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Die anthropologischen Wurzeln der Intersubjektivität in Hegels

„Anthropologie“ [mit besonderer Berücksichtigung von Hegels Auffassung


des „animalischen Magnetismus“]

Daniel Brauer
Universität Buenos Aires / CONICET

„Dies Kapitel der Anthropologie ist überhaup das Schwerste, weil es das dunkelste
ist“ 1

Universität Buenos Aires / CONICET

In den letzten Jahren rückte Hegels Theorie der Anerkennung immer mehr ins Zentrum der
Rezeption und Rehabilitierung hauptsächlich von Hegels praktischer Philosophie. So wie
die bahnbrechende Interpretation des Herr-Knecht Kapitels der Phenomenologie durch
Alexander Kojèves in den dreissiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem die
(aber nicht nur) französichen Wirkungsgeschichte des Textes prägte, so haben die Arbeiten
von Ludwig Siep und Axel Honneth u. a. in der neueren Geschichte der Hegel-Exegese,,
die sowohl in der Genese von Hegels politischer Philosophie wie in den verschiedenen
Fassungen der Rechtsphilosphie skizierten Annerkennungsformen als Kern seiner
Auffassung von Intersubjektivität gesehen. Dabei wird Hegels erster Teil seiner
Philosophie des subjektiven Geistes, nämlich seine philosophische „Anthropologie“ kaum
in dieser Hinsicht in Betracht gezogen, als ob das Individuum, so wie in den meisten
Naturrechtstheorien der Moderne, der Ausgangspunkt wäre. Dabei ist aber das Individuum
für Hegel erst das Ergenbis eines komplexen Prozesses der Sozialisation und
Ausdifferenzierung, der schon vor der Ausbildung des Bewusstseins beginnt und
Intersubjektivität immer schon voraussetzt. Mehr noch: Intersubjektivität ist bei Hegel in
der Genese des Individuums etwas, dass seine Subjetivität erst möglich macht.

Die Hauptzüge von Hegels Auffassung des inneren Zusammenhangs zwischen


Subjektivität und Intersubjektivität im Rahmen seines Traktats über „die Seele“ zeigen sich
anhand seiner Konzeption von Sexualität, vom Verhältnis von Mutter und Kind, von
Lernkompezenz überhaupt und insbesondere von der Aneignung von Sprachen. Von der
Hegel-Forschung verhältnismäβig wenig beachtet sind seine Ausführungen zum Phänomen
des damals sogennanten „animalischen Magnetismus“, mit dem sich der Philosoph - so

1
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Geistes, Berlin 1827-1828 nachgeschreiben von
Johann Eduard Erdmann und Ferdinand Walter, herausgegeben von Franz Hespe und Burkhard Tuschling,
Felix Meiner Verlag, Hamburg 1994,, S.88.

1
merkwürdig uns dies scheinen mag - intensiv beschäftigt hat, wie dies in den letzen Jahren
veröffentlcihen Nachschriften seiner Vorlesungen eindeutig bestätigen2. Eine „empirische“
Erscheinung, die - wie er im Zusatz zum Paragraphen 379 schreibt - „das endliche Denken
vor dem Kopf stoβt“3.

In seiner philosophischen Anthropologie soll, nach dem Programm des enzyklopädischen


Systems, der Übergang von der Naturphilosophie zur Philosophie des Geistes stattfinden,
oder besser gesagt, der Anfang der menschlichen Welt beschrieben werden. Aber dieser
Anfang ist noch mit der Natur behaftet, denn der Mensch ist auch als Lebewesen Teil der
Natur. Im Unterschied zum cartesianischen Subjekt ist es ihm wesentlich, einen Körper,
Triebe, usw. zu haben. Hier wird also nicht ein Bruch mit der Natur, sondern eine
allmählige Trennung und Ausdifferenzierung umrissen, die auf der einen Seite elementare
Aspekte der Natur selbst integriert, auf der anderen aber zu der Entstehung eines Subjekts
führen, das erst im zweiten Teil der Philosophie des Subjektiven Geistes, in der
Phänomenologie mit dem Begriff des Bewuβtseins voll in Erscheinung kommt.

Während die reine Begriffe der Natur, welche die Logik beschreibt und die zum
Verständnis derselben führen sollten, indem sie gleichzeitig ihr Wesen darstellen, sich nicht
völlig mit dem empirischen Material decken - aufgrund eines konstitutiven Mangelns der
natürlichen Welt selbst -, setzt sich Hegel in der Anthropologie zum Teil mit einer Reihe
von Phänomenen auseinander, die sich auf den ersten Blick einer rationalen Erklärung
entziehen und gleichzeitig und paradoxerweise als Erscheinungen sind, die bei einem
rationalen Wesens vorkommen. Die Herausforderung besteht darin, eine gewisse
Rationalität des Irrationalen zu entdecken. So werden hier u. A. eine Reihe von Themen
behandelt, wie Körperkonstitution und vor allem die Struktur von Sinnesorganen,
Rassenunterschiede, Sonanbulismus, sogar die Möglichkeit des Hellsehens und nicht
zuletzt der erwähnten „animalischen Magnetismus“, mit dem Hegel in der Polemik über ein

2
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, Vorlesungen über die Philosophie des
subjektiven Geistes, herausgegeben von Christoph Johannes Bauer, Band 25.1, Nachschrift zu den
Kollegien der Jahre 1822 (von Heinrich Gustav Hotho) und 1825 (von Karl Gustav Julius von
Griesheim), Felix Meiner Verlag, Hamburg 2008. Siehe dazu, die von Franz Hespe und Burkhard
Tuschling in der Anmerkung 1 zitierten Ausgabe.
Vor etwa zwei Jahren ist in Frankreich eine Sonderausgabe von Hegels Anmerkungen erschienen,
als ein eigenstädiges Buch: G. W. F. Hegel, Hegel. Le magnétisme animal, Übersetzt und mit
Anmerkungen von Franϛois Roustang, Paris 2014. Allerdings aus dem Standpunkt einer Geschichte
der ersten Jahre der Hypnose und ihrer Rezeption.
3
G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, (1830), III, Werke in
zwanzig Bänden, Bd. 10, Eva Moldenhauer-Karl-Markus Michel (Herausgeber), Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main 1970, Zusatz zu § 379, S. 13.
2
zweideutiges Phänomen eingreift, das seine Generation sowohl faszinierte wie auch im
Geiste der Aufklärung als Aberglauben oder Betrug denuntierzt wurde – diese Behandlung
kulminiert mit seiner merkwürdigen Auffassung der „Verrückheit“ in seinen verschiedenen
Formen als ein „Widerspruch der Vernunft mit sich selbst“4. Für Hegel zeigen sich an diese
Erscheinungen gewisse menschlische Züge, wenn auch in verzerter Weise, die konstitutiv
für den Struktur des Bewuβtseins selbst sind.

In der Anthropologie werden eine Reihe von Prozessen erörtet, durch die das natürliche
Individuum sich seines eigenen Körpers (Leibes) und seiner Seele bemächtigt. Sie geht
allerdings vom „Natur-zustand“ aus. Was es tatsächlich gibt, ist es für Hegel nicht der
soziale Naturzustand, sondern die Kindheit; in ihr konvergieren Natur und Gesellschaft und
differenzieren sic zugleich aus.

II

Wir wollen uns auf die intersubjektive Komponente seiner Darstellungen konzentrieren.
Anzufangen wäre natürlich in dieser Hinsicht mit dem Thema der Sexualität, „der höchste
Punkt der lebenden Natur“5, die im Rahmen der Anthropologie thematisiert wird, auch
wenn auf seine Behandlung unter dem Titel „Geschlechtsverhältnis“ im § 369 der
Naturphilosophie verwiesen6 wird. In der Sexualität wird für Hegel die Einheit mit dem
anderem für das Individuum nicht in der Form der Gattung, sondern noch in der der
Einzelheit erfahren und somit an diese gebunden und zugleich von ihr abhängig. Man kann
sich natürlich fragen, ob Hegel damit das Phänomen der Sexualität in allgemeinen und des
Erotismus im Besonderen überhaupt gerecht wird, - und man könnte wie Derrida in dieser
Auffassung die Ursünde des Systems sehen7. Auf alle Fälle wird Sexualität wieder in der
Anthopologie im Kontext eines schon vorhandenen„sittlichen“ Verhältnisses, der „Liebe“
thematisiert, wenn auch doch in einer Reihe von Randbemerkungen.

Hegel verfolgt in der Darstellung der Anthopologie eine doppelte Strategie. Auf der einen
Seite versucht er eine Reihe von Phänomenen entweder als Varianten oder vor allem als
Stufen in der Ontogenese des Subjekts zu verstehen, auf der anderen Seite werden andere

4
Siehe hierzu des Verfassers: La contradicción de la razón consigo misma. Reflexiones en torno
a la concepción de la locura en la Antropología de Hegel, Revista Latinoamericana de Filosofía,
número consagrado al pensamiento de Hegel, Buenos Aires, vol. XXXV N° 2, 2009. ISSN 0325-
0725.
5
Zusatz zu § 381, S. 20.
6
G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, (1830), II, Werke in zwanzig Bänden,
Bd. 9, Eva Moldenhauer-Karl-Markus Michel (Herausgeber), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1970, zu
§ 369, S. 519.

7
Siehe: Jacques Derrida, Glas, Galilée, Paris1974.

3
als „Rückfall“ erläutert und vorgeführt. Beides erklärt sich aus einem teleologischen
Verfahren, das das reife sozialisierte Indiviuum vor Augen hat.

Im § 390 werden drei Stufen der Seele unterschieden. Es ist kennzeichnend, daβ erst die
zweite als „individuell“ charakterisiert wird. Die erste, die Hegel als „natürliche Seele“
bezeichnet, wird als eine undifferenzierte Einheit beschrieben, die im Zusammenhang mit
lebensweltlichen Umständen, biologischen und klimatischen Bedingungen eines Volkes
zusammenhängen sollen. So werden allgemeine Klimaeinflüssen, Rassenunterschiede,
Nationalcharacktere, im zweiten Abschnitt erst biologische Merkmale, Charaktere,
Temperamente, „Dispostionen und Idiosynchrasien“, sowohl „von Familien wie von
Individuen“ behandelt.

Sicherlich, man findet in diesen - und dies gilt auch für die folgenden Abschnitten - neben
merkwürdigen Beobachtungen, auch manches, das in der Geschichte oder besser gesagt im
Museum der Ideen des neunzehntes Jahrhunderts gehört.

Da aber unser Thema das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität in Hegel
Anthropologie ist, wollen wir uns auf die ersten Abschnitte der Sektion b: „Die fühlende
Seele“ konzentrieren, dessen Titel ist: „α Die fühlende Seele in ihrer Unmittlebarkeit“.

Hier werden haupsächlich drei Phänomene behandelt: das Träumen und Erwachen, das
intrauterine Leben des menschlichen Fötus, das Verhältnis Mutter –Kind und, wie es heiβt:
„das Verhalten unseres bewussten Lebens zu unserem geheimen inneren Leben“. Die
logische Ordnung ist etwas künstlich und das Thema des letzten Kapitels ist auf dem ersten
Blick nicht so leicht zu verstehen. Zumindest nicht, ohne Hegels Begriff des „Genius“: zu
klären, den Hegel erst in diesem Kontext einführt und auf dem wir später zurückkommen.

Am Ende des Abschnitts findet man einen überproportionierten Exkurs über den damals
sog. „animalischen Magnetismus“ - der Ausdruck Hypnose ist ja später entstanden (bei
James Braid in 18438) - mit dem sich Hegel merkwürdigerweise intensiv befasst hat, wie
auch die erwähnten Kommentare seiner Vorlesungen zu diesen Paragraphen bestätigen.
Damit beteiligt er sich an einer damals breiten Kontroverse über die Ursachen, Wirkung
und Grenzen des „Mesmerismus“.

Wir stossen hier an Texte, die trotz mancher kritischen Vorbehalte des Verfassers zum Teil
nur aus dem Stand des Wissens und der intellektuellen Atmosphäre der damaligen Zeit zu
erklären sind. Die Paragraphen sind zweideutig. Sie enthalten auf der einen Seite eine
Kritik von Hauptbegriffen der Romantik, die in der Phantasie, im Traum, in der Intuition,
im Ahnen, usw. eine Alternative zum trockenen Rationalismus der Aufklärung suchte, auf
8
James Braid, Neurypnology; or, the Rationale of nervous Sleep, considered in relation with Animal
Magnetism, London 1843.

4
der anderen Seite versucht Hegel eine gewisse, wenn auch begrentzte Berechtigung von
Phänomenen wie Sonnambulismus, das Hellsehen - sogar von „Magie“ ist hier die Rede -
und dann wie erwähnt „animalischer Magnetisms“, Verrucktheit, usw., die die Aufklärung
einfach abwirft oder nicht zu erklären imstande ist.

Diese Paragraphen sind -– zusammen mit der letzten Sektion über die Verrückheit - eine
Fundgrube für diejenigen, die bei Hegel einen Vorläufer der Psychoanalyse und der
Bedeutung des Unbewussten suchen9. Wir konzentrieren uns auf den intersubjektivistischen
Aspekt von Hegels Ausführungen in diesem Teil seiner Anthropologie10. Die Frage scheint
hier nicht so sehr dies zu sein: wie sich überhaupt Intersubjektivität bildet, sondern
vielmehr, wie die individuelle Subjektivität aus ihr entsteht. Denn das Intersubjektive wird
als das Medium vorausgesetzt, in welchem durch eine Reihe von Prozessen, das bewusste
und zurechnungsfähige Individuum erst konstituiert wird. Mehr noch:, auch das
Intersubjektive wird nicht nur als etwas aufgefasst, das „zwischen“ den Individuen steht,
oder aus ihrer Beziehung hervorgeht. Hier wird eine über- oder supraindividuelle dritte
Sphäre postuliert, auf welche die Individuen Bezug nehmen und welche die
zwischenmenschlichen Beziehungen erst möglich macht.

Der Leitfaden für das Verständnis dieser Texte ist die Einführung des Begriff des „Genius“,
mit dem Hegel eine zentrale Kategorie der Sturm und Drangs Bewegung aufnimmt und mit
der klassischen Figur des griechichen Daimons oder römischen Genius symbiotisierte und
neu definierte. Es handelt sich um eine Art von vorpersönnlichem oder sogar
überpersönlichem, auf jeden Fall nicht individualisierten Subjekts, das doch im Ursprung
des reifen Subjekts steht, seine Partikularität darstellt und einem wesentlichen Bestandteil
desselben bleibt. Auch, wenn der Begriff immer wieder verwendet wird, finden wir im Text
keine strikte Definition, sondern verschiedene Beschreibungen, die sich nicht ganz decken.
Die deutlichste ist vielleicht die folgende:

„Zum konkreten Sein eines Individuums gehört die Gesamtheit seiner Grundinteressen, der
wesentlichen und partikulären, empirischen Verhältnisse, in denen es zu anderen Menschen
und zur Welt überhaupt steht. Diese Totalität macht seine Wirklichkeit so aus, daß sie ihm
immanent und vorhin sein Genius genannt worden ist.“11

9
Siehe hierzu: Jon Mills, The Unconscious Abyss. Hegels Anticipation of Psicoanalysis, New
York 2002, Hegels Begriff des „Genius“ wird allerdings nicht berücksichtigt.
10
Für einen detallierten Kommentar der verschiedenen Fassungen dieser Paragraphen im
veröffentlichen Text und in den Vorlesungen verweise ich auf die lehrreiche Studie von Dirk
Steredoth über Hegels Philosophie des subjektiven Geistes: Hegels Philosophie des subjektiven
Geistes: Ein komparatorischer Kommnetar, Akademie Verlag, Berlin 2001. Siehe vor allem für
unser Thema: Excurs über den „zweiten Genius“, S. 250 ff.
11
Ibid. §406, Zusatz S. 133.
5
So berechtigt es ist, Hegels Auffassung der früh kindlichen Entwicklung und vor allem des
Mutter-Kind Verhältnisse in Beziehung zu der Psychoanalyse zu setzen, wie dies Steredoth
in seinem Kommetar tut12, es ist m. M. n. Hegels Auffasssung des „Genius“ – wie er hier
verwendet wird – in welcher wir viele gemeinsame Züge mit Freuds Begriff des
Unbewussten auffinden können. Es ist etwas nämlich, dass das Indiviuum begleitet, das –
wie der griechische Daimon - vor allem sein Gefühlsleben dominiert, so dass das
Individuum sowohl von ihm inspiriert als auch dominiert wird, und dies vor allem am
Anfang seiner Biographie. Obwohl der Prozess der individuellen Ausbildung darauf zielt,
allmählich seiner Macht zu entkommen oder zu seinem Nutzen zu bringen, hält er immer
ein zweideutiges Verhältinis zu ihm. Die Nähe des Hegelschen „Genius“ mit dem
Freudschen Begriff des Unbewussten kann man auch in Hegels Behandlung des Schlafens,
bzw. des Traumes erkennen, auch wenn bei ihm Sexualität eine nicht so entscheidende
Rolle wie bei letzterem spielt, aber wiederum im Bezug auf die Nebenwirkungen der
Hypnose und der induzierter Sonambulismus wieder auftaucht.

Was aber Hegels „Genius“ von Freuds Begriff des Unbewussten unterscheidet, ist dass der
erste anscheinend nicht an einem gewissen Subjekt, wie seinem materiellen Träger
gebunden ist. Laut dem hegelschen Text kann eine Person das Subjekt des Genius eines
anderen sein. So zumindest denkt Hegel das intrauterine Leben des Kindes, wobei die
Mutter die Rolle seines „Genius“ übernimmt und sogar, wie wir heute sagen würden,
psychosomatische Wirkungen auf den Fötus ausüben könne13.

Auch wenn manche von Hegels Beispielen aus heutiger Sicht in mehr als zweifelhaften
Berichten der damaligen Zeit gründen:, was das Verhältnis der Eltern zu den Kindern
betrifft, so sind seine Erläuterungen wiederum Freuds Begriff des Über-Ichs sehr verwandt.

Merkwürdig ist in dieser Hinsicht Hegels intensiver Beschäftigung mit dem Phänomen der
Hypnose, die z.B. aus dem überproportionierten Zusatz aus einer Vorlesung zum § 406
und aus zahlreichen Texte aus Vorlesungsnachschriften nachweisbar ist, zumal in einer
Zeit, wo der sog. Mesmerismus schon in Verruf geraten ist und als Pseudowissenschaft
denunziert wurde14 - als was Hegel selbst zugibt15. Ein Phänomen, das seiner Generation

12
Steredoth findet in der hegelschen Texte Paralelle mit der Psychoanalyse Freuds nicht nur im
erwähnten Konzeption der frühen Kindheit, sondern auch im Begriff des „zweiten Genius“ (eine
moralische Einschränkung, die der Wille des Hipnoiseurs nicht übertreten kann). Hierin sieht der
Verfasser „Andeutungen zu einem dynamischen Unbewuβten“ (a. a. O., S. 250ff.) bei Hegel. Der
andere Weg zu Freud läuft – wie er mit Recht zeigt - über die Geschichte der Aufnahme und
Verwandlung im Verständnis der Funktion der Hypnose.
13
Die sog. “Muttermale”.
14
Bekanntlich hatte Ludwig der XVI eine Komision Berufen, um die wissenchafliche Ansprüche
des Mesmerismus zu überprüfen. Unter seiner Mitglider waren renomierte Persönnlichkeiten wie
Benjamin Franklin – damals amerikanischer Botschafter in Paris- und Antoine Lavoisier. Das
6
fasziniert hat und das nicht so leicht einzuordnen oder zu erklären war.

Wir wissen nicht, ob Hegel irgendwann Zeuge einer öffentlichen Aufführung von Seiten
Mesmers oder eines seiner Schüler war. Sicher ist, dass das Thema ihn stark interessierte
und sich darüber so genau wie dies damals möglichwar informierte.

Mesmer selbst hat seiner „Entdeckung“ eine rein materialistische Auslegung gegeben, den
„animalische Magnetismus“ sollte man in Analogie mit Elektizität und Magnetismus als
eine Art von Energie, als „ein universelles Fluidum“ verstehen, welches allen lebendigen
Wesen zukommt.

Bekanntlich waren seine öffentlichen Auführungen mit einer gewissen Spektakularität, also
mit Zeremonien verbunden, um mit der Hilfe von bestimmten physikalischen Elementen
sowie eigens dafür entworfenen Intrumenten (wie das sog. Baquet) durch künstiches
Eingreifen im Körper des Patienten diese Kräfte zu befreien, wobei nicht nur die
hypnotisierte Person, sondern auch das Publikum in einer besonderen sozusagen
khatartische Stimmung versetzt wurde16.

Auch wenn Hegel diese Prozeduren erwähnt, war er von Anfang an von der „psychischen“
Natur des Phänomens überzeugt. Er stüzte sich haupsächlich auf die Untersuchungen von
Marquis de Puységur über den „Somnambulisme“ und der von ihm gegründeten Schule der
„psychofluidisme“17.

Was aber für Hegel das Kernstück des Phänomens war, und besonders seine
Aufmerksamkeit lenkte, das ist -– wie sich im erwähnten Zusatz ausdrückt - „ die
unmittelbare gegenseitige Beziehung zweier Existenzen“18.

In der Tat handelt es sich beim Hypnotismus um die direkte mögliche Einwirkung einer

Ergebnis war lapidär. Die Wirkungen des „animalischen Magnetismus“ wurden auf die Phantasie
und Glauben der Patienten zurückgeführt. Mesmer war somit diskreditiert und die Praxis des
Mesmerismus wurde in Frankreich verboten. All dies war Hegel bekannt.
Siehe hierzu: Judith Pintar and Steven Jay Lynn, Hypnosis: A Brief History, Blackwell,
Chichester, West Sussex 2008, S. 21 ff..
15
“Der Magnetismus ist heutigentags in Miβkredit gekommen, und einerseits mit Recht, wegen der
Täuschungen und des Miβbrauchs. Sie tun aber den konstatierten Erscheinungen keinen Ertrag“,
Vorlesungen a. a. O., S. 98.
16
“…und es ist der Magnetismus eine von den Sachen, die man muβ gesehen haben, um sie zu
glauben. Es geschiet auch, daβ aufgeklärte Leute, die es sehen, es nicht glauben“. Ebd. S. 100.
17
Recherhes, Expériences et Observations Physiologiques sur l’Homme dans l’état de
Somnanbulisme naturel et dans le Somnanbulisme provoqué par l’Acte Magnétique, par A.
M. J. Chastenet de Puiségur, Paris 1811.
18
S. 151.
7
Peson auf den Willen und die Einsichten eines Anderen. Hegel war der Meinung, daβ wir
hier vor einem echten Vorgang stehen, der in vielen Fällen die Heilung der
„Magnetisierten“ bewirken kann. Auch wenn Teile seiner Ausführungen physiologische
Prozesse beschreiben, die dem Stand der medizinischen Kenntnisse der damaligen Zeit
entsprechen, war er davon überzeugt, dass eine rein materialistiche Erklärung des
Phänomens nicht befriedigend ist. Mehr noch, die Vorgänge, die beim „animalischen
Magnetismus“ in Erscheinung kommen, sind für ihn ein Beweis gegen einen
physikalischen materialistischen Reduktionismus.19

Der „animalischer Magnetismus“ wird von Hegel als eine Krankheit verstanden und zwar
als eine künstlich produzierte Krankheit, die die Wirkung hat, beim Betroffenen sein
waches Bewuβtsein von seiner „fühlenden Naturlebendigkeit“ zu trennen, so daβ er in einer
Art induzierten Sonambulismus20 versetzt wird und in ihm „ein[en] Bruch“ produziert, so
daβ er von „einer fremden Macht“ sozusagen – wenn auch mit Einschränkungen21 -
„manipuliert“ werden kann22. Hegels Erklärungsversuch situiert die Hypnose in der Nähe
eines tiefen Schlafens, das durch Suggestion und die mögliche begleitende Einwirkung von
physischen Mitteln künstlich produziert wird und einen Rückfall auf ein vorbewusstes
Stadium des seelischen Lebens darstellt.

Nicht so deutlich ist, worin die heilende Wirkung des Verfahrens besteht. Auch wenn eine
solche Erklärung natürlich nicht alle Fälle abdecken kann und insofern unbefriedigend
bleibt, soll sie anscheinend beitragen eine vorhandene Trennung der empfindenden Seele

19
Vorlesungen von 1827-28 , a. a. O. S. 18-19. Siehe z. B. auch S. 8 der Nachschift Hotho (a. a.
O.) wo Hegel von „animalischer Magnetismus“ als von „einem neuen Feld“ spricht, daβ mit einer
„philosophischer Betrachtungsweise“ verwandt sei. Diese Verwandschaft beruhe anscheinend
daher, daβ man das erörtete Phänomen nicht rein materialistisch auffassen kann, sondern die
„Macht“ des Geistes über Naturgesetze beweise (S. 18).
20
Das Werk von A. M. J. C. Puységur, das eine Weiterentwicklung der Ideen Mesmers darstellt in
Richtung auf eine mehr psychologische Auffassung des hypnotischen Vorgangs und des inneren
Zusammenhangs der Hypnose mit dem Sonambulismus zeigte, wird von Hegel u . A.selbst zitiert ,
W. 10, S. 154, Vorl. (ed, _Tuscling), a.a. O, S.104, vgl. auch die Anmerkung des Herausgebers S.
302. Es handelt sich um: Du magnétisme animal, considéré dans ses rapports avec diverses
branches de la Physique general, Paris 1807 par A. M. J. Chastenet de Puységur. Seine Ideen
mögen auch Hegels Auffassung des Schlaffens beinflusst haben, s. S. 131 ff. Hier ein
aufschlussreiches Zitat: „Le magnétisme animal n’est point l’action d’un corps sur un autre corps
mais la action de la pensé sur le príncipe vital des corpes” S. 163, siehe auch den folgenden
Paragraphen, S. 164ff..

21
Hegel bezieht sich damit, auf die damaligen Beobachtung, daβ der „Magnetisser“ nicht den
Patienten zu einem von ihm betrachteten „unsittlichen Verhalten“ zu zwingen vermag.
22
Ebd.
8
von der bewussten Wahrnehmung, d. h. eine schon innerlich vorhandene Isolierung und
festwerden der „animalischen“ Funktionen durch die Vermittlung eines fremden Willens zu
„idealisieren“, d. h. zu ihrer Stelle im Rahmen einer komplexen seeñischen Totalität
zurückzuführen.

Auf jeden Fall werden Sonambulismus, „animalischer Magnetismus“, und später


untereschiedliche Formen der „Verrücktheit“ teleologisch aus der Perspektive des
gebildeten Bewuβseins als Rückfall in ein früheres Stadium seiner Entwicklung oder als
verfehlte Entwicklung interpretiert. Dabei wird das Bewusstsein als ein “Mikrokosmos“23
gefasst, von dem das gefühls-seeliche Leben eine wesentliche, aber untergeordnete Rolle
spielt, denn das eigentlich Humane und der Bruch mit der Natur beginnt bei Hegel mit dem
immanenten kostitutiven Bruch, der das Bewusstsein konstituirt und darstellt. Dieses wird
nicht nur durch die Trennung und gegenseitige Hingewiesenheit der inneren- und der
äusseren Welt charakterisiert.

Nicht zufällig wird hier die Rede von einer gewissen Schwäche, die bestimmte Personen
(vor allem weiblichen Geschlechts) für eine Behandlung solcher Art empfänglich machen.
Hegel verbindet mit dem Begriff des Ichs eine Art Verwaltung- und Kontrollfunktion der
psychischen Vorgänge, die er einfach als eine „Macht“ beschreibt. Wir sind noch weit von
Ferenczis (1910) und Freuds (1915) später übernommenen Begriffe der Introjektion und
der Projektion entfernt24, aber die Rolle des „Magnetiseurs“ könnte man im Sinne Hegels
als eine Figur fassen, die anscheinend eine innere psychische Kontrollinstanz vertritt, die
der Patient in sich nicht findet und mit der er sich identifizieren kann und auf sich
anzuwenden lernt.

So wie in der berühmten Herr-Knecht Dialektik werden hier zwei seelischen Komponenten
asymetrisch von zwei Individuen vertreten, in diesem Fall mit dem Ziel sie in die Einheit
eines brüchigen oder labilen Subjekts zu integrieren , d. h. die Funktion des eigenen Ichs zu
stärken. So wie in jener Dialektik ist hier auch ein gewisser Einwilligen vorhanden, das
überhaupt den „rapport“ - ein Wort Mesmers - möglich macht25.

Subjektivität und Intersubjektivität sind bei Hegel von Anfang an zwei anthopologisch
untrennbare Aspekte des „psychichen“ Lebens. Das Individuum wird erst paradoxerweise
„autonom“ als das Resultat von heteronomischen Sozialisationsprozesse, durch die er sich

23
Siehe § 391, a. a. O., S. 51 ff..
24
Siehe hierzu Steredoth, a. a. O., S. 267-269.
25
Auch im Falle des „Knechts“ im bekannten Kapitel der Phänomenologie des Geistes findet eine
gewisse Einwilligung statt, da die Alternative, das Leben bis zum Tod zu riskieren ihm offen bleibt
und insofern seine Abhängigkeit nicht als Resultat eines reines Aufzwingens betractet wird.
9
seine körperliche und seelische Natur aneignet26.

26
Heute ist die Hypnose eine zwar verbreitete Therapiemethode und seine Wirkung auf viele
Patienten empirisch nachweisbar, trotzdem bleibt sie ein kontroverses Thema, da wir immer noch
nicht - wie Judith Pintar und Steven Jay Lynn in ihrer Geschichte des Hypnotismus feststellen -
über eine ausschlaggebende Theorie über die ihr zugrunde liegenden Prozesse verfügen. “By the
end of the twentieth century there was a substantial body of empirical evidence supporting the use
of hypnosis for multiple medical purposes, (...). These applications of hypnosis in medicine,
dentistry, and psychotherapy are now mainstream and pose little in the way of controversy, though
a complete understanding of the processes underlying its effectiveness remains elusive.”,
Hypnosis: A Brief History , a. a. O., S. 166.

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