Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Einleitung
Emil Staigers Aufsatz »Die Kunst der Interpretation« (1951) ist ein bedeutendes
Dokument der germanistisch-literaturwissenschaftlichen Fachgeschichte.1 Der
Text gilt als eines der wichtigsten Zeugnisse der ›werkimmanenten Interpretati-
on‹ und ist, im Zuge der intensiven und bis heute andauernden Diskussion des
Programms, immer wieder sowohl zustimmend als auch insbesondere ableh-
nend zitiert und kommentiert worden.2 Auch in jüngerer Zeit widmeten sich
1 Der Aufsatz ist erstmals erschienen in: Neophilologus 35 (1951), S. 1–15. Unsere Zitation er-
folgt nach Moderne Interpretationstheorien, hg. v. Tom Kindt und Tilmann Köppe. Göttingen
2008, S. 30–52.
2 Zur ›werkimmanenten Interpretation‹ vgl. die Rekonstruktion in Werner Strube: »Die litera-
turwissenschaftliche Textinterpretation«, in: Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exege-
se und Hermeneutik I, hg. v. Paul Michel und Hans Weder. Zürich 2000, S. 43–69, hier S. 45–52;
vgl. auch Tilmann Köppe und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Stuttgart, Weimar
2
2013, S. 41–43; zu Staiger einführend vgl. Werner Wögerbauer: »Emil Staiger (1908–1987)«, in:
Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. v. Christoph König, Hans-Harald Mül-
ler und Werner Röcke. Berlin, New York 2000, S. 239–249.
https://doi.org/10.1515/scipo-2017-0137
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
3 Vgl. insbesondere die Beiträge in: 1955–2005: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹
heute, hg. v. Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum. Bern u. a. 2007.
4 Staiger spricht aber zumindest einmal vom »ästhetischen Urteil[]« (S. 44). In der philosophi-
schen Tradition gibt es einen engen Zusammenhang von ästhetischem Urteil und ästhetischer
Erfahrung, vgl. etwa Immanuel Kant: »Kritik der Urteilskraft« [KU]. In: Kants gesammelte
Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, hg. v. Wilhelm
Windelband. Berlin 1969 [1790], § 2 (S. 204f.), § 15 (S. 226–229).
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
5 Vgl. etwa Richard Shusterman: »The End of Aesthetic Experience«, in: The Journal of Aes-
thetics and Art Criticism 55 (1997), S. 29–41, hier S. 30, der die folgenden vier traditionellen
Merkmale ästhetischer Erfahrungen identifiziert: eine evaluative Dimension (ästhetische Erfah-
rungen sind wertvoll und werden geschätzt); eine phänomenologische Dimension (ästhetische
Erfahrungen sind herausgehobene, intensive Erlebnisse); eine semantische Dimension (ästhe-
tische Erfahrungen haben einen Gehalt); und es handelt sich um einen eigenständigen Erfah-
rungstyp.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
6 Aber siehe Abschnitt 3.2 für Mehrdeutigkeiten und Vagheiten in Staigers Darstellung.
Thomas Petraschka hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausdruck ›Gefühl‹ in Stai-
gers Werk kein Terminus ist; wir müssen daher damit rechnen, dass der Ausdruck in unter-
schiedlichem Sinne verwendet wird (s. auch Anm. 10 unten).
7 Zum Programm der rationalen Rekonstruktion vgl. Wolfgang Stegmüller: »Gedanken über
eine mögliche rationale Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung«, in: ders.: Auf-
sätze zu Kant und Wittgenstein. Darmstadt 1974, S. 1–61, hier S. 1–5.
8 Vgl. etwa Steffen Martus: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie«, in:
1955–2005: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute, S. 111–133, hier S. 114, 117, 129
u. ö.
9 Vgl. ebd., S. 114f.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
nach auf ästhetische Erfahrungen rekurriert, wurde dagegen, soweit wir sehen,
meist übersehen oder in seinen Implikationen doch nicht in gebührendem Um-
fang gewürdigt.
Wir möchten daher im Folgenden die Struktur und Rolle ästhetischer Erfah-
rungen, wie sie sich in »Die Kunst der Interpretation« darstellt, herausarbeiten.
Das sich aus der Rekonstruktion ergebende Bild erlaubt anschließend eine ge-
nauere Einschätzung der Leistungen und Schwächen von Staigers Interpretati-
onsprogramm (hier und nachstehend immer: wie in »Die Kunst der Interpretati-
on« entfaltet).10 Staigers Programm werden typischerweise eine Reihe von
Schwächen attestiert – etwa just die zentrale Rolle des Gefühls, die mangelnde
intersubjektive Kontrollierbarkeit der Interpretation oder ein auf klassizistisch-
kanonische Werke beschränkter Begriff vom der Interpretation angemessenen
Gegenstand bei gleichzeitiger Unfähigkeit, etwas zur Interpretation ›schlechter‹
Literatur zu sagen.11 Diese vermeintlichen Schwächen hängen indes mit teils
altbekannten Charakteristika ästhetischer Erfahrungen zusammen, für die Stai-
ger erstens nichts kann und deren Konsequenzen für ein Interpretationspro-
gramm, das um die Erhellung des ästhetischen Charakters eines Kunstwerkes
bemüht ist, Staiger zweitens zumindest einigermaßen klar benennt. Darin liegt
eine Stärke des Programms.
Eine Kritik an Staigers Programm sollte zunächst einmal immanent verfah-
ren, d. h. nicht auf von Staiger offenkundig nicht geteilten Auffassungen etwa
zu den Zielen der Interpretation beruhen. Vielmehr ist zunächst zu fragen, ob
sich aus Staigers Ausführungen ein einigermaßen konsistentes Bild von ästheti-
scher Erfahrung und deren Rolle in der Interpretation ergibt und wo dieses Bild
vielleicht unvollständig oder verzerrt ist, also den (implizit) selbstgesteckten
Zielen nicht gerecht wird. Erst dann kann man sich fragen, ob das skizzierte Bild
z. B. ein sinnvolles Bild der literaturwissenschaftlichen Interpretation ist. Wir
unternehmen die Rekonstruktion in Abschnitt 2 und diskutieren Kritik in Ab-
10 Staigers Interpretationskonzeption unterliegt gewissen Wandlungen oder doch zumindest
unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Laufe der Zeit (vgl. etwa die Andeutungen in
Lutz Danneberg: »Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation«, in: Zeitenwechsel. Germa-
nistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hg. v. Wilfried Barner und Christoph König.
Frankfurt a. M. 1996, S. 313–342, hier S. 315f.). Aus diesem Grund beschränken wir uns hier auf
die Rekonstruktion von »Die Kunst der Interpretation«. Dass es so etwas wie die Staiger’sche
Interpretationskonzeption gibt, die sich aus allen seinen Schriften ergibt, wäre erst noch zu
zeigen (und es setzt detailliertere Einzeltextinterpretationen, wie wir sie hier versuchen, vo-
raus).
11 Vgl. etwa Wögerbauer: »Emil Staiger (1908–1987)«, S. 246 u. ö., sowie die unten in Ab-
schnitt 3.1 zitierte Literatur.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
Der Interpret aber maßt sich an, auf wissenschaftliche Weise etwas über die Dichtung
auszusagen, was ihr Geheimnis und ihre Schönheit, ohne sie zu zerstören, erschließt, und
mit der Erkenntnis zugleich die Lust am Wert des Sprachkunstwerks vertieft. (S. 32)12
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Staiger zwei Ziele der Auseinanderset-
zung mit einem literarischen Kunstwerk unterscheidet. Das erste Ziel besteht in
der ästhetischen Wertschätzung des Kunstwerkes. Das zweite Ziel besteht im
sich daran anschließenden Aufzeigen (oder Nachweisen) des ästhetischen Wer-
tes im Rahmen einer Interpretation. Bis zu einem gewissen Grad können ästhe-
tische Wertschätzung und das interpretative Aufzeigen des ästhetischen Wertes
nämlich als unabhängig voneinander verstanden werden. Denn zum einen setzt
die ästhetische Wertschätzung nur in bestimmten Fällen eine Interpretation
voraus; manches Werk erschließt sich in seiner »Schönheit«, seinem »Wert«
(s. o.) oder seiner »Vollkommenheit« (S. 40) unmittelbar. Und zum anderen hat
der Rezipient nur manchmal auch den Wunsch, eine zunächst interpreta-
tionsunabhängig vollzogene ästhetische Wertschätzung durch eine Interpreta-
tion zu untermauern. Dies ist natürlich dann der Fall, wenn der Rezipient ein
Literaturwissenschaftler ist, zu dessen Geschäft die Interpretation nun einmal
gehört. Hier kann dann die »Erkenntnis zugleich die Lust am Werk« vertiefen
12 Die Formulierungen sind einem Abschnitt entnommen, in dem Staiger auf polemische
Kritik an der Interpretation reagiert. Seine Ausführungen sind daher z. T. quasi-Zitate des
missgünstigen Interpretationskritikers (daher z. B. die Formulierung »maßt sich an«) und
rhetorisch wohl als concessio zu verstehen. Vgl. auch die weniger polemische Formulierung:
»Diese [sc. die anhand des Gedichts gemachte] Wahrnehmung abzuklären zu einer mitteilba-
ren Erkenntnis und sie im Einzelnen nachzuweisen, ist die Aufgabe der Interpretation« (S. 35).
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
(S. 32). Dagegen gilt: »Dem Liebhaber ist das allgemeine Gefühl […] genug« (S.
35).
Wir rekonstruieren zunächst Staigers Auffassung von ästhetischer Wert-
schätzung (2.1) und anschließend, was es mit dem durch die Interpretation
erbrachten Nachweis des ästhetischen Wertes auf sich hat (2.2), um schließlich
auf einen Aspekt der Interpretation einzugehen, den man als ›Wertsteigerung‹
bezeichnen kann (2.3).
13 Wir gehen hier zunächst über eine mögliche Unterscheidung hinweg, auf die erst unten
zurückzukommen sein wird: die Unterscheidung zwischen einer Konzeption ästhetischen
Wertes und einer Konzeption kunstwerkspezifischen Wertes (vgl. dazu bereits Roman Ingarden:
Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937–1967. Darmstadt 1969, Kap. IX
[»Künstlerische und ästhetische Werte«], sowie James Shelley: »Against Value Empiricism in
Aesthetics«, in: Australasian Journal of Philosophy 88 [2010], S. 707–720). In Staigers Ausfüh-
rungen lässt sich ein Bewusstsein für die Unterscheidung nicht ausmachen, s. dazu unten, 3.2.
14 Wörtlich heißt es in der Passage: Wer Literaturwissenschaft betreiben wolle, müsse sich
entschließen, »sie auf einem Grund zu errichten, der dem Wesen des Dichterischen gemäß ist«,
d. h. dem »Gefühl« (33).
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
ästhetischen Wert verfügen kann, der eng mit der Ermöglichung ästhetischer
Erfahrungen verbunden ist.15
Wenden wir uns zur Erläuterung dieser These zunächst der Frage zu, was es
heißt, dass dieser Wert ›anerkannt‹ wird. Staiger meint, dass ästhetischer Wert
nicht lediglich abstrakt registriert werden soll. Die ästhetische Wertschätzung
des Werkes besteht nicht lediglich darin, dass man irgendwie Kenntnis vom
ästhetischen Wert des Kunstwerkes erlangt. (Es genügt also z. B. nicht, dass mir
jemand versichert, das in Rede stehende Werk sei ästhetisch bedeutsam.) Viel-
mehr muss man selber anhand des Werkes dessen ästhetischen Wert auf geeig-
nete Weise realisieren.16 Das heißt nun nicht, dass ästhetische Werte selbst
wahrgenommen werden. (Werte sind ja, wenn es denn überhaupt Entitäten
sind, abstrakt und können nicht wahrgenommen werden.) Vielmehr kommt
hier die ästhetische Erfahrung ins Spiel. Denn es sind ästhetische Erfahrungen,
die den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes erstens anzeigen. Staiger wählt
eine negative Formulierung, aus der die wertanzeigende Funktion ästhetischer
Erfahrungen hervorgeht: »Ohne die erste noch vage Begegnung [d. h. das »Ge-
fühl« bzw. die ästhetische Erfahrung, ebd.] nähme ich überhaupt nichts wahr.
[…] Der Wert und das individuelle Gepräge der Dichtung blieben mir verborgen«
(S. 36). Erst wenn ich anhand eines Werkes eine Erfahrung einer bestimmten
Struktur und Qualität mache, weiß ich also, dass das Werk ästhetisch bedeut-
sam (bzw. Träger ästhetischen Wertes) ist. Zweitens kann man Staiger vielleicht
sogar die Auffassung zuschreiben, dass ästhetische Erfahrungen den ästheti-
schen Wert eines literarischen Werkes entweder fundieren oder auch ausma-
chen. Dass der Wert eines literarischen Kunstwerkes ohne die ästhetische Erfah-
rung »verborgen« bleibe, kann nämlich nicht nur heißen, dass der Wert ohne
die ästhetische Erfahrung zwar vorhanden sei, aber nicht erkannt werde. Es
könnte vielmehr auch gemeint sein, dass es den ästhetischen Wert des Kunst-
werkes ohne die Erfahrung nicht gibt. Ein Kunstwerk wäre demnach ästhetisch
wertvoll, insofern es erlaubt, dass man anhand seiner ästhetische Erfahrungen
macht.17 Oder noch einmal anders gesagt: Ein Kunstwerk hat genau dann ästhe-
tischen Wert, wenn es ästhetische Erfahrungen ermöglicht. Der ästhetische
15 Vgl. ähnlich Martus: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie«, S. 115, im
Anschluss an Danneberg: »Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation«, S. 316.
16 Vgl. zu dieser verbreiteten These z. B. Gary Iseminger: »Aesthetic Appreciation«, in: The
Journal of Aesthetics and Art Criticism 39 (1981), S. 389–397, hier S. 389.
17 Das bedeutet nicht, dass alle Rezipienten des Werkes die fragliche Erfahrung machen müs-
sen, damit das Werk ästhetischen Wert hat. Die Möglichkeit solcher Erfahrung beruht ebenso
auf persönlichen Vorbedingungen wie Vorwissen, entsprechender Gestimmtheit und so fort.
(Wir kommen auf diesen Punkt verschiedentlich zurück.)
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
Wert eines Kunstwerkes beruht demnach auf (oder besteht in) einer bestimmten
dispositionalen Eigenschaft des Kunstwerkes. Staiger vertritt demnach eine
empirizistische Theorie ästhetischen Wertes.18
Hier deutet sich die Schlüsselrolle an, die ästhetischen Erfahrungen in Stai-
gers Konzeption zukommt: Dass sie ästhetische Erfahrungen ermöglichen, ist
erstens etwas literarischen Kunstwerken Wesentliches, das ihren kunstwerk-
spezifischen Wert ausmacht; zweitens ist den ästhetischen Wert anzuerkennen
(und womöglich noch zu steigern, s. 2.3) das Ziel der Auseinandersetzung mit
dem Kunstwerk. Wodurch zeichnen sich ästhetische Erfahrungen Staiger zufol-
ge nun aus?
Eine Rekonstruktion von Staigers Auffassungen zu ästhetischen Erfahrun-
gen in »Die Kunst der Interpretation« ist durch zweierlei erschwert. Erstens
entwickelt er seine Überlegungen fast ausschließlich anhand nur eines einzigen
Beispiels, nämlich Mörikes Gedicht »Auf eine Lampe« (1846). Man weiß also
nicht genau, ob das Gesagte für ästhetische Erfahrungen allgemein oder nur für
die diesem Gedicht – oder Lyrik im Allgemeinen? – gegenüber einschlägigen
Erfahrungen gilt.19 Zweitens kreisen seine Überlegungen zwar permanent um
seine Auseinandersetzung mit diesem Gedicht; sie sind aber, wie schon gesagt,
keine explizite und systematische Theorie ästhetischer Erfahrung, so dass ins-
besondere die folgende zentrale Frage offen bleiben muss: Gibt es Staiger zufol-
ge tatsächlich so etwas wie eine distinkte ästhetische Erfahrung, also einen Typ
Erfahrung, der sich durch eine bestimmte Struktur oder Rolle (oder durch wel-
che Merkmale auch immer) von anderen Erfahrungstypen unterscheidet? Oder
gibt es vielleicht eher viele verschiedene Typen von Erfahrungen, die man an-
hand eines Kunstwerkes machen kann und die nur aufgrund der oberflächli-
chen Gemeinsamkeit, dass sie eben Erfahrungen mit einem bestimmten Gegen-
stand (einem Kunstwerk bzw. ›ästhetischen Objekt‹) sind, unter den Begriff der
18 Eine empirizistische Theorie ästhetischen Wertes zeichnet sich aus durch »accounting for
aesthetic value by tying it to the value of aesthetic experience« (James Shelley: »The Concept of
the Aesthetic«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/entries/
aesthetic-concept [12. September 2013], Abschnitt 2.4: »Aesthetic Experience«); eine detaillierte
Ausarbeitung ist auch Malcolm Budd: Values of Art. Pictures, Poetry and Music. London 1995;
vgl. auch Alan H. Goldman: »The Experiential Account of Aesthetic Value«, in: The Journal of
Aesthetics and Art Criticism 64 (2006), S. 333–342, für eine Verteidigung gegen Kritik der
Konzeption.
19 Vgl. Staigers Überlegungen zur Übertragbarkeit auf andere Gattungen auf S. 50f.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
20 Vgl. zur Diskussion dieses Problems etwa Noël Carroll: Beyond Aesthetics. Philosophical
Essays. Cambridge 2001, S. 41–62. Carroll bestreitet, dass es so etwas wie ästhetische Erfahrun-
gen als distinkten Erfahrungstyp gibt.
21 Offen bleibt u. a., wie Staiger sich die Struktur der »Lust am Wert« vorstellt. Möglich ist eine
›adverbielle‹ Konzeption, also, dass es sich um die lustvolle (bzw. als lustvoll qualifizierte)
Wahrnehmung von etwas handelt. Oder eine ›höherstufige‹ Konzeption, also so etwas wie
Freude an einer Wahrnehmung von etwas, so dass die Freude als gerichtete (intentionale) Ein-
stellung eigenen Rechts zu verstehen ist.
22 Staiger erwähnt in diesem Sinne z. B.: »Wortlaut« (S. 32); »Motiv« (S. 39); »Bilder[], Ideen«
(S. 51).
23 Vgl. »Wortschatz«, »Satzbau« (S. 39); »Prosodie, Metrik, Strophe, Reim« (S. 51).
24 Vgl. z. B. die Erwähnung von »vokalischen Modulationen« (S. 43).
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
(wie ein Text anmutet).25 Zudem ist er der Auffassung, dass diese Elemente in
bestimmten Beziehungen zueinander stehen. So sind Ausdrucks- oder Anmu-
tungsqualitäten in basaleren Eigenschaften fundiert. Staiger ist wichtig, dass
diese Fundierung stets in werkspezifischer Weise vorliegt:
Ich darf zum Beispiel nicht sagen, ein parataktischer Satzbau drückt Ruhe aus, dagegen
ein hypotaktischer Spannung. Jener kann auch lyrisch flüchtig, dieser auch ungeschlacht-
umständlich sein. In Schillers Jungfrau von Orleans, in der Szene Johanna-Montgomery,
zeigt der Einsatz jambischer Trimeter höheres Pathos, gesteigerte Rührung an. Dieselben
ungereimten, ebenmäßigen Verse in Mörikes »Auf eine Lampe« teilen die wunderbare,
abgeschlossene Stille des fast vergessenen Kunstraums mit. Gewiss, man darf entgegnen,
nur das metrische Schema bleibe sich gleich. Im Grunde seien die Verse verschieden.
Schiller skandiere imperial; Mörike trete behutsam auf. Auch diese Bemerkung ließe sich
noch anhand der Texte belegen, zum Beispiel durch den Hinweis auf die Bedeutung der
Konsonanten bei Schiller und andererseits die zarten vokalischen Modulationen bei Möri-
ke. (S. 41)
25 Von »Anmutung« spricht Staiger explizit, vgl. »anmutig« (S. 43); »Verse uns anmuten«
(S. 47). Als konkrete Beispiele für Ausdrucksqualitäten nennt er u. a. »schmerzlich-schöne[r]
Zauber des Stücks« (ebd.) oder »Stimmungen« (S. 51); für weitere Beispiele vgl. das folgende
Zitat im Haupttext oben. Zum Problem der Ausdrucksqualitäten (expressiveness) vgl. einfüh-
rend etwa Jenefer Robinson: »Expression and Expressiveness in Art«, in: Postgraduate Journal
of Aesthetics 4.2 (2007), S. 19–41.
26 Staiger drückt damit schon zu Beginn der 1950er Jahre einen Gedanken aus, als dessen
locus classicus in der angelsächsischen Diskussion Sibleys Aufsatz »Aesthetic Concepts« von
1959 gilt (Frank Sibley: »Aesthetic Concepts«, in: The Philosophical Review 68 [1959], S. 421–
450).
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
punkt der Tatsache betrachten, dass sie von einer bestimmten Person zu einem
bestimmten Zeitpunkt geäußert wurden.27 Aber auch eine andere Deutung der
Rolle kontextueller Sachverhalte bietet sich an: Staiger kann auch so gelesen
werden, dass historische Kontexte eines Werkes ebenfalls Gegenstand (und
damit auch ein Element des Gehalts) ästhetischer Erfahrungen sein können.28
Auch dagegen spricht im Prinzip nichts. Ohnehin ist es bei Literatur so, dass
sich die Gehalte ästhetischer Erfahrungen nicht in dem erschöpfen, was den
Sinnen gegeben ist. Dass im Rahmen ästhetischer Erfahrungen unterschiedliche
Elemente eines Werkes Gegenstand der Wahrnehmung sind, darf man folglich
wohl nicht im engen Sinne der sinnlichen Wahrnehmung verstehen. Als Wahr-
nehmung zählt vielmehr alles, worauf sich die Aufmerksamkeit des Betrachters
richten kann, also z. B. auch Imaginiertes, Erinnertes usw.29
Besonders wichtig und zugleich besonders kompliziert ist drittens ein
Merkmal ästhetischer Erfahrungen, das sich als Geschlossenheit bezeichnen
ließe. Die verschiedenen Aspekte der Erfahrung sollen irgendwie zusammen-
passen oder ein geschlossenes Ganzes (eine geschlossene ›Gestalt‹) ergeben.30
Eine zentrale Unklarheit betrifft die Frage, ob das Zusammenpassen oder die
Ganzheit als Merkmale des Gegenstands oder aber der Erfahrung aufgefasst
werden sollen.31 Für beides gibt es Belegstellen. So spricht Staiger einerseits von
27 Andeuten kann man das durch ›als‹-Formulierungen. So kann man einen Vers als Äuße-
rung eines historischen Individuums lesen, als zeitlose Wahrheit, als Satz des Deutschen usw.
Je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt (›als was‹) man den Vers liest, wird er mehr oder
minder geeignet sein, Träger einer bestimmten Ausdrucksqualität zu sein. Locus classicus eines
solchen Arguments ist Kendall L. Walton: »Categories of Art«, in: The Philosophical Review 79
(1970), S. 334–367. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Staiger also als seiner Zeit voraus.
28 Vgl. Alan H. Goldman: Aesthetic Value. Boulder 1995, S. 18f., für die Explikation eines
solchen Konzepts.
29 Vgl. ähnlich Monroe C. Beardsley: Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism. Sec-
ond Edition. Indianapolis/Cambridge 1980, der meint: »attention is firmly fixed upon […]
components of a phenomenally objective field – visual or auditory patterns, or the characters
and events in literature« (S. 527). Wichtig ist hier, dass sich die Aufmerksamkeit auf ein der
phänomenalen Wahrnehmung Gegebenes richtet; die phänomenalen Gegenstände müssen
keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben (was für Fiktives ja jedenfalls gilt). Vgl. etwa
auch Iseminger: »Aesthetic Appreciation«, S. 389.
30 Beardsley: Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism schreibt (zuerst 1958) wiede-
rum ganz ähnlich, ästhetische Erfahrung sei »an experience that hangs together, or is cohe-
rent, to an unusually high degree« (S. 528). Zur Tradition dieser Auffassung (insbesondere zu
Dewey) vgl. unten, Anm. 43.
31 Vgl. die Beobachtung in Wögerbauer: »Emil Staiger (1908–1987)«, S. 246. Es handelt sich
hier der Sache nach übrigens um einen zentralen Streitpunkt der sog. Beardsley-Dickie-
Debatte, vgl. für eine ausführliche Darstellung Gary Iseminger: »Aesthetic Experience«, in: The
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
der »schwebende[n] Einheit des Gedichts« (S. 40) und vom »Geist, der das Gan-
ze beseelt« (S. 34). Hier klingt es so, als sei die ästhetische Erfahrung eine
Wahrnehmung von etwas Ganzheitlichem oder Zusammenpassendem.32 Ande-
rerseits gibt es aber Belegstellen, die nahelegen, dass wir es beim Zusammen-
passen oder der Ganzheit mit Eigenschaften der Erfahrung zu tun haben: So
heißt es von dem »Gefühl«, es sei »in einem Sinne bestimmt« (S. 35), und: »Je-
der Wahrnehmung winkt eine andere zu« (S. 40).33 Auch »Rhythmus« verwen-
det Staiger nicht nur als Bezeichnung für eine prosodische Eigenschaft des Ge-
dichts,34 sondern der Ausdruck dient ihm als Bezeichnung für das vom Gedicht
evozierte »Gefühl« (wörtlich: »›Rhythmus‹ nenne ich dieses Gefühl«, S. 34) –
eine Bezeichnung, die dessen strukturierte Ganzheit nahelegen könnte.35 Ver-
Oxford Handbook of Aesthetics, hg. v. Jerrold Levinson. Oxford 2003, S. 99–116, hier S. 101–105.
Vgl. unsere Diskussion in Abschnitt 3.2.
32 Ein etwas anderer Fall ist offenbar dies: Die Verse, so Staiger, »teilen die wunderbare,
abgeschlossene Stille des fast vergessenen Kunstraums mit« (S. 41). Die »abgeschlossene
Stille« fasst man wohl am besten als lokale Ausdrucksqualität des Werkes auf. Staiger ist ei-
gentlich aber wichtig, dass Kunstwerke im Ganzen erfahren werden. Was das für umfangreiche
Schriftwerke wie etwa Romane heißen kann, wäre natürlich zu klären. (Wir kommen in Ab-
schnitt 3.2 darauf zurück.)
33 Vgl. auch die etwas erratische Formulierung »Das Unaussprechlich-Identische meiner
Beobachtungen ist der Stil« (S. 43 [unsere Hervorh.]). Das kann man auch so lesen, als gebe es
etwas Identisches in allen Beobachtungen, das deren Zusammenstimmen (oder auch Einheit-
lichkeit?) ausmacht.
34 Staiger spricht aber auch vom »Rhythmus eines Gedichts« (S. 35) und davon, dass man
einen Rhythmus in ein Gedicht (fälschlich) »hinein[lesen]« könne (S. 39). Wir diskutieren
Staigers Verwendung des Ausdrucks »Rhythmus« in 3.2.
35 Auch von »Stil« spricht Staiger bald als von einer komplexen Werkeigenschaft, bald als von
einer Erfahrung, die wir anhand des Werkes machen können. Manchmal charakterisiert er den
»Stil« als Werkeigenschaft in Begriffen, die eigentlich nur dem Handeln oder Erfahren einer
Person zukommen können: »Eines schwingt gelöst im andern, und alles ist ein freies Spiel«
(S. 40). Diese Formulierung lässt einerseits Kants These bezüglich der Geschmacksurteilen
zugrundeliegenden ästhetischen Erfahrung anklingen, es handele sich um den »Zustand eines
freien Spiels der Erkenntnisvermögen« (KU, § 9, S. 217), andererseits Kants These, Einbildungs-
kraft habe im Dichten »freies Spiel« (KU, » Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitte der
Analytik«, S. 240) bzw. Dichtkunst sei »ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft
des Verstandes auszuführen« (KU, § 51, S. 321). Zwar haben wir schon oben angemerkt, dass
Kantische Elemente in Staigers Theorie zu finden sind, die lose Art der Bezugnahme (wenn es
denn überhaupt eine ist), zeigt unseres Erachtens aber auch, dass Staiger seine Theorie nicht in
systematischer Weise auf Kant aufbaut. (Klaus L. Berghahn: »Wortkunst ohne Geschichte. Zur
werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945«, in: Monatshefte 71 [1979], S. 387–398,
hier S. 391f., ist anderer Auffassung, betrachtet allerdings auch keine alternativen Einflüsse
neben Kant.) Vielmehr scheint Staiger nicht fest in einer einzelnen Traditionslinie philosophi-
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
söhnen ließen sich diese Aussagen auf unterschiedliche Weise. Erstens kann es
natürlich sein, dass Geschlossenheit, Zusammenstimmen, Ganzheit etc. sowohl
Eigenschaften der ›gestalthaften‹ Erfahrung als auch Eigenschaften des Werkes
sind.36 Zweitens kann Geschlossenheit (etc.) insofern eine Eigenschaft eines
Aspekts der Erfahrung sein, als deren Gehalt (also das, was erfahren wird) eben
geschlossen (etc.) ist. Drittens könnte Staiger auch die anspruchsvollere These
vertreten, dass Geschlossenheit (etc.) irgendwie durch die Erfahrung oder in der
Erfahrung auf das Werk projiziert wird.37 Eine Entscheidung zwischen diesen
und weiteren Varianten übersteigt aber den von uns gesteckten Rahmen einer
Rekonstruktion der Auffassungen Staigers. Wir schlagen im Zuge unserer Kritik
in Abschnitt 3.2 eine mögliche Interpretation Staigers vor, die solchen Fragen
systematisch ausweicht.
Viertens sind echte ästhetische Erfahrungen Staiger zufolge veridisch, d. h.
ihr Gehalt ist in irgendeinem Sinne zutreffend oder wahrheitsgemäß.38 Staiger
sagt etwa vom Interpreten: »Wie Schelling es einmal ausgedrückt hat: ›Es gibt
zwar einen geistreichen, aber keinen seelenvollen Irrtum.‹« (S. 36) Wie sollte
man diese These von der Irrtumsfreiheit ästhetischer Erfahrung verstehen?
Einer ersten Interpretation zufolge ergibt sie sich aus der Wahrnehmungsab-
hängigkeit der in der ästhetischen Erfahrung gegebenen ästhetischen Eigen-
schaften. Man kann solche Wahrnehmungsabhängigkeit unterschiedlich ver-
stehen – Staiger meint vermutlich Folgendes: Ein Gegenstand besitzt eine
ästhetische Eigenschaft genau dann, wenn der Gegenstand auf ideale Interpre-
ten unter idealen Bedingungen auf jene Weise wirkt. Aus dieser Wahrneh-
mungsabhängigkeit folgt, dass ideale Interpreten unter idealen Umständen sich
nicht in der Zuschreibung ästhetischer Eigenschaften irren können. Staiger
drückt die Bedingung des idealen Interpreten so aus:
Es wird verlangt, dass jeder Gelehrte zugleich ein inniger Liebhaber sei, dass er mit
schlichter Liebe beginne und Ehrfurcht all sein Tun begleite. Dann wird er sich keine Takt-
schen Nachdenkens über ästhetische Erfahrung zu stehen, sondern sich eher eklektisch ver-
schiedener Ideen zu bedienen, ohne diese im Einzelnen zu diskutieren.
36 Jedenfalls scheint Staiger auch zu meinen, dass das Zusammenstimmen (etc.) der (Einzel-)
Erfahrungen (lokaler Werkelemente) eine Art Indikator für das Zusammenstimmen der Werk-
eigenschaften ist: »Es ist ein Geist, der das Ganze beseelt und – wie wir deutlich fühlen können
[…] – sich rein in den einzelnen Zügen bewährt« (S. 34). Zur Problematik dieser Position vgl.
Iseminger: »Aesthetic Experience«, S. 102.
37 Vgl. zu Projektionsthesen ästhetischer Eigenschaften Kendall L. Walton: »Projectivism,
Empathy, and Musical Tension«, in: Philosophical Topics 26 (1999), S. 407–440.
38 Vgl. dazu etwa Iseminger: »Aesthetic Appreciation«, S. 389.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
losigkeiten mehr zuschulden kommen lassen, und was er leistet, bedrückt oder ärgert die
Freunde der Poesie nicht mehr – vorausgesetzt, dass er wirklich begabt ist und sein Ge-
fühl das Richtige trifft. (S. 34)
39 Staiger bemüht hier Objektsprache – »Der nächtge Wind / Hat süß und lind / Zu mir den
Klang getragen«, heißt es in dem Gedicht –, um die Ausdrucksqualitäten »weich« und »stim-
mungsvoll«, die er im Gedicht ausmacht, näher zu charakterisieren.
40 Staiger hebt verschiedentlich die Bedeutung bestimmter Kompetenzen für ästhetische
Erfahrungen hervor: Man muss (oft) bestimmte Dinge wissen, um eine ästhetische Erfahrung
machen zu können, man darf nicht abgelenkt sein, außerdem benötigt man eine hohe Sensibi-
lität für ästhetische Sachverhalte: »Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen
Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die ver-
schiedensten Töne anspricht« (S. 34). Auch damit befindet er sich in Einklang mit der Traditi-
on, insbesondere etwa mit Humes in »Of the Standard of Taste« entwickelter Theorie (David
Hume: »Of the Standard of Taste«, in: ders.: Essays Moral, Political, and Literary, Bd. 2, hg. v.
T. H. Green und T. H. Grose [Reprint London 1882]. Aalen 1964 [1757], S. 266–284), vgl. zur
Erläuterung Theodore Gracyk: »Hume’s Aesthetics«, in: The Stanford Encyclopedia of Philoso-
phy, https://plato.stanford.edu/entries/hume-aesthetics (13. April 2016) oder allgemeiner etwa
auch Goldman: Aesthetic Value, S. 21–26.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
veridische) ästhetische Erfahrung vorliegt oder nicht, sieht Staiger in der oben
ebenfalls thematisierten Geschlossenheit: »Gesetzt der Fall, mein Gefühl sei
falsch, dann komme ich plötzlich nicht mehr weiter. Ich kann die Verse nicht
mit dem Satzbau und die Wahl der Bilder nicht mit dem Reim in Einklang brin-
gen« (S. 39). In einer ästhetischen Erfahrung im vollgültigen Sinne wären alle
Aspekte der Erfahrung (bzw. des Gehalts der Erfahrung, s. o.) aufeinander abge-
stimmt.41
Um den dieser Liste von vier Merkmalen ästhetischer Erfahrungen vorange-
gangenen Gedanken noch einmal zusammenzufassen: Die Ermöglichung ästhe-
tischer Erfahrungen macht den ästhetischen (kunstspezifischen) Wert eines
literarischen Werkes aus, und die Anerkennung dieses Wertes – oder, wie wir
auch sagen können: die ästhetische Wertschätzung des Werkes – besteht we-
sentlich darin, dass man die fragliche ästhetische Erfahrung macht.
Anhand der herausgearbeiteten Merkmale ästhetischer Erfahrungen lässt
sich nun auch besser nachvollziehen, weshalb der ästhetische Wert eines Wer-
kes diesen Namen tatsächlich verdient. Zum einen sind ästhetische Erfahrungen
instrumentell wertvoll, insofern sie die Erkenntnis der ästhetischen Eigenschaf-
ten des Werkes ermöglichen. Staiger spricht von der »Vorerkenntnis des ersten
Gefühls« in der Auseinandersetzung mit dem Werk (S. 39). Man kann das wohl
(als genitivus subiectivus) so verstehen, dass der Gehalt, die Struktur oder die
Qualität der ästhetischen Erfahrung gewissermaßen noch auf den Begriff ge-
bracht werden müssen, damit von einer Erkenntnis des Gegenstands im vollgül-
tigen Sinne gesprochen werden kann (dazu u., 2.2) – insofern handelt es sich
um eine Vor-Erkenntnis durch das »Gefühl«. Zum anderen ist plausibel, dass
ästhetische Erfahrungen intrinsisch wertvoll sind: Das Zusammenstimmen oder
die Geschlossenheit verschiedener Aspekte der Erfahrung ist als »integrating
the self« beschrieben worden;42 es entspricht einer Traditionslinie, die in De-
41 Unklar bleibt, wie die bei der »ersten Begegnung« mit dem Gedicht gemachte Erfahrung zu
charakterisieren ist. Wenn ästhetische Erfahrungen wirklich veridisch sind, dann handelte es
sich bei dieser Erfahrung nicht um eine – die ästhetische Gesamtbeschaffenheit des Gegen-
standes korrekt anzeigende – ästhetische Erfahrung, sondern allenfalls um ein täuschend
ähnliches Erlebnis. Man vergleiche: Eine optische Illusion (Halluzination) lässt sich für den
Getäuschten (allein aufgrund der phänomenalen Qualität) nicht von einem optischen Sinnes-
eindruck unterscheiden. Dennoch handelt es sich nicht um einen Sinneseindruck, sondern um
die Illusion eines Sinneseindrucks. Wir diskutieren in Abschnitt 3.2 eine stärkere Irrtumsfrei-
heitsthese, die sich Staiger vielleicht auch zuschreiben lässt.
42 Iseminger: »Aesthetic Experience«, S. 101.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
(2.2) Bislang haben wir nur rekonstruiert, worin ästhetischer Wert besteht bzw.
wie man ihn feststellt. Für beides sind die ästhetischen Erfahrungen zentral, die
man anhand des Kunstwerkes machen kann. Das ist nun aber noch nicht die
eigentliche Interpretation, die Staiger ja als eine Form von »Nachweis« (S. 36)
bestimmt: »Diese [sc. die anhand des Gedichts gemachte] Wahrnehmung abzu-
klären zu einer mitteilbaren Erkenntnis und sie im Einzelnen nachzuweisen, ist
die Aufgabe der Interpretation« (S. 35).
Staiger sagt mit wünschenswerter Klarheit, dass die ästhetischen Erfahrun-
gen eine Voraussetzung der Interpretation sind:
Ohne die erste noch vage Begegnung nähme ich überhaupt nichts wahr. Ich sähe die Ord-
nung des Kunstwerks nicht. Der Wert und das individuelle Gepräge der Dichtung blieben
mir verborgen. […] Der seelische Grund [d. h. das psychische Faktum einer Erfahrung ei-
ner bestimmten Struktur und Qualität] ist unentbehrlich, nicht nur für die erste Begeg-
nung, sondern auch für den Nachweis selbst. (S. 36)44
43 Vgl. John Dewey: Art as Experience. New York 1980 [1934], insbes. S. 37–59. Für einen
Erklärungsversuch vgl. etwa Tilmann Köppe: Erzählte Selbstrepräsentation im modernen Ro-
man. Berlin, Boston 2016, S. 171–174. (Und am Rande: Carroll: Beyond Aesthetics. Philosophical
Essays, S. 49, fasst einen wesentlichen Aspekt von Deweys Theorie ästhetischer Erfahrung so
zusammen, dass diesem zufolge ästhetische Erfahrungen einen spezifischen »rhythm« hätten
– und das könnte einer Verwendung des Ausdrucks »Rhythmus« entsprechen, die sich auch
bei Staiger findet, s. S. 34: »›Rhythmus‹ nenne ich dieses Gefühl«).
44 Oder auch: »Und ist es nicht peinlich zu sehen, wie literaturwissenschaftliche Forschung
[…] das nicht Verstandesmäßige, also das Wesentliche, beiseite schiebt und verlegen, mit einer
entschuldigenden Bemerkung, das minder Wesentliche behandelt […]«? (S. 33). Zur Erläute-
rung vgl. die folgende Anm. 45.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
Auf der Basis des oben Ausgeführten können wir nachvollziehen, warum das so
ist:
Erstens soll die Interpretation ästhetisch relevante Eigenschaften literari-
scher Werke aufzeigen, also insbesondere Ausdrucksqualitäten. Diese Eigen-
schaften sind wahrnehmungsabhängig (der im Englischen gebräuchliche Aus-
druck ist response dependence), d. h., dass ein Gegenstand die fragliche
Eigenschaft hat, bedeutet, dass er unter geeigneten Umständen auf die fragliche
Weise auf jemanden wirkt.45 Staigers Beispiel: Mörikes Verse »teilen die wun-
derbare, abgeschlossene Stille des fast vergessenen Kunstraums mit«, wenn
man sie mit der vorausgesetzten Sensibilität und dem relevanten Wissen oder
Verständnis liest. Der Interpret muss also versuchen, den Gehalt der ästheti-
schen Erfahrung wiederzugeben. Staiger versucht dies einerseits durch die eher
summarische Benennung von Ausdrucksqualitäten – zumal so komplexer, wie
sie mit der ebenfalls komplexen Rede von der »wunderbare[n], abgeschlosse-
ne[n] Stille des fast vergessenen Kunstraums« (s.o.) benannt werden. Anderer-
seits bemüht er sich in stärker narrativen Passagen, individuelle Züge seiner
Erfahrung zu vermitteln:
Sieht nicht auch so die Lampe aus? Sie ist an Ketten aufgehängt. Die Ketten bilden deut-
lich eine sichtbare lineare Figur. Der Lampe selber spricht der Dichter »Form« – im klassi-
schen Sinne – zu. Aber ein sanfter Geist des Ernstes ist »ergossen« um die Form, als hafte
ihr etwas Feuchtes an, das ihre strengen Konturen mildert. Die Kinderschar, die den Rei-
hen schlingt, ist »fröhlich«, in freierer Weise, geordnet. Und endlich ist, im golden grünen
Erzkranz, Farbe beigemischt, die ebenso unauffällig den Abstand des plastischen Kunst-
gebilds überspielt wie die vokalischen Modulationen den distanzierenden reimlosen Vers.
(S. 43)
45 Damit befindet sich Staiger auf der Linie der sensualistischen Ästhetik-Tradition. Vgl. etwa
Hume: »Of the Standard of Taste«, I.XXIII.8: »Beauty is no quality in things themselves; it
exists merely in the mind which contemplates them«. Das Vorliegen ästhetischer Eigenschaf-
ten kann demnach nicht, mit Staigers Worten (der sich auch hier eines traditionellen Vokabu-
lars bedient), ›verstandesmäßig‹ erschlossen werden, sondern es muss wahrgenommen wer-
den. Vgl. auch bereits Ingarden: Erlebnis, Kunstwerk und Wert, S. 175, oder allgemein Crispin
Sartwell: »Beauty«, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, https://plato.stanford.edu/en
tries/beauty (5. Oktober 2016). Die aus der sensualistischen Ästhetik übernommene Idee, dass
ästhetische Eigenschaften wahrnehmungsabhängig sind, ist im Übrigen durchaus kompatibel
mit der empirizistischen Idee, die wir an anderen Stellen betonen, dass ästhetischer Wert eng
mit ästhetischer Erfahrung zusammenhängt.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
Metrik, Lautung und Anmutung, der sich aber zugleich – so muss man wohl
annehmen – durch die für ästhetische Erfahrungen charakteristische ›Geschlos-
senheit‹ (s. o.) auszeichnet. Auffällig ist auch, dass die Beschreibung der ästhe-
tischen Erfahrung zugleich eine Beschreibung verschiedener Aspekte des
Kunstwerkes ist. Die Identität oder Individualität der Erfahrung ließe sich ohne
Rekurs auf das Kunstwerk offenbar nicht bestimmen, es ist für die Bestimmung
von deren Gehalt wesentlich.46
Zweitens – das geht aus demselben Zitat hervor – bemüht sich Staiger um
eine Fundierung der Erfahrung in Objekteigenschaften. D. h., er versucht, die
manifesten Eigenschaften ausfindig zu machen, auf denen sein komplexer äs-
thetischer Eindruck beruht. Einerseits hat das den Charakter einer Kausalerklä-
rung, obwohl Staiger sich bewusst ist, dass wir zu den Quellen des von der
Dichtung ausgehenden ›Zaubers‹ (vgl. S. 33) nur einen beschränkten Zugang
haben. Hier gilt: »früher oder später kommen wir an die Grenze des Nachweis-
baren und können wir nur behaupten, die Verse klingen nach unserem Empfin-
den so« (S. 42).47 Andererseits ist Staiger zufolge eine hilfreiche oder nützliche
Interpretation offenkundig eine solche, die anzeigt, auf welche manifesten Ob-
jekteigenschaften man seine Aufmerksamkeit richten muss, um der ästheti-
schen Eigenschaften gewahr zu werden, die auf diesen Objekteigenschaften
beruhen.48 Das Urteil des Interpreten, der dem Kunstwerk bestimmte (höherstu-
fige, komplexe) ästhetische Eigenschaften zuspricht, soll irgendwie nachvoll-
ziehbar sein – das hält Staiger nicht zuletzt für ein Erfordernis des wissenschaft-
lichen Diskurses (bzw. darin liegt für ihn ein Ziel des wissenschaftlichen
Diskurses über Kunstwerke). Dieses Nachvollziehen besteht schlussendlich
wohl darin, dass man als Leser der Interpretation in die Lage versetzt wird, die
ästhetischen Eigenschaften des literarischen Werkes anhand des Werkes wahr-
zunehmen und so der »Lust am Wert« (s. o.) des Werkes teilhaftig zu werden.
Allerdings kann natürlich keine Interpretation eines literarischen Werkes
das Werk selber ersetzen. Die ästhetische Erfahrung, die Mörikes »Auf eine
Lampe« vermitteln kann, kann nur Mörikes »Auf eine Lampe« vermitteln. Das
Werk ist unersetzbarer Bezugspunkt der ästhetischen Erfahrung, oder anders
gesagt: Die Erfahrung ist als Erfahrung des Kunstwerkes bestimmt. Das bloße
46 Vgl. zur Erläuterung dieser These (am Beispiel musikalischer Werke) Jerrold Levinson: The
Pleasures of Aesthetics. Philosophical Essays. Ithaca, New York 1996, S. 22f.
47 Vgl. auch »Den Stil des Gedichts an sich, der unser Gegenstand ist, vermögen wir nämlich
nicht unmittelbar in Begriffe zu fassen« (S. 40), »Das Unaussprechlich-Identische meiner Be-
obachtungen ist der Stil« (S. 43, unsere Hervorh.) und »Individuum est ineffabile« (S. 52).
48 Vgl. etwa auch Goldman: »The Experiential Account of Aesthetic Value«, S. 333.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
Denn weil hier jede Erscheinung jeder anderen ebenbürtig ist, gelingt es nur selten, auf-
zubauen und jene Folge zu erzielen, die bei der Entwicklung eines Problems oder einer
Lebensgeschichte bereits durch die sachliche Folge gegeben ist. Wer interpretiert, läuft
immer Gefahr, nur eine Schmetterlingssammlung von lauter einzelnen Aperçus zu liefern.
(S. 44)49
(2.3) Ein letzter Aspekt des Verhältnisses von ästhetischer Erfahrung und Inter-
pretation durchzieht Staigers Ausführungen, auf den wir einleitend bereits kurz
verwiesen haben. Die Interpretation kann ihrerseits durch das mit ihr gewonne-
ne Verständnis ästhetische Erfahrungen ermöglichen. Deutlich wird das im
letzten Halbsatz des folgenden Zitats:
Der Interpret aber maßt sich an, auf wissenschaftliche Weise etwas über die Dichtung
auszusagen, was ihr Geheimnis und ihre Schönheit, ohne sie zu zerstören, erschließt, und
mit der Erkenntnis zugleich die Lust am Wert des Sprachkunstwerks vertieft. (S. 32)
Die Vertiefung der »Lust am Wert des Sprachkunstwerks«, von der hier die Rede
ist, benennt einen Aspekt der Interpretation, der selten als Ziel der Interpretati-
on ausgezeichnet wird und doch Interpretierenden aus der Praxis geläufig sein
sollte: Oftmals steigt die Wertschätzung eines literarischen Werkes mit der in-
tensiven – und das heißt interpretatorischen – Beschäftigung. Dies äußert sich
manchmal in Bonmots wie ›Ich entdecke mit jedem Wiederlesen immer noch
neue Schönheiten am Roman‹, doch das Phänomen ist allgegenwärtig. Gerade
komplexe Werke erschließen sich oft nicht im ersten Kontakt mit ihnen, son-
dern belohnen intensive interpretatorische Auseinandersetzung. Es ist eine
Stärke von Staigers Ansatz, dass er dieses Phänomen erfassen und erklären
kann.
49 Vgl. auch »Denn ohnehin wecke ich Leben nur, wo Leben in mir entzündet ist« (S. 52).
50 Vgl. auch Danneberg: »Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation«, S. 318.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
Kritik
In diesem Abschnitt diskutieren wir zunächst – notwendigerweise selektiv –
besonders interessante Alternativvorschläge zur Exegese bzw. Rekonstruktion
einzelner Aspekte von Staigers Programm (3.1).51 Anschließend benennen wir
kurz Gesichtspunkte einer immanenten Kritik des Programms (3.2). Beides kann
unser Verständnis des Staiger’schen Interpretationskonzepts vertiefen.
(3.1) Wir sehen uns nachstehend die von Lutz Danneberg vorgeschlagene Re-
konstruktion erstens der Rolle historischen Wissens (insbesondere in Interpre-
tationskonflikten) sowie zweitens der Frage, was es mit dem »Zusammenhang«
oder »Einstimmen« der Elemente von Erfahrung und/oder Werk auf sich hat,
an. Anschließend diskutieren wir Claudia Stockingers Rekonstruktion der Rolle
des Lesers sowie Steffen Martusʼ Deutungen der Rolle des ›Gefühls‹ in Staigers
Programm.
Lutz Danneberg beschreibt die Möglichkeit der Schlichtung eines Konflikts
zweier Interpretationen, von denen eine durch Kontextwissen legitimiert ist und
die andere »dem literarischen Werk zu einem ästhetischen Zugewinn verhilft«,
so: »Die Ästhetik wird durch Maximierungsannahmen zur Stifterin der principia
hermeneutica und damit zur Anleiterin der Interpretation. Die Maximierung
vorausgesetzter (ästhetischer) Eigenschaften wird so zum Kriterium für den
richtigen Interpretationsweg.«52 Konkret: Wenn ein Interpret zwischen zwei
alternativen Interpretationshypothesen zu wählen hat, von denen die eine
durch (historisches) Kontextwissen legitimiert ist, während die andere (man
muss wohl hinzufügen: für das Werk bedeutsame) ästhetische Eigenschaften
aufzeigt, so ist der letzteren der Vorzug zu geben. Den Ergebnissen unserer
Rekonstruktion entspricht das insofern, als auch Danneberg (zumindest) die
Anerkennung ästhetischer Eigenschaften eines Werkes (wenn nicht auch des-
sen ästhetische Wertschätzung) als Ziel des Interpreten ausweist.53 In anderer
Hinsicht ist seine Rekonstruktion von unserer aber verschieden. Unserer Rekon-
struktion zufolge ist eine (Staigerʼsche) Interpretation gelungen, wenn sie den
(empirizistisch konzipierten) ästhetischen Wert des Kunstwerkes feststellt, die
ästhetischen Eigenschaften des Werkes benennt und möglichst auch ihre Fun-
51 Eine umfassendere Würdigung dieser Forschungen können wir hier nicht leisten; wir be-
schränken uns auf die Diskussion von Stellungnahmen zu den hier in Rede stehenden Aspek-
ten von Staigers Text, ohne auf den Kontext der Stellungnahmen näher eingehen zu können.
52 Danneberg: »Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation«, S. 318 (Hervorh. im Orig.).
53 Zu Problemen der Wertung vgl. ebd., S. 322f.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
54 Vgl. auch Danneberg: »Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation«, S. 320f.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
fenden Relationen besteht, hinterläßt dann tatsächlich den Eindruck, daß hier die Gren-
zen der direkten sprachlichen Darstellung erreicht sind […].55
55 Ebd., S. 321.
56 Dieselben Überlegungen sprechen auch gegen die Interpretation Ekaterini Kaleris, der
zufolge für »Staigers Ansatz die Frage nach der spezifisch dichterischen sprachlichen Semiose«
zentral ist (Ekaterini Kaleri: »Werkimmanenz und Autor«, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneue-
rung eines umstrittenen Begriffs, hg. v. Fotis Jannidis u. a. Tübingen 1999, S. 235–254, hier
S. 246). Auch Steffen Martus greift in seiner Rekonstruktion auf die semiotische Terminologie
zurück: »Der [Staiger’sche] Interpret kann die Stimmigkeit und damit die Richtigkeit seiner
Interpretation erweisen, wenn er das Gefühlte in Einklang mit anderen ›nachweisbaren‹ Mo-
menten des Gedichts bringt, wenn er also inhaltliche und formale Elemente als wechselseitige
Exemplifikationen deuten kann« (Martus: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philo-
logie«, S. 127). Hier ist offenbar manches schief: Erstens ist es nicht so, dass »inhaltliche«
Elemente das »Gefühlte« und »formale Elemente« die »›nachweisbaren‹ Momente« des Ge-
dichts sind. Gegenstand des ›Gefühls‹, d. h. der ästhetischen Erfahrung, sind die ästhetischen
Eigenschaften eines Werkes, die über ›inhaltlichen‹ und ›formalen‹ Merkmalen (also z. B. über
Wortbedeutungen und Motiven einerseits und der Syntax des Werkes andererseits) supervenie-
ren. Zweitens macht die Aussage, dass sich »inhaltliche und formale Elemente als wechselsei-
tige Exemplifikationen deuten« ließen, schon für sich genommen wenig Sinn. Weder lassen
sich inhaltliche und formale Elemente als Beispiele füreinander deuten, noch exemplifizieren
sie einander im sprachphilosophischen Sinn, der von Nelson Goodman in die Ästhetik einge-
führt wurde: In diesem Sinn sind es Kunstwerke, die Eigenschaften exemplifizieren, d. h.
besitzen (wiewohl manchmal nur metaphorisch) und gewissermaßen präsentieren (vgl. Nelson
Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Second Edition. Indianapolis
1976).
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
Staigers Kategorie der ›Ergriffenheit‹ setzt einen streng historischen Blick auf den Text vo-
raus. Nicht der gegenwärtige Leser oder Interpret als solcher ist ›ergriffen‹; Staigers Leser
ist ein historischer Leser. […] Die Interpretation gilt als unhistorisch, wenn sich der Inter-
pret mit der Schilderung seines persönlichen (je aktuellen) Eindrucks begnügt.58
Zum Teil deckt sich dies offenbar mit unserer Rekonstruktion: Manchmal setzt
die Wahrnehmung ästhetischer Eigenschaften historisches Wissen voraus. Das
bedeutet aber nicht – und hier sind wir anderer Meinung als Stockinger –, dass
der Interpret nicht seinen eigenen »persönlichen (je aktuellen)« Eindruck zur
Grundlage der Interpretation machen solle. Staiger betont vielmehr immer wie-
der das Gegenteil. Und wir können auch sehen, weshalb er dies tut: Ästhetische
Eigenschaften (und ästhetischer Wert) erschließen sich nur durch ästhetische
Erfahrungen. Man muss ein Kunstwerk (selbst) betrachten (lesen, hören etc.),
um einen Zugang zu diesen Eigenschaften zu haben. Die erforderliche ästheti-
sche Erfahrung kann einem niemand abnehmen (kein historischer und kein
gegenwärtiger Leser).59 Allerdings könnte man versuchen, den eigenen (»je
aktuellen« Eindruck wie jemand anders zu machen.60 Man kann beispielsweise
versuchen, das Gedicht Mörikes wie ein Zeitgenosse Mörikes zu lesen. Wir kön-
nen diesen Vorschlag allerdings in mindestens zweierlei Weise verstehen. Wenn
wiederum nur gemeint ist, dass die Interpretation manchmal historisches Wis-
sen voraussetzt, wie es etwa ein Zeitgenosse Mörikes selbstverständlich mit-
brachte, so stimmen wir zu. Wenn dagegen gemeint ist, dass man versucht, die
Erfahrung einer anderen Person zu simulieren, so ist nicht nur fraglich, wie
57 Hinzu kommt noch die oben ebenfalls benannte (und auch in der Tradition immer wieder
identifizierte) Unterdeterminiertheit (höherstufiger, komplexer, wahrnehmungsabhängiger)
ästhetischer Eigenschaften durch manifeste Werkeigenschaften, über die die erstgenannten
supervenieren (vgl. unsere Anm. 24 u. 43 oben).
58 Claudia Stockinger: »›Lektüre‹? ›Stil‹? Zur Aktualität der Werkimmanenz«, in: 1955–2005:
Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute, S. 61–85, hier S. 65f.
59 Man vergleiche: Natürlich ist es möglich, dass jemand mein Frühstück isst. Aber es ist nicht
möglich, dass jemand mein Frühstück für mich isst. Im selben Sinne kann niemand für mich
ein Kunstwerk rezipieren (auch wenn ich natürlich Leute ausschicken kann, ein Kunstwerk zu
betrachten und mir darüber zu berichten).
60 Vielleicht meint Stockinger dies mit der Formel: »Staigers historische Methode des einfüh-
lenden Verstehens« (Stockinger: »Zur Aktualität der Werkimmanenz«, S. 78 [Hervorh. i. Orig.]).
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
erfolgreich solche Versuche sein mögen, sondern Staigers Intention wird auch
verfehlt. Denn ihm geht es um die ästhetische Wertschätzung literarischer
Kunstwerke, die in der in propria persona gemachten ästhetischen Erfahrung
des Kunstwerkes besteht (s. die empirizistische Konzeption ästhetischen Wer-
tes), nicht um die Simulation einer solchen Erfahrung (geschweige denn Wert-
schätzung). Er glaubt, dass bedeutende Kunstwerke für den (»je aktuellen«)
Betrachter ästhetischen Wert haben, und dass man sie wegen dieses in der äs-
thetischen Erfahrung aufscheinenden Wertes ›lieben‹ und ›verehren‹ kann.
Steffen Martus meint: »›Evidenz‹ und ›Gefühl‹ treten […] gleichbedeutend
ins Zentrum der Interpretationstheorie«.61 Gestützt wird diese These mit der
folgenden Aussage Staigers:
Die Wahrheit, die ich in Anspruch nehme, hat den Charakter der Evidenz. Die Evidenz
kommt dadurch zustande, daß alles mit allem zusammenstimmt. Eine richtige Interpreta-
tion erweckt im Leser das Gefühl: So ist es! Es kann nicht anders sein!62
Was Staiger hier sagen will, ist aber nicht, dass die Ausdrücke ›Evidenz‹ und
›Gefühl‹ gleichbedeutend sind.63 Staiger meint in dieser Passage mit ›Gefühl‹
61 Martus: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie«, S. 118; vgl. ebd., S. 114
(»Was genau Staiger unter ›Gefühl‹ versteht, lässt sich schon deswegen nicht einfach bestim-
men, weil er diesen Begriff bisweilen gegen andere Begriffe wie ›Evidenz‹ […] austauscht«).
62 Zit. n. ebd., S. 118.
63 An anderer Stelle identifiziert Martus eine Opposition von Wissenschaft und »Gefühl«, die
in Staigers Schrift »Das Problem der wissenschaftlichen Interpretation von Dichtwerken« (1961)
zum Ausdruck komme. Martus schreibt: »Man kann sagen, dass die Wissenschaftstauglichkeit
des Gefühls sich daran bemisst, wie wenig der fühlende Literaturwissenschaftler sich von
seinen Emotionen überwältigen lässt bzw. wie gut er ›Arbeit‹ und ›Gefühl‹ in ein ausgegliche-
nes Verhältnis bringt« (Martus: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie«,
S. 120). An der fraglichen Stelle weist Staiger aber wiederum lediglich darauf hin, dass man
manchmal über bestimmte Wissensbestände verfügen muss, um bestimmte ästhetische Eigen-
schaften wahrnehmen zu können. Und Staiger fährt fort: »Dieses ästhetische Phänomen er-
schließt sich nur aus der Ergriffenheit, dem bewegten, erschütterten, entzückten Gemüt« (Emil
Staiger: »Das Problem der wissenschaftlichen Interpretation von Dichtwerken. Ein Radiovor-
trag«, in: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag, hg. v. Gustav Erdmann und
Alfons Eichstaedt. Berlin 1961, S. 355–358, hier S. 357). Das »Gefühl« – Staiger spricht an dieser
Stelle auch von der »subjektiven Erfahrung« des Interpreten, gemeint ist die ästhetische Erfah-
rung – kann erstens durch historisches Wissen befördert werden (oder historische Sachverhal-
te zum Gegenstand haben, s. o.); zweitens man kann versuchen, die Gehalte des »Gefühls« zu
beschreiben; und drittens kann man versuchen, die Fundierung des »Gefühls« in manifesten
Objekteigenschaften aufzuzeigen. Mit einer Überwältigung durch Gefühle, die einen von der
wissenschaftlichen Arbeit abhalten würden oder die durch diese ausgeglichen werden müss-
ten, hat das alles nichts zu tun.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
vielmehr der Sache nach ästhetische Erfahrungen.64 Und er weist, etwas tech-
nisch gesagt, darauf hin, dass ein Urteil, mit dem einem Kunstwerk eine ästheti-
sche Eigenschaft zugesprochen wird, genau dann zutreffend ist, wenn der Fall
ist, dass die Eigenschaft unter geeigneten Bedingungen wahrgenommen wird
(vgl. oben zur These der response dependence ästhetischer Eigenschaften). Ent-
weder wird also die Eigenschaft (unter geeigneten Bedingungen) wahrgenom-
men, oder dies ist nicht der Fall. Im ersteren Fall ist das Vorliegen der Eigen-
schaft ›evident‹. Staiger verweist damit auf ein in der Tradition bekanntes
Phänomen: Urteile, die den Gehalt einer Wahrnehmung wiedergeben, kann
man nicht ohne weiteres begründen. (Wenn ich sage: ›Ich sehe da vorne einen
Stuhl.‹ und mich jemand fragt: ›Woher weißt Du das?‹ Was soll ich dann sa-
gen?)65 Für ästhetische Eigenschaften gilt das im Besonderen: Dass ein Gegen-
stand z. B. harmonisch ist oder klingt, muss man sehen oder hören. Diese ›Evi-
denz‹ des Eindrucks begründet die »Wahrheit«, die Staiger »in Anspruch«
nimmt.66
Steffen Martus findet in Staigers Ausführungen zudem »die wissenschafts-
kritische Wendung« eines aus der Tradition bekannten »Arguments«:
Demzufolge gibt es gegenüber dem in sich vollendeten Kunstwerk zwei legitime Reakti-
onsweisen: Dem Beobachter bleibt entweder das bloße Beindruckt-Sein, das zum Schönen
nicht mehr sagen kann als: »es ist!« Oder er kann sich angesichts des in sich vollendeten
64 Staiger steht mit seiner Rede von ›Gefühl‹ zur Bezeichnung ästhetischer Erfahrungen übri-
gens in Kontinuität mit der im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Bezeichnung (vgl. etwa Kant,
KU, § 15, S. 228). Auch der im 18. Jahrhundert gebräuchliche Ausdruck sentiment schließt ne-
ben Gefühlen allgemein etwa bei Hume auch ästhetische Wahrnehmungen ein: »In the eigh-
teenth-century context of moral theory, ›sentiment‹ is a generic label for emotions«. Zu Hume:
»Beauty is a feeling of approbation« (Gracyk: »Humes Aesthetics«). Ein entscheidender Ge-
sichtspunkt dabei – aber das können wir hier nicht vertiefen – ist die schon im 18. Jahrhundert
bemerkte ›Unmittelbarkeit‹ ästhetischer Urteile: Sie basieren nicht auf vernünftigen Überle-
gungen, sondern eben auf dem unmittelbaren Wahrnehmen oder eben ›Fühlen‹ von etwas.
Schon Dubos bemerkt in diesem Sinne, dass wir nicht irgendwie ›schließen‹, dass uns eine
Speise schmeckt, sondern dies unmittelbar merken, und genauso verhalte es sich mit der
ästhetischen Beurteilung von Kunstwerken (vgl. zur Erläuterung und Diskussion Shelley: »The
Concept of the Aesthetic«).
65 Vgl. erneut Shelley: »The Concept of the Aesthetic«.
66 Vgl. auch die Überlegungen in Jeffrey Petts: »Aesthetic Experience and the Revelation of
Value«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 58 (2000), S. 61–71, hier insbes. S. 63f. (im
Anschluss an Dewey).
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
Kunstwerks selbst an die Produktion eines anderen Kunstwerks machen, das in Form ei-
ner Art Parallelaktion einen künstlerischen Kommentar zur Kunst formuliert.67
Die erste Reaktion wird von Staiger tatsächlich als legitim ausgezeichnet (s. o.):
Der Laie hat jedes Recht, dem Kunstwerk gegenüber schlicht beeindruckt zu
sein, und Staiger betont, dass die initiale Reaktion beliebig wenig voraussetzen
kann. Das bedeutet aber nicht, dass sich die initiale Reaktion auf das Kunstwerk
in bloßem Staunen erschöpfen muss, wie Martus nahelegt. Sie kann im Gegen-
teil von vorherigem Wissen wie z. B. historischen Fakten informiert sein, kann
den Gehalt des Kunstwerkes mehr oder minder vollständig erfassen und der-
gleichen mehr.68 Die zweite Reaktion scheint uns von Staigers Theorie nicht
gedeckt zu sein. Zwar betont Staiger (s. o. 2.3), dass die Interpretation den Zu-
gang zu ästhetischer Erfahrung und Wertschätzung eröffnen kann, doch kann
keine Rede davon sein, dass auf diese Weise ein neues Kunstwerk geschaffen
werde oder die Wissenschaftlichkeit der Interpretation in Frage stehe.
Im Sinne Staigers dürfte daher vielmehr eine dritte, interpretatorische Reak-
tionsweise sein: Der Beobachter kann versuchen, seine ästhetische Erfahrung
zu ergründen, indem er diese wahrgenommenen ästhetischen Eigenschaften
erstens benennt und zweitens die Fundierung der ästhetischen Eigenschaften in
manifesten Objekteigenschaften nachzuweisen versucht. Denn zwar führt bei
der Begründung entsprechender Zuschreibungen an der ›Evidenz‹ ästhetischer
Eigenschaften im Medium der ästhetischen Erfahrung kein Weg vorbei (s. o.).
Das heißt aber nicht, dass ästhetische Eigenschaften nicht in irgendeiner Weise
von manifesten Werkeigenschaften (Worten, Syntax etc.) abhängen würden,
und dass man diese werkspezifischen Abhängigkeiten nicht zumindest ansatz-
weise aufdecken könnte.
(3.2) Es sollte inzwischen deutlich geworden sein, dass wir Staigers zentrale
Idee, es sei die Aufgabe von Interpretationen, ästhetische Erfahrung sowohl
explizit zu machen als auch zu erklären und zu ermöglichen, bedenkenswert
finden. Um diese Idee in ein interpretatorisches Programm zu überführen,
braucht es allerdings weitere Überlegungen, die Staiger zumeist nicht anstellt.
Wir sprechen hier einige der Steine an, die den Weg zu einem solchen Pro-
gramm zu versperren drohen. Vorher aber wollen wir auf einige Probleme von
Staigers Darstellung eingehen. Wir haben bis hierher versucht, Staiger im best-
67 Martus: »Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie«, S. 117.
68 Allerdings muss man konstatieren, dass Staiger zu diesem Missverständnis geradezu ein-
lädt.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
möglichen Licht erscheinen zu lassen, wobei wir die eine oder andere Seltsam-
keit in »Die Kunst der Interpretation« unerwähnt gelassen haben. Einige davon
sollen hier zumindest benannt werden.
Zunächst und vor allem betrifft dies die vielen Stellen, an denen Staiger
zwischen verschiedenen Bildern changiert. So liest sich der Text im Gegensatz
zu unserer Interpretation an manchen Stellen durchaus so, als wolle Staiger
scharf zwischen einem initialen ›Gefühl‹ und der anschließenden Interpretation
unterscheiden, die diesem Gefühl nichts hinzufügen kann:
Zuerst verstehen wir eigentlich nicht. Wir sind nur berührt; aber diese Berührung ent-
scheidet darüber, was uns der Dichter in Zukunft bedeuten soll. Manchmal findet die Be-
rührung nicht gleich beim ersten Lesen statt. Oft geht uns das Herz überhaupt nicht auf.
Dann können wir über den Dichter bestenfalls Angelerntes wiederholen. Doch die Er-
kenntnis seines Schaffens zu erneuern oder gar zu vertiefen, sind wir nicht berufen. (S. 33)
Das kann man so verstehen, als solle hier gesagt werden: Was beim ersten Le-
sen nicht erfahren wird, kann auch bei späteren Lektüren nicht nachgeholt oder
durch Interpretation ergänzt werden. Das ist nun freilich wenig überzeugend;
Staiger übersteigert hier die plausible These, dass Interpretation auf ästheti-
scher Erfahrung aufruht, in unangemessener Weise.
Unglücklich ist auch, dass Staiger »Rhythmus« bald als Fachterminus für
den Gehalt oder die Struktur der initialen Erfahrung mit einem Kunstwerk ein-
geführt hat (»›Rhythmus‹ nenne ich dieses Gefühl«, S. 34) und bald als prosodi-
sche Eigenschaft versteht (»Solange uns Verse vorgelegt werden, sollte uns
ohnehin nicht bang sein – jedenfalls nicht banger als sonst. Da rührt uns der
Rhythmus unmittelbar an«, S. 51), die den Stil mitbestimmt (»Und ebenso be-
ruht auf dem Rhythmus der Stil eines dichterischen Gebildes«, S. 35). ›Stil‹ wie-
derum wird von Staiger als terminus technicus benutzt, den er über die Idee der
Geschlossenheit, wie wir sie oben dargestellt haben, ausbuchstabiert. Dass aber
der Stil zentral auf dem Rhythmus gründet, ist selbst für Werke in Versen zu-
nächst eine ungedeckte Behauptung. Und dass der Rhythmus allein gar den Stil
anzeigen könne, wie in der musikalischen Analogie nahegelegt wird, ist selbst
für das musikalische Beispiel fragwürdig. Dass schließlich Kunstwerke dann
vollkommen sein sollen, wenn sie stilistisch einstimmig sind, klingt schlicht
falsch.69 Warum sollte es nicht vollkommene Kunstwerke geben, die gerade eine
Stil-Mischung verwenden?
69 Aber siehe weiter unten, wo wir einen deflationären Vorschlag zum Verständnis von
»Ganzheit« machen, der auch diese Aussage vor der Lächerlichkeit bewahrt.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
Eine wichtige Frage an Staigers Theorie betrifft nun die Geschlossenheit äs-
thetischer Erfahrung, wie Staiger sie im Stil-Begriff zusammenfasst. Wir unter-
scheiden zwischen lokalen und globalen ästhetischen Eigenschaften, also ei-
nerseits solchen, die bestimmte Details eines Werkes betreffen wie etwa einen
geistreichen Reim oder eine elegante Formulierung, und andererseits solchen,
die das ganze Werk betreffen, das wiederum geistreich oder elegant, aber auch
schön, gelungen, großartig, etc. sein kann (vgl. oben, Anm. 32). In »Die Kunst
der Interpretation« wird diese Unterscheidung nicht explizit gemacht. Staiger
hat offenbar meistens eine Erfahrung ›des Ganzen‹ vor Augen, wenn er theore-
tisch spricht, aber in seinen praktischen Interpretationsvorschlägen geht es
eher um lokale Ausdrucksqualitäten und deren Fundierung. Nun ist aber zu-
mindest fraglich, ob sich die ästhetischen Erfahrungen lokaler ästhetischer
Eigenschaften durch ›Geschlossenheit‹ auszeichnen, weil gar nicht klar ist,
welche Elemente denn in der lokalen ästhetischen Erfahrung kohärent oder
passend zueinander sein sollen. Es sind doch vielmehr die verschiedenen loka-
len ästhetischen Erfahrungen, die kohärent sein können und so ein geschlosse-
nes Ganzes ergeben mögen. Kurz: Geschlossenheit als das zentrale Merkmal
ästhetischer Erfahrung, wie Staiger sie darstellt, scheint für die Erfahrung loka-
ler ästhetischer Eigenschaften gar nicht einschlägig zu sein. Tatsächlich kann
man sich fragen, ob Geschlossenheit überhaupt die Bedeutung für ästhetische
Erfahrung hat, die Staiger ihr zuweist. Wir haben oben erwähnt, dass Staiger
zwischen Formulierungen schwankt, die nahelegen, Geschlossenheit sei eine
Eigenschaft der ästhetischen Erfahrung und solchen, die nahelegen, sie sei eine
Eigenschaft des Gegenstandes. Dabei haben wir verschiedene Ansätze präsen-
tiert, um die Geschlossenheit der Erfahrung mit der Erfahrung von Geschlos-
senheit in Einklang zu bringen, ohne zwischen diesen zu entscheiden. Solche
Versuche müssten sich, um erfolgreich zu sein, zumindest mit den Einwänden
von Skeptikern psychologischer Theorien ästhetischer Erfahrung auseinander-
setzen.
Solange solche Fragen ungeklärt sind, möchten wir vorschlagen, Staigers
Ansatz auf eine von zwei Weisen zu stärken. Zum einen kann man Staigers Be-
tonung der Bedeutung ästhetischer Erfahrung für die Interpretation richtig fin-
den, ohne seine inhaltliche Charakterisierung dieser Erfahrung zu teilen. Wir
haben schon abgelehnt, dass Geschlossenheit ein zwingendes Merkmal lokaler
ästhetischer Erfahrung ist und dass sich in der Erfahrung des Werkes immer
dessen Stil zeigt. Man könnte nun einen Schritt weitergehen und Staigers ganze
inhaltliche Bestimmung ästhetischer Erfahrung einklammern. Zum anderen
(und unter Umständen ergänzend) kann man hinter Staigers oft emphatischen
Formulierungen eine nüchterne Aussage vermuten, die gar nichts mehr mit den
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
70 Vgl. Thomas Petraschka: Interpretation und Rationalität. Billigkeitsprinzipien in der philolo-
gischen Hermeneutik. Berlin, New York 2014.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
71 Staiger formuliert z. B.: »Kunstgebilde sind vollkommen, wenn sie stilistisch einstimmig
sind« (S. 35). Die Aussage hat die oben benannten Probleme, hier ist zunächst nur wichtig,
dass Staiger Raum für Abstufungen lässt.
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
Denn nur wo uns die Stimme aus Tiefen der Seele leise warnt und leitet, vermeiden wir al-
le Klippen, die falschen Schlüsse und Äquivokationen, denen auch der Klügste erliegt, der
nur dem denkenden Geist vertraut. (S. 36)
Möglicherweise ist dies lediglich eine Reprise von Staigers Anspielungen auf
eine sensualistische Ästhetik-Tradition.72 Liest man Staiger hier aber wörtlich,
dann eröffnet er einen scharfen Gegensatz zwischen irrtumsanfälligem rationa-
lem Denken einerseits und irrtumsfreier ästhetischer Erfahrung andererseits,
die stets als Korrektiv des rationalen Denkens dienen kann. Es ist dies eine viel
stärkere These als die oben besprochene Irrtumsfreiheit ästhetischer Erfahrung,
welche sich aus der Wahrnehmungsabhängigkeit ästhetischer Eigenschaften
(unter idealen Bedingungen) ableiten ließ. Wenn Staiger erklärt, das »Kriterium
des Gefühls« sei das »Kriterium der Wissenschaftlichkeit« (S. 34), oder Schelling
zitiert, es gebe keinen »seelenvollen Irrtum« (S. 36), so klingt nebenbei die star-
ke These durch, dass auch in der Praxis ästhetische Erfahrung irrtumsfrei sei
und zur Verfügung stehe, um die irrtumsanfällige rationale Interpretation zu
korrigieren.
Sachlich ist das wenig überzeugend – und es will auch nicht recht zu den
restlichen Betrachtungen Staigers zu ästhetischer Erfahrung passen. Wir haben
oben gesehen, dass lediglich die ästhetische Erfahrung idealer Rezipienten
irrtumsfrei ist (alternativ: dass nur für ideale Rezipienten garantiert ist, dass die
Erfahrung, die sie machen, eine ästhetische ist).73 Es ist wohl Aufgabe einer
Interpretationstheorie, näher zu klären, welchen rechtfertigenden Status ästhe-
tische Erfahrungen genau in einer Interpretation haben können und sollten.
Wir können allerdings erklären, warum Staiger hier zwei inkompatible The-
sen zu vertreten scheint: Er geht davon aus, dass echte ästhetische Erfahrung
veridisch ist. Wenn man sich irrt, so liegt keine echte ästhetische Erfahrung vor,
72 Vgl. oben, Anm. 43.
73 In diesem Sinne räumt Staiger ja selbst die Möglichkeit des Irrtums ein, indem er das Bei-
spiel einer irrtümlichen initialen Reaktion auf ein Werk beschreibt: »Es kann geschehen, dass
bei genauer historischer und philologischer Prüfung des Textes etwas zum Vorschein kommt,
was die erste Begegnung widerlegt« (S. 36).
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
sondern eine Illusion. Und das heißt, dass echte ästhetische Erfahrung durch-
aus als Korrektiv dienen kann – sie ist ja immer korrekt. Staiger übersieht aller-
dings, dass diese Idee nicht garantiert, dass die Erfahrungen, die wir mit
Kunstwerken de facto machen, auch echte ästhetische Erfahrungen sind. Wenn
man vertreten möchte, dass echte ästhetische Erfahrung veridisch ist, so wird
man eingestehen müssen, dass wir oft nicht wissen, ob wir eine ästhetische
Erfahrung (gemacht) haben. Staiger nimmt an, dass wir wissen, ob eine ästheti-
sche Erfahrung vorliegt – dann aber ist nicht länger überzeugend, dass ästheti-
sche Erfahrung garantiert veridisch ist.
Wie steht es schließlich mit der oft bemängelten Wissenschaftlichkeit von
Staigers Theorie? Um hier ein Urteil abgeben zu können, müssen wir zunächst
konstatieren, dass Staiger selbst an manchen Stellen die Wissenschaftlichkeit
an der ›Evidenz‹ ästhetischer Erfahrung festmacht: »Das Kriterium des Gefühls
wird auch das Kriterium der Wissenschaftlichkeit sein« (S. 34); und »vorausge-
setzt, dass [der Interpret] wirklich begabt ist und sein Gefühl das Richtige trifft«
(ebd.). In einer Lesart ist dies das unserer Ansicht nach bedenkenswerte Pro-
gramm Staigers: Wenn die ästhetische Erfahrung korrekt ist (garantiert hier
durch den Verweis auf optimale Interpreten bzw. deren Begabung und das
›Treffen des Richtigen‹), dann bemisst sich der Erfolg einer Interpretation (unter
anderem) daran, wie gut sie ästhetische Eigenschaften und zugrundeliegende
nichtästhetische Eigenschaften nachweisen kann, die diese ästhetische Erfah-
rung ermöglichen. Wörtlich genommen aber ist Staigers Aussage sicherlich
falsch. Als Kriterium der Wissenschaftlichkeit taugt ästhetische Erfahrung nicht.
Zudem kann man, wie oben gesehen, in der Praxis nicht voraussetzen, dass die
ästhetische Erfahrung irrtumsfrei ist (bzw. wenn man mit Staiger die Veridizität
ästhetischer Erfahrung annehmen möchte, dass die gemachte Erfahrung eine
ästhetische ist).
Unabhängig von Staigers eigenem, eher fragwürdigem Kriterium für Wis-
senschaftlichkeit können wir aber fragen, ob sein Ansatz eine wissenschaftliche
Interpretation erlaubt. Das offensichtliche Problem besteht in der subjektiven
Grundlage der Interpretation, welche Staiger annimmt. Er selbst räumt den
Punkt klar ein; er spricht z. B. vom »persönlichen Ursprung jeder Interpretati-
on« (S. 52). Staiger sieht auch ein mögliches Problem dieser Subjektivität:
[…] einseitig bleibt meine Darstellung immer. Ich sehe nämlich doch immer nur das, was
mir persönlich zu sehen vergönnt, was mir in der ersten echten Begegnung am Kunstwerk
aufgegangen ist. (Ebd.)
Wenn wir von diesem Gedanken die oben abgelehnte Idee abziehen, dass nach
der initialen Begegnung mit dem Kunstwerk keine neuen Aspekte mehr daran
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
74 Thomas Petraschka gibt zu bedenken, dass empirische Erhebungen (von denen Staiger
noch nichts ahnte) eine Ausnahme von dieser Regel darstellen mögen. Eine Erhebung, welche
Texteigenschaften welche Ausdrucksqualitäten typischerweise hervorbringen, indem man
Rezipienten nach ihren Eindrücken befragt, kann man gegebenenfalls anstellen, ohne selbst
die fraglichen Ausdrucksqualitäten am Werk wahrzunehmen. Unser Punkt im Haupttext wird
dadurch nicht betroffen: Staigers Theorie handelt sich hier kein besonderes Problem der Wis-
senschaftlichkeit ein.
Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in »Die Kunst der Interpretation«
Nicht unbedingt. Erstens ist die Lage vielleicht nicht so eindeutig, wie es
zunächst scheinen mag. Staiger bespricht selbst ausführlich die Korrektur eines
initialen Eindrucks. Die de facto gemachte Erfahrung ist daher ihm zufolge (im
Unterschied zur idealen Erfahrung) fallibel und im Prinzip korrigierbar. Es kann
sich also in einer Interpretation herausstellen, dass der Eindruck der Eleganz
schlicht falsch war. Zweitens leugnet Staiger an keiner Stelle, dass es objektive
Eigenschaften eines Werkes gibt, die man auffinden kann. (Wir haben ja die
damit unvereinbare Idee zurückgewiesen, was tatsächlich Eigenschaft des Wer-
kes sei, bemesse sich allein an der Kompatibilität mit dem ersten Eindruck des
Werkes.) Und drittens kann man fragen, ob der übrigbleibende Relativismus in
manchen Fragen nicht schlicht den Ist-Zustand der Literaturwissenschaft besser
einfängt als ein übertriebener Objektivitätsanspruch. Wenn zwei gute und um-
fassende Interpretationen unvereinbar sind, so scheint zunächst wenig dafür zu
sprechen, dass wir zwischen ihnen entscheiden können müssen. Das heißt aber
nicht, dass das Geschäft des professionellen Interpretierens damit an Wissen-
schaftlichkeit verlöre. Auch in Staigers Bild gibt es Standards der Beurteilung,
die man nicht hintergehen darf. Allerdings muss man zugestehen, dass Staiger
selbst nicht erläutert, wie man mit eventuellen Interpretationskonflikten umge-
hen sollte. »Die Kunst der Interpretation« ist (auch) in dieser Hinsicht ein Text,
dessen zentrale Idee durchaus attraktiv ist, dessen Umwandlung in ein inter-
pretatorisches Programm aber weitere Arbeit erfordert. Die Beurteilung der
Wissenschaftlichkeit eines solchen Programms wird dann von der Art und Wei-
se abhängen, in der die von Staiger gelassenen Leerstellen gefüllt werden kön-
nen.
Ausblick
Unsere Rekonstruktion von Staigers Programm in »Die Kunst der Interpretati-
on« ist ein aus Mosaiksteinchen zusammengesetztes Bild. Die Steinchen lassen
sich gewiss auch zu einem anderen Bild zusammensetzen. Das von uns in Ab-
schnitt 2 rekonstruierte hat den Vorzug, dass es sich um ein gar nicht so unan-
sehnliches Bild handelt. Vielleicht versteht es Staiger hier und da besser, als er
sich selbst verstanden hat. In jedem Fall haben wir uns – im Einklang mit dem
Unternehmen der rationalen Rekonstruktion (vgl. Anm. 7) – bemüht, den Autor
charitable zu lesen, indem wir die Betonung der Bedeutung ästhetischer Erfah-
rung für die Interpretation hervorgehoben haben.
Staigers Auffassung von den Zielen der Interpretation mag in der gegenwär-
tigen Literaturwissenschaft unpopulär sein. Dass man als Interpret mit der äs-
Tobias Klauk und Tilmann Köppe
75 So auch die Diagnose von Noël Carroll: Die jüngere Interpretationspraxis ziele mehr auf
»deciphering messages rather than encouraging aesthetic experiences« (Carroll: Beyond Aest-
hetics. Philosophical Essays, S. 42). Ganz anders sieht es aber mit der philosophischen Diskus-
sion ab etwa den 1950er Jahren und auch mit der philosophischen Tradition aus, auf die sich
diese Diskussion beruft. Vgl. die philosophische Sekundärliteratur, auf die wir in den Anmer-
kungen verwiesen haben. Hier finden sich so gut wie alle Punkte, die wir bei Staiger ausge-
macht haben, lang und breit diskutiert; vgl. auch Peter Lamarque: »Aesthetics and Literature:
a Problematic Relation?«, in: Philosophical Studies 135 (2007), S. 27–40.
76 Stockinger: »Zur Aktualität der Werkimmanenz«, S. 61.
77 Die Arbeit an diesem Essay wurde gefördert durch das DFG-Forschungsprojekt »The Nor-
mative Relations between Fiction, Imagination and Appreciation«. Wir danken Thomas
Petraschka für ausführliche schriftliche Hinweise zu einer früheren Fassung sowie zwei ano-
nymen Gutachtern des Jahrbuchs Scientia Poetica und Merten Kröncke für Hinweise und Kor-
rekturen.