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1 Piatons Werke von F. Schleiermacher, Ersten Theiles erster Band, Berlin 1804 (3. Auflage
Berlin 1855 - nach dieser Auflage wird im folgenden zitiert). Einleitung: 5 - 3 6 .
(Nachdruck der .Einleitung' bei K. Gaiser [Hrsg.], Das Platonbild. Zehn Beiträge zum
Piatonverständnis, Hildesheim 1969, 1 - 3 2 . ) Eine profunde Kritik von Schleiermachers
hermeneutischem Ansatz gab H. J . Krämer, Arete bei Piaton und Aristoteles, Heidelberg
1959, 17 ff. Die nachfolgenden Ausführungen verdanken Krämer im Grundsätzlichen
sehr viel, im Einzelnen wurden sie bewußt ohne durchgehende Einbeziehung und
Vergleichung seiner Argumente niedergeschrieben. Krämers zweite, philosophiehisto-
risch umfassende und systematisch grundlegende Auseinandersetzung mit Schleierma-
chers Theorie (Platone e i fondamenti della metafisica, Milano 1982, 31 - 1 4 9 ) lag zur
Zeit der Niederschrift dieser Darstellung (Sommer 1979) noch nicht vor.
2 .Modern' heißt hier lediglich soviel wie ,nicht antik'. Statt .moderne Dialogtheorie'
wird auch die Bezeichnung .Dialogformtheorie' verwendet werden, da es im wesentlichen
um die hermeneutischen Möglichkeiten der Dialogform (als indirekter Mitteilungsform)
geht.
3 Der Versuch von E. N. Tigerstedt, T h e Decline and Fall of the Neoplatonic Interpreta-
tion of Plato, Helsinki 1974, die Bedeutung von Schleiermacher zu bagatellisieren
(s. bes. 5 f.), kann nicht als gelungen betrachtet werden. Tigerstedt brachte trotz
bestaunenswerter Materialfülle kein einziges Zitat bei, das die Verbreitung der
Schleiermacherschen Einschätzung des platonischen Dialogs vor 1804 belegen könnte;
ebenso fehlt ein Nachweis, daß platonische Esoterik vor Schleiermacher mehrheitlich
geleugnet worden wäre (das beigebrachte Material beweist eher das Gegenteil; vgl.
meine Rezension G G A 230, 1978, 33 - 37, bes. 36). - Mit den neueren Ausformungen
332 Anhang I
für Piaton unbestreitbar aus der zweiten Bestimmung folgen müßte, wird
- so ist die Meinung - im Falle seiner eigenen Dialoge durch die erste
Bestimmung außer Kraft gesetzt.
Im einzelnen ließe sich die Theorie unter folgenden Punkten zusam-
menfassen 4 .
1.
2.
Notwendig ist die Dialogform für viele Interpreten auch unter einem
anderen, noch wesentlicheren Aspekt: die Wahrheit, um die es der
philosophischen Mitteilung geht, ist als unendliche nicht von der Art,
daß die verendlichende Sprache sie fassen könnte. Es bleibt allein die
hindeutende Annäherung an das direkt nicht Sagbare. Die indirekte
Darstellungsform folge aus dem Wesen der Sprache.
3.
nen ,Ernst' des Philosophen, sondern weil sie als literarische Mimesis
unter den Begriff παιδιά fällt. Oder es wird erklärt, im Dialog sei Spiel
und Ernst zugleich verwirklicht, entweder beides ungetrennt, oder ,Spiel'
auf einem vordergründigen Verstehensniveau,,Ernst' auf einem anderen,
hintergründigen. Oder παιδιά soll in keiner Weise auf die Werke Piatons
anwendbar sein. (In der Deutung des ,Spiels' des Philosophen besteht
am wenigsten Einigkeit unter den Vertretern der Dialogformtheorie.)
4.
5.
Die Mittel, mit denen der Dialog das Denken lebendig und offen
hält, sind die Mittel der indirekten Mitteilung: das Hineinführen in die
Aporie, hinter der in Andeutungen die Lösung steht; das Spiel mit
scheinbaren Widersprüchen; vor allem aber das ironische Verhüllen des
Gemeinten. Alles bei Piaton ist in Ironie getaucht, insbesondere aber das
jeweils Wesentlichste, das der direkten Mittteilung am wenigsten fähig
ist. (Eine neuere Richtung der Dialogformtheorie rechnet nicht nur mit
scheinbaren Widersprüchen, sondern auch mit tatsächlichen, die Piaton
mit voller Absicht hingesetzt habe, ebenso wie sonstige „logische Unzuläs-
sigkeiten", darunter „unzulängliche Beweisführungen mittels er-
schlichener Voraussetzungen, fragwürdiger Axiome, falscher Analogien,
wahrheitswidriger, ja unsinniger Behauptungen, fehlerhafter Ableitungen,
haarscharf am Wesen der Sache vorbei" (Roloff 22)).
6.
In der ironischen Aussage ist das, was dasteht, nicht das Gemeinte.
Was das Gemeinte ist, erkennt der die Ironie verstehende Leser. Nur
Die moderne Theorie der Dialogform 335
diesem enthüllt der Dialog seine wirkliche Aussage; wer der Ironie nicht
fähig ist, versteht sie nicht. Also ,redet' der ironische Dialog zu den einen
und ,schweigt' zu den anderen. Wer die Ironie versteht, ist zugleich der
geeignete Adressat des Dialogs; nur er kommt in ein ,Gespräch' mit
seiner verschlüsselten Aussage: so redet und schweigt der Dialog zu
denen, zu denen er reden und schweigen soll. Er kann sich seinen
,Gesprächspartner' selbst wählen. (Für eine neuere Variante der Dialog-
theorie überwindet der Dialog noch eine weitere Schwäche aller sonstigen
Schrift: indem der Leser erst allmählich zur ,tieferen' Schicht vordringt,
erhält er auf seine Fragen zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antwor-
ten: in diesem ,Gespräch' ,sagt' also der Dialog nicht stets dasselbe.)
Als indirekte Mitteilungsform ist der Dialog aber auch nicht wie jede
andere Schrift wehrlos der Kritik ausgesetzt: der Ungeeignete mag das
wenige, was er vom Dialog versteht, scharf kritisieren — das Wesentliche
ist durch die ironische Verhüllung seinem Zugriff entzogen und so vor
seiner Kritik geschützt: so weiß sich der Dialog gegen Angriffe zu ,helfen'.
7.
8.
Die entscheidende zweite Schicht des Dialogs ist dazu geeignet und
daher auch dazu bestimmt, alles auszusagen: obschon nicht alles in
336 Anhang I
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
1.
' „Indessen erschöpft diese (die dialogische) Form keineswegs das Ganze seiner Methode"
(Einleitung 15 f.). Daß die Nachahmung der Gesprächsform die Darstellung lebendiger
erscheinen läßt und daß Piaton an diesem Effekt gelegen war, ist unbestritten und auch
problemlos. Die formal-mimetische Angleichung der Schrift an das Wechselgespräch
führt jedoch nie über ein bloßes εΐδωλον desselben hinaus. Die Schwäche des λόγος
γεγραμμένος bleibt, ob solche Angleichung stattfindet oder nicht. Schleiermacher sah
dies und postulierte folgerichtig eine Angleichung in der Funktion, nicht nur der Form.
340 Anhang I
7 Einleitung 16. Aus dieser Aufzählung ist das Wichtigste zitiert unten S. 347.
8 Nicht offen dargelegt ist lediglich der entscheidende Gedankenschritt, mit dem
Schleiermacher der Anerkennung einer mündlichen Philosophie Piatons zu entgehen
trachtet. Die polemische Intention selbst und ihre erkenntnishemmende Funktion sind
dagegen über die Maßen deutlich, s. unten zu These 7 und 8.
' Sehr klar auch Chr. A. Brandis, Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen
Philosophie, Berlin 1835 —1860, II 1, 159 (im gleichen Zusammenhang und unter
Berufung auf Schleiermacher): „nur unter Voraussetzung einer solchen Absicht ...".
10 Schleiermacher verstand seine Theorie des Dialogs als Exegese des Schlußteils des
können (Phdr. 275 d), so wahr wird auch der beste Schriftsteller der
einmal geschriebenen Darlegung nicht neue Antworten auf künftige
Fragen mitgeben können - was erst der spezifischen Fähigkeit der
mündlichen Rede des Philosophen gleichkäme und was den Dialog erst
zu einem Werkzeug wahrhafter Erkenntniserweckung machen würde. Es
kann daher nicht das Ziel eines einsichtigen Verfassers von Schriften
sein, das Unmögliche zu versuchen und das Buch zu einem gleichwertigen
Ebenbild des lebendigen Wortes aufwerten zu wollen. Die vermeintliche
Angleichung von Wort und Schrift hinsichtlich ihrer fundamentalen
Erkenntnisleistung — eine Angleichung, die dann faktisch als Gleichset-
zung verstanden wird 11 — wird durch die Grundsätzlichkeit von Piatons
Kritik an der γραφή, der Schrift schlechthin, ausgeschlossen.
Der Schleiermachersche Glaube an die in der Dialogform erreichte
Ebenbürtigkeit des Geschriebenen mit dem Gesprochenen zeigt sich nicht
nur dort, wo in allgemeiner Formulierung eine „Aufhebung" des Buches
im Dialog-Buch (Friedländer 1177) oder eine „Tilgung" der Mängel der
Schrift (Ebert 31) verkündet wird 12 , sondern auch überall dort, wo die
Mittel, über die der mündlich Philosophierende verfügt, so die Fähigkeit,
nach freier Entscheidung zu antworten oder nicht zu antworten, dem
Dialog zugeschrieben werden (dazu unten (4) und (5)). Statt sich auf
Piatons Erfolg bei einer vermeintlich evidenten Zielsetzung festzulegen,
11
Z w a r klingt es wie eine Einschränkung, wenn Schleiermacher sagt, Piaton habe die
schriftliche Belehrung der mündlichen „so ähnlich als möglich" machen wollen.
Ähnliche Formulierungen begegnen bei zahlreichen Dialogform-Autoren (etwa Brandis
II 1, 151; Friedländer I 177; Klein I.e. (oben 13 Anm. 7) 17; K. von Fritz, Schriften zur
griechischen Logik, Stuttgart 1978, 1204). Solange jedoch die entscheidende Frage
unterbleibt, wo die prinzipiellen Grenzen der Angleichung liegen, haben wir keinen
Grund, in solchen Wendungen mehr zu sehen als platonisierende Urbanitäts-Floskeln.
Wohltuend hebt sich hiervon die naive Ehrlichkeit von Meißner und Watson ab, die
das Schreiben offen dem Gesprächführen für überlegen erklären und kein Hehl daraus
machen, daß sie dies auch für die Meinung Piatons halten (Watson I.e. [oben 324
Anm. 144] 115, vgl. 131; Meißner I.e. [oben 13 Anm. 7] passim, bes. im Phaidros-
Kapitel 7 0 - 1 1 7 ) .
12
„Der Dialog ist die einzige Form des Buches, die das Buch selber aufzuheben scheint",
Friedländer I 177; „ ... der Versuch (Piatons), die Mängel der geschriebenen Rede
dadurch aus dieser zu tilgen, daß das mimetische Gespräch der Dialogpersonen zum
Medium eines Fragens und Antwortens zwischen Autor und Leser wird", Ebert 1. c.
(oben 14 Anm. 9) 31. Die irrige Grundannahme über Piatons Zielsetzung begegnet
ferner bei H . Gundert, Der platonische Dialog, Heidelberg 1968, 15 f.; von Fritz 1. c.
I 204; Roloff 1. c. (oben 14 Anm. 11) 27, 32 f. (und passim); Klein 1. c. (oben 13 Anm. 7)
6, 17, 20 („A properly written text will tend to transform the unavoidable deficiency
of writing into a lever of learning and understanding", 17); Rosen XVIII, XXV;
Laborderie I.e. (oben 17 Anm. 15) 84f., 113. (Aus der älteren Literatur vergleiche man
etwa Brandis II 1, 151).
342 Anhang I
2.
3.
bisher am konsequentesten und redlichsten um die Deutung der Grundtexte bis in die
sprachlichen Einzelheiten hinein bemüht hat. Sein Fall gewinnt damit exemplarischen
Wert: auf dem Boden dieser Theorie hat man nur die Wahl, seine Zuflucht zur
Selektivität zu nehmen oder ins Abwegige abzugleiten. Vgl. unten zu These 6.
21 Daß auch aus der Bezeichnung der geschriebenen Darlegung als,Abbild' der mündlichen
(Phdr. 276 a 9) kein Hinweis auf eine notwendig dialogisch-indirekte Form der
,Abbildung' und damit auf eine Theorie des Dialogs gezogen werden kann, ist oben
S. 12 (mit Anm. 5 und 6) gezeigt worden. - Zum . ö f f n e n ' der sokratischen Logoi
(Symp. 221 d - 2 2 2 a) s. oben 267 f. mit Anm. 49.
22 Die Liste dieser ,Künste' hat Schleiermacher, Einleitung 29 — 30 noch einmal etwas
detaillierter ausgeführt, ohne wesentlich Neues hinzuzufügen. Zellers Aufzählung der
Mittel des „indirekten Andeutens" (II 1, 487) schließt deutlich an Schleiermacher an;
348 Anhang I
Rückgriff auf die Prinzipien der platonischen Dialektik, sagt Piaton selbst (vgl. oben
317ff.). Dem Dialog Unvollständigkeit in dieser Hinsicht nachzusagen ist indes etwas
ganz anderes als zu unterstellen, das Vorliegende sei auf dem von Piaton hier gewählten
Begründungsniveau in sich unzusammenhängend.
" Friedländer I 134 („Piaton hat nicht gewollt, daß wir sein Ich hören"). Ph. Merlan,
Die moderne Theorie der Dialogform 349
Form and Content in Plato's Philosophy (1947), in: Kleine philosophische Schriften,
Hildesheim/New York 1976, 26 - 50, passim, bes. 4 2 - 5 0 . Merlan hält den 2. Brief für
echt, was ihm ermöglicht, an eine prinzipielle Distanzierung Piatons von allem, was er
schrieb, zu glauben; Piaton habe es fertiggebracht, während 60 Jahren zu schreiben
„and yet not to commit himself philosophically" (43); er lasse uns über alles in
Unsicherheit, und dies hindere, Andeutung und Angedeutetes zu verwechseln (49). -
Merlans Gedanken wurden aufgenommen von L. Edelstein (Platonic Anonymity,
AJPh 83, 1962, 1 —22), der auch das Schlagwort von der „Piatonic Anonymity" wieder
hervorholte (es begegnet schon bei H . von Stein, Sieben Bücher zur Geschichte des
Piatonismus, Göttingen 1864, I I I f.). Indem Piaton „anonym" bleibe, richte er den
Blick des Lesers auf die absolute Wahrheit (21); auch Edelstein ist freilich der Ansicht,
daß der Leser „gefangen" ist in der Schönheit der literarischen Welt der Dialoge (ib.);
daß die „Anonymität" des Autors als „correlative and corrective" zur literarischen
Personalisierung der Wahrheit in den Dialoggestalten tauge, also die Aufhebung der
,Bezauberung' durch die literarische Form bewirken könne, gehört doch wohl mit zu
jener naiven Mystifikation der Dialogform, von der weiter unten die Rede sein wird.
— Z u m „silence of the a u t h o r " vgl. Rosen XVIII f.; ferner Ebert 31: „einer unvermittelten
Frage nach der Meinung des Verfassers ist durch die mimetische Verbergung des Autors
Piaton ohnehin der Weg verlegt."
15
So wie Seren Kierkegaard bekanntlich mehrere seiner Werke unter anderen Namen
publizierte. Möglicherweise hat das Beispiel Kierkegaards unmittelbar auf die Miß-
verständnisse um Piatons ,Anonymität' eingewirkt. Aufschlußreich sind die Bemerkun-
gen A. Maclntyres über Kierkegaards schriftstellerische Methode: „On his own grounds,
he cannot hope to produce pure intellectual conviction in his readers; all that he can
do is to confront them with choices. Hence he should not try to present a single
position. This explains Kierkegaard's method of expounding incompatible points of
view in different books and using different pseudonyms for works with different
standpoints. The author must conceal himself; his approach must be indirect." (in: The
Encyclopedia of Philosophy, ed. P. Edwards, New York 1967, IV 337).
350 Anhang I
26 Im Siebten Brief wird der sog. Philosophenkönigssatz, in dem bekanntlich der gesamte
philosophische Gehalt der Politela komprimiert ist, ohne Umschweife als Ausdruck des
Standpunktes Piatons behandelt (326 a b, vgl. 328 c 1). Für den, der die Echtheit dieses
Die moderne Theorie der Dialogform 351
Dokumentes nicht bezweifelt, sollte damit die Frage beantwortet sein, was es mit der
Jndirektheit' der dialogischen Mitteilungsform in Piatons Hauptwerk auf sich hat:
Piaton bekennt sich ausdrücklich zu dem Ergebnis, das die Mimesis philosophischer
Homologie zutage förderte, als zur eigenen Auffassung. Aber auch für den, der den
Brief für unecht hält, sollte es zu denken geben, daß dieses Zeugnis eines auf hohem
Niveau schreibenden Mannes aus der Zeit unmittelbar nach Piaton mit Aristoteles und
Xenokrates darin übereinkommt, daß neben der mündlichen Philosophie Piatons auch
die übereinstimmend gebilligten Sätze von Dialogfiguren als gültiger Ausdruck seiner
Uberzeugungen zu werten sind.
352 Anhang I
27 Die Aufnahme durch die Kritik zeigte denn auch eine seltene Einmütigkeit unter den
Rezensenten. Zu Ebert s. K. H. Iking, AGPh 58, 1976, 1 8 7 - 1 8 9 ; D. Frede, PhRdschau
24, 1977, 209 - 215 sowie meine Rezension G G A 230, 1978, 1 3 - 2 1 ; daß die von Roloff
ersonnenen unendlichen Täuschungsmanöver Piatons auf bloße Trivialitäten führen,
zeigte mit großer Klarheit G . M ü l l e r , Gnomon 49, 1977, 5 5 3 - 5 6 1 ; vgl. ferner zu
H. Meißner (eher etwas zu nachsichtig) meine Rezension Gnomon 52, 1980, 3 0 1 - 3 0 4 .
Zu Gadamers Vorschlag eines dialektischen Lesens' der Dialoge s. unten Anm. 72.
28 Vgl. die nicht so sehr unterschiedenen chronologischen Listen verschiedener Forscher,
die D. Ross 1. c. (oben 93 Anm. 3) 2 zusammengestellt hat. S. auch Guthrie IV 4 1 - 5 4 :
Chronology. Selbst Thesleff (1. c. oben 237 Anm. 56) liegt trotz manchen originellen
Abweichungen im Ganzen weit näher beim consensus des 20. Jh.s als bei der Chronologie
Schleiermachers.
29 Schleiermacher glaubte, durch die Beobachtung der „echt platonischen F o r m " eine
gesicherte Chronologie etablieren zu können, überdies auch noch das Echte vom
Unechten scheiden zu können (Einleitung 29). Es ist eine seltsame Ironie der Forschungs-
geschichte, daß eine Interpretationsweise, die mit zwei ihrer Erkenntnisziele so
vollständig Schiffbruch erlitt — die Erforschung von Chronologie und Echtheit der
Schriften des Corpus Platonicum wurde durch Argumente, die von der Dialogform
ausgehen, mehr behindert als gefördert - , mit ihrem dritten und grundlegenden Ziel,
der Umgehung der Anerkennung einer mündlichen Philosophie Piatons, heute noch
Kredit hat.
30 So spricht z. B. Gadamer von einer „wohlpointierten Wendung" weg von der Negativität
der aporetischen Dialoge zu „kühner Positivität" in der Politela (Die Idee des Guten
zwischen Plato und Aristoteles, 1978, 18), ohne sich indes dadurch zu größerer Vorsicht
in der Anwendung seiner Methode des „dialektischen Lesens" gezwungen zu fühlen:
dialektisches Lesen des Höhlengleichnisses etwa heißt für Gadamer, daß wir darauf
„verzichten", es „einer wissenschafts-theoretischen Ausdeutung zu unterziehen" (1. c.
47). Vgl. unten Anm. 72.
Die moderne Theorie der Dialogform 353
4.
Man hat sich nicht genügend verwundert über die Leistung, die der
Dialog als Mittel der schriftlichen Weitergabe von Erkenntnis zu erbrin-
gen bestimmt ist: als das Buch, welches nach dem Glauben der Dialog-
formtheorie den eigenen Buchcharakter überspringt, wird der Dialog
nicht, wie andere Bücher, zu allen ohne Unterschied reden, sondern zu
den einen reden, anderen gegenüber aber ,schweigen'; er wird sich
also seine Leser selbst ,wählen', während andere Bücher vom Käufer
ausgesucht werden. Der Dialog läßt dargestellte Gespräche auf den Leser
übergreifen, wo es lebendig fortlebt in der Zwiesprache des Lesers mit dem
Text, welcher im lebendigen Durchgang durch die Verständnisphasen des
Lesers nicht wie andere Schriften ,stets dasselbe sagen' wird. Er bewahrt
den Leser durch seine indirekte Form vor dem Mißverstehen, vor
Scheinwissen und Dogmatismus, während anderes Schrifttum dazu
einlädt, und kann* sich selbst ,schützen' vor Angriffen, indem er sich
entzieht, seinen Sinn nicht preisgibt. Und schließlich wird der Dialog
dem, den er vor Mißverstehen bewahrt hat, positiv seinen Sinn als die
„einzig mögliche Lösung", als das „eindeutig Gemeinte", mitteilen.
Kurzum: während die Schrift (γραφή) nach Piaton in jeder Hinsicht
passiv ist im Verhältnis zum Leser, ist der Dialog nach der modernen
Theorie in jeder Hinsicht aktiv gegenüber dem geeigneten' Rezipienten 31 .
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß das, was hier vom Dialog
und seiner Aufnahme ausgesagt wird, aus einer Reihe von Metaphern
besteht.
31 Der Glaube an den ,aktiven' Dialogtext findet sich, pauschal ausgedrückt oder nach
mehreren, selten allen, Punkten aufgefächert, u. a. bei: Friedländer I 177, Merlan 49,
Bröcker, W.: Piatons Gespräche, Frankfurt 1964 (M967), 9, Gundert (1) 16 (übernommen
von Guthrie IV 65), Klein 3 - 3 1 (bes. 8, 13), Rosen X I - X X X V I I I (bes. XVIIIf., X X I ,
X X V ) , Ebert 3 2 - 3 5 (bes. 31), Roloff 3 - 3 7 (bes. 5 - 8 , 18, 2 7 - 3 4 ) , Tigerstedt 98,
Meißner passim (die wundersamen Fähigkeiten des ,aktiven' Buches erscheinen auch
Meißner wie „ein wahres Wunder": 83), Laborderie 114.
354 Anhang I
Daß das Gespräch auf den Leser ,übergreift', besagt nichts anderes,
als daß er über das Gelesene — nachdenkt. Denn das ,Gespräch der
Seele mit sich selbst' ist das Denken. Bekanntlich war es Piaton selbst,
der mit dieser überaus einprägsamen Metapher das Hin und Her des
diskursiven Denkens erfaßte, das die verschiedenen, oft antithetischen
Denkmöglichkeiten nacheinander durchmustert und sich so zu einer
Lösung — sozusagen zu einer Homologie als Ziel und Endpunkt des
,Gesprächs' — vortastet. Was aber Piatons Metapher gewiß nicht
wegleugnen wollte, ist der wesentliche strukturelle Unterschied zwischen
solchem ,Gespräch' und der Unterredung mit dem anderen Menschen:
im Gespräch der Seele kommt alle Bewegung des Gedankens aus ein und
demselben Bewußtsein, während das Gespräch mit dem leibhaftigen
Gegenüber den Sprechenden in Bezug setzt zu einem fremden Bewußtsein,
das über eine eigene Dynamik verfügt. Diese unverfügbare Dynamik des
Fremdbewußtseins - die den Philosophierenden zu letzter Strenge im
Denken zwingen kann, worin in existenzphilosophischer Sicht der Ernst
der existentiellen ,Begegnung' gründet — kann aber durch keine Form
des Schriftgebrauchs ersetzt werden, da die Aktivierung der im Text
angelegten Verstehensmöglichkeiten notwendig die eigene Bewußtseins-
arbeit des Lesers bleiben muß. Diese eigene geistige Dynamik des Lesers
bestimmt die ,Zwiesprache mit dem Text' in einem weit ausschließliche-
ren und fundamentaleren Sinn, als die eigene Verstehensarbeit (die
allerdings auch dem gesprochenen Wort gegenüber aufzubringen ist) das
Gespräch unter Partnern bestimmt: das Verständnis des persönlich
Angesprochenen schlägt sich in seiner spontanen Antwort nieder und ist
so der unmittelbaren Kontrolle und Korrektur durch den anderen
ausgesetzt. Hingegen ist der Leser für alle gedankliche Bewegung, die
sich nicht mit einer im Dialog festgehaltenen Äußerung direkt zur
Deckung bringen läßt, zugleich Initiant und Kontrollierender, Fragender
und Antwortender in einem. Der Text mag ihm bei dieser oder jener
Antwort ,Widerstand leisten' - was wieder nichts anderes ist als eine
Metapher dafür, daß er bei einer Antwort noch Schwierigkeiten sieht (ein
anderer Leser wird bei derselben Antwort keine Schwierigkeit erkennen,
ihm ,leistet' der Text dann keinen ,Widerstand'). Ob aber und wie dieser
,Widerstand' überwunden werden kann, entscheidet der Leser nach seiner
eigenen Dynamik und seiner eigenen Kunst des Interpretierens: ,der Text'
schweigt (oder ,stimmt zu'?), ob nun ein Kantianer oder ein Hegelianer,
ein Proklianer oder ein Wittgensteinianer verkündet, allein bei Annahme
seiner Prämissen lasse sich Piaton widerspruchsfrei' erklären.
Die moderne Theorie der Dialogform 355
In d e r , Z w i e s p r a c h e m i t d e m T e x t ' ist d e r L e s e r in W i r k l i c h k e i t m i t
sich allein. Der Text muß ihm zum Material werden, kann ihm
die i r r e d u z i b l e Andersheit fremder Spontaneität nicht ersetzen. Der
m e t a p h o r i s c h e G e b r a u c h des W o r t e s , Z w i e s p r a c h e ' v e r d e c k t die f u n d a -
m e n t a l e V e r s c h i e d e n h e i t des , G e g e n ü b e r s ' b e i m U m g a n g m i t d e r Schrift
u n d b e i m U m g a n g m i t d e m l e b e n d i g e n P a r t n e r . A u f diesen U n t e r s c h i e d
will j e d o c h P i a t o n i m P h a i d r o s m i t seiner B e t o n u n g d e s u n l e b e n d i g e n ,
festgelegten, reaktionsunfähigen C h a r a k t e r s der Schrift hindeuten32.
M e t a p h o r i s c h ist d a n n a u c h alles, w a s a n B e s t i m m u n g e n d e s D i a l o g s
a u s dieser g r u n d l e g e n d e n V e r w i s c h u n g d e r G r e n z e n f o l g t : die , F ä h i g k e i t ' ,
d e m U n g e e i g n e t e n g e g e n ü b e r zu , s c h w e i g e n ' , d a s e i g e n t l i c h Gemeinte
n i c h t p r e i s z u g e b e n , ist in W i r k l i c h k e i t d a s p a s s i v e r l i t t e n e M i ß g e s c h i c k
des D i a l o g s , a u f zu n i e d r i g e m N i v e a u a u s g e l e g t zu w e r d e n ; d i e , F ä h i g k e i t ' ,
seinen P a r t n e r a k t i v zu » w ä h l e n ' , ist in W i r k l i c h k e i t d e r u n b e e i n f l u ß b a r e
G l ü c k s f a l l , v o n e i n e m p h i l o s o p h i s c h D e n k e n d e n ergriffen zu w e r d e n ; die
, F ä h i g k e i t ' , sich d u r c h V e r b o r g e n b l e i b e n g e g e n A n g r i f f e zu s c h ü t z e n , ist
32 Die Abhebung der Zwiesprache mit einem antwortenden Partner von der .Zwiesprache'
mit dem zu lesenden Text will selbstverständlich Bedeutung und Nützlichkeit der
literaturtheoretischen Versuche, die ,Interaktion zwischen Leser und Text' genauer zu
erfassen, in keiner Weise in Frage stellen. In der modernen Literaturtheorie war und
ist man sich stets bewußt, daß diese ,Interaktion' (a) sich in ein und demselben
Bewußtsein abspielt und von intersubjektiver Kommunikation spezifisch verschieden
ist und (b) nicht das Merkmal der Wirkungsweise einer bestimmten Gattung im
Gegensatz zu anderen Gattungen sein kann. Wenn diese beiden Punkte in der
Dialogformtheorie Schleiermacherianischer Art nicht implizit geleugnet oder zumindest
verwischt wären, könnte sie Wertvolles zur Beschreibung der Wirkungsweise der
Dialoge beitragen. Zur Interaktion von Text und Leser vgl. W. Iser, Die Appellstruktur
der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 4 1974;
ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; H. Ruthrof,
The Reader's Construction of Narrative, London 1981. — Daß sein Begriff der
.Zwiesprache mit dem Text' eine bloße Metapher ist, scheint Meißner irgendwie
bewußt zu sein (der Leser werde „sozusagen zum Gespräch mit den Dialogen" verlockt
83, er muß „gewissermaßen .Zwiesprache' mit dem Text halten" 212, vgl. 116, 194).
Vergeblich versucht er, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu umgehen mit der
Versicherung, „daß diese Zwiesprache nicht vom Leser allein getragen wird, sondern
... erst durch die entsprechende Zwiesprache-Kunst des Autors ermöglicht wird" (83).
Gewiß, der Dialog kann die Fragen des Lesers in gewissem Umfang lenken (wie andere
Texte übrigens auch, s. unten zu These 5); über Anfang und Ende, Zielsetzung und
Qualität, Gesinnung und Ergebnis solchen Fragens ist der Autor jedoch nicht mehr
Herr. Eben hierauf kommt es aber allein an in dem, was Piaton philosophische διδαχή
nennt. - Klarer sieht Bröcker: „Am Leser liegt es, ob diese Schriften ... antworten,
wie ein Gesprächspartner" (1. c. 558), wo freilich der scheinbar harmlose Nachsatz „wie
ein Gesprächspartner" doch wieder auf die antiplatonische Mißdeutung des Buches als
eines aktiven Gegenübers führt. - Die „Zwiesprache" ist zentral auch für Roloff,
Ebert, Friedländer, Klein, Rosen u. a. (Belege oben Anm. 31).
356 Anhang I
nicht aktive Gegenwehr, sondern das Urteil des einen Lesers, daß der
andere Leser, der Kritik geübt hat, das Wesentliche verfehlt hat -
während die Tatsache des vom Buchautor unerwiderten Angriffs unauf-
hebbar bestehen bleibt.
Mit dem Phaidros hat solche metaphorische Umdeutung nichts zu
tun: dort geht es um die persönliche Wahl eines Mitphilosophierenden
(λαβών ψυχήν προοήκουοαν 276 e)33, um philosophisch-pädagogische
Auswahl also, sodann um das freie Ermessen des ,Wissenden', das
Gespräch fortzuführen oder abzubrechen je nach dem erwarteten Er-
kenntnisgewinn beim Partner, schließlich um seine Fähigkeit, wiederum
nach freiem Ermessen seine Schrift gegen neue Fragen und Argumente,
die in ihr nicht berücksichtigt waren, mit neuen Antworten zu verteidigen
und sie so mündlich zu überbieten. Es geht im Phaidros, mit einem Wort,
um den Vorrang des mündlichen Philosophierens.
Das Herantragen unerfüllbarer Erwartungen an den Dialog und die
undiskutierte Annahme, diese Erwartungen seien unzweifelhaft erfüllt,
führten zusammen zu einer naiven Mystifikation, zu einem Traum
vom Dialogbuch als dem Überbuch, dem sicher lenkenden aktiven
philosophischen Partner über Jahrhunderte hinweg. Naiv ist diese
Mystifikation in zweifacher Hinsicht: einmal weil sie Piatons tiefes
Mißtrauen gegen die Sicherheit und Verläßlichkeit philosophischer Mit-
teilung durch die Schrift letztlich doch zu umgehen trachtet, und
zweitens weil sie der naheliegenden historischen Gegenprobe zu ihren
Behauptungen aus dem Weg geht.
Denn kann man wirklich behaupten, Piaton habe mittels der indirek-
ten Mitteilungsform seine Gedanken vor Mißverständnissen, insbeson-
dere vor dogmatischer Auslegung zu bewahren und das eigentlich
Gemeinte, aber nicht direkt Ausgesprochene ,eindeutig' zu vermitteln
vermocht? Für eine extreme, zu letzter Konsequenz vorgetriebene Variante
der Dialogformtheorie kann diese Frage zwar keinen Einwand bedeuten:
wenn etwa der „tiefere Logos" der drei Gleichnisse in der Mitte der
Politeia — nämlich daß sie „logologische", nicht ontologische Gleichnisse
sind - erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entdeckt wurde, so
heißt das strenggenommen nur, daß Piatons Hauptwerk bis in unsere
Tage keinen geeigneten' Leser fand 34 ; die indirekte Mitteilung bewährte
33
Meißner 85 Anm. 3 versucht die Stelle umzudeuten: sie meine den Fall, daß „die Schrift
einen geeigneten Leser findet". Das hieße griechisch περιτυχών ψυχή προοηκούα]
(mit dem λ ό γ ο ς γεγραμμένοο als Subjekt), nicht λαβών ψ υ χ ή ν προοήκουαιν (mit
dem Dialektiker als Subjekt).
34
Der Entdecker des tieferen Logos der Gleichnisse ist H. Meißner (194).
Die moderne Theorie der Dialogform 357
nach dieser Leseart über mehr als 2300 Jahre hin ihre ,Fähigkeit', den
Unphilosophischen gegenüber zu ,schweigen'. Dies führt indes wieder
nur auf den Solipsismus der zu Ende gedachten Dialogformtheorie, von
dem später die Rede sein soll.
Für die intellektuell anspruchsvolleren gemäßigten Varianten hinge-
gen, die davon ausgehen, daß Piaton seine Ziele „fast mit Jedem" — so
dachte noch Schleiermacher — oder doch mit Vielen erreichen wollte
und erreichte, wird der historische Befund nicht gleichgültig sein dürfen.
Ehrlicherweise wird man zugeben müssen, daß eine Einhelligkeit hinsicht-
lich des nicht direkt Ausgesprochenen, die der postulierten ,Eindeutigkeit'
entsprechen müßte, in der Piatoninterpretation allenfalls im Neuplato-
nismus innerhalb gewisser Grenzen bestanden hat und daß die direkte
Frage nach der Meinung des Autors — die doch durch die indirekte
Form eliminiert werden sollte 35 — zu allen Zeiten die Arbeit an Piaton
bestimmt hat und außer in der Zeit der skeptischen Akademie stets zu
einer dogmatischen Festlegung des philosophischen Credos Piatons
geführt hat. Gemessen an der Leistung für die Erkenntnisvermittlung,
die die moderne Theorie vom Dialog erwartet, hätte Piatons Versuch
mit der indirekten Mitteilungsform sowohl im Positiven wie im Negativen
zu einem vollständigen Fehlschlag geführt.
Aber welchen Grund haben wir für die Annahme, Piaton habe seine
Dialoge in dem naiven Glauben geschrieben, sie würden Mißdeutung
und Dogmatisierung seines Denkens verhindern? Es gehörte doch nicht
viel Prophetie dazu vorauszusehen, daß weniger originelle Philosophieleh-
rer wie etwa ein Albinos ein Bedürfnis haben würden, „die wichtigsten
Lehrmeinungen Piatons" schwarz auf weiß zusammenzustellen 36 , und
daß sie sich dabei durch die Dialogform in keiner Weise gestört
fühlen würden — zumal Piaton den Beginn der Absolutsetzung seiner
Philosophie, der mündlichen wie der geschriebenen, bei seinem treuen
Schüler Xenokrates wohl noch selbst beobachten konnte. Fehldeutungen
seiner Ideenlehre, wie er sie in Phaidon, Politeia, Symposion entwickelt
hatte, waren ihm nach dem Ausweis des Parmenides gleichfalls präsent;
und Mißverständnisse zeigten sich nicht nur bei beliebigen Lesern,
sondern beim bedeutendsten Denker neben ihm, bei Aristoteles.
Die Vorstellung vollends, Piaton habe aus lauter indirekt Angedeute-
35 Vgl. oben 348 ff. über die .Anonymität' Piatons, insbesondere das Zitat aus Ebert
(Anm. 24).
36 Der sogenannte Didaskalikos des Albinos (oder Alkinoos, 2. Jh. n. Chr.) beginnt: των
κυριωτάτων Πλάτωνος δογμάτων τοιαύτη öv TIC διδαοκαλία γένοιτο.
358 Anhang I
tem, das der Leser selbst dechiffrieren muß, ein eindeutig37 vernehmbares
Ganzes schaffen wollen, zeugt von einem Optimismus bezüglich der
Möglichkeiten philosophischer Verständigung, der mit dem Phaidros 38
schlichtweg nicht zu vereinbaren ist: beruht dort die Klarheit und
Verläßlichkeit wirklicher Belehrung auf der Möglichkeit der spontanen
Gegenfrage des vom ,Wissenden' ausgesuchten geeigneten' Partners und
ihrer auf ihn persönlich zugeschnittenen (277 b 8 — c 3) Beantwortung, so
soll nach dieser Auffassung das gleiche Ziel ebenso gut erreicht werden
können durch die ergänzende Gedankenarbeit des Lesers — eines
partners' also, dessen vielfältig bedingte Einstellung und Denkgewohn-
heiten dem Autor notwendig unbekannt sind und dessen Antworten und
Ergänzungen er prinzipiell nicht vollständig vorwegnehmen, geschweige
denn individuell vorbereiten kann 39 . Bei wachsender Komplexität der
verunsichernden und verwirrenden Faktoren auf unverändert sichere und
klare Belehrung zu hoffen, heißt am Geist der platonischen Schriftkritik
vorbeidenken.
Im Verlauf unserer Untersuchung hat sich denn auch gezeigt, daß
das, was im einzelnen Dialog neben dem klar Bezeichneten nur in
Andeutungen zugegen ist, nicht als das zwischen und hinter den Zeilen
zu Lesende aufzufassen ist, sondern als etwas, das expliziter Formulierung
durchaus fähig ist und diese auch erhält — entweder in anderen Dialogen
oder in der mündlichen Philosophie.
5.
Es ist unabdingbar für die Dialogformtheorie, die erwähnten Vorzüge
und Fähigkeiten des Dialogs als Eigenschaften zu verstehen, die allein
der indirekten dialogischen Mitteilung zukommen. Denn wenn die gleiche
37
Daß das im Dialog Fehlende als die „einzig mögliche Lösung" zu verstehen sei (so als
sei das Verstehen eines Dialogs nichts als die Auflösung eines Rechenexempels), vertrat
schon Schleiermacher, Einleitung 16. Dieser für die Theorie konstitutive Gedanke
gewinnt besonderes Gewicht bei Roloff (ζ. B. 24, 26, 27, 30f.) und Meißner (passim).
38
Noch viel weniger mit dem 7. Brief. Mit Rücksicht auf die — doch wohl unbegründeten
— Zweifel an der Echtheit verzichte ich in diesem Abschnitt darauf, den unter dem
hier verfolgten Aspekt noch eindeutigeren philosophischen Exkurs' (342 a - 344 d)
heranzuziehen. Vgl. Anhang III.
" Zur Seelenführung durch den Dialektiker gehört das Eingehen auf den Partner. Bei
Roloff etwa reduziert sich das richtige Lesen des .geeigneten' Lesers auf die Auflösung
der unzähligen „logischen Unzulässigkeiten" des Textes (27 u. ö.), die ,Eignung' der
ψυχή προοήκουοα mithin auf Scharfsinn und Logik. Wie unplatonisch das ist, zeigt
(neben dem 7. Brief ζ. B. auch) Politela 519 a. Was bei Piaton nur die persönliche
philosophische διδαχή vermag, kann bei Roloff auch die formale logische Schulung
leisten: er übersieht, daß das Aufdecken von logischen Schnitzern und Fallen lehrbar
Die moderne Theorie der Dialogform 359
und .direkt' übertragbar ist, es ist, wenn irgend etwas, βητόν (be άλλα μαθήματα.
Damit entfiele der eigentliche Grund für Piatons Flucht in die indirekte Mitteilung.
40 Von Hölderlins Gedichten sprach Norbert von Hellingrath als von „Werken, die immer
nur wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, den Meisten ganz schweigen" (zitiert bei
B. von Heiseler, Einleitung zu: Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke, 1954, 5).
Adalbert Stifter sagte von seinen Werken: „das Beste dichten edle, fühlende lesende
Seelen erst hinzu" (zitiert von M . Pape, N Z Z vom 8./9. August 1981, Nr. 185, S. 59);
Jaspers beschrieb seine „Psychologie der Weltanschauungen" (1919, 1954 4 ) im Vorwort
als „Appell an die freie Geistigkeit und Aktivität des Lebens"; die Vorzüge, die naive
Piatonbegeisterung allein dem Dialog zuschreibt, eignen selbstverständlich auch dem
Volksmärchen, vgl. B. Bettelheim, Kinder brauchen Märchen (engl. 1975), dt. 1980, dtv-
Ausgabe S. 53, 55, 194.
360 Anhang I
41 Es ist eine in der Sophoklesliteratur weit verbreitete Ansicht, daß Goethes Kritik an
Ant. 904 ff. (in den Gesprächen mit Eckermann, 28. 3 . 1 8 2 7 ) das Wesentliche verfehlt; ich
bin mir dessen weniger sicher (s. Bemerkungen zur Diskussion um Soph. Ant. 904 — 920,
R h M 124, 1981, 1 0 8 - 1 4 2 ) , doch kommt es nicht darauf an, wer hier recht hat: das
Beispiel soll lediglich zeigen, daß bei einem metaphorischen Verständnis von βοηθειν
τφ λόγφ auch der Sophoklestext die Fähigkeit gewinnt, sich zu ,helfen'. Daß aber auch
die Bühnendichter somit ohne weiteres zu φιλόοοφοι werden, war gewiß nicht in
Piatons Sinn. Daß die Dichtung für Piaton nicht den Rang der Philosophie haben kann,
erkennt auch Laborderie 104 an, obschon seine ganze Rettung des Dialogwerks vor der
Schriftkritik Piatons auf einer Korrektur von Piatons Dichterkritik beruht.
42 Im Panathenaikos 240 ff. skizziert Isokrates eine Theorie der λόγοι άμφίβολοι, die auf
verschiedene Leser, die Oberflächlichen und die Gründlichen, je verschieden wirken.
So schreiben zu können sei καλόν και φιλόοοφον. Vgl. hierzu Chr. Eucken, Leitende
Gedanken des isokratischen Panathenaikos, M H 39, 1982, 43 — 70; Chr. Schäublin,
Selbstinterpretation im Panathenaikos des Isokrates? ib. 165 —178. — Zu erwähnen
wäre ferner, daß man in der späteren Antike die Fähigkeit, sich nur dem kompetenten
Leser zu entdecken, gerade derjenigen Darstellungsart zuschrieb, die die moderne
Theorie in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum Dialog bringen will: der „Lehr-
schrift" vom Typ der aristotelischen Pragmatien (so im pseudoaristotelischen Brief an
Alexander bei Gellius 20.5.12 = Simpl., Phys. 8 . 2 6 - 2 9 D.).
Die moderne Theorie der Dialogform 361
Maße besitzen. Um von hier aus auf den Dialog als die „einzig legitime"
Form der philosophischen Mitteilung schließen zu können, wäre jedoch
die zusätzliche Behauptung erforderlich, daß philosophische Werke von
anderer innerer Struktur diese Fähigkeit entweder gar nicht oder in
unendlich geringerem Maße besitzen. Daß diese zweite Behauptung
ebenso unzweifelhaft unsinnig ist, wie die erste sinnvoll war, wird unter
Kennern keiner langen Diskussion bedürfen: zu Piatons Zeit boten
Parmenides' Lehrgedicht und Heraklits Sprüche den lebendigen Beweis
des Gegenteils. Ähnliches sehen wir in der Neuzeit: Humes skeptischer
Ansatz in der Enquiry Concerning Human Understanding, Kants koperni-
kanische Wende in der Kritik der reinen Vernunft, Wittgensteins zweima-
liger Versuch, im Tractatus und in den Philosophischen Untersuchungen,
die Philosophie selbst zu überwinden, haben seit ihrem Erscheinen die
philosophisch Befähigten mit gleicher Intensität in ihren Bann gezogen
wie Piatons ,Umkehrung der gesamten Seele' im Staat, und werden es
vermutlich auch in Zukunft tun. Es ist letztlich allein die Bedeutung des
Gesagten, was das eigenständige, kritische Denken dauernd in Gang hält.
Und wieder besteht Anlaß, vom historischen Befund zurückzufragen
nach den Überzeugungen Piatons: mit welchem Recht schreiben wir ihm
einen naiv-optimistischen Glauben an eine singulare geistige Zeugungs-
kraft einer bestimmten Mitteilungsform zu — ihm, für den allein die
Frage Gewicht hatte, πότερον άληθέο λέγεται ή ου, und der die
Möglichkeiten jedweder schriftlichen Verständigung negativer beurteilte
als je ein Denker nach ihm?
6.
43 So ζ. B. bei Gundert (1) 10 in einem Referat von Phdr. 275 d - 2 7 6 a; Watson 7 bringt
es fertig, in einem wörtlichen Zitat die entscheidenden Worte zu überspringen.
44 όταν δέ άπαξ γραφή, κυλινδεΐται πανταχού nàc λόγος 275 d 9 - e 1; der pejorative
Ton dieser Worte ist nicht zu verkennen.
45 S. oben 24 - 48. - Wo der Gesamtablauf des Dialogs nicht vernachlässigt wird, herrscht
die Tendenz vor, ihn mittels der vorgefaßten Meinungen über die Aussage des Schlußteils
zu deuten, ζ. B. bei Klein 13 - 1 6 , Laborderie 84, 96 - 98.
46 Auch Meißner, der sonst für seine „tieferen Logoi" (s. oben 346 Anm. 20) gerne
,Parallelen' anführt, verzichtet darauf im Fall seiner Umdeutung von βοηθεΐν.
47 Zu den Aussparungsstellen der Politela s. 3 0 4 - 3 2 5 . - Zur gängigen unmethodischen
Behandlung von Piatons Andeutungen über Fehlendes vgl. meine Sammelrezension
GGA, 230, 1978, 12, 19, 24.
Die moderne Theorie der Dialogform 363
48
Schaerer (La question platonicienne, études sur les rapports de la pensée et de
l'expression dans les Dialogues, Neuchâtel 1938 [ = Paris Ί969]) 16, Roloff 5ff.,
Meißner passim. Roloff weiß zwar, daß die ομικρά ^νδειξιο nicht in den Phaidros
gehört: sie sei dort „unterschlagen" (30). Da aber Unterschlagung für ihn ohnehin ein
Kennzeichen platonischer Darstellungsweise ist, kann er die ενδειξις ergänzen, wo
immer es ihm gut scheint. Vgl. oben 343 mit Anm. 13.
*' Rosen XIX, Meißner 211, Vgl. oben 347 Anm. 21.
50
Epist. 2, 314 c und Epist. 7, 341 c in eins zusammengezogen bei Merlan (1. c. oben
Anm. 24) 34, vgl. 43; ähnlich Rosen XIII; Laborderie 86 äußert zwar Zweifel an der
Echtheit des 2. Briefes, scheint im übrigen aber keinen Unterschied zur Aussage des
7. Briefes anzunehmen. - Friedländer I 254 - 259 versuchte eine .ironische' Interpreta-
tion des 2. Briefes. (Wenn es mehr Beispiele von ,Ironie' auf so niedrigem Niveau bei
Piaton gäbe, würde ihn heute wohl kaum noch jemand lesbar finden.)
51
„As the Epinomis says (992 b), the most truly wise man is playful and serious at the
same time" Guthrie IV 64; dort auch der Verweis auf Epist 6, 323 d ciiouôrj μή άμούοφ.
Guthries Kapitel über ,Spiel' und ,Ernst' (wie auch das bei Roloff 8 ff.) krankt daran,
daß es nirgends eine sachliche Beziehung der zahlreich zitierten παιδιά-Stellen zur
Problematik des Phaidros nachweisen kann. Die Epinomis-Stelle ist überdies unrichtig
wiedergegeben: dort sagt der Autor — den wir nicht mit Piaton gleichsetzen sollten,
s. Taran (I.e. oben 78 Anm. 18) 24 - 47 - , er versichere παίζων και οπουδάζων &μα,
daß der Weise im Tod glücklich sein werde. - Die Kontamination von παιδιά-Stellen
ist keine Neuerung von Guthrie; vgl. schon Klein 18, 27, der seinerseits von Friedländer
1125 ff. beeinflußt scheint; für Schaerer 20 war die Dialektik selbst ein Spiel (die ,Belege'
Politela 536 c und 378 d sind trügerisch); das Überspielen der Grenze zwischen Ernst
und Spiel ist auch der Leitgedanke bei Gundert (1), bes. 16 (wörtlich übernommen von
Guthrie IV 65) und Roloff („Spiel und Ernst ... verschmelzen" 5). Ebert 27 versucht,
den παιδιά-Begriff historisch einzuengen auf rhetorische παίγνια und so von den
Dialogen fernzuhalten. (Eine ähnliche Einengung auf dem Umweg über den Mimesis-
Begriff, mit dem Piaton angeblich „die Dichter seiner Zeit " treffen wollte, findet sich
schon bei Friedländer I 126.)
364 Anhang I
7.
Polemik gegen das esoterische Piatonbild findet sich bei fast allen
Interpreten, die die Dialogformtheorie ganz oder teilweise übernommen
haben 52 . Gewöhnlich erscheint sie als ein bloßes Corollarium, als
ungesuchtes Nebenergebnis: man ist sich der Tatsache nicht mehr
bewußt, daß die Frontstellung gegen eine falsch gedeutete Esoterik
bei der Entstehung der Theorie Pate gestanden und nicht nur ihre
Zwecksetzung, sondern auch ihren Inhalt wesentlich mitbestimmt hat.
Der Verdacht auf polemische Verzerrung der Optik schon am
Ursprung scheint freilich unbegründet, basiert doch Schleiermachers
Entwurf, wie er sagt, auf einer „kritischen Sichtung" 53 der Vorstellungen
von ,Esoterik' und ,Exoterik', deren Ergebnis lautet: „das unmittelbare
Lehren (ist) allein sein (Piatons) esoterisches Handeln gewesen, das
Schreiben aber nur sein exoterisches." N u r beim unmittelbaren Lehren,
also im ,esoterischen Handeln' der mündlichen Philosophie, konnte
Piaton „seine Gedanken rein und vollständig aussprechen", dann nämlich,
„wenn er erst hinlänglich gewiß war, die Hörer seien ihm nach Wunsch
gefolgt." 54
Hier scheint platonische Esoterik anerkannt und überdies korrekt
gedeutet zu sein: sie hat mit,Geheimnissucht' und Obskurantismus nichts
zu tun, sondern ist motiviert durch die Sorge um ein angemessenes
Verständnis des mitzuteilenden Inhalts. Und diesen Inhalt trug Piaton
„rein und vollständig" nur mündlich vor.
" Ζ. B. Friedländer I 68, Merlan 45 f., Klein 21, Rosen X V f., X X V I f. (Rosen versucht,
eine positive Haltung zum Fragenkomplex der Esoterik einzunehmen; indem er aber
eine ,esoteric teaching' in den Dialogen findet (XVII) und ,esotericism' durch Ironie
wegerklären will, unterscheidet er sich schließlich doch kaum von anderen Antiesoteri-
kern), Ebert 2 (vgl. 213), Meißner 11, Laborderie 63 f.
53
„Denn jene Vorstellungen von einem esoterischen und exoterischen bedürfen einer
kritischen Sichtung" (Einleitung 11).
54
Einleitung 17.
Die moderne Theorie der Dialogform 365
" S. oben 347 mit Anm. 22. " Vgl. oben 358 Anm. 37.
57
Vgl. die Ausführungen zur Grundannahme der Dialogformtheorie oben 3 3 9 - 3 4 2 .
58
Einleitung 11. Ein Musterbeispiel rein rhetorischer Argumentation ist der Versuch zu
366 Anhang I
Nicht weniger befremdlich ist das Bild, das sich Schleiermacher von
Inhalt und Bezeugung der mündlichen Philosophie Piatons machte. Er
bestreitet, daß „echt geschichtliche Spuren" hiervon zu finden wären
(Einleitung 12). Er leugnet, daß Aristoteles eine andere Quelle der
platonischen Philosophie kannte als die Dialoge (Einleitung 13) -
was formal richtig ist, wenn unter „Quelle" mit Schleiermacher eine
esoterische Schrift Piatons verstanden werden soll; daß sich Aristoteles
in der Physik auf αγραφα δόγματα Piatons beruft und sie als Quelle
gegen den Dialog Timaios setzt, hätte in diesem Zusammenhang gleich-
wohl nicht fehlen dürfen. Statt dessen räumt Schleiermacher lediglich
sehr vage ein, daß Aristoteles „hie und da andere verlorene oder vielleicht
auch mündliche Belehrungen anführt", die jedoch „keineswegs etwas in
unseren Schriften unerhörtes oder gänzlich von ihnen abweichendes"
enthielten. Wer so formuliert, kann das Piatonbild der aristotelischen
Metaphysik nicht gekannt haben, ebensowenig Alexanders Bezeugung
der aristotelischen Nachschrift der Vorlesung ,Über das Gute' oder
Theophrasts Kritik an der Metaphysik Piatons 59 .
Zur Unkenntnis von Quellenlage und Motivation der platonischen
Esoterik kommt die Fixierung auf einen gänzlich abwegigen Begriff von
Esoterik: wie mehrere Stellen seiner,Einleitung' zeigen, bedeutete Esoterik
für Schleiermacher in erster Linie esoterische Schriften, die einer geheimen
Auslegung zu unterwerfen wären' 0 . Diese Vorstellung, für die wohl
sektiererische Träume von einer ,wahren' Auslegung von Schriften wie
der Geheimen Offenbarung das Modell abgaben, mag damals verbreitet
gewesen sein 61 , und es ist gewiß verdienstvoll, daß sie nunmehr von
zeigen, daß der hellenistische Typ von Esoterik auf Piaton nicht anwendbar sei: da die
Gegner annähmen, daß die Dialoge schwer sind, müßten sie auch „gestehen, daß Piaton
ihnen das schwerste und geheimnisvollste seiner Weisheit ebenso gut hätte anvertrauen
gekonnt, als das übrige" (Einleitung 11). Dies suggestive „ebenso gut" wird widerlegt
durch Stellen wie Tim. 28 c (den Demiurgos zu .finden' ist schwer, das Gefundene allen
mitzuteilen unmöglich) oder Politela 533 a (die dialektische Erörterung des Begriffs des
Guten wäre für Glaukon, und das heißt: für den veröffentlichten Dialog Politela, zu
schwer).
59 Gewiß wäre es ungerecht, von Schleiermacher die Kenntnis der Ergebnisse der Περί
τάγαθοΰ-Forschung des 20. J h . zu verlangen. Doch scheint ihm auf diesem Gebiet auch
das Grundlegendste nicht hinreichend vertraut gewesen zu sein.
60 Einleitung 11: „welche Schriften des Piaton exoterisch wären und welche esoterisch",
12: „die geheimen Lehren in den esoterischen Schriften". D a ß Aristoteles keine andere
Quelle der Philosophie Piatons kannte als wir, folgt für Schleiermacher daraus, daß er
keine esoterischen Schriften zitiert (13). Solche Schriften würden „ein geheimes
Verständnis", „eine geheime Auslegung" verlangen (ib.).
" Laborderie 63 zitiert hierfür Tennemann, System der platonischen Philosophie, Leipzig
1 7 9 2 - 9 5 , 128.
Die moderne Theorie der Dialogform 367
" Mit Ausnahme der von Leo Strauss beeinflußten Interpreten. „A belief in the desirability
of frank and public discussion is a relatively recent phenomenon in Western thought,
and by no means one that has been universally accepted even among post-Enlightenment
writers" (Rosen X X V I f.; vgl. jedoch oben Anm. 52). Das Fortbestehen der Tendenz
zur Geheimhaltung auch im Jahrhundert der Aufklärung und darüber hinaus dokumen-
tiert der von P. Chr. Ludz herausgegebene Sammelband „Geheime Gesellschaften",
1979 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, V/1).
" Diese Bereitschaft beruht zu einem wesentlichen Teil auf der Wirkung der Arbeiten
von H. Chemiss (1. c. oben 78 Anm. 18; The Riddle of the Early Academy, Berkeley
1945), an die nach einer treffenden Bemerkung von J . N. Findlay viele nur zu gerne
glauben, auch wenn sie sie nicht gelesen haben. Im Bereich der vorsokratischen
Philosophie ist längst erkannt worden, daß Chemiss' Kritik am Wert der aristotelischen
Zeugnisse (Aristotle's Criticism of Presocratic Philosophy, Baltimore 1935) weit über
das Ziel hinausschießt (vgl. z. B. W. K. C. Guthrie, Aristotle as an Historian of
Philosophy, J H S 77, 1957, 35 - 41). - Die vorliegende Arbeit kann auf eine Behandlung
der δγραφα δόγματα verzichten, da es hier zunächst darum geht, die hermeneutischen
Fehlgriffe zu korrigieren, die zur Leugnung der mündlichen Prinzipienlehre führten.
Hingegen dürfte klar sein, daß Arbeiten, die diese Leugnung übernehmen oder
stillschweigend voraussetzen, sich der Auseinandersetzung mit der indirekten Platon-
überlieferung stellen müßten.
44 S. oben S. 18 Anm. 19.
" Hingegen ist es die These der konsequent zu Ende gedachten Dialogformtheorie (Roloff,
368 Anhang I
8.
" W. Boder (1. c. oben 87 Anm. 18) bringt eine Reihe guter Beobachtungen und Argumente
zu der im übrigen nicht neuen Erkenntnis, daß Ironie für Piaton keineswegs ein alles
durchwaltendes Denk- und Erkenntnisprinzip ist, sondern lediglich ein Darstellungsmit-
tel von begrenzter Nützlichkeit, das er dort fallen läßt, wo er sich dem dialektischen
.Ernst' nähert.
" „Ironie II" hat nach Roloff eine „selektive Funktion" (31), sie hat „die Aufgabe, das
Wesentliche ... vor den Unberufenen zu verbergen" (5), sie „dient der Abwehr der
Unberufenen" (18), indem sie das Gemeinte vor ihnen „verbirgt, sie von der Mitteilung
des Eigentlichen ausschließt und obendrein betrügt" (17). - Vielleicht noch elitärer
und esoterischer klingen die zahlreichen Bekenntnisse Meißners zur „selektiven Erkennt-
nisvermittlung" (86,134), an die er in Übereinstimmung mit Roloff (aber in Widerspruch
zu Phdr. 275 d e) glaubt. Mit „unwahren vordergründigen Aussagen" (112) „sorgt
Piaton dafür" (136), daß „das Gros der Leser" — von dessen grenzenloser Dummheit
Meißner fest überzeugt ist - seinen „tieferen Logos" nicht versteht; so „verbirgt" und
„verhüllt" er ihn vor dem, der ihn nicht verstehen „darf" (202, 209; vgl. 68, 97 f., 114,
118, 121, 132 u. ö.).
" Einleitung 16. - Man beachte den Unterschied zur gewollt esoterischen Attitüde
bei Roloff und Meißner (s. Anm. 68). Vgl. auch Zeller I I I , 1922 5 , 487: „diese
Darstellungsform wird keinem ein unüberwindbares Hindernis des Verständnisses in
den Weg legen, der in den Zweck und Plan seiner Gespräche einzudringen ... gelernt
hat."
370 Anhang I
9.
Das Wort von der Faszination des Zauberwortes Ironie soll nicht
als bloß psychologisierende Bemerkung mißverstanden werden. Die
vermeintliche Überlegenheit alles Ironischen über alles Nichtironische
führt vielmehr auf die erkenntnistheoretische Position der Dialogform-
theorie. Es ist die Position des Solipsismus. Wer als ein ,wahrer Hörer
des Inneren' zu gelten hat, darüber kann niemand entscheiden als der
wahre Hörer des Inneren selbst. Wer sich gegen ihn stellt, wird sich zwar
auf den Text berufen wollen und müssen. Aber die Wahrheit des Textes
liegt ja — das ist die Voraussetzung der Theorie — jenseits des direkt
Mitgeteilten, auf das man sich allein direkt berufen kann. Wer mit dem
wahren Hörer des Inneren uneins ist und dabei glaubt, den Text höher
stellen zu müssen als das ,wahre Hören', beweist eben dadurch, daß er
kein wahrer Hörer des Inneren ist. Der Ironiker hat immer recht: sein
tieferes ironisches Verständnis des indirekt Mitgeteilten ist die Instanz,
vor der sich nicht nur die konkurrierende Auslegung, sondern letztlich
der Text selbst qua direkt mitgeteilter zu verantworten hat.
Die hohle Polemik gegen eine inhaltsgebundene Esoterik verdeckt für
gewöhnlich die Tatsache, daß die innere Esoterik der Dialogform
Die moderne Theorie der Dialogform 371
72 Oben 343 Anm. 13, 363 Anm. 48 (zu Roloff), 351 f. und G G A 230, 1978, 13 - 21,
bes. 16 — 19 (zu Ebert). — O b Gadamers scheinbar anspruchsvollerer Vorschlag für ein
„dialektisches Lesen" der Dialoge mehr bringt als bloße Willkür, ist angesichts seiner
Beispiele fraglich: die Unmöglichkeit der Staatsutopie der Politela „wird durch die
umständliche Beweisführung für ihre Möglichkeit gerade unterstrichen" 1. c. (oben 324
Anm. 144) 45. Soll vielleicht die „Umständlichkeit" der Beweisführung der versteckte
Hinweis Piatons sein, der uns zu „dialektischem Lesen" auffordert? Umständliche
Beweise gibt es genug bei Piaton: es fiele nicht nur die Staatsutopie, wenn wir jedesmal
das Gegenteil des Gesagten auf diese Weise „unterstrichen" fänden. Wenn Gadamer
anschließend die Frage nach der Möglichkeit des besten Staates auf das Skandalthema
der „Weiber- und Kindergemeinschaft" (46) reduziert, so argumentiert er auf einem
Niveau, das seiner und Piatons kaum würdig ist. Ubersehen ist, neben anderem, der
Siebte Brief — an dessen Echtheit Gadamer stets festgehalten hat —, in dem Piaton
sagt, es habe in Sizilien gegolten, seine Gedanken über den Staat zu verwirklichen
(328 c) - und dies kurz nach der Bezugnahme auf den Philosophenkönigssatz (326 a b)
als einer Kurzformel für die Staatsutopie der Politela.
73 Ich sehe in diesen Bemerkungen zur Methode davon ab, daß die von Meißner geltend
gemachten .Widersprüche' ohne Ausnahme auf Mißverständnissen beruhen. Vgl. meine
Rezension Gnomon 52, 1980, 301 - 304.
74 „Der tiefere Logos Piatons" lautet der Titel — es handelt sich stets nur um den
Meißnerschen Logos.
75 Erst nachträglich und ohne jede Beziehung zu den vorgelegten Einzelinterpretationen
behauptet Meißner (211 f., vgl. 196), die richtigen („hintergründigen") Aussagen bildeten
einen Typus, der von den „viel anschaulicheren irreführenden Formulierungen", die
absichtlich „mehrdeutig" gehalten seien, deutlich getrennt ist durch „sehr geringe
Anschaulichkeit" und eine durch das dihairetische Verfahren zu ermittelnde Eindeutig-
keit des intendierten Sinnes (Meißner sagt wohlgemerkt nicht: Eindeutigkeit des
gewählten Ausdrucks). Hiervon ist das Kriterium der größeren oder geringeren
Einprägsamkeit und Anschaulichkeit - abgesehen davon, daß es an Meißners Beispielen
weder durchgeführt noch durchführbar ist — natürlich wertlos, weil es völlig subjektiv
bleibt, während das Kriterium der Eindeutigkeit nicht nur von der Illusion lebt, im
T e x t nicht genannte dihairetische Operationen könnten vom Leser mit Sicherheit so
vollzogen werden, wie Piaton sie vollzogen hätte, sondern überdies auf einen fehlerhaften
Zirkel hinausläuft, da nach Meißners eigener Theorie der „vordergründige" Logos nur
für den „hintergründigen" Leser mehrdeutig ist, während das „Gros der Leser" ihn für
Die moderne Theorie der Dialogform 373
eindeutig nimmt und nehmen soll: also nur wer schon im Besitz von Meißners „tieferem"
Logos ist, wird sein „Signal", das die Objektivität der Interpretation garantieren soll,
überhaupt als Signal anerkennen wollen.
76
Meißner 79, 87 (vgl. 112).
374 Anhang I
10.