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Dieter Mersch

Was sich zeigt


Materialität, Präsenz, Ereignis

Wilhelm Fink Verlag


Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagabbildung:
Jackson Pollock, The Deep, 1953
© VG Bild-Kunst, Bonn 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Mersch, Dieter:
Was sich zeigt : Materialität, Präsenz, Ereignis / Dieter Mersch.
- München : Fink, 2002
Zugl.: Darmstadt, Techn. Univ., Habil.-Schr., 2000
ISBN 3-7705-3622-3

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen


Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die
Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen
oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung
auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,
soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

ISBN 3-7705-3622-3
© 2002 Wilhelm Fink Verlag München
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

f Staat j ,ck I 102 IAA


Wort, oh Wort, das mir fehlt!
Arnold Schönberg, Moses und Aaron
INHALT

EINLEITUNG 11

I. TEIL: DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD U N D STIMME 45

1. Kapitel: Ausdruck und Körpersprache 47


2. Kapitel: Wirkung und Aura der Kunst 75
3. Kapitel: Jenseits von Schrift - Performativität der Stimme 100
4. Kapitel: Die Leere 126

II. TEIL: D I E ZEICHEN U N D IHR ANDERES 131

1. Hauptstück: Differenz in der Differenz 133


1. Kapitel: Zeichen und Materialität (Hegel, Adorno) (133). -
2. Kapitel: Differenz in der Differenz: Bedeutung und Materialität
(Husserl, Cassirer) (159). - 3. Kapitel: Jenseits von Doppelcodierung
(Roland Barthes) (186)
2. Hauptstück: Duplizität und Paradoxien der Zeichen 211
1. Kapitel: Onto-Logik der Substitution: Paradoxie und unendliche
Rekursion (Foucault, Peirce, Derrida I) (211). - 2. Kapitel: Sagen und
Zeigen (Wittgenstein) (236). - 3. Kapitel: Denotation, Exemplifikati-
on und die Blöße des Materials (Goodman) (262).
3. Hauptstück: Struktur und Ereignis 283
1. Kapitel: Autarkie des Zeichens (Saussure I) (283). -
2. Kapitel: Schnitte und Ordnungen (Saussure II) (306). -
3. Kapitel: Materialität der Struktur und Struktur der Materialität
(Saussure III, Derrida II) (327).
4. Hauptstück: Materialität 353

III: TEIL: EREIGNIS UND SICHZEIGEN 355


1. Kapitel: Ereignis und Präsenz (Derrida III) 357
2. Kapitel: Ereignisvergessenheit (Schelling, Heidegger I) 382
3. Kapitel: Alterität und Struktur der Responsivität
(Heidegger II, Levinas) 403
8 INHALT

IV. TEIL: »FÜLLE« 425

LITERATUR 431

PERSONENREGISTER 455
VORWORT

Die folgenden Untersuchungen handeln von den Grenzen des Symbolischen. Was
sich zeigt, das weckt zunächst den Eindruck, als ginge es gerade um solches, das
sich bezeichnen ließe, woraufhingedeutet oder gezeigt werden kann. Zwar nimmt
die Abhandlung überall von dem, was derart sich zeigt, ihren Ausgang: bei den
Gesten, den Bildern, der Stimme, der Sprache oder den Zeichen und ihren sym
bolischen Ordnungen. Gleichwohl suchen die Überlegungen darin Widersprüche
und Paradoxa auszuweisen, um beharrlich den Sinn dessen, was sich zeigt, zu
dem hin zu verschieben, was sich zeigt, das Sichzeigen selbst, das aus der Struktur
des Symbolischen herausfällt und nicht mehr als Zeichen angesprochen oder gele
sen werden kann: Materialität, Präsenz und Ereignis. Die Lektüre erfordert also
vom Leser den Nachvollzug eines »Sprungs« von dem, was sich der Identifikation
oder Deutung, der semiotischen Dechiffrierung oder strukturalen Entzifferung
fügt, zu dem, was erscheint, was geschieht, freilich so, daß es sich in seinem Er
scheinen oder Geschehen zugleich entzieht und eine Umwendung der Haltung,
der theoretischen Orientierung verlangt. Notwendig hält sich darum die Ab
handlung am Rande des Sagbaren auf, in einem Gebiet, das nurmehr Andeutun
gen, Metaphern und Katachresen zuläßt — daher die Anstrengungen der Darstel
lung, die Schwierigkeit der Reflexion. Denn wäre der Übergang sagbar, hielte sich
die Passage zu ihren beiden Seiten im Kreis der Zeichen und ihrer Bedeutungen
auf, wäre sie durch den prädikativen Satz beschreibbar und folglich hier auch oh
ne Belang. Daher bleibt nur zu hoffen, daß der Text in seiner Darstellungsweise
den nahegelegten Sprung wenigstens mittelbar evoziert.
Die Erörterungen selbst sind dabei das Produkt mannigfacher Zweifel, Ge
spräche und Kritiken. Zu danken ist in erster Linie der Deutschen Forschungs
gemeinschaft für die großzügige Unterstützung der Forschungsarbeit sowie die
Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Dank gebührt außerdem dem Darm
städter Institut für Philosophie für die Schaffung von Aibeitsmöglichkeiten und
die freie Atmosphäre geistigen Austauschs. Danken möchte ich im besonderen
Gernot Böhme und Gerhard Gamm für die vielfältigen Diskussionen, Anregun
gen und Ermutigungen. Viele Kollegen und Freunde, die ich nicht namentlich
aufzählen kann, haben mir zusätzlich wertvolle Hinweise und Winke gegeben,
manchmal auch ohne es zu ahnen. Hervorheben möchte ich aber vor allem die
Hilfe von Elke Uhl, Gregor Schiemann, Peter Hempel, Simone Mahrenholz so
wie Michael und Christine Hauskeller. Doch hat niemand mehr Anteil am Zu
standekommen dieser Gedanken als Martina Heßler durch ihr Vertrauen und ih
ren unermüdlichen Zuspruch wie auch ihr Verständnis und das gemeinsame
Durchstehen philosophischer Rätsel. Ihr seien die folgenden Überlegungen
widmet.
EINLEITUNG

Es gibt viel mehr Sprachen als man denkt: und


der Mensch verrät sich viel öfter, als er
wünscht. Was redet nicht! — aber es gibt der
Hörenden immer noch wenige, so daß der
Mensch seine Bekenntnisse gleichsam in den
leeren Raum plaudert
Friedrich Nietzsche

1. Das Rätsel

Eines der wunderlichsten Geschöpfe aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland, das
eine ebenso verrätselte wie alogische Welt beschert, ist ein Kater, dessen boshaftes
»Grinsen« auch dann noch »in der Luft blieb«, als der Rest des Tieres schon
längst verschwunden war. Immateriell und ohne Präsenz, die seine Kontur hielt,
blieb es anwesend, um nur allmählich zu verblassen. Diese Unmöglichkeit einer
Anwesenheit ohne Gegenwart - Halbschatten oder undeutlichen Atmosphären
vergleichbar, die nirgends festzumachen sind - , war der Anlaß, über die Frage des
Doppelsinns der Zeichen nachzudenken, die zwar etwas zu bezeichnen oder zu
bedeuten vermögen, das abwesend ist, die dabei aber dennoch notwendig ihrer
eigenen Präsenz bedürfen, um das A-präsente, die Absenz zu re-präsentieren. Ihre
eigene Gegenwart behaupten sie vorzugsweise durch ihre Materialität, durch den
Laut der Sprache, die Spur, die als Abdruck eines Vorübergegangenen dessen
Gewesenheit aufbewahrt oder die Stofflichkeit des Materials, derer sich der
Künstler bedient, um sein Bild, seine Skulptur oder sein Objekt zu schaffen, oft
im Widerstreit zu dieser, indem er ihr seine eigenwillige Gestalt, seine Form auf-
zuprägen sucht. Dies gilt gleichermaßen für den Vollzug von Gesten und Gebär-
den, die Performanz einer Handlung, der eine besondere Intensität zukommt, die
wiederum zurückweist auf die Körperlichkeit des Ausführenden oder die räumli-
chen, zeitlichen und materiellen Bedingungen, denen sie unterstehen. Wenn wir
auch nicht, wie Paul Ricceur bemerkt hat, auf die Gegenwärtigkeit des Zeichens
als solche achten, sondern uns »(v)ermittels ihrer oder auf der Grundlage ihres
Substrats (...) auf das unwirkliche oder vorherige Abwesende« beziehen,' so muß
doch überall seine sinnliche Gegebenheit vorausgesetzt werden: Die Laute, Spu-
ren, Signata, die verschiedenartigen Dokumente oder Schriften müssen gelesen,

1 Lewis Carroll, Alice im Wunderland, München 1988, 6. Kap., S. 67.


2 Paul Ricceur, Das Rätsel der Vergangenheit, Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge B. 2, Hsg.
vom Präsidenten des Kulturwissenschaftlichen Instituts im Wissenschaftszentrum NRW o.D.,
S. 54, auch: S. 44.
12 EINLEITUNG

dechiffriert, d.h. auch »gesichtet«, angeschaut oder gehört werden. Dann wäre
das, was hier zunächst noch höchst vorläufig und vage die »Materialität des Zei-
chens« genannt wurde, seine Präsenz, sein Beharrungsvermögen, seine spezifische
Widerständigkeit und Dauerhaftigkeit, welche stets einen Bezug zur Zeit und zur
Wahrnehmung beinhalten, absolut unverzichtbar - und doch lenken wir unsere
Aufmerksamkeit auf anderes, auf ihren Verweisungscharakter und das, was sie
gen, was sie jeweils beinhalten oder zu ver-gegenwärtigen trachten.
Der Übertaschungseffekt, der durch die Umkehrung von Materialität und
Immaterialität ausgelöst wird, welche die Erzählung von Lewis Carroll vornimmt,
entlarvt mit einem Schlag die Absurdität, die Ordnung des Symbolischen allein
auf das Spiel der Bedeutungen zu reduzieren, das sie austrägt. Mit den Mitteln
der Groteske, der Inversion wird so etwas kenntlich, was gängige »semiotische«
oder »semiologische« Diskurse zumeist mißachten, und wenn nicht, zu einer
bloßen Marginalie oder Irrelevanz degradieren. Daß die Zeichen auf einer Kör-
perlichkeit beruhen, auf einem Substrat, die der Signifikation eine Gestalt und
Ortschaft verleiht und ihre Lektüre gleichwie ihre Kommunikation erst gestattet,
scheint so selbstverständlich, daß kaum mehr eine Reflexion sie einer Erwähnung
würdig fände; und doch enthüllt der Spiegel bizarrer Märchenwelt, daß jede Aus-
zeichnung eines Sinns oder bloßer Medialität unter Absehung der Materialität des
Mittels scheitert. Das Paradox des körperlosen Grinsens, des Ausdrucks ohne
materiellen Grund, verdeutlicht, daß jede Form von philosophischem Idealismus,
sei es ein Idealismus der Ideen oder der Zeichen und Diskurse, notwendig an
dem eine Begrenzung findet, was diese ver-körpert. Zwar läßt solches sich nicht
wiederum ohne Widerspruch aussprechen oder festlegen, weil jede Bestimmung
in seinem »als was« es schon markiert und damit be-zeichnet oder diskursiv »ge-

3 Gilles Deleuze, der gleichermaßen auf die »Edamerkatze« anspielt, gibt eine geradezu entgegenge-
setzte Deutung; vgl. ders., Logik des Sinns, Frankfurt/M. 1993, S. 290 f.
4 Zur Unterscheidung zwischen »Semiotik« und »Semiologie«, die wir zugrunde legen, siehe weiter
unten. Im übrigen werden im folgenden die Ausdrücke »Zeichen« und »Symbol« synonym ver-
wenden. Die ist keineswegs selbstverständlich; gleichwohl fällt es schon schwer, zwischen den
beiden entsprechenden griechischen Ausdrücken semeion und symbolon eine genaue Bedeutungs-
difFerenzierung zu treffen: beide bedeuten »Kennzeichen«, »Vorzeichen« oder auch »Merkmal«.
Unterscheidungen sind vielmehr definitorischer Art. Die entsprechenden Definitionen fallen in
der Geschichte der Semiotik zudem ganz gegenläufig aus: Saussure reserviert den Ausdruck
»Symbol« ausschließlich für natürliche, d.h. nichtkonventionelle Anzeichen; für Cassirer bedeutet
das Symbolische dagegen ganz allgemein die »Funktion des Bedeutens«, dessen sinnliche Träger
die Zeichen sind, während Peirce das »Symbol« als entwickeltes Zeichen auffaßt. Die Vorschläge
sind programmatischer Art. Wenn wir hingegen von »Zeichen« sprechen, dann immer in dem
Sinne, daß darunter »etwas« verstanden wird, dem ein »Sinn« zukommt. Im Zentrum steht daher
stets der Sinnbegriff, der mit dem Symbolischen identifiziert wird. Desgleichen gilt darüber hin-
aus für die »Sprache«. Sie kann, wie in der Linguistik, auf das System der menschlichen Rede im
besonderen beschränkt werden, oder in einem weiten Sinne als »Sprechen« bzw. »Bedeuten« im
Allgemeinen gefaßt werden. Dann fällt das Gebiet der Sprache mit dem Gebiet des Sinns zu-
sammen. Wir werden zumeist der letzteren Bedeutung den Vorzug geben.
5 Mit der Auftrennung des Wortes in »Be-zeichnung« tragen wir sowohl den semiotischen wie den
semiologischen Diskursen Rechnung: Bezeichnung im Sinne einer funktionalen Signifikation,
EINLEITUNG 13

schnitten« und klassifiziert haben muß; gleichwohl bleibt eine Vorgängigkeit, die
durch keine Vermittlung mehr ausgeräumt oder getilgt wetden kann: Unge-
reimtheit einer Symbolisierung gleich welcher Art, sei es ein Bild, eine Textur
oder auch nur ein höhnischer Zug, ein skurriler Einfall oder beiläufiger Wink,
ohne Rekurs auf ein anderes, das nicht Zeichen oder Symbol wäre, zu erscheinen.
Die Szene bringt damit auf die Spur eines Unbestimmten oder sogar Unverfügba-
ren im Zeichen, das seiner Signifikanz, seiner Schrift oder Strukturalität anhaftet,
und das dennoch bislang in der Geschichte seiner Betrachtung verdeckt oder ver-
nachlässigt worden ist, indem diese sich einzig auf das, was es zu sagen oder
zustellen und auszudrücken meint, kapriziert hat. Trotzdem reicht der logische
Hinweis auf eine Grenze allein nicht hin, bereits ein Ausgebliebenes, einen theo-
retischen Mangel oder ein Verfehltes anzuzeigen. Entsprechend wird die Frage
sein, inwieweit der Gesichtspunkt des Ungedachten: die Materialität des Zeichens
und - darüber hinaus - das Ereignis seiner Setzung, durch das sie allererst zur
scheinung gelangen, für die Untersuchungen des Symbolischen eine Relevanz be-
sitzen oder ob sie etwa nur eine unwesentliche Zutat, eine Kontingenz behaup-
ten. Die vorliegenden Analysen sind dieser Frage gewidmet.

2. Exposition des Problems

Der Begriff »Zeichen« bildet, genauso wie der Begriff des »Begriffs«, eine Grund-
kategorie der Philosophie. Er kann verschieden definiert werden, und es gibt
vielleicht beinahe ebenso viele Zeichentheorien wie unterschiedliche Denkrich-
tungen. Von Zeichen zu sprechen heißt daher, nicht schon etwas Klares voraus-
zusetzen, von dem auszugehen wäre, sondern von Diskursen handeln, die ihrer-
seits wieder in ihre Geschichtlichkeit zurückzustellen wären, wie sich Philosophie
überhaupt nur als ihre eigene Geschichte schreiben läßt. Doch bedeutet eben die-
ses, schon die Auflösung des Begriffs »Zeichen« in seine Historie, die so verwirrend
ist. wie die Geschichte des Denkens selber.
Indessen lassen sich, wie bereits angedeutet, zwei grundsätzlich disparate Zei-
chenmodelle unterscheiden. Sie betreffen die beiden fundamentalen Grundlinien
der »Semiotik« und »Semiologie«. Einmal können Zeichen als Weisen des Stehens
filr oder der Bezugnahme auf verstanden werden; dann repräsentieren oder sub-
stituieren sie etwas anderes oder referieren auf etwas, was sie bezeichnen. Ihre
Grundlage bildet das Format der Relation, der Funktion oder Zuordnung zwi-

und Be-Zeichnung mit Betonung auf die Zeichnung, die Arbitrarität des »Schnitts«, die die Ord-
nung des Symbolischen einteilt oder »zäsuriert«.
6 Vgl. dazu auch meine Einleitung zur Anthologie über Zeichentheorien: D. Mersch (Hsg.), Zei-
chen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Derrida, München 1998, S. 9—
36.
7 Zur allgemeinen Charakteristik von Zeichentheorien vgl. auch Umberto Eco, Zeichen. Einfuh-
rung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M. 1977, vor allem S. 37 ff.; sowie meine
Darstellung in: D. Mersch, Umberto Eco zur Einführung, Hamburg 1993, bes. S. 75 ff.
14 EINLEITUNG

sehen mindestens zwei Größen - eine Auffassung, die im weiteren als »semio-
tisch« charakterisiert wird und deren historische Linie sich bei aller Variation im
Detail über Aristoteles, Wilhelm von Ockham und Gottlob Frege bis zu Charles
Sanders Peirce, Ludwig Wittgenstein und Nelson Goodman verfolgen läßt, wobei
die wesentliche Differenz zwischen den klassischen nominalistischen Positionen
und den modernen, im engeren Sinne »semiotisch« zu nennenden im Übergang
von der Binarität zur Ternärität besteht, die den Figuren der »Bezeichnung« die
»Bedeutung« hinzufugen. Zum anderen und alternativ dazu können Zeichen als
Stelle innerhalb eines Differenzsystems erklärt werden; dann hat man es mit einer
»Marke«, einem »Ort« innerhalb einer topologischen Struktur zu tun, welche
wiederum relativ zu einem Ganzen bestimmt sind, ohne sich auf etwas zu bezie-
hen oder anderes zu verkörpern. »Das« Zeichen als isolierte Entität, die für sich
stünde, gibt es danach nicht; es wäre vielmehr immer Element einer Ordnung,
die ihm als solches allererst seinen Platz zuwiese. Von Zeichen reden, hieße ent-
sprechend, es mit der Strukturalität einer Struktur zu tun zu haben, innerhalb de-
rer sie lokalisiert wären, so daß ihre Formalisierung, statt als Funktion, nach dem
Schema ACT Algebra in Form einer Matrix erfolgen müßte, deren Kern ein System
von Gegensatzpaaren bildet — ein Ansatz, der über kein eigentliches historisches
Vorbild verfügt und unter den Titel des »Semiologischen« gestellt wird, der im
besonderen die strukturale Linguistik und deren Folgen und Umdeutungen bei
Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson, Roland Barthes, Jacques Lacan und
Jacques Derrida umfaßt. Die Differenz der Bezeichnungen zwischen »Semiotik«
und »Semiologie« steht so unter der Trennung zwischen singulärem Ausdruck ei-
nerseits und Ordnung andererseits, zwischen Funktion und Algebra. Unsere Un-
tersuchungen werden ihre Beziehung zueinander, ihre Logik und strukturelle
Aporetik in unterschiedlichen Dimensionen auszuloten suchen.
Indem nun beide konkurrierenden Modelle Unterschiedliches nuancieren,
bleiben sie gegeneinander disparat und erscheinen in ihren formalen Eigenschaf-
ten und Aspekten nicht ineinander überführbar. So gibt sich die Strukturalität der
Funktion allererst bei Gelegenheit ihrer Anwendung preis, ohne durch die Funk-
tion selber ausdrückbar zu sein: Ihre »logische Form« ist, wie Wittgenstein gesagt
hat, kein Term ihres Wertebeteichs, und d.h. insbesondere: kein Zeichen. Um-
gekehrt besteht die Strukturalität der Struktur nur aus einem System von Oppo-
sitionen, das wiederum die Ordnung der Zeichen und damit auch die Ordnung
ihrer Referenzen höchst indirekt anzeigt. Jede Seite entdeckt damit, was sich der
jeweils anderen verbirgt. Sie gleichen darin Spiegeln, deren jeweilige Rückseite
unkenntlich bleibt. Denn aus der Perspektive der Analytik der Funktion ist die
Algebta der Struktur nicht darstellbar, wie aus der Sicht dieser die Funktionalität
der Abbildung zum reinen Effekt depraviert. Gleichwohl haben sich die beiden
Auffassungen im Laufe der zeichentheoretischen und sprachphilosophischen Dis-

8 Zum Begriff der »logischen Form« bei Ludwig Wittgenstein, Tractatus-Iogico philosophicus, kri-
tische Edition hsg. v. Brian McGuinness u. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1989, 2.18-2.181,
2.2, S. 14, sowie 4.12-4.1211, S. 58. Siehe näherhin weiter unten Tl. II, 2. Hauptstück, 2. Kap.
EINLEITUNG 15

kussion des 20. Jahrhunderts derart angenähert, daß sie in ihren Resultaten als
konvergent oder nahezu gleichwertig aufgefaßt werden können. Beiden eignet die
Auszeichnung der dictio, des Besagens oder Bedeutens, d.h. insbesondere dasjenige,
was die Funktion signifiziert oder die Strukturen ausdrücken, entsprechend folg-
lich das Verstehen, die Interpretation oder die wechselvollen Lektüren, die das Be-
zeichnete oder einen Sinn enthüllen. Das gilt selbst da noch, wo, wie bei Derrida,
die »Schrift« die Identität der Texturen unaufhörlich verschiebt. Zwar verschwin-
det »unter ihren Strichen (...) die Präsenz eines transzendentalen Signifikats«,
»dennoch (bleibt sie) lesbat, wird destruiert und macht doch den Blick auf die
Idee des Zeichens frei.« Dementiert wird auf diese Weise allein eine einheitliche
Grundbedeutung, ein Ursprung, an deren Fixpunkt die Bedeutungen haften,
nicht jedoch der Vorrang des Semantischen selber; vielmehr werden die Zeichen
oder Marken bei aller Bewegung oder Überschreibung weiterhin auf das hin un-
tersucht, wofür sie stehen oder was sie meinen. Immer befindet sich eine
kanz im Zentrum, das Spiel seiner Dechiffrierung, die Modalitäten der Ausle-
gung. Ihr Geheimnis muß entrissen werden, ihte vielfachen Botschaften ent-
schlüsselt, ihr deutlicher oder verwischter Schriftzug enträtselt und jedem noch so
marginalen Ausdruck sein Gehalt abgerungen werden. Alles avanciert zum se-
miotischen bzw. semiologischen Abenteuer, zum »Diskurs«, um es in die Rubri-
ken des Symbolischen einzuordnen und seine möglichen Lesarten zu entwickeln
und bis in die Labyrinthe seiner intertextuellen Codierung hinein zu verfolgen:
das Denken, die Kunst, die Archive der Tradition, das soziale Handeln, die
Körper, die Ereignisse der Natur, ja »(d)as Ding selbst ist ein Zeichen.« Alle
»Aspekte« können »als Inhalte semiotischer Aktivität« betrachtet werden, hat
gleichfalls Umberto Eco bemerkt: »Die Gesetze der Signifikation sind die Geset-
ze der Kultur.« Dann wäre die Entdeckung des Universums der Zeichen mit der

9 Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1974, S. 43, auch: S. 86 ff.; ferner ders., Die
Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen, in: ders., Die
Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1976, S. 422-442, hier: S. 425, 426.
10 Nach Charles Sanders Peirce beruht alles Denken auf Zeichenschließen. Die Semiotik wird so
zur erkenntnistheoretischen Grundlagendisziplin: vgl. dazu ders., Schriften I u. II, hsg. v. Karl-
Otto Apel, Frankfurt/M. 1967 u. 1970, S. 175: CP (= Collected Papers) 5.250, auch: S. 186: CP
5.264.
11 Es würde zu weit führen, für die einzelnen Sparten Belege anzuführen, so mag der Hinweis genü-
gen, daß Semiotik, bzw. Semiologie, sich hier als Fundamentaldisziplin ausweist, soweit sie »alles«
unter den Gesichtspunkt des Zeichens stellt. Vgl. dazu Umberto Eco, Zeichen. Einfuhrung in ei-
nen Begriff und seine Geschichte, a.a.O., S. 15. Charles William Morris spricht von einem »Pro-
legomenon jeder zukünftigen Philosophie«, vgl. ders., Zeichen, Sprache und Verhalten, Düssel-
dorf 1972, S. 343; ders., Grundlagen der Zeichentheorie, in: ders., Grundlagen der Zeichentheo-
rie, Ästhetik der Zeichentheorie, Frankfurt/M. 1988, S. 17-88, hier: S. 85 f.; sowie auch ders.,
Pragmatische Semiotik und Handlungstheorie, Frankfurt 1977, S. 291, wo insbesondere von der
Semiotik als einem »Organon« der Wissenschaften und der Philosophie die Rede ist.
12 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 86.
13 Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, S. 46.
14 Ebenda, S. 54, sowie ebenfalls S. 75: »Signifikation beherrscht das ganze kulturelle Leben.«
16 EINLEITUNG

Entdeckung des Kulturellen selber zu identifizieren und Kultur überhaupt ein


Prozeß ursprünglicher Symbolisation.
Überall regiert so ein Primat des Hermeneu tischen, dominiert das Bedeu-
tungsproblem, die Frage nach dem Sinn, nicht aber nach etwas, was sich selbst
ausstellen oder präsentieren muß, um erscheinen zu können oder vernehmbar zu
werden. In diesem Sinne hatte Derrida gesagt: »Ein Text bleibt (...) stets un-
wahrnehmbar. Nicht, daß das Gesetz und die Regel Unterschlupf fänden im Un-
zugänglichen eines Geheimnisses — sie geben sich schlechterdings niemals preis:
der Gegenwart (...).« ' Eine Notiz Heideggers aus dem Jahre 1954 lautet fast ent-
sprechend: »Was heißt Lesen? Das Tragende und Leitende im Lesen ist die
Sammlung. Worauf sammelt sie? Auf das Geschriebene, auf das in der Schrift
Gesagte. (...) Ohne das eigentliche Lesen vermögen wir auch nicht das uns An-
blickende zu sehen und das Erscheinende und Scheinende zu schauen.« Die Pas-
sage zeichnet neben dem »eigentlichen Lesen«, der »Sammlung«, das »Gesagte«
aus. Sie kapriziert sich allein auf das »Lesbare«, die dictio, den Inhalt einer Lektü-
re. Dagegen beharren die vorliegenden Betrachtungen auf der Unverzichtbarkeit
des Sinnlichen. Sie suchen auf diese Weise ein wesentlich Vergessenes einzuklagen
und ihm auf unterschiedlichen Wegen nachzugehen. Auf seine Spur führt dabei
jenes »Andere«, das in die Signifikation eingeht und »rückständig« bleibt, insofern
es durch sie selbst nicht eingeholt werden kann, und das im weitesten Sinne als
Ereignis ihrer Setzung beschrieben werden kann - die Tatsache, »daß« die Zeichen
sind oder »daß« die Strukturen sich abgezeichnet haben und manifest geworden
sein müssen: Ereignis einer Präsenz, das wiederum an Vollzüge und Performan-
zen, an die spezifische Note ihrer Materialitäten gebunden ist. Es erfährt, mit
diesen, eine zweifache Fundierung. Doch unfähig, selbst Gegenstand einer Be-
zugnahme zu werden oder Ort einer Struktur zu sein, erscheint es zunächst nur
auf der Ebene einer Negativität, d.h. als dasjenige, was dem Semiotischen oder
Semiologischen entgeht - und bildet gleichwohl deren Fundament. D.h. es gibt

15 Vgl. ebenda, S. 49, ferner ders., Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte,
a.a.O., S. 185 ff. Dieselbe Auffassung teilt Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen. Einfüh-
rung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt/M. 1990, bes. S. 47 ff., wo sich auch die be-
rühmte Formulierung vom Menschen als einem »animal symbolicum« findet (S. 51). Vgl. ferner
ders., Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde, Bd. 1: Darmstadt 9. Aufl. 1988, Bd. 2:
Darmstadt 8. Aufl. 1987, Bd. 3 Darmstadt 9. Aufl. 1990. Ähnliches vertreten im Anschluß an
Cassirer gleichermaßen Susanne Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken,
im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/M. 1984; sowie Nelson Goodman, Weisen der Welterzeu-
gung, Frankfurt/M. 1990 und ders., Sprachen der Kunst, Frankfurt/M. 1995.
16 Jacques Derrida, Dissemination, Wien 1995, S. 71.
17 Martin Heidegger, Was heißt lesen? in: ders., Denkerfahrungen 1910-1976, Frankfurt/M. 1983,
S. 61.
18 Mit diesem Ereignis-Begriff knüpfen wir insbesondere an Schelling und die Spätphilosophie
Heideggers an, allerdings jenseits deren hermeneutischer Implikation; vielmehr zeichnen wir al-
lein die Ebene des ex-sistere, des Hervortretens, Erscheinens oder Sichzeigens aus. Zum Begriff des
Ereignisses als »Er-äugnis« vgl. insb. Martin Heidegger, Der Satz der Identität, in: Identität und
Differenz, Pftülingen 6. Aufl. 1978, S. 9-30, S. 24 f.; sowie ders., Beitrage zur Philosophie (Vom
Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt/M. 1989.
EINLEITUNG 17

ein Nichtmediatisierbares, das zwar erst angesichts seinet Mediatisierung zum Vor-
schein gelangt, das dennoch ihm notwendig vorausgeht. Es kann, in einem
ven Sinne, als das besondere »Gewicht eines Da« beschrieben werden, jene
»Schwerkraft«, die den Zeichen oder Ordnungen anhaftet und ihnen Dauer ver-
leiht, ihr Inertes und wenig Änderbares, das mit Zeitlichkeit affiziert ist und ihre
Persistenz wie Vergänglichkeit markiert; eine »Gravitation«, die mit dem Eteignis
des »Daß« (quod) selber zutage tritt und der Möglichkeit einer Manipulation
Schranken auferlegt und sich beliebiger Modulation verweigert.
Entscheidend ist, daß solches offenbar stets mitgedacht werden muß, insofern
sich die Immaterialitäten des Bedeutens oder der »Schrift« und des Symbolischen
ohne sie nicht zeigte. Es gibt kein Spiel der Zeichen, keine dichte hermeneutische
Interpretation, keine theotetische Konstruktion, die nicht zugleich diese Lücke
eines Nichtkonsttuierbaren oder Undeutbaren aufwiese. Und ebensowenig gibt es
eine Sprache, ein Symbolisches oder eine Evokation des Sinns, die nicht gleich-
zeitig dieser Lücke entspränge und auf ein Anderes, ein Unverfügbares aufmerk-
sam machte. Evident ist dies vor allem für die Kunst, für die Verwendung unter-
schiedlicher Materialien, die Pigmentierung der Farbe, auch für die Gestik der
»Körpersprache«, die auf die Leiblichkeit verweist, die ihr eine unverwechselbare
Gestalt aufprägt, wie für das »Fleisch« der Stimme im Sinne Michel Serres'. Es
läßt sich gleichermaßen auch für das Buch nachweisen, wie Roger Chartiet be-
tont hat, für den jeweiligen Umgang mit Texten, ihrem eigenen »Objektcharak-
ter«: »Dieser Unterschied, eben der Raum, in dem sich der Sinn entwickelt, ist zu
oft vergessen worden, nicht nur von der klassischen Literaturgeschichte, die das
Werk an sich als abstrakten Text begteift, dessen typographische Formen ohne
Belang sind, sondern auch von der Rezeptionsästhetik, die trotz ihres Wunsches,
die Erfahrung, die die Leser aus den Werken ziehen, zu historisieren, eine reine
und unmittelbare Beziehung zwischen den vom Text gesandten >Signalen< (...)
und dem >Erwartungshorizont< des Publikums, an das sie gerichtet sind, postu-
liert. In einer solchen Perspektive hängt die >erzeugte Wirkung< keinesfalls von
den materiellen Formen ab, die den Text tragen. Dennoch bestimmen auch sie
antizipatorische Lesehaltungen und neue Publika oder Gebrauchsformen.«
Ahnliches gilt zudem für die »neuen« Medien: Die Aufzeichnung der »Spur«, die
digitale Codierung, denn das Graphem oder die binäre Ziffer bleiben nur solange
von ihrer matetiellen Konstitution, von Raum und Zeit befreit, wie sie auf ihre
reinen Programmschritte, ihre algorithmischen Formen beschränkt bleiben.
Kommt jedoch die Materialität der Maschine ins Spiel, werden Zeitlichkeit und
Räumlichkeit der Codierung und Encodierung relevant, ihre jeweiligen Kapazi-

19 Michel Serres, Die fünf Sinne, Frankfurt/M. 1998, z.B. S. 174.


20 Roger Chartier, Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt/M. 1990, S. 12.
Die Grenze des Buches als »Objekt« bezeugt indessen die Kunst. Anselm Kiefers Buchprojekte,
z.B. die Bleibibliothek Zweistromland (1985-89) oder das Buchobjekt Sulamith (1990) bestehend
aus Bleifolien mit eingeklebtem Frauenhaar präsentieren das Buch selbst als Matetialität. Vgl. da-
zu Sabine Schütz, Anselm Kiefer, Geschichte als Material. Arbeiten 1969-1983, Köln 1999,
S. 44 ff.
18 EINLEITUNG

tätsgrenzen und Verzögerungen, die sich nicht bis ins Unendliche hinein opti-
mieren lassen, sowie die Art des »Outputs«, der Darstellung. Sie bilden das Fun-
dament, vermöge dessen wir aufmerken, die Marken, Abdrücke oder Resultate
gewahren und damit auch erinnern und aufbewahren.
Mit anderen Worten: Vom Prozeß der Signifikanz wäre die Eigenart seines
Erscheinens, das, was wir in doppelter Weise als die »Ekstatik der Materialität«
und die »Intensität der Performanz« herauszustellen suchen, nicht zu trennen: Sie
bilden die Bedingungen ihrer Austragung, aber auch ihre immanente Beschrän-
kung. Sinn wurzelt in »Sinnlichkeit«, wie Ernst Cassirer gesagt hat," darum eignet
dem Aisthetischen, wie sich herausstellen wird, eine besondere Irreduzibilität. Je-
des Sagbare verweist auf ein Sichzeigen. Es ist mit Wahrnehmung verknüpft, wie
die Wahrnehmung ihrerseits in einer Aufmerksamkeit gründet, die begegnen
läßt." Das meint der Ausdruck »Ekstatik«: Die spezifische »Aura« des Wahrneh-
menbaren, der Geschehnischarakter des »Daß« vor dem »Was«, auf den Jean-
Francpis Lyotard von Schelling her mehrfach hingewiesen hat," das Moment des
Plötzlichen und Ereignishafien, dessen Zeitlichkeit nicht mehr den üblichen Modi
zugerechnet werden kann, und das zur Antwort nötigt und darin ebensosehr den
Vorrang des Begegnenden bezeugt wie es die Spur eines ursprünglichen Ver-
Antwortens trägt. Insofern ist mit der Irreduzibilität des Aisthetischen etwas be-
zeichnet, was gleichermaßen die Unverzichtbarkeit des Ethischen umfaßt. Beides
ist vom Symbolischen her nicht zu lösen: So wäre denn zugleich jene Ausdifferen-
zierung, die der Rationalismus der Neuzeit gebar und als emanzipatorischen Ef-
fekt konstituierte, die Trennung von Wahrheit, Erscheinungsform und Normati-
vität und entsprechend von Wissenschaft, Kunst und Moral wieder rückgängig zu
machen. Es gibt nicht hier das Bedeuten, das auf seine Legitimität oder Gültig-
keit hin zu befragen wäre, und dort die Kunst als autonome Sphäre, wie jenseits
dieser und wiederum unabhängig davon das Ethische, das stets die Grenze zwi-
schen Freiheit und Notwendigkeit auszuloten suchte — eine prekäre Scheidelinie,
gegen die umgekehrt die Kunst stets aufs Neue rebellierte. Ihre genuine Indiffe-
renz ist vielmehr dem Umstand geschuldet, daß Sinn und Ereignis zusammengehö-

21 Vgl. exemplarisch etwa Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, a.a.O.,
S. 42; ders., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, a.a.O., S. 109; sowie ders., Der Begriff
der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, in: Neukantianismus, hsg. v.
Hans-Ludwig Ollig, Stuttgart 1982, S. 127-163, bes. S. 130, 132.
22 Daß Wahrnehmen nicht nur in der Feststellung von Tatsachen aufgeht, sondern ein »Antworten
der leiblichen Dispositionen auf Anblicke« ist, hat Gernot Böhme herausgestellt, vgl. ders., Na-
tur, Leib, Sprache, Rotterdamse Filosofische Studies III 1986, S. 8. Ähnliches haben wir in bezug
auf den Zusammenhang von »Aura« und »Responsivität« vorläufig ausgeführt in: D. Mersch, Ai-
sthetik und Responsivität. Programmatische Thesen zum Verhältnis von Wahrnehmung und Undar-
stellbarkeit, in: Erika Fischer-Lichte, Christian Hörn, Matthias Warstatt (Hsg.), Wahrnehmung
und Medialität. Theatralität 3, Tübingen Basel (erscheint 2001).
23 Vgl. z.B. Jean-Francois Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 424 (1984),
S. 151-164, bes. S. 152.
EINLEITUNG 19

ren, und zwar vermöge eines Anderen, eines ebenso Zuvorkommenden wie
verfügbaren, von dessen Offenheit und Unbestimmtheit her sich Denken, Deuten
und Verstehen allererst beziehen können.
Eine Nichtsignifizierbarkeit befindet sich somit am »Gtund« (arche) der Signi-
fikation: Sie nennt den Ort, von dem her die Zeichen überhaupt sprechen oder
ihre Bedeutungseffekte erzielen. Sinn ist etwas, was dem entspringt, was sich nicht
ausdrücken oder sagen läßt, was sich der Bezeichenbarkeit sperrt. Nicht nennt es
dasjenige, worauf sie bezogen sind, ihr Objekt oder ihre Referenz, insofern zur
Definition der Zeichens gehört, daß sie für anderes stehen oder auf es verweisen;
vielmehr in dem Sinne, daß die Möglichkeiten des Bezugs allererst gestiftet wer-
den müssen. Sprache und Zeichen sind in diesem Sinne in das Geschehen ihrer
Gegenwart hineingestellt. Es »gibt« Zeichen und es »gibt« die Sprache, doch nur
dank eines anderen, das nicht Sprache, nicht Zeichen »ist«. So bleibt jede Semiotik
oder Semiologie, jede Sprachphilosophie auf die Annahme einer Gegenwart be-
zogen, durch die das, was Zeichen oder Sprache ist, erst ge-geben wird: Gabe, die
nur als Ereignis gedacht werden kann. An ihr bekundet sich sowohl eine Grenze
der »Einschreibung« als auch der Lesbarkeit, ohne sich selbst wieder einer ein-
schreibbaren oder lesbaren Spur zu fügen, weil diese sich erst bei Gelegenheit an-
derer Zeichen oder Spuren aufweisen ließe. Die Vielfalt der Bedeutungen werden
dadurch ebenso eingeschränkt wie eröffnet. Stets existiert ein Rest, eine Unbe-
stimmtheit, die ihre Lektüren gleichermaßen ermöglicht wie wieder vereitelt.
Dann eignet der Semiose eine prinzipielle Unvollständigkeit: Etwas bleibt an ihr
unentschieden: ein Rückhalt, der anzeigt, daß die Zeichen stets doppelt besetzt
sind und in dem, was sie jeweils be-zeichnen oder be-deuten nicht vollständig
aufgehen. Es ist Rückständiges in der Signifikation, der ihr vorweggeht, ohne
selbst signifizierbar zu sein: Nichtsinn im Sinn, insofern die Zeichen immer schon
von etwas gezeichnet sind, was nicht Zeichen ist. Zwar kann es sekundär resigni-
fiziert oder gedeutet werden, doch so, daß sich die Duplizität mit jeder Bezeich-
nung oder Auslegung weiter verdoppelt und die Struktur einer Kluft oder Ver-
spätung einbehält. Eine nichtaufzeichenbare Spur geht der Aufzeichnung voraus
und weist der Symbolisierung den Ort ihrer Anwesenheit zu; so ist mit det The-
matik von Materialität, Präsenz und Ereignis ein Unberechenbares, mithin auch
Unausmeßbares angeschnitten, das sich - und dies nennt die eigentliche These -
in die Zeichen und ihre Ordnungen störend, widerspenstig und unberechenbar
einmischt, das Gefüge des Symbolischen umstürzt oder modifiziert und mit dem
Sinn seine eigenen Spiele spielt.
Freilich erweist sich dessen nähere Explikation als ausgesprochen problema-
tisch. Denn was den Zeichen als deren rückwärtige, aber notwendig mitzuden-
kende Bedingung mitgängig bleibt, entzieht sich gerade dem Charakter der Be-
zeichnung. Es bleibt in seinem »als was« {quid), seiner Sagbarkeit unbestimmt.

24 Zum Begriff des »Zuvorkommenden« vgl. insbesondere Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philo-
sophie der Offenbarung 1841/42 (Paulus-Nachschrift), hsg. v. M. Frank, Frankfurt/M. 1977,
S. 146, 157 u. 167.
20 EINLEITUNG

Bestenfalls markiert es einen Moment der Differierung, der sich unterschiebt,


ohne wiederum als solcher identifizierbar zu sein, einen Augenblick der Unter-
Brechung oder, um einen Ausdruck Lacans abzuwandeln, seiner »Entstellung«,
seiner »Ent-Setzung« im Sinne der Transposition."^ Dann bleibt es buchstäblich
gegenüber seiner Analysierbarkeit resistent: Ohne Kunde, die ihm eine Anschau-
ung oder ein Merkmal verliehe, bezeugt es sich jenseits der Zeichen oder der Ord-
nung ihrer Marken. Es gleicht darin einer Exklave des Sinns: Schnitt oder Spal-
tung, die aus deren Grenze herausfällt in ein Nicht-de-finierbares. Es wiese so auf
eine De-Markation, die das Symbolische und seine Bedeutungen, ja das Bedeut-
bare schlechthin überstiege. Und dennoch besteht das Ziel det folgenden Überle-
gungen darin, diese immer wieder flüchtige und sich ver-flüchtigende »Spurlosig-
keit« aufzuspüren, ohne sie sogleich begrifflich fixieren oder »dingfest« machen zu
können, um in den Lektüren der Texte und Diskurse, der »Lesbarkeit der Welt«
(Blumenberg) den Ort ihrer Indetermination, ihrer Unentscheidbarkeit auszuma-
chen. D.h. es geht um den Aufweis eines Nichtaufgehenden oder Fraglichen, das
bleibt, wenn gleichsam alles benannt oder intetpretiert wäre, ein durch die ver-
schiedenen Zeichentheorien Unerledigtes, vielleicht sogar Unerledigbares — ein
»Rückstand«, der sich auf keine Weise tilgen ließe und doch den Augenblick ihrer
Unruhe, ihrer Möglichkeit oder Kreativität kennzeichnet.
Keineswegs würde damit jedoch jene These von der Beliebigkeit des Sinns, der
Unverbürgtheit oder Unverbürgbarkeit des Symbolischen wiedetholt, wie sie sich
beispielsweise im Anschluß an konstruktivistische oder poststrukturalistische
Theorien ergibt: die »Krise« der Geltung der Signifikation, ihrer Losgerissenheit
von ihrem Anker, die die Prozesse der Semiose gleichwie ihrer Auslegung in das
leere Spiel einer Haltlosigkeit treibt — eine solche These klebt, trotz aller gegen-
teiligen Beteuerungen, weiter am Primat des Bedeutens, weil sie immer noch im
Horizont des Sinns bleibt und dessen Spuren verfolgt und vervielfältigt, d.h. die
Auswirkung der Wahrheitslosigkeit auf dessen »Machenschaften«" hin unter-
sucht. Demgegenüber besteht das Anliegen unserer Reflexionen in der Restituti-
on des Unausweisbaren selber, mithin eines Asemiotischen ode r Nichtsemiologi-
schen: Das Geschehen, mit dem die Zeichen oder ihre Strukturalität in Erschei-
nung treten, mit dem zugleich Raum und Zeit wichtig werden, kurz: das Ereignis
als Quelle - nicht, um es seinerseits theoretisch zu sanktionieren, sondern um es
in seiner Unerschöpflichkeit wieder zuzulassen." Insbesondere läßt es am Ort ei-

25 Vgl. Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud,
in: Schriften II, Ölten 1975, S. 17-55, hier: S. 36.
26 Mit dem Ausdruck erinnern wir an Roland Barthes, der die Vielfachheit des Sinns der Zeichen
im Zustand ihrer Haltlosigkeit thematisiert; vgl. ders., Die Machenschaften des Sinns, in: ders.,
Das semiologische Abenteuet, Frankfurt/M. 1988, S. 165-167.
27 Einen ähnlichen Gedanken verfolgt Jean-Francois Lyotard, Der Widerstreit, München 2. kor-
rig. Aufl. 1989 in bezug auf die Sprache: Jede Äußerung, jeder Satz ist eine Setzung, ein Vor-
kommnis (occurence), ein Ereignis: »Die Reflexion verlangt Aufmerksamkeit gegenüber dem Vor-
kommnis, verlangt, daß man nicht bereits weiß, was geschieht. Sie läßt die Frage offen: Geschieht
es? Sie versucht, das Jetzt zu bewahren.« Ebenda, S. 16. Vgl. auch § 184, S. 227. Zur Differenz
zwischen Lyotard und Derrida vgl. insb. meinen Aufsatz D. Mersch, Das Entgegenkommende und
EINLEITUNG 21

nes Unverfügbaren erneut die Gegenwärtigkeit einer Gegenwart entdecken, die


sich der Deutung ebenso widersetzt, wie sie ihr umgekehrt notwendig vorausgeht:
Ereignis des »Daß« (quod), das die Unverzichtbarkeit des Aisthetischen impliziert,
wie es gleichermaßen die Umwendung des Bezugs, des Übergangs von der Inten-
tionalität zur Responsivität einschließt. M.a.W: der Widerstand unserer Expedi-
tionen gilt den Konstruktionalismen jeder Couleur, seien sie exponiert als Philo-
sophien der Digitalität oder des Symbolischen, der Medialität, der »Schrift« (Der-
rida) oder der »Beobachtung« und »Unterscheidung« (Luhmann): Totalisierung
einer »Mitte« und des Vermittelten, die keinen Platz mehr lassen für das Mysteri-
um des »Daß«, das im Sinne Schellings als ein »Nichtnichtzudenkendes« jedem
Denken und damit auch jedem Sinn oder jeder Symbolisierung eigens noch »zu-
vorkommt«." Doch ist damit beteits ein Gedanke bezeichnet, der weit über jede
Fragestellung der Semiotik oder Semiologie hinausgreift.

3. Durchführung

Es mag befremden, Ereignis, Präsenz und Materialität in einem historischen Au-


genblick rehabilitieren zu wollen, da Medialität und Konstruktivismus, Digitalität
und Computerisierung ihren Siegeszug angetreten haben. Mit ihnen triumphiert
ein Fundamentalismus des Semiotischen." Er scheint gleichzeitig in seine techni-
sche Dimension eingetteten zu sein. Mit ihr kündet sich eine Universalisierung des
Mimetischen an, eine Verwischung zwischen Nachahmung und Nachgeahmten,
zwischen Original und Kopie, ja sogar eine Umkehrung von Produktion und Re-
produktion, die das Zweite an die erste Stelle rückt und ein Fest der Simulakra,
der »Täuschungen« entfacht, das zuletzt Wirklichkeit und Illusion, Fiktionalität
und Faktizität ununterscheidbar werden lassen. Es mag vielleicht noch mehr
überraschen, als Statthalter für das darin Unterschlagene und Unerledigte ausge-
rechnet die Gesichtspunkte der Materialität und der Performanz wiedereinführen

das Verspätete. Zwei Weisen, das Ereignis zu denken: Derrida und Lyotard. In: D. Köveker, A. Nie-
derberger (Hsg.), Lyotard im Widerstreit, Berlin (erscheint 2001).
28 Vgl. dazu vor allem weiter unten III. Tl., 2. Kap.
29 Vgl. dazu die Beiträge des Bandes Winfried Nöth, Karin Wenz (Hsg.), Medientheorie und die
digitalen Medien, Kassel 1998, insb. ebenda Lucia Santaella, Det Computer als semiotisches Me-
dium, S. 121-158.
30 Zur Auswahl vgl. Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, in: Theatro Machinarum,
Heft 3/4 (1982), vor allem S. 71 ff.; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 3. Aufl.
Weinheim 1991; Jean Baudrillard, Agonie des Realen, Berlin 1978; ders., Kool Killers, Berlin
1978; Vilem Flusser, Die Schrift, 2. Aufl. Göttingen 1989; Friedrich Kittler, Grammophon,
Film, Typewriter, Berlin 1986; ders., Fiktion und Simulation, in: Karlheinz Barck, Peter Gente,
Heidi Paris, Stefan Richter (Hsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer ande-
ren Ästhetik, Leipzig 6. Aufl. 1998, S. 196-213; sowie Peter Weibel, Virtuelle Realität oder der
Endo-Zugang zur Elektronik, in: Florian Rotzer, Peter Weibel (Hsg.), Cyberspace. Zum media-
len Gesamtkunstwerk, München 1993. Ferner kritisch Gianni Vattimo, Die Grenzen der Wirk-
lichkeitsauflösung, in: ders. u. Wolfgang Welsch (Hsg.), Medien-Welten Wirklichkeiten, Mün-
chen 1998, S. 15-26.

i ;
22 EINLEITUNG

zu wollen, um von ihnen her das Gegenwärtige und Ereignishafte erneut zu er-
schließen - in einem Moment, da die technische Aufzeichnung gestattet, jegliche
Materialität abzustreifen und nunmehr das Zeichen, die Strukturen der Signifi-
kanz und die Spuren des Performativen in ihrer reinen Immaterialität des binären
Codes, der Turingmaschine aufgehen zu lassen. Die Abenteuet des Realen schei-
nen sich restlos in die Simulation verflüchtigt zu haben: Es herrscht das Imaginäre,
das Phantasma, die un-endliche Wiederholbarkeit, die das Ganze des Seienden in
lauter Gespinste aus kalkulierbaren und manipulierbaren Texturen verwandeln.
Sie suggerieren eine absolute Souveränität über das Material. Aufgelöst in die blo-
ße Virtualität des Mediums, das erlaubt, jeden beliebigen Realismus zu kreieren
und durchzuspielen und sogar die Sinne täuschend zu verfuhren, besteht der vor-
liegende Versuch darin, die Grenzenlosigkeit (apeiron) der Szenarien, ihre buch-
stäbliche Abgründigkeit mit Verweis auf ein Unverfügbares anzuhalten und ihrer
vermeintlichen Freiheit eine Grenze (peras) aufzuzeigen.
Entsprechend suchen die Darlegungen etwas in Erinnerung zu rufen, was sich
der allgemeinen Tendenz des Immaterialismus widersetzt. Es beruht in demjeni-
gen, was den Zeichen immer schon innewohnt, was ihnen, sofern sie selbst
»sind«, eigentümlich ist: ihre Gegenwärtigkeit. Die Bekundung der Erinnerung, in
deren Folge auf diese Weise von Neuem die Erfahrung der Anwesenheit, der Prä-
senz durchdacht und jenseits ihres Charakters als Authentizität, Ursprung, In-
stanz oder Bezeugung ins Recht gesetzt wird, impliziett die Form einer Kritik an
der Universalität sowohl des Medien- als auch des Sprache-, Text-, Diskurs- oder
Schriftmodells. Durchkreuzt wird sie mit Blick auf die Ereignishafiigkeit der
senz, wie sie mit der Materialität der Zeichen wahrnehmbar wird - zuweilen sogar
eher fühlbar als sichtbar oder hörbar. Der entscheidende Schritt, woran sich
schließlich Gelingen oder Mißlingen mißt, liegt dann darin, die verschiedenen
semiotischen bzw. semiologischen Philosophien, ihre zugrunde liegenden
tionalen und strukturalen Zeichenbegriffe und die damit verbundenen Me-
dientheorien aufzunehmen, um sie schrittweise zu ihrem Ungedachten und
borgenen hin zu lenken, das erlaubt, sie gleichsam von Innen her aufzubrechen.
Erforderlich ist dazu, sich jeweils zuerst ihrer inneren Denklogik zu versichern
und ihrem Gemeinten zu ent-sprechen, ohne sie sogleich schon durch eine kriti-
sche Distanzieren abzuschneiden. Danach richtet sich auch die spezifische Vor-
tragsweise der Untersuchungen: Es handelt sich um eine Weise der Lektüre, die
dem Duktus der genannten Ansätze treu zu bleiben versucht. Der von uns ver-
fochtene Ansatz läßt daher ihnen gegenüber die Bescheidenheit einer provisori-
schen Anerkennung walten, um, durch sie hindurch, ihr Verfehlen, ihre Lücke
aufzudecken, welche sie in ihrer Gültigkeit erschüttern soll. Dazu wird gewisser-
maßen auf schmälstem Raum argumentiert. Er steckt das Terrain zwischen
Skripturalität, Zeichen oder Symbolisierung einerseits und dem Aufklaffen des
Ereignisses andererseits ab. Nicht an den verschiedenen Zeichenmodellen selbst
wäre auf diese Weise eine Korrektur vorzunehmen, denn das hieße, lediglich ei-
nen Zeichenbegriff gegen einen anderen auszuspielen; vielmehr gibt es ein Un-
korrigierbares - gleich, welcher Ansatz oder welche Theorie gewählt wird. Es ist
EINLEITUNG 23

der Universalitätsanspruch des Semiotischen oder Semiologischen, ihr Fundamenta-


lismus, der mit dem »linguistic turn« Einzug gehalten hat, der auf der Anklage-
bank steht und einem Kreuzverhör unterzogen wird.
Dabei verfolgt der Weg unserer Betrachtungen drei Stufen, (i) Den Ausgangs-
punkt (Teil I) bilden drei Paradigmen, die die Argumentation gewissermaßen am
konkreten Fall aufzeigen und umreißen soll: Das Beispiel der Körpersprache, die
Semiotik des Leibes, wie sie sich in Gestik und Mienenspiel ausdrücken und seit
je einen »Skandal« bilden, weil seine Deutbarkeit ebenso plausibel scheint, wie sie
sich einer schlüssigen Hermeneutik sperrt. Sodann die Kunst, die weniger auf ih-
ren Symbolgehalt hin untersucht wird, als auf das Mysterium ihrer Wirkung.
Verbundensein wird damit eine Revision des Aura-Begriffs, der über seine Ver-
wendung bei Walter Benjamin hinaus einer gründlichen Reinterpretation unter-
zogen wird, in deren Rücken, ohne explizit zu werden, eigentlich Emmanuel
Levinas' Phänomenologie der Alterität steht. Das dritte Beispiel behandelt das
Verhältnis von Stimme und Schrift, um gegen Derridas Skriptualisierung der
phone, so bedeutsam sie für die Bestimmung des Signifikanten als Laut ist, etwas
an der Stimme einzubehalten, was diese unterschlägt: Dasjenige, was mit Roland
Barthes als ihre »Rauheit« bezeichnet werden kann, die auf unverwechselbare
Weise an ihre Präsenz gemahnt, die sich zeigt und nicht spricht. Sie wird beim
Sprechen, beim lauten Lesen relevant, eine Erfahrung, wie sie nicht nur anhand
von dadaistischen Lautgedichten zu machen ist, sondern gleichermaßen für die
gesamte orale Tradition der Dichtkunst gilt. "
(ii) Det zweite Teil besteht in einer systematischen Auseinandersetzung mit
den unterschiedlichsten Philosophien des Zeichens. Erneut erfolgt diese wieder-
um in drei Schritten: (a) Zunächst gilt es, entlang der Dialektik von Wesen und
Erscheinung bei Hegel eine analoge Duplizität für die Struktur des Symbolischen
aufzuweisen, ein Gedanke, der von der Radikalisierung der Materialität zur Per-
formativität den Ereignisbegriff als allgemeine Folie einführt, der nicht wieder in
Form einer Doppelcodierung ins Paradigma des Semiotischen oder Semiologi-
schen integrierbar ist. Etwas bleibt, ein Unbestimmtes oder Unbestimmbares, das
in die Zeichen und ihre Bedeutungen ein Changieren oder eine Vagheit einträgt,
das sie ihrer restlosen Entschlüsselung entzieht: Widerständiges oder Unverfügba-
res, das sie hartnäckig unterwandert und verschiebt. Was sich derart versperrt,
läßt sich freilich nicht wieder bezeichnen oder sagen: Es zeigt sich. Insofern wird,
gegenüber der Kategorie des Sagens, die hier im weitesten Sinne mit Bedeuten
überhaupt identifiziert wird, ein Begriff des Sichzeigens ausgewiesen, der dieser als
Erscheinen des Erscheinens oder als reine Phänomenalität entgegensteht. Ein
Grundsatz der zeitgenössischen Semiotik und Semiologie wird so durchkreuzt:
Das, was sich zeigt, erscheint keineswegs arbiträr oder gleichgültig, vielmehr be-
steht die zentrale These der gesamten Untersuchungen darin, daß sich im Zei-

31 Vgl. Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme, in: ders., Der entgegenkommende und der
stumpfe Sinn, Frankfurt/M. 1990, S. 269-278.
32 Vgl. dazu wiederum insbesondere Roger Chartier, Lesewelten, a.a.O., S. 146 ff.
24 EINLEITUNG

chen eine Differenz findet, die quer zur Differentialität der Funktion oder der
Stellen im System steht, die vielmehr im weitesten Sinne eine Doppelstruktur an-
zeigt, die dem Symbolischen selbst anhaftet und es zwischen Sagen und Zeigen
bzw. Sichzeigen teilt. Mehr noch: Das Sichzeigen geht dem Sagen voraus, über-
formt es, lenkt es in ein anderes um. Kein Zeichen vermag sich zu artikulieren
oder vor dem Hintergrund anderer Zeichen abzuzeichnen, ohne selbst etwas zu
»sein«; ein »Ereignis«, das unbeherrschbar bleibt und beharrlich die Bedeutungs-
prozesse irritiert. Man könnte sagen: Jedes Zeichen ist stets mehr als es sagt, zei-
gend birgt es einen Überschuß, der nicht bedeutet und darum auch nicht wieder
signifizierbar wäre. Nochmals sei ausdrücklich hinzugefugt, daß damit keinesfalls
die Irreduzibilität des Referentiellen exponiert wird. Es handelt sich nicht um das
alte Problem der Repräsentation, der Verweisung oder Bezugnahme auf etwas,
um die Beziehung zwischen Sptache und Welt oder Bedeutung und Referenz an-
zuzeigen. Im Zentrum der Überlegungen steht vielmehr die Ansicht, daß die
Voraussetzung des Zeichens in einem Nichtzeichenhaften liegt, daß ein semioti-
scher Diskurs, konsequent durchgeführt, in einem Nichtsemiotischen wurzelt,
daß Sinn nur Sinn hat, wo ein anderes, das nicht auf Sinn reduzierbar ist, ins
Spiel kommt, daß die Sprache auf ein Nichtsprachliches verweist und jede Ord-
nung von Stellen einer Ge-Gebenheit bedarf, die sie verteilt und austrägt. Bezug
impliziert folglich eine Richtung, der etwas im Rücken steht, auf das er niemals
zurückkommen kann, was gleichwohl überhaupt erst die Bedingung dafür mar-
kiert, das er auf anderes gerichtet ist. Auf grundlegende Weise ist damit die Theo-
rie des Zeichens an eine Zwiefalt des Symbolischen gebunden, (b) Das Resultat die-
ser Überlegungen wäre allerdings noch anhand der geläufigen Zeichentheorien,
wie sie durch Funktionalismus und Strukturalismus, Semiotik und Semiologie ge-
geben sind, durchzuspielen und zu überprüfen. Die historische Linie des Funk-
tionalismus führt dabei über die Paradoxien des klassischen Zeichenbegriffs der
Substitution oder Repräsentation, wie sie sich bei Aristoteles und Ockham aufwei-
sen lassen und bei Peirce und Frege aufzulösen versucht werden, zu jener Dupli-
zität von Sagen und Zeigen, wie sie die frühe Wittgensteinsche Sprachphilosophie
im Tractatus logico-philosophicus begründet. Ihre spezifische Radikalität bildet die
»Mystik« des Sichzeigens, deren einzige Korrespondenz im Schweigen liegt und
die eben genau dorthin gelangt, wohin wir auf anderen Wegen zu gelangen su-
chen. Sie wird, über die Differenz von Denotation und Exemplifikation in der All-
gemeinen Symboltheorie Nelson Goodmans, die an sie gleichermaßen anknüpft,
wie sie sie wieder zurücknimmt, bis zur Blöße jener Materialität weiterverfolgt,
wie sie vor allem ästhetischen Ptäsentation zukommt: Unverzichtbarkeit der Ais-
thesis, wie sie mit der Disfunktionalität im Funktionalismus des Zeichens selber
zu lokalisieren wäre, (c) Dieselbe Bewegung läßt sich ebenfalls für den Struktura-
lismus reklamieren. Keineswegs erschöpft sich die Saussuresche Innovation auf die
Entdeckung der Arbitrarität von Signifikant und Signifikat, vielmehr entsteht
das, was ein Zeichen ist, allererst durch eine differentielle Kette von Schnitten,
deren Bewegung seine Identität laufend verschiebt. Doch ergibt sich eine Zwei-
deutigkeit der Semiologie insoweit, als daß sie mit dem Primat des Lautes die
EINLEITUNG 25

Materialität des Signifikanten stets vorauszusetzen scheint, die sie im selben Mo-
ment jedoch wieder ausstreicht, als sie allein die »Tranchen« im Material, d.h. das
Materielle als Struktur interessiert. Die Präsenz, die der Stimme als Zeichen von
Anfang an mitgegeben ist, verschwindet erneut und verblaßt entsprechend bei
Derrida zum Graphem, zur skripturalen Marke, zur »Spur«, die zwar anwesend
sein muß, deren Anwesenheit aber erst durch eine Nachträglichkeit erscheint. Es
gibt ein Zeigen des Zeichens, mehr noch als ein Sagen; dennoch verweist das Zei-
gen nicht auf eine Präsenz, die sich zeigt, sondern seine Gegenwart unter-liegt
(sub-icere) der Nicht-Gegenwart einer primären Differenz (differance). Derridas
Schrifttheorie erweist sich insofern als die vielleicht am weitesten fortgeschrittene
Philosophie eines Nicht-Ereignisses, einer Nicht-Präsenz, die diese immer schon
der Wiederholung und damit dem Vorrang des Schnitts, der Struktur, der Mar-
kierung überantwortet hat. Sie bildet zugleich wohl die schärfste Herausforde-
rung eines Denkens, das im Gegenzug dazu die Einzigartigkeit des Ereignisses,
den Augenblick einer Gegenwärtigkeit zu restituieren sucht. Doch wird der ent-
scheidende Einwand gegen Derrida darin bestehen, nachzuweisen, daß die Be-
griffe »Spur« und differance zwei untetschiedliche Ereignis-Begriffe supponieren,
so daß sie bei aller Negation von Präsenz gleichwohl noch die Flüchtigkeit einet
anderen Präsenz annehmen muß, die dieser wiederum zuvorkommt.
(iii) Schließlich wird dieser Pfad, der Ereignis, Präsenz und Materialität zu-
sammendenkt, in einem dritten Teil dorthin weiterverfolgt, wo sich im Anschluß
an Martin Heidegger und über ihn hinaus die Konturen einer »Ereignisverges-
senheit« ausmachen lassen. Fundiert wird sie in Schellings Begriff des »Zuvor-
kommenden«. Bei aller Zäsurierung durch die Zeichen, das Medium, bei aller
Unterbrechung und Vermitteltheit des Angeschauten oder Gedachten reklamiert
er die Unbedingtheit des »Daß« (quod) vor dem »Was« (quid): Primäre Gegen-
wärtigkeit eines Geschehnis, noch bevor die Frage nach seiner Bestimmtheit, sei-
ner Bedeutung sich stellt. Sie wäre bereits mit jedem Ereignis eines Zeichens ge-
geben, mit der Performativität seiner Setzung, sei es im Akt ihres Vollzugs oder
als Wiederholung, als Geschehen der Zirkulation innerhalb einer Struktur. Denn
keineswegs ist gleichgültig, »daß« ein Zeichen gegeben wurde und nicht vielmehr
nicht, ob gesprochen oder wann geschwiegen wurde, ja nicht einmal zu welchem
Zeitpunkt die Stille gebrochen und eine Rede begonnen wurde. An ihnen offen-
bart sich ein Spalt, eine plötzliche Präsenz oder nicht zu tilgende Anwesenheit,
die, einmal in die Welt gesetzt, ihre persistente Macht beweist. Was mithin auf
diese Weise behauptet wird, kann in einem gewissen Sinne als die Vorgängigkeit
des Nichts vor dem Sein (Existenz) beschreiben werden, ohne damit bereits für
einen Ursprung plädiert zu haben. Es kann insofern als vor-gängig exponiert wer-
den, als es Sein (ex-sistere) erst »gibt«. Die Perspektive etlaubt, das Sein (Existenz)

33 Der Begriff des Seins wird hier, quer zur geläufigen metaphysischen Tradition, die ihn auf »We-
sen«, »Essenz« kapriziert, welche mit dem Denken erst ihre Bestimmung, ihren Sinn erfahren,
mit »Existenz« identifiziert. Die »Existenz« geht damit der »Essenz« voraus; ein Satz, der zwar mit
dem Existentialismus Jean-Paul Sartres eine gewisse Prominenz erfahren hat, der von uns gleich-
wohl in einem nichtexistentialistischen Sinne gebraucht wird.
26 EINLEITUNG

als Ereignis zu denken. Es ereignet sich als »Gabe«. Dann bezeichnete das Nichts
den Raum, in dem Sein (ex-sistere) geschieht. Solches Geschehen meint dasjenige,
wodurch es eine Präsenz erhält: Ge-Gebenes, das nicht einfach »ist«, sondern des-
sen Frage und mithin auch Fraglichkeit gerade darin besteht, »daß« (quod) es ist.
Doch ist damit zugleich schon eine Transformation der Orientierung, der Auf-
merksamkeit gefordert. Denn was sich ereignet, geschieht als Andersheit. Es be-
gegnet als Alterität, die widerfährt oder einbricht, die gemäß Levinas nicht unter
eine voluntative Struktur gestellt werden kann, sondern die als Vorgängiges zu-
gelassen werden muß. Es bedeutet, sich antwortend ihrem Ereignis zu unter-
stellen. So ist eine Umwendung det Logik der Intentionalität zur Responsivität
impliziert, die gleichermaßen den Schritt vom Symbolischen und seinen Lektüren
zum Vorrang des Ethischen vollzieht. D.h. es geht zuletzt um eine Verwandlung
des Bezugs, um ihm eine andere Stellung im Diskurs zu erteilen: Stellung des An-
deren selbst. »Früher« als eine Auslegung, »früher« auch als die Bemühung um
Sinn, um Verstehen und praktische Verständigung bedarf es der Haltung eines
Begegnenlassens und Antwortens, um sich immer wieder von Neuem offen zu hal-
ten für die Unerschöpflichkeit dessen, was sich nur zeigen kann.
Deutlich wird mithin, daß überall der Begriffdes Ereignisses im Zentrum steht.
Er erfährt eine doppelte Fundierung: einerseits im Begriff der Materialität, als de-
ren spezifische Ekstasis, ihr »Herausstehen«, wodurch sie sich zeigt und woran sie
ihr Erscheinen (ex-sistere) hat; andererseits im Begriff der Performanz, dem Akt der
Setzung. Die Ausdrücke Ekstasis, Sichzeigen und Erscheinung bilden eine Einheit;
zudem gehören im Bereich der Zeichen, der symbolischen Ordnung, Materialität
und Performanz zusammen, sowohl in Ansehung dessen, daß ihnen notwendig
eine sinnliche Präsenz zukommt, als auch, daß sie vollzogen werden müssen. Sol-
cher Vollzug ist an Wiederholungen geknüpft. Wiederholbarkeit, Iterabilität bil-
det nach Derrida eines der Grundmerkmale des Zeichens. Der Gedanke wird in
Signatur Ereignis Kontext, Derridas Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie
John L. Austins, präzisiert: »Meine schriftliche Kommunikation muß, trotz des
völligen Verschwindens eines jeden bestimmten Empfängers überhaupt, lesbar
bleiben, damit sie als Schrift funktioniert, das heißt lesbar ist. Sie muß in völliger
Abwesenheit des Empfängers oder der empirisch feststellbaren Gesamtheit von
Empfängern wiederholbar - >iterierbar< - sein. Diese Iterierbarkeit - (iter, >von
neuem<, kommt von itara, anders ...) strukturiert das Zeichen der Schrift selbst,
welcher Typ von Schrift es im übrigen auch immer sein mag (...). Eine Schrift,
die nicht über den Tod des Empfängers hinaus strukturell lesbar - iterierbar — ist,
wäre keine Schrift.« Der Passus betritt mit den beiden Verben »bleiben« und
»sein« den Raum zwischen Zeit und Sein, in dem die Frage der Schrift und der
Skripturalität des Zeichens plaziert ist. Die Lesbarkeit, die für einen Moment
gelten kann, muß auf Dauer gestellt werden; die Wiederholbarkeit, die Iterabili-
tät garantiert deren Möglichkeit. Doch beinhaltet sie zunächst nur eine potentia,

34 Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 2., über-
arb.Aufl. 1999, S. 333.
EINLEITUNG 27

eine Virtualität, nicht schon deren Faktizität. Hingegen müssen die Zeichen rea-
liter vollzogen werden, um im Prozeß ihrer Resignifizierung und Rekontextuie-
rung ihre Aktualität und Bedeutung zu bewahren und immer wieder neu unter
Beweis zu stellen. Zeichen, die nicht wiederholt werden, veralten, sterben ab oder
bewahren die Aura einer mythischen Exklusivität. Statt dessen gewinnen sie ihre
Dynamik oder Stellung allererst aufgrund ihrer Performanz, die sie ebenso aus-
tragen wie sich im Prozeß ihrer Wiederholung ein anderes einbehält, das wieder-
um nicht unter die Bestimmung ihrer Iterabilität fällt: Die Singularität ihtes
Vollzugs, dessen Intensität und Einmaligkeit. Entsprechend unterstellt der Prozeß
der Signifikation die Handlung, die Praxis: Die Zeichen oder »Marken« werden
gesetzt, ausgetauscht, gelesen odet verbraucht und ausgelöscht. Jede Gebärde be-
darf der Bewegung, die sie an Leiblichkeit bindet und ihr ihre eigene Kraft oder
Note zuweist, wie die Stimme, die erklingt und nachhallt, ihre besondere Wir-
kung entfaltet, die ihr ihre einzigartige »Gravität«, ihre Würde, wie auch ihre
»Grazie«, ihre Anmut verleiht. Die Iteration der Zeichen setzt darum die Mate-
rialität des Iterierten ebenso voraus wie die Weise ihrer Ausführung. Der Begriff
der Performanz gemahnt auf diese Weise an den Akt der Setzung, an dessen Un-
wiederholbarkeit. Beiden, Materialität und Performanz, haftet eine spezifische Er-
eignishafiigkeit an. Im Prozeß der Zeichen kommen daher Präsenz und Präsenta-
tion zusammen, die ihre Effekte in der Geschichte ihrer Systeme und Strukturen
eintragen. Demnach geht der Begriff des Ereignisses dem der Performativität
noch vorweg, bildet dessen Kondition.
An den Zeichen haftet deshalb eine nicht zu tilgende Präsenz. Sie ist mit ihrer
Anwesenheit, ihrem »ersten Mal« bereits gegeben. »Daß« ein Zeichen »ist« und
nicht nicht, ist die Bedingung ihrer Analyse; »daß« seiner Existenz jedoch in ge-
wissem, noch zu klärendem Maße eine Unrevidierbarkeit eignet, bildet ein Re-
sultat, das zu denken in seiner ganzen Tragweite aufgegeben ist. »Ist einmal eine
Geste gemacht und ein Geräusch hervorgerufen, kann ich sie nicht ändern, in-
nerlich ist es schon geschehen,« heißt es bei dem Fluxus-Künstler Guiseppe Chia-
ri. Sie nehmen ihren Platz ein, verbrauchen Zeit. Bestenfalls vermögen sie zu
verklingen oder durch andere Zeichen ersetzt oder überschrieben werden. Eine
Handlung, die vollzogen ist, ein Gesichtsausdruck, der etwas zu verstehen gibt,
eine nebensächliche Äußerung, mögen sie auch noch so ungeduldig gegeben oder
unvorsichtig hingeworfen sein, bilden ein Geschehen, das auf keine Weise rück-
gängig zu machen ist. Es gibt an ihnen eine »Schuld« des Seins (Existenz), die un-
erbittlich ist, eine verhängnisvolle Gegenwart, die nachhängt und kaum verzeih-
lich ist, und die zu tragen und zu ertragen wir verurteilt sind, ob wir wollen oder
nicht. Eine Unachtsamkeit, eine winzige Boshaftigkeit oder geheuchelte Liebe:
Zeichen, die »da« sind, deren Präsenz wie Giftpfeile wirken und keine Revision
zulassen, vielleicht noch nicht einmal durch eine Entschuldigung. Ich habe etwas

35 Zum Zusammenhang von Gravitas und Grazie vgl. Michel Serres, Die fünf Sinne, a.a.O.,
S. 273 ff.
36 Guiseppe Chiari, Interview von Giancarlo Politi, in: Kunst heute 2 (1973), S. 17.
28 EINLEITUNG

gesagt, es ist ausgesprochen und erzeugt sein eigenes Drama, zieht seine Spur
nach sich, die sich in anderen Spuren, in Folgen und Reaktionen fortpflanzt.
»Daß« das Ereignis »ist«, impliziert mithin eine Verzweiflung, die nur zum Preis
ihrer Wiederholung, ihrer Verdopplung ausgeräumt und eben gerade dadurch
wieder verlängert und hinausgeschoben werden kann. Am Zwang, allenfalls »an-
schließen« zu können und das einmal Begonnene kontinuieren zu müssen,
hängt die »Tragödie der Kultur«.

4. Methode paradoxer Überschreitung

»Das Paradoxon hat die phantastische Eigenschaft, etwas aufzulösen und es in ei-
nen Nicht-Zustand zu vetsetzen. Aus dem Nichts heraus ergibt sich dann ein
neuer Impuls, der einen neuen Beginn setzt.« Die Bemerkung, ausgesprochen
von Josef Beuys in einem Gespräch mit Jannis Kounellis, Anselm Kiefer und En-
zo Cucchi, deutet die Methode an, mit der die vorliegenden Untersuchungen ver-
suchen, das in den Zeichen stets Mitgängige, aber Unbezeichenbare, und folglich
das durch die Zeichentheorien Implizierte, jedoch Ungedachte aufzuweisen.
Denn die Herausstellung der Ohnmacht des Symbolischen, sich selbst zu deter-
minieren, die Entzifferung eines Nachhalls des Nicht-Zeichens im Zeichen, seine
flüchtige und zugleich untilgbare Ereignishaftigkeit, erfordert ein aporetisches
Sprechen. Notwendig verlangt sein Aufweis des Mediums der Sprache, der Zei-
chen, die bereits eine Symbolisierung, eine Signifikanz beanspruchen: Die Philo-
sophie vermag nichts außer ihrer Diskursivität anzuzeigen. Und doch soll das,
was die Rede zu ent-decken oder offenzulegen trachtet, ein Nicht-Zeichen, mit-
hin ein Unsagbares oder Undarstellbares sein. Unweigerlich gerät damit die Be-
mühung an den Rand einer selbstwidersprüchlichen Unternehmung: Darstellung
des Undarstellbaren oder Bezeichnung dessen, was weder ein Zeichen ist noch ei-
nen Ort innerhalb einer symbolischen Ordnung einnimmt, mithin Zeichen des
Nicht-Zeichens oder Ort eines Nicht-Ortes.
Indessen erscheint das, was sich derart im Resultat paradoxal geriert, weniger
den Unzulänglichkeiten eines bestimmten Diskurses geschuldet, als der Schwie-

37 Zum Begriff der »Anschließung« vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Grundriß einer allge-
meinen Theorie, Frankfurt/M. 1984; sowie George Spencer-Brown, Laws of Form, Gesetze der
Form, Lübeck 1997.
38 Dem von Simmel geprägten Ausdruck geben wir hiermit eine völlig andere Wendung. Bestand
für diesen das Tragische in der Kluft der »Seele«, sich objektivieren zu müssen, ohne in der ob-
jektiven Kultur wiederfinden zu können, so legen wir die Betonung darauf, daß die Faktizität des
Symbolischen als eine irreversible, bestenfalls »überschreibbare« Macht entgegensteht. Vgl. Georg
Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 14: Hauptpro-
bleme der Philosophie. Philosophische Kultur, Frankfurt/M. 1996, S. 385-416; sowie dazu Ernst
Cassirer, Die »Tragödie der Kulturs in: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, Darmstadt
6. Aufl. 1994, S. 103-127.
39 Josef Beuys, in: Ein Gespräch. Josef Beuys, Jannis Kounellis, Anselm Kiefer, Enzo Cucchi, hsg. v.
J. Burckhardt, Zürich 1986, S. 144.
EINLEITUNG 29

rigkeit der »Sache des Zeichens« selbst. Wenn, nach Derrida, das Zeichen »ande-
res denn Seiendes« meint, mithin »die einzige >Sache< (ist), die, da sie keine Sache
ist, sich nicht unter die Frage »Was ist das?« stellen ließe, sondern im Gegenteil
diese Frage bei gegebenem Anlaß erst hervorbringt (...)«, dann kann es nicht
selbst wiederum »als etwas«, als ein Seiendes unter anderen angesprochen werden,
sondern rückt in den Status eines Konstituenz jeglichen Seienden. Es nimmt ent-
sprechend den Rang eines universalen Mediums ein. Demgegenüber besteht die
Grundidee unserer Überlegungen darin, daß die Zeichen, oder ihre Ordnungen,
nicht ohne Widerspruch in ihrer bloßen Medialität aufgehen können, weil sie
selbst noch des Substrats, ihrer Materialität und performativen Setzung bedürfen,
um als solche präsent zu werden. Dann ist etwas an ihnen ausgewiesen, was sich
der Zeichenhaftigkeit nicht fügt, und zwar wiederum aufgrund einer Paradoxali-
tät, die ihnen selbst eignet. Wir haben es bereits mehrfach herausgestellt: Indem
die Zeichen - funktional — substituieren, was sie nicht sind, indem sie für etwas
stehen, es be-zeichnen oder be-deuten, ein Seiendes oder einen Sinn; oder: indem
sie — struktural - einen Platz in einer Struktur besetzen, ihn einnehmen, vermö-
gen sie sowenig das mit zu bezeichnen oder zu bedeuten, was sie austrägt, als sie
den Ort oder die Stelle markieren können, die sie innerhalb ihrer Struktutalität
bewohnen. Ihnen entgeht, was sie ermöglicht: ihre Materialität, das Ereignis ihrer
Setzung. Stets klafft eine Lücke, eine Kluft, die auf ein »Unvordenkliches« zu-
rückweist, das den Zeichen oder ihrer Position zuvorkommt, was ihnen »statt-
gibt«, ein Sein (Existenz) erteilt, ohne wiederum selbst von ihnen stattgegeben
oder erteilt worden zu sein. Nirgends gehen sie daher allein in der Immaterialität
ihres Bedeutens oder ihrer Ordnung auf: Zu ihnen gehört ein anderes, eine nicht
auszuräumende Vorgängigkeit. Sie büßten, mit ihret Ausblendung, zugleich ihre
Basis ein. Freilich kommt dieser allein das Format einer Grenze, einer Negativität
zu: Nichtbezeichenbares, das ausschließlich in Form einer Negation, einer Ver-
weigerung angegeben werden kann und das im Diskurs eine nicht zu bestreitende
Stellung beansprucht. Es ist nicht möglich, dieses Nicht, diese Negativität, die
»vor« den Zeichen, der Sprache liegt, zu bezeichnen oder sprachlich auszuweisen;
aber ebensowenig ist es möglich, es abzustreiten, es in seinem »Nicht« unberück-
sichtigt zu lassen. So enthüllt sich das Vergessene oder Unterschlagene, das
Nicht-Zeichen im Zeichen, das gleichwohl die Möglichkeit seiner Bedeutung,
seiner Differentialität konstituiett, vermöge eines Paradox. Sein Aufweis gelingt
als Reflexions-Zeichen. Es trägt seine Spur indirekt ein. Sein Aufspüren in den
unterschiedlichsten Facetten zählt deshalb zum ausgezeichneten Verfahren der
Untersuchungen. In ihm gründet sich ihte Heuristik.
Allerdings, und dies kann nicht oft genug betont werden, sperrt sich das, was
auf diese Weise angedeutet werden soll, der Bezeichnung, der Rede. Das Paradox,
das die Untersuchungen von ihrer ganzen Anlage her leitet und nach philosophi-
scher Erforschung verlangt, impliziert so wiederum selber ein paradoxales Spre-
chen. Denn jede Bestimmung unter dem Siegel eines »Als-was« hat sie schon der

40 Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt/M. 1979, S. 77.
30 EINLEITUNG

Aussage, dem Urteil überantwortet, so daß von ihm keine positive Erklärung ge-
geben werden kann. Genötigt zum Schweigen, zur Nicht-Rede, wie Wittgenstein
seinen Tractatus beschließt, um sich des Unsagbaren, dessen, was sich zeigt, aber
nicht aussprechen läßt, zu enthalten, scheint es immer wieder an die Grenze des-
sen zu geraten, wo die Leere der Sinnlosigkeit beginnt. Daher bleibt, was wir
aufzusuchen trachten, ohne Zeichen odet positive Aussage, mithin nichts, was ins
Spiel käme, nicht einmal als Differenz, weil jede Anzeige es bereits von sich ge-
trennt und erneut ans Zeichenhafte gebunden hätte. Gleichwohl ergibt sich auf
diese Weise nur der Taumel eines infiniten Regresses: Unnennbar und nicht be-
zeichenbar wird das Ereignis der Setzung bestenfalls zum Gegenstand eines weite-
ren Zeichens, das seine eigene Ekstatik einbehält und sich des Augenblicks seiner
Präsenz verweigert. So wiederholt sich die Spur des Paradox inmitten der Bemü-
hung um seine Auflösung, wird zum unendlichen Aufschub, zur Metonymie, die
wiederum die Unmöglichkeit einer Lösung ebenso bestätigt wie zudeckt. Offen-
kundig bleibt es das Schicksal des Nicht-Zeichens, allein im Rahmen und ver-
mittels der Zeichen erscheinen zu können, die gleichzeitig sein Erscheinen unter-
binden: Crux eines jeglichen Diskurses, der sich explizit dem zuzuwenden sucht,
was »unvordenklich« dem Denken vorweggeht. Seine Aporetik wäre unausweich-
lich. Doch hat Levinas, der, wie Spinoza, Schelling, Heidegger oder Adorno sol-
ches Denken wagte, nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sich die Sprache
nicht notwendig im Apophantischen im Sinne der »Aufweisung« erschöpft; viel-
mehr ist ein Sagen möglich, das der Absurdität der eigenen Rede eingedenk bleibt
und dennoch spricht, ohne zwangsläufig im Sinne der formalen Logik antino-
misch zu werden. " Es wäre ein Sagen jenseits von Intentionalität, eine Rede, die
sich unaufhörlich selbst »widerruft« und das »Als-was« der Bestimmtheit, das es
nicht umhin kann zu setzen, verrät, um immer wieder anderes zu sagen als sie
43

sagt.
Zu unterscheiden wären dazu freilich zwei gegensätzliche Verwendungsweisen
des Paradoxen: eine logische und eine katachretische. Erstere beruht auf Figuren
der Ipsoflexivität und folgt det Struktur des Urteils, der Form der Prädikation,
die sie allein gestattet und die der Selbstwiderspruch verletzt, um nichts als Un-
sinn zu gebären. Statt dessen gemahnt letztere an eine radikale Metaphorizität. Sie
benutzt das Paradox gleichsam als Grenzgang, als verschobene Rede, die am Ran-
de des Sagbaren in ein unbekanntes Sprechen fällt, um noch dem Ausdruck zu
verleihen, was die diskursive Logik als unaussagbar verbietet. Sein Platz wäre die
Rhetorik. Demgegenüber hat der logische Gebrauch des Paradox seinen Anteil
einzig an den argumentativen Redeweisen, die die Struktur des prädikativen Sat-
zes mit einem Alleinvertretungsanspruch versehen und darum nichts anderes
können, als sich unablässig zu replizieren. Wie die »unwiderleglichen« Einwände

41 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 7, S. 178.


42 Vgl. Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg München
2. Aufl. 1998, S. 31 ff, 106 ff.
43 Ebenda, S. 32 u. 33.
EINLEITUNG 31

gegen den Skeptizismus, die sich auf dessen Inkonsistenz berufen, indem sie sei
ne beiden widerstreitenden Thesen: die Unmöglichkeit der Wahrheit bei deren
gleichzeitiger Inanspruchnahme, identisch setzen, so ist die destruktive Macht des
Paradox nur plausibel, wenn vorderhand schon einer bestimmten Redeweise den
Vorzug erteilt wotden ist. Denn das Patadox setzt stets bei einet doxa an, auf die
es sich bezieht und die es bis an den Rand einer Verzweiflung überzieht. Nur
unter dessen Voraussetzung kann überhaupt nur etwas als para-dox ausgewiesen
werden; freilich so, daß mittels des logos dessen innere Widersprüchlichkeit auf
gedeckt wird. Dann bleibt aber, bei aller womöglich berechtigten Strategie der
Diskreditierung, eines im Rücken, das von der Bewegung der Reflexion gar nicht
berührt wird: die Geltung des logos selber. Sie wird selbstverständlich gesetzt, oh
ne sie auszuweisen: Darum ist keiner der Gegenbeweise gerechtfertigt, sowenig
wie der Ausschluß eines Unsagbaren unter Hinweis auf seine Unsagbarkeit, weil
dies nur gilt, solange das Sprechen auf die apophantische Logik der Aussage ver
pflichtet bleibt. Die Rede, die das Unsagbare anzeigt, bezeugt deshalb nicht vorn
vornherein ihr Ungenügen: das hieße, einem Herrschaftsanspruch der diskursiven
Rationalität in der philosophischen Sprache stattzugeben, der nicht schon da
durch legitim ist, daß jeder Selbstwiderspruch sozusagen postulatorisch ausge
schlossen wird. Vielmehr sanktioniert er sich selbst, indem der Paradoxie von sich
her eine widerlegende Kraft zugebilligt wird, die nichts anderes bewirkt, als die
Notwendigkeit der eigenen Prämissen unter Beweis zu stellen. Kein anderes gilt
außer dem prädikativen Satz; deshalb wird alles, was deren Form nicht genügt,
ebenso rigoros zurückgewiesen, wie diese sich darin umgekehrt selbst behauptet.
M.a.W., das logische Patadox funktioniert letztlich als Fallbeil zur Exekution
von Diskursen. Es definiert das Sagbare und unterzieht es einer Elimination von
Alternativen. Es gibt nur ein Gesetz und ein Modus des Sprechens, jenseits dessen
die uneigentliche Rede, der Unsinn oder das Irrationale beginnen. Entsprechend
kommt der Aufweis einer Aporie einem Verbot gleich. Dessen Anerkennung ist
bereits Marke seines Triumphs, nicht schon seiner Legitimität, sowenig wie im
übrigen die Rechtfertigung für die Unmöglichkeit eines anderen Sagens. Besten
falls gehorcht es dem Akt einer Setzung, der keinen anderen Grund hat als die
nichtrationale Auszeichnung einer bestimmten Form von Rationalität. Mit ihr ist
eine Normativität gesetzt, die jenseits von Wahrheit oder Begründung liegt: Sie
wird verfügt. Ihr korrespondiert die Einteilung des Diskurses in »zulässig« und
»unzulässig«, deren Differenz mit der Trennung zwischen »vernünftig« und »un
vernünftig«, »logisch« und »alogisch« oder »sinnvoll« und »unsinnig« zusammen
fällt. Dann gibt es nichts »Jenseits« des Diskurses, kein »Anderes« der Argumen
tation, das nicht von Neuem auf sie rekurrierte, um sich an deren Grenze zu sich
selbst zurückzubeugen und zu wiederholen; vielmehr gehorcht die Rede immer

44 Explizit vergleicht Levinas ein Denken des Anderen, das sich der »Struktur der Intentionalität«
widersetzt, mit der »Kühnheit des Skeptizismus«; vgl. ebenda, S. 34.
45 Michel Serres hat daraufhingewiesen, daß die »lateinische Sprache (...) die Wurzel dieses Sagens
an den Ort des Gerichts (legt), diesen Raum, der gegenüber der Welt ebenso abgeschlossen ist
wie das Theater.« Ders., Die fünf Sinne, a.a.O., S. 126.
32 EINLEITUNG

schon den basalen Prinzipien von Logik und Rationalität, die sich dadurch ab-
solut setzen, daß sie sich an den Figuren des Widerspruchs hartnäckig selber be-
stätigen. Überall bleibt die Sprache deren Kriterien treu und wird damit von
vornherein der Möglichkeit beraubt, anderes als ihre fortwährende Wiederholung
zu sagen. Sie repetiert, was sie in Anspruch nimmt. Das bedeutet: Die logische
Verwendung des Paradoxons funktioniert gleich einem Spiegel, an dem sich der
logos gleichzeitig blicht wie selbst reflektiert. Doch hat sie ihn bereits bis in die ei-
gene Konstruktion hinein vorausgesetzt, so daß sie gleichsam als sein eigenes Me-
dium fungiert, das stets nur seine unendliche Selbstbespiegelung hervorzubringen
vermag.
Dagegen entstammt der katachretische Gebrauch des Paradox der Einsicht, daß
es gerade der Aporetik bedarf, um sich aus den Sistierungen des Systems zu be-
freien und dem Gefängnis seiner Ordnung zu entkommen. Es bleibt nicht bei ei-
ner Polemik der Widerlegung stehen, sondern hintertreibt diese nochmals auf die
Entdeckung ihrer impliziten Voraussetzungen hin. Alles Denken verharrt in sol-
chen Voraussetzungen; sie sind der doxa der para-doxa selbst eingeschrieben.
Darum kann kein Paradox als »Argument« dienen; vielmehr hat es sich umge-
kehrt der Widersprüchlichkeit seiner eigenen Konstitution eingedenk zu werden.
In diesem Sinne hatte Friedrich Schlegel über die Ironie gesagt, sie habe »die
Form des Paradoxen«: »Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist.« ' Der
Sinn des Ironischen liegt, wie es darüber hinaus in der kleinen Schrift Über die
Unverständlichkeit heißt, im »Fragmentarischen«. Ihr Wesen ist nicht der Man-
gel, der das Mysterium verbirgt, sondern die Offenheit. Sie fällt mit der Offen-
heit der Sprache, deren Signum die von Wittgenstein aufgewiesene Differenz zwi-
schen Sagen und Zeigen ist, selber zusammen. Denn nicht nur spricht das Para-
dox, indem es sich an die Bedingungen der diskursiven Rede bindet, um sich aus-
zudrücken, vielmehr zeigt es gerade dadurch, daß es dieser widersteht, anderes. Es
hält sich an die Grenzen des Sagbaren, um in diesem und gegen es zu einem an-
deren zu gelangen, ohne daß ihm solcher Überstieg schon glückte. Solcher aporeti-
sche Diskurs, den Adorno, gleichwie Levinas, für die maßgebliche Sprache der
Philosophie hielten, beschränkt sich dabei lediglich auf die Anzeige einer Gren-

46 Friedrich von Schlegel, Schriften und Fragmente, Stuttgart 1956, S. 84. In ähnlichem Sinne
heißt es bei Sören Kierkegaard: »Doch soll man vom Paradox nichts Übles denken; denn das Pa-
radox ist des Gedankens Leidenschaft, und der Denker, der ohne Paradox ist, er ist dem Lieben-
den gleich welcher ohne Leidenschaft ist (...).« Ders., Philosophische Brocken, Frankfurt/M.
1975, S. 41.
47 Friedrich von Schlegel, Über die Unverständlichkeit, in: ders., Werke in zwei Bden, Berlin 1980,
2. Bd., S. 199—211, hier: S. 203 f., bes. 204. Das »Fragment« wird wiederum in den
>Athenäums<-Fragmenten zugleich als Prinzip des Poetischen und als »Form der Universalphilo-
sophie« ausgewiesen: »Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden
Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.« Dets., >Athenäums.-
Fragmenten, in: Kritische und theoretische Schriften, Stuttgart 1978, S. 99; auch S. 109.
48 Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1973, S. 56; ferner
ders., Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Bd. 6, Frankfurt/M. 1973, S. 45; Emmanuel
Divinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., S. 29 ff, 110 ff.
EINLEITUNG 33

ze, die durch die Unmöglichkeit oder Brechungen des Sagens hindurch auf ein
»Jenseits« weist, um zu der Möglichkeit seiner Verwandlung, seiner »Transpositi-
on« überzuleiten. Denn es gibt nicht das Unsagbare schlechthin, sowenig wie das
Irrationale oder die Unvernunft, sondern lediglich Unsagbares oder Unvernünfti-
ges in respekt einer Ordnung des Sagens, welche das Terrain der Rede im Ganzen
absteckt. Der Widerspruch markiert dann nicht die Verwerfung der Sagbarkeit
überhaupt, sondern allein deren Beschränktheit in Ansehung der zugrunde lie-
genden Prinzipien, wie sie durch das Maß des logos determiniert werden. Zwar
spricht das Paradox und fügt sich darin der Struktur der dictio; indem es aber die-
se bis an deren Grenze ausreizt und über-zieht, lockt es sie zugleich in das Ereignis
ihrer Überschreitung. Keineswegs begnügt es sich so mit deten Wiederholung,
sondern sucht die Rede gleichsam im Verweis auf ihr Ausgeschlossenes hin zu
durchstechen.
Solches Ereignis der Überschreitung kann nicht ausgedacht werden; es sperrt
sich der Antizipation - und doch hätte die paradoxale Rede den Charakter, dar-
auf zuzuführen. Zwar wird das »Jenseits«, auf das sie verweist, immer noch ge-
sprochen; es artikulierte sich im Gesagten und erführe seine Darstellung innerhalb
des Diskurses, so daß es unter Rückgriff auf die Logik der Kopula und der Prädi-
kation jederzeit in die Strukturen der Sprache wieder zurückgeholt würde, um
daran sein Ungenügen zu bezeugen; dennoch behält hier der Widerspruch nicht
»das letzte Wort«. Vielmehr bleibt sein Einspruch insofern blind, als er allein die
diskursive Absolutheit widerspiegelt, die der Struktur von Apophansis im Sinne der
Prädikation zugrunde liegt. Weit eher als ein Ungenügen entlarvte er daher die
Engführungen im Diskurs selber, indem er die Überziehung seiner Ansprüche
und die Nicht-Notwendigkeit seiner Voraussetzungen anklagte. Das Paradox of-
fenbarte folglich dessen Repressivität, um gleichsam jene Stelle zu fixieren, an der
sein anderes aufklaffen kann. Buchstäblich evozierte es ein Umkippen an seiner
Grenze, gleich den Vexierungen von Figur und Hintergrund oder dem »Aspekt-
wechsel« bei Wittgenstein. Daher der Sprachaufwand, die Anstrengung, im
Durchriß durch die Sprache dennoch zu dem vorzudringen, das nicht Sprache
wäre. Das bedeutet nicht, daß nur dies ein sinnvoller Gebrauch des Paradox wäre;
vielmehr gibt es zwischen dem logischen und katachretischen keine begründbare
Entscheidung, sondern bestenfalls die Indifferenz einer Kluft, deren Überbrük-
kung wiederum nur gewiesen, nicht aber bezeichnet oder festgelegt werden kann.
Die Mittel solcher Weisung lägen folgerecht auch nicht mehr in der Rede selbst,
die »etwas« sagte oder »über« etwas spräche, sondern in der Evokation eines
Nichtsagbaren, das gleichwohl noch der Sprache bedürfte, um sich überhaupt zu
artikulieren — doch wiederum so, daß sie ihr gleichermaßen folgte wie sie
sprengte. Es rührte an deren Beschränkung, indem es die Rede an den Rand ihrer
eigenen Abgründigkeit führt, und gelingt darum nur zum Preis ihrer Verwerfung.

49 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1971, Teil II; XI,
S. 228 ff; sowie ders., Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47, Frankfurt/M.
1991, S. 175 ff, 188 f., 530 ff.
34 EINLEITUNG

Entsprechend enthüllt es sich gerade dadurch als Rede über das Mißlingen der
Rede, die in dem Maße verbirgt, wie sie sich ausspricht und sich ausspricht, wie
sie verbirgt. Das katachretische Paradox wäre dergestalt Ausdruck einer unauf-
hebbaren Indirektheit der Rede: Es ist die Anzeige einer Grenze als unmögliche
Anzeige wie gleichzeitig ihre Überschreitung als ihre unmögliche Überschreitung,
indem sie ihre chronische Unzulänglichkeit auf sich nimmt und thematisiert, um
dadurch ein anderes Sprechen zu ermöglichen. So birgt sie den Vorschein auf ei-
ne Transzendenz, die hinübergelangt in jenen Bereich, da sie Metapher wird für
ein »Unvordenkliches« oder »Unsagbares«, von dem Schelling gleichwie Wittgen-
stein gesagt haben, daß es sich nur zeigen könne.
Anders ausgedrückt: Das Paradox figuriert als Metapher eines »Anderssagen«,
das öffnet, statt zu schließen. Daher war von der Katachrese die Rede. Geschuldet
den vergeblichen Anstrengungen eines Ausdrucks am Rande des Ausdrückbaren,
wäre es Andeutung für etwas, das sich triftiger Aussagbarkeit wehrt und avanciert
damit zut Überschreitungsfigur. Buchstäblich spricht es - im Wortsinne von para
doxa — jenseits des »Meinbaren« und bringt damit zur Sprache, was sich der Spra-
che verweigert. Notwendig erscheint es in bezug auf die diskursive Rede, die ihm
einem Platz anweist, inadäquat; aber als Wink, dessen Evidenz am Diskurs parti-
zipiert, um in der Selbstaussetzung an dessen Grenze deren Naht aufreißen zu las-
sen, wäre es nicht länger im strengen Sinne auf »Wahrheits«- oder »Begründungs-
ansprüche« zu verpflichten, weil es in einem gewissen Sinne allererst die Mög-
lichkeit des Redens aufschließt. Zugleich behält es das ein, was sich der Sprache
der Rationalität nicht fügt, wie es doch, sofern es spricht, andauernd auf eine An-
dersheit hinzuzusprechen sucht, von dem her eine neue Rede geschehen kann. Das
Paradox wäre demnach nicht mehr propositional zu verstehen; es hätte keinen ex-
pliziten Gehalt, den es mitzuteilen oder zu verbergen trachtete; es wäre überhaupt
nicht zu verstehen oder unter die Ordnungen eines »als« zu stellen, sondern Ge-
schehnis, das aus der Vereitlung des Sagens weisend sich zeigt. Seine Produktivität
gewänne darin ihre eigentliche Kraft: Einbruch des Ereignisses einer Differenz, des-
sen Be-Wegung sich seiner diskursiven Vereinnahmung sperrt und sich eben da-
durch unterwegs befindet zu einem anderen Sprechen: Wandlungen des Denkens
wie der Rede, die noch der Passage bedürfen, um sich als solche überhaupt voll-
ziehen zu können.
Die Produktivität des Paradox als Figur besteht folglich im Moment des Um-
sprungs selber, gleichsam dem Kairos der Rede, der gleichzeitig deren mögliches
Andersseinkönnen aufscheinen läßt. Das bedeutet nicht schon, daß das Paradox
die Antwort wäre, daß es jenem, zu dem es überzuleiten sucht, bereits ent-
spräche, sondern nur, daß es ein Mittel seiner Möglichkeit bildet. Sein sprachli-
cher Status wäre vielmehr die Unruhe der Nicht-Identität, die er auslöst, die
gleichwohl in der Perspektive stünde, die performative Volte eines Übergangs zu
stiften. Entsprechend markiert der Widerspruch keine Position einer unüber-

50 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 167; sowie Ludwig
Wittgenstein, Tractatus-logico philosophicus, a.a.O., 6.522.
EINLEITUNG 35

windlichen Leere, an dem der Diskurs in das Nichts seines Schweigens gleitet,
sondern einen »Sprung«, von dem es kein Sagen mehr geben kann, weil er im Sa-
gen allererst vollzogen werden muß - ganz wie Heidegger vom »Satz« gesagt hat,
er mache einen »Satz« »im Sinne des Sprungs«.1 Solches Springen bedeutet: Es
leitet über, ohne Brücke zu sein. Er sucht so anderes, das nicht im Gesagten liegt,
»auf-springen« zu lassen. D.h., nicht länger fungiert der logos als Medium, um
mittels des Paradox seine Grenze gleichwie sein Spiegelbild hervorzubringen,
sondern umgekehrt: das Paradox wird zum Medium, das den logos — meta-pherein
- »wechselt«, »hinüber-trägt« an einen anderen Ort, von dem gleichwohl nirgends
gesagt werden kann, was er wäre: Er geschieht. Doch erscheint solches Geschehen
der Teilhabe durch das Denken entzogen: Es ereignet sich performativ. Trotzdem
bewahrt das Paradox seinen bevorzugten Platz in den Analysen der Philosophie,
indem es immer wieder den Blick frei werden läßt und für das, was dem begriffli-
chen Denken und seinen Bestimmungen verborgen oder fremd bleibt und die
Stätte des Diskurses bereits verlassen hat. Es zu denken, ist nicht per se unmög-
lich; aber es erfordert ein Denken, das am Ereignis seiner Verwandlung selbst
statthat, indem es sich durch die Aporien ent-gtenzt, die es entfaltet: Entgrenzung
des Denkens durch das Denken, d.h. durch die Widersprüche, in die es gestürzt
witd, um sich des Anderen, das es nicht zu denken vermag, allererst zu öffnen.
So fällt der katachretischen Verwendung des Paradox vor allem die Aufgabe ei-
ner grundlegenden Wende zu. Weniger ist von Belang, was dabei im einzelnen ge-
sagt wird oder zum Ausdruck kommt, als was sie bewirkt. Um-Sprung in der
Haltung, die der Rede zugrunde liegt. Er beinhaltet, vom Ereignis her zu denken,
nicht das Ereignis zu denken. Das macht vielleicht das Befremdliche der vorlie-
genden Betrachtungen aus: Sie setzen sich einem Konstruktionalismus des Sym-
bolischen in Form semiotischer oder semiologischer Theoriebildungen in immer
neuen Anläufen aus, um ihn durch die Entfaltung seiner immanenten Patadoxa
hindurch zu überwinden, doch so, daß damit gleichzeitig eine »Revoltierung« des
Bezugs impliziert ist. Gehen diese vom Primat der Signifikation, der Strukturen
und mithin vom Vorrang der Relation, der Differenz aus, unterstellen sie entwe-
der einen Voluntarismus des Bezeichnens, der Bedeutung — und entsprechend des
Verstehens, der Interpretation — oder eine »ursprüngliche Nichtursprünglichkeit«
im Sinne Derridas, der »Nachträglichkeit« der Spur und folglich der Nicht-
Präsenz, des »je schon gewesenen Ereignisses«. In beiden Fällen aber wird nur
das akzeptiert, was bereits Zeichen ist, was schon gezeichnet oder geschnitten
worden war. Dann hat allein das Bestand, was durch die Prozesse der Verspätung
oder der Sekundarität hindurchgegangen ist, das Vermittelte oder Mediatisierte,
die »Supplementarität« (Derrida). Es gibt nur das Re-Präsentierte, die Darstel-
lung, die Schrift, und also den Sinn, das Universum der Texte, das indefinite

51 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen, 6. Aufl. 1986, S. 96 u. 151.
52 Vgl. exemplarisch Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie,
München 1987, S. 201 ff; ders., Grammatologie, a.a.O., S. 65 u. 248 ff; ders., Die Stimme und
das Phänomen, a.a.O., S. 145 f.
'
36 EINLEITUNG

Spiel der Verweise, die auf Verweise verweisen. Indem allerdings deren Aporien
auf ein Anderes hindeuten, das deren Spiel entrinnt und daher aus der Universa-
lität des Mediums heraustritt, ist zugleich die Anerkennung eines Nicht-
Mediatisierten, eines Unfüglichen oder Unverfügbaren angezeigt, das jene Ver-
wandlung des Bezugs bedingt, welche hier zunächst und noch vorläufig unter den
Titel eines Ethos der »Responsivität« gestellt worden ist. Das Verfahren paradox-
aler Überschreitung führte darauf zu; es wiese deren Notwendigkeit die Richtung,
ohne sie bereits auf sich zu nehmen. So schränkte es die Geltung der ersteren ein,
um sich letzterer zu öffnen. Impliziert wäre damit schon ein Übergang von der
Negativität det Anzeige zur Positivität eines entgegenkommenden Transzenden-
ten, wie sie auf ähnliche Weise Schelling gegen Hegel und den transzendentalen
Idealismus Fichtes ins Feld geführt hat.

5. Unumgängliche Metaphorizität

Die ganze Untersuchung kreist so um den Wider-Spruch: Anzeige von etwas, was
sich diskursiver Vereinnahmung verwehrt, um inmitten des Sprechens ein ande-
res zu markieren, dessen Öffnung der katachretische Gebrauch des Paradox er-
laubt. Nicht länger hat man es im eigentlichen Sinne mit einer Philosophie des
Symbolischen zu tun, vielmehr mit der Evokation eines Transzendenten, das als
Nichtsymbolisierbares jeder Symbolisierung vorweggeht und sich der Bezeichnung
verschließt. Es kann nicht auf der Ebene des »Was« (quid) thematisiert werden,
weil es mit jedem »als was«, jeder Bestimmung der Spaltung der Apophansis, des
aufzeigenden Urteils bereits unterläge. Statt dessen zielen unsere Erörterungen auf
die Restitution der Stellung des »Daß« (quod) als Ereignis einer Undarstellbarkeit.
Darum erscheint die Figur des Paradox so zentral: Es allein ermöglicht die
Durchschreitung des quid im Hinblick auf das quod. Dies geschieht in immer
neuen Versuchen, sogar so, daß noch ihre probeweise Anzeige versucht wird, um
auch diese wieder zu hinterfragen und im Hinblick auf das durchzustreichen, was
in ihr rückständig bleibt. Gewiß besteht demgegenüber die Radikalität der Se-
miotik oder der Semiologie, ihre metaphysikkritische Funktion darin zu fragen,
was das »Sein« im Sinne der »Anwesenheit«, der unschuldigen, durch keine Me-
diatisierung oder Interpretation getrübte »Präsenz« sei - mithin im Bemühen, das
Seiende auf die Reihe der Zeichen zurückzuführen, die es re-präsentieren oder si-
gnieren und mit denen wit uns über es verständigen, so daß das, was wir suchen,
immer schon einer primären Differenz zu unterstehen scheint. Die Zeichen und
ihre Texturen erzählen; sie informieren, berichten, klassifizieren oder unterschei-
den. Doch eingewebt in die Systeme der Narration, der Symbolisierung und der
Differentialität der Strukturen, die das Erzählte oder Dargestellte mit einer Se-
kundarität behaften, vermögen sie nirgends zu markieren oder anzuzeigen, »daß«
sie sind. Entsprechend wäre die Transzendenz des »Daß« (quod) nicht mehr ein

53 Vgl. ders., Grammatologie, a.a.O., S. 511.


EINLEITUNG 37

Ereignis im Sinne der Nachträglichkeit, sondern ein Entgegenkommendes: Ereignis


eines unvordenkbar Gebenden selbst: der Gabe des Seins (ex-sistere).
Alles, worum willen unsere Darlegungen also argumentieren, dreht sich um
die Rehabilitierung der Transzendenz eines Zuvorkommenden, das begegnet. Un-
verfügbare oder flüchtige Andersheit; anders als jegliches, was sich be-zeichnen
oder be-deuten ließe, was folglich auch außerhalb der Reichweite der Signifikati-
on oder der Schrift liegt und dennoch andauernd be-triffi. Es nennt zugleich eine
nichttheologische Transzendenz, weil es sich nicht um etwas handelt, das als ein ab-
solut Anderes mit dem Signum der Göttlichkeit versehen werden könnte, son-
dern gleichsam um die Profanitat des Nächstliegenden: Blöße oder Einfachheit des
Sichzeigenden. Es enthüllt sich nicht in der Tiefe dessen, was gedacht oder wahr-
genommen werden kann, sondern befindet sich an der Oberfläche dessen, was
(sich) gibt. Es wäre deshalb auch falsch, es mit religiösen oder theologischen Attri-
buten zu belegen; vielmehr bezeichnet es dasjenige, was als die Fülle eines Sichzei-
gens oder Sichgebens exponiert werden kann: Ununterbrochenes Kommen, das zu-
fällt und durch das sich die Irreduzibilität der Präsenz einer Alternat bekundet -
Alterität im weitesten Sinne von Andersheit gefaßt, unabhängig von den Dome-
stikationen des Begriffs oder des Sinns, die es auf eine Bedeutung oder die Be-
stimmung einer Wahrheit zurichten. Es begegnet als die Augenblicklichkeit des Er-
eignisses, das anspringt, berührt oder sich aufdrängt und dem nicht ausgewichen
werden kann, das darum sowenig »etwas« ist, wie es verneint werden kann. Darin
liegt, jenseits der Negativität des »Nicht«, die es gegenübet den Zeichenordnun-
gen auszeichnet, seine Positivität als primäre Gabe, die auf keine Weise auf die
Logik des Sekundären, der Verspätung zurückgeführt werden kann, auch wenn
sie ohne die Vermitteltheit einer Vermittlung nicht erscheinen kann.
Solches Ereignen geschieht als Ankunft. Im Kommen, der An-Kunft als Offen-
barung enthüllt sich das Sichzeigen. Es ist Er-Scheinen im Sinne des Auftauchens,
des Entgegen-Kommens. Im Erscheinen des Erscheinens werden wir vom An-
Kommenden berührt, gestreift. Dann »ist« das Ereignis stets ein Kommendes: es
»zeigt (sich)«, ohne bereits als ein »Ist« angesprochen werden zu können oder »als«
Ereignis eine bezeichenbare Kontur zu besitzen, die es gegenüber anderen hervor-
höbe. Es »ist« daher auch nicht eigentlich, sondern »gibt (sich)«, als eine immer
neu ankommende Gegenwärtigkeit, die überhaupt erst durch seine Öffnung im
Sinne der »Gabe« hervortreten kann, die selbst kein Ansprechbares oder Nennba-
res bezeichnet. Die Mühe der Formulierungen rührt indessen an die Schwierig-
keit der Rede selber. Sie dokumentiert die Vetgeblichkeit des Diskurses, einen
Ausdruck dafür zu finden, das keinen Ausdruck duldet. Wir behelfen uns darum,
unbeholfen genug, mit einer Reihe von Einklammerungen, die selbst wieder Zei-
chen des Unbezeichenbaren wäre. Sie deuten an, daß das Reflexivpronomen

54 Darum, daß das Ereignis nicht inszeniert oder festgehalten werden kann, ohne es »als« Ereignis
schon zu »schneiden«, d.h. zu richten, auszurichten und damit in seiner Ereignishaftigkeit zu de-
mentieten, dreht sich die ganze Kritik des Ereignisses bei Derrida, auf die wir, als einen zentralen
Punkt unserer Untersuchungen, noch zu sprechen kommen; vgl. unten Tl. III, 1. und 2. Kap.
38 EINLEITUNG

»sich« in seiner Funktion als Reflexivität überall noch gestrichen werden muß,
ebenso wie das unbestimmte Pronomen »Es«, weil damit fälschlich der Anschein
eines »Etwas« geweckt wird, das »sich« zeigte, »sich« gäbe. Das gleiche gilt für den
Begriff des »Ereignisses« in seiner Plötzlichkeit, die einbricht und umwendet, die
freilich »als« Ereignis wiederum nur identifizierbar wäre im Modus des Schon-
Angekommenseins: Des Perfekts, das die Gegenwärtigkeit seiner Gegenwart be-
reits festgehalten und darin verloren und getilgt hätte. Ist das nicht der Grund,
warum seit alters der Moment des Kairos mit der Wiedererinnerung, dem dejä-vu
des Schon-einmal-begegnet-seins verknüpft wurde - als ob es einer Bekanntheit
erfordert, damit sich »etwas« ereignet haben darf? Man könnte sagen: Es bezeugt
eine Flucht vor dem Nichteinordnenbaren, dem Unbeschreiblichen, das glei-
chermaßen mit dem Schrecken wie mit dem Verlust der Orientierung (skotodi-
nio), sogar dem Wahnsinn einher gehen kann, der gleichwohl die Quelle des
Neuen, des schöpferischen Impuls darstellt, der bei Piaton wie ebenso bei Aristo-
teles den Anfang der Philosophie ausmacht1 und det dennoch je schon gebannt,
identifiziert oder eingeschränkt und als Zugriffe der »Metaphysik« umgewendet
sein muß. Trotzdem bildet das »Ereignen« eine Zerstreuung, ein Drängen, das
die Illusionen des dejä-vu zersprengt: Unausweichlichkeit einer insistenten Prä-
senz, wie sie in den Eklipsen des Symbolischen erfahren wird und zur Antwort nö-
tigt, noch bevor etwas begriffen oder verstanden worden ist. James Joyce nannte
es »Epiphanie«, ' Walter Benjamins »Aura«. Ihnen kommt jene Eindringlicheit
einer Ek-stasis, eines actus zu, die wir als »Fülle« bezeichnen werden, um ihren
charakteristischen Überschuß zu kennzeichnen: »Daß« (quod) von ihm her ge-
schieht und Sein (Existenz) mit allen Siegeln des Zu-Falls (sich) immer wieder neu
und anders »gibt«.
Wie aber davon überhaupt sprechen? Es wäre nicht nur verfehlt, die versuchte
Rede nach den Maßstäben strikter Argumentation zu messen oder sie den Krite-
rien einer rationalen Analytik zu unterwerfen, die auf ihre Wahrheitsansprüche
hin geprüft werden könnten; es wäre auch unmöglich, weil diese stets innerhalb
der Grenzen des Diskurses verbleiben, den in einer gewissen Hinsicht zu spren-
gen wir uns die Aufgabe gestellt haben. Gleichwohl muß es sich, innerhalb eines
philosophischen Diskurses, in Sprache fassen. Doch setzt solches, wie wir bereits
angedeutet haben, die Umwendung des Bezugs voraus: Denken heißt weder be-
zeichnen noch unterscheiden oder bestimmen, sondern »antworten«. Das Ant-
worten sucht dem Ereignis als Widerfahrnis zu entsprechen. Denken, oder auch
Schreiben, Sprechen und Be-deuten, wird dann in die »Aufgabe« einer Responsi-
vität gestellt, die sich gleichsam »passivisch« geriert, wäre dieser Ausdruck nicht
schon deshalb unzutreffend, weil er sich noch an die Differenz zwischen actio und
passio hält und sich weiterhin der Struktur der Intentionalität, der bewußt auf

55 So wird beides, thaumäzein und skotodinio, das »Verwundern« und der »Sturz in die Finsternis«,
in Piatons Theaitetos zusammengedacht.
56 Vgl. dazu Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1977, S. 313ff; sowie Karl-Heinz
Bohrer, Plötzlichkeit, Frankfurt/M. 1981, S. 194 ff.
EINLEITUNG 39

sich genommenen Einübung fügt. Statt dessen ginge es um die Öffnung einer
Aufmerksamkeit, die sich antwortend der Vorgängigkeit dessen zuwendet, was
(sich) ereignet und als eine Art »Empfänglichkeit« beschrieben werden müßte, die
nicht schon präformierten Strukturen der Sensibilität gehorcht. Der Ausdruck
»Aufgabe« ist dabei zweisinnig zu verstehen: Einmal als »Aufgegebensein«, zum
anderen als »Aufgeben«, als »Ablassen von«. Denken und Sprechen erfüllten sich
dann, wie es Lyotard ausgedrückt hat, im »Kommen-lassen«. Ihnen wird das
Sichzeigende zum Prius. Sie »erleiden« dessen Ereignen, wenn »Leiden« hier im
Sinne eines »Empfangens« jenseits der Unterscheidung von passio und actio gefaßt
wird. Daher ergänzt Lyotard: »Wenn solches Leiden nämlich das wahre Denken
kennzeichnet, so deshalb, weil man schon im Gedachten, im schon Eingeschrie-
benen denkt und deshalb Schwierigkeiten hat, das Schon-gedachte auf Distanz zu
halten, damit das kommen kann, was noch nicht gedacht ist, und damit sich das
einschreiben kann, was eingeschrieben werden muß. Ich spreche hier (...) von
Strukturen, für die man empfänglich sein muß — gegen die Vorgaben der Logik,
der Syntax unserer Sprachen, der Formulierungen in unseren Lektüren. (...)
(W)ir denken mitten in jener Welt aus schon vollzogenen Einschreibungen -
man kann sie auch >Kultur< nennen. Und wir denken nur deshalb, weil es inmit-
ten solcher Fülle doch noch etwas Leeres gibt und weil wir für dieses Leere einen
Platz schaffen müssen, durch den möglich wird, daß sich das einstellt, was noch
zu denken bleibt.«
Es hieße, sich dem Entgegenkommenden, Begegnenden zu über-antworten, mit-
hin sich ihm bereits unter-stellt (sub-icere) haben. Dem Denken, der Ordnung
der Zeichen, den Worten det Sprache geht (etwas) vor, nicht als ihr Anderes, das
sie zu bezeichnen trachten, sondern was stets mitgängig und randständig bleibt
und, wie die Anamorphose, quer zu allen Signaturen erscheint und dem die
Texturen der Symbolisierung, der Sinn und die Differentialität der Schrift nur
nach-folgen können. Das bedeutet: das Ereignis kommt der Sprache zuvor: Es ist
das Eröffnende; das Denken und seine Begriffe, die Zeichen und Symbole das
Nachträgliche. Und doch begehrt das, was einzig im Format einer sich selbst wi-
derlegenden Rede markiert werden kann, überstürzt und unabweisbar nach ei-
nem Ausdruck, einer Sprache, um es im Medium der Aufzeichnung, des Diskur-
ses und der Erinnerung festzuhalten und aufzubewahren. Das Sichzeigende wäre
so das Unsagbare — wie die Aura, die Numinosität, nicht nur des »Antlitzes«
(Levinas), sondern des Erscheinenden selbst, das fortgesetzt unter dem Druck des
Sagens steht; und doch könnte ihnen einzig eine Rede ent-sprechen, die um ihr
Unzureichendes weiß, die, wie bei der Gewahrung überwältigender Schönheit

57 Jean-Francois Lyotard, Ob man ohne Körper denken kann, in: Hans-Ulrich Gumbrecht, Karl
Ludwig Pfeiffer (Hsg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt/M. 1988, S. 819-829, hier:
S. 824.
58 Ebenda, S. 825, 826 passim.
59 Wir verwenden hier den Ausdruck der »Anamorphose« nicht im Sinne eines Konstruktionsver-
fahren, sondern als etwas, was sich zeigt, wenn man die üblichen Wege der Betrachtung verlassen
hat.
40 EINLEITUNG

oder angesichts des schockartigen Unbegreiflichen, der Bodenlosigkeit des Wirk-


lichen entweder in Schweigen verfällt, um es durch das mißratende Wort nicht zu
verletzen, oder im Gegenteil in einen endlosen, weil beständig verfehlenden Re-
defluß stürzt.' Notwendig mündet letzterer, trotz aller Bemühung um Klarheit
und begrifflicher Schärfe, in einer unumgänglichen Metaphorizität. Sie verrät zu-
gleich eine Notlage der Rede.
Es geht also darum, das Sichzeigende, Begegnende in seiner Singularität zugleich
zu lassen und zu sagen. Gleichwohl wäre dies wiederum nur möglich in einem zei-
genden Medium. Ein Diskurs, der wesentlich zeigt, wäre aber eo ipso ein metapho-
rischer Diskurs. Zwar verbleibt er in der Rede - er spricht, aber die Metaphet er-
füllt ihre Funktion weniger in bezug auf das, was sie jeweils zur Sprache bringt,
als darin, daß sie auf etwas hinlenkt, was primär kein Sagen ist. Entscheidend ist
darum nicht die Wahl des Bildes, des Vergleichs; dies betrifft lediglich ihre rheto-
rische Struktur, ihre besondere Figuralität. Entscheidender ist vielmehr ihr Voll-
zugscharakter, ihre performative Stellung im Diskurs. Metaphern sind Wege, sie
beschreiben Annäherungen ans Ungesagte. Darum verbleiben sie stets im Vor-
läufigen. An ihnen stellt sich weder die Frage nach ihrer Richtigkeit noch nach
ihrem Zutreffen, ihrer Adäquanz: Ihre Redeform ist das Weisen, die »Zeige«.'
Dann handelt es sich um ein Sprechen, das nicht im strikten Sinne begrifflich
verfährt, das vielmehr seine Analogien oder Übertragungen (meta-phord) erzeugt,
um andetes, Unbegriffliches anzudeuten.'" Die metaphorische Rede spricht des-
halb über den Umweg des »Hinübertragens« im Sinne von meta-pherein: Über-
setzen oder Herübergehen, dessen Be-Wegungen eher dem Verbum entsprechen
als dem Prädikat oder Nomen, das es er-findet. Denn es gibt eine Redeweise, wie
Wittgenstein bemerkt hat, die nicht in dem aufgeht, was sie expressis verbis zum

60 Man könnte, holzschnitzartig, an beiden die Alternativen des abendländischen Denkens im Um-
gang mit dem Unaussprechlichen ausmachen: Ersteres bezeichnet die Lösung der Mystik, letzte-
res der Philosophie und Literatur im allgemeinen. Einen Weg zwischen beiden bildet vielleicht
die Naturphilosophie Goethes. Diese begnügt sich mit ästhetischer Beschreibung, doch so, daß
diese keine Bedeutung über das hinaus setzt, was sich zeigt. Man kann die Symbole, so Goethe,
nicht »deuten« oder »verstehen«; das hieße, wie er im Gespräch mit Eckermann formuliert,
gleichsam hinter einen Spiegel schauen und Höheres erfassen wollen. »Wenn ihn (den Men-
schen, H.v.m.) das Urphänomen in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden, ein Höheres kann es ihm
nicht gewähren, und ein weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze.« Zur neueren
Deutung der Goetheschen Phänomenlehre vgl. insb. Gernot Böhme, Phänomenologie der Natur
- ein Projekt, in: ders., u. Gregor Schiemann (Hsg.), Phänomenologie der Natur, Frankfurt/M.
1997, S. 11-43.
61 Heidegger interpretiert das Zeichen aus dem Zeigen und später überhaupt aus der »Zeige«, die
genau in die von uns beanspruchte Richtung weist; vgl. ders., Sein und Zeit, 12. Aufl. Tübingen
1972, § 17, S. 76 ff; sowie ders., Unterwegs zur Sprache, 5. Aufl. Stuttgart 1975, S. 214 f.,
232 ff.
62 Eine »Theorie der Unbegrifflichkeit« nannte Hans Blumenberg seine Metaphorologie, um anzu-
deuten, daß es »absolute Metaphern« gibt, die sich nicht auf eine andere Bedeutung oder Wen-
dung zurückführen lassen; vgl. ders., Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: ders.,
Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M. 1979, S. 75-93; sowie ders., Anthropologische Annä-
herung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart
1981, S. 104-136.
EINLEITUNG 41

Ausdtuck bringt, sondern deren Worte wie Gesten wirken.' Es wäre entspre-
chend eine Sprache, die kein Korrelat im Begrifflichen besitzt, die anders ist als
Argumentation, die daher auch nicht im Modus eines Begründens spräche, son-
dern die, gegen die ratio iudicandi, auf den Vorrang des Rhetorischen beharrte,
dessen Funktion in der ars inveniendi liegt, in der »entdeckenden« oder »auf-
schließenden Rede«, die allererst sehen läßt, was jener unzugänglich bleibt. Ihr
Medium ist die Metapher; doch kann ihr Platz nicht in das ausladende und weit-
gestreckte Gebiet der Literatur verbannt werden, deren Status die Fiktionalität
wäre, auch wenn Roland Barthes, vielleicht mit gewissem Recht, daraufhingewie-
sen hat, daß jeder Diskurs, selbst der Ernsthafteste, seinem Wesen nach fiktional
operiert. Vielmehr behauptet die Rhetorik ihre Legitimität im philosophischen
Diskurs in der An-Zeige, die, im Gegensatz zur Striktheit der dictio, das Gesagte
auf das hin übet-springt, was diesem sich verschließt — wozu, in unserem Falle,
vorzugsweise das katachretische Paradox dient. Nicht beruht solche An-Zeige
demnach auf einer Schwäche, einem Mangel an Explikation, der, bei fortschrei-
tender Nuancierung und Verfeinerung, auf seine Überwindung wartete, so daß
zuletzt doch ihte Integration in den rationalen Diskurs gelänge, sondern es geht
um eine metabasis, den Übertritt in eine andere Region. Sie drückte nicht aus,
wofür noch ein Wort fehlt, was noch nicht bereitgestellt ist, eine Lücke, für die,
später einmal, ein adäquater Ausdruck gefunden werden würde: »Es müßte um
eine Bedeutung gehen, deren Bedeutetes kein >etwas< ist, das im Thema des Ge-
sagten identifiziert wäre, >dieses als jenes<, erhellt in det erinnerbaren Zeit des
sein«, heißt es in ähnlichem Sinne bei Levinas."
Angeführt sind damit zwei unterschiedliche Thematisierungsweisen. Ihre Dif-
ferenz partizipiert selbst an der Trennung von Sagen und Zeigen. Zwar spricht die
Metapher, aber was sie sagt tritt zugunsten dessen zurück, was sie zu zeigen ver-
mag. Was sie jedoch zeigt, liegt nicht auf der Ebene ihrer kühnen oder überra-
schenden Wendung, der Form des Tropus, vielmehr in der Ver-Setzung (trans-
ponare), der Über-Setzung, den sie bewirkt. Darin besteht das Mißverständnis der
klassischen Rhetorik, auch ihrer jüngsten Rehabilitierung, daß es ihr stets nur um
die semantische Konstruktion, den Bau der Bedeutungen geht, nicht um das
Performative.' Es ist deshalb auch ein Irrtum zu glauben, daß solches Zeigen in

63 Die Bemerkung trifft die Rede der Metaphysik, die keinen Ausdruck dulde, höchstens eine »Ge-
ste«, wie eine Bemerkung Wittgensteins aus dem Tagebuch von 1936 lautet, »die etwas Ähnliches
heißt wie >unsagbar<, & nichts sagen«. Vgl. ders., Denkbewegungen. Tagebücher 1930-32/1936-
37, hsg. v. Ilse Somavilla, Frankfurt/M. 1997, S. 80 (173) (Die Seitenzahlen in Klammern bezie-
hen sich auf die Seitenzahlen im Originalmanuskript.).
64 Zur Geschichte der Differenz zwischen ratio iudicandi und ars inveniendi, die auf die Unterschei-
dung zwischen Dialektik und Topik zurückgeht, vgl. insb. Karl-Otto Apel, Die Idee der Sprache
in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 8,
Bonn 2. Aufl. 1975, bes. S. 138 ff, 155 ff.
65 Nach Louis-Jean Calvet, Roland Barthes. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1993, S. 320 f.
66 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., S. 96.
67 Darin liegt der Crux der derzeitigen analytischen Metaphern-Theorien, wie sie etwa Max Black
oder Nelson Goodman formuliert haben: Rückführung der Metapher auf ihre immanente Sinn-
42 EINLEITUNG

einer Art des Sagens gelänge - daß, mit anderen Worten, die Metapher anderes
böte als lediglich ein »Unterwegs« dorthin, was wir mit wechselnden Titeln ein-
mal als Materialität, Präsenz oder Sichzeigen gefaßt haben, ein anderes Mal als
Entgegenkommendes oder Ereignis des »Daß«. Sie ist als dieses »Unterwegs« immer
inadäquat, eben weil sie dem Weg, der Weisung oder dem, was sich nur zeigen
ließe, eine Sprache zu verleihen sucht: Sagen des Zeigens, das schon Deutung, In-
terpretation, mithin dessen Umwandlung, Veränderung oder Transformation wä-
re. Es ist nicht Zeigen, sondern Anderes-als-zeigen, das gleichwohl, durch sich
hindurch, doch zu zeigen verlangt. Dennoch ist, was es dabei weist, im Format
der Rede ausgewiesen, damit bereits mediatisiert und vom Ereignen des Sichzeigens
zum Zeigen-als übergegangen.
Indessen birgt solche Transformation eine Verschiebung, die gleichzeitig ihr
Korrelat in einem Wechsel der Zeitstruktur hat. Jede Beschreibung des Ereignisses
im Sinne des Zeigen-als hat es schon in ein Gezeigtes verwandelt und damit vom
»es gibt« im Sinne der Gabe zum »es gab« bzw. »es ist gegeben worden« hinüber
getragen (meta-pherein). Der Übergang impliziert die Verwandlung des Zeitmo-
dus vom Präsens zum Perfekt, von der Gegenwärtigkeit einer Gegenwart zur
Nachträglichkeit, zur Verspätung im Sinne Derridas, oder, wie Roland Barthes es
für Photographie geltend gemacht hat, vom »Dasein« zum »Dagewesensein«.
D.h. aber, das Ereignis kann, ohne Absehung oder Modifikation, auf keine Weise
dargestellt werden, und die Metapher, die es anzudeuten oder sich ihm anzunä-
hern trachtet, hat es schon verfehlt, übersetzt oder an einen anderen Platz ge-
rückt. Sie hat es, indem sie es ins Sagbare über-stellt, an den Ort der Sprache, des
Diskurses ver-rückt und mithin jener Ordnung unterworfen, die es von neuem
der Einzigartigkeit seiner Präsenz beraubt. Worum also die folgenden Untersu-
chungen ringen, bleibt daher in bezug auf die strikte Aussagbarkeit unbestimmt.
Ihr Stil ist dieser Unbestimmtheit geschuldet. Denn ihr Gegenstand verbietet
jegliches Sagen; folglich gibt es keine adäquate Sprache, aber zugleich gibt es auch
nichts anderes als die Sprache. So mündet unser Diskurs in einem Dilemma, das
ihn erneut an die Zweideutigkeit des Paradox anschließt: Offenbar läßt sich vom
Ereignis des Sichzeigens nicht sprechen, es sei denn zirkulär oder auf dem Umwege
der Metapher; doch leistet die Metapher wiederum nichts anderes als die bestän-
dig aufgeschobene und wieder verfehlte Rede. Das ist schließlich gemeint, wenn
dem Ereignis eine enigmatische Struktur zugeschrieben wird: Von ihm handelt
entweder nur die Tautologie, die besagt, daß das Zeigen sich bestenfalls zeigen
kann, oder das Paradox, das in dem Maße spricht, wie es seine eigene Rede tilgt.
Aus dem Dilemma gibt es keinen Ausweg. Nichts anderes beinhaltet auch das

konstruktion durch Reduktion auf eine der Redefiguren als leitend. Eine Ausnahme bilden viel-
leicht die Ansätze Arthur Dantos, Donald Davidsons und Jacques Derridas, die der Metapher ei-
nen genuinen Status einräumen. Zum Überblick über die derzeitige Diskussion mit Sammlung
der entscheidenden Beiträge vgl. Anselm Haverkamp (Hsg.), Theorie der Metapher, Darmstadt
2. Aufl. 1996; sowie ders. (Hsg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt/M. 1998.
68 Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn,
a.a.O., S. 2 8 ^ 6 , hier: S. 39.
EINLEITUNG 43

kurze Prosastück Franz Kafkas Von den Gleichnissen. Es thematisiert die Inkom-
mensurabilität der Redeweisen, die sich entweder immer nur selbst zu bestätigen
wissen und daher in sich kreisen, oder gegeneinander unverständlich bleiben:

»Viele beklagen sich, daß die Worte der Weisen immer wieder nur Gleichnisse
seien, aber unverwendbar im täglichen Leben, und nur dieses allein haben wir.
Wenn der Weise sagt: >Gehe hinüber<, so meint er nicht, daß man auf die andere
Seite hinübergehen solle, was man immerhin noch leisten könnte, wenn das Er-
gebnis des Weges es wert wäre, sondern er meint irgendein sagenhaftes Drüben,
etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht näher zu bezeichnen ist und
das uns also hier gar nichts helfen kann. Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich
nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist, und das haben wir gewußt. Aber das,
womit wir uns jeden Tag abmühen, sind andere Dinge.
Darauf sagte einer: >Warum wehrt ihr euch? Würdet ihr den Gleichnissen fol-
gen, dann wäret ihr selbst Gleichnis geworden und damit schon der täglichen
Mühe frei.«
Ein anderer sagte: >Ich wette, daß auch das ein Gleichnis ist.<
Der erste sagte: >Du hast gewonnene
Der zweite sagte: >Aber leider nur im Gleichnis.<
Der erste sagte: >Nicht, in Wirklichkeit; im Gleichnis hast Du verloren.««'

69 Franz Kafka, Von den Gleichnissen. In: ders., Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/M. 1970,
S. 359. Eine tiefliegende Interpretation liefert insbesondere Martin Seel, vgl. ders., Kunst,
heit, Welterschließung, in: Franz Koppe, (Hrg.), Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt/M.
1991, S. 36-80, hiet:S. 71 ff.
TEILI

DREI PARADIGMEN:
LEIB, BILD UND STIMME
1. KAPITEL:
AUSDRUCK U N D KÖRPERSPRACHE

Glaubst du denn, daß nur der Mund spricht?


(...)
Meine Augen hören etwas,
etwas andres meine Ohren.
Kurt WeiU, Lied

»Sprache« des Ausdrucks

»Was sagen sich Verliebte nicht alles mit den Augen: Zorn, Versöhnung, Bitten,
Danken, Verabredungen usw. >Auch das Schweigen kann sehr wohl noch bitten
und sprechen.« Und erst mit den Händen. Sie brauchen wir zum Auffordern,
zum Versprechen, zum Rufen, zum Verabschieden, zum Drohen, zum Bitten
und Beschwören, zum Neinsagen, Zurückweisen, Fragen, Bewundern, Zählen,
Beichten, zum Ausdruck von Reue, Furcht, Scham, Zweifel, zum Belehren, Be-
fehlen, Anspornen, Mutmachen, Schwören, Bezeugen, Anklagen, Verurteilen,
Sünden vergeben, zum Zeichen des Schimpfes, der Verachtung, der Herausforde-
rung, des Ärgers, des Schmeicheins, des Beifalls; zum Segnen, zum Demütigen,
zum Spotten, zum Ausdruck der Versöhnung, der Empfehlung, des Lobens und
Preisens, der Freude, der Klage, des Kummers, des Kleinmuts, der Verzweiflung,
des Staunens; zur Unterstützung des Schreiens und des Schweigens; und wozu
nicht noch alles? (...) Mit dem Kopf deuten wir an, daß wir einladen, abweisen,
etwas zugeben oder in Abrede stellen, widersprechen, begrüßen, Hochachtung
oder Verehrung erweisen, verschmähen, fragen, wegschicken, Freude, Jammer
und Zuneigung zeigen, auszanken, demütigen, trotzen, mahnen, drohen, beruhi-
gen, forschen. Was können wir alles mit den Augenbrauen, mit den Schultern
andeuten! Jede Körperbewegung sagt etwas, und zwar in einer Sprache, die man
nicht zu lernen braucht und die jeder versteht; so kommt es, daß (...) diese Ge-
stensprache als der eigentliche Ausdtuck der menschlichen Natur gewertet wer-
den muß.«
Eine zweite »Sptache« neben der Sprache scheint hier Michel de Montaigne zu
postulieren, eine »Sprache« ohne Worte, die das Gefühl bewegt und genauso
reichhaltig und differenziert wie die Rede scheint, ebenso subtil und nuancen-
reich: Ein feines Gewebe aus Unmißverständlichem und Anspielungen, aus Indi-
rektheiten und Deutlichkeiten, wie es aus dem Vollzug unterschiedlicher Gesten
und Gebärden entsteht. Sie gilt ihm als Ausdruckssprache, deren Chiffren die Be-

1 Michel de Montaigne, Apologie des Raimond Sebond, Die Essais, 2. Buch, 12. Kap., ausgewählt,
übertragen und eingeleitet von Arthur Franz, Leipzig 1953, S. 194-195.
48 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

wegungen und deren Medium der Leib ist. Wenn auch vieles an ihr konventio-
nell bestimmt ist — Kopfnicken und Kopfschütteln als Zeichen der Bejahung und
Verneinung changiert je nach Kultur ebenso wie Handreichen zur Begrüßung - ,
so bedeutet doch, sie immerhin als Sprache aufzufassen, daß es sich durchweg um
Zeichen handelt, die intetpretiert oder entschlüsselt werden können: Eine Textur,
deren Schrift sich bisweilen mühelos lesen, bisweilen aber auch zweifelhaft oder
bloß intuitiv erschließt. Wiewohl es ihr an einer präzisen Syntax und Semantik
gebricht, scheint sie dennoch über klare Bedeutungen zu verfügen, die zwar, wie
ebenfalls die gesprochene oder geschriebene Sprache, zu gelegentlichen Fehldeu-
tungen einläd, die jedoch für gewöhnlich eindeutig ausgelegt und weitergegeben
wird. »Jedermann versteht und übt diese stumme Sprache des Geistes,« schrieb
Theodor Piderit in seinem Wissenschaftlichem System der Mimik und Physiognomik
von 1867, das die überlieferten Lehren auf das Niveau rationaler Argumentation
zu heben suchte, »aber — man lernt sie empirisch, ohne sich um ihre Grammatik
zu kümmern.«"
Die Rede von der »Körpersprache« gleicht fast einem Klischee, über das kaum
mehr nachgedacht wird. Doch wird das Problem, das uns im folgenden beschäf-
tigen wird, sein, um welche Arten von »Ausdruck« es sich bei der Vielzahl von
Gesten und Gebärden, der Mimik der Gesichtszüge oder den kleinen, verhalte-
nen Signalen leiblicher Verständigung eigentlich handelt, ob ihnen eine Form
von »Symbolismus« zugeschrieben werden darf, der sich bruchlos semiotischer
oder semiologischer Theoriebildung fugt, ob sie einer Kunst der »Mantik«, der
Deutung, zugänglich sind oder sich womöglich jeder abschließenden Lektüre
sperren. Zudem werden wir die beiden konkurrierenden Auffassungen gegenein-
anderhalten müssen, die sich der »Sprache des Leibes« bemächtigt haben: die in-
tentionalen Theorien des Ausdrucks, die sich als solche der Ent-Äußerung erweisen,
und die strukturalen Theorien der Einschreibung, die die Disziplinarsysteme erfor-
schen, denen die Geschichte der Körper unterworfen war und die ihre Spuren
gleichsam in der Weise leiblicher Präsentation hinterlassen haben. Schließlich
wird aber zu fragen sein, ob die Rede von einer Sprache, einer »Spurenschrift«
angemessen ist, ob nicht überhaupt ein Unbeherrschtes und Nichtregierbares
rückständig bleibt, das allen Artikulationen vorweggeht. Gewiß, die Fülle leibli-
cher Ausdrucks- und Artikulationsformen scheint unübersehbar: Es gibt die sen-
sible Sprache der Augen, die untrüglichen Zeichen der Trauer und der Freude,
das Spiel der Erotik, die kleinen, anrührenden Gesten der Hilflosigkeit, die Hal-
tung schüchterner Reserve. All das spielt im Vertrauten, ohne daß wir genau
wüßten, worauf wir uns bezögen und über deren Auslegung wir uns doch selten
im Unklaren zu bleiben scheinen. Gleichwohl werden wir untersuchen müssen,
inwieweit die These vom »sprechenden Leib« und entsprechend von einer »Lin-

2 Theodor Piderit, Wissenschaftliches System det Mimik und Physiognomik (1867), Neuausgabe
Zürich 1989, S. 4.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 49

guistik des Körpers« plausibel ist, in welchem Maße sich die Leiblichkeit auf ein
Ensemble von Zeichen oder Symbolen zurückfuhren läßt, oder ob nicht vielmehr
ein Rest, eine nicht zu tilgende Rückständigkeit bleibt - jene »Unergründlichkeit
im Verhältnis des Menschen zu seinem Körper«, wie Helmuth Plessner gesagt
hat, im Wortsinne also ein skandalon det Leiblichkeit, ihre Anstößigkeit oder
Aufsässigkeit, die durch keine Dressur oder »Abrichtung« aufzuschlüsseln odet zu
disziplinieten wäre.
Maurice Merleau-Ponty nannte den »Skandal« der »Körpersprache« einen
»natürlichen Symbolismus«: Zeichen ohne Subjekt, deren Sinn allein einer
Sichtbarkeit entspringen, die auf ein Unsichtbares zurückzuweisen scheint. Ange-
spielt wird damit auf die Differenz zwischen konventionellen und nichtkonven-
tionellen Symbolen, die so alt ist wie das Nachdenken über die Zeichen selber.
Die Sprache des Leibes gilt als Sprache der Natur, die gleichsam unmittelbar zu-

3 Vgl. dazu auch Hartmut Böhme, Der sprechende Leib, in: ders; Natur und Subjekt, Frank-
furt/M. 1988, S. 179-211.
4 Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt/M. 1970, S. 39 f.
5 In phänomenologischer Tradition werden Leiblichkeit und Körperlichkeit geschieden; diese
meint die lebendige, körperlich-seelische Einheit, jene den durch die Naturwissenschaften be-
schriebenen materiellen Leib; vgl. insbesondere Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der
Wahrnehmung, Berlin 1974 vor allem S. 91 ff; Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts,
Reinbek bei Hamburg 1962, S. 398 ff; Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der
Mensch, Berlin 2. Aufl. 1965, S. 230 ff; Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand.
Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990; ders., System der Philosophie, Bonn 1964 ff, bes.
Bd. 11,1: Der Leib, Bonn 1965; sowie exemplarisch: Gernot Böhme, Leib: Die Natur, die wir
selbst sind, in: ders., Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzier-
barkeit, Frankfurt/M. 1992, S. 77-93; u. ders., Anthropologie in pragmatischer Hinsicht,
Frankfurt/M. 1985, bes. S. 113 ff; vor allem S. 120. Wenn die Ausdrücke hier synonym ge-
braucht werden, so in dem Sinne, daß die Leiblichkeit als leitende Kategorie eigentlich domi-
niert; ihre Reduktion auf den Körper als bloß biologisches Substrat vollzieht sich, Rudolf zur
Lippe zufolge, erst seit der Renaissance mit der Durchsetzung metrischer Verfahren; vgl. ders.,
Vom Leib zum Körper, Reinbek bei Hamburg 1988, bes. S. 173 ff. Hinzugefügt sei, daß es nach
Jean-Pierre Vernant im Griechischen keinen Terminus gibt, der den Körper im ganzen, als Ein-
heit nennt; Leib bedeutet hier eher ein Ensemble von Kräften, die unterschiedlich verwendet
werden; vgl. Jean-Pierre Vernant, Corps obscurs, corps eclatant, in: C. Malamoud, J.P. Vernant
(ed.), Corps des dieux, Paris 1986, S. 19—46. Die Verbindung von körperlicher Präsenz und
Performanz, die wir unseren Ausführungen zugrunde gelegt haben, spielt darauf an.
6 Maurice Merleau-Ponty, Natur und Logos, in: Vorlesungen I, Berlin New York 1973, S. 128.
7 Ohne hier bereits auf die umfangreiche Diskussion zum Problem der Körpersprache und des
Ausdrucks vorwegzunehmen, die ihren Beginn in der antiken Physiognomik findet, sei an dieser
Stelle an die Diskussionen um Körperexpressivität erinnert, wie es in der Tanztheorie der 20er
Jahre dieses Jahrhunderts thematisch wurde, dort zugleich vertreten mit dem Pathos einer Zivili-
sationskritik, die aus der ursprünglichen Kommunikation der Körper - ganz im Sinne des frühen
Nietzsche - die Vorherrschaft der Wort- und »Buchkultur« (Oskar Schlemmer) überwinden hel-
fen sollte. Vgl. dazu Rudolf von Laban, Die Welt des Tänzers, Stuttgart 1920, Mary Wigman,
Die Sprache des Tanzes, München 1973; Franz M. Böhme, Tanzkunst, Dessau 1926 sowie dar-
stellend Gabriele Brandstetter, Ausdruckstanz, in: Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hsg.),
Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, Wuppertal 1998, S. 451-463. Der
Tanz gilt danach als eine reine Bewegungssprache, deren Semantik in der »Somatik« niedergelegt
ist, dessen Ausdrucksmoment das »natürliche /deichen« darstellt, das in einer Anthropologie der
Gesten und Gebärden wurzelt. So wäre die Körpersprache dem Menschen eingeboren wie ebenso
50 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

gänglich ist, ohne den Umweg über einen Sprecher oder ein Medium zu nehmen,
auch ohne geregelte Verweisung, ohne Differentialität und Struktur der Zeichen,
zuweilen sogar ohne kontextuelle Relativität — und doch gibt sie ein Inneres als
Äußeres preis. Alles scheint dabei bedeutsam: Gesicht und Leib wirken wie weit
ausladende Gebiete, die sich der anschaulichen Lektüre präsentieren, oder wie
Landkarten, auf denen jedes Detail eine Rolle spielt, weshalb Karl Bühler treffend
von einer »Hermeneutik des Sichtbaren« gesprochen hat. Sie korrespondiert der
Auslegung von Masken, deren Symbolismus der Doppelgestalt von Verbergen
und Enthüllen genügt: sie zeigen, indem sie verhüllen und verhüllen, indem sie
zeigen. Es ist diese Dialektik, der der leibliche Ausdruck zu gehorchen scheint: In
Mimik, Gestik und Gestalt läßt sich etwas sehen, was sich dem Blick entzieht
und mit der Eigentlichkeit einer Person verbunden wird. Sie gemahnt an die
Dialektik des Zeichens selbst: Das Phantasma der persona, Maske gleichwie des
Ausdrucks, des Symbolischen, welche nahelegt, daß etwas »hintet« ihr stecken
muß, was sich des vollständigen Zugangs ebenso sperrt wie es zu den Phantasmen
der Zeichenwissenschaft gehört zu glauben, es durch die Methode kritischer Ent-
rätselung entschleiern und schließlich aufdecken zu können.
Auf besondere Weise verbindet sich so die Gebärdensprache des Leibes und
die Mimik des Gesichtes zugleich mit dem Rätsel des Fremden, des Unzugängli-
chen. Seit je war das Mysterium des Ausdrucks mit dem Nimbus einer Macht
versehen, weil seine Entschlüsselung versprach, im Spiel der Mienen und Gesten
die Wahrheit der Seele entdecken und Besitz über ihr Geheimnis erlangen zu
können. Ihre Verborgenheit wird einem Blick anvertraut, der sie dem entreißt,
was sich äußert, so daß die Hülle der Körperlichkeit gleichsam als Spiegel wirkt,
in den zu schauen der einfühlenden Intuition erlaubt, das Wesen des Anderen zu
lokalisieren. Das Problem der Sprache des Körpers partizipiert damit an der Dua-
lität von Leib und Seele, die an der Kluft zwischen Äußerem und Innerem rührt.
Bereits Aristoteles hatte versucht, auf diese Weise die Ausdruckslehre einer wis-
senschaftlichen Beschreibung zuzuführen, und ihre Tradition wird sich, ver-

ihr Verständnis: Möglichkeit einer genuinen Verständigung über die Differenz und Grenze der
konventionellen Sprachen hinaus. Ahnliches, vertreten mit einem verwandten Pathos gilt für
Antonin Artauds »Theater der Grausamkeit«: Es fordert, gegen die Textversessenheit des europäi-
schen Theaters, dessen »Freilassung« durch einen neuen »Lyrismus der Gebärde«, der »magischen
Atmung«, einer »Sprache aus Klängen, aus Schreien (...) und onomatopoetischen Lauten«: »Und
genau das ist der wunde Punkt des Theaters (...): das abendländische Theater erkennt nur die
(...) grammatisch artikulierte Sprache, d.h. die Sprache des Wortes, des geschriebenen Wortes
(...) als Sprache an, gesteht nur ihr die Fähigkeit und Wirkkräfte einer Sprache zu, erlaubt nur
ihr, Sprache sich zu nennen (...).« Ders., Das Theater und sein Double, München 1996, S. 127,
97, 121,96, 126passim.
8 Vgl. Karl Bühler, Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena 1933, S. 27.
9 Dagegen indessen Makoto Ozaki, der das Spiel von zweigen und Verbergen für eine falsche Alter-
native hält, weil es auf jeweils anderen Ebenen geschieht; ders., Artikulationen, Berlin 1981,
S. 27.
10 Vgl. Aristoteles, Erste Analytik (Analytica priori), II 70b, Die Lehrschriften hsg. v. P. Gohlke,
Paderborn 1953. Erscheint hier die Möglichkeit einer Physiognomik zweifelhaft, so scheint ihr
Aristoteles mit der Physiognomica gleichwohl eine eigene Schrift gewidmet zu haben, die Aus-
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 51

mittelt über Cicero, Quintilian und Seneca, bis zur Renaissance und den Signatu-
renlehren Jakob Böhmes und Paracelsus' fortsetzen, die ihr einen naturmysti-
schen Rang verliehen, um mit Johann Caspar Lavater als Kunst »zur Beförde-
rung der Menschenerkenntnis und Menschenliebe« in die Geschichte des neu-
zeitlichen Wissens einzutreten. * Gleichwie dabei die verschiedenen spekulativen
Ansätze changieren: Durchweg werden Gesicht und Körper einem Regime von
Zeichen unterworfen, deren idiosynkratische Deutung der Zweideutigkeit des
Innen und Außen entspricht, an die sich wiederum als weitere Kette die Diffe-
renzen zwischen dem Offenen und Verborgenem, dem Physischem und Psychi-
schen anschließt. Sie versehen die Leiblichkeit, den Menschen überhaupt, wie Pa-
racelsus und Jakob Böhme das ganze Universum, mit einer Wesenssymbolik, die
durch Anverwandlung, durch Analogie zuletzt an die Offenbarung Gottes heran-
reicht.
Im Leiblichen Seelisches anschauen — daraus bezog vor allem die klassische
Physiognomik ihr Pathos, die Lavater überhaupt als »Fertigkeit durch das Aeu-
ßerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen« und die »sichtbare() Oberflä-
che mit dem unsichtbaren Innhalt« in Verbindung zu bringen definierte. Das
Programm wirft erhebliche erkenntnistheoretische Schwierigkeiten auf, die La-
vater durch »Zergliederung«, die »Theile des Menschen zu Oberflächen mach(t)«,
zu lösen suchte. Der Ansatz führt auf einen klassifikatorischen Schematismus, der
ein festes symbolisches Repertoire annimmt, das jederzeit abrufbar scheint, um
die unwandelbaren Charaktere des Gefühls oder der seelischen Zustände zu ent-

drucksattributierungen vornehmlich aus Tiergestalten vornimmt; vgl. ders., Wesens-Erkundung,


in: ders., Kleine Schriften zur Naturphilosophie, Die Lehrschriften hsg. v. P. Gohlke, Paderborn
1961, S. 82-108. Die Schrift ist allerdings nicht verbürgt und in ihrer Echtheit umstritten. Ins-
besondere begründet sich der Zweifel aus dem offensichtlichen Widerspruch zur »Analytik«.
11 Zur Signaturenlehre Paracelsus' und Jakob Böhmes vgl. insb. Gernot Böhme, Natur, Leib, Spra-
che, a.a.O., S. 15 ff; ders., Der offene Leib. Eine Interpretation der Mikrokosmos-
Makrokosmos-Beziehung bei Paracelsus, in: Dietmar Kamper, Ch. Wulf (Hsg.), Transfiguratio-
nen des Körpers, Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989, S. 44-58; ders., Das Ding
und seine Ekstasen. Ontologie und Ästhetik der Dinghaftigkeit, in: ders., Atmosphäre, Frank-
furt/M. 1995, S. 155-176, bes. S. 169 f.; sowie ders., u. Hartmut Böhme, Feuer, Erde, Wasser,
Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, bes. S. 127 ff, 204 ff; ferner Hart-
mut Böhme, Denn nichts ist ohne Zeichen. Die Sprache der Natur: Unwiederbringlich? in: Na-
tur und Subjekt, a.a.O., S. 38—66; bes. S. 55 ff. Nach Gernot Böhme lassen sich die Naturauffas-
sungen und Zeichenlehren der Spätrenaissance überhaupt physiognomisch lesen und für eine Na-
turästhetik nutzbar machen, als Mantik bei Paracelsus, als Offenbarung der Natur bei Jakob
Böhme; vgl. insb. ders., Atmosphäre, a.a.O., S. 132 ff. Dagegen schlägt Karl-Otto Apel die insge-
samt einer »Logosmystik« zu, deren Spuren er bis zur Sprachauffassung Herders, Schellings und
Heideggers weiterverfolgt; vgl. ders., Die Idee der Sprache, a.a.O., 18 ff, 97 ff, 107 ff, 255 ff
12 Vgl. Johann Caspar Lavatet, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschener-
kenntnis und Menschenliebe, 4 Bde 1775-1778, Auswahl hsg. von Christoph Siegrist, Stuttgart
1984. Zur Überlieferungsgeschichte Umberto Eco, Die Sprache des Gesichts, in: ders., Über
Spiegel und andere Phänomene, München Wien 1988, S. 71-82; ferner: Georg Baumgart, Leib-
hafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995, vor allem Zweiter Teil S. 53 ff.
13 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, a.a.O., S. 21, 22. Insbesondere wird dort
eine »FundamentaJ-Physiognomik« avisiert; ebenda, S. 22.
52 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

hüllen. " Ihre Arbeit gleicht einer Übersetzungsleistung: »(W)o dieß Zeichen ist -
da ist diese Eigenschaft.« Die dabei vorausgesetzte Dichotomie von Innen und
Außen weist die Physiognomik damit jenem vorklassischen Kreis von Ähnlich-
keiten zu, den Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge als »prosaische Welt«
bezeichnet hat, ' um per Analogieschluß eine Beziehung zwischen dem Eigenen
und Fremden herzustellen - ihre Zeichenlehre folgt entsprechend noch nicht
dem Register der Repräsentation. Durchweg erweist sich darum ihr Spektrum als
spekulativ: Mal scheinen die aufgewiesenen Male Visionen des Göttlichen zu ver-
körpern, die sich in Antlitz und Gestalt eingraviert haben, mal als eigentümliche,
jedem Menschen imprägnierte Besonderheiten, die sich als Abdruck seiner Indi-
vidualität entäußern: Immer führt jedoch der Weg von einer Innerlichkeit zur
Äußerlichkeit oder umgekehrt vom Äußeren ins Innere zurück — wie Gemälde,
die betrachtet werden und ihr Rätsel einbehalten oder ihre Geheimnisse preiszu-
geben trachten. Und stets verfährt die Physiognomik dabei sttikt syntagmatisch:
Sie entwirft eine umfassende Taxonomie des Ausdrucks, die den Körper einer
strengen Kodifizierung unterzieht, deren »Sprache« wiederum aus festen Formeln
und Topoi besteht: »(D)as ist Charactet hohen Verstandes - dieser Zug ist der
Sanftmuth, dieset dem wilden Zorn eigen! So blickt die Verachtung! So ist Un-
schuld«, auch wenn Lavater mehrfach betont hat, nicht genau zu wissen, wie et
seine Schlüsse zöge. Statt also um eine »Linguistik« handelt sich eher um eine
Rhetorik der Leiblichkeit, die einer dogmatisch verfaßten Kartographie des See-
lenlebens entspricht, wie sie noch Sigmund Freud für die Traumsprache des Un-
bewußten votaussetzte, um sie lesbar zu machen."

14 Einen Rettungsversuch der Physiognomik Lavaters unternehmen vom Schriftbegriff Jacques Der-
ridas her Giovanni Gurisatti, Klaas Huizing: Die Schrift des Gesichts, in: Neue Zeitschrift für sy-
stematische Theologie und Religionsphilosophie 31 (1989), S. 270-287. Demgegenüber Susanne
Lüdemann, Defaire le visage, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 94/95, Jg. 25 (1996),
S. 33-46.
15 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, a.a.O., S. 43.
16 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1974, S. 46-77.
17 Tatsächlich orientierte sich Lavater charakteristischer Weise an Stichen, die ihm zumeist als Sil-
houette oder im Profil typische Züge darboten.
18 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Ftagmente, a.a.O., S. 43.
19 Ausdrücklich vermerkt Lavater, daß seine Schrift gerade deswegen fragmentarisch geblieben sei,
weil sich die Physiognomik kaum zu einem System schließen lasse; vgl. ders., Physiognomische
Fragmente zur Beförderung der Menschenerkenntnis und Menschenliebe, a.a.O., S. 10, 15 ff. u.
40 ff. Tatsächlich rekurriert er jedoch auf Einfühlung, deren Erkenntniskraft zwar in Mißkredit
geraten zu sein scheint, die als leiblichen Mitvollzug jedoch im Sinne eines »Spürens« rekonstru-
iert werden kann. Vgl. dazu Gernot Böhme, Natur, Leib, Sprache, a.a.O., S. 9 sowie ders., An-
thropologie in pragmatischer Hinsicht, a.a.O., S. 121 ff. u. 128.
20 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Studienausgabe Bd. 1,
Frankfurt/M. 1969, 10. Vorlesung, S. 159-177. Dies gilt auch für die Ausdruckstheorie von
Ludwig Klages, der in Ausdrucksbewegung und Gestaltkraft, Leipzig, 2. Aufl. 1921, versucht, das
Problem des Ausdrucks gestalttheoretisch zu lösen. Doch bleibt er der Dichotomie von Innen
und Außen ebenso verhaftet wie seine Vorgänger, indem er die Gestalt als äußeres Bild, auf einen
»seelischen Gehalt« zurückführt, der ihr ähnlich ist. So hält et letztlich, wie Helmuth Plessner in
seiner Kritik formuliert, am »Realsymbolismus« fest und verwechselt Hermeneutik mit Ontolo-
gie: »Für Klages ist das Ausdrucksleben eine Bilderwelt von ausgesprochener Determiniertheit.
AUSDRUCK UND KORPERSPRACHE 53

Weder ist hier allerdings der Platz noch der Ort, eine Kritik der Physiognomik
zu führen; sie dient uns allenfalls als Paradigma, als Leitfaden, dem Leib eine
»zweite Sprache« zu entlocken, eine gleichsam prärationale Kommunikations-
form, die weit in die Intuition zurückreicht." Denn unabhängig davon, wie sie
sich jeweils im einzelnen zu legitimieren versucht oder welche Plausibilitäten sie
für sich in Anspruch nimmt - immer bleibt das Problem der Übertragung, des
Übergangs vom »Dort« zum »Hiet«, wie Helmuth Plessner es ausdrückt hat: der
Dechiffrierung."" Kritisiert wird insbesondere die verfehlte Metapher eines im
Leib versteckten Bewußtseins, als ob der Körper ein Kleid oder eine Rüstung sei,
deren Außenseite er dem Betrachter zuwende, dessen Inneres aber abwende und
nur vermittelt zeige. Kurzschlüssig erliegt dies, so Umberto Eco, der »seherischen
Versuchung« eines furchtlosen »Alltagsverstandes«, dessen interpretatorische Ob-
session in letzter Konsequenz denunziatorisch, ja sogar rassistisch werde, wenn sie
z.B. die Inferiorität einer Gruppe oder eines Volkes allein aus dessen exteriorer
Erscheinung ableite." Aus eben demselben Grunde hatte schon Georg Christoph
Lichtenberg mit der Physiognomik, vor allem Lavaters, sarkastisch gebrochen

Der Leib ist für ihn eine Koinzidenzfläche von Bild und Sinn.« Vgl. Helmuth Plessner, Die
Deutung des mimischen Ausdrucks, Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs, in:
ders., Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1979, S. 150-204, hier: S. 181. Die
Sinngestalten bilden dann ein »apriorisches Inventar und Fundament des Ausdrucksverstehens«,
das gleichsam eine »Urgrammatik der Anschauung (...), ein mimisches Uralphabet« unterstellt,
das aus Gestaltcharakteren besteht »und vielleicht eine über den Typus Mensch hinausgreifende
(...), jede Erscheinung beherrschende Rolle spielen könnte«. Ebenda, S. 184, 185 passim.
21 Tatsächlich läßt die Physiognomik unterschiedliche methodische Zugriffe zu. So kann sie auf ih-
ren impliziten Symbolismus hin befragt werden, wie er mit dem alten Problem einer »Mantik der
Seele« zusammenhängt. Entsprechend wäre die Physiognomik »semiotisch« oder »semiologisch«
zu lesen. Eine symboltheoretische Lesart läßt sich Ernst Cassirers Theorie der »Ausdruckswahr-
nehmung« entnehmen, wie sie insbesondere der Symbolform des Mythos zugrunde liegt. Sie mag
im Lichte der Durchsetzung von Aufklärung und Wissenschaft zu tilgen sein; zu eleminieren wä-
re sie nicht; vgl. insb. ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, 6. Aufl. 1994, S. 34 ff., bes.
S. 39 f.; ders., Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 116 ff., u. bes. S. 124. Wir werden auf die-
sen Punkt noch zurückkommen. Demgegenüber hat Gernot Böhme eingewandt, daß die Re-
duktion auf zVeichen stets dem Paradigma einer distanzierten Beobachtung geschuldet bleibt: Ge-
sichter werden wie Bilder betrachtet oder wie Texte gelesen; vgl. bereits ders., Natur, Leib, Spra-
che, a.a.O., S. 6 f. In bezug auf die Ausdrucksfrage schlägt er dagegen ein Aufeinanderbezogen-
sein von »Ausdruck« und »Eindruck« vor: Ausdrücke versteht man kraft eigener Eindrücke. Ge-
stiftet witd so eine Erkenntnis als Mitvollzug, als leibliche Kommunikation, deren Grundlage ein
Paradigma der Ähnlichkeit bildet. Die Physiognomik wird dann zu einer Phänomenologie der
Leiblichkeit und der Natur jenseits der Differenz zwischen Innen und Außen; vgl. ders., Die
Aktualität det Naturphilosophie, in: ders., Natütlich Natur, a.a.O., S. 29-43; sowie ders., Leib:
Die Natur, die wir selbst sind, in: ebenda S. 77-93 und: ders., Eine ästhetische Theorie der Na-
tur, ebenda, S. 125-140, bes. S. 136 ff. Wir beschränken uns hier statt dessen allein auf die Rela-
tion zwischen Leiblichkeit und Semiose.
22 Vgl. dets., Die Deutung des mimischen Ausdrucks, a.a.O., S. 194 f. Den selben Punkt kritisiert
gleichfalls Max Scheler in Wesen und Formen der Sympathie, Bern 1974, bes. S. 232 ff.
23 Vgl. Umberto Eco, Die Sprache des Gesichts, a.a.O., S. 75 und 80. Kritisch untersucht ebenfalls
Claudia Schmölders die Renaissance der Physiognomik und bringt sie mit einem neuen Interesse
an der Körpersprache in Zusammenhang, vgl. dies., »Rede, daß ich dich sehe«, in: Frankfurter
Rundschau Nr. 135, 14.6.1994, S. 16.
_>4 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

und ihr Obskurantismus vorgeworfen: »Ich erkläre mich noch einmal, hier und
da läßt es sich physiognomisieren, wie hier und da prophetisieren, der eine mehr,
der andere weniger. Im ganzen und in Millionen Fällen gegen einen ist alles ein
Nichts und Physiognomik eine Prophetik.«' Aus einer fliehenden Stirn, angewach-
senen Ohrläppchen, starken Augenbrauen oder einer bestimmten Wölbung der
Nase lasse sich sowenig lesen wie aus der Schwanzform bei Hunden, so seine Ka-
rikatur. Einzig als Pathognomik, als »Semiotik det Affekte«, mochte er sie, wenn
auch in begrenztem Umfang, gelten lassen." Desgleichen geißelte Hegel ihre
Pseudowissenschaftlichkeit," weil Innerlichkeit und Äußerlichkeit auseinander-
fielen und der Leib und seine Äußerungen in bezug auf ein darin ausgedrücktes
Geistiges an sich kontingent bliebe. Zwar hielt auch er am Prinzip des Ausdrucks
»als Einheit des Inneren und Äußeren« fest, doch wird dieser weit eher einem
»Tun« zugerechnet als der Passivität jener Symbole, die dem Organischen ent-
springen und bestenfalls eine Sprache erzeugen, »deren Töne und Tonverbindun-
gen nicht die Sache selbst, sondern durch die freie Willkür mit ihr verknüpft und
zufällig für sie sind«." Nichts spiegelt sich hier direkt, vielmehr ist das »Reflek-
tiertsein (...) verschieden von der Tat selbst und kann also etwas anderes sein und
für etwas anderes genommen werden, als sie ist (...). Es ist daher wohl Ausdruck,
aber zugleich auch nur wie ein Zeichen, so daß dem ausgedrückten Inhalte die Be-
schaffenheit dessen, wodurch es ausgedrückt wird, vollkommen gleichgültig ist.«"
Hegel leugnete damit den natürlichen Charakter des Ausdrucks: Der Leib spricht
nicht mittels motivierter Zeichen, sondern konventionell, weshalb das, was er zu
sagen scheint, nicht unmittelbar lesbar ist, sondern abhängt von den Gepflogen-
heiten der Interpretation. Die Sprache des Körpers fällt uns nicht einfach zu, weil

24 Georg Christoph Lichtenberg, Wider Physiognostik, in: ders., Schriften und Briefe Bd. III,
München 1972, S. 553-562, hier: S. 559. vgl. ferner die entsprechenden Passagen in den Sudel-
büchern, in: ebenda. Bd. I, vor allem Buch F 215 ff, 636 ff, 697 ff, 815 ff, 898; S. 498ff,
548 ff, 556 ff, 576 ff. u. 588, sowie ders., Über Physiognomik; wider die Physiognomen, in:
ebenda Bd. III, S. 256-295; u. ders., Fragment von Schwänzen, ebenda Bd. III, S. 533-538.
25 Ders., Fragment von Schwänzen, in: ders., Schriften und Briefe, a.a.O., Bd. III, S. 533-538.
26 Ders., Über Physiognomik; wider die Physiognomen, a.a.O., S. 264, auch Sudelbuch F, a.a.O.,
898, S. 588 f. Daß physiognomische Wahrnehmung stets auf der Ebene der Metapher argumen-
tiert, d.h. die Form des Ausdrucks nicht ohne weiteres in Aussage zu verwandeln ist, dazu im An-
schluß an Lichtenbetg Ernst Gombrich, Über physiognomische Wahrnehmung, in: ders., Medi-
tation über ein Steckenpferd, Wien 1973, S. 79—93, sowie ders., Ausdruck und Aussage, in:
ebenda S. 95-113.
27 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke in zwanzig Bän-
den, Bd. 3, Frankfurt/M. 1970, 233 ff, sowie ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissen-
schaften, 3 Bde, Bd. 3, in: Werke Bd. 10, a.a.O. §§ 388, vor allem § 411, S. 192 ff.
28 Ders., Phänomenologie des Geistes, a.a.O., S. 236.
29 Ebenda, S. 239.
30 Hegel unterscheidet zwischen Symbol und Zeichen im Sinne nichtkonventionellet und konven-
tioneller Funktionen. Zu Hegels Zeichen- und Symbolbegriff vgl. vor allem ders., Vorlesungen
über die Ästhetik, 2 Bde, Bd. 1, in: Werke 13, a.a.O., S. 393 ff. Vom konventionellen Charakter
der Physiognomik spricht desgleichen auch Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher F, a.a.O.,
898, S. 588.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 55

wir so empfinden; sie unterliegt, wie die Begriffssprache, den Bedingungen der
Zeit. Sie läßt sie gänzlich unentscheidbar werden, weil das Denken, im Unter-
schied zu dieser, keinen Anhalt im Begrifflichen findet. Ergänzend heißt es dar-
um in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften: »Zum menschlichen
Ausdruck gehört (...) der über das Ganze ausgegossene geistige Ton, welcher den
Körper unmittelbar als Äußerlichkeit einer höheren Natur kundgibt. Dieser Ton
ist eine so leichte, unbestimmte und unsagbare Modifikation, weil die Gestalt
nach ihrer Äußerlichkeit ein Unmittelbares und Natürliches ist und darum nur
ein unbestimmtes und ganz unvollkommenes Zeichen für den Geist sein kann
und ihn nicht, wie er für sich selbst ein Allgemeines ist, vorzustellen vermag.«
Hegel hat damit auf eine grundsätzliche Polysemie aufmerksam gemacht: Hoch-
gezogene Btauen, das Verziehen des Mundes, eine Handbewegung oder zusam-
mengepreßte Lippen vermögen alles Mögliche darzustellen. Kein geschlossenes
Band zwischen Ausdruck und Bedeutung regiert damit Mimik und Gestenspiel,
weil nicht einmal klar ist, ob eine Regung überhaupt etwas meint. Dies gilt dann
freilich sogar noch für die von Lichtenberg reklamierte »Pathognomik«: Gesichts-
zügen, Gebärden oder ähnlichem, in denen sich Affekte abzeichnen, kommt kein
eindeutig dechiffrierbarer Sinn zu: Sie verraten nichts über den Anderen, der sich
in ihren Chiffren zu entäußern scheint; vielmehr bleibt et in ihnen ebenso prä-
sent wie absent. Jeder Ausdruck, jede Geste wäre dann Enthüllung und Ablen-
kung, Sich-Darbieten und Verbergung in einem. Nicht nur vermag ich also die
Zeichen falsch deuten, sondern ich lasse mich auch durch die Theatralik ihrer In-
szenierung täuschen, indem ich den falschen Tränen oder dem geheucheltem Au-
genaufschlag ebenso willfährig zum Opfer falle, wie ich mich umgekehrt zu unge-
rechtfertigtet Sehnsucht oder Abwehr hinreißen lasse.

Entblößung des Leibes

Fraglich erscheint indessen, inwieweit es sich beim »Ausdruck« überhaupt um ei-


nen eindeutig klassifizierbaren Symbolismus handelt, der nach dem Modell des
Zeichens funktioniert. »Spricht« der Körper selbst oder bedienen wir uns seiner,
gleich einer leiblichen »Klaviatur«, die zu kontrollieren und einzusetzen wir er-
lernt haben? Geschieht Ausdruck unwillkürlich oder verfährt er intentional?
Handelt es sich um Merkmale, Eigenschaften des Gesichts oder der Verhaltens-
weisen, denen wir bestimmte Bedeutungen zuschreiben? Verfugen wir umgekehrt
über deren Symbolik wie Worte, mit denen sich spielen, irreführen läßt, ganz im
Sinne Umberto Ecos, wonach das Gebiet des Semiotischen mit den Bereichen der
Lüge und der Verstellung zusammenfällt?" Oder eröffnen seine Modulationen
eine komplexe symbolische Ordnung, die sich als leiblicher Sinn manifestiert

31 Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, a.a.O., § 411, S. 192.


32 »(D)ie Semiotik (ist) im Grunde die Disziplin, die alles untersucht, was man zum Lügen verwen-
den kann.« Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, a.a.O., S. 26.
56 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

oder eine »Schrift« eröffnet, die gleich Gedächtnisspuren sich manifestieren und
deren Male sich immer neu und anders lesen lassen? Die Beziehungen zwischen
»Ausdruck« und Semiosis scheint so im ganzen problematisch. Denn den Körper
als ein Instrument auslegen, das wir benutzen, um uns mit seiner Hilfe darzustel-
len, heißt in ihm jenen Stoff oder Mantel sehen, der nach Jean-Pierre Vernant
den eigentlichen Sinn des griechischen Wortes soma ausmacht, das ursprünglich
nur den »Leichnam« meinte." Seinen Ausdruck als intentionale Geste verstehen,
bedeutet in ihm jenes Spiel ausmachen, das wir souverän beherrschen und in je-
dem Augenblick für die unterschiedlichsten Zwecke einzusetzen vermögen.
Schließlich von einzelnen Symbolen reden, heißt wiederum die leibliche Artiku-
lation in diskrete Schnitte zerlegen, denen einzelne Bedeutungen zuordnenbar
sind, welche sich diskursiv übersetzen und mitteilen lassen. Es impliziert daher,
das Feld des Ausdrucks in eine Textur verwandeln, der zugrunde liegenden Kör-
perlichkeit ihr Sinnliches rauben und statt dessen mit einem Panzer aus Marken
zu überdecken.
Offenbar erweist sich das Problem des »Ausdrucks« solange als unlösbar, als
von einer selbstverständlichen Differenz ausgegangen wird, als verberge sich »et-
was« im Innern, das nach außen dränge oder sich im Außen zeige. Statt dessen
werden wird herauszustellen versuchen, daß das, was hier, vage genug, unter dem
allgemeinen Titel leiblicher Artikulation firmiert, nicht ohne weiteres auf ein
Netz von Botschaften oder Zeichen reduzierbar ist, ja daß stets ein Rückhalt, eine
Unfuglichkeit bleibt, die sich dem Zugriff der Lesbarkeit verweigert. Denn augen-
scheinlich figuriert die Rede von der »Körpersprache« zunächst als Bild, als eine
Metapher, die selbst aus dem Unterschied von Sprache und Leiblichkeit schöpft:
Am Ausdruck enthüllt sich gerade die Grenze zur Sprache. Es ist daher ein Pro-
blem, sie nach dem Beispiel der Semiotik oder Linguistik interpretieren zu wol-
len; vielmehr hat man, indem man die Textualität der Gebärden betont, deren
Rätsel noch gar nicht berührt. Denn die einzelnen Gesten oder Körperbewegun-
gen mögen als Zeichen gemeint sein: sie mögen für etwas stehen, etwas darstellen
oder repräsentieren: dennoch geht das, was sie zugleich zeigen, keineswegs in dem
auf, was sie zu sagen scheinen. Eine Gebärde kann einen neurotischen Zug verra-
ten; ihr kann aber auch etwas Unverwechselbares anhaften, dem keinerlei Typik
zukommt. Kopfnicken bestätigt für gewöhnlich etwas; aber erst die Heftigkeit

33 Jean-Pierre Vernant, Corps obscurs, corps iclatant, a.a.O., S. 22.


34 Dies ist insbesondere der Kern der Kritik der Ausdruckstheorie bei Wittgenstein; vgl. vor allem
ders., Philosophische Untersuchungen, a.a.O., §§ 507-693 und Teil II, S. 172-208 u. S. 209 ff;
ferner ders., Letzte Schtiften über die Philosophie der Psychologie (1949-1951). Das Innere und
das Äußere, Frankfurt/M. 1993, bes. S. 86 ff, 110 ff. Zur Intetpretation insb. Olivet Scholz,
Zum Status von Tl. II der Philosophischen Untersuchungen, in: Eike von Savigny, Oliver Scholz
(Hsg.), Wittgenstein über die Seele, Frankfurt/M. 1995, S. 24—40.
35 Helmuth Plessner, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, a.a.O., S. 168 f. sowie entsprechend
Dietrich Schwanitz, Der weibliche Körper zwischen Schicksal und Handlung. Die Diät und das
Paradox des Feminismus, in: H.U. Gumbrecht, K.L. Pfeiffer (Hsg), Materialität der Kommuni-
kation, a.a.O., S. 568-583, bes. S. 570. Auf die Ausdrucksqualität der Stimme als Grenze zur
Schrift kommen wir indessen weiter unten Tl I, 3. Kap. zu sprechen.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 57

oder Zurückhaltung seines Vollzugs trägt Nuancen in den Ausdruck ein, der die
Zustimmung unterstreicht oder sie im Gegenteil in Geringschätzung oder
Gleichgültigkeit umschlagen läßt und dessen besondete Note Hegel für zu subtil
hielt, als sie beschreiben zu können. Neben der Tatsache, daß mir die Hand zum
Gruß gereicht wird, ist entscheidend, wie sie mir entgegenkommt, ob unverblümt
oder zögerlich, ob sie eher meine nimmt als daß sie gegeben wird, ob sie abwar-
tend oder provozierend wirkt. Mehr noch: daß man zu einem bestimmten Zeit-
punkt ein Mitgefühl zeigt oder mit wortlosen Takt sich zurückhält, ist keineswegs
irrelevant: Es vetleiht dem Ausdruck allererst seine Stellung, läßt ihn angemessen
oder verfehlt erscheinen. Unbestritten handelt es sich um symbolische
gen; und sicherlich kennt man die Signale der Zuwendung und der Abweisung,
des unwillkürlichen Errötens oder der somatischen Täuschung ebenso wie die
Strategien der Verschleierung, die Techniken der Maskierung oder Verkehrung,
mit denen sie instrumentalisiert und durchschaut werden; trotzdem manifestiert
sich nicht alles, was sich derart körperlich darbietet, in den Zeichen und ihrem
Gebrauch: Etwas tritt zu ihnen hinzu, was sie gründet oder ihnen zuwiderläuft
und sie in ihrer möglichen Bedeutung verschiebt: die Faktizität des »Daß«, die
Modulationen ihrer Ausführung, die ihnen allererst ihre besondere Note verlei-
hen, die Intensität des Vollzugs, mit der sie daherkommt, die Spezifik der Leib-
lichkeit, auf der sie beruhen. Eine Geste als symbolische Handlung kann etwas
Bestimmtes besagen: Sie meint die Beipflichtung oder den Gruß, vielleicht sogar
einen Affront; aber die Weise ihrer Setzung, zu der die Anwesenheit des Leibli-
chen ebenso gehört wie ihre Performativität, erteilt ihr ein Gewicht, eine beson-
dere Form des Erscheinens, ihre Präsenz. Sie bezeugen etwas, was weder den Be-
deutungen noch den eingespielten Konventionen odet ihrer taktischen Einset-
zung zugeschlagen werden kann und das Verstehen auflöst odet verstreut, so daß
chronisch unklar bleibt, was eine Miene oder Gebärde bedeutet: ob sie mir zu-
stimmt, mich willkommen heißt oder man mich für unwürdig erachtet und mich
endlich loszuwetden trachtet.
Es wäre freilich unpassend oder zu wenig, solche Unfüglichkeiten und Unfüg-
samkeiten einzig den okkasionellen oder situativen Voraussetzungen zuzurech-
nen, mit denen Handlungen verwoben sind, wie Plessner es versucht hat und
phänomenologische Handlungstheorien es noch versuchen. Sicherlich spielen

36 Meisterhaft wurde solche Überformung spontaner Äußerungen durch die Stilisierung, Pose oder
einer ausgefeilten Kunst des gestischen Maskenspiels vor allem in der Hofgesellschaft des Barock
und Rokoko eingeübt. Sie diente mit ihrer komplexen und undurchsichtigen Verzierung der kal-
kulierten Verbergung von Gedanken oder Absichten, kultiviert in der Intrige, den gesellschaftli-
chen Selbstdarstellungen, den theatralischen Ohnmächten oder inszenierten Tränenströmen. Re-
ziprok dazu ward die extensive Deutung des Körperausdrucks als intentionales Zweigen bis zur
Meisterschaft der subtilen Auslegung selbst noch der verschwiegensten Regung, des kleinsten
Seufzers oder Händedrucks entwickelt.
37 Vgl. Helmuth Plessnet, Die Deutung des mimischen Ausdrucks, a.a.O. Der symbolischen
Handlung schlägt zudem Vilem Flusser die Geste zu, die er als eine »Bewegung des Körpers« de-
finiert, deren Verstehbarkeit er von ihrer kausalen Erklärung abgrenzt. »Meine Handlung stellt
den Schmerz dar, sie ist sein Symbol, und der Schmerz ist ihre Bedeutung. So eine Bewegung ist
58 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Kontexte eine Rolle: eine erwartete Geste kann zu allem quer stehen, sie kann
zum richtigen Zeitpunkt ausbleiben odet im falschen Moment Katastrophen
auslösen, auch wenn es schwer fällt, wie Jacques Derrida hervorgehoben hat, die
Kontextualität eines Aktes zureichend zu beschreiben oder auch nur abzugren-
zen. Je nach Gelegenheit bedeuten sie Verschiedenes, weil sie in ihrer ganzen
Tragweite erst in Relation zu dieser aufgehen; aber die Kontexte werden ihrerseits
durch Zeichen definiert, deren Auslegung auf sie zurückverweisen, so daß die Be-
stimmung ihres Horizonts prinzipiell zirkulär bleibt. Doch wie immer sie rekon-
struiert werden, die Tatsache der leiblichen Präsenz, mit der das Symbolische
verknüpft ist, die Art und Weise seiner Präsentation, kann in keinem Fall den
Kontextbedingungen allein zugerechnet werden; denn die Kontexte kommen
immer zu den Zeichen hinzu, jene aber bieten sich uns mit den Zeichen dar. Sie
existieren nicht losgelöst von den Symbolen, sowenig diese ohne sie existierten.
Der Hinweis auf die Kontextualität der Zeichen, so wesentlich er zuweilen er-
scheint, reicht darum nicht hin, das Rätsel des Ausdrucks zu beschreiben: Ein
deres kommt hinzu, das gleichsam unterhalb der Zeichen bleibt und sie führt.
Denn gibt es keine Symbolisierung ohne die Materialität der Zeichen, wie umge-
kehrt ihre Materialität, die Gegenwart der Körper, wiederum nur in den Symbo-
len manifest wird. Und sie besteht nicht neben den Zeichen als deren Supple-
ment, das ihrem Sinn hinzuzufügen wäre - als gäbe es einmal die Bedeutungen,
zum anderen die Materialitäten, so daß sich ihre Semantik erst aus der Summe
beider ergäbe; vielmehr erscheinen die Zeichen nur aufgrund deren Basis. Die
Materialität oder Leiblichkeit bezeichnet daher kein Anderes unabhängig von den
Zeichen, das gleichsam einer zweiten Lektüre zuzuführen wäre, sondern die Ge-
sten, Mienen und Gebärdungen sind, als deren Einheit, stets beides.
Worauf es uns also ankommt, ist zu betonen, daß notwendig aller Ausdruck an
die Leiblichkeit rückgebunden bleibt, die sich ihrerseits nicht vollständig im
Symbolischen preisgibt, vielmehr es allererst austrägt, wobei die Präsenz des gan-
zen Körpers eine Rolle spielt, seine Gestalt und Verhaltung, sein »Fleisch«. Denn
der Körper fügt sich keiner Schrift oder Be-zeichnung, sowenig er sich konstruie-
ren oder de-konstruieren läßt. Von ihm gibt es weder eine Repräsentation noch
läßt er sich zum Bild machen - vielmehr bildet er den Hintergrund, kraft dessen
überhaupt Repräsentationen oder Bilder entstehen. Wird er demgegenüber als
Botschaft oder »Sprache« aufgefaßt, deren Code über ein spezifisches symboli-
sches Repertoire verfügte, bliebe die eigentümliche Präsenz des Leibes, der sie

(...) eine >Geste< (...) Eine Geste ist sie, weil sie etwas darstellt, weil es sich bei ihr um eine Sinn-
bildung handelt.« Dann aber geht die Phänomenologie der Gestik, die Flusser in Anschlag
nimmt, letztlich in einer Hermeneutik der Gebärdung auf: »Wir >lesen< die Gesten, von den ge-
ringfügigsten Bewegungen der Gesichtsmuskeln bis zu den gewaltigsten Bewegungen jener De-
volutionen« genannten Körpermassen. Ich weiß nicht, wie wir das zuwege bringen. (...) Wir be-
nötigen eine Theorie der Interpretation von Gesten.« Das Unternehmen ist deshalb tautologisch,
weil die Geste zuvor schon als Zeichen definiert wurde. Vgl. Gesten. Versuch einer Phänomeno-
logie, Düsseldorf und Bensheim 1991, S. 12 und 9.
38 Vgl. Jacques Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, a.a.O., S. 327, sowie 341 ff.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 59

»grundiert«, systematisch im Rücken. Stets weist die leibliche Artikulation auf


diese als ihre fundierende Instanz zurück: Weil kein Ausdruck sich unkörperlich
vollziehen läßt, beschreibt die Leiblichkeit dessen conditio sine qua non, die in je-
dem Vollzug sich unmittelbar mixzeigt. Natürlich erweist sich der Körper als
Schauplatz, an dem unablässig Bedeutungen geschaffen, umgesetzt und vermittelt
werden - doch ebenso als Ort, an dem deren Linien immer wieder durchkreuzt
und verwischt werden. Im Spiel der Gestik, der Gebärdung entäußert sich der
Körper in ein Anderes und stellt sich dabei selbst bloß. Gleichwie er sich dabei zu
maskieren oder zu übermalen trachtet: Im Zeigen ereignet sich seine Entblößung:
Etwas weicht zurück, entzieht sich und rückt in dem Maße in die Verborgenheit,
wie wir versuchen, ihm gerecht zu werden. Je stärker sich deshalb das Denken des
Körpers zu bemächtigen sucht, um ihn in seiner Rätselhaftigkeit zu entschlüsseln,
desto undurchdringlicher behauptet sich die Unerforschlichkeit seines Fleisches.
Vielmehr enthüllt die Körperlichkeit des Körpers sein je eigenes Gebaren. So hält
sich, was Gesicht oder Bewegungen jeweils zu offenbaren scheinen, gleichzeitig
im Unbestimmten. Es gibt das, was man als sedimentiertes und habitualisiertes
»Wissen« des Leibes bezeichnen kann, das »Körpergedächtnis«, das sich unwill-
kürlich mitteilt; aber es gibt auch stets das, was sich den Regeln und Disziplinie-
rungen nicht fügt, die sich seinen Erinnerungen eingeschrieben haben. Deswe-
gen ist der Körper immer auch als skandalös empfunden worden: Seine Anstößig-
keit ist sein Entzug, seine Unfügsamkeit - aber auch seine Unverfügbarkeit. Das
meint zugleich: Er gehorcht nicht meinen Anweisungen, entwischt der Kontrolle,
entsperrt sich deren Gefängnis und enttanzt dem rituellen Theater seiner gesell-
schaftlichen Normierungen. Die Körperlichkeit des Körpers genügt keiner mi-
metischen Identifikation, die sie im stillen Einverständnis sozialer Abrichtung
sich buchstäblich »einleibt«, um sie als lesbare Gravuren an ihrer Oberfläche zu
reproduzieren; sie erscheint stets mehr, als was an ihr zu entziffern wäre, ein
Überschuß, der die Zeichen des Ausdrucks im selben Augenblick verwirrt, da sie
sich zu artikulieren versuchen.
So wäre denn in die Semiotik des Körpers eine Duplizität einzutragen: Lesbar-
keit eines kulturell überformten oder abgerichteten Ausdrucks, aber auch ein
drucksloses Enthüllen, das dem entspringt, was ihm als materielles Korrelat stets
votgängig bleibt. Zweifellos erscheint die »Sprache« die Leibes kulturell determi-
niert und kontextuell entschlüsselbar; sie mag auch, je nach Gelegenheit, etwas
Bestimmtes meinen, partiell übetsetzbat oder lexikalisch rubrizierbar sein. Den-
noch bleibt sie an den Eigensinn der Leiblichkeit gekoppelt, der kein »Sinn« dar-
stellt, sondern ein besonderes Temperament, die Eigenwilligkeit eines Begehrens,

39 Vgl. dazu auch unsere noch tentativen Darlegungen in: D. Mersch, Körper zeigen. In: Erika Fi-
scher-Lichte, Christian Hörn, Matthias Warstat (Hsg.), Verkörperung. Theatralität 2, Tübingen
Basel 2001, S. 75-89.
40 Von solcher Habitualisierung und Disziplinierungen des Körpers sprechen gleichermaßen Michel
Foucault, Dispositive der Macht, Berlin 1978 sowie ders., Sexualität und Wahrheit, Bd. 1,
Frankfurt/M. 1977, Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M. 1976, bes.
S. 189 ff. und Judith Butler, Haß spricht, Berlin 1998, bes. S. 218 ff.
60 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

aber auch eine »Grenze«, welche keineswegs kontingent etscheinen: Keine Ge-
bärde, der so nicht die Einzigkeit ihres »Bedeutens« zukäme und die damit auch
nicht mehr im eigentlichen Sinne als ein Bedeuten angesprochen werden darf,
weil sich in ihr das Zeichen mit dem Ereignis, die Wiederholbarkeit mit der Sin-
gularität verschränkt. Sie bewirkt, daß sich der Ausdruck niemals völlig in dem
erschöpft, was er zu besagen scheint: In seine Präsentation geht anderes, Sinnli-
ches mit ein. Die Zeichen beschreiben damit ein Doppeltes: Zu ihnen gehört die
Funktion der Repräsentation oder Referenz, ihre symbolische Ordnung, doch
gleichermaßen auch ihre Materialität, ihre Selbstausstellung im Vollzug, ihre
Ausführung im Performativen. Sie manifestieren sich daher sowohl auf der Ebene
der Sichtbarkeit oder Hörbarkeit als auch auf der Ebene der Bedeutung. Das
Symbolische bekundet sich in der Wahrnehmung gleichwie der Interpretation:
Man versteht nicht nur, was ein Ausdruck besagt, man sieht, hört oder fühlt, was
er zeigt. Beide sind ineinander verwickelt: In seine Gewahrung spielt ebenso
Hermeneutisches wie Aisthetisches. Es weist der Semiose neben ihrem Inhalt, ihrem
eigentlichen Bedeuten die eigenständige Dimension eines Zeigens zu.
Die Trennung spaltet das Symbolische: Zwischen dem, was ein Zeichen sagt,
schiebt sich, was sich an ihm zeigt - Sichzeigen, das anderes ist als Sagen, das sich
nicht in einet Bedeutung etschöpft, sondern in dessen Materialität selbst manifest
wird. Dem leiblichen Ausdruck inhäriert so ein Überschuß: Er geht über das In-
tendierte hinaus als ein Nichttransitives, das ihm allererst seine Spezifik, seine be-
sondere Singularität oder Ereignishaftigkeit verleiht. So wäre denn auf einen Ge-
genzug zur Sprachlichkeit aufmerksam zu machen: Das Gesicht und der Leib
sind in ihrer Unverständlichkeit präsent. Sie zeigen sich. D.h. auch: Sie halten sich
in ihrer Auslegbarkeit, ihrem Sinn zurück, verweigern sich des Zugriffs, widerset-
zen sich deutender Vereinnahmung. Ihre Zurückhaltung ist Quelle einer Unsi-
cherheit: Liegt nicht darin auch der Grund einer unwillkürlichen Scheu, wenn
wir einem anderen gegenübertreten, vor allem einem Fremden: Andersheit, die
zugleich reserviert bleibt und sich aufdrängt? Kein Zeichen, das daher ohne Rest
aufgeht, das nicht in sich eine Kluft aus Sinn und Materialität trüge. Paradig-
matisch demonstriert so die Metapher von der »Sprache« der »Körper« in ihrem
Auseinandertreten die gleichzeitige »Zwiefalt« von Sagen und Zeigen. Deswegen
lassen sich nicht bruchlos die Gesten und Gebärden auf ihre Bedeutungen zu-
rückführen; zu ihnen gehört ebenso die Gegenwart der Körper, die das, was diese
sind, erst konstituiert und in ihre Lesbarkeit ein anderes, mituntet Unlesbares
oder Irritierendes einzutragen vermag. Ohne sie blieben sie gleichsam steril,
schattenlos: Darum erschrickt die ausdruckslose Geste, die reine und beflissene
Erfüllung einer Konvention, eher als daß sie befriedigt, wie die Gebätde, redu-

41 Diese Kluft thematisiert Julia Kristeva unter der Differenz des Semiotischen und Symbolischen
freilich so, daß das Semiotische immer schon »gezeichnet«, strukturiert ist: Form oder Ordnung
die im Sinne einer »Feldtheorie« zu verstehen wären, die den Symbolisierungen vorweggehen; vgl.
dies., Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/M. 1978, S. 35 ff. Vgl. dazu auch meine
Darstellung in: Das Semiotische und das Symbolische: Julia Kristevas Beitrag zum Strukturalismus.
in: Joseph Jurt (Hsg.), Von Michel Serres zu Julia Kristeva, Freiburg 1999, S. 113-134.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 61

ziert auf ihren puren Symbolismus, gerade des Wesentlichen entbehrt - jenes, das
uns dazu bringt, sie überhaupt als solche anzunehmen.
Es gibt das »stille« Einverständnis, das den Raum einer Begegnung ausmißt
und de-finiert, dessen unaussprechliche Markierungen dann deutlich werden,
wenn wir einander zu nahe treten und die Grenzlinie det Leiblichkeit gewollt
odet ungewollt einreißen. Es liegt ein geheimnisvoller Abstand zwischen den
Menschen, der ihnen von ihren Körpern diktiert wird und an dem das prekäre
Spiel der Nacktheit sich bricht. Der Takt und die gebieterische Distanz sind aus
diesem Grunde nicht ausschließlich kulturelle Produkte; sie zeugen von der leib-
lichen Verletzlichkeit, die nicht nur darin besteht, daß wir uns Wunden zufügen
können, sondern weit subtilet in der Übertretung der nirgends markierbaren Di-
stanz — weshalb die Wunde, die der sexuelle Übergriffs schlägt, vot allem darin
besteht, daß sie das Vertrauen in die Möglichkeit des Erotischen zerstört. Darum
enthüllt sich auch die angezeigte Differenz im Symbolischen vorzugsweise dort, wo
Bedeutung und Leiblichkeit einander widerstreiten: In der Zärtlichkeit, von der
Emmanuel Levinas gesagt hat, sie enthalte das »Geständnis eines unmöglichen
Zugangs, einer gescheiterten Gewalt, eines verweigerten Besitzes«, " oder in den
Inszenierungen der Verführung, deren Gelingen oder Versagen genau im Zwi-
schenraum eines verwirrenden Fehlens und eines verstörenden Zuviels siedeln:
Mangel an Deutbarkeit und Überschuß an Präsenz. Zwar scheinen sich gewöhn-
lich die Spiele der Erotik präziser rhetorischer Mittel im Sinne einer Kunst der
Überredung zu bedienen; doch behalten diese zumeist etwas Schwebendes und
Fragiles, eben weil sie sich nicht preisgeben dürfen, ohne sich zu vereiteln. Syste-
matisch kontrolliert bewegen sie sich gleichwohl im Medium unkalkulierbarer
Leiblichkeit, deren Aufdringlichkeiten unausgesetzt die Grenze zwischen Ekel und
Faszination berührt: als Widrigkeit, die buchstäblich »unter die Haut« geht, oder
auch als Verlockung, die den Willen zu brechen und das Verlangen mit sich spa-
zieren zu führen sucht und gerade deswegen Gefahr läuft, ins Gegenteil umzu-
stürzen. Es ist so die Doppelstruktur des Symbolischen, der Unterschied aus Sagen
und Zeigen, der Macht und Ohnmacht der Verführung entspringt: Nicht allein
aus den Zeichen rekonstruierbar, die »im Spiel sind«, weist sie in die Riskanz ei-
nes »Zeigens«, das sich verbirgt, um sich zu offenbaren und sich entdeckt, um
sich von neuem zu maskieren, und dessen schillerndes Theater in eben jene Anti-
nomien mündet, wie sie Jean-Paul Sartre für die »Unwahrhaftigkeit« postuliert
hat: Oszillation zwischen Faktizität und Transzendenz, Erscheinen, das sich un-
aufhörlich in Reserve hält, Zurückhaltung des Körpers, der sich nicht zeigt und
eben dadurch nicht umhin kann, sich zu offenbaren.
Mehr noch: die Heftigkeit eines Gefühls kann bewußt plaziert, die Festigkeit
einer Haltung demonstrativ zur Schau gestellt, eine schmerzliche Trauer insze-
niert sein; aber die unmerkliche Scheu, das Zögern in der Bewegung oder umge-
kehrt ihre natürliche Geschmeidigkeit, ihre »Grazie«, wie sie Heinrich von Kleist

42 Emmanuel Levinas, Vom Sein zum Seienden, München 1997, S. 51.


43 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Hamburg 1962, S. 91 ff, insb. S. 102 f.
62 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

im Marionettentheater beschrieben hat und welche Friedrich Schiller als »Anmut«


bezeichnete, sie alle werden nicht intentional vollzogen, vielmehr brechen sie im
Spiegel der Reflexion; sie dulden, wie Kleist sogar hervorhob, keine Bewußtheit.
Darum hat Michel Serres auf den Gegensatz von »Grazie« und »Sprache« bestan-
den: »Bevor das Wort kommt, ist das Fleisch voller Grazie. (...) Die (...) Grazie,
die den Körper erfüllt, bevor er sich mit dem Wort füllt, gleicht der Schönheit.
(...) Wenn das Wort das Fleisch erfüllt, verliert das Fleisch (...) diese Grazie, die-
se alten, in der Sprache nicht verständlichen Botschaften, und es vergißt sie. Sie
verläßt das Fleisch, wenn das Wort Fleisch wird.« Die »Grazie« erscheint so als
das Unentzifferbare, dessen versuchte Entzifferung sie gerade zerfallen läßt - wie
der »Charme«, der »gibt«, ohne gefragt zu sein. Etwas kaum Greifbares oder Un-
bestimmtes zeigt sich hier, wie es vielleicht wiederum am reinsten in der Anzie-
hung oder Erotik zu erfahren ist, von der Roland Barthes gesagt hat, daß sie we-
der konstruierbar ist noch eine Repräsentation gestatte. Denn ihre Bewegung las-
se sich nicht lernen, wie ebenso ihre Abbildung bestenfalls im »Glück« des Pho-
tographen gelinge, sie in ihrem »Kairos des Verlangens« zu treffen: »(D)ie Hand
des Jungen (...) genau im richtigen Grad des Sich-Offnens, in der Intensität det
Hingabe festgehalten: ein paar Millimeter mehr oder weniger, und der Körper,
den man erahnt, hätte sich nicht mehr wohlwollend dargeboten (...)«. Was sol-
chen Kairos ausmacht, worin er besteht, läßt sich sowenig fixieren wie einer Ana-
lyse unterziehen: die Dechiffrierung verflüchtigt ihn. Gleichwohl ist er präsent,
wir spüren ihn und können mit jener ungewissen Sicherheit auf ihn hindeuten,
wie sie nur die Empfindung erlaubt: eine Klarheit ohne Begriff. Der Ausdruck
fordert deshalb unsere Aufmerksamkeit heraus, bezieht uns ein oder stößt uns ab,
ohne daß wir wüßten oder benennen könnten warum. Er kann schließlich bewir-
ken, daß wir uns — unerwartet und sogar wider Willen — überzeugen lassen: Die
Gegenwart des Anderen nötigt uns, sie versetzt in Zugzwang, besticht oder ver-
letzt. Doch was sie ist, hängt nicht wiederum vom Gehalt der Zeichen oder dem,
was sie »zu verstehen geben«, ab: Der »richtige Grad des Sich-Offnens« der Hand
bedeutet nicht Hingabe, er drückt kein Verlangen aus, hat keine Signifikanz,
bringt nichts zut Darstellung: Er ist da, er zeigt sich. Aus diesem Grunde verwei-
gert ihm Barthes seine Deutbarkeit: »Der Ausdruck läßt sich nicht zerlegen (so-
bald ich etwas zerlegen kann, beweise oder widerlege ich, kurz ich zweifle (...):
die Evidenz widersetzt sich der Zerlegung). Der Ausdruck ist keine schematische,
intellektuelle Größe, wie es etwa eine Silhouette ist. Auch ist er keine einfache
Entsprechung — und mag sie noch so weitreichend sein —, wie es die Ähnlichkeit«
ist. Nein, der Ausdruck ist dieses Unerhörte, das vom Körper zur Seele führt

44 Heinrich von Kleist, Das Marionettentheater, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Erzählungen,
Anekdoten, Gedichte, Schriften. Hsg. v. Klaus Müller-Salget, Frankfurt/M. 1990, S. 560 ff.
45 Michel Serres, Die fünf Sinne, a.a.O., S. 275, 273 passim.
46 Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt/M. 1989, S. 68, 70.
47 Ebenda, S. 118.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 63

Erneut wird auf sein Skandalon aufmerksam gemacht. Sein Ätgernis ist seine
Widerspenstigkeit, seine Subtilitat. Bezeichnenderweise rückt Barthes an die
Stelle des ausbleibenden Wortes die Metapher »air«: Der Hauch oder Atem —
nicht im Sinne von Ausdruck, von Seele, sondern vor allem als »der leuchtende
Schatten, der den Körper begleitet« : die Aura. Sie ist, ganz im Sinne Kleists,
»Geschenk ohne Wichtigkeit«: »(D)er Ausdruck bringt das Subjekt zum Vor-
schein, sofern es sich keine Wichtigkeit beimißt«. Ein anderes Wort ist »Gabe«:
Im Ausdruck zeigen wir nicht nur etwas, das sich Präsenz verleihen will; vielmehr
zeigt sich anderes durch es hindurch, es durchquert die Linien der Leiblichkeit,
ohne als solches gemeint zu sein. Ein Gesicht mag Mißbilligung, tiefe Nach-
denklichkeit oder verletzte Empörung ausdrücken; dennoch scheint ein Unnenn-
bares durch, das unmittelbar gegenwärtig ist und sich doch jeder Beschreibung
entzieht: Wir empfinden die Beherrschtheit, die mühsame Bändigung niederer
Leidenschaften, wie man sie der Häßlichkeit des Sokrates zuschrieb, " oder auch
den Schimmer eines Unglücks, das sich in einer Schüchternheit hartnäckig zu
verbergen trachtet. Verwandtes scheint in der Müdigkeit manifest zu werden, die
Levinas als eine Art »Weigerung« beschrieben hat, anzufangen und die Beschwer-
lichkeit des Seins zu übernehmen. Solche Weigerung wäre Ausdruck eines Sich-
nicht-zeigen-wollens, das dennoch sich zeigt, denn beginnen heißt, sich in die Prä-
senz stellen und damit entkleiden. Daher läßt sich in jedem Beginn eine Zöger-
lichkeit erkennen, eine Angst, die eine Furcht vor der Gegenwart ausdrückt und
eben darin anwesend wird: Angst als Spur jener Präsenz, die nicht selbst offenbar
werden kann und somit offenbart, ohne als etwas zu offenbaren. Die Paradoxali-
tät der Formulierung weist auf einen Punkt »jenseits«: Etwas vetschließt sich der

48 Ebenda.
49 Ebenda, S. 121.
50 Ebenda, S. 119.
51 Der Leib ist niemals völlig gefugig; darum gelingt auch kein perfektes Schauspiel, und selbst nach
langjähriger Einübung sperrt sich der Leib seiner Verfügbarkeit. Die Unterstellung einer voll-
ständigen Textur der Leiblichkeit hat indessen terroristische Konsequenzen: Jede unwillkürliche
Regung muß etwas sagen oder zum Ausdruck bringen, jedes körperliche Symptom ruft zur Deu-
tung auf- wie in einer paranoiden Psychosomatik, die insgeheim ihre Souveränitätsphantasie, die
Gestaltbarkeit des Körpers noch in der Krankheit, auslebt.
52 Den Topos, der auf die antike Legende des Zopyros zurückgeht, wiederholt Friedrich Nietzsche,
Götzendämmerung, in: Kritische Studienausgabe, hsg. von G. Colli u. M. Montinari, Bd. 6,
München 2. Aufl. 1988, Das Problem des Sokrates, 3. Aphorismus, S. 68, 69, um aus ihm die
Häßlichkeit des Philosophen überhaupt herzuleiten: Der Einwand gilt der rationalen Verdrän-
gung des Lebens selbst. Das Gegenbild dazu bildet die »Atopie« des Sokrates, wie sie Piaton im
Symposion, Sämtliche Werke Bd. 2, Hamburg 1959, 177a ff, bes. 215a, 221d, S. 210 ff. be-
schreibt. Atopos nennt die Ortlosigkeit des Sokrates, seine Seltsamkeit oder Unbestimmtheit, die
Unmöglichkeit seiner Einordnung, eine Art unangepaßte Aufsässigkeit. Vgl. dazu auch Gernot
Böhme, Über die Physiognomie des Sokrates und Physiognomik überhaupt, in: ders., Atmosphä-
re, a.a.O., S. 101-126, sowie ders., Der Typ Sokrates, Frankfurt/M. 1988, S. 19 ff; ferner auch
Pierre Hadot, Wege zur Weisheit, Frankfurt/M. 1999, S. 47.
53 Emmanuel Levinas, Vom Sein zum Seienden, a.a.O., S. 26 ff. \n Jenseits des Sems oder anders als
Sein geschieht kommt LeVinas erneut auf den Passus zurück und fügt die Müdigkeit, wie das Al-
tern, den »Widrigkeiten« der Leiblichkeit, als einem Nicht-Intentionalen schlechthin, bei; vgl.
ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., S. 124 u. 131 ff.
64 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Repräsentation, weil sie die Bedingung der Re-Präsentation bildet - und darum,
als deren blinder Fleck, der Aufmerksamkeit entgeht, aber eben gerade dadurch
um so stärker wieder auftaucht.
Man könnte sagen, das andere, das sich hier darbietet, gleichwohl abet einem
zureichenden Ausdruck versperrt, erscheint, weil es im Augenblick seines
scheinens aufgeht. Es ist Erscheinung jenseits dessen, was erscheinen kann. Wir ha-
ben es hier mit der zentralen Figur unserer Argumentation zu tun, jener Para-
doxie im Rücken des Symbolischen, die darauf verweist, daß ihm etwas
gangen sein muß, was seine Möglichkeit erst konstituiert — was vorzugsweise im
Negativen aufscheint. Denn wie ein Fehlen, eine Leere gleichsam als Anwesenheit
einer Abwesenheit manifest werden kann, tritt etwas hervor, was nicht im eigent-
lichen Sinne ein Erscheinen hat. Exemplarisch kann es auf der Ebene der Kör-
perlichkeit an den Malen der Alterung festgemacht werden, die kaum eigentlich
als »Spuren« entziffert werden können, weil sie sich nicht ohne zeitliche Distanz
abzeichnen. Wir merken die langsame Einzeichnung ihrer Gravuren kaum: Die
Zeit ist kein Zeichen auf der Haut. Darum hat Levinas darauf hingewiesen, daß
die Zeitlichkeit der Zeit zwar leiblich präsent wird, aber ohne sich »als« etwas zu
zeigen - Präsenz sozusagen, ohne Präsentheit, eine Erfahrung, die er mit der Ge-
wahrung der Andersheit des Anderen zugleich ins Prinzipielle gesteigert hat: Diffe-
renz zwischen dem »Antlitz«, dem eine Numinosität anhaftet, und der Physio-
gnomie des Gesichts. Denn vom Gesicht heißt es, es sei der einzige Körperteil,
den wir gewöhnlich ungeschützt darbieten; wir können seine Züge zu lesen ver-
suchen und in seinen Falten gelebte Geschichten entdecken; doch zeichnet sich
in ihnen ab, was wir nicht in unserer Hand halten und unserem Zutun enträt:
Das Antlitz zeugt von sich. Zwar können wir durch unser Gesicht, durch die Fi-
guren der Bewegungen wie im Tanz oder durch die Spezifik unserer Körperhal-
tung etwas zum Ausdruck bringen, doch zeigen wir im Etwas-zeigen stets auf uns
zurück, und zwar so, daß nicht wir gemeint sind im Sinne eines authentischen
Tons, sondern weit eher als eine nichtgerichtete, nichttransitive Spur, die ihre Ge-
genwart gerade durch ihre Nichtgegenwart bezeugt. Entsprechend kann ich ver-
suchen, etwas zu verbergen, aber »ich« kann mich niemals zur Gänze verbergen,
auch wenn chronisch unklar bleibt, was »ich« dabei heißt. Nirgends vermögen

54 Es ist dies der Grund, weshalb Gilles Deleuze und Felix Guattari vom Gesicht als zwei unter-
schiedlichen semiotischen Ordnungen sprechen, an deren Schnittpunkt eine unbestimmte Stelle
entsteht: »System Weiße Wand-Schwarzes Loch«; das Gesicht als weiße Wand, auf der sich die
Subjektivität gleich Löcher abzeichnet. Vgl. dies., Tausend Plateaus, Berlin 1997, S. 230.
55 Vgl. Emmanuel LeVinas, Die Spur des Anderen: Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozi-
alphilosophie, Freiburg/München 2. Aufl. 1987, S. 222 und passim.
56 Was mein eigenes Gesicht verrät, kann ich nicht wissen: Ich lege mir keinen Gesichtsausdruck zu,
auch wenn ich, zu gewissem Grade, wie jedermann eine Maske trage, mich hinter allzu starren
Zügen zu verstecken oder zu kontrollieren trachte, meine Brauen possenhaft hebe oder ironisch
meine Stirn in Falten lege. Aber bei aller bewußten Verstellung entzieht sich stets etwas der
Kontrolle, ziehen vielleicht die unterschiedlichsten Ausdrücke durch mein Gesicht, die einem
anderen nicht nur etwas zu verstehen geben wollen, sondern vor allem unwillkürlich preisgeben,
was ich weder sehen noch mir vorstellen kann: Niemals vermag ich mich so zu betrachten, wie
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 65

wir so unser Antlitz gemäß irgendeiner Absicht zurechtzubiegen, einen bestimm-


ten Charakter aufzusetzen, ihm eine Note verleihen, auch wenn wir uns zu ver-
stecken oder zu verstellen trachten: Wir haben uns nie vollkommen unter Kon-
trolle, auch dann nicht, wenn wir einen besonderen Ausdruck heucheln oder vor-
geben, etwas anderes auszudtücken: Immer zeigen wir auf uns zurück, wie die
»Spur«, die entsteht, wenn alle Spuren verwischt werden.
Das bedeutet: die Leiblichkeit hintetläßt im Vollzug ihrer Gebärdung ihre je
eigene »Spur«. Es wäre die »spurlose Spur« eines Sichzeigens. Wiederum ließe sie
sich nur paradoxal fassen: Als eine nichtartikulierte Spur, die sich selbst noch da
einbehält, wo alle Artikulation aufgehört hat. Das Paradox einer solchen »spurlo-
sen Spur« wird uns durch die ganze Untersuchung begleiten: Es handelt sich
nicht um »etwas«, das sich abgedrückt hat, eine »Furche« oder »Falte« im Sinne
Jacques Derridas; weder verweist sie auf etwas, noch will sie etwas sagen: sie zeigt
sich durch einen Nachhall, durch ein Nichtaufgehendes oder eine Störung. Sie
kann darum auch nicht der Psychologie einer Person oder den Systemen kultu-
reller Codierung zugeschlagen werden; vielmehr gewinnt hier das Zeigen eine
selbstbezügliche Struktur, führt durch die Intentionalität des Ausdrucks hindurch
auf die Gegenwart des Zeigenden zurück — nicht als dessen Subjekt: Wir sind nicht
der Täter unseres Antlitzes, sondern als ein Erscheinen, das auf immer unentzif-
ferbar bleibt: Erscheinung einer unvergleichlichen Präsenz als Riß im Symbolischen.
Nirgends ausmachbar, noch auf die Bestimmtheit eines etwas oder eines Aktes
verwiesen, durchbricht er die Absicht: Er »gibt (sich)«, jenseits aller Intentionali-
tät, als Ereignis eines reinen Sichzeigens. Der Differenz zwischen Sichzeigen und et-
was zeigen ist so die Unterscheidung zwischen Intentionalität und Nicht-
Intentionalität, Sinn und Ereignis immanent. Dieses geht jenem vorweg: Das in-
tentionale Zeigen geschieht allererst auf der Basis solchen Sichzeigens; daher wur-
zelt alles besondere Zeigen in der Reflexivität des Selbstverweises, der gleichwohl
für den Zeigenden beständig uneinholbar im Rücken bleibt. Anders gesagt: Dem
Etwas-zeigen geht solches Sichzeigen vorweg, nicht im Sinne zeitlicher Vorgän-
gigkeit, sondern im Sinne eines Implikationsverhältnisses, einer logischen Relati-
on, ohne daß dabei das »Sich« wiederum in einem »Selbst« verortenbar wäre, das
es anzeigte.

andere mich wahrnehmen, und erstaunt registriere ich das, was andere über mich zu erkennen
glauben. So gehört mitunter der Eindruck der anderen zu den schmerzlichsten Erfahrungen, de-
nen wir ausgesetzt sind.
57 Dieser Begriff von »Spur« im Sinne des Paradox eines nicht verweisenden Abdrucks ähnelt in ge-
wisser Hinsicht dem Begriff der »Doppelbelichtung« bei Emmanuel Levinas: »Die authentische
Spur (...) ist eine Doppelbelichtung. Ihr ursprüngliches Bedeuten zeichnet sich ab in dem Ab-
druck dessen, der seine Spur hat auslöschen wollen (...). Wer Spuren macht, indem er seine Spur
hat auslöschen wollen, hat mit den Spuren (...) nichts sagen oder tun wollen. Er hat die Ord-
nung auf irreparable Weise gestört.« Ders., Die Spur des Anderen, a.a.O., S. 231.
66 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Körperschnitte

Offenbar geschieht solches Sichzeigen selbst zeichenlos. Wie aber von ihm Kunde
erlangen? Muß nicht zumindest ein Tableau, eine Formation angenommen wer-
den, in der, was wir suchen, sich abzeichnet; eine Struktur, die als Bedingung
dem noch vorausgeht, was, ohne im eigentlichen Sinne Zeichen zu sein, hervor-
tritt? Es liegt an dieser Stelle nahe, den Faden unserer Fragestellung von neuem
und von einem anderen Ort her aufzuwickeln. Denn offenbar bleibt der Aus-
druck, sei er das Zeichen eines Gefühls, einer Intention oder einer besonderen
leiblichen Prägung an die Präsenz des Körpers gebunden, und zwar so, daß diese
selbst nirgends markiert wäre oder »als etwas« bestimmbar erschiene. Der Befund
weist somit auf eine Schicht, die sich begrifflicher Vereinnahmung sperrt, die
darum ereignishaft zurückbleibt und als dieses, als Einzigartigkeit eines Geschehens
in sämtliche Formen symbolischer Entäußerung hineinspielt. Gleichwohl ist da-
mit die Zurichtung der Leiblichkeit selber, ihre erlittene Spur einer »Abrichtung«
oder Disziplinierung noch nicht tangiert. Vielmehr könnte, was wir als ein Sich-
zeigen geltend gemacht haben, auf einer Strukturalität von »Bahnungen« beruhen,
die dem Leib als eine unverbrüchliche Gedächtnisschrift imprägniert ist, die tiefer
reicht als die Ordnungen des Unbewußten und selbst noch ihr Erscheinen deter-
minierte. Was sich dann zeigte, offenbarte sich von dort her, so daß sich, hinter
der Sprache des Ausdrucks eine weiter subtilere erraten ließe, die zudem weit
schwieriger zu entziffern wäre, weil sie diese erst bedingte. Mithin, was die Leib-
lichkeit wäre oder sein könnte, zeigte sich erst bei deten Gelegenheit: Es gäbe
keine Unschuld des Ereignisses, keine unmittelbare Gegenwart, die nicht schon
ins Korsett ihrer Erinnerungen gezwängt und darin immer schon geschnitten,
gefestigt, ausgerichtet und konturiert wäre.
Die Frage rührt an die komplexe Beziehung zwischen Verkörperung und Ein-
leibung, jenem Spiel also, das den Raum absteckt zwischen dem, was sich dem
Leib einerseits durch die Geschichte seiner Erziehung eingeschrieben hat und was
dieser andererseits zu »geben« vermag. Variiert wird auf diese Weise das schwieri-
ge und schmerzvolle Verhältnis von Kindheit und Zivilisationsgewalt. Was sich
am Ausdruck als unbeherrschbar erweist, wäre dann weit eindringlicher durch die
Maßnahmen kultureller Dressur gebändigt als es zunächst den Anschein hätte:
Nachhaltige Formen einer Sanktionierung, über die nicht bewußt verfügt werden
kann, die sogar der subjektiven Reflexion entgehen, die gleichwohl ihre Marken
und Kennzeichen in dem hinterlassen haben, was unsere Haltung und Verhalten
ausmacht. Sie scheinen den Weisen des Zeigens und Vorführern, aber auch den
Manövern ihrer Durchkreuzung, ihrer Rücknahme oder Verschiebung zueigen zu
sein. So wären unsere Überlegungen erneut aufzunehmen, diesmal nicht von der
Seite des Zeigens und Sichzeigens her, sondern von jenen biographischen und
kulturellen Disziplinarordnungen aus, die sich gleichsam in die Oberfläche der
Haut eingeritzt haben, ohne etwas zu meinen, preiszugeben oder offenbaren zu
wollen: Unwillkürliche Spuren des Leids, der erdrosselten Hoffnung, unter-
drückter Triebe oder zu-fälliger Schicksalsschläge, aber auch der Prozeduren ge-
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 67

seilschaftlicher Ermächtigung, die ihren Adressaten bis in die Leiblichkeit hinein


Identität als Stigma erfahren lassen. Nirgends fügen sie sich einer codifizierbaren
Schrift, auch wenn die Psychoanalyse den Manifestationen seelischer Verzerrung
noch bis in die unbewußten Artikulationen det Leiblichkeit nachspüren wollte.
Was immer sich derart im Körperlichen »eingeleibt« haben mag, seien es grundlo-
se Zurückweisungen oder die Schmerzen einer psychischen Verwundung, die sich
— mehr noch als der Glanz des Glücks oder die Fülle des Begehrens — in die Fal-
tungen des Gesichts eingedrückt haben, oder die schonungslosen Unterwerfun-
gen, an denen die Körper ihren kulturellen Gehorsam erleiden, wie sie Michel
Foucault, dem Beispiel der Strafkolonie Franz Kafkas folgend, in bezug auf die
Sexualität und die Institutionen des Wissens beschrieben hat; sie alle dokumen-
tieren Leibgedächtnisse, die sich gleichsam als Metatexte den Körpern inskribiert
und auf ihr Wundmale und Narben hinterlassen haben. Sie wären als Körperbe-
schrifiungen zu charakterisieren, die ihre Zäsuren und Schnitte gleichsam auf der
Leiboberfläche präsentieren und sich mit jeder Bewegung, jedem besonderen Aus-
druck oder jeder Bewegung, seien sie intendiert oder unwillkürlich, mitzeigen:
Siegel einer Sozialisation, die das Schicksal ihrer Sanktionen leibhaft eingraviert
hat und an denen eine Gewaltsamkeit ablesbar wird, die sich ebenso offenbart wie
verbirgt. Entsprechend hat Pierre Bourdieu darauf hingewiesen, daß alle überlie-
ferten Gesellschaften die Praktik der Tortur angewandt haben, um den Kötpern
ihr Regime aufzuzwingen und unverbrüchliche Erinnerungen festzuschreiben.
Dies gilt vor allem für den Initiationsritus: Je schmerzhafter er ausfällt, desto fe-
ster das Band mit den sozialen und kulturellen Institutionen, desto bestimmter
die Strukturen der Gewohnheit, die normierende Kraft der Gesetze, die Aner-
kennung der Autoritäten, die sich buchstäblich »leibhaft« verankert haben. Sie
bestimmen das, was Bourdieu den »Habitus« genannt hat, die eingekörperte Ge-
sellschaft.
Das Dogma der Authentizität, das dem Ausdruck die Unmittelbarkeit einer
»Unschuld« zuschreibt, wäre demnach abzuweisen. Ihm gegenüber dekuvriert
sich eine »Spurenschrift« des Leibes, die sich unterhalb der expliziten »Körper-
sprache« und ihren Ausdrucksformen entdeckt und diese richtet. Es gibt keinen

58 Auf die gewaltsamen Prozeduren der Sozialisation haben, auf unterschiedlichen Wegen, vor allem
Michel Foucault sowie Gilles Deleuze und Felix Guattari bestanden: Foucault von den Systemen
gesellschaftlicher Disziplinierung und Macht her, Deleuze und Guattari von der Psychoanalyse
aus. Vgl. exemplarisch: Michel Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in: ders., Von der Subver-
sion des Wissens, München 1974, S. 32-53; ders., Dispositive der Macht, a.a.O., bes. S. 104 ff;
sowie Gilles Deleuze und Felix Guattari, Anti-Ödipus, Frankfurt/M. 1974, bes. Tl II, III:
S. 65 ff, 177 ff. Am Beispiel Kants thematisieren die Disziplinierungsleistungen der Vernunft
wiederum Hartmut und Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1985, bes.
1. Kap. S. 50 ff, 7./8. Kap. S. 387 ff, 410 ff, 434 ff.
59 Vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frank-
furt/M, Berlin, Wien 1976, ders., Mikrophysik der Macht, Über Strafjustiz, Psychiatrie und Me-
dizin, Berlin 1976 sowie ders., Sexualität und Wahrheit, 3 Bde. Frankfurt/M. 1977, 1986.
60 Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt Sprechen. Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien
1990, vor allem Kap. 2: Einsetzungsriten, S. 84 ff.
68 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

natürlichen Ausdruck, der uns gewissermaßen unschuldig innewohnte; wir kön-


nen nichts darstellen ohne die Überformungen des Darstellbaren, nichts »perfor-
mieren« ohne Zurichtung der Performanzen, die sich zuvor in den Leib eingeritzt
haben und deren untilgbare Spuren sich bis in die Haut hinein verfolgen lassen.
Sie schreiben eine »Geschichte der Körper«,' wie sie an Bildern oder alten Photo-
graphien sichtbar wird, die merkwürdigen Formen der »Gesetztheit«, det vor-
zeigten Alterung, der Melancholie einer Reife, die heutigen Betrachtern, vom Fe-
tischismus der Jugend gezeichnet, den Abstand der Zeiten bis in die Stellung der
Leiblichkeit hinein deutlich werden lassen. Die Formen solcher Selbstpräsenz be-
zeugten die »Richtung« des Zeigens, nicht nur im Sinne der »Orientierung«, son-
dern zugleich der »Fixierung«, der Fesselung, die der Intentionalität des Etwas-
Zeigen vorausgeht und sie konstituiert. Die Rede von deren metatextueller
Skriptur privilegiert dann die Perspektive einer »Zeichnung«, die sich je schon
manifestiert hat, noch bevor sich überhaupt »etwas« zeigen kann. Daß eine
Handlung vollzogen wird, eine Gebärde etwas zu verstehen zu geben sucht, un-
tersteht ihrer Vorgängigkeit und stattet jegliches gestische Theater mit der Note
einer unabweisbaren Nachträglichkeit aus. D.h. ihre Artikulation geschieht auf
dem Boden einer je schon bestehenden ArtikuliertA«>. »Etwas« muß »da« sein,
um angeschlagen zu werden: eine Struktur, die das Spiel des Ausdrucks und der
Gebärdung, gleichwie die Weisen des Sich-gebens, der Selbstdarstellung sich ent-
falten läßt. Somit unterläge die Leiblichkeit den Siegeln einer vorgängigen
Strukturalität. Sie verweigert dem, was wir als Ereignis eines Sichzeigens exponiert
haben, jede Ortschaft. Zweifellos gleicht der Körper zuweilen einem »Schlacht-
feld«, wie bereits Charles Baudelaire gesagt hat, an dem sich die Male mühsamer
Beherrschung und Unterdrückung ablesen lassen, die die Vorstellung seiner frei-
en Verfügbarkeit unablässig konterkarieren; dennoch erscheint er niemals zur
Gänze zurichtbar. Aus ihm ein Gefängnis machen, das nicht anders kann, als sei-
ne eingeschriebenen Exerzitien zu reproduzieren, wirkt in seiner Unentrinnbar-
keit fatal; doch widersetzt sich die kritische Perspektive umgekehrt dem Phan-
tasma leiblicher Souveränität. Dennoch ko'nzidiert sie umgekehrt auf eigentümli-
che Weise mit einem Konstruktionalismus, der, ausgehend von metonymischen
Strategien der Transgression eine weitreichende Umbesetzung der Leibschriften
behauptet. Partizipiert diese am Fatum auswegloser Zurichtung, nährt jene die
Illusion einer Regierbarkeit der Zeichen, sei es als Neulektüre oder als Politik der
Performanz wie bei Judith Butler,' die eine Transkribierung des differentiellen
Feldes vorzunehmen sucht: Sprung von der kulturellen Konstruktion als erlittene
Passivität zur Wowsximexbarkeit im Sinne eines aktiven Prozesses, deren praktische

61 Vgl. dazu auch Dietmar Kamper, Zur Soziologie der Imagination, München 1986, bes. S. 147 ff.
62 Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1991, ferner auch: Donna
Haraway, Anspruchsloser Zeuge Zweites Jahrtausend. FrauMann trifft OncoMouse, in: Elvira
Scheich (Hsg.), Vermittelte Weiblichkeit, Hamburg 1996, S. 347-389. Eine Kritik des Butlet-
schen Konstruktivismus gibt u.a. Hilge Landweer, Generativität und Geschlecht, in: Theresa
Wobbe, Gesa Lindemann (Hsg.), Denkachsen. Zur theoretischen und institutionellen Rede vom
Geschlecht, Frankfurt/M. 1994, S. 147-176.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 69

Verfügung jedoch durch nichts gesichert werden kann. Das Vorurteil und die
theoretische Ungenauigkeit bestehen hier darin, den Leib als soziales Codierungs-
system zu verstehen, deren Markierungen sich ebenso entwirren wie verschieben
lassen, als ob sich dessen anderswo vorfindliche Materialität beliebig und ohne
Widerstand überschreiben ließe.
Demgegenüber kommt dem Ereignis der Leiblichkeit eine eigene Kraft zu, die
der Gefangenschaft ihrer präformierten Ordnung im Wortsinne ent-springt. Sol-
ches Entspringen geschieht doppelsinnig: Es geht aus ihr hervor, wie es der
Struktur des Symbolischen umgekehrt entgeht. Zwar sind den Körpern im Laufe
ihrer individuellen wie sozialen Geschichte mannigfache Versehrungen und
Schnitte zugefügt worden, gleichwohl gehen sie in keinem System der Zeichnung
oder Repräsentation vollständig auf: Sie entziehen sich. Dies erhellt sich schon
daraus, daß der eigene Leib nie nur als determinierende Struktur, als Schrift er-
fahren wird. Weder fügt er sich einem natürlichen Symbolismus noch den Insi-
gnien kultureller Einschreibung, auch wenn die Dressur unleugbar zur sozialen
Existenz gehört. Dies zeigt sich vielleicht wiederum am Eindringlichsten in der
Auflösung, dort, wo die Körpergrenzen randlos verschwimmen, bei extremen
Schmerz oder Krankheit. Das ist vor allem von Folteropfern berichtet worden,
wo der Leib derart versehrt oder verstümmelt wurde, daß nicht nur eine Ver-
sprachlichung versagt, sondern Konturen überhaupt zerfließen. Dem entspricht
die Unartikuliertheit der ungehemmten Entladung im Schrei: nur noch Laut,
kein Zeichen, keine Bedeutung, nicht einmal mehr das Rudiment einer Sprache.
Nichts erinnert mehr an Kultivierung, an die Bürde der Zivilisation, vielmehr
gleicht der Körper selbst einer Überflüssigkeit, einer hassenswerten Last, der es zu
entkommen oder die es abzuwerfen gilt: Vetletzung, die, Darstellungen zufolge,
wie sie Kate Millett gesammelt hat, nicht nur die Zersetzung der eigenen Aus-
drucksmöglichkeit besorgt, sondern gleichzeitig jeder sprachlichen Beschrei-
bungsfähigkeit, die Gedächtnis gestattete. Zwar scheint die Gedächtnisleistung
mit der Sublimation des Schmerzes zusammenzuhängen, doch gibt es einen Grad
von Unerträglichkeit, worin Gelerntes oder »Einverleibtes« keine Rolle mehr
spielt, sondern alle Aufmerksamkeit allein gerichtet bleibt auf die Singularität des
Schmerzes, dem jegliche Kategorie fehlt, der selbst seine Wahrnehmung nicht
mehr erlaubt, vielmehr sich jeder Empfindung um so mehr widersetzt, je absolu-
ter er wird. Die Folter bezeichnet dann die äußerste Grenze, da der Körper sein

63 Auf den unauflösbaren Rest in der Beschreibung der Leiblichkeit, das »Unthematisch-Bleiben«,
das schon darin liegt, daß das Schreiben oder Analysieren des Körpers mit dem eigenen Körper
schieht, d.h. performiert werden muß - darauf hebt insbesondere auch Bernhard Waidenfels in
seinen Analysen ab: Der Leib, der wir selbst sind, »widersetzt sich der Eingemeindung in eine
durchgängige Sinn-, Regel- oder Kausalsphäre«; vgl. ders, Sinnesschwellen. Studien zur Phäno-
menologie des Fremden 3, Frankfurt/M. 1999, S. 12; sowie S. 31 f., S. 50 ff.
64 Vgl. Elaine Scarry, Der Körper im Schmerz. Die Chiffren der Verletzung und die Erfindung der
Kultur, Frankfurt/M. 1992. Daß sich Schmerz ebenso der gesellschaftlichen wie diskursiven
Deutungs- und Verfügungsmacht entzieht, dazu Richard Sennett, Fleisch und Stein. Det Körper
und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt/M. 1997, S. 463 f.
65 Vgl. Kate Millett, Entmenschlicht, Hamburg 1993.
70 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Schema verliert und in die reine Materialität seines Fleisches überzugehen


scheint.
So existiert ein Sichzeigen, das weder Ausdruck noch Inschrift ist, das nicht be-
deutet oder eine Kerbung bildet, dessen Bekundung sich nur indirekt einstellt:
Ereignis einer Präsenz durch die Zeichen und ihre Materialität hindurch: als Wei-
se eines In-Erscheinung-tretens, einer Blöße. Ihr haftet eine Frivolität an, wie die
reine Erscheinung der Oberfläche, der Materialität stets obszön wirkt."' Es gibt
daher den Leib ohne Blöße, so wie es eine Nacktheit ohne Blöße geben kann: Sie
entbehrt der Scham, der Attraktion, der Herausforderung; sie löst kein Verlangen
oder Betroffenheit aus, auch nicht Verletzung: sie tangiert nicht, sie läßt kalt. Das
enthüllt sich besonders dann, wenn die Körper nicht als Objekte einer Lust inter-
essieren, sondern als »rohes« Fleisch: Exzesse, die eine Leidenschaft entfesselt, die
nicht, wie in den Registern der Verführung, deren kaum merkbare Botschaften
zu entziffern und zu erwidern trachtet, sondern sie zur Stätte einer unge-
schminkten Gewalt werden läßt.' Das pure Erscheinen, Anwesenheit des »Daß«,
wie wir es im Rückstand der Inskriptionen noch auszumachen suchen, ist an die-
se Eigentümlichkeit der Blöße geknüpft; doch ist, was sie sein könnte, zunächst
nur negativ markierbar: abwesende Anwesenheit, ohne die sich die Zeichen,
gleich ob es sich um Symbole, Texturen oder Schriftzüge handelt, nicht zeigen
könnten: Paradoxalität einer Spur ohne Spur, absent in ihrer Bestimmtheit, aber
gegenwärtig in ihrer Undarstellbarkeit - wie das Fehlen, das nicht eine Stelle be-
setzt, sondern gerade dadurch spürbar wird, daß zwar alles an seinem Platz ist,
aber die Bedeutungen durch etwas, was vormals da war, unmerklich verschoben
zu sein scheinen. Ihm käme nicht eigentlich eine Signifikanz zu, weil nichts auf
es verwiese; dennoch erscheint es seiend in seiner Absenz, seiner A-Präsenz, ohne
benennbar zu sein. Das hieße freilich, es als Nichtidentität (Adorno) oder Diffe-
renz zu fassen: »Corps perdu«' oder »Reserve« einer Leiblichkeit, die sich aus-
setzt, sowohl als Begriff als auch als Rätsel, als Chiffre oder sogar als Mysterium.
Das Sichzeigen hält sich dann in dem, was es ist, zurück. Dabei nennt die Me-
tapher der »Reserve«, wie sie sich gleichermaßen bei Derrida und bei Judith But-

66 »Aus nächster Nähe betrachtet, gleichen sich alle Körper und Gesichter. Die Großaufnahme eines
Gesichts ist ebenso obszön wie ein von nahe beobachtetes Geschlechtsteil. Es ist ein Geschlechts-
teil. Jedes Bild, jede Form, jedes Körperteil, das man aus der Nähe besieht, ist ein Geschlechtsteil.
Der Promiskuität des Details und der Vergrößerung des Zooms haftet eine sexuelle Prägung an«,
heißt es treffend bei Jean Baudrillard. Videowelt und fraktales Subjekt, in: Karlheinz Barck, Peter
Gente et al. (Hsg.), Aisthesis, a.a.O., S. 252-264, hier: S. 254.
67 Solche Grenzüberschreitung, die mit sexueller Gewalt korrespondiert, bekundet die unmittelbare
Assoziation von Sexualität und Fleisch, wie sie sich in den verschiedensten Sprachen findet: Ein
»Stück Fleisch« war früher ein Ausdruck für die Prostituierte, das Bordell ein »Fleischhaus«,
»Fleischbeschau« ein Ausdruck für die Zurschaustellung und Betrachtung des weiblichen Kör-
pers. Vgl. dazu Nick Fiddes, Fleisch. Symbol der Macht, Frankfurt/M. 1993, S. 178 f.
68 Wir erfahren Vergleichbares, wenn wir plötzlich einer Liebe entrissen werden: Nichts ist verän-
dert, aber alles erscheint seltsam schattenhaft, affiziert von der Lücke, die zurückbleibt. Dann
geht zuweilen auch auf, was wir als »Blöße« bezeichnet haben: Den einstmals berührten Dingen
kommt keine Bedeutung mehr zu: Sie stehen da, nackt und verloren.
69 Vgl. dazu Jean-Luc Nancy, Corpus, Paris 1992, p. 9.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 71

ler findet, den Entzug ebenso wie die Möglichkeit der Produktivität des Leibes,
sich in immer neuen Bildern und Figuren zu »ver-körpern«. Trotzdem bleibt
darin das Leibliche des Leibes ständig verdeckt. Dessen Gegenwart wäre leer, weil
jede Bestimmung oder Auszeichnung sich bereits der Zeichen, des Diskurses oder
einer Erfahrung bedienen müßte, die sie sanktionierte und damit als solche wie-
der aufgelöst hätte. Das Denken gleichwie die Sprache gebieten den Abstand, die
Unterscheidung, die Aufhebung der Nähe, die das Ereignis ein für allemal zerstö-
ren würde. Dann führt das Erscheinen der Leiblichkeit auf eine seltsame Aporie:
Wollte man es benennen, verflüchtigte es sich, wollte man es in seinem Sichzeigen
festhalten, hätte man es bereits verloren, glaubte man, es durch die Anstrengun-
gen der Interpretation, wie offen auch immer, hervorholen zu können, kehrten
seine Geheimnisse in neuer Gestalt zurück. D.h. das Sichzeigende erweist sich stets
als das Sichverweigernde. Und doch behält es sich nicht ganz in der Negativität: Es
reicht über den Begriff der »Reserve« hinaus, weist über seine leere Gegenwart in
die Präsenz als Fülle. Ihm kommt eine positive Kraft zu. Vorzugsweise scheint sie
da auf, wo die Leiblichkeit direkt angeht, wo wir für den Anderen, seine physi-
sche Gegenwart, seine Stimme oder die Gravität seiner Bewegungen empfänglich
werden, etwa wenn sie für Störungen oder Unterbrechungen sorgen, Provokatio-
nen und Verwirrungen auslösen oder in Bedrängnis führen. Vielleicht tritt sie so-
gar dort am Deutlichsten hervor, wo sich eine Hemmnis gegen den Anderen regt
und die Anwesenheit des Körperlichen unerträglich wird und in plötzliche Ab-
scheu umschlägt, die nicht selten mit Lust vermischt ist - wie es eindringlich in
der Malerei Lucian Freuds oder Francis Bacons sichtbar wird. Die Präsenz hat
darin ihre physische Brisanz: Sie ergreift uns, wird unausweichlich oder sogar be-
drohlich, ob wir uns ihrer Empfindung stellen oder nicht. »Vor aller Bedeutung
steht ein In-Erscheinung-treten selbst«, hat Karl Heinz Bohrer erläutert. Im Ge-
gensatz zur Sprache bürgt deshalb das Sichzeigen für sich selbst. Seit je erscheint
das Symbolische mit dem Mißtrauen gegen den in der Re-Präsentation liegenden
Verrat an der Authentizität der Dinge affiziert, der der Definition des Zeichens,
seiner Funktion als »Stellvertretung« zugrunde liegt. Und seit je berührten sich
seine Rätsel mit der Frage nach der Möglichkeit seiner »Wahrheit«, der Entspre-
chung mit jener Wirklichkeit, die es abzubilden oder zu bezeichnen vorgibt. Das

70 Ausschlußreich dazu David Sylvester, Gespräche mit Francis Bacon, München 1982, exempla-
risch die Passage über Schrei und Entsetzen: »Tatsächlich aber wollte ich mehr den Schrei ma-
chen als das Entsetzen.« Ebenda, S. 42, auch: S. 35 ff
71 Karl Heinz Bohrer, Die Grenzen des Ästhetischen, München Wien 1998, S. 154.
72 Das Sprach- und Zeichenproblem der Antike stellte sich entsptechend von Anfang an aus dem
Gegensatz zwischen der sprachverfaßten doxa, der »Auffassung« oder »Meinung« der »Vielen«, die
immer schon an der Macht und Möglichkeit der Täuschung partizipierte, und dem »Wahren«,
das gleichwohl jenseits der Sprache zu verankern war. Selbst die Semiotik bleibt, trotz aller Aus-
löschung der Referenz, von dieser Gegensetzung affiziert: Riß zwischen der Erinnerung als Spu-
renschrift des Bewußtseins und der Unmittelbarkeit des Erlebten. Einen literarischen Nachhall
findet sich, vom Schlußsatz her intetpretiert, insbesondere in Umberto Ecos Name der Rose,
München Wien 24. Aufl. 1983. Vgl. dazu meine Darstellung in D. Mersch, Umberto Eco zur
Einführung, a.a.O., S. 23 ff.
72 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Sichzeigen aber ergeht unverfälscht; es ist da, ohne Tiefe oder Verborgenheit, an
der Oberfläche, seinem reinen Außen: Es ist in seinem »Daß« (quod) präsent. Ge-
rade deshalb entbehrt es eines Maßstabs, des präzisen Grundes oder Sinns: Es
kann weder auf die Richtigkeit einer Aussage noch auf die Angemessenheit einer
Deutung bezogen werden, und doch offenbart es sich in den aufgewiesenen
Empfindungen über seine bloße Negativität hinaus.
»Fast-nichts« (le Presque-rien), dennoch manifest, geht es freilich nicht darin
auf, weil jeder Empfindung stets noch eine explizite, wenn auch oft ungenaue
oder intuitive Emotion beigemengt ist: Kein Gefühl kommt umhin, sich nicht
zugleich »als« etwas zu fühlen. Unbestreitbar geben die Gefühle und ihre jeweilige
Gestimmtheit einen entscheidenden Wink; gleichwohl besteht die Schwierigkeit
darin, daß weder sie noch die Unmittelbarkeit elementarer »Eindrücklichkeiten«
die reine Phänomenalität der Leiblichkeit aufzudecken vermögen. Und selbst da,
wo wir glauben, ihr am nächsten zu sein, präsentiert sie sich am Entferntesten
und die Nähe, der sich das »Spüren« zu öffnen sucht, verblaßt, da doch das Sich-
spüren niemals »weiß«, was es spürt: Es wäre bewußtlose Befindlichkeit, die sich
in den Labyrinthen seines elementaren Empfindens verirrte. Das Sichzeigen des
Leibes wäre dann nicht lokalisierbar in dem, was an ihm direkt erfahrbar ist; es
entzieht sich im Augenblick seines Auftauchens: Es ist die Weise seines Ver-
schwindens, das den Hintergrund der Offenbarkeit ausmacht, auf dem das Ereig-
nis seiner Präsenz statthaben kann. Die Gefühle oder Erfahrungen lenken so be-
stenfalls die Aufmerksamkeit oder führen auf einen Weg; dennoch sind nicht die-
se selbst oder was sie evozieren maßgeblich, sondern die Momente, in denen sich
jene seltsame Paradoxalität einstellt, in der sich das Sichzeigen durchweg hält:
Nichtzeigen im Zeigen, das gerade dadurch zeigt, wie es an den Spuren verwischter
Spur oder den Beispielen der Müdigkeit, der Andersheit des Anderen in der Be-
gegnung mit dem Antlitz oder auch der Ungreifbarkeit des Alterns bei Levinas
angedeutet wurde, wie es gleichermaßen in der Persona, der Maske zum Vor-
schein kommt, mit det wir unser eigenes zu verhüllen trachten und die ebenso
verschlossen wie offenbar ist: Verborgen in der Entbergung und entborgen in der
Verborgenheit, wie ebenfalls in jenem »metaphysisch« zu nennenden Ekel, von

73 Vgl. Vladimir Jankelevitch, Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien: La manie>e et L'Occasion, Paris


1981.
74 Vgl. insb. Gernot Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a.a.O., vor allem Kap. 7
und 8, S. 113—138; desgleichen neuerdings Ulrich Pothast, Lebendige Vernünftigkeit, Frank-
furt/M. 1998. In einem weitreichenden Versuch hat außerdem Hermann Schmitz versucht, det
Unmittelbarkeit leiblicher Erfahrung anhand der »leiblichen Kommunikation«, den vielsagenden
»Eindrücken« der körperlichen Anwesenheit nachzugehen. Der Versuch gibt viele Hinweise auf
vorbewußte Erfahrungsstrukturen des Leibes, der unmittelbaren leiblichen Betroffenheit, aus der
sich allererst Bewußtheit abhebt; indessen changiert er m.E. zwischen einem Zuviel und Zuwenig
an diskursiver Klassifikation. Vgl. besonders H. Schmitz, System der Philosophie, 5 Bde in 10
Büchern, Bonn 1964-1980, Bd. III, 5; Die Wahrnehmung § 242; Bonn 1978; sowie ders., Der
unerschöpfliche Gegenstand, a.a.O. Kap. 3.2: Leibliche Kommunikation, S. 135—140. Zur Kritik
vgl. Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen, a.a.O., S. 46 f. sowie meine Stellungnahme in:
I.Bteuer, P. Leusch, D. Mersch, Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, 3 Bde.,
Bd. 1, Hamburg 1996, S. 195-208, bes. S. 199 ff.
AUSDRUCK UND KÖRPERSPRACHE 73

dem Sartre gesagt hat, er berge die unerträgliche Aufdringlichkeit des Seienden,
die seine gleichzeitige Unwidetstehlichkeit ausmacht.
Hier schon vom Auftauchen der Leiblichkeit in ihrer eigentlichen Phänome-
nalität zu sprechen, zu der ein reflektierendes Empfinden vorzudringen imstande
sei, wäre zuviel; doch ausschließlich von der Negativität der Reserve zu reden,
zuwenig. Was daher die Metapher der Reserve einbüßt und was der bloße Hin-
weis auf ihre Negativität vergißt, ist die eigentümliche Ekstasis des Leibes: sein
Überschuß im Erscheinen. ' Das Wort »Ekstasis« spricht dabei im buchstäblichen
Sinn das In-Erscheinung-treten selbst oder das Aus-sich-heraus-stehen an, das
sich von sich her ereignet und nicht in anderem gründet oder ihm zugewiesen
werden kann: Transzendenz des Gegebenen, die der Nähe, der Gegenwart in sei-
ner Gegenwärtigkeit entspringt. Ihre Bezeichnung gelingt sowenig wie ihre Do-
mestikation, weil sie nirgends auf die Strukturen der Intentionalität oder die Pro-
zeduren der Macht reduzierbar wären, ohne noch darin als ihr Anderes hervorzu-
treten. Im wesentlichen durch die Paradoxa des Sichzeigens im Nichtzeigen be-
zeugt, denen sie ihre Entdeckung verdankt, bedarf sie weder der diskursiven noch
der emotionalen Beglaubigung: sie beglaubigt sich selbst. So bricht inmitten der
Materialität der Zeichen eine Kluft oder Lücke auf, auf die sich eben deshalb
nicht wieder hindeuten läßt, weil ihr die Zeichen fehlen, und die gleichwohl die
unverzichtbare Voraussetzung dafür bildet, daß überhaupt ein Sichzeigen
schieht. Vergleichbar der Andersheit schlechthin, ist sie nirgends habhaftbar zu
machen und dennoch eindringlich »zwischen« den Gebärden und Gesten oder
den Signifikanten kultureller Prägung gegenwärtig - als Plötzlichkeit eines
nens, durch die sie »zum Vorschein kommt«. So wäre, in bezug auf den Ausdruck

75 Jean Paul Sartre, Der Ekel, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 135 ff. Daß freilich auch der Ekel als
eines der heftigsten spontanen Affektionen in hohem Maße kulturell codiert ist, zeigt eindring-
lich die Studie von Winfried Mennighaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfin-
dung, Frankfurt/M. 1999.
76 Wir erinnern mit dem Ausdtuck der Ekstasis an die Philosophie des Unvordenklichen Schellings:
Das vor aller Begrifflichkeit rein Seiende im Sinne des »unvordenklichen Seins« entbirgt sich als
ein »absolut Ekstatisches«: Herausstehen des Seins im Sinne von Existenz, ohne daß damit bereits
»etwas« existierte: »Es kommt dem, was existiert, dem Existierenden selbst, zuvor, so daß dieses
gar nicht als Wesen gesetzt ist, sondern ganz ekstatisch, außer sich gesetzt, geradezu das Seiende
ist.« Vgl. Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 157 und
S. 167. Solche Ekstatik des Aus-sich-hervor-tretens weist zudem auf eine Tradition, die zum Be-
griff des »Ereignisses« - im Sinne des »Eräugens« - und dem der »Inständigkeit« bei Heidegger
führt, vor allem entwickelt anhand des Kunstwerks als einem »Insichselbststehenden«; vgl. ders.,
Der Ursprung des Kunstwetks, Stuttgart, 1960, S. 38 f., sowie ders., Der Satz der Identität,
a.a.O., S. 24 f. Einen entsprechenden interpretatorischen Wink gibt darüber hinaus Hans-Georg
Gadamer, Heideggers Wege, Tübingen 1983, S. 81 ff, S. 160 f. (=Gesammelte Werke Bd. 3,
S. 175 ff) Der Begriff der Ekstasis findet sich darüber hinaus an prominenter Stelle auch in der
Naturphilosophie Gernot Böhmes, dort auf mannigfache Weise als »Leibekstasen« oder »Dingek-
stasen« ausgewiesen. Sie gelten auch für die Kunst. Mit ihnen werden keine Eigenschaften be-
nannt, vielmehr gehen sie unmittelbar an, ohne des Umwegs der Sprache zu bedürfen. Vgl. ders.,
Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik, in: ders., Atmosphäre a.a.O., S. 21-48; hier:
S. 34 u. ders., Das Ding und seine Ekstasen, a.a.O., bes. S. 167 ff; ders., Ästhetische Naturer-
kenntnis, in: ders., Atmosphäre, a.a.O., S. 177-190, bes. S. 186 ff. sowie ders., Eine ästhetische
Theorie der Natur, a.a.O., bes. S. 125 ff.
74 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

und die sogenannte »Sprache der Körper«, gleichwie den Inskriptionen kultureller
Dressur die Reserve der Leiblichkeit allererst aus der Reserve zu locken: Verweis
auf jene Ekstatik des Leibes, die, ohne je Zeichen oder Ursprüngliches zu sein,
durch nichts anzeigbar, doch ebensowenig auslöschbar scheint und sich unabläs
sig ins Sagbare und Zeigbare des Ausdrucks mischt, um ihm in die Quere zu
kommen, ihn zu durchkreuzen oder gänzlich zu desavouieren.
2. KAPITEL:
WIRKUNG UND AURA DER KUNST

Wir müssen um Entschuldigung bitten, daß


wir wagen, von der Malerei zu sprechen.
Paul Valery

Illusion und Wirksamkeit

Eine antike Legende erzählt von den Trauben des Zeuxis, deren Abbildung so
vollkommen war, daß Vögel angelockt wurden, sie aufzupicken. Gewiß handelt
es sich lediglich um eine rhetorische Übertreibung, um das Wunder der mimesis
zu preisen; doch spricht die Erzählung, die in der Folge zum Topos avancierte,
zugleich von der Macht der Bildlichkeit. Das Mittelalter und die beginnende Neu-
zeit haben ihn gleich mehrfach aufgegriffen und nicht nur für die Malerei, son-
dern auch für die Statue wiederholt. In Dantes Divina Commedia findet sich die
Beschreibung eines Engels, »so lebenswahr geschnitzt (...), daß niemand ihn als
stummes Bildwerk dachte«; und Giorgio Vasari wird ähnliches über Leonardos
da Vincis Mona Lisa behaupten, deren »Mund (...) nicht wie gemalt (schien),
sondern in Wahrheit wie Fleisch und Blut; wer die Halsgrube aufmerksam be-
trachtete, sah das Schlagen der Pulse«~ - eine Formel, die schließlich so weit zum
Klischee depravierte, daß sie würdig wäre, in Gustav Flauberts Dictionnnaire des
idees recues aufgenommen zu werden. Doch worauf die hyperbolischen Figuren
sich im einzelnen auch immer richten mögen - die Genauigkeit der Ausführung,
die Perfektion der Technik, die Präzision der Farbgebung oder Linienführung:
Wesentlicher als das, was ein Bild darstellt oder nachzuahmen sucht, ist seine
Wirksamkeit. Nicht das Symbolische, sowenig wie das Deutbare oder die Textur
der Zeichen, aus der es besteht, auch nicht die Gelungenheit der Komposition,
ihre berückende Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit, die die Natur noch zu über-
treffen wagt, erscheinen maßgeblich, sondern die Effekte der Aisthesis und die Ai-
sthesis als Effekt.4

1 Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, übertragen und erläuten von Richard Boormann, in:
Dantes Werke Bd. 1, Leipzig o.D., Purgatorium X. Gesang, 37-39, S. 176.
2 Giorgio Vasari, Künstler der Renaissance, Leipzig 1940, S. 290-309, hier, S. 304.
3 Tatsächlich handelt es sich um die »Wirksamkeit« im allgemeinen, nicht um intentionale Wir-
kungen. Die »Wirksamkeit« schließt hingegen das nichtintentionale Wirken ein, das für uns in
bezug auf die Kunst im Vordergrund steht; vgl. zur Unterscheidung auch Francois Jullien, Über
die Wirksamkeit, Berlin 1999, bes. S. 145 ff.
4 In einem umfangreichen Versuch hat Wolfgang Welsch den aristotelischen Begriff der Aisthesis
aus der Dopplung von Wahrnehmung und Wahrgenommenwerden, wie sie vielleicht im deut-
schen Wort des »Anblicks« noch gegenwärtig ist, zu rekonstruieren versucht; vgl. ders., Aisthesis.
Grundzüge und Perspektive der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987,foes.S. 89 ff. Danach
76 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Man kann dies, kaum weniger metaphorisch als die Rede von der »Sprache der
Körper«, die »Erotik des Bildes« nennen: Struktur eines »piktoralen« Begehrens,
das ansichtig macht, um gesehen zu werden. Wir werden es in der »Aura« ent-
decken und zugleich das Moment des Auratischen, wie es bei Walter Benjamin
eingeführt wurde,' von Adorno und Roland Barthes her einer kritischen Revision
unterziehen, deren Konsequenz schließlich weit über das Benjaminsche Anliegen
hinausführt. Vor allem werden wir den Augenblick der Aura mit der Erfahrung
der »Ferne«, der Fremdheit verbinden, die mit einem Schlag die Gewebe des
Symbolischen zerreißt und unmittelbar angeht. Nicht das Sprechende eines Bil-
des ist dann für seine Wirksamkeit verantwortlich, sondern das Sichzeigende, jene
ur-j/>nü«gliche Phänomenalität, wie sie im Moment auratischer Gegenwart hervor-
springt. Zu unterscheiden wäre dann zwischen Bild als Sprache und Bild als Wir-
kung. Zwar scheint zunächst die spezifische Kraft der Bildlichkeit in der ihrer
besonderen Suggestibilität zu bestehen - darin entfaltet sie ihre eigentliche Äs-
thetik, ihre Mächtigkeit, womit vor allem die Kunst des Barock bis zur Virtuosi-
tät gespielt hat. Doch angelegt, um in die Sicht zu zwingen und den Blick zu fo-
kussieren, bediente diese sich vorzugsweise einer komplexen Rhetorik der Affekte,
die, unterschiedlichen Zwecke gehorchend, rühren, in Bann ziehen oder verfüh-
ren sollte. Gleichwohl entfacht das Rhetorische, über den Sinn der verwendeten
Topoi hinaus, eine eigene Lockung, wie sie im Gegensatz zwischen Diskurs und
Persuasion wurzelt, die, sowenig wie die Wirkung des Bildes, auf die Elemente
der Rede selbst reduziert werden kann. Entsprechend hat seit je die Magie der
Abbildung wie der Skulptur ebenso Bewunderung wie Angst oder Scheu ausge-
löst: Sie laden nicht nur ein, um betrachtet zu werden; sie drängen sich auf nöti-
gen, schmeicheln sich ein, wie es Roland Barthes gleichermaßen vom Mythischen
gesagt hat: Ihm eigne ein »Wille zur Besitzergreifung«; der Mythos »kommt zu
mir«, »sucht (...) mich: er ist mir zugewandt, ich erleide seine intentionale Kraft,
er mahnt mich, seine (expansive) Doppeldeutigkeit entgegenzunehmen«. Und
seit je hat diese Macht gleichermaßen die Gegenreaktion provoziert: Ikonoklastik
als Kriegführung oder Kulturkampf, oder Abwertung des Bildes gegenüber dem

geht die Betrachtung nicht in dem auf, was sie betrachtet; vielmehr sieht uns im Sehen selbst et-
was an. Auf den Bezug zum Benjaminschen Aura-Begriff der zentral aus dem Motiv des »erwi-
derten Blicks« zu verstehen ist, vgl. insb. dieses Kapitel weiter unten. Die Beziehung ist neuer-
dings auch in einem Versuch über die Kunst des Minimalismus von Georges Didi-Huberman
hergestellt worden; vgl. ders., Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes,
München 1999, sowie ferner in den Wahrnehmungstheorien von Bernhard Waldenfels, Sinnes-
schwellen, a.a.O., S. 121 ff, 124 ff. und Gernot Böhme, Eine ästhetische Theorie der Natur,
a.a.O., bes. S. 127 ff.
5 William J.T. Mitchell spricht hier, im Gegensatz zum rhetoric oder lingustic turn und in erklärter
Opposition zu diesen von einem pictorial turn; vgl. insbesondere Iconology, Image, Text, Ideolo-
gy, Chicago 1986.
6 Vor allem Walter Benjamin, Das Kunsrwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
in: ders., Gesammelte Schriften 1.2, Frankfurt/M. 1974, S. 471-508.
7 Vgl. auch Gernot Böhme, Theorie des Bildes, München 1999, S. 77 ff.
8 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964, S. 106 passim.
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 77

Diskursiven, dem Wort oder der Sprache, weil es täuscht, statt unverstellt die
Wahrheit zu sagen.
Keineswegs ist jedoch der Nimbus solcher Magie an die Vollkommenheit der
Imitation gebunden. An der Kunst des Mimetischen eingeübt, geht sie gleich-
wohl nirgends in ihr auf, wie die Kunst des 20. Jahrhunderts erhellt, die, jenseits
aller Figuration, das gleiche Faszinosum erregt, ja allererst deutlich macht, daß
deren Mysterien vom Realismus zu trennen sind. Seit Wassily Kandinsky und
der Abstrakten Malerei, mehr noch seit Dadaismus und Surrealismus, wird der
ästhetische Prozeß als »Poesie« verstanden, als ursprüngliche Dichtung. »Es gibt
Besseres zu tun im Leben als zu kopieren«, notierte Man Ray: »Ich bewundere die
Maler, die imitieren, um die berühmten Meisterwerke der Natur falsch zu verste-
hen. Ist es nicht diese ewige Manie zu imitieren, die den Menschen daran hin-
dert, Gott zu sein? (...) In der Nachahmung liegt die ganze Kunst, ihre Gesetze,
ihre Grenzen. Ich bevorzuge dagegen den Dichter.« Dem entsprechend erschei-
nen die Bilder, Objekte oder Assemblagen, wie sie Max Ernst, Kurt Schwitters,
Rene Magritte oder Man Ray und andere schufen, als genuine poetische Inszenie-
rungen jenseits von Abbildung und Realismus. Sie beruhen, vor allem bei letzte-
ren, auf der systematischen Erzeugung von sinnlichen Paradoxa. Insbesondere
Man Rays Objects ofMy Affection, an denen er in verschiedenen Phasen seines Le-
bens gearbeitet hat, erweisen sich als »anschauliche Rätsel« — so Cadeau (1921—
1974), ein mit Polsternägeln verfremdetes Bügeleisen, oder Perpetual Motif
(1923-1971), ein mit einem Auge ausgestattetes Metronom: Unmögliche
Gegenstände, die zu träumen scheinen und deren Ver-Rücktheiten sich jeder
Deutung oder naturwissenschaftlichen Erklärung sperren. Sie funktionieren als
ästhetische Exemplifikationen von Ironie: Metaphern in der buchstäblichen
Bedeutung von meta-phora, ihres Kontextes beraubt oder wörtlich genommen
und mit Konträrem verknüpft, die sie zu einem anderen Ort »hinüber-tragen«
(meta-pherein) und gerade dadurch den Blick zu verzaubern vermögen. »In
welcher Form auch immer es letztlich präsentiert wird, sei es als Zeichnung,
Gemälde, Photographie oder Objekt in seinem ursprünglichen Material und
seinen ursprünglichen Dimensionen, seine Absicht ist es zu amüsieren, Verwun-
derung, Ärger oder Nachdenklichkeit zu erzeugen, aber niemals Bewunderung für
die Qualität der handwerklichen Ausführung zu erregen, die man in

9 Wir halten die These des Aura-Verlusts moderner Kunst, wie sie dem Benjaminschen Essay zu
entnehmen ist, für unhaltbar. Zweifellos suchen einige avantgardistische Produktionen bewußt
das Magische der Kunst auszuschließen und entsprechend die Aura zu zertrümmern; aber Bilder
von Kandinsky, Klee, Yves Klein oder Barnett Newman bewahren sie in neuer Gestalt. Davon
zeugen auch die Versuche Jean-Francois Lyotards, deren Undarstellbares mit der Kategorie des
»Erhabenen« zu verbinden, die unseres Erachtens nichts anderes sucht als das Moment des Aura-
tischen. Vgl. dazu ders., Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit, in: ders. et al., Immateriali-
tät und Postmoderne, Berlin 1985, S. 91-102; ders., Das Erhabene und die Avantgarde, a.a.O.;
ders., Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982; sowie ders., Philosophie und Malerei im
Zeitalter des Experimentierens, Berlin 1986 und weiter unten in diesem Kap.
10 Man Ray 1926, zit. nach Man Ray, Katalog Stuttgart 1998, S. 89.
78 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

werklichen Ausführung zu erregen, die man in Kunstwerken normalerweise


sucht.«
Sowenig sich indessen die Wirkung vollendeter Mimesis auf die Identität der
Repräsentation mit dem Repräsentierten oder die Strategien der Illusion be-
schränken läßt, sowenig geht die Wirksamkeit der surrealistischen Rätselobjekte
in der Spaltung oder Kreuzung ihrer einzelnen Symbole auf. Sicherlich konterka-
rieren in Man Rays Cadeau die aufgeklebten Posternägel die Funktion des Bügel-
eisens. Es benutzen zu wollen, bedeutet, die Kleidung beim Bügeln zu zerreißen.
So wird in den Gegenstand ein Spiel von Gegensätzen eingetragen, das sich
mehrfach überlagert: das Bügeln glättet die Kleidungsstücke, läßt sie wieder wie
neu erscheinen, die Nägel zerstören sie; gleichwohl gehören Bügeleisen und Plo-
stemägel zum gleichen Genre: der Welt des Haushalts, der Pflege und Verarbei-
tung von Stoffen, ihrer Glättung, sei es durch Bügeln oder Glattziehen auf Ses-
seln und anderen Polstermöbeln, wobei sich ihre Verbindung gegeneinander auf-
hebt. Die Assoziation erzeugt, wie die Verschiebungen und Verdichtungen im
Traum, eine contradictio in adjecto; doch macht nicht diese das Schlagende des
Objekts aus, vielmehr bricht es aus der Differenz der Elemente erst hervor, zeigt
sich auf der Ebene der Materialität, der Art ihrer Konnexion, die das Werkzeug
insgesamt in einen spitzen Gegenstand verwandelt, eine Waffe, ein Ungeheuer:
vage Beschreibungen für ein zuletzt Undeutbares, das die rätselhafte Schlichtheit
der Komposition ausmacht. Die Wahl anderer Materialien würde die Wirkung
des Objekts desttuieren, ebenso ihre artifizielle Stilisierung; die Verarbeitung auf-
gelesener, in jedem Haushalt vorfindbarer Gegenstände gehört dazu, desgleichen
die Form der Präsentation, das Aufspreizen der Stacheln nach Außen, wie zur
Drohgebärde, die den Betrachter gleichfalls zu faszinieren wie zu erschrecken
trachtet.
Das mysterium tremendum et faszinosum hatte Rudolf Otto als Kennzeichen der
Erfahrung des Numinosen herausgestellt;* ebenso wahrt darin die Kunst ihr Ge-
heimnis. Man hat demgegenüber in Ansehung der Ästhetik des 20. Jahrhunderts
von der Transformation der Sehgewohnheiten gesprochen, vor einer »Demon-
stration frei produzierender Einbildungskraft«, die »gänzlich neue, mit nichts zu
vergleichende Systeme« entworfen hat; freilich folgen die Erfindungen des Sur-
realismus weniger streng austarierten Absichten oder kalkulierten Interventionen,
als weit eher jener »anderen Ordnung« (Ciaire Goll) des Unbewußten, das mit
dem Regime der Vernunft bricht und die Netze der Kreativität nach unwillkürli-
chen Mustern strickt. Zwar hatte Jacques Lacan ihre Strukturen mit den Funk-
tionen einer »Sprache« verglichen, allerdings keiner, die etwas sagte, sondern die
sich in der »frei flottierenden« Verkettung libidinöser Markierungen erst zeigt
und sich dem Subjekt unablässig unterschiebt — denn es gibt »schlechterdings

11 Man Ray 1944, ebenda, S. 193.


12 Rudolf Otto, Das Heilige, München 1963, S. 28 ff.
13 Vgl. etwa Max Imdahl, Moderne Kunst und visuelle Erfahrung, in: ders. Zur Kunst det Moder
ne, Gesammelte Schriften Bd. 1, Frankfurt/M. 1996, S. 328-340.
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 79

keinen Anspruch (...), der nicht irgendwie durch die Engführungen des Signifi-
kanten hindurchmüßte.« So kommt es weniger auf das Symbolische und dessen
Bedeutungen an, das noch Sigmund Freud einer »Hermeneutik des Unbewuß-
ten« zuführen wollte, um es erneut einer Aufklärung zu unterziehen, sondern
entscheidender ist die Produktivität einer Dezentrierung, durch die Lacan in ei-
ner pessimistischen Wendung gegen die klassische Psychoanalyse die chronische
Unaufhebbarkeit der Ansprüche des »Es« zu betonen suchte. Begehren wird für
ihn zum »Begehren des Anderen« in der doppelten Konnotation von genetivus
subjectivus und objectivus: nicht ich begehre, sondern das Begehren begehrt vom
Ort einer Alterität her, die zugleich immer schon symbolisch besetzt ist. Entspre-
chend hat Lacan das Programm der Freudschen Aufklärung umgekehrt, ohne es
dennoch aufzugeben: Denn wo Es war, soll das »Große Ich«, die Gravitation des
Unbewußten treten, ohne bereits vom Bewußtsein kolonisiert und darin be-
herrscht zu sein. Dann existiert kein mythische! Bezirk des Triebhaften, der
gleichsam als abgezirkelte Region extemporiert wäre und vom Subjekt getrennt
agierte, um von ihm rückerobert zu werden: Es gibt nur das Unbewußte als das
»andere Subjekt«, das die Selbstgewißheiten des Descartesschen cogito, auf das
sich Lacan zufolge die gesamten metaphysischen Selbsttäuschungen der Neuzeit
stützten, ein für allemal erschüttert. Das Selbstbewußtsein, die Reflexivität des
Subjekts, die Identität des »Ich« mit sich selbst erweisen sich folglich als »imagi-
näre Zerrspiegel«. ' Sie bilden nichts als Verkennungen, gegen die mit polemi-
scher Spitze die genaue Umkehrung der Prämissen neuzeitlicher Subjektphiloso-
phie propagiert werden: »(I)ch denke, wo ich nicht bin, also bin ich, wo ich nicht
denke.« Lacan setzt hinzu: »Man muß sagen: Ich bin nicht, da wo ich das Spiel-
zeug meines Denkens bin; ich denke an das, was ich bin, dort wo ich nicht denke
zu denken.« Das Paradox beschwört die unausweichlichen Fallstricke des Un-
bewußten: nicht »Ich« (Je) habe mich, sondern »Es« hat mich (moi) im Sinne ei-
ner Schwere, die ihre »exzentrische« Bahn fortwährend ins Bewußtsein ein-
schreibt. Sie zeigt sich als das »Drängen der Buchstaben« eines Begehrens, das
nicht in der Reihe der Symbole aufgeht, durch die es sich zu artikulieren scheint,
sondern als die Spur, die jede Möglichkeit ihrer Interpretation immer schon ver-
wischt hat, weil sie selbst noch diese konstituiert.

14 Jacques Lacan, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewuß-
ten, in: Schriften II, a.a.O., S. 167-204, S. 187; vgl. ferner ders., Das Seminar über E.A. Poes
>Der entwendete Brief«, in: ders., Schriften I, Frankfurt/M. 1975, S. 7-70.
15 Vgl. zur Symboltheorie Freuds vor allem die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in:
ders, Studienausgabe in 10 Bden, Bd. 1, Frankfurt/M. 1969-75, Bd. 1, 10. Votlesung, S. 159-
177.
16 Vgl. Hermann Lang, Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psycho-
analyse, Frankfurt/M. 1973, S. 266, der in der Entlarvung dessen, einer Selbstäußerung Lacans
zufolge, den Kern seiner gesamten Bemühungen erblickt.
17 Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud,
a.a.O., S. 43.
18 Vgl. ebenda.
80 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Dann werden freilich die ästhetischen Objekte, die solcher Produktivität fol-
gen, systematisch unlesbar. Ihre Ortschaft ist das Paradoxale, weshalb es für Man
Ray gleichwie für Magritte, Yves Tanguy oder Max Ernst zum Prinzip ihrer Ar-
beiten schlechthin avancierte, als ein Stilmittel, das die Spannungen des »Unlös-
baren« als jene des Ästhetischen selber kompositorisch sichtbar machen sollte.
Das Paradox gibt den Blick frei auf etwas, das anders ist als alles, was sich sagen
läßt, das das Andere des Symbolischen selbst ist: das Zeigen. Die jeweilige
samkeit der Bilder oder der Objekte kann darum nicht im Aufweis des Widersin-
nigen oder der Darstellung von Kontrasten aufgehen, die den Betrachter zugleich
hinters Licht oder in die Irre führen sollen — dies gilt bestenfalls für die vorder-
gründigen Spielereien M.C. Eschers, die den Mathematiker interessieren mögen:
Sie beunruhigen das Denken, nicht die Sinne. Vielmehr offenbart sich in den
surrealistischen Projekten etwas weit Tieferes, das an die Praxis der Kreativität
selbst rührt, indem die Technik des Paradoxen das Symbolische hintertreibt und
auf ein Jenseits hinführt, das aus dessen Mitte hervorbricht und die Auslegung in
einen Sog, einen haltlosen Taumel stürzen läßt. Nicht länger kann so das Ästheti-
sche aus der Abbildung einer Sache, nicht einmal der Repräsentation einer Idee
verstanden werden, vielmehr erscheint es als ein Enigma, das sich nicht als ein
solches kommentiert, sondern präsentiert. Dann weist es über das hinaus, was sich
von ihm deuten odet etläutern läßt: Es zeigt sich und behält sich darin.

»Rätselgestalt der Kunst«

Konsequenter und auch radikaler als Man Ray hat Magritte in einem Bild von
1947 mit dem Titel Die große Familie diese Unauslotbarkeit des Spiels der Diffe-
renzen, wie es sich aus dieser Spannung zwischen Sagen und Zeigen ergibt, zu-
gleich thematisiert und demonstriert. Es enthüllt — und es gibt eine Reihe ähnli-
cher Motive — den Negativumriß eines aus düsterem Meereshorizont herausge-
schnittenen Vogels. Er scheint gerade abheben zu wollen und ist doch im Flug er-
starrt. Durch seine Rahmung öffnet sich der Blick auf die offene Weite des
Himmels: Ein strahlender Sommertag. Das Bild kann als surreale Metapher eines
Umschlagspunktes gelesen werden: Der Horizont ist versperrt, der Vogel symbo-
lisiert den Negativabdruck einer ausstehenden Freiheit, die Öffnung des Blicks
auf deren Utopie als Loch im Firmament. Gleichzeitig spielt es mit der Vexierung
von Figur und Hintergrund, der Indifferenz des Figurativen, die die Sicherheiten
des Mimetischen durchtrennt. Buchstäblich changiert die Deutung zwischen bei-
den, ohne je zur Ruhe zu kommen: Das Positiv ist das Offene, das Negativ der
verhangene Horizont. Dieses erscheint unendlich, jener endlich, irdisch, so daß
sich in die erste Paradoxie eine zweite von Endlichkeit und Unendlichkeit mischt,
in der die Endlichkeit zum Positiv wird, weil zu ihr Bestimmtheit gehört, wäh-

19 Als »Unlösbare« bezeichnete das Mittelalter Paradoxien und Antinomien; vgl. J.M. Bochenski,
Formale Logik, München 2. Aufl. 1962, S. 275 ff
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 81

rend die Unendlichkeit zum Negativ avanciert, insofern sie leer bleibt. Keine Zu-
ordnung ist dann mehr eindeutig: zwischen beiden behält sich eine Unentscheid-
barkeit, die als Öffnung im Firmament klafft und das Symbolische ins Unbe-
stimmte abgleiten läßt. Im Medium des Symbolischen gerät das Gemälde buch-
stäblich in den Abgrund des Symbolischen." Denn nirgends erschließt sich der
Sinn vollständig durch das, was explizit im Spiel ist: Stets mehr, als die verwir-
renden Bedeutungen, durch die es konstruiert ist, formuliert das Paradox einen
Überschuß, der weder seine analytische Zerlegung duldet noch eine zureichende
Auslegung erlaubt. Seine Struktur ist die Rätselhaftigkeit schlechthin, die durch
Aussetzung der Logik »an-deutet«, weshalb die formale Rekonsttuktion sie nur
wiederholen kann, nicht aber lösen: »Ein Rätsel ist etwas«, so Ludwig Wittgen-
stein, »was keine Lösung kennt«." Als Ausdtuck des Unausdrückbaren weist es
vielmehr — im literalen Verständnis von para doxa — in ein »Jenseits det Meinbar-
keit«: Es witd unfaßlich und zeigt so, was sich der Sprache verweigert, denn, so
auch Theodor W. Adorno, ein »Rätsel lösen ist soviel wie den Grund seiner Un-
lösbarkeit angeben«."" Bestenfalls gebietet es darum zu schweigen, wie dieses auch
den Tractatus logico-philosophicus beschließt: ein Quietismus, der — ungeachtet
der dort unterstellten linguistischen Ontologie - da anfängt, wo die Möglichkeiten
des Sagens ausgeschöpft sind und das bloß Zeigbare beginnt." Es wäre somit Ver-
weis, der sich in dem Maße verbirgt, wie er sich kenntlich macht und sich öffnet,
wie er sich verschließt: Zeigen, das nicht »etwas« zeigt, sondern sich zeigt, und
zwar inmitten eines Sagens, dessen Gestalt die Unmöglichkeit des Sagens ist.
Erneut beweist darin das Paradox seine katachretische Kraft, sein Überstieg auf
anderes hin, der, wie wir es angedeutet haben, auf eine Überwindung der Logik
des Sinns zielt. Das Vexieren von Figur und Hintergrund, die Zeichen, die ihre
eigene Referenz annullieren, das strukturale Spiel der Signifikanten/Signifikate,"
die sich gegenseitig aufheben, erscheinen jedenfalls nicht länger auf der Ebene des
Symbolischen lesbar: Was sie sind, läßt sich bestenfalls nur zeigen, oder gar nicht.
Man könnte sagen: Es gibt ein Schweigen det Bilder, insofern sie den Betrachter
anschweigen wie sie umgekehrt zum Schweigen auffordern. Sie sprechen nicht:
sie zeigen, indem sie sich in die Stille aus-setzen. Ihre Stille ist die Stille des Zei-

20 Meisterlich verstand es Magritte, solche Verwicklung in seinen »Sprachbildern« zu perpetuieren,


wie im Traumschlüssel von 1930 oder, als deren äußerste Abbreviatur, in den verschiedenen Ver-
sionen von Ceti n'est pas une pipe (1928-29 und 1948, 1964, 1966), auf die wir noch zu spre-
chen kommen werden; vgl. weiter unten Tl. II, 3. Hauptstück, 1. Kap.
21 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47, Frankfurt
1991, S. 554. Man müßte ergänzen: Kennte man die »Lösung« des Rätsels, wäre es keines mehr:
Seine Entschlüsselung tilgt sozusagen seinen Rätselcharakter.
22 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, S. 185.
23 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus a.a.O., 7, S. 178. Eine Deutung der Diffe-
renz von Sagen und zweigen über die darin vertretene Isomorphietheorie von Sprache und Welt
hinaus sowie der Logik des darin beschlossenen Paradox wird weiter unten vorgeschlagen, vgl.
Tl. II, 2. Hauptstück, Kap. 2.
24 Weiter unten in Tl. II, 3. Hauptstück, 1. u. 2. Kap. werden wir den Strukturalistischen 2>ichen-
begriffaus der genuinen Einheit der Signifikanten/Signifikate reformulieren, die keine Differenz,
keine Spaltung, sondern nurmehr einen »Balken«, der zwischen sie tritt, zuläßt.
82 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

gens. Das Paradox hat dann die Form einer unaufhebbaren Indirektheit. Anzeige
einer Grenze als unmögliche Anzeige sowie ihre Überschreitung als ihre unmögli-
che Überschreitung, die gleichwohl imstande ist, zu jenem anderen Territorium
hinüberzuleiten, das die Kunst bewohnt: das Sichzeigen als das Andere des Sagens.
In einer der luzidesten und eindringlichsten Passagen seiner Ästhetischen Theorie
hat. Adorno darin die »Rätselgestalt« von Kunst überhaupt ausgemacht, nicht nur
der surrealistischen. Die Werke überlebten selbst noch ihre erschöpfendsten
Lektüren: »Durch ihre Form werden sie sprachähnlich, scheinen in jedem ihrer
Momente nur eines und dieses zu bekunden, und es entwischt.«" Zur Sprache
werden sie kraft ihrer Gestaltung, und doch gehen sie nicht in dieser auf, greifen
über das bloß Kompositorische hinaus, halten es in einer prinzipiellen Unbe-
stimmtheit: »Alle Kunstwerke und Kunst insgesamt, sind Rätsel«: »Daß Kunst-
werke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, meint den Rät-
selcharakter unterm Aspekt der Sprache.«" Zurückzuweisen wäre dann das Dog-
ma des Hermeneutischen, das die ästhetische Rezeption bis heute dominiert:
»Kunstwerke sind nicht von der Ästhetik als hermeneutische Objekte zu begrei-
fen; zu begreifen wäre (...) ihre Unbegreiflichkeit.«" Folgerecht erweist sich Ver-
stehen überhaupt als »problematische Kategorie«, selbst solches, das seiner »Pro-
zessualität«" zu genügen sucht: »Wer Kunstwerke durch Immanenz des Bewußt-
seins in ihnen versteht, versteht sie auch gerade nicht, und je mehr Verständnis
anwächst, desto mehr auch das Gefühl seiner Unzulänglichkeit, blind in dem
Bann der Kunst, dem ihr eigener Wahrheitsgehalt entgegen ist. (...) Je besser
man ein Kunstwerk versteht, desto mehr mag es nach einer Dimension sich ent-
rätseln, desto weniger jedoch klärt es über sein konstitutiv Rätselhaftes auf. (...)
Schließt ein Werk ganz sich auf, so wird seine Fragegestalt erreicht und erzwingt
Reflexion; dann rückt es fern, um am Ende den, der der Sache versichert sich
fühlt, ein zweites Mal mit dem Was ist das zu überfallen. Als konstitutiv aber ist
der Rätselcharakter dort zu erkennen, wo er fehlt: Kunstwerke, die der Betrach-
tung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine.«"
Kein Bild, kein Objekt, kein Werk fügte sich folglich nach Adorno dem Para-
digma der Sprache, auch wenn dieses, als Mittel der Artikulation, nirgends von
ihnen abzuziehen wäre; »etwas« transzendiert ihr »Bedeuten«, das nicht selbst
wieder ein »Bedeuten« ist noch als ein »etwas« angesprochen werden könnte: Das
Rätsel gleicht einem Fragezeichen, das sich beständig wieder einklammert: »Die
letzte Antwort diskursiven Denkens bleibt das Tabu über der Antwort.« Gleich-

25 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 182.


26 Ebenda.
27 Ebenda, S. 179.
28 »Die Kunst ist im Vollzug«, heißt es bei Hans-Georg Gadamer, Wort und Bild - >so wahr, so sei-
end«, in: ders., Gesammelte Werke in 10 Bden, Tübingen 1987, Bd. 8, S. 391. Zum Zusammen-
hang von Ästhetik und Verstehen zudem ders., Wahrheit und Methode, Tübingen 3. Aufl. 1972,
S. 97 ff. (= Gesammelte Werke a.a.O., Bd. 1, S. 107 ff).
29 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 184.
30 Ebenda, S. 193.
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 83

wohl klebt es noch an jener Sprachlichkeit, die es ebenso dementiert wie bestä-
tigt: Was darum an Kunst gleichermaßen unausdeutbar wie durch sie undarstell-
bar ist, muß sich, wie Adorno des öfteren herausgestellt hat, durch diese hindurch
»vermitteln«: »Wie in Rätseln wird die Antwort verschwiegen und durch die
Struktur erzwungen.« Das bedeutet aber, daß das, was ihr Sprachliches über-
schießt, sich letztlich an ihrer Gestalt, durch die sie Sprache wird, selber fest-
macht: »Durch Organisation werden die Werke mehr als sie sind.« " Der Passus
erinnert an Wittgensteins Theorie der »Sprachform« im Tractatus, die im Spre-
chen stets mitspricht, ohne selbst aussprechbar zu sein, und von der gesagt wird,
sie »zeige« sich lediglich. Sowenig wie diese vermag sich auch das Rätsel des
Kunstwerks auszusprechen: Es zeigt sich, und zwar vermöge der Präsenz seiner
kompositorischen Gestalt, seiner »ästhetischen Form«. Präsenz aber meint stets
zugleich ein Materielles, weniger im Sinne kruder Stofflichkeit, als vielmehr der
spezifischen Weise ihrer Evokation, wodurch sich eine Wirksamkeit allererst kund
gibt: Intensität jener Blöße, durch die es erscheint. Ein ganzes Konzert von Bedin-
gungen gehört dazu: Farbe, die Wahl der Materialien, Hängung, Medium,
Werkzeug, Wiedergabequalität, Rahmung, Formate, Grundierung, Ausstellungs-
ort usw. Deshalb sagt auch Adorno, daß das »Geistige« überall »in dem ihm Ent-
gegengesetzten, in der Stofflichkeit (zündet)«, wie er überhaupt, gegen die Ari-
stotelische Metaphysik, die Materialität gegen den Vorrang der Form zu retten
suchte. ^ Maßgeblich bleibt damit, daß Kunst ihr Symbolisches dadurch aus-
drückt, daß sie sich sinnlich verkörpern muß, so daß von ihr das Materielle,
durch die sich ihre Signifikanz allererst ausstellt, nicht subtrahiert werden kann.
Doch kommt dieser ihr jeweils eigenes Erscheinen zu: Der Materialität haftet eine
spezifische Ekstasis an. Sie bezeugt die Unwiderstehlichkeit des Sichzeigens, wie sie
von der »realen Gegenwart« der Werke selber ausgeht.
Was also Adorno als »Rätselcharakter« herausstellt und woran sich die Grenze
des Hermeneutischen festmacht, exponiert sich als Ekstatik eines Sichzeigens. Wir
werden sie in der Folge mit dem »punctum« bei Roland Barthes und der »Aura«
Benjamins in Verbindung bringen. Jenseits von Hermeneutik begegnet das Au-
ratische. Es wäre das Unfaßliche, ebenso wie das punctum. Bilder enthüllen sich
damit unmittelbar, kraft einer ihnen innewohnenden Ekstatik, nicht über den
Umweg der Darstellung, der Sprache oder ihres symbolischen Gehalts. Ange-

31 Ebenda, S. 188.
32 Ebenda, S. 189.
33 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 4.12 — 4.1212; S. 58, 60; vgl. auch
unten Tl. IL, 2. Hauptstück 2. Kap.
34 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 180.
35 Vgl. ders., Metaphysik. Begriff und Probleme, Frankfurt/M. 1998, vor allem 7. Vorlesung ff,
S. 68 ff
36 Daraufhat, obzwar in anderer Weise, immer wieder auch George Steiner, Von realer Gegenwart,
München Wien 1990, aufmerksam gemacht.
37 Die Verbindung ist keineswegs originell; vgl. dazu bereits Jacques Derrida, Die Tode von Roland
Barthes, Berlin 1987; sowie: Gabriele Göttger-Denker, Roland Barthes zur Einfuhrung, Ham-
burg 1989, S. 107 ff.
84 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

schaut blicken sie zurück, geben sich darin preis. Ihre Betrachtung antwortet auf
das, was sie zu sehen geben. Es gibt keinen Zugang zur Bildlichkeit ohne solchen
Blickwechsel. Ihre Wirksamkeit besteht entsprechend in der Weise, sich in die
Sicht zu bringen - dadurch, wie die Bilder zurücktreten, den Betrachter betören
oder zu attackieren verstehen, die Zumutungen, mit denen sie sich in den Vor-
dergrund schieben und ihren Stachel ins Auge stößt. Zwar ist das, was entge-
genkommt, immer mit Symbolischem konnotiert; aber das Entgegenkommende
selber liegt nicht im Symbolischen, sondern geht über es hinaus im Sinne seines
chronischen Unerfülltseins. Allein im Symbolischen erhalten die Bilder ihren
Sinn und in der Form ihre Dauer; aber ihren spezifischen Zauber erlangen sie erst
dadurch, daß sie ein symbolisches Feld aufklaffen lassen, ohne daß solches Auf-
klaffen wiederum Funktion des Symbolischen wäre. Das Verstehen geschieht
immer durch die Zeichen, die Sprache, und doch begegnen Bilder vor allem, stel-
len sich uns gegenüber, bilden eine Renitenz, die uns in ihre Nähe zieht. Damit
arbeitet zumal die Reklame, genauso wie Film und Fernsehen, von dessen Appa-
ratur der Blick sich nicht abzuwenden vermag, selbst wenn die gesendeten Bilder
kein Ton begleitet. Stumm nehmen wir ein Geschehen wahr, das unverständlich
bleibt und uns wie ein Strudel mit sich reißt: Bann, der seine Wirkung nicht
vermöge eines Sinns entfaltet, sondern sich selbst da ereignet, wo dieser leerläuft
und sich - in Anlehnung eines Ausdrucks von Roland Barthes - im »Rauschen«
der Bildlichkeit verfängt. Was sich derart ereignet, ist gleichwohl nicht im Bild
vorfindlich, sowenig wie außerhalb. Eklatant erst in Distanz, wie Adorno sagt,
bildet es keine Stelle dessen, was sich zeigt: Weder Element noch Attribut ent-
gleitet es im Augenblick seines Erscheinens. Das Geheimnisvolle des Bildes
gleicht darin einer Doppelbelichtung: Sichtbarmachung eines Unsichtbaren und
zugleich unsichtbar in dem, was sichtbar hervortritt: »Jedes Kunstwerk ist ein Ve-
xierbild, nur derart, daß es beim Vexieren bleibt, bei der prästabilisierten Nieder-
lage ihres Betrachters. (...) Spezifisch ähnelt sie jenem darin, daß das von ihnen
Versteckte, wie der Poesche Brief, erscheint und durchs Erscheinen sich ver-
steckt.« Stets da, wo er nicht gesucht wird und nicht dort, wo man ihn vermu-
tet, täuscht er den Fahnder wie das Bild den Betrachter, wie Lacan es gleicherma-
ßen sowohl an Edgar Allan Poes Entwendetem Brief als auch anhand der Ana-
morphose in Holbeins des Jüngeren Die Gesandten hervorgehoben hat: seltsame
Verschmierung oder Hindernis (obstacle) am unteren Bildrand inmitten einer
Reihe von Vergänglichkeitschiffren, ebenso undeutlich wie unübersehbar, scheint
sie nicht ins Bild zu gehören und lockt doch, wie Lacan sagt, »in die Falle«," weil

38 Vgl. Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an, a.a.O., S. 11 ff.
39 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 189.
40 Ebenda, S. 184 f.
41 Vgl. Jacques Lacan, Das Seminar über E.A. Poes >Der entwendete Brief«, a.a.O., sowie ders., Was
ist ein Bild/Tableau. In: Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI (1964): Die Grundbegriffe der
Psychoanalyse, Berlin 3. Aufl. 1987, S. 112-126; wiederabgedruckt in: Gottfried Boehm (Hsg.),
Was ist ein Bild? München 2. Aufl. 1995, S. 60-89; hier S. 61 f.
42 Ebenda, S. 6 1 .
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 85

sie die Sicht auf ein Mysterium lenkt. Sie stellt nichts dar, jedenfalls nicht was im
Gemälde eine offensichtliche Funktion einnähme, und gleicht darin der ver-
wischten Spur, die der Blick genauso wenig enträtseln kann wie von ihm ablassen.
Das Verlangen nach Betrachtung, das das eigentliche Aisthetische ausmacht,
entspringt von dort her: Ekstatisches Moment der Bildlichkeit, das Roland Barthes,
ausgehend vom Seminat Lacans, in seinen späten Studien über die Photographie
als punctum bezeichnet hat: »Anziehung«, die »besticht«, und die vom Abgebil-
deten her nicht zu verstehen ist, läuft es seinem expliziten Gehalt, dem konven-
tionellen Code des Studiums zuwider. Punctum — »das meint auch: Stich, kleines
Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt — und: Wurf der Würfel.« Es beinhaltet das
»Zufällige«, das plötzlich überkommt odet sich unerwartet querstellt und das das
gesamte semantische Feld des Studiums, das Gewebe seiner eingespielten Bedeu-
tungen »durchbricht«: »Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (...), sondern
das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um
mich zu durchbohren«. ' Die Opposition von punctum und Studium macht so an
der Photographie manifest, was sich im Bereich der Symbole als Paradoxon ent-
hüllte und auf der Ebene des Rätsels als sein »Unlösbares«. Einerseits referiert das
Photo auf etwas: die Momentaufnahme eines Gegenstandes, ein Portrait, eine
pittoreske Landschaft oder anekdotische Szene: Objekte des Studiums, die etwas
besagen wollen odet zu erzählen trachten; andererseits geht seine Bildlichkeit über
die Signifikanz der Zeichen, die es enthält, hinaus: Evokation des punctums, das
nicht entziffert werden kann, sondern affiziert. Dieses betrifft den Zweck der Dar-
stellung, den Anlaß, das Motiv; jenes zeigt sich. »Das Studium ist eine Art Erzie-
hung (...), die es mir gestattet, den Operator wiederzufinden, die Absichten nach-
zuvollziehen, die seine Vorgehensweise begründen und befruchten, sie jedoch in
gewisser Weise in der Umkehrung zu erfahren, gemäß meinem Willen als specta-
tor. (...) Das Studium anerkennen heißt unausweichlich den Intentionen des
Photographen begegnen (...).« Barthes fügt hinzu, daß dessen Vorrang »einen
weitverbreiteten Typ von Photographie« hervorgebracht habe, »den man die ein-

43 Ergebnis einer extremen visuellen Verzerrung gibt sie ihre geheimnisvolle Symbolik erst durch ei-
nen ebenso extremen Blickwinkel preis. Denn schaut man sich das rätselhafte Objekt von der
Seite aus einem Blickwinkel von fast 180° an, erscheint das Bild eines Totenschädels.
44 Roland Barthes, Die helle Kammer, a.a.O., S. 35 ff. passim. Zur Differenz zwischen Studium und
punctum vgl. auch Jacques Derrida, Die Tode Roland Barthes, a.a.O., S. 16 ff, der freilich in
beiden keinen Gegensatz, sondern ein ineinandergreifendes Spiel ausmacht. Dagegen bleibt ent-
scheidend, daß Barthes im punctum ein Sichentziehendes ausmacht - vergleichbar einem Motiv,
daß Walter Benjamin in einem frühen Aufsatz über Photographie angemerkt hat: Gerade die äl-
testen Bilder, die aus dem Nebel der Anfänglichkeit herausragen, atmen eine geheimnisvolle Ma-
gie: »Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Mo-
dells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige
Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter durch-
gesengt hat (...).« Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Gesammelte
Schriften II.l, Frankfurt/M. 1977, S. 368-385, hier: S. 371.
45 Roland Barthes, Die helle Kammer, a.a.O., S. 36.
46 Ebenda, S. 35.
47 Ebenda, S. 37.
86 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

förmige Photographie nennen könnte«:* Sie ist erfüllt mit Symbolischem, dem ge-
stellten Arrangement, dem Ensemble von Bedeutungen, das sie anschaulich
macht: der Blick ist gerichtet, die Portraitierten stellen sich aus, ihre Posen sind
zurechtgemacht, wie falscher Putz. Aber die Bilder, deren Sinn sich als zu explizit
erweist, wirken nicht — sie erzeugen vielmehr das Gegenteil, lähmen die Aufmerk-
samkeit, langweilen, vor allem bei wiederholter Betrachtung: wie die Werke, die
restlos in ihrer Deutung aufgehen, sich nach Adorno selbst dementieren. Besten-
falls gewinnen sie noch eine kritische, pädagogische oder diskursive Funktion,
hinter der das eigentlich Ästhetische verblaßt: sie scheinen sich in ihrem Sagen
aufzulösen, werden spröde, farblos; sie zeigen nichts mehr.
Dagegen trifft die Wirkung den Betrachtet. Ihre kommt eine spezifische
sität zu. Erneut kommt darin die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen, zwi-
schen Intentionalem und Nichtintentionalem zum Tragen. Das Studium beab-
sichtigt ein Schauen; es meldet Gründe an, sucht zu objektivieren, induziert eine
bestimmte Lektüre; demgegenüber behält sich das punctum in seiner
lichkeit. Es fußt auf keinem Motiv, das seine Wirkung auslöste; es genügt festzu-
stellen, daß ein Bild berührt. Dennoch hat Barthes versucht, dem punctum einen
Ort, eine Stelle im Bildlichen zuzuschreiben, an dem es lokalisierbar wäre: Mal
wird es auf eine Nebensächlichkeit bezogen, etwas, was den Blick ablenkt oder
verzögern läßt, ein unpassendes »Detail«: die schlechten Zähne eines Jungen, ge-
faltete Hände, ein viel zu großer Kragen; mal auf eine unscharfe Dichte oder ei-
nen schwer zu entziffernden Zufall. Die versuchten Lokalisierungen erscheinen
mißverständlich: der Ausdruck »Detail« supponiert seine Identifikation, als ob
sich das punctum vorfinden und bezeichnen ließe oder einen deiktischen Hinweis
gestattete. Erneut wird es einer Lektüre zugeführt, wenn auch einer verschobe-
nen, die sich an Lacans »Hindernis«, dem Obstacle orientiert. Doch festgestellt,
gebannt oder kommentiert büßt es gerade seine rätselhafte Wirkung ein; in dem
Maße, wie Barthes glaubt, das Bestechende ausgemacht zu haben, wird er es im
selben Augenblick wieder verlieren. Darum wirken seine Beispiele allzu subjektiv,
hergeholt und eben deswegen unplausibel: Die Anstrengungen im Begriff führen
in die Irre: die »Mühe der Beschreibung«, bekennt Barthes selber, wird »stets den
springenden Punkt der Wirkung, das punctum, verfehlen«. Immer wieder um-
kreist er so das Terrain eines Unbeschreiblichen: Man könnte sagen, das Beste-
chende an der Lektüre der Hellen Kammer ist, daß die Entdeckung der »Erotik«
des Bildes im Bildlichen permanent verdeckt bleibt: unzulängliche Versuche einer
Annäherung an das, was unbestimmt bleibt und keinet Bestimmung bedarf. Das
ist schließlich die Quintessenz der semiologischen Bemühungen Barthes': »Das
Studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht. (...) Was ich benen-
nen kann, vermag mich nicht eigentlich zu bestechen. (...) Die Wirkung ist da,

48 Ebenda, S. 50.
49 Barthes berichtet, daß die /.^-Redaktion die Photos von Kertisz nach seiner Ankunft in den
USA 1937 deswegen ablehnte, weil sie »zuviel sprachen«; vgl. ebenda, S. 47.
50 Ebenda, S. 35 ff, S. 51 f.
51 Ebenda, S. 62.
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 87

doch läßt sie sich nicht orten, sie findet weder ihr Zeichen noch ihren Namen; sie
ist durchdringend und landet dennoch in einer unbestimmten Zone meines Ich
(...).« " Sie weist so über den Bereich des Sagbaren hinaus: Das punctum fixiert
den Punkt, an dem das Bild unlesbar wird. »Ich muß mich also diesem Gesetz
beugen: ich kann die Photographie nicht durchdringen. Ich mag nur meinen
Blick über ihre stille Oberfläche gleiten zu lassen. (...) Wenn die Photographie
sich nicht ergründen läßt, dann deshalb, weil ihre Evidenz so mächtig ist.«
Es ist die Evidenz eines einfachen Sichzeigens. Es ereignet sich, wie das Sichzei
gen der Leiblichkeit, inmitten einer Paradoxie, die selbst noch die Differenz von
Sagen und Zeigen aufsprengt. Erneut wird dem Paradoxen eine besondere Stel
lung zugewiesen. Denn Barthes weist darauf hin, daß sich das punctum nur dann
offenbart, wenn man das Bild nicht anschaut: Widersprüchliche Evidenz einer
Anschauung jenseits des Blicks, weder Wahrnehmung noch Denken, Sehen ohne
zu sehen, analog der Spur aus verwischter Spur. »(N)ichts sagen, die Augen schlie
ßen, das Detail von allein ins affektive Bewußtsein aufsteigen lassen«. Irritation
eines Nichtsichtbaren, das beim Betrachten in Unruhe versetzt, ergeht es aus dem
Studium, indem es dessen Konventionen verwirft und seine Bedeutungen um
stürzt. Barthes fügt hinzu: »(A)us meiner Sicht, der des spectators, kommt das
Detail zufällig und zwecklos ins Bild; nichts darauf ist nach den Gesetzen einer
kreativen Logik >komponiert<; das Photo ist ohne Zweifel dual, doch ist diese
Dualität nicht Motor irgendeiner Entwicklung«.« Damit ist das entscheidende
Stichwort gefallen: das Bild erweist sich als eine Duplizität, wie sie rezeptiv in der
Dopplung von Studium und punctum zum Ausdruck kommt: Spiel beider, das
zugleich seinen Sinn wie seine Wirksamkeit erzeugt. Weit davon entfernt, allein
der Trennung zwischen Text und Bild zu genügen ' noch in der Unterscheidung

52 Ebenda, S. 60, 62 passim.


53 Ebenda, S. 115, 117 passim.
54 Ebenda, S. 65.
55 Ebenda, S. 52.
56 Die Differenz zwischen Text und Bild ist verschiedentlich diskutiert worden: klassisch ist vor al
lem die Unterscheidung zwischen natürlichen und konventionellen Zeichen, die bereits für die
Ästhetik des 18. Jahrhunderts, besonders für Gotthold Ephraim Lessings Laokoon: oder die Gren-
zen der Poesie und Malerei, in: ders., Werke und Briefe in 12 Bden, Bd. 5/2, Frankfurt/M 1989,
S. 92 ff, eine große Rolle spielte und in der thesei-physei-Differenz der Sophistik wurzelt — eine
Unterscheidung, die deshalb problematisch ist, weil auch die Deutung natürlicher Zeichen eine
systematische Codierung voraussetzt, die selbst konventionell ist; vgl. dazu Umberto Eco, Zei
chen. Einfuhrung in einen Begriff und seine Geschichte, a.a.O., S. 14 f., ders., Semiotik. Entwurf
einer Theorie der Zeichen, a.a.O., S. 39 f. Sie wird heute zumeist informationstheoretisch aus der
Unterscheidung zwischen analogen und digitalen Codes bzw. Symbolschemata rekonstruiert; vgl.
vor allem Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 154 ff; semiotisch seit Charles San
ders Peirce aus dem Unterschied der beiden Zeichentypen Ikon und Symbol, die wiederum man
nigfache Ähnlichkeit mit der traditionellen Unterscheidung zwischen natürlichen und konven
tionellen Zeichen aufweist. Indessen erscheinen beide Positionen deswegen unplausibel, weil die
Differenz keineswegs scharf ist: analoge Codes lassen sich durchaus in digitale übersetzen wie vor
allem die Bildbearbeitung am Computer zeigt, wenn auch beide unterschiedliche Eigenschaften
aufweisen, und Ikone weisen dieselben konventionellen Eigenschaften wie Symbole auf, wie wie
derum Umberto Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, a.a.O., S. 254 ff. gezeigt hat.
88 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

zwischen Denotation und Exemplifikation aufzugehen, aus der Nelson Goodman


die Differenz von Sagen und Zeigen zu rekonstruieren versucht hat, manifestiert
es sich fortwährend als sein Anderes, welches das, was es beinhaltet und zur Schau
stellt, auf das hin transzendiert, was nur das Ereignis eines Sichzeigens sein kann:
Anwesenheit eines blinden Feldes im Bild, verborgen und doch präsent, unsicht-
bar und gleichwohl Anziehungspunkt jener Aisthesis, die im Schauen nicht nur
ihr Objekt zu betrachten verlangt, sondern sich gleichzeitig vom Angeschauten
selbst anblicken läßt.
Die Wirksamkeit des Bildes erfüllt sich dann weder in dem, was es sagt noch
was es zeigt: Sie ergeht aus der spezifischen Ekstatik seiner Präsenz. Sie entfaltet
sich als actio: »Wirken«. Es ist folglich der Riß im Bedeuten, das Unnennbare,
dessen Ereignen unsere Sicht anstachelt. Aus dem Paradox dessen, was allein sym-
bolisch gesagt werden kann, springt das Zeigen als dessen andere Dimension her-
vor und rückt das Bild in ein nicht zu lösendes Rätsel; aber die Paradoxien des
Zeigens, die ihr Geheimnis einzig dem blicklosen Blick enthüllen, jenem Schauen,
das nicht fixiert, sondern sich angehen läßt, weisen ihrem Effekt schließlich einen
ortlosen Platz zu: nirgends Stelle im Bild, vielmehr Geschehen, das keine Ursache
hat und von keinem Grund her geschieht, sondern sich gibt. Was sich derart

Dennoch bleibt evident, daß ein Bild im Gegensatz zum Text keine Ordnung des Lesens vor-
schreibt: Es folgt nicht der gerichteten Form der Schrift, zwingt nicht, dem Gesetz der Sukzession
in der Zeit zu folgen; es ist, wie Goodman es ausgedrückt hat, syntaktisch und semantisch
»dicht«; vgl. ders., Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1990, S. 87 ff. Vielmehr ist es da,
präsentiert sich unmittelbar in seiner Ganzheit, so daß man, in seiner Betrachtung gleichsam den
Blick schweifen lassen kann und unterschiedliche Punkte gleichzeitig fixieren kann.
57 Nelson Goodman definiert Denotation und Exemplifikation als unterschiedliche Symbolfunk-
tionen, deren wesentliche Differenz in der Richtung der Symbolisation besteht: Repräsentation
mit der Referenz auf etwas und Selbstausstellung von intrinsischen Eigenschaften. Sie fallen we-
der dem Bild noch dem Text alleine zu, sondern gehören beiden an: Kunst und Sprache denotie-
ren und exemplifizieren. Vgl. ders., Sprachen der Kunst, a.a.O., vor allem S. 15 ff, 59 ff. Indes-
sen nimmt die Unterscheidung die von Ludwig Wittgenstein eingeführte Duplizität von Sagen
und Zeigen in der Sprachfunktion wieder auf, freilich so, daß sie diese analytisch verallgemeinert
und zugleich verschärft; vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, a.a.O., S. 24 f., S. 32; Lud-
wig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., besonders 4.022; 4.121 ff; S. 44, 58 ff.
sowie meine Einleitung in: D. Mersch (Hsg.), Zeichen über Zeichen, München 1998, S. 21 ff.
Eingebüßt wird so freilich jene nichtintentionale Dimension des Sichzeigens, die sowohl für
Wittgenstein zentral war wie für die hier vorgeschlagene Rekonstruktion des Barthesschen Be-
griffs des »punctums«. Zur Auseinandersetzung mit Goodman vgl. insbesondere unten Tl. II,
2. Hauptstück, 3. Kap.
58 Die entsprechende sprachliche Form bezeichnet das Verbum, auf die wir weiter unten Tl. II,
1. Hauptstück, 3. Kap. noch zu sprechen kommen. Vgl. dazu auch Francois Jullien, Über die
Wirksamkeit, a.a.O., S. 150 f.
59 Zu erinnern wäre hier an jenen Übergang, den Martin Heidegger in bezug auf die metaphysische
Kopula vollzog und auf den seine gesamte Spätphilosophie gründet: Transformation von Sein im
Sinne der Existenz, wie er in der Synonymität von »Es ist ...«< und »Es existiert ...« zum Aus-
druck kommt, zum Ereignis, das das »Es existiert ...« als »Es gibt ...« deutet im Sinne einer In-
transitivität des »Gebens«, »Sichgebens« oder der »Gabe«: »Wie es, das Sein, sich gibt, bestimmt
sich je selbst aus der Weise, wie es sich lichtet. Diese Weise ist jedoch eine geschickliche, eine je
epochale Prägung (...): Physis, Logos, En, Idea, Energeia, Substantialität, Objektivität, Subjekti-
vität, Wille, Wille zur Macht, Wille zum Willen.« Vgl. ders., Die onto-theo-logische Verfassung
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 89

gibt, meint freilich kein »Etwas«, dem irgend eine Bestimmung zukäme, sondern
das Geben einer Sicht, zu der die Aufhebung des Tausches - auch des Austauschs
der Zeichen — gehört. Sie ereignet sich vom Bild her. Dessen Wirkung entspricht
dem Geben. Vorauszusetzen ist dazu freilich eine Wahrnehmungsweise, die
gleichsam durch die oberflächlichen sinnlichen Gegebenheiten - Ort das Studiums
im Sinne Barthes - hindurchschaut, um sie als Gabe entgegenzunehmen. Bedin-
gung dafür ist das Ereignenlassen des Sichzeigens. Dessen Intensität gemahnt, dar-
auf hatte auch Barthes mehrfach hingewiesen, an die Exerzitien buddhistischer
Leere. Deshalb vergleicht er das punctum mit dem japanischen Haiku oder dem
Satori des Zenbuddhismus. Dann stellt sich ein, was im Gewand der Ästhetik
auf unterschiedliche Weise als das »Scheinen« (Hegel) der Kunstwerke beschrie-
ben worden ist, und das, mehr oder minder vage oder akzentuiert, Adorno als ihr
»Magisches« und Walter Benjamin als ihre »Aura« apostrophiert haben. An ih-
nen wird die spezifische Differenz zwischen Wirkung und Zeichen kenntlich: Die-
ses repräsentiert ein Abwesendes und stellt es aus der Ferne in die Nähe, während
jene gerade umgekehrt die Nähe in die Ferne rückt. Genau das aber verweist auf
Benjamins berühmte Charakterisierung des Unterschieds von »Spur« und »Aura«:

der Metaphysik, in: ders., Identität und Differenz, a.a.O., S. 51-67, hier: S. 59 und 58 passim;
ferner - als Kritik der Kopula - ders., Grundbegriffe, in: Gesamtausgabe Bd. 51, Frankfurt/M.
1981, § 4 ff; sowie ders., Zur Seinsfrage, Frankfurt/M. 4. Aufl. 1977, S. 39 und ders., Zeit und
Sein, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 4. Aufl. 2000, S. 1-25, vor allem S. 5 ff.
60 Wenn wir hier auf die »Gabe« im Sinne eines ur-sprünglichen »Gebens« verweisen, welche für die
gesamte Untersuchung von zentraler Bedeutung ist, so auch mit Blick auf den darin gleichzeitig
implizierten ethischen Gehalt: der Singularität von Unverfügbarem, der freilich von der »Ethik
der Gabe«, wie sie Derrida und andere vertreten, zu unterscheiden wäre. Vgl. bes. Jacques Derri-
da, Falschgeld, a.a.O., bes. Kap. 2 u. 4, S. 49 ff, 143 ff.
61 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer, a.a.O., S. 59 f.
62 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 1. Teil, in: Werke in
20 Bden, Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, S. 21 ff. Freilich gehört das Verhältnis von Schein und
Scheinen bei Hegel zu den tiefsten und zugleich schillerndsten Bestimmungen, die weiterhin ei-
ner eingehenden Interpretation harren; vgl. ders.. Wissenschaft det Logik II, in: Werke in
20 Bden, Bd. 6, Tl. B, S. 19-23, 124 ff. Siehe auch weiter unten Tl. II, 1. Hauptstück, 1. Kap.
63 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 408 ff. sowie Brief Adornos an Walter
Benjamin vom 18.3.36, in: Benjamin, Gesammelte Schriften 1.3, Anmerkungen zu: Das Kunst-
werk im Zeitalterseiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1974, S. 1002.
64 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
a.a.O., sowie ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: eben-
da, S. 509-690; vor allem S. 644 ff. Klar ist, daß die Begriffe »Scheinen«, »Magie« oder »Aura«
sich nicht ümstandslos ineinander übersetzen lassen; gleichwohl artikuliert sich in ihnen Ver-
wandtes. Es wäre ein Desiderat, Hegels, Adornos und Benjamins Ästhetik darauf hin erneut zu
lesen.
65 Eine ähnliche Beschreibung findet sich bei Heidegger: Das Werk entreißt uns der Nähe, so daß
»wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen«. Vgl. ders.. Der Ursprung des
Kunstwerks, a.a.O. S. 32. Jacques Derrida bringt den Heideggerschen Diskurs freilich mit dem
Freudschen Spulenspiel Fort/Da in Verbindung, wie es sich in Jenseits des Lustprinzips, in: Studi-
enausgabe in 10 Bden, Bd., 3, S. 213-272, S. 224 f. findet: »(D)er ganze Denkweg führt (...)
durch das Ent-fernen zu einem Da (...) zurück, das nicht einfach nur nah ist, sondern dessen
Nähe sich in die Ferne des Fort spielen läßt.« vgl. ders., Die Wahrheit in der Malerei, Wien
1992, S. 415.
90 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

»Die Spur ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ.
Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In
der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.«

Revision der »Aura«

Damit haben wir das eigentliche Zentrum unserer Ausführungen erreicht:


struktion der ästhetischen Wirksamkeit aus der Aura. Gleich welcher Vokabel man
den Vorzug erteilt: die Wirkung eines Bildes kann als Evokation seiner Aura, des
Augenblicks einer Blendung beschrieben werden." Wir werden sie allerdings, in
einer kritischen Gegenlektüre der maßgeblichen Passagen bei Benjamin, ihrer
geläufigen Interpretation - Verlust der Aura durch die technische Reproduktion
- entschälen müssen. Gewiß war diese Opposition der Anlaß für die Einführung
seines Begriffs: Benjamins Anliegen galt der Restitution eines spezifisch »Kunst-
haften« der Kunst, das durch dessen Reproduzierbarkeit »ausfalle«; zum anderen
ging es ihm jedoch gerade um das »neue Medium« der Photographie, das er, ge-
gen die traditionelle Ästhetik, in den Rang einer ebenso entauratisierten wie poli-
tischen Kunst heben wollte. Überall folgen die Einlassungen Benjamins dieser
Dialektik: Im Moment des Auratischen hält sich ein Früheres fest, das die ästheti-
sche Praxis an ein Magisches anschließt; andererseits erschient es für eine Kunst
im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit für immer verloren und verdient daher,
als Schein destruiert zu werden. Der Zwiespalt kann anhand der Photographie
abgelesen werden. In einem kleinen Aufsatz zu deren Geschichte schreibt er noch
deren Anfängen ein Auratisches zu, das, mit wachsender technischer Perfektion,
gleichsam illuminativ retuschiert wird, wodurch es um so unfehlbarer ausgelöscht
wird. Die Aura depraviert zum Inszenierten, zu einem Zeichen schlechter Ro-
mantik, deren Zertrümmerung unabdingbar wird. Erst mit dieser wird Photogra-
phie zu dem, was sie ist. Gleichwohl erscheint das Mysterium des Auratischen
nicht zu tilgen: Darin offenbart sich - gegen Benjamin - die tiefe Zweideutigkeit
seines Diskurses. Denn weil die Kunst letztlich, jenseits der Form und des Sym-
bolischen, in der Sphäre religiöser Erfahrung verortet wird, der sie ebenso ent-
stammt, wie sie sich daraus löst, erweist sich das Phänomen der Aura als unaus-
löschbar.' Indem sie sich aus ihr befreit, beerbt sie diese, um in ein Pseudos um-

66 Walter Benjamin, Das Passagenwerk: Der Flaneur, in: ders., Gesammelte Schriften, V.l, Frank-
furt/M. 1982, S. 560. Ausdrücklich wird in einem Brief an Adorno vom 9.12.38 die Opposition
zwischen Spur und Aura als Schlüssel zum Verständnis des Aura-Begriffs herausgestellt; vgl. ders.,
Gesammelte Schriften 1.3, a.a.O., S. 1102.
67 Damit soll freilich nicht behauptet werden, daß es sich bei Lacans »Hindernis« (obstacle), Barthes
punctum oder Benjamins Aura um jeweils dasselbe handelt, vielmehr, daß sie in der Suche nach
einem ähnlichen Punkt konvergieren: Das Sichentziehende im Bild, das dessen Wirkung ent-
springt und sich nur zeigen kann.
68 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, a.a.O., S. 377.
69 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
a.a.O., S. 480 f. Die Ursprungsfrage, die bruchlos Kunst und Mythos zusammenfügt, eine Posi-
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 91

zuschlagen. Notwendig gilt darum das auratische Moment ebensowohl als ein
Histofisches wie der Emanzipation von Kunst inhärent, die es doch überwinden
muß, um ihren geschichtlichen Auftrag zu verwirklichen. Das macht das Prekäre
der Benjaminschen Kunstphilosophie aus: Die geschichtstheoretische Perspektive,
dem historischen Materialismus entlehnt, feiert mit dem Untergang der Epoche
bürgerlicher Freiheit zugleich den revolutionären Umsturz in eine andere, deren
Emblem eine Politizität ist, die gleichzeitig eine verwandelte Kunst einfordert, die
sich des technischen Mediums bedient. Dessen Aufwertung führt umgekehrt zur
Abwertung der Autonomie-Ästhetik, die den Avantgardismus gleich miterledigt,
wie die Polemik gegen den Dadaismus bezeugt. Keineswegs erscheint aber mit
diesem die Problematik der Aura obsolet; vielmehr beharrt Kunst, sowohl der
klassischen wie der nachklassischen Avantgarden, auf ihrer Autonomie, bewahrt
darin, gegen ihre technische Reproduzierbarkeit, ihr auratisches Moment. " Ent-
sprechend hatte Adorno dessen Auslegung erweitert: Es gehöre, über die ästheti-
sche Bestimmung det Werke in ihrer Freiheit hinaus, zum »Konstituens der
Kunst« überhaupt: »Was hier Aura heißt, ist der künstlerischen Erfahrung ver-
traut unter dem Namen der Atmosphäre des Kunstwerkes als dessen, wodurch
der Zusammenhang seiner Momente über diese hinausweist, und jedes einzelne
Moment über sich hinausweisen läßt.« Aura meint demnach das, »was an
Kunstwerken deren bloßes Dasein transzendiert«. Sie bezeichnet das Hinauswei-

tion, die sich gleichermaßen bei Ernst Cassiter findet, vgl. ders., Versuch über den Menschen,
a.a.O., S. 116 ff, 212 ff, ist natürlich problematisch. Sie spielt jedoch für die Rekonstruktion det
Relevanz des Aura-Begriffs keine Rolle, weil diese hier, exemplarisch, aus der Struktur der Bild-
lichkeit selbst entwickelt wird.
70 Waltet Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O.,
S. 501 ff. Diese Abwertung ist linker Kulturkritik immanent; vgl. etwa Peter Bürger, Theorie der
Avantgarde, Frankfurt/M. 4. Aufl. 1982.
71 Von Adorno und Derrida her macht Christoph Menke für die Ästhetik der Avantgatde sogar ei-
ne Radikalisierung vom Status der Autonomie zur Souveränität aus, vgl. ders., Die Souveränität
der Kunst, Ftankfurt/M. 1991; u. ders., Umrisse einer Ästhetik der Negativität, in: Franz Koppe
(Hsg.), Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt/M. 1991, S. 191-221.
72 Zur Revision des Aura-Begriffs vgl. auch Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an,
a.a.O., S. 159 ff, det allerdings unserer Intention insofern zuwiderläuft, als er »Aura« mit »Spur«
im Sinne Derridas ineins setzt. Ein anderes Verständnis von »Aura«, entwickelt am Paradigma
der Ereignis- und Performance-Kunst schlage ich vor in: D. Mersch, Ereignis und Aura. Zur
Dialektik von ästhetischem Augenblick und kulturellem Gedächtnis. In: Musik und Ästhetik,
Heft 3 (1997) (1. Jg.), S. 20-37.
73 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 408. Auf den Zusammenhang von Atmo-
sphäre und Aura, freilich in anderer Bedeutung, weist die Ästhetik Gernot Böhmes hin, die sich
vor allem an Leiberfahrungen orientiert; vgl. Atmosphäre, a.a.O. S. 49 ff, 127 ff, neuerdings
auch ders., Anmutungen. Über das Atmosphärische, Stuttgart 1998. Das Auratische wird hier als
das »Charaktetlose von Atmosphären« schlechthin gedeutet. Dagegen kritisch Michael Hauskel-
ler, Ist Schönheit eine Atmosphäre? Zur Bestimmung des landschaftlich Schönen, in: Hauskeller
et al. (Hsg.), Naturerkenntnis und Natursein, Frankfurt/M. 1998, S. 161-175. Wir werden statt
dessen den Ereignischarakter des Auratischen betonen: Seine Beziehung zum plötzlichen Gesche-
hen eines Fremdwerdens, das allererst das »Daß« vor dem »Was« enthüllt.
74 Theodot W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 460.
92 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

sende selbst, jenes unerreichbare »Mehr«, wodurch die Bilder und Objekte ihre
Selbstpräsenz besitzen und in die Distanz rufen.
Letzteres markiert den leitenden Gesichtspunkt, mit dem Benjamin den Aura-
Begriff zunächst in seinem Aufsatz übet Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
schen Reproduzierbarkeit eingeführt hat: als Erscheinung einer »Einzigkeit«, dem
»Hier und Jetzt« ihres unverwechselbaren Daseins: »Es empfiehlt sich, den (...)
für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff
einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letzteren definie-
ren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.« Die Exem-
plifikation des genuin Geschichtlichem anhand von Naturphänomen unter-
streicht dessen Allgemeinheit. Genannt wird die Unzugänglichkeit einer Präsenz,
als ein gleichermaßen Blendendes wie Sichentziehendes, das in dem Maße Ab-
stand gebietet, wie es den Blick nicht losläßt. Sowenig wir ihre Wirkung abzutun
wissen, sowenig vermögen wir sie umgekehrt - wie das punctum bei Barthes -
heraufbeschwören. Macht, die ihren fesselnden Bann über den Betrachter ver-
hängt, der sich ihr aussetzt, gleicht sie dem Gesang der Sirenen: ein ebenso Un-
faßliches wie Begriffsloses, dessen sich nicht zu »entschlagen« ist, darin der
Schönheit verwandt, von der Jean Cocteau gesagt hat, sie wirke selbst auf die,
welche sie nicht gewahrten. ' Ein Abschnitt aus Charles Baudelaire. Ein Lyriker im
Zeitalter des Hochkapitalismus, einer der letzten Schriften Benjamins, verdeutlicht
zudem die bereits angedeutete Konnexion zwischen Aura und punctum: Wie
nämlich Barthes betont, daß sich das punctum blitzartig einstelle, seine »expansi-
ve«, »oft metonymische Kraft« entfalte, indem es das Bild an eine Kette von un-
bewußten Assoziationen anschließe, die an Marcel Prousts memoire involontaire
gemahnen, zieht Benjamin denselben Vergleich: »Wenn man die Vorstellungen,
die, in der memoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der An-
schauung gruppieren, dessen Aura nennt, so entspricht die Aura am Gegenstand
einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Ge-
brauchs als Übung absetzt.« Dabei nennt die memoire involontaire jenes unwill-

75 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O.,


S. 475, 479, 480 passim. Die Formulierung findet sich bereits in ders., Kleine Geschichte der
Photographie, a.a.O., S. 378.
76 Jean Cocteau, Kinder der Nacht, Werkausgabe in 12 Bden, Bd. 3, Frankfurt/M. 1988, S. 19.
Ausdrücklich bringt Benjamin in seiner Studie über Baudelaire mit dem Schönen in Zusammen-
hang: Schönheit bezeichnet - wie Aura im Kunstwerk-Aufsatz - eine Erfahrung, die auf den Be-
reich des Kultischen verweist: »Dringt sie (die Erfahrung magischer correspondances bei Baude-
laire, H.v.m.) über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als »das Schöne« dar. Im Schönen er-
scheint der Kultwert als Wert der Kunst.« Vgl. ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter
des Hochkapitalismus, a.a.O., S. 638.
77 Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer, a.a.O., S. 53 f. Marcel Prousts Verweis auf die memoire
involontaire, die »unwillkürliche und vollständige Erinnerung« findet sich in Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit, Ausgabe in 10 Bden., Frankfurt/M. 1979, Band 6: Sodom und Gomorra /,
S. 2250. Sie kündigt sich bereits in Swanns Welt I, der berühmten »Madeleine-Situation« an: der
Überdeckung von Augenblicken, die jäh eine Erinnerung evoziert.
78 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, a.a.O.,
S. 644; vgl. ferner auch S. 612 ff.
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 93

kürliche Eingedenken, das durch eine Stimmung, eine beiläufige Bemerkung


oder ein zufälliges Bild evoziert wird: ein Hof spontaner Vorstellungen, die der
Kontur der Erinnerung einen unscharfen Rand verleihen. Benjamin hat sie, üb-
rigens genauso wie Barthes, mit der Kategorie des Unbewußten bei Freud ver-
knüpft, wobei es insbesondere auf den Unterschied zwischen Bewußtsein und
Gedächtnis ankommt: Denn dieses, so Freud, »entstehe an Stelle der Erinne-
rungsspur«, so daß »Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für
dasselbe System miteinander unverträglich sind«; vielmehr erwiesen sich diejeni-
gen »Dauerspuren« dort »am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklas-
sende Vorgang niemals zu Bewußtsein gekommen ist«. Für die sich »plötzlich«
ereignende Erinnerung aber ist, wie Karl-Heinz Bohrer bemerkt hat, eine Über-
deckung wesentlich: denn ein grundlos erscheinender gegenwärtiger »Augen-
blick« löst erst den Kairos des Gedächtnisses aus, gleich, was er beinhaltet: »Es ist
wesentlich, zu sehen, daß der in der Erinnerung begründete »Augenblick« bei
Proust von seiner Zufälligkeit nichts verliert.« Dann aber haftet seinem aurati-
schen Geschehen keinerlei Bewußtheit an: Es ist das Gegenteil von Signifikanz, es
ist nicht erfahrbar »als« etwas, sondern ergeht, ohne auf irgend eine Weise identi-
fizierbar oder im wörtlichen Sinne wieder-holbar zu sein.
Von Brecht als schiere Mystik — »bei einer Haltung gegen Mystik« — bearg-
wöhnt, " hatte Benjamin jedoch das Phänomen vor allem dem Paradigma des
Blicks entnommen, der beantwortet werden muß: »Ableitung der Aura als Pro-
jektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick
wird erwidert.« An anderer Stelle heißt es schärfer: »Dem Blick aber wohnt die
Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese
Erwartung erwidert wird (...), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle
zu. »Die Wahrnehmbarkeit«, so urteilt Novalis, ist »eine Aufmerksamkeit.« Die
Wahrnehmbarkeit, von welcher er derart spricht, ist keine andere als die der Au-
ra. Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der mensch-
lichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten
oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende
schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem

79 Vgl. auch ders., Zum Bilde Prousts, in: ders., Gesammelte Schriften II. 1, Frankfurt/M. 1977,
S. 310-324, hier: S. 311 f.
80 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, a.a.O., S. 235.
81 Karl-Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, a.a.O., S. 192.
82 Vgl. Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, Erster Band 1938^2; 25.7.38, Frankfurt/M. 1974, S. 14.
Daß das mystische oder theologische Paradigma im Werk Benjamins »das konstanteste« sei, be-
tont überdies Stephane Moses, Der Engel der Geschichte, Frankfurt/M. 1994, S. 92. Ein aus-
drückliches Bekenntnis zum Religiösen findet sich zudem in Benjamins Passagenwerk: »Mein
Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschpapier zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgeso-
gen.« Vgl. ders., Das Passagenwerk, a.a.O., S. 588.
83 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, a.a.O.,
Zentralpark, 19: S. 670.
94 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« Die Passage erhellt die wahr-
nehmungstheoretische Orientierung, des Begriffs, sein Anschluß ans Aisthetische.
Dann kann die Aura auf keine Weise rezeptionsästhetisch gedeutet werden; nicht
das Sehen, das etwas sieht, spielt eine Rolle, sondern die Widerfahrnis des »An-
blicks«, ' die Benjamin aus der wesentlichen Struktur des Antwortens begreift und
die, im Widerspruch zu seiner Polemik gegen die Kunst der Avantgarde, zum
Gegenbestand jener »Askesen« gehört, in die die Moderne einzuüben trachtete.
Damit erhellt sich schließlich der ganze Kreis der Begriffe: Das Auratische ent-
springt dem Ereignis der Ekstasis. Es meint den Inbegriff der Begegnung im Au-
genblick. Zwei Momente sind darin beschlossen: primäre Alterität und der Zeit-
modus des Kairos. Die Weise ihres Begegnens ist das Bemächtigt-werden. Die
Gewahrung der Aura bedingt, daß wir den Blick nicht abwenden können: »Die
Aura (...) raubt dem Betrachter seinen Willen«, wie Paul Virilio sagen wird. Sie
beschreibt so die spezifisch aisthetische Erfahrung des Angeblicktwerdens durch
die Dinge in ihrer Gegenwart, das uns zugleich in deren Sicht bringt - eine Er-
fahrung, die Benjamin zudem der »Quelle der Poesie« zugeordnet hat. Sie wahrt
an ihnen ihr besonderes Er-Scheinen. Es wäre zugleich die Weise, wie Seiendes zu-
steht, die Aura mithin Erfahrung dessen, wie das Zustehende sich dem Blick öff-
net und sich im aufmerksam wahrgenommenen Sichzeigen dem Menschen ver-

84 Ebenda, S. 646, 647. Hier ergibt sich außerdem eine Parallele zum bereits im Kunstwerk-Aufsatz
apostrophierten Aura-Verlust durch »technische Reproduzierbarkeit« in bezug auf den Blick: det
Photographie hafte das »Unmenschliche« an, heißt es an der selben Stelle bei Benjamin, das der
Photoapparat »das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben« — eine
Formulierung, die gleichfalls eine Parallele zu Barthes erlaubt, der auf die Paradoxie verweist, daß
der photogtaphische Blick ein Sehen ohne »ansehen« hervorruft: »aberwitziges Phänomen: eine
Noesis ohne Noema, ein Denkakt ohne Gedanke, ein Zielen ohne Ziel«. Vgl. dets., Die helle
Kammer, a.a.O., S. 122.
85 Ausdrücklich verweist Benjamin auf die Anschauung, vgl. Charles Baudelaire. Ein Lyriker im
Zeitalter des Hochkapitalismus, a.a.O., S. 644.
86 Das Wort »Anblick« schließt die Wechselwirkung von Schauen und Angeschaurwerden ein.
Benjamin verweist dazu auf Paul Valery: »Die Dinge, die ich sehe, sehen mich ebensowohl wie
ich sie sehe.« vgl. ders., Ailalecta, S. 193, 194; zitiert nach Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Ly-
riker im Zeitalter des Hochkapitalismus, a.a.O., S. 647. Eine Notiz aus dem Umkreis der Lehre
vom Ahnlichen lautet außerdem: »Gibt es irdische Lebewesen sowohl wie Sachen, die aus den
Sternen zurückblicken? die eigentlich erst am Himmel ihren Blick aufschlagen? Sind die Gestirne
mit ihrem Blick aus der Ferne das Urphänomen der Aura?« Ders., Anmerkungen, Gesammelte
Werke II/3, a.a.O., S. 958. Vom Anblick, den wir nicht nach Belieben zu manipulieren vermö-
gen, der »zu sehen gibt« und sich »det Verwandlung in ein bloßes Aussehen widersetzt«, spricht
gleichfalls Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen, a.a.O., S. 131, 137.
87 Wir werden später insbesondere die Ästhetik des Dadaismus aus dem Erscheinenlassen der Mate-
rialität selbst interpretieren, wozu, auf der Grundlage des Prinzips des Zufalls, vor allem die Kon-
stitution des Ereignisses gehört. Siehe weiter unten Tl. II. 3. Hauptstück, 3. Kap.
88 Nachdtücklich hat Willem van Reijen auf die Bedeutung der Einmaligkeit, des unwiderruflichen
Augenblicks in der Philosophie Benjamins aufmerksam gemacht; vgl. ders., Der Schwarzwald
und Paris. Heidegger und Benjamin, München 1998, S. 136 ff.
89 Paul Virilio, Der Film leitet ein neues Zeitalter der Menschheit ein, in: Karlheinz Barck, Petet
Gente et al. (Hsg.), Aisthesis, a.a.O., S. 166-195; hier: S. 191.
90 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitaltet des Hochkapitalismus, a.a.O.,
S. 647.

r
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 95

menschlicht — damit Erfahrung, die sich nicht selbst erfährt: Erfahrung jenseits
der Ais-Struktur, weil sie aller Erfahrbarkeit von noch vorhergeht. Deshalb hat
auch Adorno in einem Brief an Benjamin den Aura-Begriff als »Spur des verges-
senen Menschlichen am Ding« charakterisiert - eine Einschätzung, der zwar
Benjamin in seinem Antwortschreiben nachdrücklich gefolgt ist, deren »humani-
stische« Implikationen er allerdings nicht zu teilen vermochte: »Es muß (...) ein
Menschliches an den Dingen sein, das nicht durch die Arbeit gestiftet wird.« Es
wäre die Weise des Erscheinens selbst: Erscheinen des Erscheinens im Sinne ur-
sprünglicher Begegnung.
Der so gefaßte Aura-Begriff weist mithin weit über die Kunst hinaus in die
Prozesse der Wahrnehmung überhaupt. Er berührt auf diese Weise eine Fremd-
heit, wie sie allein dem Menschen aufgeht. Daher die fast stereotype Erinnerung
ans Spiel von Nähe und Ferne, das zugleich an eine Ethik des Anderen gemahnt.
Das Phänomen der Aura bedeutet dann die Erfahrung des Anderen im Bild, sein
Enigma als einem Unnahbaren, von dessen Anblick wir gleichermaßen getroffen
wie gerührt werden. Die Aura wird damit zur Eindrücklichkeit, in der sich die
Andersheit des Anderen als Ferne abzeichnet, die in die Nähe tuft. Darin liegt das
Entscheidende der sowohl im Kunstwerk-Aufsatz als auch im Passagenwerk ver-
wendeten Formulierung Benjamins von der »einmaligen Erscheinung einer Fer-
ne«: Sie ist Gewahrung einer Alterität. Das bedeutet: Die Aura entspringt der
Differenz. Sie nennt das Sichzeigen des Anderen als Geschehen seiner Singularität
und Heterogenität — Geschehnis, das für sich selbst steht und aus sich heraussteht.
Der »Unter-Schied« (Heidegger), der damit angesprochen ist, besteht so zwischen
dem eigentlich Ekstatischen als dem Entrückten und dem Gewöhnlichen, dem
Warencharakter der Dinge, der gerade nicht entfernt, sondern zu ihrer »Vernut-
zung«, ihrem Genuß oder gleichgültigem Verbrauch einläd. " Daher hatte Ben-
jamin das Moment des Auratischen als Ausnahme konzipiert, die keine Allge-
meinheit gestattet, höchstens das Beispiel, das Exemplarische: »An einem Som-
mernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen,
der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft - das heißt die Aura dieser Berge,

91 Vgl. Brief Adornos an Benjamin vom 29.2.40, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften 1.3,
a.a.O., S. 1132, sowie die Antwort Benjamins an Adorno vom 7.5.40, ebenda, S. 1134. Adornos
Hauptkritik an Benjamin, wie er sie in seinem Brief vom 18.3.36 formuliert, bleibt allerdings,
daß dieser die Technizität autonomer Kunst unterschätze wie er gleichzeitig die reproduktiver
technischer Medien überschätze. Vgl. dazu auch Marleen Stoessel, Aura. Das vergessene Mensch-
liche, München Wien 1983; sowie Birgit Recki, Aura und Autonomie, Würzburg 1988.
92 Es ist die Scheinlosigkeit, die glanzlose Oberfläche, mithin die Nichtigkeit dessen, was wir als
»Materialität« herausgestellt haben, die Benjamin an der Warenwelt und den technischen Repro-
duktionen der Bilder ausmacht, die zur Diagnose des Aura-Verlusts im Zentrum des Kunstwerk-
Aufsatzes führt. Nicht die Reproduktion selbst ist entscheidend, weil Kunst immer wiederholbar
war, sondern das durch beliebige Reproduzierbarkeit ermöglichte. Dieset Zusammenhang wird
wiederum in der Baudelaire-Schrift hergestellt: »Die Scheinlosigkeit und der Verfall der Aura
sind identische Phänomene.« Vgl. ders., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitaltet des Hoch-
kapitalismus, a.a.O., Zentralpark, 19, S. 670. Es sei hinzugefügt, daß in det Revision dieses Ver-
lust, durch Restitution ursprünglicher Dichtung, einer der stärksten Impulse für die Heidegger-
sche Spätphilosophie liegt.
96 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

dieses Zweiges atmen.« Sie setzt in diesem Falle Einkehr voraus: das Ablassen
von allem Tätigsein und ein Sich-öffnen für das, was jeweils geschieht. Erst solcher
Kontemplation offenbarte sich, was Schelling im ähnlichen Sinne die »Gottheit
des Existierenden« genannt und Levinas der Numinosität des »Antlitzes« zuge-
rechnet hat: Die Aura bekundet die »Gabe« eines Sichzeigen. Ihr Thema wieder-
holte diese im Gewand von Aisthesis.
Erneut wird solches Gewahren allein durch einen »Nichtblick« gewährt: Ne-
gativität des Sehens, die sich dem hingibt, was sich zeigt und darin erst jener Er-
fahrung aufschließt, die aller Erfahrung von »etwas« als »etwas« vorausliegt. An-
ders ausgedrückt: Das Auratische setzt das Überspringen des Sehens-ais voraus;
der Blick, dessen Fokus stets auf etwas gerichtet bleibt und es fixiert, vermag sie
nirgends auszumachen. Der Nichtblick aber erforderte ein »nichtintentionales
Schauen«. Die Differenz, die damit angezeigt ist, besteht folglich zwischen actio
und contemplatio: Wollen und Seinlassen. ' Martin Heidegger spricht entspre-

93 Waltet Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitaltet seiner Reproduzierbarkeit, a.a.O., S. 479.


94 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 158. Diese Gottheit
des Existierenden ist für Schelling das begriffs- und bestimmungslose »Notwendigexistierende«,
d.h. das Absolute als Ereignis der Existenz, das gleichermaßen erst durch den Menschen zum Vor-
schein kommt, indem er ihm denkend Raum und Ortschaft gewährt. Vgl. dazu weiter unten
Tl. III, 2. Kap.
95 Wir verbinden auf diese Weise das Anliegen Benjamins mit dem von Emmanuel Levinas. Dessen
Denken des »Antlitzes«, als einer »Not«, die in die »Ver-Antwortung« ruft, entspticht dem Ant-
wortcharakter der Gewahrung des Auratischen, dort ausgelegt in Ansehung des Elementar-
Ethischen, hier im Hinblick auf die Wahrnehmung, des Aisthetischen; vgl. etwa Levinas, Die
Spur des Anderen, a.a.O., S. 222 ff. Freilich wäre noch die Konnotation der Erfahrung des kon-
kreten Anderen im Antlitz, das begegnet, zur Andersheit überhaupt zu erweitern: Radikale Alte-
rität, die nicht vorn vornherein kapriziert ist auf das Soziale, sondern gleichermaßen die Begeg-
nung von Natürlichem schlechthin betrifft.
96 Keineswegs ist diese Entgegensetzung neu. Als Unterscheidung zwischen »Betrachtung« und »Be-
obachtung« findet sie sich bereits bei Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung, 23. Brief,
in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Hamburg 1957, S. 398 ff. Diese wird als
»leidend-tätig« charakterisiert, jene als Objektivation. Sie spielt gleichermaßen in der Ästhetik
Arthur Schopenhauers eine wesentliche Rolle: Die Grundlegung ästhetischer Erkenntnis erfolgt
dabei aus der Contemplatio, die Schopenhauer strikt der Diskursivität entgegenstellt. Ihr ist die
Dualität von Wille und Welt immanent. Der Kontemplation eignet Plötzlichkeit: gleich einer
Umwendung des Wollens ins Lassens, der intentionalen Erkennens in die nicht-intentionale
Schau des vergeblichen »Getriebes« der Welt, die uns »aus dem endlosen Strome des Wollens
heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt (...), die Dinge frei von ih-
rer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität (...),ihnen ganz
hingegeben (...).« Ders., Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Sämmtliche Werke in
sechs Bänden, Leipzig o.D., Bd. 1 u. 2, hier: Bd. 1, § 38, S. 265. Das bedeutet, die ästhetische
Erfahrung im Sinne der Kontemplation fußt auf einet anderen Form von Wahrnehmung; sie be-
deutet ein Ansprechen-lassen, das sich für einen Augenblick für die Fülle des jeweils Gewahrten öff-
net: »Ihr gelingt es, sooft sie mit einem Male unserm Blicke sich aufthut, fast immer, uns, wenn
auch nur auf Augenblicke, der Subjektivität, dem Sklavendienste des Willens zu entreißen und in
den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen. (...) Denn in dem Augenblicke, wo wir, vom
Wollen losgerissen, uns dem reinen willenlosen Erkennen hingegeben haben, sind wir gleichsam
in eine andere Welt getreten, wo Alles, was unsren Willen bewegt und dadurch uns so heftig er-
schüttert, nicht mehr ist.« Ebenda, § 38, S. 267. Schopenhauer beschreibt also, wie Benjamin in
bezug auf die Aura, eine Ausnahme-Erkenntnis, die er auch als »Seligkeit des willenlosen Anschau-
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 97

chend von der »»Dienlichkeit« des alltäglichen Zeugs, wohingegen die Kunst, das
»Insichselbststehen« des Werkes, ihren Betrachter wartend in eine Welt einbin-
det, die sich nur so und nicht anders entdecken läßt. Verlangt ist dann eine
Verwandlung der Anschauung, die vom gerichteten Sehen zur »Gelassenheit«
übergeht, jene Aussetzung des Willens, die von Meister Eckehardt her als »Of-
fenheit für das Geheimnis« charakterisiert wird. Kunst nimmt daran ihren »an-
deren Anfang«: sie wird asketisch. Ihre Askese entspricht der Sensibilisierung fürs
Auratische selbst. Sie ist vor allem an der Bewegung der Avantgarde der 50er,
60er Jahre abzulesen, in ihrer radikalsten Ausprägung vielleicht an den Arbeiten
John Cages oder Mark Rothkos, Barnett Newmans oder Ad Reinhardts: Reiner
Klang oder bloße Farblichkeit ohne Hierarchie von Geräuschen, Stillen, Tönen
und Abstufungen. Entsprechend appellieren sie an die Übungen der Meditation.
Malerei erstattet auf diese Weise dem Sehen die genuine Bedeutung von Aisthesis
zutück: Wahrnehmung dessen, was sich von sich her zeigt. Es wäre ein nichtreprä-
sentationales Sehen: Blick, der nicht mit Symbolischem aufgeladen ist oder einer
Gegenständlichkeit gehorcht, der daher nicht »etwas« betrachtet, sondern sich
gleichermaßen ans Andere preisgibt wie sich von ihm berühren läßt und damit ei-
gentlich mit dem Verschwinden des Blicks einhergeht. Was dann entsteht, beruht
im eigentlichen Sinne auf dem, was hier »Nichtblick« genannt wurde: kein Su-
chen oder Identifizieren, sondern Gewahren, das sich für jene »Blöße« öffnet, de-
ren »Name« nach Jean-Francois Lyotard das »Sublime«, die »Erhabenheit« ist.
Wenn auch in ihrer Phänomenalität mißverständlich und ungerechtfertigt an die
Analysen Kants angeschlossen, wird gleichwohl das Erhabene, wie vormals die
Schönheit, als auratisches Moment rekonstruiert, freilich im Maße der Darstellung

ens<« charakterisiert, dessen wesentliches Merkmal das »Entgegenkommen« ist; vgl. ebenda, § 38,
S. 268 u. 269. Sie wäre mithin als auratische Erkenntnis zu fassen und die Schopenhauersche Äs-
thetik von dort her neu zu rekonstruieren.
97 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, a.a.O., S. 31 sowie S. 38. Die vielfältigen Be-
ziehungen zwischen Heidegger und Benjamin diskutiert ausführlich Willem van Reijen, Der
Schwarzwald und Paris. Heidegger und Benjamin, a.a.O. Im Kapitel über die Kunstphilosophien
beider wird jedoch, statt auf das Moment des Auratischen, eher auf das »Bilderlose« sowie auf Riß
und Allegorik eingegangen; vgl. ebenda, S. 166 ff. Die Auslotung der Beziehung zwischen Hei-
deggers Ekstasis des Kunstwerks und dem Benjaminschen Aura-Begriff gehört demgegenüber zu
den noch ausstehenden Deutungsarbeiten, zu denen hier nur einige Hinweise gegeben seien.
98 Vgl. Martin Heidegger, Gelassenheit, Pfullingen 6. Aufl. 1979, vor allem S. 24 ff.
99 Vgl. Jean-Francois Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, a.a.O. Die Verbindung zu Ben-
jamin zieht Lyotard in seinem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Peter En-
gelmann (Hsg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990, S. 33-^8, insb. S. 37 ff, so-
wie in ders., Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit, a.a.O., bes. S. 94 ff. Unzureichend er-
scheint freilich die Ausspielung des Erhabenen gegen das Schöne als Kennzeichen der Kunst des
20. Jahrhunderts, weil sie den Prozeß der Avantgarde allein verkürzt auf die Frage nach der Dar-
stellbarkeit. Weniger am Begriff des Erhabenen als an der Erfahrung des Auratischen haben viel-
mehr Lyotards Studien zur Avantgarde ihre Berechtigung. Sie überziehen jedoch ihren Anspruch
wiederum da, wo sie aus ihnen allgemeine Schlüsse für eine generelle Theorie der Avantgarde zie-
hen. Zut Darstellung der Erhabenheitsästhetik vgl. auch Wolfgang Welsch, Christine Pries, Äs-
thetik im Widerstreit, Weinheim 1991; eine Kritik formuliert hingegen Burghart Schmidt,
Postmoderne - Strategien des Vergessens, Darmstadt und Neuwied 1896, S. 132 ff.
98 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

von Undarstellbarkeit. Sie läßt sehen, »daß es Unsichtbares im Sichtbaren


gibt«. Lyotard macht darin die wesentliche Arbeit der Malerei der Avantgarde
aus. Gerade die großen Farbtafeln Barnett Newmans wie Now (...), Be (...) oder
Vir heroicus sublimis (1950—51) konfrontieren mit solcherart Undarstellbarem, in
dem sie jenen Augenblick des Auftauchens festhalten, in dem nicht »etwas« ge-
schieht, sondern das Geschehen selbst aufbricht: »Es handelt sich nicht um die Fra-
ge nach dem Sinn und der Wirklichkeit dessen, was geschieht, oder was das be-
deutet. Bevor man fragt: was ist das?, was bedeutet das?, vor dem quid, ist »zu-
nächst« sozusagen erfordert, daß es geschieht, quod. Daß es geschieht, geht sozu-
sagen immer der Frage nach dem, was geschieht »voraus«. Denn daß es geschieht.
das ist die Frage als Ereignis; »danach« erst bezieht sie sich auf das Ereignis, das so-
eben geschehen ist. Das Ereignis vollzieht sich als Fragezeichen, noch bevor es als
Frage erscheint. Es geschieht, II arrive ist »zunächst« ein Geschieht es? Ist es, ist das
möglich? Dann erst bestimmt sich das Fragezeichen durch die Frage: geschieht
dies oder das, ist dies oder das, ist es möglich, daß dies oder das geschieht?«
Lyotard spricht damit die Irreduzibilität des Ereignisses in seiner Vorgängigkeit
an, das »unbestimmt« bleibt: Wahrnehmung vor der Wahrnehmung, Erschei-
nung vor dem Erscheinen, damit Zuvorkommendes im Sinne Schellings, das allein
durch ein Paradox anzusprechen wäre, weil sich das »Vor«, obzwar nur durch die
Wahrnehmung oder Erscheinung hindurch bemerkbar und erfahrbar, stets an-
ders zeigt als es seiner Gewahrung oder Bestimmung nach ist. Die Differenz, auf
die es dabei ankommt, besteht zwischen Sichzeigen und Bestimmen-als: Ekstatik
der Existenz und Sein im Sinne des Wesens. Durch jede Symbolisierung und ihre
Repräsentationen bereits gespalten und verleugnet, wird dessen Geschehen durch
diese gleichwohl nirgends getilgt, insofern es sich unablässig der Ordnung der
Anschauung und der Zeichen widersetzt. Es »klafft auf«, als unbestimmbarer
»Rest«, bestenfalls im Augenblick eines »Erschreckens« (tremendum) oder einer
»Verwunderung« (thaumaton) gegenwärtig, welche gleichermaßen »außer Fassung
bringen« und darin mit dem Präsenthaften der Präsenz selbst konfrontiert, die das
Unbestimmte als Frage geschehen läßt.
Uneinholbar verschieden, »gibt sich« dann die Aura als Ereignis einer
heit, die im Bild, im Kunstwerk entgegenkommt, ohne durch deren Rezeption, den
Blick und die Interpretation bereits zugerichtet und getilgt zu sein. Das Aurari-
sche scheint in solcher Begegnung auf. Begegnung aber ist anderes als Kommuni-

100 Der Wert der Lyotardschen Analysen erschließen sich eigentlich erst, wenn man sie sowohl von
den Kantischen ablöst, wie diese auf eine Gewahrung des religiösen Erlebens hin radikalisiert.
Gernot Böhme macht zudem datauf aufmerksam, daß Lyotards Kant-Lektüren das Ästhetische
entästhetisieren, um den Impuls der Rationalitätskritik zu betonen; vgl. ders., Lyotards Lektüre
des Erhabenen, in: ders., Kants Kritik der Urteilskraft in neuer Sicht, Frankfurt/M. 1999, S. 64—
82.
101 Jean-Francois Lyotard, Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit, a.a.O., S. 98.
102 Ders., Das Erhabene und die Avantgarde, a.a.O., S. 152. Mit dem Ereignis (occurence) im Sin-
ne der Frage, der Fraglichkeit des »Geschieht-es?« vor aller Bestimmung ist in der Tat das
Grundproblem des Lyotardschen Denkens berührt; vgl. auch ders., Der Widerstreit, a.a.O.,
S. 16.
WIRKUNG UND AURA DER KUNST 99

ka:ation: Ihr kommt nicht die Sttuktur des Dialogs, der Wechselseitigkeit zu: Sie
inmpliziett die Einseitigkeit des Angehenlassens durch das, was begegnet. Man
kcconnte sie mit dem primären »Anruf« vergleichen, dem der gleiche eigentümliche
Söog zukommt, wie der Aura: Sie zwingt zum Antworten. Darin liegt schließlich
ddas von Adorno gleichwie von Benjamin reklamierte Menschliche am Ding: die
Fcorderung nach grundlegender Responsivität. Die eigentliche Wirkung der
K<unst geht erst aus ihr hervor: Wirksamkeit, als das Begehren eines Begehrens nach
SHicht, das zugleich das Begehren nach einer Antwort enthält.

1 103 Auf die besondere Struktur des Anrwortens und der Responsivität, freilich von der Phänome-
nologie Edmund Husserls her entwickelt, hingewiesen zu haben, ist das unbestreitbare Ver-
dienst Bernhard Waidenfels', vgl. etwa ders., Antwort-Register, Frankfurt/M. 1994, sowie ders.,
Topographie des Fremden, Frankfurt/M. 1997, S. 50 ff; ders., Grenzen der Normalisierung,
Frankfurt/M. 1998, bes., S. 69 ff, 99 ff. In einem jüngeren Versuch wird diese Struktur, ähn-
lich wie im vorliegenden, auch auf den Blick appliziert; vgl. ders., Sinnesschwellen, a.a.O.,
S. 124 ff. In einem ähnlichen Sinne haben wir gleichermaßen den Prozeß der Wahrnehmung
überhaupt aus dem Antworten zu rekonstruieren versucht; vgl. D. Mersch, Aisthetik und
sponsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung. In: Erika Fischer-Lichte,
Christian Hörn, Matthias Warstat (Hsg.), Wahrnehmung und Medialität. Theatralität 3 Tü-
bingen Basel (Francke) 2001, S. 273-299.
3 . KAPITEL:
JENSEITS V O N SCHRIFT -
PERFORMATIVITÄT DER STIMME

Sie wählt ihre Wörter: alle scheinen zu liebkosen.


Aber der Tonfall, den sie ihnen verleiht, gibt ih-
nen einen anderen Sinn.
F. de Neufchateau

Der Laut und die Wiederholung

Nach Immanuel Kant gehört zur Sprache die Triplizität von »Worten«, »Gebär-
dung« und »Ton«. Darin nimmt die Stimme eine besondere Stellung ein: Sie
vereinigt »Artikulation, Gestikulation und Modulation«." Gleichwohl sind die
letzteren Momente gegenüber dem Vorrang des ersteren philosophisch stets her-
untergespielt worden. So konstatierte denn auch Kant, daß zwar »jeder Ausdruck
der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der dem Sinn desselben ange-
messen ist«, doch sei dieser lediglich der »Sprache der Empfindungen« zuzu-
schreiben und mithin »mehr Genuß als Kultur«. Die Relevanz der Stimme redu-
ziere sich dabei auf die Manifestation und Evokation einer »Bewegung des Ge-
müts«, die, wie er hinzusetzt, »mehr oder weniger einen Affekt des Sprechenden
bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt« - wie überhaupt das
Musikalische seinen Ort im Gefühl findet und den untersten Platz in der Skala
der Künste einnimmt. Wenngleich Kant somit deren Rang durchaus anerkennt,
bleibt doch ihr unbestrittener Bestimmungsgrund die primäre Bezogenheit der
Stimme auf Sinn. Der Laut, die phone bezieht ihre Orientierung von dort her; ihr
Maß ist die Adäquation der Bedeutung im Ton. Die Stimme ist zuerst Verlau-
tung des Gedankens, dann Klang.
Seit je unterliegt die Analyse des Sprechens dieser Gespaltenheit. Einerseits
steht die Untersuchung der Lautstruktur der Sprache im Zentrum der Betrach-
tungen, insofern diese sich zunächst lautlich artikuliert, so daß die Phonetik, die
Erforschung ihrer Differenzen, das Paradigma für Signifikanz schlechthin abzu-
geben scheint und zur Grundlage linguistischer Semiotik avanciert; andererseits
wird die Materialität der Lautlichkeit selbst als semantisch wie semiologisch irrele-
vant ausgeschlossen. Die Stimme gilt dann als Träger der Zeichen, der Laut als

1 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 51, A 203, B 205, in: Werke in 12 Bden, Wiesbaden
1957, Bde. IX, X, hier: Bd. X, S. 422.
2 Ebenda.
3 Ebenda, A 216 ff, B 218 ff, S. 431 ff. passim.
4 Dies gilt bereits für die klassische Linguistik des 19. Jahrhunderts, auf die sich, von ihr abgren-
zend, gleichermaßen Ferdinand des Saussure beruft. Entsprechend beginnt er seinen Cours de lin-
guistique generale mit Untersuchungen zur Phonetik; vgl. ders., Grundfragen der allgemeinen
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 101

Laut jedoch als vollkommen nichtig, arbiträr oder ohne systematische Position.
Denn die »phonematischen Qualitäten bzw. die Phoneme sind Zeichen; sie sagen
etwas über etwas aus«; gleichwohl bezeichnen sie »an und für sich nichts Positi-
ves, Einheitliches und Konstantes als die bloße Tatsache des Andersseins«; sie
gehen vielmehr allein in der Negativität ihrer Beziehung zu anderen Lauten odet
phonematischen Qualitäten auf: »Die Phoneme an sich haben für uns (...) keine
bestimmte Bedeutung.« So stellt sich die Frage nach der besonderen Natur des
Lautes ausschließlich im Kontext der Frage nach der Natur des Zeichens. Die
charakteristische Engführung läßt sich bis zu den Anfängen antiker Zeichenleh-
ren und Sprachphilosophie zurückverfolgen. Vorzugsweise ging sie im Horizont
des Dialogs, dem auf Rede und Gegenrede angewiesenen Sprechen auf, das zwar
an die Anwesenheit des in der Stimme verkörperten Sprechers gebunden blieb,
deren Wesentliches aber in der Findung der »Wahrheit« gegen die auf Täuschung
und Verstellung angelegte doxa bestand. Die in den Masken der Rede verborgene
Lüge der Worte: darin lag für das frühe griechische Denken der Skandal der
Sprache, dessen sich die Philosophie von der Vorsokratik über die rhetorische
Kunst det Sophistik bis zur Wahrheitssuche Piatons und Aristoteles' ebenso be-
diente, wie sie sich gegen ihn auflehnte. Von Anbeginn an berührte sich so das
Mysterium der Stimme mit der Frage nach der Begründung des logos, der Ange-
messenheit oder Richtigkeit des sprachlichen Ausdrucks gleichwie seiner einge-
tragenen Vernünftigkeit. An ihr fand die Zeichenlehre ihr Kriterium, ihre Aufga-
be und Überprüfung. Noch die spätantike Stoa wird dem im Inneren gebildeten
logos (endiäthetos) den nach außen dringenden Laut (prophorikös) entgegenhalten,
um zwischen beiden den vermittelnden Bereich der Bedeutung und Interpretati-
on einzuschieben, so daß die Sprache nicht nur Falsches zu sagen oder sich im
Mantel der Worte zu verkleiden vermag, sondern auch der Gedanke unbestimmt
bleibt, weil von ihm nur vermittels der Zeichen und ihrer äußeren Töne Kunde
zu erlangen sei.

Sprachwissenschaft, Berlin 2. Aufl. 1967, S. 44. Ferner: Roman Jakobson, Semiotik, Frank-
furt/M. 1992.
5 Roman Jakobson, Semiotik, a.a.O., S. 170 passim.
6 Ebenda, S. 165. Insbesondere erläutert Jakobson den Umstand anhand det Bejahung und Ver-
neinung durch Nicken und Kopfschütteln — zwei Werte, die auch, wie auf dem Balkan, umge-
kehrt verwendet werden können. »Daraus ersehen wir, daß es hier bloß um ein Aufeinanderbezo-
gensein der beiden Oppositionen geht - die Verteilung der Zeichenbedeutungen ist beliebig.«.
Vgl. ebenda, S. 163.
7 Zur antiken Zeichenlehre und Sprachphilosophie vgl. exemplarisch Wolfram Ax, Laut, Stimme
und Sprache. Studien zu drei Grundbegriffen der antiken Sprachtheorie, Göttingen 1986; Til-
man Borsche, Piaton, in: Peter Schmitter (Hsg.), Sprachtheorien der abendländischen Antike,
Tübingen 1991, S. 140-169; Max Pohlenz, Die Begründung der abendländischen Sprachlehre
durch die Stoa, in: Kleine Schriften, hsg. v. H. Dörrie, Hildesheim 1965, Bd. 1, S. 39-86; Anto-
nia Soulez, Das Wesen der phone1. Die Relevanz eines phonetischen Symbolismus für eine Be-
deutungslehre: Kratylos, in: Piaton. Seine Dialoge in der Sicht neuet Forschungen, hsg. v. T. Ko-
busch u. B. Mojsisch, Darmstadt 1996, S. 131-145; sowie Jean-Pierre Vernant, Mythos und Ge-
sellschaft im alten Griechenland, Frankfurt/M. 1987. Es geht hier freilich an keiner Stelle um die
Rekonstruktion der Grundlagen antiker Zeichenlehren, sondern lediglich um das Schicksal eines
Problems.
102 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Das heißt aber: Die Semiotik der Stimme gehorcht vor allem den Gesetzen der
Logik, die hier sowohl die »Dialektik« als Lehre von den Kategorien und Syllo-
gismen als auch die »rhetorischen« Praktiken der Auswahl der topoi und den
Techniken der elocutio umfaßt. Diese gehen jener voran, stellen sie in Dienst,
unterwerfen sie der Ordnung des Grundes, den Figuren der Übertragung oder
den Gesichtspunkten des Diskurses. Die Stimme behauptet sich kraft ihrer physi-
schen Präsenz, die das Wort und seine Bedeutung existentiell an den Sprecher
bindet und ihn in die Verantwortung für das Gesagte stellt, während die Schrift
prinzipiell stumm bleibt: Sie folgt der Sukzession der Argumente, für die nicht
das Zeugnis der Mündlichkeit verbürgt, sondern die Strenge der Begründung.
»Einen Text schreiben heißt, eine Mitteilung es meson, in den Mittelpunkt des
Gemeinwesens legen (...). Als Schrift wird der logos auf den öffentlichen Platz
getragen; er muß (...) in aller Öffentlichkeit Rechenschaft ablegen und sich den
Anfechtungen und Einwänden stellen, die jeder vorbringen darf. Man kann sa-
gen, daß die politischen Spielregeln (...) zu geistigen Spielregeln geworden sind.
Das gleiche Rederecht für jeden gilt nun auch in der intellektuellen Auseinander-
setzung. Der schriftliche Diskurs folgt in seinem inneren Aufbau einer Logik, die
von nun an ein Streitgespräch impliziert, in dem jeder mit gleichen Waffen
kämpft: mit Diskussion und konträrer Argumentation.«
In der Bindung beider, dem argumentativen logos der exoterischen Schrift an
die Gegenwart des Sprechers in der Stimme, entdeckte aber Piaton das Pathos der
Wahrheit, das Derrida, in einer generellen Frontstellung gegen den »Phono-
Logozentrismus« als einen der grundlegenden Fehlschläge abendländischer Meta-
physik zu entlarven sucht: Dem lautlichen Vollzug wohnt eine eigenständige,
nicht auf ihre Semantik reduzierbare Dimension inne, die von sich her verpflich-
tenden Charakter hat, weil sie den Sprecher daran erinnert, in der gegebenen Si-
tuation für die Gültigkeit seiner Rede einzustehen. Sie erfüllt so eine v/esentlich
performative Funktion, die einzig den Anspruch auf Wahrheit, freilich nicht nur
diesen, zu garantieren vermag: Geltung erweist sich nicht in der Schrift und ih-
rem Argument, sondern in der Unmittelbarkeit dialogischer Verbürgung, die
dem Einwand gleichsam leiblich standzuhalten hat. »Daher stammt die spezifi-
sche Autorität, die dem Text als Performanz innewohnt. Das Geschriebene be-
zeichnet, das Gesagte beweist, indem es zeigt.« Die Kritik der Schriftlichkeit, wie
sie Piaton im Phaidros formulierte, offenbart eben diese Zweideutigkeit, die
gleichzeitig den kulturellen Schnitt im Übergang von der oralen zur literalen
Tradition markiert, die die Logizität des Geschriebenen gegenüber der Authenti-

8 Jean-Pierre Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, a.a.O., S. 192.


9 Vgl. vor allem Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., bes. S. 49 ff. sowie ders., Dissemination,
a.a.O., bes. S. 73 ff, 84 ff.
10 Paul Zumthor, Körper und Performanz, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffet (Hsg.),
Materialität det Kommunikation, a.a.O., S. 703—713, hiet: S. 708 (H.v.m.).
11 Vgl. Piaton, Phaidros, 274c ff. in: Sämtliche Werke Bd. 4, a.a.O., S. 54 ff.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITAT DER STIMME 103

zität des Gesprochenen ausspielen wird. " Piaton steht an deren Schwelle, die Ari-
stoteles bereits überschritten und damit eine Geschichte sanktioniert hat, in deren
Verlauf allein die dictio der Rede privilegiert werden wird, während die Rolle der
Performativitat der Stimme nahezu durchgängig in Vergessenheit gerät. Sie reicht
von der Zeichentheorie des Aristoteles, wie sie in der »Organon«-Schrift Peri
hermeneias zugrunde gelegt wurde und deren Wirksamkeit vor allem im Nomi-
nalismus durchschlug, bis zum Modell des Strukturalismus Ferdinand de Saussu-
res, der zwar deren Kritik vorbrachte, aber die Prämissen beibehielt. Denn nach
Aristoteles sind es die Dinge selbst, die in der Seele »Abdrücke« (pathematä) hin-
terlassen, für die die Zeichen Entsprechungen (homoiomata) bilden. Die Stimme
spricht dann der Ordnung der Wirklichkeit nur nach, die sich ins Tableau der
Seele eingeprägt hat. So geht die Struktur der Welt der Struktur der Zeichen vor-
an: die Sprache und ihre Laute füngieren als ein Spiegel des Seienden. Damit
untersteht ihre Legitimität ganz dem Primat einer Ontologie der Anwesenheit, weil
die Kette det Fundierungen mit der Unwandelbarkeit des Wirklichen beginnt,
für dessen Widerhall die semata höchst wandelbare Werkzeuge darstellen. Der
Bezugspunkt ist die Gegenwart der Dinge und deren seelische »Widerfahrnis«; sie
entscheiden über die Wahrheit und Falschheit der Rede, nicht die Präsenz des
Sprechers, der ihre Glaubwürdigkeit bezeugt. Fortan erscheint darum die Stimme
als gleichgültig: sie geht ganz in der Funktion der Bezeichnung auf; ihr Laut oder

12 Havelock markiert den Übergang von Mündlichkeit zut Schriftlichkeit am Übergang von Me-
morierungstechniken, die sich zugleich im Duktus des Philosophierens zwischen Vorsokratik und
Sophistik bzw. der Philosophie Piatons niederschlägt; vgl. Eric A. Havelock, Origins of Western
Literacy, Toronto 1976, sowie ders., The Literate Revolution in Greece and its Cultural Conse-
quences, Princeton University Press 1982. Vgl. dazu ferner auch Walter J. Ong, Oralität und Li-
teralität, Opladen 1987, der den Gedanken zu einer allgemeinen Kulturtheorie erweitert. Dage-
gen betonen den primär mündlichen Charakter für die gesamte griechische Kultur O. Anderson,
Mündlichkeit und Schriftlichkeit im frühen Griechenland, in: Antike und Abendland 33 (1987),
S. 29-77, sowie Istvän M. Bodnär, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im archaischen Griechen-
land, in: D. Mersch, J. Christof Nylri (Hsg.), Computer, Kultur, Geschichte. Beitfäge zur Philo-
sophie des Informationszeitalters Wien 1991, S. 79—85.
13 Keineswegs soll damit eine Kontinuität in det Geschichte der Semiotik nahegelegt werden, viel-
mehr eine Grundlinie, die in dem Maße eine Überlieferung fortschrieb, wie sie mannigfache Ge-
genbewegungen hervorbrachte. Eine Klassifikation verschiedener Zeichentheorien habe ich in der
Einleitung meiner Anthologie von Texten zur Semiotik versucht, vgl. D. Mersch (Hsg.), Zeichen
über Zeichen, a.a.O., S. 9 ff.
14 Aristoteles, Peri hermeneias, 16a-17a. in: Werke, hsg. v. H. Flashar, Bd. 1, Tl. II, Berlin 1994,
S. 3-6, sowie darin Einleitung und Kommentar von H. Weidemann, S. 41-94, 133-157. Zur
Sprachphilosophie des Aristoteles ferner: ders., Grundzüge der Aristotelischen Sprachtheorie, in:
Peter Schmitter (Hsg.), Sprachtheorien der abendländischen Antike, a.a.O., S. 170-192; Peter
Schmitter, Das sprachliche Zeichen. Studien zur Zeichen- und Bedeutungstheorie in det griechi-
schen Antike sowie im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 1987; Jaakko Hintikka, Aristotle's
Concept of Signification, in: Language and Logos, ed. by Martha Nussbaum a. M. Schofield,
Cambridge 1982, p. 241-266; D. Di Cesare, Die Semantik bei Aristoteles, in: Sprachwissen-
schaft 6 (1981), S. 1-30; Andreas Graeser, Aristoteles, in: Tilman Borsche (Hsg.), Klassiker der
Sprachphilosophie, München 1996, S. 3 3 ^ 7 ; sowie Josef Simon, Philosophie des Zeichens,
Berlin New York 1989, S. 9 ff.
104 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Ton ist, als Zeichen, bloße Setzung: leere Hülle einer Konvention, deren Mate-
rialität an sich keine Signifikanz erfüllt.
So ist eine Tendenz angezeigt, die sich durch die Geschichte des Nachdenkens
über Sprache und Rede fortschreibt und die der Stimme als Stimme, ihrer bloßen
Lautlichkeit den Platz verweigert. Wir werden ihr im erklärten Gegenzug zu einer
ganzen theoretischen Überlieferung als deren gleichzeitig Ungedachtes ihre Stel-
lung zurückerstatten versuchen. Ebenso wie den Rückstand einer nicht mehr zu
bezeichnenden Leiblichkeit in der »Sprache der Körper« oder das auratische Mo-
ment der Wirksamkeit im Bildlichen werden wir die Performanz der Stimme, als
Ereignis ihrer Setzung, ihren unverwechselbaren Klang als etwas ausweisen, was sich
der Vorgängigkeit der Zeichen und ihrer Wiederholbarkeit sperrt. Wir werden
uns dabei auf die Traditionen der Mündlichkeit berufen, allerdings so, daß wir an
ihnen jene Flüchtigkeiten festhalten, die nicht in den Texturen spezifischer Me-
morierungsverfahren aufgehen, die sie dem kulturellen Gedächtnis zuführen,
sondern die sich jeder Form von Signifikanz, von »Bedeutungsgebung« unter-
schiebt: Ereignis, das dem Sinn des Gesagten ein Moment des Unsagbaren mit-
gibt. Dabei setzten wir bevorzugt bei jener Position an, die unserer These am
Entschiedensten zuwiderläuft: die strukturale Semiologie Saussures und, als deren
Radikalisierung, die Schriftkonzeption Derridas, die, gleichsam als letzte Konse-
quenz einer Tendenz, die Stimme überhaupt einer genuinen Skripturalität zu-
schlägt. Zwar scheint Saussure zunächst den umgekehrten Weg zu beschreiten
und von der Stimmlichkeit des Lautes seine Untersuchungen beginnen zu lassen;
gleichwohl wird er letztlich der Stimme selbst ebensowenig Beachtung schenken
wie Aristoteles. Ausgehend vom amorphen Gewebe lautlicher Artikulation in
der Rede (parole) sucht er vielmehr vor allem die Einteilungen und Schnitte zu
markieren, wodurch die symbolische Ordnung der Sprache (langue), wie Roland
Barthes es ausgedrückt hat, jene eigensinnigen und irrationalen »Gliederungen«
hervorbringt, »denen die Menschen das Reale unterziehen.« ' Nicht länger gibt
die Präsenz der Dinge den Ausschlag, sondern das System der Differenzen, das
sich in bezug auf die darin ausgedrückten semantischen Einheiten ins phoneti-
sche Material eingeschrieben hat und ihm eine letztlich »unmotivierte« Rasterung
aufprägt, die weder auf ein Sein (ousia) oder die Vernunft (logos) noch auf irgend
eine andere Art von Sinn oder grammatischer Rationalität zurückführbar ist. Je-
des Element - und für Saussure kommt es dabei in der Tat auf den »Laut« der
»Verlautbarung« an - markiert vielmehr eine »arbiträre« Stelle innerhalb eines
Schemas, das als zweiseitiger Algorithmus aus Signifikat und Signifikant fünktio-

15 Vgl. dazu und im folgenden Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissen-
schaft, a.a.O., bes. S. 13 ff, 27 ff, 76 ff., 132 ff. Sie auch unten Tl. II, 3. Hauptstück 1 - 3 . Kap.;
sowie zur Geschichte des Struktutalismus und der Entwicklung der Saussureschen Linguistik:
Jörn Albrecht, Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick, Darm-
stadt 1988; Peter Prechtl, Saussure zur Einführung, Hamburg 1994; Christian Stetter, Struktu-
rale Sprachwissenschaft, in: Tilman Borsche (Hsg.), Klassiker der Sprachphilosophie, a.a.O.,
S. 421-445.
16 Roland Barthes, Elemente der Semiologie, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1981, S. 48.
JENSEITS VON SCHRIFT- PERFORMATIVITÄT DER STIMME 105

niert, ohne daß zwischen beiden eine Relation bestünde. Entscheidend ist dann,
daß mit jeder Position unmittelbar immer schon beides gegeben ist: Bezeichnung
und Bezeichnetes, Ausdruck und Inhalt: »Laut-Gedanke«, wobei der zentrale Be-
griff der »Arbitrarität« nicht meint, wie später noch zu zeigen sein wird, daß des-
sen Schnittstelle wiederum von der Willkür des Sprechens abhängt, sondern daß
es zwischen Signifikant und Signifikat nichts »Motivierendes« gibt, was ihr Band
zusammenhielte. Ihre Verbindung ergeht statt dessen von jenem Ort, den ihr
das Stellensystem zuweist, wobei es auf die Differenzen ankommt, die die Signifi-
kant/Signifikat-Vzare voneinander trennen, nicht auf deren Beziehung selber.
Damit wird, wie es wiederum Barthes formuliert hat, die »Unterscheidung« zur
Quelle des sprachlichen »Wertes«:" Nicht die Zeichen erzeugen deren Forma-
tion, sondern die Ordnung definiert ihre Möglichkeit, indem sie diese — ver-
gleichbar den Variablen einer abstrakten Algebra oder den Gitterpunkten eines
molekularen Kristalls - konstituiert. Wo die Sprache freilich ihre Einschnitte legt,
welche Stellen sie auf welche Weise »besetzt« oder frei läßt, kann aus dieser Per-
spektive nicht entschieden werden: Sie erscheint als eine Konstellation von »Mar-
ken«, die bereits vorliegen und die ihre Funktionen einzig in der Totalität ein-
nehmen: Ein differentielles Netz aus Positionen und Untetschieden, das nach
Anwesenheit und Abwesenheit geknüpft ist und dessen »Herkunft« in seiner
»Nicht-Ursprünglichkeit« besteht: Es ist »da« im unablässigen Zurückkommen
auf sich selbst.
Daher die berühmte Formulierung Saussures: »(D)ie Sprache ist eine Form
und nicht eine Substanz«." Doch entzieht er der Stimme, in dem Maße, wie er
seine Betrachtungen von ihr ausgehen läßt, erneut ihre performative Kraft und be-
stimmt sie vom Privileg der Ordnung her, der sie sich gehorsam fügt. Hier setzt
unser Einwand an: Indem Saussure das »System« (langue) privilegiert, wobei wit
auf die Frage der möglichen Entstellung des Nachlasses noch zu sprechen kom-
men werden," büßt er den Gesichtspunkt der Performativität, der Praxis des Spre-
chens wieder ein. Dann ist jeder Boden bereitet, der erlaubt, der Schrift innerhalb
des Systems jene Stellung einzuräumen, die Derrida ihr gibt. Denn als reine Ver-
kettung von Signifikanten webt deren Struktur eine autonome Textur, die sich

17 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 78, 79.
18 Vgl. ebenda, S. 80.
19 Vgl. ebenda, S. 142; vgl. auch S. 143 f.
20 So heißt es bei Saussure, daß die Sprache »ein System von bloßen Werten (ist), das von nichts
anderem als dem augenblicklichen Zustand seinet Glieder bestimmt wird««. Vgl. ebenda, S. 95
sowie auch 132 ff.
21 Ebenda, S. 146; ebenso S. 134. Die Formulierung hat jenes philosophische Programm allererst
eröffnet, das den Namen »Strukturalismus« eigentlich vetdient. Allerdings läßt sich det Begriff
der »Struktur« im Sinne des späteren Strukturalismus, der sie als apriorische Form versteht, die
die Funktion eines ttanszendentalen Prinzip ausübt, so bei Saussure nirgends nachweisen; viel-
mehr bleibt das Strukturale überall im Status methodischer Hypothese. Insbesondere geben dar-
über die Nachlaßschriften Auskunft; ders., Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nach-
laß, gesammelt, übersetzt u. eingeleitet von Johannes Fehr, Frankfurt/M. 1997.
22 Siehe weiter unten Tl. II, 3. Hauptstück, 1. u. 2. Kap.
106 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

bereits tendentiell jener Schriftlichkeit öffnet, wie sie von diesem später herausge-
arbeitet wurde - ein Umstand, den Saussure mit seiner Auszeichnung des Pho-
nems und der Vorentscheidung für das gesprochene Wort als letzter Instanz der
Sprachwissenschaft vermutlich bestritten hätte," der gleichwohl in der Folgerich-
tigkeit seiner theoretischen Entwicklung liegt. Deswegen hat Derrida angemerkt:
»Der Logozentrismus (...) hindert Saussure und die meisten seiner Nachfolger
daran, klar und deutlich zu bestimmen, was man »den vollständigen und konkre-
ten Gegenstand der Linguistik« nennt. Umgekehrt aber bereitet Saussure (...) in
dem Augenblick den Weg für eine allgemeine Grammatologie, wo er nicht mehr
ausdrücklich von der Schrift spricht und meint, dieses Problem abgeschlossen zu
haben. Eine solche Allgemeine Grammatologie wäre aus der Allgemeinen Lingui-
stik nicht mehr ausgeschlossen, sondern würde sie dominieren (...). Im Saussure-
schen Diskurs schreibt sich etwas, das nie gesagt wurde: nichts anderes nämlich
als die Schrift selbst als Ursprung der Sprache.«"
Bereits in der Sache ist nämlich angelegt, daß der Laut, soweit er als Zeichen
füngieren soll, sich selbst gleich bleiben muß; andernfalls verliert er jegliche Stabi-
lität. Wir hatten bereits darauf hingewiesen: Seine Dauerhaftigkeit ist Funktion
seiner Wiederholbarkeit. Diese geht jener voraus. »Etwas« muß darum an ihm
»aufschreibbar« sein: Die Zeichenhaftigkeit des Zeichens, die bewirkt, das er sich
wiederholen, d.h. »zirkulieren« kann. Derrida hat eben diesen Schritt vollzogen
und die Lautlichkeit ganz von der Skripturalität des Signifikanten hergeleitet und
wiederum als Marke (marque) kennzeichnet, dessen Identität allein der Möglich-
keit der Wiederholung geschuldet ist. Als bloßer Präsenz eignet der phone eine
Hinfälligkeit, die sie »in dem Augenblick auszulöschen scheint«, da sie hervorge-
bracht wird;" erst ihre Iterierung verleiht ihr Identifizierbarkeit und damit auch
Fixierbarkeit als »Buchstabe«, welche erlaubt, sie mit einem Signifikat auszustat-
ten und als Zeichen (signe) in Umlauf zu bringen." Wiederholbarkeit - und mit-
hin auch Zitierbarkeit - gehören für Derrida, ebenso wie schon für Saussure, zu
den »notwendigen« und »wesentlichen« Bedingungen des Zeichens: »Denn es
gibt kein Wort, noch ganz allgemein ein Zeichen, das nicht durch die Möglich-
keit seiner Wiederholung konstruiert ist. Ein Zeichen, das sich nicht wiederholt,

23 Vgl. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 13 ff,


27 ff.
24 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 76, 77.
25 Siehe oben Einleitung.
26 Vgl. Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 133.
27 Zum Begriff der Wiederholung bzw. Itetabilität vgl. ebenda, S. 103 ff. sowie ders., Signatur Er-
eignis Kontext, a.a.O., S. 333 f.; Grammatologie, a.a.O., S. 120 f. Ferner: Geoffrey Bennington
und Jacques Derrida, Jacques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey Bennington und Jacques Derri-
da, Frankfurt/M. 1994, S. 65. Der Gedanke der Iterabilität entspricht dem der »Zirkulation«« bei
Saussure, wie er sie bereits seit seiner Genfer Antrittsvorlesung formuliert hatte; vgl. ders., Lingui-
stik und Semiologie, a.a.O., S. 240 ff. Siehe außerdem weiter unten, Tl. IL 3. Hauptstück,
2. Kap.
28 Vgl. Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 417 ff. sowie weiter unten
Tl. II, 3. Hauptstück, 2. Kap.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 107

das nicht schon durch die Wiederholung in seinem »ersten Mal« geteilt ist, ist kein
Zeichen. (...) Der bedeutende Verweis muß deshalb, um jedesmal auf dasselbe
verweisen zu können, ideal sein - die Idealität aber ist nur das gesicherte Vermö-
gen der Wiederholung.«" Die Einsicht entspricht einem zentralen Topos der Psy-
choanalyse über die Struktur der Erinnerung: Denn die Hervorholung eines Er-
innerten vollzieht dessen Wieder-Holung als Rückholung in ein anderes. Sie folgt
damit nicht der Chronologie, sondern den Winkelzügen der Gedächtnisspur, die
stets umschreibt und verstellt, was sie einbehält. Derrida variiert mithin jenen
Ausdruck Lacans, mit dem dieser die charakteristische Identitäts- und Differenz-
struktur der Sprache kennzeichnete: »Transposition« im buchstäblichen Sinne
von trans-ponarr. Umstellung, Versetzung oder Ent-Stellen der Positionen inner-
halb einer gegebenen Ordnung, um sie immer wieder von neuem zirkulieren zu
lassen. Sie wird zur Altetnierung der Zeichen durch ihre Iteration hindurch: Ein
Prozeß dauernder Transgression, den später Judith Butler unter dem Titel der
»Performativität« verhandelt hat.
Es gibt damit keine rein identischen Wiederholungen: Die Repetition bedeutet
nicht die unendliche Replikation des Selben; vielmehr ereignet sich in der Wie-
derholung eine genuine Differierung. Vor der Identität kommt die Differenz.
Gleichwohl gestattet diese Identifizierung: Etwas bleibt in der Wiederholung
gleich. Eine Passage aus den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft
(Cours de linguistique generale) Saussures erläutert den Gedanken anhand der bei
unterschiedlichen Anlässen ausgesprochenen Begrüßungsformel »Messieurs!«: Sie
wird stets gleich verstanden, unabhängig davon, wie und zu welchen Zweck sie
ausgesprochen war: »Wenn man bei einem Vortrag mehrmals das Wort Mes-
sieurs! wiederholen hört, hat man den Eindruck, daß es sich jedesmal um densel-
ben Ausdruck handelt, und gleichwohl bieten die Verschiedenheiten in Betonung
und Modulation sich an den verschiedenen Stellen mit sehr deutlicher lautlicher
Verschiedenheit dar (...).«" Es gibt ganz offenbar identische Zeichen; aber ihre
Gleichheit erzeugt sich durch ihre Verschiedenheit. Was die Gleichheit konstitu-
iert, ist ihre Wiederholung. Deswegen kommt, Saussure zufolge, die Identität in
der Differenz nur zustande, indem sich etwas in der Stimme einbehält, was der
»zufällige(n) Materie fremd ist«: »Jedesmal, wenn ich das Wort Messieurs! an-
wende, so erneue ich dessen Materie; es ist ein neuer Lautakt (...). Was die bei-
den Anwendungen desselben Wortes einander gleich macht, beruht nicht auf der
materiellen Gleichheit, noch auf der genauen Ähnlichkeit des Sinns, sondern auf
den Elementen, die man wiederfinden muß (...).« Derrida wird nicht zögern, in
den fraglichen Elementen die Skripturalität des Zeichens zu erblicken. Es ist etwas

29 Jacques Derrida, Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit det Repräsentation, in:
Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 351-379, hier: S. 373 u. 374 passim.
30 Vgl. Jacques Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud,
a.a.O., S. 36.
31 Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, a.a.O., vor allem S. 190 ff.
32 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 128.
33 Ebenda, S. 130.
108 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

am Laut, was weder seiner Materialität noch seiner vermeintlichen Bedeutung


gehorcht, das dennoch seine Identität sichert und das unmittelbar mit seinem
Zeichencharakter in Zusammenhang steht, denn »(d) er Schall der Stimme reicht
niemals weit genug. Es fehlt an Reichweite (...): obschon er der Dauer angehört,
währt der Schall niemals lange genug, er ermangelt auch der Dauer.« An anderer
Stelle heißt es: »Nie kann ein Zeichen ein Ereignis sein, wenn Ereignis etwas un-
ersetzlich und irreversibel Empirisches sein soll. Ein nur »einmal« vorkommendes
Zeichen wäre keins. (...) Denn ein Signifikant (überhaupt) muß in seiner Form
trotz aller ihn modifizierenden Unterschiedlichkeit seines empirischen Auftretens
stets wiederzuerkennen sein. Er muß derselbe bleiben und als derselbe immer wie-
derholt werden können, trotz der Deformationen und durch sie hindurch, die
das, was man empirisches Ereignis nennt, ihm notwendigerweise zufügt. Ein
Phonem oder Graphem (...) kann (...) als Zeichen und als Sprache überhaupt
nur insofern fungieren, als seine formale Identität es wiederzugebrauchen und
wiederzuerkennen gestattet.«
Wiederholbarkeit - wie auch Zitierbarkeit - verbürgen somit sowohl die
Identifizierbarkeit einer Markierung als auch ihre Wiederverwendung ungeachtet
der Vielheit und Variabilität der Kontexte, in denen sie vorkommen kann. Sie si-
chern ihre Autarkie gegenüber ihrer bloß subjektiven Verwendung, wie konven-
tionell, ausgefallen oder obskur auch immer. Derrida formuliert damit einen
ebenso radikalen Antiintentionalismus wie Antikontextualismus: Gelöst von sei-
nem Erzeuger, wie gleichermaßen unabhängig von seinem Kontext, vermag das
Zeichen kraft seiner Iterabilität frei zu kursieren und ständig wieder neu »aufgele-
sen« und weitergegeben zu werden, um in endloser »Flottierung« durch Zeit und
Raum zu gleiten; »Spur«, die changiert, bereit, sich stets anders zu zeigen. Es ist
diese Autonomie, die wiederum ihren Bestand als Schrift, wie es im Schlüsseltext
Signatur Ereignis Kontext dargelegt wird, »über den Tod des Autors« wie auch des
»Empfängers« hinaus garantiert: »Die Möglichkeit, die Zeichen (...) zu wieder-
holen und damit zu identifizieren, ist jedem Code implizit, macht diesem zu ei-
nem mitteilbaren, übermittlungsfähigen, entzifferbaren Gerüst, das für einen
Dritten, also für jeden möglichen Benutzer überhaupt wiederholbar ist. Jede
Schrift muß also, um zu sein, was sie ist, in radikaler Abwesenheit eines jeden
empirisch feststellbaren Empfängers überhaupt funktionieren können. Und die
Abwesenheit ist keine kontinuierliche Modifikation der Anwesenheit, sie ist die

34 Jacques Derrida, Scribble. Macht/Schreiben, in: William Warburton, Versuch über die Hiero-
glyphen der Ägypter, Frankfurt/M. Berlin Wien 1980, S. XXIII.
35 Ders., Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 103- Der Ausschluß des »Einmal« deckt sich
mit Wittgensteins Zurückweisung einer Privatsprache: »Ist, was wir »einer Regel folgen« nennen,
etwas, was nur ein Mensch, nur einmal im Leben, tun könnte? (...) Es kann nicht ein einziges
Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung
gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein etc.« Ludwig Wittgenstein, Philoso-
phische Untersuchungen, a.a.O., § 199, S. 105.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 109

Unterbrechung der Anwesenheit, (...) eingeschrieben in die Struktur des Zei-


chens (...).«
Genau darin besteht die eigentliche Emphase der Schriftkonzeption Derridas:
Die Iterabilität des Zeichens befindet sich an der Wurzel auch der gesprochenen
Sprache als »gramme«, als Laut-Schrift-Zeichen. Der Gedanke ist freilich so alt
wie das Nachdenken über Zeichen selber: Saussure nimmt ihn vorweg, wenn er
die Sprache mit dem Prinzip ihrer »Zirkulation« in Verbindung bringt, und
Peitce formuliert Verwandtes, wenn er betont, daß die Zeichen nur in Form von
»Replikas« existieren. D.h. aber, die Stimme, soweit sie sich artikuliert, hat den
Charakter einer Signatur, nicht in dem Sinne, daß ihr eine Schriftlichkeit immer
schon vorausginge und sie determinierte - ein Schluß, der schon deswegen ab-
surd wäre, weil die meisten Sprachen über keinerlei Schriftsatz verfügen - , wohl
aber, daß mit der Wiederholbarkeit ebenso ihre Lesbarkeit wie ihre Wiederver-
wendung in anderen Kontexten gegeben ist, so daß ihr qua Zeichen bereits eine
genuine Skripturalität zukommt. So erweist sich das Zeichen als iterierbare Mar-
ke per se als skriptural: Es konstituiert mit seiner Wiederholbarkeit gleichzeitig
seine Schriftlichkeit. Unbestritten entspringt damit die Schriftkonzeption Derri-
das einer Überhöhung des Saussureschen Programms, die jedoch bereits in ihm
angelegt ist; gleichwohl verbindet er mit ihr die zusätzliche Emphase einer prinzi-

36 Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, a.a.O., S. 333.


37 Die fruchtbarsten Äußerungen finden sich im Zusammenhang der Anagrammstudien und der
Untersuchung germanischer Legenden; vgl. Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie,
a.a.O., S. 417 ff., bes. S. 419, 422, 428, 432. Die dort versammelten Notizen decken sich z.T.
mit den von Jean Starobinski herausgegebenen und kommentierten Notizen zu Anagrammstudi-
en Saussures, vgl. ders., Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure,
Frankfurt/M. Berlin Wien 1980. Teilauszüge dieser Notate erschienen in Frankreich bereits 1964
und übten einen nachhaltigen Einfluß auf den Poststrukturalismus aus; vgl. dazu auch das Vor-
wort Starobinskis, ebenda S. 6.
38 Vgl. Charles Sanders Peirce, Neue Elemente, in: ders., Naturordnung und Zeichenprozeß,
Schriften über Semiotik und Naturphilosophie, hsg. v. H. Pape, Frankfurt/M. 1991, S. 344.
Freilich wäre hier auf eine charakteristische Differenz hinzuweisen: Die Fähigkeit zur Replikation
beruht bereits auf der Identität det Zeichen als Kopie ihrer selbst durch die Vielheit der mögli-
chen »Fälle« hindurch. Sie setzt mithin die »Logik«« der Identität bereits voraus. Entsprechend hat
dagegen Nelson Goodman eingewandt, daß Notietungen zwat auf Marken beruhten, aber nicht
»alles«« am Zeichen wiedetholbar machten: Ein Wort kann in unterschiedlichen Verwendungsfäl-
len ganz verschieden ausgesprochen oder betont werden, ein Bild untetschiedliche Größen auf-
weisen oder seine Färbung durch seine Reproduktion entstellt sein: Dennoch können sie als das
gleiche Zeichen fungieren. Notationen setzen deshalb nicht die Produktion »exakter Duplikate««
voraus, vielmehr implizieren sie sie; vgl. dazu Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O.,
S. 129, Anm. 3. Entscheidend ist also, daß die Replikation die Skripturalität bereits voraussetzt,
nicht umgekehrt. Nichts anderes behauptet Derrida.
39 Bezeichnenderweise hat Derrida später, von Levinas her, die Radikalität dieser Ausschließlichkeit
abgemildert; vgl. ders., Das Beinahe-Nichts des Undarstellbaren, in: ders., Auslassungspunkte. Ge-
spräche, hsg. v. Peter Engelmann, Wien 1998, S. 87-97, hier: S. 88d. Dort heißt es entschrän-
kend, daß sich eine »Spur«' abzeichnen kann, die noch nicht Sprache (langage) oder Rede (parole)
sei: »Von diesem Punkt an kann keine Rede mehr davon sein, die Schrift dem gesprochenen
Wort gegenüberzustellen, es gibt keinerlei Einspruch gegen die Stimme; ich habe mich lediglich
mit der Autorität beschäftigt, die man ihr verliehen hat, mit der Geschichte einer Hierarchie.«
Vgl. ferner ders., Voice II, in: ebenda, S. 167-181; vor allem S. 172 ff.
110 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

piellen »Dekonstruktion« des »Phonologismus« oder »Phono-Logozentrimus«,


wie er später sagt:" der Dominanz der »Spontaneität des Atems« in der Sprache
und sämtlichen aus dem Umkreis der Geschichte abendländischer Metaphysik
hervortretenden Semiotiken überhaupt, die den Grund des Wortes bzw. Zeichens
in der Präsenz der Stimme und mithin des logos zu garantieren suchten.
Stimme und Schrift werden demnach nicht als zwei abstrakte Entitäten gegen-
übergestellt und letztere zu Ungunsten ersterer aufgewertet; vielmehr erfolgt eine
Kritik nur insoweit, als der phone traditionell die Begründung des Zeichens zufällt,
die Anwesenheit des Lautes also die Rolle des Fundierenden erfüllt. »Die Linguistik
bestimmt in letzter Instanz und in der irreduziblen Einfachheit ihres Wesens die
Sprache - den Bereich ihrer Objektivität - , als die Einheit von phone, glossa und
logos. Diese Bestimmung geht zu Recht allen möglichen Differenzierungen voran,
die in den terminologischen Systemen der verschiedenen Schulen haben entste-
hen können: Sprache/gesprochenes Wort; Code/Message; (Sprach-)Schema/
(Sprach-)Gebrauch; Linguistik/Logik; Philosophie/Phonematik/Phonetik/Glosse-
matik.« " Ihre Dekonstruktion trifft insofern die in der Bevorzugung der Stimme
implizierte Vorrangigkeit der Präsenz als Ort der Wahrheit und des Sinns und
somit die Verknüpfung der »Epoche der phone« mit der »Epoche des Seins über-
haupt als Präsenz, d.h. der Idealität«. Deren Autorität wohnt die Gegenwart des
»Signifikats« inne: Der »Vollzug«, die »Lebendigkeit« des Lautes läßt, wie Derrida
auch sagt, den »Leichnam des Wortes Fleisch werden« und in eine »geistige Leib-
lichkeit« übertreten, die zur eigentlichen Quelle von Bedeutung wird und dem-
nach zwischen phone und logos eine ursprüngliche Affinität stiftet - ein Zusam-
menhang, der allerdings immer schon dem Spiel der »ursprünglichen Verspä-
tung«, der Wiederholung und Nachträglichkeit und folglich auch der Differenz
untersteht, die wir noch gesondert diskutieren werden, die allerdings, wie sich
herausstellen wird, durch die Verbindung gerade wieder ausgesetzt wird. Das
Vergessen der Differenz, die den Laut als Zeichen konstituiert, bedeutet dann, im
selben Maße ihn als Ort einer Signifikanz auszeichnen wie ihn verfehlen. Somit

40 Vgl. ders., Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 138, ders., Dissemination, a.a.O.,
S. 204 ff.
41 So heißt es etwas in ders., Grammatologie, a.a.O., S. 76: »In dem der phonetisch-alphabetischen
Schrift zugeordneten Sprachsystem ist die logozentristische Metaphysik entstanden, die den Sinn
des Seins als Präsenz bestimmt. Der Logozentrismus, die Epoche des erfüllten Sinns haben aus we-
sensmäßigen Gründen jede freie Reflexion über den Ursprung und den Status der Schrift ausge-
klammert und suspendiert, haben jede Wissenschaft von der Schrift unterdrückt (...).«<
42 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 52, 53.
43 Ders., Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 130.
44 Zu den zitierten Passagen, die sich freilich auf die Zeichen- und Sprachtheorie Edmund Husserls
aus den Logischen Untersuchungen beziehen, vgl. ebenda, S. 65, 66 passim. Derrida spielt hier ins-
bes. auf die »soma-sema«' Assoziation in Piatons Kratylos an.
45 In der Grammatologie heißt es entsprechend: »Der Lebensakt, der Akt, der das Leben oder die
Lebendigkeit verleiht, die den Körper des Signifikanten beseelt und in den be-deutenden Aus-
druck verwandelt, die Seele der Sprache also scheint sich nicht von sich selbst und ihrer Selbst-
präsenz zu trennen.« Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 134.
46 Vgl. bes. unten Tl. III, 1. Kap.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 111

wurzelt die Kritik der Stimme in der Kritik der Präsenz, der Präsenz des Präsens
und des Präsenten als letzter Instanz einer Bedeutung, die der Rede, ihrem Sagen
allererst ihre Gültigkeit verleiht - und doch unmittelbar sich von sich selbst spal-
tet und aufhebt. Diese Paradoxie, Rückbeziehung auf eine Präsenz, die nur in ei-
ner Nicht-Präsenz wurzeln kann, wird von Derrida über Jean-Jacques Rousseau
bis zu Piaton zurückverfolgt, um an ihr die genuine Unterschlagung von
Schriftlichkeit, ihre »Verkürzung (...) zu einem bloßen Instrument«1 , zum »Sup-
plement der Stimme« aufzudecken. Er sieht darin eine Tendenz am Werk, die
schließlich der gesamten abendländischen Metaphysik als Grundzug inhäriert:
Auszeichnung der Präsenz, des Augenblicks oder der Unschuld des reinen An-
fangs oder Ursprungs gegenüber dem Primat von Schriftlichkeit, der »Verspä-
tung«, der Einzeichnung einer »Spur«, schließlich der »Supplementarität ohne
Supplement«, der Sekundarität ohne Primarität, sogar »ohne Ohne«.

Kritik der »Schrift«

Allerdings hat solcher Angriff offenbar nur dort seine Berechtigung, wo er von
vornherein die Einheit von Stimme und Sinn, von phone und Wahrheit untetstellt.
Nirgends tangiert er den Laut als Laut, d.h. dessen besondere Färbung oder In-
tensität, seine Performativität, der er untersteht, oder die Wirkung, die von ihm
ausgeht, deren Spuren wir gegen die »Spur« der Schrift wiederzuentdecken
trachten. Insbesondere fehlt jeglicher Verweis auf den Augenblick der Setzung, mit
der die Stimme anhebt und die seinen unverwechselbaren Klang preisgibt, das,
was auf unterschiedliche Weise Saussure seine Materialität und Michel Serres ihr
»Fleisch« nannten - jene seltsame und unbestimmbare Nuance, die dennoch
sich plötzlich vernehmen läßt und in mir nachklingt, ohne daß sie etwas Be-
stimmtes sagte oder mir zuspräche, eine unaussprechliche Note, die sich nieman-
den zuwendet, sondern etwas »Anklingen« läßt, wie eine Saite, die geschlagen
wird und vielleicht das Bild einer Erinnerung weckt oder auch Ablehnung her-

47 Vgl. ders., Grammatologie, a.a.O., S. 173 ff, 244 ff. sowie ders., Dissemination, a.a.O.,
S. 123 ff, 177, 181.
48 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 53.
49 Vgl. ders., Die Wahrheit in der Malerei, a.a.O., S. 156. Die Formel wird freilich hier auf Kants
Analytik des Erhabenen bezogen, läßt sich gleichermaßen aber auf das Programm Derridas, be-
sonders wie es in der Dissemination entwickelt ist, beziehen.
50 »Erscheinung: etwas wie Fleisch tritt aus der Stimme hervor. (...) Die Stimme gibt dem Namen
Fleisch, befreit das Wort vom Tod (...).«< Vgl. Michel Serres, Die fünf Sinne, a.a.O., S. 174. An
anderer Stelle heißt es: »Bevor die Sprache Bedeutung besitzt, macht sie Lärm; der Lärm kommt
ohne die Bedeutung aus, aber die Bedeutung nicht ohne den Lärm. (...) Wer spricht, singt unter
der Sprache.« Ebenda, S. 158, 159 passim. Mit solchen und ähnlichen Formulierungen sucht
Serres jene Seite der Sinnlichkeit zu rehabilitieren, die durch die Vorherrschaft eines semiotischen
Fundamentalismus verschüttet wurde. Von der Stimme als dem »Fleisch der Sprache« spricht in-
dessen gleichfalls Helene Cixous, Geschlecht ohne Kopf? in: Karlheinz Barck, Peter Gente et al.
(Hsg.), Aisthesis, a.a.O., S. 98-122, hier: S. 120. Für Saussure jedoch bleibt die Betrachtung der
Materialität als Materialität irrelevant; siehe weiter unten, Tl. IL, 3. Hauptstück 3. Kap.
112 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

vorruft. Die Stimme ist Klang; ihre Musikalität bestimmt ihre Wirkung jenseits
aller Semantik, insofern sie wesentlich an den Leib gebunden erscheint. Derrida
betont demgegenüber einzig die Marke, den Träger des Sinns, die Manifestation
eines Bedeutens — jenseits ihrer Körperlichkeit, ihrer Sinnlichkeit, mit der sie her-
vortreten. Keineswegs betrifft deshalb die Dekonsttuktion die Ekstasis der Präsenz
selbst, soweit dieser ihr eigenes Sichzeigen zukommt; sondern die Stimme wird
nur da und solange Thema, als die phone die Stimme des logos markiert, ihr Si-
gnifikant das Signifikat evoziert und dadurch beständig auf das Band zwischen
Zeichen und Bedeutung bezogen bleibt. Der Fokus des Dekonstruierten geht mit-
hin überall in die Dekonstruktion mit ein, insofern er deren Voraussetzung bil-
det: Dann wird freilich das, was dieser verdeckt, mitverdeckt. So liegt in dem von
Derrida reklamierten Vergessen der Differenz selber ein anderes Vergessen: Verges-
sen dessen, was im Ereignis des Lautes mitschwingt: sein spezifisches Volumen,
seine Armut oder Fülle, die unterschiedlichen klanglichen Qualitäten, seine
Reinheit oder Brüchigkeit, sein Anspruch, gehört zu werden, seine Klage oder
Dringlichkeit, seine berückende Poesie oder auch die Unerträglichkeit, die ihn
schroff und abweisend erscheinen läßt wie dergleichen mehr: Materialität der
phone, die sich zeigt, nicht spricht.
Bereits Saussure, der von der Materialität ausgeht, verdrängte den Laut, seine
Materialität als Materialität, die Einmaligkeit des Augenblicks, mit dem et entge-
gentritt und anwesend wird. Natürlich bedarf es, um Zeichen zu werden, der
Identität des Elements, das in ihm spricht, dennoch bleibt die Singularität dessen,
was et in seiner Verlautung mitzeigt, irreduzibel. Nicht indifferent gegen das Ge-
sagte nuanciert er auf eine subtile Weise dessen Bedeuten, läßt aufhorchen, zu-
weilen weghören oder erschüttetn. Mit außerordentlicher Sensibilität für das
Sinnliche hat Roland Barthes dem nachzugehen versucht. Er hat in diesem Zu-
sammenhang von der »Rauheit der Stimme« gesprochen, die die spezifische Qua-
lität der Lautlichkeit direkt mit dem Körpers verbindet. Sie läßt sich nicht kulti-
vieren, d.h. in Bedeutungen verwandeln oder mit Sinn überformen: Sie hat
»nichts mit der Kommunikation, der Darstellung (von Gefühlen) und dem Aus-
druck zu tun«, sondern mit dem, was Barthes die »Wollust« der »Laut-
Signifikanten« nennt, die sich jeglicher Verfügung widersetzt: »In der Kehle, dem
Ort, wo das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird, und im Gesichtsausdruck,
bricht die Signifikanz auf. (...) Man höre einen russischen Baß (...): Etwas ist da,
unüberhörbar und eigensinnig (man hört nur es), was jenseits (oder diesseits) der
Bedeutung der Wörter liegt, ihrer Form (...), der Koloratur und selbst des Vor-
tragsstils: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist (...). Diese Stimme ist
nicht persönlich: sie drückt nichts vom Sänger, von seiner Seele aus; sie ist nicht
originell (...) und ist dennoch gleichzeitig individuell: Sie läßt einen Körper hö-
ren (...).« Die Einzigartigkeit der Stimme wird dabei nicht durch die Besonder-
heit der Individualität verkörpert, der sie angehört, sondern durch das, was an ihr
gerade unbeherrschbar ist und in der Reflexion auf sie fremd erscheint: Unbe-

51 Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme, a.a.O., S. 271-273 passim.


JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMAT1V1TÄT DER STIMME 113

schreiblichkeit des Klangs oder Tonfalls, wie ihn Zeitgenossen z.B. an der Un-
wirklichkeit von Kastraten-Stimmen empfunden haben mußten. Entsprechend
schlägt, was Barthes als »Rauheit« bezeichnet, Michel Serres wiederum der
kalität zu, die sich dort zeigt, wo das Sprechen Gesang wird: »Wer spricht, der
singt unter der Sprache (...). Die Musik, unterhalb der Sprachen, physische
Grundlage und Voraussetzung, liegt unterhalb des Sinns und ihm voraus. (...)
Die Musik erhebt ihren Gesang noch vor der Sprache, vor dem Sinn, als Voraus-
setzung dessen, was immer sanft bleibt. (...) Unter dem Gesang (...) scheint ir-
gend eine vergessene, dem Sinn noch vorausliegende Sprache zu sprechen, die so
alt ist, daß sie sich an das Fleisch wendet. Sie läßt uns die materielle Grundlage
der Sprache hören, ihre Energie (...).« "
So gibt sich die Leiblichkeit des Leibes im Klang der Stimme, gewinnt eine
vielfältige, in der Klassifikation durch Eigenschaften nicht zu fassende Präsenz:
eine Ekstasis, die die Schrift provoziert, deren Kapriziösität sie gerade verdeckt.
Etwas bleibt in der Verwerfung der Stimme durch das Diktum der Skripturalität
des Zeichens ungedacht, etwas, das beständig wieder in die Schrift und ihre Lek-
türen hineinspielt, sie unterbricht, transformiert oder verwirrt: Denn es gibt keine
symbolische Ordnung, kein signifikantes Feld, keine Spur, die, wie Serres be-
merkt, nicht zugleich eine Materialität an sich trüge oder sie voraussetzte: die
sinnliche Qualität des Lautes, die Leiblichkeit seines Vollzuges, die Intensität, die
in ihm zum Ausdruck kommt, die Anwesenheit des Sprechers, der ihn formt.
Nicht kommt es dabei auf die Stofflichkeit selbst an, die die phone' an die Gesetze
der Akustik bindet, sondern vielmehr auf das, was an dieser ebenso ungreifbar wie
unverwechselbar hervortritt: Die Stimme, wiewohl sie vermittels der Sprache
spricht, zeigt sich mir, indem sie sich an mich wendet und mir zuspricht. Man
kann darum sagen, daß sie jenes Undeutbare einbehält, das sich im Sprechen um
das Gesagte wie ein Hof legt, der ihm seine besondere Note, seine Färbung ver-

52 Michel Serres, Die fünf Sinne, a.a.O., der Reihe nach: S. 159, 162, 171, 168 passim. Serres wie-
derholt damit ein Motiv, das sich ebenso schon bei Rousseau, Herder und Nietzsche findet: Ur-
sprung der Sprache im Gesang, des Lautes im Ton.
53 Serres hat versucht, der Vielfalt ihrer Charaktere Ausdruck zu verleihen: »Die Stimme: rauh, leise,
voll, flehend, vulgär, schrill, zornig, jovial, wohlklingend, gebieterisch, markerschütternd, verfüh-
rerisch, explosiv oder irritiert, von einem Mannweib, einer Jungfrau, einer Schlampe oder einer
Hure, einem herrschsüchtigen Opfer, einer herrischen, hoffnungslos Verliebten, die den tristen
Starrsinn wahrer Leidenschaft herausschreit, mütterlich, schwesterlich, fromm, kindisch, piepsig,
egalitär oder komplizenhaft, arrogant, ermutigend, destruktiv oder liebkosend, ironisch, aggres-
siv, zynisch, Karze der alten Säuferin im Rinnstein, die den Frühling nicht zu mögen scheint,
gemeine Stimme, bedeckt, samtig, nobel, hoch, servil, majestätisch, gewichtig, krank, frech, in
Stille gebadet, voller Echos der Meere oder Wälder, von Vogelgezwitscher erfüllt, brüllend wie
ein wildes Tier, das Stimmengewirr der Straßen, an den Mauern und Kirchenfronten reflektiert,
durchdringende Stimme, die klagt, bittet und »komm!« sagt, beängstigende Stimme, brüchig,
schluchzend, gebrochen, auf welchen Wegen ist deine Stimme nicht geflossen, von welchen
Stoffen, welchen Felsen ist sie nicht abgeprallt, um das Glockenspiel des Sinns, der Intuitionen
und unterschwelligen Bedeutungen zu bereichern, untet der Sprache?« Ders., Die fünf Sinne,
a.a.O. S. 152, 153. Jeder Eigenschaft eignet eine besondere Modulation oder Färbung von Lau-
ten - und doch bezeugt die Auflistung der Adjektive nur die Unzulänglichkeiten des Ausdrucks
im vergeblichen Bemühen einer Annäherung an das, was keiner Sprache ent-spricht.
114 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

leiht und darin einen Resonanzboden bildet, auf dem sich das Bedeuten über-
haupt erst bildet. Nirgends geht daher die Stimme in dem auf, was sie sagt, sie ist
weder Textur noch Schrift allein: »(S)ie kennzeichnet nicht einmal ein Anderswo
des Sinns«,14 heißt es wiederum bei Barthes; vielmehr artikuliert sie sich durch ih-
ren Gebrauch hindurch: Sie wirkt und ist darin gleichzeitig von änderet Art als
die Zeichenhaftigkeit der Zeichen. Denn sie »übt« ihre Wirksamkeit als zugleich
fremde Wirkung aus: Einzigartigkeit des Anderen, der in ihr er-scheint, ohne »als
etwas« oder auf eine bestimmte Weise zu erscheinen.
Keineswegs spart Derrida die Seite der Materialität der Zeichen aus; im Ge-
genteil: Indem et das Gewicht auf den Signifikanten legt und das Signifikat aus-
schließlich von ihm her versteht, geht er von dessen Oberfläche aus, subordiniert
die Bedeutung ihrem Spiel. Doch überantwortet er das, was man die »Stimmlich-
keit der Stimme« nennen könnte, ausschließlich der Materialität der Schrift als
Materialität einer Struktur, die wiederum als Struktur selbst immateriell bleibt:
Somit Materialität ohne Ekstatik, ohne eigenes Erscheinen, ohne die Gegenwart
ihres In-Erscheinung-tretens, mithin auch ohne Aisthesis, sondern »Bahnung«,
»Spur« oder Einzeichnung, die nichts selber ist, sondern einzig aus dem »Unter-
schied« ihrer Differenzen (differance) hervorgeht. M.a.W.: Die Dekonstruktion
verwirft die Präsenz der Stimme vom Ort des Zeichens her - und streicht damit
all dasjenige aus, was zu ihrem Phänomen noch gehört: Etwa ihre spezifische Mu-
sikalität, ihre Rhythmik, wie sie auch Nietzsche seinen frühen Überlegungen zur
Sprachphilosophie zugrunde legte und an den Anfang der Sprache rückte. Zu-
erst Ton oder Klang gründe sie vornehmlich in der Gebärde, der Bewegung, im
Tanz, noch bevor sie Symbol, Bild oder Sinn werde. Dichtung weiß von diesem
Verhältnis; sie bewahrt in ihren Versen etwas vom Gesang der Stimme, weshalb
ihre Wirkung vor allem im direkten Vortrag aufgeht: Zur poetischen Rede gehören
Tonfall und Tonlage ebenso wie die Zäsuren und Stillen, die Prägnanz der Beto-
nungen, ihre eigentümliche lautliche Melodie. ' So haben Lautdichtungen des
Dadaismus, ebenso wie das Theater Antonin Artauds, die Sprache gleichsam von
ihrem Zwang, etwas besagen zu müssen, systematisch zu befreien versucht, um
die Lautlichkeit des Lautes selber auszustellen: zu performieren. Sie machen, wie
Artaud sagt, »Wörter zu Zauberformeln«, sie weiten die Stimme aus, gebrauchen
ihre »Schwingungen und Eigenschaften«, lassen »Rhythmen rasend auf der Stelle

54 Roland Barthes, Der dritte Sinn, in: ders., Der entgegenkommende und det stumpfe Sinn,
a.a.O., S. 47-66, hier: S. 61.
55 Vgl. Friedrich Nietzsche, Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Kritische Studien-
ausgabe, hsg. von G. Colli u. M. Montinari, a.a.O., Bd. 1, S. 873-890. Nietzsches Philosophie
der Sprache ist freilich nicht eindeutig und macht viele Wendungen durch. So heißt es noch in
einem späteren Fragment: »Verhältnißder Sprache zur Musik«: Das Doppelverhäitnis von Musik
und Bild sei »in der Sprache uranfänglich vorgebildet«; vgl. ders., in: Kritische Studienausgabe,
Bd. 7, S. 362.
56 Daß das »Lautlesen«« noch bis ins 18. Jahrhundert hinein zur Muße und Geselligkeit gehörte, das
zudem in die Textualität der Textur ein anderes, nichttextuelles Element eintrug, beschreibt aus-
führlich Roger Chartier, Lesewelten, a.a.O., S. 146 ff.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIV1TÄT DER STIMME 115

treten«: »(M)an braucht nur (...) auf die plastischen, aktiven, die Atmung be-
treffenden Quellen der Sprache zurückzukommen, man braucht nur die Wörter
wieder mit den körperlichen Bewegungen, die sie hervorgebracht haben, zu ver-
knüpfen, die logische, diskursive Seite des Wortes hinter seiner körperlichen, ge-
fühlsmäßigen verschwinden zu lassen, das heißt, die Wörter (...) brauchen unter
ihrem klanglichen Gesichtspunkt (...).« Und mit Bezug auf die Chimeres
Gerard de Nervals heißt es: »Alle Verse wurden geschrieben, damit sie zuallererst
angehört werden, durch die gewaltige Fülle der Stimme konkretisiert werden;
und es ist nicht einmal so, daß ihre Musik sie erhellt und sie dann mit einfachen
Tonmodulationen sprechen könnten, Ton für Ton: denn nur jenseits der ge-
druckten oder geschriebenen Seite kann ein authentischer Vers sinnvoll werden
und er bedarf dazu des Atems zwischen der Flucht aller Wörter.« Ähnliches gilt
von Zufallsmontagen aus Wörtern oder Sätzen, wie sie Tristan Tzara buchstäb-
lich mit der Schere erzeugte, um gleichsam etwas hervortreten zu lassen, was jen-
seits der Rede und ihrer Bedeutung liegt: Am Konsequentesten durchgeführt
vielleicht in John Cages Empty Words (1973—76, 79), das, in einer Folge von vier
Stufen, die Substantialität der Sprache bis hinunter zu einzelnen Vokal- und
Konsonantenreihen auflöst, die sich schließlich ihrer Aussprechbarkeit sperren:
Erfahrungen in Sprache mit Sprache, die sie restlos ihrer Signifikanz berauben,
nicht um eine andere Signifikanz zur Erscheinung zu bringen, sondern ihr
res schlechthin. Nirgends läßt es sich auf einen »Sinn« oder die Spur der Signifi-
kanten/Signifikate reduzieren: »(I)ch möchte mit meinem Titel auf die Bedeu-
tungsleere anspielen, die für musikalische Klänge charakteristisch ist (...). Daß
Worte, wenn sie von einem musikalischen Standpunkt aus betrachtet werden, alle
leer sind.«
Eigentümlich ist, daß dergleichen nur in Aufführungen geschieht. Es setzt
lautes Lesen voraus. Hugo Balls oder Kurt Schwitters Lautgedichte erschließen
sich nicht der stillen Lektüre, sowenig wie Cages Textkompositionen; man hat sie
im Gegenteil von vornherein verfehlt, wollte man sie »auslegen« oder auf ihre In-
halte hin befragen; vielmehr begegnet etwas im Vollzug, was nicht ein Sinn ist,
sondern was durch die systematische Zersetzung des symbolischen Gehalts um-
schlägt, um einen Klang, das »Geräusch« einer Stille, freizusetzen.' Die Perfor-

57 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, a.a.O., S. 97.


58 Ebenda, S. 128.
59 Ders., Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft, München 1977, S. 61, 62.
60 John Cage in: Richard Kostelanetz, American Imaginations, Berlin 1983, S. 61. Ferner heißt es:
»(I)ch stellte mir Empty Words als einen Übergang von Literatur zu Musik vor. (...) Es war et-
was, das laut gelesen werden sollte.« Ebenda, S. 58 sowie S. 74 ff. Kostelanetz bezeichnet Cages
Poesie aus diesem Grunde als unvergleichbar mit jeder anderen zuvor geschriebene: Sie existiere
»außerhalb, nicht nur der Haupt-, sondern auch der Nebenströmungen zeitgenössischer ameri-
kanischer Poesie««. Ebenda, S. 87, 88. Vgl. auch meinen Beitrag zu John Cages Textkompositio-
nen: D. Mersch, Jenseits des Zeichens. Einige sprachphilosophische Reflexionen zu John Cages
Textkompositionen. In: MUSIKTEXTE, Zeitschrift für Neue Musik, 15, 1986, S. 18-22.
61 Cages Arbeiten beruhen auf der Indifferenz von Geräusch und Stille; sie postulieren insbesondere
die Unmöglichkeit einer reinen Stille; vielmehr gibt es gleichsam den Klang des »Daß«: »Daß<«
116 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

mierung, die sich systematisch des Paradox bedient, zu sprechen ohne »etwas« zu
sagen, läßt so etwas an Sprache erscheinen, was diese sonst verhüllt: Konstitution
des Be-deutens kraft einer Materialität, einer Intensität der Performanz, die gleich-
sam augenblickshaft aufgeht. Es zwingt zur Revision der auf Textualität und
Skripturalität kaprizierten Linguistik. Das gilt bereits für Traditionen der oral
poetry, deren Untersuchung erste Schritte in diese Richtung enthalten. So hat
Paul Zumthor angesichts der mündlichen Überlieferung mittelalterlicher Poetik
darauf hingewiesen, daß das gesprochene Wort nicht »wie das geschriebene in ei-
nem bloß verbalen Kontext (lebt). Es gehört notwendig in den Verlauf einer exi-
stentiellen Situation, die es irgendwie verändert und deren Totalität die Körper
der Teilnehmer ins Spiel bringt.«'" Demgegenüber überschreibt sie Derridas
Schrifttheorie ausschließlich mit der »leeren Stimme« der Schriftlichkeit, die de-
ren Gegenwart gleichsam übertönt, als ob der Laut allein in dem aufginge, was in
ihm aufgezeichnet wäre oder was er zu artikulieren gestattet. Heißt das nicht, die
Einseitigkeit der Identifikation von Lautstruktur und Bezeichnung zu wiederho-
len — und damit dasselbe metaphysische Dogma fortzuschreiben, wie es den
abendländischen Zeichenlehren bis zur Phänomenologie Edmund Husserls ein-
hellig vorgeworfen wird: Ein Dogma, das nicht deswegen besteht, weil überhaupt
etwas ausgezeichnet wird, sondern weil das Präjudiz des Signifikanten die Gram-
matologie — als Gegenprogramm zur Phänomenologie - und mit ihr die Kritik am
»Phono-Logozentrismus« allererst konstituiert? Und wird nicht damit eine Ten-
denz verschärft, die in der selben Richtung liegt wie die von der Dekonstruktion
zersetzte Metaphysik, freilich in der Grundlegung des Zeichens selber, soweit
nicht dessen Materialität selbst angezeigt wird, sondern seine Referenz, sein Bezug
auf Anderes, die Funktion des Bedeutens, und sei es nur als Effekt einer Schrift,
der Markierung ihrer Bahn, in der diese sich abzeichnet? Indem Derrida bean-
sprucht, die Skripturalität der Stimme eigens erst freigelegt zu haben und somit zu
etfüllen, was in der Geschichte der Semiotik von Beginn an angelegt war, verlän-
gert er diese und läßt die Gleichung des Zeichens selbst unangetastet. Aus diesem
Grunde scheint seine Schriftrheorie noch jener Tradition verhaftet, d'e sie in dem
Maße bestätigt, wie die Dekonstruktion, deren Grundlage sie bildet, sie aufzulö-
sen trachtet. Derrida verharrt weiterhin, trotz aller dekonstruktiven Gestik, vor
der Linie, diesseits des »Sprungs« und des von Heidegger angemahnten und nur
vorbereiteten »anderen Anfangs« des Denkens.
Der Mangel zwingt zur Rehabilitation der Präsenz der Stimme, ihrer spezifi-
schen Materialität und Ekstatik, wodurch sie aus ihrem Schatten, ihrer Verdrän-
gung heraustreten: Laut, als Singularität, als intensives Geschehen, als leibhafte Ma-

erwas ist und nicht vielmehr nichts, »tönt« bereits und läßt sich in der Unausweichlichkeit des
Geräuschs vernehmen. Ausdrücklich nimmt Cage dabei auf die Erfahrungen in einem »schall-
dichten Raum« Bezug; vgl. ders., Silence. Lectures & Writings, London 1971, p. 13 f.; Auszüge
auf dt. übers, v. Ernst Jandl, Frankfurt/M. 1987. Zur Ästhetik Cages vgl. insbesondere Daniel
Charles, John Cage oder Die Musik ist los, Berlin 1979, ders., Musik und Vergessen, Berlin
1984; sowie Richard Kostelanetz, John Cage (ex)plain(ed), New York 1996.
62 Paul Zumthor, Körper und Performanz, a.a.O., S. 711.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 117

nifestation, die begegnet und durch die der Andere teilnehmend zugegen ist, sich
aussetzt, entblößt, zeigt, auch das, was nicht gesagt wird oder gesagt werden kann,
was nicht in der Textur des Textes aufgeht, daher nicht einmal ausweisbar oder
markierbar scheint und doch unabweisbar »da« ist. Dies ist vielleicht am Ein-
dringlichsten dort zu erfahren, wo eine Stimme plötzlich und unerwartet ansetzt
zu sprechen: Im Moment des Risses, da noch nichts gesagt ist, aber gesagt werden
wird, wo sich der Laut als Einschnitt, der die Stille zerreißt, selbst ausstellt. Dann
wäre die Stimme zunächst nichts, was sich primär mitteilen will: keine Bedeu-
tung, kein Text; sie erscheint noch vor der Intention, dem vermeinten Sinn: Ihre
Besonderheit verweist auf den Leib, auf die körperlichen Aktionen, die ihr erst
Raum verleihen, Atem geben. Sie geht nicht primär in der Verlautbarung eines
Gesagten auf, die sie auch ist; sie ist Vollzug. Schrei, Zuruf, einem anderen zu-
sprechender oder von ihm vernommener Laut, schließlich Flüstern, Murmeln,
inwendiges Selbstgespräch, sogar Schweigen. D.h. die Stimme drängt sich auf, sie
gemahnt an eine Unausweichlichkeit, in der der Andere präsent wird: Anruf, der
mich auffordert und mich zu sprechen nötigt, Antwort erbittet. Erneut wäre an
die Relevanz der phone in der frühen griechischen Philosophie, dem Sophismus
und bei Piaton, abet auch in der mittelalterlichen Dichtung zu erinnern: der
genwärtigkeit des Sprechers in der Stimme, die sich durch die Signifikanten hin-
durch präsentiert und offenbart: Vollzug einer Äußerung, die darin ihr spezifi-
sches Gewicht, ihre Intensität und Bindung hat und deren Musik wir, als Hören-
de, im Ohr behalten. Denn wesentlicher als die Verschriftlichung einer Bedeu-
tung oder Wahrheit in der Stimme erscheint hier die Trennung zwischen dem
alethinos logos, der wahrheitsgetreuen Rede, und dem Wunderbaren (to mythodes)
des mündlichen Ausdrucks, der durch keine Theorie der semata oder grammata
ausgeschöpft oder eingefangen werden kann, weil sie deren Wirkungen, deren
Theatralität oder dramatische Effekte betrifft. Darauf hat auch Jean-Pierre Ver-
nant in seinen Studien zur rhetorischen und diskursiven Tradition der Antike
aufmerksam gemacht, wenn er die Kraft der Stimme einem »anderen« Begehren
zuschreibt als jenem der Schrift, welches vornehmlich eines der Identifikation,
der Fixierung und des Gedächtnisses ist: Diese unterstehe der mimesis, jenes der
sympatheia: nicht zu tilgender Gegensatz, der freilich dann ausgelöscht wird,
wenn die Stimme allein auf ihren Zeichencharakter eingeschränkt wird. »Die
Lektüre bietet dem Leser die Möglichkeit, im Hinblick auf eine kritische Analyse
immer wieder auf den Text zurückzukommen, und verlangt so eine andere, zu-
gleich unbeteiligtere und anspruchsvollere Geisteshaltung als das Zuhören beim
mündlichen Vortrag. Die Griechen selbst waren sich dessen völlig bewußt: das
Sprechen müsse die Zuhörer verführen, um sie in Bann zu halten; dieser Verfüh-
rung wurde der etwas schmucklose, aber strengere Ernst des Geschriebenen ent-

63 Ausdrücklich spricht Daniel Charles von der »Erotik der Stimme«« als ihrer spezifischen Musika-
lität: »vielfach und polyphon«. Sie spiele sich »im Innern« der Signifikanz als ihr gleichsam im-
manentes Anderes ab, das durch die Zeichen nicht mehr darstellbar wäre. Vgl. ders., John Cage
oder Die Musik ist los, a.a.O., S. 139 ff, bes. S. 148 f.
64 Vgl. Jean-Pierre Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, a.a.O., S. 192.
118 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

gegengehalten und ihm oftmals den Vorzug gegeben. Auf der einen Seite sah man
das Vergnügen, das mit dem Sprechen verbunden ist: als wäre es in der mündli
chen Mitteilung enthalten, entsteht und vergeht es mit der Rede, die es hervor
gelockt hat. Auf der anderen Seite im Geschriebenen sah man die Nützlichkeit,
die ein Text aufweist: (...) er bewahrt eine Lehre von dauerhaftem Wert. (...)
Das gesprochene Wort ist auf das Vergnügen gerichtet, es wirkt auf den Zuhörer
wie eine Beschwörung.«'
Die Skripturalität des gesprochenen Wortes unterhält demnach vor allem eine
Beziehung zu Signifikanz und Dauer, während der Laut, die Stimme in ihrer
leiblichen Gegenwart performativ vollzogen werden muß und darin seine
tigkeit erfährt. Die Anwesenheit der Schrift beruht auf Wiederholung, die des
Lautes auf Singularität, deren Zeitmodus entsprechend auf dem Perfekt, der
Nachträglichkeit, ihrer hingegen auf der Gegenwart, dem Augenblick. Entspre
chend setzten Sophistik und Rhetorik auf die spezifische Magie und Zelebration
des mündlichen Vortrags, nicht auf Diskursivität, die allein durch die Exoterik
der Zeichen verbürgt war und sich bewußt jeder kunstvollen Ausschmückung
enthielt. Als Schrift, ergänzt Vernant, gewann so die Rede auf dem Gebiet des
Wahren und Intelligiblen das, was sie umgekehrt auf der Ebene des pathos, des
Dramatischen und Ergreifenden ebenso wie im Bereich des Amüsanten einbüß
te. ' Der Ort der Schrift erweist sich dann als der des Sagens oder Sagbaren, der
der Stimme als der Moment ihrer Setzung, der Performanz. Dabei bezeichnet das
Performative jenes, das am Gesagten als sein Anderes haftet, ohne in ihm aufzu
gehen. Es ist, im Gegensatz zum Rhetorischen, auf Effekte gerichtet, die im Voll
zug der Sprache selber liegen. Das Performative hat deshalb seine Stellung im
Gewicht det Wirksamkeiten, diese wiederum in einem Sichzeigen. Sie verweigern
sich der Wiederholung und damit dem Zeichen, der Einzeichnung, denn wäh
rend die Schrift dieser unterliegt, erfüllt sich die Performativität im Ereignis des
Zeigens.' Daran partizipieren die verschiedenen Elemente der Materialität ebenso
wie die Handlungen, auf die sie gründen und diese allererst zur Anwesenheit
bringen: Manifestationen des Oralen wie der Intonation, der Rhythmik, dem Re
gister dem Duktus oder der Skandierung der Laute gleichwie der praktischen
Formen der Darbietung oder Inszenierung, in denen sich die Sprache selbst
sentiert. Beide erweisen sich als einander komplementär: Präsenz des Lautes in der
Stimme, Präsentation der Sprache im Akt des Sprechens. Die Leiblichkeit der Stim
me geht darin genauso ein wie die Körperlichkeit des Handelns, die jeweils eine
Gegenwart voraussetzen: nicht der Botschaft im Vollzug, det Bedeutung im Zei
chen oder des Signifikats im Signifikanten, wie es Derrida unterstellt, sondern der

65 Ebenda, S. 191.
66 Ebenda, S. 192.
67 Der Bezug auf Ereignishaftigkeit bindet die Stimme zugleich an eine besondere temporale
Struktur: dem Augenblick, der Okkasionalität, der Diskontinuität. Sie wird hier freilich noch
keine Rolle spielen, weil es nicht so sehr auf die Bestimmung des Ereignischarakters der Stimme
selbst ankommt, als vielmehr auf die spezifische Differenz zwischen Stimme und Schrift als Dif
ferenz zwischen Performanz und signifikanter Ordnung.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 119

unmittelbaren Anwesenheit der am Dialog Beteiligten: Geschehnis eines verbor-


genen Zeigens, das in deren Sagen eingreift, es unterstreicht, durchkreuzt oder
zuweilen sogar außer Kraft setzt.' Sie bleiben als ihr Anderes der Schrift äußer-
lich: So entspricht der Opposition von Stimme und Schrift die Trennung zwi-
schen Performativität und Signifikanz, Präsenz und Zeichen, Ereignis und Sinn
oder der Markierung einer Spur. Sie eröffnet eine Differenz in der Sprache selbst:
Unterschied im Symbolischen zwischen der Struktur des Bedeutens einerseits und
den Effekten des Sichzeigens andererseits. Doch indem Derrida ausschließlich die
Schriftlichkeit betont, verwirft er zugleich, trotz gelegentlich anderslautender Be-
kenntnisse, diese. Denn wenn überhaupt von der Performanz der Zeichen die
Rede ist, dann ausschließlich im Rahmen von Wiederholung und Differenz, von
Dekontextualisierung und Rekontextuierung der Marken innerhalb der Schrift:
Von Anfang an bleibt ihr Begriff an deren Bedingungen geknüpft: Das Perfor-
mative erweist sich dann als immer schon skripturierte Performanz. Es ist eine
Verkennung, die im Rücken der dekonstruktiven Arbeit selbst bleibt und deren
blinden Fleck bloßlegt: Subsumtion der Performanz unter die Iterabilität, die de-
ren besonderen Charakter, ihre Beziehung zu Geschehen und Handlung, zur
Leiblichkeit, zur Materialität, zur Ekstatik der Präsenz und zum Sichzeigen nicht
einmal berührt.

Das »Fleisch« der Stimme

Es wäre freilich verfehlt, den performativen Vollzug der Stimme selbst noch einem
anderen semiotischen Raum zuzuordnen, der ihn, sei es als Supplement oder Vor-
gängigkeit, als Metastruktur, Substrat oder bloße Derivation, erneut einer Codie-
rung unterwürfe, auch wenn zu ihrer Beschreibung auf Metaphern wie »Musika-
lität«, »Rhythmus«, »Fülle« und »Register« oder auf Eigenschaften wie »rein«,
»brüchig«, »schroff«, »abweisend« oder »dringlich« zurückgegriffen wurde. Die
Duplizität der Rede als Performanz und Signifikanz, als Stimme und Schrift ergibt
sich nicht aus der Verdopplung zweier semiotischer Bereiche, die die Sprache in
das Verbale und Nonverbale einteilte, vielmehr aus der Differenz im Symbolischen
selbst, die ihre Textualität oder Skripturalität von vornherein mitkonstituiert.
Denn das Performative erfüllt sich im Ereignis der Setzung, die das Semantische
stets grundiert; aber Setzung ist ein Akt, der sich als solcher nicht kenntlich macht.
Daher auch die unterschiedlichen Tendenzen mündlicher und schriftlicher Tra-
dition, die sowenig parallele Vorgänge bilden wie Alternativen, sondern vor allem

68 Zweifellos hat Derrida dort recht, wo der Stimme ein Privileg zugeschrieben wird und die Schrift
ihr gegenüber als abkünftig erscheint; doch verkennt er gleichwohl, daß der Stimme, gegenüber
der Schrift, ein eigenes Zeigen zukommt, das nicht der Differentialität von Marken untersteht.
69 Der Begriff der Performativität wird bei Derrida sehr eingeschränkt verwendet: vgl. ders., Signa-
tur Ereignis Kontext, a.a.O., bes. S. 340 ff; sowie Falschgeld, München 1993, S. 63, 70 f. Dage-
gen radikaler und von der Diskurstheorie Michel Foucaults her Judith Butler, Das Unbehagen
der Geschlechter, a.a.O., vor allem S. 190 ff, sowie dies., Haß spricht, a.a.O.
120 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

Divergenzen: diese entfaltet sich aus den Effekten dialogischer Performanz, zu der
die Präsenz des Anderen gehört, seine Leiblichkeit oder »Gravitation«, die in seine
Nähe ruft und sich im Gesprochenen nur zeigt, jene aus der stillen und konzen-
trierten Lektüre, die sich der hermeneutischen Technik der Entzifferung bedient
oder dem dekonstruktiven Verfahren der Verschiebung und Auflösung. Es gibt
sich im Akt des Lesens unmittelbar selbst zu erkennen: »Nur der Klang und die
körperliche Präsenz, nur das Spiel der Stimme und der Mimik können das
sieren, was einmal geschrieben wurde. (...) Auch wenn ihn eine lange Zeit des
Schreibens erschaffen hat, als Aufgeführter, Inszenierter, ruht er in sich selbst. Für
den Vortragenden besteht die »poetische« Kunst gerade darin, jene Unmittelbar-
keit zu verkörpern, sie in der Form seines Wortes zum Ausdruck zu bringen. Da-
her bedarf es auch bei der bloßen lauten Lektüre eines geschriebenen Textes einer
besonderen Beredsamkeit, einer Mühelosigkeit der sprachlichen Gestaltung, einer
eindringlichen Suggestivkraft und einer durchweg herrschenden Rhythmisierung.
(...) Der Zusammenhalt, aus dem das Werk letztlich besteht, wird so vom Kör-
per erschaffen. Wenn der geschriebene Text Stimme wird, wandelt er sich
grundlegend, solange Hören und sprachlich-körperliche Gegenwart andauern.
(...) Die dadurch erzielte Wirkung ist um so stärker, je besser die Stimme er-
klingt.«
Keineswegs ist dieses Problem durch die Aufzeichnung der Stimme obsolet ge-
worden - die Differenz von Stimme und Schrift, der Lautlichkeit des Lautes und
dem Zeichen, seinem Symbolischen enthüllt sich auch da, wo die Spezifik der
phone durch Techniken ihrer Reproduktion wiederholt wird und gerade dadurch
aus der Skriptur heraustritt, der besonderen Erinnerungsspur, wie sie das Medi-
um ihrer Aufzeichnung bewahrt: Wiederholung, die den Riß offenbart, weil sie
keine Einschreibung und kein Gedächtnis erlaubt. Solche paradoxale Wiederho-
lung ereignet sich dann, wenn wir beispielsweise die Stimme eines längst Verstor-
benen hören: der Skandal und die unbegreifliche Beklommenheit, zuweilen auch
Melancholie, die sich einstellt und gegen die wir uns kaum zur Wehr zu setzen
wissen; sie ist, wie es wiederum Roland Barthes ausgedrückt hat, nicht in mir; sie
ist da: gleichsam in der Stimme: Unmerkliche Hemmung oder Trauer, die durch
kein Zeichen bezeichnet werden kann und nirgends zu re-präsentieren ist, viel-
mehr Stimmung, die sich auf seltsame Weise mit der Stimme verwebt, zu ihr zu
gehören scheint. Hier verweist etwas durch die technische Reproduktion, die Ite-
ration, die sie gestattet, hindurch, was nicht wiederholbar ist, was sich der Repro-
duzierbarkeit sperrt und der Schrift und ihren »Spuren« entzieht und erneut auf
jene paradoxale Spur lenkt, wie sie aus der Verwischung der Spuren hervorgeht.
Weder Schrift noch Textur erscheint sie, wo diese sich behaupten: seltsame Ema-
nation einer vergangenen Gegenwart, wie Barthes auch sagt, * als das Rätsel einer

70 Paul Zumthor, Körper und Performanz, a.a.O., S. 708, 709 passim.


71 Vgl. Roland Barthes, Die Rauheit det Stimme, a.a.O., S. 271 f.
72 Vgl. ders., Die helle Kammer, a.a.O., S. 99. Die Passage betrifft allerdings ein verwandtes Myste-
rium, wie es sich angesichts der Photographie eines Toten zeigt: Wie Roland Barthes angesichts
der Photographie sagt: »(W)as ich sehe, ist keine Erinnerung, keine Phantasie, keine Wiederher-
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 121

Anwesenheit in der Abwesenheit, Tod im Leben oder Mysterium einer Präsenz, die
nicht mehr war und niemals mehr wird sein können. Nichts Geschriebenes kann
die Gewißheit solcher Widersprüchlichkeit vermitteln, denn die Schrift, soweit
sie etwas signifiziert, bürgt niemals für sich selbst - ganz im Gegensatz zur Stim-
me, die hier und jetzt gesprochen wird oder die soeben durch ihre Konservierung
erklingt: Sie zeugt, gerade weil ihr etwas Nichtzeichenhaftes zukommt, von einer
geheimnisvollen Präsenz, die sich lediglich zeigen kann: Sichzeigen, das sich ver-
möge jener Paradoxie enthüllt, die ihre Reproduktion allererst ermöglicht.
Das Paradox läßt den Unterschied von Schrift und Stimme als Differenz
schen Sagen und Zeigen aufklaffen, macht ihn wahrnehmbar, spürbar. Doch ent-
deckt sich seine Brisanz vor allem dort, wo er als Bruch oder Widerspruch im
Symbolischen manifest wird und vor die Grenze des Bedeutens überhaupt führt.
Die Kategorie des Sinns wird dann chronisch prekär. Regelmäßig stellt solches
sich ein, wenn Schrift und Stimme, Funktion und Materialität, Sinn und Per-
formanz auseinandertreten und ihre eigenen Paradoxa entfalten, wie am Beispiel
dadaistischer Lautdichtungen vorgeführt, wie sie sich aber ebenfalls im Falle der
Ironie oder einer sich durch die Präsenz der Stimme verratenden Heuchelei erge-
ben. Denn die Performativität der Rede (parole) besteht nicht einfach in der Voll-
streckung eines Sprachsystems (langue), wie Paul Zumthor verschiedentlich be-
tont hat: »Sie bestätigt nicht nur nicht vollständig dessen Vorgaben, sondern
handelt ihm oft, in ihrer ganzen Körperlichkeit, zu unserer Überraschung und
unserem Vergnügen zuwider.« Besonders wird es beim Mißgriff in der Wahl des
Tones deutlich, der ein Gesagtes in sein genaues Gegenteil umstürzen lassen, aus
einem Kompliment eine Schmeichelei, aus einer höflichen Geste eine Beleidigung
machen kann. So blitzt in der Rede ein Gegensätzliches auf, das weder in der
Textur der Zeichen aufgeht noch in den signifikanten Ketten, die sie konstituiert,
sondern die Sprache als Ordnung durchkreuzt, sie in Widersprüche oder Aporien
verwickelt, um jenseits dieser eine Dynamik zu entfachen, die der Schrift entgeht:
»Indem er sie im szenischen Sinne des Wortes repräsentiert, bringt mir der Kör-
per jene Rede zur Kenntnis, die der poetische Text enthält. Daraus entspringt ei-

stellung, (...) sondern das Wirkliche in seinem vergangenen Zustand: das Vergangene und das
Wirkliche zugleich. Ebenda, S. 93. Ahnliches gilt freilich für den Film, überhaupt für technische
Reproduktionsmedien, obwohl das Bewußtsein davon durch die exzessive Mediatisierung der
Gegenwart und die Möglichkeiten det Manipulation allmählich im Schwinden begriffen ist.
73 Ebenda, S. 96.
74 Paul Zumthor, Körper und Performanz, a.a.O., S. 709.
75 Hier wird besonders das Atmosphärische einer Unterredung relevant, das diese wie einen Hof
umgibt und an deren Erzeugung der Ton, die Stimme wesentlichen Anteil hat; vgl. dazu Gemot
Böhme, Kommunikative Atmosphären, in: T. Arncken, D. Rapp, H.-C. Zehler (Hsg.), Eine Ro-
se für Jochen Bockemühl, 1999, S. 60—70. Ihre Beschreibung verlangt die Aufmerksamkeit für
Subtilitäten, für Zwischentöne. Sie enthüllen insbesondere ein Nicht-Intentionales im Gespräch:
Eher, als daß ein Atmosphärisches bewußt hergestellt werden könnte, drängt es sich den Betei-
ligten auf, zeigt sich. Zwat mag man z.B. Verstimmung oder Trauer zur Schau stellen, doch ent-
larvt sich die Lüge der Inzensierungen an dem, das den Beteiligten systematisch im Rücken bleibt
und daher quer läuft: eine Verwandlung der Gesprächspartner durch das Gespräch, so daß diese
eher durch das Atmosphärische konstituiert werden, als daß sie jene konstituierten.
122 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

ne Doppelstruktur. Die Rede gibt sich als Erzählung, sie wird aber gleichzeitig im
Klang der Stimme und der Bewegung des Körpers, die ihr Ausdruck verleihen,
zum Kommentar des Erzählten.« ' Der Verweis auf eine »Kommentierung« er-
scheint hier freilich irreführend: Sie mag wohl möglich, sogar trainierbar und
noch als Spur innerhalb der Signifikanten lesbar sein; entscheidend ist für unse-
ren Zusammenhang allerdings, daß dem Performativen gewöhnlich keinerlei Ex-
plikationsfunktion zukommt, sondern evoziert, zuweilen sogar gegenläufig zu
dem, was überhaupt kommentierbar ist, und daher nicht als Schriftzug innerhalb
einer Schrift aufgewiesen werden kann: vielmehr Spur einer verwischten Spur, die
selbst keine anderen Spuren hinterläßt und bevorzugt dort auftritt, wo alles schon
gesagt oder erfüllt zu sein scheint, wo die Rede den Worten zu entsprechen
glaubt und das Gesprochene vermeintlich mit dem Geschriebenen überein-
stimmt. Selbstverständlich gibt es Mehrfachcodierungen; »(s)elbst wenn es sich
um einen geschriebenen Text handelt, werden wir ständig aufgefordert, eine
zweite Nachricht zwischen den Zeilen der ersten herauszulesen«, wie auch Roland
Barthes bemerkt hat; dennoch dringt gleichermaßen etwas aus den Buchstaben
hervor, was sich zwischen den Abständen, die die Signifikanten voneinander tren-
nen, ereignet und aus jeglicher Struktur einer Signifikanz herausfällt: die Tatsache
ihrer Setzung sowie die Gegenwärtigkeit der Stimme als die unaufhebbare Präsenz
einer Andersheit, die sich inmitten der Widersprüche zeigt und den Bedeutungen
eine Richtung verleiht, die nirgends in den Zeichen und ihren Markierungen sel-
ber vorfindbar ist oder auch nur durch sie vorgezeichnet wäre. Weit davon ent-
fernt, »etwas« zu sein, dem erneut eine Marke oder Bestimmung zukäme, gelangt
es zur Kenntlichkeit durch die Paradoxie, die gerade das auseinanderreißt, was
gesagt werden kann und sich im Sagen nur zu zeigen vermag. Grundsätzlich auch
den Möglichkeiten des Textes angehörend und dort vor allem durch die Typo-
graphie, die Indirektheit der Stellung, die Segmentierung der Textteile, ihre Or-
ganisation oder durch die Vokabularien der Ironie, der Auflösung und Konfusion
bis zur Sinnlosigkeit anzeigbar, aus deren Repertoire besonders die moderne Lyrik
geschöpft hat, kristallisiert sie eine besondere Kreativität in der Rede, die die
Register der Schrift unablässig zu hemmen oder zu stören erlaubt. Bezeugt aus
der Doppelstruktur von Sagen und Zeigen, wie sie sich aus den Verschlingungen
von Schriftlichkeit und Performativität ergibt, entfacht sie ihr zugleich unab-
schließbares wie unvordenkliches Spiel - eine Doppelstruktur vor jener, die Jür-
gen Habermas als »performativ-propositional« ausgezeichnet hat und die die Pa-
radoxien, die sie ermöglicht, gerade auszuschließen und zu tilgen trachtet.

76 Paul Zumthor, Körper und Performanz, a.a.O., S. 709.


77 Roland Barthes, Die Machenschaften des Sinns, a.a.O., S. 165.
78 Auf eine Ethik des Sinnlosen und Paradoxen hat zudem Gilles Deleuze in Logik des Sinns, a.a.O.,
abgehoben. Vgl. dazu auch die Auslegung von Michaela Ott, Vom Mimen zum Nomaden. Lek-
türen des Literarischen im Werk von Gilles Deleuze, Wien 1998. Zur Rolle des Sinnlosen und
der Körperlichkeit vgl. insb. Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, a.a.O.
79 Vgl. zuerst: Jütgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikati-
ven Kompetenz, in: J. Habermas u. Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtech-
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 123

Jenseits der Differenz von Stimme und Schrift nötigt die Auszeichnung ihrer
Performativität so zugleich zu einer Radikalisierung des Performanzkonzepts
selbst, das Habermas und vor ihm als dessen Begründer, John L. Austin und John
R. Searle, allein auf die Logik der Kommunikation beschränkt haben: Engfüh-
rung, die die Wirkungen der Stimme verfehlt, die stets det Wirksamkeit einer Al-
ternat entspringt. Vornehmlich ist sie vom Ort des Subjekts her analysiert wor-
den — wie überhaupt die Sprechakttheorie die Performativität des Gesprächs auf
die intentionale Struktur der Handlungen eines Sprechers als dem Subjekt det
Kommunikation reduziert hat, denen der Hörer nur nachfolgt, ohne selbst aktiv
ins Spiel zu kommen. Keineswegs untersteht jedoch die Phänomenologie der
Stimme dem Primat der Reflexion auf die eigene Stimme, der sich ihre Kritik wie
die Entdeckung der Schriftlichkeit bei Derrida eigentlich erst verdankt; denn
meine eigene Stimme und die Stimme des Anderen enthüllen je anderes. Indem
ich mich dagegen selbst sprechen höre, vermag ich zwar, im Unterschied zum Se-
hen, mich als einen anderen zu vernehmen - und z.B. vor dem Klang meiner
Stimme erschrecken. Und doch wird im Sprechen nicht das Gesprochene da-
durch kenntlich, daß ich meiner Stimme lausche und mich darin meines Gesag-
ten versichere. Weniger ist es die besondere selbstreflexive Struktur meines Spre-

nologie, Frankfurt/M. 1971, S. 101-141, hier S. 105. Die diskurstheoretische Rolle des »perfor-
mativen Selbstwiderspruchs«« und seine Bedeutung für eine »philosophische Letztbegründung« ist
vor allem durch Karl Otto Apel prominent geworden; vgl. besonders: Das Problem der philoso-
phischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik, in: B. Kanitscheider
(Hsg.), Sprache und Erkenntnis, Innsbruck 1976, S. 55-82, hier S. 72 f. Habermas ist dem wie-
derum weitgehend gefolgt, vgl. ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M. 1991,
S. 185 ff.
80 Vgl. John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stutt-
gart 1972; John R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt/M. 1971, so-
wie meine Kritik in D. Mersch, An-Ruf undAnt-Wort. Sprache undAlterität, in: Ulrich Arnswald,
Jens Kertscher (Hsg.), Die Grenzen der Hermeneutik (etscheint 2002). Wir werden zudem den
Zusammenhang von Performativität und Setzung noch genauer zu analysieren versuchen; vgl.
unten Tl. II, 1. Hauptstück, 2. Kap.
81 Die Ktitik der Stimme, wie sie Detrida besonders in Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., mit
Bezug auf Husserl vorträgt, beruht u.a. auf dem Gedanken der Selbstaffektion det Stimme: »Die
Stimme vernimmt sich«« (S. 132); sie »ist das Bei-sich-sein in der Form der Universalität, das Mit-
Bewußtseins.« (S. 137). »Ideal gesehen wäre es also dem teleologischen Wesen der Rede möglich,
den Signifikanten dem Signifikat (...) absolut nahe sein zu lassen. So würde die absolute Nähe
des Signifikats die Durchsichtigkeit des Signifikanten begründen. Diese Nähe reißt dann ausein-
ander, wenn ich mich schreiben oder gestisch handeln sehe, anstatt mich sprechen zu hören.«
(S. 137) Auf diese Identität von »etwas verlauten lassen«« und »sich vernehmen«, d.h. sich spre-
chen hören, die die Stimme als Träger einer Bedeutung buchstäblich von sich selbst losreißt,
macht auch Roland Barthes in seinem Essay Zuhören aufmerksam, in: ders., Der entgegenkom-
mende und det stumpfe Sinn, a.a.O., S. 249-263. Der entscheidende Punkt des Arguments ist,
daß ich, indem ich meine eigene Stimme höre, auch wenn mir deren Wirkung entgeht, ich
gleichwohl verstehen muß, was sie »sagt« - ein Argument, daß Derrida in Die soufflierte Rede, in:
ders., Die Schrift und die Differenz, a.a.O., S. 259-301, hier: S. 271, wiederholt. Diese unmit-
telbare Verbindung von Stimme und Selbst-Vernehmung trägt in ihre Anwesenheit eine Tren-
nung ein, durch die der Laut überhaupt nur als Zeichen für mich und für den anderen fungieren
kann. Später wird dann der selbe Gedanke auf die Iterabilität als Bedingung des Zeichen appli-
ziert und verallgemeinert.
124 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

chens, die die Bedeutung der Stimme, seine Performanz ausmacht; vielmehr wird
die Wirkung vor allem über die fremde Stimme, die mir zuspricht, deutlich. De-
ren unverwechselbare Präsenz weist auf die Gegenwart eines Anderen, dessen be-
sonderes Gewicht und unauflösbare Heterogenität sie wiederum als nichthinter-
gehbare Gegenwart aufscheinen läßt: Jemand spricht sich mir zu: Anruf, der mich
zu einer Antwort nötigt. Die Besonderheit dieses Zuspruchs entspringt dem Ver-
sprechen, das »sich gibt« und im gleichen Atemzug aussetzt, durchaus auch leib-
haft: Stimme, die das Wort an mich richtet und deren Versagen oder Verletztheit
vielleicht die Hoffnungslosigkeit ihrer Zuwendung signalisiert und eine Antwort
fordert, auch wenn noch nichts angedeutet oder ausgesprochen ist: Anrufung, die
nach Levinas noch vor der Sprache liegt und schon da ist, ehe wir die Szene einer
»Gesprächssituation« betreten haben, aber auch dann noch spürbar bleibt, wenn
sie längst schon verloschen ist. Es gibt einen besonderen »Sog« in der Stimme,
dessen wir uns kaum zu entschlagen wissen. Aus diesem Grunde bleibt uns der
Andere oft »im Ohr«: Seine Stimme klingt nach, sie appelliert. D.h. mit der Re-
habilitierung der Performativität der Stimme taucht die Irreduzibilität des Ande-
ren in seiner Andersheit, seine Verdunklung, seine Macht und Autorität, die
mich unwiderruflich angeht, gleichwie seine Not oder Gebrechlichkeit wieder
auf. Die Stimme gleicht dann dem »Antlitz« der Sprache, durch die sich der
Andere in seiner »Nacktheit« oder »Blöße« zeigt: bedürftige oder beschämenden
Anwesenheit, die sich mir in ihrer ganzen Dringlichkeit aufbürdet.
Roland Barthes hat zudem mit der imperativisch gemeinten Diktion von »Zu-
hören!« die Unumgänglichkeit eines primär auf den Anderen gerichteten Hörens
aufzudecken versucht, in die die Struktur des Antwortens bereits eingelassen ist.
Er hat auf diese Weise jene zwingende Alterität betont, die der Stimme inne-
wohnt und im Sprechen notwendig mitspricht. Ein Laut berührt mich: Er ist
körperlich, taktil: Er tastet nach mir. Daher geht von seiner Fremdheit, die mich
überfällt und auf die ich mich konzentriere, ein merkwürdiger Reiz, eine Anzie-
hung oder Ergriffenheit, aber auch eine Verstörung aus, die nachhallt, ohne daß
»etwas« dabei erinnert werden muß oder zu Bewußtsein gelangt, und die Barthes,
von der Psychoanalyse Jacques Lacans her, immer wieder unter das Thema des
»Erotischen« gestellt hat. Sie offenbart sich als ein Geben, Sich-Geben oder Hin-
Gabe, die vom Anderen her, kraft seiner Anrufung, geschieht und als solche un-
abweisbar ist. Sie folgt der Struktur der Begegnung, die anders ist als Kommuni-
kation. Grundsätzlich ereignishaft wurzelt sie in der Zeitlichkeit des Augenblicks,
in dem das Begegnende sich in seine Präsenz bringt und sich von sich her zeigt.
Gerade darin enthüllt sich ihr Unterschied zur Kommunikation: Zur Begegnung
gehört der Blick, der erwidert wird, das auratische Moment im Sinne Benjamins,

82 Vgl. Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., vor allem
S. 23 ff, 375 ff
83 Es entspricht gleichermaßen einer Aussperrung oder Verdrängung des Anderen, die der Kritik des
Phonozentrismus bei Derrida unterliegt. In dem Maße, wie der Andere in seiner Präsenz nicht
vorkommt, verweigert ihr Derrida den Status eines von sich het Zeigenden.
84 Vgl. Roland Barthes, Zuhören, a.a.O., S. 251.
JENSEITS VON SCHRIFT - PERFORMATIVITÄT DER STIMME 125

die sinnliche Anwesenheit des Anderen, das Sich-Aussetzen in eine Unvorherseh-


barkeit, die Einzigartigkeit ihres Hervortretens, die NichtWiederholbarkeit. Hin-
gegen gründet die Verständigungspraxis, auf die sich Habermas und andere beru-
fen, wesentlich in der Zirkulation von Bedeutungen, die sozusagen schon abge-
schlossen bereitliegen, dem Austausch von Meinungen und Gegenmeinungen,
die sich behaupten oder widerlegen und die zwischen Sprecher und Hörer hin-
und hergehen, ohne die spezifische Beunruhigung zu teilen, die ihrer Begegnung
eignet. Diese spaltet im Moment ihres Erscheinens die symmetrische Wechselsei-
tigkeit; deshalb reicht ihre Irritation tiefer als die des hermeneutischen Gesprächs,
das sich am Mißverstehen bricht: Sie birgt nicht die Verwirrung jenes Verfehlens,
das sich womöglich interpretierend ausräumen läßt, sondern deutet auf die Mög-
lichkeit eines prinzipiellen Risses im Symbolischen, wie er in den verschiedenen
performativen Paradoxa zum Ausdruck kommt und den schmerzlichen Einbruch
des Anderen, seiner Fremdheit markiert, die mir auf keine Weise zugänglich
wird.
Daran zeichnet sich schließlich eine Grenze ab: Grenze des Bezugs, des Sym-
bolischen, der Zeichen, der Diskursivität, ihrer Wahrheit oder Wahrhaftigkeit
ebenso wie ihrer normativen Richtigkeit oder auch nur ihrer Verstehbarkeit, an der
Habermas die Rationalität der Verständigung bemißt. Nicht auf die Vernunft in
det Sprache und die Rekonstruktion ihrer Moral käme es statt dessen an, die stets
noch die Identität zwischen Sagen und Zeigen, Performativität und Bedeutung
postulieren muß, sondern auf die Notwendigkeit der Responsivität und die in ihr
geborgene Ver-Antwortung, wie sie nicht nur dem Bild und seiner Wirkung ange-
hört, sondern überhaupt jeder Situation von Begegnung. Sie macht das Wort un-
ausweichlich, bewirkt, daß ich nicht am Gesprochenen vorübergehen kann, daß
ich es nicht, ohne ein Sakrileg zu begehen, mißachten oder zerstören darf. Denn
seine Ignorierung negierte nicht nur seine Bedeutung, den Satz oder die Aussage,
denen es angehört und wodurch vielleicht eine Beobachtung, ein Standpunkt
oder auch nur eine Belanglosigkeit ausgedrückt werden sollte, sondern auf unwi-
derbringliche Weise die An-Rufung, die sich an mich richtete und nach einer
Antwort ersuchte.

85 Vgl. dazu mein Versuch in: Vom Anderen reden. Das Paradox der Alterität, in: Manfred Brocker,
Heinrich H. Nau (Hsg.), Ethnozentrismus, Darmstadt 1997, S. 27-45.
86 Vgl. dazu meine Ausführungen in D. Mersch, Kommunikative Identitäten und performative Diffe-
renzen. Einige Bemerkungen zu Habermas' Theorie der kommunikativen Rationalität, in: Die Rolle
der Pragmatik in der Gegenwartsphilosophie, 20. Internationales Wittgenstein Symposium,
2 Bde., Beitrage Bd. 2, Kirchberg am Wechsel 1997, S. 638-645.
4. KAPITEL:
DIE LEERE
DIE LEERE 127

1. Robert Rauschenbetg, White Painting, 1951, © Robert Rauschenberg/VG Bild-Kunst 2001


128 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

2. Robett Rauschenberg, White Painting, 1951, © Robert Rauschenberg/VG Bild-Kunst 2001


DIE LEERE 129

3. Roben Rauschenberg, Ausradierte De Kooning-Zeichnung, 1953,


© Roberr Rauschenberg/VG Bild-Kunst 2001
130 DREI PARADIGMEN: LEIB, BILD UND STIMME

4. Jackson Pollock, The Deep, 1953, © VG Bild-Kunst 2001


TEIL II

DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES


1. HAUPTSTÜCK:
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ

1. KAPITEL:
ZEICHEN UND MATERIALITÄT
(HEGEL, ADORNO)

In jeglicher Naturform, Fels, Frucht, Blüte,


Ja selbst im Kiesel, der die Straße deckt. Sah
ich bewußtes Sein: ich sah sie fühlen.
William Wordsworth

Duplizität des Zeichens

Zeichen enthalten ein Doppeltes: Sie be-zeichnen etwas, sie verweisen auf ande-
res, ihnen kommt eine Bedeutung zu, sie markieren eine Stelle in einem System;
und: sie sind »da«, sie haben eine sinnliche Präsenz, sie beruhen auf einer Mate-
rialität, die ihren Sinn, ihre Ordnung allererst austrägt. Anhand dreier Beispiele:
Leib, Bild und Stimme, haben wir versucht, dieser Duplizität eine Heuristik, eine
vorläufige Plausibilität zu verleihen. Dabei enthüllten die gewählten Paradigmen
mit ihren Bezügen auf Blöße, Aura und Performanz eine fundamentale Differenz
im Symbolischen als Unterschied zwischen Sagen und Sichzeigen. Der Unterschied
macht deutlich, daß die »Spur« dessen, was im Zeichen als ein Nichrverweisendes
oder Nicht-Bedeutsames ausmachbar ist, gleichsam das Nicht-Zeichen im Zei-
chen, nur wiederum gegen die Sprache ausweisbar ist, als ein Rückständiges oder
Unbezeichenbares, das zunächst der Symbolisation hinzuzusetzen ist, insofern es
diese erst gibt, die Blöße der Leiblichkeit, die die Rhetorik des Körpers sowie die
Einleibung seiner Zeichnung gestattet; das Auratische des Bildes, das seiner »Rät-
selgestalt« (Adorno) entspringt; sowie das »Fleisch« der Stimme, die die Rede
gleich einem Grundton austrägt. Was an ihnen wiederum als zeichenhaft ausge-
wiesen werden kann, geht offenbar nicht in dem auf, was sie jeweils zu sagen oder
anzuzeigen vermögen; es wäre keine Funktion ihrer Bedeutung, vielmehr bleibt
an ihnen ein Unerfülltes, ein Rest, ein Überschuß: Andersheit des Sagens, die sich
zeigt, sei es als Ekstatik des Leibes, als Wirksamkeit der Kunst oder als Performati-
vität der phone. Die Vielgestaltigkeit solchen Erscheinens ist unter den Titel des
Ereignisses gestellt worden. Es ist Ereignis der Existenz im Wortsinne von ex-sistere:
das Aus-sich-herausstehen, das Hervortretende. Es geschieht auf der Ebene der
Materialität. Wir wollen uns im folgenden zunächst der Irreduzibilität der Mate-
rialität zuwenden, weniger, um sie in ihrem »als was« zu bestimmen, als sie in ih-
134 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

rer »Rückständigkeit« zu analysieren - wiederum in der wörtlichen Bedeutung ei-


nes »Zurückbleibenden« oder »Rückhalts«, den wir freilich nicht in seiner Negati-
vität als Folie, als Substrats belassen, dem in bezug auf die Zeichen keinerlei Rele-
vanz zukäme, ja der sogar in der Tendenz stünde, aufgelöst oder ausgestrichen zu
werden, sondern dessen Notwendigkeit und positive Kraft wir aufzudecken trach-
ten.
Allerdings ist unter dem Ausdruck »Materialität« kein vordergründig Stoffli-
ches zu verstehen, vielmehr etwas, was sich von dort her erst ereignet. Erscheinen,
das kein »Etwas« beinhaltet, keine Erscheinung-als, sondern vornehmlich ein
»Wirken«, das geschieht. Seine Form ist das Ereignen, sein Zeitmodus das absolute
Präsens: der Augenblick.' So wird der Versuch gemacht, ein unbestimmtes Feld
auszumachen, das nicht anders denn im Widerstand oder im Beharren sich be-
zeugt, das gegen seine vielfältigen Bestimmungen oder Interpretationen resistent
bleibt und wiederum nur durch die Figuren aporetischer Rede signiert werden
kann. Gleichwohl weist es eine unauslotbare Tiefe auf. Was jeweils sich ereignet,
zeigt sich an seiner Oberfläche: daher der Verweis auf Materialität, an ihm ist eine
Oberflächlichkeit markiert, an der sich das Symbolische allererst abzeichnet. Die-
ses erweist sich dann als in sich gespalten: Es enthält einen Riß zwischen dem,
worauf es gerichtet ist, seinen Sinn oder seine Referenz, seine Stellung, die ihm
innerhalb einer Struktur eine Ortschaft verleiht, und dem, worin es verkörpert ist,
was es auslöst oder wie es vollzogen wird, und dem jeweils das »Daß« (quod) seiner
Erscheinung noch vorausgeht: Setzung, die ihm einen Platz ein-räumt, bevor et-
was gesagt oder ausgedrückt worden ist: nicht zu lösende Dualität zwischen dem
Ereignis seiner Präsenz und der Immaterialität seines Bedeutens. Trotzdem hat die
Geschichte der Semiotik oder Semiologie es bislang kaum vermocht, dieser Dua-
lität oder doppelten Teilung gerecht zu werden. Dies gilt insbesondere auch für
die beiden herrschenden Zeichenmodelle, die die gegenwärtigen Diskussionen
dominieren: (i) Funktionalismus, der das Zeichen im Sinne einer zwei- oder drei-
stelligen Relation, einer Zuordnung oder Repräsentation bzw. allgemein in Form
einer Bezugnahme auffaßt (analytische und pragmatische Zeichenlehren); und (ii)
Strukturalismus, der das Zeichen als Stelle im System, als Teilung eines symboli-
schen Feldes oder Element einer differentiellen Struktur lokalisiert (strukturale
Semiologie).
Gleichgültig wo eine historische Rekonstruktion deren jeweilige Herkunft
ausmacht — des analytischen bzw. pragmatischen Zeichenbegriffs in der Zei-
chentheorie des Aristoteles, des Nominalismus oder der Semiotik Charles Sanders

1 Mit dem Ausdruck »Wirken« - statt Wirklichkeit des Materiellen - ist bereits eine grundlegende
Differenz konnotiert, die an dieser Stelle nur angedeutet sei: Übergang von jeglicher Festlegung
auf eine Substantialität zu dem, was bestenfalls nur in Verbform ansprechbar wäre: Geschehen,
Ereignis, welche sich nicht einmal mehr einer Sprache fügen, sondern zeigen. Sie schließt sich
übetdies an das an, was wit zuvor in Bezug auf die »Wirksamkeit« der Kunst als Zusammenhang
zwischen »Wirken« und »Aura« entwickelt haben; siehe oben Tl. I 2. Kap.
2 Zur »Semantik ästhetischer Zeit« vgl. insb. Karl-Heinz Bohrer, Das absolute Präsens, Frank-
furt/M. 1994.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 135

Peirce', des strukturalen im mathematischen Formalismus oder der Linguistik


Ferdinand de Saussures - entscheidend ist hier nicht deren Genealogie, sondern
ihre systematische Differenz, wie sie durch die Gegensätzlichkeit det zugrunde
liegenden theoretischen Bestimmungen bestimmt ist, die gleichwohl beide in der
Vernachlässigung oder Reduktion der Materialität koinzidieren. Dabei verfährt
der analytische bzw. pragmatische Zeichenbegriff primär zerlegend, er geht vom
singulären Term aus, um dessen Relationalität, die Logik der Bezugnahme oder
den Zusammenhang von Bedeutung und Wirklichkeit zu studieren, wohingegen
der strukturale holistisch ansetzt:' Er postuliert die Gegebenheit einer symbolischen
Ordnung, um aus deren Einheiten ein Klassifikationsschema, ein System von
Werten und deren Verbindungen zueinander zu entdecken. Entsprechend unter-
suchen Analytik und Pragmatik hauptsächlich ZuOrdnungsvorschriften, ihre De-
finitions- und Wertebereiche, die Komposition und Reihung der Symbole sowie
deren Gebrauch und dergleichen, während der Strukturalismus ein topologisches
Territorium und seine Organisation absteckt, das aus der Anwesenheit und Ab-
wesenheit von Orten, der Differentialität ihrer Besetzung und Nichtbesetzung
konstituiert ist. Diese berufen sich auf Regeln der Verknüpfung und Transforma-
tion, deren Anwendungen syntaktische und semantische Sequenzen produzieren,
aus denen die Bedeutungen, sei es als Sinn von Sätzen oder als abstrakte Nota-
tionssysteme, hervorgehen; dagegen beruht die Dynamik des strukturalen Zei-

3 Vgl. zur Geschichte der verschiedenen Zeichenbegriffe die Einleitung meiner Anthologie: D.
Mersch (Hsg.), Zeichen über Zeichen, a.a.O., vor allem S. 14 ff.
4 Weder das, was hier als analytischer bzw. pragmatischer Ansatz noch als »strukturale« Semiologie
skizziert wird, bildet jedoch ein einheitliches Ganzes. Beide beruhen auf komplexen Diskussions-
zusammenhängen, die nicht in bezug auf einen Text, eine ausgezeichnete Schrift oder einen Au-
tor definiert werden können. Vielmehr verflechten sich die Diskurse miteinander, erzeugen eine
Geschichte im Sinne der Bewegung von Motiven, die ständig erweitert, revidiert und umgestellt
werden und immer noch unterwegs sind. Von Analytik und Strukturalismus reden heißt deshalb,
von einem Ensemble von Positionen sprechen und von deren Transformation handeln. Die
Schwierigkeit der Rekonsttuktion besteht also darin, daß wir uns nicht auf einzelne Theorien be-
rufen können, sondern auf den Vergleich gewisser Grundbestimmungen und deren theoretische
Dynamik, ohne damit bereits interne Differenzen zwischen den verschiedenen Ansätzen geglättet
oder zum Verschwinden gebracht zu haben. Die Semiotik ist vor allem die Geschichte einer
fortwährenden Umschreibung und Weitetentwicklung; sie bezeichnet weder eine moderne Me-
taphysik noch eine strenge Wissenschaft oder definitive Methode, die andete ersetzen könnten
odet ihnen überlegen wären; vielmehr gibt es nichts, worüber sich verbindlich sprechen ließe —
außer dem Prozeß einer Arbeit selber, die sich hartnäckig der Zeichen, der Untersuchung der
Sprache und ihren Texturen oder Diskursen widmet.
5 Wollte man summarisch Vertreter aufzählen, so wäre an Charles Sanders Peirce, Gottlob Frege,
den frühen Wittgenstein und vot allem an Nelson Goodman zu denken, der beide Richtung,
Analytik und Pragmatik zusammenführt.
6 Als Vertreter einer strukturalen Semiologie wären entsprechend vor allem Ferdinand de Saussure,
Roman Jakobson sowie Roland Barthes und, als äußerste Konsequenz, Jacques Derrida zu zahlen.
Darüber hinaus weist dieser Zeichenbegriff Ähnlichkeiten mit det Zeichenanalyse des russischen
Formalismus und der Semiotik Juri Lotmans auf. Zur einführenden Darstellung dieser Theorien
vgl. wiederum die Einleitung meiner Anthologie D. Mersch (Hsg.), Zeichen über Zeichen, a.a.O.,
S. 14 ff. Eine Versöhnung zwischen strukturalen und analytischen bzw. pragmatischen Positio-
nen versucht außerdem Umberto Eco; vgl. dazu meine Darstellung in D. Mersch, Umberto Eco
zur Einführung, a.a.O., bes. 2. Teil, S. 75 ff.
136 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

chenmodells auf dem Gesetz der Wiederholung und der Dopplung von »Diachro-
nie« und »Synchronie«, die für die beständige Dekontextuierung und Rekontex-
tuierung der Zeichen innerhalb des Codes sorgen. Vor allem aber besteht das Be-
sondere am Strukturalismus darin, die Konstitution des Zeichens vollkommen
außerhalb jeglichen Begriffs von Wirklichkeit und - in seiner radikalisierten Aus-
prägung seit Roland Barthes, Julia Kristeva und Jacques Derrida - der Bedeutung
zu konzipieren: Sinn entsteht weder aus einem Bezug auf ein Äußeres, seien es
Ereignisse, Dinge oder überhaupt ein sinnlich Wahrnehmbares, noch aus der
Umstellung, Verwandlung und Veränderung von anderem Sinn, sondern allein
als »Effekt« einer Struktut, die selbst nicht bedeutet. Dann bezeichnet die Struk-
tur nichts Äußerliches, sie bildet keine zweite Realität, die sich aus dem Gegebe-
nen herausdestillieren läßt oder einer ersten oktroyiert; sie korrespondiert auch
keiner Karte, die auf ein Gebiet gelegt werden kann und es abbildete, so daß ihre
Beziehung zu ihrem Material, in dem sie sich verräumlicht, nicht auf die Termi-
nologie der Repräsentation zurückgeführt werden kann; vielmehr ergibt sie sich,
quer zu jeder repräsentationalen Ordnung, aus einer Serie willkürlicher Zerlegun-
gen und Einschnitte, die ein System von Unterscheidungen oder Gliederungen
hervorbringen, das allererst das erzeugt, was »das Reale« genannt werden kann.
Demgegenüber wird es der Analytik oder Pragmatik weit eher darum gehen, die
Konnexion zwischen den Zeichen und ihrem Bezeichnetem elementweise aufzu-
bauen, um aus ihnen komplexe »Vokabularien« herzuleiten, aus deren Überkreu-
zung, Widersprüchlichkeit oder Unvereinbarkeit, wie Nelson Goodman es aus-
gedrückt hat, sich eine Pluralität von »Welten« bildet.
Unabhängig davon, wie im einzelnen das Symbolische gedacht oder begründet
wird, ob analytisch oder pragmatisch als Funktion, Zuordnung oder regelgeleiteter
Ausdruck oder strukturalistisch als System oder territoriale Ordnung zufälliger
Schnitte — in beiden Fällen wird das Problem des Zeichens einseitig auf die Be-
ziehung zwischen Repräsentation und Referenz bzw. Struktur und Signifikation
reduziert. Dann dominiert die Frage nach der Bezeichnung oder Bedeutung mit-
samt ihren eingeschriebenen Paradoxien, während die Materialität des Zeichens
als asignifikant ausgeschlossen bleibt, sofern sie selbst nichts bezeichnet oder be-
deutet. Als bloße »Indifferenz« oder »Arbitrarität«, so der entsprechende Termi-
nus von Saussure, erscheint sie für die Betrachtung buchstäblich »ohne Bedeu-
tung«, weil der Sinn derselbe bleibt, ob er in Stein gesetzt, als Laut verlautbart
oder virtuell als Ziffer in einer Zahlenreihe vorkommt - und die weitreichenden
Erfolge technischer Mediatisierung oder von Simulationen mittels digitaler Medi-
en scheinen solcher Reduktion Recht zu geben. Zurückzuführen ist solche Ein-
seitigkeit indessen auf jene Auszeichnung des Inhalts vor der Form und der Form
vor der Materie, wie sie als Grundzug die Geschichte der europäischen Metaphy-

7 Vgl. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, a.a.O.


8 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 79 ff.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 137

sik dominiert. Paradigmatisch kann dafür eine Notiz aus Hegels Enzyklopädie der
philosophischen Wissenschaften einstehen: »Betrachten wir z.B. ein Buch, so ist es
für den Inhalt desselben allerdings gleichgültig, ob dasselbe geschrieben oder ge-
druckt, ob es in Papier oder in Leder eingebunden ist.« Dieselbe Indifferenz ge-
genüber dem Materiellen, die gewiß ein Grundzug jeglichen Idealismus oder
Konstruktionalismus bildet, findet sich ebenfalls bei Saussure, der aus ihr schließ-
lich ein »Gesetz« machen wird: »Das Material, mit dem die Zeichen hervorge-
bracht werden, ist gänzlich gleichgültig, denn es berührt das System nicht; ob ich
die Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder
oder einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung gleichgültig.« Die Bemerkung
lenkt den Fokus semiotischer bzw. semiologischer Untersuchung ausschließlich
auf die Möglichkeiten des Sinns, seines Ausdrucks oder seiner strukturellen Ma-
nifestation: Das Funktionszeichen und die Notwendigkeit seiner »Verkörperung«
gelten als reine Konvention, ebenso wie das strukturale Stellensystem auf der
Verkettung lauter »unmotivierter« Signiftkant/Signifikat-Re'ihen beruht, aus de-
nen die Bedeutungen hervorgehen, die selber noch als Spielmarken fungieren, in-
sofern ihr Aussehen oder ihr Gewicht selbst irrelevant erscheinen. Durchweg ge-
rät damit das Symbolische unter die Herrschaft der dictio, sei es als Aussage oder
als Diskurs, als Denotat oder als Signifikationssystem, als Repräsentation oder
Konstruktion einer Wirklichkeit bzw. als Codierung oder Bedeuten, das den
vielfältigen Ordnungen des Untetscheidens entspringt. " Überall stehen die Rätsel
des Sagens und des Sagbaren im Vordergrund, selbst da, wo sie sich hinter der
Kryptik der Schrift verbergen und ihre Deutbarkeit verweigern.
Dennoch weist bereits etymologisch das Wort dictio auf den Doppelsinn des
Lateinischen dico, »ich sage«, dessen Wurzel im Griechischen deiknymi oder San-
skrit die zugleich »zeigen« oder »sehen lassen« bedeutet - und bezeugt darin et-
was, was nicht in der reinen Diktion aufgeht. Dieselbe Verbindung läßt sich
auch für eine Reihe damit assoziierter Schlüsselbegriffe nachweisen: argumentum,
als Grundlage der Dialektik, und ftgura, als Hauptfunktion der Rhetorik, weisen
mit ärgere sowohl auf den Grund eines Sagens wie auf ein Erscheinen, das etwas
ans Licht bringt und klar vor Augen führt. Zudem deuten innerhalb der indo-

9 Man könnte sagen, daß die abendländische Logik den Aspekt der Materialität »entgeistert« hat:
Nurmehr Mangel bedarf sie nicht nur der Form, um Gestalt anzunehmen, sondern auch des Gei-
stes und mithin der Sprache, um gedacht werden können.
10 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Teil I
a.a.O., § 133 (Zusatz) S. 265.
11 Ferdinand des Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 143.
12 Von einer solchen Unterwerfung unter die dictio spricht auch Julia Kristeva, Proust: Identitäts-
fragen, in: Interventionen 6: Konturen des Unentschiedenen, Basel, Frankfurt/M. 1997, S. 4 5 -
78, hier: S. 48 f.
13 Vgl. dazu Karl Bühler, Sprachtheorie, Stuttgart New York 1982, S. 36, sowie Gottfried Boehm,
Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: G. Boehm, H. Pfotenhauer
(Hsg.), Beschreibungskunst - Kunstbeschreibung; München 1995, S. 2 3 ^ 0 , bes. S. 38 ff. und
Ernesto Grassi, Die Macht der Phantasie, Frankfurt/M. 1992, S. 25 ff. Grassi unterscheidet al-
lerdings zwischen rationaler oder apo-diktischer und weisender oder semantischet Sprache; letzte-
re, ebenso wie das Zeigen, weist er der Bildlichkeit und Rhetorik zu.
138 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

germanischen Sprachen die verschiedenen Worte für Zeichen wie semeion, deixis,
signum usw. gleichzeitig auf den Bereich eines Sagbaren wie des Sichtbaren hin.
Die Verbindung ist vor allem der Metaphorik der Evidenz entlehnt, die das Sym-
bolische mit Eröffnung oder Erhellung überhaupt verknüpft, wie auch Heidegger
das Zeichen als »Wink« oder »Zeige« auffaßt, wodurch etwas hervortritt, das zu-
vor verdeckt war. Die Symbolisierung markiert dann eine Sichtbarkeit für ein
Unsichtbares, Gegenwart, die sich auf eine Abwesenheit bezieht: Ent-Fernung der
Entfernung, die, wie es Waltet Benjamin von der »Spur« gesagt hat, eine Ferne in
die Nähe zieht und somit ein Vorübergegangenes zur Anwesenheit bringt. Sehen
meint damit zugleich ein Sprechen, wie umgekehrt dem Sprechen ein Sichtbares
eignet: So werden Sagen und Zeigen, die mit der Duplizität ebenso aufscheinen
wie verschwinden, gleichermaßen dem Bedeuten zugeschlagen und auf die Aus-
stellung einer Wahrheit fokussiert. Das Zeigen wäre demnach nur eine andere
Form des Sagens und das Sagen als eine andere Weise des Zeigens, mithin gerade
nicht jenes Andere des Sagens, das diesem, kraft seiner Materialität, immer schon
innewohnte.
Solches Zeigen kann gleichwohl radikaler gefaßt werden. Denn den Zeichen
bleibt jenseits eines bloß metaphorischen Gebrauchs eine Orientierung auf Sicht-
barkeit immanent: Sie bringen nicht nur in die Sicht, indem sie etwas anzeigen
oder bezeichnen; sie sind selbst ein Sichtbares oder Wahrnehmbares, das eine Be-
deutung zur Erscheinung bringt. In einer tieferen Schicht rühren sie an die Not-
wendigkeit einer aisthetischen Präsenz, die buchstäblich das »Sehen« sehen läßt.
Das Sagen, das »zeigt«, indem es erhellt, unterliegt einer Gegenwärtigkeit, die es
allererst austrägt. Die Zeichen sind darum Repräsentationen einer Abwesenheit
oder Signifizierung eines Signifikats durch eine Anwesenheit, die das Re-
präsentierte oder Signierte präsentieren. Bedeutung »gibt« es aufgrund von dieser:
Die Gegenwart der Zeichen wäre somit »Gabe« ihres Sinns, im Sinne ursprüngli-
cher Ge-Gebenheit, daher unverzichtbar und diesem unmittelbar zugehörig. Die
Dopplung ist den Ausdrücken semeion, deixis und signum ebenfalls zu entneh-
men, insofern ihnen jeweils eine besondere Materialität zukommt. Hier ergibt
sich eine grundlegende conditio sine qua non: Kein Zeichen vermöchte etwas zu
sagen oder auszudrücken, würde es sich nicht ebenso manifestieren - als Laut, der
benennt, als Spur oder Zeichnung im Sand, die auf ein Anderes verweisen, als
symptomatische Veränderungen der Haut, die eine Krankheit anzeigen, oder als
auf dem Gesicht aufgetragene Schminke, die etwas zu verbergen oder auszustellen
trachtet. Sie präsentieren sich wie Bilder durch ihre Farbigkeit oder Skulpturen
durch die Bearbeitung ihres Materials: Notwendigkeit einer Verkörperung, die
nicht beziehungslos nebenher läuft, sondern konstitutiv ist, weil es die semioti-
sche Funktion des Zeichens gleichwie sein differentielles Gewebe aus Schnitten

14 Vgl. Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 244 ff.


15 Vgl. Walter Benjamin, Das Passagenwerk: Der Flaneur, Signatur M 16a4, in ders., Gesammelte
Schtiften, V I , a.a.O. S. 560.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 139

und Einkerbungen als solches allererst hervortreten läßt. Den Zeichen ist, als Si-
gnifikationsfunktion oder Ordnung von Signifikant/Signifikat-Reihen, ihr Erschei-
nen selbst eingeschrieben.

Hegels Dialektik von Wesen und Erscheinung

Die angezeigte Duplizität von Materialität und Bedeutung im Zeichen geht der
Dialektik von Wesen und Erscheinung konform, wie sie im zweiten Teil der
Wissenschaft der Logik Hegels entwickelt ist und ihren wesentlichen Platz in der
Ästhetik einnimmt,' freilich so, daß sie erneut vom Kopf auf die Füße zu stellen
wäre. Sie kann als Analogon zu der hier entwickelten Differenz aufgefaßt werden,
allerdings ohne den ihr innewohnenden Prozeßcharakter. Wir werden ihre Dis-
kussion entlang ihres vorgezeichneten Fahrplans führen. Er wäre als eine Art Pa-
radigma zu lesen, wobei sich die Auseinandersetzung mit der Hegeischen We-
senslogik vor allem deswegen als nützlich erweist, da diese den äußersten Gegen-
pol zu der von uns exponierten These zu bilden scheint. Zwar läßt Hegel die
»Arbeit« seines Gedankens mit der Differenz zwischen Denken und Materialität
beginnen, jedoch so, daß er diese gerade wieder tilgt, indem der »Geist« über sein
Erscheinen, dessen er ebenso bedarf, wie er beständig mit ihm in Widerspruch
gerät, zuletzt dennoch triumphiert. So geht zwat Hegel von einer Duplizität aus,
doch nur, um sie »aufzuheben«. Dagegen werden wir die Einsprüche Adornos
und Luc Nancys geltend machen, die jeweils eine Unverzichtbarkeit entdecken
lassen, die dem hier vertretenen Anliegen verwandt ist: Revision der Materialität,
wenn auch zunächst nur als negative Spur. Gleichwohl wäre damit bereits der Bo-
den für eine Überschreitung bereitet, die nicht nur den Idealismus Hegels beträfe,

16 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik, II, a.a.O., S. 17 ff., und vor allem
S. 124 ff. Zu Logik und Dialektik bei Hegel vgl. summarisch Dieter Henrich (Hsg.), Hegels
Wissenschaft der Logik. Formation und Rekonstruktion, Stuttgart 1986; Rolf-Peter Horstmann,
(Hsg.), Seminar: Dialektik in det Philosophie Hegels, Frankfurt/M. 1978; sowie im einzelnen
Otto Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg München 1973, bes.
S. 110 ff., 272 ff.; ders., Die Ausbildung der spekulativen Dialektik in Hegels Begegnung mit der
Antike, in: Manfred Riedel (Hsg.), Hegel und die antike Dialektik, Frankfurt/M. 1990, S. 4 2 -
62; Heinz Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels >System der Philo-
sophie«, in den Jahren 1800-1804, Bonn 1970; ders., Anfänge der Dialektik, in: Christoph
Jamme, Helmut Schneider (Hsg.), Der Weg zum System, Frankfurt/M. 1990, S. 267-288;
Hans-Georg Gadamer, Die Idee der Hegeischen Logik, in: ders., Gesamtausgabe a.a.O., Bd. 3,
65-86; Werner Becker, Hegels Begriff der Dialektik und das Prinzip des Idealismus, Stuttgart
Berlin Köln Mainz 1969; Michael Theunissen, Sein und Schein. Zur kritischen Funktion der
Hegeischen >Logik«, Frankfurt/M. 1978; Herbert Schnädelbach, Zum Verhältnis von Logik und
Gesellschaftstheorie bei Hegel, in: Oskar Negt (Hsg.), Aktualität und Folgen der Philosophie
Hegels, Frankfurt/M. 1970, S. 58-80; Gethard Gamm, Der deutsche Idealismus. Eine Einfüh-
rung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997, S. 147 ff.; und Chri-
stoph Menke, Der >Wendepunkt« des Erkennens. Zu Begriff, Recht und Reichweite der Dialektik
in Hegels Logik, in: Christoph Demmerling, Friedrich Kambartel (Hsg.), Vernunftkritik nach
Hegel, Frankfurt/M. 1992, S. 9-66; Pirmin Stekeler-Weithofer, Verstand und Vernunft. Zu den
Grundbegriffen der Hegeischen Logik, in: ebenda, S. 139—197.
140 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

sondern gleichermaßen auch die Konstruktionalismen des Symbolischen wie ih-


rer De-Konstruktionen.
Die Dialektik von Wesen und Erscheinung bildet, einem Wort Ernst Blochs
zufolge, die »Zentralstelle der Hegeischen Logik«. Sie reflektiert die Selbstver-
mittlung des Wesens in der Erscheinung, denn »der Schein selbst ist dem Wesen
wesentlich«, wie es ebenfalls in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Ästhetik
heißt: »(D)ie Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene«. We-
sen und Erscheinung, Wahrheit und Wirklichkeit sind so ineinandet verflochten:
Beide lassen sich nicht unabhängig voneinander betrachten, sondern »reflektie-
ren« sich gegenseitig: Das Wesen entkleidet sich erst als Erscheinendes; es muß
zur Welt kommen, ins Dasein treten und Wirklichkeit werden, wie sich das
Wahre erst durch das Wirkliche hindurch zeigt und als Wahrheit wirkt. Mithin
gehört die Existenz zum Wesen, durch die es sich offenbart, wie es ebenso umge-
kehrt durch sie seine Selbstoffenbarung als »Wahrheit des Seins« sichert. »(Das
Wesen) ist zunächst Totalität des Scheinens in sich, bleibt dann aber nicht bei
dieser Innerlichkeit stehen, sondern tritt als Grund heraus in die Existenz, wel-
che, als ihren Grund (...) in einem Anderen habend, eben nur Erscheinung ist.
(...) Hierin liegt nun aber zugleich, daß das Wesen nicht hinter oder jenseits der
Erscheinung verbleibt, sondern vielmehr gleichsam die unendliche Güte ist, sei-
nen Schein in die Unmittelbarkeit zu entlassen und ihm die Freude des Daseins
zu gönnen.« Gerade darin erblickt Hegel jedoch gleichzeitig auch seinen Man-
gel, der überwunden werden muß und in dessen Überwindung schließlich
Wahrheit, Wesen und Begriff genauso zusammenfallen, wie Bedeutung und Zei-
chen. Denn indem das Wesen erscheint und seine Etscheinung eine Existenz be-
inhaltet, die ihr zugrunde liegt, gründet es ebensosehr in einem anderen, das in
seine unmittelbare Einheit eine Spaltung einträgt, die es von sich trennt. Seit je
gilt dem metaphysischen Diskurs der Grund als »etwas aus etwas«; ihm inhäriert
eine genuine Differenz, weil das Begründete aus seiner Grundlegung als seinem
Anderen hervorgeht So ist das Wesen, als »einfache Identität« ebenso Nichtiden-
tität, da »die Erscheinung nicht auf eigenen Füßen (steht) und (...) ihr Sein nicht
in sich selbst hat«."
Auf diese Weise bleibt das Wesen als die »Wahrheit des Seins« jedoch chro-
nisch prekär, wie semiotisch dem Zeichen die Crux seiner kontingenten Materia-
lität anhaftet, die es im Vorrang des Bedeutens ganz abzustreifen sucht. Hegel
verbindet damit die Forderung nach der Erlösung des Wesens vom Schein, die
analog dem restlosen Aufgehen von Sinn und Signifikation wäre. Denn das We-

17 Ernst Bloch, Subjekt - Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt/M. 1962, S. 167.


18 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Teil I, in: ders., Werke in
20 Bden., a.a.O., Bd. 13, S. 21. Vgl. auch ders., Wissenschaft der Logik, Teil II, a.a.O., S. 16,
124 f.; sowie gleichermaßen ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften a.a.O.,
§ 131, S. 261.
19 Vgl. ders., Wissenschaft der Logik, Teil II, a.a.O., S. 16.
20 Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften a.a.O., § 131 (Zusatz) S. 262.
21 Ebenda.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 141

sen, soweit es nicht aus sich selbst ist, sondern durch ein anderes existiert, das es
nicht ist, spaltet sich in Erscheinung und Schein, dem gleichermaßen Wesent-
lichkeit wie Unwesentlichkeit zukommt, weil es nur er-scheinend existiert und
darum »nach seiner Unmittelbarkeit dem Übergehen, Entstehen und Vergehen
unterworfen ist« und doch ein Bleibendes und in sich Ruhendes, d.h. ein Allge-
meines austtägt." Es birgt den Irrtum der Endlichkeit in sich, wie ihm zugleich
ein Unendliches innewohnt, das erst herausgebracht werden muß. Freilich er-
weist sich die Komplexität der Dialektik von Wesen und Existenz darin, daß He-
gel deren Zufälligkeit noch einmal in Wesentlichkeit und Unwesentlichkeit un-
terteilt, insofern das Dasein dem Wesen zwar »wesentlich« ist, weil es erst durch
dieses zum Vorschein gelangt, gleichwohl, als ein Zufälliges, sich als bloßer
Schein und damit als ein »an und für sich nichtiges Unmittelbares, (...) ein Un-
wesen« entpuppt: »Es ist die Unmittelbarkeit des Nichtseins, welche den Schein
ausmacht.«" Als Präsenz eignet ihm lediglich ein Besonderes, dem das Wesen als
Allgemeinheit und »Gesetz« widerspricht: »Das Gesetztsein ist nunmeht das We-
sentliche und wahrhaft Positive.«" Entsprechend ist dem Zeichen, um die Analo-
gie fortzusetzen, seine sinnliche Manifestation wesentlich, wie diese in ihrer Sin-
gularität arbiträr bleibt: Es partizipiert darin am »Schein«, der Nichtigkeit von
»Schall und Rauch«, jener Endlichkeit oder Vergänglichkeit, die es dem Ver-
schwinden aussetzt, das selbst noch die Schrift zersetzt und ihre Zirkulation un-
terbricht."
Impliziert wird damit insbesondere eine Reformulierung der überlieferten
Dichtotomie zwischen Stoff (hyle) und Form (eidos) durch Form und Inhalt, und
zwar so, daß beide letztlich zur Idealität ihrer Identität verschmelzen müssen.
Gemäß der überlieferten Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidens, die
der Eigenschaft kein selbständiges Sein zuerkennt, rechnet Hegel die Materialität
der Erscheinung der Form ihrer Existenz zu, indem die Stofflichkeit zu Merkma-
len der Dinge selber werden, die ihrem Dasein erst Gestalt verleihen."' »Die Ei-
genschaft ist nicht nut äußerliche Bestimmung, sondern an sich seiende Existenz.
(...) Das Ding besteht aus selbständigen Materien (...).« Der Kunstgriff etlaubt,
die Materialität in ihrer Autonomie zu denken, und sie als das »Wie« der Erschei-

22 Ders., Wissenschaft der Logik Teil II, a.a.O., S. 151.


23 Ebenda, S. 19, 21 passim.
24 Ebenda, S. 152.
25 Vgl. dazu auch meine Ausführungen über Zeichen und vanitas in D. Mersch, Umberto Eco zur
Einführung, a.a.O., S. 23 ff.
26 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik, Teil II, a.a.O., S. 139 f. Dieselbe Be-
stimmung gilt auch für Schelling; sie bildet überhaupt eine Grundstellung des Deutschen Idea-
lismus: »Die Materie (...), der körperlichen Erscheinung nach betrachtet, ist nicht Substanz,
sondern bloß Accidens (Form),« heißt es in dessen Ästhetik-Vorlesungen, vgl. Friedrich Wilhelm
Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, Darmstadt 1974, S. 23. Das Erscheinende in seiner Ge-
genwart wird damit wesentlich von der Form her gedacht: und die Form ist Leib, Gestalt, mit
dem sich das Absolute bekleidet; ebenda, S. 149 (§ 83). Entsprechend gilt ihm Kunst als An-
schauung der Materialität als Form, als Symbol: »Der Kunst (...) wird die Materie zum Leib oder
zum Symbol.« Ebenda, S. 125 (§ 72).
27 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik, Teil II, a.a.O., S. 140, 141 passim.
142 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

nung, der selbst noch ihr »Daß« (quod) eingewoben ist, ihrem »Was« (quid) oder
»Wassein« im Sinne des Wesens entgegenzuhalten." Die Differenz, die dann be-
deutsam wird, verläuft zwischen den Formen der Existenz als ihren »Materien«
und dem Inhalt der Erscheinung, um schließlich in der Idealität des Begriffs auf-
gehoben zu werden, worin sich die »Wahrheit des Wesens« erst enthüllt. Denn
das bloße Ding erscheint durch seine Materialität im Modus det Unwesentlich-
keit bestimmt, wohingegen sein Inhalt seine Wesentlichkeit markiert, »der sich
aus der Erscheinung in das Gesetz kontinuiert«: »Dieser Inhalt macht hiermit die
Grundlage der Erscheinung aus (...).«" Anders formuliert: das Gesetz als »Form«
des Inhalts der Erscheinung entspricht der Offenbarung des Wesens. Sie wird von
Hegel auch als die »entscheidende Form« exponiert, die zugleich dessen entschei-
dender Inhalt sei: »Das Reich der Gesetze ist der ruhige Inhalt der Erschei-
nung«, während die Form der Existenz, die Materialität, unstet bleibt und überall
»im unruhigen Wechsel« begriffen ist.
Das Verschlungene der Reflexion, ihre ineinander greifende Bewegung, die
dem Verständnis zuweilen Rätsel aufgibt, " ergibt sich dabei aus den Äquivoka-
tionen der Form, die einmal als Materie auf die Existenz der Dinge bezogen wird,
zum anderen auf das Gesetz des Wesens als dem Inhalt seiner Erscheinung. Der
Ausdruck wird dann doppelt verwandt und verstellt den Sinn der Passage, die
freilich quer gelesen in nuce eine Theorie des Zeichens nahegelegt, die in der
Sprache von Wesen und Erscheinung und des Unterschieds zwischen Form und
Inhalt gefaßt ist. Hegel hat sie nirgends expliziert, höchstens angedeutet und in
verstreuten Bemerkungen, vor allem in seiner Philosophie der Kunst, berührt.
Denn wie das Wesen durch die Erscheinung durchscheint, um sich zu zeigen, so
manifestiert sich - besonders im Ästhetischen — der Sinn im Sinnlichen, indem
ein Inneres im Äußeren »sich zu erkennen (gibt)« und das »Äußere von sich hin-
weg auf das Innere hinweist«: »Jedes Äußerliche gilt uns nicht unmittelbar, son-
dern wir nehmen dahinter noch ein Inneres, eine Bedeutung an, durch welche
die Außenerscheinung begeistert v/ird. (...) Denn eine Erscheinung, die etwas
bedeutet, stellt sich nicht selbet und das, was sie als äußere ist, vor, sondern ein
anderes. (...) Ja, jedes Wort schon weist auf eine Bedeutung hin und gilt nicht
für sich selbst. Ebenso das menschliche Auge, das Gesicht, Fleisch, Haut, die gan-
ze Gestalt läßt Geist, Seele durch sich hindurchscheinen, und immer ist hier die

28 Hans Georg Gadamer hat dagegen jede Auffassung von Materie als ein selbständiges Prinzip un-
ter Berufung darauf zurückgewiesen, daß die aristotelische Differenz zwischen Stoff und Form
nur als »Teile der Rede«, d.h. als Aspektierungen eines Urteils über Seiendes zu verstehen ist, wo-
bei ihm die Stofflichkeit als etwas Unbestimmtes, die Form als das Bestimmende gilt. Et wieder-
holt freilich so nur die klassische Position im hermeneutischen Gewand. Vgl. ders., Gibt es Mate-
rie? Eine Studie zur Begriffsbildung in Philosophie und Wissenschaft, in: Gesammelte Werke
Bd. 6, a.a.O., S. 201-217.
29 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik, Teil II, a.a.O., S. 153.
30 Vgl. ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften a.a.O., § 134, S. 267.
31 Ders., Wissenschaft der Logik Teil II, a.a.O., S. 154.
32 Darauf hat auch Adorno hingewiesen; vgl. ders., Drei Studien zu Hegel, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 5, Frankfurt/M. 1970, S. 326 f.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 143

Bedeutung noch etwas Weiteres als das, was sich in ihrer unmittelbaren Erschei-
nung zeigt.« Das läßt sich bruchlos auf die Manifestation des Symbolischen
übertragen: Die Materialität des Zeichens gehört zur »Form« seiner Existenz; man
kann sie als dasjenige bezeichnen, worin das Zeichen präsent wird und sich prä-
sentiert, die Weise, in der seine Anwesenheit gegenwärtig wird und wodurch die
jeweilige Bedeutung, sein Inhalt sich »äußert«. Mit ihnen ist eine Differenz ange-
zeigt, deren Auseinanderklaffen im Prozeß des Symbolischen ebenso eingeht, wie
die Evokationen der Erscheinung am Heraustritt des Wesens beteiligt sind:
rialität und Bedeutung gehören ebenso zusammen, wie sie sich gegeneinander
unterlaufen oder stören können, ohne in einer unmittelbaren Einheit gegenein-
ander aufzugehen. Sie bilden keine einfache Identität, vielmehr stets Anderes ih-
rer selbst, das in die Zeichen eine unablässige Verschiebung oder Irritation ein-
tragt. So bleibt ihr Unter-Schied ein Uneinlösbares oder Gegensatz, den Hegel
gleichwohl dadurch auszulöschen ttachtete, daß er den Widerspruch zwischen
Wesen und Erscheinung der Teleologie des Begriffs als der »Wahrheit des Seins
und des Wesens« überantwortete, welche die Zufälligkeiten der Existenz tilgen
sollte, um beide zuletzt in die Einheit von Form und Inhalt zusammenzuführen.
Gleichermaßen muß das Symbolische vom Makel seiner sinnlichen Präsenz be-
freit werden, um ganz mit seinem Sinn identisch zu werden, denn nicht jede Ge-
staltung, so Hegel, ist fähig, seinem Ausdruck zu genügen, »sondern durch einen
bestimmten Inhalt ist auch die ihm angemessene Form« bestimmt.
Unterstellt ist darin freilich eine Identitätsfigur, die ebenso für den Begriff wie
für das Zeichen gilt, worin Form und Inhalt zusammenfallen sollen: Ideal der
Klassik, das noch Hans-Georg Gadamer vom Primat der Sprache her für die
Philosophische Hermeneutik reklamierte. ' So ist der Differenz ein Zwang zur
Selbstaufhebung eingegeben, der sich, wie wiederum Ernst Bloch bemerkt hat,
»besonders unverhohlen in der Kunst« zeigt. Denn im Kunstwerk »entäußert«
sich der Geist im sinnlichen Material, um sich als Bau, Tonstück oder Dichtung
zu objektivieren und in seinem eigenen Außen anzuschauen. Doch gewahrt er
darin eben nicht sich unmittelbar selber, sondern sich als sein Anderes, so daß das
Bedürfnis seiner Selbstentäußerung in Selbstentfremdung umschlägt: Zwar er-
scheint die Kunst, wie Hegel sagt, »aus dem Geiste entsprungen und erzeugt«,
gleichwohl nimmt sie im Prozeß der Gestaltung »den Schein der Sinnlichkeit in

33 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Teil I, a.a.O., S. 36; vgl. auch
S. 37.
34 Vgl. ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften a.a.O., § 159, S. 304.
35 Ders., Vorlesungen über die Ästhetik, Teil I, a.a.O., S. 29. In bezug auf das »Schöne« wird der
Gedanke präzisiert: Das »Äußere« müsse hier mit dem »Inneren zusammenstimmen«, erst dann
vermöge sich die »Wahrheit der Kunst« zu zeigen; ebenda S. 205.
36 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., bes. S. 361 ff.
37 Ernst Bloch, Subjekt - Objekt, a.a.O., S. 171. Dies eben gilt gleichermaßen auch für Gadamers
Ästhetik, die darin abermals ihre Gebundenheit an die Klassik bekundet; vgl. ders., Wahrheit
und Methode, a.a.O., S. 97 ff.
144 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

sich auf (...)« , so daß das Wahrhafte zugleich »verunreinigt und versteckt«
wird. Auffallend ist überhaupt die Rede von der »Unreinheit« und der »Beflek-
kung«, die sich stets dort einstellt, wo Hegel auf das Sinnliche oder Materielle zu
sprechen kommt: So vermag sich das Ideal der Schönheit nur dort entfalten, wo
die Ästhetisietung das »Äußere« mit dem »Inneren« versöhnt hat: »Indem die
Kunst nun das in dem sonstigen Dasein von der Zufälligkeit und Äußerlichkeit
Befleckte zu dieser Harmonie mit seinem wahren Begriffe zurückfuhrt, wirft sie
alles, was in der Erscheinung derselben nicht entspricht, beiseite und bringt erst
durch diese Reinigung das Ideal hervor.« Das gilt insondetheit für das »Natürli-
che des bedürftigen Daseins«: »Härchen, Poren, Närbchen, Flecke der Haut«,
mit einem Wort, der Kontingenz hinfälligen Fleisches. Anders ausgedrückt, alle
Kunst erweist sich an die Materialität der Darstellung gebunden, die ihr Geistiges
entzweit: So sei sie wert, daß sie zugrunde gehe. »(N)icht das Natürliche (...) als
solches, sondern jenes Machen, das Vertilgtwerden gerade der sinnlichen Mate-
rialität und der äußerlichen Bedingungen ist das Poetische und Ideale in formel-
lem Sinne.« " Der Geist beseelt die Materie, sofern er sie begreift und ihr eine
Form verleiht; doch schlägt sie zurück, indem er an ihr ein Widerständiges fin-
det. " Weder »dem Inhalte noch der Form nach« erscheint deshalb die Kunst als
»die höchste und absolute Weise (...), dem Geiste, seine wahrhaften Interessen zu
Bewußtsein zu bringen«; vielmehr dränge sie von sich her zur Überschreitung
durch das Denken, durch den Begriff der Philosophie: »Die eigentümliche Art
der Kunstproduktion und ihrer Werke füllt unser höchstes Bedürfnis nicht mehr
aus; wir sind darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich zu verehren und sie an-
beten zu können; der Eindruck, den sie machen, ist besonnenerer Art, und was
durch sie in uns erregt wird, bedarf noch eines höheren Prüfsteins und anderwei-
tiger Bewährung. Der Gedanke und die Reflexion hat die schöne Kunst überflü-
44

gelt.«
Das Diktum, worin zugleich das »Ende der Kunst« beschieden ist, insofern
»(i)n allen diesen Bestimmungen (...) die Kunsr nach der Seite ihrer höchsten Be-

38 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Teil I, a.a.O., S. 27. An anderer
Stelle heißt es schärfer: »In dieser Weise ist das Sinnliche in der Kunst vergeistigt, da das Geistige
in ihr als versinnlicht erscheint.« Ebenda, S. 61.
39 Ebenda, S. 23.
40 Ebenda, S. 205, 206.
41 Ebenda, S. 206.
42 Ebenda, S. 216.
43 Vgl. ebenda, S. 215. Deswegen heißt es weiter: »Die Vorstellung (...), aus welcher die Kunst
schöpft, ist ein weiches, einfaches Element, das alles, was die Natur und der Mensch in seinem
natürlichen Dasein sich müssen sauer werden lassen, leicht und gefügig seinem Inneren ent-
nimmt.« Es ist dies auch der Grund, weshalb Hegel seine Betrachtungen der Kunst allein auf die
»theoretischen Sinne des Gesichts und Gehörs« beschränkt, »während Geruch, Geschmack und
Gefühl vom Kunstgenuß ausgeschlossen bleiben. Denn Geruch, Geschmack und Gefühl haben
es mit dem Materiellen als solchen und den unmittelbar sinnlichen Qualitäten derselben zu tun
(...).« Ebenda, S. 61.
44 Ebenda, S. 23, 24 passim.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 145

Stimmung für uns ein Vergangenes (ist und bleibt)«, steht mithin in der Konse-
quenz jener Transzendenz, wodurch das Ästhetische als »sinnliches Scheinen der
Idee« abgestreift werden und der Gedanke seine Manifestation, seine Materialität
vertilgen muß, um wahrhaft Begriff und d.h. Einheit der Form mit ihrem Inhalt
zu werden. ' Dann aber folgt die Struktur der Reflexion, die Art ihres Werdens,
allein dem präjudizierten Maß und Kriterium erfülltet Wahrheit: Hegel bezeugt
darin überall einen »Idealismus der Materialität«, der freilich, so Adorno, »gleich-
sam von rückwärts« her zu erschließen wäre, denn, wie es in der Enzyklopädie
heißt: »Das Gute, das absolut Gute, vollbringt sich ewig in der Welt, und das Re-
sultat ist, daß es schon an und für sich vollbracht ist und nicht erst auf uns zu
warten btaucht.« Wie die Kunst dem negativen Rest ihrer sinnlichen Verkörpe-
rung entgehen muß, so bedarf die Dialektik von Wesen und Erscheinung ebenso
wie der Unterschied zwischen Materialität und Bedeutung im Symbolischen der
Auflösung durch die Norm des Begriffs, der immer schon am Anfang und Ende
steht. Er subordiniert das Zeichen dem Primat des Sinns und bringt damit eben
jene Produktivität der Kategorien, die ein permanent Uneinlösbares markieren,
ganz im Sinne einer Tradition zum Verschwinden, die einseitig das Ideal von
Identität privilegierte. Es schlägt die Differenzen ganz auf die Seite der absoluten
Bestimmung, die sich der Einheit von Form und Inhalt verdankt. Am Ort des
Begriffs hebt Hegel schließlich den Widerspruch auf: Wie die Künste die Stu-
fenfolge von Skulptur und Malerei zur Poesie durchlaufen müssen, um zu sich,
d.h. zu ihrem Höheren zu gelangen, so sucht die Idee sämtlichen Unwesentlich-
keiten der Existenz und der Materialität zu entkommen und die Übereinstim-
mung von Besonderem und Allgemeinem wiederherzustellen: Jenseits aller Bei-
mengung durch die Kontingenzen der Realität und um den Preis des Verlusts
sinnlicher Manifestation wird das Absolute als die Reinheit des Logos mit sich ge-
wonnen. Sie macht die letzte Stufe seines Bildungsprozesses aus, seinen Ab-

45 Ebenda, S. 25.
46 Die Abwertung der Materialität zugunsten der Idealität zieht sich, ebenso wie durch die Ge-
schichte der Metaphysik, leitmotivisch auch durch die gesamte Geschichte der Ästhetik. Die Er-
scheinung erscheint nicht durch sich selbst; sie bedarf eines anderen, um erscheinen zu können,
eine »Form« oder »Gestalt«, das eidos bei Piaton und der antiken Metaphysik, das »Licht« im
Neuplatonismus und der christlichen Mystik, der »Begriff« in der rationalen Philosophie der
Neuzeit usw. Ihnen korrespondiert eine Depravation der Leiblichkeit zugunsten des Vorrangs der
Form, wovon wiederum Schelling gesagt hat, dieser begnüge sich lediglich mit einem »Schatten
ohne den Körper«; vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 4.
Dann kann umstandslos Erscheinung mit Schein verwechselt werden: Sein ist, worin das Er-
scheinen seinen eigentlichen Grund hat.
47 Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a.a.O., S. 328.
48 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, a.a.O.,
§212, S. 367.
49 Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Philosophie der Kunst, die den Hegeischen Vorlesungen über
Ästhetik vorhergehen, entspricht im Resultat hier, wiewohl ganz anders gewonnen, der Systematik
Hegels: »Zugegeben (...) und vorausgesetzt, daß die bildende Kunst der realen Einheit entspricht
und in ihren Formen gemäß den Formen der letzteren construirt werden muß, so wird die Pla-
stik in dem System der Kunst nothwendig der Materie in der Natur entsprechen und die erste
Potenz der bildenden Künste bezeichnen. Das An-sich der Kunst kleidet sich hier, wie das An-
146 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Schluß, in dem der Geist, wie es das Ende der Phänomenologie des Geistes verfügt,
»das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewonnen« hat und, befreit von
aller Unruhe und Negativität, die ihm die Lockungen der Materialität bescherten,
sich schließlich in der »unmittelbare(n) Einheit des Sichselbstwissens« gewahrt:
»(I)n dieser selbstischen Form, worin das Dasein unmittelbar Geist ist, ist der In-
halt Begriff.«

Untilgbare Materialität

Freilich bewahrt sich darin der Widerspruch als untilgbar. Getreu des Bescheids
Adornos, »daß keine Lektüre Hegels, die ihm Gerechtigkeit widerfahren läßt,
möglich ist ohne Kritik an ihm«, wäre auf die Uneinlösbarkeit der Identität des
logos mit sich, die schließlich allein in der Immaterialität des Begriffs statthätte,
hinzuweisen. Sie straft die Dialektik Lügen, weil der Logik der Immaterialität ei-
ne Logik der Materialität eingeschrieben bleibt, die sie nicht aufzulösen vermag.
Denn kann sich der Geist je selbst wissen, wenn ihm deren Unabweisbarkeit im-
mer schon innewohnt? Ist er nicht vielmehr gerade nur kraft seiner Materialität
Geist, die er, als Geist, freilich nirgends einzuholen vermag? Indem die gesamte
Phänomenologie des Geistes sein Gedächtnis wiederholt, um es zu bewahren und
sein Werden erinnert, indem sie dessen stets noch unvollkommene Gestalten in
sich aufnimmt, um deren Verunreinigungen und Verfälschungen von sich abzu-
stoßen, fällt die Verwirklichung des Absoluten mit der Selbstverwirklichung des
Geistes als reiner Immaterialität zusammen, die sich entweder selber nicht mehr
verkörpern kann oder den Kontingenzen seiner Erscheinung erliegt. So verharrt
das von aller Materialität entkleidete Absolute in einer Aporie, die die Dialektik
erneut über sich hinaustreibt, weil es sich selber keine Gestalt zu verleihen ver-
mag, ohne sich aufzuheben. Was sein Begriff tilgt, stellt sich in seinem Rücken

sich der Natur, ganz in Materie und Körper. Durch die zweite Potenz wird die Materie ideal, in
der Natur durch das Licht, in der Kunst durch die Malerei. Endlich in der dritten wird die reale
und ideale eins; das dem Realen oder der Materie Verbundene oder Eingebildete wird zum Klang
oder Laut, in der Kunst zur Musik und zum Gesang. Hier wird also der absolute Erkenntnisakt
mehr oder weniger von den Fesseln der Materie befreit (...). Die Materie löst sich allmählich ins
Ideale auf (...).« Ders., Philosophie der Kunst, a.a.O., S. 272, 273 (Teil II, 4). Erneut bestätigt
sich so die Einheit der Grundgedanken des Deutschen Idealismus, der darin ganz den christli-
chen Idealen der Scholastik folgt: Auslöschung der niedrigen Materie zugunsten der höheren
Idee. Immerhin hat jedoch Schelling immer wieder darauf bestanden — und das gilt vor allem für
seine gegen den transzendentalen Idealismus gerichtete Spätphilosophie, daß das Denken selbst
nur im Medium der Materialität zu denken sei, daß es mithin sich nicht von jener Natur zu
koppeln vermag, der es denkend angehört, um sie zu begreifen.
50 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O., Bd. 3, S. 588, 589 passim.
51 Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a.a.O., S. 373. Zum Verhältnis zwischen Hegels
spekulativer und Adornos negativer Dialektik vgl. insb. auch Hermann Schweppenhäuser, Spe-
kulative und negative Dialektik, in: Oskar Negt (Hsg.), Aktualität und Folgen der Philosophie
Hegels, a.a.O., S. 81-93; sowie Christoph Demmerling, Philosophie als Kritik. Grundprobleme
der Dialektik Hegels und das Programm kritischer Theorie, in: Ch. Demmerling, F. Kambartel,
Vernunftkritik nach Hegel, a.a.O., S. 67-99.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 147

wieder her, insofern er als Begriff an die Unverzichtbarkeit des Zeichens ge-
mahnt, dem die Differenz von Materialität und Bedeutung immanent bleibt. Die
Abhängigkeit des Diskurses vom Zeichen bezeugt dann seine gleichzeitige Ab-
hängigkeit von den Bedingungen seines Etscheinens, an der die von Hegel vorge-
zeichnete Identität der Identität und Nichtidentität ihren Bruch und erneuten
Widerspruch findet: die Untilgbarkeit der Verkörperung.
Das Absolute gelangt daher niemals zu sich selbst. Es bleibt beim Begriff, als
Voraussetzung und Resultat, wie gleichermaßen Schelling in seiner Münchner
Vorlesung zur Geschichte der neueren Philosophie monierte. " Es muß scheitern,
weil es ihm nicht gelingt, die Materialität seiner Erscheinung mit der Immateria-
lität seines Bedeutens zu versöhnen. So kündet sich ein Paradox an, das gleicher-
maßen dem Zeichen, quer zur Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesen-
heit, die es konstituiert, innewohnt und es in Sorge hält: Widerspruch zwischen
Materialität und Bedeutung, insofern es, kraft seiner Signifikanz, diese nirgends
mitzubezeichnen vermag. Wir werden auf diese grundlegende Paradoxie immer
wieder zu sprechen kommen; sie macht den Kern unseres Gedankens aus: Inso-
fern die Zeichen anderes be-zeichnen oder be-deuten, das sie nicht sind, vermö-
gen sie ihre eigene Materialität nicht mitzubezeichnen oder zu bedeuten. Dies gilt
mutatis mutandis für den semiologischen Zeichenbegriff: Sofern es als Stelle inner-
halb eines Systems markiert ist, vermag diese nicht mitzumarkieren, was seine
Markierung trägt. Der Signifikation entgeht so die Basis ihrer Signifikanz. Es
»ist«, indem es be-deutet, und es kann nur bedeuten, indem es »ist«: So tritt an
ihm die Gegenwart einer Andersheit hervor. Die Zeichen besagen vermöge der
Immaterialität ihrer Differenz; dann besagt jedoch ihre Materialität der Differenz
nichts: Sie hält sich nicht im Bereich eines Sinns auf; sie »ist«. Ihr kommt dem-
nach nicht wieder die Dimension eines Bedeutens zu; mithin gehen die Zeichen
nicht in ihrem Gehalt auf: Etwas bleibt an ihnen chronisch unterbesetzt: die Un-
abdingbarkeit ihrer Erscheinung, die nicht als Zeichen funktioniert, wohl aber, als
gleichsam widerständige »Spur«, in der die Funktion des Be-Zeichnens oder der
Struktur der Signifikation hartnäckig mitspielt.
Notwendig eignet darum der Symbolisierung ein Irreduzibles oder Vorgängi-
ges, dessen Tilgung durch den Begriff, die Bezeichnung oder den Sinn mißlingt.
Eben dies ist dem Einspruch vor allem des späten Schelling gegen Hegel analog:
Negativität eines Unverfügbaren oder Nicht-Nicht-Zudenkenden, das unvermit-
telbar bleibt und selbst noch in die Positivität seiner Anerkennung umschlagen
muß, weil sich alles Denken erst von ihm her in Stellung bringen muß. Vehe-
ment hatte daher Schelling vor allem in seiner Berliner Spätzeit, den Vorlesungen
zur Philosophie der Offenbarung, auf dem Vorrang des Seins (Existenz) vor dem

52 Vgl. Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Zur Geschichte det neueren Philosophie, Werke, 5.
Hauptband, München 1928, S. 196 ff, bes. S. 196 f.: »Allein jene Zurückziehung auf das bloße
Denken, auf den reinen Begriff, war, wie man gleich auf den ersten Seiten von Hegels Logik aus-
gesprochen finden kann, mit dem Anspruch verknüpft, daß der Begriff alles sey und nichts außer
sich zurücklasse.«.
53 Vgl. ders., Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 101 f., 111 ff, 146, 155 f., 162.
148 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Wesen bestanden und damit jene Seite betont, die Hegel bereits dem Begriffli-
chen subordinierte. Der Materie, als »Form der Existenz«, die nur das »Wie« ihrer
Erscheinung ausmacht, ginge noch das Rätsel der Existenz selbst, das Ereignis des
»Daß« (quod) voraus: transreflexives und transkategoriales Sein, wodurch Denken
und Begriffsich austragen. Es wäre somit ein Ereignis, das sich nicht »dialektisie-
ren« läßt: Singularität eines Erscheinens jenseits des Begriffs, aber auch jenseits
der Zeichen, der »Schrift« und ihrer »Spuren«: »nicht Nichts«, sondern »Fast-
nichts« (Presque-rien) einet Undarstellbarkeit, ohne daß weder ein Denken noch
irgend ein Bedeuten überhaupt sagbar wäre, mithin Gegenwart, die nicht im Mo-
dus des »als« erscheint, sondern unvermittelt geschieht. Entsprechend hat Jean-
Luc Nancy von der Position des späten Schelling her daraufhingewiesen, daß die
Dialektik des absoluten Wissen noch der Sinnlichkeit der Sprache bedarf, um
sich auszusprechen - und somit notgedrungen Anleihen bei der Kunst machen
müsse, die es hinter sich gelassen zu haben glaubt: bei der Skulptur, die den Aus-
druck formt, bei der Malerei, die ihn metaphorisch bebildert, bei der Musik, die
ihm Klang und Rhythmus verleiht. Indem die Philosophie nicht umhin kann,
sich sprachlich zu entwerfen und die Sprache an Kunst partizipiert, sofern sie die-
se immer schon in sich aufgenommen hat, partizipiert auch das Absolute an der
Irreduzibilität des Aisthetischen. Wir werden sparet am Ende unserer Untersu-
chungen in bezug auf die Struktur der Responsivität, die damit zugleich angezeigt
ist, darauf hinweisen, das dem ebensosehr die Irreduzibilität einet Ethik der Alte-
rnat immanent ist.
Sinn ist deshalb nicht nur an die Weise seines Erscheinens gebunden, sondern
auch an Verkörperungen, denen die Unverfügbarkeit ihrer Existenz beständig im
Rücken bleibt. Etwas ist an der Erscheinung, was im Begriff nicht aufgeht, ein Ir-
ritierendes oder Unvermittelbares, aber auch Unmitteilbares, das sich nicht
schließt und als Unruhestifter die Dialektik der Identität von Identität und
Nichtidentität unablässig vereitelt. Dieselbe Unmöglichkeit gilt für die Zeichen,
die »Spuren«, die in der Duplizität von Materialität und Bedeutung allerersr ihre
Position gewinnen, freilich so, daß sie sich als Bedeutende ebenso zeigen. Solches
Sichzeigen bedeutet hier: In-Erscheinung-treten einer Gegenwart als Singularität.

54 Jacques Derrida wird, in einer Hegel übersteigenden Volte, jegliches »Ereignis« in seiner mögli-
chen »Vorträglichkeit« strikt auf seine differentielle »Nachträglichkeit« verweisen, wovon weiter
unten noch die Rede sein wird: Siehe weiter unten Tl. III, 1. Kap. Indessen scheint er neuerdings
diesen Modus eines »Presque-rien« von Vladimir Jankelevitch und Jean-Luc Nancy her anzuer-
kennen; vgl. Jacques Derrida, Auslassungspunkte. Gespräche, a.a.O., S. 92.
55 Vgl. Jean-Luc Nancy, The Muses, Standford 1996, p. 1-39. Das Problematische der Ausführun-
gen Nancys besteht aber darin, daß sie in bezug auf die Ausweisung einer notwendigen Ästhetik
der Sprache selber sich einer Metaphorizität bedient, die sie nicht ausweist, sondern lediglich eine
Tradition wiederholt. Daß z.B. das Bild der Sprache einer Malerei gleicht, bezeugt die Rhetorik
des 18. Jahrhunderts, doch kann diese partikulare Bedeutung schwerlich als Argument gegen He-
gels Begriff des Absoluten fungieren.
56 Vgl. vor allem unten Tl. III, 2. u. 3. Kap.
57 In Sein und Zeit hat Heidegger den ursprünglichen Sinn von phainomenon ebenfalls aus dem Be-
griff des Sichzeigens zu entschlüsseln versucht: als »das Offenbare« jenseits aller Transitivität; vgl.
ders., Sein und Zeit, a.a.O., § 7, S. 29 f. Allerdings besteht die wesentliche Differenz darin, daß
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 149

Es wäre zugleich ein alle Medialität ermöglichendes wie durchkreuzendes Zuvor-


kommendes (Schelling). Hingewiesen sei auf diese Weise auf etwas, was das Er-
scheinen-als und also auch die Signifikation allererst eröffnet, ohne selbst wieder
unter die Struktur eines »als«, d.h. der Apophansis im Sinne des aufweisenden
Aussagens zu fallen. In dieser Hinsicht läßt sich sagen, daß die Materialität des
Zeichens »erscheinen« muß: Sie gehört in den Bereich des genuin Aisthetischen.
Was daher als »Materialität« ausgewiesen wurde, wäre entsprechend nicht als
Substanz zu verstehen, die auf die Reihe seiner Akzidenzien rückführbar wäre,
auch nicht im Sinne einer Erscheinung-als; vielmehr ent-springt sie der Einzigar-
tigkeit eines Ereignens. Angesprochen ist mithin das »Daß« (quod) eines Erschei-
nens, das sich sprachlich entzieht und sich einzig dem Verbum fugte, das sein
Geschehen als Augenblick anzeigte: »Daß« einer Ankunft, von der her allererst
»etwas« begegnen kann, das der Bestimmung des »Was« (quid) »zuvorkommt«
(Schelling) und worin »etwas« sich »ein-räumt« (Heidegger), seinen Ort gewinnt
oder seinen Platz behauptet, mithin (sich) allererst in seiner Materialität setzt, oh-
ne schon ein »Sich« zu sein. Entsprechend erfüllt sich seine Zeitlichkeit nicht in
der Gegenwart, sondern in Ekstasis selbst: Riß in der Zeit. Wörtlich ist damit die
»Plötzlichkeit« eines Aus-sich-selbst-Herausstehendes gemeint, das sich ebenso
zurückhält, wie es darin sein Positives bezeugt. Was daher im Format des Begriff-
lichen oder von Sprache und Zeichen nur negativ markierbar ist, kommt eine Po-
sitivität im Sinne ekstatischen Sichzeigens zu. Es verweist auf ein Anderes, das sich
offenbar macht, und dem Zeichen oder Symbolischen noch vorausliegt, auch
wenn diese von dort her ihre Stellung beziehen. Zwar läßt es sich stets von neuem
wieder in die Ordnungen des Symbolischen eingemeinden und reintegrieren,
doch wird diese im Medium der Materialität, die sie trägt, erst »ausgetragen«, so
daß es noch jedem Versuch einer Resignifizierung widersteht. Gleichzeitig auf
Wahrnehmung im Sinne der Aisthesis bezogen, erinnert es an das, was deren
Wortstamm ursprünglich angehört: »Aufnehmen« und »Annehmen« als Weisen
der Empfänglichkeit. Wenn daher auf der Unabdingbarkeit der Materialität be-
standen witd, so damit zugleich von Hegel her über ihn hinaus auf der Unab-
dingbarkeit eines Empfangens (Schelling): Begegnung eines Anderen, das nicht als
Gegenständliches »gegensteht« (Heidegger), mithin auch nicht intentional er-
schlossen werden kann, sondern allein im Modus von Responsivität erscheint: Al-
ternat, die zur Antwort nötigt, die dem »Daß« (quod) der Begegnung allererst ihr

wir den Ausdruck Sichzeigen für etwas reservieren, was augenblicklich geschieht. Es hat einen Be-
zug zu ab-soluter Singularität. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen; vgl. unten Tl. III,
3. Kap.
58 Von Schelling und Heidegger her rekurriert auch Barth auf das »Daß« der Erscheinung vor dem,
»was« in der Erscheinung erscheint; vgl. ders., Erkenntnis der Existenz, Grundlinien einer philo-
sophischen Systematik, Basel 1965, S. 107, 108, sowie S. 155 f. Allerdings changieren die Dar-
stellungen Barths, zudem wird die Norwendigkeit, daß »erwas« erscheint, betont. Verfehlt wird
so der sprachliche Übergang der Anzeige vom Substantiv zum Verbum, wie es Heidegger und
Levinas nahelegen; ein Übergang, der freilich noch dahingehend zu verschärfen wäre, daß jegli-
ches Sagen durchgestrichen würde und nurmehr ein Zeigen übrigbliebe, das nichts spricht. Vgl.
auch weiter unten 3. Kap.
150 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

»Was« (quid) verliehe, ihre Gestalt, die sie zu »etwas« macht, dem ein Sinn oder
eine Bedeutung zukäme.
Auf bemerkenswerte Weise koinzidiert der Gedanke mit der Ästhetik Heideg-
gers, der Bestimmung des Kunstwerk aus der »Ruhe« des »Streits« von »Erde«
und »Welt«, an der freilich noch eine wesentliche Verschiebung vorzunehmen
wäre: »Das Aufstellen einer Welt und das Herstellen der Erde sind zwei Wesens-
züge im Werksein des Werkes. (...) Im Streit trägt Jedes das Andere übet sich
hinaus. Je härter der Streit sich selbständig übertreibt, um so unnachgiebiger las-
sen sich die Streitenden in die Innigkeit des einfachen Sichgehörens los. Die Erde
kann das Offene der Welt nicht missen, soll sie selbst als Erde im befreiten An-
drang ihres Sichverschließens erscheinen. Die Welt wiederum kann der Erde
nicht entschweben, soll sie als waltende Weite und Bahn alles wesentlichen Ge-
schickes sich auf ein Entschiedenes gründen.« Gestützt auf die Sprache der
Dichtung Friedrich Hölderlins erinnert somit Heidegger von Schelling her an die
spezifische Ekstasis der Erscheinung, an ihre Aura im Sinne Benjamins, die auf
spezifische Weise jenem »Insichstehen« des Werkes zukommt — der »dastehen-
de^)« Präsenz, wie Gadamer präzisiert hat, die »fast erschlägt« und »uns seine ei-
gene Gegenwart (auferlegt)«.' Sie kann von ihr nicht abgezogen werden, sondern
gehört in den »Ursprung des Kunstwerks« - weder als dessen »Grund« noch als
»Wesen«, sondern als ursprünglicher Sprung. Indessen verbindet Heidegger die
Offenbarkeit des Sichzeigenden mit »Welt«, als die Mitte dessen, was er das »Ge-
viert« aus Himmel und Erde, die Sterblichen und die Göttlichen nennt.' Es er-
eignet den »Sinn des Seins«." Dagegen beschränken sich unsere Überlegungen
allein auf das Herausstehen der Materialität selbst, das gegenüber dem Hermeneu-
tischen das Aisthetische privilegiert, zu der das sinnliche Erscheinenlassen eines
deren gehört. Es zeugt vom nicht zu schlichtenden Wider-Streit zwischen Wesen
und Erscheinung — eine Differenz, die, im Maße, wie Hegel sie unter die Bewe-
gung des Logos zu subsumieren trachtete, unter dem Mantel der Kunst nicht still
steht und sich der Kaprizierung aufs Logische oder Hermeneutische beharrlich
widersetzt. Sowenig die künstlerische Praxis auf den Augenblick einer Präsenz ver-
zichten kann, sowenig kommt auch der Gedanke oder irgend ein Zeichen ohne
deren »Magie« oder Ekstatik aus, woraus ihr besonderer »Nimbus« ergeht. Ein
»Gegenstehendes« kehrt am Ort des Aisthetischen zurück und eröffnet eine Ge-
genwart, die anders ist sowohl als das Begriffliche wie das Bedeuten oder die
Texturen der Schrift, wiewohl dieses ohne jene nicht hervortreten kann. Andets
ausgedrückt: Jeder Ordnung des Symbolischen eignet eine Duplizität, die es
gleich unter die Kategorie des Sinns und die Unbegreiflichkeit der Materialität
stellt.

59 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, a.a.O., S. 36 und 38.


60 Hans-Georg Gadamer, Heideggers Wege, a.a.O., S. 160, 161.
61 Vgl. insb. ders., Die Sprache in: ders., Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 11-33; hier: S. 22 ff.
62 Im Übergang vom Sein des Seienden zu »Sinn von Sein« erfüllt sich beteits die Grundstellung je-
ner Re-Volution der Seinsfrage, mit der Sein und Zeit anhebt: vgl. ders., Sein und Zeit, a.a.O.,
§§ L-4 S. 2 ff.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 151

Das bedeutet auch: Alles Zeichenhafte ist von Grund auf ästhetisch signiert,
und zwat so, daß ihm ein Aisthetisches vothergeht. An ihm bleibt ein systemati-
sche! Rückstand, der weder im Begriff aufgeht noch durch »Bedeutung« oder
»Interpretation« substituierbar oder den strukturellen Registern der Unterschei-
dung zuführbar wäre, der daher der Aisthesis den Platz eines unabdingbaren Pri-
vilegs zuweist. Unsere Überlegungen führen so zunächst auf die Wiedergewin-
nung der ur-sprünglichen Dimension des Ästhetischen im Sinne des Aisthetischen.
Sie rehabilitieren das Gewicht der Wahrnehmung gegen das Übergewicht des
Symbolischen, des Textes oder der Diskursivität der Sprache.' Gleichzeitig ist
darin ebenso der Vorrang eines schlechthin Anderen gewahrt, das begegnet. Davon
kündet auch die Intuition, daß, wie George Steiner es ausgedrückt hat, bildende
Kunst, Dichtung und Musik uns in die unmittelbarste Beziehung zu dem bringt,
was wir nicht gemacht haben und das uns nicht gehört: jenes Andere oder Un-
verfügbare, das zwar nicht ohne uns »sein« kann in dem, »was« es »ist«, wohl aber
außerhalb der Reichweite des Diskursiven »(sich) gibt«, indem es gleichsam be-
ständig von »jenseits seiner Schattenlinie« her durchscheint. So bekundet sich
das unauslöschbare Auftauchen einer »Alterität«, die dem Begrifflichen ebenso
beharrlich widersteht, wie es den logos in seine perennierende Krise versetzt. Es ist
die Krisis des Aisthetischen als seinem Nichtidentischen. Sie bezeichnet zugleich
die Grenze der Dialektik, da sie in ihre eigene Negativität übergeht. Semiotisch
korrespondiert sie mit der Auszeichnung der Identität von Zeichen und Bedeu-
tung, die am Widetstand der Materialität bricht. In seiner Angewiesenheit aufs
Symbolische vermag diese der Geist, auch als absoluter Geist, ebensowenig ein-
zuholen, wie der Sinn sein Sinnliches. Damit inhäriert dem Absoluten ein Mo-
ment von Disparität oder Unmöglichkeit, die jede Hoffnung auf Versöhnung
zersprengt. Daraufhatte auch Adorno bestanden: Hegels dialektische Philosophie
gerate selber in eine Falle, »von der sie keine Rechenschaft ablegen kann, deren
Lösung ihre Allmacht übersteigt. Ihr Versprechen aufzugehen ist falsch. Die
Wahrheit des unauflöslich Nichtidentischen erscheint im System, nach dessen ei-

63 Die Unterschlagung der Wahrnehmung, des Aisthetischen ab sinnliche Gewahrung, hat immer
wieder Gottfried Boehm befragt. Vehement sucht er die sekundäre Bestimmung des Anschauli-
chen gegenüber dem Diskursiven zu retten: Denn für das Bildliche gibt es in der Sprache der Be-
griffe kein Substitut; das Bild macht sichtbar, »was, ohne das Bild (...), nicht sichtbar wäre«; vgl.
ders., Zu einer Hermeneutik des Bildes, in: Hans-Georg Gadamer und Gottfried Boehm (Hsg.),
Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt/M. 1978, S. 457; ferner ders.,
Bildsinn und Sinnesorgane, in: Jürgen Stöhr, Ästhetischer Erfahrung heute, S. 148-165, bes.
S. 149 f. Entsprechend lassen sich mit Bildern ästhetische Erfahrungen machen, die nur im Mo-
dus der Anschauung aufgehen, die folglich sich nicht strikt versprachlichen lassen. In einem klei-
nen Beitrag zum 100. Geburtstag Hans-Georg Gadamers hat Gottfried Boehm überdies auf die
Unabdingbarkeit des »Sehens« und »Hötens« des Anderen wie seines »Verstehens« hingewiesen
und so auf eine Vergessenheit der Wahrnehmung im hermeneutischen Gespräch aufmerksam ge-
macht; vgl. ders., Die Gesichtslinie, in: Günter Figal (Hsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Ga-
damer, Stuttgart 2000, S. 107-114.
64 Geotge Steiner, Von realer Gegenwart, München Wien 1990, S. 294, 295.
152 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

genem Gesetz, als Fehler, als ungelöst im anderen Sinn, dem des Unbewältigten

Es gilt, dies noch semiotisch zuzuspitzen. Es gibt etwas am Zeichen, das nicht
Zeichen ist: Seine Materialität, die allererst ausstellt, was es bedeutet und die zu-
gleich den Ort einer »Verweigerung« (Heidegger) darstellt, weil sie sich zeigt, aber
im Zeigen nicht kenntlich wird. Als Rückstand, dessen Erscheinen das Ereignis sei-
ner Gegenwärtigkeit ist, bleibt sie chronisch in dessen Hintergrund. Doch trägt sie
die Zeichen allererst aus, wie sie umgekehrt nicht wieder durch sie signifizierbar
wäre, weil es in der Struktur ihrer Signifikation liegt, auf etwas Anderes zu ver-
weisen, das sie »nicht« sind. Das »Nicht«, das ihnen als Differenz eingeschrieben
bleibt, dementiert die Präsenz, die ihnen selbst zukommt. Dem Umstand eignet
das erwähnte Paradox zwischen Materialität und Immaterialität, das dem der Re-
präsentation oder Bedeutung noch vorhergeht: Insofern kein Zeichen seine
Materialität mitzubezeichnen vermag, bleibt in ihm eine Spaltung eingetragen,
die bestenfalls auf ein weiteres Zeichen verweist, das diese anzeigt. Umgekehrt:
Wenn alles unter den Prozeß einer Mediatisierung fällt, was mediatisierte dann
das Medium? Es wäre nicht im Medium markierbar: So behält sich im Rekurs auf
Materialität ein Mitgängiges: Ereignis, das, über die Differenz des Symbolischen
hinaus, noch ein »Unfügsames« andeutet, das beständig aufsässig bleibt: Differenz
quer zu der zwischen Zeichen und Signifikation, quer auch zu den Gliederungen
der Signiftkant/Signifikat-Ketten, aus denen sich ihr Sinn entfaltet: Differenz in
der Differenz und Anderssein der Zeichen in sich, insofern an ihnen etwas bleibt,
was, indem sie be-zeichnen oder be-deuten, gerade nicht be-zeichnet oder be-
deutet.
Es ist dieses »Sperren«, das Widerspenstige oder Hemmende, an dem sich ein
noch Verdrängtes semiotischer und semiologischer Lektüren enthüllt. Notwendig
mißlingt daher Identität, die Hegel finalisierte und deren Mystifikation noch ei-
nen Großteil der hermeneutischen, semiotischen und sprachphilosophischen
Emphasen leitet.' Mithin eignet der Log'k der Zeichen die gleiche Dialektik, wie
sie Hegel dem Wesen beschied, freilich so, daß sie durch keine Dialektik des Be-
deutens aufhebbar scheint. Denn seine Materialität bezeichnet offenbar dasjenige,
was für das Zeichen uneinholbar bleibt, worin es gleichwohl seine permanente
Intransparenz oder Andersheit erfährt. Sie trotzt jeglichem Sinn. Darin demon-
striert sie die Außenseite seiner Signifikation sowie die Lockung seiner ununter-
brochenen Überschreitung. Mit anderen Worten: Die Materialität ist Entzug, der
sich unablässig im Dunkeln hält, eine Abwesenheit, die Nancy an anderer Stelle

65 Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a.a.O., S. 374, 375.


66 Zum Paradox der Signifikation bzw. Re-Präsentation vgl. unten 2. Hauptstück, 1. Kap.
67 Daß sie für die Philosophische Hermeneutik Gadamers gilt, darauf haben wir bereits hingewie-
sen; daß sie auch für die Sprechakttheorie und die Kommunikationsphilosophie von Habermas
gilt, soweit sie den performativen Modus der Illokution auszeichnen, haben wir in unserem Bei-
trag, D. Mersch, Kommunikative Identitäten und performative Differenzen. Einige Bemerkungen zu
Habermas' Theorie der kommunikativen Rationalität, a.a.O., darzulegen versucht.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 153

als »Corps perdu« apostrophiert hat. Sie entspricht Adornos Obsession für Ne-
gativität: Die Materialität des Symbolischen nennt dessen Nichtidentität. Aus ihr
wäre die Kontur einer negativen Semiotik oder Sprachphilosophie abzulesen, die
sich bei Adorno in Grundzügen bestenfalls indirekt abzeichnete, die zudem noch
aus ihrer Befangenheit in Tendenzen traditioneller Zeichentheorie zu befreien
wäre.' Sie changiert in ihren Bestimmungen, denen sie sich ebenso wieder ver-
weigert. Insonderheit zielt die gesamte Emphase der Negativen Dialektik darauf,
sich denkend ans Nichtidentische zu kehren, was zwar insofern einer contradictio
in adjecto gleichkommt, als sie sich noch auf Begriffe stützen muß, deren untilg-
barer Widerspruch jedoch die Adornosche Philosophie überall noch auszuhalten
sucht. Doch meint sie zunächst nichts anderes als das Bewußtsein der Differenz
im Begriff: »Begriffe, wie der des Seins am Anfang der Hegeischen Logik bedeu-
ten zunächst emphatisch Nichtbegriffliches; sie meinen (...) über sich hinaus. Zu
ihrem Sinn gehört, daß sie in ihrer eigenen Begrifflichkeit nicht sich befriedigen,
obwohl sie dadurch, daß sie das Nichtbegriffliche als ihren Sinn einschließen, es
tendentiell sich gleichmachen und damit in sich befangen bleiben. (...) Durchs
Selbstbewußtsein davon vermögen sie ihres Fetischismus ledig zu werden. Philo-
sophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff.« Der Ge-
danke mahnt an Schellings späte Philosophie des »Unvordenklichen«, freilich so,
daß er gleichsam bis zu deren Rand vorstößt, um es als »Unfügliches« und »Sper-
riges« im Status von »Nicht-Identität« zu behalten, die im »Nicht« die Logik der
Negativität weiterhin privilegiert. Buchstäblich öffnet Adorno die Siegel der Lo-
gizität auf ihr Anderes hin, doch so, daß er überall im Medium des Begriffs bleibt,
mithin einzig die Negativität einer Negativität aufweist, die deren beständigen
Unruhepol markiert. Solches Eingedenken eines Nichtaufgehenden oder Unauf-
lösbarem drängt dann zur Transformation von Philosophie selber: »Diese Richtung
der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nichtidentischen zuzukehren, ist das
Scharnier negativer Dialektik. Vor der Einsicht in den konstitutiven Charakter
des Nichtbegrifflichen im Begriff zerginge der Identitätszwang, den der Begriff
ohne solche aufhaltende Reflexion mit sich führt.«
Ihr Programm erfüllt die Formel von der »Rettung des Nicht-Identischen«: Sie
ist weniger als immanente Überwindung der Hegeischen Dialektik zu lesen, als
vielmehr als radikale Absage an Piatonismus und die Grundstellung metaphysi-
schen bzw. rationalen Denkens überhaupt. Ihr Impetus ist Metaphysikkritik, det
Sprachkritik innewohnt. Sie trifft vor allem den gewaltsamen Zugriff des Begriffs
auf sein Anderes: sein »idealistisches« Präjudiz, wie Adorno sagt. Denn jeder
Philosophie, auch der kritischen, eigne ein »eingeschriebener Idealismus«, da sie
unter dem Zwang der Kopula steht und sich notwendig der Begriffe bedienen
muß: »Philosophie (...) exponiert sich dem generellen Einwand, daß sie, indem

68 Vgl. Jean-Luc Nancy, Corpus, Paris 1992, p. 9.


69 Verstreute Hinweise finden sich in Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., Einleitung,
S. 15-66, sowie ebenda, S. 164 f.
70 Ebenda, S. 23.
71 Ebenda, S. 24.
154 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

sie zwangsläufig Begriffe zum Material habe, sich idealistisch vorentscheide. Tat-
sächlich kann keine, selbst nicht der extreme Empirismus, die facta bruta an den
Haaren herbeischleppen und präsentieren wie die Fälle in der Anatomie oder Ex-
perimente in der Physik (...).« " Eine Notiz aus dem Jahre 1965, die dem Anhang
der Negativen Dialektik beigefügt ist, präzisiert: »Alle Philosophie trifft, vermöge
ihrer Verfahrensweise, eine Vorentscheidung für den Idealismus. Denn sie muß
mit Begriffen operieren, kann nicht Stoffliches, Nichtbegriffliches, in ihre Texte
kleben (...). Dadurch ist aber bereits dafür gesorgt, daß den Begriffen, als dem
Material der Philosophie, der Vorrang verschafft wird. (...) Alle Philosophie ver-
mag dies ihr notwendig gesetztes Pseudos selbst zu erkennen, zu nennen; und
wenn sie dort weiterdenkt, zwar nicht es zu beseitigen aber so sich umzustruktu-
rieren, daß alle ihre Sätze ins Selbstbewußtsein jener Unwahrheit getaucht sind.«
Unweigerlich haftet demnach den Begriffen etwas Gewaltsames an, wiewohl kein
Denken ohne Begriffe möglich ist. Dann ist die Gewalt allerdings unausweich-
lich: Stigma des Denkens selber, das zu durchschauen diesem einzig aufgegeben
wäre. »Wohl wird das Nichtidentische, Unerkannte durch Erkennen auch iden-
tisch, das Nichtbegriffliche durch Begreifen zum Begriff des Nichtidentischen.
Kraft solcher Reflexion indessen ist das Nichtidentische selber doch nicht nur Be-
griffgeworden, sondern bleibt dessen von ihm untetschiedener Gehalt.« 4
Die Gewalt des Begrifflichen dekuvriert zu haben, ist das Verdienst Adornos,
wie ebenso die Einsicht, das selbst noch die Einsicht in ihre notwendige Gewalt-
samkeit an ihr partizipiert. Denken behält damit seine Stellung im Paradoxen.
Philosophie erweist sich als die vergebliche Bemühung »zu sagen, was sich nicht
sagen läßt«: »An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hin-
auszugelangen.« In den Vorlesungen über Metaphysik von 1965 heißt es zudem:
»Es scheint mir das Einzigartige an den philosophischen Begriffen zu sein (...),
daß die Philosophie die sonderbare Eigenschaft hat, daß sie zwar selbst verstrickt
ist, daß sie zwar selber in dem Glashaus unserer Konstitution und unserer Spra-
che eingesperrt ist; daß sie aber trotzdem immer wieder vermag, über sich hinaus,
über diese Begrenzung hinaus und durch ihr Glashaus hindurch zu denken. Und
genau dieses Denken über sich selbst hinaus, ins Offene, genau das ist Metaphy-
sik.« Adorno versucht so das Unmögliche: Weder kann Philosophie der Unum-
gänglichkeit der Begriffe ausweichen noch ihnen folgen, weder sich ihnen beugen
noch ihnen widerstehen: Denken bleibt diesem inneren Antagonismus verhaftet.
Doch liegt gerade darin die Möglichkeit ihrer Freiheit, das Ungedeckte oder

72 Ebenda, S. 23.
73 Ebenda, Anhang S. 531. Der Gedanke koinzidiert mit einem Einwurf Friedrich von Schlegels,
der die innere Verbindung der Adornoschen Kritik von Identitätsphilosophie mit dem frühro-
mantischen Motiv des Fragments erhellt: »Alle Philosophie ist Idealismus, und es gibt keinen
wahren Realismus als den der Poesie. Aber Poesie und Philosophie sind nur Extreme.« Fr. v.
Schlegel, >Athenäums«-Fragmente, in: dets., Schriften und Fragmente, a.a.O., S. 111.
74 Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, a.a.O., S. 375.
75 Ders., Negative Dialektik, a.a.O., S. 21 und 27; vgl. auch ders., Drei Studien zu Hegel, a.a.O.,
S. 335 f.
76 Ders., Metaphysik. Begriff und Probleme, a.a.O., S. 108.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 15 5

Unfügliche doch zu denken. Adorno formuliert somit, ähnlich wie Heidegger,


freilich im Medium aporetischer Rede, ein ursprüngliches Differenzprinzip. An-
ders als dessen ontologisch gefaßte Differenz bezeichnet es jedoch eine dialektische
Differenz: Widerspruch in der Verfassung des Begrifflichen selbst. Sie wird als
Negativität schlechthin gefaßt: Denken, das das Gedachte unablässig verfehlt,
ausgrenzt und beschädigt - Verfehlung allerdings nicht im Sinne der Heidegger-
schen »Seinsvergessenheit« oder »Seinsverlassenheit«, die die Negative Dialektik in
ihrem angehängten Teil als Eigentlichkeitsjargon geißelt, sondern Verfehlung
des Denkens in sich: »Das philosophische System war von Anfang an antino-
misch. In ihm verschränkt sich der Ansatz mit seiner eigenen Unmöglichkeit.«
Die Sprachkritik Adornos tangiert so die »Sehnsucht (nach dem Unbegriffli-
chen)«, die philosophisches Denken ebensosehr antreibt wie vereitelt: »An Phi-
losophie ist es, das vom Gedanken Verschiedene zu denken, das allein ihn zum
Gedanken macht, während sein Dämon ihm einredet, daß es nicht sein soll«,
auch wenn dieses schließlich in einer noch ungedeckten Wendung als »Tasten«
nach der »Präponderanz des Objekts« ausgewiesen wird: »Vermöge der Ungleich-
heit im Begriff der Vermittlung fällt das Subjekt ganz anders ins Objekt als dieses
in jenes. Objekt kann nur durch Subjekt gedacht werden, erhält sich diesem ge-
genüber aber immer als Anderes (...). Vom Subjekt ist Objekt nicht einmal als
Idee wegzudenken; aber vom Objekt Subjekt.« Eben dieses bedeutet für Adorno
Dialektik: »Ihr Name sagt zunächst nichts weiter, als daß die Gegenstände in ih-
rem Begriff nicht aufgehen, daß diese in Widerspruch geraten mit der herge-
brachten Norm der adaequatio. Der Widerspruch ist (...) Index der Unwahrhaf-
tigkeit von Identität, des Aufgehens des Begriffenen im Begriff.« " Es wäre das
konsequente Eingedenken des Risses zwischen Begriff und Begriffenem sowie
Wahrung des Strittigen und Unverfügbaren als sein Negatives. Adorno reicht
damit an jene Volte heran, die Schelling gegen Hegel vorbrachte und die im Um-
schlag zu einem anderen Denken, das Anderes-als-Denken dächte, mündet, aller-
dings so, daß er dessen Desiderat andeutet. Dialektisch hält er sich in der Mitte
zwischen Schelling und Hegel; doch bleibt das Fatale seines Wagnisses, in einer
Forcierung von Negativitäten steckenzubleiben. Die Notwendigkeit der perma-
nenten Re-Volte anmahnend, sie in jedem Augenblick erneut vermittelnd, den
»Sprung« als »Sprung« in die Bewegung des Denkens zurücknehmend, verharrt er
schließlich in Bewegungslosigkeit. Die negative Dialektik büßt zuletzt ihr Spren-
gendes wieder ein: Tendentiell gerät sie zur Falle.
Adorno denkt so im Denken ein Ungedachtes, ein zugleich vom Denken Un-
gedecktes und überschreitet auf diese Weise den Logizismus Hegels. Doch bleibt
das Andere, dessen Zugang er weist, überall im Formular von Referenz. Darauf

77 Vgl. ders., Negative Dialektik, a.a.O., S. 413-526.


78 Ebenda, S. 32.
79 Ebenda, S. 27.
80 Ebenda, S. 193.
81 Ebenda, S. 184; auch S. 184 ff.
82 Ebenda, S. 16, 17.
156 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

deutet noch die idealistische Terminologie von Subjekt und Objekt, von Denken
und Gedachtem: Sie hält das Nichtaufgehende des Begriffs in seinem begriffli-
chen Widerpart: der Sache. So fällt das Andere, das nicht Begriff ist, und das im
Modus von Nichtidentität geborgen wird, stets wieder ins Begriffliche zurück,
um von ihm erneut abgestoßen zu werden. Es ist dieses Präjudiz für Referenz, das
den Blick verstellt. Allein moniert Adorno am »Mechanismus der Verbegriffli-
chung« die Gewaltförmigkeit des Zugriffs, den Angriff'auf das Andere, das Hete-
rogene, auf das er bezogen bleibt. Dem Verhältnis von Begriff und Sache bzw.
Identität und Nichtidentität wird demnach von vornherein ein Gewaltverhältnis
instauriert, das - ähnlich der Identitätskritik von Emmanuel Levinas — das Ver-
schiedene unter das Eine subsumiert und darin schindet, verletzt, ausschließt und
in seinem unverwechselbaren Eigenrecht negiert. Gefaßt als ungreifbare Singula-
rität, der einzig der »Eigenname« adäquat wäre, geht seine Einzigartigkeit niemals
im Allgemeinen auf: Es sperrt sich und wird doch im Akt der Identifizierung als
das Sichsperrende getilgt. »Die ratio, die, um als System sich durchzusetzen, vir-
tuell alle qualitativen Bestimmungen ausmerzte, auf welche sie sich bezog, geriet
in unversöhnlichen Widerspruch zu der Objektivität, welcher sie Gewalt antat,
indem sie sie zu begreifen vorgab. Von ihr entfernte sie sich desto weiter, je voll-
kommener sie sie ihren Axiomen, schließlich dem einen der Identität unterwarf.
Die Pedanterien aller Systeme (...) sind Male eines apriori bedingten (...) Miß-
,. 84
lingens.«
So seht jedoch der Impuls der Polemik berechtigt scheint, indem er den An-
maßungen des metaphysischen Gestus sich zu widersetzen trachtet, um der
Nichtidentität der Sache Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so sehr gelingt sie
jedoch nur, wo sie sich selbst noch auf einen Sinn, ein Wundmal oder Makel be-
ruft, der ihr im Namen der Identität des Begriffs zugefügt wird. Adorno treibt de-
ren Dialektik bis an den Rand dessen, wo das Andere als Anderes aufscheint und
seine Verletzbarkeit preisgibt, um an ihr, gegen Metaphysik, den »Vorrang des
Objekts« im Sinne einer prinzipiellen Unverfügbarkeit der Materialität zu be-
haupten. Jedoch erscheint diese Unverfügbarkeit erst im Zeichen des Schmerzes:
Merkmal eines Nichtidentischen inmitten der »Wut der Identifikation«, die dem
begrifflichen Denken innewohnt. Sie auszuweisen beruft sich noch auf dessen
Sinn als Schmerz, als Riß. Sie setzt darum Hermeneutik und mit ihr die ganze
Semantik des Anderen als Singularität votaus, die sämtliche Diskurse der Einzig-
artigkeit zu regeln scheinen, auch die Derridas, wenn er von Levinas her die Ein-
maligkeit der »Gabe« zu denken versucht. Ihnen geht damit selber noch etwas
vorweg, worüber sie keine Rechenschaft ablegen: Die Gewahrung der Differenz

83 Vgl. vor allem Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität,
Freiburg/München 2. Aufl. 1992, S. 35-66.
84 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 32, 33.
85 »Durchgeführte Kritik an der Identität tastet nach der Praponderanz des Objekts (...). Durch
den Übergang zum Vorrang des Objekts wird Dialektik materialistisch«; vgl. ebenda, S. 184 und
193; sowie ders., Zu Subjekt und Objekt, in: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/M.
1969, S. 156 ff.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 157

als Verletzung und der Verletzung als Differenz, mithin eines Zeichens, das Zei-
chen einer ursprünglichen Schuld des Denkens wäre. Gegen es höbe sich das An-
dere und Heterogene ausschließlich als das Zeichenlose ab: Negativität, der nicht
einmal der Sinn eines Anderen oder Heterogenen zugesprochen werden könnte.
Gewiß wäre dies kein Einwand, wohl aber der Hinweis auf eine prinzipielle
Fragwürdigkeit der negativen Dialektik, die selbst nur an die Negativität einer
gativität rührt, weil sie stets noch etwas anderes postulieren muß: die Berufung
auf ein Pathos, das sich nicht allein aus der Dialektik des Begriffs ableiten ließe
und das ihr das Zeichen des Schmerzes und der Gewalt allererst vorgäbe. Demge-
genüber enthüllt das Symbolische selbst, insofern ihm immer schon das Paradox
seiner unbezeichenbaren Materialität innewohnt, eine »Spur«, die nicht mehr
»lesbare Spur« wäre, die sich folglich auch nicht mehr als »Zeichnung« verfolgen
ließe, weil sie jedem Zeichen irreduzibel mitgängig ist: »Spur«, die zurückbleibt,
ohne »Spur von etwas« zu sein, mithin ohne Verweisung, die freilich allein sich
da zeigen kann, wo Spuren sind. D.h. sie wäre noch »Spur«, weil sie etwas nach
sich zöge, allerdings ohne »Abdruck« zu sein. Inmitten der anderen Verweise und
Spuren springt so etwas hervor, was wir mit dem paradoxen Bild von der »Spur
aus verwischter Spur« zu fassen versucht haben, jene nicht zu tilgende Rückstän-
digkeit, die erscheint, wo die Marken und Abdrücke sich undeutlich verlaufen
oder sich ganz ins Bodenlose verlieren. Sie wäre schließlich eine Spur ohne Pa-
thos, die keine Kritik der Gewalt evozierte, sondern die Möglichkeit eines
tischen oder Ereignishaften inmitten des Symbolischen öffnet, welches von sich her
beständig wieder neu in die Zeichen und ihre Interpretationen hineinspielt und
dergestalt an ein Unverfügbares gemahnte: Sichzeigendes, das hervorsticht gleich
einer Öffnung, von der her »etwas« erst zu sprechen und anzusprechen vermag,
das mithin nicht »als« etwas erscheint, sondern das, was be-deutet werden kann,
»an-führt«: Kein »Etwas«, sowenig wie »Nichts« im Sinne der Negation alles Sei-
enden, vielmehr Fülle, angesichts derer überhaupt eine Ankunft geschieht.
Dann wäre, was vorläufig unter dem Titel der »Materialität« gestellt war, präzi-
ser zu fassen: »Nichts«, dem ein Zeichen oder eine Bestimmung zukäme, das
gleichwohl Orte schafft, von denen her jegliches »Was« (quid) zu signieren wäre
und dessen »Daß« (quod), noch bevor »etwas« geschieht oder geschehen ist, vor-
ausgeht. Es bedarf nicht eigens der Zuwendung; vielmehr sind wir, sofern wir es
mit Zeichen, Sptache oder signifikanten Strukturen überhaupt zu tun haben,
immer schon darauf verwiesen. An Aisthesis gebunden, behält es sich nicht ein-
fach als bloße Leere, Schweigen oder Negativität zurück, sondern präsentiert
(sich), zeigt (sich) in seiner Gegenwärtigkeit, ohne daß das Reflexivpronomen

86 Es ist bezeichnend, daß Heidegger, wo er auf das »Wesen« der asiatischen Kunst, genauer der
Kunst des Zen, zu sprechen kommt, Ähnliches berührt: Hervorkommen, als Ur-Sprung, das kein
Seiendes meint, sondern gleichsam ein »Raum« der ein-räumt. Vgl. ders.. Reden (1925—1976),
in: Gesamtausgabe Bd. 16, Frankfurt/M. 2000, S. 548-553. Zur Beziehung zwischen der Philo-
sophie Heideggers und dem asiatischen Denken des Zen vgl. insb. Hans-Peter Hempel, Heideg-
ger und Zen, Frankfurt/M. 1987, sowie ders., Heideggers Wege aus der Gefahr, Meßkirch 1993.
158 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

»sich« im Anspruch stünde, »etwas« zu »sein« oder anzusprechen, worauf es sich


bezöge. Vielmehr deutet, »daß« sich etwas behauptet, seinen Platz fordert oder in
seiner Materialität manifestiert, auf jenes Ereignis eines Sichzeigens, das frei von al
len Bindung und unabhängig von jeder Symbolisierung (sich) gibt, ohne gewollt
zu sein.
2 . KAPITEL:
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ: BEDEUTUNG UND
MATERIALITÄT (HUSSERL, CASSIRER)

Das ist mein Problem (...), daß der Text nie


ab Material genommen wird, abo eigentlich
nie ab Wirklichkeit anerkannt wird. Der Text
(...) wird nur benutzt, um Mitteilungen über
Wirklichkeit zu machen. Und das ist eine De-
gradierung von Texten, das negiert die eigene
Wirklichkeit von Texten.
Heiner Müller

Entmaterialisiertes Zeichen

Am Beispiel der Dialektik von »Wesen und Erscheinung« sind wir auf die Irredu
zibilität eines Erscheinens gestoßen, gleichsam als einen notwendigen Rückstand,
der allem Denken oder Begrifflichen innewohnt, der nicht mehr durch eine Be
stimmung auflösbar ist, der vielmehr vor jeder Bezeichnung zurückweicht und sie
dennoch austrägt. Es wäre, im Sinne Adornos, zunächst als ein Nicht-Identisches
oder Widerborstiges aufzufassen; Leere einer Unbestimmtheit, der wir gleichwohl
eine positive Kraft zumessen werden, insofern es sich nicht nur als eine nichtne-
gierbare Bedingung erweist, sondern sich beharrlich in die Logik der Begriffe und
Zeichen einmischt und sie unterläuft. So wäre ein durch das Denken nicht wieder
vereinnahmbarer Ort gewonnen, der ihm vorausgeht, wiewohl er selbst nur ver
möge einer reflexiven Volte hervorzutreten vermag: Als notwendig Hinzuzuden-
kendes, das gleichzeitig den Platz eines Zuvorkommenden einnimmt. Vergleichba
res gilt für die Prozesse der Symbolisierung. Wenn Charles Sanders Peirce den
Gedanken selbst als Zeichen faßt und »alles Denken« als ein »Denken in Zei
chen« nimmt, entsteht die nämliche Dialektik für deren Ordnungen. Als Träger
von Bedeutung, gleichgültig ob sie semiotisch als Funktion oder semiologisch als
Stelle im System definiert sind, scheinen sie durch eine doppelte Differenz gekenn
zeichnet: (i) Differenz als Unterschied zwischen Zeichen und Bezeichnetem bzw.
Referenz oder Bedeutung; und (ii) Differenz in der Differenz als Unterschied zwi-
schen Immaterialität und Materialität, Sinn und Erscheinung. Dabei indizieren
die markierten Differenzen keine Unterschiedenheit in sich, sondern sie beruhen
zunächst nur auf einer terminologischen Trennung, die sich als unerläßlich er
weist, um den Zeichen in ihrer Duplizität Rechnung zu tragen. Dies gilt vor al
lem für die zweite Differenz. Sie »erscheint« nur als Unterscheidung kraft einer
Entscheidung, vergleichbar der Paradoxie von Figur und Hintergrund, wobei das
Bild immer ein Ganzes bezeichnet, während allein die theoretische Perspektive

1 Charles Sanders Peirce, Schriften I, a.a.O., S. 175: CP. 5.251.


160 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

präjudiziert, wo die Linie umbricht und eines hervortritt, während das andere
verschwindet. Wittgenstein hatte entsprechend vom »>Aufleuchten< eines
Aspekts« gesprochen: Es ist ebensowenig möglich, das eine ohne das andere zu
sehen, wie Figur und Hintergrund zugleich als Gestalten zu beobachten. Vielmehr
geschieht plötzlich ein Durchriß zu einer »neuen Wahrnehmung, zugleich mit
dem Ausdruck der unveränderten Wahrnehmung«, wie bei Lösungen von Ve-
xierbildern." Dasselbe läßt sich für die Betrachtung des Zeichen geltend machen:
Entweder heben wir seine Materialität hervor, dann verschwindet der Sinn, oder
wir privilegieren den Sinn, dann tritt diese zurück, wird beliebig oder »unmoti-
viert« — ein unabweisbarer »Grundsatz«, wie Saussure gesagt hat, der »die ganze
Wissenschaft von der Sprache« beherrscht.
Wir werden im folgenden dieser Duplizität oder Differenz in der Differenz ge-
nauer nachgehen. Freilich beinhalten die gewählten Formulierungen, deren Un-
zulänglichkeit einer Verlegenheit der Termini entstammt, insofern noch ein Pro-
blematisches, als sie in bezug auf den Begriffder Differenz sich einer Äquivokation
bedienen: (i) Das Symbolische beruht als Symbolisches in sich auf einer Spaltung,
die je nach zeichentheoretischem Ansatz als Unterscheidung zwischen eigentli-
chem Zeichen als Signum odet Marke und seiner jeweiligen Bezeichnung, seiner
Bedeutung, oder als Unterschiedenheit im Sinne des Spiels seiner differentiellen
Gliederungen zu bestimmen wäre. Zeichen gibt es nur in Form dieser Differen-
zen; sie wären nicht Zeichen, würden nicht als solche funktionieren, wären sie auf
diese Weise nicht schon in sich gespalten, (ii) Den Zeichen haftet zugleich eine
Präsenz oder Gegebenheit an, durch die sie erst erscheinen und die sie als solche,
d.h. als Differenz im ersten Sinne austrägt. Quer zu dieser ergibt sich also die
weitere zwischen Materialität und Bedeutung, die sich im Rückstand des aufge-
wiesenen Paradoxons enthüllt. Sie gilt gleichermaßen für das Zeichen ab Funkti-
on wie für seine Bestimmung als Ort innerhalb einer Struktur. So ist innerhalb
der ursprünglichen Teilung eine zweite einzutragen, die das Zeichen und dessen
Region verdoppelt: Gegenwart, die die Re-Präsentation trägt und als Materialität
der Funktion der Zuordnung der Relata allererst ihre Basis verleiht, bzw. als
rialität einer Struktur, verkörpert durch das System der Signifikanten, in deren
differentieller Spur die sekundären Wirkungen der Signifikanz sich als symboli-
sche Ordnung manifestiert. Sie unterläuft die erste zwischen der Bezeichnung
und ihrem Bezeichneten oder der Differentialität ihrer Ketten, um im Bedeu-
tungsgeschehen eine fortwährende Andersheit zu statuieren, die es ebenso von
sich trennt wie es daran gebunden bleibt.
Eine derart behauptete Differenz in der Differenz müßte das Zeichen, je nach
Modell, zuletzt als vierdimensional statuieren, insofern neben das eigentlich
gnum seine Referenz, seine Bedeutung gleichzeitig noch seine Materialität treten

2 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., Teil II, XI, S. 228, 230 pas-
sim.
3 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 79 ff; vgl.
auch: S. 92 f., 134 f., 156 ff. Zur Rolle der »Arbitrarität« oder »Unmotiviertheit« des Zeichens
vgl. ferner Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 81 ff.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 161

müßte. Die Behauptung verdankt indessen ihre Plausibilität einer Intuition, die
der Gesamtheit der semiotischen bzw. semiologischen Diskussion zuwiderzulau-
fen scheint. Durchweg werden die Zeichen selber, als kontingente Matken oder
Signaturen aus der allgemeinen Betrachtung ausgeschlossen. Entsprechend haben
die analytischen bzw. pragmatischen Semiotiken gleichwie die strukturale Semiolo-
gie nachdrücklich versucht, den Gesichtspunkt der Präsenz als asemiotisches
strat zu eleminieren, weil sich der Sinn nicht durch eine Gegenwart definieren
läßt und diese, ohne Umweg über das Symbolische, sich per definitionem dem
semiotischen Zugriff sperrt. Einseitig suchen sie die Lektüren auf jene Bedeu-
tungen hin zu über-springen, die allererst durch sie hervorzutreten vermögen.
Anhalt bietet darum nicht die Materialität des Zeichens und sein Erscheinen, son-
dern einzig der Sinn und dessen Interpretation, bzw. die Strukturalität des
lischen Feldes, dessen Effekt er ist, obgleich beide wiederum nur durch sie hin-
durch entzifferbar sind. Zwar ist die Kluft seit je bemerkt worden, doch so, daß
sie im gleichen Augenblick wieder getilgt wurde. Eingang findet sie bereits in je-
nem klassischen Streit zwischen der Natürlichkeit oder der Gesetztheit des Zei-
chens, der seit der antiken Sophistik zwischen physis und thesis ausgefochten wur-
de: Herkunft der »Namen« und der Sprache aus der Natur oder der menschlichen
Konvention in Sinne einer Überlieferung. Indessen hieße, die Zeichenhaftigkeit
des Zeichens einer natürlichen Gegebenheit zuzuschreiben, ihrer Materialität

4 Wenn auch Susanne K. Langer gelegentlich von »präsentativen Symbolen« spricht, so wird doch
der Gesichtspunkt der Präsenz ausdrücklich aus dem Symbolismus ausgeschlossen, ja sogar ein
umgekehrtes »symbolisches Gesetz« formuliert: »Ein Symbol, das uns als Gegenstand interessiert,
wirkt ablenkend. Es vermittelt seine Bedeutung nicht widerstandslos. (...) Je karger und gleich-
gültiger das Symbol, um so größer seine semantische Kraft.« Vgl. Susanne Langer, Philosophie
auf neuem Wege, a.a.O., S. 83.
5 Beide scheinen sogar einander auszuschließen: Die Zeichen »besitzen (...) eine wahrnehmbare
Ausdrucksebene (...). Wenn etwas als Zeichen funktioniert, hört es auf, das je bezeichnete Ding
zu sein; es verwandelt sich in eine Art Nicht- oder Supermaterial: Der Stein, der zum Denkmal
wird, hört auf, gewöhnlicher Stein zu sein und wird das >Denkmal des ...<; der Goldkelch in der
Kirche verwandelt sich in die Quelle, der himmlisches, göttliches Licht entströmt. Und umge-
kehrt: Wird ein Zeichen als Ding benutzt, dann hört es auf, Zeichen zu sein und wird, wie etwa
die als Gewicht (z.B. Briefbeschwerer) verwendete kleine Statue, ein materielles Ding.« Jetcy Fa-
ryno, Die Sinne und die Textur der Dinge, in: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer
(Hsg.), Materialität der Kommunikation, a.a.O., S. 654—665, hier: S. 660.
6 Lapidar heißt es bei Saussure: »Der Grundsatz der Beliebigkeit des Zeichens wird von nieman-
dem bestritten«; vgl. ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 79.
Durchweg erscheint so den semiotischen Modellen der Gesichtspunkt der Materialität des Zei-
chens als etwas, was der Theorie nicht angehört und aus ihr auszuschließen ist, worauf auch
Aleisha Assmann mit Blick auf Susanne Langers »reziprokem semiotischen Gesetz« hinweist; vgl.
dies, Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose, in: H.U. Gumbrecht, K.L.
Pfeiffer (Hsg.), Materialität der Kommunikation, a.a.O., S. 237-251, hier: S. 238 f. Die gleiche
Abwertung gilt, wie Jercy Faryno betont, für die Moskower-Tartiner Schule: »Die materiale Be-
schaffenheit des Inhalts ist für uns nur dann wichtig, wenn das Material in unserer Kultur eine
besondere symbolisch-magische Bedeutung hat. (...) Und die Oberfläche hat für uns kaum Be-
deutung; sie ist ein asemiotisches Phänomen. (...) Kultur arbeitet mit semiotischer, auf >Zeichen«
beruhender Immaterialität.« Vgl. ders., Die Sinne und die Textur der Dinge, a.a.O., S. 656 u.
660. Ähnliche Ausschlüsse ließen sich für die Semiotik Umberto Ecos und die Allgemeine Sym-
boltheorie Nelson Goodmans nachweisen.
162 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

selbst ein Gewicht verleihen, während ihre konventionelle Bestimmung deren


prinzipielle Indifferenz behauptet. Ein Nachhall der Opposition klingt noch in
Piatons Kratylos an, der zwischen beiden eine abwägende Position einnimmt, in-
dem er die Sprache als Werkzeug (organon) begreift, das dazu bestimmt ist, zu
belehren und die Dinge voneinander zu scheiden: Der »Name« erfüllt dann die
doppelte Funktion der Begriffsbildung und Kommunikation. Sofern die Werk-
zeuge jedoch geschaffen sind, um ihren Zweck zu erfüllen, optiert Piaton mehr
für eine thetische Vorstellung des Zeichens, doch so, daß dessen Gesetztheit der
»Kunstfertigkeit« (techne) eines »Wortbildners« entstammt, der sich auf das »We-
sen« der Dinge versteht und ihre Wahrheit erkundet. Lesen gründet dann in Wis-
sen (episteme), Deuten in Erkennen: Der Benennung eignet keine Willkür, son-
dern eine Art Gemäßheit, die das Wahre selbst vorgibt. Es gibt damit eine Rich-
tigkeit des Wortes; doch entspringt sie keiner natürlichen Wurzel, sondern dem
Richtmaß des logos. Zwar erteilt Piaton keine eindeutige Auskunft übet die Gene-
se der Sprache; dennoch unterstellt er sie der Ordnung der Vernunft: Nicht das,
was der Klang der Worte oder des »Namens« erweckt, zählt, sondern die Ideen als
rationale Gesetzgeberinnen ihrer Bedeutung. Mithin erscheint ihre Materialität
in-different: Für den logischen Bedeutungsprozeß ist unerheblich, wie er sich dar-
stellt: Es genügt, daß er gemäß den Direktiven des logos vollzogen wird: Geburts-
stunde jenes Primats der Form und der Lesbarkeit der »Spur«, der in der Tendenz
die Ekstasis der Materialität und der unlesbaren Gabe ihrer Gegenwart depravieren
wird.
Wenn auch die Semiotik seit Peirce und Saussure dem Rationalismus Platons
nicht mehr Folge leistet und den Zeichen ihren »Grund« in einem anderen, sei es
ein objektives Maß oder das Wahre und die Vernunft, verweigert, vielmehr dem
Symbolischen seine Autarkie zurückerstattet, um es gegenüber den Auszeichnun-
gen des logos, vermöge dessen sich erst sein Sinn konstituieren kann, rehabilitiert,
bleibt der Aspekt der Materialität unter Hinweis auf die »Unmotiviertheit« oder

7 Dieser Streit kann neu gelesen werden. Er partizipiert an der hier vorgeschlagenen Differenz zwi-
schen Sagen und Zeigen. Denn konventionell werden beide identifiziert und in Ansehung eines
Primats der Bedeutung, des Sagens interpretiert. So wird die Erscheinung der Materialität über-
flüssig. Dagegen trennen das archaische Denken, der mythische Diskurs und die heterodoxen
Symbolphilosophien, die den Gesichtspunkt der physis privilegieren, nicht zwischen der Materia-
lität und Bedeutung; vielmehr ergeht die Bedeutung erst aus dem Sichzeigen der Materialität.
D.h. die Materialität avanciert zum eigentlichen Medium, durch die sich ein Sinn unmittelbar
mitteilt, ohne sich auszusprechen, d.h. auch interpretierbar zu sein. Er ist An-deutung dessen,
was sich zeigt.
8 Piaton, Kratylos, Sämtliche Werke a.a.O., Bd. 2, vor allem 383a-390e; 422c-424a; 427e-^31e;
433c—434e; 438a-439b. Vgl. auch Otto Apelt, Platons Dialog Kratylos, in: Piaton, Krarylos,
übersetzt und erläutert von Otto Apelt, Leipzig 2. Auflage 1922, Einleitung, S. 6—36.
9 Lag darin zunächst eine kritische Absicht, eine Aufklärung, die die Zeichen von ihrer vermeintli-
chen Natürlichkeit, die ihnen eine dogmatische Bedeutung vor ihrer Bedeutung verlieh, erlösen
sollte, um ihre Statik in eine Dynamik und Veränderbarkeit zu überführen, so impliziert sie
gleichwohl eine Verdrängung, die bis in die Abwertung des Ästhetischen hineinteicht. D.h. beide
Bewegungen gehören zusammen: Ausstreichung der physis, der Ontologie des Zeichens einerseits
und Verdrängung der Materialität, der Präsenz oder Erscheinung andererseits.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 163

Arbitrarität der Signifikant/Signifikat-Reihen, wie noch zu zeigen sein wird,


grundsätzlich irrelevant. Die Zeichen tendieren dazu, restlos in der Immateria-
lität ihres Bedeutens aufzugehen, sich der dictio zu verschreiben und sich dem zu
entledigen, was ihrer Anwesenheit Aufenthalt verleiht. Sie scheinen keinen »Kör-
per« zu besitzen, worin ihre Funktion oder Struktur »verkörpert« wäre — ganz wie
Piaton im Phaidros die Gefangenschaft des Geistes im Kerker seiner Leiblichkeit
beklagte, in dem er gleich einem Schalentier hause, so daß ihm seine höchste Er-
füllung, die Entleiblichung des Absoluten, die gleichermaßen Hegel an den Ab-
schluß seiner Phänomenologie stellte, versagt bleibe. So klafft zwischen ihrer Prä-
senz und dem, was sie zu signifizieren oder zu be-deuten vorgeben, eine nicht zu
schließende Lücke, ein Abgrund, dessen Thematisierung mit dem semiotischen
oder semiologischen Problem selbst zusammenfällt: Semiotik, bzw. Semiologie,
als Theorie des Zeichen und seiner Ordnungen ist vor allem eine Theorie semi-
tischer Differenz. " Sie impliziert die Entmaterialisierung des Zeichens. Diese spre-
chen, gemäß ihrer klassischen Bestimmung, stets »von etwas«, was sie nicht sind;
sie substituieren etwas durch etwas anderes, wie es bereits bei Aristoteles heißt;
sie erstellen eine Gegenwart für eine Nicht-Gegenwart, sei diese vergangen, verlo-
ren, aus dem Blick geraten oder ins Dunkel der Geschichte entschwunden. Oder
aber: Sie grenzen sich gegeneinander ab, markieren, was andere nicht markieren,
erzeugen ihre Ordnung allein aufgrund der Negativität von Unterschieden, die sie
miteinander eingehen. So wird die angezeigte zweifache Differenz, die die Zei-
chen ebenso konstituiert wie austrägt, im selben Moment wieder ausgestrichen,
wie die theoretische Reflexion den Gesichtspunkt der Materialität in dem Maße
verwischt, wie sie auf ihn zu sprechen kommt, um sich einseitig dem Bedeu-
tungsproblem zuzuwenden: Auslöschung wie ebenso Depravation des Sinnlichen
gegenüber dem Sinn, der die Zurückstellung des Ästhetischen gegenüber dem
Diskursiven zu entsprechen scheint. Die Geschichte der Semiotik ließe sich dann
als eine Geschichte des Vergessens der Materialität schreiben - sowie, korrespondie-
rend dazu, als alleinige Fokussierung auf die Immaterialität des Bedeutens. Eine
Auslassung oder Abwendung konstituiert die Diskurse: Zurückweichung vor der
Präsenz, die mit der Verdrängung des Ästhetischen als einem Aisthetischen zu-
sammenfällt: Depravation des Erscheinens, des Zeigens gegenüber dem Wesen,
dem Diskursiven, sogar schließlich Reduktion auf das Sagen, den Sinn, der sich
darstellt. Das Ästhetische hätte folglich seinen Bestand im »Erscheinenlassen«

10 Siehe weiter unten Tl. IL, 2. Hauptstück, 2.-4. Kap.


11 Vgl. Piaton, Phaidros, a.a.O., 245c-248e.
12 Vgl. dazu auch meine Einleitung zur Anthologie: D. Mersch (Hsg.), Zeichen über Zeichen,
a.a.O., S. 9-36.
13 Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias, löaff a.a.O.
14 Die Opposition, die hier aufgestellt wird, impliziert nicht die Leere der Materialität, sondern ihre
Fülle. Der Gegensatz wird für unsere Untersuchungen eine entscheidende Rolle spielen. Unge-
achtet dessen gibt es natürlich kulturelle Codierungen des Materials. Die Wahl der Stoffe spielte
seit je eine besondere Rolle, war mitunter genau festgelegt, mit Signifikanz behaftet. Darauf hat
u.a. Jercy Faryno hingewiesen: Trotz ihrer Widerständigkeit, sogar Widerspenstigkeit gegenüber
der Analyse, erschließt sich das Material der semiotischen Untersuchung gerade dadurch, daß es
164 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

eingebüßt, beschränkte sich ausschließlich auf den Ausdruck und seine Ausle-
gung, als einer Hermeneutik der »Oberfläche«, während das, was hier als »Mate-
rialität« bezeichnet worden ist, die Blöße oder Ereignis ihres Erscheinens, zur abge-
drückten Spur verläuft, die sich dem lesenden Blick präsentiert, dem die Erfah-
rung seiner Wirkung, seiner Gravitation oder Mächtigkeit nicht mehr zukommt.
D.h. zugleich, die »Spur« des Aisthetischen verlöscht - wie die Chiffren seiner
Unbestimmtheit, die daran partizipieren: das Schöne, das Erhabene oder die Au-
ra, wie sie Benjamin gegen die Zeichenhaftigkeit der Spur ausspielt hat.
Exemplarisch für diese Tendenz kann eine Notiz Edmund Husserls aus den
Ideen I einstehen: Höhepunkt einer Entwicklung, die bei Piaton und Aristoteles
ihren Ausgang nahm, um unbeschadet regionaler Oppositionen nahezu die ge-
samte Geschichte der Metaphysik zu durchqueren: »Wir knüpfen an die be-
kannte Unterscheidung zwischen der sinnlichen, sozusagen leibliche Seite des
Ausdrucks und seiner unsinnlichen, >geistigen< Seite an. Auf die nähere Erörte-
rung des ersteren brauchen wir nicht einzugehen (...). Wir blicken ausschließlich
auf >Bedeuten< und >Bedeutung< hin.« Der beiläufige Ausschluß geriert sich als
so selbstverständlich, daß ihm offenbar nicht einmal ein Argument, eine Begrün-
dung folgen muß. Diesem Gestus, als handele es sich um kein weiteres Problem,
keine zu beantwortende Schwierigkeit, gilt gerade unsere ganze Kritik. Wir wer-
den, sozusagen im Gegenzug, herauszuarbeiten versuchen, worin die spezifische
Relevanz dessen besteht, was wir noch provisorisch von Hegel und Adorno her
mit dem Ausdruck der »Materialität« der Zeichen belegt haben. Er wird insbe-
sondere zu erweitern sein, insofern zu ihm nicht nur jene spezifische Negativität
oder Widerständigkeit gehört, die stets noch hinzugedacht werden muß und
worin die Zeichen ihr Erscheinen haben; sondern zugleich noch das spezifische
Moment ihrer Zeitlichkeit: den Augenblick der Setzung, wodurch sie erst zur
scheinung gelangen. So trägt sich ein doppelter Rückstand ein, der sich der Re-
duktion auf Bedeutung oder Struktur widersetzt: Präsenz und Präsentation, worin
sich ihre Gegenwart zeigt. Sie teilen diese >n Materialität und Praxen, freilich so,
daß deren Präsenz als Präsentation geschieht. Erstere nennt das Ekstatische, das je
besondere Sichzeigen, letztere die spezifische Weise des Vollzug, dessen
tivität. Denn eine Geste tritt, wie wir gezeigt haben, vermöge einer besonderen
Leiblichkeit hervor, wie ein Bild durch seine spezifische Pigmentierung oder die

als »Grenze« erscheint: »Trotzdem steckt das Hauptproblem der Semiotik in der Frage: Wie, auf
welche Arten und Weisen, entfaltet sich die Wirkung des Materiell-Materialen der Dinge einer
Kultur?« Denn jede Kultur hat »der Variierbarkeit ihrer Ausdrucksebenen deutliche Beschrän-
kungen auferlegt. Das Material gilt als Vehikel einer gewissen Bedeutung.« Vgl. ders., Die Sinne
und die Textur der Dinge, a.a.O., S. 660, 661 passim.
15 »Et incamatus est. die Sprache steigt hinab ins Fleisch.«, heißt es entsprechend bei Michel Serres:
»Dann erobert das Wort das Fleisch, erfüllt den Leib ganz und gar, ohne Rest und ohne einen
leeren Raum zu lassen. Das Wort duldet keine andere Voraussetzung als sich selbst. (...) Jede
nichtssagende Spur vor der Gegenwart des Wortes wäre ein Makel.« Ders., Die fünf Sinne,
a.a.O., S. 271.
16 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie,
Erstes Buch, Den Haag 1950, S. 303.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 165

Dichte und Dicke der Farbauftragung wirksam wird; gleichwohl bedürfen sie der
Setzung, die sie situativ einbinden und ihnen einen Platz oder eine Intensität ver-
leihen — wie die Stimme, die plötzlich anhebt und nicht nur ihr »Fleisch«, son-
dern ebenso die Wucht ihrer »Energie« enthüllt.
Keineswegs kann darum gleichgültig sein, ob in einem bestimmten Moment
ein Zeichen gesetzt ist oder ausbleibt, wann etwas ausgesprochen oder wann ge-
schwiegen wird, ob eine unerläßliche Antwort erfolgte oder ob sie zurückgehalten
wurde, sowenig, mit welchen Mitteln oder welcher Spannung dies geschah. Wir
werden hier vom Ereignis der Setzung sprechen, welche das »Daß« ihrer Anwesen-
heit im Unterschied zum »Was« ihres Inhalts markiert und worin ihre
vität wurzelt. »Worte sind auch Taten«, hatte Wittgenstein lapidar bemerkt;
desgleichen läßt sich von Zeichen sagen: Sie sind Ereignisse. Sie müssen verwen-
det, ausgewählt, vollzogen, verhandelt, miteinander ausgetauscht oder gegenein-
ander abgewogen werden, wobei die besonderen Weisen ihres Gebrauchs auf sie
selber zurückweisen und das konstituieren, was hier das doppelte Spiel von
senz und Präsentation ausmacht — gleichgültig ob es sich dabei um intentionale
Handlungen handelt oder das Geschehen einer Wiederholung. Was daher den
Zeichen und ihren Ordnungen zum Grunde liegt und sie ausstellt, wäre demnach
selbst noch ein Zweifaches: Materialität und Ereignis der Setzung, die allerdings
aneinander gekoppelt sind. Wir werden im folgenden am Beispiel Ernst Cassirers
die »Spur« dieser doppelten Kontur aufzunehmen und zu verfolgen suchen, um
das, was wir als das Vergessene am Zeichen exponiert haben und das seine eigentli-
che Unbestimmtheit ausmacht, in bezug auf die Grenzen des Symbolischen deutli-
cher auszuloten.

Sinnlicher Sinn

In einer späten Wendung gegen Piaton, der mit seinem Phaidros die »Spur« der
Materialität anfänglich verwischte, indem er das Bild des Leibgefängnisses erfand,
hat Paul Valery gegen den »überhimmlichen Himmel« der platonischen Ideen an
den »vergänglichen« der menschlichen Welt erinnert, für den die »Hinfälligkeit
des Körpers« unerläßlich sei, um dem Geistigen und seinem Bedeuten allererst
ein »Antlitz« zu gewähren." Unwiderruflich in die Endlichkeit gestellt und zur
Verkörperung gezwungen, besteht damit Valery auf ein nichtauflösbares Moment,

17 An den Begriff des »Dionysischen« anknüpfend, hat darauf neuerdings wieder der Dichter Tho-
mas Kling erinnert; vgl. ders., Itinerar, Frankfurt/M. 1997, S. 20, 23. Verbunden sind damit be-
sonders die Thematiken des Performativen und die Kategorie der »Intensität«, wie sie für Jean-
Francois Lyotard wichtig gewotden ist; vgl. insb. ders., Intensitäten, Berlin 1978.
18 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 546, S. 179.
19 Zwischen Intentionalität von Handlungen und Geschehen von Wiederholungen liegt wiederum
die Scheidelinie zwischen den Programmen analytischer bzw. pragmatischer Semiotik einerseits
und strukturaler Semiologie andererseits: Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen.
20 Vgl. Paul Valery, Eupalinos oder der Architekt, Frankfurt/M. 1995, S. 114 ff.
166 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

worin freilich kein Mangel liegt, sondern höchste Möglichkeit: Indem Valery den
Architekten Eupalinos zum Protagonisten seiner Ästhetik erhebt, widerspricht er
nicht nur Platons Ideenidealismus, sondern gleichermaßen auch Hegel, der der
Baukunst den untersten Rang in der Reihe der Künste zuerdachte: Beschränkt auf
Stein und Boden mühe sie sich, wie es in dessen Vorlesungen zur Ästhetik heißt,
»mit der objektiven Natur ab, um sie aus dem Gestrüppe der Endlichkeit und der
Mißgestalt des Zufalls herauszuarbeiten«." Demgegenüber erfordert die Archi-
tektur nach Valery die tiefste Einsicht in die Gebundenheit der Kunst ans Mate-
rial, worin sie zugleich, einem Wort Walter Benjamin entsprechend, ihr »Magi-
sches« hat." Sie offenbart darin ein »Anderes«, »Präsentatives«, dessen Seite nicht,
wie es Benjamin ausgedrückt hat, »beziehungslos neben der anderen, der semioti-
schen, einher(läuft)«, vielmehr ihren »Fundus« markiert, aus dem der Sinn »blitz-
artig« und mit einem »Nu« hervorsticht:" Sich-Verweigerndes, das der Sperrig-
keit der Materialität angehört, an der sich die Anstrengungen der Arbeit reiben,
mitunter sogar zu zerbrechen drohen. Valery denkt somit ein Nichtaufgehendes
als Stigma von Kultur und gewahrt auf diese Weise eine Nicht-Identität. Es geht
ihm im Medium unversöhnlicher Materialität auf.
Es ist das unbestreitbare Verdienst Ernst Cassirers, auf diese Seite im Symboli-
schen aufmerksam gemacht und die »eigentümliche Doppelnatur dieser Gebilde:
ihre Gebundenheit ans Sinnliche, die doch zugleich eine Freiheit vom Sinnlichen
in sich schließt«," herausgestellt zu haben. Jede Symbolisierung gilt ihm als »ver-
körperter Sinn«." Ihr eignet, mit der Hervorhebung ihrer Körperlichkeit, eine ir-
reduzible Dualität. Denn das Symbolische umfaßt, wie es im dritten Band seiner
Philosophie der symbolischen Formen heißt, »das Ganze jener Phänomene (...), in
denen überhaupt eine wie immer geartete >Sinnerfüllung< des Sinnlichen sich dar-
stellt; - in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-seins, sich zu-
gleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation ei-
nes Sinns darstellt«." Insbesondere differenziert Cassirer zwischen Symbol und

21 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über Ästhetik I, a.a.O., S. 117.


22 Vgl. Walter Benjamin, Lehre vom Ahnlichen, in: ders. Gesammelte Schriften II.l, Frankfurt/M.
1977, S. 204-209, hier: S. 208 f.
23 Ebenda, S. 209. Man könnte sagen: Indem die Geschichte der Semiotik das »Sagen« gegenüber
dem »Zeigen« ausgezeichnet und damit die Spur des Zeigens ausgelöscht hat, »überlesen« die se-
miotischen Lektüren systematisch das Magische der Materialität.
24 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 42.
25 Vgl. zur Rehabilitation der Bedeutung Cassirers Oswald Schwemmer, Der Werkbegriff in der
Philosophie der symbolischen Formen, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1992, Heft
2, S. 226—249; sowie ders., Ernst Cassirer, Berlin 1997. Schwemmer hat insbesondere den
Aspekt der »Verkörperung« des Symbolischen betont. Vgl. zur Entwicklung des Denkens bei
Cassirer darüber hinaus Heinz Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993; ders.,
Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext,
Darmstadt 1994; Andreas Graeser, Ernst Cassirer, München 1994; John Michael Krois, Cassirer.
Symbolic Forms an History, Yale University Press, New Haven, London 1987, sowie der., Pro-
blematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, in:
H.-J. Braun, H. Holzhey, E.W. Orth (Hsg.), Über Cassirers Philosophie der symbolische For-
men, Frankfurt/M. 1988, S. 15-44.
26 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 3, S. 109.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 167

Zeichen: dieses gilt ihm als »Bedeutendes«, jenes als dessen eigentlicher »materi-
eller Träger«. Letzterer wiederum verleiht dem Sinn, als einem »Geistigen«, seine
objektive Gestalt. D.h. die Taten des Geistes sind Werke, die als Symbole figurie-
ren, die durch sie ihr Dasein erhalten. Sie bilden als solche den Ausgangspunkt
der Cassirerschen Kulturphilosophie: »Wir gehen vielmehr von den Problemen
des >objektiven Geistes«, von den Gestalten, in denen er besteht und da ist, aus
(...).«" Dann erschließt sich von vornherein ihre Doppelnatur: »Die Religion, die
Sprache, die Kunst: das alles ist für uns nicht anders faßbar als in den Monu-
menten, die sie sich geschaffen haben. Sie sind die Wahrzeichen, die Denk- und
Erinnerungsmale, in denen wir allein einen religiösen, einen sprachlichen, einen
künstlerischen Sinn erfassen können. Und eben dieses Ineinander macht dasjeni-
ge aus, woran wir ein Kulturobjekt erkennen. Ein Kulturobjekt hat, wie jedes an-
dere Objekt, seine Stelle in Raum und Zeit. Es hat sein Hier und Jetzt, es ent-
steht und vergeht. Und soweit wir dieses Hier und Jetzt, dieses Entstehen und
Vergehen beschreiben, brauchen wir über den Kreis physischer Feststellungen
nicht hinauszugehen.«" D.h., das Symbolische »hat« Gestalt; es ist vothanden,
wie die Dinge in der Welt, ein Wahrnehmbares oder Materielles; aber es »ist« als
dieses ebensosehr ein anderes, es birgt in sich, wie Cassirer hinzusetzt, »eine()
neue() Funktion«: Sinnlicher Sinn. »Dieses Erscheinen eines >Sinnes«, der nicht
vom Physischen abgelöst ist, sondern an ihm und in ihm verkörpert ist, ist das
gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen >Kultur< be-
zeichnen.«" Erst als solches, das Symbolisches, das nicht nur darstellt, sondern
sich ebensosehr ausstellt, das be-deutet und sich gleichermaßen präsentiert, be-
hauptet diese ihre »eigene() freie() Bildwelt«, ihre Autonomie. Aller kultureller
Ausdruck erweist sich, wie das Symbolische, auf der es beruht, zweigeteilt. Ebenso
Sinn wie Sinnlichkeit, Präsentation und Re-Präsentation, bildet es eine genuine
Duplizität, ohne je nach der einen oder anderen Seite auflösbar zu sein.

27 Ebenda, S. 67.
28 Ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 42, 43.
29 Ebenda, S. 43.
30 Ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 20.
31 Vgl. auch ders., Zur Logik des Symbolbegriffs, in: ders., Wesen des Symbolbegriffs, Darmstadt
7. Aufl. 1983, S. 201-230. Dieselbe Duplizität ergibt sich im übrigen auch für Susanne K. Lan-
gers Symbolphilosophie, wenn sie im Unterschied zu »repräsentativen« Symbolen von einem
»präsentativen Symbolismus« handelt: Symbole, die, statt sich auf ein Vokabular zu beziehen, was
sie bedeuten, direkt zum Ausdruck »geben«. Sie nehmen einen singulären Status ein. Vgl. Susan-
ne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege, a.a.O., vor allem 3., 7. u. 10. Kap., S. 61 ff, 172 ff,
261 ff. Zur Definition eines »präsentativen Symbolismus«, der mit der Verdichtungsleistung der
Metaphorik in Verbindung gebracht wird, vgl. ebenda, S. 191. Vgl. dazu auch: Rolf Lachmann,
Präsentative Symbole, in: Die Zukunft des Wissens, XVIII. Deutscher Kongreß für Philosophie,
Konstanz 1999, S. 555-562. Die »Lösung« Langers birgt indessen eine Reihe von Schwierigkei-
ten, die die Plausibilität des Begriffs vereitelt: So bleibt unklar, worin im Einzelfall die Differenz
zwischen nichtpräsentativen und präsentativen Symbolen besteht, wie sich beide zureichend ge-
geneinander scheiden lassen, was das »präsentische« und »nichtpräsentische« am Symbolischen
ausmacht, wie überhaupt sich Präsenz und Bedeutung zueinander verhalten. Verkannt wird zu-
dem, daß jeder Symbolisierung ein präsentatives Moment zukommt. Bringt man dies mit Lan-
gers reziproken »symbolischen Gesetz« in Verbindung, wonach ein Symbol um so mehr bedeutet,
168 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Diese beiden Dimensionen: Materialität und Bedeuten bilden mithin die Kon-
stituenzien der Cassirerschen Symbolphilosophie. Sie gehen in das ein, was er
»Werk« nennt, was nicht bloße »Natur« ist, sondern im eigentliche Sinne die
menschliche »Kulturleistung« ausmacht. " Dennoch bleibt der Hauptzug des
Symbolbegriffs die »Grundfunktion des Bedeutens«. Cassirers Philosophie der
symbolischen Formen ist im wesentlichen eine Philosophie der Bedeutung. Erneut
wird so der eingeschlagene Weg schon im Ansatz zurückgenommen, das
sche dem Vorrang des Sinns geopfert und die Einführung der Materialität in dem
Maße der Immaterialität der Bedeutung subordiniert, wie sie in den Blick ge-
langt. Zwar bestimmt nicht länger die Vernunft die conditio humana, sondern
die »symbolische Phantasie« des Geistes, »durch die das schlichte Dasein der Er-
scheinung eine bestimmte >Bedeutung«, einen eigentümlichen ideellen Gehalt
empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt, für den Mythos
wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich
nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr
nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen.« So bleibt Cassirer überall den
Engführungen des neuzeitlichen Diskurses verhaftet, insofern er diese im Begriff
des Geistes als eigentlichem subjectum der Symbolisierung begründet. Nicht nur
unterstellt er sich ganz dem Schema des Hermeneutischen , sondern hält sich zu-
gleich durchweg im Umkreis einer »Willensmetaphysik«, nicht im Sinne jenes
unbedingten »Willens zum Willen«, der jede Grenze überschreitet und darin,
gemäß Nietzsche, immer schon »Wille zur Macht« ist, sondern im Sinne eines
»Willens zur Gestaltung«, des »Formwillens« neuzeitlicher creatio, die das Sym-
bolische ans Poietische und damit an die Möglichkeit freier Konstruktionen bin-
det: »Nicht bloß Herrschaft über die Welt, sondern Formung der Welt ist es,
worum die Sprache, wie der Mythos, die Kunst, wie die Erkenntnis und die Reli-

je stärker seine Materialität zurücktritt, ergibt sich für die Kunst, der ihre Exponierung wesentlich
ist, die prekäre Konsequenz, daß ihren Bemühungen gerade das abträglich wäre, was sie allererst
ausmacht. Systematisch bliebe die Möglichkeit ihres Ausdrucks unterhalb von diskursiver Be-
grifflichkeit: Wiederholung jener Depravierung des Ästhetischen gegenüber dem Diskursiven,
wie sie seit Jahrhunderten in den Hierarchien der Philosophie eingeübt wurde: Vorrang der Form
vor dem Stoff, des Begriffs vor der Metapher, der Philosophie vor der Dichtung etc.
32 Vgl. Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 43.
33 Ders., Versuch über den Menschen, a.a.O., vor allem S. 50 f.
34 Das gilt auch schon für die Wahrnehmungstheorie Cassirers: Was begegnet, begegnet als Sinn:
»Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht einen bestimmten >Gegenstand« meint und auf ihn ge-
richtet ist.« Ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 39. An anderer Stelle heißt es:
»Die Zweiteilung: Symbol oder Gegenstand erweist sich auch hier als unmöglich, da die schärfere
Analyse uns lehrt, daß eben die Funktion des Symbolischen es ist, die die Vorbedingung für alles
Erfassen von Gegenständen« und Sachverhalten ist.« Ebenda, S. 31.
35 Ders., Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 60.
36 Ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 9.
37 Zur Verwendung des Ausdrucks »Hermeneutik« bei Cassirer vgl. John Michael Krois, Problema-
tik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O.,
S.26.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 169

gion ringen«. Aller »Inhalt der Kultur« hat deswegen, wie Cassirer ergänzt, »so-
fern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat
des Geistes zur Voraussetzung (...). (D)as >Sein< ist hier nirgends anders als im
>Tun< erfaßbar.« »Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr
den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Otganisation der
Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt.« Es ist so die »Tathandlung des Geistes«,
der das Symbolische entspringt: Dieses vermittelt Welt, aber jene ist »Grund« der
Vermittlung und geht infolgedessen der Symbolisierung immer schon voraus.
Beide, »Wirken« und »Werk«, Energeia des Geistes und Ergon der symbolischen
Form gehören für Cassirer zusammen, indem sich darin dessen eigentliches »Le-
ben« manifestiert." Nichts anderes beinhaltet dann das Wort »Kultur«: Der
Mensch lebt inmitten seiner eigenen, von ihm selbst geschaffenen Werkwelt, de-
ren »Werkmeister« und eigentlicher Künstler sein Geist ist. Erst diese verleiht sei-
nem Dasein Zweck und Würde; erst das Werk zeichnet ihn als Menschen aus.
Indem Cassirer derart die »symbolische Grundfunktion des Bedeutens« in die
Subjektivität des Geistes zurückstellt, büßt er gleichzeitig deren Autarkie wieder
ein und weicht damit vor der Konsequenz seines eigenen Ansatzes zurück. Ein-
seitig unterwirft er sie dem Zweck-Mittel-Schema von Instrumentalität. Der
Geist bezeichnet das Primäre, die Zeichen das Sekundäre. Dieser erschafft sie, je-
ne erscheinen als das von ihm Geschaffene, die von ihm, gemäß seiner Direkti-
ven, benutzt werden. Folglich »bedient« er sich ihrer als Mittel zum Ausdruck,
wie der Ausdruck, als ein Intentionales, ihnen vorausgeht: Irreführendes Bild ei-
nes Innen, das vermöge der Zeichen nach Außen kommt, als ob eine Larve sich
entspinnen müßte, die nur ihres Schmucks oder Beiwerks bedürfte, um sich zu
entfalten. Impliziert ist darin die Transformation der Materialität zur Medialität,
zum Mittel oder instrumentum einer Darstellung, in der zuletzt die Rückführung
des Symbolischen aufs Geistige und des Geistigen aufs Formprinzip dominiert.

38 Ernst Cassirer, Metaphysik der symbolischen Formen, Nachgelassene Manuskripte und Texte
Bd. 1, Hamburg 1995, S. 27.
39 Ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 11.
40 Ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 2, S. 187.
41 Vgl. dazu ders., Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, a.a.O.,
S. 132; vgl. auch ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 14 f., 30.
42 Vgl. ders., Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1, a.a.O., S. 48 ff. Diesen Lebensbegriff
gilt es freilich zu unterscheiden von den etwa zeitgleichen Lebensphilosophien bei Nietzsche,
Henry Bergson, Georg Simmel oder Ludwig Klages; vgl. dazu auch Ernst Cassirer, Metaphysik
der symbolischen Formen, a.a.O., S. 9 ff, 14 f. und 24; insbesondere seine Auseinandersetzung
mit Simmel und Klages; ferner ders., >Geist und Leben« in der Philosophie der Gegenwart, in:
ders., Geist und Leben, Schriften, hsg. v. E.W. Orth, Leipzig 1993, S. 32-60, sowie die zugehö-
tige Einführung von Ernst Wolfgang Orth, Cassirers Philosophie der Lebensordnungen, ebenda
S. 9-30.
43 Die überlieferten antiken Wertigkeiten von Poiesis und Praxis werden somit im Zeichen der neu-
zeitlichen Homo-faber-Tigar umgekehrt: Die zweckhafte Arbeit, das sinnbezogene »Machen« und
»Herstellen« im Sinne der vita activa wird ganz der zweckfreien Handlung einer selbstgenügsa-
men vita contemplativa vorgezogen. Darin formuliert sich zugleich die eigendiche Grundfolie, das
theoretische Ethos der Cassirerschen Philosophie. Vgl. zur Unterscheidung Hannah Arendt, Vita
activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960.
170 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Übrig bleibt allein eine Funktion, die schließlich der Struktur der Vergegenständ-
lichung gehorcht, die die klassische Relation von Subjekt und Objekt im Medi-
um der Bedeutungsgebung wiederholt und erneuert. Denn der Geist bedarf der
Symbole, wie Cassirer auf der Grundlage der Biologie Johannes von Uexkülls "*
ausführt, als »eigentümliche() Medien, die der Mensch sich erschafft, um sich
kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung um so fe-
ster mit ihr zu verbinden.« So ist ein Spiel von Distanz und Nähe angezeigt, das
freilich der Logik der Freisetzung folgt: Aneignung der Welt als gleichzeitige Ab-
stoßung von ihr, um sie ebenso bedeutsam wie sich gefügig zu machen. Die
Struktur des Symbolischen beruht mithin auf einer Differenz, die als gesetzter
Unter-Schied gedacht werden muß, der ihre Fundierung einer Freiheit verdankt,
deren anthropologisches Postulat freilich dem Prozeß der Symbolisierung als
noch vorgängig unterstellt werden muß. Erst sie begründet jene »geistige Revolu-
tion« einer Abständigkeit zur Welt, »deren Ertrag darin besteht, daß der Mensch
sich die Welt beseitigt, um die Welt an sich zu ziehen«. Weiter heißt es: »Kraft
ihrer wird ihm eine Nähe zur Welt und eine Ferne von ihr zu Teil, wie sie kein
anderes Wesen besitzt.«
Sich-Distanzieren-können bedeutet danach nicht nur, daß der Mensch aus der
Welt herauszutreten vermag, sondern daß er sich, im Doppelsinn des Ausdrucks,
von ihr zu »ent-fernen« versteht, insofern er zugleich Distanz hält, wie er diese
ebenso wieder rückgängig macht und sich damit ihr an-nähert. Distanzen setzen
nicht nur Abstände voraus, sondern ermöglichen auch eine Sicht und mithin
»An-Sicht« der Dinge, die ihrer Bezeichnung und mithin Be-Deutung zugrunde
liegt. Distanznahme in diesem Sinne, als Dopplung von Entfernung und Entfer-
nung der Entfernung, ist darum konstitutiv für Bezug. Der Mensch gilt folglich
für Cassirer als dasjenige Wesen, das Ent-fernungen entfalten kann und dadurch

44 Vgl. Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 47 ff. sowie ders., Zur Metaphysik
der symbolischen Formen, a.a.O., S. 40 ff, 60 ff.
45 Ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a. O., S. 25. Vergleichbares formuliert übrigens
auch Hans Jonas, wenn er das entscheidende Vermögen, Bilder herzustellen und zu erfassen, aus
der Intentionalität von Ttennungen erklärt: »So sind wir in unserer Suche nach den Bedingungen
der Möglichkeit des Bildmachens von dem Vermögen der Ahnlichkeitswahrnehmung zu dem
fundamentaleren Vermögen verweisen worden, das Eidos vom Dasein zu trennen, oder die Form
vom Stoff. (...) Das hier auf der Subjektseite wirksame Prinzip ist die intentionale Trennung von
Form und Stoff.« Vgl. ders., Homo pictor, in: Gottfried Boehm (Hsg.), Was ist ein Bild? a.a.O.,
S. 105-124, hier: S. 116. Ähnlichkeiten bestehen darüber hinaus zu Helmuth Plessners Anthro-
pologie der »exzentrischen Positionali tat«; vgl. ders., Die Stufen des Organischen und der
Mensch, a.a.O., S. 288 ff.
46 Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, a.a.O., S. 36.
47 Der Befund kann ebenso anhand der Diskussion von Max Schelers Begriff der »Askese« und der
Freudschen Analyse der »Sublimierung« in: Ernst Cassirer, >Geist« und >Leben< in der Philosophie
der Gegenwart, a.a.O., nachvollzogen werden. Die Askese läßt den Menschen von der Welt zu-
rücktreten und setzt ihn auf diese Weise als »Anderen« der Natur. Sein Anderssein - und somit
seine Eigenheit - manifestiert sich dabei in der Freiheit des Bezugs. Ihr entspricht die Autarkie
des Symbolischen als Grund von Kultur.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 171

Bezüge setzt: Dies zeichnet ihn als animal symbolicum erst aus. Anders als bei
Husserl wird solche Bezugsetzung allerdings nicht aus der Intentionalität eines
Bewußtseins und damit als Leistung eines transzendentalen Subjekts gedacht,
sondern als genuine Verfassung des Geistes, dessen symbolische Leistung, ebenso
wie seine Freiheit, zur conditio humana gehört. Nicht die ursprüngliche Gerich-
tetheit als Struktur des Bewußtseins ermöglicht Beziehung und damit Welt,
vielmeht ist es im Prozeß der Symbolisierung selber beschlossen, Ab-grenzung
und Bezug in einem herzustellen, um auf diese Weise Vermittlungen zu stiften.
Vermittlung wird dann als aktiver Prozeß begriffen: Er setzt Distanzen und Be-
züge dadurch, daß er sich die Wirklichkeit als »Anderes« entgegenhält und mittels
Zeichen wieder zurückholt. Die »doppelte Funktion alles Symbolischen«, heißt es
entsprechend in Zur Logik der Kulturwissenschaften, ist die »Funktion der Spal-
tung und Wiedervereinigung«: Damit scheint von Beginn an im Symbolischen
an eine ursprüngliche Kluft eingetragen. Es ist eine Kluft, die ihre Mediatisierung
allererst hervorbringt und zugleich ermöglicht.
Entscheidend ist jedoch, daß Cassirer sie in Form von Reflexionsbegriffen kenn-
zeichnet, die vereiteln, was sie zu erklären vorgeben. Buchstäblich hält sich seine
Symboltheorie an ein fremdes Terrain, das noch der Terminologie der Tradition
entspringt, deren Aporien sie beerbt. So ergeben sich im Begriff des Symboli-
schen, den er auf diese Weise zu begründen trachtet, eine Reihe struktureller In-
konsistenzen. Denn zunächst bleibt, wie immer ins Allgemeine gewendet, »Geist«
als Prinzip von Subjektivität vorausgesetzt. Reflexion ist die Gestalt des Bewußt-
seins, das aus sich das Andere, auf das es sich bezieht, ausgeschieden und entge-
gengesetzt hat. So gibt es ein unabhängiges Setzendes, das die Symbolisierung erst
entfaltet, wohingegen es erst vermöge der Symbolisierung sich zu erkennen gibt.
Dann wird nicht klar, wie diese wiederum zu denken ist. Sie muß, zuvor schon
und gleichsam am anderen Ort, eine Trennung vollzogen haben, um sie nach-
träglich wieder aufzuheben. D.h. die Begründung des Symbolbegriffs erweist sich
als widersprüchlich, als sie einerseits bereits eine Aufteilung vorgenommen haben
muß, um sich vermittelnd zwischen sie zu schieben, ohne sie selbst markieren zu
können, andererseits die Differenz selber ins Symbolische fallen läßt, die ihre
Fundierung von woanders her bezieht. ' Darüber hinaus gelingt es Cassirer nicht,

48 Ernst Cassirer, Versuch über den Menschen, a.a.O., S. 51. Ferner heißt es: »Verglichen mit den
anderen Wesen lebt der Mensch nicht nur in einer reicheren, umfassenderen Wirklichkeit; er lebt
sozusagen in einer neuen Dimension der Wirklichkeit.« Ebenda, S. 49.
49 Ernst Cassirer, Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 54.
50 Allerdings gerät Cassirer durchaus in die Nähe dieser Einsicht, ohne sie freilich angemessen lösen
zu können. In: ders., Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O., S. 31 heißt es: »Die Zweiteilung:
Symbol oder Gegenstand erweist sich (...) hier als unmöglich, da die schärfere Analyse uns lehrt,
daß eben die Funktion des Symbolischen es ist, die die Vorbedingung für alles Erfassen von Ge-
genständen« oder Sachverhalten ist.« An die Stelle des traditionellen dyadischen Zeichenmodells
rückt mithin eine komplexe dreistellige Zeichenrelation, die zwischen dem Symbolischen als Be-
deutungsfunktion, seinen materiellen Zeichenträgern und der durch sie »be-deuteten« Wirklich-
keit unterscheidet. Darin bleibt freilich die sinnliche Manifestation der Zeichen insofern kontin-
gent, als sich mit jedem Symbol »ein geistiger Inhalt« ausdrückt, der als solcher bereits »vor der
172 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

das Wirkliche, dessen radikale symbolische Mediatisierung er zu denken versucht,


aus seiner Betrachtung ganz auszuschließen. Denn es »gibt« die Welt, das Seien-
de, von denen sich die Symbolisierung vermöge einer ursprünglichen geistigen
Tat trennen muß, um sie später erneut erstattet zu bekommen. So fällt der Begriff
des Symbolischen in den Bereich von Metaphysik zurück, dem er zu entkommen
sucht, insofern er seine Beglaubigung in einer Vorgängigkeit sucht, die sich der
Zeichen schon bedient haben muß, um sich als solche ausweisen zu können. Cas-
sirer verfehlt die Radikalität der Differenz, auf die er zugeht, bleibt vor deren Li-
nie, weil die Dialektik der Ent-fernung, ihr Spiel von Nähe und Distanz, wie auch
Jürgen Habermas kritisiert hat, der Identität einer Folie bedarf, von der sie sich
ebenso abhebt, wie sie sich auf sie bezieht. " Nirgends »existiert« jedoch im Medi-
um von Symbolisierung eine ausweisbare Welt, von der die Symbole Distanz ge-
bieten, um ihr eine Vielfalt von Bedeutungen entgegenzuhalten, noch umgekehrt
ein »Geist«, der sie schöpferisch aus sich gebiert; vielmehr wäre, wie Jacques Der-
rida unzählige Male betont hat, immer schon von der »Ursprünglichkeit« der
Spaltung auszugehen, die wiederum kein Ursprung wäre, sondern diese wie jenen
allererst als »Supplement« hinzusetzte.
Verknüpft ist damit jedoch eine Ungereimtheit, die die Struktur des Symbol-
begriffs selber bewohnt und seine Grundlegung problematisch erscheinen läßt.
Denn ist nicht auf diese Weise beides: Symbol und Symbolisiertes gleichermaßen
unter die Struktur der Präsenz gestellt? Heißt das nicht, im Spiel von Nähe und
Entfernung, das die Präsenz leugnet, gleichwohl der Gegenwärtigkeit einer Ge-

Setzung der einzelnen Zeichen vorhanden und wirksam« ist und »über alles Sinnliche hinaus-
weist«, vgl. dazu ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 42. Umgekehrt
fungiert das Reale lediglich als notwendiges Korrelat oder »Stellenzeichen«, so daß beide, Realität
und Zeichenprozeß, immer schon unter dem Primat des Symbolischen stehen, ohne daß Cassirer
daraus die Konsequenz einer Radikalisierung des Zeichenbegriffs selber ableitete. Vielmehr untet-
steht er durchgängig der Metaphysik des Geistes, der er entspringt. Die Philosophie der symboli-
schen Formen lösr sich dann in eine reine »Philosophie des Geiste«« ?uf; vgl. dazu auch ders., Me-
taphysik der symbolischen Formen, a.a.O., S. 46. Siehe ferner zu Struktur und Paradoxie der Re-
präsentation weiter unten im selben Teil: 2. Hauptstück, 1. Kap.
51 Der Vorwurf des Mangels an Radikalität bestimmt schließlich auch die Kritik Heideggers im sog.
»Davoser Disput«; in: Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt
4. Aufl. 1973, Anhang, S. 246-268; vgl. dazu auch: Heinz Paetzold, Ernst Cassiter. Von Mar-
burg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995, S. 86 ff, bes. S. 93 ff;
ferner: Jürgen Habermas, Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen, in: ders., Philoso-
phisch-politische Profile, Frankfurt/M. 3. Aufl. 1981, S. 39-64; Karlfried Gründer, Cassirer und
Heidegger in Davos 1929, in: H.-J. Braun, H. Holzhey, E.W. Orth (Hsg.), Über Cassirers Philo-
sophie der symbolische Formen, a.a.O., S. 290-302; sowie Enno Rudolph, Round-table-
Gespräch >Philosophie und Politik« über die >Davoser Disputation« in: Internationale Zeitschrift
für Philosophie, Heft 2 (1992), S. 290-312.
52 Jürgen Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung. Ernst Cassirers humani-
stisches Erbe und die Bibliothek Warburg, in: ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen
Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt/M. 1997, S. 9^40, hier: S. 32 ff. Diese Inkonsistenz
der Cassirerschen Symbolphilosophie, ihre Halbherzigkeit, bemerkt überdies auch Andreas Grae-
ser, Ernst Cassirer, a.a.O., S. 31 f. Dagegen allerdings Peter Fischer, Ausdruck als Paradigma der
>Sinnerfullung im Sinnlichen«, in: Philosophische Rundschau, 46. Jg. (1999), Heft 4, S. 2 7 3 -
287.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 173

genwart einen privilegierten Platz einzuräumen — mithin das Symbolische, als Re-
Präsentation oder Nicht-Präsenz, dieser zu unterstellen? Bevorzugt würde so er-
neut die Stelle der Gegenwart, nach der das Zeichen, das Symbolische sich rich-
tet, um sie in eine andere, d.h. je schon re-präsentierte Präsenz zurückzustellen.
Und das bedeutete, das Symbolische von einem Ort her zu denken, der kein
Symbolisches mehr wäre, der ihm als genuine Symbolisierung widerspricht. Of-
fenbar erlaubt die Deutung der Cassirerschen Symbolphilosophie Äquivokatio-
nen in ihrer Begründung, weil sie von etwas sprechen muß - Präsenz — was sie im
Status von Re-Präsentation oder Nicht-Präsenz schon getilgt haben muß. Die
Schwierigkeit hängt indessen mit einem prätendierten Bilddenken bei Cassirer zu-
sammen, das eine Reihe von irreführenden Analogien erzeugt. Ihr ist das
digma von Räumlichkeit immanent, die sowohl eine Vorentscheidung für Präsenz
und Präsens trifft,^ wie sie eine Logik der Trennung evoziert, die wiederum der
Struktur des Blicks genügt, der ein »Gegenüber« fixiert. Sie regiert die Form der
»Repräsentation«, wie sie Cassirer dem Prozeß der Symbolisierung überhaupt zu-
grunde legt. Sämtliche ästhetische Wahrnehmungstheorien von Alexander
Gottlieb Baumgarten über Kant bis zu Husserl bestimmen die Wahrnehmung
aus dieser Repräsentationsfunktion; sie unterwerfen das Sehen einer Form von
Unter-Schied, die der Dialektik der Ent-fernung analog ist. Deswegen sagt Hei-
degger, daß der »Grundzug des bisherigen Denkens« ein »Vorstellen« im Sinne
der repraesentatio sei: Es privilegiere die Evidenz des Vor-Augen-Gestellten, der
Präsentation eines Präsenten, das unter dem betrachtenden oder forschenden
Blick zugleich ent-rückt und als »Anderes« gegenübergestellt wird. Ihr ist ebenso
ein Vorrang von Präsenz und Präsens eingeschrieben, wie sie eine Differenz von
Sehen und Gesehenem, Subjekt und Objekt supponiert. Sie wird auch Cassirer
nicht los. Bezeichnenderweise unterscheidet er in seiner Wahrnehmungstheorie
zwei Arten von Alteritäten: aluid und alter ego, »Es« und »Du«, denen jeweils die
»Ausdrucks-« und die »Dingwahrnehmung« zugeordnet sind. Diese geht jener

53 Dem wäre indessen noch eine zeitliche Differenz gegenüberzustellen, die, mit der ursprünglichen
Abstandsnahme, ebenso das Privileg des Präsens entwendete, auf das Cassirer sich beruft. Denn
im Prozeß der Ent-Fernung ist mit der räumlichen Abstandsnahme zugleich jene Verschiebung
des Zeitmodus impliziert, die zwingt, wie Derrida betont hat, von der Gegenwart zum Perfekt
überzugehen: »Ursprüngliche Verspätung« als »Schicksal des Denkens als Denken«, dessen The-
matik freilich Cassirer völlig unbedacht läßt. Vgl. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Ge-
schichte am Leitfaden der Geometrie, a.a.O., S. 201 ff; bes. S. 201.
54 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 33 ff. Allerdings
verwendet Cassirer den Begriff der Repräsentation nicht im nominalistischen Sinne der »Substi-
tution«, sondern in der wörtlichen Bedeutung einer »Vergegenwärtigung«. Symbole »stehen«
nicht für irgendwelche Gegenstände, indem sie sie bezeichnen; sie ver-gegenwärtigen sie, indem
sie sie in ihre Gegenwart bringen.
55 Martin Heidegger, Was heißt Denken? in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 4. Aufl. 1978,
S. 135 f.
56 Vgl. Ernst Cassirer, Cassirer leitet daraus ebenfalls die Dualität der Wahrnehmung von »Ding-«
und »Ausdruckswahrnehmung« ab, wobei diese ein »Es«, ein Anderes (aluid) schlechthin betrifft,
lenes aber als »Du« anspricht (alter ego); vgl. ders.. Zur Logik der Kulturwissenschaften, a.a.O.,
S. 34 ff, insb. S. 39 f., 44 f.; sowie ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 3,
S. 68 ff.
174 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

genetisch vorweg. Und wie der Ausdruck ans »Präsentische« gebunden bleibt, das
unmittelbar gewahrt wird, während der Begriff des »Dings« der Vermittlung des
Logos bedarf, impliziert der Vorrang dieser vor jener die Auszeichnung des
chen im Symbolischen. Insonderheit ist der Gewahrung der Ausdruckscharaktere
die Beziehung von »Bild« und »Sinn« inhärent, wie sie vorzugsweise dem mythi-
schen Denken zufällt; erst sekundär entfaltet sich daraus das wissenschaftliche
Bewußtsein durch sukzessive Logifizierung, die aus dem Bildlichen ein Begriffli-
ches macht. So wurzelt der Ausdruck im Zeigen, während die Dingwahrnehmung
jener eigentlich symbolischen Repräsentation gehorcht, wie sie sich im Sagen
gründet. Der Vorrangstellung des Zeigens korrespondiert der Primat der
keit. Nicht die Sprache, der Diskurs oder die Zirkulation der Rede, bildet den
anfänglichen Fokus des Symbolischen, sondern das Bild, das darstellt, indem es
präsentiert und präsentiert, indem es darstellt. Cassirers Begriff des Symbols ist
dieser Duplizität entlehnt: Er folgt der Struktur der Abbildung, die wiederum an
der Struktur von Anwesenheit partizipiert - nicht nur, weil das Bild historisch am
Beginn der Entwicklung steht und die Rede, wo sie im Dienst des Mythos
spricht, noch ganz im Horizont wiederum bildlicher Metaphorik verbleibt, aus
der sich, gemäß den Sprachursprungstheorien von Giambattista Vico und Johann
Gottfried Herder, an denen sich Cassirer orientiert, alles Begriffliche durch logi-
sche Ausdifferenzierung ergibt, sondern vor allem, weil der systematische Sitz des

57 Zur Struktur des Mythos vgl. ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 2; ders.,
Der Mythus des Staates (1949), Frankfurt/M. 1985, S. 7-69; sowie ders. Die Begriffsform des
mythischen Denkens und Sprache und Mythos — Ein Beitrag zum Problem der Götternamen, beide
in: ders., Wesen des Symbolbegriffs, Darmstadt 7. Aufl. 1983, S. 1-79 und 71-167. Zur Bezie-
hung zwischen Sprache und Mythos bei Cassirer vgl. Susanne K. Langer, Cassirers Philosophie
der Sprache und des Mythos, in: Paul Arthur Schilpp (Hsg.), Ernst Cassirer, Stuttgart, Berlin,
Köln, Mainz 1966, S. 263-280; zum Vorrang der Bildlichkeit im Mythischen vgl. auch Heinz
Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, a.a.O., S. 1—20 u. 111—122.
58 Cassirers Philosophie der symbolischen Formen impliziert, neben ihrer systematischen Grundle-
gung einet »Kritik der Kultur«, zugleich ein G:schichtsschema. Es nimmt ihren Ausgang bei der
mythischen Form einer physiognomischen Weltdeutung, in der bereits alle anderen symbolischen
Formen - Kunst, Technik, Wissenschaft - in rudimentärer Form angelegt sind, um sich schritt-
weise vermöge reflexiver Aufklärung aus ihnen herauszuschälen. Dann dominiert im Grunde
nicht die Rolle der Sprache, sondern die des mythischen Denkens. Sprache und Vernunft wie-
derum bilden die beiden Prinzipien, die den Fortschritt det Menschheitsgeschichte als Entmythi-
sierung des Symbolischen ermöglichen.
59 Das Verhältnis von Sprache und Mythos ist bei Cassirer nicht leicht bestimmbar. Ihrem »geisti-
gen Ursprung nach« dem mythischen Symbolismus ebenbürtig, wie es im Ersten Band der
sophie der symbolischen Formen heißt, gilt sie doch diesem gegenüber als »unvergleichbar«, indem
sie zugleich die Befreiung aus dessen Bann verspricht. Zwar sei »(d)ie Frage nach dem >Ursprung
der Sprache« (...) unlöslich mit der Frage nach dem >Ursprung des Mythos« verwoben«, so daß
sich beide nur »miteinander und in wechselseitiger Beziehung aufeinander« untersuchen lassen,
insofern die sprachlichen Benennungen und Begriffsbildungen immer schon einen mythischen
Kern besitzen, wie umgekehrt die Sprache dem Mythos erst Wort und Metaphorik leiht; vgl.
ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 20. Andererseits ist mit dem der
Sprache innewohnenden Prinzip des Logos ein anderes bezeichnet; denn »nicht ausschließlich«
gehöte sie, wie Cassirer in Sprache und Mythos schreibt, »dem Reich des Mythos an; sondern in
ihr ist von ihren Anfängen an eine andere Kraft, die Kraft des Logos, wirksam. (...) Der Geist
lebt und waltet im Wort der Sprache wie im mythischen Bilde, ohne von beiden beherrscht zu
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 175

»symbolischen Vermögens« an den Ort der Kantischen synthesis speciosa, der pro-
duktiven Einbildungskraft als schöpferisches Bindeglied zwischen Anschauung
und Verstand gerückt wird. Indem das »Speziesproblem« an den »Kern des Bild-
begriffs, des Symbolbegriffs« führe, wie Cassirer in der Davoser Disputation zu er-
kennen gibt, gestattet sie allererst das problematische Analogon.
Die Verknüpfung von Sinn und Sinnlichkeit liegt entsprechend in der Logik
dieses Bilddenkens. Wenn Cassirer daher von »Verkörperung« spricht, denkt er
an die merkwürdig ent-stellte oder ver-schobene Präsenz der Bildlichkeit, ihr
Changieren zwischen Gegenwärtigkeit und Ver-Gegenwärtigung, die im Medium
offenbarte Anwesenheit eines Anderen. Sie wirkt auf das von uns diskutierte Pro-
blem der Materialität zurück. Einseitig gerät es, wie bei Hegel, unter die Ägide
von Gestalt. Nicht die Materialität als Materialität erscheint relevant, sondern die
Formalität det Form, wodurch sie Kontur und Dauer erhält. Erst diese garantiert
die Brücke zwischen der Endlichkeit des Materials und der Unendlichkeit der
Idee. Weiterhin steht damit Cassirer in der Linie einer Versöhnung zwischen Ma-
terie und Form sowie zwischen Form und Inhalt - so zwar, daß das Versöhnende
die Einheit des Sinns im Sinnlichen darstellt. Nichts anderes beinhaltet auch die
Lehre von der »symbolischen Prägnanz«, das eigentliche Herzstück der
phie der symbolischen Formern Ein-Prägung eines Inhalts in den »Grund« der
Materialität, um ihm allererst seine angemessene Gestalt, seinen »Ausdruck« zu
verleihen.'" Cassirers Idee der symbolischen Differenz verbleibt so im Hof von

werden.« Ders., Sprache und Mythos, a.a.O., S. 156. So wird, wie es wiederum in der Philosophie
der symbolischen Formen heißt, die Sprache zu einem »geistige(n) Grundmittel, vermöge dessen
sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vor-
stellung vollzieht. Sie schließt im Keime bereits jene intellektuelle Arbeit in sich, die sich weiter-
hin in der Bildung des Begriffs (...) als bestimmter logischer Formeinheit äußert«. Ders., Philo-
sophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, S. 20. Damit stehen im Prozeß der Ausdifferen-
zierung der Symbolisationsformen Mythos und Logos gegeneinander: »Wenn die Welt der Spra-
che, gleich der des Mythos, in die sie anfangs selbst noch gleichsam eingebettet, der sie unmittel-
bar anhaftend erscheint, zunächst durchaus an der Einerleiheit von Wort und Wesen, von »Be-
deutendem« und »Bedeutetem« festhält - so ergibt sich doch in dem Maße, als ihre selbständige
gedankliche Grundform, als die eigentliche Kraft des Logos in ihr hervortritt, die immer be-
stimmtere Ablösung.« Ders., Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 2, S. 33. Die
Selbstentdeckung des Geistes ereignet sich folglich als beständige Geburt. Die Geschichte der
Kultur läßt sich, wie es am Ende von Versuch über den Menschen heißt, »(i)m ganzen genommen
(...) als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben.«. Ders., Ver-
such über den Menschen, a.a.O., S. 345.
60 Vgl. Davoser Disputation, a.a.O., S. 248. Ausdrücklich konstatiert Cassirer, daß seine Arbeiten
zum Symbolischen ihren Anfang bei Untersuchungen zur Synthesis der Einbildungskraft ge-
nommen haben. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Der Deduktion der Verstan-
desbegriffe 3. Abschnitt, A 115 ff, besonders A 124 f., Hamburg 1956, S. 168a ff, bes. 181a f.
61 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 3, S. 222-237.
62 Cassirer bezeichnet sie als »echtes »Apriori« und wesensmäßig-Erstes«; ebenda, S. 236. John Mi-
chael Krois hat die produktive »Prägnanz« folgerecht als das eigentlich »Transzendentale in Cassi-
rers Philosophie« interpretiert; ders., Problematik, Eigenart und Aktualität det Cassirerschen
Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., S. 23. Weiter schreibt Krois: »Mit der Lehre von
der »symbolischen Prägnanz« begriff Cassirer das Weltverstehen, d.h. die Hermeneutik, als trän-
176 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Identität. Seine Philosophie des Symbolischen untersteht deren Anspruch. Ihren


Rückhalt bilden zuletzt die humanistischen Ideale der Klassik: Erst durch die
Schließung des Werkes zur Form gibt der Mensch seinem Dasein Zweck und
Würde; erst das Pathos der Arbeit und Gestaltung zeichnet ihn als Menschen aus.
Allein das Bearbeitete, in dem er sich objektivierend zeigt, erscheint von Belang,
wohingegen das Ungeschlachte, Nichtbearbeitete ihm feindlich gegenübersteht.
Entsprechend wird ihm die Unversöhnlichkeit der Materialität, wie sie Valery
festhielt, ihr Nicht-Identisches zum Skandal. Überall hat sie sich dem Geist, der
Souveränität des Schaffenden zu fugen, ohne ein Widerständiges oder
telbares zu bleiben: Unbedingtheit des Schöpferischen, der Freiheit, die sich ihr
einprägt und gewaltsam ihre Siegel aufdrückt. Nirgends gilt sie daher als
fügbarkeit, als die Grenze der Subjektivität, des Geistes oder der Symbolisierung,
sondern allein als das Formbare, Gestaltbare. So vindiziert Cassirer schließlich jene
Stellung, die ihr in der Geschichte der Metaphysik seit je zufiel: Unselbständig-
keit oder Nichtigkeit, die der Bannung oder Verwandlung durch die Arbeit aus-
gesetzt war. Sie trifft ebenso einen Grundzug der Geschichte des Zeichens: Ver-
kürzung seiner Materialität auf Medialität, die diese in die Dimension eines
Werkzeugs, einer Instrumentalität hält, die allein der Darstellung eines »Dritten«,
einer Immaterialität dient. Idealistisch vorentschieden gehorcht sie der Unter-
schlagung des Anderen, des Materiellen, wie sie Adorno in seiner Metaphysik-
Vorlesung beklagt hat.' Dann erweist sich die reine Stofflichkeit als ebenso
amorph wie bedeutungslos; und erst die Form, nach Kant die »Gestalt« oder das
»Spiel«,' konstituiert den Sinn: Alle Gestaltung, die sich an Poiesis orientiert,
bleibt darauf kapriziert.

Materialität und Ereignis

Wir werden statt dessen an einer LInbeherrschbarkeit, einer »Unfüglichkeit« der


Materialität festhalten: Moment eines Nichtformbaren, das dem Zugriff der Ar-
beit, der Verfügung ebenso trotzt, wie dem Begriff, der Signifikation. Ablesbar im
Augenblick der Setzung, mit der eine Arbeit beginnt, zeichnet sich im Material
ein Unwillkürliches ab, das weder eigentlich als ein Symbolisches im Sinne des
Poietischen noch als ein Zeichen überhaupt angesprochen werden kann: »Spur«,
jenseits von Intentionalität oder Verweisung, die nichts besagt oder besagen will,
und die deshalb auch nicht in die symbolische Ordnung reintegrierbar wäre, son-
dern die, wie Levinas gesagt hat, in die Strukturen des Meinens und damit auch
des Werkes auf irreparable Weise eingreift.' Jede Arbeit bedeutet einen Eingriff,

szendentale Problematik«; ebenda, S. 30, 31. Vgl. zut Bedeutung der »symbolischen Prägnanz«
auch ders., Cassirer, Symbolic Forms and History, a.a.O., p. 52—57.
63 Vgl. Theodor W. Adorno, Metaphysik, a.a.O., 8.-12. Vorlesung, S. 81-146.
64 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., A/B 42, S. 305.
65 Vgl. Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen, a.a.O., S. 226 ff. Levinas entwickelt diesen Ge-
danken anhand der »Heimsuchung« durch das Antlitz. Wir übertragen ihn auf die Andersheit der
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 177

eine Intervention. Sie hinterläßt »Spuren«, sogar dort, wo die Perfektion sie sorg-
fältig zu vermeiden oder auszulöschen trachtet: Sie reibt sich am Material, fügt
ihm Schnitte und Kerbungen zu, wirft »Späne« ab - wie jene, die Ulrich Rück-
riem, wiederum selbst als Momente von Bearbeitung, am Stein ansichtig zu ma-
chen versucht hat, um nicht, wie beispielsweise die Skulpturen Auguste Rodins,
eine lebendige Gestalt aus ihm herauszuschälen, die Darstellung einer Leiden-
schaft wäre, indem die Härte des Materials gleichsam in das Atmen des Fleisches
verwandelt würde, sondern um nichts anderes zur Erscheinung kommen zu lassen
als den Prozeß der Herstellung selbst, die Verletzungen, die die rohe Gewalt der
Maschine durch Bohrungen, Schleifungen oder Spaltungen dem noch unge-
formten Granit zugefügt hat. Sie wären Zeichnungen eines Leidens, wie die Fur-
chen, die geschlagen werden müssen oder die Splitter, die anfallen, wenn etwas
anderes entstehen soll, die hier wiederum auf dem Wege der Reflexion, der »Me-
tazeichnung« ausgestellt werden: Zerstörungsmale, die zurückbleiben, die zwar
verwischt und überschrieben werden können, deren Verwischung und Über-
schreibung aber erneut Spuren erzeugen, die dem Material untilgbar eingeschrie-
ben bleiben. Sie wären Bestandteil des Werkes, ohne »Werk« zu sein, weil nicht
von ihrer »Darstellung« gesprochen werden kann; vielmehr steht das zur Frage,
was bei Gelegenheit der Formung entsteht und von dieser negiert wird, indem sie
die Materialität unter ein bestimmtes Bild oder eine Imagination zwingt.
Es gibt daher keine Form ohne Deformation, keine Transformation ohne Ent-
stellung oder Verwerfung. Die Arbeiten Rückriems können mithin als Beispiele
einer negativen Ästhetik gelesen werden: Ihnen ist die Erfahrung einer in Stein
materialisierten Krisis eingelassen. Sie verwehren sich Aspekten des Technischen,
der Apparatur, die der Struktur der Poietischen selber zugrunde liegen und Kunst
in ihrem traditionellen Verständnis definieren. Statt dessen offenbaren sie das,
was durch diese der Materialität, auf der sie »gründet«, angetan wotden ist: Spu-
ren der Gewaltsamkeit einer Verfügung, die sie bersten, aufsprengen oder zerbre-
chen läßt. Auf diese Weise enthüllen die Objekte ein Unmachbares oder
hendes: Sie zeigen die Erosionen, Bruchstellen oder Verkantungen am Material,
die unterlaufen oder geschehen, wenn eine Fläche herausgeschnitten, präpariert
oder geschliffen wird, ihre Sperrigkeit auch, wenn unterschiedliche Stoffe oder
fremde Sujets übereinander geschichtet, überklebt oder zu einem Ganzen verfugt
werden sollen. Sie zeugen so von einer Gewalt, die durch sie hindurchgeht und
erneut auf ein ebenso Unbeherrschbares wie Unbeherrschtes verweist - Rest oder
Rückständiges in den Schaffensprozessen, die sich der Domestikation in dem
Maße entziehen, wie sie ihnen vorhergehen, um ihre Absichten und Pläne immer
wieder neu zu vereiteln. Dabei setzte der Meißel vielleicht ein wenig zu hart an,
verfehlte der Bohrer den richtigen Winkel, mußte die Schleifung mehrmals hin-
tereinander ausgeführt werden, weil das Material ihnen eine Hemmung entge-

Matetialität selbst: Altetität, nicht nur bezogen auf den anderen Menschen, sondern auf das
re überhaupt.
66 Z.B. Ultich Rückriem, Granit (Normandie), gespalten, geschnitten (1984).
178 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

gensetzte. Desgleichen gilt für die Legierung unvereinbarer Elemente: Überall ist
eine Gewalt am Werk, die den Stoff einem Willen unterwirft, ihn traktiert und
zurichtet. M.a.W., die Skulpturen künden von dem, was nicht mehr Skulptur ist,
von der »Asche« ihrer Bearbeitung, die beständig zurückbleibt: Ereignis der Set-
zung, indem Löcher durch den Stein getrieben oder eine Oberfläche gefräst oder
geglättet wird: Prozesse, die irreversibel bleiben und dabei Spuren hinterlassen, die
Wunden oder Narben gleichen, die niemals verheilen. Sie stellen sich am Stoffli-
chen selbst ein. So wird ihm wieder etwas zurückerstattet, was ihm genommen
war: Seine Gravitation oder Mächtigkeit, aber auch seine ihm selber zukommen-
de »Würde«, seine Gravitas.
Mehr noch: Indem Rückriem die Spuren dieser Gewalt als Spuren seiner eige-
nen Arbeit ausweist, stellt er jenes Moment von Ereignishaftigkeit heraus, das dem
Augenblick des Vollzugs selbst ent-springt. Wir gelangen auf diese Weise an einen
Punkt, an dem sich die Thematiken der Materialität und der Praxis, der Perfor-
mativität kreuzen. Er konfrontiert uns mit der »Unheimlichkeit« dessen, was wir
zunächst nur tentativ als Ereignis einer Setzung bezeichnet haben. Keine Arbeit
entgeht diesem Ereignis, sowenig wie die Prozesse der Symbolisierung. Cassirer
greift daher zu kurz, wenn er sie ausschließlich mit der Energeia, der »Tätigkeit
des Geistes« konnotiert, eine Verbindung, die zudem allein aufs Poietische be-
schränkt bleibt: Sie entstammt noch ganz dem humanistischen Kreis von Arbeit
und Werk. Demgegenüber bedarf es der Performanz der Zeichen, ihrer Plazierung
und Fortschreibung in immer neuen Kontexten wie auch ihrer Wiederholung
und Zirkulation. Symbolisches »gründet« im Vollzug. Die Zeichen beruhen auf
solchen Performativitäten, durch die sie »aufgelesen«, »gesammelt« oder in Um-
lauf gebracht und zu anderen Zeichen in Beziehung gesetzt werden. Ihr Aus-
tausch sorgt für ihre unaufhörliche Wieder-Verwendung und Re-Situierung, die
wiederum ihren Bestand und ihre praktische Gültigkeit sichern. Semiosen sind
auf vielfältige Weisen in solche Praxen verwickelt. Sie manifestieren sich in Mate-
rialitäten, auf die sie bezogen sind. Das gilt auch für die Spracht. Sie wild »leben-
dig« durch ihren Gebrauch; aber ihr Gebrauch betrifft die Laute, die Setzung der
Rede als Sprechakt, gleich ob die Lautlichkeit der Laute als »Stimme« oder als
»Schrift« gewertet wird — in beiden Fällen handelt es sich um ein Sinnliches. Ihr
Vollzug eröffnet ein symbolisches Feld, verbreitet oder »disseminiert« Sinn, rückt
die Zeichen an einen Platz oder unterbindet ihre Entfaltung. Symbolisches wird
dadurch allererst in seine Präsenz gestellt: »performiert«. Seine Performation ga-
rantiert seine Existenz im literalen Sinne von ex-sistere — als ein Aus-sich-
heraustreten, ein Zur-Erscheinung-gelangen. Sie wird im Zurückkommen auf
sich stets wieder von neuem gesetzt. Anders ausgedrückt: Bedeutung muß, um zu
sein, geschehen; ihr Sein (Existenz) heißt Ereignen. Doch betrifft solches Ereignen

67 Mit diesen Ausdrücken erinnern wir an jene Assoziationen, die Julia Kristeva an den griechischen
Ausdruck legem knüpft: »Lesen« bedeutet ursprünglich: »»sammeln», »pflücken», erspähen«, »auf-
spüren«, »greifen«, »stehlen««. Vgl. dies.. Zu einer Semiologie der Paragramme, in: Helga Gallas
(Hsg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, Darmstadt und Neuwied 1972, S. 163—
200; hier S. 171.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 179

nicht die Strukturen des Bedeutens selbst, vielmehr wurzelt es in der Setzung von
Materialitäten — denn es ist, wie Michel Foucault herausgestellt hat, »keineswegs
immateriell, da es immer auf der Ebene der Materialität wirksam ist«, die auf ih-
re Weise auf die Struktur der Zeichen zurückschlägt, insofern mit ihr bereits eine
Tatsache geschaffen ist, die ihr eigenes Gewicht und ihre eigene Widerständigkeit
behauptet.
Indessen besteht die Ungeheuerlichkeit der Setzung, ihre von uns apostro-
phierte Unheimlichkeit in der gleichzeitigen Unmöglichkeit wie Notwendigkeit ei-
nes Anfangens. Die Paradoxie markiert das Mysterium der Setzung. Denn es gibt
keine anfangslose Setzung, keine, die sich nicht schon auf etwas bezöge oder an
etwas anschlösse; und dennoch setzt jede Setzung ihren eigenen Anfang. Jedes
Anfangen, jeder Beginn einer künstlerischen Arbeit, jeder Sprechakt oder jede so-
ziale Handlung setzen bereits das Ganze einer symbolischen Ordnung, einer
»Sprache«, in der sie geschehen, mit; gleichzeitig werden diese durch ihren Anfang
gespalten und verändert. Alles Setzen beruht damit auf etwas, das ihm vorher-
geht, ein Schon-Gesetztsein, das ihm seinen Platz, seine Richtung erteilt; aber je-
des Setzen hebt auch neu an, zieht seine unverwechselbare Spur, behauptet seine
eigene Gravitation wie Gravität. Sie unterbricht die Ordnung, unterwirft sie einer
grundlegenden Diastase. Das bedeutet: Die Setzung zerreißt das symbolische
Band. Ein Kunstwerk, eine plötzliche Aktion oder auch nur eine ungewöhnliche
Äußerung, ein neuer Stil modifizieren die Konvention, verschieben deren institu-
tionelle Rahmung: Wir betreten augenblicklich eine andere Welt. Ein Anruf, eine
unvermutete Aufforderung oder Gebärde, die der Regel nicht folgt oder uns zu
einer Antwort nötigen, die wir nicht gewollt und deren Folgen wir nicht abzu-
schätzen vermögen, sprengen ebenso den Raum von Verständlichkeit wie sie ein
Drama zu entfesseln vermögen, das uns ein für allemal unserer Position, unseres
bisherigen Ortes beraubt. Entscheidend ist, daß der Bruch, die Zäsur nicht wie-
derum auf die Struktur der Zeichen oder dem, was sie sagen vermögen, zurück-
geführt werden kann: Sie bilden kein Merkmal ihres Sinns oder ihrer Formation,
sondern einen Effekt des Ereignisses der Setzung selber. Mit ihm schreibt sich die
Unumkehrbarkeit der Zeit unerbittlich in die Ordnungen des Sinns ein.
Das bedeutet auch: Das Performative der Setzung geht nicht in der Intentio-
nalität von Vollzügen auf. Es gehorcht nicht der Initiative, der Spontaneität eines
Aktes: Wir benötigen nicht die Stelle einer wie immer gedachten Subjektivität, sei
es als Selbstbewußtsein, Geist oder Handlungsgrund: Es genügt, daß Setzung
schieht." Natürlich kommt keine »Sprache«, kein System von Zeichen ohne ein
Set von Regeln, ein Repertoire von Praktiken und Gewohnheiten aus, gleichwohl
geht das Mysterium des Setzens, sein anfangsloses Anfangen nicht darin auf. Pro-
blematisch erweist sich bereits die implizite Voraus-Setzung eines handelnden

68 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 39.


69 An der Differenz zwischen intentionalen Handlungen oder Akten und dem Geschehnis fortwäh-
render Iteration scheiden sich zuletzt analytische und pragmatische Semiotik einerseits sowie
strukturale Semiologie andererseits: Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen.
180 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Subjekts insofern, als es seine Akte kraft seiner Wahl oder Freiheit zu vollziehen
hätte, mithin sich schon zuvor als frei gesetzt haben müßte, ein Akt wiederum,
der nicht nur in dieser Perspektive durch nichts legitimiert werden kann, weil er
die Annahme einer Setzung der Setzung und darum einen infiniten Regreß ent-
hielte, sondern der gleichzeitig noch das symbolische Feld, über das er setzend
verfügte, in den Status eines Objekts, einer manipulierbaren Folie rückte. Dem-
gegenüber entfalten die performativen Ereignisse, indem sie die Ordnungen, de-
nen sie ent-springen, zugleich spalten, ihre eigene Intensität und Wirkung. We-
sentlich ist die Faktizität det Setzung, ihr »Daß«. Denn »daß« (quod) etwas ge-
setzt wird und nicht nichts: darin verbirgt das Rätsel der Setzung. Etwas ist gesagt,
ein Name erteilt odet eine Handlung ausgeführt: Sie schaffen Wirklichkeiten, die
weder ausgeräumt noch übergangen werden können. Es ist nicht möglich, ein
Zeichen zu geben oder zu wiederholen, etwas anzudeuten oder einen Satz auszu-
sprechen noch ein Exempel zu statuieren wie auch nur zu schweigen, ohne da-
durch etwas in die Welt zu bringen: Zeitigung eines Geschehnis, das seine eigene
»Spur« fortschreibt. Die Betonung auf Setzung, wodurch »Etwas« sich von
»Nichts« abhebt, ptäsupponiert dabei den Vorrang des Nichts. Er bleibt der Mög-
lichkeit der Setzung im Rücken, als ihr unbezeichenbarer »Grund« — Grund nicht
im Sinne von »Ursache«, causa, sondern im Sinne von »Ur-Sprung«, arche. Es ist
dieser Ur-»Sprung«, aus der Setzung in der Bedeutung des Sprungs geschieht. Ent-
sprechend eröffnet, »daß« (quod) etwas von dort her geschieht, den Blick auf die
Vorgängigkeit des Ereignisses — quod vor dem quid, wie es seit je die Rätsel der
Metaphysik beflügelte. Es gestattet, 5«'« (Existenz) überhaupt, im Unter-Schied
zu Nichts, als Ereignen zu denken.
Folglich bedeutet »Materialität« auch nicht »Substanz«, sowenig wie die Stoff-
lichkeit des Stoffes oder ein Medium, sondern, wie bereits angeklungen: »Ereig-
nis«. Zuvor nach der Seite der Ekstasis, des Sichzeigens und, damit einhergehend,
der Aisthesis betrachtet, legen wir nun das Hauptgewicht auf den Moment der
Setzung. Unterstrichen wird damit zugleich ein Zeitliches: Augenblick in dem ei-
ne Symbolisierung statuiert wird und sich mit einer besonderen Macht oder Ma-
gie bekleidet. Das läßt sich vor allem Kunstwerken entnehmen: Rückriems Gra-
nitblöcke, deren schweigende Präsenz wie Anklagen an eine geschändete Natur
wirken; Barnett Newmans monochrome Farbtafeln, deren Größe erdrücken und
den Blick ebenso in Bann nehmen wie ins Bodenlose stürzen lassen; Robert Rau-
schenbergs Assemblagen aus verwittertem Holz, verbrauchten Farbdosen, ver-
klebten Zeitungsstücken und Lacken, deren »unreine« Mischung dadurch ein
Faszinosum zelebrieren, daß sie die Affektion bis an die Ekelgrenze strapazieren.
Genauso können Körper bedrängen, die zu nahe kommen oder einen Raum der-
art ausfüllen, daß jeder Schritt, jede Reaktion von ihnen »infiziert« wird. Gleiches
gilt für das »Fleisch« der Stimme, die unvermittelt die Stille aufreißen läßt und
den abgründigen Zauber ihres unverwechselbaren Klangs preisgibt: Beispiele, die

70 Siehe voriges Kapitel.


DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 181

wir hinlänglich im Vorschein unserer Untersuchungen diskutiert haben, und die


hier ihre Relevanz, ihre systematische Bewahrheitung erfahren. Was sich an ihnen
zeigt, hat nicht nur seinen Ort in der Erscheinung einer Materialität, sondern zu-
gleich im Moment ihrer Setzung. Präsenz, zu der ebensosehr eine spezifische
statik gehört, wie die Intensität ihrer Präsentation. Mithin inhäriert den Texturen
der Symbolisierung, dem Geschehen von Sinn ein doppeltes Ereignen: (i)
rialität als Ekstasis ihres Erscheinens, einmaliges Hier und Jetzt ihrer Gegenwart,
und, darüber hinaus, (ii) der Augenblick der Erscheinung selbst, des Vollzugs ihrer
»Gegenwärtigung«. Beide gehören zusammen und knüpfen Räumlichkeit mit
Zeitlichkeit. Deshalb war zunächst von der »Materialität« die Rede: »Etwas« gibt
(sich), so daß es einen Platz einnimmt und Bedeutung geschieht. Doch ist im Ge-
schehen vorausgesetzt, »daß« (quod) (es) geschieht. " Zum Sichgeben kommt also
hinzu: das Ereignen des »(Sich)Gebens«. D.h. damit (es) Symbolisches »gibt« und
sich in die Waagschale des Sinns werfen kann, bedarf es vorgängig der eines
zens; und worauf es daher ankommt, ist das Ereignis der Existenz (Sein), der
zigartigkeit der Erscheinung, wie es auf der Ebene der Materialität hervortritt.
Damit einher geht das, was wir mit dem dunklen Wort seiner »Unheimlichkeit«
bereits angedeutet haben: »Schuld« des Seins (Existenz), »Schuld« auch des Han-
delns und der Praxis, weil ein einmal Gesetztes nie wieder rückgängig zu machen
ist. Man muß sich der Unentschlagbarkeit dieser Schuld eingedenk bleiben: Jeder
Setzung wohnt ein Unwiderrufliches inne, eine Nichtnegierbarkeit im Sinne des
Schicksals, der ananki, das dem Ereignis, der Einmaligkeit der Präsenz ein
matives Moment aufbürdet: Denn das Faktum der Existenz duldet so wenig eine
Verneinung, wie es die Möglichkeit der Umdeutung oder Überschreibung zuläßt;
vielmehr bekundet sich im Vollzug der Setzung seine eigene Irreversibilität. Es
widersetzt sich seiner Leugnung gleichwie seiner Tilgung, wie schon Aristoteles
bemerkt hat: »Gegenstand der Willenswahl oder des Vorsatzes kann kein Vergan-
genes sein, wie sich denn niemand zum Vorsatz macht, Ilium zerstört zu haben;
man überlegt oder beratschlagt ja auch nicht über Vergangenes, sondern über
Zukünftiges und Mögliches; Vergangenes aber kann unmöglich nicht geschehen
sein, weshalb Agathon treffend sagt: »Denn dies allein, sogar der Gottheit bleibt
versagt, Ungeschehen zu machen, was einmal geschehen ist.<«
Die Ungeheuerlichkeit dieses Rätsels liegt im Ereignen selbst: der NichtSelbst-
verständlichkeit des Gesetzten, sei es eine Entscheidung, eine Äußerung oder eine
gesellschaftliche Institution, die alles, die Sozialität, den Sinn und die Welt in
sich zu schließen scheinen, und die dennoch in ihrer einfachen Unscheinbarkeit
»da« stehen, um ihre schmerzliche Unrevidierbarkeit zu behaupten. Darum ist
kein Symbol, keine Handlung odet Rede aufhebbar, es sei denn nur durch ihre
Wiederholung, ihre Verdopplung oder die Setzung eines weiteren Symbols, eines

71 Vgl. Tl. 1,1.-3. Kap.


72 Die Reflexivität des »sich«, genauso wie das Pronomen »es« bedürfen der Klammerung, weil das,
was wir anzusprechen suchen, unbestimmt bleiben muß, d.h. nicht eigentlich sprachlich gefaßt
werden kann. Vgl. dazu auch nächstes Kapitel.
73 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139b; nach Übers, v. E. Rolfes, Hamburg 1972, S. 131 f.
182 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Aktes oder Satzes — denn was ist die Nachfrage nach seiner Bedeutung, die Bitte
um Erläuterung oder eine Ent-Schuldigung anderes als die Aufforderung zur Pa-
raphrase, zur Repetition oder Überschreibung durch einen weiteren Satz? Deswe-
gen auch lassen sich nur Zeichen an Zeichen anschließen, ohne die »Unheimlich-
keit« ihrer Existenz im mindesten anzutasten: Jede Ein-Setzung zwingt zu ihrer
Fort-Setzung, sei es durch eine Antwort, eine Zäsut, einen Schnitt oder einen an-
deren Anfang. Man kann nicht anders sprechen, als die Sprache zu setzen, d.h.
auch fort-zu-setzen; darum können wir die Sprache niemals zum Schweigen brin-
gen: Selbst wenn wir nichts sagen, reagieren wir noch auf ein Zeichen, suchen
ihm auszuweichen oder seine Anerkennung zu verweigern. Darin offenbart sich
die irreduzible Macht des Performativen, seine eigenständige Kraft oder Autono-
mie: Unumgängliche Setzung einer Ex-sistenz, die mit dem ersten Ausdruck, dem
Wort, das gesagt war, bereits ein »Sein« instantiiert, das um keinen Preis negiert
oder ausgeräumt werden kann. Die Sprache ist deswegen nicht nur der Ort eines
Austauschs kollektivet Bedeutungen als Konstitution von Gesellschaftlichkeit,
worauf immer wieder Habermas und andere bestanden haben; sie geht, sowenig
wie die Kunst, in der Darstellung, den Prozessen der Verständigung auf: Sie voll-
bringt sich als fortwährendes Ereignen, die die Unmöglichkeit ihrer Negation schon
in sich schließt. Die Brisanz dieses Umstandes enthüllt sich vor allem im Falle
von Verletzungen: Ein unbedachtes Wort, eine hingeworfene Gedankenlosigkeit
oder eine wohlkalkulierte Spitze können, einmal ausgesprochen, eine Katastrophe
auslösen, und es fällt schwer, ja es bleibt im Gtunde aussichtslos, sie je aus der
Welt zu schaffen. Eine Äußerung ist getan und kappt das Band einer Beziehung,
das sie zu stiften vorgibt, vielleicht sogar grundlos oder wider Willen; und jede
Abbitte, Erklärung oder Beschwichtigung gelingt nur durch die Verschiebung der
ursprünglichen Tat, die sie erneuern muß, um sie auszustreichen. Selbst ihre
Verurteilung ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen, zu zitieren. So ist, mit ihrer
Setzung, wie Judith Butler herausgestellt hat, ein »Trauma« gesetzt, ' und es gibt
keine Enthebung, keine eigentliche Rücknahme des Gesagten, sowenig wie die
spurlose Löschung eines Zeichens glücken kann; es bleibt nur die Negation einer
Negation, ihre Kontinuierung oder Vervielfältigung. Daher die oft unendliche
Mühe des Ausgleichs, der hohe symbolische Aufwand einer Wiedergutmachung.
Die Differenz, die auf diese Weise wesentlich wird, verläuft zwischen »Daß«
(quod) und »Was« (quid) der Setzung, und seine »Traumatik« betrifft ersteres,
nicht letzteres. Denn wie sich ein Zugetragenes nicht nicht zugetragen haben
kann, so ist doch auch gleichermaßen klar, daß sein Sinn auch nicht feststeht, daß
seine Fraglichkeit immer wieder neu aufgeworfen werden muß, daß seine Deu-
tung ihn modifiziert und Geschichte stets anders verstanden oder umgeschrieben

74 Vgl. vor allem Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M.
1981; ferner ebenso John R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur
Ontologie sozialer Tatsachen, Reinbek bei Hamburg 1997.
75 Eindringlich hat auf diesen Umstand Judith Butler hingewiesen; vgl. dies., Haß spricht, a.a.O.,
S. 47 ff, 67 ff.
76 Ebenda, S. 60.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 183

werden kann, wie auch Schrift und Gedächtnis beständiger Korrektur ausgesetzt
bleiben. Das gilt noch, im Unterschied zu Aristoteles, für die Tatsachen der Ver-
gangenheit selber, die je schon als erinnerte oder vergegenwärtigte vorliegen und
damit der kompletten, von Derrida aufgeworfenen Problematik der »Verspätung«
und Nicht-Präsenz unterliegen. Und dennoch behaupten wir, daß es zynisch
wäre, wie das Beispiel des Holocaust lehrt, die Beliebigkeit der Konstruktion und
folglich die Grenzenlosigkeit der De-Konstruktion für alle Begebenheiten anzu-
nehmen. Das bedeutet nicht, daß wir den Gesichtspunkt der Referenz als Maß
oder Kriterium einer Wahrheit wieder einführen wollten, als sprächen wir »über«
etwas, das unabhängig vom Satz wäre und auf das sich sein Inhalt bezöge; auch
nicht, daß wir auf eine Authentizität odet Unmittelbarkeit jenseits ihrer symboli-
schen oder sozialen Inszenierung bestünden, auf die sich beglaubigend berufen
ließe; vielmehr geht es um den Aufweis einer Schranke, einer Unverfügbarkeit, die
gleichsam inmitten des Konstruierbaren selber auftaucht. Etwas bleibt ausge-
nommen, was der Zeitlichkeit des Augenblicks selber ent-springt, der sowenig
festgehalten oder zum Zeichen gemacht werden kann, ohne ihn schon er-setzt
oder verschoben zu haben, wie er umgekehrt verneint oder gänzlich ausgestrichen
werden kann: Einzig gelänge seine Abwehr, sein Vergessen oder seine Verdrän-
gung, die, nach Sigmund Freud, wiederum aktive Weisen der Interpretation, der
Übertragung (meta-phora) darstellen. Unbestritten können Ereignisse inszeniert
oder vorgetäuscht werden, wie ebenfalls jederzeit Manipulation oder Retusche
möglich sind; aber »daß« (quod) sich etwas — im Unter-Schied zu Nichts - ereig-
net, entzieht sich der Inszenierung wie der Korrektur oder Simulation, weil diese
selbst noch der Setzung bedürfen. Was sich stiften läßt, ist bestenfalls eine An-
ordnung, eine Rahmung, die etwas indiziert oder möglich macht; aber das, was
sie faktisch ermöglicht oder in Szene setzt, was mithin geschieht, erweist sich als ein
Nichtkonstruierbares: Andersheit, jenseits von Mediatisierbarkeit, die den Szenari-
en der Antizipation gleichwie den Regien der Konstruktion entzogen bleibt.
Ebenso selbstverständlich läßt sich ein und dasselbe Ereignis unter unterschiedli-
che Lesarten bringen: Man kann verschiedene Details unterschiedlich betonen
oder ganz ausblenden und dabei den Rahmen variieren, verschiedene Szenen an-
tlers auslegen, die Sukzessionen umkehren; aber man kann nicht die Faktizität des
Ereignisses, die Tatsache seiner Existenz uminterpretieren.
Was immer man also deutet, schafft oder erfindet: Es gibt ein Unwiederbringli-
ches: Einzigkeit der Setzung, die ihrer Erzählung gleichwie ihrer Interpretation
oder Erfindung vorgängig bleibt. So ergibt sich eine Grenze von Medialität, der
Szenarien und Vortäuschungen, insofern diese sich selbst noch des Unter-Schieds
von Sein (Existenz) und Nichts verdanken, weil diese sich stets auf »etwas« bezie-
hen müssen, das sie mediatisieren und das sich zuvor bereits gesetzt haben muß.
Das bedeutet, das Ereignis setzt, erst dann »ist« etwas ge-setzt; es schneidet, und an-

77 Vd. Jacques Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, a.a.O.,
S. 201 ff. Zur Kritik von Derridas Philosophie der Nicht-Präsenz siehe weiter unten Tl. III,
l.Kap.
184 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

schließend ist etwas ge-schnitten oder ge-schrieben. Dem Gesetztsein, dem Ein-
schnitt der Signifikanz oder der Schrift gehen das Ereignis ebenso voraus, wie
dem Perfekt das Präsens. Es tritt aus den Modalitäten der Zeitlichkeit heraus. Der
Augenblick des Setzens, sein Ereignen kommt dem Ereignis »als« Gesetztes zuvor.
Folglich ist noch die Anerkenntnis eines Zuvorkommenden (Schelling) voraus-zu-
setzen: Verträglichkeit, auf die alle Nachttäglichkeit der Lektüre und Vermittlung
zurückgreifen muß und die sich jeder Kritik oder Wiederholung widersetzt, in-
sofern deren Kritik ihre Ent-Eignung und ihre Wieder-Holung bereits ein ande-
res Ereignis wären. Deshalb die Bedeutsamkeit der Zeugenschaft, bei aller Vag-
heit und bereitwilligen Täuschung: Sie betrifft weniget die Zeugenschaft für ei-
nen Inhalt, die immer zweifelhaft bleibt, als vielmehr der Bezeugung einer Exi-
stenz. Jede Konstruktion oder Deutung, jede Schrift oder Textur, gleich was sie
herausbringt oder behauptet, hat sich auf diese rückzubeziehen: Sie markiert ei-
nen nicht zu bestreitenden Ausgangspunkt, eine stets rück-ständige Stelle, die ih-
rer Markierung und Fort-Setzung eine Richtung, eine En- Tropie vorschreibt.
Impliziert sind damit eine Reihe tiefgreifender erkenntnistheoretischer Konse-
quenzen: (i) Zunächst erweist sich das Ereignis als primär, wohingegen die Proze-
duren des Sinns, das Gewebe der Schrift oder die Ordnungen des Symbolischen
nachträglich erscheinen. Erst geschieht (etwas), dann »gibt« es Begriffe, operieren
die Regimenter der Zeichen, kommen diskursive »Dispositive« (Foucault) ins
Spiel. »Daß« (quod) (es) geschieht, kann nicht befragt werden, wohl aber »was«
(quid), zuweilen sogar das »Was« des »Daß«, wenn darunter bereits ein identifi-
zierbares »Dieses«, eine Sache gefaßt ist. Geschehen, im Präsens, bedeutet jedoch
keineswegs schon »etwas« - dies gilt allein füt Vergangenes, für Schon-
Geschehenes - , sondern ein Prozeß, dessen sprachliche Form entsprechend nicht
das Nomen, sondern das Verbum ist: »Ereignen«, (ii) Sodann zeitigt das Ereignis
Wirkungen, die aufs Medium selbst zurückschlagen und in die Zeichen, ihre un-
terschiedlichen Texturen und Auslegungen eingreifen. D.h.l es nistet ein Fremdes
und Störendes im Sinn eine permanente Andersheit. Sie bedingt, wie noch zu zei-
gen sein wird, daß wir weder je wissen können, was wir meinen, noch was wir
tun. Sie trägt in unsere Bedeutungen und Praxen ihre unverfügbare »Spur« ein.
Zwar verleiht die Immaterialität des Sinns dem Symbolischen etwas Flüchtiges
und Spielerisches und stattet es mit der verführerischen Freiheit einer Schwerelo-
sigkeit aus; aber seine Materialitäten und Performanzen, sein Ereignen belastet ihn
erneut mit dem Gewicht einer »Schwerkraft«, das es nicht ohne weiteres disponi-
bel macht. So ist ein Unveränderliches im Veränderlichen angezeigt, eine Verzöge-
rung oder Trägheit, die dem »Spiel der Zeichen« erhebliche Beschränkungen auf-
erlegt, indem diese eine »Spur« legen, die nicht eigentlich eine Spur im Sinne ei-
nes Abdrucks wäre, als vielmehr »Spur«, die etwas nach sich zieht, sich fort-setzt
und von sich fort-führt in ein Anderes. D.h. es bleibt ein Rückstand in jedem Er-
eignis, in jeder Setzung, die es mit der »Spur« einer Nichtverfiigbarkeit zeichnet,
(iii) Ihr kommt, jenseits der Negativität ihres Aufweises, eine positive Kraft zu. Sie
besteht im Moment des ex-sistere: Augenblick des Aus-sich-heraus-tretens als Au-
genblick einer Ekstasis. Auf ihr beruht die Nichtnegierbarkeit des Ereignisses. Dann
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 185

vermag schließlich aus deren Mitte etwas hervorzuspringen, was anders ist als
sämtliche eingesetzten Mittel, was ihre Entwürfe und Pläne ebenso verwirrt oder
zunichte macht, wie es ihre Hoffnungen vereitelt - und das sich insofern als ab-
solute Kontingenz erweist, als es keinen Sinn hat und sich auf kein Medium oder
Symbolisches mehr zurückführen ließe. Ihm verdankt sich schließlich die Uner-
schöpflichkeit von Kreativität: Die Möglichkeit einer Neusetzung, eines »anderen
Anfangs«.
3 . KAPITEL:
JENSEITS VON DOPPELCODIERUNG
(ROLAND BARTHES)

Doch still
welch Licht bricht aus dem Fenster dort...
Es redet, doch es sagt nichts.
Shakespeare, Romeo und Julia

Vervielfältigungen des Sinns

Die Differenz von Ereignen und 5/»«, von Performanz, Materialität und Bedeu-
tung eröffnet einen irreduziblen Dualismus des Zeichens. Es liegt nahe, diesen, wie
bei Cassirer und anderen, selbst noch als einen Dualismus des Bedeutens auszule-
gen. Die Duplizität des Symbolischen geriete auf diese Weise zur
rung. Sie liegt auf der Linie jener Auszeichnung der dictio, die noch dem Nicht-
Sinn einen Sinn verleiht, ganz wie Roland Barthes gesagt hat, daß es kein Jenseits
der Sprache, kein »Außerhalb« der Signifikanz gebe, denn »(d)er Sinn klebt am
Menschen: Selbst wenn er Unsinniges oder Außersinniges schaffen will, bringt er
schließlich den Sinn des Unsinnigen oder des Außersinnigen hervor.« Die Vor-
stellung reagiert auf eine Reihe semiotischer Probleme, die eng mit der Materia-
lität der Zeichen, ihrer Erscheinung, dem Kontext, der Verwendungsweise oder
ihrer Performativität verknüpft sind. Denn nicht nur relevant ist, »daß« (quod)
ein Zeichen gesetzt ist, sondetn auch, wie es sich dabei präsentiert, ob ein Wort
nüchtern oder prononciert ausgesprochen wird, ein Bild seine Suggestivkraft far-
big oder in schwarzweiß entfaltet oder ein Kunstwerk in Gold, Alabaster und
Marmor gefaßt oder aus fragilen Bausteinen zusammengesetzt ist: Jeder der Al-
ternativen scheint einen eigenen Code, eine spezifische »Ikonik der Materialität«,
ein unverwechselbares Szenario oder ein besonderes Repertoire von Wirkungen
aufzurufen: Glanz des Edelmetalls, Reinheit des Edelsteins, Dauerhaftigkeit von
Erzen und Makellosigkeit des Elfenbeins." Wit werden zu prüfen haben, inwie-

1 Roland Barthes, Weisheit der Kunst, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn,
a.a.O., S. 187-203; hier: S. 193.
2 Vgl. auch Gernot Böhme, Inszenierte Materialität, in: Daedalos 56 (1995), S. 36-43; ferner
Thomas Raff, Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe, Mün-
chen 1994, Günter Bandmann, Bemerkungen zu einer Ikonologie des Materials, Städel-Jahrbuch
Neue Folge (1969), S. 75-100; ders., Der Wandel in der Materialbewertung in det Kunsttheorie
des 19. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jh., hsg. v. H. Koopmann et al.,
1. Bd., Frankfurt/M. 1972, S. 129-157. Selbstverständlich können sich Materialität und Be-
deutung verdoppeln. Diese Verdopplung kann als Identität oder als Differenz gelesen werden:
Einheit von Form und Stoff oder deren Unterscheidung, Vieldeutigkeit. D.h. das Material kann
der Bedeutung entsprechen, ihm adäquat sein, oder aber, es widerstreitet ihm oder durchkreuzt
es. Genau dies entspricht aber dem klassischen ästhetischen Standpunkt: Das Material muß sei-
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 187

weit das, was wir am Zeichen als seine Materialität und Ereignis seiner Setzung
herausgearbeitet haben, sich nicht unter solche multiplen Codierungen subsumie
ren ließe. Denn offenbar arbeitet das Medium mit an seiner Botschaft. Entspre
chend hatte Roland Barthes in seinen frühen Studien zum Alltagsmythos vorge
schlagen, das »Was« der Zeichen, ihren »Sinn«, von ihrem »Wie«, der »Form«, zu
trennen und aus beiden verschiedene Mitteilungen zu machen. »Ich sitze beim
Friseur, und man reicht mir eine Nummer von Paris-Match. Auf dem Titelbild
erweist ein junger Neger in französischer Uniform den militärischen Gruß, den
Blick erhoben und auf eine Falte der Trikolore gerichtet. Das ist der Sinn des
Bildes. Aber ob naiv oder nicht, ich erkenne sehr wohl, was es mir bedeuten soll:
daß Frankreich ein großes Imperium ist, daß alle seine Söhne, ohne Unterschied
der Hautfarbe, treu unter seiner Fahne dienen und daß es kein besseres Argument
gegen die Widersacher eines angeblichen Kolonialismus gibt als den Eifer dieses
jungen Negers, seinen angeblichen Unterdrückern zu dienen.«
Offenbar läßt sich die Ordnung des Symbolischen in mehrere selbständige
Subsysteme zergliedern, die unabhängig voneinander funktionieren. Was ein Zei
chen besagt und wie es sich dabei zeigt, eröffnen unterschiedliche Strategien der
Signifikanz. Ihre Subsumtion ermöglicht ihre Verhandlung unter die gleiche Ka
tegorie: Sowohl die Zeichen als auch die jeweiligen Modalitäten ihrer Materialität
bzw. Medialität lassen sich dann einem einzigen Bedeutungsgeschehen zuschla
gen, so daß sich das, was sich dem Sinn verweigert und sich nut zu zeigen vermag,
gleichsam einem anderen Sagen oder einer Hierarchie von Sprachen überantwor
ten läßt: Code und Metacode, Bedeutung und Stil, Sinn und Ausdtuck. Die
Hierarchie regelt die klassischen Systeme von Rhetorik und Dialektik, von Kunst
und Wissenschaft, von Ästhetik und Diskurs. Zwar unterscheidet Barthes zwi
schen der eigentlichen Aussage und der Art ihrer Präsentation, sei es durch die Mo
dalitäten ihrer Setzung oder durch ihre Illustrierung, doch bleiben beide als un
terschiedliche Weisen des Sprechens grundsätzlich entzifferbar. Dies gilt beson
ders für den Mythos, der beide Seiten ineinander verwickelt und ein undurch
dringliches Knäuel webt: »Das Bedeutende des Mythos erweist sich als doppel
deutig. Er ist zugleich Sinn und Form (...); er bezeichnet und zeigt an, er gibt zu

ner verkörpernden Semantik angemessen sein; es muß sich ihm »zuneigen«. Kunst wäre also die
Leistung ihrer Einheit, sie gerät so unter das Verdikt von Identität, oder widerspricht ihm als
ebenso »ausdrücklichen« Bruch mit der Klassik. Dann aber gerät die Frage der Materialität allein
zur Frage von Angemessenheit und Unangemessenheit, von Maß und Norm, das sie einem Ge
setz unterstellt, sogar dort, wo dieses verletzt wird. Die Ästhetik der Avantgarde hat dieser Alter
native allerdings die Objet trouves, die Assemblagen, die Environments, die Verwertung von Müll
und Fundstücken entgegengehalten: Es ist die Blöße der Materialität selbst, die zur Erscheinung
kommen soll, die den Charakter eines Sichzeigens trägt, die sich der einfachen Subordination
unter eine Bedeutung, ein Schema, ein Gesetz von Identität oder Differenz verweigert.
3 Vgl. ders., Mythen des Alltags, a.a.O., S. 85 ff Bezeichnenderweise spart Barthes die Tatsache
des »Daß« aus; doch ist bereits nicht irrelevant, wie zuvor bemerkt, daß ein Zeichen erscheint: an
welcher Stelle, zu welchem Zeitpunkt und wo es plaziert ist oder präsent wird. Deutlich wird dies
vor allem in Ansehung des Schweigens bzw. der Stille: Kein Zeichen, das gleichwohl den Zeichen
die Möglichkeit eines Ortes erst einräumt.
4 Ebenda, S. 95.
188 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

verstehen und schreibt vor«. Analog dem Schema von Primär- und Sekundärvor-
gang in der Psychoanalyse beruht er auf einer fortwährenden Vexierung: Der
Sinn wird vorausgesetzt, er ist bereits vollständig vorhanden, aber er wird bear-
beitet, er fungiert innerhalb des mythischen Prozesses als Form, als reiner »Buch-
stabe«: »Es geht hier eine paradoxe Vertauschung der Leseoperationen vor sich,
eine anormale Regression vom Sinn zur Form, vom linguistischen Zeichen zum
mythisch Bedeutenden«, wobei, wie Barthes weiter betont, jede primäre Sprache
zur sekundären »Beute des Mythos« werden kann, der sie umschmiedet, entstellt:
»Der Mythos kann alles erreichen, alles korrumpieren, sogar die Bewegung, durch
die sich etwas ihm gerade entzieht, so daß, je mehr die Objektsprache ihm am
Anfang Widerstand leistet, desto größer ihre schließliche Prostitution ist.«
Das Programm untersteht der Normativität einer Identifizierung, die an Auf-
klärung partizipiert: Die Materialität der Zeichen mediatisiert die Botschaft; das
Symbolische existiert niemals unschuldig, vielmehr erweist sich die Form seiner
Existenz als Medium, durch das hindurch der Sinn verstärkt, verschoben, umge-
leitet oder entfremdet werden kann. Der gleiche Gedanke findet sich aus psycho-
analytischer Sicht, mit der er mannigfache Verwandtschaften aufweist, bei Lacan,
wenn dieser behauptet, daß die gesamte psychopathogene Symptomatologie
durch einen »Doppelsinn« konstituiert sei, »daß das Symptom zugleich Symbol
eines abgestorbenen Konflikts ist und darüber hinaus eine Funktion in einem ge-
genwärtigen, nicht minder symbolischen Konflikt besitzt«. Er glaubt deswegen,
daß das »Symptom sich ganz in einer Sprachanalyse auflöst, weil es selbst wie eine
Sprache strukturiert ist«: »Das Symptom ist hier Signifikant eines aus dem Be-
wußtsein des Subjekts verdrängten Signifikats. In den Sand des Fleisches und auf
den Schleier der Maja geschrieben, hat es als Symbol teil an der Sprache (...).«
Dem Mythos eignet derselbe Mechanismus: Indem er die Duplizität zweiet Spra-
chen verbraucht, pathologisiert er die Semiose - ein Prozeß, wie ihn nahezu
gleichlautend und ebenfalls vom Modell der Psychoanalyse her Jürgen Habermas
für die Pathogenität systematisch verzerrter Kommunikation verantwortlich
macht, und wie ihn Umberto Eco für die chronische Intransparenz esoterischer
Diskurse reklamiert. »Vom ethischen Gesichtspunkt«, heißt es weiter bei Bart-

5 Ebenda, S. 96 passim.
6 Die Unterscheidung von Primär- und Sekundärvorgang gehört zum Grundtopos der Psychoana-
lyse, wie er von Sigmund Freud bereits in seiner Traumdeutung eingeführt wurde; vgl. ders., Die
Traumdeutung, Frankfurt/M. 1961, Tl. VII, E., S. 478—494; sowie ders., Das Unbewußte, in:
Studienausgabe in 10 Bden., hsg. v. Alexander Mitcherlich, Frankfurt/M. 1975, Bd. III, vor al-
lem S. 145 ff Barthes selbst zieht den Vergleich, vgl. ders., Mythen des Alltags, a.a.O., S. 99,
103.
7 Roland Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 117; auch S. 97 u. 115.
8 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, a.a.O.,
S. 109.
9 Vgl. ebenda, S. 122.
10 Vgl. Jürgen Habermas, Was heißt Universalpragmatik?, in: Karl-Otto Apel (Hsg.), Sprachprag-
matik und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 174-272.
11 Vgl. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München Wien 1992, S. 99 ff. sowie ders.,
Das Irrationale gestern und heute, in: Übet Spiegel und andere Phänomene, a.a.O., S. 9 ff. In:
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 189

hes, »ist das Störende im Mythos getade, daß seine Form motiviert ist. Denn
wenn es eine »Gesundheit« der Sprache gibt, wird sie durch die Willkürlichkeit
des Zeichens begründet. Das Widerwärtige am Mythos ist seine Zuflucht zu einer
falschen Natur, ist der Luxus der bedeutungsvollen Formen (...). Der Mythos ist
zu reich, und gerade seine Motivierung ist zu viel an ihm.« "
Die Engagiertheit der Bemerkung entlarvt ihren Mangel: Sie greift zum Po-
stulat: Das Zeichen ist per definitionem »arbiträr«, seine Form kontingent und
seine Materialität nichtig, auch wenn Barthes an anderer Stelle in bezug auf die
Bildlichkeit des Bildes konstatiert, daß »(d)ie Materie (...) nicht indifferent (ist):
die Abbildung ist gewiß gebieterischer als die Schrift, sie zwingt uns ihre Bedeu-
tung mit einem Schlag auf, ohne sie zu analysieren, ohne sie zu zerstreuen.«
Unbehagen oder Moment eines Skrupels, der aufblitzte, um vor ihm zurückzu-
scheuen, wird das Störende (obstacle), das erst später eine maßgebliche Rolle
spielen wird, sogleich wieder ins Feld des Symbolischen eingemeindet und inte-
griert. Das Andere des Zeichens, das Ereignen seiner Präsenz, erscheint, reduziert
auf die Form, als lesbare Folie, die ausschließlich von der Verwandlung des Si-
gnifikats her analysiert wird: Prozeduren einer Transgression, einer Verschiebung
und Verdichtung von Bedeutungen, die ebenfalls der Neurose, der Ökonomie
des Traumes wie den rhetorischen Figuren von Metapher und Metonymie genü-
gen. Gleichzeitig wird deren Arbeit der Verschachtelung von Objekt- und Me-
taebene parallelisiert, deren Logik Schritt für Schritt aufgedeckt und durchschaut
werden kann. Dem korrespondiert dann auf der anderen Seite die Position des

ders., Streit der Interpretationen, Konstanzer Bibliothek Bd. 8, Konstanz 1987, S. 27, spricht
Eco von einer »Spiralen Logik von gegenseitig einander zuneigenden Elementen«. Vgl. außerdem
die erläuternden Hinweise in D. Mersch, Umberto Eco zur Einführung, a.a.O., S. 154 ff.
12 Roland Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 108, Anm. 8.
13 Ebenda, S. 87.
14 »Verschiebung« und »Verdichtung« bilden nach Sigmund Freud die beiden Grundmerkmale der
Traumarbeit; vgl. ders., Die Traumdeutung, a.a.O., VI, A, B; S. 235 ff, 255 ff. Roman Jakobson
hat sie mit der Similaritäts- und Kontiguitätsrelation der Sprache, der Selektion und Kombinati-
on von Zeichen verglichen und sie auf die rhetorischen Übertragungsfunktionen der Metonymie
und Metapher bezogen - ein Vergleich, der, wie weiter unten ausgeführt, für die gesamte struk-
turale Semiologie paradigmatisch wetden sollte; vgl. auch Roman Jakobson, Zwei Seiten der
che und zwei Typen aphasischer Störungen, in: ders., Aufsätze zur Linguistik und Poetik, Frank-
furt/M. Berlin Wien 1979, S. 117-141. Sie stellt gleichermaßen Jacques Lacan ins Zentrum der
»signifikanten Arbeit« der Sprache; vgl. ders., Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten
oder die Vernunft seit Freud, a.a.O., S. 30 ff. In Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache
m der Psychoanalyse, a.a.O., S. 107 f., zieht er freilich eine etwas andete Verbindung: Die
Traumarbeit gehöre der Rhetorik überhaupt an, wobei Metapher, Metonymie wie auch Katach-
rese, Synekdoche, Allegorie und andere Tropen sämtlich zu den »semantischen Verschiebungen«
gehören, während die »syntaktischen Verschiebungen« von jenen Figuren vollzogen werden, die
wiederum Roland Barthes insgesamt der ausschmückenden elocutio zurechnet; vgl. Barthes, Die
alte Rhetorik, in: ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, S. 85 ff.
15 Objekt- und Metasprache bedeutet bei Barthes allerdings anderes als beispielsweise bei Russell
oder Tarski: Nicht die Sprache der Objekte im Unterschied zu einer Sprache »über« die Rede von
Objekten, sondern Objektsprache als »Beute« des Mythos. Beide meinen Unterschiedliches; par-
allelisiert werden kann allein die Struktur der Schichtung, der Hierarchisierung, die ihre Kritik,
die Auflösung ihrer Verwirrung gestattet.
190 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

souveränen Lesers — eine Annahme, die Barthes freilich ebenfalls später verwerfen
wird: Denn die Verdopplungen von »Sinn« und »Form« ermöglichen drei prinzi-
pielle Lesarten: (i) die des »leeren Bedeutenden« oder der »Wörtlichkeit«, (ii) die
des »erfüllten Bedeutenden« oder der Trennung zwischen »Sinn« und »Form«
und (iii) ihr Spiel als ein unentwitrbares Ganzes. Die beiden ersten zerstören den
Mythos, die letzte verfällt ihm. ' Doch liegt es in der Hand des Interpreten, wel-
cher Linie er folgt.
Deutlich wird so, daß Barthes selbst, wie es übrigens genauso für die Lacan-
sche Psychoanalyse, die Habermassche Kommunikationsphilosophie und Ecos
Semiotik gilt, dem Mythos gelingender Emanzipation anhängt: Indem die »My-
thisierung« in das Schema einer differenzierten Semiologie überführt wird, re-
klamiert diese einen Glauben an die zersetzende Kraft der Lektüre und ihrer In-
strumente der Kritik. Explizit hatte dies bereits Freud statuiert: »Wo Es war, soll
Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.« La-
can ist ihm darin gefolgt: Aufhellung der »Zweideutigkeit« eines Sprechens, worin
sich »die eigentliche Triebkraft des Unbewußten« ebenso verbirgt wie zu erken-
nen gibt: »Durch Dechiffrierung dieses Sprechens hat Freud die ursprüngliche
Sprache der Symbole wiederentdeckt, die noch lebendig ist in den Leiden der Zi-
vilisierten.« Jenseits der »Schrift« des Unbewußten" und hinter den »Hierogly-
phen der Hysterie«, den »Wappen der Phobie«, den »Labyrinthen der Zwangs-
neurose«, dem »Zauber der Impotenz«, den »Rätseln der Hemmung«, den »Ora-
keln der Angst« und den »redenden Waffen des Charakters«, dem »Siegel der
Selbstbestrafung« oder den »Verkleidungen der Perversion« wären noch die viel-
fachen Register der Täuschung, die fortgesetzten Prosopopöien der Symbolisie-
rung ausfindig zu machen." Ihre Entdeckung erlaubte schließlich die Entschlüs-
selung jener »ersten Sprache«, die im »Abgrund« des Gesprochenen spricht: Spre-
chen, in dem ein anderes spricht, das sich verborgen hält: Doppeltes Sprechen als
Sprache unterhalb der Sprache, die ohne Wissen des Sprechers spricht, indem sie
sich seiner Rede unterschiebt."
Ähnliches sucht auch Barthes: Eine »Psychoanalyse des Mythos«, deren Ziel
die Rationalisierung bleibt: Fortschritt vom Mythos zum Logos, indem dessen
Deformationsprogramm durch Aufdeckung ihrer Funktionsweise rückgängig

16 Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 110 ff. Es ist bezeichnend, daß Jacques La-
can, früher als Barthes, die gleichen Metaphern vom »leeren« und »vollen« Sprechen verwendet;
vgl. ders., Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, a.a.O.,
S. 84 ff.
17 Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse; Neue Folge, in: ders., Studi-
enausgabe Bd. I, Frankfurt/M. 1969, 31. Vorl., S. 516.
18 Vgl. Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse,
a.a.O., S. 109.
19 Ebenda, S. 122.
20 Ebenda, S. 107.
21 Ebenda, S. 122.
22 Ebenda, S. 136 f.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 191

gemacht wird." Und hier wie dort bietet die Grundlage die Auszeichnung einer
primären Sprache, die gleichsam durch eine zweite parasitär überdeckt und »ent-
wendet« oder »gestohlen« wird;" ein Verfahren, das unumwunden die Möglich-
keit eines mehrfachen Lesens in Anspruch nimmt. Doch anders als Freud und
Lacan setzt der frühe Barthes noch optimistisch auf die analytische Entwirrung
ihres Knotens und entspricht damit eher der Double-bind-Hypotriese Gregory
Batesons," die die Mythisietungseffekte schizophrenogener Beziehungsstrukturen
im Zustand eines Paradox zu rekonstruieren versucht hat und die Ronald D.
Laing bezeichnenderweise in einem verwandten Versuch als »Mystifikation« be-
zeichnete" — eine Rekonstruktion, die die typentheoretische Logik Bertrand
Russells mit ihrem Verbot der Sprachstufenmischung und der rationalen Begren-
zung von Reflexivität absolut setzt. Sie impliziert zugleich die Aussetzung para-
doxaler Kreativität, an der der Mythos gleichwie die Phantasmen des Traumes,
die Dichtung oder die Kunst ihren Anteil haben - mithin ebenso das, was wir als
die Möglichkeit eines »katachretischen Paradoxon« methodisch zugrunde gelegt
haben." So folgen die Analysen Barthes' noch einem Kritiktypus, dem ein repres-
sives Vernunftmodell unterliegt, das letztlich eine Disziplinierung des Denkens
vornimmt. Sie verfehlen die Produktivität des Zeichens, weil das derart ausge-
schlossene Paradox gerade umgekehrt auf jenen Punkt weist, wo die Präsenz der
Materialität, ihre Widerständigkeit gegen die Lesbarkeit, sowie das Ereignis der
Setzung als der Augenblick einer Irreversibilität aufscheinen. Demgegenüber
schließt die schematische Einteilung von Objekt- und Metasprache das derart
geltend gemachte in ein Gehäuse mehrfacher Codierung ein, das verbirgt, was es
zu enthüllen trachtet. Denn das Paradox verwirrt nicht, es öffnet.
Allerdings hat Barthes später angesichts seiner Untersuchungen zur Rhetorik
des Bildes und dem Erzählstil des Films deren restlose semiotische Entschlüssel-
barkeit in Zweifel gezogen." Was den Mythen des Alltags als Doppelbesetzung
galt, wird in Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, mehr noch in der Hel-
len Kammer zu einem Sichentziehenden verschoben, das zuletzt als punctum iden-
tifiziert wird." Gleichsam am Rande des Semiotischen markiert es das Andere
dessen, was sich überhaupt entziffern läßt oder einer Rezeption erschließt. Es

23 Damit ergibt sich eine bemerkenswerte Koinzidenz mit der Mythentheorie Cassirers, wie sie im
vorigen Kapitel anklang, auch wenn sie inhaltlich unterschiedlichen theoretischen Regionen ent-
stammen: Wie Cassirer aus der inneren Dialektik von Mythos und Logos argumentiert, um im Lo-
gos ein emanzipatorisches, der Sprache zugeordnetes Moment zu finden, setzt gleichermaßen
Barthes ein Anderes des Mythos voraus, das von dessen Opazität zu erlösen vermag.
24 Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 115.
25 Vgl. Gregory Bateson, Double bind, in: dets., Ökologie des Geistes, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1983,
S. 353-361.
26 Vgl. Ronald D. Laing, Mystifizierung, Konfusion und Konflikt, in: Bateson, Jackson et al., Schi-
zophrenie und Familie, Frankfurt/M. 1969, S. 274—304.
27 Siehe oben Einleitung.
28 Vgl. Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, a.a.O., bes. S. 31 ff, sowie ders., Der dritte Sinn, in:
ebenda, S. 47-66, bes. S. 53 ff.
29 Vgl. oben Tl. I, 2. Kap.
192 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

kann daher auch nicht länger auf eine Sprache oder einen Code zurückgeführt
werden: Kein Bild, so Barthes, läßt sich in die Reihe seiner Zeichen zerlegen; sei-
ne Botschaften zerfallen vielmehr in die »kodierte bildliche« und die »nicht-
kodierte bildliche«, die als paradoxale »Botschaft ohne Code« beschrieben wird,
welche zurückbleibt, wenn die »kodierte bildliche« subtrahiert wird: »Die Merk-
male des buchstäblichen Bildes sind also nicht substantiell, sondern immer nur
relational; es handelt sich zunächst, wenn man so will, um eine Restbotschaft, die
aus dem besteht, was vom Bild übrig bleibt, wenn man (geistig) die Konnotati-
onszeichen ausgelöscht hat (sie wirklich herauszuziehen wäre nicht möglich, da
sie (...) das ganze Bild durchdringen können); dieser reduzierte Zustand ent-
spricht natürlich einer Fülle von Virtualitäten; es handelt sich um eine äußerst
sinnschwangere Abwesenheit von Sinn (...).« Noch wird sie dem Diskurs ange-
gliedert und als rudimentäres semiologisches System aufgefaßt, das, bevor wir be-
gonnen haben, etwas zu lesen, bereits »auf der Seite des Karnevals« steht und für
»Überraschungen« sorgt. " Doch führt Barthes schon wenig später neben dem
»entgegenkommenden Sinn«, der »informativen« und »symbolischen« Ebene mit
ihren kalkulierten und intentionalen Bedeutungen, die ungefähr der früheren
Trennung zwischen »Inhalt« und »Form« entspricht, als »dritte« Ebene einen
»stumpfen Sinn« ein, der diesen kontrastiert. Die ersteren beiden erweisen sich
als obvius; sie sind offensichtlich, »(gehen) auf mich zu«, wie er sagt, während
letzterer obtusus bleibt: Er verleiht dem entgegenkommenden Sinn »eine Art
kaum greifbare Rundheit«, an der die Lektüre beharrlich abgleitet. Barthes ord-
net ihn dem Gebiet des Signifikanten selbst zu, jenem Bereich also, den Julia Kri-
steva als das »Semiotische« im Unterschied zum Symbolischen gefaßt hat: Be-
reich wrgezeichneter oder strukturierter Materialität, der Bahnung oder Gliede-
rung einer Oberfläche, die nichts spiegelt und deshalb auch nichts abbildet oder
repräsentiert - genauso wenig wie die »Rauheit der Stimme«, die das Eigene oder
Eigenwillige einer Körperlichkeit anzeigt, ohne selbst »etwas« zu kennzeichnen:
Sie sind da, präsentieren sich, aber sie haben keine Bedeutung, sie »meinen«
nichts: Sie zeigen. Darum fügt Barthes hinzu, daß der stumpfe Sinn »nicht in der
Sprache (nicht einmal in der der Symbole) (begegnet): Zieht man ihn ab, so blei-
ben die Kommunikation und die Bedeutung vorhanden, sie zirkulieren und
funktionieren; ohne ihn kann ich weiterhin etwas sagen und lesen (...).« Wo al-

30 Vgl. Roland Barthes, Die Fotografie als Botschaft, in: ders., Der entgegenkommende und der
stumpfe Sinn, a.a.O., S. 11-27, hier: S. 15 f.
31 Ders., Rhetorik des Bildes, a.a.O., S. 37.
32 Ebenda, S. 42 sowie ders., Der dritte Sinn, a.a.O., S. 50.
33 Vgl. ders., Der dritte Sinn, a.a.O., S. 48 ff. Barthes gibt als Beispiel eine Sequenz aus S. M. Eisen-
steins Film Ivan der Schreckliche, eine »gewisse Kompaktheit der Schminke«, die »»dumme« Nase«,
das »fade() blonde() Haar«, die »platt hergerichtete Frisur« usw.; Beschreibungen, die an die Er-
scheinung der Zeichen gemahnen, mit denen sie operieren; vgl. S. 48 f.
34 Ebenda, S. 49, 50 passim.
35 Vgl. Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt/M. 1978, S. 35 ff. Wir
werden diesen Punkt weiter unten 3. Hauptstück, 3. Kap. ausfuhrlicher diskutieren.
36 Roland Barthes, Der dritte Sinn, a.a.O., S. 58.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 193

so existiert er? »(D)er stumpfe Sinn existiert (...) irgendwo.« Das »Irgendwo« be-
zeichnet den Ort des Unbestimmten selbst, der immer zugleich ein Nicht-Ort ist:
Das obtusus entspringt der Präsenz der Signifikanz selbst, der Form ihrer
lität, der Weise deren Hervortretens.
Manifestation eines Hintergrundes, erscheint er jedoch nur vermittels einer
Botschaft, die, als deren »Folie« oder »Träger«, wiederum durch ihn erscheint,
mithin als Bedingung dafür, was in seinem Vordergrund überhaupt lesbar ist.
Das obtusus gehört so zu jeder Art von obvius, wie das obvius zum obtusus gehört.
Am Zeichenprozeß beteiligt, handelt es sich doch nicht um einen Zusatz, ein
Supplement oder eine Ergänzung, vielmehr Erscheinung, die stets mitgängig ist,
wenn etwas gesagt oder ausgedrückt wird, und von der Barthes sagt, sie sei »grö-
ßer« als die »reine, gerade, schneidende, gesetzliche Senkrechte der Erzählung«:
Sie bildet keine selbständige Schichtung des Bedeutens, sondern bewirke »eine
totale, das heißt endlose Öffnung des Sinnfeldes«. Dann bricht der Gegensatz
zwischen dem entgegenkommenden und dem stumpfen Sinn mit dem Paradigma
der Doppelcodierung: Weder sagend noch Andeutung oder auf etwas hinweisend,
sondern Heterogenität, die sich, wie Barthes in der Rauheit der Stimme auch
schreibt, der »Tyrannei des Sinns« widersetzt, markiert der »dritte Sinn« die
Grenze des Bedeutens, sogar die Grenze des semiologischen Verfahrens selbst. »(D)er
stumpfe Sinn ist nicht struktural angesiedelt, ein Semantologe würde ihm keine
objektive Existenz zuschreiben (...). (D)aher die Schwierigkeit, ihn zu benennen
(...). Wenn man den stumpfen Sinn nicht beschreiben kann, so deshalb, weil er
im Gegensatz zum entgegenkommenden Sinn nichts nachbildet: Wie soll man
beschreiben, was nichts darstellt?« Tatsächlich bleibt das Verhältnis Barthes'
zum obstusus ambivalent: Er kreist ihn in immer neuen Versuchen ein, spricht
mal von einem »durchdringenden Merkmal«, mal von einem »zusätzlichen Signi-
fikanten« oder einer »(zweigliedrigen) dramatischen Dialektik«, um in ihr zuletzt
im Sinne Lacans eine »störende Kraft« (obstacle) zu finden. Das Suchverhalten,
das Changieren der Ausdrücke verrät gleichermaßen die Anstrengung, das ange-
zeigte Phänomen semiologisch noch beschreiben zu wollen, wie die Verlegenheit,
es gleichwohl nirgends fassen zu können. Bereit, sich in dem Augenblick zu ver-
flüchtigen, da es begrifflich in Bann genommen wird, entzieht es sich in seiner
permanenten Abwesenheit. Barthes gelangt mithin in die Nähe dessen, was hier
als Materialität des Zeichens und Augenblick seiner Präsenz exponiert wurde, vor
deren Konsequenz er jedoch zurückzuweichen scheint: »Ist das alles? Nein, denn

37 Ebenda, S. 59.
38 Ebenda, S. 50.
39 Ders., Die Rauheit der Stimme, a.a.O., S. 275.
40 Ders., Der dritte Sinn, a.a.O., S. 59, 60 passim. Eine weitere Passage verrät zudem die Beziehung
zu und den Vorgriff auf das in der Hellen Kammer aufgewiesene punctum: »Ließe er sich be-
schreiben (ein begrifflicher Widerspruch), so hätte er das Wesen des japanischen Haiku: einer
anaphorischen Geste ohne bezeichnenden Inhalt, einer Schramme quer durch den Sinn.« Vgl.
ebenda, S. 61.
41 Vgl. ders., Der dritte Sinn, a.a.O., S. 54 ff. passim.
194 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

ich kann mich immer noch nicht von dem Bild lösen. Ich lese, ich rezipiere
(wahrscheinlich sogar als erstes), evident, erratisch und hartnäckig, einen dritten
Sinn. Ich weiß nicht, welches sein Signifikat ist, zumindest kann ich es nicht be-
nennen, aber ich sehe deutlich seine Züge (...).« "

Am I really here or is it only art?

Tatsächlich scheitert jede restlose Vereinnahmung unter einen vielfachen Sinn.


So weist der Diskurs, den Barthes führt, um die plurale Codierung im Bild, aber
auch in der Stimme, den Texturen der Liebe oder den Szenarien der Kunst zu
entziffern, über ihn selbst hinaus auf ein anderes. Wir werden zu zeigen versu-
chen, daß darin zuletzt ein Rückständiges bleibt, das sich überhaupt keiner Moda-
lität des Darstellens mehr fügt, das gleichwohl nirgends abzuziehen ist und die
Weisen der Darstellung irritiert. Denn entscheidend ist, daß das Sichzeigen ge-
genüber dem Sagen nicht als eine zweite Zeichenreihe ausgewiesen oder einem
alternativen semiotischen Modus zugeschrieben werden kann: Es handelt es sich
nicht um disparate Zeichenfunktionen, sondern um Unterschiede im Zeichen
selbst: Differenz im Symbolischen als Differenz zwischen seinem Ereignen, seiner
Materialität und Setzung einerseits, sowie, auf der anderen Seite, der Funktion
oder Ordnung seines Bedeutens. Sie lassen sich daher auch nicht in zwei disparate
Weisen der Symbolisierung und ihren verzweigten Gebieten aufspalten; vielmehr
weisen sie innerhalb des Zeichens auf einen Riß, der in die Prozesse des Sinns ein
ebenso beunruhigendes wie verwirrendes Moment einträgt. Gewiß existieren
Doppelcodierungen, gibt es Überlagerungen und Kreuzungen des »Wie« und
»Was« einer Aussage, die sich zu komplexen Geweben aufschichten und bisweilen
eine undurchdringliche Dichte entwickeln: Sie sind sogar die Regel, und es gibt
kein Bild, keine Erzählung, nicht einmal eine wissenschaftliche Abhandlung, die
sich nicht systematisch solcher Mehrdeutigkeiten bediente; und doch scheint sich
unablässig »etwas« zu entziehen, dem kaum angemessen ein Status von »etwas«
eingeräumt werden kann. Die Zeichen be-zeichnen, gleich als Funktion oder als
Struktur; sie begegnen als Verweisungen, Abbildungen, Diagramme oder deikti-
sche Gesten, sie geben sich als identifizierbare Marken einer Ordnung zu erken-
nen, seien es Laute, Spuren oder formale Schriftzeichen; und trotzdem erfüllen sie
sich weder in dem, was sie jeweils meinen oder auszudrücken scheinen, noch in
ihrer jeweiligen Position, ihrer Stellung im System und deren Oppositionen zu-

42 Ebenda, S. 48.
43 Laurie Anderson, zit. nach Daniel Charles, Zeitspielräume, Performance Musik Ästhetik, Berlin,
1989, S. 25.
44 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M. 1984.
45 Die Differenz bestätigt sich an der Entzweiung der Künste, der Unübersetzbarkeit von Bildern in
Worte, von Malerei in Literatur, die ihren Streit, der mit der Renaissance neu entbrannte, nie-
mals beizulegen vermochten. Vgl. dazu auch Michael Wenzel, Dichter und Maler - Ein double-
bind'. In: Kunst und Litetatur I, Kunstfomm International, Bd. 139 (1997), S. 52-62.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 195

einander; vielmehr müssen sie, um entdeckt oder aufgewiesen zu werden, ebenso


gesetzt sein wie sich verkörpern.
D.h. die Zeichen sind mitkonstituiert durch das Ereignis ihrer Anwesenheit.
Ihnen kommt, neben ihrem Sinn oder ihrem relationalen Ort, ein Anderes zu:
Moment der Präsentation, der sie in ihre Präsenz bringt, die wiederum keine
Form eines Bedeutens darstellt, sondern Augenblick ihrer Manifestation. Mithin
sprengt die Metaphorik des obtusus genauso wie später die des punctums Barthes'
früheres Anliegen, deutet auf ein Unlesbares im Lesbaren, das beständig in deren
Hintergrund bleibt. Es erscheint mit der »Erscheinung«, als dessen Boden, auf
dem er sich, auch als Spur oder Einzeichnung, abträgt, ohne von ihm selbst
kenntlich gemacht oder angesprochen zu werden. Kein Zeichen vermag etwas zu
bedeuten jenseits seines »Ereignisses«, wie umgekehrt kein Zeichen gleichzeitig
sein »Ereignen« zu markieren vermag. Jedes ist vielmehr auf etwas verwiesen, was
nicht Zeichen ist, und zwar nicht aufgrund seines immanenten Verweisungscha-
rakters, qua Referenz oder Ordnung des Seienden, mit der es in Beziehung steht,
sondern kraft seiner Setzung, die wiederum auf der Ebene der Materialität ge-
schieht. Daher bleibt in Ansehung seiner semiotischen Funktionalität wie seiner
semiologischen Strukturalität beständig ein Heterogenes: Es ist dem Symbolischen
weder angesteckt wie ein Äußeres noch ihm »auswendig«, sondern es inhäriert
ihm, indem sich seine Bedeutung durch es exponiert, wie es sich gleichzeitig seiner
eigenen Bezeichnung entzieht. Unlesbarkeit also, die dennoch der Lesbarkeit zu-
grunde liegt, tritt es in dem Maße zurück, wie jene hervortritt. Der Funktionali-
tät der Zeichen oder der Ordnung ihrer Signifikanten mitgängig, zeigt es sich in
diesen und ist gleichwohl nirgends wie eine »Spur« dechiffrierbar.
M.a.W., Barthes' These vom »dritten Sinn«, der, ohne ein Sinn zu sein, sich
im Sagen zeigt, wäre noch zu radikalisieren. Zwar spricht er von einem »Signifi-
kant ohne Signifikat«, der sich an der Oberfläche abzeichnet, doch beinhaltet
der Ausdruck insofern eine contradictio in adjecto, als ein Signifikant ohne Signi-
fikat nichts wäre: Von einem Zeichen zu sprechen, das nichts bezeichnet, er-
scheint ebenso sinnlos, wie aus beiden trennbare Einheiten zu machen. Die Wi-
dersprüchlichkeit der Formulierung deutet an, daß es Barthes durchaus um mehr
ging als was sich im Metier von Signifikation noch ausdrücken läßt. Eher wäre
wohl von einem Nicht-Zeichen zu sprechen, das das Zeichen beherbergt, eine An-
dersheit, die ihm zukommt, die weniger seinem Ort innerhalb seiner Struktur ent-
stammt, als dem Ereignis seiner Setzung. Auf Aisthesis bezogen, scheint es vor-
zugsweise künstlerischen Prozessen entnehmbar, wie diese überhaupt unseren
Untersuchungen am nächsten stehen. Sie dienten ebenso schon den Beispielen
Barthes' als Wünschelrute: Bild, Malerei, Photographie. Und doch entfalten sie
ihre eigentliche Evidenz erst anhand solcher Bemühungen der Avantgarde-Kunst,
die die Materialität selbst auszustellen trachten - ihre Ekstasis statt eine Poetik der

46 Ebenda, S. 60.
47 Wir werden auf diesen Punkt noch näher eingehen; vgl. unten 3. Hauptstück, 1. Kap. und
3. Kap.
196 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Signifikanz. Der Gegensatz, auf den es uns dabei ankommt, geht der Differenz
zwischen Dadaismus und Surrealismus konform. Dazu gehören vor allem die
Mysterien des Zufalls bei Jean Arp, die Materialkunst Kurt Schwitters oder die
objet trouvis und die Ready-mades Marcel Duchamps. Ihr Impuls ist Singularität,
Weigerung in bezug auf jegliche Art von Originalität und Gestaltung, gestischer
Akt und Kontingenz ihrer Selbstausstellung, mit einem Wort: Performativität.
Duchamps Interesse galt der Ausnahme, dem Unfall, wie es später Allan Kaprow
zum Prinzip des Happening erklärte. Sie stellen der Form, dem Sinn, den Struk-
turen des Symbolischen den Augenblick einer Präsenz entgegen: »Beschließen, daß
ich in einem künftigen Augenblick (an einem bestimmten Tag, zu einer be-
stimmten Stunde, zu einer bestimmten Minute) ein Ready-made wähle. Worauf
es ankommt, ist die Chronometrie, der offene Augenblick.« Präformiert ist da-
mit die Kunst der Performance und des Events, wie sie in der Ästhetik der späten
60er Jahre, namentlich durch John Cage, Nam June Paik, Wolf Vostell oder Josef
Beuys virulent wurde. Sie wandelt das »Wesen« der Kunst, leitet vom »Werk«
über zum »Ereignis«. ' Ihr Kennzeichen ist, wie Daniel Charles treffend bemerkt
hat, die »Konfiguration der Präsenz im hie et nunc«. Sie beruht auf dem Einsatz
von Materialien aller Art, auf komplexen Arrangements und lokalen Anordnun-
gen, in die elementare Bewegungsabläufe, Gebärden und einmaligen Aktionen
eingehen, die weniger der Darstellung von »etwas« dienen, als der Evokation un-
vorhersehbarer Effekte. Zwar treten dabei Intentionen, symbolische Handlungen

48 Zur Ästhetik Marcel Duchamps vgl. Thierry de Duve, Pikturaler Nominalismus. Marcel
Duchamp. Die Malerei und die Moderne, München 1987; Hans Richter, DADA - Kunst und
Antikunst, Köln 3. Aufl. 1973, S. 91ff; Daniel Charles, Zeitspielräume, a.a.O., S. 38 ff; Achille
Bonito Oliva, The Beaury of Indifference, in: ders. La vita di Marcel Duchamp, Roma o.D.,
S. 55-62; Dawn Ades, Duchamp, Dada und Surrealismus, in: Marcel Duchamp, Museum Lud-
wig, Köln 1984, S. 41-53; Germano Celant, Marcel Duchamp und die babylonische Sprachver-
wirrung, in: ebenda, S. 70—82; Linda v. Mengden, Amüsement, Ambiguität und Agnostik. Zu
Marcel Duchamps »Trois stoppages etalon«; Jürgen Schilling, >Ih- Zufill ist nicht der gleiche wie
mein Zufall ...«, beide in: Zufall als Prinzip, Spielwelt, Methode und System in der Kunst des
20. Jahrhunderts, hsg. v. B. Holeczek u. L.v. Mengden, Heidelberg 1992, S. 27-32 u. 33-44;
Christian Janecke, Kunst und Zufall, Nürnberg 1995, S. 109 ff, 194 ff. Zum Spätwerk
Duchamps insbesondere Jean-Francois Lyotard, Die TRANSformatoren DUCHAMP, Stuttgart
2. Aufl. 1987. Wir werden weiter unten auf den Zusammenhang noch zurückkommen, insbe-
sondere auf die angedeutete Differenz zwischen »Ekstasis« und »Poesie«, zwischen denen sich die
Bewegungen des Dadaismus und Surrealismus teilen; siehe unten 3. Hauptstück, 3. Kap.
49 Marcel Duchamp, zit nach Daniel Charles, Zeitspielräume, a.a.O., S. 45. In einem Vortrag zur
Ausstellung The Art ofAssemblage (1961) hat Duchamp zudem die ästhetische Gleichgültigkeit
bei der Wahl der Ready-mades betont: »Diese Wahl beruht auf einer Wahl visueller Indifferenz,
bei einer gleichzeitigen totalen Abwesenheit von gutem und schlechtem Geschmack (...) In der
Tat eine völlige Anästhesie.« In: ders., Der kreative Akt. Duchampagne brut, Hamburg 2. Aufl.
1998, S. 43.
50 Vgl. dazu meine Ausführungen in: D. Mersch, Ereignis und Aura. Zur Dialektik von ästheti-
schem Augenblick und kulturellem Gedächtnis, a.a.O.; ders., Geplant aber nicht planbar. Ereig-
nis statt Werk: Plädoyer für eine Ästhetik performativer Kunst, in: Frankfurter Rundschau
29.4.1997 (Nr. 99), S. 13; sowie ders., Ereignis und Aura. Untetsuchungen zu einer »performati-
ven Ästhetik«, Frankfurt/M. (erscheint 2002).
51 Daniel Charles, Zeitspielräume, a.a.O., S. 25.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 197

und theatrale Prozesse gleichwie Konzepte und Entwürfe, Rahmungen, Kalkula-


tion der Mittel sowie Auswahl und Einsatz von Techniken und Medien in ein
gemeinsames Spiel, doch hinterlassen sie nicht eigentlich Spuren, da sie, wie
Charles weiter schreibt, »keine Handlung nachzeichn(en), sondern zu eigenem
Tun aufforder(n), nicht notwendig Zeichen der Gefühle übermittel(n), sondern
diese zu treffen versuch(en)«. "
D.h. Events, Performances oder Aktionen erzeugen ihre eigenen Wirklich-
keiten, die wie Räume wirken, die begehbar sind, in denen allerlei geschehen
kann, das freilich keine Beziehung zu irgend einer Art von Signifikanz oder Be-
deutung haben muß und darum auch nicht wie eine Schrift oder Partitur funk-
tioniert, sondern ihre Dimension vorzugsweise im Performativen entwickelt, das
sich nicht anders als der Prozeß eines Ereignens beschreiben läßt. Es interpretieren
zu wollen, hieße es zu verfehlen, wie umgekehrt seine historische Irritation darin
bestand, die Hermeneutik der Rezeption und das begriffliche Archiv der Kunst-
kritik mit komplett Sinnlosem zu traktieren: 433" (1952) von John Cage, eine
Folge von Stillen, die nichts beinhalten als die Umwendung der ästhetischen
Haltung selber. Sie wäre nicht zu verstehen, sondern zu vollziehen. Das bedeutet:
Performative Ereignisse haben nicht die Seinsweise eines Textes, die wiederum
Roland Barthes dem klassischen »Werk« entgegenhielt; sie entwickeln sich atextu-
ell; sie sind ohne Ordnung und Struktur: Sie folgen einzig Einschnitten zwischen
den Texturen, willkürlichen Zeitstasen, die inmitten ihrer Gewebe Zäsuren und
Skandierungen vornehmen. Sie räumen, wie man sagen könnte, dem Kairos des
Zu-Falls einen Platz ein und erteilen auf diese Weise dem Sich-Ereignen einen
Ott. Sie bringen so dessen Charakter der Setzung allererst zum Votschein. Weder
gestalten sie etwas, noch statuieren sie ein Geschehen, sondern lassen es frei. Frei-
lassen heißt zu-lassen. Der Zu-Fall wäre mithin eine Weise, (sich) zu geben. Er
öffnet für ein unvorhersehbar Begegnendes. Es wäre nicht schon präformiert durch
irgendeine Form von Be-zeichnung oder Differenz; was begegnet ist vielmehr
schlicht: £/'«fachheit einer Blöße. »Anstatt über das »Spiel der Zeit« zu sprechen«,
heißt es entsprechend bei Cage, »würde ich es vorziehen zu sagen, daß das Ereig-
nis zählt und daß, was geschieht, mit einem Zelebrieren, und nicht mit einem

52 Ebenda, S. 30.
53 Man verfehlt eigentlich die Radikalität von 433", wenn das Stück ausschließlich nach Art eines
Vexierspiels gelesen wird, »negative Musik«, wie Heinz-Klaus Metzger gesagt hat, deren Stille die
Musik, die Komposition, das Erklingen von Tönen und Klängen verweigert, um sich einem An-
deren, den Geräuschen des Hintergrundes zu öffnen. Dann horcht man auf das, was sich an
Fremdem beim Hören identifizieren läßt und unterliegt weiterhin dem Schema von Identität
und Differenz. Statt dessen wird nicht Musik negiert, sondern das Musikalische, d.h. der Fokus
auf dessen Konstruktion, auf die Hierarchien von Bevorzugung und Vernachlässigung, der Aus-
wahl. Daher käme es darauf an, sich dem zu öffnen, was jeweils geschieht, d.h. sich det Zeitlich-
keit des Augenblicks ohne Entscheidung zu über-lassen. Weit radikaler geht deshalb Cages zehn
Jahre später erstelltes Konzept 433 " (No. 2) (000") vor: ein Solo, das auf jede Weise von jeder-
mann an jedem Ort aufgeführt werden kann. Vgl. Heinz-Klaus Metzger, John Cage oder die
freigelassene Musik, in: Musik-Konzepte, Sonderband John Cage (1978), S. 5-18.
198 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Spiel zu vergleichen ist.« Es erfüllt sich, »wenn einfach Töne zufällig sich ereig-
nen. Es gibt nichts Delikateres«. ' Cage nennt es insbesondere eine »Einladung«
zu etwas wie »Würde«.
Erneut weiden wir mit einer Gravitas, einer Gravität des Geschehenlassen
konfrontiert: Einer Gabe des Seins (Ex-sistenz). Die Künste des 20. Jahrhunderts,
allen voran die verschiedenen Experimente der Avantgarden, suchten eine solche
Gabe heraufzubeschwören - entweder durch die Dionysien ästhetischer Exzesse,
von denen schon Nietzsche in der Geburt der Tragödie gesagt hat, sie brächten
»den Gott selbst« zur Erscheinung, oder durch die Askesen aisthetischer Contem-
platio. Alle wesentlichen Projekte der Avantgarde teilen sich zwischen beiden
Wegen: Artauds Theater der Grausamkeit oder George Batailles Ȇberschreitun-
gen« einerseits - und: Ad Reinhardts schweigende schwarze Tafeln, Richard Ser-
ras rostende Stahlstelen, Donald Judds schlichte geometrische Plastiken oder Ca-
ges Music of Changes (1951) und Empty Words (1973/74) andererseits.1 Im Me-
tier von Absichtslosigkeit, das an Exerzitien des Zen-Buddhismus gemahnt, nä-
hern sich letztere im vierstufigen Fortgang einer restlosen Zersetzung der Worte
und ihrer Bedeutungen, indem sie zuerst mit der Syntax, dann mit den semanti-
schen Einheiten und schließlich mit den Lautreihen selber brechen, bis nur noch
Zeichenloses übrig bleibt: Stillen und Konsonanten. Cage gerät auf diese Weise
buchstäblich »jenseits des Zeichens«, sogar jenseits des Signifikanten. Aus deren
leerem Zentrum setzt sich Unverfügbaresfrei:Kein Code, sondern vor dem Code:
Feier des Nichts, die aufschließt für die Einzigartigkeit des Ereignens. Das meint:
Erst auf dem »Grund«, dem »Ur-Sprung (arche) des Nichts hebt sich solches Er-
eignen ab: »Meine Musik besteht im Grunde darin, das erscheinen zu lassen, was
Musik ist, noch bevor es überhaupt Musik gibt. (...) Es ist ein Bezug auf das
Nichts, das sich in allen Dingen befindet.« Dann wäre auch nicht mehr von
Kunst oder ihrer Differenz zu Nicht-Kunst zu sprechen: Vielmehr übersteigt sie
sich selbst und berührt ein Anderes, das nicht mehr zu deren Bereich gehört,
sondern ihm zuvorkommt. Gewährung von Ex-silenz. D.h. sie bildet keine Frage
des Ästhetischen, sondern von Aisthesis: »Über, unter und um euch ist alles au-
genblicklich,« heißt es in den Lehren des Zen-Meisters Huang-po: »Keine Form!

54 John Cage, Für die Vögel, Gespräch mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 268.
55 Ebenda, S. 255.
56 Ebenda, S. 256.
57 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, a.a.O., S. 56, u. 62 ff.
58 Zu Batailles Denken det Überschreitung vgl. Michel Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in:
ders., Von der Subversion des Wissens, München 1974, S. 32-53; Gerhard Gamm, Vernunft
und Eros, G. Batailles Idee der Grenzüberschreitung, in: ders., Nicht Nichts, Frankfurt/M. 2000,
S. 83-102; Andteas Hetzel, Peter Wiechens (Hsg.), Georges Bataille. Vorreden zur Überschrei-
tung, Würzburg 1999; ferner kritisch Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moder-
ne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 248 ff.
59 Zur Ästhetik von Cage siehe oben Tl. 1, 3. Kap.
60 Vgl. dazu auch unseren gleichnamigen Beitrag: D. Mersch, Jenseits des Zeichens, a.a.O.
61 John Cage, Für die Vögel, a.a.O., S. 286, 306 passim.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 199

Von Gedanken-Augenblick zu Gedanken-Augenblick - keine Tätigkeit! - Das ist


Buddha-Sein!« "
Im Gewand avanciertester Kunst, soweit sie eine Beziehung zur Mystik der
Gelassenheit und des Sichzeigens wahrt,' entdeckt sich so Verwandtes, was wir,
durch die Ordnungen des Symbolischen und die »Spurenschrift« der Signifikan-
ten hindurch als paradoxale »Spur ohne Spur« des Ereignens selbst und der Eksta-
tik der Materialität zu entziffern versucht haben. Hingegen scheint sich das Me-
dium des Textes, der Narration und des Diskurses solcher Bewegung weitestge-
hend zu verschließen. Und doch muß sich die Allgemeingültigkeit unserer These
auch daran bewähren. Denn der Text gründet im Lesen, auch wenn ihm nicht
immer diese ausschließliche Rolle zufiel; er operiert eo ipso auf der Ebene der
Schrift, der Wiederholung, der Nicht-Präsenz und scheint so keine Öffnung auf
ein Anderes zuzulassen. Gleichwohl bezeugt sich dessen Unscheinbarkeit in den
Zwischenräumen seiner Gitter. Wir haben Vergleichbares bereits für das Sprechen
konstatiert: »Fleisch« der Stimme, die den Laut austrägt, Ereignis einer Perfor-
manz, der Setzung des Sprechaktes, der nicht nur in die Rede einen »Anfang«, ei-
ne Singularität setzt, sondern zugleich eine Irreversibilität markiert: Unumgäng-
lichkeit einer Ex-sistenz, die nur im Maße ihrer Überschreibung oder ihres Verges-
sens revidierbar wäre. Aber läßt sich ein literarischer Text denken, der nicht zu-
gleich die Spuren eines Kampfes einbehält: eines vergeblichen Ringens um das
einzig angemessene Wort? Ist Schreiben anderes denn polemos, Streit, dessen
Wagnisse und Gefährdungen sich in jedem Satz, jeder Wortgestalt oder jedem
mitgeführten Klang spiegeln? Jeder Text zeugt von den Anstrengungen und Er-
schöpfungen des Schreibens, vom Ausbleiben des Wortes, von den Lücken und
Zwischenräumen, die seinen Fluß unterbrechen. Er konstituiert sich im Unge-
sagten; er weist zurück auf die auch leibliche Arbeit der Inskription, das ebenso
ein Sich-Einschreiben in die Sprache bedeutet. Der Text verwahrt solche Spuren;
er wahrt sie auf, zumeist ohne sie preiszugeben. Im Gegenzug behauptet er auf
eine seltsame Weise seine Geschlossenheit gegenüber dem Leser: er scheint abge-
rundet, opak, von einer inneren Strenge, die keinen Widerspruch duldet; mitun-
ter scheint er seine Fäden mit einer Leichtigkeit zu entspinnen, die an gutes Bal-
lett erinnern, das mühelos wirkt und den Schmerz der Dressur verheimlicht. All
dies sind Momente der Textualität, die ihr eine Gravur aufprägen, zuweilen sogar
sehr persönliche Noten hinterlassen, die gleichwohl unlesbar mitgelesen werden:
Marken, die sich in die Reihe der Signifikanten eingeschrieben haben und der

62 Huang-po, Der Geist des Zen, Frankfurt/M. 1997, S. 53.


63 In beiden, der Mystik der Gelassenheit von Meister Eckehardt het, und der Mystik des Sichzeigens
kreuzen sich die Wege Heideggers und Wittgensteins; vgl. Martin Heidegger, Gelassenheit,
a.a.O.; Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., bes. 6.522, S. 176. Zur nä-
heren Diskussion vgl. insb. weiter unten 2. Hauptstück, 2. Kap. Es ist aufschlußreich, daß Cage
sich in seinen Gesprächen mit Daniel Charles in gleicher Weise auf Huang-po wie auf Meistet
Eckehardt bezieht; vgl. ders., Für die Vögel, a.a.O., S. 274 ff, bes. S. 294 f. u. 306.
64 Zum Lesen gehörte ebenso das Sprechen, die Aufführung, nicht zuletzt auch die Unterhaltung;
vgl. Roger Chartier, Lesewelten, a.a.O., sowie oben Tl. I, 3. Kap.
200 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Materialität der Schrift angehören - die freilich in dem Maße verschwinden, wie
die Lektüre sie augenblicklich zu dem hin über-springt, was sie zu verstehen geben.
Daß jedoch auch hier ein uneinlösbarer Rest bleibt, offenbart der handge-
schriebene Brief, der mehr kundgibt, als nur die Botschaft dechiffrierbarer Zeilen.
Die Stereotypie der Drucktype hat ihr Randständiges getilgt: Sie breitet sich in
einem vorgestanzten Raum aus und wiederholt dasselbe für jedes Wort, für jeden
Satz, unabhängig davon, welchen Text sie abbildet, auch wenn es sich beim
Buch, das ihn umhüllt, wie bereits erwähnt, um ein »Objekt« handelt, das sein
eigenes Gewicht (Gravitation) und seine eigene Würde (Gravitas) besitzt. Wo al-
lerdings noch handgeschrieben wird, werden die Buchstaben eher gemalt als ge-
setzt; dann bleibt die führende Hand und mit ihr deren Körperlichkeit im Rük-
ken, so daß nicht nur die Schnitte und Zäsuren, die es trennt und einteilt, zählen,
sondern auch die Hast oder Unsicherheit, mit der sie hingeworfen wurden: Sie
enthüllen erst das Materielle der Schrift. Das gilt besonders für das Kalligramm,
die Artifizienz der »Zeichnung«, die die Schrift der Malerei annähert, wie sie die
Chinesische Kunst kultiviert hat: Sorgfältig gezogene Bögen, kunstgemäße Füh-
rung, Dicke des Pinselstrichs, Genauigkeit seiner Ausführung etc. Das Kalli-
gramm verräumlicht die Schrift, »es bettet die Aussage in den Figurenraum ein«,'
wie Foucault gesagt hat, es inszeniert ein Spiel mit der Fülle, die die Zeichen sel-
ber ausmachen, indem es ihre Materialität zum Vorschein bringt, um die Schrift
etwas zeigen zu lassen, was sie als bloße Textur nicht sagt. In der Malerei Rene
Magrittes, Cy Twomblys und anderer spielt es eine gewisse Rolle:'' Der Schrift-
zug, wie auch seine Verwischung, avancieren zum Bestandteil der Bilder, erschei-
nen selbst als Bild. In diesem Sinne hatte Magritte gesagt, daß in einem Gemälde
»Wörter von derselben Substanz (sind) wie Bilder«, wiewohl man beide »anders
(...) sieht«: Es ist ein Bildhaftes am Wort wie ein Worthaftes am Bild.' So ver-
mag das Kalligramm etwas hervortreten zu lassen, was der Lektüre sonst entgeht:
»Spur« neben der Spur, die ein »Antlitz« trägt, das kaum weniger schillernd wirkt
als die Physiognomie der Gesichtszüge.
Natürlich fällt dem Kalligramm in der Tradition eine andere Rolle zu: »Bild«
und Schrift« überlagern sich, entfachen ein Spiel kalkulierter Wirkungen, durch-
kreuzen sich, um den Leser zu erfreuen, zu schmeicheln, zu nötigen oder zu be-
schämen. Sie fügt sich dem Paradigma von Doppelcodierung. Der Schrift wird
gleichsam eine »anderen Rhetorik« unterschoben, die nicht weniger beredt er-
scheint als die der Persuasion. D.h. das Kalligramm erzeugt eine zweideutige Ge-
genwart, die das Netz des Ausdrucks unablässig zu erweitern erlaubt und das Ge-
sagte mit einer Bedeutungsvielfalt versieht, deren Stufen durchlaufen werden
müssen, um es in seiner Subtilitat aufzudecken: Schon die Wahl der Schriftarten
erscheint aufschlußreich. Dann vermag die sichtbare Form dem Sinn eine andere

65 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, München Wien 1997, S. 12.
66 Eine Darstellung gibt z.B. Michel Butor, Die Wörter in der Malerei, Frankfurt/M. 1992.
67 Rene Magritte, Sämtliche Schriften. Hsg. v. A. Blavier, Frankfurt/M, Berlin, Wien 1985, S. 44.
Zur Auslegung im Kontext des Strukturalismus siehe weiter unten, 3. Hauptstück, 1. Kap.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 201

Nuance erteilen, die vielleicht nur dem Adressierten gilt, mithin in die Schrift ein
Singuläres einzutragen, das eine geheime Komplizenschaft zwischen Schreiber
und Leser stiftet und sich allgemeinei Verstehbarkeit sperrt. Allerdings hat
Foucault auf eine bemerkenswerte Differenz zwischen der Rhetorik der Bered
samkeit und der des Kalligramms hingewiesen: Denn diese »spielt mit der Über
fülle der Sprache; sie lebt von der Möglichkeit, zweimal dieselben Dinge mit ver
schiedenen Worten zu sagen; und sie profitiert von dem Bedeutungsreichtum,
der es ermöglicht, zwei verschiedene Dinge mit ein und demselben Wort zu sa
gen. (...) Das Kalligramm macht sich die Besonderheit des Buchstabens zunutze
(...). Als Zeichen macht es der Buchstabe möglich, die Wörter zu fixieren, als Li
nie vermag er das Ding darzustellen. So möchte das Kalligramm die ältesten Ge
gensätze unserer alphabetischen Zivilisation überspielen: zeigen und nennen; ab
bilden und sagen; reproduzieren und artikulieren; nachahmen und bezeichnen;
schauen und lesen.«' Und doch offenbart eben diese Möglichkeit der Überspie
lung ein weiteres: Das Zeigen, Nachahmen oder Schauen verweigert sich restloser
Beherrschbarkeit; es behält gegenüber dem Sagen ein Unbestimmtes oder Unkal
kulierbares ein, das die Schrift, wo sie typisiert ist, auslöscht: Es zeigt sich. Dem
gegenüber entsteht der Doppelsinn da, wo das Kalligramm im transitiven Sinne
etwas mitanzudeuten sucht, wo also die bewußte Ausformung der Letter oder
Ideogramme, ihr beiläufiger und unachtsamer Wurf intentional geschieht, um
z.B. die Funktionen feiner Ironie oder grober Niederträchtigkeit auszuüben:
Strategien der Verschiebung, die das Schweigen, das die Schrift umgibt, in ein
anderes Spiel bringen: Zeigen, das spricht, ohne zu reden, mithin »anderes Sagen«,
das die Schrift vervielfältigt. Dennoch bekundet das Kalligramm ebensosehr ein
anderes, das über sein spitzfindiges Raffinement hinausweist, es überschreitet und
sogar umkehrt. Denn indem die Schrift, ebensosehr wie die Zeichen, die sie aus
trägt, nicht anders kann als sich in ihrer Materialität zu verdoppeln, läßt sie sich
nicht domestizieren, weil sich an ihr eine Heterogenität exponiert, die sie, bei al
ler Selbstbeherrschung, nicht gänzlich zu tilgen vermag.
Jede Linie ist daher schon Setzung, jede Figur oder jeder Buchstabe gibt sich
preis und behauptet seine unverrückbare Gegenwart, die um so dringlicher er-
scheint, je weniger die Schrift annulliert oder ausgelöscht werden kann. Jede Mar
ke oder jedes Graphem konserviert mit der Performanz seiner Setzung, seiner Ma-
terialität einen Rückstand: Die Inszenierung vermag sich ihrer zu bedienen, sie
einzusetzen oder auszureizen, und trotzdem wären sie dann lediglich Mittel,
ren Hintergrund oder »Fundus« (Benjamin) erneut auf ein Ereignen verwiese, die
ihr entginge: Beunruhigende, drohende oder verwirrende Widerständigkeit, die
ihrer Aneignung trotzt, und die bedingt, daß die Zeichen in ihrer Deutbarkeit ei
ner ununterbrochenen Revision unterliegen. An ihr enthüllt sich die Grenze in-
tentionaler Zurichtung. Vergeblichkeit, »etwas« zu zeigen, dem noch ein ungreif
bares Sichzeigen innewohnt. Man könnte daher sagen: Im Kalligramm werden die
Schrift und der Sinn beständig von ihrer Performanz oder der Gegenwart ihrer

68 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, a.a.O., S. 13.


202 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Materialität affiziert. Etwas bleibt in ihren Texturen, was sie aufsprengt und an
ihnen, im Sinne Benjamins, »ein Magisches« enthüllt: Unergründlichkeit ihres
Bedeutens, die »blitzartig« aus dem Ereignis ihrer Präsenz hervor-springt.

Wie sprechen?

Wiederum kündet davon eine paradoxale »Spur«, die zurückbleibt, wenn sämtli-
che Spuren und Marken verwischt sind. Der Gegensatz, auf den wir bestehen, als
eine Opposition zwischen dem Codierten und Nichtcodierten, die das Drama der
Doppelcodierung durchbricht, entstammt im weitesten Sinne dem, was wir als
Unter-Schied zwischen dem quid und quod des Zeichens ausgewiesen haben:
Seines Verweisungscharakters, seine Lesbarkeit und, auf der anderen Seite, sein
bloßes Ereignen. Diese betrifft die Funktion seines Bedeutens, das, »was« es sagt
oder beinhaltet, zuweilen auch nur andeutet, jenes, »daß« es (sich) zeigt, (sich) gibt.
Ersteres untersteht der Logik der Spaltung, die in der Verdopplung von »etwas als
etwas« zum Ausdruck kommt und aus deren Teilung sein Sinn erst hervorgeht;
letzteres bleibt innerhalb dieses Rahmens bestenfalls negativ markiert: »Daß«, im
Unterschied zu »nichts«, das nicht durch ein »als« bestimmt ist, sondern Rückhalt
bleibt, woraus die Zeichen sich abheben oder worin sie gezeichnet sind und sich
eingeschrieben haben. Keinem begrifflichen Korrelat zurechenbar, entbehrt es
jeglicher Bestimmung; es trägt nicht den Charakter eines Schnittes, der es bereits
»als etwas« gegenüber »anderem« auszeichnete; vielmehr bleibt es leer, ohne Leer-
stelle oder »leeres Feld« zu sein, das, wie Gilles Deleuze es formuliert hat, als »au-
ßerordentlich symbolisch(es)« Objekt die Serie der Zeichen konstituiert und
dennoch keiner Ordnung angehört. Weder »etwas« noch »nichts«, insofern bei-
de dem Code der Sprache entnommen sind, beschränkt es sich ebensowenig auf
eine reine Negativität, vergleichbar dem »Nichtidentischen« bei Adorno oder dem
»Weißen« bei Derrida, " der Unschuld des Blattes, in das sich die Schrift allererst
einritzt. Demnach »Fast-Nichts« (presque rien) oder Unruhe verweist es auf das
Erscheinen selbst, von dem her alles Bedeuten seine Stätte und seine Ortschaft
gewinnt: Ekstatik einer Präsenz ohne Transitivität oder »als«, das aus sich heraus-
steht, als ein Sichzeigendes, dessen Ex-sistenz kraft seiner Materialität hervor-
tritt und dem, über deren bloß negative Markierung hinaus, eine Positivität zu-
kommt.
Nicht das Daß (quod) »als« etwas ist damit angesprochen, das Ereignis als Er-
eignis, auf das im Sinne eines »Dieses« hingewiesen werden kann; wohl aber ein
Sichzeigen, ein Ereignen, das geschieht, das sich im Augenblick eines Risses, der

69 Walter Benjamin, Lehre vom Ähnlichen, a.a.O., S. 208.


70 Zum Unterschied zwischen »quidditativem« und »quodditativem Sein« vgl. insb. Friedrich Wil-
helm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 101; auch: S. 99 ff.
71 Vgl. Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus? Berlin 1992, S. 41 ff.
72 Vgl. Jacques Derrida, Dissemination, a.a.O., vor allem S. 271 ff.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 203

Plötzlichkeit einer Blöße offenbart. Von den Zugriffen des Symbolischen ausge-
schlossen, »bezeichnet« oder »bedeutet« es nichts, weil es auf nichts verweist odet
mit keinem anderem eine Verbindung unterhält, auch wenn es wiederum, in ei-
ner sekundären Bewegung, mit einer Nennung, einer Attributierung oder einer
Semantik versehen werden kann. Weder diskursiv, noch textuell oder skriptural
verfaßt läßt es sich sowenig hinreichend beschreiben wie terminologisch fassen
oder darstellen: Es ist übethaupt nicht etwas, das die Form eines Zeichens hat,
sondern es zieht sich, als das Andere des Symbolischen, quer durch dessen Prä-
senz, bewirkt seine Spaltung, die es, über die Universalität des Bedeutens hinaus,
an eine Einzigartigkeit kettet. Anwesend und doch unbestimmt, bezeichnet es
dasjenige, das sich nicht ausmachen ließe, ohne es umzuwandeln, sowenig wie es
festzuhalten wäre, ohne es zu verlieren. Es verwehrt sich jeglicher Resignifizierung
wie umgekehrt auch seiner angemessenen Lektüre oder Bestimmung, weil es den
Zeichen stets mitgängig bleibt, indem es sie heimsucht. Weise ihrer Setzung, ihrer
Gegenwärtigkeit. Doch wie davon sprechen, ohne sogleich ein anderes gesetzt zu
haben? Augenscheinlich gerät ihr Aufweis an die Grenze dessen, was sich über-
haupt sagen läßt, weil es ein »Unvordenkliches« oder »Zuvorkommendes« (Schel-
ling) reklamiert, das sich in dem Maße der Bezeichnung bedient, wie es ihre Be-
zeichenbarkeit leugnet. Auf ein Paradox verweisen, hält es sich allerdings nur so-
lange im unlösbaren Widerspruch, wie es die Sprache ausschließlich auf die dictio,
die Logik des Gesagten verpflichtet und damit - im Sinne von Emmanuel Levinas
- jedes »Sagen ohne Gesagtes« systematisch ausschließt. Jede Paradoxie setzt mit
ihrem Bezug auf eine doxa schon etwas voraus, worauf sie sich bezieht und gegen
das sie gleichzeitig Einspruch erhebt. Das Vorausgesetzte ist hiet die dictio, die
Struktur des Sagens, der Bedeutung. Die Rede von einem »Sagen ohne Gesagtes«
erweist sich dann in dem Maße als abgründig, wie sie notwendig auf einen Begriff
von Sprachlichkeit rekurriert, der deren Möglichkeiten auf diese engführt. Dem-
gegenüber hat Levinas darauf hingewiesen, daß die Sprache nur dann als »ein Sy-
stem von Zeichen« verstanden werden kann, »wenn das Wort allein Nomen wä-
re«: »Die Sprache als Gesagtes kann aufgefaßt werden als ein Nominalsystem,
das Seiendes identifiziert, und folglich als ein Zeichensystem, das die Seienden
verdoppelt, das Substanzen, Geschehnisse und Beziehungen durch Substantive
oder durch andere, von Substantiven abgeleitete Teile der Rede bezeichnet -
kurz, das bezeichnet. Indessen läßt sich die Sprache auch und mit gleichem Recht
als Verb in der prädikativen Aussage auffassen, in der die Substanzen sich auflö-
sen in Seinsweisen, in Weisen der Zeitigung, in der jedoch die Sprache nicht das
Sein der Seienden verdoppelt, in der sie das stille Erklingen des sein zur Darstel-
lung bringt.« 1 Allein als Gesagtes bliebe sie auf Ontologie kapriziert; und jeder
Versuch, in ihr ein Unsagbares auszudrücken, wäre zum Scheitern verurteilt; als

73 Vgl. Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., S. 110 ff. Es
komme, so Levinas, einer »Stumpfheit« gleich, das Gesagte allein auf die ptädikative Aussage zu
reduzieren; vgl. ebenda, S. 102.
74 Ebenda, S. 88.
75 Ebenda, S. 99, 100.
204 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

»Auswuchs des Verbes« ' aber fällt sie mit dem Ereignishaften selber zusammen:
Sie be-zeichnete oder benennte dann nicht Seiendes, sondern »ereignete« es als
Ausdruck eines Geschehens. Das Sprechen berührte so, was ihm entglitte; ihm
käme das Geschehen eines »Sich-Darbietens« oder Sichzeigens zu, nicht die
Struktur der Apophansis, des aufweisenden Aussagens. Ausdrücklich bringt sie
Levinas mit der Kunst in Verbindung, der »Zurschaustellung schlechthin (...),
die absolut ist bis zur Schamlosigkeit«, imstande, wie es weiter heißt, »das Materi-
al am Gesagten« selber zum »Singen« zu bringen.
Die Sprache bricht hier, weil sie anzuzeigen sucht, was allein einem »Werden«
zuschreibbar wäre, das nicht sie be-wirkt, sondern zuläßt: Umsprung in ein An-
deres, das begegnet. Reines Geschehen eines »Daß« (quod) oder »Fast-nichts«
(presque rien), das nicht schon unter die Struktur eines »Sprechens-über« fällt, de-
ren Satzform der Prädikation gehorchte, sondern aufweisbar allein durch »Serien
von Paradoxa« ist, deren Modus nicht die Rede wäre, die sie vereitelt, sondern das
Hervortreten selbst: geben, geschehen, zeigen, ereignenlassen. Freilich haftet auch
die Auszeichnung des Verbums weiterhin an einem Sagen, das solange unab-
wendbar erscheint, wie solches Ereignen, als das Andere des Sagens, innerhalb der
Sprache gefaßt werden soll: Indirektheit einer Anstrengung des »Redens-von«, das
keine Rede gestattet, vielmehr allein eine Geste, die, wie Wittgenstein einmal
bemerkt hat, soviel weise wie »unsagbar«. Der Übergang vom Nominalen oder
Substantivischen zum Verbalen bliebe dann unzureichend, höchstens den Geset-
zen des Diskurses selber geschuldet. Er wäre selbst noch dahingehend zu radikali-
sieren, das sogar das Sagen im Sinne des Verbums durchgestrichen werden müßte
und einzig das reine Sichzeigen übrigbliebe, das nicht spricht und dessen Bezug
allein in die Aisthesis gehörte. Es nötigte zum Schweigen: Konsequenz Wittgen-
steins, die insofern nicht in reine Mystik mündete, als sie vielmehr auf ein Vor-

76 Ebenda, S. 88.
77 Der Übergang von der Nominalform zur Verbalform deckt sich gleichermaßen mit Gilles Deleu-
zes Begriff des »Ereignisses«, wie er ihn an den Anfang seiner Logik des Sinns stellt: Weder der
Ontologie, noch überhaupt einet Zugehörigkeit zur Welt zutechenbar, beschreibt es vielmehr ein
»Werden«, das sich des begrifflichen Zugangs überhaupt verschließt. Dann kann von ihm sowe-
nig gesagt wenden, es »existiere«, wie ihm Eigenschaften oder ein Grund zugesprochen werden
könnte: »Es handelt sich nicht um Substantive oder Adjektive, sondern um Verben.« Vgl. Gilles
Deleuze, Logik des Sinns, Frankfurt/M. 1993, S. 19; auch S. 15 ff.
78 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins odet anders als Sein geschieht, a.a.O., S. 96 ff, bes.
S. 102 f. Ebenso heißt es bei Schelling in bezug auf das zuvorkommende Unvordenkliche: »(E)s
kann (...) sich zeigen«; ders., Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 167. Siehe insb. weiter
unten Tl. III, 2. Kap.
79 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins odet anders als Sein geschieht, a.a.O., S. 100. Bezeichnen-
derweise erinnert an dieser Stelle Levinas ebenfalls an Paul Valerys Dialog Eupalinos, der im Ge-
wand von Architektur die Evokation der Materialität selbst zum Gegenstand hat.
80 Vgl. Ilse Somavilla (Hsg.), Ludwig Wittgenstein. Denkbewegungen. Tagebücher 1930-
32/1936-37, Innsbruck 1997, S. 173.
81 Mit Schweigen beschließt Wittgenstein seinen Tractatus. Wir werden auf diesen Punkt, insbe-
sondere auf das Verhältnis von Schweigen und Mystik, noch zurückkommen; vgl. unten
2. Hauptstück, 2. Kap.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 205

gängiges hinwiese, der jede Sprache, sei sie Nomen oder Verbum, allererst zu fol-
gen hätte. Überall, wo es daher um die Epiphanien des Ereignens geht, wäre mit-
hin der Diskurs auszusetzen; einzig, wo im Durchriß durch die Sprache, der sich
noch der Sprache bediente, ihr Anderes zumindest als negative Spur in Erschei-
nung träte, bliebe seine Rede auf das Paradox angewiesen. Es beschränkte sich, als
katachretisches Paradox, auf die Metapher eines Übergehens. Negativ wiese es auf
etwas hin, was det Sprache entgeht; doch gewänne es seine Positivität darin, daß
es gerade der Unmöglichkeit des Sagens ent-springt: »Zuvorkommendes« (Schel-
ling), das schlechthin anders geschieht als Sagen, mithin auf keine Weise durch eine
Bestimmung oder ein Bedeuten gemeint werden kann, von dem selbst noch seine
Verbalform inadäquat spräche. " Es hat überhaupt nicht mehr die Kontur eines
Kommentars, noch die Form einer Illustration: Es thematisiert nicht, zeigt nichts
an, sondern gemahnt in einer tieferen Schicht an das Paradox des Zeichens selbst,
insofern es jeder Rede über es bereits innewohnt: Paradoxie seines Ereignens, so-
weit es stets signifiziert, was es nicht ist und nicht signifiziert, daß (quod) es ge-
schieht. Das Zeichen, gleich ob es als Funktion, differentielle Marke oder skriptu-
rale Spur gefaßt wird, trägt sich als solches aus, auf das es nicht wieder zu referie-
ren vermag und von dem keine Spur kündet. Was immer es also abbildet, mar-
kiert, substituiert oder schreibt, es bildet weder sein Ereignis noch seine Materia-
lität ab, markiert nicht das Markierende, noch vermag es seine Inskriptionen zu
inskribieren. Unbezeichenbar entzieht es sich seiner Gegenwart, gleichwie der In-
tensität seiner Performanz, seiner »Energie«, jenem »inwendigen Explosivstoff«,
worauf Friedrich Nietzsche nicht müde wurde hinzuweisen. So verbirgt jedes
Zeichen seine eigene Evokation: Diese liegt nicht in dem, was es sagt, auch nicht,
wie es sich präsentiert oder vorführt, sondern darin, daß es sich zeigt.
Etwas bleibt auf diese Weise der Universalität des Symbolischen gleichwie den
Mediatisierungen der Schrift vorgängig, das zwar in sie hineinspielt, aber hart-
näckig entwischt, das sich maskiert, sobald es habhaftbar gemacht werden soll,
das mithin stets anders erscheint, als die Zeichen je zum Ausdruck zu bringen
oder darzustellen vermögen: Undarstellbare Ex-sistenz oder Ekstatik ihrer Präsenz,
die in die Prozesse des Bedeutens eingehen, ohne beinhaltet zu sein: Differenz in
der Differenz, die durch keine Auslegung, keine wie immer durchgeführte her-
meneutische oder semiotische Technik der Deutung getilgt werden könnte, so-
wenig sie einen Schnitt, eine artikulierte Differenz duldet, durch die sie hervor-

82 Die Differenz, auf die es insbesondere Levinas ankommt, verläuft zwischen »Sagen« und »Gesag-
tem«, auch wenn er selber gelegentlich von einem »sich zeigen« spricht; vgl. ders., Jenseits des
Seins oder andets als Sein geschieht, a.a.O., S. 109. Indessen ist diese Differenz nur relevant, wo
es auf das Sagen eines Sichzeigenden ankommt. Die Bedeutung der Passagen von Divinas besteht
jedoch darin, daß er ausdrücklich die Möglichkeiten paradoxaler Rede auslotet und das Paradox
weder als ausgrenzend noch als sanktionierend versteht.
83 Vgl. Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, a.a.O., S. 157 ff. Hinweise finden sich in Anse-
hung des Begriffs des Dionysischen gleichermaßen in der Geburt der Tragödie aus dem Geist der
Musik, in: ders., Kritische Studienausgabe, a.a.O, Bd. 1, S. 28 f., 33 f., 40 ff, sowie in den frühen
sprachphilosophischen Schriften wie Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, ebenda,
S. 886 ff.
206 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

träte. Die Unterscheidung, auf die es somit ankommt, erweist sich als elementar:
Jenseits von Doppelcodierung entspringt sie der Duplizität im Symbolischen, die
bei aller Kaprizierung auf Sinn oder Verstehen unterbesetzt bleibt. Zwar kann sie
jederzeit unterschlagen oder vernachlässigt wie ebenso reinterpretiert werden;
gleichwohl erscheint sie als ein unausweichlich Zwiespältiges, Schillerndes oder
Changierendes, das die Semiose durchzieht und seine Lesbarkeit verwirrt: Unter-
schied zwischen Ereignis und Bedeutung, die der Differenz zwischen Sagen und
Sichzeigen entspricht, nicht als zwei verschiedene Formen der Symbolisierung,
wohl aber als Geschehen einer Unterschiedenheit in sich, das für deren unablässige
Verwischung sorgt. Anders als Sagen steht das Sichzeigende nicht in der Reihe der
Zeichen, ihrer Ordnung oder repräsentativen Struktur, sondern ergeht aus deren
spezifischer Ekstatik selbst, der Manifestation ihres »Daß« (quod). Das heißt aber,
das Sichzeigen liegt nicht im Symbolischen, sondern das Symbolische zeigt sich,
sofern es spricht — und zwar dadurch, daß es sich setzt. Was (quid) sich dabei
zeigt, läßt sich nicht wiederum ausmachen: Das Sichzeigen ist schlicht; es ist ohne
Tiefe; es folgt keiner »Spur«. Das will sagen: Es ist ohne Verborgenheit oder My-
sterium, vielmehr »da«, als die seine einfache Oberfläche oder Blöße seiner reinen
Gegenwärtigkeit. Es liegt daher auch, als ein Aisthetisches, im Sinnlichen: Es ist an
Wahrnehmungen gebunden, nicht an Verstehen.
Unveräußerlich und der Unvordenklichkeit des »Daß« (quod) entnommen, die
sowohl dem »Wie« als auch dem »Was« (quid) der Zeichen, ihrer Form wie auch
ihrem Inhalt irreduzibel vorangeht und sie ermöglicht, begegnet es nur, indem es
zugelassen wird. Allenfalls nachträglich ließe es sich anzeigen oder mit Interpreta-
tionen überziehen, so daß die Symbolisierung jederzeit um eine weitere Ebene
verdoppelt, gebrochen, durchkreuzt oder in Widersprüche verwickelt werden
kann: Fortwährende Möglichkeit iterativer Doppelcodierungen, die ihre reflexive
Volte bis ins Bodenlose schizoider Verwirrung zu entfesseln vermag; doch bleibt
bei aller Resignifizierung etwas, was sich in keiner Be-zeichnung oder Be-deutung
fügt- Nicbtmarkierbares Feld einer plötzlichen Abgründigkeit oder Kreativität,
Sprechen, das ins Leere weist und gerade dadurch einen Bruch bewirkt oder auf
eine diffuse und unerratbare Spur führt, die sich von keiner vorherigen ableiten
läßt. Entsprechend gibt es von ihr auch keine Wissenschaft: Was sich unwieder-
holbar und einzigartig ereignet, entzieht sich dem Diskursiven, bleibt unbestimmt,
flüchtig, eine fragile und kaum faßbare »Spur« ohne Spur. Keine Logik, keine Re-
gel oder Grammatik vermögen es zu fixieren; es manifestiert sich relativ zum Ge-
sagten, ohne von ihm ausgesagt zu wenden, aber auch nicht von ihm abzuziehen
ist. Und trotzdem scheint es hinsichtlich der Auslegung oder Lesbarkeit der Zei-
chen nicht gleichgültig zu sein. Reine Singularität, die den Ordnungen des Sagens
selbst beigelegt ist, untergräbt es, als deren Alterität, unablässig ihre Produktivität.
Deshalb gilt nicht nur, daß die Zeichen nicht beliebig in Umlauf gebracht wer-
den können, ohne sich zu transformieren, nicht einmal, wie Derrida gegen John
Searle eingewandt hat, daß sie in ihrer Iterabilität ständig ihr eigenes »alter«
miterzeugen, sofern sie, nach den Erfahrungen der Psychoanalyse, bei jeder Gele-
genheit ihrer Wieder-Holung den Platz tauschen und sich neu konstituieren müs-
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 207

sen - ein Umstand, der um so mehr für die kreative Anwendung der Sprache in
immer neuen Kontexten gilt, der aber zweifellos auch schon, wie Slavoj Zizek
bemerkt hat, für jeden einzelnen Akt, für das Selbstzitat zutrifft, insofern ihnen
mit jeder Verdopplung bereits eine Verschiebung eignet. Vielmehr gibt es
haupt kein Bedeuten, dem nicht, kraft seiner Setzung und seiner Materialität eine
Einmaligkeit und damit auch Undeutbarkeit zukäme: Verstehbares, das immer
schon mit einer Nichtvetstehbarkeit affiziert ist; Sinn, der zugleich einen Nicht-
sinn birgt. So wäre denn auf eine Vergessenheit aufmerksam zu machen:
heit sowohl des Ereignisses als auch seiner Materialität, damit auch Ausblendung
der Gegenwärtigkeit der Zeichen, ihrer Einzigartigkeit, die der Abwertung, det
Gleichgültigkeit des Diskurses gegenüber seiner unumgänglichen Verkörperung
entspricht, und welcher auf der anderen Seite die jahrhundertealte Aufwertung
des Sinns, seiner Beinhaltung odet Logik der Interpretation gegenübersteht. ' Sie
revidieren bedeutet, jene Präsenz zu rehabilitieren, die, der Dekonstruktion Der-
ridas gemäß, den Ausgang der Geschichte der Metaphysik und den Grund der Ir-
releitungen des abendländischen Diskurses ausmachte - Präsenz freilich, nicht in-
sofern sie die Anwesenheit der Wahrheit oder des Seins bekundete, sondern in-
dem sie ekstatisch aus sich selbst heraussteht und darin das Denken stets von neu-
em verwirrt oder wieder ins Erstaunen versetzt.
Notwendig existiert damit ein Rest in jeglichet Signifikation, der wiederum
durch keine Signifikation einholbar wäre: Sichzeigen, das nicht ein anderes Sagen
ist, sondern schlechthin »Anderes-als-Sagen«. Deswegen kann man auch nie ge-
nau wissen, was man sagt, noch was ein anderer auszudrücken sucht, sowenig wie
wir umgekehrt das zu beherrschen vermögen, was wir zum Ausdruck bringen
oder zu verstehen geben, weil nie klar ist, was sich im Gesprochenen mitsetzt. Sol-
che Setzung geschieht, unbeherrscht, unkontrollierbar und nichtintentional, und
sein Ereignis transformiert die Register des Sagens gleichwie des Zeigens auf eine
selbst undarstellbare Weise. Schon aus diesem Grund scheitern die Finalisierun-
gen der Auslegung, die Annahmen eines letzten hypothetischen »Interpretanten«,
der die endgültige Aufklärung des Gesagten besorgte. Aus dem gleichen Grunde

84 Vgl. Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext a.a.O., S. 334, 341 ff.
85 Slavoj Zizek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1993,
bes. S. 42.
86 Dutchgängig ist Rolle solchen Sichzeigens semiotisch heruntergespielt worden. Die strikte Diffe-
renz zwischen Ereignis und Bedeutung, mithin die radikale Abttennbarkeit des Sinns von den
Modalitäten seiner Setzung und Verkörperung, erweist sich geradezu als konstitutiv für die Ge-
schichte der Zeichentheorien. Dem entspricht die neuzeitliche Verdrängung der Leiblichkeit, wie
sie aus der cartesischen Trennung zwischen Körper und Geist folgt und noch thematisch in ver-
wandten Reflexionen bis zu Hilary Putnams »Gehirnen im Tank« bleibt; vgl. ders., Vernunft,
Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M. 1990, S. 1 5 ^ 0 .
87 Ein solches Ideal etschöpfender Auslegbarkeit beseelt, ganz im Lichte von Aufklärung, sowohl die
philosophische Hermeneutik Wilhelm Diltheys als auch die pragmatische Semiotik Charles San-
ders Peirce', die mit den Figuten des »hermeneutischen Zirkels«, der das Verstehen in Form kon-
zentrischer Kreise beharrlich erweitert, oder einer approximativen Annäherung an eine »final opi-
nion« ihre tiefe Affinität bezeugen. Vgl. dazu bes. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtli-
chen Welt, Frankfurt/M. 1970 sowie Charles Sanders Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung,
208 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

gibt es auch keinen konsistenten Konstruktionalismus, sowenig wie ein wider-


spruchsfreier Semiotizismus oder eine universale Hermeneutik gelingen können:
Die Zeichen werden vielmehr besessen von einem grundlegenden Chiasmus:
zeigen, das nicht spricht, und Sprechen, das nicht sagt, was es zeigt. Er erweist
sich als doppelt gekreuzt: Chiasmus der Materialität und Chiasmus der Setzung.
Liegt nicht darin das rätselhafte Gefühl jener Unzulänglichkeit, die den Sprecher
beschleicht, sobald er spricht - als ob er stets etwas anderes sagte als er sagt, als ob
das Wort im Augenblick seines Aussprechens enteignet sei, wie umgekehrt die
ebenso persistente Hoffnung wie unausrottbare Illusion einer Identität, als
könnte je eine Übereinstimmung glücken, die nicht sogleich wieder verdunstete,
d.h. das Verlangen nach einer Erfüllung, die sich in die Rede gleichwie ins Begeh-
ren eingräbt, daß sie endlich heile, und die sie gleichwohl nur um so unerbittli-
cher wieder von sich fortreißt: Unausräumbare Differenz im Symbolischen, die in
die Obhut des Sagens zurückgeholt werden soll, statt un-heilbarer Unter-Schied
zwischen Sagen und Sichzeigen zu bleiben? Und wird nicht Verwandtes gespürt,
wenn beispielsweise Artaud davon spricht, daß die Wörter das Denken »anhal-
ten«, es »paralysieren« — oder daß der Sinn, wie es wiederum Octavio Paz ausge-
drückt hat, stets außerhalb des Textes liege, so daß die Worte unentwegt »auf die
Suche nach ihrer Bedeutung« seien, ihrem Ungesagten, das nicht nur jenseits des
Gesagten bliebe, sondern mit jeder Lücke, jedem Zögern immer wieder neu
auftauchte? »Die Poesie ist leer, wie die Lichtung auf einem Bild von Dadd: Sie
ist nichts als der Ort der Erscheinung, der zugleich der Ort der Verflüchtigung
8«)

ist.«
Untilgbar bleibt den Zeichen ein Entzug eingezeichnet: Unüberbrückbare
Kluft zwischen der Bedeutung und dem Geschehen ihres Bedeutens, der Schrift
und dem Geschehnis der Schreibung. Es setzt sie jeweils von neuem in ihre Singu-
larität aus und erteilt ihnen ein Gewicht, eine Gravitation, die ungreifbar und
wildwüchsig die »Machenschaften des Sinns« (Barthes) beugt, sie stört und in ih-
nen ein chronisch Unabgegoltenes erzeugt: Vexierende Gestalt, woraus Sinn ent-
steht, wie er sich gleichwohl nirgends erfüllt, Ent-Eignung, die anzeigt, daß wir

sowie: ders., »Wie unsere Ideen zu klären sind«, in: ders., Schriften, Bd. I, a.a.O., S. 293-325 und
S. 326-358: CP. 5.358-5.387 u. 5.388-5.410. Vgl. auch weiter unten Tl. IL, 2. Hauptstück,
1. Kap. Noch bei Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas dominiert, von Peirce her, die Illusion
einer »idealen Verständigung« als regulative Idee gelingender Kommunikation, an der deren
Entfremdung oder Verzerrung gemessen werden könnte, als gäbe es je eine Deckung ohne den
Preis einer restlosen Tilgung dessen, was wir als stets »Rückständiges« herauszustellen versucht
haben: vgl. etwa Karl-Otto Apel, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die
Grundlagen der Ethik, in: ders., Transformation der Philosophie, 2 Bde, Frankfurt/M. 1973,
S. 358—435, sowie exemplarisch J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der
kommunikativen Kompetenz, in: J. Habermas, Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder
Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1971, S. 101-141 u. ders., Was heißt Universalpragmatik?,
a.a.O.
88 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, a.a.O., S. 119.
89 Octavio Paz, Der sprachgelehrte Affe, Frankfurt/M, 1982, S. 105 und 109, sowie S. 124.
DIFFERENZ IN DER DIFFERENZ 209

nicht der Eigner unseres Sagens sind, die das Gesagte im Augenblick seiner Set-
zung bereits ent-wendet hat und seine Ankunft vereitelt. »Manche Wirklichkei-
ten«, heißt es mit fast unheimlicher Konkordanz zu dem hier Ausgeführten
abermals bei Octavio Paz, »kann man nicht ausdrücken, doch, ich zitiere aus dem
Gedächtnis, >sie sind das, was sich in der Sprache zeigt, ohne daß die Sprache es
ausdrückt«. Sie sind, was die Sprache sagt, indem sie es nicht sagt. (Was in der
Sprache sich zeigt, ist weder das Schweigen (...) noch das, was das Schweigen
sagte, wenn es spräche, wenn es aufhörte Schweigen zu sein, sondern ...) Was in
der Sprache spricht, ohne daß die Sprache es spricht, ist (...) das, (...) was zwi-
schen einem Satz und einem anderen erscheint, in diesem Spalt, der weder
Schweigen noch Rede ist (...).« Es wäre der Spalt ihres Ereignens. So trägt sich
in die Spur der Zeichen ein seltsames, instabiles Schwanken ein: Indefinitheit ih-
res Sinns oder Nichtaufgehendes, das nicht nur ihre Unendlichkeit oder Offen-
heit markierte, auch nicht die Unabschließbarkeit ihres Kontextes, der ihre
schlüssige Interpretierbarkeit nie zu einem Abschluß kommen läßt," sondern
Unsagbarkeit schlechthin. Und doch bezeugt sie keine Defizienz, keine grundle-
gende Verfehlung: Dem Symbolischen eignet nicht das Gebot einer Überein-
stimmung, das Versprechen, mit seinem Inhalt eins zu werden, um nicht mehr an
seinem Riß zu leiden, vielmehr erfüllt sich kein Gesagtes in dem, was es aus-
drückt oder worauf es anspielt oder referiert; stets manifestiert sich an ihm ande-
res, als es sagt, sogar was an ihm sagbar wäre: Überschuß, der sich in seinem Sinn
preisgibt: Fülle seines Ereignens, das sich offenbart, indem überhaupt etwas be-
zeichnet oder gesprochen worden ist.
Jeder Symbolisierung entspricht schließlich diese doppelte Kontur, ohne damit
sogleich schon doppelt codiert zu sein: Mangel und Überschuß zugleich: Mangel
des Sagbaren, dem insofern ein Unaussprechliches innewohnt, als es sich in die
Immaterialität des Bedeutens immet schon zurückgenommen hat und darin un-
erfüllt bleibt, sowie Überschuß des Sichzeigens, des Ereignens, das die Zeichen setzt
und ihnen darin immer schon »zuvorgekommen« ist. Jede Signifikation erweist
sich dann stets weniger und mehr als sie bedeutet: Weniger, weil sich die
Erfüllung ihres Sinn schuldig bleibt; mehr, weil sie zeigend die Möglichkeiten
des Sinns schon überschritten hat. Es gibt somit eine Transzendenz im

90 Ebenda, S. 22, 23.


91 Eben dies wäre das Pathos der Semiotik von Charles Sanders Peirce bis Umberto Eco, die das Pa-
radox der Setzung und Materialität, jener unauflösbare Rest, der den Zeichen entgeht, erneut in
die Reihe der Zeichen einzugemeinden sucht, um ihn auf diese Weise wieder von sich abzusto-
ßen; vgl. etwa Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, a.a.O., sowie ders., Einfuhrung in die Se-
miotik, München 1972. Die Unbestimmtheit, sogar der Chiasmus zwischen Ereignen und Be-
deutung, läßt das Zeichen und seine Interpretation, die Wege der Deutung nicht nur offen, son-
dern durchkreuzt sie, impliziert auf eine zuweilen unheimliche Weise ein Scheitern, eine Ent-
fremdung.
92 Dies wiederum folgt aus der Dekonstruktion des Kontextualismus bei Derrida; vgl. vor allem
ders., Signatur Ereignis Kontext, a.a.O.
210 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Symbolischen, eine Überschreitung seines Bedeutens, die seiner Ekstatik, seiner


Materialität und den Potenzen seines Andersseins entstammt. Sie behalten das
Moment einer Unverfügbarkeit ein, das auf keine Weise zu kontrollieren oder zu
sanktionieren wäre, das dem Gesagten vielmehr stets von neuem seine stillen
Modifikationen untetschiebt, es kreuzt, irritiert oder gelegentlich sogar ganz ver
eitelt.
2 . HAUPTSTÜCK:
DUPLIZITÄT U N D PARADOXIEN DER ZEICHEN

1. KAPITEL:
ONTO-LOGIK DER SUBSTITUTION: PARADOXIE UND
UNENDLICHE REKURSION (FOUCAULT, PEIRCE, DERRIDA I)

Es ist die Welt der Worte, die die Welt der


Dinge schafft. (...) Der Mensch spricht abo,
aber er tut es, weil das Symbol ihn zum
schen gemacht hat.
Jacques Lacan

Metaphysik und Geschichtlichkeit des Zeichens

Was ein Zeichen »ist«, erlaubt ganz unterschiedliche Erklärungen und Definitio-
nen. Wir hatten heuristisch zwei Wege unterschieden: den Weg der Semiotik, re-
präsentiert vor allem durch Gottlob Frege, Charles Sanders Peirce, Ludwig Witt-
genstein und Nelson Goodman; sowie den Weg der strukturalen Semiologie, ver-
körpert durch die Genfer Schule Ferdinand de Saussures und ihrer Nachfahren.
Wir werden in den folgenden drei Kapiteln den semiotischen Strang verfolgen:
Die Bestimmung des Zeichens, trotz aller Disparatheit im Detail, als Funktion.
Dabei kann der Begriff der Funktion selbst wiederum Unterschiedliches meinen:
Ersetzung von etwas durch etwas anderes (Substitution), Vergegenwärtigung einer
Abwesenheit durch eine Anwesenheit (Repräsentation) oder Bezugnahme auf et-
was mittels eines Ausdrucks, der es be-zeichnet oder be-deutet (Referenz). Wir
werden deren formale Strukturen noch genauer zu analysieren suchen. An dieser
Stelle interessiert zunächst nur ihre Historie, die Wandlungen der Problemstel-
lung, die sich aufs Innigste als mit den Rätseln der Metaphysik, der Verbürgung
einer Wahrheit oder Präsenz verquickt erweist. Die Zeichen, die in die Ge-
schichte treten, um auf für etwas zu stehen, was sie nicht sind, enthüllen daran
ebensosehr die Permanenz ihrer Fraglichkeit wie die Vergeblichkeit deren Beant-
wortung. Denn wie die Verwunderungen (thaumata) des metaphysischen Den-
kens mit der Frage anheben, »was« etwas »ist« (ti hen einai), wofür eine Bestim-
mung einsteht, die nur dann als wahr gilt, wenn sie begründet werden kann," so

1 Vgl. nächstes Kap.


2 Wir orientieren uns hierbei an jenem Begriff von Metaphysik, wie ihn Aristoteles formuliert, vgl.
ders., Metaphysik, Buch III, 1003a, nach: Die Lehrschriften, übers, v. P. Gohlke, Paderborn,
2. Aufl. 1991, S. 107. Vgl. dazu ferner auch: Martin Heidegget, Phänomenologische Interpreta-
212 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

erlauben sie umgekehrt ihre bruchlose Übersetzung in die Geheimnisse des Be-
griffs, des Urteils oder der Sprache und ihrer Übereinstimmung mit dem, was sie
jeweils beinhalten, aussagen oder meinen. Sie rufen ihrerseits bereits das ganze
Zeichenproblem im Sinne von Re-Präsentation und Erfüllung auf. Beide Problem-
stellungen gehören zusammen: Der Zeichenbegriff der Repräsentation erscheint
metaphysisch vorbelastet, weil er als Re-Präsentation bereits eine Differenz von
Gegenwärtigkeit und Ver-Gegenwärtigung voraussetzt, während die Metaphysik
umgekehrt repräsentationalistisch verfährt, insofern sie im Satz die Wahrheit des
»Wesens« festzuhalten und mitzuteilen trachtet. Kurz, sämtliche Fragen der Me-
taphysik, Ontologie und Wahrheitstheorie lassen sich vollständig im Gewand von
Semiotik wiederholen.
Allerdings ist damit von vornherein eine Vorentscheidung in zwei Richtungen
getroffen: Wie die Metaphysik der Logik der Apophansis, der Struktur von Auf-
weisung und Prädikation untersteht, so die Semiotik der Struktur der repräsenta-
tio: historisch dominiert die Vorstellung des Zeichens als Substitut oder Platz-
halter. Beide beruhen auf der Unterstellung eines Risses, einer ursprünglichen
Differenz: Etwas wird »als etwas« bestimmt - bzw. etwas steht »für etwas ande-
res«. Das »als« beinhaltet bereits mit der Trennung, die es vornimmt, eine Be-
zeichnung, wie umgekehrt die Substitution eine Spaltung vornimmt, die das
»Als« erst erlaubt. Und wie darüber hinaus die Wahrheit der Prädikation in der
Einheit von Begriff und Sache wurzelt, deren Grund wiederum, gemäß Heideg-
ger, ein Anwesendes ist, so bildet das Zeichen selbst eine Gegenwart, die für eine
Absenz einsteht, freilich so, daß diese allererst durch die abwesende Anwesenheit
erfüllt wird. Hier wie dort bildet also eine Präsenz das Maß, die Bürgschaft, und
hiet wie dort geht es um das Wahre bzw. um eine Erfüllung, die ihren Grund in
deren Unschuld findet. Beide Problemkreise treffen und überschneiden sich also
und beweisen darin ihre Parallelität. Apophansis und Repräsentation, Adäquatio
und Erfüllung korrespondieren einander, was schließlich Frege ermöglichen wird,
Begriff und Sign-fikation unrer dem gemeinsamen Dach der Funktionalität zu
diskutieren. Es ist diese Korrespondenz, aus der die funktionale Zeichentheorie
ihre sich durch die Geschichte der Metaphysik durchziehende Evidenz und Stel-
lung bezieht: Das Zeichen als Form einer Relation, als Zuordnung, die eine Bezie-
hung zwischen zwei Positionen herstellt, zwischen denen es vermittelt. Sie ge-
stattet, die Thematiken der Bestimmung, der Wahrheit und ihrer Beglaubigung

tionen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, Freiburger Vorlesung


1921/22, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 61, Frankfurt/M. 1985; ders., Einführung in die Meta-
physik, Freiburger Vorlesung 1935, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 40, Frankfurt/M. 1983.
3 Vgl. ders., Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Marburger Vorlesung 1925/26, in: ders., Ge-
samtausgabe Bd. 21, Ftankfurt/M. 1976, bes. § 12, S. 135 ff; ders.. Was ist Metaphysik, Frank-
furt/M. 9. Aufl. 1965; ders.. Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, in: ders., Identität
und Differenz, Pfullingen 6. Aufl. 1978, S. 31-67; ders.. Was heißt denken? in: ders., Vorträge
und Aufsätze, S. 123-137, bes. S. 135 ff
4 Vgl. Gotdob Frege, Funktion und Begriff, in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung, Göttingen
1962, S. 18-39, bes. S. 18, 20, 22 f.; ders., Begriffsschrift und andere Aufsätze, Darmstadt 1977,
bes. S. 15 f.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 213

im Licht von Identifikation, Abbildung oder Darstellung aufzuwerfen. Entspre-


chend hatte Frege am Funktionsausdruck das Kennzeichen der »Ergänzungsbe-
dürftigkeit« hervorgehoben: Kein Zeichen erfüllt sich selbst; jedes »meint« etwas,
bedarf eines Anderen, auf das es sich bezieht: »Es handelt sich immer darum, mit
einem Zeichen einen Sinn oder eine Bedeutung zu verbinden. Wo Sinn und Be-
deutung ganz fehlen, kann eigentlich weder von einem Zeichen, noch von einer
Definition die Rede sein.« D.h. das Zeichen wird von Anfang an aus einer Diffe-
renz begriffen, jedoch so, daß der Unter-Schied gesetzt wind, um ihn wieder aus-
zustreichen: Differenz, die einerseits sein Funktionieren als Zeichen garantiert,
wie es andererseits die Funktion des Zeichens ist, sie stets von neuem zu annullie-
ren.
Historisch untersteht damit die funktional ausgerichtete Semiotik von Anfang
dem Bann eines metaphysischen Repräsentationalismus, den sie beerbt und dessen
Struktur sie ebenso weiterschreibt, wie sie seine Schwierigkeiten und Paradoxien
einbehält. Wir werden ihr Schicksal und ihre Lösungsversuche verfolgen: Von
der Geburtsstunde des Repräsentationsparadigmas bei Aristoteles, über die Sub-
stitutionslehre des Nominalismus bis zu Peirce' Versuch, deren interne Paradoxi-
en mittels einer unendlichen Rekursionen zu bewältigen; ein Versuch, der zuletzt
noch durch die Radikalität einer Nicht-Präsenz oder Nicht-Garantie der »Schrift«
bei Derrida und anderen überwunden wird. Schrittweise erfolgt damit zugleich
eine Loslösung oder Befreiung des Zeichenproblems von seiner metaphysischen
Bürde: Seine Radikalisierung fällt mit der Kritik von Metaphysik überhaupt zu-
sammen. Nahezu sämtliche philosophischen Projekte der Gegenwart konvergie-
ren in der Entkopplung des Symbolischen vom Realen und der Auszeichnung des
Sinns gegenüber dem Wahren, der Legitimität von Urteilen über die Welt. An
deren Stelle tritt ein Immanentismus der Interpretation (philosophische Herme-
neutik: Gadamer), das »Spiel« der differance (Dekonstruktion: Derrida) oder die
pure Konstruktion (Konstruktivismus: Luhmann, Goodman). Sie haben jede
Orientierung an das Prinzip der Methode, an verbindliche Rationalitätskriterien
oder die Einheit der Vernunft abgestreift; vielmehr rückt die »Sprache«, ebenso
wie die Vielzahl anderer Zeichen- und Symbolsysteme in die Anonymität eines
Geschehens, das sich jenseits von Ursprung, Autorschaft oder »Authentizität« un-
aufhörlich prozessiert. Bedeutung erscheint dann nurmehr als »Effekt« einer offe-
nen Struktur von Möglichkeiten, das in einer permanenten Erzeugung, Verschie-
bung oder »Drift« begriffen ist — ohne Nostalgie, wie Derrida es ausgedrückt hat,

5 Ders., Funktion und Begriff, a.a.O., S. 22 sowie S. 20, Anm. 4.


6 Dies gilt insofern gleichermaßen für Frege wie für Edmund Husserl, die sich gleichwohl an des-
sen Schwelle befinden, insofern sie bereits »Sinn«« und »Bedeutung«« bzw. »Bedeutung« und »Be-
zeichnung« trennen, jedoch beide die »Erfüllung« eines Zeichens durch seinen Gegenstand oder
dessen Vorstellung privilegieren. Vgl. Gottlob Frege, Über Sinn und Bedeutung, in: ders., Funk-
tion, Begriff, Bedeutung a.a.O., S. 40-65; Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, 2 Tle.,
Tl. H/1, Tübingen 5. Aufl. 1968, 1. Untersuchung, S. 23-105.
7 Siehe dazu auch die Einleitung meiner Anthologie, D. Mersch, Zeichen über Zeichen, a.a.O.,
bes. S. 28 ff.
214 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

nach dem unmöglichen »Grund« oder dem »Heimweh« endlicher Erfülltheit,


vielmehr als »Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne
Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist. Diese Bejahung bestimmt demnach
das Nicht-Zentrum anders denn als Verlust des Zentrums. Sie spielt, ohne sich abzu-
sichern. (...) Im absoluten Zufall liefert sich die Bejahung überdies der geneti-
schen Unbestimmtheit aus, dem seminalen Abenteuer der Spur.«
Die Radikalität det Konsequenz kennzeichnet indessen den Schlußpunkt einer
Bewegung, die mit der Metaphysik des Zeichens als Onto-Logik der Substitution
ihren Anfang nahm und sich seither in Unruhe hält. Sie führt zurück auf die tra-
ditionsmächtige Definition des Aristoteles, wonach ein Zeichen etwas vertritt.
Gegenwart für eine Nicht-Gegenwart, Ausdruck für einen Eindruck oder Sinnli-
ches für ein Intelligibles, deren Differenz seine Möglichkeit ebenso setzt, wie sie
seinen Begriff in Widersprüche verwickelt. Entwickelt im Kontext der Organon-
lehre entfaltet die Bestimmung eine über Jahrtausende anhaltende Wirksamkeit,
die sich besonders im Nominalismus Wilhelm von Ockhams und dem englischen
Empirismus niederschlägt und die die klassische Neuzeit nicht loslassen sollte.
Dabei erscheint det griechische Text durchaus nicht eindeutig; vor allem die Sub-
stitutionslehre, die er nahelegt und die seinen Einfluß in der Tradition begrün-
det, bleibt umstritten. Ausgehend von der antiken Ontologie, die eine Selbstprä-
senz der Dinge (autä tä prägmata) unterstellt, deren »Abdrücke« (pathemata) die
Seele »erleidet«, um ihnen Zeichen »entsprechen« zu lassen, stiftet sie eine Ver-
bindung, die in der Geschichte der Semiotik die problematische Stelle ausweisen
und ihre Onto-Logik begründen wird: »Nun sind die (sprachlichen) Äußerungen
(tä hen te phone) unserer Stimme ein Symbol für das, was (beim Sprechen) unse-
rer Seele widerfährt, und das, was wir schriftlich äußern, (ist wiederum ein Sym-

8 Vgl. Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom
Menschen, a.a.O., S. 442, auch S. 440 ff. Habermas schlägt die Philosophie des Poststruktutalis-
mus insgesamt umstandslos einem erneuten L'rsprr.ngsdenken zu, vg'. ders., Der ph'losophische
Diskurs der Moderne, a.a.O., vor allem S. 191 ff. Dagegen Heinz Kimmerle, Ist Derridas Den-
ken Ursprungsphilosophie? in: Manfred Frank, Gerard Raulet, Willem van Reijen (Hsg.), Die
Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, S. 267-282. Zudem sind die mannigfachen Kon-
vergenzen, die sich zwischen den verschiedenen hermeneutischen, analytischen und dekonstruk-
tiven Philosophien ergeben, obzwar sie auf der Hand liegen, noch weitgehend unbearbeitet. Ei-
nen ersten Vergleich zwischen der Symboltheorie Nelson Goodmans und der Dekonstruktion
Derridas liefert insbesondere Simone Mahrenholz, Jacques Derrida und Nebon Goodman: Zum
Verhältnis (post-)analytischer und (post-)strukturalistischer Zeichentheorie, in: Julian Nida-Rümelin
(Hsg.), Rationality, Realism, Revisions. Perspective in Analytical Philosophy, Berlin New York
1999, S. 254-264.
9 Vgl. Aristoteles, Peri hermeneias, 16a-17a, a.a.O. S. 3-6 (siehe oben Tl. I, 3. Kap.), sowie die
erläuternden Anmerkungen von H. Weidemann ebenda S. 133-153. Entgegen traditionellen
Auslegungen, die die Binarität des Schemas betonen, reformuliert H.H. Lieb die Zeichentheorie
des Aristoteles allerdings im Lichte einer ineinandergeschachtelten Triplizität, vgl. ders., Das se-
miotische Dreieck« bei Odgen und Richards: eine Neuformulierung des Zeichenmodells von Ari-
stoteles, in: H. Geckeier, B. Schlieben-Lange, J. Trabant, H. Weydt (Hsg.), Logos Semantikos.
Studia Linguistica in Honorem Eugenio Coseriu, Bd. 1, Berlin New York Madrid 1981, S. 137-
156, bes. S. 148 f. Sie läßt sich alletdings in eine zweifache Kette verwandeln: Abbildungen (ho-
moiomata) von Eindrücken (pathemata) in Laute und von Lauten in Schriftzeichen.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 215

bol) für die (sprachlichen) Äußerungen unserer Stimme. Und wie nicht alle
(Menschen) mit denselben Buchstaben schreiben, so sprechen auch nicht alle die-
selbe Sprache. Die seelischen Widerfahrnisse aber, für welches dieses (Gesproche-
ne und Geschriebene) an erster Stelle ein Zeichen ist, sind bei allen (Menschen)
dieselben; und überdies sind auch schon die Dinge (prägmata), von denen diese
(seelischen Widerfahrnisse) Abbildungen (homoiomata) sind, für alle dieselben.«
Aristoteles formuliert so einen doppelte Repräsentation, deren Bezugspunkt wie-
derum »bei allen gleich ist«, wobei sich die erste Relation zwischen Eindruck und
Ausdruck als strikt konventionell erweist, die zweite zwischen Ausdruck und
Schrift als arbiträr. Aus der Zweideutigkeit der Relationen werden sämtliche Zei-
chenmodelle zwischen Nominalismus und Strukturalismus hervorgehen, doch ist
entscheidend, daß die Autorität der Abbildung (homoiomata) letztlich in der Evi-
denz der Widerfahrnisse (pathemata) wurzelt, die unzweifelhaft bleibt: Die Zei-
chen re-präsentieren eine Wirklichkeit, die ihnen vorgängig bleibt und deren
Form (eidos) sich der Seele imprägniert, für die diese selbst Formen bereitstellt. Es
sind mithin Formen für Formen, deren Zuordnung sich als strikt linear erweist,
und zwar gleichgültig, ob es sich dabei um Laute oder Schriftmarken, um Ideen
oder Bildnisse und dergleichen handelt. Durchgängig unterstehen sie einem Pri-
mat des Gegebenen, auf das sie referieren, weil die Kette der Begründungen mit
der Unwandelbarkeit des Wirklichen beginnt, für deren Widerhall sie höchst
wandelbare Korrespondenzen liefern. Eingelassen in eine ursprüngliche
struktur, die dem Aisthetischen den Vortritt gibt, funktionieren sie dabei
tisch, doch so, daß das Mimetische auf Widerfahrnisse reagiert, was nicht mit pas-
siver Abbildlichkeit verwechselt werden darf. Entscheidend ist vielmehr die
Struktur selber, nicht die Zeichen, derer sie sich bedient, weshalb sie weder, wie
noch die Herkunftsfrage in Platons Kratylos suggeriert, " einem göttlichen Demi-
urgen noch der Physis zugeschrieben werden können: »Natürlich« sind allein die

10 Aristoteles, Peri hermeneias, 16a 3-8, a.a.O., S. 3 (Übers, nach H. Weidemann).


11 Mimesis ist ein schwer auszulotender Begriff. Es erscheint unzulänglich, ihn für die Antike als
»Nachahmung« im Sinne der zweistelligen Relation der Repräsentation zu übetsetzen, auch wenn
er in die bindende Instanz einer vorgängigen Präsenz verortet bleibt. Denn der Mimesis wohnt in
seiner antiken Bedeutung sowohl der primäre Charakter einer Responsivität inne, wie sie stets an
einem Ideal von Vollkommenheit orientiert bleibt, die jedes Menschliche dem Göttlichen unter-
stellt. Im Sinne passiver Abbildung wird er freilich gleichermaßen von Roland Barthes in ders.,
S/Z, Frankfurt/M. 1975 perhorresziert, wie von Jacques Derrida in Dissemination, a.a.O.,
S. 271 ff. dekonstruiert oder von Gilles Deleuze und Felix Guattari in Tausend Plateaus, a.a.O.,
sowie von Jean-Francois Lyotard im Über die Stärke der Schwachen, in: Patchwork der Minder-
heiten, Berlin 1977, S. 77, zurückgewiesen. Ein positiver Sinn des Mimetischen behält sich dem-
gegenüber sowohl bei Walter Benjamin, Lehre vom Ähnlichen, a.a.O., sowie ders., Über das
metische Vermögen, in: ders. Gesammelte Schriften, II. 1, Frankfurt/M. 1977, S. 210-213; wie
ebenso bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M.
1988, S. 189-191: Det genuin kulturellen Fähigkeit eignet ein Gesetz von Ähnlichkeit, dessen
Verkümmerung geradewegs in jene Reduktion des Ästhetischen führt, wie sie der Kulturindustrie
entspricht. In ähnlicher Weise wird der Begriff neuerdings bei Michael T. Taussig, Mimesis und
Alterität, Hamburg 1997, sowie bei Rene Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M.
1992 wieder rehabilitiert.
12 Piaton, Kratylos, a.a.O.
216 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Dinge und ihre seelischen Prägungen, wohingegen die Zeichen, als Laute, bloße
Setzungen bilden, die wiederum ihren Grund in der Geschichte der Überliefe-
rung finden. Erst von dort her ergibt sich die Frage nach ihrer Wahrheit oder
Falschheit, der Bejahung und Verneinung von Aussagen und ihren Kontradiktio-
nen, so daß die Beurteilung ihrer Angemessenheit oder Täuschung einzig dem
gos obliegt, der sie als dritte Instanz verwaltet und darin seine Autonomie bekun-
det. Wenn auch in ihrem Bestand kontingent, kommen den Zeichen damit kei-
nerlei Eigenständigkeit zu: Das Symbolische, nicht in der Lage, sich selbst zu
halten, bedarf des Vorrangs der Vernunft, um die Beziehung, die es stiftet, zu be-
glaubigen.
Die Begründung der Zeichentheorie beginnt so mit der Instantiierung einer
Repräsentationalität und deren Rückbindung an den logos, d.h. der Verankerung
in anderem als dem Zeichen. Sie wird in der Folgezeit allerdings wieder zerbre-
chen: Für die spätantike Stoa treten logos und Sprache, die zuvor noch als eins
galten, auseinander, so daß sich die Verbindlichkeit der Verbindung auflöst und
das Zeichen seine Gewißheit wieder verliert. Entsprechend werden die Masken
des Sagens die Glaubwürdigkeit des Gesagten verwirren und die Zweifel an der
Stimmigkeit der Rede neu aufwerfen. Denn vom logos der Seele (endiäthetos) un-
terscheidet sich die Performativität der Stimme (prophorikös), weshalb Zeichen
und Vorstellung, Aussage und Gedanke grundsätzlich divergieren. Nicht nur
vermag die Sprache Falsches zu sagen oder sich im Mantel des Wortes zu verklei-
den, sondern auch der Gedanke kann als vage, falsch oder unbestimmt gelten, so
daß die vormals gefaßte Differenz von logos und doxa durch ein Drittes ergänzt
werden muß, das grundsätzlich Unsicherheiten in bezug auf Status und Wahrheit
des Ausgedrückten zuläßt. So behauptet sich gegenüber dem Vorrang des logos
eine Autonomie der Sprache und ihrer Bedeutungen, so daß die Zeichen nicht
nur dreiwertig gefaßt werden müssen, sondern sich zugleich zu einem kompletten
symbolischen Theater verdichten, das mannigfache Verkettungen und Spiegelun-
gen zuläßt, ohne einen Halt oder eine Mitre zu finden. Denn beides, Zeichen wie
Bezeichnetes, erhalten ihren Ort im Symbolischen, so daß ihm nicht länger ein
rationaler Sinn zukommt; vielmehr verkörpert es selbst ein »Sein«, eine eigene
»Welt«. Die Vorstellung wird sich, wie es Michel Foucault in der Ordnung der
Dinge ausgeführt hat, noch über das Mittelalter bis in die späte Renaissance hal-
ten und ein Universum aus Ähnlichkeiten und Analogien entfalten, dessen »pro-

13 Vgl. dazu: Stoa und Stoiker. Die Gründer Panaitios, Poseidonios; eingel. u. übertr. v. Max Poh-
lenz, Zürich Stuttgart 1950, S. 24 ff. Ferner ders., Die Begründung der abendländischen
Sprachlehre durch die Stoa, in: Kleine Schriften, hsg. v. H. Dörrie, Hildesheim 1965, Bd. 1,
S. 39-86; sowie Tilman Borsche, Zeichentheorie im Übergang von den Stoikern zu Augustin, in:
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 19,2 (1994), S. 41-52 und Karlheinz Hülser, Stoa in:
Tilman Borsche (Hsg.), Klassiker der Sprachphilosophie, a.a.O., S. 49-62; sowie Umberto Eco,
Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 52 ff. Dem Sprachdenken der Stoa
steht in der Spätantike vor allem die Rhetorik Ciceros und Quintilians entgegen, die nach Karl-
Otto Apel in den Sprachhumanismus mündet; vgl. ders., Die Idee der Sprache a.a.O., vor allem
S. 130 ff.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 217

saisches Spiel« sich schließlich ins Uferlose verliert. Erst die sogenannte »klassi
sche Epoche« des Cartesianismus wird sich gegen es erneut auf das Richtmaß der
Vernunft berufen, um die Vielfalt zu schneiden und dem Zeichen die Gestalt je
ner Repräsentationalität zurückzuerstatten, die es seit Aristoteles innehatte, frei
lich nicht ohne ihm gleichzeitig einen streng funktionalen Sinn zu verleihen.
Seither streift es sein Magisches ab, um ganz in der Logik der Zuordnung oder
Abbildung aufzugehen.
Entsprechend reduziert es die Grammatik von Port Royal, die sich ausschließ
lich auf einen cartesischen Rationalismus berief, auf das binäre Schema zweier
Vorstellungen, wobei die eine das Repräsentierende, die andere das Repräsentierte
darstellt, wie überhaupt der Begriff der Repräsentation zum ersten Mal in der
Grammaire generale et raissonee (1660) von A. Arnauld und C. Lancelot auf
taucht. Zugrunde gelegt wird ein Begriff von Repräsentationalität, wie er glei
chermaßen für den französischen Rationalismus und englischen Empirismus lei
tend wird: Beziehung, nicht zwischen Laut und Ding, sondern zwischen Wort
und Idee, wie auch John Locke den Zweck der Zeichen vor allem darin sehen
wird, ein »sinnlich wahrnehmbares Kennzeichen« für »im Geist vorhandene Ide
en« zu sein, das als deren Instrument fungiert. Doch büßt damit das Zeichen je
ne Responsivität ein, die ihm gemäß der aristotelischen Auslegung zukam, um in
seiner Funktionalität strikt intentional zu verfahren: Beziehung, die sich kraft sei
ner subjektiven Verwendung auf etwas richtet, um seinen Platz einzunehmen
oder an seine Stelle zu treten. Es ist diese Struktur von Intentionalität, mit der das
Symbolische in die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie eintritt und sich mit
den Figuren der Souveränität verbündet, die dem Bewußtsein als seinem Träger
den unbedingten Vorrang einräumt und eine Ordnung der Repräsentation auf
baut, deren Aporien es freilich immer wieder von neuem aus den Fugen geraten
läßt. Von ihr wäre jene Geschichte nicht zu trennen, die auf die Krise reagiert wie
sie diese gleichzeitig durch ihre Bewältigung wieder hinauszögert.

Krise der Repräsentation

Foucault hat die Krise des klassischen Zeichenbegriffs für das siebzehnten Jahr
hundert anhand eines Bildes von Diego Veläzquez analysiert, woran sich exem
plarisch die Abgründigkeit der Repräsentation zeigt, deren Untersuchung im
Zentrum seiner »Geschichte des Denkens« steht: Las Meninas, 1656 am Hof des
spanischen Königs gemalt und Beispiel für jenes Spiegeltheater, das die Barock
kunst bis zur Perfektion ausspielte. Das Bild zeigt den Maler bei seiner Arbeit:
Er steht vot einer Leinwand, die nahezu die gesamte linke Hälfte des Gemäldes

14 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/M. 1971, S. 46 ff.
15 Vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. 2, 3. Buch, 1. Kap., Hamburg
3. Aufl. 1988, S. 1 u. 5 passim.
16 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 31 ff.
218 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

ausfüllt und deren Ausmaße ihm annähernd entspricht, auch wenn man nicht
sieht, was sie darstellt. Foucault entdeckt an ihr die Masken von Anwesenheit
und Abwesenheit, das die Logik der Repräsentation ebenso regieren, wie diese
daran zerbricht. Schlüssel seiner Interpretation bilden die auf einen externen
Punkt zielenden Blicke, die auf den Betrachter selbst gerichtet zu sein scheinen
und ihn damit gleichermaßen als Ort der Darstellung instantiieren, wie sie auf
etwas hindeuten, was ihm entgeht. Dann demonstriert das Bild ein Schauspiel an
der Grenze dessen, was sich überhaupt darstellen läßt, weil es genau das zeigt, was
die Repräsentation trägt und sich der Repräsentierbarkeit entzieht: Maler wie
Betrachter fixieren, jeder auf seine Weise, eine unsichtbare Marke, die nicht im
Bildraum enthalten ist, die gleichwohl jene Stelle bezeichnet, an dem sich die
Abbildung konstituiert: das Reale, dessen exakte Nachahmung es vorgibt zu sein.
Die seitlich aufgestellte Leinwand, auf der der Maler seinen vielleicht letzten oder
auch ersten Pinselstrich zu setzen scheint, verdoppelt die imaginäre Szene noch
einmal: Wir ahnen, daß sie womöglich das wiedergibt, was unseren Blicken ver-
borgen bleibt und was nur diejenigen zu sehen vermögen, die wir spiegelbildlich
betrachten, während wir das Bild anschauen, wie sie umgekehrt nicht sehen kön-
nen, wie sie gesehen werden: Die Repräsentation scheitert an der Vergeblichkeit,
das Re-Präsentierte präsent zu machen.
Offenbar gruppiert sich das Gemälde um ein Netz von Gegensätzen, die genau
um das Sichtbare und Unsichtbare kreisen: die Repräsentation und das Reprä-
sentierte, welche eine Absenz in dem Maße einzuholen sucht, wie es sich im
Doppel von Betrachtung und Betrachtetem spiegelt. Die patadoxale Struktur, die
ungeachtet anderer Deutungen des Bildes Veläzquez mit dem Kunstgriff mehr-

17 So hat der Kunsthistoriker Hermann Ulrich Asemissen eine Auslegung der Mehinas vorgelegt, die
in wesentlichen Punkten von der Foucaults abweicht; vgl. ders., >Las Meninas« von Diego
Veläzquez, Kassel 1981. Ausgehend vom Spiegelbild im Hintergrund komme er zum Schluß, daß
allein schon von der optischen Geometrie her die vermeintlich Portraitierten nicht an der Stelle
stehen könnten, wo sie Foucault ausmacht: Der Spiegel müßte mehr enthüllen, als er offenbart.
Darüber hinaus entdeckte Asemissen eine Reihe weiterer Ungereimtheiten: Im Vergleich zu an-
deren Portraits Veläzquez' der Prinzessin Margarita fällt auf, daß diese Scheitel und Kopfschmuck
auf der anderen Seite zu tragen scheint als üblich. Zudem läßt sich im Grundriß des Alcäzar der
gemalte Saal als Pieza de Li galeria identifizieren, der ebenfalls im Bild spiegelverkehrt erscheint.
Das legt die Vermutung nahe, daß das Gemälde, an dem der Maler im Bild arbeitet, genau das
Bild ist, das wir sehen. Die dargestellten Personen blicken dann nicht auf ein Modell, das sich im
imaginären Fluchtpunkt des Gemäldes befindet, sondern auf einen großen Spiegel, wie er im In-
ventar des Alcäzar vorkommt. So funktioniert das Bild selbst wie ein Spiegel, in den der Be-
trachter mit den Augen blickt, mit denen die Abgebildeten einst in ihn schauten, und was es se-
hen läßt, ist exakt das, was die dargestellten Figuren zum Zeitpunkt der Ausführung selber gese-
hen haben müssen. M.a.W., das Gemälde ist die buchstäbliche Reflexion des Augenblicks seiner
Entstehung. Wendet man indessen diese Analyse Asemissens auf das Foucaultsche Problem an,
akzentuiert sich deren Brisanz. Nicht länger kann das Gemälde als Exemplifikation jener Haltlo-
sigkeit fungieren, die der Prozedur der Repräsentation innewohnt, wohl aber der Nichtrepräsen-
tierbarkeit des ästhetischen Augenblicks, der dem Prozeß der Repräsentation vorhergeht und das
Werk allererst konstituiert. Abwesend bleibt nicht das Repräsentierte, sondern der Malakt selber,
der sich nur im Zeitpunkt seines Innehaltens zu fixieren vermag. Das Paradox, um das es
Foucault geht, bleibt somit bestehen, auch wenn die Variablen modifiziert werden müssen.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 219

facher Spiegelungen ansichtig zu machen versteht, verkörpert zugleich die prekäre


Stelle des Zeichens: Das Problem seiner Verbürgung, seiner Legitimität. Es eröff-
net die Frage danach, worin es in seiner Beziehung zum Bezeichneten gesichert
ist. Stürzt es nicht in den Taumel einer unendlichen Selbstbezüglichkeit, die we-
der Anfang noch Ende kennt; ein ununterbrochener Reigen aus Verweisungen
und Verweisungen von Verweisungen, deren »Beglaubigendes«, in der Formulie-
rung Pierre Legendres, der auf diese Weise das Problem des Zeichens innerhalb
eines juridischen Diskurs neu stellt, fehlt? Die Position hatte, nach dem Be-
scheid des Aristoteles, traditionellerweise der logos inne, der zuvor jene Wahrheit
und Falschheit austrug, woran sich die Zeichen orientierten und wonach sie ge-
richtet wurden; doch stellt sich dann die weitere Frage, was den logos verbürgt
und woher er seine bindende Kraft bezieht, wenn nicht, wie es wiederum Derrida
betont hat, aus den Zeichen, mit denen er spricht. Selbst nur »Abdruck einer
Schrift« erscheint er in deren Form, doch nur, um durch die Zeichen hindurch
auf das zu verweisen, worauf diese verweisen: Gegebenheit der Dinge als der Ur-
sprung oder Beginn einer Bewegung, worin sie ihre Funktion erfüllen. »Das Zei-
chen (signe) (...) setzt sich an die Stelle der Sache selbst, der gegenwärtigen Sache,
wobei >Sache< hier sowohl für die Bedeutung als auch für den Referenten gilt. Das
Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar. Es nimmt dessen
Stelle ein. Wenn wir die Sache, sagen wir das Gegenwärtige, das gegenwärtig Sei-
ende nicht fassen oder zeigen können (...), bezeichnen wir, gehen wir den Um-
weg über das Zeichen. (...) Das Zeichen wäre demnach die aufgeschobene (diffe-
ree) Gegenwart.«" Dann liegt ihm allerdings, wie weiter Derrida zu bedenken
gibt, ein nicht mehr prüfbarer Wert zugrunde: Präsenz, die als Ort einer Nicht-
prüfbarkeit zugleich eine Illegitimität bedeutet. Das Zeichen verweigert seine Be-
glaubigung, seine Gründung in einer »ab-soluten« Referenz; es beruht vielmehr
auf einer »ursprünglich-nichtursprünglichen Hierarchie« oder genuinen Opposi-
tion, die sich durch vielerlei Namen festhält: Anwesenheit und Abwesenheit, Prä-
senz und Nicht-Präsenz oder Grund und Abkunft, die durch ihren Gegensatz ei-
ne Ordnung kreieren, die begründet, ohne begründet zu sein: präsentische Ord-
nung des logos als das nicht-logische Zentrum einer Metaphysik, die das Zeichen
ebensowohl austrägt, wie sie durch dieses getragen wird. Es gibt also eine Haltlo-
sigkeit inmitten des Symbolischen: Die gegenseitige Stützung von Zeichen und
Präsenz, durch die dieses jene und jene dieses bedingt, entlarvt eine Zitkularität,
die diejenige Lücke oder Leerstelle aufdeckt, die die Strukturen der Repräsentati-
on zerreißen, werden sie nach ihrem Grund befragt. Im Kapitel über die »redu-
plizierte Repräsentation« in der Ordnung der Dinge macht denn auch Foucault
klar, daß das Mimetische grundsätzlich ohne Fundament funktioniert: Unab-
dingbar bleibt die Abbildung schuldig, was sie verspricht: Als »Mitte«, die ver-

18 Vgl. Pierre Legendre, Les enfants du Texte, Lecons VI, Paris 1992, p. 351 ff. Auch: ders., Das
Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater, Lektionen VIII, Fteiburg 1998,
bes. S. 17 ff. u. 161 ff.
19 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 118.
20 Ders., Die differance, in: Randgänge der Philosophie, a.a.O., S. 31-56, hier: S. 37, 38.
220 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

mittelt, mangelt dem Zeichen seine eigene Mitte, jener Bezugspunkt, der seine
eigene Möglichkeit sichert." Das Rätsel der Repräsentation besteht so im Rätsel
seiner Gültigkeit, das in jedem Versuch, es zu lösen, sich um eine weitere Teilung
verdoppelt, um schließlich seinen Halt an einem Ort zu finden, der selbst kein
Ort der Repräsentation sein kann: Transzendenz, die, ohne Stelle in der Zeichen-
relation zu sein, das Zeichen organisiert und sich doch der Bestimmung dessen,
was sie ist, hartnäckig sperrt. Der fiktive Platz macht deutlich, daß sich die Reprä-
sentation nicht selbst als Repräsentation zu repräsentieren vermag — sowenig, wie
sich die Flüchtigkeit des Augenblicks der Bezeichnung durch das Zeichen fügt,
um der Gegenwart seiner Ver-Gegenwärtigung Dauer zu verleihen und über die
Zeit hinweg aufzubewahren.
Anders gesagt: Wenn das Zeichen sagt, was es nicht ist, dann sagt es nicht, was
es hält. Wird es verstanden als Substitut, als Marke, die anderes ersetzt, entgeht
ihm die Stelle, an dem die Substitution sich fixiert: Authentizität einer Subjekti-
vität, die es intendiert, oder Unmittelbarkeit einer Präsenz, auf die es bezogen ist.
Buchstäblich bleibt es, in der Funktion der Referenz, ohne Selbstreferenz. Es
kann sich, in der Stellung der Repräsentation, nicht mitrepräsentieren, bestenfalls
nur durch den Regreß einer anderen Repräsentation, die wiederum den gleichen
Mangel aufweist. D.h. es erfordert seine unaufhörliche »Re-Duplikation«, die den
fehlenden Zusammenschluß gleichsam innerhalb der Repräsentation zu kompen-
sieren sucht, indem sie in die Struktur der Binarität eine imaginäre Ternärität
einführt: »Die bezeichnende Idee spaltet sich, denn über die eine andere ersetzen-
de Idee legt sich die Vorstellung ihrer repräsentierenden Kraft. Sind das nicht drei
Glieder: die bezeichnete Vorstellung, die bezeichnende Vorstellung und im In-
nern dieser die Vorstellung ihrer Rolle als Repräsentation? Es handelt sich indes-
sen nicht um eine heimliche Rückkehr zu einem ternären System, sondern eher
um eine unvermeidliche Verlagerung der Figur aus zwei Gliedern, die in Bezie-
hung zu sich selbst zurückweicht und sich völlig im Innern des bezeichnenden
Elements ansiedelt.«" Zwar rückt die binäre Disposition des Zeichens, wie
Foucault weiter ausführt, an die Stelle der ternären Organisation, »die auf ver-
schiedene Weisen seit der Stoa und sogar seit den ersten griechischen Grammati-
kern« Geltung besaß; doch setze diese Disposition voraus, »daß das Zeichen eine
gespaltene und reduplizierte Repräsentation« sei: »Eine Vorstellung kann das Zei-
chen einer anderen nicht nur deshalb sein, weil sich zwischen ihnen eine Verbin-
dung der Repräsentation ergeben kann, sondern weil diese Repräsentation sich
selbst stets im Innern der Idee, die repräsentiert, repräsentieren kann; oder auch,
weil in ihrem eigenen Wesen die Repräsentation immer senkrecht zu sich selbst
steht (...). Vom klassischen Zeitalter an ist das Zeichen die Repräsentativität der
Repräsentation, insoweit sie repräsentierbar ist.«

21 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 82 ff, bes. S. 98 ff.
22 Ebenda, S. 99.
23 Ebenda.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 221

Ihm bleibt jedoch, wie man ergänzen könnte, das strukturelle Paradox imma-
nent, per definitionem die Teilung, auf der es beruht, immer weiter hinauszu-
schieben, wie es sie aufzuheben trachtet." Kein Zeichen vermag der Abwesenheit,
die es substituiert, durch die Substitution Anwesenheit zu erteilen, ein Nichtge-
genwärtiges in eine Gegenwärtigkeit zu verwandelt, sowenig wie es ein Unendli-
ches im Endlichen oder ein Unbestimmtes (apeiron) durch eine Grenze (peras) zu
fassen vermag: Notwendig unterliegt es, wie Derrida im Anschluß an Foucault
präzisiert hat, der Vor-Gegebenheit eines Anderen, eines Nicht-Zeichens oder ei-
ner unabhängigen Substanz, die ihm gebieterisch seine Stellung nennt: Buchstäb-
lich schiebt es sich zwischen zwei Gegenwarten ein und ist seinem Begriff nach
wiederum nur aus dem »Vorrang der Gegenwärtigkeit dieser Gegenwarten« zu
bestimmen:" Metaphysik der Präsenz, die gleichwohl umgekehrt wieder der Zei-
chen bedarf, um sich zu artikulieren, so daß sowohl das Zeichen im Nicht-
Zeichen wie das Nicht-Zeichen im Zeichen gründet. Die Grammatologie, die auf
diesen Umstand aufmerksam zu machen versucht, bringt damit »das gesamte Ge-
bäude der Metaphysik« wie ebensosehr die Bestimmung des Zeichens ins Wan-
ken: wie man mit dessen Hilfe die Metaphysik der Präsenz erschüttert," erschüt-
tert es sich, als der Metaphysik entspringend, selbst, weil beide gleichermaßen nur
in der »Schrift« konfiguriert sind. Wie darum keine Gegenwart je »vor und au-
ßerhalb der semiologischen Differenz« bezeichnet werden kann," so auch nicht
das Zeichen, das es be-zeichnet, das auf diese Weise ganz in eine sich ständige
differierende Differenz zurückweicht: »Effekt innerhalb eines Systems, das nicht
dasjenige der Gegenwart, sondern das der differance ist«."
Es liegt mithin in der differentiellen Struktur des Zeichens selber, daß die Re-
Präsentation, in ihrem vergeblichen Bemühen, das Präsentierte gleichermaßen zu
identifizieren wie zu offenbaren, nicht anders kann als sich unablässig zu verdop-
peln oder zu multiplizieren. Ablesbar an barocken Spiegelinszenierungen, deren
wuchernde Verbildlichungen die Illusion nährt, ein Zusammenschluß von Ge-
genwärtigkeit und Ver-Gegenwärtigung könne gelingen, demonstrieren sie das
Maßlose der Anstrengung, die Paradoxie im Dickicht gegenseitiger Reflexionen
untergehen zu lassen. Darin liegt schließlich ihr performativer Schein, die sich
immer weiter fortschreibende Theatralisierung des Mimetischen, die gleichzeitig
durch die Struktur des Zeichens reproduziert und vereitelt wird. Stets setzt die
Logik der Repräsentation eine schon gewesene Gegenwart voraus; Gegenwart, die
einmal war oder vielleicht sogar nie gewesen ist, von der die Signifikation kündet,
um sie im selben Augenblick wieder einzubüßen. Kein Zeichen erfüllt sich in sei-
ner Bezeichnung: Es steht für etwas, was es nicht ist und ist nicht das, wofür es
steht: So trägt es, wie es Lacan ausgedrückt hat, in sich eine Zweideutigkeit aus,

24 Vgl. dazu Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 37 ff.


25 Vgl. ebenda, S. 32.
26 Vgl. ders., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen,
a.a.O., S. 425 f.
27 Ders., Die differance, a.a.O., S. 41.
28 Ebenda, S. 46.
222 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

die seiner Gegenwart eine doppelte Kontur aufprägt: (i) Präsenz, die es ebenso
begründet wie verschiebt, (ii) sowie Präsenz, die es selbst ist, um eine andere zu
verdecken: »Durch das Wort, das bereits eine Anwesenheit darstellt, die auf Ab-
wesenheit gründet, erhält in einem besonderen Augenblick die Abwesenheit selbst
einen Namen. (...) Aus der Modulation des Begriffspaars von Anwesenheit und
Abwesenheit, das ebenfalls genügt, im Sand die Spur des einfachen und des ge-
brochenen Zeichens der chinesischen Kwa-Mantik zu schreiben, entsteht das
Universums des Sinns einer Sprache, in dem sich das Universum der Dinge ein-
richtet.«
M.a.W.: Eine Nicht-Präsenz konstituiert das, was Präsenz »heißt«; so unter-
steht, was als Präsenz gilt, sei sie wahrgenommen, benannt oder interpretiert, ei-
ner grundlegenden Transformation. Jedes Zeichen bleibt notwendig unwahr, wi-
dersprüchlich oder antinomisch. Dichtung zerbricht daran. Nachhaltig hat ihre
Unmöglichkeit die moderne Lyrik verstört. Davon kündet wie kaum ein zweites
Stephane Mallarmes nie zur Ausführung gekommenes Projekt Le livre, das das
Seiende insgesamt einer absoluten Poesie zuführen wollte, dessen Materialfülle
schließlich jede Grenze sprengen mußte. Dem Projekt wohnt etwas Monströses
inne: Ihm ist, als totale Repräsentation der Welt, sein eigenes Scheitern inhärent.
So bleibt es jenseits aller Demarkation zwischen Gegenwart und Ver-Gegen-
wärtigung, zwischen Singularität und Repräsentation: Unmöglichkeit, die die
gleichzeitige Vergegenwärtigung einer Gegenwart und Gegenwart einer Verge-
genwärtigung sein wollte: Augenblick der Re-Präsentation selbst, der die Reprä-
sentation aller Augenblicke selbst noch einzuschließen versucht. Markiert durch
ein Paradox, das den logischen Raum des Symbolischen umgreift, wohnt so dem
Zeichen ein andauerndes Versagen inne. Es tangiert dessen Definietbarkeit, die
nur unter Vorbehalt eines untilgbaren Widerspruchs gelingen kann. Darum
kann, wie Derrida mehrfach herausgestellt hat, das Zeichen nur zum Preis einer
petitio principii erklärt werden. Jede Zuordnung unterstellt eine Zerlegung in
mindestens zwei getrennte Regionen, zwischen denen sie vermittelt: Der formale
Funktionalausdruck F=R: xRy, der das Zeichen formiert, wobei R für die Relati-
on, x und y für die beiden Relata steht, erfordert bereits die Kennzeichnung der
Relationsstellen durch die Mengen »X« und »Y«, deren Elemente sie sind. Doch
sind diese wiederum nicht anders definierbar als mittels Zeichen, so daß zuvor
schon diskretiert sein muß, was die Diskretierung erst fundiert. Dieselbe Zirkula-
rität ergibt sich hinsichtlich metamathematischer Herleitungen: Der Begriff der
Funktion setzt den der Menge voraus, wobei der Begriff der Menge wiederum
entweder durch Aufzählung und das heißt durch Identifikation distinkter Ele-

29 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, a.a.O.,
S. 116, 117.
30 Es gibt eine Reihe verwandter Paradoxien, die sämtlich sich am Phantasma vergeblicher Totalisie-
rung nähren. Dazu gehört Tristam Shandys Versuch einer vollständigen Autobiographie, die sich
zuletzt im stets erst noch nachträglich aufzuzeichnenden »Jetzt« verlor oder Jorge Louis Borges
Sandbuch, in dem alles aufgezeichnet war, was es je gab, was jegliche Möglichkeit einer Wieder-
holung vollkommen verwehrte: Keine Seite ließ sich zweimal aufschlagen.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 223

mente oder durch Definition einer Eigenschaft H(x) erklärt wird, der ein Relati-
onsausdruck zugrunde legt. Eine Theorie der Menge bedarf der Theorie der for-
malen Sprachen, die wiederum auf der Terminologie der Mengenlehre aufbaut.
Immer ergibt sich derselbe Kreis: Die Zeichen müssen vorausgesetzt werden, um
sie als Zeichen zu bestimmen. Genauer: Um ihren Begriff exakt zu exponieren,
bedarf es bereits eines Systems von Zeichen, das ihre Exponierung ermöglicht.
Jede Stelle, die die Determination des Zeichens trägt - Signifikant, Symbol, Refe-
renz, Sinn, Bedeutung oder Signifikat - erweist sich dann als radikal indifferent,
weil der intrinsische Riß, der ihrer Unterscheidung eignet, auf keine Weise plau-
sibel gemacht werden kann. Dem entspricht die Figur jenes Regresses, den die
strukturale Semiologie überhaupt am klassischen Zeichenmodell ausgemacht hat,
insofern nichts im Symbolischen re-präsentiert werden kann, was nicht schon der
Vorgängigkeit des Symbolischen entstammt. Die Signifikation zielt dann auf eine
Referenz, die selbst nur vermöge der Signifikation erscheinen kann. »Nun gibt
es hinreichend viele Gründe anzunehmen, daß im Medium der Sprache die Re-
präsentation und die Realität sich nicht hier oder dort einmal beliebig zusam-
menschließen. Aus einem einfachen Grund: Beide voneinander rigoros zu unter-
scheiden, erweist sich als unmöglich. Und wahrscheinlich ist es sogar unangemes-
sen zu sagen, daß dieser Zusammenschluß in der Sprache stattfindet. Denn die
Sprache und einzig die Sprache ist selbst dieser Zusammenschluß.« " Dann »gibt
es«, wie Derrida nahelegt, kein »Außerhalb« der Sprache mehr, kein »Jenseits« der
Zeichen; vielmehr erweist sich ihre Reihe als »dicht«: Sie läßt keine Lücke zu,
durch die hindurch sie den Blick auf eine wie immer geartete Präsenz oder Wirk-
lichkeit, die Unschuld einer Wahrheit oder Unmittelbarkeit des Gegebenen ge-
währte: Es sind die Zeichen selber, kraft deren erst eine Präsenz als Präsenz oder
die Wahrheit des Wirklichen be-deutet werden kann, »(d)enn wenn das Zeichen
dem vorausginge, was man Wahrheit oder Wesen nennt, so hätte es keinen Sinn,
von der Wahrheit oder dem Wesen des Zeichens selbst zu sprechen.«
Nicht länger vermag darum die Gegenwärtigkeit der Gegenwart als unabhän-
gige Fundierungsinstanz zu fungieren, weil sie jeweils nur über den Umweg des
Apophantischen »erscheint«, mithin stets schon als Bezeichnetes und damit in sich
Gespaltenes oder Ver-Gegenwärtigtes hervortritt. Das Symbolische »gründet«
nicht in einem Grund als Anwesenheit, sondern in einer ursprünglichen semiolo-
gischen Differenz, die in es, wie Derrida auch sagt, die Marke eines »Aufschubs«
oder einer »ursprünglichen Verspätung« einträgt. Es ist diese charakteristische

31 Vgl. auch Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, Jacques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey
Bennington und Jacques Derrida, a.a.O., S. 38. Der Einwand deckt sich im übrigen mit dem
Vorwurf des »Referenten-Fehlschlusses« bei Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, a.a.O.,
S. 69 ff, sowie ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie des Zeichens, a.a.O., S. 88 ff. Der von Eco
verwendete Ausdruck »fallacia referenziale« wird allerdings in beiden Büchern inadäquat über-
setzt, einmal mit »Mißverständnis der Referenz«, das andere mal mit »Referenten-Fehler«. Vgl.
dazu auch meine Ausführungen in: D. Mersch, Umberto Eco zur Einfuhrung, a.a.O., S. 90 ff.
32 Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 103.
33 Ebenda, S. 77.
224 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

»Nachträglichkeit«, die zu den nachhaltigsten und zugleich eigensinnigsten Figu-


ren des Derridaschen Denkens gehört und in immer neuen Varianten in Die
Stimme und das Phänomen ebenso wie in der Grammatologie, Die Schrift und die
Differenz und den Randgängen der Philosophie wiederkehrt. Ihre These reicht zu-
rück bis zu den frühesten Auseinandersetzungen mit den Grundlagen der Phä-
nomenologie Husserls. Dabei verbindet sie, in Heideggerscher Manier, die sie
einer strikt semiologischen Transformation unterzieht, die Struktur des Zeichens
mit der »Als«-Struktur des Diskurses und den Themen der Schrift, der differance
und Temporalität der »Spur«. In ihr - dem »für die Geschichte der Metaphysik
(...) ungeheure Thema« - sieht Derrida zugleich den wesentlichen Einspruch
gegen deren Grundstellung, das Phantasma, ein Ursprüngliches oder Authenti-
sches auszeichnen und denken zu können, ohne gleichzeitig schon auf ein System
von Zeichen, von Vergegenwärtigungen oder Repräsentationen rekurriert zu ha-
ben. Notwendig kommt demnach das metaphysische Denken im Rückgang auf
seine eigenen Fundamente zu spät, weil es stets in einem komplexen Netz von
Wiederholungen und Differenzen gefangen bleibt und sein Anfang eine Textur,
eine Schrift, d.h. ein Ganzes und damit kein Anfang bildet. Seit Piaton als Man-
gel begriffen, kehrt Detrida deren »Vor-Wurf« um, um ihn »als Schicksal des
Denkens für das Denken«" in jenen Primat zu setzen, die ihm zusteht: Vorrang
des Sekundären vor dem Ursprung, des Supplements vor dem Suppliierten, des
Partizip Perfekts vor dem Partizip Präsenz, in deren Bezug zugleich die ganze Ar-
beit der »Dekonstruktion« beschlossen liegt. Das bedeutet, das, wovon die Re-
Präsentation Darstellung oder Nachahmung, Mimesis oder Zeichnung ist, wird
konsequent ausgestrichen: Die »Bewegung des mimeisthai ist (...) stets der Bezug
auf eine vergangene Gegenwart. Das Nachgeahmte ist vor dem Nachahmenden.
(...) Das Double (geht) dem Einfachen (voraus).«
Dann steht, worauf die Zeichen verweisen, stets unter derselben Ägide der
Zeichen, die auf es referieren, wodurch ihr Verweisendes notwendig ins L^nbe-
stimmte verschwimmt. Ihre Evidenz verdanken die Zeichen anderen Zeichen, die
wiederum nichts sind, was eine Evidenz verspräche. Mithin entsteht eine prinzi-
pielle Unentscheidbarkeit zwischen Signifikation und Referenz: Diese existiert nur
aufgrund von jener, wie sie wiederum erst durch die Signifikation in Erscheinung
tritt. Die Krise der Repräsentation löst sich mithin in ein Netz von Bezügen auf,
welche sich gegenseitig abstützen und ein unendliches Gewebe wirken, in das die
Zeichen buchstäblich »halt-los« verstrickt bleiben. Die Frage nach ihrem Grund,
ihrer »Erfüllung« oder Garantie wird völlig in ihre eigene Immanenz zurückge-
nommen. Damit ändert sich zugleich die Struktur des Zeichens: Nicht mehr be-
ruht es auf einer vorgängigen Teilung, durch die die Funktionalität seiner Funk-
tion erst hervorgebracht wird, sondern es ist das Zeichen selber, als Differential,

34 Vgl. ders., Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, a.a.O., S. 201 ff.
35 Dets., Freud und der Schauplatz der Schrift in: ders., Die Schrift und die Differenz, a.a.O.,
S. 302-350, hier: S. 324.
36 Ders., Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, a.a.O., S. 201.
37 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 211 passim.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 225

das seine Relationsstellen erzeugt. Das Paradox, das Derrida über Foucault und
andere hinaus freigelegt hat, wäre dann unvermeidlich: Es markierte kein episte-
mologisches Dilemma, das die Identifizierbarkeit der Marken und Spuren bzw.
die Lesbarkeit ihrer Fährten beträfe, sondern es entspränge den Ungereimtheiten
des Anfangens selber, denen Hegel in seiner Wissenschaft der Logik dadurch aus-
gewichen ist, daß er jeden Beginn als ein »Schon-Begonnen-haben« kennzeich-
nete, das dieselbe Perfekt-Struktut aufweist, wie sie Derrida der »Schrift« und den
Zeichen zugeschrieben hat: Wir denken schon, wir beziehen uns bereits auf Sei-
endes, wir verwenden immer schon Begriffe und Ausdrücke, wir befinden uns
schon in einer Ordnung des Symbolischen etc., so daß der Widerspruch als
»Dialektik« produktiv werden kann. Weil wir auf diese Weise in eine Ge-
schichte und ihr Gedächtnis gestellt sind, die uns vorausgeht und auf die wir uns
rückbeziehen, sofern wir sprechen, gibt es keine strikte Konstruktionalität ohne
Regreß, ohne Abgrund oder zersetzende Irritation des Widerspruchs; doch folgt
die angezeigte Aporetik erst, wenn wir versuchen, die Zeichen in ihrer strengen
Formalität einzuführen. Es sind die Paradoxien der Grundlegung, der Definiti-
on und des voraussetzungslosen Anfangs, deren Kaskaden die Rede beständig zu
verwirren scheinen, die sich jedoch dann auflösen, wenn sie gleichsam in die
Struktur des Symbolischen selbst hineingenommen werden und seine Referenz
ins Unendliche weisen. Dann wird das Zeichen selbst zu einem apeiron, das etst
vermöge seiner Distinktion sich eine Grenze zieht und in sich eine peras setzt. Es
wäre nicht als Medium im Sinne von Instrumentalität zu verstehen, das durch sei-
ne Aporien fortwährend erschüttert würde, sondern als ein Algorithmus, der sich
unaufhörlich weiter fortschreibt.

Entfesselung des Interpretanten


Es war vor allem der Ansatz der nachklassischen pragmatischen und analytischen
Semiotik von Charles Sanders Peirce über Charles William Morris bis zu Nelson
Goodman und Umberto Eco, die paradoxale Struktur des Zeichens zu einer vir-
tuellen Unendlichkeit fortzuschreiben. Indessen erscheint die Geschichte der
Peirceschen Schriften verwickelt und ohne eine ausgearbeitete semiotische Theo-

38 Nach Hegel ist der Anfang, das Anfangen selbst unanalysierbar, weshalb auch die Logik selbst
mit der Identität von Sein und Nichts, mit der Leere beginnt; vgl. Georg Wilhelm Friedrich He-
gel, Wissenschaft der Logik, Teil I, a.a.O., insb. Einleitung, vor allem S. 36 ff, 48 ff, 57 ff, so-
wie TL II, a.a.O., S. 259 f.
39 Dies gilt gleichetmaßen für die Mathematik. Wenn die »Protomathematik« bzw. »Protologik«
Paul Lorenzens, die in diesem Punkt sowohl den Grundlagen der Systemtheorie Niklas Luh-
manns und dem Differenzkalkül George Spencer-Browns entspricht, mit der einfachen Marke >/«
anhebt, um von ihr her schrittweise die Menge der Natürlichen Zahlen zu entwickeln, muß sie
schon vom Zeichencharakter der Marke >/< ausgegangen sein, mithin die komplexe Struktur der
Semiose unterstellt haben. Die dialogische Formation der Logik erweist sich überdies als mimeti-
sches Abbild der klassischen Logik, die diese lediglich sekundär reformuliert. Vgl. dazu Paul Lo-
renzen, Metamathematik, Mannheim 1962, bs. S. 50 ff; ders., u. Wilhelm Kamiah, Logische
Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim 1973, bes. 209 ff, und ders., u.
Kuno Lorenz, Dialogische Logik, Darmstadt, 1978, S. 9 ff, 210 ff.
226 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

rie, zumal, abgesehen von einer Reihe von Aufsätzen, die er zu Lebzeiten veröf-
fentlichte und seine Philosophie des Pragmatismus begründeten, eine Haupt-
schrift fehlt. Gleichwohl enthält die Peirceschen Wissenschaftslogik schon seit
ihren Anfängen in Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für den
schen in Anspruch nimmt und Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen von 1868
in nuce eine originäre Zeichentheorie, die zwar nirgends expliziert ist und müh-
sam aus den hinterlassenen Aufzeichnungen destilliert werden muß, deren spe-
kulativer Rahmen jedoch das klassische Paradox der Repräsentation durch Auflö-
sung in eine infinite Reihe löst. Die Statik des Zeichens wird dabei in die Dyna-
mik einer unaufhörlichen Prozessierung überfuhrt. An die Stelle des problemati-
schen Funktionsterms F: x —» y rückt der rekursive Ausdruck F: (F, ,(x) —> y) —>
y, der sich stets von neuem auf die ganze Relation bezieht, um ihn bei gleichblei-
bendem Bezug zu »interpretieren«. Er unterliegt freilich der Sukzession und da-
mit den Bedingungen der Zeit, die die Kette schließt, um sie erneut dem gleichen
Kreislauf zuzuführen. »Sinn« besteht demnach in der schrittweisen Entfaltung des
Symbols, seine permanente Rekurrenz, denn »(a)lles Denken«, so Peirce, muß
»ein Denken in Zeichen sein«: " Wir kennen nur Fälle symbolisch vermittelter
Gedanken; darum bilden »Symbole (...) die Textur alles (...) Forschens«, wie
umgekehrt das »Leben des Denkens« ein den »Symbolen inhärentes Leben« dar-
stellt.43
Scheinbar noch ganz dem überlieferten Schema von Repräsentation verhaftet,
wird dabei das Symbolische als ein »Repräsentamen« gefaßt, doch mit dem be-
deutsamen Zusatz, daß es »in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht
(...), daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahinge-
hend zu bestimmen, in der selben triadischen Relation zu jener Relation auf das
Objekt zu stehen, in der es selbst steht«. Kein Zeichen fungiert dann als ein Zei-
chen, bevor es nicht »einen wirklichen Interpretanten hat«, jedoch so, »daß der
Interpretant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt
usf.« Die vermeintliche Zirkelhaftigkeit der Definition, die Charles William
Morris an ihr umstandslos rügte, um ihr die eigentliche Pointe zu rauben, zeigt

40 Apel gliedert die Schriften von Peirce in vier Perioden: »Frühzeit«, »Theory of Inquiry« mit den
beiden grundlegenden Aufsätzen »Die Festlegung einer Überzeugung« (1977) und »Wie unsere
Ideen zu klären sind« (How to Make Our Ideas Clear, 1878); vgl. ders., Schriften I, a.a.O.,
S. 293-315: CP. 5.358-5.387; u. S. 326-353: CP. 5.388-5.410; sowie die spekulative Phase der
»Metaphysik der Evolution« und die Spätzeit mit seinen Vorlesungen, wobei er seit Mitte der
80er Jahre praktisch nichts mehr veröffentlicht hat. Vgl. dazu auch die Einfuhrung Apels ebenda
S. 35 ff.
41 Charles Sanders Peirce, Schriften I, a.a.O., S. 157-180: CP. 5.213-5.263 u. S. 184-224: CP.
5.264-5.317.
42 Ebenda, S. 175: CP. 2.207; sowie auch ebenda, S. 186: CP. 5.265.
43 Ders., Phänomen und Logik der Zeichen, hsg. v. H. Pape, Frankfurt/M. 1983, S. 45.
44 Ebenda, S. 64.
45 Ebenda.
46 Vgl. Charles William Morris, Zeichen, Sprache und Verhalten, a.a.O., S. 368 f. Er hebt dagegen,
in kritischer Absicht und einem Deskriptivismus folgend, einseitig den beobachtbaren Hand-
lungscharakter von Interpreten ab. Unter Zeichen wird etwas verstanden, das nur dann ein Zei-
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 227

an, daß die Funktionalität des Zeichens durch drei Korrelata beherrscht wird, wie
es schon in der frühesten Darstellung der Konsequenzen aus vier Unvermögen
heißt: »Nun hat ein Zeichen als solches drei Bezüge: Erstens ist es ein Zeichen in
Relation zu einem Gedanken, der es interpretiert, zweitens ist ein Zeichen für ein
Objekt, für das es in jenem Gedanken gleichbedeutend steht, drittens ist es ein
Zeichen in einer Hinsicht oder Qualität, die es mit seinem Objekt in Verbindung
bringt. (...) Es gibt folglich also drei Elemente des Denkens: erstens die reprä
sentative Funktion, die es eine Repräsentation sein läßt; zweitens die rein denota
tive Anwendung oder die reale Verbindung, die einen Gedanken in Relation zu
einem anderen bringt, und drittens, die materiale Qualität oder das Gefühl des
Soseins, das dem Gedanken seine Qualität gibt.« Ihr Zyklus evoziert ein
hen, das die Möglichkeit fortlaufender Reinterpretation einschließt: »Ein Reprä
sentanten ist das erste Korrelatum einer triadischen Relation, wobei das zweite
Korrelatum ihr Objekt genannt und das mögliche Dritte Korrelatum ihr Inter
pretant, so daß durch die triadische Relation der mögliche Interpretant als das Er
ste Korrelatum derselben triadischen Relation zu demselben Objekt und für ei
nen möglichen Interpretanten bestimmt ist.«
In immer neuen Wendungen hat so Peirce die genuine Triplizität der Semiose
herausgestellt, wobei das Zeichen kein Ereignis darstellt, sondern Stelle innerhalb
eines kontinuierlichen Prozesses. Ausdrücklich spricht Peirce von der Semiose als
»Aktion«: Das Zeichen bedeutet die »triadische Produktion des Interpretanten«.
Der Übergang von seiner aporetischen Struktur zur unendlichen Progression
markiert dabei die Einsatzstelle moderner Semiotik, ihr Abschied vom klassischen
zweistelligen Zeichenmodell der Repräsentation, das nach Foucault die Ge
schichte des Denkens noch bis ins späte 19. Jahrhundert prägte, zugunsten einer
Bewegung, deren Geschick es sein wird, chronisch unterwegs zu bleiben. So weist
die »Lösung« des Dilemmas in eine Unabschließbarkeit, die buchstäblich sein
Unlösbares in die Permanenz einer Bewegung versetzt. Grundfigur bildet dabei
für Peirce die triadische Relation des semiotischen Dreiecks, zu der das Zeichen wie
auch sein Bezeichnetes und dasjenige gehört, was die Verbindung stiftet: Verweis
auf etwas und Wenden an etwas, das interpretiert und selber schon zeichenhaft

chen ist, »wenn es von einem Interpreten als Zeichen von etwas angesehen wird«; vgl. ders.,
Grundlagen der Zeichentheorie, a.a.O., S. 21. Der Peircesche »Interpretant«, der als das Inter
pretierende den Zeichen Geltung verschafft, wird so zum Subjekt der Zeichenverwendung hin
verkürzt. Entsprechend reduziert sich das Bedeutungsgeschehen auf ein rein empirisch beschreib
bares »verbal behavior«. Morris dekupiert damit die Grundlagen der pragmatischen Semiotik, in
dem er sie auf ein Stück Behaviorismus zurückschneidet. Vgl. ders., Zeichen, Sprache und
halten, a.a.O., S. 92 ff, 129 ff, 143 ff; 324 ff, 350 ff, 365 ff; sowie ders., Pragmatische Se
miotik und Handlungstheorie, a.a.O., S. 202 ff. Indessen hängt an der Unendlichkeit der Semio
se die ganze pragmatische Emphase der Peirceschen Philosophie.
47 Ders., Schriften a.a.O., Bd. I, S. 198 u. 204: CP. 5.283 u. 5.290, auch: S. 199 ff: CP. 5.284 ff.
48 Charles Sanders Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, a.a.O., S. 123.
49 Ebenda, Bd. II, S. 470 u. 472: CP. 5.472 u. 5.473.
50 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 269 ff.
228 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

ist. Jede Bezeichnung geschieht, darin den Zeichentheorien Husserls und Saus-
sures verwandt, wesentlich als ein »Be-deuten«: Denken ist vor allem ein Ausle-
gen, Erkennen eine Interpretation. Restituiert wird somit, was antiken und mit-
telalterlichen Zeichentheorien noch selbstverständlich war: Autarkie des Symboli-
schen, garantiert durch die ursprüngliche Ternärität des Zeichens, deren Einzel-
stellen weder isolierbar noch deren Verknüpfungen in eine Folge binärer Opera-
tionen zerlegbar wäre. " Jede Position setzt vielmehr in ihrer Funktion die beiden
anderen schon voraus und gründet zuletzt wiederum im Zeichen, auf das stets
von neuem zurückgekommen werden muß und mithin in der Semiose den Pri-
mat besetzt. Es ist als Zeichen nur »voll«, wenn seine komplette Dreistelligkeit
entfaltet ist: Zu einem Laut gehört nicht nur der Gegenstand, der durch ihn be-
zeichnet wird, sondern auch die vielschichtige Semantik seines Gebrauchs, die
Vorstellungen, die er weckt, wozu gleichermaßen eine Geschichte gehört, mit der

51 Zur Zeichentrias vgl. darüber hinaus Charles Sanders Peirce, Schriften II, a.a.O., S. 320 ff: CP.
5.66 ff; ders., Phänomen und Logik der Zeichen, a.a.O., S. 64 ff; ders, Neue Elemente. a.a.O.,
bes. S. 344 ff. Peirce kennzeichnet das Wesen »des logischen Interpretanten« als eine »Verhal-
tensgewohnheit«, die »der Interpret unter bestimmten Bedingungen (...) überlegt gebildet« hat,
»wann immer er eine bestimmte Art Resultat erstrebt«. Vgl. ders., Schriften II a.a.O., S. 475,
484, 489: CP. 5.476, 5.486, 5.491. Vgl. dazu auch Umberto Eco, Einführung in die Semiotik,
a.a.O., S. 29 f., 76 ff; ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, a.a.O., S. 101 f.; Karl-
Otto Apel, Der Denkweg von Charles Sanders Peirce, Frankfurt/M. 1975 = Einleitung zu
Schriften I a.a.O. S. 13-153, bes. S. 89 ff. u. Schriften II, a.a.O., S. 11-211, bes. S. 81 ff; Max
Bense, Semiotik, Baden Baden 1967; ders, Das Universum der Zeichen, Baden Baden 1983;
Helmut Pape, Erfahrung und Wirklichkeit als Zeichenprozeß, Frankfurt/M. 1989; Gerhard
Schönrich, Zeichenhandeln, Frankfurt/M. 1990; Thomas A. Sebeok, Jean Umiker-Sebeok, >Du
kennst meine Methode«. Charles Sanders Peirce und Sherlock Holmes, Frankfurt/M. 1982;
Ludwig Nagl, Charles Sanders Peirce, Frankfurt/M. New York 1992 sowie Klaus Oehler, Charles
Sanders Peirce, München 1993.
52 Der Punkt bleibt freilich umstritten. Denn formal läßt sich die Trias (S.O.I) mit 5 als Zeichen, 0
als Objekt und / als Interpretant in die Doppelkette: (S.O) und ((S,0),I) aus zwei zweistellige
Relationen zerlegen, wobei die zweite ein rekursives Element enthält. In diesem Sinne hat auch
Ernst Tugendhat darauf hingewiesen, daß, wenn die Elemente derart »wesentlich« zusammenge-
hörten, die Aussagbarkeit der einzelnen Stellen der Zeichenrelation in Form unterscheidbarer
Größen überhaupt problematisch würde; vgl. ders., Tarskis semantische Definition der Wahrheit
und ihre Stellung innerhalb der Geschichte des Wahrheitsproblems im logischen Positivismus, in:
Gunnar Skirbekk, Wahrheitstheorien, Frankfurt/M. 1977, S. 189-223, hier S. 212. Insbesondere
komme die Zeichentheorie so, wo sie stets noch des Terminus des Bezeichneten beibehält, nicht
von der Unterstellung einer zweistelligen Relation zwischen Zeichen und bezeichneter Realität
los. Eine versuchte Emanzipation des Zeichens vom Seienden mißlinge solange, wie dieses —
wenn auch nur als Stelle im System — weiterhin anwesend bleibt. Dagegen vermerkt Peirce aus-
drücklich: »Mit >Semiose< () meine ich (...) eine Aktion oder einen Einfluß, die aus einer Koope-
ration dreier Objekte besteht oder diese einschließt, wie z.B. ein Zeichen, sein Objekt und sein
Interpretant, wobei dieser tri-relative Einfluß auf keinerlei Weise in Aktionen zwischen zwei Ob-
jekten aufgelöst werden kann.« Charles Sanders Peirce, Schriften, Bd. II, a.a.O., S. 482: CP.
5.484. Vgl. ferner Karl-Otto Apel, Der semiotische Pragmatismus von Ch. S. Peirce und die >ab-
stractive fallacy« in den Grundlagen der Kantischen Erkenntnistheorie und der Carnapschen Wis-
senschaftslogik, in: bewußt-sein, Festschrift für Gerhard Funke, Bonn 1975, S. 48-58, hier S. 49.
53 Umberto Eco feiert insofern den Begriff des Interpretanten als Erlösung der Theorie der Signifi-
kation von jeglicher »Metaphysik des Referenten«; vgl. ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der
Zeichen, a.a.O., S. 103. Dagegen weiter unten.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 229

er ständig bereichert wird: Alles andere beinhaltet einen reduktiven Fehlschluß:


Er trifft den frühneuzeitlichen Nominalismus genauso wie den klassischen Reprä-
sentationalismus, die beide an den Zeichenbegriff des Aristoteles anknüpften und
dabei einer Ontologie des Symbolischen den Vorzug gaben, die dessen Tempora-
lität bereits definitorisch eleminierten.
Die entscheidende Pointe der Peirceschen Semiotik besteht demgegenüber in
einem Denken von Zeitlichkeit aus der Logik der Rekursion. Sie löst die Onto-
Logik der Substitution ab. Das Symbolische untersteht fortan der Entfaltung
durch eine zeitliche Folge, die seine Möglichkeiten allererst austrägt. Start Präsenz
und Präsens privilegiert sie das Futur. Der Übergang ereignet damit die Bewälti-
gung seiner inneren Aporetik durch die Idee der Temporalisation als »Entwurf«.
Kein Interpretant interpretiert ein Zeichen definitiv; vielmehr enthüllt sich jeder
Interpretant selbst als ein Zeichen, das in ein Netz weiterer Zeichen geknüpft
ist. ' Jede »Rezeption« wird dann zum Ausgangspunkt einer zeitlichen Reihe von
Übertragungen und Kommentaren, die eine Flucht weiterer Zeichen, sei es in
Form einer Paraphrase, einer Metapher, eines Diskurses oder einer Erinnerung
nach sich zieht, die ihrerseits wieder darauf warten, interpretiert zu werden et ad
infinitum: »Es ist nämlich jedes Symbol in einem sehr strikten Sinne ein lebendi-
ges Wesen (...). Der Körper eines Symbols verändert sich langsam, doch seine
Bedeutung wächst unweigerlich, nimmt neue Elemente in sich auf und schließt
alte aus.« So erzeugt sich die Bedeutung eines Zeichens immer wieder neu im
Rekurs auf andere Zeichen, die in sie eingehen. Bezugnahme erweist sich als un-
abschließbares Geschehnis einer Auslegung, deren fortlaufende Metonymien gar
nicht anders können, als immer wieder auf das zurückzukommen, worauf sie sich
beziehen. Wesentlich ist dabei freilich, daß alle Interpretationen letztlich auf
»dasselbe Objekt« zurückkommen, das sich systematisch in ihrem Rücken hält,
weshalb die Fackel der Deutung von Zeichen zu Zeichen weitergereicht werden
muß, ohne daß die Reihe abbricht. Folglich »gleiten« die Zeichen in einem infi-
niten semiotischen Feld, das die Kette einer Sukzession eröffnet, wobei ihr Refe-

54 Man muß hier allerdings einrechnen, daß die semiotische Philosophie von Peirce selber eine lang-
same und umständliche Entwicklung beschreibt, vermittelt über den Umweg einer Reihe verwir-
render Definitionen, die sämtlich Annäherungen darstellen. Wird anfangs der Begriff des Inter-
pretanten noch mentalistisch als »Vorstellung« gefaßt und unter seinem »Objekt« die tatsächlich
bezeichnete Sache verstanden, so wird diese spätet zunehmend durch die Idee einer Infinität des
Zeichenprozesses ersetzt. Eine vollständige Darstellung der Pierceschen Semiotik müßte also des-
sen Weg nachzeichnen und keine Systematik versuchen.
55 Zur Zeitlichkeit und Auszeichnung der Zukunft Charles Sanders Peirce, Schriften a.a.O., Bd. 2,
S. 435 ff: CP. 5.458.
56 Trotz aller Wandlung im Detail blieb Peirce zeidebens »Realist«: Der »Gegenstand« des Zeichens
wird als »Reales« oder auch »existentes Objekt« bezeichnet: Es fungiert als Bezugspunkt der Rela-
tion: »Der Interpretant eines Satzes ist sein Prädikat; sein Objekt sind die Dinge, die durch sein
Subjekt oder seine Subjekte (...) bezeichnet werden.« Vgl. ders., Schriften a.a.O., Bd. II, S. 473:
CP. 5.473.
57 Ders., Phänomen und Logik der Zeichen, a.a.O., S. 46.
230 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

renzpunkt immer mehr entweicht, um zuletzt nur noch einen leeren oder abwe-
senden Platz zu besetzen, der die formale Stelle des Realen einnimmt.
Insonderheit duldet dieses Zeichenmodell kein internes Kriterium, das ihr Ge-
lingen verifizierte; vielmehr konzipiert sich die Semiose als prinzipiell offenen
Prozeß, der sich permanent fortschreibt. Dann ergibt sich allerdings die Unge-
reimtheit, daß sich die fragliche Stelle des Bezugs selber noch mit der Verschie-
bung der Interpretanten verschiebt, so daß, worauf das Zeichen verweist, sich
gleichsam mit seiner Interpretation zugleich zu verändern vermag. Mithin erweist
sich der Bezugspunkt der Referenz, der den Prozeß hält, selbst als haltlos, weil
mit der Bewegung der Deutung unentscheidbar erscheint, wotauf die Deutung
sich bezieht. Heißt das nicht, daß das Zeichen, befestigt an einem eingeklam-
merten Bezug, diesen immer wieder einbüßt, d.h. seine Ternärität sich notwendig
de-konstruiert, weil nicht klar ist, ob in der Dreistelligkeit überhaupt vom glei-
chen »Objekt« die Rede sein kann? Als ob Peirce vor der Konsequenz dieses
Taumels zurückschreckte, postulierte er demgegenüber einen höchsten Punkt ge-
glückter Korrespondenz, der der Kette ihren verlorenen Halt rückerstattete. Zwar
offenbaren Verstehen und Wissen ihre genuin iterative Struktur, freilich so, daß
sie an jene sich stetig ausweitenden konzentrischen Kreise des hermeneutischen
Zirkel gemahnen, die sich an derselbe Stelle ausbreiten und gleichermaßen die
Chance eines Besser-Verstehens wie Besser-Wissens bergen. Peirce' pragmati-
sche Semiotik entwirft damit ein der Hermeneutik äquivalentes Bild: Sie ent-

58 Zwei graphische Formalisierungen bieten sich für die unendliche Progression an (zu S, O und I
vgl. Anm. 52):
(i) S - I , = S , - I 2 = S 2 - I , = S , - . . .
I / / /
o ...
... I,=S,
I /
(ii) S - O - I2=S2
I
1,-S,

Erstere erweist sich als fortschreitende Sukzession, die immer auf dasselbe Objekt bezogen bleibt,
letztere als Spirale um einen absenten Kern, in der das Objekt als Bezug vetschwindet. Sie resti-
tuiert indessen erneut die Leerstelle des Dings-an-sich, gegen das Peirce heftig polemisiert hat
und das er semiotisch gerade zu eleminieren suchte. Zudem verweist die letztere Vorstellung in
ihrer Zirkelstruktur auf den Grundbestand hermeneutischen Denkens: die Progression, durch die
sich die Zeichen im Laufe der Zeit mit immer mehr Sinn anreichern, entspräche dem Postulat
Diltheys, wonach Verstehen immer bedeutet »Besser-Verstehen«. Vgl. dazu Wilhelm Dilthey,
Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1970,
S. 176 f., 278 ff. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., besondets S. 280, hat
bekanntlich die Maxime Dilthey dahingehend umgedeutet, daß Verstehen vor allem bedeutet,
»daß man anders versteht, wenn man überhaupt vetsteht«. Auf die Verbindung zwischen Prag-
matismus und Hermeneutik hat zudem immer wieder Karl-Otto Apel hingewiesen; vgl. ders.,
Von Kant zu Peirce: Die semiotische Transformation der Transzendentalen Logik, sowie Szien-
tismus oder transzendentale Hermeneutik? Zur Frage nach dem Subjekt der Zeichenintetpretati-
on in der Semiotik des Pragmatismus, in: ders., Transformation der Philosophie Bd. 2, a.a.O.,
S. 157-177, u. 178-219.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 231

stammt dem gleichen theoretischen Klima. Denn hier wie dort gilt, daß die Be-
wegung nicht ins Beliebige »driftet«: Die Unabgeschlossenheit des Sinnbildungs-
prozesses impliziert nicht, daß sich die »Identität des Signifikats (...) unaufhör-
lich (verschiebt)«,' ohne an Gewicht zu gewinnen, sondern daß sie, gestützt auf
die methodische Arbeit der Falsifikation, einer ebenso unbeirrbaren wie hartnäc-
kigen Revision untetliegt. Ausdrücklich bekennt sich Peirce zum Fortschritt in
der Interpretation - sogar zu einem »Wachstum an Vernünftigkeit«:" Jede neue
Deutung enthält die Möglichkeit einer Vermehrung an Komplexität und Infor-
mation, doch so, daß sie an einen virtuellen »letzten Interpretanten« (final opini-
on) gebunden bleibt, der als »regulatives Prinzip« ihren Prozeß zu korrigieren und
zu steuern erlaubt. Bedeutung gründet nicht in der Entsprechung der Zeichen,
sondern finalisiert sie: »Ein Symbol ist eine embryonale Wirklichkeit, begabt mit
dem Vermögen, in die Wahrheit, in die Entelechie der Wirklichkeit hineinzu-
wachsen.« So gibt es ein Vertrauen in die Approximation der Wahrheit, die
zwar, um ein Bild Karl Raimund Poppers zu verwenden, unerreichbar scheint wie
ein in Nebel gehüllter Berggipfel, die aber dennoch das einheitliche Ziel aller
Bemühungen vorgibt. Auf diese Weise mündet die pragmatische Semiotik von
Peirce letztlich - mit dem typischen Optimismus des 19. Jahrhunderts - in einen
teleologischen Glauben: Er schützt die Theorie des Zeichens davor, im Augen-
blick ihrer Freiheit erneut in die Bodenlosigkeit abzustürzen. "
Es kommt also einer Überbewertung gleich, wenn Peirce bereits für eine Au-
tonomie des Symbolischen reklamiert wird, in der das Bedeutungsgeschehen le-
diglich »Spiel« ist angesichts der Abwesenheit jeden Grundes und des Verlusts
bindender Wahrheit." Statt dessen beschreibt der Prozeß der Signifikation eine
beharrliche Bewegung, dessen Kette von Verweisungen mit einem »ultimativen
Interpretanten« endet. Die Semiose findet daran ihr Kriterium gleichwie ihre
Erfüllung. Peirce erweist sich zuletzt als Realist, der an die Interpretierbarkeit der

59 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 86.


60 Vgl. Charles Sanders Peirce, Schriften, a.a.O., Bd. II, S. 279: CP. 5.4.
61 Ders., Neue Elemente, a.a.O., S. 377.
62 Dasselbe Problem wiederholt sich für die gesamte Theorie von Peirce: Wenn das Zeichen seine
Dreistelligkeit ist, dann erlaubt es keine Klassifikation, keine Unterscheidung in Ikon, Index und
Symbol, es sei denn als bereits symbolisches Ikon bzw. symbolischer Index. Desgleichen gilt für
die Kategorienlehre, die allein vom Primat det »Drittheit« her — als einzige »volle« Kategorie — zu
entwickeln wäre. Wie aber sind dann »Erstheit« und »Zweitheit« zu verstehen, wenn sie sich
nicht schon von der »Drittheit« het erschlössen? Die Zweideutigkeit, »Etstheit« im Sinne reiner
Phänomenalität und »Ikonizität« im Sinne direkter Ähnlichkeit odet Bildlichkeit anzunehmen,
hält sich hier durch: Ihr Postulat konterkariert sich in dem Maße, wie sie umgekehrt erst vom
höchsten Punkt entwickelter Ternärität zu klären sind. Im ganzen erweist sich die »Metaphysik«
von Peitce als inkonsistent.
63 Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 83 ff, der Peirce gegen Saussure ausspielt und
ihn in diesem Sinne für eine »Dekonstruktion« det Präsenz-Metaphysik vereinnahmen möchte.
Korrigierend dazu Umberto Ecos Auseinandersetzung mit Derrida in: ders., Die Grenzen der
Interpretation, a.a.O., S. 432 ff. Allerdings geht Ecos Auslegung zu weit, wenn er den Peirce-
schen Entwicklungsgedanken ausstteicht und an seine Stelle die »Unbegtenztheit« der Semiose
setzt; vgl. ebenda, S. 352, sowie ders., Semiotik. Entwurf einet Theorie der Zeichens, a.a.O.,
S. 102 f.
232 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Wirklichkeit im Sinne gelingender Wahrheit glaubte. Auch wenn er für sie ledig-
lich einen un-endlichen Konvergenzpunkt reservierte, so hat die Rede von einem
Grenzwert gleichwohl nur Sinn, wenn zuvor das Maß der Grenze und damit die
Wahrheit der Interpretation definiert worden ist, um von ihr her die noch aus-
bleibenden Distanzen bestimmen zu können. Anders ausgedrückt: Die Konver-
genzwahrheit wurzelt in einer Korrespondenzwahrheit, die ihr vorhergeht. Ein-
mal mehr dekuvriert so sein Zeichenbegriff die problematische Stelle seiner Defi-
nierbarkeit: Unverzichtbarkeit eines Referenzpunktes als conditio sine qua non
seiner Erfüllung. Sowenig es Zeichen ohne Bedeutung geben kann, sowenig kön-
nen sie ohne Verweis auf ein Bezeichnetes verstanden werden, wie das Reale um-
gekehrt ohne seine Interpretierbarkeit mittels Zeichen gedacht und deren Inter-
pretant ohne Zeichen und ohne Bezug auf eine bezeichnete Realität vorgestellt
werden kann. Man könnte sagen: Der Interpretant mediatisiert zwar das Zei-
chenobjekt; aber das Zeichenobjekt determiniert den Interpretanten. Für die
Einlösung einer Signifikation ist dann ebensosehr ihr Wirklichkeitsbezug konsti-
tutiv wie ihr Sinn. Zeichen »motivieren« Interpretationen, die darauf abzielen,
Realitäten zu be-zeichnen. Notwendig bleiben daher die Zeichen objektgebun-
den: Ein objektloses Denken wäre eine contradictio in adjecto: Es hätte, gleich
Phantasmagorien oder Fabelwesen, keinen Gegenstand, von dem es spräche.
Zwar erschließt sich Wirkliches überhaupt nur auf dem Wege der Deutung, so
daß die Semiose vollständig durch den Prozeß der Interpretation determiniert
wird; doch scheint der Realismus unweigerlich in die Zeichen eingelassen. Peirce
versucht sogat, zwei Unvereinbarkeiten miteinander in Einklang zu bringen:
Denken, das einerseits nicht ohne Zeichen geschieht, so daß jedes Ding immer
schon markiert und die Welt nicht anders denn »durch das Studium des Inter-
pretanten« zugänglich ist, sowie andererseits die Annahme einer objektiven Ge-
gebenheit, insofern dem Realen ausdrücklich der Status eines »unabhängigen
Seins« zugebilligt wild. Das Universum der Zeichen vermag darum seine Ver-
wurzelung im Nichtsymbolischen nicht zu leugnen, weil die Zeichen, statt von
irgendwelchen »Luftspiegelungen« zu handeln, sich ausschließlich auf Realitäten
beziehen, die sie gleichwohl nicht zu enthüllen vermögen, wohl aber anzuzeigen.
Insofern partizipiert die pragmatische Semiotik weiter am Problem der Reprä-
sentation, wenn auch in abgemildeter Form. Sie muß voraussetzen, was sie ver-
wirft. Peirce befindet sich damit noch in einer Übergangsposition: Die Präsenz

64 Peirce gebraucht wörtlich die Ausdrücke »to determine« bzw. »to create«. Manfred Frank. Was ist
Neostrukturalismus?, a.a.O., S. 553 ff, übersetzt mit »motivieren«.
65 Vgl. Charles Sanders Peirce, Schriften, a.a.O., Bd. II, S. 474 f.: CP. 5.475; auch ebenda S. 416,
463 ff, 484, 489 f.: CP. 5.18, 5.438, 5.486, 5.491, 5.496.
66 So heißt es in ders., Schriften, a.a.O., Bd. L, S. 200: CP., 5.285: »Für was steht das Gedanken-
zeichen, was benennt es, was ist sein suppositum? Zweifellos der Gegenstand außerhalb von uns,
wenn man einen realen Gegenstand außerhalb von uns denkt. Aber da der Gedanke durch einen
vorhergehenden Gedanken über dasselbe Objekt bestimmt ist, bezieht er sich dennoch nur auf
den Gegenstand, indem er diesen vorhergehenden Gedanken bezeichnet.«.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 233

des Wirklichen gilt ihm genauso selbstverständlich wie die Herrschaft des Sym-
bolischen. Trotz aller Fluchten des Realen und seines Zurücktretens ins Undar-
stellbare, bleibt es präsupponierter Bezug des Bezugs: Nicht als Stelle im System,
dem wiederum ein Zeichen zukäme, wohl aber als das, das gleich einem »Calder
Piece« die Bewegungen und Momente, die der unstillbare Windzug an ihm voll-
führt, festhält, und dem, radikaler, die strukturale Semiologie wie ebenso die All-
gemeine Symboltheorie Nelson Goodmans nurmehr die Negativität eines »leeren
Feldes« oder »Nulldenotats« einräumte, insofern ihm jene Unscharfe eignet, in
keinem Augenblick wirklich bestimmbar zu sein, weil er in jedem Augenblick be-
reits ein anderer ist.' Gerade weil Peirce an der Möglichkeit approximativer Aus-
legung festhält, entbirgt sich die Crux: die Konvergenz der Deutung mit ihrem
Gegenstand unterstellt Endlichkeit. Das Reale, als Identität des Grenzwertes von
Wahrheit und Interpretation, bleibt im Definitiven statt im Infiniten verortet,
weil sonst die Konvergenz nicht definierbar wäre. Nicht handelt es sich also um
einen endlosen Fortriß, der die Zeichen stetig von sich entfernt, um sich zuletzt
in einem vollkommenen semiotischen Konstruktionalismus zu verlieren, vielmehr
um ein Geschehen beharrlicher Annäherung, das freilich nur dann Sinn hat,
wenn der Limes final ist. Der Zeichenprozeß erweist sich - noch ganz im Fort-
schrittsglauben des 19. Jahrhunderts verankert — als an die Evolution des Den-
kens und der Wissenschaften gebunden.
Offenbar ist den Paradoxien der Repräsentation schwerer zu entkommen, als
die Transformation von der Onto-Logik der Substitution zur unendlichen Re-
kursion nahelegt. Damit ist die Schwierigkeit analytischer und pragmatischer
Funktionstheorie des Zeichens angezeigt, eine Schwierigkeit, die in der Tendenz
steht, sie vollends zu zersetzen. Lösbar nur durch Rückgang auf einen infiniten
Regreß, der sie der Prozedur einer permanenten Korrektur überantwortet, erweist
sie sich damit als letztlich unlösbar, weil sie das Problem fortwährend nur verlän-
gert und hinausschiebt, mithin in dem Maße wieder bestätigt, wie sie versucht, es
einer Lösung zuzuführen. Deswegen hat Derrida, sich zugleich auf Peirce beru-
fend wie ihn überschreitend, jede Auszeichnung eines ttanszendenten Ortes, sei es
die Gegenwärtigkeit einer Gegenwart, das Ereignis, eines Ursprungs der Welt
oder irgendeine in einem Nicht-Zeichen festgemachte Substantialität rigoros ab-
geschnitten,' um das Zeichen endgültig von seinen Inkonsistenzen zu erlösen
und es als Marke (marque), Schnitt oder »unmotivierte« Spur freizusetzen. »Es
gibt keinen Boden der Nicht-Bedeutung (...), der als Grundlage dieser Verwur-
zelung unter dem Spiel und dem Werden der Zeichen verliefe. (...) Peirce
kommt der von uns intendierten Dekonstruktion des transzendentalen Signifikats

67 Vgl. Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus, a.a.O., S. 41 ff, sowie Nelson
Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 35 f.
68 Vgl. zur evolutionären Logik bei Peirce ders., Was heißt Pragmatismus, in: Schriften a.a.O.,
2. Bd., S. 389-413: CP. 5.411-5.437, vor allem S. 400 ff: CP. 5.422 ff; ders., Notizen über
Evolution und die Architektonik von Theorien, in: ders., Naturordnung und Zeichenprozeß,
a.a.O., S. 126-140; sowie die instruktive Einleitung von Helmut Pape ebenda S. 11-109.
69 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., 82 ff.
234 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

sehr nahe, welches letzten Endes dem Verweis von Zeichen zu Zeichen immer ei-
ne feste Grenze setzt. (...) Peirce indes sieht im Indefiniten des Verweises das ent-
scheidende Kriterium, mit dessen Hilfe man feststellen kann, daß es sich tatsäch-
lich um ein Zeichensystem handelt.« Was indessen als »Boden der Nicht-
Bedeutung« abgestritten wird, betrifft die Evidenz eines »Außen«, das den Zei-
chen begründend vorausginge, um ihren Bezug, ihre Funktionalität zu ermögli-
chen. Statt dessen wird das »Außen« zum »Innen«, zut Immanenz einer selbstbe-
züglichen Signifikation, die noch die Differenz beider einzuebnen hat. Doch
zahlt die Radikalisierung den Preis absoluter Immaterialität, die das Denken der
differance spiegelt und nurmehr eine sich ständig verwischende Spurenschrift aus
lauter bedeutungslosen Markierungen einbehält, die für nichts mehr stehen,
nichts abbilden oder darstellen, noch irgend einen Halt finden außer in den küh-
nen und trostlosen Über-Schreibungen eines mit sich selbst beschäftigten inter-
skripturalen Spiels. »Dieses Spiel, das als die Abwesenheit des transzendentalen
Signifikats gedacht wird, ist nicht ein Spiel in der Welt, als welches es von der
philosophischen Tradition seit je bestimmt wurde, um es in Grenzen zu halten
(...). Um das Spiel in seiner Radikalität zu denken, muß zu allererst die ontologi-
sche und transzendentale Problematik gewissenhaft aufgearbeitet werden, muß
geduldig und entschieden durch die Frage nach dem Sinn von Sein, dem Sein des
Seienden und dem transzendentalen Ursprung der Welt - der Weltlichkeit der
Welt - hindurchgegangen (...) werden. Gelingen kann dies aber nur, indem die
Begriffe des Spiels und der Schrift, auf die wir hier rekurrieren, durchgestrichen
werden (...).«
Schrift und »Spiel«, die so nicht länger dem Bereich einer Präsenz zugeordnet
werden können, die keinen Zustand markieren, sondern in die fortwährende Tä-
tigkeit gestellt sind, entfachen auf diese Weise ein wechselvolles Theater aus Ite-
rationen und Alterationen, die sich ebenso von ihrem Autor wie von ihrem
Empfänger und dem Realen als ihrem Referenten entkoppelt haben, daher nichts
»sind« als das Ereignis ununterbrochener »Differierung«: »ursprungslose«
ce, die stets von neuem ihre Strukturen malt, um sie wieder umzuwehen, zu
überweben, den Mustern eines Teppichs vergleichbar, die sich mit jedem
»Sprung« verdichten oder durchscheinender werden, deren labyrinthische Fäden
sich stets anders spannen, auflösen und Texturen knüpfen, deren rhizomatische
Verwirrung schließlich weder einen Grund, eine Wahrheit noch einen Sinn oder
die Kontinuität einer Geschichte, deren Erfolge erzählbar wären, zuließe. Es wäre
ein Ereignen der Spur, der Nicht-Präsenz, mithin das genaue Gegenteil dessen,
was wir im Lichte des Sichzeigens als Ereignis der Setzung und Ekstasis der
rialität zu apostrophieren versucht haben. Mit ihm ist zugleich die Stelle erreicht,
die in äußerster Opposition zum Erscheinen steht, in dem dieses noch der Imma-

70 Ebenda, S. 84, 85 passim.


71 Vgl. die beiden gegeneinandergestellten Unterkapitel des 2. Kap. der Grammatologie. Das
ßen und das Drinnen sowie Das Draußen istdas Drinnen, ebenda S. 53 ff, 77 ff.
72 Ebenda, S. 87, 88.
73 Vgl. ders., Die difßrance, a.a.O., S. 40.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 235

terialität der Zeichen und ihres Bedeutens überantwortet wird: Semiotischer Im-
manentismus, der nirgends eine Blöße zeigt und das Ereignis, das keine Kontur
oder »Spur« aufweist und dennoch sich unablässig aus-trägt und die Möglichkeit
un-endlicher Itetation und Differenz erst stiftet, vollständig in sich getilgt hat.
Buchstäblich fehlt ihm sein Gewicht: Gravitation seines Ereignens als nichtreprä-
sentierbare Präsenz, die darum auch nicht mehr den Paradoxien der Referentiali-
tät verfällt und dennoch ihnen immer schon vorhergegangen ist. Die Zeichen wä-
ren dann durch zwei Reihen von Paradoxa gekennzeichnet: Internes Paradox ih-
rer Differentialität selbst, das sie zu einer un-endlichen Resignifikation zwingt,
um sich zuletzt in ein haltloses Gespinst von Verweisungen zu verlieren; sowie
externes Paradox, insofern sich an ihnen stets ein Anderes zeigt, das sie selbst sind,
ohne markierbar zu sein und das ein Nicht-Signifizierbares im Zeichen entdeckt,
das ihm unwiderruflich im Rücken bleibt. Die doppelte Paradoxalität zeigt seine
irreduzible Duplizität an: Einerseits Differenz, die das Zeichen ab Zeichen setzt
und zugleich zu überwinden trachtet, sowie andererseits Negativität des Raumes,
in dem es gesetzt ist und seine Präsenz erhält, mithin Ereignis, das aufklafft, um
jene Gegenwart zu erteilen, durch die es überhaupt erst be-deuten kann.
2. KAPITEL:
SAGEN UND ZEIGEN (WITTGENSTEIN)

Die Lebendigkeit der Sprache liegt in ihrer


Fähigkeit, das aktuelle, imaginierte und mögli-
che Leben ihrer Sprecher, Leser und Schreiber
zu veranschaulichen. (...) Sie zielt auf den
Ort, wo die Bedeutung liegt. Ihre Kraft, ihre
Glückseligkeit besteht in ihrem Verlangen nach
dem Unsagbaren.
Toni Morrision

Pluralität von f Beziehungen

Der Funktionalismus in der Zeichentheorie, wie er sich seit Gottlob Frege ab-
zeichnet, entkleidet die Zeichenoperation ihrer onto-logischen Grundlegung und
reduziert sie auf das abstrakte Schema von Bezugnahme. Das Problem der Para-
doxie, wie es sich von Aristoteles her stellt, wird damit einer anderen Lösung zu-
geführt, die der von Peirce nicht unähnlich ist, die gleichwohl neue Probleme
aufwirft. Die Differenz, die das Zeichen kennzeichnet, seine metaphysische Tei-
lung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Gegenwärtigkeit einer Nicht-
Gegenwart, wird jetzt zur Relation, dem der formale Ausdruck f: x —> y, mit (x,y)
6 XxY genügt, wobei f den Funktionsterm sowie x und y die Elemente zweier
beliebiger Mengen X und Y bezeichnen, die in Beziehung zueinander gesetzt
werden. Es handelt sich um eine relationale Struktur, deren Paare (x,y) eine Zu-
ordnung stiften, die, wie bereits ausgeführt, Unterschiedliches meinen kann: Er-
setzung von x durch y (Substitution), Verweis von x mittels f aufy (Abbildung)
oder auch: y steht in einer f-Beziehung zu x (Referenz). Letztere entfächert sich in
eine Vielzahl von Modalitäten: Kennzeichnung, Gleichheit, Ähnlichkeit etc. Ihre
analytische Präzisierung hat Frege unternommen. Seine allgemeine Definition
lautete: »Wenn in einem Ausdrucke, dessen Inhalt nicht beurtheilbar sein
braucht, ein einfaches oder zusammengesetztes Zeichen an einer oder an mehre-
ren Stellen vorkommt, und wir denken es an allen oder einigen dieser Stellen
durch Anderes, überall aber durch Dasselbe ersetzbar, so nennen wir den hierbei
unveränderlich erscheinenden Theil des Ausdrucks Function, den ersetzbaren ihr
Argument.« Identifiziert werden damit Funktion und Ersetzbarkeit, so daß im

1 Gottlob Ftege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, a.a.O., S. 16. Zur Zeichentheorie Freges Mi-
chael Dummett, Frege: Philosophy of Language, London 1973; ders., The Interpretation of
Frege's Philosophy, London 1981; ders., Ursprünge der analytischen Philosophie, Ftankfurt/M.
1992; Franz Kutschera, Gottlob Frege, Berlin New York 1989; sowie Matthias Schirn (Hsg.),
Studien zu Frege, 3 Bde. Stuttgart 1976.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 237

Zeichen die Struktur der Substitution ausgezeichnet wird, jedoch so, daß diese
nicht starr nach demselben Schema verläuft, sondern die Form der Beziehung mit
dem Funktionalausdruck variiert. Entscheidend ist, daß für die Konstitution des
Zeichens nicht die »Argumente« zählen, d.h. das »was« der Zuordnung, sondern
der Funktionsterm, ihr »wie«. Ausdrücklich unterscheidet Frege zwischen Argu-
ment und Funktion; letztere bleibt insofern unbestimmt, als sie eine Vorschrift
oder ein Gesetz formuliert, das allererst durch Einsetzung der Stellen erfüllt wird,
nicht umgekehrt, weshalb Frege ergänzt, daß der Buchstabe x des Arguments
»nur dazu (dient), die Art der Ergänzungsbedürftigkeit anzudeuten, indem er die
Stellen kenntlich macht, wo das Zeichen des Arguments einzutreten hat«." Zur
Bestimmung der Mengen, d.h. der Gegenstandsbereiche oder Wirklichkeitsaus-
schnitte, zwischen denen eine Relation hergestellt wird, tritt also die Operation
selbst hinzu, wie sie durch den Funktionsterm ausgedrückt ist. Kein Zeichen
verweist demnach einsinnig aufsein Bezeichnetes; stets ist die Weise seiner Bezug-
nahme, die Pluralität der f-Beziehung mit im Spiel. So ermöglicht die scheinbare
analytische Reduktion, die die Funktionalität al
s Substitutionalität auszeichnet und dabei ausdrücklich auf die ursprüngliche ari-
stotelische Erklärung zurückgeht, gleichzeitig ihre Erweiterung und deutet auf ei-
ne Richtung, die diese überschreitet: Trennung von »Inhalt« und »Form«, von
Bezeichnung (Referenz) und Modus (Sinn).
Aufgeworfen wird auf diese Weise jenes Modusproblem, wie es insbesondere
Husserl wiederaufnahm und wie es für die gesamte gegenwärtige Philosophie der
Sprache leitend werden sollte: Die Zeichen stehen nicht nur für etwas, was sie
nicht sind; sie treten unterschiedlich in Erscheinung, sie werden anders verwendet,
was in ihre Bedeutung mit eingeht, ohne freilich durch diese mitbezeichnet zu
sein. Letzteres enthüllt die bei Frege nur unzureichend diskutierte Schwierigkeit
der Unterscheidung: Der »Sinn« oder »Modus« der Bezeichnung wird determi-
niert durch die Operation, die ihr zugrunde liegt; doch muß diese bereits vorlie-
gen, um Form und Inhalt voneinander trennen zu können. Wir haben es mit
dem gleichen Problem zu tun, wie es Roland Barthes in den Mythen des Alltags
thematisierte und das dort an dieselbe Grenze stieß: Voraussetzung eines Begriffs

2 Gottlob Frege, Funktion und Begriff a.a.O., S. 22.


3 Die Unterscheidung, die Frege vornimmt, verläuft zwischen »Sinn« und »Bedeutung«, wobei die
Differenz vor allem an der Gleichheitsrelation exemplifiziert wird: »a = b« bezeichnet unter einem
anderen Modus als »Die Namen >a« und >b« bedeuten dasselbe«; vgl. ders., Über Sinn und Be-
deutung, a.a.O., S. 40 ff. Die Unterscheidung der Ausdrücke, nicht der Sache, ist von Husserl
allerdings zurecht als kontraintuitiv kritisiert worden ist; vgl. ders., Logische Untersuchungen,
Tl. II/l, a.a.O., § 15, S. 52 f. Inzwischen haben sich zur besseren Kennzeichnung des Unter-
schieds die englischen Ausdrücke reference (Bedeutung) und meaning (Sinn) durchgesetzt. Wir
werden statt dessen von Bezeichnung und Bedeutung bzw. Modus sprechen.
4 Ders., Über Sinn und Bedeutung, a.a.O.; Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Tl. II/l,
a.a.O., S. 23 ff. Ernst Tugendhat formalisiert das Problem mit Mp, wobei >p< die Proposition
meint, die im Modus M vollzogen wird; vgl. ders., Vorlesungen zur Einführung in die spracha-
nalytische Philosophie, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1976, 5. Vorlesung, S. 72 ff.
238 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

oder Kriteriums vom Mythos, das erlaubt, seine Entlarvung vorzunehmen.1


Ebenso wird hier bereits das ganze Repertoire von Bezeichnungsweisen suppo-
niert, um die Irrtümer des Denkens aus der Verwirrung der Zeichenfunktionen
allererst kritisieren zu können. Eben dies kann aber nicht unterstellt werden: Die
Zeichen beziehen sich auf etwas; sie drücken etwas aus odet geben zu verstehen,
aber sie teilen nicht mit, wie sie sich beziehen oder aufweiche Weise sie zu inter-
pretieren sind, weil die Funktion die Beziehung »ist« und sich die Modalitäten ih-
rer f-Beziehungen gleichsam nur vermittels ihrer Vollzüge selbst ausstellen. D.h.
die »Bedeutung« (Bezeichnung) der Zeichen verschleiert den Modus; er muß er-
schlossen oder hinzugefügt werden, entweder durch Rekonstruktion ihres Kon-
textes oder durch Explikation ihrer Verwendung. Ihr »Sinn« liegt dann nicht vor;
er ergeht aus anderem, den Formaten ihrer Plazierung' oder ihres Gebrauchs, dem
Gewebe der Praktiken, in das sie eingebettet und mit dem sie »verwoben« sind.
Husserl hat darum, wie ebenso später Wittgenstein, verschiedene Verwendungs-
weisen zu unterscheiden versucht und so das Modusproblem in Richtung einer
Performanzproblematik weiterentwickelt, wie es schließlich von der pragmati-
schen Linguistik, besonders der Sprechakttheorie John Langshaw Austins und
John R. Searles wieder aufgenommen worden ist: Ein und dieselbe Äußerung
kann, je nach Situativität oder Kontext als Behauptung, Bitte, Frage oder Dro-
hung aufgefaßt werden, ohne daß ein weiteres Zeichen ihren praktischen Status
ausdrückte: Vielmehr zeigt er sich kraft ihres Vollzugs.
Die Differenz enthüllt, daß die Zeichen wie auch die sprachlichen Sätze grund-
sätzlich doppelt besetzt sind: Nach der Seite ihres Inhalts, ihrer Referenz und nach
der Seite ihres Gebrauchs, ihrer Position oder Rolle, die sie einnehmen. Habermas
wird deshalb mit Bezug auf die sprachliche Rede von einer »Doppelstruktur um-
gangssprachlicher Kommunikation« sprechen: Es gibt einen propositionalen Gehalt
und einen performativen Anteil im Satz, der »(dazu) dient, den Modus der Kom-
munikation zu bestimmen und damit den pragmatischen Verwendungssinn für den
abhängigen Satz festzulegen«. Ahnliches gilt für alle Zeichen, soweit sie in prakti-

5 Siehe oben 1. Hauptstück, 3. Kap.


6 Frege spricht insbesondere von der »Art des Gegebenseins«; vgl. ders., Über Sinn und Bedeutung,
a.a.O., S. 41.
7 Vgl. John Langshaw Austin, Zur Theorie der Sprechakte a.a.O., vor allem 8. Vorlesung und fol-
gende, S. 110 ff, sowie John R. Searle, Sprechakte, a.a.O. Donald Davidson weist insbesondere
darauf hin, daß die Austinsche Sprechakttheorie die Modusproblematik in die »Kraft« sprachli-
cher Performanz übersetzt hat und gibt das Beispiel: »Du wirst dir die Schuhe zubinden«, was als
Feststellung, als Bitte oder als Drohung verstanden werden kann; vgl. ders., Modi und performa-
tive Äußerungen, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1994, S. 163—
180, hier: S. 172. Allerdings wird das Modusproblem zumeist auf sprachliche Sätze
eingeschränkt; es gilt indessen für jedes Zeichen. Daher kann es auch nicht allein zur
Klassifikation von Satzrypen und ihren Verwendungsweisen dienen. Insofern wäre die
Modusproblematik zu erweitern: ein Zeichen, das für etwas steht, kann in seiner
Repräsentativität nicht nur unterschiedlich gebraucht werden, sondern gehorcht verschiedenen
Formen seiner Erscheinung oder Gegebenheitsweise.
8 Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompe-
tenz, a.a.O., S. 105.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 239

sehen Kontexten vorkommen: Sie bezeichnen etwas, gleichwie sie gebraucht wer-
den, wobei der Gebrauch den Sinn ihrer Bezeichnung mitdeterminiert. Keineswegs
reicht deshalb ihr Funktionalausdruck allein aus, um die Zuordnung lesbar zu ma-
chen: Kein Zeichen läßt sich ausschließlich aus seiner Funktionalität erklären; im-
mer kommt ein Zweites hinzu, das nicht wiederum in dem ausgedrückt ist, was es
besäffr.Es ist nicht dem Zeichen angesteckt wie ein Index oder Merkmal, sondern
gehört in seine Rahmung oder Praxis. Deshalb hatte der späte Wittgenstein den
Sinn eines Ausdrucks mit seiner Verwendung innerhalb von Kalkülen oder Sprach-
spielen identifiziert: »Die Erklärung der Bedeutung erklärt den Gebrauch des
Wortes. Der Gebrauch des Wortes in der Sprache ist seine Bedeutung. (...) Die
Bedeutung ist die Rolle die das Wort im Kalkül spielt.« Doch setzt dann eben sein
Verstehen schon die Kenntnis dieses Gebrauchs voraus: Sinn ist an die Deskription
von Handlungen und Regeln gebunden, die wiederum auf Lebensformen verwei-
sen, in deren Zusammenhang sie hineingehören.' Mithin ergibt sich in bezug auf
das gestellte Modusproblem eine Verschiebung: Übergang vom Gehalt zur Perfor-
manz, der freilich dieselbe Schwierigkeit nur überträgt, insofern er die Frage nach
der Interpretation der Bedeutung durch die nach der Beschreibbarkeiten von Pra-
xen ersetzt.
Die Unzulänglichkeiten der Lösung erhellt sich insbesondere anhand jener
verzweigten sprachpragmatischen Philosophien, die die Wittgensteinsche Ge-
brauchstheorie beerbt haben und den Modus entweder auf die Okkasionalität
von Kontexten zutückführen, die die praktische Rolle von sprachlichen Äußerun-
gen definieren, oder an ein System von Regeln knüpfen, das die Struktur der
Performativität festlegt. " Dann bleibt entweder der Sinn gänzlich unbestimmt,
weil kein Kontext vollständig etklärbar ist, oder aber seine Relativität wird
durch Präsuppositionen eingeschränkt, die die Praxis der Kommunikation an

9 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Frankfurt/M. 1973 §§ 23, 27, S. 59, 60, 63
passim.
10 Ebenda § 29, S. 65. Dies macht den Kern der Spätphilosophie Wittgensteins aus, der Übergang
von der Erklärung einer Bedeutung zur Beschreibung von Verwendungsweisen, die wiederum die
Modalitäten des Sinns in Relation zur Vielfalt von Lebensformen enthüllen.
11 Als okkasionalistische Bedeutungstheorie interpretiert Lothar Eley die Sprechakttheorie Searles;
vgl. ders., Sprache als Sprechakt. Die phänomenologische Theorie der Bedeutungsintention und -
erfüllung und die sprachphilosophische Theorie der Sprechakte (J.R.Searle), in: Josef Simon
(Hsg.), Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie, Freiburg München 1974, S. 137-183.
12 Vgl. neben den erwähnten Theorien von John L. Austin und John R. Searle die Übersicht von
Eike von Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache. Eine kritische Einführung in die >ordi-
nary language philosophy«, veränderte Neuausgabe Frankfurt/M. 1993, bes. Tl. 1; ders., Zum
Begriff der Sprache, Konvention, Bedeutung, Zeichen, Stuttgart 1983; sowie Rüdiger Bubner,
Handlung, Sprache und Vernunft, Frankfurt/M. 1982. Vgl. ferner: Dieter Wunderlich, Studien
zur Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1976 u. die Beiträge in: Günther Grewendorf (Hsg.),
Sprechakttheorie und Semantik, Frankfurt/M. 1979; Georg Meggle (Hsg.), Handlung, Kommu-
nikation, Bedeutung, Frankfurt/M. 1993; Günther Grewendorf, Georg Meggle (Hsg.), Lingui-
stik und Philosophie, Frankfurt/M. 1974.
13 Diesen Einwand gegen Austin erhebt Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, a.a.O., S. 347.
240 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Rationalitätsvoraussetzungen bindet, die ihr idealiter vorausgehen. Letzteres re-


duziert das Modusproblem auf eine Reihe von Identitätsfiguren, die die Duplizi-
tät, die es anzeigt, wieder zurücknimmt: Denn erfordert ist die Übereinstimmung
des Gesagten mit seiner performativen Rolle, die es im Diskurs einnimmt, soll
Verständigung überhaupt gelingen. Der Begriff der »Illokution«, wie ihn Austin
einführte und Searle zum Programm erhob, sanktioniert schließlich deren Norm:
Der Satz sagt, was er tut; weder fallen Inhalt und Gebrauch auseinander noch
täuscht er eine Beziehung vor, vielmehr werden Ausnahmen, parasitäre Verwen-
dungsweisen oder performative Widersprüche, wie sie Austin lediglich tentativ
einklammerte, um überhaupt eine Theorie zu entwerfen, als Unfälle oder Bei-
spiele verzerrter Rede ebenso ausgeschlossen, wie Metaphern und Ironien. So
avanciert eine Heuristik zum Ideal: Wir sprechen, wie Habermas sich ausge-
drückt hat, mit dem Ziel der Herbeiführung konsensueller Einverständnisse, ' die
wiederum an die Erfüllung von Geltungsbedingungen gebunden ist, welche die
Vernünftigkeit von Kommunikation sichert. Sie liefern das Kriterium einer Kri-
tik, die die Relativität des Sinns rationalistisch einzuhegen vermag. Die Differenz
im Zeichen, die der Modus impliziert, um ein Spiel von Bedeutungen zuzulassen,
das die Verbindlichkeit seiner Deutung beständig zu unterhöhlen droht, wird so
erneut unter ein Prinzip gestellt, das seine Produktivität kontrolliert. Doch be-
steht sein Preis in der Festlegung dessen, was Sprache heißt: Einverständigung.

Zeigen: Grenze der Sagbarkeit

Dagegen hat Wittgenstein von Anfang an das Modusproblem differenztheoretisch


ausgespielt. Bereits im Tractatus logico-philosophicus hat er ihm durch die grund-

14 Eine solche Radikalisierung des Programms der Sprechakttheorie zu einer Transzendentalprag-


matik ergibt sich bei Karl-Otto Apel, Zur Idee einer transzendentalen Sprachpragmatik. Die
Dreistelligkeit der Zeichenrelation und die >abstractive fallacy« in den Grundlagen der klassischen
Transzendentalphilosophie und der sprachanalytischen Wissenschaftslogik, in: Josef Simon
(Hsg.), Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie, a.a.O., S. 283-326; und ders., Sprech-
akttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, in: ders. (Hsg.),
Sprachpragmatik und Philosophie, a.a.O., S. 10-172; sowie als Universalpragmatik bei Jürgen
Habermas, Was heißt Universalpragmatik? a.a.O., bes. S. 181 f., 188 f., 249 ff; ders., Theorie
des kommunikativen Handelns, a.a.O.; sowie ders., Diskursethik - Notizen zu einem Begrün-
dungsprogramm, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983,
S. 53-125.
15 Mehr noch: Habermas bestimmt den Unterschied von Bedeutung und Gebrauch bzw. »Refe-
renz« und »illokutionäre Kraft« als »zwei Kategorien von Bedeutungen« und schließt damit wie-
der an Frege an; vgl. J. Habermas, Was heißt Universalpragmatik? a.a.O., S. 234 f.
16 Ebenda, S. 176 f.
17 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Sprechakttheorie und der von ihr
ausgehenden Kommunikationsphilosophie von Habermas würde den Rahmen dieser Untersu-
chungen sprengen; sie sei späteren Analysen vorbehalten. Eine vorläufige Kritik findet sich in un-
seren Beitrag: D. Mersch, Kommunikative Identitäten und performative Differenzen. Einige Bemer-
kungen zu Habermas' Theorie der kommunikativen Rationalität a.a.O.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 241

legende Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen Rechnung getragen. Die


Trennung, die zwar noch dem engen Rahmen der Bildtheorie entstammt, welche
das Verhältnis von Sprache und Welt ontologisch auf Repräsentationalität und
damit die Funktion des Zeichens auf Abbildlichkeit festlegt, modifiziert die
Modusfrage und weist doch weit über sie hinaus. Sie berührt schließlich jene
Problematik, die wir am Schluß des vorigen Kapitels als doppelte Paradoxalität
des Zeichens ausgewiesen haben. An prominenter Stelle eingeführt wird die Dif-
ferenz allerdings mit wechselndem Sinn belegt: Mal gliedert sie sich nach »Form«
und »Inhalt« bzw. dem »Was« eines Ausdrucks im Unterschied zu seinem »Wie«,
mal werden auch Struktur und Bedeutung gegeneinander kontrastiert, mal Sinn
und Verwendung. Darüber hinaus kehrt die Differenz mit unterschiedlichem
Status und Bezug wieder: In den Sätzen 2.151 und 2.172 wird sie auf den Bild-
charakter bezogen: »Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß sich die
Dinge so zueinander verhalten, wie die Elemente des Bildes. (...) Seine Form der
Abbildung aber kann das Bild nicht abbilden; es weist sie auf.«" Der Aufweis ge-
schieht indirekt, d.h. medial. In den Sätzen 2.18 und folgende bevorzugt Witt-
genstein eine strukturale Lesart; er unterscheidet dort zwischen dem, was die
Sprache zur Darstellung bringt, und ihre »Darstellungsw«'^«, die »logische
Form«." Sie kann deshalb das Funktionieren der Sprache garantieren, weil sie po-
stulativ mit der »Form der Wirklichkeit« übereinstimmt." Der Differenz zwi-
schen Sagen und Zeigen entspräche dann die Dichotomie zwischen dem eigentli-
chen »Bedeuten« und die den Sinn allererst konstituierende Strukturalität, die
ihm operational zugrunde liegt. Sie wird im Sprechen vollzogen, ohne zum Ge-
halt des Satzes mitzugehören. »Was« ein Ausdruck sagt, bezieht sich auf die logi-
schen Tatsachen, »wie« er sie ausdrückt, auf seine Struktut. Sie spricht »sich«, oh-

18 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., vor allem 3.262, 4.022, 4.12—
4.1212, 4.126, 5.62, 6.12, 6.36 und 6.522, S. 26, 44, 58, 60, 136, 144, 166, 176. Die fiir den
gesamten Tractatus zenttale Differenz, die Nelson Goodman später in die von »Denotation« und
»Exemplifikation« überführt hat - siehe dazu insbesondere nächstes Kap. - , ist kaum jemals eine
eigenständige Untersuchung gewidmet worden. Ausnahmen bilden z.B. Peter Geach, Saying and
Showing in Frege and Wittgenstein, in: Jaakko Hintikka et al. (ed.), Essays on Wittgenstein in
Honour of G.H. von Wright (Acta Philosophica Fennica 28), Amsterdam 1976, p. 54-70; Felix
Gmür, Ästhetik bei Wittgenstein. Über Sagen und Zeigen, Freiburg München 2000, der insb.
eine Brücke zwischen Ästhetik und Mystik in der Frühphilosophie zum Aspektwechsel und Farb-
sehen beim späten Wittgenstein schlägt; sowie Heinrich Watzka, Sagen und Zeigen, München
2000, der die Differenz insb. mit dem Problem des Paradoxen in Verbindung bringt. Hinweise
finden sich darüber hinaus bei Merrill B. Hintikka, J. Hintikka, Untersuchungen zu Wittgen-
stein, Ftankfurt/M. 1990, S. 14 ff, 22 ff, 94 ff, die freilich den Gesichtspunkt der »Unaus-
drückbarkeit der Semantik« betonen.
19 Tatsächlich handelt es sich sogar um eine Isomorphietheorie, die von der Strukturgleichheit von
Sprache und Welt ausgeht. Als Isomorphietheorie setzt sie eine bijektive Abbildung voraus, die
die Zeichenfunktion der Repräsentation begründet. Die Voraussetzung ist Postulat, das durch
nichts begründet ist; wesentlich ist aber, daß der Abbildungscharakter nicht durch die Elemente,
sondern durch Strukturen erklärt wird.
20 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., S. 12 u. 14.
21 Ebenda, 2.18-2.181, 2.2, S. 14.
22 Vgl. ebenda, 2.012, 2.0121, vor allem 2.022 sowie 2.033 ff, S. 4, 8 und 10 ff.
242 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

ne mitgemeint zu sein; daher vermag sie sich innerhalb des Sagens bloß anzuzei-
gen, ohne als Zeigen noch aussagbar zu sein: »Der Satz kann die gesamte Wirk-
lichkeit darstellen, aber er kann nicht das darstellen, was er mit der Wirklichkeit
gemein haben muß, um sie darstellen zu können — die logische Form. (...) Was
sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht durch sie ausdrücken. Der Satz
zeigt die logische Form der Wirklichkeit. Er weist sie auf.«" Abermals wird dem
Satz ein Aufweisen zugeschrieben, wie zuvor schon dem Bild. Doch wie solches
»Zeigen« vorher zur Bildfunktion gehörte, entspringt es jetzt der Logik der Satz-
fiinktion selber, und zwar insofern sie sowohl ihr eigenes Gesetz als auch dessen
Ausübung darstellt. Als Gesetz bestimmt sie sich durch die Verknüpfung von Satz
und Tatsache, »über« die die Aussage spricht; doch wie sie diese hetstellt, kann
nicht durch sie selbst ausgedrückt wetden, sondern vollzieht sich operativ durch
ihre Beziehung hindurch. Darum heißt es wenig später, scheinbar konträr zu den
Sätzen 4.12 und 4.121: »Der Satz zeigt was er sagt, die Tautologie und die Kon-
tradiktion, daß sie nichts sagen;«" doch ergänzt eine Bemerkung im Tagebuch
vom 5.6.1915: »Es muß sich im Satz selbst zeigen, daß er etwas sagt und an der
Tautologie, daß sie nichts sagt.«" Wiederum ist es die dem »Sagen« zugrunde lie-
gende Sprachstruktur, die im Satz zum Ausdruck kommt, aber nicht mitgesagt
werden kann, weil sie diesen hervorbringt und dennoch überall an sein Bedeuten
gebunden bleibt.
An anderer Stelle wird diese Differenz zwischen »Form« und »Inhalt« bzw. »lo-
gischer Form« und »Abbildung« in Ansehung des Unterschieds zwischen Zei-
chen- oder Satzfunktion einerseits und Funktions- bzw. Satzzeichen andererseits
spezifiziert, wovon Wittgenstein in 3.12 und 3-14 sagt: »Das Zeichen, durch wel-
ches wir den Gedanken ausdrücken, nenne ich Satzzeichen. (...) Das Satzzeichen
ist eine Tatsache.« Hinzugefügt wird: »Daß das Satzzeichen eine Tatsache ist,
wird durch die gewöhnliche Ausdrucksform der Schrift oder des Drucks ver-
schleiert. (...) Sehr klar wird das Wesen des Satzzeichens, wenn wir es uns, statt
aus Schriftzeichen, aus räumlichen Gegenständen (...) zusammengesetzt den-
ken.«" Wittgenstein hebt hier auf den prinzipiellen Unterschied zwischen der
Funktionalität eines Zeichens und seiner Faktizität, seiner »sinnlichen Wahr-
nehmbarkeit« ab und gerät damit in die Nähe zu dem, was wir als »Materialität«
hervorgehoben haben:" Das Zeichen selbst ist etwas, sofern es für ein anderes
steht und es be-zeichnet; doch gehört es zu den Paradoxien seiner Verkörperung,
daß es, was es selbst ist, nicht mitzusignifizieren vermag: Es manifestiert sich. Sei-
ner Repräsentationalität, die per definitionem auf einer Spaltung beruht, entgeht
die Repräsentation dessen, worauf sie beruht. Was es daher »ist«, duldet keine
Abbildung; es bezeichnet keinen Fall von Referenz, nicht einmal von Selbstrefe-

23 Ebenda, 4.12, 4.121; S. 58.


24 Ebenda, 4.461; S. 78.
25 Ebenda, S. 79 (Die ungeraden Seitenzahlen beziehen sich auf Zusätze aus den Tagebüchern, den
Notes dictated to G.E.Moore in Norway und dem Prototractatus).
26 Ebenda, 3.143 und 3.1431, S. 20.
27 Ebenda, 3.1,3.11,3.12, 3.32; S. 18,30.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 243

renz. Darum sagt Wittgenstein: »Der Satz zeigt seinen Sinn.«" Erneut weist das
Zeigen eine indirekte Note auf: Was sich derart manifestiert, enthüllt sich nicht
unmittelbar, sondern lediglich vermöge eines anderen. Dieses kann in der Struk-
turalität der Zeichenfunktion selbst bestehen, die freilich immateriell bleibt, oder
auch in deren praktischer Erfüllung. Letztere setzt die Materialität des Funktions-
zeichens voraus. Wo Wittgenstein also das Faktum der Funktionalität im Untet-
schied zu ihrer Struktur betont, hebt er auf deren Verwendung ab. Zwar geht es
ihm an dieser Stelle noch nicht um die unterschiedlichen Gebrauchsweisen, wie
sie für die Spätphilosophie relevant werden und das Modusproblem spezifizieren,
wohl aber um etwas, was allererst angesichts und bei Gelegenheit von Vollzügen
manifest wird: »Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre
Anwendung,« heißt es in 3.262: »Was die Zeichen verschlucken, das spricht ihre
Anwendung aus.«" Im Tagebucheintrag vom 11.9.1916 heißt es zusätzlich: »Die
Art und Weise, wie die Sprache bezeichnet, spiegelt sich in ihrem Gebrauche wi-
der.« ' Das bedeutet: Die Sprache offenbart sich in ihrem Tun. Nicht mehr nur
gehört das Zeigen zur Logik ihrer Funktionalität, sondern vielmehr zu ihrer Per-
formanz. Ihre Performativität enthüllt dann die Modalitäten des Sinns bzw. der
Referenz, indem sie diese austrägt. Die Sprache zeigt so, was sie tut. Dem ent-
sprechen gleichermaßen Satz 4.022 und die Eintragung vom 30.10.1914: »Der
Satz zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist. Und er sagt, daß es sich so ver-
hält«, sowie ergänzend: »Die Bedeutung des Satzes muß durch ihn und seine Dar-
stellungsweise (...) fixiert sein.« " Die Passage markiert zugleich den Ort, an dem
der Tractatus auf Positionen der Spätphilosophie vorweist: Das »Wie« der »Dar-
stellungsweisen«, die »logische Form«, wandelt sich zum Gebrauch, der Pluralität
von Tätigkeiten, die das »Wie« einer Praxis anzeigt.
Was sich also im Sagen zeigen kann, meint vielerlei: Es changiert zwischen Tat-
sache, logischer Form, immanenter Strukturalität und operationalem Vollzug.
Die Mehrdeutigkeiten spiegeln die Komplexitäten des Modusproblems, doch
verweisen sie sämtlich aufeinander und repräsentieren unterschiedliche Positio-
nen im Text. Sie werden in Satz 3.327 zusammengeführt: »Das Zeichen be-
stimmt erst mit seiner logisch-syntaktischen Verwendung zusammen eine logi-
sche Form.« Nimmt man hinzu, daß das Zeichen »das sinnlich Wahrnehmbare

28 Ebenda, 4.022; S. 44.


29 Ebenda, 3.262; S. 26.
30 Ebenda, S. 27.
31 Hier berührt sich der Tractatus unmittelbar mit der Spätphilosophie, worin die Differenz zwi-
schen Sagen und Zeigen zugleich ihre Fortsetzung und Auflösung findet. Eine Notiz aus den Be-
merkungen über die Grundlagen der Mathematik, Frankfurt/M. 1974, S. 312 erhellt den Über-
gang: »Wenn man sagt: >Zeig mir, daß es ...«, so ist die Frage, ob es ... schon gestellt (...). Sagt
man, >zeig mir wie es ...«, so ist hier das Sprachspiel überhaupt erst zu erklären.« Zeigen-daßent-
spricht der mathematischen demonstratio, zeigen-wie einer praktischen Handlung, die nur vorge-
führt werden kann.
32 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 4.022, S. 44 und Tagebucheintra-
gung vom 30.10.14, S. 45.
33 Ebenda, S. 32.
244 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

am Symbol« bzw. am »Ausdtuck« darstellt, ergibt sich der ganze Kreis: Ange-
zeigt durch die Materialität der Sprachfunktion, die Struktur, Faktizität und
Verwendung in sich schließt, bringen sie sich vor allem performativ zur Geltung,
insofern Zeichen vollzogen werden müssen, um etwas zu bedeuten, und die Akte
des Vollzugs wiederum ihrer Materialität bedürfen, um in Erscheinung zu treten.
Es ist etwas Sinnliches an den Zeichen und ihrem Vollzug, wie Cassirer gesagt
hat, das die Verkörperung eines Sinns ermöglicht; doch ist entscheidend, daß die-
ses nicht mitsymbolisiert, sondern die Symbolisierung bedingt. Und wie Witt-
genstein dieses auf das Zeigen bezieht, bedeutet es nicht selber ein Symbolisches,
d.h. es weist keine transitive Struktur auf, sondern stellt sich medial ein, indem
es auf eigentümliche Weise ins Sagen verschränkt bleibt. In den Notes Dictated to
G.E. Moore konstatiert deshalb Wittgenstein entsprechend: »Every real propositi-
on shews something, besides what it says (...).«' Eines existiert nicht ohne das
andere: Es gibt kein Sagen, das sich nicht zugleich in einer Form artikulierte, die
sich durch es evozierte, wie es kein Zeigen ohne Sagen gibt, in dem es präsent
wird. Das impliziert, daß sich die Sprache gleichsam in jedem Augenblick ver-
doppelt: Ihr ist eine Duplizität eingetragen, die sie in einer permanenten Kluft
behält, die nicht wieder durch die Ordnung des Sagens auflösbar scheint. Stets ist
zweierlei im Spiel, wo wir es mit Sprache zu tun haben: Nicht als ein nebenein-
ander oder nacheinander, sondern als ein ineinander, das ein unentwirrbares Ge-
webe knüpft: Jedes Sprechen sagt und zeigt. Man könnte daher sagen: Die Spra-
che ist stets mehr als das, was sie sagt. Sie birgt zeigend einen Überschuß, der sich
sagend nirgends einholen läßt.
Das Argument ist mithin prinzipieller Natur: Entscheidend ist für Wittgen-
stein, daß das in allem Sagen mitenthaltene Zeigen keine alternative Möglichkeit
der Rede oder Bezeichnung beinhaltet, auch nicht einen differenten Modus der
Symbolisation, der ihrem unterschiedlichen Gebrauch entspringt, sondern dieses
ist in jenem immer schon mitgängig. Zwar hoffte Wittgenstein, die »formalen«
bzw. »logischen Eigenschaften« des Zeigens neben denen des Sagens explizieren
zu können, doch blieb er deren Entdeckung schuldig. Sie wäre auch unmöglich,
weil sich die Überlegungen im Tractatus weitgehend auf die isomorphietheoreti-
schen Postulate beschränken, die die Beziehung zwischen Sprache und Welt de-
terminieren: die Gleichheit der Ordnung der Syntax wie der Strukturen der
Wirklichkeit. Diese macht die Sprache aus: Sie gibt sich im Sprechen preis;
doch vereitelt der Riß zwischen Sagen und Zeigen wiederum ihre einfache Aus-
sagbarkeit: »Etwas« zeigt sich, und zwar so, daß das, »was« sich jeweils zeigt, nur

34 Ebenda, 3.32 sowie 3.31; S. 30 und 26.


35 Nelson Goodman wird dem Zeigen als »Exemplifizieren« eine solche transitive Struktur zuweisen
und dem Symbolischen selbst zuschlagen; vgl. ders. Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 55 ff; ders.
zus. m. Cathrine Z. Elgin, Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften,
Frankfurt/M. 1989, S. 35 ff. Siehe auch nächstes Kap. weitet unten.
36 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., S. 59.
37 Vgl. vor allem ebenda, 6.12, 6.121; S. 144, 148.
38 Vgl. ebenda, 2.1 ff, 3, 3.01, 4.01; S. 12, 16,40.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 245

durch ein Sagen bestimmt werden kann, das sich von diesem unterscheidet:
»(W)hat is shewn can be said by another proposition.« Tatsächlich schließen
sich beide in ein und derselben Sequenz aus, weil das Zeigen nicht mitsagt, was es
zeigt: Es geschieht. Deswegen heißt es, erneut im scheinbaren Widerspruch zur
vorhergehenden Feststellung: »Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt wer-
den« - eine in ihrer Radikalität überraschende Sentenz. Nicht gemeint ist je-
doch, daß das Zeigen auf keine Weise ausgesagt werden kann; wohl aber, daß es,
wo es beschrieben wird, lediglich durch eine andere Aussage beschreibbar ist, der
eine eigene Spaltung zwischen Sagen und Zeigen zukommt. Zwar kann die Rede
in einer reflexiven Figur auf es zurückkommen, doch so, daß ihr ein weiteres Zei-
gen vorausgeht, das bestenfalls wiederum durch einen Satz reflektierbar wäre, der
selbst zeigte, was er nicht sagte usw. Mithin entsteht in bezug auf die Bestim-
mungen des Zeigens ein infiniter Regreß, der enthüllt, daß das Zeigen im Sagen
systematisch unbestimmt bleibt, weil beide niemals zur Deckung gebracht wer-
den können. Vielmehr bestätigt die Bezeichnung ihrer Attribute nur die Diffe-
renz, indem sie die Kluft vergrößert und Identifizierung beider ins Unendliche
hinausschiebt.
So ist in ihr eine prinzipielle Andersheit eingetragen, die die Duplizität im
Symbolischen und damit die Unübersetzbarkeit des Zeigens ins Sagen und des Sa-
gens ins Zeigen bezeugt. Die Divergenz verwirft die Idee der Doppelcodierung
und mithin eigentlich auch das Fregesche Modusproblem, eben weil das Zeigen
kein anderes Sagen darstellt, sondern ein Anderes des Sagens, das der Sprache
gleichsam chronisch vorwegläuft und sich ohne Widerspruch nicht auf sie zu-
rückführen läßt. Feststellbar wäre dies freilich nur dort, wo das Zeigen transitiv
verstanden wird und seine Transitivität zugleich wieder durch die unaufhörliche
Bewegung einer Alteration einbüßt. »Etwas« zeigt sich, doch »was« sich zeigt, er-
füllt sich nicht in der Dimension einer »Anzeige«, wie Husserl den Ausdruck ver-
wandte, " sondern wird durch die Verschiebungen des Sagens permanent von sich
getrennt. Die chronische Disparität markiert die Grenze der Reflexivität. Sie ist
durch die Differenz des Symbolischen selber angezeigt, nicht, wie im Falle der
klassischen Logik, durch die Ordnung der Begriffe, die die Rationalität der Syn-
tax bzw. Semantik der Sprache garantiert. Sie kann darum auch nirgends getilgt
oder überbrückt werden, sondern erscheint dem Prozeß der Symbolisierung kon-
stitutionell eingeschrieben. Daraufgibt das Vorwort des Tractatus einen Hinweis,
wenn es vom »Mißverständnis der Logik unserer Sprache« spricht: »Das Buch

39 Ebenda, S. 153.
40 Ebenda, 4.1212; S. 60.
41 Dies verweist auf eine andere Divergenz, die freilich hier nicht thematisch ist, vielmehr nur ange-
deutet werden soll: die Unübersetzbarkeit von Bildern in Sprache und von Sprache in Bildern
Sie folgt aus der Differenz zwischen Sagen und Zeigen als Differenz im Symbolischen. Sie bleib:
auch in Wittgensteins Spätphilosophie thematisch. So heißt es in den Bemerkungen über du
Grundlagen der Mathematik, a.a.O., S. 250: »Der Satz abet handelt nicht von dem Bild, das ich
sehe. Er sagt nicht, daß auf diesem Bild das und das zu sehen ist (...), obwohl er dies andeutet.«.
42 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen Tl. II/l, a.a.O., 1. Untersuchung, S. 23 ff.
246 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr - nicht dem Denken,
sondern dem Ausdruck der Gedanken (...). Die Grenze wird also nur in der
Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach
Unsinn sein.«
Wittgenstein hat auf diese Weise versucht, den Ungereimtheiten in der über-
lieferten Logik zu entkommen, indem er deren Irrelevanz herausstellte."4 Er ist
dabei auf eine Sput geraten, die weit tiefer reicht als nur die Lösung gewisser
mathematischer oder semantischer Probleme. Denn die Dualität von Sagen und
Zeigen sorgt für die Eliminierung der Irritationen von Ipsoflexivitäten, die ebenso
für die aporetische Konstruktion in der Sprache wie für die Antinomien der Lo-
gik verantwortlich sind: Ein Satz, dessen Selbstbeschreibung sich zugleich negiert,
wird in sich widersprüchlich, weil er, wie die verwandte Paradoxie vom Lügner,
das behauptet, was er bestreitet. Das gilt ebenfalls für Begriffe, die sich in ihrer ei-
genen Negation selbst enthalten. Bertrand Russell hatte dafür eine Reihe von Bei-
spielen angeführt: Die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element ent-
halten, das Prädikat »imprädikabel«, das sich genau in dem Maße als prädikabel
erweist, wie es sich als nicht-prädikabel behauptet, und dergleichen mehr. ' Seine
»Lösung« bestand darin, solche Antinomien der Begriffsbildung dadurch auszu-
schließen, daß er der Freiheit ihrer Konstruktion einen Riegel vorschob, indem er
deren schrankenlose Selbstreflexion verbot. Ausdrücke der Art ~f(f) := F(f), die
die Antinomie F(F) <=> ~F(F) zulassen, fallen dann aus, weil ihre begriffliche De-
finierbarkeit von Anfang an unmöglich wird. Ihr Preis ist freilich eine Sanktionie-
rung von Kreativität. Demgegenüber schwindet nach Wittgenstein das Rätsel,
weil die Verwirrung darin besteht, daß in den fraglichen Ausdrücken Sagen und
Zeigen miteinander vermischt werden. Selbstbeschreibungen beziehen sich stets
zeigend auf das, was sie sagen und sagend auf das, was sie zeigen: So bleibt in ih-
nen eine Differenz eingetragen, deren Identifizierung insofern ein unmögliches
Unterfangen bildet, als es die strukturelle Unvereinbarkeit leugnet, die beiden
eignet. Kein Satz vermag sich selbst aufzuheben, ohne deren Abgrund zu über-
springen: »This same distinction between what can be shewn by the language but
not said, explains the difficulty that is feit about types.« Zeichenfunktion und

43 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., Vorwort, S. 2.


44 Vgl. dazu meine Einleitung in: D. Mersch (Hsg.), Gespräche über Wittgenstein, Wien 1991,
S. 11—49, bes. S. 14 ff. Das Russellsche Patadox bildete überhaupt die Initialzündung der philo-
sophischen Bemühungen Wittgensteins, das ihn, wie die Bemerkungen über die Grundlagen der
Mathematik aus den Jahren 1937—44 zeigen, zeitlebens beschäftigt hat. Sie demonstrieren insbe-
sondere den Übergang von mehr konstruktiven Versuchen zu Quietismus der Spätzeit.
45 Dargelegt hat Bertrand Russell die entstehenden Widersprüche anhand einer Antinomie, wie sie
sich im Anschluß an Gottlob Freges Begründung der Arithmetik etgibt. Sie wird vor allem in der
zusammen mit Alfred North Whitehead verfaßten Principia Mathematica, dt. (Teilübersetzung
mit Vorwort und Einleitung) München 1932, neuaufgelegt Frankfurt/M. 1986, diskutiert. Einen
guten Überblick gibt Russell in Mathematische Logik auf der Basis der Typentheorie, in: ders., Die
Philosophie des Logischen Atomismus, München 1976, S. 23 ff, sowie: ders., Die Entwicklung
meines Denkens, München 1973, S. 75 ff.
46 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., S. 65.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 247

Funktionszeichen sind voneinander unterschieden: Diese bedeutet kraft der Zu


ordnung x — y, jenes verweist auf die Gesetzesform der Relation; deshalb kann,
wie es entsprechend im Tractatus heißt, »(e)ine Funktion (...) nicht ihr eigenes
Argument sein, weil das Funktionszeichen bereits das Urbild seines Arguments
enthält und es sich nicht selbst enthalten kann.« Wittgenstein klärt den Wider
spruch syntaktisch durch die Differenz zwischen (F(f(x)) und F(F), wobei die
Terme F und f Verschiedenes meinen und letztere Komposition eine Absurdität
darstellt: »Nehmen wir nämlich an, die Funktion F(fx) könnte ihr eigenes Argu
ment sein; dann gäbe es also einen Satz: >F(F(fx))< und in diesem müssen die äu
ßere Funktion F und die innere Funktion F verschiedene Bedeutungen haben
(...). Gemeinsam ist den beiden Funktionen nur der Buchstabe >F<, der aber al
leine nichts bezeichnet. (...) Hiermit erledigt sich Russell's Paradox.« Kern der
»Erledigung« ist die Trennung von Funktion und Term, die der Differenz zwi
schen Gesetz und Operation entspricht und der Trennung von Sagen und Zeigen
zugrunde liegt. Gewöhnlich gleichgültig gesetzt: bloße Marke oder Name, der
sich beliebig substituieren läßt und daher im Spiel der Zeichen und Zuordnun
gen keine Bedeutung oder Wert zukommt, signiert der Funktionsterm gegenüber
der expliziten Funktionsvorschrift, daß diese auszuführen ist, mithin allererst im
Vollzug aufgeht. Er enthält eine performative Anweisung. Die These der »Arbi
trarität« des Terms unterschlägt daher, daß die Operation selbst durchgeführt
muß. Selbstanwendungen scheitern dann, weil deren Deckung mißlingt: Die
Zeichenfunktion vermag das Funktionszeichen, das sie definiert, sowenig einzu
holen wie das Gesetz seine Erfüllung, ohne sich in die Immaterialität eines Be
deutens zu verflüchtigen. Es bleibt eine Widerständigkeit der Setzung sowie das,
was durch sie mitgesetzt ist: die Notwendigkeit des Vollzugs, die sich der Einver
leibung durch den Sinn und das, was er sagt, widersetzt. Verurteilt zu einem
fortwährenden Spiel von Differenzen, das zwischen Sagen und Zeigen entsteht
und dessen Spielraum mit jedem Versuch ihrer Selbsteinholung weiter auseinan
dertritt, unterliegt die Sprache einer prinzipiellen Verfehlung: Vorgängigkeit des
Zeigens gegenüber dem Sagen wie ebenso Verspätung des Sagens gegenüber dem
Zeigen und umgekehrt.
Die »Auflösung« des Dilemmas mündet somit in keiner Restriktion, die das
Denken diszipliniert, indem es ihm ein bestimmtes Sagen unterbietet, sondern
im Eingeständnis seiner systematischen Unsinnigkeit. Indem das Zeigen gegen
über dem Sagen grundsätzlich disparat bleibt, beide gegeneinander ins Verhältnis
eines Jenseits treten, das keine Übersetzung erlaubt, erscheint das Paradox unsag
bar, also unsinnig. Die Position prägt den charakteristischen Quietismus der
Spätphilosophie, den Verdacht, daß Normierungen durch die Rationalität oder
die Logik der Konsistenz einer gewaltsamen Sanktionietung gleichkommen und
das Paradox als Selbstwiderspruch nur solange relevant erscheint, wie es prakti
sche Folgen zeitigt. Eine Notiz aus den Bemerkungen über die Grundlagen der

47 Ebenda, 3.333; S. 34.


48 Ebenda.
248 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Mathematik lautet entsprechend: »Schadet der Widerspruch, der entsteht, wenn


einer sagt: >Ich lüge - Also lüge ich nicht — Also lüge ich. - etc.?« Ich meine: ist
unsere Sprache dadurch weniger brauchbar (...)?« Und in den Vorlesungen zur
Philosophie der Psychologie von 1946/47 heißt es genauer: »Daß >F(F)< als Unsinn
gilt, ist eine Entscheidung. (...) >p => nicht p< ist etwas, was wir nicht wollen.
(...) Der Nachweis, daß >F(F)< Unsinn ist, gleicht der Behauptung, daß zwei Ne-
gationen eine Bejahung ergeben. Dadurch werden die Dinge systematisch, Aus-
nahmen werden vermieden. (...) Der Beweis für die >Unsinnigkeit< von >F(F)<
nennt schlicht einen Grund, diesen Ausdruck aus einer Logik des Russellschen
Typs auszuschließen. (...) Abnorme Verwendungsweisen stechen ins Auge, doch
wir dürfen das Wort >abnorm< nicht als Verdammungsurteil auffassen.« Nicht
nur beweist oder widerlegt das Paradox nichts, sondern seine Verwendung als Be-
gründung oder Widerlegung weist auf ein rationalistisches Ausschlußverfahren,
das seine eigene Legitimität schuldig bleibt. Bestenfalls initiiert es die Tortur ei-
ner Norm, die das principium contradictionis und das tertium non datur, welche
den Diskurs der Metaphysik seit Aristoteles bestimmen, absolut setzt und dessen
Grundlosigkeit Wittgenstein gerade zu destruieren sucht: »Mein Ziel ist, die
stellung zum Widerspruch und zum Beweis der Widerspruchsfreiheit zu än-
dern.«
Der Vorschlag Wittgensteins bringt damit die Skandalösität des Paradoxons
zum Verschwinden wie das »Problem des Lebens« am Ende des Tractatus, ' doch
nicht durch dessen endgültige Beseitigung, sondern durch seine Transformation,
der Verschiebung des Widerspruchs zur sich fortschreibenden Differenz. Sie ver-
weist die unlösbare Verwicklung von Sätzen und deren begriffliche Disposition
auf die unendliche Verschlingung von Sagen und Zeigen, die die iterative Struk-
tur durch den infiniten Regreß ersetzt. Er markiert so die Stelle, an der der Un-
terschied beider erscheint, d.h. sich zeigt. Selbstwidersprüche avancieren dann
zum Ort, an dem eine Lücke aufbricht, die sich nur zeigend bezeichnen läßt, oder
gar nicht. Anders ausgedrückt: Das Paradox erscheint nicht repressiv: Es vereitelt
nichts, verwirrt nichts, schränkt nichts ein, sondern eröffnet den Zugang zu ei-
nem Anderen, das sich allein auf diese Weise preisgibt, weil es sich der prädikati-
ven Struktur der Sprache, die es irritiert, entzieht. Seine Unzulässigkeit besteht
nicht im Tabubruch, indem es jene Linie mißachtet, die das Logische vom
Nichtlogischen und das Rationale vom Irrationalen scheidet; vielmeht ermöglicht
es am Rande des Sagbaren den Übergang zu jenem anderen Terrain, worin sich
die Sprache als Ereignis des Sagens allererst enthüllt. D.h. das Paradox fungiert als
Metapher einer Anzeige, die zugleich unmögliche Anzeige ist, und bringt damit

49 Ders., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, a.a.O., S. 120. Ergänzend heißt es
S. 376, daß niemand tatsächlich aus dem »Lügner« Schlüsse zieht. Der Verweis erledigt allerdings
das Paradox pragmatisch.
50 Ders., Vorlesungen zur Philosophie der Psychologie, a.a.O., S. 194 ff. passim; vgl. ebenso
S. 551 ff
51 Ders., Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, a.a.O., S. 213.
52 Vgl. ders., Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 6.521; S. 176.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 249

ein Verborgenes ans Licht: die Sprachlichkeit der Sprache, die sich nicht ausspre-
chen läßt, sondern geschieht. M.a.W., es ist das Ereignis des Sprechens selbst, das
sich sprechend zeigt.
Doch läßt sich über solches Ereignis nicht wiederum sprechen: Es enthüllt sich.
Von ihm wird kein Ausdruck verlangt, so daß es den Regreß verläßt: Alles, was
sich vielmehr über es sagen ließe, verfiele selbst der Durchstreichung. Dann erwei-
sen sich noch diejenigen Sätze als künstliche Prothesen, die die Differenz auszu-
drücken suchten und an die Stelle des Paradox das Ereignis rückten, wie ebenso
diejenigen, die ausdrückten, daß sie es ausdrückten usf. »Erläuternd« mahnen sie
ihre eigene Überschreitung an. Deshalb der, insbesondere von Russell, als Mysti-
zismus denunzierte Ausblick: »Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, wel-
cher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen
— über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem
er auf ihr hinaufgestiegen ist.) Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die
Welt richtig.« Der anfänglich mediale Sinn des Zeigens weicht so einer zweiten,
nichttransitiven Verwendung, wie sie in Satz 6.522 zum Ausdruck kommt: ein
Zeigen, daß nicht »etwas« vermöge eines anderen zeigte, sondern sich zeigt, ohne
selbst noch ein Subjekt in Anspruch zu nehmen, das die Reflexivität des »Sich«
trägt. Die Trennung zwischen Form und Inhalt bzw. Funktion und Sttuktur, mit
der die Sprachtheorie des Tractatus anhebt, um das Modusproblem zu thematisie-
ren, wird so unter eine weitere gestellt, die dieser vorangeht: Differenz zwischen
dem Sagbaren und Unsagbaren als Unterschied von Sein und Nichts, der unabläs-
sig im Sagen geschieht, ohne durch es markiert zu sein. D.h. sie ist »als« Schei-
dung nicht selber ein Sagbares, insofern ihr im Sprechen kein Platz zugewiesen
werden kann, weil es dieses erst hervorbringt: Sie vermag sich allein zu zeigen.
Doch ist dies ein anderes Zeigen als das, das nicht ein Sagen ist: Sichzeigen nicht
vermittels der Sprache, sondern als Ereignis einer Differenz, das die Sprachlichkeit
der Sprache auszeichnet.'' Wittgenstein trägt damit in seine Sprachphilosophie

53 Dieses Geschehen der Sprache enthüllt sich gleichermaßen im Stil des Tractatus: Wittgenstein
präsentiert nicht die Kontinuität einer fortlaufenden Argumentation, sondern schroffe Einzelsät-
ze, die wie Sentenzen nebeneinanderstehen und durch eine Lücke, einen Riß voneinander geteilt
sind, und zwar so, daß ihr Bezug zueinander durch das logische Gewicht bestimmt ist, durch das
sie voneinander abhängen. Dann gibt es allerdings auch keine kontinuierliche Lektüre mehr, nur
Sprünge, die einen fortwährenden Vor- und Rücklauf verlangen.
54 Vgl. Bertrand Russell, Vorwort zum Tractatus logico-philosophicus, wiederabgedruckt in: Lud-
wig Wittgenstein, Schriften, Beiheft 1, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1972, S. 68-81, bes. S. 79 f.
Merkmale von Mystizismus sind für Russell insbesondere der Glaube an ein Unsagbares, an
Transzendenz und unmittelbar gegebene Einheit. Vgl. auch Russell, Mystik und Logik. Philoso-
phische Essays, Stuttgart 1952. Vgl. zum Verhältnis zwischen Russell und Wittgenstein in bezug
auf die Frage der Mystik auch Brian McGuinness, Die Mystik des Tractatus, in: Joachim Schulte
(Hsg.), Texte zum Tractatus, Ftankfurt/M. 1989, S. 165-191.
55 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 6.54; S. 178.
56 Von zwei Weisen des Zeigens sprechen gleichermaßen Merrill B. Hintikka u. J. Hintikka, Unter-
suchungen zu Wittgenstein, a.a.O., S. 25. Bernhard Waidenfels verficht von Hussetl und Levinas
her eine - verwandte - Unterscheidung zwischen »Sagen« und »Gesagtem«: Ereignis der Sprache,
das sich im Gesagten zeigt sowie dem eigentliche Inhalt det Rede; vgl. ders., Antwort-Register,
a.a.O., S. 218 ff. Insbesondere erscheint dann nach Waldenfels der »Streit« zwischen Phänome-
250 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

eine doppelte Teilung ein: (i) Medialität eines Sichzeigens der Form der Sprache
durch ihre Struktur oder ihren Vollzug und (ii) intransitives Sichzeigen der Gren-
ze, die die Sprache selber zieht, indem sie »ist« und nicht vielmeht nicht: Sichzei-
gen, das dem Ereignis ihrer Setzung, der Ekstatik ihrer Präsenz gleichkommt, das
nicht vermöge eines Diskurses oder eines anderen geschieht, sondern überhaupt
geschieht.
Anders formuliert: Die Sprache als die Möglichkeit einer Rede wird erst durch
das Ereignis des Unter-Schieds (Heidegger) zwischen dem Sagbaren und dem Un-
sagbaren gesichert. Es bringt diese als Vollzug eines Sagens allererst zum Vor-
schein. Dann entspricht die Teilung jener fundamentalen Differenz, die glei-
chermaßen der strukturalen Semiologie zugrunde liegt. Wie diese zwischen der
Differentialität von Signifikanten und ihren Signifikatseffekten einerseits und der
Eröffnung des strukturalen Feldes durch den Gegensatz von Ordnung und Leere
andererseits unterscheidet, diskutiert Wittgenstein den nämlichen Unterschied
in der Terminologie von Referentialität als Unterschied zwischen Sagbarkeit und
Unsagbarkeit auf dem Grund des »Unaussprechlichen« selber. Letzteres nennt
Wittgenstein »das Mystische«. Gemeint ist nicht: Das Unaussprechliche existiert
als ein Transzendentes oder Unerklärliches, das sich der Sprache verschließt, son-
dern dieses gibt (sich), zeigt (sich), ohne »als« etwas bestimmbar zu sein oder ge-
zeigt werden zu können. Das Mystische bezeichnet damit den Ort, an dem das
Modusproblem überschritten wird, weil nicht mehr das »Was« oder »Wie« eines
Ausdrucks zählt, sondern das »Daß« (quod), die reine Anwesenheit im Verhältnis
zur Abwesenheit: Schweigen der Sprache als das Andere des Sagens, das allererst das
Feld des Sagbaren eröffnet. Das bedeutet: Die Sprache, als Sichzeigendes, »ist« nur
im Ereignis. Daher läßt sich sagen: »daß« die Sprache spricht, ist ihr Geheimnis,

nologie und Strukturalismus bzw., wie man hinzufügen könnte, zwischen Phänomenalismus und
Logizismus, der gleichermaßen in bezug auf Wittgenstein geführt wird, hinfällig; vgl. ebenda,
S. 221. Zur Phänomenologie bei Wittgenstein vgl. insb. Merrill B. Hintikka, J. Hintikka, Unter-
suchungen zu Wittgenstein, a.a.O., S. 90 ff, 189 ff, 198 ff.
57 Vgl. dazu Roland Barthes, Elemente der Semiologie, a.a.O.; Oswald Ducrot, Der Strukturalis-
mus in der Linguistik, in: Francois Wahl (Hsg.), Einfuhrung in den Strukturalismus, Frank-
furt/M. 1997, S. 13-104; sowie Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus? a.a.O.
Siehe auch weiter unten, 3. Hauptstück, 1 - 3 . Kap.
58 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 6.522, S. 176. Als »mystisch« be-
zeichnet Schelling alle »sich unmittelbar auf das Unendliche beziehende() Begriffe (...)«, wohin-
gegen Symbole auf das Äußere, mithin auf eine Endlichkeit gehen; vgl. ders., Philosophie der
Kunst, a.a.O., S. 65 (§ 42). Gerade dieser Gebrauch des Ausdrucks, der Begrifflichkeit und
Transzendenz gegeneinander abhebt, ist bei Wittgenstein nicht gemeint, vielmehr ein Unsagba-
res, das sich als Gegensatz zwischen Sagbarem und Zeigbaren im Sagen ereignet. D.h. für Witt-
genstein bezeichnet das Mystische zunächst eine logische Grenze; vgl. dazu auch Felix Gmür,
Ästhetik bei Wittgenstein, a.a.O., S. 43 ff.
59 Der Begriff des Ereignisses deutet hier insbesondere darauf hin, daß die Grenze zwischen dem
Sagbaren und dem Unsagbaren nicht verfügbar ist: Sie ist nicht konstruierbare Wirkung eines
Diskurses: Sie tritt hervor. Sie ist darum auch nicht, wie es zuweilen Derrida und Judith Butler
nahezulegen scheinen, beliebig markiert und damit verschiebbar - sei es, dadurch daß die Spra-
che durch die Akte des Sagens souverän umgeschrieben wird oder sich in der Struktur der Wie-
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 251

und »wie« sie sich dabei austrägt, ihr Ereignis. Diesem schreibt Wittgenstein eine
positive Note zu, jenem eine negative.
Entsprechend wäre dann noch zwischen einer positiven und einer negativen
Mystik zu unterscheiden. Diese betrifft die Unaussprechlichkeit der Form, jene
das Rätsel, »daß« die Welt »ist«.'' Die positive Mystik setzt die Perspektive des
Sagbaren voraus, wie sie im Tractatus durch das Postulat der Isomorphie von
Denken, Sprache und Wirklichkeit begründet wird, die wiederum eine Ontologie
des Logischen privilegiert, um schließlich zur Unsagbarkeit ihrer Struktur zu ge-
langen. Die negative Mystik beginnt mit deren Unsagbarkeit, um in ihr die Prä-
senz des Wirklichen zu entdecken, die als solche bestimmungslos bleibt. Sie be-
zeichnet damit den von Wittgenstein überhaupt exkludierten Ort der Metaphy-
sik. Von ihm wird nirgends gesprochen, nicht einmal in der Form der Rede
über die Abwesenheit der Rede. Das Unaussprechliche im Sinne der positiven
Mystik impliziert demgegenüber, daß die logischen Tautologien auf die Struktu-
ren der Welt entsprechend ihrer angenommenen Strukturgleichheit hindeuten,
ohne als solche explizierbar zu sein. Analoges gilt für die mathematischen Glei-
chungen wie für die Kausalgesetze der Physik. * Dagegen entsteht das Rätsel der
Welt genau dort, wo die Sprache, wie sie in ihrer Funktionalität aufgeht, zugleich
nicht zu sagen weiß, was diese ist. Andeutend weist sie auf etwas hin, was sich

derholung umschreibt. Vgl. z.B. Jacques Derrida, Signatur Ereignis Kontext, a.a.O. sowie Judith
Butler, Haß spricht, a.a.O., bes. S. 181 ff
60 Die beiden Bedeutungen: Schweigen als Grenze der Sprache, und Rätsel des »Daß« (quod), des-
sen Erfahrung das Nichts auszeichnet, bestimmten seit je die Zweideutigkeit des Mystischen; vgl.
dazu auch die umfassende Studie von Alois M. Haas, Mystik als Aussage, Frankfurt/M. 1996;
Wolfgang Hogrebe, Metaphysik und Manik, Frankfurt/M. 1992; sowie Niklas Luhmann, Peter
Fuchs, Reden und Schweigen, Ftankfurt/M. 1989.
61 Wittgenstein hat insbesondere das »Daß« (quod) der Welt, das Arthur Schopenhauer - ders., Die
Welt als Wille und Votstellung, 2 Bde., Bd. II; Kap. 17: Ueber das metaphysische Bedürfnis des
Menschen, Zürcher Ausgabe in 10 Bden., Bd. 2, Teilband 1, Zürich 1977, S. 200 - auch die
»juckende Stelle der Metaphysik«, ihre »nie ablaufende Uhr« genannt hat, wie dieser mit dem ari-
stotelischen »Staunen« als dem eigentlichen Anlaß des Denkens und Fragens in Verbindung ge-
bracht; ein Staunen freilich über die »Existenz der Welt«, das er in seinem kurzen Vortrag über
Ethik als »Erlebnis par excellence« für den Sinn des Ethischen bezeichnete, das jedoch den Be-
reich des sinnvollen Sprechens überstiege und kein Reden »übet etwas« mehr zulasse; vgl. Witt-
genstein, Vortrag über Ethik in: ders., Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, Frank-
furt/M. 1989, S. 9-19, hier: 14. Es entspricht gleichermaßen Heideggers Bestimmung der Fun-
damentalfrage der Metaphysik, der Verwunderung nämlich, »daß überhaupt etwas ist und nicht
vielmehr nichts«, vgl. ders., Was ist Metaphysik, Frankfurt/M. 9. Aufl. 1965, S. 42. Weiter heißt
es in Wittgensteins Vortrag über Ethik. »Ich sehe jetzt, daß diese unsinnigen Ausdrücke nicht
deshalb unsinnig waren, weil ich die richtigen Ausdrücke noch nicht gefunden hatte, sondern
daß ihre Unsinnigkeit iht eigentliches Wesen ausmacht. Denn ich wollte sie ja gerade dazu ver-
wenden, über die Welt - und das heißt: über die sinnvolle Sprache - hinauszugelangen. Es
drängte mich, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dies ist, glaube ich, der Trieb al-
ler Menschen. (...) Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist völlig und absolut aus-
sichtslos. (...) Doch ist es ein Zeugnis eines Drangs im menschlichen Bewußtsein, das ich für
meinen Teil nicht anders als hochachten kann und um keinen Preis lächerlich machen würde.«
Wittgenstein, Vortrag über Ethik, a.a.O., S. 18 f. passim.
62 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 6.124, 6.22, 6.36; S. 148,
156, 166.
252 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

weder sagen noch zeigen läßt, sondern sich zeigt, indem es in Erscheinung tritt.
Damit ist ein Drittes neben Sagen und Zeigen markiert. Dies ergibt sich schon
hinsichtlich der Einschränkung des Sagbaren und der durch es bezeichneten
Wirklichkeit selbst, der die gesamte Emphase des Tractatus gilt - eine Bemü-
hung, die nicht die Sprache selbst vollziehen kann, sondern die gleichsam nur
durch ihren Spiegel hindurch gelingt. Deswegen heißt es in Satz 5-5561: »Die
empirische Realität ist begrenzt durch die Gesamtheit der Gegenstände. Die
Grenze zeigt sich wieder in der Gesamtheit der Elementarsätze.«' Das will sagen:
Sie wird durch deren Gesamtheit evoziert, ohne durch sie repräsentierbar zu sein.
Die Sprache berührt sie, wie sie sich mit der »Wahrheit« des Solipzismus berührt:
»Was der Solipzismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen,
sondern es zeigt sich. Daß die Welt meine Welt ist, das zeigt sich darin, daß die
Grenzen der Sprache (...) die Grenzen meinerWeh bedeuten.«
M.a.W., die positive Mystik weist auf die logische Form der Sprache, ihre im-
manente Struktur, die sich im Sprechen zeigt, die negative auf die Anwesenheit
der Welt, wie sie sprechend offenbar wird und sich verhüllt. Die unterstellte
Form der Sprache ist die Prädikation, die Rede über Tatsachen, deren ontologi-
sche Prätention das Urteil oder die Aussage als Paradigma des Satzes überhaupt
ist, weshalb Wittgenstein einzig Sätze der Naturwissenschaft gelten läßt. Durch
ihre Weise der Bestimmung, Klassifikation oder Unterscheidung entbirgt sie die
Wirklichkeit »als« diese, umgrenzt sie, läßt sie »sein«, weshalb ihre Schranken mit
jener zusammenfallen. Daher ist die »Anschauung der Welt« für Wittgenstein
»ihre Anschauung als - begrenztes - Ganzes«: »Das Gefühl der Welt als begrenz-
tes Ganzes ist das Mystische.«" Dadurch daß wir über die Welt sprechen, tritt sie
sagend hervor, manifestiert sich in ihrer Präsenz, als Ereignis ihrer Blöße, noch be-
vor sie irgendeine Bestimmung erfahren hat: »Gott offenbart sich nicht in der
Welt.«' Daher kommt Wittgenstein am Ende des Tractatus spiegelbildlich auf
den Anfang zurück: Denn der Satz »zeigt, wie es sich verhält, wenn er wahr ist«;
aber er »sagt, daß es sich so verhält«; während sich im Satz gleichzeitig zeigt, »daß«
die Welt ist, indem er darüber spricht, wie sie ist. Der Satz spricht prädizierend
über die Welt, nicht über sein eigenes Sprechen - dieses zeigt sich; zugleich stellt
er im prädikativen Sagen aus, wie er spricht und läßt dadurch eine Gegenwart
anwesend werden, die nur soweit »ist«, wie die Sprache spricht, die darin gleich-
wohl in ihrem reinen »Daß« präsent wird, welches seinen Rätselcharakter in dem
Maße preisgibt, wie er sich im Sprechen verbirgt: Es gebietet zu schweigen.

63 Ebenda, S. 134.
64 Ebenda, 5.62; S. 136.
65 Vgl. ebenda 6.53; S. 176.
66 Ebenda, 6.45; S. 174, 176.
67 Ebenda, 6.432; S. 174.
68 Ebenda, 4.022 und 6.44, S. 44 und 174.
69 »Wie sich alles verhält, ist Gott«, lautet eine nicht numerierte Bemerkung; vgl. Tractatus logico-
philosophicus, a.a.O., S. 255. Hier erhellt sich zugleich die Verwandtschaft zur Gottesvorstellung
Schellings.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 253

Alles, was Wittgenstein also sagen will, ist im Grunde dies: »Über« Sprache
läßt sich nicht sprechen, bestenfalls nur »von« ihr: die Sprache verweigert sich
ebenso ihrer Reflexion wie ihrer Totalisierung. Die Sprachlichkeit der Sprache
bleibt somit ein permanentes Mysterium; sie nimmt sich in dem Maße im Spre-
chen zurück, wie sie sich durch es enthüllt. Wittgenstein sucht darum dem Sagen
zu ent-sagen, um zum Zeigen zu gelangen. Dieses ereignet sich im Vollzug: »Ge-
sprochenes kann man nur durch die Sprache erklären, drum kann man die Spra-
che selbst, in diesem Sinne, nicht erklären«, heißt es entsprechend in der zur
Spätphilosophie überleitenden Philosophischen Grammatik: »Die Sprache muß für
sich selbst sprechen.« Der Gedanke korrespondiert dem Heideggers: »Sprache ist
Sprache. Die Sprache spricht.« " Die Kette von Tautologien entlarvt die Sinnlo-
sigkeit ihrer Objektivierung. Das bedeutet auch: Die Sprache kann nicht länger
als der Ort einer diskursiven Vernunft fungieren, die sich selbst einholt; vielmehr
rückt sie in die Anonymität eines Geschehens, dessen Kreativität weder Begriff
noch Bestimmung oder Maßstab zuläßt. Die Sprache »gibt«; sie »bringt das Sei-
ende als ein Seiendes allererst ins Offene«, wie es im Ursprung des Kunstwerks
heißt: »Wo keine Sprache west (...) da ist auch keine Offenheit (...).« Dann ist
Sprache jeder Rede über sie immer schon vorweg - ein »unvermeidlicher, zu-
gleich aber sinnvoller Zirkel«, den Heidegger in Unterwegs zur Sprache in die
Formel »Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen« kleidet, die nirgends
Anfang und Ende kennt, sondern der Sprache, als der »Sage«, stets nur nachzu-
sprechen vermag. Deswegen heißt es, ganz analog zu Wittgenstein: Die Sprache
ist: »die Zeige«; sie zeigt sich als Ereignen. Und deswegen gibt es auch keine aus-
schöpfende Philosophie der Sprache, die sie nicht wesentlich reduzierte - eine
Konsequenz, die Wittgenstein schließlich in seinen lediglich noch »exemplifikato-
risch« verfahrenden Philosophischen Untersuchungen dadurch gezogen hat, daß er
nicht mehr »über« das »Wie« und das »Daß« der Sprache, mithin auch nicht
mehr »über« die Differenz von Sagen und Zeigen spekulierte, sondern diese in die
Methode der Beschreibung selbst eingehen ließ, indem er nurmehr partielle
Sprachspiele als »kritische Vergleichsmodelle« vorführte, die sich am Beispiel sel-
ber erläutern. ' Man könnte daher sagen: die Untersuchungen gehen nicht länget

70 Nicht umsonst nennt Heidegger seinen Dialog mit einem Japaner »Aus einem Gespräch von der
Sprache« - nicht «über« Sprache; vgl. Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 83-155.
71 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, a.a.O., S. 40. Daß von der Differenz zwischen
Sagen und Zeigen ein Wink hinsichtlich der Kontinuität von Früh- und Spätphilosophie ergeht, so
daß sich von dort her die Einheit der Philosophie Wittgensteins erschließen ließe, dazu auch
Heinrich Watzka, Sagen und Zeigen, a.a.O., S. 23 f.
72 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 13. Eine ähnliche Stellungnahme findet
sich im übrigen auch bei Carl-Friedrich v. Weizsäcker, Die Einheit der Natur, München 1974,
S. 40.
73 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwetks, S. 84.
74 Ders., Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 242 f.
75 Ebenda, S. 253 f., 258 f.
76 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 23, S. 24. Vgl. auch ders., Phi-
losophische Grammatik, a.a.O., § 26, S. 63.
254 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

logisch vor, sondern aufweisend. Sprache, genauer: die Pluralität von Sprachspie-
len, zeigt sich durch ihren Gebrauch; sie vollzieht sich gleichsam performativ, wo-
hingegen das »Daß« der Wirklichkeit nur erscheinen kann, wo die Sprache
schweigt. »Ich beschreibe nur die Sprache und erkläre nichts.«
Letzteres entlarvt jedoch die dem Tractatus selbst noch innewohnende Inkon-
sequenz, ein Sprechen gleichermaßen »über« das Sagen wie »über« das Zeigen zu
wagen, d.h. doch zu erklären, was wiederum zur paradoxalen Geste nötigt, das
derart Gesagte im Augenblick seiner Aussage noch einmal durchzustreichen. Be-
fangen im Logizismus der Sprache, dem Postulat der Prädikation und der ontolo-
gischen Isomorphie zwischen Sprache und Welt, öffnet sich Wittgenstein so zwar
jenem Anderen, das sich nur vermöge der Destruktion der Prämissen seiner eige-
nen Philosophie andeutend aufdecken läßt und weist damit auf den Weg der
Differenz zwischen Sagen und Zeigen als konstitutive Differenz im Symbolischen;
doch wird ihre Produktivität gleichzeitig dadurch wieder verdeckt, daß die Form
der Prädikation als Form der Sprache absolut gesetzt wird. Dagegen erschöpft
sich das Zeigen, das durch das Sagen vereinnahmt wird, eben nicht in diesem,
weil in solcher Vereinnahmung noch das Sagen selber verabsolutiert würde und
damit ausgestrichen, was es austrägt bzw. allererst ermöglicht: Ereignis des Sagens,
das sich zeigt. Unablässig prägt solches Sichzeigen sich als Spur in das Sagen ein,
wie es umgekehrt wieder auf das Sagen zurückgeführt wird. Dann ließe sich seine
»Spur«, die nicht eigentlich Spur im Sinne einer Verweisung ist, nur indirekt le-
sen: Neben den Spuren des Sagens, der Diskursivität, als »Bahnung«, die das Sa-
gen selbst zieht, sofern es spricht. Statt dessen nährt sich Wittgensteins Frühphi-
losophie am Mangel einer Auszeichnung dessen, was er im Rückgang auf die
Funktionalität der Funktion noch zu überwinden trachtete. Dem entspricht ei-
ne Privilegierung des Logos, die den Blick auf das verstellt, was der Schluß des
Tractatus noch nahelegt: Die Radikalität eines Sichzeigens, dem einzig ein
gen, als dem Jenseits sowohl der Sprache wie der Logik, angemessen Antwort zu
erteilen vermag. In ihm sah Wittgenstein sein eigentliches Resultat, weshalb er es,
als den »ungeschriebenen Teil« seiner Lehre, zugleich als deren wichtigeren emp-
fand. Er enthüllt sich nicht nur als »unsagbarer«, sondern ebenso als »unschreib-

77 Ders., Philosophische Grammatik, a.a.O., § 30, S. 66. Vgl. desgleichen in ders., Denkbewegun-
gen, a.a.O., S. 84 (183) sowie ders., Philosophische Untersuchungen, a.a.O. § 109, S. 66: »Und
wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen. (...) Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibungen
an die Stelle treten.«.
78 Diese Tendenz liegt auf der Linie der Auslegung von Rudolf Fietz, der den Begriff der »logischen
Form« einseitig dem des Mediums zuschlägt: »Jedes Sagen ist auf mediale Formen des Sagens an-
gewiesen. Das heißt: um allererst sagen zu können, muß von einem unsagbar Anderen her ge-
dacht werden, muß die Form des Sagens sich zeigen.« Vgl. ders., Medienphilosophie, Würzburg
1992, S. 99.
79 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., Satz 7, S. 178. Der »unge-
schriebene Teil« verweist auf Ethik, die nach Wittgenstein nur handelnd vollzogen werden kann.
D.h. das Ethische vermag sich nur praktisch zu zeigen: die Notwendigkeit der Tat und dem ihr
innewohnenden existentiellen Moment kann durch keine Rede je substituiert werden. Vgl. dazu
auch Wittgensteins Brief an Ludwig von Ficker, zit. nach Brian McGuinness, Wittgensteins frü-
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 255

barer«, weil er sich überhaupt jenseits von Schrift plaziert: Ausschließlich verweist
er aufs Praktische, auf die Möglichkeit der ethischen Tat im Kierkegaardschen
Sinne, die sich im Handeln bewähren muß, jenem Bereich eines Existentiellen al-
so, in dem es keine Diskussionen mehr gibt und alles Begründen aufhört, weil sie
sämtlich zu »Geschwätz« gerinnen.

Sprache und Nicht-Identität: Das Unsagbare sagen

Auch wenn Wittgenstein damit letztlich einen Übergang empfiehlt, der den
nurmehr »therapeutischen« Gestus der Spätphilosophie nahelegt, so besteht doch
die genuine phihsophische Leistung der Frühphilosophie in der Einführung einer
Unterscheidung, die mit dem Dogma des Bedeutens bricht. Darin bewahrt sie
weiterhin ihre Aktualität. Denn mit Sagen und Zeigen handelt sich nicht um eine
Differenz zwischen zwei Bedeutungen oder Sprachen, wie der frühe Roland Bart-
hes das Feld des Symbolischen zerlegt hat und in die sie auch Bertrand Russell in
seinem von Wittgenstein heftig degoutierten Vorwort zur ersten Ausgabe des
Tractatus auflösen wollte: Weder doppelt besetzt noch eines ins andere über-
setzbar, erweist sich vielmehr das Zeigen als das Andere des Sagens, das auf keine
Weise auf die Striktheit der dictio zurückgeschlossen werden kann. Negativität
eines Nicht-Sagbaren, das nicht nur im »Wie« des Sagens, sondern bereits in der
bloßen Tatsache ihres »Daß« hervortritt und der Sprache wie dem Symbolische
einen anderen Raum zuweist, gewinnt das Sprechen allererst seinen Ort von dort
her: Unsagbares, in das es, als seine Grenze, immer schon hineingestellt ist und es
ermöglicht. Das Zeigbare bildet dann dessen Umrandung, jener Grund oder
Umriß, aus dem, vergleichbar den stets kippenden Vexierbildern, die Sprache
sich figuriert und gleichzeitig ihr Nichtaufgehen hat. Es markiert somit keine my-
stische Verborgenheit, auch wenn Wittgenstein emphatisch vom »Mystischen«
spricht, sondern Andersheit, die anders als Bedeuten ist und sich gleichwohl nicht
im Bedeutungslosen erschöpft - das hieße, erneut den Sinn zum Kriterium zu er-
heben —, sondern Horizont des Sagbaren, in dem jedes besondere Sagen einge-
rückt ist und seine Gegenwärtigkeit hat und der gerade darum nicht bedeu-
tungslos ist. Roland Barthes hat deshalb später vom »dritten Sinn«, der eigentlich
kein Sinn ist, gesagt, et sei »größer« als der buchstäbliche oder übertragene. Dies
meint Ahnliches: Der dritte Sinn behetbergt die Folie, aufgrund derer die ande-
ren entspringen. Allein mittels Zeichen unausdrückbar, erscheint er gleichwohl
durch deren Ereignen, durch die schlichte Tatsache ihres »Daß« (quod).
Die Produktivität des Tractatus mit seiner grundlegenden Unterscheidung zwi-
schen Sagen und Zeigen besteht demnach darin, auf etwas aufmerksam zu mä-

he Jahre, Frankfurt/M. 1988, S. 445; sowie darüber hinaus die Erläuterungen in meiner Einlei
tung in: D. Mersch (Hsg.), Gespräche über Wittgenstein. a.a.O., S. 23 ff.
80 Vgl. Bertrand Russell, Vorwort zum Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., bes. S. 80 f.
81 Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, a.a.O., S. 50.
256 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

chen, das im Fundamentalismus sowohl des Linguistischen wie Semiotischen


unterzugehen droht und was wir das »Ereignis der Setzung« genannt haben: daß
es nämlich keineswegs gleichgültig ist, ob überhaupt etwas be-zeichnet oder be-
deutet wird oder nicht. Denn »daß« ein Zeichen gesetzt wird, eine Rede anhebt,
jemand angesprochen wird oder sich von einem anderen ansprechen läßt, daß ei-
ne Handlung vollzogen oder ausgelassen, eine Geste angenommen oder zurück-
gewiesen wird, zeigt bereits. Sie ist »Anrede«, die dem Sprechen Präsenz verleiht
und es mit der Unausweichlichkeit einer Realität ausstattet: Indem die Sprache
stets nur in Zeichen, Sätzen oder Worten »etwas« aussagen kann, vermag sie ihre
Setzung, in der sie allererst ihren Ort findet, nicht mitauszudrücken, weil diese
nicht im Modus eines »etwas« als »etwas« erscheint. Dem Zeigen kommt so buch-
stäblich eine andere Tiefendimension zu: als ob die Rede kraft ihrer Anwesenheit
vor uns eine Fläche ausbreitete, auf der das Gesagte wie eine Schrift sich abzeich-
nete und wie ein Buch lesbar würde, aber erst durch die Spezifik des Sichzeigens
seine besondere Note oder Gravitation gewänne. Und dennoch besteht die Zwei-
deutigkeit Wittgensteins gerade darin, daß solches Sichzeigen, wiewohl es hervor-
gehoben wird, ebensosehr wieder zurückgenommen wird, so daß es als das Mysti-
sche ausschließlich jener Negativität zufällt, die jede weitere Explikation verbietet.
Letzteres dekuvriert die eigentliche Inkonsequenz des Tractatus: das Zeigen kann
nur erscheinen, wo die Sprache schweigt. Anders ausgedrückt: Die Produktivität
der Unterscheidung wird dadurch annulliert, daß sie Sagen und Zeigen nach dem
Schema von Position und Negation angeordnet und ausschließlich dieses zugelas-
sen wird, während jenes der Radikalität eines Quietismus anheimfällt, die die
Philosophie stillstellt und ihren Diskurs aussetzt.
So hält sich das Zeigen noch unentwegt im Widerstand gegen das Sagen, der
auf eigentümliche Weise jener Affirmation des Logischen kontrastiert, der es ent-
springt. Adorno hat deswegen gegen Wittgenstein stets darauf bestanden, daß
Philosophie allererst von dort her beginnt — daß sie also gerade davon zu handeln
habe, worüber sich nach dessen Verdikt nicht sprechen ließe, was bedeutet, das
»Paradox des Unterfangens« auszuhalten und »das Unsagbare eigentlich doch zu
sagen«. " »Allein schon die Form der Kopula, des >Ist<, verfolgt jene Intention des
Aufspießens, deren Korrektur an der Philosophie wäre; insofern ist alle philoso-
phische Sprache eine gegen die Sprache, gezeichnet vom Mal ihrer eigenen Un-
möglichkeit.« Ihr Denken geht darum erst da auf, wo mit der Kapriziösität des
Logos gebrochen wird und der Diskurs die Notwendigkeit seines »Grenzgangs«
gewahrte: Denn, so Adorno, eine Philosophie, »die nicht abstürzen kann in den
Abgrund (...) wird (...), analytisch, potentiell zur Tautologie.« Das Abgründige
entspricht aber dem »Nichtidentischen«, das im Begrifflichen wie Prädikativen

82 Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie, a.a.O., S. 56. In ähnlichem Sinne drückt es


Levinas aus: Die »eigentliche Aufgabe der Philosophie« sei »Indiskretion gegen das Unsagbare«;
vgl. ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, a.a.O., S. 33.
83 Ders., Drei Studien zu Hegel, a.a.O., S. 335. Zu einer gewiß prätentiösen Auseinandersetzung
mit Wittgensteins Tractatus vgl. auch ebenda, S. 336 f.
84 Ders., Negative Dialektik, a.a.O. S. 45.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 257

nicht aufgeht und sich konsequent jeder Aussage »über« wie aber auch allen
»Sprechens von« wehrt: Andersheit der Sprache und des Denkens selbst, das
Adorno der Widerständigkeit des Materiellen zuweist. Die Aporetik, in der der
philosophische Diskurs verharrt, erweist sich dann als dessen Konstituenz: Ins
Denken selber ist, in Umkehrung des Hegeischen Satzes, der Antagonismus der
Nichtidentität des Identischen eingetragen. »Da aber jede Totalität sich gemäß
der Logik aufbaut, deren Kern der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bildet, so
nimmt alles, was ihm nicht sich einfügt, alles qualitativ Verschiedene, die Signa-
tur des Widerspruchs an. Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem
Aspekt der Identität (...).« Das Begriffliche, als »Organon des Denkens und
gleichwohl die Mauer zwischen diesem und dem zu Denkenden«, hat, wie Ador-
no weiter schreibt, sein »wahres Interesse (...) beim Begriffslosen«, ' so bleibt ihm
das Unbegriffliche, Nicht-Identische, als der Unruhe des Geistes unauslöschlich
eingeschrieben: »Identität und Widerspruch des Denkens sind aneinanderge-
schweißt. Die Totalität des Widerspruchs ist nichts als die Unwahrheit der tota-
len Identifikation, so wie sie in dieser sich manifestiert. Widerspruch ist Nicht-
identität im Bann des Gesetzes, das auch das Nichtidentische affiziert.«
Entscheidend ist allerdings die Wendung vom Nichtbegrifflichen zur Materia-
lität, die gleichsam ins Denken als dessen Anderes und zugleich Unbestimmbares
hineinscheint. Sie weist über Wittgenstein hinaus. Zugleich bricht sie mit der
Negativität des Nicht-Identischen und eröffnet, im Sinne Schellings, den Vor-
schein auf ein Positives, das »sich zeigt«. Der Vorschein supponiert jenen Primat
des Objekts, wovon der Zweite Teil der Negativen Dialektik handelt: »Durch den
Übergang zum Vorrang des Objekts wird Dialektik materialistisch.« Der Aus-
druck »Objekt« steht hier jedoch nicht für ein Bestimmtes, sondern für die Irre-
duzibilität des Materiellen, soweit »(v)om Subjekt (...) Objekt nichteinmal als
Idee wegzudenken (ist); aber vom Objekt Subjekt.« In ihm behauptet sich, ge-
gen das Denken, ein Selbständiges, das weder auf es rückführbar ist, noch von
diesem wegzudenken. Es gemahnt an eine Rehabilitierung des Realen, das semio-
tisches Denken, vor allem in seiner Radikalisierung durch Derrida, als un-
bezeichenbar wegstreicht. Adorno hält daran fest, wie Schelling in seiner Figur
des »Zuvorkommenden«, behauptet so die Unverzichtbatkeit eines Anderen,
woran der Diskurs und seine Zeichen sich entzünden. »Dabei ist die Sache selbst
kein Denkprodukt; vielmehr das Nichtidentische durch die Identität hindurch.
Solche Nichtidentität ist keine >Idee<; aber ein Zugehängtes. (...) Trotz des Vor-
rangs des Objekts ist die Dinghaftigkeit der Welt auch Schein.« Sie ist dies, weil

85 Ebenda, S. 17.
86 Ebenda, S. 19, 20, 27, passim.
87 Ebenda, S. 18.
88 Auf die damit angedeutete Verbindung zwischen Schelling und Adorno werden wir noch zu
sprechen kommen; siehe weiter unten Tl. III, 2. Kap.
89 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O. S. 193.
90 Ebenda, S. 184.
91 Ebenda, S. 189, 190, passim.
258 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

sie sich keiner Begrifflichkeit fügt, obzwar sich ihr beständig wieder ein Begriffli-
ches aufdrängt, das ihr beizukommen sucht und gerade deshalb im Zugang eben-
sosehr verbirgt, wie in der Verbergung wieder zugänglich macht. Darin liegt noch
das Problematische des Ausdrucks »Objekt«: Er partizipiert, wie Identität, am
Widerspruch, insofern er die Konnotation eines Faktischen aufruft, die es schein-
bar an Dinglichkeit bindet, wiewohl es sich jeder begrifflichen Sanktionierung,
der Notifizierung durchs Denken verweigert: »Was Sache selbst heißen mag, ist
nicht positiv, unmittelbar vorhanden.« " Vielmehr wäre zu betonen, daß das Ob-
jekt, »der positive Ausdruck des Nichtidentischen«, lediglich begrifflicher Notbe-
helf, reine »terminologische Maske« ist, die, obgleich unumgänglich, doch eben-
so wegzuwerfen wäre, wie die Sätze Wittgensteins, die sich gleichermaßen bloß
als Hilfskonstruktionen gerierten, um im Sagen, über es hinaus, verworfen zu
werden. Vergleichbar dem Kantischen Ding-an-sich, das sich keiner Kategorie
fügt, bricht das Wirkliche unablässig wieder ins Denken ein und affiziert seine
Bestimmungen. Wenn auch Adorno Kant bescheinigt, »das Moment des Vor-
rangs der Objektivität nicht sich ausreden« gelassen zu haben, so ist darin
gleichwohl keine Option auf Transzendentalität gemeint: Der Primat des Materi-
ellen läßt sich nicht auf eine bloße conditio sine qua non reduzieren; vielmehr
kennzeichnet er jenen Punkt, an dem das Denken sein eigenes Ungenügen, oder,
gemäß Schelling, sein »Unverfügbares« wie »Unvordenkliches« erfährt: Denn
das Sein überragt den Gedanken des Seins, wie Schelling es formuliert hat: So
bedarf der Geist ebenso nach Adorno »in dem, was er ist, dessen, was er nicht
ist«, auch wenn es »als« dieses einer durchgängigen Negativität verhaftet bleibt.
»Denken bricht in zweiter Reflexion die Suprematie des Denkens über sein Ande-
res, weil es Anderes immer in sich schon ist. (...) In der Erkenntnis überlebt es als
deren Unruhe, die sie in Bewegung bringt und in ihrem Fortgang unbesänftigt
sich reproduziert (...).« Mehr als bloßer Bestimmungsgrund und mehr auch als
reines Faktum, läßt es sich weder abschneiden noch beseitigen oder eleminieren:
Seine Manifestation ist mächtiger als der Gedanke, der ihn zu bannen, aufzuhe-
ben oder sich mit ihm zu versöhnen trachtet.
Im Begriff des Nichtidentischen formuliert damit Adorno einen negativen
Materialismus, der auf den Punkt der Irreduzibilität des Materiellen hindeutet
und damit, im Gewand des Negativen, zugleich ein Positives andeutet. Nicht die
Rehabilitierung des Realen im Sinne eines Nichtidentischen ist darin wesentlich,
sondern der Bezug auf Materialität, die nicht »als« etwas, d.h. auch als ein Be-
griffliches aufscheint, sondetn unsagbar bleibt: Andersheit, die sich einzig zu
gen vermag. Im »Vorrang des Objekts« behält mithin Adorno den Vorrang eines
Sichzeigenden, freilich so, daß es sich als reine Negativität manifestiert. Objektivi-

92 Ebenda, S. 189.
93 Vgl. ebenda, S. 193.
94 Vgl. ebenda, S. 185.
95 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 160 ff.
96 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 199.
97 Ebenda, S. 201, 203 passim.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 259

tat, Dinglichkeit oder Stoff avancieren zu lauter negativen Begriffen, die dasjenige
bezeichnen, was sich nicht vergeistigen läßt, gleichwohl abet als Bedrängnis sich
unablässig noch mitteilen. Sie fungieren als Differenzbegriffe: Unterschied zu
dem, was sich überhaupt denken läßt, was identifizierbar erscheint oder den Be-
zeichnungen der Sprache genügen kann: Differenz zum Begrifflichen wie ebenso
zum Semiotischen, gleich einet Wunde, die beständig wiedet aufreißt und die
Unmöglichkeit einer Vermittlung des Denkens mit seinem Anderen bekundet.
Die Materialität wird dann zur Chiffre für Heterogenität. Unbestimmbar, undar-
stellbar und unvorstellbar, wie der Gott Mose, weist zu ihm einzig jene Spur, die
sich dort vorfindet, wo die Spuren ausgelöscht sind und ihre Male verblassen:
Spur aus verwischter Spur, die sich allein durch die Negativität eines Zeigens mani-
festierte: durch den Gedanken, der sich in dem gewahrt, was er benötigt, um Ge-
danke zu sein, von dem ihm dennoch nicht verstattet ist zu künden, nicht einmal
»als« Negativität. Nicht also zu sprechen wäre vom Nichtidentischen, auch nicht in
seiner Bedeutung von Spur — dies führte zurück zu Wittgensteins vergeblichen
Bemühungen, in der Sprache den Ort des Unsagbaren auszumachen und ihn zu-
gleich zu tilgen; wohl aber zu zeigen in dem Sinne, daß es sich zeigt. Was also
Adorno als Materialität zu bewahren sucht, hat die Qualität von Andersheit, des
Sichzeigens als Ereignis. Angedeutet wird damit eine weitere Verschiebung: von
der Negativität des Nicht-Identischen, das in bloßer Unbestimmtheit verharrt, zur
Positivität des Ereignens, das freilich jeder Versprachlichung entgeht. Wenn da-
her vom Primat des Objekts gesprochen wird, so wäre dieser - durch die An-
strengungen des Diskurses hindurch, die seine Flüchtigkeit etkennen lassen - zu-
letzt ins Sprach- und Zeichenlose zu setzen: Objekt, ohne sogleich ein Subjekt zu
denken oder es auf die Subjektivität des Subjekts zu beziehen, die es denkt;
gleichzeitig Objekt, ohne als Stoffliches oder Materielles vorgestellt zu werden,
vielmehr reine Alterität, Unsagbares wie Unbezeichenbares, das geschieht. Doch
anstatt dieses noch in seiner Präsenz, der Weise seines Herausstehens, seiner
stasis zu denken, beharrt Adorno auf der Askese eines strikten »Bilderverbots«, das
schließlich doch wieder dem Schweigen Wittgensteins näher kommt, als es sich
einzugestehen gestattet: »Die materialistische Sehnsucht, die Sache zu begreifen,
will das Gegenteil: nur bilderlos wäre das volle Objekt zu denken. Solcher Bil-
derlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot. Der Materialismus
säkularisiert es (...); das ist der Gehalt seiner Negativität.«

98 Solche »Positivierung« eines Unbestimmten, gleichermaßen im Lichte Schellings, sieht Gerhard


Gamm überhaupt als Grundzug der Moderne, vgl. ders., Flucht aus der Kategorie, Frankfurt/M.
1994, S. 212 ff, bes. 217 ff.
99 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 207. Wenn wir hier die Nähe zur Philoso-
phie Wittgensteins betonen, darf dies jedoch nicht über die Divergenzen beider hinwegtäuschen.
Allein der Verzicht scheint verwandt, d.h. die Haltung im Denken, nicht dessen Konsequenzen.
Zu Affinität und Differenz zwischen Adorno und Wittgenstein vgl. auch Albrecht Wellmer,
Ludwig Wittgenstein. Über die Schwierigkeit einer Rezeption seiner Philosophie und ihre Stel-
lung zur Philosophie Adornos, in: >Der Löwe spricht... und wir können ihn nicht verstehen.« Ein
Symposion an der Universität Frankfurt, Frankfurt/M. 1991, S. 138—148; dets., Sperrgut. Lud-
wig Wittgenstein - Th. W. Adorno: Schwierigkeiten der Rezeption samt Nähe und Feme. In:
260 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

So überschreitet Adorno zwar jene Schwelle, der nach Wittgenstein jegliche


Sprache gebricht, auf den Primat des Materiellen hin, um ihn in die Negativität
des Nichtidentischen zurückzunehmen, das gleichermaßen irreduzibel erscheint,
wie es die Aussetzung des Wortes gebietet. Dennoch verliert er damit aufs Neue,
was er gegen diesen festzuhalten trachtet. Profund koinzidieren damit beide Phi-
losophien, trotz aller Ferne in der Terminologie und ihren theoretischen Grund-
lagen, in der Frage des Ereignisses des »Daß« (quod). Wittgenstein weist auf die
Duplizität von Struktur und Wirklichkeit, dem »Wie« der Sprache und dem
»Daß« der Welt, freilich so, daß diese auf die reine Formalität des Gesetzes und
seiner Performanz zurückgeführt wird, jene auf die Blöße eines Sichzeigens, das
schließlich in Quietismus mündet. Das Ereignis des Zeichens wird darin ebenso
aufgedeckt wie verborgen, weil sie zur bloßen Form depraviert, während sie
Adorno jenseits des Zeichens von der Position des Nichtidentischen her als reine
Leere faßt, die zuletzt dem Bilderverbot unterliegt. Wittgensteins Untersuchun-
gen changieren dabei zwischen einer positiven Mystik der Form und der negativen
der Präsenz, so daß der Begriff des Ereignisses doppelt besetzt wird: einmal in be-
zug auf die Funktion der Sprache, soweit durch die logische Syntax bestimmt ist,
zum anderen in bezug deren Referenz, sofern sie im bloßen »Daß« der Welt
bestimmt bleibt. Hingegen denkt Adorno die Negativität der Materialität aus-
schließlich aus der Relation zwischen Denken und Gedachtem, dem Begrifflichen
und Unbegrifflichen, mithin aus der Position der Referenz, so daß dem Nicht-
Identischen, Anderen der Rang eines Außen sowohl des Denkens als auch der
Sprache zukommt, dessen Bestimmtheit sich in der Verweigerung des Urteils und
der Vorstellung zurückhält, sogar in ihrer Bestimmtheit als Unbestimmtheit. Er
verfehlt so, was Wittgensteins aus der Differenz zwischen Sagen und Zeigen auf
die Struktur der Sprache selbst bezog, gerade weil er sich der expliziten Reflexion
auf die diskursiven Mittel der Rede entschlägt; hingegen macht dieser den Riß im
Symbolischen kenntlich, der dessen Materialität gegenüber seinem Bedeuten als
sein Anderes auszeichnet, nicht im Sinne dessen, worauf es bezogen ist, sondern
wie es an sich selbst hervortritt. Adorno unterscheidet demgegenüber nicht zwi-
schen der Erscheinung des Begrifflichen und des Begriffenen, dessen Nichtbegriff-
lichkeit er im Sinne seiner Negativität zu retten sucht, ohne dabei freilich das
Faktum seines Erscheinens mitzudenken. Wittgenstein verfehlt auf der anderen
Seite das Sichzeigen der Zeichen in ihrer Reduktion auf Form, Adorno hinsicht-
lich ihrer Engführung auf Referenz, auch wenn er darin recht behält, daß diese
stets noch ein nichtidentisches Anderes voraussetzen muß.
Beide aber verfehlen wiederum das Sichzeigen selber im Sinne des Ereignens, der
Ekstatik von Anwesenheit oder der reinen Blöße: So wären beide Diskurse umzu-
kehren und aus ihrer Negativität herauszulösen. Denn Ereignen oder Ekstasis

Frankfurter Rundschau vom 5.8.89, der freilich die Akzente anders setzt sowie Herbert Schnädel-
bach, Metaphysik und Religion heute, in: ders., Zur Rehabilitation des animal rationale, Vorträ-
ge und Abhandlungen 2, Frankfurt/M. 1992, S. 137-157, bes. S. 155 u. ders., Philosophieren
nach Heidegger und Adorno, in: ebenda, S. 307—328.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 261

hen nicht im Negativen allein auf: Zu ihnen gehört ein Erscheinen: Erscheinung
im Sinne der Positivität jenes Hervortretens, dem das Moment einer Präsenz zu
kommt: Präsenz, das den Charakter des Ereignisses trägt, das wiederum ebenso
negativ bestimmt ist, wie es die Intensität des Unvorhersehbaren besitzt: Ereignis,
als ein Unverfügbares, das anderes ist als Zeichen und doch fähig ist, dieses und
seine Bedeutungen zu verwirren oder umzustürzen: Ereignis, als das schlechthin
Andere, anders als jede Art von Bestimmung, anders auch als jeglicher Sinn oder
alle Beschreibungen, die von ihm gegeben werden können, anders zudem als
sämtliche Weisen des Zugangs oder der Bezeichnung, das gleichwohl eine Welt
ebensosehr zu eröffnen wie zu zerstören vermag: Ereignis, das nicht jenseits der
Zeichen geschieht, sondern mit den Zeichen, und zwar nicht kraft ihres Bedeu
tens, sondern kraft ihrer Ekstasis, ihrer Setzung, die ihnen selbst anhängt und aus
der sie selbst hervorgehen: Ereignis schließlich, das geschieht, noch bevor »etwas«
geschehen ist, und dessen Spur nirgends in dem, was über es gesagt oder von ihm
erfahren werden kann, verlöscht ist.
3. KAPITEL:
DENOTATION, EXEMPLIFIKATION UND
DIE BLÖßE DES MATERIALS (GOODMAN)

Hier, was ich vom Denken denke: Gewiß exi-


stiert die Inspiration. Und es gibt einen leuch-
tenden Punkt, an dem sich die ganze Wirk-
lichkeit wiederfindet, aber verändert, verwan-
delt, - und wodurch? - einen Punkt magischen
Gebrauchs der Dinge.
Antonin Artaud

Vom Abbild zur Probe

Nelson Goodman hat die Wittgensteinsche Trennung zwischen Sagen und Zeigen
durch die Begriffe »Denotation« und »Exemplifikation« ersetzt und damit zu-
gleich zu präzisieren versucht. Nicht länger linguistisch vorentschieden, tilgt die
Präzisierung ebenso ihre strikte Opposition wie sie eine Erweiterung der Termi-
nologie erlaubt, die über Sprache hinaus jeder Symbolisation zukommt, neben
Diskursen ebenso Gesten, Handlungen, Bildern und Kunstwerken. Goodman
begründet auf diese Weise eine »Allgemeine Symboltheorie«, die sowohl die
Reichweite der Wittgensteinschen Begriffe als auch deren Geltungsbereich über-
schreitet/ Ihr Fundament ist jene »Bezugnahme«, wie sie die Funktion der Refe-

1 Tatsächlich zieht Goodman selber den Vergleich zwischen Sagen und Zeigen einerseits und De-
notation und Exemplifikation andeterseits, wenn er vom Unterschied zwischen »Sagen und Dar-
stellen einerseits und Zeigen und Exemplifizieren andererseits« spricht: »Wir haben (...) gesehen,
daß Welten nicht nur aus dem erzeugt werden, was buchstäblich gesagt wird, sondern auch aus
dem, was metaphotisch gesagt wird; ja sogar nicht nur aus dem, was entweder buchstäblich oder
metaphorisch gesagt wird, sondern auch aus dem, was exemplifiziert und ausgedrückt wird; nicht
nur sagend, auch zeigend kann man Welten erschaffen.« vgl. Nelson Goodman, Weisen der
Welterzeugung, a.a.O., S. 25 und 32; siehe auch S. 24 f., 32 f. Auf Ähnlichkeiten zwischen Witt-
genstein und Goodman weist auch Rudolf Fietz, Medienphilosophie, a.a.O., S. 96 ff. hin.
2 Vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 55-105; ders. zus. m. Cathrine Z. Elgin,
Revisionen, a.a.O., bes. S. 15-40. Ferner über Goodman: Günter Abel, Logic, Art, and Under-
standing in the Philosophy of Nelson Goodman, Inquiry 34 (1991), p. 311-321; Cathrine Z.
Elgin, With Reference to Reference, Indianapolis 1983; Franz Koppe, Kunst als entäußerte Wei-
se, die Welt zu sehen. Zu Nelson Goodman und Arthur C. Danto in weitergehender Absicht, in:
ders., (Hsg.), Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt/M. 1991, S. 81-103; ders., Die ver-
körperte Metapher. Eine kunstphilosophische Perspektive im Anschluß an Nelson Goodman, in:
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 43 (1995), 4, S. 731-741; Symposium: Goodmans Ways
of Worldmaking, Journal of Philosophy 46 (1979) (Sonderheft); Wolfgang Welsch, Vernunft,
Frankfurt/M. 1996, S. 373-395; sowie kritisch: Jules Vuillemin, Eine statische Konzeption einer
Symboltheorie, in: Deutsche Zeitschrift ftir Philosophie, 43 (1995), 4, S. 711-729. Es gibt zu-
dem eine Reihe alternativer Reformulierungen der Grundunterscheidung. Zu ihnen gehört auch
Arthur Dantos Unterscheidung zwischen Gehalt und Stil in bezug auf die Kunst; vgl. Die Ver-
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 263

rentialität beschreibt; das Zeichen wird, ähnlich wie bei Frege und Wittgenstein,
aus der Logik der Funktion, der Struktur von f: x —> y gedacht, wobei deren rela-
tionale Form eine Bereichs- wie Richtungsdifferenz gestattet: x —> y oder y |—> x.
Der Strich deutet an, daß im letzteren Fall Eigenschaften von y auf x verweisen,
nicht dieses selbst. Denn ebenso wie ein Term einem anderen zugeordnet werden
kann, kann die zugeordnete Variable auf jene Merkmale zurückverweisen, die ihr
strukturell inhärieren. Symbole können sich daher auf andere Symbole beziehen
oder ihre eigenen Attribute ausstellen: Ersteres entspräche det Struktur der De-
notation, letzteres einer Exemplifikation. Dabei umfaßt die Denotation das gan-
ze Gebiet der klassischen Repräsentation im Sinne des »Stehens für« oder auch
des »Auf-etwas-Zutreffens« usw., wozu ebenso Abbildungen wie Aufzählungen
oder Darstellungen und Beschreibungen gehören; während die Exemplifikation
den Selbstverweis eines Symbols auf seine intrinsischen Merkmale vollbringt:
Vorführung oder Darstellung jener Attribute, die es selbst besitzt und die je nach
Kontext betont werden können oder zurücktreten. Grundsätzlich kann dabei
»alles« denotiert werden; die Denotation erscheint also, wie das Sagen oder Be-
deuten, universell; wohingegen »nur Etikette« exemplifiziert werden können:
Muster oder Qualitäten einer bereits denotierten Probe.'
Goodman reformuliert so gleichermaßen die klassische Trennung zwischen
Inhalt und Form einer Symbolisation einerseits, wie zwischen Darstellung und
Ausstellung andererseits. Ebenso erhellen sich Konvergenz und Divergenz zu
Wittgenstein: »Sagen« und »Zeigen« gehören der Logik der Zeichenfunktion an;
ihre Differenz entspringt der Kluft zwischen Bedeutung und Vollzug, die sich ge-
geneinander als ebenso irreduzibel erweisen, wie sie sich wechselseitig ausschlie-
ßen. Es gibt kein Sagen ohne Zeigen und kein Zeigen ohne Sagen; doch läßt sich
das Sagen sowenig zeigen wie das Zeigen sagen. Dieses erfüllt die Sprache in ihrer
Beziehung zur Welt, jene in ihrer Selbstbeziehung als Form, die vollzogen werden
muß; so fügt sich die Unterscheidung dem »Was« und »Wie« eines Ausdrucks,
wobei das Sagen das Funktionieren der Sprache beschreibt, während das Zeigen
der Durchführung ihrer Operation entspringt: Es tangiert deren Eigenschaften
gleichwie ihre Struktur oder Präsenz. Grundlage bildet aber überall das Sagen, das
Wittgenstein prinzipiell privilegiert: Die Satzftinktion folgt der Ordnung der Re-
präsentation, gegen die sich das Zeigen nicht als eine alternative Möglichkeit der
Symbolisation, sondern als deren Negativität abhebt. Demgegenüber argumen-
tiert Goodman enger und weiter zugleich - enger, weil die »Exemplifikation« le-

klärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt/M. 1984. Die von Goodman
vorgeschlagenen Begriffe erweisen sich freilich als die schlagendsten.
3 Vgl. etwa Nelson Goodman, Cathrine Z. Elgin, Revisionen, a.a.O., S. 35 ff
4 Wenn hier im klassischen Sinne von Repräsentation die Rede ist, so in der Bedeutung einer binä-
ren Zuordnung oder Substitution. Davon zu unterscheiden wäre Goodmans eingeschränkter Ge-
brauch von »Repräsentation« im Sinne von Mimesis odet Ähnlichkeit; vgl. ders., Sprachen der
Kunst, a.a.O., S. 15 ff
5 Vgl. ebenda, vor allem S. 59 ff.
6 Vgl. ebenda, S. 63.
264 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

diglich eine Teilklasse des Zeigens ausmacht; ihre Reformulierung aus der Diffe
renz zur Denotation impliziert daher eine Präzisierung, deren Preis ihre gleich
zeitige Reduktion darstellt; ebenso aber weiter, nicht nur, weil sie sich aus den
Engführungen der Linguistik löst, sondern indem sie die Negativität des Zeigens
in die Positivität einer eigenständigen Symbolisationsform überführt, die eigenen
Gesetzen und Regeln der Anwendung gehorcht. Und obwohl Goodman die Du
plizität von Denotation und Exemplifikation für jede beliebige Symbolform un
terstellt, tilgt er dennoch deren Opposition, insofern sie beide sowohl sagend als
auch zeigend benutzt werden können, mithin als unterschiedliche Modi der Refe
renz fungieren, die eben keiner Differenz der Struktur, sondern differenten
wendungsweisen genügen. Wittgensteins Gebrauch der Termini erscheint daher
logisch, Goodmans pragmatisch. Dieser deutet das Modusproblem aus dem Dop
pelsinn der Funktion als Gesetz und Operation, Vorschrift und Prozeß, während
jener es aus der Intentionalität von Akten rekonstruiert, die vollzogen werden
müssen. Deren Fundament sind Handlungen, die an bewußten Gebrauch gekop
pelt sind, in die Entscheidungen eingehen, so daß sie, jenseits unausweichlicher
Mitgängigkeit, der stets ein Anderes im Rücken bleibt, situativ gesetzt und expli
zit gemacht werden können. Und wo Wittgenstein das Zeigen zum »Anderen des
Sagens« erklärt, der ein Sichzeigen konstitutiv vorausgeht, welches die Grenzen
des Logischen sprengt, um ins Unaussprechliche hinüberzugelangen, findet
Goodman an Exemplikationen nichts Mystisches, weil sie prinzipiell auf Identifi
zierungen und Klassifikationen beruhen, die ihnen ihr Verborgenes rauben.
Indessen erlaubt die Einschränkung eine Klärung ihrer formalen Struktur, die
Wittgenstein wiederum schuldig blieb: Denotation und Exemplifikation differie
ren hinsichtlich ihres formalen Schematismus: Diese erweist sich als Inverse von
jener. »Wo Pfeile mit zwei Spitzen vorkommen, können wir möglicherweise sa
gen, in welche Richtungen die Denotation verläuft. Wenn zum Beispiel die Ele
mente (Knoten des Diagramms) vorab in zwei Kategorien A und B unterschieden
werden und jeder einspitzige Pfeil von einem A zu einem B verläuft, dann ist hier
Bezugnahme von einem A zu einem B stets Denotation, Bezugnahme von einem

7 Allerdings erschöpfen sich die Modi nicht in den beiden genannten. In Sprachen der Kunst,
a.a.O., heißt es: »(K)eineswegs (ist) jeder Fall von Bezugnahme ein Fall von Denotation und Ex
emplifikation.« Vgl. ebenda S. 70. Andere Arten der Symbolisation werden jedoch nicht genannt,
und es ist unklar, woran Goodman dabei denkt. Einige Passagen in Weisen der Welterzeugung,
a.a.O. legen nahe, daß Goodman zwischen Denotation, Ausdruck und Exemplifikation unter
scheiden möchte: Vgl. dazu ebenda S. 86. In der Tat fällt eine Subsumtion des Ausdrucks unter
die Exemplifikation schwer, denn »(n)icht jede Exemplifikation ist Ausdruck«, schreibt Goodman
wiederum in den Sprachen der Kunst, »aber jeder Ausdruck ist Exemplifikation«. Vgl. ebenda
S. 59. Insbesondere wird in den Sprachen der Kunst der Ausdruck als Fall »metaphorischer Exem
plifikation« behandelt; offenbar inhäriert dem Zeigen ein Riß, der eine nochmalige Differenz
zwischen Ausdruck und Exemplifikation erlaubt. Vgl. bes. ebenda S. 88 ff.
8 Ausdrücklich wendet sich Goodman gegen jede »mystische« Implikation von Exemplifikationen,
doch läuft er damit, wie auch Rudolf Fietz, Medienphilosophie, a.a.O., S. 97 f. betont, Gefahr,
die Pointe, auf die es Wittgenstein ankam, wieder zu verlieren.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 265

B auf ein A Exemplifikation.« So referiert die Denotation auf einen Gegenstand,


indem sie ihn anzeigt oder substituiert: A —> B, während die Exemplifikation sich
auf Attribute a. von A bezieht, die sie vorstellt: A —
| a.. Diese verfährt mithin refe-
rentiell, charakterisiert durch einen Unterschied außer sich, jene selbstreferentiell,
bestimmt durch eine Differenz in sich. Es wäre jedoch ein Mißverständnis, wollte
man diese referentiellen Ordnungen auf ein binäres Schema festlegen, das eine
Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Zeichen und Realität postulierte. Sie entspre-
chen zwar in ihrer formalen Struktur der Mathematik zweistelliger Relationen;
doch verfahren sie grundsätzlich anfangslos, so daß die Formalisierungen A —> B
bzw. A |- a. nur Beziehungen von Beziehungen darstellen, nicht wie bei Wittgen-
stein auf einer ontologischen Isomorphie gründen. D.h. sie setzen immer schon
andere Denotationen und Exemplifikationen voraus: Nach Goodman gibt es Be-
zugnahmen nur relativ zu vorliegenden Symbolsystemen, die bestenfalls trans-
formiert oder »umgeschrieben« werden können, so daß, vergleichbar der struk-
turalen Semiologie, zu der seine Symboltheorie eine Reihe von Ähnlichkeiten
aufweist, jede beliebiger Platz ihrer Struktur vertauscht werden und jedes >A«, >B<
oder >a.< in der Relation als Symbol oder Referenz jedes anderen auftreten kann.
Das, worauf etwas referiert, markiert selbst ein Symbolisches, und es existiert so-
wenig ein »Jenseits des Symbolischen« wie es eine Präsenz oder ein Unmittelbares
gibt — seien es Tatsachen oder Sachverhalte, empirische Fakten oder Objekte - ,
auf die sich richtend oder begründend berufen werden könnte: Das Reale
kommt, als Stelle im System, nicht vor: Es bezeichnet ein »Nulldenotat«. * Es gibt
dann keine Welt ohne Worte und Symbole, kein Schweigen sowenig wie ein
»Mystisches«, das ohne den Umweg über Begriffe oder die Sprache anginge; ent-
sprechend charakterisiert Goodman seine »Allgemeine Symboltheorie« als »prag-
matischen Arealismus«, der zuletzt in einen »radikalen Relativismus« mündet:

9 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 64. Allerdings verkompliziert sich die Be-
schreibung im Falle symbolischer Selbstbezugnahme: diese denotiert und exemplifiziert sich
selbst, ebenso wie sie sowohl von sich denotiert als auch exemplifiziert wird; vgl. ebenda, S. 65,
bes. Anm. 9. Es bleibt so hinzuzufügen, daß die Unterscheidung zwischen Denotation und Ex-
emplifikation nicht in jedem Fall »scharf« getroffen werden kann. Goodman bestimmt sie nicht
immer strikt im Sinne einer Differenz im Symbolischen, wohl aber legt er sie nahe.
10 »Erschaffen ist ein Umschaffen« erklärt Goodman bündig; vgl. ders., Weisen der Welterzeugung,
a.a.O., S. 19. Allerdings ergibt sich hier derselbe Rückstand, auf den wir in unterschiedlichen Fi-
guren hinzudenken trachten: Denn im Prozeß des Umschaffens geht etwas ein, das zugleich un-
beherrschbar, auch unverfügbar ist: Materialität, als Ressource, die nicht beliebig bearbeitet, um-
geschmiedet oder trans-formiert wetden kann, ohne nicht als »Grund« oder Ur-Sprung der Bear-
beitung oder Transformation zurückzustehen.
11 Auf eine Nähe zur Philosophie des französischen Poststrukturalismus weist u.a. Wolfgang
Welsch, Vernunft, a.a.O., S. 391, 393 f. hin, wobei er Goodman »zwischen« Jean-Francois Lyo-
tard und Gilles Deleuze ansiedeln möchte. Bezüge zwischen Goodman und Detrida werden dar-
über hinaus hergestellt von Simone Mahrenholz, Jacques Derrida und Nebon Goodman: Zum Ver-
hältnis (post-)analyttscher und (post-)strukturalistischer Zeichentheorie, a.a.O.
12 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 35 f.
13 Goodman spricht eher irreführend von »Irrealismus« oder auch »Anti-Realismus«; vgl. ders., Of
Mind and Other Matters, Havard 1984, Preface.
266 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

»Realismus ist relativ; er wird durch das Repräsentationssystem festgelegt, das für
eine gegebene Kultur oder Person zu einer gegebenen Zeit die Norm ist.«
Gleichwohl erhellt die formale Rekonstruktion, daß die Exemplifikation im
Gegensatz zur Denotation nicht wiederum denotiert werden kann: Das Zeigen
sperrt sich zureichender Erklärung. Erneut koinzidieren die Ansätze Goodmans
und Wittgensteins: Exemplifikationen sind »Beispiele«, »Proben« oder »Verdeut-
lichungen«, die ihrerseits lediglich durch »Beispiele«, »Proben« oder »Verdeutli-
chungen« exemplifiziert werden können. Paradigmatisch erläutert sie Goodman
anhand von Stoffproben, die selber nur als Proben für Proben fungieren. Und
was diese jeweils darzustellen vermögen, ergibt sich aus der besonderen Beschaf-
fenheit ihres Materials, seiner Musterung oder Färbung, aber auch der Dicke und
Dichte des Stoffs, seiner Reißfestigkeit und dergleichen. Ihre Summe entspricht
dem, was Hegel die »Form der Erscheinung« nannte, doch gibt es von ihr weder
eine Aufzählung noch einen Katalog; Goodman legt Wert darauf, Exemplifika-
tionen lediglich situativ zu klären. Welche Merkmale jeweils relevant erscheinen
und welche nicht, entscheiden demnach Kontexte: Die Selbstreferentialität des
Zeigens funktioniert nicht explizit, sondern implizit und okkasionell. Daher kann
Goodman auch darauf verzichten, Exemplifikationen auszuweisen: Es genügt
festzustellen, daß ihre Struktur sich gegenüber der Denotation umkehrt und da-
mit nicht auf ein Bestimmtes hindeutet, sondern sich ausstellt und darin Eigen-
schaften preisgibt, die in ihrer eigenen Bestimmtheit freilich selbst noch der In-
terpretation bedürfen. Nicht was derart an einer Probe, einem Bild oder einer
Handlungen exponiert ist, erscheint dann im Einzelfall maßgeblich, sondern die
Betonung des Gesichtspunkts der Materialität des Symbolischen überhaupt. Darin
liegt der entscheidende Punkt der vektoriellen Umkehrung: Goodmans Konzept
der Exemplifikation lenkt den Blick von der eigentlichen Referenz zurück zu je-
nen Bedingungen, die die Symbolisierung austragen, indem sie ihr eine Basis
verleihen. Modelle oder Proben »mediatisieren« gleichsam die Attribute, die sie
besitzen, indem sie auf ihre eigene Materialität zurückverweisen, freilich so, daß
diese einer Ordnung denotierter Merkmale bereits entspringen. Sie setzen somit
die Distinktion der Merkmale schon voraus; Exemplifikationen rekurrieren auf
»Kennzeichen«, die eingespielte Diskurse bereits unterstellen. Dann zeigt sich die
Materialität und deren Attributierung immer schon im Modus präformierter Eti-
kette, nicht gleichsam die Blöße des Materials selbst - Goodman verfügt über kei-
ne Theorie des »Erscheinens« —, so daß das Zeigen eine Nähe zur Strukturalität
oder »Schriftlichkeit« des Materials aufweist: Es beschränkt sich darauf, »etwas«
Bestimmtes zu zeigen. Die Exemplifikation wird darum im Gegensatz zu Witt-
gensteins Mystizismus des Sichzeigens ausschließlich transitiv benutzt. Auch dies
steht im Einklang mit der ausgewiesenen Anfangslosigkeit und dem Arealismus:

14 Ders., Weisen der Welterzeugung, a.a.O., S. 117. Goodman unterzieht freilich diesen Relativis-
mus »starken Einschränkungen«, die vor allem die Konzeption der Wahrheit im Sinne des »Pas-
sens« betreffen; vgl. ders., Of Mind and Other Matters, a.a.O., p. 36 ff.
15 Ders., Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 45.
16 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Wissenschaft der Logik II. a.a.O., S. 139 ff.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 267

Die Merkmale der Materialität, die Exemplifikationen enthüllen, sind nicht die
»Materialeigenschaften« selbst, soweit sie ekstatisch hervortreten, sondern bereits
deren Rubizierung, Auszeichnung und Klassifikation.

Semiotik des Ästhetischen

Der Rückbezug auf die Selbstausstellung von Materialeigenschaften prädestiniert


das Konzept der Exemplifikation für eine Theorie der »Sprachen der Kunst«: Für
Goodman markiert sie den Ort einer Semiotik des Ästhetischen. Sie verbindet de-
ren Struktur mit dem, was wahrgenommen werden kann: Sinnlichkeit der Mate-
rialität und Konvergenz zwischen Zeigen und Aisthesis. Ihre eigentliche Erkennt-
nisform bezeichnet die Präsentation von, nicht die Re-Präsentation. Ausdrücklich
kennzeichnet Goodman die Exemplifikation als »eine wichtige und vielverwen-
dete Weise der Symbolisierung innerhalb (...) der Künste«: Bilder, Musiken,
Gebärden im Tanz, schauspielerische Mimik und Gestik gelten ihm als bevor-
zugtes Terrain, auch wenn sie keineswegs darauf beschränkt bleiben. Er opponiert
damit gegen die einseitige Rückführung des Ästhetischen auf Sinn, wie es durch-
gängig dem herrschenden Postulat kunstphilosophischer Diskurse entspricht:
Diktat ebenso der Hegeischen wie der nachhegelschen Ästhetik, die bruchlos die
Kunst dem »Organon der Wahrheit« überantworteten und nur solche Werke
gelten ließen, die sich sprechend artikulierten und ent-sprechend zu verstehen
waren. Die Zumutung verpflichtet das Ästhetische auf die Striktheit einer Aus-
sage, deren Selbstverständlichkeit freilich da zu brechen droht, wo sie, wie in
manchen avantgardistischen Produktionen, sich sowohl der Abbildung wie der
Narration, sogar dem Akt der Inspiration und der Domestikation durchs Herme-
neutische zu verweigern suchen. Rätselhaft und nur als eine Enthaltung des Sinns
lesbar, begegnet ihnen die Deutung weitgehend mit Unverständnis, weil sie sich
allein aufs Negative beschränkt, ohne in ihnen etwas zu erblicken, das sich dem

17 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 59; vgl. ebenso ders, Weisen der Welterzeu-
gung, a.a.O., Kap. IV, bes. S. 88 f. Wenn Goodman im Aufbau seiner Symboltheorie um eine
Rehabilitierung der besonderen Symbol- und Erkenntnisleistung der Kunst bemüht ist, so darf
die Differenz zwischen »Denotation« und »Exemplifikation« doch nicht der Trennung zwischen
dem Theoretischen und dem Ästhetischen zugeschlagen werden. Es handelt sich nicht um unter-
schiedliche Symbolsysteme, die wie »Fakta« und »Ficta« funktionieten; vielmehr konstituieten
sich solche »Weltversionen« allererst aus dem Spiel von Denotation und Exemplifikation. Eine
Konsequenz daraus besteht freilich in der Irreduzibilität des Ästhetischen, die zwar Goodman
nirgends behauptet, gleichwohl impliziert.
18 Noch Adornos Ästhetische Theorie steht unter deren Verdikt, auch wenn sie zwischen dem »Rät-
selcharakter« des Kunstwerks, das sich schlüssiger Interpretation verweigert, und ihrem Sinn als
n der Wahrheit« changiert. Lebendig seien sie nur »als sprechende«, heißt es in der Äs-
thetischen Theorie, a.a.O., S. 14, denn wodurch sie »mehr« seien »als Dasein, das ist nicht wie-
derum ein Daseiendes, sondern Sprache«; ebenda, S. 160. Noch darin führt Adorno das Erbe
Hegels fort, von dessen Zwängen er sich ebensosehr zu befreien sucht, indem er Kunst in dem
Maße als Sprache faßt, wie sie sprachlos bleibt. So wird, gegen die Deutbarkeit, gleichwohl der
Gesichtspunkt des Unbestimmten ins Zentrum gerückt.
268 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Paradigma der Signifikation nicht fügt. Vom Diskurs weitgehend verdrängt und
ausgesperrt, unterstreichen sie den Anteil des Materiellen, der ihre Lesbarkeit
durchkreuzt: Unfüglich im buchstäblichen Sinne, auch unverfügbar, entzündet
sich an ihnen ein Eigensinn, der nirgends der Entschlüsselung des Symbolischen
genügt."
Die Tradition solcher Engführung reicht bis zu Kant zurück: Der Farbgebung,
ihrem pastosen Strich oder Mischungsverhältnis sprach er ebenso die Dimension
des »Schönen« ab, wie dem Klang der Stimme, ihrem eigentümlichen Timbre,
oder Gold und Stein der Statue: allein dem Zwecke der Verfeinerung genügend,
erschienen diese der Gewahrung der Schönheit selber, als »Zweckmäßigkeit ohne
Zweck«, abträglich." Bestenfalls kämen ihnen eine Steigerung von Empfindun
gen zu, gleich Zierart, der nur Zusatz ist, nicht aber der schönen Form angehört,
wie sie allein dem Kompositorischen gehorcht: »In der Malerei, Bildhauerkunst,
ja allen bildenden Künsten, in der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne
Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was in der
Empfindung vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund
aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illumi
nieren, gehören zum Reiz; den Gegenstand an sich können sie zwar für die Emp
findung belebt, aber nicht auschauungswürdig und schön machen (...).«" Auf
der selben Linie liegt noch Hegels Auszeichnung des Gedankens, den die Kunst
im Medium des Sinnlichen faßt, um an ihr zugleich seinen Widerspruch zu er
fahren: Aus sich erzeugt der Geist »die Werke der schönen Kunst als das erste ver
söhnende Mittelglied zwischen dem bloß Äußerlichen, Sinnlichen und Vergäng
lichen und dem freien Gedanken, zwischen der Natur und endlichen Wirklich
keit und der unendlichen Freiheit des begreifenden Denkens«." Ihre Überwin
dung, zu der sie drängt, setzt gleichwohl die Kapriziösität des Begriffs schon vor
aus; die Ästhetik Hegels bleibt diesem überall verpflichtet: die Idee, die gleich
wohl am Materiellen partizipiert, um sich auszudrücken, muß sich von ihm lö
sen, um zu werden, was sie ist: Geist. Daran hängt schließlich das ganze Pathos
vom notwendigen Ende der Kunst: ihre Ersetzung durch das Denken der Philo
sophie, das ausspricht, was deren sinnliche Manifestation am Begrifflichen und
seinem Urteil noch verspielt. Dagegen beschränkt sich die Kunst nach Goodman
nicht aufs Aussagen: Kunst zeigt. »Spricht« sie, wird sie dürftig und vordergrün
dig; statt dessen bringt sie zur Anschauung oder zu Gehör, was sich dem strikt
Denotativen verschließt, und zwar mit den Mitteln ihrer Materialität, die für sie
wesentlich ist, nicht indifferent oder gar störend. So wird dem Ästhetischen eine
eigenständige symbolische Kraft zugedacht: Die Qualität der Farbgebung, die be
sondere Verarbeitung, Grundierung, Linienführung, Rahmung oder Präsentati
onsweise entfachen ihr eigenes Spiel des Ausdrucks ebenso wie die klanglichen

19 Vgl. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, a.a.O., S. 76 ff.


20 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, a.a.O., A 32 ff, B 32 ff.
21 Ebenda A 42 f., B 42 f.
22 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, a.a.O., S. 21.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 269

Eigenschaften eines Tons oder Akkords, die Performanz der Stimme oder die In-
tensitäten rhythmischer Bewegung. Sie gehören in die Besonderheit ästhetischer
Erfahrungen wie ihre Gehalte; doch es sind vornehmlich diese, die ihr ihre ein-
zigartige Expressivität, Eindringlichkeit oder Note allererst verleihen: Nuancen,
die unser plötzliches Interesse zu fesseln vermögen, die entscheiden können, ob
etwas als Kunstwerk gilt oder nicht oder die den offenbaren Sinn eines Gesagten
verwirren und in ihr Gegenteil verkehren können. Nicht selten besteht sogar die
Kunst aus nichts anderem als das: »Fülle« und »Dichte« einer Materialität, die
nicht spricht, sondern sich zeigend ausstellt oder gar nicht." Die Symbolisation ist
»voll«, weil sie multipel bezug nimmt, und »dicht«, weil jedes Detail dabei eine
Rolle spielt, wobei im Einzelfall nicht einmal klar zu sein braucht, welche Einzel-
heit wesentlich ist: Die Pinselführung, die Dicke des Papiers, Zeit und Ort eines
Fundstücks, Beschaffenheit des Materials etc. Das Ästhetische erweist sich somit
als indiskret. Es ist nicht, wie die Sprache, in wohldefinierte Schnitte zetlegbat;
vielmehr beweist jede Notierung, jede diskrete Partitur gegenüber dem jeweils
Sicht- und Hörbaren ihr eigenes Ungenügen.
Freilich birgt der Ansatz in dieser Form eine Reihe von Schwierigkeiten und
Ungereimtheiten, die drohen, die Errungenschaften der Wittgensteinschen Ter-
mini wieder zu verlieren. Abgesehen von Unscharfen in der Unterscheidung zwi-
schen Denotation und Exemplifikation,"4 die allein pragmatisch behoben werden,
deklassiert Goodman (i) den Begriff des Zeigens im Sinne der Exemplifikation
auf ein Etwas zeigen bzw. Zeigen-als, welche ihn transitiv vorentscheidet, (ii) Dar-
über hinaus büßt die Exemplifikation insoweit ihre symbolische Autonomie ein,
als sie den Vorrang des Denotativen noch voraussetzt: Sinnvoll nur in dessen
Kreis, wüßte man andernfalls nicht, »daß« überhaupt ein Zeigen geschieht.
Schließlich bleibt (iii) die Blöße des Materials unberücksichtigt, sein Ereignen, das
sich zeigt, ohne »etwas« zu zeigen: Goodman unterschreitet damit die »Radikali-
tät« eines intransitiv zu verstehenden und dem Zeigen jeweils vorausgehenden
Sichzeigens. Wir wollen im folgenden die strittigen Punkte genauer untersuchen,
gerade auch, um den Herausforderungen begegnen zu können, die eine Semiotik
des Ästhetischen, die unser Anliegen durchkreuzt, darstellt. Insbesondere wird es
uns darauf ankommen, den Gesichtspunkt Wittgensteins gegen die Revisionen
Goodmans zu rehabilitieren, d.h. zugleich das Ungedachte seines Konstruktiona-
lismus aufzuweisen, das die Radikalität des Ästhetischen, wie sie der »Mystik«
Wittgensteins immanent ist, unterbietet. Insbesondere fehlt es der Unbestimmt-
heit an Platz. In Goodmans Allgemeiner Symboltheorie findet das »Daß« (quod)
der Symbolisation, das Ereignis seiner Setzung keinen Ort.

23 Vgl. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, a.a.O., S. 88 f.


24 Im Einzelfall fällt es schwer ist, zwischen Exemplifikation und Denotation zu entscheiden: Ex-
emplifiziert der Hut eine bürgerliche Lebensform oder denotiert er sie qua Statussymbol? Deno-
tiert ein Mann-Bild einen Mann oder exemplifiziert es ihn qua Portrait? Das Problem ist syste-
matischer Art, weil ein Exempel sowenig mitausdrückt, was es exemplifiziert, wie das Zeigen
zeigt, worauf es zeigt.
270 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

(i) Als »Weise der Referenz«" versteht Goodman die Exemplifikation stets im
Sinne von »etwas« exemplifizieren. Sie gehorcht somit der Struktur von Transiti-
vität. Etwas wird dabei »als« etwas gezeigt: ein Satz stellt einen grammatischen
Fall dar, eine Probe »diese« spezifische Schraffur oder Maserung, ein Muster »je-
ne« bestimmte Färbung oder Materialbeschaffenheit, ein Bild »diese« besondere
Malweise oder Stimmung, eine Gebärde »diesen« speziellen Ausdruck und der-
gleichen mehr. »Etwas« exemplifizieren bedeutet dann zugleich Etwas-Zeigen im
Sinne von Zeigens-als: Engführung, die die gesamte philosophische Tradition
wiederholt und bestätigt, ganz wie Cornelius Castoriadis gesagt hat, daß die Ge-
schichte der Metaphysik durchgängig sich auf die Identität von »Sein« und »Be-
stimmtheit« gestützt hat: »Seit fünfundzwanzig Jahrhunderten beruft, bearbeitet,
entfaltet und verfeinert sich das griechisch-abendländische Denken auf der
Grundlage dieser These: >sein< heißt >etwas Bestimmtes sein« (einai-ti); >sagen<
heißt >etwas Bestimmtes sagen« (ti legein) und, natürlich, >wahr sagen« heißt, das
Sagen und das Gesagte den Bestimmungen des Seins gemäß oder das Sein den
Bestimmungen des Sagens gemäß zu bestimmen und am Ende festzustellen, daß
die einen und die anderen Bestimmungen zusammenfallen.«" Goodmans Kon-
zept der Exemplifikation unterwirft sich gleichermaßen dieser Identität: Als tran-
sitive Struktur untersteht sie der Logik des »als« und gemahnt derart an die Form
der Deiktik, der demonstratio, freilich eine demonstratio der Materialität und ihrer
Merkmale selbst, ein demonstrare gleichsam ohne Subjekt. Das Zeigen hat einen
Bezug zur Ostension, dieser wiederum zur Intentionalität: Nicht wird überhaupt
gezeigt, sondern stets »auf etwas« hingedeutet, »etwas Bestimmtes« vorgezeigt
oder in eine besondere Richtung verwiesen. So zeige ich z.B. auf ein außerge-
wöhnliches Bauwerk, ich hebe eine spezifische Rolle hervor oder führe paradig-
matisch einen Terminus ein. Doch geschieht solches Zeigen jeweils schon im
Kontext einer Definitheit: Ich demonstriere etwas »an« ihnen, und zwar dieses
»als« dieses, eine Bauweise, einen Stil, die Pracht der Ausstattung und derglei-
chen; oder ich verwende das Gezeigte als Beispiel für etwas anderes — etwa ein
musikalisches Motiv, um an ihm ein Gefühl zu vetdeutlichen — aber auch dann
habe ich stets »etwas« im Modus von »als etwas« gezeigt. Dies gilt vor allem in
Ansehung einer Stoffprobe, die als Muster fungiert und dabei Materialeigen-
schaften oder Farbgebungen vorstellt. Jedem Zeigen im Sinne der Ostension wie
auch der Exemplifikation ist insofern der Charakter eines »Als« eingeschrieben,
ohne damit bereits auf die Struktur einer Prädikation festgelegt zu sein. Aus-
drücklich hat darum Heidegger in seiner Logik-Vorlesung darauf hingewiesen,
daß die »Ais-Struktur (...) nicht notwendig bezogen (ist) auf Prädikation«; viel-

25 Vgl. Günter Abel, Interpretationswelten, Frankfurt/M. 1993, S. 300.


26 Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philoso-
phie, Frankfurt/M. 1984, S. 372.
27 Ausdrücklich verweist Goodman auf die Ähnlichkeit zwischen Ostension und Exemplifikation,
beschränkt diese aber auf den »Akt«, während jene für die eigentliche symbolische Bezugnahme
reserviert ist; vgl. ders., Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 60, Anm. 5. Wenn hier von Deiktik als
Modell der Exemplifikation gesprochen wird, so im weiten Sinne des Etwas-Zeigens.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 271

mehr enthüllt sich gerade im Zu-tun-haben-mit ein ursprünglich vorprädikativer


Sinn des »Als«." Analog läßt sich sagen, daß ebenso im Zeigen wie im Hinweisen
auf oder im Vorführen von ein genuiner Charakter des »als« und damit der Diffe-
renz eingelassen ist: Etwas bildet das Beispiel für dieses oder jenes, demonstriert
etwas »als« etwas usw. Erst so können Kunst und Kognition zusammengeschlos-
sen werden: Ästhetisches Zeigen erweist sich als transitives Zeigen im Sinne einer
»Erkenntnis-als«.
Doch schließt dies von vornherein die Möglichkeit eines unwillkürlichen Sich-
zeigens aus, das sich verbergend enthüllt und »Spuren« hinterläßt, wo diese aus-
gelöscht werden oder sich entdeckt, indem es bei Gelegenheit anderer Symboli-
sierungen sich ereignet. Daß die Zeichen zeigen, besagt nicht unbedingt, daß das
Zeigen selbst zeichenhaft sein muß, sondern nur, daß es sich vermittels von Zei-
chen vollzieht, die zugleich anderes zu exemplifizieren oder auch zu denotieren
vermögen. Etwas bei gegebenem Anlaß zu einem bestimmten Zeitpunkt sagen,
mag intentional etwas Bestimmtes zu verstehen zu geben: indirekte Intrige oder
versöhnende Geste, die im alleinigen Hören auf das Wort verlorengeht und mit
ihm verhallt. Aber jenseits dessen gibt es auch ein unbeabsichtigtes Zeigen, das
ausschließlich darin besteht, daß überhaupt etwas gesagt wurde und nicht statt
dessen geschwiegen: Solches Sagen kann nicht umhin, anderes zu zeigen, das
nicht gemeint wetden kann, ja nicht einmal »als etwas« gezeigt. Indem sich
Goodman allein auf Pragmatik kapriziert und gleichermaßen einen intentionalen
wie transitiven Gebrauch privilegiert, bleibt sein Konzept der Exemplifikation
aufs Symbolische bezogen und mithin an die Identität von Zeichen und Zeigen
geknüpft. Und indem derart nur jeweils etwas »als« etwas gezeigt werden kann,
müssen die exemplifizierten Eigenschaften als solche schon hervorgetreten sein,
bevor auf sie verwiesen werden kann:" »(W)enn Exemplifikation vorliegt, (muß)
bereits auch eine Kenntnis davon vorliegen, welches sprachliche Prädikat oder
nicht-sprachliche Kennzeichen (...) exemplifiziert wird. Wäre dies nicht der Fall,
dann würde man gar nicht bemerken, daß ein Exemplifizieren (...) vorliegt.«
Dies bedingt, daß klar ist, auf welche Merkmale die Exemplifikation bezug
nimmt, was im einzelnen exemplifiziert wird und wie es zu deuten wäre. Ein Bild,
eine Skulptur, ein Musikstück besitzt kontingente Eigenschaften, die wiederum
für die Ästhetik Goodmans irrelevant sind: ihr spezifisches Gewicht, die Bedin-
gungen der Räumlichkeit etc., die ausgeschlossen werden müssen. Was für ein
Kunstwerk bedeutsam ist und was nicht, wird theoretisch nicht präformiert, ob-
gleich, wie das Beispiel der Stoffprobe zeigt, die Auswahl der relevanten und irre-

28 Vgl. Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, a.a.O., S. 144, 145 passim; vgl.
insgesamt S. 143 ff.
29 Unterschieden werden kann zudem zwischen Eigenschaften und Charakteren. Diese bezeichnen
gegenüber jenen »Wirkungen« der Materialität: Sie enthüllen erst die Merkmale, die sich zeigen
können. Vgl. zur Unterscheidung auch Gernot Böhme, Natürlich Natur, a.a.O., S. 131 ff.
30 Günter Abel, Interpretationswelten, a.a.O., S. 301, 302.
272 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

levanten Etikette für die Theorie entscheidend ist. Zeigen setzt somit ein Sich-
schon-gezeigt-haben voraus. Es behält sich im Modus des Perfekts: Ein Gesicht,
eine Stoffprobe stellen »etwas« vor, bringen es »als etwas« zut Erscheinung, aber
»was« sich derart zur Erscheinung bringt, ist bereits zur Erscheinung gelangt, hat
sich schon gezeigt und sich in seine Attribute zerlegt. Wenn daher gesagt wird,
ein Kunstwerk exemplifiziere seine immanenten Züge und nehme insofern auf
diese Bezug, so müssen diese als solche bereits exemplifiziert sein, um als Be-
stimmte gezeigt werden zu können. Die Rede der Exemplifikation wiederholt
dann nur, was sie supponiert: die Bestimmtheit des Exemplifizierten. Logisch
vollführt sie eine petitio principii: Das Konzept erweist sich als zirkulär: Es unter-
schlägt die Frage der Erscheinung dessen, worauf es sich bezieht: Es vollführt sich
ohne Ekstasis. '
(ii) Daraus folgt, daß es Exemplifikationen lediglich im Rahmen vorgegebener
Beschreibungs- oder Klassifikationssysteme gibt, die ihnen allererst Plausibilität
verleihen. Sie setzen schon geordnete, eingeteilte und damit vorinterpretierte
oder »bestimmte« »Welten« voraus. Reines Zeigen zeigt nicht mit, worauf es
zeigt; dann muß es an Denotationen rückgekoppelt werden, die bezeichnen, was
jeweils gezeigt wird und als was es sich zeigt. Die Crux ist der Theorie des Deikti-
schen immanent: Der Finger, der auf etwas weist, behält gleichsam die Fotm sei-
ner Weisung ein: Er zeigt sein Zeigen nicht mit. Das bedeutet aber, daß Zeigen
qua Etwas-zeigen und Zeigen-als notwendig auf das Sagen im Sinne eines Bedeu-
tens oder Interpretierens angewiesen bleibt: Im Konzept der Exemplifikation do-
miniert die Stellung der Denotation. Dieses gilt im strengen Sinne insoweit, als

31 Eine Stoffprobe exemplifiziert vielleicht die Beschaffenheit des Stoffes, nicht aber ihre quadrati-
sche Form oder die Eigenschaft, »an einem Dienstag fertiggestellt worden zu sein«. Die Auswahl
geschieht daher pragmatisch und kontextuell; aber kein Kontext gibt vor, welche Wahl getroffen
werden muß. Vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 59 ff.
32 Die Schwierigkeit wird insbesondere da virulent, wo Goodman im Falle der Kunst die Begriffe
»Fülle« und »Dichte« exponiert, wobei letzterer anzeigt, das jedes Detail und jede Nuance, Textur
des Hintergrunds, Tonschärfe, Pinselführung oder Anschlag und dergleichen exemplifizieren
kann. Setzt dies nicht schon die Identifikation der relevanten Details, Nuancen etc. voraus? Wel-
chen Sinn macht es z.B. zu sagen, die Dicke der aufgetragenen Farbe am rechten Rand des Bildes
zeige dies und das, wenn gar nicht klar ist, welche Merkmale oder Elemente am Bild unterschie-
den werden können, »was« als Element bzw. als Eigenschaft überhaupt »gilt«. Dazu weiter unten.
33 Alles, was beschrieben oder gezeigt wird, ist nach Goodman auf »Beschreibungsweisen« be-
schränkt, die es hervorbringt; vgl. ders., Weisen der Welterzeugung, a.a.O., S. 15. Dann gibt es
aber gerade keine »Grenze« des Symbolischen mehr.
34 Dies ist auch der Grund, weshalb Günter Abel glaubt, beide »Konzeptionen« uneingeschränkt »in
den interpretationalistischen Ansatz« überfuhren zu können; vgl. Interpretationswelten, a.a.O.,
S. 303. Insbesondere spricht er von »unterschiedliche(n) Weisen des Interpretierens, als Versio-
nen der Welt- und Selbst-Interpretation«. »Jeder Ausdruck sprachlicher und nicht-sprachlicher
Art« sei einerseits »immer schon vom Charakter des Interpretierens« und gewänne andererseits
»seine Bestimmtheit erst im Zuge der Interpretation«; vgl. ders., Wissenschaft und Kunst; in: Jo-
sef Simon, M. Djuric (Hsg)., Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986, S. 9—25,
hier: S. 9 und 17. Gleichwohl geht die Differenz zwischen Denotation und Exemplifikation nicht
bruchlos in Modi der Interpretation auf; diese partizipieren stets am Bedeuten, während das Zei-
gen im Sinne von Selbstpräsentation keineswegs eine Art von Interpretation sein muß. Abel über-
betont hier den kognitiven Zug des Zeigens.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 273

daß Merkmale, die exemplifiziert werden, zuvor als Etikette denotiert sein müs-
sen, um als solche fungieren zu können. Exemplifiziert werden nur »Labels«:
benannte oder bezeichnete Eigenschaften, die vorliegen und als solche identifi-
ziert und verstanden worden sind; andernfalls könnte kein Zeigen auf irgendwel-
che Merkmale hindeuten: Unklar bliebe, ob überhaupt etwas gezeigt würde, ge-
schweige denn als was. Etwas kann sich darum nur »als« etwas zeigen, wenn dafür
die entsprechenden verbalen oder nonverbalen Etikette vorliegen, die das Ge-
zeigte kennzeichnen: »rot« für die Farbe eines Bildes, »grobmaschig« für die Web-
art eines Stoffes, »behend« für die Form einer Bewegung oder »heiter« für den
Ausdruck eines Gesichtes oder einer Atmosphäre und dergleichen. Umgekehrt
zeigen ein Gemälde, ein Musikstück oder eine Skulptur nichts von sich her: Es ist
die Spezifik der Zeichnung oder Linienführung, die Besonderheit der Klangge-
bung oder Tonhöhenorganisation, die Wahl des Materials oder die Art seiner Be-
arbeitung, die jeweils etwas zeigen können; aber dann müssen diese schon ausge-
wählt, d.h. Entscheidungen bereits getroffen und Zerlegungen vorgenommen
worden sein, die ihre Identifikation adressieren und das Zeigen als ein Zeigen-als
konstituieren. Goodman stellt so sicher, daß wir stets wissen, was ein Bild, ein
Muster oder eine Probe zeigt: Erst Distinktionen etlauben Verweisungen: nicht
nur, was exemplifiziert wird, muß klar sein, sondern auch wie das Gezeigte im
einzelnen zu deuten ist. So entsteht hinsichtlich dessen, was gezeigt wind und als
was es sich zeigt, kein Problem.
Goodman orientiert sich folglich am Ideal analytischer Bestimmtheit; sein Pa-
radigma ist das Muster, das wohlbestimmten Zwecken dient. Mit Roland Barthes
könnte man sagen, daß Exemplifikationen damit auf der Ebene des Studiums
bleiben: die Probe ist in ihrer Oberfläche präsent, sie bietet sich dar, und was sie
zeigen will, läßt nichts zu wünschen übrig: Sie geht ganz in dem auf, was sie ex-
emplifiziert. Darum bildet sie kein Rätsel; aufschlußreich ist überhaupt, daß
Goodman Kunstwerke mit Proben oder Mustern vergleicht, als ob sie auf gleicher

35 Vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 61 ff, sowie ders. zus. m. Catharine Z.
Elgin, Revisionen, a.a.O., S. 35 ff.
36 Eine vergleichbare Schwierigkeit ergibt sich in Ansehung der Ausdruckstheorie Goodmans: »Was
zum Ausdruck gebracht wird, wird metaphorisch exemplifiziert.« Vgl. ders., Sprachen der Kunst,
a.a.O., S. 88; auch S. 88 ff. Die Bestimmung lebt von der Übertragung von Etiketten. Dagegen
hat Wittgenstein darauf aufmerksam gemacht, daß »ausdrücken« transitiv und nicht transitiv ge-
braucht werden kann, was die Wendung von einem »unbeschreiblichen Ausdruck« nahelegt.
Unterschieden werden müßte daher noch zwischen der Redeweise: »Dieses Gemälde drückt
Traurigkeit aus« — und: »Dieses Gemälde ist ausdrucksvoll«, wobei man sich sowohl der Kenn-
zeichnung dessen enthält, »was« an ihm ausdrucksvoll ist, wie, »worin« die Ausdrucksstärke je-
weils besteht. Goodmans Ausdruckstheorie läßt allein den ersteren Fall zu. Zu Wittgensteins
Ausdruckstheorie, die, wie vieles, nur andeutungsweise vorliegt, vgl. ders., Das Blaue Buch. Eine
philosophische Betrachtung (Das Braune Buch), Frankfurt/M. 1980, § 137, S. 220, sowie Tl. II,
§§ 13 ff., S. 237 ff; ferner: Steffi Hohuß, Unbeschreibliche Gefühle, in: Eike v. Savigny, Oliver
Scholz (Hsg.), Wittgenstein über die Seele, a.a.O., S. 131—145; sowie dies., Wittgenstein übet
den Ausdruck von Kunstwerken, in: Culture and Value, Beiträge des 18. Internationalen Witt-
genstein Symposiums, Kirchberg am Wechsel 1995, S. 175-181.
37 Siehe oben Tl. I., 2. Kap.
274 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Ebene stünden, als gäbe es zwischen ihnen irgendwelche Ähnlichkeiten, die sich
gegenseitig erhellten. Die Wahl des Paradigmas demonstriert. Es enthüllt den gan-
zen Reduktionismus: Modelle geben sich preis, Kunstwerke weichen zurück; sie
verbergen sich, in dem sie sich ausstellen, sie wahren ihr unverwechselbares Ge-
heimnis, weshalb sie immer wieder neu und nirgends zu Ende lesbar sind, sich
niemals erschöpfen. Barthes hatte deshalb als das Eigentliche im Bild das un-
nennbare punctum ausgemacht: vergeblich anvisierter Ort eines Begehrens, der
besticht, ohne benennbares Detail oder Eigenschaft des Bildes zu sein, worauf
sich hinweisen ließe. Jedes Bild besitzt fest umrissene Merkmale; doch unterstellt
seine Zerlegung noch die Bedingung seiner Zedegbarkeit in diskrete und rele-
vante Schnitte, die Bezugnahme allererst ermöglicht. Freilich läßt sich kein Ding
und keine Sache vollständig in einen Katalog von Attributen zergliedern, sowenig
diese eindeutig voneinander abgrenzbar wären. Gegen die analytische These sei-
nes Tractatus notierte deshalb Wittgenstein in den Philosophischen
gen: »Aber welches sind die einfachen Bestandteile, aus denen sich die Realität zu-
sammensetzt? Was sind die einfachen Bestandteile eines Sessels? - Die Stücke
Holz, aus denen er zusammengefügt ist? Oder die Moleküle, oder die Atome?
(...) Auf die philosophische Frage: »Ist das Gesichtsbild dieses Baumes zusammen-
gesetzt, und welches sind seine Bestandteile?« ist die richtige Antwort: >Das
kommt darauf an, was du unter »zusammengesetzt« verstehst.« (Und das ist natür-
lich keine Beantwortung, sondern eine Zurückweisung der Frage.)« Nirgends
liegt also eine Liste von Etiketten vor; ihre Erstellung basiert schon auf Theorien,
und mögliche Zerlegungen erhalten ihre Legitimität erst von dort her; daher
muß, was ein Bild oder eine Handlung und dergleichen exemplifizieren, abduktiv
aus deren Kontext erschlossen werden. Erschlossenheit ist aber eine Funktion von
Diskursen; die Klärung von Exemplifikationen ist an diese gebunden. Zwar kön-
nen sie sehr wohl auch auf andere Exemplifikationen verweisen, nicht aber restlos
in ihnen aufgehen: »Alle Exemplifikationen grundsätzlich als Exemplifikationen
von Etiketten zu behandeln wirft jedoch die Frage auf, ob Exemplifikation wirk-
lich von Sprache abhängt. (...) Die allgemeine Antwort ist die, daß nicht alle Eti-
ketten Prädikate sind; Prädikate sind Proben aus Sprachsystemen. Symbole aus
anderen Systemen - gestischen, piktoralen, diagrammatischen usw. - können ex-
emplifiziert sein und in anderer Hinsicht wie Prädikate einer Sprache funktionie-
ren. (...) Dennoch scheint sich die Orientierung, die Exemplifikation von De-
notation unterscheidet, auch dort von der Organisation der Sprache herzuleiten,
wo nonverbale Symbole beteiligt sind.«
Innerhalb seiner Allgemeinen Symboltheorie räumt somit Goodman dem Dis-
kreten und Bestimmbaren den Vorrang ein. Unbestimmtes Erscheinen kommt
nicht vor: Das System der Etikette ist in die Textur der Denotate eingewoben: Es
funktioniert zumindest sprachähnlich. Das Konzept der Exemplifikation erweist
sich damit als denotativ überdeterminiert: Die Möglichkeiten des Zeigens - und

38 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 47, S. 36 und 37 f.


39 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 63, 64 passim.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 275

mithin auch die Möglichkeiten der Kunst - ergehen aus einem System von
Kennzeichen, das ihnen vorausliegt, ohne das dessen Konstitutionsbedingungen
klar würden. Bei aller Dualität von Denotation und Exemplifikation priorisiert
Goodman doch wieder die begriffliche, wenn auch nicht unbedingt prädikative
Zugangsweise: Der Sprache kommt das Privileg primärer Auszeichnung zu. Er
schreibt so wider Willen den traditionellen Primat des Urteilens und damit die
Logik der Identifikation fort - auch wenn er sie um die Dimension des Zeigens er-
gänzt. Die Bevorzugung folgt dem analytischen Blick einer Betonung von Be-
schreibungsweisen, die in Diskursen fundiert sind. Sie bezeugen einen Konstruk-
tionalismus, der von der Vorgegebenheit symbolischer Ordnungen ausgeht, die
ein System von Zeichen organisieren, in denen Anderes oder Überraschendes,
das, was sich nur zeigen kann, integriert und eingefügt werden muß. Darin offen-
bart sich ebenso seine Schwäche: Er thematisiert nicht seine Genese. Goodman
beginnt mit der Pluralität bereits bestehender Symbolsysteme, aber er fängt nicht
mit der Bedingung der Unbestimmtheit an, von der her ein Sichzeigen ereignet,
auf das eigens erst zu antworten wäre. Die Vorgabe komplexer Systeme, mittels
derer eingeteilt, Maß genommen, etikettiert und zugerichtet wird, verstellt den
Blick für das Mystetium, daß ein Zeigen geschieht, noch bevor sich etwas ab et-
was gezeigt hat odet zeigen läßt. Nicht daß die Welt ist, erscheint für Goodman
das Rätsel, die Blöße ihres Sichzeigens, die die Verwunderung darüber bereithält,
daß überhaupt etwas geschieht, sondern als was es geschieht und wie es sich fest-
stellen ließe oder mit welchen Raster es zu deuten oder zu beschrieben wäre.
(iii) Heißt das nicht, nicht weit genug zu gehen? Exemplarisch läßt sich die
Problematik anhand avantgardistischer Kunstproduktionen demonstrieren. Zwar
macht Goodman deutlich, daß diese nicht länger nach dem mimetischen Modell
der Abbildlichkeit funktionieren; vielmehr gäben Bilder wie die von Barnett
Newman, Mark Rothko oder Ad Reinhardt nichts Bestimmtes zu »sehen«, nichts,
an dem das Auge sich festmachen könnte oder eine Orientierung fände, sondern
bestenfalls etwas, das sich auf diese oder jene Weise zeige: Reines Blau oder
Schwärze, welche jeden betrachtenden Anhalt vereitelt. So scheint sich der Blick
in der Flächigkeit der Monochromie zu verlieren: Die Wahrnehmung wird zur
Streuung, die unversehens auf sich selbst zurückgeworfen wird. Dann präsentieren
die Bilder nichts als ihre bloße Materialität: dennoch bleibt unklar, was sie im
einzelnen exemplifizieren, um welche Merkmale es sich jeweils handelt, die her-
vorgehoben oder ausgestellt werden, unklar auch, ob es überhaupt um ihre

40 Im Tractatus, a.a.O. heißt es entsprechend unter Satz 6.44 (S. 174): »Nicht wie die Welt ist, ist
das Mystische, sondern daßsie ist.« Genau darin unterscheiden sich Wittgenstein und Goodman:
dieser streicht dessen vermeintlichen »Mystizismus« durch, um das »Sagbare« im Sinne des »Be-
deutbaren« auszuzeichnen. Dazu gehören dann gleichermaßen die symbolischen Möglichkeiten
des Denotierens und Exemplifizierens. Wittgenstein hingegen blieb zeitlebens der Bedeutung des
metaphysischen Staunens gewahr, das im Erscheinen selbst liegt, und daß uns allererst Anlaß gibt,
zu sprechen oder etwas zu zeigen; vgl. insb. ders., Vortrag über Ethik, a.a.O. S. 19.
41 Vgl. Nelson Goodman, Weisen det Welterzeugung, a.a.O., S. 76 ff.
276 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

immanenten Eigenschaften geht, auf die sie zurückgreifen und nicht vielmehr um
die Blöße des Materials selbst, die allererst ein Zeigen ermöglicht und damit eine
Sicht in der Sicht spiegelt: Transformation des Sehens zur Aisthesis, die nicht »et-
was« sieht, sondern »zu sehen« verlangt. Die Selbstausstellung materieller Ekstasis
gehört indessen zu den verbreiteten Strategien avantgardistischer Kunstprodukti-
on seit Mitte der 50er Jahren, nicht nur des Minimalismus oder Abstrakten Ex-
pressionismus, sondern gleichermaßen jener Konzeptualisierungen, die die Dinge
selber ins Bild heften, wie die Assemblagen Kurt Schwitters, die Materialbilder
Robert Rauschenbergs oder die Environments Edward Kienholz'. Ihre Sprache
wäre das Hervortretenlassen des Materials selbst: Öl, Papier, leere Farbdosen oder
alte Steppdecken, Stoff, Draht, desgleichen verbrauchte technische Geräte, kom-
plette Interieurs oder die Ausstellung selbst als Ausstellung; " dennoch genügt der
Verweis auf Exemplifikation nicht: Etwas bleibt in ihrer Rückführung auf die
verwendeten Materialen und ihre Eigenschaften aus, seien diese Fundstücke,
Müll oder in Chrom gefaßte Konsumgüter wie bei Jeff Koons: das Sichzeigen,
das jenem Raum entspringt, in dem die ästhetischen Manifestationen ihre Stel-
lung und ihren Ort besitzen und deren Setzung den Rahmen der Kunst durch-
kreuzt, aus dem sie ihre Provokationen beziehen. Setzung innerhalb eines Rah-
mens und dessen Verschiebung durch das Ereignis der Setzung gehören zusam-
men: Deshalb reicht der Hinweis auf benutzte Gegenstände oder Artefakte kei-
nesfalls hin: Er bliebe auf der Ebene reiner Beschreibung, der sich die Metaphori-
zität der Deutung sekundär anhängte. Dagegen käme es darauf an, dem Bedürf-
nis der Produktionen nachzuspüren: dem Begehren, das sie auf den Weg brachte,
die Performativität des Avantgardismus: Krise des Bildes und seiner Abbildlichkeit,
Destruktion seiner Figuralität, die es über Jahrhunderte determinierte, Umwen-
dung des Blicks und Gewahrung jener Zufälligkeit, die im bloß Vorgefundenem
oder Aufgelesenem begegnet, Sprung und Verwandlung des Bezugs, der zum
eignen, dem Begegnenlassen einer Alterität selbst übergeht. Solche Trans-
Formation oder Ausrahmung wäre indessen nichts, was sich anhand von Merk-
malen exemplifizieren ließe: Sie geschähen vielmehr als Wirkungen, die sich ein-
stellten, indem Kunst in die überlieferten Ordnungen des Ästhetischen interve-
nierte, sie aufhöbe und ihre Selbstverständnisse ebenso verwirrte wie erweiterte.

Entgrenzung des Exemplifikatorischen

So sperrt sich, was sich in den Schöpfungen präsentiert, nicht nur schlüssiger
Auslegung, sondern überhaupt schlüssiger Exemplifikation im Sinne dessen, daß
an ihnen »etwas« gezeigt würde, das sich identifizieren ließe. Sogar beraubt ihre
Position sie des Status als »Kunstwerke«, sofern sie mit den Mitteln von Kunst die

42 Z.B. Robert Rauschenberg: Paint Gans (1954), Bed (1955), Co-Existence (1961); Edward Kien-
holz: The Cage (1975), The State Hospital (1966), The Art Show (1963-77).
43 Vgl. z.B. Jeff Koons: Luxury and Degradation (1986).
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 277

herrschenden ästhetischen Codes durchkreuzen und dadurch ihre Zuordnung ir-


ritieren. Durchweg betreibt die Ästhetik der Avantgarde deren Selbstreflexion
unter Anwendung derjenigen Techniken, die sie reflektiert; daher die sich ein-
stellende Unverständlichkeit, die z.T. wütende Ranküne, die sie im ganzen zu
treffen und aus dem Konzert der Kunst auszuschließen trachtete. Sie muß an den
Bildern, Entwürfen und Konzepten als Provokationen »mitgelesen« werden. Der
Bruch, der sich dadurch vollzieht, ist Brechung in sich: Die Verwirrung, die die
Arbeiten stiften, sind dem Paradox der Anstrengung geschuldet, im Medium von
Kunst über Kunst hinauszugelangen; das wäre, wie Adorno gesagt hat, »ihr Bewe-
gungsgesetz«: Bestimmung »im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist«. Was sie
sind, erscheint so bestenfalls indirekt entzifferbar: Zwar stellen sie sich selbst aus,
mögen diese oder jene Qualitäten exemplifizieren, sogar den Zustand des Wider-
spruchs, in dem sie sich befinden, doch ist weniger dieser relevant, als was er se-
kundär auszulösen vermag. Vorzugsweise entstehen daraus die kritischen oder
entgrenzenden Effekte von Avantgarde-Kunst, nicht wiederum aus dem, was sie
vorzuführen oder preiszugeben vorgeben. Keineswegs reicht darum der Hinweis
auf exemplifikatorische Selbstreferentialität aus; entscheidend ist nicht allein der
Fokus der Merkmale, sondern ebenso das, was diese evozieren: Im Falle der mo-
nochromen Malerei die Vexierung des Blicks ins Aisthetische, der die Momente
der contemplatio wieder zu restituieren trachtet, im Falle der späteren Avantgarde-
Kunst die Auflösung des Werkes durch die Hinwendung zum Performativen, zur
Aktion, zum Event. Solche Übergänge müssen praktisch gestiftet werden: Sie wä-
ren allererst Effekt dessen, was sich im Diskurs der Moderne ereignen kann: Ereig-
nis eines Sichzeigens, das der Auseinandersetzung der Kunst mit sich entspringt.
Solches Sichzeigen geht dem Zeigen im Sinne des Etwas-zeigen und Zeigen-als
voraus: Anstatt dessen erwiese sich die Reduktion aufs Exemplifikatorische als tri-
vial; sie liefe auf die oft wiederholte Tautologie hinaus, ein graues Bild zeige
Graue, metaphorisch vielleicht »Trauer«, auf einer weiteren Ebene womöglich
noch die Melancholie einer Leere der Bildlichkeit.4' Allenfalls wäre sie derart auf

44 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 12.


45 In diesem Sinne hat Jean-Francois Lyotard gesagt, heute stelle sich die Frage nach der Kunst
nicht mehr im Kantischen Sinne nach ihrer Schönheit, sondern danach, »was« Kunst sei bzw.
»was« ein Kunstwerk als solches auszeichne: »Die bildnerischen Avantgarden reagierten auf die
Auflösung des Malermetiers, indem sie sich auf eine Suche begaben, die um die Frage kreiste:
>Was ist Malerei«? Die zur Ausübung des Metiers gehörenden Voraussetzungen wurden eine nach
der anderen auf die Probe und in Frage gestellt: Lokalfarbe, Linearperspektive, Wiedergabequali-
tät der Farbtöne, Rahmung, Formate, Grundierung, Medium, Werkzeug, Ausstellungsort, und
viele anderen Voraussetzungen wurden von den verschiedenen Avantgarden anschaulich hinter-
fragt.« Vgl. ders. et al., Immaterialitäten, a.a.O., S. 97.
46 Das Beispiel Goodmans wird immer wieder erläuternd zitiert: vgl. z.B. Franz Koppe, Kunst als
entäußerte Weise, die Welt zu sehen, a.a.O., S. 83. Im übrigen trifft sich hier Goodmans Ästhe-
tik mit det Arthur Dantos, der als Kriterium »Aboutness« nennt: Bezugnahme, die stets »etwas«
zum Thema macht; vgl. ders., Verklärung des Gewöhnlichen, a.a.O., S. 20 ff. Problematisch er-
weist sich solches Kriterium nicht nur in bezug auf eine strikte Event-Kunst, die nicht »über« et-
was ist, sondern »sich« vollzieht; vielmeht entlarvt es sich angesichts jener Leiste, in die sie den
gesamten Prozeß der Avantgarde spannt: Kunst »über« die Unentscheidbarkeit zwischen Ding
278 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

die Abwesenheit des Mimetischen zu beziehen; doch büßte sie dadurch noch das
Mysterium der ästhetischen Notwendigkeit solcher Absenz ein. Dieses weist zu-
rück auf die Geschichte der Avantgarde und erhellt sich erst aus deren Kontext
und ihrem Bewirken.
Goodman verliert auf diese Weise die Produktivität der Wittgensteinschen
Unterscheidung zwischen einem transitiv zu verstehenden Zeigen und einem ihm
noch vorausliegenden nichttransitiven Sichzeigen und bleibt damit unterhalb des-
sen Radikalität.4 Es gibt für ihn nichts Geheimnisvolles an Bildern, nichts Aura-
tisches: Sie zerfallen in die Reihe ihrer Eigenschaften, wie Proben oder Muster.
Alles scheint hier bereits vorzuliegen: Goodman streicht das Mystische des Zeigens,
dessen sich Wittgenstein gewahr war, durch: Die Transzendenz im Gezeigten, je-
ner Umstand, daß dieses niemals im Gesagten aufgehen kann, das Rätsel absolu-
ter Differenz. Nicht die Unaussprechlichkeit des Zeigens ist dabei der entschei-
dende Punkt, sondern seine genuine Unbestimmtheit - jener Bezug auf das
Nichts, woraus Zeigen bzw. Exemplifizieren sich allererst ereignen kann. Good-
man setzt dem die Bestimmtheit det Etikette, die die exemplifizierten Merkmale
denotieren, entgegen: Demgegenüber »besitzt« eine Sache, sei sie ein Ding oder
ein Zeichen, nicht einfach seine Eigenschaften; vielmehr zeigen sich diese erst aus
Anlaß seines Erscheinens. Ihr Zeigen hat solches im Rücken. Und offenbar »gibt
es« dieses allein vor dem Hintergrund eines Sichzeigens, das ihm vorhergeht:
Demnach vermag sich »etwas als etwas« nut zu zeigen aufgrund dessen, daß sich
überhaupt ein Zeigen ereignet — im Falle der Avantgarde-Kunst der Setzung des
Bruchs mit der Tradition des Ästhetischen, der allererst eröffnet, was im einzel-
nen exemplifizierbar wäre. Solches Sichzeigen bedeutete dann die Art und Weise
des In-Erscheinung-tretens selbst: Gegenwärtigkeit einer Offenbarung, bevor
»etwas« sich offenbart hat und es »als« etwas interpretiert werden kann. Das Sich-
zeigen wäre dann kein Fall mehr von Bezugnahme; ihm kommt nicht der Modus
eines »als« zu: Es geschieht ohne Intentionalität und Objekt, freilich so, daß es
die Möglichkeit von Bezugnahme erst stiftet. Entsprechend läßt es sich auch
nicht als ein Zeichen ansprechen, auch wenn es erst im Rahmen von Zeichen
statthat. »Jenseits« des Symbolischen sperrt es sich der Wiederholung, um in der
reinen Singularität seines Ereignisses aufzugehen.
Zwar reicht Goodmans Begriff der Exemplifikation bis an seine Grenze heran,
doch so, daß ihm überall bereits der Status von Bestimmtheit und Symbolisie-
rung zugeschrieben wird, mithin der Engführung des Zeigen-als unterstellt bleibt.
Dann entspricht er mit det Unterscheidung von »Denotation« und »Exemplifi-
kation« der Duplizität des Symbolischen, freilich auf eine Weise, die sie sogleich

und Kunstobjekt, im näheren die Uneinlösbarkeit des Ästhetischen im Sinnlichen, die Danto
schließlich am Radikalsten in der Kunst Andy Warhols erfüllt sieht; vgl. ders., Kunst nach dem
Ende der Kunst, München 1996, S. 16 ff.
47 »Zeigen« scheint grammatisch stets ein Objekt bei sich zu tragen; dagegen erscheint es in Grenz-
fällen notwendig - entgegen den Regeln der Grammatik - auch eine intransitive Verwendungs-
weise von »Zeigen« zuzulassen: Ein Zeigen ohne Objekt, ein Zeigen auch, das kein Zeichen ist
und sich auf nichts bezieht, sondern »geschieht«.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 279

wieder zurücknimmt. Die Grenze der Exemplifikation, an der ihr Anderes auf-
scheint, markiert aber die Blöße des Materials. Goodman streicht sie aus, indem er
ihm keine eigene Präsenz zubilligt. Vielmehr reduziert er sie auf ihre gleichgültige
Gegenwart: Nichtigkeit, die ihrer Ver-Nichtung durch die Auszeichnung der
tio im Semiotischen korrespondiert, deren Korrelat die Rückbindung der Exem-
plifikation an Denotation darstellt. Goodmans symbolischer Konstruktionalismus
erlaubt keine Hinsichtnahme auf jenes Präsentwerden der Präsenz selbst, welches
noch Kant in seiner Ästhetik aus dem Moment des lediglich paradoxal zu erfas-
senden »Erhabenen« als Gewahrung der Einmaligkeit von Gegenwärtigkeit jenseits
aller Form zu denken versucht hat: Spur oder Andeutung einer Erscheinung, die
zwar stets nur unter Rekurs auf den Prozeß des Symbolischen »als« etwas erschei-
nen kann, dem freilich ein Erscheinen der Erscheinung überhaupt erst zukommen
muß, um zu erscheinen. »Nach« diesem und immer schon hinter dem zurück-
bleibend, wohin Kant noch vorzudenken wagte, bleibt die Allgemeine Symbol-
theorie der Struktur der »Verspätung« untergeordnet, die funktionierende Dis-
kurse bereits voraussetzt. Ein Zeigen stellt sich lediglich in deren Horizont ein:
Dann gibt es kein Unaussprechliches, kein Sichzeigen ohne Sagen, keines auch,
das der Sagbarkeit widerspricht: Wittgensteins vermeintliche Mystik wird viel-
mehr schon in deren Vorfeld getilgt.
Der Tilgung korrespondiert aber insbesondere die Ausstreichung der Erfah-
rung des Bruchs, von Plötzlichkeit oder Alterität, welche sich unversehens ereig-
nen und in ein anderes umwenden - jenes Ereignen, aus dem erst die Möglichkeit
von Symbolisation ergeht. Goodman vermag das Problem von Diskontinuität
und Zäsur, das sich von hier her stellt und mit der Frage der Kreativität und In-
novation aufs Innigste verwoben ist, nur unzureichend zu treffen. Die Möglich-
keit eines »Noch-nie-Gezeigten«, des schlechthin Anderen oder Neuen beant-
wortet sich nicht ausschließlich vom »Erschaffen als Umschaffen« her, der Er-
findung und Einführung neuer Etikette durch die Herstellung überraschender,
noch ungeprobter Verbindungen zwischen überlieferten Mustern, weil es diese
aufs Bekannte, Nichtfremde oder Vertraute zurückführte und erneut kolonisierte.
Der naheliegende Einwand, deren Auftauchen könnte als solches nicht einmal
bemerkt werden, ist eben nicht stichhaltig: Ihr Begriff hätte keinen Sinn, gäbe es
nicht umgekehrt das Ereignis eines Sichzeigens, das in seiner Art einmalig ge-
schieht, das erstaunen läßt oder herausfordert. Ihre Möglichkeit aufgrund der Lo-
gik der Transformation in Abrede zu stellen, hieße, ihre Irreduzibilität zu leug-
nen. Vergleichbar dem Umschlag von Vexierbildern wären sie hingegen allein da
angemessen zu beschreiben, wo die Beschreibungen fehlten und die Bedeutungen
durcheinander gerieten.

48 Vgl. Immanuel Kant, Kritik det Urteilskraft, a.a.O., Zweites Buch: Analytik des Erhabenen, A
73 ff, B 74 ff, sowie Jean-Francois Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen,
München 1994, S. 63 ff, der freilich den Aspekt, der bei Kant nut inditekt aufscheint, wiederum
auf Rationalitätskritik engführt; vgl. wiederum Gernot Böhme, Kants Kritik der Urteibkraft in
neuet Sicht, a.a.O., S. 64 ff.
49 Vgl. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, a.a.O., S. 19.
280 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Das gilt besonders für die Erfahrung von Andersheit. Nicht wird sie »gemacht«:
Sie begegnet als Widerfahrnis, wobei das, was begegnet, nicht »als« Begegnendes
präjudiziert werden kann: Seine Subsumtion unter das Schema von Denotation
und Exemplifikation scheitert, weil es deren Singularität und Einzigartigkeit ver-
fehlte, auch wenn andere als diese nicht zur Verfügung stehen. Erschlossen allein
im Vorapophantischen wären sie allenfalls der Indirektheit des Ausdrucks zugäng-
lich: als katachretisches Paradox, das sie in der Formulierung des Widerstreits zu-
gleich verneinte und durchstriche. Die angesprochenen Erfahrungen können
deshalb auch nicht ausschließlich vom Status der Nachträglichkeit her verstanden
werden: Sie setzen ins Unbekannte, Weglose und damit Begriffslose aus. Sich-
aussetzen aber heißt, sich Ent-setzen (transponare) zu lassen: Es nennt einen
Übergang, eine Passage, die ins andere »über-setzt« oder hinüberstellt, das anders
ist als sich je erwarten oder in Rechnung stellen läßt. Entsprechend hat Derrida
daran erinnert, daß »Erfahrung« nur ein anderes Wort für »Reise« ist: " Ein
Wegführen und Hinübergelangen im Sinne der »(Über)Fahrt«, die den Mysterien
ebenso verwandt ist, wie der Ekstasis, dem »Außer-sich«. Andersheit in diesem
Sinne ergeht nicht aus dem Symbolischen; sie kann nicht exemplifiziert oder de-
notiert werden, auch nicht mittels Exemplifikationen denotiert oder mittels De-
notationen exemplifiziert: Sie geschieht. Deswegen konnte am Beispiel der
Avantgarde-Kunst deren Leistungen als Effekte ausgewiesen werden: Auflösung
traditioneller Bindungen und Prinzipien, Ent-Stellung angestammter Ordnun-
gen, Destruktion ihrer Überlieferung und Unterbrechung der Zeit. Ihre Produk-
tionen sind Ereignisse der Fassungslosigkeit par excellence, die jene Erschütterung
bedeutet, die die bestehenden ästhetischen Codes buchstäblich aus den Fugen ge-
raten lassen: In rigoroser Weise different von allem, was als »bekannt« gilt und im
Rahmen der verwendeten Zeichen »als etwas« aussagbar oder zeigbar wäre, su-
chen sie eine Transformation des Aisthetischen zu stiften, die die Gewahrung eines
unmittelbaren Sichzeigens wieder gestatten würde. Goodmans Konzeption der

50 Vgl. ausfuhrlicher meine Ausführungen in: Vom Anderen reden. Das Paradox der Alterität,
a.a.O.
51 Die »Ent-Stellung« oder Transposition gehört zu den Grundtopoi Jacques Lacans; vgl. ders., Das
Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Fteud a.a.O., S. 36.
52 Jacques Derrida, Was ist Dichtung, zuerst erschienen in: Poesia 1. Jg., Nr. 11, Mailand 1988;
Nachdruck Berlin o.D. und o. Seitenangaben; wiederabgedruckt in: ders., Auslassungspunkte,
a.a.O., S. 299-304; hier: S. 300.
53 Die Formästhetik ist vor allem eine Ästhetik des Scheins; eine Ästhetik der Materialität wäre da-
gegen eine der Blöße, des Sichzeigens, der Ekstatik des Erscheinens, des Ereignisses. Auf die entspre-
chende künstlerische Arbeit bezogen gehört dazu die Selbstentwicklung der Materialität: Nicht
der Künstler schafft aus dem Material das Werk, indem er ihm eine symbolische Form erteilt,
sondern das Material steht aus sich hetaus. Die Differenz, die so wesentlich wird, besteht zwi-
schen Sichzeigen als Blöße, die sich keiner Form fügt, mithin auch keiner Symbolisierung, und
dem Symbolischen selbst, dem wiederum die Differenz des »als« innewohnt. Entsprechend ent-
schlägt sich solche Kunst des Werkcharakters, weil nicht mehr sinnvoll von einem Poietischen,
einem Gemachten oder Entworfenen gesprochen werden kann. Das »Werk« würde »werklos«. Ih-
re radikalste Verwirklichung besteht vielleicht im «Event«, dem Ereignis des Zu-Falls bei John
Cage: Öffnung, im Sinne des Nichts, für ein Ereignen selbst.
DUPLIZITÄT UND PARADOXIEN DER ZEICHEN 281

Denotation und Exemplifikation, das letztere in ersterer gründet, wäre von dort
her umzukehren: Vorrang des Sichzeigens, das gleichermaßen Sagen wie Zeigen im
Modus eines elementaren Antwortens allererst »gibt«.
Zwischen den Ordnungen des Symbolischen und jenem Konstruktionalismus,
den Goodman mit ihnen verbindet, klafft so eine Lücke, eine Durchlässigkeit, die
auf anderes weist: Durch-Riß auf ein »Jenseits des Symbolischen«, das das Ereig-
nis der Alterität birgt. Die These wäre dann: Etwas, das nicht Zeichen ist, ein
darstellbares oder Zuvorkommendes, konstituiert das Zeichen, die Blöße seiner Prä-
senz, die mit dem zusammenfällt, was als Ereignis der Setzung, dem »daß« (quod)
vor dem »was« (quid) exponiert worden ist und von dem her ihre Architekturen
erst ergehen. Das bedeutet auch: Das »was« (quid) des Gesagten, der Sinn, die
Lektüren wird durch das »daß« (quod) hervorgebracht, indem dieses ihm einen
Platz »ein-räumt«, seine Möglichkeiten »gibt«. »Gegeben« durch die Disziplinen
der Negativität, enthüllt es dann zugleich ein »Geben«, das die Gabe des Anderen
bezeugt. Man könnte sie, wie Michel Serres, mit dem »Gegebenen« überhaupt
identifizieren:4 »Widerfahrnis«, die mit den Zeichen begegnet, noch bevor es
Sinn gibt, Begegnung, die angeht oder Bestürzung auslöst und die Ordnungen
von Denotation und Exemplifikation erst ermöglicht, Singularität eines Fremden,
das vom Austausch und den Wechselseitigkeiten der Kommunikation zu trennen
wäre, Einzigartigkeit eines Geschehnis, das bedrängt oder in Bann zieht und nach
einer Antwort ersucht. Ihr Thema erfordert eine weitere Umwendung: Übergang
von den Prinzipien der Intentionalität, die die Symboltheorie Goodmans überall
regieren, zur Struktur der Responsivität, die nicht den Bezug, sondern das »Kom-
men« des Anderen ab-solut setzt. Sie rückt das Sichzeigen in die Logik von An-
dersheit als »Austrag« eines Erscheinens, bevor »etwas« in Erscheinung getreten
und »als« etwas identifiziert oder bezeichnet werden kann: Stille eines Gesche-
hens, das jedem »Etwas geschieht« vorausgeht und für die Erfahrung dessen, was
geschieht, allererst vorbereitet. ' Er wäre zugleich: Umwendung des Denkens sel-
ber als seine »Kehre« zu Anderem.

54 Michel Serres bringt die »Gabe« des Gegebenen ebenso mit det Gnade in Verbindung wie mit
der Grazie: »Gratia, das heißt so viel wie das Gegebene, es ist dasselbe Wort und dieselbe Sache;
es heißt Anmut, Leibreiz. (...) Die Gnade, die Grazie, die den Körper erfüllt, bevor er sich mit
dem Wort füllt, gleicht der Schönheit - als dem Unentgeltlichen. Die Gabe ist frei von jeder
Verpflichtung (...). Man könnte sie das Gegebene nennen.« Vgl. M. Serres, Die fünf Sinne,
a.a.O., S. 287 u. 275 passim.
55 Mit dem Begriff des »Austrags« sei auf Heidegger, Die onto-theo-logische Verfassung der Meta-
physik, a.a.O., bes. S. 57 ff. verwiesen.
56 Hier ergibt sich erneut die Verbindung, die Jean-Francois Lyotard zwischen dem Erhabenen und
dem Ereignis gezogen hat, die hier wiederum ein Begegnendes mit der Notwendigkeit einer Ant-
wortstruktur zusammenschließt; vgl. ders., Das Erhabene und die Avantgarde, a.a.O., S. 151—
164, sowie oben Tl. I., 2. Kap.
3. HAUPTSTÜCK:
STRUKTUR UND EREIGNIS

1. KAPITEL:
AUTARKIE DES ZEICHENS
(SAUSSURE I)

Alles deutet darauf hin, daß es wenig


hung gibt zwischen einem Gegenstand und
dem, was ihn darstellt.
Rene Magritte

Vom Zeichen zum Text

Eine Stadt zeigt sich nicht nur als ein schwer abgrenzbares Konglomerat aus
Menschen, Häusern und Straßen; sie kann auch als eine Textur verstanden wer-
den, die sich zwischen Gegensatzpaaren fortschreibt, deren Struktur sich »lesen«
läßt. In diesem Sinne hatte Roland Barthes in einem Essay über Semiologie und
Stadtplanung von 1967 das Programm einer Lesbarkeit des Städtischen prokla-
miert: »Die Stadt ist ein Diskurs, und dieser Diskurs ist (...) eine Sprache: Die
Stadt spricht zu ihren Bewohnern, wir sprechen unsere Stadt, die Stadt, in der
wir uns befinden, einfach indem wir sie bewohnen, durchlaufen und ansehen.
(...) Die Stadt ist eine Schrift; jemand, der sich in der Stadt bewegt, das heißt der
Benutzer der Stadt (was wir alle sind) ist eine Art Leser, der je nach seinen Ver-
pflichtungen und seinen Fortbewegungen Fragmente der Äußerung entnimmt
und sie insgeheim aktualisiert.« Die Verwandlungen des Urbanen in eine Viel-
zahl von Lektüren bedeutet nicht, einzelne Zeichen zu entziffern, sondern vor al-
lem eine Pluralität von Ordnungen. Aus der Stadt, dem städtischen Leben wird
ein Gefüge von Oppositionen, das erlaubt, die diversen sozialen Schichtungen
oder Mobilitäten zu klassifizieren und gegeneinander abzugrenzen. Die Einhe-
gung des Stadtkerns, seine Verkehrsberuhigung oder Sanierungsschneisen verra-
ten eine Inszenierung von Urbanität, die sich am »Alten«, Pittoresken orientiert,
um dagegen die Trennung von Funktionalitäten, wie sie für die Nachkriegszeit
typisch geworden ist, an die Randbezirke oder Peripherien zu verbannen. Zwi-
schen Vororten verlaufen zumeist scharfe Distinktionslinien, die arm und reich
voneinander scheiden und ungelöste sozialen Konflikte dokumentieren. Ein

1 Roland Barthes, Semiologie und Stadtplanung, in: ders. Das semiologische Abenteuer, a.a.O.,
S. 199-209, hier S. 202 und 206.
284 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

postmoderner Solitär inmitten eines historischen Straßenzugs gibt sich als bewußt
störendes Element, unüberquerbare Straßenkreuzungen unterstreichen die spezi-
fische Dynamik des Verkehrs, die Topographien verzweigter Wege aus Gassen,
Plätzen, Brücken und Parkanlagen geben Orientierungen und Zeittakte vor, die
Lage zentraler Gebäude im Stadtbild wie Rathaus, Kathedrale oder Bahnhof im
Verhältnis zu den Kinos und Clubs der Vergnügungsstätten oder den Friedhöfen
in den entlegeneren Gebieten verraten mehr noch als die üblichen Gliederungen
in Kerne, Vorstädte oder peripheren Siedlungen, auf die sich die Stadtplanungen
beziehen, etwas über Ästhetik und Ethik ihrer Bewohner, die charakteristischen
Veränderungen von Lebensstilen und die Rhetorik ihrer Rechtfertigung, wie über
die Formate kulturellen Gedächtnisses, die die schmerzliche Dramatik des Ver-
gessens und Erinnerns verkörpern. Die Signifikanzen des Urbanen lassen sich da-
her schwerlich nur auf äußere Marken reduzieren, mit denen die Stadt gewiß
übersäht ist: die sichtbaren architektonischen Symbole, die Denkmäler und
Wahrzeichen, die sie erkennbar machen, die unterschiedlichen Arten von Stra-
ßen, Plätzen und öffentlichen Einrichtungen, das dichte Netz von Schildern,
Briefkästen, Telefonzellen, Bahn- und Bushaltestellen, das Dickicht der Plakate
und Leuchtreklame, dessen schrille Emblematik schon in den 20er Jahren für die
Dämonie und Faszination der Metropole sorgte" und dessen komplexe Codie-
rung wie Decodierung Umberto Eco meisterlich am Beispiel des Reisenden skiz-
ziert hat, der in einer fremden Stadt genötigt ist, einen Arzt aufzusuchen. Viel-
mehr gleicht die Stadt einem undurchdringlichen Gewebe aus nicht abschließba-
ren Texturen, deren defizile Gespinste von Differenzen durchzogen ist, deren ru-
dimentäre Muster sich immer wieder neu und anders erschließen lassen, ohne je
eine Synopse zu erreichen. »Der städtische Raum gibt vor, transparent zu sein,«
heißt es bei Henri Lefebvre. »Alles hat Symbolwert (...); alles steht zur reinen
Form in Beziehung, ist Inhalt dieser Form (...). Aber man (...) stellt fest, daß
diese Transparenz täuscht und trügt. Die Stadt, das Urbane, ist auch Mysterium,
ist okkult.«
Paradigmatisch enthüllt das Exempel die divergierenden Zugänge von Semiotik
und Semiologie: Es läßt insbesondere die Grenze des Funktionalismus in der Zei-
chentheorie hervortreten. Geht dieser von diskreten Einheiten aus, um deren
Referenz zu entdecken und Zug um Zug den kompletten Kreis abzustecken, mit
denen sie in Verbindung stehen, so zeigt sich andererseits das Universum des

2 Die moderne Großstadt sei die Realität des alten Menschheitstraums vom Labyrinth, notierte
Walter Benjamin, Das Passagenwerk, in: Gesammelte Schriften V. 1,2; 1. Bd., Frankfurt/M.
1982, S. 541; auch: 559. Erinnert sei außerdem an Fritz Längs Metropolis sowie an die großen
Gemälde von Otto Dix wie Großstadt (1928) oder George Grosz, Leichenbegräbnis (1918) und
Max Beckmann, Das Martyrium (1919).
3 Umberto Eco, Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, a.a.O., S. 9 ff; wie-
derabgedruckt in: D. Mersch (Hsg.), Zeichen über Zeichen, a.a.O., S. 259 ff.
4 Indessen hat Italo Calvino eingewandt, daß, von der Stadt als einem stabilen Text sprechen heißt,
sie mit der Rede verwechseln, die sie beschreibt; vgl. ders., Die unsichtbaren Städte, München
9. Aufl. 1997, S. 69.
5 Henry Lefebvre, Die Revolution der Städte, Frankfurt/M. 1976, S. 130.
STRUKTUR UND EREIGNIS 285

Symbolischen als ein System von Systemen, in dem zwar die einzelnen Zeichen
nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können, das aber eine Totalität
bildet, deren Dichte mit der Subtilitat des Blicks wächst. Die Analytik untersteht
dem Pathos einer restlosen und vollständigen Erschließung des Ganzen; dagegen
erscheint der Text nicht als eine lineare Folge von Elementen, sondern als eine
Pluralität differentieller Schnitte, die höchst unterschiedliche und multiple Lektü-
ren gestatten, je nachdem worauf sich das Augenmerk richtet. Zwar läßt sich, um
das Beispiel fortzusetzen, ein Viertel in seine Straßenzüge zerlegen, diese in Häu-
serzeilen aufteilen, die wiederum eine gegliederte Anzahl von Gebäuden preisge-
ben, von denen jedes mit der Pracht oder Einfachheit seiner Fassade eine Ge-
schichte der Baustile zu erzählen vermag; doch gibt demgegenüber der Text nicht
eine Lesart vor: Zerschnitten von diskontinuierlichen Linien offenbaren sich die
vielfältigen Gegensätze, von denen das Viertel regiert wird und deren Syntax sich
gleichsam in Stein materialisiert hat: die Zonen des Wohnens und des Einkaufs,
das soziale Gefälle zwischen den Straßen, die Mikrostrukturen der Kommunika-
tion, deren Spuren sich unterirdisch fortpflanzen, die Subkulturen, die sich quer
zu allen Straßenzügen, die die Rasterung vorzugeben scheinen, durchgesetzt ha-
ben usw. D.h. die Stadt bietet kein kohärentes oder homogenes Bild; sie zerfällt
in eine Vielzahl von Strukturen, Geschehnissen und Abenteuern, die ihre beson-
deren Poesien entfalten und unterhalb derer sich weitere Subtexte auffinden las-
sen, die ihrer Oberflächengrammatik zuwiderlaufen und von denen sich nur spre-
chen läßt, wenn man ihren geheimen Wegen nachspürt: Texturen des Alltags
und der Fremde, des erzwungenen oder gewählten Lebens, der Macht, der rivali-
sierenden Gruppen und der Konkurrenzen, des Konsums, der Einsamkeit und
der Gewalt - Orte gleichermaßen der Öffentlichkeit und der Verborgenheit, von
denen Italo Calvino gesagt hat, daß man in ihnen lebt und sie wieder verläßt, oh-
ne je erfahren zu haben, wie sie wirklich sind.'
Hält sich der semiotische Funktionalismus so vorzugsweise an die analytische
Zerlegung der Zeichen und das, wofür sie jeweils stehen, worauf sie referieren
oder was sie zu bezeichnen oder zu bedeuten vorgeben, so hat im Unterschied
dazu die strukturale Semiologie Ferdinand de Saussures von vornherein anders an-
gesetzt. Obwohl im Rahmen von Linguistik inauguriert, kündigt sie eine »Wis-
senschaft« an, die dem Studium der Zeichen und ihrer Strukturalität im allge-

6 Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, a.a.O., S. 18.


7 Nicht alle analytischen oder pragmatischen Semiotiken setzten so an: Eine gewisse Ausnahme
bildet die Allgemeine Symboltheorie Nelson Goodmans, die zwar gleichermaßen das Zeichen
und seine Bezugnahme privilegiert, die es gleichwohl stets im Konzert mit Strukturen und Nota-
tionen untersucht, in denen sie vorkommen. Zudem wird mit dem Begriff der Analogizität ein
Bereich ausgezeichnet, der unter dem Begriff der »Dichte« steht, der eine indefinite Zerlegbarkeit
in Zeichenreihen evoziert: Jedes Detail kann Anlaß zu einer Interpretation geben: Das verwen-
dete Material ebenso wie der Ort der Plazierung. Auch wenn so Goodman zu einer Vielzahl
möglicher symbolischer Welten gelangt, bleibt der Begriff der Textur jedoch abhängig von den
dechiffrierbaren Gegensatzpaaren, die ihn beherrschen.
286 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

meinen gilt. Im Cours de linguistique generale, einer Kompilation aus Vorle-


sungsmitschriften und verstreuten Notizen des Nachlasses, deren Zusammen-
stellung posthum von Charles Bally und Albert Sechehaye besorgt wurde, stellt
Saussure ihre Möglichkeit in Aussicht: »Man kann sich also vorstellen eine Wis-
senschaft, welche das Leben der Zeichen im Rahmen des sozialen Lebens unter-
sucht; diese würde einen Teil der Sozialpsychologie bilden und infolgedessen ei-
nen Teil der allgemeinen Psychologie; wir werden sie Semeologie nennen. Sie
würde uns lehren, worin die Zeichen bestehen und welche Gesetze sie regieren.
Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat
Anspruch darauf zu bestehen; ihre Stellung ist von vornherein bestimmt.« Nir-
gends hat allerdings Saussure ihr Progamm erfüllt oder durchgeführt, wohl aber
in immer neuen Anstrengungen antizipiert und wichtige Wegweiser gesetzt.
Ausdrücklich bestimmt er die Linguistik als deren Teilgebiet, doch so, daß die
Analyse der Sprache die wesentlichen Impluse ihrer Fundierung vorgibt, weil ihr
in einem bestimmten, noch zu klärendem Sinne ein besonderer Rang in der »Ge-

8 Immer wieder hat Saussure die Linguistik verlassen und Parallelen zwischen dem Sprachsystem
und anderen semiologischen Systemen hergestellt, ohne diese allerdings näher auszuführen. Dies
gilt insbesondere für Riten, Heiratsregeln, soziale Institutionen, aber auch für Legenden und an-
dere narrative Texte. Vgl. insbesondere Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen
Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 20 f.; ferner ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 417 ff,
432 ff.
9 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O.; im folgenden als »Cours« be-
zeichnet. Erst die Rezeptionsgeschichte machte diesen Entwurf einer Sprach- und Zeichenphilo-
sophie zu jenem »coupure saussurienne« (Althusser), der in der französischen Philosophie für je-
nen Einschnitt sorgte, wie er für die späten 50er, 60er Jahre reklamiert werden kann; vgl. dazu
Francois Dosse, Geschichte des Strukturalismus, 2 Bde., Hamburg 1996, bes. Bd. 1, S. 77 ff. Es
stellt sich allerdings die Frage nach der Auswahl der Edition, die bei aller umsichtigen Zurück-
haltung problematische Prätentionen enthält. In jedem Fall aber repräsentiert die Zusammen-
stellung nicht Saussures »authentischen Enrwurf«, wohl aber jene artifizielle Grundlegung einer
künftigen Theorie, die ihre eigentliche Wirkungsmächtigkeit erst durch den Cours als Grün-
dungsurkunde des nachfolgenden »Strukturalismus« entfaltete. Eine Verstellung der Auslegung
unterstellen Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? a.a.O., S. 40 ff. sowie S. 360 ff, sowie
Ludwig Jäger, Zu einer historischen Rekonstruktion der authentischen Sprach-Idee F. de Saussu-
res, Diss. Düsseldorf 1975. Dagegen bestätigen die gleichermaßen posthum veröffentlichten Stu-
dien Saussures zu germanischen Legenden und die antiken Anagramme Homers, Vergils, Lukrez'
und anderer die strukturale Lektüre des Cours; vgl. ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O.,
S. 417 ff, 436 ff. wie ebenso die Einleitung von Johannes Fehr, Saussure: Zwischen Linguistik und
Semiologie. Ein Einleitender Kommentar, in: ebenda, S. 27 ff, 75 ff
10 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 19, sowie
auch S. 9 ff, 18 ff. Ähnlich argumentiert im übrigen auch Roman Jakobson, wenn er die Sprache
zum »Musterbeispiel oder Hauptvertreter« einer allgemeinen Semiologie erklärt; vgl. ders., Die
Linguistik und ihr Verhältnis zu anderen Wissenschaften, in: ders., Aufsätze zur Linguistik und
Poetik, Frankfurt, Berlin, Wien 1979, S. 150-224, hier S. 176 f.
11 Hinweise dazu finden sich vor allem in Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie,
a.a.O., S. 404 ff. Die Notizen aus dem Nachlaß, der zur Enttäuschung seiner Schüler äußerst
lückenhaft ausfiel, offenbaren indessen die Schwierigkeiten, die Saussure bei der Ausarbeitung
dieses Unternehmens hatte. Die Innovation, die er schuf, ist das Resultat einer schmerzhaften
Denkanstrengung, das immer wieder zur Modifikation, Umkehr, Streichung von Passagen nö-
tigte und ihn zuletzt an der Veröffentlichung des Materials hinderte. Vgl. dazu auch Johannes
Fehr, Saussure: Zwischen Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 32 ff.
STRUKTUR UND EREIGNIS 287

samtheit der semeologischen Erscheinungen« zukommt: »Für uns ist das sprach-
wissenschaftliche Problem vor allem ein semeologisches, und alle unsere Darle-
gungen gewinnen ihre Bedeutsamkeit von dieser wichtigen Tatsache. Wenn man
die wahre Natur der Sprache entdecken will, muß man an ihr zuetst das ins Auge
fassen, was sie mit allen anderen Systemen der gleichen Ordnung gemein hat.«
Die Passage erlaubt, das semiologische Unternehmen auf mannigfache Gebiete
auszuweiten, um sie sämtlich dem Register des »Diskurses« zuzuweisen: neben
der Urbanistik z.B. der »Sprache der Liebe«, der Kunst, den Verwandschaftsbe-
ziehungen, der Terminologie des Traums wie gleichermaßen der Poetik, deren
Ausarbeitung den »Nachfolgern« der Genfer Schule vorbehalten blieb: Claude
Levi-Strauss für die Ethnologie, Jacques Lacan für die psychoanalytische Theorie
des Unbewußten, Michel Foucault für die Strukturen der Historie und Roland
Barthes für so disparate Bezirke wie die Literatur, die Alltagsmythologie, die
Photographie oder die Mode.
Doch gilt der weitere Fortgang unserer Untersuchungen nicht eigentlich ih-
nen, sondern jener Grundlegung einer alternativen Zeichentheorie, wie sie sich
von Saussure her ergibt und wie sie auf besondere Weise zum Prüfstein unserer
Thesen wird. Insbesondere suchen wir dabei die Ungedecktheit des Ereignisses
nachzuweisen. Zwar trägt die strukturale Semiologie der Materialität des Zeichens
insofern Rechnung, als sie das Zeichengeschehen von der Strukturalität seiner
sich abzeichnenden Oberfläche her erschließt, nicht von der Gegebenheit des
Wirklichen oder einem anderswo geoffenbarten Sinn. Es stellt sich vielmehr
durch die Reihe seiner »Signifikanten« materialiter aus; deswegen hat Roland
Barthes später, ebenso wie Julia Kristeva und Jacques Derrida, die Kategorie der
Bedeutung überhaupt ausgestrichen und die »Signifikate« als »mythische Wesen«
bezeichnet, die »ab einem bestimmten Zeitpunkt immet zu Signifikanten von
was anderem werden: Die Signifikate ziehen vorüber, die Signifikanten bleiben«:
»Ich persönlich verwende das Wort >Symbol< in bezug auf eine signifikante syn-
tagmatische und/oder paradigmatische Organisation, aber nicht mehr auf eine
semantische (...).« Doch bleibt der Gesichtspunkt der Organisation, der Form
primär: Wir hatten die traditionelle Verweigerung der Materialität, ihre Rückfüh-

12 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 19 und 20,


21, passim. Eine Bemerkung aus dem Nachlaß lautet: »Die Sprache (langage) ist nichts mehr als
ein besonderer Fall der Theorie der Zeichen.« Vgl. ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O.,
S. 325. A. Riedlinger notierte darüber hinaus in seiner Mitschrift des Cours II: »Weil das wichtig-
ste Zeichensystem die Sprache (langue) ist, und nur wenn man die Zeichen in der Sprache unter-
sucht, wird man ihre wesentlichen Seiten, ihr Leben kennen.« Ebenda, S. 498. Die Notiz gibt ei-
nen bedeutsamen Wink: Untersucht man das Zeichen, wird man verführt, ausschließlich seine
Beziehung zum Bezeichneten zu betrachten; erst das sprachliche Zeichen läßt die Besonderheiten
entdecken, um die es Saussure, unterwegs zu einer allgemeinen Semiologie, ging.
13 Die Aufzählung der Liste müßte indessen den ganzen Bereich der Kultur umfassen. Es war vor
allem Roland Barthes, der die Semiologie in diesem Sinne zu einer allgemeinen Kulturwissen-
schaft weiterentwickelt hat.
14 Zum Begriffspaar Signifikant/Signifikat siehe in diesem Kap. weiter unten.
15 Roland Barthes, Semiologie und Stadtplanung, a.a.O., S. 205 u. 204 passim.
288 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

rung auf Form bereits bei Hegel diskutiert; sie wird hier unter einer anderen Be-
grifflichkeit wiederholt, nicht als »Form der Erscheinung«, sondern als Ordnung
der Signifikanten, worin die Zeichen wiederum selber ihr Erscheinen haben. Sie
zeigen ihre Strukturiertheit; gleichwohl wird damit erneut ihr Sichzeigen, das, was
wir die Ekstatik ihrer Materialität genannt haben, abgezogen - wir werden dies
noch eingehender behandeln. Der Strukturalismus erweist sich so vor allem als
eine Theorie der Medialität, des Schnitts und der Rahmung, in der das Ereignen
seine zäsurierte »Spur« hinterläßt, das aber »als« Ereignen nur Platz hat innerhalb
seiner Inszenierung oder Eingrenzung: Es bedarf der Zeichen, der Struktur oder
ihrer Verräumlichung nicht nur, um in Erscheinung zu treten, sondern um ihm
allererst einen Ort, eine Stätte zu verleihen. Treffend hat darum Derrida von ei-
ner Nicht-Präsenz gesprochen: Das Ereignis »ist« nicht als reine Gegenwart; es
»ist« nur und »gibt sich« zu erkennen als bereits ausgezeichnete, gewählte oder
hervorgehobene Präsenz, mithin als Gegenwart, die immer schon signifiziert und
damit gespalten und also keine Gegenwart mehr »ist«. Seine Nicht-Präsenz be-
deutet, daß es die Gegenwart nur als mediatisierte »gibt«: Wir werden diese These
vor allem im III. Teil einer genaueren Prüfung unterziehen. Sie impliziert jedoch,
überall dem Medium den Vorrang zu überlassen, es in den Status einer Unbe-
dingtheit zu heben; eine Medialität, die, weil sie mit der Stelle des Realen ebenso
die Position der Wahrheit eingeklammert hält, ihr Apriori in einer Poetik des
Symbolischen bekundet. Man könnte daher von einer Mediatisierung im Sinne ei-
ner universellen Poetologie sprechen, deren wechselvolle Texturen schließlich eine
Rhetorik des Kulturellen eröffnet.

Entdeckung der Elemente

Ausgangspunkt bildet zunächst die Frage, um welche Arten von »Entitäten« oder
»Einheiten« es sich bei dem handelt, was auf eine höchst unzureichende Weise
»Zeichen« genannt wird. Keineswegs liegen diese schon vor, sondern konstituie-
ren sich erst, indem sie sich von anderen, ebensowenig prädestinierten Einheiten
unterscheiden. Es gibt nicht die Worte oder Buchstaben eines Textes, die sich
sukzessive entschlüsseln lassen, indem sie elemenrweise gelesen oder Schritt für
Schritt übersetzt werden — das setzt voraus, daß wir die Zeichen bereits kennen,
daß sie als artikulierte Einheiten sich schon dargeboten haben; eine Auffassung,
die die Diskretion der Schrift prätendiert. Vielmehr muß, was als Zeichen gegen-
über einem Nicht-Zeichen gilt, wie auch die Zeichen gegeneinander, sich schon
abgegrenzt haben, um als solches erkannt werden zu können. Die Radikalität der
Fragestellung Saussures ergeht mithin aus dem, was wir bei Goodman als Mangel
empfanden: das Problem der Identifizierbarkeit der Elemente. Und ihre Antwort
supponiert die Ganzheitlichkeit der Perspektive: Zunächst existiert die Rede, die
Textur; erst dann lassen sich die einzelnen Glieder finden, die Artikuhertheit der

16 Vgl. z.B. Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 377, auch S. 364
STRUKTUR UND EREIGNIS 289

Laute oder das Spiel der Differenzen, aus denen sie schöpfen. Saussure wird also
nicht mit der Sprache (langage) als einer kommunikativen Institution beginnen,
deren Funktionieren von der Verständlichkeit ihrer Einheiten abhängt, sondern
mit der abstrakten Ofdnung dessen, was er im Unterschied zur Parole, der Per-
formanz der Rede, als Langue bezeichnet, und der ausschließlich eine negative Be-
stimmung zukommt: Langage unter Abzug der Parole: »Wenn man von der Spra-
che (langage) alles abzieht, was nur Rede (parole) ist, kann der Rest im eigentli-
chen Sinne die Sprache (langue) genannt werden (...).« Die Subtraktion erläu-
tert, worum es Saussure ausdrücklich zu tun ist: die »Sprachlichkeit der Spra-
che«, dasjenige, was sie in ihrem Innersten ausmacht und in ihrer Form behei-
matet ist, mithin die Sprache (langage) vermindert um alles, was an Konkretem,
Sozialem oder Historischem, den Kontingenzen ihrer geographischen Streuung
oder ihrer verschiedenen Dialekte und deren Genealogien sowie ihrer unter-
schiedlichen Etymologien usw. in sie eingegangen ist — also »System«, das zu-
gleich als ein »Ganzes in sich« und als ein »Prinzip der Klassifikation« charakteri-
siert wird. In diesem Sinne ist zu verstehen, wenn Saussure seine Vorlesungen
mit der programmatischen Deklaration beginnt, daß »man (...) sich von Anfang
an auf das Gebiet der Sprache (langue) begeben und sie als eine Norm aller ande-
ren Äußerungen der menschlichen Rede (langage) gelten lassen« muß:" Reines
Abstraktum, dem kein »Sein« zukommt, sondern das Ordnung ihrer selbst ist,
keine Menge zuvor bereitgestellter Glieder, denen die Sprache ihren Sinn ver-
dankt. Es nennt das eigentlich Semiologische, das auf keine nichtlinguistischen Be-
griffe oder Kriterien zurückgeführt werden kann, sondern als Strukturalität in
dem Moment in Erscheinung tritt, da die Sprache als Rede gleichsam ruht.
Der Zugang verrät die Kompromißlosigkeit jenes Neubeginns, mit dem sich
Saussure bewußt von allem Vorherigen abzusetzen trachtete." Sie ethellt zugleich,
daß die Zeichen, als Laute oder Worte einer Sprache, nicht als fertige Größen be-
reitstehen, um betrachtet zu werden, sondern einer Ordnung entspringen, dessen

17 Ebenda, S. 401; vgl. auch ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 91:
»Die Sprache (langue) ist für uns die menschliche Rede (langage) abzüglich des Sprechens (paro-
le).« Ausdrücklich vermerkt Saussure, daß man »bisher« die Sprache »fast immer als Funktion
von etwas anderem« betrachtet hätte; doch »müßte man die innere Struktur der Sprache« unter-
suchen; vgl. ebenda, S. 20 u. 17. Wegen der Besonderheit der französischen Ausdrücke, die eine
Übersetzung ins Deutsche kaum erlauben, ohne beständig dasselbe zu sagen, worauf Saussure im
Cours S. 17 ausdrücklich zu sprechen kommt, wird im folgenden auf die Saussureschen Unter-
scheidung dort im Original zurückgegriffen, wo es zum Verständnis der Passagen relevant er-
scheint. Heuristisch läßt sich Parole mit »Rede«, dem Sprechen als subjektiven Akt, die Langue als
Struktur und die Langage als die gesamte kulturelle Institution der Sprache fassen.
18 Diese treffende Charakterisierung stammt aus dem einleitenden Kommentar von Johannes Fehr,
Saussure: Zwischen Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 72.
19 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 11.
20 Ebenda, S. 10.
21 Dieser Impetus des Neuen ist bereits der Genfer Antrittsvorlesung anzumerken, vgl. ders., Lin-
guistik und Semiologie, a.a.O., S. 240 ff. Dazu auch Roland Barthes, Saussure, Das Zeichen und
die Demokratie, in: ders., Das semiologische Abenteuer, a.a.O., S. 159-164, hier: S. 159, sowie
Francois Dosse, Geschichte des Strukturalismus, a.a.O., Bd. 1, S. 77 ff.
290 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Elemente sie sind und in dessen Verhältnis sie zu setzen wären. Nicht ihre »Ge-
gebenheit« zählt, vielmehr der Rahmen, in den sie eingezeichnet sind, dessen To-
pologie, so daß es keine andere Möglichkeit gibt, von »Zeichen« ihren Systemen,
sei es die Klaviatur leiblicher Gebärden, die Werke der Kunst oder die verzweig-
ten Muster kultureller Kommunikation zu sprechen, ohne auf diese zurückzu-
greifen. Dann verschiebt sich freilich die Frage des Symbolischen von seiner Lo-
gik zu dessen Konstitution: Das Besondere des Strukturalismus ist sein Holismus.
Entsprechend gehört es zu den programmatischen Thesen des Cours, die Sprache
als »ein System von Zeichen (...)« aufzufassen," von dem es einige Abschnitte
weiter heißt: »(D)ie Sprache ist ein System, das nur seine eigene Ordnung zu-
läßt.«" Das bedeutet zugleich: Weder läßt sich die Sprache vom Außersprachli-
chen her klären, sei es die Strukturen des Bewußtseins oder einer Welt, die sich
ihr einprägt, noch läßt ihre Untersuchung Atome zu, kleinste Einheiten, aus de-
nen ihr Ganzes deduzierbar wäre. Man hat es also gegenüber dem Funktionalis-
mus mit einem konträren Paradigma zu tun: Beginnt dieser mit dem Singulären,
um die Beziehungen schrittweise hervortreten zu lassen, die die Zeichen regeln,
geht die strukturale Semiologie von einer Totalität aus, um aus deren Teilungen
die fraglichen Elemente erst entstehen zu lassen. Kein Zeichen existiert, wird es
nicht im Kontext eines Systems entdeckt, dessen distinktives Element es ist und
mit dessen anderen Elementen es in Beziehung steht. Mehr noch: Im ersten Falle
erscheint die Logik der Funktion zentral, aus deren Verkettungen sich der Zu-
sammenhang der »Welt« ergibt, wohingegen Saussure von einer Strukturalität
von Marken ausgeht, die allererst bestimmt, was als bedeutsam gilt und was
nicht. Dort gibt es die Zeichen, die auf etwas verweisen, hier lediglich ein Raster
von Unterschieden, das eine Textur erzeugt, in der allein die Orte zählen, die das
System ausschreibt. So bildet die Sprache für die strukturale Linguistik kein In-
ventar aus präformierten Einheiten, in deren Unordnung eine Ordnung gebracht
werden muß: »Entweder man geht vom System aus, oder man findet die Ele-
mente niemals«; demnach bezeichnen die »Entdeckung der Elemente« und die
»Entdeckung des Systems (...) ein und dieselbe Aufgabe«."
Das meint auch: Die Elemente werden durch nichts anderes verbürgt als durch
ihre Stellung im System. Die Sprache folgt deren Ordnung: Sie wird nicht durch
eine unabhängige Instanz, die ihr äußerlich bleibt, weder durch das Reale noch
durch das Denken oder den Logos besiegelt, sondern sie untersteht einer
nalen Strukturalität, von der Saussure sagt, sie sei ein »komplizierter Mechanis-
mus«," bei dem »sich alles um Gleichheiten und Verschiedenheiten (dreht), wo-

22 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 18.


23 Ebenda, S. 26.
24 Vgl. Oswald Ducrot, Der Strukturalismus in der Linguistik, a.a.O., S. 61 u. 44 passim; vgl. auch
S. 36,49, 51.
25 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 86; auch
S. 103.
STRUKTUR UND EREIGNIS 291

bei die letzteren nur das Gegenstück von den ersteren sind«."' Der methodische
Ansatz erlaubt, die Zeichen vollkommen unabhängig von der Kenntnis dessen zu
verstehen, worauf sie verweisen, was das »Wirkliche« besagt oder was ihre Lektü-
ren be-deuten. Weder wird die Identität der Zeichen aus deren relationaler Zu-
ordnung noch durch die Gesetzlichkeit von Normen oder Regeln bestimmt, son-
dern »indirekt« aus einer Formation von Wiederholungen und Variationen, de-
nen sie unterstehen. Erst diese bedingen, was als Element gelten kann, noch bevor
etwas als Zeichen erscheinen kann, um etwas anders zu be-zeichnen. Kernpunkt
bildet dann die Erklärung jenes differentiellen Musters, das dem, was als Zeichen
fungiert und einen Bezug stiftet, seine Stellung verleiht, nicht det Rückgriff dar-
auf, was die Beziehung herstellt oder wodurch sie garantiert wird. Entscheidend
ist die Lokalität der Positionen zueinander, von denen sie ebenso abhängen wie
sich unterscheiden, denn »(d)ie Symbole sind wie jede Art von Zeichen, nie etwas
anderes als das Ergebnis einer Entwicklung, die einen ungewollten Bezug zwi-
schen Dingen geschaffen hat (...).«
Strikt vermeidet deshalb Saussure jeglichen Rekurs auf eine wie auch immer
geartete Referentialität, durch die die Logik der Zeichen regiert würde; vielmehr
diskreditiert er ihren Zugriff als eine »Nomenklatur«, die die Sprache mit einer
Etikettensammlung verwechselt," verwirft den »Namen« als »Grund der Spra-
che«, jenen »Zufall«, »wenn ein Zeichen einem Objekt entspricht«, wie er über-
haupt die Zeichen aus ihrer Beziehung zu ihrem Bezeichneten oder ihrer Bedeu-
tung zu entbinden sucht, weil ansonsten »die Linguistik augenblicklich aufhören
(würde), das zu sein, was sie ist«:" »Wer Substitutionen sagt, untetstellt bereits,
daß der Term, dem man ein Substitut gibt, eine Existenz hat.« So werden also
die Zeichen ebenso ent-wirklicht, wie das Reale umgekehrt zu einem Saum von
Zeichen zersplittert. Das Symbolische repräsentiert nichts Außersymbolisches; es
verweist auf sich selbst. Nichts anderes bedeutet der Ausdruck »Arbitrarität«. Ein
Großteil der strukturalistischen Emphase wird sich auf dessen provozierenden
Klang stützen, weil damit ebenso die Nicht-Motiviertheit der Zeichen in bezug
auf ihr Äußeres ausgesprochen ist, wie ihnen zugleich ihre Autarkie zurückerstat-
tet wird. Alle drei Elemente gehören demnach zusammen: (i) Primat der Ord-
nung, die der Sprache eine Autonomie erteilt, mithin ihre Grundlegung keines
Außen bedarf, auf die sie sich stützte; (ii) Aussetzung der Referenz, vor allem je-
ner Bürde »ab-soluter« Referenz, die ihr Fundament an ein Kriterium bände, das
nicht der Sprache angehörte; sowie (iii) »Arbitrarität der Elemente«, die sie von

26 Ebenda, S. 129. Tatsächlich wird Saussure den »Mechanismus der Sprache« aus dem »Ineinan-
derspielen« syntagmatischer und assoziativer Ketten beschreiben; vgl. ebenda, S. 147 ff.
27 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 422.
28 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 20 u. 76; sowie auch ders.,
Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 338, 393 u. 499.
29 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 337, 338. Weiter heißt es: »Es ist gewiß unglücklich,
daß man damit beginnt, diese Gegebenheit der bezeichneten Objekte, die hier überhaupt nichts
zu suchen haben, als wesentliches Objekt einzuführen« und »die Sprache auf etwas Äußeres zu-
rückzuführen«. Ebenda, S. 338 f. passim.
30 Ebenda, S. 410.
292 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

jeglichem Verweis oder Bezug auf ein Reales entbindet. Die Kühnheit und
Schwierigkeit des Unterfangens liegt insbesondere darin, sie auf diese Weise einer
buchstäblichen Haltlosigkeit anheimzugeben, die sie vom Ort des Wirklichen
entkoppelt, um sie einem Spiel zu überantworten, das sich allein auf seine inter-
nen Gliederungen beruft, um sie in eine Zirkulation zu versetzen, ohne je einen
Boden zu finden. Die Sprache (langue) nimmt dann den Rang eines Konstituti-
onsprinzips oder »Transzendentals« ein, von dem her ihr Gegensatz, das Reale
oder das Andere, auf das sie sich zu beziehen scheint, erst ergibt: Sie be-zeichnet;
aber sie ordnet nicht zu; sie funktioniert als Bezeichnendes schlechthin: Prozeß ei-
ner Signifikation, vermöge derer sich allererst das Signifizierte herstellt.
Der Umstand ist in jenem Begriffspaar beschlossen, das zu den prominente-
sten der strukturalen Linguistik gehört und ebenso viele Mißverständnisse ausge-
löst hat, wie es zitiert und seines Kontextes beraubt wurde. Denn an die Stelle der
problematischen Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem, der Struktur der
Re-Präsentation oder Substitution durch einen »Laut«, ein »Wort« oder einen
»Satz«, welche stets noch am unaufhebbaren Riß zwischen Präsenz und Absenz
leidet, führt Saussure das Band Signifikant/Signifikat ein, das dem Realen selbst
keine »Stellung« mehr einräumt. Denn der »Balken«, der Signifikant und Signifi-
kat voneinander zu trennen scheint, meint keine Differenz, die eine Unterschei-
dung zweier unabhängiger Größen erlaubt, sondern Schema, das anzeigt, daß die
Elemente der Sprache die Rolle einer Signifizierung ausüben, ohne »etwas« zu be-
zeichnen, das ihnen äußerlich wäre. Zwar eingeführt als Verbindung von »Laut«
und »Vorstellung« — die fragliche Stelle lautet: »Ich nenne die Verbindung der
Vorstellung mit dem Lautbild das Zeichen. (...) Ich schlage also vor, daß man
das Wort Zeichen beibehält für das Ganze, und Vorstellung bzw. Lautbild durch
Bezeichnetes (signifiant) und Bezeichnung (signifie) ersetzt (...)« " — beinhaltet die
Verbindung gleichwohl nur die Assoziierung zweier Seiten. Sie kann nicht als
Struktur einer Relation gelesen werden, wonach »etwas« auf »etwas anderes« be-
zogen wird, vielmehr handelt es sich um etwas »Doppelseitiges«, eine »Vereini-
gung zweier Bestandteile«", in der beide Seiten einander bedingen, vergleichbar
der Vorder- und Rückseite einer Münze oder eines Blattes, das Saussure hier er-
läuternd als Metapher einfügt. Das Bild erhellt, daß keiner Seite ein Vorrang
zukommt, wie sie umgekehrt keine Modifikation duldet, ohne ebenso die Kehr-
seite mitzuverändern. Gleichgültig gegeneinander begründet zudem nicht der Si-
gnifikant das Signifikat, sowenig wie das Signifikat den Signifikanten, vielmehr

31 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 79 ff. sowie S. 85, 134 f. Statt
des problematischen Ausdrucks »Zeichen« wird darum Saussure versuchen, andere zu wählen:
»Unterschied oder Vorteil des Terms seme gegenüber Zeichen (...). Unter anderen beseitigt oder
möchte das Wort seme beseitigen jede Vorherrschaft und jede anfängliche Trennung zwischen
der stimmlichen Seite und der ideologischen Seite des Zeichens. Es stellt das Ganze des Zeichens
dar, das heißt Zeichen und Bedeutung in einer Art Persönlichkeit vereint.« Vgl. ders., Linguistik
und Semiologie, a.a.O., S. 359; ferner: S. 362 ff.
32 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 78, 79.
33 Ebenda, S. 77.
34 Ebenda, S. 134; sowie auch ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 501.
STRUKTUR UND EREIGNIS 293

verhalten sich beide zueinander als austauschbar. Folglich vermag auch jede Posi-
tion den Platz seiner Gegenseite einzunehmen, so daß kein Privileg entsteht und
nirgends eine Hierarchie auszumachen ist, die geeignet wäre, einen Punkt außer-
halb ihres Spiels auszuzeichnen; einzig auf ihren Umlauf kommt es an. »Unsere
Position ist jedenfalls sehr klar. Unter den Dingen, die dem materiellen Laut ent-
gegengesetzt werden können, bestreiten wir im wesentlichen (...), daß es möglich
ist, ihm die Vorstellung entgegenzusetzen. Was dem materiellen Laut entgegenge-
setzt werden kann, ist die Gruppe Laut-Vorstellung (...).« ' Das bedeutet: Das
Schema Signifikant/Signifikat korrespondiert dem Prozeß der Signifizierung selbst,
wobei nicht das »Was« der Signifikation entscheidet, sondern allein das »Wie« ih-
rer Zirkulation.
Das Paar Signifikant/Signifikat bezeichnet also ein unmittelbar Indifferentes:
»Es scheint, als ob es im Zeichen zwei Werte gäbe (...), aber im Grunde ist das
ein und derselbe«, heißt es entsprechend im Nachlaß. »Isologie könnte man das
Phänomen nennen,« hat dazu Roland Barthes bemerkt, »durch welches die Spra-
che unmerklich und untrennbar ihre Signifikanten und Signifikate >verklebt<«.
Das will sagen: Der Prozeß der Signifikation beruht auf einer Duplizität, er be-
schreibt keine Korrelation, sondern, wie Barthes weiter schreibt, »einen Akt der
simultanen Zerlegung zweier gestaltloser Massen, zweier verschwommener Ge-
biete«, wie Saussure sagt; denn er meint in der Tat, daß am (theoretischen) Ur-
sprung des Sinns die Gedanken und die Laute zwei verschwommene, labile, fort-
laufende und parallele Massen von Substanzen bilden; der Sinn stellt sich erst ein,
wenn man diese beiden Massen gleichzeitig und mit einem Schlag zerlegt (...);
zwischen diesen beiden chaotischen Massen bildet der Sinn also eine Ordnung,
aber diese Ordnung ist im wesentlichen Teilung (...): die Sprache ist der Bereich
der Gliederungen, und der Sinn ist in erster Linie Zerlegung.« Wirkt noch die
Rede von »zwei Substanzen«, die Saussure selber führt, irreführend, so kommt

35 Vgl. dazu auch Jacques Derridas im Gespräch mit Julia Kristeva, Semiologie und Grammatolo-
gie, in: Peter Engelmann (Hsg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart 1990, S. 140-164,
hier: S. 143.
36 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 302.
37 Ebenda, S. 504.
38 Roland Barthes, Elemente der Semiologie, a.a.O., S. 37.
39 Ebenda, S. 48.
40 Immer wieder ist das Schema Signifikant/Signifikat dem des Zeichens angeglichen worden: »Der
Signifikant geht dem Signifikat voraus«, heißt es z.B. bei Vincent Descombes, Das Selbe und das
Andere, Frankfurt/M. 1981, S. 114. Die Geschichte der Fehldeutungen, die die Geschichte des
Strukturalismus selber schreibt, pflanzt sich von Lacans »Gleiten« des Signifikanten unter dem
Signifikat, der beide in einer strikten Trennung hält, über Emile Benveniste, der den Signifikan-
ten als »Zeichen« und das »Signifikat« als dessen Bedeutung bestimmt, fort zu Pierre Legendre,
der den »Balken« zwischen beiden thematisiert, um die Frage nach der Grenze, der »Gründungs-
referenz« oder »Beglaubigung« des Signifikats aufzuwerfen. Vgl. Jacques Lacan, Funktion und
Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, a.a.O.; Emile Benveniste, Probleme
der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974; Pierre Legendre, Das Verbrechen des Ge-
freiten Lortie, a.a.O., bes. S. 164 f. Derrida hat gegen das Schema eingewandt, daß die Auftei-
lung von Signifikant/Signifikat mit der Figur des »Balkens« zumindest mimetisch die klassische
Zweiseitigkeit des Zeichens wiederhole und damit den Kern seiner metaphysische Vorstellung
294 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

es eher darauf an, daß das, was in das Spiel eintritt, immer schon als eine Doppel-
seitigkeit von Materialität (Laut) und Nichtmaterialität (Vorstellung) gegeben ist.
Versteht man daher diese als Vertikale und die Linie ihrer Gliederungen als Hori-
zontale, so ist einzig letztere für die Konstitution des Zeichens relevant ist, nicht
erstere. D.h., es geht Saussure darum, jede Differenz zwischen dem Realen und
dem Symbolischen einzuebnen und nurmehr das Symbolische, das Feld der Spra-
che zuzulassen, das als Ordnung der Signifikanten/Signifikate funktioniert. Nicht
mehr ließe sich dann ohne Inkonsistenzen von »Welt« sprechen, sondern nur-
mehr von einem Universum des Symbolischen, daß, statt dieser, seine eigenen
Spiele entfacht.

Strukturalismus als Surrealismus

Die Folge besteht in einer Freisetzung von Zeichen und Dingen, im Beginn ihrer
gegenseitigen Verselbständigung, die beiden gestattet, in eine ebenso seltsame wie
rätselhafte Poesie zu treten, die ihre Mirakel unabhängig von der Wirklichkeit
und ihren Darstellungen inszeniert: Poetik der Worte und Bilder, die sich selbst zu
genügen scheinen, ohne noch die Bedürftigkeit nach einer Wirklichkeit in sich zu
tragen, die sie legitimierte. Der Punkt verdient nähere Aufmerksamkeit, weil er
gleichzeitig auf die Spur einer anderen Geschichte führt, die mit der des Struktu-
ralismus eng verwoben ist: die des Surrealismus.4 Denn Saussure wird damit
nicht nur die Semiologie revolutionieren, sondern gleichermaßen Themen der
Kunst und Dichtung der frühen Avantgarde vorwegnehmen, wie sein Ansatz
ebenso nachhaltig die Poetologie der Gruppe Tel Quel und die Ästhetiken Roland
Barthes' und Julia Kristevas beeinflußte, die sich ihrerseits vornehmlich wiederum
auf dadaistische und surrealistische Textproduktionen bezogen. Und wie sich bei
Saussure ein Stil der Sensibilität für Sprache durchsetzt, der sie von ihrer genui-
nen Poetik, dem Spiel der Ver-Setzung und Umwandlung der Signifi-
kant/Signiftkat-Ketten her erschließt, etablieren jene eine Artistik, bei der die
Texte und Bilder, gleichermaßen ohne Anhalt in einer sie fundierenden Realität
zu finden, zu tanzen anfangen, um zuletzt in einen endlosen Reigen aus immer

bewahre; vgl. ders., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, a.a.O., S. 425 f. Außerdem könne
die Teilung nirgends erklärt werden, weil die Zeichen gemäß des Saussureschen Programms nur
durch die Differentialität ihrer Stellungen zueinander bestimmt werden können, was die Position
eines unabhängigen Signifikats als Bezugspunkt überhaupt in Zweifel zieht. Grundsätzlich
könnten so Signifikant und Signifikat die Rollen tauschen, so daß »der Bewegung des Signifi-
kanten im Grunde nichts entspricht und daß die Differenz zwischen dem Signifikat und dem Si-
gnifikanten in letzter Instanz nichts ist« - eine Formulierung, die allerdings wieder die gleiche ir-
rige Teilbarkeit nahelegt. Vgl. ders., Grammatologie, a.a.O., S. 42. Im übrigen erlaubt die Positi-
on nicht, das Phänomen des »Sinns« angemessen zu erklären.
41 Auf diese unterirdische Verbindung zwischen Strukturalismus und Surrealismus hat auch Karl
Heinz Bohrer mehrfach hingewiesen, z.B. in ders., Die Grenzen des Ästhetischen, a.a.O., S. 140,
144, 148.
STRUKTUR UND EREIGNIS 295

neuen Variationen einzutreten, die nur internen Relationen genügen, keinem äu-
ßeren Sinn.
Exemplarisch kann für solches Verfahren Rene Magrittes Serie Ceci n'est pas
une pipe (1928—1966) einstehen, der Michel Foucault, dem der Maler einige Ex-
ponate seiner Sammlung zukommen ließ — so auch einen Abdruck eines der be-
rühmten Pfeifenbilder - , eine eigene Studie widmete.'" Rätsel par excellence bildet
sie eine mit unterschiedlichen Titeln versehene Sequenz von bildlichen Reflexio-
nen, die weniger das Problem des Mimetischen und damit der Beziehung zwi-
schen Zeichen und Wirklichkeit aufnehmen, als sie viel eher das Verhältnis von
Bild und Text untersuchen. Dem ersten der Reihe, Ceci n'est pas une pipe von
1928, folgen La trahision des Images (1929, 1948), La liberte des cultes (1946,
1961), L 'air et la chanson (1964), Le deux mysteres (1966) u.a. Sie wiederholen die
begonnenen Mysterien nicht nur, sondern fügen ihnen jedesmal neue Aspekte
hinzu. Geschnitten wetden sie wiederum durch Ceci n 'est pas une pomme von
1964, welches dasselbe Spiel auf den für die Malerei Magrittes so wichtigen Apfel
anwendet, wie durch das Tableau La clefdes songes (1930) oder verwandte Bilder,
etwa LÄpparition (1928), die nach det Manier eines Orbispictus arrangiert sind
und Gegenstände mit Namen konfrontieren, z.B. einen Hut mit »la Neige«, ei-
nen Schuh mit »la Lune« oder unbestimmte Konturen mit »Cheval«. Magritte
scheint damit ebensosehr die Relation zwischen Abbildung und Name wie zwi-
schen Wort und Ding zu verwischen: Überall spielt er mit Piktogrammen, die
durch die unterlegten Texturen oder Titel wieder dementiert werden: Spiel mit
unterschiedlichen semiologischen Medien, die sich durchkreuzen oder gegenseitig
auszulöschen scheinen. Zudem imitieren die Tafeln Illustrationen, die der Un-
terweisung dienen: Darstellungen, die einem Lehrbuch oder Lexikon entnommen
sein können, deren Legenden gleichzeitig mit der Geste des Definitorischen da-
herkommen: Karikatur einer Namensgebung, die uns die Gegenstände und ihre
passenden Benennungen erkennen lassen und sich mit der Gewalt einer Dressur
einschreiben.
Dss gilt schon für das erste Bild der Serie Ceci n'est pas une pipe von 1928, das
im Umkreis des kleinen surrealistischen Essays Les Mots et les Images von 1929
entstand, den Magritte in der Zeitschrift Le Revolution surrealiste veröffentlichte.
Düren seine provozierende Widersprüchlichkeit eröffnet es in nuce eine ästheti-
sche Semiologie der Worte und Bilder, die es beide einer inszenierten Un-
Ordnung unterwirft.4 Gerade in seiner Einfachheit wirkt das Gemälde irritie-

42 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, a.a.O. Zur Auseinandersetzung mit Foucaults Deutung
Ma^rittes im Lichte dessen Kunsttheotie vgl. insb. Karlheinz Lüdeking, Die Wörter und die Bil-
derund die Dinge, in: Rene Magritte, München New York 1996, S. 58-72.
43 In !einer Theorie des Bildes macht Gernot Böhme zu Recht darauf aufmerksam, daß das Pfeifen-
bilc durch die verschiedenen Reihen anderer Bilder ähnlicher Thematik »gegengelesen« werden
müse, um es in seiner Vielschichtigkeit angemessen verstehen zu können; vgl. ders., Theorie des
Bilces, München 1999, S. 47 ff.
44 Rete Magritte, Les Mots et les Images in: La Revolution surrealiste Nr. 12 (1929); dt. Die Wörtet
une die Bilder, in: ders., Sämtliche Schriften, hsg. v. Andre Blavier, Berlin 1985, S. 43 f.
296 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

rend: Bild einer Pfeife, signiert durch eine Schrift, die das Gegenteil behauptet:
Ceci n 'est pas une pipe. Der Satz unterläuft die Gewißheit des Gesehenen, ver-
neint, was der Augenschein wahrt. Aber sogleich bekommt man es mit einer An-
zahl weiterer Paradoxien zu tun: Nicht nur scheint der Text dem Abgebildeten
zuwiderzulaufen, sondern der Widerspruch läßt sich nur ausmachen, wenn man
anerkennt, daß (i) das Bild ein Pfeifenbild darstellt, sowie (ii) der zugehörige
Satz eine Proposition bildet, die sich auf die Abbildung bezieht: Mithin Aussage
über eine Pfeife, die zugleich das Bild der Pfeife als Pfeife negiert. Die nahelie-
gende Auskunft, daß das Paradox die Differenz zwischen Darstellung und darge-
stellter Wirklichkeit trifft, greift indessen zu kurz, weil sie das Gemälde allein »re-
präsentationalistisch« liest: Bild, das der Satz als Bild im Unterschied zut Wirk-
lichkeit entlarvt, d.h. mimetisches Spiel, das det gegenzeichnenden Rede einseitig
den Vorzug erteilt. Dann hat man sich allerdings schon auf eine Hierarchie ein-
gelassen: Die Abbildung evoziert eine Täuschung, während die Sprache die
Wahrheit sagt: jahrhundertelange Depravierung des Ästhetischen gegenüber einer
ebenso langen Auszeichnung des Diskursiven. Ceci n'est pas une pipe wiederholte
das Schema dessen Privilegierung: Die Schrift kommt vot dem Bild wie das Wis-
sen vor der Mimesis. Nichts anderes beinhaltete die Bildkritik Platons, der
Magritte freilich schon deshalb energisch widerspricht, als er der Malerei eine an-
dere Art von Kognition zuspricht als der Wissenschaft: »Die Kunst des Malens ist
eine Kunst des Denkens.«
Demgegenüber liegt die Verwirrung, in die das Bild stürzt, weniger auf der
Ebene seiner vermeintlichen Repräsentationalität als in der Unruhe über den
Status des Ästhetischen selber. Es verlagert das Territorium seiner Auseinander-
setzung vom Verhältnis zwischen Zeichen und Referenz auf den Unter-Schied
von Bild und Text und damit auf eine Beziehung innerhalb des Semiologischen.
Auf diese Weise wird nicht nur eine traditionelle Ordnung gestört, sondern auch
ein Streit zwischen zwei divergierenden semiologischen Gebieten angezettelt, der
die Souveränität des Ästhetischen vor dem Diskursiven behauptet: Äquivalenz der
Medien, ohne einem den Vorrang gegenüber dem anderen zuzubilligen. Die
Geste der Gleichsetzung korrespondiert der These ihrer Arbitrarität, die die
arkie des Symbolischen einschließt. D.h. auch: Worte und Bilder sind einander
ebenso gleichrangig wie gleichartig: Sie »begegnen« sich in einem Raum ohne
Stabilität. Mit Bedacht wählt Magritte den Ausdruck »Begegnen« (rencontre), der
Les mot et les images entnommen ist: »Ein Gegenstand begegnet (rencontre) sei-

45 Auf den Unterschied zwischen dem Bildnis eines Mannes, das alles Mögliche darstellen mag: eine
bestimmte Person, seine typische Kleidung, seinen Charakter oder auch nur eine bestimmte Ge-
ste usw., und einem Mann-Bild, das ihn »als« Mann portraitiert, vgl. Nelson Goodman, Spra-
chen der Kunst, a.a.O., S. 36 ff.
46 Vgl. auch Gernot Böhme, Theorie des Bildes, a.a.O., S. 59 f.
47 Rene Magritte, Die wahre Kunst des Malens, in: Sämtliche Schriften, a.a.O., S. 219.
48 Daß es sich dabei um einen Grundzug zeitgenössischer Malerei handelt, dazu Michel Butor, Die
Wörter in der Malerei, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1993.
49 Rene Magritte, Die Wörter und die Bilder, in: Sämtliche Schriften, a.a.O., S. 43.
STRUKTUR UND EREIGNIS 297

nem Bild, ein Gegenstand begegnet (rencontre) seinem Namen. Es kommt vor,
daß Bild und Name dieses Gegenstandes sich begegnen (se rencontreni).« Der
Ausdruck signalisiert ein zufälliges Zusammentreffen ohne Primat und gleicht
darin der Saussureschen »Assoziation«: Verknüpfung von Wort und Bild wie das
Paar Signifikant/Signifikat, das nicht »motiviert« ist, deren Assoziiertheit gleich-
w«ohl neue und unerwartete Zusammenhänge stiften kann. Dabei entfalten ihre
Begegnungen Spiele und Gegensätze von bezaubernder Unerschöpflichkeit, die
erhellen, daß zwischen ihnen keine Komplizenschaft besteht. Diskurs und Male-
rei gehen vielmehr getrennte Wege, die gelegentlich zusammenlaufen, ohne »sich
verabredet zu haben«, wie Jean Cocteau mit Bezug auf die Arbeiten De Chiricos
gesagt hat: Okkasionalität, einzig durch das Tableau gegeben, auf dem sie ge-
schieht.
D.h. zugleich, ihre Begegnung gehorcht keiner Konvention. Es handelt sich
um unterschiedliche Reihen, die sich berühren oder überschneiden können, um
auf eine beinahe zufällige Weise - wie Nähmaschine und Spazierstock auf dem
Seziertisch - ins Bild zu geraten und sich zu vereinen. Ceci n 'est pas une pipe be-
deutet dann kein juridisches Verfahren, keine Gerichtsakte, in der Aussage gegen
Aussage steht, sondern ein Ereignis. Zwei Zeichensysteme stoßen zusammen, wo-
bei Unvorhersehbares geschieht. Was sich dabei ereignet, ist eine Lockerung jener
Verbindlichkeit, mit der Begriff und Sache verschweißt sind, und zwar so, daß
das Bild, das die Begegnung der konträren Momente besiegelt, jenen Spalt auf-
klaffen läßt, der die Arbitrarität der Ordnung allererst enthüllt. Sorgsam wäre
deshalb »Arbitrarität« von »Konventionalität« zu scheiden. Letztere gemahnt an
jenen Unterschied zwischen physis und thesis, zwischen dem die antike Sprach-
philosophie den Ursprung der Sprache aufteilte. Das Thetische nennt dabei jene
Setzung, die Gesetz wird, nicht Willküf, die einer Autorität untersteht, sondern
den Prozessen sozialer Übereinkunft entspringt, die ihren Grund im Historischen
haben. Dann impliziert die Konventionalität der Sprache ihre kollektive Gere-
geltheit, wobei es nicht auf die Prozesse vertraglichen Aushandelns ankommt, die
die Sprache schon in Anschlag nähmen, sondern auf den Status der Überliefe-
rung, die prinzipiell auch andere Geschichten einschließt. Sie gilt vorzugsweise
für die Prozeduren der »Namensgebung«, von denen auch Platons Überlegungen
im Kratylos ihren Ausgang nahmen: Gesetztheit der Bezeichnung, die vom Realen
ausgeht, um dem Zeichen eine Sekundarität und darin Beliebigkeit zuzuschrei-
ben. Gerade diese Ordnung der Konventionalität wird von Magritte aufge-
sprengt, indem er sie als das dekuvriert, was sie ist: Gewalt, die sich der gesell-
schaftlichen Leistung einer Sanktionierung verdankt, die in nichts gegründet ist
als in der Struktur einer »Abrichtung«. Es sind die Praktiken der Benennung, die
den Worten und Gegenstände ihre unverbrüchliche Verknüpfung verleihen und
ihren Bestand verbürgen; gleichzeitig täuschen sie uns über den Charakter der
Verbindung: Sie legen nahe, daß es sich um eine zweite Natur handelt, eine not-

50 Ebenda.
51 Jean Cocteau, Über De Chirico, in: ders., Prosa, Berlin 2. Aufl. 1978, S. 175.
298 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

wendige Gesetzlichkeit, deren Klammer nur zum Preis des Wahnsinns gelockert
werden darf. "
Nichts am Gegenstand verbürgt dagegen seinen Namen. Also besteht das
Band, das zwischen Wort und Ding geknüpft ist, allein aufgrund einer Norm, die
Magritte wiederum durch die »Falle« des Bildes zum Einsturz bringt. Die Diktion
des Satzes Ceci n 'est pas une pipe unterstreicht das: Dies ist ein ... oder jenes ist kein
... bezeichnen Akte der Benennung und konnotieren damit die Prozesse lexikali-
scher Festlegung, wie sie dem Schulunterricht entstammen. Das Demonstrativ-
pronomen füngiert dabei als deiktisches Partikel, wobei auf einen Gegenstand
hingewiesen wird, um ihm seinen rechtmäßigen Namen zu erteilen. Normen
klassifizieren; ihre Zuschreibungen funktionieren nach der Logik des Einschlusses
und Ausschlusses, die vor allem da ihre immanente Gewaltsamkeit entfaltet, wo
sie sich auf Personen richtet und sie zum Gegenstand macht. Darauf hat beson-
ders Foucault abgehoben, der von der späteren Version Le deux mysteres (1966)
ausging, die ihm als Skizze vorlag: Das Bild zeigt jetzt die frühere Fassung in
Form einer Schultafel, übet die drohend, gleich einer Emanation ihrer selbst, eine
übetdimensionale Pfeife thront: Bestätigung, dem offensichtlichen Fehler zum
Trotz, den sie inkriminiert, oder Schuldbewußtsein det Malerei gegenüber einem
Faux pas, den sie auslöschen muß? Die seltsame Proportionierung macht die Lo-
kalisierung unauslotbar: »(E)ine Verdampfung«, wie Foucault spekuliert, »die von
der Tafel ausgeht«, oder Erscheinung »in einer losgerissenen Tiefe (...), die die
Leinwand (oder die Tafel) zerrissen hat und sich dahinter ins Grenzenlose aus-
dehnt«.^ Womöglich figuriert sie auch als reale Pfeife, der der Abbildung auf der
Tafel ihr Maß aufzwingt, das zugleich maßlos ist: Mächtigkeit, die die Gewalt der
Namensgebung indiziert, vor der das Tafelbild - ein Irrtum, ein Versagen, ein
Pennälerscherz? — sich zuletzt beugen muß. Und doch geht keine der Interpreta-
tionen auf: Deutbar allein nach unterschiedlichen Richtungen, die immer wieder
in Widerstreit geraten, handelt es sich um zwei Mysterien: Rätsel des Spiels um

52 Der Aspekt wird in La trahision des Images von 1948 verstärkt: Magritte gibt det Abbildung da-
durch mehr Härte und Festigkeit, daß die Pfeife vor einem hölzernen Hintergrund erscheint und
der Schriftzug in Form eines Schildes auf dem Bild festgeschraubt zu sein scheint, wie auch die
Pfeife selbst durch Andeutung ihrer Matetialität und Schattierung mehr räumliche Tiefe ge-
winnt: Ehernes Verhältnisses zwischen Text und Bild, die die Schrift zur Signatur oder »In-
schrift« werden läßt, die das Objekt einer Sammlung klassifiziert. Dann etscheint die Verwirrung
nicht mehr nur auf der Ebene der Zeichen, sondern ihrer Materialität: Einschreibung einer Kon-
vention, deren Gewalt sich materiell manifestiert und die nicht gelockert werden kann, ohne sie
in ihrer Materialität zu zerstören.
53 Michel Foucault unterscheidet drei mögliche Lesarten des »Dies«: (a) Das Demonsttativprono-
men bezieht sich auf das Bild der Pfeife, von dem der Satz sagt, es sei keine Pfeife; (b) »Dies«, als
Anfangswort eines Satzes, kann die Pfeife, sei sie Wort oder Bild, nicht adäquat repräsentieren;
(c) »Dies« wiederum bezieht sich auf das Ganze von Bild und Text zusammen und negiert so des-
sen Pfeifensein. Dann wütde die Aussage lauten: Nirgends ist dort eine Pfeife. Vgl. ders., Dies ist
keine Pfeife, a.a.O., S. 18 ff.
54 Ebenda, S. 11 ff, 21 f.
55 Ebenda, S. 9.
STRUKTUR UND EREIGNIS 299

Worte und Bilder, wie auch Rätsel der Worte und Rätsel der Bilder und jenes
anderen, dem sie begegnen und von dem offen bleibt, was es sein könnte.
Die Paradoxien, die Magritte mithin quer zu den Institutionen der Normie-
rung aufspannt, untergraben so den Raum sozialer Beglaubigung und damit die
konventionelle Geltung von Kommunikation, die das Gesellschaftliche über-
haupt regelt. Systematisch schneiden sie die Konnexionen zwischen Zeichen und
Bezeichnetem und enthüllen die Grundlosigkeit einer Konvention, die kein ande-
res Fundament besitzt als die Gewalt ihrer Setzung, die sie zum Gesetz etklärt.
Nur scheinbar operiert dabei Magritte selber im Rahmen von Repräsentationali-
tät, die er zu bestätigen scheint: Seine Malerei wirkt figürlich, mimetisch, aller-
dings nicht im abbildenden Sinne, sondern gleichsam »katachretisch«. Dann
gleicht jedes Bild einem metaphorischen Prozeß: Schrift und Bild ermöglichen
durch die Dislokation des Gesagten und Gezeigten eine permanente Verschie-
bung, die dem ähnelt, was Jacques Lacan als Verfahren der Ent-Stellung oder
Versetzung (transposition) exponierte: Umbesetzung eines Tableaus von Bezeich-
nungen und Variation ihrer Orte, die ebenso Befreiung wie Katastrophen auslö-
sen kann. Entsprechend herrschen die Repräsentationen lediglich an der Oberflä-
che, in deren Tiefe sich eine Poetik der Bilder entbirgt, die keinem mysteriösen
Text gleicht, wie Freud die Träume und ihre Verschlüsselungen verstand, son-
dern eine Leere offenbaren: Nichtigkeit der Relationen oder Arbitrarität des Sym-

56 Unklar, welcher Deutung den Vorzug zu geben ist, wie ebenso unklar, was eigentlich der Satz Ce-
ci n'est pas une pipe durchstreicht: Negiert er die abgebildete Pfeife, so daß es sich um den Gegen-
satz zwischen Text und Darstellung handelt, bezöge sich das Demonstrativa »Ceci« auf die abge-
bildete Pfeife; negiert er hingegen das ganze Bild, das als Bild keine Negation duldet, bleibt ein
fundamentaler Riß. Dann bezöge sich das »Ceci« auf jene Affirmation des Zeigens, das mit der
Bildlichkeit des Bildes selbst verbunden ist, dem ein Sagen kontrastierte, das es negierte. Das Pa-
radox besteht dann nicht länger zwischen Text und Abbildung, sondern zwischen Sagen und
Zeigen als differente Modi des Darstellens selber. Denkbar wäre aber auch das Umgekehrte: Der
Satz steht da vor einer leeren Seite, ein Textpartikel, das eine Verneinung ausdrückt, dem, gleich-
sam wie im Traum, eine Stück Bild begegnet und ihm, als Affirmation, widerspricht: Dann ne-
gierte die Pfeife, wie Le deux mysteres nahelegt, den negativen Satz. Denkbar aber auch, daß der
Satz sich nur auf sich selbst bezieht, wie das Bild auf sich, so daß beide ein einträchtiges Neben-
einander bilden. Der Satz sagt dann von sich, er sei keine Pfeife, während das Bild die Pfeife
zeigt, von dem der Satz spricht, unfähig dasjenige, worüber er spricht, vorzustellen. Das Bild kä-
me dann einer Grenze gleich: Unzulänglichkeit der Sprache, die die bildliche Darstellung alleferst
enthüllt. Oder aber Bild und Satz zusammen verneinen die Zusammengehörigkeit des Pfeifenbil-
des mit einem Text, der das Pfeifensein von etwas, das vielleicht nicht einmal sichtbar ist, ver-
neint. Vielleicht verhöhnt aber auch das Bild, wie es im Falle von L air et la chanson von 1964 zu
sein scheint, wo die Pfeife noch raucht, die Konkuttenz det beiden Medien, die sich gegenseitig
auszustechen oder lächerlich zu machen suchen: Unvorhersehbares Spiel von Bild und Text, das
nirgends festgelegt werden kann.
57 So weist Gernot Böhme in seiner Betrachtung darauf hin, daß die Pfeife selbst höchst konventio-
nell dargestellt wird, wie sie dem Metier der Reklame und Gebrauchsgrafik entstammt, auf die
sich Magritte, selbst Gebrauchsgrafiker, bezieht; vgl. ders., Theorie des Bildes, a.a.O., S. 62 ff.
Verweis auf den Warencharakter der Dinge, die sie unausweichlich für eine ökonomischen Ver-
wenung eingemeindet haben? Hinzufügung eines weiteten Paradox, die Konvention im Medium
von Konventionalität zu brechen? Ironie, die zeigt, was sie verwirft? Die Fragen, die allerdings
weit über den Kreis des hier Thematisierbaren hinausweisen, deuten eine Unbestimmtheit an.
300 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

bolischen, der eine Fülle entspringt, aus der die Zeichen alleretst ihre Freisetzung
erfahren. Es ist genau dies, was Magfitte in seinet Schrift über die Wörter und
die Bilder angedeutet hat: »Ein Gegenstand hängt nicht so sehr an seinem Na-
men, daß man für ihn nicht einen anderen finden könnte, der besser zu ihm
paßte«; dazu abgebildet ein Laubblatt, versehen mit dem Hinweis »Le canon«.
Der Abschnitt variiert das Thema der Arbitrarität, der Begegnung zweier Genres,
der Selbständigkeit des Symbolischen, indem die Elemente jeweils ihre eigene
Sprache sprechen, die zuweilen wie unvereinbare Blöcke nebeneinander zu stehen
scheinen, zuweilen auch aneinandergeraten und sich vermengen; manchmal hört
auch die Anwendung eines Mediums auf, um abrupt in ein anderes zu wechseln,
wie Worte Bilder oder Bilder Worte ersetzen können oder sich auf Distanz halten
und Abstand gebieten.' Alles kommt nur auf die Beziehungen zwischen ihnen an:
Es geht nicht um die Worte und die Dinge, sondern um die Wörter und die Bil-
der sowie deren Relationen und die Ordnung, die sie dem Realen unterbreiten.
Entsprechend markiert, durch die Kaskaden seiner Widersprüche hindurch, Ceci
n'est pas une pipe das Extrem eines Umsturzes: Re-Voltierung der Legitimität des
Sozialen und seiner Konventionen, die ebenso für einen gemeinschaftlichen Um-
gang mit den Dingen sorgen wie sie die Garantien ihrer Haltbarkeit errichten,
zur Arbitrarität der Zeichen, die sie aus ihrer angestammten Verankerung befreit:
Losgelassene »Ordnung der Dinge« - wie denn auch die Lektüre des gleichnami-
gen Buches von Foucault, das ihre Relativität zeigt, für Magritte der Anlaß war,
dem Autor einige Drucke seiner Arbeiten zuzusenden.
Man kann also sagen, daß die »Pfeife« eine ästhetische Überschreitung pro-
biert, die die semiotische Gewalt der Be-zeichnung mittels Paradoxa aufbricht,
welche der Autarkie des Symbolischen allererst zur Geburt verhilft, wie sie die
strukturale Semiologie zum Programm erhebt. Erneut macht so das Paradox
sichtbar, was sonst verborgen bliebe: Ceci n'est pas une pipe spricht von einer sym-
bolischen Freiheit, indem sie einen Raum vielfacher Gabelungen und Verzwei-
gungen betritt, der eben jene Autonomie des Poetischen beschwört, wie sie Julia
Kristeva für die literarische Avantgarde der Moderne, vor allem am Beispiel

58 Bezeichnenderweise heißt es in den Schriften Magrittes unter dem Stichwort »Poesie« lapidar:
»La poesie est une pipe«. Der Hinweis dokumentiert, daß es sich bei den Pfeifenbildern tatsäch-
lich um das Problem einer Poetik handelt; vgl. ders., Sämtliche Schriften, a.a.O., § 20, S. 42.
59 Ders., Die Wörter und die Bilder, in: ders., Sämtliche Schriften, a.a.O., S. 43.
60 Keineswegs ist im übrigen klar, ob sich die Lektüre des Bildes im Gegensatz zwischen Bild und
Text erschöpft, der in ihm lesbar ist. Vielmehr können beide ebensogut auseinandertreten,
gleichsam disparate Räume bewohnen. Es ist eine Sache, etwas zu betrachten, eine andere zu le-
sen, wie es Unterschiedliches bedeutet, zu zeigen und zu sagen. Als autonome Geschöpfe diffe-
renter semiotischer Territorien kommt ihnen vielmehr die Freiheit zu, sich mit allem möglichen
zu verbinden und neue Kontexte einzugehen, die die Konnexion zwischen gemalter und be-
nannter bzw. zurückgewiesener Pfeife in unterschiedliche Richtungen überschreiten. Dann the-
matisiert das Bild auch die Lücke, die zwischen Bild und Text klafft, ihre Unmöglichkeit, sich di-
rekt aufeinander zu beziehen, vielmehr eine Vielfalt möglicher »Begegnungen« zu eröffnen, die
weder vorherbestimmt noch vorhersehbar ist. So gesehen läßt das Bild dann vielerlei Lesarten zu:
Interpretierbar als beunruhigende Konfrontation zweier Zeichenreihen, gleichsam als Alptraum
der Sprache gleichwie der Malerei.
STRUKTUR UND EREIGNIS 301

Stephane Mallarmes, Lautreaments, Antonin Artauds oder James Joyces rekla-


miert hat:' »Intertextualität«, in dem allein Texte auf andere Texte oder Bilder
auf Bilder wie auch Texte auf Bilder und Bilder auf Texte reagieren. Das »Reale«
existiert nicht, vielmehr nur Figuren, Worte oder Zeichen, hinter denen erneut
Figuren, Worte und Zeichen auftauchen, die ihre Plätze tauschen und von ande-
ren Figuren, Worten und Zeichen erklärt, bereichert oder auch vernichtet wer-
den. Entsprechend bleibt ihr Zuordnungsverhältnis prekär: Der Grund der Se-
miosis liegt nicht in irgendeiner Ähnlichkeit oder Relation mit seinem Bezeich-
neten, auch nicht in seinem Bezug auf ein Außen, sondern in einer Differenz, für
die es nurmehr einen Nicht-Grund ihres Zusammenschlusses gibt. »Nimmt man
das austauschbare Ding auf der einen Seite (...), auf der anderen die co-
systematischen Terme, bietet das keine Verwandtschaft«, denn »das sprachli-
che/linguistische Zeichen (ist) von seiner Natur her beliebig«, " hatte im selben
Sinne Saussure notiert. Der Punkt wird im Cours als »erster Grundsatz« einet
Theorie des sprachlichen Zeichens ausgewiesen, wobei die Formulierung aller-
dings insofern irreführend bleibt, als eine ganze Anzahl anderer Grundsätze in das
gleiche Privileg gerückt wird. Doch ist entscheidend, daß die derart hervorgeho-
bene »Beliebigkeit« der Zeichen sie von ihrem Anderen, das sie nicht sind, und
woran sie sich wenden, entlassen, vielmehr das »Andere« einzig in anderen
chen besteht, mit denen sie in Verbindung stehen. Sie genießen damit eine Frei-
heit, die die Frage ihrer Verbürgung, wie sie die Diktion des Bildes nahelegt,
nicht meht zuläßt. Keinesfalls darf solche Freiheit allerdings mit der souveränen
Geste einet »freien Wahl det Person« verwechseln werden, als ob wir uns jeweils
nach Gutdünken für die eine oder andere Benennung entscheiden könnten — das
legt auch Magritte nicht nahe; vielmehr meint Freiheit einzig, frei »im Verhält-
nis zum Bezeichneten«, mit welchem das Zeichen »in Wirklichkeit keinerlei na-
türliche Zusammengehörigkeit hat«.' D.h. die Katgeorie des Arbiträren schließt
aus, daß es überhaupt Zuordnungen gibt und daß die Beziehung zwischen Zei-
chen und Wirklichkeit auf irgend eine Weise garantiert werden kann, und sei es
durch eine Interpretation. Sein Sinn ist daher ein negativer. »Das ist unser Glau-
bensbekenntnis«, betont eine Bemerkung zum Cours: »In der Linguistik vernei-
nen wir im Prinzip, daß es gegebene Gegenstände gäbe (...).«
Die Techniken Saussures und Magrittes, wiewohl sie scheinbar weit auseinan-
derliegen, decken sich in diesem Punkt: Sie konvergieren am Ort der Kontingenz
des Symbolischen. Folglich gibt es auch keinen Grund mehr, eine Lesart einer an-
deren vorzuziehen oder sie gegeneinander auszuschließen, vielmehr gibt es über-

61 Julia Kristeva, Zu einer Semiologie der Paragramme a.a.O., sowie dies., Die Revolution det poeti-
schen Sprache, Frankfurt/M. 1978.
62 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 402, 403 passim.
63 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 80.
64 Det Maler will »die Freiheit des Geistes«, wie es in Die wahre Kunst des Malens heißt; vgl. Rene
Magritte, Sämtliche Schriften, a.a.O., S. 219.
65 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 80.
66 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 301.
302 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

haupt nur noch Lektüren, deren Netze sich unendlich spannen lassen, und vor
deren Wucherungen die Institutionen symbolischer Ordnung zu schützen su-
chen. Heißt nicht die Worte und die Dinge zu ver-setzen, eine statuierte Macht
stören und einen Taumel zuzulassen, der sich zu immer neuen Poesien der Welt
ergießt? Der Surrealismus hatte gegen die nüchterne Sachlichkeit der wissen-
schaftlichen Rationalität, die die Luftwege der Phantasie abzuschnüren drohte,
die Traumproduktionen der Montage und des automatischen Schreibens aufge-
boten: Schneidung von Texturen unbekanntet Herkunft, die nicht länger jenem
»Realitätsprinzip« gehorchten, das nach Sigmund Freud über die Mystifikationen
des Begehrens wacht, vielmehr eine enthemmte Verkettung von Zeichen zulas-
sen, die zu bizarren Folgen eines unvermuteten Zusammentreffens verfugt wer-
den, aus deren Zwischenräumen jene Narben hervorstechen, die ihre Fragmentie-
rung wiederum sichtbar machen; Mosaike, zu eigensinnigen Mustern gefügt, die
eigenen Strukturen genügen, Zufälliges mit Unvereinbarem mischen, deren Fa-
cetten nicht als lesbare Momente figurieren, sondern poetischen Ordnungen fol-
gen, die ihren unverwechselbaren Sinn wirken." Weder »Welttrümmer« eines
zerspitterten Lebens, wie es noch Adorno wähnte, noch Nachahmungen einer
psychoanalytischen Praktik, entspinnen sie ihre rätselhaften Szenarien aus den
»syntagmatischen« und »assoziativen« Ketten der Signifikant!Signifikat-QXieder,
die sprunghaft von Spur zu Spur gleiten. Gleichermaßen arbeitet die Sprache,
Saussure zufolge, mit beiden Beziehungsarten. Die »Syntagmata« etlauben danach
die »Kombination« der Reihen, die ihre Aufeinanderfolge regeln und über ihre
»Ausdehnung« wachen:' Rhetorisches Verfahren der Metonymie, das Jakobson
einer der beiden Achsen der Sprache zugeschrieben hat und Roland Barthes der

67 Ein fast analoges Verfahren, mit dem er allerdings wissenschaftlich scheiterte, hatte Saussure in
bezug auf seine Analysen antiker Anagramme anzuwenden versucht: Doppelte Texturen, die sich
unterhalb einer Oberfläche von Zeichen schreiben, die nicht der Logik eines Sinns gehorchen,
gleichen sie einer Schrift in der Schrift. Vgl. ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 436 ff.
Kritisiert wird auf diese Weise die Vorstellung, daß eine Bedeutung vorgegeben sein müsse, der
die Sprache bloß nachfolge, indem sie sich einem von Außen gegebenen Sinn aufpfropft. Dage-
gen bieten die Ana- oder Paragramme ein Beispiel dafür, daß sich die Bedeutungen sekundär als
Effekte einer anderswo geschriebenen Textur schreiben. Sie enthüllen so eine Autarkie des Sym-
bolischen, die sich einer strikten hermeneutischen Lektüre deswegen widersetzt, weil sie nicht in
der Tiefe des Sinns erscheint, sondern gleichsam ihre verschiedenen Schichten allein auf det
Oberfläche der Zeichen entfalten. »Mir vorzustellen, daß eine Legende mit einem Sinn beginnt,
von ihrem ersten Ursprung an den Sinn gehabt hat, den sie hat, oder eher mir vorstellen, daß sie
nicht einen absolut beliebigen Sinn haben kann, ist eine Operation, die mein Vorstellungsvermö-
gen überschreitet«, heißt es in einer verwandten Studie über germanische Legenden, ebenda,
S. 432. Man kann sagen, daß die Beobachtung geradezu in nuce das Programm surrealistischer
Dichtungstheorie ergibt, wie es Julia Kristeva mit dem Anspruch auf eine »allgemeine Poetologie«
entworfen hat; vgl. dies.. Zu einer Semiologie der Paragramme, a.a.O., sowie dies., Die Revolution
der poetischen Sprache, a.a.O. und meine Darstellung in: D. Mersch, Das Semiotische und das
Symbolische. Julia Kristevas Beitrag zum Strukturalismus, in: Joseph Jurt (Hsg.), Von Michel
Serres bis Julia Kristeva, a.a.O.
68 Theodor W. Adorno, Rückblickend auf den Surrealismus, in: ders., Versuch das Endspiel zu ver-
stehen, Frankfurt/M. 1972, S. 101-106, hier: S. 102.
69 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 148 ff.
STRUKTUR UND EREIGNIS 303

Poesie zuwies. Die Assoziationen wiederum liefern »Paradigmata«: Gruppenbil-


dungen, in denen das Prinzip der Selektion waltet, den komplexen Verfahren
der Metaphernbildung vergleichbar, die wiederum Jakobson zur zweiten
Sprachachse erklärte und Roland Barthes zu ihrer eigentlichen »dichterischen
Funktion« erhob. Poetik und Dichtung bilden dann die beiden genuinen Me-
chanismen der Sprache: Äußerstes Gegenbild zu den Idealen einer Wissenschafts-
sprache, die sich der Eindeutigkeit der Begriffe und Zeichen verschreibt, zugleich
Parallele zur Struktur der Traumgenese, wie sie Freud in seiner Traumdeutung
aufwies " und Lacan sie mit dem Funktionieren der Sprache in Verbindung
brachte.
Jenseits von Funktionalität schreibt somit die Sprache ihre eigene Ästhetik:
dies wäre die Konsequenz, die schließlich aus der Saussureschen Begründung der
Linguistik und dem für sie maßgeblichen Begriff der »Arbitrarität« zu ziehen wä-
re: Artifizienz eines Tartpour l'art, die sie aus ihrer Verbürgung im Anderem, dem
»Referenzgrund« des Wirklichen entläßt. In weiten Strecken berühren sich
strukturale Semiologie und poetische Praxis des Surrealismus: Weniger bekundet
sich in diesem ein strenges linguistisches Denken als eine ästhetische Erfahrung:
Poetik der Sprache, die eine Textur ohne Außen webt, allein aus Zeichen, die ein-
ander umkreisen, sich trennen oder verstärken und miteinander in Widerspruch
geraten, um zusammen eine »Form« zu ergeben, deren Anderes kein Korrelat im

70 Roman Jakobson spricht von »Similaritäts«- und »Kontiguitätsrelation«, die er mit den rhetori-
schen Übertragungsfiguren der Metonymie und Metapher in Verbindung bringt; ders., Zwei
Seiten der Sprache und zwei Typen aphasischer Störungen, a.a.O., die später ebenso mit den Pri-
mär- und Sekundärprozessen des Unbewußten bei Freud in Verbindung gebracht wurden. Der
theoretische Weg führt über Nikolai Kruszewskis Prinzipien der Sprachwissenschaft, Techmers
Internationale Zeitschtift für allgemeine Sprachwissenschaft, Nr. 1, 2, 3, u. 5 (1884-1890), der
die Begriffe Similaritäts- und Kontiguitätsbeziehungen einführt, zu den Deutungen Roland Bart-
hes, der sie, wie Jakobson auch, mit der prosaischen und dichterischen Funktion der Rede in
Verbindung bringt; vgl. ders., Literatur oder Geschichte, Frankfurt/M. 1969, S. 36 ff; ders., Die
Augenmetapher, in: Helga Gallas (Hsg.), Strukturalismus als interpretatives Verfahren, a.a.O.,
S. 25-34; ders. Lecon/Lektion, Frankfurt/M. 1980.
71 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 150 ff.
72 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, a.a.O., VI, A, B; S. 235 ff. 255 ff; sowie ders., Das Unbe-
wußte, a.a.O., S. 145 ff.
73 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache m der Psychoanalyse, a.a.O., bes.
S. 107 f. Eine interessante, bisher kaum verfolgte Parallele ergibt sich dabei zu Nelson Goodmans
Allgemeiner Symboltheorie insofern, als dort zwischen »analogen« und »digitalen« Symbolsche-
men unterschieden wird, wobei ersteren die Strukturmerkmale der »Dichte« und »Fülle« in dem
Sinne zukommen, als jedes Detail symbolisch relevant und die Reihe der Merkmale gleich einer
unendlichen Intervallschachtelung beliebig »verfeinerbar« scheinen, letztere dagegen auf »Diffe-
renziertheit« beruhen; vgl. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 154 ff. Die »Logik«
der Digitalität ließe sich dann mit der Struktur der Sekundärprozesse des Bewußtseins, die »Alo-
gik« der Analogizität mit denen der Primärprozesse von Traum und Unbewußtem bei Freud ver-
gleichen; ein Vergleich freilich, den Goodman selbst nicht zieht. Zudem wären digitale Systeme
mit rationalen Sprachmodellen vergleichbar, wohingegen »analoge« Symbolisationen der Rheto-
rik und Poetik zuzuweisen wären. Einen Schritt in diese Richtung, allerdings bezogen auf eine
musikologische Ästhetik, unternimmt Simone Mahrenholz, Musik und Erkenntnis, Stuttgart
Weimar 1998, vor allem S. 186 ff. Goodmans Metapherntheorie legt wiederum den Bezug auf
»Verschiebung« und »Verdichtung« bei Freud nahe; vgl. ebenda, S. 84 ff.
304 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Realen, sondern wiederum nur Garben anderer Zeichen bilden: Zeichen, umge-
ben von einem Hof weiterer Zeichen, auf die sie sich zurückbeugen oder von de-
nen sie sich absetzen: Zeichen heckende Zeichen, Zeichen verneinende Zeichen,
Zeichen zurückweisende Zeichen, Zeichen erfindende Zeichen, Zeichen entstel-
lende Zeichen oder Zeichen wiederkehrender und Zeichen zersetzender Zeichen
- vergleichbar wiederum Le livre, dem »Buch« Stephane Mallarm^s, das die Welt
in sich spiegelt und worin das Wort in letztet Instanz nur das »Nichts« berührt. Es
bildet den Vorschein der Idee des Strukturalismus, indem schließlich Mallarme,
ebenso wie später Derrida, der sich ihm in Dissemination ausführlich zugewandt
hat, das Zeichen, die Marke mit sich selbst gleichsetzt: Die Schrift bezeichnet die
letzte Substanz, die nicht mehr Substanz wäre und die sich an der Grenze zu
dem, was nicht mehr Schrift wäre, wie der Wittgensteinsche »Spaten« zurückbiegt
und auf sich verweist.
Heißt das nicht, die Dinge und die Zeichen zu derangieren, sie in selbständige
Ordnungen treten lassen und grundlose Gewebe flechten, deren verwunschene
Welten buchstäblich zu träumen anfangen? »So träumt man nicht, keiner
träumt so«, hatte Adorno dem Surrealismus beschieden und damit mißverstan-
den, daß es diesem keineswegs um die Imitation nächtlicher Wunschtheater ging,
sondern um jene Kraft des Poetischen, die in den Strukturen selber liegt, wenn
sie zum »Feiern« angestiftet werden. »Sinn« (sens) ist ein in beiden Richtungen
(sens) lesbares Geschehen, hat Gilles Deleuze betont. ' Die strukturale Sprachauf-
fassung impliziert darum einen »Arealismus«, wie gleichermaßen der Surrealismus
weder einen Hyper- noch einen Hypo-Realismus bildet, sondern eine semiologi-
sche Ästhetik, die sich in der Autarkie des Symbolischen, und nur dort enthüllt.
Ihre diskontinuierliche Arrangements gestatten Verknüpfungen, die in keinem
konventionellen Katalog verzeichnet sind. In diesem Sinne gleichen die Bilder
Magrittes, wie auch die von Max Ernst oder die Objekte Man Rays und anderer,
Mysterien, die Kunst und Malerei dichterisch zum Leuchten bringen: Geheimnis-
se, die den Betrachter beunruhigen, nicht, um ihre Dechiffrierung zu begehren,
sondern um sich von ihren bizarre »Alogik« entfuhren zu lassen: Vervielfältigung

74 «Rappel ä Vordre» lautete eine Schrift mit Aufsätzen Jean Cocteaus, die 1926 in Paris erschien:
Ruf zur Ordnung, der zugleich ein Ruf zur Unordnung war, ein Appell an die Ästhetik der An-
Archie, als deren Niederschlag ebenfalls Magrittes Ästhetik zu lesen wäre: Eine beinahe wörtlich
zu verstehende Aufforderung zum Regelbruch, um durch das Ereignis ihrer Verwirrung die Ge-
setze det Rationalität durcheinanderzubringen und die Dinge gleichsam zum Tanzen zu bewe-
gen. »Wir leben noch unter der Herrschaft der Logik«, heißt es im Ersten Surrealistischen Manifest
Andre Bretons, »Unnötig hinzuzufügen, daß auch der logischen Erfahrung Grenzen gezogen
wurden. Sie windet sich in einem Käfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen.
(...) Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, al-
les aus dem Geiste zu verbannen, was zu recht oder unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt,
und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht det gebräuchlichen entspricht. (...) Ich
fordere, daß man schweigt, wenn man nicht mehr fühlt.« Andre Breton, Die Manifeste des Sur-
realismus, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 15 u. 14 passim.
75 Theodor W. Adorno, Rückblickend auf den Surrealismus, a.a.O., S. 102.
76 In dieser Doppelsinnigkeit verwendet Gilles Deleuze den Ausdruck »sens«; vgl. ders., Logik des
Sinns, a.a.O., bes. S. 29 ff.
STRUKTUR UND EREIGNIS 305

von Rätseln, die im selben Augenblick zurückweichen, da sie zu entziffern ver-


sucht werden. Es handelt sich also nicht um Deutbares, sondern um Transgres-
sionen, wie sie Saussure auf den Weg brachte, dessen Konsequenzen er sich
gleichwohl nie auszumalen wagte: Poetiken, die, wie Waltet Benjamin die ästheti-
schen Experimente des Surrealismus resümierte, der Sprache selber entspringen,
indem sie ihre eigene innere Magie entfachen, »wo Laut und Bild und Bild und
Laut mit automatischer Exaktheit derart glücklich ineinandergriffen, daß für den
Groschen >Sinn< kein Spalt mehr übrigblieb (...): >Nach Ihnen, liebste Sprache.«
Die hat den Vortritt.«

77 Walter Benjamin, Der Surrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz,
in: ders., Gesammelte Schriften II.l, Frankfurt/M. 1977, S. 295-310, hier: S. 296, 297. S. 302
heißt es weiter: »(M)agische Wortexperimente, nicht artistische Spielereien sind die passionierten
phonetischen und graphischen Verwandlungsspiele, die nun schon fünfzehn Jahre sich durch die
gesamte Literatur der Avantgarde ziehen, sie mögen Futurismus, Dadaismus oder Surrealismus
heißen«.
2. KAPITEL:
SCHNITTE UND ORDNUNGEN
(SAUSSURE II)

(...) die Spur des Zeichens, die gezogen schien,


verlöscht: nichts ist gewonnen, der Stein des
Wortes ist umsonst geworfen: weder Wellen
noch ein Strom von Sinn.
Roland Barthes

Die »Beginnlosigkeit«

Saussure postuliert von Anfang an einen Holismus des Symbolischen, dessen


»Anderes« Element seiner selbst ist. Weit davon entfernt, »für« etwas zu stehen
odet in eine infinite Rekursion zu geraten, bilden die Zeichen Orte in einem En-
semble von Orten, Stellen innerhalb eines Systems von Stellen, Marken unter
deren Marken, die nur »sind«, soweit sie sich gegenseitig stützen und voneinandet
differieren, einzig ausgesetzt einem ebenso monotonen wie gleichmäßigen Wan-
del det Wiederholung und Metamorphose. Behauptet wird damit ein Raster, das
seine Netze auslegt, um in ihren Maschen jene indirekten »Gliederungen« ausfin-
dig zu machen, die allererst ihre Position »als« Zeichen definieren. Entsprechend
erscheinen sie durch eine Grundlosigkeit markiert, die den Prozeß der Signifika-
tion allein im Rückgriff auf das signiert, worin er plaziert ist. Die Struktur erweist
sich von vornherein als primär: Apriorität, die das Prinzip einer Konstitution
nennt, aus der silhouettenhaft die vielfältigen Gestalten dessen hervorspringen,
was als das »Reale« bezeichnet werden kann. Außerhalb dieser gibt es weder Zei-
chen noch Sinn.
Keineswegs widerspricht jedoch der strukturale Zugriff per se schon dem funk-
tionalen Zeichenbegriff, auch wenn Analytik und Pragmatik der Systematizität
des Systems nur wenig Beachtung geschenkt haben. Nach Charles William Mor-
ris, der von Peirce her die Unterscheidung zwischen Syntax, Semantik und Prag-
matik einführte, die sich inzwischen sowohl in der semiotischen wie linguisti-
schen Theoriebildung durchgesetzt hat, lasse zwar der »geläufige Sprachgebrauch
die Möglichkeit offen (...), den Begriff >Zeichen< auf etwas anzuwenden, was
nicht zu einem Zeichensystem gehört«, doch falle es im Einzelfall schwer, »nach-
zuweisen, daß es so etwas wie ein isoliertes Zeichen gibt«. Jedes Zeichen stehe
vielmehr »in Beziehung zu anderen Zeichen, wenn nicht aktuell, so doch potenti-
ell«." Prätendiert wird damit ein singulärer Zeichenbegriff; gleichwohl ist die Par-

1 Wir entnehmen den Ausdruck »Beginnlosigkeit« dem gleichnamigen Roman von Botho Strauss,
München 1997.
2 Charles William Morris, Grundlagen der Zeichentheorie, a.a.O., S. 24.
STRUKTUR UND EREIGNIS 307

allelität mit dem Saussureschen Ansatz insofern auffallend, als die Zeichen in Zu-
sammenhang mit anderen gedacht werden. Dennoch bleibt unklar, um welche
Art von Potentialität es sich handelt, wie ebenso, worin die Konzertierung be-
steht, die sie austrägt. Vielmehr kennzeichnet der Begriff des Zeichensystems bei
Morris ein empirisch vorfindbares Faktum, das jeweils gesonderter Erforschung
bedarf, auch wenn, schon aufgrund der Zugangsart, der Zeichendefinition selber
gewisse Prävalenzen unterlegt sind. Insonderheit beschränkt sich Morris ganz auf
die Analyse jener systemgenerierenden Parameter, die wiederum der Zerlegung
des semiotischen Feldes syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln
gehorchen, die freilich ihre Plausibilität allein jener ternären Logik der Semiose
verdankt, die sie voraussetzt. Sie regeln die formativen Relationen der Zeichen
untereinander ebenso wie die Beziehung zu ihren Objekten und die Handlungen
der Interpreten, die sie verwenden, ohne sie allerdings aufeinander zu beziehen
oder ihre Konnexionen aufzudecken. Ausschließlich kapriziert sich Morris dabei
auf die Methode deskriptiver Beschreibung und verbleibt damit innerhalb eines
Zirkels. Denn die Regeln müssen jeweils schon vorliegen, um als Regeln aus einer
Menge empirischer Daten extrapoliert zu werden: So determinieren sie bereits
diejenigen Praktiken, aus denen sie als Regeln erschlossen werden. Keine beob-
achtbare Handlung legt von sich her dar, welcher Konvention sie folgt; fraglich
erscheint schon, ob sie überhaupt einer Norm oder Regel genügt. Auch wenn
späterhin Noam Chomsky aufgrund von Analogien mit gewissen metamathema-
tischen Formalsprachen eine »Universalgrammatik« mit allgemeinen Syntaxregeln
aufzustellen suchte, bleibt der gleiche Vorwurf, aus der Analyse praktischer Intui-
tionen »kompetenter Sprecher« diejenigen »apriorischen Formen« destillieren zu
wollen, die ihnen zugrunde liegen. Denn der Begriff der »Kompetenz« wird gera-
de durch das definiert, was diese beinhalten. Die Crux betrifft sämtliche sich
daran anschließenden analytischen wie auch hermeneutischen Modelle, etwa jene
»Universal-« und »Transzendentalpragmatiken«, wie sie Habermas und Karl-Otto
Apel im Anschluß an Kant und Chomsky für eine allgemeine Kommunikation-

3 Vgl. ebenda, S. 24 f., 28 ff, sowie ders., Zeichen, Sprache und Verhalten, a.a.O., S. 73 ff.
4 Unklar erscheint schon, was genau unter »Regel« zu verstehen wäre. John Searle unterscheidet
zwischen »regulativen« und »konventionellen« Regeln, wobei erstere für die Grammatik, letztere
für den eigentlichen sprachlichen Gebrauch reserviert sind; vgl. ders., Sprechakte, a.a.O.,
S. 24 ff, 54 ff, 100 ff; sowie ders., Was ist ein Sprechakt, in: Horst Holzer, Karl Steinbacher
(Hsg.), Sprache und Gesellschaft, Hamburg 2. Aufl. 1972, S. 153-173, vor allem S. 155 ff.
Dann erscheint allerdings, in bezug auf das Performative, erneut der Begriff der Konvention we-
sentlich: Übereinstimmung in der Verwendung im Sinne von conventus, der Stiftung, Einigung,
die aus der Sprache ein gemeinschaftliches Geschäft macht.
5 Zur mathematischen Grundlegung der »Generativen Grammatik«, wie sie Chomsky in Aspekte
der Syntax-Theorie, Frankfurt/M. 1969 entwickelt hat, vgl. Noam Chomsky, M.P. Schurzenber-
ger, The Algebraic Theory of Context-free Languages, Amsterdam 1963, Noam Chomsky, Syn-
tactic Structures, The Hague, Paris 1976; ferner: Ferenc Kiefer (ed.), Mathematical Models of
Language, Frankfurt/M. 1973. Demgegenüber hat Searle eingewandt, es handle sich nicht ei-
gentlich um eine »Kompetenz-Theorie«, sondern um eine Performanz-Kompetenz; vgl. ders.,
Chomskys Revolution in der Linguistik, in: Günther Grewendorf, Georg Meggle (Hsg.), Lingui-
stik und Philosophie, Frankfurt/M. 1974, S. 404-438, vor allem S. 419 ff.
308 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

stheorie entwickelt haben: Sie trachten aus »rationalen« Gesprächssituationen


diejenigen »verbindlichen Präsuppositonen« zu rekonstruieren, die als nicht mehr
zu bestreitende conditiones sine quibus non wiederum deren »Rationalität« garan-
tieren. Sie verstricken sich somit unweigerlich in eine petitio principii, der auch
die methodische Trennung zwischen knowing how und knowing that keine Ab-
hilfe zu verschaffen vermag, weil beiden gleichermaßen ein deskriptiver Kern zu-
kommt, der einen Schluß vom Faktischen zum Apriorischen kaum duldet. Indem
sich beide auf Resultate einzelwissenschaftlicher Disziplinen beriefen, ohne deren
philosophische Relevanz auszuweisen, bleibt der nicht zu tilgende Anruch eines
»transzendentalen Empirizismus«.
Problematisch erscheint jedoch vor allem das Postulat der Regel als Regel. Es
führt zurück auf die bei analytischen wie pragmatischen Linguistiken gleicherma-
ßen beliebte Metapher des Schachspiels, die eine ebenso lange Tradition aufweist
wie die Verkennung ihres Status. Der Vergleich gilt der Entsprechung von Satz
und Zug, die beide auf Figuren basieren, denen gleichgültig ist, wie sie lauten
oder aussehen: Ausschlaggebend erscheint allein die Ausgangssituation sowie je-
nes Set von Regeln, das die potentiellen Spielzüge definiert. Indessen besteht die
Schieflage des Bildes darin, daß sich die Logik des Spiels aus Grundelementen
aufbaut, aus denen sich die zulässigen wie unzulässigen Züge herleiten - ein Kon-
struktionalismus, der für die Sprache so nicht gilt. Ahnlich mathematischen

6 Schon Austin und Searle argumentieren mit Blick auf den tatsächlichen Sprachgebrauch; ebenso
Dieter Wunderlich, Studien zur Sprechakttheorie, Frankfurt/M. 1976, sowie ders., Probleme ei-
ner linguistischen Pragmatik, in: Horst Holzer, Karl Steinbacher (Hsg.), Sprache und Gesell-
schaft, Hamburg 2. Aufl. 1972, S. 173-187. Es ist hiet allerdings nicht der Ort, den verwickelten
Fragen des Empirischen in der Sprechakttheorie und Ordinary Language Philosophy nachzugehen;
einige Hinweise gibt mein Aufsatz D. Mersch, Kommunikative Identitäten und performative
renzen. Einige Bemerkungen zu Habermas' Theorie der kommunikativen Rationalität, a.a.O.
7 Wittgenstein, bei dem die Metapher des Spiels radikal wird, wollte sie demgegenüber nur als
»Vergleichsobjekt« verstanden wissen, um daran einige Züge der »Praxis des Gebrauchs der Spra-
che« zu erläutern, nicht schon zu erklären, denn nur »manchmal« sei die Rede von »Sprachspie-
len« im Sinne von Analogien sinnvoll; vgl. ders., Philosophische Untersuchungen, a.a.O., §§ 7
ff, S. 16 ff. Auch bleibt nach Wittgenstein offen, sowohl was »eine Sprache beherrschen« genau
bedeutet, als auch, was der Begriff »Spiel« alles umfaßt. Nicht notwendig fußt die Beherrschung
einer Handlung - wie das Beherrschen eines Spiels - auf Regeln: »Man kann sich aber auch den-
ken, Einer habe das Spiel gelernt, ohne je Regeln zu lernen, oder zu formulieren.« Vgl. ebenda,
§ 31, S. 28 f.; ferner: ebenda §§ 68, S. 49 ff, bes. § 71, S. 50 u. § 75, S. 52 f. sowie § 100, S. 64.
Wittgenstein hatte deshalb jede »Theorie« der Sprache abgelehnt; vgl. ebenda, §§ 65 ff, S. 47 ff.
u. § 109, S. 66: »Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.« Ähnlich
heißt es in der Philosophischen Grammatik: »Gesprochenes kann man nur durch die Sprache er-
klären, drum kann man die Sprache selbst, in diesem Sinne, nicht erklären. Die Sprache muß für
sich selbst sprechen.« Ders., Philosophische Grammatik, a.a.O., S. 40. Das bedeutet: Der Regel-
begriff dient Wittgenstein lediglich zur Exemplifikation, nicht zur Begründung, und »(d)as Ex-
emplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung«, vgl. ders., Philosophische Unter-
suchungen, a.a.O., § 71, S. 51, so daß das »Bild« der Regel nicht als Kategorie fungiert, das mög-
liche Verwendungsweisen der Sprache modelliert, sondern als Beispiel, das, an die Kontingenz
des Spiels mahnend, jeglichen Anspruch auf sprachliche Vernünftigkeit dementiert: »Hier stoßen
wir auf die große Frage, die hinter allen diesen Betrachtungen steht. - Denn man könnte mir
einwenden: >Du machst dir's leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nir-
gends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache ist. Was allen die-
STRUKTUR UND EREIGNIS 309

Theorien, die, Konsistenzbedingungen vorbehalten, durch die Wahl einer Men-


ge, gewisser Axiome und einer Anzahl von Produktionsregeln eindeutig festgelegt
sind, erscheint dann das Spiel als eine exakte syntaktische Maschine, die prinzipi-
ell unbegrenzt viele Stellungen generiert. Hingegen besteht die eigentliche rekon-
struktive Aufgabe der Linguistik in der genauen Umkehrung: Es liegt lediglich
eine endliche Reihe von beobachteten Zuständen vor, aus denen die zugrunde lie-
genden Regeln allererst erschlossen werden müßten. Sie bürdet dem Regelbegriff
eine prinzipielle Vagheit auf. Zudem produziert jede Regel bei jeder Wiederho-
lung das gleiche; Regelfolgen erfordert, worauf Wittgenstein hingewiesen hat, ei-
ne Unerbittlichkeit: Ihre Anwendung ist strikt, jede Abweichung oder Verletzung
spielt bereits ein anderes Spiel. D.h. Regeln unterstellen Identität. Keineswegs
kann eine solche jedoch für den Sprachgebrauch angenommen werden: Zwar gibt
es Regelmäßigkeiten, die eine gewisse Verbindlichkeit statuieren; gleichwohl ge-
schieht die Praxis des Sprechens kreativ, sie gehorcht Bedingungen ebenso wie sie
jederzeit mit ihnen bricht. Ausdrücklich hat darum Saussure die Spielmetapher,
auf die er bei verschiedenen Gelegenheiten selber zu sprechen kommt, abgewie-
sen: Die Praktiker der Sprachwissenschaft hätten die Sprache bisher »als eine
Schach-Position« betrachtet, »sich fragend, welches in dieser Position der respek-
tive Wert der Stücke sei«, den historischen Grammatikern wiederum sei es aus-
schließlich um »die Folge der Züge« gegangen, um »eine perfekte Sicht der Partie
zu haben«; beide unterlägen jedoch dem gleichen »Irrtum«: »(S)icher, wie wir
sind, daß eine Sprache (langue) nur mit einer vollständigen Vorstellung einer
Schachpartie vergleichbar ist, die sowohl die Positionen als auch die Züge, sowohl
die Wandlungen als auch die Zustände in der Abfolge umfaßt, wird uns nichts
daran hindern, in den Vergleich einen ziemlich wesentlichen Zug einzuführen,
nämlich einen gänzlich absurden und unintelligenten Spieler anzunehmen, wie es
der Zufall der phonetischen (...) Ereignisse ist (...).«
Saussure leugnet so, daß in der Sprache, wie auch in anderen komplexen se-
miologischen Systemen, klare Größen existieren, mit denen eindeutig zu rechnen
sei; vielmehr gleicht sie einem unaufhörlich changierenden Geschehen, das dem
Gesetz der »Unbestimmbarkeit« genügt. Kein Sprachfragment ist, gemäß eines
Notats über Zustand und Ereignis, »als ganz klare Entität gegeben«, die sich »wie
eine chemische Substanz analysieren« ließe, " vielmehr greift die Verwendung der

sen Vorgängen gemeinsam ist und sie zur Sprache, oder zu Teilen der Sprache macht. (...)< —
Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen
Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wit ftir alle das gleiche Wort verwenden, -
sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt.» Ebenda, § 65, S. 47 f.
8 Ders., Philosophische Untetsuchungen, a.a.O., §§ 68 ff, S. 49 ff, bes. § 6 8 - 7 1 , 82-85, 100,
S. 49 f., 56 f., 64.
9 Vgl. z.B. Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 27,
sowie S. 127 ff. Vgl. ferner ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 309 ff, 321.
10 Ebenda, S. 309.
11 Von einem »Gesetz der Unbestimmbarkeit« spricht im Anschluß an Saussures Anagramm-
Studien Jean Statobinski, Wörter unter Wörtern, a.a.O., S. 13.
12 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 340, 341, passim.
310 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Zeichen stets auf, was schon in Umlauf begriffen ist, um es erneut »in die Zirku-
lation« zu wetfen. Statt von Regeln wird er deshalb von Wiederholungen spre-
chen, durch die die Zeichen aufgenommen und weitergetragen werden, ohne daß
ihre Fortsetzung bereits dem Gesetz einer Identität genüge. Zwar erweist sich die-
ses logisch als dem Begriff der Iteration vorgängig - von einer Wiederholung des
Selben kann nur gesprochen werden, wenn das Selbe schon unterstellt wird -;
doch fußt jede Logik ihrerseits wieder auf dem Begriff des Zeichens und setzt mit
diesem seine Wiederholbarkeit bereits voraus, weil andernfalls nicht von Zeichen
gesprochen werden kann. Zwischen beiden ergibt sich eine Indifferenz oder Un-
entscheidbarkeit, je nachdem worin der Vorrang erblickt wird: logos oder semeion.
Zugleich ist damit jenes Wiederholungsproblem angezeigt, das in der struktura-
len Semiologie eine exponierte Stellung einnimmt und von dem Lacan gesagt hat,
es markiere »die Geburt des Symbols« überhaupt. Vor allem Derrida hat daran,
wie ausgeführt, die Skripturalität des Zeichens geknüpft, denn »was sich nicht
wiederholt — hat, eben weil es sich nicht wiederholt, keine Einheit. Allein das,
was sich in seiner Identität wiederholt, kann eine Einheit haben.« Gesprochen
oder geschrieben: das Zeichen verdankt sich seiner Iterabilität. Der Ausdruck
zeigt eine Möglichkeit an, kein Faktum: Nur was seiner Möglichkeit nach wieder-
holter erscheint, kann als Zeichen fungieren, wie umgekehrt eine Wiederholung
genügt, um etwas zum Zeichen zu machen.
M.a.W., der Grund, die Basis des Zeichens liegt nicht in seiner Funktion oder
Bedeutung, sondern in etwas, was sekundär geschieht. Iterabilität, die es gleicher-
maßen fixiert wie von sich fortreißt. Saussure wird es - wie ebenso später Derrida
- darum gehen zu zeigen, daß diese Iteration gleichzeitig eine Alteration ein-
schließt, * so daß die Identifizierbarkeit des Zeichens in jedem Augenblick ihres
Vollzugs wieder prekär wird. Zwar existieren die Zeichen nur kraft ihrer Wieder-
holbarkeit; doch verändert jede konkrete Wiederholung, jede Zitierung eines Zi-
tats das Wiederholte, insofern es in einen anderen Kontext gerückt wird und da-
mit seine Umbesetzung und »Ent-Stellung« (transposition) erfährt. Dann gibt es
keine rein identischen Wiederholungen: Die Repetition bedeutet nicht die un-
endliche Replikation des Selben; vielmehr impliziert sie bereits einen Abstand, ei-
ne Trennung, insofern sich das Wiederholte im Verlauf der Wiederholung vom
Wiederholenden abspaltet und dessen Gleichheit durch eine fortwährende Un-
gleichheit vereitelt. Von der »Unfähigkeit, eine sichere Identität zu bewahren«,
hat entsprechend Saussure gesprochen. Sie macht aus dem Zeichen keine Ein-
heit, sondern eine »Formel«, die eine beständige Um-Schreibung und Nicht-
Identität der Elemente eines Systems zur Folge hat: »Indem es sich weitergibt,

13 Ebenda, S. 419.
14 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders.,
Schriften I, a.a.O., S. 7 1 - 169, hier: S. 165.
15 Siehe oben Tl. I, 3. Kap.
16 Jacques Derrida, Dissemination, a.a.O., S. 412, 413.
17 Vgl. ders., Das Theater der Grausamkeit a.a.O., S. 378.
18 Vgl. ders., Signatur Ereignis Kontext, a.a.O., S. 333.
STRUKTUR UND EREIGNIS 311

wird sich dieses System (...) verändern«. Die Bewegung der Zirkulation er-
scheint so als Geschehen einer unaufhörlichen Transformation, weshalb Saussure
auch notiert, daß »(d)er Gegenstand, der als Zeichen dient, (...) nie zweimal >der
gleiche« (ist).«" Die Konsequenz ist, daß sich die Struktur des Symbolischen als
Differenz erzeugt. Dies markiert genau den Schluß, den Derrida ziehen wird und
zum Begriff der differance erweitert:" Indem die Zeichen »durch die Wiederho-
lung«, wie es in Die Schrift und die Differenz heißt, in ihrem >»ersten Mal«« ge-
teilt" werden, tragen sie das Siegel einer »ursprünglichen Spaltung« in sich, wel-
ches in Dissemination mit der Mallarmeschen Figur der »Falte«" in Verbindung
gebracht wird. Das bedeutet, das Zeichen »ist« nicht eins, vielmehr Eins, die be-
reits in sich gefaltete Zwei ist, mithin »Zwei ohne eins. Eins immer (...) davon
abgezogen.«"
In nuce ist damit das Rätsel der Bestimmbarkeit aufgeworfen: Die Zeichen be-
sitzen keine feste Identität, außer im Moment ihres Erscheinens innerhalb eines
Kreislaufs, in dem es sich befindet, um sogleich wieder von sich fortgetragen zu
werden. Letzteres hatte Saussure besonders anhand von Studien zu germanischen
Legenden und antiken Anagrammen herausgestellt: Das Auftauchen eines Na-
mens oder Schriftbildes bietet keine Gewähr für seine kontinuierliche Weiterga-
be: Darum kann man im Verlauf ihrer Wiederholung niemals sagen, was sie be-
deuten: »Wo ist inzwischen die Identität geblieben? Darauf antwortet man ge-
wöhnlich mit einem Lächeln, als ob dies tatsächlich eine sonderbare Angelegen-
heit sei, die philosophische Tragweite der Sache zu bemerken, die auf nichts we-
niger hinausläuft als zu behaupten, daß jedes Symbol, wenn es erst einmal in die
Zirkulation hineingeworfen ist - , im selben Augenblick absolut unfähig ist zu sa-
gen, worin seine Identität im nächsten Augenblick bestehen wird (...).«' Saussu-
re wird also nichts zugrunde legen, was als »vorgegeben« gelten könnte; vielmehr
spricht er ausdrücklich von einem »universelle(n) Prinzip der absoluten Konti-
nuität der Sprache (langue)«."' Das bedeutet: Man kann nur fortsetzen, was an-
derswo begonnen worden ist: die Sprache hält sich in einer ununterbrochenen
Fluktuation. Was sich daher zeigt, bildet nirgends ein Regelwerk oder Gerüst, das
aus distinkten Elementen errichtet wäre, sondern es dispersiert zu lauter ver-
streuten Momenten, die das Gesagte erst dadurch auftauchen lassen, daß es sich
von anderen Momenten unterscheidet: »Die Votstellung, daß die Dinge der
Sprache (langue) sich auf einem einzigen und fortlaufenden Weg darstellen las-
sen, ist dieselbe falsche Vorstellung, die macht, daß man untetstellt, die Sprache
(langue) selbst sei etwas Einheitliches. Wit bestreiten, daß die Sprache (langue)

19 Vgl. Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 428 u. 501.


20 Ebenda, S. 303.
21 Siehe in diesem Teil weiter unten 3. Kap.
22 Jacques Derrida, Das Theater der Grausamkeit, a.a.O., S. 373, siehe auch oben Tl. L, 3. Kap.
23 Ebenda, S. 374, sowie ders., Dissemination, a.a.O., S. 255 ff.
24 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 309.
25 Ebenda, S. 419, 420.
26 Ebenda, S. 269, auch: S. 252 u. 266 ff. sowie 284 f.
312 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

etwas Einheitliches sei. (...). Wir betrachten die Linguistik nicht als eine Wissen-
schaft, in der es ein gutes Prinzip der Aufteilung zu finden gibt, sondern (...) als
eine Wissenschaft, die versucht, zwei von ihrem Prinzip her vollständig disparate
Gegenstände in einem einzigen Ganzen zu versammeln, indem sie sich überzeugt,
daß sie einen einzigen Gegenstand bilden. (...) Der erste Gegenstand, der auffal-
len kann: (...) eine zufällig gefundene Form. Man kann nichts über diese Form
sagen, solange man ihr nichts entgegensetzt, solange man nicht den zweiten Term
bezeichnet, so daß man ihre Beziehung zu diesem untersuchen könnte.«"
Folglich bestehen die Bausteine der Sprachwissenschaft nicht aus »Zeichen«,
sondern aus Unter-Schieden, mithin aus nichts, was als etwas identifiziert werden
könnte, sondern nur »ist«, insofern ein Sich-Unterscheidendes eine Beziehung
eingeht: »Verlangen wir von der Linguistik nicht, damit zu beginnen, die zweite
zu definieren, zu fixieren, um von hier aus den Unterschied zum ersten zu mar-
kieren, das wäre das reine Chaos (...).« Denn in der Sprache existiert nicht »ir-
gend ein erster, berührbarer Gegenstand (...), sondern eine Beziehung (...), die
zwei Terme vereint«." Und weiter: »Es gibt nicht irgend ein Substrat zu den
sprachlichen/linguistischen Entitäten; sie haben die Eigenart, einzig wegen ihres
Unterschieds zu existieren, ohne daß das Pronomen sie, wo auch immer, dazu
käme, etwas anderes zu bezeichnen als einen Unterschied.«" Rigoros stellt sich
Saussure auf diese Weise dem »Anfangsproblem« und reiht sich von vornherein in
jene Überlieferung ein, die eher zu Hegel statt zu den Klassikern der Sprachphilo-
sophie wie Johann Gottfried Herder oder Wilhelm von Humboldt führt. Der
Anfang besteht danach in der Anfangslosigkeit. Die Sprache ist »ohne Geburt«; sie
hat keinen »Ursprung« sowenig wie es eine »Arche« oder »Ursprache« gäbe, auf
der sie beruhte: Gtund im Denken oder im logos, wie es von Piaton und Aristo-
teles über die Grammatik von Port Royal und der Semiotike ]o\in Lockes " bis zu
den historischen Linguistiken des 19. Jahrhunderts fast durchgängig weitergetra-
gen wurde. Gleiches gilt für die aktuelle Rede: Kein »erstes« Wort läßt sich als
»Urstiftung« einer kausalen Reihe oder als Beginn eines Diskurses ausmachen,
von dem sich sein Faden aufrollen ließe; vielmehr folgt Wort auf Wort, und jedes
ist selbst noch »Ant-Wort« oder Umsetzung eines anderen, das seinerseits auf an-

27 Ebenda, S. 336, 337; sowie S. 332, 333.


28 Ebenda, S. 333, 334, passim.
29 Ebenda, S. 405.
30 Am Eindrücklichsten hat die Verbindung vielleicht Thomas M. Scheerer herausgearbeitet, vgl.
ders., Ferdinand de Saussure, Darmstadt 1980. Dagegen Hans Helmut Christmann, Saussure und
die Tradition der Sprachwissenschaft, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Lite-
raturen, Nr. 208 (1972), S. 241-255. Ferner: Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus?
a.a.O., S. 558 ff, der an Humboldt anzuschließen versucht und damit Saussure gegen seine
strukturalistischen Interpreten für eine hermeneutische Tradition reklamiert.
31 Vgl. Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 335. Lapidar vermerkt eine
Mitschrift des Cours: »Die Frage nach dem Ursprung der Sprachen (langues) (...) existiert übet-
haupt nicht.« Vgl. ebenda S. 500.
32 Zur Einführung des Ausdrucks vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand,
a.a.O., S. 438.
STRUKTUR UND EREIGNIS 313

dere antwortete: Übertragung von Übertragungen, die in eine spurlose Vergan-


genheit zurückweichen, wie sie sich ebenso in eine ziellose Zukunft weiterspin-
nen. Dann »ist« die Sprache nur im steten Rekurs auf sich, als beständige Perfor-
manz ihrer selbst, ungeachtet der für die gesamte strukturale Linguistik wesentli-
chen Trennung zwischen Langue und Parole. Und darum gibt es auch kein Ele-
ment der Sprache, das nicht schon im Rückgang auf Gesprochenes und damit in
bezug auf die anderen Elementen des Ganzen zu entdecken wäre: Die Sprache
(langue) untersuchen heißt, ihre wesentliche Prozessualität entdecken. »Kaum ist
der erste Augenblick vorbei, tritt die Sprache (langue) in ihr semiologisches Le-
ben, und es gibt kein Zurück mehr: Sie wird sich weitergeben gemäß Gesetzen,
die nichts zu tun haben mit den Gesetzen ihrer Erschaffung.« Entsprechend
hatte Saussure zur Vorbereitung seiner Genfer Antrittsvorlesung gleichermaßen
vermerkt, daß auch »keine Sprache sterben kann, wenn sie nicht gewaltsam un-
terdrückt wird; - daß keine ein Alter und keine eine Kindheit hat, daß schließlich
keine neue Sprache je unter der Sonne wird geboren werden können (...)« . Das
meint auch: die Sprache und das Sprechen sind schon da, und jedes weitere Spre-
chen bedeutet ein beständiges Gleiten von Rede zu Rede, ein Einrücken oder
Verschieben, das »aufsammelt«, wie es später Roland Barthes formulieren wird,
»was in der Sprache umherliegt«: »(I)n jedem Zeichen schlummert das Monstrum
>Stereotypie<«. Tatsächlich wäre eine Schöpfung ex nihilo eine Absurdität, weil
es, wie Saussure weiter ausführt, »niemals etwas anderes geben kann« als die »se-
miologische Transmission« eines Idioms, seine gleichzeitige »Weitergabe« und
Umschreibung, seine Iteration gleichwie seine Alteration: »Derart verneinen wir
nicht nur, daß eine Sprache (langue) geboren werden könnte, ohne daß ihr eine
andere vorhergehe, - nicht nur zweitens, daß eine Sprache (langue) plötzlich ge-
boren werden könne aus einer anderen, sondern drittens verneinen wir sogar, daß
eine bestimmte Sprache (langue) nach und nach aus einer anderen geboren wer-
de, denn es gibt keinen Moment, in dem die Sprache (langue) weniger oder mehr
bestimmt wäre als in einem anderen; es gibt niemals ständige, sondern nur vor-
übergehende und in der Zeit begrenzte Merkmale; es gibt nur Sprachzustände,
die fortwährend im Übergang sind vom Zustand des Vortags zu jenem des fol-
genden Tages.« Jede Erneuerung ist das Produkt ihrer Zirkulation: »Was den
Adel der Sprache (langue) (...) ausmacht, ist, daß sie (...) dazu verdammt (ist),
nur aus Elementen zu schöpfen, die (ihr) bereits vorliegen und einen beliebigen
Sinn haben, diese vereinen und beständig einen neuen Sinn daraus ableiten.«

33 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 501.


34 Ebenda, S. 266.
35 Roland Barthes, Lecon/Lektion, a.a.O., S. 19/21.
36 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 416.
37 Tatsächlich findet sich dieser für die Schrifttheorie Derridas zentrale Grundsatz bereits bei Saus-
sure, vor allem in seinen Anagramm-Studien und Untersuchungen zu germanischen Legenden;
vgl. ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 428, 432.
38 Ebenda, S. 268; vgl. auch S. 501, wo dieses »Gesetz« auf »jedes Zeichensystem« übertragen wird.
39 Ebenda, S. 432.
314 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Der Ausgangspunkt Saussures ist somit bereits eine Verwischung oder Un-
scharfe, die es unmöglich macht, systematisch zu beginnen und die in die Sprache
(langage) und die Identifikation ihrer Elemente eine wesentliche Indetermination
einträgt. Lediglich Momentaufnahme oder zeitlicher Schnitt, der einer Serie von
Gesprochenem entstammt, sperrt sie sich der Analyse, weil die Sprache nicht
schon als fertiges Vokabular oder abgeschlossener Kanon vorliegt, sondern sich
unablässig bricht und eine Zersplitterung einbehält, die vereitelt, sie jemals fest-
zuhalten. »Von welcher Seite man also die Frage auch angreift, nirgends bietet
sich uns der Gegenstand der Sprachwissenschaft als einheitliches Ganzes dat;
überall stoßen wir auf dieses Dilemma: entweder halten wir uns an eine einzige
Seite jedes Problems und setzen uns der Gefahr aus, die (...) Doppelseitigkeiten
nicht zu berücksichtigen, oder, wenn wir die menschliche Rede (langage) von
mehreren Seiten aus zugleich studieren, erscheint uns der Gegenstand der
Sprachwissenschaft als ein wirrer Haufe verschiedenartiger Dinge, die untet kein
Band verknüpft sind.« »Wir werden«, heißt es entsprechend in den Notizen
weiter, »diese besondere Semiologie, welche die Sprache (langage) ist, nicht in ei-
ne ihrer Seiten, sondern in dieser irritierenden Duplizität (...) definieren, die
ausmacht, daß man die Sprache (langage) nie erfassen wird.« Wenn sich das
Pathos des Strukturalismus auch aus jener berühmten Passage aus dem zentralen
Kapitel über Synchronische Sprachwissenschaft des Cours bezieht, wonach die Spra-
che (langue) »eine Form und nicht eine Substanz« " darstellt, so erscheint sie ein-
zig dechiffrierbar aus der »Vielgestaltigkeit« und »Ungleichartigkeit« der verschie-
denen Systeme, deren lokale wie temporale Diversifikation bereits vorliegt. Die
Sprache (langue) ist der theoretische »Titel«, wie Saussure vermerkt, »den man
dem geben kann, was der Linguist aus seinen Beobachtungen der Sprachen (lan-
gues) in Raum und Zeit ziehen konnte«. Es gehört entsprechend zu den Verzer-
rungen der Herausgabe des Cours, deren Pluralitat zugunsten der langue, der
Sprache als einer einheitlichen Struktur auszustreichen, um der »Form«, der
Ordnung den Vorzug zu geben vor ihrer Streuung, der »Dissemination«, wie glei-
chermaßen später Roland Barthes und Jacques Derrida sagen werden. D.h. aber,
die Sprache (langue) als Untersuchungsgegenstand ist vor allem als eine »dynami-
sche Totalität« aufzufassen; sie kann nicht als ein statisches Gebilde vorgestellt
werden, als in sich geschlossenes »System von Zeichen«, sondern einzig als
schehen einer Form, Ereignis einer Struktur. So wird sich Saussure darum bemü-
hen, die Spannung zwischen System und Prozeß, Form und Bewegung zu halten:

40 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 10.


41 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 321.
42 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 146; auch S. 134.
43 Fetdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 387.
44 Es ist an dieser Stelle aufschlußreich zu bemerken, daß der Cours III weder mit dem Begriff der
Sprache i.S. von Langage, noch im Sinne von Langue beginnt, sondern mit den »Sprachen« (Ian-
gues); vgl. ebenda, S. 386 f. Vgl. dazu ebenfalls Johannes Fehr, Saussure: Zwischen Linguistik
und Semiologie, a.a.O., S. 61 ff. u. S. 91 f.
STRUKTUR UND EREIGNIS 315

Wechselspiel, das eine Dialektik zwischen »Synchronie« und »Diachronie« eröff-


net, die beides Chronien sind, deren Spiel sich allererst verdankt, was den
mus der Sprache (langue) ausmacht.

Tranchierung des symbolischen Körpers

Entgegen den üblichen Lektüren des Saussureschen Modells stellen wir den Ge-
sichtspunkt der Temporalität ins Zentrum. Er bestimmt das, was bereits in der
Genfer Antrittsvorlesung als das »Leben der Sprache (langue) selbst« bezeichnet
wurde: ihre »Kontinuität« gleichwie ihren »Wechsel«. Denn jede Sprache (lan-
gue), heißt es dort, hat »in sich selbst eine Geschichte (...), die fortwährend ab-
läuft, die aus einer Aufeinanderfolge von sprachlichen Ereignissen besteht, die
außerhalb keine Nachwirkungen hatten und die nie vom berühmten Meißel der
Geschichte eingeschrieben wurden«. Mithin steht, wie bei Peirce, die Zeitlich-
keit des Zeichens im Vordergrund, doch handelt es sich nicht um die Zeit der
Interpretation, ihre Geschichtlichkeit, die sich in den Prozeß der Semiose rekur-
siv einschreibt, sondern um die Zeitigung der Sprache selbst. Entsprechend
spricht Saussure in den Manuskripten des Cours von der Temporalisation als ei-
nem »Grundprinzip«, von dem aus zu denken sei, statt sie lediglich einzubezie-
hen, denn »(e)s gibt kein Beispiel absoluter Bewegungslosigkeit. Was absolut ist,
das ist das Prinzip der Bewegung der Sprache (langue) in der Zeit«. Wir gelan-
gen auf diese Weise zu einem Grundsatz, der, wie es wiederum die
sung vorwegnimmt, »von universeller Gültigkeit ist (...): Es ist det Gesichtspunkt
der Bewegung der Sprache (langue) in der Zeit, aber einer Bewegung, die keinen
Moment, denn hier liegt alles, dazu kommt, in Konflikt zu sein mit der Einheit
der Sprache (langue) in der Zeit. Es gibt Transformation und immer und immer

45 Vgl. Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 400, sowie S. 395 ff. Saussure
betont schon in der Antrittsvorlesung die Unmöglichkeit, beide Momente gleichzeitig zu behan-
delt: »wir sind freilich gezwungen, sie in der Theorie auseinanderzuhalten, um geordnet vorzuge-
hen«; vgl. ebenda, S. 251. Wenn auch die Notwendigkeit dieser Trennung zu der späteren Diffe-
renzierung der beiden Achsen von Synchronie und Diachronie führte, so müssen diese doch stets
simultan gelesen werden. Obgleich man demgegenüber in der »synchronischen Sprachwissen-
schaft«, die die Struktur der Sprache (langue) behandelt, den Hauptteil det Saussureschen Untet-
suchungen gesehen hat, handelt es sich lediglich um eine methodologische Unterscheidung. Zu-
dem sind die Ausdrücke »Form« bzw. »Struktur« nirgends statisch zu vetstehen: vielmehr gibt es
überall nur Kontinuitäten, ein ständiges Übergehen oder Fließen, welche keine feste Stelle oder
ein fundamentum inconcussum erlaubte. Vgl. dazu ebenfalls Johannes Fehr, Saussure: Zwischen
Linguistik und Philosophie, a.a.O., S. 92 ff.
46 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 249, sowie S. 393.
47 Ebenda, S. 249; vgl. auch S. 250 ff, 265 ff.
48 Die Nähe zu Heidegger ist an dieser Stelle auffallend: Zeit wird, wie in Sein und Zeit, als »tran-
szendentaler Horizont« aufgefaßt, von dem her sich überhaupt erst die Frage nach der Sprache
stellen läßt. Vgl. zum Begriff der Zeitlichkeit als transzendentalem Horizont bei Heidegger: ders.,
Sein und Zeit, Tübingen 12. Aufl. 1972, §§ 65, 68 f., 79 ff; 323 ff, 335 ff. u. 406 ff.
49 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 392; auch: S. 386 ff. und 389 ff,
sowie ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 87 ff, u. 235 ff.
316 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

wieder Transformation, aber es gibt nirgends Reproduktion oder Produktion ei-


nes neuen sprachlichen/linguistischen Wesens, das eine unterschiedene Existenz
hätte von dem, was ihm vorangeht und was ihm folgen wird«.
Gleichzeitig tritt diejenige Idee hervor, die wie eine Wünschelrute sämtliche
Bemühungen Saussures um eine Fundierung der Semiologie leiten sollte: die
nere Verbindung von Arbitrarität und Temporalität. Denn das, was sich von sei-
nem Anker losgerissen hat und gänzlich autonom geworden ist, kann nicht an-
ders, als unaufhörlich in der Zeit zu »driften«: »Was hier den Philosophen und
den Logikern entgangen ist, das ist, daß vom Moment an, in dem ein System von
Symbolen unabhängig ist von den bezeichneten Objekten, es seinerseits unter-
worfen war, von der Tatsache der Zeit her, für den Logiker unberechenbare Ver-
schiebungen zu erleiden (...).« Damit erhellt sich auch, weshalb Saussure so
hartnäckig die Linguistik in einer Zeichentheorie verortet sehen wollte, die ihrer-
seits wieder durch die Linguistik begründet werden sollte: Zirkularität einer
Grundlegung, die unerläßlich ist, weil sie etwas am Zeichen kenntlich zu machen
erlaubt, was durch dessen isolierte Betrachtung verloren zu gehen droht: Aspekt
seiner konstitutionellen Zeitlichkeit, mithin die Permanenz seiner Bewegung und
Fluktuation durch seine Iteration hindurch: »Unter allen semiologischen Syste-
men ist das semiologische System >Sprache< (langue) das einzige (...) das sich die-
ser Prüfung zu stellen hatte, sich der Zeit gegenüberzufinden, das nicht einfach
von Nachbar zu Nachbar gegründet ist, durch gegenseitiges Einverständnis, son-
dern (...) durch eine bindende Tradition und gemäß dem Zufall dessen, was in
dieser Tradition eintrifft (...). Diese Tatsache, welche die erste ist, die das Inter-
esse des Philosophen hervorrufen könnte, wurde von den Philosophen ignoriert:
keiner von ihnen lehrt, was in der Weitergabe einer Semiologie passiert. Und die
gleiche Tatsache fesselt dagegen die Aufmerksamkeit der Linguisten derart (...),
daß sie in der Sprache einen Gegenstand (haben), der sich in der Zeit ausdehnt
und der sie zwingt, vollständig aus ihren Spekulationen über das momentane
Zeichen und die momentane Vorstellung herauszukommen.« "
Freilich ergibt sich dann das methodologische Problem, daß sich der Gegen-
stand, den die Untersuchung zu erfassen versucht, in dem Maße verflüchtigt, wie
die Analyse ihn zu präzisieren trachtet. Denn was man vor sich hat, bezeichnet
kein definitives Objekt mehr, sondern - vergleichbar vielleicht der Elementarteil-
chenphysik - eine in Raum und Zeit »verschmierende Wolke«, die sich immer
schon vor-gesprochen hat und der ihre Erforschung letztlich immer nur nach-
sprechen kann. Die Linguistik entkommt diesem Widerspruch nicht: Zwiespalt,
die Struktur der Sprache einerseits »von der Seite der existierenden Sprachen« her
erforschen zu müssen, deren Fixierung aber andererseits »dazu verdammen (wür-
de), beinahe steril zu bleiben, jedenfalls ohne Methode und ohne leitendes Prin-

50 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 258.


51 Ebenda, S. 311.
52 Ebenda, S. 404, 405.
STRUKTUR UND EREIGNIS 317

zip zu bleiben (...)«. D.h. die Sprache erweist sich als »(...) keine in der Zeit be-
stimmte Größe, auch keine im Raum bestimmte Größe«, sondern »alles in der
Sprache (langue) (ist) Geschichte«, wie »alles, was in der Sprache (langage) orga-
nisch scheint, (...) völlig zufällig ist«. Was sich daher preisgibt, bleibt einer
chronischen Nicht-Identität ausgesetzt: »Eine Sprache (langue) zu zwei verschie-
denen Zeitpunkten betrachtet, ist nicht mit sich identisch. An zwei mehr oder
weniger voneinander entfernten Punkten ihres Territoriums ist sie ebenfalls nicht
mit sich selbst identisch. Die beiden Dinge müssen, wenn man eine exakte Sicht
det Ereignisse haben will, immer auf einmal und nebeneinander betrachtet wer-
den.«
Offenbar bekommt man es so mit einem Dilemma zu tun: Geht man von der
Sprache (langue) als »Form«, als Totalität in Raum und Zeit aus, büßt man sy-
stematisch die Stellung ein, überhaupt eine Stellung oder einen An-Halt zu fin-
den: »Was die Schwierigkeit des Themas ausmacht, ist, daß man es, wie gewisse
geometrische Theoreme, von verschiedenen Seiten angehen kann: Alles ist un-
mittelbare Folge des anderen (...). Die Sprache ist ein geschlossenes System, und
eine Theorie muß ein ebenso geschlossenes System sein wie die Sprache. Hier ist
der schwierige Punkt (...), das Ganze in einem System zu koordinieren.« Es war
wohl diese prinzipielle Problematik, die Saussures lebenslanges »Drama des Den-
kens« (Benveniste) prägte, jenen Skrupel, den eigenen Resultaten nicht zu trauen,
sie zu einer Folge von Präludien und bloß marginalen »Plaudereien« abzustem-
peln, und schließlich die Zögerlichkeit, sie überhaupt zu veröffentlichen. Zu-
gleich provozierten sie aber auch die besondere Originalität der Lösung: das Ver-
fahren des »Tranchens«. Zu verstehen sind darunter willkürliche »Schnitte«, die

53 Ebenda, S. 245.
54 Ebenda, S. 276.
55 Ebenda, S. 248.
56 Ebenda, S. 251.
57 Aus dem posthum veröffentlichten Aufzeichnungen von Gesprächen A. Riedlingers mit Saussure,
zitiert nach Johannes Fehr, Saussure: Zwischen Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 33.
58 Vgl. dazu ebenda, S. 27 ff.
59 Vgl. Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 355, 366 u. 393. Es sei hinzu-
gefügt, daß ein ganz ähnliches Problem die Allgemeine Symboltheorie Nelson Goodmans behan-
delt, deren Lösung ebenfalls ähnlich ausfällt, freilich formuliert in der Sprache analytischer Ord-
nungsrelationen. Grundsätzlich unterscheidet Goodman zwischen Funktionen oder »Bezugnah-
men«, die das Symbolische überhaupt erst konstituieren und nach den Unterarten der Denotati-
on und Exemplifikation gegliedert werden, und der »Notation« der Zeichen, die wiederum die
Konsttuktion von Symbolsystemen ermöglicht. Letztere wirft die Frage nach einer eindeutigen
Festlegung ihrer Elemente auf, die durch Inskriptionen besorgt werden, die auf der Indifferenz
von Performanzen beruhen: durch die vielfältige Reihe möglicher Verwendungen oder »Auffuh-
rungen« hindurch bedarf es spezifischer Operatoren, die sie als Typen des gleichen Schemas wie-
dererkennbar machen; vgl. ders., Sprachen der Kunst, a.a.O., S. 129 f. Goodman löst die Schwie-
rigkeit auf der Grundlage einer Notationstheorie, die sich analytisch an der Logik von Äquiva-
lenzklassen orientiert, welche die Diskretierung der zunächst amorphen Bereiche der Symbolisa-
tion in disjunkte Mengen gestattet, um auf diese Weise notierbare Einheiten allererst hervorzu-
bringen; vgl. ebenda, S. 125 ff. Die Systematik der Systeme entsteht dann dadurch, daß ihnen
Skripturen auferlegt werden, die ihre Elemente ab distinkte Elemente konstruieren, wobei wie-
318 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

gleichsam durch den Körper der Sprache gelegt werden, um sowohl die Beliebig-
keit ihrer Signifikationen als auch der einzelnen Glieder freizulegen. Denn zu-
nächst präsentiert sich die Sprache »nicht (...) als ein Zusammenwirken von Zei-
chen, die von vornherein abgegrenzt sind, so daß man nur ihre Bedeutungen und
Anordnungen zu untersuchen hätte; es ist eine unterschiedslose Masse, bei der
nur Aufmerksamkeit und Gewöhnung uns die besonderen Elemente auffinden
lassen«;' ein Umstand, der ebenfalls für die in Sätzen oder Ausdrücken formu-
lierten Gedanken gilt, die fast gleichlautend als »gestaltlose und unbestimmte
Masse« gekennzeichnet werden: »Das Denken, für sich allein genommen, ist wie
eine Nebelwolke, in der nichts notwendigerweise begrenzt ist. Es gibt keine von
vornherein feststehenden Vorstellungen, und nichts ist bestimmt, ehe die Sprache
in Erscheinung tritt. Gegenüber diesem verschwommenen Gebiet würden nun
die Laute für sich selbst ebenfalls keine fest umschriebenen Gegenstände darbie-
ten. Die lautliche Masse ist ebensowenig etwas fest Abgegrenztes und klar Be-
stimmtes (...).«' So bedarf es allererst der Segmentierung oder »Aufteilbarkeit in
Tranchen«,'" durch die ein »mit der vollständigsten anfänglichen Gleichgültigkeit
betrachtetes Stück Sprache (langue)« der Kontinuität der Rede entrissen wird:
Denn eine »sprachliche Tatsache ist vollständig nur, wenn sie abgegrenzt ist, los-
getrennt von allem, was sie in der gesprochenen Reihe umgibt:«' »Man kann
nicht sagen,«, fügt Saussure hinzu, »daß dieses Zentralproblem jemals aufgewor-
fen worden und daß seine weittragende Bedeutung und Schwierigkeit verstanden
worden sei; auf sprachlichem Gebiet hat man sich immer mit ungenügend defi-
nierten Einheiten zufriedengegeben.«'
Mithin stellt sich das Problem der Konstitution der Zeichen als Aufgabe ihrer
gegenseitigen Abgrenzung oder Schneidung in einer ansonsten amorphen Kette
von Verlautbarungen. Im Medium von Materialität ereignet sich ihr Bedeuten. Es
geschieht nicht vermöge einer Zuordnung, sondern durch die Schnitte, die ein
System von Differenzen erzeugen. Entsprechend erweist sich der Begriff des Zei-
chens als höchst unzulängliche Formel zur Kennzeichnung dessen, was nur durch
eine Gliederung erscheint und wofür Saussure in immer neuen Wendungen die
Ausdrücke »Term«, »Seme« und zuletzt »Wert« einzusetzen suchte, um auf diese
Weise ihren vollkommen abstrakten Charakter zu unterstreichen: »(D)ie Sprache
(langue) (ist) ein System von bloßen Werten, das von nichts anderem als dem au-
genblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird.« ' »Wert«, heißt es auch
bei Roland Barthes, ist »zu einem wesentlichen, letztlich sogar wichtigeren Begriff

derum das, was als Schrift fungiert, der definitorischen Sanktionierung durch Gleichheits- oder
Ähnlichkeitsrelationen folgt.
60 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 123, 124.
61 Ebenda, S. 133.
62 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 366.
63 Ebenda, S. 406.
64 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 123.
65 Ebenda, S. 132.
66 Ebenda, S. 95.
STRUKTUR UND EREIGNIS 319

geworden, als der der Bedeutung es ist (...); er nimmt (...) in der strukturalen
Linguistik eine zentrale Stelle ein.« Er markiert die Stellung von Marken inner
halb eines System: Die Sprache (langue) gibt sich dann, im Wortsinne, als ein
»Gebiet der Artikulation« zu erkennen: Jeder ihrer Bestandteile »ist ein kleines
Glied, ein articulus, wo ein Gedanke sich in einem Laut festsetzt, und wo ein
Laut das Zeichen eines Gedankens wird.« So entsteht ein Geflecht von Diffe
renzen, das aus der Kreuzung »zweier Achsen« gebildet wird, die »gänzlich unter
schieden« sind und die die »Unfaßlichkeit« dessen bilden, was ein »Wert« aus
macht: Doppelte Schneidung, die einerseits zwei Glieder gegeneinander differie
ren läßt, wie sie andererseits quer durch jedes Glied verläuft und die Assoziierung
des Signifikant/Signifikat-Schemas besorgt. D.h. die Elemente der Sprache (lan
gue) entspringen einer zweifachen Unterschiedenheit: Statt der Binarität der Zu
ordnung, die durch den Richtungspfeil des Funktionalausdrucks f: x —> y ausge
drückt ist, oder der Ternärität des »semiotischen Dreiecks«, das sich entlang der
Zeit entfaltet, ergibt sich ein »linguistisches Quadrat«, das Saussure formal durch
die vertikale Beziehung a / a' wie durch die horizontale a : b anzeigt: Diese als
Differenz der »Werte« zueinander, jene als Knüpfung von Signifikant und Signi
fikat: »Alle möglichen Betrachtungen zu einer sprachlichen/linguistischen Tatsa
che sind unmittelbar in einer einfachen und überall gleichen Figur enthalten, die
vier Terme umfaßt:

a — b

Keineswegs erfolgt also, wie oft fälschlich behauptet wird, eine Rückkehr Saussu
res zur Dualität des Zeichens; vielmehr evoziert, wie aus den Nachlaßschriften
hervorgeht, »(j)ede Regel, jeder Satz, jedes Wort in bezug auf die Dinge der Spra
che (langage) (...) notwendigerweise entweder den Bezug a / b oder den Bezug a /
a'«, wobei die Semiose erst durch das gesamte Tableau, in dem beide Reihen
von Beziehungen gemäß der Achse der Zeit eingetragen sind, vollständig wird.
Der Zeichenbegriff ist demnach eigentlich vierdimensional strukturiert, indem
neben der Zweiseitigkeit der Terme selbst zugleich ihre Differentialität gegenein
ander hineinspielt, wobei die vierte Dimension die Zeit darstellt. Diese bewohnt
die Struktur des Zeichens und ihrer Iterabilität in ihrem Innern und sorgt für ihre
unaufhörliche Veränderung: Synchronie und Diachronie ergänzen einander, weil

67 Roland Barthes, Elemente der Semiologie, a.a.O., S. 46.


68 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 134; auch:
S. 12 f.; vgl. ebenso ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 345 ff.
69 Vgl. ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 403, 404 passim.
70 Ebenda. S. 336; vgl. auch S. 323 ff.
71 So neuerdings wieder Gerhard Schönrich, Semiotik zur Einfuhrung, Hamburg 1999, S. 32 ff,
der sogar bei Saussure von einem »Repräsentationalismus« spricht.
72 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 334, 335.
320 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

kein Begriff ohne den korrespondierenden anderen auskommt. Sogar bedeutsa-


mer noch als die Assoziation von Signifikant und Signifikat erweist sich die Un-
terscheidung der Glieder selber, die Saussure als »wahre Figuration a - b — c (...)
außerhalb jeder Kenntnis der tatsächlichen Beziehung wie * - a, die auf ein Ob-
jekt gegründet ist«, ausgibt, denn das »gänzlich letzte Gesetz der Sprache ist,
(...) daß es nichts gibt, was dauernd in einem Term residieren kann«. Demnach
ist entscheidend für die Bestimmung des Zeichens, »untrennbar zu sein von einer
Serie von einander gegenüberstellbaren Größen, die ein System bilden«: Kom-
plexität eines zweifach geschnittenen Schemas, das allererst jenen Zeit-Raum auf-
spannt, in dem sich »etwas« gegen anderes abhebt: »Sein« im Unter-Schied zu
»Nichts« oder Anwesenheit versus Abwesenheit im Sinne von Besetzung odet
Nichtbesetzung det Plätze einer Struktur, die niemals stillsteht, sondern durch
die gleichsam der Wind fährt und die Blätter »rauschen« läßt. Dabei erscheint
die Ordnung der »Stellen« rein negativ auf der Grundlage formaler Oppositio-
nen: Die Sprache ist ein »System (...), dessen Glieder sich alle gegenseitig bedin-
gen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vor-
handensein des anderen sich ergeben (...),« wobei jedes Signifikant!Signifikat-
Paar seine Ortschaft allein aus dem Gegensatz zu allen übrigen Paaren bezieht,
d.h. keines »hat (...) seine Bedeutung anderswo als in diesem Geflecht ewig ne-
gativer Differenzen«: »(V)om ersten Moment an«, so deshalb Saussure, gibt es
»nichts als zwei Werte, von denen der eine nur dank des anderen existiert«, die
wiederum durch ihre Negativität voneinander getrennt sind: »Ihr bestimmtestes
Kennzeichen ist, daß sie etwas sind, was die anderen nicht sind.«

Die Sprache als Algebra

Die Linguistik avanciert dann zu einer »reinen Wissenschaft von abstrakten Be-
zügen« *. Entsprechend wird Saussure ihren inhaltsleeren Formalismus betonen.
Wesentlich seien allein die Konfigurationen der Schnitte und Ordnungen, nicht
die »Objekte« und Bedeutungen, denn »(i)n der Sprache (langue) wird, wie in je-
dem semeologischen System, ein Zeichen nur durch das gebildet, was es Unter-

73 Ebenda, S. 338.
74 Ebenda, S. 323.
75 Ebenda, S. 403.
76 Wind und Blatt gehören zu den bevorzugten theoretischen Metaphern Saussures; vgl. ders.,
Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 133 f. und weiter unten 3. Kap.
77 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 136, 137.
78 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 324.
79 Ebenda, S. 401; auch: S. 407.
80 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 13 ff, sowie S. 135 ff.
81 Ebenda, S. 140; auch: S. 143. Entsprechend nennt Deleuze die Differenz und das »Differenzie-
rende« als drittes und viertes Kriterium des Strukturalismus; vgl. ders., Woran erkennt man den
Strukturalismus, a.a.O., S. 20 ff, 27 ff.
82 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 402.
STRUKTUR UND EREIGNIS 321

scheidendes an sich hat«. Das Bild, das Saussure folglich vorschwebt, gleicht ei-
ner Matrix, deren formales Stellensystem [.../...] an die Stelle des Funktional-
ausdrucks gerückt wird und deren Variablen leer bleiben. Darum spricht Saussure
auch von der »innere(n) Nichtigkeit der Zeichen« und der »Fähigkeit unseres
Geistes, sich an Terme zu hängen, die in sich null und nichtig sind«: »Es ge-
hört«, heißt es fast gleichlautend später bei Roman Jakobson, »zu den sonderbar-
sten und wesentlichsten dialektischen Antinomien der Sprache, daß dieses in-
haltsreichste von allen Zeichensystemen zugleich als das einzige von diesen Sy-
stemen aus leeren, negativen Grundeinheiten aufgebaut ist.« Das »symbolische
Feld« gerinnt, so wiederum Lacan, zu einer »mathematischen Form«, deren
Termini nicht analytisch, sondetn algebraisch operieren. Explizit spricht Saussure
denn auch von der Sprache als »eine(r) Algebra, die nur komplexe Termini ent-
hält.« Sie offenbart ihre Strukturalität, die durch keine Logik verbürgt ist und
entsprechend dem logos nur einen abgeleiteten Rang zubilligt, sondern die einer
Gesetzlichkeit entspringt, die sich dem Relief ihrer Differenzen gleich einer Karte
auferlegt. In diesem Sinne wäre mathematisches Denken ein »nicht-logisches
Denken«, weil es sich durch die Logik allein nicht erklären oder fundieren ließe,
wie das Scheitern des Logizismus bezeugt. Statt dessen kommt der Hinweis aufs
Algebraische einer Dementierung vorgängiger Rationalität gleich: Das Schema
der Sprache gehorcht anderen als logischen oder rationalen Gesetzen, andernfalls
hätte man ihre Begründung an einen Ort außerhalb ihrer selbst zu verlegen.
Vielmehr weist die Grundlegung der Semiologie statt auf eine logisch-
linguistische auf eine strikt mathematische Notation. Denn nicht der Wider-

83 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 145.


84 Ebenda, S. 365; vgl. auch S. 406 u. 410.
85 Roman Jakobson, Semiotik, a.a.O., S. 170.
86 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, a.a.O.,
S. 126. Zum Verhältnis von Strukturalismus und Mathematik vgl. auch Michel Setres, Hermes I.
Kommunikation, Berlin 1991, S. 32 ff.
87 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 146. Oswald
Ducrot nennt dies allerdings eine »ziemlich dunkle Bemerkung«; vgl. ders., Der Strukturalismus
in der Linguistik, a.a.O., S. 43.
88 Das Scheitern des Logizismus, wie ihn Bertrand Russell vertrat, liegt schon in den Unvollstän-
digkeitssärzen Kurt Gödels, vgl. ders., Über formal unentscheidbare Sätze der Principta Mathemati-
ca und verwandter Systeme, in: Math. Phy. 38 (1931), S. 173-198. Die angezeigte Unentscheid-
barkeit impliziert die Unmöglichkeit einer vollständigen Mathematisierung der Mathematik auf
der Basis irgendeines formalisierbaren rationalen Schemas, insb. der Logik. Zur Gesamtdarstel-
lung des »Grundlagenstreits« vgl. Herbert Mehrtens, Moderne Sprache Mathematik, Ftank-
furt/M. 1990.
89 Gerade in der Abweisung des Logizismus liegt das Interesse und die Parallelität des strukturalisti-
schen Konzepts mit metamathematischen Theorien des Formalismus und Intuitionismus, wie auch
das Projekt »Boukabi« bezeugt. Julia Kristeva hat darauf in ihrer frühen Schrift Zu einer Semiolo-
gie der Paragramme, a.a.O. ebenso hingewiesen wie Derrida in seinem Gespräch mit Julia Kriste-
va: Semiologie und Grammatologie, a.a.O., S. 159 f. Zudem nennt dieser ausdrücklich als Motiv
für sein Interesse am späten Husserl die Beziehung der Schrift zur Mathematik: Die Struktur
mathematischer Notation diene nicht als Hilfsmittel, sondern verhelfe zur Erscheinung, was an-
ders nicht darstellbar wäre; vgl. ders., Das Beinahe-Nichts des Undarstellbaren, in: ders., Auslas-
sungspunkte, a.a.O., S. 87. Im selben Sinne behauptet Vincent Descombes, daß »die einzig ak-
322 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

schein einer Vernunft oder des Logos organisiert die Zeichen; sondern es muß von
einem Differenz-Kalkül gesprochen werden, das, wie es Julia Kristeva in ihren
späteren Versuchen zur Autonomie des Poetischen entwickelt hat, auf Formalisie-
rungen beruht, welche weit eher metamathematischen Konstruktionen korre-
spondieren als den Disziplinierungen dieser. Der Ansatz folgt der Bemühung,
nicht länger die Gültigkeit der Grundsätze der Identität, des Widerspruchs und
des tertium non datur anzuerkennen, sondern die Struktur des Poetischen alternati-
ven Ordnungsmustern zu unterstellen, die Inkonsistenzen ebenso zulassen wie
Sprünge, Nichtlinearitäten und die waghalsigen Pirouetten einer letztlich unbere-
chenbaren Kreativität.
Deutlich wird damit, das über die Brücke ursprünglicher Temporalisation die
Arbitrarität des Zeichens und der differentielle Charakter der Ketten zusammenge-
hören: »Beliebigkeit und Verschiedenheit sind zwei korrelative Eigenschaften.« "
Deutlich wind aber auch, daß sämtliche Theoreme des nachfolgenden Sttuktura-
lismus und Poststrukturalismus, einschließlich der Positionen Derridas, bei Saus-
sure im wesentlichen schon vorliegen: Nichtigkeit des Zeichens, Vorrangigkeit
der Struktur, Bestimmung ihrer Strukturalität aus der Eintragung einer Grenze
(peras) in ein zuvor Unbegrenztes (apeiron), Konstitution der Grenze nach belie-
bigen »Tranchen«, die eine Folge von Gegensatzpaaren erzeugen, d.h. Diskretie-
rung ihrer Ordnung aus der Negativität von Oppositionen, die der Differenz von
A und Non-A genügen, schließlich Bewegung von Iteration und Alteration, die
bedingt, daß das Symbolische einzig im Zurückkommen auf sich geschieht, d.h. in
bezug auf sein Anderes vollständig unbestimmt bleibt. Und deutlich wird außer-
dem, daß die strukturale Semiologie der Paradoxalität des Zeichens nur dadurch
zu entkommen weiß, daß sie sich ausschließlich immanent definiert, mithin auch
ohne Bezug auf einen »Sinn«, der ihm vorausgeht. D.h. Saussure tilgt, wie die ge-
samte strukturalistische Avantgarde nach ihm, mit dem Realen ebenso die Instanz
des Bedeutens: »Die Bedeutung ist hier nicht Vorgegebenes mehr, dessen dunkle

zeptable Definition der Struktur tatsächlich die der Mathematiker« sei; vgl. ders., Das Selbe und
das Andere, a.a.O., S. 102.
90 Zur Affinität zwischen Strukturalismus und Konstruktivismus, vgl. das »Differenz-Kalkül« Geor-
ge Spencer-Browns, Laws of Form, Gesetze der Form, Lübeck 1997; dazu auch: Dirk Baecker
(Hsg.), Kalkül der Form, Frankfurt/M. 1993. Allerdings beginnt Spencer-Brown mit der Souve-
ränität des Aktes »Draw a distinction«, wobei der Strukturalismus von der »Differenziertheit« der
Sprache bereits ausgeht.
91 Vgl. Julia Kristeva Zu einer Semiologie der Paragramme, a.a.O. Das Textstück bildet einen Auszug
von Semeiotiki. Recherches pour une semanalyse, Paris 1969. Die Unternehmung erscheint freilich
von ihrem Resultat her völlig verfehlt. Rigoros appliziert Kristeva einen nicht minder fremden
Formalismus, dessen Übernahme sie selbst zwar als »heftig«, »übertrieben« und »exzentrisch« cha-
rakterisiert, der aber gleichwohl selbst überall auf der Ebene der Analogie bleibt, die das Verfah-
ren letztlich kryptisch erscheinen läßt. Vgl. auch meine Ausführungen in: D. Mersch, Das
tische und das Symbolische. Julia Kristevas Beitrag zum Strukturalismus, a.a.O.
92 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 141.
93 Dazu auch: Roland Posner, Semiotik diesseits und jenseits des Strukturalismus. Zum Verhältnis
von Moderne und Postmoderne, Strukturalismus und Poststrukturalismus, in: Zeitschrift für
Semiotik, Bd. 15, Heft 3-4 (1993), S. 211-233.
STRUKTUR UND EREIGNIS 323

Sprache es zu verstehen gilt; sie ist vielmehr das, was man zu der Struktur hinzu-
gibt, damit ein Modell entsteht.« 4 D.h. auch: »Die strukturale Analyse stellt sich
darüber, sie beherrscht ihn, konstruiert ihn und gibt ihn vor«; es geht deshalb
darum »die Form von jeglichem Sinn zu entleeren, sie jeden erdenklichen Sinnes
zu entledigen, das heißt, sie formal zu denken (...).«
Die »Revolution«, die Michel Serres auf diese Weise annonciert, ist indessen
das Produkt einer Mathematik, die allein Strukturen und deren Transformation
zugrunde legt. Sie erhellt zugleich die Disparität der beiden konkurrierenden Zei-
chenmodelle: Differenz zwischen einer funktionalen Analysis, worauf Analytik
und Pragmatik fußen, und einer abstrakten Algebra, worauf der Strukturalismus
rekurriert. Sie scheinen wie zwei unvereinbare Blöcke nebeneinander zu stehen,
inäquivalent und unübersetzbar, wenngleich sie in vielem stärker konvergieren,
als sie selbst wähnen. ' Denn keine Funktion vermag ihre eigene Ordnung abzu-
bilden, wie umgekehrt die Ordnung allein keine Funktion zu definieren versteht.
Die Kluft ist ihrer Zugangsart selber geschuldet. Und wie Wittgenstein im
tatus mit Blick auf die Abbildlichkeit der Sprache gesagt hat, daß deren »Form«
sich lediglich zeige, ohne durch die Abbildung selbst mitabgebildet zu werden,
nimmt Saussure gerade von ihr seinen Ausgang, um zum Programm zu erheben,
was dem Funktionalismus entgeht: Sichzeigende Strukturalität, die als »Gtund«
dem »Sinn« verborgen bleibt, wiewohl sie in jedes Sagen mitspielt und sein Kon-
stituierendes bildet. Doch wird eben dadurch der Sinn selbst zu etwas »Mysti-
schem«, wie es Wittgenstein aufgefaßt hat: Er zeigt sich angesichts einer Ordnung,
aus dessen Gittern er wie »Nebelschwaden« (Barthes) emporsteigt, um sich
schließlich ganz zu verflüchtigen. D.h. die Bedeutungen ergehen nicht länger aus
einer lesbaren Textur; sie zeichnen sich ab, als Emanation einer »Form« oder Aus-
fluß ihrer Differentialität. Dann »spricht« die Struktur nicht; sie ist sprechend, in-
dem sie zeigt, und sie zeigt sich, indem sie ihre »Wirkungen« zeitigt.
Erneut spaltet Saussure das Sagbare und das Zeigbare, indem er den Sinn »cu-
piert«, um jenes formale Sichzeigen einzubehalten, das einzig als »Effekt« eines

94 Michel Serres, Hermes I: Kommunikation, a.a.O., S. 41.


95 Ebenda, S. 41 u. 33. »(D)as Gold des Signifikats!, so schallt es uns aus allen Hermeneutiken entge-
gen«, vermerkt ironisch Roland Barthes: »Für sie begründet das Signifikat den Signifikant ganz
genauso in der gesunden Geldwirtschaft das Gold die Währung begründet (...) Das kleine Dra-
ma Saussures besteht darin, daß er im Gegensatz zu den unbeugsamen Konservativen weder dem
Zeichen noch dem Gold vertraut: Er sieht sehr wohl, daß die Bindung des Papiers an das Gold,
des Signifikanten an das Signifikat wandelbar, labil ist, durch nichts garantiert.« Vgl. ders., Saus-
sure, das Zeichen und die Demokratie, a.a.O., S. 161, 162.
96 Es ließe sich eine Reihe von Parallelen aufzählen, wobei der Hinweis auf Nelson Goodmans All-
gemeine Symboltheorie genügen mag, um einige wesentliche Züge zu markieren: (i) Aussetzung
des Realen als Nulldenotat; (ii) Lokalisierung der Symbolisationen in anderen Symbolisationen;
(iii) Ausstreichung einer creatw ex nihtlo; (iv) Grundlegung einer Notierbarkeit der Zeichen auf-
gtund von Äquivalenzklassen, die vermöge disjunkter Mengen allererst diskrete Marken unter-
scheidbar machen.
324 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Anderen gedacht wird, das nicht spricht. Durchbrochen wird damit die jahrhun-
dertealte Auszeichnung des Sagens, der dictio, um den Sinn allein als Geschehnis
einer anderswo geschriebenen Ordnung zu entziffern: Schriftzüge bedeutungslo-
ser Unterschiede, die ergehen, ohne »gemeint« zu sein. Ein Nicht-Sinn konstituiert
damit den Sinn: Die ganze Obsession des Strukturalismus und Poststrukturalis-
mus konzentriert sich in diesem Satz: Bruch mit jeglicher Semantik, um sich al-
lein den zufälligen Mustern einer Schraffur anzuvertrauen. Schon Jakobson
pointiert die Tendenz, wenn er die Differentialität der Schnitte in den Signifi-
kant/Signifikat-Ketten ganz auf die äußere Schicht der Lautlichkeit reduziert, so
daß die einfache Reihe a — a' — a" ... die komplexe a/b - a'/b' - a'Vb" ... ersetzt
und die »Spur« des Signifikats sich verliert - eine Tendenz, die Jacques Lacan
und Roland Barthes radikalisiert haben und die am Entschiedensten vielleicht
Derrida zu Ende gedacht hat, wenn er nurmehr die »Marke« (marque) an die
Stelle des »Zeichens« setzt, die »Spur« an den Platz seines Sinns sowie die diffe-
rance an den Ort des »transzendentalen Signifikats« — sei dieses präzisiert als
»Grund«, »Wahrheit«, »Ursprung« oder »Präsenz«, oder welche Stellung ihm
sonst im Namen der Metaphysik »für Begründung, Prinzip oder Zentrum« erteilt
wurde: »eidos, arche, telos, energeia, ousia (Essenz, Existenz, Substanz, Subjekt),
aletheia, Transzendentalität, Bewußtsein, Gott, Mensch usw.«, um »letzten En-
des dem Verweis von Zeichen zu Zeichen immer eine feste Grenze« zu ziehen.
So wird in einem weiteren Schritt die Heideggetsche »Destruktion« der »Meta-
physik« noch überboten, indem ihre Arbeit weitergeführt wird, um sie als »De-
konstruktion« schließlich gegen sich selbst zu wenden: »Abbau« nicht nur des
klassischen Trivums von Sein, Wahrheit und Grund, sondern ebenso ihres Über-
gangs zum »Sinn«, zur vorsokratischen Aletheia, der »Entdecktheit« oder »Unver-
borgenheit«, sowie des »Gründens«, das keine Begründung beinhaltet, sondern
seinem »Bedeuten« allererst einen Boden verschafft. Hatte Heidegger entspre-
chend die ontologische Frage nach dem »Sein des Seienden« zu der nach dem
»Sinn von Sein« verschärft, so lockt sie das strukturale Denken in die Strenge der

97 Vgl. z.B. Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 88 f. Weiter heißt es: »Es gilt also, die
Idee des Zeichens durch eine Betrachtung der Schrift zu dekonstruieren (...). Daß das Signifi-
kat ursprünglich und wesenmäßig (...) Spur ist, daß es sich immer schon in der Position des Si-
gnifikanten befindet — das ist der scheinbar unschuldige Satz, in dem die Metaphysik des Logos,
der Präsenz und des Bewußtseins die Schrift als ihren Tod und ihre Quelle reflektieren muß.«
Ebenda, S. 129.
98 Vgl. ders., Die Differance, a.a.O., S. 38.
99 Ders., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, a.a.O., S. 424.
100 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 85.
101 Die Grundlagen der Heideggerschen Destruktionsarbeit näher auszuführen, würde hier zu weit
führen. Summarisch sei verweisen auf: ders., Sein und Zeit, a.a.O., vor allem §§ 5, 6; S. 15 ff u.
§ 44, S. 212 ff; Was ist Metaphysik? a.a.O., Einfuhrung in die Metaphysik, Gesamtausgabe
Bd. 40, Frankfurt/M. 1983 sowie die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., vor allem
§§ 33 ff, S. 72 ff, §§ 168 ff, S. 293 ff. u. §§ 204 ff, S. 327 ff.
STRUKTUR UND EREIGNIS 325

Struktur, um sie erneut zu verabschieden. Weder taucht dann ein Sinn auf, noch
verbirgt er sich oder erweist sich als invariantes Faktum menschlichen »Daseins«,
sondern »es gibt ihn« allererst vermöge einer Ordnung, eines »Schriftzugs«, der
immer schon dem vorausgegangen »ist« und »sein wird«, was je be-deutet, inter-
pretiert oder verstanden werden kann.
Keineswegs wird auf diese Weise die völlige Negation oder Verwerfung des
Sinns zum Unsinn oder gar zur Sinnlosigkeit propagiert, sondern Derrida spricht
präziser und vorsichtiger lediglich von seiner »Dislozierung« oder Streuung
(Dissemination): " Denn »in Frankreich« habe die »Auswirkung der totalen Er-
schütterung« der Metaphysik zur »Reduktion des Sinns« und demnach zu einer
»Aufmerksamkeit auf System und Struktur« geführt; doch beruhe solche Re-
duktion nicht darauf, »den Sinn auszulöschen oder zu zerstören. Es handelt sich
eher darum, die Möglichkeit von Sinn zu bestimmen, ausgehend von einer Nor-
malen« Organisation, die in sich selbst keinen Sinn hat, was nicht heißen soll, sie
sei der Unsinn odet die beängstigende Absurdität, die den metaphysischen Hu-
manismus umschlich.« Entscheidend wird darin der Verweis darauf, was ange-
sichts einer Strukturalität sich ereignet, ohne der Mysterien des Bedeutens zu be-
dürfen oder auf sie zu rekurrieren; Ereignis, wofür der Begriff des »Spiels« ein-
steht, det weder eines Grundes noch eines Sinns einschließlich ihrer metaphysi-
schen Konnotationen bedarf, sondern geschieht. Das hat zur Folge, daß die
Philosophie ebensowohl auf einen allgemeinen, verbindlichen wie auslegbaren
Sinn verzichten muß wie auf die Authentizität det Autorenschaft als Quelle (in-
tentio auctoris) oder des Historischen als seiner »Autorität« (Gadamer), die letzt-
lich für seine Verbürgung sorgen. »Wenn man (...) bedenkt, daß Heideggets De-
struktion des metaphysischen Humanismus zunächst von einer hermeneutischen
Frage nach dem Sinn oder der Wahrheit des Sinns ausgeht, begreift man auch,
daß die Reduktion des Sinns als eine Art Bruch mit einem Denken des Seins
durchgeführt wird, welches alle Züge einer Aufhebung des Humanismus hat.«
Wenn daher mit »Humanismus« der Name jener philosophischen Epoche ange-
sprochen ist, der durch das Prinzip eines Ersten, eines Prius oder fundamentum
inconcussums gekennzeichnet ist, dann, so Derrida weiter, »muß man sich wohl
eingestehen, daß es kein Zentrum gibt, daß das Zentrum nicht in Gestalt eines
Anwesenden gedacht werden kann, daß es keinen natürlichen Ort besitzt, daß es

102 Jacques Derrida, Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-
Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen, Berlin 1997, S. 43.
103 Ders., Fines hominis, in: Randgänge der Philosophie, a.a.O., S. 133-157, hier: S. 154.
104 Ebenda, S. 139.
105 Deutlich wird allerdings, daß Derrida sich - wie übrigens gleichermaßen Deleuze oder Lyotard
- mit dem Begriff des »Ereignisses« der Spätphilosophie Heideggers in gewisser Weise nähert,
auch wenn er ihn weitethin des »Ursprungsdenkens« bezichtigt; vgl. vor allem ders., Die
Struktur, das Zeichen und das Spiel, a.a.O., S. 441 f.
106 Ders., Fines hominis, a.a.O., S. 155.
326 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

kein fester Ort ist. (...) Es ist dies auch der Augenblick, da infolge der Abwesen-
heit eines Zentrums oder eines Ursprungs alles zum Diskurs wird — vorausgeseat
man kann sich über dieses Wort verständigen - , das heißt zum System, in dem
das zentrale, originäre oder transzendentale Signifikat niemals absolut, außerhalb
eines Systems von Differenzen, präsent ist. Die Abwesenheit eines transzenden-
talen Signifikats erweitert das Feld und das Spiel des Bezeichnens ins Unendli-
che.«

107 Ders., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, a.a.O., S. 424.
3. KAPITEL:
MATERIALITÄT DER STRUKTUR UND STRUKTUR DER
MATERIALITÄT (SAUSSURE III, DERRIDA II)

Ich beschränke mich aber darauf zu sagen, daß


ich keine Schwierigkeit darin finde, eine
sische Welt neben der psychischen
nen in der Art, daß die letztere ein Teilgebiet
der ersteren ist.
Sigmund Freud

Einige Aporien

»Die Erforschung der menschlichen Rede (langage) begreift (...) zwei Teile in
sich: der eine, wesentliche, hat als Objekt die Sprache (langue) (...); der andere
Teil, der erst in zweiter Linie in Betracht kommt, hat zum Objekt (...) das Spre-
chen, einschließlich der Lautgebung (...). Allerdings sind beide Objekte eng mit-
einander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Die Sprache ist erforderlich,
damit das Sprechen verständlich sei (...). Das Sprechen aber ist erforderlich, da-
mit die Sprache sich bilde; historisch betrachtet, ist das Sprechen das zuerst gege-
bene Faktum.« Der Primat der Struktur, wie er - Grundthese des Strukturalis-
mus - im Vorrang der Langue vor der Performanz der Parole zum Ausdruck
kommt, betrifft das System der Zeichen; doch wäre kein Zeichen noch ein
»Wert« oder »Term«, würde er nicht gesprochen, ausgetauscht oder kommuni-
ziert, mithin durch die Stimme ausgetragen und in den »Kreislauf des Sprechens«
gebracht, der ihn »von Mund zu Mund« trägt." Die Differentialität der Schnitte,
die ihr System rastert und die symbolische Ordnung definiert, wird daher bereits
an deren »Körper«, auf seiner »Oberfläche« oder Außenhaut vorgenommen:
Tranchierung der »Lautmasse« als Schnitt sprachlicher Materialität. Das erste,
was sich demnach zeigt, ist die Ver-Lautung: Sichzeigen einer Struktur aufgrund
dieser, so daß sämtliche Überlegungen Saussures mit dem Sinnlichen, der »physi-
schen Natur« beginnen. Vehement wendet er sich der Seite der Materialität zu,
um von ihr her das Geschehen der Sprache zu entschlüsseln: Kein Wirkliches,
sowenig wie ein präformierter Sinn, den sie wie ein Gefäß »beinhaltete«, vielmehr
nur Laute, die sich im Ausgesprochenen abzeichnen und von denen her sich ihr
Gesagtes zeigt.
Wie die traditionelle Linguistik zunächst die Phonetik privilegierte, wählt auch
Saussure ihren Ausgangspunkt, doch so, daß es ihm gerade nicht um den Laut als
Laut geht, sondern um jene Ordnung, die sich seiner Reihung »eingeschrieben«

1 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 22.


2 Vgl. ebenda, S. 9 u. 13 f.
328 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

hat. Was als Materialität der Sprache gilt, gliedert sich dann bereits gemäß ihrer
phono-morphemischen »Schrift« und erzeugt eine Struktur im Sinne eines diffe-
rentiellen Musters von Besetzungen, wobei die einzelnen Laute wiederum nichts
bedeuten. Es ist deshalb kaum verwunderlich, daß die Phonologie aus dem
Strukturalismus ihren größten Nutzen zog: Klassifizierung der Lautdifferenzen
unter Absehung jener besonderen Bedeutungen, die in ihnen mitschwingen, um
aus ihnen ein universales System herzuleiten. Beides wird zusammengedacht:
Das Strukturelle wie das Materielle, wobei die Struktur lediglich in Form einer
Materialität existiert, wie die Materialität immer schon als strukturiert erscheint.
D.h. die »Form« der Sprache zeichnet sich in ihrer Materialität ab, wie die Mate-
rialität umgekehrt durch eine Form gezeichnet ist. Wie Hegel die Materie als
Form denkt, um sie in den Begriff »aufzuheben«, reduziert sie der Strukturalis-
mus auf die Differenz, die sie ab Materialität in die Negativität der »Spur« aus-
löscht: »Damit das von seinem Gebrauch befreite symbolische Objekt zu einem
vom hie et nunc befreiten Wort wird«, schreibt entsprechend Lacan, »kommt es
nicht auf den materiellen, lautlichen Unterschied an, sondern auf sein Ver-
schwinden (...).« Das bedeutet, daß es als Materielles nur in dem Maße Signifi-
kanz gewinnt, wie es seine Materialität annulliert.
Damit kündigen sich freilich eine Reihe von Aporien an, die sich ins Innere
des Saussureschen Unternehmens einnisten und sein Selbstverständnis erschüt-
tern werden. Denn indem das Symbolische durch eine Materialität allererst zur
Erscheinung kommt, diese abet immer schon durch eine Struktur markiert ist,
dominiert zuletzt doch die Strukturalität det Sttuktur, die umgekehrt die Mate-
rialität als solche nicht vorkommen läßt. Zwar zeichnet sich die Gliederung der
»Werte« auf deren Oberfläche ab, doch spielt diese keine Rolle, vielmehr allein
das Netz der Beziehungen, das sie beherbergt. Die Struktut »ist« nur vermöge der
Einteilung der Materialität, deren Zentrum wiederum die Ordnung selber ist, die
sie strukturiert. So sichert die Materialität einerseits die Möglichkeit des Zeichens,
insofern »(j)edes materielle Ding (...) für uns schon ein Zeichen (ist), das heißt
ein Eindruck, den wir mit anderen assoziieren«; andererseits ist das, was das Zei-
chen als Zeichen bestimmt, nicht seine Materialität, sondern die Differentialität
der Ketten, in denen es vorkommt. Saussure führt demnach den Gesichtspunkt
der Materialität ein, um ihn sogleich wieder auszustreichen. Im Augenblick seines
Auftauchens büßt sich seine Stellung ein, weil nicht das Lautliche, vielmehr die
Relationalität der Unterschiede die primäre linguistische Tatsache darstellt: »Man

3 Vgl. Roman Jakobson, Die eigenartige Zeichenstruktur des Phonems, in: ders., Semiotik, a.a.O.,
S. 157-170. Zur Bedeutung der Phonologie für den Strukturalismus auch: Oswald Ducrot, Der
Strukturalismus in der Linguistik, a.a.O., S. 54 ff, der eine »allgemeine Phonologie« sogar über-
haupt als »Erbe Saussures« bezeichnet; vgl. ebenda, S. 59.
4 Siehe oben Tl. II, 1. Hauptstück, 1. Kap.
5 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, a.a.O.,
S. 116.
6 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 372.
STRUKTUR UND EREIGNIS 329

kann also die Sprache nicht auf den Laut zurückführen«: »Die Sprache (langue)
ist sich des Lautes nur als Zeichen bewußt«, denn »(e)ine Folge von Lauten ist
nur etwas Sprachliches, wenn sie Träger einer Vorstellung ist«: »(D)ie Laute exi-
stieren, leben und verändern sich nur im Schöße der Wörter.«
Saussure untersucht also die Sprache einzig im Rahmen einer Topologik, für
die nur die Differentialität der Ketten zählt, nicht die jeweilige Färbung oder be-
sondere Note der Vokalisation oder das, was Roland Barthes die »Rauheit der
Stimme« nannte: »Was bei einem Wort in Betracht kommt, das ist nicht der
Laut selbst, sondern die lautlichen Verschiedenheiten, welche dieses Wort von
anderen unterscheiden gestatten, denn diese Verschiedenheiten sind die Träger
der Bedeutungen. (...) Übrigens ist es unmöglich, daß der Laut an sich, der nur
ein materielles Element ist, der Sprache angehören könnte. Er ist für sie nur etwas
Sekundäres, ein Stoff (...).« " Deshalb kommt Saussure auch zu dem Schluß, daß
die Materialität der Zeichen weder ein Ausgangspunkt der Linguistik noch über-
haupt ein Gegenstand det Semiologie sein kann: »Seinem Wesen nach ist es (das
bezeichnende Element der Sprache; H.v.m.) keineswegs lautlich, es ist unkörper-
lich, es ist gebildet nicht durch seine stoffliche Substanz, sondern einzig durch die
Verschiedenheiten, welche sein Lautbild von anderen trennen. Dieser Grundsatz
ist so wesentlich, daß er auf alle materiellen Bestandteile der Sprache Anwendung
findet (...)«. Also erscheint das »Material, mit dem die Zeichen hervorgebracht
werden, (...) gänzlich gleichgültig, denn es berührt das System nicht; ob ich die
Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder oder
einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung gleichgültig.« Erneut wird die Indiffe-
renz der Materialität, wie sie die Geschichte det Semiotik beherrscht, beschwo-
ren, sogar kann die »Funktion«, wie Saussure an einer anderen Stelle hinzusetzt,
»stetben, ohne daß das Organ stirbt. Selbst der Kadaver besitzt noch seine Orga-
ne, was Materie ist«. Das will sagen: Wenn die Form zugrunde geht, sterben die
Zeichen, auch wenn ihre äußere Hülle intakt bleibt. So wird die Materialität der

7 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 9. In den Nachlaßnotizen


heißt es entsprechend: »Ich betrachte es nicht als eine apriori einsichtige Wahrheit (...), daß man
verpflichtet sei, sich in bezug auf die Sptache (langue) mit der Art und Weise zu befassen, wie
sich in unserer Kehle oder in unserem Gaumen Laute formen«, vielmehr sei der Aspekt der Laut-
hchkeit »vollkommen willkürlich«. Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 282.
8 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 288.
9 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 122.
10 Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 286.
11 Siehe oben Tl. 1,3. Kap.
12 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 140, 141
passim.
13 Ebenda, S. 142, 143 passim. Im Nachlaß findet sich zudem die Bemerkung: »Wenn man das
nimmt, was in der Sprache (langage) zugleich das Materiellste, das Einfachste und das von der
Zeit am Unabhängigsten ist, zum Beispiel (...) >den Vokal a«, der vordem jeder Bedeutung, jeder
Vorstellung eines Gebtauchs entledigt wurde, stellt das nichts anderes dar als eine Reihe von phy-
siologisch-akustischen Aktionen (...).«< Ders., Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 296. Zum
Komplex vgl. auch Jacques Derrida, Semiologie und Grammatologie, a.a.O., S. 144 ff.
14 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 369.
330 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Sprache abermals mit dem Leichnam assoziiert: Soma und Sema, deren Verbin-
dung Piaton im Kratylos zieht, wobei mit ersterem nicht der Körper, sondern
das »Grabmal der Seele« gemeint ist: totes Fleisch, das auf radikale Weise die
Nichtigkeit der Materialität bezeugt, um allein die Formen gelten lassen.
Sogleich zeichnet sich damit jedoch eine weitere Aporie ab: Die Form der
Sprache kristallisiert sich in Gestalt ihrer Materialität, ohne zugleich als
lität in Erscheinung zu treten; dann vermag Saussure nicht zu klären, was die
Form als Form konstituiert. Zwar erscheint die Strukturalität nur aufgrund der
Schnitte im Material, dennoch liegt deren Schneidung nicht schon vor, weil die
Materialität selbst die Textur ihrer Differenzen maskiert. Offensichtlich bleibt die
Beziehung zwischen Lautlichkeit und Struktur fraglich: Was die Schnitte »sind«,
enthüllt sich nicht vetmöge der Laute, sie werden durch die »Artikuhertheit« des
Systems erst hervorgebracht. Diese gleichen einem kontinuierlichen Strom: Sie
lassen sich ohne Unterschiede vernehmen, so daß, besonders im Falle einer unbe-
kannten Sprache, es schwerfällt, einen gegen den anderen abzugrenzen; aber ihre
Bedeutungen werden nicht durch die Laute gegeben, sondern allein aufgrund des
Rasters der »Werte«, das ihre Segmentierung erzeugt. Was sich zeigt, gibt nicht
von sich her seine Diskretierung vor; im Gegenteil, die aktuelle Kette, die sich als
Wortreihe oder Sequenz von Sätzen artikuliert, wirkt auf der Ebene der Lautlich-
keit vollkommen homogen. Der Übergang von Laut zu Laut ist kontinuierlich,
zuweilen wird die Reihung durch Zäsuren unterbrochen, aber die Hebungen und
Senkungen implizieren nicht die Skandierung einer lautlichen Differenz, die er-
lauben würde, die Bedeutungen gegeneinander zu scheiden. Was sich daher
kundet, ist die Stimme, doch verbirgt sie gleichermaßen das, was sie sagt, wie die
Struktur, die sie preisgibt. So ist Saussure von Anfang an mit einem Rätsel kon-
frontiert: Die Präsenz der Stimme stellt das Gesagte ebensowohl aus, wie sie es
verheimlicht. Sie gibt sich zunächst vollkommen unartikuliert, so müssen die
Aufteilungen und Gliederungen, die ihren Sinn konstituieren, allererst in sie
»hineingelesen« werden. Ihre Ordnung existiert aufgrund einer »Tranchierung«
im Material, die freilich nur als solche hervortritt und identifiziert werden kann,
wenn es schon geschnitten wäre. Entweder hat man es also mit einer »amorphen
Masse« zu tun und vermag die Laute nicht zu trennen, oder man besitzt bereits
die Strukturen und vernimmt dadurch deren Teilung.
Fraglich erscheint somit der Ort der Strukturalität: Er manifestiert sich erst
durch eine Materialität, die allein aufgrund ihrer Strukturiertheit zum Vorschein
kommt; dann offenbart sie sich durch etwas, was sie bereits unterstellt. Es ergibt
sich also ein Zirkelschluß. Er konfrontiert die strukturale Semiologie mit dem
Problem ihrer Begründung. Insbesondere entsteht die Frage, was die Struktur
strukturiert wie ebenso, welcher Status dem Semantischen zukommt und was die-

15 Piaton, Kratylos, 400b,c; a.a.O.


16 Vgl. auch Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 371 f. Vehement hat dem
Michel Setres widersprochen. Vgl. ders., Die fünf Sinne, a.a.O., etwa S. 158 f., 174, 271 ff.
17 Ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 133.
STRUKTUR UND EREIGNIS 331

sem Kontur verleiht. Die Antwort, die Saussure erteilt, verrät erneut sein
Schwanken zwischen sich ausschließenden Positionen. Einige Passagen des Cours
legen nahe, daß die fraglichen Zerlegungen durch den Linguisten vorgenommen
werden, der die Sprache untersucht; andere scheinen davon auszugehen, daß der
kompetente Sprecher/Hörer sie vollzieht, indem er überhaupt eine Äußerung ver-
steht: »Derjenige, welcher eine Sprache beherrscht, grenzt die Einheiten mittels
einer Methode ab, die - wenigstens in der Theorie - sehr einfach ist. Sie besteht
darin, daß man vom Sprechen ausgeht, das als Dokument der Sprache betrachtet
wird, und das man durch zwei parallele Ketten darstellt, diejenige der Vorstellun-
gen und diejenige der Lautbilder. Eine richtige Abgrenzung verlangt, daß die
Einteilung auf der akustischen Kette (OC, ß, V ...) denjenigen auf der Kette der
Vorstellungen ( a \ ß', f entspricht (...).« Abgesehen davon, daß das Bild er-
neut zu jenem irrigen Repräsentationalismus verleitet, der gerade überwunden
werden soll, legt der Passus bei aller Unzulänglichkeit der Formulierung" eine
Souveränität der Zuordnung nahe, die auf der anderen Seite dementiert wird,
wenn Saussure die Möglichkeit einer »freien Wahl« ausschließt. So bliebe eine
Restsubjektivität bestehen, die die unzureichende Begründung kompensiert und
die Beziehung zwischen Struktur und Bedeutung verwirrt.
Ja, Saussure scheint sogar ein »Verstehen« vorauszusetzen, das den Ordnungen
des Symbolischen vorangeht und deren Strukturen »einliest« - im direkten Wi-
derspruch zu jenem maßgeblichen Diktum, wonach der Sinn deren Derivat bil-
det. Offenbar erweist er sich als untilgbar: Einerseits folgen die Bedeutungen aus
den Wirkungen eines Systems, das von der Differentialität formaler Ketten
durchschnitten ist, die jeglichen Inhalt missen lassen; andererseits setzt deren
Identifizierung gleichwohl einen Sinn voraus, um die relevanten Markierungen
im Material entziffern zu können. Damit entsteht ein weiterer Zirkel: Erst die
Segmentierung der Lautketten konstituiert die Bedeutungen, wie umgekehrt die
Bedeutungen die Entdeckung der Segmente erlauben. Wiewohl Saussure sie ab-
zustreifen sucht, erteilt er ihnen ihren Status zurück, um sie erneut für die Analy-
se der Struktur in Anspruch zu nehmen. Mithin taucht der Sinn im Moment sei-
ner Überschreitung wieder auf: Der Fokus strukturaler Semiologie zielt zuletzt
auf eine Hermeneutik der Struktur. Mehr noch: Das Regime der Form dient ein-
zig dazu, das Enigma seines Anderen, der Bedeutung, zu enträtseln: Überall geht
es um dessen Lektüren, dominiert der Text und seine Interpretationen. Entspre-
chend scheinen die Strukturen nichts anderes zu wollen, als unablässig einen Sinn
zu verkünden, weiterzugeben oder umzuschreiben. Ausschließlich unterstehen sie
dessen Finalität. Es gäbe keine Struktut ohne den Sinn, wie umgekehrt die
Strukturen nur zu existieren scheinen, um dem Ereignis des Sinns stattzugeben.

18 Ebenda, S. 128 ff.


19 Ebenda, S. 124.
20 Oswald Ducrot hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Cours in erstet Linie pädagogischen
Zwecken diente, dessen oft unzureichende Beispiele nicht schon als theoretische Modellierungen
zu verstehen seien, sondern lediglich einer einführenden Heuristik dienten; vgl. dazu ders., Der
Strukturalismus in der Linguistik, a.a.O., S. 41.
332 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

D.h. die symbolischen Ordnungen, die dem Sinn eliminierte, werden geradezu
von ihm besessen: Er bildet deren Begehren, ihre Obsession. Und selbst da, wo es
einzig um die Dechiffrierung einer Differentialität geht, dreht sich letztlich alles
um seinen Bezug, um die Rekonstruktion seiner Bedingungen, um die Struktur
als transzendentales Prinzip: »Denn der Sinn ist schelmisch«, wie Roland Barthes
schreibt: »Jagen Sie ihn aus dem Haus, er steigt zum Fenster wieder ein.«"

»Die Sprache spricht«"

Allerdings hat der nachfolgende Strukturalismus diese Zweideutigkeit oder Un-


entschiedenheit Saussures dadurch zu beheben versucht, daß er dem Signifikan-
ten rigoros sein Signifikat entriß, um dadurch die Stelle des Be-deutens über-
haupt auszuräumen und allein deren Strukturalität einzubehalten. Das bedeutet,
die Sprache oder das Symbolische von seiner Signifikanz zu entwurzeln und die
Form, ihre Ordnung absolut setzen. Entsprechend konstituiert sich der Sinn
nicht länger aus Segmenten, die zugleich zeigen und sagen, sondern einzig aus ei-
nem gleich-gültigen Spiel asignifikanter Ketten, die nichts ausdrücken. So wird
ein Gedanke weitergeführt und radikalisiert, der sich ebenfalls bei Saussure vor-
findet, gleichwohl durch die vielen Skrupel seines sich in Arbeit befindlichen
Projektes beständig wieder revidiert wurde: Konstitution der Schnitte als sich
selbstorganisierendes Geschehen einer Struktur, die, wie Derrida sagen wird, sich
in der Wiederholung, dem beständigen Zurückkommen auf sich, »faltet«." Wie
das Regime der Form den Sinn als »Effekt« eines Anderen auszeichnet, das nicht
spricht, so geschieht dessen Ent-Faltung ausschließlich als Ereignis. Die treuen
und duldsamen Einschneidungen, die die Rede (parole) durchfurchen, können
dann als Prozesse der Sprache (langue) aufgefaßt werden, die ihre Klassifikationen
und Gliederungen im Gebrauch ereignen läßt. »Zustand und Ereignis sind für die
Linguistik gleichgültig«, heißt eine Notiz zum Cours.' Entscheidend sei daher al-
lein das, was sich »zwischen zwei aufeinanderfolgenden Termen« abspielt."' Nicht
also der Sprecher er-teilt die Form; vielmehr widerfährt sie der Sprache, indem sie
sich vollzieht. Der Gedanke koinzidiert dem Grundsatz der Zirkulation, der ihre
Anfangslosigkeit bezeugt, jene Charakterisierung als einer »Erbschaft«, die un-
möglich »gezeugt« werden kann wie sie ebensowenig zu sterben vermag."' Das

21 Roland Barthes, Die Kunst, diese alte Sache ... in: ders., Der entgegenkommende und der
stumpfe Sinn, a.a.O., S. 207—215, hier: S. 211.
22 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 13. Angedeutet ist damit die Konvetgenz,
die sich zwischen strukturaler Linguistik und der Sprachphilosophie Heideggers ergibt. Vgl. zu
dieser Konvergenz auch Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, a.a.O., S. 408 ff.
23 Zum Begriff der »Falte« vor allem Jacques Derrida, Dissemination, a.a.O., S. 255 ff, sowie ders.,
Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation, a.a.O., S. 374.
24 Ferdinand de Saussure, Linguistik und Semiologie, a.a.O., S. 331.
25 Ebenda, S. 341.
26 Vgl. ders., Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 84; vgl. auch oben
2. Kap., wo von der Unmöglichkeit einer creatio ex nihilo gesprochen wurde.
STRUKTUR UND EREIGNIS 333

deutet zugleich die Richtung an, in det der spätere Strukturalismus seine Kor-
rekturen am Saussureschen Konzept anbringen wird: Jede Grenze und jeder
Schnitt bezeichnet eine Singularität, die sich in ein Schon-Eingeteilt-sein oder
Sich-Geschnitten-haben einträgt. Die strukturale Semiologie »ontologisiert« dann
nicht die Struktur," sondern exponiert einen Ereignisbegriff, der die Ordnung,
wie es gleichermaßen Deleuze und Derrida ausgedrückt haben, als je schon gewe-
sen ausweist.
Das bedeutet: Eine anonyme skripturale Artikulation geht jedet Entdeckung
der Tranchen voraus. Der Prozeß der Teilung geschieht, indem er sich in deren
Vorgängigkeit ein-ordnet. Die Schnitte, die die Sprache formt, werden so weder
vom Schreibenden noch vom Lesenden oder dem Sprecher/Hörer vorgenommen;
sondern indem sich die Marken (marques) in Umlauf befinden, modifizieren sie
sich, zwar nicht unabhängig von ihnen, aber auch nicht als deren intentionale
Tat. Stoisch im ganzen und unbeeindruckt von den Noten, die jeder einzelne der
Sprache auf eine unverwechselbare Weise einprägt, ist sie doch niemals sich selbst
gleich, sondern »Unbestimmtes«, das sich in ein ununterbrochenes Sich-Ereignen
»ent-faltet«. Der Umstand wird von Saussure in einer präzisen Metapher gefaßt,
die nur wenige Abschnitte auf das mißverständliche Bild der parallel laufenden
Bänder folgt und die, neben der Metapher des Blattes, zu den prominentesten
seines Diskurses gehört. Es lohnt, sie in ihrer Seltsamkeit genauer auszuloten. Das
Zusammenspiel von Vorgängigkeit und Nachträglichkeit der Teilungen wird
darin mit dem Wind verglichen, der über das Wasser streicht und seine Oberflä-
che zu Wellen formiert." Wie beide aufeinander einwirken und die Wellen-
struktur erst entstehen lassen, so bilden sich im Sprachkörper Muster, die die je-
weiligen Einteilungen zum Vorschein bringen und sich gleichwohl dauernd in
Bewegung halten. Die Muster, die derart hervorgebracht werden, zeigen sich, oh-
ne beabsichtigt zu sein; sie zeichnen sich aufgrund einer Wechselseitigkeit ab, die
weder eines Täters noch eines Zeugen bedarf. Vielmehr ergibt sich ihr Spiel, wie
es außerhalb davon nichts gibt, was die Bewegungen verursachte; nur eine »Spur«:
Form als Spur, die nirgends »ist«, sowie Spur als Form, die verweht, wie der
Wind, von dem das Bild beherrscht wird. Sowenig also in der Darstellung ein
Ort des Akteurs benötigt wird, sowenig bedarf es auch der Vorstellung einer mo-
tivierenden Aktivität, die sie erzeugt. Vielmehr gleicht das gemalte Geschehen der
Stille der Natur, dessen Dynamik sich einzig dem Zufall verdankt. Beide — die
Sprache wie das Meer - wirken, obwohl auf mannigfache Weise zergliedert, als
weithin etstreckte Dauer. Keine Zerlegung besteht vor der Sprache, die ihr ok-
troyiert wäre; es gibt nicht einmal die Sprache jenseits der Gliederung: Die Spra-
che selbst ist ihre Zerlegung.

27 In diesem Sinne spricht Umberto Eco von einer »Ontologisierung« der Struktur, gegen die er die
Offenheit des »Labyrinths« hält, vgl. ders., Einführung in die Semiotik, a.a.O., S. 371 ff, sowie
meine Darstellung in: D. Mersch, Umberto Eco zur Einführung, a.a.O., S. 90 ff, 105 ff.
28 Ferdinand de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., S. 133 f.
334 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Der Freiheit der Verfügung sind demnach enge Grenzen gesetzt. Die Perspek
tive radikaler Primarität der Struktur vereitelt auf diese Weise jeglichen Glauben
an eine vorgängige Intentionalität, die Vorstellung, wir beherrschten die Sprache
kraft unseres Vermögens zu sprechen, als seien wir es, die unsere Sätze erfänden
oder beständig wieder von neuem formten, statt uns ihrer Ordnung zu beugen.
Die Erben Saussures haben vor allem aus diesem Schluß Kapital geschlagen: Die
Sprache ist nicht »gemacht«, weder durch eine Konvention noch durch einen
»Willen«, sondern sie gleicht einer Gesetztheit, die bereits besteht, noch bevor ir
gend ein Wort gesprochen worden ist. Kein Bewußtsein und keine Handlung
vermag sie zu vollziehen: Sie setzt sich selbst vermöge jener Struktur, in die sich ih
re Zeichen einfügen. Das meint auch: Ihre Setzung ist Geschehen. Dann liegt die
Sprache nicht in der Hand des einzelnen; sie findet ihre Stellung nicht im Sub
jekt, wohl aber das Subjekt seine Stellung in ihr. Nichts anderes bedeutet auch
das ebenso verwirrende wie umstrittene Diktum Roland Barthes aus seiner An
trittsvorlesung am College de France, die Sprache (langue) und »die Gesamtheit
der menschlichen Rede« (langage) seien »faschistisch«, »denn Faschismus«, so die
Formulierung, »heißt nicht am Sagen hindern, er heißt zum Sagen zwingen.«"
Der Zwang, den Barthes auf diese gewiß übertriebene Weise kenntlich macht,
liegt sowohl in der »Herdenhaftigkeit« der Zeichen als auch den Disziplinierun
gen einer Grammatik, die die Logik der Prädikation sanktioniert, um sie der Re
de selbst da zu inskribieren, wo sie versucht, ihr zu entkommen: Denn der Sinn,
so an anderer Stelle »klebt am Menschen: Selbst wenn er Unsinniges oder Außer
sinniges schaffen will, bringt er schließlich den Sinn des Unsinnigen oder des
Außersinnigen hervor«. D.h. der Satz ist nicht analytisch zu verstehen; er ent
springt nicht einem Diskurs über die Macht der Sprache, der ihr einseitig das Sie
gel einer Repression aufprägte; vielmehr reflektiert es eine spezifische Erfahrung
mit Sprache, die dem Schreiben (ecriture), das seinen Titel im eigentlichen Sinne
des Literarischen erst verdiente, geläufig ist: Allergie gegen das Vorgestanzte, ge
gen das Gepräge der Worthulsen und Schablonen, die »Polizei der Syntax« und
ihren »Richtlinien des Sprachgebrauchs«, die dem Sagen Diktate auferlegt. Ent
sprechend variiert er gleichermaßen das Thema von Identität und Differenz wie
auch von Freiheit und Ordnung: Die Sprache läßt nichts anderes zu als ihre eige
ne Iteration, doch bedingt diese ihre gleichzeitige Erstattung, ihre Verhärtung
und Aushöhlung. Die Zeit besorgt nicht nur die beharrliche Kontinuität der
Wiederholung, sondern auch das Absterben, die Agonie: Barthes' Problem ist
dann nicht die Supression durch Sprache, die Gewalt, die aus der Herrschaft des
sen kommt, der im Namen einer Autorität spricht oder zu schweigen gebietet,
sondern ihre immanente »Sklerotisierung«, die der Rede hartnäckig ein Schema
aufpreßt und sie verdirbt. Unbestritten existiert Schöpferisches, der kreative Ge
brauch der Worte, die Erfindungen eines Anderssagens, die der Rede unablässig
Überraschungen bescheren, sogar bis in die individuelle Nuancierung hinein.

29 Roland Barthes, Lecon/Lektion, a.a.O., S. 19.


30 193.
STRUKTUR UND EREIGNIS 335

Doch liegen diese eben nicht auf der Ebene der freien Imagination des Subjekts,
seinem »Genie«, das sie bewußt »ins Spiel« brächte, sondern in den Bewegungen
des »Bruchs«, des Unter-Schieds, der in der Sprache unbeabsichtigte Sprünge
vollzieht, um ein unkontrollierbares Anderes zu generieren. Barthes rückt damit
den Grundsatz der Saussureschen Linguistik von der Differentialität der Ele-
mente emphatisch in die Nähe der Derridaschen differance, als einer Aktivität des
Aufklaffens: »Bedeutung entsteht (...) durch Differenz.«
Die Verweigerung des Intentionalen, die zu den nachdrücklichsten Hauptsät-
zen des Strukturalismus gehört und die ihm umgekehrt immer wieder vorgehal-
ten wurde, bedeutet also nicht die »Aus-Setzung« oder Exilierung des Subjekts
aus dem Reich der Sprache, jenen »Tod des Autors«, der die Souveränität des
»Lesers« gebiert, sondern seine buchstäbliche »Ent-Setzung« (transposition), seine
Randständigkeit: »Wir werden nur als Schreibende«, heißt es nahezu gleichlau-
tend bei Derrida: »Das >Subjekt< der Schrift existiert nicht, vetsteht man darunter
irgendeine souveräne Einsamkeit des Schriftstellers. Das Subjekt der Schrift ist
ein System von Beziehungen zwischen den Schichten.« " Zwar wird es dadurch
um die Illusion seiner Freiheit ärmer, aber gleichzeitig um die Möglichkeit wag-
halsiger Grenzgänge reicher. Der Autonomie der Subjektivität wird deshalb nicht
jeglicher Rang abgesprochen; vielmehr wird ihr innerhalb der Sprache ein anderer
Status zuteil. Denn wir sprechen nicht, indem wir die Sprache in jedem Augen-
blick neu realisieren, sondern indem wir uns als Subjekte gleichsam inmitten ih-
rer Medialität plazieren. Das Subjekt gleicht so einer beständig verlöschenden
Spur: die Sprache weist ihm seinen Ursprung und Ort zu, gewährt ihm Aufent-
halt, jedoch so, daß sein Platz immer wieder neu besetzt, umgeschrieben und
anders geordnet werden muß - und eben darin unkenntlich wird. Von vornher-
ein wird damit das Pathos einer Rationalität, auf die sich Habermas beruft, wenn
sie, gegen ihre Verzerrung, zum Maßstab von Verständigung überhaupt wird,
diskreditiert. Statt dessen gibt es nurmehr die fortwährende paradoxale Anstren-
gung eines Sprechens mit Sprache gegen Sprache.
Barthes konzipiert auf diese Weise ein emphatisches »Schreiben« im Sinne der
Ecriture, das die Ordnung des Symbolischen ebensosehr einverleibt, wie sie sich
ihm zu widersetzen sucht. Nichts anderes bedeutet die Dialektik von Bruch und
Kontinuität, von Widerstand und »Einschreibung«, wie sie ebenso Julia Kristeva
im Prozeß der Poesie festzumachen versucht hat: Setzung gegenläufiger »Spuren«,
die sich der Rede »unter-schieben«, um jene Inversionen oder Alternierungen er-
eignen zu lassen, aus der, wie es wiederum Barthes betont, die »Tugend des
Schreibens« (ecriture) eigentlich erst kommt. Vornehmlich geschieht sie als Negati-

31 Ders., Kritik und Wahrheit, Frankfurt/M. 1967, S. 78.


32 Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, a.a.O., S. 344.
33 Hier besteht eine Parallele zu Heideggers Rede von der Sprache als einem »Haus des Seins«; vgl.
ders., Über den Humanismus, Frankfurt/M, Lizenzausg. Bern 1947, S. 45 (=ders., Wegmarken,
a.a.O., S. 313-364; bes. S. 361 ff).
336 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

on. Ihr Anderes oder Neues liegt im Riß, dem Spalt, der sich buchstäblich zwi-
schen den Worten öffnet, jenem Nichts, das einen Ausdruck vom nächsten
trennt und das manchmal etwas Niedagewesenes »aufblitzen« läßt. Dann meint
»Schreiben«, wie es Barthes in einer Antwort an seine Kritiker präzisiert hat, »auf
eine bestimmte Weise die Welt (das Buch) zerspalten«. Der Widerstand trifft
die Sprache selbst: als ein Kampf, der gleichsam in ihr selbst ausgefochten werden
muß und, anders als etwa bei Jean-Paul Sartre, ihre eigentliche »Engagiertheit«
ausmacht. Anders ausgedrückt: Das Sprechen wird da produktiv, wo es gegen
seine eigenen Depravierungen durch die Wiederholung wütet, wo es sich gegen
jenen verhängnisvollen Sog der Notwendigkeit auflehnt, der die Worte müde
und stumpf werden läßt und ihnen ihr inneres Leuchten nimmt. Das erfordert,
in die abgenutzten Worte einbrechen, Unruhe oder Un-Ordnung zu stiften odet
ihr glanzvolles Spiel der Variation, das Theater vertauschter Plätze zu inszenieren:
»Uns jedoch, die wir weder Ritter des Glaubens noch Übermenschen sind, bleibt
nichts, wenn ich so sagen kann, als listig mit der Sprache umzugehen, als sie zu
überlisten. Dieses heilsame Überlisten, dieses Umgehen, dieses großartige Lock-
mittel, das es möglich macht, die außerhalb der Macht stehende Sprache in dem
Glanz der permanenten Revolution der Rede zu hören, nenne ich: Literatur.« '

Von der Differenz zur »differance«

Es war dieses Klima eines permanenten Umsturzes, das nirgends Stillstand, Kon-
tinuität oder Dauer duldete, das konsequent Identität und Wiederholung unter
Differenz und Alteration stellte, das schließlich zu jenem immanenten Überstieg
führte, der von der Spätphilosophie Heideggers her und über diese hinaus die
Saussuresche Linguistik nochmals in Frage stellte, indem sie ebenso deren tiefer-
liegende Fundamente freilegte wie verschob. Sie konstituierte Philosophie selbst
als Ecriture am Kreuzungspunkt einer Literatur, die zugleich den klassischen
Hiatus zwischen Denken und Kunst, Diskurs und Rhetorik, Begriff und Meta-
pher aufhob: Schrift (ecriture), als Anstrengungen eines Schreibens (ecrire), das
sich beständig von sich abzusetzen sucht, als Gegenwendung, die abbricht und
zersetzt, was andetswo errichtet worden ist. Sie wäre - erneute Parallele zu Hegel
- mit dessen »Anstrengungen im Begriff« zu vergleichen, allerdings so, daß nicht
die begriffliche Reflexion zählt, die fortwährend ihre Kreise zieht, um der Idee,

34 Diese »Werdung«, die nicht die Tat eines Künstlers oder Schriftstellers ist, sondern wiederum als
»Ereignis« der Ecriture geschieht, erklärt schließlich über die Poetik hinaus Deleuze zum Funda-
ment der Philosophie selbst; vgl. Deleuze, Logik des Sinns, a.a.O., bes. S. 19 ff, 186 ff. Der Um-
stand impliziert, Philosophie überhaupt als Kunst zu verstehen.
35 Roland Barthes, Kritik und Wahrheit, a.a.O., S. 88.
36 Ders., Lecon/ Lektion, a.a.O., S. 21,23.
37 Explizit erfolgt diese Selbstverständigung von Philosophie als Kunst vor allem bei Jean-Francois
Lyotard, vgl. sein Gespräch mit Christine Pries: Das Undarstellbare - wider das Vergessen, in:
Christine Pries (Hsg.), Das Erhabene, Weinheim 1989, S. 335. Ähnliches gilt für Roland Bart-
hes, nicht jedoch für Derrida, der jegliche Etikettierung zurückweisen würde.
STRUKTUR UND EREIGNIS 337

dem »Wesen« näherzukommen, sondern als ein »Einreißen« ihrer Barrieren oder
de-finitorischen »Schärfe«, um sich »Ab-Sprünge« oder »Um-Sprünge« zu erlau-
ben — ganz wie Heidegger dem philosophischen »Satz« bescheinigte, er mache ei-
nen »Satz« »im Sinne des Sptungs«. Doch sind damit Textstrategien gefordert,
die nicht länger der Logik des argumentativen Diskurses genügen, sondern im
gewissem Sinne a-diskursiv verfahren, indem sie sich mannigfacher Szenarien der
Kritik, Ironie oder Poetik bedienen, nicht um sie als Alternativen festzuschreiben,
sondern gleichsam als produktive Störungen oder Sperrfeuer einzusetzen. Mo-
delle dieser Art, die gleichermaßen an Adornos »Denken in Konstellationen« ge-
mahnen und die einzubehalten suchen, »was der Begriff im Innern weggeschnit-
ten hat«, bilden Roland Barthes' »Anamorphosen«, die ein systematisches »Lesen
von der Seite« einüben, gleichwie die Querläufe plötzlicher und überraschender
Eingriffe, die Jean-Francois Lyotard als »Coups« bezeichnet hat: Interventionen,
deren Effekte die »Aktivität« selber sind. Sämtlich gehen sie in jene textuellen
Operationen ein, die Derrida als »Dekonstruktion« bezeichnet hat, womit in er-
ster Linie »Prozesse« oder »Manöver« der »DeStabilisierung« und »De-
Statuierung« gemeint sind," die weder abzuleiten noch »begründen« oder eine
»Wahrheit« auszuweisen suchen, sondern den Rahmen (Parergon) leitender Dif-
ferenzen sprengen und ihre hierarchischen »Positionen« ins Wanken bringen
wollen: »Die Bewegungen dieser Dekonstruktion rühren nicht von außen an die
Strukturen. Sie sind nur möglich und wirklich, können nur etwas ausrichten, in-
dem sie diese Strukturen bewohnen: sie in bestimmter Weise bewohnen (...). De-
konstruktion hat notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subver-
siven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen,
sich ihrer strukturell zu bedienen.«

38 Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, a.a.O., S. 96 u. S. 151.


39 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 164 sowie S. 164 ff.
40 Roland Barthes, Kritik und Wahrheit, a.a.O., S. 76.
41 Vgl. Jean-Francois Lyotard, Essays zur affirmativen Ästhetik, a.a.O., S. 8 f.
42 Vgl. Jacques Derrida, Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-
Ismen ..., a.a.O., S. 48.
43 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 45. Zu Derridas Grundlegung einer Philosophie der »Dekon-
struktion« vgl. vor allem Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, Jacques Derrida. Ein Por-
trait von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida, a.a.O.; Heinz Kimmerle, Derrida zur Ein-
führung, Hamburg 1988; ders., Ist Derridas Denken Ursprungsphilosophie? a.a.O.,; Manfred
Frank, Was ist Neostrukturalismus?, a.a.O., S. 316 ff; Reiner Ansen, Defigurationen, Würzburg
1993; Klaus Englert, Frivolität und Sprache. Zur Zeichentheorie bei Jacques Derrida, Essen
1987; Fabio Ciaramelli, Jacques Derrida und das Supplement des Ursprungs, in: Hans-Dieter
Gondek, Bernhard Waldenfels (Hsg.), Einsätze des Denkens, Frankfurt/M. 1997, S. 124-152;
Johannes Fehr, Die Theorie des Zeichens bei Saussure und Derrida oder Jacques Derridas Saus-
sure-Lektüre, in: Cahiers Ferdinand Saussure 46 (1992), S. 35-54; Werner Stegmeier, >Die De-
konstruktion ist die Gerechtigkeit«: Jacques Derrida, in: Joseph Jurt (Hsg), Zeitgenössische fran-
zösische Denker. Eine Bilanz, Freiburg 1998, S. 163-185; Georg W. Bertram, Wem gilt die Kri-
tik der Dekonstruktion?, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 24. Jg., Heft 3 (1999),
S. 221-241; Jörg Lagemann, Klaus Gloy, Dem Zeichen auf der Spur. Derrida, eine Einfuhrung,
Aachen 1998.
338 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Weniger handelt es sich allerdings um ästhetische oder rhetorische Verfahren,


als um »performative«. Auffallend ist die Tetminologie des Taktischen und
Strategischen. Derrida spricht von »Mikrolektüren«, die er als Strategeme »ohne
Finalität« charakterisiert, die, als reine »Performative« ohne »Axiomatik« oder
»Gründungstatut« auskommen, vielmehr einer »vorläufigen« und experimentellen
»Form des Fragens« entspringen, denen es gerade darum geht, die textuelle Stren-
ge und Grundlegung bisheriger Theorien zu verunsichern. ' Dabei beziehen sie
ihr kritisches Potential nicht aus einer besonders raffinierten Auslegung, sondern
aus Lesepraktiken, die hermeneutische Wirkungen zeitigen, um in minutiöser
Wiederholung sowohl den großen Strom der europäischen Metaphysik als auch
der Tradition des Zeichens, die ihm entstammt, zu untergraben. Ihr Elixier ist
das, was Derrida auch als »Metalinguistik« bezeichnet - allerdings mit dem Vor-
behalt, diese wiederum einer Epoche zu unterziehen, insofern sie »in sich, in ihren
Entwurf selbst, die Unmöglichkeit einer Metasprache zu integrieren hätte«. Die
»Dekonstruktion« ist also eine »Praxis«, die freilich selbst noch in »Grundlagen«
wurzelt, worauf solche Ausdrücke wie »Metalinguistik« oder auch Grammatologie
hinweisen: Voraussetzung des Symbolischen oder der Schrift, des Zeichens (mar-
que), denen sie sich ebenso verdanken, wie sie sich von ihnen abzusetzen trachten.
Das bedeutet nicht nur, im Zeichen unter den Bedingungen seiner Iterabilität
und Differentialitat die Spur dessen zu entdecken, was es als Zeichen allererst

44 Der Gestus des »Performativen«, d.h. einer Praktik, der es weit mehr auf die Effekte und Wir-
kungen ankommt, die sie auslöst, als auf den »Sinn« oder die »Richtigkeit« von Interpretationen,
gehört zu den wesentlichen Kennzeichen jener Philosophie als Ecriture, wie sie sich im Anschluß
an Michel Foucault, Roland Barthes, Gilles Deleuze u.a. in Frankreich ausgebildet hat. Zum
Aufweis eines solchen performativen Gestus bei Foucault vgl. mein Versuch: D. Mersch, Anders
Denken. Michel Foucaults >performativer Diskurs< in: Hannelore Bublitz et al. (Hsg.), Das Wu-
chern der Diskurse, Frankfurt/M. New York 1999, S. 162-176.
45 Jacques Derrida, Die differance, a.a.O., S. 35.
46 Vgl. ders., Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-lsmen, Post-Ismen ...,
a.a.O., S. 42, 48, 62 passim. Weiter heißt es: »Die Kohärenz oder Konsistenz des dekonstrukti-
ven Entwurfs ist kein theoretisches Set und auch kein System, insofern ein System, im strengen
Sinne des Wortes, eine sehr determinierende Form der Versammlung, des Zusammenbestehens
eines Sets von theoretischen Propositionen ist. Er ist auch kein System, weil der dekonstruktive
Entwurf in sich so wenig propositional wie positional ist; er dekonstruiert ja gerade die thesis, und
zwar sowohl als philosophische These (und die Dekonstruktion ist ebensowenig philosophisch wie
wissenschaftlich) wie auch als Thema.« Ebenda, S. 47.
47 Ebenda, S. 29. Ganz im Gegensatz zu jener Form von Textbearbeitung, wie sie Geoffrey Hart-
man und besonders Jonathan Culler mit Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Li-
teraturtheorie, Reinbek bei Hamburg 1988, in der amerikanischen Literaturtheorie als »Dekon-
struktivismus« etabliert haben, verweigert sich die Dekonstruktion jeglicher Statuierung als Dok-
trin. Denn mit diesem »Wort«, so Derrida, »beziehe ich mich weder auf bestimmte Texte noch
auf bestimmte Autoren, und vor allem nicht auf jene Formation, die den Prozeß und Effekt der
Dekonstruktion diszipliniert, indem sie ihn in eine Theorie oder kritische Methode namens De-
konstruktivismus odet Dekonstruktivismen verwandelt.« Ders., Einige Statements und Binsen-
weisheiten über Neologismen, New-lsmen, Post-Ismen ..., a.a.O., S. 43. Ein solches Unternehmen
liefe vielmehr Gefahr, »den alten Begriff des Textes wiederherzustellen«, indem sie »die essentielle
Kraft und den Überschuß (...) verlier(t), der darin besteht, die gesamte philosophische Fundie-
rung (...) zu stören und durcheinanderzubringen (...).« Ebenda, S. 53, 54.
STRUKTUR UND EREIGNIS 339

konstituiert: seine Skripturalität; es bedeutet auch mit dem Begriff der »Schrift«
gegen die Vielfalt schriftloser Sprachen die wesentliche Schriftlichkeit als Prinzip
des Zeichens selber auszuzeichnen. Derrida wird statt dessen marque (Marke)
von signe (Zeichen) untetscheiden, um letzteres den klassischen Zeichentheorien
vorzubehalten, während ersteres den Signifikanten auf der Ebene seiner Materia-
lität nennt: als Kerbe, Kratzer, Einritzung, »Graphem«, »Bahnung«, Falte oder
Gravur und dergleichen, die sich aufgrund einer »Praktik des Anschneidens in ei-
ner graphischen Substanz« eingeritzt und verfestigt haben. Keiner der »Worte«
bezeichnet jedoch ä la lettre ein »Wort« oder gar einen »Begriff«, sondern ledig-
lich ein Zitat als Wiederholung anderswo aufgelesener »Spuren«, die sich immer
wieder neu verfolgen und lesen lassen und dabei ihre eigenen Konnotationen
entfalten. So ist der Ausdruck »Bahnung« der Psychoanalyse Freuds entnommen,
»Falte« der Dichtung Mallarmes.
Derrida beschränkt sich damit allein auf die Arbitrarität des Schnitts, der die
Markierung als solche hervortreten läßt, wie er den Schnitt selbst noch einer
permanenten Differierung unterwirft, die ihn zugleich von sich ablöst und modi-
fiziert. So kann Derrida einerseits am Prinzip des Zeichens (marque) festhalten,
andererseits es selbst noch einer Streichung unterziehen: Fortsetzung seiner ledig-
lich räumlichen Unterschiedenheit zu einem temporalen Geschehen einer sich
ständig ereignenden Differierung. Sie ersetzt als »Marke« oder »Spurenschrift« die
Identifizierung des Zeichens (signe) »als etwas«, das statisch oder stabil wäre: »(E)s
gibt weder Symbole noch Zeichen, sondern nur das Zeichen-werden des Sym-
bols«. Spur, als Tätigkeit, meint entsprechend keinen Zustand, sondern die un-
ablässige Verwischung ihrer selbst, die keine Identität »als« etwas duldet. " Ent-
scheidend ist so, daß damit auf eine ungleich radikalere Weise als bei Saussure die
Zeitlichkeit als Konstituenz in den Begriff des Zeichens eindringt und es spaltet:
Was Saussure unter die Chronien der Struktur, ihre ursprünglichen Temporalisati-
on faßte, verläuft sich nun, wollte man das Zeichen (marque) festhalten, zu einer
bereits gewesenen Spur, die immer schon der Bedingung der »Nachträglichkeit«
untersteht, d.h. sich nirgends »als« Spur zeigt, sondern seine Präsenz bereits in
sich ausgelöscht hat. Mithin spricht jeder Diskurs, wo er spricht, je schon im
Modus des Perfekts, des Gewesenseins, d.h. auch des Gedächtnisses und der Er-
innerung. Denken bedeutet »Aufschub« (difference), Sekundarität, Hinzufügung
und entsprechend Erinnern, Schreiben, »Spuren hinterlassen«, welche andauernd
durch neue Spuren überschrieben und ausgelöscht werden. Die Zeichen stehen
deshalb außerhalb des Bereichs der Präsenz wie des Präsens: Daher der Ausdruck
»Spur«, der stets schon dieses Vergangensein anzeigt: Marke, die lediglich Zei-

48 Vgl. auch oben Tl. I, 3. Kap. sowie Tl. II, 1. Hauptstück, 2. Kap.
49 Vgl. dazu Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, a.a.O., S. 305 ff; ders., Se-
miologie und Grammatologie, a.a.O., S. 150 ff, sowie ders.. Dissemination, a.a.O., S. 384.
50 Dies eben behauptet Derrida insbesondere für die difffrancr, vgl. ders., Die differance, a.a.O.,
S. 32.
51 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 83.
52 Ebenda, S. 88.
340 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

chen ist, weil sie noch der Verspätung unterliegt, d.h. ausschließlich vermöge ih-
rer Gewesenheit entschlüsselbar ist. Spuren künden demnach nicht nur von etwas
»Vorübergegangenen«; sie verweisen nicht auf eine Abwesenheit, soweit sie einen
»Abdtuck« hinterließen, sondern sind selbst schon vorübergegangen, abwesend:
Sie tragen in sich bereits das Siegel einer zeitlichen Trennung, die sowenig er-
laubt, von der Sekundarität der Bezeichnung und der Primarität einer Wirklich-
keit zu sprechen, wie von der Primarität der Zeichen selber. Was es »gibt« - ge-
nauer: einmal »gab« - sind Zeichen von Zeichen, die wiederum auf andere Zei-
chen verweisen, Supplemente und »Supplemente von Supplementen« die ihrer-
seits intetpretiert werden müssen und den Prozeß der Signifikation ins Unendli-
che, in die Unaufhörlichkeit einer permanenten Verschiebung verschieben.
So verzeichnet Derrida im Begriff des Zeichens eine doppelte »Dekonstrukti-
on«: (i) Dekonstruktion der Metaphysik, die durch das Denken der Sekundarität,
det Nicht-Präsenz erschüttert wird, wie auch (ii) Dekonstruktion des Zeichens, das
gleichermaßen mit der Metaphysik umstürzt, aus der es seinen Begriff und seine
Herkunft bezieht. Vielmehr löst es sich in eine chronische Vorläufigkeit, eine
»Drift« oder Unbestimmtheit, die es einer Grund-, Wahrheits- und Haltlosigkeit
überantwortet, die die Lektüren fortwährend multipliziert, um sich schließlich
vollends in die »Radikalität« (radix, Wurzel) einer Nicht-Präsenz zu verlieren.
Das bedeutet: Derrida verwirft in einer doppelten Bewegung sowohl die Onto-
Logik der Repräsentation als auch die Identität des Zeichens, die dieser zugrunde
liegt, weil das Spiel der Verweise nicht einmal mehr gestattet, von Zeichen »als«
Zeichen zu reden. Der gleichen Struktur der Verspätung unterworfen, die sie
der Gegenwart des Wirklichen auferlegt, lassen sie sich selbst nicht mehr bezeich-
nen, weil sie gleichermaßen nur im Modus des Perfekts verortet werden können,
der ihre Ursprünglichkeit raubt. Sie vermögen damit auch nicht länger als ein
neues fundamentum inconcussum zu fungieren, wie es Rene Descartes mit dem co-
gito zu Beginn der neuzeitlichen Philosophie zu etablieren hoffte: Ihnen bleibt
ebensosehr jede Fixation, jede Gleichheit mit sich fremd, wie sie selbst keinen
»Grund« bilden. Darum läßt sich auch nicht die Semiologie als Fundamentaldis-
ziplin begründen; sie wäre es nur, soweit sie ihre Fundamente beständig ver-

53 Ebenda, S. 521, auch S. 244 ff. u. 459 ff.


54 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 511.
55 Als Fundamentaldisziplin mit unterschiedlicher Ausrichtung der Fundierung bezeichnen die Se-
miotik insbesondere Charles Sanders Peirce, Schriften I, a.a.O., S. 186, 198, 223 f. CP. 5.264,
5. 283, 5 3 1 3 ff; Schriften II, a.a.O., bes. S. 470 = CP. 5.470; Charles William Morris, Zeichen,
Sprache und Verhalten, Düsseldorf 1972, S. 343; ders., Grundlagen der Zeichentheorie. Frank-
furt/M. 1988, S. 88; Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, a.a.O., Bd. 1, bes.
S. 11 f.; ders. Versuch über den Menschen, a.a.O.; sowie Umberto Eco, Zeichen. Einführung in
einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M. 1977, S. 15. Die Semiotik nimmt so die Stel-
lung einer prima philosophia ein. Indessen erweist sich solcher Rang als problematisch, weil er er-
neut einen Ursprung, ein Erstes oder einen Anfang herausstellt, der als solcher unausgewiesen
bleiben muß: Wir verwenden Zeichen; aber der Begriff des Zeichens ist, wie die vorliegenden
Untersuchungen zu zeigen versuchen, nicht ohne ein Nicht-Zeichenhaftes zu fassen, die den
vermeintlichen Primat erneut durchstreicht.
STRUKTUR UND EREIGNIS 341

wischt: Zeichen, nicht »als« Grund, sondern Nicht-Grund einer Differenz, die
mit sich zugleich auch das Zeichen »differieren« läßt. Streng genommen wären
deshalb die Begriffe des Zeichens oder der »Spur«, analog Heideggers Rede vom
»Sein«, wiewohl sie die Grundlagen der Semiologie als auch der Dekonstruktion
bereitstellen, »als« Zeichen oder »Spur« selbst noch einmal durchzustreichen: Zei-
chen, Spttr. Doch legte ihre Streichung eine erneute Spur: Sie ist in sich doppelt
gezeichnet. Dann bedarf, wie Derrida mit seinem unnachahmlichen Vergnügen
an kabbalistischer Zahlenmystik sagt, für die »Eins« immer schon die »Zwei«, um
»als Eins« zu sein. ' In die Differenz, die das Zeichen definiert, schreibt Derrida
auf diese Weise ein zweites Differieren ein, das sowohl die Differenz wie das Zei-
chen selber laufend verschiebt und mit deren Entgrenzung auch ihre eigene
Grundlage entgrenzt. Die Idee der differentiellen Ordnung, wie sie Saussure zu-
grunde legte, erfordert folglich eine weitere Zuspitzung, die ihre Basis ebenso
unterhöhlt wie überwinden muß. Nicht nur gründet sie in einer Differenz, die sie
als Ordnung auseinander/a/ffr, sondern sie setzt in weit grundlegenderem Maße
noch einen Unter-Schied in der Differenz zwischen Wert und Nicht-Wert, dem
Symbolischen und Nichtsymbolischen voraus, welcher nicht wieder auf die Be-
griffe des »Schnitts« odet der »Struktur« zurückgeführt werden kann. Eine Diffe-
rentialitat bringt somit die Strukturalität der Struktur hervor, wie sie diese ebenso
auflöst und transformiert. Freilich stellt sich dann über das Problem ihrer Lesbar-
keit hinaus die Frage nach dem Strukturierenden selbst, jenem Element, wie es
Gilles Deleuze formuliert hat, das die Ordnung definiert und umschreibt, ohne
ihr unterworfen zu sein. Sie führt nach Derrida notwendig in ein Paradox, weil
sie nicht in Begriffen der Struktur, die ebensowohl ihre Bestimmung wie Ver-
wandlung konstituiert, gestellt werden kann. »Man hat immer wieder gedacht,
daß das seiner Definition nach einzige Zentrum in einer Struktur genau dasjenige
ist, das der Strukturalität sich entzieht, weil es sie beherrscht. Daher läßt sich vom
klassischen Gedanken der Struktur paradoxerweise sagen, daß das Zentrum so-
wohl innerhalb der Struktur als auch außerhalb der Struktur liegt. Es liegt im
Zentrum der Totalität, und dennoch hat die Totalität ihr Zentrum anderswo,
weil es ihr nicht angehört. Das Zentrum ist nicht das Zentrum.«

56 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 258. In ders., Ellipse, in: ders., Die Schrift und die Differenz,
a.a.O., S. 443—450, hier: S. 450, heißt es sogar: »Von Anfang an gab es einen doppelten Ur-
sprung und noch dazu seine Wiederholung. Drei ist die erst Zahl der Wiederholung.«.
57 Vgl. Gilles Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus, a.a.O., S. 41 ff. Das Element ist,
wie Deleuze hervorhebt, von paradoxaler Konstitution: »Es hat die Eigenschaft, nicht dort zu
sein, wo man es sucht, aber auch gefunden zu werden, wo es nicht ist.« Ebenda, S. 44. Weiterhin
spncht Deleuze von einem »frei flottierenden«, nicht zur Struktur gehörenden Zentrum der
Struktut als Bedingung der Möglichkeit ihrer Ordnung, eine Formulierung, die in seiner Dun-
kelheit erforderlich wird, wenn man dem »Sinn« als leitende Kategorie zu entgehen sucht. Es
markiert jene mystische Größe, die wechselnd als »weißer Fleck« oder »transzendentaler Signifi-
kant« bezeichnet wird, wofür Lacan wiederum den »Phallus« eingesetzt hat. Im folgenden wird
hingegen gezeigt, daß nach Derrida eine solche »Größe« nur widersprüchlich gedacht werden
kann.
58 Jacques Derrida, Die Sttuktur, das Zeichen und das Spiel, a.a.O., S. 423.
342 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Der Gedanke wiederholt die klassische Paradoxie Wittgensteins, wonach, um


dem Denken eine Grenze zu ziehen, beide Seiten der Grenze gedacht werden
müßten, also gedacht werden, »was sich nicht denken läßt«. So scheint der
strukturale Begriff des Zeichens, wie der Funktionale, gleichermaßen in einem
Widerspruch befangen, in eine Aporetik, die dort ihre Auf-Lösung in eine infinite
Rekursion, die Permanenz einer interpretativen Ökonomie findet, durch die die
»Welt«, in dem Maße, wie sich auf sie bezogen wird, ebenso wieder unendlich
entschwindet, während sich hier spiegelbildlich eine weltlose Struktur fortwäh-
rend »de-zentriert«, um in ein letztlich haltloses Spiel von Selbstverweisungen zu
geraten. M.a.W.: Die Struktur ist nicht »etwas«, das sich beschreiben läßt, son-
dern eine sich beständig differierende Differentialitat, die sich ebensosehr ver-
räumlicht wie verzeitlicht. Sttukturiert durch nichts, was selbst eine Struktur
hätte, untersteht sie nicht nur der Differenz als Prinzip ihrer Artikulation, als Ge-
setz der Ordnung, sondern zugleich als ihrem Movens: Struktur der Strukturie-
rung und Strukturierung der Struktur selbst: Prozeß, der mit dem zusammenfällt,
was er hervorbringt. Doch bedeutet das nichts anderes, als die Struktur, die Spra-
che als »Form«, in das »Spiel« ihrer unablässigen Differierung zu treiben, mithin
sie ab Form zu verflüssigen, um sie wiederum als »Schrift« im Sinne der differance
zu setzen: Schrift, nicht nur als Name eines radikalisierten, zu Ende gedachten
Zeichenbegriffs, der in der Identität det Marke (marque) dessen wesentliche
Skripturalität entdeckt, sondern zugleich Schrift als »Spiel« unter den Bedingun-
gen einer »unentwegt arbeitenden Metonymie«: Spurenschrift, die sich verwischt,
verschiebt und beständig Spur um Spur überschreibt.
Mit dem Zusatz, noch die Differenzen erzeugende Differenz zu denken, wird al-
so Derrida über das Saussuresche Programm hinausgehen und den begonnenen
Weg abschließen. Denn »(d)a das Sprachsystem, das bei Saussure eine Klassifika-
tion ist, nicht vom Himmel gefallen ist«, müssen die Unterschiede, die seine
Struktur bestimmen, selbst das Ergebnis eines Agens sein, das sie als »Effekte«
»produziert«: »differance«, die als Neologismus selber jenes Differieren einfängt,
indem sie durch den ebenso unerhörten wie unhörbaren Buchstaben »a«, ihre
»orthographische Fehlschreibweise«, den »Unterschied« zum Ausdruck »Diffe-
renz« (difference) bekundet, " wie sie dasjenige bezeichnet, das die »Differenzen
hervorbringt«: Als der »nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen«,
der nicht mit unter die Kategorie des Zeichen fällt, der folglich »der Name Ur-
sprung« nicht mehr zu(kommt),« der sogar nicht einmal etwas wäre, was sich

59 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus-logico philosophicus, a.a.O., Vorwort S. 2.


60 Vgl. Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, a.a.O., S. 348.
61 Ders., Die differance, a.a.O., S. 43.
62 Ebenda, S. 29 f.
63 »Die Differänz (differance) ist noch vor der Teilung zwischen >differieren« als Aufschub und >diffe-
rieren« als aktivem Werk der Differenz anzusetzen«, heißt es zudem in ders., Die Stimme und das
Phänomen, a.a.O., S. 145-
64 Ders., Die differance, a.a.O., S. 40; auch S. 39 ff; vgl. auch ders., Semiologie und Grammatolo-
gie, a.a.O., S. 151 f., wo die differance auch als »generative Bewegung innethalb des Spiels der
Differenzen« beschrieben wird.
STRUKTUR UND EREIGNIS 343

überhaupt bezeichnen ließe: differance. Vielmehr müßte man sagen: Sie enthüllt
sich als genuine »Tätigkeit« des Denkens, des Be-Zeichnens und Be-Deutens im
Sinne des »Unter-Scheidens«, weshalb sie sowenig als Terminus wie als Begriff
fungieren kann, über den sich verfügen ließe: Weit davon entfernt, intentional
verstanden zu werden, exponiert sie sich allererst im Vollzug, indem sie die »Form«
der Sprache überhaupt, gleichwie jeglichen Diskurs, »formiert«. D.h. die Bewe-
gung der differance »ermöglicht die Artikulation (...) der Schrift. (...) Somit er-
weist sich die *Differenz (diffÜrance, H.v.m.) als die Formation der Form.«'
Derrida schreibt so der Schrift Ereignischarakter zu, als ein Sichschreiben, das
im Ereignen der differance gründet. D.h. die differance ereignet sich als das fort-
währende Prozessieren der Schrift, das als eine »transzendentale Differenz« aus-
gewiesen werden könnte, würde nicht schon der Ausdruck »transzendental« zu
weit gehen, weil er zum Prinzip erhöbe, was sich der Differenz, als Ereignis der
Differierung, prinzipiell sperrt. Tatsächlich hatte ihn Derrida in seiner frühen
Schrift Husserb Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie verwandt: »Die
Unmöglichkeit, in der einfachen Jetztheit einer lebendigen Gegenwart zur Ruhe
zu kommen (...), das Unvermögen, sich in der Einheit des ursprünglichen Ab-
soluten, das nur gegenwärtig ist, indem es sich ununterbrochen aufschiebt, einzu-
schließen; dieses Unvermögen und die Unmöglichkeit werden zu Gegebenheiten
in einem ursprünglichen und reinen Bewußtsein der Differenz. (...) Ursprüngli-
che Differenz des absoluten Ursprungs, der in apriorischer Sicherheit seine reine
konkrete Form unbegrenzt zurückhalten und bekunden kann und muß, als das
Jenseits oder Diesseits, das aller empirischen Schöpferkraft und faktischen Fülle
Sinn gibt - eben das hat der Begriff >transzendental durch die rätselhafte Ge-
schichte seiner Verschiebungen hindurch vielleicht immer besagen wollen. Tran-
szendental wäre die Differenz. Transzendental wäre die reine und endlose Unru-
he eines Denkens, das sich darum bemüht, die Differenz zu »reduzieren^, indem es
die faktische Unendlichkeit auf ein Unendlichkeit des Sinns und der Geltung hin
übersteigt, d.h. die Differenz beibehält.«'' Später zum Kunstausdruck »differance«
fortgeschtieben, rückt sie ehet in die Nähe der Heideggerschen »ontisch-
ontologischen Differenz«, jenem »Unter-Schied«, der »Sein« und »Seiendes«
unter den »Schied« des Hermeneutischen stellt: »Siedelt sich deswegen die diffe-

65 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 110. Der Übersetzer der Grammatologie hat, um den Unter-
schied zwischen difference und differance zu kennzeichnen, letzteren mit »'Differenz« markiert,
während in Die Stimme und das Phänomen mit »Differänz« übersetzt wird.
66 Ders., Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, a.a.O., S. 202, 203.
67 Vgl. etwa Martin Heidegger, Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, a.a.O., S. 39 f.,
52 ff. Insbesondere heißt es: »Insofern die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen denkt,
stellt sie das Seiende aus dem Hinblick auf das Differente der Differenz vor, ohne auf die Diffe-
renz als Differenz zu achten.« vgl. ebenda, S. 62 f.
68 Ders., Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 25 ff. Heidegger nennt den »Unter-Schied« «die Dimen-
sion, insofern er Welt und Ding in ihr eigenes er-mißt. Sein Er-messen eröffnet erst das Aus- und
Zu-einander von Welt und Ding. Solches Eröffnen ist die Art, nach der hier der Unter-Schied
beide durchmißt« Und weiter: »Der Riß des Unter-Schiedes läßt die reine Helle glänzen.« Vgl.
ebenda, S. 25, 26 u. 28.
344 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

rance im Spielraum der ontisch-ontologischen Differenz an (...)? Es gibt keine


einfache Antwort auf eine solche Frage. Auf einer Seite ihrer selbst ist die
ce gewiß nur die geschichtliche und epochale Entfaltung des Seins oder der onto-
logischen Differenz. Das a der diffirance markiert die Bewegung dieser Entfal-
tung. Ist nicht dennoch das Denken des Sinns oder die Wahrheit des Seins, die
Bestimmung der differance als ontisch-ontologische Differenz, die im Horizont
der Frage des Sinns gedachte Differenz, immer noch ein intra-metaphysischer
Effekt der differance''. (...) Da das Sein immer nur >Sinn< haben kann, immer nur
als im Seienden Verborgenes gedacht und gesagt wurde, (ist) die differance auf ei-
ne gewisse und äußerst sonderbare Weise >älter< als die ontologische Differenz
oder als die Wahrheit des Seins. Nun erst kann man sie Spiel der Spur nennen.
Einer Spur, die nicht mehr zum Horizont des Seins gehört, sondern deren Spiel
den Sinn des Seins trägt und säumt: das Spiel der Spur oder der differance, die
keinen Sinn hat und die nicht ist.«' Sie ent-spricht so der Differenz Heideggers,
indem sie sich an ihr orientiert, wie sie ihr ebensosehr als semiologische oder
skripturale Differenz vorausgeht, weil die ontologische als Frage nach dem Sein im
Unterschied zum Seienden nur auf der Grundlage des Vorrangs des Hermeneuti-
schen gefaßt werden kann, so daß sie sich stets schon des Sinns bedient haben
muß, der wiederum durch die semiologische Frage nach der Strukturalität der
Schrift, der Spur fragwürdig wird. Deswegen kann sie auch Derrida als zugleich
»ältere« ausweisen: die ontologische Differenz setzt die semiologische voraus, inso-
fern sie ein dreifaches Agens beinhaltet: (i) Als Differierung der Struktur, ihrer
Temporalisation, ihrer Anfangs- und Ursprungslosigkeit sowie beständigen Ver-
schiebung, Verwischung oder Überschreibung; (ii) als ontologische Differenz zwi-
schen dem eigentlich Hermeneutischen und dem Apophantischen, die die Be-
stimmung des »etwas« ab »etwas« in der Entdecktheit (aletheia) des Sinns präfün-
diert; (iii) schließlich als Differierung einer Struktur oder Schrift, die sämtliche
Figuren der Trennung oder Opposition, sei es der klassischen Ontologie (Sein
und Nichts), der Theologie (Schöpfer und Geschöpf). Erkenntnistheorie (Subjekt
und Objekt) oder Zeichenlehren (Zeichen und Bezeichnetes), regelt. Man könnte
sagen: Die semiologische differance er-möglicht die ontologische Differenz, die
ihrerseits die besonderen metaphysischen Unterscheidungen erst er-möglicht.
Zugleich erweist sie sich als unüberwindlich, weil Konstituenz jeglichen Diskurses
selber.
Dann aber hat sich die Spur der Materialität, die Saussure noch aufgenommen
hatte, um von ihr her die Sttukturalität der Sprache zu entschlüsseln, endgültig
verloren: Nichtpräsente Spur, weil sie stets nur als überschriebene erscheint, d.h.
ihr Erscheinen, ihr Zeigen oder ihre Präsenz »als« Spur bereits im Modus det

69 Jacques Derrida, Die differance, a.a.O., S. 51.


70 Im nächsten Teil werden wir allerdings zu zeigen versuchen, daß die Heideggersche Differenz
gleichwohl insofern »radikaler« verfährt, als sie noch da eine »Umwendung« oder »Kehre« des
Denkens einschließt, wo Derrida lediglich ein »Spiel« einsetzt. Vgl. weiter unten Tl. III, 2. Kap.
STRUKTUR UND EREIGNIS 345

diffirance zurückgenommen hat. Denn die Spur bezeichnet das vermöge der
differance Eingeschriebene, und die Einschreibung, so Derrida in Dissemination,
»ist (...) die (...) Konstitution einer Strukturalität«. ' Zwar erzeugt ihr Gewebe
eine textuelle Matrix, die sich materialiter abzeichnet, doch bleibt sie, schärfer als
bei Saussure, der sie lediglich zur Form degradierte, ohne Präsenz: »Ein Text
bleibt (...) stets unwahrnehmbar. Nicht, daß das Gesetz und die Regel Unter-
schlupf fänden im Unzugänglichen eines Geheimnisses - sie geben sich schlech-
terdings niemals preis: der Gegenwart (...).« Darum erscheint die Spur selbst
weder »sichtbar« noch »unsichtbar«, wie es in Ousia und Gramme heißt, denn ihr
eigne, »sich selbst auszulöschen und das selbst zu entziehen, was sie als Anwesen-
heit erhalten könnte«: »(K)ein materieller Träger noch eine Form« existiert für
das ist, »was sich weder hier noch dort befindet, und was man, unter der Bedin-
gung einer gewissen Verschiebung, anzeigen könnte unter der Benennung von:
Text und Spur«. Also setzt sie auch »nichts« voraus, wovon sie sich abhöbe und
worin sie präsent würde, weil sie sich stets nur in bezug auf andere Spuren zeigt,
durch die sie ersetzt, überfoimt oder »suppliiert« wird: »Es gibt keine Spur selbst
und keine eigentliche Spur. (...) Die Spur dieser Spur, die der Unterschied (ist),
kann vor allem Dingen ab solche (...) weder erscheinen noch benannt werden. Al-
so: gerade das >ab solches^ entzieht sich als solches für immer.« Was daher Saus-
sure als »Laut« auf die Seite des Signifikanten schob, dem gleichwohl noch eine
sinnliche Präsenz zukam, wird nunmehr vollkommen zu einem graphischen Riß,
zum Schweigen, zur Negativität.
Derrida zieht damit die äußerste Konsequenz aus einem Ansatz, der die Spra-
che auf ihre »Form« reduzierte, um dem Sinn zu entkommen, und überzieht ihn
soweit, daß er selbst das aus-setzt, was die Spur ab Spur lesbar machte, was aus
der Leere »zwischen« ihrer Differentialitat hervorsticht und, im Sinne von
Levinas, als Spur aus verwischter Spur als ihr Anderes entgegenstehen könnte.
Nicht nur untersteht das Zeichen einem differentiellen Cluster von Spuren, son-
dern es erscheint gleichzeitig durch eine doppelte Markierung markiert, die seine
Gegenwärtigkeit auslöscht. Was mithin den Charakter eines Zeichens trägt, er-
weist sich als bereits »gewesene« Bahn, als Vergangenes oder »Vorübergegange-
nes«, das niemals gegenwärtig war oder gewesen sein wird: Spur, die stets von
neuem »differiert«, die nicht »ist«, sondern sich nur vermöge anderer Spuren
zeigt, die immer schon Spuren von Spuren waren, als unendlich überdeckte, von

71 »Spur« und diffirance gehören zusammen: Die differance schreibt sich als »Spur« ein, wie die Spur
umgekehrt die diffirance enthüllt. Sie beschreiben somit einander zugehörige, aber unterschiedli-
che Seiten des gleichen Prozesses: »Die Begriffe von Spur, Bahnung und Bahnungskräften sind
(...) von dem Begriff der Differenz nicht zu trennen. (...) Ohne Differenz gibt es keine Bahnung
und ohne Spur keine Differenz.« Vgl. ebenda, S. 48.
72 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 179.
73 Ebenda, S. 71.
74 Ders., Ousia und gramme, in: Randgänge der Philosophie, a.a.O., S. 57-93, hier: S. 90; auch
ders.. Die Wahrheit in det Malerei, a.a.O., S. 113.
75 Ders., Die Wahrheit in der Malerei, a.a.O., S. 121, 122.
76 Ders., Ousia und gramme, a.a.O., S. 91.
346 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

weiteren Marken ver-zeichnete oder »verzögerte« Marken, die in ihrer Tiefe kein
Authentisches, Ursprüngliches oder Gegenwärtiges bergen. Die Zeichen, Marken
oder Spuren waren vielleicht einmal ab Ereignis gesetzt, aber von ihrer Setzung
selbst »gibt es« keine Kunde; es »markiert« kein »Ge-gebenes«, sondern nur ein
Verschobenes, das allein im Modus der Wiederholung, des Wiederholt-seins, also
der Verspätung, des »Aufschubs« oder der »Reserve« erscheinen kann, welche
selbst wiederum nur aufgrund einer Unterscheidung in Erscheinung treten: Er-
scheinung also, die scheinlos wäre, weil sie ab Differenz ihrer Materialität ent-
behrte. Lesbar darum einzig über deren »Umweg«, der ver-setzt, was er entdeckt
und in der Versetzung entdeckt, um es erneut in einer weiteren Bewegung des
Umwegs einzubehalten: Dann hieße Finden Um-stellen (transposition), Verfeh-
len, Verlieren.
Indem also mit dem Ausdruck differance gerade das exponiert wird, »was die
Gegenwärtigung des gegenwärtig Seienden ermöglicht« und folglich sich »als sol-
che« nie »gegenwärtigt«, d.h. eine Kluft, Leere oder Lücke, der selbst keine Prä-
senz, nicht einmal ein Sinnliches oder Aisthetisches zukommt, der deshalb jede
Ekstatik fehlt, exponiert sie sich gerade nicht, denn »in jedet Exponierung wäre sie
dazu exponiert, das Verschwinden zu verschwinden. Sie liefe Gefahr zu erschei-
nen: zu verschwinden.« An diesem Punkt setzt aber unsere Kritik an. Denn die
Derridasche Philosophie birgt auf diese Weise einen Sturz in einen unlösbaren
Regreß, weil die Differierung der Differenz ausschließlich im Medium der
renz, als Einschreibung einer Spurenschrift gesichert werden kann, die doch wie-
der als »Schrift« entzifferbar sein muß, dessen Gegenwart durch die Operationen
des Über-Schreibens beständig getilgt werden. Der Regreß erscheint da zwin-
gend, wo die Logik der Differentialitat absolut gesetzt wird, d.h. trotz aller Be-
teuerungen den Status einer »Apriorität« einnimmt und die Möglichkeiten des
Ereignisses, als Einzigartigkeit einer Singularität, leugnet. D.h. die Schrift entzieht
sich ebenso ab-solut, wie sie als Absolutes hervortritt. Sie »präsentiert« sich, ähn-
lich dem »amorph(en) und doch schon reglementiert(en)« Feld des »Semioti-
schen« bei Julia Kristeva, einzig im Format der differance, mithin ohne jede Prä-
senz. Die Spur »als« Spur verfällt derselben Nicht-Präsenz, die sie anzeigt: Sie ver-
zehrt die Präsenz der Schrift, wird Spur unter anderen Spuren, so daß sie nirgends
festzuhalten wäre: Erneut wiese sie auf Spuren, deren Gegenwart wiederum auf
andere Spuren verweise, deren Gegenwart durch weitere Spuren gezeichnet wären
usw. Nirgendwo ergibt sich ein An-Halt, lediglich Weisen der Supplementierung,
der Faltung, der Verdopplung, die sich fortlaufend weiterschreiben: »Nichts, kein
präsent und nicht differierend Seiendes - geht also der differance (...) voraus.« "

77 Zu den Ausdrücken, die sämtlich dem Verb difftrer folgen, ebenda, S. 36 f.


78 Ebenda, S. 36.
79 Ebenda, S. 34.
80 Ebenda.
81 Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, a.a.O., S. 58.
82 Jacques Derrida, Semiologie und Grammatologie, a.a.O., S. 153.
STRUKTUR UND EREIGNIS 347

Folglich ereignet sich auch ein Verlust dessen, was im Zeigen noch durch ein
Sichzeigen zu fundieren wäre und seine Grundlage im »Fundus« (Benjamin) der
Materialität erführe. Nirgends vermag die Schrift zu erscheinen — nicht einmal ihr
Nicht-Erscheinen. Dann fällt es schwer einzusehen, wie sie überhaupt gelesen
werden kann - Lesbarkeit, die doch stets noch an Wahrnehmung appelliert. Denn
muß nicht die Schrift selber, trotz allen Einspruchs der Nicht-Präsenz, doch im-
mer auch sichtbar sein ab Spur, ab Einschreibung, und sei es nur durch das,
worin sie aufgenommen ist? Führt dies nicht umgekehrt dazu, über den anzei-
genden Charakter der Schrift hinaus ein Anderes anzunehmen, das sich jenseits
der Schrift bekundete. Sichzeigen des Zeigens, das dieser chronisch entzogen bliebe,
weil es ihr irreduzibel »zuvorkäme«? Offenbar besteht die Crux darin, daß sich die
»Nicht-Präsenz« der Schrift zugleich ihres eigenen Bodens beraubte, um zuletzt in
den Abgrund einer vollkommenen Spurlosigkeit zu münden. Jede Setzung, Verwi-
schung oder Überschreibung der »Spur« aber behält noch ihr »Daß« (quod) ein,
wodurch sie »ge-geben« wird, das sie erneut an Präsenz anschließt — Präsenz, die
wiederum umgekehrt nicht unter die Nicht-Gegenwart der differance fällt. Je
mehr die Zeichen demnach ins Nichtidentifizierbare rücken und sich im Unent-
zifferbaren verlieren, desto schärfer scheint mit ihnen ein Anderes hervorzutreten,
das ihnen gleichwohl beständig im Rücken bleibt: Andersheit ihrer selbst, als
Nichtsignierbarkeit ihres Ereignens, vermöge derer sie allererst als Zeichen gesetzt
werden, und sei es nur als Gravur einer anderen Gravur. Der semiologischen Diffe-
renz (differance) Derridas, als Differenz und gleichzeitiges Ereignis permanenter
Differierung, eignet somit noch die Inkonsistenz, sich als Differierung zeigen zu
müssen: Manifestation »als« Differenz durch alle Unter-Scheidung hindurch, die
sich einschreibt und immer wieder neu überschrieben wird; Differenz auch, die
ereignishaft aufklafft und damit ihr Ereignis selbst, als das Nichtdifferierende, ein-
behält. Buchstäblich findet es seinen Rückhalt in einer Ekstatik, die nicht wieder
überschrieben oder verwischt werden könnte, weil die Spur erst durch es hervor-
ginge. Als »Setzung« bliebe es in »Reserve«, insofern es in bezug auf seine Be-
stimmung »reserviert« bleibe, der Spur ab Spur gleichwohl aber ihren eigenen Ort
»reservierte«. Das hieße zugleich, nach dem Ereignen zu fragen, das der differance
als Agens vorausginge und ihre Spur schriebe — Ereignen, das unwiederholbar auf-
klaffte, ohne markiert zu sein. Es wäre nicht länger vom Typus der Schrift, so daß
sich mit ihm eine Zweideutigkeit abzeichnete, die die Schriftkonzeption Derridas
an ihrer Basis verunsicherte, insofern sie zwei unterschiedliche Ereignis-Begriffe
erforderte: (i) Ereignis der Schrift als Ereignen der differance, sowie (ii) Ereignis ei-
ner Präsenz, durch die deren Ereignen erst geschieht und seinen Ort in jener Mate-
rialität findet, die sie aus-trägt. Jede »Spur« kündet von solchem doppelten »Er-
eignen«, weil sie zugleich Manifestation ihrer selbst und »Schrift« ist: »Spur« so-

83 Die »Aufnahme« selbst reflektiert Derrida, ähnlich wie Kristeva, vom Begriff der Chora her, je-
nem »dritten Geschlecht« aus Platons Timaios, das weder Form noch Substanz ist, sondern selbst
wieder als »Differenz« ausgewiesen wird; vgl. Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Spra-
che, a.a.O., S. 36 ff; Jacques Derrida, Chora, Wien 1990.
348 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

wie Setzung der »Spur«. Wie immer daher das Symbolische gefaßt wird, sei es als
Differenz der Bedeutung oder bedeutungslose Differierung einer »Spurenschrift«,
schält sich eine Duplizität heraus, die es seit je begleitet hat und durch keine De-
finition oder Auflösung getilgt werden kann: Irreduzibilität des Ereignis der
zung, als Nicht-Zeichenhaftes am Zeichen, das bedingt, überhaupt von Zeichen
und den Masken ihrer Metonymien sprechen zu können.
So weist wiederum eine »Spur« jenseits der Spuren auf eine Andersheit, die
noch vorausgesetzt wetden muß, um ihrer Schrift »ansichtig« zu wetden und
»von« ihr zu schreiben. Sie bekundet zugleich die Unumgänglichkeit eines
genblicks, der nicht verwischt werden kann, so oft auch die Spur selbst verwischt,
überdeckt oder durchgestrichen würde. Derrida wird also, wie zuvor schon Saus-
sure, nicht umhinkönnen, das Zeichen als »etwas« zu exponieren, d.h. mit seiner
eigenen Materialität auszustatten, um ihm Halt zu verleihen und es als Ereignis
der Schrift qua differance allererst zur Erscheinung zu bringen. Ähnliches scheint
auch Michel Serres zu vermuten, wenn er, Derrida in diesem Punkt vielleicht am
Entschiedendsten widersprechend, in einer dem Beispiel der Computertermino-
logie entlehnten Unterscheidung zwischen soft wäre und hard wäre auf eine Hy-
bridität von »Sanftem« und »Hartem« besteht, die sowohl Zeichen wie »Schrift«
konstitutieren: »Anscheinend gibt es zwei Arten von Gegebenem: das eine ist
sanft und geht durch die Sprache hindurch, das einschmeichelnde, seidige, ölig-
weiche, anmutige, logisch-strenge Reich der Sprache; das andere kommt mit un-
erwarteter Härte daher, ein Gemisch aus Sanftem und Hartem, das uns ohne
Vorwarnung weckt mit seinen Schlägen. Wir müssen das Gegebene mit diesem
Gemisch identifizieren, das sich der Bestimmung durch die Sprache widersetzt
und noch übet keinerlei Begrifflichkeit verfügt.« Serres ist damit auf die »Spur«
jenes Anderen gelangt, das nicht »Spur« im Sinne einer ursprünglichen Verspä-
tung ist, sondern »Rückstand«, der in Richtung dessen weist, was bei Derrida un-
gedacht bleibt: Irreduzibilität einer Gegenwärtigkeit, die nicht schon ein »Was«
(quid) meint, sondern zunächst nur ein »Daß« (quod). Die doppelte Kontur des
Ereignens, auf die wir bestehen, ist darin verankert: Derrida behält solange recht,
wie er sich ausschließlich auf das »Was« des Ereignisses bezieht und selbst noch
sein »Daß« einet Mediatisierung oder Indizierung durch einen Rahmen übereig-
net; dennoch bleiben diese selbst noch an das Ereignis ihres Erscheinens gebunden,
das seine Wurzel im Ereignis der Setzung findet, woran das Spiel der Verweisun-
gen seine unüberwindliche Grenze findet. Daß etwas verweist, hängt sowohl da-
von ab, wie es umgekehrt durch das Ereignen und seine materiale Manifestation
beschränkt bleibt. Maßgeblich ist deshalb, daß der Immaterialität des Bedeutens
selbst eine Präsenz zukommt, die nicht wieder unter eine Immaterialität fallen
kann, ohne in einen infiniten Regreß oder eine Paradoxie zu stürzen, die zuletzt
anzeigt, daß kein Zeichen seine eigene Materialität mitzubezeichnen vermag: Der

84 Michel Serres, Die fünf Sinne, a.a.O., S. 150. Freilich versichert sich Serres nicht der Differenz:
Er weist sie in immer neuen Wendungen phänomenologisch auf, ohne ihr allerdings einen Ort
zuzuweisen.
STRUKTUR UND EREIGNIS 349

Signifikation entgeht die Basis ihrer Signifikanz. So tritt auch an der »Schrift«
und der »Differenz« die Indifferenz einer Gegenwärtigkeit als Augenblick einer An-
dersheit hervor. Etwas bleibt an ihnen unterbesetzt: das Ereignis der Setzung, des-
sen Unabdingbarkeit in die Struktut und Prozesse ihres »Differierens« hartnäckig
hineinspielt.
Mithin bleibt noch das Ereignen der Schrift, das sich nicht »als« Schrift zu zei-
gen vermag und dessen Plötzlichkeit ihr dennoch vorausgeht, an der Grammatolo-
gie chronisch rückständig. Selbstverständlich würde Derrida leugnen, daß »alles«
verschriftlichbar wäre; und gerade seine Arbeiten der letzten zwanzig Jahre ringen
um den Punkt einer Unsagbarkeit des Mysteriums der Alterität, der Verantwor-
tung, der stets nur »künftigen« Gerechtigkeit oder der Unmöglichkeit der »Ga-
be«, deren Existenz dem Paradox einer prinzipiellen Einzigartigkeit geschuldet
wäre, die, indem sie »sich gibt«, sogleich wieder zurückgenommen wird; und
doch ist der entscheidende Punkt der vorliegenden Argumentation, daß auch die
Schrift sich selbst niemals vollständig verschriftlichen läßt, sofern sich an ihren
Spuren etwas manifestiert, was sich keiner Spur fügt. Man könnte sagen: Selbst
da, wo alles eingeordnet ist und sich »eingeschrieben« hat, ereignet sich etwas in-
mitten der Schrift, das anders ist als Schrift: Erscheinung einer Form, die nicht in
der Form der Erscheinung aufgeht. Ekstatik, als Moment einer Präsenz, die nicht als
»Spur«, als Schrift oder Differenz manifestiert werden kann. Sie weist auf die Ir-
reduzibilität einer Materialität, in der sich die Form als Form aktualisiert und in
der die Gewalt der Schneidung allererst manifest werden kann. So kehrt inmitten
des Zentrums der Nicht-Präsenz der Schrift das Ereignis einer Gegenwart zurück,
und zwar als Ereignishaftigkeit der Schrift selbst.
Einen »Wink« (Heidegger) davon gibt jene widerständige Exposition, die die
Schwierigkeit des Exponats mitausstellte. Sie wäre zunächst eine »Schreibung«, die
noch der Performativität der Setzung bedürfte, um sich selbst in die Anwesenheit
zu bringen: Eine Performanz, die sich nicht in der Wiederholung, dem Zurück-
kommen auf sich erschöpfte, sondern sich als einmaligen Akt vollzöge, der in die
Wiederholung, dem Zurückkommen seine eigene, unverwechselbare »Spur« legte,
die wiederum allen anderen Spuren mitgängig wäre: »Spur«, die sich nicht verwi-
schen oder überschreiben läßt, sooft sie auch verwischt oder überschrieben würde,
mithin »Spur«, die sich in jedem Verwischen oder Überschreiben als Unverfügba-
res zurückhielte. Sie ist dem Umstand geschuldet, daß der Performativität der
Setzung eine Selbstaffirmation eignet, die bestenfalls verschoben oder durchgestri-
chen, nicht aber zurückgenommen oder annulliert werden kann, sondern in jeder
Geste der Streichung oder Auslöschung unabdingbar durch-scheint: Fragile Spur
jenseits der Spur - wie die Leiblichkeit, die sich in ihrer plötzlichen und unbe-
dachten Gebärdung um keinen Preis domestizieren läßt, oder die ausradierte

85 Vgl. ders., Den Tod geben, in: Anselm Haverkamp (Hsg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-
Benjamin, Frankfurt/M. 1994, S. 331-445, hier: S. 354 f., 358 ff, 371 f.; ders., Gesetzeskraft.
Der >mystische Grund der Autorität«, Frankfurt/M. 1991, bes. S. 40 f., 51 f.; sowie ders., Wenn
es Gabe gibt - oder: >Das falsche Geldstück«, in: M. Wetzel, J.-M. Rabate (Hsg.), Ethik der Ga-
be, Berlin 1993, S. 93-136.
350 DIE ZEICHEN UND IHR ANDERES

Zeichnung, die nicht nur die Spuren der Radierung offenbart, sondern ebenso
dasjenige zeigt, was der Möglichkeit ihrer Radierung zugrunde liegt: Anstrengung
ihrer Ausführung. Das gleiche gilt für Musikalität der Stimme, die im Fleisch ih-
res Klangs, ihrer »Rauheit« (Barthes) ihren besonderen Nimbus preisgibt: Über-
all tritt hervor, was selbst keinerlei Verneinung, Sperrung oder Revision mehr
duldet: Jede Setzung einer »Spur«, jede Überschreibung oder Verwischung behält
noch die Materialität der Setzung, ihrer Überschreibung oder Verwischung mit
ein: Nicht wieder zu zeichnende oder schneidende Materialität, weil sie der
Schrift, der Zeichnung oder Schneidung als ihre eigene Möglichkeit im Rücken
bleibt, nicht als deren »Hintergrund«, wohl aber als Ekstasis, die dem »Nu« ihres
»blitzartigen Vorscheins« ent-springt: Ort jenes »Magischen« (Benjamin), der aus
deren Lücke hervorschnellt.
Wir sind damit an jene Stelle gelangt, wo sich u.E. die innere Aporetik der
Derridaschen Schrifttheorie enthüllt: Sie sucht die Materialität der Schrift »als«
Spur zu denken, um aus ihr eine Spur ohne Materialität zu machen, die im selben
Moment tilgt, was sie hält. Das ergibt sich bereits daraus, daß Derrida, wo er auf
die Materialität der Schrift zu sprechen kommt, diese allein als Oberfläche denkt,
die die Schrift aufzunehmen vermag bzw. immer schon aufgenommen hat:
Schreibfläche, die nur »existiert«, sofern sie bereits markiert oder geschnitten wor-
den ist. Das hieße, überall die Skriptut zu privilegieren: ihre Spuren, Marken
oder Gravuren, die sich auf den Körpern, der Stimme, der Haut, den Dingen, ih-
rer Geschichte, dem Leben etc. eingezeichnet und abgetragen haben: durch-
furchte Oberfläche, die nicht sich zeigt, sondern nur soweit sie das »Gefäß einer
Schrift« darstellt. D.h. sie wird zur graphischen Fiktion einer Graphie: In ihr
dominiert die Perspektive der Schrift: die geduldige »Leere« des »Weißen«, wie sie
in Dissemination im Ausgang von Mallarmes Phantasma des unbeschriebenen
Blattes ständig neu beschworen wird, besteht nur durch die Schrift und für die
Schrift: Sie gilt nicht für sich selbst, sie ist det »Grund« oder die »Amme«, die nir-
gends hervortritt, sondern allein hervortreten läßt, deren eigenes Sichtigen sich
in dem Maße verweigert, wie sie das Sichzeigen der Schrift ermöglicht. Anders ge-
wendet: Das »Weiße« ist immer schon von der Struktur der Zeichen erfaßt: Es ist
der Zwischenraum zwischen den einzelnen Schriftmarken und den Linien ihrer
Zeilenfolge. Das, was sich ereignet, ist dann einzig die Schrift, nicht die Materia-
lität; sie bietet bestenfalls die Folie eines anderen Er-Scheinens im Form ihrer
Gravur, ihrer Einschreibung oder Überschreibung. Überall unterliegt damit der
Gesichtspunkt der Materialität dem Zirkel der Schrift. Sie bildet die alleinige Per-
spektive des Erscheinens: Darum »gibt es«, ebenso wie bei Hegel, keine Erschei-
nung vor oder außer der Differenz; sie läßt für das »Zuvorkommen« einer An-
dersheit keinen Platz.

86 Vgl. dazu Tl. I: Drei Paradigmen.


87 Vgl. dazu besonders Derrida, Chora, a.a.O.
STRUKTUR UND EREIGNIS 351

Mithin entsteht kontrapunktisch ein ähnlicher Vorwurf wie der, den Derrida
im Sinne chronischer »Nachträglichkeit« an die Adresse der Präsenz-Metaphysik
richtete, diesmal freilich gegen ihn selbst gewendet: Denn der Nicht-Präsenz der
Schrift eignet ihre eigene Präsenz, die nicht wiederum unter dieselbe Nicht-
Präsenz fallen kann, ohne in einen Zirkel zu geraten: Präsenz, in der Schrift aus-
gelöscht, die sich in einer zweiten Bewegung als Präsenz der Schrift erweist: un-
auslöschbar. Dann entbirgt sich etwas, das nicht differiert, das im Gegensatz zur
Leere des Unter-Schieds umspringt zur Fülle eines Sichzeigens, ohne im »Sich«
noch ein »Etwas« zu meinen, worauf es sich bezöge: Wiederkehr des Suspendier-
ten am Ort des Ekstatischen, der in das Paradigma der Schrift einen Rückstand,
einen Rest oder eine Unruhe einträgt, der sich als unauflösbar erweist. Am Nach-
haltigsten offenbart sich ihre Erfahrung im Ästhetischen. Es ist die Kunst, die ihre
Stätten besiedelt, deren Werke, Arbeiten und Ereignisse der Ekstasis der
lität und dem Augenblick der Setzung allererst ihren eigentlichen Raum verlei-
hen. Das gilt besonders für eine Moderne, die nicht darstellt, sondern vor allem
zeigt und vorführt, d.h. ihre Emphase im Performativen hat, der Geste oder des
Events, das frei-gibt, ohne »etwas« damit freigeben zu wollen. In einem großen
Bogen führt so der Weg von der weltlosen Poetik der strukturalen Semiologie
und ihrer Ent-Sprechung in den Collagen und der ecriture automatique des Sur-
realismus zurück zu den dadaistischen Materialbildern, den Merzbauten Kurt
Schwitters, seinen frühen Fundstücksammlungen, den Lautdichtungen Hugo
Balls und den Protokollen des Zu-Falls von Jean Arp über Tristan Tzara bis spä-
ter zu John Cage: Ereignis eines Anderen, dessen Gegenwärtigkeit gleichsam aus
der Mitte det Zeichen herausspringt, um ein un-aussprechlich »Zuvorkommen-
des« heraufzubeschwören, das ebenso unvermittelbar bleibt wie es unvermittelt
geschieht. Es wäre die Stelle, da die Texturen des Symbolischen und ihre met-
onymischen Wandlungen auf ein »Unvordenkliches« (Schelling) verweisen, das
sich nur zeigen kann und das dem Denken der Struktur ebensowohl vorhergeht
wie es sich der Schrift entzieht. Es findet seinen letzten Begriff in der Blöße des
reinen »Daß« (quod) — so daß schließlich auf eine ganz andere, unvermutete Wei-
se erneut die Welt ins Symbolische und dessen Schriften hineinschiene: »Das Tief-
ste ist die Haut« (Paul Valery).

88 Es ist auffallend, daß Derrida, wo er auf die Kunst zu sprechen kommt, dies ausschließlich im
Modus eines Textes über Texte tut: Dekonstruktion von Kants Diskurs über das Schöne und das
Erhabene, Benjamins Schrift über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
oder Meyer-Shapiros Kritik an Heideggers Kunstwerkaufiatz, vgl. ders. Die Wahrheit in der Ma-
lerei, a.a.O. Auffallend auch, daß sich Derrida nirgends dem Sichtbaren oder Hörbaren selbst
widmet, vor allem nicht der Musik.
89 Zu den eindringlichsten Darstellungen des Dadaismus gehört weiterhin Hans Richter, DADA.
Kunst und Antikunst, Köln, 3. Aufl. 1973.
90 Vgl. dazu auch meine Ausführungen in D. Mersch, Ereignis und Aura. Zur Dialektik von
schem Augenblick und kulturellem Gedächtnis, a.a.O.
4. HAUPTSTÜCK:
MATERIALITÄT
TEIL III

EREIGNIS UND SICHZEIGEN


1. KAPITEL:
EREIGNIS UND PRÄSENZ
(DERRIDA lll)

Dies (diese), was dort drüben liegt, am Ende


dessen, was ich sage, am Ende dieser Seite, und
was hier erscheint, wenn es sich beim Sprechen
dieses Satzes verflüchtigt (...).
Octavio Paz

Die suppliierte Gegenwart

Eine Kritik der Schrifttheorie Derridas aus der Restitution eines emphatischen
Ereignis-Begriff läuft Gefahr, deren wesentlichen Punkt zu verfehlen. Sie scheint
sich auf etwas zu berufen, was diese strikt abweist. Jedem Denken einer Präsenz,
der Gegenwärtigkeit einer Gegenwart im Sinne von Ursprung, Instanz, Grund
oder Evidenz erteilt sie aus der Logik genuiner »Verspätung« eine rigorose Absa-
ge. Demgegenüber formuliert sie, vielleicht am Entschiedendsten, wie es jemals
in der Geschichte der Philosophie gewagt worden ist, ein Denken der Nicht-
Präsenz: Extreme Opposition gegen eine Tradition, die aus dem »Anwesen der
Anwesenheit« ihr Fundament, ihre Wahrheit wie auch das Kriterium ihres
»Sinns« bezog. Verbunden ist damit das Pathos einer dekonstruktiven Arbeit, die,
ebenso wie die Heideggersche »Destruktion«," die Geschichte der Metaphysik,

1 Vergleichbar dieser Radikalität wäre allein das Hegeische System, dem Derrida allerdings ent-
schieden zu widersprechen scheint, wie sein Denken gleichwohl demselben »Klima«« entstammt;
vgl. ders., Glas, Paris 1974.
2 Die maßgeblichen Stellen zum Begriff der »Destruktion«« finden sich bei Heidegger in Sein und
Zeit, a.a.O., § 6. Dort heißt es u.a.: Die »Aufgabe der Destruktion« diene der »Auflockerung der
verhärteten Tradition und der Ablösung der durch sie gezeitigten Verdeckungen.«; ebenda, S. 22.
Dabei verfahre die Destruktion weder relativierend noch negativ; sie soll vielmehr »umgekehrt««
die »ontologische Tradition (...) in ihren positiven Möglichkeiten, und das besagt immer, in ih-
ren Grenzen abstecken«. »Negierend verhält sich die Destruktion nicht zur Vergangenheit, ihre
Kritik trifft das >Heute« und die herrschende Behandlungsart der Geschichte der Ontologie (...).
Die Destruktion (...) hat eine positive Absicht; ihre negative Funktion bleibt unausdrücklich
und indirekt.« Ebenda, S. 22, 23, passim. Später heißt es klärend in Aus einem Gespräch von der
Sprache. »Niemand kann sich aus dem herrschenden Vorstellungskreis mit einem Sprung heraus-
setzen, vor allem dann nicht, wenn es sich um die seit langem eingefahrenen Bahnen des bisheri-
gen Denkens handelt, die im Unauffälligen verlaufen. Außerdem ist ein solches Sichabsetzen ge-
gen das Bisherige allein schon dadurch gemäßigt, daß der anscheinend revolutionäte Wille vor
allem anderen versucht, das Gewesene ursprünglicher zurückzugewinnen. Auf der ersten Seite
von >Sein und Zeit« ist mit Bedacht die Rede vom >Wiederholen«. Dies meint nicht das gleich-
förmige Anrollen des immer Gleichen, sondern: Holen, Einbringen, Versammeln, was sich im
.Alten verbirgt.«. Vgl. ders., Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 130, 131. Derridas Ausdruck »De-
konstruktion« überführt diesen Begriff der Destruktion in das Zugleich von Position und Nega-
358 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

der europäischen Philosophie im Ganzen, verstanden als »Logozentrismus« oder


»Phonologozentrismus« und »Phallogozentrismus«, in Augenschein nimmt, um
zugleich deren Basis aufzudecken wie zu ver-rücken und aufzuheben. Die Aus-
drücke nuancieren jeweils anderes, wiewohl sie der Sache nach Ähnliches an-
schneiden: Kritik des Logos als Gründung des Grundes, der Phone als Gegenwart
der Stimme, des Phallus als Prinzip von Identität. Die angedeuteten Begriffe wie
differance, Spur und Schrift oder auch Spiel, Supplement und die »Abwesenheit
des transzendentalen Signifikats«, die ihnen entgegengehalten werden, gehören
dabei genuin zusammen und bilden das Zentrum eines Unternehmens, das sich
sowohl eines theoretischen Rahmens (Parergon) als auch der Kategorialität selbst
enthebt, um die Statute des überlieferten Wissens zu untergraben. Es reiht sich
damit in jenen Prozeß ein, den Nietzsche bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts
antizipierte und als »Heraufkunft des Nihilismus« beschwor, der, wie es heißt,
mit der »Tortur einer Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst« das ge-
samte europäische Etbe erfaßt hat, wiewohl er dessen Fundamente seit je her be-
wohnte. »Seit über einem Jahrhundert läßt sich diese Untuhe in der Philosophie,
der Wissenschaft und der Literatur registrieren, deren Revolution als Erschütte-
rungen interpretiert werden müssen, die das lineare Modell (...) nach und nach
zerstören«,' schreibt nahezu gleichlautend fast hundert Jahre später Derrida.
Sämtliche Selbstverständnisse und Prinzipien, die die philosophische Überliefe-
rung hervorgebracht und verbreitet hat, das Denken des Raumes als Kontinuum
und entsprechend der Zeit als Dauer wie ebenso die Logik der Widerspruchslo-
sigkeit, die Kausalität als Schluß von Ursache auf Wirkung, die Vorstellungen der
Teleologie, des Anfangs und Endes der Geschichte wie die Glaubensbekenntnisse
des Fortschritts usw. werden nacheinander in Frage gestellt und ausgesetzt. Die
sich verbreitende Skepsis betrifft gleichermaßen die Ordnungen der Vernunft,
der Rationalität und des Diskurses, die jeweils auf ihre Weise dem Satz vom
Grund verpflichtet sind und sich um eine Begründung des Wissens im Sinne sei-
ner Selbstbegründung bemühen. »(J)eder Entwurf (ist) (...) nur in dem Maß
theoretischer Entwurf (...), in dem er beansprucht, sich selbst zu enthalten, in-
dem er alle anderen enthält, das heißt, indem er sie überbordet, sie überschreitet,

tion. Der Übergang ist durch Einfügung des Partikels »kon« gekennzeichnet, der den Prozeß der
»Destruktion« nochmals unterbricht und vetschiebt.
3 Zur Kritik des »Logozentrismus« vgl. bes. ders., Grammatologie, a.a.O., S. 23 ff. Die Ausdrücke
»Phonologozentrismus«« und »Phallogozentrismus« variieren das Thema. In der Grammatologie
heißt es: »In dem der phonetisch-alphabetischen Schrift zugeordneten Sprachsystem ist die logo-
zentristische Metaphysik entstanden, die den Sinn des Seins als Präsenz bestimmt«; ebenda,
S. 76. Zum Ausdruck »Phallogozentrismus« vgl. bes. ders., Die Postkarte, 2 Bde., Berlin 1982 u.
1987.
4 Als »Flucht aus der Kategorie« bezeichnet Gerhard Gamm treffend diese Bewegung der Ent-
Rahmung und De-Kategorialisierung, die er von Husserl über Merleau-Ponty, Wittgenstein und
Adorno bis zu Derrida verfolgt; vgl. ders., Flucht aus der Kategorie, a.a.O., bes. S. 100 ff, in be-
zug auf Derrida bes. S. 124 ff.
5 Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887-1889, Kritische Studienausgabe Bd. 13, a.a.O., S. 189.
6 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 155.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 359

sie in sich einschreibt. Jeder Entwurf wird strukturiert, konstruiert, entwotfen,


um von allen anderen Entwürfen (vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen)
Rechenschaft abzulegen und aufzuzeigen, worin sie gründen. (...) Als theoreti-
scher Entwurf folgt dieser Anspruch - aufzuzeigen, worin alle anderen Entwürfe
gründen (...), Rechenschaft abzulegen - dem Satz vom Grund (...).« M.a.W.,
der Logozentrismus, den Derrida auch als »in einem ursprünglichen und nicht
relativistischen« Sinne eine ethnozentrische Metaphysik« nennt, die »an die Ge-
schichte des Abendlandes« gebunden bleibt und in dessen Rahmen »alle abend-
ländischen Methoden der Analyse, der Auslegung, der Lektüre und der Interpre-
tation entstanden« sind, erweist sich als fortgesetztes Theater eines sich selbst
denkenden Denkens, dessen Inszenierungen sich gleichermaßen einem Glauben
an die Möglichkeit von Wahrheit und Selbstrechtfertigung verdanken, wie sie
umgekehrt eine reflexive Skepsis gebären, die deren außerordentliche Vergeblich-
keit bezeugt.
Die Verwerfungen der metaphysischen Doktrin geschehen indessen im Zei-
chen des Zeichens (signe), das freilich selber erst zur graphischen Marke (mar-
que), zur »Ursprungslosigkeit« der Schrift, der »Spur« oder differance hin über-
schritten werden muß, um zu werden, was es ist: »Mit Hilfe des Begriffs des Zei-
chens erschüttert man die Metaphysik der Präsenz«, wie man diesen ebenso mit
Hilfe der Erschütterung der Metaphysik erschüttern muß, denn »(v)on dem Au-
genblick an (...), wo man damit (...) beweisen will, daß es kein transzendentales
oder privilegiertes Signifikat gibt (...), müßte man sogar den Begriff und das
Wort des Zeichens zurückweisen.« Die vermeintliche Zirkelstruktur erscheint
notwendig: " Erst vermöge einer radikalisierten Schriftkonzeption, die das Zei-
chen zugunsten der differance noch aufhebt und überwindet, macht sich etwas
sichtbar, das die Dekonstruktion der Metaphysik erlaubt: Widersprüchliche Kon-
stitution deren Denkens, insofern es sich auf das Zeichen, die Anzeige oder den
Diskurs stützt, um im Begriff, dem Satz eine Bestimmung oder »Wahrheit« eben-
so zum Ausdruck zu bringen, wie »von etwas« auszugehen, was sich diesen ent-
zieht: Ursprung oder Präsenz, die ihm als »Unbestimmbares« voraufgehen. Denn
was »etwas« sei, muß ausgesagt werden, während es doch in seiner reinen Unmit-
telbarkeit oder Selbstgegebenheit unsagbar bleibt. Es wird durch die Struktur von
Apophansis gleichsam von Anfang an geschnitten. So liegt den Diskursen der
Metaphysik, die sämtlich in dieser Aporie verfangen bleiben, ein nicht zu legiti-

7 Ders., Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-lsmen, Post-Ismen ... a.a.O.,
S.9.
8 Vgl. ders., Grammatologie, a.a.O., S. 140.
9 Ebenda, S. 81.
10 Ders., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, a.a.O., S. 425-
11 Ebenda.
12 Man könnte diese Zirkularität, die sich gleichsam konzentrisch aufschwingt, dem hermeneuti-
schen Zirkel vergleichbar als »dekonstruktiven Zirkel« bezeichnen. Denn der Begriff des Zeichens
ist ebenso Leitfaden wie Problem: Er geht der Arbeit der Dekonstruktion voraus, wie er in seiner
metaphysischen Restbestimmung von ihr gleichermaßen eingeholt wird. Der Zirkel ist die Bewe-
gung der Dekonstruktion selbst.
360 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

mierender Wert zugrunde, dessen prekäre Fundierung die »Unterdrückung der


Schrift« als einem ihrer Grundzüge unausweichlich macht. Seit Piaton bindet
sich damit die »Wahrheit der Metaphysik« an etwas, das sich der Bezeichnung
verweigert - wodurch die Bewegung der Wahrheit sich zugleich von der Not-
wendigkeit der Erinnerung, der Zeitlichkeit des Gedächtnisses, die die Zeichen
und ihre »Schreibung« erfordert, abgetrennt: Aletheia und Anamnese fallen, wie
Derrida in Dissemination hervorhebt, auseinander, um dieser den Vorrang vor de-
ren Vagheit oder Täuschbarkeit zu erteilen.
Kritisiert wird auf diese Weise das Gesetz einet Gegenwärtigkeit, das sich dem
Diskurs durch die Geschichte der Philosophie nahezu unverändert als Norm auf-
erlegt und als Piatonismus fortleben läßt. »Was aber entscheidet und behauptet
der >Platonismus«, das heißt, mehr oder weniger unmittelbar, die gesamte Ge-
schichte der abendländischen Philosophie, darin einbegriffen die Anti-
Platonismen, die regelmäßig damit verbunden waren? (...) Eben genau das
tologische: die vorweg unterstellte Möglichkeit eines Diskurses über das, was ist,
eines durch oder über das on (das Anwesend-Seiende) entscheidenden und ent-
scheidbaren logos. Das, was ist, das Anwesend-Seiende (die gebärmutterliche
Form der Substanz, Realität, der Gegensätze von Form und Materie, von Wesen
und Existenz, von Objektivität und Subjektivität etc.) unterscheidet sich vom
Schein, vom Bild, vom Phänomen etc., das heißt von dem, welches dieses, es als
das Anwesend-Seiende präsentierend, verdoppelt, re-präsentiert und somit es er-
setzt und de-präsentiert. Es gibt also die 1 und die 2, das Einfache und das
Zweifache/das Double. Das Zweifache/das Double kommt nach dem Einfachen;
es vervielfältigt es in der weiteren Abfolge. Es folgt daraus (...), daß das Bild die
Realität, die Repräsentation das in der Präsentation Präsentierte, die Nachah-
mung die Sache, das Nachahmende das Nachgeahmte überkommt/dazu
kommt. Es gibt zunächst das, was ist, die >Realität«, die Sache selbst, leibhaftig
(...) und sodann das Nachahmende (...). Und, als wäre es selbstverständlich, ist,
eben der >Logik< und seiner tiefen Symmetrie gemäß, das Nachgeahmte realer,
wesentlicher, wahrer etc. als das Nachahmende. Es geht ihm zeitlich voraus und
steht über ihm.«

13 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 280. Ferner heißt es: »Der Logozentrismus, die
che des erfüllten Sinns, haben aus wesensmäßigen Gründen jede freie Reflexion über den Ur-
sprung und den Status der Schrift ausgeklammert und suspendiert, haben jede Wissenschaft von
der Schrift unterdrückt (...).« Beide gehören also zusammen: Die Verleugnung der Schrift als Ur-
sprung und »innerste Möglichkeit« der Metaphysik und die »Sprache« der Präsenz. Vgl. ebenda,
S. 76 f. Demgegenüber heißt es in ders., Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 117:
»(P)hilosophieimmanent sind keine Einwände gegen diese Privilegierung der Jetzt-Präsenz mög-
lich. (...) Und eben um dieses Privileg des aktuellen Präsens, des Jetzt herum konstelliert sich
letzten Endes die unvergleichliche Auseinandersetzung zwischen der Philosophie, die immer
Philosophie der Präsenz ist, und einem Denken der Nicht-Präsenz, das freilich nicht unbedingt
deten bloßes Gegenteil noch notwendigerweise eine Meditation der negativen Absenz, also eine
Theorie der Nicht-Präsenz ab Unbewußtes, sein muß.«.
14 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 212.
15 Ebenda, S. 212, 213. Allerdings konstatiert Derrida, daß diese Ordnung »im Laufe der Ge-
schichte in mehreren Wiederaufnahmen bestritten, ja sogar verkehrt werden. Doch niemals wer-
EREIGNIS UND PRÄSENZ 361

Erst die Revision des Verdrängten, ein aus der differance entwickeltet und ra-
dikalisierter Schriftbegriff, ermöglicht nach Derrida im Gegenzug die Aufdek-
kung jener verborgenen Struktur, durch die »die Dekonstruktion der größten To-
talität - den Begriff der episteme und die logozentrische Metaphysik« in Angriff
genommen werden kann: ' »Von dem Augenblick an, wo das Zeichen in Erschei-
nung tritt, das heißt seit je, besteht keine Möglichkeit, die reine Wirklichkeit«,
Einzigartigkeit« und >Besonderheit< ausfindig zu machen.« Das führt dazu, das
Verhältnis von Primärem und Abgeleiteten, von Präsenz und Re-Präsentation,
von Vorgängigkeit und Verspätung geradezu umzukehren: Gegenwärtigkeit der
Gegenwart als Angehängtes oder Derivat der Schrift und Ausdruck ihres Über-
schusses: Das Jetzt geschieht danach. Das bedeutet auch: Nichtgegenwärtigkeit
und Gegenwärtigkeit, »Supplementarität« und »Suppliiertes«, Nachahmung und
Nachgeahmtes meinen dasselbe, laufen auf das gleiche hinaus: Ausstreichung der
Präsenz »vor« der Schrift, des »Außen« außerhalb der Schrift, des »Jenseits« und
der Transzendenz - und damit letzten Endes auch der Nicht-Präsenz, des Innen,
des Diesseits, der Immanenz. »(E)s bleibt allein noch die Schrift (...), die Mimik
ohne Nachahmung (...), ohne Wahrheit noch Falschheit: Schein (...), ohne
Hinterwelt, also ohne Schein (...). Bleiben nur Spuren, Ankündigungen und
Erinnerungen, Vor-Schläge und Nach-Träge, denen keine Gegenwart weder vor-
ausgegangen noch gefolgt sein wird (...).« Schein, das heißt, wie Derrida er-
gänzt, »zugleich das Erscheinen oder die Erscheinung des Gegenwärtig-Seienden
und das Verbergen des Gegenwärtig-Seienden hinter der Erscheinung«.
Deutlich wird so, worum es Derrida eigentlich geht: Totalisierung der Struk-
tur der differance wie der »Schrift«, der »Spur«, der »Wiederholung« und der
»Nachträglichkeit«, die in der Folge die Begriffe der »Gegenwart«, der »einmali-
gen Präsenz« und des »Ereignisses« ausstreichen. Die »Spur« ist immer nur als
Spur einer Spur, d.h. als bereits überschriebene; so eignet ihr ein »Verschwinden«
oder »Verlöschen«, weil sich das entzieht, worauf sie verweist: Det Begriff der
Spur ist allein durch ein Verweisen bestimmt, das permanent von sich wegführt.
Ihr entzieht sich, was sie ist. D.h. es geht um Übertragung, um Übersetzung und
Verschiebung, um »Traduktion (Übersetzung), Metapher (Übertragung), Trans-
fers«, >Transpositionen«, analogische Konversionen und vor allem Transfers von
Transfers: Über, meta, tele (...).«' Folglich »gibt es« die Gegenwärtigkeit der Ge-
genwart nur als Sekundarität, d.h. als bereits vermittelte, übermittelte, zäsurierte
oder hervorgehobene, d.h. nur unter Aussetzung ihrer Präsenz. Diese ist Voraus-

den weder die absolute Abgrenzbarkeit zwischen dem Nachahmenden und dem Nachgeahmten
noch die Vorzeitigkeit von diesem gegenüber jenem (...) ihrer Stellung enthoben worden sein.«
Ebenda, S. 213. Die Figur ist allerdings analog den idealistischen der »Kopula«: Deren Struktur
der Verdopplung durch die Logik des »als« wiederholt sich in der Logik der Re-Präsentation.
Beide bezeichnen das gleiche.
16 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 81.
17 Ebenda, S. 165.
18 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 235.
19 Ebenda, S. 236.
20 Ders., Telepathie, Berlin 1982, S. 23.
362 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Setzung, damit jene überhaupt erscheinen kann: »Es kommt zu einer absoluten
Ausweitung des Begriffs Schrift-Lektüre (...) bis zu dem Punkt, wo nichts von
dem, was ist, es meht von außen umranden kann«/ M.a.W., Sichzeigen ereignet
sich immer schon im Metier von Medialität. Konsequent hat sich darum Derrida
jeglichen »Irrtum« eines Gegenwärtigen zu entledigen, ihn zu dekonstruieren und
zu einem Denken der Nicht-Präsenz fortzuschreiben versucht, insofern das, »was
man Gegenwart nennt«, selbst »Produkt« der Zeichen ist, die vorgeben, sich auf
sie zu beziehen: Jenseits der Zeichen befinden sich Zeichen. »Unsere Sprache
nimmt diese Bewegung stets in der Form des Gegenwärtig-Werdens auf: Gegen-
wärtig-Werden, Gegenwärtiges im Werden, Werden des Gegenwärtigen, Wieder-
aufnahme der Schrift in der Zeit des lebendigen« Sprechens: sogenannte Gegen-
wart ohne Spur.«"" Anders gesagt: Eine Nicht-Gegenwart bedingt das, was Prä-
senz »heißt« und unterzieht diese damit von an Anbeginn an einer grundlegenden
Modifikation. Mit Blick auf Husserl heißt es deswegen in Die Stimme und das
Phänomen: »Mit ihr (der Geltung, H.v.m.) wird ein Nicht-Leben oder eine
Nicht-Präsenz oder ein Nicht-Sichselbsterscheinen des lebendigen Präsens, eine
unausrottbare Nicht-Ursprünglichkeit also, unabweisbar. (...) In beiden Fällen
(der Retention und der Appräsentation, H.v.m.) tritt das, was sich als Modifika-
tion der Präsentationsweise darstellt (Vfr-Gegenwärtigung und /^-Präsentation),
eben nicht zur Präsentation hinzu, sondern bedingt sie vielmehr, indem es sie a
priori spaltet.«"
Dem korrespondiert gleichzeitig die Hinfälligkeit jeglichet Trennung von Ori-
ginal und Kopie, überhaupt aller Gegensätze, »die von der Unterscheidung zwi-
schen dem Ursprünglichen und dem Abgeleiteten, dem Einfachen und der Wie-
derholung, dem Ersten und dem Zweiten etc. abhängen, (...) ihre Trefflichkeit
(verlieren), sobald alles damit >anfängt«, det Spur zu folgen«." Demnach kann es
keine absolute Zeugenschaft geben, keine Fundierung, vielmehr nur Spuren als
sich permanent überschreibende und sich verschiebende Bahnung, die die Hier-
archie der Begriffe umkehrt, den Ursprung ab Abgeleitetes, das Original ab Ko-
pie, die Sekundarität ab Primarität ausweist und selbst dies noch in einer reflexi-
ven Volte verwirft, um schließlich zu einem Abgeleiteten ohne Utsprung, einem
Double ohne Original, dem Bild ohne Urbild, einer Zwei ohne die Eins und mit-
hin der Sekundarität ohne Primarität zu gelangen: »Die Unmittelbarkeit ist abge-
leitet. Alles beginnt durch das Vermittelnde, also durch das, was >der Vernunft
unbegreiflich« ist«, wie es wiederum in der Grammatologie heißt." Entsprechend
rückt Derrida an die Stelle der Unmittelbarkeit oder der Verklärung des Augen-

21 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 249.


22 Ebenda, S. 350.
23 Ders., Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 55.
24 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 374.
25 Vgl. ders., Freud und der Schauplatz der Schrift, a.a.O., S. 348 f.
26 Ders., Grammatologie, a.a.O., S. 272.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 363

blicks die zweifache Struktur der Supplementarität:" »(D)as Supplement supple-


mentiert. (...) Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus (...). Es gesellt
sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-
(die)-Stelle-von: wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt.«" Das Ei-
gentliche ist dann eine Hinzufugung, es ist nicht »eigentlich« im Sinne einer Au-
thentizität; es ist »dazugesetzt«— »suppliiert«. Entsprechend geht der Schrift
»nichts« voraus; was sich zeigt, ist ihr angehängt. Anders ausgedrückt: Das Vor-
trägliche ist das Nachträgliche: »Das Supplement tritt an die Stelle eines Mangels,
eines Nicht-Signifikats oder Nicht-Repräsentierten, einer Nicht-Präsenz. Vor ihm
gibt es keine Gegenwart, nur es selbst, das heißt ein weiteres Supplement geht
ihm vorauf. Das Supplement ist immer das Supplement eines Supplements. Will
man vom Supplement zur Quelle sich zurückbegeben, dann nur unter der Voraus-
setzung der Erkenntnis, daß es ein Supplement zur Quelle gibt.«" Derrida spricht
deshalb auch vom »originalen Charakter« des Supplements, der anzeigt, daß die
Kette der Supplemente nie abreißt, daß das »Gegebene«, die Erscheinung sich stets
nur einer Indirektheit, einer wesentlichen Sekundarität verdankt: »Das Spiel des
Supplements ist indefinit. Die Verweise verweisen auf Verweise.«

Selbsterschöpfungen der Schrift

Unabdingbar gehören Schrift und Spiel deshalb für Derrida zusammen: »Die
Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels«, heißt es gleich zu Beginn
der Grammatologie: ' »In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprungs-
punkt ungreifbar. Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses Aufein-
ander-Verweisen - aber es gibt keine Quelle mehr. Keinen einfachen Ursprung.
(...) Der Ursprung der Spekulation wird eine Differenz.« Also gibt es aus der
Bewegung der Repräsentation, dem Spiel der Verweisung kein Entrinnen; es hat
»kein Ende«: »Die Geschlossenheit dessen, was kein Ende hat, läßt sich nichtsde-
stoweniger denken. Die Geschlossenheit ist die kreisförmige Grenze, innerhalb
derer die Wiederholung der Differenz sich unbegrenzt wiederholt. Das heißt sein
Spielraum. Diese Bewegung ist die Bewegung der Welt als Spiel.« . Das bedeutet
auch: Der Kreis der Repräsentation ist Schließung und Ermöglichung zugleich:

27 In ders., Dissemination, a.a.O., S. 187 heißt es: »(M)öglich ist die Wiederholung nur in der Gra-
phik der Supplementarität (...).« In der Grammatologie wiederum wird der Begriff des »Supple-
ments« mit der differance zusammengebracht; vgl. ders., Grammatologie, a.a.O., S. 258. Alle we-
sentlichen Begriffe verweisen so aufeinander, bilden eine gemeinsame Struktur: Schrift, Wieder-
holung, differance, Spur, Aufschub (Nachträglichkeit) und Supplementarität.
28 Ders., Grammatologie, a.a.O. S. 250 passim.
29 Ebenda, S. 521.
30 Ebenda, S. 538.
31 Ebenda, S. 511.
32 Ebenda, S. 17.
33 Ebenda, S. 65.
34 Ders., Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation, a.a.O., S. 379.
364 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Es existiert kein Jenseits, kein unberechenbares Ereignis, das einbräche und sie
aufsprengen könnte. Aber ihre Geschlossenheit öffnet den Raum für die Endlo-
sigkeit des Spiels und damit für die Möglichkeit des »repräsentationalen Ereignis-
ses«, die Derrida insbesondere jeglicher Ursprungssuche, jener Sehnsucht nach
einem »Grund« der Welt, der nicht grundlos wäre, einem Boden, auf den immer
wieder haltsuchend zurückgegriffen werden könnte, entgegensetzt: »Die Ge-
schlossenheit der Repräsentation zu denken, heißt daher, die grausame Macht des
Todes und des Spiels zu denken, das der Präsenz ermöglicht, sich selbst zu ent-
springen und sich selbst durch die Repräsentation, in der sie sich im Aufschub
(differance) entwendet, zu genießen.« Ihr Spiel (jeu) spielen (jouer) wäre dem-
nach die Lust (jouissance) der Supplementarität, der Dopplung von Anhängung
und Vorläufigkeit, die wiederum kein Zentrum erlaubt, »weil das Zeichen, wel-
ches das Zenttum ersetzt, es supplementiert (...) - weil dieses Zeichen sich als
Supplement noch hinzufügt.« Solches Spiel setzt die permanente »Zutat« an die
Stelle einer »Ethik der Präsenz«, des »Heimweh(s) nach dem Ursprung, nach der
archaischen und natürlichen Unschuld, nach der Reinheit der Präsenz und dem
Sich-selbst-Gegenwärtig-sein in der Rede« - und dies müsse »ohne Nostalgie
gedacht werden, will sagen, jenseits des Mythos (...) von der verlorenen Heimat
des Denkens. Das muß im Gegenteil bejaht werden, wie Nietzsche die Bejahung
ins Spiel bringt, als Lachen und als Tanz.«
Das Diktum gibt sich freilich nicht weniger dogmatisch wie das, was sie ab-
weist: die Ethik der Präsenz. Es folgt der Affirmation der Grundlosigkeit des
Spiels, wie es von Nietzsches Artistik des Dionysischen her entwickelt werden
kann. Wenn diese sich auch nicht als ethiklos geriert - Nietzsche dachte darin die
»Moral des Übermenschen«, während Derrida im Anschluß an Marcel Mauss,
Bataille und Levinas eine »Ethik der Gabe« zu denken sucht -," so folgt doch mit
dem Genuß (jouissance) der Anfangslosigkeit und der »ursprünglichen« Verspä-
tung die rückhaltlose Aus-Setzung jeglicher Form von Gegenwärtigkeit, weil die
Schrift und die Differenz ihre Identifizierung, Einheit oder Fixierbarkeit bereits
»sekundiert« und damit zerteilt haben: »Es kommt also dazu, daß die Gegenwart
(...) nicht meht als die absolute Matrixform des Seins, sondern als eine Bestim-
mung« und als ein >Effekt< gesetzt wird. Bestimmung oder Effekt innerhalb eines
Systems, das nicht dasjenige der Gegenwart, sondern das der differance ist.«4 D.h.

35 Ebenda, S. 379.
36 Derrida verbindet so das Spiel mit der Jouissance, der Lust am und das Begehren des Textes, wie
es Roland Barthes thematisiert hat.
37 Ders., Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, a.a.O., S. 437.
38 Ebenda, S. 440.
39 Ders., Die differance, a.a.O., S. 56.
40 Vgl. ders., Falschgeld, a.a.O.; sowie ders., Den Tod geben, in: Anselm Haverkamp (Hsg.), Ge-
walt-Gerechtigkeit. Benjamin-Derrida, Frankfurt/M. 1994, S. 331-445. Indessen sptengte eine
Darlegung der »Ethik der Gabe« unsere Ausführungen; verwiesen sei statt dessen auf die Aufsätze
in: M. Wetzel, J.-M. Rabate (Hsg.), Ethik der Gabe, Berlin 1993; sowie Hans-Dieter Gondek,
Bernhard Waidenfels (Hsg.), Einsätze des Denkens, Frankfurt/M. 1997.
41 Jacques Derrida, Die differance, a.a.O., S. 42.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 365

zugleich, daß das »Ereignis« im Sinne der Einzigartigkeit, der einmaligen und
unwiederholbaren Gegenwart, von der Heidegger gesagt hat, es sei ein »Singulare
tantum«, das »nur in der Einzahl, nein, nicht einmal mehr in einer Zahl, sondern
einzig« geschieht,4" bei Derrida keinen Platz mehr findet. Nicht das Ereignis,
sondern die differance steht am Anfang: »>Einmal< ist das Geheimnis dessen, was
keine Sinn, keine Präsenz und keine Lesbarkeit besitzt«. Als Ursprung des Zei-
chens (marque) wäre sie demnach ursprünglicher, mithin ein Nicht-Ursprung, ein
Feld von Unter-Schieden, das weder Anfang noch Ende kennt, der folglich auch
nicht am Anfang steht, sondern »immer schon« gewesen ist. Die Kaskaden von
Paradoxien, in die der Satz unversehens verfällt, um erneut alle vorherigen Stel-
lungen zu dementieren, jener Zug der Derridaschen Philosophie also, der das
Verständnis erschwert, verwirrt, zuweilen sogat apokryph erscheinen läßt, ent-
springt der Fortschreibung der differance durch die Bemühungen ihrer Aussage
hindurch, die genötigt ist, sie gleichzeitig immer wieder umzustürzen. So ginge
denn die Schrift dem Ereignis voran, weil sie es erst »als« solches kenntlich macht,
»einschreibt« und im Zurückkommen auf sich vervielfältigt. Darum »gibt es«
auch keine Singularität, weder als Auratisches, wie in der Kunst der Blöße, den
Sublimes Barnett Newmans, oder den performativen Akten einer gestischen Äs-
thetik, den Events John Cages oder den Mysterien der Körper, wie sie Antonin
Artaud oder später Otto Muehl und Hermann Nitsch auf die Bühne gebracht
haben, sondern allein die Schrift, die alle Möglichkeiten in sich beschließt und
kein Ende findet, vielmehr jedes Ereignis selbst ist und vollendet. »Die reine Ver-
ausgabung, die absolute Freigiebigkeit, die die Einmaligkeit der Gegenwart dem
Tod darbietet, um die Präsenz ab solche zum Erscheinen zu bringen, hat bereits
damit begonnen, die Präsenz des Präsenten aufbewahren zu wollen, sie hat schon
das Buch und die Erinnerung, das Denken des Seins als Gedächtnis aufgeschla-
gen.« »Die Gegenwart gibt sich«, wie Derrida deshalb in seiner Auseinanderset-
zung mit dem Theater der Grausamkeit Artauds feststellt, »nur als solche, tritt für
sich nur in Erscheinung, präsentiert sich nur, eröffnet die Szene der Zeit oder die
Zeit der Szene nur, indem sie ihre eigene innere Differenz in der inneren Falte ih-
rer ursprünglichen Wiederholung, in der Repräsentation an sich nimmt. In der
Dialektik«.4
Auf radikale Weise denkt damit Derrida die Nicht-Präsenz des Ereignisses: Es
erscheint einzig im Modus der Wiederholung und der Zeitstruktur des Perfekts. Des-
halb heißt es polemisch in bezug auf Artaud, er wolle »die Wiederholung über-
haupt (...) tilgen«, um das Ereignis zu retten, ' ein Unterfangen, das insofern als
absurd hingestellt wird, als es im Augenblick der Rettung bereits mit der Wieder-
holung des Unwiederholbaren begonnen habe: Der theatrale Rahmen, den

42 Martin Heidegger, Der Satz der Identität, a.a.O., S. 25.


43 Jacques Derrida, Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation,
a.a.O., S. 374.
44 Ebenda.
45 Ebenda, S. 376.
46 Ebenda, S. 372.
366 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Artaud setzt, hat das Ereignis schon aus-gesetzt. Die Passage erhellt auf besondere
Weise die diskursive Strategie Derridas: Der Versuch, in jeder Bewahrung eines
Unmittelbaren schon das Abgeleitete zu erblicken. Denn nach Artauds Revolu-
tionierung des Theaters, das er als bloßes Text- und Lesetheater zu destruieren
suchte, um im Sinne Nietzsches die Unmittelbarkeit des »Fleisches« selber auf die
Bühne zu heben, indem sich Handlung und präsentierte Zeit decken, im Mo-
ment des Vollzugs eins werden und sich erschöpfen: Spontaner Akt, fern von al-
len Posen und einstudierten Tragödien, das Ungebärdige des spontanen Schreis,
die »Hieroglyphe eines Atems«, wie Artaud sagt, kurz, die Energien der Körper
und die Gewalt der Exzesse, die er »Grausamkeit« nennt: das Leben selber, unver-
stellt: »Ich füge der gesprochenen Sprache eine andere Sprache hinzu und versu-
che, ihre alte magische Wirksamkeit, ihre verzaubernde, unvermittelte Wirksam-
keit der Sprache des Wortes zurückzuerstatten, deren geheimnisvolle Möglich-
keiten vergessen worden sind. Wenn ich sage, ich werde kein geschriebenes Stück
spielen, so meine ich damit, daß ich kein Stück spielen werde, das auf der Schrift
und dem Wort basiert, daß in dem von mir gezeigten Schauspielen der körperli-
che Anteil überwiegen wird, der in der gewohnten Wörtersprache nicht fixierbar
und nicht schriftlich ausdrückbar ist (...).« Artaud sucht daher die theatrale
Kraft der Performativität, die Zeichen auf der Ebene ihrer Materialität zu restitu-
ieren. Er fuhrt das Theater vor das Wort, an den Rand des Augenblicks, wo eine
Artikulation hervortritt, die noch kein Diskurs ist, wo die Wiederholung ihre
Macht einbüßt und die Sprache in ihre Musikalität zutückweicht, vergleichbar
den dadaistischen Lautexperimenten: Moment einer Ent-Grenzung, der zugleich
die traditionellen Positionen des Autors, der Schauspieler, des Zuschauers, der
Bühne als Institution sprengen sollte: Kein Text, kein Drama, keine Aufführung,
sondern ein kollektives »Fest« der »Grausamkeit«. Doch gerade eben darin wit-
tert Derrida erst recht die Inszenierung, das Ritual, die Präsentation, die auf Wie-
derholung beruht und das Ereignis »als« Ereignis ausstellt und zu einem literari-
schen Akt, einem »Spektakel« werden läßt. Nicht die Körper erschöpfen sich,
sondern die Schrift. Ihr »ereignen« würde dann, ab Ereignis, je schon ein Textu-
elles gewesen sein. »Weil es damit anfängt, daß es sich wiederholt«, heißt es ent-
sprechend in der Zweifachen Seance, Derridas Überlegungen zu Mallarmes Mimi-
que, hat das Ereignis »die Form der Erzählung«.
Die maßgebliche Trennungslinie, auf die es Derrida also ankommt, verläuft
zwischen Ereignis und Wiederholung, denn die Gegenwart des Gegenwärtigen ist

47 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, a.a.O., S. 162. Erinnert sei daran, daß in den
Symbollehren des 18. Jh. die Hieroglyphe für die natürliche Chiffre stand: Zeichen als Zeigen, die
ihre Bedeutung verbarg.
48 Ebenda, S. 119.
49 Vgl. ebenda, S. 89 ff. Erinnert sei daran, daß Artaud unter »Grausamkeit« das »leidenschaftliche,
konvulsivische Leben« selber, seine dionysische Kraft im Sinne Nietzsches versteht; vgl. vor allem
ebenda, S. 122 u. 131.
50 Jacques Derrida, Dissemination, a.a.O., S. 328.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 367

nur von ihr her »und nicht umgekehrt ableitbar«. Das Erscheinen selbst wäre
somit bereits der Bewegung des »Umwegs«, der »Abständigkeit« geschuldet, wie
sie Derrida konsequent seit seinen ersten Auseinandersetzungen mit Husserl ver-
folgt hat. " Gleichzeitig gehört der Topos zu den grundlegendsten und nachhal-
tigsten Figuren des gesamten Derridaschen Denkens, der in Variationen ebenso
in Die Stimme und das Phänomen, die Grammatologie, Die Schrift und die Diffe-
renz und den Randgänge der Philosophie u.a. wiederkehrt. Er verbindet das Thema
der Apophansis, der »Als«-Struktur des Diskurses, mit den Thematiken det
Schrift, der differance und der Temporalisation im Sinne des apriorischen Per-
fekts, der »Nachträglichkeit«, die Derrida auch als »Schicksal des Denkens als
Denken« charakterisiert. Darin sieht Derrida schließlich die wesentliche Front-
stellung gegen jegliches Phantasma einet Ursprünglichkeit oder Authentizität, sei
sie als »Anwesenheit«, »Ereignis« oder »Augenblick« gefaßt: Jede Kennzeichnung
eines Ereignisses »als« Ereignis oder Gegenwärtigkeit »als« Gegenwart hat sie be-
reits durch die Ais-Struktur geteilt und damit von sich abgestoßen; darum kommt
ihre Signatur, sogar auch nur ihre Markierung als Primat chronisch zu spät. Alles,
was demnach erscheint, und sei es die Erscheinung »ab solche«, auch im Namen ei-
ner Negativität oder Unbestimmtheit, hat demnach sein Etscheinen, die Einzigar-
tigkeit seines Augenblicks bereits getilgt, indem es mit der Struktur des »als« eine
Kluft in sich trägt, die es verdoppelt und aus-setzt: Supplementarität und »Endlo-
sigkeit« ihres Spiels, das die Textualität der Schrift voraus-setzt und die Präsenz
zerspaltet, denn »(e)s gibt nichts vor dem Text, es gibt keinen Prätext, der nicht
bereits ein Text ist«, »(...) denn das absolute Draußen ist nicht draußen«.
In diesem Sinne kann Derrida sagen, daß es »kein Textäußeres« gibt: ' Kein
»Anderes«, welches ihm »vorgängig« wäre und unabhängig von ihm zu benennen
oder aufzuweisen wäre: »Vor der Schrift (...) ist nichts«. Weiter heißt es: »Ein
stets fiktiver Anfang, und der Schnitt, weit davon entfernt einführend zu sein,
wird von der Abwesenheit auferlegt, außer in einer in Abzug zu bringenden Illu-
sion, eines jeden entscheidenden Anfangens, eines reinen Ereignisses, das sich
nicht teilt, sich nicht wiedetholt und nicht bereits auf ein anderes >Anfangen«, ein
anderes >Ereignis< zurückverweist: Die Singularität des Ereignisses ist in der Ord-

51 Ders., Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 106.


52 Vgl. ders., Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, a.a.O., S. 201 ff.
53 Ebenda, S. 201. Er spricht auch von der »Untreue« des Denkens: Untreue in bezug auf das Ge-
dachte; ebenda, S. 108.
54 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 371.
55 Ebenda, S. 405.
56 Die berühmte Passage aus der Grammatologie lautet: »Selbst wenn die Lektüre sich nicht mit der
Verdopplung des Textes begnügen darf, so kann sie legitimerweise auch nicht über den Text hin-
aus - und auf etwas anderes als sie selbst zugehen, auf einen Referenten (eine metaphysische, hi-
storische, psycho-biographische Realität) oder auf ein textäußeres Signifikat, dessen Gehalt au-
ßerhalb der Sprache, d.h. in dem Sinne, den wir diesem Wort hier geben, außerhalb der Schrift
im allgemeinen seinen Ort haben könnte oder hätte haben können. (...) Ein Text-Äußeres gibt es
nicht.« Vgl. ders., Grammatologie, a.a.O., S. 274.
57 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 217.
368 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

nung der Rede mythischer denn je. Man muß schneiden, weil (...) das Anfangen
sich entzieht und sich teilt, sich auf sich hinfaltet und sich vervielfältigt (...).«
Was also Präsenz heißt, erweist sich als immer schon »übereinandergefaltet«, in
sich, von sich getrennt: »>Dieses Mal« (...) gibt sich ausdrücklich als die (...) Man-
nigfaltigkeit eines Ereignisses, das kein Ereignis mehr ist, da seit Eintritt ins Spiel
seine Singularität sich verdoppelt, sich vervielfältigt, sich aufteilt und sich in Ab-
zug bringt, wobei es sich sogleich in eben dem Augenblick, wo es sich scheinbar
hervorbringt, das heißt sich gegenwärtigt, im uneinsehbaren ^doppelten Bodem ei-
ner Nicht-Gegenwärtigkeit verbirgt.« Sie wäre damit stets nur ver-gegenwärtigte
Gegenwart, die nicht einmal »als solche« ansprechbar wäre, vielmehr Substitut,
das »einem Substitut substituiert wird«,' worin die »Anwesenheit des Seienden
(...) verloren (geht), (...) verstreut, (...) durch Nachbilder, Abbilder, Phantas-
men, Trugbilder etc.« unablässig wieder redupliziert wird;' »Pfropfung«, wie
Derrida auch sagt, denn »Schreiben heißt aufpfropfen. Es ist dasselbe Wort«. * So
zeigt sich die Erzeugung einer Schrift in det Schrift, einer Textur in einet anderen
Textur: »Es gibt keine erste Insemination. (...) Die >erste< Insemination ist
Dissemination, Spur, Aufpfropfung, deren Spur sich verliert.«' Am Ort der Re-
de, des Diskurses stellt sich deshalb immer nur ein »Gewesenes« ein, das die
Möglichkeit seines Gegenwärtigseins schon abgestreift und den Status seiner Er-
eignishaftigkeit eingebüßt hat. »Die Gegenwart stellt sich als solche nur dar, in-
dem sie sich auf sich bezieht, sie sagt sich als solche, meint sich als solche nur, um
sich zu teilen, indem sie sich im Winkel, im Bruch (auf sich) umfaltet/umbiegt.
(...) Die Gegenwart ist niemals gegenwärtig. Die Möglichkeit - oder das Vermö-
gen - der Gegenwart ist nur ihre eigene Grenze, ihre innere Falte, ihre Unmög-
lichkeit - oder ihr Unvermögen.«' Was man daher »Gegenwart nennt«, wie Der-
rida hinzusetzt, »(...) das Erscheinende, gibt sich als solches, als reines Entstehen
ohne irgendeine Rechenschaft, die zu geben wäre, nur im mythischen Diskurs, in
welchem die Differenz ausgestrichen wäre. Dies in Rechnung gestellt, was sie teilt
und sie ausscheidet und sie eben in ihrer Auslösung übereinanderfaltet, ist die
Gegenwart nicht mehr einfach die Gegenwart. Sie kann sich nicht mehr >Gegen-

58 Ebenda, S. 338.
59 Ebenda, S. 328.
60 Ders., Grammatologie, S. 278 und 538.
61 Ders., Dissemination, a.a.O., S. 188.
62 Ebenda, S. 402. Vgl. auch ebenda, S. 226. Die Bewegung der Aufpfropfung entspricht der Pro-
zedur der Überschreibung: Ein Text wird durch einen weiteren verändert, verwischt, verschoben,
schreibt sich einem anderen nach, schiebt sich über ihn, verdeckt ihn. In Dissemination wird die
Struktur det Pfropfung überdies mit der Struktur der Supplementarität und des Zitathaften ver-
bunden: »Insertion« mit den vielfachen Bedeutungen des »Hineinsetzens««, »in einen Text einfü-
gen«, das »Einschieben« selbst. Die Pfropfung ist diese Einschiebung, die Ersetzung, die Ergän-
zung einer Schrift in eine andere.
63 Ebenda, S. 342.
64 Ebenda, S. 340.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 369

wart« nennen lassen außer in der indirekten Rede, in den Anführungszeichen des
Zitats, der Erzählung, der Fiktion.«
Mehr noch: Mit der Zerstörung des »Irrtums« der Gegenwärtigkeit wird das
vermeintlich Anwesende selber zum »Produkt«: »Gabe« der Schrift, mithin auch
»Gabe« eines innertextuellen, innerskripturalen Spiels der differance. Was wir von
Heidegger her als »Gabe« der Existenz: Ge-Gebenheit im Sinne des »(Es) gibt —
(es) existiert« jenseits aller Subjektivität eines Gebens herausgestellt haben und
was nur als Zulassen einer Begegnung des Anderen erfahren werden kann, erfährt
hier ihre strenge Umkehrung: Was (es) gibt, »gibt sich« nur durch die Schrift, die
Spur, d.h. aufgrund einer Differenz. »Kein Ereignis wird somit berichtet, alles ge-
schieht im Text-Zwischen, unter Beachtung eines einzigen Prinzips: daß >letzten
Endes nichts geschieht«.« Also auch kein Begehren, kein Vergnügen (jouissance),
keine Leidenschaft: »Die Obsession wird stets textuell gewesen sein.«'' Derrida
variiert auf diese Weise eine Thematik, die seit Lacan zu den Grundstellungen
des strukturalen Diskurses gehört: Das Ereignis ist das Hervorgebrachte, eine
Halluzination, dessen »Spur« gelegt ist, um seine Kontur zu verbergen. Der
Struktur der Erinnerung unterworfen, wird es durch die Male einer »ursprüngli-
chen« Verletzung, der »Wunde« des Unbewußten ebenso »subversiert« wie diese
umgekehrt durch sie »gebildet« werden. Lacan hatte die Position in Funktion
und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse entfaltet: Die trauma-
tisierende »Urszene«, die am »Anfang« der Neurose steht, figuriert als »Medium«
des Gedächtnisses; sie beschreibt den »Wendepunkt«, an dem »das Subjekt sich
umstrukturiert« und befestigt.' Die Formulierung gemahnt an rituellen Passagen,
im Laufe derer etwas geschieht, das eine Transformation auslöst, wodurch sich
Identität allererst »stiftet«. Privilegiert wird, wie bei Derrida, der Zeitmodus des
Perfekts, der das, was einst als »Ereignis« geschah, gleichermaßen konstituiert wie
als gewesenes verhüllt, indem die Etinnerungsarbeit es in dem Maße, wie sie ihm
zu ent-sprechen trachtet, verschiebt. Es handelt sich also »in der psychoanalyti-
schen Anamnese nicht um Realität«, sondern mit jeder Erinnerung wird ein Sinn

65 Ebenda, S. 341.
66 Ebenda, S. 379, 381. An anderer Stelle spricht Derrida davon, daß die Schrift »nach dem Ereig-
nis einer anderen Schrift« hinzukommt. »Eine solche Schrift, die nur auf sich selbst verweist,
führt uns zugleich endlos und systematisch auf eine andere Schrift zurück. (...) Eine Schrift, die
nur auf sich selbst verweist, und eine Schrift, die endlos auf eine andere Schrift verweist, das kann
den Eindruck erwecken, nicht widersprüchlich zu sein: der reflektierende Schirm fängt immer
nur Schrift auf, ohne Einhalt, endlos, und die Verweisung schließt uns im Element der Verwei-
sung ein (...). Jedes Mal, wo er auf einen anderen Text, auf ein anderes bestimmtes System ver-
weist, verweist jeder Organismus zwangsläufig nur auf sich selbst als einer bestimmten Struktur:
offen und geschlossen zugleich.« Ebenda, S. 225; vgl. auch S. 220, 222.
67 Derrida bezieht sich darauf in seinem Freud-Aufsatz : »Daß die Präsenz im allgemeinen nicht ur-
sprünglich, sondern rekonstruiert ist, daß sie nicht die absolute, vollauf lebendige und konstitu-
ierte Form der Erfahrung ist, und daß es keine Reinheit der lebendigen Präsenz gibt, das ist das
für die Geschichte der Metaphysik ungeheure Thema, das Freud uns (...) zu denken auffordert.«
Vgl. ders., Freud und der Schauplatz der Schrift, a.a.O., S. 324.
68 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, a.a.O.,
S. 95.
370 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

gesetzt, der sich »nachträglich« oktroyiert.' D.h. aber, daß das Gedächtnis dort,
wo es »etwas« hervorzuholen sucht, sich eine »Geschichte« erzählt, die seine Kata-
strophen oder Zäsuren, die es dem Dunkel seiner Vergangenheit entreißt, ebenso
schafft wie verwandelt. Was einst war, ist niemals rekonstruierbar, sowenig wie
Träume durch das Bewußtsein, das sie erinnert, wiederhergestellt werden kön-
nen, nicht, weil es unablässig maskiert würde, sondern weil es schlechthin unauf-
findbar ist. Weder gibt es eine historische Authentizität noch eine des Subjekts:
»Die Ereignisse werden in einer primären Historisierung erzeugt; anders gesagt:
die Geschichte ereignet sich bereits auf der Szene, auf der man sie, ist sie einmal
niedergeschrieben, vor seinem eigenen Inneren wie vor den Augen der Außenwelt
spielt.«
M.a.W., das Ereignis untersteht der Narration, deren Fiktionalisierung es
ebensowohl auslöscht wie umdichtet. Nicht »etwas« geschah, dem die Etzählung
zu ent-sprechen sucht, sondern das Geschehen ereignet sich als »Dichtung«: Es
ent-springt den »aktiven« Spuren der Erinnerung gleichwie den nicht minder ak-
tiven »Gedächtnislücken« des Vergessens. Lacan unterscheidet deshalb zwei ent-
gegengesetzte Strategien der Erinnerung: Tilgung, die das Erlebte ein für allemal
in die Nacht des Schweigens versenkt, das »leere Sprechen« des traumatisierten
Vergessens; oder Forcierung, die sich unter den Bedingungen der Zensur lebendig
hält und ununterbrochen neue Metonymien gebiert: »volles Sprechen« der hyste-
rischen Entäußerung, das seine aggressive Kraft über das Gewesene verhängt und
es damit zudeckt. Es gibt nut diese Formen der Erinnerung; aber in beiden Fäl-
len handelt es sich nicht um die Restitution eines authentischen Geschehnis,
sondern um Weisen der Produktion: Erstere beruht auf der Stigmatisierung, die
zu verdrängen trachtet: Es spricht als Nicht-Sprechen, das sich gleichsam nur auf
dem Wege des Ungesagten, der diskursiven Unterbrechungen zeigt, während
letztere sich fortpflanzt und wuchert: Es deliriert und inszeniert sich fortwährend
als Begehren, das sich spricht. Anders gewendet: Sprache und Gedächtnis gehören
zusammen: Es existiert kein Gedächtnis ohne Sprechen, das es erfände, wie eben-
so das Sprechen den Spuren folgt, die sich ins Gedächtnis »eingeschrieben« ha-
ben. Deswegen vermerkt Lacan ironisch: »Damit kehrt sich die Goethesche Um-
kehrung seiner Gegenwart im Ursprung, die der Satz ausdtückt: >Im Anfang war
die Tat«, ihrerseits um: Es war doch das Wort, das im Anfang war, und wir leben
in seiner Schöpfung, aber die Tat unseres Geistes setzt diese Schöpfung stets von
neuem fort.« Die Struktur der Erinnerung wind mit der Struktur des Symboli-
schen auf eine Weise verquickt, wie sie seit Piaton thematisch geworden ist: Die
Schrift als Medium der Bewahrung, die kein passives Archiv bereitstellt, keinen
Behälter verfügbarer Daten, sondern aktiv gestaltet. Geschichte und Schreibung
mit allen Konnotationen der Fixierung, der »Schneidung«, der gewaltsamen Gra-

69 Vgl. ebenda.
70 Ebenda, S. 100.
71 Ebenda, S. 100 f.
72 Ebenda, S. 111, 112.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 371

vur verweisen aufeinander, schließen sich zu einem festen Band, das ununterbro-
chen durch die Instrumente der Re-Skriptualisierung, des Ritus und der Wieder-
holung gesichert wird, um die Möglichkeit von Geschichte zu inszenieren: »Die
Schrift ist durch und durch historisch.« Kultur steht für Derrida überall unter
deren Siegel.

»Zuvorkommen« des Ereignisses

Und dennoch »geschah« etwas: Eine Tat, die die bis dahin gültige Wirklichkeit
unterbrach, zerriß oder umkehrte, ein Ende, das, wie der Tod, augenblicklich alle
Maßstäbe stürzen ließ, eine schmerzhaften Enthüllung, die die Brüchigkeit des
Schicksals offenlegte, ein Schock, der vielleicht gleichermaßen Lähmung auslöste
wie einen unersetzbaren Moment gefährlichen Übergangs: Einmaligkeiten, die
durch ihre Wiederholung zersetzt und ausgezehrt würden. Ihre Erfahrungen füh-
ren dabei auf die »Spur« einer irreduziblen Andersheit, die nicht »Spur« im Sinne
der Schrift, der differance ist, weil sie nicht schon der Spaltung des »als« unter-
liegt, sondern jegliche Bestimmung oder Be-zeichnung aus-setzt. Sie wäre Indiz
für den Einbruch eines Geschehnis, das buchstäblich den Verstand raubt, das sich
aber auch subtil und unmerklich einzuschleichen vermag. Ein Beispiel wäre die
Zeit, wo sie als reine Vergänglichkeit geschieht, ohne ihr Vergehen zu markieren.
Es gibt eine Zeitlichkeit der Materialität, die sich allein im Ereignen selbst erfüllt:
Augen-Blick als Zeit jenseits der Erinnerung, Zeit folglich, die von keinem Ge-
dächtnis getragen und begleitet wird: Zeit der Agonie, des Verfalls, auch des Al-
terns. Zwar lassen sich dessen unaufhaltsamen Spuren entziffern, nicht aber das
»Daß« des Verfallens selbst, das spurlose Vergehen: das Beunruhigende schlecht-
hin. Das Altern macht sich nur im Abstand, in der Distanz sichtbar, z.B. wenn
wir Bilder betrachten: Es beschleicht uns, ohne bemerkt zu werden. Dies gilt
ebenso für die plötzlichen Momente einer Gefahr, die vor den Rand eines Ab-
grundes stellen, die gewohnten Schemata aufsprengen, die Orientierungen lö-
schen und die Ordnungen des Gedächtnisses aufstören. Natürlich wird das Er-
eignis »als solches« erst durch die Erinnerung manifest, die es mit Bedeutungen
versieht; und doch geht dieset notwendig »etwas« vorher, was kaum als ein »et-
was« nennbar wäre: Es gibt sich preis, bevor ihm ein Sinn zugesprochen werden
kann. Irritation und Konfusion entstehen nicht auf der Ebene des Symbolischen,
sowenig sie bereits von sich her »Markierungen« darstellen, sondern sie müssen
erst als solche figurieren oder interpretiert werden. Ihre »Spuren« liegen mithin
jenseits von Marken (marques), die »als« etwas entziffert werden können; vielmehr
scheinen sie gerade auf das Unentzifferbare schlechthin zu verweisen. Demgegen-
über kann nicht eingewandt werden, daß sie dann eben das Unmarkierbare mar-
kieren, weil die neuerliche paradoxale Volte sich an jenem Wortspiel nährt, das
über die zu führende Rede bereits das Schriftparadigma in Anschlag gebracht hat

73 Jacques Derrida, Grammatologie, a.a.O., S. 132.


372 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

und damit unterstellt, was sie zu beweisen trachtet. Solange durch den Diskurs
hindurch etwas an-gedeutet wird, was diesem entgeht, bleibt die philosophischen
Reflexion unabdingbar auf das Paradox verpflichtet, das dann aber nicht wieder
als Gegenargument ins Feld geführt werden kann, ohne die Dimensionen des
Diskurses zu verdoppeln und damit ab-solut zu setzen. Vielmehr fungiert die An-
Deutung gerade als Hinweis, der die Sicht auf ein Anderes lenkt, das sich der
Sprache verweigert, ohne es »als solches« bereits angezeigt zu haben.
Ausdrücklich hat sich Derrida in Fabchgeld der Frage gestellt: Bindung des Er-
eignisses an die »Gabe« (don): »Keine Gabe ohne das Eintreten eines Ereignisses,
kein Ereignis ohne die Überraschung einer Gabe.« Etwas geschieht, kommt vor;
»(es) gibt« das Ereignis, das insgesamt die Frage aufwirft »>Was geschieht mir?«
>Was ist gerade geschehen?« Und: >Was ist ein Ereignis?« Was besagt gesche-
hen/ankommen« [arriver]? Kann man ein Ereignis schaffen?« " Aber entscheidend
ist, daß Derrida solches »Geben«, solches »Ereignen« an die Ordnung des Sym-
bolischen anschließt: Die Gabe entstammt dem Kreis der Ökonomie, auch wenn
ihr Paradox darin besteht, aus der Zirkulation des Ökonomischen, dem Tausch
herauszutreten, insofern die »Gabe« nur sein kann, wenn sie geschenkt und damit
gerade nicht getauscht witd. »Das ist das Paradox, auf das wir uns von Anfang an
eingelassen haben. Es gibt keine Gabe ohne Intention zu geben. Die Gabe kann
nur eine intentionale Bedeutung haben. (...) Indessen bedroht auch alles, was aus
dem intentionalen Sinn hervorgeht, die Gabe damit, sich zu bewahren, noch in
der Verausgabung bewahrt zu werden. Von daher die rätselhafte Schwierigkeit,
die dieser gebenden Ereignishaftigkeit innewohnt. Es bedarf des Zufalls, der Be-
gegnung, des Unwillkürlichen, sogar des Unbewußten oder der Unordnung; es
bedarf der intentionalen Freiheit (...).« ' Die Gabe schwebt gleichsam zwischen
Intentionalität und Nicht-Intentionalität; es »gibt« sie nur als intentionale Geste,
aber die Intention, ihre bewußte Setzung hat sie bereits »verschenkt«, hat sie »als«
Gabe im Sinne der Zufälligkeit des Ereignisses verdorben: Gabe und Tausch er-
weisen sich als gegeneinander unvereinbar. Deswegen spricht Derrida auch von
der ihrer »Rückkehrlosigkeit«. Doch entsteht diese Schwierigkeit nur dann,
wenn die Gabe von vornherein innerhalb einer Struktur oder Ein-Rahmung von
Zeichen diskutiert wird, wenn sie selbst »als« Zeichen, als Matke bestimmt witd
oder innerhalb eines symbolischen Raumes er-scheint, der ihr »als« Gabe allererst
einen Ort verleiht: Platz »gibt«. Dafür spricht die Heterogenität ihres Sinns, det
zwischen vetschiedenen Formen des »Gebens« changiert - angefangen vom sym-
bolischen Akt des »Geschenks« über »einen Eindruck geben« (erwecken) bis zur
»Gabe einer Vorstellung«, eines »Schauspiels« oder eines »Diskurses«: Jedesmal
ist ein textueller Sinn voraus-gesetzt, entweder indem »etwas Bestimmtes« gege-

74 Ders., Falschgeld, a.a.O., S. 155.


75 Ebenda, S. 156.
76 Ebenda, S. 161.
77 Ebenda, S. 54 f.
78 Ebenda, S. 67 f.
79 Ebenda, S. 69 f.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 373

ben wird, oder indem »Bedingungen« bereitgestellt werden, vermöge derer »es
etwas gibt«, d.h. etwas entsteht: »Für uns kündigt sich hier vielmehr ein gewisser
Bezug an zwischen der Schrift oder ihrem Einsatz (...) und dem Prozeß der Ga-
be: (...) das Markieren einer Spur. Die Gabe wäre so stets die Gabe einer Schrift,
einer Erinnerung (...), auf jeden Fall vermachte oder hinterließe sie einen Text;
und die Schrift wäre demnach nicht das formale Hilfsmittel, die äußerliche Ar-
chivierung der Gabe (...) sondern (...) die Archivar.?, die sich unmittelbar an-
schließt an den performativen Akt der Gabe.« Mit Bezug auf Baudellaires kurzes
Prosastück Das fabche Geldstück, das Derrida in Fabchgeld einer eingehenden
Lektüre widmet, spricht er sogar noch schärfer von »einer gewisse(n) Bedingung
für Gabe in der Schrift selbst«: »Aus diesem Grunde gibt es eine Problematik der
Gabe erst im Anschluß an eine Folgeproblematik der Spur und des Textes. Es
kann sie niemals im Anschluß an eine Metaphysik der Präsenz geben.« " Zwar
läßt sich das Ereignis als »Möglichkeit« in Rechnung stellen, »aber nicht das Er-
eignis selbst«: »Das ist einer der Gründe, weshalb wir bei der Ausarbeitung die-
ser Problematik immer von Texten ausgehen, von Texten im geläufigen und tra-
ditionellen Sinne der buchstäblichen Schrift, auch der Literatur, oder von Texten
im Sinne >differänzieller</aufschiebender [differantielles] Spuren (...). Und wir
können nicht umhin, von den Texten auszugehen (...) insofern sie von Anfang an
[des le departj aufbrechen [partent] (sich von sich selbst und ihrem Ursprung, von
uns abtrennen). Wir können nicht umhin, selbst wenn wir es wollten oder zu tun
glaubten. Wir sind nicht mehr so leichtgläubig zu meinen, daß wir von den Din-
gen selbst ausgehen, indem wir die >Texte< umgehen (...).«
Letzteres markiert die Wende, an dem unser Einspruch ansetzt. Offenbar ver-
mag Derrida die »Gabe« und mit ihr das Ereignis des »Ge-Gebenen« stets nur un-
ter der Voraussetzung dessen zu denken, daß es »kein Präsentes gibt«: »Es stellt
sich heraus (...), daß die Struktur dieser unmöglichen Gabe dieselbe ist wie die
des Seins - das sich unter der Bedingung zu denken gibt, kein Seiendes oder Prä-
sentes zu sein (...).« Das bedeutet: Nichts »gibt (sich)«: Das Symbolische, die
Schrift gibt. Und das heißt auch: »Sein« »gibt (sich)« nicht als Existenz, als das
»Daß« (quod) eines plötzliches Hervortretens, sondern stets nur als gezeichnete
»Spur«. Daran entzündet sich unsere Opposition: Sein, das wir unter den Namen
der Ex-sistenz gestellt haben, des ex-sistere im Wonsinne eines unerwarteten Zum-
Vorschein-kommens, das sinnlich geschieht und in der Wahrnehmung begegnet
und das deshalb zu seiner Bedingung nicht der Textur, der symbolischen Ord-
nung oder des Mediums bedarf, sondern - buchstäblich - »nichts«: »Gabe« als Er-
eignen eines »In-Erscheinung-tretens« selbst, das das Quod vor das Quid stellt,
mithin Ereignis, das »sich« von einem Anderen her »gibt«, das damit von Anfang

80 Ebenda, S. 75 f.
81 Ebenda, S. 62, 63.
82 Ebenda, S. 133, auch: S. 134.
83 Ders., Den Tod geben, a.a.O., S. 377.
84 Ders., Falschgeld, S. 133.
85 Ebenda, S. 41.
374 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

im Horizont eines Unverfügbaren er-scheint. Aufmerksam gemacht wird so auf


ein Geschehen vor dem Geschehen-ab, das es bereits ausgezeichnet hat, das vor-
zugsweise dort aufscheint, wo ein buchstäblich »Unheimliches« geschieht: Entzug
oder Riß im Symbolischen, der dadurch gekennzeichnet ist, daß ihn kein Zeichen
(marque) füllt, sondern daß er inmitten der Zeichen (marques) aufklafft und als
deren Verwirrung oder Durchkreuzung gewahr wird. Eine »spurlose Spur« legt
sich im Sinne des Ekstatischen dorthin, wo jede Verweisung oder »Spurenschrift«
fehlt. Eine »Gabe« wird gegeben, ein symbolischer Akt vollzogen, eine Gedächt-
nislinie gezeichnet, aber das Ereignis der Setzung, die Ekstatik ihrer Materialität
offenbaren eine Singularität, zuweilen in Form einer Störung oder Sperrigkeit, die
gerade jede Markierung, jede Symbolik oder Erinnerung vereitelt. Was dabei ge-
schieht, ereignete sich als absolute Heterogenität, als Ausnahme, die mit allem
bricht, was diese auszutragen vetmögen und die Schelling in seiner Philosophie der
Offenbarung mit dem »Unvordenklichen« selbst als einem jedem Denken »Zu-
vorkommenden« in Verbindung gebracht hat: Ereignis der Ex-sistenz. Für solche
Ausnahmeerfahrungen hatte Levinas in seiner frühen Theorie des Augenblicks
und seiner späteren Konzeption radikaler Andersheit die Figur der »Doppelbe-
lichtung« eingesetzt: »Spur«, die »sich ab-solviert«, d.h. die sich von der Schrift,
der Zeichnung freispricht, indem sie gleichsam im »Vorbeigehen« entsteht, bei
Gelegenheit der Negation oder Verwischung von Spuren, die deshalb nie zu tilgen
sind, weil die Tilgung selbst sie einbehält und die sich dennoch nicht durch ande-
re Spuren oder ab »etwas« verraten, sondern allein durch ihr Fehlen preisgeben.
Was daher Levinas als »Doppelbelichtung« bezeichnet - Belichtetes, das ohne
Erinnerung geschieht - , deutet auf eine Abwesenheit in der Anwesenheit, die nicht
anders zum Vorschein gelangen kann als auf die paradoxale Weise eines Sichzei-
gens im Verbergen. Dessen Erfahrung weist auf eine Erschütterung oder »Ent-
setzung« (Transposition), die als »Ereignis einer Alterität« oder »Nicht-Identität«
zu fassen wäre, wobei es nicht auf das Spektakel ankommt, die Wucht des Ge-
schehens, sondern auf das buchstäblich Un-Scheinbare, das vor allem dort angeht,
wo etwas unwillkürlich sich zeigt, bedrängt oder zu überwältigen vermag und da-
mit eben jeder »Schneidung« oder »Aus-Zeichnung« »als etwas« verweigert. James
Joyce sprach von »Epiphanie«, Walter Benjamin von »Aura«. Wie verschieden die
Ausdrücke auch sein mögen: In ihnen behauptet sich - gegen die Nicht-Präsenz
der Schrift und der Universalität der Spur — die Unwiderruflichkeit einer Präsenz,
die durch keinen Diskurs, kein Medium und keine Reproduktion gesichert wer-
den können: Unverfügbares »Ge-Gebensein«, wie Levinas es ausgedrückt hat,
»ohne Intention, ohne In-den-Blick-nehmen, (...) ohne Namen, ohne Situation,
ohne Titel«, »Präsenz, die präsenzscheu ist, von allen Attributen entblößt, nackt«,
ohne die »Enthüllung oder des An-den-Tag-bringens der Wahrheit«, die zugleich
die »Neuheit (...) des absolut Verschiedenen« eröffnet, des »Anderen, nicht Re-

86 Siehe weiter unten nächstes Kap.


87 Vgl. Emmanuel Levinas, Vom Sein zum Seienden, a.a.O.
88 Ders., Die Spur des Anderen, a.a.O., S. 231. Zum folgenden vor allem ebenda, S. 226 ff.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 375

präsentierbaren, nicht Faßbaren, das heißt eines Unendlichen, das mich vorlädt -
indem es die Repräsentation (...) zerreißt«.
Indessen können Erfahrungen solcher Art vielfältig ausfallen - nicht nur wer-
den sie in bezug auf Anderes oder einen anderen Menschen manifest, wenn auch
dort besonders eindringlich. Gleichermaßen gibt die Kunst davon nachhaltig
Kunde. Novalis spricht vom plötzlichen Aufmerken im Beiläufigen und Neben-
sächlichen: »Auffallend wird die Erscheinung besonders beym Anblick mancher
menschlichen Gestalten und Gesichter, vorzüglich bey der Erblickung mancher
Augen, mancher Mienen, mancher Bewegungen, beym Hören gewisser Worte,
beym Lesen gewisser Stellen, bey gewissen Hinsichten auf Leben, Welt und
Schicksal. Sehr viele Zufälle, manche Naturereignisse, besonders Jahres- und Ta-
geszeiten, liefern uns solche Erfahrungen. Gewisse Stimmungen sind vorzüglich
solchen Offenbarungen günstig. Die meisten sind augenblicklich, wenige verwei-
lend, die wenigsten bleibend.« Nichts anderes bedeutet Aura — nicht nur der
Kunst oder der einmaligen Naturerscheinung, sondern darüber hinaus die Aura
des Augenblicks, der plötzlich anweht, ohne etwas Besonderes mitzuteilen oder
darzustellen. Zwar hatte Benjamin das Moment des Auratischen gleichermaßen mit
der Kategorie des Unbewußten und jener »Bahnung« verknüpft, aus der Derrida
die »Spurenschrift« des Gedächtnisses liest, doch kam es ihm gerade umgekehrt
auf den Unterschied zwischen Aufmerksamkeit und Erinnerung an: Die Aura hält
am Begegnenden die Einzigartigkeit seines »Hier und Jetzt« fest und ent-springt
damit det Aufmerksamkeit für das »Daß« (quod). Darum geschieht sie auch ohne
Bindung an ein Objekt oder eine Vorstellung, d.h. ohne daß es »auf etwas« an-
käme: Sie nennt das Gegenteil von Signifikanz. Und deshalb hatte Benjamin
auch im Passagenwerk das Auratische überhaupt gegen das Zeichenhafte abge-
setzt. Ausdrücklich heißt es zudem in einem Brief an Adorno: »Der Begriff der
Spur findet seine philosophische Determination in Opposition zum Begriff der
Aura.« " Das will sagen: Die Aura duldet keinen Verweis. Sie ist überhaupt nicht
lesbar: Sie widerfährt. Bevorzugt widerfährt sie dort, wo sich die Aufmerksamkeit
offenhält für ein Ekstatisches. Daher kann sie auch weder eingeübt noch inszeniert
oder »gegeben« werden, auch wenn sie »Gabe« par excellence ist; einzig vermag ei-
ne aisthetische Praxis auf sie vorbereiten: Praxis der Aufmerkung, der Kontempla-
tion, wie auch Praxis einer Hinnahme, der Hin-Gabe an Sein im Sinne von Ex-
sistenz. Sie wäre Vorbereitung, die sich nicht nur öffnet für das, was das Ereignis
jeweils zur Erscheinung bringt, sondern zugleich für eine Erfahrung intensiver
Präsenz: Blöße, die allein auf einer »Grenze« hervortritt und darum »Grenzgänge«
erfordert. Solche »Liminationen«, wie sie besonders für die Gegenwartskunst cha-

89 Emmanuel Levinas, Das nicht-intentionale Bewußtsein, in: ders., Zwischen uns. Versuche über
das Denken an den Anderen, München Wien 1995, S. 154—166, hier: S. 161 u. 165 passim.
90 Novalis, Blüthenstaub 22, in: ders., Werke in einem Band, München Wien 1981, S. 433.
91 Siehe oben Tl. I, Kap. 2, sowie meinen Aufsatz: Ereignis und Aura. Zur Dialektik von ästheti-
schem Augenblick und kulturellem Gedächtnis, a.a.O.
92 Vgl. Brief Benjamins an Theodor W. Adorno vom 9.12.38, in: ders., Gesammelte Schriften 1.3,
a.a.O., S. 1102.
376 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

rakteristisch sind, beruhen auf der Umwendung von Sensibilitäten, die jedoch
deswegen nur Vorbereitungen sein können, weil sie stets nur »vor der Linie« ver-
bleiben: Dagegen ereignet das Ereignis sich selbst. Es ist Ankunft schlechthin. Ent-
sprechend wird nicht die »Gabe« gegeben: Sie gibt (sich).
Darum die ebenso kontemplativen wie mitunter sogar dramatischen oder
theatralischen Aktionen John Cages, Nam June Paiks, Beuys oder anderer: Sie
suchen »mit einem Schlage« die Fäden der Gewohnheit und damit auch der ver-
trauten Systeme der Wahrnehmung, der Narration und der Erinnerung zu kap-
pen und in jenen Zustand einer Verstörung zu versetzen, den Piaton im Theaite-
tos neben das Sokratische thaumaton, der Verwunderung, stellte: skotodinio, als
Sturz in die Finsternis, der ins Unerwartete aus-setzt. Was dann begegnet, ge-
schieht, wiewohl »als« Geplantes oder Gemachtes, gleichwohl nicht im Planbaren
oder Machbaren, sondern als Widerfahrnis, die zur Antwort nötigt. Es ist ver-
gleichbar mit dem plötzlichen Aufriß eines Horizonts. Er beschert indessen keine
Ausnahmeerscheinung, keine exklusive Einsicht oder ein Niedagewesenes — viel-
mehr den Blick auf etwas höchst Einfaches, was gleichwohl durch die Distanz-
nahmen des Symbolischen und der Re-Präsentation eingebüßt war: Gegenwär-
tigkeit als Ereignis des »Daß« (quod), der Ex-sistenz vor dem »Was« (quid). Ent-
sprechend hatte Allan Karpow das Prinzip des Happening am Unfall orientiert.
Ein Unfall stößt zu, verwirrt die Sinne und bringt außer Fassung. Er wäre, in
diesem Sinne, Geschehnis der Fassungslosigkeit schlechthin. Daran haben die
ästhetischen Performationen ihre Radikalität: »Ent-Setzung« (transposition) jener
leiblichen und existentiellen Verbindlichkeiten, die sprachlos macht und deshalb
vor dem Denken kommt. Die Ordnung des Denkens aus seiner begrifflichen
Klammerung lösen, es quer zu seinen Wegen bringen, »be-wegen«, um es in an-
dere Richtungen zu lenken: Das wäre jene Evokation einer Undarstellbarkeit, das
die »Leere« des Sinns eigens erst voraussetzt, um zur »Fülle« des Ereignens zu gelan-
gen.
Berührt witd auf diesem Wege jenes Zuvorkommende, aus dem Schelling seine
»positive Philosophie« bezog und die er der Negativität bloßer Reflexionsphiloso-
phie entgegenhielt, weil solche Augenblicke buchstäblich ans Existentielle reichen
und einen Moment der Blöße preisgeben - jene »Nacktheit«, von der Levinas
ebensowohl gesagt hat, sie sei »ohne Wahrheit«, wie sie die »Not« der »schutzlo-
sen Darbietung« betge. Der Hinweis auf Levinas deutet dabei an, daß die

93 Zur Liminarität als theatralisches Ereignis vgl. vor allem Victor Turner, Vom Ritual zum Thea-
ter, Frankfurt/M. New York 1989; ders., The Anthropology of Performance, New York 1987
sowie ders., Prozeß, System, Ritual. Eine neue anthropologische Synthese in: Rebekka Habermas,
Niels Minkmar (Hsg.), Das Schwein des Häuptlings, Betlin 1992, S. 130-146; ferner mein Ver-
suche in: D. Mersch, Geplant aber nicht planbar. Ereignis statt Werk: Plädoyer für eine Ästhetik
performativer Kunst, in: Frankfurter Rundschau 29.4.1997.
94 Vgl. Piaton, Theaitetos, 155c,d; in Sämtliche Werke Bd. 4, a.a.O., S. 120.
95 Von dort her leitet Levinas phänomenologisch Ethik als prima philosophia her, ein Aspekt, der
den Rahmen unserer Überlegungen indessen sprengt. Denn die Erfahrung der »Nacktheit« ent-
springt zunächst der Begegnung des Antlitzes. Antlitz aber verweist immer auf das Gesicht eines
anderen Menschen, auch wenn diese Kategorie verallgemeinert werden und mit dem Benjamin-
EREIGNIS UND PRÄSENZ 377

»Übung« (askesis) der Aufmerksamkeit als Umwendung der Aisthesis zugleich ei-
ner Wende im Ethischen entspricht. In bezug auf diese Inversion gehören Ethik
und Ästhetik genuin zusammen: Beiden eignet ein Umsturz im Bezug. Wir wer-
den auf die Struktur dieses Umsturzes in den nächsten beiden Kapiteln noch ge-
nauet zu sprechen kommen. Doch sei hier vorweggenommen, daß damit das, was
Schelling im Medium des Denkens und det Reflexion durch deren paradoxale
Volte zu bezeugen versuchte, ins Ethisch-Aisthetische gerückt wird. Wir wider-
sprechen der Philosophie der Nicht-Präsenz Derridas von dort her. Denn indem
Derrida jede Möglichkeit eines Ereignisses leugnet, das nicht schon hervorgeho-
ben oder skandiert wäre, das mithin geschieht, ohne »als etwas« gewahrt zu wer-
den, das vielmehr im Gewahren die Vorgängigkeit des Quod vor dem Quid ent-
hüllte, bleibt sein Ereignisbegriff noch dem verhaftet, was et kritisiert. Zu rehabi-
litieren wäre demgegenüber jene flüchtige Augenblickshaftigkeit, die kaum Ge-
genwart genannt werden kann und die durch die Rede von der »ursprünglichen
Nachträglichkeit« der Schrift verdeckt bleibt - und die in jenen Augen-Blicken
des Fremdwerdens er-scheint, welche Piaton und Aristoteles als eigentlichen phi-
losophischen Kairos, als Umschlagspunkt des Denkens an dessen Anfang über-
haupt gestellt haben. »Daß« (quod) etwas ist und nicht nichts: das ist das Rätsel,
wie es später Schelling auf immer neuen Wegen zu denken und zu dem die philo-
sophische Erfahrung auf mannigfache Weise vorzudringen gewagt hat: Erfahrung
der Erhabenheit in der Romantik, Erfahrung der Aura bei Benjamin oder Erfah-
rung des Antlitzes bei Levinas. Was sie in einer nicht festzuhaltenden oder begriff-
lich zu bestimmenden Flüchtigkeit zu ahnen trachten, denkt dagegen Derrida
ausschließlich im Kreis des logos: »Präsenz«, die ihm einzig als »absolute Referenz«

sehen Begriff der »Aura« in Verbindung gebracht werden kann: »Zunächst gibt es da die eigentli-
che Gradheit des Antlitzes, seine gerade, schutzlose Darbietung. Die Haut des Gesichtes ist die,
die am meisten nackt, am meisten entblößt bleibt. Am meisten nackt, obgleich von dezenter
Nacktheit. Auch am meisten entblößt: Im Antlitz gibt es eine wesentliche Armut; der Beweis
dafür liegt im Versuch, diese Armut zu maskieren, indem man Posen, eine bestimmte Haltung
annimmt. Das Antlitz ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einla-
den.«. Vgl. ders., Ethik und Unendliches: Gespräche mit Philippe Nemo, Graz/Wien 1986,
S. 64, 65. An anderer Stelle heißt es: »Die Nacktheit des Antlitzes ist Not, und in der Direktheit,
die auf mich zielt, ist es schon inständiges Flehen. Aber dieses Flehen fordert. (...) (W)ährend die
Welt (...) nichts vermag gegen den freien Gedanken, (...) nötigt sich das Antlitz mir auf, ohne
daß ich gegen seinen Anruf taub sein oder ihn vergessen könnte.« Vgl. ders., Die Spur des Ande-
ren, a.a.O., S. 222.
96 Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß auch Schelling, entgegen der Figur der Ver-
spätung als »Schicksal des Denkens« eine Verspätung der theoria gegenüber dem Praktischen
auswies; ein Gedanke, der gewiß zur Hegelkritik von Marx und Engels führte. Vgl. dazu auch
Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein, Frankfurt/M. 1975, S. 90 ff.
97 Ausdrücklich widerspricht Derrida der Erfahrung solcher Umwendung. Denn ohne Umweg oder
Markierung könne, wie er in Dissemination hervorhebt, selbst die »Gegenwart det Gegenwart«
oder das, was wir »Erscheinen der Erscheinung« genannt haben, die sich in ausgezeichneten Er-
fahrungen wie dem Auratischen oder auch dem »Erhabenen« bekunden, niemals zeigen: »Auf-
merksam, fasziniert, dem, was sich gegenwärtigt, verhaftet, können wir seine Gegenwärtigkeit
selbst, welche sich nicht gegenwärtigt, genauso wenig sehen wie die Sichtbarkeit des Sichtbaren,
die Hörbarkeit des Hörbaren (...).« Vgl. ders., Dissemination, a.a.O., S. 354.
378 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

oder Zeugnis einer »Wahrheit« gilt, eines »Sinns«, nicht als Geschehnis, das zu-
nächst im Sinnlichen statthat und der Möglichkeit von Ver-gegenwärtigung qua
Setzung und Materialität vorhergeht. Keineswegs bleibt dieses jedoch allein auf
»Sein« im Sinne des »Anwesens einer Anwesenheit« oder der »Gründung eines
Grundes« bezogen; vielmehr bezeichnet es jene Ekstasis, die im Moment eines
Sichzeigens aufgeht und wieder verlöscht, durch die die Spur und die Schrift sich
allerdings überhaupt erst zu markieren vermögen.
Daran enthüllt sich schließlich der Mangel der Derridaschen Argumentation:
Ihr Angriff gilt einzig dem Ereignis im Sinne eines »Gewichts« der Wahrheit, der
Norm ihrer Begründung oder des Gesetzes ihrer Bezeugung. Die Abweisung der
Gegenwart untersteht bereits der Abweisung des »Ursprungs«, der »Wahrheit«
oder der »Authentizität der Zeugenschaft«. So hält sie sich selbst noch an jener lo-
gozentristischen Auszeichnung von Präsenz, in die sie zurückfällt, wie sie sich ihrer
zu entledigen sucht. Weiterhin auf deren Kategorie verpflichtet, unterliegt sie
durchweg der Engführung durch die Figuren der doppelten Markierung und
»Verspätung«, die in beharrlicher Selbstanwendung auf sämtliche Formen der
Gegenwart und Gegenwärtigkeit Anwendung finden, seien es die »Andersheit des
Anderen« im Sinne von Levinas, das »Auratische« bei Benjamin oder die be-
griffs- und bestimmungslose Schönheit wie die jegliches Maß überschreitende
»Erhabenheit« bei Kant: Chiffren des Undarstellbaren und Zuvorkommenden,
von denen Derrida lediglich sagt, daß sie je schon »als etwas« begriffen oder fi-
xiert sein müssen - mithin bereits »als Andersheit«, »als Aura«, »als Schönheit«
oder »als Erhabenes« be-zeichnet, gewahrt oder vor-verstanden worden sein, um
sie in ihrer Begriffs-, Bestimmungs- oder Maßlosigkeit betonen zu können. Der
Formulierung unterstreicht das apriorische Perfekt, den Zeitmodus der »Nach-
träglichkeit«; doch genügt er damit votgängig der Subordination unter die »als«-
Struktur von Apophansis und bestätigt auf diese Weise den unabdingbaren Vor-
rang der theoria. Es ist diese Logosbefangenheit, die es Derrida verunmöglicht, »Er-
eignis« und »Augenblick« anders als in Termen der von ihm geziehenen Präsenz-
Metaphysik zu denken, denen er auf der anderen Seite zu entkommen sucht. So
verstrickt er sich in den Widerspruch, im Diskurs der Nicht-Präsenz einen logo-
zentristisch vorentschiedenen Präsenz-Begriff TM wahren, der ihn auf eigentümliche
Weise in Komplizenschaft zu dem bringt, was er zu verabschieden trachtet. Er
kontinuiert damit eine Geschichte, deren Ende er emphatisch verkündet.

98 Zur Auseinandersetzung mit Levinas vgl. vor allem ders., Gewalt und Metaphysik, in: ders.,
Schrift und Differenz, a.a.O., S. 121-235. Levinas hat allerdings explizit auf Derrida mit Ganz
anders geantwortet und eben diese ungedeckten Stellen der Dekonstruktion, ihre selbst noch
logozentristische »Vetnarrtheit« aufgedeckt. Vgl. ders., Ganz anders -Jacques Derrida, in: ders.,
Eigennamen, München Wien 1988, S. 67-76, vor allem S. 71 ff. Allerdings hat Derrida in den
letzten 20 Jahren eine entschiedene Annäherung an Levinas vollzogen, wovon vor allem sein
»Nachruf« kündet; vgl. ders., Adieu. Nachruf auf Emmanuel Levinas, München 1999.
99 Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, a.a.O., S. 123 ff, 145 ff.
100 Derrida scheint sich dieser Befangenheit bewußt zu sein, wenn er schreibt: »Diese destruktiven
Diskurse (...) sind aber allesamt in einer Art von Zirkel gefangen. Dieser Zirkel ist einzigartig,
er beschreibt die Form des Verhältnisses zwischen der Geschichte der Metaphysik und ihrer
EREIGNIS UND PRÄSENZ 379

Unser Vorwurf an die Adresse Derridas lautet dann: Ereignisvergessenheit. Ver-


kannt wird die Konstitution der Schrift am Ort ihrer Setzung, ihrer Materialität.
Sie können nicht selbst wieder »Produkte« der Schrift sein, weil sie erst jenes
eignis markieren, mit der diese in ihr Erscheinen gelangt. Zwar hat Derrida immer
wieder nach den Effekten einer vergessenen oder unterschlagenen Materialität der
Zeichen gefragt: dem Rahmen, dem Träger, der Oberfläche, jenem, was im Fran-
zösischen den doppelsinnigen Ausdruck des »Subjektiis« trägt. Doch wird damit
gerade die Materialität in ihrem jeweiligen Sichzeigen, ihrer Präsenz nicht getrof-
fen: Sie »erscheint« schon, wie bei Saussure, »als« Signifikant. Die Schwierigkeit
entspricht der jeder Mediatisierung: " Der Unmöglichkeit der Mediatisierung
dessen, »daß« (quod) sie ist, mithin auch die Unmöglichkeit zu vermitteln, was
(quid) sie setzt und dabei evoziert. M.a.W.: Die Schrift schweigt von ihrem eige-
nen Ereignen; aber dieses Ereignis überkommt die Schrift auf eine selbst unsi-
gnierbare Weise. Ihr entzieht sich, mit ihrem »Daß« (quod), dem Ereignis ihrer
Setzung, ihre Wirkung - jene Wirkung wiederum, die auf der Ebene ihrer Mate-
rialität statthat. Dann »gibt (es)« eine Präsenz, die keiner Inschrift oder Spur folgt,
um zu »erscheinen«, nicht einmal ein »Es«, das erscheint, sondern Augenblick der
Erscheinung selbst, dessen Bekundung geschieht, indem es gleichsam der Lücke der
Zeichen, ihrem Zwischenraum, ent-springt, der zugleich die Unauslöschbarkeit
rer Setzung bekundet. Deutlich wird die so aufgewiesene Kluft in bezug auf Der-
ridas Behandlung der Mallarmeschen Figur des »Weißen«, jene »Leerstelle des
>Text-Zwischen<«, die die Schrift schwärzt." Zwar wiese das »Weiße« auf jenen
unbezeichenbaren Raum, der der Spur ihre Stellung verleiht, indem sie sich aus

Dekonstruktion; es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die
Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache - über keine Syntax und keine
Lexik - , die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven
Satz bilden, der nicht schon der Form der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich ge-
fügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.« Vgl. ders., Die Struktur, das Zeichen und das
Spiel, a.a.O., S. 425. Indessen betrifft dies lediglich die Struktur der Reflexion, nicht jedoch
den »Sinn« der Begriffe. Er verweist mit seiner logozentristischen Vorentscheidung zugleich auf
eine Engführung der Dekonstruktion.
101 Mit der Etablierung der Schrift als Vorrang, so Derrida, sei zugleich die Geschichte der Meta-
physik, als einer Geschichte des Vorrangs der Präsenz, an ein Ende gelangt: »In diesem Sinne
glauben wir innerhalb der Präsenzmetaphysik, der Philosophie als Wissen der Gegenstandsprä-
senz (...), an die Abgeschlossenheit (clöture), wenn nicht sogar an das Ende der Geschichte.
Und zwar glauben wir buchstäblich, daß ein solcher Abschluß stattgefunden hat. Die Geschichte
des Seins als Präsenz (...) ist abgeschlossen. Die Geschichte der Präsenz ist zum Abschluß ge-
kommen.« Ders., Die Stimme und das Phänomen, a.a.O., S. 163.
102 Es ist aufschlußreich, daß sich jüngst Umberto Eco eben demselben Problem genähert hat: Was
läßt uns sprechen? Vgl. ders., Kant und das Schnabeltier, München Wien 2000, S. 23 ff. Nach
Eco hat sich in der Geschichte der Semiotik weder der Strukturalismus noch die analytische
Zeichentheorie diesem Problem gewidmet, einzig Peirce habe sie ernst genommen. Ecos eigene
Antwort zielt auf einen verwandten Punkt: Augenblick der Aufmerksamkeit, die inmitten der
Zeichen geweckt wird. Indessen verfehlt er u.E. den entscheidenden Punkt, insofern er erstens
den Begriff der Aufmerksamkeit erneut an Referenz bindet; zweitens diese intentional präjudi-
ziell: Aufmerksamkeit geschieht nicht, dadurch daß »etwas« in Bann schlägt, sondern wird fo-
kussiert.
103 Vgl. Jacques Derrida, Dissemination, a.a.O., S. 255 ff
380 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

ihm abhebt, doch beharrt Derrida darauf, daß sich dann die »Spur« in nichts ab-
hebt, eben weil sie nicht selbst wieder durch eine andere Spur geschrieben oder
gezeichnet werden kann. Bestenfalls »remarkiere« sie sich durch die Leere hin-
durch: »Weiß auf Weiß«, »(d)as Weiße wird durch ein supplementäres Weißes
eingefärbt.« Genau dieses kann aber auch umgekehrt gelesen werden: dann
enthüllt es ein Anderes, Zuvorkommendes. Denn weil von ihm keine Spur kündet,
geht der Schrift »etwas« voraus, dem es allererst ihre Möglichkeit verdankt. D.h.
»etwas« bleibt unmarkiert, das freilich kein »Etwas« bezeichnet: das »Weiße«, das
als Bedingung det Möglichkeit jeder Markierung nicht mitmarkiert werden kann.
Es wiese durch die Zeichen (marques) und ihre Materialität hindurch auf jene Ek-
statik einer Blöße, die sich nirgends ab etwas preisgibt, sondetn ereignishaft »(sich)
gibt«, »(sich) zeigt«, der entsprechend die Bedeutung eines Gebens und nicht einer
Gegebenheit, eines Verbums und nicht der Substanz zukommt. Der Ausdruck
Ekstasis spielt dabei auf jenes spezifische In-Erscheinung-treten der Exsistenz
selbst an, das nicht in anderem gründet oder ihm zugewiesen werden kann: Aus-
sich-herausstehen einer Singularität, die da ist ohne Mysterium oder Verborgen-
heit. Es hält sich nicht ganz in einer Negativität (presque-rien), reicht über den
Begriff der »Reserve« hinaus, weist über die leere Gegenwart auf die »Fülle« eines
Überschusses, der sich der Erfahrung lediglich indirekt mitteilt — wie auch die Bei-
spiele des »Auratischen« und des »Erhabenen« nahelegen - und von dem der Dis-
kurs bestenfalls paradoxal zu sprechen vermag: »Spur« jenseits der Spur, auf die
weder zurückgekommen werden kann noch auf die sich verweisen ließe. Durch
ihre skripturale Markierung gespalten und verleugnet, kann ihre »Möglichkeit«
gleichwohl nirgends getilgt werden, weil sie sich der Ordnung der Anschauung
gleichwie der Schrift widersetzt.
Gleichwohl bleibt solche Differenz zwischen einem Erscheinen, das sich neben
der Spur hält, und einer Erscheinung, die durch die Spur geschieht - Differenz also
zwischen einem ereignishaft gedachten Begriff der Präsenz und einem metaphysi-
schen des »Ursprungs« oder der »Anwesenheit« —, subtil, aber folgenreich. Sie
verläuft an der Grenzlinie zwischen dem Ethisch-Aisthetischen und dem Diskursi-
ven. Denn was sich vom Diskurs, dem Theoretischen her als Leere ausgibt, er-
weist sich vom Ort des Aisthetischen - und folglich auch in dem von uns expo-
nierten Sinne des Ethischen — her als Fülle. Ihr Unter-Schied, der sich am logos
scheidet, markiert so den Umschlag zwischen Fülle und Leere. Man kann deshalb
sagen: Derrida behält da recht, wo die Gegenwärtigkeit der Gegenwart »als« etwas
gedacht oder reproduziert wird, mithin sich als außerordentliche Präsenz festhält.
Sie wird dann zur Leere vor der Schrift, deren Negativität dem Wittgensteinschen
Schweigen entspricht, das keine Verschwiegenheit bedeutet, welche ein Geheim-
nis hütet, sondern die »Randgängigkeit« der Rede oder der Schrift selbst. Doch

104 Ebenda, S. 293. An anderer Stelle ergänzt Derrida: »Indem sie in dieser differentiell-
supplementären Struktur spielen, müssen alle Markierungen sich dem beugen, die Falte dieses
Weißen empfangen. Das Weiße faltet sich, ist (durch eine) Falte (markiert). Es setzt sich nie-
mals mit glatter Naht aus.« Ebenda, S. 285.
EREIGNIS UND PRÄSENZ 381

impliziert es bereits von sich her eine Preisgabe, die die Möglichkeit einer Positivi-
tät birgt: Das flüchtige Ereignis wäre zwar nichts, das geschnitten oder fixiert wer-
den könnte, wohl aber gehört zu ihm die Ekstatik eines sprachlosen Sichzeigens,
dem alle Fülle ent-springt.

105 Tatsächlich hat Derrida selber in den letzten fünfzehn Jahren im Zuge seiner »Ethik der Gabe«,
die im eigentliche Sinne eine Ethik der Singularität darstellt, auf eine solche Ereignishaftigkeit
hingedacht, obgleich diese stets noch die Zweideutigkeit zwischen einem Diesseits und Jenseits
der Schrift behält. Er hat damit eine auffallende Wandlung durchgemacht, die, entgegen den
eigenen Beteuerungen, nicht vollständig durch die Grundlagen des Schriftparadigmas gedeckt
werden kann, ihm sogar in Teilen widerspricht. Dies gilt vor allem für seine Hinwendung zu
Levinas. Hieß es in Die Schrift und die Differenz von 1967 noch über dessen Denken des Alte-
rnat: »Levinas spticht de facto vom unendlich Anderen, lehnt es aber ab, in ihm eine intentio-
nale Modifikation des ego zu erblicken (...) und beraubt sich somit des Grundes und der Mög-
lichkeit seiner eigenen Sprache. Was erlaubt es ihm >unendlich Anderer« zu sagen, wenn er nicht
in jener Zone erscheint, die er das Selbst nennt und die das neutrale Niveau der transzendenta-
len Beschreibung ist«; vgl. ders., Gewalt und Metaphysik, a.a.O., S. 190, so sagt er in Questwns
fast 20 Jahre später: »Angesichts eines Denkens wie dem von Levinas habe ich niemals einen
Einwand. Ich bin bereit, alles zu unterschreiben, was er sagt«; ders., Questions, in: ders., Pierre-
Jean Labarriere (ed.), Alterites, Paris 1986, pp. 29-33, 70-94, hier: p. 74; zit. nach
S. Critchley, Überlegungen zu einer Ethik der Dekonstruktion, in: H.-D. Gondek, B. Wai-
denfels (Hsg.), Einsätze des Denkens, a.a.O., S. 308. Die beiden Passagen beinhalten einen
theoretischen Stellungswechsel, wie er kaum radikaler ausfallen kann, dessen Rätselhaftigkeit
jedoch darin besteht, daß Derrida unseres Wissens seine Notwendigkeit oder »Kehre« nirgends
ausgewiesen hat. Zwar beinhaltet die Dekonstruktion als »Dislozierung« diskursiver Einschrei-
bung leitender Differenzen immer auch politische und ethische Implikationen, so daß sie auch
geradezu mit »Gerechtigkeit« selbst in Verbindung gebracht werden kann; vgl. ders, Gesetzes-
kraft. Der imystische Grund der Autorität«, Frankfurt/M. 1991, S. 30. Gleichwohl schließt Die
Schrift und die Differenz die Möglichkeit einer radikalen Alterität ebenso ausdrücklich aus, wie
die späteren Ausführungen ihre Möglichkeit wieder einschließen. Zu letzterem vgl. vor allem
ders., Gesetzeskraft, a.a.O., S. 51 f., sowie ders., Den Tod geben, a.a.O., S. 331 ff; 371 f.;
377 f.
2 . KAPITEL:
EREIGNISVERGESSENHEIT
(SCHELLING, HEIDEGGER I)

Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich


die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig
unbegreiflich verwandelt — umspringt
in jenes leere Zuviel
Wo die viebtellige Rechnung
zahlenlos aufgeht.
Rainer Maria Rilke, 5. Duineser Elegie

Schellings Positive Philosophie

Wir werden den Umschlag von der Leere zur Fülle im folgenden anhand der
Spätphilosophie Schellings genauer betrachten. Sie bietet uns insbesondere eine
Wünschelrute beim Übergang vom Vorrang der theoria oder des Diskurses zur
jenem ethisch-aisthetischen Denken des Ereignisses, das wir im nächsten Kapitel aus
der Logik des Antwortens, der Responsivität zu entwickeln versuchen, worin wir
gleichzeitig die Möglichkeit eines Abschieds sowohl vom Apophantischen wie
von der Struktur des Intentionalen erblicken. Die augenblickliche Präsenz als Er-
eignis eines Erscheinens im Sinne radikaler Alterität, die zugleich unbestimmt
bleibt und der Schrift, den Zeichen oder den Ordnungen des Symbolischen aller-
erst ihren Raum verleiht, indem sie zuvorkommend »(sich) gibt«, kann dabei von
Schellings »Positiver Philosophie« her, seiner Ekstasis-Lehre des Seins motiviert
werden. Sie bildet gleichsam das Scharnier des Übergangs, weil sie einer ähnli-
chen Bewegung Einspruch gegen die Negativität idealistischer Reflexionsphilosophie
erhebt. Der Vorwurf der »Ereignisvergessenheit« gegen Derrida verdankt sich im

1 Programmatisch entwickelt Schelling die Grundlinien einer solchen »Positiven Philosophie« be-
reits in der Münchener Vorlesung über die Weltalter, In: ders., System der Weltalter, hsg. u. ein-
gel. v. Siegbert Peetz, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1998. Sie bilden in ihrer ersten Version den Auftakt
zur Spätphilosophie, deren Grundlinien Schelling in der Ersten Münchner Vorlesung, Zur Ge-
schichte der neueren Philosophie, der Darstellung des philosophischen Empirismus, dem Kernstück
der Weltalter, und der Philosophie der Mythologie entwickelt. Vgl. ders., Werke, hsg. v. M. Schrö-
ter, München 1928, Bd. 5, S. 47-60, 71-270, 271-332, 431 ff. Sie findet ihren Höhepunkt
schließlich in der Philosophie der Offenbarung, a.a.O. Zur Neubewertung der Spätphilosophie
Schellings vgl. Michael Theunissen, Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schel-
lings, in: Phil. Jahrbuch 83 (1976), S. 1-30; Walter Schulz, Die Vollendung des Deutschen
Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 2. Aufl. 1975; Gerhard Gamm, Flucht
aus der Kategorie, a.a.O., S. 217 ff; ders., Der Deutsche Idealismus, a.a.O., bes. S. 237 ff; Chri-
stian Ibet, Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung
Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers
und Adornos, Berlin, New York 1994; Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik
als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings >Die Weltaltet«, Frankfurt/M. 1989;
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, >Von der Wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Rin-
EREIGNISVERGESSENHEIT 383

wesentlichen dieser Bewegung, indem er den Einwand Schellings gegen die He-
gelsche Wesenslogik auf das Terrain der Schrift überträgt und erneuert. Im Rekurs
auf ein Unvordenkliches, das gleichwohl dem Denken vorausliegt, spiegelt sich die
unfügliche Ekstatik der Ex-sistenz, die det »Spur« oder den Zeichen vorausgeht,
indem sie diese erst austrägt, ohne freilich durch sie »gezeichnet« oder signiert zu
sein. In verwandten Sinne suchte Schelling ein in Reflexionsbegriffen entfaltetes,
aber nicht wieder begrifflich Einholbares zu denken, das bei ihm gleichermaßen
die Kontur eines Sichzeigens gewinnt. Das Argument ist homolog unserer Abwei-
sung semiotischer Immanentismen, sei es in Form der strukturalen Differenzsy-
steme, aber auch der analytischen wie pragmatischen Konstruktionalismen. Nir-
gends vermögen sie sich selbst ganz einzuholen, weil ihre reziproke Signifikation
chronisch demgegenüber zu spät kommt, was sie eröffnet. Zwar vermag die Re-
flexion einen solchen Punkt zunächst nur »negativ« fassen, indem sie ihre Begriffe
in eine Flucht von Widersprüchen lenkt, die ebensowohl ihr Scheitern anzeigt
wie zu ihrer Überschreitung nötigt, woraus gleichwohl etwas herauszuspringen
vermag, was in den Begriffen und ihren Paradoxa selber nicht liegt. Nicht bewei-
sen sie bereits in sich eine Positivität, wohl aber weisen sie den Weg ins
»Transkategoriale« und bezeugen damit die Möglichkeit einer Rede vom »Unvor-
denklichen«." Vom Versagen der Begriffe wie dem Überstieg zu einem möglichen
Anderen her kann sich dann der Umschlag des Denkens in sein »Zuvorkommen-
des« ereignen. Schelling hoffte auf diese Weise eine »positive«, nicht nur, wie er
sagt, »negativ-reflektierende« Philosophie aufbauen zu können, die nicht, wie das
Hegeische System, die gesamte Geschichte des Geistes aus sich umfaßt, sondern
»etwas« ausweist, daß nicht genügt, das nicht einmal »etwas« wäre, auf das hinge-
wiesen oder das benannt werden könnte. Notwendig bleibt es jedoch in dem
befangen, woraus es sich zu befreien trachtet, so daß ihr bestenfalls der Vorhof
oder die Propädeutik eines »Sprungs« gelingt, der von woanders her eigens vollzo-
gen werden muß: »Sprung«, der schließlich jenes Beginnen anmahnte, das Hei-

gen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel. Schellingiana
8, Stuttgart 1996; Jochen Hörich, Das doppelte Subjekt. Die Kontroverse zwischen Hegel und
Schelling im Lichte des Neostrukturalismus, in: Manfred Frank, Gerard Raulet, Willem v. Reijen
(Hsg.), Die Frage nach dem Subjekt, a.a.O., S. 144-164; sowie Slavoj Zizek, Der nie aufgehende
Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Wien 1996.
2 Es handelt sich also nicht, wie bei Jean-Paul Sartre, um einen »ontologischen Beweis« der Vor-
rangigkeit des Seins; vgl. ders., Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962, S. 27 ff.
3 Auf diesen Punkt hebt, freilich in kritischer Weise, auch Karl Jaspers, Schelling. Größe und Ver-
hängnis, München 1986, S. 124 ff, bes. S. 137 f. ab. Ferner auch Gerhard Gamm, Der Deut-
sche Idealismus, a.a.O., S. 244 ff.
4 Manfred Frank macht geltend, daß Schelling damit einen Gedanken Hölderlins weiterverfolgt,
wonach »Sein« nicht auf ein Selbstverhältnis reduziert werden kann, ein Gedanke, der die
Grundoperation det späteren Hegeischen Logik, der »Logisierung des Seins«, sozusagen schon im
voraus verwirft; vgl. M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein, a.a.O., S. 15 f. »Während Hegel
dem Schellingschen Prinzip Vermittlungslosigkeit vorwirft, bringt Schelling Hegels Verabsolutie-
rung der Vermittlung ins Wanken durch den Hinweis auf den Zirkel im Gedanken vorausset-
zungsloser Selbstreflexion.« Ebenda, S. 16.
384 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

degger später als »anderen Anfang« bezeichnete. Doch besteht die Eigentümlich-
keit des Schellingschen Ansatzes vor allem darin, das Sichentziehende aus einer
Anschauung, worin gleichermaßen die »intellektuelle Anschauung« beschlossen
ist, zu gewahren, worin der »Lehre des Erscheinens« im Sinne des Aisthetischen ei-
ne besonderer Rang zuteil wird, um sich zugleich mit einer »Ethik des Denkens«
zu verbinden, aus der sich der Forderung einer »Umwendung« bezieht. Sie gilt
ihm, von den frühesten Entwürfen der Naturphilosophie über die Philosophie der
Kunst bis zu den späteren Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und
rung als höchste Form des entfalteten Wissens, in der der Geist unmittelbar sein
Anderes zu betrachten vermag.
Eine Ahnung des Gedankens vermitteln bereits die Briefe über Dogmatismus
und Kritizismus von 1795 sowie die Allgemeine Übersicht von 1797-98, Schel-
lings früheste Auseinandersetzungen mit der Philosophie des Idealismus: »Alle
Realität unserer Erkenntiß aber beruht vorerst darauf, daß es in ihr wenigstens
etwas gebe, das nicht durch Begriffe oder Schlüsse vermittelt der Seele unmittel-
bar gegenwärtig sey. Denn was wir durch Begriffe denken, oder durch Schlüsse
hervorbringen, dessen sind wir uns auch als eines Products unseres Denkens und
Schließens bewusst. Alles Denken und Schließen aber setzt bereits eine Wirklich-
keit voraus, die wir nicht erdacht noch erschlossen haben. Im Anerkennen dieser
Wirklichkeit sind wir uns keiner Freiheit bewusst; wir sind genöthigt sie anzuer-
kennen, so gewiß als wir uns selbst anerkennen. Man kann uns diese Wirklichkeit
nicht entreißen, ohne uns uns selbst zu entreißen.« Die Andeutung erscheint
noch unzulänglich, schließt aber mit der Unumgänglichkeit der »Anerkennung«
eines Anderes des Denkens bereits den Keim sowohl der späteren »Lösung« des
Zirkels der Vernunft als auch des Übergangs zur »Positiven Philosophie« ein:
»(A)lle mislungenen Versuche, sie zu beantworten, haben den gemeinschaftlichen
Fehler, daß sie das, was allen Begriffen vorangeht durch Begriffe zu erklären ver-
suchen; alle verrathen dieselbe Unfähigkeit des Geistes, sich vom discursiven
Denken loszureißen, und zum Unmittelbaren, das in ihm ist, zu erheben.«
Zunächst wird freilich solche Gewahrung noch am Ort der Ästhetik verankert;
in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst (1806) erscheint diese, neben der
Philosophie, als gleichberechtigte Weise, das Absolute zu »empfangen« und »dar-
zustellen«. Im Spätwerk wird dann die »Logik« der Empfängnis mit der Kritik der
idealistischen Identitätslehre zu einer Philosophie des Religiösen fortgeschrieben,
jenem monumentalen, aber fragmentarisch gebliebenen Unternehmens einer

5 Vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., bes. S. 5 f., 55 ff,
227 ff.
6 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Allgemeine Übersicht (später: Abhandlungen zur Erläuterung
des Idealismus der Wissenschaftslehre) in: ders., Histotisch-kritische Ausgabe, Stuttgart 1988,
Reihe I, Werke Bd. 4, S. 102, 103.
7 Ebenda, S. 103.
8 Ders., Philosophie der Kunst, a.a.O., Einleitung, S. 11 ff: »Nach meiner ganzen Ansicht der
Kunst ist sie selbst ein Ausfluß des Absoluten.« Ebenda, S. 16.
EREIGNISVERGESSENHEIT 385

Mythologie als »Evolution Gottes aus sich«, woran Schelling in immer neuen Ge-
stalten bis zu seinem Tode arbeitete und das in seiner Hybris dem Hegeischen
System in nichts nachzustehen scheint. Schelling mutet darin ein Denken zu, das
von dem her denkt, was nicht mehr ein Denken ist, sondern Geschehen. Nicht
länger wahrt darin das Ästhetische seinen außerordentlichen Rang, ihm zu ent-
sprechen; vielmehr wird jene Rolle, die ihm vorher zuteil war, auf das Religiöse
übertragen, freilich als eine Kunstreligion, die im Kern ästhetisch bleibt und anti-
zipierend das atmet, was Richard Wagner in Ton und Klang zur Emanation des
Absoluten überhöhen sollte. Der eigentliche Übergang zur Theologie wird dabei
durch das Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen des Friedrich A. Jacobi
von 1812 vollzogen, was zu dem wenigen gehört, das Schelling nach 1809 noch
publizierte und worin er jede »Idee« Gottes, sei sie gedacht oder gefühlt, in eine
Reihe paradoxaler Sentenzen treibt, um jenes »Göttliche« zu annoncieren, das
nicht mehr Denken oder Gefühl ist, sondetn selbsttätige Offenbarung. Es geht in
die Münchner Vorlesung zum System der Weltalter von 1827/28 mit dem Herz-
stück der Darstellung des philosophischen Empirismus direkt ein. Seithet wird, bis
zur späten Berliner Vorlesung der Philosophie der Offenbarung, die gleichsam die
ausgearbeitete Antwort auf Hegel bildet, deren Geschehnis zur Grundlage einer
Auffassung, die annimmt, statt zu begreifen, die sich durch sein Anderes berühren
oder auffordern läßt, statt es dem Zugriff seiner Vorstellung zu unterwerfen. Als
Philosophie en devenir hat es Xaver Tilliette bezeichnet: »Philosophie im Wer-
den«, deren Ankunft noch aussteht, des Kommens, sogar des Überkommens, das
von einem Anderen her geschieht. Es verbindet sich unmittelbar mit dem Denken
eines Ereignens, das gleichsam beständig sich »in Ankunft« befindet. Darin liegt
ebensosehr die Bedeutung jenes rätselhaften Satzes aus der Spätphilosophie, wo-
nach es die »höchste Aufgabe der Bildung« sei, »(s)ich von sich selbst zu befreien«
- eine Selbstbefreiung als Abschied von sich, um sich auf diesem Wege dem An-
deren, das begegnet, zu ent-sprechen: »Selbst der Mensch muß von seinem Sein
sich losreißen, um ein freies Sein anzufangen.« "

9 Die Philosophie der Mythologie Schellings, die insbesondere an die Mythentheorien Vicos und die
Religionsphilosophien Hamanns und Herders anschließt, bewahrt indessen ihren Einfluß nicht
nur bis zu Heidegger, sondern gleichermaßen zu Ernst Cassirers Kritik des mythischen Denkens
in der Philosophie der symbolischen Formen; vgl. ders., Philosophie der symbolischen Formen,
a.a.O., Bd. 2.
10 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den göttlichen
Dingen sc. des Herrn Fr.H. Jacobi usw., in: ders, Werke, Vierter Hauptband, München 1927,
S. 223-308.
11 Xaver Tilliette, Schelling. Une philosophie en devenir, 2 Bde., Paris 1970.
12 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 170. Hinzugefügt
wird: »Je höher die Macht dieser Selbstentschlagung und Entäußerung (Objektivmachung des
unwillkürlichen Seins), desto produktiver, unabhängiger, göttlicher erscheint der Mensch.«
Ebenda. Die sogenannte »Paulus«-Nachschrift, auf die wir uns hier maßgeblich beziehen, ist al-
lerdings umstritten, und Schelling selbst hat sich gegen ihre Veröffentlichung verwahrt. Sie bildet
jedoch eine einzigartige Quelle der letzten, von Schelling in Berlin am Ort Hegels gelehrten Phi-
losophie.
386 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Dies setzt jedoch eine Kritik des Idealismus aus sich voraus, wie sie sich durch
die gesamte spätere Philosophie Schellings zieht. Erneut verkehrt sie die seit Kant
gültigen Grundbegriffe, denen ihr Zopf scholastischer Überlieferung abschnitten
wurde, indem ihnen ihre einstigen Bedeutungen wieder zurückgegeben wird: (i)
Reflexion, als Prinzip und Bewegung des Denkens, wird wörtlich zur »Spiege-
lung«, zur Inversion, die eben nicht das Kategoriale ins Zentrum rückt, sondern
das »Sein« als »Alterität« denkt, welches die Begriffe und ihre Bestimmungen zur
»Umkehr« zwingt. Reflexion bedeutet dann nicht »Denken«, sondern die Ver-
wandlung desselben. So heißt es zu Beginn der Vorlesungen über das System der
Weltalter. »Bei diesen Vorträgen kommt es darauf an, daß das Innere der Zuhörer
eine ganz andere Gestalt bekomme. Wet mir von Anfang bis zum Ende gefolgt
ist, wird bemerken, daß sein Gemüth umgestimmt sein wird.« (ii) Verwandelt
werden dabei Subjekt und Objekt als Relation, welche nicht länger mit dem
Selbstbewußtsein als Erstem beginnt und im Gegenstand jenes findet, dem die
Begriffe der Vernunft ihr Siegel aufbrennen, sondern den »unbedingten« Primat
der Objektivität im Sinne eines Entgegenstehenden oder Begegnenden behauptet:
absolut Anderes, das sich ent-deckt, statt vom Denken entdeckt zu werden, wie es
sich diesem, das ihm in seiner Subjektivität buchstäblich »unterliegt«, vor-
schreibt. Das bedeutet: Das »eigentliche« Subjekt ist das Absolute, das Objekt das
Denken, das von ihm ergriffen wird. Entsprechend erscheint als »Prius«, wie
Schelling sagt, nicht das »Ich«, das, im Sinne Fichtes, sich »setzt«, um aus sich das
»Nicht-Ich« zu gebären und von sich abzuspalten, sondern buchstäblich ein »Ab-
solutes«, »Losgelöstes«, »Unabhängiges«, das insofern allem vorhergeht, als es
Wirken ist: actus purus. »Das Absolute ist seiner Natur nach ein ewiges Produci-
ren, dieses Produciren ist sein Wesen«, heißt es bereits in der Philosophie der
Kunst. ' So nimmt die Philosophie ihren Anfang weder bei sich, d.h. dem Begriff-
lichen, dem Denken oder seinen Prinzipien, derer sie sich in transzendentaler
flexion allererst zu versichern hat, noch bei einem Hegeischen »Schon-
angefangen-haben«, das ihn vom Ende erfüllter Begrifflichkeit her denkt, viel-

13 Ders., System der Weltalter, a.a.O., S. 21.


14 »Gerade so, wie Hegel sagt, die wahrhaft erste Definition des Absoluten sey: das Absolute ist das
reine Seyn, so konnte ich sagen: die wahrhaft erste Definition des Absoluten ist, Subjekt zu seyn.«
Ders., Zur Geschichte der neueren Philosophie, a.a.O., S. 196 ff, hier: S. 215.
15 Ders., Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, in: ders., Werke a.a.O., Sechster
Hauptband, S. 768.
16 Ders., Philosophie der Kunst, a.a.O., Allgemeiner Teil 1,3, § 73, S. 126.
17 Der entsprechende, berühmte Passus in der Vorrede der Phänomenologie des Geistes lautet: »Das
Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende We-
sen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist,
was es in Wahrheit ist.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, a.a.O.,
S. 24; vgl. ebenso ders., Wer denkt abstrakt? (1807), in: ders. Werke in 20 Bden., a.a.O., Bd. 2,
575—581. Erscheint somit bei Hegel das Absolute zunächst als das Allerunbestimmteste, Leerste,
um erst im Resultat der Reflexion zu »werden«, was es »ist«, die Fülle seiner Bestimmungen, so
stellt sich bei Schelling die Frage genau umgekehrt: Er beginnt mit der Fülle, der freilich der Be-
griff fehlt: reine Ekstasis; vgl. Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Zur Geschichte der neueren
EREIGNISVERGESSENHEIT 387

mehr bei einem Unverfugbaren, das zugleich unendlich ungeschieden, unbe-


stimmt und grundlos ist und das sich nur zeigen kann: Entbergung, ohne einen
Grund in einem anderen zu haben, vielmehr Gründung in sich, dem das Denken
erst nach-folgt. (iii) Entsprechend verkehren sich schließlich auch die Relationen
von Sein und Wesen und Wesen und Erscheinung. Hatte Hegel dieses in seiner
Wissenschaft der Logik als das »unbestimmte Unmittelbare«, mithin als »nichts«,
als absolute Leere gefaßt, jenes aber als durch seine begriffliche Entwicklung be-
stimmte Fülle, so denkt Schelling das Sein als zugleich unbegriffliche und unbe-
greifbare Fülle, wohingegen das Wesen ein bloß Abkünftiges bleibt. Das
scheinen ist dann Offenbarung, die Wahtheit also etwas, was sich vom Wahren als
dem Offenbaren her erst et-schließen muß.
Die Umkehrung des Idealismus, die insofern im eigentlichen Sinne eine »Keh-
re« bildet, gewinnt dabei als gemeinsame Kritik an den Systemlehren Fichtes und
Hegels Boden. Sie geschieht dadurch, daß sie, von ihnen ausgehend, sie noch zu
übersteigen sucht - soweit, bis ihr Band reißt und das Denken in sein Gegenteil
stürzt. Die wesentlichen Grundlinien sind in den Berliner Vorlesungen zur
losophie der Offenbarung von 1841/42 niedergelegt, die zugleich jenen Punkt be-
zeichnen, da die Dialektik, der Schelling sehr wohl folgt, im Sinne Adornos in ei-
ne »negative« umschlagen kann, um von der Praponderanz des Subjekts zu der des
Objekts überzugehen," und zwar so, daß nicht die Objektivität des Objekts zählt,
sondern sein Existieren. Was Schelling als »von vorn anfangende Wissenschaft«
bezeichnet, beginnt von dort her: Erstes, »wovon ich sagen kann, daß es ist.«*
Dabei gilt seine Kritik zunächst vor allem dem Idealismus in seiner extremen
Fichteschen Gestalt als »Identitätsphilosophie«, die die Kantische Kritik »in eine
Wissenschaft des Wissens« zu erheben suchte, »die nichts mehr als aus der Erfah-
rung aufnehmen, sondern selbstbestimmend Alles setzen wollte«:"" »Fichte ver-
lange zum Anfang ein unmittelbar Gewisses, das Ich, dessen er sich durch intel-
lektuelle Anschauung als eines unmittelbar Gewissen versichert glaubte.«" D.h.
aber, die Philosophie gerate wesentlich zu einem Akt subjektiver Reflexion, die
des hervorbringt: Ich und Nicht-Ich, Selbst und Anderes. Sie sind »Akte des
Selbstbewußtseins«, mithin dessen Produkte und also nichts, wie Schelling her-
vorhebt, »außer« diesen." »Entstanden aus der Kantischen Kritik konnte sie das
Wahre nur zum abschließenden Prinzip haben. So war sie die freieste Philosophie
(...) nur durch Eigengesetze getragenen Denkens«, und ihr Ganzes »war nur in
Gedanken vollzogen, auch das Letzte, Gott, nur wie er in Gedanken eine Stätte

Philosophie, a.a.O., S. 219 ff, sowie ders., Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten,
in: ders., Werke a.a.O., Sechster Hauptband, S. 768 ff.
18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, a.a.O., S. 82 f.
19 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie und Religion, in: ders., Werke, a.a.O., Vierter
Hauptband, S. 18 ff.
20 Wesentlich dazu Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a.a.O., S. 184 ff.
21 Ftiedrich Wilhelm Josef Schelling, System der Weltalter, a.a.O., S. 85.
22 Ders., Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 111.
23 Ebenda, S. 124.
24 Ebenda, S. 112.
388 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

hatte, einen Thron über allem Anderen. (...) Jedes ward nur so lange festgehal-
ten, bis es im Denken zum Objekt (...) geworden war (...). Nur bis zur Pforte
der wirklichen Erkenntnis, bis zur Erkennbarkeit, ward Alles gebracht.«" So
bleibt der Idealismus, als reine »Vernunftwissenschaft« ausschließlich bei sich,
zieht um die Erkenntnis den Zirkel der Logik und sperrt sich in den Kreis ihrer
Begriffe ein, dem allein das »Was« (quid), nicht das »Daß« (quod) gilt, dem es, als
Signum einer Existenz, abhanden kommt: »Durch reine Vernunft ist von einer
jeden Sache einzusehen, was aus ihrer Natur folgt; und so ergibt sich aus dem all-
gemeinen Prius die reine Vernunftwissenschaft. (...) Alles daraus Abgeleitete be-
sitzt diese Wissenschaft daher nicht als ein wirklich Existierendes, sondern als Be-
griff. (...) Diese Vernunftwissenschaft (...) ist eine bloß logische Wissenschaft«."
Doch fehlt ihr damit systematisch ihr Gegenüber: »Das Letzte hat sie sogar als ein
aus dem Denken gar nicht Herauskönnendes. Und auf diese Weise nie und in
nichts das Denken überschreitend, ist die Wissenschaft durchaus immanente,
nirgends transzendente Wissenschaft«." Hingegen sucht Schelling - gleicherma-
ßen als logische Stellung im Denken, die über es selbst hinausweist - dasjenige
geltend zu machen, was es umgekehrt nicht negieren kann: »Unvordenkliches«,
woher es gleichermaßen seine Möglichkeit wie Leidenschaft bezieht. An ihm ent-
zündet sich allererst die Differenz zwischen »positiver« und »negativer« Philoso-
phie.

Logos und Offenbarung

Die angezeigte Schwierigkeit des Fichteschen Idealismus trifft, vielleicht weit in


höherem, weil folgenschwererem Maße, das Hegeische System. Es löst das Pro-
blem nicht, sondern verschärft es, weil es die Fichtesche Selbstsetzung des Ich zur
Selbstsetzung der Vernunft fortschreibt und damit radikalisiert. Schellings Kritik
wird schon in den Münchner Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie
vorgenommen, die sich in ihren wesentlichen Passagen mit der Hegeischen Logik
auseinandersetzt. »Allein jene Zurückziehung auf das bloße Denken, auf den rei-
nen Begriff, war, wie man gleich auf den ersten Seiten von Hegels Logik ausge-
sprochen finden kann, mit diesem Anspruch verknüpft, daß der Begriff alles sey
und nichts außer sich zurücklasse.«" Dann ist das Absolute, das Hegel zugleich
unmittelbar mit Nichts identifiziert, kein Positives, das das Denken anrührt, son-
dern selbst nut Produkt des Denkens, seine Projektion. Es hat im Medium des
Begriffs bereits die Welt und mit ihr seine eigene Wirklichkeit eingebüßt. Ent-
sprechend vermag die Identitätsphilosophie nicht über sich hinauszugelangen,
sondern verbleibt im Kerker ihres Selbstvollzugs, fortwährend sich selbst be-
trachtend wie demonstrierend, so daß jedes Außen zur Negativität eines Nicht-

25 Ebenda, S. 114-116 passim.


26 Ebenda, S. 117.
27 Ebenda, S. 118.
28 Vgl. ders., System, der Weltalter, S. 85 f., auch S. 93 ff
29 Ders., Zur Geschichte der neueren Philosophie, a.a.O., 196, 197.
EREIGNISVERGESSENHEIT 389

seienden herabsinkt: »Die Vernunft ist das Anschauende und das Angeschaute.«
»Wenn Hegel die Philosophie damit anfangen will, daß man sich ins reine Den-
ken begibt, hat er das Wesen der rationalen Philosophie trefflich ausgedrückt.
Dieses Sichzurückziehen ins reine Denken ist aber bei Hegel nur mit Beziehung
auf die Logik gemeint. (...) Die Logik macht keinen Anspruch darauf, in sich et-
was Wirkliches zu enthalten. Sie will bloß subjektives Denken sein. Das Denken
ist mit sich allein, so daß es nicht einmal die Welt, sondern nut sich selbst zum
Inhalt hat. (...) Det Fortgang bewegt sich im reinen Begriff. (...) Aber mit blo-
ßen Begriffen ist kein wirkliches Denken.«
D.h. alles Seiende bleibt für Hegel, wie Schelling betont, ein bloß Abstraktes,
Gedachtes: Doch ist das Denken der Grund seiner Bestimmung, nicht der Grund
seiner Existenz. Eben dies ist der entscheidende Gesichtspunkt, den Schelling ge-
gen Hegel einwendet: Das Denken »macht« sich seine Begriffe, gleichwohl
»macht« es nicht das, was es denkt: das »Daß« (quod) bleibt ihm entzogen. Daher
läßt der Begriff das Sein »wesen«, aber er erschafft es nicht. Was somit Hegel, wie
zuvor schon Fichte, außer Acht lasse, sei die Existenz im Denken, und was er,
ebenso wie dieser, entfessele, sei eine Ordnung abstrakter Begriffen ohne Sein
oder Präsenz, mithin »höchste Emanation des bloß logischen Prozesses«. " »Nur
in Folge logischer Notwendigkeit muß das unendliche Seinkönnen ins Sein über-
gehen; aber bloß im Denken! Es ist kein realer, sondern bloß logischer Prozeß;
denn das Sein ist hier nicht außerhalb des Begriffs. Das Übergehen (...) ist kein
wirklicher Hergang, sondern bloßer Denkprozeß.« Schelling hält der idealisti-
schen Philosophie ihren »unendlichen Mangel an Sein« im Sinne eines »Mangels
an Wirklichkeit« vor: Ihr »höchster Gegenstand bleibt in ihr als ein unerkennba-
rer stehen«, wie die Natur »(d)er vollendeten Idee gegenüber« als »etwas Über-
flüssiges, Zufälliges« erscheint: Undurchdringlichkeit, wie sie sich dem reinen Be-
griff ebenso beharrlich widersetzt wie ihn in seiner Logizität vereitelt: »Wir haben
gar keine feindliche Absicht, aber die Schwierigkeit des Übergangs aus der Logik
in die Naturphilosophie läßt sich nicht verheimlichen.« Schelling entziffert da-
mit innerhalb des Systems einen Widerspruch - untilgbare Paradoxie, die ein Un-
gedachtes als deren Undenkbares bezeichnet: Stelle, die durch das Denken unge-
deckt bleibt, insofern sie sich der Vereinnahmung durch dessen Begrifflichkeit
widersetzt, wiewohl sie zugleich denjenigen Punkt nennt, um den es unablässig
kreist. Schelling sah in der Ausweisung dieser Stelle zugleich die »Vollendung des
Idealismus«: Vollendung durch sich selbst, über sich hinaus, um ihn in seine ei-
gene »Re-Flexion« zu treiben, mithin zur »Umwendung« in sein Anderes - das
freilich durch die Zeit längst schon überholt war, indem sie ihm ein Anderes des
Anderen entgegenhielt: Ludwigs Feuerbachs Materialismus oder Karl Marx' »Re-

30 Ders., Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 126.


31 Ebenda, S. 127, 129 passim.
32 Ebenda, S. 120.
33 Ebenda, S. 101.
34 Ebenda, S. 118 f.
35 Ebenda, S. 131.
390 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Voltierung« Hegeb vom Kopf auf die Füße der »wirklichen Geschichte«. ' Schelling
begleitet diesen Umschwung, ohne ihn eigentlich zu fördern; und dennoch wird
er die Apotheose der Vernunft, jene Mystifikation des Rationalen und Logischen,
die den gesamten Hegelianismus durchzieht, entthronisieren. Denn die Spitze,
auf die sich die Vernunft gestellt habe, vetmöge sie nicht zu halten: Notwendig
muß sie in ihre eigene Krise stürzen, die ihre »Kehre« vorbereitet.
Ihr sucht Schelling mit seiner Begründung einer »positiven Philosophie« zu
ent-sprechen. Gegen die Negativität des Logischen, jener unausweichlichen peti-
tio principii der Vernunft, die unterstellt, worauf sie zielt, und finalisiert, womit
sie beginnt, nimmt sie das Ungedachte als Undenkbares zum Ausgang: »Was der
Anfang alles Denken ist, ist noch nicht das Denken (...)«, sowenig es in seinem
»als was« fixierbar wäre, sondern es bleibt für sich gänzlich bestimmungslos: »Un-
vordenkliches Sein«, das allererst im Durchgang durch die negative Philosophie,
als ihr Scheitern, »postuliert« werden muß: »Die negative Philosophie ist nur in-
sofern Philosophie als sie die positive setzt. (...) Sie ist die sich selbst suchende
positive Philosophie (...) Was ist ihr Inhalt? Nur der fortwährende Umsturz der
Vernunft und ihr Resultat: daß die Vernunft (...) keiner wirklichen Erkenntnis
fähig ist (...).« Der Versuch Schellings besteht dann darin, die identitätsphilo-
sophische Reflexionslogik von innen her aufzubrechen und dessen negativ ge-
dachtes Positives von ihm selbst her entbergen zu lassen: »Der Begriff einer nega-
tiven Philosophie forderte eine positive,«'" und zwar so, daß sie ihr Anderes, Un-
gedachtes aus sich entdeckt, wie es zu ihrer Entdeckung ebenso der Vernunft be-
darf, dessen Absolutheitsansptuch daran bricht: »Die Offenbarung muß etwas
übet die Vernunft hinausgehendes enthalten, etwas aber, das man ohne die Ver-
nunft noch nicht hat.« Dabei witd der entscheidende Grundgedanke sein, daß
das »Daß« (quod) im Sinne des Ereignisses der Ex-sistenz im »Was« (quid) seiner
Bestimmung stets mitzudenken und als Prius ohne Wesen immer schon mitvor-

36 Vgl. dazu Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart, Berlin Köln 1964, S. 130 ff; sowie
Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein, a.a.O., S. 169 ff, 207 ff; und Rolf-Peter
Horstmann, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deut-
schen Idealismus, Weinheim 2. Aufl. 1995, S. 250.
37 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 161.
38 Ebenda, S. 160 ff.
39 Ebenda, S. 152.
40 Ebenda, S. 119.
41 Ebenda, S. 98. Manfred Frank weist jedoch auf die Abhängigkeit von Hegel hin: »Hegel war es,
der die Idee eines nur auf den Gedanken gegründeten Systems konzipierte, und Hegel war es, der
Schelling das begriffliche Rüstzeug an die Hand gab, die Einsicht seiner Jugend in Opposition
zum Argument der Logik zu formulieren. Ohne Hegel ist gar nicht zu denken, was Schelling (...)
vortrug, schon darum, weil Schelling eine der Logik auch nur von fern vergleichbare methodische
Leistung nicht vollbracht hat. Er mußte seinen Gedanken (wie schon in seiner Jugend) als Modi-
fikation des Gedankens eines anderen hervortreten lassen.« Vgl. ders., Einleitung zu Philosophie
der Offenbarung, a.a.O., S. 69. Darin liegt vielleicht der schärfste Gegensatz zu Heidegger: Schel-
ling sucht durch die Vernunft etwas zu gewinnen, was die Vernunft überwindet, und gelangt so
eigentümlich nur bis zu deren Grenze, um schließlich, jenseits dieser, jäh in ein Anderes zu gera-
ten, das unmittelbar ins Theologische mündet. Er restituiert so Religion im Gewand von Ratio-
nalität. Dahet der zuweilen scholastisch anmutende Charakter seiner Spätphilosophie.
EREIGNISVERGESSENHEIT 391

auszusetzen ist, sofern das Denken von nichts einen Begriff haben kann ohne
»Andenken« an dies: Denn die Positivität eines »notwendigO, blind Existieren-
de^)« als zugleich Unbestimmtes läßt sich von ihr »nicht abweisen«: »Die positive
Philosophie (...) geht so wenig von dem bloß im Denken Seienden als von einem
in der Erfahrung Vorkommenden aus. (...) Ihr Prinzip kommt nicht aus der Er-
fahrung, noch im reinen Denken vor. Sie kann also nur vom Absolut-
Transzendenten ausgehen, was ebenso über aller Erfahrung, als über allem Den-
ken ist, dem Denken wie der Erfahrung zuvorkommt.«
Das bedeutet: »Daß« (quod) (etwas) geschieht, (sich) ereignet, geht dem vor-
aus, »was« (quid) geschieht oder sich ereignet. Das Denken gründet in einem
Nicht-Denken, das weder »als« etwas bestimmt noch in seinem »Sein« erkannt
werden kann: Dieses bleibt »unvordenklich«. Ohne solches begriffe es stets nur
sich selbst, gäbe es weder einen Schritt noch eine Veränderung, denn der logos ist,
wie es auch heißt, nicht der »magische Beweger« der Dinge: In ihm liegt besten-
falls nur Wissen. So gelangt der Idealismus als »reine Vernunftwissenschaft«
schließlich über sich hinaus zur Versicherung eines ebenso translogischen wie
transreflexiven Prinzips: Unvordenklichkeit im Sinne absoluter Heteronomie, von
dem her das Denken, die Begriffe und die Prozesse der Dialektik allererst »präve-
niert« werden, wie Schelling sagt: mithin Anderes, das jeden Gedanken an Anderes
überragt. Es empfängt von ihm her die Möglichkeit seinet Bewegung, als Quelle
seiner Neuheit, seiner Entwicklungspotenz. D.h. die Produktivität des Gedan-
kens liegt nicht so sehr darin, das Denken an seine eigene Alterität zu erinnern,
die Tatsache, daß es stets auf etwas verwiesen ist, um auf diese Weise die Position
seines notwendigen Außen oder »Realen« zu restituieren, als vielmehr im Hinweis
auf dasjenige, wovon es seine Prozessualität, sein eigentliches Bewegungsgesetz
erfährt: Es muß sich anregen lassen. Denn darin besteht die wesentliche Opposi-
tion zu Hegel: Der Vollzug des Denkens folgt keiner ihm innewohnenden Ge-
setzlichkeit der Logik, der Vernunft, sondern dem Ereignis einer Gesetztheit des
Anderen im Sinne der Offenbarung. Die Vorstellung der Selbstgesetzlichkeit und
Selbstbewegung des Geistes aber, wie es in der Münchner Vorlesung Zur
schichte der neueren Philosophie heißt, »ist (...) eine selbst illusorische, es ist ei-
gentlich nichts geschehen, alles ist nur in Gedanken vorgegangen«: »Dieß hätte
jene Philosophie ergreifen sollen (...), d.h. sie mußte sich als Wissenschaft be-
kennen, in der von Existenz, von dem, was wirklich existirt (...) gat nicht die Re-
de ist (...), und da Existenz überall das Positive ist, nämlich das, was gesetzt, was
versichert, was behauptet wird, so mußte sie sich als rein negative Philosophie be-
kennen.« Das Denken, das sich allein in sich bewegt, wate entsprechend reine
Negativität; hingegen markiert den Kern der »Positiven Philosophie« die Umkeh-
rung der »Wahrheit des Geistes« zur Selbstoffenbarung des Seins, wie ebenso der
Feier der Vernunft zur Feier einer Selbstbescheidung des Gedankens. Nicht also
das Denken gilt als das Erste: Das Primäre ist das Andere, das als Ekstasis zu fassen

42 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 146


43 Ders., Zur Geschichte der neueren Philosophie, a.a.O., S. 195.
392 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

wäre: Ab-solute Singularität im Sinne radikaler Ge-Gebenheil, die als Fraglichkeit


des »daß« (quod) vor dem »was« (quid) immer schon ins Denken eingebrochen
ist. Seine Unfaßlichkeit ist nicht die Leere, sondern das Rätsel der Existenz als
das »wahrhaft Positive«, dem nach Schopenhauer überhaupt das »metaphysische
Bedürfniß« entspringt. Der ungeheure Gedanke Schellings ist somit dies: Das
Denken mag zwar die Form des Seins erfassen; nirgends aber vermag es das Ereig-
nis des Seins aufzuheben. Nicht erschöpft es sich in der Erkenntnis des Seienden;
es muß sich gleichsam erst »von der außerordentlichen Existenz der Dinge« an-
rühren lassen, von denen es gleichwohl keine Kunde besitzt. Das bedeutet auch:
Er muß das Sein geschehen lassen: »seinlassen«, wie Heidegger es mit Blick auf
Meister Eckehardt ausgedrückt hat/'' Entsprechend gilt die Idee für Schelling
nicht als das Bestimmende, sondern als das Resultat. Sie erscheint gegenüber dem
»zuvorkommenden« Sein abgeleitet. Den Anfang macht nicht die intentio, son-
dern die Hinnahme.
Was also Schelling der idealistischen Philosophie vorhält, ist im wesentlichen
ihre Ereignisvergessenheit. Er hat damit das System des Idealismus und dessen
Seinsproblem - wie auch Karl Löwith betonte - derart zugespitzt, daß er schließ-
lich an jenen Punkt langte, »wo es Heidegger wieder aufnahm«. Der Grundge-
danke lädt allerdings zu Mißverständnissen ein. Vor allem wäre an ihm das
Scholastische, das Theologische abzustreifen, um die Noten einer Ereignisphiloso-
phie freizulegen, die vor allem einen Umsturz im Denken einfordert. Sie wäre
ethisch-aisthetisch neu zu rekonstruieren, ohne daß damit bereits die Dimension
des Religiösen angesprochen wäre, wohl aber ihre entschiedene Wendung an ein
Unverfügbares, das dem Denken »zuvorkommt«. Denn was Schelling nicht meint
und was die frühe Bemerkung aus der Allgemeinen Übersicht nahezulegen scheint,
ist ein Rekurs auf die schlichte Voraussetzung der Referenz des Denkens, gleichsam
die Rettung des Gedachten gegen den Gedanken als seines notwendigen Korre-
lats. Dagegen hatte schon Hegel in seiner Wissenschaft der Logik polemisiert,
weil sich der immergleiche Zirkel ergibt, daß das, worauf Denken sich bezieht,
selbst ein Gedachtes sein muß, so daß beides: Denken und Gedachtes, ins Denken
fällt. Was Schelling statt dessen meint, ist, daß Denken als Medium stets an dem

44 Ebenda, S. 219 ff.


45 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, a.a.O., 17. Kap.,
S. 187 ff; insb. S. 197 f.
46 Martin Heidegger, Gelassenheit, a.a.O., S. 24 f.
47 »Hinnahme« wäre hier nicht passivisch zu verstehen, sondern als An-Nahme: Annehmen des Ge-
gebenen. Dies ist der genaue Sinn davon, wenn Schelling sagt, daß der Anfang, um »wahrer An-
fang« zu sein, er jeglicher Kategorialität entbehren muß: Er sei »von der Art«, »daß er keiner Be-
gründung fähig ist«; vgl. ders., Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 138 u. S. 147. D.h. aber,
er beschließt bereits im Sinne der Selbstentbetgung das Ganze in sich.
48 Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, a.a.O., S. 134.
49 Eben dies verfehlt die Rekonstruktion det Hegel-Kritik Schellings bei Rolf-Peter Horstmann: Er
setzt »Wirklichkeit«, das »Reale« oder sogar »Natur« bei Schelling synonym und verkennt damit
den entscheidenden Status der Differenz von Existenz und Wesen, die der Kritik zugrunde liegt;
vgl. ders., Die Grenzen der Vernunft, a.a.O., S. 245 ff, bes. S. 264 ff.
50 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, a.a.O., Einleitung, S. 36 f.
EREIGNISVERGESSENHEIT 393

partizipieren muß, was es denkt, so daß es nicht umhin kann, ein Anderes anzu-
erkennen. Zwar wird auch dieser Gedanke vom Ort der Referentialität hergeleitet,
aber so, daß das Denken, indem es sich bezieht, stets die Existenz eines Außen als
das es Angehende mitdenken muß - Ex-sistenz, die ihm »als dieses« (töde ti) ent-
geht, indem die Ais-Struktur der Bestimmung es je schon getilgt hat. Der Gedan-
ke »ist« nicht, wäre er nicht schon »in« etwas, das gedacht wird, welches in seiner
stets vorauszusetzenden Ge-Gebenheit wiederum nicht durch den Gedanken einhol-
bar ist und gleichwohl sich ihm »gibt«. Es muß daher ein Reales im Denken sein,
sonst bliebe es leer: nicht als realer Gegenstand, sondern als ein »Wirken«. Wür-
de Hegel noch bis zu diesem Punkt zugestimmt haben, freilich einzig im Modus
von Negativität, als eine stets »aufzuhebende« Potenz, so kehrt Schelling das Ver-
hältnis um, um allererst demjenigen eine Position zu verleihen, von woher das
Denken seine Potentialität empfängt. Es gäbe kein Denken, gäbe es nicht gleich-
zeitig ein Existierendes, das es ermöglichte, sowenig wie sich der Gedanke entfal-
ten könnte, würde er sich nicht von dessen unablässigem Ereignen her entwik-
keln. " So supponiert das Denken überall schon ein Anderes-als-Denken, durch
das es geschieht, nicht qua Bezug oder Objekt einer Bezugnahme, sondern qua
Medium, als Austrag des Denkens: »Die wahre prima materia des Denkens kann
nicht das Gedachte sein, wie die einzelne Gestalt das Gedachte ist. Sie ist nut das
zu Grunde liegende, sie verhält sich zum wirklichen Denken nur als das >Nicht-
Nichtzudenkende«. Wenn das Denken beschäftigt ist mit dem bestimmten Den-
ken, denkt es an die Begriffsbestimmungen, die es in diese Materie hineinsetzt.«
Inmitten des Denkens taucht so eine doppelte Negation und zugleich der Schat-
ten eines Positiven auf: Nicht-Nichtzudenkendes als eines unbestimmten »Positiven«
neben dem bestimmten »Negativen«, das gleichwohl stets nur Anklang bleibt. So-
bald der Gedanke sich an »es« wendet, bleibt er leer: Das Nicht-Nicht-Denkbare,
als seine unabdingbare Voraussetzung, die nicht verneint werden kann, hat noch
nicht die Form einer Bestimmung, weil ihm kein »als« zukommt: Bloße Negation
einer Negation, die allein eine formale Position einschließt, bleibt es gänzlich oh-
ne Begriff. Und doch »scheint« es unablässig »als« ein Nichtgemachtes, Unbegriffli-
ches oder Unverfügbares ins Denken »hinein«: Ekstatik des Seins, in der sich nach
Schelling im Sinne des »Unvordenklichen« oder »Zuvorkommenden« das Sein in
seiner »Gottheit« entschleiert: »Gott ist das, dem man mit dem Gedanken des

51 Erneut ergibt sich eine Beziehung zu Heidegger, der den Ausdruck »Wirklichkeit« jenseits seiner
Konnotation mit Substantialität auf das Verbum »Wirken« zurückführt. Vgl. ders., Wissenschaft
und Besinnung, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 4. Aufl. 1978, S. 41-66, hier:
S. 44 f. Zwar rekurriert Schelling nicht auf die Verbalform der Sprache, dennoch scheint er mit
der Auszeichnung des Ekstatischen auf diese hinzudenken: »Es kommt dem, was existiert, dem
Existierenden selbst, zuvor, so daß dieses gar nicht als Wesen gesetzt ist, sondern ganz ekstatisch,
außer sich gesetzt, geradezu das Seiende ist.« ders., Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 167.
52 Eine ähnliche Wendung wird später Levinas gegen die Husserlsche Phänomenologie vornehmen:
Rekurs auf ein Anderes, das anders ist als alles, was sich sagen läßt: »Anders als Sein geschieht«
und gleichwohl die Möglichkeit seiner Erfassung oder Denkens bestimmt.
53 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 126.
394 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Nichtseins nicht zuvorkommen kann.« Das bedeutet: Vom Nicht-Nicht-


Denkbaren gibt es nicht wieder eine Negation: Es affirmiert sich selbst. Eben
darum erscheint es als das Positive: Als Ereignis seiner Setzung eignet ihm eine
nichtzuwidersetzende Irreversibilität. Es wäre als »Gabe« reiner Existenz anzu-
nehmen: Sie gibt (sich), ohne gemeint oder gewollt zu sein.

Umwendung im Denken

Selbst wenn man nichts wäre, hat Emmanuel Levinas in einer Meditation über
das »Es gibt« gesagt, könne dessen »Tatsache (...) nicht geleugnet werden«:
»Nicht, das dies oder das wäre; aber die eigentliche Szene des Seins ist offen: (...)
(I)n der verwirrenden >Erfahrung< des >es gibt« hat man den Eindtuck einer völli-
gen Unmöglichkeit, da herauszukommen und >die Musik anzuhalten«.« Was
derart aus der Negativität einer Last beschrieben wird und das Maurice Blanchot
als »Desaster« bezeichnet hat, entdeckt sich Schelling als Überfluß eines »göttli-
chen Geschenks«. Aber auch dies muß noch gedacht werden, freilich als zu den-
kende Überschreitung der Immanenz des Denkens. Sie wäre, als äußerste Negati-
on im Denken, lediglich eine im Akt der Reflexion aufleuchtende Evidenz: »Wi-
derhall«, der nichts begreift oder erkennt, höchstens anzeigt. Genügt solche Evi-
denz, die Sput zu jener Alterität zu legen, die nicht Denken ist, die weder diskur-
siv erschließbar noch begrifflich darstellbat wäre? Heißt das nicht, aus der Be-
dürftigkeit des Denkens, seinem »Mangel« ein ebenso transkategoriales wie trans-
reflexives Sein herleiten zu wollen, seinen Primat erneut durch einen reflexiven
Akt zu restituieren: Akt, der dessen Anzeige im selben Augenblick vereitelte?
Schellings Versuch scheint hier in einen »performativen Selbstwiderspruch« zu
münden und Hegel ihm gegenüber rechtzubehalten. Denn was die Anzeige des
Anderen vermag, kann nicht mehr beinhalten als eine bloße Sentenz von Vernei-
nungen im Sinne des (/«-Begrifflichen, (/«-Bestimmten oder L/«-Vordenklichen,
das dem Denken im Denken eine unmögliche Grenze zieht, weil sie mit jedem
neuen Zug auf das rekurriert, was sie verneint. Entsprechend scheint auch Schel-
ling in seiner Hegel-Kritik nicht über diesen Punkt hinauszukommen: Sie bleibt,
wie das Kritisierte, im Medium des Denkens, in dem es dessen Umkehr motiviert.

54 Ebenda, S. 162.
55 »Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir schon«, heißt es in ähnlichem Sinne in der Dichtung
Friedrich Hölderlins: »Heiligtum des Unnennbaren«, »Laß endlich, Vater! offenen Auges mich
dir/ Begegnen! hast denn du nicht zuerst den Geist/Mit deinem Strahl aus mir geweckt?« - »Ge-
bende^)«, »der sprachlos waltet und unbekannt Zukünftiges bereitet«: »aber Dank/Nie folgt der
gleich hernach dem gottgegebenen Geschenke«. Ders, Sämtliche Wetke und Briefe in 2 Bden.,
München 1970, Passagen der Reihe nach aus: Heimkunft, S. 316; Die Bücher der Zeiten, S. 67;
Der Zeitgeist, S. 237; Ermunterung, 321; Friedensfeier, S. 367.
56 Emmanuel Levinas, Ethik und Unendliches, a.a.O., S. 35, 36 passim.
57 Maurice Blanchot, L'Ecriture du desastre, Paris 1981. Indessen ist damit eine charakteristische
Verwandlung angezeigt: Vom »Staunen« oder der »Verwunderung« (thaumaton) bei Piaton und
Aristoteles, zum Schrecken oder einem sinnlosen »Rauschen«.
EREIGNISVERGESSENHEIT 395

ohne sie bereits vollziehen zu können. Und doch würde dieser Einwand wieder-
um nur das geltend machen, was die paradoxale Anstrengung im Gegenzug auf-
zubrechen trachtete. Ausschließlich abonnierte er das Denken auf Begriffe und
beginge damit selbst wieder eine petitio principii: Er wiese dem Widerspruch ein-
zig einen rationalen Status zu, statt in ihm die Chiffre eines möglichen Übergangs
zu lesen: Verweis auf jenes Andere, das am Rande der Vernunft zugleich die Ver-
wandlung des Denkens selber anmahnte. Grundsätzlich läßt die angezeigte Para-
doxie so zwei Wege offen: Schwelle, an der das Denken zurückprallt und zu sich
zurückkehrt, oder. Übertfitt in ein Anderes, der weg-los geschieht: a-met-hodos,
mithin jenseits des logos, als Weisung, die sich sagend allein im Metaphorischen
aufhält und der Paradoxie eine katachretische Volte auferlegt. Der erste Weg beläßt
es bei der Negation der Negation als fortwährendes Prozessieren seiner selbst, das
das Denken ab Vollzug performiert, der zweite vexiert hingegen unversehens ins
Positive: Mystik eines Sichzeigenden (Wittgenstein), von dem her Denken allererst
seine Bestimmung widerfährt. Das Paradox, obzwar auf rationale Weise ins Spiel
gebracht, deutete damit in die Richtung eines Anderen-ab-Denkens, das gleichzei-
tig ein anderes Denken eröffnete. Seine Deutung wäre nicht Begriff, sondern Wei-
sung im Sinne des Zeigens.
Das meint auch: Die Kluft zwischen »negativer« und »positiver« Philosophie
kann niemals logisch vermöge rationaler Schlüsse überbrückt werden; vielmehr
verlangt ihre Passage über die paradoxale Stelle der Fundierung hinaus eine
Transformation des Denkens, das sich von der Hegeischen »Spekulation« absetzt
und zuletzt der Rationalität entsagte. Sie bediente sich der Vernunft als Leiter, um
sie - Parallele zu Wittgenstein - wegwerfen zu können und »die Welt richtig zu
sehen«. Solche Verwerfung wäre freilich nur im »Sprung« zu erzielen, als
»Aspektwechsel«, wiederum im Sinne Wittgensteins, der jeglicher Begründung
durch Vernunft entbehrte. Er ließe sich sowenig beweisen wie erzwingen: »Aber
eben mit dem Blindseienden ist die Philosophie auf das gekommen, was keiner
Begründung bedarf. Zu ihm kann von nichts aus gelangt werden. Es ist sein We-
sen, unabhängig von aller Idee zu sein. Der Begriff des Blindseienden löst sich
von der Voraussetzung, die er in der negativen Philosophie hat, ab, und die posi-
tive, indem sie den Begriff fallen läßt, und bloß das Blindseiende behält, ist ganz
selbständig, kann auch geradezu davon anfangen. (...) Das blind Existierende ist
das, was Alles vom Begriff herkommende niederschlägt, vor dem das Denken ver-
stummt.« Es ist, wie Schelling hinzufügt, »absolut >*"£statisch<«. D.h. auch: Der
Sprung wäre selbst Ereignis, wovon es nur ein Bekenntnis gäbe, welches aber »die
gesamte Erfahrung« für sich hat: die »Erscheinung der Welt, des Menschen«.'
Anders ausgedrückt: Der Sprung gelingt allein als Vollzug, das Denken selbst,
der Logos, bleibt ungeeignet, von sich aus ein Anderes, ein Ab-solutes zu gewin-

58 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 6.54.


59 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 157
60 Ebenda.
61 Ebenda, S. 148.
396 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

nen; bestenfalls erteilte er »Winke« (Heidegger). " Er beinhaltete jenen »Umsturz


der Vernunft«, den das katachretische Paradox zwar vorzubereiten vermag, um sie
in ihre eigene innere »Krise« zu treiben; doch gebietet erst diese zur Umkehr des
Denkens in sein Anderes: Überleitung zur Unumgänglichkeit des Existierenden
als Frage, als Verwunderung oder Erschütterung, die hindeuten auf das Ereignis je-
nes Unbedingten oder Unverfügbaren, wovon es ausgehen muß und woran es al-
lererst seine Möglichkeit findet." Gerät dieses in Vergessenheit, vergißt es gleich-
zeitig seine »Basis«, sein »Band«: Die Schuld der Ereignisvergessenheit wäre dann
die Selbstvergessenheit, die gleichermaßen dem Verlust seines metaphysischen
Rätsels wie der Tiefe seiner Freiheit gleichkommt. Und dennoch beruht letztlich
die »Positivierung« ihrer Unbestimmtheit auf einer irreduziblen Dezision: Sie ist
die Entscheidung, die das Zuvorkommende in die Ab-solutheit ruft, um sich ihm
denkend zu beugen. Es gibt für diese Entscheidung keinen weiteren Grund als
den ihrer »Setzung«: So erweist sie sich grundsätzlich äquivalent mit dem umge-
kehrten Entschluß zur Absolutsetzung des Denkens als Beginn und Resultat zu-
gleich. Schelling und Hegel koinzidieren an dieser Stelle aufmerkwürdige Weise:
Sie denken gleichsam dasselbe, nur von verschiedenen Polen einer Radikalität
aus. ' Sie enthüllen damit die beiden Alternativen im Denken: Denken, das sich
selbst denkt und die Unabdingbarkeit seines Bezugs in sich aufnimmt, um, wie
bei Hegel, das Ganze seiner Selbstbewegung als seine eigene Geschichte nachzu-
vollziehen und festzuhalten. Oder: Denken, das, wie bei Schelling, ein erstes,
»blindes (...), darum sinnloses Sein zu Grunde« legt, dem eine ereignishafie Sin-
gularität zukommt und dem Begriff, der Bestimmung allererst Raum verleiht: Er-
eignis einer Alterität, die als fortgesetztes Werden geschieht und unaufhörlich »sich
gibt«.' Es ist diese Positivität eines anfanglichen Sichgebenden oder primären Sich-
zeigenden, die zum Ausgang jenes Unvordenklichen oder jedem Begriff zuvorkom-
menden Seins führt, das Schelling auch »Gott«, eigentliches »Prius« oder das »reell
Erste« nennt und von der seine gesamte Philosophie ihr Pathos bezieht: Reines
»Daß« (quod) ohne Quid, ohne Attribut oder Name und Sinn: Existenz, dem
noch kein »etwas« zukommt, vielmehr Vorgängigkeit dessen, »daß« überhaupt
etwas ist, mithin »etwas«, das (sich) schon gestrichen haben müßte: Etwas. »Jetzt

62 Adorno wiederum spricht vom »Tasten«; vgl. ders., Negative Dialektik, a.a.O., S. 184.
63 Schelling betont selbst die Notwendigkeit einer »Umkehrung« der Begriffe, vgl. ders., Philoso-
phie der Offenbarung, a.a.O., S. 169.
64 Insbesondere vermerkt dazu Schelling: »Das Notwendigseiende ist der absolut transzendente Be-
griff. (...) Ich setze aber das Sein vor aller Idee, schließe alle Idee aus.« Vgl. ebenda, S. 159.
65 Vgl. zur »Positivierung des Unbestimmten« bei Schelling auch Gerhard Gamm, Flucht aus der
Kategorie, a.a.O., S. 217 ff.
66 Treffend bemerkt Heidegget, daß sich Schelling und Hegel nicht verstanden, »weil sie jeweils in
der Gestalt ihrer einzigen Größe dasselbe wollen.« Ders., Schellings Abhandlung über das Wesen
der menschlichen Freiheit (1809), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 42, Frankfurt/M. 1988, S. 22.
67 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 102.
68 Ebenda, S. 154 f. u. 162 passim.
69 Ebenda, S. 157.
70 In der Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten heißt es: »In ihm (Gott) selbst ist kein
Was, er ist das reine Daß. (...) Das Was führt von sich selbst ins Weite, in die Vielheit (...),
EREIGNISVERGESSENHEIT 397

haben wir den Anfang der Philosophie gefunden. Wir sind nicht gleich beim per-
sönlichen Gott; sondern beim Blindseienden des Spinoza, dem allem zu Denken-
den voraus Existierenden. (...) Der Anfang der positiven Philosophie ist das allem
Denken zuvorkommende Sein. Sie geht vom Sein, dem kein Begriff vorausgeht,
zum Begriff (...).« Und weiter: »Das Unvordenklichseiende hat das Sein an sich
(...); es ist also das Ansichseiende. Was nun aber ist es selbst? Es selbst kann
nichts sein als das seiner Natur nach notwendig Existierende«. Von ihm läßt sich
daher auch nichts sagen außer: »(E)s kann (...) sich zeigen.«
Ihr »Erstes« oder »Prius« bezieht somit die Schellingsche Philosophie aus dem
Faktum der reinen Selbstoffenbarung des Absoluten im Sinne des Ereignisses eines
Sichzeigens, dessen sich der Begriff und Reflexion bestenfalls nur indirekt, im
Status aporetischer Rede versichern kann. Es gibt dann nicht eigentlich ein Wis-
sen davon, sondern nur Verortung. Die Ähnlichkeit zu Wittgenstein, dem Ab-
schluß des Tractatus und dessen Geste rigoroser Selbstverwerfung, ist, bis in die
Wortwahl hinein, auffallend. Wie hiet das Denken, das sich selbst denkt, das
Mysterium seines Anderen, als sein eingeborener Mangel, sein Begehren enthüllt,
wird dort die Sprachlichkeit der Sprache zum Rätsel, das das »Daß« (quod) der
Welt zurückhält, um es fortan mit Schweigen zu belegen. Während die Logik des
Sagens, die sich im Kreis des Sagbaren sistiert, worin sein Anderes, das Unsagbare
einzig als Differenz aufscheint, offeriert das Schweigen, woran das Zeigen beginnt,
zugleich eine positive Mystik: Sichzeigen, das seine Ent-sprechung in der ur-
sprünglichen philosophischen Erfahrung des Staunens (thaumazein) über das
»Daß« der Welt hat, woraus wiederum Schelling seine gesamte »Positive Philoso-
phie« bezieht. Und wie dazu bei Wittgenstein die Einheit von Ethik und Ästhetik
gehört, die beide am Unaussprechlichen partizipieren, nicht nur, weil ihre Rede
sinnlos wäre, sondern vor allem, weil sie sich einzig als Zeigbare bewährten, ge-
winnt daran Schellings »Positive Philosophie« ihre eigentliche Brisanz: Denn ihr
entscheidender Impuls besteht ja nicht in der Wiedergewinnung der Welt im
Durchmessen des Zirkels der Reflexion, um jenseits ihrer Peripherie das Ereignis
des Seins wiederzufinden - weit wesentlicher ist ihr das Wagnis des Sprungs selbst,
der Umwendung oder »Kehre«, derer sich Wittgenstein letztlich enthielt, wie vor
ihr Adorno, der an sie heranreichte, zurückscheute, um überall noch in der
Nicht-Identität des Nicht-Identischen zu verharren. »Die negative Philosophie
hat zum Inhalt das apriori begreifliche Sein, die positive das apriori unbegreifliche

denn das Was ist in jedem Ding ein anderes, das Daß seiner Natur nach und daher in allen Din-
gen nur Eins.« Ders., Abhandlung über die Quelle der ewigen Wahrheiten, a.a.O., S. 768 u. 772.
Die Passage enthüllt allerdings gleichzeitig den problematischen Punkt: Denken des Anderen in
identitätsphilosophischen Termini. Es wäre demgegenüber als ab-solute Heteronomie zu denken.
71 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 155, 156 passim.
72 Ebenda, S. 167 passim.
73 Für Karl Jaspers liegt darin überhaupt die Grundfrage Schellings, die den Satz vom Grund aller-
erst zuspitzt; vgl. ders., Schelling, a.a.O., S. 124 ff.
74 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, a.a.O., 6.421.
75 Siehe oben Tl. II, 2. Kap.
398 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Sein, damit es a aposteriori zum Begreiflichen werde.« ' Die fragliche Umwen-
dung hat daher ihre Stelle und Möglichkeit im Responsiven, die der Intentionali-
tät des kategorialen Zugriffs widersteht. Nirgends spricht zwar Schelling von Re-
sponsivität, wohl aber bildet es den Kern dessen, was er anvisiert: Verwandlung des
Bezugs im Sinne einer Transformation des Denkens von der Ordnung der Identi-
fizierung zur Struktur des Antwortens. Sie bedeutet die Restitution des Ethisch-
Aisthetischen jenseits von Theologie, im Wortsinne von religio, der »Bindung«
oder »Gebundenheit« an ein vorgängiges Unverfügbares - als religio des Denkens,
die mit dem koinzidiert, was Heidegger dessen »Frömmigkeit« nannte: Aisthesis
im Sinne des Begegnenlassens von Anderem, ohne es begrifflich zu determinieren
oder in Besitz zu nehmen, sowie Ethik einer Responsivität, die ihm antwortend zu
ent-sprechen sucht. Schellings »Positive Philosophie« wäre von dort her zu präzi-
sieren: Ethos eines Denkens, das das Aisthetische mit dem Responsiven am Ort eines
»zuvorkommenden Seins« verbindet, dem in der Singularität seines Sichzeigens
zugleich die Evidenz des Auratischen zukommt: Aura der Existenz, als Augen-
blick, in dem sich umgekehrt das Bewußtsein als ein Zu-gehöriges, nicht als Sou-
veränität gewahrt.
Erst indem diese Umwendung im Denkens mitvollzogen wird, ergibt sich die
Evidenz des Schellingschen Ereignisdenkens. Ihre Pointe wütde dann genau das
auf den Kopf stellen, was Derrida folgerte: Bleibt für diesen das Denken im Mo-
dus chronischer »Verspätung«, so daß das, was sich zeigt, je schon geschriebene
Marke wäre und es kein Ereignis »gibt«, das sich nicht zugleich schon als mediati-
siert erwiese, »positiviert« Schelling die Unvordenklichkeit seiner »Gabe«, demge-
genüber das Denken gleichermaßen in die »Nachträglichkeit« rückt, freilich mit
dem winzigen, aber fundamentalen Unterschied, sie in bezug auf eine ab-solute
Verträglichkeit zu denken, die sich immer schon »zuvorkommend« ereignet haben
muß. Nicht diskursiv oder schreibend gelangte das Ereignis zu dem, was es »ist«:

76 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Philosophie der Offenbarung, a.a.O., S. 159, 160. An anderer
Stelle heißt es: »(W)ir (müssen) vom Sein ausgehen, das der Potenz vorausgeht.« Ebenda, S. 156.
77 Vgl. Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, a.a.O.,
S. 9—40, hier: S. 38, sowie ders., Das Wesen der Sprache, in: ders., Unterwegs zur Sprache,
a.a.O., S. 157-216, hier: S. 175 f. Heidegger bringt dabei die »Frömmigkeit« gleichermaßen mit
der Kunst in Verbindung.
78 Immer wieder hat Schelling versucht, das andere Denken als Denken des Anderen zu präzisieren
und ihm einen Ort zu verleihen. Dazu gehören die frühen Versuche über »Kontemplation« und
»Intellektuelle Anschauung«, wie später die »Empfänglichkeit« für das »Empfangen«, die Öffnung
für ein ankommendes Sein, welche Schelling mit wechselnden Metaphern belegt, die gleichwohl
sämtlich Metaphern einer Erfahrung von Unverfügbarkeit bezeichnen, die ihre tiefe Verwurze-
lung in der Romantik und ihre Stellung gegen die Philosophie der Aufklärung und deren Apo-
theose der Vernunft verraten. Die Umwendung des Denkens in die Struktur von Responsivität
wird allenfalls angedeutet, etwa in bezug auf die späte Konzeption der »Freiheit« als eine ins Sein
»gehörende« Ent-Sprechung. Es mag indessen diese Verhaftung Schellings im »Grund« der Ro-
mantik sein, weshalb er letztlich die von ihm zugleich anvisierte Möglichkeit eines »anderen
Denkens« verfehlte.
79 Darin zeigt sich die von uns geltend gemachte Parallele: Der Einwand, den Schelling gegen Hegel
erhebt, entspricht unserem Einwand gegen Derrida: Wie bei Mallarme das Wort das Nichts als
letzte Instanz der Welt berührt: Spiegel, an dessen Grenze zu dem, was nicht Wort wäre, es sich
EREIGNISVERGESSENHEIT 399

Spur oder Spaltung einer Gegenwart, die als solche schon markiert wäre, sondern
responsiv, indem das, was gesagt oder bezeichnet werden kann, sich von ihm her
»tweignet«. Zwei diametral entgegengesetzte Weisen, das Ereignis zu denken, lie-
gen dem dann zugrunde: (i) Ereignis als nichtpräsente Präsenz, das nicht ge-
schieht, sondern »als solches« erst vermittelt hervortritt, um sich vermöge der
Schrift zu zeigen; oder (ii) Ereignis als absolute Präsenz, als Geschehen selbst, das
zwar nur indirekt, als Riß odet Differenz markierbar wäre und der Sprache des
Paradox bedarf, um »als solches« aufweisbar zu sein, das gleichwohl als reine Alte-
rität aus deren Mitte hervorbricht und jede Anzeige »als etwas« verweigert. Im er-
steren Fall handelt es sich um ein Ereignis-»ab«; Erscheinung, die »als solche« im-
mer schon »geschnitten« und gegen anderes abgehoben oder ausgezeichnet ist:
»Eines«, das durch die »Zwei« (Zeichen, Marke, Medium) als »Drittes« (Grund,
Wahrheit, Sinn) gesetzt und identifiziert oder gedeutet und beglaubigt worden
ist. Letzteres bezeichnet hingegen ein Ereignis-ohne-»ab« im Sinne des Augenblicks
einer Andersheit, der umgekehrt das »als« spaltet, d.h. plötzlich »aufklaffen« und
erschüttern läßt, so daß es nicht einmal »als etwas«, »als« Ereignis angesprochen
werden kann, sondern (sich) zeigt, (sich) gibt. Gegenwärtigkeit einer Gegenwart
im Sinne des Erscheinens der Erscheinung, welche hier mit der reinen »Blöße« der
Materialität assoziiert wurde: »Daß« (quod), wovon gleichermaßen Lyotard gesagt
hat, es gehe als vorprädikative Fraglichkeit der Frage nach dem »Was« (quid), sei-
ner Auszeichnung oder Bestimmung »als etwas« voraus: »Geschieht es? Ist (...) das
möglich?« noch bevor festgestellt werden kann, daß »dies oder das geschieht« oder
»geschehen ist«.
Verbürgt wird solcher Ereignis-Begriff durch eine Tradition, die mit unter-
schiedlichen Nuancierungen von Schelling über Nietzsche zu Heidegger und
Levinas führt. Schellings Vorstellung findet erst dort ihre Verwirklichung. Bei
Nietzsche verwandelt sich die Ekstasis des Seins (Existenz) zur Entfesselung des
Dionysischen als Bruch, als Widerspruch oder Re-Volte des Apollinischen, die, wie
es in der Geburt der Tragödie heißt, dem Verlust der Ordnung und des Maßes
gleichkommen, indem sie im Moment des »Grauens« und der Auflösung das

zu sich zurückbeugt, setzt auch Derrida die Schrift (die Spur, die Marke) mit sich selbst gleich:
Der Text wird zur letzten Substanz. Die Gegenposition Schellings, wie ebenso später die Heideg-
gers und Adornos, besteht demgegenüber im Gewahren jener Vergeblichkeit, die im unaufhörli-
chen Verfolgen der Dinge besteht, ohne sie je zu erreichen: Notwendigkeit einer Inversion, die
nicht nur im Denken ein Anderes aufzuweisen trachtet, sondern das Denken selber in einen »an-
deren Anfang« zu bringen sucht. Dem korrespondiert ein weiterer Einwand, den wir bereits oben
(1. Kap.) erhoben haben: Derrida sucht das, was er totalisierend als »Logozentrismus« geißelt, zu
»dekonstruieren«, freilich so, daß die Dekonstruktion das Dekonstruierte zugleich wieder bestä-
tigt. Der Mangel in der Derridaschen Schriftkonzeption liegt im Verfehlen jenes »anderen An-
fangs«, der die Umwendung des Denkens in sein Anderes impliziert.
80 Vgl. Jean-Francois Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, a.a.O., S. 152.
81 Ebenfalls von Schellings Ekstatik der Existenz, ohne jede existenzphilosophische Konnotation, er-
schließt Gamm die Kontur einer Philosophie der Moderne, die vom Offenen, Nichtgedeckten
her denkt, um so dem Denken allererst seine Möglichkeit »offenzuhalten«, statt es in den »Auto-
ritarismus der Vernunft« zurückzuschließen; vgl. ders., Flucht aus der Kategorie, a.a.O., S. 220,
234.
400 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

»Unbändige« des Lebens zum Vorschein kommen lassen: Gewahrung des »Ent-
setzliche^) oder Absurde(n) des Seins« als »einmal geschaute Wahrheit«, die kei-
nen Sinn als begriffliche hätte, sondern einzig als kairologische. Emphatisch wird
sie dem »Reflectiren« entgegengesetzt. " Es bezeichnet den Moment einer Diffe-
renz: Nicht-Identität (Adorno) vor jeder Möglichkeit der Identifizierung, freilich
als Vollzug, als Praxis, deren bevorzugtet Ort das Ästhetische ist, das sie zugleich
wieder zu bändigen versucht. Aber seine Erfahrung ist dennoch unabweisbar,
eben weil es nicht nur das Denken, sondern ebenso die Sinne ent-setzt: Es ver-
weist auf ein »Da«, das keine Negation duldet, höchstens Unsicherheit, Verwir-
rung oder Taumel. Sie bieten Indizien dessen, was zu den Grunderfahrungen der
Schellingschen Philosophie, gleichwie der Nietzsches gehört: Der Riß, der die
Gewißheiten durchtrennt und das Maß der Zeichen erschüttert, führt auf die
Unmittelbarkeit des »Daß«, das kein Nichts bezeichnet, keine Leere, sondern nur
das Unnennbare wie Undenkbare, das eben darum Chiffre der »Ankunft«
sis) des Seins selber wäre.
Heidegger hat es deshalb als reine Singularität gefaßt, als »Er-äugnis«, das »im
Blicken zu sich (ruft)« und allererst »sehen läßt«, was sich zeigt. D.h. es er-öffnet,
indem »Seyn« ihm ent-springt, allerdings so, daß ihm die »Gabe« eines Sinns
immer schon korrespondiert. Anders ausgedrückt: Es untersteht nicht dem Un-
ter-Schied, sondern läßt ihn erst zu: es scheidet. Insofern geht es der Differenz
voraus, indem es sie erst ermöglicht, freilich wiederum so, daß es selbst »nichts«
ist, d.h. sich, ähnlich der Schellingschen Existenz, seines Wesens »verweigert«: Es
wäre »Ent-zug«. Indem es Heidegger außerdem an die »Einzigkeit« knüpft,
bleibt es dem Schnitt, den Zeichen und ihrer Iterabilität gegenüber ausgesetzt: Es
wäre ab-solut unwiederholbar. Es zu denken heißt demnach, das Denken selber zu
verwandeln: Übertritt in ein Anderes, das bereits den »Sprung« voraussetzt. So
vollzieht Heidegger erst, was Schelling und Nietzsche vorbereiteten: Übergang zu
einem »anderen Anfang«, der nicht von der Reflexion zur Kunst oder vom Dis-
kursiven zum Ästhetischen führt, sondern das Denken ins Antworten
nimmt, das Ethik und Ästhetik im Sinne des Aisthetischen und Responsiven in ihrer
ursprünglichen Ungeschiedenheit neu verbindet. Darum spricht Heidegger vom

82 Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, a.a.O., S. 57. Bemerkenswert ist, daß es die »wah-
re Erkenntniss« für Nietzsche nur »aufgrund« der Ordnung des Apollinischen gibt: Diese setzt
jene voraus: Dionysos bedarf des Apollon, wie Apollon sich nach Dionysos sehnt. Unversöhnlich
zwar wie Gesetz und Freiheit, Wahrheit und Schein, gehören sie doch zusammen, indem die
Freiheit, gleichwie die »Wahrheit« des Kairos, als Ereignis der Differenz »geschieht«. So formuliert
Nietzsche ein Differenzprinzip, das zugleich den Unter-Schied aus dem Ereignis der Negation
denkt. D.h. das Ereignis ist stets tragisch: als Kunst hat es statt im »ebenso dionysische(n) als
apollinische(n) Kunstwerk der attischen Tragödie«; ebenda, S. 26. »(H)ier bietet sich unseren
Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragödie und des dramati-
schen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe (...)«. Ebenda, S. 42.
83 Martin Heidegger, Der Satz der Identität, a.a.O., S. 25 E
84 Ders., Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 470 f.
85 Genauer heißt es: »Ereignis meint immer Ereignis als Er-eignung, Ent-scheidung, Ent-gegnung,
Ent-setzung, Entzug, Einfachheit, Einzigkeit, Einsamkeit.« Ebenda, S. 471. Vgl. auch ders., Satz
der Identität, a.a.O., S. 25.
EREIGNISVERGESSENHEIT 401

»Ent-Gegnen«; doch wäre es, über ihn hinaus, dorthin zu radikalisieren, wo auch
der Sinn aufhört, seine Würfe zu vollbringen: Andersheit, die, wie Levinas gesagt
hat, anders ab Sein geschieht, die mithin absolute Differenz wäre. ' Jenseits dessen,
was geschnitten werden kann und was nach Derrida beständig überschrieben
wird und darum einzig metonymische Spiele zuläßt, jenseits auch des Be-deutens,
dessen »Maß-Gabe« Heidegger zufolge die Dichtung besorgt, wäre somit ein
Denken zu exponieren, das sich nicht länger von Unterscheidung zu Unterschei-
dung fortschreibt, um Spur um Spur zu überdecken, das auch nicht dem Sinn
gehorcht, sondern das sich an Figuren des Responsiven nährt, die Ent-gegnung
dessen wären, was vorgängig sich zeigt und begegnet und dessen absolute Differenz
anders bleibt als alles, was je gedacht oder unterschieden werden kann: Ort ohne
Zugang und eben darum auch Ort, von dem es nur Unterscheidung gibt.
Als »Alterität« hat Levinas diesen zugangslosen Ort bezeichnet. Das bedeutet:
Geschehen einer Andersheit, die dem Denken, der Sprache, sogar der »Spur« radi-
kal zuvorkommt. Sie ist ab-soluter Unterschied, weil sie sich sowenig auf andere
Differenzen rückführen lassen, wie sie sich als differance apostrophieren ließe,
vielmehr Grenze zwischen Anderem-als-Denken und dem Diskurs, der Schrift,
d.h. auch zwischen dem, was sich nur zeigen kann, und dem, was sich überhaupt
sagen oder be-zeichnen läßt. Als läge zwischen beiden eine Kluft, eine Unverein-
barkeit oder Barriere, die das Sagen oder die Schreibung wie die Setzung einer
Be-Zeichnung oder Differentialitat in die Nachträglichkeit stößt, gleichzeitig
Zwischenraum, aus dem deren Möglichkeit wie auch die Produktivität ihres
Spiels klafft. Kein Ursprung ist damit aufgerufen, kein Erstes, vielmehr »An-
archie« des Ereignisses, das die differance erst stiftet, und also die Schrift, die Streu-
ung (dissemination), das Vergnügen (jouissance) ihrer Verschiebung und Über-
schreibung ver-ortet und zu-läßt. Das bedeutet auch: Vor dem Ereignis der diffe-
rance, der Schrift als je schon gewesenes Ereignis bedarf es noch eines anderen Er-
eignisses, das nicht wieder der differance untersteht, An-archie der Andersheit, die

86 Zum Begriff solcher »absoluten Differenz«, die nicht det diffifrance untersteht, weil sie eine stets
»betreffende Nicht-Gleichgültigkeit (Non-In-Differenz) des absolut Verschiedenen« einschließt,
vgl. insbesondere Emmanuel Levinas, Das nicht-intentionale Bewußtsein, a.a.O., S. 165.
87 Nicht einmal der Ausdruck »Ort« ist hier treffend, weil er an einer räumlichen Metapher partizi-
piert, die ein Lokalisierbares nahelegt.
88 Zu den Grundlinien einer Philosophie der Alterität bei Levinas vgl. insbesondere Wolfgang Ni-
kolaus Krewani, Emmanuel Levinas: Denker des Anderen. Eine Einführung, Freiburg München
1992; Bernhard H.F. Taureck, Divinas zur Einführung, Hamburg 2. Aufl. 1997; Stephan
Strasser, Jenseits von Sein und Zeit. Eine Einführung in Emmanuel Levinas' Philosophie (Phae-
nomenologica 78), Den Haag 1978; Elisabeth Weber, Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel
Levinas Autrement qu'etre ou au-delä de l'essence, Wien 1990; ferner meine Versuche in:
I.Breuer, P. Leusch, D. Mersch, Welten im Kopf, a.a.O., Bd. 2, S. 173-191, sowie: D. Mersch,
Vom Anderen reden. Das Paradox der Alterität, a.a.O. Indessen präjudiziert Levinas das Denken
der Alterität auf den »Anderen« im Sinne des anderen Menschen, der Sozialität. Doch umfaßt der
Ausdruck »Alterität« beides: Den Anderen und das Andere; Andersheit schlechthin. Wenn auch
mit Blick auf den anderen Menschen, »jenem« oder dem »Nächsten« eingeübt und geschärft, sei
hier das Wort ausdrücklich in seiner unbestimmtesten Note ausgewiesen: das Andere in der all-
gemeinsten Bedeutung eines Sichzeigenden oder Sichgebenden.
402 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

deren Spiel austrägt, als Ereignis absoluter Differenz, dessen Gravitation ins Ge-
wicht fällt und dessen Gravität das Denken und seine Diskurse ins Antworten
entsetzt (trans-ponare). Seine Gabe wäre das Ge-Gebene selbst, das nicht »ist«,
sondern (sich) gibt, (sich) zeigt. Geben, als Erscheinung, die zugleich einen Augen-
blick ohne Gedächtnis anstimmt, ohne Zeit, mithin reine Präsenz ohne Zukunft
und Vergangenheit, verlorener Augen-Blick im Augenblick der Erinnerung und
der Projektion, der Retention und Protention.
Solches Sichzeigen eines Anderen, worin das Denken ebenso wie die Zeichen
und ihre Ordnungen wurzeln, trägt ihrer Freiheit eine Grenze auf: Grenze, die
nicht »als« Linie hervortritt, sondern unbestimmt bleibt, wiewohl sie diese in ihr
Endliches verweist. Sie markiert zugleich eine Grenze des Unter-Scheidens und
Be-zeichnens, des Thematischen überhaupt wie des Fragens: Beschränkung, wor-
an es nicht ins Unendliches fortwuchern und das Spiel der Entfaltung immer
neuer und anderer Differenzen genießen kann. Denken hieße dann: Sich-in-die-
Sekundarität-stellen, unter-steilen (sub-icere), gewähren, anerkennen. Ihm wäre
die Umkehr in die Struktur von Responsivität immanent. Nicht die Differenz
nennt das Primäre, die das Ereignis in die Struktur der Verspätung zwingt, son-
dern umgekehrt das Ereignen als »Gebung«, als »Bruch«, das zur Antwort nötigt,
die freilich in dem, was sie wäre oder sein könnte, vollkommen unentscheidbar
bleibt. Maßgeblich ist allein, daß mit seinem Rückgang auf die Alterität als Ereig-
nis absoluter Differenz bereits die Umkehrung der Richtung angezeigt ist: Sichzei-
gendes als Eröffnendes, das überhaupt erst die Differenz, das Symbolische »gibt«,
welche demgegenüber stets nur im Rang des »Antwortens« stehen. Das Ereignis
wäre demnach das Vor-Gebende, während der Diskurs, das Denken das Antwor-
tende wäre, wodurch es erst »als« dieses zum Vorschein gelangt. Zeigend entbirgt
es sich und wird erst durch die Antwort »als etwas« geborgen.
3 . KAPITEL:
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT
(HEIDEGGER I I , L£V1NAS)

Die wichtigsten Fragen beantwortet man


letztlich immer mit seinem ganzen Leben. (...)
Was kann man die Menschen mit Worten fra-
gen? Und was ist die Antwort wert, die sie
nicht mit der Wirklichkeit ihres Lebens, son-
dern mit Worten geben?
Sändor Märai

Vorträglichkeit des Ereignisses und Nachträglichkeit des Zeichens

Wir sind von den Zeichen ausgegangen, wie sie die Welt bevölkern, von den
vielfältigen Ordnungen des Symbolischen, die sie mit einem dichten Netz um-
spannen, von den Systemen der Differenzen, die sie auf mannigfache Weise ein-
teilen und zergliedern, schließlich vom Spiel der Schrift als dem Ereignen der
differance, wodurch die Möglichkeit ihrer Ver-Gegenwärtigung und Erinnerung
erst aufscheint. Letztere verweist auf einen Primat des Gedächtnisses, das der Zeit-
lichkeit der Vergangenheit oder »Gewesenheit« (Heidegger) einen besonderen
Rang erteilt, durch dessen Medialität schließlich überhaupt etwas sichtbar werden
kann oder den Charakter einer Erscheinung oder eines Sinns gewinnt. Wir haben
danach gefragt, was sie aus-trägt und worin sie in ihr eigenes Erscheinen gelangen
und sind auf einen doppelten Rückstand gestoßen: (i) Ekstasis der Materialität,
nicht als »Form der Existenz«, sondern als ihr »Grund« oder »Fundus«, der frei-
lich nicht »als« Materialität signierbar wäre, vielmehr in seiner Irreduzibilität al-
lererst da hervortritt, wo er seine Beharrlichkeit, seine Resistenz oder Widerstän-
digkeit beweist; sowie: (ii) Ereignis der Setzung, wodurch allererst »Existenz« im
Sinne des ex-sistere geschieht, das »aus sich« heraussteht und erscheint und seine
Irreversibilität dadurch bekundet, daß es sich setzt, ohne durch etwas gesetzt zu
sein, daß darum auch nicht selbst wieder mediatisierbar ist, weil es als »Ur-
sprung« aller Mediatisierung vorausgeht. Beide gehören zusammen, weil sich das
Ereignis der Setzung stets auf der Ebene der Materialität abzeichnet, wie umge-
kehrt die Materialität ihm allererst seine besondere Ekstatik verleiht. Anders ge-
sagt: Das Ereignis hat statt als Präsenz: Es gibt (sich), zeigt (sich). Seine Setzungs-
weise ist das (Sich)geben, das (Sich)zeigen.
Indessen scheint dabei das Reflexivpronomen »Sich« auf ein Subjekt zu verwei-
sen, das »gibt«: Unzulänglichkeit der Sprache, die ein Geben ohne Subjekt nicht
anders auszudrücken versteht, als in einer Spaltung zwischen einem nominativen
»Es« und einem »Sich« als Akkusativform, auf das »es« »sich« bezieht. D.h. dem
»Sich« eignet die Illusion eines Selbstbezugs: Es deutet auf etwas hin, das sich von
404 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

sich unterscheidet, weil im Satz »Es« und »Sich« wie Subjekt und Objekt getrennt
erscheinen. Dagegen bestimmen wir das Ereignis selbst als das Gebende. Wenn
wir daher vom »Ereignis der Setzung« sprechen, dann ist damit keinerlei Bezug zu
irgendeiner Art von Intentionalität gemeint, sondern »Gabe«. D.h. das Ereignis
setzt (sich); es ist nicht durch etwas gesetzt, es bedarf weder eines Mediums noch
eines Rahmens: Es gewährt. Was es gewährt ist der Augen-Blick eines
(Sich)zeigens. Deswegen bleibt das »Sich« eingeklammert: Ereignen geschieht. Es
geschieht von (sich) her, ohne von (sich) getrennt zu sein: Es setzt (sich) selbst.
Das »Sich« ist daher nichts, was eine Subjektivität markierte; vielmehr bedeutet
»Sein«, im Sinne von Eksistenz, Vollzug des Ereignens, dessen selbst noch unzurei-
chende sprachliche Form das Verb wäre. Es ist Geschehen, das (sich) setzt, (sich)
vollbringt. Zugleich ist damit die Positivität der Ex-sistenz angesprochen: Das
(Sich)geben, (Sich)zeigen begnügt sich nicht mit seiner einfachen Nicht-
Negierbarkeit, wie es im Faktum der Existenz beschlossen wäre, vielmehr können
wir nicht umhin, es anzuerkennen; es greift in unsere Lebensbezüge ein, es ver-
wirrt oder stört auf, bisweilen unmerklich, manchmal kontingent, mitunter mit
der Unerbittlichkeit eines Verhängnisses. D.h. es manifestiert seine positive Kraft
durch seine Wirksamkeit, seine besondere Macht, seine Unumgänglichkeit, die wir
mal mit Gravitas und Gravitation verglichen haben, mal mit Aura. Sein tempo-
raler Charakter verweist dabei auf einen Riß in der Zeit, als Flüchtigkeit des Au-
gen-Blicks im Sinne des absoluten Präsens. Wir werden nach der Zeitlichkeit die-
ses Augenblicks fragen müssen, nach ihrer Beziehung zu den anderen »Zeiteksta-
sen« (Heidegger), vor allem nach dem Verhältnis von Zeit und Gabe, wie sie dem
Prozeß des Gebens als Weise des Ereignens, dem eigentlichen Geschehen von Ex-
sistenz innewohnt. Insbesondere werden wir von dort aus nach der Zeit des
»Antwortens« fragen, um die Umwendung im Denken von der Struktur des In-
tentionalen zum Responsiven vollziehen zu können - eine Transformationsbewe-
gung, die wir als »Ab-setzung« beschreiben werden: Ab-setzung in der dreifachen
Bedeutung einer (i) Setzung, deren Ort nicht die Begründung, sondern der
»Sprung« ist, einer (ii) Ab-wendung oder Negation von etwas anderem, und (iii)
als Akt einer Entthronisierung, der Ansetzung eines Souveräns, in unserem Fall der
Souverän des Intentionalen." Erst von dort her erschließt sich der genuin ethische
Sinn unserer Bemühungen: Begegnenlassen des Ereignisses einer Alterität, die wir
im weitesten Sinne der Andersheit überhaupt zuordnen - das Andere, statt der
Andere -, dessen »Gabe« als Augen-Blick des Gebens zugleich einen Anspruch stellt,
beantwortet zu werden. Wenn wir in dieser Hinsicht das »Antworten« betonen, so
ist damit vor allem eine Selbstbescheidung gemeint: Respondieren meint in erster
Linie kein Erwidern im Sinne der Widerrede, die auf eine zuvor erhobene Rede

1 Vgl. zur Frage des grammatikalischen Status von »Sich« auch Bernhard Waldenfels, Antwort-
Register, a.a.O., S. 201 ff.
2 Wir entnehmen diesen Sinn der Ab-setzung wiederum Emmanuel Divinas: »Akt der Ab-setzung
(...) in dem Sinne wie man von abgesetzten Königen spricht. Diese Ab-setzung der Souveränität
durch das Ich ist die soziale Beziehung zum Anderen (...).« Ders., Ethik und Unendliches,
a.a.O., S. 39.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 405

erfolgt, auch wenn es keinen Respons ohne Sprache oder Zeichen gibt; aber was
sich antwortend sagt - wiederum in der allgemeinsten Bedeutung des Sagens als
einem Symbolischen - ist schon von einem Anderen ausgegangen und hat sich
ihm bereits unter-worfen (sub-icere). Es erfordert zuvor dessen Anerkennung.
Jedes Ge-Gebene wurzelt in diesem Sinne im Ereignen, und jedes Ereignen ist
das Ereignis eines Anderen. Es birgt mit seinem Geben die »Gabe« der Alterität. Es
wäre, folgt man unseren Untersuchungen, jedem Zeichen, jeder Symbolisierung,
auch jeder »Spur« oder Schneidung eines symbolischen Feldes mitgängig, freilich
nicht als »etwas« in der Bedeutung eines aufweisbaren »Dieses« (ti einai), vielmehr
als ab-solute Singularität, wie sie sich in der Einfachheit des Gebens bezeugt. Ein
Nicht-Zeichen, das das Zeichen »gibt«, gehört damit unabdingbar zum Zeichen,
zum Symbolischen: Zuvorkommendes, das mit dem zusammenfällt, was seit je als
metaphysisches Rätsel exponiert wurde: Ereignis des »Daß« (quod), von dem her
die Zeichen ihren Raum, ihre Lektüren allererst beziehen. Sprechen geschieht von
dort her. Entsprechend meint »Responsivität«: Bedeutung wird durch ein »Daß«
(quod) hervorgebracht, indem es ihm seinen Platz gewährt, seine Möglichkeiten
»gibt«. Angezeigt ist auf diese Weise eine Rehabilitation det Transzendenz im
Sinne eines entgegenkommenden Anderen, das seiner Verfügung, seiner Dome-
stikation durch die Symbolisierung, die Differenz oder die Schrift widersteht: Al-
terität, die gleichwohl beständig ankommt, heraus-fordert, nachstellt oder be-
rührt. Wir haben sie eine »nichtreligiöse Transzendenz« genannt, weil sie jener
»ab-soluten Differenz« (Levinas) ent-springt, die zwischen den Ordnungen des
»Sinns« und den Systemen der Unterscheidung klafft, mit deren Hilfe der Dis-
kurs das Reale territorialisiert und seine Konstruktionen ausführt, sowie dem, was
ihnen ent-mächtigend zum »Grunde« liegt. Noch einmal sei erwähnt, daß es sich
nicht um die Annahme eines Außen, dem ein religiöses oder theologisches Attri-
but zugedacht werden kann, handelt, sondern um das, was als die Unaufhörlich-
keit oder Unendlichkeit des Ereignisses eines (Sich)zeigens zu exponieren wäre, des-
sen ununterbrochenes Zuvor-Kommen zugleich die irreduzible Vorgängigkeit ei-
ner Alterität behauptet, dessen primäre Gabe nicht wieder durch die Logik des
Sekundären, der Verspätung eingeholt werden kann, auch wenn sie ohne die
Vermittlung dieser nicht aufzuweisen wäre.
Man könnte deshalb sagen: Jedem Seienden, wiewohl es stets »als etwas« be-
zeichnet oder be-deutet ist und ihm einen »Sinn«, eine Stellung innerhalb einer
differentiellen Ordnung zukommt, haftet zugleich ein »Gesicht«, eine »Aura« an:
Augenblick eines (Sich)zeigens, worin sich ebenso sein Unfugliches wie Unverfüg-
bares manifestiert. Wie an »Natur« ein permanent Rückständiges bleibt, trotz al-
ler kulturellen Überformung, aller Zurichtung und Bearbeitung, trotz aller Be-
mächtigungsphantasien und Herrschaftsansprüche, ihrem vermeintlichen Joch zu
entkommen, trotz auch der experimentellen Simulation ökologischer Systeme
oder biologischer Grundftinktionen bis hin zum Eingriff in Keimbahnen und ge-
netische Baupläne, entwischt ihr »Sein« (Ex-sistenz) jedem Sinn, wie sie gleichzei-

3 Siehe oben Einleitung.


406 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

tig ihre ab-solute Unabhängigkeit unter Beweis stellt. Die Dinge bedürfen nicht
des Menschen; sie kommen ohne ihn aus; sie nehmen an seinem Leben, seinem
Geschick keinen Anteil. Wir hatten gleich zu Beginn Ähnliches am eigenen Leib
aufgewiesen: Der Körper scheint zu gewissem Grade plastizierbar; sein Ungebär-
diges läßt sich unter Kontrolle bringen, seine Triebhaftigkeit untetdrücken, seine
Aufsässigkeit zurichten; gleichwohl drängt er sich hartnäckig und andauernd als
Grenze auf — merkbar etwa anhand von Krankheiten oder der Müdigkeit, die
hinterrücks befallen, wie auch dem Schmerz, der verwunden werden kann, aber
nicht über-wunden, wie ebenso an den »Spuren« des Alterns, deren Gravur sich
verzögern, nicht jedoch aufhalten läßt und deren unerbittliche Faltung sich un-
merklich unter die Haut schreibt — wie überhaupt die Zeit ihre »Spuren« an je-
dem hinterläßt, ohne sich eigentlich zu zeigen: Alles belehnt sie mit Vergänglich-
keit. Desgleichen gilt für die Erfahrungen des Anderen, nicht nur eines Fremden,
der uns mit der ganzen Bedingungslosigkeit eines woanders gelebten Lebens
konfrontiert, sondern gerade des Vertrauten, des Nächsten, in dessen Nähe wir
uns selbstverständlich aufzuhalten meinen: Schon die unscheinbare Geste einer
leisen NichtZustimmung, eine Gedankenverlorenheit oder ein geringschätzender
Blick vermögen augenblicklich die ganze Dimension der Getrenntheit zu demon-
strieren, seine ab-solute Unerreichbarkeit, wie das Aufklaffen eines plötzlichen
Abgrundes, der eine komplette Geschichte ins Sinnlose stürzen läßt, als wolle er
deutlich machen, daß der Andere nie zu uns gehörte, als könne er nie kenntlich
werden. Allen diesen Beispielen ist eines gemeinsam: Ereignen, das sich der Be-
mächtigung gleichwie der Herrschaft entzieht, das sowenig der Verfügung der
chen gehorcht, wie es den symbolischen Ordnungen genügt: Man kann nicht an-
ders als es akzeptieren, es hinnehmen oder ertragen: Man kann es weder »aufhe-
ben« noch »überschreiben«: Es drängt sich auf
Von Neuem würden so den Begriffen des Ereignisses, der Präsenz und der
terialität, deren »Marken« unsere gesamte Untersuchung leiteten, jene Stellung
zurückerstattet, die sie infolge der Kritik der abendländischen Präsenzmetaphysik
einbüßten, allerdings in neuem Gewand, insofern sie sich nicht länger den Be-
stimmungen der Evidenz, des Ursprungs oder der Wahrheit folgten, sondern sich
in der Singularität des Augenblicks erschöpften, wie sie in Momenten des
schen oder der Alterität aufscheinen. Was immer daher im einzelnen unter Sym-
bolisierung, Signifikation odet Medialität verstanden wird: Zeichen oder Spur,
Funktion oder Struktur einer Algebra, Text oder Schrift als Spiel der differance:
Stets bleibt ein Unzugängliches, eine Unverfügbarkeit oder Zuvorkommendes, das
weder »etwas« ist noch »nichts«, wohl aber als unerschöpfliche Quelle fungiert,
von der her sich ebensosehr ständig wieder Anderes ergibt, wie sich ihm das Pro-
blem von Abbildung, Darstellung oder Mediatisierung stets von neuem aufträgt.
Damit erhält in die symbolischen Ordnungen und ihre Texturen, ihre Konstruk-
tionen wie De-konstruktionen wieder Einzug, was diese verhüllten: Widerfahrnis
einer Alterität, mit der diese selbst affiziert bleiben und aus der sich die Ankunft

4 Vgl. oben Tl. I. 1. Kap


ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 407

eines gleichermaßen Überraschenden wie Unbesitzbaren bezieht: »Daß« (quod) des


Ereignens, das der textuellen Spur ebenso »angesteckt« ist, wie es seiner Zeich-
nung »als« Spur vorausgeht. Es »springt« gleichsam aus dessen Mitte hervor als ihr
Anderes, wodurch überhaupt erst das Gebären eines Neuen, Unerwarteten oder
Niedagewesenen geschieht. Es versetzt die Sprache in Unruhe, läßt sie nicht en-
den. Stets denkt das Denken anderem Denken nach, hält sich in Schon-
gedachtem auf - und doch »gibt es« Anderes, »gibt (sich)«. Was uns daher zur
Symbolisierung, zur Unterscheidung oder zur Erzeugung von Sinn veranlaßt,
sind die Zeichen; aber die Zeichen gehen nicht in dem auf, was sie sind; an ihnen
ist ein Überschuß, eine Unerschöpflichkeit des (Sich)zeigens. Das Sprechen ist ein
Prozeß der Fortsetzung des Sprechens, angeregt durch das, was nicht Sprache ist,
was gleichwohl ekstatisch heraussteht. Weder die Auszeichnung eines Rahmens,
der »etwas« geschehen läßt, noch die intentionale Ausrichtung auf Veränderung
oder das Ereignen metonymischer Verschiebungen gemäß der Formel des »Er-
schaffens als Umschaffen« (Goodman) sind dabei von Belang, sondern allein das
Zuvorkommen des Ekstatischen selbst, der Aufriß des Horizonts: »Daß« (quod) vor
dem »Was« (quid), das gleichsam in Bann nimmt, wie ein Sog, det hineinzieht,
der nicht losläßt. Mit ihm ist die Irreduzibilität des Ereignisses in seiner
lichkeit angesprochen, das der Schrift »spurlos« voraufgeht.
Das bedeutet auch: »Daß« (quod) (es) geschieht, ermöglicht erst seine Markie-
rung »als« Ereignis. Es wäre demnach nicht »ab« dieses hier (tode ti) je schon si-
gniert, vielmehr folgte seine Spur ab Geschriebene, Abgeleitete oder Erinnerte
seiner Vorgängigkeit nach. Folglich erschienen diese im Modus ursprünglicher
Verspätung, insofern das Ereignis dem, was immer sich »als« Ereignis artikuliert
oder erinnert haben mag, bereits voraus sein wird. Nicht die Schrift kommt vor
dem Ereignis, sondern das Ereignis vor der Schrift: Augenblick, der das Netz des
Vertrauten unterbricht und die Konturen des Sinns zersprengt, um im Moment
seiner Kontingenz und des Ausgesetztseins das schmerzliche Gefühl einer Bo-
denlosigkeit oder Ohnmacht entstehen zu lassen. Zuvorkommen meint dahet auch
dieses: zunächst geschieht (etwas), erst dann ergibt sich ein »Sagen«. Primär ist das
Ereignen selbst, wohingegen die Zeichen und ihre Codierung, die Systeme der
Klassifikation und Unterscheidung in den Status einer Sekundarität entrücken.
Sie werden von ihm angesteckt. Entsprechend wäre die Position der
keit, wie sie Derrida emphatisch exponiert, umzukehren: Nicht das Ereignis er-
weist sich als immer schon verspätet, sondern der Sinn und seine Ordnungen -
nicht indem sie auf es referieren, sondern indem ihren Produktionen und wech-
selvollen Szenarien immer wieder neu die Ekstasis eines (Sich)zeigens vorhergegan-
gen sein wird, das in ihrem Rücken waltet und woraus sie ihre Bewegung, ihre
Kraft oder spezifische Möglichkeit beziehen. Daher die chronische Unabschließ-
barkeit der Diskurse und Interpretationen: Vor ihren Texturen kommt das Ereig-
nen - es kommt ihnen zuvor, entsprechend erscheinen die Schrift, die Strukturen
des Symbolischen im Format eines genuinen Antwortens, das in sie gleichsam eine
unbekannte »zweite« Spur legt: Antwort, die nicht auf eine Frage ergeht, weil das
Ereignen kein Sagen bedeutet und also auch keine Frage stellt, sondern weil es
408 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

zum Respons auffordert: Am-Wort, das den Antwortenden bereits in die Position
einer Unter-Ordnung, einer Selbstbescheidung stellt; Ant-Wort auch, die nicht
bezugnimmt, sondern erweckt wird: Sie schließt sich an.

Zeit und Ereignen

Eingelassen ist darin gleichermaßen eine Transformation der Zeitstruktur von


Perfekt zum Präsens, sogar zum absoluten Präsens. »(U)nlogische Verquickung
zwischen dem Hier und dem Früher«, hatte Roland Barthes angesichts von Foto-
grafien ausgerufen: Das Bild zeigt etwas, was gewesen ist, aber es zeigt es gleich-
sam mit der Offenbarung eines Authentischen, wie inszeniert auch immer. Es
täuscht so gleichsam im Medium von Re-Präsentation Präsenz vor. Gleichwohl
bekundet jede Betrachtung eine Verspätung, eine unausräumbare Trennung, die
besonders im Schmerz des Blicks konkret wird, der begehrt: Anschauung von et-
was, das auf immer entschwunden ist: Übergang von »Dasein« zum »Dagewesen-
sein«, wie Barthes ergänzt. Indem wir jedoch die Aufmerksamkeit umwenden auf
das, was die Bilder selber ausstellen läßt, Moment ihres (Sich)zeigens oder Ereignis
der »Gabe«, lenken wir den Fokus auf ein »Kommen«, das dem Erscheinen selber
entstammt. Solches Erscheinen geschieht. Es »ist« im Kommen. Genauer: es »gibt
(sich)« als Kommendes, ohne bereits eine Ankunft zu besitzen; es »ist« daher auch
nicht als eine Gegenwart, die sich er-blicken oder be-zeichnen ließe, sondern es
gibt (sich), zeigt (sich) mit der Plötzlichkeit eines Kairos. Im Kommen ereignet sich
folglich das Mysterium des (Sich)zeigens: Es wäre Er-Scheinen überhaupt im Sinne
des »Auftauchenlassens«. Im Er-Scheinen werden wir vom Augen-Blick des An-
Kommenden berührt, gestreift: Er trifft oder erfaßt uns, nimmt uns in Bann. Hin-
gegen käme dem Ereignis »als« Ereignis das Gewicht eines Schon-Angekom-
meni«'«i zu: Es hat sich bereits in eine Anwesenheit gebracht und »ist« als solches
lokalisiert, zugeordnet oder verstanden, mithin in seiner Gegenwärtigkeit demen-
tiert. Stets ist darum der Einbruch des Kairos, der Moment einer Krise oder einer
Einsicht mit der Anamnese, der Wiedererinnerung in Verbindung gebracht wor-
den: dem dejä-vu eines Sich-schon-ereignet-habens - als ob es zu sehr überwäl-
tigte oder beunruhigte und es nicht anders ausgehalten werden kann, als aus ihm
ein Sagbares zu machen. Und dennoch ist stets auch das Gegenteilige empfunden
worden: Ereignis, das mit seinem Drängen und der Unausweichlichkeit einer Er-
schütterung die Täuschungen des dejä-vu, der Wiederholung zerstreut. Es ist das
Faszinosum, zuweilen sogar die außerordentliche Nichtigkeit einer instantanen
Präsenz, die mit allen Siegeln des Zu-Falls zustößt und in deren Eklipsen eine
Öffnung zu Anderem geschieht - Gewahrung einer Leere des Seins oder umge-
kehrt: Emanation des Numinosen - , die gleichwohl eine Umwendung bewirken,
eine Re-Aktion, noch bevor etwas gedeutet oder begriffen werden kann: Bedin-
gung für diese, nicht umgekehrt.

5 Roland Barthes, Rhetorik des Bildes, a.a.O., S. 39.


ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 409

Die wesentliche Frage, die sich dann stellt, bezieht sich auf die Relationen zwi-
schen Ereignis, (Sich)zeigen (Präsenz) und Temporalität, d.h. auf den zeitlichen
Status des Zuvorkommenden selber im Verhältnis zu seiner Erinnerung. Leitfa-
den unserer Überlegungen bieten dazu die Auslegungen Heideggers: Orientie-
rung, entlang der wir unsere eigene Deutung suchen und an der sie sich erneut
wendet, um schließlich in eine andere Richtung zu führen: Augenblick und Re-
sponsivität. Dabei geht es uns nicht um eine Interpretation der komplexen und
uneinheitlichen »Wege« und »Winke« Heideggers, wohl aber um die Anleitung
durch ein Problem, das dieser in seiner unauslotbaren Tiefe durchdacht hat, um
es in anderer Weise wiederaufzunehmen. Dabei beschränken wir uns auf jenen
Übergang zwischen 5«'« und Zeit und den anschließenden Vorlesungen über
Grundprobleme der Phänomenologie, die die Stelle des Problems markiert und die
Sackgasse der Zeitanalyse der »Fundamentalontologie« offenlegt. Sie bezeichnet
gleichzeitig die Wende zur Spätphilosophie. Denn nach Heidegger gewinnt das
Ereignis erst von der Zeitlichkeit her seinen Platz. Zeit meint dann den Horizont,
wodurch sich Ereignen »entbirgt«. Grundlegend für die Bestimmungen aus Sein
und Zeit sind insbesondere die Analytik des Daseins und die Struktur des Verste-
hens, die zugleich die doppelte Form des Selbstverstehens und Weltverstehens
beinhaltet. Dem Verstehen wird entsprechend ein universaler Status zuteil;
gleichzeitig inhäriert ihm der fundamentale Gedanke einer genuin zeitlichen Ver-
faßtheit. Heidegger schließt auf diese Weise »Sinn« und »Zeitlichkeit« zusammen
- nichts anderes bedeutet der Titel von »Sein und Zeit«. Existenz heißt Verste-
hen; mit ihm ist zugleich die grundlegende Bezugsform zum Seienden im Ganzen
charakterisiert. D.h. in jedem Bezug liegt ein Verständnis, wie umgekehrt Spra-
che und Zeichen nur sind, indem wir bezugnehmen. Alle Bezugnahme wird als
Verstehen gekennzeichnet, und sei es nur auch die Abweisung, die Verneinung
des Bezugs oder seine Verdunklung. Dann erhellt sich Verstehen als Bezugsform
des Bezugs schlechthin. Ihm eignet ein doppeltes Format: Es geht dem Dasein »in
seinem Sein« immer dieses selber; d.h. es geht ihm immer um ein Selbstver-
ständnis; und: es geht ihm um Anderes, um »Sein« überhaupt, um ein Weltver-
ständnis. Beide erweisen sich als unmittelbar ineinander verschränkt: Selbstver-
ständnis und Weltverständnis gehören ursprünglich zusammen.

6 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., §§ 78 ff, S. 404 ff; ders., Grundprobleme der Phäno-
menologie, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 24, Frankfurt/M. 1975, IL Teil: Das Problem der on-
tologischen Differenz: S. 321 ff. Zur Philosophie Heideggers vgl. insbesondere: Otto Pöggeler,
Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963; Walter Schulz, Über den philosophiege-
schichtlichen Ort Martin Heideggets, Philosophische Rundschau, 1. Jg. (1953/54) S. 65-93 u.
S. 211-232; Georg Steiner, Martin Heidegger Eine Einführung, München Wien 1989; Hans-
Georg Gadamer, Heideggers Wege, a.a.O.; Alexander Garcä Düttmann, Das Gedächtnis des
Denkens. Versuch über Adorno und Heidegger, Frankftirt/M. 1991; Günter Figal, Martin Hei-
degger - Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt/M. 1988; Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst
und die Zeit danach. Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976, Frank-
furt/M. 1990; sowie zur Spätphilosophie vor allem Wolfgang Ullrich, Der Garten der Wildnis.
Eine Studie zu Martin Heidegger, München 1996.
7 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 4, S. 12 ff.
410 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Indessen ist das Entscheidende, daß Heidegger die Existenzform des Verste-
hens aus der Struktur des »Entwurfs« faßt: Verstehen er-öffnet, »er-möglicht«
Sinn: »>Es geht dem Dasein um sein eigenes Sein« heißt genauer: um das eigene
Seinkönnen. Das Dasein ist als existierendes frei für bestimmte Möglichkeiten
seiner selbst. Es ist sein eigenstes Seinkönnen. (...) Vetstehen besagt genauer:
Sich-entwerfen auf eine Möglichkeit, im Entwurf sich je in einer Möglichkeit
halten. Nur im Entwurf, im Sichentwerfen auf ein Seinkönnen, ist dieses Sein-
können, die Möglichkeit als Möglichkeit da.« Im Verstehen wird so der Ort der
Offenheit, mithin die zeitliche Gerichtetheit auf Zukunft ausgezeichnet. Doch
findet diese Gerichtetheit nicht anders statt als aus der Verwurzelung im »Gewe-
senen«, der Tradition, deren Charakter Heidegger als »Wiederholung« faßt: Da-
sein ist »wiederholendes Vorlaufen«. Verstehen gründet wesentlich im Schon-
Verstanden-sein: Entwurf hat seine Bedingung in der »Vorstruktur« der »Gewor-
fenheit«. So schließt sich der Kreis von Vergangenheit und Zukunft im »Gegen-
wärtigen«. In ihm erblickt Heidegger das »Ereignis« des Daseins, auch wenn der
Begriff in Sein und Zeit noch nicht fällt: Ereignen, als Existenzweise des Daseins,
das sich in ununterbrochener Auslegung selbst »zeitigt«. Thematisch wird auf die-
se Weise vor allem das allgemeinere Problem von Zeit und Transzendenz, wie es
den zweiten Abschnitt von Sein und Zeit leitet. " Das Dasein »ist« das Über-
schreitende, insofern es auf »Sinn« schlechthin gerichtet ist: Verstehen, Existenz
und Transzendenz fallen zusammen, denn »Intentionalität«, wie es an anderer
Stelle heißt, ist nur möglich, »weil das Dasein als solches in sich selbst transzen-
dent ist«. Ihr Horizont ist die Zeit: Transzendenz »gibt es« nur in der Zeit, wie
sie die Zeit umgekehrt allererst austrägt: Ihr »Grund« - d.h. auch Boden, woraus
sie geschieht - beruht in der »ekstatisch-horizontalen Verfassung der Zeitlichkeit«;
sie bildet die »(transzendentale) Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnis-
ses«. Dann öffnet Zeit den Bezug, der das Verstehen selbst ist, in Richtung auf
ein Seinkönnen, läßt Seinsverständnis zu. Die Analyse, die zunächst der Struktur
des Verstehens galt, wird damit auf das hin erweitert, woraus sich Verstehen »er-

8 Ders., Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 391, 392.


9 Vgl. vor allem ders., Sein und Zeit, a.a.O., § 68 f., S. 336 ff, 364 ff.
10 Ders., Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 407 f.
11 Alle drei Zeitekstasen sind darin verbunden. Terminologisch kennzeichnet Heidegger die »ei-
gentliche Zukunft« als »Vorlaufen«, die Vergangenheit - im Sinne von »Gewesen-sein« - als
»Wiederholung« oder »Zurückkommen auf«; zusammen ergeben sie das »Gewärtigen« als »wie-
derholendes Vorlaufen«. In der Wiederholung wiederum besteht der eigentliche Sinn der Über-
lieferung. Der Sinn von »Intentionalität«, wie Heidegger ihn bestimmt, hat diese beiden tempo-
ralen Seiten: Bezug zur Tradition und Gerichtetheit bzw. Transzendenz im Sinne der Offenheit
für Zukunft. Vgl. ebenda, § 68, S. 336, 341, 343 f.; § 74, S. 385 ff.
12 Ebenda, §§45 ff, S. 231 ff.
13 Ders., Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 447. Wenn daher Figal die Heideggersche
Ontologie überhaupt als Philosophie der Freiheit versteht, dann liegt darin zumindest eine prä-
tentiöse Votentscheidung: Nicht um Freiheit ist es Heidegger zu tun, sondern um Transzendenz,
die freilich stets einen Bezug auf Möglichkeit und Offenheit hat; vgl. Günter Figal, Martin Hei-
degger — Phänomenologie der Freiheit, a.a.O.
14 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 429.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 411

eignet« und wohin es sich »entwirft«: Sinn von Sein. Es handelt sich also nicht
nur darum, die Zeitlichkeit des Daseins zu rekonstfuieren, sondern mit der Zeit-
lichkeit des Verstehens zugleich auch den zeitlichen Sinn von »Sein« zu fassen.
M.a.W.; es geht um eine implizite Radikalisierung der Fragestellung selber, die
von der Analytik des »ursprüngliche(n) Ganze(n) des faktischen Daseins« und
seiner besonderen Zeitlichkeit zu Zeit ab Horizont des Ontologischen, d.h. zur
eigentlichen »fündamentalontologischen« Frage fortschreitet - denn »(d)as Ziel ist
die Ausarbeitung der Seinsfrage überhaupt«. ' Mit ihrem Desiderat bricht der er-
ste, veröffentlichte Teil von Sein und Zeit ab. Er hat die Untetsuchung bis an des-
sen Rand geführt: »Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« - und
ist daran gescheitert.
Die spezifische Zeitstruktur des »faktischen Daseins« ergibt sich dabei zunächst
aus der »Sorge«: Die Vollzugsform der Existenz ist Verstehen; der Vollzug selber
enthüllt sich als »Sorge«; die »Sorge« wiederum wird aus dem »Vorlaufen zum
Tode« bestimmt: Die Zeitlichkeit ist entsprechend »der Sinn der eigentlichen
Sorge«. Das Verstehen ist damit in seiner fortwährenden »Möglichung« , die es
an Zukunft heftet, durch seine Endlichkeit geprägt: Die Sorge um seine Ver-
gänglichkeit durchtränkt das Dasein, vertieft seinen Sinn, »gibt« seine jeweilige
Weise det »Zeitigung«: entweder als »Vergessen« und »Verfallen« oder als »Ent-
schlossenheit«. In diesem Sinne erweist sich das »Sein zum Tode« als der Schlüssel
der gesamten Analytik des konkreten Daseins," freilich so, das darin stets Erin-
nern und Gewesenheit mit dem »Auf-sich-Zukommen-lassen« des Zukünftigen
zusammenspielen, woraus die »ursprüngliche Einheit der Sorgestruktur« ent-
springt: »Dies dergestalt als gewesend-gegenwärtigende Zukunft einheitliche

15 Dies ist in det Tat die »Formel«, unter der Sein und Zeit von Anfang an steht: Übergang vom
Ontologischen zum Hermeneutischen und damit Überführung der metaphysischen Frage nach
dem Seienden »als« dem Seienden zur »post«-metaphysischen nach dem »Sinn von Sein«; vgl.
Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., Motto u. § 2, S. 5 ff.
16 Ebenda, § 83, S. 436.
17 Ebenda, S. 437. Die Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., haben ihren Faden wieder auf-
genommen und enthüllen gleichzeitig die Schwierigkeit: Sie werden schließlich »Praesenz als Ho-
rizont« im Sinne des »Anwesens« der Anwesenheit herausarbeiten — vgl. ebenda, S. 435; insb.
S. 431 ff. und weiter unten - und verbleiben damit im Rahmen klassischer Metaphysik. Von hier
aus hat Heidegger das Abenteuer seiner Unternehmung zunächst in eine andere Richtung ge-
lenkt: Frage nach der Metaphysik selbst in Was ist Metaphysik?, a.a.O., nach von Verhältnis von
Sein und Nichts, Sein und Wahtheit bzw. Sein und Grund etc., um schließlich beim Ereignisbe-
griff anzulangen; vgl. ders., Der Satz der Identität, a.a.O. Entsprechend wird die Zeitlichkeit des
Sinns von Sein nicht mehr als »Praesenz« verstanden, sondern als »Ereignen« im Sinne eines
»Singulare tantum«; ebenda, S. 25. Siehe dazu auch ders., Beiträge zur Philosophie (Vom Ereig-
nis), a.a.O., bes. § 42: »Von >Sein und Zeit« zum >Ereignis««, S. 84 ff. »Praesenz« wird dann ent-
sprechend im Sinne des »Anwesens« an den Anfang des abendländischen Denkens zurückgestellt,
d.h. als ein bestimmtes »Ereignen« des Seins gedacht; vgl. insb. ders., Was heißt Denken, a.a.O.,
S. 136 f. Doch führt die Untersuchung der verzweigten Entwicklungslinien weit über das hier
Gefragte hinaus.
U Vgl. insb. ders., Sein und Zeit, a.a.O., §§ 41 ff, S. 191 ff; § 65, S. 323 ff. u. S. 326.
l c Mit diesem Kunstausdruck wollen wir die Vollzugsform der Offenheit kennzeichnen, das Prozes-
sieren der Möglichkeit, ohne schon »etwas« zu »er-möglichen«, d.h. zu »wollen«.
2( Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., §§ 49-53 u. 61 f.; S. 246 ff, 301 ff.
412 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Phänomen nennen wir die Zeitlichkeit.«" Man könnte sagen: Heidegger schließt
Gedächtnis und Künftigkeit des Daseins vom Ort des Todes zusammen, denkt
vom Ende her, als der Anerkennung der ab-soluten Grenze, woher sich Sinn stif-
ten kann - und zwar in der Weise, daß »im Gegenwärtigen« dessen »eigentliche
Möglichkeiten« ergriffen werden müssen. Es ist diese Rede von der »Eigentlich-
keit«, dem Ergreifen und der Verschlossenheit, die im Jargon der Eigentlichkeit
von Adorno heftig attackiert wurde, um sie als »deutsche Ideologie« zu entlarven"
— eine Rede, auf die stets zurückgekommen wird, wenn Heidegger mit Ernst Jün-
ger verglichen und in die Nähe des von ihm anfangs begrüßten Nationalsozialis-
mus gerückt wird. Freilich verdankt sie sich im wesentlichen einer produktiven
Umdeutung des VI. Buches der Nikomachischen Ethik des Aristoteles und macht
damit das Zentrum seines Ethos des Verstehens aus." Ihr maßgeblicher Punkt ist
der Kairos, freilich im Sinne eines »Ergreifbaren«: Der »Augenblick«, heißt es in
den Grundproblemen der Phänomenologie, »(gehört) zur ursprünglichen und ei-
gentlichen Zeitlichkeit des Daseins«; er stellt »den primären und eigentlichen
Modus der Gegenwart als Gegenwärtigen« dar." M.a.W., die letzte Antwort, die
Sein und Zeit auf die Frage nach dem Sinn des Seins von Da-sein gibt, ist die
Zeitlichkeit des Augenblicks.' Dabei geht der Augenblick gleichsam durch die Zeit
hindurch; er manifestiert sich nicht als »Riß in der Zeit«, als »Unter-Brechung«
oder »Differenz«, wie wir den Kairos zu bestimmen suchen, sondern sein »Sinn«
eröffnet sich allererst im Horizont von Gewesenheit und Künftigkeit. Je nach
dem, wie wir also uns selbst und die Welt betrachten, wie wir uns um sie »sor-
gen«, welchen Bezug wir zu ihr und uns einnehmen, danach bemißt sich die Zeit.
D.h., das Dasein »hat« nicht Zeit, über die es verfügt; es wird nicht »in« sie als be-
reits bestehendet Horizont »geworfen«, sondern es erschließt sich seine Zeit: Seine
Weise zu sein bedeutet, sich zu zeitigen. 'Zeit ist also nichts, was von Außen

21 Ebenda § 65, S. 326; auch: 325 ff. passim.


22 Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 6, a.a.O.,
S. 413-526.
23 Dies kann nicht näher ausgeführt werden. Verwiesen sei freilich auf die Hinweise in: Günter Fi-
gal, Heidegger zur Einführung, Hamburg 2. Aufl. 1992; sowie Hans-Georg Gadamer, Ethos und
Ethik, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 3, S. 350-374; und ders., Auf dem Rückgang zum
fang, in: ebenda, S. 394—416. Der Begriff der Phrönesis, wie er dort entwickelt wird, bildet
gleichfalls den Kern der Gadamerschen Philosophischen Hermeneutik. Für Hinweise auf Hei-
deggers Verstrickungen in den Nationalsozialismus, wie sie vor allem wieder durch die Untersu-
chungen Victor Fari'as', Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1989, bekannt
geworden sind, seien die Biographie von Hugo Ott, Martin Heidegger, Unterwegs zu seiner Bio-
graphie, Frankfurt/M. New York 1988 sowie Otto Pöggeler, Heideggers politisches
nis, in: Annemarie Gethmann-Siefert, Otto Pöggeler (Hsg.), Heidegger und die praktische Philo-
sophie, Frankfurt/M. 1988, S. 17-63 und die Ausführungen Willem van Reijens in ders., Der
Schwarzwald und Paris. Heidegger und Benjamin, a.a.O., S. 184 ff. genannt.
24 Martin Heidegget, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 408.
25 Zwar bestimmt Heidegger die Zukunft als das »primäre Phänomen der ursprünglichen und ei-
gentlichen Zeitlichkeit«, aber nur so, daß darin die Gerichtetheit des Bezugs, seine Intentionalität
markiert ist. Tatsächlich bildet der Augenblick im Sinne des Kairos die entscheidende Zeitstruk-
tur. Sie verbindet sich später mit der Idee des Ereignens.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 413

kommt, sondern worin sich das Dasein selbst entwirft. Es zeigt sich als Ganzes in
und ab Zeitlichkeit.
Allerdings ist auf diese Weise lediglich die besondere Zeitlichkeit des faktischen
Daseins erfaßt, Zeit mit Existenz verbunden - mit Rücksicht auf das bedeutsame-
re »Ziel« der Entfaltung der Seinsfrage deren zentrale Thematik aber noch gar
nicht berührt. Sein und Zeit erschließt nur den »Sinn des Seins des Daseins«; es
bleibt insofern auf eine bestimmte - freilich grundlegende — Region des Ontolo-
gischen beschränkt." Verlangt ist jedoch darüber hinaus eine Revision der Frage-
stellung, die sie auf die Fundamente des Seinsverständnisses im Ganzen hin be-
zieht und aus der spezifischen Zeitstruktur des Daseins noch die Zeithaftigkeit des
Seins selbst entwickelt. Notwendig ist also der Übergang von Sein und Zeit zu Zeit
und Sein — schon die Umstellung der Reihenfolge im Titel markiert die dazu er-
forderliche Um-Kehrung der Begriffe wie ebenso deren »Krise«. Denn wenn
»Sinn« gleichbedeutend ist mit »Verständlichkeit«," ergibt sich die Frage nach
dem »transzendentalen Horizont«, worin Sein überhaupt verständlich wird, mit-
hin auch das »Sein des Daseins«: »Die Freilegung des Horizonts aber, in dem so
etwas wie Sein überhaupt verständlich wird, kommt gleich der Aufklärung der
Möglichkeit des Seinsverständnisses überhaupt, das selbst zur Verfassung des Sei-
enden gehört, das wir Dasein nennen.«" Dies zwingt zur Wieder-Holung der Ex-
plikation der Zeitstruktur, wie sie im 3. Abschnitt von Sein und Zeit nur unzurei-
chend vorgenommen worden ist, und die vor allem die anschließende Vorlesung
über Grundprobleme der Phänomenologie in ihrem wesentlichen Teil versucht
weiterzuführen. »Wenn Dasein in sich selbst Seinsverständnis birgt, die Zeitlich-
keit aber das Dasein in seiner Seinsverfassung möglich macht, so muß auch die
Zeitlichkeit die Bedingung der Möglichkeit des Seinsverständnisses und damit
des Entwurfs des Seins auf die Zeit sein.«" Die Grundprobleme unternehmen der-
art das Wagnis, »noch über das Sein hinaus nach dem zu fragen, woraufhin es
selbst als Sein entworfen ist«: »Wir müssen nicht nur Wirklichkeit verstehen,
um Wirkliches erfahren zu können, sondern das Verstehen von Wirklichkeit muß
seinerseits zuvor seine Erhellung haben. Das Verstehen von Sein bewegt sich
schon in einem überhaupt Helle gebenden erhellenden Horizont.« Dabei ent-
faltet die Wiedet-Holung und mithin die Radikalisietung des Problems seine Lö-
sung in Analogie zur Daseinsanalyse: Sein, als Sinn, wird selbst in die »Mögli-
chung« det Zeit gestellt, " und seine zeitliche Bestimmtheit auf »Praesenz« als Ho-

26 Die eigentliche Aufgabe, die sich Heidegger stellte, besteht in der Gründung einer »Fundamen-
talontologie«; bliebe sie bei der Analytik des Daseins als Existenzialanalyse stehen, träfe der Vor-
wurf Husserls zu, es handele sich bloß um »Existenzphilosophie«, zu. Vgl. dazu Otto Pöggeler,
Der Denkweg Martin Heideggers, a.a.O., S. 79.
27 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 32, bes. S. 151.
28 Ebenda, §45, S. 231.
29 Ders., Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 397.
30 Ebenda, S. 399.
31 Ebenda, S. 402.
32 Vgl. ebenda, S. 389.
414 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

rizont zugespitzt — freilich ohne daß diese auf »Gegenwart« hin enggeführt wer-
den könnte.
Tatsächlich ergibt sich eine parallele Figur zur Zeitlichkeit des Daseins als
»Augenblick«: Wie der Kairos nur im »wiederholenden Vorlauf« ergriffen werden
kann, so »zeigt sich« Sein im Sinne von »Praesenz« aus dem Ereignen der Zeit als
der »Gegenwärtigung« det Verschränkung von Gewesenheit und Zukünftigkeit.
Anders ausgedrückt: Die ursprüngliche Temporalität birgt einen ununterbroche-
nen Überschuß: Zeit »gibt«; sie »gibt« den Unter-Schied. Daher öffnet sich Sein
allererst im Unter-Schied zum Seienden durch den Prozeß des »Zeitigens«; es er-
hält dadurch sein »Licht« - »lichtet sich« im Sinne von Aletheia, dem Wahr-sein
in der Bedeutung von »Unverborgenheit«. Deswegen kann Heidegger auch die
»ontologische Differenz« aus der Zeit verstehen: »Der Unterschied von Sein und
Seiendem ist in der Zeitigung der Zeitlichkeit gezeitigt.« Das will sagen: Indem
Zeit geschieht, vollzieht sich die Differenz, bricht der Sinn von Sein immer wieder
neu und anders auf. In der Differenz ist weniger das »Unter-Scheidende« wesent-
lich, wie eine differenztheoretische Lektüre nahelegt, sondern das Sichentziehen-
de, das vor allem ein »Zukommendes« im Sinne von Zu-Kunft ist, das in seinem
Sinn, der »Lichtung« von »Wahrheit«, je unterschiedlich ausgetragen wird. Exi-
stieren heißt dann: Im Vollzug des Unter-Schieds »sein«, ihn dauernd zum Vor-
schein kommen zu lassen. Dieses Zum-Vorschein-kommen-lassen wird insbeson-
dere mit der Metapher des Lichts, der Offenbarkeit assoziiert, die phos mit
phainomenai verbindet. Das Ins-Licht-Kommen bedeutet dabei die Gewinnung
einer Sicht, eines Verständnisses von Wahrheit (aletheia). Wie das Licht das Me-
dium des Sehens ist und allererst »Sehen« läßt, ent-deckt sich Sinn im Ereignen
des Wahren (aletheia). Deren Ent-deckung, die nicht durch ein Subjekt vorge-
nommen wird, sondern von sich her geschieht, bezeichnet wiederum nur ein ande-
res Wort für »Sichzeigen«, woraus Heidegger insbesondere die ursprüngliche Be-
deutung von phainomenon rekonstruiert hat: »Obzwar Erscheinen« nicht und nie
ist ein Sichzeigen im Sinne von Phänomen, so ist Erscheinen nur möglich auf
dem Grunde eines Sichzeigens von etwas. Abet dieses das Erscheinen mit ermögli-
chende Sichzeigen ist nicht das Erscheinen selbst. Erscheinen ist das S'ich-melden

33 Vgl. ebenda, S. 435; insb. S. 431 ff.


34 Später hat Heidegger die ontologische Differenz radikaler aus dem Ereignis des «Unter-Schieds«
gedacht: der Ausdruck signalisiert mit der Trennung zugleich, daß sich die Offenbarkeit des
»Seins« im »Schied« des »Zwischen« »austrägt«. Deshalb heißt es: »Der Riß des Unter-Schiedes
läßt die reine Helle glänzen.« ders., Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 28; auch: S. 25 ff
35 Zum Verständnis der Wahrheit im Sinne von aletheia vgl. bes. ders.. Sein und Zeit, a.a.O., § 44,
S. 212 ff, vor allem S. 219 ff. Unverborgenheit, später »Lichtung«, noch später »Ereignis«, wird
ausdrücklich der traditionellen Wahrheit im Sinne der »Richtigkeit« oder der adaequatio kontra-
stiert; vgl. bes. ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947. Allerdings hat demgegenüber
Ernst Tugendhat eingewandt, daß damit nur die Vorstruktur des Verstehens, sein Eröffnen tan-
giert ist, nicht schon Wahrheit, deren Sinn stets an begründete Überzeugungen, mithin an
Strukturen der Rechtfertigung geknüpft ist; vgl. ders., Heideggers Idee von Wahrheit, in: Otto
Pöggeler (Hsg.), Heidegger, Köln Berlin 2. Aufl. 1970, S. 286-297.
36 Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, a.a.O., S. 454.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 415

durch etwas, was sich zeigt. Wenn man dann sagt, mit dem Wort >Erscheinung<
weisen wir auf etwas hin, darin etwas erscheint, ohne selbst Erscheinung zu sein,
so ist damit nicht der Begriff von Phänomen umgrenzt, sondern vorausgesetzt,
welche Voraussetzung aber verdeckt bleibt, weil in dieser Bestimmung von Er-
scheinung« der Ausdruck »erscheinen« doppeldeutig gebraucht wird. Das, worin
etwas »erscheint«, besagt, worin sich etwas meldet, d.h. sich nicht zeigt; und in der
Rede >ohne selbst Erscheinung zu sein« bedeutet Erscheinung das Sichzeigen.«
Mithin kommt das Phänomen im Sinne des Sichzeigenden dem zuvot, was er-
scheint. Heideggers Revision des Schellingschen Zuvorkommenden hat darin
Platz: Es witd, im Medium von Zeitlichkeit, hermeneutisch gedacht: Mit ihm ist
stets schon das legein im logos der Phänomenologie vorausgesetzt. Phänomenlogie
bedeutet dann: »apophainesthai tä phainömena: Das, was sich zeigt, so wie es sich
von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen«. Was sich derart sehen
läßt, muß bereits aufgewiesen sein: Ihm geht ein ursprüngliches Vernehmen vor-
weg. Das Sichzeigende untersteht also der Er-öffnung des Sinns als dem Herme-
neutischen, dessen »Grund« oder »Ur-Sprung« wiederum die Zeit ist. Anders aus-
gedrückt: Die Zeit »gibt« Sein, »gibt« somit auch Verständnis. Was daher ver-
standen werden kann, ist Ereignis der Zeit. Deshalb hat Heidegger später das Er-
eignis auf seine etymologische Wurzel des »Eräugens« hin zurückgeführt: »(E)r-
blicken, im Blicken zu sich rufen, an-eignen«. Es ist, allerdings in seinem Gehalt
gewendet, verwandt zu »Sichzeigen«, »Lichten«, »Ent-decken« oder, schließlich,
das »Unverborgene« (aletheia) überhaupt.
Heideggers Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Sein, Zeit und Er-
eignis lautet demnach: Zeit läßt Sein ereignen; sie »verstattet« die »Gabe des
Seins«. Zeit ist »Gabe«, wobei der Ausdruck »Gabe« wörtlich als das jeweils
Kommende zu verstehen ist. Dabei bedarf das (Sich)geben des Ereignisses der
Zeit: Sie eröffnet den Raum, in dem das Ereignen geschieht, ohne daß das, was
sich ereignet, präjudiziert wäre: Es ereignet (sich). Doch muß es als solches eigens
erst aufgenommen und geborgen werden. Zur »Sorge« des Daseins tritt so gleich-
sam die »Sorge« des Denkens hinzu: Sie wird zur »Sorge« um die »Gabe des
Seins«, um das Ge-Gebene, der Mensch entsprechend zu ihrem Hüter, zum
»Hirten«. Was die Zeit »gibt«, ereignet sich dann als ekstatisches
men, deren Empfanger der Mensch ist, doch so, daß er für das jeweils Empfange-
ne im Sinne ursprünglicher »Lichtung« Sorge trägt. Ohne solche Sorge, ohne
»Schonung« " öffnet sich Wahres nicht: So ist das Ereignis der »Gabe«, das, wie es

37 Ders., Sein und Zeit, a.a.O., § 7, S. 29, 30.


38 Ebenda, S. 34.
39 Ders., Der Satz der Identität, a.a.O., S. 24, 25.
40 Zu den Begriffen der »Gabe«, des »Gebens« bei Heidegger, vgl. ders., Zur Seinsfrage, a.a.O.,
S. 39; ders., Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O., S. 230 sowie Zeit und Sein, a.a.O.,
S. 5 ff, 19 ff.
41 Ders., Über den Humanismus, a.a.O., S. 29.
42 Ders., Bauen, Wohnen, Denken, in: ders., Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 139-156, hier
S. 143 ff
416 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

heißt, »rufend, brauchend das Menschenwesen er-äugnet«, ebensowohl Gesche-


hen, was von sich her geschieht, wie es gleichwohl seiner bedarf, um zu geschehen.
Das meint auch: Erst der Mensch bringt das Sein zur Geburt, indem er sich ihm
deutend und »dichtend« zuwendet. Die Geburtsstätte, die selbst nicht ereignen
läßt, sondern »Ort« (chora) oder »Medium« ist und das Ereignis »vereignet«,
d.h. ins Eigene bringt, ist zuletzt die Sprache. Durch sie sucht der Mensch dem
An-Spruch des Seins zu ent-sprechen. Doch bleibt darin das Sein selbst, daß sich
ereignet, »ungesprochen«: Es bedeutet das Unaussprechliche, das Nichts, das al-
lererst geschehen läßt. Darum sagt Heidegger: »Das Sein kommt, sich lichtend,
zur Sprache.« ' Das ist wörtlich zu lesen: Das Sein geht als Ereignen voraus, »zeigt
sich«: Es kommt, ohne Sprache zu sein, als dieses Sichzeigende zur Sprache hin,
wobei die Sprache ihm buchstäblich eine Wohnstatt erteilt: Sie »gibt« das Sichge-
bende. Impliziert ist darin: Das Sein selbst bleibt sprachlos: Was es »ist«, läßt sich
nicht sagen; es bleibt (sich) vorweg: »Das Denken bringt nämlich in seinem Sa-
gen nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache.« Dennoch wird es, als
Zu-spruch, durch den Menschen, gesprochen: Das Sein be-ansprucht ihn, um
»sich« zu be-deuten, d.h. »Sinn« zu gewinnen. Dann wird dem Menschen eine
»Fülle« zuteilt, die er sich - deutend - wendet: Er ist das Offene, das Unbe-
stimmte, d.h. auch: das Empfangene, wohingegen das Sein, als das Sichereignend-
Kommende, einem Überflußgleicht. So gerät Heidegger in eine Struktur, die in
der Nähe zu dem steht, was spezifischer als das Spiel von An-Ruf und Ant-Wort
beschrieben werden kann: An-Rufdes Seins, indem »es«, das nicht schon Sprache
ist, herausfordert — und Ant-Wort des Menschen, der im Begegnenlassen das ver-
gebliche Wort versucht: »vergeblich«, weil es nie trifft, sondern bereits verwan-
delt, indem es dem Unaussprechlichen einen Namen leiht; »Versuch«, insofern es
in seiner Vergeblichkeit stets nur »Wagnis« sein kann, das trotzdem spricht.
An-Ruf und Ant-Wort gehören somit unabdingbar zusammen, können nicht
ohne einander sein: Der Mensch »wohnt« im Zwischen, im Übergang; er ist das
»hermeneutische Wesen«, weil er, wie Hermes, der Göttetbote, nur »Mittler« sein

43 Ders., Überwindung der Metaphysik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 64—95, hier:
S. 95.
44 Ders., >... dichterisch wohnet der Mensch ...«, in: ders., Vorträge und Aufsätze, a.a.O., S. 1 8 1 -
198.
45 Ders., Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 260.
46 Ders., Über den Humanismus, a.a.O., S. 45.
47 Ebenda.
48 Das Leiden an der eigenen »Sprachnot« Heideggets, von der Gadamer immer wieder berichtet —
vgl. z.B. ders., Ethos und Ethik, a.a.O., S. 374 - , hat hierin seine Wurzel: Bemühung um einen
stets inadäquat bleibenden Ausdruck. Sie muß schließlich noch jedes Wort im Satz verwandeln,
jeden »Begriff«, weil er an die Sprache der zu überwindenden Metaphysik erinnert, und fällt doch
in sie zurück. Daher auch die Schwierigkeit einer Darstellung des Heideggerschen Anliegens, oh-
ne unablässig in dessen eigenen Duktus zu verfallen.
49 Das Motiv des »Wohnens« gehört zu den Grundmotiven der Heideggerschen Spätphilosophie:
Wohnen, das erst noch gelernt werden muß, weil es dem »Herrschen« und »Besitzen« entgegen-
gesetzt ist; es erfüllt sich im »Schonen«; vgl. ders., Über den Humanismus, a.a.O., S. 42 f.; ders.,
Bauen, Wohnen, Denken, a.a.O.; ferner ders., >... dichterisch wohnet der Mensch ...«, a.a.O.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 417

kann: Ver-Mittler zwischen Ereignis und Sinn. So findet sich bei Heidegget im-
mer die doppelte Bewegung, die einen Übergang, eine Passage markiert: »Fahrt«
oder Reise, wie sie Derrida mit der Dichtung in Verbindung bringt, die weder
Ausgangspunkt noch Ziel kennt, sondern nur den »Weg«, das beständige »Un-
terwegs«: Be-Wegung zwischen Anspruch des Seins als Ereignis der »Gabe« einer-
seits — und Antwort des Menschen als Ver-Antwortung der Sprache andererseits. Ein
Anderes gibt (sich) durch die Zeit - Andersheit, die im Lichte der Tradition der
Metaphysik als »Nichts« im Unter-Schied zu »Etwas« gefaßt wird," dem umge-
kehrt nur ent-sprochen werden kann, indem es akzeptiert oder angenommen
wird: »Jede Bejahung beruht im Anerkennen. Dieses läßt das, worauf es geht, auf
sich zukommen.« Darum mündet die Be-Wegung des Menschen letztlich darin,
das »Sein - sein (zu lassen)«. Nichts anderes meint auch der Ausdruck »Gelas-
senheit«: Wahrung und »Schonung« des Seins durch die »Acht«. Auch diese
wiederum erweist sich als doppelsinnig: Achtung, die anderes achtet und auf es
achtet. Die »Achtung« nimmt »in die Acht«: Sie beruht gleichermaßen auf aisthe-
tischer Aufmerksamkeit wie ethischer Fürsorge.

Ethik des Ant- Wortens

Wir haben demgegenüber das Ereignis an Setzung gebunden und damit ange-
deutet, daß ihm von sich her eine Positivität eignet: nichtrevidierbares Faktum,
das sich von vornherein im Status einer Andersheit hält. Gleichzeitig hat es sein
Erscheinen auf der Ebene der Materialität, es behauptet dann seine unverwech-
selbare Gegenwart, seine besondere Dauer und Renitenz. Doch ist mit ihm vor
allem ein Einfaches erblickt: Eine Geste, die provoziert oder zurückhält, eine
Handlung, die grüßt oder abweist, ein beiläufig Gegebenes, das überrascht oder
beunruhigt, ein rätselhaftes Objekt, dessen Material sich aufdrängt oder Wider-
stände auslöst, die als Singularitäten begegnen, abstoßen oder überwältigen und
dabei nicht negiert werden können, ohne sie zu ignorieren und damit bereits an-
erkannt zu haben. Ihre Faktizität ist Merkmal ihrer Setzung; sie dulden keine
Verweigerung: Auch wenn sie verneint, verworfen oder zerstört werden, behalten
sie die Tatsache ihre »Daß« (quod): Es handelt sich um Weisen des Bezugs, die
noch auf diese reagieren. Die Wurzel der Negativität liegt so im Symbolischen, in
der Nachträglichkeit: Mit den Zeichen kommt die Möglichkeit des »Nein«, der

50 Vgl. Jacques Derrida, Was ist Dichtung? a.a.O.


51 »Weg« bildet eines der anderen Grundworte der Spätphilosophie Heideggers; vgl. etwa ders,
Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 198 f., 261. Es wird im Zusammenhang mit »Wink« bereits
seit den Beiträgen verwendet; vgl. ders., Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), a.a.O.
52 Vgl. ders., Zur Seinsfrage, a.a.O., S. 38 f.; ders., Über den Humanismus, a.a.O., S. 43 ff.
53 Ders., Über den Humanismus, a.a.O., S. 43.
54 Ebenda, S. 42.
55 Ders., Gelassenheit, a.a.O.
418 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

Nicht-Anerkennung oder der Gewalt ins Spiel. Nicht nur ist ihnen die Täu-
schung, die Maske oder die Fiktionalität eingeboren, sondern ebenso die Aus-
löschung der Alterität als Widerfahrnis: Die Zweideutigkeit von Trennung und
Aufhebung, von Nähe und Distanz, von Ver-Gegenwärtigung einer Nichtgegen-
wart ist darin gespiegelt. Dagegen haben wir an einem Nicht-Zeichen im Zeichen
festgehalten, an einem Anderen-seiner-selbst, das es unablässig stört, unterwan-
dert und von seinem Be-deuten fortreißt oder aus seinen Ordnungen ent-
fremdet: Ereignen, das ihrer Mitte ent-springt, ohne gesagt werden zu können, das
die Identität ihres Sagens beständig verschiebt, vereitelt; Überschuß, der weder
beherrscht noch einverleibt werden kann, sondern (sich) ipreis-gibt, (sich) zeigt.
Wir haben sie zunächst am Ort des Aisthetischen zu rekonstruieren versucht: Au-
gen-Blick einer Gewahrung, die sich von ihnen auf-fordern, ansprechen läßt. Sol-
ches Fordern oder Ansprechen meint noch kein Sprechen, kein Sagen im Sinne
der dictio, sondern (Sich)zeigen, das wir als Ereignis der »Gabe« vom Begriff der
Aisthesis her als eine Erfahrung von Wahrnehmung charakterisiert haben - »Erfah-
rung« in der Bedeutung, wie Heidegger sagt, »daß es uns widerfährt, daß es uns
trifft, daß es über uns kommt«. Wir wollen sie jetzt nach der Seite ihrer ur-
sprünglich ethischen Dimension ausloten. Dabei wird es besonders um die Bezie-
hungen zwischen Wahrnehmung und Anerkennung, Aufmerksamkeit und Ach-
tung gehen. Denn die primäre Anerkennung der Wahrnehmung liegt in der An-
erkenntnis des »Daß« (quod), der Ex-sistenz des Anderen, dessen wir augenblick-
lich ausgesetzt sind, ob wir es annehmen wollen oder nicht. Wir haben es mit
Schellings Begriff des »Zuvorkommenden« bezeichnet. Was bedeutet dann aber
»zuvor«? Und durch welchen temporalen Sinn ist »Kommen« charakterisiert?
Und aufweiche Weise ist dies mit Achtung verbunden?
Das Ereignis als Setzung ist (sich) vorweg; es setzt (sich); es ist »da«, als Plötz-
lichkeit, noch bevor sich »etwas« gezeigt hat. Es ist mithin das »Zuvor« der
(Sich)zeigens vor dem Zeigen-ab - das, was ihm nicht im Sinne einer Apriorität
vorausgeht, sondern was in einem temporalen Sinn gerade ankommt, was eben
seine Wirksamkeit entfaltet: Bewegung, die sich noch nicht »als« Bewegung of-
fenbart, Gegenwart, die in ihrer Gegenwärtigkeit noch prekär bleibt, Materialität,
die in ihrer »Klebrigkeit« (Sartre), ihrer Anziehung oder Gravitation »an-west«
(Heidegger), ohne »anwesend« zu sein. Entsprechend verweist ihr zeitlicher Cha-
rakter nicht auf Künftigkeit; er besteht weder im »Vorlaufen« (Heidegger), noch
enthält er einen Aufschub, eine Verzögerung im Sinne des »Noch-Nicht«: Es ist
ohne utopisches Potential. Das Ereignis der »Gabe« meint deshalb auch kein
»Ausstehendes«, kein Unerfülltes oder Antizipierbares: Es ist An-Kommen, aber
nicht »im Kommen«; es »gibt (sich)« jeweils als das, was kommt, ohne damit ins
Futur gestellt zu sein, an den Un-Ort eines ewigen Versprechens messianischer
Hoffnung. Es kommt, indem es schon »da« ist. Seine Zeitlichkeit ist daher der Au-

56 Dem entspricht die Intuition Umberto Ecos, daß unter Zeichen alles zu verstehen ist, womit
man lügen kann; vgl. ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, a.a.O., S. 26 f.
57 Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, a.a.O., S. 159.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 419

gen-Blick, das »absolute Präsens«, das nicht bereits gegenwärtig »ist«, sondern in
jedem Moment im Werden begriffen bleibt. »Zuvorkommen« bedeutet demnach
wörtlich: Vor der Ankunft sein. Den Zeitbezug, den Heidegger ins Primat stellte,
wird auf diese Weise wieder umgekehrt. Das Ereignen, als Augen-Blick, geschieht
eigentlich vor der Zeit, weil es nichts ist, von dem sich eine Vergangenheit oder
Zukunft angeben ließe, wovon es auch kein »Gewesensein« gibt, weil dieses stets
eine »Wiederholung«, eine Erinnerung und mithin auch eine Be-zeichnung, eine
Symbolisierung, eine Spur schon voraussetzte. Der Augen-Blick ereignet sich
vielmehr in der Kluft der Zeit, als Differenz. Er eröffnet den Raum, in dem über-
haupt »etwas« geschieht.
Unbestritten gibt es die symbolische Zeit, die Zeitlichkeit der Symbolisierung,
die Zeitigung des Symbolischen — wir haben sie gleichermaßen bei Peirce wie bei
Saussure identifiziert und nachgezeichnet; unbestritten gibt es auch das Ereignis
des Sinns, ereignet sich die differance, zeitigen sich die Geschichte unserer Selbst-
auslegungen und Weltverständnisse, die Texturen des Kulturellen, ihre Systeme
des Wissens, ihre Gedächtnisse und diskursiven »Archive« (Foucault). Uns
kommt es nicht darauf an, sie in Abrede zu stellen oder ihnen keine Relevanz zu-
zumessen; uns kommt es vielmehr darauf an zu betonen, daß sich »zwischen ih-
nen« ebenfalls stets anderes ereignet, das fortwährend aus ihnen herauskippt. Die-
ses »Kippen«, das durch mannigfache ästhetische Techniken, Kunstaktionen,
Rituale odet »Performative« erzeugt oder forciert wetden kann, folgt einer ande-
ren, unberechenbaren »Spur« — wiederum »Spur« jenseits der Spur. Nachhall, der
indirekt geschieht. Er löscht die Zeit im Augen-Blick aus. Zwar er-gibt (sich) das
Ereignis stets in det Zeit, doch geschieht zwischen den Entwürfen, Strukturen
und Konstruktionen immer (etwas), was deren Pläne durchkreuzt und die Er-
wartungen vernichtet, das Resistente und Rissige, was als das gleichermaßen Un-
fugliche wie Unverfugbare ausgewiesen weiden kann, was die Ordnungen des
Seins stört, sprengt oder ganz vereitelt. Unser Interesse an den Grenzen des Sym-
bolischen gilt vor allem solchen Augen-Blicken und dem, was sie auszulösen und zu
er-wecken vermögen. Gemeint ist der Kairos in der Bedeutung eines Bruchs in
der Zeit, einer Zäsur. Moment der Umwendung, des »Sprungs«. Ihr sprachliches
Korrelat ist das katachretische Paradox. Solche Ereignisse fallen nicht in die Zeit,
indem sie sich von einer ursprünglichen Temporalität her »er-geben«: Sie sperren
sich der Zeitigung, ver-werfen sie. Dann wäre das Ereignis selbst die »Gabe« der
Zeit, ohne durch die Zeit ge-geben zu sein. Ersteres »gibt (sich)« als ab-solutes
Präsens, während letzteres bereits der Struktur des Perfekts geschuldet bleibt. In
Umkehrung gleichermaßen zur »Zeit-Gabe« Derridas »gibt« dann nicht die Zeit
das Ereignen, insofern sie es vermöge ihres Horizonts allererst zuläßt, sondern sie
wird durch dessen Aufklaffen gleichsam in ihren Innern gespalten. D.h. der Ge-

58 Als »fallbeil-schnelle(s) Sich-Umordnen tragender Elemente« und »gleichgewichtsstürzende(s)


Entblinden« hat Ulrich Pothast solche ästhetischen Prozesse beschrieben; vgl. ders., Philosophi-
sches Buch. Schrift unter der aus der Entfernung leitenden Frage, was es heißt, auf menschliche
Weise lebendig zu sein, Frankfurt/M. 1988, S. 452 u. 446.
59 Vgl. bes. den ersten Teil von: Jacques Derrida, Falschgeld, a.a.O., S. 28 ff.
420 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

gensatz, auf den es uns ankommt, vetläuft zwischen der Zeit ab Ekstasis und Ek-
stasis ab Ereignen. Es »tritt ein«, skandiert die Zeit, diskontinuiert sie und trägt sie
dadurch anders aus. Das hieße: Im Ereignen ist die Zeit eigentümlich aus-gesetzt.
Es ist, als gäbe es Momente des Anhaltens, der Aus-Zeit, wie im Schlaf, der in-
mitten der Anfangslosigkeit ein »anderes Anfangen« erlaubt.
Unterstrichen wird auf diese Weise gleichzeitig ein besonderer Nimbus des Er-
eignens: Sein Kommen beschleicht uns, zieht uns zu sich, fesselt uns oder fordert
mit der gebieterischen Kraft seiner ganzen Unausweichlichkeit. Solche Forderung
stellen wir unter den Titel des An-rufi.' Er meint nicht schon eine Sprache, son-
dern die Unmöglichkeit, ausweichen zu können. Kein Ereignis hat die Macht zur
Diskontinuierung der Zeit, riefe es nicht zu sich hin. Es beansprucht seine Be-
achtung. Dabei bedeutet der Anspruch nichts; er spricht nicht »etwas Bestimmtes«
an, wendet sich nicht ausdrücklich an uns: Er hat nicht die Gestalt einer Bezie-
hung. Daraus folgt auch: Er bedarf unserer nicht, er bleibt »unscheinbar«; wohl
aber bewirkt er — wie eine gewisse Form von Schweigen die Stille zerreißen kann
- , daß eine Lücke klafft und wir aufgefordert sind zu ant-worten. Das gilt insbe-
sondere auch dann, wenn wir uns weigern, wenn wir seinen Ruf ignorieren oder
übergehen: Sie bilden nur Modalitäten einer selbst noch antwortenden Negation:
Unsere Ant-Wort besteht dann darin, nicht zu antworten. Doch ist entscheidend,
daß im Anruf der An-Spruch des Ereignens ab Alterität geschieht. Was an-
spricht, ist stets Anderes, das auf uns zukommt, das an-rührt, ohne indiziert, ge-
wählt oder verursacht zu sein: Wir können uns weigern, es wahrzunehmen, aber
wir können nicht umhin, es entgegenzunehmen. Wenn wir so den Begriff der
»Alterität« in den Vordergrund rücken, dann, weiter als bei Levinas, auf den wir
uns hier beziehen, als Anderes überhaupt. Ex-sistenz, die begegnet und sich aller
Machbarkeit oder Konstruierbarkeit entzieht: Der Andere, über den wir sowenig
verfügen, wie über Natur, die anders bleibt als alles, was sich je be-zeichnen oder
verstehen läßt: Fremdheit schlechthin.' Es ruft uns in die Struktur einer Responsi-
vität hinein. Man könnte sagen: Der Anruf, sein Appell, bricht ein, »lädt mich
vor«, wie wiederum Levinas es ausgedrückt hat.'" Er birgt keine Frage, wohl aber
eine Nicht-Gleichgültigkeit. Nicht zwingend ist dazu, daß wir uns konkret ange-
sprochen fühlen: Angerufen-sein verlangt keine Resonanz; es unterstellt wedet,
durch »etwas« angesprochen zu sein, noch sich an jemanden zu wenden, um seine
spezifische Antwort zu erhalten: Er er-fordert keinen Adressaten. Vielmehr ge-
schieht der An-Ruf, indem er uns in Relation zu einer Andersheit stellt, die wir
nicht »gemacht« haben und der wir nur be-gegnen können oder gar nicht.
Es wäre allerdings problematisch, solche Antwortstruktur aus der Vorgängig-
keit der Frage zu lesen; vielmehr sind wir schon in die Struktur einer Responsivi-

60 Wir verweisen so auf einen zentralen Begriff der Philosophie von Levinas; vgl. ders., Totalität
und Unendlichkeit, a.a.O., S. 141; ders., Das nichtintentionale Bewußtsein, a.a.O., S. 165-
61 D.h. auch, soweit wir selbst Natur sind, bleiben wir uns stets selber fremd, und die Fremdheit
umgekehrt Signum einer nichtdomestizierbaren »Rückständigkeit«.
62 Vgl. Emmanuel Levinas, Vom Einen zum Anderen. Transzendenz und Zeit, in: Zwischen uns,
a.a.O., S. 167-193, hier: S. 184.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 421

tat gestellt, bevor eine Frage ergangen ist: Antwort auf eine nicht gestellt Frage,
Fraglichkeit mithin, die ich nicht verstehen kann oder irgendwo vernommen
hätte — Fraglichkeit wiederum, die mit der Fragwürdigkeit der Ex-sistenz selber zu-
sammenfällt. Folglich erweist sich die Struktur von Anruf und Antwort als eine
andere als jene Frage-Antwort-Dialektik, wie sie Hans-Georg Gadamer ins Zen-
trtim seiner Philosophischen Hermeneutik rückte: Sie geht ihr noch voraus.
Diese privilegiert überall das Sagen, das gegenseitige »Geben« und »Nehmen«,
denn, so Gadamer, »(w)er verstehen will, muß also fragend hinter das Gesagte zu-
rückgehen. Er muß es als Antwort von einer Frage her verstehen, auf die es Ant-
wort ist.« So wird das Antworten allein auf den Sinn einer Frage kapriziert, wie
umgekehrt das Verstehen absolut gesetzt witd: Die Frage rührt an ein Rätsel, das
kein Enigma ist, sondern Unverständlichkeit, die eine Antwort im Sinne der Er-
widerung provoziert. Die »Ursprünglichkeit des Gesprächs« ergeht nach Gadamer
von dort her.' Demgegenüber erscheint der An-Ruf als das zunächst Sinn-lose: Er
trifft im Ganzen und eignet darin der dilemmatischen Form, auf etwas Antwort
»geben« zu müssen, was gerade nicht verstanden werden kann - wo es sogar nicht
einmal etwas zu verstehen gibt. Deshalb kann man auch nie wissen, »was« und
»worauf« man jeweils antwortet. Entsprechend ent-springt nicht die Antwort ei-
ner vorläufigen Deutung, die das Unverständliche auszuräumen trachtet, viel-
mehr jener Abgründigkeit, aus der der Ruf erfolgt: Augenblick, der Verwirrung
stiftet, der eine Ratlosigkeit aufbrechen läßt und die Schwierigkeit deutlich
macht, wie überhaupt zu antworten sei.
Darum heißt, wenn wir dem Frage-Antwort-Schema die Beziehung von Anruf
und Antwort vorziehen, immer schon vom Ausgesetztsein ins Ereignis der Alterität
auszugehen. ' Von ihm berührt oder be-wegt läßt das Mysterium der Ex-sistenz
nicht los: Es bedrängt, »stellt nach«, zwingt in die Struktur der Responsivität, nö-
tigt zu antworten - nötigt damit zugleich zu etwas, was wir nicht vermögen. Im
Zeitmodus des Kommens, der Ankunft des Ereignisses ist diese ursprüngliche Nö-
tigung bereits eingelassen. Was begegnet, erscheint uns aufgetragen als ein Ande-
res, dessen Notwendigkeit auf eine genuine ethische Bindung hinweist. Sie ist Bin-
dung in dem Sinne, daß wit uns nicht weigern können zu antworten, auch wenn
wir nicht wissen wie. Die Struktur des Antwortens nimmt dabei ein anderes Ge-
wicht ein als bei Heidegger: Sie bedeutet nicht Ent-sprechung im Sinne des
Deutens, um zur Sprache zu bringen, wo das Wort fehlt: Begehren des Seins nach
dem Menschen, um sich durch ihn zu »entbergen«. Vielmehr bedeutet Antwor-
ten primär und vor aller Ereignung des Sinns eine Überantwortung an Anderes im
Sinne der Aus-Setzung. Impliziert ist damit die Unter-Stellung (subiectum) unter
das Ereignis der Setzung als dem Widerschein eines Höheren. Antworten bezieht

63 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 351 ff.


64 Ebenda, S. 352; auch S. 350.
65 Ebenda, S. 350 f., auch: S. 360.
66 Vgl. dazu unsere weiterführenden Versuche in: D. Mersch, Aisthetik und Responsivität. Zum Ver-
hältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung, a.a.O.; sowie: ders., Ereignis und Aura. Unter-
suchugen zu einer »performativen« Ästhetik, a.a.O.
422 EREIGNIS UND SICHZEIGEN

sich vom Anderen her, ihm kommt das Andere zuvor, d.h. ihm inhäriert das Zu-
vorkommen der Alterität selbst. Antworten verdankt sich aber diesem Zuvorkom-
men der Alterität; sie bezeichnet keinen Akt freier Wahl,' sondern Er-ge-^ung.
Zwar hat jede Antwort immer einen Bezug zur intentio: Sie richtet sich »an«,
wendet sich »zu«; doch zunächst und zuerst besteht die »In-Indifferenz« (Levinas)
des Respondierens darin, vor der Intentionalität ein Anderes anzuerkennen. Ant-
worten setzt »Zuwendung« in dem Sinne voraus, daß sich seine Beziehung, seine
Weise der Bezugnahme im Vorrang von Andersheit von vornherein modifiziert
hat: Es setzt sich vom Intentionalen ab, weil es nicht mehr der Logik des Selbst-
bezugs gehorcht, sondern sich durch das stellen läßt, was an-spricht, ohne spre-
chen zu können. Die intentio des Antwortens wäre so stets sekundär - sie folgt
dem Ereignis der »Gabe« nach, sie hat sich ihm bereits unterworfen (sub-icere).
Das meint zugleich, sich der »Gabe« der Exteriorität zu »überantworten«, sie zu
ver-antworten.
Nicht anders heißt eigentliche »Aufmerksamkeit«;' in ihrer Gewahrung des
jeweils (Sich)zeigenden liegt schon dessen Achtung. Damit wandelt sich auch die
Heideggersche »Acht«: Sie bedeutet nicht länger »Schonung«, sondern Nachord-
nung; statt des »Sich-richtens-auf« der Intentionalität ist sie durch ein »Sich-
richten-«a<r/;« in der Bedeutung der Einseitigkeit oder Asymmetrie gekennzeich-
net. Responsivität beinhaltet entsprechend eine Er-gebenhe'it, die sich offen hält
für die »Gabe« des jeweilig (Sich)gebenden. Der Vorrang des Ereignis der Alterität
zwingt damit das Denken, wie wir bereits angedeutet haben, zur Umwendung sei-
ner Bezugsform: Denken hieße also, wie auch Lyotard bemerkt hat, »Kommen-
lassen«;' es »erleidet« die Ekstasis des (Sich)zeigens: Es folgt dem nach, was jeweils
zuvor (sich) schon gibt, (sich) zeigt, wandelt sich von der actio der Intentionalität
zur passio des Responsiven, dem auf diese Weise die ganze Last der Nachträglich-
keit obliegt. Gleichwohl beinhaltet sie eine andere »Verspätung« als jene, die Der-
rida der Schrift oder der Spiel der Zeichens überhaupt bescheinigte: Sie beruht
auf dem ethischen Fundament einer Selbstbescheidung des Antwortenden. So wendet
der Primat der Responsivität nochmals den Primat der Zeitlichkeit, wie Heideg-
ger ihn exponiert hat, zu einem Primat des Ethischen: Ursprüngliche Aisthesis und
ursprüngliche Ethik der Responsivität bedeuten dasselbe. Ihr ist, anstelle der Unter-
werfung der Struktur von Intentionalität unter das Geschehen der Zeit die Ab-
setzung vom Intentionalen, mithin der Übergang zur Anerkenntnis der Alterität
immanent.
Eingeschrieben ist darin allerdings eine chronisch prekäre Sttuktur: Sie geht
mit der prinzipiellen und unausräumbaren Unbestimmtheit des Antwortens sel-
ber einher. Denn jede Antwort geschieht stets im Weglosen (a-met-hodos): So wie
sich beiläufig sagen ließe, daß immer eine Antwort möglich ist, so versucht sie

67 Entsprechend heißt es bei Waldenfels: »Wer von »Akt« spricht, setzt bereits voraus, daß die Rede
irgendwie vollzogen, irgendwem zugeschrieben, auf irgend etwas gerichtet oder auf sonstige Weise
eingeordnet und zugeordnet ist.« Vgl. ders., Antwort-Register, a.a.O., S. 196.
68 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und Unendlichkeit, a.a.O., S. 139 ff.
69 Vgl. Jean-Francois Lyotard, Ob man ohne Körper denken kann, a.a.O., S. 824.
ALTERITÄT UND STRUKTUR DER RESPONSIVITÄT 423

dennoch ein Unmögliches: Zwar können wir nicht umhin zu antworten, doch
können wir gleichzeitig im Antworten nirgends ent-sprechen. Es gibt daher keine
Finalität, keine Erfüllung, keine Identität odet »Horizontverschmelzung« (Gada-
mer); das Antworten verweigert sich dem Gelingen eines gemeinsamen Sinns
oder des Ein-Verständnisses; ihm bleibt allein die Hin-Gabe an den Augen-Blick
einer Alterität, jene Un-Erfülltheit, die Levinas mit der Idee der Un-Endlichkeit
als der Idee einer Ent-Grenzung überhaupt assoziiert hat. ' Alle Symbolisierung,
alle Zeichenordnung oder Textur wie auch das Aufklaffen des Sinns oder der
differance ist von dieser grundlegenden Struktut des Responsiven gezeichnet. Das
bedeutet nicht, daß sie sich darin erschöpften; wohl aber zieht sich die »spurlose
Spur« des Ereignens und entsprechend die Bodenlosigkeit des Antwortens durch
alles, was sich sagen läßt: Es läßt uns sprechen — wiewohl wir nie dabei wissen kön-
nen, worauf wir antworten.

70 Dies bezeichnet das ganze Thema von Totalite et Infini; vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und
Unendlichkeit, a.a.O., bes. S. 59 ff, 421 ff.
TEIL IV

»FÜLLE«
»FÜLLE« 427

5. Jackson Pollock, Shimmering Substance, 1946, © VG Bild-Kunst 2001


428 »FÜLLE«

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6. Yves Klein, / c £ 3 3 , fl/> vergoldeten Kugeln, 1960, © VG Bild-Kunst 2001


»FÜLLE« 429

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7. Robert Rauschenberg, Co-Existence, 1961, © Robert Rauschenbetg/VG Bild-Kunst 2001


430 »FÜLLE«

— 5

8. Kurt Schwitters, Merzhau, 1933, © VG Bild-Kunst 2001


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PERSONENREGISTER

Adorno, Theodor W. 30,31,32,70,76, Calvino, Italo 285


81-83, 86, 91, 95, 133ff., 139, 145, 146, Carroll, Lewis 11,12
151-157, 159, 164, 176, 202, 256-261, Cassirer, Ernst 18, 159ff, 165-176, 178,
277, 302, 304, 337, 375, 387, 397, 400, 186,244
412 Castoriadis, Cornelius 270
Aristoteles 14, 24, 38, 101, 103, 134, 163, Charles, Daniel 196f.
164, 181, 183, 213-217, 219, 229, 236, Chiari, Guiseppe 27
248,312,377,412 Chomsky, Noam 307
Arnauld, Antoine 217 Cicero 51
Arp.Jean 196,351 Cocteau, Jean 92, 297
Artaud, Antonin 114, 198, 208, 301, Cucchi, Enzo 28
365f.
Apel, Karl-Otto 307, Dante Alighieri 75
Austin, John Langshaw 26, 123, 238, 241 De Chirico 297
Deleuze, Gilles 202, 304, 333,
Bacon, Francis 71 341
Ball, Hugo 115,351 Derrida, Jacques 14, 15, 16, 21, 25, 26,
Bally, Charles 286 29, 35, 42, 58, 65, 70, 102, 104-112,
Baumgarten, Alexander Gottlieb 173 114, 116, 118f, 123, 136, 156, 183,
Barthes, Roland 14, 23, 41, 42, 62f, 76, 202, 206f., 211ff, 213, 219, 221-225,
83-87, 92f., 104f., 112, 114, 120, 122, 233f, 257, 280, 287f., 310f., 314,
124, 136, 186-195, 237, 255, 283, 287, 322, 324f., 327ff, 332, 335,337-351,
293f., 302f., 313f., 318, 323f, 329, 332, 357-373, 377-380, 382, 417,419,
334-336, 337, 408 422
Batailles, Georges 198,364 Descartes, Rene 79, 340
Baudelaire, Charles 68, 373 Duchamp, Marcel 196
Benjamin, Walter 23, 38, 76, 83, 89-96,
124, 138, 150, 164, 166, 201, 202, 305, Eco, Umberto 15, 53, 54, 188, 190, 225,
347, 350, 374f., 378 284
Benviste, Emile 317 Ernst, Max 77, 80
Beuys, Josef 28, 196,376 Escher, M.C. 80
Blanchot, Maurice 394
Bloch, Ernst 140, 143 Feuerbach, Ludwig 389
Blumenberg, Hans 20 Fichte, Johann Gottlieb 36, 386f, 389
Brecht, Bertolt 93 Flaubert, Gustav 75
Böhme, Jakob 51 Frege, Gottlob 14, 24, 21 lff, 236-238,
Bohrer, Karl-Heinz 71,93 245
Bourdieu, Pierre 67 Freud, Lucian 71
Bühler, Karl 50 Freud, Sigmund 52, 79, 93, 183, 191,
Butler, Judith 68,70, 107, 182 299, 302f
Foucault, Michel 67, 180, 184, 200f,
Cage, John 97, 115, 196-198,351,365, 21 lff., 216,217-224, 227, 287, 295,
376 298-300,419
456 PERSONENREGISTER

Gadamer, Hans-Georg 143, 150, 213, Lautrdamont 301


325,421,423 Lavater, Johann Caspar 51, 54
Goll, Ciaire 78 Lefebvre, Henri 284
Goodman, Nelson 14, 24, 136, 211, 213, Livinas, Emmanuel 23, 26, 30, 32, 39,
225, 233, 262-275, 278-281, 288, 407 41, 61, 63f., 72, 96, 124, 156, 176, 203
345, 364, 374, 376, 378, 394, 401,
Habermas, Jürgen 123, 125, 172, 182, 403ff, 405, 420-423
186, 190,241,307,335 Levi-Strauss, Claude 287
Heidegger, Martin 16, 25, 30, 35, 95, 96, Lichrenberg, Georg Christoph 54f.
116, 138, 149, 150, 152, 155, 173,212, Locke, John 217,312
224, 250, 253, 270, 324f., 336, 341, Löwith, Karl 392
343f., 349, 357, 365, 369, 382ff, 384, Luhmann, Nikklas 21,213
392, 396, 398-401, 403ff, 409-419, Lyotard, Jean-Francois 18, 39, 97f, 337,
421 f. 399, 422
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, 36,
54f, 57, 89, 133ff, 139-153, 155, 163, Magritte, Rene 77, 80, 200, 295-301, 304
164, 166, 175, 225, 257, 267f., 288, Mallarme, Stephane 222, 301, 304, 339,
312, 328, 336, 350, 383, 385-387, 389- 350, 366, 379
396 Man Ray 77-78, 80, 304
Herder, Johann Gottfried 174, 312 Marx, Karl 389
Holbein d. Jüngere 84 Mauss, Marcel 364
Hölderlin, Friedrich 150 Meister Eckehardt 97, 392
Huang-po 198 Merleau-Ponty, Maurice 49
Humboldt, Wilhelm von 312 Millett, Kate 69
Husserl, Edmund 116, 159ff, 164-165, Montaigne, Michel de 47
171, 173, 224, 228, 237, 245, 362, 367 Morris, Charles William 225f, 306f.
Muehl, Otto 365
Jakobson, Roman 14, 302f., 321, 324
Joyce, James 38,301,374 Nancy, Luc 139, 148, 152
Judd, Donald 198 Nerval, Gerard de 115
Jünger, Ernst 412 Newman, Barnett 97, 180, 275, 365
Nietzsche, Friedrich 205, 358, 364, 366,
Kafka, Franz 43, 67 399f.
Kandinsky, Wassily 77 Nitsch, Hermann 365
Kant, Immanuel 97, 100, 173, 175, 176, Novalis 93, 375
258, 279, 307, 378, 386f.
Kaprow, Allan 196,376 Ockham, Wilhelm von 14,24,214
Kiefer, Anselm 28 Otto, Rudolf 78
Kienholz, Edward 276
Kleist, Heinrich von 61,62 Paik, Nam June 196,376
Koons, Jeff 276 Paracelsus 51
Kounellis, Jannis 28 Paz, Octavio 208f.
Kristeva, Julia 136, 192, 287, 294, 300, Peirce, Charles Sanders 14, 24, 134f, 159
322, 346 162, 21 lff., 225-234, 236, 306, 315,
419
Lacan, Jacques 14, 20, 78f, 84, 86, 124, Piderit, Theodor 48
186, 190f., 193, 221, 287, 299, 303, Piaron 38, 101, 102, 103, 111, 117, I62f.
310, 321,324, 328, 369f 164f., 215, 224, 297, 312, 330, 360,
Laing, Ronald, D. 191 370
Lancelott, Claude 217 Plessner, Helmurh 49, 53
PERSONENREGISTER 457

Proust, Marcel 92f. Serres, Michel 17,62,111,113,323,


Poe, Edgar Allan 84 348
Popper, Karl Raimund 231 Spinoza, Baruch de 30, 397
Sokrates 63
Quintilian 51 Steiner, George 151

Rauschenberg, Robert 180, 276 Tanguy, Yves 80


Reinhard, Ad 97, 198,275 Tilliette, Xaver 385
Ricceur, Paul 11 Twombly, Cy 200
Rodin, Auguste 177 Tzara, Tristan 115, 351
Rothko, Mark 97, 275
Rousseau, Jean-Jacques 111 Uexküll, Johannes von 170
Rückriem, Ulrich 177f, 180
Russell, Bertand 246f, 249, 255 Valery, Paul 165f, 176,351,
Vasari, Giogio 75
Sartre, Jean-Paul 61,73,336,418 Veläzquez, Diego 217ff.
Saussure, Ferdinand de 14, 24, 103-112, Vernant, Jean-Pierre 56, 117f.
135, 136, 160, 162, 211,228, 283ff., Vico, Giambattista 174
285-294, 301, 305, 306-323, 327-336, Vinci, Leonardo de 75
341f, 344f, 379, 419 Virilio, Paul 94
Schelling, Friedrich Wilhelm Josef 18, 21, Vostell, Wolf 196
25, 30, 34, 36, 96, 98, 147-150, 153,
155, 184, 205, 257f., 351, 374, 376f., Wagner, Richard 385
382-400,415 Wittgenstein, Ludwig 14, 24, 30, 32, 33,
Schopenhauer, Arthur 392 34, 40, 81, 83, 160, 165, 204, 211,
Schiller, Friedrich von 62 236ff, 238-260, 262-264, 266, 269,
Schlegel, Friedrich 32 274, 278f., 309, 323, 342, 380, 395,
Schwitters, Kurt 77, 115, 196, 276, 351 397
Searle, John R. 123,206,238,241
Sechehaye, Albert 286 Zeuxis 75
Seneca 51 Zizek, Slavoj 207,
Serra, Richard 198,281 Zumthor, Paul 116, 121

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