Sie sind auf Seite 1von 45

Anhang I

Die moderne Theorie der Dialogform

Seit Friedrich Schleiermacher seinen neuartigen Versuch, Piatons


Gedanken über philosophische Mitteilung konsequent auf seine eigenen
Werke anzuwenden, in der Einleitung zu seiner Piatonübersetzung im
Jahre 1804 vorlegte 1 , ist seine Theorie des Dialogs um verschiedene
Präzisierungen bereichert worden, insbesondere um solche, die sich aus
der Interpretation des 7. Briefes zu ergeben schienen, den Schleiermacher
nicht herangezogen hatte. Eine prinzipielle Modifizierung ihrer Denk-
mittel oder ihrer Zielsetzung erfuhr sie jedoch nicht. Es ist daher gerecht-
fertigt, von einer im großen und ganzen einheitlichen »modernen' 2 Dialog-
theorie zu reden und diese auch in ihren jüngsten, sich als Neuansatz
gebenden Formen noch als die alte Schleiermachersche Theorie anzuspre-
chen 3 .

1 Piatons Werke von F. Schleiermacher, Ersten Theiles erster Band, Berlin 1804 (3. Auflage
Berlin 1855 - nach dieser Auflage wird im folgenden zitiert). Einleitung: 5 - 3 6 .
(Nachdruck der .Einleitung' bei K. Gaiser [Hrsg.], Das Platonbild. Zehn Beiträge zum
Piatonverständnis, Hildesheim 1969, 1 - 3 2 . ) Eine profunde Kritik von Schleiermachers
hermeneutischem Ansatz gab H. J . Krämer, Arete bei Piaton und Aristoteles, Heidelberg
1959, 17 ff. Die nachfolgenden Ausführungen verdanken Krämer im Grundsätzlichen
sehr viel, im Einzelnen wurden sie bewußt ohne durchgehende Einbeziehung und
Vergleichung seiner Argumente niedergeschrieben. Krämers zweite, philosophiehisto-
risch umfassende und systematisch grundlegende Auseinandersetzung mit Schleierma-
chers Theorie (Platone e i fondamenti della metafisica, Milano 1982, 31 - 1 4 9 ) lag zur
Zeit der Niederschrift dieser Darstellung (Sommer 1979) noch nicht vor.
2 .Modern' heißt hier lediglich soviel wie ,nicht antik'. Statt .moderne Dialogtheorie'
wird auch die Bezeichnung .Dialogformtheorie' verwendet werden, da es im wesentlichen
um die hermeneutischen Möglichkeiten der Dialogform (als indirekter Mitteilungsform)
geht.
3 Der Versuch von E. N. Tigerstedt, T h e Decline and Fall of the Neoplatonic Interpreta-
tion of Plato, Helsinki 1974, die Bedeutung von Schleiermacher zu bagatellisieren
(s. bes. 5 f.), kann nicht als gelungen betrachtet werden. Tigerstedt brachte trotz
bestaunenswerter Materialfülle kein einziges Zitat bei, das die Verbreitung der
Schleiermacherschen Einschätzung des platonischen Dialogs vor 1804 belegen könnte;
ebenso fehlt ein Nachweis, daß platonische Esoterik vor Schleiermacher mehrheitlich
geleugnet worden wäre (das beigebrachte Material beweist eher das Gegenteil; vgl.
meine Rezension G G A 230, 1978, 33 - 37, bes. 36). - Mit den neueren Ausformungen
332 Anhang I

Die folgende Skizze versucht, die wesentlichen Gedanken dieser


Dialogtheorie in ihrem inneren Zusammenhang darzustellen, ohne durch-
gehende Anlehnung an einen bestimmten Vertreter der Theorie und
seine individuellen Besonderheiten. Unterschiede zwischen den einzelnen
Interpreten sollen weder geleugnet noch für gleichgültig erklärt werden;
doch handelt es sich, wie sich leicht zeigen ließe, nur um Unterschiede
hinsichtlich der Deutlichkeit und Konsequenz, mit der die Theorie
ausgesprochen und durchgeführt wird. Die Minimalform der Theorie ist
schon dann gegeben, wenn dem Dialog die Aufgabe zugewiesen wird,
an die Stelle des lebendigen Gesprächs zu treten, oder wenn man —
schon etwas spezifischer — versichert, Piaton habe die systematische
Darstellung von Philosophie verurteilt und aus diesem Grunde den Dialog
gewählt, der kein ούγγραμμα im Sinne Piatons sei. Fast jeder, der in den
letzten 50 Jahren über Piaton schrieb, hat sich zu diesen Auffassungen
entweder ausdrücklich bekannt oder sie stillschweigend vorausgesetzt.
Nicht alle gehen so weit, auch zu behaupten, die Anwendung des
platonischen Begriffs des Spiels (der παιδιά) auf die Dialoge sei nicht im
Sinne Piatons, oder zu versichern, der geschriebene Dialog habe die
Fähigkeit, sich selbst zu Hilfe zu kommen. Und doch dürfte klar sein,
daß die Annahme jener Minimalform auch diese Auffassungen nach
sich ziehen müßte. Es ist sachlich gerechtfertigt, die Theorie in ihrer
konsequent durchgeführten Form vorzustellen. Warum indes Konsequenz
in der Durchführung in diesem Fall nicht unsere Bewunderung verdient,
wird die getrennt zu gebende Kritik der Grundüberzeugungen und der
Denkmittel dieser Theorie verständlich machen.
Die drei grundlegenden Gegensätze, die den Schlußteil des Phaidros
bestimmen: der Gegensatz zwischen dem Scheinwissen der δοξόοοφοι
und dem lebendigen Wissen der φιλόοοφοί, der Gegensatz zwischen
Spiel (παιδιά) und Ernst (οπουδή) und schließlich der zwischen Schreiben
und Gesprächführen bestimmen auch die moderne Dialogtheorie, in der
Weise freilich, daß der Dialog auf die Seite des Gesprächführens und der
Vermittlung lebendigen Wissens, von einigen ganz konsequent auch auf
die Seite des ,Ernstes' gestellt wird. Von den zwei Bestimmungen des
platonischen Dialogs, erstens Darstellung eines Gesprächs zu sein und
zweitens geschriebene Darstellung zu sein, wird eindeutig der ersten der
Vorrang über die zweite zuerkannt; alles Einschränkend-Negative, das

des Schleiermacherschen Ansatzes meine ich u. a. Ebert, Roloff, Meißner im deutschen


Sprachbereich, im amerikanischen die von L. Strauß beeinflußten Interpreten A. Bloom,
J . Klein, S. Rosen.
Die moderne Theorie der Dialogform 333

für Piaton unbestreitbar aus der zweiten Bestimmung folgen müßte, wird
- so ist die Meinung - im Falle seiner eigenen Dialoge durch die erste
Bestimmung außer Kraft gesetzt.
Im einzelnen ließe sich die Theorie unter folgenden Punkten zusam-
menfassen 4 .

1.

Piaton kommt es darauf an, in seinem Leser eine lebendige Denkbewe-


gung auszulösen, seine Eigenständigkeit im Denken zu fördern; für diese
Zielsetzung scheidet die direkte Mitteilung von Wissensinhalten aus:
Schriften, die dem Leser fertige Erkenntnis in systematischer Form
aufzwängen wollen, setzen seinen Geist nicht frei; solche Schriften nenne
Piaton ,Abhandlungen' oder ,Lehrschriften' (so will man das griechische
Wort ούγγραμμα wiedergeben); Dialoge aber sind keine systematischen
Abhandlungen, sie haben daher auch keinen Teil an deren Fehler, den
Geist zu beschlagnahmen und zu fesseln und so δοξοοοφία zu erzeugen;
sie halten ihn vielmehr offen und in Bewegung und können somit
lebendiges ,Wissen', wirkliche philosophische Einsicht vermitteln; da
dies Piatons Ziel ist, ist für ihn die Dialogform die einzig mögliche
Darstellungsform, sie ist für ihn notwendig.

2.

Notwendig ist die Dialogform für viele Interpreten auch unter einem
anderen, noch wesentlicheren Aspekt: die Wahrheit, um die es der
philosophischen Mitteilung geht, ist als unendliche nicht von der Art,
daß die verendlichende Sprache sie fassen könnte. Es bleibt allein die
hindeutende Annäherung an das direkt nicht Sagbare. Die indirekte
Darstellungsform folge aus dem Wesen der Sprache.

3.

Spiel ist freilich auch diese einzig mögliche Darstellungsform, nicht


weil sie weniger gewichtige Inhalte böte im Vergleich mit dem gesproche-
4
Nähere Angaben zu Arbeiten, in denen die Theorie als Ganzes oder in bestimmten
Punkten verfochten wird, finden sich im kritischen Teil (unten 339 ff.).
334 Anhang I

nen ,Ernst' des Philosophen, sondern weil sie als literarische Mimesis
unter den Begriff παιδιά fällt. Oder es wird erklärt, im Dialog sei Spiel
und Ernst zugleich verwirklicht, entweder beides ungetrennt, oder ,Spiel'
auf einem vordergründigen Verstehensniveau,,Ernst' auf einem anderen,
hintergründigen. Oder παιδιά soll in keiner Weise auf die Werke Piatons
anwendbar sein. (In der Deutung des ,Spiels' des Philosophen besteht
am wenigsten Einigkeit unter den Vertretern der Dialogformtheorie.)

4.

Dem Dialog, der miteinander philosophierende Menschen zeigt, eignet


auch die Fähigkeit, dies Miteinander als Grundzug des Philosophierens im
Verhältnis zum Leser zu verwirklichen. Die Stimulierung des Denkens
geht zusammen mit dem existentiellen Engagement. (Die Kluft zwischen
der passiven Rezeption von Geschriebenem und dem existentiellen
Angesprochensein in der personalen Begegnung überbrückt die spieleri-
sche' Mimesis; siehe (3)).

5.

Die Mittel, mit denen der Dialog das Denken lebendig und offen
hält, sind die Mittel der indirekten Mitteilung: das Hineinführen in die
Aporie, hinter der in Andeutungen die Lösung steht; das Spiel mit
scheinbaren Widersprüchen; vor allem aber das ironische Verhüllen des
Gemeinten. Alles bei Piaton ist in Ironie getaucht, insbesondere aber das
jeweils Wesentlichste, das der direkten Mittteilung am wenigsten fähig
ist. (Eine neuere Richtung der Dialogformtheorie rechnet nicht nur mit
scheinbaren Widersprüchen, sondern auch mit tatsächlichen, die Piaton
mit voller Absicht hingesetzt habe, ebenso wie sonstige „logische Unzuläs-
sigkeiten", darunter „unzulängliche Beweisführungen mittels er-
schlichener Voraussetzungen, fragwürdiger Axiome, falscher Analogien,
wahrheitswidriger, ja unsinniger Behauptungen, fehlerhafter Ableitungen,
haarscharf am Wesen der Sache vorbei" (Roloff 22)).

6.

In der ironischen Aussage ist das, was dasteht, nicht das Gemeinte.
Was das Gemeinte ist, erkennt der die Ironie verstehende Leser. Nur
Die moderne Theorie der Dialogform 335

diesem enthüllt der Dialog seine wirkliche Aussage; wer der Ironie nicht
fähig ist, versteht sie nicht. Also ,redet' der ironische Dialog zu den einen
und ,schweigt' zu den anderen. Wer die Ironie versteht, ist zugleich der
geeignete Adressat des Dialogs; nur er kommt in ein ,Gespräch' mit
seiner verschlüsselten Aussage: so redet und schweigt der Dialog zu
denen, zu denen er reden und schweigen soll. Er kann sich seinen
,Gesprächspartner' selbst wählen. (Für eine neuere Variante der Dialog-
theorie überwindet der Dialog noch eine weitere Schwäche aller sonstigen
Schrift: indem der Leser erst allmählich zur ,tieferen' Schicht vordringt,
erhält er auf seine Fragen zu verschiedenen Zeiten verschiedene Antwor-
ten: in diesem ,Gespräch' ,sagt' also der Dialog nicht stets dasselbe.)
Als indirekte Mitteilungsform ist der Dialog aber auch nicht wie jede
andere Schrift wehrlos der Kritik ausgesetzt: der Ungeeignete mag das
wenige, was er vom Dialog versteht, scharf kritisieren — das Wesentliche
ist durch die ironische Verhüllung seinem Zugriff entzogen und so vor
seiner Kritik geschützt: so weiß sich der Dialog gegen Angriffe zu ,helfen'.

7.

Der ironische Hintersinn schafft, konsequent durchgehalten, hinter


dem offenkundigen Dialog, den auch der Nichtironiker erfaßt, einen
zweiten Dialog, auf den es allein ankommt. Schillernd und vieldeutig ist
in diesem ,doppelten Dialog' nur die ,vordergründige', durch die Ironie
verunsicherte Schicht, was der Nichtironiker freilich nicht bemerkt;
hingegen erkennt der Ironiker hinter der Widersprüchlichkeit und Mehr-
deutigkeit dieser Schicht den wahren Sinn als eindeutig Gemeintes und
widerspruchsfrei Mitgeteiltes. Auch hier überwindet der Dialog also
einen fundamentalen Mangel der Schrift, die fehlende Klarheit und
Verläßlichkeit der durch sie vermittelten Erkenntnis. (Oft wird freilich
auch ohne Berufung auf die ,Eindeutigkeit' des verschlüsselt Mitgeteilten
versichert, daß sich der Dialog durch vorwegnehmende Beantwortung vor
Mißverständnissen schützen könne wie keine andere Darstellungsform.)

8.

Die entscheidende zweite Schicht des Dialogs ist dazu geeignet und
daher auch dazu bestimmt, alles auszusagen: obschon nicht alles in
336 Anhang I

direkter Mitteilung aussagbar ist, läßt die indirekte Mitteilung an den


Verstehenden doch nichts aus, was für ein vollständiges Verständnis der
Sache nötig wäre. Die Dialogform ersetzt eine über die Schriften
hinausführende (mündliche) esoterische Philosophie, weil sie deren
Zweck, die Bewahrung der philosophischen Erkenntnis vor Ungeeigneten
und ihre Mitteilung an die Geeigneten, besser und dauerhafter erfüllt.

Kritik der modernen Dialogtheorie

In der skizzierten Theorie des platonischen Dialogs ist viel Richtiges


und Wichtiges ausgesprochen. Niemand wird den platonischen Schriften
eine außerordentliche Kraft, zu selbständigem Denken anzuregen, abspre-
chen wollen, niemand wird verkennen, daß der Dialog (bisweilen) in
parallel geführten Schichten abläuft, niemand kann die inhaltliche
Bedeutung von Ironie und Aporetik leugnen.
Das Richtige ist indes in so subtiler Weise mit Falschem verknüpft
und in so suggestiver Weise einer irregeleiteten Zielsetzung untergeordnet,
daß es zunächst nicht leicht fällt, die platonischen Elemente von den
Überlagerungen fremder Provenienz zu sondern und das Unplatonische
der Theorie als Ganzes zu durchschauen. Um Mißverständnisse zu
vermeiden, sei hier schon betont, daß es nicht um ein Aufgeben der
Errungenschaften der Dialogformtheorie gehen kann — es liegt mir fern,
dazu aufzufordern, die Dialoge künftig nicht mehr als Gespräche, sondern
etwa als systematische Traktate zu lesen (meine eigenen Analysen zeigen
dies, wie ich hoffe, klar genug). Es geht vielmehr um den Nachweis, daß
zur Schleiermacherschen Traditionslinie der Piatoninterpretation — und
das ist die heute im großen und ganzen herrschende Linie — von Anfang
an nicht nur feinsinnige und klarsichtige Einzelbeobachtungen gehörten,
sondern auch eine ausgesprochen naive Überbewertung derselben, ihre
spekulative Verknüpfung zu einer radikal unplatonischen Auffassung
von der Funktion der geschriebenen Philosophie und ihre ganz und
gar unreflektierte polemische Verwendung gegen die Bedeutung der
mündlichen Philosophie für Piaton. Im folgenden sollen die prinzipiellen
Vorgriffe inhaltlicher und methodischer Art, die den Vertretern der
Theorie ganz überwiegend nicht bewußt sind und deren Verborgenbleiben
wesentlich zum Erfolg der Theorie beigetragen hat und weiterhin beiträgt,
Die moderne Theorie der Dialogform 337

zunächst in Form von Thesen5 knapp benannt werden. Anschließend


sollen die Thesen in Auseinandersetzung mit der Dialogformliteratur
erläutert und erhärtet werden.

Zehn Thesen zur Kritik

1.

An der Wurzel der Dialogformtheorie liegt die Überzeugung, daß


Piaton, indem er die prinzipiellen Mängel der Schrift erkannte und
kritisierte, sich zugleich das Ziel setzte, eben diese Mängel in seinen
eigenen Schriften zu überwinden.
Eine solche Zielsetzung ist mit der Schriftkritik im Phaidros nicht
vereinbar. Sie würde Piaton auf eine Stufe mit dem Nichtphilosophen
oder bloßen ουγγραφεύο stellen.

2.

Die ungeprüfte Grundannahme verleitet dazu, die Theorie einer


speziellen Darlegungsform zu suchen, wo Piaton eine prinzipielle Kritik
aller Schriftlichkeit gibt. Um das Gesuchte auch zu finden, ist die
Dialogformtheorie zu sprachlicher Willkür in der Textauslegung genötigt.

3.

Die einseitige Orientierung an den Frühdialogen beraubt die Dialog-


formtheorie weitgehend ihres angestrebten Wertes für eine deskriptive
und analytische Durchdringung des platonischen Gesamtwerks.

4.

Die Dialogformtheorie betreibt eine naive Mystifikation des Dialogs,


für die die Flucht in bloße Metaphorik charakteristisch ist.
5 Die zehn Thesen sind nicht je einzeln den Abschnitten des Referates der Dialogform-
theorie (oben 3 3 3 — 336) zugeordnet.
338 Anhang I

5.

Die Dialogformtheorie muß unspezifische Merkmale, die einer Viel-


zahl von Formen schriftlicher Äußerung zukommen, als spezifische
Vorzüge des Dialogs ausgeben.

6.

Die habituelle Selektivität der Textauslegung weist auf konstitutive


Schwächen der Theorie.

7.

Am Ursprung der Dialogformtheorie stand bei Schleiermacher seine


Abneigung gegen eine mißverstandene ,Esoterik' und seine fast völlige
Unkenntnis der historischen Zeugnisse über Piatons mündliche Philoso-
phie. Der polemische Ursprung ist auch heute noch wirksam. Der
vorgefaßte Entschluß,,Esoterik' zu eliminieren, kommt vor den Denkmit-
teln, die dies zu leisten versprechen.

8.

Der abwegige Begriff von Esoterik, den Schleiermacher seiner Polemik


zugrunde legte, wirkte auf seinen Gegenentwurf zurück: in der Dialog-
formtheorie ist ein falscher Begriff von Esoterik in modifizierter Form
aufbewahrt.

9.

Die erkenntnistheoretische Position der Dialogformtheorie führt,


konsequent zu Ende gedacht, auf den Solipsismus.

10.

Der Kampf der Dialogformtheorie gegen eine inhaltlich über die


Dialoge hinausgehende mündliche Philosophie Piatons ist vergeblich:
Die moderne Theorie der Dialogform 339

ihre Annahme, die Verwendung der indirekten Mitteilungsform im


Schriftwerk schließe eine inhaltliche Esoterik des mündlichen Bereichs
aus, beruht auf einer petitio principii.

Erläuterungen zu den Thesen

1.

Daß diese Annahme über Piatons Zielsetzung den Kern bildet, in


dem alles Weitere bereits angelegt ist, und daß sie wirklich nichts ist als
eine Annahme, die uns Heutigen nur allzu plausibel erscheint, wird
nirgends so deutlich wie in der immer noch niveauvollsten und lesenswer-
testen Darstellung der modernen Dialogtheorie, in Schleiermachers
Einleitung'.
„Da nun ungeachtet dieser Klagen (sc. über den ungewissen Erfolg
der Mitteilung philosophischer Erkenntnis durch die Schrift) Piaton von
der ersten Männlichkeit an bis in das späteste Alter so vieles geschrieben
hat: so ist offenbar, er muß gesucht haben, auch die schriftliche Belehrung
jener besseren (sc. der mündlichen) so ähnlich zu machen als möglich,
und es muß ihm damit auch gelungen sein" (Einleitung 15).
Es ist zweckmäßig, sich die zwei Aussagen dieses Satzes getrennt zu
vergegenwärtigen. Erstens: die Annäherung des schriftlichen Dialogs an
die mündliche Belehrung war Piatons Ziel. Zweitens: er hat dieses Ziel
auch erreicht.
Die Annäherung der Schrift an das Gespräch betrifft für Schleierma-
cher keineswegs nur die Mimesis der dialogischen Form6, sondern vor
allem die Fähigkeit, „Denken als Selbsttätigkeit" in Gang zu setzen, die
erkenntniserweckende oder maieutische Qualität der Schrift also. Erst
so wird verständlich, inwiefern der zitierte Satz die Grundlage für alles
Übrige abgeben kann, sowohl im Positiven wie im Negativen. Da Piaton
der Schrift die Fähigkeit, gesicherte, und das heißt: selbst nachvollzogene
Erkenntnis zu vermitteln, abspricht, die vorausgesetzte Annäherung der

' „Indessen erschöpft diese (die dialogische) Form keineswegs das Ganze seiner Methode"
(Einleitung 15 f.). Daß die Nachahmung der Gesprächsform die Darstellung lebendiger
erscheinen läßt und daß Piaton an diesem Effekt gelegen war, ist unbestritten und auch
problemlos. Die formal-mimetische Angleichung der Schrift an das Wechselgespräch
führt jedoch nie über ein bloßes εΐδωλον desselben hinaus. Die Schwäche des λόγος
γεγραμμένος bleibt, ob solche Angleichung stattfindet oder nicht. Schleiermacher sah
dies und postulierte folgerichtig eine Angleichung in der Funktion, nicht nur der Form.
340 Anhang I

platonischen Schriften an das mündliche Philosophieren aber gerade


diese Fähigkeit voraussetzt, muß die Dialogformtheorie bemüht sein,
positiv zu erklären, wie die Schrift die Leistungen erbringen kann, die
ihr doch nicht zukommen: daher folgt bei Schleiermacher auf die
Festlegung dessen, was Piaton mit seinen Dialogen „gesucht haben muß",
die Aufzählung der Darstellungsmittel oder „Künste", durch die er seine
Ziele — die im Phaidros freilich als Ziele der mündlichen Gesprächsfüh-
rung definiert sind - auch im Schriftlichen erreicht habe7. Aber vor
diesem Positiven war noch das Negative zu leisten, die Gefährdung der
neuen Theorie durch konkurrierende Erklärungen auszuschalten. Dies
geschieht freilich nicht in offener Form 8 ; gleichwohl ist der zugrunde-
liegende Gedankengang unschwer zu erkennen: wenn es die Absicht hinter
Piatons Schriftstellerei war, die Erkenntnisleistung seiner mündlichen
Philosophie in der Schrift zu erreichen, so wäre es in der Tat absurd
gewesen, wesentliche Erkenntnisse zurückzuhalten; wenn Piaton sein Ziel
erreicht hat, so haben wir in den Dialogen auch alles, was in der
mündlichen Philosophie Piatons vorkam. Indem nun die beiden Voraus-
setzungen ohne weiteres als erfüllt betrachtet werden, ist die ,esoterische'
Gegenposition ebenso elegant wie unauffällig ausmanövriert.
Aber war jene Angleichung von Schriftwerk und mündlicher Philoso-
phie wirklich Piatons Ziel? Dies ist „offenbar", sagt Schleiermacher —
und mit diesem Wort gibt er zu erkennen, daß er diese Annahme als
eine für ihn selbst evidente ins Spiel bringt9, nicht aber aus seinem
Grundtext10, dem Phaidros, gewonnen hat. Nun nennt zwar Piaton die
geschriebene Darlegung ein Abbild (ε'ΐδωλον) der lebendigen Rede des
Wissenden, und Abbilder wollen ihren Urbildern so ähnlich sein wie
möglich - nur sollten wir nicht wie Schleiermacher vergessen zu fragen,
in welcher Hinsicht es überhaupt möglich ist. Piaton läßt uns darüber
nicht im Unklaren: so wahr auch der beste Maler seinen Gestalten das
Sprechen - die spezifisch menschliche Gabe - nicht wird eingeben

7 Einleitung 16. Aus dieser Aufzählung ist das Wichtigste zitiert unten S. 347.
8 Nicht offen dargelegt ist lediglich der entscheidende Gedankenschritt, mit dem
Schleiermacher der Anerkennung einer mündlichen Philosophie Piatons zu entgehen
trachtet. Die polemische Intention selbst und ihre erkenntnishemmende Funktion sind
dagegen über die Maßen deutlich, s. unten zu These 7 und 8.
' Sehr klar auch Chr. A. Brandis, Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen
Philosophie, Berlin 1835 —1860, II 1, 159 (im gleichen Zusammenhang und unter
Berufung auf Schleiermacher): „nur unter Voraussetzung einer solchen Absicht ...".
10 Schleiermacher verstand seine Theorie des Dialogs als Exegese des Schlußteils des

Phaidros: Einleitung 14 f., 29.


Die moderne Theorie der Dialogform 341

können (Phdr. 275 d), so wahr wird auch der beste Schriftsteller der
einmal geschriebenen Darlegung nicht neue Antworten auf künftige
Fragen mitgeben können - was erst der spezifischen Fähigkeit der
mündlichen Rede des Philosophen gleichkäme und was den Dialog erst
zu einem Werkzeug wahrhafter Erkenntniserweckung machen würde. Es
kann daher nicht das Ziel eines einsichtigen Verfassers von Schriften
sein, das Unmögliche zu versuchen und das Buch zu einem gleichwertigen
Ebenbild des lebendigen Wortes aufwerten zu wollen. Die vermeintliche
Angleichung von Wort und Schrift hinsichtlich ihrer fundamentalen
Erkenntnisleistung — eine Angleichung, die dann faktisch als Gleichset-
zung verstanden wird 11 — wird durch die Grundsätzlichkeit von Piatons
Kritik an der γραφή, der Schrift schlechthin, ausgeschlossen.
Der Schleiermachersche Glaube an die in der Dialogform erreichte
Ebenbürtigkeit des Geschriebenen mit dem Gesprochenen zeigt sich nicht
nur dort, wo in allgemeiner Formulierung eine „Aufhebung" des Buches
im Dialog-Buch (Friedländer 1177) oder eine „Tilgung" der Mängel der
Schrift (Ebert 31) verkündet wird 12 , sondern auch überall dort, wo die
Mittel, über die der mündlich Philosophierende verfügt, so die Fähigkeit,
nach freier Entscheidung zu antworten oder nicht zu antworten, dem
Dialog zugeschrieben werden (dazu unten (4) und (5)). Statt sich auf
Piatons Erfolg bei einer vermeintlich evidenten Zielsetzung festzulegen,
11
Z w a r klingt es wie eine Einschränkung, wenn Schleiermacher sagt, Piaton habe die
schriftliche Belehrung der mündlichen „so ähnlich als möglich" machen wollen.
Ähnliche Formulierungen begegnen bei zahlreichen Dialogform-Autoren (etwa Brandis
II 1, 151; Friedländer I 177; Klein I.e. (oben 13 Anm. 7) 17; K. von Fritz, Schriften zur
griechischen Logik, Stuttgart 1978, 1204). Solange jedoch die entscheidende Frage
unterbleibt, wo die prinzipiellen Grenzen der Angleichung liegen, haben wir keinen
Grund, in solchen Wendungen mehr zu sehen als platonisierende Urbanitäts-Floskeln.
Wohltuend hebt sich hiervon die naive Ehrlichkeit von Meißner und Watson ab, die
das Schreiben offen dem Gesprächführen für überlegen erklären und kein Hehl daraus
machen, daß sie dies auch für die Meinung Piatons halten (Watson I.e. [oben 324
Anm. 144] 115, vgl. 131; Meißner I.e. [oben 13 Anm. 7] passim, bes. im Phaidros-
Kapitel 7 0 - 1 1 7 ) .
12
„Der Dialog ist die einzige Form des Buches, die das Buch selber aufzuheben scheint",
Friedländer I 177; „ ... der Versuch (Piatons), die Mängel der geschriebenen Rede
dadurch aus dieser zu tilgen, daß das mimetische Gespräch der Dialogpersonen zum
Medium eines Fragens und Antwortens zwischen Autor und Leser wird", Ebert 1. c.
(oben 14 Anm. 9) 31. Die irrige Grundannahme über Piatons Zielsetzung begegnet
ferner bei H . Gundert, Der platonische Dialog, Heidelberg 1968, 15 f.; von Fritz 1. c.
I 204; Roloff 1. c. (oben 14 Anm. 11) 27, 32 f. (und passim); Klein 1. c. (oben 13 Anm. 7)
6, 17, 20 („A properly written text will tend to transform the unavoidable deficiency
of writing into a lever of learning and understanding", 17); Rosen XVIII, XXV;
Laborderie I.e. (oben 17 Anm. 15) 84f., 113. (Aus der älteren Literatur vergleiche man
etwa Brandis II 1, 151).
342 Anhang I

hätten Schleiermacher und seine Nachfolger zuvor an Piatons Grundtext


über Schriftlichkeit prüfen müssen, ob er solch eine Zielsetzung überhaupt
zuläßt. Sie hätten erkennen müssen, daß der Phaidros den, dem Schrift
und Wort gleich sein können, — also den, dessen mündliche Darlegung
keine τιμιώτερα gegenüber seiner Schrift zutage fördert - als den
Nichtphilosophen einstuft. Piaton das Ziel zuzuschreiben, mit seinem
Schreiben sein Sprechen einzuholen, und ihm hierbei großzügig Erfolg
zu bescheinigen, heißt seine philosophische ,Hilfe' abwerten, bevor sie
noch geprüft wurde, und ihn auf eine Stufe mit dem λόγων ουγγραφεύς
stellen.

2.

Die Diskrepanz zwischen der generellen Abwertung der Schriftlichkeit


im Phaidros und dem modernen Glauben, Piaton habe das für die Schrift
Unmögliche eben doch in seinen Schriften angestrebt, zwingt dazu,
prinzipiell zu trennen zwischen Dialogen einerseits und allem übrigen
Schrifttum andererseits. Mehr noch: diese Dichotomie, die der von Piaton
gerügten Dichotomie ,Hellenen — Barbaren' nur allzu ähnlich ist, muß
als ein Ergebnis der platonischen Reflexion über das Schreiben des
Philosophen ausgegeben werden. Die Dialogtheorie versucht den Phaidros
so zu lesen, als werte er nicht so sehr den Gebrauch der Schrift im
Vergleich mit dem lebendigen Gespräch ab, sondern als postuliere er vor
allem eine bestimmte Art des Gebrauchs der Schrift, die sog. indirekte
Mitteilung.
Daß der Gedankengang des Dialogs als Ganzes eine solche Beschrän-
kung der Thematik im Schlußteil ausschließt, ist oben 2 4 - 4 8 , bes. 30 ff.
gezeigt worden. Aber auch bei der üblichen Beschränkung auf die letzten
Seiten des Dialogs bleibt die Schwierigkeit, daß die Unterscheidung
,direkte Mitteilung — indirekte Mitteilung' dem platonischen Text fremd
ist. Auf zwei Wegen versucht man, dieser Schwierigkeit zu entgehen.
Man verweist auf Piatons Gebrauch des Wortes σύγγραμμα,. das die
fehlende Unterscheidung angeblich impliziert. (Dieser Weg ist philolo-
gisch nachprüfbar, wovon sogleich die Rede sein soll.) Oder man
betrachtet das Fehlen der Unterscheidung selbst als Zeichen für die
indirekte Mitteilung, daß es Piaton gerade um diese Unterscheidung geht.
Die zweite Lösung ist als die immanente' zweifellos die ingeniösere.
Sie verrät freilich die solipsistische Struktur des Erkenntnisanspruchs der
Die moderne Theorie der Dialogform 343

Dialogformtheorie: das zu Beweisende ist zugleich als Voraussetzung


und als Beweismittel gebraucht, weswegen der, der diese Erklärung
vertritt, grundsätzlich nicht widerlegt werden kann 1 3 . Die geeignete
Antwort auf diese ,Lösung' kann daher nur in dem Nachweis liegen, daß
sie auf einer logisch fehlerhaften Argumentationsstruktur beruht (s. unten
zu These 9).
Die erste ,Lösung' stützt sich auf die Behauptung, daß das griechische
Wort ούγγραμμα so viel bedeutet wie systematische Lehrschrift'; wenn
sich Piaton daher gegen ουγγ ράμματα stellt - was er bekanntlich vor
allem im 7. Brief (341 c, 344 c), nebenbei aber auch im Phaidros (277 d 7,
278 c 4), tut - , so kritisiert er damit eine bestimmte Form der Darstellung,
die systematische, die auf direkte Mitteilung der Wahrheit angelegt ist.
Eine Darstellungsform, die nicht unter den Begriff ούγγραμμα fiele, wäre
demnach von der Kritik ausgenommen, und was negativ über die Mängel
von ςυγγράμματα gesagt ist, ließe sich positiv zu einer Theorie der
nichtsyngrammatischen, für den Philosophen legitimen Form der schriftli-
chen Darstellung verdichten. Diese Form aber ist der Dialog. Piaton gibt
implizit eine Theorie des Dialogs als einer besonderen Art des Gebrauchs
der Schrift 14 .

13 So rechnet Roloff 1. c. 22 die „Auslassung gerade dessen, worauf es ankommt" zu den


Mitteln der von ihm „Ironie II" genannten Methode der indirekten Mitteilung. Auf
unsere Frage angewendet würde das bedeuten, daß die indirekte Mitteilung gerade in
der Beschreibung ihrer selbst - daß der Phaidros die indirekte Mitteilung beschreibt,
ist eben schon vorausgesetzt — die ihr eigenen Mittel einsetzt, also gerade das
Wesentliche auslassen muß. In diesem Sinne kann Roloff denn auch unbesorgt zugeben,
daß der nach seiner Ansicht entscheidende „Weg der Andeutung" im Phaidros nicht
genannt ist - er ist, genauer, „unterschlagen" (30), was aber offensichtlich nur zu der
für die Andeutung konstitutiven Unvollständigkeit gehört. Ähnlich weist Meißner 1. c.
203 den möglichen Einwand, seine ,logologische' Interpretation des Sonnengleichnisses
sei sprachlich nicht abgedeckt, mit dem Hinweis zurück, man solle nicht „ein M a ß an
Deutlichkeit verlangen, zu dem Piaton bei seinen Überzeugungen nicht bereit sein
kann". Es ist leicht zu sehen, daß man mit dieser Methode schlichtweg jeden Gedanken
als integralen Bestandteil des Textes erweisen kann: man muß nur versichern, daß
Piaton daran gelegen war, gerade diesen Gedanken zu „unterschlagen", und schon
leuchtet es ein, daß er eben durch seine Abwesenheit seine Präsenz überlaut bekundet.
(Die Methode erinnert an jene Szene einer französischen Geisterkomödie, in der bei
der Jagd nach dem unsichtbaren Mann eine T ü r aufgeht, in der niemand steht, wobei
eine Stimme sagt: „Ich bin der unsichtbare Mann. Wenn jemand nach mir fragen sollte,
können Sie ruhig sagen, Sie hätten mich nicht gesehen" — worauf die Türe sich wieder
schließt.)
14 Besonders deutlich bei Gundert, der im Schlußteil des Phaidros „versteckt im Urteil
über die Schrift" die „Anweisung Piatons" für das Lesen seiner Dialoge findet (16). Da
aber .unverdeckt' nicht vom Lesen, sondern vom Schreiben die Rede ist, behandelt
Gundert die Schriftkritik durchaus konsequent als Anweisung für das richtige Dichten
344 Anhang I

Es ist deutlich, daß diese Erklärung erst sekundär an den Phaidros


herangetragen wurde und ursprünglich in den Zusammenhang des
7. Briefs gehört: dort begegnet die für viele schockierende Feststellung,
es gebe kein σύγγραμμα von Piaton über die Dinge, mit denen ihm Ernst
sei (341 c), was natürlich die Frage hervorruft, wie es denn mit den
Dialogen stehe - eine Frage, die beantwortet scheint mit der Auskunft,
die Dialoge seien eben keine συγγράμματα. Im Phaidros dagegen gilt die
Kritik programmatisch nicht dem σύγγραμμα - was immer das Wort
bedeute - , sondern der γραφή (275 d 4ff.). Daß aber ein geschriebener
Dialog nicht unter ,Schrift' im Sinne von γραφή fällt, hat bis heute
noch niemand behauptet. Vom Phaidros aus gesehen bleibt also das
Hereintragen der cύγγpαμμα-Erklärung aus der Interpretation des
7. Briefes von vornherein gänzlich textwidrig.
Wichtiger ist aber, daß die Erklärung, ob nun zu recht für den
Phaidros bemüht oder nicht, auf ihre Richtigkeit hätte überprüft werden
müssen.
Nichts ist wohl charakteristischer für die Dialogformtheorie, als daß
ihre Vertreter einer philologischen Nachprüfung der Bedeutung des
Wortes σύγγραμμα aus dem Weg gingen. Man fragte weder, ob die
eingeengte Bedeutung ,nichtdialogische systematische Schrift' zu belegen
ist, noch wagte man zur Gegenprobe zu fragen, ob die Griechen nicht
doch die platonischen Dialoge als συγγράμματα bezeichneten.
Der Begriff σύγγραμμα ist im Griechischen nicht der Gegenbegriff
zu διάλογοο, sondern zu ποίημα, er bezeichnet mithin alles Geschriebene,
sofern es nicht in metrisch gebundener Sprache verfaßt ist. Bei Piaton
selbst ist diese übliche Bedeutung von σύγγραμμα als ,Prosaschrift'
mehrfach klar belegt, einmal umfaßt das Wort bei ihm auch die
Dichtung (Nomoi 858 c 10): die Tendenz geht also zur Ausweitung des
Begriffsumfangs. Was nirgends belegt ist, weder vor noch bei noch nach
Piaton, ist eine Einengung, die das Wort zu einem Gegenbegriff von
,Dialog' machen würde 15 .
Daß man sich im Griechischen ganz selbstverständlich auf die
Dialoge als auf συγγράμματα beziehen konnte, zeigt der zweite (pseudo-)
platonische Brief, der die Aussage des Siebten Briefes, es gebe kein
σύγγραμμα Piatons über das, womit ihm Ernst ist, mit der Erklärung zu
entschärfen sucht, das, was jetzt so heiße - also was jetzt Πλάτωνοσ
über Philosophie: „Piaton hat eine Antwort darauf gegeben (sc. wie Dichtung, die
Philosophie ist, möglich sei), wenn auch nur indirekt" (9).
" Die Belege zu ούγγραμμα bis auf Piaton sind in Anhang II zusammengestellt.
Die moderne Theorie der Dialogform 345

ουγγράμματα heiße - , gehöre einem neu erstandenen Sokrates16. Nie-


mand würde zu dieser seltsamen Erklärung seine Zuflucht genommen
haben, wenn die griechische Sprache die Alternative offengelassen hätte,
die Dialoge seien keine ουγγράμματα. Zu den Autoren, die Piatons
Dialoge direkt ουγγράμματα nennen, gehören neben dem belesenen
Diogenes Laertios auch gebildete Männer wie Themistios und Proklos 17 ,
bei denen man annehmen kann, daß sie etwaige Einwände gegen
eine solche Benennung in der früheren Platon-Literatur gekannt und
berücksichtigt hätten.
Die Piatoninterpretation des 20. Jahrhunderts hat mit wenigen Aus-
nahmen 18 die trügerische cüyYpc^a-Erklärung angenommen und zu
einem Eckpfeiler ihrer Deutung des Charakters der platonischen Schrift-
lichkeit gemacht. Philologen wie Philosophen machten sie sich in gleicher
Weise zu eigen; unter ihren Vertretern finden sich auch bekannte Namen
wie K. Jaspers, I. Düring, H. G. Gadamer, W. K. C. Guthrie19.
Die Fehldeutung von ούγγραμμα zog eine zweite nach sich: man fand
eine Kritik Piatons am ,Handbuch' in seiner Verwendung des Wortes
τέχνη. Es ist oben 8f. gezeigt worden, daß diese (immerhin belegbare)
Spezialbedeutung von (βητορική) τέχνη im Zusammenhang der Schrift-

" Epist. 2, 314 c.


17
S. unten Anhang II, S. 379 f.
11
Darunter W. Jaeger, Studien zur Entwicklungsgeschichte der aristotelischen Metaphysik,
Berlin 1912, 146 Anm. 3; Stenzel 1. c. (oben 18 Anm. 19) 46 (Stenzel wendet Piatons
Ausführungen im Politikos über die Abwandlung der Bestimmungen eigener ουγγράμ-
ματα - das Wort 300 a 1, c 1 und u. ö. - auf die Politela an, womit er zeigt, daß
Piatons Hauptwerk für ihn ein π ο λ ι τ ι κ ό ν ούγγραμμα war); Krämer, M H 21, 1964,
144 mit Anm. 17.
" In Karl Jaspers Platon-Kapitel in „Die großen Philosophen" I, München 1959, 234 — 318
spielt die Verurteilung der „Lehrschrift" bzw. des „Lehrvortrags" eine wichtige Rolle
(z.B. 260, 261, 266f.). I. Düring, Aristoteles, Heidelberg 1966, 109 Anm. 408 zitiert als
Piatons Worte (mit Verweis auf Phdr. 275 c, Epist. 7, 341 c d ) : „Lehrbücher habe ich
nie geschrieben". Gadamer 1. c. (oben 324 Anm. 144) 60 setzt „Mimesis wirklicher
Gespräche" gegen „theoretische Traktate". Guthrie IV 65 und V411: es gebe kein
„treatise (syngramma or techne)" von Platon, die Politela sei kein εύγγραμμα. Ähnlich
äußerten sich — die Auswahl der Namen ist zufällig und könnte um viele weitere
bereichert werden - Hackforth 1. c. (oben 9 Anm. 2) 163 („a manual of his doctrine");
I. M . Crombie, An Examination of Plato's Doctrines I, London 1962, 18 („systematic
treatise"); N . P . W h i t e , Plato on Knowledge and Reality, Indianapolis 1975, 207f.
(Gegensatz ,dialogue - treatise'); Friedländer, Plato I, 3 1964, 118/120; H. Gundert,
Dialog und Dialektik, Amsterdam 1971, 5; R. Thurnher, Der Siebte Platonbrief,
Meisenheim 1975, 94 (.Kompendium'); E. Schmalzriedt, Platon. Der Schriftsteller und
die Wahrheit, München 1969, 16 und 358 Anm. 14; Roloff 1. c. (oben 14 Anm. 11) I,
29. — Eine neue Sonderbedeutung für ούγγραμμα erfindet Meißner 1. c. (oben 13
Anm. 7) 121: „offene, für alle erschließbare Aufzeichnung".
346 Anhang I

kritik im Phaidros weder sprachlich noch dem Gedankenablauf nach


anzunehmen ist, und es wird unten (Anhang III, S. 3 9 0 f.) gezeigt werden,
daß auch der 7. Brief nicht einen Kampf gegen die Sonderform hand-
buchartiger Darstellung führt, sondern überhaupt gegen das Schreiben
über die Dinge, περί ών Π λ ά τ ω ν οπουδάζει.
In ursächlichem Zusammenhang mit der Fehldeutung von σύγγραμμα
und τ έ χ ν η steht ferner die Umdeutung von Piatons Kennzeichnung des
Nichtphilosophen. Er ist nach Phdr. 278 d 8 derjenige, der nicht über
,wertvollere Dinge' (wertvollere Argumente, Darlegungen) verfügt als
die, die er niedergeschrieben hat (ό μή εχων τιμιώτερα ών ουνέθηκεν
ή εγραψεν). Da die Dialogform als die vermeintliche Uberwindung der
syngrammatischen Darstellung dazu bestimmt ist, über alles zu schreiben,
muß die inhaltliche Deutung jener ,wertvolleren Dinge' umgangen
werden. M a n kennzeichnet den Nichtphilosophen folglich als den, der
über nichts Wertvolleres verfügt als das Schreiben, und erklärt das ihm
fehlende Wertvollere als die Fähigkeit zu lebendigem Gespräch über die
nämlichen Dinge, die auch im Buch des Philosophen stehen. Diese
Deutung kommt einer gewaltsamen Änderung des Textes gleich, denn
sie wäre allein gerechtfertigt, wenn Piaton geschrieben hätte: ό μή εχων
τνμιώτερόν τι του γράφειν (vgl. oben 19).
Das Syngramma-Argument und die übrigen mit ihm verknüpften
willkürlichen Umdeutungen 20 zeigen in eindrucksvoller Weise die Beweis-
î0 Am weitesten geht hierin Meißner, der durch seine Theorie des „tieferen Logos"
gezwungen ist, nachgerade zu jeder Äußerung Piatons eine Umdeutung zu ersinnen,
die Piaton als die eigentliche und „tiefere" Aussage vorgeschwebt habe, während die
allgemein akzeptierte Bedeutung nur den „vordergründigen Logos" treffe, den Piaton
zur Irreführung und Ablenkung der Ungeeigneten konzipiert habe. Hier nur einige
Beispiele: Das ,ernsthafte' und das spielerische' Säen im Phaidros meine nicht
mündliches und schriftliches Philosophieren, sondern zwei .Schichten' des geschriebenen
Dialogs (76); denn „nicht der mündliche Logos des Gesprächs ... ist ... ,lebendig'" im
Sinne von Phdr. 276 a, sondern der „hintergründige Logos" des Geschriebenen (87).
Das Wort διαλέγεοθαι zielt für Meißner „nicht auf mündliche Gespräche" (187),
vielmehr „auf eine Art ,Zwiegespräch' mit dem T e x t " (116), „gewissermaßen auf
Zwiesprache mit dem T e x t " (216), und Dialektik ist durchaus nicht die Methode
des philosophischen Denkens, wie man bisher dachte, sondern „die Methode der
Aufschließung des platonischen Textes" (193). CDVoucia und ουζήν (Epist. 7, 341 c)
meinen nicht das Zusammensein und -leben von Personen, sondern des Lesers mit dem
Text (123, 125). oôcia meint in Epist. 7, 344 b „das, wovon die Rede ist" (153 f.), in
Politela 509 b dagegen „Vorhandensein im platonischen Logos" (203), παιδιά meint in
Wirklichkeit παιδεία (93), die Erinnerungshilfen für das Greisenalter sind solche für
das Kindesalter im nächsten Leben des Philosophen (sie: 103). ύπόθεαο ist für Meißner
das „Daruntergesetzte" des irreführenden „vordergründigen" Textsinnes (sie: 188 f.). —
Ich hätte auf die Mitteilung dieser seltsamen Zeugnisse einer irregeleiteten Ingeniosität
verzichtet, wäre Meißner nicht derjenige Vertreter der Dialogformtheorie, der sich
Die moderne Theorie der Dialogform 347

not der herrschenden Dialogtheorie. Mangels verwertbarer Aussagen


Piatons vertraute man über Jahrzehnte blindlings auf ein ungeprüftes
Wortverständnis, statt sich nach der bewährten Methode philologischer
Belegerhebung die einfache und naheliegende Wahrheit zu holen. Diese
Wahrheit hätte freilich zum Umdenken gezwungen: die Entgegensetzung
zweier Darstellungsformen, der direkten, systematischen, und der indirek-
ten der Dialogform, spielt für Piatons Kritik der Schriftlichkeit keine
Rolle. Der Phaidros enthält keine Theorie einer besonderen Art des
Gebrauchs der schriftlichen Mitteilung 21 .

3.

Da die indirekte Mitteilung „eine natürliche Folge von Piatons


Gedanken über die philosophische Mitteilung" ist, muß sie auch „überall
anzutreffen sein, so weit sich diese nur erstreckt". Dieser Gedanke —
hier in der Formulierung Schleiermachers wiedergegeben (Einleitung 29)
- ist zwingend für jeden, der sich auf die in (1) erörterte Grundannahme
festlegt. Die ,Künste' oder Mittel der Darstellung, die die „echt plato-
nische Form" im Sinne der modernen Dialogtheorie im einzelnen aus-
machen, sind jedoch ganz offenkundig an den aporetischen Frühdialogcn
abgelesen; sie bestehen darin, „daß das Ende der Untersuchung nicht ...
wörtlich niedergelegt" wird, daß „aus Widersprüchen ein Rätsel gefloch-
ten wird, zu welchem der beabsichtigte Gedanke die einzig mögliche
Lösung ist", daß „oft auf ganz fremdscheinende zufällige Art manche
Andeutung hingeworfen wird", oder darin, daß „die eigentliche Untersu-
chung mit einer anderen ... wie mit einer angewachsenen Haut überkleidet
(wird), welche ... dasjenige verdeckt, was eigentlich soll beachtet oder
gefunden werden", ferner darin, daß ein Ganzes „durch unzusammenhän-
gende Striche angedeutet wird" (Schleiermacher, Einleitung 1 6 ) " .

bisher am konsequentesten und redlichsten um die Deutung der Grundtexte bis in die
sprachlichen Einzelheiten hinein bemüht hat. Sein Fall gewinnt damit exemplarischen
Wert: auf dem Boden dieser Theorie hat man nur die Wahl, seine Zuflucht zur
Selektivität zu nehmen oder ins Abwegige abzugleiten. Vgl. unten zu These 6.
21 Daß auch aus der Bezeichnung der geschriebenen Darlegung als,Abbild' der mündlichen
(Phdr. 276 a 9) kein Hinweis auf eine notwendig dialogisch-indirekte Form der
,Abbildung' und damit auf eine Theorie des Dialogs gezogen werden kann, ist oben
S. 12 (mit Anm. 5 und 6) gezeigt worden. - Zum . ö f f n e n ' der sokratischen Logoi
(Symp. 221 d - 2 2 2 a) s. oben 267 f. mit Anm. 49.
22 Die Liste dieser ,Künste' hat Schleiermacher, Einleitung 29 — 30 noch einmal etwas
detaillierter ausgeführt, ohne wesentlich Neues hinzuzufügen. Zellers Aufzählung der
Mittel des „indirekten Andeutens" (II 1, 487) schließt deutlich an Schleiermacher an;
348 Anhang I

Diese Aufzählung bietet zweifellos ein gutes Instrument zur Beschrei-


bung der Verfahrensweise etwa des Protagoras mit seinem doppelten
Positionswechsel zum Problem der Lehrbarkeit der Tugenden und seiner
unzusammenhängenden Andeutung des Systems der Kardinaltugenden,
oder des Laches und Charmides, die das Ende der Untersuchung in der
Tat nicht wörtlich niederlegen und das Wichtigste in scheinbar zufälligen
Andeutungen geben, oder auch des Euthydemos, in dem verschiedene
Themen sich überlagern und das Eigentliche unter eristischen Possen
verdeckt ist.
Man wird aber mit Nachdruck in Abrede stellen müssen, daß etwa
im Phaidon die zweite Untersuchung, diejenige über die Ideenhypothese,
die die erste über die Unsterblichkeit ,wie mit einer angewachsenen Haut
überkleidet', wirklich irgend etwas „verdeckt" oder von Piaton dazu
bestimmt war, etwas zu verdecken. Man wird auch vernünftigerweise
nicht behaupten wollen, daß der Gorgias das Ende der Untersuchung —
,Gerechtigkeit' ist nicht das Recht des Stärkeren, Unrecht leiden ist besser
als Unrecht tun - nicht wörtlich niederlege. Ebenso ist das Hauptwerk
Piatons, die Politela, sehr explizit in der Formulierung der Ergebnisse; die
verschiedenen Themenkreise, die einander angewachsen' sind, verdecken
einander nicht, sondern beleuchten einander, wobei Piaton sehr deutlich
sagt, in welcher Hinsicht die eine Fragestellung die andere beleuchten
soll; und zu behaupten, das Ganze der trichotomischen Seelenstruktur
und ihrer Relation zum dreistufigen Staatsorganismus sei nur durch
„unzusammenhängende Striche" angedeutet, hieße implizit eine pedanti-
sche Auswalzung des von Piaton klar genug Dargelegten fordern 23 .
Was allerdings auch in den mittleren und späten Dialogen bleibt als
Mittel der ,indirekten' Mitteilung, ist die Zuweisung der philosophischen
Äußerungen an bestimmte Dialogfiguren. Es wird nicht die Wahrheit
schlechthin verkündet, sondern der Vorgang der Gewinnung bestimmter
Einsichten durch fiktive Personen geschildert: nirgends spreche Piaton
selbst, und in diesem Sichverbergen des Autors liege eine erkenntnisstimu-
lierende Distanzierung 24 .

vgl. auch Brandis II 1, 159. Ähnliche, m . E . jedoch weniger treffende Aufzählungen in


der neueren Literatur z. B. bei Rosen XVIII, Roloff 22.
2 3 Daß die Seelen- und Tugendlehre der Politela noch weiter zu begründen wäre, unter

Rückgriff auf die Prinzipien der platonischen Dialektik, sagt Piaton selbst (vgl. oben
317ff.). Dem Dialog Unvollständigkeit in dieser Hinsicht nachzusagen ist indes etwas
ganz anderes als zu unterstellen, das Vorliegende sei auf dem von Piaton hier gewählten
Begründungsniveau in sich unzusammenhängend.
" Friedländer I 134 („Piaton hat nicht gewollt, daß wir sein Ich hören"). Ph. Merlan,
Die moderne Theorie der Dialogform 349

Es fragt sich nur, ob solches Beharren auf der platonischen Anony-


mität', das zunächst auf Differenziertheit und Subtilität des Urteils zu
weisen scheint, nicht vielmehr eine neue Naivität ins Spiel bringt. Von
einer ,Anonymität' Piatons könnte man streng genommen nur sprechen,
wenn er die Dialoge nicht unter dem eigenen Namen veröffentlich hätte25.
Zum Glück hat man es bisher vermieden, von einer ,Anonymität' des
Parmenides zu sprechen, obgleich auch er die entscheidenden Aussagen
über das Seiende nicht selbst vorträgt, sondern einer ,Göttin' in den
Mund legt (DK 28 Β 1.24 ff.). Wer es für das Entscheidende hält, daß
gewisse Wahrheiten von ,Sokrates' oder ,Timaios' formuliert sind und
nicht von ,Piaton', wird sich die spöttische Frage des Sokrates an Phaidros
vorhalten lassen müssen, ob es denn so wichtig sei, wer da spricht,
und nicht allein, ob das Gesagte wahr ist (Phdr. 275 c 1 — 2, vgl. Cha.
161 c 3 — 6). Diese Frage trennt das Ausgesagte zwar nicht allein von der
aussagenden Dialogfigur ab, sondern auch von Piaton, womit sie die
behauptete Anonymität doch wieder zu stützen scheint; aber solche

Form and Content in Plato's Philosophy (1947), in: Kleine philosophische Schriften,
Hildesheim/New York 1976, 26 - 50, passim, bes. 4 2 - 5 0 . Merlan hält den 2. Brief für
echt, was ihm ermöglicht, an eine prinzipielle Distanzierung Piatons von allem, was er
schrieb, zu glauben; Piaton habe es fertiggebracht, während 60 Jahren zu schreiben
„and yet not to commit himself philosophically" (43); er lasse uns über alles in
Unsicherheit, und dies hindere, Andeutung und Angedeutetes zu verwechseln (49). -
Merlans Gedanken wurden aufgenommen von L. Edelstein (Platonic Anonymity,
AJPh 83, 1962, 1 —22), der auch das Schlagwort von der „Piatonic Anonymity" wieder
hervorholte (es begegnet schon bei H . von Stein, Sieben Bücher zur Geschichte des
Piatonismus, Göttingen 1864, I I I f.). Indem Piaton „anonym" bleibe, richte er den
Blick des Lesers auf die absolute Wahrheit (21); auch Edelstein ist freilich der Ansicht,
daß der Leser „gefangen" ist in der Schönheit der literarischen Welt der Dialoge (ib.);
daß die „Anonymität" des Autors als „correlative and corrective" zur literarischen
Personalisierung der Wahrheit in den Dialoggestalten tauge, also die Aufhebung der
,Bezauberung' durch die literarische Form bewirken könne, gehört doch wohl mit zu
jener naiven Mystifikation der Dialogform, von der weiter unten die Rede sein wird.
— Z u m „silence of the a u t h o r " vgl. Rosen XVIII f.; ferner Ebert 31: „einer unvermittelten
Frage nach der Meinung des Verfassers ist durch die mimetische Verbergung des Autors
Piaton ohnehin der Weg verlegt."
15
So wie Seren Kierkegaard bekanntlich mehrere seiner Werke unter anderen Namen
publizierte. Möglicherweise hat das Beispiel Kierkegaards unmittelbar auf die Miß-
verständnisse um Piatons ,Anonymität' eingewirkt. Aufschlußreich sind die Bemerkun-
gen A. Maclntyres über Kierkegaards schriftstellerische Methode: „On his own grounds,
he cannot hope to produce pure intellectual conviction in his readers; all that he can
do is to confront them with choices. Hence he should not try to present a single
position. This explains Kierkegaard's method of expounding incompatible points of
view in different books and using different pseudonyms for works with different
standpoints. The author must conceal himself; his approach must be indirect." (in: The
Encyclopedia of Philosophy, ed. P. Edwards, New York 1967, IV 337).
350 Anhang I

,Anonymität' oder besser Entpersönlichung der Wahrheit kann nicht


mehr als dialogspezifisch betrachtet werden. Denn daß Gedanken ohne
Rücksicht auf ihren Urheber geprüft werden müssen, gilt für alles
Gesprochene und alles Geschriebene. Man darf wohl sagen, daß die
Einbeziehung des Lesers in die Auseinandersetzung lebendig gestalteter
Figuren von dieser selbstverständlichen. Aufgabe des philosophischen
Lesens eher abzieht als auf sie hinlenkt. Unter dem Aspekt der Verpflich-
tung des Lesers gegenüber der Wahrheit selbst hat nun die Beziehung
des Dargelegten zum Autor nur noch den Sinn, die Bezugnahme auf ein
bestimmtes Theorem zu erleichtern: auf die Frage, wo denn dieser oder
jener Gedanke zu finden sei, den ich, wie jeden anderen auch, auf seine
Wahrheit werde prüfen müssen, wird die Antwort lauten: bei Piaton an
dieser und dieser Stelle - nicht: bei ,Timaios' oder dem ,Eleaten'. D. h.
dem Umstand, daß der Ausdruck bestimmter Gedanken von Piaton selbst
in Büchern veröffentlicht wurde, die seinen Namen tragen, gebührt bei
distanzierterer Betrachtung unzweifelhaft der Vorrang vor der dissoziie-
renden Wirkung der Zuweisung von Aussagen an Dialogpersonen — vor
allem dann, wenn man nicht übersieht, daß die scheinbare dramatische
Privatisierung der vorgetragenen Ansichten überwunden wird durch das
immer wichtiger werdende dramatische Motiv der Homologie. Sokrates
führt Gegner wie Freunde je länger desto sicherer zur völligen Überein-
stimmung mit ihm. Angesichts des Vorrangs der Frage nach der Wahrheit
wäre die mimetische Darstellung solcher Einigung nicht zu rechtfertigen,
wenn der Autor nicht zugleich in dem Glauben schriebe, die Einigung
über Positionen darzustellen, über die sich vernünftig Denkende einig
werden sollten. Die Grundüberzeugungen eines Autors, der die dramati-
sche Sympathielenkung so eindeutig betreibt wie Piaton im Gorgias, im
Phaidon, in der Apologie oder in der Politela, bleiben so wenig hinter
seinem Werk verborgen wie die Religiosität des Aischylos hinter der
,Orestie' oder die des Sophokles hinter dem ,König ödipus'. Bei der
allseitigen Übereinstimmung am Ende der Politela über die Überlegenheit
der Gerechtigkeit wäre die Frage, ob Piaton „selbst" sich hier nicht doch
wieder verbergen wolle, reichlich unangebracht. Mit der Annahme, er
hätte die Dialogform gewählt, um sich einer „persönlichen" Festlegung
durch „Anonymität" zu entziehen, würden wir Piaton zu einer kaum
noch ernst zu nehmenden Figur machen".

26 Im Siebten Brief wird der sog. Philosophenkönigssatz, in dem bekanntlich der gesamte
philosophische Gehalt der Politela komprimiert ist, ohne Umschweife als Ausdruck des
Standpunktes Piatons behandelt (326 a b, vgl. 328 c 1). Für den, der die Echtheit dieses
Die moderne Theorie der Dialogform 351

Wichtiger als die Beibehaltung fiktiver Personen ist die Tatsache,


daß die aporetische Offenheit und ironische Verhüllung der frühen
Tugenddialoge alsbald ersetzt wird durch die explizite Homologie der
Gesprächspartner. Die Äußerung durch dramatis personae allein kann
nicht sinnvoll als Sichverbergen des Autors oder als ,indirekte' Mittei-
lungsform gedeutet werden; entscheidend ist vielmehr die Berücksichti-
gung des Gesprächsverlaufs. Die dramatische Bewegung endet aber
schon bei den mittleren Dialogen nicht in Unentschiedenheit oder
Zweideutigkeit.
Versuche, auch die mittleren und späten Dialoge konsistent als
indirekte Mitteilung nach dem Muster der Frühdialoge zu lesen, sind
gleichwohl unternommen worden. So hat Th. Ebert die durchgehende
explizite Homologie der Gesprächspartner in der Politeia teils ignoriert,
teils wegzuleugnen versucht, um zu beweisen, daß die philosophisch
nicht haltbare Zuweisung verschiedener Seinsbereiche an die Vermögen
,Meinen' und ,Wissen' allein die Auffassung von Piatons unphilosophi-
schem Bruder Glaukon, nicht aber die des Sokrates ist, und daß es die
geheime Botschaft des Dialogs ist, daß Piaton den Wissensbegriff der
heutigen analytischen Philosophie vertrat und die bisher als platonisch
geltende Position ,in Wirklichkeit' kritisieren wollte. So hat D. Roloff
das Repertoire der indirekten Mitteilung erweitert um „logische Unzuläs-
sigkeiten" und Fehlschlüsse aller Art, diese dann auf Schritt und Tritt
im Theaitetos angetroffen, um zu zeigen, daß das, was Piaton dem
philosophisch Befähigten ,eigentlich' zeigen will — ein paar erkenntnis-
theoretische Trivialitäten sind. So hat H. Meißner mittels neu im Text
entdeckter ,Widersprüche' herausgefunden, daß Sonnen-, Linien- und
Höhlengleichnis keineswegs etwas über den Seinsstatus des Menschen
und der Objekte seiner verschiedenen Erkenntnisvermögen aussagen
wollen, sondern in Wirklichkeit über den platonischen Dialog selbst
reden und über die richtige Art, ihn zu lesen: es handle sich nicht um

Dokumentes nicht bezweifelt, sollte damit die Frage beantwortet sein, was es mit der
Jndirektheit' der dialogischen Mitteilungsform in Piatons Hauptwerk auf sich hat:
Piaton bekennt sich ausdrücklich zu dem Ergebnis, das die Mimesis philosophischer
Homologie zutage förderte, als zur eigenen Auffassung. Aber auch für den, der den
Brief für unecht hält, sollte es zu denken geben, daß dieses Zeugnis eines auf hohem
Niveau schreibenden Mannes aus der Zeit unmittelbar nach Piaton mit Aristoteles und
Xenokrates darin übereinkommt, daß neben der mündlichen Philosophie Piatons auch
die übereinstimmend gebilligten Sätze von Dialogfiguren als gültiger Ausdruck seiner
Uberzeugungen zu werten sind.
352 Anhang I

ontologische Gleichnisse, sondern „sozusagen um logologische" — und


dies sei der „tiefere Logos" dieser zentralen Partie der Politela.
Die Willkürlichkeit der Methodik und die Inadäquatheit der Ergeb-
nisse, die diesen drei Versuchen gemeinsam sind 27 , weisen auf ein tieferes
Dilemma: den Zwang der Dialogformtheorie, die wichtigeren Werke der
mittleren und späten Schaffensperiode Piatons dem Interpretationsschema
der Frühwerke zu unterwerfen, das ihrer Zielsetzung und Aussageform
nicht gerecht werden kann.
Wenn Schleiermacher sich auf die heute weitgehend anerkannte
Chronologie der platonischen Dialoge 2 8 hätte stützen können, so hätte
ihm die zeitliche und damit auch methodische Begrenztheit der indirekten
Mitteilungsform, so wie er sie im einzelnen beschrieb, nicht verborgen
bleiben können 2 9 . Es ist merkwürdig zu sehen, wie im 20. Jh. trotz der
Erstellung einer im großen und ganzen verläßlichen chronologischen
Ordnung der Dialoge die Absolutsetzung dieser vermeintlich einzigen
„echt platonischen F o r m " nicht korrigiert wurde 3 0 . Es ist an der Zeit, die
Auffassung des platonischen Dialogs als durchgehend und unwiderruflich

27 Die Aufnahme durch die Kritik zeigte denn auch eine seltene Einmütigkeit unter den
Rezensenten. Zu Ebert s. K. H. Iking, AGPh 58, 1976, 1 8 7 - 1 8 9 ; D. Frede, PhRdschau
24, 1977, 209 - 215 sowie meine Rezension G G A 230, 1978, 1 3 - 2 1 ; daß die von Roloff
ersonnenen unendlichen Täuschungsmanöver Piatons auf bloße Trivialitäten führen,
zeigte mit großer Klarheit G . M ü l l e r , Gnomon 49, 1977, 5 5 3 - 5 6 1 ; vgl. ferner zu
H. Meißner (eher etwas zu nachsichtig) meine Rezension Gnomon 52, 1980, 3 0 1 - 3 0 4 .
Zu Gadamers Vorschlag eines dialektischen Lesens' der Dialoge s. unten Anm. 72.
28 Vgl. die nicht so sehr unterschiedenen chronologischen Listen verschiedener Forscher,
die D. Ross 1. c. (oben 93 Anm. 3) 2 zusammengestellt hat. S. auch Guthrie IV 4 1 - 5 4 :
Chronology. Selbst Thesleff (1. c. oben 237 Anm. 56) liegt trotz manchen originellen
Abweichungen im Ganzen weit näher beim consensus des 20. Jh.s als bei der Chronologie
Schleiermachers.
29 Schleiermacher glaubte, durch die Beobachtung der „echt platonischen F o r m " eine
gesicherte Chronologie etablieren zu können, überdies auch noch das Echte vom
Unechten scheiden zu können (Einleitung 29). Es ist eine seltsame Ironie der Forschungs-
geschichte, daß eine Interpretationsweise, die mit zwei ihrer Erkenntnisziele so
vollständig Schiffbruch erlitt — die Erforschung von Chronologie und Echtheit der
Schriften des Corpus Platonicum wurde durch Argumente, die von der Dialogform
ausgehen, mehr behindert als gefördert - , mit ihrem dritten und grundlegenden Ziel,
der Umgehung der Anerkennung einer mündlichen Philosophie Piatons, heute noch
Kredit hat.
30 So spricht z. B. Gadamer von einer „wohlpointierten Wendung" weg von der Negativität
der aporetischen Dialoge zu „kühner Positivität" in der Politela (Die Idee des Guten
zwischen Plato und Aristoteles, 1978, 18), ohne sich indes dadurch zu größerer Vorsicht
in der Anwendung seiner Methode des „dialektischen Lesens" gezwungen zu fühlen:
dialektisches Lesen des Höhlengleichnisses etwa heißt für Gadamer, daß wir darauf
„verzichten", es „einer wissenschafts-theoretischen Ausdeutung zu unterziehen" (1. c.
47). Vgl. unten Anm. 72.
Die moderne Theorie der Dialogform 353

indirekter' Mitteilung zu relativieren: sie behält ihren Wert als zutreffende


literartheoretische Deskription eines Teils des platonischen Gesamtwerks,
der Frühdialoge, kann aber Charakter und Ergebnisse des mittleren
und späten Oeuvres nicht adäquat deuten, geschweige denn Piatons
Auffassung über philosophische Schriftstellerei und das Verhältnis von
mündlicher und schriftlicher Philosophie verstehen lehren.

4.

Man hat sich nicht genügend verwundert über die Leistung, die der
Dialog als Mittel der schriftlichen Weitergabe von Erkenntnis zu erbrin-
gen bestimmt ist: als das Buch, welches nach dem Glauben der Dialog-
formtheorie den eigenen Buchcharakter überspringt, wird der Dialog
nicht, wie andere Bücher, zu allen ohne Unterschied reden, sondern zu
den einen reden, anderen gegenüber aber ,schweigen'; er wird sich
also seine Leser selbst ,wählen', während andere Bücher vom Käufer
ausgesucht werden. Der Dialog läßt dargestellte Gespräche auf den Leser
übergreifen, wo es lebendig fortlebt in der Zwiesprache des Lesers mit dem
Text, welcher im lebendigen Durchgang durch die Verständnisphasen des
Lesers nicht wie andere Schriften ,stets dasselbe sagen' wird. Er bewahrt
den Leser durch seine indirekte Form vor dem Mißverstehen, vor
Scheinwissen und Dogmatismus, während anderes Schrifttum dazu
einlädt, und kann* sich selbst ,schützen' vor Angriffen, indem er sich
entzieht, seinen Sinn nicht preisgibt. Und schließlich wird der Dialog
dem, den er vor Mißverstehen bewahrt hat, positiv seinen Sinn als die
„einzig mögliche Lösung", als das „eindeutig Gemeinte", mitteilen.
Kurzum: während die Schrift (γραφή) nach Piaton in jeder Hinsicht
passiv ist im Verhältnis zum Leser, ist der Dialog nach der modernen
Theorie in jeder Hinsicht aktiv gegenüber dem geeigneten' Rezipienten 31 .
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß das, was hier vom Dialog
und seiner Aufnahme ausgesagt wird, aus einer Reihe von Metaphern
besteht.
31 Der Glaube an den ,aktiven' Dialogtext findet sich, pauschal ausgedrückt oder nach
mehreren, selten allen, Punkten aufgefächert, u. a. bei: Friedländer I 177, Merlan 49,
Bröcker, W.: Piatons Gespräche, Frankfurt 1964 (M967), 9, Gundert (1) 16 (übernommen
von Guthrie IV 65), Klein 3 - 3 1 (bes. 8, 13), Rosen X I - X X X V I I I (bes. XVIIIf., X X I ,
X X V ) , Ebert 3 2 - 3 5 (bes. 31), Roloff 3 - 3 7 (bes. 5 - 8 , 18, 2 7 - 3 4 ) , Tigerstedt 98,
Meißner passim (die wundersamen Fähigkeiten des ,aktiven' Buches erscheinen auch
Meißner wie „ein wahres Wunder": 83), Laborderie 114.
354 Anhang I

Daß das Gespräch auf den Leser ,übergreift', besagt nichts anderes,
als daß er über das Gelesene — nachdenkt. Denn das ,Gespräch der
Seele mit sich selbst' ist das Denken. Bekanntlich war es Piaton selbst,
der mit dieser überaus einprägsamen Metapher das Hin und Her des
diskursiven Denkens erfaßte, das die verschiedenen, oft antithetischen
Denkmöglichkeiten nacheinander durchmustert und sich so zu einer
Lösung — sozusagen zu einer Homologie als Ziel und Endpunkt des
,Gesprächs' — vortastet. Was aber Piatons Metapher gewiß nicht
wegleugnen wollte, ist der wesentliche strukturelle Unterschied zwischen
solchem ,Gespräch' und der Unterredung mit dem anderen Menschen:
im Gespräch der Seele kommt alle Bewegung des Gedankens aus ein und
demselben Bewußtsein, während das Gespräch mit dem leibhaftigen
Gegenüber den Sprechenden in Bezug setzt zu einem fremden Bewußtsein,
das über eine eigene Dynamik verfügt. Diese unverfügbare Dynamik des
Fremdbewußtseins - die den Philosophierenden zu letzter Strenge im
Denken zwingen kann, worin in existenzphilosophischer Sicht der Ernst
der existentiellen ,Begegnung' gründet — kann aber durch keine Form
des Schriftgebrauchs ersetzt werden, da die Aktivierung der im Text
angelegten Verstehensmöglichkeiten notwendig die eigene Bewußtseins-
arbeit des Lesers bleiben muß. Diese eigene geistige Dynamik des Lesers
bestimmt die ,Zwiesprache mit dem Text' in einem weit ausschließliche-
ren und fundamentaleren Sinn, als die eigene Verstehensarbeit (die
allerdings auch dem gesprochenen Wort gegenüber aufzubringen ist) das
Gespräch unter Partnern bestimmt: das Verständnis des persönlich
Angesprochenen schlägt sich in seiner spontanen Antwort nieder und ist
so der unmittelbaren Kontrolle und Korrektur durch den anderen
ausgesetzt. Hingegen ist der Leser für alle gedankliche Bewegung, die
sich nicht mit einer im Dialog festgehaltenen Äußerung direkt zur
Deckung bringen läßt, zugleich Initiant und Kontrollierender, Fragender
und Antwortender in einem. Der Text mag ihm bei dieser oder jener
Antwort ,Widerstand leisten' - was wieder nichts anderes ist als eine
Metapher dafür, daß er bei einer Antwort noch Schwierigkeiten sieht (ein
anderer Leser wird bei derselben Antwort keine Schwierigkeit erkennen,
ihm ,leistet' der Text dann keinen ,Widerstand'). Ob aber und wie dieser
,Widerstand' überwunden werden kann, entscheidet der Leser nach seiner
eigenen Dynamik und seiner eigenen Kunst des Interpretierens: ,der Text'
schweigt (oder ,stimmt zu'?), ob nun ein Kantianer oder ein Hegelianer,
ein Proklianer oder ein Wittgensteinianer verkündet, allein bei Annahme
seiner Prämissen lasse sich Piaton widerspruchsfrei' erklären.
Die moderne Theorie der Dialogform 355

In d e r , Z w i e s p r a c h e m i t d e m T e x t ' ist d e r L e s e r in W i r k l i c h k e i t m i t
sich allein. Der Text muß ihm zum Material werden, kann ihm
die i r r e d u z i b l e Andersheit fremder Spontaneität nicht ersetzen. Der
m e t a p h o r i s c h e G e b r a u c h des W o r t e s , Z w i e s p r a c h e ' v e r d e c k t die f u n d a -
m e n t a l e V e r s c h i e d e n h e i t des , G e g e n ü b e r s ' b e i m U m g a n g m i t d e r Schrift
u n d b e i m U m g a n g m i t d e m l e b e n d i g e n P a r t n e r . A u f diesen U n t e r s c h i e d
will j e d o c h P i a t o n i m P h a i d r o s m i t seiner B e t o n u n g d e s u n l e b e n d i g e n ,
festgelegten, reaktionsunfähigen C h a r a k t e r s der Schrift hindeuten32.
M e t a p h o r i s c h ist d a n n a u c h alles, w a s a n B e s t i m m u n g e n d e s D i a l o g s
a u s dieser g r u n d l e g e n d e n V e r w i s c h u n g d e r G r e n z e n f o l g t : die , F ä h i g k e i t ' ,
d e m U n g e e i g n e t e n g e g e n ü b e r zu , s c h w e i g e n ' , d a s e i g e n t l i c h Gemeinte
n i c h t p r e i s z u g e b e n , ist in W i r k l i c h k e i t d a s p a s s i v e r l i t t e n e M i ß g e s c h i c k
des D i a l o g s , a u f zu n i e d r i g e m N i v e a u a u s g e l e g t zu w e r d e n ; d i e , F ä h i g k e i t ' ,
seinen P a r t n e r a k t i v zu » w ä h l e n ' , ist in W i r k l i c h k e i t d e r u n b e e i n f l u ß b a r e
G l ü c k s f a l l , v o n e i n e m p h i l o s o p h i s c h D e n k e n d e n ergriffen zu w e r d e n ; die
, F ä h i g k e i t ' , sich d u r c h V e r b o r g e n b l e i b e n g e g e n A n g r i f f e zu s c h ü t z e n , ist

32 Die Abhebung der Zwiesprache mit einem antwortenden Partner von der .Zwiesprache'
mit dem zu lesenden Text will selbstverständlich Bedeutung und Nützlichkeit der
literaturtheoretischen Versuche, die ,Interaktion zwischen Leser und Text' genauer zu
erfassen, in keiner Weise in Frage stellen. In der modernen Literaturtheorie war und
ist man sich stets bewußt, daß diese ,Interaktion' (a) sich in ein und demselben
Bewußtsein abspielt und von intersubjektiver Kommunikation spezifisch verschieden
ist und (b) nicht das Merkmal der Wirkungsweise einer bestimmten Gattung im
Gegensatz zu anderen Gattungen sein kann. Wenn diese beiden Punkte in der
Dialogformtheorie Schleiermacherianischer Art nicht implizit geleugnet oder zumindest
verwischt wären, könnte sie Wertvolles zur Beschreibung der Wirkungsweise der
Dialoge beitragen. Zur Interaktion von Text und Leser vgl. W. Iser, Die Appellstruktur
der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 4 1974;
ders., Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976; H. Ruthrof,
The Reader's Construction of Narrative, London 1981. — Daß sein Begriff der
.Zwiesprache mit dem Text' eine bloße Metapher ist, scheint Meißner irgendwie
bewußt zu sein (der Leser werde „sozusagen zum Gespräch mit den Dialogen" verlockt
83, er muß „gewissermaßen .Zwiesprache' mit dem Text halten" 212, vgl. 116, 194).
Vergeblich versucht er, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu umgehen mit der
Versicherung, „daß diese Zwiesprache nicht vom Leser allein getragen wird, sondern
... erst durch die entsprechende Zwiesprache-Kunst des Autors ermöglicht wird" (83).
Gewiß, der Dialog kann die Fragen des Lesers in gewissem Umfang lenken (wie andere
Texte übrigens auch, s. unten zu These 5); über Anfang und Ende, Zielsetzung und
Qualität, Gesinnung und Ergebnis solchen Fragens ist der Autor jedoch nicht mehr
Herr. Eben hierauf kommt es aber allein an in dem, was Piaton philosophische διδαχή
nennt. - Klarer sieht Bröcker: „Am Leser liegt es, ob diese Schriften ... antworten,
wie ein Gesprächspartner" (1. c. 558), wo freilich der scheinbar harmlose Nachsatz „wie
ein Gesprächspartner" doch wieder auf die antiplatonische Mißdeutung des Buches als
eines aktiven Gegenübers führt. - Die „Zwiesprache" ist zentral auch für Roloff,
Ebert, Friedländer, Klein, Rosen u. a. (Belege oben Anm. 31).
356 Anhang I

nicht aktive Gegenwehr, sondern das Urteil des einen Lesers, daß der
andere Leser, der Kritik geübt hat, das Wesentliche verfehlt hat -
während die Tatsache des vom Buchautor unerwiderten Angriffs unauf-
hebbar bestehen bleibt.
Mit dem Phaidros hat solche metaphorische Umdeutung nichts zu
tun: dort geht es um die persönliche Wahl eines Mitphilosophierenden
(λαβών ψυχήν προοήκουοαν 276 e)33, um philosophisch-pädagogische
Auswahl also, sodann um das freie Ermessen des ,Wissenden', das
Gespräch fortzuführen oder abzubrechen je nach dem erwarteten Er-
kenntnisgewinn beim Partner, schließlich um seine Fähigkeit, wiederum
nach freiem Ermessen seine Schrift gegen neue Fragen und Argumente,
die in ihr nicht berücksichtigt waren, mit neuen Antworten zu verteidigen
und sie so mündlich zu überbieten. Es geht im Phaidros, mit einem Wort,
um den Vorrang des mündlichen Philosophierens.
Das Herantragen unerfüllbarer Erwartungen an den Dialog und die
undiskutierte Annahme, diese Erwartungen seien unzweifelhaft erfüllt,
führten zusammen zu einer naiven Mystifikation, zu einem Traum
vom Dialogbuch als dem Überbuch, dem sicher lenkenden aktiven
philosophischen Partner über Jahrhunderte hinweg. Naiv ist diese
Mystifikation in zweifacher Hinsicht: einmal weil sie Piatons tiefes
Mißtrauen gegen die Sicherheit und Verläßlichkeit philosophischer Mit-
teilung durch die Schrift letztlich doch zu umgehen trachtet, und
zweitens weil sie der naheliegenden historischen Gegenprobe zu ihren
Behauptungen aus dem Weg geht.
Denn kann man wirklich behaupten, Piaton habe mittels der indirek-
ten Mitteilungsform seine Gedanken vor Mißverständnissen, insbeson-
dere vor dogmatischer Auslegung zu bewahren und das eigentlich
Gemeinte, aber nicht direkt Ausgesprochene ,eindeutig' zu vermitteln
vermocht? Für eine extreme, zu letzter Konsequenz vorgetriebene Variante
der Dialogformtheorie kann diese Frage zwar keinen Einwand bedeuten:
wenn etwa der „tiefere Logos" der drei Gleichnisse in der Mitte der
Politeia — nämlich daß sie „logologische", nicht ontologische Gleichnisse
sind - erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entdeckt wurde, so
heißt das strenggenommen nur, daß Piatons Hauptwerk bis in unsere
Tage keinen geeigneten' Leser fand 34 ; die indirekte Mitteilung bewährte
33
Meißner 85 Anm. 3 versucht die Stelle umzudeuten: sie meine den Fall, daß „die Schrift
einen geeigneten Leser findet". Das hieße griechisch περιτυχών ψυχή προοηκούα]
(mit dem λ ό γ ο ς γεγραμμένοο als Subjekt), nicht λαβών ψ υ χ ή ν προοήκουαιν (mit
dem Dialektiker als Subjekt).
34
Der Entdecker des tieferen Logos der Gleichnisse ist H. Meißner (194).
Die moderne Theorie der Dialogform 357

nach dieser Leseart über mehr als 2300 Jahre hin ihre ,Fähigkeit', den
Unphilosophischen gegenüber zu ,schweigen'. Dies führt indes wieder
nur auf den Solipsismus der zu Ende gedachten Dialogformtheorie, von
dem später die Rede sein soll.
Für die intellektuell anspruchsvolleren gemäßigten Varianten hinge-
gen, die davon ausgehen, daß Piaton seine Ziele „fast mit Jedem" — so
dachte noch Schleiermacher — oder doch mit Vielen erreichen wollte
und erreichte, wird der historische Befund nicht gleichgültig sein dürfen.
Ehrlicherweise wird man zugeben müssen, daß eine Einhelligkeit hinsicht-
lich des nicht direkt Ausgesprochenen, die der postulierten ,Eindeutigkeit'
entsprechen müßte, in der Piatoninterpretation allenfalls im Neuplato-
nismus innerhalb gewisser Grenzen bestanden hat und daß die direkte
Frage nach der Meinung des Autors — die doch durch die indirekte
Form eliminiert werden sollte 35 — zu allen Zeiten die Arbeit an Piaton
bestimmt hat und außer in der Zeit der skeptischen Akademie stets zu
einer dogmatischen Festlegung des philosophischen Credos Piatons
geführt hat. Gemessen an der Leistung für die Erkenntnisvermittlung,
die die moderne Theorie vom Dialog erwartet, hätte Piatons Versuch
mit der indirekten Mitteilungsform sowohl im Positiven wie im Negativen
zu einem vollständigen Fehlschlag geführt.
Aber welchen Grund haben wir für die Annahme, Piaton habe seine
Dialoge in dem naiven Glauben geschrieben, sie würden Mißdeutung
und Dogmatisierung seines Denkens verhindern? Es gehörte doch nicht
viel Prophetie dazu vorauszusehen, daß weniger originelle Philosophieleh-
rer wie etwa ein Albinos ein Bedürfnis haben würden, „die wichtigsten
Lehrmeinungen Piatons" schwarz auf weiß zusammenzustellen 36 , und
daß sie sich dabei durch die Dialogform in keiner Weise gestört
fühlen würden — zumal Piaton den Beginn der Absolutsetzung seiner
Philosophie, der mündlichen wie der geschriebenen, bei seinem treuen
Schüler Xenokrates wohl noch selbst beobachten konnte. Fehldeutungen
seiner Ideenlehre, wie er sie in Phaidon, Politeia, Symposion entwickelt
hatte, waren ihm nach dem Ausweis des Parmenides gleichfalls präsent;
und Mißverständnisse zeigten sich nicht nur bei beliebigen Lesern,
sondern beim bedeutendsten Denker neben ihm, bei Aristoteles.
Die Vorstellung vollends, Piaton habe aus lauter indirekt Angedeute-

35 Vgl. oben 348 ff. über die .Anonymität' Piatons, insbesondere das Zitat aus Ebert
(Anm. 24).
36 Der sogenannte Didaskalikos des Albinos (oder Alkinoos, 2. Jh. n. Chr.) beginnt: των
κυριωτάτων Πλάτωνος δογμάτων τοιαύτη öv TIC διδαοκαλία γένοιτο.
358 Anhang I

tem, das der Leser selbst dechiffrieren muß, ein eindeutig37 vernehmbares
Ganzes schaffen wollen, zeugt von einem Optimismus bezüglich der
Möglichkeiten philosophischer Verständigung, der mit dem Phaidros 38
schlichtweg nicht zu vereinbaren ist: beruht dort die Klarheit und
Verläßlichkeit wirklicher Belehrung auf der Möglichkeit der spontanen
Gegenfrage des vom ,Wissenden' ausgesuchten geeigneten' Partners und
ihrer auf ihn persönlich zugeschnittenen (277 b 8 — c 3) Beantwortung, so
soll nach dieser Auffassung das gleiche Ziel ebenso gut erreicht werden
können durch die ergänzende Gedankenarbeit des Lesers — eines
partners' also, dessen vielfältig bedingte Einstellung und Denkgewohn-
heiten dem Autor notwendig unbekannt sind und dessen Antworten und
Ergänzungen er prinzipiell nicht vollständig vorwegnehmen, geschweige
denn individuell vorbereiten kann 39 . Bei wachsender Komplexität der
verunsichernden und verwirrenden Faktoren auf unverändert sichere und
klare Belehrung zu hoffen, heißt am Geist der platonischen Schriftkritik
vorbeidenken.
Im Verlauf unserer Untersuchung hat sich denn auch gezeigt, daß
das, was im einzelnen Dialog neben dem klar Bezeichneten nur in
Andeutungen zugegen ist, nicht als das zwischen und hinter den Zeilen
zu Lesende aufzufassen ist, sondern als etwas, das expliziter Formulierung
durchaus fähig ist und diese auch erhält — entweder in anderen Dialogen
oder in der mündlichen Philosophie.

5.
Es ist unabdingbar für die Dialogformtheorie, die erwähnten Vorzüge
und Fähigkeiten des Dialogs als Eigenschaften zu verstehen, die allein
der indirekten dialogischen Mitteilung zukommen. Denn wenn die gleiche
37
Daß das im Dialog Fehlende als die „einzig mögliche Lösung" zu verstehen sei (so als
sei das Verstehen eines Dialogs nichts als die Auflösung eines Rechenexempels), vertrat
schon Schleiermacher, Einleitung 16. Dieser für die Theorie konstitutive Gedanke
gewinnt besonderes Gewicht bei Roloff (ζ. B. 24, 26, 27, 30f.) und Meißner (passim).
38
Noch viel weniger mit dem 7. Brief. Mit Rücksicht auf die — doch wohl unbegründeten
— Zweifel an der Echtheit verzichte ich in diesem Abschnitt darauf, den unter dem
hier verfolgten Aspekt noch eindeutigeren philosophischen Exkurs' (342 a - 344 d)
heranzuziehen. Vgl. Anhang III.
" Zur Seelenführung durch den Dialektiker gehört das Eingehen auf den Partner. Bei
Roloff etwa reduziert sich das richtige Lesen des .geeigneten' Lesers auf die Auflösung
der unzähligen „logischen Unzulässigkeiten" des Textes (27 u. ö.), die ,Eignung' der
ψυχή προοήκουοα mithin auf Scharfsinn und Logik. Wie unplatonisch das ist, zeigt
(neben dem 7. Brief ζ. B. auch) Politela 519 a. Was bei Piaton nur die persönliche
philosophische διδαχή vermag, kann bei Roloff auch die formale logische Schulung
leisten: er übersieht, daß das Aufdecken von logischen Schnitzern und Fallen lehrbar
Die moderne Theorie der Dialogform 359

Leistung für die Aufgabe der Erkenntnisvermittlung auch auf anderem


Wege erbracht werden kann, so wird die Behauptung hinfällig, daß die
Form des Dialogs für den Inhalt notwendig ist; wenn andere Formen der
schriftlichen Mitteilung dasselbe vermögen, so wären auch sie, wie bisher
nur der Dialog, von Piatons Schriftkritik auszunehmen — aber die
Anerkennung von mehr als nur einer signifikanten Ausnahme würde
diese Kritik als Ganzes sachlich entwerten. Die Grundlagen der Dialog-
formtheorie geraten ins Wanken, wenn ihre Beschreibung der Wirkungs-
weise des Dialogs nicht auf dialogspezifische Eigenschaften führte.
Nun bringen es die im vorangehenden Abschnitt erörterten metapho-
rischen Umdeutungen mit sich, daß die Eigenschaften, die Piaton im
wörtlichen Sinn verstand und allein der mündlichen Darlegung des
Philosophen zuordnete, in dem neuen, metaphorischen Sinn nicht allein
auf den geschriebenen Dialog ausgedehnt werden können (und müssen),
sondern auch auf andere Arten der schriftlichen Erkenntnisvermittlung.
Die Metaphorik, die die Sonderstellung des Dialogs im Kontext der
Schriftkritik zu retten bestimmt war, hebt sie auch wieder auf.
Denn prinzipiell ergeht es dem Leser bei anderer Lektüre nicht anders
als bei Piaton: auch ein Gedicht von Hölderlin ,schweigt' gegenüber dem
Ungeeigneten, auch Nietzsches Zarathustra ,wählt' sich seit jeher seine
Leser selbst, ebenso wie Hegels Phänomenologie des Geistes. Auch
Heideggers Sein und Zeit will so gelesen sein, daß der Leser sich selbst
in den Gedankengang einbezieht, und das galt schon für Augustinus'
Confessiones und für Epikurs Kyriai Doxai. Auch die Holzwege wollen
in langer ,Zwiesprache mit dem Text' befragt werden, bevor sie dem
Geeigneten (und nur ihm) ,Antwort geben' 40 . Sophokles' Antigone
erschließt ihren Sinn nur, wenn der Interpret die ,Zwiesprache' mit dem
Text sucht (und nicht die Bestätigung eines mitgebrachten Denkschemas:
Kreon und Antigone wie These und gleichberechtigte Antithese — so

und .direkt' übertragbar ist, es ist, wenn irgend etwas, βητόν (be άλλα μαθήματα.
Damit entfiele der eigentliche Grund für Piatons Flucht in die indirekte Mitteilung.
40 Von Hölderlins Gedichten sprach Norbert von Hellingrath als von „Werken, die immer
nur wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, den Meisten ganz schweigen" (zitiert bei
B. von Heiseler, Einleitung zu: Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke, 1954, 5).
Adalbert Stifter sagte von seinen Werken: „das Beste dichten edle, fühlende lesende
Seelen erst hinzu" (zitiert von M . Pape, N Z Z vom 8./9. August 1981, Nr. 185, S. 59);
Jaspers beschrieb seine „Psychologie der Weltanschauungen" (1919, 1954 4 ) im Vorwort
als „Appell an die freie Geistigkeit und Aktivität des Lebens"; die Vorzüge, die naive
Piatonbegeisterung allein dem Dialog zuschreibt, eignen selbstverständlich auch dem
Volksmärchen, vgl. B. Bettelheim, Kinder brauchen Märchen (engl. 1975), dt. 1980, dtv-
Ausgabe S. 53, 55, 194.
360 Anhang I

die bekannte Fehldeutung Hegels). Und Antigones letzte Rede vermochte


sich selbstverständlich auch vor dem Angriff Goethes zu ,schützen',
indem sie ihren tieferen Sinn dem Verständnis des unberufenen (?)
Kritikers entzog 4 1 .
Wir gewahren hier einen weiteren Aspekt der bereits beschriebenen
Mystifikation des Dialogs: die Dialogformtheorie versäumte nicht nur,
ihre Auffassung anhand des Schicksals der platonischen Werke im
Piatonismus zu kontrollieren, sondern ging auch einem kritischen Ver-
gleich der erkenntnisfördernden Leistung des Dialogs mit der Leistung
anderer Formen der schriftlichen Gedankenvermittlung aus dem Weg.
Unbeachtet blieb neben anderem, daß die Theorie einer Kunst des
hintergründigen' Schreibens, die einzig den philosophischen Dialog vor
der Schriftkritik rette, gerade Piatons unphilosophischem Zeitgenossen
Isokrates bekannt war, der auch ihre Anwendbarkeit auf seine eigenen
undialogischen Werke zur Diskussion stellt (wobei er, in sehr gedankensti-
mulierender Weise, selbst nicht Stellung bezieht) 42 .
Ein solcher Vergleich der erkenntniserweckenden Wirkung der ver-
schiedenen Arten des Schriftgebrauchs hätte gerade den besonnenen
Vertretern der Theorie gut angestanden, die weniger von der ,Wahl' des
Partners, von ,Schweigen' und ,Sich selbst helfen' reden, sondern allge-
mein von der Fähigkeit der Schrift, „Denken als Selbsttätigkeit" in Gang
zu setzen. Es ist zweifellos eine sinnvolle Behauptung, daß die platoni-
schen Dialoge, insbesondere die Frühdialoge, diese Fähigkeit in hohem

41 Es ist eine in der Sophoklesliteratur weit verbreitete Ansicht, daß Goethes Kritik an
Ant. 904 ff. (in den Gesprächen mit Eckermann, 28. 3 . 1 8 2 7 ) das Wesentliche verfehlt; ich
bin mir dessen weniger sicher (s. Bemerkungen zur Diskussion um Soph. Ant. 904 — 920,
R h M 124, 1981, 1 0 8 - 1 4 2 ) , doch kommt es nicht darauf an, wer hier recht hat: das
Beispiel soll lediglich zeigen, daß bei einem metaphorischen Verständnis von βοηθειν
τφ λόγφ auch der Sophoklestext die Fähigkeit gewinnt, sich zu ,helfen'. Daß aber auch
die Bühnendichter somit ohne weiteres zu φιλόοοφοι werden, war gewiß nicht in
Piatons Sinn. Daß die Dichtung für Piaton nicht den Rang der Philosophie haben kann,
erkennt auch Laborderie 104 an, obschon seine ganze Rettung des Dialogwerks vor der
Schriftkritik Piatons auf einer Korrektur von Piatons Dichterkritik beruht.
42 Im Panathenaikos 240 ff. skizziert Isokrates eine Theorie der λόγοι άμφίβολοι, die auf
verschiedene Leser, die Oberflächlichen und die Gründlichen, je verschieden wirken.
So schreiben zu können sei καλόν και φιλόοοφον. Vgl. hierzu Chr. Eucken, Leitende
Gedanken des isokratischen Panathenaikos, M H 39, 1982, 43 — 70; Chr. Schäublin,
Selbstinterpretation im Panathenaikos des Isokrates? ib. 165 —178. — Zu erwähnen
wäre ferner, daß man in der späteren Antike die Fähigkeit, sich nur dem kompetenten
Leser zu entdecken, gerade derjenigen Darstellungsart zuschrieb, die die moderne
Theorie in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum Dialog bringen will: der „Lehr-
schrift" vom Typ der aristotelischen Pragmatien (so im pseudoaristotelischen Brief an
Alexander bei Gellius 20.5.12 = Simpl., Phys. 8 . 2 6 - 2 9 D.).
Die moderne Theorie der Dialogform 361

Maße besitzen. Um von hier aus auf den Dialog als die „einzig legitime"
Form der philosophischen Mitteilung schließen zu können, wäre jedoch
die zusätzliche Behauptung erforderlich, daß philosophische Werke von
anderer innerer Struktur diese Fähigkeit entweder gar nicht oder in
unendlich geringerem Maße besitzen. Daß diese zweite Behauptung
ebenso unzweifelhaft unsinnig ist, wie die erste sinnvoll war, wird unter
Kennern keiner langen Diskussion bedürfen: zu Piatons Zeit boten
Parmenides' Lehrgedicht und Heraklits Sprüche den lebendigen Beweis
des Gegenteils. Ähnliches sehen wir in der Neuzeit: Humes skeptischer
Ansatz in der Enquiry Concerning Human Understanding, Kants koperni-
kanische Wende in der Kritik der reinen Vernunft, Wittgensteins zweima-
liger Versuch, im Tractatus und in den Philosophischen Untersuchungen,
die Philosophie selbst zu überwinden, haben seit ihrem Erscheinen die
philosophisch Befähigten mit gleicher Intensität in ihren Bann gezogen
wie Piatons ,Umkehrung der gesamten Seele' im Staat, und werden es
vermutlich auch in Zukunft tun. Es ist letztlich allein die Bedeutung des
Gesagten, was das eigenständige, kritische Denken dauernd in Gang hält.
Und wieder besteht Anlaß, vom historischen Befund zurückzufragen
nach den Überzeugungen Piatons: mit welchem Recht schreiben wir ihm
einen naiv-optimistischen Glauben an eine singulare geistige Zeugungs-
kraft einer bestimmten Mitteilungsform zu — ihm, für den allein die
Frage Gewicht hatte, πότερον άληθέο λέγεται ή ου, und der die
Möglichkeiten jedweder schriftlichen Verständigung negativer beurteilte
als je ein Denker nach ihm?

6.

Als Denkmittel der Dialogformtheorie begegneten uns bisher die


apriorische Vorwegnahme des Beweisziels, die willkürliche Festlegung
der Bedeutung griechischer Termini, die metaphorische Umdeutung
platonischer Begriffe ohne Rücksicht auf die Intention des Textes, der
Verzicht auf den kontrollierenden Vergleich mit der historischen Realität.
Ergänzend sei darauf hingewiesen — nicht im einzelnen nachgewiesen:
das ist vielmehr eine Nebenaufgabe unserer ganzen Untersuchung —,
daß die Dialogformtheorie ohne selektive Textauslegung, ohne das
Umgehen bestimmter platonischer Positionen und Aussagen, nicht weiter-
bestehen könnte.
Um zunächst beim Grundtext aus dem Phaidros zu bleiben: wo das
Schweigen des Philosophen nicht in das ,Schweigen' des Dialogbuches
362 Anhang I

umgedeutet wird, dort wird es mit Stillschweigen übergangen 43 . Dabei


ist nichts so verwunderlich und dem modernen liberalen Zeitgeist so
fremd wie die Forderung, der Philosoph sollte verstummen; unser
Jahrhundert erwartet von jedem, daß er offen rede, gleichgültig wer
zuhört. Hierher gehört auch die Verächtlichmachung der möglichst
weiten Verbreitung des Buches durch Piaton 44 — für uns ist die
Verbreitung von Wissen und Einsicht uneingeschränkt ein Positivum.
Hier wäre also der erste Unterschied unserer Einstellung zur platonischen
klar zu fassen — eben deswegen werden diese Züge des Textes ignoriert.
Gewichtiger ist der Verzicht auf die Möglichkeit, die Gedankenbewe-
gung des Phaidros für die Deutung des Schlußteils nutzbar zu machen:
sie schließt — ebenso wie der recht verstandene Schlußteil selbst — aus,
daß eine bestimmte Art von schriftlicher Darlegung von der generellen
Kritik der Schrift nicht betroffen wäre 45 . Entscheidend ist vollends das
Versäumnis, den Schlüsselbegriff des βοηθεΐν einer unvoreingenommen
philologischen Überprüfung anhand der Dialoge zu unterziehen 46 . Und
all diese Selektion unter den behandlungswürdigen Themen würde noch
nichts nützen, wenn sie nicht ergänzt würde durch eine Behandlung der
platonischen Aussparungsstellen, die durch Willkür in der Auswahl,
Fehldeutung des Wortlauts und Mißachtung der kompositionellen Funk-
tion dieser Stellen bestimmt ist 47 .
Erst recht herrscht Willkür in der Kombination platonischer Beleg-
stellen. Der Versuch, Äußerungen Piatons aus verschiedenen Werken zur
gegenseitigen Erhellung nebeneinander zu stellen, entspricht natürlich
guter philologischer Methode - vorausgesetzt, daß er gelenkt ist von
dem Grundsatz, daß jede Stelle zuvor soweit als möglich aus ihrem
eigenen Kontext zu erklären ist. Die Mißachtung dieses Grundsatzes hat
dazu geführt, daß man die ,kleine Andeutung', die Piaton im 7. Brief

43 So ζ. B. bei Gundert (1) 10 in einem Referat von Phdr. 275 d - 2 7 6 a; Watson 7 bringt
es fertig, in einem wörtlichen Zitat die entscheidenden Worte zu überspringen.
44 όταν δέ άπαξ γραφή, κυλινδεΐται πανταχού nàc λόγος 275 d 9 - e 1; der pejorative
Ton dieser Worte ist nicht zu verkennen.
45 S. oben 24 - 48. - Wo der Gesamtablauf des Dialogs nicht vernachlässigt wird, herrscht
die Tendenz vor, ihn mittels der vorgefaßten Meinungen über die Aussage des Schlußteils
zu deuten, ζ. B. bei Klein 13 - 1 6 , Laborderie 84, 96 - 98.
46 Auch Meißner, der sonst für seine „tieferen Logoi" (s. oben 346 Anm. 20) gerne
,Parallelen' anführt, verzichtet darauf im Fall seiner Umdeutung von βοηθεΐν.
47 Zu den Aussparungsstellen der Politela s. 3 0 4 - 3 2 5 . - Zur gängigen unmethodischen
Behandlung von Piatons Andeutungen über Fehlendes vgl. meine Sammelrezension
GGA, 230, 1978, 12, 19, 24.
Die moderne Theorie der Dialogform 363

erwähnt - freilich nicht als Mittel der literarischen Darstellung - ,


als integralen Teil der Gedankenführung im Schlußteil des Phaidros
behandelte 48 , daß man das „öffnen" der sokratischen Logoi nach
Symposion 222 a unreflektiert auf die indirekte Mitteilungsform bezog 4 ',
daß man die Aussagen des 2. Briefes über Piatons ουγγράμματα auch
im 7. Brief wiederfand und so Piaton selbst unterlegte50 und daß man
schließlich die klare Trennung von schriftlichem ,Spiel' und mündlichem
,Ernst' im Phaidros durch den Hinweis auf anderweitig bezeugtes
,ernsthaftes Spiel' zu unterlaufen suchte51 — ohne zu bemerken, daß
diese scheinbar hilfreiche Formel im Phaidros unter dem Titel des
,schönen Spiels' des Philosophen bereits vorgegeben ist, natürlich nicht
als Überwindung der Alternative Spiel-Ernst, sondern als Benennung des
schriftlichen Spiels.
Es geht hier nicht darum, einzelnen Interpreten einzelne Auslassungen
und Inkonsequenzen vorzuhalten — ist doch zugestanden, daß keiner

48
Schaerer (La question platonicienne, études sur les rapports de la pensée et de
l'expression dans les Dialogues, Neuchâtel 1938 [ = Paris Ί969]) 16, Roloff 5ff.,
Meißner passim. Roloff weiß zwar, daß die ομικρά ^νδειξιο nicht in den Phaidros
gehört: sie sei dort „unterschlagen" (30). Da aber Unterschlagung für ihn ohnehin ein
Kennzeichen platonischer Darstellungsweise ist, kann er die ενδειξις ergänzen, wo
immer es ihm gut scheint. Vgl. oben 343 mit Anm. 13.
*' Rosen XIX, Meißner 211, Vgl. oben 347 Anm. 21.
50
Epist. 2, 314 c und Epist. 7, 341 c in eins zusammengezogen bei Merlan (1. c. oben
Anm. 24) 34, vgl. 43; ähnlich Rosen XIII; Laborderie 86 äußert zwar Zweifel an der
Echtheit des 2. Briefes, scheint im übrigen aber keinen Unterschied zur Aussage des
7. Briefes anzunehmen. - Friedländer I 254 - 259 versuchte eine .ironische' Interpreta-
tion des 2. Briefes. (Wenn es mehr Beispiele von ,Ironie' auf so niedrigem Niveau bei
Piaton gäbe, würde ihn heute wohl kaum noch jemand lesbar finden.)
51
„As the Epinomis says (992 b), the most truly wise man is playful and serious at the
same time" Guthrie IV 64; dort auch der Verweis auf Epist 6, 323 d ciiouôrj μή άμούοφ.
Guthries Kapitel über ,Spiel' und ,Ernst' (wie auch das bei Roloff 8 ff.) krankt daran,
daß es nirgends eine sachliche Beziehung der zahlreich zitierten παιδιά-Stellen zur
Problematik des Phaidros nachweisen kann. Die Epinomis-Stelle ist überdies unrichtig
wiedergegeben: dort sagt der Autor — den wir nicht mit Piaton gleichsetzen sollten,
s. Taran (I.e. oben 78 Anm. 18) 24 - 47 - , er versichere παίζων και οπουδάζων &μα,
daß der Weise im Tod glücklich sein werde. - Die Kontamination von παιδιά-Stellen
ist keine Neuerung von Guthrie; vgl. schon Klein 18, 27, der seinerseits von Friedländer
1125 ff. beeinflußt scheint; für Schaerer 20 war die Dialektik selbst ein Spiel (die ,Belege'
Politela 536 c und 378 d sind trügerisch); das Überspielen der Grenze zwischen Ernst
und Spiel ist auch der Leitgedanke bei Gundert (1), bes. 16 (wörtlich übernommen von
Guthrie IV 65) und Roloff („Spiel und Ernst ... verschmelzen" 5). Ebert 27 versucht,
den παιδιά-Begriff historisch einzuengen auf rhetorische παίγνια und so von den
Dialogen fernzuhalten. (Eine ähnliche Einengung auf dem Umweg über den Mimesis-
Begriff, mit dem Piaton angeblich „die Dichter seiner Zeit " treffen wollte, findet sich
schon bei Friedländer I 126.)
364 Anhang I

alles mit gleicher Sorgfalt wird behandeln können. Es geht darum, zu


zeigen, daß einem zusammenhängenden Komplex von Fragen, die sich
unmittelbar aus der Lektüre der vielbehandelten Grundtexte ergeben, die
längst fällige Behandlung nach den üblichen philologischen Methoden
verweigert wird, und daß diese Verweigerung nicht von ungefähr kommt,
sondern durch das spezifische antiesoterische Erkenntnisinteresse der
Dialogformtheorie diktiert ist.

7.

Polemik gegen das esoterische Piatonbild findet sich bei fast allen
Interpreten, die die Dialogformtheorie ganz oder teilweise übernommen
haben 52 . Gewöhnlich erscheint sie als ein bloßes Corollarium, als
ungesuchtes Nebenergebnis: man ist sich der Tatsache nicht mehr
bewußt, daß die Frontstellung gegen eine falsch gedeutete Esoterik
bei der Entstehung der Theorie Pate gestanden und nicht nur ihre
Zwecksetzung, sondern auch ihren Inhalt wesentlich mitbestimmt hat.
Der Verdacht auf polemische Verzerrung der Optik schon am
Ursprung scheint freilich unbegründet, basiert doch Schleiermachers
Entwurf, wie er sagt, auf einer „kritischen Sichtung" 53 der Vorstellungen
von ,Esoterik' und ,Exoterik', deren Ergebnis lautet: „das unmittelbare
Lehren (ist) allein sein (Piatons) esoterisches Handeln gewesen, das
Schreiben aber nur sein exoterisches." N u r beim unmittelbaren Lehren,
also im ,esoterischen Handeln' der mündlichen Philosophie, konnte
Piaton „seine Gedanken rein und vollständig aussprechen", dann nämlich,
„wenn er erst hinlänglich gewiß war, die Hörer seien ihm nach Wunsch
gefolgt." 54
Hier scheint platonische Esoterik anerkannt und überdies korrekt
gedeutet zu sein: sie hat mit,Geheimnissucht' und Obskurantismus nichts
zu tun, sondern ist motiviert durch die Sorge um ein angemessenes
Verständnis des mitzuteilenden Inhalts. Und diesen Inhalt trug Piaton
„rein und vollständig" nur mündlich vor.

" Ζ. B. Friedländer I 68, Merlan 45 f., Klein 21, Rosen X V f., X X V I f. (Rosen versucht,
eine positive Haltung zum Fragenkomplex der Esoterik einzunehmen; indem er aber
eine ,esoteric teaching' in den Dialogen findet (XVII) und ,esotericism' durch Ironie
wegerklären will, unterscheidet er sich schließlich doch kaum von anderen Antiesoteri-
kern), Ebert 2 (vgl. 213), Meißner 11, Laborderie 63 f.
53
„Denn jene Vorstellungen von einem esoterischen und exoterischen bedürfen einer
kritischen Sichtung" (Einleitung 11).
54
Einleitung 17.
Die moderne Theorie der Dialogform 365

Schleiermachers Anerkennung von Esoterik ist indes nur eine schein-


bare: die zitierten Worte sind nur ein Nachtrag zu seiner noch zu
erörternden Umdeutung der inhaltsbezogenen Esoterik in eine ,innere'
Esoterik und finden ihre Fortsetzung in der Versicherung, die Darstellung
der Philosophie sei in Piatons Werken „in demselben Sinne fortschreitend"
wie in der mündlichen Lehre. „In demselben Sinne fortschreitend" heißt
aber: dieselben Inhalte durchlaufend (gemäß dem von Schleiermacher
angenommenen dialektisch-systematischen Plan des platonischen Ge-
samtwerks). Und die Bestimmung, mit der ein inhaltliches Plus des
esoterischen Lehrens behauptet schien — nämlich daß Piaton seine
Gedanken nur vor Hörern, die ihm hinlänglich gefolgt waren, „rein und
vollständig" aussprach —, bezieht ihren Sinn allein aus dem Gegensatz
zu den kurz vorher genannten Mitteln der indirekten Mitteilung, deren
wichtigste das unzusammenhängende Andeuten, das Verdecken und das
Nichtaussprechen des Intendierten sind". Da das Intendierte indes
stets als „die einzig mögliche Lösung" 56 deutlich erkennbar hinter der
unvollständigen und verdeckenden (d. h. nicht „reinen") Mitteilung steht,
kann die Umsetzung der indirekten Mitteilung in ein „reines und
vollständiges" Aussprechen beim mündlichen Philosophieren von vorn-
herein nicht auf zusätzliche Inhalte führen — natürlich stets unter der
Voraussetzung, daß die Darstellung der Philosophie in Lehre und Schrift
„in demselben Sinne fortschreitend" war: das mußte sie freilich gewesen
sein, wenn anders der Schrift die Aufgabe gestellt ist, dieselbe Leistung
für die Vermittlung von Erkenntnis zu erbringen wie die mündliche
Lehre. Auch von dieser Seite57 zeigte sich mithin deutlich, daß der
Ausschluß inhaltlicher Esoterik durchaus nicht das Ergebnis einer in
dieser Frage unvoreingenommenen Analyse des tatsächlichen Vorgehens
der platonischen Dialoge ist, sondern vielmehr die unausgesprochene
Voraussetzung der Dialogformtheorie.
Genau besehen, ist Schleiermachers ,kritische Sichtung' so unkritisch
wie nur denkbar. Piatons differenzierten Erwägungen über die menschli-
chen und sachlichen Voraussetzungen philosophischer Verständigung
kann man nicht gerecht werden mit einer grobschlächtigen Alternative,
die nur die politische Geheimbündelei der Pythagoreer einerseits und die
publikumsgerechte Präsentation leichter (,exoterischer') und schwerer
(,esoterischer') Vorträge im Hellenismus andererseits kennt 58 .

" S. oben 347 mit Anm. 22. " Vgl. oben 358 Anm. 37.
57
Vgl. die Ausführungen zur Grundannahme der Dialogformtheorie oben 3 3 9 - 3 4 2 .
58
Einleitung 11. Ein Musterbeispiel rein rhetorischer Argumentation ist der Versuch zu
366 Anhang I

Nicht weniger befremdlich ist das Bild, das sich Schleiermacher von
Inhalt und Bezeugung der mündlichen Philosophie Piatons machte. Er
bestreitet, daß „echt geschichtliche Spuren" hiervon zu finden wären
(Einleitung 12). Er leugnet, daß Aristoteles eine andere Quelle der
platonischen Philosophie kannte als die Dialoge (Einleitung 13) -
was formal richtig ist, wenn unter „Quelle" mit Schleiermacher eine
esoterische Schrift Piatons verstanden werden soll; daß sich Aristoteles
in der Physik auf αγραφα δόγματα Piatons beruft und sie als Quelle
gegen den Dialog Timaios setzt, hätte in diesem Zusammenhang gleich-
wohl nicht fehlen dürfen. Statt dessen räumt Schleiermacher lediglich
sehr vage ein, daß Aristoteles „hie und da andere verlorene oder vielleicht
auch mündliche Belehrungen anführt", die jedoch „keineswegs etwas in
unseren Schriften unerhörtes oder gänzlich von ihnen abweichendes"
enthielten. Wer so formuliert, kann das Piatonbild der aristotelischen
Metaphysik nicht gekannt haben, ebensowenig Alexanders Bezeugung
der aristotelischen Nachschrift der Vorlesung ,Über das Gute' oder
Theophrasts Kritik an der Metaphysik Piatons 59 .
Zur Unkenntnis von Quellenlage und Motivation der platonischen
Esoterik kommt die Fixierung auf einen gänzlich abwegigen Begriff von
Esoterik: wie mehrere Stellen seiner,Einleitung' zeigen, bedeutete Esoterik
für Schleiermacher in erster Linie esoterische Schriften, die einer geheimen
Auslegung zu unterwerfen wären' 0 . Diese Vorstellung, für die wohl
sektiererische Träume von einer ,wahren' Auslegung von Schriften wie
der Geheimen Offenbarung das Modell abgaben, mag damals verbreitet
gewesen sein 61 , und es ist gewiß verdienstvoll, daß sie nunmehr von
zeigen, daß der hellenistische Typ von Esoterik auf Piaton nicht anwendbar sei: da die
Gegner annähmen, daß die Dialoge schwer sind, müßten sie auch „gestehen, daß Piaton
ihnen das schwerste und geheimnisvollste seiner Weisheit ebenso gut hätte anvertrauen
gekonnt, als das übrige" (Einleitung 11). Dies suggestive „ebenso gut" wird widerlegt
durch Stellen wie Tim. 28 c (den Demiurgos zu .finden' ist schwer, das Gefundene allen
mitzuteilen unmöglich) oder Politela 533 a (die dialektische Erörterung des Begriffs des
Guten wäre für Glaukon, und das heißt: für den veröffentlichten Dialog Politela, zu
schwer).
59 Gewiß wäre es ungerecht, von Schleiermacher die Kenntnis der Ergebnisse der Περί
τάγαθοΰ-Forschung des 20. J h . zu verlangen. Doch scheint ihm auf diesem Gebiet auch
das Grundlegendste nicht hinreichend vertraut gewesen zu sein.
60 Einleitung 11: „welche Schriften des Piaton exoterisch wären und welche esoterisch",
12: „die geheimen Lehren in den esoterischen Schriften". D a ß Aristoteles keine andere
Quelle der Philosophie Piatons kannte als wir, folgt für Schleiermacher daraus, daß er
keine esoterischen Schriften zitiert (13). Solche Schriften würden „ein geheimes
Verständnis", „eine geheime Auslegung" verlangen (ib.).
" Laborderie 63 zitiert hierfür Tennemann, System der platonischen Philosophie, Leipzig
1 7 9 2 - 9 5 , 128.
Die moderne Theorie der Dialogform 367

Platon energisch ferngehalten wurde. Fast unverständlich ist aber, wie


Schleiermacher sich mit der Abweisung dieses falschen Begriffs von
Esoterik begnügen konnte, statt sich von ihm zu einer ,kritischen
Sichtung' anregen zu lassen, die diesen Namen wirklich verdiente.
Die Nachfolger Schleiermachers haben diesen engen Begriff von
Esoterik zwar nicht beibehalten, doch blieb man seinem Vorbild darin
verpflichtet, daß man weiterhin einer philologisch fragenden, und das
heißt zugleich: einer historisch orientierten Klärung des Phänomens aus
dem Weg ging und statt dessen die oberflächliche Gleichsetzung von
Esoterik mit Geheimniskrämerei und Geheimlehre aufrechtzuerhalten
suchte, wobei man den neuzeitlichen Willen zur unbeschränkten Publizität
unkritisch auf Piaton übertrug". Auch Schleiermachers Unkenntnis der
Quellen konnte in ihrer kruden Form nicht weiter bestehen, sie wirkt
jedoch fort in einer generellen Bereitschaft, die Quellen vor jeder
ernsthaften Prüfung für allzu lückenhaft, für tendenziös entstellt, für
unverständlich oder schlichtweg für irrelevant zu erklären 6 3 .
Der vorgefaßten Meinung über die Quellen entspricht eine vorgefaßte
Meinung über die gegnerische Position: die esoterische Auslegung, so
wird behauptet, werte die Dialoge ab oder erkläre gar ihren Inhalt für
falsch 64 . Weder haben Interpreten dieser Richtung solches behauptet,
noch wäre es mit der recht verstandenen Esoterik überhaupt vereinbar 65 .

" Mit Ausnahme der von Leo Strauss beeinflußten Interpreten. „A belief in the desirability
of frank and public discussion is a relatively recent phenomenon in Western thought,
and by no means one that has been universally accepted even among post-Enlightenment
writers" (Rosen X X V I f.; vgl. jedoch oben Anm. 52). Das Fortbestehen der Tendenz
zur Geheimhaltung auch im Jahrhundert der Aufklärung und darüber hinaus dokumen-
tiert der von P. Chr. Ludz herausgegebene Sammelband „Geheime Gesellschaften",
1979 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, V/1).
" Diese Bereitschaft beruht zu einem wesentlichen Teil auf der Wirkung der Arbeiten
von H. Chemiss (1. c. oben 78 Anm. 18; The Riddle of the Early Academy, Berkeley
1945), an die nach einer treffenden Bemerkung von J . N. Findlay viele nur zu gerne
glauben, auch wenn sie sie nicht gelesen haben. Im Bereich der vorsokratischen
Philosophie ist längst erkannt worden, daß Chemiss' Kritik am Wert der aristotelischen
Zeugnisse (Aristotle's Criticism of Presocratic Philosophy, Baltimore 1935) weit über
das Ziel hinausschießt (vgl. z. B. W. K. C. Guthrie, Aristotle as an Historian of
Philosophy, J H S 77, 1957, 35 - 41). - Die vorliegende Arbeit kann auf eine Behandlung
der δγραφα δόγματα verzichten, da es hier zunächst darum geht, die hermeneutischen
Fehlgriffe zu korrigieren, die zur Leugnung der mündlichen Prinzipienlehre führten.
Hingegen dürfte klar sein, daß Arbeiten, die diese Leugnung übernehmen oder
stillschweigend voraussetzen, sich der Auseinandersetzung mit der indirekten Platon-
überlieferung stellen müßten.
44 S. oben S. 18 Anm. 19.
" Hingegen ist es die These der konsequent zu Ende gedachten Dialogformtheorie (Roloff,
368 Anhang I

Beide Vorurteile dienen freilich dem Ziel, die eingefahrene communis


opinio dem Zwang zu einer ernsthaften Auseinandersetzung zu entziehen.

8.

Die Aufzählung der Mittel der indirekten Darstellung, durch die


Piaton sich die Möglichkeit geschaffen habe, lebendiges Denken auch
auf dem Weg der schriftlichen Mitteilung zu erwecken, mündet bei
Schleiermacher in die Schlußfolgerung: „Und so wäre dies die einzige
Bedeutung, in welcher man hier von einem esoterischen und exoterischen
reden könnte, so nämlich, daß dieses nur eine Beschaffenheit des Lesers
anzeigte, je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt
oder nicht" 6 6 . Das Erfassen oder Nichterfassen der Art, wie die indirekte
Darstellungsweise funktioniert, scheidet also .esoterische' und ,exote-
rische' Leser. Was Schleiermacher fordert, ließe sich als esoterisches
Lesen der Dialoge bezeichnen. ,Esoterik' ist nicht eine Frage der gezielten
Verbreitung unter den Zeitgenossen und der Art der ,äußeren' Bezeu-
gung für die Nachkommen, sondern des ,inneren' Verstehensvollzugs in
der Seele des Lesers. Die Forderung des esoterischen Lesens der Dialoge
ersetzt die,äußere' Esoterik der Überlieferung durch eine,innere' Esoterik
der Dialogform. Ihr Ziel ist die Elimination der Vorstellung, bestimmte
Inhalte könnten von der schriftlichen Darstellung ausgeschlossen sein.
Das Wesentliche liegt also in der Schrift vor und kann doch nicht
von jedermann ergriffen werden: es bedarf zusätzlich der besonderen
Interpretation, des „wahren Hörens des Inneren". Unverkennbar schlägt
in dieser Konzeption noch die bekämpfte Auffassung durch: die Vorstel-
lung von der esoterischen Schrift, die allen vorliegt und doch nur, dank
einer geheimen Auslegung, von wenigen erfaßt wird. Die Chimäre, die
niederzukämpfen sich Schleiermacher vorgenommen hatte, erzeugte in
der inneren Esoterik der Dialogformtheorie ein getreues Abbild ihrer
selbst.
In der Tat dürfte die latente esoterische Tendenz dieser Konzeption
das Geheimnis ihres Erfolgs gewesen sein. Vollends wenn man den
Gebrauch der indirekten Darstellungsmittel mit dem Namen Ironie

Meißner), daß absichtlich Irreführendes und sachlich Falsches im platonischen Dialog


auf Schritt und Tritt begegnet, nämlich in dem, was er direkt mitteilt, in seiner
„vordergründigen" Schicht also, die zur T ä u s c h u n g der Unberufenen konzipiert sei.
" Einleitung 16 f.
Die moderne Theorie der Dialogform 369

belegt, so ist es kaum noch möglich, sich ihrer Faszination zu entziehen:


wer möchte denn nicht zu den χαριέοτεροι gehören, zu den Feinsinnigen,
die den armen Ironielosen lächelnd anzudeuten wissen, wie es sich mit
Piatons Wahrheit wirklich verhält? 67
Z u radikal esoterisch anmutenden Erklärungen über das Draußenhal-
ten der Profanen (den Ausschluß der ,Ungeeigneten') durch die indirekte
Darstellungsform kam es zwar erst in neueren Arbeiten 48 , doch sollte
man nicht übersehen, daß damit nur zur Ausführung gelangt, was am
Ursprung bei Schleiermacher angelegt war und zum Wesen der Theorie
gehört.
Z w a r kann man Schleiermacher und den meisten seiner Nachfolger
in ihrem Kampf gegen das, was sie für Esoterik halten, einen subjektiven
Willen zur Öffnung und zur unbegrenzten Kommunikation nicht abstrei-
ten. J a man könnte die innere Esoterik des „wahren Hörens" des
Buchinhaltes, die an die Stelle der „geheimen Auslegung" esoterischer
Schriften tritt, nachgerade als den Versuch zur Demokratisierung dieses
verkehrten Begriffs von Esoterik verstehen: glaubt doch Schleiermacher,
Piaton gelinge es mittels der „Künste" der Verdeckung und Andeutung
„fast mit Jedem, entweder das zu erreichen, was er wünscht, oder
wenigstens das zu vermeiden, was er fürchtet 4 '".
Doch kommt es hier nicht auf die subjektive Absicht des einzelnen
Interpreten an, (fast) jedem den Zugang zu eröffnen, sondern auf

" W. Boder (1. c. oben 87 Anm. 18) bringt eine Reihe guter Beobachtungen und Argumente
zu der im übrigen nicht neuen Erkenntnis, daß Ironie für Piaton keineswegs ein alles
durchwaltendes Denk- und Erkenntnisprinzip ist, sondern lediglich ein Darstellungsmit-
tel von begrenzter Nützlichkeit, das er dort fallen läßt, wo er sich dem dialektischen
.Ernst' nähert.
" „Ironie II" hat nach Roloff eine „selektive Funktion" (31), sie hat „die Aufgabe, das
Wesentliche ... vor den Unberufenen zu verbergen" (5), sie „dient der Abwehr der
Unberufenen" (18), indem sie das Gemeinte vor ihnen „verbirgt, sie von der Mitteilung
des Eigentlichen ausschließt und obendrein betrügt" (17). - Vielleicht noch elitärer
und esoterischer klingen die zahlreichen Bekenntnisse Meißners zur „selektiven Erkennt-
nisvermittlung" (86,134), an die er in Übereinstimmung mit Roloff (aber in Widerspruch
zu Phdr. 275 d e) glaubt. Mit „unwahren vordergründigen Aussagen" (112) „sorgt
Piaton dafür" (136), daß „das Gros der Leser" — von dessen grenzenloser Dummheit
Meißner fest überzeugt ist - seinen „tieferen Logos" nicht versteht; so „verbirgt" und
„verhüllt" er ihn vor dem, der ihn nicht verstehen „darf" (202, 209; vgl. 68, 97 f., 114,
118, 121, 132 u. ö.).
" Einleitung 16. - Man beachte den Unterschied zur gewollt esoterischen Attitüde
bei Roloff und Meißner (s. Anm. 68). Vgl. auch Zeller I I I , 1922 5 , 487: „diese
Darstellungsform wird keinem ein unüberwindbares Hindernis des Verständnisses in
den Weg legen, der in den Zweck und Plan seiner Gespräche einzudringen ... gelernt
hat."
370 Anhang I

die objektiven methodischen Implikationen der zur Frage stehenden


hermeneutischen Theorie. In Wirklichkeit unterteilt die zitierte, scheinbar
so publikumsfreundliche Äußerung die Gesamtheit der Platonleser in
drei Klassen unterschiedlichen Ranges: die Hoffnungslosen, die mit dem
Wörtchen ,fast' abgesondert werden - bei ihnen fruchtet alle Kunst der
Indirektheit nichts; die glückliche Mehrheit zerfällt ihrerseits in die Leser
mit dürftigerem Verständnis, bei denen Piaton nicht mehr erreicht als
sein negatives Ziel, eingebildetes Wissen zu vermeiden, und die tiefer
Blickenden, bei denen der Dialog auch das positive Ziel der „eigenen
inneren Erzeugung des beabsichtigten Gedankens" (Einleitung 16) er-
reicht. Klarerweise kann nur die dritte Gruppe den Anspruch erheben,
„wahre Hörer des Inneren" zu sein. Ob die Angehörigen dieser Gruppe
wenige oder viele sind, ist unerheblich - entscheidend ist, daß es
notwendig zum Begriff einer solchen Gruppe gehört, daß sie sich als
elitären Kreis - als die ,inneren Esoteriker', wie man sie nennen könnte
— verstehen muß, der sich nach seiner eigenen Gesetzlichkeit konstituiert.
Dies wird deutlich, wenn wir den Erkenntnisanspruch der,wahren Hörer'
näher betrachten.

9.

Das Wort von der Faszination des Zauberwortes Ironie soll nicht
als bloß psychologisierende Bemerkung mißverstanden werden. Die
vermeintliche Überlegenheit alles Ironischen über alles Nichtironische
führt vielmehr auf die erkenntnistheoretische Position der Dialogform-
theorie. Es ist die Position des Solipsismus. Wer als ein ,wahrer Hörer
des Inneren' zu gelten hat, darüber kann niemand entscheiden als der
wahre Hörer des Inneren selbst. Wer sich gegen ihn stellt, wird sich zwar
auf den Text berufen wollen und müssen. Aber die Wahrheit des Textes
liegt ja — das ist die Voraussetzung der Theorie — jenseits des direkt
Mitgeteilten, auf das man sich allein direkt berufen kann. Wer mit dem
wahren Hörer des Inneren uneins ist und dabei glaubt, den Text höher
stellen zu müssen als das ,wahre Hören', beweist eben dadurch, daß er
kein wahrer Hörer des Inneren ist. Der Ironiker hat immer recht: sein
tieferes ironisches Verständnis des indirekt Mitgeteilten ist die Instanz,
vor der sich nicht nur die konkurrierende Auslegung, sondern letztlich
der Text selbst qua direkt mitgeteilter zu verantworten hat.
Die hohle Polemik gegen eine inhaltsgebundene Esoterik verdeckt für
gewöhnlich die Tatsache, daß die innere Esoterik der Dialogform
Die moderne Theorie der Dialogform 371

den Text als gemeinsamen Bezugspunkt im Meinungsstreit prinzipiell


eliminiert und den Tiefblick des Sehers des ,Inneren' als einziges, selbst-
geschaffenes und nach eigenem Gutdünken verwaltetes Kriterium übrig
läßt70.
Erst in den zu größter Explizitheit vorschreitenden neueren Entwürfen
ist das latente Problem des Solipsismus so weit akut geworden, daß man
die Notwendigkeit eines rettenden Gegenmittels fühlte. Es wird versichert,
Piaton habe seinen verschlüsselten Text mit ,Signalen' versehen, die auf
die Tatsache der Verschlüsselung aufmerksam machen und so der
Interpretation eine erkennbare Orientierung geben. Als ,Signale' gelten
der .Widerspruch' einer Stelle sei es zu einer anderen Stelle, sei es zur
,Wirklichkeit' (H. Meißner), die Verteilung von Wahr und Falsch auf
verschiedene Dialogfiguren (Th. Ebert) oder einfach die ,kleine Andeu-
tung', die der 7. Brief erwähnt (D. Roloff).
Sehen wir davon ab, daß sich keine dieser,Lösungen' auf den Phaidros
berufen kann (womit der Anspruch entfällt, daß sie einen Bestandteil
von Piatons Theorie des Dialogs darstellen), sehen wir auch davon ab, daß
die Durchführung in konkreten Interpretationen nur unter Selektivität in
der Textbehandlung und willkürlicher Umdeutung längst geklärter Stellen
möglich ist71. Der entscheidende theoretische Mangel ist, daß die,Signale',
wenn sie wirklich nur Signale sein und das Prinzip der indirekten
Belehrung nicht durchbrechen sollen, entweder rein negativer Natur sein
müssen oder, falls positiv, in hohem Maße unbestimmt. In beiden Fällen
läßt das Signal aber der Sinngebung durch den Leser — der Umsetzung
des Negativen ins Positive, der Ergänzung und Ausgestaltung des nur
Angedeuteten — einen Spielraum, der die Redeweise von der „einzig
möglichen Lösung" als bloßes Wunschdenken erscheinen läßt. Für diese
Sinngebung des Signals kann es nicht noch ein weiteres Signal geben:
der ironische ,Hörer des Inneren' bleibt weiterhin der einzige Garant der
Richtigkeit seines Hörens.
70 Es wäre falsch, die Interpretation mittels eines „hintergründigen" oder „tieferen"
Textsinnes durch Hinweis auf den hermeneutischen Zirkel, der jedem Verstehen
zugrunde liegt, rechtfertigen zu wollen. Der Zirkel besagt, daß das Verständnis des
Einzelnen nur möglich ist im Vorgriff auf den Sinn des Ganzen, das Ganze aber nur
erfaßbar ist aufgrund des Verständnisses der Teile. Der Zirkel ist jedoch solange kein
fehlerhafter, als der Vorgriff auf das Ganze vom Einzelnen her korrigiert, nötigenfalls
vollständig widerlegt werden kann. Wenn das, was im Text zugestandenermaßen „für
alle" dasteht, grundsätzlich als „vordergründiger" Sinn zur Täuschung bestimmter
Leser — konkret: des jeweils anderen Lesers - aufgefaßt wird, ist diese Möglichkeit
aufgehoben. Vgl. oben Anm. 13 und unten 373 f. und Anm. 77.
71 Vgl. oben 351 f. mit Anm. 27, zu Meißner auch Anm. 20.
372 Anhang I

Zu D. Roloffs Art, von Piaton angeblich „Unterschlagenes" zu


ergänzen, und zu Th. Eberts Deutung des vermeintlichen Fehlens der
Homologie wurde bereits das Nötigste gesagt 7 2 . Für H. Meißner gilt
nicht etwa die Auflösung des Widerspruchs zweier Piatonstellen an einer
dritten als Signal, auch nicht die Auszeichnung des einen von zwei sich
widersprechenden Sätzen als des richtigen (wenn der Widerspruch formal
unaufgelöst bleibt), sondern die bloße Tatsache 7 3 des Widerspruchs selbst
— und hierbei wird es für selbstverständlich genommen, daß die
Entscheidung für den einen der beiden unvereinbaren Sätze dem eigenen
Tiefsinn überlassen bleibt, der aber gleichwohl der Tiefsinn Piatons 7 4
sein soll 75 .

72 Oben 343 Anm. 13, 363 Anm. 48 (zu Roloff), 351 f. und G G A 230, 1978, 13 - 21,
bes. 16 — 19 (zu Ebert). — O b Gadamers scheinbar anspruchsvollerer Vorschlag für ein
„dialektisches Lesen" der Dialoge mehr bringt als bloße Willkür, ist angesichts seiner
Beispiele fraglich: die Unmöglichkeit der Staatsutopie der Politela „wird durch die
umständliche Beweisführung für ihre Möglichkeit gerade unterstrichen" 1. c. (oben 324
Anm. 144) 45. Soll vielleicht die „Umständlichkeit" der Beweisführung der versteckte
Hinweis Piatons sein, der uns zu „dialektischem Lesen" auffordert? Umständliche
Beweise gibt es genug bei Piaton: es fiele nicht nur die Staatsutopie, wenn wir jedesmal
das Gegenteil des Gesagten auf diese Weise „unterstrichen" fänden. Wenn Gadamer
anschließend die Frage nach der Möglichkeit des besten Staates auf das Skandalthema
der „Weiber- und Kindergemeinschaft" (46) reduziert, so argumentiert er auf einem
Niveau, das seiner und Piatons kaum würdig ist. Ubersehen ist, neben anderem, der
Siebte Brief — an dessen Echtheit Gadamer stets festgehalten hat —, in dem Piaton
sagt, es habe in Sizilien gegolten, seine Gedanken über den Staat zu verwirklichen
(328 c) - und dies kurz nach der Bezugnahme auf den Philosophenkönigssatz (326 a b)
als einer Kurzformel für die Staatsutopie der Politela.
73 Ich sehe in diesen Bemerkungen zur Methode davon ab, daß die von Meißner geltend
gemachten .Widersprüche' ohne Ausnahme auf Mißverständnissen beruhen. Vgl. meine
Rezension Gnomon 52, 1980, 301 - 304.
74 „Der tiefere Logos Piatons" lautet der Titel — es handelt sich stets nur um den
Meißnerschen Logos.
75 Erst nachträglich und ohne jede Beziehung zu den vorgelegten Einzelinterpretationen
behauptet Meißner (211 f., vgl. 196), die richtigen („hintergründigen") Aussagen bildeten
einen Typus, der von den „viel anschaulicheren irreführenden Formulierungen", die
absichtlich „mehrdeutig" gehalten seien, deutlich getrennt ist durch „sehr geringe
Anschaulichkeit" und eine durch das dihairetische Verfahren zu ermittelnde Eindeutig-
keit des intendierten Sinnes (Meißner sagt wohlgemerkt nicht: Eindeutigkeit des
gewählten Ausdrucks). Hiervon ist das Kriterium der größeren oder geringeren
Einprägsamkeit und Anschaulichkeit - abgesehen davon, daß es an Meißners Beispielen
weder durchgeführt noch durchführbar ist — natürlich wertlos, weil es völlig subjektiv
bleibt, während das Kriterium der Eindeutigkeit nicht nur von der Illusion lebt, im
T e x t nicht genannte dihairetische Operationen könnten vom Leser mit Sicherheit so
vollzogen werden, wie Piaton sie vollzogen hätte, sondern überdies auf einen fehlerhaften
Zirkel hinausläuft, da nach Meißners eigener Theorie der „vordergründige" Logos nur
für den „hintergründigen" Leser mehrdeutig ist, während das „Gros der Leser" ihn für
Die moderne Theorie der Dialogform 373

So bleibt es bei dem Befund, daß die sog. platonische Ironie,


sofern sie nicht als begrenztes Darstellungsmittel, sondern als alles
durchdringendes Denkmittel verstanden wird, den Ironiker zum Solipsi-
sten pervertiert. Die Attitüde der Überlegenheit schlägt unvermerkt um
in eine eigenartige geistige Plumpheit: denn was soll man von einer
,Ironie' halten, deren erste und fundamentalste Aussage ist, daß der
Sprecher prinzipiell im Recht ist?
Zur Illustrierung der Unangreifbarkeit einer konsequent durchgeführ-
ten hintergründigen' Interpretation sei H. Meißners Bestimmung des
Sinnes von βοηθεΐν im Schlußteil des Phaidros herangezogen 76 . Meißners
These ist, daß Piaton hier nur vordergründig' von der Überlegenheit
mündlichen Philosophierens handelt, »hintergründig' aber von der hin-
tergründigen Struktur der eigenen Dialoge. Daher muß auch die Fähigkeit,
sich zu helfen, auf die Dialoge bezogen werden: da sie ihren ,tieferen
Logos' nicht direkt aussprechen, sind sie in der Lage, sich der Kritik der
Ungeeigneten, die nur den vordergründigen Logos sehen, zu entziehen.
Es würde nichts nützen, gegen diese Deutung geltend zu machen, daß
,sich entziehen' nicht dasselbe ist wie ,sich helfen' oder ,sich wehren'
(βοηθεΐν έαυτω, άμύνεοθαι), denn eben das Festhalten an der griechi-
schen Wortbedeutung zeigt für Meißner nur die Befangenheit im ,vor-
dergründigen Logos', den Piaton ja mit voller Absicht zur Ablenkung
der Unberufenen hingesetzt habe. Es würde auch nichts nützen, darauf
hinzuweisen, daß nicht nur die Wortbedeutung von βοηθενν eine aktive
Verteidigung beinhaltet, sondern auch die von Piaton zu Beginn (Phdr.
275 c d) geschilderte Situation eine offene Konfrontation, nicht ein
passives In-Deckung-Gehen verlangt, und daß Piaton solche argumenta-
tive Selbsthilfe des Philosophen, die sich dem Zugriff des Gegners
durchaus nicht entzieht, sondern sich ihm stellt, in anderen Dialogen
häufig dargestellt hat. Zwar ist es Meißner offensichtlich unbekannt
geblieben, daß die Dialoge diese Antwort bereithalten, doch hat er
sozusagen prinzipiell vorgesorgt für ihre Eskamotierung: bei seinen
Voraussetzungen kann er sie bequem in den Bereich der Deutung des
,vordergründigen Logos' verweisen und sie somit für das Erfassen
des hintergründigen' Sinnes von βοηθεΐν (als Selbsthilfe der sich
verbergenden ,tieferen' Dialogschicht) als irrelevant erklären.

eindeutig nimmt und nehmen soll: also nur wer schon im Besitz von Meißners „tieferem"
Logos ist, wird sein „Signal", das die Objektivität der Interpretation garantieren soll,
überhaupt als Signal anerkennen wollen.
76
Meißner 79, 87 (vgl. 112).
374 Anhang I

Die apriorische Unangreifbarkeit dieser Position sei zugestanden.


Gegen den prinzipiellen Solipsismus der Dialogformtheorie hilft nichts,
es sei denn die entschlossene Absetzung von ihrer logisch fehlerhaften 7 7
Methode und die stillschweigende Ignorierung ihres Anspruchs auf
,tiefere' Einsicht. Es ist dies eine Entscheidung für die philosophische
ςαφήνεια und βεβαιότηο der Interpretation und zugleich eine Entschei-
dung gegen geheimen Hintersinn.

10.

Selbst wenn Piaton den Optimismus seiner heutigen Interpreten


hinsichtlich der Möglichkeiten der indirekten Mitteilungsform geteilt
hätte, wäre er dadurch noch nicht darauf festgelegt gewesen, notwendig
alles, was ihm wesentlich erschien, mittels dieser Form schriftlich
darzustellen. Die frühen Tugenddialoge enthalten vieles in Andeutung,
was in der Politela ausgesprochen ist, die Politela enthält Hinweise auf
die Seelenlehre des Timaios. Man mag sich getrost der Illusion hingeben,
daß wir die nur andeutenden Hinweise auch aus sich selbst heraus
verstehen würden. Was sich nicht bestreiten läßt ist, daß das indirekt
Migeteilte und das bloß Angedeutete für Piaton nicht nur in dieser Form
mitteilbar war, sondern auch in der Form expliziter,positiver' Belehrung.
Noch weniger läßt es sich bestreiten, daß es Piatons freier Entschluß
war, die deutlichere Ausführung folgen zu lassen.
Wenn wir Piaton nicht einem beliebig ersonnenen Zwang unterwerfen
wollen, die Suche der Tugenddialoge in der Politela zur Erfüllung zu
bringen, wenn wir ihm also nicht bestreiten, daß er die Freiheit hatte,
sein Hauptwerk ungeschrieben zu lassen, so werden wir ihm dieselbe
Freiheit hinsichtlich all der Themen zugestehen, deren Behandlung in der
Politela selbst und in späteren Dialogen als notwendig bezeichnet wird,
ohne daß sie auch ausgeführt wird.
Eben diese Freiheit wird implizit bestritten, sobald man versucht, aus
77
Die Unangreifbarkeit beruht natürlich auf einer logisch fehlerhaften Argumentations-
struktur: Aussagen über den Text („Piaton meint hier A, nicht B") werden nicht
getrennt von wertenden Aussagen über solche Aussagen („Es ist die tiefere Interpretation,
daß Piaton hier A meint und nicht B"), sondern systematisch mit ihnen vermengt,
indem die eigene Wertung grundlos Piaton zugeschrieben wird, wodurch ein Typ von
Aussage entsteht, der scheinbar über den Text spricht, in Wirklichkeit aber eine
verkappte Selbstbewertung enthält („Piaton meint hier, daß A der tiefere Logos der
Stelle ist, auch wenn er Β vordergründig' für ,das Gros der Leser' hinsetzt").
Die moderne Theorie der Dialogform 375

der indirekten Mitteilungsart der Dialoge ein Argument gegen die


historische Existenz einer ungeschriebenen Philosophie zu ziehen. In der
Dialogformtheorie wird der Autor, der die Vorzüge der verhüllenden
Darstellungsform erkannt hat, sogleich zum Sklaven seiner Entdeckung:
aus der Möglichkeit des Verhüllens und Andeutens wird ihr unvermerkt
der Zwang zur vollständigen Präsentation des zuvor Verhüllten. Nur
dank dieser logisch unzulässigen Umformung kann die Theorie ihren
Anhängern zur Bestätigung ihrer Vorurteile über Piatons mündliche
Philosophie dienen. Die indirekte Form schließt besondere Inhalte der
mündlichen Philosophie nur für den aus, der schon im voraus weiß, daß
die Dialoge alles enthalten müssen, was Piaton wesentlich war.
In Wahrheit besteht durchaus kein Widerspruch zwischen dem
Entschluß eines Autors, sich über manche Dinge in indirekter Weise zu
äußern, und der gleichzeitigen Entscheidung, über anderes - etwa die
weitere Begründung der publizierten Werke - überhaupt nicht zu
schreiben.
Zu den zahlreichen methodischen Vorgriffen und Mißgriffen, deren
die Dialogformtheorie zu ihrer Aufrechterhaltung bedarf, kommt also
zuletzt, als Folge ihrer petitio principii, die Verkennung von Piatons
Freiheit als Schriftsteller. Piaton soll nicht die Freiheit gehabt haben zum
α γ α ν πράο oßc δει. Demgegenüber gilt es, die Achtung vor Piaton
wiederherzustellen, indem man ihm zugesteht, daß er als Mensch und
Autor sich nach dem richtete, was er im Phaidros als das richtige
Verhalten des Philosophen gegenüber mündlichen und schriftlichen λόγοι
beschrieben hatte.

Das könnte Ihnen auch gefallen