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Georg Bollenbeck.

Eine Geschichte der Kulturkritik: Von Rousseau bis Günther


Anders. München: C.H. Beck Verlag, 2007. 318 S. broschiert, ISBN 978-3-406-54796-6.

Ralf Konersmann. Kulturkritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag,


2008. 135 S. , , ISBN 978-3-518-58499-6.

Reviewed by Clemens Albrecht

Published on H-Soz-u-Kult (August, 2008)

Die Kulturkritik meldet sich zurück! Fünf hinauslaufe, habe ja die deutsche Geschichte er‐
Jahrzehnte war sie in die intellektuelle Strafecke wiesen. Stern, Fritz, Kulturpessimismus als politi‐
verbannt, zwei Vorwürfe ließen sie verschämt sche Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in
verstummen: Zum einen, so die fortschrittsfrohen Deutschland, Bern 1963 (u.ö.). Jetzt sind gleich
Modernisierer, formuliere Kulturkritik stets jen‐ zwei Bücher aus rechtsideologisch unverdächti‐
seits wissenschaftlich valider Aussagen; sie sei ein ger Feder erschienen, die sich um die Rehabilitie‐
impertinenter, weil wertender Ausgriff, der den rung des Delinquenten bemühen. Ist die Triviali‐
belegbaren Horizont der Fachwissenschaften ver‐ sierung der professionalisierten Fächer schon so
lasse und ihren Geltungsanspruch für subjektive weit vorangeschritten, dass sie antiquierende Auf‐
Werturteile missbrauche. Zum zweiten aber, und frischungen benötigen? Oder ist alles nur die Fol‐
das wog schwerer, sei Kulturkritik nur der Aus‐ ge der neuen, Bologna-erzwungenen Interdiszipli‐
fluss eines spezifisch deutschen Kulturpessimis‐ narität, die an alte Publikumserfolge anknüpfen
mus, in dem das Ressentiment gegenüber der möchte, um in den Evaluationsbögen des Wissen‐
westeuropäischen Aufklärung und ihren legiti‐ schaftsrats in der Sparte „Wissenstransfer“ glän‐
men Kindern, Demokratie und Liberalismus, Aus‐ zen zu können wie weiland Ortega y Gasset, Sedl‐
druck gefunden habe – und worauf dies letztlich mayr, Guardini, Anders oder Marcuse?
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Wie auch immer: Beide Bücher leitet eine na‐ sche Denkhaltung, die konstitutiv sei für jede Re‐
hezu kongeniale Intention. Kulturkritik, zumin‐ formbewegung der Moderne.
dest die ‚richtige’ Kulturkritik, sei kein ideologi‐ Diesen Gedanken verfolgt Bollenbeck in den
scher Antimodernismus, sondern ebenfalls ein le‐ weiteren Kapiteln durch eine luzide geistesge‐
gitimes Kind der Aufklärung, ja deren konsequen‐ schichtliche Analyse, die bei dem Gründungshe‐
te Fortschreibung, reflexive Selbstanwendung ros der aufklärerischen Kulturkritik, bei Rousseau
aufklärerischer Vernunft. Georg Bollenbeck und einsetzt und dann in Schillers ästhetischer Theo‐
Ralf Konersmann unterscheiden die ältere Kultur‐ rie weitergeführt wird. Kulturkritik, so zeigt er
kritik, die bis auf Diogenes und die Kyniker zu‐ hier, hat die Entwicklung des ganzen Menschen
rückreiche, von der modernen Kulturkritik, und gegenüber der vielfach fragmentierten sozialen
bei beiden Autoren steht Rousseau im Zentrum Wirklichkeit im Blick und klagt das menschliche
der Analyse. Beide verneinen einen notwendigen Potential immer wieder gegen die Eigenlogik des
Zusammenhang zwischen Kulturkritik und Kul‐ sozialen Fortschritts ein. Sie ist Kontrollinstanz
turpessimismus, beide sehen in der Kulturkritik nicht nur der ersten, sondern ebenso jeder weite‐
keine spezifisch deutsche Tradition, auch wenn ren Vernunftrepublik.
sie an den üblichen Verdächtigen aus dem späten
Genau diese Denkfigur habe auch die erste
19. Jahrhundert (Langbehn, Chamberlain, Speng‐
Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrscht. Condor‐
ler etc.) ihre negative Variante festmachen.
cets Fortschrittsentwurf auf der einen, Friedrich
Soweit die Gemeinsamkeiten, nun zu den Un‐ Schlegels Kritik auf der anderen Seite ließen sich
terschieden. Man könnte beide Bücher als Ergän‐ eben nicht durch den Gegensatz zwischen westeu‐
zung lesen: Bei Bollenbeck findet sich eine aus‐ ropäischer Aufklärung und idealistisch überstei‐
führliche, geistesgeschichtlich differenzierend an‐ gerter deutscher Weltfremdheit erklären, sondern
gelegte hermeneutische Analyse der Klassiker, bei zeigten Argumentationsmuster, die in Frankreich
Konersmann dann der große Deutungswurf, der bei Taine und Renan, in England bei Carlyle, Ru‐
den Stellenwert von Kulturkritik für die Genese skin und Arnold ebenfalls skeptische Antipoden
und die Fortschreibung der Moderne verdeutlicht. etwa gegenüber dem Mill’schen Optimismus er‐
Ein kleiner Unterschied, so könnte man meinen – zeugt hätten.
hier allerdings einer ums Ganze.
Bei Nietzsche, so Bollenbeck, habe die Diskre‐
Zunächst zu Bollenbecks Arbeit. In seinem panz zwischen Erwartungen an den Fortschritt
einführenden Kapitel betont er, dass die Affinität und Fortschrittserfahrungen zu einer neuen Syn‐
bestimmter Richtungen der Kulturkritik zum Na‐ these beider Gedankenfiguren geführt, die, bei al‐
tionalsozialismus die Kulturkritik als solche noch len möglichen Lesarten, auf der einen Seite den
nicht erledige. Deshalb unterscheidet Bollenbeck statusverteidigenden Bildungsbürger, auf der an‐
drei Kontexte: erstens einen weiten Begriff, der deren aber eine enorm sensibilisierte und gleich‐
bis auf die Kyniker zurückreiche, zweitens im en‐ zeitig desorientierte Intelligenz zurückgelassen
geren Sinne das durch die Aufklärung veränderte hätten. Erst durch die Nietzsche-Rezeption vor
Zeitbewusstsein, drittens den spezifisch deut‐ dem Hintergrund der gewaltigen Modernisie‐
schen Antimodernismus. Gerade weil sich diese rungskrisen um 1900 hätten Lagarde, Langbehn,
drei Ebenen mischen können, möchte Bollenbeck Rathenau und Spengler die spezifisch deutsche
keine reine Diskursgeschichte schreiben, sondern Lesart einer entzauberten Moderne formuliert,
den Wahrheitsanspruch von Kulturkritik ernst‐ die den – bis Nietzsche aufrechterhaltenen – phi‐
nehmen, indem er in eine detaillierte Einzelfall‐ losophischen Wahrheitsanspruch der Kulturkritik
analyse einsteigt. Kulturkritik ist ihm eine spezifi‐

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endgültig ins raunende Ressentiment überführt Wandel sei sein Prinzip, nicht Geltung, nicht der
habe. Rückgriff auf Traditionsbestände oder dogmati‐
Nach dem Zweiten Weltkrieg, so Bollenbeck sierte Normen, sondern der stetige Fluss des Neu‐
weiter, habe die Kulturkritik in Ortega y Gasset, en. Der Westen sei im paradigmatischen Sinne
Jaspers, Heidegger, Klages, Anders und der Frank‐ das, was Claude Lévi-Strauss eine ‚heiße Gesell‐
furter Schule noch einmal eine (ganz unterschied‐ schaft’ genannt habe. Aus diesem Grund verwahrt
lich akzentuierte) Renaissance erlebt, die aller‐ sich Konersmann dezidiert gegen jeden Versuch,
dings schnell deutlich gemacht habe, dass in einer eine neue ‚Leitkultur’ zu proklamieren oder gar
Demokratie keine pauschalisierende Generalkri‐ zu etablieren. Dies, so folgert er, sei nur ein Rück‐
tik, sondern eine singularisierende Partialkritik fall in den Zustand vor Aufklärung und Säkulari‐
gefragt sei. Die große Zeit der Kulturkritik ist vor‐ sierung, eine Schwäche angesichts der permanen‐
bei, schließt Bollenbeck, aber ihre intellektuell sti‐ ten, aber chancenreichen Verunsicherung.
mulierende Wirkung lebt noch fort. Wir haben es Die spezifische Reflexionsinstanz dieser west‐
bei Bollenbecks Werk also mit einem klassisch lichen Kultur aber sei die moderne Kulturkritik –
historisierenden Denkansatz zu tun, einer Geistes‐ eine Kulturkritik, die aufgehört habe, sich als na‐
geschichte im besten Sinn, detailliert, gut lesbar, türliche Bundesgenossin von Wahrheit, Vernunft
bei der formal einzig die fehlende Literaturliste oder Geschichte zu präsentieren, die stattdessen
zu bemängeln ist. Schade allerdings, dass Bollen‐ dem reinen Prinzip der Immanenz folge: einer
beck den Schwerpunkt nicht auf das 20. Jahrhun‐ Kritik am Hier und Jetzt aus dem Hier und Jetzt,
dert gelegt hat, denn neben der Verfallsgeschich‐ ohne jede Aussicht auf einen archimedischen
te, die er präsentiert, hätte es von Simmels Tragö‐ Punkt, aus dem sie die Welt als Ganzes hebeln
die der Kultur über das Ende von Webers Protes‐ könne. Kulturkritik sei der Modus der Diversifika‐
tantischer Ethik bis zu Guardini, Riesman, Gehlen, tion westlicher Kultur, sie reorganisiere perma‐
Sedlmayr, Huizinga und Postman eine Kulturkri‐ nent das Feld des Kulturellen, stelle alles, was sta‐
tik zu entdecken gegeben, die zum zentralen Ge‐ tisch war, auf Dynamik um, verunsichere struktu‐
dankengut der Moderne gehört. Diese Arbeit rell und biete in der ironischen Distanz zu sich
bleibt ein Desiderat. selbst auch gleich das Gegenteil ihrer Aussagen
Konersmann dagegen operiert mit großer an. „Aus der Kultur, die einmal eine stabile Le‐
Deutungsgeste. Sein Buch ist nicht chronologisch, bensform war, wird eine neue Kultur, eine neue
sondern systematisch aufgebaut. Die Kulturkritik, Art der Kultur, die eine Spielform ist und in der
so setzt er ein, sei nur scheinbar in einer Krise, nicht mehr die überzeitlichen Autoritäten, son‐
tatsächlich aber omnipräsent. Denn das, was sich dern die mitlaufenden Dauerkommentare der kri‐
seit den 1970er-Jahren intellektuell erledigt habe, tischen Reflexion den Ton angeben.“ (S. 44)
sei die Ideologiekritik im Namen einer überlege‐ Nach einem Ausblick auf die Schwierigkeiten,
nen Wahrheit – der Geschichte, der Vernunft, der den Kulturbegriff definitorisch zu fassen, grenzt
Gerechtigkeit oder was auch immer –, während Konersmann zwei unterschiedliche Formen der
die zeitgenössische Kulturkritik keine sichere Po‐ Kulturkritik scharf voneinander ab: die restitutive
sition mehr kenne, sondern spielerisch das Bastel‐ von der postrestitutiven Kulturkritik. Die erste
set für jede demokratische Urteilsbildung stelle. Form, so macht er an Bacon klar, ist immer eine
Der Westen, so fährt Konersmann fort, habe Kritik, die auf Wiederherstellung eines einmal ge‐
eine spezifische Erfahrung an sich selbst gemacht: wesenen oder auf Herbeiführung eines zukünftig
das Abreißen von Traditionen, die Ablösung von möglichen Zustandes zielt. Sie hat einen Fixpunkt,
Geltungen, die Emphase des Neuen. Permanenter ist aus der Geste der Überlegenheit heraus ge‐

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schrieben und weiß, was die Welt zusammenhält. Kulturkritik. Ideologiekritik sei hierarchisch, ar‐
So habe Seneca an der Wiederherstellung der Ver‐ gumentiere von oben aus einer Ordnung, die
nunft gearbeitet, Pascal an der Wahrheit, Ruskin weiß, was richtig ist. Kulturkritik dagegen sei ega‐
an der Vollendung, James am Angemessenen. In‐ litär; keine Wahrheit, keine Vernunft, keine
sofern ist restitutive Kulturkritik keine Zeitstufe, durchschauten Gesetze der Geschichte lieferten
keine Epoche der Kritik, sondern ein Typus, der ihr die Einsicht in einen Masterplan. Sie formulie‐
immer möglich ist, wo die Moderne hinter sich re nur ein Angebot für jedermann, und genau
selbst zurückfällt. darin bestehe ihre Moral.
Die postrestitutive Kulturkritik aber beginne Gegenüber Bollenbecks solidem Historismus
mit Rousseau. Wie bei Bollenbeck gehört der fällt Konersmanns Arbeit durch stilistische Poin‐
Rousseau-Deutung auch bei Konersmann ein ge‐ tierungen auf. Er formuliert seine Thesen präg‐
wichtiger Teil des Buches. Rousseau verabschiede nant, teils brillant. Ein Feuerwerk der Argumenta‐
sich von der Vernunftgewissheit seiner enzyklo‐ tion wird entfaltet, in sich konsistent, diese post‐
pädistischen Freund-Feinde und stelle seine Kul‐ moderne Rechtfertigung alter Traditionsstränge.
turkritik ganz auf Binnenreflexion um. Rousseau Man kann über viele Einzelheiten streiten, etwa
kenne keinen Standpunkt, von dem aus er seine über die Rousseau-Deutung. Hier aber geht es um
Kritik gleichsam autoritär entfalten könne; das etwas anderes: Trägt das zentrale Argument, die
unendliche Rollenspiel seiner literarischen Sub‐ Unterscheidung zwischen restitutivem Ressenti‐
jekte sei nichts anderes als Ausdruck der frag‐ ment und postrestitutiver Kulturkritik? Zunächst
mentarischen Brüchigkeit und Vielschichtigkeit fällt eines auf: Durch Konersmanns engagierten
der modernen Existenz, die gegenüber jeder Aus‐ Stil entsteht eine Apologie der modernen Kultur‐
drucksform, die sie gefunden habe, gleich eine kritik. Den Standpunkt der reinen Immanenz je‐
neue, eine andere positionieren könne. Rousseau denfalls kennen wir nicht nur aus der poststruk‐
ist das erste moderne Individuum – hybrid, identi‐ turalistischen Philosophie, sondern auch aus der
tätspolitisch, kritisch. theologischen Dogmatik, und überall dort, wo er –
Während diese Form der Kulturkritik in Her‐ wie auch immer gewendet – auftaucht, sollte man
ders Journal, Baudelaires Salons und in Nietzsche misstrauisch werden.
ihre Fortsetzung gefunden habe, sei der Rückfall Wo aber liegt der archimedische Punkt, mit
in restitutive Kulturkritik jedoch stets möglich: dem Konersmann seine Welt aus den Angeln
Dann schlage das Unbehagen an der Moderne in hebt? Kurz formuliert: Er liegt im Reflexionsstopp,
Ressentiment um. Als Musterexemplar des Res‐ mit dem Konersmann sein Relativismusproblem
sentiments dient Konersmann nicht einer der üb‐ zu lösen versucht. Fassen wir es knapp zusam‐
lichen Verdächtigen aus der rechten Szene, son‐ men: Der Westen hat keine Leitkultur, sondern
dern Adorno höchstselbst: Seine Kulturkritik sei das Prinzip des steten Wandels. Aber ist dann
aufs Ganze gerichtet; im totalen Verblendungszu‐ nicht das Prinzip des Wandels, zumindest sobald
sammenhang bleibe als Horizont eben nicht die es reflektiert und proklamiert wird, die neue Leit‐
Selbstreflexion der Moderne, sondern nur Erlö‐ kultur des Westens? Das wird dort deutlich, wo
sung von außen möglich. Adorno, so Konersmann, bei Konersmann kulturkämpferische Töne anklin‐
sei ein verdeckter Theologe, falle hinter die Säku‐ gen: „Die heute erreichte und weiterhin wachsen‐
larisierung zurück. (Ob dieses Urteil der Frankfur‐ de Komplexität ihrer Zeichenwelten ist die Eigen‐
ter Kulturkritik wohl gerecht wird?) art, ist das Alleinstellungsmerkmal der westlichen
Genau dies unterscheide, so schließt Koners‐ Kultur, und zwar im Vergleich sowohl mit ihrer
mann seine Argumentation, Ideologiekritik von eigenen Geschichte als auch im Vergleich mit an‐

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deren, fremden Kulturen.“ (S. 15) Das kann Hun‐ Platz der Wahrheit freizuhalten, damit die Moder‐
tington ganz ähnlich formulieren. Wie gesagt: Es ne weiter diffundieren kann. Aus den Motiven der
gibt ‚kalte’ und ‚heiße’ Gesellschaften, eigentlich Klassiker wird bei Konersmann eine Funktion, die
ist nur der Westen heiß, und die Kulturkritik ist für einen Beobachter dritter Ordnung, etwa einen
das Feuerchen, das die Dampfmaschine seines ste‐ Rezensenten, dann wieder als Motiv für Koners‐
ten Wandels antreibt. mann gelten kann, eine Theorie der Kulturkritik
Ja, wenn das keine Geschichtsphilosophie ist! zu entwerfen, die aber natürlich ganz anderen
Konersmann verabschiedet sie, indem er aus dem Funktionen dient – etwa der Selbstabschottung ei‐
Abschied eine neue macht. Er erklärt den Stand‐ ner Moderne, die ihren Entwicklungsglauben ver‐
punkt der Vernunft und der Moral für erledigt loren hat und diese Not nun zur Tugend eines so‐
und versucht in seinem Schlusskapitel zu begrün‐ lipsistischen Leerlaufs erklärt. Und so weiter.
den, warum nur der heroische Nihilismus des mo‐ Im Kern besteht der Denkfehler also darin,
dernen Kulturkritikers moralisch und vernünftig dass Konersmann die Prinzipien der Kulturkritik
sei. Hier scheint ein Denkfehler zu stecken, und nicht auf seine Theorie der Kulturkritik anwen‐
zwar ein systematischer. Konersmann begründet det: Er kennt keine Grenze seiner Argumentation,
die Ethik seines heroischen Kulturkritikers mit ei‐ keine Ambivalenzüberlegungen, und von Ironie
ner zentralen Aufgabe: Es komme darauf an, „den ist in dem ganzen Buch nichts zu spüren. Kurz:
leeren Platz der Wahrheit unbesetzt zu lassen und Konersmann betreibt eine Apologie der Postmo‐
unter allen Umständen freizuhalten – auch und derne, nicht ihre immanente Kritik. Dieser Span‐
besonders von den Gutgemeintheiten leutseliger nungsbogen ist nicht neu: Schon Schelsky hat ge‐
connected critics. Lebendige Kulturkritik ist die genüber Gehlens Verfallsthese angemerkt, dass
Garantin dieser Vakanz.“ (S. 132) die neuen Institutionen eben nicht reflektiert
Die Figur des kritischen Vakanzwächters erin‐ werden, solange sie gelten. Schelsky, Helmut, Ist
nert mich ein wenig an den alten Herrn in meiner die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum
Straße, der immer darüber wacht, dass der Park‐ Thema einer modernen Religionssoziologie
platz vor seinem Haus nicht belegt wird. Er tut [1957], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit.
gut daran, würde Konersmann wohl argumentie‐ Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965, S. 250-275.
ren, denn er verteidigt ja die Funktion des Park‐ Als Ergebnis entsteht eine eigentümliche Ver‐
platzes, und die geht verloren, wenn jemand den kehrung – während Konersmann auf der ersten
Parkplatz belegt. Dann kann man nicht mehr par‐ Beobachtungsebene die Kulturkritik zum irrele‐
ken. Spätestens hier beginnen sich die Dinge wie‐ vanten Dauergeschwätz der Moderne über sich
der zu verwirren, und es lohnt, Beobachter erster selbst erklärt, ist es ihm um die eigene Theorie
und zweiter Ordnung zu unterscheiden. Auf der der Kulturkritik ernst: Wer sie ablehnt, ist unmo‐
ersten Ebene möchte ich die These aufstellen, ralisch, antimodernistisch, ressentimentbeladen.
dass die Kulturkritiker der letzten 300 Jahre etwas Die Beobachtung zweiter Ordnung ist eben immer
kritisierten, um es zu verbessern. Konersmann restitutiv, da macht Konersmann keine Ausnah‐
verkennt: Sie meinten es ernst. Rousseau etwa me. Der heroische Postmodernist hat, wie der alte
kritisierte, dass der Fortschritt der Künste und Mann in meiner Straße, doch etwas zu verteidi‐
Wissenschaften nichts zur Verbesserung der Sit‐ gen: die eigene Weltdeutung.
ten beigetragen habe. Der Sinn seiner Kritik be‐
stand darin, dies zu ändern. Man darf dieses Mo‐
tiv zur Kulturkritik nicht verwechseln mit einer
posthum deklarierten Funktion, etwa jener, den

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Citation: Clemens Albrecht. Review of Bollenbeck, Georg. Eine Geschichte der Kulturkritik: Von Rousseau
bis Günther Anders. ; Konersmann, Ralf. Kulturkritik. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. August, 2008.

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