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Inhaltsverzeichnis

DRESSUR
Zwischen Tier, Mensch und Maschine

0. AUFTRITT
Einleitung

I. Erste Dressur
TALENTIERTE FLÖHE

II. Zweite Dressur


ALPHABETISIERTE SCHWEINE

III. Dritte Dressur


HOLLYWOODS LÖWEN

IV. Vierte Dressur


DELFINSOLDATEN

V. Fünfte Dressur
AUTOMATISIERTE HÜHNER

VI. Sechste Dressur


CYBORG KAKERLAKEN

7. ABGANG
Rückblick und Ausblick

1
»I’M AN ANIMAL TRAINER«
aus Charlie Chaplins ›Limelight‹ (1952)

I’m an animal trainer,


A circus entertainer.
I’ve train animals by the score:
Lions, tigers, and wild boar.
I‘ve made and lost a fortune in my wild career.
Some say the cause was woman, and some say it was beer!
And then I went through bankruptcy and lost my whole menagerie
But I did not despair – I got a bright idea.
While searching through my underwear a thought occurred to me:
I’m tired of training elephants, so why not train a flea?
Why hunt for animals and through the jungle roam
When there’s local talent to be found right here at home?
I found one but I won’t say where
And educated him with care
And taught him all the facts of life
And then he found himself a wife.
I give them board and lodgin’s free
And every night they dine from off me.
They don’t eat caviar or cake
But they enjoy a good rump steak
Off my anatomy,
Off my anatomy.
It is an odd sensation
When after meals they take a stroll around the old plantation!
Now, I’m as happy as can be.
I’ve bought them lots of tricks, you see.
And now they’re both supporting me,
They’re both supporting me!
Walk up! Walk up! I’m the greatest show on earth!
Walk up! Walk up! And get your money’s worth!
See Phyllis and Henry, those educated fleas
Cavorting and sporting on the flying trapeze!
So any time you itch, don’t scratch or make a fuss!
You never can tell, you might destroy some budding gen-i-us!

2
Erste Dressur
TALENTIERTE FLÖHE

»Hallo und herzlich willkommen hier bei mir, im kleinsten Zirkus der Welt: dem Flohzirkus!«
»Wirklich?« »Ja! Oder kennst du einen anderen Zirkus, der noch kleiner ist?«1 Robert Birk2 trägt
ein rot-goldenes Jackett mit Zylinder, wenn er vor seinem Schaustellerwagen das Publikum
begrüßt. Mit den Worten führt der letzte durch Europa tourende Flohzirkusbesitzer noch heute
nicht nur in die Welt des Miniaturzirkus‘ ein. Ungläubige Blicke folgen Birks ausgestrecktem
Finger auf die winzige Bühne vor ihm und versuchen, die kleinen Artisten zu entdecken, von
denen er spricht. Was das Publikum dort sieht, ist das Dressur-Konzept in Kleinformat. Eine
Praxis der Umgestaltung und der Steuerung des selbst kleinsten Winkels des Tierreichs, in dem
dann sogar der Floh scheinbar den menschlichen Befehlen gehorcht.
Nicht selten wird die Echtheit des Flohzirkus‘ angezweifelt. Der Vorwurf verbreitet sich, ein
Flohzirkus sei Fake, ein mechanischer Nachbau, gar keine echten Flöhe seien auf der Bühne.
Warum eignet sich der zwischen Fakt und Fiktion liegende Flohzirkus gerade dadurch wie kaum
ein anderes Beispiel, Überlegungen zum modernen Dressur-Konzept einzuleiten?

1Das Zitat stammt aus einem Videomitschnitt von Birks Show auf dem Historischen Jahrmarkt in Bochum 2014. Nachzusehen
hier: https://www.bochumschau.de/flohzirkus-birk-historischer-jahrmarkt-jahrhunderthalle-bochum-2014.htm (29.02.2019)
Darüber hinaus pflegt Birk ein Archiv über den Flohzirkus, dass er auf seiner Internetseite zugänglich macht, und sehr zu
empfehlen ist, um mehr über den Flohzirkus zu sehen und zu lesen: http://www.flohcirkus.de.

2 Ein großer Dank geht an Herrn Birk, der sich die Zeit genommen hat, mir in einem persönlichen Gespräch Einblick in die
faszinierende Welt des Flohzirkus zu geben und nicht gespart hat mit tollen Anekdoten wie diesen. Erinnerungen und
Anekdoten stammen, wenn nicht anders angegeben, aus diesen Gesprächen mit Herrn Birk.

3
Flohzirkusdirektor Robert Birk vor seinem historischen Schauwagen. Ó 2019 Flohzirkus und Kinderkarussell Birk.

Charakteristiken eines Flohzirkus

Was hat es mit einem Flohzirkus tatsächlich auf sich? Robert Birk hält als Flohzirkusdirektor die
gut 200 Jahre alte Dressurtradition mit den wenige Millimeter großen Tieren aufrecht. Damit
lässt der aus Bayern stammende Dompteur das um 1800 auf den Bühnen von Europa entwickelte
Dressur-Konzept noch heute auf metaphorische Weise erleben.

Mit seinem historischen Jahrmarktswagen gastiert Birk jährlich auf dem Oktoberfest in München,
wo der Zirkus seit 1948 vertreten ist. Regelmäßig präsentiert er seine wenige Millimeter großen
Artisten auf altertümlichen Märkten oder ist beliebter Gast bei Privatveranstaltungen. Als letzter
reisender Flohzirkus setzt er sich von seinen internationalen Kolleg:innen in den Vereinigten
Staaten, Großbritannien, Irland, Australien, Europa, Israel, Mexiko und Südafrika ab.3
Nicht die Birks, sondern die Familie Otava gründete den Flohzirkus 1843 nahe München. Das
Gründungsjahr liegt mitten in der Blütezeit der Bühnendressur in Europa.4 Kurz nach dem
Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1948, gibt Roloff Otava den Zirkus an seinen Großneffen Peter
Mathes Senior weiter, der ihn später seinem Sohn Peter Mathes Junior vermacht, welcher ihn
2008 an seinen engen Freund und langjährigen Mitarbeiter Robert Birk übergibt.

3 Eine Liste international aktiver Flohzirkusse ist hier http://www.fleacircus.co.uk/OtherFleaShows.htm zusammengetragen.


(abgerufen 14.12.2020)

4Die Otavas stammen aus einer Nürnberger Schausteller-Dynastie. Der Legende nach trat Otava vor der Königin Victoria von
England und dem Papst Leo XIII auf. Auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. habe ihn am Hof empfangen. Geschichten, die
ebenso fabelhaft klingen wie Auftritte von talentierten und abgerichteten Flöhen an sich und dessen Ausschmückungen zur
Selbstinszenierung eines Flohzirkusdirektors gehören.
Nachzulesen in einem Artikel von Peter Mathes: [Ders.], ›Herein spaziert!‹, in, Jörg Peter Mathes (Hrsg), hundkatzepferd,
1/2019, Darmstadt 2019. (online abrufbar: http://www.hundkatzepferd.com/archive/623348/Herein-spaziert!.html,
abgerufen 20.09.2020)

4
Birk lässt in seinen Inszenierungen die
Bräuche und Gewohnheiten der
Miniatur-Schaustellerei beinahe
unverändert weiterleben. Nachdem die
Besucher:innen am kleinen
Kassenhäuschen ihre Eintrittskarte
erstanden haben, betreten sie über eine
schmale Treppe das Innere des Wagens.
Insgesamt stehen etwa 25 Personen
gedrängt vor einer kleinen Bühne am
Erste Zirkusbühne in London von Philipp Astley. schmalen Ende des Raumes. In Birks
Astley’s Amphitheatre colored plate from Microcosm of London, restaurierten Schaustellerwagen sitzen
1808. *57-1633, Houghton Library, Harvard University. Gemeinfrei.
die Zuschauenden nicht. Sie stehen auf
wenigen Quadratmetern gedrängt, Schulter an Schulter, beieinander. Die Kleinsten unter ihnen
schauen direkt auf die knapp einen Quadratmeter große Bühne, die Größten stehen in den
hinteren Reihen. Der Aufbau weicht von einem klassischen Zirkus ab. Der Zirkus in seiner
heutigen Form wurde vom Offizier Philip Astley 1768 in London aus einer militärischen
Reitschule heraus gegründet. Wie in einem Theater sitzt das Publikum bei Astely in weiter Ferne
zum Geschehen auf einer erhöhten Tribüne. Von dort aus sind die reitenden Artisten und
tierischen Darsteller auf der 13 Meter breiten Rundbühne gut zu überblicken.5 Eine Architektur,
die bis heute in jedem klassischen Zirkus mehr oder weniger beibehalten wird.
Nicht so in einem Flohzirkus, dort sind die Zuschauenden direkt am Geschehen dran. Dicht an
dicht gedrängt entsteht eine Atmosphäre, die das intime Verhältnis zwischen den kleinen
Parasiten und ihrem Wirt spiegelt. Besonders der Menschenfloh6, der pulex irritans, welcher auf den
ersten Bühnen der Flohzirkusgeschichte stand, ernährt sich mit Vorliebe an den privatesten
Stellen seines menschlichen Wirtes. Nicht zuletzt eine Angstlust lockt das Publikum an, denn

5 Die Bühne war rund und damit gut von allen Seiten einsehbar. Außerdem können die Reiter:innen im Galopp die
Zentrifugalkraft für ihre Kunststücken nutzen. Astleys legt damit ein bis heute gültiges Standardmaß von 13 Metern
Bühnendurchmesser fest. Für eine ausführliche Biografie Astleys sei empfohlen: Steve Ward, Father of the Modern Circus
'Billy Buttons': The Life & Times of Philip Astley, Pen & Sword History 2018.

6Der Menschenfloh kam vermutlich zwischen 7.000 und 5.000 v.Chr. in Altiplano-Region von Süd-Peru das erste Mal in
Kontakt mit Menschen. Erste Spuren auf dem europäischen Kontinent fanden Archäologen in Ausgrabungen aus dem
Neolithikum, ungefähr 3.000 Jahre v.Chr. Den Weg dorthin nahm der Floh vermutlich über die Meerenge Beringstraße
zwischen Amerika und Asien. Ursprünglich jedoch parasitierte er auf einem anderen Lebewesen, eines der kleinsten
domestizierten Haustiere des Menschen, das vornehmlich zur Fleisch- und Fellproduktion gehalten wurde: dem
Meerschweinchen (Cavia porcellus form. Domestica). Zur Geschichte: Paul C. Buckland und Jon P. Sadler, »A Biogeography of
the Human Flea, Pulex irritans L. (Siphonaptera: Pulicidae)«, in, Journal of Biogeography, Band 16, Nr. 2, 1989, S. 115-120.

5
abgesehen von deren Suche nach
körperlicher Nähe gelten Flöhe ebenso
seit jeher als unaufhaltsame Plagegeister
und Überträger von Krankheiten. Über
den Kontakt mit Flohexkrementen oder
dem kontaminierten Saugrüssel in der
Stichwunde gelangten etwa Erreger des
Fleckfiebers oder der Beulenpest in die
menschlichen Blutbahnen.
Kinder bestaunen die kleinen Flöhe auf Birks Bühne. Ó 2019
Flohzirkus und Kinderkarussell Birk. Aufgrund der Körpergröße von
wenigen Millimetern kann mit dem
bloßen Auge kaum festgestellt werden, ob nicht ein Tier in den Publikumsraum entwischt ist. Die
Flohdressur lebt von dem Spiel mit der Angst, dass die Parasiten unbemerkt von der Bühne
springen. Bei keiner anderen Bühnenshow kann sich das Machtverhältnis derart unbemerkt
umkehren und die Tiere, die eigentlich den Befehlen gehorchen sollen, befallen stattdessen
unkontrollierbar den Menschen.

Birk macht sich nicht zuletzt aufgrund der beschriebenen Momente des Schauderns die Mühe,
echte Flöhe zu halten, zu füttern und auf die Bühne zu bringen. Ganz im Unterschied zu einigen
Kolleg:innen, die auf echte Tiere verzichten. Nicht selten werden Bühne und Flöhe nachgebaut
und technisch animiert. Da die Tiere aus der Ferne ohnehin kaum sichtbar sind, funktioniert es
anders als bei größeren Tieren gut, die Dressurnummern maschinell nachzubauen. Noch immer
grenzt sich Birk bei seinen Vorstellungen von diesem Vorwurf ab und betont zu Beginn jeder
Show: »Ich bin der Letzte in Deutschland, der noch mit echten Flöhen auftritt und nicht mit
Druckluft oder schwarzen Plastikkügelchen.«7
Um die Zuschauenden von der Echtheit seiner Tiere zu überzeugen, reicht Birk diese zu Beginn
unter einer Lupe durch die Reihen. Die Vergrößerung ist, neben den Tieren an sich, der
wichtigste Moment in der Präsentation der Dressurnummern. Sie verschafft Glaubwürdigkeit
hinsichtlich der Echtheit und mit der Lupe wird auch das wichtigste Element der Flohdressur
erkennbar: eine sogenannte Flohkette.8 Dabei handelt es sich um eine feine Drahtschlinge, die um
den Thorax des wenige Millimeter großen Insekts gelegt wird. Der Tradition nach gehört es zum
festen Aufgabenbereich eines Flohzirkusdirektors, ein solches Drahtkonstrukt für jedes der Tiere

7Robert Birk, Flohzirkus: Wie es wirklich ist ... Flöhe zu dressieren, Protokoll: Daniel Kastner, in, »Die Zeit«,
Nr. 17/2019.

8Vgl. Lehmann, Alfred, Tiere als Artisten. Eine kleine Kulturgeschichte der Tierdressur, Wittenberg Lutherstadt: A. Ziemsen
Verlag 1956, S. 45.

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Ein Floh in Flohkette zieht ein Miniaturkarussell. (Quelle: Matthias Balk/dpa)

mit der Hand anzufertigen. Aus diesem Grund dreht auch Birk für jeden seiner Flöhe einen
dünnen Draht zu einer Schlinge zusammen und platziert dann jedes Tier mit einer Pinzette so,
dass das winzige Drahtlasso zwischen Thorax und Abdomen angebracht und zusammengezogen
werden kann. Anders als die meisten Tiere tragen Insekten ein stabiles Außenskelett. Dieser
Chitinpanzer verhindert, dass ihnen bei der Prozedur etwas zustößt. Die beiden Drahtenden
werden schließlich verdreht und stehen pfeilähnlich wie eine Linie vom Körper ab. Daran können
dann sämtliche Gegenstände für die Erzählungen auf der Bühne befestigt werden. In den
Anfängen des Flohzirkus soll Roloff Otava noch die goldenen Fäden aus den Litzen der Uniform
seines Vaters entnommen haben, um die Flohketten herzustellen.9 Mittlerweile lässt sich der
Zirkus Draht von dem Nürnberger Hersteller Leoni Draht nach genau abgestimmtem Härtegrad
und Legierungsstärke liefern. Von dem Ring aus Draht werden die Tiere nicht mehr befreit. Ein
Grund, weswegen Egon Erwin Kisch in seiner Erzählung über das Flohtheater dramatisch
festhält: »Und das kleine Raubtier war für den Rest seines Lebens festgeschmiedet wie die
lebenslänglich Verurteilten in der sibirischen Katorga an ihre Ketten.«10 Die Kette wird zum
Symbol der Unterwerfung und zu einem Sinnbild des Befehls.

Die Flöhe, die unter der Lupe mit einer Drahtkette umschlungen sichtbar werden, sind bei Birk
keine Menschenflöhe mehr wie in den Anfängen, sondern Katzenflöhe. Sie sind deutlich kleiner

9 Mathes (2019).

10Kisch, Egon Erwin, [1920], »Dramaturgie des Flohtheaters«, in, (Ders.) Abenteuer in Prag. Gesammelte Werke in
Einzelausgaben, Budo Uhse und Gisela Kisch (Hsg.), Berlin und Weimar 1980, 503.

7
als der Menschenfloh und zwei bis drei Millimeter groß. Nur weibliche Tiere kommen in Frage,
denn die männlichen Artgenossen sind mit ihrer Körperlänge von einem Millimeter zu klein. Bis
vor Kurzem arbeitete er noch mit etwas größeren, weiblichen Hundeflöhen. Jedoch, beklagt er,
haben strengere Tierschutzauflagen dessen Verfügbarkeit dezimiert. Damit ist nicht der Schutz
der Flöhe gemeint, im Sinne eines Verbotes, sie zu fangen, zu dressieren und auf eine beißend
helle Bühne zu stellen.11 Im Gegenteil. Bis in die Gegenwart hinein gelten Flöhe als Schädlinge,
Störenfriede oder Krankheitserreger. In dem Sinne gelten die erwähnten Tierschutzmaßnahmen
für ihren Wirt, dem Hund. Die sogenannte Schädlingsbekämpfung soll den Flohbefall bereits bei
Welpen verhindern. Eine Veränderung, die schwerwiegende Folgen für den Flohzirkus hat, denn
Hundezüchter waren seine Hauptlieferanten.
Birk greift auf die einzige für ihn in Süddeutschland noch immer leicht verfügbare Flohart
zurück: den Katzenfloh. Die Katzen auf dem bayrischen Bauernhof eines Freundes verbleiben als
stets verfügbare Quelle. Der Flohzirkusdirektor besucht den Hof regelmäßig, um mit seiner
Flohbürste die kleinen Tierchen aus dem Katzenfell zu kämmen, sie in einem Glas zu sammeln
und mit nach Hause zu nehmen. Dort kommen sie in den Kühlschrank, denn Kälte, erklärt Birk,
lähmt die Flöhe und macht sie träge. Halb sediert können sie einfacher aus- und einsortiert
werden. Birk behält nur die Weibchen, die kleinen Männchen werden auf einer Wiese ausgesetzt.

Das Bühnenprogramm des Flohzirkus‘ besteht aus unterschiedlichen artistischen Nummern, die
über die kleinen Gegenstände an der Kette erzählt werden. Für die Auftritte in seiner Show
benötigt Birk nach eigener Aussage insgesamt rund ein Dutzend weiblicher Flöhe, die er in meist
männlichen Rollen präsentiert. Drei bis vier Flöhe werden allein für die erste Attraktion, das
Flohballett benötigt, in dem die Tiere den Flohwalzer tanzen.12 Auf einem kleinen Quadrat
bewegen sich die in der Distanz zu kleinen Punkten verschmelzenden Tiere dabei durcheinander
zur Klaviermusik. Sichtbar sind vor allem die handgefertigten Aluminiumscheiben an ihren
Körpern, welche die Röcke darstellen. Ein anderer weiblicher Floh stellt den starken August dar,
der ein Karussell dreht. Mit einem Gewicht von 34 Gramm misst es beinahe das 12000fache des
Flohkörpers. Die Kraft der Tiere wird stets betont und das Weibchen wird zu einem der stärksten
– wohlbemerkt männlichen – Tiere der Welt erklärt. Auf August folgt Theodor, der Fußballspieler.
Dabei wird Theodor am Kettchen hochgehoben und ›schießt‹ ein Styroporkügelchen in ein Tor.

11Über das Konzept des Schädlings: Sarah Jansen, »Schädlinge«. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen
Konstrukts 1840-1920, Campus Historische Studien; 25, Frankfurt a.M. 2003.

12Der Flohwalzer ist ein volkstümliches Klavierstück, das – anders als der Name vermuten lässt – kein Walzer ist. Der
Komponist des Stückes ist nicht bekannt. In einer Parodie einer musikwissenschaftlichen Abhandlung behauptet Eric
Baumann, die Melodie stamme von einem Ferdinand Loh (als F. Loh abgekürzt). Eric Baumann: Der Komponist Ferdinand Loh
und sein opus magnum: Der Flohwalzer. Atlantis Musikbuch-Verlag, Zürich 1996, S. 62.

8
Ein anderes Weibchen tritt als jonglierender Fridolin auf. Dafür überreicht Birk dem in der Luft
zappelnden Tierchen mit einer Pinzette eine kleine weiße Scheibe, welche der Floh hält und dann
beginnt zu drehen. Zu guter Letzt bestreiten drei Flöhe ein Wettrennen mit angehängten
Wägelchen. Beteiligt sind Fritz aus Wien, Christian aus Dörnbach und Angela aus Berlin.13

Die Abläufe werden von ausgeschmückten Erzählungen und Kommandos begleitet, denen die
Flöhe angeblich folgen: ›Jongliere!‹ ›Laufe!‹ ›Halte an!‹ ›Tanze!‹ ›Komm her!‹ – ›Halt!‹ ›Stop!‹
›Komm zurück!‹ Zum erzählerischen Stilmittel gehört neben der gehorsamen Gefolgschaft der
Tiere auch, dass sie verlorengehen oder den Befehl verweigern.

Wurde mit der Dressur eine Methode gefunden, mit der es gelingt, selbst dem Menschen derart
ferne Tiere wie den Floh eigenen Regeln zu unterwerfen? Die Beteuerungen, die Flöhe im Zirkus
tatsächlich dressiert zu haben, sind Teil der Show. Auch Birk erklärt in einem Interviw, er
dressiere seine Flöhe, indem er den Sprunginstinkt nutzt. Im Grunde sei dieser eine
Fluchtreaktion: der Floh will ins Dunkle. Die explosive Bewegung der Beine macht Birk sich
beispielsweise beim Tore schießenden Theodor zu Nutze. Statt sich ins Dunkle flüchten zu
können, schießt der am Draht hängende Floh die Kugel in die Ferne. Für andere Nummern, wie
dem starken August oder dem jonglierenden Fridolin, gestaltet sich das Springen als hinderlich. In
den Fällen, erklärt Birk, müsse das Springen abtrainiert werden. Dafür richtet er die Tiere in dem
für sie unangenehm hellen Bühnenlicht ab und belohnt sie mit Dunkelheit.14 Beispielsweise
trainiert Birk den Jonglage-Trick mit der Scheibe ein, indem er diese so lange an die Beine eines
Flohs hält, bis er sie nicht mehr wegschießt, also nicht mehr die Sprungbewegung ausführt. Nach
30 bis 40 Wiederholungen verläuft die Reaktion bei den meisten Tieren zufällig mal nicht
instinktiv ab und das Tier hält die Scheibe auf im Licht weiter fest. Diese spontane Reaktion des
Flohs belohnt Birk sogleich mit Dunkelheit.15 Das Insekt versteht Birk zufolge auf die Weise nach
und nach, seinen Fluchtimpuls zu unterdrücken und die Helligkeit auszuhalten. Er lernt nach Birk
die gewünschten Handlungen auszuführen, weil er damit rechnet, dass er dann mit seinem
bevorzugten Schatten entlohnt wird. Birk spricht den Tieren damit einen gewissen Grad an
Intelligenz und Assoziationsvermögen zu. Anders als sein Kollege Mathes.
Birks Vorgänger spricht den Flöhen derartige Fähigkeiten ab. In seiner Herangehensweise
geht er grundsätzlich erst einmal davon aus, dass sich freilebende Flöhe in der Regel krabbelnd

13Einen guten Einblick in den Ablauf der Zirkusnummern bekommt man bei den Videos aus Birks Archiv:
http://www.flohcirkus.de/videos.

14 Birk (2019).

15 Damit wendet er die Methode der Konditionierung an, um die es im Kapitel über die Automatisierten Hühner geht.

9
fortbewegen. Ein Floh hüpft nur dann, wenn er seinen Wirt verlassen will oder in Deckung geht.16
»Man muß die Flöhe gut beobachten. Manche sind mehr Springer und manche mehr Läufer,«
erklärt Matthes. »Entsprechend muß man die Tiere sortieren.«17 Die einen sind von Natur aus
eher Fußballer und die anderen eher Wettläufer. Mathes arbeitet darum gerne mit Flöhen, die
von vornherein nicht besonders gerne springen. Wenn er jedoch dazu gezwungen ist, ihnen das
Springen abzugewöhnen, dann verfrachtet er die kleinen Tiere in flache Dosen. Dabei handelt es
sich um eine Variante, die sich auf ähnliche Weise bereits beim deutschen Zoologen Alfred Brehm
finden lässt. In seinem enzyklopädischen Werk ›Brehms Tierleben‹ aus dem Jahr 1884 schreibt er:
»Indem sie die Tiere längere Zeit in flache Döschen einsperren, wo sie sich bei Springversuchen
jedes Mal derb an den Kopf stoßen, gewöhnen sie ihnen diese Unart ab.«18 Auch in dem
enzyklopädischen Werk ›Meyers Konversationslexikon‹ aus dem Jahr 1897 finden sich ähnliche
Anweisungen: »Der Floh läßt sich abrichten; durch Einsperren in flachen Dosen gewöhnt man
ihm das Springen ab, spannt ihn dann mittels feiner Kettchen an kleine Wägelchen etc.«19 Die
Tiere bleiben nach dieser Methode so lange eingepfercht, bis sie sich nicht mehr wie gewohnt
springend fortbewegen, sondern laufend oder krabbelnd von einem Ort zum anderen gelangen.
Von Dressur, im Sinne von Lernen, kann nicht die Rede sein. Zu Lernen bedeutet in diesem Fall
nicht mehr als eine Verkümmerung der Muskulatur. Dieser Zustand soll nach sechs bis acht
Wochen erreicht sein.

Kulturhistorisch betrachtet, fesselt bei der angeblichen Dressur von Flöhen im besonderen Maße
das Versprechen, welches die Idee der Tierdressur begleitet und um das sich seit Jahrhunderten
Mythen und Erzählungen ranken: Eine Methode gefunden zu haben, auch das Unbändigste
Lebewesen bändigen zu können. Selbst die unkontrollierbaren Flöhe sollen nun kontrolliert
werden können. Das verspricht ein symbolisches Ende eines langer Befallsgeschichte.

16 Mathes (2019).

17Volker Steger, Thomas Willke, Hans Mathes: Der dressierte Floh, in, Bild der Wissenschaft, Februar 2001. (Online abrufbar:
https://www.wissenschaft.de/allgemein/der-dressierte-floh/, abgerufen am 12.12.2019.

18 Alfred Brehm, Brehms Thierleben, 2. Aufl., Leipzig 1884, 487.

19 Meyers Konversationslexikon, 5. Aufl. 1897, S. 564.

10
Die Tiere sind zwar nur wenige Millimeter groß, aber vor
allem zu jener Zeit alles andere als marginal. Der Blutsauger
springt ungehindert durch Häuser und Betten aller
gesellschaftlicher Schichten.20 Der Floh war ein ebenso
allgegenwärtiges wie unbeliebtes Haustier.21
In der Ständegesellschaft des 17. Jahrhunderts war weder der
Adel noch der einfache Bauer vor den nächtlichen Attacken
geschützt. Es war das goldene Zeitalter der Flöhe, in sämtlichen
Häusern leben die Parasiten in den Ritzen der Böden oder den
Kissen und Decken der Betten. Wie eingangs in dem Lied aus
Charlie Chaplins ›Limelight‹ besungen, leben sie am eigenen
Körper: »While searching through my underwear a thought
Buchsbaum (?), gedrechselt und gebohrt,
Deutschland um 1780, Höhe 11 cm, occurred to me: I’m tired of training elephants, so why not
Durchmesser 5,2 cm, Inv.-Nr. AB/157
train a flea?«
Ó Deutsches Medizinhistorisches
Museum Ingolstadt
Grund für das unaufhaltsame Vordringen der Tiere war

https://www.dmm-
unter anderem die sinkenden Hygienestandards. Reinlichkeit
ingolstadt.de/fileadmin/_processed_/9/6/ galt als Ursprung von Krankheiten. Die Ausbreitung von
csm_flohfalle_ff851dc387.jpg
Syphilis ab dem 16. Jahrhundert beginnt beispielsweise in den
Alternative: https://www.dmm-
ingolstadt.de/fileadmin/_processed_/9/6/ öffentlichen Badehäusern und wird mit dem Akt der Reinigung
csm_flohfalle_ff851dc387.jpg1
des Körpers in Verbindung gebracht. Waschen galt als Grund
für dessen Verbreitung. Zu spät stellte sich heraus, dass vielmehr der Mangel an Hygiene beim
Aderlass und Schröpfen sowie in den oftmals angegliederten Bordellen der Ursprung war. Da sind
die Badehäuser bereits geschlossen, das Waschen steht in Verruf und für Parasiten wie Flöhe aber
auch Läuse waren paradiesische Umstände geschaffen.
Die zahlreichen Versuche, die kleinen Blutsauger im Zaum zu halten, schreiben sich nicht nur
in das Phänomen der Flohdressur ein. Es wurden verschiedene Strategien entwickelt und ganze
Bücher verfasst, die sich ausschließlich damit beschäftigen, die Oberhand über die Flöhe zu
gewinnen. Die Bandbreite der Methoden reichte vom Ausstellen salziger Wasser, denn der Floh
mag lieber Süßes, über Fallen aus Schwein-Igel-Fett, Ochsenblut, schwarzer Kümmel, diverse
Kräuter, Wurzeln und Samen.22 Am sichtersten galt jedoch eine mechanische Waffe: die

20 Weshalb der Floh auch als Symboltier für Gleichbehandlung avancierte. Quelle:

21Siehe auch: Josef H. Reichholf, »Floh, Laus und Wanze«, in (Ders.), Haustiere. Unsere nahen und doch so fremden
Begleiter, Begleitbuch der Ausstellung TIERISCH BESTE FREUNDE. Über Haustiere und ihre Menschen, erschienen in der Reihe
Naturkunden hrsg. Von Judith Schalanksy, bei Matthes und Seitz Berlin, 2017, hier: S. 155-163.

22Franz Ernst Brückmann, Die Neu-erfundene Curieuse Floh-Falle, zu gäntzlicher Ausrottung der Flöhe wird, allen so mit
solchem Ungeziefer beladen, communiciret von Einem Anonymo, 1727 (ca.), S. 15ff.

11
Flohfalle. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts beschrieb
der Mediziner Franz Ernst Brückmann in seiner Schrift ›Die
Neu-erfundene Curieuse Floh-Falle‹ (ca. 1727) diese
Technik. Sie bestand in der Regel aus einem wenige
Zentimeter langen gedrechselten Elfenbeinröhrchen, durch
dessen Löcher der Floh in den Zylinder gelangen konnte.
Angelockt durch einen Tropfen Blut oder einem Gemisch
aus Petroleum und Honig im Inneren der Kapsel, gelangte
der Parasit in die Falle. Sobald er das süße Gemisch probiert
hat, blieb sein Saugrüssel unwiederbringlich daran kleben.
Konnte auf die Weise ein Floh gefangen werden, wurde der
Abbildung 2 Flohfalle um den Hals einer Zylinder aufgedreht, der Floh hinausgenommen und
Frau. Frontispiz.
meistens getötet.23 Alternativ soll es vorgekommen sein, dass
ein Mann, wenn er es schaffte, einen Floh vom Körper einer Frau zu fangen, ihn nicht tötete,
sondern als Trophäe um seinen Hals präsentierte.24

In der Tat waren primär Frauen betroffen. Daher waren es meist Frauen, die eine leeren Kette
mit der Flohfalle entweder um den Hals oder an anderen, intimeren Körperstellen trugen, wie es
auf anzügliche und sexualisierte Weise auch auf dem Frontispiz der Schrift von Brückmann
skizziert ist.
Der Floh gilt somit nicht nur als Plage, sondern auch als männliches Sinnbild für Erotik.
Obwohl es die weiblichen Flöhe sind, die Blut saugen, wird das Tier, aufgrund dieser Vorliebe für
den weiblichen Menschenkörper, als Männchen wahrgenommen. Das macht den Floh zur Figur
des Lüstlings und inspiriert Literaten der Zeit. Die Schwäche für das weibliche Geschlecht prägt
Erzählungen wie ›The Autobiography of a Flea‹, worin der Floh zum Vertreter sexueller
Begierlichkeit avanciert. Darin nutzt der Floh seine Winzigkeit schamlos aus. Neiderfüllt wird
beschrieben, wie er unbemerkt die intimsten Stellen der Damenwelt aufsucht. Die angeblich aus
der Feder eines Flohs entstanden Memoiren wurden 1887 anonym im Verlag Edward Avery
veröffentlicht und später erst einem Anwalt namens Stanislas de Rhodes zugeordnet. Edward
Avery selbst war ein englischer Verleger für Pornografie.

23Günther Schiedlausky, »Wie man Flöhe fängt. Von Flohfallen und Flohpelzen«, in: Kunst und Antiquitäten IV, 1987, S. 26-
38.

24Es handelte dabei um eine sogenannte Flohkette, von der auch der dänische Philosoph und Mediziner Claus Borch oder
Borrichius (gestorben 1690) zu berichten wusste. Darauf verweist Herbert Weidner in seinem Artikel: »Der Flohzirkus und
seine vierhundertjährige poesiereiche Geschichte«, in, Entomol. Mitt. zool. Mus. Hamburg Bd. 10 (1991) Nr. 143, S. 141.

12
Es musste ein besonderes Vergnügen gewesen sein, dieses mit Lust, Ekel und Grauen aufgeladene
Tier in einer Drahtschlinge gefesselt und an kunstvolle Requisiten gefesselt, vorgeführt zu
bekommen. 25

Seit den 1950er Jahren ist der pulex irritans in Deutschland kaum mehr auffindbar. Der Schwund
kann durch die Erfindung des Staubsaugers und die mit ihm steigende Sauberkeit in den privaten
Häusern erklärt werden. Im wachsenden Hygienediskurs kam dieser 1906 unter dem Namen
Entstaubungspumpe auf den deutschen Markt. Bis dahin stieg noch selbst mit wachsender
Hygienevorstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Anzahl der Flöhe in den Häusern.26 Birk
leitet die paradoxe Entwicklung der steigenden Sauberkeit im Haus und der gleichbleibenden
oder sogar wachsenden Anzahl der Flöhe über die Art und Weise der Reinigung her. Diese,
erklärt Birk im Gespräch, verlief vor dem Staubsauer in zwei Schritten. Erst wurde der Boden mit
einem Besen gekehrt. Damit gelangte zwar der Dreck auf die Schaufel, jedoch ebenso die ½ mm
großen Floheier in die Ritzen des Bodens. Im zweiten Schritt wurde der Boden gewischt. Die
Luftfeuchtigkeit erzeugt das perfekte Klima für das Schlüpfen der Larven, die dort die
Metamorphose durchlaufen, zum adulten Floh heranwachsen und wieder auf den menschlichen
Wirt gelangen. Erst der Staubsauger verhindert, dass die Eier in die Ecken und Ritzen der Häuser
gelangen. Seine Einführung führt zum Verschwinden des verbreitetsten Haustiers und zugleich

25Einer der ältesten professionellen Flohketten-Hersteller, der Schweizer Schausteller Heinrich Degesteller, präsentierte und
verkaufte 1812 in Stuttgart und München seine Flohketten. Nürnberg war bekannt dafür, dass dort die feinen Ketten
professionell angefertigt und nicht nur deutschlandweit verkauft, sondern auch exportiert werden.
Siehe dazu: Neue Speyerer Zeitung, 14. Juli 1821, S. 2.

26Ein Zeichen für den Wandel der Hygienevorstellung ist die im späten 19. Jahrhundert sprunghaft anwachsende Anzahl der
Entwicklung und dem Verkauf von Hygieneartikeln. Zur Aufklärung der Menschen wurde die Internationale Hygiene-
Ausstellung 1911 in Dresden entwickelt, aus der das heutige Hygiene-Museum Dresden entstand. Nach der Idee des
erfolgreichen Odol-Fabrikanten Karl August Lingner, entstand die internationale Ausstellung im Kontext weit verbreiteter
chronischer und seuchenartiger Erkrankungen eine ansteigende Sensibilität für Reinheit, medizinischer und alltäglicher
Vorbeugemaßnahmen und der Gesundheitserhaltung.
Offizieller Katalog der Internationalen Hygieneausstellung. Dresden Mai bis Oktober, Berlin 1911.

13
A flea circus: "The Go-As-You-Please Race, as seen through a Magnifying Glass", from St. Nicholas Magazine, USA, 1886,
Charles Frederick HolderJ. G. Francis, Public domain, via Wikimedia Commons.

unliebsamsten Gefährten des Menschen der westlich industrialisierten Welt und somit auch von
der Bühne des Flohzirkus.27

Anfänge: Vom Uhrmacher zum Dresseur

Flöhe auf die Bühne zu stellen, war nicht immer von einer Lust an der Manipulation und der
Kontrolle des Verhaltens angetrieben. Die Anfänge führen zur Uhrmacherzunft des 16.
Jahrhunderts und die Präsentation ihrer Handwerkskunst. Die abschreckende Anziehungskraft
der Tiere macht sie sich zu Nutze, um anhand der kleinen Ketten ihr Können unter Beweis zu
stellen. Die Ursprungsgeschichte des Flohzirkus steht damit in der Tradition der Automatenkunst,
was für den Einstieg in die Überlegungen zur Geschichte des modernen Dressur-Konzepts auch
deswegen interessant ist, weil Begriffe der Automatisierung und des Mechanischen in den wenigen
Traktaten und Selbstbeschreibungen der Dresseur:innen immer wieder auftauchen, um den
Status der Dressiertheit zu beschreiben. Diese Analogie bildet zudem einen roten Faden der
Arbeit, um nach einer möglichen Konjunktur des Konzepts bis in die Gegenwart zu fragen.
Erst um 1800 taucht in den allgemein in Europa immer populärer werdenden Dressur-
Vorführungen mit allen möglichen Tieren auch die Dressur von Flöhen auf. Es hüpft und fliegt ab
dem späten 18. Jahrhundert sämtliches Getier durch die Bühnenwelt. »Der Theorie nach«

27 Siehe dazu: Kegel, Bernhard, Tiere in der Stadt. Eine Naturgeschichte, Köln 2013.

14
schlussfolgert der Tierpsychologe Pierre
Hachet-Souplet, »sind alle mehr oder
weniger ›dressierbar‹, gleichviel ob sie zu
den Haus- oder zu den wilden Tieren
zählen.«28

Einer der ersten, über den berichtet


wird, einen Floh gefesselt zu haben, ist
ein Goldschmied und Uhrmacher
Namens Mark Scaliot. Dieser soll bereits
im Jahr 1578 »ein Schloss aus elf
Stücken Eisen, Stahl und Messing
hergestellt haben […], dass zusammen
mit dem Schlüssel nur ein einziges
Goldkorn wog. […] Er machte auch eine
Kette aus Gold, die aus dreiundvierzig
Gliedern bestand, und nachdem er diese
an dem zuvor erwähnten Schloss und
Schlüssel befestigt hatte, legte er die
Kette um den Hals eines Flohs, der sie
alle mit Leichtigkeit zog. Alles

Kunstfleißige Flöhe: Matth. Eßlinger beehrt sich bei seiner Rückkehr zusammen, Schloss und Schlüssel, Kette
aus Frankreich und Italien, ... dem werthen Publikum dieser Stadt eine
schöne Sammlung zart und fleißig [...]. [Bern]: [Haller], [1844].
und Floh, wog nur eineinhalb Korn.«29
Universitätsbibliothek Bern, MUE Noch auf einem Flugblatt aus dem
Jahre 1844 heißt es bewundernd: »Die Zartheit und Genauigkeit, mit der diese Arbeiten
ausgeführt sind, so wie die Schwierigkeit, die man hatte, diese kleinen Insekten zu ketten und
anzuschirren, ihre grimmige Wildheit zu zähmen und zur Arbeit sie zu gewöhnen, übersteigt alle
Begriffe der menschlichen Vernunft.«

Mit dem Aufkommen der modernen Dressur gesellt sich zu der einfachen mechanischen
Fesselung der Tiere die Fantasie, die Parasiten zu erziehen und nach vorherrschenden Maßstäben
kultivieren zu können.

28 Haceht-Souplet (1988), S. 21.

29 Barkham Burroughs, Burroughs' Encyclopaedia of Astounding Facts and Useful Information, 1889.

15
Dabei geht es auch um das Einlösen eines christlichen Versprechens. Die christliche Anforderung
Gottes, über die nicht-menschlichen Tiere zu herrschen, richtet sich im Ersten Buch Mose an die
menschliche Leserschaft: »Sie sollen walten über die Fische des Meeres und über die Vögel des
Himmels, über das Vieh, über alle wilden Tiere und über alle Kriechtiere, die auf der Erde
kriechen.« (1.Mose 1,26) Dressur bietet einen Weg, diese christliche Ordnung herzustellen. Eine
Erfüllung geltenden Rechts, das noch in dem 1987 verfassten Vorwort zu der erwähnten Schrift
von Hachet-Souplet über Dressur durch den Psychologen Otto Klemm auftaucht. Dressur betitelt
er darin »als Sieg, ja als naturbedingte Vorherrschaft des Menschen.«30

Der erste dokumentierte Flohzirkus geht auf den Etymologen L. Bertolotto zurück und führt
damit in die frühen 1820er Jahre zurück. In London, der ersten Hochburg der
Dressurdarbietungen, findet in der Regent Street auch die ›extraordinary exhibition of industrious
fleas‹ des aus Italien migrierten Bertolotto statt.31 Als Entomologe entwickelt er im Zuge seiner
beruflichen Untersuchungen und Beobachtungen eine wachsende Faszination für die Tiere. In
seiner Schrift ›The History of the Flea - with notes and observations‹ (ca. 1835) widmet er sich in
wissenschaftlicher Begeisterung der Entschlüsselung des Lebens der Menschenflöhe, beschreibt
ihre äußeren Merkmale, erforscht den Ablauf der Fortpflanzung und geht ihren natürlichen
Verhaltensweisen nach. Beinahe schwärmerisch gibt er sich den körperlichen Vorzügen der
weiblichen Tiere gegenüber ihren männlichen Artgenossen hin. In Hinblick ihrer optischen Reize
seien die Weibchen an »Eleganz« und dem prächtigen »Farbenspiel« von den Männchen
unübertroffen.32
Am Rande der wissenschaftlichen Beschreibungen finden sich erste Bemerkungen zur
Flohdressur. Bertolotto sammelt, beobachtet und kategorisiert seine kleinen tierischen Objekte.
Bei seinen Felduntersuchungen stößt er eines Tages auf einen weiblichen Floh, mit dem alles
beginnt. In einer Fußnote erwähnt der Forscher den weiblichen Floh, den er in Fernhill findet,
fängt und bei der er sich entschließt, sie als Heimtier zu halten. Er umschreibt das
Zusammenleben mit dem Floh – ohne detailliert darauf einzugehen – ähnlich wie bei anderen
geliebten Heimtieren, umsorgend und pflegend. Diesen Floh bereitet er erstmals bühnentauglich
vor. Dafür legt er ihm eine Flohkette um und entwickelt die erste Nummer: Das Ziehen des
Miniaturnachbaus eines Militärschiffs der britischen Marine. Eine Nummer, die Bertolotto neben
einigen anderen, um die es nun detaillierter gehen wird, für das spätere Zirkus-Programm

30 Roland Wieses Einführung in, Hachet-Souplet [1898] (1988), S. VI.

31Graham Lawton, Fleadom or death: reviving the art of the flea circus, New Scientist, Volume 216, Issues 2896–2897, 2012,
Pages 53-55, S. 53.

32 Vgl. Bertolotto, The History of the Flea - with notes and observations, ca. 1835, S. 15.

16
Zwei Nummern auf Bertolottos Flohzirkus: Ein Floh zieht ein Militärschiff und zwei Flöhe kämpfen ein Duell.
(Bertolotto, ca. 1835, S. 26.)

beibehalten wird. Zwei Jahre verbringen sie gemeinsam, bis der Floh, laut Bertolotto, an
Altersschwäche stirbt.33

Fabulierende Flöhe

Die Darstellungen der Flöhe erzählen von dem gesellschaftlichen Kontext, dem sie entspringen.
Selten werden dressierte Tiere auf die Bühne gestellt, um etwas anderes als dem Menschen
zugeschriebene Fähigkeiten, Talente oder Rituale darzustellen. Auch die kleinen Flöhe werden
nicht als Flöhe dargestellt. Es sind Darstellungen, die sich aus Alltagserfahrungen jener Zeit
speisen und nicht nur viele Selbstbildnisse in Kleinstformaten reproduzieren, sondern die auch
erzählen, warum das Dressur-Konzept in Europa des 18./19. Jahrhunderts entsteht. Daran lässt
sich ein zu der Zeit beliebtes Bestreben nach Macht ablesen, dass ebenso die Dressur verspricht zu
bieten: Transformieren und Ordnen.

33 Ebd. S. 17f.

17
In dem Zirkus-Programm, welches Bertolotto mit weiteren
Flöhen neben der Flohdame aus Fernhill entwickelte,
orientierte er sich am Ablauf des klassischen Zirkus‘. Nach dem
Herumreichen unter der Lupe folgte eine einstudierte Nummer
der nächsten. In jeder spielten die angeblich wohldressierten
Flöhe verschiedene Szenen vor, die der Flohzirkusdirektor für
das Publikum durch Erzählungen und Befehle zum Leben
erweckte. Alles lief auf sein Kommando. Er erscheint als der
Schöpfer und Kontrolleur der von ihm gestalteten und
unterworfenen Welt. Die Aufführungen lebten gerade nicht
Abbildung 3 Gertsacov schaut auf seine davon, dass die Flöhe instinktives und arttypische Verhalten
Flöhe. Foto: Dennis Hlysnky)
aufführten, um den Zuschauenden die Möglichkeit zu geben,
https://www.smithsonianmag.com/travel/
modern-day-flea-circuses-180967355/ ihr zoologisches Wissen über das Leben dieser kleinen Insekten
zu erweitern. Das genaue Gegenteil sollte erzielt werden.

Dazu bediente er sich Erzählungen mit Machtnarrativen, die auf einen gesellschaftlichen Kontext
in Europa verweisen, der durchtränkt war von einem imperialen Bestreben nach Herrschaft, die
sich nicht nur über die Tiere, sondern über die Welt erstreckte. Beispielsweise verweist die erste
erwähnte Nummer auf Bertolottos Wahlheimat Großbritannien, die damals zur größten
europäischen Seeweltmacht zählt: Ein Floh zieht ein Segelkriegsschiff der englischen Marine, mit
dem Titel: ›A first-rate MAN of WAR‹. Der Floh stemmt damit nicht nur ein geschickt
produziertes Miniaturmodell auf die Bühne. Das Schiff steht symbolisch für die imperiale Macht
der Briten und den Ausbau der Flotte der Royal Navy. Für die britische Handels- und Kriegsflotte

18
gilt das Schiff als Zugangsvoraussetzung für
die Entdeckung und die Eroberung der
Neuen Welt.34 Territorien werden in Besitz
genommen, die Bevölkerung unterworfen,
vertrieben, ermordet und europäischen
Wissensregimen untergeordnet. Eine der
angewandten Methoden der Disziplinierung
der indigenen Bevölkerung kommt der
Dressur nahe. Unter anderem brachten die
Boote ähnliche Methoden zu den eroberten
Kontinenten, die auch in Europa
Konjunktur erlebten. Dazu gehört etwa die
schulische Erziehung, die im folgenden
Kapitel über die alphabetisierten Schweine
als Inspirationsquelle für die Praxis der
Tierdressur herausgearbeitet wird. Über den
Seeweg gelangen Pläne von europäischen
Abbildung 4 Werbeplakat Bertolotto. Ó Blaise Museum
Schulen in koloniale Gebiete. Lehrpläne
nach europäischem Vorbild sollten implementiert werden, wie beispielsweise bei den von Helen
Verran untersuchten yoruba- und englischsprachigen Mathematikgrundschulen in Nigeria.
Ethnozentristische Wissenspraktiken werden mit dem Boot hintransportiert und aufgezwungen,
ohne die Differenzen zu den Praktiken und Wissensformen ernst zu nehmen, die dort
vorherrschten.35 Auf ähnliche Weise behandelt auch die Tierdressur deren Eigenheiten als
zweitrangig und der europäische globale Machtgestus erstreckt sich ebenso weit ins Tierreich.

Auch nicht kolonial geprägte Alltagsszenen fanden ihren Platz bei Bertolotto. So befahl er einem
Floh, eine Kutsche zu ziehen, in dem ein verkleideter Artgenosse sitzt und mit einer Peitsche den
ziehenden Floh antreibt. Einen anderen Floh ließ er als Gärtner auftreten, der eine Schubkarre
von einem Bühnenende zum nächsten ziehen sollte. Darauf folgte Mademoiselle Le Normand, die

34Imperialer Einfluss sollte nicht nur einseitig darstellen werden, sondern durch die Interaktionen durch welcher er ebenso in
die andere Richtung gewirkt hat. Etwas was auch als Konzept der Entangled Histories in deutschsprachigen Raum von Shalini
Randeria und Sebastian Conrad im postkolonialen Diskurs verbreitet wird.
Shalini Randeria / Sebastian Conrad, Geteilte Geschichten - Europa in einer postkolonialen Welt, in: (Ders.) Hrsg., Jenseits des
Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 9-49.

35Helen Verren, Science and an African Logic, Chicago 2001. Das Buch ist auch deswegen interessant, weil Verren fragt, wie
die Differenzen beider Praktiken erhalten bleiben können und wie die Vermittlung von Wissen in postkolonialen Strukturen
heute aussehen kann.

19
Bertolotto als einen seltsam aussehenden
alten Floh beschreibt, die das Schicksal der
Besucher:innen voraussagte. Bilder von
gesellschaftlich angestrebtem und
kultiviertem Miteinander beschreibt
Bertolotto ebenfalls in seinem Traktat. Flöhe
wurden zu Vertretern gesellschaftlicher
Hochkultur gemacht. Für seine Show ›Signor
Bertolotto’s Industrious Fleas‹ kündigt er auf
einem Werbeplakat festliche Szenen aus
einem eleganten britischen Ballsaal an. Dort,
so beschreibt er sinngemäß, tanzen zwei
Frauen und Männer miteinander drehend im
Kreis einen Paartanz, eine tschechische
Polka. Zu diesem Rundtanz läuft in der
Regel beschwingte Musik, die von 15
Abbildung 5 Ankündigung des Flohzirkus von dem Direktor J.
Günther, etwa 1890.
virtuosen Musikern und Musikerinnen
gespielt wird. Daneben spielen vier weitere
Lehmann, Alfred, Tiere als Artisten. Eine kleine
Kulturgeschichte der Tierdressur, Wittenberg Lutherstadt: A. Gäste, wie er schreibt, eine Partie Whist,
Ziemsen Verlag 1956, 43.
einem um die Jahrhundertwende
entstandenem Kartenspiel, mit dem sich zu jener Zeit vor allem die britische Upper Class in ihren
traditionellen Clubs die Zeit vertrieb. Daneben imaginiert Bertolotto eine kleine Brünette auf
einem Sofa, die heimlich mit einem modischen Schönling flirtet, während ihre neben ihr Mutter –
vollständig abgelenkt durch das politische Tagesgeschehen – sich in der Zeitung vertieft. Für die
gemütliche und einladende Stimmung im Salon sorgen drei elegante Kronleuchter, die den Raum
angenehm festlich ausleuchten.

Neben europäischen Selbstbildnissen wie diesen zählen auch innovative Entwicklungen zum
Narrativ, die vor allem technische Errungenschaften in Zeiten der Industrialisierung
demonstrieren. Es herrschte eine Stimmung des Aufbruchs, ein Streben nach Innovation und
Technisierung. Der ›weltberühmte Pariser Floh-Circus‹ des Direktors J. Günther etwa kündigt auf
dem Werbeplakat (ca. 1890) seinem potenziellen Publikum nicht weniger als gleich 300 gut
dressierte Menschenflöhe an. Die erste Nummer, die er zum Besten gibt, sind klassischerweise
Flöhe in Fesseln. Danach greift eine andere Nummer neuartige Transportmöglichkeiten auf:
›neueste Secundär-Eisenbahn, dargestellt von vier Flöhen‹. Die erste Eisenbahn in Deutschland
fährt am 7. Dezember 1835 und transportiert die Passagiere pendelnd zwischen Nürnberg und

20
Fürth hin und her. Eine ebensolche
Technisierung taucht im
Unterhaltungssektor auf. Ein US-
amerikanischer Ingenieur für
Eisenbahntechnik und Brückenbau

Abbildung 6 Der Menschenfloh (Pulex irritans), Abbildung


namens George Washington Gale Ferris
aus Medical and Veterinary Entomology (1915)
erbaute anlässlich der Weltausstellung in
Chicago 1893 das erste moderne Riesenrad der Welt. Die Entwicklung nahm ebenso Einzug in
den Pariser Flohzirkus, denn Bertolotto beschreibt ein Karussell, das besetzt ist und gezogen wird
von Flöhen, gefolgt von einer Nummer mit einer russischen Luftschaukel, die ebenso von Flöhen
besetzt und in Betrieb gesetzt wird.

Einerseits birgt es einen Unterhaltungswert, sich vorstellen zu können, diese fernen Lebewesen,
die im natürlichen Zustand derart anders sind als wir, könnten gebildet sein, festliche Rituale
haben und ein kulturelles Verständnis entwickeln. Dabei fesselt ebenso, dass ein Mensch derjenige
war, der die Kraft besitzt, den Tieren diese Fähigkeiten anzuerziehen.
Gesellschaftlich relevante Themen, die auf der Bühne abgebildet werden, illustrieren den
gesellschaftlichen Kontext, in welchem auch das Dressur-Konzept als Methode der Herrschaft
und Möglichkeit der Innovation entsteht. Die eher metaphorische Dressur von Flöhen an den
Anfang der Dressurgeschichte zu setzen, symbolisiert, wie weit und universal das Dressur-Konzept
gedacht wird. Neben den bekannten Dressurtieren wie Hunde oder Pferde, wird auch mit weniger
bekannten oder domestizierten Tieren experimentiert. Daher stehen neben den talentierten
Flöhen, buchstabierende Schweine, schauspielende Löwen, militärische Delfine, automatisierte
Hühner und Cyborg-Kakerlaken in den folgenden Kapiteln exemplarisch für das Konzept der
Dressur.

»Druckluft oder schwarze Plastikkügelchen«

Die Geschehnisse auf der Bühne werden nicht immer von echten Flöhen verkörpert. Wie bereits
erwähnt, werden die Tiere hier und da glaubwürdig durch technische Nachbauten ersetzt. Ein
Flohzirkusdirektor sieht sich daher nicht selten dem anhaltenden Vorwurf gegenübergestellt, ein
Flohzirkus sei nicht echt, sondern eine Illusion, ein Fake, ein technischer Nachbau. Dass dressierte
Tiere täuschend echt durch Automaten imitiert werden können, nimmt den Faden der bereits
erwähnten Analogie zwischen dem Status der Dressiertheit und einer Maschine wieder auf.

21
Einerseits führen die Verwechselungen historisch betrachtet zu tatsächlichen Automaten, die zu
jener Zeit auf Bühnen vorgeführt werden. Maschinen waren zu Beginn nicht dafür da, zu dienen,
sondern zu unterhalten, wie der Philosoph Daniel Strassberg unterstreicht. 36
Gerade bei derart kleinen Tieren wie den Flöhen, die aus der Ferne mit bloßen Augen ohnehin
nicht richtig erkannt werden können, fällt es leicht, den Zirkus täuschend echt nachzubauen. Von
den Zuschauer:innen kann ohnehin nicht sicher festgestellt werden, was sie da auf der Bühne
anschauen. Als einziger Beweis für ihre Anwesenheit und ihre angebliche Dressiertheit bleiben
zwei Indizien. Zum einen der Einstieg, wenn der Floh unter einer Lupe, dem Flohglas,
herumgereicht wird.37 Zum anderen die Requisiten. Es sind die Wägelchen, die von einer Seite
zur anderen fahren, die Schirmchen, die sich tanzend zur Musik bewegen, die Scheiben, die sich
wie bei einer Jonglage drehen oder der Balancierstab, der über ein Seil läuft, was die pastosen
Reden über die dressierten Flöhe scheinbar belegt. Diese Indizien können jedoch unbemerkt
ebenso gut technisch animiert sein. Was es dazu braucht sind beispielsweise unter der Bühne
befestigte Magneten, die bewegt werden, damit die Wägelchen über den Untergrund wackeln
oder Röckchen den Flohwalzer tanzen. Kleine Motoren ziehen die Seile an denen ein
Balacierstab hängt oder drehen die Scheibe für einen Jonglagetrick. Die im Innern verborgene
Technik wird mit den miniaturgroßen Bühnenensemble verbunden und ist von außen nicht
sichtbar. In der Fassade bleibt alles gleich: die Reden und Anweisungen wie auch die sichtbaren
Geschehnisse.
Diese Art des Fake-Flohzirkus’ taucht im Film- und Fernsehen immer wieder auf. In England
gab Michael Bentine dem mechanischen Flohzirkus zwischen 1973 und 1980 beispielsweise einen
festen Platz in seiner Fernsehserie ›Potty Time‹. Steven Spielberg wählt den Flohzirkus als
Sinnbild des utopischen Anspruchs von Menschen, die Natur zu beherrschen und schöpferisch
neu zu gestalten. Sein Science-Fiction-Abenteuer ›Jurassic Park‹ (1993) steht für dieses Bedürfnis
des Menschen, sich Flora und Fauna Untertan zu machen. Ein zum Scheitern verurteilter
Versuch, denn die erschaffene Welt übernimmt die Kontrolle. Während die Dinosaurier

36 Daniel Strassberg, Spektakuläre Maschinen. Eine Affektgeschichte der Technik, Berlin 2022.

37Die ersten Varianten der Lupe und des einfachen Mikroskops werden nicht zuletzt wegen dieses Zusammenhangs Flohglas
(Vitra pullicaria) genannt. Berger, K. R., »Flohgläser. Aus den Kindertagen des Mikroskops«, in, Mikrokosmos, 25: 11-12,
Stuttgart 1931. Ebenso: Eugen von Philippovich, Kuriositäten - Antiquitäten. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber (=
Bibliothek für Kunst- und Antiquitätenfreunde, Band 46), Braunschweig 1966, 326-331.

Die Grenzen des Machbaren werden ins Mikroskopische verschoben, um auf das Kleinste und Entfernteste einzuwirken. Eine
Ermächtigung, auf dessen Faszinationskraft auch Bücher wie das bekannte Werk des Naturphilosophen Robert Hooke (1635-
1703) verweisen. In ›Micrographia or Some Physiological Description of Minute Bodies‹ (1667) vereint Hooke schriftliche
Beobachtungen mit detaillierten Grafiken kleinster Tiere. Sein Werk erlaubt es jedem, in die Welt von nur wenig Millimeter
großen Geschöpfen vorzudringen. Was Galileo Galilei (1564-1642) mit dem Fernglas heranholt, kehrt Hooke um ins Kleinste.
Eine der bekanntesten und aufwendigsten Darstellungen ist die eines Flohs. Um ein hundertfaches vergrößert und bis aufs
Haar genau abbildet, bedeckt er eine mehrfach eingefaltete Seite der Micrographia.

22
ausbrechen und die Besucher:innen und
Mitarbeiter:innen verfolgen und zuweilen
brutal in Stücke reißen, schwelgt der
Erfinder des Parks Hamonds in Erinnerung
an eine bessere und erfolgversprechendere
Zeit seines Schaffens. Er erzählt von seinem
ersten Versuch, sich die Natur zumindest
symbolisch nach eigenem Geschmack zu
modifizieren. Damals besaß er einen
mechanischen Flohzirkus, ausgestattet mit
einem Trapez, einer Schaukel und einem
Karussell. Die Imitation war täuschend
echt, zumindest für Kinderaugen. Er
Abbildung 7 Imaginary rendering of Vaucanson's digesting duck
in Scientific American. 21. Januar 1899, A. Konby erinnert sich nostalgisch an den
Kommentar eines Mädchens: »Oh ich sehe die Flöhe Mami! Siehst du sie etwa nicht?«

Präsentation tierähnlicher Automaten auf der Bühne führt wie die Anfänge des Flohzirkus zurück
in das späte 18. Jahrhundert. Historisch betrachtet haben selbstbewegende Automaten einen
festen Platz neben dressierten echten Tieren auf der Bühne. Synchron zur Anfangszeit der ersten
Flohzirkusse um 1800 verläuft die Hochphase der Automatenkunst.38
Als einer der bekanntesten Automatenbauer gilt der deutsche Ingenieur Wolfgang von
Kempelen. Dieser konstruierte etwa 1769 den sogenannten Schachtürken. Es handelte sich dabei
um eine mechanische Konstruktion, die vor den Zuschauenden den Eindruck erweckte, der
Android selbst spiele Schach. Die Maschine – bestehend aus einem in türkischer Tracht
gekleideten Mann und einem Kasten, auf dem ein Schachbrett liegt – gewann gegen jeden
menschlichen Gegner. Erst in mittleren 19. Jahrhundert konnte nachgewiesen werden, dass nicht
der Automat programmiert wurde oder eine Form künstlicher Intelligenz besitzt, sondern ein
ausgebildeter menschlicher Schachspieler im Kasten steckte und die Figuren von innen bewegte.39
Einen weiterer Höhepunkt der Geschichte der Automaten stellte die berühmte mechanische Ente

38 EINBAUEN?: »E. T. A. Hoffmann erzählt in Die Automate (1819) von einem mechanischen Orakel, das an den sogenannten
Schachtürken angelehnt ist. In den Groschenheften des ausgehenden 19. Jahrhunderts findet sich beispielsweise die Fiktion
eines dampfgetriebenen Maschinenmenschen (The Steam Man of the Prairies von Edward S. Ellis, 1868).[3] Da sich das Wort
„Roboter“ für die künstlichen Menschen noch nicht eingebürgert hat, werden solche Figuren noch als „Automat“ oder
„mechanischer Mensch“ (englisch mechanical man) bezeichnet. Im Jahre 1886 publizierte der Schriftsteller Auguste de
Villiers de L’Isle-Adam den Roman L' Eve future (dt. Die Eva der Zukunft oder Edisons Weib der Zukunft), in dem ein
weiblicher Automat als Lebensgefährtin eines vornehmen Lords dienen soll.[4]«

39Brigitte Felderer, Ernst Strouhal, Kempelen – Zwei Maschinen. Texte, Bilder und Modelle zur Sprechmaschine und zum
schachspielenden Androiden Wolfgang von Kempelens, Wien 2004.

23
(1738) des Franzosen Jacques de Vaucanson (1709-82) dar. Die automatische Ente konnte fressen,
watscheln und verdauen. Die Füße, der Schnabel und die Verdauung wurden über die
verschalteten Zahnräder, Schläuche und Pumpen in Bewegung gesetzt. Auch in Charles Hughes
›Royal Circus‹, den er als erste Konkurrenz zu Astley’s Amphitheater 1882 nach langjährigem
Aufenthalt in Russland und Europa in London eröffnete, soll ein Automatenschwein auf der
Bühne gestanden haben.40 Bekannt waren ebenso die Tiere des Uhrmachers Maillardet von
Neuenburg. Er gehörte zu den Pionieren der Feinmechanik und galt als Experte in der
Herstellung automatisch bewegender Gegenstände. Mit seiner Wanderausstellung bewegter
Automaten im Jahre 1843 demonstrierte er technische Tierimitate, die sich durch eine täuschend
echte Imitation des natürlichen Verhaltens auszeichneten, das heißt, »durch seine ihm
eigenthümliche Haltung und Bewegung«.41 Das anorganische leblose Material wurde zu
neuartigen Leben erweckt, genauso wie die tanzenden und rennenden Flöhe auf der Bühne. Beide
Figuren laufen in einem vorgegebenen Takt und vollführen erwünschte Bewegungsabläufe.

Schon in der Antike standen nach Strassberg Automaten in Zusammenhang mit gottähnlicher
Kraft des Menschen, Leben zu erzeugen. Was sich bewegt, wird in der Antike als Leben definiert.
Ähnlich handelt es sich im Verständnis des 18. Jahrhunderts um naturgetreue Nachbauten, im
Sinne der gängigen Vorstellung von den inneren Strukturen und Funktionen eines tierischen
Körpers. Zu jener Zeit wurden theologische Vorstellungen der Natur und des tierischen wie auch
menschlichen Organismus zunehmend abgelöst. Im Kontext der aufstrebenden Naturwissenschaft
ersetzten mechanistische und anti-metaphysische Vorstellungen den Körper als Uhrwerk.42 Das
Tier in dem damaligen Diskurs ist eben das, was auf die Bühne gebracht wurde. Der Bau
repräsentierte die ontologische Auffassung des Tieres als harmonisch laufendes und selbst
bewegendes Uhrwerk. Der automatische Flohzirkus und die anderen Tierautomaten
materialisierten die bereits genannte mechanistische Theorie René Descartes‘ (1596-1650) von
Tieren als zwar kunstvolle, jedoch seelenlose Maschine, ohne Vernunft oder Lernfähigkeit.43 Eine

40Marius Kwint, »Circus«, in, The Cambridge Companion to Theatre History, David Whiles (Hrsg.), Cambridge u.a. 2013, S.
210-255.

41Mechanische Automaten: Die Herren Maillardet von Neuenburg benachrichtigen das E. Publikum, daß sie in dieser Stadt
mit fünf Automaten (oder sich selbst bewegenden Figuren), [...]. [Bern] : [Haller], 1843. Universitätsbibliothek Bern, MUE
DBHal : K1:23, https://doi.org/10.3931/e-rara-72011 / Public Domain Mark.

42Kuhn, Dorothea (1970): Uhrwerk oder Organismus. Karl Friedrich Kielmeyers System der organischen Kräfte. In: Kuhn,
Typus und Metamorphose. Goethe-Studien. Marbach 1988, S. 60 – 69.

43Das Symbol der Uhr und der früh-neuzeitliche Körperdiskurs lieferten darüber hinaus den zentralen Ausgangspunkt für
politische Metaphorik des Staates als Maschine. Diese findet sich noch in Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische
Erziehung (1795) und in Kants Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) mit der er die Überwindung des
Maschinenkonzepts anstrebt, in der Bürger:innen bloß als Teil des Mechanismus verstanden werden.

24
Körperautomatendoktrin wie sie Descartes insbesondere in seinen Schriften ›Traité de l’Homme‹
(1633) und ›Discours de la Méthode‹ (1637) entwickelte. Die reduktionistische Denkbewegung
gipfelte im radikalen Körpermodell, in welchem Julien Offray de La Mettrie (1709-1751) in seiner
Kampfschrift L’Homme-Machine ›Die Maschine Mensch‹ (1748) die materialistische Theorie auch
auf den Menschen übertrug.
Die sich selbst bewegenden Automaten sind der Versuch, im Aussehen und Verhalten reale
Tiere zu imitieren und zum Verwechseln ähnlich nachzubauen. Damit stehen der Nachbau und
die Präsentation abermals für den bereits erwähnten Anspruch, die von Gott geschaffene Natur in
der Form von tierähnlichen Automaten selbst zu reproduzieren. Ein christlicher Akt der
Schaffung künstlichen Lebens nach dem Vorbild der von Gott geschaffenen Welt, wodurch die
Erbauer ähnlich wie bei der Dressur ihre eigene Schöpferkraft beweisen.44

Abgesehen von der Imitation gängiger Köpermodelle materialisiert sich in den Automaten der
Prototyp eines dressierten Körpers. Dass ein Automat eine Theorie der Dressur repräsentiert,
schlussfolgert auch der Philosoph Michel Foucault. In seinen bekannten Ausführungen über die
Komplexe des Überwachens und Strafens bringt er einen technischen Nachbau eines Menschen
und das Konzept von Dressur zusammen. Ein Android sei »sowohl eine materialistische
Reduktion der Seele wie eine allgemeine Theorie der Dressur« denn sie demonstriert
Manipulierbarkeit und Gelehrigkeit. »Gelehrig ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der
ausgenutzt werden kann, der umgeformt und vervollkommnet werden kann.«45 Ebenso wird der
Floh und auch wir Menschen als politischer Körper unterworfen und transformiert.
In den wenigen Traktaten und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Dressur, aus
der Hand von solchen, die selbst beginnen, Tiere zu dressieren, tauchen immer wieder Vergleiche
zu Maschinen auf. Nicht nur im Hinblick auf Tier und Maschine, sondern oftmals auf Tier,
Mensch und Maschine. Wie sich in diesem Konzept die Grenzen verschieben und auflösen,
beschreibt Hachet-Souplet eindrücklich um 1900 in seinem Werk ›Die Dressur der Tiere‹:

»Hier wird die Erziehung des Thieres der des Menschen eine völlig analoge. Man bringt dem
Thier gewisse Bewegungen beinahe auf dieselbe Weise bei wie einem Kinde die lateinischen
Declination. Farceh bringt in einer seiner Schriften eine kleine pädagogische Skizze, die so
zutreffend ist, daß wir hier daran erinnern wollen: ›Also, mein kleiner Freund…die dritte
Deklination! Victor, victoris, victori.‘‹ – Jetzt wird ihm schon drei Tage hindurch die dritte
Declination nach den beiden ersten wiederholt; vielleicht zum hundertsten Male spricht er sie

44 Ähnlich argumentiert Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, S. 175.

45

25
nach – er kann sie noch immer nicht recht. Das Kind aber muss tausendfach ein solches
Wortspiel zu seiner Einweihung in die klassischen Sprachen vergessen, um sie später zu
beherrschen, um sie, ohne dessen gewahr zu werden, zu handhaben.’ Wie das Kind schließlich
unentwegbar Declinationen, Conjugationen herleiert, wie der Soldat seine Waffe handhabt
und der Klaviervirtuose ohne auf seine Finger zu sehen, spielt, so werden auch die klügsten
unter den dressierten Thieren, wenn sie einmal fertig ausgebildet sind, vor dem Publikum ohne
irgend eine Art von Unschlüssigkeit oder Zögern gerade so arbeiten wie eine Maschine. Die
Inanspruchnahme der Nerventhätigkeit ist bei ihnen (mit Wort oder Wink des Dresseurs)
dasselbe, was bei der Bewegung einer Maschine das Eingreifen einzelner Räder bedeutet.«46

Die Maschine bleibt das beliebteste Bild, um eine gelungene Dressur zu beschreiben. »Die
Vollkommenheit der Ausführung ist eben eine Frucht der Mechanisierung,«47 folgert Máday.
Diese Beziehungen bleiben in den folgenden Überlegungen von großer Bedeutung und
materialisiert sich mit der Zeit so weit, dass beide Elemente verschaltet werden, wie abschließend
an der fernsteuerbaren Kakerlake der Firma BackYard Brains diskutiert wird.

Das wahre Talent der Flöhe

Das wahre Talent der Flöhe zeichnet sich folglich nicht darin aus, dressiert werden zu können,
wie es bei Schweinen, Löwen, Delfinen und Hühnern in den folgenden Kapiteln passiert. Was die
Flöhe jedoch tatsächlich können, sind die Grenzen des Konzepts aufzuzeigen. Entgegen der
Vorstellung einer einseitigen Steuerung, die hierarchisch verläuft und aufgeteilt ist zwischen einem
Befehlsgeber und einem untergeordneten ausführenden Tier, zeigt sich auf einem zweiten Blick
bei den Flöhen und allen anderen Dressur-Beispielen ebenso gegenteilige Momente. Neben der
Hinwendung zum Tier geht es um Anpassung und Selbstdressur seitens der dressierenden Person.

An einer Stelle bei Bertolotto findet sich in einem Bild ein Hinweis auf diese Umkehrung. Darin
beschreibt er einen Dresseur mit dem christlichen Bild eines guten Hirten. Das ständige
Zusammensein basiert darauf, dass er jeden einzelnen seiner Flöhe nicht nur als Individuen
anerkennt, sondern ihren Bedürfnissen und Anforderungen nachkommt. Er gibt jedem einen
Namen, ohne Angst, wie er sagt, den einen mit dem anderen zu verwechseln. Ebenso kümmere er
sich um die kleinen Tierchen, kenne ihre Eigenheiten, ihre Bedürfnisse und sorge sich um ihr

46 Hachet-Souplet (1988), S. 23.

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26
Abbildung 8 Fütterung

Wohlergehen. Darin, so Bertolotto weiter, unterscheide sich ein Flohdresseur kaum von einem
guten Hirten, der auf gleiche Weise seine Herde behüte und kenne.48 Bertolotto paraphrasiert
eines der ältesten Motive der christlichen Bildgeschichte, getreu des 23. Psalms aus dem Alten
Testament: »Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen
Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf
rechten Pfaden, treu seinem Namen.« Dressieren beginnt damit, eine Beziehung zum Gegenüber
aufzubauen, es zu beobachten und kennenzulernen. Ebenso gilt es, die Individualität und
Eigenheiten singulärer Tiere zu berücksichtigen. Die Dressur-Praxis, um die es hier geht, hat
wenig mit der gewaltwollen und einseitig verlaufenden Unterdrückung zu tun, wie sie etwa bei
dem französischen Schriftsteller Hugues Le Roux 1890 formuliert wird: »Alle Passagiere der
Arche Noah [das heißt, der Zirkusbühne d.V.] stehen unter der Peitsche, von den kleinsten
Insekten bis hin zu Jumbo selbst. Die Menschen haben Schlangen, Vögel, Katzen, Hunde,
Ziegen, Affen, Robben und Schweine gezähmt.«49 Ein guter Hirte hingegen kennt und behütet
seine Tiere, schafft eine vertrauensvolle Beziehung, um sie dann führen zu können: »Schafe hören
auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus.«
(Johannesevangelium 10, 3-4)50

48 Vgl. Bertolotto (ca. 1835), S. 18.

49 Hughes le Roux und Jules Garnier, Acrobats and Mountebanks, übers. v. A.P. Morton, London 1890, S. 108.

50 Dass diese christliche Allegorie der pastoralen Seelenführung ebenso auf die staatliche Regierung des Menschen
übergegangen ist, beschreibt nicht zuletzt Michel Foucault mit der Gouvernementalisierung des Staates. Der Übergang
erfolgt in Europa zur selben Zeit wie die humane Dressur professionalisiert und popularisiert wird. Den Beginn des Umbruchs
situiert Foucault in 16. Jahrhundert, mit der Auflösung der Feudalordnung, der Reformation und Gegenreformation. Der
alleinherrschende Souverän, den es noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gibt, und das absolutistische System werden im

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Momente der Machtumkehrung zeigen die Flöhe am spürbarsten auf. Neben dem gefürchteten
Sprung von der Bühne in den Zuschauerraum, zeigt die Nahrungsaufnahme am plakativsten eine
Umkehrung. Denn Flöhe benötigen frisches Blut, um zu überleben. Sie brauchen Menschenblut.
So muss ein Floh, wie Birk stets betont, satt sein, um mit ihm auf der Bühne zu arbeiten. Konkret
bedeutet dies, die Flöhe von dem eigenen Blut trinken zu lassen. Es reicht nicht, etwas Blut in
einem Schälchen zur Verfügung zu stellen. Die Tierchen müssen an den eigenen Körper gesetzt
werden und dort zu trinken. Dafür muss der Unterarm eines Mitarbeiters von Birk herhalten. Der
Flohzirkusdirektor selbst hat nur in seinen Anfangsjahren im Zirkus noch gefüttert. Zwischen
Handgelenk und Ellbogen werden die Tiere an die weiche und glatt rasierte Haut gesetzt, um ihre
Saugrüssel durch die Hautschichten hindurch in die Adern einzuführen. Ein Floh kann bei einer
Mahlzeit das zwanzigfache des Körpergewichts aufnehmen. Sobald am Hinterleib etwas Blut
austritt, weiß man, dass er satt ist. Dann muss man ihn herunternehmen, da ansonsten bereits
verdautes Blut wieder in die Wunde gelangt und erwähnte Krankheiten übertragen werden
können. Zurück bleiben juckende Spuren auf den Armen. Der Impressario de Mestek aus Kischs
›Dramaturgie des Flohtheaters‹ wird ebenfalls von seinen Flöhen als Futterquelle in den Dienst
genommen: »Zuerst ging er an die Fütterung. Er schüttelte die Flöhe in eine Flasche, in der unten
trockene Sägespäne waren und die oben einen breiten Hals hatte. Diese weite Öffnung wurde mit
der flachen Hand verschlossen, dann stülpte man die Flasche vorsichtig um, und die kleinen
Raubtiere begannen buchstäblich aus der Hand zu fressen.«51
Diese alternativlose Verpflichtung, als Nahrungsquelle zu dienen, stellt einen der Gründe dar,
weshalb Birk es besonders bedauert, den Katzenfloh und nicht den Hunde-, oder Menschenfloh
nutzen zu müssen. Trotz der geringeren Körpergröße mache sich das Diktat der Versorgung
gerade bei dieser Art besonders bemerkbar, denn Katzenflöhe sind verhältnismäßig oft hungrig
und müssen, anders als Hunde- oder Menschenflöhe, alle paar Stunden mit frischem Blut versorgt
werden.

Bei der Fütterung bestimmt also der Floh den Rhythmus und das Verhalten des Menschen. Wenn
man also will, dass der Floh zum König – im Sinne vom Bühnen-Star – wird, bedeutet dies, ihn
regieren zu lassen. Ebenso wie es Mephistos in Johann Wolfgang von Goethes ›Faust‹ im Flohlied
besingt:

Zuge der Aufklärung gestürzt. Nach dem Vorbild der christlich pastoralen Führung von Gläubigen etabliert sich ein neues
liberalisiertes Regierungsmodell.
Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978-
1979, Frankfurt a.M. 2004, S. 343-519.

51 Kisch [1920] (1980), S. 503.

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Es war einmal ein König,
Der hatt' einen großen Floh
Den liebt' er gar nicht wenig,
Als wie seinen eignen Sohn.
Da rief er seinen Schneider,
Der Schneider kam heran:
Da, miß dem Junker Kleider
Und miß ihm Hosen an!

In Sammet und in Seide
War er nun angetan,
Hatte Bänder auf dem Kleide,
Hatt' auch ein Kreuz daran,
Und war sogleich Minister,
Und hatt einen großen Stern.
Da wurden seine Geschwister
Bei Hof' auch große Herrn.
Und Herrn und Fraun am Hofe,
Die waren sehr geplagt,
Die Königin und die Zofe
Gestochen und genagt,
Und durften sie nicht knicken,
Und weg sie jucken nicht.
Wir knicken und ersticken
Doch gleich, wenn einer sticht.52

Damit hat auch der Floh die Möglichkeit, auf die Dressur Einfluss zu nehmen. Die dressierende
Person will den Floh transformieren und verändert sich unter dem Einfluss des Tieres selbst. Im
vielleicht einzigen Moment einer realen Dressur im Flohzirkus gehorcht der Mensch daher dem
Tier – beziehungsweise der männliche Dresseur den Floh-Damen.

Auf der Bühne des Flohzirkus sind die winzigen und schlussendlich undressierbaren Flöhe ebenso
eine gewünschte Darstellung von Macht und Herrschaft der Menschen gegenüber den Tieren wie

52 Johann Wolfgang Goethe [1887], Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 1986, S. 62f.

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auch eine Parodie ihrer selbst. E.T.H. Hoffmann (1776-1822) lässt den dressierten Floh in seiner
Erzählung des ›Meister Floh‹ humoristisch als Soldat auftreten.53: »Zum größten Erstaunen sah
man auf einer Tischplatte von dem schönsten weißen, glänzend polierten Marmor Flöhe, welche
kleine Kanonen, Pulverkarren, Rüstwagen zogen, andre sprangen daneben her mit Flinten im
Arm, Patronentaschen auf dem Rücken, Säbeln an der Seite.« Genüsslich scheint sich Hoffmann
der Beschreibung dieser komischen Facette des Spiels hinzugeben: »Auf das Kommandowort des
Künstlers [der Dresseur] führten sie die schwierigsten Evolutionen aus, und alles schien lustiger
und lebendiger wie bei wirklichen großen Soldaten, weil das Marschieren in den zierlichsten
Entrechats und Luftsprüngen, das Links- um und Rechtsum aber in anmutigen Pirouetten
bestand. Die ganze Mannschaft hatte ein erstaunlicher Aplomb, und der Feldherr schien zugleich
ein tüchtiger Ballettmeister.«54
Geschrumpft auf Flohgröße und repräsentiert durch das unkontrollierbare Wuseln der
menschlichen Plagegeister, geschieht das, was nach dem Psychoanalytiker Sigmund Freud die
Wesensmerkmale eines Witzes auszeichnet: »die Darstellung durch ein Kleines oder Kleinstes,
welches die Aufgabe löst, einen ganzen Charakter durch ein winziges Detail zum vollen Ausdruck
zu bringen.«55 Am Ende amüsieren wir uns bei Birk weniger über die vordergründig
demonstrierte Tierdressur, sondern nicht zuletzt über uns selbst.

53
Und damit als ein Abbild eines staatlich gesteuerten und gedrillten Körpers, um den es bei den Delfinsoldaten
gehen wird.

54E.T.A. Hoffmann [1822], Meister Floh – Ein Märchen in sieben Abenteuern zweier Freunde, 1981, S. 41. In Ländern wie
Frankreich etwa spielen dressierte Tiere dahingehend eine zentrale Rolle, um in der Öffentlichkeit - ohne strafende
Konsequenzen – karikierende Spitzen auf Personen oder Politik äußern zu können. Dort hatte man Unterhaltungstheatern
auf Jahrmärkten im 18. Jahrhundert das Sprechen untersagt, um die anhaltende Konkurrenz zu klassischen Theatern in den
Städten ein Ende zu bereiten. Das Verbot ist Folge der kommerziellen Pariser Theaterfreiheit aus dem Jahr 1791, als zwischen
den beiden Kategorien Theater und Zirkus noch nicht differenziert wurde. Daher nennt Astley den ersten modernen Zirkus
ursprünglich noch Astley’s Amphitheatre. Die Schausteller und Dresseure ließen die Tiere für sich sprechen. »Ihre [die der
dressierten Tiere] Verwendung bot den Komödianten die Möglichkeit, trotz des Sing- und Sprechverbots eine eindrucksvolle
karikierende Darstellung menschlicher Verhaltensweisen auf die Bühne zu bringen, denn die Privilegien der Theater
erstreckten sich nicht auf Tiere.« (Rieke-Müller, Annelore; Dittrich, Lothar, Unterwegs mit wilden Tieren, Marburg/Lahn
1999, S. 23). Unabhängig von diesem konkreten Verbot in Frankreich, sind dressierte Tiere grundsätzliche (vom rauchenden
und trinkenden Affen bis hin zum marschierenden und kämpfenden Floh) in ganz Europa ein beliebtes satirisches Sprachrohr.

55Sigmund Freud, »Der Witz und die Beziehung zum Unbewussten«, in, Psychologische Schriften, Band IV, Frankfurt a.M.
2000, S. 9-221, S. 77.

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