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100 Jahre der ungarischen geisteswissenschaftlichen Schule

Eva KARADI (Budapest)

Zum Anlass des 100. Jahrestages der ungarischen geisteswissenschaftlichen Schule,


der „Vorlesungen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften“ gehalten in Budapest in
1917-18, einer Initiative des sog. Sonntagskreises, möchte damit einen Beitrag
leisten, dass ich die Bedeutung dieser Schule in der geistigen, intellektuellen
Entwicklung Karl Mannheims, eines im Westen bis heute wirkungsvollen Mitglieder
dieses Kreises zu zeigen versuche. Ich möchte eine neue Leseart der Mannheim’schen
Schriften von seiner ersten, ungarischen Periode her vorschlagen. Meine
Hauptthese, meine Arbeitshypothese ist die Behauptung, dass die Mannheim’sche
Wissenssoziologie in Auseinandersetzung mit seiner ursprünglichen Auffassung, den mit
seinem Budapester Freundeskreis, dem so genannten Sonntagskreis geteilten, 1917-18 in
der Freien Akademie für Geisteswissenschaften vorgeführten Ansichten zustande gekommen
ist.
Ich werde versuchen diese Behauptung zu belegen und das Entstehen der reifen
wissenssoziologischen Konzeption, der Mannheim-These in diesem Zusammenhang und
aus dieser Perspektive zu beleuchten.

Als Unterstützung meiner Annäherungsweise kann ich mich auf Mannheims


eigene Ausführungen in seiner Generationsstudie berufen, in der er über die Rolle
des ersten, natürlichen Weltbildes schreibt, welches die Rahmen der späteren
Erfahrungsbearbeitung weitgehend bestimmt, d.h. preformiert. Alle späteren
Erfahrungen richten sich nach dieser ersten, selbstverständlichen Einstellung, sollten sie
letztere erfüllen, verstärken oder aber leugnen, negieren.

"… die Prädominanz der ersten Eindrücke bleibt auch dann


lebendig und bestimmend, wenn der ganze darauffolgende Ablauf des
Lebens nichts anders sein sollte, als ein Negieren und Abbauen des in

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der Jugend rezipierten ’natürlichen Weltbildes’. Denn auch in der
Negation orientiert man sich grundlegend am Negierten und läßt
sich ungewollt durch es bestimmen."

Auf diesen Gedanken möchte ich meine Argumentation aufbauen.

Ich will die Ansichten des Budapester Sonntagskreises nicht beschreiben (das habe ich
andernorts schon getan), ich will hier nur darauf hinweisen, dass dieses von
Mannheim in seiner Jugend rezipierte, als selbstverständliches angenommene und als
mehr oder weniger fertig vorgefundenes "natürliches Weltbild" sich auch in einer
Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Tendenzen, also im Zeichen des "polaren
Erlebnisses" gestaltet hat.

"Dem vergehenden Materialismus gegenüber" verkündeten sie "die Wichtigkeit der


Probleme der Transzendenz, dem relativistischen Impressionismus gegenüber die
eindeutige Gültigkeit der Prinzipien, der anarchistischen Weltanschauung des ‚alles ist
gleich’ gegenüber das Pathos der normativen Ethik" wie es im Programm ihrer
Vorlesungen im Bereich der Geisteswissenschaften formuliert wurde.

Mannheim selbst charakterisierte die einheitliche Richtung ihrer philosophischen


Bestrebungen in seiner einleitenden Vorlesung zum zweiten Semester ihrer Freien
Akademie folgenderweise:

"Unser methodologischer Pluralismus führte uns, unsere


Strukturanalysen zu Kant zurück. [...] Wir sahen seine Bedeutung
darin, daß er die Autonomie und eigentümliche Struktur der drei
wichtigsten Kulturgebilde (der Theorie, des ethischen Handelns und der
ästhetischen Betrachtung) zuerst völlig erkannte."

In unmittelbarer Anknüpfung an Béla Zalai – der auf dem Umwege der


nachkantianischen Philosophie gerade diese Tendenz aufgriff –

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"versuchten wir die besonderen Gegebenheiten und Strukturen der
Ethik, Ästhetik, Erkenntnistheorie, Philosophie und Kunst zu
analysieren." (Seele und Kultur, 78)

Der methodologische Pluralismus erhielt seinen Pathos durch die Verteidigung der
Unabhängigheit der Kulturwissenschaften gegen die Offensive des
naturwissenschaftlichen Monismus. Sie haben diese Autonomie, Eigenart und
Eigengesetzlichkeit der verschiedenen Kultursphären gegenüber jeder Art von
Reduktionismus (wie Psychologismus und Soziologismus) entschieden verteidigt,
aber auch jegliche Ableitungsversuche von so genannten höheren Sphären her streng
abgelehnt, (d.h. dem hegelianischen Panlogismus Widerstand geleistet).
Die weltanschauliche Stärke dieses Kantianischen Dualismus lag in der kritischen
Gegenüberstellung von überzeitlich, unbedingt gültigen Werten mit der Kontingenz
des Bestehenden. Es war ein platonisierendes Sich-Über-die-Welt-Erheben der geistigen
Menschen und eine Ablehnung der Hegel’schen Versöhnung mit der Wirklichkeit.

Wichtig für diese Auffassung war die Unterscheidung der psychischen Akte von ihren
Ergebnissen, der Kulturobjektivationen, der Sinngebilde. Das war die Grundlage ihres
militanten Antipsychologismus.
Nicht weniger betont wurde jedoch auch die Irrelevanz der sozial-genetischen
Momente des Zustandekommens der Kulturgebilde für ihre Geltung (wie die
Wahrheit der theoretischen Sätze, der ästhetische Wert der Kunstwerke oder die
Richtigkeit von moralischen Handlungen).

Das Problem der Geschichtlichkeit ist innerhalb dieser Betrachtung auch in einer
kopernikanisch umgewendeten Form aufgetaucht: Wie können die ewigen Formen eine
Geschichte haben? Die Geschichte wurde nur als Möglichkeit zur Aktualisierung
und Realisierung der ewigen Werte wahrgenommen.
Gewisse Unzulänglichkeiten dieser Einstellung haben diese "geschworenen Kantianer,
Laskianer, Rickertianer" selbst noch in der Blütezeit des Sonntagskreises bemerkt.

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Mannheim beklagt in Seele und Kultur die Sterilität dieses Formalismus, (dieser
überentwickelten Sensibiltät für die Formen und ihrer Strukturanalyse):
"Die Theorie wird zum Erbe der entfremdeten Kunstschöpfungen. Indem Form und
Inhalt auseinanderfallen, wird die Form inhaltsfern und ihre Struktur durchsichtig." (SK
76)

An Bloch anknüpfend beschreibt Mannheim die Tendenz, wie in der Philosophie an die
Stelle der letzten, wichtigsten, aber unformulierbaren, "unkonstruierbaren" Fragen
solche treten, die weniger wichtig, aber formulierbar sind.

"Im Laufe der Problemgeschichte lässt sich beobachten, wie an die


Stelle der unbeantwortbaren Fragen solche gleiten, auf die unsere
Antwort möglich oder bereits gegeben ist. Die Fragen der Logik und
der Erkenntnistheorie lösen die reine Verwunderung ab und
lassen den früheren letzten Sinn der Frage vergessen, nur daß sie uns
ihre eigenen erreichbaren Antworten vorsetzen." (Ernst Bloch, Geist
der Utopie, 255)

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Diese Unzulänglichkeiten der neukantianischen systematischen Richtung wurde im
Sonntagskreis, in der ungarischen Schule für Geisteswissenschaften mit gewissen
lebensphilosophischen, geistesgeschichtlichen Tendenzen kompensiert, mit einer
simmelianischen und diltheyanischen Kulturphilosophie ergänzt. Diese Spannung und
Ambivalenz in der philosophischen Orientierung wurde in den sonntäglichen
Diskussionen und in den Vorlesungen im Bereich der Geisteswissenschaften auch
öffentlich reflektiert.

II.
Was ich behaupten möchte ist, dass die Mannheim’sche Wissensoziologie als ein
Ergebnis einer ständigen Auseinandersetzung, einer allmählichen Überwindung dieses
primären, ursprünglichen Weltbetrachtung verstanden werden kann, also als ein
Ergebnis eines Paradigmenwechsels, einer „Umwertung aller Werte“.

Dies war keinesfalls eine schlagartige, plötzliche Wende, keine Konversion (von
einem Sonntag auf den anderen, wie das in Bezug auf Lukács bei Anna Lesznai
aufgezeichnet wurde), so eklatant auch die "polaren Gegensätze" zwischen der
Ausgangsposition und der späteren auch sein mögen.

Es kann nicht leicht gewesen sein sich von einer so dominanten, eigenartigen
philosophischen Betrachtungsweise zu distanzieren. Die Auflösung des "natürlichen
Weltbildes" kann von innen her, von Schritt zu Schritt rekonstruiert werden. Und zwar
gerade auf dem Gebiet der Sphärentheorie, der Interpretationstheorie, d.h. der
kulturwissenschaftlichen Methodologie. Dies geht in einzelnen Schritten mit hier und
dort gegebenen kleinen Konzessionen als allmähliches Aufgeben der früher sehr
streng genommenen, manchmal sogar im eigenen Kreise sehr rigoros
vertretenen Grundprinzipien vor sich. (vgl. Fogarasi bzw. Hauser gegenüber der
Lukács’schen Dramensoziologie und Ästhetik).

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Zunächst wird das Aufeinanderbeziehen der verschiedenen Kultursphären als etwas
letzten Endes fruchtbares erlaubt (s. Simmel, Lukács, Antal), dann das Tabu der
Sphärentranszendenz gebrochen. Dieses Tabu wird zunächst nach oben hin aufgelöst.

Es ist nämlich nicht mehr nur von der Autonomie (der Irreduzibilität und
Unableitbarkeit) der verschiedenen Kultursphären die Rede, sondern auch von ihrer
Hierarchie. Es gibt nicht einfach gleichrangige, unabhängige, eigengesetzliche, sondern
auch niedrigere und höhere Sphären. Nach oben wird die Sperre aufgelöst, eine
Deutung von oben nach unten zugelassen und angenommen, wie z.B. die Deutung
einer Kunstgattung von der Geschichtsphilosophie bzw. Geschichtsmetaphysik her in der
Lukács’schen Theorie des Romans.

Dieses Werk Lukács’, eine der Zentralfiguren des Sonntagskreises, hat auch Béla
Fogarasi – den Verfasser einer systematischen Theorie der Interpretation, die er an der
Freien Akademie der Geisteswissenschaften unter dem Titel "Die Methoden der
Geistesgeschichte" vorgetragen hat, wovon Mannheim überaus inspiriert wurde – dazu
veranlasst, seine Theorie der immanenten Interpretation mit einem Kapitel über die
transzendente Interpretation zu ergänzen.

Die Änderungen des Mannheim’schen Standpunktes lassen sich diesbezüglich am besten


auch in seiner Besprechung dieses Lukács’schen Werkes in der Zeitschrift Logos
beobachten.
Nach der Öffnung in die geschichtsphilosophische, Hegelianische Richtung (wenn
auch nicht ohne Bedenken) bleibt der Antireduktionismus dem modischen
Psychologismus und dem Soziologismus gegenüber immer noch stark betont.

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Anderen Modeströmungen kann und will Mannheim nicht widerstehen. Er übernimmt die
Gedanken von der Parallelität als auch von einer tieferen Einheit der verschiedenen
Kultursphären.
Entsprechende Erscheinungen kann man gleichzeitig bei Lukács und Fogarasi finden.
Sehr eklatant ist dieser Übergang bei Charles de Tolnay in Bezug auf seinen Meister,
einer anderen charismatischen Persönlichkeit aus dem Sonntagskreis und der
ungarischen geisteswissenschaftlichen Schule, formuliert:
Fülep habe unter dem Einfluss der Wiener kunsthistorischen Schule und der mit ihm
geführten Diskussionen am Anfang der 20er Jahre sein jugendliches Dogma über
die/bzgl. der Autonomie der Sphären aufgegeben und sei auf den Standpunkt der
Geistesgeschichte übergegangen bzw. habe sich diesen völlig angeeignet.
Diese Tendenz entfaltet sich vollständig in Mannheims Arbeit zur
Weltanschauungsanalyse, die nicht zufällig für die Dvořak-Festschrift, also für eine
kunstwissenschaftliche Audienz so verfasst wurde.
Es ist aber vielleicht hier zu erwähnen, dass Motive der späteren wissenssoziologischen
Konzeption in dieser frühen Übergangsetappe gerade in diesem sphärentheoretischen,
interpretationstheoretischen Zusammenhang auftauchen. Die Sphärentranszendenz
erscheint auch als Selbsttranszendierung bzw. Selbstrelativierung des Denkens in die
Richtung des Seins. Mannheim spricht vom (sozialen) Sein als von einer
übertheoretischen Sphäre, was jedenfalls eine Störung in der Auffassung der
Sphärenhierarchie bekundet. (Vgl. die Scheler-Studie)

Das Bedürfnis einer Selbsttranszendierung bzw. Selbstrelativierung des Denkens kommt


schon in Mannheims Heidelberger Briefe von 1921 zum Ausdruck. Er spricht schon hier
von der Notwendigkeit einer kopernikanischen Wende in der Auffassung der Rolle der
Ideen und ihrer Produzenten und Träger, der Intellektuellen.

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Und am Rande der Sphärentheorie in Zusammenhang mit der Revision der These
von der Unabhängigkeit der Sphären und mit dem Auftauchen des Wirklichkeitproblems
wird auch die letzte Grundlage des kantianischen Weltbildes erschüttert. Es fragt sich
nämlich, ob es nicht denkbar sei, dass die verschiedenen Sphären, Gesichtspunkte
und Perspektiven ihren Gegenstand nicht konstituieren, sondern ausdrücken.
Wenn es einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sphären gibt, kann man
auch nach dem Zusammenhang ihrer Gegenstände fragen. Vielleicht geht es nur um
verschiedene Aspekte desselben Gegenstandes? (vgl. die Besprechung der Theorie
des Romans)
Die Erfordernis der Zurückverankerung des Denkens in die Existenz wird formuliert.
(Mannheim benützt auf dieser Stufe die Kategorie der Existenzgebundenheit.)
Die Revidierung, die Zurücknahme der jugendlichen Grundauffassung geschieht in
kleinen Schritten und wird von Mannheim selbst als Horizonterweiterung, nicht als
Wende erlebt und bezeichnet. Mit der Aufbewahrung einer gewissen Kontinuität –
Mannheim versucht auch, was er weiß zu verwerten.

Tolnay sagte über sich selbst, er habe etwas aus dem Budapester Sonntagskreis
mitgebracht, als er in Wien bei Dvořak ankam. Er lernte etwas, er wusste etwas, was die
anderen nicht konnten. Er hat Schätze mit sich gebracht und Dvořak war fähig das zu
würdigen. Tolnay war 18 als er Budapest verließ, Mannheim mit 26 Jahren hat bestimmt
noch mehr lernen und mit sich nehmen können.

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Nicht nur hat er seine Doktorarbeit Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, von
seinem erweiterten Horizont her mit einem ersten Kapitel ergänzt, in Deutschland in
den Kantstudien veröffentlicht, sondern auch in seinen späteren Arbeiten und
Forschungen so viel wie möglich von dieser strukturanalytischen Methode angewendet.
Seine Forschungen auf dem Gebiet der "Kultursoziologie" sind eigentlich eine
Kombination der Ideengeschichte mit dieser systemathischen Methode. (s. die
Konservativismus-Studie)
Das soziologische Moment wird eine Weile auch im alten Rahmen gehalten und nur als
eine neue Art der Interpretation der geistigen Gebilde neben den vielen anderen
angenommen, um diese, die immanenten Aspekte mit einem äußeren zu ergänzen und
dadurch zu bereichern.
Der Frage nach der Geltungsrelevanz dieser ’äußeren’, genetisch-funktionalen
Überlegungen wird jedoch noch lange nicht nachgegangen, die zwei Aspekte werden
noch lange auseinandergehalten.
Zunächst geht es nur um die Rückverankerung, um die Verankertheit des Denkens, um
die Tatsache des Zusammenhanges zwischen der Denksphäre und der Realsphäre. Das
Wie dieses Zusammenhanges wird relativ offen gelassen. Mannheim begnügt sich mit
der Annahme der Parallelität (im Dvořakschen Sinne unter mehreren anderen
Lösungversuchen; darunter auch das Weber’sche in der Weltanschauungsstudie).

Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen werden erst später zu Ende gedacht und


gezogen. Die These vom Hineinragen der Seinstandorte in das Denkergebnis gehört
schon zur reifen wissenssoziologischen Theorie und Forschungspraxis.

III.
Eine radikalere Wende wurde durch den Historismus vermittelt.
Bisher haben wir den Weg vom Sonntagskreis bis zur Wissenssoziologie, die Stadien der
allmählichen Umgestaltung der ursprünglichen kantianischen, methodenpluralistischen,
geltungsphilosophischen Grundprinzipien von innen her in der Kontinuität der
Interpretationstheorie verfolgt. Es ging aber nicht nur um die Prinzipien der
Unbedingtheit und Unabhängigkeit der Werte, sondern auch um ihre überzeitliche
Gültigkeit. Letztere wurde auf der Welle des Historismus nicht einfach aufgegeben,
zurückgezogen oder fallen gelassen, sondern nun als eine gegnerische Richtung radikal
bekämpft.

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In der Historismus-Studie, aber auch im Einleitungskapitel des zeitgleich erschienenen
Manuskripts über das konjunktive und kommunikative Denken sehen wir Mannheims
erstes ’natürliches’ Weltbild, den Kantianismus, und die Geltungsphilosophie plötzlich
von außen her, mit den Augen des Gegners. Und wir empfinden wieder die Kraft des
’polaren Erlebnisses’, wie die Auseinandersetzung mit der eigenen früheren
Betrachtungsweise dem eigenen Weltbild und der eigenen Methode zur Entstehung einer
neuen Betrachtungsweise, Terminologie und Methode beiträgt, die das neue Welt- und
Lebensgefühl adäquater formulieren kann. Die Loslösung von den primären Denkrahmen
geschieht mit der Hilfe der gegnerischen geistigen Richtung. Von dem
neuaufgekommenen, neuentdeckten Gesichtspunkt der Neoromantik bzw. des
Historismus aus erscheint die Denkart des Kantianismus als statisches, auf das
Paradigma der naturwissenschaftlichen Erkenntnis orientiertes Denken. „Auf allen
Gebieten merken wir, daß im Gegenteil zu jenen Autonomie setzenden, atomisierenden,
analysierenden Tendenzen eine Wendung zur Synthese durchbricht." (Historismus, 259)
Die Lehre von der Autonomie der theoretischen Sphäre wird auch von einer
entgegengesetzten Perspektive her beurteilt.

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"In der Apodiktizität, mit der man sich auf die Autonomie der
theoretischen Sphäre beruft, enthüllt sich nicht so sehr ein sicherer,
unantastbarer Posten, als vielmehr einer der als selbstverständlich
hingenommenen Ausgangspunkte dieser Philosophie."

Diese sind nunmehr normative Fassungen und überzeitliche Hypostasierungen von an


bestimmte Epochen gebundenen Sphärenverhältnissen.
Von der gegnerischen Perspektive gesehen erscheint die kantianische Weltbetrachtung,
Denkart und Methode als statische, dem Stabilitätsbedürfnis dienende Ignoranz und
Selbsthypostasierung: Die Lehre von der Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit der
verschiedenen geistigen Sphären erscheint als Abstraktion, künstliches Abheben der
Teilaspekte und Zerlagerung einer einheitlichen Totalität des Geistes.
Die Lehre von der allgemeinen Geltung ist von hieraus gesehen eine Hypostasierung eines
partikularen, zeitlichen Standpunktes und zwar aus dem Weltwollen einer Epoche."Im
Kantianismus ist das sog. erkenntnistheoretische Subjekt vollständig herausgelöst aus
allen konkreten Wollungen und der Gesamtkonstellation des historisch bedingten
Seelenlebens." Es sei nur ein subjektives Korrelat zu den Denkergebnissen, über allen
örtlichen und zeitlichen Bestimmungen erhaben.

Der statischen Tendenz wird eine dynamische, der analytischen eine synthetisierende
entgegengehalten. Dem abstrakten Erkenntnissubjekt der Kant’schen Philosophie wird der
ganze Mensch der Dilthey’schen Philosophie gegenübergestellt. Der reinen Kontemplativität
gegenüber wird das voluntaristische Element im Denken hervorgehoben und dem
atomisierten Subjekt gegenüber das Kollektivsubjekt in uns. Die Theorie von der
gleitenden Denkbasis wird als Gegenmodell zur Theorie der unbedingten und
überzeitlichen Geltung entwickelt im Gegensatz zu einer am naturwissenschaftlichen
Paradigma orientierten Erkenntnistheorie als eine auf die Eigentümlichkeiten der
Historie aufgebaute geisteswissenschaftliche Methodologie und Erkenntnistheorie.

Im Rahmen der Auseinandersetzung der Historismus-Studie mit der kantianischen


Denkrichtung sind schon viele wichtige Momente der späteren wissenssoziologischen
Konzeption erkennbar. Zum Einen wird der Weg vom Historismus zum Soziologismus
gezeigt: "Die Geschichtsphilosophie, die meistens nur in Geschichtsperioden denkt und
deren inneren Differenziertheit zu übersehen geneigt ist, muss ergänzt werden durch ein
sozial differenziertes Schema der Gesamtbewegung." Das geschichtsphilosophische
Gesamtbild wird durch das Problem der sozialen Differenziertheit dieser Totalität und der
sozialen Gebundenheit dieser Tendenzen „bereichert“. (Historismus, 297)

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Ein wichtiges Argument der Mannheim’schen Wissenssoziologie aus den späteren
Diskussionen taucht im Zusammenhang mit dem voluntaristischen Moment der
Erkenntnis auf: Die Bedeutung der praktischen, außertheoretischen Wollungen für die
Erkenntnis nicht als Fehlerquelle, sondern als Konstituens.

Es geht also, wie m. E. in der ganzen späteren Wissenssoziologie, um eine adäquatere


Fundierung, um eine Erkenntnistheorie und Methodologie der Geisteswissenschaften. Der
Perspektivismus ist für mich der Schlüsselbegriff zu dieser Konzeption: der
Perspektivismus, nicht als Fehlerquelle, sondern als Grundlage dieser Erkenntnis.
Das Problem des Relativismus ist natürlich unumgänglich für so ein Unternehmen.
Mannheim und seine Rezipienten mussten sich ständig damit auseinandersetzen.

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"Mit diesen Hinweisen auf die letzthinnige Verbundenheit der
jeweiligen theoretischen Axiomatik mit der Gesamtstruktur der
jeweiligen Lebens- und Kulturtotalität wollen wir dennoch nicht den
bleibenden Kern dieser Lehren schlankweg verneinen, denn bei einer
letzthinnigen Klärung dieser Probleme müsste noch bedacht werden,
ob die Ergebnisse einer Strukturanalyse und die Herausstellung der
geschichtsphilosophisch-soziologischen Gebundenheit der Theorie ohne
weiteres deren systematisches Geltungssystem begründen bzw. entgründen
können." (Historismus, 261)

Dass eine solche Darstellung zugeben muss, dass eine jede Systematisierung (auch die
vorhandene höchste) standortgebunden und in diesem Sinne perspektivistisch ist,
bedeutet aber keineswegs einen Relativismus, sondern vielmehr eine Erweiterung des
Wahrheitsbegriffes, die uns davor bewahrt, vor Gebieten, in denen aus der Eigenart
des erkennenden Subjektes und seines Gegenstandes heraus n u r perspektivistische
Wahrheiten möglich sind, haltzumachen. (290)
In diesem Sinne könnte die Hauptfrage der Mannheim’schen Wissenssoziologie auch
in einer kantianischen Weise formuliert werden: Es gibt geisteswissenschaftliche
Erkenntnis. Wie ist sie möglich?

Ich würde auch das Mannheim’sche Programm der Zusammenschau ernst nehmen
und im Zusammenhang der hier untersuchten Tendenzen von seiner Ausgangsposition
bis zu seiner ausgereiften Konzeption so verstehen, dass Mannheim in seiner
wissenssoziologischen Phase, in seiner Konservativismus-Studie fähig wurde sich
von beiden seiner früheren eingelebten Weltbilder zu distanzieren und sie nicht nur
von innen, aber auch nicht nur von außen (vom gegnerischen Standpunkt) her zu
betrachten, sondern in einer Gesamtschau gleichzeitig erklären und verstehen, ihre
Struktur zu analysieren, sie zu relationieren und funktional zu erklären.

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Als Mannheim versuchte seine zeitgenössischen politischen Ideologien und Utopien auf
ihre Struktur hin zu analysieren, sie zu relationieren, funktional zu erklären und
‚zusammenzuschauen’, ist er in den Mittelpunkt einer bis heute nicht abgeschlossenen
Diskussion gelangt, wozu sich auch manche seiner ehemaligen Geistesgenossen aus
dem Budapester Sonntagskreis geäußert haben. Zum Abschluss und zur Illustrierung
meiner These, inwieweit die Mannheim’sche Wissenssoziologie als eine Revision der
Grundprinzipien der ungarischen Geisteswissenschaftlichen Schule und des
Sonntagskreises verstanden werden kann, möchte ich möchte ich auf die Reaktionen des
Sonntagskreises auf die reife Konzeption Mannheims aus der Perspektive der früheren
gemeinsamen Prinzipien hinweisen.

György Káldor hebt hervor, dass die Sackgasse, in die der Neukantianismus fast die
gesamte deutsche Vorkriegsphilosophie geführt hatte, ein tiefgreifendes Erlebnis für
Mannheim war.

"Sein Buch ist eine scharfe Polemik, ein ehrlicher Bruch mit jeder
statischen Wertphilosophie, mit jeder Systematisierung, die auf dem
Begriff des ‚Absoluten’", der ewigen und unwandelbaren Ordnung
beruht." "Mannheim ist bemüht den in der angenommenen Autonomie der
Sphären sich hochmütig gebenden ‚reinen’ Gedanken ... zur ...
Wirklichkeit zurückzuführen."

Káldor findet die Mannheim’sche Wissenssoziologie vom früheren gemeinsam geteilten


Standpunkt her unannehmbar:

"... die moderne Philosophie führte nicht deshalb einen jahrzehntelangen


Kampf gegen den Psychologismus, um jetzt auf einer soziologisch
genannten, doch in Wirklichkeit sozialpsychologischen Stufe wieder zu
ihm zurückzukehren." „Der Umstand, dass die Ideen auch ein der
Gesellschaft zugewendetes Antlitz haben, heisst noch nicht, dass
ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit, ihre grundlegende Form
organisch mit ihren gesellschaftlichen Funktionen zusammenhinge."
(Sonntagskreis, 305)

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Lajos Fülep hat seine Bedenken nicht anhand der Ideologie und Utopie, sondern des
Wissenssoziologie-Artikels aus dem Handwörterbuch der Soziologie formuliert:
Mannheim fasst in diesem skizzenhaften aber systemathischen Überblick jene
Gesichtspunkte zusammen, die aus soziologischer Sicht auf die Wissenschaften
angewendet eine Revision ihrer theoretischen Begründung, die Herausbildung einer
neuen Wissenschaftsdisziplin und Erkenntnistheorie nötig machen.

Wissen und Wissenschaft sind seinsverbundene Funktionen, also – und hier kommt die
Gegenüberstellung mit der kantianischen Denkweise – keine Projektionen der
apriorischen Kategorien, der autonomen geistigen Sphäre auf ihr Material, sondern
stets die Konsequenz der historisch-sozialen Lage und Perspektive. Die Erkenntnis
entwickelt sich nicht unter immanenten Gesetzen ..., sondern an jedem wichtigen Punkt
bestimmt eine Vielfalt atheoretischer Faktoren (‚Seinsfaktoren’) ihre Entstehung und
Gestaltung. Diese Faktoren haben nicht einfach periphärische oder genetische
Bedeutung, so dass man von ihnen im Falle der fertigen Erkenntnis ruhig absehen
könnte, sondern haben entscheidenden Einfluss auf ihren Inhalt, ihre Form, Struktur
und Geltung. Je mehr Leugnungen und Behauptungen, desto mehr Legionen von
Fragen und Gegeneinwänden rufen sie hervor.

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Es ist von nicht weniger die Rede als vom Sturz eines grossen Teils der bisherigen
herrschenden Richtungen, von der Zerstörung der Grundlagen der idealistischen
Wissenschaftslehren und Erkenntnistheorien in der Weise, dass die neue Lehre ihr im
Marx’schen Sinne ’ideologisches’ Wesen durchleuchtet und entlarvt.

Fülep findet das von seinem Standpunkt her auch wünschenswert: "... nur so wird
deutlich, was einerseits die Philosophie bisher unkritisch apriorisierte und was sich
andererseits nicht soziologisieren lässt."

Diese theoretische Erbe der ungarischen Geisteswissenschaftlichen Schule ist meines


Erachtens auch nach 100 Jahren ihrer Entstehung von gewisser Relavanz, hat mehr als

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eine kulturhistorische Bedeutung.

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