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Abstraktion und Einfühlung.

Von Peter Gerlach Rudi Schönwald zum 60. Geburtstag

Eine verständliche Anziehungskraft übt der Titel Äußerung desto nachhaltiger das Reden über
eines Buches1 heute wieder aus, das bereits zu Kunst bestimmt. Zu selten nur sieht mancher
Anfang des Jahrhunderts erschienen ist und diese Forderung angesichts neuester Kunst ein-
mehrfach neue Auflagen erlebte. Die eingängige gelöst. Negativ nur, als Ärgernis, kann sie als
Alternative von „Abstraktion“ und „Einfühlung“ „Gedankenkunst“ Genußerwartungen zufrieden
läßt eine einleuchtende Gegenüberstellung von stellen und diese bleibt dann leicht dem Verdacht
Problemen der Künstler, also der Herstell ung v'on des Hangs zum Trivialen ausgesetzt oder gilt
Kunst, und der einer kontemplativen Rolle des bestenfalls tendenziell Erotischem in ihr.
Betrachters hinsichtlich der Wirkung von Kunst
assoziieren. Ebenso naheliegend ist es, hinter Erfüllt der Inhalt des Buches nun aber solche mit
dem Titel eine Gegenüberstellung zu vermuten, dem Titel verbundenen Erwartungen?
die zwei scheinbar klar unterscheidbare, gegen-
sätzliche Kunstrichtungen, nämlich eine ratio- Als einen Beitrag zur Erhellung von Ursprung
nale Konzeption von Kunst auf der einen Seite und Entwicklung bildnerischer Kreativität in der
und eine mehr dem Gefühl verpflichtete, auf Geschichte der Menschheit verstand und erläu-
emotionale Wirkung bedachte Kunst auf der terte der 1881 in Aachen geborene Wilhelm Wor-
anderen Seite in einer klaren und leicht einsichti- ringer seine 1908 veröffentlichten Überlegungen.
gen Weise miteinander konfrontiert. Vergessen Damit stellte er sich in die Tradition einer kunst-
erscheint in beiden Fällen die ältere Vorstellung geschichtlichen Debatte, die der jüngere Plinius
von einer dreiteiligen Funktion von Kunst, die noch mit dem lapidaren Satz beantworten
sich aus der Forderung nach dem docere, dem konnte, daß der Ursprung der Malerei in Dunkel
movere und dem cielectare zusammensetzte: gehüllt sei.2 In den zentralen Thesen seines
Belehren, Einstimmen und Genuß bereiten. Buches „Abstraktion und Einfühlung“ übertrug
Belehren steht davon heute am niedrigsten in der Worringer zur Aufhellung dieses Dunkels tradi-
Gunst. Es trägt den unfreundlichen Geruch von tionelle Argumente der Kunsttheorie auf die kul-
„Kopflastigkeit“ und den von fachwissenschaftli- turgeschichtliche Menschheitsentwicklung. Die
cher Unverständlichkeit an sich. Einstimmen, für die Beschreibung individueller schöpferi-
Gefühle hervorrufen wird umso höher einge- scher Fähigkeit in Anspruch genommenen, syn-
schätzt: Hierin vermutet jeder für sich eine un- chron wirkenden Momente der inneren Ver-
kontrollierte und unkontrollierbare Teilnahme arbeitung von Seherlebnissen wurden von ihm
an der Mühelosigkeit, die Kunst zum Gegenstancl zu zwei diachron auftretenden psychischen Dis-
cles einverständigen Gesprächs werden lassen positionen umgedeutet. Jede dieser einander
kann, das jederzeit den Rückzug auf die Unver- ausschliessenden Grundhaltungen hätten zu
bindlichkeit des subjektiven Geschmacksurteils unterschiedlichen Zeiten Blick und Tun völlig be-
zuließe. „Genuß bereiten“ bestimmt realer noch herrscht und folglich auch zu charakteristischen
die Erwartungen gegenüber Kunst. Das aber Ausdrucksweisen in der bildenden Kunst geführt,
bleibt ein Moment, welches in der öffentlichen die sich vorzüglich an deren Formenjenseits aller
Debatte allenfalls verhalten, in der privaten Inhaltlichkeit ablesen ließen.

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So sei die höchste Stufe der Abstraktion in Begriff von der Elenrentarisierung in den
der menschheitsgeschichtlichen Frühzeit anzu- Kunstlehren durch den cler Abstraktion er-
treffen. „Dabei fmden wir“, schrieb er, „daß das setzt. Gründet indes Elementarisierung dem älte-
Kunstwollen der Naturvölker, soweit ein solches ren Verständnis nach als Produkt des rationalen
überhaupt bei ihnen vorhanden ist, dann das Denkens in einem höchst einfühlsamen Einlassen
Kunstwollen gewisser entwickelter orientalischer des Menschen auf Gestalten und Rhythmen der
Kulturvölker diese abstrakte Tendenz zeigen.“3 Natur und des Naturgeschehens, so glaubte Wor-
ringer Abstraktion in seinem Sinne als das
Als Voraussetzung und Bedingung für diesen instinktgesteuerte Ergebnis kollektiv erlebter,
„Drang zur Abstraktion“ stellte er ein nachgerade schreckbedingter Naturfremde aufweisen zu
neurotisches Realitätsverhältnis heraus, wenn er können: „Gerade weil der Intellekt den Instinkt
vernrutete: „der in seiner Gesetzmäßigkeit voll- noch nicht getrübt hatte, konnte die schließlich
kommenste Stil, der Stil der höchsten Abstrak- schon in der Keimzelle enthaltene Disposition
tion, der strengsten Lebensausschließung ist den zur Gesetzmäßigkeit den abstrakten Ausdruck
Völkern auf ihrer primitivsten Kulturstufe zu dafür fmden ... Diese abstrakten gesetzmäßigen
eigen. Es muß also,“ so folgerte er, „ein kausaler Formen sind also die einzigen und die höchsten,
Zusammenhang bestehen zwischen primitiver in denen der Mensch angesichts der ungeheuren
Kultur und höchster, reinster gesetzmäßiger Verworrenheit des Weltbildes ausruhen kann.“6
Kunstform. Uncl es läßt sich weiter der Satz auf-
stellen:Je weniger sich die Menschheit kraft ihres Sieht man einmal von der ferner Absicht Worrin-
geistigen Erkennens mit der Erscheinung der gers ab, mit den Thesen seines Buches „einen Bei-
Außenwelt befreundete und zu ihr ein Ver- trag zur Stilpsychologie“7 bieten zu wollen, dann
trauensverhältnis gewonnen hat, desto gewalti- könnte man gleichwohl diesen Untertitel als Hin-
ger ist die Dynamik, aus der heraus jene höchste weis auf das Problem kreativer Dispositionen bei
abstrakte Schönheit erstrebt wird.“4 Als materiel- gänzlich verschiedenen historisch-kulturellen
len Beweis für seine entwicklungsgeschichtliche Bedingungen auffassen und insofern den Inhalt
Spekulation führte er frühgeschichtliche Kera- des Buches auf seinen Gehalt an beschreibenden
mikdekoration, also Ornament an, ohne indes auf Modellen menschlicher Kreativität hin befragen.
die materiellen Träger dieser Schmuckform auch Erinnert man sich ferner, daß diese Arbeit 1906
nur hinzuweisen: „Der Prozess ist also der, daß ein als kunstgeschichtliche Dissertation verfaßt wur-
reines (sic!) Ornament, d. h. ein abstraktes Gebil- de, erscheint es hinreichend legitim, sie in die
cle, nachträglich stilisiert wird.“ Die für ihn zwin- Tradition kunsttheoretischer Schriften einzurei-
gende entwicklungsgeschichtliche Folgerung sei, hen, die procluktionstheoretische Fragestellun-
„... daß das Primäre nicht das Naturvorbild, son- gen und rezeptionsästhetische Fragen perspekti-
dern das von ihnr abstrahierte Gesetz ist. Die visch auf der Suche nach einer beide Aspekte
künstlerische Projektion der Gesetznräßigkeit berücksichtigenden Lösungsmöglichkeit zusam-
der organischen Struktur war es, die infolge des menbringen möchten.8 Entstanden ist sein Text
innigen organischen Zusammenhangs aller zugleich mit der kunstwissenschaftlichen Ausein-
Lebens-Dinge die Basis gab für clas ästhetische anclersetzung am Ende des neubarocken Akade-
Erleben der Betrachter, nicht aber die Überein- mismus und dem Außmuch der abstrakten Mo-
stimmung mit dem Naturvorbild.“5 derne zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bereits am
Ende des Impressionismus, aber mitten in der
Mit dieserThese trugWorringerzugleichzu jener Reaktion auf diesen.
traditionellen, seit Leon Battista Alberti in kunst-
theoretischer Literatur vertretenen Ursprungsar- Worringers Text ist durch seinen kulturgeschicht-
gumentation aus veränderter Warte eine neue lichen Pessimismus gekennzeichnet. Sieht man
Variante bei. Hieß es dort — zwar nicht für den von dem für Worringer offenkundig unvermeid-
mythischen und auch nicht für den historischen lichen Topos vom „glücklichen Wilden“ ab,
Ursprung der bildenden Kunst, sondern für den könnte — entgegen seiner Intention — die Cha-
ontischen, natur-inspirierten Anfang jeder bild- rakteristik der urtümlichen Abstraktion als
künstlerischen Tätigkeit —, claß die geometrische durchaus polemisch gemeinte Beschreibung
Elementarisierung der erste notwendige lehrbare einer geläuterten kunstkritischen Position inner-
und danrit lernbare Schritt zur Erkenntnis von halb seiner eigenen Zeit gelesen werden.9 Die
Naturgesetzmäßigkeiten auch für den Künstler vielfach eingestreuten Psychopathie-Epiteta ge-
sei, so wurde von Worringer der traditionelle ben diesem Verdacht hinreichend Nahrung. Als

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topischer Gestus von „Wissenschaftlichkeit“ ist anderreihung die Linie entstehe und schließlich
diese gleichsam rückwärtsgewandte Utopie in aus dem planvollen Summieren derartiger Li-
der zeittypischen Sprache auch in einer Disserta- nien die den Körper umschließenden Flächen
tion durchaus begreiflich, denn bei näherem Hin- gebildet werden. Dieser zweite, zweifellos am
sehen kommt das titelbestimmende Gegenteil argumentativen Aufbau der Geometrielehre des
von Abstraktion — die Einfühlung — nun Euklid14 orientierte Teil von Albertis Modell hat
keineswegs besser davon. darüberhinaus eine zweite Art der Bilderfmdung
zum Inhalt, die von der Invention deutlich zu
Unter Bezug auf die theoretischen Schriften unterscheiden ist. Das ist die allmähliche, mit
von Theodor Lipps schrieb Worringer: „Die ein- dem Fortschreiten der Entstehung des Bildes sich
fachste Formel, die diese Art des ästhetischen erst recht verfestigende, aber immer korrigie-
Erlebens [die Einfühlung] kennzeichnet, heißt: rende Vorstellung vom schließlich vollendeten
Ästhetischer Genuß ist objektiver Selbstgenuß. Kunstwerk.
Ästhetisch genießen heißt, mich selbst in einem
von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand Abstraktion und Einfühlung trifft man also in
genießen, mich in ihn einzufühlen... Was ich in dieser Kunstlehre des 15. Jh. schon angelegt,
ihn einfühle, ist ganz allgemein Leben. Und wenn auch begrifflich nicht so festgelegt wie
Leben ist Kraft, inneres Arbeiten, Streben und schließlich im 19. Jahrhundert. Besser wäre es, die
Vollbringen.“10 In der Antike und in der Renais- Reihenfolge dieses Wortpaares umzukehren: Der
sance, fährt er fort, sei diese Stufe verwirklicht Schritt der Einfühlung ist das — auch im Sinne
worden. Die psychische Bedingung war „... nicht Worringers —, was Alberti an die erste Stelle setzte
die spielerisch banale Freude an der Überein- und der der Abstraktion, was er an zweiter
stimmung der künstlerischen Darstellung mit Stelle folgen ließ. Bei Alberti indes sind dieses
dem Objekt derselben, sondern das Bedürfnis zwei unerläßlich notwendige, getrennt beschrie-
Beglückung zu erfahren clurch die geheimnis- bene Momente. Sie sind als ineinandergreifende
volle Macht organischer Form, in der man seinen Teile des kreativen Prozesses ausgewiesen. Die
eigenen Organismus gesteigert genießen konnte, „Ursprungsfrage“ verknüpfte Alberti damit nicht.
Kunst war eben objektivierter Selbstgenuß.“11
Zugleich kann für uns eine weitere, zeitlich
Sieht man sich in der älteren Kunsttheorie um, wesentlich spätere, nach Worringer verfaßte Vor-
dann stellt sich heraus, daß Worringer mit diesem stellung lebendig werden, die ebenfalls als Lehr-
als oppositionell konzipierten Begriffspaar an das buch für künstlerische Anfänger mit pädagogi-
älteste Schema überhaupt anknüpft, das seit der schen Absichten konzipiert worden war, nämlich
ersten gedruckten, als kunstpädagogische Anlei- der Titel der von Wassily Kandinsky 1926 veröf-
tung verfaßten Schrift überliefert ist. Dieses ist in fentlichten „Inspirationstheorie“, die er unter
Leon Battista AlbertisDe Pictura undDe Sta- dem Titel „Punkt, Linie zu Fläche“ erscheinen
tua, verfaßt nach 1435, zu finden.12 ließ. Bereits 1912 hatte er das Prinzipielle des
Inhalts dieses Buches in einem Essay mit dem
In diesen beiden, nach dem rhetorischen Modell Titel „Über die Formfrage“ schon ausformuliert,
Quintilians (Ars-Artifex-Opus)13 aufgebau- aus dem ich hier diejenige entscheidende Passage
ten Werken, führte Alberti die ihm unterscheid- zitiere, in der es ihm auf die Erläuterung seiner
baren Bedingungen für künstlerisches Schaffen Vorstellung vom inneren Klang ankam:
auf. Er kannte wesentlich zwei einander ergän-
zende: Erstens die Invention, die Inspiration, „Das zum Minimum gebrachte ’Gegenstänclliche’
die er indes nicht so benennt, sondern um- muß in der Abstraktheit als das am stärksten wir-
schreibt. Er verwies auf Beispiele, wie der Mensch kende Reale erkannt werden. Einige Beispiele
die von der Natur in der Natur als plastische werden uns aus dem Gebiet der Reflexion in das
Gebilde hergestellten Kunstwerke erkennt. Z. B. Gebiet cles Greifbaren versetzen. Wenn der Leser
wie in einem verfallenden Baumstumpf mensch- irgendeinen Buchstaben dieser Zeilen mit unge-
liche Gesichter oder in geschliffenen Steinen wohnten Augen anschaut, das heißt nicht als ein
ganze Landschaften zu entdecken seien. Für clie gewohntes Zeichen eines Teiles eines Wortes, son-
entwerfende Tätigkeit des Künstlers führte er dern erst afs Ding, so sieht er in diesem Buch-
nunmehr als zweites die Notwendigkeit vor staben außer der praktisch-zweckmäßigen vom
Augen, in der Zeichnung das vorgesehene Bild Menschen geschaffenen abstrakten Form, clie
mit dem Punkt zu beginnen, durch dessen Anein- eine stänclige Form, die ganz selbstständig einen

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bestimmten äußeren und inneren Eindruck emotional und energetisch interpretierten Zei-
macht, das heißt unabhängig von der eben chen. Der letzte Interpretant einer vollständigen
erwähnten abstrakten Form. In diesem Sinne Semiose aber ist eine Handlungstendenz, also die
besteht der Buchstabe 1. aus der Hauptform = allgemeine Richtung, in der die Handlung eines
Gesamterscheinung, die, sehr grob bezeichnet, Menschen, der diesen Zeichenprozeß von der
lustig, traurig, strebend, sinkend, trotzig, protzig emotionalen Anrührung bis zum Entschluß zum
usw. erscheint. 2. besteht der Buchstabe aus ein- Handeln durchlaufen hat, schließlich sein ange-
zelnen, so oder anders gebogenen Linien, die strebtes Werk in Gang setzt. Und diese Hand-
auch jedesmal einen bestimmten inneren Ein- lungstendenz, Bilder zu verfertigen, wird nun in
druck machen, das heißt ebenso lustig, traurig den drei bereits vorgestellten Textpassagen von
usw. sind. Wenn der Leser diese zwei Elemente Worringer, Alberti und Kandinsky durchaus
des Buchstabens gefühlt hat, so entsteht in ihm deutlich greiß^ar: das Geschehene wircl nämlich
sofort das Gefühl, welches dieser Buchstabe als jeweils auf „Gestalten“ hin zunehmend ausgedeu-
Wesen mit innerem Leben verursacht ... Der tet, die sich mit bildnerischen Mitteln erfassen
Schluß, den wir daraus ziehen, ist der, daß die und mit bestimmten,je unterschiedhchen Strate-
äußere Wirkung eine andere sein kann, als die gien, umsetzen lassen. Bevor aber die Differenzen
innere, die durch clen inneren Klang verursacht in drei unterschiedlichen Kreativitätsmodellen
wird, was eines der mächtigsten und tiefsten Aus- bei Alberti, Kandinsky und Worringer dargestellt
drucksmittel injeder Komposition ist.“15 werden können, bedarf es noch einiger Hin-
weise auf Details der Überlegungen aus der
Es dürfte einleuchtend sein, wenn ich diese Erläu- Peirce’schen Zeichentheorie. Der kreative Prozeß
terung der Vorstellung Kandinsky vom „inneren ist immer nur als ein Zusannnenwirken von drei
Klang“ als eine Anthropomorphisierung der Stufen des semiotischen, zeicheninterpretieren-
abstrakten linearen Konfiguration umschreibe. den Prozesses zu begreifen (wobei ich mich hier
Er appelliert mit seiner beispielhaften Umschrei- auf die Relationen beschränken will, die den
bung anjene Erfahrung, diejeder von uns bereits Interpretanten betreffen). Der emotionale Inter-
als Kincl angesichts unterschiedlicher Autofron- pretant resultiert aus Empfmdungen. Alle dar-
ten machen konnte oder je nach Situation allen überhinausgehenden Anstrengungen aktueller
möglichen Gegenständen eine derartige verle- Art sincl als energetische Interpretanten zu
bendigte Physiognomie angesehen haben mag. bestimmen, ciie sich als unmittelbare Reaktion,
als Besinnung auf die Innenwirkung beim Zei-
Alle drei der in den angeführten Textpassagen chenbenutzer, dem Künstler, in einem singulären
beschriebenen Moclelle können unzweifelhaft als Akt verstehen lassen. Modallogisch bezeichnet
je unterschiedliche Umschreibungen des kreati- dieser eine „Zweitheit“, ein einmaliges, reales
ven Prozesses gelesen werden. Die Unterschiede, Ereignis. Vom energetischen ist wiederum der
die ebenso deutlich zu verzeichnen sind, sollen logische Interpretant zu unterscheiden, dem ein
nun aber keineswegs übergangen werden, von allgemeiner Begi'iff zugrunde liegt. Dieser ent-
ihnen wircl noch zu reden sein. spricht einem theoretischen Konzept, dem also,
was man als eine allgemeine Regel zu bezeichnen
Alle drei beschreibenden Modelle genügen in pflegt.
entscheidenden Bestandteilen und deren Ver-
knüpfungen denjenigen Prozessen, die Charles Während bei Alberti scheinbar nur zwei Aspekte
Sanclers Peirce in seiner Zeichentheorie für dieje- des kreativen Aktes benannt wurden, nämlich der
nige Instanz erschlossen hat, die er in seiner Ter- energetische Interpretant, als Akt der deutenden
minologie als den „Interpretanten“ bezeichnet.15 Reaktion auf einen Seheindruck, und der emotio-
Danach basiert jeder „letzte logische Interpre- nale Interpretant gleichsam stillschweigend vor-
tant“, alles, was den Menschen an Erfahrungen ausgesetzt blieb — oder auch nicht bedacht wer-
oder Einsichten beim Handeln leitet, auf intellek- clen konnte, weil er über keinen angemessenen
tuellen Zeichen. Durch sie wird die Art und Weise Begriff dafür verfügte? —, legte Worringer diese
bezeichnet, wie ein Zeichen sich in seinem Bezug beiden Aspekte als ’instinkthafte’, vollständig iso-
zum Objekt darstellt. Das sind letztlich allge- lierte Reaktionsweisen auf Umwelt zeitlich in ent-
meine Regeln und Konzepte, mit denen der fernte kulturgeschichtliche Phasen der Mensch-
Mensch — aus Erfahrung und aus Erlerntem - heitsgeschichte auseinander. Er trennt sie als
sein Verhalten in cler Welt reguliert. Diese „intel- mechanisch-deterministisch wirksame Disposi-
lektuellen Zeichen“ resultieren ihrerseits auf tion, die monokausal das Verhalten des künst-

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lerisch Tätigen unwiderruflich bestinrmen und Bei den beiden Künstler-Autoren, Alberti und
die Entstehungjedes Kunstwerks aus reduzierten Kandinsky, trifft man auf vergleichbare Modelle.
Reflexhandlungen („instinkthaft“) bedingt er- Der fmale Interpretant, der allgemeine Begriff, ist
scheinen lassen soll. Damit unterliegt aber aufs hier wie dort das Regelwerk der euklidischen
Ganze gesehen sein „Entwicklungsmodell“ von Geometrie, die Vorstellung also, der Körper
der Abstraktion zur Dominanz der Einfüh- bestünde aus Flächen, die ein gedachtes Produkt
lung jenen Argumentationslücken, die sprach- aus eng beieinanderliegenden Linien seien, die
lich aus purer Not nur mit dem beliebten ihrerseits wiederum ein Produkt einer großen
„allmählich“ ausgeffillt sind17, um von denr An- Anzahl von aneinander gereihten Punkten seien.
fangsstadium den Leser bis zum Endstadium zu
führen. Zuvor hatte ich bereits angemerkt, daß für Alberti
die quintiliansche Rhetoriklehre ein literarisch
Nicht mehr diesem mechanistisch-psychologi-
tradiertes Gliederungsmodell für seine Konzep-
schen Modell verfiel Kandinsky. Er erkannte —
tion einer Kunstlehre abgab, clie er aus der mittel-
und darin steht er mit seiner Einsicht dem Ansatz
alterlichen Rezepturenschrift in ein an aristoteli-
von Peirce viel näher als dem von Worringer — die
scher Erkenntnistheorie orientiertes neuartiges
Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit eines
Gerüst überführte.18
dynamischen Prozesses an, an dem mehrere
Momente zwar analytisch trennbar und be-
Damit bleibt nun noch die Frage zu beantworten,
schreibbar gemacht werden können, die aber in
welchen logischen Interpretanten Kandinsky
erfahrener Realität kaum unterscheidbar inein-
heranzuziehen in der Lage war, um sein Verfah-
ander wirken. Kandinsky insistierte daher nun
ren der Anthropologisierung physiognomischer
gerade auf dem Recht des subjektiven alogischen,
Qualitäten von abstrakten figuralen Elementen
naiven Spontaneindrucks (des emotionalen
ausdrücken zu können. War dies wiederum ein
Interpretanten) und seiner Notwendigkeit als Teil
emotional-energetischer Interpretant oder aber
der kreativen Kraft eines Künstlers. Einfühlung
ein finaler? Mit anderen Worten: Hat Kandinsky
als erstes Moment der Inspiration ist für ihn eben
— bei allen Anleihen (oder besser Analogien), die
dieses provozierte Vexieren des Künstlers von
unübersehbar der topischen Tradition der Kunst-
einer elementaren Bildersprache (dem logischen
theorie seit Alberti verpflichtet sind — insofern
Interpretanten) auf derartige scheinbar natürli-
eine neue Qualität in die Inspirations-Debatte
che, subjektive Anmutungsqualitäten (den enro-
eingeführt, als er sich für diese Vorstellung auf
tionalen Interpretanten) von Objekten.
keinen geläufigen fmalen Interpretanten bezie-
Was bei Worringer, als dem einzigen Nicht-Künst- hen konnte, sondern diesen erst herstellen
ler, bezeichnenderweise clie Überlegungen zwar mußte, um seine Kritiker, über deren mißbilli-
leitete, aber in seinen Ausführungen nicht als gende Kritik an seiner abstrakten Kunst er sich
notwendiger Bestandteil reflektiert wurde, ver- befremdet zeigte, zu belehren, wir Thürlemann
schwindet sozusagen in seiner wissenschaftlichen nachzuweisen versuchte?19
rhetorischen Geste (seinem logischen Interpret-
anten), nämlich der fmale oder intellektuelle Scheinbar verbirgt sich in der Betonung der
Interpretant,über den jeder bildnerisch — und potentiellen physiognomischen Qualitäten nur
letztlich auchjeder denkend Tätige notwendiger- der Topos vom „image made by chance“ Jan-
weise, wenn auch in unterschiedlicher Ausfor- sons,20 Bildern also, die zufällig in Naturobjekten
mung, verfügen muß: Eine Regel, der seine assoziativ sichtbar zu werden scheinen. Besieht
Gedanken als Ordnungshilfe unterzogen werden, man sich aber deren Bestimmung genauer, so
dem sein Denken gehorcht, z. B. ein kausales Ge- sind dort immer komplexe naturnachahmende
schichtsverständnis. Und dieses ist in Worringers Bilcler, nicht aber emotionale geladene Abstrakta
Modell als maßgebendes vorhanden: Es verbirgt mit physiognomischen Termen umschrieben
sich in seiner Vorstellung vom linear-kausalen worden.
Ablauf der Geschichte, die er als „Entwicklung“,
und zwar objektiver Art, versteht. Er begreift die- Kandinsky bezeichnete damit nun vielmehr ener-
ses aber nicht als Modell, das von Wissenschaft- getische Interpretanten, die dem Künstler als
lern vor ihm konzipiert wurde, um geschichtli- Handlungsanweisungen für seine nicht natur-
ches Bewußtsein (eben jene linear-kausalen nachahmenden Kompositionen als poetische
Abläufe) nun auch noch mitteilbar, verständlich Elemente dienlich genracht werden sollen, die er
beschreibbar zu machen. sich nutzbar machen muß, um aus seiner inneren

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Erlebnisfähigkeit heraus clerartige Kompositio- Natur des Menschen als Zentrum des Ereignisses
nen sprechend werden zu lassen. Bleiben wir in „Inspiration“ zuwenden.
der Sprache der Zeichentheorie, so hieße das
aber nichts anderes als finale Interpretanten - Wenn wir Worringer richtig gelesen und auch
die Elemente der euklidischen Geometrie — zum angemessen verstanden haben, bezeichnet er mit
Ausgangspunkt einer erneuten vollständigen seinem Begriff von Abstraktion das, was seit
Semiose zu machen, d. h. sie als emotionale Zei- Günther Mühle21 als Konkretion zu bezeich-
chen gegen ihre landläufige, gewohnte Verwen- nen sich als sinnvoll erwiesen hat. Konkretion
dung zu interpretieren, die irn Bilde als Aussagen aber ist nicht ein sprachloser Rückzug von und
mit Behauptungscharakter erscheinen können. vor der Welt, sondern eine höchst lebendige
Behauptungen insofern, als das einzelne Zeichen und auch lustvolle Auseinanclersetzung mit der
in einem Bilde eben nicht als einer bekannten Außenwelt. Denn um das Essentielle von jegli-
Regel folgend verwendet wird, also keiner bereits chem Akzidentiellen trennen zu können — wo-
bekannten Gesetzmäßigkeit unterliegt, sondern durch die Abstraktion gekennzeichnet ist —
erstmals, einmalig und real vorkommt, ocler - muß eine komplexe Wahrnehmung, deren emo-
wie man umgangssprachlich zu sagen pflegt - tionale und ebenso intellektuelle Verarbeitung
nurmehr subjektiver Intention entspringt. Das von relevanten Teilen der Welt vorausgesetzt wer-
aber ist zeichentheoretisch ein energetisches Zei- den. Die aber muß man als Fähigkeit auch jeder
chen, das immer auf einem emotionalen Inter- außereuropäischen Kultur, gleichgültig auf wel-
pretanten beruhen muß, also um seiner — hier cher tatsächlich angetroffenen oder nur rekon-
optischen — Anmutungsqualität willen vom struierten „Entwicklungsstufe“ die Forschung sie
Künstler für diese oder jene Stelle seiner Kompo- noch hat antreffen mögen, im Gegensatz zu Wor-
sition ausgewählt wurde. Zuminclest müssen wir ringer, zubilligen.
Kandinsky zubilligen, daß er in seiner Beschrei-
bung clieses Vorgangs einen neuen finalen Inter- Daß aber bei der Konkretion nun nicht das Essen-
pretanten auf den Begriff bringen wollte. Von tielle vonjeglichem Akzidentiellen entblößt wird,
heute aus können wir dieses Vorhaben jeglicher sondern Akzidentielles und Essentielles, wie
Mystifikation, die in der Sprache Kandinsky immer gemischt, zur Gruncllage cler künstleri-
immer wieder anklingt, entkleiden, wenn wir es schen Gestaltung im Prozeß der Bildfindung eine
als clenjenigen Einsichten vergleichbar charakte- gleich gewichtige Rolle einnehmen, veranlaßt
risieren, die der Verhaltenforschung gelungen mich nunmehr zu der Folgerung, daß der Inhalt
sincl. Gemeint sindjene handlungsleitenden Zei- dessen, was Worringer mit seinem Begriff von der
chensysteme, die gerade in der Tierwelt als farbig- Abstraktion beschrieb, dem Inhalt nach völlig
graphische Zeichnung jene instinkthaften und im Gegenteil von uns ein Prozeß der Einfüh-
damit emotionalen und notwendig energeti- ltmg genannt werden muß.
schen Deutungsakte innerhalb der Umwelt cles
Tieres auszulösen vermögen, die ihr Überleben Wer je sich mit bilclenden Künstlern unterhalten
sichern helfen. Von clerartigen Konfigurationen hat, sie bei ihrer Arbeit hat begleiten und beob-
und ihren Wirkungen sprach Kandinsky — auf achten können, wird erfahren haben, daß außer
seine Kunst-Welt bezogen — immer wieder. In sei- Rauschmittelnjeglicher Art z. B. ebenso das abta-
nen Texten bekommen diese Interpretanten stende Jonglieren mit verbalen Umschreibungen
durch die Art seines Formulierensjene anthropo- in freier Assoziation als ein wichtiges Instrumen-
zentrisch-psychologische Wendung, die nicht von tarium der Selbstprovokation besonders der
ungefähr clen um 1920 entwickelten psychocliag- emotionalen Aspekte der Inspiration dienlich
nostischen Verfahren von Rorschach (1921) zu- gemacht wird. Die Absicht dabei ist, dem bildli-
mindest sehr nahe steht. chen Vorwurf das abzugewinnen, was Adorno das
Neue als das „intendierte Nichtintendierte“
Deutlich läßt sich nunmehr folgern, daß sowohl bezeichnete.22
die Distanz zu Alberti und clessen Folgen in cler
Kunsttheorie als auch zu Worringers vereinfa- Wenn denn Einfühlung nach dem Gebrauch
chender Historisierung des Arguments wesent- bei Worringer als Teil des Prozesses von Kreativi-
lich darin besteht, daß alle Kreativitätsüberle- tät angesichts der bildenden Kunst überhaupt
gungen sich genau, wie bei Kandinsky entwickelt, einen Sinn machen soll, ist sie schließlich auch
von der äußeren Natur als Inspirationscjuelle ab hier dem Inhalte nach das Gegenteil dessen, für
uncl der Verknüpfung dieser mit der inneren das Worringer sie ausgab. Hilfreich erweist sich

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an dieser Stelle der von Rumohr 1827 geprägte Fand das 19. Jahrhundert sowohl in der Kunst-
und in seiner Kunsttheorie explizierte Begi'iff theorie, in der öffentlichen Debatte, als auch in
vom „anschaulichen Denken“, als der geistigen der philosophischen Ästhetik eine Sicht auf das
Tätigkeit, aus welcher Kunst hervorgeht.23 Folgt Problem der zeitgenössischen Kunst in der Kon-
man dessen stringenter Argumentation in Hin- troverse zwischen den Begriffen „Idealismus“ und
sicht auf den Anteil des „Poetischen“ inr Bilde — „Naturalismus“ angesiedelt, so erscheint es nicht
demjenigen, was zwar noch Anteil am Begriffhat, verwunderlich, daß Worringer letztlich cliese
aber am weitesten vom begrifflichen Denken ent- Kontroverse in sein neues Begriffspaar übertrug.
fernt ist —, dann ist das Ausblenden jener für die Dieses erlaubte es, die Übertragung zu leisten, zu
Verbildlichung des gestalterischen Anliegens der die überkommenen Begriffe für das Reden
akzidentiellen Aspekte — wie auch immer unter- über Kunst nicht mehr tauglich erschienen. Nicht
schiedlich im einzelnen Falle rekonstruierbar —, mehr der Inbegriff des „Ideals“, die Wirklichkeit
also Abstraktion hinsichtlich des gewählten in ihren höchsten, weltgeschichtlich bedeutsa-
Bildvorwurfs geleistet. Es bleibt die Mißlichkeit, men Ereignissen einerseits gegen die Bedürfnisse
daß Worringer bei der Verwendung seiner Ter- nach verklärter Sicht cler täglich erträumten
mini ungeklärt ließ, ob er den Akzent auf die Vor- Umwelt darzustellen, und andererseits dem ge-
gänge bei der Konzeption einer Bildidee legte stärkten Recht auf Subjektivität, das sich im Natu-
oder ob er das Verhältnis von inspirativem Vor- ralismus geltend machen sollte, halfen die bild-
bild zu dem im Bilde davon Ausgeführten bestim- künstlerische Moderne nach 1900 begrifflich ein-
men wollte. Er kann nur das erstere gemeint zuholen. Die Verankerung einer allenthalben ins
haben, denn eine Aussage über nrögliche Natur- Wanken geratenen Orientierung an den durch
vorbilder angesichts frühgeschichtlicher Orna- Alter gesicherten Systemen zur Welterklärung
mentik setzte bereits voraus, daß diese „Abbil- mußte einer neuen Orientierung Platz machen,
dungscharakter“ habe. für die auch die Geschichte der Kunst als Zeugnis
herhalten mußte. Und je weniger noch im Detail
über die entlegendsten Entdeckungen bekannt
Einfühlung und Abstraktion sind beides ständig war, desto willfähriger konnten diese Bereiche
aufeinander vexierende Momente. Dies gilt so- der Kunst für Projektionen von Ursprünglichem
wohl irn Laufe der unterschiedlichsten Stadien u. a. herhalten, in denen Vorurteile gegenüber
der Konzeption einer Bildidee24 — gleichgültig, Unbehaglichem ebenso bedenkenlos plaziert
ob diese noch vor jedem ersten Pinselstrich zu werden konnten, wie positive Ansprüche schein-
einem vollständigen, nur erst imaginierten Bild bar dort bereits ihre vollständige Einlösung
sich fügte oder sukzessiv sich während der Arbeit gefunden zu haben schienen.25 Das, was Künstler
am Bild herausbildet —, als auch ständig in Hin- an „irdischem Paradies“ in den exotischen Welten
sicht auf die Quelle der Inspiration, sei cliese nun ihrer Phantasie zu fmden geglaubt haben,
„Natur“ oder sei sie Teil der kulturellen Überlie- glaubte Worringer in seinen rationalistischen
ferung in Form von Literatur, Sprache, Bild udgl. Konstrukten klarer Alternativen gefunden zu
Jeder Eindruck ist notwendigerweise vielge- haben und viele seiner heutigen Leser hoffen es
staltig. Jedes Besinnen auf einen Eindruck muß bei ihm wieder auffmden zu können. Die Lektüre
notwendigerweise von dessen Vielfältigkeit die- seines Textes wird sie indes wohl immer in ihren
jenigen Momente ausscheiden, die nicht dazu Erwartungen nur enttäuschen können. Längst
beitragen, die Bildidee zu verwirklichen. Dieses war — schon vor dem Erscheinen von Worringers
Ausscheiden aber ist Abstraktion, die der vorauf- Buch — von ihm kaum bemerkt, die immer noch
gehenden Einfühlung bedarf, gleichgültig, auf aktuelle Sehnsucht nach „Ursprünglichkeit“ ne-
welchem kulturgeschichtlichen Niveau dieser ben die eher akademische Frage nach dem
Prozeß stattfmdet oder stattgefunden haben mag. Ursprung getreten.

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ANMERKUNGEN

1 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Bei- 3 W. Worringer 1959, (wie Anm. 1) S. 48 dort der folgende
trag zur Stilpsychologie, Phil. Diss. München 1906, Mün- Satz: „Der Abstraktionsdrang steht also am Anfang jeder
chen 1908; 3., um einen Anhang vermehrte Auflage, Mün- Kunst...“
chen 1911 (Von Transzendenz und Immanenz in der Kunst,
S. 135—150). 4. Aufl. München 1948; Neuausgabe 1959 — 4 op.cit., S. 51 —52. Zur Ursprünglichkeitsdebatte vor Worrin-
Sammlung Piper. Ergebnisse und Probleme moderner Wis- ger vgl. Leo Frobenius, Die bildende Kunst der Afrikaner,
senschaft. Bereits im Vorwort zur „Neuausgabe“ von 1948 Wien 1897; Emil Stephan, Südseekunst, Berlin 1907; Max
schrieb Worringer: „Vierzigjahre, in denen sie durch unun- Verworn, Zur Psychologie der primitiven Kunst,Jena 1909.
terbrochen notwendig gewordene Neuauflagen ihre fortge- Aus der „Ursprungsdebatte“ der Kunsttheorie des 18. und
setzte Lebenskraft bewiesen hat. Ich verschmähe es, 19.Jhds. (vgl. Anm. 2) war unversehends eine aktuelle Frage
bescheidene Unkenntnis darüber zu heucheln, wie ereig- nach „Ursprünglichkeit“ geworden.
nishaft diese Doktorarbeit eines jungen unbekannten Stu-
denten sich bei ihrer Veröffentlichung in manchem persön- 5 op.cit., S. 97.
lichen Leben und im geistigen Leben einer ganzen Zeit aus-
gewirkt hat. Weit über fachliche und nationale Grenzen
6 op.cit., S. 53; auch mit dieser Vorstellung projezierte Wor-
hinweg. Zu einem „Sesam öffne dich“ ist sie geworden für
ringer eine eher für die Jahre nach der Jahrhundertwende
einen ganzen Umkreis zeitwichtiger Fragestellungen...“ Zit.
zutreffende Selbsteinschätzung in historisch feme Phasen
n. Neuausgabe München 1959, S. 7. Vgl. Kitty Zijlmans, Jos
der Menschheitsgeschichte, vgl. S.J. Schmidt, Liquidation
Hoogeveen, Kommunikation über Kunst. — Kleine Alpha
oder Transformation der Moderne?, in: Holländer—Thom-
Reeks 1, Leiden 1988.
sen (Hrsg.) 1987 (Anm. 2), S. 53—70.

2 Daß Worringer selber sein Buch als einen Beitrag zur


Ursprungsdebatte begriff, geht aus dem Vorwort zur Neu- 7 so der Untertitel von op.cit.
ausgabe 1959, S. 16 hervor: „Genesis menschlicher Kunsttä-
tigkeit ...“; Plinius Secundus, Historia naturalis, — Kleine 8 Bezieht man die Überlegungen der Worringer vorausge-
Schriften zur Kunst, Neudr. d. Frankfurter Kunstgewerbli- gangenen Kontroverse zwischen Friedrich Theodor
chen Bibliothek, hrsg. v. W. Schürmeyer, Bd. 5, Frankfurt a. Vischer und Robert von Zimmermann zu Rate, wird deut-
M. 1925, S. 14—15;}. J. Winckelmann, Geschichte der Kunst lich, daß Worringer den von Vischer geprägten Begriff
des Alterthums (1764), 1.1,1 zit. n. der Ausgabe hrsg. v. J. Les- Einfühlung (vgl. Robert Vischer, Über das optische Fein-
sing, 2. Aufl., Leipzig 1881, S. 17: „Die ältesten Nachrichten gefühl, Leipzig 1873, S. 3 ff.), anders als von diesem um einen
lehren uns, daß die ersten Figuren vorgestellt, was ein produktionstheoretischen Aspekt erweitem wollte und ihn
Mensch ist, nicht wie er uns erscheint, dessen Umkreis, nicht dabei aber nicht als Teil eines Prozesses begriff, sondern auf
dessen Ansicht.“: J. G. Herder, Plastik (1778), V, hrsg. v. Lam- eine historisch vorgeblich nachrangig dominierende Inten-
bert A. Schneider, Köln 1969, S. 121 — 123; vgl. Sämtliche tion verkürzte.
Werke, Stuttgart und Tübingen 1830, Bd. 19, S. 116—120; G.
E. Lessing, Laokoon oder: Ueber die Grenzen der Malerei 9 Daß sich hinter dem Topos vom „glücklichen Wilden“ (vgl.
und Poesie, 1. Theil (1766), zit. n. Werke, hrsg. v. R. Gosche, zur älteren Verwendung dieses Topos im 18./19. Jh. Sergio
Berlin 1875, Bd. 4, S. 52: „Es sei Fabel oder Geschichte, daß Moravia, Beobachtende Vernunft, Frankfurt 1977, S. 102 ff;
die Liebe den ersten Versuch in den bildenen Künsten Fritz Kramer, Verkehrte Welten, Frankfurt a. M., 1981, S. 92
gemacht habe...“, vgl. Handschriftliche Anmerkungen zu ff) eine für Worringers Zeiten bezeichnende Aversion gegen
Winckelmann, op. cit., S. 316 f. Zur Lit. um 1900 vgl. P. Ger- den französischen Impressionismus verbarg, erhellt aus F.
lach, Zeichenhafte Vermittlung von Innenwelt in konstruk- Novotny, The Reaction against Impressionism from the
tivistischer Kunst, in: H. Holländer-Chr. W. Thomsen Artistic Point of View, in: Studies in Western Art, Princeton
(Hrsg.), Besichtigung der Moderne. Köln 1987, S. 187. Theo- 1963, Bd. IV, S. 93 ff und R. Goldwater, Symbolic Form; Sym-
dor W. Adorno, Theorien über den Ursprung der Kunst, in: bolic Content, in: a.a.O., S. 111 ff. Worringers Position zur
Gesammelte Schriften, Bd. 7, Ästhetische Theorie, Frank- zeitgenössischen Moderne: „Entwicklungsgeschichtliches
furt a. M. 1970, S. 480-490. zur modernen Kunst“, in: Im Kampf um die Kunst. Die Ant-

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wort auf den „Protest deutscher Künstler“. Mit Beiträgen Max Bill, Bern 1955, S. 30 f; als physiognomischen Ausdruck
deutscher Kiinstler, Galerieleiter, Sammler und Schriftstel- menschlichen Gefühls die Landschaftsmalerei zu verste-
ler, Miinchen 1911, S. 92-99 und „Zur Entwicklungsge- hen, läßt sich im 19. Jh. z. B. bei Friedrich Theodor Vischer,
schichte der modernen Malerei“, in: Der Sturm, Bd. 2,1911/ Zustand derjetzigen Malerei, 1842 in: Kritische Gänge 1922,
12, Hft. 75, S. 597-598. V., S. 45—46, belegen, der diese psychologisierende Ausdeu-
i° Worringer 1908 (Anm. 2), S. 37. Der kulturtheoretische tung später, 1887 in dem Aufsatz „Das Symbol“ noch allge-
Begriff von der Einfühlung hatte eine genauere Bestim- meiner für alle Kunst als geltend angenommen hat: „Es ist
mung durch Friedrich Theodor Vischer erfahren, vgl. Kriti- die unwillkürliche und dennoch freie, unbewußte und im
sche Gänge, Heft 5, 1877, S. 145; dazu Klaus-Peter Lange, gewissen Sinne doch bewußte Naturbeseelung, der lei-
Zum Begriff der Einfühlung (Theodor Lipps und Johannes hende Akt, wodurch wir dem Unbeseelten unsere Seele und
Volkelt), in: H. Koopmann u. J. A. Schmoll gen. Eisenwerth ihre Stimmungen unterlegen.“, in: Kritische Gänge IV, hrsg.
(Hrsg.), Beiträge zur Philosophie und Literatur des neun- v. R. Vischer, München 1922—1923, S. 431—432. Zu Worrin-
zehnten Jahrhunderts, Bd. 12/1, Frankfurt a.M. 1971, S. gers Kontakt mit Kandinsky 1911, vgl. Brief an Franz Marc,
113—128. Daß man darin die nachromantische Ausfüllung in: Briefwechsel, hrsg. v. K. Lankheit, München-Zürich 1983.
des gebrochenen klassischen Kunstverständnisses der Ein- Marc hielt Worringers Buch neben Kandinskys „Über das
heit von Form und Inhalt erblicken muß, nachdem bereits Geistige in der Kunst“ (1912) für „geistreich“: F. Marc, Die
zu Anfang des 19. Jh. die Inkongruenz von Bedeutung und konstruktiven Ideen der neuen Malerei (1912), in: Schriften,
Inhalt zugunsten einer nurmehr im Symbol erlebten Köln 1978, S. 107.
Bedeutung die Kunst bestimmt hatte, wies Hans Georg
Gadamer, Symbol und Allegorie, in: Umanesimo e Simbo- 16 Charles Sanders Peirce, Collected Papers, hrsg. v. Ch. Harts-
lismo, Padua 1958, S. 23—28 nach, vgl. B. Rupprecht, Plasti- horne — P. Weiss, Cambridge (Mass.), zit. n. 3. Aufl. 1974,
sches Ideal und Symbol im Bilderstreit der Goethezeit, in: Interpretant als die signifikante Wirkung eines Zeichens
Probleme der Kunstwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1963, S. 1.564; die Abhängigkeit des Interpretanten als Wahrneh-
195-230. mungsurteil vom Perzept 4.536; zu den drei Typen von
Interpretanten und ihre Abhängigkeit vom Perzept 5.475;
11 Worringer 1908 (Anm. 2), S. 63
vgl. Karl-Otto Apel, Der Denkweg von Charles S. Peirce.
12 Zur Kontroverse um die Reihenfolge der beiden Werke Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus,
Albertis und deren unterschiedliche Datierung vgl. Frankfurt a.M. 1967, zit.n. suhrkamp taschenbuch wissen-
Alessandro Parronchi, Studia su la Dolce Prospettiva, Mai- schaft 141, Frankfurt a.M. 1975, S. 226 f und 238 f.
land 1964, S. 387—388 und dagegen Cecil Grayson, Leon
Battista Alberti, On Painting and On Sculpture. The Latin 17 Zur Funktion solcher Termini beim Überspringen von Lük-
Texts of De Pictura and De Statua edited with translations, ken in historischer Argumentation: Reinhard Koselleck,
introduction and notes, London 1972, S. 5-7 u. S. 18-22 Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung,
13 Markus Fabius Quintilianus, De institutione oratoria II, 14, in: Poetik und Hermeneutik, Bd. III, Die nicht mehr Schö-
dies gilt für De Statua; D. R. Edward Wright, Alberti’s De Pic- nen Künste, Grenzphänomene des Ästhetischen, hrsg. v. H.
tura: its Literary Structure and Purpose, in: Journal of the R. Jauß, München 1968, S. 129-141.
Warburg and Courtauld Institute 47,1984, S. 56 ff ermittelte
für De Pictura die ebenfalls auf Quintilian, op.cit. I, 22, 18 vgl. Frank Balters — Peter Gerlach, Zur Natur von Albertis
basierende Ordnung von Elementa — Ars — Artifex. De Statua, in: Kunsthistorischesjahrbuch Graz, Bd. 23,1987,
S. 38-54.
14 vgl. D. R. E. Wright (Anm. 13), S. 58. Aus dem unterschiedli-
chen Aufbau von De Pictura und De Statua läßt sich der 19 Felix Thürlemann, Kandinsky über Kandinsky. Der Künst-
nach den Ergebnissen von Wright’s Analyse naheliegende ler als Interpret eigener Werke, Bern 1986.
Schluß ziehen, daß De Statua nicht für heranzubildende
Künstler, sondern für handwerklich bereits versierte Bild- 20 Horst W. Janson, The „Image made by Chance“ in Renais-
hauer geschrieben wurde. sance Thought. in: De Artibus Opuscula. Essays in honor of
15 Über die Formfrage (München 1912), zit.n. Wassily Kandins- E. Panofsky, hrgs. v. M. Meiss, Bd. 1, New York 1961, S.
ky, Essays über Kunst und Künstler, hrsg. u. kommentiert v. 254-266.

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21 Günther Mühle, Entwicklungspsychologie des zeichneri- stesart ist demnach gleichsam ein zweytes Bild, der Spiegel
schen Gestaltens, München 1984, Kap. III, Grundzüge einer des gesammten Geisteslebens; wenn nicht gar das
Theorie der zeichnerischen Gestaltung, S. 113 ff. Ursprüngliche selbst, wie die älteste Philosophie und der
Umstand anzudeuten scheint, daß alle sehr alte, oder durch
22 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 2), S. 41 f den Verbrauch nicht gänzlich abgeschliffene Sprache des-
sen Ausdruck bewahrt haben.“
23 Carl Friedrich von Rumohr, Italienische Forschungen
(1827), zit. n. der Ausgabe von Julius Schlosser, Frankfurt 24 vgl. die durchaus entsprechenden Formulierungen bei Paul
a.M. 1920, S. 10 f und S. 81: „... die geistige Thätigkeit aber, Cezanne: ,Ja, ich will wissen. Wissen, um richtiger zu fühlen,
aus welcher die Kunst hervorgeht, hatte ich zwar dem fühlen, um richtiger zu wissen ..." Zit. nach: Über die Kunst.
abstracten Denken entgegengesetzt, doch vermieden, die zu Gespräche mit Gasquet, Briefe ... hrsg. v. Walter Hess, Mit-
zergliedern. Denn auch davon abgesehen, daß ich einer sol- tenwald 1980, S. 20; vgl. ebenda S. 14, 90.
chen Untersuchung mich keineswegs gewachsen fühle,
dürfte das anschauliche Denken, oder die künstlerische 25 In seinem „Schlußwort nach fünfzig Jahren“ schrieb Wor-
Geistesart, dem Verstande mit seinen scharfen Begriffen, ringer zur Neuausgabe 1959 (wie Anm. 1), S. 16: „Denn wenn
mit seinen trennenden Messern und Scheeren überhaupt auch in den rein geschichtlich ausgerichteten Untersu-
minder zugänglich seyn. Gewiß gewährt die Sprache nicht chungen meiner Jugendschrift kein Wort von moderner
einmal ein Wort, welches nur ihren allgemeinsten Begriff Kunstproblematik steht, so ist doch ein innerer, nicht nur
ganz abdeckt. Denn Imagination, Phantasie werden meist zeitlich äußerer Zusammenhang zwischen den beiden Tat-
als regellose untergeordnete Kräfte und Thätigkeiten sachenkomplexen deutlich zu spüren. Unbewußt und
betrachtet; Contemplation und Beschauung haben einen unbeabsichtigt sind meine Gedankengänge zu einer theo-
einseitig ernsten Sinn und stehn überall unter der Obhut retischen Initialzündung für die grundlegende Wendung
und Leitung des Begriffs. Das anschauliche Denken aber, geworden, die in der Praxis unserer Gegenwartskunst vor
wenn diese Begriffsverbindung mir zugestanden wird, ver- sich gegangen ist.“ Diese kühne Behauptung, in der sich der
mag eben sowohl sich in die Tiefe versenken, als auf der Historiker Worringer zum Seismographen zukünftiger
Oberfläche zu verbreiten; ist eben sowohl der strengsten künstlerischer Innovationen stilisiert, bedürfte einer Über-
Folge, als eines munteren Ueberspringens fähig. Diese Gei- prüfung ihres historischen Wahrheitsgehaltes.

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