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Genie
(1,914 words)

1. De nition
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Der G.-Begri f, im 18. Jh. eine zentrale ästhetische
1. De nition
Kategorie, hat eine lange, noch ungenügend erforschte
Vorgeschichte. Schon die frühnzl. Poetik beschränkte sich 2. Geschichte des Begri fs im
nicht auf das Postulat der »Nachahmung« (lat. imitatio; 16. und 17. Jahrhundert
vgl. Mimesis), sondern würdigte in der komplementären 3. Geniekult im 18. und 19. 
Forderung nach einem schöpferischen »Wettstreit« mit Jahrhundert
klassischen antiken Vorbildern (lat. aemulatio) auch das
eigenständige künstlerische Scha fen. Die schöpferische
Anlage, speziell die göttliche Begabung eines »Mustergeists« zu Dichtung und Kunst, wurde in
der Ästhetik der Nz. mit dem Wortfeld G. (lat. genius, ingenium, genium) umschrieben. Der
Begri f Genius (von lat. genere bzw. gignere; »erzeugen«, »hervorbringen«) bezeichnete
ursprünglich einen persönlichen Schutzgeist (lat. genius familiaris); anfangs konnte er
metonymisch für die Person selbst stehen, bevor sich seine mythologische Bedeutung
zugunsten ästhetischer »Geschicklichkeit« (Johann Christoph Adelung 1796) verschob und er
sich semantisch mit dem lat. Abstraktum ingenium (»Naturanlage, Talent, Geist«) überschnitt.
Resultat dieses Bedeutungswandels ist die neutrale Mischform genium. Sie leitet zu franz. génie
über, das als Fremdwort Anfang des 18. Jh.s in Deutschland gebräuchlich wurde.

Achim Aurnhammer

2. Geschichte des Begri fs im 16. und 17. Jahrhundert

2.1. Frühneuzeitliche Genietheorie und neulateinische Lyrik

Die frühnzl. G.-Theorie fußt auf der antiken Au fassung vom göttlichen Ursprung der Poesie,
wie sie etwa der Florentiner Neuplatonismus ( Marsilio Ficino) vertrat [15. 281  f.]. Allerdings
konkurrierte das Konzept des genialen Seher-Dichters (lat. poeta vates) mit dem Ideal des
regelgerechten Rhetors (lat. poeta rhetor). Da Dichten als göttliche Gabe galt, wurde es von der
erlernbaren Rhetorik unterschieden. Dies bekundet das populäre Diktum: Poeta nascitur,
orator t (»Ein Dichter wird geboren, ein Redner wird [durch Übung] gemacht«, nach Florus). /
In den wichtigsten Poetiken der Renaissance ( Marco Girolamo Vida, De arte poetica, 1527;
»Über die Dichtkunst«; Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem, 1561; »Sieben Bücher über
die Dichtkunst«) stehen sich beide Dichtungsau fassungen noch unvermittelt gegenüber;
gleichwohl verständigte man sich allmählich auf den horazischen Kompromiss, dass erst ars
(»Kunst«) und ingenium (»Begabung«) zusammen den Dichter ausmachen. Doch wertete
Erasmus von Rotterdam in seinem Ciceronianus (1528) die Nachahmung ab zugunsten des
Genius, der individuellen Begabung.

Die Herausgabe des Pseudo-Longinus (Perí hýpsus biblíon, 1554; »Über das Erhabene«) durch
Francesco Robortello förderte in Form der »ekstatischen Begeisterung« den Kult des
natürlichen G. In Späthumanismus und Barock wurde sogar der göttliche Schöpfungsakt auf
den Dichter übertragen, der als alter deus (»zweiter Gott«) gefeiert wurde (Scaliger) [15]: eine
synkretistische Kombination der paganen Au fassung vom furor poeticus (»dichterische
Raserei/Begeisterung«) mit der christl. Inspiration durch den Heiligen Geist [12]; [13]. So bittet
Andreas Gryphius in An Gott den Heiligen Geist, dem programmatischen Einleitungsgedicht
seiner Sonette 1637, Gott als »Meister aller Kunst« um Inspiration: »Hil f daß ich doch nur
schau' / Ein Füncklein deiner Glutt! So bin ich gantz erleuchtet.«

In der Neulateinischen Dichtung behauptete sich die Vorstellung von einem persönlichen
Genius länger, beein usst durch das daimónion (innere Stimme) des Sokrates. So ho fte Jacob
Locher (Ad primum librum, 1512), man möchte dem »leichten Geist« seines poetischen
Erstlings gewogen sein. Paul Melissus Schede ehrt den »Genius« als numinose Macht, welche
»die Dichter erregt und in einen poetischen Rausch versetzt«, und beschwört diesen in einer
poetologischen Selbstvergewisserung (Ad Genium suum, 1586): Texe opus et pertexe, Geni
(»Webe das Werk weiter und vollende es, Genius!«) [7. 128 f.]; [9]. Die Vorstellung vom
göttlichen furor poeticus, der ein poetisches ingenium entzündet, ndet sich bei Joachim
Vadian ebenso wie in neulat. Jesuitenpoetiken (etwa Alexander Donatus, Ars poetica, 1632;
»Dichtkunst«). Dass die G.-Theorie in den akademischen Unterricht einging, bezeugt die
Vorlesung des Kieler Professors Daniel Georg Morhof De enthusiasmo seu furore poetico (1697;
»Vom Enthusiasmus oder der dichterischen Begeisterung«).

2.2. Der Geniebegri f in der volkssprachlichen Dichtung

Die G.-Theorie setzte sich auch in der volkssprachlichen Dichtung durch. So unterhält sich der
ital. Dichter Torquato Tasso in dem Dialog Il messaggiero (1582; »Der Bote«) mit seinem
göttlichen Genius, einem schönen Jüngling, über göttliche Erleuchtung und Inspiration auf
Erden. Im volksprachlichen Idiom wurde sogar die antike Daimon-Au fassung rezipiert. Dies
bezeugt der antonomastische Parallelismus zum Lob des franz. Dichters Alexandre Hardy:
»Quel Démon, quel puissant Génie« (»Welch' Dämon, welch' gewaltiges G.«) [11].

Auch die verspätete dt. Nationalliteratur hielt, ohne den Begri f selbst zu verwenden, an der
neuplatonischen G.-Au fassung fest. Zwar paraphrasierte Martin Opitz 1624 lediglich Joachim
Du Bellay, wenn er feststellte: »Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine
verborgene Theologie / und unterricht von Göttlichen sachen« [6. 14]. Doch zugleich etabliert
er einen Statusunterschied zwischen bloßen Verseschmieden und natürlich begabten
/
Dichtern: »Die worte und Syllaben in gewisse gesetze zue dringen … ist das allerwenigste was
in einem Poeten zue suchen ist. Er muß euphantasiotós, von sinnreichen einfällen und
er ndungen sein … muß hohe sachen bey sich erdencken können/ soll anders seine rede eine
art kriegen/ und von der erden empor steigen« [6. 18]. Die »Erleuchtung« des Dichters, die
Opitz fordert, verlegt das G. auf die Originalität, auf die inventio (» Er ndung«).

Im 16. Jh. wurde die schöpferische »Phantasie« zunehmend aufgewertet und systematisch mit
dem Enthusiasmus kombiniert. Damit ging eine Verengung des G.-Begri fs einher: Originelle
Er ndung und Einbildungskraft wurden zu den entscheidenden Kriterien. Diese Au fassung
etablierte Giordano Bruno, der in den De gl'heroici furori 1585 [1] die eigene Originalität
selbstbewusst rühmt, ästhetische Regeln dagegen ebenso selbstbewusst ablehnt. Bruno
verwirft die poetische Norm als ästhetischen Maßstab, indem er behauptet, ein wahres G. gebe
sich seine eigene Regeln: Es gibt »soviele Gattungen und Arten wahrer Regeln wie es
Gattungen und Arten wahrer Dichter gibt« [1. 27]. Damit verabschiedet Bruno die traditionelle
Regelpoetik zugunsten einer individuellen G.-Ästhetik, die um die Mitte des 18. Jh.s
dominierend werden sollte (Autonomieästhetik).

Auch der Widmungsempfänger von Brunos revolutionärer Schrift, Sir Philip Sidney, forcierte
den Zusammenhang von Inspiration und poetischer Kreativität. Ihm folgten die engl.
Dichtungstheoretiker; sie werteten die Phantasie und freie Er ndung zu maßgeblichen
Fähigkeiten des schöpferischen G. auf, während sie Nachahmung wie ästhetische Vorschriften
herabminderten: Imitari is nothing (»Nachahmen ist nichts«, William Shakespeare).

Um einen Ausgleich von Naturbegabung und Studium bemühten sich hingegen die roman.
Theoretiker. Zwar unterscheidet auch Baltasar Gracián im frühen 17. Jh. zwischen genio und
ingenio, rückt aber die »natürliche Stimme des Herzens« in ein komplementäres Verhältnis
zum »Verstand«. Daran schlossen die franz. Klassizisten an, welche die schöpferische
Irregularität des génie zum urbanen bel esprit (»Schöngeist«) zu dämpfen suchten. Doch
ungeachtet solcher Zähmungen des himmlischen Feuers beein usste die antirationalistische
Au fassung die G.-Debatte bis ins 18. Jh. Mochten auch engl. Vertreter des Rationalismus wie
Henry More und John Locke oder dt. Au lärer wie Christian Wol f und Johann Christoph
Gottsched den dichterischen Enthusiasmus zum »lebhaften Witz« säkularisieren, die
»Einbildungskraft« relativieren und das G. psychologisieren – so blieb doch ein irrationaler
Rest in den ingenium- und Geschmacks-Theorien erhalten [10].

Noch bevor die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger unter Rückgri f
auf das »Wunderbare« in John Miltons Paradise Lost (1667; »Das verlorene Paradies«) die
dichterische Phantasie des G. verteidigten, hatte Joseph Addison das G. zum antitraditionellen
Neuentdecker personalisiert und heroisiert. Dieser epochalen Aufwertung des »Natur-G.«
entspricht der grammatische Wandel von der früheren Form »G. haben« zur seit 1750 üblichen
Wendung »G. sein«. Sie erreicht ihre Verabsolutierung im »Original-G.«, das sich nach Edward
Young [8] oder William Du f [2] durch radikale schöpferische Neuerung, invention und
creation, auszeichne.

Achim Aurnhammer
/
3. Geniekult im 18. und 19. Jahrhundert

An diesen G.-Kult knüpft Friedrich Gottlob Klopstocks pathetische Subjektivierung des G. an,
welche um die Mitte des 18. Jh.s die dt. Literatur revolutionierte. In der Ausrufung
Shakespeares zum maßgeblichen »Natur-G.« manifestierte sich zugleich die kulturelle
Umorientierung des jungen Sturm und Drang vom franz. zum engl. Geschmack. Heinrich
Wilhelm von Gerstenberg pries gerade Shakespeares irregulären »beständige[n] Ton der
Inspiration … – das ist die Wirkung des G.« [3. 222]. Obwohl Johann Gottfried Herder bereits
Shakespeares G. historisch relativierte, hielt er an der überzeitlichen Geltung des
pantheistischen Gefühls in Shakespeares Dramen fest, in denen »Alles in der Seele zu Einem …
Ganzen wird« [5. 224].

Neben Shakespeare wurde der griech. Dichter Pindar als »regelloses« G.-Paradigma entdeckt.
Ihm sind Johann Wolfgang Goethes frühe Hymnen verp ichtet, die – wie der Prometheus (1774)
– den Künstler als autonomen second maker (»zweiten Schöpfer«, Shaftesbury) feiern. Der
antifranz. A front im G.-Kult des Sturm und Drang versperrte lange den Blick für die analoge
Entwicklung in Frankreich [14]. Wie auch dort in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s der nzl. G.-Kult
die klassische Dämpfung überwindet, zeigt Voltaires Génie-Artikel in seinem Dictionnaire
philosophique (1771). Wenn Voltaire darin völlige Freiheit für das génie forderte, antizipierte er
Denis Diderot. Dieser machte das génie in seiner bestimmenden Unbestimmtheit, dem je ne
sais quoi, zur paradoxen Geisteshaltung der modernen Ästhetik: Le génie ne connaît point les
règles; cependant il ne s'en écarte jamais dans ses succès (»Das Genie kennt keine Regeln; aber in
seinen Erfolgen missachtet es sie nie«; vgl. Abb. 1).

Indem man das G. verabsolutierte und von allen Regeln


entp ichtete, stellte sich die soziale Isolation des G.
zunehmend als Problem dar. Während Goethes
Schauspiel Torquato Tasso (1790) noch einen Kompromiss
zwischen Künstler und Gesellschaft inszeniert, forcieren
die Romantiker in der Chi fre des Wahnsinns den Bruch
des G. mit der philiströsen Normalität.

Die nachrevolutionäre Zeit verallgemeinerte den G.-


Gedanken zur »produktiven Kraft«, übertrug ihn auf die
Politik und legitimierte so charismatische Autokraten wie
Napoleon (Goethe im Gespräch mit Johann Peter
Eckermann am 11. März 1828). Dementsprechend wurde
Napoleons Tod in Europa als Ende der »G.-Epoche« und
Beginn der Epigonenzeit beklagt: Symptomatisch dafür
ist ebenso Alessandro Manzonis Ode Il cinque maggio
(1821; »Der fünfte Mai«) wie Franz Grillparzers Gedicht
Napoleon (1821), das mit dem Epitaph endet: »Er war zu Abb. 1: Johann Heinrich Meyer,
groß, weil seine Zeit zu klein!« Die zeitkritische Genius des Ruhms, 1794
Politisierung rückte das G. in der Folge in einen immer (Deckengemälde nach Annibale
/
größeren Gegensatz zum Bürger. So klagt Heinrich Heine: Carracci, 1588/89; wurde beim
»Für die Schönheit und das G. wird sich kein Platz nden Brand der Anna-Amalia-
in dem Gemeinwesen unserer neuen Puritaner« [4]. Die Bibliothek 2004 zerstört). Für
elitäre G.-Au fassung, die auch Arthur Schopenhauers das Vestibül des Römischen
Abwertung des gemeinen »Haufens« bekundet, Hauses in Weimar wünschte
antizipiert Friedrich Nietzsches Verachtung des Herzog Karl August eine Kopie
»Herdentiers«. von Carraccis Genius. Die
gegenüber dem Renaissance-
Verwandte Artikel: Ästhetik | Dichter | Einbildungskraft | Original neu angeordneten
Poetik ‖ Erstling Engel sind Ra faels »Sixtinischer
Madonna« nachempfunden.
Achim Aurnhammer
Goethe, der Meyer bei der
Ausführung beraten hatte,
Bibliography begrüßte die Ankunft des Genius
in Weimar »mit vieler Freude«
Quellen (1794).

[1] G. B , Von den heroischen Leidenschaften, übers. und hrsg. von Ch. Bacmeister, 1989
(Orig. 1585)

[2] W. D , An Essay on Original Genius; and Its Various Modes of Exertion in Philosophy and
the Fine Arts, Particularly in Poetry, 1767 (Ndr. 1994)

[3] H. W. G , Briefe über Merkwürdigkeiten der Literatur, 1766–1767 (Ndr. 1890)

[4] H. H , Ludwig Börne, in: H. H , Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Briegleb, Bd. 4, 1971,
140–141

[5] J. G. H , Shakespear, in: Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. 5, 1891,
208–231

[6] M. O , Buch von der deutschen Poeterey, hrsg. von H. Jaumann, 2002 (Orig. 1624)

[7] P. S M , Schediasmata poetica. Pars altera (ges. Pag.), elegiarum liber quartus,
Paris 21586 (11574)

[8] E. Y , Conjectures on Original Composition, 1759 (Ndr. 1966).

Sekundärliteratur

[9] W. K , Humanistische »Geniedichtung« in Deutschland. Zu Paul Schede Melissus'


›Ad Genium suum‹ (1574/75), in: J. H / J. J (Hrsg.), »Der Buchstab tödt – der
Geist macht lebendig«, FS H.-G. Rolo f, Bd. 2, 1992, 1117–1130

[10] J. S , Die Geschichte des Genie-Gedankens in der dt. Literatur, Philosophie und
Politik 1750–1945, Bd. 1, 21988, 31–33 /
[11] H. S , »Génie«. Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von der Renaissance zur
Au lärung, 1998

[12] C . J. S , Die Vorstellung vom göttlich inspirierten Dichter in der humanistischen
Dichtungstheorie und Renaissance-Philosophie Italiens und in der Dichtungspraxis des dt.
Humanismus, 1987

[13] H. T , Beiträge zur Geschichte des Geniebegri fs in England, 1927 (Ndr. 1973)

[14] K. W , Das antiphilosophische Weltbild des franz. Sturm und Drang 1760–1789, 1934

[15] E. Z , Die Entstehung des Geniebegri fs, 1926.

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Aurnhammer, Achim, “Genie”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit
den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_271020>
First published online: 2019

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