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Programmatische Kommentare und Repliken

Susanne Leeb* und Ruth Sonderegger**

Plädoyer für eine


kulturwissenschaftliche Ästhetik aus
Perspektive der cultural studies

© 2016 Susanne Leeb, Ruth Sonderegger, licensee De Gruyter Open.


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Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2016 57

Abstract: Our comment on Hartmut Böhme advocates an approach to aesthetics that is mainly
inspired by British cultural studies. In the wake of the foundation of the „Kulturwissenschaftliche
Gesellschaft” and its journal we suggest, on the one hand, a relentless reflection on essentialist and
colonialist power structures inherent in the concept of culture, particularly in the German speaking
world. On the other hand, we plea for the provincialization of European aesthetics as well as for the
acknowledgement of the manifold entanglements between European and non-European accounts of
aesthetics.

Keywords: cultural studies, dekoloniale Ästhetiken, decolonial aesthetics, entangled histories, essen-
tialistische und/oder rassifizierende Kulturbegriffe, Eurozentrismus der Ästhetik, high/low, Macht­
kritik, postcolonial studies, Provinzialisierung Europas, self-othering, critique of power

*Prof. Dr. Susanne Leeb: Institut für Philosophie und Kulturwissenschaft, Leuphana Universität Lüneburg, Scharn-
horststraße 1, C5.410, D-21335 Lüneburg, email: susanne.leeb@leuphana.de
**Prof. Dr. Ruth Sonderegger: Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Akademie der bildenden Künste Wien,
Schillerplatz 3, A-1010 Wien, email: r.sonderegger@akbild.ac.at

1 Kritik an kolonialen gilt für den Begriff der Kultur, zumal in seiner
deutschsprachigen Herkunft. Gerade in einem
Kulturbegriffen
Gründungsmoment – desjenigen der Kulturwis-
senschaftlichen Gesellschaft und ihrer Zeitschrift
Wenn zur Moderne ebenso wie zu den Kulturwis-
– steht die Frage im Raum, worauf die Gründung
senschaften eine Reflexivitätszunahme gehört,
sich gründet. Dass die deutschsprachige Tradition
wie Hartmut Böhme im ersten Absatz seiner
der Kulturwissenschaften des 19. Jahrhunderts
Überlegungen schreibt, dann stehen so zentrale
Rasseanthropologien und essentialistische wie
Begriffe wie „Moderne“ und „Kultur“ ebenfalls
kolonialistische Kulturbegriffe mitgetragen hat,
zur Disposition – insbesondere in historischer
sollte im Moment des postulierten Anfangs oder
und geopolitischer Hinsicht. Nach den vielfälti-
Neuanfangs ebenso Thema sein wie die Rolle des
gen von anti-, post- und dekolonialen Ansätzen
deutschen Kulturbegriffs im Nationalsozialismus.2
formulierten Einwänden gegen die Setzung euro-
Wenn es bei Böhme unter dem Stichwort
päischer Modernitätsansprüche als der Moderne
„Entwicklungen der Moderne in den letzten 250
schlechthin, hat dieser Begriff jeden Anschein
Jahren“ nicht zuletzt um die „Funktionen der sog.
von Selbstverständlichkeit verloren.1 Ähnliches
freien und der nützlichen Künste“ (vgl. Böhme in
diesem Heft) geht, verstehen wir die Hinterfra-
1 Vgl. dazu für das Feld der Künste z.B. Mercer (2005) gung dieser modernen Dichotomie als eine Mög-
und Avermaete/Karakayali/von Osten (2010). Vor die- lichkeit, die verpflichtet – unter anderem dazu zu
sem Hintergrund fällt es uns schwer, die hervorgehobene
erkennen, dass die okzidentale Moderne im Hin-
Rolle Europas in den Überlegungen von Böhme nachzu-
vollziehen, etwa wenn er schreibt: „Eine historische Kul-
turwissenschaft versteht ihre Rolle vor allem darin, die pesh Chakrabarty (2007) überzeugend eine notwendige
langwellige Entstehung europäischer Kulturen, aber auch Provinzialisierung Europas stark gemacht. Theoretiker_
ihres Zugs zur Globalisierung zu untersuchen. [...] Insbe- innen wie Valentin Mudimbe oder Gayatry Chakravorty
sondere erweisen sich die Künste und die Techniken als Spivak haben gegen die genannte Vorstellung schon seit
Motoren übernationaler, ‚europäischer‘ Praktiken und kul- langem protestiert. Das Universalismusproblem, an dem
tureller Leitbilder. In dieser longue durée ist Kulturwissen- solche Autor_innen arbeiten, wäre auch für die Ästhetik-
schaft zu situieren.“ (vgl. Böhme in diesem Heft) Gegen diskussion produktiv zu machen.
diese Vorstellung, wonach der Fortschritt von Europa aus 2 Instruktiv für v.a. das 19. Jahrhundert ist in dieser Hin-
in die Welt hinaus getragen wird, hat beispielsweise Di- sicht beispielsweise Smith (1991).

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blick auf ihre eigenen Prämissen nicht einmal halb Zirkulation von ästhetischen Zeichen den Cultural
so reflexiv ist, wie sie gerne von sich behaup- Studies zufolge jedoch kein panoptisches Gefäng-
tet. Wir möchten daher skizzieren, mit welchen nis. Vielmehr geht es darum, die Möglichkeiten
weiteren Fragen eine Ästhetik aus kulturwissen- der Veränderung – der Um- und Neukodierung,
schaftlicher Perspektive noch befasst sein sollte. wie Stuart Hall damals sagte – zu finden (vgl.
Hall 1980). Es ist kein Zufall, dass die meisten
Vertreter_innen der frühen Birminghamer Cultu-
ral Studies aus der Erwachsenenbildung oder aus
2 Kritik an der Macht der Ästhetik
dem Kultur-Journalismus kamen und über diese
Tätigkeiten für und mit Bevölkerungsgruppen,
Eine im Vergleich mit den deutschen Kulturwis-
die aufgrund von klassistischen und rassialisie-
senschaften weitaus (selbst-)kritischere Ausei-
renden Strukturen ausgegrenzt waren, eine Per-
nandersetzung mit den eigenen Grundbegriffen
spektive im Großbritannien der 1960er, 70er und
zeichnet die Birminghamer Schule der Cultural
80er Jahre verschaffen wollten.4 Dieser Zugang
Studies aus, wie sie am Centre for Contemporary
scheint uns auch heute noch in Bezug auf eine
Cultural Studies (CCCS) entwickelt worden sind
kulturwissenschaftliche Perspektive auf Fragen
(vgl. Sonderegger 2004). Das ist nicht zuletzt
der Ästhetik und der Künste fruchtbar.5
der Überzeugung der Vertreter_innen dieser
Dabei geht es nicht nur darum, die populärkul-
Schule geschuldet, wonach Kulturwissenschaften
turellen Anteile hervorzuheben. Vielmehr besteht
zu betreiben nicht bedeutet, mehr oder weniger
auch aus der Perspektive der heutigen Cultural
positivistisch einer Wissenschaft nachzugehen,
Studies ein wesentlicher Aspekt der Beschäfti-
sondern (Theorie-)Politik zu machen und diese –
gung mit (philosophischer) Ästhetik, Kunsttheo-
im Anschluss an Gramsci und Foucault – in ihren
rie, Kunstgeschichte und Kunst darin, die Politi-
Macht-Effekten immer wieder neu zu verantwor-
ken sowie die intendierten und nicht-intendierten
ten bzw. verändernd in Geschichtsschreibung
Machteffekte spezifischer Einsätze der Begriffe
und Gegenwart einzugreifen.3 In diesem Sinne
Kunst, Kultur und Ästhetik zu analysieren – nicht
verstehen ihre Vertreter_innen auch den Kultur-
zuletzt auch die der jeweils eigenen Einsätze.6
begriff: „[...] cultural studies is both an intellec-
Stellt man diese Machtfrage ins Zentrum, dann
tual and a political tradition. There is a kind of
kann man sich nicht damit begnügen, die Theo-
double articulation of culture in cultural studies,
rien ästhetischer Autonomie mit Rousseau bzw.
where ‚culture‘ is simultaneously the ground on
zur Zeit der Aufklärung beginnen zu lassen und
which analysis proceeds, the object of study, and
darauf hinzuweisen, dass mit der Erfindung der
the site of political critique and intervention.“
(Nelson et al. 1992: 5) Obwohl Machtanalysen
4 Böhme weist zu Recht darauf hin, dass die Cultural Stud-
im Zentrum der Arbeit am CCCS standen, ist die
ies „ohne den politischen Hintergrund der proletarischen
Kultur nicht verständlich wären“ (vgl. Böhme, ebd.). Ins-
3 Diesem Verständnis von Kulturwissenschaft folgend besondere für die britischen Cultural Studies sind die anti-
schreibt etwa Diedrich Diederichsen (1996), S. 54f.: und postkoloniale sowie die migrantische Kultur allerdings
„Diese Wissenschaftler [= Vertreter_innen der britischen ebenso wichtig. Zum Zusammenhang der proletarischen
Cultural Studies] sind stark in allgemeinen gesellschaftli- mit der postkolonialen und der migrantischen Kultur im
chen Auseinandersetzungen eingebunden, veröffentlichen England der 1970er Jahre vgl. Hall (1978).
auch in populären Medien und verbinden so den schon von 5 Zu den Bezugnahmen der deutschsprachigen Kultur-
Raymond Williams in seinen TV-Kolumnen erhobenen An- wissenschaften auf die Britischen Cultural Studies vgl.
spruch, die besagten ‚Kulturen‘ nicht nur zu untersuchen, beispielsweise Ege (2014). Zur Rezeption in den 1990er
sondern, gut gramscianisch, sich als Aktivisten im Kampf Jahren in den kulturwissenschaftlichen Studiengängen vgl.
um ihre Besetzung zu verstehen [...].“ Dass Diederichsens Bromley et al. (1999); vgl. auch die Studiengangvorstel-
Überlegungen in der Spex publiziert wurden, ist kein Zufall. lung von Wuggenig (2001). Zur deutschsprachigen Rezep-
Diese Zeitschrift war eine der entscheidenden Instanzen tion allgemein vgl. Engelmann (1999); Hepp (1999); Hör-
in Sachen deutschsprachige Diskussion und Rezeption der ning/Winter (1999).
britischen Cultural Studies, neben einzelnen frühen Auf- 6 Vgl. etwa Hall/Evans/Nixon (22013). Zu Halls Engage-
sätzen wie etwa in Ästhetik und Kommunikation 24 (1976) ment für Black Art, das schließlich zur Gründung des In-
mit dem Themenschwerpunkt „Freizeit im Arbeiterviertel“. stitute of International Visual Art (iniva) in London führte
Darüber hinaus hatte Diederichsen 1983 Dick Hebdiges vgl. das BBC-Interview mit Hall auf: https://www.youtube.
Buch Subculture: The Meaning of Style (1976) übersetzt. com/watch?v=GK3PX_e44z8.

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freien, selbstgenügsamen Künste auch die nütz- 3 Kritik am Eurozentrismus


lichen nicht verschwinden, was zweifelsohne
der Ästhetik
zutrifft (vgl. Böhme, ebd.). So sehr es stimmen
mag, dass das Rousseau’sche Motiv des Ästheti-
Auch in deutschsprachigen Gründungsdokumen-
schen als eines selbstgenügsamen und erfüllten
ten des selbstgenügsamen ästhetischen Augen-
Augenblicks von Schiller bis zu Adorno fortwirkt
blicks wird die Trennung zwischen der freien
und sich gegen das Faustische Prinzip des „rastlos
und der nicht so freien Kunst auf dem Rücken
Schaffenden“ (vgl. Böhme, ebd.) richtet, das der
des Fremden und Nicht-Männlichen ausgetragen.
beginnende Industriekapitalismus zunehmend
Nicht nur Kants frühe Schrift Beobachtungen über
erbarmungslos einfordert, so sehr verlangte der
das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764)
Industriekapitalismus dies jedoch nicht von allen
bringt das beklemmend krass zum Ausdruck.9
Menschen oder auch nicht nur von allen Euro-
Auch am Beginn der Kritik der Urteilskraft, wo
päer_innen gleichermaßen.7
die reine ästhetische Lust von der unreinen des
Die Setzung selbstgenügsamer ästhetischer
Geschmacks mit aller Gewalt geschieden wird,
Augenblicke hat nicht nur Folgen jenseits der Linie
ist es der „irokesische Sachem“, der die Primiti-
von Schiller zu Adorno – und vielleicht ist sie viel
vität des unreinen Geschmacks der Gaumenfreu-
weniger Setzung und geniale Erfindung als häu-
den verkörpern und erklären muss. Denn Kant
fig behauptet. Es gibt auch Gründe, sie als Re-
zufolge hat der irokesische Sachem keinen Sinn
Aktion auf imperiale und koloniale Verhältnisse zu
für die reine Schönheit von Paris, sondern nur
verstehen. Schon der Ethnologe Karl-Heinz Kohl
für die „Garküchen“ dieser Stadt (Kant: 1974, §
(1981) und in jüngerer Zeit die Philosophin Iris
2). Diese Zuschreibung erklärt das europäische
Därmann (2005) haben dies für die Philosophie
Subjekt zum normativen Ursprung der wahr-
und einzelne Philosophen ebenso gezeigt, wie
haft ästhetischen Erfahrung. Dagegen weist bell
jüngst der Anglist Simon Gikandi mit seiner Dar-
hooks – neben vielen anderen – mit Recht darauf
legung der Verflochtenheit der Geschichte von der
hin: „It is really important to dispel the notion
Kultivierung des Geschmacks mit der Geschichte
that white western culture is ‚the‘ location where
der Sklaverei – eine doppelbödige Geschichte, die
a discussion of aesthetics emerged [...]; it is only
für die Gründungsperiode der englischen Ästhetik
one location“.10
sowie der Institutionen, die daraufhin entstehen,
ausschlaggebend ist.8 Die selbstgenügsamen
9 „Die N* [* von S.L., R.S.] von Afrika haben von der
Augenblicke der Ästhetik, die man mit Böhme aus
Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr
der Geschichte der Arbeit und aus industriekapi-
Hume fodert [sic!] jedermann auf, ein einziges Beispiel an-
talistischer Produktion herleiten kann, sind ohne zuführen, da ein N* Talente gewiesen habe, und behaupt-
handelsimperiale und koloniale Privilegien resp. et: daß unter Hunderttausenden von Schwarzen, die aus
Ausbeutungsverhältnisse nicht denkbar. ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren
sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht
ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in
Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer andern rühm-
lichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich
7 Zu einer internationaleren Kontextualisierung Rousseaus unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrig-
vgl. Därmann (2009), auf S. 73 mit der folgenden Analyse: sten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben
„Zwar liefern Locke und Rousseau die entscheidenden auf- in der Welt ein Ansehen erwerben. [...] Die unter ihnen
geklärten Prinzipien für die politisch-rechtliche Verurteilung weit ausgebreitete Religion der Fetische ist vielleicht eine
des Kolonialismus und die gesetzliche Abschaffung des Art von Götzendienst, welcher so tief ins Läppische sinkt,
transatlantischen Sklavenhandels. Doch dienen nament- als es nur immer von der menschlichen Natur möglich zu
lich ihre Naturzustandskonstruktionen dazu, die Universa- sein scheinet. Eine Vogelfeder, ein Kuhhorn, eine Muschel,
lität dieser Prinzipien mithilfe einer neuen Arbeitswertlehre oder jede andere gemeine Sache, so bald sie durch einige
zugleich lokal zu begrenzen und zwischen verschiedenen Worte eingeweihet worden, ist ein Gegenstand der Vereh-
Rechts- und Raumzonen, zwischen den europäischen Na- rung und der Anrufung in Eidschwüren. Die Schwarzen
tionen einerseits und ihren kolonialen Trabanten Amerika sind sehr eitel, aber auf N*art, und so plauderhaft, daß sie
und Afrika andererseits aufzuteilen.“ mit Prügeln müssen auseinander gejagt werden.“ In: Kant
8 Gikandi (2011). Hier ließe sich Edward Saids “contra- (1993), S.70f.
puntal reading” anführen, wie er es in seinem Buch Culture 10 hooks (2015), S.103-113. Dieser Aufsatz ist nicht zu-
and Imperialism (1993) entwickelt hat. letzt deshalb instruktiv, weil bell hooks sich für die Trenn-

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Schließlich müsste die ästhetische Tradi- 18. Jahrhundert nicht nur von einem sich zertei-
tion, die in den Augen von Böhme von Schiller lenden und zerteilten Subjekt zeugen, sondern
zu Adorno führt, auch dahingehend kontextuali- auch von Kolonialgeschichte. So hat die Hispanis-
siert (und ‚provinzialisiert‘) werden, dass sie mit tin und Komparatistin Lizabeth Paravisini-Gebert
ästhetischen Theorien und Praktiken konfrontiert in „Colonial and Postcolonial Gothic“ betont, dass
wird, die sich nicht von der, selbstredend auch in die Schauerliteratur seit ihren Anfängen im Eng-
der europäischen Kunst und Kunsttheorie immer land und Frankreich des späten 18. Jahrhunderts
wieder umstrittenen Trennlinie zwischen freien ganz wesentlich an koloniale Schauplätze, Cha-
und nützlichen, hohen und niedrigen Künsten raktere und Realitäten gebunden war: „With the
her verstehen. Polynesische Tätowierungen etwa inclusion of the colonial“, so Paravisini-Gebert
wurden der europäischen Kategorie des zweck- (2002: 229), „a new sort of darkness – of race,
losen Ornaments subsumiert, obwohl sie sozi- landscape, erotic desire and despair – enters the
ale Marker und Individualitätszeichen sind (vgl. Gothic genre [...].“11 Sie hebt auch ganz kon-
Leeb 2015). Gemäß dem marokkanischen Dich- krete Verstrickungen hervor: So war William
ter Abdelatif Laabi, Mitbegründer der Zeitschrift Beckford – Autor von Vathek, einem orienta-
Souffles, die in den 1960er Jahren in Marokko listischen Schauerroman von 1786 – der Erbe
erschien, war die Trennung in „High“ und „Low“ eines enormen Vermögens aus drei Generationen
eine Spaltung, gegen die anzuarbeiten zur wich- Zuckerplantagenbesitzern in Jamaica und ver-
tigsten Herausforderung für (in seinem Fall) nord- trat die Interessen von Sklavenbesitzern auf den
afrikanische Künstler_innen und Intellektuelle Westindies im britischen Parlament (vgl. Para-
der Dekolonialisierung geriet, um einen folkloris- visini-Gebert 2012: 230). Auch wenn Autor und
tischen bis paternalistischen Blick auf lokale Kul- Erzählung resp. ästhetische Strategien immer zu
turproduktion zurückzuweisen (vgl. von Osten/ trennen sind, wäre hier im Sinne eines kulturel-
Maharaj 2013: 141). len Unbewussten zu untersuchen, inwieweit die
Mit einer kulturwissenschaftlichen Perspektive Beteiligung am Sklavenhandel und am kolonialen
steht auch zur Debatte, welche Vorstellungen von Unterfangen sich in Ästhetiken der Gothic Novel
Sinnlichkeit dem ästhetischen Urteil zugrunde lie- niedergeschlagen hat.
gen und in welcher Weise die okzidentale Rede Es wäre aus kulturwissenschaftlicher Per­
von sinnlicher Erkenntnis einer sehr westlichen spektive überdies zu fragen, ob auch die Ästhetik
Geist/Körper-Dichotomie geschuldet ist. Weiter- als Phänomenologie ein eurozentrisches Subjekt
hin ist zu fragen, auf welchen normativen Vor- privilegiert. Denn was bedeutet es für Merleau-
stellungen diese Sinnlichkeit basiert und etwa Pontys Philosophie, dass er sich für Paul Gauguin
die Privilegierung des Blicks zu problematisieren, interessierte, der sich ein Südseeideal zu koloni-
von der der amerikanische Kunst-, Medien- und alen Bedingungen schuf?12 Wie ist ‚der Mensch‘
Kommunikationswissenschaftler Nicolas Mirzoeff verfasst, auf dem eine phänomenologische Ästhe-
schreibt: „all visuality was and is imperial visu- tik basiert? Inwieweit beinhaltet etwa Merleau-
ality, the shaping of modernity from the point Pontys Ansicht, wir alle seien Invaginationen des-
of view of the imperial powers.“ (Mirzoeff 2011: selben Fleisches, welches nicht als Materie oder
196) Weiterhin liegt es angesichts des Wissens Geist zu denken sei, sondern als Stoff, der sich in
um die Verknüpfung von Rassenlehre und Ästhe- allen Dingen und Körpern manifestiert, noch ein
tik im 18. Jahrhundert und der Tatsache, dass eurozentrisches Subjekt? Welches Subjekt- und
gerade die Kategorie der Schönheit an moralische Ontologieverständnis liegt demgegenüber einer
Überlegenheitsvorstellungen geknüpft war (vgl. relationalen Ästhetik zugrunde, wie sie etwa der
etwa Lettow (2010); Bernasconi 2001), nahe,
eine Analytik der Macht in Bezug auf die Kate- 11 Die Schauerliteratur war „[...] fundamentally linked to
gorie der Schönheit vorzunehmen. Ebenso ist zu colonial settings, characters, and realities as frequent em-
untersuchen, inwieweit die ästhetische Kategorie bodiments of the forbidding and frightening [...]. By the
1790s Gothic writers were quick to realize that Britain’s
des Erhabenen, die Entdeckung des ‚Dunklen‘ im
growing empire could prove a vast source of frightening
‚others’ [...].“ (Paravisini-Gebert 2002: 229)
linie zwischen den freien und den nützlichen Künsten of- 12 Vgl. zu Merleau-Pontys Bezügen auf Cézanne aber
fensiv nicht interessiert. auch Paul Gauguin: Carbone (2011).

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karibische Philosoph und Schriftsteller Eduard Süden‘ per se. Solche Effekte sind vielmehr den
Glissant mit seinen Überlegungen zur Créolité jeweiligen Verflechtungen geschuldet, in die eine
vorschlägt und damit allen „Ursubstanzen“ eine ästhetische Praxis nicht weniger als eine ästheti-
Absage erteilt? sche Theorie durch ihre materielle und geopoliti-
sche Gebundenheit interveniert und die sie mikro-
politisch mitkonfiguriert. Eine solche Perspektive
ist nicht nur historisch zu sehen: Heute, um an
4 Ausblick
Böhmes Bemerkungen zur Arbeit anzuschließen,
betrifft es die viel diskutierten Fragen, inwieweit
Wenn man so fragt, hat man es allerdings nicht
der globale Kapitalismus nicht nur durch die Aus-
nur mit einer kulturwissenschaftlichen Perspek-
beutung von Körpern, sondern ebenso von Nei-
tive, sondern mit eminent philosophischen Ange-
gungen, Emotionen und Affektivitäten funktioniert
legenheiten zu tun. Denn was wäre eine kriti-
und wie eine emanzipatorische ästhetische Praxis
sche Philosophie anderes als die Befragung der
hier intervenieren kann. Eine den Cultural Studies
Voraussetzungen und Prämissen? Den Zusatz
verpflichtete Ästhetik wäre also eine solche, die
„kulturwissenschaftlich“ braucht man vielleicht
erstens die Ästhetik(geschichte) auf ihre geo- und
auch nur dort, wo die philosophische Diszip-
machtpolitischen Implikationen hin befragt, zwei-
lin der Ästhetik ihre eigenen Grundlagen nicht
tens verflochtene Allianzen in den Vordergrund
ausreichend ‚provinzialisiert‘ und ihre über den
stellt und drittens im Sinne Glissants nach einer
Imperialismus hinausgehenden machtpolitischen
relationalen Ästhetik fragt. Ob der Zusatz „kul-
Verflechtungen nicht konsequent genug befragt.
turwissenschaftlich“ bei einer Hinterfragung der
Eine in diesem Sinn von den Cultural Studies her
jeweiligen Gründungsfiguren einer Ästhetik und
verstandene Ästhetik – und das ist die Perspek-
der Anerkennung der Pluralität der Kontexte und
tive für die Gegenwart, die wir eröffnen möchten
Bedingungen dann auch tatsächlich zu streichen
– stellt ein kritisches Instrumentarium insbeson-
wäre, hängt von der (Selbst-)Kritikfähigkeit der
dere in Bezug auf die okzidentale Tradition zur
jeweiligen Ästhetik ab.
Verfügung.
Zur kulturwissenschaftlichen Provinzialisie-
rung dieser Tradition der Ästhetik gehört es, die
eigenen Grundbegriffe darauf hin zu befragen, Literaturverzeichnis
welchen Verflechtungen sie sich verdanken und
welche ästhetische Traditionen sie nicht fassen Avermaete, Tom/Karakayali, Serhat/Osten, Marion von
(Hgg.) (2010): Colonial Modern: Aesthetics of the
können. Dazu gehört aber auch die ästhetischen
Past, Rebellions for the Future. London: Black Dog
Begriffe zu pluralisieren, und zwar noch über die
Publishing.
Intervention in die Geist-Körper-Dichotomie oder Bernasconi, Robert (2001): Who Invented the Concept of
in die Hierarchie zwischen reinem und angewand- Race? Kant’s Role in the Enlightenment Construction
tem bzw. nützlichem Schönen hinaus, wie dies of Race. In: Bernasconi, Robert (Hg.): Race. Malden/
schon längst im Rahmen dekolonialer Ästheti- MA: Blackwell, S. 11-36.
Bromley, Roger/Göttlich, Udo/Winter, Carsten et al.
ken geschah und geschieht. Diese Öffnung gibt
(Hgg.) (1991): Cultural Studies: Grundlagentexte zur
die philosophisch-kulturwissenschaftliche Ästhe- Einführung. Lüneburg: zu Klampen Verlag.
tik, für die wir plädieren, keinem schieren Rela- Carbone, Mauro (2011): La chair des images: Merleau-
tivismus preis. Gerade eine Ästhetik, die im Zwi- Ponty entre peinture et cinema. Paris: Vrin.
schenreich des Streits zwischen unterschiedlichen Chakrabarty, Dipesh (2007): Provincializing Europe
Postcolonial Thought and Historical Difference.
Ästhetiken operiert und keine für gegeben hält,
Princeton: Princeton University Press.
wird sich darum bemühen, die eigenen Argumente
Därmann, Iris (2005): Fremde Monde der Vernunft. Die
und Vorurteile auf den Tisch zu legen. Damit kann ethnologische Provokation der Philosophie. München:
sie das werden, was sie auch schon in der Vergan- Fink.
genheit punktuell war: ein potenzielles Residuum Därmann, Iris (2009): Landnahme, Menschennahme.
von self-othering und verflochtenen Allianzen. John Locke und der transatlantische Sklavenhandel.
In: Volker Gottowik et al. (Hgg.): Zwischen
Dass sie im Effekt bisweilen regiozentrisch sein
Aneignung und Verfremdung: ethnologische Gratwan-
mag, liegt dann nicht am ‚Westen‘ oder ‚globalen

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