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Tobias J.

Knoblich

Das Prinzip Soziokultur ± Geschichte und


Perspektiven

gleichsam erst nach sich zieht. Aus durch und


I. Von der Geschichte zur durch kritischen Impulsen geboren und in der
Perspektive Gegenwart agierend, ist das kritische Prinzip
selbst Gegenstand des suchenden Rçckblickes
geworden. Je stårker dabei nach dem Warum des
Soziokultur ist eine problematische Græûe, sowohl Erfolges, nach zeitgeschichtlichen, aber auch histo-
vor dem Hintergrund ihrer Geschichte als auch rischen Wurzeln soziokulturellen Denkens gefragt
vor dem ihrer Zukunftsaussicht, denn sie entzieht wird, um so bedeutsamer kann die geschichtliche
sich einer eindeutigen Beschreibung. Beide Rekonstruktion fçr die Gestalt zukçnftiger Praxis
Dimensionen werden oft unzureichend in Bezie- oder Theorie sein. Eine Theorie der Soziokultur,
hung gesetzt, doch scheint ihre kritische Zusam- wie sie in allgemeiner Form fçr die Subkultur exis-
menschau immer dringlicher. Gehen wir davon tiert3, steht freilich ebenfalls noch aus. Eines aber
aus, dass die Geschichte dessen, was wir als Sozio- ist gewiss: Wo Geschichte entsteht ± und sie ent-
kultur bezeichnen, wie jegliche Geschichte eine steht zwangslåufig ±, entstehen Fragen an Vergan-
Erkenntnisqualitåt besitzt, dann stehen Gegenwart genheit und Zukunft, insbesondere bei jenen,
und Zukunft mit ihr in einem wichtigen Verhåltnis. denen die Zeitzeugenschaft in groûen Teilen ver-
Dieses Verhåltnis zeichnet sich zunåchst durch wehrt blieb. Je produktiver dabei die Arbeit an
eine Brçchigkeit aus, denn Geschichte ist zum der Geschichte aufgefasst wird, desto vielgestal-
einen der Versuch einer (Re-)Konstruktion des tiger wird diese sein, desto vielgestaltiger werden
Vergangenen (und somit Verlorenen), zum ande- auch die Erkenntnisse sein, die in die Diskussion
ren verlangt sie aber auch ein bestimmtes Erkennt- um konzeptionelle Neubestimmungen Eingang
nisinteresse. ¹Wer sich der eigenen verschçtteten finden.
Vergangenheit zu nåhern trachtetª, schreibt Wal- Die folgenden Gedanken, die einen Ûberblick
ter Benjamin, ¹muss sich verhalten wie ein Mann, çber Geschichte und Perspektiven der Soziokultur
der gråbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, zu geben versuchen, wollen zugleich ein Impuls zu
immer wieder auf einen und denselben Sachver- einer grçndlichen und differenzierten Auseinan-
halt zurçckzukommen ± ihn auszustreuen, wie dersetzung mit Konzepten, Geschichte und bishe-
man Erde ausstreut, ihn umzuwçhlen, wie man riger Praxis sein. Sie gehen davon aus, dass Sozio-
Erdreich umwçhlt.ª1 Hinter Geschichte verbirgt kultur trotz definitorischer Schwierigkeiten als ein
sich ein unermçdlicher Wille zur Erkenntnis, aber
Prinzip der Moderne beschrieben werden kann,
gleichzeitig auch ein Wille zur Kritik, denn jede
dessen Ausformungen diskurs- und bewegungsab-
Erkenntnis wird von einem Standpunkt bestimmt.
hångig sind.
Nach Ortega y Gasset ist die Perspektive eine
entscheidende Komponente der Wirklichkeit2.
Schlieûlich verkærpert sich in der Geschichte auch
ein Wille zur Macht, zur Festschreibung im wahrs- II. Soziokultur und Neue
ten Sinne, die das Kommende prågt.
Kulturpolitik
Eine ¹Geschichte der Soziokulturª gibt es noch
nicht, wohl aber propådeutische (einfçhrende) und
systematische Versuche, etwas çber deren Wesen Aus kulturpolitischer Sicht verbirgt sich hinter
auszusagen. Das mag unter anderem daran liegen, dem Begriff Soziokultur zunåchst ein Reforman-
dass sie ein notwendig zurçckhaltendes Verhåltnis spruch, der Ende der sechziger, Anfang der siebzi-
zu Traditionsbildungen hat, aber auch an ihrem ger Jahre formuliert wurde und sich gegen die bis
praktischen Erfolg, der den analytischen Blick dahin eher restaurative Kulturpolitik des Nach-
kriegsdeutschlands West wandte. Den Begriff
1 Walter Benjamin, Allegorien kultureller Erfahrung, selbst brachten Hermann Glaser und Karl Heinz
Leipzig 1984, S. 78
2 Vgl. Jos Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit 3 Vgl. Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur (1973),
(1923), Gesammelte Werke, Bd. 2, Augsburg 1996, S. 137 Frankfurt am Main 1978.

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Stahl in die deutsche Debatte ein4. Es ging ihnen windung tradierter Trennungen, etwa der von kul-
darum, die Gesellschaft durch Kultur zu demokra- turellem und æffentlichem Raum, von Publikum
tisieren und mit einem Kulturverståndnis zu bre- und Kçnstler oder hoch professionalisierter Kunst
chen, das die Welt des Geistes adelte und zur und selbst organisiertem kçnstlerischem Schaffen.
eigentlichen Kultur erhob, zu einem bçrgerlich- Jener Entwurf partizipativer Soziokultur bricht
idealistischen Reich, das sich von den Niederun- folglich mit dem Mentalitåtsmuster, das die auto-
gen bloûer Zivilisation abwandte. Herbert Mar- nome bçrgerliche Kultur trug, mit dem ¹unpoli-
cuse bezeichnete diese Kultur, in der dem Leben tischen Kulturmenschenª. Kommunikation, ein
das Gute, Wahre und Schæne enthoben sei, Schlagwort dieser Stunde, mçsse die Einseitigkeit
bekanntlich als affirmativ ± also bejahend. Mit ihr aufbrechen, in der man neutral blieb.
werde ¹ein Reich scheinbarer Einheit und schein-
barer Freiheit aufgebautª, worin die antagonisti- Glaser und Stahl ging es im Zuge der Vollendung
schen Daseinsverhåltnisse eingespannt und befrie- des Projekts Aufklårung um die ¹Wiederherstel-
det werden sollten. Die Kultur bejahe und lung der Politikª (von Hentig), die sie an die
verdecke die neuen gesellschaftlichen Lebensbe- ¹Wiederherstellung des Østhetischenª knçpften8.
dingungen5. Kritik ist aber nur mæglich, wenn mit Østhetisches Lernen, gezielter Umgang mit Infor-
diesem eigentlich aus der deutschen Klassik her- mationen, Kritikfåhigkeit, die Vermittlung von
rçhrenden Muster fçr das Bildungsbçrgertum Ethik und Østhetik ± dies sind Themen, deren
gebrochen wird, nach dem die ¹Niederungenª der umfassende Bewåltigung zum Rçckgewinn eines
Politik fçr Dichter und Kçnstler nicht von Bedeu- ¹Behagens in der Kulturª fçhren kænne, wenn
tung zu sein håtten6. Mit Kultur demokratisieren ¹die Mitbestimmung des Individuums durch Mit-
hieû folglich ± und dazu diente die Vorsilbe bestimmung in und an der Gemeinschaft . . . in den
¹Sozioª ±, sie ganzheitlich zu fassen, sie mit dem Spielråumen der Kulturª9 eingeçbt werde. Inso-
Leben zu versæhnen, Chancengleichheit zu ver- fern ist fçr sie Soziokultur ¹der Versuch, vorran-
wirklichen und Mitbestimmung zu ermæglichen; gig, neben anderen Aspekten, Kunst als Kommu-
hieû weg von einer elitåren Hegemonialkultur des nikationsmedium zu begreifen . . ., die plurale
schænen Scheins, hin zu pluralisierten Formen Gesellschaft auf der kommunikativen Ebene
åsthetischer Praxis mit einer ¹Kultur fçr alleª und zusammenzubringenª10. Damit çberwinden sie
¹von allenª7. Programmatisch hieû dies die Ûber- einen ¹engenª, abgeschotteten Kulturbegriff zu-
gunsten einer Revitalisierung der Kunst als
Medium lebendiger Auseinandersetzung. Mehr
4 Vgl. Hermann Glaser/Karl Heinz Stahl, Die Wiederge- noch, Kunst wird nicht nur fçr den gesellschaft-
winnung des Østhetischen. Perspektiven und Modelle einer lichen Raum zurçckgewonnen, sondern Kultur
neuen Soziokultur, Mçnchen 1974 (erweiterte Neuauflage
unter dem Titel ¹Bçrgerrecht Kulturª, Frankfurt am Main selbst infolge des Bedeutungszuwachses ¹weitª
u. a. 1983). Zur Herkunft des Begriffs aus der europåischen gefasst, nicht mehr auf Kunst eingeengt. Es geht
Diskussion vgl. Norbert Sievers/Bernd Wagner, Soziokultur nicht mehr nur um das kanonische Erbe, denn
und Kulturpolitik, in: dies. (Hrsg.), Bestandsaufnahme So- auch die Orte und Formen des eigenen Lebens
ziokultur. Beitråge-Analysen-Konzepte, Schriftenreihe des
BMI, Stuttgart u. a. 1992, S. 12 (Anmerkung der Redaktion: und Handelns sind jetzt Gegenstand von Kultur.
Siehe auch den Essay von Bernd Wagner in dieser Ausgabe),
und Hubert Kirchgåûner, Texte zur soziokulturellen Anima- Auf der råumlichen Ebene trifft sich diese Kritik
tion, Remscheid 1983. Eine Ûbersicht zur Neuen Kultur- mit jener am Stådtebau nach 1945. Nicht erst die
politik bietet Thomas Ræbke (Hrsg.), Zwanzig Jahre Neue Erklårung des Deutschen Stådtetages von 1973
Kulturpolitik. Erklårungen und Dokumente 1972 ± 1992, Ha- zeigte, dass Bildung und Kultur als Elemente der
gen 1993.
5 Herbert Marcuse, Ûber den affirmativen Charakter der Stadtentwicklung zu begreifen sind11, sondern
Kultur, in: Kultur und Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt am Main schon eindringliche Appelle aus den sechziger Jah-
1965, S. 64 ren wie etwa Alexander Mitscherlichs Streitschrift
6 Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und ¹Die Unwirtlichkeit der Stådteª12 verwiesen auf
Elend eines deutschen Deutungsmusters, Mçnchen 1994,
oder auch als essayistisches Beispiel Peter Merseburger, My- die Zersiedelung und typisierten Neubauten, die
thos Weimar. Zwischen Geist und Macht, Mçnchen 2000, Entmischung von Wohnen und Arbeiten, die Iden-
S. 96, S. 111. titåtslosigkeit der Zentren, die einst Herzen der
7 Ein wichtiger Vertreter, auf den diese Formeln zurçck- Stadt waren, fehlende Spielplåtze oder Ståtten der
gehen, die an Comenius' ¹Bildung fçr alleª erinnern, ist Hil-
mar Hoffmann. Vgl. etwa: Kultur fçr alle. Perspektiven und Begegnung und die daraus resultierenden sozialen
Modelle (1979), aktualisierte und erweiterte Auflage, Frank-
furt am Main 1981. Die praktischen Forderungen fçr die 8 Vgl. H. Glaser/K. H. Stahl (Anm. 4), S. 145.
Kulturpolitik fasst der folgende Band zusammen, in dem 9 Ebd., S. 141.
wichtige Vertreter dieser Diskussion, etwa Dieter Sauber- 10 Ebd., S. 25 f.
zweig, Hermann Glaser, Olaf Schwencke und Dieter Baacke, 11 Vgl. Deutscher Stådtetag, Bildung und Kultur als Ele-
vertreten sind: Hilmar Hoffmann (Hrsg.), Perspektiven der ment der Stadtentwicklung, Kæln 1973.
kommunalen Kulturpolitik. Beschreibungen und Entwçrfe, 12 Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit der Stådte.
Frankfurt am Main 1974. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt am Main 19696.

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Folgen. Die Wiederaneignung des Raumes, die sie schaffen Treffpunkte und konkurrierende Ent-
sich auch mit der Forderung nach einer Neuord- wçrfe zu bestehenden Einrichtungen, verråumli-
nung der Besitzverhåltnisse an Grund und Boden chen schlieûlich ihr kritisches Potential.
verband, ist ein soziokulturelles Thema. Schon Der Hintergrund der ¹Karriereª soziokultureller
Mitscherlich forderte ¹stådtische Begegnungs- Einrichtungen ist sicher sowohl in der kulturellen
orteª, in denen sich die Meinungsverschiedenhei- Praxis freier Initiativen, Gruppen und Bewegungs-
ten mit politischen Folgen kundgeben kænnten13. milieus zu suchen als auch in den Bemçhungen
Glaser und Stahl sprechen von ¹Orte[n] des Infor- reformorientierter Kulturpolitiker. Der kulturpoli-
mationszugriffs, des Kommunikationsprozesses tische Einfluss auf die Bewertung von Soziokultur
und eingreifenden Handelnsª14, die mæglichst ubi- zeigt sich am eindrucksvollsten wohl an der Beant-
quitår (çberall verbreitet) zu schaffen seien. wortung der Groûen Anfrage an die Bundesregie-
rung von 1990, die mit dem weihevollen Satz
anhebt: ¹Die Soziokultur ist in den letzten Jahren
III. Soziokultur als råumliche Praxis zu einer festen Græûe im kulturellen Leben der
Bundesrepublik Deutschland geworden.ª17
Diese Orte wurden in der Tat geschaffen, und sie Was sind nun aber genau ¹soziokulturelle Einrich-
sind wohl auch das Herzstçck dessen, was heute tungenª? Nach Udo Husmann und Thomas Stei-
als Soziokultur verstanden wird. Es wçrde aber zu nert ist eine inhaltliche Eingrenzung kaum mæg-
kurz greifen, diese in der Folge als soziokulturelle lich. Die Autoren wåhlen zur Bewertung in einem
Zentren zusammengefassten Einrichtungen aus- ersten Schritt jene Einrichtungen, die in der 1979
schlieûlich auf die politischen Initiativen zurçckzu- als eingetragener Verein gegrçndeten ¹Bundes-
fçhren, die mit dem Terminus Neue Kulturpolitik vereinigung sozio-kultureller Zentrenª respektive
bezeichnet werden. Bereits vorher formten sich den Landesarbeitsgemeinschaften organisiert sind.
aus widerståndigen Milieus und gegenkulturellen Weiterhin gehen sie von einer Reihe gemeinsamer
Stræmungen Zentren, die fçr diesen Einrichtungs- Merkmale aus, wie sie in der Satzung der Bundes-
typ stehen kænnen. Joachim Schulze betont in vereinigung festgehalten werden, etwa Basis- und
seiner Untersuchung von 1993, die sich mit Ent- Nutzerorientierung, Praktizierung von Formen
stehungsgeschichten, Einflussmæglichkeiten und sozialer Arbeit sowie demokratischer Kultur, Inte-
Wirkungen soziokultureller Einrichtungen auf die gration verschiedener Altersgruppen, sozialer
Stadtentwicklung auseinandersetzt, dass die Wur- Schichten und Nationalitåten, Offenheit und
zeln selbstverwalteter Zentren in den ¹linkenª Transparenz, nichtkommerzielle Ausrichtung etc.18
Bewegungen der letzten 25 (nunmehr çber 30) Joachim Schulze definiert ein soziokulturelles
Jahre lågen und zumindest in Teilbereichen auf die Zentrum als ¹eine selbstverwaltete, von (Bçrger-)
Gegenentwçrfe der Neuen Sozialen Bewegungen Initiativen aus den ,Neuen Sozialen Bewegungen`
(z. B. Frauenbewegung, Úkologiebewegung, Frie- durchgesetzte, aufgebaute und getragene Einrich-
densbewegung) zurçckgingen15. Die Entstehung tung, die eine in der Perspektive politisch begrçn-
der Zentren selbst sei ein Indikator fçr die Elabo- dete und ausgerichtete Kultur- und Sozialarbeit
riertheit, also den Entwicklungsgrad, des ærtlichen mit hohen Anteilen an Eigenaktivitåt der
Bewegungsmilieus, wichtig seien aber neben der Nutzer(innen) entweder selbst leistet oder durch
Erweiterungsabsicht kultureller Angebote unter eine entsprechende Infrastruktur ermæglicht.
anderem auch die Existenz geeigneter Bauten, die Dabei bietet sie eine (bewusste) Alternative zu
genutzt werden kænnen, die Suche nach parteiun- profitorientierten oder partei- beziehungsweise
abhångigen Partizipationsmæglichkeiten im kom- verbandskontrollierten Institutionen und zu kom-
munalpolitischen Bereich oder auch das Interesse munalen Einrichtungen.ª19
an der Schaffung neuer Arbeitsplåtze16. Die Zen- Ein wichtiger Akzent soziokultureller Arbeit
tren selbst ermæglichen eine gewisse Stabilitåt und besteht dabei in der Postition, dass ¹sozio-ª nicht
Kontinuitåt in der Auseinandersetzung mit Posi-
tionen und deren Vertretung im stådtischen Raum; 17 Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregierung auf
die Groûe Anfrage der SPD vom 25. 4. 1990, Drs. 11/6971,
13 Vgl. ebd., S. 83. S. 1. Hier findet sich auch eine Darstellung der Grundzçge
14 H. Glaser/K. H. Stahl (Anm. 4), S. 141. von Soziokultur, wie sie insbesondere fçr die Kulturpolitik
15 Vgl. Joachim Schulze, Soziokulturelle Zentren ± Stadter- der Neuen Bundeslånder in den frçhen 90er Jahren ange-
neuerung von unten, Essen 1993, S. 18, auch S. 125 ff. Vgl. wandt wurden, etwa im Strukturfærderprogramm Soziokultur
auch Jærg Stçdemann, Soziokulturelle Zentren im Umfeld des Freistaates Sachsen.
der Neuen Sozialen Bewegungen. Die bundesdeutsche Situa- 18 Vgl. Udo Husmann/Thomas Steinert, Soziokulturelle
tion, in: Olaf Schwencke u. a. (Hrsg.), Kulturelle Moder- Zentren. Rahmenbedingungen und Grundfunktionen, Be-
nisierung in Europa. Regionale Identitåten und sozio- rufsfeld und Qualifikationsvoraussetzungen, Hagen 1993,
kulturelle Konzepte, Hagen 1993, S. 220 ff. S. 27 f.
16 Vgl. J. Schulze (Anm. 15), S. 133 ff. 19 J. Schulze (Anm. 15), S. 232.

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mit sozial identisch sei. Wenngleich auch Sozialar- wicklung, die nicht in direkter gegenseitiger Ablæ-
beit und insbesondere Gemeinwesenarbeit eine sung zu denken seien, gehen von einem Hoch-
gewichtige Rolle spielen und Vertreter dieses kulturmotiv aus, das von 1945 bis in die sechziger
Bereichs zu Recht auf die mangelnde Stichhaltig- Jahre gewirkt habe und dessen Ziel im Wesent-
keit des oft behaupteten Gegensatzes zwischen lichen die Bestandssicherung der Hochkultur, die
Sozialarbeit und (Sozio-)Kulturarbeit in soziokul- Pflege des kulturellen Erbes des Abendlandes
turellen Zentren verweisen20, liegt die Befçrch- gewesen sei. Es verlief zeitgleich mit der Restaura-
tung wohl darin begrçndet, dass Sozialarbeit tion der Industriegesellschaft und sorgte fçr die
gemeinhin von konkreten Problemfållen her wirkt Wiederherstellung der tradierten Kulturinstitutio-
und der Begriff Soziokultur auf eine allgemeine nen. Folgt man Mitscherlich, dann bedeutet das
Rçckgewinnung des æffentlichen Raumes und nominell Edle dieses Leitmotivs auch fçr die
seine Gestaltung (Autonomie, Selbstorganisation) Stadtplanung eher das Gegenteil. Diese verleugne
verweist, also keinen ¹Reparaturcharakterª im die Zertrçmmerung und sieht folglich die Bedçrf-
Sinne eines Engagements fçr Benachteiligte ver- nisse nicht, denen sie gerecht zu werden hat. ¹Wir
kærpert. Dessen ungeachtet ist die verbreitete For- haben planerisch und architektonisch unbrauchbar
derung nach einer gemeinsamen Quartierspolitik, restauriert und sind vorerst nur zu einer uns
in der Kultur- und Sozialpolitik zusammengedacht oktroyierten Demokratie gediehen.ª22 Demokra-
werden, sehr zu begrçûen, denn es geht schlieûlich tie aber hieûe, Gestaltung auf eine breite Basis zu
um die Gestaltung einer Lebenspraxis ¹von stellen. Dieses Defizit artikuliert als sozialdemo-
untenª, in der sowohl Lebensstile, kulturelle Pra- kratische Anknçpfung an die Arbeiterbildungs-
xen und sozialråumliche Gestaltungen als auch die bewegung das sich parallel herausbildende Demo-
Aktivierung von etwa fçr die Gemeinwesenarbeit kratiemotiv, dem an einer Popularisierung der
typischen Gruppen (z. B. Jugendliche, Auslånder) Hochkultur im Sinne von ¹Kultur fçr alleª gelegen
eine Rolle spielen. So hat wohl die Denkformel ist, einer Kultur, die stårker bedçrfnisorientiert
Soziokultur in vergleichbarem Maûe Einfluss auf gedacht wird. Gegen Ende der sechziger Jahre ent-
Sozialarbeit wie diese auf die Soziokultur. Den- steht nach Schulze schlieûlich das Soziokultur-
noch sind soziokulturelle Zentren nicht mit sozial- motiv, dessen Auftauchen offenbar in direkter
kulturellen Einrichtungen bzw. Nachbarschaftshei- Verbindung mit einem Zurçcktreten des Hochkul-
men zu verwechseln. turmotivs zu sehen ist. Entscheidend dafçr sei die
neue Vordergrçndigkeit des Alltagslebens, das
durch die entwickelte Konsumgesellschaft gekenn-
zeichnet sei. Die Kunstwerkspolitik tritt zugunsten
IV. Ansåtze der kulturellen eines milieupolitischen Ansatzes zurçck, dem die
Systematisierung ursprçnglich als Kommunikationszentren bezeich-
neten soziokulturellen Einrichtungen der ersten
Um einen problemgeschichtlichen Blick auf die Stunde bereits folgten. Eine wichtige Verschie-
Soziokultur zu ermæglichen, soziokulturelle Spu- bung hat es auch auf der Subjektseite gegeben:
ren in der DDR aufzudecken oder aber nach den Nicht mehr der gebildete Mensch wie im Hochkul-
Perspektiven fragen zu kænnen, lohnt sich zu- turmotiv steht als Desiderat, sondern der auto-
nåchst ein genauerer soziologischer Blick auf Kul- nome, sich selbst verwirklichende. Letztlich geht
tur und Kulturpolitik nach 1945. Schulze noch von einem Úkonomiemotiv aus, das
die gegenwårtige Kulturpolitik sehr stark pråge.
Gerhard Schulze beispielsweise bietet eine vielbe- Dieses sei bestimmt durch ækonomische und struk-
achtete Zusammenschau der kulturpolitischen turpolitische Begrçndungsansåtze. In der Tat hat
Leitmotive der Nachkriegsgeschichte21. Bei ihrer sich insbesondere zur regionalen Beschreibung der
Wertung ist jedoch stets mitzudenken, dass sie Kulturlandschaft ± auch im Bereich der Soziokul-
nicht etwa das Resultat administrativer Entschei- tur ± der Terminus ¹kulturelle Infrastrukturª ein-
dungen, sondern vielmehr eine Art Konsensus der gebçrgert, der vor allem dann Verwendung findet,
an Kulturpolitik beteiligten Akteure darstellen. wenn es um Einrichtungsdichte und ¹kulturelle
Seine vier Leitmotive der kulturpolitischen Ent- Grundversorgungª geht. Dass dabei nicht unbe-
dingt das vorauseilende Demokratiemotiv Nieder-
20 Vgl. etwa Joachim Schulze, Gemeinwesenorientierung
schlag findet, sondern håufig die Notwendigkeit,
der Soziokultur. Beitråge zur (Wieder-) Herstellung von Au-
tonomie der Lebenspraxis in einer ¹Sozialen Stadtª, in: LAG Standorte fçr sekundåre Zwecke attraktiv zu
Soziokultur Sachsen/Såchsische Landeszentrale fçr politische gestalten, versteht sich in der ¹Erlebnisgesell-
Bildung (Hrsg.), Soziokultur in Sachsen. Ein gesellschaft- schaftª mit ihrer Festival- und Eventkultur von
liches Experimentierfeld, Dresden 1998, S. 41.
selbst.
21 Vgl. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultur-
soziologie der Gegenwart, Frankfurt am Main ± New York
20008, S. 499 ff. 22 A. Mitscherlich (Anm. 12), S. 100

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Albrecht Gæschel hat die Kulturauffassungen der weltorientierte 1950er Generation erschlieût den
verschiedenen Generationen analysiert, die in die- Nahraum auf neue Weise und bringt die Soziokul-
ser Zeit agieren23. Ich mæchte seine Ergebnisse tur ± trotz der vielen vor allem kommunalpoliti-
kurz mit Schulzes Periodisierung in Beziehung schen Widerstånde, die zum Scheitern etlicher
setzen. Gæschel kommt mit seinem generations- Initiativen fçhrten ± infolge der von ihr getragenen
spezifischen Blick zu einer vergleichbaren Ent- starken Bewegungsmilieus recht schnell und flå-
wicklung, die zunåchst mit einer konservativen chendeckend in Fahrt25.
Kulturpolitik und einem folglich ¹engenª Kultur-
begriff anhebt und unter dem Reformdruck der Ist Soziokultur nun ¹ ,Symbol` einer Reformpoli-
Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in ein tikª, dessen Zeit abgelaufen sein kænnte?26 Oder
¹Verteilungsdenkenª çbergeht, also Kultur ¹weitª ist sie gleichsam taktisch eine ¹Entlastungslegiti-
zu fassen beginnt. Ein Bruch erfolgt fçr ihn in den mationª der Kulturpolitik, deren herkæmmliche
spåten sechziger, frçhen siebziger Jahren, charak- Felder nicht mehr ausschlieûlich vertretbar schie-
terisiert durch den Ûbergang von der Produktions- nen?27 Ist sie aufgenommen in den Kanon, ruhig-
zur Dienstleistungsgesellschaft. Úkonomische Kri- gestellt, da sie mehr und mehr das Lied jener singt,
sen fçhren zu einem græûeren Einfluss der Intelli- auf deren materielle Zuwendungen sie angewiesen
genz und damit der Kultur, als Leitbegriff gelte die ist? Zu konstatieren ist, dass die emanzipatori-
¹Emanzipationª, der auch ein ideologiekritischer schen Impulse der Soziokultur ± vielleicht notwen-
Kunstbegriff entspreche. Es folge die 1950er dig ± nicht mehr spçrbar sind; vielleicht hat sie ein-
Generation, die Generation der ¹Humandienst- gelæst, was sie sich programmatisch vorgenommen
leisterª (Pådagogen, Sozialwissenschaftler etc.), hatte, vielleicht aber hat, so meinen auch viele Kri-
die auch Tråger der Neuen Sozialen Bewegungen tiker, der Prozess ihrer Institutionalisierung und
sei. Einen letzten Wandel diagnostiziert Gæschel Professionalisierung ihr rebellisches Temperament
seit Mitte der achtziger Jahre vor dem Hinter- gezåhmt. Vor allem in den achtziger Jahren seien
grund einer weitreichenden sozialen und kulturel- kritische Impulse und sozialer Anspruch zuguns-
len Differenzierung, deren Distinktionsstrategien ten der prosperierenden kulturellen Praxis zu-
fçr die Erlebnisgesellschaft stehen kænnen. Diese rçckgetreten.
Strategien zelebrieren Unterschiede, die ¹feine
Unterschiedeª (Bourdieu) geworden sind und
Sind kritische Bewegungen jedoch nicht eigentlich
nicht so leicht klassen- oder schichtspezifisch
temporårer Natur, um auf neue Herausforderun-
operabel scheinen. Die Lebensstilsoziologie hat
gen immer neu reagieren zu kænnen? Sind heute
gezeigt, dass vielmehr eine genauere typologische
vielleicht jene Bewegungsmilieus so heterogen28,
Ordnung den ¹sozialen Raumª zu erklåren ver-
dass sie eine starke und einflussreiche Kraft wie
mag. Eine Eingrenzung von ¹Leitmotivenª respek-
die Soziokultur gar nicht mehr zu etablieren ver-
tive deren Trågern aber wird damit schwerer.
mægen? Ist aber die Soziokultur nicht gerade des-
halb so einflussreich geworden, weil sie mit der
Verråumlichung in Zentren die Basis fçr einen lan-
V. Soziokultur ± Reformerscheinung gen Atem schuf?
oder Errungenschaft?
25 Gæschel weist noch auf folgenden Umstand hin, der das
Wirken der 1940er Generation betrifft: ¹Der Westen wird
Dieser Blick auf Brçche und Stræmungen der Kul- durch den groûen Konflikt von ,68` in gewissem Sinne libe-
turauffassung ist freilich ein recht verkçrzter, aber ralisiert und lernt, mit Abweichungen aus sozialen Be-
wegungen umzugehen. Die Individualisierung, die die neue
er låsst die Vermutung zu, dass Soziokultur, auch soziale Bewegung der siebziger Jahre propagiert, stæût nicht
die rasche Praxis ihrer Institutionalisierung, auf mehr auf die Widerstånde, wie sie die ,68er` in den sechziger
ganz konkrete gesellschaftspolitische Bedingungen Jahren vorfanden.ª Albrecht Gæschel, Kulturelle und politi-
und Akteure zurçckgeht. Das ¹Demokratiemotivª sche Generationen in Ost und West, in: Berliner Debatte IN-
ITIAL. Zeitschrift fçr sozialwissenschaftlichen Diskurs, 10
bereitet sie als Reformprogramm vor. Hier wirken (1999) 2, S. 34.
wichtige Vertreter jener Generation, welche die 26 Ders., Thesenpapier, in: Bundesvereinigung sozio-kultu-
Hochkultur jenseits des Bildungsbçrgertums schåt- reller Zentren (Hrsg.), www.soziokultur.de/20. Bundes-
zen, sie aber gleichzeitig fçr alle zu erschlieûen kongress soziokultureller Zentren. Dokumentation, Essen
2000, S. 77.
trachten, etwa Glaser und Hoffmann24. Die lebens- 27 Klaus von Beyme, Kulturpolitik und nationale Identitåt.
Studien zur Kulturpolitik zwischen staatlicher Steuerung und
23 Vgl. Albrecht Gæschel, Die Ungleichzeitigkeit in der gesellschaftlicher Autonomie, Opladen ± Wiesbaden 1998,
Kultur. Wandel des Kulturbegriffs in vier Generationen, S. 9
Berlin u. a. 1991. 28 Vgl. Dieter Rucht, Gesellschaft als Projekt ± Projekte in
24 Vgl. Max Fuchs, Kulturpolitik als gesellschaftliche Auf- der Gesellschaft, in: Ansgar Klein/Hans-Josef Legrand/Tho-
gabe. Eine Einfçhrung in Theorie, Geschichte, Praxis, Op- mas Leif (Hrsg), Neue soziale Bewegungen. Impulse, Bi-
laden ± Wiesbaden 1998, S. 155 f. lanzen, Perspektiven, Opladen ± Wiesbaden 1999, S. 20.

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Soziokulturelle Zentren bieten heute besonders im Weise werden sie umgesetzt, und wie ist ihr Ein-
urbanen Raum, bei aller Unverzichtbarkeit und fluss auf die Hegemonialkultur? Wenngleich diesen
Vielfalt, ein eher ausgewogenes Profil ohne die Fragen hier nicht umfassend nachgegangen werden
ursprçngliche politische und utopische Kraft, die kann, weiten sie doch den Blick und engen die Spu-
sie zu Orten der Rçckgewinnung verlorener rensuche nicht auf die eher unergiebige Geschichte
Gestaltungsmæglichkeiten machte. Merkmale des von Vorlåufereinrichtungen ein. Gefragt ist viel-
¹Alternativenª29 sind allenfalls noch die håufigen mehr nach Anhaltspunkten fçr ein soziokulturelles
Planungsunsicherheiten im Rahmen der æffentli- Denken, nach einem problemorientierten Blick in
chen Haushalte, die schlechte Bezahlung des Per- die Moderne. Soziokultur in diesem Sinne ist keine
sonals und vielleicht das Maû der inneren Autono- Erfindung der siebziger Jahre.
mie. Reaktionsråume der Aktualitåt sind sie per
definitionem nicht mehr. Das kænnte aber auch am Nach Horst Groschopp liegen die Anfånge der
Zustand unserer Gesellschaft liegen, der die Kulturarbeit und der frçhen Soziokultur in den
¹groûe Erzåhlungª immer mehr abhanden kommt. neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Als
Wird nun die Eingangsfrage zugunsten der Re- Akteure nennt er glaubensbesorgte Christen,
formerscheinung beantwortet, dann muss die Ent- kulturbewusste Dissidenten (Abweichler, hier vor
wicklung der soziokulturellen Zentren, die in allem: Religionslose), machtpolitisch denkende
hohem Maûe selbstreferentiell geworden sind, Beamte und arbeitsuchende Akademiker, als
sehr kritisch hinterfragt werden. Geht man aber Rahmenbedingung die Tendenz der Moderne,
von einer grundsåtzlich positiven Bewertung des auch kulturelle Einrichtungen zu demokratisie-
¹Projekts Soziokulturª aus, dem der dominant auf- ren31. So kam es neben der kommerziellen Mas-
klårerische Gestus entzogen und stattdessen das senkultur, die ebenfalls fçr Demokratisierung
praktizierte ¹Urvertrauen in die Kulturfåhigkeit steht, zu einer Úffnung von kulturellen Ståtten
des Menschenª als Wertebasis unterlegt wird30, mit dem Ziel åsthetischer Bildung. Wichtig in die-
bleibt Soziokultur eine positive Gegenwarts-, ja sem Kontext ist der fortschreitende Prozess der
sogar Zukunftsgræûe. Sie innovatorisch zu fçllen Såkularisierung und der gesellschaftliche Gel-
ist freilich eine anspruchsvolle Aufgabe; gelingt sie tungsanspruch von sozialen Bewegungen, die erst
nicht, werden die Zentren selbst einmal jene Kul- dann im modernen Sinne wirksam werden kæn-
tur verkærpern, die man einst affirmativ nannte. nen, wenn mit der Tradition grundsåtzlich gebro-
chen und Gesellschaft als Projekt begreifbar
wird32. Denn die Aufwertung und Aufladung der
Kultur, die notwendig zu Diskussionen çber die
VI. Zur ¹Frçhgeschichteª Vermittlung und Teilhabe an ihrer Sinnstiftung
soziokulturellen Denkens fçhrt, findet sowohl Niederschlag im Bereich staat-
licher Politik als auch in zentralen Bewegungen
Læst man sich von diesen zeitgeschichtlichen Be- wie etwa der Gebildeten-Reformbewegung oder
schreibungen, mit denen eine wesentliche Dimen- spåter der Arbeiterbewegung. Hier besteht im
sion der kulturellen Demokratisierung eingegrenzt Gegensatz zu vormodernen Bewegungen wie etwa
und terminologisch erfasst wurde, stellt sich die der Reformation nicht mehr das Ziel, eine
Frage nach deren strukturellen Ursachen. Anders ursprçngliche Ordnung wiederherzustellen, also zu
formuliert: Wann kommen Bewegungen auf, die korrigieren, sondern vielmehr die Absicht, im
etwa bestimmte Vorstellungen von Kultur neben Vollzug einer Korrektur zu Neuem zu gelangen.
der herrschenden Praxis stabilisieren kænnen oder Soziokultur scheint sich, so betrachtet, genau dort
diese herausfordern? Welche gesellschaftlichen herausbilden zu kænnen, wo innerhalb der
und politischen Bedingungen erfordern sie und (modernen) Gesellschaft der Zugriff auf Sinn und
welches sind ihre Tråger? In welcher praktischen Gestaltung zu Schieflagen fçhrt und Aneignungen
¹von untenª erzwingt. Soziokultur wird dabei zum
29 Hinzuweisen ist darauf, dass die Bezeichnung ¹al- Richtungsimpuls, sie ist abhångig von progressiven
ternativª oft missverstanden wurde. Soziokultur wollte eher Diskursen und Bewegungsmilieus oder zumindest
eine ¹andereª kulturelle Praxis sein, welche die Einlæsung homogenen Gruppen Andersdenkender, die einen
bestimmter Forderungen im Umgang mit Kultur und Kunst
verkærpert. Es ging ihr nicht um Gegenbegriffe, sondern um sozial eingefårbten Kulturbegriff transportieren
die Verwirklichung kultureller Chancengleichheit, die Ent-
wicklung einer demokratischen Kultur. Insofern muss sie 31 Vgl. Horst Groschopp, Dissidenten. Freidenkerei und
nicht ¹revolutionårª sein. Vgl. etwa den kontextualisierten Kultur in Deutschland, Berlin 1997, S. 315 (Anmerkung der
Ûberblick von Olaf Schwencke, Kulturpolitik im Spektrum Redaktion: Siehe auch den Beitrag des Autors in diesem
der Gesellschaftspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft.); zum groûen Kontext vgl. Dieter Claessens, Kapitalis-
B 41/96, S. 9 f. mus und demokratische Kultur, Frankfurt am Main 1992,
30 Vgl. Peter Alheit, Soziokultur ± ein unvollendetes Pro- S. 180 ff.
jekt, in: N. Sievers/B. Wagner (Anm. 4), S. 61. 32 Vgl. D. Rucht (Anm. 28), S. 16.

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und in konkreten Formen der Praxis stabilisieren. FDJ; bekannt ist dieses Wirken unter dem Begriff
Ihre Korrekturbewegungen, wie sie Groschopp des ¹kulturellen Volksschaffensª. Es gab folglich
sieht, erinnern sehr an die Strategien bekannter weder eine basisdemokratische Organisation, die
soziokultureller Praxis: ¹Ihr Beitrag zur Ausbil- den Aufbau einer Initiative ¹von untenª ermæg-
dung von ,Soziokultur` beruhte erstens auf einer licht håtte, noch einen relevanten Grad zentrumsin-
græûeren Staatsferne als bei anderen . . .; zweitens, terner Freiheit bei der inhaltlichen und personellen
wegen der freien Vereinsorganisation, auf einer Umsetzung kultureller Vorhaben. Rahmen jenes
græûeren Nåhe zu Demokratie und Kommunalitåt; Kulturschaffens blieb stets die Herausbildung einer
drittens auf einem deutlichen sozialen Impetus, der ¹allseitig gebildeten sozialistischen Persænlich-
aus dem Bedçrfnis nach Milderung der sozialen keitª, die sich vom Fernziel der kommunistischen
Gegensåtze resultierte und auf Hilfe zur Selbst- Gesellschaft her definierte. Es ging weder um eine
hilfe zielte; viertens auf der Bevorzugung bilden- Kritik an affirmativer Kultur ± es sei denn der kapi-
der Angebote gegençber unterhaltenden und talistischen in toto ± noch um die Schaffung von
åsthetischen . . .; fçnftens auf der Absicht, nach Einrichtungen mit konkreter Auûenwirkung im
,weltlichen` Entsprechungen fçr alles Religiæse zu Sinne kommunalpolitischer Einflussnahme.
suchen, was den Kulturbegriff ausweitete; und
schlieûlich sechstens, aus dem letzten Punkt fol- Die Frage nach Elementen von Soziokultur in der
gend, im Stellen einer historisch idealen Aufgabe: DDR ist vor allem Resultat der kulturpolitischen
durch freie Organisation und Aufklårung die dog- Arbeit in den neuen Bundeslåndern seit 1990. Der
matische Kirche çberwinden und eine neue Reli- Umgang mit den nun zwangslåufig aus der staatli-
giositåt bzw. gånzlich neue Kultur errichten.ª33 chen Trågerschaft gefallenen Einrichtungen (etwa
Joachim Schulze macht bei seiner Spurensuche Kulturhåuser, Klubs, Zirkel) und informellen Initi-
nach Vorlåufern soziokultureller Arbeit auf das ativen der Wendezeit verlangte nach einer katego-
¹råumliche Gegenmilieuª des Bohemiens im 19. rialen Einordnung und Færdermodellen. Die fçr
und frçhen 20. Jahrhundert aufmerksam, das Caf. die DDR typische Diskrepanz zwischen Vorgaben
Der Begriff ¹Bohemeª wird auch zur Beschrei- und tatsåchlicher Praxis hatte in der Wendezeit
bung der Abwendung vom offiziellen Kulturbe- schnell zu der Einsicht gefçhrt, dass das, was unter
trieb in der DDR verwendet, doch hier fållt die dem Begriff Soziokultur firmiert, der bisherigen
Spurensuche nach Soziokultur schwerer. Wichtig Arbeit nicht gånzlich fremd war. Im Rçckblick auf
aber ist auch sein Hinweis auf die Verråumlichung ihre DDR- und Wendeerfahrungen formulierte
der Arbeiterbewegung, beginnend mit dem dies Grit Hanneforth kçrzlich so: ¹Zu meinem
19. Jahrhundert, zunåchst in Arbeitervereinsloka- Erstaunen musste ich feststellen, dass ich sehr
len, spåter im Kontext mit den Gewerkschaften in wohl einen Begriff von Soziokultur hatte und
Volkshåusern34. Diese Ansåtze institutioneller schon seit Jahren selber soziokulturelle Projekte
Verwandtschaft sollen hier allerdings nicht weiter machte. Ich fand in Ostdeutschland eine lebendige
verfolgt werden. Szene vor, die sich, wie eine zu kurz gewordene
Decke, den Begriff Soziokultur çbergezogen hatte
und nun mit den Schwierigkeiten kåmpfte.ª36
Diese Feststellung lohnt ernst genommen zu wer-
VII. Soziokultur in der DDR den, denn diese Schwierigkeiten sind vielgestalti-
ger Natur und wurden im politischen Vereini-
Soziokultur in dieser Weise fçr die DDR-Gesell- gungseifer gern marginalisiert. Mindestens drei
schaft zu beschreiben ist freilich nicht mæglich. Ebenen verbergen sich dahinter: die eigenen
Zwar gab es eine kulturelle Praxis, die mit einem Schwierigkeiten des Konzeptes Soziokultur, die
nachhaltig wirksamen ¹weitenª Kulturbegriff ope- vordergrçndig sichtbaren eigentlichen Anpas-
rierte35, doch handelte es sich um zentralistische sungsprobleme und schlieûlich die Ûberschåtzung
Strukturen der Planung und Steuerung, die eine der ¹kulturellen Klammerª, die eine Teilung
selbstbestimmte, von staatlicher Kontrolle unab- Deutschlands nicht wirklich zugelassen habe37.
hångige Kulturarbeit nicht zulieûen. Tråger dieser
36 Grit Hanneforth, Vom Kunststçck, Sinn zu stiften. Eine
breiten Kulturarbeit waren der FDGB und die Aufforderung zur historischen Spurensuche in der Sozio-
kultur, in: Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren
33 Dies schreibt Groschopp speziell bezogen auf die Frei- (Anm. 26), S. 24.
denker als Akteure. H. Groschopp (Anm. 31), S. 379 f. 37 Vgl. z. B. Hans Mayer, Wendezeiten. Ûber Deutsche und
34 Vgl. J. Schulze (Anm. 15), S. 28 ff. Deutschland, Frankfurt am Main 1995: ¹Trotz der Auferste-
35 Vgl. Institut fçr Demoskopie Allensbach, Kulturelles hung von fçnf potenten und vitalen deutschen Låndern kann
Interesse und Kulturpolitik. Eine Repråsentativumfrage çber von Ûbereinstimmung in Grundfragen der Kultur die Rede
die kulturelle Partizipation, den Kulturbegriff der deutschen nicht sein.ª (S. 218) oder auch Heinrich-Bæll-Stiftung/Lothar
Bevælkerung und die Bewertung der Kulturpolitik, Allens- Probst (Hrsg.), Differenz in der Einheit. Ûber die kulturellen
bach 1991, S. 14 f. (Kulturbegriffe in Ost und West). Unterschiede der Deutschen in Ost und West, Berlin 1999.

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Dennoch ist es nicht zuletzt mangels fundierter Was man als Soziokultur in der DDR bewertet,
Untersuchungen schwierig, die Frage nach einer hångt davon ab, wie man diesen Befund eingrenzt.
Soziokultur in der DDR zu beantworten. Interes- Es wird meiner Ansicht nach ebenso wenig mæg-
sant wåre eine Analyse des Verhåltnisses zwischen lich sein, die gesamte breitenkulturelle Praxis fçr
der Anverwandlung von historischen Vorlåufer- soziokulturell zu erklåren wie all jenes, was heute
einrichtungen und Volksbildungskonzepten, ihrer mit Boheme oder Gegenkultur beschrieben wird.
tatsåchlichen Praxis und den sozialen Funktionen,
die sie de facto ausçbten. Dahinter steckt freilich
auch die Frage nach dem Scheitern historisch
gewachsener Kulturkonzepte, verdeckt durch ihre VIII. Zur Perspektive
ideologische Einkleidung38. Auch die Geschichte
der ¹Soziokultur Westª mçsste zur Beantwortung
Wie wichtig soziokulturelle Angebote sind, zeigt
dieser Fragen stårker untersucht werden.
nicht zuletzt ihre hohe Wertschåtzung in den
neuen Bundeslåndern. Hier zåhlt weniger die kon-
Subkulturelle oder kulturkritische Stræmungen in krete Entstehungsgeschichte von Soziokultur, die
der DDR waren nicht getragen von sich æffentlich- mit der Einfçhrung des Begriffs mit çbernommen
keitswirksam artikulierenden Bewegungsmilieus, wurde, als vielmehr die Notwendigkeit, derartig
sondern durchsetzten entweder die offizielle Kultur breite Betåtigungsmæglichkeiten in Anknçpfung
oder etablierten sich infolge der starken Rçckzugs- an bisheriges Kulturverståndnis vorfinden zu mçs-
bewegung ins Private eher in kleineren Kreisen39. sen. Dennoch macht sich neben Gestaltungswillen
Kulturpolitisch åhnlich wie in der Alt-Bundesrepu- und groûem Engagement auch eine Zerfaserung
blik verlief zunåchst die Phase nach dem Zweiten der als Soziokultur bezeichneten Praxis bemerk-
Weltkrieg, indem ein starker Bezug auf die bçrger- bar, die langfristig problematisch werden dçrfte. In
lich getragene Hochkultur genommen wurde, frei- Ostdeutschland ist sie mæglicherweise stårker
lich mit anderen (hier zu vernachlåssigenden) Zie- spçrbar, weil die soziokulturelle Landschaft not-
len. Korrekturbewegungen allerdings konnten in wendig aus sehr heterogenen Einrichtungen ent-
der Folge nur kleingruppenbezogen oder als indivi- standen ist, aber auch die identitåtsstiftende
duelle Strategien glçcken. Aber das Bedçrfnis nach Grçndergeneration fehlt.
Formen von Selbstentfaltung, nach Erprobung
neuer Artikulationspraxen und einer Úffnung zur Um zur Revitalisierung des kritischen Denkens,
Lebenswelt hin bestand auch; vielleicht ein soziokul- aber auch zur Aufrechterhaltung des Netzwerkes
turelles Denken mit Ansåtzen einer Praxis, die weni- beizutragen, scheint eine Grundlagendiskussion
ger mit utopischen Potentialen kalkulierte (denn die unumgånglich. Gegenwårtig befindet sich die
Utopie war bis zum Ûberdruss vorgegeben), son- Soziokultur in einer Phase der umfassenden Wçr-
dern stårker an kleinen Projekten jenseits des gesell- digung, wie auch die zweite Groûe Anfrage an die
schaftlichen Raumes arbeitete. Die Råume, in Bundesregierung in der Geschichte der Soziokul-
denen dies erfolgte, werden gern als Nischen tur belegt41. Dennoch hat sie, wie auch dort ver-
bezeichnet. Ihre strukturelle Bedeutung jedoch ist merkt wird, noch nicht alle Ziele verwirklichen
von der Transformationsforschung noch nicht hin- kænnen.
reichend erhellt worden40. Notwendig ist neben der Diskussion der Protago-
nisten selbst eine stårkere Erforschung von Sozio-
38 Vgl. Horst Groschopp, Gab es in der DDR Soziokultur?,
in: Arbeitsgruppe Soziokultur im Freistaat Sachsen (Hrsg.), kultur, und zwar sowohl bezogen auf die
Soziokultur in Sachsen. Analysen ± Anmerkungen ± Aus- Geschichte und Praxis der Zentren vor dem Hin-
blicke, Dresden 1994, S. 29 ff., hier S. 44. tergrund ihrer Grçndungskontexte und Aufgaben
39 Vgl. z. B. Paul Kaiser/Claudia Petzold, Boheme und im Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen als
Diktatur. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Histori-
schen Museums, Berlin 1997. auch bezogen auf Theorie und Geschichte sozio-
40 In welcher Weise das Wirken ostdeutscher Soziokultur- kulturellen Denkens allgemein, denn hier schlum-
Protagonisten von der Art ihrer Auseinandersetzung mit mert der Fundus an Erkenntnissen çber groûe
Kulturstrukturen in der DDR geprågt wurde, versucht eine Zusammenhånge, der meist dem Pragmatismus
jçngst eingereichte Diplomarbeit nachzuzeichnen. Mægli-
cherweise ist dieser an Lebenswegen orientierte Ansatz fçr der Tagesaufgaben geopfert wird. Dass die Praxis
die Suche nach ¹soziokulturellem Denkenª in der DDR sehr håufig so schlecht sei, weil ihr die Theorie fehle,
hilfreich, denn er zeigt nicht nur exemplarisch das Verhåltnis wie Glaser und Stahl 1974 schrieben, ist noch
zwischen gesellschaftlichen Vorgaben und individuellen immer ein Wort, das gern aufgegriffen, aber wenig
Handlungsspielråumen, sondern genau jene Strategien, die
spåter soziokulturell ¹passfåhigª wurden. Vgl. Uta Karstein, beherzigt wird.
Kulturschaffen als Handlungs- und Bewåltigungsstrategie?!
Voraussetzungen und Spezifika der Entstehung sozio- 41 Vgl. Deutscher Bundestag, Antwort der Bundesregie-
kultureller Praxis in der DDR, Berlin 2000 (unveræff. Di- rung auf die Groûe Anfrage der CDU/CSU vom 24. 8. 2000,
plomarbeit). Drs. 14/4020.

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