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Author(s): W. BEIERWALTES
Source: Revue Internationale de Philosophie , 1970, Vol. 24, No. 92 (2) (1970), pp. 348-357
Published by: Revue Internationale de Philosophie
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Philosophie
von W. BEIERWALTES
(1) Κ. Η. Ε. de Jong, Hegel und Plotin, Leiden, 1916. Ziel dieser« Kritischen Studie»
ist es, die Arbeitsmethode und Denkart Hegels bzw. seiner Schule als unpräzis und inadä
quat zu entlarven.
(2) Vgl. hierzu meinen Beitrag Hegel und Proklos zur Festschrift für H.-G. Gadamer (Her
meneutik und Dialektik, Tübingen, 1970). Dort findet sich auch Näheres über die Stellung,
die Hegel dem Neuplatonismus in seinem System der Geschichte zugesprochen hat. In
einer eigenen Abhandlung versuche ich, den geschichtlichen und sachlichen Kontext zu
Hegels Plotin-Auslegung zu klären, der Goethe, Novalis, Schelling, Creuzer und den jün
geren Fichte umfasst.
(3) J. Brucker, Historia critica philosophiae, Leipzig, 1742, II. Bd., 217 ff. (im Kapitel
'de secta eclectica') ; D. Tiedemann, Geist der spekulativen Philosophie, Marburg, 1793, 3.Bd.
(der verheissungsvollen Ankündigung S. 263 und dem versöhnlichen Epilog S. 431 f.
widersprechen S. 373, 382, 402 und 427 als systemgebundene Diffamierungen Plotins
gründlich) ; W. G. Tennemann, Geschichte der Philosophie, Leipzig, 1807, 6.Bd., z.B. S. 66.
(4) Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke (Jubiläumsausgabe),
XIX, 44( = 1. Auflage, Berlin 1836, 15. Bd).
(5) Hegel, XIX, 44.
«Vernunft, die in und für sich selbst ist» (e). In dem ene
Versuch, die Philosophie Plotins beim Begriff zu halte
Wahrheit ist ihm allein in der Vernunft und in dem Begreife
fasst er selbst die mystische Ekstase als einen rationalen
Akt, als Heraustreten aus dem Inhalt des sinnlichen Bewusstseins,
als « reines Denken, das bei sich selbst ist, sich zum Gegenstand
hat» (8). Reines Denken, das sich selbst 'Gegenstand' ist, träfe
freilich als Charakterisierung allenfalls auf den plotinischen νους zu,
nicht aber auf die Struktur des Aktes der Einung mit dem Einen selbst.
Dieser gerade überspringt im zeitlosen Augenblick das Denken,
das als dialektisches ausschliesslich — obgleich notwendig — Vor
bereitung der transrationalen, gegenstandlosen und daher diffe
renz-losen Einung sein kann. Die « Rationalisierung » der plotini
schen Ekstase ist vom Ansatz Hegels her durchaus verständlich.
Weil ihm eine nicht durch aktive Vernunft bestimmte Wirklichkeit
nicht vorstellbar ist, formt er das Eine Plotins rigoros nach seinem
eigenen Modell des Subjekts. Danach denkt das Eine, obgleich
Plotin — wenigstens in seinen späteren Schriften (9) — es strikt als
nicht-denkendes vorgestellt hat. Das Wesen des höchsten Seins,
des Gottes, ist das Denken selbst, oder : das « absolute Wesen ist im
Denken des Selbstbewusstseins gegenwärtig und ist darin als Wesen,
oder das Denken selbst ist das Göttliche » (10).
Gestalt-, Etwas-Sein und Sein überhaupt hat Plotin dem Einen
abgesprochen, weil diese Prädikate Differenzierung und damit Viel
heit im absolut Nicht-Vielen setzten. Hegel dagegen versteht das
plotinische Eine als das «reine Sein». 'Reines Sein' nun aber
nicht als das leere, noch unbestimmte, unvermittelte Sein im Sinne
des Anfangs Hegelscher Logik, sondern als die absolute Wirklich
keit an ihm selbst, reine Fülle, als solche « Grund und Ursache alles
erscheinenden Seins», «Wesen aller Wesen» (u). 'Sein' impliziert
höchste Objektivität, so dass das Eine nicht etwa als die — Kan
tische— Kategorie 'Einheit' und damit als blosses Regulativ der
Vernunft begriffen werden kann. Dies Eine, reines Sein, höchste
(6) Ebd.
(7) XIX, 42.
(8) XIX, 45.
(9) Vgl. hierzu J. M. Rist, Plotinus, The Road to Reality, Cambridge, 1967, 38 ff.
(10) XIX, 46.
(11) XIX, 47.
Objektivität und produktiver Grund, ist und bleibt Gott und reales
Eines, obgleich es sich ins Vielcaufschliesst : es ist « der Zusammen
hang, die Diesselbigkeit selbst» (12).
Wenn nun das Eine qua Gott reines Sein ist, das Wesen Gottes
aber das Denken selbst ist, dann vollzieht sich das göttlich-Eine als
die Identität von Denken und Sein. Hegel hat demnach
den eigenen Grundgedanken, dass Sein konkret nur als sich selbst
begreifendes Denken sein kann und nur dieses Sichselbstbegreifen
des Begriffes absolute Idee zu werden imstande ist, in Plotins erstes
Prinzip hineinprojiziert oder den eigenen Gedanken als vorausleuch
tende Idee in Plotin wiedergefunden. Dem Fremdes Suchenden
erhellt und offenbart sich das Eigene ; der Interpret Hegel ist offen
sichtlich durch sich selbst als ein « Lehrling von Sais » gefangen :
« Einem gelang es, er hob den Schleier der Göttin zu Sais. Aber was
sah er, er sah — Wunder des Wunders, sich selbst».
Der jede andere Denkmöglichkeit ausschliessende und damit
auch dem Fremden gegenüber Gewalt brauchende Verstehens
horizont fHegels ist also als Subjektivität oder als Denken bestimmt.
Daher nennt Hegel die « Idee der plotinischen Philosophie «Intel
lektualismus» oder einen « hohen Idealismus, der aber
von Seiten des Begriffs noch nicht vollendeter Idealismus ist» (13) ;
letzteres offensichtlich deshalb, weil noch nicht 'Ich' und 'Freiheit'
zur Quelle und zum Explikationsfeld des Denkens geworden sind,
also das Problem der Identität von Denken und Sein noch nicht zu
reichend vom Subjekt her idealistisch gelöst ist : Sein ist
bei Plotin immer noch primär Sein und nicht Denken.
'Vollendeter Idealismus' ist für Hegel zudem dialektisch. Dia
lektik — unterschieden von einer mehr statisch verstandenen zwei
poligen Beziehung von In-sich-Seiendem — meint hier die prozes
suale Entfaltung des Seins im oder als Denken. Das im Anfang dieses
Prozesses schon implizierte Absolute 'wird zu sich' gerade durch
Aufhebung alles Anderen oder Negativen i η der Negation. « Be
sondere Existenzen » (14), wie Plotin sie im Intelligiblen und Sensiblen
setzt, können nicht sein. Sollte Plotin in diesem Sinne « dialek
tisch» und das heisst wahrhaft philosophisch sein, so müsste das
II
(29) Enzyklopädie (1830), nach § 577. Vgl. meine Abhandlung, Hegel und Proklos
(s. oben Anm. 2 S. 253 f.).
(30) XIX, 67.
(31) Vgl. Plotin, V, 1, 9, 7 ff.
(32) Hegel begreift das parmenideische « Denken» nicht als eine Grundstruktur oder
als die Artikuliertheit des « Seins », sondern setzt beide als gleichursprüngliche Momente
an, die sich gegenseitig auslegen. Sein ist demnach die Grundlegung seiner selbst als Den
ken : « Das Denken producirt sich, was producirt wird ist ein Gedanke ; Denken ist also
mit seinem Sein identisch, denn es ist nichts ausser dem Sein, dieser grossen Affirmation »
(Hegel zu ParmenidesFr. 8, 34-36, Werke XVII, 312. Dort und 313 verweist Hegel auch
auf die Parmenides-Interpretation Plotins).
(33) Plotin, V, 9, 5, 29 ; V, 1, 8, 15 ff. ; III, 8, 8, 8 ; I, 4, 10, 6. Vgl. meinen Kom
mentar zu III, 7, S. 25. Für eine geschichtlich genuine Interpretationsmöglichkeit siehe
U. Hölscher, Parmenides, Vom Wesen des Seienden, Reihe Theorie 1, Frankfurt, 1969, 81 ff.,
Ders., Anfängliches Fragen, Göttingen, 1968, 91 ff.
tives in sich selbst fixiert sein lässt. Andersheit wird zum zwar not
wendigen aber denkend sich selbst aufhebenden Moment im Geht,
durch das er allererst zum Ganzen « concresciert». So ist Konkret
Sein hegelisch ein hohes Prädikat für neuplatonisches Denken :
« Nur als in sich sich bestimmendes Denken hat der Geist Sinn. Das
ist reine Identität des Denkens, das sich weiss, sich in sich unterschei
det, und nach der Seite dieses Unterschiedes sich bestimmt, darin
aber vollkommen durchsichtige Einheit mit sich selbst bleibt. Das
ist das Konkrete» (34). Das 'Konkrete' also ist die hegelische For
mulierung der plotinischen 'Einheit in der Verschiedenheit'.
Universität Münster.
(34) XIX, 7, über den Neuplatonismus im allgemeinen. Vgl. ebd. auch S. 10 und 14,
sowie meine Anm. 2 genannte Abhandlung S. 254 ff.