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Werner Hof mann / Bemerkungen zur Karikatur 949

schwören? In diesem Falle wird Heidegger der Ruhm zufallen, die


Formel der Katastrophe wahrsagerisch vorgesprochen zu haben. Ist es
denkbar, daß uns, manchen Vorzeichen zum Trotz, Rückkehr, Sühne
und Erneuerung verstattet ist? Dann wird Heideggers Denken als ein
Warnungszeichen bleiben: da führte der Weg hinab, den wir nicht
gegangen sind. Es ist schwer, Größe einem Autor zuzubilligen, der auf
jeder Seite durch Ton und Wortgebärde seinen Anspruch auf Größe
proklamiert. Dennoch möchten wir dem Anspruch zustimmen. Die
Größe liegt, so will uns scheinen, in der denkerischen Leidenschaft,
mit der uns dieser Autor eine Entscheidung aufnötigt. Er fordert einen
großen Akt der Abnegation: wir sollen unserer Seele das verschossene
Kleid der abendländischen Kultur abreißen und den Weg in die Wüste
antreten, auf dem uns keine Säule aus Rauch oder Feuer voranwan-
delt. Andere fordern Ähnliches. Die Entblößung und Entwerdung läßt
bei Andre Gide als unberührbaren Grundbestand die menschliche Sen-
sibilität und den Trieb zurück, bei J. P. Sartre eine seelische Dynamik,
die zwischen Konkupiszenz und wertsetzendem Willen schillert. Bei
beiden ist ein Stück Natur, eine Möglichkeit der Rückkehr zur Mensch-
lichkeit, erhalten. Bei Heidegger, in dem die unanerkannte Erbschaft
Hegels fortwirkt, bleibt ein Sendungsbewußtsein zurück, kraft dessen
sich das Individuum noch in seiner verzweifelten metaphysischen Sucht
als Vertreter seines Volkes und Vollzieher der Zukunft weiß, und damit
ist der herostratische Akt, die pseudo-mystische, ins nichtende Nichts
statt in das Gott-Nichts stürzende Entäußerung, von der Einzelseele hin-
weg auf die Bühne der Weltgeschichte verlegt. Hier wird das verzehrende
Feuer nihilistischer Purifikation zum Weltbrand — wir können nicht um-
hin, dieser entschiedensten Sicht eine Art von Größe zuzugestehen.

WERNER HOFMANN
B E M E R K U N G E N ZUR KARIKATUR

C'est une espece de liberlinage d'imagina-


lion qu'il ne faut se permettre ioul au plus
que par delassement.
(Encyclopedie, Vol. II. 1751.)

I n einem Brief, den er zwei Jahre vor seinem Tode an seinen Bruder
Theo schrieb, erläutert Vincent van Gogh jene Mittel der Ausdrucks-
intensivierung, welche die expressionistische Malerei einleiten sollten, und
schließt seine Gedanken mit der Vermutung, die „guten Leute" würden
seine Bilder, da diese formale Übertreibungen enthalten, für Karikaturen
67 M e r k u r H e f t 68

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ansehen. Diese Vermutung kennzeichnet eine künstlerische Grenzsitua-


tion, aus der sich der Blick in eine noch unbeschrittene Ausdruckszone
vorwagt. Die Hüllen zerbrechen und die Sicht wird frei auf das Schreck-
liche, von dem das Schöne nur der Anfang ist, sie wird frei für das Er-
lebnis und die Benennung jener tieferen und umfassenderen Lebens-
mächte, die jenseits der ästhetischen Übereinkünfte gelten und wirken.
Der Künstler betritt den Vorraum des Häßlichen und er nimmt wahr,
daß er damit den Bezirk des Komischen streift.
Van Goghs Worte aus dem Jahre 1888 fassen eine Entwicklung zu-
sammen, die mit Goya erstmals ins Bewußtsein der europäischen Malerei
tritt. Von diesem Zeitpunkt an verbindet sich der lebensvolle Ausdruck
mit dem Gemeinen, Niedrigen und Gewöhnlichen und erhöht somit auch
die jeweiligen Lebenslagen, für welche diese Ausdrucksbezirke stellver-
tretend stehen, zum kunstwürdigen „Sujet". Der Realismus des 19. Jahr-
hunderts steht im Gefolge dieses Prozesses, der in unseren Tagen im
Postulat der lückenlosen Dinganeignung und Dingumsetzung gipfelt. Im
Maße, in dem dieser Prozeß an Umfang und Tiefe gewinnt, verliert das
Schöne an Lebensatem und damit auch an Ausdrucksumfang, es wird
seiner Säfte beraubt, erhält sich nur mühsam in formelhafter Erstarrung
und gerät mehr und mehr unter den Regelzwang der Akademien.
Es gehört zu den reizvollsten Feststellungen auf dem Gebiete der
neueren Kunstgeschichte, daß dieses geschichtliche Kräftepaar — die
zum Ideal erhobene und zur lehrbaren Form geläuterte Schönheit und
der wider sie protestierende Bezirk des Charakteristisch-Häßlichen —
eine gemeinsame historische Wurzel besitzt. Man irrt, wenn man an-
nimmt, daß jene charakteristischen Übertreibungen, die van Gogh seinem
Ausdruck erwarb, zuallererst von einem Künstler geübt wurden, dessen
Werk im Widerspruch zur ästhetischen Schönformigkeit stand. Vielmehr
waren es gerade jene Künstler, die ihren geschichtlichen Auftrag in der
erneuten Befestigung der klassischen Regeln und Normen sahen.
Die Karikatur als künstlerische Mitteilungsform hat eine verhältnis-
mäßig kurze Geschichte. Sie geht zurück auf die Brüder Carracci, deren
öffentliches Wirken — mit dem Schlagwort des „Reformbarock" um-
schrieben — eine neue Epoche der Malerei einleitet. Sie greifen am Ende
des 16. Jahrhunderts auf die großen Meister der klassischen Epoche
zurück, versuchen aus deren Stil ein gereinigtes, lehrbares Ideal zu de-
stillieren und begründen jene „Accademia degli Incamminali", die in ihrer
Vaterstadt Bologna einen weiteren Schülerkreis heranbildete. Diese
Künstler, denen es gelang, auf eklektischem Wege die Stilpluralität der
manieristischen Epoche durch die Berufung auf die klassische Idealität
abzulösen, sind zugleich die Schöpfer der Porträtkarikatur. Auf ihren

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Bemerkungen zur Karikatur 951

Spaziergängen durch Bologna führten sie stets ihr Zeichenheft mit sich,
um darin die Vorübergehenden in skizzenhafterWeise festzuhalten. Aus der
unmittelbaren Beobachtung geboren, verweisen uns diese Karikaturen auf
die wichtigsten Bedingnisse, deren Zusammenwirken nötig ist, damit die
Karikatur als kunst- und geistesgeschichtliches Phänomen möglich wird.
Notwendig ist zunächst die öffentliche Anerkennung eines bestimm-
ten Schönheitsideals, zu dem die Karikatur als künstlerischer Protest ein
enges Bildungsverhältnis unterhält. Je schärfer und eindeutiger diese
Begel von der jeweiligen Kunstlehre formuliert wird, desto reicher wird
sich die Karikatur betätigen dürfen. Jede idealistische Epoche fördert
damit auch den Ausdrucksumfang der Karikatur, da sie ihr die Unend-
lichkeit des charakteristischen Ausdrucks, der Darstellung des Alltäg-
lichen und Privaten überläßt. In Epochen, die sich dem Realismus zu-
wenden, wird man dagegen die Grenzen als schwankend erkennen müssen.
In diesen Zeiträumen gibt dann die Karikatur ihre eigentümlichen Kräfte
an die hohe Kunst ab. Man erinnere sich hier beispielsweise der Stellung
Daumiers unter den Wegbereitern des Realismus, man bedenke aber auch,
daß Courbet von seinen Zeitgenossen wegen der karikierenden Züge seiner
Kunst kritisiert wurde.
Eine weitere Voraussetzung, welche uns das Beispiel der Carracci ent-
hüllt, ist die Bindung an den konkreten Vorwurf. Wo immer die Karikatur
wirken soll, muß sie am Konkreten ansetzen. Die Sphäre des rein Be-
grifflichen ist ihr entzogen: auch dort, wo ein Ideensystem ihren Angriff
verspüren soll, muß dieses zur Handgreiflichkeit einer Situation umge-
deutet werden.
Aus diesen beiden Rollen erfahren wir Entscheidendes über die
Doppelrolle der Karikatur in der Geschichte. Auf Grund ihrer Bindung
an das Konkrete ist sie — entsprechend der geschichtlichen Situation —
einmal die Platzhalterin der bewahrenden, dann die der protestierenden,
revolutionären Kräfte.
Um die Folgerichtigkeit ihres historischen Auftretens einzusehen, ist
es notwendig, diese doppelte Freiheit, die die Karikatur ihrem Schöpfer
konzediert, näher zu betrachten. Es ist zunächst eine Freiheit des Aus-
drucks. Der Künstler macht sich unabhängig von den öffentlich aner-
kannten Regeln, er geht seinen eigenen Weg. Die Spontaneität des
Schaffensvorganges findet in der Unbekümmertheit, die zu den geistigen
Vorbereitungen der Karikatur gehört, ihr Analogon. Damit berühren
wir die Freiheit der Gesinnung, d. h. des künstlerischen Bewußtseins im
weitesten Umfang, ohne die an eine Entstehung der Karikatur nicht zu
denken ist. Erst die Renaissance hat beiden „Freiheiten'' zum Durch-
bruch verholfen. Sie leitete die Würdigung des skizzenhaften künstle-

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rischen Ausdrucks ein und gab damit der vornehmlich privaten Nieder-
schrift einen völlig neuen Rang. W a s anders wird damit legitimiert als
die subjektive Vision von Mensch, Ding und W e l t ? Und gerade diese
subjektive Vorstellungsweise suchte sich in der K a r i k a t u r ein Ventil, das
die Verbildlichung privater Vorstellungsinhalte ermöglichte.
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln der K a r i k a t u r reichen jedoch un-
gleich weiter zurück. Ihre Kenntnis d a n k e n wir vornehmlich den For-
schungen von E r n s t Kris und Otto Gombrich ( T h e Principles of Carica-
ture. The British J o u r n a l of Medical Psychology, Vol. X V I I , 1938, S. 319).
Jede K a r i k a t u r ist Kritik, die auf den Karikierten abzielt. Sie ent-
stellt ihn und ist damit im übertragenen Sinne „angreifend", da sie im
Bild an den Dargestellten r ü h r t . Das Vorbild dieses, n u n m e h r auf die
ästhetische Sphäre beschränkten Aktes ist von Gombrich und Kris in
den Schand- und Spottbildern der Renaissance erkannt worden. Der Ver-
urteilte, der sich dem Spruch zu entziehen wußte, wird in effigie gerichtet,
das Urteil wird an einem Bildwerk vollzogen. Beschränkt sich die Karika-
t u r darauf, ihren Gegenstand mit künstlerischen Mitteln zu „verletzen",
so wird das Schandbild dem öffentlichen Zugriff preisgegeben, es wird
beispielsweise v e r b r a n n t und so als konkrete Stellvertretung des Darge-
stellten angesehen. Aus dieser Sphäre bezieht die K a r i k a t u r ihr mora-
lisches und soziales Pathos. „The Rahe's Progress" von H o g a r t h bekundet
in später Zeit und in der F o r m zyklischer Bereicherung das Nachleben
dieser Tradition, für die der Akt der öffentlichen Schaustellung mit dem
der Bloßstellung zusammengeht. Ähnlich bediente sich die chinesische
Regierung noch bis ins 19. J a h r h u n d e r t der Bildmoritat, u m der Be-
völkerung die Gefahren des Opiumrauchens in allen seinen Phasen dra-
stisch vor Augen zu führen. Kein Pamphlet, keine K u n d m a c h u n g und
kein Aufruf vermögen hier mit der Karikatur an Wirkung zu wetteifern.
Ein letzter Rest primitiver, magischer E r f a h r u n g ist noch immer in uns
wirksam und u n t e r s t ü t z t ihre Macht auf die menschliche Einbildungs-
k r a f t , die dem Appell des Bildes bereitwilliger folgt als dem des Wortes.
Mit dem 18. J a h r h u n d e r t beginnt die K a r i k a t u r ihrer gesellschaft-
lichen F u n k t i o n bewußt zu werden, sie wird zum öffentlichen Gewissen.
Hogarth, Rowlandson und Cruikshank sind ihre ersten Meister. Im 19. J a h r -
hundert erreicht sie ihren klassischen H ö h e p u n k t : in der Gestalt Honore
Daumiers vereinigt sie breiteste öffentliche Wirksamkeit mit höchsten
künstlerischen Qualitäten.
Von den verschiedenen Aspekten, die diesen Vorgang beleuchten,
verdienen zwei besonders hervorgehoben zu werden. Der Karikaturist
zieht die Summe aus der ihm vorgegebenen gesellschaftlichen Wirklich-
keit, er erschafft sich deren symbolhafte Träger, er zeugt Typen, in denen

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Bemerkungen zur Karikatur 953

sich ein Stand oder gar ein Volk dargestellt finden. Und diese Typen —
man denke an Daumiers Robert Macaire und seinen Ratapoil — werden
n u n bis in die letzten Fugen ihres Lebens, ihrer öffentlichen Tätigkeit
und ihrer privaten Verrichtungen verfolgt, ihr imaginärer Lebenslauf
n i m m t zyklische P r ä g u n g an und wird lückenlos in allen Phasen abge-
schildert. Vorbildlich hierfür wirkte vor allem die belehrende Kompo-
nente, wie sie im 18. J a h r h u n d e r t H o g a r t h mit dem „Leben eines W ü s t -
lings" in die Bildmoritat einfließen ließ. Von hier aus erschließt sich uns
auch ein anderes Ursprungsgebiet, nämlich die Totentänze des Mittel-
alters. Die zyklische Ausweitung steht ziemlich a m Beginn jener E n t -
wicklung, die zu den comic slrips der Zeitungen und zum Film hinführt.
Am komischen Helden des 19. J a h r h u n d e r t s befriedigt das indiskrete
Auge des Zeitgenossen seine Gier nach dem Verborgenen, Privaten, von
der Konvention Verhüllten, k u r z : nach allen jenen Lebensumständen,
die ihm von der öffentlich a n e r k a n n t e n und gebilligten K u n s t vorent-
halten werden. In den Schurkenstreichen Robert Macaires, in den „Taten
und Meinungen des H e r r n Piepmeyer" begegnet der Bürger sich selbst
und genießt die Verbildlichung, E r h ö h u n g und Verewigung seiner eige-
nen Mittelmäßigkeit in der Sphäre des Kunstwerks. Dies ist ein bedeut-
samer Aspekt des n u n h e r a u f k o m m e n d e n „feuilletonistischen Zeitalters":
von n u n an ist P o p u l a r i t ä t nur mehr um den Preis der Bloßstellung zu
gewinnen. Von der unermüdlichen Praxis dieser Prostitution zehren heute
die Lieblinge der Publizistik, allen voran die Filmstars. Mit dem komi-
schen Helden des vergangenen J a h r h u n d e r t s haben sie die exemplarische
L e b e n s f ü h r u n g gemein: sie faszinieren die breiten Massen durch die
selbstgefällige Mischung von privater Vertraulichkeit und mondänen
Halbgott-Allüren. Sie sind zugleich Abbild und Idol ihrer Zeit, die in
dieser eigentümlichen Konstellation W u n s c h t r a u m und Wirklichkeit ver-
schmolzen sieht. Eine tiefe Sehnsucht findet damit ihre Beiriedigung:
die Sehnsucht nach dem Über-Menschen, dem Münchhausen aus unserer
Mitte, der seiner Epoche den populären Mythos stiftet. Die Wurzeln dieses
Übermenschen liegen im Helden der K a r i k a t u r des 19. J a h r h u n d e r t s .
Eine andere bedeutsame Richtung der K a r i k a t u r des 19. J a h r h u n -
derts ist die enzyklopädische. In Serien wie etwa „Les frangais peints par
eux-memes. Encyclopedie morale du XIXe siecle" wurde mit beinahe wissen-
schaftlicher Gründlichkeit eine psycho-physische B e s t a n d s a u f n a h m e der
bürgerlichen Gesellschaft versucht. Alle, auch die Statisten des Iheatrum
mundi, werden m i t einbezogen und mit einer Rolle versehen. Der Zu-
s a m m e n h a n g mit dem „ W e l t t h e a t e r " des Barock und des Mittelalters wird
hier deutlich.
Auch der Blick, der sich u m distinkte Scheidung der Gattungen be-

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müht, wird die Grenze fließend finden, welche die Karikatur von den ihr
benachbarten Ausdrucksgebieten trennt. Keine sichere, eindeutige Über-
einkunft ist zu finden, keine bindende begriffliche Regel aufzustellen,
deren Grenzziehung wir uns anvertrauen könnten. Von welcher Seite
immer man der Karikatur habhaft zu werden versucht: sie wird stets in
ihr vermeintliches Gegenteil umschlagen und über tausend scheinbaren
Widersprüchen einen neuen erfinden. Ihrer formalen und geistigen Spann-
weite wird man nur gerecht werden, wenn man ihren doppeldeutigen
Charakter als zentralen Wesenszug erkennt.
Paradox gekoppelt erscheinen uns bereits die Ausdrucksmittel, deren
sie sich bedient. Das ihr eigentümliche künstlerische Verfahren ist das der
verzerrenden Abkürzung. Sie wendet es in zwei extremen Ausprägungen
an: einmal mit offenkundiger Routine in der Absicht, eine kühne, ver-
blüffende Ausdruckschiffre zu formulieren, das andere Mal — jeglicher
Virtuosität, j a sogar den herkömmlichen Ansprüchen „richtigen Zeich-
nens" entsagend — mit bewußter Wendung zum kindlich unbeholfenen
Ausdruck, zum köstlich Naiven. In beiden Fällen fasziniert sie durch die
völlige Andersartigkeit ihrer Formulierungen, durch das erfrischend Un-
gewohnte, welches dem kindlichen Gekritzel ebenso anhaftet wie dem
behend hingeschleuderten Kontur. In beiden Fällen unterliegen wir einem
beinahe magischen Zauber. (Im Hinblick auf die moderne Kunst deuten
beide Ausdruckspole auch die Möglichkeiten an, welche die Karikatur
vorbereitet h a t : die Wendung zum Kindlich-Primitiven und die eigen-
willige Befreiung vom Gegenstand.)
Als fließend und unscharf erleben wir überdies die eigentliche Sinn-
zone der Karikatur, nämlich das Verhältnis des Komischen zum Schreck-
lichen. Geschichtlich gesehen ist das Komische vielfach ein Restbestand,
der an den Dingen haften bleibt, sobald der ursprüngliche Symbolgehalt
sich von ihnen abgelöst hat, d. h. sobald wir nicht mehr imstande sind,
die ursprünglichen, oftmals auf das Schreckliche abzielenden Sinnbezüge
zu erleben. Der Satyr der Antike, die Pulcinella der italienischen Komödie
und schließlich auch die Drolerien und Wasserspeier gehören in diese
Gruppe von Phänomenen, welche ständigem Bedeutungswandel ausgesetzt
ist. Auch heute noch verhält sich unser Bewußtsein schwankend, dies
auch in Fällen, wo es — man denke an Don Quichote — um eine Auf-
wertung komischer Idealtypen in die Bezirke des Tragischen bemüht ist.
Fließend sind überdies die Verständlichkeitsgrade der Karikatur, j a
diese vereinigt in sich — selbst wenn wir vom allmählichen Verblassen
ihrer Anlässe absehen — zwei einander scheinbar entgegengesetzte Prin-
zipien. Sie besitzt eine populäre und eine esoterische Zone. Sie, deren
Mission im Sichtbarmachen, im öffentlichen Kundgeben zu liegen scheint,

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Bemerkungen zur Karikatur 955

ist nicht frei von Tendenzen, die zu einer geheimnisvollen Bilderschrift


f ü h r e n . Sie setzt beim Betrachter hohes Wissen und Einsicht in die Zu-
sammenhänge voraus, auf die der Bildwitz gemünzt werden soll. Solcher-
a r t k a n n sie ihre Botschaft verschlüsseln, wiewohl sie mit aller Drastik
mitteilt. Von der im Spielerischen, Improvisierenden wurzelnden Grund-
h a l t u n g der K a r i k a t u r lassen sich somit einige bedeutsame F ä d e n zum
Bildrebus u n d zum Rätsel ü b e r h a u p t knüpfen. (Gombrich und Kris haben
diese andeutungsweise verfolgt.) Wir vermögen daran eine verwandte
Beobachtung anzuschließen: sie betrifft das Verhältnis des Scherzhaften
zum E r n s t h a f t e n . I n d e m sie nämlich zum Lachen einlädt, will sie auch
belehren und legt oft im Gewände des Scherzes den Finger auf jene Zu-
stände des Menschlichen, deren sich die W ü r d e der offiziell a n e r k a n n t e n
Malerei nur selten entsinnt. Dieser Doppeldeutigkeit entspricht der An-
teil des P r i v a t e n und des Öffentlichen an der Karikatur. Subjektiven Ur-
sprungs und Niederschlag einer künstlerischen Vision, ist sie mit allen
Merkmalen spontanen Erfassens und skizzenhaften Festhaltens versehen.
I m Augenblick ihrer Findung, d. h. ihrer erstmaligen Formulierung scheint
sie unwiederholbar und ausschließliches E i g e n t u m der visionären Ein-
gebung ihres Schöpfers. Und dennoch ist sie mittels ihrer elementar ver-
einfachten F o r m s t r u k t u r dazu geeignet, zum Schlagwort, zum Signal,
z u m P l a k a t (zu dem sie übrigens rege Beziehungen unterhält) zu werden.
Notieren wir noch ein weiteres P a r a d o x o n : aus sinnerfüllter An-
schauung und umfassender Kenntnis des Konkreten geboren, bedient sie
sich dennoch der weitläufigsten formalen Zusammenhänge, setzt sich über
die vorgegebene Ordnung der Welt hinweg und folgt u n b e k ü m m e r t jenem
unendlichen R a p p o r t , der zwischen allen F o r m e n herrscht. Sie sieht im
Kopf des Menschen die Birne, im Tierschädel die Anspielung auf die
menschliche Physiognomie, und vermischt k u n t e r b u n t das Belebte mit
dem Unbelebten, das Mechanische mit dem Menschlichen . . . Und diese
Freiheit des Narren läßt zuweilen tief blicken. Denn auch v o m Komischen
f ü h r t nur ein Schritt zum Absurden.
„Was an eigentlicher, reiner K u n s t verlorengeht, wird an direktem
Einfluß auf das Leben, eindringlicher Durchsäuerung seiner trägen und
schlechten Stoffe gewonnen." Gilt, was Vischer u m die Mitte des 19. J a h r -
hunderts für die K a r i k a t u r erkannte, noch h e u t e ? Es scheint vielmehr,
als habe die K a r i k a t u r an Urwüchsigkeit und Schlagkraft eingebüßt, seit
ihr Formengut und ihr ursprüngliches Privileg, die Welt mit den Mitteln
subjektiver Vision zu gestalten, Allgemeingut geworden sind.
Die aggressive Substanz der K a r i k a t u r ist heute geschwächt. Wir
sehen ihr anklägerisches P a t h o s u n d die geißelnden Verzerrungen dieses
„enfant terrible" der Kunstgeschichte heute bereits gebrochen durch die

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verschiedenen Strömungen der modernen K u n s t . Das bisher Unmögliche,


die der K a r i k a t u r vorbehaltene Welt „d rebours", ist möglich geworden,
und was bisher den Bedürfnissen einer „ A f t e r k u n s t " diente, ist für posi-
tiven, werthaltigen Ausdruck frei geworden. I n d e m die K u n s t unserer
Epoche Schritt für Schritt das Ausdrucksgut und die Gegenstandswelt
der „ R a n d k ü n s t e " usurpierte, m u ß t e sie folgerichtigerweise den Wer-
tungsprinzipien der Sachästhetik entsagen. In der K u n s t des Primitiven,
in der Kinderzeichnung und in der Laienmalerei wurden jene elementaren
Ausdruckskategorien aufgespürt, die sich uns heute in der Zusammen-
schau als Ausprägungen des eigentlich Künstlerischen a m Kunstwerk
darstellen. U m dieses eigentliche Künstlerische — das Kunstwollen, wie
Riegl es n a n n t e — bildete sich allmählich jene Leitidee unserer Epoche,
welche nicht mehr in den Begriffskategorien von schön u n d häßlich, fort-
geschritten und dekadent denkt, sondern die jeden menschlichen Ge-
staltungsakt u m seiner selbst willen, nach der ihm innewohnenden Dichte
und Spannung, zu erfassen und zu erleben b e m ü h t ist. I m Augenblick,
wo das Schöne der S t ü t z u n g durch ein sittliches Prinzip beraubt wurde,
b ü ß t e es notwendig seine Vorrangstellung ein.
E s ist offenbar, daß die skizzierte Entwicklung die K a r i k a t u r
ihrer schärfsten Waffen b e r a u b t hat. Denn in ihr besaß das Häßliche bis-
lang nicht nur eine Ausdrucksfunktion, es war überdies als Gegenwurf
des Schönen an dessen Wertgebäude gebunden, es bezeichnete einen
Verstoß, der über die Bereiche des Ästhetischen hinaus in tiefere Dimen-
sionen von Sitte und Moral reichte. I m Maße das Häßliche seinen ur-
sprünglichen Symbolwert verlor, gewann es an kennzeichnender K r a f t
und wurde für die Charakterisierung neuer Sinnschichten frei. So weist
es heute nicht mehr zurück in außerkünstlerische Wertbereiche, sondern
ist zur Gänze ins Ausdrucksvokabular des Künstlers eingefügt worden.
Wir v e r m u t e n darin ein S y m p t o m für jenen Prozeß, der auf die Aus-
grenzung aller außerkünstlerischen Sinnbezüge aus dem künstlerischen
Kosmos abzielt. Alles, was bislang implicite im K u n s t w e r k enthalten
war — die bildhafte Vertretung bestimmter Wertsysteme, das Belehrende
und sein Mitteilungsgehalt — wird n u n ausgeschieden, u m der dichtesten
Konzentration des rein Künstlerischen Platz zu machen.
In dieser Situation, in der die K u n s t alles bloß Vorbildliche — also
das „ S u j e t " — hinter sich läßt und in die Bezirke des Urbildlichen vor-
dringt, in dieser Epoche, deren Künstler Wirklichkeit weder nachahmen
noch verbessern wollen, gebührt der K a r i k a t u r erneut die Rolle des Platz-
halters künftiger Entwicklungen. In ihrem Bereich bewahrt das Konkrete
weiterhin seinen Platz. Mag seine Verwandlungsskala noch so groß sein
— der Karikaturist bleibt stets an sein Vorbild gebunden. Z u m Ungegen-

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Bemerkungen zur Karikatur 957

ständlichen hat er bei aller Wendigkeit des Umgangs mit seinen Mitteln
keinen Zugang.
Sieht der moderne Maler im Menschen und im Kosmos vornehmlich
die wirkenden Kräfte, nicht aber die Oberflächenqualitäten, mithin jene
Gestaltqualitäten, die vor dem Prozeß der Vergegenständlichung liegen,
so bleibt der Karikaturist unserem Alltag verpflichtet. Ja, es hat sich
sogar eine Gattung herausgebildet, die — anknüpfend an die „Wissen-
schaftlichkeit" der Karikatur des 19. Jahrhunderts — um eine vollständige
Bestandsaufnahme der Zustände und Attribute des täglichen Lebens be-
müht ist, die das Dingchaos des heutigen Menschen — mit deutlicher An-
spielung auf die Apparatewelt der Technik — nach den Möglichkeiten
komischer Konflikte absucht. Diese Künstler sehen die Welt aus der
Leopold-Bloom-Perspektive, ihre Karikatur ist nicht nur Bildwitz, son-
dern Abschilderung der comedie humaine, wobei dem Betrachter nicht
selten die Bilderfülle des Brueghelschen Welttheaters in den Sinn kommt.
So wie sie in idealistischen Epochen der Hort des Realismus war, ist
sie heute in einer Welt der Abstraktion zur Zufluchtstätte des Konkreten
geworden. In der Karikatur leben heute die Gattungen der Malerei weiter:
das Historienbild (in der Verkleidung der politischen Karikatur), das
Genre und das Porträt.
Es scheint, als hätten die Karikaturisten ihre Situation erkannt. Die
verletzende, zerstörerische Wucht der politischen Karikatur hat an Wucht
eingebüßt und ein Element der Gutmütigkeit macht sich allenthalben
bemerkbar, das besonders auf dem Gebiete der Genre-Karikatur be-
schauliche Züge gewinnt.
Dahinter verbirgt sich jenes tiefe Bedürfnis des konsumierenden
Kollektivs, das nicht verschwiegen sei. Die moderne Kunstentwicklung
befriedigt nicht mehr das Bildbedürfnis breitester Schichten. Dieses hat
sich nun im Film, in der Bilderzählung und in der Karikatur eine Bilder-
welt errichtet, die vom Banalen ins Erhabene reicht; sie befriedigt den
Drang, die Dinge einmal in ihrer konkreten Situation zu sehen. Man will
Konflikte erleben, die dem Alltäglichen entspringen, man will Repliken
wahrnehmen, die man vielleicht selbst gegeben hätte, man will die Bilder-
welt des Hier und Jetzt, die konzentrierteste Aktualität auskosten, man
will eine Wirklichkeit der weitläufigsten Bezüge, in der jeder sich selbst
wahrzunehmen vermag. So gesehen stellt heute die Karikatur einen
einzigen Akt der Versinnlichung dar, indem sie versucht, der Welt — in
einem banalen und auch erhabenen Sinn — ihr „mittleres Maß" wiederzu-
geben. So wird sie zum bedeutsamsten Gegengewicht jener folgenreichen
Entwicklung, als deren erster historischer Ausprägung wir ihr im 16. Jahr-
hundert begegneten.

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