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Historismus
(4,933 words)
Friedrich Jaeger
2.1. Allgemein
Obwohl der Begri f vereinzelt seit dem späten 18. Jh. – z. B. bei Friedrich Schlegel, Novalis oder
Ludwig Feuerbach – zu nden ist, bürgerte er sich als Selbstbezeichnung der zeitgenössischen
Wissenschaften nicht ein. Erst seit dem Beginn des 20. Jh.s und der sog. »Krise des H.« [12]
fand er größere Verbreitung als Forschungsbegri f und wurde v. a. von Ernst Troeltsch, Karl
Heussi, Benedetto Croce, Karl Mannheim und Friedrich Meinecke genutzt, um erstens – in
zeitdiagnostischer Absicht – kulturelle Entwicklungen der Gegenwart begri ich zu fassen und
zweitens – in wissenschaftsgeschichtlicher Absicht – eine Analyse der sich seit dem späten 18.
Jh. ausbildenden Geistes- und Kulturwissenschaften zu geben. Analog zu dieser doppelten
Stoßrichtung lassen sich bis heute mehrere Bedeutungsebenen unterscheiden: /
In einer ersten, auf Troeltsch zurückgehenden Variante meint H. v. a. die »grundsätzliche
Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte« [27.
102]. Damit wird H. zu einem spezi sch modernen Denkstil, der im Lauf des 19. Jh.s außer in
der Geschichtswissenschaft auch in Architektur- und Kunstgeschichte (s. u. 3.), Literatur und
Philologie [9]; [6], Rechtswissenschaft (Historische Rechtsschule) [28. 61–130],
Nationalökonomie (Historische Schule) [22], Philosophie [25] und Theologie [10] seine jeweils
fachspezi sche Ausprägung fand. In diesem Verständnis einer kulturübergreifenden
Historisierung der europ. Geisteswissenschaften ist die Epoche des H. bis heute aktuell, auch
wenn sich die konkreten Formen histor. Denkens maßgeblich geändert haben.
Eine kritischere Interpretation des H. geht bereits auf Nietzsche zurück, der – ohne den Begri f
H. zu verwenden – in der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen (1874) von einer »histor.
Krankheit« seiner Gegenwart spricht, an der die »plastische Kraft des Lebens« durch die
einseitige Orientierung an der Vergangenheit und durch die Vorherrschaft eines
positivistischen Wissenschaftsbegri fs sowie eines normativen Relativismus Schaden nehme:
»Es gibt einen Grad … von histor. Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und
zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur« [4. 246]. Diese
Kritik des H., die mit einer verbreiteten Kulturkritik der bürgerlichen Moderne parallel ging,
wurde unmittelbar von Heussi und in vermittelter Form auch von der neukantianisch
geprägten Wissenschaftslehre Max Webers aufgegri fen [14]; [19]; [28]. Ein solches Verständnis
prägte auch die H.-Kritik seitens der Sozialgeschichte der 1970er Jahre [17].
Meinecke schließlich deutete den H. als ein v. a. in der dt. Geistesgeschichte seit dem späten 18.
Jh. entstandenes Individualitäts- und Entwicklungskonzept, das er zu den größten Leistungen
des »dt. Geistes« zählte [16], das jedoch später – in kritischer Wendung – zu einer
Voraussetzung des in die Katastrophen des 20. Jh.s mündenden »dt. Sonderwegs« umgedeutet
wurde [13].
/
Auch wenn sich die Vertreter des H. gewöhnlich kritisch von der Philosophie der Au lärung
abgrenzten ( Gegenau lärung), bauten sie doch auf deren Grundlagen und Errungenschaften
auf. Im Kontext der Schottischen Au lärung – z. B. bei A. Smith und A. Ferguson – war es
bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s zu einer Transformation des Naturrechts in eine histor.
Theorie der bürgerlichen Gesellschaft gekommen. Als Folge historisierten sich die in der
Frühen Nz. noch weitgehend statisch geprägten Staats- und Gesellschafts-Theorien
zunehmend, wodurch die überzeitliche Geltung von Normen und Lebensformen zugunsten
der Einsicht in ihre histor. Wandelbarkeit aufgehoben wurde. Ferner bildete sich in dieser Zeit
ein Begri f »der« Geschichte heraus, der es erlaubte, diese als eigene Wirklichkeitsform zu
begreifen, die im Rahmen der zeitgenössischen Geschichtsphilosophie und Historik
theoretisch re ektiert und entfaltet wurde. Im Kontext der dt. Au lärungshistorie hatten sich
zudem bereits wichtige institutionelle, professionelle und fachliche Grundlagen der
Geschichtswissenschaft als einer autonomen Disziplin herausgebildet, deren innovatives
Zentrum v. a. die Universität Göttingen war (Historiker; Historische Methode).
Trotz solcher Verbindungen mit der Spätau lärung etablierte sich der H. in kritischer
Absetzung von ihr. Am Anfang stand ein histor. Erfahrungswandel, der bereits in der
Modernitätskritik der Romantik zum Ausdruck kam und der die au lärerische Idee der
Vernunft und die Dynamik des Fortschritts (Perfektibilität) als Ursachen einer zunehmenden
Entfremdung des Menschen von den kulturellen Traditionen und sozialen Kontexten seiner
Lebenspraxis interpretierte. Prägend wurde ferner – z. B. bei Johann Gottfried Herder – eine
Denkbewegung, die unter dem Leitbegri f der Individualität die histor. Vielfalt und
Einzigartigkeit der Völker und Nationen betonte und die – angesichts der Infragestellung
tradierter Lebensformen – im histor. Denken eine zentrale Instanz der kulturellen
Orientierung erkannte.
Auf diesen allgemeinen Grundlagen formierte sich der H. seit Beginn des 19. Jh.s in einer
komplexen Mischung politischer und epistemologischer Motive:
(1) Politisch lässt sich der H. als eine Reaktion auf die Französische Revolution und ihren
Export im Zuge der Befreiungskriege begreifen (vgl. auch Jakobinismus). Letztere wurden nach
anfänglicher Revolutionseuphorie insbes. in den dt. Gebieten als Fremdherrschaft empfunden,
auf die angesichts des Zusammenbruchs des politischen Systems v. a. kulturell geantwortet
werden musste. Damit hatte der H. zum einen teil an der kulturpolitischen Bildungsbewegung
des Neuhumanismus. Zum anderen lässt er sich – in Reaktion auf die nationalen
Mobilisierungse fekte der Befreiungskriege – auch als wichtiges Element der bürgerlichen
Freiheits- und Nationalbewegung der ersten Hälfte des 19. Jh.s. verstehen (Nation), indem er sie
historisch legitimierte.
(2) Epistemologisch formierte sich der H. in der dt. Wissenschaftskultur v. a. in einem
spannungsreichen Verhältnis zur idealistischen Geschichtsphilosophie [24]. Mit ihr teilte er die
Kritik am au lärerischen Pragmatismus und seinem Denken in Ursache-Wirkung-Relationen,
an dessen Stelle eine Konzeption von Geschichte als einer Selbsthervorbringung des
menschlichen Geistes trat (Idealismus). Gleichzeitig de nierte sich der H. jedoch auch in
o fener Gegnerschaft zur idealistischen Geschichtsphilosophie als eine auf empirischer
Forschung basierende, methodisch operierende Wissenschaft (Historische Methode;
Objektivität). Leopold von Ranke etwa grenzte sich in seinen Vorlesungen der 1830er Jahre
deutlich von dem Prinzip der Geschichtsphilosophie ab, »die Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen aus dem spekulativen Begri f zu deduzieren; – denn jenem Begri f der
Spekulation entzieht sich und entweicht auf allen Seiten die Realität der Tatsache« [5. 75].
Wilhelm von Humboldt gelang es in seinem berühmten Aufsatz Über die Aufgabe des
Geschichtschreibers (1821), einzelne Impulse der idealistischen Philosophie und der
empirischen Forschung zu einer wirkungsmächtigen Konzeption der histor. Hermeneutik zu
integrieren; diese Schrift kann daher mit Recht als ein entscheidendes Gründungsdokument
des H. gelten [2].
Auf diesen von der ersten Generation des H. um Humboldt, Ranke, Savigny, Barthold Georg
Niebuhr und August Boeckh erarbeiteten Grundlagen entfaltete sich der H. bis zur Mitte des
19. Jh.s als dominantes Paradigma der histor. Geisteswissenschaften. Er repräsentiert so eine
zentrale Epoche in der Entwicklung der histor. Forschung hin zu einer autonomen wiss.
Disziplin. Von entscheidender Bedeutung war die Erarbeitung einer theoretisch-methodischen
Grundlage, wie sie sich am anspruchsvollsten bei Droysen ndet. Im Zentrum seiner Historik
(1858, gedr. 1868) steht die Frage nach der Struktur des histor. Verstehens, mit dessen Hilfe aus
den »Geschäften« der Vergangenheit und dem objektiven »Verlauf von Dingen« [1. 7] die
»Geschichte« als subjektiver und erzählend dargelegter Erfahrungsinhalt entsteht, welcher erst
in dieser histor. »vergegenwärtigten« Form zu einem kulturellen Orientierungsfaktor der
Gegenwart werden kann (s. o. 2.1.).
Droysen sah das »Wesen der geschichtlichen Methode« darin begründet, »forschend zu
verstehen« [1. 22]. Damit meinte er ein Verfahren, das sich im methodischen Dreischritt von
Heuristik, Kritik und Interpretation vollzieht. Erst die Letztere transformiere im Akt der
Deutung ein vergangenes Geschehen zu einem gegenwärtigen Wissen über dieses Geschehen
und ermögliche durch diese histor. Vermittlung von Subjekt und Objekt, Gegenwart und
Vergangenheit sowohl methodisch überprü are, d. h. wahrheitsfähige, als auch histor.
relevante, d. h. kulturell orientierungsfähige Erkenntnis.
/
Auch den Prozess der Autonomisierung und Verwissenschaftlichung der
Geschichtswissenschaft trieb der H. im 19. Jh. entscheidend voran. Nach wichtigen
Vorbereitungen der Spätau lärung entstanden v. a. unter seiner Ägide die Institutionen, die die
Geschichtswissenschaft, aber auch die breitere Geschichtskultur ganz Europas bis heute
prägen: so etwa das histor. Seminar als universitäre Lehr- und Lernform; die Ausdi ferenzierung
des Forschungsbetriebs im Rahmen spezialisierter Lehrstühle und Epochenabteilungen; das
spezielle Berufsbild des Historikers als einer eigenständigen Profession; die Au ereitung und
Katalogisierung von Bibliotheks- und Archivbeständen unter dezidiert histor. Gesichtspunkten;
die Verankerung langfristig angelegter Forschungsvorhaben und Quellen-Editionen – etwa der
Monumenta Germaniae Historica (MGH; ab 1824) oder des Corpus Inscriptionum Graecarum
(CIG; ab 1815) und Latinarum (CIL; ab 1853) – an wiss. Akademien; oder die Entfaltung eines
ausdi ferenzierten histor. Zeitschriften- und Rezensions-Wesens (Fachzeitschrift).
Über diese wissenschaftsinternen Entwicklungen hinaus wirkte der H. auch in das weite Feld
der ö fentlichen Geschichtskultur und des kollektiven Gedächtnisses hinein (
Geschichtsbewusstsein), vgl. z. B. die histor. Denkmalp ege, die gerade im 19. Jh. orierenden
histor.-nationalen Vereine oder den Ausbau eines wiss. betreuten histor. Museums-Wesens.
Als o fenes Analysekonzept erlaubt es der H.-Begri f, die übergreifenden Denkstrukturen der
histor. Geisteswissenschaften im Europa des 19. Jh.s zu kennzeichnen, ohne die Vielfalt und
Heterogenität unterschiedlicher Strömungen und Positionen auszublenden. Mit Blick auf die
Geschichtswissenschaften lassen sich v. a. drei wichtige Strömungen benennen:
(1) Der politische H., zu dessen Vertretern neben Droysen und Dahlmann in Deutschland
Heinrich von Sybel, Georg Gottfried Gervinus und Theodor Mommsen sowie in Frankreich
François Guillaume Guizot, Augustin Thierry oder Jules Michelet zählten, verdankte sich den
bereits in der postrevolutionären Ära der Befreiungskriege aufgetretenen nationalen Impulsen.
H. wurde hier zur politischen Kulturgeschichte, welche die Entwicklung von Freiheit, Nation
und bürgerlicher Gesellschaft histor. darlegte, um im Sinne ihrer kontinuierlichen
Fortschreibung in der Gegenwart politisch handlungsfähig zu sein. Histor. Objektivität ist
daher – anders als für Ranke – nicht nur mit »politischer Pädagogik« (Mommsen) vereinbar,
sondern geradezu identisch mit der Parteilichkeit für die Zwecke der Nation, da deren
Fortschritt den Kern des Geschichtlichen ausmacht. Dies erklärt auch, warum diese Historiker
zu den wichtigsten politischen Intellektuellen des Liberalismus des Vormärz gehörten (vgl.
Paulskirchenversammlung).
(2) Der ästhetische H. [23] stand zu dieser politischen Strömung in deutlichem Widerspruch.
Jacob Burckhardt negierte nicht nur jede Verzahnung von histor. Forschung und politischem
Interesse, sondern überhaupt die Vorstellung von Geschichte als Fortschritt der Freiheit im
Gewande der bürgerlichen Gesellschaft und des modernen Nationalstaats. Vielmehr folgte
seine histor. Rekonstruktion der alteurop. Kunst und Kultur dem Impuls einer Rettung
sinnbestimmter Lebensformen der Vergangenheit vor dem Zugri f einer sinnentleerten
/
industriellen Moderne und einer politisch ideologisierten Massenkultur. H. wurde so zum
ästhetischen Gedächtnis einer kulturellen Überlieferung, deren Fortsetzungsfähigkeit in der
Gegenwart auf dem Spiel stand [11]; [14. 86–181]; [21. 276–328].
(3) Der ökonomische H. bildete sich in der ersten Hälfte des 19. Jh.s aus; zu ihm zählen
einerseits Georg F. W. Roscher, Karl Knies und Bruno Hildebrand als Vertreter der älteren histor.
Schule der dt. Nationalökonomie (Historische Schule), im weiteren Sinne aber auch Lorenz
von Stein als einer der Gründer der dt. Soziologie und Gesellschaftswissenschaft. Gemeinsam
war ihnen, dass sie sich bereits der Sozialen Frage als einer histor. Herausforderung ihrer
Gegenwart bewusst waren und ihr intellektuell begegneten, indem sie, so Knies, »die politische
Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode« betrieben [3]. Obwohl der H. mit
seinem vornehmlich an Politik, Staat, Kunst und Kultur orientierten Geschichtskonzept ein
weitgehend präindustriell geprägtes Phänomen blieb, re ektierte er im Kontext dieser
Strömung auch die mit der Industrialisierung einhergehenden Erfahrungen bereits intensiv.
Friedrich Jaeger
Bibliography
Quellen
[3] K. K , Die politische Ökonomie vom Standpunkte der geschichtlichen Methode, 1853
[4] F. N , Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der
Historie für das Leben (1874), 3. Abt., 1972, 239–330
Sekundärliteratur
/
[6] M. B et al. (Hrsg.), Historismus und literarische Moderne, 1996
[9] D. F , Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen dt. Geschichtsschreibung
1760–1860, 1996
[21] J. R , Kon gurationen des Historismus. Studien zur dt. Wissenschaftskultur, 1993
[22] L. A. S , Geschichte und Historismus in der dt. Tradition des politischen und
ökonomischen Denkens, in: G. S (Hrsg.), Historismus am Ende des 20. Jh.s, 1997, 127–145
[28] A. W , Historismus. Zur Geschichte des Begri fs und des Problems, 1992.
3. Architektur
3.1. Voraussetzungen
Die Architektur des 19. Jh.s wird aufgrund ihrer vermehrten Bezugnahme auf histor. Bauformen
als Architektur des H. bezeichnet. Hiermit wird zwar nur ein Aspekt der Baukunst in der
Entstehungsphase des bürgerlich-industriellen Zeitalters bes. hervorgehoben, dieser markiert
jedoch tre fend das Spezi sche und verweist auf vergleichbare Tendenzen in der Bildenden
Kunst (Stil; Epoche), Literatur (Historischer Roman) und Musik (Romantik) [14].
Charakteristika wie die Verwendung antiker, ma. oder nzl. Formen sowie die Gleichzeitigkeit
unterschiedlicher histor. Architekturstile sind nur im Rahmen der kulturellen und wiss.
Entwicklungen des 19. Jh.s zu verstehen (s. o. 2.). Auch ist im H. der Rezeptionsvorgang
vergangener Bauformen nicht als bloßes Kopieren abzuwerten, sondern als innovativer Prozess
zu verstehen [19]. Der Parameter des Historischen hatte in der Architekturgeschichte (
Architekturtheorie) immer eine Rolle gespielt: Bereits in Romanik und Renaissance wurden
antike Formen zitiert, und im Barock wurde teilweise auf gotische Elemente zurückgegri fen
(Barockgotik) [24]. Der Hauptunterschied in der histor. Aneignung bestand darin, dass im 18.
Jh. vereinzelt (z. B. in Wörlitz), im 19. Jh. dann generell mehrere histor. Stile gleichzeitig und
gleichwertig nachgeahmt wurden (histor. Relativismus) und dass ein neuer wiss. Stilbegri f zu
einem Streben nach der Konstruktion eines eigenen Stils führte (wiss. Stilkonstruktion).
Neben der retrospektiven Formensuche zeichnete sich die Architektur des 19. Jh.s v. a. durch
technische und strukturelle Neuerungen aus, die mit den gravierenden wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Veränderungen der Industrialisierung in Verbindung stehen. Neue
Bauaufgaben und -typen entstanden und erforderten die Entwicklung neuer Baumaterialien
und Konstruktionsverfahren. Das Konzept der modernen Großstadt, das im 19. Jh. seine
Wurzeln hat, beinhaltete neue Richtlinien des Städtebaus, die weitreichende Auswirkungen
auf die Projektierung städtischer Bauten hatten [8]; [17]; [20]. Schließlich ist die politische
Konstellation des 19. Jh.s (Herausbildung der Nationalstaaten, des Imperialismus und
Kolonialismus) zu berücksichtigen, da histor. Baustile in diesen Kontexten als Mittel der
staatlichen Machtdemonstration mithilfe von Konstrukten einer nationalen Geschichte
instrumentalisiert wurden [15]; [23].
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Der H. in der Architektur im engeren Sinn lässt sich auf die Zeit von etwa 1820/30 bis um 1910
begrenzen. Die Phase davor war von Ansätzen des Klassizismus und der Romantik geprägt, die
bereits intensivere Rezeption von Antike und Gotik aufweisen ( Antikerezeption) [9]. Nun kam
jedoch mit dem Beginn der Instandsetzung und der Vollendung bedeutender histor. Bauten im
Zeitalter der Restauration die wiss. Aufarbeitung der histor. Baustile hinzu, die – gepaart mit
wachsendem Bedürfnis nach nationaler Symbolik – den Architektur-H. mit Stilpluralismus,
Eklektizismus und Stildebatte einläutete.
Generell kann jede Rezeption histor. Stile in der jeweils zeitgenössischen Architektur als H.
bezeichnet werden. Vorrangig aber wird H. als architektonischer Epochenbegri f für die
dominante Richtung des 19. Jh.s verwendet, die durch das Streben nach einer vollständigen
Identi kation mit den übernommenen histor. Baustilen und durch die Aufgabe eigener
Formensuche gekennzeichnet ist. Eklektizismus (ursprünglich negativ konnotiert als
»unschöpferische Nachahmung«) charakterisiert die Wahlfreiheit zwischen den
unterschiedlichen Stilen im H. und stellt darüber hinaus eine Sonderform des H. dar, bei der
histor. Formen unterschiedlicher Zeitstile an einem Bauwerk zusammen auftreten (vgl. Abb. 1).
3.3.1. Allgemein
3.3.2. Deutschland
Zwischen 1840 bis 1850 wurde der Stildiskurs auch auf der theologisch-politischen Bühne
ausgetragen. Exemplarisch war der radikale Standpunkt August Reichenspergers, des Vertreters
der Neugotik. In seiner Streitschrift Die christlich-germanische Baukunst und ihr Verhältnis zur
Gegenwart polemisierte er gegen die Akademiker, die durch ihre Fokussierung auf die Antike
den wahren Wert des Mittelalters nicht erkannten [6].
/
Ab der Mitte des 19. Jh.s wurde der H. allmählich als Zeitstil verstanden und der Stilpluralismus
als Merkmal der eigenen Zeit anerkannt. In der Baupraxis kam es zu Versuchen, einen jeweils
eigenen Stil zu manifestieren. Das wichtigste Großprojekt dieser Art war die Ausschreibung des
bayer. Königs Maximilian II. für das Athenäum (später Maximilianeum) in München, das von
Friedrich Bürklein 1857–1874 realisiert wurde.
Ab 1860 aute die Debatte ab. Jeder histor. Stil hatte nun aufgrund seiner Formästhetik,
Konstruktionsart und geschichtlichen sowie nationalen Bedeutung seine Berechtigung. Der dt.
Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt beschrieb dies 1883: »Der Stil unseres Jahrhunderts sei eben
der Streit um die geschichtlichen Kunstformen, der Kampf der verschiedenen Stile
untereinander, das Anlehnen an viele, das Wiederaufnehmen der Gesamtentwicklung früherer
Scha fensart« [3. 456].
3.3.3. Großbritannien
In Großbritannien, dem Ursprungsland der Neugotik, die sich dort bereits am Beginn des 18.
Jh.s zunächst als lit. Bewegung – die sog. gothic novels, z. B. Horace Walpoles The Castle of
Otranto (1764; »Das Schloss von Otranto«) – und in der Ästhetik des Landschafts-Gartens
entwickelt hatte, etablierte sich im 19. Jh. die Neugotik als gleichwertiger Stil gegenüber dem
Klassizismus und dem Palladianismus. Um die Mitte des 19. Jh.s entbrannte in Verbindung mit
dem Neubau der Houses of Parliament in London durch Charles Barry (vgl. Abb. 3) ein Streit
über den passenden histor. Stil für ö fentliche Gebäude, die bis dahin v. a. eine antikisierende
Formensprache aufwiesen (so z. B. die Royal High School in Edinburgh von Thomas Hamilton,
1825–1829, deren Vorbild die Athener Akropolis war).
3.4.1. Allgemein
Trotz der Gleichzeitigkeit der Präsentation histor. Bauformen aus unterschiedlichen Epochen
gab es im H. selbst eine inhärente stilgeschichtliche Entwicklung, die zu der Herausbildung der
Neo-Stile führte. Diese lassen sich nicht mit der Abfolge der histor. Epochen gleichschalten:
Ihre Genese erfolgte vielmehr nach Kriterien wie (1) ihrer wiss. Wiederentdeckung und
Kategorisierung (v. a. durch Restaurierungen und Rekonstruktionen), (2) ihrer Anwendung auf
spezi sche Baugattungen, (3) ihrer jeweiligen Bedeutung für Religion und Nation und (4)
aufgrund der persönlichen Vorlieben der Entscheidungsträger für bestimmte histor. Stile. Nach
einer groben zeitlichen Einteilung stehen am Beginn des H. um 1830 Neugotik und
Rundbogenstil; in der Mitte des 19. Jh.s etablierte sich die Neurenaissance und um 1870 kamen
Neuromanik, Neubarock und Neuklassizismus hinzu.
3.4.2. Rundbogenstil
Der Terminus »Rundbogenstil« wird heute als Stilbegri f für dt. Bauten der ersten Hälfte des
19. Jh.s verwendet, bei denen Grundformen von Antike und Romanik (z. B. Rundbogen oder
Säulenarkade) rezipiert wurden [13]. Daneben nden sich v. a. Formen von Klassizismus und
Neurenaissance. Daher ist der Rundbogenstil, der als Material hauptsächlich Backstein
einsetzt, auch nicht als eine besondere Stilvariante oder als Vorstufe der Neuromanik
anzusehen (s. u. 3.4.5.). Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s entstanden Bauten im
Rundbogenstil, zeitlich parallel zu neuromanischer Architektur, so z. B. der Hauptbahnhof in
Hannover von Hubert Stier (1876–1880).
3.4.3. Neugotik
In Europa etablierte sich die Neugotik als geistig-religiöse Weltanschauung und als
Ausstattungs-, Dekor- sowie Konstruktionsstil ab den 1830er Jahren, maßgeblich initiiert durch
Restaurierungen bedeutender gotischer Bauten wie des Kölner Doms (Weiterbau 1842–1880
unter Ernst Friedrich Zwirner und Richard Voigtel, vgl. Abb. 4) oder der Pariser Kathedrale
Notre Dame (1844 unter Viollet-le-Duc) [16]; [22] oder in Italien durch Diskussionen um die
Gestaltung der Florentiner Domfassade.
3.4.4. Neurenaissance
/
Die Neurenaissance ist eine Stilrichtung der europ.
Architektur, bei der ab 1820/30 in Abwendung von der
klassizistischen Bautradition Formen v. a. der ital.
Hochrenaissance sowie der nordalpinen Renaissance
rezipiert wurden [18]; [21]. Erste Projekte wurden in
Deutschland von Gottfried Semper mit seinen Bauwerken
in Dresden (Erstes Hoftheater, 1838–1841; Palais
Oppenheim, 1848), von Leo von Klenze (Alte Pinakothek
in München, 1826–1836) und Friedrich von Gärtner
(Gebäude in der Münchener Ludwigstraße) realisiert.
Bes. für ö fentliche und private Profanbauten wie
Rathäuser, Parlamentsgebäude, Wohnhäuser, Villen und
Schlösser (Schlossbau) kam die Neurenaissance als
Baustil in ganz Europa zum Einsatz.
3.4.5. Neuromanik
Abb. 4: Kölner Dom (Vollendung
Die Neuromanik ist ein zwischen 1850 und 1914 häu g 1842–1880). Der unfertige ma.
verwendeter Stil des H., dessen Hauptmerkmal die Kölner Dom wurde im 19. Jh.
Rezeption und Umsetzung mehrheitlich romanischer unter Verwendung
Formen ist [19]. Seine beiden Haupttendenzen in Europa wiederentdeckter ma. Planrisse
und Nordamerika sind die neubyz. Richtung, bei der als neugotische Kathedrale mit
Vorbildbauten wie z. B. die Hagia Sophia in Istanbul westlicher Zweiturmfront
rezipiert wurden [11], und die neustau sche Richtung, die vollendet. U.a. von Joseph Görres
das Formenrepertoire romanischer Burgen und Kirchen und Sulpiz Boisserée ideell und
des 12.–13. Jh.s umsetzte. Häu g wurden beide vom preuß. Staat nanziell
Formprogramme auch an einem Bau kombiniert (vgl. unterstützt, wurde die
Abb. 5). Vollendung zu einem Symbol
der nationalen Einheit und der
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Eklektizismus | Klassizismus | Mittelalterrezeption |
Nationaldenkmal.
Renaissance | Romantik
Stefanie Lieb
Bibliography
Quellen
[3] C. G , Zur Befreiung der Baukunst. Ziele und Taten dt. Architekten im 19. Jh., 31907
/
[4] H. H , In welchem Style sollen wir bauen?, 1828
Sekundärliteratur
[14] H. F (Hrsg.), Der Traum vom Glück. Die Kunst des Historismus in Europa (Ausst.kat.,
Wien), 1996–1997
[21] K. M , Neorenaissance in der dt. Architektur des 19. Jh.s. Grundlagen, Wesen und
Gültigkeit, 1981
[24] L. S , Gotik im Barock. Zur Frage der Kontinuität des Stiles außerhalb seiner
Epoche. Möglichkeiten der Motivation bei der Stilwahl, 1990.
Jaeger, Friedrich and Lieb, Stefanie, “Historismus”, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und
in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Copyright © J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst
Poeschel Verlag GmbH 2005–2012. Consulted online on 14 May 2020 <http://dx-doi-org.uaccess.univie.ac.at/10.1163/2352-0248_edn_COM_280969>
First published online: 2019