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europäischem - Partikularismus ergeben, deren institutionelle Resultate vielleicht traditio-


nelle Vorstellungen von ungeteilter nationaler Souveränität hinter sich lassen, nicht aber das
Humanuni gesamteuropäisch artikulierter und „gesatzter" liberaler Rechte und Werte.

Wie geht ein philosophisches Gespräch?

Von RUTH SONDEREGGER (Amsterdam)

HINTER DEN SPIEGELN. BEITRÄGE ZUR PHILOSOPHIE RICHARD RORTYS, hg.


von Thomas Schäfer, Udo Tietz und Rüdiger Zill, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2001,
395 S.

Ihr Ziel fassen die Herausgeber des Bandes in der Einleitung folgendermaßen zusammen:
„Einen Konsens gab es lediglich in einem Punkt: dass die Rorty-Diskussion aus der falschen
Alternative von unkritischem Lob und abgrundtiefer Verdammnis herausgeführt werden
sollte. In diesem Sinn hielten wir uns denn auch an eine Empfehlung von Rorty, dass man
zunächst für das Gespräch sorgen sollte, da dann ,die Wahrheit gut für sich selbst sorgen'
könne." (12 f.) Den Weg ins Jenseits der Alternative von Lob und Verdammnis findet der Sam-
melband allemal.1 Ob damit auch schon das gewünschte Gespräch zwischen Rorty und seinen
wohlmeinenden Kritikern in Gang kommt und die Wahrheit für sich selbst sorgen lässt, ist
eine ganz andere Frage. Sie soll im Folgenden mein Fluchtpunkt sein. Von einem Resümee
der einzelnen Artikel sehe ich dabei ab, zumal die Einleitung der Herausgeber instruktive Zu-
sammenfassungen bietet.
Die Beiträge des Bandes haben den Anspruch, Rortys Philosophie in ihrer ganzen themati-
schen Vielfalt zu diskutieren. Den klassischen disziplinaren Bereichen der Philosophie ent-
sprechend, sind sie deswegen dreigeteilt in Aufsätze zur theoretischen und praktischen Philo-
sophie sowie zu Fragen der Ästhetik.2 Es gibt allerdings einen roten Faden, der alle Beiträge
aneinander bindet: die Auseinandersetzung mit Rortys Verständnis von Begründen, das - wie
könnte es anders sein - alles grundiert, worüber Rorty je öffentlich nachgedacht hat.
Rorty hat bekanntlich viel Staub mit der These aufgewirbelt, dass Argumentieren nur in
Bezug auf Wesen Sinn macht, mit denen man ohnehin viele Überzeugungen und damit eine
Lebensform teile. Für das Verändern von Lebensformen, die Rorty meist etwas irreführend
Vokabulare nennt, und analog dazu im Gespräch mit Vertreterinnen fremder Lebensformen
hingegen gebe es keine Argumente. Da sei man auf rhetorisches Geschick und vor allem
glückliche Zufälle angewiesen. Rorty spricht in diesem Kontext von einer ethnozentristischen
(im Unterschied zu einer relativistischen) Position und erläutert sie folgendermaßen: „Sich

1 Das ist meines Erachtens allerdings auch schon anderen Sammelbänden zu Rorty gelungen. Vgl. bei-
spielsweise R. Brandom (Hg.), Rorty and His Critics, Oxford 2000.
2 Was auf diese Weise unsichtbar bleibt, ist zum Beispiel Rortys wichtiger und keineswegs auf eine
Frage der praktischen Philosophie reduzierbarer Beitrag zum Feminismus. Vgl. dazu R. Rorty, Femi-
nism and Pragmatism; sowie N. Fräsers Kommentar: From Irony to Prophecy to Politics: A Response
to Richard Rorty, beide in: R.B. Goodman, Pragmatism, New York 1995.

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886 Ruth Sonderegger, Wie geht ein philosophisches Gespräch?

ethnozentristisch verhalten heißt: das Menschengeschlecht einteilen in diejenigen, vor denen


man seine Überzeugungen rechtfertigen muss, und die übrigen."3 Dieses ethnozentrische
Verständnis von Begründen und Argumentieren steht in einem engen Zusammenhang mit
Rortys nicht weniger bekannten und kontroversen wahrheitstheoretischen Überlegungen.
Dazu predigt er seit Jahren, dass Wahrheit kein Selbstzweck ist, das heißt, dass wir sie nur
suchen, um mehr oder weniger pragmatische Probleme zu lösen, und dass die Differenz zwi-
schen dem, was wir jetzt für gut begründet halten, und dem, was wir wahr nennen, keine ist.
In Bezug auf den Ethnozentrismus, der im vorliegenden Band mit vielen guten und sorg-
faltigen Argumenten unter anderem von Ulrich Balzer, Geert Keil, Udo Tietz, Matthias Kett-
ner und Hauke Bronkhorst einmal mehr in seiner Unhaltbarkeit auseinander genommen wird,
hat Rorty schon früher - in Beantwortung einer analogen Herausforderung durch Brandom -
geschrieben:, J now think Brandom is right that ,we should not think of the distinction between
routine speaking of the language of the tribe and creative discursive recreation of the indivi-
dual [...] in terms of the distinction between discourse that takes place within the boundaries
of a vocabulary and discourse that crosses those boundaries and enters a new vocabulary'."4
In beiden Fällen gibt es nämlich gar keine strikten Grenzen, und damit wird die Rede vom
Ethnozentrismus hinfallig. Zugeständnisse derselben Art wiederholt Rorty im vorliegenden
Band, und er scheint - folgerichtig - auch kein Problem mehr mit dem Begriff des Begrün-
dens zu haben, wenn man ihn nur weit genug versteht; das heißt, wenn man nicht länger da-
von ausgeht, dass gute Argumente in dem Sinn zwingend sind, dass sie über kurz oder lang
jedes Gegenüber notwendig überzeugen. Aber wer hätte das auch je von einem guten Argu-
ment verlangt!5 Und dass „Gruselgeschichten" (Teil von) Begründungen sein können (vgl.
etwa 195), was Rorty eine sehr gewagte These zu finden scheint, wird gerade von den Auto-
ren des vorliegenden Bandes nicht bestritten.
Wenn einmal zugestanden ist, bzw. Rorty einmal eingesehen hat, dass es keinen Sinn
macht, in historischer oder synchroner Hinsicht von wirklichen Inkommensurabilitäten aus-
zugehen; und wenn darüber hinaus zugestanden ist, dass man sich mit einem positiven Be-
zug auf das Argumentieren und Begründen keine metaphysischen Altlasten einhandelt, dann
bleibt noch die Frage der Wahrheit. Und in diesem Punkt ist Rorty auch in den jetzt vorlie-
genden Repliken auf entsprechende Einwände grandios unklar. Das zeigt sich am auffälligsten
in seiner Antwort auf Hauke Bronkhorst. Auch dies ist allerdings keine neue Debatte, wie
Bronkhorst selbst deutlich macht, indem er schreibt: „Mit dem Gebrauch von Begriffen bin-
den wir uns an Gebrauchsregeln, und diese .conceptual norms' - so Robert Brandom - ,bind
the community of concept users in such a way that it is possible not only for individuals but
for the whole community to be mistaken [...]'" (158). Deswegen ist es Bronkhorst - aber
auch Brandom und nicht wenigen anderen zufolge - entscheidend, vom faktischen Rechtha-
ben und wahrheitsspendenden Beifall einen Applaus zu unterscheiden, der nicht verebbt: das
heißt, am kontrafaktischen Moment von „wahr" festzuhalten. Nur dieses absolute Moment

3 R. Rorty, Solidarität oder Objektivität, Stuttgart 1988,27.


4 Ders., Response to Robert Brandom. Das ist seine Antwort auf: R. Brandom, Vocabularies of Prag-
matism: Synthesizing Naturalism and Historism, in: ders., Rorty and His Critics, a.a.O., 188.
5 Vgl. dazu auch Demmerlings Hinweis, Rortys Reserven gegenüber dem Begründen seien Ausdruck
seines verkappten Szientismus (insbesondere Fußnote 33,341).

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wird unserer auch von Rorty geteilten Intuition gerecht, dass das, was heute wirklich wahr
ist, morgen nicht unwahr sein kann. Darauf antwortet Rorty zunächst: „Ich habe nichts da-
gegen, den von Brandom betonten Gedanken zu akzeptieren, wonach die Möglichkeit, dass
sich ,die gesamte Gemeinschaft' irren kann, von vorneherein in unseren sozialen Praktiken
angelegt ist" (162). Um dann aber eine paar Sätze weiter zu schreiben: „Man beachte, dass
sich die gesamte Gemeinschaft nicht umfassend irren kann über die Identität von Hunden,
Quarks oder Zahlen beziehungsweise über das, was es mit der Demokratie oder der Tugend
auf sich hat. Sie kann sich nur hier und da irren." (162 f.)
So sehr ich mit dem Tenor der sachlichen Kritik, der den Band gut zusammenhält, sympa-
thisiere, und so sehr ich die meisten der, wie gesagt, durchaus nicht zum ersten Mal gegen
Rorty vorgebrachten Kritikpunkte teile, so sehr bleibt einmal mehr der Eindruck, dass Rorty
bei allem Unrecht auch viel Recht auf seiner Seite hat.
Man kann sich zwar - gerade angesichts der gegenwärtigen politischen Situation - darüber
ärgern, wie naiv reaktionär Rorty die Welt schon seit längerem und immer noch in „Gute"
und „Bösewichter" (vgl. etwa 200) einteilt. Man kann sich ebenso darüber ärgern, mit wel-
chen gönnerhaft herablassenden bis paternalistischen Gesten er manche ernst zu nehmende,
unmissverständliche Kritik einfach übergeht - genauer: verpuffen lässt - , indem er darauf
antwortet: „Mir geht es anders" (323); oder wenn er im Anschluss an das selbst verfasste Re-
sümee eines Aufsatzes in der Gestalt von „X sagt..." einfach fortfahrt: „Ich wiederum kann
nicht erkennen [...]" (229), ohne uns einen einzigen Hinweis zu geben, warum er da was nicht
erkennen kann. Gleichwohl muss man konzedieren, dass Rorty ein unglaubliches Talent hat,
langwierige Argumentationen (aus seiner Sicht) nicht nur exzellent zusammenzufassen, son-
dern produktiv und witzig zu verknappen. Man muss auch zugeben, dass er wie wenige Phi-
losophen immer schon wieder neues thematisches Terrain erobert hat, während seine Kom-
mentatoren noch dabei sind, die Fehler seiner alten Ansichten auszubessern und sich darin
die zu führenden Debatten auch auf eine unphilosophische, weil unselbständige Weise vor-
geben lassen. Nicht zuletzt von Rortys Talent her, selbst Debatten zu eröffnen, dürfte sich
seine nicht nur zynische Bereitschaft erklären, in Bezug auf alte Überlegungen eine Menge
von Fehlern unumwunden einzuräumen. Er selbst ist ohnehin schon wieder woanders. Es ist,
als wäre er der Igel, der den Hasen immer nur zurufen kann: Ich bin schon da - bzw. weiter.
Ich habe meine Rezension bislang so angelegt, als ginge es im Fall von Hinter den Spie-
geln um ein neues Rorty-Buch. Das ist auch tatsächlich der Fall - durchaus auch im proble-
matischen Sinn. Nämlich in dem Sinn, dass das Gespräch, das der Band sein will, letztlich
kein geglücktes ist. Es gibt nur einen einzigen, der die Themen der Diskussion vorgibt. Das
wird unheilvoll durch die formale Struktur des Bandes verstärkt, nämlich durch den Wechsel
zwischen den sorgfältig und diskursiv Probleme und Argumentationslücken aufweisenden
Aufsätzen einerseits und Rortys teils gönnerhaften, teils innovativen Repliken andererseits.
Damit wird ein - institutionell freilich tief verankerter und deshalb nicht überraschender -
Personen- und Autorenkult betrieben, der gerade in einer Philosophie unangebracht ist, der
es um das emphatische Verteidigen des besseren Arguments geht. Denn einem solchen Ver-
ständnis von Philosophie muss immer äußerst problematisch sein, dass Autoren beim Ver-
stehen und Kritisieren ihrer Texte eine besonders herausragende Rolle zugestanden wird. Es
bleibt zumindest zu vermuten, dass der Band spannender geworden wäre, wenn die Autoren
untereinander ins Gespräch gekommen wären, anstatt sich jeweils als vereinzelte in die Posi-
tion von Nachfragern zu begeben, die eine Antwort vor allem vom einen und einzigen Hei-

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888 Jochen Hörisch, Der blinde Fleck der Philosophie: Medien

den der Geschichte bekommen wollen - auch wenn diese Positionen von den einzelnen
Beiträgen nicht intendiert ist, sondern erst die konventionelle Struktur des Bandes es ist, die
die Autoren in diese Position bringt.
Damit will ich nicht ausschließen, dass die zwei Stile des Philosophierens, die in diesem
Sammelband beispielhaft aufeinander prallen, nicht anders und vor allem miteinander zum
Arbeiten gebracht werden können: das sorgfältige Rekonstruieren und Kritisieren von De-
batten und Problemen einerseits, das argumentativ nicht immer in derselben Weise abgesi-
cherte Konstruieren und darin auch sehr eigensinnige und engagierte Erfinden zeitgenössi-
scher Problemlagen andererseits. Gerade in dieser Doppelstrategie ist Rorty selbst kein
kleiner Großmeister. Man kann bei ihm also durchaus nachlesen, wie das Gespräch zwischen
Argumentieren und Erfinden glückt. Wie ein solches Gespräch zwischen gleichberechtigten
akademischen Erwachsenen gelingen könnte, ist von Rorty allerdings auch nicht zu lernen.
Dafür reicht einer allein nicht aus. Schon gar nicht, wenn er der einzige Held in einem Jun-
gen-Spiel ist.

Der blinde Fleck der Philosophie: Medien

Von JOCHEN HÖRISCH (Mannheim)

MEDIENPHILOSOPHIE - BEITRÄGE ZUR KLÄRUNG EINES BEGRIFFS, hg. von Ste-


fan Münker, Alexander Roesler und Mike Sandbothe, Fischer Taschenbuch Verlag, Frank-
furt/M. 2003,224 S.

In Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie finden sich kenntnisreiche Artikel noch
zu den exquisitesten Stichwörtern. Sein 1980 erschienener achter Band (L-Mn) interessiert
sich für ,Manager',,Manismus',,Matrix' und ,das Man'; und er geht auf nicht weniger als
54 Spalten bemerkenswert souverän bis überkompensierend mit der Blöße um, dass einer
seiner Vorgänger einmal einen wichtigen Begriff vergessen hat. Sub voce ,Malum' schreibt
Odo Marquard: Im Detail steckt das Böse resp. der Teufel „auch heute noch und sorgt dafür,
daß - etwa - im Historischen Wörterbuch der Philosophie der Artikel Böse , vergessen' wird,
obwohl doch insgesamt für die modernen Menschen gilt: ,den Bösen sind sie los, die Bösen
sind geblieben'".1 Ohne Kompensation und sicherlich ohne böse Absicht aber vergisst das
großartige Wörterbuch, dem man ansonsten nicht mangelnde Aufmerksamkeit selbst für Be-
griffe, die ihre populäre Karriere erst noch vor sich haben (Matrix!), kurz nach der philoso-
phischen Rehabilitierung des Malum einen Begriff: Zwischen den Artikeln .Meditation' und
.Medizin' fehlen zwei bis zweihundert Spalten - es fehlt ein Artikel .Medium' ? Sollte es mit
den Beziehungen zwischen .Medien' und Philosophie böse stehen?
Gut zwanzig Jahre nach dieser buchenswerten Fehlleistung erscheint in Taschenbuchform
ein Sammelband unter dem Titel Medienphilosophie - Beiträge zur Klärung eines Begriffs.

1 Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, L-Mn, (1980), Spalte 654.


2 Die instruktive Abhandlung Geschichte des Medienbegriffs (Hamburg 2002) von Stefan Hoffmann hat
sie mittlerweile nachgeliefert.

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