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Das Projekt »ToleranzRäume« verfolgt das allgemeine Ziel, das ›moralische Aktionspotenzial‹
für Toleranz und Menschlichkeit zu stärken. Dieses Ziel ist nicht zuletzt deshalb bedeutsam,
weil die implizite wie explizite Bezugnahme auf rassistische und antisemitische Denk-, Empfin-
dungs- und Handlungsformen, in und mit denen die Ungleichheit von Menschen durchgesetzt
und legitimiert wird, in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat.
Das grundlegende Ziel des wissenschaftlichen Begleitprojekts besteht darin, empirisch (Be-
obachtungen, Interviews, Fragebogen) fundierte Aussagen über die Bedingungen und Settings
zu machen, aufgrund derer Bildungsprozesse ermöglicht werden, die das Wissen entsprechen-
der Zielgruppen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit historischen und gegenwärtigen
Herrschafts- und Gewaltverhältnissen erhöhen und differenzieren, und die darüber hinaus die
Empathiefähigkeit und gewaltkritische Handlungsbereitschaft erhöhen.
Hierbei gehen wir davon aus, dass Bildungs- und Lernprozesse bezüglich historischer und ge-
genwärtiger Herrschafts- und Gewaltverhältnisse von unterschiedlichen, zum Teil wider-
sprüchlichen und Bildungsprozesse ermöglichenden wie erschwerenden Voraussetzungen ver-
mittelt werden. Das Arbeitspapier ist Teil des Reflexions- und Arbeitsprozesses des wissen-
schaftlichen Begleitprojektes.
Die »Working Paper Series« des Projektes präsentiert fortlaufend Reflexionen zu Themen, die
im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts »ToleranzRäume« bedeutsam
sind. Die Papiere werden vor ihrer Präsentation im Projektteam diskutiert.
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Abstract
The working paper focuses on examining the practice of curating and exhibiting from a cultural
studies perspective. The considerations in this paper are guided by relating Stuart Hall’s
constructivist and post-structuralist work on representation theory, which has so far been
widely received in media theory, to the field of exhibiting. Hall’s theoretical insight is
significant because of its multidimensionality, as he comprehends the constitution of meaning
and knowledge, considering not only the production practices, their mediality and materiality,
but also the reception of media representations. The paper presents a tentative theoretical
classification for understanding curating and exhibiting as practices of representation.
Furthermore, it underscores the salience of this analytical perspective to reflect on
educational exhibitions and the corresponding curatorial work, which seek to address socially
significant issues and bring about political awareness.
Keywords
Zusammenfassung
Das Arbeitspapier widmet sich der Auseinandersetzung mit der Praxis des Kuratierens und des
Ausstellens aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive. Geleitet werden die Überlegun-
gen in diesem Papier davon, die konstruktivistisch und poststrukturalistisch begründete re-
präsentationstheoretische Arbeit von Stuart Hall, welche bisher insbesondere in der Medien-
theorie breite Rezeption erfährt, auf das Feld des Ausstellens zu beziehen. Überzeugend und
anregend an Halls Theorie ist nicht zuletzt auch das Konzept der Mehrdimensionalität, mit der
er die Konstitution von Bedeutung und Wissen erkundet und hierbei sowohl die Herstellungs-
praktiken wie ihre Medialität und Materialität als auch die Rezeption von medialen Darstel-
lungen berücksichtigt. Das Papier stellt Markierungen einer theoretischen Einordnung des Ku-
ratierens und Ausstellens als Repräsentationspraxis vor und nähert sich abschließend der
Frage, inwiefern diese analytische Perspektive auch für die Reflexion des professionellen Han-
delns produktiv sein kann. Im Fokus der Betrachtungen stehen insbesondere Ausstellungen
und in diesem Kontext die entsprechende kuratorische Arbeit, welche Vermittlung von gesell-
schaftlich bedeutsamen Themen zum Ziel haben und sich u.a. auch als bildungspädagogische
Angebote verstehen.
Schlüsselwörter
Irina Grünheid
Februar 2023
»Es ist nicht möglich die Ideologie zu beenden und einfach das Wirkliche zu leben. Wir brauchen
immer Systeme, durch die wir repräsentieren, was das Wirkliche für uns und andere ist.« (Hall
2016a, S. 52)
»Kulturproduktionen sind immer umstritten, doch gibt es für Ausstellungen kaum öffentliche
Diskurse, die ihnen in ihrer Komplexität gerecht werden. Um dieses Sprechen über Ausstellun-
gen in Gang zu setzen, bedarf es allerdings einer verstärkten wissenschaftlich-analytischen Be-
schäftigung mit dem Medium Ausstellen, die Theorieentwicklung ebenso vorantreibt wie das
Erstellen methodischer Instrumentarien.« (Muttenthaler und Wonisch 2007, S. 251)
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Ausstellungen werden hier als eine spezifische kul-
turelle Praxis aus einer eher ›europäisch‹ beein-
flussten Perspektive betrachtet. Auf die Vielfalt aber
auch kolonialistische Sichtweisen auf die Praxis der
Verwaltung, der Pflege und der kuratorischen Praxis
verweist auch Joachim Baur in seinen Annäherun-
gen an die definitorische Bestimmung des Begriffs
des Museums (Baur 2013, S. 32f.).
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dagegen verschiedentliche Exponate prä- Vermittlung genutzt, mit deren Hilfe Ziel-
sentiert, welchen ein kultureller oder histo- gruppen etwa zu demokratie- und gesell-
rischer Wert beigemessen wird. Indem die schaftspolitisch relevanten Themen infor-
Ausstellungsobjekte zueinander in Bezie- miert, zu einer kritischen Auseinanderset-
hung gesetzt und in narrativen Formen ar- zung anregt und damit in ihren Bildungs-
rangiert und inszeniert werden, zielen sie prozessen als gesellschaftliche Akteur*in-
auf Vermittlung von Wissen, aber auch auf nen angeleitet bzw. gefördert werden sol-
die Ermöglichung affektiver und ästheti- len. Mit einer solcher Ausstellungspraxis
scher Erfahrungen der Besucher*innen. gehen auch gewisse pädagogische und
Hierbei findet jedoch nicht allein eine Prä- (wahrheits-)politische Begehren einher,
sentation von Inhalten und Wissen statt. welche durch die präsentierten Inhalte –
Durch die zumeist immanenten Narrative etwa Inszenierung von (historischen) Expo-
und Benutzungsskripte der Ausstellungs- naten als ›Zeugen der Geschichte‹ – in ihrer
praxis wird den Adressat*innen explizit Gültigkeit bestätigt werden sollen.
oder implizit auch ein spezielles Angebot
In seiner Kritik der musealen Repräsenta-
gemacht, mit dem sie etwa zur Auseinan-
tion von Migration verweist der Ausstel-
dersetzung mit den ausgestellten Dingen
lungsmacher Manuel Gogos (2021) darauf,
und Themen – sowohl auf der Ebene der In-
dass die Darstellung von vielfältigen Migra-
teraktion zwischen Rezipient*innen und
tionsgeschichten Deutschlands im Zuge der
den konkreten Exponaten in ihrer ästheti-
sogenannten ›Gastarbeiterzuwanderung‹
schen Form, als auch auf der Ebene der dis-
lange Zeit zentral über ein einzelnes
kursiven Bedeutung, die den Exponaten
»Schlüsselobjekt« (ebd., S. 136), dem Mo-
und dem, wofür sie stehen, im öffentlichen
ped, welches Armando Rodrigues de Sá als
Raum zukommt – angeregt werden.
›millionster Gastarbeiter‹ geschenkt er-
Ausstellungen können als Medien verstan- hielt, vermittelt und mithin darauf redu-
den werden, die an der Schnittstelle zwi- ziert wurde. Dabei steht das Moped eher
schen verschiedenen gesellschaftlichen Be- für die ›Großzügigkeit der deutschen Wirt-
reichen und Gruppen wirksam sein können. schaft‹, also gewissermaßen für eine groß-
Im Kontext politischer Bildung werden sie zügige Selbstrepräsentation der Mehr-
nicht selten auch als Methoden der heitsgesellschaft, als für eine Erzählung der
Schicksale, Geschichten und Erfahrungen Die Auswahl und Repräsentation von ge-
von ausländischen Arbeiter*innen und ih- sellschaftsrelevanten Narrationen gehen
ren Familien. dabei auch mit der konkreten Produktion
von Ungleichheit einher. Insbesondere wis-
Auch die Kurator*innen Natalie Bayer,
senschaftlich und historisch orientierte
Belinda Kazeem-Kamiński und Nora Stern-
Ausstellungen sind dabei durch ein beson-
feld (2017a) verweisen in ihrem Vorwort
deres Spannungsverhältnis herausgefor-
zum Sammelband Kuratieren als antirassis-
dert: Einerseits verfolgen sie den Anspruch,
tische Praxis kritisch darauf hin, dass ob-
nicht beliebige, sondern sozial bedeut-
wohl in Ausstellungen Themen wie Migra-
same, gültige, oder zumindest anerkenn-
tion oder Kolonialismus in Folge beharrli-
bare, gesellschaftlich relevante Perspekti-
cher Forderungen inzwischen häufiger auf-
ven und Sachverhalte darzustellen. Ande-
greifen würden, »die damit verbundenen
rerseits sind sie in diesem Anliegen der Un-
symbolischen und konkreten Ausschluss-,
möglichkeit unterworfen, ›die Realität‹ zu
Gewalt- sowie Selbstermächtigungserfah-
repräsentieren. Das Repräsentierte ist im-
rungen« (Bayer et al. 2017a, S. 17) in kul-
mer schon eine ausschnitthafte, begrenzte
turpolitischen Kontexten jedoch nach wie
und durch den Blick der Autor*innen inter-
vor unthematisiert bleiben.
pretierte, also auch mehr oder wenig (un-
Jede Ausstellungspraxis ist eng mit gesamt- )beabsichtigt geformte und verschobene
gesellschaftlichen Phänomenen und Pro- Darstellung der Welt. Was als ›Wahrheit
zessen verbunden. Für das Museum als den über die Welt‹ wahrgenommen wird,
zentralen Ort dieser Praxis konstatiert in wurde durch Menschen in vielfältigen sozi-
diesem Zusammenhang Joachim Baur: alen, religiösen, wissenschaftlichen, künst-
lerischen, politischen, juristischen, pädago-
»[s]eit seiner Geburt als öffentliche Institu-
gischen und eben auch musealen Praktiken
tion im 18. Jahrhundert und seiner Karriere
im 19. Jahrhundert ist das Museum aufs immer erst hervorgebracht.
Engste mit der Etablierung, Konsolidierung
Mit Bezug auf Richard Rorty (1995) verwei-
und kulturellen Legitimierung des Konzepts
Nation und des Nationalstaats verknüpft« sen Anne Broden und Paul Mecheril hierbei
(Baur 2009, S. 57). auf die Gebundenheit von ›Wahrheit‹ an
die Sprache, die ihrerseits als Medium der
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wird – mit Hilfe einer repräsentationstheo- objektivierende Praxis der Abbildung und
retischen Perspektive vertieft werden. Im Präsentation bestimmter Ereignisse, Zu-
Zusammenhang des Anliegens, in der Aus- sammenhänge, Phänomene oder Zu-
einandersetzung mit Ausstellungen auch stände. Dabei meint Repräsentation mehr
gesellschaftliche Praktiken der Produktion als das fertige Ereignis der Abbildung von
von Macht und Ungleichheit in den Blick zu Gegenständen. Inspiriert durch semioti-
bekommen, erweist sich dabei die von Stu- sche sowie macht- und diskurstheoretische
art Hall im Kontext einer kulturwissen- Ansätze geht Hall unter Rückgriff auf zu-
schaftlichen Tradition der Cultural Studies weilen als poststrukturalistisch bezeichne-
am Centre for Contemporary Cultural Stu- ten Ansätzen (etwa Foucault 1972 oder
dies (CCCS) in Birmingham entwickelten Laclau und Mouffe 1990) eher davon aus,
Repräsentationstheorie als besonders dass Darstellungen von Dingen sich nicht
fruchtbar. auf objektive Gegenstände beziehen, da
diese nicht als empirische Entitäten vorlie-
gen, sondern erst durch soziale Konstrukti-
2 Repräsentation als komplexe Praxis – onsleistungen in ihrer Identität und Bedeu-
Stuart Halls Theorie der Repräsentation tung hervorgebracht werden. Die Praxis
der Repräsentation ist für ihn eben diese
In seinen Analysen von kulturellen Prakti-
aktive und bewusste Praxis der Bedeu-
ken, in denen gesellschaftliches Wissen
tungsherstellung:
über Dinge und Menschen medial produ-
ziert und tradiert wird, entwickelt Stuart »[Representation] implies the active work
of selecting and presenting, of structuring
Hall (1997) ein theoretisches Konzept von
and shaping: not merely the transmitting
Repräsentation als Praxis. Den Begriff Re-
of an already existing meaning, but the
präsentation versteht er zunächst in seiner more active labour of making things mean«
doppelten Bedeutung. Diese umfasst zum (Hall 1982, S. 60).
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auch bestimmtes Wissen über Dinge und Einfluss auf Prozesse der Konstitution und
Phänomene und damit verbundene For- Transformation von Selbst- und Weltver-
men ihrer Repräsentation. Vertretung poli- hältnissen der Menschen nehmen. Mit Be-
tischer Interessen ›ethnischer Minderhei- zug auf Michel Foucaults machttheoreti-
ten‹ beispielsweise basieren auf der sozia- sche Überlegungen sind Formen der Reprä-
len Konstruktion von Ethnien bzw. Ethnizi- sentationen bei Hall also auch in historisch
tät. Durch Repräsentation von ›ethnischen vermittelte Strukturen von Ungleichheit
Gruppen‹ bzw. unterschiedlicher Phäno- wie etwa gender- oder race-Konstruktion
mene als ›spezifisch ethnisch‹ wird ein Wis- eingebunden, und erzeugen dabei sowohl
sen produziert, welches wiederum das dominante Formen der Darstellung –
Konstrukt ›Ethnizität‹ qualitativ bestimmt Repräsentationsregime – als auch domi-
und reproduziert. Dabei ist das Wissen, das nante Lesarten und Bedeutungskonzepte
mit Hilfe von Repräsentationen innerhalb als Wissen.
der Diskurse produziert wird, in Strukturen
In der Konstruktionspraxis der Repräsenta-
von Macht verstrickt. Hall umschreibt das
tionen werden den Dingen ihr sozialer und
mit Bezug auf Foucault so:
in Verhältnis zu anderen Dingen relationa-
»Das Wissen, das ein Diskurs produziert ler Ort und Status zugewiesen, dabei kris-
konstituiert eine Art von Macht, die über
tallisiert sich in dieser Ordnung eine cha-
jene ausgeübt wird, über die ›etwas ge-
rakteristische Formation von Machtver-
wusst wird‹. Wenn dieses Wissen in der
Praxis ausgeübt wird, werden diejenigen,
hältnissen, welche für spezifische Ungleich-
über die ›etwas gewusst wird‹, auf eine be- heitsverhältnisse und Diskriminierungen
sondere Weise zum Gegenstand der Unter- charakteristisch ist. In seiner Analyse der
werfung. Das ist immer eine Machtbezie-
Repräsentationspraxis geht es Hall aber
hung. (Foucault 1980: 201)« (Hall 2012,
nicht nur darum offenzulegen, wie etwa in
S. 154).
medialen Darstellungen bestimmte Ideolo-
Mittels des diskursiv erzeugten und legiti- gien – dominante Konzepte von Welt – ent-
mierten Wissens können auch diskriminie- falten und kommuniziert werden, sondern
rende Differenzkonstruktionen, die an se- auch darum, die Strukturen und Praktiken
xistische oder rassistische Traditionen an- der darin vermittelten Machtverhältnisse
schließen, hervorgebracht werden, die und deren Brüchigkeit zu analysieren.
Obwohl Hall davon ausgeht, dass Macht Die Aussage eines Bildes, eines Textes liegt
sich in Form von Ideologien und dominan- nur bis zu einem gewissen Grad in der Hand
ten Repräsentationsregimen auf die Kon- der Produzent*innen; die große Bedeutung
stitution und Wirksamkeit von konkreten der Rezipient*in für den Bedeutungspro-
Repräsentationen auswirkt, macht er in zess wird von Hall ebenso unterstrichen:
seiner theoretischen Konzeption auch auf Bedeutung einer Darstellung entfaltet sich
die Dynamik der Bedeutungskonstruktio- erst in ihrer Interaktion mit den Rezipieren-
nen und ihre relative Kontingenz aufmerk- den. Halls Repräsentationskonzept ermög-
sam. Repräsentationen übermitteln nicht licht somit die Betrachtung und Analyse
einfach eins zu eins das bereits existie- von Bedeutungsproduktionen als einem
rende Wissen, sondern produzieren immer komplex zusammenhängenden Gebilde auf
neue artikulative Verknüpfungen, die die mehreren Ebenen:
Bedeutungen – wenn auch in relativer Ab-
1. Ebene der Praktiken, in denen die Produ-
hängigkeit von Machtverhältnissen – letzt-
zent*innen, Autor*innen der Darstellun-
endlich auch verändern können (Hall
gen ihre Botschaft zum Ausdruck bringen,
(2016a, S. 43).
sowie der Mittel, die sie sprachlich, medial
Hier macht Hall auch die Seite der Rezep- und materiell dazu einsetzen.
tion stark, denn Deutung von Repräsentati-
2. Ebene der Botschaft, ihre Materialität,
onen hängt für ihn nicht allein von den Her-
ihre Polysemie und Intertextualität, sowie
steller*innen der Botschaften ab. Um ihre
Praktiken der Vereindeutigung, die etwa
Bedeutungen entfalten zu können, sind Re-
zum Einsatz kommen, um bei Rezipient*in-
präsentationen auf Betrachter*innen und
nen bestimmte Deutungen zu forcieren.
auf Lesende angewiesen, die die Botschaft
erkennen und entschlüsseln (in Halls Kon- 3. Ebene der Resonanz, Rezeption und An-
zept: decodieren, vgl. Hall 2016b). Interes- eignung durch das Publikum sowie die sub-
sant an diesem Konzept ist die gegenseitige jektivierungsrelevanten Aspekte von Re-
Abhängigkeit zwischen den Autor*innen präsentationen.
und Empfänger*innen von Botschaften:
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Hierbei kann eine Reihe von Fragen in den Moment der Rezeption und Aneignung er-
Blick genommen werden: öffnet sich in Halls Perspektive ein produk-
tiver Raum für transformative Umdeutung,
• Wie wird die Botschaft empfangen?
Dekonstruktion, Kritik sowie Verschiebung
• Welche Interpretationen werden ge-
von dominanten Repräsentationen, wobei
macht?
diese Produktivität sowohl auf der Seite
• Welche dominanten Lesarten setzen
der Rezipient*innen als auch der Autor*in-
sich auf welche Weise durch?
nen möglich ist.
• Welche abweichenden oder widerstän-
digen Lesarten tauchen auf? Der Fokus auf Repräsentationen und ihre
• Wie erreichen Diskurse ihre Subjekte, ren und wie die darin vermittelten Ideen
und wie (affirmativ, verschiebend, zu- und Ideologie in ihrem diskursiven und se-
rückweisend) verhalten sich die Sub- miotischen Charakter als »Resultat spezifi-
3 Ausstellen2 als Praxis der Repräsenta- eine Auswahl aus allen möglichen Aspek-
tion ten und Darstellungsweisen. Die im Rah-
men von Ausstellungen aus einem beson-
Für die Analyse von Ausstellungspraktiken
deren Interesse absichtsvoll komponierten
ist das Konzept des Repräsentationssys-
und zueinander in eine Beziehung gesetz-
tems interessant, da damit Ausstellungen
ten räumlichen Ensembles aus Objekten,
sowohl als materielle Orte wie auch als
Texten und anderen Medien lassen sich aus
komplexe Handlungszusammenhänge ver-
dieser Perspektive somit nicht als Reprä-
standen werden können. Entsprechend
sentationen objektiver Tatsachen verste-
Halls doppeltem Repräsentationsverständ-
hen. Jedes Mal, wenn Bedeutung entsteht,
nis können Ausstellungen zudem nicht nur
findet auch eine Vorauswahl der für die
mit Blick auf das Moment des stellvertre-
Kommunikation relevanten Aspekte und
tenden Sprechens für jemanden verstanden
Eigenschaften statt. Repräsentationen von
und untersucht werden (welche gesell-
›Wirklichkeit‹, wie sie in Ausstellungen zum
schaftlichen Positionen, Akteur*innen wer-
Ausdruck kommen, werden durch ver-
den thematisiert, welche Personen kom-
schiedene Kontexte, Deutungen und Vor-
men zu Wort?), sondern auch mit Blick auf
stellungen – etwa durch relevantes institu-
Praktiken der Darstellung und Abbildung
tionelles und institutionalisiertes Wissen,
von Bildern, Texten, spezifischen kulturel-
durch professionseigene Weltanschau-
len Phänomenen und Sachverhalten, die
ungskonzepte, durch politische Förderpro-
spezifische Perspektiven auf die Welt, Wis-
gramme und ihre thematischen sowie epis-
sen und Bedeutung hervorbringen, be-
temisch-terminologischen Vorgaben,
trachtet werden.
durch technische Produktionsprozesse und
Hall stellt in seiner Repräsentationstheorie Produktionsroutinen und schließlich auch
heraus, dass das Repräsentierte nicht für durch das Handeln der Rezipient*innen –
jeden möglichen Aspekt des thematisierten mitbestimmt und mitgeformt (vgl. Hall
Gegenstands steht, sondern immer nur für 2016b, S. 68). Die Repräsentation ist somit
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In den folgenden Überlegungen wird Ausstellen
nicht nur als museales Ausstellen, sondern auch als
pädagogisch-politische Praxis auch in außermusea-
len Kontexten in den Blick genommen.
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nie äquivalent mit dem, was sie repräsen- nur nach hinten, auf eine Vergangenheit
hin, sondern auch nach vorne: Sie bildet
tiert (vgl. Volli 2002, S. 31). Das repräsen-
(sich) eine Identität ein. Die Re-Präsenta-
tierte Phänomen, das repräsentierte Indivi-
tion schafft das Repräsentierte« (Broden
duum oder das repräsentierte Objekt wird und Mecheril 2007, S. 12; Hervorhebung
dadurch aus einer positionierten Perspek- im Original).
tive kontextbezogen als ein bestimmtes
Repräsentation ist demnach eine prekäre
dar- und ausgestellt; Repräsentationen
und gar unmögliche Praxis. Und zugleich,
sind kontingente Praktiken. Jedes Ding
wenn wir uns nochmal den Aspekt der po-
könnte auch anders repräsentiert werden.
litischen Repräsentation, also der Sichtbar-
Broden und Mecheril (2007, S. 11) spre-
keit von sozialen Positionen, Perspektiven,
chen hier auch von der »Illusion der Verge-
Subjekten und Leben als einen weiteren As-
genwärtigung«, da die Re-Präsentation das
pekt der Repräsentation vergegenwärti-
zu Repräsentierende schaffe. Dabei gehe
gen, ist Repräsentation auch eine bedeu-
etwa die Repräsentation und Konstruktion
tende Praxis mit politischer Wirkkraft. Wel-
einer bestimmten Identität mit Bestrebun-
che Geschichten, mit welchen Facetten
gen einher, sie zu fixieren, zu bewahren
werden als ausstellungsrelevant herausge-
und sie gegenüber Veränderungen abzu-
hoben? Welche Leben, wessen Ideen und
schotten.
Perspektiven werden in der Repräsenta-
»Dass das kollektive, aber auch individuelle tion sichtbar und anerkannt? Welche spezi-
Eigene sich der Darstellung entzieht, dass
fischen Zugänge und Ausschlüsse schaffen
wir jetzt andere Andere sind als noch zu-
Ausstellungen und regulieren damit Pub-
vor, dass das Eigene anders ist, von Diffe-
renz, Unzugänglichkeit und Unbestimmt-
lika? Welche Rezeptionsgewohnheiten und
heit gekennzeichnet, wird in der Repräsen- Wissens- und Erfahrungsbestände kenn-
tation illusionär, Einheitlichkeit und Homo- zeichnen damit den Interpretationsraum
genität (ein-)bildend, übergangen. Die illu-
des Ausgestellten?
sionäre Wirkung der Re-Präsentation ist
aber nicht nur auf das Verhältnis von Zure- Als spezifische Praktiken der Repräsenta-
präsentierendem und Repräsentation be-
tion sind Ausstellungen somit in vielfältige
schränkt, sondern betrifft auch das Reprä-
Spannungsverhältnisse eingebunden –
sentierte. Die Illusion, also die Einbildung
der Repräsentation, wirkt sozusagen nicht etwa Thematisierung vs. Schweigen,
Aussichtslosigkeit vs. Notwendigkeit oder Räume als Bedeutungsträger aber auch mit
Positioniertheit vs. Legitimität. Sie spiegeln den Inhalten, die sie transportieren oder
gesellschaftliche Verhältnisse, nehmen beherbergen. Sie verstärken und verein-
aber auch Einfluss auf ihre Ausformungen. deutigen sie und können andererseits auch
Brüche erzeugen. Auf der materiellen
Ebene können durch Räume und Dinge zu-
4 Ausstellen als objektivierende Repräsen- dem auch inklusive sowie exklusive Prakti-
tationspraxis ken vollzogen werden: etwa als Barrieren
im Zugang (Körper, Wahrnehmung), Stand-
Ausstellungen sind an Räume und Dinge
ort (samt der Symbolik), Größe (in Verhält-
gebunden, zuweilen auch inhaltlich von
nis zu den Körpergrößen der Rezipient*in-
ihnen abhängig: »Eine Ausstellung zu stem-
nen), Medialität (wenig oder mehr Digitali-
men ist folglich immer auch eine Art perfor-
tät), Sprache als Zugang zum Inhalt, visu-
mative Raumbewältigung« (Vogel 2012,
elle, haptische, olfaktorische, akustische
S. 16). In ihrer Räumlichkeit, Gegenständ-
Codes, die differenziell den Zugang und die
lichkeit und Materialität gehen die in den
Aneignung regulieren:
medialen Repräsentationen verknüpften
Bedeutungen dabei eine wichtige Verbin- »Jede Ausstellungserfahrung ist eine
Raum-, Blick- und Körpererfahrung. Durch
dung mit den Dingen ein. Zum einen sind
die unverrückbare Ortsgebundenheit der
Ausstellungskonzepte als Raumkonzepte in
Ausstellung erfordert die Rezeption die Be-
gewisser Weise selbst Bilder und Figuratio- wegung durch den Raum« (Muttenthaler
nen, die ihre Bedeutungen entfalten. 2022).
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Intensität sehen und erkunden, was sie Neben der Bedeutungskonstruktion durch
auslassen und in welche Interaktion ihre die Thematisierungen und Formen des Zei-
Körper mit den Räumen und Dingen der gens ist auch das kuratorische Auswählen,
Ausstellung hineingezogen werden, Auslesen und entsprechend auch das Aus-
zeichnet den je individuellen Rezeptions- lassen mit in den Blick zu nehmen. Kura-
vorgang aus. tor*innen können dabei als »Sinnstifter*in-
nen und Mittler*innen zwischen den Aus-
stellungsobjekten, Themen und Publikum«
5 Kuratieren im Lichte der Repräsentati- bzw. als »Gatekeeper*innen der Institutio-
onstheorie nen« (Micossé-Aikins und Sharifi 2017,
S. 137) verstanden werden. Indem sie die
Mit dem Kuratieren von Ausstellungen ist
Wahrnehmung der Inhalte strukturieren
eine Tätigkeit gemeint, die mit vielfältigen
und ordnen sowie andere Positionen und
und verschiedenen intellektuellen, kreati-
Varianten der Repräsentation ausschlie-
ven, kommunikativen und organisatori-
ßen, dirigieren Ausstellungen in einem ge-
schen Aufgaben im Rahmen der Konzep-
wissen Sinne von den Ausstellungsma-
tion und Umsetzung von Ausstellungen
cher*innen präferierte Narrationen und
verbunden ist. Kurator*innen sind dabei
Bedeutungen sowie visuelle oder akusti-
weniger die Herausgeber*innen von Aus-
sche Formate. Sie leiten somit eine spezifi-
stellungen als vielmehr Vermittler*innen
sche Auseinandersetzung mit und Aneig-
zwischen Orten, Menschen, Objekten, Bil-
nung von präsentierten Inhalten und spezi-
dern, Geschichten und Diskursen zu verste-
fischen Bildern über die ›Welt‹ an (vgl. Tie-
hen. Das Aussuchen, Ordnen und In-Bezie-
tenberg 2021, S. 20).
hung-Setzen der Ausstellungsexponate,
das Hervorbringen von bestimmten Welt- Roswitha Muttenthaler und Regina Wo-
Bildern, das intendierte und absichtsvolle nisch (2007) verweisen zudem darauf, wie
Lenken der Aufmerksamkeit der Rezipi- in Ausstellungen mit Repräsentationsprak-
ent*innen, ist Kern der mit den Ausstellun- tiken auch Praktiken der De-Thematisie-
gen verbundenen kuratorischen Arbeit. rung einhergehen. Denn Ausstellungen re-
präsentieren »nicht nur das, was zu sehen
ist, sondern auch, was dem öffentlichen
Diskurs und der Wahrnehmung entzogen Bezug auf den gezeigten Gegenstand im
werden soll und damit ausgeschlossen Kontext bestimmter gesellschaftlicher Ver-
wird« (Muttenthaler und Wonisch 2007, hältnisse verstanden werden. Somit sind
S. 13). Das, was gezeigt wird und das, was Ausstellungen auch als Orte zu verstehen,
unsichtbar bleibt, ist unlösbar miteinander an denen gesellschaftliche Kämpfe und De-
verbunden. Die Praktiken des Zeigens zie- batten um Deutungen, Repräsentation und
len dabei darauf ab, bei den Besucher*in- Teilhabe abgebildet bzw. ausgetragen wer-
nen bestimmte Deutungen der dargestell- den:
ten Sachverhalten anzustoßen sowie be-
»Wer ausstellt, zeigt etwas. Wer etwas
stimmte Erlebnisse und Erkenntnisse in ei-
zeigt, kommt nicht darum herum, anderes
nem Themenbereich zu initiieren. Eine ex- zu vernachlässigen und auszublenden. Zei-
klusive Auswahl der Inhalte, Formen und gen ist Deutung mit Absicht, ist Interpreta-
Medien von Repräsentationen sowie die tion mit Ausschluss« (Vogel 2012, S. 9).
wiederum über Inszenierungen erschaf- Das Ausstellen und damit verbundene ku-
fene und gestärkte symbolische Autorität ratorische Arbeit können somit nicht als
der Ausstellenden verhelfen den Ausstel- unpolitische und insofern harmlose Prakti-
lungsrepräsentationen zur Anerkennung ken verstanden werden. Ausstellungen
ihrer Wahrheits- und Gültigkeitsansprüche. sind vielmehr als Einsatz im öffentlichen
Durch Einschlüsse wie Ausschlüsse und Raum für eine Sache bzw. ein bestimmtes
durch die Art und Weise von Repräsentati- Thema zu verstehen und zu untersuchen.
onen objektivieren sich in den Ausstellun- Sie können damit als ein Sprechen für oder
gen auch gesellschaftlich relevante Kon- auch ein Sprechen gegen etwas verstanden
struktionen und Bezugnahmen auf gesell- werden. Durch die Auswahl dessen, was
schaftliche Normen, Differenz-, Ungleich- thematisiert und gezeigt und was ausge-
heits- und Herrschaftsverhältnisse (Mut- blendet wird, aber auch wie etwas gezeigt
tenthaler und Wonisch 2007, S. 20). Die wird – denn »das Ausgestellte verändert
Praxis und Politik des Zeigens im Rahmen sich sehr wohl mit der Art des Ausstellens«
von Ausstellungen kann somit als Positio- (Vogel 2012, S. 10) – erzeugen Ausstellun-
nierung und als eine spezifische Argumen- gen bestimmte Repräsentationsformen.
tation der Ausstellungsverantwortlichen in Darin werden bestimmte Narrative und
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(ästhetische) Erfahrungen vermittelt, wel- und visuellen Effekten« (Hall 2016c, S. 115)
che unmittelbar auch die Dimensionen des in Repräsentationen. Strukturiert durch
Politischen und der Macht berühren. Machtverhältnisse, werden nach Hall spe-
zifische Perspektiven auf die ›Welt‹ etab-
Johanna Schaffer (2018) verweist in ihrer
liert und spezifische Repräsentationsre-
Auseinandersetzung mit der medialen Re-
gime hervorgebracht (ebd.). Vorherr-
präsentation von Migration etwa darauf,
schende Repräsentations- und Blickregime
dass nicht jede Sichtbarkeit zu einer star-
lassen sich dabei nur sehr schwer wieder
ken gesellschaftlichen Position führe, denn
durchbrechen, weil sie sich in vielfältige Be-
Bedeutungen von Repräsentationen wer-
reiche und Medien und in verschiedene
den vor allem ihren Modus und ihre Quali-
Wissensebenen und gesellschaftliche Seh-
tät erzeugt (Schaffer 2018, S. 53 f.). Belinda
gewohnheiten einschreiben und unsere
Kazeem-Kamiński, Natalie Bayer und Nora
Begehren lenken. Historische Objekte kön-
Sternfeld (2017b, S. 23) verweisen hierzu
nen dabei auch unbeabsichtigt gewaltvolle
etwa kritisch auf manche museale Reprä-
Blickregime reinszenieren bzw. an mäch-
sentation von Kolonialismus, in denen trotz
tige Wahrheitskonzepte anschließen – so
Rezeption kritischer ›postkolonialer‹ und
z.B. koloniale Fotografien, die durch muse-
›postmigrantischer‹ Museumsansätze un-
ale Repräsentationspraktiken »colonial
gebrochen exotisierende, hierarchisie-
flashbacks« (Bayer et al. 2017b, S. 24) pro-
rende und separierende Erzählmuster wei-
duzieren können. Durch Ausstellungen
ter tradiert werden.
können Individuen zu Schauobjekten her-
Repräsentationen in den Ausstellungen absetzt oder auch privilegiert werden, in ei-
stellen nicht nur Produkte dynamischer ku- ner zu gängigen Diskursen kontrapunkti-
ratorischer und gesellschaftlicher Prozesse schen Position repräsentiert werden oder
von Bedeutungskonstruktionen dar, son- sich selbst selbstbestimmt und widerstän-
dern bringen die Gegenstände innerhalb dig repräsentieren.
besonderer Macht-Wissens-Komplexe her-
Wie alle sozialen und öffentlichkeitswirksa-
vor (vgl. Groß 2008, S. 42f.). Macht wiede-
men Praktiken sind auch Kurator*innen
rum beeinflusst die Durchsetzung von ei-
und ihre Ausstellungen in gesellschaftliche
nem spezifischen »Repertoire an Bildern
Machtverhältnisse verstrickt, sie
reproduzieren diese, können sie aber auch welche sowohl durch die Praxis der Kon-
durch Brüche mit dem Repräsentationsre- struktion von Darstellungen mit Hilfe un-
gime herausfordern und Gegenerzählun- terschiedlicher kultureller Zeichen (Texte,
gen anbieten. Ausstellungen stellen somit Symbole, Bilder etc.) – also auch durchs Ku-
unabhängig von ihrer institutionellen Ein- ratieren und Ausstellen – als auch durch
bindung eine relevante Position(ionierung) den Rezeptionsvorgang hervorgebracht
innerhalb gesellschaftlicher und (global- wird. Damit Ausstellungen Bedeutungen
)politischer Diskurse und Machtverhält- entfalten, sind sie auf Besucher*innen an-
nisse dar. Insofern ist das Ausstellungsma- gewiesen, welche die ausgestellten Expo-
chen bzw. das Kuratieren und das Ausstel- nate betrachten, Informationen lesen, hö-
len eine gesellschaftlich relevante und ren und verstehen und die Inszenierungen
machtvolle Praxis, deren Produktivität und auf sich wirken lassen. Dabei nehmen Rezi-
Involviertheit einer kritischen Analyse und pient*innen die an sie gerichtete Botschaft
Reflexion bedarf. nicht einfach auf, sondern sind an der Pro-
duktion von Bedeutung aktiv beteiligt, sie
müssen sie für sich entschlüsseln (Stuart
6 Ausstellungen brauchen ein Publikum, Hall verwendet hierfür den Ausdruck des
um Bedeutungen zu entfalten decoding, Hall 2016b). Die Rezeption ba-
siert hierbei auf nicht allein physiologi-
Welche Bedeutung Repräsentationen auf-
schen, sondern immer schon kulturell und
weisen, kann nicht durch Interpretationen
gesellschaftlich geformten Fähigkeiten wie
– weder im Alltag noch wissenschaftlich –
etwa Hören, Sehen, Riechen, Fühlen, die
vollumfänglich festgestellt werden. Insbe-
kognitive und sprachlich-epistemische
sondere visuelle Darstellungen erlauben
Operationen des Erkennens und Verste-
z.B. nie eindeutige Lesarten. Sie sind poly-
hens vorbereiten. Zwischen dem Ausstel-
sem und stecken eher ein Spektrum an In-
lungsinhalt und der Rezipient*in entfaltet
terpretations- und Assoziationsmöglichkei-
sich dann je eine eigene Repräsentation
ten ab. Die Herstellung von Bedeutungen
der Dinge und Phänomene.
ist in der hier skizzierten repräsentations-
theoretischen Perspektive als eine kom- Die Rezipient*innen-Abhängigkeit der Be-
plexe kulturelle Praxis zu verstehen, deutung dessen, was repräsentiert wird, ist
16
Universität Bielefeld, AG 10 Arbeitspapier 2
aber nicht damit gleichzusetzen, dass Be- 7 Kritische Perspektive auf Ausstellen und
deutungsgebungen eine individuell-subjek- Kuratieren
tive Angelegenheit sei. Denn auch die Be-
Das Anliegen, das sich mit diesem Arbeits-
trachter*innen sind in gesellschaftliche Dis-
papier verbunden hat, war es, eine theore-
kurse und damit einhergehende Machtver-
tische Perspektive auf Ausstellen und Kura-
hältnisse eingebunden, sind innerhalb die-
tieren zu entwickeln, die zum einen eine
ser positioniert und haben sich gesell-
Perspektive für die Bestimmung dieser so-
schaftlich tradierte Darstellungsformen
zialen Praxis in ihrer Eingebundenheit in
und Repräsentationsregime angeeignet.
gesellschaftliche Prozesse unter Berück-
Ihre Lesarten und Deutungspraktiken sind
sichtigung von Produktion von Bedeutung
somit einerseits durch bestimmte gesell-
und Wissen ermöglicht. Zum anderen ging
schaftliche Wissensordnungen vorstruktu-
es auch darum, produktive Ansätze für die
riert und beeinflussen andererseits wiede-
Analyse dieser Praxis im Zuge kritischer Re-
rum die öffentliche Wahrnehmung der aus-
flexionsprozesse zu markieren.
gestellten Inhalte und damit verbundenen
Diskurse. Gerade das Spannungsverhältnis Die vielfältige Praxis der Konzeption, Um-
zwischen der Eingebundenheit der Indivi- setzung und Rezeption von Ausstellungen
duen in die diskursiv (vor)geformte Welt wurde mit dem Theorieangebot der Reprä-
und ihrem Deutungsspielraum als Möglich- sentation nach Hall als ein vielschichtiger
keit für partizipative, eigensinnige und Komplex von Praktiken der Produktion von
widerständige Momente der Aneignung, Bedeutungen beschrieben. Das kuratori-
bildet die strukturelle Voraussetzung von sche Auswählen, Entscheiden und Auslas-
Bildungsprozessen, damit verbundenen Af- sen konnte hierbei in repräsentationstheo-
firmationen sowie für Verschiebungen des retischer Perspektivierung als eine Praxis in
je Gegebenen3. den Blick genommen werden, die sowohl in
größere gesellschaftliche Macht- und Wis-
senskomplexe wie Repräsentationsregime
3
Ausführlicher zum Zusammenhang zwischen Bil-
dungsansprüchen der Ausstellungsmacher*innen
und den emanzipatorischen Perspektiven für die
Besucher*innen siehe Sternfeld 2005.
eingebunden ist, als auch als eine Praxis, »Museum grundsätzlich als hegemoniale
die das Potenzial hat, etwa durch Gegener- Institution« zu begreifen. Die Analyse sollte
zählungen den hegemonialen Bildregimen ihrer Perspektive nach dabei helfen, den
entgegenzuwirken. Die konzipierten, kon- »Blick auf die dominanten Diskurse, die in
struierten und inszenierten Narrative der den musealen Repräsentationen transpor-
Ausstellung lassen sich mit dem theoreti- tiert werden zu schärfen« (ebd.). Repräsen-
schen Zugriff ebenfalls als Praktiken der Be- tationen im Rahmen von Ausstellungen
deutungsproduktion mit ihrer Medialität können auch dominante Diskurse irritie-
und Materialität fassen, analysieren und ren, neue Varianten der Auslegung von
reflektieren. Repräsentationen im Rahmen Welt vorstellen, also eine andere Wahr-
von Ausstellungen lassen sich dabei sowohl heitsperspektive vorschlagen und Diskurs-
als Fragmente übergeordneter gesell- verschiebungen vorantreiben.
schaftlicher Diskurse, aber auch als Positio-
Bilder, Texte, Filme etc. brauchen Men-
nierungen innerhalb dieser verstehen. Sie
schen, die sie sehen, verstehen, rezipieren
bringen Subjekte und gesellschaftliche Phä-
und auch aneignen wollen. Die in die Pro-
nomene hervor, re-produzieren Wissen
duktion von Repräsentationen aktiv einge-
und wirken machtvoll als kulturelle
bundene Rezipient*innen sind ähnlich wie
Praktiken auf gesellschaftliche Ordnungs-
Kurator*innen sowohl in gesellschaftliche
strukturen.
Diskurse und Machtverhältnisse involviert
Auch wenn Kurator*innen die besten Ab- und daher in ihrer Rezeptionspraxis keines-
sichten verfolgen, indem sie etwa Reprä- wegs unvoreingenommen. Dennoch lässt
sentationsverhältnisse verändern möch- sich das, was Besucher*innen aus der Aus-
ten, können sie durch Rückgriffe auf be- stellung für sich an Inhalten mitnehmen,
stimmte Medien, Materialformen oder weder vollständig erfassen noch lenken.
Darstellungen Macht- und auch Gewaltver- Mit Stuart Hall weisen Positionierungen
hältnisse reproduzieren. Für eine kritische und Rezeptionsleistungen das Potenzial
Analyse musealer Repräsentationen – etwa der Reproduktion der Eingebundenheit in
entlang der dominanten Kategorien wie dominante Schemata wie zugleich des Wi-
race, class, gender – schlagen Muttenthaler derständigen auf. Gerade wegen der Kom-
und Wonisch (2007, S. 28) daher vor, plexität der Produktion von Bedeutung im
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Universität Bielefeld, AG 10 Arbeitspapier 2
Broden, Anne, und Paul Mecheril. 2007. Hall. Stuart. 2016a [2004]. Bedeutung, Re-
Migrationsgesellschaftliche Re-Prä- präsentation, Ideologie. Althusser
sentationen. Eine Einführung. In Re- und die poststrukturalistischen De-
Präsentationen. Dynamiken der batten. In Ideologie, Identität, Re-
Migrationsgesellschaft, Hrsg. Anne präsentationen. Ausgewählte
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Universität Bielefeld, AG 10 Arbeitspapier 2
Arbeitspapier 1
Natarajan, Radhika. 2022. On the Move/In Bewegung. Eine Wanderausstellung auf transatlan-
tischer Reise. Vol. 1. Working Paper Series der Wissenschaftlichen Begleitung des Projekts »To-
leranzRäume«. Bielefeld: Universität Bielefeld. DOI: https://doi.org/10.4119/unibi/2965039
Arbeitspapier 2
Grünheid, Irina. 2023. Kuratieren und Ausstellen als Praxis der Repräsentation. Vol. 2. Working
Paper Series der Wissenschaftlichen Begleitung des Projekts »ToleranzRäume«. Bielefeld: Uni-
versität Bielefeld. DOI:
Impressum:
Irina Grünheid
Kuratieren und Ausstellen als Praxis der Repräsentation.
Bielefeld: Fakultät für Erziehungswissenschaft, 2023
Working Paper Series der Wissenschaftlichen Begleitung des Projekts »ToleranzRäume«,
Arbeitspapier 2
DOI: https://doi.org/10.4119/unibi/2969157
URN: urn:nbn:de:0070-pub-29691576
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