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WERNER HOFMANN
B E M E R K U N G E N ZUR KARIKATUR
I n einem Brief, den er zwei Jahre vor seinem Tode an seinen Bruder
Theo schrieb, erläutert Vincent van Gogh jene Mittel der Ausdrucks-
intensivierung, welche die expressionistische Malerei einleiten sollten, und
schließt seine Gedanken mit der Vermutung, die „guten Leute" würden
seine Bilder, da diese formale Übertreibungen enthalten, für Karikaturen
67 M e r k u r H e f t 68
Merkur 7 (68), 1953 - volltext.merkur-zeitschrift.de © Klett-Cotta Verlag, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart
Kostenlos zur Verfügung gestellt von: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
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Spaziergängen durch Bologna führten sie stets ihr Zeichenheft mit sich,
um darin die Vorübergehenden in skizzenhafterWeise festzuhalten. Aus der
unmittelbaren Beobachtung geboren, verweisen uns diese Karikaturen auf
die wichtigsten Bedingnisse, deren Zusammenwirken nötig ist, damit die
Karikatur als kunst- und geistesgeschichtliches Phänomen möglich wird.
Notwendig ist zunächst die öffentliche Anerkennung eines bestimm-
ten Schönheitsideals, zu dem die Karikatur als künstlerischer Protest ein
enges Bildungsverhältnis unterhält. Je schärfer und eindeutiger diese
Begel von der jeweiligen Kunstlehre formuliert wird, desto reicher wird
sich die Karikatur betätigen dürfen. Jede idealistische Epoche fördert
damit auch den Ausdrucksumfang der Karikatur, da sie ihr die Unend-
lichkeit des charakteristischen Ausdrucks, der Darstellung des Alltäg-
lichen und Privaten überläßt. In Epochen, die sich dem Realismus zu-
wenden, wird man dagegen die Grenzen als schwankend erkennen müssen.
In diesen Zeiträumen gibt dann die Karikatur ihre eigentümlichen Kräfte
an die hohe Kunst ab. Man erinnere sich hier beispielsweise der Stellung
Daumiers unter den Wegbereitern des Realismus, man bedenke aber auch,
daß Courbet von seinen Zeitgenossen wegen der karikierenden Züge seiner
Kunst kritisiert wurde.
Eine weitere Voraussetzung, welche uns das Beispiel der Carracci ent-
hüllt, ist die Bindung an den konkreten Vorwurf. Wo immer die Karikatur
wirken soll, muß sie am Konkreten ansetzen. Die Sphäre des rein Be-
grifflichen ist ihr entzogen: auch dort, wo ein Ideensystem ihren Angriff
verspüren soll, muß dieses zur Handgreiflichkeit einer Situation umge-
deutet werden.
Aus diesen beiden Rollen erfahren wir Entscheidendes über die
Doppelrolle der Karikatur in der Geschichte. Auf Grund ihrer Bindung
an das Konkrete ist sie — entsprechend der geschichtlichen Situation —
einmal die Platzhalterin der bewahrenden, dann die der protestierenden,
revolutionären Kräfte.
Um die Folgerichtigkeit ihres historischen Auftretens einzusehen, ist
es notwendig, diese doppelte Freiheit, die die Karikatur ihrem Schöpfer
konzediert, näher zu betrachten. Es ist zunächst eine Freiheit des Aus-
drucks. Der Künstler macht sich unabhängig von den öffentlich aner-
kannten Regeln, er geht seinen eigenen Weg. Die Spontaneität des
Schaffensvorganges findet in der Unbekümmertheit, die zu den geistigen
Vorbereitungen der Karikatur gehört, ihr Analogon. Damit berühren
wir die Freiheit der Gesinnung, d. h. des künstlerischen Bewußtseins im
weitesten Umfang, ohne die an eine Entstehung der Karikatur nicht zu
denken ist. Erst die Renaissance hat beiden „Freiheiten'' zum Durch-
bruch verholfen. Sie leitete die Würdigung des skizzenhaften künstle-
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rischen Ausdrucks ein und gab damit der vornehmlich privaten Nieder-
schrift einen völlig neuen Rang. W a s anders wird damit legitimiert als
die subjektive Vision von Mensch, Ding und W e l t ? Und gerade diese
subjektive Vorstellungsweise suchte sich in der K a r i k a t u r ein Ventil, das
die Verbildlichung privater Vorstellungsinhalte ermöglichte.
Die geistesgeschichtlichen Wurzeln der K a r i k a t u r reichen jedoch un-
gleich weiter zurück. Ihre Kenntnis d a n k e n wir vornehmlich den For-
schungen von E r n s t Kris und Otto Gombrich ( T h e Principles of Carica-
ture. The British J o u r n a l of Medical Psychology, Vol. X V I I , 1938, S. 319).
Jede K a r i k a t u r ist Kritik, die auf den Karikierten abzielt. Sie ent-
stellt ihn und ist damit im übertragenen Sinne „angreifend", da sie im
Bild an den Dargestellten r ü h r t . Das Vorbild dieses, n u n m e h r auf die
ästhetische Sphäre beschränkten Aktes ist von Gombrich und Kris in
den Schand- und Spottbildern der Renaissance erkannt worden. Der Ver-
urteilte, der sich dem Spruch zu entziehen wußte, wird in effigie gerichtet,
das Urteil wird an einem Bildwerk vollzogen. Beschränkt sich die Karika-
t u r darauf, ihren Gegenstand mit künstlerischen Mitteln zu „verletzen",
so wird das Schandbild dem öffentlichen Zugriff preisgegeben, es wird
beispielsweise v e r b r a n n t und so als konkrete Stellvertretung des Darge-
stellten angesehen. Aus dieser Sphäre bezieht die K a r i k a t u r ihr mora-
lisches und soziales Pathos. „The Rahe's Progress" von H o g a r t h bekundet
in später Zeit und in der F o r m zyklischer Bereicherung das Nachleben
dieser Tradition, für die der Akt der öffentlichen Schaustellung mit dem
der Bloßstellung zusammengeht. Ähnlich bediente sich die chinesische
Regierung noch bis ins 19. J a h r h u n d e r t der Bildmoritat, u m der Be-
völkerung die Gefahren des Opiumrauchens in allen seinen Phasen dra-
stisch vor Augen zu führen. Kein Pamphlet, keine K u n d m a c h u n g und
kein Aufruf vermögen hier mit der Karikatur an Wirkung zu wetteifern.
Ein letzter Rest primitiver, magischer E r f a h r u n g ist noch immer in uns
wirksam und u n t e r s t ü t z t ihre Macht auf die menschliche Einbildungs-
k r a f t , die dem Appell des Bildes bereitwilliger folgt als dem des Wortes.
Mit dem 18. J a h r h u n d e r t beginnt die K a r i k a t u r ihrer gesellschaft-
lichen F u n k t i o n bewußt zu werden, sie wird zum öffentlichen Gewissen.
Hogarth, Rowlandson und Cruikshank sind ihre ersten Meister. Im 19. J a h r -
hundert erreicht sie ihren klassischen H ö h e p u n k t : in der Gestalt Honore
Daumiers vereinigt sie breiteste öffentliche Wirksamkeit mit höchsten
künstlerischen Qualitäten.
Von den verschiedenen Aspekten, die diesen Vorgang beleuchten,
verdienen zwei besonders hervorgehoben zu werden. Der Karikaturist
zieht die Summe aus der ihm vorgegebenen gesellschaftlichen Wirklich-
keit, er erschafft sich deren symbolhafte Träger, er zeugt Typen, in denen
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sich ein Stand oder gar ein Volk dargestellt finden. Und diese Typen —
man denke an Daumiers Robert Macaire und seinen Ratapoil — werden
n u n bis in die letzten Fugen ihres Lebens, ihrer öffentlichen Tätigkeit
und ihrer privaten Verrichtungen verfolgt, ihr imaginärer Lebenslauf
n i m m t zyklische P r ä g u n g an und wird lückenlos in allen Phasen abge-
schildert. Vorbildlich hierfür wirkte vor allem die belehrende Kompo-
nente, wie sie im 18. J a h r h u n d e r t H o g a r t h mit dem „Leben eines W ü s t -
lings" in die Bildmoritat einfließen ließ. Von hier aus erschließt sich uns
auch ein anderes Ursprungsgebiet, nämlich die Totentänze des Mittel-
alters. Die zyklische Ausweitung steht ziemlich a m Beginn jener E n t -
wicklung, die zu den comic slrips der Zeitungen und zum Film hinführt.
Am komischen Helden des 19. J a h r h u n d e r t s befriedigt das indiskrete
Auge des Zeitgenossen seine Gier nach dem Verborgenen, Privaten, von
der Konvention Verhüllten, k u r z : nach allen jenen Lebensumständen,
die ihm von der öffentlich a n e r k a n n t e n und gebilligten K u n s t vorent-
halten werden. In den Schurkenstreichen Robert Macaires, in den „Taten
und Meinungen des H e r r n Piepmeyer" begegnet der Bürger sich selbst
und genießt die Verbildlichung, E r h ö h u n g und Verewigung seiner eige-
nen Mittelmäßigkeit in der Sphäre des Kunstwerks. Dies ist ein bedeut-
samer Aspekt des n u n h e r a u f k o m m e n d e n „feuilletonistischen Zeitalters":
von n u n an ist P o p u l a r i t ä t nur mehr um den Preis der Bloßstellung zu
gewinnen. Von der unermüdlichen Praxis dieser Prostitution zehren heute
die Lieblinge der Publizistik, allen voran die Filmstars. Mit dem komi-
schen Helden des vergangenen J a h r h u n d e r t s haben sie die exemplarische
L e b e n s f ü h r u n g gemein: sie faszinieren die breiten Massen durch die
selbstgefällige Mischung von privater Vertraulichkeit und mondänen
Halbgott-Allüren. Sie sind zugleich Abbild und Idol ihrer Zeit, die in
dieser eigentümlichen Konstellation W u n s c h t r a u m und Wirklichkeit ver-
schmolzen sieht. Eine tiefe Sehnsucht findet damit ihre Beiriedigung:
die Sehnsucht nach dem Über-Menschen, dem Münchhausen aus unserer
Mitte, der seiner Epoche den populären Mythos stiftet. Die Wurzeln dieses
Übermenschen liegen im Helden der K a r i k a t u r des 19. J a h r h u n d e r t s .
Eine andere bedeutsame Richtung der K a r i k a t u r des 19. J a h r h u n -
derts ist die enzyklopädische. In Serien wie etwa „Les frangais peints par
eux-memes. Encyclopedie morale du XIXe siecle" wurde mit beinahe wissen-
schaftlicher Gründlichkeit eine psycho-physische B e s t a n d s a u f n a h m e der
bürgerlichen Gesellschaft versucht. Alle, auch die Statisten des Iheatrum
mundi, werden m i t einbezogen und mit einer Rolle versehen. Der Zu-
s a m m e n h a n g mit dem „ W e l t t h e a t e r " des Barock und des Mittelalters wird
hier deutlich.
Auch der Blick, der sich u m distinkte Scheidung der Gattungen be-
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müht, wird die Grenze fließend finden, welche die Karikatur von den ihr
benachbarten Ausdrucksgebieten trennt. Keine sichere, eindeutige Über-
einkunft ist zu finden, keine bindende begriffliche Regel aufzustellen,
deren Grenzziehung wir uns anvertrauen könnten. Von welcher Seite
immer man der Karikatur habhaft zu werden versucht: sie wird stets in
ihr vermeintliches Gegenteil umschlagen und über tausend scheinbaren
Widersprüchen einen neuen erfinden. Ihrer formalen und geistigen Spann-
weite wird man nur gerecht werden, wenn man ihren doppeldeutigen
Charakter als zentralen Wesenszug erkennt.
Paradox gekoppelt erscheinen uns bereits die Ausdrucksmittel, deren
sie sich bedient. Das ihr eigentümliche künstlerische Verfahren ist das der
verzerrenden Abkürzung. Sie wendet es in zwei extremen Ausprägungen
an: einmal mit offenkundiger Routine in der Absicht, eine kühne, ver-
blüffende Ausdruckschiffre zu formulieren, das andere Mal — jeglicher
Virtuosität, j a sogar den herkömmlichen Ansprüchen „richtigen Zeich-
nens" entsagend — mit bewußter Wendung zum kindlich unbeholfenen
Ausdruck, zum köstlich Naiven. In beiden Fällen fasziniert sie durch die
völlige Andersartigkeit ihrer Formulierungen, durch das erfrischend Un-
gewohnte, welches dem kindlichen Gekritzel ebenso anhaftet wie dem
behend hingeschleuderten Kontur. In beiden Fällen unterliegen wir einem
beinahe magischen Zauber. (Im Hinblick auf die moderne Kunst deuten
beide Ausdruckspole auch die Möglichkeiten an, welche die Karikatur
vorbereitet h a t : die Wendung zum Kindlich-Primitiven und die eigen-
willige Befreiung vom Gegenstand.)
Als fließend und unscharf erleben wir überdies die eigentliche Sinn-
zone der Karikatur, nämlich das Verhältnis des Komischen zum Schreck-
lichen. Geschichtlich gesehen ist das Komische vielfach ein Restbestand,
der an den Dingen haften bleibt, sobald der ursprüngliche Symbolgehalt
sich von ihnen abgelöst hat, d. h. sobald wir nicht mehr imstande sind,
die ursprünglichen, oftmals auf das Schreckliche abzielenden Sinnbezüge
zu erleben. Der Satyr der Antike, die Pulcinella der italienischen Komödie
und schließlich auch die Drolerien und Wasserspeier gehören in diese
Gruppe von Phänomenen, welche ständigem Bedeutungswandel ausgesetzt
ist. Auch heute noch verhält sich unser Bewußtsein schwankend, dies
auch in Fällen, wo es — man denke an Don Quichote — um eine Auf-
wertung komischer Idealtypen in die Bezirke des Tragischen bemüht ist.
Fließend sind überdies die Verständlichkeitsgrade der Karikatur, j a
diese vereinigt in sich — selbst wenn wir vom allmählichen Verblassen
ihrer Anlässe absehen — zwei einander scheinbar entgegengesetzte Prin-
zipien. Sie besitzt eine populäre und eine esoterische Zone. Sie, deren
Mission im Sichtbarmachen, im öffentlichen Kundgeben zu liegen scheint,
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ständlichen hat er bei aller Wendigkeit des Umgangs mit seinen Mitteln
keinen Zugang.
Sieht der moderne Maler im Menschen und im Kosmos vornehmlich
die wirkenden Kräfte, nicht aber die Oberflächenqualitäten, mithin jene
Gestaltqualitäten, die vor dem Prozeß der Vergegenständlichung liegen,
so bleibt der Karikaturist unserem Alltag verpflichtet. Ja, es hat sich
sogar eine Gattung herausgebildet, die — anknüpfend an die „Wissen-
schaftlichkeit" der Karikatur des 19. Jahrhunderts — um eine vollständige
Bestandsaufnahme der Zustände und Attribute des täglichen Lebens be-
müht ist, die das Dingchaos des heutigen Menschen — mit deutlicher An-
spielung auf die Apparatewelt der Technik — nach den Möglichkeiten
komischer Konflikte absucht. Diese Künstler sehen die Welt aus der
Leopold-Bloom-Perspektive, ihre Karikatur ist nicht nur Bildwitz, son-
dern Abschilderung der comedie humaine, wobei dem Betrachter nicht
selten die Bilderfülle des Brueghelschen Welttheaters in den Sinn kommt.
So wie sie in idealistischen Epochen der Hort des Realismus war, ist
sie heute in einer Welt der Abstraktion zur Zufluchtstätte des Konkreten
geworden. In der Karikatur leben heute die Gattungen der Malerei weiter:
das Historienbild (in der Verkleidung der politischen Karikatur), das
Genre und das Porträt.
Es scheint, als hätten die Karikaturisten ihre Situation erkannt. Die
verletzende, zerstörerische Wucht der politischen Karikatur hat an Wucht
eingebüßt und ein Element der Gutmütigkeit macht sich allenthalben
bemerkbar, das besonders auf dem Gebiete der Genre-Karikatur be-
schauliche Züge gewinnt.
Dahinter verbirgt sich jenes tiefe Bedürfnis des konsumierenden
Kollektivs, das nicht verschwiegen sei. Die moderne Kunstentwicklung
befriedigt nicht mehr das Bildbedürfnis breitester Schichten. Dieses hat
sich nun im Film, in der Bilderzählung und in der Karikatur eine Bilder-
welt errichtet, die vom Banalen ins Erhabene reicht; sie befriedigt den
Drang, die Dinge einmal in ihrer konkreten Situation zu sehen. Man will
Konflikte erleben, die dem Alltäglichen entspringen, man will Repliken
wahrnehmen, die man vielleicht selbst gegeben hätte, man will die Bilder-
welt des Hier und Jetzt, die konzentrierteste Aktualität auskosten, man
will eine Wirklichkeit der weitläufigsten Bezüge, in der jeder sich selbst
wahrzunehmen vermag. So gesehen stellt heute die Karikatur einen
einzigen Akt der Versinnlichung dar, indem sie versucht, der Welt — in
einem banalen und auch erhabenen Sinn — ihr „mittleres Maß" wiederzu-
geben. So wird sie zum bedeutsamsten Gegengewicht jener folgenreichen
Entwicklung, als deren erster historischer Ausprägung wir ihr im 16. Jahr-
hundert begegneten.
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