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UNIVERSITY OF CALIFORNIA

SAN FRANCISCO MEDICAL CENTER


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ALFRED WEBER
PRINZIPIEN DER GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE
ALFRED WEBER

PRINZIPIEN
DER GESCHICHTS- UND
KULTUR SOZIOLOGIE

HiV\|OH
W373
D

R. PIPER & CO. VERLAG


MÜNCHEN

20377.1
Einband und Schutzumschlag von Emil Preetorius
Satz und Druck: C. Brügel& Sohn, Ansbach
Copyright 1951 by R. Piper & Co. Verlag München
Printed in Germany
MEINEN SCHÜLERN
AUS DER ZEIT VOR UND NACH DEN BEIDEN WELTKRIEGEN
INHALTSÜBERSICHT

VORBEMERKUNG 9

ALLGEMEINPRINZIPIEN
A. Einführung aus Bekanntem, zugleich Ab-
grenzung 11

B. Geschichts- und Kultursoziologie als in-


nere Strukturlehre der Geschichte . 21

I. Die kulturell orientierte, systematisch-strukturelle


Gliederung der Geschichte 21

II. Nähere Interpretation 24


III. Das Wesen der hier vertretenen Kultursoziologie 31

IV. Abgrenzungen und Eingliederungen 35

V. Auseinandersetzung mit der materialistischen Ge-


schichtsphilosophie 39

SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN


A. Gesellschaftsprozess, Zivilisations-
prozess und Kulturbewegung 44

B. Diskussion anderer Standpunkte .... 93

C. Gestalt- und Wesensanalyse, nicht Sinn-


deutung der Geschichte 111

DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN. EIN BEISPIEL DER


ANWENDUNG DER METHODE
Einleitung: Der Typus der kulturellen Konstanz.
Die These 115
I. Geschichtsabriß; Gründe des zeitlichen Primats . 124
IL Der Gesellschaftsprozess 132
III. Die soziologische Anfangskonstellation und ihre
Bedeutung 145
IV. Nähere Analyse 148
V. Konsequenzen für die intellektuelle Entwicklung
und Gesellschaftsformung 158
VI. Konsequenzen für den Gesamttyp: Echnaton; Alt-
werden; Konstanz und Produktivität; Zugang zum
Wesen 166
VORBEMERKUNG

Die Geschichte ist vielgestaltig und doch eine Einheit.


Erst wenn man diese ihre beiden Seiten zusammenfügt, sagt
sie etwas Entscheidendes aus über das Schicksal des Menschen.

Es gibt alte Methoden der Geschichtsbetrachtung, die ihren


Einheitszug zu begreifen suchen und andere neuere, die versuchen,
die Vielgestaltigkeit vor allem durch die Frage, ob diese Wieder-
holungen enthält, geistig zu beherrschen.
Eine anerkannte Methode, sie als vielgestaltige Einheit geistig
zu fassen, aber ist bisher nicht vorhanden.
In Ergänzung der vor kurzem erschienenen zweiten Auflage
46
meiner ,, Kulturgeschichte als Kultursoziologie die diesen Ver-
,

such in einer Gesamtdarstellung der Geschichte unternimmt,


scheint es daher zweckmäßig, hier in diesem kleinen Buch das von
mir zur prinzipiellen Unterbauung dieses dritten Wegs Vertretene
so zusammenzustellen, daß gewissermaßen die exakt behauenen
Steine sichtbar werden, die diesen Weg zu festigen vermögen, der
in der genannten Gesamtdarstellung nur als ein im ganzen un-
sichtbarer Untergrund fungiert. (Damit seine Gangbarkeit im
einzelnen geprüft werden kann, ist die monographische An-
wendung auf einen besonderen Geschichtsabschnitt, die Ge-
schichte des alten Ägypten und Babylonien nämlich, angefügt.)
Das erneut hier Mitgeteilte stellt eine innere Strukturlehre der
Geschichte dar, den Teil der Gesamtsoziologie, der einer solchen
dient. Man kann aus dem Text der Schrift entnehmen, daß und
wie diese „Soziologie als innere Strukturlehre" der Geschichte die
heute a potiori Soziologie genannte Strukturlehre der „Gesell-
schaft" als ein Teilgebiet umfaßt, als ein in Wirtschaft, Politik,
Recht usw. sehr vielfältig gegliedertes Teilgebiet, in dessen im
Ganzen recht ausgebaute, auch ihrerseits sehr vielfältige prin-
zipielle Behandlung aber hier nicht eingetreten zu werden braucht.
VORBEMERKUNG

Auf der anderen Seite ist für die Analyse des geschichtlichen
Ganzen oder jedes seiner Teile als einer Gesamtstrukturgestaltung
die derart in ihren Prinzipien vorgeführte innere Strukturlehre
nur ein Teil. Sie ist zu ihrer Vervollständigung einzustellen in
den äußeren Strukturaufbau der Geschichte. Erst in diesem wird
sie voll real und erreicht sie ihren empirischen Vollzug.
Welche Faktoren hier zusätzlich entscheidend werden und daß
Kombination von innerer und äußerer Strukturlehre der
es in einer
Geschichte auch eine echte Lehre vom Aufbau der geschichtlichen
Gesamtstruktur gibt, davon wird in einer kleinen späteren Schrift
zu handeln sein.
In ihr, in der die Schranken der rein soziologischen Betrachtung
zu sprengen sein werden und diese einzustellen sein wird in einen
größeren Rahmen, wird auch auf diejenigen Fragen erst eine zum
mindesten theoretisch ganz abgerundete Antwort gegeben werden
können, die als die zentralsten im Hintergrund der Kulturge-
schichte als Kultursoziologie und auch dieser hier mitgeteilten
Prinzipien stehen, - nämlich auf die Fragen nach dem geistigen
und dem Art- Schicksal des heutigen Menschen.
Die soziologische Analyse kann hier für sich allein zu keinem
vollen Abschluß kommen. Es müssen dafür anthropologie- und
transzendenzbezogene Deutungsmittel mitherangezogen werden.
Wo Ergänzung einzugreifen haben, wird sich, wie ich
diese als
den darauf hinweisenden Stellen dieser Schrift ergeben.
hoffe, aus
Wie die Ergänzung zu geschehen hat, davon rede ich allerdings
erst später.

10
ALLGEMEINPRINZIPIEN

A. Einführung aus Bekanntem, zugleich Abgrenzung

Unsere so zerklüftete und spannungsreiche Zeit ist voll von


Diagnosen ihres Zustands und Prognosen ihrer und der mensch-
lichen Zukunft. Das ist die Eigentümlichkeit aller großen Krisen-
zeiten der Geschichte. Es hat das beim Abendland schon in der
Zeit seiner Entstehung gewaltet, als es in einer riesigen Wan-
derungskrise aus der Antike hervorging und Augustin in seiner
Civitas Dei die erste große geschichtliche Diagnose und Prognose
vom christlichen Glauben her entwickelte.
Die augustinische Geschichtstheorie war daher theologisch. Alle
folgenden, vor allem diejenigen vor und nach der Französischen
Revolution, waren philosophisch. Das will besagen: sie fragten
nach einem allgemeinen, für die Vernunft einsehbaren, im Ge-
schehen selber auffindbaren Sinn der menschlichen Geschichte.
Richtiger: sie suchten einen für die Interpretation vernunftmäßig
von vorneherein im Grunde feststehenden Sinn der Geschichte
durch deren Analyse darzutun. So in Frankreich etwa Turgot und
Condorcet, in Deutschland vor allem Herder, Schiller und Hegel
in verschiedener Weise.
Schiller war dabei anscheinend als erster sich darüber klar, daß
man bei jedem Versuch universalgeschichtlicher Betrachtung an
den unübersehbaren Stoff des menschlichen Geschehens heran-
tritt mit einer bestimmten Frage, eben etwa der Sinnfrage des Da-

seins, und daß sich dann empirisch zu erweisen hat, ob dieser


Sinn im Geschichtsverlauf wirklich auffindbar ist er selber zwei- ;

felt halb und halb daran, bejaht es aber für seine Deutung schließ-
lichdoch1 ).
Aber er wußte genau, daß es die Gegenwartslage und die Fragen,
die diese aufwirft, sind, die aus dem Bedürfnis der Diagnose und

*) In: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?"

11
ALL GEMEINPRINZIPIEN

Prognose zum Herantreten an die Universalgeschichte führen und


welche die ordnende und auswählende Analyse und Synthese des
an sich unendlichen geschichtlichen Materials
bestimmen, ebenso
wie die Auswahl der behandelten Tatsachen aus diesem.
Also: hier Fragestellung, dort geschichtlicher Stoff, hier Aus-
wahl aus diesem, dort Methode der Analyse und Zusammen-
fassung.
Indem Schiller zu dieser Art der universalgeschichtlich fun-
dierten Betrachtung der Gegenwart die Tore aufgestoßen hat,
steht er in Wahrheit am Anfang einer neuen Art der Geschichts-
theorie, derjenigen, die das 19. Jahrhundert dann weiter betrieben
hat, nämlich der empirisch-soziologischen, als deren Glied auch
wir uns fühlen. - Alle großen Geschichtssoziologien oder, wie man
sie meist (nur halbrichtig) heute noch nennt, Geschichtsphilosophien
des 19. Jahrhunderts und unserer Zeit behaupten von sich, daß
sie rein empirisch durch unbefangene Tatsachenuntersuchung und
Zusammenfassung ihr durchgängig auf die Gegenwart und die Zu-
kunft ausgerichtetes Bild des menschlichen Gesamtgeschehens er-

halten haben. Seien es nun die ältesten Geschichtssoziologien die-


ser Art, wie die St. Simons und Auguste Comtes, die bei Comte
auf das berühmte Dreistadiengesetz hinausliefen auf die Behaup-
:

tung nämlich, daß die Menschheit eine religiöse, dann eine meta-
physisch-philosophische und am Schluß eine empirisch-wissen-
schaftliche Periode durchlaufe mit einer wissenschaftlich unter-
bauten Gesamtorganisation des Daseins am Ende. - Sei es die ge-
schichts-materialistische von Marx, die bekanntlich sagt, die
menschliche Geschichte sei eine auf der Entfaltung der Produktiv-
kräfte ruhende Geschichte der Klassenkämpfe mit dem Endresul-
tat der Befreiung der Menschheit durch das Proletariat, und alle

Ideenbewegungen seien nur Abglanz oder Spiegelung dieser


Klassenkämpfe. - Sei es die von Spengler oder Toynbee, die -
Spengler tut das radikal, Toynbee etwas inkonsequent abge-
schwächter - in der menschlichen Geschichtsentwicklung über-
haupt keine klar zusammenhängende Einheit und vollends, so
wenigstens Spengler, keine irgend sinnvolle Einheit sehen; sondern
nur die über eine bestimmte Anzahl von Einzelkulturen der
Erde -bei Toynbee sind es 21 - verteilte, sich selbst wiederholende

12
EINFÜHRUNG UND ABGRENZUNG
Kreislaufbewegung von Barbarei über Kultur zur sogenannten
Zivilisation, die hier Erstarrung und Verfall der verschiedenen
Geschichtskörper bedeutet.

Ich behaupte nun: Alle diese Geschichtstheorien sind in der


sachlichen Materialaufbereitung und in dem Reichtum der Ge-
danken wohl ein ungeheurer Fortschritt gegenüber dem Schiller-

schen Aufsatz über Universalgeschichte, der in dieser letztlich


einfach die Entwicklung zur Humanität sehen will. Aber sie sind
prinzipiell insofern ein Rückschritt, als sie sich nicht über einiges
klar sind, was Schiller wußte. Nämlich,was sie behaupten
alles,

und empirisch glauben belegen zu können, kann gewiß in größerem


oder kleinerem Umfang richtig sein, aber sie bemerken erstens
alle nicht es ist in jedem Falle nur die Antwort auf eine bestimmte
:

Art zu fragen, mit der man an die als Ganzes unbe wältigbare
Masse des geschichtlichen Stoffs herangeht. Und zweitens ver-
gessen sie das aus dieser Erkenntnis zu folgernde weitere Postulat,
daß man bei dieser Art zu fragen nicht bloß unterscheiden muß
zwischen Frage, geschichtlich befragtem Stoff und Auswahl aus
demselben, sondern daß man sich auch methodisch unvorein-
genommen klarwerden muß darüber, was eigentlich die Zusammen-
fassung, die man dem ausgewählten Stoff gibt, in ihrem Wesen
darstellt.

Jede solche Zusammenfassung ist nämlich offenbar eine Struk-


turanalyse und -synthese des Aufbaues der Gesamtgeschichte
unter einem aus der Fragestellung sich ergebenden Gesichtspunkt.
Der eine fragt: wie verhält es sich mit der menschlichen Ge-
schichte unter dem Gesichtspunkt der Aufeinanderfolge und der
Einwirkung von Religion, Philosophie und Wissenschaft auf die
geschichtliche Formation ? Der andere wie verhält es sich mit
:

dem Schicksal der jeweils sozial Benachteiligten und Enterbten


und der ideologischen Verbrämung dieser Benachteiligung und
Enterbung ? Der dritte, der Kulturzykliker, endlich fragt wie ver- :

hält es sich mit der Aufeinanderfolge von kulturellen Produktivi-


täts- und Unproduktivitätsperioden in der Geschichte ? Keiner ist
sich voll klar darüber, daß das alles ja nur partikulare Frage-
stellungen gegenüber dem ungeheuren Gesamtverlauf sind, und daß

13
ALL GEMEINPRINZIPIEN

sich für jede dieser Fragestellungen natürlich vermöge einer anderen


Tatsachenauswahl ein anderes Strukturbild der Geschichte er-
geben muß, daß sie also alle bis zu einem gewissen Grade recht
haben können, ohne sich zu widersprechen. Aber daß sie damit
das Gesamtschicksal der Menschheit nur teilweise aufhellen.
Und nur eine Richtung, die von Marx, ist sich auch methodisch

dessen bewußt, was sie tut, von welchen Prinzipien der Analyse
und Zusammenfassung des Geschichtsstoffs sie ausgeht. Sie sagt
nämlich, um das Strukturprinzip, nach dem sie analysiert und zu-
sammenfaßt, zu bestimmen: dieses ergebe sich aus der Tatsache,
daß sich die Geschichte in einer sog. Realdialektik, will sagen, in
der Form und Synthese
realistisch gedachter These, Antithese
aller ihrer Elemente bewege. Es komme
nur darauf an, diese
also
Dialektik und ihre Umschwünge festzustellen, dann kenne man
den Gesamtverlauf der Geschichte in der Vergangenheit und auch
für die Zukunft.
Nun Das
! ist eine reine Behauptung philosophisch-theoretischen
Ursprungs, die bekanntlich aus der realistischen Umstülpung des
Hegeischen geistigen Panlogismus der Geschichte folgte. Ich gehe
darauf hier nicht ein. Denn ein unbefangen an den geschicht-
lichen Stoff Herantretender muß offenbar zunächst einmal ganz
unbefangen fragen: wie bewegt denn die Geschichte? Es
sich
kann sich für ihn erst aus empirischer Feststellung ergeben, ob sie
sich dialektisch, d. h. in fortgesetzten Thesen und Antithesen und
Synthesen, bewegt oder anders. - Und so ist die erste Frage unserer
eigenen universalgeschichtlichen Betrachtung geworden in welchen :

Formen, ganz nüchtern festgestellt, bewegt sich die Geschichte ?


Dabei ist sich auch diese Betrachtung darüber klar, daß sie
sachlich inhaltlich an den universalgeschichtlichen Stoff mit einer
ganz bestimmten Frage herantreten muß, aus der dann die Glie-
derung und das Struktur- und Bewegungsprinzip des als wesent-
lich betrachteten geschichtlichen Stoffes sich ergibt. Allerdings
sucht sie die Frage, die sie stellt, so generell, so menschlich zentral
zu fassen, daß sich aus ihr nicht nur eine Gliederung des Ge-
schichtsstoffs nach partikularen Gesichtspunkten, sondern eine
möglichst allumfassende, alles ergreifende ergibt, weil eben die
Frage selber menschlich allumfassend und zentral ist.

14
EINFÜHRUNG UND ABGRENZUNG
Diese Frage oder dieser Fragenkomplex, mit dem unsere kul-
turell orientierte universalgeschichtliche Betrachtung an den hi-

storischen Stoff herantritt, lautet: wie steht es, ganz allgemein ge-
sehen, mit dem seelisch-geistigen Wesen des Menschen und mit
seinen Wandlungen und Variationen im Geschichtsprozeß ? Ver-
möge welcher Bedingungsveränderungen gehen diese seelisch-
geistigen Wandlungen und aufeinanderfolgenden oder nebenein-
anderstehenden Verwandlungen oder Variationen vor sich, auf die
wir treffen ? Und wie und in welcher Abfolge emanieren daraus
die großen,von der Menschheit als geschichtsbedeutsam, ja viel-
empfundenen Schöpfungen und Leistungen und
leicht universell
praktisch wesentlichen Gestaltungstendenzen ? Seien diese nun
verschiedene Sinndeutungen des menschlichen Gesamtdaseins in
seinen mannigfachen Religionen, Philosophien oder sonstigen ob-
jektivierten Stellungnahmen, seien es die natürlich oder ideell
fundierten Formungstendenzen des Gesamtdaseins, vor allem na-
türlich auch der Sozialstruktur, seien es die rein erkenntnismäßigen
Ergreifungen des Daseins, seien es zweckfreie, künstlerische Schöp-
fungen der Literatur, bildenden Kunst, Musik, sei es die Formung
des alltäglichen Lebens durch Sitte, Konvention und durch Ge-
wohnheit, seien es die subjektiv bleibenden Haltungen des kontem-
plativen Daseinsund dergleichen weiter. Diese Fragen sind in
ihren Wurzeln allumfassend und sehr zentral. Und es zeigt sich,
daß der innere Strukturaufbau der Geschichte, die Innengliede-
rung, die sich aus ihnen ergibt, auch anwendbar ist für andere
Fragen, die man an den universalgeschichtlichen Stoff richten
kann und gerichtet hat, so etwa diejenigen, welche die bisher übliche
Historie an ihn stellte, die ganz vor allem nach den Machtgestal-
tungen der Völker, ihren Veränderungen und dem, was damit
zusammenhing, an innerer rechtlicher und sonstiger Organisiert-
heit, gefragt hat, die seelisch-geistigen Haltungen und deren Aus-
druck im ganzen nur wie ein Sekundäres in engerer oder loserer
Verbindung damit Stehendes behandelnd, wodurch das wesens-
mäßig menschlich Zentrale an die Peripherie geschoben wurde.

Geht man nun, dies korrigierend, mit den aus dem Zentralen des
Menschentums und seinen Auswirkungen folgenden „kultursozio-

15
ALL GEMEINPRINZIPIEN

logischen" Fragen an die Geschichte, genauer, an ihren universellen


Verlauf heran, so ergibt sich, daß sie, innerstrukturell gesehen,
drei in der Fortbewegungsart, aber auch dem Wesen nach prin-
zipiell ganz verschiedene Sphären in sich trägt, die zwar praktisch
untrennbar ineinander verwachsen sind, einander gegenseitig
mitgestalten und bedingen, die aber grundsätzlich zu trennen
sind.
Von diesen drei Sphären als den Faktoren des inneren Aufbaus
und des inneren Ablaufs der Geschichte, den Grundbestimmt-
heiten, die sie von innen her strukturieren und gestalten, in prin-
zipiell möglichst eindringlich klärender Form zu sprechen, ist die

Aufgabe, die sich dies Büchlein durch die erneute Darbietung


von früher Vorgetragenem vor allem gestellt hat.

II

Es mag aber nützlich sein, dabei zuvor noch einiges klarzu-


was in der Vorbemerkung bereits angedeutet wurde.
stellen,
Als solche innere Strukturlehre der Geschichte steht die Ge-
schichts- und Kultursoziologie in fortgesetzter dynamischer Korre-
spondenz zu allem, was die heute bereits so reich ausgebauten
Analysen der „Gesellschaftssphäre" als eines Teils des geschicht-
lichen Gesamts ihr bieten. Sofern diese Analysen der Gesellschaft
im engeren Sinne samt der Wirtschaftslehre, der Politik, der Sozial-
psychologie usw. bereit sind, sich als Teile der Analyse eines über-
greifenden großen Ganzen, nämlich des jeweiligen geschichtlichen
Gesamts zu verstehen, sind sie gewissermaßen die dem mehr
Besonderen zugewandten, in der praktischen Ausformung schon
älteren Geschwisterteile, an die sich die Strukturanalyse des ge-
schichtlichen Gesamts selbst anzuschließen hat als Interpretation
des übergeordneten dynamischen Gehäuses, in dem sie sich be-
wegen.
Diese Analyse selbst aber als solche der inneren Strukturie-
rung der Geschichte hat wieder ihre äußeren und, wenn sie auf ihr
zentrales Anliegen, nämlich die Deutung des historisch erkenn-
baren Wesens des Menschen und seiner Wandlungen nicht ver-
zichten will, auch inneren Grenzen.

16
EINFÜHRUNG UND ABGRENZUNG
Die äußeren Grenzen sind sehr klar. Sie wurden in der Vor-
bemerkung schon beinahe ausreichend bezeichnet. Denn der ge-
samtgeschichtliche Prozeß hat selbstverständlich nicht nur eine
innere Strukturierung, sondern auch eine äußere. Er gewinnt erst
in der Sicht des Zusammenwirkens beider Seiten volle Wirklich-
keit. Und es liegt so, daß nicht bloß in der inneren Strukturierung,
sondern auch in der äußeren sich Allgemeines und Prinzipielles
niederschlägt, das, diesen äußeren Fortgang gliedernd, ihm, in an-
derer Weise als dem inneren, doch auch eine in generellen Linien
zu umreißende Artung und deren Wandlung aufprägt. Indem wir
dieses Generelle vorerst ganz allgemein bezeichnen als den ge-
schichtsbestimmenden Einfluß des Verhältnisses von Mensch und
Erde und seiner Wandlungen, überlassen wir die Konkretisierung
der darauf im Zusammenwirken mit der inneren Strukturierung
beruhenden Aufbaulinien der Gesamtgeschichte der Erörterung
an dem genannten späteren Ort 1 ). Wesentlich ist hier nur, nicht zu
vergessen, daß zu voller, dem realen Geschichtsverlauf naher An-
schaulichkeit alles hier in dieser Schrift Gesagte erst heranwächst
durch seine dort vorzunehmende Einfügung in den aus der inne-
ren und äußeren Strukturierung resultierenden gesamtgeschicht-
lichen Verlauf.
Die inneren Grenzen der Innenanalyse sind gegeben vor
allem durch die Grenzen des Kompetenzbereichs jeder Art der
soziologischen Betrachtung. Das durch das Sichheraus-
will sagen,
stellen soziologisch nicht zu deutender Phänomene, auf welche der
Soziologe in der Arbeit bei der Anwendung der Grundgedanken
und Methoden seiner Innenanalyse stößt. Diese inneren Grenzen
werden in den hier mitgeteilten Aufsätzen immer wieder sichtbar
werden, ohne daß sie stets überall ganz explicite genannt sind. Sie
liegen, wie in der Vorbemerkung bereits angedeutet wurde, nach
verschiedenen Richtungen, die doch innerlich zusammenhängen.
Die Grundtatsache des Geschehens, der der Soziologe für seine
Arbeit sich gegenübersieht, ist immer wieder: hier menschliehe

x
) Hier wird auch Stellung zu nehmen sein zu dem in seinem ersten Band

im Wesentlichen von der äußeren Strukturierung ausgehenden Werk von


Alexander Rüstow: „Ortsbestimmung der Gegenwart", Eugen Rensch Verlag,
Zürich, 1950.

17
ALLGEMEINPRINZIPIKN

Spontaneität, dort Umwelt, in der sie wirkt, auf die sie wirkt und
die auf sie selbst zurückwirkt.
Es hat für ihn keine Schwierigkeit, bei der Analyse der Umwelt
die vom Menschen selbst geschaffenen Rayons derselben wenig-
stens grundsätzlich von den durch die Natur gegebenen zu tren-
nen und so, sagen wir einmal, ein soziologisches Bedingungsnetz
des inneren und äußeren Handelns als ein vom Menschen selbst
geschaffenes, gewissermaßen als ein „soziologisches Stratum" von
dem „natürlichen" zum mindesten im allgemeinen Umriß abzu-
lösen. Diese grundlegende Operation, die sein besonderes Objekt,
eben die soziologische Struktur, ohne
erst klar herausstellt, ist
weiteres vollziehbar. Und auch nicht schwer, die verschie-
es fällt
denen Seiten dieser soziologischen Struktur auf verschiedene Seiten
der menschlichen Spontaneität zurückzuführen, oder wenigstens
sie mit diesen in einleuchtenden Zusammenhang zu bringen.

Aber schon bei dem Versuch, Struktur und Wesen derjenigen


geschichtlichen Sphäre zu bestimmen, die dabei der seelisch-gei-
stigen Spontaneität im Gegensatz zur direkt oder indirekt trieb-
haften und nur vitalen zugeordnet ist, stößt er im Phänomen der
Überzweckmäßigkeit des hier angetroffenen inneren und äußeren
Handelns auf etwas, das jede vordergründige Art der Deutung
aus einem durch simple Rationalität umreißbaren Kräftespiel
durchbricht. - Er hat zu konstatieren, daß er hier wie im Rücken
des Menschen wirkende Mächte antrifft, die auf eine rational nicht
zu deutende Synthese zwischen „Person und Welt" hindrängen, sei
es in Gestalt zweckloser Schöpfung, sei es mit der Tendenz der
Weltdeutung und Weltveränderung, sei es in der Form der Welt-
abkehr. Das Geheimnis alles aus seelisch-geistiger Spontaneität
erwachsenen derart Schöpferischen an Haltung und Gestaltung hat
er einfach festzustellen. Wobei er sich bald klar wird: er stößt dabei
inWahrheit hier nur auf ein sehr konkretes Sichtbarwerden des
Durchwirktsein6 des Daseins von Faktoren, die wir, ihre nähere
Umreißung jenen späteren Versuchen vorbehaltend, in den fol-
genden Aufsätzen vorerst ganz allgemein als solche unmittelbar
erfahrbarer, immanenter Transzendenz bezeichnen wollen. Im
vollen Bewußtsein, daß mit dieser Bezeichnung ein natürlich durch-
aus metasoziologisches Faktum herangezogen wird, herangezogen

18
EINFÜHRUNG UND ABGRENZUNG

aber, da ohne seine Heranziehung die soziologische Analyse in sich


unvollziehbar bliebe.
Allgemein gesehen erweist sich dann beim weiteren Arbeiten
jene hier in diesen Phänomenen unübergehbar gewesene Transzen-
denzdurchflochtenheit des Daseins als Äußerung eines Absoluten,
das sowohl in der Gestalt starker dynamischer Potenzen positiver
oder negativer Art, wie in der Form der Ausstrahlung von diesen
ausgehender ebenfalls vielgesichtiger Gültigkeiten überall auf-
taucht, überall vorhanden ist und das als Gegenstand unmittel-
barer Erfahrung aufzudecken und, so weit es geht, faßbar zu
machen, abzugrenzen und einzugliedern, offenbar eine Aufgabe
ist, die vorbehalten bleiben muß.

So die wohl wesentlichste innere Grenze der vorzunehmenden


Betrachtungsart.
Die andere scheinbar ganz verschiedene, doch, wie später sich
ergeben wird, im letzten konvergierende Richtung, nach der die
soziologische Innenanalyse, soll sie ganz vollzogen werden, über
sich selbst hinausweist, Hegt auf der Ebene der Rückwirkung
des soziologischen und natürlichen Stratums auf den Menschen,
also des Beeinflußtwerdens der menschlichen Wesensqualitäten
von daher und Veränderung unter diesem Einfluß. Sie liegt
ihrer
damit auf einer Ebene, für welche die Deutung der soziologischen
Strukturformung als Produkt des Menschen samt den in ihr
eingeschlossenen Daseinsgehalten und Emanationen, sowie For-
men und Gestalten des Selbst- und Daseinsverständnisses bei
allem großen eigenen Wert, den sie besitzen, doch gleichsam nur
Materialaufbereitung für die umgekehrte Frage sind: inwiefern
der spontan produzierende und zugleich das Dasein und sich selbst
interpretierende Mensch in der Art und Gestaltung seiner Spon-
taneität und derihr zugrunde liegenden Wesensformung selbst
historisch wandelbares Produkt ist, sei es des Wandels der von ihm
selbst geschaffenen Existenzgehäuse und -gehalte, sei es des na-
türlichen Milieus und seiner Wandlung. Fixierung und Verände-
rung des menschlichen Typs als Tatsachen und deren Zusammen-
hang mit der natürlichen oder soziologischen Umwelt sind Dinge,
die dabei ohne weiteres soziologisch konstatierbar und deutbar
sind. Ja, deren Konstatierung und Deutung ist offenbar ein we-

19
ALL GEMEINPRINZIPIEN

sentlicher Teil der Anwendung der historisch-soziologischen Innen-


analyse auf die Geschichte. Wie aber das Wesen der am und im
Menschen selber bei seinen Fixierungen, Fixierungswandlungen
und Fixierungsauflösungen sich vollziehenden Vorgänge zu ver-
stehen ist, was, anders gesagt, bei alledem an ihm als Menschen
wesenhaft vor sich geht, darauf kann der Soziologe als Soziologe
nicht antworten, da dafür biologisch-anthropologische Vorstel-
lungen herangezogen werden müssen. Diese sind hier die not-
wendigen Ergänzungen; und alles Reden von Fixierung eines
menschlichen Typs, Auflösung der Fixierung usw. ist ohne diese
Ergänzung unvollständig.
Auch diese Ergänzung kann hier in dieser soziologischen Prin-
zipienschrift nicht gegeben werden. Vor allem deshalb unter an-
derem nicht, weil sie nicht nur eine durchaus eigene biologisch-
anthropologische Thematik hat, sondern zugleich eine solche, die
sich auch erst wieder für die uns interessierenden Probleme voll-
endet durch Heranziehung der künftig zu besprechenden Tran-
szendenzverflochtenheit des Menschen.
Es besteht also ein großer Rahmen zusammenhängender Fragen-
komplexe und Phänomene, innerhalb deren die hier gebotene
Lehre des soziologischen Innenaufbaus der Geschichte, die eine
Prinzipienlehre darstellt, teils erst ihre Realität, teils auch erst
ihre nicht zu entbehrende Abrundung erfährt. - Die Absteckung
dieses Rahmens konnte nur in Hinweisen auf an anderer Stelle
Auszuführendes erfolgen, durfte jedoch als Ergänzung der folgen-
den Aufsätze offenbar nicht fehlen.

20
und Kultursoziologie
B. Geschichts-
ALS INNERE STRUKTURLEHRE DER GESCHICHTE 1 )

I. Die kulturell orientierte, systematisch-strukturelle Gliederung der


Geschichte

Tritt man mit der Fragestellung nach dem Kulturschicksal der


Menschheit an die Historie heran, so stellt sich - für welchen Kul-
turhegriff immer - der geschichtliche Prozeß dar als eine Abfolge,
ein Nebeneinanderbestehen und ein teilweises Aufeinander-Auf-
gebautsein verschiedener großer Kulturen (der ägyptischen, baby-
lonischen, indischen, chinesischen, persisch-jüdischen, griechisch-
römischen, byzantinischen, islamitischen, abendländischen, um
Wesen,
einige der wichtigsten zu nennen), welche alle ihr eigenes
Ausdrucksform und Ge-
ihre eigene Daseinshaltung, ihre eigene
samtphysiognomie, ihre eigenen Vollendungshöhen und Abfälle,
ihren eigenen Rhythmus der Bewegung besitzen, und welche die
Totalität der bisher erreichten Kulturvollendungen der Mensch-
heit darstellen. Diese Kulturen sieht man eingebettet in große Ge-
schichtskörper, die voneinander abgegliedert und zu Einheiten zu-
sammengefaßt sind durch einen jedem von ihnen eigenen ereignis-
haften historischen Lebensprozeß, durch den sie vermöge von Sie-
gen und Niederlagen, Eroberungen, Wanderungen zugleich äußer-
lich untereinander mehr oder weniger
stark verbunden sind, wäh-
rend man Verkehrsströmungen und kulturelle Ein-
gleichzeitig
wirkungstendenzen seit uralter Zeit zwischen ihnen laufen sieht.
Jeder dieser Geschichtskörper hat eine ihm eigentümliche Ge-
sellschaftsstruktur, d. h. Allgemeinformung der in ihm le-
bendigen Trieb- und Willenskräfte. In jedem von ihnen durch-
Gesamtformung und ihre Einzelformen
laufen die gesellschaftliche
Abwandlungen, die bei vorhandenen Ähnlichkeiten doch jedem
von ihnen durchaus eigentümliche Phasenerscheinungen seiner
individuellen Gesamt struktur sind. Vor allem vermöge dieser in-

*) Abgedruckt zuerst im Handwörterbuch der Soziologie, herausgegeben


von Alfred Vierkandt, 1931.

21
ALL GEMEINPRINZIPIEN

dividuellen gesellschaftlichen Gesamtstruktur fühlen wir sie als


geschlossene, körperhafte Gebilde.
Sie stellen in ihrer Gesellschaftsstruktur gar nichts von einer
einheitlichen Evolutionsreihe dar, so wenig wie im Wesen ihrer
Kultur oder deren Physiognomie. Wohl aber sehen wir alle diese
Geschichtskörper an eine Evolutionsreihe gefügt oder durch eine
Evolutionsreihe verbunden, wenn wir einen bestimmten Prozeß
ins Auge fassen, der einheitlich und irreversibel durch die gesamte
Menschheitsgeschichte seit ihren Anfängen hindurchgeht. Dieser
Prozeß manifestiert sich am deutlichsten in seiner äußerlichsten
Erscheinungsform als die fortgesetzte Erweiterung und Verbesse-
rung der äußeren Beherrschung der Natur durch den Menschen,
also als technischer Fortschrittsprozeß. Als solcher hat er sich
wohl hier und da in Sackgassen verlaufen, konnte auch einmal
hier oder dort durch Wanderungsereignisse und dergleichen Rück-
schläge erfahren, im großen gesehen aber ist er ganz offensichtlich
ein logisch-stufenweiser Einheitsvorgang, dessen Eigentümlichkeit
von der Steinzeit bis heute stets die unhemmbare und nicht wieder
rückläufig zu machende universelle Ausbreitung jedes seiner „Fort-
schritte" über die ganze Erde ist. Er ist dabei in Wahrheit nur
der Niederschlag des in derselben Art wie er als seine geistige Vor-
aussetzung ebenso stufenweise fortschreitenden intellektuellen,
praktisch verwertbaren Wissens um die Natur und ihr Kräfte-
spiel, der Ausbildung des praktischen Wissenskosmos, dessen Fort-
gang schließlich in die moderne Naturwissenschaft ausgelaufen
ist. Der Hintergrund wieder dieses praktischen Naturwissens ist

die stufenweise, rationale theoretische Aufhellung des Welt- und


Ichbildes, soweit dieses mit intellektuellen Mitteln erfaßbar ist.

Mag auch diese Aufhellung durch eine Symbiose, in die sie fast
überall in der Geschichte mit religiösen oder philosophisch-meta-
physischen Haltungen, die immer zeit- und artbedingt sind, ge-
treten ist, nicht so gradlinig durch die Geschichte hindurch laufend
und Ausdrucksform variabel erscheinen, so stellt doch jede
in der
neue Phase, in die sie eintritt, jede neue Art z. B. der mathema-
tisch-physikalischen Erfassung des Naturganzen, die auf eine an-
dere folgt (euklidische, kausal-mechanische, funktionale, Quanten-
erfassung), nur eine neue, verbesserte Formensprache auf dem Weg

22
GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

zur vollständigeren Aufhellung und Beherrschung dar, bei der


jeder Schritt logisch auf dem vorhergehenden ruht und das letzte
Resultat, das erreicht wird, universell ist, für alle gilt und sich
auch jeweils langsamer oder schneller über die ganze Erde durch
alle Geschichtskörper hindurch als allgemeingültig verbreitet. -

Von der rationalen Aufhellung des menschlichen Ichs als eines


Teiles der Erscheinungswelt gilt ganz das gleiche. - Und dieser
Aufhellung geht, bis zur heutigen Tiefenpsychologie hin, in loserer
oder engerer Verbindung eine Bewußtseinsaufhellung parallel,
die ebenfalls irreversibel durch die ganze Menschheit und alle

ihre Geschichtskörper hindurchläuft und deren einheitliches Re-


Übergang von naiven zu durchreflektierten
sultat der stufenweise
und bewußten Zuständen für sie alle ist; - wenn auch die Be-
wußtseinsaufhellung derjenige Teil des gesamten Prozesses ist,

der am stärksten in die verschiedenen Geschichtskörper und ihr


Schicksal, ihre Klassenschichtung und deren Abwandlung ein-
geschlossen bleibt, da er durch Wanderungsvorgänge, Herauf-
kommen noch und örtlich immer
unreflektierter Schichten zeitlich
wieder partiale Rückschläge erfahren kann. Das ändert nichts
an dem Prinzip seiner Unumkehrbarkeit und Universalität, die
er mit den anderen Vorgängen gemein hat, deren innerster Kern
er in gewissem Sinn ist. Fortgesetzt fortschreitende Aufhellung
Erfassung des Ichs und der Welt,
eines für die intellektuelle
für den Menschen gewissermaßen präexistenten Kosmos von Er-
kenntnissen und dessen stufenweises Hereinziehen in das Leben
durch „Entdeckung" und praktische Verwertung erscheint als
das Wesen dieses gewaltigen, einheitlich die Menschheits-
geschichte durchziehenden Vorgangs, den man mangels eines
besseren Wortes als Zivilisationsprozeß 1 ) der Menschheit be-
zeichnet.
Indem dieser Zivilisationsprozeß, auf den fast alle evolutive Ge-
schichtsphilosophie in ihren sachlich belangreichen Behauptungen
irgendwie reflektiert hat, der hier aber ohne jede positive oder
negative Bewertung einfach als Faktum konstatiert ist, durch die

*) Im vollen Bewußtsein, daß dieses Wort hier in einem engeren Sinn ge-
braucht wird als der verbal entsprechende Begriff Zivilisation* im angel-
sächsischen und romanischen Sprachgebiet.

23
ALL GEMEINPRINZIPIEN

verschiedenen Geschichtskörper hindurchflutet und in ihnen auf-


steigt, bietet er in seinem technischen Niederschlag offenbar deren
Gesellschaftsstruktur immer neue veränderte Mittel ihres Auf-
baues, sofern sie nicht schon aus ihren Eigenkräften Veränderungs-
tendenzen unterliegt. Er verändert augenscheinlich aber gleich-
zeitig auch die geistige Objektwelt in seinem Fortgang in jedem
Geschichtskörper. Und indem er so zusammen mit Eigentendenzen
der Gesellschaftsstruktur diese wandelt, das äußere Dasein also
umformt, hat er gleichzeitig, wo er nicht „gestaut" wird, die Ten-
denz, dieses äußere Dasein mit einer immer neuen geistigen Objekt-
welt zu füllen, d. h. in gewissen Abständen eine neue naturale
äußere und innere „Lebensaggregierung" in jedem Geschichts-
körper in einer diesem eigentümlichen Art zu schaffen. Diese sich
so verändernde Lebensaggregierung umgibt das „Seelische" der
Völker oder Völkergesamtheiten der verschiedenen Geschichts-
rayons wie ihr sich wandelnder naturaler „Körper" (jetzt das Wort
in einem präziseren Sinne genommen). Und das Phänomen, das
wir vor uns sehen, ist dies, daß die seelische Kraft der Geschichts-

rayons darauf reagiert, indem sie wie von einem Zentrum aus diese
Lebensaggregierung gleich einem naturalen Körper seelisch zu
durchdringen, sie zu formen, ihr eine Physiognomie, eine seelisch-
geistige, durch die Substanz und ihre Wandlung selbst mit be-
stimmte Wesensausprägung zu geben versucht oder, gelingt ihr
das nicht, der Lebensaggregierung eine ihrer Art korrespondie-
rende, dann notwendigerweise lebensnegative seelisch-geistige Hal-
tung gegenüberzustellen trachtet. So, zunächst sehr vereinfacht
und dadurch natürlich teilweise schief analysiert, der Prozeß, der
zu dem hinführt, was wir Kulturformen, Kulturemanationen oder
kulturelle Schicksalshaltungen nennen können. Kultur ist dabei,
das sieht man, begriffen als seelisch-geistige Ausdrucksform in der
Lebenssubstanz oder seelisch-geistige Haltung ihr gegenüber.

IL Nähere Interpretation

Ich verschiebe das Nähere dieser soziologisch-historischen in-

neren Strukturanalyse auf später und hebe nur, um Mißver-


ständnisse möglichst auszuschließen und die Einfügung und Ab-

24
GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

grenzung der Betrachtung anderen Analysen gegenüber zu er-

leichtern, folgende Punkte hervor:


1. Die verschiedenen Sphären der geschichtlichen Totalbewegung,

die für die Analyse getrennt werden (Gesellschaftsprozeß, Zivili-


sationsprozeß, Kulturbewegung) und die tatsächlich sachlich ver-
schiedenartige Inkremente des jeweiligen Geschichtsganzen sind,
werden natürlich nur für analytische Verständigungszwecke durch
eine Gedankenoperation scharf voneinander geschieden. In der
Wirklichkeit des historischen Lebens sind sie untrennbare Teile
seiner Einheit, zu deren exakterem synthetisch soziologischem
Verstehen eben als einer solchen Einheit sie ja auch nur gewisser-
maßen operativ auseinandergenommen werden. Die Gesellschafts-
struktur ist mit das wesentlichste Objekt der seelisch-geistigen
Formung durch alle Zeiten gewesen. Bändigt und formt sie die
Trieb- und Willenskräfte in Allgemeingestaltungen, so tut sie das
wesentlich mit unter vom Seelisch- Geistigen kommenden Domi-
nanten. Und vielleicht erst dem modernen Kapitalismus einer be-
stimmten Epoche und dem modernen reinen Machtstaat und Ahn-
lichem ist es vorbehalten geblieben, sich als Resultat rein natura-
listischer Triebhaftigkeit zu verstehen und als solches auch weit-
gehend zu isolieren. Was dauernd ohne Gefahr des Untergangs des
Lebens im übrigen nicht angeht. - Alle zivilisatorischen Elemente
durchsetzen und durchdringen das Gesamtdasein einer Zeit bis in
seine letzten Poren; nicht bloß in der Form der Technik, welche
seine äußere Struktur mitbestimmt, sondern auch durch die Art
der geistigen Objektwelt, welche sie neben und über die äußere
stellen, mit dieser amalgamieren, Form sie die äußere
ja, in deren
Welt sehen lassen; ebenso wie durch Art und Maß der Bewußtseins-
aufhellung, die nicht bloß ein bestimmtes Sich-selbst-sehen be-
deutet, sondern eine bestimmte Atmosphäre schafft, in welche
alles Sein und Handeln, Inneres und Äußeres jeder Zeit je be-
sonders eingetaucht sind. Kulturgestaltung, das heißt eben in
diese Luft eingetauchte Formung und Durchdringung der von den
beiden anderen Sphären dargebotenen Daseinselemente aus einer
seelisch- geistigen Mitte oder Stellungnahme zu ihnen aus dieser.
Sie ist mit diesen Sphären verschmolzen nicht bloß bei der gesell-
schaftlichen Gesamtformung des Daseins und seiner Teile nach

25
ALL GEMEINPRINZIPIEN

von ihr geborenen Ideen oder religiösen Haltungen, sondern auch


bei dem scheinbar absichtslosen und losgelösten Herausstellen von
künstlerischen oder philosophischen Objektivationen, die in ihrer
Tiefe stets einem Gesamtleben entspringen und auf dasselbe zu-
rückwirken, ja, in Wahrheit zurückwirken wollen. Endlich ist
selbstverständlich die subjektive Formung von Persönlichkeiten
oder Persönlichkeitsgruppen, mag sie lebenszu- oder abgewandt
sein, stets kulturelle Formung oder Umformung der rudimentären
Grundlagen des Gesamtdaseins.
Die Folge ist: in keinem Moment, in dem eine neue „Lebens-
aggregierung" durch Fortbewegung des Gesellschafts- oder Zivili-
sationsprozesses vorliegt, findet das vor eine neue Situation ge-
stellte, seelisch- geistige Wollen in irgendeinem Geschichtskörper

eine bloß „naturale" sachliche und geistige Daseinsmasse vor, die


es zu bewältigen hat. Diese ist vielmehr stets kulturell „vor-
geformt", d. h. geistig von bestimmten Traditionen erfüllt, sach-
lich nach bestimmten Ideen oder religiösen Vorstellungen gestaltet
oder mitgestaltet, auch noch im Zustand ihrer Veränderung. Die
Auseinandersetzung mit diesen Traditionen und den ideellen oder
religiösen Inkrustiertheiten des Daseins ist in jeder Neukon-
stellation- so wollen wir die jeweilig neue historische Situation
- meistens mindestens ebenso
soziologisch-technisch bezeichnen
wichtig wie das Unternehmen, den neuen naturalistischen, sach-
lichen und geistigen Lebensstoff einzufangen und zu gestalten oder
sich mit ihm auseinanderzusetzen. Beides zusammen bildet die
neue Kulturleistung des historischen Augenblicks, für die man
häufig grade auch alte Traditionen in einem neuen Verstehen zur
Hilfe herbeiruft (Reformationen, Renaissancen); allerdings stets
mit dem daß Neues, von ihnen Verschiedenes entsteht.
Effekt,
Wieder ist es eine Eigentümlichkeit der Gegenwart, daß sich
die Inkrustationen und Traditionen so weit wie wohl noch niemals
zersetzt haben und die Auseinandersetzung mit dem vital Neuen
das ganz Entscheidende ist.
2. Nirgends wird bei solcher geschicbtssoziologischen Deutung der

kulturellen Formungen und Umformungen des historischen Da-


seinsstoffes der Versuch gemacht, die Bedeutung der ethnischen
Qualitäten, der äußeren Natur, des Zufalls oder der großen Per-

26
GKSCHICHT5- UXD KL" IOLOGIE ALS IHNKKJ 5TRUKTURLEHRE

sönlichkeit für das Geschehen - auch und grade das unter kul-
turellen Gesichtspunkten sich vollziehende - auszuschalten.
Die ethnischen Qualitäten der verschiedenen Völker und
ihre Besahung sind vielmehr von Naturforschern und Anthro-
pologen aufzuhellende Daten, die der Soziologe als solche zu-
nächst einfach hinzunehmen hat, ohne sie analysieren zu können.
Daten von äußerster Wichtigkeit, ebenso wie die umgebende Na-
tur, oder wie man das auch genannt hat. die ..mütterliche Erde*".
in der ein Volk, ein Geschichtskörper aufwächst und seine Historie
verläuft. Von einer Kultur wie der der alten Griechen zu sprechen,
ohne die schlechthin geniale, aber so komplexe Begabung der da-
maligen Bevölkerung und die wunderbare Qualität ihres Lebens -
raumes in Rechnung zu stellen, ist sinnlos. Worauf es ankommt,
ist verständlich zu machen, wie im allgemeinen historisch-sozio-
logisch analysierten Geschichtsstrom ein Volk von dieser Be-
gabung, in diesem Raum, zu dieser Zeit zu diesen Leistungen
kommt, diese Kulturaus prägungen schafft, die dann doch später
auch vor dem physischen Untergang zusammensinken oder sich
gänzlich verändern. Und es ist dann eine zweite Frage, wie sich
seinTyp ohne ethnische Veränderungen im historischen Raum ge-
wandelt hat und aus welchen Bedingungen das \ ersagen erfolgt ist.
Daß der Zufall, der Zufall des Erstehend geschichtsbedeut-
samer Männer wie des Geschehens großer Ereignisse (Sies,
Niederlage) nicht ausgeschaltet wird, ist selbstverständlich. In
einem gewissen Sinn ist alle Geschichte Zufall, d. h. das Resultat
des Zusammenwirkens eines zunächst undurchsichtigen und an-
scheinend oft nn zusammen hängenden Komplexes von Einzel-
kausaltatsachen. Worum es sich handelt, ist verständlich zu
machen, wieso und in welcher Art die anscheinenden Geschehens-
zufälle und auch das Erstehen entscheidender Männer geschichts-
und kulturbedeutsam werden. Dies Bedeutsamwerden ge-
schieht immer im Rahmen der Ausbildung oder Umformung der
Geschichts- und Kulturphysiognomie eines Geschichtskörpers, die
überhaupt erst die Möglichkeit der Kultur bedeutsamkeit bietet.
Wobei über die Wirkungsrelevanz des bedeutsamen Mannes gegen-
über dem Massenkörper, auf den er wirkt, gar nichts Generelle-
ausgesagt wird und ausgesagt werden kann. Sie ist nach persön-

27
ALL GEMEINPRINZIPIEN

licher Begnadung, nach Aufgabe, nach Zeit und Ort ganz ver-
schieden.
3. Die Kulturphysiognomie eines Geschichtskörpers - das
ergibt sich aus einer Anwendung dieser Art kultursoziologischer
Analyse - fixiert sich in ihren Grundzügen stets zu einem be-
stimmten Moment, meist eine gewisse Zeit nach dem Eintreten
seiner Bevölkerung in den großen Geschichtsstrom, in einer -
sagen wir also mit Spengler — mütterlichen Landschaft. Es entsteht
dann etwas wie eine seelische Entelechie dieses Volkes, dieses
Geschichtskörpers, die sich nun nach allen Richtungen hin kul-
turell auszusprechen und auszuformen trachtet, wie etwa eine bio-
logische Entelechie auch. (Zeitpunkt bei den Griechen vielleicht
die Epoche Homers, bei den Germano- Romanen die Zeit um
1000 n. Chr.) Es ist in den verschiedenen Geschichtskörpern ganz
verschieden, ob die seelische Entelechie und die von ihr getragene
Daseinshaltung noch Abwandlungen und in welcher Stärke
erfährt, ob sie sich sogar permutiert. Das hängt von den Wand-
lungen der Lebensaggregierung ab, durch die hindurchgegangen
werden muß (den Neukonstellationen). Die eine Entelechie nach
der Richtung einer bestimmten, die ganze weitere Kulturbewegung
eines Geschichtskörpers entscheidend beeinflussenden Daseins-
haltung fixierende Konstellation nennt man wohl am besten An-
fangskonstellation.
4. Es wird keine generelle Behauptung über irgendein Kausal-
verhältnis der verschiedenen Sphären für die Fortentwick-
lung der Bewegung aufgestellt (wie es die materialistische Ge-
schichtsauffassung tut: Primat des Gesellschaftsprozesses). Die hi-
storische Betrachtung zeigt, daß im allgemeinen Gesellschafts-
prozeß und Zivilisationsprozeß mit verschiedenem Vorrang und in
verschiedener Kombination vorwiegend die Tendenz haben, den
historischen Strom als Massenstrom weiter über dessen Bedingungs-
netz vorwärtszutreiben zu neuen naturalen Lebensaggregierungen
und dadurch das Kulturwollen der großen und kleinen produk-
tiven Menschen und Kräfte vor immer erneute Aufgaben zu stellen.
Aber es kann auch eine, durch äußere oder innere Ereignisse her-
vorgerufene Auflösung oder Abbröckelung einer bisherigen Kultur-
bindung und Formung eine neue Lage schaffen, welche die bisher

28
-

GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

gebundenen beiden andern Sphären in größerem oder geringerem


Maß freisetzt und dadurch zu neuen seelisch- geistigen Aufgaben
hinführt. So war es z. B. im alten Ägypten nach dessen kultureller
Berührung mit den Griechen (Ende der saitischen Periode). So
kann es heute vor allem bei der Situation der großen Ostvölker
sein. Unsere heutige abendländische Lage ist noch komplizierter.
Immer aber ist das Verhältnis zwischen Kulturwollen und vor-
geformter oder nicht vorgeformter Daseinssubstanz, theoretisch
gesprochen also zwischen ihm und dem Substrat der beiden andern
Sphären, so zu verstehen, daß dies Kulturwollen ein - wir werden
gleich sehen, nur transzendental verständlicher - immanenter
Drang ist, die jeweils umgebende Lebenssubstanz von Innen see-
lisch-geistig zu gestalten oder in subjektiver Kultur eine bestimmte,
ihr korrespondierende Haltung ihr gegenüber einzunehmen und
auszubreiten. Kultur ist niemals Überbau über Gesellschaft oder
was sonst, sondern deren von innen vor sich gehende Formung.
Sie ist auch nicht „Geist" gegenüber „Natur", vielmehr ist der
Vorgang der, daß das „Seelische" geistdurchleuchtete und geist-
gestaltete Form gewinnen muß, wenn es die an sich naturale Daseins
Substanz durchdringen und von seiner Mitte her bewältigen will.
5. Es wird nicht behauptet, daß die den Zivilisationsprozeß vor-

wärtstreibende, intellektuelle Beherrschungstendenz der


Natur und dem Dasein gegenüber die einzige in der Geschichte
vorhandene und wirksame sei. Ganz im Gegenteil, die Betrachtung
nicht bloß der sog. Primitiven, sondern der ganzen Menschheits-
geschichte zeigt, daß mit ihr konkurrierend immer andere geistige
Aneignungs- und Bewältigungsformen der Erscheinungswelt und
ihrer Hintergründe vorhanden waren, große Bedeutung hatten, ja
sie zum Teil auch heute noch haben. Bei den Primitiven und in den

ersten Hochkulturzeiten die magische Daseinserfassung, welche


die wesentliche Ursache der Kristallisiertheit ihrer Existenz ist.

Später die mythische und die metaphysische. Religion und


eigentliche Philosophie ruhen vorwiegend auf den beiden letzteren,
welche ihnen allein eine ausgeformte Durchdringung und Beherr-
schung des Daseins gestatten, Denken und Glauben also in dieser
Gestalt zu kultureller Höhe erheben. Woran nichts ändert, daß
zum mindesten in der Moderne vor allem die Philosophie sich ge-

29
ALL GEMEINPRINZIPIEN

nötigt glaubt, weitgehend wohl auch wirklich genötigt ist, sich der
rein intellektuellenAusdrucksform für die Mitteilung ihrer meta-
intellektuellen Wahrheiten zu bedienen, also gewissermaßen un-
eigentlich und nur hinweisend vom Eigentlichen zu sprechen. Nur
die intellektuelle Daseinserfassung ist eine rein stufenweis zivili-
satorische, alle anderen sind Mischprodukte.
6. Wenn man von Hochkultur redet, so tut man das zweck-
mäßigerst da, wo das kulturelle Wollen eine bestimmte Gestalt
angenommen und eine bestimmte Höhe erlangt hat. Das Eigen-
tümliche der Primitiven ist, daß sie seelisch- geistig aus der Lebens-
angst heraus gestalten. Hochkultur liegt da vor, der - sagen wo
wir einmal - prometheische Mensch - prometheisch, weil er sich
über die reine Naturbedingtheit erhoben hat, was übrigens im Keim
auch bei den von Lebensangst erfüllten Primitiven vorliegt - die
gewissermaßen beleidigten Naturgewalten nicht durch Angst-
haltung zu besänftigen und in seinen Dienst zu bringen sucht,
sondern vermöge der Art seiner Daseinshaltung in seiner Kultur
gewissermaßen eine zweite höhere Natur aufbaut, beruhend auf
Angstbefreitheit, also Erlösung (Katharsis). Gleichgültig wie
diese kulturell beschaffen sein mag. Wobei dann das Erhabene,
das Schöne, das Heilige usw., so verschiedenartige Inhalte und
Formen es je nach der Kulturphysiognomie der verschiedenen Ge-
schichtskörper aufweist, als der eigentliche Vollendungsinhalt der
Kulturen sich erhebt, die dadurch Hochkulturen sind. Dieses Voll-
endete kann dann überall verstanden, wenn auch nicht überall
Form übernommen werden und durch sein
hin in seiner konkreten
Vorhandensein Weltbedeutung erlangen. Das ist das Phänomen
des Sich-erhebens kulturellen Wollens zu universeller Qualität,
dem wir begegnen.
Ruht jede Kulturphysiognomie auf einer Daseinshaltung, die
7.

der Ausdruck einer im historischen Prozeß aufgesprungenen see-


lischen Entelechie ist, so ergibt sich von selbst, daß jede historisch-
soziologische Konstellation, die in einem Geschichtskörper etwas
Derartiges neu aufbrechen läßt, eine neue Stileinheit durch den
ganzen betroffenen Geschichtskörper schafft, durch alle Betäti-

gungs- und Ausdrucksgebiete des Kulturellen hindurch von der


Religion über philosophisches Denken bis zur Kunst und andrer-

30
GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

seits bis zur Gesellschafts- und Menschenformung hinüber. Wie


weit sich dabei das, was man heute die Einzelgebiete der Kultur
nennt, auseinanderfaltet und gewissermaßen verselbständigt, hängt
vom Charakter der Zeit des geschichtlichen Ortes ab. Jeder weiß,
daß z. B. die heutige Verselbständigung von Religion, Philosophie,
Kunst usw. ebenso erst das Produkt der Moderne ist, wie im Ge-
sellschaftlichen etwa die Verselbständigung von Staat und Wirt-
schaft, die im übrigen an einem großen Teil der heutigen Daseins-
problematik die Schuld trägt.
Historisch-soziologisch sind die verschiedenen sogenannten Kul-
turgebiete stets nur als verschieden entwickelte, in einer Zeit mehr,
in einer andern Zeit weniger hervortretende Ausdrucksseiten und
Au6drucksformen eines Kulturwillens zu betrachten, der jeweils
in einer bestimmten Lebensaggregierung und einer ihr gegenüber-
tretenden Daseinshaltung verankert ist, wie ich es besprach. Es gibt
Zeiten, in denen ein solcher Wille sich nicht zu formen oder zur Gel-
tung zu bringen vermag: die großen Krisenzeiten der Geschichte.

III. Das Wesen der hier vertretenen Kultursoziologie

Es ist klar,daß allem Vorgebrachten eine ganz bestimmte Vor-


stellung von Kultur und Vollendungshöhe derselben, ein bestimm-
ter Kulturbegriff also, zugrunde hegt, welcher von Phänomenen
ausgeht, deren Wurzeln naturalistisch nicht mehr begriffen werden
können und deren Lebenseingefügtheit er betrachtet. Es ist natu-
ralistisch nicht begreifbar, wieso das Seelische im Menschen, in den
Völkern, den Geschichtskörpern den unabweisbaren Drang hat,
die umgebende Lebenssubstanz nach letzten in dieser selbst nicht
liegenden Ideen, seelisch-geistigen Vorstellungen und Bedürfnissen
zu formen, mit oder ohne Absicht die gesamte Daseinsgestaltung
danach zu bilden, oder wieso, wenn ihm das nicht gelingt oder
nicht der Mühe wert erscheint, es sich abkehrt und korrespondie-
rende seelisch- geistige Vollendungshaltungen in Lebensabgekehrt-
heit aufrichtet (persönliche Seligkeitshoffnung ist dabei meist nur
mitspielend und oft ganz unerheblich), wieso also das Seelisch-
Geistige zu den Gestaltungen des Erhabenen, des Schönen, des
Heiligen usw. überhaupt kommt, zu jeder mehr oder weniger uni-

31
:

ALL GEMEINPRINZIPIEN

verseil wirkenden Kulturmanifestation, welche sie auch sei. Es


ist ebensowenig naturalistisch verständlich, wieso ein Konsensus
zwischen den Menschen besteht über das, was erhaben, schön,
heilig usw. ist, mag es in welcher Wesenheit, welchem Inhalt, wel-
cher Form auch immer auftreten. Und Wesenheit, Inhalt und
Form sind in den verschiedenen Geschichtskörpern weltweit ver-
schieden, ja zum Epochen. — Ein Konsensus,
Teil sogar in deren
der weiche und elastische Grenzen haben mag, ohne den aber kein
Historiker von der Größe eines Menschen, eines Werkes, einer Zeit,
der Erhabenheit oder Furchtbarkeit eines andern Geschichts-
gebietes oder Zeitalters zu uns sprechen, kein Kunst- oder Literar-
historiker ein fremdes Kunstwerk seinen Hörern zu interpretieren
vermöchte, kein Religions- oder Philosophiehistoriker die Hoheit
einer fremden Ideen- oder Glaubenswelt zu vermitteln imstande
wäre. Ob hier Teile des in anderen Zeiten und Gebieten der Ge-
schichte seelisch-geistig zu kathartischer Vollendung Gekomme-
nen Teilen der Menschheit im Verständnis unzugänglich sind oder
aus einer Kampfstellung der Perzeption verschlossen bleiben, än-
dert nichts an der Tatsache des Bestehens des doppelten Wunders
1. daß so etwas entstanden ist und immer wieder entsteht, und

2. daß unter den Aufnehmenden eben ein Konsensus über seine

Existenz und Qualität möglich ist, daß wir also unterirdisch alle
miteinander verbunden sind.
Genau das gleiche gilt natürlich für den Konsensus über das
Grauenhafte, das Niedrige und Gemeine.
Die kultursoziologische Analyse stößt hier auf Tatsachen im-
manenter Transzendenz, Grundphänomene
die sie einfach als
hinzunehmen hat, während Deutung der philosophischen
sie ihre

Betrachtung überlassen muß - auch dann, wenn sie weiß, daß die
Existenz dieser Grundphänomene das A und O ihrer eigenen Exi-
stenz und ihres eigenen Arbeitens ist. Es muß, wie schon in der
Einführung gesagt, versucht werden, dies nicht nur soziologisch,
sondern existentiell entscheidende Tatsachengebiet an einem späte-
ren Ort in einer gewissen Konkurrenz zur üblichen Philosophie so
weit zu klären, als es für eine deutliche innere Orientierung nötig ist.
Selbstverständlich ist: für jeden, dem diesePhänomene, der
Aufstieg zu kathartischen Höhepunkten und der Abstieg von

32
GE3CHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

ihnen, das Wesentliche der Kultur und Kulturbewegung darstellen,


kann es keinen Kulturfortschritt geben, in dem Sinne wie
etwa der Zivilisationsprozeß fortschreitet von Stufe zu Stufe. Es
gibt vielmehr nur verschiedene Kulturphysiognomien der ver-
schiedenen Geschichtskörper und Zeiten und in ihnen Aufstiegs-,
Abstiegs- und Vollendungsepochen, je nach der Annäherung zu
oder der Entfernung von der jeweils verschieden möglichen ka-
thartischen Gestalt der Epoche. Woraus sich ohne weiteres ergibt,
daß man z. B. unsere Zeit als eine geradezu ungeheure, vielleicht
in der Welt einzigartige tellurische Rebarbarisierungsepoche an-
zusehen hat, einen Rückfall in fast durchgehenden Naturalismus,
in dem fast jede Kathartik verschwindet oder nur als Überrest
alter seelisch-geistiger Inkrustationen weiterbesteht. Die äußere
Rebarbarisierung ist dabei nur das Korrelat der inneren.
Natürlich kann man unter „Kultur" auch etwas ganz an-
deres verstehen. Man kann sie dem Zivilisationsfortschritt gleich-
setzen oder von ihr überhaupt ohne weitere Differenzierung nur
dann sprechen, wenn eine bestimmte seelisch-geistige Gesamt-
formung z.B. etwa die der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
angestrebt oder vollendet wird. Man wird bei dieser Orientierung
dann die herausgearbeitete Gliederung und Analyse des Geschichts-
prozesses vielleicht für wenig bedeutsam ansehen, weil man mit
einer anderen Fragestellung an diesen herantritt. Ontisch, d. h. als
eine sachliche Eigenschaft des Geschichtsprozesses, bleibt diese
Gliederung aber trotzdem bestehen. Und will man die oben als Kul-
tur bezeichneten Phänomene geschichtssoziologisch verstehen, so
wird man dieser Gliederung für ihre Deutung nicht entraten können.
Dabei ist klar: das Erblicken des Geschichtsprozesses als Ein-
heits- und gleichzeitig Vielheitsgestaltung in der Art, wie es skiz-
ziert wurde, wird ausgelöst durch eine bestimmte Problema-
tik, in der wir heute stehen. Eben die Problematik des Fort-
bestandes und der Möglichkeit des Wiedererstehens vollendeter
Kulturformung im jetzigen Dasein aus seiner ihm zugrunde liegen-
den Menschenform, durch eine Sehnsucht und ein Wollen nach
dieser Richtung. Es ist letztlich unter diesem Gesichtspunkt die
uns heute alle bedrängende Frage, wo wir eigentlich zur Zeit im
menschlichen Kulturprozeß stehen, welche zum Zweck einer Ge-

33
ALL GEMEINPRINZIPIEN

samtorientierung die besprochene Analyse und zusammenfassende


Betrachtung des Geschichtsprozesses heraufführt, wie schon in der
Einleitung dargelegt. Diese ist also genetisch mit einem Wollen
und Wünschen verbunden. Das hindert aber erstens nicht, daß
Gliederung und Ablauf des Geschichtsprozesses, so wie sie aus
diesem Wollen und Wünschen vielleicht erstmals erblickt sind,
etwas diesem Prozeß an sich Eigentümliches, eben einfach Da-sei-
endes sind, ganz unabhängig von dem Grund ihrer Erkenntnis —
wenn sie überhaupt nur richtig gesehen sind ). (Im Grund ist hier
1

eigentlich nur das schon vorher Gesagte wiederholt.) Und es


hindert zweitens nicht, daß man auch ohne Bezug auf unmittel-
bare Lebensprobleme die verschiedenen kulturphysiognomischen
Bildungen der Geschichte, ja auch deren Einzelphänomene (Klas-
Umwälzungen, Epochen,
senschicksale, wesentliche Männer, Werke,
Stufen, Ausdrucksseiten, Menschenformung usw.), nachdem man
sie einmal so in ihrer soziologisch eingebauten Wesenheit gesehen
hat, aus reinem Erkenntnisdrang nunmehr historisch-soziologisch
deutet und untersucht. Die dargelegte geschichtssoziologische Be-
trachtungsweise kann also auch eine rein theoretische werden.
Bleibt sie auf die heutige Lebensproblematik ausgerichtet und
versucht sie, indem sie den Geschichtsstrom überblickt, Antwort
auf die Frage nach unserm kulturellen Gegenwartsstandort in
demselben zu geben, so wird sie dabei aber niemals „Kultur-
prognose" anstreben. Ihre tiefste soziologische Erkenntnis ist
gerade, daß alles Kulturelle spontane, unvorhersehbare Schöpfung
in einem jeweils neuen Lebensstoff ist. Man vermag über Fort-
schrittstendenzen des Zivilisationsprozesses in die Zukunft hinein
etwas auszusagen. Das ist denkbar. Denn diese sind grad-
vielleicht
und man kann hier vielleicht gewissermaßen von hinten nach
linig,

vorn schließen. Man vermag vielleicht auch über die eigengesetz-

1
) Ich weiche hier, soweit ich sehe, bei aller Anerkenntnis der Willens- und
Zeitgebundenheit des Geschichte- Sehens ab von dem Standpunkt des geistvollen
Buches von Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft (z. B. dort insbes.
S. 305 ff.). Ich vermag auch keine so durchgreifende Einheit des Willens und der
Praxis gegenüber dem heutigen Gesellschaftsprozeß in der dort vertretenen un-
limitierten Form für vereinbar mit einer Realinterpretation der Bedingtheiten
des gegenwärtigen Daseins zu halten.

34
GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

liehe Zukunftsform der Gesellschaftsstruktur einiges zu progno-


stizieren ; wenigstens soweit diese heute eine wirklich eigengesetz-
liche Evolution hat, deren Prinzipien man feststellen kann wie
beim modernen Kapitalismus. Man kann für diese beiden anderen
Sphären auch fragen, wie man in sie eingreifen und sie umformen
soll, um bestimmte Bedingungen für eine Formung des Gesamt-

lebens oder kulturelle Produktivität überhaupt zu erhalten oder


neu zu schaffen. Diese Kulturproduktivität selbst, ebenso wie jede
konkrete kulturelle Gesamtformung des Daseins oder Gesamt-
haltung zu ihm aber sind weder nach Zeit noch Art noch Form
wissenschaftlich vorhersehbar. Sie sind stets ein unerwartet neu
aus der Spontaneität der menschlichen Seele Erwachsendes, in
ihren Kollektivitäten oder entscheidenden Persönlichkeiten und
ihrem Werk und ihrer Wirkung zutage Tretendes, für das man
vielleicht den Boden auflockern kann, nicht mehr. Sie sind aber
auch etwas, was in der einen oder andern Form immer wieder
kommen muß, so lange die Spontaneität der menschlichen Seele,
auf der jedes Kulturwollen gegenüber jedem Lebensstoff beruht,
nicht zerstört ist.

IV. Abgrenzungen und Eingliederungen

So sehr die Kultursoziologie sich der immanenten Transzendenz


der Phänomene, mit denen sie es zu tun hat, bewußt sein muß, so
wenig ist sie dabei als solche Geschichtsphilosophie. Ihre
Aufgabe ist, das empirisch Feststellbare an inneren und äußeren
Bedingungen für das Hervorbrechen dieser Phänomene durch eine
innere strukturelle Analyse des geschichtlichen Totais zu klären.
Als Vornahme solcher strukturellen Innengliederung der geschicht-
lichen Totalität ist sie Soziologie. Ihre Aufgabe ist aber nicht, nach
dem Sinn des geschichtlichen Gesamtverlaufs zu fragen, wie das
jede Geschichtsphilosophie tut. Für welche infolgedessen, nach der
Erfassung des Sinnes dieses Verlaufes, mag sie aprioristisch sein oder
intuitiv geschehen, alles historisch Tatsächliche nur exemplarisches
Material ist, um ihre Sinndeutung zu belegen. Das großartigste
Beispiel solcher exemplarischen Verwendung der geschichtlichen

35
ALL GEMEINPRINZIPIEN

Kulturen und ihrer Phänomene bietet unzweifelhaft die Hegeische


Geschichtsphilosophie. Das großartigste deshalb, weil diese Ge-
schichtsphilosophie bei dieser exemplarischen Verwendung der
besonderen Wesenhaftigkeit der einzelnen Kulturen und ihrer Er-
scheinungen gerecht zu werden versucht, trotzdem sie sie als Stufen
auf ein sinnmäßig ergreifbares, allgemeines Weltziel hin auffaßt.
Wenn im Gegensatz zur Hegeischen so gut wie alle vorange-
gangene oder gleichzeitige systematische 1 ) Geschichtsphilosophie
schematisierend evolutiv war das ebensosehr - wie wir schon
ist, so
sahen - von St. Simon und Comte
alle ältere Geschichtssoziologie

bis Spencer und Lamprecht. Geschichtssoziologie und nicht


Geschichtsphilosophie war sie, soweit und insofern sie konstatierte
und nicht teleologisch deutete, und weil und insofern sie das ge-
schichtliche Total strukturell analysierte und dabei natürlich dann
auf das Gesellschaftliche als ein sehr Wesentliches der geschicht-
lichen Gesamtstruktur stieß.Indem sie evolutionistisch-fortschritt-
lich - will sagen in empirisch-wissenschaftlicher Verkappung in
Wahrheit auch teleologisch - war, konnte sie niemals das in seiner
Wesenheit sehen, was wir „Kulturbewegung" nennen, das ja kei-
nen intellektuellen Gesamtfortschritt, vielmehr nur einen
solchen zu universeller Geltungskraft bestimmten erreichten seelisch-
geistigen Ausdruck durch die Geschichte kennt. Sie identifizierte
daher durchgängig Kulturbewegung und Zivilisationsprozeß, indem
sie in der einen oder andern Art den einen in den andern Vorgang
einschloß. Ihr entscheidendes Verdienst ist, daß sie, wie übrigens
ebenso schon die vorangegangene evolutive Geschichtsphilosophie,
wenigstens teilweise, allerdings fast stets mit ideeller Interpretation
durchmischt, die Tatsachen des kontinuierlichen stufenweisen Fort-
ganges des Zivilisationsprozesses der Beobachtung erschloß.
Von dem Rückschlag, den gegen diese evolutiven Geschichtsbe-
trachtungen die moderne Kulturmorphologie darstellt (Haupt-
beispiel Spengler, neuerdings Toynbee), ist der hier vertretene

*) Die wichtigste moderne, die nicht schematisierend vorgeht, ist natürlich die
Herdersche. Aber: man sollte doch, an die Schillersche Konstatierung denkend,
wissen, daß sie in allem nur bekannte, und zwar letztlich allgemein gewählte
Fragestellungen verdichtet und nur aus ihrem Wesen vermeidet, gleichzeitig
die scharfe systematische Eingliederung ihrer Intuitionen zu vollziehen.

36
GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

Standpunkt getrennt erstens dadurch, daß er in Gestalt der völlig


wertfrei, einfach als Gegebenheiten festgestellten Zivilisations-
reihe das evolutive Element, das die gesamte Menschheitsge-
schichte zusammenbindet, wieder in sein, allerdings beschränktes
Recht einsetzt. Zweitens aber dadurch,daß absolut keine „Ho-
mologie" und dergleichen in der Kulturbewegung der einzelnen,
auch hier als selbständige historische Lebewesen betrachteten Ge-
schichtskörper anerkannt wird. Jeder hat nicht nur sein eigenes
Wesen und seine eigene Physiognomie, sondern auch seine eigene
Phasenhaftigkeit, seine eigene Art fortzubestehen und jung zu
bleiben oder zu altern. Endlich drittens braucht nichts mehr dar-
über gesagt zu werden, daß jede Kulturprognostik, wie sie jene
Kulturmorphologie liebt, abgelehnt wird.
Am nächsten steht das hier vertretene, kultursoziologische Ar-
beiten gewissen, heute üblich gewordenen Arten der rein histo-
rischen Geschichtsbetrachtung, vor allem natürlich der
wirklichen Universalgeschichte.
Jeder Historiker kann Tat Geschichts- und Kultursozio-
in der
loge sein. Er ist es dann, wenn er die von ihm behandelten Phäno-
mene, vor allem natürlich die Kulturphänomene, in eine wirklich
gegliederte und durch diese Gliederung in sich zusammenhän-
gende, strukturelle Analyse des geschichtlichen Gesamts stellt. Er
ist das in der einen oder anderen Form, früher meist viel zu stark,

ohne ausreichende Berücksichtigung der Bedeutung der gesell-


schaftlichen, vor allem ökonomischen Sphäre gewesen, heute oft
mit einer durch die materialistische Geschichtsauffassung herbei-
geführten Überbetonung derselben. Fast immer aber setzt auch
heute noch der zusammenfassende Historiker die verschiedenen
Lebensgebiete, deren Ineinanderwirken doch in Wahrheit erst die
Einzelphänomene wie die Gesamtphysiognomie verständlich
macht, so gut wie unverbunden in Anlehnung an irgendwelche
überkommene Disziplinen nebeneinander (politische Geschichte,
Wirtschaftsgeschichte, religiöse, künstlerische usw.), disjecta mem-
bra in nur äußerlich einheitlicher Darstellungsform. So verfährt
z. B. auch die sonst ausgezeichnete Histoire synth^tique der Fran-
zosen, die in ihrer Histoire de l'humanite freilich ein zusammen-
fassendes Standardwerk ersten Ranges schafft. Trotz allem aber

37
ALL GEMEINPRINZIPIEN

ist dieses in einem gewissen Sinn doch bloß höhere kulturelle An-
nalistik, keine Deutung. Und die Verwendung wirklich fein genug
durchgebildeter, historisch-soziologischer Kategorien könnte hier
vielleicht viel helfen.
Andrerseits kann der Historiker (dieser Begriff hier im weitesten
Sinn gemeint: Literatur-, Kunst-, Religions-, Philosophiehisto-
riker mit umfassend) seineAufgabe - und das wird grade bei sei-
nen höchsten Vertretern oft der Fall sein - auch nur in einer im
wesentlichen auf Intuition ruhenden Interpretation der ge-
schichtlichen Phänomene (des Charakters ganzer Zeiten, großer
Männer, großer Werke usw.) sehen. Einer Interpretation, für
welche er das historische Detailmaterial in derselben Weise exem-
plarisch heranzieht, wie es der Geschichtsphilosoph für die Ge-
samtdeutung der Geschichte tut. Er arbeitet dann grundsätzlich
anders als der Geschichtssoziologe, der eine natürlich auch ur-
sprünglich intuitive Wesenserfassung der historischen Phänomene
den analysierten Gesamtkomplex der historischen
sorgfältig in
Bedingtheiten hineinstellt, und sie von da aus als Teil einer
Gesamtphysiognomie erkennt und näher präzisiert. Er hat ein an-
deres Ziel, da es ihm einfach auf die möglichst tiefe und vollstän-
dige Erfassung des Historisch- Individuellen eben als solchen an-
kommt; und verwendet andere Mittel, da seine Methode stets
er
nur mit starker Vergewaltigung auf irgendein Schema zu bringen,
ihrem Wesen nach in Wirklichkeit künstlerisch ist.
Von dem Universalhistoriker aber, der den Geschichts ver-
lauf alsGesamt überblicken und verlebendigen will, ist wohl zu
sagen, daß er von dem Geschichtssoziologen, der sich bewußt ist,
bei dem gleichen Unterfangen von ganz bestimmten heutigen Le-
bensproblemen auszugehen, sich durch sein Ziel getrennt fühlen
kann. Er kann einfach versuchen, das ihm als „groß", das heißt
geschichtsbedeutsam im Gesamtgeschehen Erscheinende im Rah-
men einer Darstellung dieses Gesamtgeschehens zu verlebendigen
und nahezubringen. Aber er sollte doch, an die Schillersche Kon-
statierung denkend, wissen, daß er in all dem nur bekannte, und
zwar letztlich schon gewählte Fragestellungen verdichtet. Und es
ist wohl anzunehmen, daß für ihn trotz des anscheinend differenten

Zieles kaum eine den Tatsachen entsprechende Konzeption des

38
GESCHICHT3- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

Zusammenhangs dieses Gesamtgeschehens möglich ist, ohne daß


er irgendwie zum mindesten auch auf die vom Geschichtssozio-
logen aufgedeckteund für seine andersartigen Zwecke verwendete
Gliederung des welthistorischen Prozesses rekurriert - sie, ist sie
ihm adäquat genug durchgebildet, verwendet oder mitverwendet.
Die kulturell orientierende Geschichtssoziologie ist dabei trotz-
dem keines wegs bloß eine Hilfsdisziplin oder Methode der Universal-
geschichte, denn sie hat oder kann wenigstens andere Ziele haben
als diese. Aber ihre Hilfsmittel der Analyse und Synthese sind et-

was, an dem der künftige Universalhistoriker wohl nicht mehr


wird vorbeigehen dürfen, ohne auch seinerseits nur auf der Stufe
einer höheren Annalistik oder zum Teil unsicher unterbauter, zum
Teil unvollständiger Interpretation zu bleiben.

V. Auseinandersetzung mit der materialistischen Geschichts-


philosophie

Ist der Zweck der Kultursoziologie, neben den in sich ruhenden


und für sich selbst geschehenden Deutungen der verschiedenen
großen Kulturwesenheiten, ihrer Physiognomien und Einzeler-
scheinungen, nach ihrem Quellpunkt, gleichzeitig eine auf die kul-
turelle und menschliche Situation der Gegenwart ausgerichtete
Gesamtgeschichtsdeutung, welche die Gegenwartsproble-
matik klären soll, so hat sie zur Zeit vor allem neben sich und hat
sich deshalb entscheidend auseinanderzusetzen mit der gegen-
wärtig große Geschichtsbezirke dogmatisch absolut beherrschen-
den und praktisch ungeheure Wirkungen ausstrahlenden mate-
rialistischen Geschichtsauffassung. Nur das Allernötigste,
im wesentlichen auch wieder einer Abgrenzung Dienende kann
hier über das Verhältnis zu dieser gesagt sein, soweit es sich nicht
schon ohnehin aus dem Bisherigen ergibt; - es geschieht ohne jede
hier überflüssige Polemik und ohne daß verkannt wird, wie außer-
ordentlich vieljede Geschichtssoziologie noch bis vor kurzem der
materialistischen Geschichtsauffassung an Anregung geschuldet hat.
Die materialistische Geschichtsauffassung, als Geschichtsphilo-
sophie bekanntlich in Umkehrung der Hegeischen entstanden,

39
ALL GEMEINPRINZIPIEN

enthält in sich gleichzeitig eine materiale Geschichtssoziologie, die


zu einem gewissen Grade von ihren philosophischen
als solche bis
Voraussetzungen loslösbar ist. Soweit sie eine solche ist - ihre Be-
hauptungen also positivistischer Natur sind und einfach einer
empirischen Nachprüfung unterliegen, kommt ihr das Verdienst
zu, neben den Lehren von St. Simon und Comte 1) zum ersten
Male die gesellschaftlichen Verhältnisse als verhältnismäßig ge-
sondert geschauten Faktor in die soziologisch- systematische Struk-
turanalyse des geschichtlichen Totais eingefügt zu haben, in ihrer
vulgären Form vor allem deren ökonomischen Teil. Wovon eine
das ganze 19. Jahrhundert durchziehende Anregung ausgegangen
ist. Ihre soziologische Strukturanalyse selbst aber ist, um nur das
Wesentlichste hervorzuheben, gegenüber der Wirklichkeit erstens
zu einfach, denn in dem, was sie als „Oberbau" über den gesell-
schaftlichen oder ökonomischen Verhältnissen ansieht (obgleich
es, wie wir sahen, kein solcher ist, sondern ein diese von innen her
durchdringendes Inkrement des historischen Totais), unterscheidet
sie nicht Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung, die, wie dar-
gelegt, eine ganz verschiedene Wesenheit und historische Funk-
tion besitzen. Sie sieht in ihrem Bestreben, diesen Oberbau inhalt-
lich vom Unterbau bestimmt sein zu lassen, infolgedessen nicht
das gradlinig aus seiner eigenen Logik Fortlaufende des Zivilisa-
tionsprozesses (samt all seinen Erkenntnis- und Bewußtseinsent-
faltungen) oder sie „übersieht" es, abgesehen vom technischen Pro-
zeß (Entfaltung der Produktionsmittel), absichtlich oder unab-
sichtlich. Sie bemerkt nicht, daß der Zivilisationsprozeß in dieser
Gradlinigkeit für die gesamte Masse der bloßen Bewußtseinsent-
faltungenund Wissensinhalte wohl durch die gesellschaftliche Dy-
namik aufgehalten, zurückgeworfen oder weiter fortgetrieben wird,
soweit er sich nicht aus sich selbst bewegt, niemals aber in seinem
essentiellen Inhalt, der generellen Richtigkeit seiner Erkenntnis-
sätze durch ihn bestimmt sein kann, daß also im Gegensatz zu
ihren Behauptungen des inneren Bestimmtseins des geistigen Ober-

*) Lorenz v. Stein wird hier übergangen, weil er zwar in großangelegter Art


zum ersten Male historisch eine Gesellschaftsform aus ihrer Dynamik her ana-
lysiert, aber ohne eine ausdrückliche, systematisch durchgebildete Geschichts-
soziologie daraus zu entwickeln.

40
GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

baus vom Unterbau dieser als Bewußtseins- und Wissens-,, Ober-


bau" ein dem Wesentlichen des inneren Gehalts nach von jedem
Gesellschaftlichen unabhängiges Kontinuum ist. Korrelat ist, daß
das Kulturelle in seiner Eigenart nicht gesehen werden kann, da
es mit dem Zivilisatorischen konfundiert als bloßer Bewußtseins-
inhalt aufgefaßt wird, unter Verkennung seiner spontanen seelisch-
schöpferischen, gänzlich anderen Natur. Wenn infolgedessen z. B.
„Ideen", d. h. aus dem Seelischen quellende, schöpferisch- geistige
Gestaltungskräfte durchgängig als bloße Ideologien 1 ), d. h. Be-
wußtseins Verkleidungen von bloß naturalistischen, meist wieder
materiell gedachten Interessenlagen aufgefaßt werden, so wird mit
dem Begriff Ideologie sicherlich ein Tatbestand aufgedeckt, der in
ökonomisierten, seelisch eingeschrumpften Zeitaltern - und gewiß
gehört unser heutiges in diese Kategorie - ein weitgehender Er-
satz für die Idee ist, welche den Lebensstoff aus einem seelisch-

geistigen Urgrund formen will. Aber die Tatsache, daß alle kultu-
rell großen Perioden von wirklichen Ideen und nicht von dem
Affenspiel der als Interessen demaskierbaren Schattenbilder der
Ideen gestaltet worden sind, wird dadurch nicht aus der Welt ge-
schafft. So sicher jede Idee durch die historisch-soziologische Kon-
stellation und den Lebensstoff, den sie zu durchdringen und zu
formen sucht, selbstverständlich zeit-, ort- und unzweifelhaft sehr
oft auch schichtgebunden ist.
Daß bei der von uns gebotenen soziologischen Analyse des hi-
storischen Gesamts die Bedeutung der gesellschaftlichen und also
auch der ökonomischen Verhältnisse nie zu kurz kommen kann,
ergibt wohl ihre Einreihung als einer der beiden, die Lebensaggre-
gierung, mit der sich das Seelisch- Geistige auseinanderzusetzen
hat, bestimmenden Faktoren. Aber um es zu wiederholen, nur eine
Zeit mit seelischer Schrumpfung, eine rebarbarisierte Zeit kann die

*) Die von Karl Mannheim in seinem bedeutenden Buch „Ideologie und Utopie"
gegebene soziologische Analyse beider ist trotz ihrer generellen Einkleidung
merkwürdig kapitalistisch zeitgebunden, gleichzeitig ist sie auch marxistisch
gebunden (wenn auch vielleicht nur aus Pietät), denn die Analyse und
Systematisierung der sog. Ideologien als Wissensphänomene ist echt marxistisch,
ebenso wie die wissenssoziologische Behandlung alles wirklich Ideellen als
4
„Utopie* .

41
ALL GEMEINPRINZIPIEN

auf der Oberfläche des Daseins irrlichternden Gespenster des


Ideellen und Kulturellen für dieses selber halten.

Ist der Geschichtsmaterialismus, wie bei Lenin, Stalin oder Lu-


kacz, eine wesentlich und entscheidend von einem bestimmten
philosophischen Standpunkt her entwickelte soziologische
Doktrin, so ist ihm gegenüber ein noch entscheidenderer, ganz
prinzipieller Schnitt zu machen. Der Geschichtsmaterialismus
zerlegt dann schon rein aprioristisch das gesamte geschichtliche
Dasein für die soziologische Analyse in Sein und Bewußtsein; -
„Sein" weitgehend mit gesellschaftlichem Sein identifizierend;
wobei er natürlich dann das Bewußtsein vom Sein bestimmt,
funktional von ihm abhängig sein läßt und mit dem Terminus
Bewußtsein oder Bewußtseinsinhalt alles nicht Äußerliche (man
weiß oft nicht, ob nicht Gesellschaftliche oder nicht Körperliche)
des Daseins, also alles Kulturelle und Geistig-Zivilisatorische
überdeckt; und zwar dies nicht empirisch, sondern apodiktisch.
In dieser Form ist er in seiner von unserm Standpunkt kaum
verständlichen unausweichbaren Identifizierung einer Religion,
eines Kunstwerks, einer kulturellen Gesellschafts- oder Menschen-
formung mit einem bloßen Bewußtseinsinhalt, in seiner präem-
pirisch vorgenommenen simplifizierenden Aufteilung des runden
und vielfältigen geschichtlichen Ganzen eben in bloßes Sein
gleich Gesellschaft und Bewußtsein gleich allem Übrigen ein
unzweideutiges Kind der genetisch weitgehend aus erkenntnis-
theoretischer Problematik erwachsenen Sein-Bewußtseinsphilo-
sophie des 18. Jahrhunderts; eben die naturalistische Umkehrung
von deren materialer Fortsetzung Hegel. Aber während He-
in
gels aus dem Bewußtsein- Seingegensatz entwickelter und in ihm
sich selbst entfaltender „objektiver Geist" noch die Vielfältigkeit
der historischen Gestalten und kulturellen Phänomene in sich auf-
nehmen konnte, indem er sie als Sein aus sich heraussetzte, wäh-
rend in diesem „Geist" und seinen Entfaltungen dadurch auch das
Seelische und dessen Emanationen noch eine Unterkunft finden,
wirft sie die naturalistische Umstülpung, mit ihrer apodiktisch
veräußerlichenden, ökonomisch-gesellschaftlichen Interpretation
des Seins, sowohl aus diesem wie aus dem Essentiale der zur Spie-

42
GESCHICHTS- UND KULTURSOZIOLOGIE ALS INNERE STRUKTURLEHRE

gelung gewordenen Bewußtseinsphäre hinaus, also aus der Sicht


ihrer Welt überhaupt, deren Bild nun ausschließlich von einem
zum Erschrecken dürren Intellektualismus geprägt wird. Eine
Bildprägung, die in jeder wirklich marxistischen Weltprägung in
ihrer atmosphärischen Kraft, solange man imstande ist, diese der
menschlichen Natur zum Trotz rein zu erhalten, unmöglich ohne
letzte Werte zerstörende Wirkung bleiben kann, da über die
eigentlich schöpferischen Kräfte des Seelischen grundsätzlicher
Ostrazismus verhängt ist. Mögen über diese Tatsache aus der

Schatzkammer der Hegeischen Dialektik entnommene Kon-


struktions- und Gedankengespinste welcher Art immer geworfen
werden, die sie immer wieder in neuer Form akzeptabel zu machen
suchen, - es ist klar, daß diese ganze Behandlung der Geschichte
und dieses Wollen ihr gegenüber durch eine Welt von der hier
vertretenen getrennt ist.

Es ist ein Gebot der wissenschaftlichen Rechtschaffenheit, das


unzweideutig auszusprechen.

43
:

SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

A. Gesellschaftsprozess, Zivili SATION SPROZE SS


und Kulturbewegung 1)

Das nachstehend Mitgeteilte entspricht der grundlegenden Klärung


einervon mir verfolgten Aufgabe, die ich in einer allerdings äußerst
unvollkommenen Weise zuerst in einer Vorlesung im Winter 1909 10 —
in Heidelberg behandelt habe. Ich hatte damals die Absicht, zu der
Frage unserer abendländischen Kultursituation eine Stellung zu ge*
winnen, die über Hoffnungen und Wünsche hinausging, indem sie die

erreichbaren soziologischen Einsichten verwandte, um eine Orien-


tierung über den Ort zu gewinnen, an dem wir uns innerhalb der all-

gemeinen Geschichtsbewegung zur Zeit befinden. Es war klar: bei


näherem Eindringen mußte sich ergeben, daß auf der einen Seite nicht
ohne die Herausarbeitung gewisser kultursoziologischer Grundan-
schauungen auszukommen war; auf der anderen Seite mußte deren
Anwendung auf die Geschichte die Perspektive fortgesetzt erweitern
und den zu bewältigenden Stoff, auch wenn er, wie bei jeder Geschichts-
und Kultursoziologie, nur aus zweiter Hand gruppiert werden konnte,
beinahe ins Grenzenlose vermehren. — Ich hoffte trotz beschränkter
Arbeitskraft und vermehrter Berufsbelastung 1915 etwas Vorläufiges
geben zu können.
Der Krieg und seine Folgen, der mich wie andere für viereinhalb
Jahre aus jeder wissenschaftlichen Tätigkeit herausriß, hat diese wie
sonstige wissenschaftliche Arbeiten in einen Trümmerhaufen verwan-
delt. Aber die Fragestellung, von der ich ausging, war offenbar für
unsere heutige Bewußtseinslage wesentlich und richtig. Ich glaube:
auch die Grundsätze ihrer Beantwortung.

Es erscheint uns zweckmäßig, für alle innerstrukturelle


Geschichts- und kultursoziologische Betrachtung zwischen ver-
schiedenen Sphären des historischen Geschehens zu unterscheiden
nämlich zwischen dem Gesellschaftsprozeß, dem Zivilisations-

*) Zuerst publiziert 1921 im Archiv für Sozial Wissenschaft.

44
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

prozeß und der Kulturbewegung. In möglichster Kürze ist das


im vorangegangenen Aufsatz ausgeführt. Es sei hier näher erläutert.
Die politische Geschichte ebenso wie die Wirtschafts- und So-
zialgeschichte betrachten ihrem Wesen nach das Schicksal der
großen Geschichtskörper der Menschheit, ihrer großen geogra-
phisch, ereignismäßig und kulturell in sich verbundenen Einheiten
mit der Absicht, durch Feststellung der für den Gesamtverlauf we-
sentlich erscheinenden, konkreten Tatsachen ihr jeweils be-
sonderes Schicksal klarzustellen. Sie sehen den chinesischen, den
indischen, den vorderasiatisch-ägyptischen, den antiken, den ara-
bischen, den germano-romanischen Geschieht skreis und andere,
jeden als eine gewissermaßen „körperhafte Einheit" mit einem in
ihr sich vollziehendenAblauf der Ereignisse, als ein derart durch
Ort und Zeit der Handlung verbundenes Ganze an, für dessen Ge-
samtgeschick sie die Hauptdaten beizubringen haben. Wobei sie
ihre Darstellung und teilweise auch Erklärung der großen Ereig-
nisse, das Bild der großen Männer, das Geschick der Massen in die
Gestalt der Wirtschaft, die Strukturentwicklung der politischen
Gebilde, die sozialen Umgestaltungen und andere körperhafte
Formungen und Umformungen der Geschichtsgebilde einzubetten
suchen. Ihre Arbeit ist konkrete historische Morphologie 1 ). Dies
mit Heranziehung auch sogenannter geistiger Faktoren und Strö-
mungen - im wesentlichen aber doch das körperhafte Schicksal ins
Auge fassend. -
Wesentlich anders und ziemlich unverbunden arbeiten daneben
die Kunst-, Literatur-, Musik-, Religions-, Philosophie- und
Wissenschaftsgeschichte, kurz alle heut zu Einzeldisziplinen aus-
gebildeten Teile der Kulturgeschichte, die es ja als Gesamt-
disziplin kaum 2 )
gibt. Für sie sämtlich sind die körperhaften
Formationen der historischen Schicksalsgebilde als wesentlicher

Gegenstand ihrer Betrachtung und als wesentliche Daten der

*) Es ist zu bemerken, daß dieser Begriff nicht erst von Spengler aufgefunden
ist, sondern ausgesprochen oder unausgesprochen der ganzen neueren Geschichts-
schreibung zugrunde Ebenso wie das „Jungsein" und „Alter" der Körper
liegt.

selbstverständliches Ingredienz dieser Anschauung schon seit langem ist.


2
) Trotz der glänzenden persönlichen Leistungen vor allem Jacob Burkhardts
und einiger andrer.

45
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Entwicklung zunächst nicht vorhanden. Ihre Deutung und Er-


klärung der großen kulturellen Emanationen und Bewegungen,
mit denen sie sich befassen, der geistigen Strömungen und Ideen-
systeme, die sie in ihrem Wesen aufzudecken und uns nahzubringen
suchen, geht, soweit sie nicht für das Richtige hält, Schilderung
der Gestalt und des Gehalts zu bleiben, von der Aufklärung der
Zusammenhänge in jedem ihrer Gebiete aus, im ganzen also
einerseits von den „Problemen**, die in den Kulturgebieten zu
lösen sind (Problemgeschichte der Philosophie usw.), andererseits
vor allem von den arbeitstechnischen Prinzipien der verschiedenen
Gebiete, ihrer Entfaltung und ihrem Ausdruckswert (Entwicklung
der Technik der Malerei, der bildenden Kunst, Harmoniegesetze
der Musik, Entwicklungsgesetze der Sprache, der literarischen
Stil- und Ausdrucksformen usw.). Und sie resultiert dann in der
Konstatierung einer meist nicht näher methodisch nachgeprüften
Folge und Rhythmik des Geschehens, eines Kampfs der „geistigen
Strömungen", der Stil- und Ausdrucksformen und anderem, immer
aber in der Konstatierung eines Fortgangs des Geschehens, der
nach seinem Wesen entweder technisch oder inhaltlich in den
Prinzipien der Kulturgebiete selbst und ihrer Entfaltung zu
liegen scheint. Diese Disziplinen sehen die Kulturgeschichte nach
den Prinzipien ihres Arbeitens weitgehend als autonome Ge-
schichtssphäre an, deren Bewegung und Entwicklung sie aus ihr
selbst zu erklären suchen1 ).
Der politische Historiker nimmt dann das Recht für sich in An-
spruch, die Resultate der Arbeit aller dieser kulturgeschichtlichen
Einzeldisziplinen in sein Bild des historischen Geschehens irgend-
wie hinein zu verweben, die „geistigen Strömungen und Tat-
sachen", die die anderen Disziplinen aufgehellt haben, in das „kör-
perhafte" Geschehen hineinzustellen, das er aufhellt und auf diese
Art seine Darstellung des Schicksals der großen Geschichtskörper
zu einem Allgemeinbild zu gestalten und, wenn er diese AUge-
meinbilder verbindet, Universalhistorie zu schreiben.

x
) Weitergreifende Behandlungen, wie z. B. die Max Webers und Troeltschs,
4
auf religionsgeschichtlichem Gebiet und die gewissermaßen „spontanen * An-
sätze, die sich in zahlreichen neueren Abhandlungen der verschiedenen Kultur-
gebiete finden, werden hier nicht verkannt.

46
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIOXSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

Es ist ein ziemlich buntes und wohl nicht nur aus wissenschafts-
geschichtlichen, sondern auch aus notwendigen arbeitstechnischen
und methodischen Gründen in Wahrheit unzusammenhän-
gendes, nur schwach und äußerlich zusammengefügtes Gemisch
von Bausteinen, dem sich der Soziologe gegenüber befindet, wenn
er seinerseits versuchen will, die Dinge nunmehr einheitlich zu
sehen; wenn er daran geht, irgendeinen Teil des historischen Ge-
schehens, z.B. den Kulturvorgang im ganzen, in der Notwendig-
keit seiner Bedingungen begreifen zu wollen, in der er aus dem
historischen Gesamtverlauf herauswächst. So wenn er als Ge-
schichts-und Kultursoziologe etwa an den Versuch gehen will, die
kulturellen Emanationen der abendländischen Geschichtswelt,
ihren wesentlichen Gehalt mit dem Geschick der großen abend-
ländischen Schicksalsgemeinschaft notwendig zu verbinden, sie
in die von den verschiedenen Zweigen der Geschichte eruierten
objektiven Tatbestände, die körperhaften Tatbestände, die den
Gesamtverlauf markieren, hineinzustellen, so daß sie mit ihnen in
einer verständlichen und einleuchtenden Weise verbunden sind.
Er hat, wie gesagt, zunächst tatsächlich unverbundene, in der all-
gemeinen Geschichtsdarstellung im ganzen nur äußerlich zusam-
mengefaßte Geschehensreihen vor sich. Und will er diese Reihen
in Verbindung setzen, so wird er daran gehen müssen, für seine
Zwecke den Stoff anders als die verschiedenen Fachdisziplinen es
von ihrer Aufgabe aus tun, zu gliedern. Er muß versuchen, die
Gesamtgeschichte in anderen Gruppierungen für seine Zwecke
begrifflich zu ordnen und vorstellungsmäßig zusammenzufassen.
Dabei wird ihm das, was der politische, der Wirtschafts- und So-
zialhistoriker an Tatsachen der äußeren Formation des geschicht-
lichen Lebens festgestellt hat, notwendig in einer etwas anderen
Anschauungsform erscheinen als diesen. Es wird ihm als ein ein-
heitlicher großer Gesellschaftsprozeß vor Augen treten, der
in den differenten Schicksalsgemeinschaften bei aller Verschieden-
heit doch typische Formen und Entwicklungsstufen aufweist.
Die großen Ereignisse (Kriege, Revolutionen, Reformationen und
Formen und Stufen in irgendwie ver-
anderes) werden sich in diese
Form eingliedern, und die großen Männer werden wie
stehbarer
notwendig, nicht zufällig an bestimmten Stellen stehen. Er wird

47
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

diesen Gesellschaftsprozeß auch unter dem Einfluß der seelisch -


geistigen Sphäre finden, jener Tatsachen und Abläufe also,
welche ihm die kulturellen Disziplinen bieten. Aber wenn er ihn
zunächst einmal in seinem Kern betrachtet, so wird er ihm ent-
gegentreten als die Form, in der unter bestimmten natürlichen
(biologischen, geographischen, klimatischen und sonstigen) Be-
dingungen die Totalität der naturalen menschlichen Trieb-
und Willenskräfte, die in den verschiedenen Schicksalsgemein-
schaften arbeiten, in ihnen als „Bevölkerung" zusammengefaßt,
in irgendeine Gestalt gebracht sind. Eine Gestalt, oder vielmehr
in entwicklungsmäßig wechselnde Gestaltungen, die aufeinander
folgen, miteinander ringen, sich ablösen und in ihrem Ringen die
großen Peripetien, die säkularen geschichtlichen Ereignisse her-
aufführen. Dabei wird er bemerken, wie dieser Ablauf in den gro-
ßen Schicksalsgemeinschaften, die er betrachtet und die auch er
als körperhaft geschlossene Gebilde ansieht, von primitiven Ver-
hältnissen und Rückständen gentilizischer Gestaltungen, in denen
er sie zuerst auf der beleuchteten historischen Bühne erscheinen
sieht, überall durch eine allerdings jeweils total verschiedene Grup-
pierung doch ähnlicher Formen führt und wie er über Höhen-
stufen gesellschaftlicher Bewegung schließlich zu verschiedenen
Ausläufen, zu einer dauernden Formerstarrung oder zu einer Al-
tersauflösung oder zu einer Weltexpansion ihrer Kräfte zu leiten
scheint; durch Parallelitäten zu einer verschiedenen Art, in der ihr
Schicksal in das historische Universalgeschehen der Menschheit
einmündet. Er wird den chinesischen, den indischen Geschichts-
kreis- jeden in den natürlichen Bedingungen und der Richtung
der Entwicklung einmal gegeben - einen besonderen Ablauf ihres
Gesellschaftsprozesses durch die Jahrtausende vollziehen sehen,
bis er sie schließlich in jene Fixierung übergehen sieht, in der sie

dann durch die Jahrhunderte verblieben und in der sie durch die
Weltexpansion des abendländischen Geschichtskreises heute noch
umspült sind und aufgelöst werden. Den alten vorderasiatischen
und den ägyptischen Kulturkreis, dessen durch die frühen Jahr-
tausende vor Christi Geburt gehende Entwicklung er heute an den
auftauchenden Dokumenten wieder abtasten kann, wird er eben-
falls durch die natürlichen Bedingungen der Existenz (Kanal- und

48
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

Bewässerungssystem vor allem) in Richtung und Art der gesell-


schaftlichen Entwicklung mit bestimmt erkennen; und die Er-
starrung, in der beideim letzten Jahrtausend vor Christi Geburt
von neuen Entwicklungswelle, der der Ausbildung des an-
einer
tiken Mittelmeergeschichtskreises, überrascht wurden, als not-
wendiges Resultat dieser ihrer Entwicklung begreifen. Wie er die-
sen antiken Mittelmeergeschichtskreis gleichfalls aus den Be-
dingungen seiner Existenz heraus vor allem dem Meer und seiner
Kommerzialität und „Freiheit" eine gegebene gesellschaftliche
Entwicklung - diese immer in dem angedeuteten weitesten Sinn
genommen, das gesamte körperhafte Geschehen des Geschichts-
kreises umfassend - durchlaufen sieht, die ihn schließlich zu einer
Art von Weltexpansion und in ihr zur Auflösung seiner eigenen
Formen, seiner eigenen Körperhaftigkeit bringen muß. Nichts an-
deres als solch eine Auflösung ist ja der Geschichtsverlauf der
Spätantike in der Kaiserzeit. Und so sieht er den abendländischen
Geschichtskreis, der sich seit der Völkerwanderung mit einer
neuen geographischen Verlegung des Schauplatzes nach Norden
hinter diesen antiken schiebt, aus den Bedingungen, „nach denen
er angetreten", eine total andersartige, aber wiederum notwendige
Entwicklung durchlaufen, die seine Körperhaftigkeit durch viele
Evolutionsstadien und Konvulsionen schließlich auch zu einer
Weltexpansion, und zwar der größten, die es je gegeben hat, einer
wirklich die ganze Erde umfassenden gelangen läßt, in der sich
seine „eingeborenen" Formen anscheinend heute auch auflösen
und er selbst wahrscheinlich in etwas Neues übergeht, seinem
äußeren Untergang oder der Ausbildung anderer Geschichtskörper
zurollt. - Kurz, der soziologische Betrachter wird immer den kon-
kreten Geschehensverlauf der verschiedenen großen Geschichts-
körper, ihr gewissermaßen körperhaftes Schicksal, das der po-
litische, der Wirtschafts-und Sozialhistoriker ihm bietet, unter
dem Bilde je einer besonderen, aber durch die natürlichen Be-
dingungen doch dem Inhalt nach notwendig gegebenen, unter
Neugruppierung und Neuanordnung allgemeiner Formen sich
vollziehenden gesellschaftlichen Evolution sehen, die eine jeweils
notwendig gegebene Zahl von Stadien durchläuft, zu einem not-
wendig bestimmten Endresultat hinführt, in der allgemein ge-

49
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

gebene gesellschaftliche Kräfte in je besonderer Färbung wirken,


allgemein gegebene gesellschaftliche Formen eine bestimmte, je
besondere Ausprägung und Präponderanz erhalten, allgemein ge-
gebene Prozesse in verschiedener Gruppierung und mit verschie-
denem Endresultat auftreten 1 ). - Die großen Ereignisse und Um-
wälzungen, die der Historiker konstatiert, werden dabei zu Mar-
kierungen der Stadien der besonderen Entwicklung, zum Aus-
druck der mit den Evolutionen verbundenen Peripetien; und
die großenMänner scheinen zum großen Teil wie Schildhalter und
Exponenten des Eintretens neuer Perioden aufzutreten.
Das ist die Art, in der er das vom Historiker gebotene, konkret
individualisierte Material der „körperhaften" Entwicklung der ver-
schiedenen Geschichtskreise in eine neue, seiner Betrachtungsart
adäquate Vorstellungsform gruppiert, - die Art, wie er die Masse
der historischen Ereignisse, die diese Geschichtskreise betreffen, in
das Bild verwandelt, das ich die von ihm erschaute Sphäre des
Gesellschaftsprozesses zu nennen vorschlage.

II

Er wird dabei zunächst von den


diesen, wie gesagt, für ihn
natürlichen Trieb- und Willenskräften der Menschen getragenen,
nach bestimmten natürlichen Bedingungen jeweils in jedem Ge-
schichtskörper in seine bestimmte Form und Richtung gebrachten
Gesellschaftsprozeß von Faktoren mitbestimmt erkennen, welche
die andere Gruppe der Historiker, die „geistigen Historiker" fest-
stellen, von „Ideen", „geistigen Strömungen", künstlerischen
Anschauungen, religiösen Überzeugungen usw. Deren näheres
dynamisches Verhältnis zu den Stufen, Peripetien, gesellschaft-
lichen Formgestaltungen und allem anderen der „körperhaften"
Entwicklung, ihr Einfluß auf sie, das prius und post des Inhalts
und der Formung der beiden Sphären, der „geistigen" und der

*) Es sei ausdrücklich bemerkt, daß dieses Endstadium keineswegs immer


eine imperialistischeExpansion ist. Weder in der Geschichte Chinas noch in der
Indiens ist das der Fall. Bei den Arabern steht die imperialistische Expansion
am Anfang.

50
GESELL SCHAFT SPROZE SS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

körperhaften, muß ihm dabei vorerst gleichgültig sein 1 ). Er sieht


jedenfalls neben dieser körperhaften eine geistig-kulturelle Sphäre
in jedem der Geschichtskörper ebenfalls als Ganzheit. Und wie er
auch über die gegenseitige Einwirkung beider denken mag, er er-
blickt auch in dieser als Ganzes angeschauten geistig kulturellen
Sphäre Regelmäßigkeiten, die in einem noch ungeklärten Zu-
sammenhang mit dem körperhaften Gesellschaftsprozeß stehen.
Er erblickt ein Aufblühen und ein Altern in ihr, ein in gewissem
Maße parallelisiertes Schicksal auch der „Kulturen", die in den
verschiedenen historischen Entwicklungskörpern sich befinden,
ein irgendwie zusammenhängendes Auftreten von aufeinander-
folgenden Entwicklungsstufen, einen eigenartig sich wiederholen-
den Rhythmus der Produktivität, ein verschiedenartiges und doch
irgendwelche Regelmäßigkeiten an sich tragendes Heraustreten
der differenten kulturellen Ausdrucks Seiten (Religion, Philo-
sophie,Kunst und innerhalb der Kunst: Musik, Epos, Lyrik,
Drama, Malerei usw.) und Ausdrucksarten (Klassik, Romantik
usw.), eine eigenartige Koinzidenz des Auftretens großer religiöser
Bewegungen und verwandter Ideenströmungen unter bestimmten
Bedingungen des Gesellschaftsprozesses der verschiedenen „Kör-
per", kurz, eine geistig kulturelle Entwicklung in den verschiedenen
Geschichtskörpern, die in irgendeiner Beziehung zu ihrem Ge-
sellschaftsprozeß steht. Und er sieht sich gezwungen, diese geistig
kulturelle Entwicklung ebenfalls als eine Einheit, eine zweite
Sphäre historischen Geschehens soziologisch anzuschauen und sie
zu diesem Zweck aus der Vereinzelung der Tatsachenreihen, in der
ihm ihre Teile von den Fachdisziplinen dargeboten werden, her-
auszuheben, indem er sie als ein Ganzes historischer Bewegung,
als einen Gesamtprozeß der verschiedenen historischen Körper
neben ihren Gesellschaftsprozeß stellt. Und dabei reizt es ihn, ja
ist es seine eigentliche Aufgabe, nun aufzuklären, in welchen dyna-

mischen Beziehungen eigentlich diese soziologisch einheitlich


angeschauten Sphären in den verschiedenen Geschichtskörpern
zueinander stehen.

*) Daß es sich hier um Grenzfragen der materialistischen Geschichtsauffassung


handelt, ist klar. Deren „Interessent-Fragestellung führt aber nicht zur Auf-
klärung der entscheidenden Anschauungskategorien.

51
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Wenn er aber an diese Aufgabe heranzugehen sucht und dabei


der geistig kulturellen Sphäre ins Gesicht sieht, so geschieht ihm
etwas Eigenartiges. Er bemerkt nämlich, daß sich zwischen die
eigentlich kulturellen Teile dieser Sphäre mit ihren verschie-
denen Ausdrucksseiten und Ausdrucksformen in Religion, Kunst
usw. -und den Gesellschaftsprozeß noch etwas dazwischen schiebt,
ein geistiges Zwischenreich, das in einer viel näheren und deut-
licher erkennbaren Verbindung mit der Gestalt und dem Verlauf
des Gesellschaftsprozesses steht als die eigentlichen a potiori kul-
turellen Erscheinungen, das Entstehen der Religionen, Ideen-
systeme, Kunstperioden usw., ein intellektueller Kosmos
nämlich, der dem Gesellschaftsprozeß die technischen Mittel bie-
tet für seine Formen und Gestaltungen, wie er andererseits auch
eine der Unterlagen der Kulturphänomenologie zu sein scheint.
Richtiger ausgedrückt: er erlebt, daß der von ihm aus der Ver-
einzelung der Fachdisziplin herausgehobene und versuchsweise
einheitlich angeschaute geistig-kulturelle Prozeß der verschiedenen
Geschichtskörper in Wirklichkeit nach seinem Wesen, seinen Ent-
wicklungsphänomenen, seiner Entfaltung, wie auch nach seinen
Beziehungen zum Gesellschaftsprozeß gar keine Einheit, sondern
eine Zweiheit ist, daß er in Wirklichkeit zwei ganz verschiedene
Sphären menschlich historischer Entfaltung in sich trägt, die nur
zu Unrecht unter einer Anschauung vereinigt werden.
Es ergibt sich nämlich bei näherem Zusehen, daß dieser „geistig-
kulturelle Prozeß" in jedem großen Geschichtskörper dreierlei als
Teile eines besonderen Ganzen in sich trägt: erstens nämlich als
innerstes „rein Geistiges" dieses Ganzen eine Bewußtseins-
entwicklung der Bevölkerung, die sich als der eigentliche Kern
der rein geistigen Wachstums- und Alterungsprozesse der Ge-
schichts- und Kulturkörper erweist, diese einmal von der geistig-
kulturellen Seite angesehen. Der Soziologe sieht, wie in jedem
großen Geschichtskreis, ganz gleich welchem, dem chinesischen,
dem indischen, dem antiken, dem abendländischen, in jedem, den
er ausreichend untersuchen kann, die Bewußtseinsentwicklung
von primitiven Stufen, auf denen sie die Welt und das eigene Ich
naiv schaut, zu immer größerem Durchreflektiertwerden des Da-
seins führt, wie sie die magischen, alsdann mythischen Vorstellun-

52
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

gen abstreift oder ihnen jedenfalls eine andere, nicht mehr naive,
sondern durch die Reflexion bestimmte Stellung im Dasein an-
weist, indem sie von einer rein faktisch gegebenen Stellungnahme
zur Welt und zum Ich zu einer irgendwie fragend geformten, d. h.
zugleich von irgendwelchen Abstraktionen bestimmten fortschrei-
tet, wie sie diese weiter ausbildet und wie auf einer bestimmten

Altersstufe jeder Geschichtskörper eine so oder so von rationalen


Formen mitbestimmte Betrachtung der Welt in sich birgt, die sich
noch weiterbilden und ändern kann, bei der aber nicht nur der
äußere Erlebnisstoff „die Welt", sondern auch das eigene „Ich",
seine Emotionen, seine Triebe, und seine unmittelbaren Vor-
stellungen „durchgearbeitet" und in ganz bestimmte, wenn auch
überall verschiedene Formen systematisierter Anschauungsart
gebracht sind.
Es kann sein, daß dieses Welt- und Ich-Bild, insoweit es zu-
gleich der Versuch ist, Weise mit Dasein und
sich in genereller
Natur auseinanderzusetzen und sie zu beeinflussen oder zu be-
herrschen, dauernd im Rahmen vor allem magistischer Vorstel-
lungen verbleibt und von den diesen entsprechenden Denkformen
seine Gesamtfärbung erhält; so aus bestimmten Gründen in gei-
stig im Chthonismus verbleibenden, auch hochentwickelten Kul-
turen (wie etwa in China). Immer wird, wenn auch in besonders
nuancierter Begriffsapparatur, dabei zugleich ein intellektueller
Wissenskosmos ausgebildet.
Und immer erblickt der Soziologe dabei in allen Geschichts-
körpern, die er beobachtet, diesen Prozeß, verbunden mit einem
zweiten und dritten zu jenem „Ganzen" mitgehörigen, einmal
einer Systematisierung des intellektuellen Wissenskosmos zu einer,
allgemein gesprochen, praktisch gerichteten Formung. Auch das,
auf noch so verschiedenen Stufen in den verschiedenen Geschichts-
körpern verbleibend, wieder einüberall in sich geschlossener Prozeß.
Und endlich sieht er als dritten geistigen, damit verknüpften
Prozeß etwas, was nichts anderes ist als die Materialisierung und
Konkretisierung dieses zweiten intellektuellen Kosmos die Trans-
:

formierung des praktischen Wissenssystems, das da aufgebaut


wird, ins ganz Reale durch die Ausbildung eines Apparates von
Werkzeugen und Methoden, Organisationsprinzipien usw., die das

53
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Dasein zu konkreten Bildungen ausformen. Hier ragt dann diese


ganze im Innern von der rationalisierenden Bewußtseinsentwick-
lung getragene, nach außen in die beiden genannten Bedeutungen
projizierte geistige Sphäre unmittelbar in den Gesellschaftsprozeß
hinein, bedingt ihn mit durch diese technische Apparatgestaltung.
Kurz: er erblickt als etwas durchaus Besonderes und Geschlos-
senes einen großen, nur verschiedene Ausdrucksseiten besitzenden
Rationalisierungsprozeß des Daseins, der durch alle großen
Geschichtskörper hindurchgeht, ihre Gestalt mitbestimmt, und
dessen Ausstrahlungen das innere Dasein, sowie die beobach-
tende und die praktische Behandlung des äußeren Daseins
betreffen. Dieser Rationalisierungsprozeß hat seine eigenen
Gesetze der Entwicklung, seine eigenen Notwendigkeiten der
Fortbildung und Bedingungen der Stagnation. Er ist offenbar
etwas ganz anderes als eine bloß magische Daseinsorientierung,
etwas anderes auch als das Entstehen von Religionen, Ideen -
Systemen, Kunstwerken und Kulturen, eine eigene große Ent-
wicklungssphäre, die zu dem Gesellschaftsprozeß in einem ganz
anderen Verhältnis als diese steht, eine Sphäre, die für den, der
sie einmal als Einheit geschaut hat, die vorher versuchte Einheits-
anschauung der geistig kulturellen Sphäre in eine „Zweiheit"
sprengt. Diesen Intellektualisierungs- und Rationalisierungs-
prozeß, der durch die Geschichtskörper hindurchgeht, und den
intellektuellen Kosmos, den er überall herausstellt, seine Ein-
heit, welche sich in den drei Ausdrücken der inneren rationalen
Aufhellung, der intellektuellen Wissensformung und des intellek-
tualisierten äußeren Mittelsapparates spiegelt, seine Auswirkun-
gen, Formen und Gestalten, hat man als eine besondere große
Sphäre des historischen Geschehens, die sowohl von der Sphäre
des Gesellschaftsprozesses wie von der eigentlichen Kulturbewe-
gung in der Vorstellung zweckmäßig zu sondern und in ihren Aus-
wirkungen und eigenartigen Gesetzmäßigkeiten einheitlich anzu-
schauen und zu untersuchen ist, bei der bisherigen geschichtlichen
und soziologischen Betrachtung im ganzen derart nicht heraus-
gehoben 1 ). Ich schlage vor, ihn den Zivilisationsprozeß zu nen-
*) So viele Berührungspunkte das hier Gesagte mit den Ausführungen Max
Webers doch von
in seinen religionssoziologischen Aufsätzen hat, so gehen diese

54
GESELLSCH AFTSPROZESS, ZIVILISATIOXSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

nen, und diesen und seine Sphäre gedanklich scharf und grund-
sätzlich von dem Gesellschaftsprozeß wie von der Sphäre der Kul-
turbewegung zu trennen. Letztere ist auch in den Gesellschafts -
prozeß der großen Geschichtskörper eingebettet, steht aber in
ganz anderer Beziehung zu diesem als der Zivilisationsprozeß, ist,

wie sich zeigen wird, von ganz anderen Entwicklungsgesetzen be-


herrscht, hat ein ganz anderes Wesen und eine ganz andere Stel-
lung im Geschichtsverlauf. Ich schlage vor, für die Zwecke der
kultursoziologischen und überhaupt der geschichtlichen Betrach-
tung sich den Geschichtsprozeß so aufzulösen, daß man das
„Körperhafte" seiner Entwicklung, das was wir den Gesellschafts-
prozeß der Geschichtskörper nannten, das Reich der zunächst
naturalen Trieb- und Willenskräfte und ihrer Formungen separat
stellt, und diesen Gesellschaftsprozeß sich dann auf der einen
Seite unter dem Einfluß des Zivilisationsprozesses, der Rationa-
lisierungssphäre der Menschheit denkt, um sich schließlich auf der
anderen Seite fragen zu können, wie denn die eigentliche Kultur-
bewegung mit diesen beiden und ihrem Ineinanderwirken im Zu-
sammenhang steht, ob sie in irgendeiner anschaulich erkennbaren
Art aus ihrem Ineinanderwirken in ihren Formen und Gestalten
herauswächst, ob und inwieweit unabhängig von ihnen verläuft
sie

und wie weit sie selbst auf beide rückwirkt. Ich schlage diese Art
der Dreiteilung vor, weil sich auf diese Weise eine soziologische
Einheitsvorstellung der inneren Struktur des Geschichts Verlaufs
und, wie ich glaube und zu zeigen beabsichtige, insbesondere eine
soziologische Analyse seiner Kulturphänomenologie und des
Schicksals des Menschen, seiner Fixierungen und Wandlungen als
deren Hintergrund gewinnen läßt.

III

Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung sind, wie ich sagte,


ihrem Wesen nach verschieden, haben ganz differente Formen und
Gesetze der Entwicklung, eine gänzlich voneinander abweichende

einem etwas anderen Blickpunkt aus, mit dem eine Auseinandersetzung hier
leider unmöglich ist.

55
.

SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Phänomenologie, in der sie uns im allgemeinen Geschichtsverlauf


entgegentreten
Der Zivilisationsprozeß (in seinen verschiedenen Teilen der Her-
ausbildung eines gedanklich geformten Welt- und Ichbildes [Ma-
kro- und Mikrokosmos], eines praktisch intellektuellen Wissens-
kosmos, und eines intellektuell geformten Mittelapparates der Da-
seinsbeherrschung), mag in den verschiedenen Geschichtskörpern
zu ganz verschiedener Höhe kommen; er mag das Weltbild, das er
herausstellt, in verschiedene Ausdrucksform kleiden, er mag dabei
in magischer und mythischer Ausdrucksform verbleiben — immer
baut er in jedem Geschichtskörper Stein für Stein damit zugleich
einen Erkenntniskosmos auf, der in den drei angedeuteten Teilen
nur seine verschiedenen Ausdrucksfronten hat, deren Herausbildung
logisch gesetzmäßig weitergeht, wie der Aufbau eines Bauwerks
den Gesetzen einer inhärenten Kausalität unterliegt. Immer ist
das, was herausgestellt wird, das Ganze und seine Teile nicht „ge-
schaffen", sondern „entdeckt", aufgefunden, also (die Richtung der
geistigen und intellektuellen Bewegung einmal gegeben) schon d a,
ehe es gefunden wird, präexistent, vom Standpunkt der Ent-
wicklung, gewissermaßen nur hereingezogen in die bewußte
menschliche Existenz, in die erhellte Daseinssphäre, mit der sich
der Mensch umgibt. Das gilt für den gesamten praktischen Wissens-
kosmos der Naturwissenschaften, wie für jede einzelne natur-
wissenschaftliche „Entdeckung"; es gilt ebenso für das allgemeine
rationale Erkenntnissystem, wie für jede einzelne erkenntnistheo-
retische Einsicht. Es gilt aber auch für den gesamten technischen
Daseinsapparat, wie für jedes einzelne Werkzeug, jede Maschine,
jedes methodische Arbeits- und Organisationsprinzip und Mittel,
das gefunden wird. Die Sätze der euklidischen Geometrie sind
„vorhanden", ehe sie „entdeckt" wurden - sonst könnten sie ja
gar nicht entdeckt werden; ebenso die der nacheuklidischen,
ebenso die Formeln der kopernikanischen Weltbewegung, ebenso
die a priori Kants, sofern sie alle „richtig" entdeckt und formuliert
sind. Ganz ebenso aber ist die Dampfmaschine, das Telephon, der
Telegraph, die Axt, die Schaufel, das Papiergeld, die Arbeits-
teilung und was es sonstnoch an technischen Methoden und Prin-
zipien der Natur- und Daseinsbeherrschung gibt, - sind alle „Gegen-

56
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATION SPROZE SS, KULTURBEWEGUNG

stände" und Mittel des praktisch-intellektuellen Kosmos unseres


Daseins, alle die wir schon besitzen und alle die wir noch dazu ge-
winnen werden, dem Wesen nach vorhanden, „präexistent", bevor
es uns gelungen ist, sie in die bewußte Sphäre unseres Daseins her-
abzuziehen und uns dienstbar zu machen. Der gesamte Zivilisa-
tionsprozeß, der diesen Gesamtkosmos realisiert, und der alle seine
„Gegenstände" - auch die intellektuellen Entdeckungen der rein
geistigen Welt sind solche, - uns bietet, tut nichts als eine schon
vorhandene Welt, eine für uns als Menschen generell vor-
handene Welt, aufzudecken und sukzessive zugänglich zu machen.
Diese Welt ist, wie gesagt, generell für alle Menschen vorhanden,
und jeder Teil von ihr „gilt" für alle. Das zeigt sich - ich komme
gleich auf die anscheinenden Abweichungen - darin, daß die Gegen-
stände dieser Welt, ihre geistigen und ihre körperlich konkreti-
sierten, wenn irgendwo, in irgendeinem Geschichtskörper entdeckt
und bewußte Existenz hineingezogen, bei ihrer Einstellung
in die
in das Dasein sichwie durch eine selbstverständliche, notwendige
Wellenbewegung über die ganze Welt verbreiten und überall auch
in anderen Geschichtskörpern Anwendung finden, - sofern nur der
Gesellschaftsprozeß dort soweit entwickelt ist, um sie aufzuneh-
men und sofern nur die psychische Bewußtseinsaufhellung soweit
fortgeschritten ist, um sie„zu sehen" - vorausgesetzt natürlich
immer, daß man sie vermöge der Verkehrsverbindung überhaupt
sehen kann. Die Universalität der technischen Entdeckungen ist

bekannt. Aber diese Universalität beschränkt sich nicht auf den


„technischen" Zivilisationskosmos, dessen sachliche und geistige
Gegenstände, Methoden und Mittel sich von der Kenntnis der Ver-
arbeitung der Erze und der Verwertbarkeit des Feuers bis zu den
heutigen Verkehrs-, Nachrichten- und Produktionsmitteln und
Methoden verbundenen und unverbundenen Zeiten
in universal
immer mehr oder weniger blitzartig, wie durch ein elektrisches
Aufgehelltsein über die Welt verbreitet haben. Sie betrifft ganz
ebenso den intellektuellen Erkenntniskosmos. Dessen mathema-
tische, astronomische, naturwissenschaftliche usw. Einsichten
breiten sich vielleicht manchmal etwas langsamer aus, da ihre
Aufnahme von der erreichten Bewußtseinsstufe der verschiedenen
Geschichtskörper mit abhängig ist, und da manche ihrer prak-

57
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

tischen Ausstrahlungen (Zeitrechnung, Geldrechnung usw.) viel-


manchen nach ihrer Gesellschaftsverfassung noch keine
leicht in
Verwendung finden können. Was aber nicht hindert, daß sie
schließlich überall gleichmäßig durchdringen.
Und dieselbe Universalität gilt mit gewissen die Aus-
drucksform und Ausbreitungsweise betreffenden Modifikationen
auch für die irgendwo geglückte Herausstellung neuer intel-
lektuell geformter Teile des Welt- und Ichbilds, die intel-
lektuellen Resultate der Bewußtseinsaufhellung, die Klarlegung
der gewissermaßen inneren Front des präexistenten Zivilisations-
kosmos. Die Realisierungs- und also Entwicklungsphänomenologie
des Zivilisationskosmos in seinem praktischen und theoretischen
Teil bedeutet, als Gesamtbild in der Geschichte gesehen, daß die
großen Geschichtskörper, die in ihrer gesellschaftlichen und
Kulturentwicklung weitgehend voneinander abweichen, in ihrer
Zivilisationsentwicklung durchaus aufeinander aufgebaut sind,
wie nach einem vorgesehenen Plan hier an der Herausarbeitung
von etwas durchaus Einheitlichem arbeiten. Ja, so gesehen, ist
eigentlich der gesamte Geschichtsverlauf in allen seinen Teilen
nur der Prozeß der einheitlichen Herausstellung des universellen
Zivilisationskosmos der Menschheit, die nur in eigentümlichen in
das Schicksal der verschiedenen Geschichtskörper eingebetteten
Absätzen, Etappen und Zerbrochenheiten und Nuancierungen sich
vollzieht. Der alte vorderasiatisch-ägyptische, der antike, der ara-
bische, der heutige abendländische, der russische Geschichtskreis
und, in loserer Verbindung mit ihnen stehend, der chinesische und
indische, sie alle sind, so sehr sie in ihrem Geschieh tsverlauf,
ihrer Gesellschaftsentwicklung und ihrer Kulturbewegung
voneinander abweichen, so angeschaut doch nur Glieder, gewisser-
maßen nur Hilfsfaktoren der geschlossenen, durch die ganze Ge-
schichte hindurch in einem logischen Stufenbau sich vollziehenden
Herausarbeitung des Zivilisationskosmos, der heute der allgemeine
der Menschheit ist.

Die technischen Teile dieses Zivilisationskosmos leuchten in


ihrer heutigen rationalen Form historisch sichtbar zuerst auf in
der Werkzeugs- und Arbeitsgliederung der Ägypter und Babylo-
nier, schon drei- bis viertausend Jahre vor Christi Geburt. Sie

58
GESKLLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNO

werden, in nicht näher bekannter Korrelation mit den Geschichts-


kreisen Indiens und Chinas entwickelt, nicht nur die Unterlage
des gesamten technischen Zivilisationsapparates des antiken, ara-
bischen und russischen Geschichtskörpers, sondern durch diese
hindurch auch des heutigen abendländischen, der dann, seit dem
14. Jahrhundert in den technischen Erfindungen die Führung an
sich reißend, vom 18. Jahrhundert an auf dieser tatsächlich schon
vorher durch die gesamte Welt hindurch geschaffenen Basis den
heutigen technischen Weltzivilisationsapparat herausstellt.
Die geistigen Teile dieses Weltzivilisationskosmos, das mathe-
matische, astronomische und naturwissenschaftliche Wissen, fin-

den ebenfalls ihre anscheinend erste intellektuelle Beleuchtung in


den ungeheuer tiefen historischen Schächten der beiden ersten
Geschichtskörper am Euphrat und am Nil. Sie werden dann von
dem antiken und arabischen und auf der anderen Seite dem chi-
nesischen und indischen Geschichtskörper weiter ins Helle ge-
bracht, um in der Weiterbildung seit etwa dem 16. Jahrhundert
vom abendländischen Geschichtskreis übernommen und durch
die berühmte „Ära der Entdeckungen" hindurch zu dem heutigen
universalen mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbild, das
für die ganze Menschheit „gültig" und von ihr akzeptiert ist, fort-

geführt zu werden.
Der rationale Teil des inneren Bewußtseinskosmos, das Welt-
und Ichbild, soweit es rational durchleuchtet ist, tritt uns, wie
gesagt, zunächst fast überall in magischer und mythischer Ver-
kuppelung und zwar sehr verschiedener Art entgegen. Es bleibt,
wie Verkuppelung vor allem für an-
gleichfalls gesagt, in dieser
dauernd stark chthonisch beeinflußte Geschichtskörper während
deren ganzem Geschichtsverlauf auch in der Zeit der inneren Ra-
tionalisierung. Aber so stark sich dann hier und in gewissem Grade
überall die intellektuellen und metaintellektuellen Kräfte kreuzen,
so daß ein solcher Geschichtsbezirk im ganzen durch die Jahr-
tausende hindurch auch als rational geprägter von der konkreten

Seite des Welt- und Ichbilds her in seinen Vorstellungs- und Denk-
formen ganz bestimmte Nuancierungen erfährt, so sind diese
Nuancierungen doch, weil und soweit sie eben Ausdrucksformen
rationaler Vorstellungs- und Denkweise sind, intellektueller Natur

59
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

und auch in ihrer Nuancierung menschlich allgemein-


als solche

gültig, wie Intellektuelle. Man kann, um die genannte


alles

Nuancierung an einem Beispiel zu verdeutlichen, etwa von einem


chinesischen, vielleicht ostasiatischen „Ganzheitsdenken" reden,
das mit seiner Tendenz an das Einzelne als an einen Teil eines letzt-
lichkosmisch Ganzen heranzutreten und es so einzugliedern, im
Gegensatz steht zu dem in gewissermaßen linearen Schlußformen
sich bewegenden Westen. Beides sind Vorstellungs- und Denk-
gestaltungen, die in ihrer Gültigkeit unbehindert nebeneinander
bestehen - Ausdrucksseiten intellektueller Allgemeingültigkeit.
Und beide unterliegen den erkenntnistheoretischen Kriterien,
welche die Geschichte allmählich für intellektuelle Allgemeingül-
tigkeit ausgebildet hat, beide natürlich auch den Grenzen, die sich
für intellektuelles Erfassen als einer Funktion menschlichen Da-
seins ergeben konnten und, wie uns scheint, ergeben haben. Auch
dieser unmittelbar mit der rationalen Seite der Bewußtseinsauf-
hellung verbundene, gewissermaßen innerste Kern des Zivilisations-
prozesses ist, mag er diese oder jene Nuancierung örtlich und
zeitlich präsentieren, dem Gehalt nach menschlich ökumenisch.
Bei diesem hier nur gänzlich laienhaft und unzulänglich skiz-
zierten langsamen Heraustreten des präexistenten, geistigen und
sachlichen Zivilisationskosmos der Menschheit aus dem Dunkel
in die Helle des menschlichen Gesamtbewußtseins ist es gänzlich
gleichgültig, gewissermaßen ein „Unglücksfall des Tages", wenn
gewisse Erkenntnisse und Aufhellungen, die schon gewonnen
waren, durch historische Zufälligkeiten vor allem die historische
Art des Sich-Ineinanderschiebens der Ausbildung der Geschichts-
körper, die die Träger des Aufhellungsprozesses werden, zeitweise
wieder verloren gehen, wie z. B. die Erkenntnis des kopernikani-
schen Weltbildes, die im griechisch-römischen Altertum schon ein-
mal gewonnen, dann im Schoß der Geschichte schlummerte bis
zu ihrer dann halb selbständigen Wiederauffindung seit dem
16. Jahrhundert durch das Abendland. Es ist ebenso für das Wesen
des Gesamtprozesses belanglos, daß bei der Herausstellung des
„technischen Kosmos" gewisse technische Zivilisationsmittel, „zu-
fällig" irgendwo aufgefunden, vielleicht zunächst unbenutzt am
Wege an irgendeiner anderen Stelle wieder
liegen bleiben, bis sie

60
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

entdeckt, plötzlich eine ungeheure Bedeutung und universale prak-


tische Anwendung bekommen; so, wenn die Entdeckung des Pul-
vers oder der Kraftmaschine in China schon früh erfolgt war, aber
dort gar keine gesellschaftlich nützliche Verwendung fand, wäh-
rend sie vom Abendland her, wo sie wieder ,, entdeckt" wurden,
dann die große technische Gesamtrevolution der Gegenwart ein-
leiten. - Das sind „Scherze" und umrankende Arabesken des
Prozesses, die aus seinem Eingebettetsein in die Gesellschafts- und
Kulturbewegung folgen, keine Änderungen des Wesens der Ent-
wicklung.
Und endlich ist es für das Wesen des Zivilisationsprozesses als
das sukzessive Sichherausheben eines geistigen Einheitstyps un-
erheblich, daß die Bewußtseinsentwicklung, die seine Grund-
lage ist,den verschiedenen Geschichtskörpern jedesmal beim
in
Beginn von deren „Geschichte" wieder weitgehend zurückgewor-
fen wird, immer von einer verhältnismäßig primitiven Lage wieder
in einem Partial der Welt gewissermaßen von neuem beginnen
muß. So die Bewußtseinsentwicklung der Antike hinter der vorder-
asiatisch-ägyptischen Entwicklung (die in ihren Wanderungen ein-
dringenden dorischen und jonischen Griechen waren ja selbstver-
ständlich Barbaren, gegenüber dem kretisch-mykenischen Ge-
schichtskreis, den sie als Ausläufer des vorderasiatisch-ägyptischen
antrafen). So die Bewußtseinsentwicklung des Arabertums hinter
der Antike und die des abendländischen Geschichtskreises hinter
beiden. Das bedeutet nur, daß bei dem Einströmen neuer Völker-
schaften in den allgemeinen Zivilisationskosmos der Menschheit die
„subjektive" Zivilisation, die „Zivilisiertheit" der neuen Bevölke-
rungen immer von neuem die Treppenstufen hinaufsteigen muß, die
innerhalb des allgemeinen objektiven und subjektiven Zivilisations-
kosmos schon vorher von anderen aufgedeckt und begangen worden
sind. Wobei übrigens das Hinaufsteigen und das Hinaufgelangen
auf die alte subjektive Zivilisationshöhe stets wesentlich dadurch
erleichtert wird, daß immer von jedem neuen Geschichtskörper
die wesentlichsten objektiven Zivilisationselemente übernommen
werden, und damit auch solche, die für die Beschleunigung des
subjektiven Zivilisationsprozesses, die subjektive, intellektuelle Be-
wußtseinsaufhellung, die Bewußtseinsbeherrschung des Daseins

61
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

sehr wesentliche Bedeutung haben. Wenn z. B. der antike Ge-


schichtskörper vom vorderasiatisch-ägyptischen nicht bloß den
Werkzeugapparat und die Prinzipien und Formen der Arbeits-
teilung, sondern auch das gemünzte Geld, die Grundlagen der
Mathematik und Astronomie übernommen hat, so waren das letzte
Elemente der „objektiven" Zivilisation, die sofort eine rechenhaft
intellektuelle Beherrschung des Daseins möglich machten, die
rationalistisch bewußte Bewältigung der „äußeren" und der „in-
neren" Dinge der Existenz ungeheuer erleichterten und sicher
nicht wenig dazu beigetragen haben, die so ungeheuer rasche
Bewußtseinsaufhellung und Zivilisationsentwicklung herbeizu-
führen, die sich bei den „griechischen Barbaren" nach ihrem Ein-
dringen durch die dorische Wanderung in wenigen Jahrhunderten
vollzieht; wie sie andererseits auch inhaltlich die außerordent-
lich frühe rationale Formung ihres Welt- und Ichbildes beeinflußt
haben werden. - Doch das nur nebenbei. - Es läßt sich z. B. von
der Übertragung der antiken Geldrechnung auf den abendlän-
dischen Geschichtskreis nach der Völkerwanderung für die Be-
wußtseins- und Zivilisationsentwicklung dieses zunächst ganz
weitgehend wieder „unbewußten" und massiven, in nur primitiven
gesellschaftlichen Formen ausgedrückten Geschichtskörpers ganz
das gleiche sagen. Wir finden die allgemeine „Geldrechnung" und
damit die Anfänge der „Rechenhaftigkeit" im germano-romani-
schen Geschichtskörper bekanntlich in den Leges barbarorum
lange vor irgendeiner wesentlichen Bedeutung einer ausgebildeten
Geld Verkehrs Wirtschaft.
Unzweifelhaft wird die „subjektive Zivilisation" jedesmal durch
das Einströmen neuer Völkermassen in den allgemeinen Zivili-

sationskosmos, durch die Ausbildung eines neuen Geschichts-


körpers, durch die Verlegung des Geschichtsprozesses an einen neuen
Schwerpunkt, in eine neue Landschaft, in der dann der Geschichts-
körper, aufwächst und seine Gesellschafts- und Kulturentwicklun-
gen durchmacht, an dieser Stelle immer wieder um Jahrhun-
derte zurückgeworfen. Und es entsteht dort, partikular betrachtet,
immer wieder eine Art Altertum, dem dann erst ein Mittelalter und
eine Neuzeit folgen muß. Unzweifelhaft bietet infolgedessen der
subjektive Zivilisationsprozeß der Gesamtmenschheit das Bild

62
GESELL SCHAFTSPROZESS, ZFTCLI8ATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

des Immer- wieder-verdunkeltwerdens gewisser „Räume", in welche


die Menschheit geschichtlich eingegliedert ist, bis langsam auch dort
wieder die frühere Aufhellung eintritt und dann überholt wird.
Unzweifelhaft aber schafft das Erhaltenbleiben der objektiven
Zivilisationselemente und der subjektiven Erhelltheit in den an-
deren unzerstört bleibenden Geschichtsräumen das Mittel, das
diese Rückschläge einzelner Teile rasch wieder einholen läßt und
die Gesamterhellung von diesem oder jenem Raum her alsdann
weiter vorwärts treibt. Und unzweifelhaft ist diese Gesamterhel-
lung die in logisch kausaler, wenn auch gebrochener und zersplit-
terter Stufenfolge vor sich gehende Herausstellung einer großen
für die ganze Menschheit gültigen Einheit, ihrer universalen
objektiv und subjektiv präexistenten Zivilisationswelt.
Es hängt dabei von der besonderen inneren Einstellung (ich
will vorerst noch kein präziseres und umrisseneres Wort gebrau-

chen) der verschiedenen großen Geschichtskörper ab, vielleicht


auch (so hat man neuerdings behauptet) von der seelischen Aus-
gerichtetheit ihrer Bevölkerungen - davon wird gleich zu reden
sein- welche Seiten des Aufhellungsprozesses jeweils in Angriff
genommen werden. Der alte vorderasiatisch-ägyptische Körper
hat nach seiner Einstellung die praktisch technische Seite und
von der „theoretischen 44 nur die rein rechenhaften für die unmittel-
bare Beherrschung des Daseins nötigen Teile (Astronomie, Zeit-
rechnung, Geldrechnung usw.) in den Grundlagen ausgebildet. Der
antike nach der seinen dagegen umgekehrt den technischen Teil
des Zivilisationskosmos gewissermaßen kaum „gesehen 44 , ihn ein-
fach ohne besonderes Interesse liegen lassen; (es gibt bekannt-
lich außer einer bestimmten Art des Gewölbebaus und gewissen
Seiten der Kriegstechnik keine nennenswerte technische Erfindung
der Antike) ; nach seinem Blickfeld ausschließlich der
er hat sich
intellektuellen und theoretischen Front zugewendet und so Mathe-
matik, Naturwissenschaften, Philosophie und alle andere heute so
genannte „Wissenschaft 44 begründet. - Während der indische sehr
wunderbar in das Dasein eingestellte Körper überhaupt beinahe
alles andere beiseite läßt, und nur die spekulative und meditative
Aufhellung und Durchdringung des innersten Erkenntnisgebiets des
Welt- und Ichbilds in religiöser Einhüllung zu seiner nahezu einzigen

63
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

mit dem größten Erfolge durchgeführten Erkenntnisaufgabe macht,


der er allerdings Spezialwissenschaften wie Grammatik und Ähn-
Es ist durchaus richtig, daß jeder Geschichts-
liches angegliedert hat.
körper, die hier angeführten und alle anderen, die gewonnenen Er-
kenntnisse - zumal die innerstphilosophischen - hierbei je nach
seiner „Einstellung" und seinen Ausdrucksmitteln in Formen hüllt,
die nicht immer ohne weiteres ihre Universalität erkennen lassen
und ihre gesamtmenschliche Anwendung und Ausbreitung er-
schweren können, - besonders dann, wenn diese Erkenntnisse mit
außerzivilisatorischen Elementen vermischt in religiöse und meta-
physische Ideensysteme eingebaut auftreten, wie insbesondere
etwa die denkerischen Resultate der Brahmanen. Es ist ferner zu-
treffend, daß dabei der bewußt oder unbewußt angewandte Vor-
stellungs- und Begriffsapparat (der immer eine bestimmte Mathe-
matik, d. h. eine bestimmte Formung der Raum- und Zeitvor-
stellungen in sich trägt) je nach seiner Qualität der Aufhellung in
ihrem Inhalt in den verschiedenen Geschichtskörpern ganz ver-
schiedene Grenzen setzt: ohne die „Funktionsvorstellung", die erst
im abendländischen Geschichtskreis auftaucht, konnte nicht nur
die gesamte höhere Mathematik, sondern überhaupt das ganze
heutige abendländische Wissen nicht aufgebaut werden; ohne die
euklidische Vorstellung der Dreidimensionalität des Raumes die
gesamte Erkenntniswelt der Antike nicht; ohne die indische Vor-
stellung, daß körperliches Sein nur „Erscheinung" sei, die gesamte
indische Philosophie nicht usw. Wenn man aber gesagt hat, die
„Erkenntnisse" (in unserer Sprache also: die herausgestellten
Teile des intellektuellen Zivilisationskosmos) seien deshalb nur
„Symbole der Seele" der verschiedenen Geschichtskörper, nur für
sie gültigund es gebe z. B. eine abendländisch-faustische, eine
arabisch-magische und eine antik- apollinische Mathematik mit je
begrenztem Anwendungs- und Wahrheitsgehalt für diese Körper,
oder wenn man diese Konsequenz wenigstens angedeutet hat, so
verkennt man die Sache. Die Herausbildung der euklidischen Geo-
metrie mag - darüber soll hier nicht gestritten werden - Resultat
der „apollinischen Seele" des Griechentums gewesen, und auch
in deren Ausdrucksformen zuerst vor die Welt hingestellt worden
sein. Ihr Wahrheits- und Erkenntnisgehalt ist im menschlichen

64
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

Sinn ewig, d. h. für alle Menschen allgemein gültig und notwendig,


in den Grenzen ihrer Axiomatik ; ebenso der Erkenntnisgehalt des
„faustischen" Infinitesimalkalkuls mit allen seinen Konsequenzen,
oder des kantischen a priori, sofern man es richtig interpretiert,
oder des indischen Gegensatzes von „Wesen und Erscheinung".
Wobei allerdings aus den Tempeln der universalen „Erkenntnis"
immer und überall das hinausgeworfen werden muß, was Kant
bei der Prüfung der formalen Erkenntnisvoraussetzungen aus der
reinen Erkenntnissphäre der Erfahrung herausgeworfen und dort
alsMetaphysik bezeichnet hat. - Aus dem Tempel der zivilisato-
rischen Erkenntnis und damit der Aufhellung des universalen
präexistenten Zivilisationskosmos, seiner theoretischen und seiner
praktischen Seiten - nicht aus dem Tempel der „Wahrheit" über-
haupt! Denn diesen metaphysich oder religiös bedingten Teilen
der „geistigen Erkenntniswelt" der verschiedenen Geschichts-
körper werden wir an anderer Stelle wieder begegnen, in ihren
Kultur weiten und ihrer Kulturbewegung. Und in dieser Welt, wird
sich zeigen, eignet ihnen, sowenig sie einen zivilisatorischen d.h.
universal menschlichen, logisch gemeingültigen und notwendigen
Erkenntnisgehalt haben, ein ungeheurer, eben kultureller,
sagen wir es gleich, ein seelisch-geistiger Wahrheitsgehalt,
der den Gehalt und das Wesen der Kulturemanationen ausmacht.
Davon später.
Hier nur noch zusammenzufassen: logisch kausale Art der
ist

Entfaltung in der Form stufenweiser, wenn auch in verschiedenen


zerbrochenen Stücken zunehmender Belichtung von etwas Prä-
existentem für die Gesamtmenschheit Vorhandenem, Heraus-
stellung desselben als etwas Allgemeingültigem und Notwendigem,
wenn auch in Varianten, das ist also die Phänomenologie und Er-
scheinungsform des Zivilisationsprozesses. Und ein intellektuell
geformter Kosmos allgemeingültiger und notwendiger Dinge, die
innerlich in allen ihren Teilen untereinander zusammenhängen, die
nach der praktischen Seite gesehen, für die Zwecke der Menschen
universell gleich nützlich (praktisch richtig) sind, nach der theo-
retischen Seite gesehen gleich unentrinnbar (d. h. theoretisch rich-
tig) und in der Beleuchtung des Welt- und Ichbildes gleich un-
mittelbar evident (d. h. aprioristisch richtig) sind, der Inbegriff

65
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

alles dessen, was so, zunehmend aufgelichtet, über der Gesamt-


menschheit steht, das ist der Zivilisationskosmos. Seine Heraus-
bildung erfolgt daher nach den Gesetzen der logischen Kausali-
tät. Auf jeden Schritt dieser Herausbildung sind die Begriffe
richtig oder unrichtig anwendbar. Und seine herausgestellten
und belichteten Gegenstände haben den Charakter der Allgemein-
gültigkeit und Notwendigkeit und verbreiten sich im ganzen
blitzartig über den Verkehrkosmos, deswegen eben, weil sie in
Wahrheit logisch präexistent sind für die Menschheit.

IV

Genau den entgegengesetzten Charakter hat nun die Kultur-


bewegung und alles, was sich in ihrer Sphäre befindet und ent-
steht. Diese Sphäre schafft keinen Kosmos logisch-allgemeingülti-
ger und notwendiger Dinge vielmehr ist und bleibt hier alles was
;

entsteht, zunächst seinem Wesen


nach eingeschlossen in den Ge-
schichtskörper, in dem es entsteht, mit ihm innerlich verbunden.
Es entsteht kein objektiver Kosmos, sondern ein seelisch be-
dingtes Nebeneinanderstehen von Symbolen. Eine solche jedesmal
selbständige Welt von Symbolen, die ihre eigene Runenschrift
und ihren eigenen im Letzten unübertragbaren Gehalt hat, ist die
chinesische Kultur, die indische, die ägyptische, die babylonische,
und sind alle
die antike, die arabische, die abendländische Kultur

anderen Kulturwelten alles was in ihnen wirklich kulturell ist.
Es ist unmöglich, die griechische Kultur herauszulösen aus dem
griechischen Geschichtskörper, ihren Gehalt zu übernehmen, zu
verpflanzen und zu wiederholen. So oft der Versuch hier auch für
wesentliche ihrer Teile, ihre bildende Kunst, ihre Tragödie, ihre
philosophische Ideenwelt, gemacht worden ist. Jede Renaissance

— und es hat ja viele versuchte Renaissancen der griechischen


Kultur gegeben, von der augusteischen in Rom und der gräco-
buddhistischen im Gandharabezirk angefangen, über die italie-
nische hinweg bis zur Empirerenaissance und anderen - führt zu
etwas total Anderem als der Erneuerung des kulturellen Griechen-
tums, wenn auch gewisse äußere Formen jedesmal übernommen

66
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGÜNG

wurden und ein ähnlicher seelischer kathartischer Gehalt viel-

fach aufgesucht ward, wie er in der griechischen Kulturwelt aus-


gedrücktist. Der seelische Erlösungsgehalt ebenso wie die in

Kunstwerken und Ideen konkretisiert auftretenden seelischen Er-


lösungsformen, die neugeschaffene Kulturwelt also, ist jedesmal
eine durchaus vom Griechentum verschiedene, die angebliche
Renaissance in Wirklichkeit Neuschöpfung von etwas anderem.
Und das gleiche gilt von der Übernahme und der Ausbreitung der
rein religiös geformten Erlösungsinhalte, wo in der Ausbreitung
44
der „Weltreligionen anscheinend - aber auch nur anscheinend -,
etwas Ähnliches vorzuliegen scheint, wie bei der Ausbreitung der
zivilisatorischen Erkenntnisinhalte, eine Sprengung der Einge-
schlossenheit des Kulturellen in den Geschichtskörper, in dem es
ausgebildet ist, und eine Universalisierung desselben für die ganze
Menschheit oder wenigstens große Teile derselben.
Die geistige und seelische Universalisierung der Weltreligionen,
etwa der christlichen, mohammedanischen, buddhistischen ist
vorhanden. Sie ist, wie ihre Entstehung und zugleich die Entste-
hung anderer großer Sinndeutungen des Daseins, der wesentlichste
kulturelle Inhalt einer geschichtssoziologisch genau abgrenzbaren,
universalgeschichtlichen Epoche. Aber das „Universelle" ist
hier etwas durchaus Anderes als das einer logischen Allgemein-
Es ist eine seelisch-geistige Interpretation des Daseins,
gültigkeit.
die von bestimmten, seelisch- geistigen Grunderfahrungen her
mehr oder weniger weitgehend allem Vorhandenen und Erfahr-
baren Wertakzent erteilt und ihm einen auf den Daseinssinn be-
zogenen Deutungsgehalt gibt. Dieser Deutungsgehalt ist bei den
entscheidenden Weltreligionen und anderen großen Sinndeutungen
von menschheits- und daseinsumfassender innerer Bedeutsamkeit.
Er kann Ausschließlichkeit für sich beanspruchen und tut das
zum mindesten bei den Weltreligionen des Westens. Das Wesen
seiner Universalität liegt aber stets auf einer metalogischen Ebene.
Und niemals ist diese ganz loszulösen von dem geschichtlichen
Ort und der geschichtlichen Situation, in der sie entstanden ist.

Sie ist die tiefste Existenzerfassung, die an diesem Ort sich dar-
bot und an ihm möglich war. Wenn und weil diese Existenz-
erfassung innerlich universell bedeutsam war, hat sie menschlichen

67
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Ewigkeitsgehalt und die Möglichkeit, sich über ihr Ursprungs -


gebiet hinaus auszubreitenund von ihm abzulösen. In jedem Fall
erlebt sie dabei, mag noch so universell und zentral sein, bei
sie

Unveränderlichkeit der Kernsicht, doch wesenhafte Wandlungen.


Das Christentum, als seelische Späterscheinung der Antike zur
Welt gekommen, ward in dem germano-romanischen Geschichts-
kreis bei seiner wirklich inneren Annahme durch die neue junge
Welt, die auf der geistigen Grundlage Augustins erst etwa um 1000
beginnt, tatsächlich als etwas weitgehend Anderes neu erfahren. Es
ist seitdem nicht nur dogmen- sondern wesens verschieden vom
orientalischen Christentum, dessen Ausbreitung nach Rußland und
dem Osten andrerseits auch zu einer ganzen Anzahl von tatsäch-
lichen Neuschöpfungen führte. Es erlebte hier wie dort immer
wieder Renaissancen (hier genannt Reformationen), die in den
verschiedenen Geschichtskörpern immer wieder zu neuen Kon-
fessionen - Troeltsch hat ganz richtig irgendwo gemeint, man
sollte sagen neuen Religionen -, Sektenbildungen usw. mit ganz

verschiedenem Gehalt und auch äußerlich weitgehend verschie-


dener Ausdrucksform führen. Und es verbreitet sich in seinen ver-
schiedenen Formen über die sog. „Welt" tatsächlich erst im Rah-
men der Ausbreitung des abendländischen Geschichtskörpers
selber über diese, seit dem 18. Jahrhundert. - Auch diese „Uni-
versalreligion" der Menschheit und gerade sie ist als dogmatische
Religion heute ein Konglomerat vieler verschiedener, nebenein-
ander bestehender und aufeinander gefolgter Religionen von je
gleichem seelischem Wahrheitsgehalt für die verschiedenen Ge-
schichtskörper, in denen sie Ausdruck der jeweiligen seelischen
Situation sind, überall im Wesen und Gehalt ähnlich, aber tat-
sächlich in den Geschichtskörper, die ihn tragen, eingeschlossen.
Dabei kleidet sich allerdings der religiöse seelische Kulturaus-
druck äußerlich fast überall in „Erkenntniskategorien". Er tritt
in den „Offenbarungsreligionen" leicht als „Erkennen" auf, als
„gewisse (gleich wissende) Zuversicht, dessen daß man nichts
siehet", und sucht durch diese Gleichsetzung des „Erlebens" mit
„Erkennen des Unsichtbaren" universelle Allgemeingültigkeit und
Notwendigkeit zu usurpieren, zu missionieren, zu überzeugen.
Aber das alles sind nur Einhüllungen der Tatsache, daß in Wirk-

68
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZES.^ KULTURBEWEGUNG

lichkeit stark wesensverschiedene Seelenausdrücke miteinander


ringen, gebunden an die seelische Welteinstellung der verschie-
denen Geschichtskörper und in sie eingeschlossen.
Und das gleiche wie für die Religion gilt auch für den meta-
physischen Ideengehalt aller philosophischen Systeme, der auch
überall rein und bloß Kulturausdruck eines bestimmten Ge-
schichtskörpers Es ist ganz unmöglich, die indische Meta-
ist.

physik, ihren Seelenwanderungsglauben und ihre Sehnsucht nach


Auflösung des individuellen Wesens, auf den abendländischen oder
irgendeinen anderen Geschichtskörper in ihrem eigentlichen Ge-
halt zu übertragen. Geschieht das, so entsteht Schopenhauerianis-
mus oder Theosophie, die, äußerlich vielleicht dieselben oder ähn-
und Vorstellungsformen anwendend, den durch diese
liche Begriffs-
umfaßten und ausgedrückten Gehalt vollständig verwandeln.
Ebenso wie es nie möglich sein wird, dem griechischen Piatonismus
irgendeine absolute Universalität zu geben; er hat zahllose Re-
naissancen erlebt, die des Neuplatonismus, Renaissanceplatonis-
mus, die des deutschen Idealismus usw., die aber jedesmal in
Wahrheit eine Neuschöpfung von etwas dem Wesen und Gehalt
nach Anderem darstellen. - Alle kulturellen Emanationen, Reli-
gionen, Ideensysteme, Kunstschöpfungen sind im krassen Gegen-
satz zu allen Zivilisationsaufhellungen in ihrem ursprünglichen
Wahrheitsgehalt eben eingeschlossen in die Geschichtskörper und
Zeiten, in denen sie entstanden sind und nur im transzendenten
Untergrund verbunden. Ihre Übertragung auf andere Geschichts-
ist immer nur eine Übertragung ihres Ausdrucks
körper und Zeiten
und seelischen Erlösungswerts, eine Wertübertragung, die
zu den sogenannten „Ausbreitungen" führt. Sie hat aber gar nichts
zu tun mit der logischkausalen Ausbreitung der aufgehellten Teile
des universellen Zivilisationskosmos.
Alle Kulturemanationen sind eben immer „Schöpfung". Sie
tragen damit das Kennzeichen jeder Schöpfung, den Charakter
44 44
der „Ausschließlichkeit und „Einmaligkeit an sich, im Gegen-
satz zu allen Dingen, die der Zivilisationsprozeß herausstellt, die
immer den Charakter der „Entdeckungen 44 und damit der lo-
gischen Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, der Heraus-
stellung von etwas schon Vorhandenem besitzen.

69
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Dementsprechend ist die Phänomenologie der Kulturbewegung,


der Entwicklungstyp der kulturellen Sphäre total verschieden
von dem der zivilisatorischen. In dieser gibt es, wie wir sahen, eine
zwar gebrochene und von historischen Zufälligkeiten abhängige,
aber doch stufenweise vor sich gehende „Entwicklung", einen
durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurchgehenden Ein-
heitsprozeß der Aufhellung, der zu einem bestimmten Ziel,
dem der Gesamtaufhellung des schon Präexistenten hinführt. In
der Kultursphäre dagegen haben wir protuberanzenartiges
Herausbrechen der Produktivität, hier und dort in anscheinend
ganz unerklärlicher Weise, das plötzlich etwas Großes, gänzlich
Neues, Einmaliges und Ausschließliches, eine unvergleichbare und
ihrem Wesen nach mit irgend etwas anderem im Innersten in gar
keinem notwendigen Zusammenhang stehende „Schöpfung" hin-
Und wenn wir irgendwelche Regelmäßigkeiten und Zu-
stellt.

sammenhänge beobachten und festzustellen suchen, so haben wir


nicht „Stufen der Entwicklung", sondern voneinander abge-
schlossene Perioden der Produktivität und Unproduktivität, des
Verfalls und des Stillstands, plötzlich vor sich gehende Umschläge,
entgegengesetzte „Zeitströmungen", die miteinander ringen, nicht
Stadien, sondern Ausdrucksformen neuer seelischer Situa-
tionen vor uns, ein bewegtes Meer, das manchmal aufgipfelt, und
manchmal stilliegt, von diesem oder j enem „seelischen" Wind bewegt
wird, niemals aber irgendwo „hinfließt", einem „Ziel" zustrebt.
Sofern wir „Entwicklungen" konstatieren können, beziehen sie sich
nur auf die technischen Mittel des Ausdrucks des Kulturellen
und ihre Durchbildung, auf die irgendwie zusammenhängende Auf-
einanderfolge eines naturalistischen, klassischen und barocken Aus-
druckstyps, in den verschiedenen in sich abgeschlossenen Produk-
tivitätsperioden, auf das irgendwie bedingte Abwechseln mehr emo-
tionaler und mehr Ausdrucksformen des kulturell
rationalisierter
Geschaffenen, auf ein Abgelöstwerden mythisch verkleideter Aus-
drucksform durch unmythische beim Älterwerden der verschiedenen
Geschichtskörper und dgl. — kurz nicht auf den Gehalt, sondern,
dem Wesen nach betrachtet - auf die Oberflächenbewegungen, die
aber in der Kultur jedes Geschichtskörpers sich unabhängig von
dem anderen selbständig wie in einer anderen Welt vollziehen.

70
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

Wir haben in der Kulturbewegung der verschiedenen Geschichts-


körper tatsächlich die Herausgestaltung von ganz verschiedenen
„Welten" vor uns, die durchaus einzigartig und ausschließlich sind
und gänzlich wesensverschieden von dem Ausbau des einheitlichen
Kosmos, den der Zivilisationsprozeß hervorbringt.

Wir können jetzt dem inneren Wesen der „Kultur" im Gegen-


satz zur „Zivilisation", dem dynamischen Verhältnis beider zu-
einander und ihrer Beziehung zum Gesellschaftsprozeß näher tre-
ten, der eigentlichen kultursoziologischen Prinzipienfrage also.
Ganz gleichgültig, wie man die Entstehung des Zivilisatorischen
im Geschichtsprozeß der Menschheit, die langsame und stufen-
weise Herausstellung des geschilderten Kosmos erklärt, dieser
Kosmos ist unzweifelhaft das wesentlichste Hilfsmittel der
Menschheit im Kampf ums Dasein. Ihr geistiges und ihr ma-
terielles Hilfsmittel. Durch die Intellektualisierung ihres Erlebnis-

stoffs gewinnt sie die Herrschaft über die Natur. Durch die dabei

erfolgende Herausstellung jenes präexistenten Zivilisationskosmos


setzt sie in Wahrheit ein Zwischenreich von Bewußtseinsinhalten,
Kenntnissen, Mitteln und Methoden zwischen sich und die Natur,
durch das sie jene zu beherrschen und ihr eigenes Dasein zweck-
mäßig zu gestalten, seine natürlichen Möglichkeiten aufzulichten
und auszuweiten sucht. Ja, dieser Zivilisationskosmos ist nichts
anderes, als dieses zweckmäßige und nützliche Zwischen-
reich; und der Rayon seiner Allgemeingültigkeiten und Not-
wendigkeiten reicht genau so weit, als diese Zweckmäßigkeiten und
Nützlichkeiten in ihrer Bedeutung reichen. Er erscheint als die
Konkretisierung einer Begriffs- und Vorstellungswelt, als die Her-
ausbildung einer Anschauung von der Natur, von Welt und Ich,
die dazu da ist, dazu geschaffen scheint, Natur, Welt und Ich, in-
dem man sie intellektuell erleuchtet, geistig und dann auch prak-
tisch zu beherrschen. Er ist daswenn nicht aus dem Kampf ums
Dasein entstandene, so doch dem Kampf ums Dasein angepaßte
„Bild" der Natur, der Welt und des Ichs, dessen innerste Struktur

71
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

und Formalelemente, die aprioristischen Anschauungsformen,


Kategorien und mathematischen synthetischen „Urteile", a priori
eben als das Handwerkszeug auftreten, das irgendwie im mensch-
lichen Geist entstanden ist, um diesen Beherrschungskosmos lang-
sam aufzubauen.
Da nun der Kampf ums Dasein in seinen Grundelementen
weitgehend für alle Menschen, wo sie auch leben mögen, von Na-
tur aus gleich ist, so erscheint es selbstverständlich, daß auch diese
Anschauungskategorien, das innerste geistige Handwerkszeug des-
selben für alle das gleiche und daß das damit herausgestellte
ist,

„Bild", der Zivilisationskosmos eben für alle das Gemeinsame sein


muß, d. h. Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit besitzt. Womit
nun seine merkwürdige anscheinende Präexistenz das Wunder-
bare verliert : Sie ist die Folge der überall gleichartig herausgebil-
deten grundlegenden Anschauungskategorien. Und er selbst ist
nichts weiter, als dasvon ihnen her langsam aufgebaute und auf-
gehellte, von ihnen her und durch sie geschaffene „Weltbild". Er
ist der „Aspekt der Natur", den diese Anschauungskategorien

„fabrizieren". Und diese Ansicht der Natur ist diejenige, die


eben zweckmäßig ist, um diese selbst und das Dasein überhaupt
zu beherrschen und um auch dessen äußeres „Beherrschungs-
reich" zu schaffen, den zivilisatorischen Daseinsapparat, weil sie
aus Kategorien erwachsen ist, die für den Zweck selbst entstanden
zu sein den Anschein haben.
Das ist das eigentliche Wesen des Zivilisationskosmos, der also
das große Reich des zweckmäßig und nützlich aufgehellten
und zweckmäßig und nützlich geformten Daseins dar-
stellt, der aber in seiner Formung des Daseins auch nicht einen
Schritt weiter führt, als eben durch die Gesichtspunkte der Zweck-
mäßigkeit und Nützlichkeit bedingt ist.

Die kulturelle Formung des Daseins dagegen hat mit Zweck-


mäßigkeit und Nützlichkeit gar nichts zu tun. Das was in Reli-
gionen und Ideensystemen auf das Dasein einwirkt und was in
Kunstwerken und „Gestalten" sich widerspiegelt, quillt aus einem
Bezirk ganz anderer Kategorien und Anschauungen, aus dem
Seelischen. Es ist im Gegensatz zur zivilisatorischen, d. h. in-
tellektuellen Verarbeitung des Daseinstoffes seine seelische Ver-

72
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

arbeitung und Formung. Es ist die große Schuld des 19. Jahr-
hunderts, daß es den seelischen Bezirk, die seelische Sphäre der
Menschheit als ihre letzte und tiefste Wesens Sphäre für die Er-
kenntnis und Anschauung des Geschichtsprozesses gewissermaßen
verschüttet hat. Es hat diese eigentlichste Wesenssphäre, von der
her gesehen alles andre im Dasein nur Ausdruck, Gestalt, Verleib-
lichung, Erscheinung, Gleichnis und Symbol eben eines „seelischen
Wesens" ist oder sein soll, durch den Begriff des „Geistes", vor
allem des Hegeischen „objektiven Geistes" für die historische und
philosophische und damit auch die bisherige soziologische An-
schauung unsichtbar gemacht, indem es in diesem Begriff des ob-
jektiven Geistes die intellektuellen Beherrschungselemente
des Daseins mit den seelischen Ausdruckselementen verband,
damit tatsächlich Intellekt und Seele in eins zusammenwarf 1 ) und
dadurch Zivilisation und Kultur in hoffnungsloser Weise durchein-
ander mischte. Kultur aber ist bloß, was seelischer Ausdruck, see-
lisches Wollen ist, und damit Ausdruck und Wollen eines hinter
aller intellektuellen Daseinsbeherrschung dahinterliegenden „We-

sens", einer „Seele", die bei ihrem Ausdrucksstreben und ihrem


Wollen gar nicht nach Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit fragt,
sondern nur nach einer Durchdringung des Lebensstoffs, nach
einer Formung desselben, die irgendeine Art Abbild von ihr selber
bietet und die durch dieses Abbild, durch das Gestaltgewinnen im
Lebensstoff selbst, oder außerhalb desselben ihr zur „Erlösung"
hilft. Alle Kultur ist nichts anderes als dies Erlösungsstreben der

Seele der verschiedenen Geschichtskörper, ihr Versuch, Ausdruck,


Gestalt, Abbild, Form ihres Wesens zu gewinnen und den gebote-
nen Daseinsstoff entweder zu gestalten oder, wenn das nicht
möglich ist, aus ihm zu fliehen und ein transzendentes Dasein als
Formungs- und Erlösungsgebiet zu suchen.
Das heißt also: Ist der Gesellschaftsprozeß das „Körper-
hafte" der Entwicklung der verschiedenen Geschichtskörper, so
bietet ihm der Zivilisationsprozeß die technischen Mittel, um
diese oder jene zweckmäßige oder nützliche Daseinsform aufzu-

1
) Der Protest Hegels gegen die Überschätzung des Verstandes ändert nichts

an seinem tatsächlichen Verstricktsein in diese Einstellung durch seinen alles


beherrschenden Vernunftbegriff.

73
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

bauen. Für die Kulturbewegung aber ist das alles nur die Sub-

stanz, der Stoff, den sie seelisch zu verarbeiten, zum Ausdruck


der in den verschiedenen Geschichtskörpern lebenden „Seele" um-
zubilden, als deren Wesensgestaltung in Form zu bringen hat.
Daraus folgt der Begriff der Kultur als der jeweiligen Aus-
drucks- und Erlösungsform des Seelischen in der ma-
teriell und geistig gebotenen Daseinssubstanz. Und aus
ihm ergibt sich nun schon einiges Vorläufige über das gegenseitige
dynamische Verhältnis von Gesellschaftsprozeß, Zivilisations-
prozeß und Kulturbewegung und über die Rhythmik der Produk-
tivität der Kultur in den verschiedenen Geschichtskörpern.

VI

Der Gesellschaftsprozeß der verschiedenen Geschichtskörper,


ihr soziologisch angeschauter körperhafter Geschichtsprozeß, die
Bindung und das Ringen der in ihm geformten menschlichen
Naturgewalten durchläuft verschiedene Stadien. Er geht von ein-
fachen zu komplizierteren Formen der „Lebensaggregierung"
über. Er kennt bei dieser Fortentwicklung vollständige gesell-
schaftliche Neugruppierungen, er kennt Ausweitungen und Ver-
engerungen des Horizonts, er kennt Erstarrungen und Auflösungen
der Gesellschaftsformen. Er kennt partiale Umschichtungen des
Daseinsstoffs und, - vom Standpunkt der in ihm wohnenden Seele
aus gesehen, dieses alles als Erlebnis und als Formungsstoff für sie

genommen -, vollständige Neuaggregierungen der Lebens-


elemente, die das Dasein als ein neues Erlebnisganze bieten; und
er kennt auf der anderen Seite auch längere oder kürzere Perioden
andauernder Erstarrung, Zeiten und Geschichtsgebiete der „Ag-
gregierungs Starrheit", der Erlebnis Wiederholung, die vielleicht
für Generationen, vielleicht für Jahrtausende sogar der Seele im-
mer nur dasselbe oder ein ähnliches Erlebnis und Formungsmaterial
bieten.- Dabei ist der Zivilisationsprozeß einer der wesentlichsten
Faktoren, der durch die Darbietung neuer technischer Methoden
der Daseinsformung, neuer Kenntnisse und Horizonte die Fort-
entwicklung zunächst der körperhaften Gesellschaftsgestaltung

74
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIYILISATIONSPROZE3S, KULTURBEWEGUNG

von einfacheren zu komplizierteren Formen fördert, die körper-


und verschieben läßt,
hafte Lebensaggregierung sich weiterbilden
durch Erfindungen und Entdeckungen große Umschläge derselben,
große Neuformungen, gänzliche Neuaggregierungen mit herbei-
führen kann. Wie auch durch sein Stocken in irgendeinem Ge-
er
schichtskörper dessen körperhafte Erstarrung mitbedingen und
neue äußere
dessen Altersauflösung fördern kann. Er schafft also
Lebensaggregierungen im Zusammenspiel mit den na-
türlichen Kräften des Gesellschaftsprozesses.
Er kann aber auch ohne solche Umformung der äußeren Le-
bensaggregierung, wenn er nur neue rein geistige Aufhellungen
vollzieht oder mit solchen in irgendeinem Geschichtskörper von
außen eindringt, schon durch diese (durch das neue geistige In-
Verbindung-Setzen aller Daseinselemente) ganz unabhängig von der
körperhaften Umformung des Daseins eine rein geistige Neu-
aggregierung der Lebenselemente schaffen, die vielleicht ebenso
groß sein kann wie irgendeine durch körperhaft gesellschaftliche
Neugruppierung herbeigeführte. - Wenn bisher die „Welt" als eine
tellerartige Scheibe gesehen ward, über der sich das „Himmels-
zelt" wie eine begrenzte Glocke wölbte, und nun statt dessen plötz-
lich das kopernikanische Weltbild mit seinen Unendlichkeits-
perspektiven nach allen Seiten auftaucht und allgemein erfaßt
wird, so tritt eine Neuaggregierung, eine geistige Umwälzung und
Umordnung aller Lebenselemente ein, die ebensogroß, oder für die
„Seele" vielleicht größer, ist als irgendein körperhafter Umord-
nungsprozeß derselben. - Und ganz das gleiche muß wieder ein-
treten,wenn man die Außenwelt plötzlich nicht mehr als etwas
von unserem Ich und seinen Formen und Bedingungen Unabhän-
giges, als ein Sein von gegebenen Körpern, sondern als ein „Pro-
dukt" der psychophysischen Aufnahmemöglichkeiten unseres Ich
und seiner aprioristischen Anschauungsformen sieht (Kant). Die
gesamten Erlebnistatsachen des Daseins bekommen dadurch eine
veränderte Bedeutung für die Seele, eine veränderte Stellung und
Bedeutung zueinander. Das Dasein tritt in einer neuen ,„4.ggre-
gierung" vor die Seele auch ohne neue äußere Aggregierung. Und
so, wenn nicht überall so einleuchtend und durchgreifend, doch in
größerem oder geringerem Maßstab, wenn das Kantische a priori

75
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

wieder zurücktritt, und Mensch und Welt als korrespondierende


Einheit erfaßt wird und wirkt, und natürlich auch bei allen
anderen geistigen Herausstellungen des Zivilisationskosmos.

Nun sucht die „Seele" in jedem Geschichtskörper den Daseins-


stoff, Wesen
der ihr Erlebnisstoff wird, wie wir sahen, nach ihrem
zu formen, zum Ausdruck ihres inneren Seins zu machen und
schafft dadurch „Kultur". Ganz gleich also, ob durch Umformung
des körperhaften Daseins oder durch ein neues geistiges Bild des
Daseins, sie sieht sich jedesmal durch eine derartige „Neuaggre-
gierung aller Lebenselemente", die so herbeigeführt wird, in ein
neues Dasein, eine neue Welt, einen neuen Stoff, den
sie zu formen

hat, gestellt. IhreAufgabe beginnt in jeder derartigen Situation


von neuem Und daraus entspringt der Drang und die
. . .

Notwendigkeit ihrer „Kulturproduktivität". Diese ist


nichts anderes, als eben der Versuch einer seelischen Formung
dieses neuen Daseins, dieses andersgelagerten Lebensstoffs.
Kulturproduktivitätsperioden werden danach immer
Resultat einer Neuaggregierung der Lebenselemente
sein. Und umgekehrt wird, wenn dieses „neue Dasein" seelisch
geformt oder ausgedrückt ist, mit einer gewissen Notwendigkeit
Kulturstagnation, vielleicht eine Zeitlang manierierende Wie-
derholung des Ausgedrückten, endlich aber Stillstand eintreten.
Vom Standpunkt der „Gesamtseele" der Geschichtskörper
(wissenschaftlich gesprochen, ihrer seelischen Gesamtverfassung
in irgendeinem Zeitpunkt) heißt das, daß bei Neuaggregierung ein
neues „Lebensgefühl", eine neue Art, das Leben als Gesamt-
tatsache zu fühlen, entsteht, und nach Ausdruck, nach Neu-
gestaltung, einer seelischen Neugestaltung, nach einer neuen
Gesamtstellung zu den gesellschaftlichen und geistigen Tatsachen
ringt. Es entstehen neue „Zeitalter" und Kulturperioden mit
neuem Fühlen. - Vom Standpunkt der „produktiven Geister" der
verschiedenen Geschichtskörper bedeutet es, daß sie das neue
Fühlen formen und in die objektive Welt emanieren. Sie ziehen
den neuaggregierten Lebensstoff als Erlebnis in sich hinein, ver-
einigen ihn mit ihrem seelischen Zentrum, verwandeln ihn auf dem
Herde ihres neuen Lebensgefühls und stellen in einer „Synthese

76
-

GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

von Persönlichkeit und Welt" das so Geborene, ihre „Schöpfung 44


aus sich heraus. Sie tun das entweder mit der Absicht, einfach ein
zweckloses Abbild der neugefühlten Welt, ihres seelisch- geformten
Gehalts, in abgeschlossener Gestalt zu geben, - wodurch das
Kunstwerk entsteht. - Oder mit der Absicht, die naturale gesell-
schaftliche und zivilisatorische Form dieses Daseins selbst seelisch
zu durchformen, sie zur Ausdrucksform des neuen Lebensgefühls
und seines Gehalts zu machen, sie „ideell 44 umzugestalten, umzu-
gießen. - Oder drittens, wenn das nicht möglich ist, wenn das
gegenüberstehende Sein der ideellen Formung unzugänglich zu
sein scheint, in diesem Sinne wertlos wird, so suchen sie die Ema-
44
nierung des Seelischen vor ihm zu „retten neben und außer es
,

zu stellen, sie ins rein Transzendente zu führen. Es entstehen so


neben den Kunstwerken die Ideen- und Religionssysteme dies-
seits- und jenseits- zugewandten Charakters. Und es treten die

großen Künstler, die Propheten, die Offenbarer des neuen Lebens


44
gefühls auf, die dieses verschiedenartige „Emanieren verkörpern,
die Zeitalter und Kulturperioden einleiten, abschließen oder auch
„krönen 44 .

So wird in einer ganz vorläufigen ersten Betrachtung die Rhyth-


mik der Kulturbewegung, das Aufeinanderfolgen ihrer Produktivi-
44
täts- und Stillstandsperioden, das Entstehen ihrer „Zeitalter das ,

Ringen ihrer Kulturströmungen (das immer das Ausdrucksringen


eines derartigen neuen Lebensgefühls mit einem anderen, älteren
44
ist), das Auftreten der „großen Männer (die demnach im Ganzen
gewissermaßen an den „Bruchstellen 44 der Entwicklung stehen
müssen), das notwendige scharenweise Gruppiertsein kleinerer
produktiver Geister um das Erscheinen der großen (die kleineren
44 44
„suchen den Ausdruck, weisen als oder als „Kampf-
„Vorläufer
44
genossen auf die größeren und die Einzigen hin), - die soziolo-
gische Art und Bedeutung aller dieser Dinge wird
die soziologische
in einer zunächst ganz oberflächlichen Weise verständlich. Der so-
ziologische Typus der Kulturbewegung, ihr Gegliedertsein in im-
mer neue abgeschlossene Produktivitätsperioden, miteinander
ringende Kulturströmungen und das Darinstehen der großen Män-
ner gewissermaßen als Flankierungsposten, der protuberanzen-
artige Charakter des Herausspringens großer, Ewigkeitsgehalt be-

77
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

sitzender Kulturemanationen, die immer jene gänzliche Ausschließ-


lichkeit und Einzigkeit besitzen, welche die Kulturbewegung in
einen so polaren Gegensatz zur Zivilisationsentwicklung stellt, -
all dies wird begreiflich. Und es wird gleichzeitig, wie schon an-
gedeutet, bereits einigermaßen die allgemeine Ausdrucks richtung
und Ausdrucksform einleuchtend; daß die großen Kultur-
dies,
emanationen das eine Mal eine Lebensabkehr bedeuten können,
(wie viele der großen Religionssysteme : das Urchristentum, der
Urbuddhismus, die daran verzweifeln, die seelische Emanierung
in das Leben als Totalität zu verbreiten); - daß sie ein anderes
Mal glauben, dieses neuaggregierte Dasein diesseitig teilweise oder
ganz ideell durchformen zu können (Mohammedanismus, Calvinis-
mus, deutscher Idealismus); — während sie ein drittes Mal das
Leben, wie es sich darbietet, umfangen können und in den Formen
eines sich einordnenden Lebensgefühls vielleicht mit tragischem
Akcent in erhöhter Gestalt und in geschlossener Form zum Aus-
druck bringen (perikleische Antike, späte Renaissance etwa).
Es kann die Aufgabe der soziologischen Untersuchung sein, die
Arten derart zerbrochenen oder geschlossenen Lebens-
gefühls und ihr Ausdrucksstreben in ihren verschiedenen Formen
und Bedingungen herauszustellen, sie mit der geistig oder körper-
haft geschaffenen Neuaggregierung der Lebenselemente in Ver-
bindung zu setzen, und daraus nicht nur die großen Perioden
der Kulturproduktivität, ihre Wiederholung und ihr Wesen und
die Stellung der großen Männer darin, sondern auch das Hervor-
treten der verschiedenen Ausdrucksseiten der Kultur, das Auf-
einanderfolgen und Wechseln ihrer Formalprinzipien zu erklären,
vorsichtiger und bescheidener gesagt, zu deuten.

Hier, wo es sich um die prinzipielle Kulturdynamik handelt, ist

nur noch zu sagen Jede aus irgendeinem neuen Lebensgefühl ent-


:

stehende Kulturperiode wirkt natürlich, da sie den Daseinsstoff,


seine gesellschaftliche und zivilisatorische Aggregierung zu for-
men und ihm ihr seelisches Gesicht zu verleihen sucht, zurück
auf diese körperhafte und zivilisatorische Aggregierung der Le-
benselemente. Sie schafft in Religionen durch die Kirche gehütete
und fortgepflanzte, in Ideensystemen durch den Geist und die Idee

78
GESELL SCHAFT SPROZE SS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

fortgetragene Formungsprinzipien, in politischen Gebilden von


Ideen mitgeformte Machtstrukturen, in Kunstwerken Ewigkeits-
gebilde objektiver Formung, den großen Männern persönliche
in
„Vorbilder" der Lebensgestaltung; - sie leitet dies alles durch ge-

sellschaftliche und geistige Kanäle in alle Poren der gesellschaft-


lichen und persönlichen Gestaltung und auf den ganzen körper-
haften und geistigen Habitus des Geschichtskreises über, in dem
sie entstanden ist. Sie sinkt auf diese Art mit ihren Formungsprin-

zipien gewissermaßen hinunter in den Untergrund des gesell-


schaftlichen und zivilisatorischen Entwicklungsstromes der Ge-
schichte und durchtränkt ihn. - Das ist ja gerade ihre Aufgabe
und ihre Absicht als seelische Ausdrucksform der neuen Lebens-
aggregierung. Sie wirkt auf diese Weise auf den weiteren Fortgang
der Gesellschaftsentwicklung und des Zivilisationsprozesses in je-
dem Geschichtskörper auf das intensivste ein. - Deren Fortent-
wicklung aus den naturalen Trieb- und Willens- und den intellek-
tuellen Kräften vollzieht sich daher vielfach, ja fast immer im
Kampf mit der aus diesem Heruntersinken hervorgegangenen kul-
turellen zur Tradition gewordenen Formung der vorherigen
Lebensaggregierung. (Man denke als historisches Beispiel an das
Sichdurchsetzen der frühkapitalistischen Aggregierung etwa in der
italienischen Renaissance, die ein riesenhafter Willensnaturalismus
war, im Kampf mit dem mittelalterlichen, einem seelisch-
und traditionsfixierten Leben.) — Die kulturell
kulturell geformten
gewonnene Formung und Fixierung kann sogar den Lebensaggre-
gierungsprozeß auf einer bestimmten Stufe durch die rituelle Fest-
legung und die Bindung aller naturalen Kräfte einfach zum Still-

stand bringen. (Indiens religiös fixiertes Kastenwesen.) Sie kann


den Zivilisationsprozeß durch derart rituell gebundene Vorstellungs-
inhalte einkapseln. Und durch das alles wird die Kulturformung
rückwirkend ein wesentliches Element der konkreten Gestaltung
der Gesellschaft und Zivilisation der verschiedenen Geschichts-
körper selbst. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß deren
Entwicklungen ursprünglich, soweit Gesellschaftsprozeß
von den naturalen Trieb- und Willenskräften im Rahmen der
natürhchen Bedingungen, — soweit Zivilisationsprozeß von den
intellektuellen Kräften zweckmäßiger Daseinsbeherrschung ge-

79
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

tragen sind und durch die derart jedesmal geschaffene neue Lebens-
aggregierung die Kulturbewegung und ihr innerstes Zentrum, die
Seele, jeweils vor neue Situationen und neue Aufgaben stellen.
Deren konkrete Lösung schafft dann erst die Fixierungen und
Formen, in denen die Geschichtskörper jeweils irgendwo verharren,
die Formen, aus denen ihre naturalen und intellektuellen Kräfte
sie dann immer wieder zu befreien suchen. Mit dem Resultat, stets

wieder eine neue Konstellation, vor der das Seelische steht, zu


schaffen, einen neuen Grund für die Kulturproduktivität. Gesell-
schaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung stehen in
einem solchen korrelativen gegenseitigen Zusammenhang, dessen
konkreter Charakter für jeden Geschichtskörper und für jeden ge-
schichtlichen Zeitpunkt aufzuklären ist, der aber prinzipiell immer
dem Schema folgen muß, das hier in großen Umrissen entwickelt ist.
Dabei gibt es Geschichtskörper und Perioden, in denen aus deu-
tend näher aufzuklärenden Gründen die Kulturbewegung weniger
stark auf die „naturale" Formung des Gesamtkörpers oder ein-
zelner seiner Gestaltungen zurückwirkt, als in anderen Zeiten, in
denen sie die naturalen Gestaltungen gewissermaßen sich nach
ihren eigenen Gesetzen entfalten läßt, und nur in einer beseelten
Form das irgendwie geschaute Leben zum Ausdruck bringt. Eine
solche Periode ist z. B. die perikleisch-klassische Antike, wo Wirt-
einem gewissen Grade der Staat und auf
schaft, Familie, ja bis zu
der anderen Seite das „Erkennen" ganz und gar nach ihren eigenen
Gesetzen leben und sich entwickeln konnten und nur für den Staat
als „Polis", und für die hellenische Volksgemeinschaft ein binden-
des religiöses Fundament geschaffen war. Kunstwerke und Ideen
brachten dabei das so geformte Leben mit letzten seelischen In-
stanzen in Verbindung und gaben ihm von daher seinen Ausdruck.
Den ganz entgegengesetzten Typus zeigt die vorderasiatisch- ägyp-
tische Antike: in ihr sind zum mindesten der Staat und das Er-
kennen ganz von religiösen Formen umschlossen, in kulturell
fixierten Ausdruck einer Ritualisierung und in eine Konstanz ge-
bracht, welche die aus der eigenartigen gesellschaftlichen For-
mung (Bureaukratie!) folgende stützte und verstärkte. Ebenso,
wenn auch wieder in ganz anderer Art und auf anderen gesell-
schaftlichen Unterlagen der indische Geschichtskreis oder der chi-

80
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

nesische. Die mittelalterlich-feudale Lebensaggregierung schien


zeitweise auf der Basis des Einflusses der Kirche Ansätze einer
ähnlichen Lebensfixierung zu zeigen. Das Charakteristische vor
allem der Renaissance ist, daß die naturalen gesellschaftlichen und
die zivilisatorisch-rationalistischen Kräfte diese Fesseln sprengen,
Gesellschafts- und Zivilisationsprozeß wieder frei setzen, den
Staat, die Wirtschaft, das Erkennen, indem sie all dies „entgöt-
tern", einer natürlichen „Gestaltung" überliefern, wobei in einer
gewissen, wenn auch entfernten und überschätzten Ähnlichkeit
mit der Antike die „Kultur" wieder in eine verwandte Beziehung
zum naturalen Leben treten konnte wie im Altertum. - Hier
kommt es darauf an die verschiedenen Gesellschaftsgebilde Wirt-
: :

schaft, Staat, Klasse, Familie usw., ebenso wie die Zivilisations-


sphäre und ihre Teile können in den verschiedenen Geschichts-
körpern und Perioden ganz verschieden stark „kulturell durch-
tränkt" und ganz verschieden weitgehend dadurch in bestimmte
Form gebunden sein. Das wechselt.
Und es ist für unsre Gegenwartslage und die in ihr vorhan-
dene Beziehung vielleicht interessant, sich klar zu machen: die
seelische Verarbeitung der von der frühkapitalistischen Zeit dar-
gebotenen, aus der Renaissance aufsteigenden „modernen" Lebens-
aggregierung beginnt eigentlich erst in der idealistischen Periode
des 18. Jahrhunderts; erst ihr Bedürfnis war es, dieneuen zivili-
satorischen und naturalen Kräfte, welche die „moderne" Gestal-
tung des Lebens herauftrugen, in eine neue seelisch-kulturelle
Form zu bringen. - Es ist ihr nicht gelungen. Die gewaltige Macht
der seit der Renaissance ausgelösten naturalen gesellschaftlichen
und zivilisatorischen Kräfte, in deren Wirkungsanfang sie erst

stand, (- obgleich sie selber glaubte, sie schon wieder einfangen zu


können -) hat alle ihre Ansätze zersprengt und das 19. Jahrhun-
dert mit seiner Umwälzung was heute an
heraufgeführt. Aber
„Kulturpostulaten" gegenüber den naturalen Kräften und Ten-
denzen unsres Lebens da ist — alles was wir da haben, gegenüber
den Gebieten der Wirtschaft, des Staats, der Gesellschaft, der Fa-
milie, es stammt in Wahrheit noch aus dem seelisch-geistigen Ar-
senal des damaligen Bewältigungsversuchs. Der Westen hat noch
keine neue abgeschlossene Ideenwelt geboren, die unserer heu-

81
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

tigen Lebensaggregierung gegenübertreten könnte. Aucb beim


demokratischen Sozialismus ist sie wohl grundsätzlich vorhanden,

in ihren praktischen Forderungen aber erst im Werden. Der rus-


sische Kommunismus aber opfert unsere ganze heutige Lebens-
aggregierung gläubigen Machttendenzen.
Wir kämpfen auf der ganzen sonstigen Erde heute noch den
Kampf der modernen Seele und der modernen Lebensaggregie-
rung. Wir kämpfen ihn zum Teil mit den alten schon halb stumpf
gewordenen Waffen, ohne daß eine neue seelische Totalergreifung
des Lebens bisher gelungen wäre, die uns neue wirksamere ge-
und daher schwerer und verzweifelter als je. Und die
liefert hätte,

wesentlichsten Objekte, um die es sich dabei handelt, sind all-


mählich im fortgesetzten Rückgang von höheren Zielen heute
schon die allereinfachsten gesellschaftlichen Grundgestaltungen,
die naturalen und Fundamente der Existenz überhaupt
geistigen
geworden. Diese können eben, wenn alles aufgewühlt ist - je nach

der Natur der Lebensaggregierung - zum eigentlichen und ersten


Objekt des seelischen Forderungszwanges werden, der dann ge-
wissermaßen heruntertauchen und an den Wurzeln der Existenz
versuchen muß, sich dort unten in einer neuen — radikal neuen -
Art zu orientieren. Das nennt man geschichtliche Krise. - Der
Mensch, die Grundlagen seiner inneren Existenz, die Erhaltung
seines als wertvoll empfundenen Wesens und zugleich die äußere
Lebensaggregierung, die ihn umgibt, werden zum Problem, das
bewußt vor Augen ohne bisher klare Lösung.
steht,
Allgemein aber ist abschließend zu sagen Der Kulturbewegung
:

gelingt es in ganz verschiedenem Maß, in den verschiedenen Zeiten


und Geschichtskörpern die gesellschaftlichen und zivilisatorischen
Produkte in ihren Bann zu ziehen, und sie will es in den verschie-
denen Zeiten und Perioden auch in ganz verschiedenem Maß denn ;

das Lebensgefühl der Seele, das sich einer bestimmten Lebens-


aggregierung gegenübersieht und aus ihr erwächst, kann es nach
seiner Kraft in ganz verschiedenem Maß, und hält die vollständige
Formung des Erlebnisstoffs auch nur in ganz verschiedenem Grad
für möglich oder - in glücklicheren „Zeiten" - für nötig. Das alles
hat Gegenstand der näheren kultursoziologischen Untersuchung
zu sein. Hier handelte es sich nur darum, die Begriffe der Kultur

82
-

GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

und der Kulturbewegung, des Zivilisations- und des Gesellschaft^


prozesses und ihr gegenseitiges dynamisches Verhältnis, soweit
das in kurzen Andeutungen möglich, nach ihrem prinzipiellen Cha-
rakter zunächst klarzustellen.

VII

Es bedarf kaum noch einer Erläuterung, wie sich die beiden Ar-
ten, indenen die Kulturbewegung bisher geschichtsphilosophisch
und soziologisch im ganzen betrachtet wurde, von dieser Analyse
her ausnehmen. Die evolutive geschichtsphilosophische Be-
trachtung der Kulturbewegung erscheint von da in ihrem Ur-
sprung als die Konfundierung der intellektuellen und der seelischen
Sphäre unter dem Sammelbegriff „Geist" und infolgedessen als
Zusammenfassung von Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung
unter der Sammelvorstellung: „geistige Entwicklung". Eine Ver-
mischung, die das 18. Jahrhundert angebahnt und der deutsche
Idealismus auf die Höhe gebracht hat. Zivilisationsprozeß und
Kulturbewegung werden von da aus derartig verschlungen, daß
unter der Vorstellung „geistiger Entwicklung" und dann über-
haupt „Entwicklung" die Gesetzmäßigkeiten der Zivilisations-
entwicklung sich als Anschauungsform für das geschichtsphiloso-
phische Betrachten und Durchdringen des menschlichen, histo-
rischen Gesamtprozesses überhaupt unterschieben. Condorcet
sieht die Gesamtgeschichte demnach als den stufenweisen Prozeß
menschlicher Vervollkommnung, deren Inhalt in Wahrheit die
„Aufklärung", d. h. in unsrer Ausdrucksweise eben allein und aus-
schließlich das Herausstellen eines Teils des Zivilisationskosmos
ist. Kant, Fichte, Hegel, so verschieden sie gerade soziologisch
konstruieren, erblicken doch gemeinsam den Inhalt der Geschichte
in der Aufhellung des Bewußtseins (einer anderen Seite des Zivili-
sationsprozeß) bis zur HeraussteDung des „Bewußtseins der Frei-
heit", die das Reich der Vernunft begründen soll. Es ist gleich-
gültig, ob das in mehr rationale Formen eingehüllt wird (Anziehung
und Abstoßung, solidaristische und individualistische Kräfte, de-

83
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

ren Zusammenwirken schließlich zum Vernunftreich führt, Kant),


ob es in mehr biblisch-protestantische gekleidet wird, wie bei
Fichte (Stufe der Unschuld, der angehenden und vollendeten
Sündhaftigkeit, der Befreiung, der Vernunftherrschaft), oder ob
es die Hegeische Form
der Evolution des Weltgeistes annimmt,
der sich der Triebe und Leidenschaften der Menschen bedient,
ihres Ringens nach Klarheit und vernünftiger Ordnung, um in
Thesis, Antithesis und Synthesis, der Entfaltung also in einem
logischen Prozeß der Selbstentwicklung, schließlich zur Auf-
richtung des Reiches der „Vernunft" in der Inkarnation des Staa-
tes zu kommen. Es ist ganz klar, daß jedesmal die Entwicklung

sich nach logisch-intellektuellen Prinzipien vollzieht. Und das


schließlich herausgestellte Reich der Vernunft, dem der Einzel-
mensch sich in „Freiheit des Bewußtseins" einzugliedern hat, ist
im Grund nichts anderes, als eben unser aufgehellter und heraus-
gestellter Zivilisationskosmos, der alles andere, Kunst, Religion,
Ideen usw. alle Kulturemanationen, als Elemente seines „vernünf-
tigen" Fortschritts in sich aufsaugt und in seiner vernünftigen
Schlußgestalt verschlingt. Der Blick für das Wesen der Kultur
verhüllt sich in dem psychologisch zum erstenmal angeschauten
Bild des Wesens des Zivilisationsprozesses, der mit den Be-
griffen Realisierung derVernunft und Selbstevolution des Geistes
die gesamten geschichtlichen Tatsachen in seinen Vorstellungs-
bezirk hineinreißt. - Marx ist prinzipiell genau in dem Gleichen
befangen: er sieht einfach nur eine andere, die materielltech-
nische Seite der Entfaltung des Zivilisationskosmos, läßt sie als
das Urprinzip der geschichtlichen Entwicklung erscheinen, von
dem alle gesellschaftlichen Prozesse nur Äußerungsformen und
alle kulturellen Bewegungen nur Spiegelbilder sind. Die Posi-
tivisten, von ihren genialen Stiftern St. Simon und Comte bis zu
den heutigen Pragmatisten, erblicken die Linie der geistig-wissen-
schaftlichen Entwicklung, sehen das zunehmende Zurücktreten
der mythischen Verhüllungen des Weltbilds, den zunehmend in-
tellektuell-wissenschaftlich beeinflußten Daseins- und Gesell-
schaftsbau (Industriesystem bei St. Simon) und lassen in dieser
zivilisatorisch-positivistischen Welt- und Daseinsgestalt, also auch
wieder dem herausgestellten Zivilisationskosmos schließlich alles,

84
GESELL SCHAFTSPROZESS ZIVILISATION SPROZE SS. KULTURBEWEGUNG
?

auch die Kultur, die sie natürlich gleichfalls nicht als etwas dem
Wesen nach Verschiedenes erkennen, verschwinden: wobei es für
die Betrachtungsart gleichgültig ist, wenn sie diesem als letztes
Kulturziel herausgestellten rationalisierten und durchorganisier-
ten Zivilisationskosmos dann noch eine von den Wertbetonungen
des Kulturellen übernommene religiöse Weihe zu geben suchen
(wie St. Simon in seinem nouveau christianisme). - Neuere So-
ziologen, wie Spencer, die sich unter dem Bann der positivistisch-
zivilisatorischen Einstellung befinden, gliederten die aus ihr fol-
gende Anschauung des geschichtlichen Gesamtgeschehens nicht
nach den Entfaltungstatsachen eines objektiven Geistes oder der
technischen Produktionsmittel oder der wissenschaftlichen Be-
herrschung des Daseins, sondern nach dem Rückreflektieren aller
dieser Dinge auf die Bewußtseinsentfaltung selber: der rationa-
lisierte merkantile und Mitleids- Mensch folgt auf die Art als

notwendiges auf den kriegerischen my-


Entwicklungsprodukt
Menschen der Anfangsstufen. Oder man sieht die
thisch-religiösen
Wirkung der Entwicklung auf die Bewußtseinseinstellung des
Individuums zur Gesamtheit es folgt hinter den Frühperioden
:

korporativer Gesamtgebundenheit überall eine Zeit des Indivi-


dualismus und vielleicht schließlich des übrigens nirgends klar
umschriebenen sogenannten Subjektivismus (Lamprecht). Immer
werden einfach der Zivilisationsvorgang und seine Wirkungen
gesehen und untersucht. Alles andere ist nur Teil, Folge oder Spie-
gelung desselben. Überall wird die Herausstellung irgendeiner
Seite des präexistenten Zivilisationskosmos samt ihren Wirkungen
als Inhalt. Zweck und Ziel der Weltgeschichte angesehen. Dieser
Zivilisationskosmos ist für das Bewußtsein aller dieser Leute in
seinem letzten Teil, dessen Heraustreten sie zu erblicken ver-
mögen, etwas Definitives, das letzte Ziel, dem wir zustreben müs-
sen. L'nd daher passiert diesen evolutiv-zivilisatorischen Soziologen
und Geschichtsphilosophen, auch den genialsten und gerade diesen
unter ihnen immer, daß sie gleichzeitig Eschatologien. \ oraus-
sagungen oder Konstatierungen eines Endzustandes der Mensch-
heit geben, eines Endzustands, der nichts anderes ist. als eben
immer die von ihnen erblickte letzte Stufe der Entfaltung des Zivi-
lisationskosmos. Hegel und Fichte baten bekanntlich ihr Zeitalter

85
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

für das des Anbrechens der verwirklichten Vernunft, das letzte der
Menschheit angesehen - ein kleiner Irrtum, wie wir heute wissen.
- Und der Marxismus mit seiner Voraussage des sozialistisch-
rationalen Zukunftsreichs, das sich aus einem rein zivilisatorisch
angeschauten Gesellschaftsprozeß logisch-dialektisch schließlich
ergeben soll, ist auch nichts anderes, als eine solche zivilisatorisch

konzipierte Eschatologie, der Versuch einer politisch- und sozial-


agitatorisch zugespitzten Vorwegaufhellung des künftigen Zivili-
sationskosmos und seiner Formen.
Es ist auch nicht wunderbar, daß sich alle diese verschiedenen
Geschichtstheorien und Kulturphilosophien, so different sie nach
ihren von ihnen selbst verkündeten Prinzipien sein mögen, idea-
listisch, materialistisch, positivistisch, psychologisch usw., doch
im Grund so stark berühren, daß, näher zugesehen, unversehens
die eine in die andere übergeht; ja die eine nur die von der Revers-
seite gesehene andere ist. Die so überzeugend nachgewiesene, nicht
bloß formale, sondern inhaltliche Verwandtschaft, ja weitgehende
soziologische Identität des Hegelianismus und des Marxismus, der
beiden Geschichtsphilosophen, die sich in der äußeren Haltung
(Evolution des Geistes und Evolution der Materie) so feindlich
gegenüberstehen, während sie im Grunde alle beide das mit Not-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit sich vollziehende Sichheraus-
bilden einer rationalen sozialen Gesamtorganisation der Mensch-
heit behaupten, in deren Notwendigkeit der Einzelne nur die Frei-
heit hat, sich mit Bewußtsein „einzufügen", ist Aber
ein Beispiel.
die weitgehende gleiche Identität ließe sich für den Gesamtkom-
plex aller dieser Entwicklungs- und Kulturtheorien zeigen. Denn
sie sind allenur verschiedene Beleuchtungen der rationalen Ge-
samtprinzipien, die das innere und äußere menschliche Dasein
formen und entwickeln, in deren Bild sie alles andere verschwinden
lassen.
Ihre sämtlichen Verfasser stehen soziologisch gewissermaßen
noch vor dem „Sündenfall" einer grundlegenden Einsicht. Sie
sehen nicht, daß rationale Organisiertheit, rationale Selbstein-
gliederung, rationale Daseinsaufhellung und welche Rationali-
sierung immer - selbst wenn man die Emanation der „Weltver-
nunft" in sie hinein verlegt, oder wenn man sie mit der Entfaltung

86
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

von Freiheitsprinzipien oder mit der von Gleichheitstendenzen


in Verbindung bringt, auch in diesen ideologischen Verkleidun-
gen als solche noch nichts mit Kultur zu tun haben, noch gar
nichts mit der Formung eines Geschichtskörpers vom seelischen
Zentrum seiner Menschen aus. Sie kennen eben den Unterschied
von zivilisatorischen Entwicklungstendenzen in den Geschichts-
körpern und Kulturentfaltung nicht. Sonst würden sie in allen
diesen Rationalisierungsvorgängen nur Mittel der Daseinsge-
staltung erblicken, nicht deren Wesen. Sie würden in diesen Tat-
sachen keine Ziele und keine letzten Ideen der Menschheitsent-
wicklung sehen können, sondern Entwicklungs-Allgemeinheiten,
-Notwendigkeiten und Bedingungen, unter deren Herrschafts-
ausdehnung sich das Seelische im. Geschichtsprozeß befindet, mit
der Aufgabe, das durch sie mitgeschaffene naturale Dasein in im-
mer neuem und immer schwererem Ringen stets neu bewältigen
zu müssen. Die eschatologischen zivilisatorischen Organisations-
wären für sie dann allerdings ent-
paradiese, die sie alle sehen,
göttertund ein allgemeines „Kulturziel" der Menschheit nicht
mehr da. Aber sie hätten etwas Tiefstes und Letztes über die Fra-
gen der Kultur selbst dazugewonnen.

VIII

46
Die „morphologische Art der Geschichts- und Kulturbetrach-
tung ist auch von unserer Analyse her der vollständige Gegen-
schlag. Sie sucht die „Seele" zu erfassen, die in den verschiedenen
großen Geschichtskörpern aufwächst, erwacht, sich auslebt, altert
und die Kulturemanationen als Symbole ihrer Existenz und ihres
Schicksals aus sich herausstellt. Die Religionen, Ideensysteme,
Kunstgestaltungen sind die durchaus einmaligen, unvergleich-
lichen, keinem allgemeinen Menschheitsziel zustrebenden, sondern
eben einfach „Gestalt" gewordenen Ausdrucksformen der Seele
der verschiedenen großen Geschichtskörper auf den verschiedenen
Stufen ihres Aufblühens und Alterns. Die Geschichte selbst ist

kein in sich zusammenhängender Prozeß mit einer inneren Ein-

87
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

heit,sondern das Gebiet des morphologischen Herauswachsens,


Entstehens und Vergehens dieser großen Körper aus einer „müt-
terlichen Landschaft". Jeder von ihnen hat sein eigenes Gesetz,
sein eigenes Wesen und nach Ausdruck rin-
seine eigengeartete
gende Seele. Sie haben alle „homologe" Stufen der Entwicklung
und „homologes" Ausdrucksstreben, - insofern eben als sie alle
einmal jung sind, aufwachsen, blühen und altern, und als alle die
Totalität ihres seelischen Inhalts in ihren Äußerungsformen ab-
zuspiegeln suchen. Jede einzelne Äußerungsseite aber und zwar
nicht bloß die nach unserem Begriff kulturelle, sondern auch die
zivilisatorische ist ebenso einzigartig, ausschließlich und unver-
gleichbar wie ihre Seele selbst, ein reiner Ausdruck ihres Wesens.
Es gibt demnach nicht bloß eine faustisch- abendländische, eine
apollinisch-antike, eine arabisch-magische Kunst, Religion,
Metaphysik, sondern auch Wissenschaft und Mathematik, ein je
besonders gestaltetes unübertragbares Erkenntnisbild; in unserer
Sprache: einen ganz verschiedenartigen, jedem Geschichtskörper
besonders zugehörigen, dem Wesen nach unübertragbaren Zivilisa-
tionskosmos, keinen universellen von Allgemeingültigkeit und
Notwendigkeit. Alle Teile des Zivilisationskosmos werden über-
haupt nicht als zivilisatorisch, sondern als „kulturell", d. h. als
seelische Ausdrucksformen angesehen; Zivilisation und Kultur
werden also wiederum und zwar von der entgegengesetzten Seite
wie vorher durch die Evolutionisten in eins verschmolzen. Und
nur insofern wird Kultur und Zivilisation voneinander geschieden,
als die zivilisatorische Formung als die bewußte, rational „welt-
städtische" Endform des Geschichtsprozesses jedes der großen
Körper angesehen und definiert wird, Kultur also überall auf einer
bestimmten „homologen" Alterungsstufe der Entwicklung in Zivi-
lisation gleich „rationaler Senilität" übergehen soll. Es wird dem-
nach das Wesen des Zivilisatorischen als rationaler Lebensformung
und bewußter Daseinsaufhellung bis zu einem gewissen Grad gesehen
und erkannt. Der Zivilisationsprozeß selbst aber als ein das Schick-
sal der Menschheit durchdringender Einheitsprozeß, der immer
vom Anfang aller geschichtlichen Entwicklung an da ist, und in
jener eigentümlichen stufen weisen Entfaltung alle Geschichts-
körper zu allen Zeiten durchdringt, wird nicht erkannt. Wobei

88
GESELL SCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

unzweifelhaft die zunehmende Bedeutung der zivilisatorischen


Formung, die aus der Bewußtseinsaufhellung folgt, richtig ge-
sehen ist. Nur ist diese Bewußtseinsaufhellung nicht in den um-

zukommenden Zusammenhang gestellt, nämlich den als jeweilige


Wiederholung und Weitertreibung der in anderen Körpern schon
begonnenen oder erreichten allgemeinen Bewußtseinsaufhellung
der Menschheit, deren objektiver Zivilisationskosmos ja doch
ein klar ersichtliches, gar nicht wegzuleugnendes, selbst in früheren
Zeiten geringerer Allgemeinverbundenheit kaum zerbrochenes
Ganze auch für die muß. Es werden auch
Anschauung darstellen
diejenigen Tatsachen des Geschichts Verlaufs, die in Wahrheit ihre
eigene Gesetzlichkeit haben, die Realitäten und Äußerungsformen
des Gesellschaftsprozesses der verschiedenen Geschichts-
körper willkürlich unter Überspringen jeder Kausalität als Sym-
bole des seelischen Ausdruckswillens gedeutet. Kurz, es wird nicht
bloß Zivilisations-, sondern auch Gesellschaftsprozeß in die „mor-
phologisch"-angeschaute Kulturbewegung hineingezogen, um einen
jeweils für sich stehenden Wachstums-, Alterungs- und Schicksals-
prozeß der verschiedenen großen Geschichtskörper zu erreichen.
Und daraus entsteht dann ein Bild, das manche lächerlichen Sei-
ten hat. Denn lächerlich ist es z.B., das künftige Alterungsschick-
sal derabendländischen Kultur mit hundert Jahren Gnadenfrist
biszu der und der homologen Stufe vorauszusagen. Und das in
einem Moment, wo diese abendländische Kultur durch ihr Ver-
flochtensein mit dem allgemeinen Menschheitsschicksal (Welt-
krieg !) sich gerade in einem riesigen Umbildungsprozeß befindet,
der sie, sei es der Auflösung ihres bisherigen Geschichtskörpers und
4
ihrer „ Seele ', sei es ihrer Metamorphisierung oder Transponierung
in andere entstehende Körper, sei es ihrem völligen, vielleicht sehr
raschen „physischen" Untergang, jedenfalls einem gänzlich unbe-
kannten, absolut nicht übersehbaren Schicksal entgegentreibt.
Dies Fehlgreifen aber folgt auch bei dieser Anschauung aus dem
Nichttrennenkönnen von Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß
und Kulturbewegung, was auch sie kennzeichnet, und aus dem
Versuch, nach irgendwie erfaßter Seelenhaftigkeit der verschie-
denen Geschichtskörper ihr Schicksal alleingültig zu verstehen
und zu bestimmen, ohne die Realitäten des Gesellschafts- und

89
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Zivilisationsprozesses und ihrer Eigengesetzlichkeiten zu sehen


und zu untersuchen1 ).

IX

Trotzdem kann es keinem Zweifel unterliegen, daß unsre Art des


Kulturbegriffs Verwandtschaft mit der morphologischen Stel-
lungnahme hat. Auch für uns sind alle kulturellen Emanationen
nur Symbole, einmalige auf kein allgemeines Entwicklungsziel
hinsteuernde, untereinander unvergleichliche und ausschließliche
Ausdrucksgebilde von etwas Seelischem, der „Seele" der jewei-
ligen Geschichtskörper, die sie in die Welt hineinsetzt. Allerdings
Symbole, die ihre Gestalt und weitgehend auch ihren Ausdrucks-
gehalt ganz wesentlich mit der von der jeweils aggregierten
Lebenssubstanz erhalten, der gesellschaftlichen und zivilisato-
rischen Körperhaftigkeit, in der diese „Seele" sich in den ver-
schiedenen Geschichtskörpern zu den verschiedenen Zeiten be-
durch diese Symbolisierung, durch das Hinausstellen
findet, die sie
in Kulturform zu ihrem „Leib" zu machen sucht. Das Gesell-
schafts- und Zivilisationsmaterial umgibt die Seele der verschie-
denen Geschichtskörper mit einem an sich seelisch fremden Stoff,
einer Materialschicht, der sie in jedem Augenblick der Geschichte
ihr „Gesicht" zu geben sucht, oder von der sie, wenn ihr das nicht
gelingen kann, in Lebensabkehr (große lebensnegative Religionen)

Seitdem dies geschrieben wurde, was sich vor allem gegen Spengler richtet,
*)

ist Werk Toynbees erschienen. Es vermeidet in umfassender Ver-


das große
wendung aller allgemeingeschichtlich wesentlichen Tatsachen, jede morpholo-
ist aber auch ganz auf die Auffindung von „Homolo-
gisch strenge Prognostik,
gien" im Entwicklungsablauf der verschiedenen festgestellten Zivilisationen (in
unserer Ausdrucksform Geschichts- und Kulturkörper) ausgerichtet. Trotzdem
gewissenhaft Verbindung zwischen den verschiedenen Kulturen und ein viel-
fältiges Aufeinanderaufgebautsein festgestellt wird, geht doch dieses Aufein-
anderaufgebautsein unter in dem geistvollen Schematismus, in den überall Ent-
stehen und Ablauf als generelle Allgemeinform eingegliedert werden. Ein ein-
heitlicher Zivilisationsprozeß, in dem sie drinstehen, wird als belanglos beiseite-
geschoben, der sehr verschiedenartigen gesellschaftlich-sozialen Entwicklung
kein Augenmerk geschenkt. Auch sie ist eingegliedert in ein wiederkehrendes
allgemeines Schema. - Es braucht nicht gesagt zu werden, wie fremdartig uns
diese geistig so hochstehende Analyse anmutet.

90
GESELLSCHAFTSPROZESS, ZIVILISATIONSPROZESS, KULTURBEWEGUNG

Abstand nimmt. Wenn man ein anderes Bild lieber will, es schiebt
sichnach eigenen nicht zu umgehenden Gesetzen ein Stoff, ein
Lebensmaterial über die Seele hin und verlangt von ihr, daß sie es
durchglüht und kulturell gestaltet.Das ist die kulturelle Auf-
gabe und das Wesen ihrer Kulturbewegung, die also,
jeder Zeit
um es zu wiederholen, noch und ganz hauptsächlich von anderen
Faktoren als von der „Selbstentfaltung der Seele der Geschichts-
körper" abhängig ist. Auch nach dieser Anschauung kann es eine
Selbstentfaltung der Seele der verschiedenen Geschichtskörper
geben, einWachstum, Aufblühen und einen Alterungsprozeß. Das
alles und unkausal betrachtet
aber kann nicht für sich stehend
werden. Es hängt vielmehr mit der vom Zivilisationsprozeß aus
geschaffenen Bewußtseinsaufhellung der Lebenssubstanz der ver-
schiedenen Völker, ihrem sukzessiven Durchleuchtetwerden aus
der subjektiven Seite des Zivilisationsprozesses der Menschheit
bei ihrem aufeinanderfolgenden Eintreten in diesen ab. Dieses
Eintreten läßt dabei den Völkern der verschiedenen Geschichts-
körper Jugendperioden der Unaufgehelltheit und Unbewußtheit
sehr verschiedener Art und Dauer entstehen, je nach Art, Ort und
Zeit ihres Eintritts in diesen Kosmos. Es weist ihnen Perioden
ihres seelischen Erwachens unter ganz verschiedenen Bedingungen
in der Umgebung ganz verschiedener vom Zivilisationskosmos und
der Gesellschaftsentwicklung schon dargebotener psychischer und
physischer Objekte zu. Es führt sie in ganz verschiedener Art zu
Hochperioden der bewußten, produktiv formenden seelischen Be-
herrschung des Gesamtdaseins und es läßt keineswegs überall eine
;

gleichartige oder überhaupt eine irgendwie bestimmbare Alterung


eintreten. Vielmehr: wie dieser ganze Bewußtseinsentfaltungs- und
seelische Wachstumsprozeß durch Art, Ort und Zeit des Eintritts
in den allgemein menschlichen Zivilisationskosmos bedingt ist,
von da her sein Tempo, das Heraustreten seiner Anfangs- und
Mittelstufen erhält, so ist er in seiner weiteren Entwicklung, auch
gleichzeitig von dem ganz verschiedenen Fortgang und der ganz
verschiedenen Struktur des Gesellschaftsprozesses bedingt;
davon, ob in dem betreffenden Geschichtskörper zunächst ganz
oder halb unbewußte Schichten zurückbleiben, die erst im Fort-
gang aufsteigen und die Bewußtseinsentwicklung in ihm selbst von

91
;

SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

neuem vollziehen (wie beim Hintereinander der im Abendlande auf-


steigenden Schichten der Kleriker, Ritter, Bürger, Arbeiter usw.)
oder ob eine gleichzeitige Gesamtdurchheilung der überhaupt ge-
sellschaftlich in Betracht kommenden Bevölkerung eintritt, wie im
klassischen Altertum (einstufige Entwicklung !) ; oder eine fixierte
gesellschaftliche und geistige Gliederung übereinander ruhender
Schichten sich aus der Dynamik von Gesellschafts-, Zivilisations-
und Kulturprozeß ergibt, wie in Indien, usw. Der seelische Auf-
hellungs-, Wachstums- und Alterungsprozeß der Kulturkörper samt
allen seinen kulturellen Äußerungen und Möglichkeiten, ist also für
unsere Betrachtung eben wie alles übrige in die bekannte gegen-
seitige Dynamik des Gesellschafts-, Zivilisations- und Kulturpro-
zesses eingebettet. Er hatden verschiedenen Geschichtskörpern
in
dadurch ganz verschiedene Ausgangspunkte. (Der arabische Ge-
schichtskreis fing durch die Art seines Eingestelltseins in den
Zivilisationskosmos auf einer ganz anderen Bewußtseinsstufe an,
als der antike und hat eine eigentliche Mythologie nie gekannt.)

Der Prozeß hat auch ganz verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten


(Einstufigkeit, Mehrstufigkeit der Entfaltung usw.). Und er mündet
vermöge des verschiedenartigen Verflochtenseins der Geschichts-
körper in den geschichtlichen Gesamtprozeß (mehr oder weniger
isoliertes Dastehn, wie bei China und Indien, oder Verflochtensein
und vielleicht schließlich Weltexpansion, wie bei der Antike, beim
Arabertum und heutigen Abendland) auch in ganz verschiedene ab-
solut nicht zu schematisierende Endzustände. Diese „Endzustände"
aber sind in dem menschheitsgeschichtlichen Gesamtprozeß und
seinem Fortgang ganz in Fluß gekommen. Denn wir können in
der heutigen Weltlage nicht übersehen, was bei den riesigen Zu-
sammenfassungen, riesigen „Liquidationen", aber vielleicht auch
riesigen Neuformungen an seelischem Neuerwachen in neuen
Lebensaggregierungen möglich ist in Geschichtsbezirken, die
anscheinend schon lange in „Endzustände" übergegangen waren.
So sehr in dieser noch zu keiner neuen Lebensaggregierung ge-
kommenen heutigen „Krise" alles bis auf den Grund und bis auf
die Erhaltung des Wesens des bisherigen Menschen fraglich ist, so
sehr mag auch für die anscheinend alt gewordenen
diese Periode
Teile der Menschheit das Motto in sich tragen: „Vivos voco".

92
B. Diskussion anderer Standpunkte 1 )

Leben, das persönliche und nicht minder das geschichtliche,


heißt Bewegung, Strom, Wandlung. Zwar der rapide dramatische
Ablauf etwa des universell so entscheidend gewordenen Daseins im
alten griechischen Kulturkreis ist ohnegleichen. Auch die durch
mehr als ein Jahrtausend fortgehende Bewegtheit des abend-
ländischen, welche mit ihren Peripetien, Renaissancen, Reforma-
tionen bei den in ihrem Fluß Befindlichen wohl zuerst das Gefühl
und die Konzeption einer allgemeinen, immer fortdauernden, in
sich geschlossenen menschlichen Entwicklung hervorgerufen, die
moderne Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie in
ihrer Eigenart geprägt hat. Man empfindet diese Geschichte des
Abendlandes wie einen Katarakt, wenn man in die stilleren Ge-
wässer des alten Vorderasien und Ägypten, des indischen und chi-
nesischen Ostens oder gar in die anscheinende Unbeweglichkeit
der sogenannten Naturvölker hineinsieht. Und doch, auch alle
diese anderen Lebenskörper haben ihr unerbittliches und unermüd-
lich fortgehendes, veränderndes Geschehen, ihre „Geschichte". Es
ist schon angesichts der Natur eine Engigkeit des Blickfeldes, nur

die für ihre geistig-technischeund alsdann praktisch-technische


Beherrschung von uns herausgehobenen Wiederholungen zu sehen,
die wir in unser schön gezimmertes System der Naturgesetze ein-
fügen, - während auch hier ein gewaltiger, nur menschlich be-
trachtet, ganz langsam fließender, durchaus einmaliger Ge-
schehens verlauf vorliegt, zu dem wir allerdings im ganzen nicht
dieselben Zugänge des unmittelbaren, intuitiven, inneren Ver-
stehens besitzen, wie zu dem menschlichen, d. h. unserem eigenen
Schicksal. Beim menschlichen Schicksal aber, das wir so stolz
heute als „Geschichte" von der „Natur" trennen, haben wir, wenn
wir überhaupt etwas davon verstehen wollen, eben vom Schicksal,
d. h. unbetont gesprochen, von der unaufhörlichen Wandlung aus-
zugehen. Überall, mag es sich um Naturvölker, Geschichtsvölker
im engeren Sinn, und hier um anscheinend um Jahrtausende stag-
nierende oder in rapider Bewegung befindliche, handeln. Das, was
*) Aus „Ideen zur Staats- und Kultursoziologie' 4 . Erschienen bei G. Braun,
Karlsruhe, 1930.

93
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

in dem ewigen Wechsel von Geburt und Tod, Erdkatastrophen,


Klimaverschiebungen, Vermehrung und Verminderung der Be-
völkerung, Wanderungen und Kampf um die guten Plätze, Herr-
schaft und Unterwerfung - dann auf höheren Stufen in dem
Prozeß der steigenden Beherrschung der Natur, des geistigen Sich-
Lösens aus ihren beängstigenden und beengenden Klammern, dem
dann überall einsetzenden Ringen der menschlichen Seele nach
einer ausdrückenden, aufnehmenden und erlösenden Symbol- und
Formenwelt in der sie umgebenden, in langsamerer oder schnellerer
Bewegung wechselnden Aggregierung des Daseins, was gegen-
über dieser unaufhörlichen Bewegung des geschichtlichen Lebens-
stoffs für das Begreifen und deutende Verstehen in den Vorder-
grund gestellt werden muß, ist viel mehr die Inkrustation 1 ), die

Fixierung und das Verbleiben der Lebensform in der Fixierung,


als die Veränderung; so wunderbar das erste stärkere Ingang-
kommen der eigentlich historischen Gesamtbewegung sein mag.
Es ist jedenfalls nicht ein Vorurteil des abendländischen Ak-
tivismus, sondern genuin aus dem Wesen der Dinge entnommen,
wenn wir Lebendiges gleich Geschichte und Geschehen setzen;
daran denkend, daß Piaton nicht ohne Grund das Aus-sich-selbst-
Bewegte als Seele bezeichnet, und daß die Lebenssubstanz, in
welche die Seele, die Gesamtseele der Völker nicht minder wie die
des Einzelnen, eingebettet ist, wie gesagt, sich in unaufhörlicher
Wandlung befindet.

Geht man nun bei der Betrachtung der Geschichte als mensch-
lichem Gesamtschicksal, dieser Grundvision entsprechend, tat-
sächlich von der inneren Bewegung aus und versucht, diese als
Einheit und gleichzeitig Vielheit der Gestaltung zu erfassen, so
stößt man auf eine außerordentlich mannigfaltige und kompli-
zierte Dynamik.
Diese Dynamik, die ich im vorigen Absatz in etwas schärferer
und ausführlicherer Form nach ihrem allgemeinen Charakter zu

*) Dies Bild nach O. Hintze über Troeltsch und Scheler in der Historischen
Zeitschrift, Bd. 135, 1927.

94
DISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

analysieren versucht habe, schafft die Unterlage, gleichsam den


Massenkörper, von dem alle historischen Schicksale, einmaligen
Leistungen, großen Gestalten getragen werden, aus dem sie auf-

steigen und in dem sie verschwinden. Jede Geschichtsschreibung


muß (oder müßte) von dieser Dynamik, ihren Regelmäßigkeiten,
Tendenzen und Strömungen Notiz nehmen, sie muß um die Massen-
qualität des Lebens, ihre universelle und partikulare Eigengesetz-
lichkeit wissen, um dann das Individuelle und Einzigartige, das
Große, das ihr Gegenstand ist, richtig zu begreifen. Sie wird sonst
das Gemälde des Daseins, das sie zu entwerfen hat, schwer anders
als stark subjektiv und gleichzeitig hintergrundlos, gewissermaßen
perspektivelos, ja letztlich weitgehend deutungsarm zeichnen. Es
ist das ein ontischer, d. h. sachlicher Tatbestand. Es sind zwei

S ach Sphären, die voneinander abhängen und aufeinander ein-


wirken: die Totalitätsbewegung und das große für die Allgemein-
heit wirksame, die Historie interessierende Einzelgeschehen, Ein-
zelsein und Handeln; - wobei das Bild des „Schwimmens" auf der
Totalitätsbewegung natürlich nichts als ein Bild ist, absolut keine
Aussage über das tatsächliche, dynamische, gegenseitige Wirkungs-
verhalten, von welchem später noch ein paar vorläufige Worte zu
sagen sein werden. Jedenfalls sind es nicht bloß zwei verschiedene
Arten der Betrachtung, wie die neuere Methodologie unablässig
hervorhebt, die aufs Individuelle und die aufs Gesetzmäßige und
Allgemeine gerichtete, welche das große Geschehen, den Gegen-
stand der Historie und jenes von Regelmäßigkeiten durchzogene
Gebiet der Gesamtbewegung, in das sie eingebettet ist, vonein-
ander trennen und miteinander verbinden. Sondern es existiert
eine ganz reale, handgreifliche, dinghafte Beziehung zwischen
beiden. Die große Geschichte ist eben „eingebettet" in solche
Regelmäßigkeiten. Wobei die Totalität und ihre Physiognomie,
jenes eben angedeutete Resultat des allgemeinen Wellenspiels,
aus dem das große Einzelereignis, das große historische Faktum
und die große Einzelgestalt hervorbricht, um darauf zurückzu-
wirken, wobei die Physiognomie dieser Totalität und ihre Be-
wegung selbst überall, das sei immer wieder festgelegt, in jedem
großen Geschichts verlauf einzigartig, auch individuell ist.
d. h.
Sie, diese in jedem Geschichtskreis besondere Physiognomie

95
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

des Allgemeingeschehens, gilt es zu erfassen und zu deuten, will


man auf der einen Seite über verhältnismäßig leere, weil abstrakte
Regeln des Generellen im Geschichtsverlauf herauskommen, die
weder dem Historiker etwas Wesentliches bieten, noch dem mit
der Frage seines eigenen werdenden Schicksals auf den Lippen an
die Geschichte herantretenden Laien. Und will man auf der an-
deren Seite die Fragen des letzteren nicht mit Antworten ab-
und flach sind, unzutreffende Analogien oder
speisen, die schief
lebensunverbundene Romantizismen, weil sie nicht aus einem Über-
blick in die Gesamtbewegung, aus einer Vertiefung in deren all-
gemeine Untergründe hervorgehen. Sie müßten geboren werden
aus einer Deutung und einem Verstehen, das, von daher in der Ge-
samtanalyse verbleibend, bis zum Verständnis der Physiognomie
des ganz konkreten Geschichtsverlaufs der verschiedenen Kultur-
kreise und Völker und der ganz konkreten, einmaligen Konstella-
tion eines historischen Augenblicks hinaufsteigt. Die Frage un-
seres eigenen Schicksals treibt uns zur Geschichte. Der bloß indi-
vidualisierende Historiker aber kann sie nicht allein beantworten.
Er braucht dazu die Hilfe eines Zweiten, des Soziologen, und zwar
in der genannten Art - wenn er nicht selbst gleichzeitig ein solcher
Soziologe ist.

II

Das Erste, Grundlegende, was der Soziologe oder die Soziologie


brauchen, wenn sie die Schicksalsfragen, mit denen jeder an die
Geschichte herantritt -jedes tiefere historische Interesse ist schick-
salhaft, sonst ist es nichtig, - so wie angedeutet, beantworten
wollen, ist, wovon ausgegangen wurde die Anschauung des Lebens
:

alsetwas ewig Strömenden, Bewegten, das Niemalsverlassen dieser


Grundvision. Dadurch, daß die akademische Soziologie der neueren
Zeit auch, man kann vielleicht sogar sagen, vor allen Dingen in
Deutschland, diese Grundvision zu sehr aus dem Auge verloren
hat, ist ein guter Teil von ihr lebensfremd geworden. Sie ist weit-
gehend hineingeraten in ein vielleicht schätzenswertes Systemati-
sieren und niemand satt macht, ein Aufzeigen
Katalogisieren, das
von allerhand Formen und Zusammenhängen ohne einleuchtende

96
DISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

Lebensbedeutung, in der Abkehr von dem Versuch des Umgrei-


fens und Analysierens des ganzen Lebensstroms jedenfalls un-
fähig, auf Lebensfragen Antwort zu geben.
Wir aber fragen heute wie gesagt Wo befinden wir uns im ge-
:

schichtlichen Strom ? Wir fühlen seine Strudel, wie es das Alte


zerbricht, die Klippen, die uns umgeben, glauben Einöden zu sehen,
in die er uns vielleicht führen will, meinen die untergründigen
Töne Gewalten zu hören, seine scheinbar unbeein-
seiner tieferen
flußbar, unlenkbar uns tragende Trift zu empfinden. Wir wollen
wenigstens einigermaßen zu erkennen versuchen: welchen Ele-
menten der Bewegung sind wir im weiteren Fortgang so gut wie
unabänderlich unterworfen ? Welche können wir ändern, wo kön-
nen wir eingreifen, nach welcher ungefähren Richtung können wir
lenken ? Wir haben das einzigartige Glück eines historischen Zeit-
alters, mit nahezu grenzenlosen szientifischen Mitteln uns geistig

wie im Flugzeug über diesen Geschichtsstrom erheben zu können,


ihn von seinen für uns sichtbaren Ursprüngen her und in allen
seinen Verzweigungen verfolgen zu können, die Kräfte, die in ihm
wirken, die Bedingungen, an die er jeweils gebunden war und ist,
und die Art, in der er auf sie reagiert, kennenzulernen. Wir haben
die Möglichkeit, uns zu orientieren, die erste und entschei-
dende Bedingung des Handelns in einer komplizierten, gefähr-
lichen und unübersichtlichen Situation, wie die ist, in der wir uns
fühlen. In früheren, einfachen Zeiten und Verhältnissen konnte
man instinktiv handeln. Der auserlesene Einzelne wird es auch in
der heutigen Lage wohl noch vermögen. Uns anderen aber ist jene
Orientierung ein Bedürfnis für das allgemein kulturelle, das po-
litische, ja sogar das ganz persönliche Handeln.
So ist Geschichtssoziologie notwendig als eine Fortsetzung, in
gewissem Maß ein Ersatz der aus derselben psychischen Lage
stammenden Geschichtsphilosophie. Es ist weitgehend gleich-
gültig, wie man das, was sie will und tut, wissenschaftssystema-
tisch klassifiziert und nominiert. Der Platz, auf den man sie ran-
giert, ändert nichts an ihrem Gehalt. Entweder dieser ist schal,

sie selbst inihrem wissenschaftlichen Wollen vielleicht unvoll-


ziehbar; ist sie, wo sie auch steht, bloßes Gerede. Oder ihr
dann
wissenschaftliches Handeln ist mit lebensvollen Fragen gefüllt

97
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

und vermag wenigstens einen Teil von diesen zu beantworten.


Dann bleibt das so, auch unter dem Anathema irgendeiner wissen-
schaftssystematischen Schulweisheit, die sie verdammt. Jedenfalls
unmittelbar brennenden Lebensfragen zu ihrem bescheidenen
Teil zu dienen, das soll ihre Aufgabe sein. Es gibt Wissenschaft der
reinen Freude des Erkennens, -frewgia im letzten und höchsten
Sinn beim großen geistigen Handeln und Schauen, positivistische
Einzelfeststellung beim Kleineren und Kleinen. Hier aber soll es
sich um Beiträge zu existenziellen Fragen, also um existenzielle
Wissenschaft handeln, um ein Untersuchen und Erkennen, das
sichbewußt in den Dienst der geistigen Lebensnot stellt, zu den
ganz gemeinen „Tagesfragen" etwas tieferer Qualität in einer ver-
worrenen und undurchsichtigen Umwelt eine Orientierungshilfe
zu liefern versucht.
Von diesem Standpunkt aus ist es ein wenig lächerlich, in wel-
cher Art man sich darum gestritten was Soziologie sei und
hat,
heißen was sie nicht sei, ob sie überhaupt existiert oder nicht
soll,

existiert, und wie Systematik, Klassifikationen und Definitionen


von ihr ganze Bücher füllen. Statt daß man handelt, um material-
wesentliche Probleme anzugreifen, gleichgültig, in welches wissen-
schaftliche Schubfach man dabei gerät. Bilde Künstler, rede
nicht! möchte man jener wirklich reichlich großen Schar von
Leuten zurufen, die über Soziologie schreiben, statt sie zu treiben
und dadurch, - gleichgültig nun, ob das gegenüber dem bestehenden
Wissenschaftsapparat und in ihm etwas Neues oder nur die mit
etwas anderer Fragestellung ausgestattete Ausübung von etwas
Altem ist, - eben die Lösung dieser neuen Frage zu fördern.
Es ist demnach nicht mehr als ein einfacher „Vorschlag zur
Güte", in Wahrheit eine Sache sechsten oder siebenten Ranges,
gewissermaßen eine wissenschaftliche Garderobenangelegenheit,
wenn hier empfohlen wird, das wissenschaftliche Handeln, dessen
Ursprung und Absicht skizziert wurde, Geschichts- oder Kultur-
soziologie als innere Strukturlehre des Geschehens zu nennen, in
dem Bewußtsein, daß es die Fragestellung der früheren Ge-
schichtsphilosophie aufnimmt, diese nur mit etwas anderen, mit
mehr empirischen, mehr der positivistischen Methode entlehnten
und dadurch - es gibt vorerst kein an-
Mitteln zu lösen versucht

98
DISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

deres passendes Wort dafür - in irgendeiner Art Soziologie wird.


Soziologie insofern, als man LebeiiBzusammenhänge, eine Struktur,
ein Zusammen in einem Gesamt und dessen allgemeines Resultat
zu ergreifen sucht.

III

In eine vorgestellte Gesamtsoziologie - das


sei ohne jede gewich-

tige Betonung und lediglich um eine Anlehnung an die übliche


Terminologie und eine Orientierung an derselben zu suchen, noch
einmal gesagt - würde sich dies wissenschaftliche Handeln dann,
wie schon früher gesagt, etwa so eingliedern Das, was man heut :

a potiori Soziologie nennt, die Analyse der Formen des gesellschaft-


lichen Zusammenlebens, würde, am besten wohl als „Gesellschafts-
lehre" bezeichnet, ein Teilgebiet sein. Das Teilgebiet, welches das
allgemeine geschichtliche Lebensinkrement, das von uns als „Gesell-
schaftsprozeß" herausgehoben ward, allein betrachtet, seine
Formenlehre, unter Umständen, soweit es zweckmäßig und
förderlich ist, in isolierender Betrachtung, seine selbständigen,
immanenten Entwicklungstendenzen beim Vorherrschen eines be-
stimmten, triebmäßigen oder psychisch-ideellen Kräftespiels gibt -
die scientia dieser Teildynamik des Lebensganzen. Die heutige
Volkswirtschaftslehre, die Lehre von wirtschaftlichen und gesell-
schaftlichen Entwicklungsstufen, die Lehre von der Politik, soweit
sie reine Macht- und Organisationslehre ist, ein großer Teil der
Sozialpsychologie, die Analyse eben alles dessen, was man neuer-
dings ganz gut das Gebiet der „Realfaktoren" des geschichtlichen
Prozesses genannt hat 1 ), gehört dann hierher. Ohne daß - darauf
ist großes Gewicht zu legen - nach unserer Meinung und Absicht
dieAnalyse dieser Realfaktoren, die Analyse des Gesellschafts-
prozesses überhaupt jemals bis zum Ende in der isolierenden Be-
trachtung verbleiben darf. Sie muß immer münden und wird für
manche Strecken der Geschichte am besten überhaupt stets ein-
getaucht bleiben müssen in ein gleichzeitiges phantasiemäßiges
Umspannen und Analysieren des geschichtlichen Gesamtprozesses
und dessen Wirkungs- und Wesensgesamtheit.
1
) Scheler.

99
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Was wir hier wollen und Geschichtssoziologie zu nennen vor-


schlagen, betrifft diese Totalität, das Gesamt des geschichtlichen
Lebens. Es analysiert dies mit allgemeinen Kategorien, löst es in
solche zunächst auf, immer aber im Bewußtsein dessen, daß diese
Kategorien: Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kultur-
bewegung, wenn sie auch ontisch verschiedene Kräftegebiete und
deren Bewegungsformen bezeichnen, doch im Leben eine untrenn-
bare Einheit darstellen, nur für dessen besseres Verständnis ge-
danklich einmal getrennt werden. Ihre Trennung soll das Verständ-
nis ermöglichen, für das, was wir historisch-soziologische
Konstellation nennen, d. h. die jeweils aus der besonderen Art
des Zusammenspiels der Kräfte der drei Sphären sich ergebende
Lage. Es wird also versucht, über die übliche Gesellschaftslehre
hinausgehend, um es noch einmal gegen alle Mißverständnisse zu-
sammenzufassen, den Verlauf der Struktur der Geschichte derart
nach seinen so gemeinten soziologischen Konstellationen zu analy-
sieren, daß verständlich werden nicht bloß einzelne, isolierte oder
durch die Betrachtung zu isolierende Entwicklungstendenzen,
nicht bloß einzelne Formtypen und deren Wiederholung und Auf-
einanderfolge in ihm - das wesentliche, bisher als legitim betrach-
tete Leistungs gebiet der Soziologie -, sondern seine Gesamtphysio-
gnomie in bestimmten Perioden und in den verschiedenen Ge-
Einfügung großer Einzelphänomene in diese -
schichtskreisen, die
womöglich der Charakter der Gesamtsituation und ihrer Hand-
lungsbedingungen, die sich aus dem Zusammenfluß aller ver-
schiedenen Geschichtsströme in der unmittelbar uns umschließen-
den Gegenwart für uns ergeben.

IV

Nenne man das, wie man wolle; wichtiger als diese Etiketten-
einem gewissen Grade wissenschaftlich für die Exi-
frage, ja bis zu
stenzberechtigung eines solchen Unterfangens entscheidend ist,
daß man sich über dessen methodische Grundlagen klar wird, um
das dabei notwendige wissenschaftliche Handwerkszeug richtig
anzuwenden. Denn nur, wenn man seine Instrumente kennt, kann

100
DISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

man sie richtig verwerten. Und nnr, wenn man sich gleichzeitig
über die Absicht, die man verfolgt, ganz deutlich ist, ist man vor
Entgleisungen und Überforderungen an das, was geleistet werden
soll, sicher.

Zur Absicht noch, auch wiederholend man glaube nicht, es solle


:

versucht werden, mit den Beiträgen zur Gegenwartsorientierung


„Kulturprognosen" zu stellen, oder etwa in der heute allzu stark
beliebten Form eine konstruierte Gesamtgeschichtsübersicht von
Adam bis zu Lenin und Mussolini zu bieten. Endend etwa mit dem
in diesem Fall bösartig pessimistisch werdenden Spruch So mußt :

du (künftige Geschichte) sein, dir kannst du nicht entfliehen; mit


einem Geschichtsorakel also, das aus irgendwelchen weltumspan-
nenden Homologien oder Analogien entwickelt wird. Die Ge-
schichte als Ganzes hat mit Analogie und Homologie nichts zu tun
und sie kann in ihrem wesentlichen Gehalt aus solchen auch weder
zusammengesetzt noch begriffen werden. Sie ist in jedem ihrer
und neu, und was aus der schöpferischen Kraft der
Teile einzig
Menschen zusammen mit der unversiegt schöpferischen Natur
künftig entspringen wird, ist Geheimnis. Nur Verstiegenheit läßt
denjenigen fortgesetzt an dem
Schleier der Zukunft zerren, der
eine vollständige Antwort über deren allgemeine Züge erhalten
oder mit Hilfe einer Diagnose gar selbst geben will. - Bloße Orien-
tierung in der Gegenwart vielmehr mit Hilfe eines Überblicks
darüber, „wie es geworden", ist unsere Absicht.
Die Methode ist dabei intuitionistisch und synthetisch. Sie ist
aber gleichzeitig bewußt analytisch. Ebenso bewußt allerdings hat
sie nichts mit dem Versuch einer irgendwie erschöpfenden histo-
rischen Kausalerklärung zu tun; bestehe diese nun in dem indivi-
dualisierenden Aufbau von Gesamttatbeständen und Einzelur-
sachen oder der bewußt oder unbewußt isolierenden Verfolgung
von allgemeineren Einzelkausalreihen und ihrer Bedeutung. Es ist
hier gleichgültig, wie man 6ich generell zum Kausalitätsproblem
und zur Kausalitätserklärung stellt, welch letztere in ihrem Rang
für die Aufhellung des unlebendigen Kosmos, ihrem bisherigen
Hochgebiet, ja zur Zeit so problemum woben geworden ist, während
sie für die verstehbare, die lebendige, also auch die geschichtliche

Welt, als methodisches Verdeutlichungsmittel wohl immer be-

101
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

stehen bleiben wird. Denn die in dieser wirkenden verstehbaren


Zwecke, Affekte, Triebe, Wollungen sind eben als „Ursachen" des
Geschehens erstklassige Mittel für dessen Begreifen. - Ganz gleich-
gültig aber, daß dies so ist, nirgends wird hier bei diesen geschichts-
und kultursoziologischen Versuchen unternommen werden, dies
kausalgenetische Triebwerk des historischen Geschehens, wie es
G.Troeltsch genannt hat, dieses unerhört verschlungene Flechtwerk
aufzulösen, in seinen Einzelsträngen zu verfolgen und dann daraus
das Gesamtbild wieder aufzubauen. Diese Methode, die für das
Verständnis relativ einfacher, z. B. ökonomischer Tatbestände in
gewissen Grenzen unzweifelhaft ihre Berechtigung hat, die der
Historiker in starken Abbreviaturen, Vergröberungen und mit
vielen Willkürlichkeiten für seine Eigenorientierung, vielleicht
auch für seine Darstellung (unter Verwendung des von Max Weber
so genannten „kausal nomologischen Alltagswissens") bei der Be-
handlung von historischen Einzelvorgängen und Einzelschick-
anwenden muß, diese Methode
salen wohl oder übel auch irgendwie
würde vollständig versagen, wenn wie hier darum handelt,
es sich
deutend dem Verlauf des historischen Gesamt geschehens nahe-
zukommen, geschichtliche Totalkomplexe in ihrer Physiognomie,
deren Ausstrahlungen, Möglichkeiten und der Art des in ihnen vor
sich gehenden Lebensprozesses zu erkennen. Hier kann das un-
mittelbar intuitive Erfassen ergänzt, korrigiert, erweitert, ver-
tieft werden nur durch eine Analyse, die bei großen, selbst noch
sehr komplexen Gesamttatbeständen und deren Zusammenwirken
stehen blieb, bei zusammengesetzten Phänomenen, die doch in
ihrem Wesen, ihrer Eigenart, der Besonderheit ihres Inhalts und
ihrer Bewegungsform als Teil des historischen Gesamt Vorgangs
unmittelbar evident sind. - Es ist überflüssig, den Zivilisations-
prozeß, ist er als Konstante des historischen Vorgangs einmal er-
blickt, als Phänomen entdeckt, in seine Einzelakte zu zerlegen.
Es kommt nur darauf an, ihn in seinem Wesen, seiner Unumkehr-
barkeit, der Summierungstendenz seines Inhalts, der Expansions-
tendenz seines Eingreifens zu erfassen, von irgendeinem histori-
schen Punkt sich über die, aus seinem Wesen unmittelbar folgen-
den allgemeinen Bedingungen seines Gesamt- oder Teilfortgangs
deutlich zu werden, über den Inhalt der Stufe, bis zu der er ge-

102
DISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

langt und von der aus er weiterschreitet; alsdann hat man die
ist

eine Komponente der Analyse. Ebenso behandelt man die an-


deren, wenn auch etwas variierend. Man untersucht die Gesell-
schaftsstruktur eines Geschichtskreises, einer Zeit, eines Volkes,
die Art, in der die naturalen Trieb- und Willenskräfte des Lebens-
stroms in Gesamtformen gebannt sind, fragt wieder nach den Be-
dingungen, aus denen das verständlich wird, nach den Tendenzen
der Bewegung, Umformung usw. Man stößt dabei auf Schritt und
Tritt auf die Einwirkungen der technischen Seite des Zivilisations-
prozesses, welcher die äußeren Mittel der Formung zur Verfügung
stellt, auf der anderen Seite aber auch auf formende seelisch-
geistige Prinzipien, also auf Einwirkungen der kulturellen Sphäre.
Die Verbundenheit Sphären wird in jedem Augenblick
aller drei

klar, was ihre getrennte Untersuchung nicht hindert. Man kann


schließlich die kulturelle Sphäre, das ergibt sich alsbald bei aller
Sonderung, überhaupt nur verstehen als einen seelisch-geistigen
Ausdrucks- und Gestahungswillen in dem von den beiden anderen
gebotenen Stoff, einer Aggregierungsfonn des Daseins, die man,
um Wort zu prägen, als „Lebensaggregie-
irgendein technisches
rung" bezeichnen kann. Unter ihr ist dann, um es zu wiederholen,
verstanden nicht bloß die körperliche, aus Gesellschaftsgestalt und
Technizismus folgende Umwelt, sondern auch das mindestens eben-
so wichtige Reich der das Dasein erfüllenden geistigen Objekte und
Aufhellungen. Eine Welt im Sinn dieser Einteilungen durchaus
komplexer Gebilde, welche das Resultat des geistigen Teils des
Zivilisationsprozesses, des vorhandenen inneren und äußeren Auf-
hellungsgrads in einer meist formal unlöslichen Verbindung mit
Resultaten eines früheren Kulturausdrucks, mit der religiösen,
metaphysischen, künstlerischen, ideellen Struktur der vergangenen
Epoche darstellt. - Die Analyse der dritten, der kulturellen Sphäre,
und die Situation, die für sie vorliegt, wird also noch viel weniger
als die der beiden anderen in irgendeiner wirklichen Isolierung oder

gar als Kausalverfolgung der Antriebsreihen eines selbständigen


Entwicklungsbereichs vollziehbar sein. Vielmehr umgekehrt: Hat
man das Wesen der kulturellen Emanationen überhaupt einmal
erfaßt als eine Dynamik zwischen der seelischen Substanz und
ihrer Spontaneität und der historisch bereits in bestimmter Form

103
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

inkrustierten oder nicht inkrustierten Lebensaggregierung oder,


weiter gefaßt, „Welt", so ist klar: man mag den Zivilisationsprozeß
und seine Resultate gedanklich noch leidlich isolieren, denn diese
Resultate sind immer menschlich allgemein, im menschlichen
Sinn notwendig und bestehen auch außerhalb ihrer historischen
Einbettung nur für sich. Wie man ja, wenn man will, die ganze
menschliche Geschichte einfach auf den Rang einer Gewährung
von Bedingungen für einen einheitlichen, tellurischen, in sich
selbst ruhenden zivilisatorischen Fortgang herabzudrücken ver-
mag. - Man wird schon Gesellschaftsstruktur und Gesellschafts-
prozeß, indem man sie als die Bindung und Formung der Trieb-
und Willenswelt begreift, stets nur gedanklich, nie in ihrem
Resultat, ihrer tatsächlichen Formenwelt isolieren können, denn
diese ist, ganz abgesehen von der Abhängigkeit von einer be-
stimmten äußeren Zivilisationshöhe, wie schon bemerkt, in jeder
historischen Situation ausgesprochen mit das Resultat der see-
lisch-geistigen Formung der Triebwelt einer früheren Periode oder
der untersuchten. Man braucht nur an die „Stadtwirtschaft", die
„Grundherrschaft" des Abendlandes als Beispiele zu erinnern.
Immerhin kann man hier Gestaltungstendenz und Bewegungs-
richtung und Art noch wenn auch nur für ganz bestimmte
leidlich,
Zeiträume, in ganz konkreten Geschichtsrayons und -abschnitten
als in sich selbst ruhend betrachten und so untersuchen. — Die

Analyse der kulturellen Sphäre aber besteht augenscheinlich in


lauter Verdeutlichungen der Situation, in welcher die stets schöp-
ferische seelische menschliche Kraft bei ihrem nach Verbindung
von „Seele" und „Welt" ringenden Gestaltungsbedürfnis - um
etwas in Wahrheit letztlich nur metaphysisch Deutbares einmal
ganz äußerlich auszudrücken - in der exakt vorher nach ihrer
zivilisatorischen und gesellschaftlichen, sowie historisch-kulturellen
Qualität zu untersuchenden Lebenssubstanz steht.
Das sind die soziologischen Konstellationen und ihre Wand-
lungen im Geschichtsprozeß, die klarzustellen sind. Methodisch
gesprochen geschieht das durch die Konstatierung funktionaler
Zusammenhänge großer, in sich verbundener Lebensgebiete, die
als Phänomen genommen, als Phänomen verstanden, und deren

Wandlung und Bewegung nur aus ihrem Verstehen und ihrer Deu-

104
p ISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

tung'alsGesamtphänomene dem Begreifen nähergebracht werden


kann, dassie dann nach ihrer exakten Gestalt untersucht und in

ihren Bedingungen klarstellt und gleichzeitig damit das Be-


dingungsnetz umreißt für die seelische Spontaneität, die ihnen
gegenübertritt.

Natürlich hat das nichts mit dem Versuch irgendwie erschöp-


fender Kausalerklärung zu tun. Die Kulturphysiognomie wird in
hoffentlich etwas verbesserter Form aus genauer untersuchten
und ergänzten Bedingungen verständlich zu machen gesucht. Sie
soll nur zu irgend etwas mehr als einem Phänomen gemacht wer-

den. Sie selbst ist niemals die Ursache von irgend etwas, sondern
ein Ausdruck und ein Rahmen, in den das Einzelne sich einfügt.
Jede Emanation ist ihr Teil, ein „Gesichtszug" in ihr. Sie selbst
konnte nur einmal in dieser Art aus der Geschichte hervorgehen,
da sie das Resultat einer ganz bestimmten, einmaligen Konstella-
tion ist, deren historisch-soziologische Teile eben aufzuklären sind.
Die historische Einzelpersönlichkeit, das Schicksal, der ge-
44 44
schichtlich wesentliche „Zufall , das eigentliche „Geschehen
bleiben demnach in ihrem Recht. Sie werden nur in die ganz kon-
krete Daseinsstruktur gestellt, in der sie wirken, aus der sie her-

vorgehen und der sie verbunden sind. Nirgends aber wird ver-
sucht, etwa eine allgemeine Regel aufzustellen über das Verhältnis
der geschichtlich bedeutsam werdenden Persönlichkeit zum histo-
rischen Massenstoff, den historischen Massenbedingungen und
ihrer Leistung. Dies \ erhältnis wird nach der jeweiligen histo-
rischen Gesamtphysiognomie ganz verschieden sein, verschieden
auch selbstverständlich nach der Natur und der Aufgabe der
großen Kräfte. Ein reizvolles Unternehmen vielleicht, die hier auf-
tretenden Abwandlungen zu gruppieren. Eine allgemeine Regel
kann wenig wie für Geschichtsphysiognomie und
es nicht geben, so
Qualität und Art der menschlichen Begnadung. Außer der ganz
einfachen, eine Bedeutung aber nur durch die individualisierende
Konkretisierung erhaltenden: wie auch das geschichtlich Bedeut-
samste immer nur denkbar, ja nach einer gewissen Richtung nur

105
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

verstehbar ist in Verbindung mit der Gesamtphysiognomie sei-

ner Zeit, oder eines weiteren oder engeren Bestandteils derselben,


so auch alles sonstige Einzelne.
Der historische Zufall, oder - dieser von einer tieferen Seite ge-
sehen - das Geheimnisvolle der historischen Schicksalsvorgänge,
wird nicht auszumerzen versucht. Nur das geschieht: so wie
die persönliche, große geschichtliche Kraft (aus vorhandenem,
natürlichen Stoff gestaltet, in natürliche Bedingungen gestellt)
bei ganz verschieden großem Ausschlag ihrer Wirkung als Einzel-
kraft, doch gebunden bleibt an jene größere allgemeine
stets
Struktur, die wir analysieren wollen, so ist auch jeder noch so ka-
priziöse Zufall, jede noch so einzigartige Schicksals wendung ge-
fügt in eben dies Gesamt, in dessen Züge sie hineinpassen muß,
dessen angelegtes Bewegungsspiel sie stärker oder schwächer aus-
drückt und unterstreicht. Oder sie ist historisch bedeutungslos.
Und die Erfassung des „Wesens" einer Geistesströmung, einer
Persönlichkeit, und was es auch an Individuellem in der Ge-
schichte gibt? Sie ist stets ein Sprung in ein Zentrum, eine Tat
der Intuition. Aber vielleicht können wir Soziologen hier Hilfs-
stellung leisten. Nicht nur für die Erfassung von Kollektivitäten
(Geistesströmungen, Sozialstrukturen usw.), deren Deutung ja
als Teil der Kulturphysiognomie unmittelbar zu unserem Beruf
gehört, sogar manchmal für Erfassung von Persönlichkeiten, die
uns eigentlich gar nichts anzugehen scheint.
Denn stets wird, glaube ich, die soziologische Durchdringung
der Lebensaggregierung, aus der ein geschichtliches Phänomen,
eine Kulturströmung, auch ein Mensch heranwächst, für deren
Erfassung wirken etwa wie eine geistige Zernierung. Ist man mit
den Laufgräben von allen Seiten möglichst weit heran, so wird
man leichter und sicherer in die Festung springen. Vielleicht, daß
man sonst überhaupt nur ins Vorgelände gelangt oder, im Inneren
sich bewegend, nicht weiß, welches eigentlich der Raum und die
Figurationselemente der Gestalt sind.
Denn das sonst allein mögliche Kriterium einer guten Wesens-
erfassung, die unmittelbare Evidenz des gegebenen Bildes ver-
möge des widerspruchslosen Sicheinfügens und tieferen Verstehens
aller „wesentlich" (d. h. wesensbedeutsam) erscheinenden Einzel-

106
DISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

züge durch ihre Erfassung von einer Mitte her, krankt, prinzipiell
gesehen, daran, daß es bedenklich tautologisch ist. Was wesens-
bedeutsam, also wesentlich ist, kann doch schließlich immer erst
von der Wesenserfassung selbst her bestimmt werden, ist einfach
korrelativ dazu. Sodaß ein Zurück- und Vorschieben der verschie-
densten Einzelzüge möglich ist, je nach dem Objekt in geringerem
oder größerem Maß, oft aber von großer Willkür. Ein guter Teil
der Ruhelosigkeit aller historischen Interpretation beruht gerade
darauf. So unbedenklich das nach einer Richtung ohne weiteres
hinzunehmen ist, insofern Wesenserfassung Hinabsteigen in eine
Tiefe bedeutet und daher von einem ganz verschiedenen Gelingen
nach dieser Richtung abhängt - so wenig man demnach gegenüber
jeder genialen Leistung, mag diese Gesamt verlaufe, Persönlich-
keiten oder was sonst betreffen, ein Pedant der Methode sein darf,
so ist doch andererseits das Herauskommen über die problema-
tische Tautologie des obengenannten Kriteriums wünschenswert.
Dies aber wird, wie mir scheint, durch die vorher beschriebene
soziologische Einkreisung erleichtert, welche eigentlich erst die
Lebenssubstanz ganz klarstellt, in der das einmalige Wesenhafte
der historischen Erscheinung, das, sofern kulturell, letztlich immer
an einem Seelenhaften verankert ist, arbeitet und sich manifestiert.

VI

Wohl klar: was auf dem hier umrissenen Boden in der vorher
auseinandergesetzten, bewußten Stoff- und Aufgabebescheidung
versucht wird, ist von dem großen Werk Max Webers prinzipiell
getrennt durch verschiedene entscheidende Dinge.
Max Webers Geschichtssoziologie - es ist bislang die einzige
ganz große deutsche, die auf der Beherrschung der Fülle des heu-
tigen historischen Materials ruht - beabsichtigt reine Erkenntnis.
Hier aber wird an die Geschichte bewußt von Gegenwartsproble-
men aus herangetreten, mit der klaren Erkenntnis der eventuellen
wissenschaftlichen Bedeutungseinschränkung der Resultate, die
daraus in gewissem Maß folgen kann. Dort rein und nur Arbeit
am Kontinuum menschlichen Wissens überhaupt, mag der per-

107
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

sönlicheAnstoß kommen woher immer. Daher überall die bis zur


nach der „Objektivität", der all-
letzten Präzision gestellte Frage
gemeinen Aufzwingbarkeit der Resultate. Wobei allerdings in eigen-
tümlicher Paradoxie schließlich überall immer wieder der „Ge-
sichtspunkt" als das Formungsprinzip des Wissens herausspringt,
der „Gegenstand der Erkenntnis" also weitgehend etwas von der
Fragestellung gewissermaßen „Fabriziertes" wird. Ein tragisches
Sichselbstverletzen jenes Objektivitätsdrangs, sofern „Objektivi-
tät" mehr als eine relativierte Formung festgestellter Tatbestände
sein soll.
Wir verzichten in manchem Betracht bewußt auf jene letzte
wissenschaftliche Dignität. Es wird nicht in allen Punkten jeder-
mann unbedingt Aufzwingbares erstrebt. Für die Gesamtdeutun-
gen vor allem nicht mehr als eine leidliche Evidenz. Exakte Be-
weisbarkeit nur für die Grunddaten, z. B. Struktur der Gesell-
schaft, erreichte Stufe des Zivilisationsfortgangs usw.
Das geschieht letztlich deswegen, weil wir glauben, daß Objek-
tivitätim Max Weberschen Sinn, exakte „Richtigkeit" nicht wei-
ter reichen kann, als bis zum Aufbau des Skeletts ebensolcher
Grunddaten wie angeführt, denen gegenüber man in einer wesent-
lich äußeren faktischen Form fragen kann War es so ? War es
:

nicht so ? Jedes komplizierte Lebensgebilde, vorwiegend seelisch-


geistig determinierter Art, jeder undurchsichtigere Lebens-
zusammenhang solcher Qualität kann, das würde Max Weber
übrigens auch zugeben, immer nur einfühlend ergriffen und ver-
standen werden. Er zieht daraus die Konsequenz einer Reduktion
der Unsicherheit des bloßen Einfühlens und der Intuition, welche
in ihren letzten Konsequenzen diese selbst als Erkenntnismittel
für weite Lebensbezirke allerdings tatsächlich aufhebt. Für uns ist

sie,wie die ganzen methodischen Darlegungen zeigen, ein nur zu


kontrollierendes, durch zerlegende und synoptische Methode zu
emendierendes Letztes. Es erscheint wichtiger, ein Gesamt oder
irgendwelche Phänomene als Teile eines Gesamts leidlich adäquat
zu erfassen, als diese Totalität begrifflich definitiv zu zerstören,
zugunsten einer zerlegenden Erkenntnis. Eine solche aber ist und

bei einer solchen bleibt bewußt Max Webers Reduktion. Was dann
natürlich leicht dazu führen kann, daß man als letztes Resultat

108
DISKUSSION ANDERER STANDPUNKTE

eine Fülle sehr wertvoller Begriffsschematenund eine ebenso große


Fülle von denkbaren oder wirklichen Kausalbeziehungen zwischen
den Teilen des Lebensganzen in der Hand behält, aber nicht mehr.
Der Wert des von Max Weber geschaffenen soziologischen Be-
griffsapparates, der in „Wirtschaft und Gesellschaft" niedergelegt
ist, ist ungeheuer; so gewiß in vielen seiner Teile aus dem Ziel
möglichst reiner idealtypischer Begriffsformung (durch Über-
steigerung oder Isolierung) ein etwas zu weitmaschiges Netz für
die Unterbringung des Stoffs entstanden sein mag, wenn man die
Begriffe an etwas ganz Konkretes zu dessen Charakterisierung
heranträgt. In der Religionssoziologie ist in gegliederter Form ge-
waltiger Lebensfluß in seinem Zusammenhang gegeben - weit-
gehend unter Überspringung der eigenen methodischen Maximen.
Der ganze Reichtum dieser einzigartigen Übersichten hätte unter
unserem Gesichtspunkt von Max Weber trotzdem erst ausge-
schöpft werden können, wenn er sich nicht der „Objektivität" zu-
liebe oder aus anderen Gründen im Ziehen der Folgerungen letzt-
lich immer wieder bewußt auf Teilvorgänge, vor allem den der
„Rationalisierung" eingeschränkt hätte.
Nur ein Teil von dem, was mit der hier erörterten Methode
eruiert wird, kann, wie gesagt, in die kühle Region der dort an-
gestrebten Objektivität hineinreichen. Das beruht - eine andere
Ausdrucksweise für dieselbe Sache - zum mindesten soweit alles
Kulturelle in Betracht kommt, auf dem Bewußtsein vollkommener
Wertgebundenheit des wissenschaftlichen Handelns, das nur ver-
langt von denen anerkannt zu werden, die sich in gleichartiger
Wertgebundenheit fühlen. Jedes Wort über „Größe", „Wesen",
„Vollkommenheit" setzt das voraus. Ein Stück „Identitätsphilo-
sophie", allerdings nicht im Schellin gschen Sinn, aber doch in dem
einer nur im Bewußtsein gespaltenen Einheit des Seins, die doch
im Rahmen des Bewußtseins wiederhergestellt werden kann - dies
ist wohl der Begriff der Evidenz - steht allerdings dabei irgendwie

im Hintergrund, wovon hier nicht näher gesprochen werden kann.


— Das Hegt weit ab von der letztlich kantisch transzendentalen Ein-
stellung Max Webers, die ihn ganz notwendig beim Ringen um
Objektivität erkenntnismäßig zu einer sehr bewußten, durch-
gehenden Präferenz des Rationalen im Deutbaren geführt hat.

109
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

Mit diesem Unterschied fällt der weitere zusammen, der die bei
Max Weber vertretene, angewandte individualistisch-soziologische
Methode betrifft, die allein von den sozialen Absichten, Einstellun-
gen und Reaktionen der Individuen her die gesellschaftliche Struk-
tur und ihre Bewegung, und schließlich, soweit sie hineingezogen
werden, auch überpersonale Lebenstatsachen betrachtet. Diese
Methode ist für uns hier unanwendbar. Ihre Ablehnung aus Welt-
anschauungsgründen wäre lächerlich. Sie leistet z. B. für die Auf-
klärung der Wirtschaftszusammenhänge, wie ich glaube, sehr viel.

Von Max Weber ist sie selbstverständlich nicht vermöge einer


Weltanschauungsposition, sondern aus Gründen methodischer
Exaktheit gewählt. Aber sie ist für uns hier nicht zu verwenden,
weil wir komplexe Gesamtheiten in ihrer Komplexheit durch-
leuchten wollen, bewußt sie dabei als Einheit belassend, da unsere
ganze Absicht auf das leidliche Verständnis unauflösbarer, im
Kern durchaus irrationaler, historischer Kollektivitäten in ihrer
Einheit gerichtet ist, große, zusammengesetzte Gesamtphäno-
mene, die von unendlich vielen individuellen Kausalreihen
heterogenster Art durchzogen sind, die uns nichts angehen.
Insofern, aber in der Tat nur insofern, wird hier, wie gesagt, uni-
versalistisch gearbeitet. Natürlich ohne irgendeine Aussage dabei
über die ideelle Präferenz von individualistischer oder kollekti-
vistischer Einstellung im Leben.

110
C. Gestalt- und Wesensanalyse, nicht Sinndeutung der
Geschichte 1 )

Es gibt eine Einstellung zur Welt, zur Natur, zu Leben und Ge-
schichte, die hinter den Dingen und Vorgängen ihren „Sinn" zu
fassen sucht; diesen „Sinn" nicht ahnend und intuitiv als ein Un-
aussprechbares verstanden, sondern als eine klare Erkenntnis, ein
ausdrückbares Etwas. Ihr muß die Welt letztlich in ihrem Zentrum
intellektueller Geist sein, Logos, der emaniert, dem man sich

nähert, und dem man auch den letzten Tiefenlagen, im Zentrum


in
mit menschlichem Intellekt gewachsen ist, den man ergreifen und

also beherrschen kann. Wo „Gott" für eine religiöse Weltanschau-


ung sich befindet, da sitzt für sie ein Geistiges, mit dem menschlichen
Geist nach Art und nach Struktur identisch, daher von ihm versteh-
bar und in seinen Wegen deutbar. - Erkenntnis, das heißt für diese
Anschauung im Mittelpunkt der Welt sein, ist für sie Erlösung
vom bloß faktischen Dasein. Sie wird mit ihrem gesamten Wert-
gewicht sich auf einer Ebene hinter der Erscheinungswelt bewegen,
die Mannigfaltigkeit der Dinge von hinter diesen liegenden Posi-
tionen zu begreifen und zu deuten suchen und den Fortgang der
Geschichte in irgendeiner Weise als „geistige" Fortbewegung und
beinahe unentrinnbar dann als „Fortschritt" bewerten, das heißt als
eine in ihrer Rationalität durchleuchtbare Entwicklung mit einer
wertbetonten Bewegung auf ein Ziel. Die einzelne Erscheinung ist
bei dieser Einstellung in Gefahr, ihren Eigenwert zu verlieren und
ihn an den erkennbaren „Sinn" des Ganzen abzutreten. Das Ab-
solute wird ohne Distanz, direkt und ganz in Worten ausdrückbar
von ihr ergriffen.
Dies Absolute ist für eine zweite Daseinseinstellung als Totalität
des Welt- und Geschichtsprozesses durch den menschlichen Ver-
stand nicht ergreifbar, auch nicht als irgendeine zugängliche „Ver-
nunft" der Dinge faßbar. „Vom Absoluten im theoretischen Sinn
zu sprechen unmöglich" (Goethe). - „Meine Gedanken sind
ist

nicht eure Gedanken, meine Wege sind nicht eure Wege." Das
gilt für diese zweite Anschauung vom Weltprozeß, auch ohne daß

*) Aus „Der Neue Merkur", herausgegeben von Ephraim Frisch, Dez. 1923.

111
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

damit jene religiöse Einstellung zu seiner Mitte verbunden zu sein


braucht, aus der das letztereWort stammt. Die Verstandes- und
Vernunftkategorien des Menschen, erwachsen im engen Rahmen
seiner Existenz, sind dem Weltprozeß und seinem Wesen nicht
adäquat, sie reichen nicht zu ihm hinauf. Sie sind so wenig im-
stande, den „Sinn" des Weltganzen zu fassen, wie unsere An-
schauungskategorien fähig sind, das Universum räumlich oder
zeitlich zu umgreifen. Nach dem Sinn des Welt- und Geschichts-
im menschlichen Ver-
prozesses zu fragen, ist für diese Einstellung
stand ein - „Übersinn". Alles, was aus der letzten und tiefsten Da-
seinssphäre kommt und ihn in sie verflicht, ist für den Menschen
„Schicksal". Zu diesem Schicksal, das nicht „verstanden" werden
kann, gibt es nur die Brücke des Gefühls, der seelischen Erfahrung.
Sie ist der einzige Weg zum Transzendenten. Diese Daseinsein-
stellung muß, wenn sie nicht im Offenbarungsglauben mündet oder
in ihm nicht mehr enden kann, das Absolute und die Erlösung vom
bloß Faktischen in der Wertwelt des Absoluten dort suchen, wo es
unmittelbare seelische Verbindung zum Absoluten gibt, das heißt
dort, wo es in der Erscheinung „transzendiert". In der Erscheinung
transzendiert das Absolute in einer für den Menschen zugänglichen
Form sowohl dort, wo es furchtbare und zerstörerische, im letzten
partikularisierende Gestalt annimmt, wie dort, wo es vollendetes
Gesicht, faßbare Gestalt für sein tiefstes seelisches, letztlich immer
universalisierenden Gehalt besitzendes Sehnen annimmt, durch
das er sich mit dem Ewigen eins fühlt. Es kann als solches uni-
versalistisch Positives transzendieren im Erhabenen, im Heiligen,
im Schönen, in jedem Ideellen, in jeder großen und vollkommenen
Gestalt. An die Gestalt hält sich der Mensch, der diese Daseins-
erfahrung und Daseinseinstellung besitzt. Sie ist ihm im Ver-
gänglichen das Gleichnis und das Gesicht des Absoluten.
Ich unterlasse zu fragen Welche Lebenshaltung aus ihr in einer
:

Zeit folgt, in welcher im eigenen Kulturbereich jede seelische Ge-


genwartsgestaltung aufgelöst erscheint, die alten, früheren Aus-
drucksformen entleert und fremd geworden sind, in der die see-
lische Gestalt zudem die Naivität und Selbstverständlichkeit als
Ausdrucksform verloren hat, die „Erscheinung", in welcher das
positive Absolute sichtbar wird, in einer unerhörten Vielfalt aller

112
ANALYSE KONTRA SINNDEUTUNG DER GESCHICHTE

Zeiten und aller Zonen auf den Erfahrungs- und Erlebnisraum


eindringt und die Symbol weit der Geschichte uns wie ein riesiger,
polyphoner Chor umringt, - in der die Erscheinung des Absoluten
also relativiert scheint und das Absolute selber für die mensch-
liche Erfassung damit aufgehoben zu sein scheint, sofern man
nicht doch versucht, den als unmöglich abgelehnten Weg der
ersten Einstellung zu gehen, es durch ein eigenes Transzendieren
hinter die Erscheinung in seiner Essenz und seinem Wesen „sinn-
haft" zu erfassen. Ich unterlasse die Beurteilung der Frage, ob
diese Zeit der Formverwirrung, des Panszientismus und Panhisto-
rismus, wenn metaphysisch panlogistisch wird, nicht not-
sie nicht

wendig in seelisch-geistigem Relativismus psychischer Heimat-


losigkeit, persönlich wahllosem Herumschmecken, charakterloser
Haltlosigkeit und Schwäche und also Legitimierung der allge-
meinen Auflösung der Gehalte enden muß.
Es kann, wie schon von vorneherein und immer wieder hervor-
gehoben wurde, nicht die Aufgabe dieser Prinzipien sein, welche
als innere soziologische Strukturanalyse gemeint sind und als

eine solche genommen und beurteilt werden sollen, die Antworten


auf diese Existenzfragen zu geben.
Aber: So sehr die vorgeschlagenen inneren Strukturprinzipien,
wie wir hoffen, objektiven Gehalt besitzen, der allgemeine An-
wendung zuläßt, ja von sich her fordert, so sieht man doch - das
zeigen auch diese letzten Betrachtungen, die noch einmal dem uns
bewegenden Ziel gelten sollten, bei dessen Verfolgung die Prinzi-
pien sich als notwendiges Handwerkszeug ergaben - : dieses unser
wenn man es einmal mit Wesens- und Gestaltdeutung zu
Ziel ist,
umreißen sucht, im Gegensatz zur objektiven Sinndeutung der
Geschichte, nicht ganz entfernt von einer Sinnfrage ans Dasein,
vielmehr ist es nur eine andere Art derselben. Die Art nämlich, die
fragt: ist heute Sinnerfüllung in Gestalt- und Wesensformung
möglich ?

Und wir hoffen, daß sich das Handwerkszeug, das als allgemein
verwendbares dafür im Text erarbeitet ward, als geeignet er-
weisen wird, der Antwort, die wir in der Wesens- und Gestaltver-
wirrung von heute zu geben haben, etwas von ihrer nicht ganz zu
tilgenden Subjektivität zu nehmen. Es soll eine Sinnantwort sein,

113
SPEZIELLE BELEUCHTUNG DER PRINZIPIEN

und Gestalterhaltung
die etwas Positives über die heutige Wesens-
mitenthalten möchte und zwar auf Grund objektiver soziologi-
scher Prüfung der Bedingungen dafür. Das Nähere darüber in
einer späteren Schrift.

114
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN 1
)

EIN BEISPIEL DER ANWENDUNG DER METHODE

Einleitung: Der Typus der kulturellen Konstanz

Am Kulturprozeß des antiken Babylonien und Ägypten ist vom


heutigen Blickpunkt das Auffälligste der produktive Stillstand,
man kann auch Durch un-
sagen, die produktive Repetition.
geheure Zeiträume, zweieinhalb Jahrtausende und mehr, ein Kon-
tinuum, das für den ungeschulten Blick heute wie eine gegen die
Zeit unempfindliche, gleichartige Masse erscheint, ein riesiger,
gleichförmiger Lavastrom aus einer ersten Zeit großen mensch-
lichen Kulturwollens. Wir graben ihn heute aus, schleppen in anti-
quarischer Barbarei seine Stücke in unsere Museen; den Besucher
aber, der nicht in die Geheimnisse des Deutens eingeweiht ist,

sehen dort die Dokumente seelischen Erlebens aus dem Jahre 3000
mit dem gleichen starren, fremden Blick an, wie die von 1000 Jah-
ren oder noch einem weiteren Jahrtausend später. Sie erscheinen
ihm nach innerer Haltung, technischer Leistung und künstleri-
schem Ausdruck gleich Niederschlägen eines langen Ahnenzeit-
alters der Menschheit, in dem diese noch wie in die geometrische
Naturgewalt des Steines eingebannt scheint, die Zunge ihr noch
nicht gelöst ist, die Hand noch nicht gelenkig, die Phantasie noch
nicht befreit, die Seele noch in ein Gefängnis eingesperrt.
Natürlich ist das nur das erste Schülerlatein des Aufaehmens.
Wir haben diese zunächst so fremden Chiffren lesen gelernt. Und
indem wir in ihre Algebra eingedrungen sind, ist unserer Armut
und Tiefe dieser Do-
nicht nur der seelische Reichtum, die Größe
kumente aufgegangen. Wir bewundern nicht nur ihre Gedrungen-
heit, Geschlossenheit und Monumentalität, so weitgehend, daß
wir schon versucht sind, sie nachzuahmen. Wir erblicken nicht

*) Aus dem Archiv für Sozialwissenschaft Bd. 55 Heft I. Ich habe für Baby-
lonien Adam Falkenstein (Heidelberg) für freundliche neuerdings gewährte Rück-
sprache zu danken.

115
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

nur höchstes Können in ihnen, eingebannt in eine mit großen, ein-


fachen Worten sprechende gehobene Form. Hinter der Maske der
Starrheit bemerken wir und
plötzlich Bewegtheit, mannigfaltiges
reiches Leben, Naivität und Skeptizismus, Frische und Pessimis-
mus, unverletzte Kraft und angefressene Morbidität, die ganze
Skala unseres eigenen Seelenlebens. Jugend, Reifsein und Altern,
ja letztes Überaltern und In-sich- versinken sind da. Die großen
Linien unseres eigenen historischen Daseins oder anderer geschicht-
licher Kulturprozesse, vorweggenommen in einem ersten großen
Vorgang. Eine starke Nähe, und nicht bloß die des Kenners,
scheint eingetreten, derart, daß Stücke dieses Kulturkreises, wie
man weiß, tägliche Gefährten unserer Bildungsschicht geworden
sind.
Und doch ist für jede kultursoziologische Betrachtung von je-
nem ersten Eindruck auszugehen. Es besteht, trotz aller Brücken,
die wir schlagen, eine abgrundtiefe Fremdheit des Gesamtwesens,
das in diesen Dokumenten zum Ausdruck kommt. Etwas wie der
Sphinx von Tanis, das majestätisch-königliche, gleichzeitig aber
sprechend nahe menschliche Gesicht gebannt in einen Tierkörper,
mit riesigen Ohrlappen, merkwürdig stilisierter Kragenmähne,
mit wildem Fell und ungeheuren Pratzen, ist die Ausgeburt einer
seelischen Welt von beinahe einem anderen Planeten - so sehr
man die symbolische Steigerung des übermächtig Herrscherlichen
darin bewundern mag — , eines Sternes, wo Tier und Mensch in
einer uns völlig fremden, beinah grauenhaften Art verbunden sind,
die uns barbarisch vorkommt. Unendlich fern. Ganz wie die
umgekehrten Bildungen, in denen Menschenleiber in Kühe-, Löwen-
oder Vogelköpfe auslaufen. Ganz wie die Königsgesichter tragenden
geflügelten Menschenstiere oder -löwen und andere Mischge-
stalten Babyloniens, alle jene Figuren, die uns die Griechen erst
vermenschlicht haben, und von denen wir manche heut gedankenlos
als leergewordene Dekorationsstücke unserer modernen Existenz
noch fortbenutzen. Wenn wir aufs Ganze, Eigentliche und Innere
sehen, so schließt sich vor jedem babylonischen Dokument, vor
jedem großen ägyptischen Monument für uns erneut der Vorhang.
In stein- und erdgebundener Starrheit aufgebaute Kolosse mit
merkwürdigen Zeichen sehen uns wieder an, unzugänglich und un-

116
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

verständlich in ihrer letzten Wesensart ; selbst Zeichen einer Welt,


in der das tiefste Sein der Menschen an ganz anderer Stelle lag,
als wir das kennen, das Verhältnis von Natur und Mensch ein an-

deres war, als unseres, umweht von einem Hauch von Urweltlich-
keit, die in sehr paradoxer Art mit hohem Können und einer uns
oft nah berührenden Menschlichkeit, ja Verfeinerung gepaart er-
scheint.
Wollen wir dieser Welt derart nahe kommen, daß wir nicht bloß
eine Mimikry an uns leicht zugänglichen Teilen von ihr vollziehen,
sondern sie als Ganzes ergreifen, so ist zunächst von ihrer Fremd-
heit auszugehen und diese als ein Ganzes zu begreifen 1 ).
Wir knüpfen am besten an das eingangs genannte Auffälligste,
an die starre und doch auf eigentümliche Weise immer wieder nu-
ancierende und variierende Art der Emanation des Seelischen in
den vorhandenen, durch die Jahrtausende gehenden Dokumenten
an, eben das, was ich die produktive Repetition nannte. In unauf-
hörlicher Wiederholung wird durch alle Zeitalter das gleiche dar-
gestellt, in gleichem Stil und gleicher Haltung. Dabei, das ist das
Wunderbare, erlahmt die Phantasie in dieser ganzen Zeit nicht.
Am wenigsten dort, wo wir die Abwandlung ihrer Niederschläge
am genauesten verfolgen können, in Ägypten. Sie sucht immer
wieder eine andere, neue Wendung für den Ausdruck des Unver-
änderten. Immer wieder frisch an derselben Aufgabe, die sie in
denselben Formprinzipien lö6t, ohne Langeweile zu kennen und
ohne sich in ihrer leise modifizierenden Erfindungskraft zu er-
schöpfen. Hätten wir die bilderreichen Dokumente aus der Eu-
phrat- und Tigrisebene auch nur in annähernd gleicher Ausbrei-
tung wie aus dem Niltal, so würde uns trotz aller Abstufungen und
Modifikationen zwischen Sumer-Akkad, Altbabylonien, Neubaby-
lonien dort sicher dem Typ nach das gleiche Bild entstehen, wie
wir es heute gut übersehbar für das alte Ägypten erkennen.
Man könnte mit allen ägyptischen Kulturemanationen exempli-

*) Hier scheidet sich der Weggegenüber einer gewissen Art vor allem mo-
derner Ägyptologie, die ganz nnd gar moderne Perspektiven in diese fremd-
artige frühe Welt trägt nnd damit, wie uns scheint, ihr Wesen nicht trifft. So
etwa Joachim Spiegel in dem geistvollen Aufsatz: Die Phasen der ägyptischen
Geistesgeschichte. Saeculum I. 1950.

117
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

fizieren. Ich will kurz begründen, warum ich mich zur Verdeut-
lichung, gleichzeitig zur leichteren Nachprüfung, vorerst auf die
bildende Kunst beschränke, vor allem die ägyptische Literatur
hier zunächst beiseite lasse. Diese Literatur ist nur in Bruch-
stücken vorhanden, sofern sie nicht schematisches kultisch-ritu-
elles Dokument ist. Hat ein größeres profanes Schrifttum existiert,
so ist es mit dem gebrechlichen Papyrus in den langen Zeiträumen
doch im wesentlichen untergegangen. Und trotz allem, was Erman
in seinem schönen, die erhaltenen Dokumente, die ja auch im we-
sentlichen Bestattungsbeigaben darstellen, sammelnden Buche 1)
sagtund mitteilt, ragen von dem, was wir so kennen, nur ganz
wenige Dinge, vielleicht die großartig pessimistischen „Lehren des
Amenemhet" nach der Katastrophe des ersten Reiches, die an-
schaulich und tief gefärbten Schilderungen des damals überstan-
denen Chaos in den „Mahnungen des Ipuwer", das aus derselben
Zeit stammende berühmte „Gespräch des Lebensmüden mit sei-
ner Seele" und aus der Zeit des neuen Reichs der Sonnenhymnus
Echnatons in das Gebiet der wirklich großen Literatur, - in das
Gebiet der Weltliteratur, die das Unvergängliche aufbewahrt, wohl
nur jenes Gespräch des Lebensmüden durch seine unvergeßlichen
Formulierungen hinein. Alles sonst Vorhandene ist, wenn nicht
volkstümlich simple Erzählung oder einfaches Lied - in dieser
Qualität so interessant oder uninteressant wie irgend etwas an-
deres derart aus der ganzen Welt -, geschraubtes, für Lehrzwecke
verwandtes Schrifttum, mag es nun immer wieder abgeschriebene
Weisheitslehren darstellen oder moralisierend höfische Erzählung
oder bloße Stilübung irgendeiner Art sein. Es ist alles sehr charak-
teristisch für Geist und Wesen des Gesamtägyptertums, wenn man
dessen Kern einmal erfaßt hat, aber doch nur als ein Schnörkel zu
betrachten, dessen Bedeutung und Verhältnis zum Ganzen man
erst aus dem großen Zug der geschichtlichen Handschrift erkennt,
der an den Dokumenten einer ganz anderen Sphäre besser aufzu-
finden ist.

Das große Gebiet, an dem wir die Gestaltungsprinzipien und


ihreAbwandlung bis in die Nuance durch die Jahrtausende rück-

x
) Die Literatur der Ägypter. 1923.

118
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

greifend abzutasten vermögen, bleibt die bildende Kunst. Sie ist


gleichzeitig, da ihre Zeichen sichtbar geronnenes Leben sind, das
Unmittelbarste und für die Deutung Sicherste von allen 1 ).
In einem ungewöhnlich schönen Buch 2 ) hat Ludwig Curtius
das alte Ägypten hier interpretiert. Zum erstenmal ist das dabei
in extenso durch jemanden geschehen, der seinem Wesen nach ein

x
) Anders steht es mit der exemplifikativen und Weltbedeutung für den
sumero-babylonischen Geschichtskreis. Hier liegen schön geformte kosmologi-
sche und anthropologische Mythen vor, die in merkwürdiger Art sowohl das ur-
sprünglich uralte chthonische Bewußtsein des jahreszeitlichen Wechsels und
seineBedeutung in gereinigter mythischer Form widerspiegeln (Ischtars Fahrt
zur Unterwelt) und möglicherweise aus sumerischer Zeit stammen. Ebenso
höchst wunderbar aus mittelbabylonischer Zeit (Hammurabi) der mythologische
Abglanz des Kampfes der vaterrechtlichen Formung mit der chaotisch-chthoni-
schen (Kampf Marduks mit Tiamat). Und es ist im Gilgamesch-Epos ein erster
großer Beitrag zur epischen Weltliteratur geliefert, der in der vollendet ab-
geschliffenen und komponierten Schlußform nicht datierbar ist (weil nur aus der
Bibliothek Sardanapals so erhalten), der aber in großen Partien sicher auch aus
mittelbabylonischer Zeit (also etwa 1800/1700 v. Chr.) stammt. - Verglichen mit
der im Ganzen schematisch bleibenden bildenden Kunst ist hier eine wirkliche
literarische Abspiegelung der Seele in ihrer Lebensgebundenheit, Freundschafts-
verstricktheit, ihrerBeziehung zum Weiblichen und ihrer alles übergreifenden
Angst vor dem Tode vorhanden. Aber eine geschichtliche Stufenbehandlung ist
wegen der mangelnden Datierungen unmöglich. Man besitzt weitaus das meiste
nur noch in der bibliophilen Spätsammlung des Sardanapal und weiß nicht
exakt, was früh und was späte Überarbeitung ist, - so phänomenal früh die
Grundkonzeption und die Grundthemen, im historischen Licht betrachtet, sind.
Vielleicht daß aus der Entzifferung der ungeheuren Massen noch unberührter,
vor allem sumerischer Tontafeltexte sich eine Art von allgemeiner Chronologie
einmal ergibt. Jedenfalls aber, wenn für eine historische Periodisierung, wie sie
uns hier interessiert, nicht brauchbar, so zeigt diese „Literatur** doch auch die
phänomenale Stabilität der Produktionsrichtung und Art. Denn immer wieder
ist offenbar am Altgegebenen nur ziselierend geformt und der erreichten Bewußt-
seinsstufe entsprechend das paraphrasiert worden, was aus der ersten sumeri-
schen und babylonischen Zeit vorgegeben da war. Und derart ist diese hier im
übrigen übergangene Literatur eine starke Bestätigung unserer These von der
repetierenden, durch die Jahrtausende reichenden, inneren und formalen Un-
veränderlichkeit der Kultur als Ganzem. Neuerdings sind wesentliche solcher
mythologischen Texte leicht zugänglich in dem Buch von Francis Jordan, In
den Tagen des Tammuz, Piper 1950.
2 Ludwig
) Curtius, Die antike Kunst I, Ägypten und Vorderasien, im Hand-
buch der Kunstwissenschaft von Brinkmann.

119
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Künstler ist; zum erstenmal reden daher die alten Kunstwerke in


allen verschiedenen Schattierungen und Werten durch ihre Maske
die Sprache des Menschlichen, zugleich des Schönen. Zum ersten-
mal erleben wir, wie in einem Roman, das Schicksal der ägyptischen
Seele in ihrem steingewordenen Ausdruck. Wir erkennen den Fort-
schritt, die Höhe des technischen Könnens, die Wandlung des
Ausdruckswillens und der auszudrückenden geistigen Substanz,
den inneren Szenenwandel und den Wandel der zur Verfügung
stehenden Mittel. Aber trotzdem sich dadurch wie in einem großen
Epos, soweit es möglich, das Geronnene in Bewegung auflöst und
das Fixierte, Fremde und Erstarrte redet, ist doch das Resultat
die klare Konstatierung der ungeheuren Konstanz, der Stileinheit,
der immer gleichen Chiffre.
Mit dem ägyptischen Grabdenkmal, der Pyramide und der
Architekturformung des Tempels ist die dazu gehörige, in allen

ihren großen Leistungen stets nur ein Unterglied von all dem blei-
bende, bildende Kunst fixiert in dem ersten Jahrhundert der
ersten Einigung des Reiches, ist ihr niemals wieder verlassenes
Stilprinzip gefunden schon zur Zeit der bekannten Stele des „Kö-
nigs Schlange", die „aus der unmittelbaren Nachfolge des Menes,
des Begründers des einigen Ägypten, aus den ersten Jahren des
3. Jahrtausends", stammt. Wir erblicken, wie gesagt, von daher
bei Curtius mit stärkster Kraft die große Linie der inneren Be-
wegung der ägyptischen Kunst, ihren Ausgang von der Naivität,
Frische und Derbheit des alten Reiches, ihr Wandern durch die
pessimistische Tiefe und durch den notgedrungen brutalen Macht-
willen der großen Könige des mittleren zu der hohen Klassizität
der Bildwerke des neuen, zu „ihrer von der größten äußeren Ruhe
getragenen Souveränität, die von stärkster innerer Leidenschaft
erfüllt ist", zu ihrer, wie man gern sagen möchte, lächelnden Be-
wußtheit, die Natürlichkeit und Konvention verbindet. Wir sehen
das durch die Jahrtausende fortgehende Ansteigen des Könnens,
das immer neue Bereiche des Seelischen in den Raum des pla-
stischen Ausdrucks bringt, mit immer neuer Vertiefung und Ver-
feinerung der inneren Perspektive. Wir lernen den Fortgang von
der breitenund unpersönlichen Erzählung der Reliefs des alten
Reiches kennen zu der charakterisierenden und persönlich ab-

120
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

getönten des nenen. Wir gelangen bis zur Darstellung feinster Ner-
vosität, klassischer und absichtsvoller Nacktheit und sehen in den
Frauenbildnissen die Fortbildung von undurchgearbeiteter, dörf-
lich anmutender simpler Schönheit zur Finesse des höfischen
Raffinements und der sichtbarsten 6eelichen Kompliziertheit.
Und doch: in den entscheidenden Prinzipien, — selbst den
Durchbrach der Periode Echnatons nicht ausgenommen, von dem
unter unserem Gesichtspunkt später besonders zu handeln sein
wird -, trotz alles so unendlich verschiedenen und von den Schick-
salen der Jahrtausende durchgearbeiteten inneren Lebens niemals
das Verlassen der einmal gewonnenen starren Chiffre, der Stein
gewordenen Hieroglyphe, das heißt der buchstabenartig
festen, einmal am Anfang der Jahrtausende ausgeprägten Haltung.
Niemals in den großen Bildnissen die Loslösung der Arme vom
Leib, ein der Natur entsprechendes Schreiten, ein frei bewegter
Körper; niemals ein Aufgeben des Prinzips der starren, teils mu-
mienhaften, teils architektonalen Frontalität. In den so große
Teile des Erhaltenen umfassenden Reliefs, die, wie Curtius richtig
sagt, steinerneHomeriaden sind, man könnte sagen, Novelle und
Idyll dazu, und die tatsächlich das ganze Leben, vor allem der
ältesten und neuesten Periode mit einzigartiger Anschaulichkeit
und Detailliertheit vor uns ausbreiten, niemals das Verlassen des
Prinzips ängstlicher Flächenhaftigkeit und Komplettierung, die
uns vor allem immer in unnatürlicher Verrenkung beide Schultern
und das ganze Auge der seitlich agierenden Personen zeigen. Die
wichtigsten Gegenstände nicht im Profil, sondern möglichst mit
Aufklappung ihrer Fronten auf die Fläche gelegt. Der Vorgang
nicht nur ohne Perspektive, sondern überwiegend auch ohne Ein-
heit des Bildes vorgebracht. So daß das Ganze uns immer trotz
aller hohen Kunst im einzelnen wie die Bilderzählung eines Kindes
anmutet, das uns die Einzelvorgänge und Gegenstände als wort-
ähnliche Daten eines Gesamtvorgangs vermittelt, nicht als Ge-
samtgegenstand unserer künstlerisch nachkomponierenden Blick-
phantasie. Kurz, nie gebrochene Starrheit und anscheinende
Kindlichkeit der Ausdrucksformen als unentwegt mit größter
Exaktheit festgehaltenes Stilprinzip, das seine Primitivität auch
in den endlos gleichförmigen Wiederholungsreihen der Widder und

121
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Spinge, der Massenanhäufung der Bildnisse desselben Königs an


den gleichen Denkmalen, der brutal wirkenden türm- oder bastion-
artigen Verwendung von Menschenleibern als Architekturteile
(Memnons-Kolosse 16 m, Wächter von Ipsambul 20 m hoch), im
Literarischen in dem entsprechenden simplen Parallelismus der
Glieder und dergleichen zum Ausdruck bringt.
Nicht die Grenzen des Könnens verhindern das Heraustreten
aus diesen Schranken, die immer bestehen bleiben und in der letz-
ten saitischen Periode ja beinahe noch pedantischer beachtet wer-
den als in gewissen dazwischen liegenden Zeiten. Dort, wo die
Kunst sich in unoffiziellen Genredarstellungen ergehen kann,
kleine Statuetten und figürlich gebildete oder ausgestattete Ge-
brauchsgegenstände schafft, scheint sie sie manchmal plötzlich zu
„vergessen", springt sie bis zu völliger Natürlichkeit und Bewegt-
heit hinüber, geht sie im Relief sogar auf perspektivisch verein-
fachende Blickwirkung. Und wer diese naturalistische Kleinkunst
vor allem der letzten großen Zeit betrachtet, dazu das ganz außer-
ordentliche gleichzeitige naturalistische Können im Porträt
nimmt, das ja nur immer wieder eingebannt wird in die offizielle
Haltung, dem kann nicht zweifelhaft sein der stereotype und an-
:

scheinend primitive Habitus des Stils und Gesamtausdrucks be-


ruht nicht auf technischem Unvermögen. Die Bewegtheit und
Freiheit des Ausdruckes, die wir seit den Griechen kennen, die uns
seitdem selbstverständlich gewordene volle und gelöste Gestalt-
haftigkeit hätte eintreten können, wenn nicht eine geheimnisvolle,
nicht im Können liegende Hemmung fortgesetzt bestanden hätte,
so am Ende wie am Anfang.
Es ist ein bestimmtes Wollen, das die Kunst, die wir hier als
symptomatisches Gebiet der kulturellen Emanation umreißen, in
diesen Formen festhält, sie, wie in einen Eisblock eingefroren, in
dieses Hieroglyphenhafte durch alle Zeiten einsperrt.
Woher kommt dies Wollen ? Wie erklärt sich gleichzeitig die un-
erschöpfte Produktivität in seinen Grenzen ? Wie das Fehlen jeder
Langeweile und jedes Überdrusses bei der durch die Jahrtausende
gehenden ewigen Wiederholung ? Wie das Ende der Produktivität
in einem bestimmten Moment, als noch das alte Ägyptertum als
solches weiterbestand, wir aber - es ist die saitische Periode um
122
das alte Ägypten und babyloxien

650 - eine Verdünnung, eine auch wesenhafte Schematisierung


und dann plötzlich das Versiegen des inneren Quells bemerken ?
Der Kunsthistoriker antwortet auf die Frage der Konstanz und
zur Erklärung der ,, buchstabenähnlichen Typik", wie er sie nennt,
indem er sagt: ,,Man fürchtet, rührt man das als kanonisch er-

klärte Resultat (der Stilbildung) einmal an, die ganze, in unermüd-


lichem Ringen gewonnene Sicherheit des Systems zu verlieren."
Der Allgemeinhistoriker und der Geschichtsphilosoph spricht für
das Phänomen des Untergangs der Produktivität vom „Altern".
Das erste ist augenscheinlich eine Antwort aus der Technik, die
Deutung eines befremdlichen Phänomens aus der Wirkung - man
möchte beinahe sagen - ateliertechnischer Gesichtspunkte. Die
zweite ist in Wahrheit gar keine Antwort oder — vorsichtiger ge-
sagt - sie bedarf erst einer Interpretation. Denn das Altern von
Völkern ist zunächst eine Metapher. Man muß sich erst verstän-
digen, was darunter eigentlich gemeint ist.

Mir scheint, beide Antworten genügen Wahrheit


nicht. Es ist in

bei beiden ein Zwischenglied ausgelassen zwischen den Phäno-


menen und ihrer Deutung. Ausgelassen ist die Berücksichtigung
der soziologischen Struktur des Daseins, oder ich will vorgreifend
genauer sagen, die Berücksichtigung der soziologischen Konstel-
lation, innerhalb deren die zu betrachtende Kultur entstanden
ist, dauernde Fortwirkung und Bedeutung dieser Konstellation.
die
Hier setzt meine Theorie ein und die Anwendung des Hand-
werkzeuges, das ich in den Einleitungsaufsätzen zurechtgelegt habe.
Ich spreche dort von ,,Lebensaggregierung 4i , Konstanz der Le-
bens aggregierung und ihrer Bedeutung für den Kulturausdruck
einer Geschichtswelt. Lebensaggregierung ist, wie gesagt, dabei
verstanden als die gesamte Umwelt des Seelischen, die sich ergibt
aus der gesellschaftlichenund technischen äußeren Lebensformung,
aus dem sie und das sonstige Sein durchdringenden und ordnenden
Welt- und Ichbild und aus den im jeweiligen historischen Mo-
ment lebendig vorhandenen inneren Formungselementen des Da-
seins, die der Kulturprozeß geliefert hat - aus diesen Faktoren und

aus ihrer gegenseitigen Wirkung aufeinander.


Ich behaupte nun, die Geschichte des alten Ägypten und Ba-
bylonien ist gekennzeichnet durch eine phänomenale Konstanz

123
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

dieser so verstandenen Lebensaggregierung, durch eine unauf-


hörlich wirksame Repetitions- und Wiederherstellungstendenz
derselben, sobald sie einmal zu zerfallen droht oder zerfällt. Und
diese Repetitionstendenz, die der Grund der Konstanz und der
Repetitionstendenz des kulturellen Ausdrucks ist, entspringt
ihrerseits aus der Tatsache, daß diese beiden alten Kulturen ihren
Formcharakter und ihren Inhalt aus einer bestimmten, ein-
maligen soziologischen Anfangskonstellation ihres Ent-
stehens, einem bestimmten Ineinanderwachsen der Sphäre des
Gesellschaftlichen, des Zivilisatorischen und Kulturellen in einem
bestimmten historischen Moment erhalten haben.
Es muß das Thema dieses Versuches sein, dies einigermaßen
einleuchtend auszuführen, um von dort zunächst die Stilstarrheit,
die Art des lebendigen Fortarbeitens in ihr, das plötzliche Altern,
dann aber aus den Gestaltungsmanifestationen auch, soweit es
geht, das fremdartige Gesamtwesen selbst zu erfassen. Jeder der-
artige theoretische Versuch hat nur einen Annäherungswert. Er
ist nur eine Art des Aspektes, durch den man die Phänomene zu

klären sucht. Er schließt nicht andere Aspekte aus, sondern stellt


lediglich die Dinge in eine bestimmte Beleuchtung, in der man ihre
Physiognomie und damit vielleicht auch einen Teil ihres Wesens
deutlicher erkennen kann.
Ich gehe, weil es am einfachsten ist, vom Äußeren der Ge-
schichte 1 ) und der damit zusammenhängenden Art der jeweiligen
Gesellschaftsformung aus, ohne daß, wie sich zeigen wird, irgend-
ein Wirkungsprimat für diese gesellschaftlichen Dinge damit ak-
zeptiert wird.

I. Geschiclusabriß ; Gründe des zeitlichen Primats

Es ist gut, sich immer wieder klarzumachen:


Die Geschichte der menschlichen Zivilisation beginnt in Ägypten
und dem Euphrat- und Tigrisbecken. Während der übrige Globus

*) Die grundlegenden zusammenfassenden historischen Werke sind bekannt-


von Hermann Hanke so vorzüglich neubearbeitete Werk von Erman:
lich das
Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum, ferner die Ägypten und Ba-

124
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

noch bedeckt ist von Nomaden, Halbnomaden, primitiven Acker-


bauern, von deren Existenz wir nur in ihren Tongeschirren,
Waffen, Gräbern und einigen Resten ihrer festen Plätze einen
sehr verflogenen Nachhall einer wahrscheinlich weit überwiegend
flüchtigen Lebensform besitzen, tauchen dort schon seit dem
4. vorchristlichen Jahrtausend Gemeinwesen auf, die einen durch-
gebildeten Kalender, eine festgefügte Zeiteinteilung, Schrift, ein
Beamtentum besitzen, das mit Hilfe dieser Schrift von zentralen
Stellen aus regiert, einen künstlichen Lebensapparat zudem in
einem Kanalsystem, von dessen richtigem Funktionieren das ge-
samte Dasein, die Frucht der Felder, die Speisung der Einkünfte
der zentralen Stellen abhängt, - kurz Staaten und Gesellschafts-
körper gegenüber aller Naturhaftigkeit durchaus bewußter, hoch-
rationaler Formung und Entwicklung. Das älteste Datum der
ägyptischen Geschichte ist das Jahr 2781/78, die Zeit, zu der (wie
man entgegen Eduard Meyer annehmen muß), der heute die ganze
Welt beherrschende Kalender des zwölfmonatlichen Sonnenjahres
in Ägypten eingeführt ward, damals, als den Ägyptern klar ward,
daß es zur bloßen bürokratischen Beherrschung der Arbeiten an
ihrem Kanalsystem zweckmäßig sei, die Zeit vom Beginn des An-
schwellens des Nils, das hieß für sie des Morgenaufgangs des Sirius
bis zur nächsten gleichen Siriuskonstellation in 12 gleiche Teile zu
30 Tagen und 5 überschüssige Tage zu zerlegen. Und damals waren
diese Ägypter schon so weit vom Naturhaften entfernt, daß sie die

Monatseinteilung des Jahres aus rationalen Zweckmäßigkeitsgrün-


den vom Mondumlauf, von dem sie natürlich für alle Naturvölker
ausgegangen ist, ablösten. Ja, sie sind so weit gegangen, ihre Jahres-
einteilung überhaupt vom Naturverlauf zu lösen, als sich heraus-
stellte, daß das Sonnenjahr einen Vierteltag mehr als 365 habe.

Ihr „bürokratischer Frühling", der nach dem jedesmaligen Ablauf


von 365 Tagen einsetzte, ist in ihrer Geschichte mehrmals durch
ihr ganzes Jahr gewandert, da der wirkliche ihm immer erst um
einen Vierteltag später folgte, bis er nach 1460 Jahren wieder ein-
mal mit ihm zusammenfiel. Soweit waren sie zivilisatorisch schon
bylonien betreffenden Abschnitte in Eduard Meyers Geschichte des Altertums.
Popularisierend: Breasted, Geschichte Ägyptens (deutsch von H. Ranke 1911).
Die neuere Literatur über Ägypten siehe bei Spiegel a. a. O. S. 70 f.

125
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

vom Natürlichen losgelöst. — Es ergibt sich auch aus anderen Do-


kumenten, daß jedenfalls am Anfang des 3. Jahrtausends vor
Christi Geburt in Ägypten und merkwürdigerweise ungefähr in
gleicher Zeit, vielleicht etwas früher, im Euphrat-Tigrisbecken
erstmals auf der Erde jene zivilisatorisch- gesellschaftliche Her-
auslösung der menschlichen Existenz aus der Natureinbettung
vollzogen ward, deren Umrisse vorhin in einigen Andeutungen
skizziert sind.
Wenn man sich klar ist,daß damit an diesen beiden Stellen der
Grund gelegt ward für alles, was man seitdem menschliche „Ent-

wicklung" genannt hat, d. h. für einen vom Rhythmus des immer


gleichmäßig wiederkehrenden Naturverlaufs unabhängigen Fort-
gang des Geschehens, in das der Mensch nun eintrat, so tritt die
Frage: Woher diese Grundtatsache der Geschichte an dieser
Stelle und zu dieser Zeit ? auf die Lippen. Zwischen 15000-20000
vor Christi Geburt scheint es eine sog. Magdalenienkultur gegeben
zu haben, deren Rudimente wir in Stein Werkzeugen und in jenen
merkwürdig hochstehenden Höhlenmalereien kennen, die aber die
darauf folgende Eiszeit fortgeschwemmt hat. Es ist nicht unbillig
anzunehmen, daß Tausende von Jahren nötig waren, bis der Mensch
sich von jener furchtbaren Erdkatastrophe soweit erholt hatte,
daß er, über die Steinperiode hinauskommend, zur Ton- und Me-
tallverarbeitung gelangen konnte, die man dann im 4. und 3. Jahr-
tausend über große Teile der Erde verbreitet findet. Die ägyp-
tischen Gräberfunde des 5. Jahrtausends sind noch fast metallos.
Warum nun vom Ende dieses und im 4. Jahrtausend der Fort-
schritt zur Met allVerwendung und warum zu Beginn des 3. der
noch viel wesentlichere zur zivilisatorischen Apparatgestaltung
des Daseins in jenen beiden Stromgebieten eintrat, gehört in die
Wanderungs- und Überschichtungs- und damit die äußere Struk-
turlehre der Geschichte, die wir hier nicht verfolgen. Aber daß
gerade hier an diesen beiden Stellen der Erde diese Urtat der
menschlichen Geschichte geschehen ist, die bald am Indus und
später am Hoangho nachgebildet ward, das läßt sich verstehen.
Das Niltal und das Euphrat- und Tigrisbecken sind die beiden
einzigen nahe beieinander gelegenen, in der Möglichkeit gegensei-
tiger technischer Befruchtung stehenden subtropischen Fluß-

126
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

schwemmgebiete, bei denen eine verhältnismäßig geringe kanali-


sierende Regelung des Wassers, also eine mäßige Rationalisierung
der menschlichen Bestellungsarbeit ungeheure Vermehrung des
Ertrags, eine geringe, auf Gedankentätigkeit und systematischer
Zusammenfassung ruhende Umformung der Arbeit einen ganz
enormen Lohn versprach. Das Niltal mit seinen riesigen, wohl ein-
zig dastehenden Überschwemmungsunterschieden, seinen frucht-
baren Schlammfluten, zu deren vernünftiger Ausnutzung in der
trockenen Periode man unter der heißen, ewig hellen Sonne
geradezu von der Natur aufgerufen wurde, wohl noch mehr als
das Euphrat-Tigris- Schwemmland. Jedenfalls: In beiden Fluß-
schwemmgebieten brauchte man nur auf den Gedanken plan-
mäßiger Bändigung der jährlichen Fruchtbarkeitsgewässer und
ihrer Überführung auf die verhältnismäßig leicht zu bestellenden
Anlageäcker zu kommen, um mit nicht großer Anstrengung, wohl
noch mit Arbeit belastet, doch gleichzeitig beinah wie ein Zuschauer,
nunmehr von der Wirkkraft einer so geschaffenen ungeheuren
Naturmaschinerie zu existieren, die von jetzt an für das Leben
tätig war. Die technischen Mittel, Damm- und Kanalbau u. dgl.,
waren einfach. Hatte man sie in einem Gebiet erprobt, so konnte
man sie in einem anderen vielleicht verbessern und so vice versa;
bis das Kanalsystem durch gegenseitige Anregung entwickelt war.
Dieses aber bedeutete mehr als den technischen Apparat. Es war
nur möglich bei zentralistischer Zusammenfassung der Gebiete
unter einheitlicher Leitung. Es konnte nur funktionieren, wenn
diese Leitung für jede Zeit im Jahr einheitlich die Arbeiten der
Bevölkerung einteilte, die für ihre Erhaltung und Verbesserung
nötig waren, wenn also ein irgendwie gestalteter, organisatorischer
Apparat für diese Zwecke da war, wenn er mit festen Leistungen
der Bevölkerung rechnen, ihre Leistungen auf die Tage und Orte
rationell verteilen, wenn er mit einem fixen Kalender arbeiten
konnte. Woraus dann folgte, daß die zentrale Stelle oder die zen-
tralen Stellen, die das in die Hand bekamen, sich auch das Mittel
dieser Anordnungen: den schriftlichen Befehl, das Personal der
Überwachung, das Beamtentum schufen, kurz über dem Kanal-
system Kalender, Schrift, Bürokratie herausbildeten, die Elemente
und Kennzeichen der von der Natur abgehobenen Lebenskörper,

127
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

die hier erstmals wuchsen, heraufführten, die so folgenschwer für


alle menschliche Geschichte durch ihr Auftreten vor allem an
diesen beiden Stellen geworden sind.
Von daher wird auch verständlich, warum wir alle diese Dinge
gewissermaßen fertig, in allen Teilen gleichmäßig entfaltet von
Anfang an an beiden überhaupt
Stellen vorfinden, sobald wir sie
konstatieren können. Sie sind in Wahrheit eine Einheit, die Ein-
heit der neuen Lebensformung, ein künstliches Gehäuse des
ganz da sein muß, um überhaupt die
Daseins, das in allen Teilen
Grundlage der Existenz zu bilden. Darauf wird noch zurückzu-
kommen sein.
Der moderne Historiker spricht nun von einer „Entwicklung",
die diese so phantastisch frühen, so außerordentlich rational for-
mierten gesellschaftlichen und staatlichen Erstgroßgebilde der
Historie in ihrer Geschichte durchgemacht haben. Er wendet da-
bei Analogien aus der abendländischen Historie an, redet mit Sei-
tenblicken auf die germano-romanische Entwicklung von einem
frühen Königtum, das dann durch eine Feudalzeit abgelöst worden
sei,mit darauffolgender rationalistisch-absolutistischer Neuzu-
sammenfassung, und sieht im weiteren Fortgang Vergleichs-
zustände zu nahezu modernen Verhältnissen, eine imperiale
Kaumausbreitung, Riesenweltstädte als Zentren eines aufgelöst
pulsierenden Lebens und dergleichen mehr.
Ich sehe diese Dinge anders. Die abendländisch-modernen
Kategorien passen auf diese Welt in keiner Weise; es ist keine
„Entwicklung" da, kein irgendwie vergleichbarer Rhythmus der
Bewegung, keine wesentliche Umformung und keine Loslösung
vom Alten.

Die Geschichte bewegt sich im alten Ägypten und Mesopotamien


jahrtausendelang in zwei merkwürdig parallelen Zügen fort, die

aber trotz der manchmal vorhandenen zeitlichen Koinzidenz man-


cher entscheideüder Epochen doch für den weitaus größten Zeit-
raum im Geschehen nicht ineinander übergreifen. Da sind die
ersten Großzusammenfassungen im Euphrat-Tigrisbecken, soweit
wir sehen können, ab etwa 3000 unter der Herrschaft der Sumerer
mit den Hauptstädten Ur und Lagasch. Da ist der ägyptisch-

128
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

memphitische Einheitsstaat des Menes, in seiner Entstehung


heute auf etwa 2880 datiert, in seinen beiden Fundamenten, dem
unter- und oberägyptischen Reich, nach den vorhandenen Quellen
aber anscheinend viel weiter zurück, jedenfalls bis ins 4. Jahr-
tausend verfolgbar, ausgestattet schon damals mit der skizzierten
rationalen Lebensorganisation, Kanalsystem, Kalender, Schrift
und bürokratischem Verwaltungsapparat. Friedlich abseits von
den großen Völkerströmen durchläuft Ägypten dann in seiner
ersten Einheit eine erste, siebenhundertjährige Periode, die wohl
in Dynastienfolgen gegliedert, aber von keinen schicksalsvollen
inneren oder äußeren Kämpfen durchfurcht ist; bis das Land um
etwa 2200 einer Auflösung in regionale Staaten anheimfällt. Als
noch die ganze Welt im Dunkel liegt, also dort ein wahres tausend-
jähriges Reich als wunderbarer Anfang, zum erstenmal mit Er-
steigen aller Höhen der vorhandenen Möglichkeiten: „Das alte
Reich." Ein solches ist in dieser abgeschlossenen Form in Meso-
potamien nicht vorhanden. Hier ringen von Anfang an nicht bloß
verschiedene Gaue, der Süden, der Norden und die Mitte mitein-
ander, sondern auch verschiedene Völkerschichten differenter
Rasse, die in dieses schicksalsbestimmte Überschwemmungsgebiet
aller Völkerflutungen des hohen Asiens eingedrungen sind: die
Sumerer, die wahrscheinlich vom iranischen Hochplateau, also
von Südosten, stammen, und die semitischen Schichten älteren und
wahrscheinlich auch jüngeren Datums, die von Osten, Süden und
Südosten kamen. Die Herrschaft wechselt in der dem ägyptischen
alten Reich entsprechenden Periode zwischen den städtischen Vor-
orten dieserStämme; bald sind das sumerische Ur und Lagasch,
bald das offenbar wesentlich semitische, nördlicher gelegene Ak-
kad, bald wieder das sumerische Lagasch und schließlich Ur der
Vorort. Immer aber auch hier eine offenbar nur etwas lockrere
ist

zentralistische Zusammenfassung mit den gleichen wie den ägyp-


tischen Mitteln und in verwandten Formen der Grund des jedes-
maligen Aufsteigens zu höherer kultureller Leistung. Dem 50 Jahre
später als in Ägypten — wenn auch aus anderen Gründen (aber-
malige Wanderungsüberflutung) - eintretenden Verfall folgt, nach
mehr als hundertjähriger Zwischenperiode, die zweite große Kri-
stallisation, das erste — weil nunmehr um Babylon gruppiert — ba-

129
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

bylonische Reich: etwa zweihundert Jahre hochstehender Zivili-


sationund großer Leistung mit Hammurabi offenbar als Gipfel
und anscheinend im wesentlichen auch als Ende. Ägypten, seit
2050 von seiner Mitte (Theben) her erneut im sog. „Mittleren
Reich" zusammengefaßt, genießt gleichzeitig 350 Jahre Zentralisa-
tion und Wohlergehen bis zu seiner ersten geschichtlich sicht-
baren großen Überflutung 1700 durch den Hyksoseinfall. Dieser,
eine barbarische Staub- und Schlammschicht für 200 Jahre über
das Land ausbreitenden Hyksoswelle, welche das Pferd und den
Streitwagen mitbrachte, entspricht in Mesopotamien der von
Norden her erfolgende hettitische Einfall, der etwa 160 Jahre später
dem ersten babylonischen Reich ein Ende macht. - Als wir histo-
risch wieder sehen, steht im Euphrat-Tigrisbecken seit etwa 1550
ein zweites babylonisches Reich, jetzt unter der Herrschaft der
vom Iran hereingebrochenen Kossäer, da. Umflutet zuerst noch
von den Hettitern, umgeben von angrenzenden, aus der Bewegung
mittlerweile entstandenen anderen Reichen (Mitanireich, Reich
von Dimaski usw.) und unaufhörlich bedroht, lebt es doch wieder
mehr als 800 Jahre, bevor es schließlich von einem ursprünglich
bäuerlichen Bergvolk definitiv geschlagen wird, den Assyrern, die
in ihrer Zivilisation bereits aus ganz anderen Entwicklungsbedin-
gungen hervorgehen als die uralten Herrschaftsgestaltungen der
beiden Stromgebiete. — Vierhundertjährig aber erhebt sich, zeit-
lich diesem babylonischen Kossäerreich korrespondierend, in
Ägypten das mit der Befreiung von den Hyksos seit 1580 ge-
schaffene dortige sog. „Neue Reich", die dritte staatlich- gesell-
schaftliche Kristallisation auch dort. Allein : seit dem ersten gegen
asiatische Eindringlinge geführten Befreiungskampf des Niltals,
der dieses neue Reich begründet, ist das beziehungslose historische
Nebeneinander der beiden Stromgebiete aufgehoben. Das milita-
ristisch-expansiv gewordene Ägypten greift auf die palästinen-
sische Brücke zwischen Afrika und Asien, ja weiter in die meso-
potamischen Stromgebiete über. Ein Ringen, ein Gegeneinander,
ein Durchdringen und eine Schicksalsverflechtung tritt ein, die
mit schiedlicher Abgrenzung zeitweise zur Ruhe gebracht wird,
wie nach der Schlacht von Kadesch (1271) zwischen Ägypten und
dem hettitischen Reich, mit dem Schwächerwerden der Ägypter

130
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

und dem Verfall des Hettiterreichs seit 1150 aber im palästinen-


sisch-syrischen Zwischengebiet für ungefähr 400 Jahre (1150-750)
eine freie auf dem Boden der Mischung der beiden alten Kulturen
ruhende geschichtlich sehr folgenschwere Kiemstaatbildung zu-
läßt, die der Phönizier, Judäo-Israeliten und anderer Völker. Bis
die herangewachsene assyrische Militärmacht seit 750 alles über-
flutet und die Periode militaristischer neuer Weltreichbildungen
einleitet, welche nunmehr über die alten Stromgebiete hinaus-
greifend, zunehmend auf ganz anderen Grundlagen als diese
ruhend, ganz Vorderasien und Ägypten von einer Hand in die andere
spielt, bis sie schließlich in der der Römer enden. Diese ganze Be-
wegung, die durch die Assyrer eingeleitet wird, durch die Meder,
Perser und Griechen ihre Fortsetzung erfährt, gehört einer
anderen neuen geschichtlichen Welt an. Sie bedeutet vom Stand-
punkt der alten vorderasiatisch- ägyptischen Antike einen Ab-
schluß, dasEnde einer jahrtausendelangen Zeit. Ihre solche End-
punkte darstellenden Etappen sind die Eroberung und Zerstörung
des ursprünglich kassitischen (zweiten) babylonischen Reichs
durch die Assyrer (689), die Zerstörung der israelitischen Hälfte
des jüdischen Reichs (722), die assyrische Eroberung Ägyptens
(671), das Aufkommen des neuen militaristischen babylonischen
Reichs (Nebukadnezar), die Zerstörung Jerusalems und vollstän-
dige staatliche Vernichtung der Juden (596) und Phönizier (573)
von da her nach dem Verfall Assyriens durch die Meder. Worauf
dann Cyrus und die Perser, später Alexander und die Griechen
und schließlich die Römer als asiatische Weltherren folgen. Die
hundertdreißigjährige sog. saitische Selbständigkeitsperiode in
Ägypten von Psametich II. (653) bis zur Unterjochung durch die
Perser (525) schon unter ganz anderen
ist historisch ein innerlich

Zeichen stehender archaistischer Nachklang, in Wahrheit in einer


gänzlich neuen, der nunmehr heraufgekommenen großen Mittel-
meerwelt stehend, in der schließlich die Griechen und die Römer
die zentralen historischen Bildner werden. Man möchte sie beinahe
eine Kunstschöpfung nennen, ebenso etwa wie das seit Cyrus
mühsam mit Hilfe der in dem ganzen neuen Geschichtsbezirk zer-
streuten Juden großgepäppelte neue jerusalemitisch-jüdische
Reich, in moderner Terminologie gesprochen, eine gewissermaßen

131
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

zionistische Gründung, die dann Rom, als sie mit eigenem Leben
sich zu regen und in den allgemeinen Weltverhältnissen unbequem
zu werden anfing, schließlich kurzerhand in Scherben tritt.
Die „Geschichte" der ägyptischen und babylonischen Antike,
von der wir hier zu handeln haben, ist tatsächlich etwa 400-500
Jahre früher mit dem Auftreten der Assyrer abgeschlossen in ihrer
Eigenbewegung und der Gesetzlichkeit der ihr selbst eigentüm-
lichen Körper, der alten Körper der beiden Stromgebiete und
ihrer Gegeneinanderstellung. Sie ist das Leben der heute durch
zweieinhalb Jahrtausende klar vor uns liegenden, etwa um 3000
deutlich sichtbar werdenden ältesten Entwicklungswelt der Mensch-
heit, die von dem letzten Viertel des achten Jahrhunderts an in
die Hände anderer, sie zunächst noch äußerlich konservierender,
aber doch fremder Kräfte übergeht.

IL Der Gesellschaftsprozeß

In dieser so abgegrenzten Geschichtswelt, die sich in Ägypten


und Babylonien, grob gesprochen, in drei großen Kristallisationen
bewegt, gibt es nun, wenn wir zunächst das Äußere fort verfolgen,
solange die Eigengesetzlichkeit der alten Geschichtskreise be-
stehen bleibt, eine kanonische Gesellschaftsformung, die hier wie
dort in der ersten Kristallisation gewonnene, welche man hier
wie dort bei späteren Zusammenfassungen mit großer Mühe genau
zu kopieren, neu wiederherzustellen, zu repetieren trachtet. Gar-
nichts von irgendeiner uns heute dem Begriff nach so geläufigen
inneren Entwicklung, vielmehr die halsstarrige Wiederaufrichtung
des Alten, das in seiner ersten Form durch hereingebrochene or-
ganisierende Hornviehzüchter über einem Untergrund chthonischer
Ackerbauern geschaffen war.
Ägypten wieder als das klare Beispiel, ohne aber auf die Detaüs
irgendwie einzugehen. Ägypten tritt im alten Reich und seinen
historisch sichtbaren Vorstufen in grundsätzlich den gleichen all-

gemeinen organisatorischen, staatlichen, gesellschaftlichen und


wirtschaftlichen Formen uns entgegen, wie in irgendeiner späteren
Höhenzeit bis zum Ende seiner selbständigen Geschichte. In allen

132
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

seinen Hochperioden ein zentralistisch-bürokratisches Gebilde,


44
staatlich nnd gesellschaftlich eine „Maschinerie , deren Seele der
bürokratische Apparat ist mit seiner Schreiberhierarchie, die
immer grundsätzlich die gleiche geblieben ist, nachdem der ägyp-
tische Gesamtorganismus in seiner ersten Periode der Zusammen-
fassung, seit den Thiniten, seine typische Form gefunden hatte.
Dieser Staatsmechanismus greift von der ersten Periode an regu-
lierend bis in die letzten Einzelheiten des privaten Lebens ein.
Den Einzelnen betrachtet er dem Wesen nach grundsätzlich stets
als unmittelbare Arbeitskraft, haftbar und ergreifbar für den als

großen Einheitsbetrieb gesehenen Gesamtstaat, dessen unteres


Arbeitsglied er nur darstellt. Er ist von Anfang an und immer
44
wieder das große einheitliche „Diensthaus ,als welches er den

Späteren, seien es Juden, seien es Griechen, in seiner letzten Form


entgegentrat und von ihnen angestaunt ward. Eine Organisations-
maschine, die gewiß nicht hätte entstehen und sich immer wieder
rekonstruieren können, wenn nicht ihre zentralen Regulierungs-
und Sicherungsmaßnahmen in der dort nun einmal gegebenen
Form des Daseins den breiten Massen außer Ruhe und Recht das
für sie Wichtigste des Lebens: genug zu essen verschafft hätten.
Ein System jedoch zugleich, das im Effekt zur Schaffung des
außerordentlichen Reichtums und vorab für die kultischen Be-
44
dürfnisse der zentralen Stellen den „Mehrwert aus dem Lande
aufhäuft und in allen eigentlich klassischen Zeiten eine geradezu
überschwengliche, märchenhafte unmittelbare Disposition über
Güter und Menschenkräfte in die Hände der „Zentraldirektion 44 ,
des Pharao selber legt. Denn das ist das geistig wesentlich Mar-
kante für den Pharao und
: die von ihm erfließenden Gewalten
scheint prinzipiell die gesamte Maschinerie des Daseins da zu sein,
soweit über die Lebensnotdurft der Massen hinaus Substanz
sie

hervorbringt. Sie sichert, wie gesagt, die Existenz der breiten


Massen und gibt ihnen erhöhten Wohlstand. Aber ihr innerlich und
äußerlich gestaltender Sinngehalt ist Hinaufführung der mate-
riellen Daseinskräfte in die gesellschaftliche Organisationsspitze
und deren unmittelbaren Umkreis, Hineinführen derselben in eine
rational konstruierte Gesellschaftspyramide, die über der dumpf
uud ungeklärt verbleibenden natürlichen Lebensbreite aufragt, und

133
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

die deren Daseinskräfte nicht nur symbolisch oder repräsentativ


verkörpert, sondern nach dem Akzent des materiellen und gei-
stigen Lebenswillens tatsächlich in sich schließt. Sie ist stets das
gleiche Wesen und Gebilde. Bricht sie auseinander, gerät ihre
Herrschaft in schwache oder fremde Hände, Auflösung verbreitend,
so fällt Dunkelheit über das ganze Land. Dessen Daseinsorgani-
sation ist aufgehoben, sein Lebensatem stockt. Die vorhergegangene
Gestaltung muß dann wieder wie neu aus dem verschlingenden
Nilschlamm herausgehoben werden. Jedes Mal erwächst sie in
prinzipiell gleicher Gesamtgestalt von neuem.
Das alles gilt für Babylonien und seine Gestaltung, soweit sich aus
den Dokumenten entnehmen läßt, ganz ebenso. Für Ägypten sei
es noch durch einige auf das Wesentliche beschränkte Explika-
tionen bekräftigt, welche die gut bekannten historischen Varia-
tionen perspektivisch richtig einzufügen suchen, natürlich unter
Ausschluß jeder Konkurrenz mit der originären und in den Einzel-
heiten überlegenen Detailkenntnis des Fachmanns, nur auf ein
Zurechtrücken des Gesamtblickes ausgerichtet.
Ein paar Daten:
Das sogenannte alte Reich hat bekanntlich seine Höhezeit in
den 300 Jahren der vierten und fünften Dynastie (2600-2300) ge-
habt, der Zeit, in der es in den Riesenpyramiden von Cheops, Che-
fren und Mykerinos die unzerstörbaren Zeichen nicht nur seines
religiösen und kulturellen, sondern auch seines gesellschaftlichen
und zivilisatorischen Wesens hinterließ. Es hat seinen Ausklang
in der dreihundertjährigen Periode der sechsten Dynastie, in der
sich die Auflösung seiner „pyramidalen" bürokratischen Zusam-
menfassung vollzieht. Vor seiner Höhezeit liegt, seit der Konzentra-
tion des ganzen ägyptischen Landes durch 300 Jahre ausgebreitet,
wie man weiß, das Reich der Thiniten; und vor ihm die Periode der
ersten Organisiertheit Ägyptens in zwei getrennten Staaten, dem
ober- und unterägyptischen, den beiden Reichen der Horus-
verehrer.
Diese durch mehr als ein Jahrtausend gehende Entwicklungs-
ob langsam oder
zeit ist, soziologisch gesehen, die, wir wissen nicht,
schnell, vor sich gehende, aber jedenfalls einheitliche und durch-
aus logische Herausbildung dessen, was ich die kanonische wirt-

134
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

schaftliche, staatliche und gesellschaftliche Lebensaggregierung


des antiken Ägypten nannte. So wie Kalender, Schrift und büro-
kratischer Apparat, die drei um das Kanalsystem herumgruppier-
ten Elemente zivilisatorischer Formung, vor der Vereinigung der
beiden ägyptischen Reiche bereits vorhanden, sogar wie die Ab-
geschliffenheit der Schrift zeigt, schon alt gewesen sein müssen,
so sind auch in dieser Zeit schon die alten Gaue, die als Sitze selb-
ständiger Gaugötter ursprünglich wohl Stammes- und häuptlings-
mäßige Gestaltungen gewesen sein müssen, in etwas verwandelt,
was man nur mit dem modernen Begriff „Verwaltungsbezirk" be-
zeichnen kann. Die gentilizische Gliederung der Bevölkerung, die
wir bei den Germanen und bei den Griechen und Römern bis in
die historische Zeit hinein unzerbrochen wirksam finden, ist ver-
schwunden. Nicht sippen- oder geschlechtermäßig, sondern ra-
tional ortsmäßig gruppiert, in Kleinfamilien auseinandergeschla-
gen, sitzt die Bevölkerung in diesen Bezirken von oft vielleicht
nur der halben Größe eines preußischen Kreises, um eine sog.
Stadt herum, die in Wahrheit offenbar einfach ein Verwaltungs-
zentrum darstellt. Diese Bevölkerung ist in ihren ganzen großen,
vor allem den ländlichen Massen schon eingegliedert in ein System
von Arbeiten, Diensten und Abgaben, das in seinem Ursprung und
seinem Wachstum alten grund- und stammesherrlichen Charakter
gehabt haben mag, das aber ganz unzweifelhaft bereits radikal
fronstaatlich gefärbt ist. So dunkel die näheren rechtlichen Ver-
hältnisse sein mögen: Es ist hier tatsächlich gleichgültig, wie der
Unterbau der Gesellschaft und Staatspyramide im einzelnen aus-
gesehen hat: ihr prinzipieller Typ geht aus allen Dokumenten klar
hervor und ihr Gewicht
; damals in dem rational büro-
liegt bereits

kratischen Oberbau. Dieser mit seinen Magazinen und Schatz-


häusern, den Mittel- und Zentralinstanzen- die von den Natural-
leistungen und Abgaben der Untertanen gefüllt werden, mit den
dazu gehörigen Beamtenstellen sowunl der Zentralen der beiden
Staaten, wie ihrer Verwaltungsbezirke (Gaue) ist schon von vorn-
herein vorhanden. Das geht aus der Tatsache hervor, daß bei
der Vereinigung der beiden Reiche (in der thinitischen Zeit) die
Dinge bereits so fixiert sind, daß man zunächst zwei „Häuser" der
Regierung, zwei Verwaltungszentren, zwei fronstaatliche Magazin-

135
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

und Schatzamtsverwaltungen mit dem dazu gehörigen Beamten-


stab bestellen lassen muß.
Der Pharao trägt nicht bloß die doppelte Krone; er verwaltet
vorerst auch zwei fest fixierte büromäßig durchgeformte Staats-
körper, die aus traditionellen Aufbaudifferenzen, vielleicht auch
Ressortrivalität, offenbar lange nicht vereinigt werden können.
Aber der Schatten des Menes, der durch die Jahrtausende bis
auf die Blätter Herodots fällt, kommt von keinem Gespenst. Durch
Menes, bald nach ihm ist die Vollendung da. Das königliche Zen-
trum, wie wir aus den Titulaturen, Rängen und Funktionen er-
sehen können, ausgestattet nunmehr mit dem Zeremoniell eines
großen höfischen Apparats, ein Sachzentrum dabei, dessen inten-
sives Arbeiten wir aus den vorgenommenen Zählungen, jährlichen
Feststellungen der Nilhöhe und ähnlichem entnehmen können, hat
das Gewicht des Lebens in sich aufgesogen. So wie der Stil nun-
mehr fixiert, die Tracht als Hoftracht fest geformt ist, so schlägt
das Herz Ägyptens seitdem am Hof des Pharao.
Sein Haushalt ist nun letztlich der Haushalt ganz Ägyptens. Es
ist hier überflüssig, auf die von Max Weber1 ) so mühsam und sorg-
fältig aus den vorhandenen Einzelstudien in das Licht scharfer
ökonomischer Begriffsbildung gerückte Wirtschaftsgestaltung
näher einzugehen. Mögen die Eigenrechte der ehemaligen Großen,
d. h. früheren Gaukönige in diese Gestaltung stärker oder schwä-
cher, hiermehr dort weniger eingegriffen haben, - das Land ist
Aufbau von drei miteinander in Ver-
deutlich sichtbar in einen
bindung stehenden großen Gruppen von Haushalten gestellt,
den königlichen, die Haushalte der bürokratischen Nomarchen
(„Großen") und der Tempel. Die Tempel, die mit ihren Hörigen-
rayons aus dem allgemeinen Abgaben- und Verwaltungssystem in
etwas eximiert zu sein scheinen, spielen bekanntlich noch keine
große Rolle. Die hörigen Haushalte der bürokratischen Großen
aber stehen deutlich als Unterglieder in dem riesigen, alles über-
greifenden und prinzipiell alles umfassenden pharaonischen Lan-
deseinheitshaushalt. Ein bürokratisch umgebildetes, dem Wesen
nach natürlich vorbürokratisches Gefolgschafts- und Klientel-
*) „Agrarverhältnisse im Altertum" in den Gesammelten Aufsätzen zur
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

136
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Verhältnis durchzieht als gesellschaftliches Korrelat das ganze


Land. Es konzentriert und verdichtet sich um den königlichen
Hof und seine Existenz. Dieser schafft eine „Hofgesellschaft";
zieht die Zentralbeamten zu Tisch- und Lebensgemeinschaft in
die Nähe des Königs und bezahlt sie durch Naturalbezüge aus den
ihm zufließenden Wirtschaftserträgen des gesamten Landes. Diese
Erträge der Gesamtwirtschaft steigen wie in einem mechanischen
System von Eimern hinauf durch „Nomarchen",
die Büros der
(eben der Großen, der zu beliebig versetzbaren, von der Gnade des
Königs abhängigen Fronvögten fortentwickelten Vorsteher der
Gaue) in die großen Vorratshäuser der Verwaltungsrayons des
pharaonischen Haushalts. Und gleichgültig, wie die Rechtseinglie-
derung der Massen dabei des näheren aussieht, wie sich dabei spe-
ziell Domanial Wirtschaft des Königs und sonstige Abgaben- und

Fronwirtschaft des ganzen Landes in den unteren Stufen ergänzen


und mischen, jedenfalls funktioniert offenbar das ganze Ver-
waltungssystem nunmehr wie ein riesiger, alle wesentlichen Er-
tragsüberschüsse in die oberen Etagen und in die Disposition des
königlichen Zentrums hinaufführender Saugapparat. Das zeigt
der Reichtum, der sich an dieser königlichen Mitte bildet, während
Massen in ganz sicher recht bescheidenen Verhältnissen
die breiten
verbleiben.Das königliche Zentrum, das mit seiner Verwaltungs-
maschinerie den kanalwirtschaftlichen Lebensapparat jetzt sicher
auf das beste instand hält, die Erträge also steigert und die für
den reinen Lebensunterhalt der Untertanen nicht in Anspruch ge-
nommene demnach erhöht, hat jetzt solch ein
freie Arbeitszeit

Übergewicht im Gesamtdasein erlangt, ist so sehr das eigentliche


Lebensgehäuse des ganzen Landes geworden, daß die großen Pha-
raonen der vierten Dynastie imstande sind, die freie Arbeitszeit
wahrscheinlich eines sehr großen Teils ihrer Untertanen nunmehr
in den Dienst der phantastischen Aufgabe zu stellen, während
ihrer ganzen Regierungszeit ihnen jenes riesige, in seiner Form den
Staats- und Gesellschaftsaufbau merkwürdig symbolisierende, für
alle Zeiten dauernde Grabmal zu bauen, durch das sie gewisser-

maßen noch im Jenseits fortregiere: Die Entstehung der un-


geheuren Pyramiden des Cheops, Che ;n und Mykerinos, in die,
wie man berechnet hat, jedesmal für i r als 10 Jahre die Arbeits-

137
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

kraft von mindestens hunderttausend Menschen hineinverhaut


ward, ist überhaupt nur auf diese Art verständlich. Und es ist, das
hat man richtig gesagt, ein weiteres Symbol dieses allmächtig ge-
wordenen pharaonischen Zentralsystems, wenn sich die Beamten
dieser Zeit mit ihren Gräbern wie scheue kleine Hausvögel an die
Pyramiden ihrer Herrscher herankuschen, das Eingefügtsein in
die diesseitige königliche Allgewalt gewissermaßen derart auch
ins Jenseits noch verlängernd.
Das ist der Typus des alten Reiches. Bei aller oft hervorgehobe-
nen und vielleicht wirklich vorhandenen Lockerheit der Rechts-
formen 1 ) die denkbar stärkste Zentralzusammenfassung des
Lebens als Resultat der ersten ägyptischen Kristallisation, die
dann unter offenbar schwächer werdenden Herrschern durch ein
Selbständigwerden der Nomarchen sich in ihre Teile auflöst.
Es daß das „Mittlere Reich", welches diese
ist sicher richtig,

selbständig gewordenen Kleinfürsten neu zusammenfassen muß, in


Aufbau und Gewichtsverteilung der Verwaltungspyramide zu-
nächst nicht unwesentliche Änderungen gegen früher zeigt. Die
erste in die Höhe gekommene (11.) Dynastie muß mit ihnen noch
wie mit erblich gewordenen Lehnfürsten regieren. Der Tempel-
und der Besitz dieser so gut wie selbständig gewesenen
besitz
Nomarchen ist wahrscheinlich in der ganzen neuen Periode viel
größer, der domaniale Kronbesitz viel kleiner als früher. Und auch
als mit den großen Herrschern der 12. Dynastie die Zentralstelle
wieder durchgreift, der nunmehr auf ein wenn auch kleines
stehendes Heer gestützte Pharao die Erblichkeit der Gaufürsten
durchbricht, um sie dann dieses erblichen Charakters überhaupt
zu entkleiden und wieder zu einem reinen Lokalbeamtenstamm zu
machen, bleibt doch offenbar das wirtschaftliche und gesellschaft-
licheGewicht dieser Lokalstellen größer. Sie sind augenscheinlich,
in dem
sie wieder in einen gut funktionierenden Aufsaugeapparat

für den pharaonischen Zentralhaushalt verwandelt sind, gleich-


zeitig, stärker als im alten Reich, selbst kleine Abbilder dieses
Haushalts mit ausgebildetem eigenen Magazin-, Schatzhaus-,
Eron- und Abgabesystem für den eigenen Bedarf des Nomarchen

J
) Vgl. Eduard Meyer, Geschichte des Altertums I 2, S. 241-248, 3. Aufl.

138
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

und mit dem ganzen Beamtenapparat, der dazu gehört. Man


spricht daher (Ed. Meyer) von einer größeren Ausgeglichenheit des
lokalen und zentralen Gewichts in der Organisation. - Aber was
verschlägt das für den Grundtyp der Gesamtkristallisation ? Diese
ist, mag sich ein Beamten-Mikropharaonentum in das Gebilde
hineingesetzt haben, in ihren Prinzipien und ihren Mitteln doch
genau die gleiche wie früher. Es ist ganz falsch, von dieser Zeit
wie von einem Feudalstaat zu sprechen. Es ist ein bürokratischer
Fronstaat wie vordem: die breite Masse der Bevölkerung unter
der Herrschaft einer Schreiberbürokratie, die ihr den Überschuß
der Produktion abnimmt, ihn in Magazinen und Schatzhäusern auf-
häuft, sie zählt, registriert, zur „Katasternummer" macht (Max
Weber), ihre Arbeitskraft je nach Bedarf des Ganzen für das
Ganze heranzieht. Nur daß unter dem alles überragenden Haus-
halt des Königs augenscheinlich jetzt auch andere Haushalte, die
des Mittelbeamtentums und der Tempel ein Gewicht besitzen,
das ganze System also feiner durchgebildet und mehr differenziert
ist. Mögen die Nomarchen nunmehr an ihren eigenen Amtssitzen

sich begraben lassen, ihre Felsengräber größer und gewichtiger


sein als früher, als Form der äußeren Lebensaggregierung bleibt
das Ganze doch dasselbe.
Und das gleiche bleibt es nun auch in der dritten großen Kri-
stallisationsperiode, in der das bis dahin isolierte Ägypten in völlig
neuer Art in die Welt hineingestellt wird, in der es den Charakter
eines erobernden Imperiums annimmt, große Reichtümer von
außen her einströmen, der Oberbau des ganzen Daseins weitgehend
mit anderen Elementen als bisher durchsetzt wird, eine äußerlich
weitgehend andere Gruppierung und Färbung aufweist im „Neuen :

Reich".
Man weiß : der in der vorangegangenen Auflösungsperiode wahr-
scheinlich stark angewachsene Eigenbesitz der gauverwaltenden
Großen ist durch die restituierenden Befreier, welche die Hyksos
abgeschüttelt haben, dabei aber offenbar auch mit den einheimi-
schen Großen selbst zu kämpfen gehabt hatten, nun kassiert, das
Gaufürstentum erledigt, der Nomarch nunmehr rein funktional
versetzbarer Beamtentyp der Zentralregierung. Das prinzipiell
wohl sicher uralte Obereigentum des Pharao an allem Land ist jetzt

139
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

reale Wirklichkeit, aber im ganzen findet „keine Einführung von


neuen Institutionen, wohl aber eine einseitig gerichtete
prinzipiell
Fortentwicklung der alten statt" (Max Weber) in dem jetzt konse-
quent und einheitlich neu organisierten Fronstaat. Überflüssig, sich
auf das einzelne hier einzulassen. Nur wesentlich es schieben sich
:

in den fronstaatlichen Bau zwei neue Schichten ein, oder richtiger


breiten sich in anderer Form und Stärke in ihm aus berufsmäßiges
:

Soldaten- und Priestertum. Die wachsende Bedeutung von beiden


ist unbestritten. Unbestritten ihre später zu berührende Rolle in
der Zeit des Niederganges und der Auflösung des Reiches. In der
Periode seiner Größe wurden sie in dessen Grundform eingefügt,
ohne seine Prinzipien zu durchbrechen. Der Rahmen, in dem sich
das vollzog und in dem es notwendig ward: Kämpfe der großen
Pharaonen, nicht mehr in erster Linie mit der halbbarbarischen
Libyer- und Äthiopenumwelt, gegen die man nur mit Ausplün-
derung endende Strafexpeditionen unternommen hatte, sondern
fortgesetzte militärische Sicherung der Herrschaft über die seit
der Vertreibung der Hyksos eroberte palästinensisch-syrische
Brücke, bis an die Grenze des anderen alten Geschichtskreises.
Ein Dominium dadurch über aufblühende, nicht bloß mit Baby-
lonien und Kleinasien, sondern auch der gleichzeitigen großen
ägäischen Mittelmeerkultur in Verbindung stehende Gebiete.
Folge davon: hochstehende Kriegstechnik mit Wagenkampf des
Königs und der Großen und gefürchteten leichten Spczialtruppen
(Bogenschützen). Reiche Beute aus Kriegszügen und Tribute.
Ausbildung eines spezifisch militärischen Ruhmbegriffs und Ehr-
geizes. Neben den Einheimischen nicht bloß fremde Hilfskontin-
gente bei den Feldzügen, sondern auch als Friedenserscheinung, -
entstehend auf dem Wege über die Ausbildung einer berufsmäßigen
Soldarmee, die offenbar das alte Milizaufgebot immer mehr in den
Hintergrund drängt, - sehr bald fremdbürtige derartige Forma-
tionen, vielleicht zunächst als königliche' Polizeitruppe verwendet,
alsdann (19. Dynastie) 1 ) als wesentliche Bestandteile dem stehen-
den Heere einfügt. Dies alles ist neu.
Und wenn nicht neu, so doch dimensional ganz verändert, das

*) Erman-Ranke S. 651.

140
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Aufgeblähtwerden der ökonomischen Macht der Tempelhaushalte,


welche, immer Sammelbecken der religiösen
die wirtschaftlichen
Dankbezeugungen Könige gewesen, jetzt durch die
siegreicher
riesigen Dotationen der üppigen Sieger eigengewichtig in den Platz
der kassierten ehemaligen Feudalhaushalte der großen Verwal-
tungsbeamten rücken, ja z. T. wohl (Tempelhaushalt des Ammon)
darüber noch hinauswachsen. Natürlich ein eigener, ausgedehnter
oberer Personalbestand, der für die Verwaltung dieser großen
kirchlichen Grund- und Fronherrschaften jetzt notwendig wird,
gleichzeitig davon leben kann: ein Priesterstand also und ein Tem-
pelbeamtentum, das auf dem großen Zentralfriedhof Ägyptens in
dieser Zeit schließlich bis zu ein Viertel aller Gräberstätten einnimmt.
Aber niemals ist zu vergessen: das Priestertum stellt in der
großen Zeit der dritten Wiederzusammenfassung in Wahrheit ein-
fach einen Teil der staatlichen Bürokratie dar, aufs engste mit
deren anderen Teilen verschwistert, durch Ämterkumulation und
familiär mit ihnen verwachsen; gleichzeitig offenbar weitgehend
für die richtige literarisch-bürokratische Vorbildung verantwort-
lich, die ja überhaupt die Herrenschicht dieses Schreiberstaates

konstituiert. Ferner: der gemeine Soldat, auch der Söldner in sei-


nen großen Massen ist angesiedelt, ein wenn auch staatlich privile-
gierter Bauer mit fester kriegerischer Leistungsauflage. Das Offi-
zierkorps aber wiederum ist durchaus Teil der Bürokratie, nicht
nur in Konkurrenz zum Zivilbeamtentum mit großen bürgerlichen
Funktionen, Bauarbeiten u. dgl. beauftragt 1 ), sondern auch selbst
„gelehrt" vorgebildet. Die höchsten Offiziere sind „Schreiber des
Heeres", in Wahrheit ein zwischen die zivilen Stellen eingesprengtes
Militärbeamtentum, das sich auch in den für den Gesamthabitus
bezeichnenden typischen literarischen Stilübungen des Manda-
rinengeistes ergeht 2 ), bei
den so charakteristischen Erörterungen
über die Karriereaussichten (sie kehren ja überall natürlich in die-

sem Staate wieder) keine Spur von Militärstolz zeigt, vielmehr


zivile und militärische Versorgung höchst unbefangen und nüch-

tern gegeneinander abwägt 3 ).

*) Ennan-Ranke S. 116.
2
) Papyrus Anastasi, Erman-Ranke f S. 443.
3
) Briefe Amen em-epe's, Erman-Ranke S. 655.

141
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Die neuen Elemente sind also dem alten Verwaltungsaufbau


assimiliert, eingesogen in ihn. Sie leben in seiner geistigen Sphäre
und seinen sachlichen Tendenzen. Und niemals hat dieser Apparat,
trotz der neuen Kadres, die er in sich trug, nach seinen eingeborenen
Grundprinzipien seit Cheops, Chefren und Mykerinos als Sammel-
maschine der Arbeitskräfte und der Lebensüberschüsse des Landes
so vollendet funktioniert wie in der Blüteperiode des neuen
Reiches. Für die üppigen Tempelbauten der 18. und 19. Dynastie
haben Kriegsbeute und Tribute aus den syrisch-palästinensischen
Dependancen gewiß ihr Teil beigetragen; geschaffen worden sind
sie durch denselben großen Fronst aatapparat wie die uralten Py-

ramiden. Und gelebt hat die an solchen und andern Reichtums-


anhäufungen schaffend und genießend beteiligte, um den Pharao
gruppierte gesellschaftlich-staatliche Oberschicht auf genau den-
selben wirtschaftlichen Grundlagen und letztlich auch in denselben
Formen wie vor Jahrtausenden.
Ich glaube daher, sieht man auf die Struktur des Lebens, so ist

es irreführend zu sagen, „das alte Reich liege von dem neuen so


weit ab, wie das Reich Karls des Großen von dem heutigen Deut-
schen Reich". Es war vielmehr in seiner Grundstruktur mit ihm
identisch. Und „wenn ein Großer vom Hofe des Cheops durch ein
Wunder an den Hof Ramses' IL versetzt worden wäre", so hätte er,
wie ich meine, ganz bestimmt nicht, wie Erman-Ranke sagen 1 ),
„glauben müssen, in einem fremden Land zu sein". Im Gegenteil,
er hätte sich, die täglichen Vorgänge betreffend, zwar auf einer
breiteren und höheren Reichtumsstufe, aber in ihm unendlich ver-
trauten äußeren Verhältnissen gefühlt.
Das will natürlich die auch wirtschaftliche und gesellschaftliche
Bedeutung der imperialen Ausdehnung Ägyptens in dieser Zeit
nicht leugnen. So bescheiden diese geographisch blieb - sie hat ja
die Orontesgrenze nicht überschritten, den zweiten, großen, hoch-
stehenden alten Geschichtskomplex herrschaftlich gar nicht be-
rührt, so einigermaßen aufgebläht erscheint, von einer
daß es
ägyptischen „Weltreichsperiode" zu sprechen 2 ) -, trotzdem: man
war in jedem Fall jetzt nicht bloß mehr Herr über geschichtlich

*) Erman-Ranke S. 54.
2
) So vor allem Breasted.

142
DAS ALTE ÄGYPTEN UNS BABYLONIEX

leere Sackgebiete außerhalb Ägyptens ohne Eigenleben, -wie Äthio-


pien und Libyen, sondern über eine Zone lebendiger Entwicklung
und Verkehrs Verflechtung. Das hieß etwas, auch abgesehen von
den in die öffentlichen Kassen fallenden Tributen. Vor allem ver-
stärkten Verkehr mit wirtschaftlich entwickelten Gegenden. Aber
so wie die kanaanäischen Worte, mit denen man in gelehrter
Ziererei als Zeichen seiner Weitläufigkeit und vielleicht auch Ge-
reistheit nunmehr seine Rede stutzte, unwesentliches literarisches
Beiwerk des Schrifttums der oberen Schichten blieben, das nicht
in die Volkssprache eindrang, so hat man sich die unzweifelhaft
erheblich verstärkten Wirtschafts-und vor allem Handelsbeziehun-
gen mit den Dependancen vorzustellen: als Luxus der Reichen
nämlich; wenn auch natürlich keineswegs mehr auf den anschei-
nend im mittleren Reich noch vorherrschenden Bezug von Zedern-
holz und Zedernöl beschränkt, sondern auf eine große Anzahl von
im übrigen sicher hochwertigen Spezialartikeln für deren differen-
zierten Bedarf ausgedehnt. Für die Art der Beziehungen ist wohl
sicher weniger charakteristisch, daß jetzt nicht bloß mehr wie im
alten Reich der König in etwas primitiv anmutenden Tausch-
expeditionen, sondern auch die Großen nach außen Handel trei-
ben, als vielmehr die fortdauernde, festungsmäßige Abschließung
der östlichen Grenze an der Suezschranke durch Kanäle, Mauern
und bewachte Tore, eine veritable chinesische Mauer,
sorgfältig
durch die sicher kein reicher Verkehr geflutet ist. Theben, die
reich und groß gewordene Hauptstadt dieses neuen Reiches, sich
nach dem Schema des Roms der Kaiserzeit als erste „Weltstadt"
der Geschichte vorzustellen, durchflutet von den Menschen, den
Produkten und der Atmosphäre eines ganzen Erdkreises, wie ge-
wisse Schilderungen moderner Historiker 1 ) es nahe legen, ist eine
starke Verschiebung durch Phantasie. Es war, wie das einstige ehr-
würdige Memphis oder irgendeine der Hauptstädte dieses alten
Ägypten, das Zentrum eines Gesellschaftsbaues, der ebenso wie der
babylonische einzigartig in der gesamten politischen Umwelt da-
stand. Nicht ein Wirtschaftszentrum, das im „freien Verkehr" die
materiellen Kräfte aus dieser Umwelt an sich zog, - dies wäre eine

*) So vor allem vrieder Breasted's.

143
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

moderne, durch eine ganze Welt von damals zu trennende Vorstel-


lung. Es war auch nicht, wie das alte Rom, ein riesiges Konsumtions-
zentrum, das für die Existenz einer hauptstädtischen, imperialen
Mischbevölkerung auf den aus einer ganzen Welt herausgesogenen
Reichsleistungen geruht hätte. Sondern es war, man kann es ruhig
aussprechen, wirtschaftlich ganz einfach die Akkumulation der
Paläste des Pharao, seiner bürokratischen Großen und Priester-
schaft mit einer von dieser Fronherrnkumulation dependierenden
und lebenden, sicher im ganzen eine breite, ärmliche Masse bilden-
den Zusatzbevölkerung. Frei oder unfrei, oben oder unten, alles
das lebte im wesentlichen aus den in uralten Formen akkumu-
lierten Fronstaatüberschüssen des wie eine verpichte Arche in
seinen Formen gegen außen abgeschlossenen Gesellschaftsbaus.
Die Tributleistungen der außerhalb dieses Gesellschaftsbaues ver-
bleibenden Dependenzgebiete an den größten Palastinhaber, den
Pharao, haben die in ihren Dimensionen phantastischen Bau-
leistungen der großen Könige ermöglicht, unzweifelhaft. An diesem
Gesellschaftsbau selbst aber haben sie ebensowenig etwas ge-
ändert, wie die Handelsbeziehungen, die jetzt für die Bedürfnisse
der üppig gewordenen, gleichzeitig zivilen, geistlichen und mili-
tärischen Hofgesellschaft von deren Mitgliedern gepflegt wurden.
Ja, dieses in sich abgeschlossene Ägyptertum, das sich — die Bild-
werke zeigen es -, gestützt auf den literarischen Zunftgeist seines
hierarchischen Stufenbaues, allem fremdländischen Barbarentum
damals ebenso überlegen fühlte, wie später China in den Händen
der Mandarinen, war in seiner Assimilationskraft stark genug, um
durch Jahrhunderte das wesentlichste Neue, das eingeführt wurde,
ein unfreies, fremdes sklavenähnliches Menschenmaterial, das
man jetzt als Siegesbeute heimbrachte, in seine Kadres einzuglie-
dern und zu verdauen. Und es war auch gefestigt genug, fremde
Elemente, die in anderer Weise brauchbar schienen, gewisser-
maßen in seine peripheren Departements ohne Vermischung auf-
zunehmen, um sie darin auszubeuten. Man kann wohl annehmen,
daß die jüdische Legende nach dieser Richtung eine geschichtssym-
bolische Bedeutung hat. Die große Zeit hat auch die fremdstäm-
migen Soldaten, die man sich als Herrenvolk statt eigener mili-
tärischer Leistung zunehmend angewöhnte und hereinzog und die

144
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

dann bei dem nächsten Schwächerwerden der Spitze dem Ganzen


so gefährlich wurden, durchaus als etwas Abgesondertes, Un-
ägyptisches behandelt. Auch ihr Vorhandensein verändert für diese
Zeit den alten Gesellschaftsbau in seinem Wesen nicht. Er konnte
fremde Reiche regieren, fremde Menschen in erheblichem Maße in
sich hineinziehen, mit fremdstämmigen Heeresformationen sehr
wesentliche Teile seiner Polizei- und Militärfunktionen durch-
führen, mit fremden Leistungen sein Dasein schmücken und er-
höhen, ja fremden Ratgebern das Ohr des Pharao geben — auch
hier ist die Geschichte Josephs von einer allgemeinen Wahrheit -,
Grund-
er blieb ein in sich geschlossenes Eigengebilde, in seiner
struktur unverwandelt. - Solange sein Gefüge hielt.
Von dessen Auflösung, deren Formen, Gründen und ihrer Be-
deutung an anderer Stelle, wo vom Problem des Alterns zu spre-
chen sein wird.

III. Die soziologische Anfangskonstellation und ihre Bedeutung

Es liegt nun nahe, für das Phänomen der Ausdruckskonstanz,


von dem ich ausging, gibt man einmal dieses wesentliche Unver-
wandeltsein des gesellschaftlichen Gefüges durch alle Zeiten bis
zu denen des Verfalles hin zu, einfach die geschichtsmaterialisti-
sche Antwort zu geben, die sagt: Stets gleicher geistiger Oberbau
über dem gleichen gesellschaftlichen Unterbau.
Ich halte diese Antwort nicht nur für platt, sondern hier für
sachlich direkt falsch. Sie ist ein eindeutiges quid pro quo, das
— selbst den Einfluß einer bestimmten aufrechterhaltenen Gesell-
schaftsformung auf geistige und kulturelle Tendenzen in denkbar
weitem Maße zugegeben - keine Lösung bietet, da die Konstanz
und Repetitionstendenz dieser Gesellschaftsordnung selbst Pro-
blem ist. Diese ist selber Resultat. Wovon?
Es ist offensichtlich eine Plattheit zu antworten: Resultat des
Bewässerungs- oder Kanalsystems und der dafür notwendigen
technischen und organisatorischen Mittel, also, marxistisch ge-
sprochen, des Produktionsmittelapparates und seiner Ausstrah-
lungen.

145
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Auch heute funktioniert das Kanalsystem Ägyptens weiter. Es


hat dort und ebenso in Mesopotamien auch in der arabischen und
in der hellenistisch-römischen Welt seine Pflicht getan. Und doch
ist wenn auch ein bürokratischer Apparat zu seiner Be-
heute,
herrschung und Ordnung unerläßlich ist, dessen gesellschaftliche
Auswirkung eine ganz andere, ja eine minimale gegen früher. Der
gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufbau ist weitgehend nicht
von ihm bestimmt, beweglicher und keineswegs eine Wiederholung
des memphitischen oder alten babylonischen. Und ebenso weist
schon die hellenistisch-römische und vollends die arabische soziale
und wirtschaftliche Gliederung der beiden Stromgebiete, wenn sie
auch weitgehend an das Alte anknüpft und auf ihm aufbaut, dessen
Aufbau im Ptolemäerstaat durch staatssozialistische Ausprägung
nach mancher Richtung sogar auf die Spitze treibt, doch in der
gesellschaftlich-wirtschaftlichen Gesamtgestaltung der beiden
Strombecken erheblich andere Züge auf.
Die gar nicht zu überschätzende Bedeutung des technisch-
organisatorischen rationalen Apparats für die Entstehung der
Zivilisation und des ersten Gesellschaftsbaus in beiden großen
geschichtlichen Frühkörpern ist oben besprochen. Alles über
Ägypten des näheren Ausgeführte kann man in manchem Betracht
als Paraphrase ansehen für die fortdauernd grundlegende Be-

deutung des richtigen Arbeitens des Bewässerungssystems, dessen


gute Instandhaltung und dessen Ausbau immer den Boden schafft,
aus dem die großen Blüten der Hochperioden sprießen. Wobei
stets die bürokratische Zentralisation des ganzen Landes das Mit-
tel des befriedigenden Arbeitens des Systems ist. Unzweifelhaft

hat vor allem der rationale Technizismus des Kanalapparates den


Rhythmus: Zentralisation == Blüte, apparatliche Auflösung =
Verfall unterbaut. Aber von da bis zu der Notwendigkeit, eine
immer wieder dem Wesen nach gleiche Gesellschaftsordnung bei
der Zusammenfassung aufzubauen, wie das in dieser Zeit geschah,
ist ein sehr großer Schritt. Daß die antiken Jahrtausende der bei-
den Gebiete in der Periode der Eigengesetzlichkeit ihres beider-
seitigen Daseins stets denselben Fronstaat mit stets grundsätzlich
derselben Schreiberhierarchie als Kopf und gleichzeitig als geistig
allein anerkannte Lebenssphäre darüber aufgebaut haben, ist, wie

146
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

ihre gesamte „Konstanz", erst aus der soziologischen Analyse des


hier wie dort vorhandenen damaligen Gesamtdaseins zu ver-
stehen, genauer gesagt, wie ich es früher ausdrückte, aus der
soziologischen Konstellation, in der dessen für die Periode
der Eigengesetzlichkeit geltende „Lebensaggregierung" erstmals
entstanden ist. Die gesellschaftliche Fixiertheit (das Wort
„gesellschaftlich" hier in dem von mir genau umrissenen Sinn ver-
standen) der jahrtausendelangen Ära ist nicht die Ursache der
sonstigen geistigen und kulturellen Starrheit, sondern wie diese
selbst Resultat von etwas anderem, nämlich eben jener sozio-
logischen Konstellation, welche überhaupt den ganzen Kulturtyp
als einen Versteinerungstyp erwachsen ließ.

Hier ist augenscheinlich der entscheidende Punkt, der dar-


zutun ist.

Eine jede Kultur erwächst im Rahmen einer bestimmten so-


ziologischen Konstellation. So weitgehend in Worte überhaupt
kaum einbeziehbare, vollends in allgemeine Begriffsplanken nicht
verwandelbare Faktoren Elemente der Natur, der geographischen
:

und ethnischen, Zufälle der Geschichte, vom Schicksal gesandte


große Persönlichkeiten, die Kulturen und ihre Geschichtsgehäuse
formen, auf ihre Höhe heben oder in die Tiefe reißen, - es gibt für
alle „ein Gesetz, nach dem sie angetreten", das ihre Morphologie
bestimmt, um ein heute viel mißbräuchlich, weil weitgehend sche-
matisierend und dadurch entleerend, gebrauchtes Wort zu ver-
wenden, einfacher gesagt, ein Gesetz, das ihre allgemeine und doch
ganz besondere Gestalt determiniert.
Die Gestalt der ägyptischen und babylonischen Antike, ihr Ge-
ronnenheitscharakter, ist verstehbar aus einer für beide Gebiete
gleichen Ursprungssituation, die soziologisch in ihrer Art faß-
bar ist:

Der technisch-zivilisatorische Apparat und die Gesellschafts-


und Staatsbildung, die ihn umkleidete, die beiden Dinge, die
sowohl Ägypten wie Babylonien zu den ersten Gestaltungen der
eigentlichen Geschichte gemacht haben, erhoben sich in ihnen, die
beide eben am Anfang der Geschichte standen, innerhalb eines
seelischen und religiösen Gesamthabitus des Lebens, der durchaus
noch der von Naturvölkern war, von welchen allein sie ja da-

147
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

mals auch rings umgeben waren, und gleichzeitig im Rahmen einer


intellektuellen Entwicklungshöhe, die diesem primitiven seelisch-
religiösen Gesamthabitus durchaus entsprach. Im Gegensatz zu
allen späteren geschichtlichen Gestaltungen ward diesen ersten
kein Geistes- oder Kulturerbe eines vorangegangenen, hochstehen-
den fremden Intellektualisierungs- oder Kulturprozesses in die
Wiege gelegt, als sie erwachten, nichts dergleichen als Basis unter
die Füße gegeben, als sie stiegen. Sie fingen geistig gewissermaßen
aus dem Nichts an, als sie daran gingen, innerhalb einer schwer-
flüssigen, stummen und völlig dumpfen Umwelt in höchst eigen-
artiger rationaler Weise sich zu gestalten, zunächst eben durch eine
vorher auf der Erde nie gesehene technisch- wirtschaftliche äußere
Rationalisierung ihres Daseins und durch eine organisatorisch
hochstehende, vorher auch noch nie gesehene Staats- und Gesell-
schaftsformung, die hier wie sonst hornviehzüchtende Einwanderer-
schübe schufen. Daß sie in dieser Weise als gesellschaftlich-staat-
liche Erstgeburten der Geschichte aus dem barbarischen Nichts
entsprangen, schuf ihr historisches Wesen. Es fixierte ihre Gestalt,
solange sie eigengesetzlich blieb, durch ein ganz bestimmtes
Verhältnis, in das es ihre aufkommende technische und gesell-

Form zu ihrem seelischen Habitus stellte, Kultur-


schaftliche
bewegung, Gesellschafts- und Zivilisationsprozeß bei ihnen in
Beziehung setzte.

IV. Nähere Analyse

Dies näher:
Es bedarf nicht vieler Worte über das animistisch-magische
Eingehülltsein aller Lebenstatsachen in beiden Stromgebieten zur
Zeit der Ausbildung ihrer ersten hochstehenden Gesellschafts-
formung. Waren Ägypter und Babylonier zu dieser Zeit noch wirk-
lich seelisch-geistig Primitive in ihren Ober- wie in ihren Unter-
schichten - und das waren sie -, so ist dieses Eingehülltsein für
jeden Geschichtssoziologen ebenso selbstverständlich wie das
Fehlen der begrifflichen Abstraktion im geistigen Leben, die Ge-
genstandsgebundenheit des Denkens und das Ersetztsein der Vor-
stellung von einem konstanten Zusammenhang der Dinge in

148
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Gestalt einer Kausalordnung durch die Annahme einer fortgesetzten


geheimnisvollen Kraftbeziehung zwischen Mensch und jedem Teil
der Umwelt. Das alles ist überall vorhanden, allgemeine seelisch-
geistige Qualität der Primitiven.
Daher: die wahllose Anbetung der äußeren Daseinsmächte, der
Versuch, sie magisch-mantisch zu beeinflussen, Furcht und Angst
vor allen das Leben umfangenden Naturgewalten, eine allgemeine
religiöse Haltung, die über Fetischismus und Totemismus noch
nicht weit hinausgekommen und die auch dort, wo sie das Da-
ist,

Formen faßt, es also beispielsweise


sein schon in allgemeineren
unter den Schutz von Lokal- und Stammesgöttern stellt, deren
Sinn doch noch durchaus dahin versteht, daß man in ihnen auch
die gesellschaftliche Formierung anschaulich wie ein Naturwesen
oder eine Naturkraft begreift und zu beeinflussen sucht. Deifi-
zierung also auch der gesellschaftlichen Kräfte, wie des Natür-
lichen, oft in der Form dem alten Totemismus nahestehender
tierischer oder halbtierischer Gestalten. Selbstverständlich Opfer,
Kult, Magie, um auf diese gesellschaftlichen Kräfte dieselbe Art
des Einflusses zu gewinnen wie auf den animistisch empfundenen
Hintergrund aller Dinge und Wesen, von denen man umgeben ist.
- Dies, diese Art des Chthonismus, das religiöse Milieu, in dem sich
in beiden Geschichtskreisenlangsamer oder rascher die schließlich
allesumfassende bürokratische Gesellschaftsgestalt erhebt, zu-
sammengefaßt und zur Vollendung gebracht durch den Großkönig
oder Pharao an ihrer Spitze. Diese Gesellschaftsgestalt mußte in
dieser seelischen Verfassung sogar als der wesentlichste Teil des
eigentlich körperhaften Daseins empfunden werden, in dem man
sich nun befindet: wie eine riesige neue Naturtatsache, die ent-
scheidende, von der man abhängt. Und dabei mußte der Pharao
oder Großkönig selbst, der die Kanäle und Dämme baut und unter-
hält, die unzuverlässige und ungleichmäßige, partikuläre Wasser-
versorgung der miteinander rivalisierenden Gau- und Stadt-
fürstentümer durch ein einheitliches System ablöst, mit dem er
jedem eine gesicherte Fruchtbarkeitsmenge jährlich auf seinen
Acker führt, der also im buchstäblichen Sinne des Worts an die
Stelle des guten Wetters und der hinter ihm stehenden Natur-
gewalten tritt, für die Vorstellung die größte, anbetungswürdigste,

149
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

entscheidendste Quasi- Naturgewalt werden, unter der man lebt.


Sie mußte an seelischem Gewicht im Dasein zu etwas ganz an-
derem, unendlich viel mehr Bedeutendem heraufwachsen, als
irgendein noch so mächtiger Beherrscher eines vielleicht noch so
fron- und abgabepflichtigen Volkes, das in seinen Wirtschafte- und
Lebensverhältnissen doch in die reinen Naturgegebenheiten des
Daseins eingebettet bleibt. Er, dieser Beherrscher und Regulator
der Fruchtbarkeitsmaschine, tritt ja mitsamt der ihm unterstellten
Personalhierarchie weitestgehend an die Stelle der Naturmächte
selbst.- Nichts selbstverständlicher daher, als daß der religiöse
Mantel, der über allen lebenswichtigen Dingen lag, auch über ihn
und seinen Apparat gelegt wird, über alles, was zu ihm hinauf-
führt und ihn umgibt, daß die neue Staats- und Gesellschaftsform
mit ihrem Zentrum in dem Heraufsteigen aus dem Nilschlamm die
ganzen religiösen Kräfte, die über das einfache Leben bisher aus-
gebreitet lagen, gewissermaßen mit sich heraufhebt, sie transfor-
miert und über alle ihre Glieder legt. Daß ihr Haupt über die
Lokalgötter wie der Zentralgott oder doch der Vertreter und
Repräsentant der über allen anderen sich jetzt erhebenden Zentral-
götter heraufwächst. Daß er und sein Zentralsystem personifika-
torisch mit der Allgewalt der Gottheiten, die sich nun als Ausdruck
der Vereinheitlichung des Daseins über den lokaleren erheben,
in Verbindung gebracht, gewissermaßen Träger und Vertreter
derselben wird, und seine institutionellen ihn umgebenden Gestal-
tungen davon ihr Teil erhalten.
Der Pharao oder Großkönig mußte auf dem Sockel der Ein-
richtungen, die ihn tragen, in den Himmel wachsen. Dort, wo sich
seine Position und diese Einrichtungen am meisten festigen, un-
gestört von außen durch ein Jahrtausend, durch eine Zeitspanne,
so groß wie von Karl dem Großen bis Napoleon, gleichmäßig ihre
Kraft entfalten können, wird er in dieser Zeit daher tatsächlich
etwas wie ein wirklicher Gott, der Sohn der Sonne, der unter den
Göttern nach seinem Tode selbst der Mächtigste ist, bei dessen
Ankunft im Himmel die anderen Götter zittern. Sein Grabmal,
die Pyramide, die er in den Jahresringen seiner irdischen Existenz
durch die Überschußarbeit seiner Untertanen in die Höhe steigen
läßt, symbolisiert dies In-den-Himmel- Wachsen, und gleichzeitig

150
:

DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

das Eingesogenwerden der Lebenskräfte des Landes in den hierati-


schen Aufbau. Dort, wo die fortgesetzten Sturzbäche der Über-
fremdung den Aufbau immer wieder erschütterten, ohne ihn aller-
dings im Wesen durch etwas Anderes zu ersetzen, wo er aber viel
weniger monumental und stabil war, in Babylonien bleibt der
König - abgesehen anscheinend von einer kurzen Zwischenperiode
Sargon - im allgemeinen Gefühl viel stärker höheren Schicksals-
mächten unterworfen. Er erhebt sich nur zum auserwählten
Gottesfreund, allerdings auch hier die übrigen Menschen als ein
anderes, kleineres Geschlecht unter sich lassend. Dabei der merk-
würdige Effekt, daß auch hier der Monumentalausdruck des Lan-
des etwas in den Formprinzipien der Pyramide wenigstens entfernt
Ähnliches wird, bekanntlich der Zikkurat (Turm zu Babel), auf
dessen Spitze das Göttliche thront: wie schon in der Naramsim-
Stele (ca. 2600 v. Chr.) der König zwischen dem Zwergengeschlecht
seiner Untertanen riesengroß zu einem pyramidenartigen Obe-
lisken hinaufsteigt.
Wesentlich ist: nicht die Gewalt trägt diese Hierarchisierung
und ihre Konsequenzen. Sie kann es gar nicht; so zweifellos sie den
äußeren Aufbau derselben anfänglich über der Zersplitterung
irgendwie geschaffen hatte, und beim Zerbrechen ihn immer wieder
zusammenfügen muß. Nur religiöse Anbetung der Spitze als einer
durch die Herstellung und Sicherung der Ordnung lebenspenden-
den Naturmacht, und nur die Weihe, die sich von da aus über den
ganzen Aufbau breitet, sichert diesen und die gewonnene Ordnung.
Die Pharaonen des alten ägyptischen tausendjährigen Reichs
konnten regieren ohne stehendes Heer, nur mit Gaumilizen, also
dem Aufgebot der breiten Massen der Bevölkerung selbst. Und sie
konnten auf dieser Basis doch die phantastische, bei der primi-
tiven Technik mit kaum ausdenkbaren Mühen verknüpfte Ver-
wendung der Arbeitskraft ihrer Untertanen in ihre eigene Ver-
ewigung in Stein vollziehen. Selbst das Monumentalbildnis der
Kleinbeherrscher des in Stücke gegangenen ägyptischen Reichsauf-
baus, der Nomarchen, wird, wenn diese auch nur einen Teil der
Segnungen der verfallenen Lebensordnung wieder herzustellen
imstande sind, nach den Inschriften auf diesen Bildnissen freiwillig
von der Bevölkerung an seinen religiösen Platz gezogen. Es ist

151
:

DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

eben die Lebensordnung, von der man existiert, selber, die man
inden zentralen Trägern des hierarchischen Aufbaus und je nach-
dem auch seinen Unterträgern religiös verehrt.
Das ist die Grundtatsache. Man rufe sich nun die Art und den
bekannten Inhalt der Gebräuche der beiden „Staatsreligionen",
der ägyptischen und babylonischen, lebendig in die Vorstellung
zurück. Man sieht dann deutlich, wie unverfälscht im Grunde in
ihnen der primitiv naturvolkhafte, der magistische Charakter des
religiösen,über die neuen Formen gelegten Mantels blieb. Gewiß
hier wie dort wächst ein staatsreligiöser Apparat herauf über die
Niederungen der alten Volksreligion, über die nur bis zu den Ge-
stalten einiger Lokalgötter fortgebildete Volksdämonologie und
deren Ritus. In der Göttergliederung, in seinem Kultus, Gepränge,
Formen und Monumenten erhebt er sich in glei-
seinen äußeren
chem Maß wie der bürokratisch durchgebildete und gegliederte
weltliche Apparat über der vorangegangenen gesellschaftlichen
Ur- und Zwischenexistenz. Infolgedessen ein offizielles Pantheon,

in Babylonien bekanntlich ganz systematisch durchgebildet, in


Ägypten loser und zufälliger verbleibend, das aber immer den
„Verwaltungsgott" der zentralen Stadt oder des Residenzgaues,
vielfach mit der Zentrale wechselnd, als ersten über die anderen
Götter heraushebt. Ihm wird durch Göttermischung und Identi-
fizierung, eventuell auch Mythenbildung die übrige lokale Ver-
waltungswelt der Götter affiliert und verbunden um so das Reich
:

der religiösen Phantasie in seinem oberen Bezirk, vor allem aber


auch die religiöse „Zuständigkeit", zu ordnen, so wie die gleiche
Ordnung in der weltlichen Sphäre durch die zentrale Bürokratie
geschaffen war. Wenn man den alten Volksglauben nicht etwa
zerstört, vielmehr als Verehrung den täglichen Bedürfnissen nahe-
stehender Naturgewalten, als Dämonologie und Geisterglauben
gewissermaßen nur in ein unteres Stockwerk einrangiert und
weiterwuchern läßt, so tritt andererseits ein unerhört einseitiges
Ausgerichtetsein der Heilsinhalte der oberen staatsoffiziellen Re-
ligionsetagen auf das Wohl der offiziellen Verwaltungsinhaber ein,
letztlich beinahe auf den Großkönig oder Pharao und seine engere
Umgebung. Hofreligion also nicht bloß am Hof, sondern für den
Hof, trotz ritueller Bindung des ganzen Volkes durch sie.

152
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEX

Aber die Götter dieser im größten Stil zeremoniös und prächtig


gewordenen Staatsreligion staken in Ägypten auch nach ihrer
Offizialisierung zum großen Teil noch ganz oder halb in Tierleibern,
wurden im ägyptischen Busiris sogar noch ganz fetischistisch in
einem hölzernen gottbewohnten Pfahl verehrt. Sie waren auch
dort, wo ihre Vorstellung bereits von primitivem Naturkraft ani-
mismus und Magismus durch etwas wie Abstraktion stärker ab-
gehoben erscheint, sie in ihren Bildern schon ganz vermenschlicht
waren, in Babylon, doch noch rings umgeben von jenen fabel-
haften Mischwesen, Menschentieren, geflügelten Menschenlöwen
u. dgl.; keineswegs, wie schon gesagt, harmlosen, dekorativen
Erfindungen, wie wir sie heute fühlen, sondern ganz sichtbarlich
hineinragenden, auch letztlich naturreligiös-magisch animistischen
Elementen 1 ). Der Ritus der Götterverehrung, für Ägypten so ge-
nau bekannt, vollzieht sich in der Gestalt der täglichen Neu-
bekleidung, Salbung, Speisung des Gottes in seinem Bild. Ihre
Gebetsbeeinflussung geht ganz rituell-mantisch vor sich, durch
Zaubersprüche bis zur Verwendung einfacher Wortmagie. Die ge-
samten Pyramidentexte, Sarg- und Totenbücher Ägyptens, ganz
ebenso wie die Sprüche auf den sumerisch-babylonischen Königs-
statuen sind weitgehend eine Mischung beider Dinge. Dort, wo das
persönliche Unsterblichkeitsverlangen das religiöse Zentrum bil-
dete, wie in Ägypten, behandelt man auch den Toten, trotz hoch-
stehend technisch und zeremoniös durchgebildeter Formen, die
den bekannten großen künstlerischen Effekt gewissermaßen aus-
schwitzten, doch dem Wesen nach nicht anders wie bei den Wilden.
Wenn man bei diesen dem Verstorbenen möglichst viel Habe,
viel Nahrung u. dgl. fürs Jenseits mit ins Grab zu geben trachtet,
so systematisiert man das hier einfach, indem man ihm außer den
ins Grab mitgegebenen Schätzen und Bedarfsgegenständen täg-
lich eine möglichst reiche Nahrung symbolisch zuführt in der Ver-
sorgung seines figürlichen Substituts damit, des Standbilds. Wo-
bei man gleichzeitig das eigentlich persönliche Empfangsgehäuse
x
) Der „prachtvolle Menschenstier" aus Tello (sumerische Gudeazeit, ca.
2100 v. Chr.), „wohl der Träger einer auf ihm thronenden Götterstatue" (L. Cur-

tius S. 251), ist selber natürlich ursprünglich ein Gott, ein Stiergott, eine ganz
animistische Bildung und für das im Text Gesagte paradigmatisch.

153
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

der Nahrungszufuhr und Pflege durch Einbalsamieren bekanntlich


konserviert.
Alles im höchsten Grad barbarisch, noch ganz unmittelbar aus
der Hand der einfachsten Ursprünglichkeit und Wildheit; wenn
man es nicht auf die verfeinerte Form, sondern auf inneren Gehalt
und Wesen anschaut. In höchst grotesker Weise ein Mischprodukt
aus hoher Zivilisation und Primitivismus. Ein hoher Technizismus
in seelisch primitivster Imprägnierung.
Was aber war in Wahrheit dieser Technizismus und dieses hier-
archisch gegliederte Leben, das in solcher Weise imprägniert
ward ? Hier gelangt man zum eigentlichen Kern der soziologischen
Denn die in dieser Art geweihte Macht, die immer
Konstellation.
von dem Hauch des Uranfangs umweht blieb, mit einem Halbgott
an der Spitze, war ja auf der anderen Seite organisatorisch
äußerlich einfach eine ganz rationale, bis zum letzten durchge-
bildete bürokratische Maschine. Die erste ihrer rationalen und
technisch verfeinerten Art auf Erden. Ihre Seele war eine Schrei-
berhierarchie, beschäftigt damit, die Bewegungen des alltäglichen
Lebens in sich aufzufangen, in regelmäßigen Zählungen und Mes-
sungen zu kalkulieren, nach diesen Kalkulationen die Natural-
abgaben, Robot und Fronden, aufzulegen, die abgelieferten Beträge
zu registrieren. Diese Schreiberhierarchie ist gewissermaßen
die staatlich-wirtschaftliche Innenansicht desgesamten Daseins-
aufbaus, eine graue, gleichmäßige Schicht. Sieist, da die Verwal-

tung ja in alles eingreift, beinah neben jedem Tageshandeln da;


„allgegenwärtig", so wie der Schreiber auf den ägyptischen Dar-
stellungen fast aller für das Allgemeine wesentlichen alltäglichen
Lebensvorgänge vorhanden ist - in seiner typischen Haltung auf
den untergeschlagenen Beinen sitzend, in der auf seinen Knien lie-
genden Papyrusrolle den Eingang der Erträge oder, was es sonst
sein mag, verzeichnend. Etwas wie die tickende Uhr der Maschine-
rie, die um das Leben her war, stets zugegen, nicht bloß hier, nicht

bloß in Ägypten, sondern selbstverständlich im prinzipiell gleich


organisierten Euphrat-Tigrisbecken ebenso. -
Dieser Schreiber war aber dabei der Angehörige einer nicht nur
einflußreichen, sondern gleichzeitig außerordentlich eingebildeten,
hochmütigen Schicht, die sich als Abglanz der göttlichen pharao-

154
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

irischen oder großköniglichen Weltregierung fühlte, von der Be-


völkerung abgehoben allein schon durch das besondere Geheimnis
der „Schrift", mit deren Kenntnis jeder ihrer Angehörigen den
Marschallstab für das Hinaufstreben bis zu den höchsten Stellen
im Tornister trug. Vielleicht zum Teil von unten kommend, doch
in Berührung von Anfang an schon mit den Söhnen der Großen,
ja unter Umständen den Verwandten des Königs, die auch als
Schüler der Schreibstuben beginnen mußten. So wenigstens prin-
zipiell und der Tendenz nach über allen Abweichungen, die aus

den zeitweisen Feudalisierungen, Erblichkeiten u. dgl. folgten.


Aus der „Kanzlistenschicht" der Schreiber wuchs der gesamte
Knochenbau des anordnenden und ausführenden Beamtentums, ja
auch das repräsentative Beamtentum, auch die Außenseite
der Verwaltung und letztlich sogar die eigentlich leitende, den
König unmittelbar beratende und umgebende oberste Spitze der
Verwaltung und Regierung hervor. Diese Schicht ist das Grund-
element des geistig Gesellschaftlichen, wir sahen das schon bei
der Betrachtung der sozialen Dinge, die alles umfassende eine
geschlossene Substanz* die überhaupt, gesellschaftlich gesprochen,
in Betracht kommt, der Stoff des Staats, die „Gesellschaft", zu
der alles, was handarbeitet, nicht nur der Bauer, sondern auch
der Handwerker und der Künstler, deren Hände „hart wie Kro-
kodilhaut" sind und die „ärger als Fischrogen stinken", aufzu-
blicken hat und aufblickt; ganz gleich ob frei, ob unfrei, von ihr
durch die ungeheure Kluft des Schriftgeheimnisses getrennt.
Nirgends hat eine Bürokratie in solcher Einheit und solcher
Massigkeit, so weit erhaben, so sehr den sozial und geistig in Be-
tracht kommenden gesellschaftlichen Oberbau durchdringend,
ja ihn in seiner wesentlichen Substanz selber bildend, den geistigen
Daseinsglobus, das eigentliche Subjekt des historischen Geschehens
repräsentierend, über der bloßes Objekt ihrer Verwaltungstätig-
keit gewordenen, ganz ahistorisch bleibenden Masse der Bevölke-
rung gestanden, wie in dieser ersten menschlichen Entwicklungs-
welt. Das heißt nun : die trotz ihrer Formung zur zeremoniösesten
Staatsreligion nach dem Gehalt und dem zugrunde liegenden
seelisch-geistigen Habitus durchaus primitiv gebliebene Reli-
giosität, die sich über den Staats- und Gesellschaftsaufbau

155
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

wie über eine Naturtatsache legte, hatte dabei zum lebendigen


Partner, der sie aufgriff, formte, für seine Zwecke nutzte und ge-
mit seinen Tendenzen verband und so die religiöse Über-
staltete,
deckung zur ganz realen Wirksamkeit gestaltete, eine gleichzeitig
durch den gesellschaftlichen Aufbau und seine Zeitbedingtheit
einzigartig in der Geschichte dastehende Bürokratie. Diese beiden
Mächte, in der durchaus unvergleichlichen Form, in der sie sich
gegenübertraten, gingen eine Ehe EsistdieseEhe, diedas
ein.

Daseinsgesetz des alten Ägypt en und Babylonien, beider


Geschichte und beider Kulturausdruck geschaffen hat.
Durch sie ist die Konstanz die sichtbare Form dieses Daseins- und
Wesensgesetzes geworden.
Man kann sicher zweifelhaft sein, ob nicht jede Bürokratie ihrer
Tendenz nach das Dasein fixierend und versteinernd, traditionali-
stisch und konservativ sein muß. Jede klebt unzweifelhaft in ihren
ausführenden Organen am ,, AktenVorgang", nachdem sie am
leichtesten ihre Aufgaben formal und sachlich immer in dem gleichen
Schema ausführt. Obgleich man niemals die großen Beispiele hi-
storischer Organisationen mit technisch durchaus bürokratischem
Rückgrat vergessen umgekehrt aufrührend, be-
darf, die gerade
wegend und modernen
fortschrittlich gearbeitet haben, wie die
Staaten der absolutistischen Periode in vielen Exemplaren, das
moderne Heer, und andere.
Man kann für Ägypten und Babylonien hinzufügen, daß in
ihnen, solange sie jene erstgeformten historischen Frühgebiete
blieben, der Inhalt der bürokratischen Aufgabe selber denkbar
konservativ war, weil etwas einfach und immer gleichmäßig sich
Wiederholendes in sich fangend. Die damalige Monotonie der Ge-
samtexistenz in den beiden Stromgebieten, die Einfachheit des
Lebensrahmens und der Lebensvorgänge; bei Ägypten die noch
wirklich weitestgehend vorhandene Eingeschlossenheit in jene bei-
den den Nil begleitenden öden Felsenwände, hinter denen auf
beiden Seiten nichtsals die weiße Wüste wartete; bei Sinear der
zwischen Wüste und der riesigen Nordostwand liegende, trotz
völligem Anderssein das Dasein ähnlich vereinfachende Natur-
rahmen, hier wie dort kein Wald, keine Gebirge, Täler, Bäche,
verschlungenen Flüsse, Pässe, keine natürliche Vielfältigkeit; die

156
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

immer gleichen Vorgänge also unter der gleichen Sonne; das ein-
zige Ereignis, das aus der Natur kommt, das auch gleichmäßig
sich wiederholende Auf und Ab der vorbeiflutenden Gewässer,
welche die Felder überdecken und wieder trocken legen: In
einer solchen schon in Regelmäßigkeit und Wiederholung beinahe
ohne jede Ablenkung eingespannten Welt galt es das Regelmäßige
noch des weiteren zu „regeln", die Regelmäßigkeiten gewisser-
maßen ganz exakt zu machen und darauf die Existenz von
Tausenden und das Gesamtdasein zu gründen. Eine sehr starke
Unverrückbarkeit des Sachgehalts der Verwaltungsaufgabe war
hier vorhanden, und eine von innen kommende Verstärkung natür-
licher Stabilisierungs-, Fixierungs- und Schematisierungsneigun-
gen des bürokratischen Apparats demnach gegeben. Aber was
doch nur aus jener Ehe dieses geschichtlich ersten büro-
eintrat, ist
kratischen Apparats mit der geschilderten primitiven Religiosität
und Geistigkeit verständlich.
Die religiöse Weihe als solche hätte, so gewiß auch sie in jedem
Fall Retardationen aller Umformung in sich trägt, doch der Be-
weglichkeit noch weite Bahn lassen können. Auch über dem Leben
und dem Staate der späteren griechisch-römischen Mittelmeer-
antike, ihren politischen Institutionen und Aktvollzügen hat reli-
giöse Weihe in stärkstem Maß gelegen, ohne doch ihre geistige und
in immer wiederholten Revolutionen sich vollziehende politisch-
gesellschaftliche Umformung zu hindern. Hier jedoch war diese
Weihe eine primitive, sie war noch ausgeprägt rituell-magisch,
sie klebte, wie auseinandergesetzt, noch an den rituellen Formeln.
Abweichung von diesen Formeln noch gerade wie
Sie fürchtete jede
der Wilde das Unwirksam werden eines verkehrt gesagten Zauber-
spruches. In dieser Gestalt, in der Form eines noch wort- und
sachmagischen Ritualismus legte sie sich über die rational perfekt
gewordene äußere Ordnung und vollzog dadurch jene Ehe mit
deren bürokratischer Seele. Es ist in Worten kaum auszudrücken,
und für uns Heutige kaum noch nacherlebbar, welche einfach ver-
steinernde Kraft der Gesamtritualisierung und Fixierung des
Daseins, des äußeren und selbstverständlich - und das war in
Wirklichkeit das noch viel Wichtigere - des geistigen daraus
erwachsen mußte.

157
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

V. Konsequenzen für die intellektuelle Entwicklung


und Gesellschaftsformung

Zunächst vom Geistigen und seiner Nichtbewegung. Wir über-


blicken in beiden Stromgebieten geschichtliche Zeiträume von
Jahrtausenden, zeitliche Kontinuen, viel länger als unsere eigene
Geschichte. So primitiv ganz selbstverständlich nach allem, was
ich sagte, in der Zeit der soziologisch-historischen Geburtsstunde
der beiden Geschichtskreise als hochorganisierte Körper ihr gei-
stiger Apparat war, so bestimmend die Gegenstandsgebundenheit
des Denkens, das Fehlen der Abstraktionsfähigkeit im geistigen
Gesamthabitus sein mußte, das alles brauchte nicht zu bleiben.
Man würde eine auflockernde und irgendwie umgestaltende Fort-
bildung erwarten. Ganz zu schweigen von einer eigentlichen
geistigen Entwicklung zu durchgängig mehr abstrakteren Denk-
beherrschungsmitteln der Wirklichkeit, wie man das bei den
andern Kulturvölkern gewöhnt ist. Denn eine solche folgt aus den
Tendenzen der Eigenbewegung des gegenüber der mannigfaltigen
Wirklichkeit in seiner Entfaltung einmal wirklich freigesetzten
menschlichen Geistes mit Notwendigkeit.
Doch davon nichts. Die Sprache, soweit sie technisches Instru-
ment des Geistigen ist, das täglich stündlich zwischen allen im
Gebrauch ist, schleift sich ab, verändert sich derart, daß sie das
Neuägyptische als Umgangsmittel, ja dann auch Literaturausdruck
hinter das Altägyptische setzt, so daß die offizielle Amtssprache
zum mindesten „althochdeutsch" wird. Während im semitischen
Babylonien das uralte Sumerische als solche Offizialsprache wie
ein Latein benutzt wird. Die Schrift, die aus Gründen ihrer histo-
risch-frühzeitigen staatlichen und religiösen Offizialisierung und
damit Fixierung noch mit Bildern oder massiven Lautzeichen,
wenn nicht durchgängig bestritten wird, so doch durchsetzt ist,
und bei welcher in Ägypten bekanntlich im Hieratischen eine ziem-
lich weitgehende technische Abschleifung ihrer alten Zeichen
durch den jahrtausendlangen Gebrauch deutlich sichtbar ist, ge-
langt zwar nicht, eben wegen ihrer frühen Fixierung nicht, zu
jenem Schritt der Abstraktion, den jede rein alphabetische Schrift
bedeutet. Aber sie hat in anderen Hilfsmitteln, den bedeutungs-

158
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

klärenden und -ändernden sog. Determinativen, in Babylonien


auch den Gunnierungen - ich setze die Technik dieser Dinge hier
nicht näher auseinander -, seit ihrem Bestehen schon die Möglich-
keit der Einfügung auch abstrakter Begriffe in ihr anfängliches
Dingverhaftetsein. Jedoch, selbst die soviel abstrakter veranlagten
oder durch ihre wechselvollere Geschichte so gewordenen Baby-
lonier 1 ) gelangten niemals zu dem doch noch sehr anschaulichen,
abstrakten Oberbegriff „Getreide", soweit ihr Schriftzeichen-
bestand einen Rückschluß zuläßt. Geschweige zu dem schon
unanschaulicheren „bewegliche Sache". Oder gar den ganz unan-
schaulichen Oberbegriffen eines juristischen Systems wie „Fahr-
lässigkeit",„Vertrag" im allgemeinen usw. Der unendlich viel
anschauungsgebundenere Ägypter gar erobert in der Mathematik,
soweit wir sehen, nicht einmal die relativ abstrakten Regeln der
Division. Er muß sich eine Division, obgleich er bis zum Bruch-
rechnen gelangte, vielmehr stets empirisch rückläufig aus einer
Multiplikation eben des Divisorsund der Resultatzahl klarmachen.
Und auch eine Multiplikation vermag er nur in der Gestalt einer
kombinierten Zahl von einfachen, anschaulichen Additionen vor-
zunehmen 2 ). Und dieses Stehenbleiben in Ägypten bei einem Volk,
das jene unerhörten Sublimierungen des Gefühlslebens erreicht hat,
die wir in vielen seiner späteren Kunstwerke bewundern, und das
im religiösen Innenleben, soweit dies nur Empfindungsausdruck dar-
stellt, gleichfalls an einzelnen Punkten zu Verfeinerungen fortge-

schritten ist, die höchstem Kulturniveau entsprechen, wovon gleich


noch ein Wort zu sprechen sein wird. Im Intellektuellen und der von
dessen Weiterbildung abhängenden Formungsseite des Geistigen
aber völlig primitive Festgelegtheit durch die Jahrtausende.
Das ist nur zu begreifen, wenn man
sich eben klarmacht, daß
die primitive Dinggebundenheit des Denkens nichts Selbständiges
und Zufälliges im Totaldasein bedeutet, sondern nur die intellek-

x
) Die fortwährende Völkermischung mußte in Babylonien zum geistigen
Prozeß des Vergleichens, dem Anfang aller Abstraktion, führen. Ob dies oder
ursprüngliche Anlagen für die abstraktere intellektuelle Qualität des dortigen
Geschichtskreises entscheidender war, läßt sich natürlich nicht bestimmen.
2
) Hermann Schneider, Kultur und Denken der alten Ägypter, und Erman-
Ranke, S. 301.

159
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

tuelle Seite der Sach- und Wortmagie darstellt, in die jedes frühe
Volk, das wir kennen, religiös verstrickt ist. Und daß, solange
dieses magisch-animistische Wesen der gesamten Umwelt nicht
verflüchtigt, gelöst,verschwunden oder wenigstens zurückgerückt
ist, auch jede intellektuelle Allgemeinerfassung der Dinge und

Ding-Zusammenhänge, jede Fortentwicklung der Begriffsbildung


zu Oberbegriffen, und damit natürlich auch jedes allgemein-
logische Schließen und jede generelle Kausalverknüpfung der Dinge
der Außenwelt zu einem Kontinuum ausgeschlossen ist. Es ist
durchaus einleuchtend, wenn Hermann Schneider den Ägyptern
das Fortschreiten bis zum Syllogismus überhaupt abstreitet und
behauptet, daß sie auf der Stufe von Analogieschlüssen stehen ge-
blieben sind. Die endlosen Wiederholungen des Gleichartigen, mit
denen sie (wie alle Primitiven) jede Konsequenz deutlich zu ma-
chen suchen, wird dadurch ebenso verständlich, wie das ihre ganze
Kunst durchziehende Wiederholungsprinzip (unaufhörlich Wie-
derholung derselben Königsstatue, Sphinx-Alleen u. dgl. 1 ), wobei
man immer die Empfindung hat, daß es das Wort „also" noch
nicht gibt. Auch die intellektuell entwickelteren Babylonier sind
demnach zu einer generellen Kausalverknüpfung der Dinge der
äußeren Wirklichkeit in sich niemals gelangt. Ihre Astrologie und
Omenwissenschaft kann man nur mißverständlich als Ansatz dazu
deuten 2 ). Sie war in Wirklichkeit die Erforschung des völlig will-
kürlichen Willens geheimnisvoller äußerer Mächte, ohne eigent-
liche Fragen nach der logisch-kausalen Verknüpfung des in Frage
stehenden Handelns oder Ereignisses mit der Kundgebung dieses
Willens nur ein sublimierterer gewissermaßen „passiver" Teil der
;

bestehenbleibenden allgemeinen Sach- und Wortmagie, in die das


babylonische wie das ägyptische Denken eingeschlossen blieb, ge-
kettet daher an die Dinge und ihre metalogischen Beziehungen
zum Menschen. Daß das bestehenblieb, war das Entscheidende.
Und daß es blieb, das war die Folge jener Ursprungssituation und
ihrer Konsequenzen.
Es liegt nahe, bei den Konsequenzen des soziologischen Inhalts
x
) Daß diese Wiederholungen natürlich auch eine künstlerisch positive Seite
haben, wird nicht geleugnet.
2
) Das tut fälschlich Hermann Schneider, Babylonier und Juden S. 513.

160
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

dieser Ursprungssituation, der Ehe zwischen Bürokratie und Ma-


gomantik, die sich über alles legte, das handgreifliche Interesse in
den Vordergrund zu schieben, das die herrschende Bürokratie
selbst - im weltlichen oder geistlichen Gewand - dabei an eben
jener Umkleidung der bürokratisch-zentralistischen Daseinsfor-
mung mit primitiv-rituell fixierenden und schützenden
einer
Weihe Daher auch an der Aufrechterhaltung der letzten
hatte.
geistigen Voraussetzung dafür, des Eingebettetbleibens oder Den-
kens zum mindesten der Massen in Sach- und Wortmagie. Sie
schützte damit ganz augenscheinlich ihren eigenen Herrschafts-
sockel. Aber diese machiavellistisch-materialistische Erklärung
versagt auch hier wieder, soll wirklich Entscheidendes damit
gesagt sein. Denn nicht nur die breiten Massen des Volks, sondern
seine herrschende, hier machiavellistisch interpretierte Schrift-
gelehrtenschicht selber, der Geist, das Denken dieser Geschichts-
körper überhaupt, blieben durch alle Zeiten in diesem Kreis
befangen. Noch in den ganz späten Erzählungen der Schriftgelehrten
beider Geschichtskreise vermag man einen Gott, eine animistisch
verstandene Naturkraft zu beherrschen, zu bannen, indem man
deren Namen ausspricht, der noch durchaus wie ein selbständiges
Ding behandelt wird 1 ). Und wie bei den heutigen Naturvölkern:
durch die Verkleidung des Priesters als Gott, die bildliche
Sachnachahmung also, kann man den Gott, die geheime auf
den Menschen bezogene Kraft der Sachen und Vorgänge, gegen-
wärtig machen. Primitivste Anschauungsgebundenheit und -gläu-
bigkeit 2 ). Dementsprechend natürlich kein Zufall, wenn in der
technisch, auch geistig in mancher Beziehung, so hochentwickelten
und im Altertum berühmt gewordenen Schriftgelehrten-Medizin
der praktisch gerichteten Ägypter, in der sie sich am weitesten von
primitiver Magie entfernt haben, ähnlich wie die Babylonier in
ihrer Astrologie, doch die Krankheiten zum Teil lebendige mann-

*) Das gilt auch für den Verkehr der Götter untereinander. Man denke an die
„List" der Isis gegenüber Re in der bekannten Mythe; abgedruckt z. B. bei Er-
man-Ranke S. 301 ff.

2
) Vgl. auch Hermann
Schneider S. 486 über die Bedeutung der Gleichnisse
bei den Ägyptern. Diese sind nicht Verdeutlichung, sondern reale Metem-
psychosen durch Wortmagie.

161
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

liehe und weibliche Wesen bleiben1 ), und die Dämonologie sich


dort später in derselben Weise wieder breit machen kann, wie sie
es in der Lebenspraxis, im geistigen Haushalt auch der Gelehrten-
schicht der Nachbarstromwelt stets getan hatte.
In beiden Geschichtskreisen liegt eben das Denken und Sein in
seiner Totalität durch ihre gesamte hier besprochene eigenständige
historische Existenz im Bann religiöser Urbildlichkeit. Die-
ses Denken blieb überall dort stehen, wo diese Urbildlichkeit feste
Anschauungsformen hingesetzt hatte. Und das war ungefähr rings
umher um den ganzen Denkbereich der Fall. Wenn dieses Denken
dabei nie diese Schranken überschritten hat, so liegt das daran,
daß es in dieser seiner an sich bereits ganz selbstverständlich rituell
fixierten Art auch noch — das ist das Einzigartige und Besondere —
die schriftliche Evidenz und anschauliche Verkörperung der äußer-
lich perfekt rationalen bürokratischen Aktenmäßigkeit be-
kommen hatte, in diese bereits in seiner Frühzeit gewissermaßen
wie in eine sichtbare, seitdem nicht mehr zu ändernde Gußform
eingeströmt war. Das hat, wenn man die Sache ganz präzis in
ihrem letzten Kern erfassen will, seine Eingefrorenheit und damit
die gesamte Daseinsgeronnenheit geschaffen.
Man hat so viel von den dürftigen und ermüdenden Spitzfindig-
keiten, der leeren Wortmacherei und oft lächerlichen Exegetik be-
sonders des ägyptischen Schreiber- und Literatentums gesprochen,
zwischen welchen in der nicht gehobenen Prosa und in besonderen
Epochen, wie man zu sagen pflegt „die Bäche der Natürlichkeit
hervorbrechen mit ihrem Labsal". Aber für diese ersten Alten war
eben das in der ersten und ältesten Schrift Niedergelegte das in
sakrale Sach- und Wortmagie gebundene Leben, über dessen Art
und Form sie im Denken, in Wissenschaft und Literatur nie hin-
auskommen konnten, eben weil eine relativ hochstehende und
rationale Fixierung so frühzeitig erfolgt war. Letztlich war nur
Interpretation und auslegende Variation erlaubt, so wie, in andrer
Weise, gegenüber dem Talmud für die späteren Juden.
Nur eine Ideenbewegung hätte das brechen können. Diese
x
) Vgl. Hermann Schneider S. 325. Auch in der theoretisch am weitesten fort-
4*
geschrittenen medizinischen Gefäß- (Metu-) Theorie werden die „aufgeregten
Gefäße der Menschen als lebende Wesen angesprochen.

162
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

aber hätte selbstverständlich wieder nur aus einer geistigen, also


Gedankenbewegung und Denkfortbildung folgen können, welche
eben auf diese Weise ausgeschlossen war. Von der einen Richtung,
nach der sie möglich blieb, und dem damit zusammenhängenden,
anscheinenden einen großen ägyptischen Beispiel einer Ideen-,
Denk- und Religionsumwälzung wird gleich gesprochen.
Im übrigen wird man sich jetzt nicht mehr wundern, daß eben,
generell gesagt, keine Auflösung der alten religiösen Urbilder
durch das Denken, keine Erschütterung und Umwandlung der
magisch-mantischen Grundeinstellung zu ihnen und zu den son-
stigen Lebenskräften, keine geistig-seelische Entleerung des darauf
aufgebauten uralten Kults, Ritus und aller ihrer Mittel stattfand.

Und es wird ganz ebenso durchaus begreiflich, daß mit der Aus-
bildung und dem Mächtigwerden eines besonderen Priesterstands,
z. B. im Ägypten des neuen Reichs, dies damals seelisch so hoch-
entwickelte Ägypten doch hilflos der von diesen Priestern jetzt
selbstverständlich als äußeres Herrschaftsmittel mitverwandten
kasuistischen Weiterbildung der Mantik rettungslos verfiel. Die bis
ins Groteske gesteigerte, ganz offiziell mit allem Raffinement auf
die Spitze getriebene, magisch-mantische Versklavung der Spät-
ägypter, die aus den Totenbüchern des neuen Reichs, mit ihren
unzähligen Zaubermitteln für das Jenseits, schon ebenso redet wie
aus den Erzählungen Herodots oder irgendeines Späteren, ist ur-

sprünglich nicht irgendeine „Alterserscheinung", keine Denk- und


Vitalitätsrückbildung gegen früher, sondern nur uraltes, durch
eine bestimmte soziologische Situation in Schein werferbeleuchtung
gerücktes geistiges Wesen, Äußerung einer im Prinzip nie anders
gewesenen geistigen Lage. Ganz ebenso, wie die bis zur Katzen-
und Hundeverehrung gesteigerte Tiervergötterung der späten
Ägypter durchaus rechter, echter Urbestand des Primitivismus
ist. Auch die ägyptische Spätreligion ist eben einfach noch ein

nur geformter zivilisiert und zeremoniös gewordener alter Animis-


mus; ohne diesen gar nicht verständlich.
Diese religiöse, geistige und ideelle Unverändertheit war das
Milieu, in dem Staat und Gesellschaft, durch irgendwelche Ver-
hältnisse äußerlich ins Wanken gekommen, sich immer wieder
restituierten. Es wuchs keine geistige Substanz, keine Ideenwelt

163
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

heran, die seinen Grundprinzipien auch nur im geringsten hätte


entgegengesetzt sein Es bestand und erstand keine
können.
Schicht, in der irgend etwas Derartiges hätte eine Heimat suchen
können. Der einzige geistige Daseinsglobus war und blieb die
Schreiberbürokratie in ihrer Verbindung mit der primitiven Re-
ligiositätund dem urtümlichen Ritualismus.
So konnte und mußte diese Schreiberhierarchie den Staat, die
Gesellschaft, die Wirtschaft, deren Seele und Substanz sie war,
wenn diese zusammengebrochen und verschüttet gewesen, in
immer wieder den gleichen Formen auch unter tatsächlich sehr
verschiedenen Verhältnissen stets wieder aufzubauen trachten.
Die Priesterschaft, die, ursprünglich Laienelement, allmählich in
dieses Schriftwesen immer mehr hineingezogen ward, war als

Stand dann später ganz naturgemäß nichts anderes als der geist-
liche alter ego dieser Schreibersphäre. Gerade dadurch konnte sie
in der Verschwisterung mit dem Reich der Feder dann beispiels-
weise in der letzten ägyptischen Zeit, wo ihr die Pharaonen, um die
Götter für ihre äußeren Kämpfe gut zu stimmen, immer neue
Riesenschätze in den Schoß warfen, so ungeheuren Einfluß ge-
winnen, am Schluß sogar den Spitzenvertreter ihres Schrift-
gelehrtentums und ihres eigenen bürokratischen Apparats an die
Stelle derschwach gewordenen Pharaonen setzen, den Staat also
in der Form
der eigenen Schreiberhierarchie verschlingen. Aber
wie auch immer, ob es zu dieser letzten hierarchisch ritualisieren-
den Synthese kam oder nicht: das Schreibertum lernte in beiden
Kulturgebieten auf der Schule durch alle Zeiten die Maximen und
Verwaltungsgrundsätze der letzten oder vorletzten goldnen Ära
stets wie eine göttlich geweihte ewige Weisheit auswendig, schrieb
in einer Atmosphäre, die der des Festhaltens von Zaubersprüchen
durch Primitive auf seine Tafeln und Papyrusrollen als
glich, sie
Richtlinien seines Lebens und der Gestaltungen, die es beherrschen
sollten, ab suchte das Alte, das in ihnen niedergelegt war, immer
;

wieder auferstehen zu lassen; wurde bei jeder neuen Kristallisation


noch peinlicher in der Befolgung der Wege, die einmal zur Größe
verholfen, und welche die Götter gesegnet hatten; bildete ein
Ritual aus, das in Ägypten den Pharao schließlich zeitweise wie
die Grammatik seines Lebens bannte, ihm vorschrieb, was er des

164
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Morgens zuerst zu tun, in welcher Reihenfolge und zu welchen


Zeiten er den Großvezier, den Verwalter des Schatzhauses und
die anderen Würdenträger zu empfangen, wie er sich den Göttern
gegenüber zu benehmen habe; und machte das Zentrum der
Gesamtmaschinerie am Ende so zum Anker eines gleichgehenden
Uhrwerks, das durch diese Jahrtausende dieselben Stunden zu
denselben Zeiten schlug.
Das ging solang, verstärkte sich solang, bis der geschichtliche
Rahmen, in dem diese beiden Stromgebiete zuerst getrennt, als-
dann in gegenseitiger Wechselwirkung gestanden hatten, gesprengt
wurde und sie Teile großer anderer Blutkreiskörper wurden. Aber
der Geist, der hier entwickelt war, formte sogar noch das Wesen der
ersten Eroberer, der Assyrer, die Lebens- und Verwaltungsmaxi-
men und die gesellschaftliche Organisation dieses aus ganz anderen
Verhältnissen stammenden Berg- und Militärvolks. So daß das
riesige assyrische Eroberungsreich, obgleich seine eigentlichen
Daseinsunterlagen dauernd total andere blieben, in der Geschichte
wie der Nachklang der babylonisch-mesopotamischen Reiche auf-
tritt, die Bibliothek Sardanapals in Ninive für uns heute das
eigentliche „Archiv" der früheren mehrtausendjährigen Formungen
darstellt. Dieser Geist baut, sobald eine Möglichkeit der Restau-
ration vorhanden ist, im Ägyptens unter ganz an-
saitischen Reich
deren Weltverhältnissen, umweht schon von den Lüften der freien
griechischen Mittelmeerperiode, ein archaistisch-priesterliches
Kunstprodukt auf, das in Schrift, Art und Organisation die älteste
vor zweieinhalb Jahrtausenden untergegangene memphitische
Form nachahmt. Er ist imstande, als endlich nicht nur neue Herr-
scher, sondern auch neue Götter eindringen, im ptolemäischen
Reich nicht nur den alten, im wesentlichen immer naturwirtschaft-
lichen Gesellschaftsaufbau dem neuen geldwirtschaftlichen Durch-
tränktsein anzupassen und dabei in seinen Grundprinzipien zu
erhalten. - Mehr mit seiner Ritualisierungs- und Traditionalisie-
:

rungstendenz vermag er, die jetzt neben ihm selber alt gewordene,
griechische und dann römische Welt zu durchdringen und in
Alexandrien und dem Alexandrinertum auch wieder deren „Ar-
chiv" und deren Versteinerungsformen auszubilden. Er überträgt
sich mit seinen Verwaltungsmaximen und Organisationsprinzipien

165
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

später nach Norden und schafft das Byzantinertum. Nicht in sei-


nen bürokratischen Organisationsgestaltungen, die das Arabertum
übernommen, weitergebildet und schließlich über Sizilien (Fried-
rich II.) sogar nach Europa hin verpflanzt hat, wohl aber in seinen
rituell-seelisch bindenden Kräften geht er erst definitiv zugrunde,
als in der alles überflutenden arabischen Welt ein anderer neuer

religiöser Mantel über die Dinge und ihre Form gelegt wird. - So
ungeheuer wirksam und so fortwirkend, so ausdauernd, fast wie
die Pyramiden, war diese Versteinerung, die aus der Ehe zwischen
der ersten traditionalistischen Bürokratie der Erde und der pri-
mitiven Ursprungsreligion hervorgegangen ist.
Und so wird verständlich, wie Jahrtausende hindurch - Jahr-
tausende, in welchen in der ganzen Welt umher noch historische
Windstille herrscht - das gesellschaftliche Ziel dieser ersten Ge-
schichtskörper nur dies sein konnte, sich bei jedem Neuaufbau
immer wieder selber in ihren alten Formen zu kopieren: ihre ge-
sellschaftliche „Repetitionstendenz", die im krassesten Gegensatz
steht zu aller künftigen abendländischen Bewegung, deren Grund-
lagen sie doch legte, die ihre Eigenart als soziologisches Phänomen
bedeutet, und die ihrer Art nach auch etwas anderes ist als die

Erstarrungstendenz Indiens und das gesellschaftliche und wirt-


schaftliche Beharrungsstreben Chinas.

VI. Konsequenzen für den Gesamttyp

Noch einige Fragen bleiben zu erledigen, die jetzt leicht lösbar


sind. Zunächst das „Altwerden" und im Zusammenhang damit
die Frage einer doch etwa vorhandenen geistigen Entwicklung
nach gewisser Richtung.
Was bedeutet vor allen Dingen das ägyptische Phänomen Ech-
naton, eine anscheinend nur als Produkt einer langen geistigen Ent-
wicklung verstehbare Abschüttelung des alten Traditionalismus ?
Es gibt ein schönes Buch von Breasted über Religion und
Denken der alten Ägypter1 ), geschrieben mit der innigen Sehn-

x
) J. H. Breasted, Development of Religion and Thought in Ancient Egypt.
New York 1912.

166
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

sucht einer angelsächsisch-puritanischen Seele, ob sich nicht auch


diese alten Tier- und Halbtieranbeter schon auf dem Wege des
Heils zu der modernen, innerlichen Religiosität des Schuldgefühls
und der unmittelbaren Beziehung zu Gott befunden hätten. Ja,
nach ihm. Es wird auf den pessimistischen, vielfach ergreifenden
Ton der Lebensbeurteilung und Lebensweisheit bekannter Doku-
mente des Anfangs des mittleren Reichs gegenüber der naiven
Art derer des alten hingewiesen, auf das allmähliche Hervortreten
des Osiris-Heilsgedankens, der grundsätzlich auch den Armen zur
Unsterblichkeit hilft, nicht wie der Sonnengottritus und ähnliches

nur dem König und seiner Umgebung (der aber übrigens auch
schon ein Produkt der alten Zeit ist); vor allem aber auf das
Auftreten einfacher, dem Gott vertrauender Unwertigkeits- und
Sündenbekenntnisse in der riesigen Gräberstadt von Theben (12.
und 11. Jahrhundert), die in das Wesen der rituell magischen
Gottesbehandlung nicht zu passen scheinen. Also schon das Auf-
tauchen eines dem prophetisch-jüdischen ähnlichen religiösen
Ethizismus, womöglich gar christlicher Linie.
Aber keine Linie wäre historisch verkehrter gezogen ! Ganz wie
in der Kunst, der Literatur, finden wir hier die verfeinernden Er-
lebnisniederschläge des Schicksals der Jahrtausende, ein anderes,
durchlebteres Gesicht in derselben Maske. Aber diese Maske, die
nie abgesetzt und nie verändert wird, ist tatsächlich mehr als eine

solche. Sie ist in eigenartiger, für uns heutige Europäer gewiß


schwer faßbarer Mischung mit jener Gefühls Verfeinerung genau
so Teil der Seeleund Ausdruck des Wesens wie diese Verfeinerung.
Nie ist ja der Ägypter stärker in Sach- und Wortmagie und bis
ins Tiefste dringender uralter Frömmigkeit nach Form und Inhalt
verstrickt gewesen, wie in der Zeit, wo wir solche anscheinende
religiöse Unmittelbarkeit vernehmen. Wir vernehmen sie vor allem
zudem - was schon viel sagt - in den Grabdokumenten der Armen,
denen nach ihren Mitteln nicht der ganze Zauberapparat der Verseli-
gung zur Verfügung stand wie den anderen, also als den Schrei der
ohne Zaubermittel hilflosen „Vielzuvielen". Trotzdem sind sie Zeug-
nisse seelischen Durchgearbeitetseins und seelischer Vertiefung, von
denen wir uns aber klar machen müssen, daß sie nichts, aber auch gar
nichts mit „Aufklärung" oder irgendeinem Abgelöst- oder Umge-

167
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

staltetwerden der primitiven religiösen Bindung zu tun haben und


haben konnten, mit der wir, die wir hinter der hellenischen und
abendländischen spekulativen und allgemeinen Gedankenentwick-
lung stehen, das seelisch Hochstehende und Sublimierte immer ohne
weiteres geneigt sind, zu assoziieren. Das hatte damals nichts
miteinander zu tun. Der primitive Magismus blieb trotz der Ge-
fühlsverfeinerung. Aufklärung, diesen Begriff im weitesten Sinn
genommen, gab es nicht. Spekulation aber war nur nach einer
Richtung möglich und hat nach dieser auch stattgefunden, als
Nachdenken der Priester über die Gliederung und Zusammenfas-
sung der Kompetenzen im offiziellen oberen Gottesstaat. Sie fand
statt mit dem Erfolg der Vereinfachung; eine Identifizierung und
Zusammenziehung verschiedener Gottesgestalten als eine den
staatsregierenden Kräften entsprechende Zentralisation. Das war
um so leichter möglich, da man sich auch hier noch ohne irgend-
welches logische Identinkations- und Personalabgrenzungs-
bedürfnis, durchaus metalogisch also, im Rahmen uralter Götter-
mischung und Götterangleichung bewegte. Jeder Gott ging
plötzlich in den anderen über, um dann je nach Bedarf wieder
von ihm getrennt zu werden. Um alles kein modernes, die Götter
ihrer Gestalt und der an diese gebundenen Eigenkraft entkleiden-
des Denken, sondern einfach gewissermaßen eine Pharaonisierung
auch des Pantheons, welche den unverändert ganz konkret ani-
mistisch empfundenen Hintergrund der Dinge nur vereinfachend
zu ordnen sucht. Diese Pharaonisierung führt allerdings in einer
bestimmten Kombination ein merkwürdiges, höchst untraditio-
nelles Ereignis mit herauf: die religiöse Revolution des
Echnaton.
Nichts ist bezeichnender was diese darstellt und was nicht.
als
Ein Pharao, dessen naher Ahnherr noch einer der gewaltigen
Eroberer und überhaupt eine der mächtigsten Figuren der ägyp-
tischen Geschichte gewesen war, ein Mann, der aber selbst schon
deutlich die Züge der Morbidität und des rassenmäßigen Spät-
lings, bei einer anscheinend auch vorhandenen, wenn auch viel-

leicht geringen, fremden Blutbeimischung im Gesicht trägt, der


eine unägyptisch anmutende, dem Typus nach vielleicht äthio-
pische Mutter hat, ein Mischling also, mit offenbar nicht rein

168
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

ägyptischen Instinkten mehr, lehnt sich plötzlich gegen den ge-


samten Traditionalismus des Jahrtausende alten, immer gleichen
Lebens auf, das er selbst beherrscht. Nicht bloß das geheiligte
Pantheon, in dem er mit seinen eigenen Funktionen selber eine
so wichtige Stelle einzunehmen hat, auf dessen organisatorisch
diesseitigen Verzweigungen so weitgehend sein eigener Staat ruht,
mit dessen religiösen Gewohnheitsderivaten, Anschauungen und
Gebräuchen das ganze Leben durchtränkt, in seiner bisherigen
Form zusammengehalten und gleichzeitig für jede seiner Be-
wegungen in die Hände der Obenstehenden gelegt war, sucht er
zu zerbrechen, sondern auch weitgehend die weltliche Tradition
und Konvention, die ihn unmittelbar umgibt, die sein Familien-
leben, die Natürlichkeiten seiner Existenz verhüllt. Die Distanz,
welche der gewaltig gesteigerte bürokratische und königliche,
gottgeweihte Höhengrad zwischen ihn und alles Untere legt,
scheint er teilweise aufzuheben. Unter Zertrümmerung der Exi-
stenz all der alten, offiziellen Gottheiten, vor allem auch des mit
Theben zur höchsten Staatswürde gelangten, mit einer mäch-
tigen Priesterschaft und großem Besitz ausgestatteten Ammon
macht er plötzlich den Schritt von der bisherigen Göttermischung
und Angleichung, die, wie wir sahen, dieselbe Naturkraft unter
den verschiedensten lokal gewachsenen, ganz persönlichen Gottes-
formen verehrte, sie personifikatorisch vermengend und verbin-
dend mit anderen Göttern, ohne in diesem ganzen mythologischen
Bezirk nach Identität oder Nichtidentität irgendwie zu fragen, -
von diesem bildlich Anschaulich- Vielfältigen, ganz Unbestimmten
macht er plötzlich den Schritt zur radikalen Vereinigung alles
Göttlichen in einer Inkarnation, einer Erscheinungsform, welche
die Sonne selbst in der Gestalt als Himmelskörper ist. Dieser Gott,
der alles schafft und trägt, ist nicht mehr der alte gemächliche,
in seiner Mischung mit anderen Göttern tolerante Sonnengott Re
von früher. Er schließt nunmehr alle anderen aus. Er hat noch
eine anschauliche Erscheinung : die Sonne selbst, auf den Bildern
mit Händen, die alles gestalten, ausgestattet. Er regiert alles.
Diesem einen zentralen, alles umfassenden Naturgott läßt dieser
Pharao bekanntlich nicht bloß einen neuen Tempel mit einem
neuen Gottesdienst, sondern auch drei neue Residenzen erbauen,

169
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

eine im ägyptischen Tel Amarna, als königlichen Sitz, die beiden


anderen in Asien und in Nubien. Sie bezeichnen gleichzeitig die
drei Teile seines Imperiums. Er läßt ihn in wahrscheinlich von
ihm selbst verfaßten Hymnen als die eine göttliche Kraft preisen,
aus der alles lebt, selbst die Küchlein in der Eierschale. Er stellt

ihn in eine Atmosphäre, daß es von ihm heißen kann „Die Vögel :

flattern über ihre Sümpfe, und ihre Flügel erheben sich in


Anbetung zu Dir; die Fische im Strom springen zu Dir." Er
zerbricht für ihn selbst die alte, mit dem Nil verbundene Osiris-
Mythe und sagt, daß er es sei, der den Nil für die Ägypter aus
der Unterwelt hervorgehen lasse. Er schaffe aber auch den Nil am
Himmel, der Regen bringe für die Bergvölker. Kurz, er macht
ihn zu einem Wesen, einem beinahe naturwissenschaftlich als
Sonnenlicht und Sonnenwärme anmutenden zentralen Wesen, das
aber gleichwohl nicht abstrakt genommen, sondern warm und
nahe gefühlt, überall lebendig schaffend und liebend- sorgend
empfunden wird. Zu einem, wie man fühlt, nicht etwa ratio-
nalistisch erdachten, sondern aus einem in aufquellender Be-
geisterung geschaffenen Naturoptimismus ergriffenen Gott. Wir
haben es hier nicht mit der Schönheit dieser Gottesschöpfung zu
tun, die der Stimmung nach wie eine in ägyptischer Konkretheit
verbleibende Vorwegnahme der Goetheschen Naturanbetung zu
uns spricht von einer offenbar ganz ungewöhnlich lebendigen und
;

eigenartigen Persönlichkeit geprägt. Nur möglich andererseits


natürlich als Ausprägung der Unproblematik eines beruhigten und
befriedeten Zeitalters, das sich auf der Höhe des Daseins fühlt, dem
die kriegerischen Ereignisse am Rande des großen Weltreiches,
trotzdem sie gerade damals anfingen bedrohlich zu werden, nur wie
ferne, nicht sehr bedeutsame Vorgänge erscheinen, und das dabei
die Sehnsucht hat, sich in der spezifisch ägyptischen idyllischen
Heiterkeit der ewig gleichen Nilsonne auszustrecken, jeden schwer-
blütigen Ethizismus, alle Dunkelheitsgefühle abstreifend.
Für uns ist interessant: Es ist der Pharao selbst, die Spitze
der gesamten Lebenspyramide, der das die Zeit durchziehende
Lebensgefühl benutzt, um
den Versuch zu machen, mit ihm eine
Formen und teilweise auch Inhalte
untraditionelle, die bisherigen
zerbrechende Religiosität zu schaffen, einen alle anderen ver-

170
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

schlingenden Gott zu inthronisieren, - begleitet bei diesem


Schritt offenbar von einer Schar sehr weniger Getreuer. Das ist

soziologisch, und auf das Wesen des Schrittes gesehen, das Ent-
scheidende, weil es den Vorgang erst begreiflich macht. Denn
nur die Spitze der Daseinspyramide, der König selbst kann in
einem Typ wie Ägypten einmal auf den Gedanken kommen, un-
traditionell zu werden, das Steuer herumzuwerfen und dem
Daseinskörper, der ja in Wirklichkeit nichts anderes als er selbst,
seine eigene Verkörperung war, eine andere als die bisherige
Superstition zu geben, den Ritus, der auf ihn selber ausgerichtet
war, umzustellen. Er stand ja nicht in der gleichen Art wie die
anderen in dessen Bann, sondern war selber Gegenstand des-
selben. Andererseits ist klar: wenn einmal eine Persönlichkeit von
innerlich starkem Leben und gleichzeitig, durch Blut und sonstige
Einflüsse, von einiger Distanz gegenüber dem alltäglichen Ritua-
lismus und seiner öden Kasuistik, auf dem Thron eines Reichs
wie des ägyptischen saß, zu einer Zeit, in der dieses äußerlich als
Imperium die Grenzen und Bedingungen, aus denen es selbst
samt dem Ritual seines Lebens erwachsen war, überschritten
hatte, so lag dieser Versuch, eine alte Tradition durch eine neue,
einen alten Bann durch einen neuen zu ersetzen, für einen solchen
Mann nahe. Gleichgültig dabei, wie weit die von irgendeiner Theo-
logenschule gepflegte Spekulation ihm so etwas nahelegen oder
erleichtern mochte, und ob ihn dabei die Rivalität zwischen ihr
und anderen Teilen der mächtigen Priesterschaft vorwärts trieb
oder nicht. Was er von seinem eigenen Höhenstandpunkt aus tat,
war einfach dies: das Unterfangen, dem Leben eine der erweiter-
ten äußeren Gestalt seines irdischen Körpers entsprechende neue
religiös-rituelle Einbettung der seelischen Kräfte zu schaffen, eine
Einbettung, die diese Kräfte dabei doch, das war für ihn wohl
sicher das praktisch nicht Unwesentlichste, genau so auf ihn
selbst und seine Herrschaft zuleitete, wie es die vorherige ganz
andersartige getan hatte. Nicht Produkt einer langen geistigen Ent-
wicklung, etwa ein absichtsloser, allgemein menschlicher Natur-
pantheismus sprach da, sondern im tiefsten ganz augenscheinlich der
Gedanke eines reformierten, den neuen erweiterten Verhältnissen
und Herrschaftsbezirken angepaßten Gottpharaonentums. Dieses

171
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

sollte in seiner naturgotthaften Herrschaft erhalten werden in


Formen, die den neuen Verhältnissen adäquiert waren. Das sagt
der König selbst sehr deutlich. Denn indem er den Aton-Kultus
einführt, erklärt er, daß nur er allein diese neue Religion, die er
lehrt, kennt, nur er von dem neuen Gott, der intradiert wird,
weiß; von diesem Gott, dessen alleiniger irdischer Sohn er nach
seinen Dekreten genau so ist, wie der alte Pharao der des Götter-
königs des früheren polytheistischen Pantheons. Er sagt, im Be-
wußtsein dieses Gottpharaonentums der neuen Form: Er, der
Pharao, sei aus diesem Gott hervorgegangen, und die Erde sei
für ihn, den Pharao, durch diesen Gott aufgerichtet. Es ist also
der Versuch einer Hereinziehung der Gefühlskräfte der Zeit in
seine Herrschaftssphäre, bei dem die Flügel des Pharaogottes
nicht bloß über Ägypten, sondern über das ganze Imperium, das
unternommen von jemand,
beherrscht wird, ausgebreitet werden;
Pyramide stehend, nicht bloß Ägypten,
der, auf der Spitze der
sondern auch das übrige Gebiet sieht, und vielleicht in erster
Linie glaubt, dies so mit sich innerlich verbinden zu können.
Wenn er dabei die Traditionen und Einzelgestaltungen seines
Ursprungsstaats allorts zerbricht, umstürzt und simplifiziert, der
Form nach einen Monotheismus einrichtet, so tut er das nicht,
weil im Gesamtkörper oder einem Teil desselben die Denkvor-
gänge, die Stufe des intellektuellen Prozesses oder dergleichen
auf Monotheismus hindrängen (die theologische Spekulation, die
einzige, dieda war, tat das, wir sahen das, nicht), sondern weil er,
die vielen Götter durch einen Reichsgott ersetzend, eben auf diese
Weise glaubte, alle seelischen Kräfte des Weltreichs so intensiv,
so ganz auf dessen Sohn im Diesseits, auf sich, das Zentrum des
Imperiums, den allgemeinen Träger seines Inhalts zusammen-
führen zu können, wie durch sonst nichts. Er tat es, weil er an-
nahm, daß bei den differenten Religionen seiner Länder nicht mit
Götterangleichung und -mischung der alten Art auszukommen
sei, sondern nur mit der Zerbrechung der Sonderbindungen. Diese
Zerbrechung solltean die Spitze des Daseins eine alleinige reli-
giöse Kraft setzen, den Sohn und Stellvertreter des neuen Gottes,
ihn selbst. Was seine Vorfahren kriegerisch getan hatten, das
versuchte er geistig.

172
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Das war der soziologische Sinn des Versuchs, mochte für


diesen dabei aus seelischen und geistigen Quellen geschöpft werden,
welchen immer. Das natürlich auch seine Grenze und der Grund,
warum alles Unternommene zum Scheitern bestimmt war. Das
Unterfangen des einmaligen absoluten Willens mußte wieder
untergehen, weil es in Wahrheit keine tieferen inneren Voraus-
setzungen in der Breite der Zeit hatte, nicht der Abschluß einer
geistigen Strömung, keine Lösung einer Spannung zwischen In-
tellekt und der vorhandenen religiösen Formung, sondern eine
trotz aller wundervollen Gefühlseinkleidung usurpatorisch auto-
kratische Vergewaltigung einer in Wirklichkeit ganz anders
denkenden und fühlenden Zeit war. Mochten die Priester von
Heliopolis aus Konkurrenz mit denen von Theben ihrer Spekulation
plötzlich einen gewaltsamen, deren Wesen eigentlich zuwidern
Ruck geben, um sich der aufrührerischen Neuerung anzuschließen,
sie, die ihn ja vielleicht zu diesem Schritt angefeuert hatten;
mochte ihn auf diese Weise, solange er lebte, eine Schar von Ge-
treuen umgeben, - die religiöse Palastrevolution, die er vollzog
(mehr war es nicht, man übertrug die Methode eines Staatsstreichs
auf das geistige Gebiet), mußte, da es auf geistigem Gebiet gerade
dies nicht gibt, an der Konstanz des geistigen Aufbaus zer-
schellen, der im Grunde ja doch auch den Revolutionär selbst
trug, und welcher jedenfalls mit seinen festgewurzelten, ganz un-
gebrochenen Gewohnheiten und Anschauungen den Kitt und die
geistige Form des gesamten Lebens bildete.
Es ist verhältnismäßig nebensächlich, was alles an sozialen
Kräften durch den Schritt aufgewühlt und gegen denselben in
Bewegung gebracht ward: die gesamte alte Priesterschaft, die in
ihren Funktionen, wie wir annehmen müssen, und damit auch
in ihrem Einkommen überall weitgehend depossediert ward, die
gewaltige Klerisei insbesondere des früheren Götterkönigs, des
großen Ammon, mit all ihren materiellen Interessen, die riesige
Schar der Devotionalienproduzenten und demnach Ritualien-
interessenten,von denen das Land bis zum Rand gefüllt war.
Das Entscheidende ist, für das vorhandene geistige Ägypten
war das Vollzogene ein Unding. Seine unaufgelockerte und nicht
unterhöhlte Gläubigkeit spie das Neue wie einen Fremd-

173
-

DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

körper alsbald wieder aus. An seinem Überlegenheits- und Ab-


geschlossenheitsgefühl, in das, wie wir sahen, damals noch kein Luft-
hauch aus dem „Weltreich" wesentlich auflösend hatte eindringen
können, obgleich doch dieses Imperium schon durch Jahrhunderte
bestand, mußte es wie Regenwasser ablaufen. In Wahrheit läßt
also gerade dieser Versuch, einmal in Ägypten und Vorderasien
die Kristallisiertheit des Daseins zu zerbrechen, von der einzigen
Stelle unternommen, von der sie überhaupt gelockert werden
konnte, mit blitzartiger Deutlichkeit eben nur die für diese ganze
Geschichtswelt typische Stärke ihrer kristallisierten Daseinsform
erkennen.
Das Altwerden dieser Geschichtswelt? Von der Modetheorie,
die darüber heute üblich ist, dem angeblichen Erstarren im
Zivilisatorischen, nach dem Durchlaufen homologer, d. h. überall
nahezu ähnlicher Kulturentwicklungsstufen, braucht man nicht
zu sprechen. Wie hier die Geschichte zurechtfrisiert wird für Tages
zwecke, ist nach allem Gesagten wohl deutlich. - Aber gegenüber
dem modernen Historiker, der das Versiegen ursprünglicher
Produktivität von einem bestimmten Zeitpunkt an konstatiert,
gewissermaßen als Vorstufe eine gesteigerte Sensualität, vielleicht
hie und da Morbidität, vielleicht unkriegerische Verweichlichung,
und dann den schweren Satz schreibt: „Das Volk war alt und
erschöpft", ist zu bemerken: Gar keine Rede! Die Ägypter hätten
noch ein viertes und fünftes Reich erleben können, mit ungebroche-
ner Produktivität, vielleicht auch einmal, nach den entsprechenden
Schicksalen und gewissen Umwälzungen, wieder das Aufkommen
derberer Perioden - wenn nicht ihre „Lebensaggregierung"
sich aufgelöst hätte, in der sie schufen, die ihrem Seelischen die
Substanz bot für dessen immer wieder neu alterierendes Aus-
drucksstreben wenn nicht das Gesetz zerstört worden wäre, „nach
;

dem sie angetreten", die Ehe zwischen dem magisch-mantischen


Gebanntsein der Dinge und der hieratisch-rationalen Büro-
kratie. Sie haben freilich ihren äußeren Lebensaufbau, ihre
Staats- und Gesellschafts Verfassung nach zeitweiser Priester-,
Äthiopen- und Libyerherrschaft wieder aufzurichten vermocht.
Aber das primitive Gebanntsein aller Dinge war in der saitischen
Periode in Wahrheit zu Ende. Nicht für die abergläubischen

174
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

Massen, bei denen es sich immer mehr zum großartigsten Zauber-


hokuspokus entwickelte. Aber für die in die Gestaltungssphäre
hinaufsteigenden geistigen Kräfte. Eine Zeit, in der der Pharao
mit Vorliebe Griechen als Tischgenossen zu seinen Gesprächen
heranzog, lebte geistig in einer Atmosphäre, in der in diese Jahr-
tausende alte Gebanntheit nichts Lebendiges mehr einströmen
konnte, in der Ägypten mit seinen aus guten Gründen weiter
gepflegten Frömmigkeitsformen ein interessantes Museum wurde,
in der mit dem heiligen Bann, der alle Dinge umgeben hatte, das
alte Ägyptertum tot war. Nicht aus Altersschwäche starb es; es
ward von der Geschichte ermordet.

Solange es aber lebte, das wird man nun vollends begreifen,


konnte jede seiner Äußerungen nur in jene Hieroglyphen ein-
gehen, die alle seine Kunstwerke vom ersten bis zum letzten Tag
darstellen. In was man künstlerisch tat und formte,
allem,
bezwang man geheimen Mächte des Daseins durch ein ganz
die
bestimmtes Zeichen von ganz bestimmter Form. Jede Abweichung
hieß nicht nur Unwirksamkeit des Zeichens, sondern auch Sinn-
losigkeit der gewollten Arbeit. In den durch diese Formen ge-
zogenen Schranken aber konnte man mit unzerstörter Frische die
Seele seiner Produktivität sich ausleben lassen. Denn alles, was
man in diesen Schranken tat, war immer sinnvoll, wesentlich und
von höchster Bedeutung. Und je vollendeter es zum Ausdruck
kam, z. B. in der Porträt ähnlichkeit der Grabstatue, von um so
höherer, unmittelbarer Lebensbedeutung.
Nur eine Kunst, die diesen Rang hat - ich meine natürlich nicht
diesen Inhalt -, wird Großes leisten. Besitzt sie ihn aber, so
kann man an ihr auch das Wesen einer Zeit, eines Volkes, einer
Geschichtsära ablesen.

Ich sagte: zum Wesen dieser ersten großen Geschichtsperiode


und ihrer Völker ist der Zugang moderne
viel schwerer, als ihn die
Aneignungsform glaubt. Sie sind abgrundtief fremd. Der Ort,
wo ihre Seele wohnt, ist zum großen Teil dauernd mit für uns
gänzlich wesensfernen, fratzenhaften Gebilden erfüllt, eine Art
Schreckenskammer. Wir vergessen das zu leicht. Wir vermögen

175
DAS ALTE ÄGYPTEN UND BABYLONIEN

gewiß unendlich viel allgemein Menschliches und auch die Nuan-


cierungen von solchem in ihren Daseinsäußerungen wieder zu
finden. Sonst ergriffen wir überhaupt nichts von ihnen. Es ist nicht
schwer, das ewig Menschliche der zarten ägyptischen Liebeslieder
zu verstehen; die tiefe Temperaments- und Charakterdifferenz
zwischen Ägypten und Babylonien zu fühlen, das Idyllisch- Son-
nige, möglichst Unproblematische hier, das problembeschwert
Düstere und suchend Skeptische dort. Aber begreifen wir damit,
wo diese Völker im Tiefsten ihrer Seele gelebt haben ? Daß sie

nicht nur das Suchen des Geistes nach dem Neuen, sondern auch
die seelische Leere und Langeweile des immer Wiederholenden
sich
nicht gekannt haben ? Daß sie in einer Region eines ewig gleichen
Klangs des Daseins sich wohl gefühlt haben, in einer unerhört
einfachen Musik mit einer simplen Tonleiter zwischen lauter
Möglichkeiten und gleichzeitig Wirklichkeiten der Angst und des
Schreckens. Und daß sie diese Tonleiter unentwegt durch die Jahr-
tausende wiederholen konnten als die Sprache ihrer Seele, die da-
neben beinah nur noch Laute erhält eben von der fortgesetzten
Angst vor unheimlichen Naturmächten und Dämonen ringsum ? -
Wenn man sagt, daß die Ägypter im Ewigen gelebt haben,
ihre Kunst der Ausdruck dafür sei, so ist das angesichts der Tat-
sache, daß diese ganze Verewigungstendenz die Konservierung
des jämmerlichen menschlichen Kadavers zum Kern hatte und
in allem, was sie tat und ausdrückte, sich darum herum bewegt
hat, nichts als eine falsch angebrachte moderne Redensart oder
eine Blasphemie gegen das, was wir das Ewige nennen. So über-
all bei der Anwendung der modernen Affichen. Erst wenn einem

klar wird, daß wir es hier bei aller hohen Kunst und Zivilisations-
leistung mit doch im letzten seelischen und geistigen Grund
primitiv gebliebenen Völkern zu tun haben, und daß sie uns daher
in der Totalität ihres Seins mindestens so fremd gegenüberstehen,
wie die heutigen Malaien oder Javaner, dann beginnt das Ver-
stehen, und hat man die Grundlage ihres historischen Wesens
erfaßt, auf der man weiterbauen kann. Dazu durch den Versuch
der soziologischen Analyse ihrer Physiognomie etwas beizutragen,
war hier die Absicht.
REINHARD LAUTH

DIE PHILOSOPHIE DOSTOJEWSKIS


IN SYSTEMATISCHER DARSTELLUNG

568 Seiten. Kartoniert DM 22.-, Leinen DM 26.50

Der Piper- Verlag, dem die gründlichste und nachhaltigste Be-


mühung um die Einbürgerung Dostojewskis in Deutschland zu
verdanken ist, legt mit dem Buch des Münchner Gelehrten Rein-
hard Lauth eine Arbeit vor, die gleichsam eine Art Baedeker
für die geistige Landschaft des großen Russen bildet. Von einem
genauen Kenner der russischen Originale werden Richtpfade durch
den Gedanken- und Wertekosmos Dostojewskis geschlagen, die
nicht nur dessen vielschichtigen Reichtum sichtbar machen, son-
dern auch geeignet sind, die Unzulänglichkeit vordergründiger
Aspekte und der auf sie gegründeten Fehlurteile erkennen zu
lassen. Die geistige Aufarbeitung Dostojewskis in Deutschland
steht noch bevor. Zu ihr bietet Lauths Werk eine treffliche Weg-
weisung und eine unschätzbare Hilfe bei der Auseinandersetzung
mit den Werken des Dichters selbst.

Fritz Kraus in „Die Neue Zeitung"

Die Darstellung Lauths bietet auch dem guten Kenner Dostojewskis


sehr viel Neues, ja sie bedeutet eine Überraschung. Weder aus den
Romanen und Tagebüchern Dostojewskis noch aus irgendwelchen
Darstellungen ersieht man, wie reich, wie geordnet und wie im
wahrsten Sinne des Wortes positiv, lichtspendend das Denken des
Psychologen und Metaphysikers, des Ethikers und Ästhetikers Do-
stojewski ist.
prof Fed0T Stgpun

R. PIPER & CO. VERLAG MÜNCHEN


ALFRED WEBER

KULTURGESCHICHTE ALS
KULTURSOZIOLOGIE
512 Seiten. 13. Tausend
Kartoniert DM. 15.50, Leinen DM 19.50

Der Verfasser will sich und uns Klarheit darüber verschaffen, wo


wir uns denn eigentlich, nicht etwa als Nation, sondern als Mensch-
heit im Strom der Geschichte, befinden.
Hans Kudszus in „Der Tagesspiegel"

Das ist ein Denker, der in die Reihe Spencer, Comte, Hegel, Marx,
Nietzsche, Spengler, Toynbee und Ortega gehört.
Christoph Meyer in „Frankfurter Allgemeine''

Webers kultursoziologische Analyse der Gegenwart gehört zum


weitaus Wichtigsten, Auf heilendsten, das von berufener Seite zum
Verständnis der heutigen Bewußtseinslage geäußert wurde.
Friedrich Schulze- Maizier

Was hier vorliegt, ist nicht weniger als eine wirklich umfassende, in
leidenschaftlichem Stil geschriebene Geschichte des Menschen, in
der ein ungeheures Material auf eine kompakte, gelegentlich bestür-
zend eindringliche Weise verarbeitet wurde. Der Leser erhält hier
eine Synthese der gesamten Weltgeschichte in überschaubarer
Form. „Die Weltwoche", Zürich

Wer Kultur verstehen und in ihr mitsprechen will, sollte dies Buch
kennen und studieren. „Badische Neueste Nachrichten"

R. PIPER & CO. VERLAG MÜNCHEN


KARL JASPERS

RECHENSCHAFT UND AUSBLICK


REDEN UND AUFSÄTZE

368 Seiten. Kartoniert DM 12- , Leinen DM16-

Aus dem Inhalt Unsere Zukunft und Goethe - Der Prophet Eze-
:

chiel-Das radikal Böse bei Kant - Kierkegaard -Vom lebendigen


Geist der Universität - Philosophie und Wissenschaft - Zur Kritik
der Psychoanalyse - Vom europäischen Geist - Gefahren und
Chancen der Freiheit - Das Gewissen vor der Bedrohung durch die

Atombombe — Mein Weg zur Philosophie.

Das Gebäude der Jasperschen Philosophie, die in die Welt ausstrahlt,


ist in den großen Werken errichtet. Immer hat es aber den Philo-
sophen auch gedrängt, zu besonderen Anliegen, handle es sich um
prinzipielle Fragen der Wissenschaft oder um geistige Entschei-

dungen unseres Lebens überhaupt, unmittelbar Stellung zu nehmen


oder sie im Profil eines großen antiken oder modernen Denkers dar-

zustellen. Aus Zeugnissen eines solchen geschichtliche und gegen-


wärtige Fragen an die Wahrheit durchleuchtenden Denkens ist die

vorliegende Sammlung in drei Jahrzehnten entstanden. Sie ist eine

Wanderung durch weite Geisteslandschaften und stellt in der Reihe

der Veröffentlichungen von Karl Jaspers ein Werk von selbständiger

Bedeutung dar.

Karl Jaspers - dieser Name ist zum Beispiel einer geistigen


fürViele

Existenz geworden, die der Wahrheit in Werk und Leben zu dienen


bereit ist und die zur Entscheidung aufruft.

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30m-10,'61 (C3941s4)4128
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