnisse von Anderen (= durch andere übermitteltes Wissen über die Welt,
Vergangenheit etc.)
Seite 32
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Dabei wird zwischen grundlegende Quellen („basic sources“) und abgeleiteten Quellen
(„non-basic sources“) unterschieden. Grundlegende Quellen des Wissens sind jene, die auf
keine anderen Erkenntnisquellen zurückgreift. So wird man intuitiv annehmen, dass das
Gedächtnis eine abgeleitete Quelle ist – das, was im Gedächtnis als Information gespeichert
ist, muss ursprünglich aus einer anderen Quelle gekommen sein. Es geht dabei nicht nur
darum, woher die Information stammt, sondern auch darum, woher die Rechtfertigung
stammt.
Daraus ergeben sich die beiden Richtungen des Reduktionismus und Anti-Reduktionismus.
Der Reduktionismus behauptet z.B. im Bezug auf das Gedächtnis, dass das Gedächtnis auf
andere Quellen zurückführbar/reduzierbar ist, während der Anti-Reduktionismus z.B. das
Gedächtnis als autonome Quelle von Informationen und/oder Rechtfertigungen betrachtet.
Gedächtnis
Gedächtnis ist ein Zustand, der eine Tatsache oder ein Ereignis der Vergangenheit
repräsentiert, also eine Erinnerung. Dabei ist zwischen extroversiven Erinnerungen an
äußere Tatsachen (z.B. dass XY gestern die Wahlen gewonnen hat) und introversiven
Erinnerungen an vergangene mentale Zustände (z.B. dass ich gestern Angst hatte) zu
unterscheiden.
Was ist Gedächtnis/Erinnerung? Es gibt vier Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um von
einer Erinnerung bzw. von Gedächtnis zu sprechen:
1. Subjekt S repräsentiert/glaubt zur Zeit t1 (= Vergangenheit), dass Proposition p
2. Subjekt S repräsentiert/glaubt zur Zeit t2 (= Gegenwart), dass Proposition p
3. Proposition p ist wahr zur Zeit t2
4. Die Repräsentation von Subjekt S zur Zeit t2 steht in einer angemessenen (meist
kausalen) Verbindung zur Repräsentation zur Zeit t1 (z.B. Es gibt eine kausale Verbindung
zwischen der Wahrnehmung des Eiffelturms in Paris und der Erinnerung, dass der
Eiffelturm in Paris steht.)
Bedingung 3, die Bedingung der Wahrheit, stellt sicher, dass eine Erinnerung eine
faktische/wahre propositionale Einstellung ist; d.h. dass man keine Einstellung/Erinnerung,
wenn ihr Inhalt (p) nicht wahr ist. Es ist konter-intuitiv zu sagen Ich erinnere mich dass p,
aber p hat nicht stattgefunden. Es ist nicht möglich, dass ich mich erinnere, dass ich heute
gefrühstückt habe, wenn ich tatsächlich nicht gefrühstückt habe.
Bedingung 4 soll vermeiden, dass etwas Vergessenes und danach Wieder-Gelerntes als
Erinnerung bezeichnet wird.
Seite 33
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Beginnend mit dem 18. Jhdt. gibt es eine breite Diskussion darüber, was genau der
Gegenstand des Gedächtnisses bzw. einer Erinnerung ist. Wozu habe ich Zugang, wenn ich
mich erinnere?
Die Vertreter des direkten Realismus (Reid 1764, Laird 1920, Russell 1921) vertreten die
Auffassung, dass der direkte Gegenstand einer Erinnerung das Ereignis, die Tatsache, der
Wahrnehmungszustand in der Vergangenheit ist, dass sich das Bewusstsein in der
Erinnerung direkt auf das vergangene Ereignis bezieht.
Der direkte Realismus impliziert im Zusammenhang mit Gedächtnis, dass wir über die Zeit
hinweg in direktem Kontakt zu einem vergangenen Ereignis stehen und daher ein direktes
Wissen davon haben. Aber haben wir diese Fähigkeit einer direkten Bekanntschaft mit
einem vergangenen Ereignis? Das ist zweifelhaft.
Die Vertreter des indirekten Realismus (Hume 1739, James 1890, Locke 1690 vgl. Ideen
bei Locke) meinen hingegen, dass die Vergangenheit einen mentalen Zustand in uns
verursacht, den wir jetzt haben. Unsere Erinnerung bezieht sich auf diesen gegenwärtigen
Zustand in uns (z. B. eine innere Erfahrung ähnlich der vergangenen Erfahrung). Wir
repräsentieren die Vergangenheit nur indirekt, vermittelt durch den gegenwärtigen Zustand.
Für den indirekten Realismus haben wir vorerst nur Wissen über unsere gegenwärtigen
mentalen Zustände. Nur indirekt, vermittelt durch die gegenwärtigen Zustände erkennen wir
die Vergangenheit. Wir können nicht wissen, ob diese gegenwärtigen Zustände
Erinnerungen sind (die sich tatsächlich auf die Vergangenheit beziehen) oder nur Produkte
der Fantasie (Scheinerinnerungen).
ist eine klassische, sehr populäre Auffassung von Gedächtnis. Die epistemische Theorie
behauptet: Wenn S sich erinnert dass p, dann weiß S dass p.
S erinnert sich dass p impliziert also S weiß zur Zeit t2 (= Gegenwart) dass p, weil S zur Zeit t1
(= Vergangenheit) wusste, dass p. Der Erinnerungszustand hat also dieselben epistemischen
Eigenschaften wie der Zustand in der Vergangenheit. Stimmt das?
Erinnerung dass p impliziert (wie vorhin besprochen) die Wahrheit von p. Aber Wahrheit
allein ist nicht ausreichend für Wissen – auch Überzeugung und Rechtfertigung sind nötig.
Impliziert Gedächtnis auch, dass ich überzeugt bin, dass p, und dass ich gerechtfertigt bin, p
zu glauben? Die epistemischen Theorien nehmen an, dass Erinnerung dies erfüllt. Aber es
gibt starke Gegenargumente geben diese Annahme.
Seite 34
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Subjekt S hat eine (wahre, kausal verursachte) Erinnerung, aber keine Überzeugung. Es ist
also möglich, einer Erinnerung ohne Überzeugung zu haben – allerdings ist hier sicherlich
nicht von Wissen zu sprechen. Erinnerung ist also nicht gleichzeitig Wissen.
Insgesamt impliziert Erinnern zwar Wahrheit, aber offensichtlich nicht Wissen. Tatsächlich ist
es aber oft so, dass man in der Vergangenheit etwas weiß und dieses Wissen (mittels
Gedächtnis) in die Gegenwart übertragen wird. In diesem Zusammenhang gibt es zwei
Auffassungen: Preservativism und Generativismus.
Preservativism
Wenn man eine Erinnerung hat und diese Erinnerung Wissen ist, dann kommt das Wissen
und die Rechtfertigung für dieses Wissen aus der Vergangenheit. Gedächtnis/Erinnern kann
nichts hinzufügen.
Wenn man wusste dass p (zur Zeit t1), dann kann die Erinnerung das vergangene Wissen dass
p erhalten und bewahren (zur Zeit t2). Das Wissen in der Vergangenheit (zur Zeit t1) muss
allerdings aus einer anderen Quelle stammen als aus dem Gedächtnis. Das Gedächtnis selbst
kann kein Wissen generieren. Das Gedächtnis kann auch nur die vergangene Rechtfertigung
bewahren, aber keine neue hinzufügen.
Problem: Für manche Internalisten (Internalismus des Zugangs) ist eine Überzeugung p
grundsätzlich nur dann gerechtfertigt, wenn man bewussten Zugang zu den Gründen und
der Evidenz für p hat. Werden Gründe und Evidenz für p vergessen, geht die Rechtfertigung
für p und somit das Wissen verloren. Tatsächlich wissen wir bei vielen unserer Erinnerungen
nicht mehr, wann, wie und/oder warum wir sie haben (z.B. Schulwissen). Sie würden
dadurch ihre Rechtfertigung und somit ihren Status als Wissen verlieren.
Seite 35
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Generativismus
Der (radikale) Generativismus (Pollock 1974, Audi 1995) glaubt, dass das
Gedächtnis/Erinnern Wissen erzeugen und auch einer vorhandenen Überzeugung eine
Rechtfertigung verleihen kann. Der Generativismus nimmt weiters an, dass eine
Überzeugung im Gedächtnis (zur Zeit t2) mehr Rechtfertigung haben kann als die
ursprüngliche Überzeugung (zur Zeit t1), da die Phänomenologie des Sich-Erinnerns (d.h. das
Gefühl, das man beim Erinnern hat) dem Erinnerungszustand eine (zusätzliche)
Rechtfertigung verleiht.
Für den Generativismus besteht die Rechtfertigung einer Erinnerung somit aus zwei
Komponenten: der ursprünglichen Rechtfertigung der vergangenen Überzeugung und der
zusätzlichen Rechtfertigung durch das Gefühl des Sich Erinnerns.
Problem ist dabei das Phänomen des „epistemic boost“: Je öfter ich mich an p erinnere und
daher den phänomenalen Eindruck des Erinnerns habe, desto mehr Rechtfertigung erhält p.
Wenn ich mich selten an p erinnere, sinkt die Rechtfertigung von p. Dieser Gedankengang ist
natürlich unplausibel.
Der moderate Generativismus (Lackey 2005, Bernecker 2010) postuliert, dass das Gedächtnis
zwar keine neue Evidenz (d.h. neue Faktoren der Rechtfertigung) hervorbringen kann, aber
eine Rechtfertigung generieren kann, indem es Defeater, die in der Vergangenheit
vorhanden waren, ausschaltet/vergisst. Die Rechtfertigung muss schon während der
vergangenen Überzeugung vorhanden sein, kann aber eventuell durch einen Defeater
neutralisiert sein. Das Gedächtnis kann in weiterer Folge den Defeater aufheben/vergessen
und dadurch der Rechtfertigung Wirksamkeit verleihen.
Ein großer Teil unseres Wissens stammt von Aussagen von Anderen. Wie verleiht uns das
Zeugnis von Anderen Wissen? Wird in einem Zeugnis nur das schon vorhandene Wissen des
Sprechers an den Hörer weitergegeben oder können Zeugnisse auch neues Wissen bzw.
neue Rechtfertigung generieren?
Ein Zeugnis ist ein Sprechakt, in dem ein Sprecher gegenüber einem Hörer eine Proposition p
behauptet, d.h. der Sprecher stellt eine Behauptung auf („assertion“). Ein Sprechakt wird
dadurch zum Zeugnis, dass…
der Sprecher eine Proposition als wahr präsentiert.
der Sprecher Verantwortung für die Wahrheit der Aussage übernimmt.
der Sprecher die Aussage wörtlich und nicht spielerisch oder ironisch meint.
es das primäre Ziel der Behauptung ist zu informieren.
Wissen durch Zeugnis („testimonial knowledge“) ist nur dann gegeben, wenn Subjekt S seine
Überzeugung aufgrund des Zeugnisses eines anderen hat, d.h. sich der Inhalt (p) der
Überzeugung von S aus dem Inhalt des Zeugnisses ableitet. Es ist kein Wissen durch Zeugnis,
wenn man aufgrund der Stimmlage eine Sopranistin weiß, dass sie eine Sopranstimme hat –
es wäre Wissen durch Zeugnis, wenn sie sagt, dass sie eine Sopranstimme hat.
Seite 36
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
ähnelt dem Preservativism und postuliert, dass das Wissen und die Rechtfertigung vom
Sprecher an den Hörer weitergeleitet werden. Der Hörer hat unter folgenden Bedingungen
Wissen aus Zeugnis:
1. Der Sprecher A weiß, dass p.
2. Der Hörer B glaubt p aufgrund des Zeugnisses von A, dass p.
3. Der Hörer B hat keinen „undefeated defeater“ für p.
Defeater können psychologisch oder normativ sein. Wenn einer dieser Defeater vorhanden
ist, dann hat Subjekt S kein Wissen aus Zeugnis (falls diese Defeater nicht durch andere
Defeater aufgehoben wurden). Psychologische Defeater sind Überzeugungen von Subjekt S,
durch die die Wahrheit von p bezweifelt wird, oder Zweifel daran, dass p auf verlässliche
Weise gewonnen wurde, wobei insgesamt der Defeater selbst nicht wahr sein muss.
Normative Defeater sind Überzeugungen, die S haben sollte, durch die die Wahrheit von p
oder, dass p auf verlässliche Weise gewonnen wurde, bezweifelt wird.
Ein Einwand gegen Bedingung 1 lautet, dass jemand Wissen vermitteln kann, ohne es selbst
zu glauben und daher zu wissen (vgl. Lackey 2008: Ein Lehrer, der selbst Kreationist ist, kann
in der Schule Darwins Evolutionslehre gewissenhaft lehren. Der Lehrer glaubt nicht an die
Evolutionstheorie und hat daher kein Wissen. Dennoch können die Schüler durch den
Unterricht Wissen erlangen).
Weiters gibt es Fälle, wo alle drei Bedingungen erfüllt sind, und trotzdem nicht von Wissen
gesprochen werden kann (vgl. Lackey 2008: Person A sieht einen Adler in ihrem Garten und
sagt es Person B. B glaubt es und hat keinen Defeater. Allerdings hätte Person A auch dann
gesagt, dass ein Adler in ihrem Garten ist, wenn dies falsch gewesen wäre. A ist
unzuverlässig. Daher glaubt B eine wahre Aussage, die Wissen für A ist, aber weiß eigentlich
trotzdem nicht, dass ein Adler im Garten ist).
Die „statement view“ betrachtet Zeugnisse als Aussagen, nicht als Überzeugungen – der
Sprecher muss also nicht die Überzeugung selbst haben, sondern nur eine verlässliche
Aussage machen. Sie postuliert folgende Bedingungen für Wissen aus Zeugnissen:
1. Die Aussagen von Sprecher A, dass p, sind verlässlich.
2. Der Hörer B glaubt p aufgrund der Aussage (von A), dass p.
3. Hörer B hat keinen „undefeated defeater“ für p.
Die „statement view“ kann die Einwände gegen die Theorie der Transmission beheben: Die
Aussagen des Kreationisten über die Evolutionstheorie sind verlässlich, obwohl er sie nicht
glaubt und daher nicht weiß – Bedingung 1 ist also erfüllt und die Schüler erlangen daher
Wissen durch seine Aussagen. Im Gegensatz dazu ist die Aussage über den Adler im Garten
nicht verlässlich und somit ist Bedingung 1 nicht erfüllt – der Hörer erlangt kein Wissen.
Mit der „statement view“ ist es im Gegensatz zur Theorie der Transmission möglich, dass
Wissen generiert wird. So erlangen die Schüler Wissen von jemandem, der selbst keines hat.
Seite 37
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Reduktionismus / Non-Reduktionismus
Lt. Transmissionstheorie erlangt der Hörer ein bestimmtes gerechtfertigtes Wissen allein
aufgrund der Aussage des Sprechers. Der Hörer selbst hat unabhängig von diesem Zeugnis
bzw. dieser Aussage keine zusätzliche Rechtfertigung. Man könnte aber fordern, dass die
Rechtfertigung einer Aussage auf andere Quellen zurückgeführt werden können muss, dass
also überprüft werden muss, ob die Zeugnisaussage gerechtfertigt ist. Dementsprechend
gibt es zwei Positionen:
Reduktionismus: Das Hören eines Zeugnisses (in Abwesenheit eines Defeaters) reicht nicht
aus, damit der Hörer für die gewonnene Überzeugung eine Rechtfertigung erlangt. Der
Hörer braucht zusätzlich positive Gründe, um das Zeugnis zu rechtfertigen. Diese positiven
Gründe beruhen selbst nicht auf Zeugnissen, sondern auf Wahrnehmung, Gedächtnis,
Vernunft. Das Zeugnis muss durch andere Quellen gerechtfertigt (überprüft, bestätigt)
werden.
Diese dritte Theorie vertritt die Auffassung, dass die Rechtfertigung für Zeugnisse nicht nur
durch Evidenz aus einer beliebigen Wissensquelle kommt, sondern auch aus Eigenschaften
der interpersonellen Beziehung zwischen Sprecher und Hörer (z.B. Vertrauen): Der Sprecher
versichert dem Hörer, dass die Aussage wahr ist, und lädt ihn ein, ihm zu vertrauen.
Conclusio/Fazit
Gedächtnis und Zeugnis sind Quellen, die das vorhandene Wissen von der Vergangenheit in
die Gegenwart bzw. von einer Person zur anderen vermitteln und weiterleiten.
Unter bestimmten Umständen können Gedächtnis und Zeugnis aber auch eine
Rechtfertigung für Überzeugungen und somit neues Wissen generieren.
Seite 38
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Ein großer Teil unserer Erkenntnisse beruht auf Informationen aus der Wahrnehmung und
wird durch unsere perzeptuellen Erfahrungen gerechtfertigt.
Sehen ist eine faktische Einstellung: Wenn ich X sehe, dann setzt dies voraus, dass X existiert.
Wenn ich sehe, habe ich eine visuelle Erfahrung von X.
Ich kann allerdings eine visuelle Erfahrung von X haben, ohne X zu sehen (z.B. eine
Halluzination von X).
Die Erfahrung ist also nur eine Komponente des Zustands des Sehens. Die Erkenntnistheorie
analysiert primär die epistemische/erkenntnistheoretische Rolle von perzeptuellen
Erfahrungen.
Erfahrungen sind bewusste Zustände des Geistes, die einen bestimmten phänomenalen
Charakter haben. Beispiel von Erfahrungen sind Seh- und Hörerlebnisse, Bilder der Fantasie,
Träume, Lust/Schmerz, Emotionen,... Emotionen fühlen sich anders an als z.B. visuelle
Erfahrungen; Rot-Erlebnisse anders als Grün-Erlebnisse,... Sie haben eine andere Qualität.
Diese Qualität der Erfahrungen nennt man ihren phänomenalen Charakter. Dieser ist die Art,
wie sich eine Erfahrung qualitativ anfühlt („what it is like“, Nagel 1974). So haben wir z.B. ein
phänomenales Bewusstsein unserer Rot-Erfahrung. Wir können unsere perzeptuellen
Erfahrungen nach dem phänomenalen Charakter klassifizieren.
Der phänomenale Charakter ist prinzipiell unabhängig von dem, was die Wahrnehmung
repräsentiert (z.B. Phosphene = Farbwahrnehmungen bei geschlossenen Augen).
Welche Rolle spielt der phänomenale Charakter der Wahrnehmung in der Rechtfertigung
von Überzeugungen?
Seite 39
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Es wird möglich, bei der perzeptuellen Erfahrung zwischen Inhalt und Gegenstand der
Erfahrung zu unterscheiden.
Der Inhalt gibt die Wahrheitsbedingungen der Erfahrung an. Diese sind erfüllt, wenn der
Gegenstand tatsächlich vorhanden ist, also Inhalt und Gegenstand übereinstimmen.
Die kausale Relation zwischen Erfahrung und Umwelt hat in der Erkenntnistheorie eine hohe
Bedeutung im Reliabilismus.
Die kausale Einwirkung von anderen mentalen Zuständen auf die Erfahrung kann die
Rechtfertigung senken; so können unsere Überzeugungen, Emotionen,… unsere
Wahrnehmung beeinflussen.
Eine perzeptuelle Erfahrung kann eine Überzeugung unmittelbar, also unabhängig von
anderen mentalen Zuständen oder Überzeugungen rechtfertigen (z.B. Mein Gefühl von
Schmerz rechtfertigt meine Überzeugung, dass ich Schmerzen habe).
Eine perzeptuelle Erfahrung E rechtfertigt die Überzeugung dass P mittelbar, wenn die
Rechtfertigung von P durch E von anderen mentalen Zuständen abhängt (z.B. Die
Überzeugung, dass ich Schmerzen habe ist nur dann gerechtfertigt, wenn ich Überzeugungen
über die Verlässlichkeit meiner Empfindungen habe).
Insgesamt ist von einer Prima-facie (= bis auf Widerruf, auf den ersten Blick) Rechtfertigung
durch Wahrnehmung auszugehen: Die perzeptuelle Erfahrung E verleiht der Überzeugung P
in Abwesenheit eines Defeaters unmittelbar eine prima facie Rechtfertigung.
Kann der phänomenale Charakter der Wahrnehmung erklären, warum die Wahrnehmung
Überzeugungen rechtfertigt?
Seite 41
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Laut Hume sind Erfahrungen der Wahrnehmungen nur graduell von den Erlebnissen der
Einbildung unterschieden. Die Wahrnehmung scheint nur deshalb etwas Vorhandenes zu
präsentieren, weil sie detailreicher ist („determinacy“).
Rechtfertigung und Aufmerksamkeit
Ist Aufmerksamkeit („attention“) eine Bedingung der Rechtfertigung, d.h. kann nur der
Aspekt meiner perzeptuellen Erfahrung eine Überzeugung rechtfertigen, auf den ich meine
Aufmerksamkeit richte?
Inhalt und Rechtfertigung
Das Prämissen-Prinzip (Pryor 2005) nimmt an, dass die Relation von Prämissen zu einer
Schlussfolgerung in einem Argument als Modell für die Rechtfertigung von Überzeugungen
dienen kann und die Rechtfertigung auf der Relation zwischen Inhalten beruht::
1. Nur mentale Zustände, die Propositionen repräsentieren, können eine Überzeugung dass
P rechtfertigen.
2. Diese Propositionen können als Prämissen eines Arguments für P verwendet werden.
Dabei erklärt der spezifische Inhalt der perzeptuellen Erfahrung, welche Überzeugung mit
welchem Inhalt gerechtfertigt wird, und es wird die These (McDowell 1994, Brewer 1999)
vertreten, dass eine Erfahrung in der Wahrnehmung nur dann eine Überzeugung
rechtfertigt, wenn sie denselben Inhalt wie die Überzeugung hat.
Eine Abschwächung der These postuliert, dass eine Erfahrung in der Wahrnehmung nur dann
eine Überzeugung rechtfertigt, wenn sich die Inhalte hinreichend ähnlich sind. Die Inhalte
sind dann ähnlich, wenn sie den Gegenständen (oder dem Raum) ähnliche Eigenschaften
zuschreiben (z.B. Die Wahrnehmung schreibt dem Gegenstand die Farbe Rot 49 zu. Meine
Überzeugung ist, dass der Gegenstand dunkelrot ist. Diese Überzeugung hat einen ähnlichen
Inhalt wie die Wahrnehmung; was z.B. auf die Überzeugung, dass der Gegenstand grün ist,
nicht zutrifft.).
Insgesamt ergibt sich bezüglich der Rechtfertigung durch den Inhalt folgende Forderung
(„Content Constraint“): Eine perzeptuelle Erfahrung E rechtfertigt unmittelbar eine
Überzeugung P, wenn P Teil des Inhalts von E ist oder dem Inhalt von E ähnlich ist (in
Abwesenheit eines Defeaters).
Seite 42
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
In der Wahrnehmung stehen wir in direktem Kontakt mit inneren mentalen Zuständen (=
Sinnesdaten) oder repräsentieren wir innere Zustände. Weder repräsentieren wir direkt
Gegenstände der Außenwelt, noch stehen wir in direktem Kontakt mit ihnen. Wir schließen
aufgrund unserer inneren Wahrnehmungszustände, dass es Gegenstände der Welt gibt.
Direkter Realismus
Die Wahrnehmung repräsentiert die Gegenstände und Eigenschaften der Außenwelt. Wir
haben nicht den Eindruck, dass wir mentale Zustände (Wahrnehmungszustände) sehen,
sondern dass wir Bäume,… also Gegenstände der Außenwelt sehen. Die
Wahrnehmungszustände sind sozusagen transparent. Laut dem naiven Realismus ist die
Wahrnehmung keine Repräsentation von Dingen und hat keinen Inhalt, sondern ist eine
Relation zu den Dingen und Eigenschaften der Welt.
Disjunktivismus
Wir haben nicht dieselbe Erfahrung, wenn wir einen Gegenstand wirklich sehen und wenn
wir eine Sinnestäuschung oder Halluzination haben, auch wenn die veridische
Wahrnehmung und die Halluzination subjektiv ununterscheidbar sind. Wenn es uns scheint,
dass wir einen Gegenstand X sehen, kann es eine disjunktive Erklärung dafür geben –
entweder wir haben die Erfahrung eines Gegenstandes oder die Erfahrung einer
Halluzination. Diese beiden Erfahrungen haben einen unterschiedlichen epistemischen
Status und rechtfertigen auf verschiedene Weise.
Fundationalismus
Conclusio/Fazit
Die Wahrnehmung kann rechtfertigen durch ihren phänomenalen Charakter, durch ihren
Inhalt oder durch die kausalen Relationen, in der sie steht.
Seite 43
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die Sinnesdatentheorie ist die moderne Variante des indirekten Realismus und somit einer
der großen Theorien der Wahrnehmung. Das Wort Sinnesdaten ist in der Philosophie erst
seit etwa 1900 gebräuchlich, während der indirekte Realismus bereits bei Descartes, Hume
und Locke präsent ist.
Die Kernthesen des indirekten Realismus besagen, dass wir nicht direkt äußere Gegenstände
sehen können, sondern nur innere Zustände des Bewusstseins.
Die bekannteste Version des indirekten Realismus ist die Theorie der Sinnesdaten: In der
Wahrnehmung „sehen“ wir mentale Gegenstände, die wahrnehmbare Eigenschaften haben
(z. B. rot, rund).
Problem: Wie kann dann Wissen über die Außenwelt gerechtfertigt werden? Wie kann uns
die Wahrnehmung Wissen über die Außenwelt geben, wenn sie uns nicht direkt über diese,
sondern nur über unsere Erfahrung informieren kann?
Der indirekte Realismus bestreitet jedoch keineswegs die Existenz einer solchen Außenwelt.
postuliert, dass wir in der Wahrnehmung in direktem Kontakt mit inneren mentalen
Zuständen (Sinnesdaten) stehen. Aufgrund dieser inneren Wahrnehmungszustände
schließen wir darauf, dass es Gegenstände der Welt gibt. Wir haben Überzeugungen über die
Gegenstände der äußeren Welt, können diese aber nicht direkt wahrnehmen. Weder
repräsentieren wir direkt Gegenstände der Außenwelt, noch stehen wir in direktem Kontakt
zu ihnen.
Diese Position ist schon seit dem 17. Jhdt. präsent, wobei die Philosophie insgesamt seit
dieser Zeit annimmt, dass der Zugang zu inneren Zuständen leichter ist als zu äußeren – was
durchaus auch bezweifelt werden kann (Ist man sich seiner Gefühle wirklich immer bewusst
und sicher?). Einer der Repräsentanten ist Hume. Laut Hume verfügt der Mensch über einen
naiven, natürlichen Realismus, nimmt also die Existenz einer realen Außenwelt an, und die
Philosophie argumentiert gegen diesen naiven Realismus:
„Augenscheinlich werden die Menschen durch einen natürlichen Instinkt oder eine Voreingenommenheit zum
Glauben an ihre Sinne angetrieben; ohne Reflexion, ja vor allem Vernunftgebrauch nehmen wir stets eine
Außenwelt an, die von unseren Wahrnehmungen unabhängig ist und bestehen würde, wenngleich wir und alle
anderen empfindenden Wesen abwesend oder vernichtet wären. […] Doch diese allgemeine und ursprüngliche
Anschauung aller Menschen wird bald durch die Philosophie zerstört, die uns lehrt, dass der Seele nur ein Bild
oder eine Vorstellung gegenwärtig sein kann und dass die Sinne nur die Kanäle sind, durch die diese Bilder uns
zugeführt werden, ohne einen unmittelbaren Verkehr der Seele mit den Gegenständen herstellen zu können.“
(David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Abschnitt 12)
Seite 44
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Laut Hume haben wir nur interne Bilder, die irgendwie verursacht werden, aber wir haben
keinen direkten Zugang zu den äußeren Gegenständen.
Sinnestäuschungen: Es kommt vor, dass wir etwas scheinbar wahrnehmen, obwohl dem
in der Welt nichts entspricht.
Relativität der Sinneswahrnehmungen: Die Eigenschaften der Dinge scheinen sich je nach
Beleuchtung, Perspektive, Distanz zu den Gegenständen,… zu ändern. Die Gegenstände
selbst ändern sich dabei aber nicht (z.B. Die Münze scheint von der Seite gesehen oval, ist
aber rund; Je nach Beleuchtung ändert sich die wahrgenommene Farbe von
Gegenständen).
Daher können wir eigentlich der Wahrnehmung als direkte Quelle über die äußeren
Gegenstände nicht trauen.
Wie kann man erklären, dass es uns so scheint, als hätte der Gegenstand die Eigenschaft P?
Wie kann diese Täuschung erklärt werden? Warum sehen wir etwas (= phänomenaler
Eindruck), was physisch nicht vorhanden ist? Das ist eigentlich kein Problem der
Erkenntnistheorie, sondern der Philosophie der Wahrnehmung bzw. der Philosophie des
Geistes.
Aus den Sinnestäuschungen und der Relativität der Sinneswahrnehmungen ergeben sich
erkenntnistheoretische Fragen und Konsequenzen. Wie können wir wissen, ob wir gerade
einer Sinnestäuschung oder auch einer Halluzination unterliegen? Dies ist bedeutsam, da nur
zutreffende bzw. veridische Wahrnehmungen wahre Überzeugungen und daher Wissen
hervorbringen können.
Die Sinnesdatentheorie wird vor etwa 100 Jahren zuerst von Moore & Russell vertreten und
behauptet wie die klassischen Theorien des indirekten Realismus aufgrund der subjektiven
Ununterscheidbarkeit von zutreffenden Wahrnehmungen und Täuschungen folgendes:
Wir können externe physikalische Objekte nicht direkt wahrnehmen.
Es gibt aber mentale Objekte (= Sinnesdaten), die wir direkt wahrnehmen.
Seite 45
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die moderne Sinnesdatentheorie gibt ein formales Argument für die Existenz der
Sinnesdaten. Dieses sogenannte Argument der Sinnestäuschung/argument from illusion
(Ayer 1940) geht in zwei Schritten vor:
Schritt 1: Im Fall von Sinnestäuschungen können wir keine physischen Dinge sehen,
sondern nur mentale Objekte (= Sinnesdaten).
Schritt 2 (= Generalisierung): Auch im Fall von veridischen Wahrnehmungen müssen
solche mentalen Objekte (= Sinnesdaten) angenommen werden.
Schritt 2 = Verallgemeinerung
1. Zu jeder veridischen Sinneswahrnehmung gibt es eine Sinnestäuschung, die vom
zutreffenden Fall subjektiv ununterscheidbar ist.
2. Prinzip des gemeinsamen Faktors: Perzeptuelle Erfahrungen, die subjektiv
ununterscheidbar sind, müssen auf gleiche Weise erklärt werden (d.h. durch einen
gemeinsamen Faktor, eine gemeinsame Ursache). Auch dieses Prinzip ist durchaus
angreif- bzw. bestreitbar.
3. Im Fall der Sinnestäuschung wurde die Wahrnehmung der Eigenschaft P durch ein
mentales Objekt (= Sinnesdatum) erklärt.
4. Im subjektiv ununterscheidbaren veridischen Fall muss die Wahrnehmung der
Eigenschaft P ebenfalls durch ein mentales Objekt (= Sinnesdatum) erklärt werden.
5. Schlussfolgerung: Auch in veridischen Fällen sehen wir Sinnesdaten.
Es gibt Begründungen, die das Prinzip des gemeinsamen Faktors plausibel machen (sollen):
Es ist unwahrscheinlich, dass zwei Gegenstände in allen ihren wahrnehmbaren
qualitativen Eigenschaften übereinstimmen und dennoch der eine ein physischer
Gegenstand ist und der andere ein Produkt des Gehirns.
Kausales Argument: Wir nehmen an, dass im veridischen Fall ein physischer Gegenstand
kausal auf unser Gehirn wirkt (z.B. durch Lichtreflexion). Es ist aber möglich, dass
dieselbe Wirkung im Gehirn durch andere Ursachen kausal ausgelöst wird (z.B. innere
Ursachen im Fall von Halluzinationen).
Seite 46
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Antwort der Disjunktivisten: Disjunktivisten lehnen das Prinzip des gemeinsamen Faktors ab
und meinen, dass wir in Täuschung und veridischer Wahrnehmung ununterscheidbare
Erfahrungen einer Eigenschaft P haben können und trotzdem die Erfahrung von P im Fall der
veridischen Wahrnehmung durch einen äußeren Gegenstand erklärt wird und im Fall der
Sinnestäuschung oder Halluzination durch einen anderen Prozess.
Ein weiterer Versuch, die Ansicht zu etablieren, dass wir immer Sinnesdaten wahrnehmen,
ist das Argument des zeitlichen Abstandes (Russell 1948):
1. Es gibt Fälle, wo wir scheinbar einen Gegenstand mit der Eigenschaft P sehen, aber
dieser Gegenstand nicht mehr existiert oder sich inzwischen verändert hat (nicht mehr P
hat) (z.B. Wahrnehmung eines erloschenen Sterns).
2. Wir können den Gegenstand oder seine Eigenschaft nicht sehen, da sie nicht mehr
existieren.
3. Was wir sehen, sind Eigenschaften eines inneren mentalen Gegenstandes (=
Sinnesdatum).
4. Bei jeder Wahrnehmung gibt es einen ähnlichen (wenn auch sehr kurzen) zeitlichen
Abstand.
5. Schlussfolgerung: Wir nehmen immer einen mentalen Gegenstand wahr.
Was ist nun ein mentaler Gegenstand, ein Sinnesdatum? Ein Sinnesdatum…
ist ein nicht-physischer Gegenstand unseres unmittelbaren Bewusstseins.
hat wahrnehmbare Qualitäten (Farbe, Form, Tonqualitäten,…).
ist abhängig von unserem Geist.
ist ein privater Gegenstand eines Subjekts, nur das jeweilige Individuum hat Zugang dazu.
ist nicht-repräsentational, repräsentiert also keine anderen (äußeren) Gegenstände,
Zustände, Eigenschaften,…
Diese Annahmen sind teilweise schwer „verdaulich“. Was soll/darf/muss man sich etwa
unter einem nicht-physischen Gegenstand mit wahrnehmbaren Qualitäten vorstellen?
Erfahrung ist entsprechend der Sinnesdatentheorie das direkte Erfassen oder Empfinden
(„sensing“) eines Sinnesdatums, besteht also im Akt des Empfindens oder Erfassens des
mentalen Gegenstandes (= Akt-Objekt-Theorie).
Worin besteht dieser Akt? Wird er nach dem Modell der Wahrnehmung („Ich sehe ein
Sinnesdatum“) aufgefasst, dann erklärt der Akt des Erfassens das Sehen und das Sehen den
Akt des Erfassens – was eine zirkuläre und somit nicht zulässige Erklärung ist. Der Akt des
Erfassens und Empfindens eines Sinnesdatums muss also etwas anderes als ein Sehen sein.
Aber was? Das wird in der Sinnesdatentheorie eigentlich nicht klar.
Weitere Einwände gegen die Sinnesdatentheorie sind metaphysischer Art. Was sind diese
postulierten mentalen Objekte eigentlich und wie können sie Eigenschaften wie physische
Objekte haben? Wie unterscheidet man Sinnesdaten? Besteht ein Sinnesdatum beim
Zwinkern der Augen weiter oder entsteht immer ein neues? Ändert ein Sinnesdatum (z.B.
bei Annäherung) seine Form oder habe ich bei jeder Veränderung neue Sinnesdaten? Es gibt
kein Kriterium, um Fragen nach der Identität (= Eindeutigkeit eines Sinnesdatums bzw.
Unterscheidung eines Sinnesdatums von einem anderen) zu beantworten (Barnes 1965) und
auch die moderne Neurowissenschaft kennt keine Objekte in diesem Sinn.
Seite 47
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Ein weiteres metaphysisches Problem ist das „Problem der gefleckten Henne“ (Chisholm
1942). Reale Gegenstände haben bestimmte Eigenschaften und somit eine bestimmte
Anzahl der jeweiligen Eigenschaft. Hat aber das Sinnesdatum der Henne eine bestimmte
Anzahl von weißen Flecken? Wenn unser Bewusstsein bezüglich der Flecken unbestimmt
bleibt und wir die Flecken im Geist nicht zählen können (was der Fall ist), würde das heißen,
dass das Sinnesdatum eine unbestimmte Zahl von Flecken hat. Ist es undeterminiert? Oder
hat es versteckte Eigenschaften, die ich nicht „sehen“ kann? Beides ist unbefriedigend.
Laut der Sinnesdatentheorie haben wir eine direkte Erfahrung von Sinnesdaten, aber nicht
von den Gegenständen der Außenwelt. Durch das Erfassen von Sinnesdaten erkennen wir
unmittelbar innere Zustände. Aber wie können wir äußere Gegenstände erkennen bzw. über
diese etwas wissen?
Folgt man der Sinnesdatentheorie kommt es zu einem „Schleier der Wahrnehmung“. Die
Sinnesdaten bilden eine Art Schleier zwischen uns und der realen Welt. Wir nehmen äußere
Gegenstände indirekt/vermittelt wahr, indem wir mentale Sinnesdaten direkt wahrnehmen
– analog dazu, dass wir Gegenstände mittels ihrer Oberfläche wahrnehmen. Die physischen
Gegenstände scheinen hinter den Sinnesdaten zu verschwinden. Ist überhaupt
Wahrnehmung durch Wahrnehmung von etwas anderem möglich? Was/Wie soll das sein?
Wir haben ja auch rein intuitiv nicht den Eindruck, dass unsere Wahrnehmung der äußeren
Welt durch irgendwelche inneren Objekte vermittelt wird.
Man könnte auch davon ausgehen, dass wir aus unseren Wahrnehmungen der mentalen
Gegenstände Überzeugungen über die inneren Zustände und daraus Überzeugungen über
die äußeren Zustände ableiten (können). Dazu ist keine vermittelte Wahrnehmung der
äußeren Zustände notwendig.
Diese Form des indirekten Realismus wird oft Phänomenalismus genannt: Obwohl ich nur
die inneren Phänomene als Gegenstand der Wahrnehmung habe, kann ich von diesen
Überzeugungen über die äußere Welt bekommen(Lewis 1952). Unsere Überzeugungen über
unsere perzeptuelle Erfahrung sind unbezweifelbar und unkorrigierbar. Überzeugungen über
äußere Gegenstände werden von Überzeugungen über unsere (innere) Erfahrung abgeleitet.
Wir nehmen also keine äußeren Gegenstände war, haben aber dennoch Überzeugungen
über äußere Gegenstände. Für die Ableitung dieser Überzeugungen gibt es drei
argumentative Möglichkeiten: Deduktion, Induktion und Abduktion – die allerdings jeweils
mit Problemen verbunden sind.
Seite 48
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Am überzeugendsten ist die Argumentation mittels Abduktion. Aber auch diese weist –
abgesehen davon, dass es sich „nur“ um einen Wahrscheinlichkeitsschluss handelt –
Probleme auf. Das beginnt damit, wie die beste, einfachste, überzeugendste,… Erklärung
gefunden werden soll/kann.
Die beste Erklärung für unsere vielfältige und strukturierte perzeptuelle Erfahrung ist also,
dass sie von einer strukturierten äußeren Welt verursacht wird. Wenig plausibel ist, dass
dieser Schluss auf eine beste Erklärung eigentlich einer wissenschaftlichen
Hypothese/Theorie, die mehr oder weniger bestätigt ist, gleicht, während unsere
Überzeugung, dass um uns Gegenstände vorhanden sind, viel stärker gerechtfertigt als
irgendwelche Theorie/Hypothesen scheint.
Unser Zugang zur physischen Welt scheint nicht nur durch Überzeugungen zu geschehen.
Denn wie kommen wir überhaupt zu Überzeugungen über physische Gegenstände, wenn wir
nur zu vollkommen anders gearteten Entitäten (= Sinnesdaten) Zugang haben? (Vgl. Ryle
1949: Wenn jemand nur die Laute eines Fußballspiels hört, ohne jemals ein solches gesehen
zu haben, wird er niemals auf ein Fußballspiel schließen.)
Seite 49
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Während der indirekte Realismus eine Welt physischer Gegenstände annimmt, auch wenn
diese nicht direkt erkennbar sind, geht der Idealismus (Robinson 1994, Foster 2000) einen
Schritt weiter und nimmt an, dass…
wir keine Erkenntnis über die Welt hinter den Sinnesdaten erlangen können.
die Hypothese einer solchen Außenwelt auch nicht notwendig ist.
es nur Sinnesdaten und Konstruktionen aus Sinnesdaten, die uns wie Gegenstände
erscheinen, gibt.
Conclusio/Fazit
Der indirekte Realismus und die Sinnesdatentheorie nimmt an, dass der Gegenstand der
Wahrnehmung innere mentale Zustände oder Gegenstände sind.
Wir haben ein direktes Wissen über diese inneren mentalen Zustände.
Wir haben nur ein indirektes und abgeleitetes Wissen über die Gegenstände der Außenwelt.
Seite 50
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Direkter Realismus
Fragestellung: Repräsentieren wir äußere Gegenstände und deren Eigenschaften direkt und stehen in einem
direkten Kontakt mit den Dingen?
Der direkte Realismus ist die Gegenposition zum indirekten Realismus, der seit Descartes
modern ist, und setzt sich in den letzten 30/40 Jahren aufgrund der Kritik an der
Sinnesdatentheorie durch. Er behauptet, dass wir in der Wahrnehmung direkt die
physischen Gegenstände um uns und ihre Eigenschaften wahrnehmen (sehen, hören,…).
Es gibt verschiedene Versionen des direkten Realismus, die den direkte Zugang zu den
äußeren Gegenständen auf unterschiedliche Weise erklären: Intentionalismus vs. Naiver
Realismus / Relationalismus.
Alle Varianten des direkten Realismus postulieren, dass wir direkt physische Gegenstände
und deren Eigenschaften wahrnehmen, und lehnen daher die Annahme von Sinnesdaten als
Gegenstände der Wahrnehmung ab. Wir haben ein Bewusstsein von gewöhnlichen
Gegenständen, ohne ein Bewusstsein mentaler Gegenstände zu haben.
Welche Argumente gibt es dafür? Das intuitive Hauptargument besteht sicherlich darin, dass
wir subjektiv nicht den Eindruck haben, innere Gegenstände zu sehen. Entsprechend
unserem phänomenalen Eindruck scheinen wir direkt äußere Dinge zu sehen, nicht innere
Gegenstände oder mentale Zustände.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit introspektiv auf die innere Erfahrung der Wahrnehmung
richten, scheinen wir wieder nur äußere Gegenstände und ihre Eigenschaften zu sehen. Die
innere, subjektive Erfahrung ist durchsichtig/transparent und nicht wahrnehmbar:
G. E. Moore („The Refutation of Idealism“ 1899): „the moment we try to fix our attention
upon consciousness and to see what, distinctly, it is, it seems to vanish: it seems as if we had
before us a mere emptiness. When we try to introspect the sensation of blue, all we can see is
the blue: the other element is as if it were diaphaneous“
Das subjektive Bewusstsein ist introspektiv nicht zugänglich – man sieht wieder nur die
physische Eigenschaft. Und wenn wir unsere Erfahrungen beschreiben, beschreiben wir
wieder nur die äußeren Gegenstände und ihre Eigenschaften; wir sprechen nicht über innere
Zustände sondern über physische Gegenstände:
Seite 51
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Es gibt Gegenargumente gegen den direkten Realismus (vgl. Hume). Diese scheinen bei
genauerer Betrachtung nicht unbedingt plausibel bzw. contra-intuitiv und werden vom
direkten Realismus verworfen.
Der direkte Realismus verwirft diese Annahme der epistemischen Asymmetrie und
meint, dass wir auch ein unmittelbares Bewusstsein von äußeren Gegenständen haben
können. Tatsächlich ist auch unser Wissen über äußere wahrnehmbare Zustände oft
verlässlicher und besser überprüfbar als jenes über innere Zustände (z.B. Ist man sich
seiner eigenen Gefühle oft weniger sicher als der visuellen Sinneseindrücke).
Kausales Argument
Der direkte Realismus verwirft das kausale Argument, wonach unsere perzeptuelle
Erfahrung am Ende einer Kausalkette vom Gegenstand zum mentalen Zustand der
Sinneserfahrung steht und diese Kausalkette nicht überspringen kann, indem sie sich
direkt auf den Gegenstand bezieht.
Seite 52
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Dieses Argument ist für den direkten Realismus schwerer zu entkräften als die anderen,
ist aber abhängig davon, wie man sekundäre Qualitäten erklärt. Man kann z.B. betonen,
dass die sekundären Qualitäten identisch mit physikalischen Eigenschaften sein können
(z.B. Eine bestimmte Rotwahrnehmung entspricht einer bestimmten Wellenlänge). Oder
man betont, dass die sekundären Qualitäten intuitiv die Eigenschaften von äußeren
Dingen, aber nicht die Eigenschaften von inneren Erfahrungen zu sein scheinen – auch
wenn man nicht erklären kann, wie genau sie entstehen.
Wesentlich in der Argumentation ist, dass diese Repräsentation selbst nicht für uns
wahrnehmbar ist, nicht bewusst wird; sie ist keine „konkrete Sache“ wie z.B. eine Idee, ein
Symbol, ein Wort,..., sondern am ehestens als Gehirnzustand zu betrachten.
Der Intentionalismus nimmt im allgemeinen das Prinzip des gemeinsamen Faktors an.
Ununterscheidbare veridische Wahrnehmungen und Sinnestäuschungen werden auf
dieselbe Weise, durch dieselbe Erfahrung erklärt. Die Erfahrung repräsentiert in jedem Fall
dieselben Dinge oder Eigenschaften, denselben propositionalen Inhalt (z.B. Ich sehe eine
weiße Wand <Wand, Weiß>; Ich sehe eine gelbe Wand als weiß <Wand, Weiß>).
Seite 53
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Wesentlich für die Diskussion ist die Unterscheidung von phänomenalen und intentionalen
Eigenschaften von Sinneserfahrungen. Phänomenale Eigenschaften zeigen an, welches
qualitatives Erlebnis man hat, wenn man die Erfahrung hat (z.B. die Qualität eines Rot-
Erlebnisses), während intentionale Eigenschaften sagen, worauf sich eine Erfahrung bezieht,
was sie anzeigt (z.B. einen roten Tisch). Der Intentionalismus will sowohl die phänomenalen
als auch die intentionalen Eigenschaften der perzeptuellen Erfahrung erklären. Dabei sind
zwei grundsätzliche Erklärungsstrategien möglich:
Manche Versionen des Intentionalismus gehen vom Inhalt aus und erklären zunächst den
Inhalt der Erfahrung unabhängig von den phänomenalen Eigenschaften. Die
phänomenalen Eigenschaften werden dann aus dem Inhalt erklärt: Ist der Inhalt
gegeben, werden dadurch die phänomenalen Eigenschaften festgelegt.
Die zweite, vom Inhalt ausgehende Strategie geht davon aus, dass der Inhalt einer
Wahrnehmung durch Kausalrelationen festgestellt werden kann. Welche Ursachen
verursachen welchen Wahrnehmungsinhalt?
Seite 54
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die Natur des propositionalen Inhalts – Was ist der propositionale Inhalt?
Es gibt zwei wesentliche Auffassungen, worin die Proposition besteht, die durch die
perzeptuelle Erfahrung ausgedrückt wird:
Russell´scher Inhalt: Die Proposition besteht aus dem Gegenstand G, der Eigenschaft F
und einer Relation, die F G zuschreibt, oder aus einem Bündel von Eigenschaften.
Aus dieser Annahme ergibt sich im Zusammenhang mit Halluzinationen ein Problem: Da
in diesem Fall kein Gegenstand vorhanden ist, kann der Gegenstand nicht Teil des Inhalts
sein. Da aufgrund des Prinzip des gemeinsamen Faktors der Inhalt im Fall der veridischen
Wahrnehmung und der Halluzination derselbe sein soll, kann auch im veridischen Fall
kein Gegenstand Teil des Inhalts sein. Es wird daher meist angenommen, dass nur
Eigenschaften Teil des Inhalts sind – diese sind ja Universalien, müssen im Gegensatz zu
Gegenständen nicht instanziert sein, damit sie repräsentiert werden können.
Frege´scher Inhalt: Die Proposition ist eher mit einem Gedanken vergleichbar, enthält
nicht Gegenstände und Eigenschaften, sondern Arten der Gegebenheit von
Gegenständen und Eigenschaften.
Die Art der Gegebenheit des Gegenstandes oder der Eigenschaft kann erklären, dass
derselbe Gegenstand in der Wahrnehmung auf verschiedene Weise erscheinen kann (z.B.
unter verschiedener Perspektive, Beleuchtung,…). In einer Proposition kann uns derselbe
Gegenstand mit seinen Eigenschaften auf verschiedene Arten gegeben werden:
„Eiffelturm“, „der höchste Turm von Paris“, „der metallene Turm an der Seine“,…
Ist der propositionale Inhalt der perzeptuellen Erfahrung, der Wahrnehmung derselben Art
wie jener in Überzeugungen bzw. ist er begrifflich – oder nicht? Überzeugungen bestehen
aus Begriffen: Ich kann nur dann die Überzeugung haben, dass dieser Tisch groß ist, wenn ich
die Begriffe „Tisch“ und „groß“ habe. Ich kann aber den Tisch sehen, ohne den Begriff
„Tisch“ zu haben. Wir können insgesamt viel mehr Eigenschaften wahrnehmen, als wir
Begriffe haben (z.B. sichtbare Farbschattierungen vs. Farbbegriffe). Diese Überlegungen
sprechen eigentlich dafür, dass Wahrnehmung nicht-begrifflich ist, und es gibt mehrere
entsprechende Theorien des nicht-begrifflichen Inhalts:
Tye (1995): Der Inhalt der Wahrnehmung entspricht einem feinem Raster über dem
visuellen Blickfeld. Jede Einheit/Zelle des Rasters hat eine Farbe, Textur, Distanz,
Orientierung,...
Peacocke (1992): Der Inhalt ist wie eine Szenerie (=Szenario-Inhalt) und definiert jeden
Punkt durch seine Distanz und Richtung vom wahrnehmenden Subjekt und seine
Eigenschaften (Farbe, Textur,…).
Burge (2010): Der Inhalt der Wahrnehmung ist wie der Inhalt eines Bildes. Er ist nicht
begrifflich und nicht propositional, da Propositionen sehr stark an sprachlichen
Strukturen orientiert sind.
Seite 55
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
McDowell (1994) argumentiert gegen den nicht-begrifflichen Inhalt und somit für einen
begrifflichen Inhalt der Wahrnehmung:
1. Überzeugungen haben begrifflichen Inhalt.
2. Überzeugungen werden (häufig) durch Wahrnehmungen gerechtfertigt.
3. Zustände mit begrifflichem Inhalt können nur durch andere Zustände mit begrifflichen
Inhalt gerechtfertigt werden.
4. Daher muss die Wahrnehmung begrifflichen Inhalt haben.
McDowell nimmt an, dass der Inhalt der Wahrnehmung demonstrative Begriffe (z.B. dieser
Tisch, dieses Rot,…) enthält und diese so reichhaltig sind wie unsere Wahrnehmung (z.B.
dieses Rot bezeichnet Rot46). Gegen diese Annahme spricht, dass man eigentlich nur dann
von Begriffen sprechen kann, wenn man sie mehrmals anwenden kann. Man muss den
Begriff dieses Rot mehrmals anwenden können, d.h. dasselbe Rot wieder erkennen können –
dies scheint tatsächlich aber nicht der Fall zu sein.
Epistemische Konsequenzen
Der Inhalt der Wahrnehmung kann direkt Überzeugungen über äußere Gegenstände und
Eigenschaften rechtfertigen (im Gegensatz zur Sinnesdatentheorie).
Falls der Inhalt begrifflich ist, kann die Wahrnehmung denselben Inhalt wie Überzeugungen
haben und dieser kann Überzeugungen leicht rechtfertigen.
Für den naiven Realismus hat die Sinneserfahrung keinen intentionalen Inhalt und kann
folglich nicht wahr/falsch sein. Die phänomenalen Eigenschaften der Erfahrung werden
direkt durch die Eigenschaften des Gegenstandes erklärt (z.B. erklärt die Eigenschaft „Weiß“
des Gegenstandes vor mir die phänomenale Qualität meiner Erfahrung, mein Weiß-Erlebnis).
Seite 56
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Es gibt einige Argumente für den naiven Realismus und für das Verwerfen der Idee der
Repräsentation:
Singularität: Wenn ich einen Gegenstand G sehe, dann sehe ich diesen bestimmten
singulären Gegenstand, keinen anderen. Der naive Realismus kann dies erklären: Ich
stehe in Relation zu diesem bestimmten Gegenstand und habe eine Erfahrung von
diesem bestimmten Gegenstand. Der Intentionalimus kann nur erklären, warum ich das
Bündel von Eigenschaften repräsentiere, die dieser Gegenstand (oder ein anderer) hat –
der Gegenstand selbst ist ja nicht Teil des Inhalts, der Proposition (vgl. Prinzip des
gemeinsamen Faktors). Tatsächlich haben wir ja z.B. Wissen über eine bestimmte Person
und nicht über eine Person mit diesen Eigenschaften.
Präsenz: In der Wahrnehmung habe ich das Gefühl, dass das, was ich sehe, tatsächlich
vorhanden ist. Für den naiven Realismus stehe ich tatsächlich in Relation zu dem
Gegenstand und dies ist die beste Erklärung des Gefühls der Präsenz. Im Intentionalismus
hat die Erfahrung immer denselben Inhalt; unabhängig davon, ob der Gegenstand
präsent ist oder nicht (Halluzination). Der intentionale Inhalt kann somit das Gefühl der
Präsenz nicht erklären.
Sinnestäuschungen sind ein Problem für den naiven Realismus: Wie kann es mir scheinen, als
wäre hier eine Eigenschaft F, wenn tatsächlich hier keine Eigenschaft F ist?
Eine Möglichkeit zu erklären, warum z.B. der weiße Tisch aufgrund der rötlichen
Beleuchtung rötlich erscheint, ist der Ansatz zu sagen, dass in diesem Fall tatsächlich eine
Relation zu etwas Rotem, nämlich der Beleuchtung, besteht. Die Eigenschaft Rot ist in der
Beleuchtung vorhanden.
Sinnestäuschungen wie jene von Müller-Lyer (Brewer 2008) werden folgendermaßen erklärt:
1. Ich habe eine Sinneserfahrung von zwei gleich langen Linien.
2. Meine Erfahrung ist sehr ähnlich wie jene von zwei leicht unterschiedlich langen Linien.
3. Ich glaube/urteile, dass ich eine Erfahrung von unterschiedlich langen Linien habe.
4. Meine Überzeugung über meine Sinneserfahrung ist falsch.
Der Irrtum liegt nicht in der Erfahrung/Wahrnehmung – wo er ja per definitionem nicht
liegen kann –, sondern in der Überzeugung, im Urteil über meine Erfahrung.
Epistemische Konsequenzen
Der naive Realismus kann erklären, wie wir Wissen über singuläre Gegenstanden erlangen.
Seite 57
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Conclusio/Fazit
Für den direkten Realismus präsentiert uns die Erfahrung direkt die gewöhnlichen
Gegenstände und deren Eigenschaften.
Der direkte Realismus kann Überzeugungen direkt rechtfertigen, ohne dass wir von inneren
Zuständen auf äußere schließen müssen.
Der Intentionalismus und der naive Realismus haben unterschiedliche Vorteile bei der
Rechtfertigung verschiedener Arten von Überzeugungen.
Seite 58
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Disjunktivismus
Fragestellung: Haben zuverlässige Wahrnehmungen und Sinnestäuschungen bzw. Halluzinationen einen
unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Status, auch wenn sie subjektiv ununterscheidbar sind?
Der Disjunktivismus verwirft das Prinzip eines gemeinsamen Faktors bei ununterscheidbaren
veridischen und täuschenden (= Sinnestäuschungen & Halluzinationen) Sinneserfahrungen.
Er vertritt die Auffassung, dass subjektiv ununterscheidbare Sinneserfahrungen dennoch
verschiedene Erfahrungen sind und daher verschiedene erkenntnistheoretische
Konsequenzen bzw. einen unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Status haben können:
die einen können Überzeugungen rechtfertigen, während die anderen das nicht tun.
Zur Erinnerung/Präzisierung: Eine Sinnestäuschung liegt vor, wenn es mir scheint, als hätte
der Gegenstand X die Eigenschaft P, der Gegenstand X aber nicht die Eigenschaft P, sondern
die Eigenschaft Q hat. Eine Halluzination liegt vor, wenn es mir scheint, als hätte der
Gegenstand X die Eigenschaft P, obwohl kein Gegenstand X vorhanden ist (z.B. Träume,
Nachbilder, Visionen,…). Halluzinationen umfassen in diesem Verständnis also mehr als im
alltäglichen Sprachgebrauch bzw. in der Psychologie darunter verstanden wird.
Laut Disjunktivismus gibt es für eine Wahrnehmung immer zwei disjunktive Erklärungen:
Wenn es mir scheint, dass ich eine Wahrnehmung/eine Sinneserfahrung eines Gegenstandes
oder einer Eigenschaft P habe, dann sehe ich entweder tatsächlich P oder ich halluziniere,
dass P. Ich habe entweder eine perzeptuelle Erfahrung (von P) oder eine Halluzinations-
Erfahrung (von P). Es sind also verschiedene Erklärungen des subjektiven Eindrucks möglich.
Der Disjunktivismus verwirft, dass die Erfahrung im guten Fall und die Erfahrung im
schlechten Fall derselben Natur sind. Worin besteht nun der Unterschied? Die Erfahrung, der
mentale Zustand kann von fundamental unterschiedlicher Art sein ( metaphysischer
Disjunktivismus) oder unterschiedliche mentale Eigenschaften haben (z.B. unterschiedlicher
Inhalt Disjunktivismus des Inhalts, unterschiedlicher phänomenaler Charakter
Phänomenaler Disjunktivismus).
Der naive Realismus impliziert zwingend den Disjunktivismus, da er postuliert, dass wir bei
der Erfahrung veridischer Wahrnehmung in direktem Kontakt mit dem Gegenstand P stehen.
Da bei Halluzinationen kein Gegenstand P vorhanden ist, kann die Erfahrung kein direkter
Kontakt mit dem Gegenstand sein und es ist eine andere Erfahrung als Erklärung notwendig.
Seite 59
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die folgende Version des kausalen Arguments ist der Haupteinwand gegen den
Disjunktivismus (Robinson 1993):
1. Äußere Gegenstände P verursachen durch eine kausale Kette bestimmte
Zustände/Prozesse im Gehirn.
2. Dieselben Zustände/Prozesse im Gehirn können auch auf eine alternative Weise
hervorgerufen werden (z.B. künstliche Stimulation des Gehirns).
3. Dieselben Gehirnprozesse müssen dieselbe Erfahrung hervorbringen, auch wenn kein
äußerer Gegenstand P vorhanden ist.
Aus dieser Argumentation wird geschlossen, dass bei der veridischen Wahrnehmung (Sehen
von P) und der nicht-veridischen Wahrnehmung (Halluzination von P) dieselbe Erfahrung
vorhanden ist.
Eines der wichtigsten Motive für den Disjunktivismus ist, dass er eine Antwort auf skeptische
Argumente gibt bzw. versucht, diese auszuhebeln (McDowell 1994, 1998): Da wir in der
Wahrnehmung und der Halluzination unterschiedliche Erfahrungen haben, können diese
Erfahrungen eine unterschiedliche Rolle in der Rechtfertigung unserer Überzeugungen
spielen.
Der Disjunktivismus verwirft Punkt (3) und postuliert, dass diese Erfahrungen eben nicht
dieselben sind: Wenn ich P sehe, bin ich gerechtfertigt zu glauben, dass hier P ist. Wenn ich P
halluziniere, bin ich es nicht.
Das Problem besteht nun natürlich darin, dass dagegen eingewendet werden kann, dass
man – da die veridische Wahrnehmung und die Halluzination ununterscheidbar sind – nie
wissen kann, ob man gerade P sieht oder P nur halluziniert. Das erkenntnistheoretische
Problem ist somit trotz Disjunktivismus nicht gelöst. Wright (2002) formuliert dies so:
1. Wenn ich den Gegenstand P sehe, dann ist vor mir ein Gegenstand P.
2. Ich habe keinen Grund zu glauben, dass ich gerade P sehe – denn genauso gut könnte ich
P halluzinieren.
3. Ich bin nicht gerechtfertigt zu glauben, dass vor mir der Gegenstand P ist.
Alle Versionen des Disjunktivismus verwerfen, dass die Erfahrung im guten Fall und die
Erfahrung im schlechten Fall derselben Natur sind. Sie unterscheiden sich darin, worin sie
den Unterschied sehen.
Epistemischer/Erkenntnistheoretischer Disjunktivismus
Der epstemische Disjunktivismus ist kein echter Disjunktivismus, da er nicht ausschließt, dass
die Erfahrung gleich ist. Er geht von folgenden beiden Möglichkeiten der
Wahrnehmungserfahrung aus: Wenn es Subjekt S so scheint, dass P, dann kann Subjekt S
entweder wissen, dass P, oder wissen, dass es ihm erscheint, dass P. Die
(ununterscheidbare) Erfahrung versetzt S erkenntnistheoretisch in eine dieser beiden
disjunktiven Situationen. Subjekt S hat in beiden Fällen dieselbe Erfahrung, die aber wegen
unterschiedlicher kausaler Verbindungen unterschiedliche erkenntnistheoretische Folgen
hat.
Metaphysischer Disjunktivismus
Für den metaphysischen Disjunktivismus ist die subjektiv ununterscheidbare Erfahrung in der
veridischen Wahrnehmung und in der Halluzination von einer fundamental
unterschiedlichen Art. Bei der veridischen Wahrnehmung ist der gesehene Gegenstand eine
Komponente der Erfahrung, während bei der Halluzination die Erfahrung keinen Gegenstand
enthält und somit keine Wahrnehmungserfahrung ist.
Martin (2004): „No experience like this, no experience of fundamentally the same kind,
could have occured had no appropriate candicate for awareness existed“
Grundlage ist hier ein ganz spezifisches Verständnis von Erfahrung (Erfahrung = innerer
Zustand + äußerer Gegenstand), das im Gegensatz zur traditionellen philosophischen
Auffassung (Erfahrung = nur innerer Zustand) steht. Problem dieser Auffassung ist neben der
Plausibilität des Erfahrungsbegriffes die Frage, ob es sich nicht nur um eine andere Art der
Definition von Erfahrung handelt.
Seite 61
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Zwei subjektiv ununterscheidbare Sinneserfahrungen sind dann verschieden, wenn sie einen
unterschiedlichen Inhalt haben, d.h. wenn sie etwas Verschiedenes repräsentieren. Der
Vorteil dieser Position besteht darin, dass sie erklären kann, wie veridische Wahrnehmungen
genau den singulären Gegenstand repräsentieren können, den ich sehe – vergleichbar mit
indexikalischen Ausdrücken.
Beispiel für den singulären Inhalt (Soteriou 2000): Ein roter Ball (A) ist links von mir. Da ich
eine verzerrende Brille trage, sehe ich den roten Ball direkt vor mir. Tatsächlich liegt direkt
vor mir ein anderer roter Ball (B). Während in diesem Szenario der nicht-singuläre Inhalt <Ein
roter Ball ist vor mir> wahr ist – und sicherlich dennoch intuitiv als falsch betrachtet wird –,
ist der singuläre Inhalt <Der rote Ball A ist vor mir> falsch.
Die Erfahrungen eines Objekts (Ball A) und eines anderen Objekts (Ball B) können subjektiv
ununterscheidbar sein, aber dennoch etwas anderes repräsentieren, einen
unterschiedlichen Inhalt haben. Der singuläre Inhalt kann mein Wissen über spezifische,
singuläre Gegenstände erklären.
Der Disjunktivismus des Inhalts erlaubt, solche Fälle und ihre Wahrheit/Falschheit besser
darzustellen und zu unterscheiden und zu rechtfertigen/erklären, warum wir Wissen über
singuläre Gegenstände haben.
Phänomenaler Disjunktivismus
Das Problem besteht darin, wie zwei Erfahrungen einen unterschiedlichen phänomenalen
Charakter haben können, obwohl wir sie subjektiv nicht unterscheiden können, sie also
ununterscheidbar sind (= Grundannahme des Disjunktivismus!).
Wichtigste Motivation für die Annahme des phänomenaler Disjunktivismus ist der naive
Realismus.
Es ist insgesamt in der Philosophie ein großes Problem, die phänomenalen Eigenschaften
einer Erfahrung wie z.B. das Rot-Erlebnis zu erklären – weder sind die Wellenlängen in der
Natur rot, noch gibt es einen roten Gehirnzustand. Für den naiven Realismus erklärt der
„direkte Kontakt“ mit einem externen Gegenstand mit der Eigenschaft rot erklärt, warum ich
einen Rot-Eindruck habe. Wenn ich aber etwas Rotes halluziniere, muss ich eine andere
phänomenale Erfahrung haben, da nichts Rotes vorhanden ist.
Seite 62
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Der positive Disjunktivismus (z.B. Johnston 2004) gibt eine positive Erklärung des
Unterschieds Wahrnehmung/Halluzination: In der Wahrnehmung stehe ich in Kontakt zu
einem physischen Gegenstand, in der Halluzination stehe ich in Kontakt zu einem nicht-
physischen Gegenstand.
Laut Johnston hat ein Gegenstand ein „Profil von Qualitäten und Relationen“. Bei einer
Wahrnehmung steht man in Kontakt mit dem Profil und mit dem Gegenstand. Allerdings
kann man (z.B. bei einer Halluzination) auch dann in Kontakt zu dem Profil stehen, wenn der
Gegenstand nicht vorhanden ist. Das Profil (bzw. seine Eigenschaften) ist in diesem Fall nicht
in einem Gegenstand realisiert/instanziiert.
Bei der positiven Erklärung von Halluzinationen ergibt sich lt. Martin (2004) das Problem der
Abschirmung („Screening off“): Jede positive Erklärung der Halluzination erklärt, warum in
der Erfahrung bestimmte Eigenschaften erscheinen, und kann somit auch erklären, warum
diese Eigenschaften in der veridischen Wahrnehmung erscheinen. Folglich brauchen die
tatsächlichen Eigenschaften des Gegenstandes gar nicht herangezogen zu werden, um
Erfahrungen im veridischen Fall zu erklären. Die Erklärung der Halluzination schirmt die
Erklärung durch den tatsächlichen Gegenstand ab.
Der negative Disjunktivismus (Martin 2004) postuliert, dass eine positive Erklärung von
Halluzinationen nicht notwendig ist und dass es ausreicht, zu wissen, dass sie von
veridischen Wahrnehmungen ununterscheidbar sind. Da wir nicht alle Aspekte unserer
phänomenalen Erfahrung erkennen, können zwei Erfahrungen subjektiv ununterscheidbar
sein, aber dennoch unterschiedlichen phänomenalen Charakter haben. Dadurch wird
verhindert, dass ein Abschirmungsargument schlagend wird.
Seite 63
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Erfahrungen einer anderen Art sind. In der Wahrnehmung zeigt sich eine Tatsache. Diese
muss vorhanden sein, um sich zu zeigen. In Halluzination und Täuschung ist keine Tatsache
vorhanden, die sich zeigt. Es sind daher andere Arten der Erfahrung.
Schwieriger wird es mit Farben: Jeder Gegenstand hat laut Wahrnehmung unterschiedliche
Farbschattierungen in verschiedenen Beleuchtungen. Tatsächlich sind wir (laut direktem
Realismus) immer mit derselben Farbe, nämlich der tatsächlichen Farbe des Gegenstandes,
in Kontakt. Halten wir jedes Mal unsere Farberfahrung für eine andere Erfahrung als sie ist?
Das Problem dieser Erklärung besteht auch darin, dass offen bleibt, wieso wir z.B. bei der
Müller-Lyer-Täuschung die Erfahrung immer noch fälschlicherweise für eine Erfahrung von
gleichlangen Linien halten, obwohl wir gelernt haben, dass dies falsch ist.
Conclusio/Fazit
Die Erfahrung in der Wahrnehmung kann Überzeugungen rechtfertigen, auch wenn diese
Erfahrungen von jenen der Täuschungen/Halluzinationen nicht unterscheidbar sind.
Seite 64
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Inhalt dieser Sitzung sind jene drei neuen Versionen des Fundationalismus, die grundlegende
Überzeugungen durch Wahrnehmung rechtfertigen.
Der Fundationalismus war seit den 1960ern für lange Zeit sehr unpopulär, erlebte aber in
den letzten Jahren eine Erneuerung.
Einer der Kritiker war/ist Sellars, der den „Mythos des Gegebenen“ mit folgender
Argumentation aufzeigt:
1. In unserer Erfahrung wird uns nichts unmittelbar gegeben – weder Sinnesdaten noch
äußere Gegenstände.
2. Unsere Erfahrungen sind nicht propositional, haben keinen propositionalen Inhalt. Sie
können daher keine Überzeugungen (propositionale Einstellungen) rechtfertigen,
sondern wirken nur kausal bzw. verursachend auf Überzeugungen.
3. Kausale Relationen können nicht die epistemische Relation der Rechtfertigung erklären.
4. Unsere Erfahrung sind fallibel und korrigierbar.
Im Gegensatz dazu postuliert der neue Fundationalismus (und auch die beiden anderen hier
vorgestellten Positionen), dass zwar die Erfahrung selbst keine Überzeugung ist, aber
dennoch ein mentaler Zustand mit propositionalem Inhalt. Aufgrund dieses Inhalts, der
bestimmte Zustände der Welt, z.B. dass der Gegenstand X die Eigenschaft P, repräsentiert,
kann sie Überzeugungen rechtfertigen. Die neuen Versionen des Fundationalismus setzen
also die intentionale Theorie der Wahrnehmung voraus.
Seite 65
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
BonJour meint dazu, dass einerseits aufgrund der nicht-begrifflichen Überzeugung beurteilt
werden kann, ob die Beschreibung in der Überzeugung wahr ist, und andererseits der
Zugang zum nicht-begrifflichen Inhalt der Erfahrung unabhängig von der (begrifflichen)
Beschreibung gewährleistet sein muss, da es andernfalls zu einer Schleifenbildung kommt.
Problematisch ist auch, dass hier nur die Überzeugungen über mentale Zustände und deren
Inhalt grundlegend und somit verlässlich/wahr sind, aber nicht Überzeugungen über äußere
Gegenstände. Überzeugungen über äußere Gegenstände müssen (durch induktive und/oder
abduktive Inferenzen) aus den grundlegenden Überzeugungen über mentale Zustände
abgeleitet werden und sind daher nicht grundlegend. Dieser Fundationalismus ist also auf
innere Zustände beschränkt.
Ein weiteres Problem des Fundationalismus nach BonJour besteht darin, dass er an der
Unfehlbarkeit der grundlegenden Überzeugungen festhält: Der Inhalt der Erfahrung wird
unmittelbar durch den phänomenalen Charakter der Erfahrung angegeben. Da man sich
über diese phänomenale Erscheinung nicht irren kann, kann man sich auch nicht über ihren
Inhalt irren. Auch die Überzeugung über den Inhalt der mentalen Erfahrung ist somit
unfehlbar.
Seite 66
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Das ist fragwürdig. Denn es gibt reale Beispiele für die Fehlbarkeit der Überzeugungen über
unsere Wahrnehmungszustände, für die Fehleinschätzung des phänomenalen Eindrucks:
Blinder Fleck – Auch bei Wahrnehmung mit einem Auge sehen wir ein komplettes Bild,
obwohl eigentlich ein blinder Fleck (= Einmündung des Sehnervs) existiert.
Periphere Farbwahrnehmung – Wir haben den Eindruck auch am Rand des Gesichtsfelds
Farben wahrzunehmen, obwohl dies tatsächlich nicht so ist.
Farbwahrnehmung im Traum – Während in den 40er/50er-Jahren die Menschen
angeben, schwarz-weiß zu träumen, sagen sie heute, in Farben zu träumen; es liegt der
Verdacht nahe, dass wir glauben, so wie im Film zu träumen, und unsere Erfahrung durch
die zeitgenössischen Medien beeinflusst wird.
Der Dogmatismus nimmt an, dass es so etwas wie unmittelbare Rechtfertigung einer
Überzeugung gibt; d.h. diese ist gerechtfertigt, ohne durch eine andere Überzeugung
gerechtfertigt zu werden. Weiters kann lt. Dogmatismus eine Sinneserfahrung mit
propositionalem Inhalt meine Überzeugung unmittelbar rechtfertigen (z.B. Meine
Wahrnehmung mit dem Inhalt „Hier ist ein weißer Tisch“ kann unmittelbar meine
Überzeugung über diesen Tisch in der Außenwelt rechtfertigen.).
Die These des Dogmatismus über perzeptuelle Rechtfertigung besagt: Wenn Subjekt S eine
Wahrnehmung hat, dass P, dann ist S gerechtfertigt zu glauben, dass P. Habe ich z.B. die
visuelle Erfahrung meiner Hand, bin ich gerechtfertigt zu glauben, dass ich eine Hand habe.
Seite 67
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die zentrale Motivation für den Dogmatismus ist die Argumentation gegen den Skeptizismus
bzw. das Abwenden des Skeptizismus. Das zentrale skeptisches Argument lautet:
1. Wenn ich weiß, dass ich eine Hand habe, dann weiß ich, dass die skeptische Hypothese,
dass ich ein Gehirn im Tank bin, falsch ist.
2. Ich weiß nicht, dass die skeptische Hypothese falsch ist bzw. dass ich kein Gehirn im Tank
bin.
3. Daraus folgt (per modus tollens): Ich kann nicht wissen, ob/dass ich eine Hand habe.
Dieses skeptische Argument beruht auf folgendem skeptischen Prinzip bezüglich des Wissens
bzw. der Rechtfertigung: Um P zu wissen (z.B. aufgrund einer Erfahrung E), muss man zuvor
wissen, dass jedes der skeptischen Szenarien falsch ist. Um gerechtfertigt zu sein, P zu
glauben, muss man zuvor gerechtfertigt sein, zu glauben, dass jedes der skeptischen
Szenarien falsch ist.
Das skeptische Prinzip fordert also, dass eine Überzeugung A (z.B. dass ich eine Hand habe)
nur dann gerechtfertigt ist, wenn man andere gerechtfertigte Überzeugungen hat (z.B. dass
ich kein Gehirn im Tank bin). Die Rechtfertigung der perzeptuellen Überzeugung A hängt von
der Rechtfertigung anderen Überzeugungen ab. Dies verwirft der Dogmatismus:
Überzeugung A kann unmittelbar gerechtfertigt sein.
Ein Einwand gegen den Dogmatismus ist die sogenannte Theorie-Geladenheit der
Wahrnehmung. Danach kann meine Überzeugung nicht unmittelbar durch die
Wahrnehmung gerechtfertigt sein, wenn die Wahrnehmung selbst von anderen
Überzeugungen beeinflusst wird. Tatsächlich wird unsere perzeptuelle Erfahrung (teilweise)
durch unsere Überzeugungen verändert; aber dies ist nicht immer so (z.B. Umsprungfiguren
wie Hase/Ente vs. optische Täuschungen wie Müller-Lyer).
Der pänomenale Konservatismus nimmt an, dass eine Überzeugung P gerechtfertigt ist,
wenn wir eine phänomenale Erfahrung mit dem Inhalt P haben. Diese phänomenale
Erfahrung kann eine Wahrnehmung, eine Erinnerung, eine intellektuelle Intuition (z.B. es
scheint mir so, dass 1=1),… bzw. allgemein eine beliebige phänomenale Erscheinung
(„appearance“) sein.
Seite 68
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
P ist nicht gerechtfertigt, wenn es einen Defeater gibt. Dabei unterscheidet Huemer
zwischen verwerfenden und unterminierenden Defeatern:
Verwerfender Defeater = der Defeater widerspricht P (z.B. Wahrnehmungstäuschung:
Mir erscheinen Linien unterschiedlich lang, aber ich weiß, dass sie gleich lang sind).
Unterminierender Defeater = der Defeater unterminiert P (z.B. Ich sehe einen Tisch in
roter Beleuchtung. Ich weiß nicht, ob der Tisch rot ist, da meine phänomenale Erfahrung
hier nicht zuverlässig ist).
Auch diese Position ist anti-skeptisch motiviert. Der Skeptizismus über die Außenwelt
bezweifelt, dass ich aufgrund meiner inneren Wahrnehmungszustände etwas über die
Außenwelt wissen kann; ich kann nur etwas über innere Zustände wissen. Nach dem
phänomenalen Konservatismus scheint es mir in der Wahrnehmung, als gäbe es äußere
physische Objekte, als repräsentiere die Wahrnehmung äußere Gegenstände, und ich bin
daher gerechtfertigt anzunehmen, dass es äußere physische Objekte gibt.
Auch gegen den phänomenalen Konservatismus kann die Theoriegeladenheit (Siegel 2013)
vorgebracht werden: Ungerechtfertigte und/oder falsche Überzeugungen beeinflussen
unsere Wahrnehmung (z.B. Ich glaube, dass Hans wütend ist. → Ich nehme einen wütenden
Gesichtsausdruck bei Hans wahr.). Laut Konservatismus wäre diese Wahrnehmung dennoch
gerechtfertigt, da sie mir phänomenal so erscheint. Das ist natürlich problematisch.
Problematisch ist auch die Allgemeinheit des Begriffs Erscheinung („appearance“), der im
phänomenalen Konservatismus sehr viel umfasst: Wahrnehmung, Intuition, Einbildung,…?
Conclusio/Fazit
Der Fundationalismus erlebte eine Erneuerung durch die intentionale Theorie der
Wahrnehmung: Überzeugungen sind unmittelbar durch Wahrnehmungen mit einem
bestimmten Inhalt gerechtfertigt.
Der Fundationalismus in seinen verschiedenen Versionen ist ein zentrales Argument gegen
den Skeptizismus.
Für den Dogmatismus und den phänomenalen Konservatismus kann ich – im Gegensatz zum
Fundationalismus von BonJour – unmittelbare Rechtfertigung für meine Überzeugungen
über die Gegenstände der Außenwelt erlangen.
Seite 69
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Für den Fundationalismus von BonJour und den Konservatismus muss ich eine phänomenale
Erfahrung mit dem Inhalt P haben, um P zu glauben. Für den Dogmatismus reicht es, wenn
ich den Wahrnehmungszustand mit Inhalt P habe, selbst wenn dieser Zustand unbewusst
wäre, also ohne phänomenalen Charakter.
Seite 70
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Themen, die aktuell in der Psychologie untersucht und in der Philosophie der Wahrnehmung
breit diskutiert werden, zeigen, wie komplex unsere Wahrnehmung eigentlich ist. Es geht
darin um das Verhältnis der Wahrnehmung …
zum Bewusstsein Gibt es unbewusste Wahrnehmung?
zur Aufmerksamkeit Wie wichtig ist die Aufmerksamkeit für die Wahrnehmung?
zu anderen mentalen Zuständen bzw. zu sogenannten höheren kognitiven Zuständen
Können Überzeugungen, Begriffe,… unsere Wahrnehmung verändern/beeinflussen?
zu Handlungen
Per Definition sind für die Philosophie (Sinnes)Erfahrungen phänomenale Zustände und
somit bewusst – was impliziert, dass es keine unbewusste Wahrnehmung gibt. Tatsächlich
zeigen Experimente, dass wir manchmal Informationen durch unsere Sinnesorgane
bekommen, die nicht bewusst sind bzw. uns nicht bewusst werden, aber trotzdem von uns
verwendet werden. Folgende Phänomene/Beobachtungen sprechen dafür, dass es
unbewusste Wahrnehmungen gibt, also Wahrnehmungsprozesse, die nicht zu einer
phänomenalen Erfahrung führen:
Wird ein (visueller) Reiz sehr kurz, also unterschwellig präsentiert, wird er nicht bewusst
wahrgenommen. Dieser erste Reiz („prime“) beeinflusst dennoch die Reaktion auf einen
zweiten Reiz, z.B. das Erkennen eines Gegenstandes/Wortes erfolgt schneller/leichter
bzw. langsamer/schwerer in Abhängigkeit vom prime. Offensichtlich wird der erste Reiz
wahrgenommen, auch wenn er nicht bemerkt wird.
Manche Patienten, die in einer Hälfte ihres visuellen Feldes bewusst nichts wahrnehmen,
können dennoch auf die Information zugreifen, die ihnen in dieser „blinden“ Sehhälfte
präsentiert wird. Sie können Formen, Farben und/oder Bewegungen unterscheiden; sie
nehmen also wahr, ohne ein phänomenales Erlebnis zu haben.
Goodale und Milner arbeiten mit Patienten, die nach der Erblindung durch einen Unfall
bzw. eine Vergiftung zwar nichts sehen können, aber dennoch relativ zuverlässig Objekte
erfassen (z.B. Flasche ergreifen, obwohl diese nicht gesehen wird) oder in Gesten
orientieren können (z.B. Brief in einen Briefschlitz stecken, obwohl dessen Ausrichtung
nicht gesehen wird und zunächst keine Auskunft darüber gegeben werden kann). Sie
erklären dieses Phänomen durch die Annahme von zwei Verarbeitungsströmen der
visuellen Wahrnehmung: Der ventrale Strom dient dem bewussten Erkennen von
Gegenständen; der dorsale Strom dient der Steuerung von Gesten und Bewegungen und
die visuellen Informationen in diesem Verarbeitungsstrom sind/bleiben unbewusst.
Seite 71
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Die Wahrnehmungspsychologie weist nach, dass unsere Aufmerksamkeit nur auf einen
relativ geringen Bereich unseres Wahrnehmungsfeldes gerichtet ist. Vieles im zentralen
Bereich des Gesichtsfeldes wird nicht gesehen oder bemerkt. Beispiele dafür sind …
Veränderungsblindheit
= Wir sehen oder bemerken massive Veränderungen in unserem Gesichtsfeld nicht (z.B.
Anschlussfehler bei Filmschnitten wie z.B. Farbwechsel, fehlende Kleidungsstücke,
veränderte Positionen,…; Personenwechsel hinter einer vorübergehenden
Sichtbehinderung).
Unaufmerksamkeitsblindheit
= Wir sehen nur jene Ereignisse, auf die unsere Aufmerksamkeit z.B. aufgrund einer
Aufgabe unmittelbar gerichtet ist; andere Ereignisse sehen wir oft nicht, auch wenn sie
zentral im Gesichtsfeld stattfinden (z.B. Gorilla wird übersehen, wenn die Passes der
weiß gekleideten Basketballmannschaft gezählt werden sollen)
Wir haben offensichtlich keine vollständige Repräsentation, kein inneres Gesamtbild unseres
Gesichtsfeldes, sondern nur Repräsentationen von selektiven Bruchstücken. Eventuell
konstruieren wir überhaupt kein inneres Bild unserer Umwelt, sondern greifen nur auf jene
Details der Umwelt zu, die wir momentan brauchen, und es gibt keine innere Repräsentation
als gespeichertes Bild.
Weiters stellt sich die Frage, welche Rolle die Aufmerksamkeit in der Rechtfertigung unserer
Überzeugungen spielt und ob unaufmerksame Wahrnehmungen Überzeugungen
rechtfertigen können.
Eine kognitive Beeinflussung der Wahrnehmung besteht dann, wenn wir in zwei Fällen
denselben äußeren Stimulus haben und unsere Aufmerksamkeit auf dasselbe Objekt oder
denselben Teil des Objektes gerichtet ist, wir aber dennoch eine jeweils andere
Wahrnehmungserfahrung haben, die auf andere kognitive Zustände (Begriffe,
Überzeugungen, Wünsche,…) zurückzuführen ist.
Seite 72
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Indizien für die Beeinflussung der Wahrnehmung durch höhere kognitive Prozesse sind …
Farbsehen aus dem Gedächtnis – Versuchspersonen verändern den Farbton von Bildern
von Bananen, Salat, Karotten,… zu stark in Richtung der Komplementärfarbe, wenn sie
aufgefordert werden, diesen in neutrales Grau abzuschwächen; das Gedächtnis fügt bei
bekannten Objekten anscheinend die passende Farbe hinzu.
Fleckenbilder – Zunächst erkennt man nur Flecken, aber keine Dalmatiner; hat man ein
erstes Mal die Dalmatiner erkannt, kann man sie eigentlich nicht mehr nicht erkennen.
Der Enaktivismus geht weiters davon aus, dass Bewegungen konstitutiv für unsere
Wahrnehmungen sind und wir erst durch die Verbindung der Sinnesinformationen mit
Bewegungen lernen zu sehen.
Unsere Wahrnehmung ist lt. Enaktivismus eingebettet in Bewegungen: Wir nehmen nur
wahr, wenn wir die Objekte durch Bewegungen abtasten – sei es durch den Tastsinn oder im
Falle des Sehsinns durch Augenbewegungen.
Wir lernen, wie unsere Bewegungen den Sinnes-Input verändern, wie Bewegung und
Sinneswahrnehmung korrelieren (= „sensori-motorische Korrelationen“). Diese sensori-
motorischen Korrelationen müssen erlernt werden, sind konstitutiv für die Wahrnehmung
und erklären sowohl den Inhalt als auch den phänomenalen Charakter der Wahrnehmungen.
Verlieren wir das Wissen über diese sensori-motorischen Korrelationen, dann verlieren wir
die Fähigkeit wahrzunehmen.
Seite 73
Limbeck-Lilienau / VO Erkenntnistheorie
Blinde, die durch Katarrakt-Operationen nach langer Blindheit plötzlich wieder sehen
können: Diese sind am Anfang durch die visuellen Eindrücke vollkommen verwirrt und
lernen erst allmählich, ihre Sinneseindrücke zu verarbeiten, indem sie – laut Enaktivismus
– lernen, Sinneseindrücke und Bewegungen zu koordinieren lernen.
Tag 1 bis 3: Verkehrtes Sehen & Unsicherheit wie Fehler beim Greifen
Tag 3 bis 5: Aufrechtes Sehen bei guten Bedingungen & zunehmend bessere
Orientierung
Tag 6 bis 10: Dauernd aufrechtes Sehen & völlige Sicherheit im Verhalten
Abnahme der Brille: Rücklernprozess innerhalb weniger Minuten & Irritationen und
Wahrnehmungsstörungen auch noch nach einigen Tagen
Der Enaktivismus ist oft mit dem naiven Realismus verbunden: Erfahrung ist nicht nur ein
bewusster mentaler Zustand, sondern eine Interaktion mit den Gegenständen der Umwelt.
Die sensori-motorische Interaktion ist Teil der Sinneserfahrung und unser Wissen über die
sensori-motorischen Korrelationen ist konstitutiv für die Wahrnehmung.
Conclusio/Fazit
Wahrnehmung ist das Resultat komplexer Interaktion mit anderen mentalen Fähigkeiten
sowie Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Handlungen.
Die Philosophie der Wahrnehmung der letzten Jahre berücksichtigt zunehmend die
psychologischen Untersuchungen, die uns ein genaueres Bild dieser Interaktionen geben.
Seite 74