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Dieses Buch erkundet Wege und Umwege des Gedächtnisses und

Emil Angehrn

Emil Angehrn  Sein Leben schreiben


fragt nach der existentiellen Bedeutung der Erinnerung: Wieso ver-
langt der Mensch nach Erinnerung? Wonach strebt die Suche nach
der verlorenen Zeit? Lebenserinnerung verfolgt ein zweifaches Ziel:
die zerrinnende Zeit anzuhalten und sich in seinem Leben gegen-
wärtig zu werden. Sie wehrt sich gegen das Vergehen und Ver-
Sein Leben schreiben
gessen, in ihr sucht der Mensch sich zu finden und sich über sein Wege der Erinnerung
­Leben zu verständigen. Erinnerung vollzieht sich in mannigfachen
Formen. Das Vergangene kann in spontanen Bildern wiederkehren
oder verschlossen sein und sich nur der beharrlichen Arbeit des
Gedächtnisses öffnen; Erinnerungen können in Leidenserfahrungen
und in Glücksversprechen wurzeln. Sich erinnern entspricht einem
ursprünglichen Bedürfnis der Menschen und geht ein in den Voll-
zug eines gelingenden Lebens.

Emil Angehrn ist Professor emeritus für Philosophie an


der Universität Basel. Buchpublikationen zuletzt u. a.:
Die Heraus­forderungen des Negativen (2015), Geschichts-
philosophie (20122), Sinn und Nicht-Sinn: das Verstehen
des Menschen (2011).
RoteReihe

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94
Klostermann

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Emil Angehrn  ·  Sein Leben schreiben
Emil Angehrn

Sein Leben schreiben


Wege der Erinnerung

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Originalausgabe

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Satz:  post scriptum, www.post-scriptum.biz
Druck und Bindung:  Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISSN  1865-7095
ISBN  978-3-465-04299-0
Inhalt

Einleitung: Die Frage nach der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Die Zeit des Lebens


1. Das sich verstehende Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.1 Das Selbstverhältnis des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1.2 Bewusstes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.3 Selbstbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
(a)  Sprache und Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
(b)  Ausdruck und Selbstbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
(c)  Lebensbeschreibung und Selbstwerdung . . . . . . . . . . . . 25

2. Leben in der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31


2.1 Zeit und Zeittranszendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.2 Die Zeit des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
(a)  Dimensionen des Zeitlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
(b)  Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft . . . . . . . . . . . . . . 34
2.3 Die Herausforderung der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
2.4 Alter und Sein zum Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

II. Die Kunst der Erinnerung


3. Die Aneignung des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.1  Der Widerstand gegen das Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . 49
3.2  Das Lesen des Lebenswegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
3.3  Ganzheit und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
6 Inhalt

3.4 Räume und Formen der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 60


(a) Objektive und subjektive Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . 60
(b) Formen der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

4. Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen . . . 67


4.1 Plötzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.2 Erkenntnis und Wiedererkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
4.3 Gegenwärtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
4.4 Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
4.5 Unwillkürliche Erinnerung als Modell und Maßstab? . . 83

5. Vermittelte Erinnerung:
Die Wiedergewinnung des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.1 Von der unmittelbaren zur vermittelten Erinnerung . . . . 87
(a) Das gemeinsame Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
(b) Der Umweg der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
5.2 Mittelbare Vergegenwärtigung (I):
Spurensuche, Zurückgehen, Wiedererleben . . . . . . . . . . . 93
5.3 Mittelbare Vergegenwärtigung (II):
Sprache als Ausdruck und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

III. Das erzählte Selbst


6. Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit . . . . . . . . . . . . 105
6.1 Narrative Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
6.2 Narrative Kohärenz und Lebensbeschreibung . . . . . . . . 110
6.3 Autobiographische Selbstfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

7. Selbsterzählung und Endlichkeit:


Das Problem der narrativen Selbsteinholung . . . . . . . . . . . . . 117
7.1 Der Ausgriff auf das Ganze und das Vorlaufen zum Tod . 118
7.2 Das ganze Leben erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
7.3 Der Wettlauf mit der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Inhalt 7

IV. Die Zukunft des Vergangenen


8. Das unerledigte Vergangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
8.1 Der Entzug des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
8.2 Das Vergangene, das nie gegenwärtig war . . . . . . . . . . . . . 137
8.3 Das Nichtgeschriebene lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
8.4 Das unvergangene Vergangene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

9. Leidenserinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
9.1 Aporien der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
(a) Ohnmacht des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
(b) Die Herausforderung des Negativen . . . . . . . . . . . . . . . 158
(c) Leiden und Versagung des Erinnerns . . . . . . . . . . . . . . . 161
9.2 Notwendigkeit der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
9.3 Wege und Umwege der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
(a) Unfreie Erinnerung und Wiederholung . . . . . . . . . . . . . 169
(b) Durcharbeiten – Lesen und Schreiben des Vergangenen . 172
(c) Rettende Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
(c1) Der Anspruch des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
(c2) Die Darstellung des Nicht-Darstellbaren . . . . . . . . . . . . . . . 181
(c3) Das Zeugnis des Nicht-Bezeugbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

10. Glückserinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187


10.1 Leidenserinnerung und Glückserinnerung . . . . . . . . . . . . 187
10.2 Modell Kindheitserinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
(a) Lebensanfang und Ursprung der Erinnerung . . . . . . . . 189
(b) Ursprünglicher Verlust und Sehnsucht . . . . . . . . . . . . . . 192
10.3 Der Ort der Kindheit in der Lebenserinnerung . . . . . . . 194
(a) Glück und ursprüngliche Fülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
(b) Heimat und Geborgenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
(c) Anfang und Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
(d) Versprechen und Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
10.4 Nachholende Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
10.5 Zwischen Leidenserinnerung und Glücksversprechen . . 210
(a) Die zweifache Unabgegoltenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
(b) Zweifache Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
8 Inhalt

V. Erinnerung und Selbstfindung


11. Die wiedergefundene Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
11.1 Erinnern und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
11.2 Erinnerung als Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
(a) Wiederkehr und Wiedererkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . 222
(b) Leben als Wiederholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

12. Das wiedergefundene Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229


12.1 Nichts ist verloren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
12.2 Selbsteinholung und Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . 232
12.3 Die Selbstgegenwart im Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Einleitung
Die Frage nach der Erinnerung

»Que celui qui pourrait écrire un tel livre serait heureux.«1

Wie wäre der glücklich, der sein Leben zu schreiben vermöchte! –


so lässt Marcel Proust seinen Erzähler sinnieren, der nach langen
Lebensjahren den Entschluss fasst, sein Leben in einem Buch nie-
derzuschreiben. Das Vorhaben, das ihm vor Augen steht und dessen
Durchführung ihm als hohes Glück erscheint, zielt nicht einfach
darauf, vergangene Geschehnisse zu registrieren und über die Zeit
festhalten. Vielmehr soll es darum gehen, jene Fülle und Gegen-
wärtigkeit des Lebens, die der Erzähler in bestimmten Erlebnissen
und Begegnungen spontan erfahren hatte, in ihrer Wahrheit zu er-
schließen und sie im Schreiben lebendig werden zu lassen. Es ist ein
Unterfangen, dessen äußerste Schwierigkeit, aber auch Dringlichkeit
dem Erzähler gleichermaßen vor Augen stehen. Eine große Mühsal,
meint er, hätte der Autor eines solchen Werks auf sich zu nehmen,
er müsste es sorgfältig

»wie eine Offensive vorbereiten, es ertragen wie die Qual der Ermüdung,
wie eine Ordensregel auf sich nehmen und wie eine Kirche erbauen, ihm
folgen wie einer ärztlichen Weisung, es überwinden wie ein Hindernis,
erobern wie eine Freundschaft, hegen und pflegen wie ein Kind, es schaf-
fen wie eine Welt.«2

Gleichzeitig mit der alle Kräfte herausfordernden Aufgabe lastet die


Zeit auf dem Erzähler, drängt ihn die Furcht, zu spät zu kommen

1 Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, Tome III: Le temps re­


trouvé, Bibliothèque de la Pléiade, Paris: Gallimard 1954, S. 1032.
2 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 7: Die wie­
dergefundene Zeit, übers. von Eva Rechel-Mertens, hg. von Luzius Keller,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 504 f. (fr. III, S. 1032).
10 Einleitung

und das Vergangene nicht mehr einholen, sein Werk nicht mehr ver-
wirklichen zu können:

»Ich hatte gelebt wie ein Maler, der einen Weg hinaufgeht, unter dem ein
See sich breitet, dessen Anblick ihm ein Vorhang aus Felsen und Bäumen
verdeckt. Durch eine Lücke erblickt er ihn; er hat ihn ganz und gar vor
sich; er greift zu seinem Pinsel. Doch schon kommt die Nacht, in der man
nicht mehr malen kann und über der sich kein neuer Tag erheben wird.«3

Das Anliegen, das Proust in seiner eminenten Bedeutung und


Schwierigkeit so eindringlich beschreibt und dem er selbst mehr
als zehn Jahre seines Lebens gewidmet hat, ist das Projekt, sein Le-
ben schreibend einzuholen, im Schreiben sich selbst wiederzufinden.
Dass solche Erinnerungsarbeit nicht nur Mühsal bedeutet, sondern
auch Befriedigung, ja höchstes Glück verheißen kann, ist von vie-
len bedacht worden. Paul Ricœur hat die ungezählten Formen des
Erinnerns und Vergessens, die er in seiner umfassenden Untersu-
chung La mémoire, l’histoire, l’oubli vor Augen führt, unter den
»Leitstern« einer mémoire heureuse gestellt, Inbegriff jenes Glücks,
dessen die Menschen im Erinnern teilhaftig werden.4 Das Glück
der Erinnerung ist – parallel zur Mühe, auch zum Schmerz des Er-
innerns – zu einem Leitmotiv der Reflexion über Erinnerung ge-
worden. Indessen ist das Motiv, so emphatisch es vertreten wird
und so hohe lebensweltliche Plausibilität es in der Sehnsucht nach
dem Vergangenen gewinnen kann, in hohem Maße aufklärungsbe-
düftig. Namentlich drei Fragen verbinden sich mit der von Proust
ausgebreiteten Vision.
Zum einen bleibt zu verdeutlichen, worin das Glück des Erin-
nerns eigentlich besteht. Wieso verlangt der Mensch nach Erinne-
rung; nach welcher Erfüllung strebt die Suche nach der verlorenen
Zeit? In welchem Sinne gelangt der Mensch im Wiederfinden des
Einst zum Ziel seiner Sehnsucht? Worin liegt die seinsmäßige Ver-
schränkung zwischen dem Erinnern und dem Erleben von Glück?
Zum anderen stellt sich die Frage, wie solche Erinnerung, sol-
che Beglückung zustande kommt. Welche Art von Erinnerung liegt
der Erfüllung zugrunde? Wie verhält sich die spontane Freude des

3 Ebd. S. 508 (fr. S. 1035).


4 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris: Seuil 2000, S. 537, 556,
643 ff.
Die Frage nach der Erinnerung 11

Wiedererkennens zum Glück in der hartnäckigen Arbeit des Ge-


dächtnisses?
Worin liegt schließlich das Hindernis im Erinnern und Schreiben
des Lebens – jene große Schwierigkeit, gar Unmöglichkeit, welche
Prousts Erzähler die Durchführung seines Vorhabens hinausschie-
ben, seine Verwirklichung in den Irrealis setzen lässt?
Dies sind Fragen, deren Beantwortung sich nicht von selbst ver-
steht. Sie weisen auf ein weites Feld phänomenaler Differenzierun-
gen und begrifflicher Klärungen, durch welche hindurchzugehen
nötig ist, um dasjenige, worum es in der Suche nach der verlorenen
Zeit geht, deutlicher zu erfassen. Wenn wir uns in der ersten Son-
dierung dieses Terrains vom Werk Marcel Prousts leiten lassen, der
dieses Anliegen ins Äußerste getrieben hat, so deutet sich unmit-
telbar eine Richtung der Konkretisierung der Problemstellung an.
Die außergewöhnliche, schier unüberwindliche Schwierigkeit des
Unterfangens, die er so vielfältig beschwört, liegt ja nicht einfach in
dessen ausgreifendem Anspruch und der Komplexität des Gegen-
standes: nicht nur darin, dass wir das Leben in seinen vielfältigen
Schichten und Verästelungen nicht zu umfassen, dass wir es in sei-
ner Dunkelheit und Verworrenheit nicht zu durchdringen vermö-
gen, dass wir die vergangene Zeit nicht einzuholen, ihr Entgleiten
nicht aufzuhalten vermögen. Jede Beschreibung ist ein Sichabarbei-
ten an dem, was sich dem Verständnis entzieht, jedes Erinnern ein
Wider­stand gegen das Entschwinden und Vergehen. Darüber hinaus
aber besteht die eigentliche Herausforderung darin, eine abgründige
Kluft zu überbrücken, die zwei Weisen des Erinnerns voneinander
trennt. Proust beschreibt sie als Kluft zwischen der mémoire invo­
lontaire, der unwillkürlichen Erinnerung einerseits, wie sie sich in
herausgehobenen Erlebnissen einstellt, die uns schlagartig in eine
frühere Zeit, eine frühere Empfindung zurückversetzen, und der
Rekonstruktion vergangener Zeiten in einer schrittweisen Aufarbei-
tung und Darstellung andererseits. Es ist der Unterschied zwischen
unwillkürlicher und bewusst hervorgerufener Erinnerung, zwischen
dem plötzlichen Einbrechen des Vergangenen ins Jetzt und dem ge-
duldigen Bemühen um die Vergegenwärtigung früherer Zeiten und
Geschehnisse.
Dabei fungiert die erste, spontane Erinnerung in gewisser Weise
nicht nur als Maß der wahren Präsenz des Gewesenen kraft ih-
rer Intensität und unwiderleglichen Gewissheit, sondern ebenso
als Inbegriff einer Glückserfahrung. In eindringlichen Passagen
12 Einleitung

beschreibt Proust die eigentümliche Entrückung, die Seligkeit, in


welche der Erzähler durch eine besondere Wahrnehmung, durch
das Aufbrechen einer alten, scheinbar verdeckten Empfindung ver-
setzt wird, und ebenso die Bemühung, dieses Überwältigtwerdens
habhaft zu werden, das Glückserleben zu verstehen, seinen Grund
zu erfassen. Es ist die Erfahrung einer außergewöhnlichen Gegen-
wart und Erfüllung, deren er in solchen Erlebnissen teilhaftig wird.
Wenn der Erzähler nun auch das Projekt, sein Leben zu schreiben,
in den Horizont eines Glücksversprechens stellt, so ist doch of-
fenkundig, dass es nicht um dieselbe Erfüllung und unvermittelte
Präsenz des Vergangenen gehen kann, die in diesem Schreib- und
Rekonstruktionsprozess angestrebt, womöglich gefunden wird. Die
Arbeit der Erinnerung, der er sich hingeben will, ist von jenem In-
einanderschießen der Zeiten, jenem Aufbrechen des Vergangenen
im Jetzt ebenso weit entfernt wie die ihr immanente Befriedigung
vom Glück jenes plötzlichen Einswerdens mit sich und dem einst
Erlebten. Um sich über das große Vorhaben einer Suche nach der
verlorenen Zeit Klarheit zu verschaffen, ist es als erstes erforderlich,
die strukturelle Differenz beider Formen der Erkundung des Ver-
gangenen, aber auch die Nähe und Ferne des ihnen zugrundeliegen-
den Strebens, der von ihnen erhofften Erfüllung zu verdeutlichen.
Die einschüchternde Schwierigkeit des geplanten Werks, die dem
Erzähler vor Augen steht, ist ja auch durch das Gewahrwerden des
Abgrunds bedingt, der beide Erinnerungsmodi voneinander trennt –
die dennoch in ihren Fluchtlinien aufeinander verweisen. Auch die
bewusste, schrittweise Aufarbeitung des Vergangenen ist durch je-
nen idealen Leitstern des glücklichen Erinnerns erleuchtet, der für
das Wiederfinden, die Auferweckung des Gewesenen steht. Die
den Erzähler beunruhigende Frage ist, ob und in welcher Weise die
Kunst einholen kann, was das spontane Erleben gewährt. Es ist die
Frage, mittels welcher Technik, auf welchen Wegen und Umwegen
die beharrliche Arbeit sich jenem Ziel annähern kann, in welches
uns die unwillkürlichen Erinnerung je schon versetzt. Angesichts
der grundlegenden Andersartigkeit der beiden Gedächtnisformen
mag dieses Ziel als utopisch, die Aufgabe als unlösbar erscheinen.
Und dennoch scheint es so, dass auch die Kultur des Gedächtnis-
ses, die ars memoriae ein Interesse artikuliert und ein Ziel verfolgt,
das dem Menschen kein nebensächliches ist, sondern sein Leben
zuinnerst bestimmt. Das Glück der Erinnerung geht nicht in der
Unmittelbarkeit der Präsenz auf.
Die Frage nach der Erinnerung 13

So bleibt beides genauer zu bestimmen: die Glückseligkeit des


Einswerdens mit dem Vergangenen und die Freude der geduldigen,
beschwerlichen Arbeit der Memoria, und ebenso die ihnen kor­
respon­dierenden, unterschiedlichen Modalitäten des Erinnerns, des
Zurückgehens ins Vergangene und Gegenwärtigwerdenlassens des
Gewesenen. Offensichtlich ist nicht einfach die eine Gedächtnis-
form die Norm der anderen, sowenig sie ihre Grundlage oder ihren
Horizont bildet. Gleichwohl sind sie, bei aller Fremdheit, nicht los-
gelöst voneinander. Sie verweisen aufeinander in ihrem Vollzug wie
ihrer subjektiven Erfüllung. Diese Verweisung aufzuhellen gehört
zur Verständigung über Begriff und Praxis des Erinnerns. Dazu legt
es sich nahe, von der unwillkürlichen Erinnerung, als Präsenz- und
Glückserlebnis, auszugehen, um in einem zweiten Schritt der Frage
nachzugehen, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln die be-
wusste, methodische Erkundung des Vergangenen, das Schreiben
des Lebens ein Analogon jener Gegenwart und jener Erfüllung er-
streben, möglicherweise herbeiführen kann. So soll der erste Schritt
vom Glückserlebnis, dem eigentümlichen emotionalen Überwäl-
tigtsein ausgehen und von ihm aus erforschen, in welcher Weise
hier Vergangenes gegenwärtig, das Vergehen überwunden wird. Der
zweite Schritt geht gewissermaßen in Gegenrichtung von der Erfor-
schung und Sammlung des Vergangenen aus, um die Frage anzu-
schließen, in welcher Weise solche Suche und Vergegenwärtigung ei-
nem Bedürfnis und einer Sehnsucht menschlichen Lebens entspricht.
Dabei bieten die beiden Schritte die Möglichkeit, die Erinne-
rungsproblematik in zwei für sie konstitutive Dimensionen hinein
auszuweiten, in die Dimension der Zeit und diejenige der Sprache.
Auf der einen Seite markiert die mémoire involontaire eine her-
ausgehobene Figur existentieller Zeitlichkeit, genauer des modalen,
in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgespannten Zeitbe-
wusstseins, indem sie das unablässige Vergehen aller Dinge auf die
reine Gegenwart des Erlebten hin überschreitet, in gewisser Weise
die Zeit selbst auf die Zeitlosigkeit hin transzendiert. Vom Erleben
dieser Koinzidenz aus ist Erinnerung als solche im Horizont der
Temporalität des Lebens in ihrer Bedeutung, ihrer Macht und ihren
Grenzen zu reflektieren. Auf der anderen Seite vollzieht sich die
intentionale Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen nicht rein be-
wusstseinsimmanent, sondern greift aus auf Formen der Vergegen-
wärtigung, allen voran die Sprache, in welcher Gewesenes festgehal-
ten und interpretiert, Prozesse strukturiert und angeeignet werden.
14 Einleitung

Hier kommt Erinnerung als eine besondere Form der umfassenden


Darstellung und Reflexion in den Blick, in welcher der Mensch sich
über sich selbst, über sein Leben und die Welt verständigt; die Spra-
che, höchstes Vermögen und Auszeichnung des Menschen, bildet
das Medium, in welchem er sich auf Vergangenes, Gegenwärtiges
und Künftiges bezieht, sein Leben schreibt. Die Frage nach der Er­
inne­rung gilt dem Rückblick in der Zeit ebenso wie dem Selbst-
sein als Ausdruck und reflexiver Selbstfindung. Eine Verständigung
über Erinnerung ist nicht ablösbar von Überlegungen zur Zeit, zur
Sprache und zum menschlichen Selbst. Zeit und Sprache sind We-
sensbestimmungen der menschlichen Lebensform, die zugleich
auf Grundfragen der Philosophie verweisen, die hier nicht in ihrer
onto­logischen und erkenntnistheoretischen Weite, sondern in ihrem
existentiellen Bezug aufzugreifen sind. Von ihnen soll die folgende
Unter­suchung ihren Ausgang nehmen. Sie spannen den Horizont
auf, innerhalb dessen es darum geht, das Faszinosum der Erinne-
rung zu ergründen und ihre Binnenstruktur ebenso wie ihren Ort
im menschlichen Leben zu erhellen.
I.
Die Zeit des Lebens
1.  Das sich verstehende Leben

1.1  Das Selbstverhältnis des Lebens

Menschliches Leben gilt als die höchste Form des Lebens. Dies nicht
einfach deshalb, weil in ihm das Lebendige seine höchsten Fähig-
keiten entwickelt und seine höchste Gestalt ausbildet, weil sich das
Leben im Menschen von der Bewegtheit des Natürlichen zum Leben
des Geistes erhebt. Genauer liegt die Steigerung darin, dass sich im
Menschen der Grundzug des Lebens, selbstbezügliche Bewegung
zu sein, in neuer Form ausprägt. Menschliches Sein hat Teil an der
spezifischen Prozessualität, welche das Leben als solches ausmacht
und die sich durch Selbstbezüglichkeit auszeichnet, als eine Bewe-
gung, die aus sich kommt und auf sich selbst gerichtet ist. In basaler
Form ist die Reflexivität diejenige des Lebens, das sich selbst bejaht
und das Leben will. Das dem Leben immanente Streben ist eines, das
nicht nur auf irgendwelche Ziele und Leistungen gerichtet ist, son-
dern in reflexiver Form nach der Erhaltung, ja, Steigerung des Le-
bens selbst strebt. In der klassischen Naturphilosophie ist diese Pro-
zessform als teleologische gefasst worden, als zweckmäßige Gerich-
tetheit der Naturwesen, die in ihrem Aufbau und ihrer Bewegung,
im Einschlagen von Wegen, Koordinieren der Teile und Verwenden
von Mitteln auf ein Ziel, zuletzt auf das Sein des Lebendigen selbst
gerichtet sind. Durch ihre gestaltende und synthetisierende Kraft
strukturieren Lebewesen die Funktionsweise des Organismus und
dessen Entwicklung in der Zeit. Wenn auch menschliches Dasein an
der funktionalen Selbstregulierung und selbstbezüglichen Dynamik
des Lebendigen teilhat, so besteht die Steigerung, welche die höhere
Seinsform des Menschen kennzeichnet, nicht in einer bloßen Opti-
mierung der Selbstregulierung und dynamischen Potenzierung des
Lebens. Vielmehr geht es darum, dass der Selbstbezug des Lebens
18 I.  Die Zeit des Lebens

auf eine andere Ebene gehoben, in einer anderen Form realisiert


wird. Menschliches Leben ist bewusstes Leben, von sich wissendes,
sich über sich verständigendes, sich beschreibendes Leben.

1.2  Bewusstes Leben

Menschliches Leben ist, wie tierisches Leben, für sich seiendes Le-
ben. Es ist nicht nur ein objektiver, final strukturierter Prozess und
auch nicht nur ein funktional-selbstbezüglicher, auf das Wohl und
Weiterbestehen des Organismus gerichteter, ihm zugute kommender
Verlauf. Es ist für sich in dem Sinne, dass es dem lebenden Subjekt
explizit gegeben ist, als Gegenstand vor Augen steht, so dass es sich
bewusst auf sein Leben beziehen, sich zu ihm verhalten kann. Dieses
bewusste Verhalten zu seinem Leben hat eine theoretische und eine
praktische, eine kognitive und eine voluntative Dimension. Mensch-
liches Leben ist von Beginn an ein sich spürendes, sich gewahren-
des, sich selbst erfahrendes Leben. Phänomenologische Beschrei-
bungen haben die basale Selbstaffektion und Selbstwahrnehmung
aufgezeigt, die dem lebendigen Existieren je schon innenwohnt. Die
Intentionalität, die das Merkmal bewussten Lebens bildet, geht nicht
auf im Gerichtetsein auf äußere Gegenstände, sondern enthält im-
mer auch das Für-das-Subjekt-Sein dieses Bezugs; Bewusstsein von
­etwas geht mit dem zumindest impliziten Bewusstsein seiner selbst
einher. ­Darüber hinaus aber gibt es das ausdrücklich dem eigenen
Selbst, der seelischen Befindlichkeit und dem eigenen Körper zu-
gewandte Bewusstsein, wie es namentlich in einer von der Leib-
lichkeit ausgehenden Analyse betont wird. Das Lebendigsein des
Menschen ist nicht nur ein objektiver Befund, sondern verbindet
sich von vornherein mit dem subjektiven Zustand des Bewusst-Seins,
des Wachseins als Basis jeder spezifizierenden Selbstwahrnehmung
und Verhaltensweise.
Jenseits der Basis der Bewusstheit und elementaren Selbstwahr-
nehmung – die im Wesentlichen ein Erkennen im Modus der Passi-
vität, des Erlebens und Affiziertwerden ist – ist menschliches Leben
kognitiv auf sich bezogen, indem es Wege der expliziten Erkundung
seiner selbst beschreitet. Es sind Wege der Erforschung, der Inter-
pretation und des Bemühens um Verständnis, auf denen das Leben
mit sich selbst vertraut wird, sich in seiner strukturellen Verfassung
wie seiner je besonderen Bestimmtheit kennenlernt. Zur menschli-
1.  Das sich verstehende Leben 19

chen Existenz gehört das Bedürfnis nach Selbsterkenntnis, das sich


in verschiedenen Bereichen und variierenden Formen äußert. Eine
integrale Selbsterfassung und Selbsttransparenz kann geradezu zum
Ideal einer reflektierten Lebensführung werden.
Dabei geht solche Transparenz über das Registrieren und katego-
riale Ordnen vorgefundener Bestände des Lebens hinaus. Erkennt-
nis bemüht sich um ein erklärendes Verstehen und geht über in die
interpretierende Auslegung vollzogener Handlungen und gemach-
ter Erfahrungen, mündet in eine Selbstauslegung, in deren Medium
das Leben sich Gestalt gibt und zum konkreten Dasein des Ein-
zelnen oder der Gruppe wird. Der Mensch ist das sich selbst inter­
pretierende Lebewesen1 und hebt sich darin, sowohl kraft seiner
Nicht-Festgelegtheit und Freiheit wie durch die Leistung der eige­
nen Formgebung, von anderen Lebewesen ab. Zur Diskussion steht
dabei nicht nur die Frage nach der Wesensbestimmung, nach dem,
was der Mensch ist, sondern ebenso die Gerichtetheit und konkrete
Gestaltung des Lebensprozesses. Der Mensch ist nicht nur das sich
erkennende, sondern das sich über sich verständigende, sich su-
chende, sich orientierende und sich Bestimmteit gebende Lebewe-
sen. Menschliches Leben ist vom komplexen Prozess des Verstehens
und Sich-Verstehens nicht ablösbar, in welchem es allererst seine
Bestimmtheit und konkrete Form findet. Zum Tragen kommt ein
Grundgedanke der Existenzphilosophie, demzufolge der Mensch
nicht in einer vorausliegenden substantiellen Wesensbestimmung,
sondern im Vollzug seines Lebens über sich Aufschluss erhält.2 Die
Frage nach dem Selbst findet ihre Antwort nicht über eine Begriffs-
definition, sondern im Prozess des Lebens als einem Vollzug der
Selbsterkundung, der kreativen Selbstdeutung und der unabge-
schlossenen Verständigung über sich selbst.3

1 Charles Taylor, »Self-interpreting animals«, in: Philosophical Papers,


Vol.1: Human agency and language, Cambridge: Cambridge University
Press 1985, S. 45–76.
2 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 101963, S. 42, 212.
3 Vgl. Emil Angehrn, »Verstehendes Leben«, in: Roland Breeur / Ulrich
Melle (Hg.), Life, Subjectivity & Art, Phaenomenologica, Dordrecht: Sprin-
ger 2011, S. 123–143; »Selbstsein und Selbstverständigung. Zur Hermeneutik
des Selbst«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff (Hg.), Die Vermessung
der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse, Weilerswist:
Velbrück Wissenschaft 2009, S. 163–183.
20 I.  Die Zeit des Lebens

Nun ist solche Selbstverständigung ebensosehr eine Selbstauf-


klärung des Menschen darüber, was er ist, wie darüber, wer er sein
will, ein Akt der Selbstfindung wie der Orientierung und willentli-
chen Bestimmung seiner selbst. Die Selbstbezüglichkeit menschli-
chen L­ ebens ist auch auf der reflektierten Ebene, jenseits der vitalen
Selbstaffirmation, Ausdruck eines Interessiertseins am eigenen Sein
und des Besorgtseins um sich. Es geht, so Heidegger, dem Menschen
in seinem Leben um sein Leben4, nicht nur um das Weiterexistie-
ren, sondern um die Art und Weise des Lebens; nach Aristoteles hat
Leben sein inneres Ziel im guten Leben. Es ist, wie Dieter Henrich
ausführt, das je eigene Leben, welches ausmacht, was der einzelne für
sich selbst ist, das er verstehend zu durchdringen und als das seine
anzueignen, letztlich nicht nur zu vollziehen, sondern zu führen
hat: Das Wissen des Menschen von sich und sein Sich-Verhalten zu
seinem Leben durchdringen sich wechselseitig.5 Sowohl sein Leben
zu führen wie sich im Leben über sich selbst zu verständigen stehen
für jene herausgehobene Reflexivität, welche das menschliche Leben
als solches auszeichnet. Es ist eine Reflexion, in welcher der Mensch
sich nach Henrich auf sein Leben als ganzes bezieht und letztlich, in
einer Sammlung des Lebens, auch mit der Frage konfrontiert, wie-
weit er sein Dasein nur als Faktum anzunehmen oder es in einer
letzten Lebensaffirmation zu bejahen hat.6 Sich-Verstehen aus dem
Zusammenhang des Lebens, Sich-Verständigen über den Grund und
das Ganze des Lebens und bewusstes Führen seines Lebens sind
Momente des einen, umfassenden Vollzugs menschlicher Existenz.

1.3 Selbstbeschreibung

(a) Sprache und Sinnbildung

Verständigung über sich verbleibt nicht im Binnenraum des Selbst.


Sie vollzieht sich nicht nur im Raum subjektiver Bilder, Vorstellun-
gen, Gefühle und Einstellungen. Sie bedarf, um über sich Klarheit

4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.12 (der Mensch als das Seiende,
»… dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«).
5 Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltver­
stehen – Kunst, München / Wien: Hanser 2001, S. 15.
6 Dieter Henrich, Endlichkeit und Sammlung des Lebens, Tübingen:
Mohr-Siebeck 2009, S. 59 f.
1.  Das sich verstehende Leben 21

zu gewinnen und für das Subjekt selbst zu einem stabilen Orien-


tierungsrahmen zu werden, der Artikulation des Gedanken in der
sprachlichen Äußerung. Sprache ist das Medium des Sinns, in wel-
chem Erlebnisse und Ereignisse ihre Bestimmtheit gewinnen und
für das Subjekt konkret fassbar, in ihrer Bedeutung, ihren Voraus-
setzungen und Folgen verstehbar werden. Sprache ist nicht nur das
Organ der Kommunikation mit anderen, sondern zuvor für den
sprechenden Menschen selbst das Medium der Erschließung der
Welt und seiner selbst. In der Versprachlichung durchdringt der
Mensch seine Erfahrung, erarbeitet er sich ein Verständnis der Dinge
und Geschehnisse, ordnet er die erlebte Geschichte und die wahr-
genommene Umwelt. Mittels der Sprache, des Bemühens um den
richtigen Ausdruck wird er sich über die eigenen Empfindungen
und Meinungen klarer, gliedert und strukturiert er diffuse Befind-
lichkeiten und Absichten, unternimmt er eine Deutung seines Le-
bens und gibt diesem eine identifizierbare Gestalt. Sprache ist das
originäre Medium der Sinnbildung, der Transformation der Fakten
und Stoffe in verstehbare Gegenstände, die untereinander in Kon­
stella­tionen treten und vom Subjekt in bestimmter Weise aufgefasst
werden. Dabei kommt der ›Sinn‹ nicht primär in der normativen Be-
deutung eines Zwecks oder einer höheren Bestimmung (wie in der
Rede vom Sinn eines Opfers, Sinn des Lebens) ins Spiel, sondern in
der hermeneutischen Verwendung als ›verstehbare Bedeutung‹ (wie
beim Sinn e­ ines Zeichens, eines Satzes). Sinnbildung heißt zunächst,
Ereignisse, Handlungen oder Institutionen darauf hin zu erfassen,
›als was‹ sie gemeint sind oder in einem bestimmten Zusammen-
hang fungieren. Sprechend vollziehen wir diese Als-Wahrnehmung
oder Als-Interpretation, durch welche die uns umgebende Welt ihre
Stummheit verliert, etwas bedeutet und zu uns spricht.
Darin wird Sprache zum genuinen Medium des Erkennens. In-
dem der Mensch sein Sein und Erleben zur Sprache bringt, indem er
die gesellschaftlich sedimentierte sprachliche Formierung der Welt
entziffert, erkennt er sich selbst und die Welt. Sprache beschreibt
nicht nur ein schon Erkanntes, sondern ist selbst ein Instrument
des Erkundens, des Identifizierens, Klassifizierens und Deutens; sie
reproduziert nicht ein Vorgegebenes, sondern ist selbst ein Mitttel
des Hervorbringens, der Konstitution der gegliederten Welt und des
eigenen Selbst. Menschliches Sprechen hat in gewisser Weise an der
Schöpfungsmacht des göttlichen Wortes teil, indem es zwar nicht
wie dieses aus dem Nichts oder zur Gänze schafft, wohl aber Seien-
22 I.  Die Zeit des Lebens

des in jener Bestimmtheit entstehen lässt, in der es für uns sinnhaft


fassbar wird und unsere Welt, unseren Lebenskreis ausmacht. Erst
als sprachlich imprägnierte wird die Welt zu der Welt, in welcher wir
leben; erst als sprachlich ausformulierte wird Selbstverständigung
zum Gefäß der Existenz.
Nun ist innerhalb der Sprache ein kulturtechnischer Schritt von
Belang, der dem Übergang vom diffusen zum geformten Gedanken,
der Herausbildung der konkreten Welt zusätzliches Profil und Ge-
wicht verleiht. Es ist der Schritt der Schrift, der äußerlichen Fixie-
rung der Sprache im lesbaren Zeichen. Schrift ist keine universelle
Komponente menschlicher Verständigung und menschlicher Kultur.
Gesellschaften können sich organisieren und sich eine institutionelle
Verfassung über orale Traditionen und praktizierte Konventionen
geben. Auch die Äußerung, deren eine reflektierte Selbstverstän-
digung bedarf, kann in schriftloser Artikulation, in einer elaborier-
ten Erzählung und differenzierten Kommunikation ohne textuelle
Fixierung vonstatten gehen. Dennoch ist der Übergang zur Schrift
keine kontingente Zutat, sondern, einmal vollzogen, wie eine ir-
reversible Grundgegebenheit der sprachlichen Welt- und Selbst-
konstitution. Sie ermöglicht nicht nur eine größere – soziale und
temporale – Reichweite, sondern eine gesteigerte Reflektiertheit der
Verständigung. Schrift, die den Ausdruck festhält, erlaubt eine be-
sondere Weise des Reidentifizierens, aber auch des Zurückkommens,
Befragens, Vertiefens und Weiterführens, der kritischen Auseinan-
dersetzung mit sinnhaften Gebilden, Traditionen und Theorien. Sie
kann Grundlage der Starrheit einer Lehre sein, aber ebenso der Ent-
dogmatisierung dienen, indem sie divergierende Lesarten und ver-
worfene Alternativen festhält und der diskursiven Verflüssigung zu-
gänglich macht. Nach ganz verschiedenen Hinsichten bildet Schrift
das Element der kognitiven Durchdringung, sozialen Begründung,
historischen Konsolidierung und reflexiven Aneignung der Welt. Sie
bildet eine spezifische Grundlage und ein strukturierendes Ingredi-
ens der individuellen und sozialen Lebenswelt. In gewisser Weise
wird die konstitutive Leistung sprachlicher Artikulation und Schöp-
fung durch die Verschriftlichung erweitert und in sich potenziert.
Nicht umsonst gilt die schriftstellerische Tätigkeit als Paradigma
der erschließenden, gestaltenden und kreativen Durchdringung des
eigenen Lebens und der gemeinsamen Welt. Der Prozess der Sinn-
bildung erfolgt über eine vergegenständlichenden Äußerung, wie sie
auch der bildende Künstler vollzieht und wie sie exemplarisch der
1.  Das sich verstehende Leben 23

Schriftsteller realisiert, für den nach Claude Simon der Sinn nichts
Vorgegebenes ist, das er dem Publikum zu zeigen und weiterzugeben
hätte, sondern etwas, das er im Laufe seiner Arbeit in der Sprache
erzeugt, deren Resultat unendlich reicher als die anfängliche Inten-
tion ist. Es ist eine Arbeit, deren Unwegsamkeiten Simon in seiner
Nobelpreis-Rede ähnlich beschreibt wie sie Proust geschildert hatte:
»L’écrivain progresse laborieusement, tâtonne en aveugle, s’engage
dans des impasses, s’embourbe, repart – […] toujours sur des sables
mouvants.«7 Doch nicht nur die Mühsal, sondern ebenso die emi-
nente Macht der sprachlichen Vergegenwärtigung, die Ausdruck wie
Entdeckung und schöpferische Gestaltung ist, tritt uns im Werk des
Schreibens entgegen. Sie nähert die Leitidee der Selbstverständigung
dem Motiv der Selbstbeschreibung an.

(b) Ausdruck und Selbstbeschreibung

Nach Richard Rorty gibt es für Menschen nichts Wichtigeres, als


sich immer wieder selbst neu zu beschreiben.8 Die pointierte For-
mel knüpft an eine Grundeinsicht der existentiellen Hermeneutik
an, welche besagt, dass menschliches Leben ein grundlegend ver-
stehendes Leben ist, worin Menschen immer schon ein bestimmtes
Verständnis ihrer selbst haben, Bilder von sich und Interpretationen
der Welt entwerfen, in deren Horizont sie leben. Im Gedanken der
Selbstbeschreibung führt Rorty die beiden vorausgehenden Leit-
ideen, die Reflexivität des sich über sich verständigenden Lebens
und die schöpferische Kraft sprachlichen Ausdrucks, zusammen,
indem er sie zugleich mit der Idee eines emphatischen Selbstseins
verbindet, das sich selbst behauptet und in der Selbstbeschreibung
zu sich selbst findet. Solche Selbstfindung kommt nicht in der Intro­
spektion, sondern über den Ausdruck zustande. Nicht indem er in
sich geht, sondern indem er sich äußert und sich in seiner Äuße-
rung erkennt, kommt der Mensch zu sich, versteht er sich selbst.
Die Figur entspricht dem hermeneutischen Grundsachverhalt, den

7 Claude Simon, »Discours de Stockholm«, in: Œuvres, Paris: Éditions


Gallimard 2006, S. 887–902, hier S. 898, 902.
8 Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 389; vgl. ders., Kontingenz, Ironie
und Solidarität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 167.
24 I.  Die Zeit des Lebens

Wilhelm Dilthey dem menschlichen Sein und aller kulturellen Wahr-


nehmung zugrunde legte, dem »Zusammenhang von Leben, Aus-
druck und Verstehen«9; was für Dilthey das Fundament geisteswis-
senschaftlicher Forschung bildet, definiert gleichermaßen den Kern
subjektiver Selbsterkenntnis und Selbstbeschreibung. Des näheren
lassen sich im Konnex von Ausdruck und Selbstverständnis zwei
Stoßrichtungen ausmachen, die sich in der Figur der Selbstbeschrei-
bung verschränken: die Ideen der Selbstfindung und der Selbsther-
vorbringung.
Auf der einen Seite entdecken wir uns selbst im Ausdruck. Wir
werden mit uns bekannt, finden die eigene Stimme im Gespräch
mit anderen. Wir lernen unsere Leidenschaften und Gefühle ken-
nen, begegnen unseren Ängsten und Phantasien im Versuch, sie
auszudrücken und differenziert zu beschreiben. Wir werden uns
klarer über uns selbst, können uns im Ausdruck gleichzeitig hin-
terfragen, Vorurteile aufdecken, uns selbst korrigieren und uns um
Übereinstimmung mit uns bemühen.10 Der Ausdruck ist Arbeit an
uns selbst, eine Tätigkeit des Durchleuchtens und Genauer-Sehens,
möglicherweise auch des Zurückkommens und Zurechtrückens.
Selbsterkenntnis auf den Wegen des Ausdrucks, auch den erst zu
bahnenden, freizulegenden Wegen des Ausdrucks ist nicht nur ein
Registrieren, sondern eine Selbstaufklärung und ein Mit-sich-ins-
Reine-Kommen – wenn auch nie gefeit vor der Gefahr des Sich-
Täuschens, ja, des Sich-Verdeckens und Sich-Verstellens.
Darin wird gleichzeitig die andere Seite der Selbstbeschreibung
sichtbar, die Seite der Selbsterfindung und Selbsthervorbringung.
Selbstbeschreibung, wie Rorty sie ins Auge fasst, dient der Selbst­
interpretation, dem Entwurf der eigenen Identität, womit Konno-
tationen der Konstruktion, aber auch der Befreiung und Selbstbeja-
hung verbunden sind. In radikaler Version bedeutet solche Selbst-
beschreibung, sich von metaphysischen Menschenbildern, von einer
vorgegebenen Wesensbestimmung zu verabschieden; doch auch wo
sie nicht im engen Sinne als Selbstschöpfung konzipiert ist, bedeu-
tet sie, dem eigenen Sein und Sosein die konkrete Prägung zu geben,

9 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswis­


senschaften, hg. von Manfred Riedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970,
S.  98.
10 Vgl. Peter Bieri, Wie wollen wir leben? St. Pölten – Salzburg: Residenz
Verlag 2011.
1.  Das sich verstehende Leben 25

an der sozial und biographisch bedingten Identität herumzumodeln,


ihr Profil zu gestalten und ihre Bedeutung im eigenen Leben zu
verankern. Zumeist und zuletzt sind beide Seiten, die rezeptive und
die konstruktive Dimension der Selbstbeschreibung, nicht getrennt;
sie durchdringen sich und gehen gemeinsam in die konkrete Selbst-
werdung des Einzelnen wie der Gruppe ein. Viele Autoren haben
im künstlerischen Schaffensprozess das Wechselspiel von Verstehen
und Sagen, Lesen und Schreiben betont, beim Maler, der im Bild
erscheinen lässt, was sich ihm zeigt und sich offenbart, beim Kom-
ponisten, der Gehörtes erklingen lässt. Generell hat phänomenolo-
gische Hermeneutik das Vermögen und die Aufgabe des Menschen
beschrieben, die Sprache der Dinge zu vernehmen und demjenigen
Ausdruck zu verleihen, was in den Phänomenen erscheint, sich dem
Menschen öffnet, im Wirklichen zu Wort kommt. Im Selbstverhält-
nis ist diese Interferenz zwischen Hören und Antworten unhinter-
gehbar, und sie durchzieht das Empfinden, das Tun und Sichäußern
des Menschen und macht in dieser Doppelseitigkeit das Potential
der Selbstbeschreibung aus. Im Ganzen affiziert solches Schreiben
die Sache selbst. Anders als bei der deskriptiven Vermessung äußerer
Gegenstände geht das Beschreiben des eigenen Tuns und Erlebens,
das Sichschreiben und Sichausdrücken des Subjekts in das von ihm
Geschriebene ein. Selbstbeschreibung ist keine nachträgliche Erfas-
sung, sondern ein inneres, konstitutives Moment des Selbstseins und
der Führung seines Lebens.

(c) Lebensbeschreibung und Selbstwerdung

Sich selbst beschreiben heißt zuletzt sein Leben (be)schreiben. Über


die Erkundung seiner Fähigkeiten und Wünsche, die Orientierung
in seinem Handeln und die Verständigung über seine Ziele hinaus
gilt die Selbstaufklärung der faktischen Gestalt und dem Verlauf
des Lebens. Mich kennenzulernen heißt auch, mein gelebtes Leben
zu vergegenwärtigen, es zu entziffern, es niederzuschreiben. Eine
basale Weise der Selbstfindung ist das Sich-Finden im Laufe sei-
nes Lebens, ein zentraler Pfeiler der Identitätskonstruktion ist die
verantwortungsvolle Übernahme der unverwechselbaren Lebens-
geschichte. Dies meint nicht eine Moralisierung des eigenen Ge­
wor­den­seins, als ob dieses zur Gänze meinem Wollen und Handeln
entstammte und ich für alles, was mein Leben ausmacht, das von mir
26 I.  Die Zeit des Lebens

Verschuldete wie das mir Zugestoßene Rechenschaft abzulegen hätte.


Die Lebensgeschichte ist, wie Geschichte überhaupt, nur zum Teil
Ergebnis meiner Intentionen und Taten, daneben zu einem erhebli-
chen Teil nicht-intendierte Folge meines Handelns und Resultat der
Überkreuzung meines Tuns mit äußeren Ereignissen und fremden
Handlungen. Gleichwohl setze ich mich zu ihr in ein nicht nur kog-
nitives, sondern auch praktisches Verhältnis, stehe ich vor der Frage,
in welcher Weise ich sie als die meine übernehme und für sie ein-
stehe. Die Identifikation über die Geschichte ist ein anderer Modus
der Selbstfindung als die Verständigung über Lebensentwürfe, Nor-
men und Ideale; doch bildet auch sie einen wesentlichen Teil der le-
bensweltlichen Selbstvergewisserung und des Einswerdens mit sich.
In der identitätskonstituierenden Funktion der Lebensbeschrei-
bung lassen sich unterschiedliche Kristallisationspunkte auseinan-
derhalten.11 Ein erster liegt in der Gestalt und inneren Konsistenz des
Lebenslaufs. Sein Leben beschreiben heißt zuallererst die Kontinui-
tät einer Geschichte ausbreiten, die zeitliche und bedeutungsmäßige
Verknüpfung ihrer Episoden konstruieren. Die Erzählung schließt
Früheres und Späteres als Teile eines Ganzes zusammen, keineswegs
als notwendige Sequenz oder Entwicklung, sondern zunächst ein-
fach im Modus der sinnhaft lesbaren Aufeinanderfolge, welche be-
reits als solche eine minimale Stringenz gegen Zerstreuung und Dif-
fusion realisiert. Es ist eine Leistung der narrativen Kon­struk­tion
unabhängig von der historischen Streitfrage, wieweit reale Konti-
nuitäten vorliegen oder Brüche und Lücken durch Einheitsfiktio-
nen überwölbt und verdeckt werden. Über die chronologische Folge
hin­aus ist die Einheitsbildung sodann die eines Sinnzusammenhangs,
innerhalb dessen Ereignisse nach ganz verschiedenen Hinsichten –
als Vorstadien, Ursachen, Gegenbewegungen, Erfüllungen – bedeu-
tungsmäßig auf andere beziehbar und damit in eine Erzählung in-
tegrierbar sind. Diese Beziehungen geben der Geschichte als ganzer
ihr bestimmtes Profil, ihren Sinn, durch welchen sie ihre Bedeutung
und ihren Ort in unserem Leben finden. In der narrativen Struktu-
rierung lässt der Mensch die Lebenszeit nicht einfach verstreichen,

11 Vgl. Gernot Böhme, Ich-Selbst. Über die Formation des Selbst, München:
Fink 2012, S. 55–102; Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte
als philosophisches Problem, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007; Kurt Rött-
gers, »Die Erzählbarkeit des Lebens«, in: Rolf Kühn / Hilarion Petzold (Hg.),
Psychotherapie & Philosophie. Philosophie als Psychotherapie?, Paoderborn:
Junfermann 1992, S. 181–199.
1.  Das sich verstehende Leben 27

sondern gibt ihr die bestimmte, konfigurierte Gestalt, in welcher sie


zum Raum seines Lebens wird. Die Weisen solcher Gestaltgebung
können nach unterschiedlichen Modellen und Kriterien praktiziert,
aber auch kritisiert, korrigiert, aufgenommen und weitergeführt
werden – Kriterien der objektiven Wahrheit oder der ästhetischen
Gestalt, der kognitiven Durchdringung und der lebensweltlichen
Eignung. Immer geht es darum, wie der Mensch in der Aneignung
seines Lebens mit sich zurechtkommt, wobei das Ideal einer erzähl-
baren Geschichte nur ein – doch ein zentrales, nicht kontingentes –
Modell des Einswerdens mit sich und seinem Leben darstellt.
Wieweit sich die Strukturen des Lebens und des Erzählens von
sich aus zueinander fügen und ob das narrative Modell das Leben als
ganzes umfasst oder seinen genuinen Ort nur innerhalb des Lebens,
als Gefüge einzelner Epochen und Episoden besitzt12, mögen offene
Fragen sein. Ein entfremdeter, desintegrierter Lebensverlauf kann
sich der erzählenden Formgebung und subjektiven Aneignung wi-
dersetzen.13 Unabhängig davon zeigt sich die biographische Arbeit
als eine Weise, sich mit der Zerrissenheit und Fragilität des Selbst
auseinanderzusetzen, gegen Diffusion und Desintegration feste Ge-
stalt und Identität zu gewinnen. Sie kann ihr Ziel darin haben, sich
mit seinem Leben zu versöhnen, über Lebensekel und Leiden hin-
auszukommen, ja, sie kann sich darüber hinaus unter Leitvorstellun-
gen des erfüllten Lebens, des Glücks stellen, die Erzählung selbst zu
einem Moment des guten Lebens werden lassen. Ob solche Ideale
erreicht werden, ob die Lebensbeschreibung gelingt oder scheitert,
wieweit sie stabilisierungsfähig ist oder prekär bleibt, einer wahren
Selbstfindung zugutekommt oder der Selbsttäuschung zuarbeitet –
all dies ist vom realen Leben wie seiner konkreten Beschreibung
gleichermaßen abhängig.
Nach einer anderen Hinsicht ist das Telos der Lebensbeschrei-
bung mit der zeitlichen Verfassung des Lebens verwoben, der Be-

12 Vgl. Dieter Thomä, Erzähle dich selbst, a. a. O., S. 25.


13 Patrick Modiano präsentiert seine autobiographische Schrift Un pedi­
gree (Paris: Gallimard 2005) als gänzlich äußerlich-dokumentarischen Be-
richt und vergleicht sich mit einem »Hund, der vorgibt, einen Stammbaum
zu haben« (S. 11): »Je crois que rien de tout ce que je rapporterai ici ne me
concerne en profondeur. J’écris ces pages comme on rédige un constat ou
un curriculum, à titre documentaire et sans doute pour en finir avec une vie
qui n’était pas la mienne. Il ne s’agit que d’une simple pellicule de faits et de
gestes« (S. 44 f.).
28 I.  Die Zeit des Lebens

sinnung auf das Vergangene und dem Ausgriff auf das Ganze. Wenn
die narrative Form ihr Grundgerüst ist, so ist der Rückblick ihre
originäre Blickrichtung; der retrospektive Vorgriff bildet die Kern-
struktur des narrativen Satzes14, das Präteritum ist die Zeitform der
Erzählung.15 Lebensbeschreibung handelt von Vergangenem, ihr
Antrieb und ihre Leistung liegen nicht zuletzt im Widerstand gegen
das Vergehen und Entschwinden des Lebens. Sie hält für die Gegen-
wart fest, was nicht mehr da ist; sie sucht, gräbt aus, rekonstruiert,
was teils im Gedächtnis und in Dokumenten niedergelegt ist, teils
unsichtbar und abwesend ist, sich der Vergegenwärtigung entzieht.
Lebensbeschreibung ist Ausdruck des Bedürfnisses, sich in seinem
Leben zu sammeln, sich im Zusammenhang seines Lebens als gan-
zem zu erkennen. Der Wunsch, sich in seinem Leben gegenwärtig
zu werden, ist Movens des Schreibens des Lebens. Rilke spricht von
der Notwendigkeit, das »Diktat des Lebens« nachzuschreiben.16 Die
Rede vom Diktat und Nachschreiben spielt darauf an, dass es etwas
zu hören, zu lesen gilt, dass das Leben selbst spricht und einen Sinn
transportiert, der vom Diktatschreiber in Wahrheit aber nicht nur
registriert und transkribiert, sondern zur Sprache gebracht, in seiner
Bedeutung entfaltet und herausgestellt werden muss. Dem Bedürfnis
des Menschen, sein Leben zu schreiben, korrespondiert die Notwen-
digkeit des Lebens, artikuliert zu werden und eine Sprache zu finden.
Menschen leben so, dass sie sich zugleich ihr Leben erzählen. Die
Reflexivität menschlichen Lebens erstreckt sich über das Gewahr-
werden seiner selbst und das Sich-über-sich-Verständigen hinaus auf
das Erinnern und Sicherzählen. Sein Leben erzählen, aus seinem Le-
ben erzählen ist nicht eine äußere Zutat zum Leben, sondern inneres
Moment einer Lebensform. Wenn Selbstverständigung als prakti-
sche Orientierung originär zukunftsgerichtet ist, so ist die narrative
Selbsterfassung ursprünglich dem Vergangenen zugewandt; zugleich
ist sie auf das Ganze geöffnet, mit der unabgeschlossenen singulä-
ren Geschichte des Selbst befasst. Das Schreiben des Lebens kann
ebenso offen sein wie das Leben selbst, wie dies bei Tagebüchern der

14 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt am


Main: Suhrkamp 1974.
15 Harald Weinrich, Tempus. Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart:
Kohlhammer 1964.
16 Rainer Maria Rilke, Brief an Ilse Erdmann vom 21. Dezember 1914, in:
Briefe, Frankfurt am Main: Insel 1980, Bd. 1, S. 454.
1.  Das sich verstehende Leben 29

Fall ist, welche ein Leben nachdenkend begleiten, oder bei Werken,
die ins Offene, Unabschließbare gehen.17 Solches Schreiben geht in
das Leben selbst ein und kann dem Leben zugutekommen. Auch
wenn dies nicht in dem Sinne der Fall sein muss, dass der einzelne
gleichsam antizipierend als Historiograph seiner selbst sein Leben
führt, sondern er sich über sein gegenwärtiges Handeln und Erleben
verständigt und sich rückblickend seines Lebens vergewissert, kann
diese Reflexion zum inneren, substantiellen Element seines Lebens
werden. Lebensbeschreibung wird Teil der Bewegung des Lebens
selbst. Sie partizipiert an dessen Offenheit und unterliegt zuletzt
seiner Endlichkeit. Der Versuch, aufzeichnend sich selbst und sein
Leben einzuholen, vollzieht sich im Leben und in der Zeit des Le-
bens, steht selbst im Wettlauf mit der Zeit.18 Erst am Ende könnte
der Mensch seine Lebensbilanz ziehen, über sein Leben und dessen
Gelingen Rechenschaft ablegen, wie wir nach Aristoteles das Glück
eines Menschen erst nach seinem Tod beurteilen können. Auch
Rilke spitzt seine Forderung dahingehend zu, »das ganze Diktat
des Daseins bis zum Schluss nachzuschreiben; denn es möchte sein,
dass erst der letzte Satz jenes kleine, vielleicht unscheinbare Wort
enthält, durch welches alles mühsam Erlernte und Unbegriffene sich
gegen einen herrlichen Sinn hinüberkehrt.«19 Indessen bleibt dieser
Ausgriff, ob er nun mit einer versöhnlichen oder einer ängstigenden
Vision verbunden sei, in der Schwebe, bleibt der Wunsch, das Leben
»auf seinem letzten Stand zu ertappen«, so Christa Wolf, »ein unstill-
bares, vielleicht unerlaubtes Verlangen«.20 Dem Menschen verbleibt
das von Proust beschriebene Gefühl der Dringlichkeit, die Angst,
in der Selbstbeschreibung und Erfassung seines Lebens zu spät zu
kommen. Auch dieses Gefühl, Kehrseite der nicht zu schließenden
Offenheit, gehört zur existentiellen Verfassung des Lebens und sei-
nes Fürsichwerdens.

17 Vgl. Franz Dodel, Nicht bei Trost – a never-ending Haiku, 3 Bände, Biel:
Edition Haus am Gern 2004 (weitergeführt in: Nicht bei Trost: Heiku, end­
los, Wien: Edition Korrespondenzen 2008, 2011, 2014). Ein anderes Modell
eines das Leben begleitenden Schreibens findet sich bei Christa Wolf, Ein
Tag im Jahr. 1960–2000, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 (weitergeführt
in: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001–2011, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2013).
18 Siehe unten Kap. 7.3.
19 Rainer Maria Rilke, Briefe, a. a. O.
20 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 354.
2.  Leben in der Zeit

2.1  Zeit und Zeittranszendenz

Zeit ist dem Menschen so fundamental wie die Sehnsucht nach der
Freiheit von der Zeit. Der Urgegensatz zwischen der Zeit und ihrem
Anderen weist in die ältesten Ursprünge der Denkgeschichte zurück.
Für klassische Metaphysik ist das wahrhafte Sein ein zeittranszen-
dentes Sein, jenseits des Entstehens, des Wandels und des Verge-
hens. Schon Parmenides, wichtigster Wegbereiter metaphysischen
Denkens, beschreibt das Seiende als eines, das weder war noch sein
wird, sondern jetzt, zusammen, ganz, eins ist1: Reine Gegenwart ist
das absolut Andere der Zeit, jenseits des Flusses des Werdens und
Veränderns, der Zerstreuung ins Gewesene und Noch-nicht-Seiende.
Zeit erscheint als Negativum, als Seinsmangel. Was zeitlich ist, was
in der Zeit existiert, ist nur in defizitärer Weise seiend.
Dieses Spannungsverhältnis, das in der Philosophie in seinen
onto­logischen und logischen Konsequenzen durchmessen wird, af-
fiziert von vornherein das menschliche Leben. Der Mensch lebt in
der Zeit, er ist glücklich in der Zeit und er leidet unter der Zeit, er
sehnt sich nach dem Jenseits der Zeit. Im Folgenden soll die Frage
nach der Zeit in dieser existentiellen Bedeutung, nicht ihrer meta-
physischen und epistemologischen Weite verhandelt werden. Indes-
sen ist auch in dieser eingeschränkteren Perspektive relevant, dass
die systematische Dichotomie zwischen der Zeit und ihrem Ande-
ren keine einfache ist und der gängige Begriffsgegensatz von Zeit
und Ewigkeit das in Frage stehende Verhältnis nicht abschließend
beschreibt. Jenseits der zeitlichen Prozessualität lassen sich unter-
schiedliche Gegeninstanzen auseinanderhalten: die reine Zeitlosig-

1 Parmenides, Fragment 8.5–6.


32 I.  Die Zeit des Lebens

keit dessen, was nicht temporal verfasst ist (logische Verhältnisse,


Zahlen), die Dauerhaftigkeit des Seienden, das keinem Entstehen
und Vergehen unterworfen ist (die Gestirne bei Aristoteles), die
›ewige‹ Immergleichheit dessen, was sich endlos in derselben Weise
bewegt und reproduziert (die Wiederkehr des Gleichen, das mythi-
sche Verhängnis), die Ewigkeit des ewigen Lebens als jene Zeittran-
szendenz, die nicht die innere Bewegtheit hinter sich lässt, sondern
sie auf einer höheren Ebene vollzieht, schließlich die Ewigkeit in der
Zeit (als Teilhabe des Lebens am Ewigen, Mimesis ans Ewige, zeit­
loses Verweilen).2 Im Blick auf diese strukturelle Vielfalt geht es etwa
in metaphysikkritischen Diskussionen darum, die von metaphysi-
schen Positionen anvisierte ›Ewigkeit‹ als eine des Zeitfremden oder
zwanghaft Immergleichen zu entlarven und ihr gegenüber die in ei-
nem höheren Leben vollzogene Transzendenz des Vergänglichen zu
kontrastieren. Ebenso stellt sich mit Bezug auf den lebensinternen
Umgang mit der Zeit die Frage, in welche Formen er sich ausdiffe-
renziert und inwiefern in diesen zugleich die übergreifende Polarität
von Zeit und Zeittranszendenz ausgetragen wird. Im Ganzen bleibt
die Differenz zwischen der Zeit und ihrem Anderen für die Frage
nach der Zeit kulturgeschichtlich und anthropologisch grundlegend.
Nach der Zeit zu fragen heißt auch nach ihrer Grenze, ihrer Über-
windung und ihrem Jenseits zu fragen.

2.2  Die Zeit des Lebens

(a) Dimensionen des Zeitlichen

Wenn wir nach der Zeit des Lebens, dem Zeiterleben im mensch-
lichen Dasein fragen, so wird eine Unterscheidung relevant, die in
Zeittheorien oft als Grundraster fungiert: die Unterscheidung von
subjektiver und objektiver Zeit. In unserem Zusammenhang inter-
essiert die Differenz nicht im Blick auf die prinzipielle Frage nach
der Konstitution, dem ontologischen Ort der Zeit. Es gibt, auch im
Raum der Existenz, die Zeit, die mein Erleben strukturiert, mein
Zurückblicken auf Erlebtes und mein Entwerfen und Hoffen trägt,
und es gibt die Zeit, die unabhängig von meinem Tun, meinem Ver-

2 Vgl. Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am


Main: Suhrkamp 1991, S. 299–317.
2.  Leben in der Zeit 33

weilen und Drängen verläuft, für dieses einen Grund und Rahmen,
je nachdem eine Gegendynamik bildet. Immer steht die innere Zeit-
lichkeit des Lebens im Verhältnis zu einer Zeit, die nicht nur aus
dem Leben kommt, nicht in seiner Macht, zumal der des einzelnen
Lebewesens, steht.
Zu dieser basalen Differenz kommt eine zweite hinzu, welche
die Auffassungsweise des Zeitlichen betrifft. Seit der ältesten theo­
retischen Reflexion wird dieses nach zwei unterschiedlichen Ras-
tern thematisiert, der Differenz von Vergangen – Gegenwärtig – Zu-
künftig und dem Schema von Früher – Gleichzeitig – Später. Es ist
bemerkenswert, dass sich diese beiden Begriffsraster schon früh –
etwa in den klassischen Zeitabhandlungen bei Platon, Aristoteles,
Augustinus – finden und durch die Tradition hindurchziehen, in
neueren Diskussionen meist im Anschluss an einen Vorschlag von
McTaggart3 als A-Reihe und B-Reihe bezeichnet; bemerkenswert
ist auch, dass gerade in der neueren Diskussion die Frage ihres Ver-
hältnisses aufgeworfen wird, wobei ihre gegenseitige Nicht-Redu-
zierbarkeit zum Thema wird. Von Interesse in unserem Kontext ist
das Verhältnis zur ersten Differenz von objektiver und subjektiver
Zeit. Zwischen ihnen besteht keine einfache Analogie, sofern beide
Raster von Früher – Gleichzeitig – Später und Vergangen – Gegen-
wärtig – Zukünftig innerhalb des subjektiven Auffassens und Arti-
kulierens zum Tragen kommen: Wir strukturieren die Zeit unseres
Lebens und vergegenwärtigen Phasen unseres Lebens nach beiden
Relationen. Doch sind sie beide nicht in gleicher Weise subjektbezo-
gen: Während die erste die relative Position von Ereignissen in einem
Abfolgeverhältnis unabhängig vom Erleben bezeichnet und im Ver-
lauf der Zeit unverändert bleibt, definiert sich die zweite im Bezug
zu einem gegenwärtigen Referenzpunkt, idealiter dem Standpunkt
subjektiven Erlebens und Auffassens, und verschiebt sich mit dessen
Voranschreiten in der Zeit. Erlebnisse der frühen Kindheit bleiben
immer hinter denen des Jugendlichen zurückliegend, während des-
sen nahe Zukunft dem Älteren zur Vergangenheit wird.
Die Dualität der Auffassungsweisen gehört mit zur Grundstruk-
tur existentieller Zeitlichkeit. Ihre lebensweltliche Relevanz hat sie
darin, dass sie das subjektive Erleben in Polarität zu einer nicht aus
dem Subjekt kommenden, nicht (nur) in ihm verorteten Temporali-

3 John McTaggart Ellis McTaggart, The Unreality of Time, in: Mind. A


Quarterly Review of Psychology and Philosophy 17/1908, S. 457–474.
34 I.  Die Zeit des Lebens

tät setzt. Es ist eine Polarität, die das Leben in der Zeit von Grund
auf affiziert und die sich über die genannten Relationen hinaus er-
streckt. Der Mensch bezieht sich in der Zeitlichkeit seines Lebens
zugleich auf die Zeit der Welt, die Naturzeit wie die geschichtliche
und soziale Weltzeit. Lebenszeit und Weltzeit4 bilden ein Verhältnis,
welches das menschliche Leben umfängt und es zugleich in seinem
Inneren betrifft und strukturiert, wie der Mensch generell mit der
Welt kommuniziert, Gehalte und Formen der Sinnbildung aus der
Welt aufnimmt und in sie hinein entwirft. Es ist eine Beziehung, in
welcher unterschiedliche Zeitgefäße, Rhythmen und Verlaufsfigu-
ren ineinander spielen und nebeneinander laufen, sich verschränken
und sich gegeneinander sperren. Jenseits der Weltzeit kann sich das
Leben auf eine der Sukzession enthobene Ordnung beziehen, das
Verhältnis von Innerzeitlichem und Überzeitlichkeit eröffnen. Auch
dieser Bezug kann als innere Dimensionalität des Selbst erschlossen,
im Entwurf des Lebens verankert werden, das sich auf eine höhere
Zeit hin öffnet.5

(b) Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

Von diesen externen Bezügen haben wir nun zur Binnenstruktur


der existentiellen Zeitlichkeit zurückzugehen, die für die folgenden
Betrachtungen den Ausgangspunkt bildet. Ihr Herz bildet die so-
genannte dimensionale Zeit, das Aufgespanntsein des Lebens zwi-
schen den Dimensionen der Vergangenheit, der Gegenwart und der
Zukunft (entsprechend der genannten A-Reihe). In allem, was er ist
und erlebt, findet sich der Mensch in diesem Horizont der Zeit, al-
les was er tut, vollzieht er in diesem zeitlichen Raum. Die moderne
Phänomenologie hat die Konstitution der Zeit, die Ausbreitung des
zeitlichen Feldes und das Unterwegssein der zeitlichen Bewegung
als Grundlage und inneren Nerv aller Erfahrung herausgearbeitet.
Immer kommen wir von Vergangenem her, finden wir uns in einem

4 Vgl. Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main:


Suhrkamp 1986.
5 Vgl. Magnus Schlette, »Zwischen Innerzeitlichkeit und Überzeitlichkeit.
Skizze eines anthropologischen Strukturmodells von Weltzeit«, in: Gerald
Hartung (Hg.), Mensch und Zeit, Studien zur interdisziplinären Anthropo-
logie, Wiesbaden: Springer 2015, S. 249–266.
2.  Leben in der Zeit 35

Hier und Jetzt und sind handelnd oder erwartend auf Kommendes
gerichtet; diese zeitliche Substruktur ist im körperlichen Tätigsein,
im sozialen Interagieren, im Schreiben eines Buchs oder im Mu-
sikhören (Paradigma der Zeitanalyse) gleichermaßen vorausgesetzt
und an der Gestaltung des jeweiligen Gegenstandes beteiligt. Zu-
letzt wird die Konstitution des Subjekts selbst, sofern dieses nicht
nur abstrakter Bezugspunkt der Erscheinung der Dinge, sondern für
sich seiendes Selbst ist, in ihrer temporalen Dichte und Verweisung
sichtbar. Die Temporalstruktur durchdringt das Subjekt und seine
Welt in gleicher Weise.
Das Hauptgewicht der existentiellen Reflexion gilt nicht der
allgemeinen Struktur, sondern den einzelnen Dimensionen dieses
zeitlichen Ausgespanntseins. Es sind drei Ausrichtungen, die ihre
Konkretisierung in unterschiedlichen Haltungen und Verhaltens-
weisen finden und mit denen sich je eigene Leitideen und Probleme
verbinden.
In seiner ersten, ursprünglichen Haltung scheint menschliches
Leben der Zukunft zugewandt. Seine Dynamik ist die einer teleolo-
gischen Gerichtetheit. Leben ist eine vorwärts drängende Bewegung;
als strebender und handelnder ist der Mensch auf Ziele gerichtet, die
vor ihm liegen. Kognitive, affektive, praktische Haltungen schreiben
sich dieser Gerichtetheit ein. Als erwartendes, planendes, antizipie-
rendes, aber auch hoffendes, fürchtendes Lebewesen hat der Mensch
die Zukunft in allen möglichen Gestalten vor sich: als offene oder ge-
schlossene, bekannte oder verdeckte Zukunft, als erfüllende oder be-
drohliche, als von ihm selbst herbeizuführende oder ihm entgegen-
kommende, über ihn hereinbrechende Zukunft. Wenn der Mensch
für die Existenzphilosophie ein sich selbst verstehendes und sich
interpretierendes Wesen ist, so ist er dies in erster Linie darin, dass
er sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft und sich von ihnen her
begreift. Sich aus der Macht seines Könnens verstehen heißt sich mit
Bezug auf die Zukunft, auf seine Zukunft hin verstehen. Indessen
ist die Zukunft nicht in seine Hände gelegt. So fundamental wie das
Ausgreifen und Sichentwerfen ist die Erfahrung des Nichtverfügens,
des Nichtkönnens und der Ohnmacht. Doch ebenso kann ihm die
Zukunft als Verheißung entgegenkommen, als Raum der Utopien
und Wünsche geöffnet sein. Emphatische Konzepte nehmen eine
Zukunft in den Blick, auf welche das Subjekt nicht ausgreifen und
die es nicht vorhersehen kann, sondern die ihm entgegenkommt
und sich ihm öffnet – gleich dem Anderen, den ich nicht erwarten
36 I.  Die Zeit des Lebens

kann und der auf mich zukommt.6 Sich nicht von seinem Grund
und Ursprung her zu verstehen, sondern vom Ausstehenden und
Entgegenkommenden, den latenten Tendenzen und den nach vorne
drängenden Bewegungen her, ist die Umkehrung, die Ernst Bloch
im Prinzip Hoffnung fordert.
In so vielfältiger Gestalt wie die Zukunft erscheint die Vergangen-
heit im Leben des Menschen. Sie eröffnet ihm Möglichkeiten und
sie engt ihn ein, sie trägt ihn in seinem Sein und sie drückt ihn nie-
der. Sie legitimiert ihn und klagt ihn an, sie ist Quelle der Befreiung
und lähmende Macht. In allen Formen gehören das Vergangenheits-
bewusstsein, das bewahrende Gedächtnis, die vergegenwärtigende
Erinnerung zum menschlichen Leben. Je nach dem Charakter des
Vergangenen, den Erfordernissen der Gegenwart und der seelischen
Disposition der Menschen gewinnt Erinnerung für sie einen ver-
schiedenen Stellenwert. Dem hohen Lied der Memorialkultur steht
die soziale Marginalisierung, zuweilen die polemische Verbannnung
des Gedächtnisses gegenüber. Für den einzelnen wie für die Gesell-
schaft kann beides zum vitalen Bedürfnis werden, die Vergangen-
heit aufzuarbeiten und kritisch zu durchleuchten, aber auch mit ihr
zurecht zu kommen, sie ruhen zu lassen, sich von ihr frei zu ma-
chen. Worauf das Bedürfnis geht, kann gleichzeitig zur Belastung,
zur existentiellen Herausforderung werden. Der Rückblick und die
Besinnung können Gegenstand der Freude und des Stolzes, aber
auch der Scham und der Trauer sein. Auch erkenntnismäßig findet
der Bezug zum Vergangenen in variierenden, teils entgegengesetzten
Formen statt. Die Vergangenheit kann uns bedrängen, in unseren
Alltag eindringen, sie kann uns transparent vor Augen stehen, aber
auch verdeckt und verborgen sein, sich dem Erinnern hartnäckig
verschließen.
Gegenüber den beiden Zeitekstasen ins Gewesene und Künftige
erscheint die Gegenwart zunächst wie der neutrale Bezugspunkt,
der nichtthematische Boden der Zeitreflexion. Indessen verbinden
sich auch mit ihr genuine Zeitvorstellungen, denen sowohl ontologi-
sche wie anthropologische Bedeutung zukommt. Zwischen Vergan-
genheit und Zukunft erscheint Gegenwart als Schwelle und Über-
gangspunkt, als der flüchtige, nicht festzuhaltende Augenblick des

6 Emmanuel Lévinas, Le temps et l’autre, Paris: Presses Universitaires de


France 1979; Derrida (2002), Dokumentarfilm von Kirby Dick und Amy
Ziering Kofmann.
2.  Leben in der Zeit 37

Umschlagens vom Kommenden ins Gewesene, vom Möglichen ins


Wirkliche. Als ausdehnungsloser Moment scheint sie keine eigene
Realität, kein wirkliches Sein zu besitzen. Doch kann sie auch um-
gekehrt als das allein Seiende erscheinen, dem gegenüber das Vergan-
gene und das Künftige, als abwesende, nicht da-seiende, in Wahrheit
nicht ›sind‹. Die eigentümliche Doppelvalenz findet ihre Korrespon-
denz im Existentiellen. Auf der einen Seite gilt der Augenblick als
Ort der Flüchtigkeit, der Instabilität, des Verschwindens und unab-
lässigen Sichentgleitens; das Leben findet im Jetzt keine Dichte und
keinen Halt. Auf der Gegenseite verbinden sich mit der Gegenwart –
wie in der ontologischen Vision des Parmenides – Vorstellungen des
integralen, erfüllten Seins, der Vollendung und des Mit-sich-Eins-
seins. Der Begriff der Gegenwärtigkeit schwankt dabei – wie der Ge-
genbegriff des Abwesenden – zwischen temporaler und räumlicher
Bedeutung. Wer wirklich, jetzt ist, ist sichtbar, Aktualsein heißt Sich-
manifestieren; wer in der Gegenwart ist, ist sich selbst gegenwärtig.
Gegenwart wird zu einer emphatischen, affirmativen Bestimmung
des vollendeten Seins und Selbstseins (wie umgekehrt eine Strömung
der Metaphysikkritik als Kritik an der Präsenzmetaphysik auftritt).
Gegenwärtigkeit steht für ein Ideal des wahrhaften Seins, des Iden-
tischseins und Ganzseins.
Interessant ist nun, dass diese Leitidee nicht nur eine der drei
Sphären des dimensionalen Zeitbewusstseins strukturiert. Die Idee
der Gegenwärtigkeit bildet desgleichen einen Fluchtpunkt sowohl
des Zukunfts- wie des Vergangenheitsbezugs. In beiden Weisen des
Hinausgehens über das Jetzt, im Vorausgehen wie im Zurückbli-
cken, fungiert das Ideal des Ganzseins und Sich-selbst-Findens als
Richtschnur und treibendes Motiv. Nach Heidegger ist es das Vor-
laufen zum Ende, das Sein zum Tode, welches in bevorzugter Weise
das Ganzseinkönnen des Daseins ermöglicht. Vom Ende her, an-
gesichts des Endes und im Zurückblenden vom Ende her, sind wir
mit dem Ganzen unseres Lebens konfrontiert, uns in der Ganzheit
unseres Lebens gegeben. Doch auch im offenen Entwurf, im Wün-
schen und Projizieren ins Künftige kann die Vorstellung, zu sich zu
kommen und sich gegenwärtig zu werden, zum Leitstern werden.
Ebenso aber kann die Sehnsucht nach Gegenwart als Triebkraft des
Erinnerns wirken. In der Herkunft heimisch zu werden, sich in äl-
testen Hoffnungen wiederzuerkennen, seine Geschichte zu erkun-
den und auszubreiten kann vom Bedürfnis getragen sein, nicht nur
Früheres aus dem Entschwundensein heraufzuholen, sondern sich
38 I.  Die Zeit des Lebens

selbst im Rückgang zum Vergangenen in seinem Leben präsent zu


werden. Das von Proust evozierte Glück ist nicht zuletzt eines der
erfüllenden Präsenz.
Nun hat nicht nur Proust die Fragilität dieses Glücks erkannt, die
ungesicherte Mühsal des Erinnerns beschworen. Viel umfassender
ist das Leben in der Zeit seit je in seiner Abgründigkeit, seiner Ge-
fährdetheit erfahren und reflektiert worden. Zeit ist nicht nur eine
tragende Dimension menschlichen Lebens, sondern gleichzeitig eine
existentielle Herausforderung. Die ungelöste Spannung zwischen
Gelingen und Misslingen bleibt dem Leben in der Zeit unhinter-
gehbar.

2.3  Die Herausforderung der Zeit

Nach allen drei Dimensionen kann das Leben in der Zeit gelin-
gen oder misslingen. Es kann zur erstrebten Fülle und Selbstgegen-
wart führen – oder leer sein, dem Menschen entgleiten, die Präsenz
in Abwesenheit verkehren. Zeit fordert den Menschen heraus, im
Denken wie im Leben. Kaum etwas ist in vergleichbarer Mannig-
faltigkeit und vielfältigerer Wertung in den kulturellen Zeugnissen
der Menschheit, in Dichtung, Sinnsprüchen und Theorien beschrie-
ben und bedacht worden. Für die theoretische Reflexion gilt Zeit
spätestens seit dem berühmten Satz des Augustinus als ein Rätsel
par excellence; sie ist jedem selbstverständlich und doch von kei-
nem verstanden.7 Für das praktische Leben ist sie Gegenstand des
Glücks wie der Not, Freiheit und Zwang, »unser Erzfeind und un-
ser innigster Freund«.8 Zeit gehört zu den Grundbedingungen des
Daseins und stellt gleichzeitig ein Problem, eine existentielle Her-
ausforderung für den Menschen dar. Mit ihr zurechtzukommen, in
der Zeit glücklich zu werden, versteht sich nicht von selbst. Nicht
nur sind Alltagsphänomene wie Zeitdruck und Zeitknappheit in der
modernen Gesellschaft allgegenwärtig geworden. Nicht nur tritt
das Leiden an der Zeit in psychopathologischen Phänomenen in
Erscheinung. Allgemeiner ist gerade in neueren Theorien die Ne-

7 Augustinus, Confessiones XI, 14: »Was ist Zeit? Wenn mich niemand
fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.«
8 Jean Améry, Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart: Klett-
Cotta 1968, S. 16.
2.  Leben in der Zeit 39

gativität der Zeit, die seit den ältesten Klagen über die Flüchtigkeit
des Lebens und die Sterblichkeit des Menschen zu Wort gekommen
ist, als grundsätzliches Problem der menschlichen Existenz aufge-
worfen worden.
Im Verhältnis zur Zukunft manifestiert sie sich in der Unfähig-
keit, sein Leben zu entwerfen und seine Zukunft zu gestalten. Der
Schwund der Kraft, sein Leben zu organisieren und temporal zu
strukturieren, der das Lebensgefühl in seiner ganzen Weite affizieren
kann, untergräbt hier die elementare Lebenskraft, die uns nach vorne
wirft, uns die Initiative ergreifen und tätig sein lässt. Das Versiegen
der Kraft, Neues hervorzubringen und Kommendes in die Hand
zu nehmen, vertieft sich zur Unfähigkeit, die Zukunft aufzuschlie-
ßen, ja, sich selbst der Zukunft zu öffnen. Der Mensch steht vor
­einer versperrten oder einer unbestimmt-leeren Zeit; zuletzt geht er
des Zukunftsraums als solchen, der dynamisch-offenen Gerichtet-
heit der Existenz selbst verlustig. Das von der Existenzphilosophie
beschriebene Vorauslaufen des Daseins, das Sichentwerfen in den
Raum der Möglichkeiten kann aufgrund der Schwäche des Subjekts,
aber auch der Widerständigkeit der Welt erschwert, gegebenenfalls
verunmöglicht werden. Die Selbstlähmung des Handelns spiegelt
sich in der Implosion der Zeit wider. Das Gewicht des Vergangenen
überlagert die Zukunft, hält diese in der Starre des Gewesenen, den
Ketten der Wiederholung gefangen.
In anderer Weise kann die Immobilität und Entzeitlichung die
Gegenwart selbst durchdringen. Was idealiter als erfüllte Aktuali-
tät, als höchste Verdichtung erstrebt wird, zerfällt zum Stillstand
der Zeit, zur toten Leere. Es ist eine Gegenwart ohne kommunika-
tiven Austausch mit dem Gewesenen und dem Kommenden, eine
auf sich fixierte und starre, substanzlose Präsenz, weder in sich le-
bendig noch sich übersteigend in den Fluss des Lebens hinein. Es
ist eine Zeit, die nicht vergehen will, die nicht als lebendig-bewegte
Zeit erfahren wird. Pascal, Kierkegaard und Heidegger haben die
Langeweile als menschliche Grundbefindlichkeit geschildert, als je-
nen Zustand, in welchem sich die Monotonie des linearen Verlaufs
mit der Wesenlosigkeit der Existenz im Vakuum der entseelten Zeit
verschränkt. In der Depression wird dieser Zustand als seelisches
Leiden erfahren, wobei hier wie beim Zerfall der Zukunft die Frage
im Raum steht, wieweit die pathologische Form gegenüber dem
normalen Leben ein strukturell Anderes ist oder nur eine graduelle
40 I.  Die Zeit des Lebens

Steigerung verkörpert und auf den Begriff bringt, was der conditio
humana als solcher wesensmäßig innewohnt.9
Nicht zuletzt findet die Blockierung des Zeitlichen im Verhält-
nis zum Vergangenen statt. Belastend wird sie dort erlebt, wo das
Vergangene die Gegenwart in ihrem Bann hält, statt von ihr ver-
flüssigt, kognitiv und praktisch angeeignet zu werden. Die Unfä-
higkeit zur erkenntnismäßigen Durchdringung und kritischen Ver-
arbeitung, das Versagen der Kraft zur temporalen Synthese und
narrativen Strukturierung zeigen sich auch hier als Symptome einer
subjektiven Ohnmacht, die ihr Pendant, teils ihren Grund, in der
Übermacht und repressiven Verstellung des Vergangenen selbst ha-
ben kann. Gerade mit Bezug auf Vergangenheit wird das existenti-
elle Problem der Zeit, die Schwierigkeit, im Vergehen mit sich eins
sein zu können, unmittelbar erfahren und vielfältig thematisiert; die
Sehnsucht und Aporie des Erinnerns sind ebenso lebensweltliche
Motive wie Angelpunkte der gesellschaftlichen und wissenschaft-
lichen Gedächtniskultur. Jede Befassung mit dem Vergangenen ist
von vornherein mit dem Problem des Entzugs ihres Gegenstandes
konfrontiert, dessen Unzugänglichkeit nicht nur durch äußere Di-
stanz, Fremdheit oder Komplexität bedingt ist, sondern ebenso der
Abwehr, aber auch der Verschließung und Selbstverhüllung geschul-
det sein kann. Die Arbeit des Gedächtnisses hat immer auch und in
unterschiedlicher Weise mit dessen Grenze, mit dem Nichterinner-
baren und dem Nichterinnernkönnen zu tun.
Nach allen drei Hinsichten steht das Mit-sich-Einswerden in
der Zeit in Frage. Dass das Selbst in seinem Rückblick und seinem
Ausgespanntsein in die Zukunft sich selbst gegenwärtig sein kann,
wird durch die Zeit ermöglicht, aber auch bedroht oder verhindert.
Ganzseinkönnen in der Zeit ist ein prekärer, ungesicherter Zustand.
Die Negativität des Zeiterlebens umfasst unterschiedliche Aspekte,

9 Zur Auseinandersetzung mit Theunissens generalisierender These ei-


nes »Leidens an der Zeit« (»Melancholisches Leiden unter der Herrschaft
der Zeit«, in: Negative Theologie der Zeit, a. a. O., S. 218–281) vgl. Claudia
Bozzaro, Das Leiden an der verrinnenden Zeit. Eine ethisch-philosophische
Unter­suchung zum Zusammenhang von Alter, Leid und Zeit am Beispiel der
Anti-Aging-Medizin, Stuttgart: Frommann-Holzboog 2014, S. 9 ff., 206 ff;
Stefano Micali, »Negative oder differenzielle Anthropologie? Eine Ausein-
andersetzung mit den anthropologischen Untersuchungen Theunissens aus
methodologischer Sicht«, in: Thiemo Breyer u. a. (Hg.), Interdisziplinäre
Anthropologie. Leib – Geist – Kultur, Heidelberg: Winter 2013, S. 255–285.
2.  Leben in der Zeit 41

die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen: die Immobilität und
Starrheit des Nichtvergehens, die Leere und Gestaltlosigkeit des
Jetzt, die Verschlossenheit und Undurchdringlichkeit der Zukunft,
die Last und Fessel des Vergangenen, aber ebenso das unaufhalt-
same Fließen, das Entgleiten der Zeit und das Sichverlieren in ihr,
die Knappheit und Befristetheit der Zeit, das Schwinden des Zusam-
menhalts und die Zerstreuung im desintegrierten Zeitfeld.
Aufs Ganze gesehen scheint es sinnvoll, im vielgestaltigen Be-
reich temporaler Organisation drei Kristallisationspunkte heraus-
zuheben. Ein erster bildet sich um den Gegensatz von Sammlung
und Zerstreuung. Dass wir uns im Fluss der Zeit abhanden kommen,
uns im Vergangenen nicht finden, uns in der Leere und Diffusion
der Gegenwart verlieren, in der dunklen Zukunft nicht erkennen,
sind akut erlebte Bedrohungen des Selbst in der Zeit. Dagegen ver-
langt das Leben, das im Zeitlichen zu sich kommen will, die innere
Sammlung, welche den wechselseitigen Zusammenhalt der Erleb-
nisse und Prozesse und deren Einswerden mit dem Selbst begründet.
Der zweite Kern des Zeitlichen liegt im Widerstreit von Vergehen
und Bewahren. Darin artikuliert sich die Urerfahrung der Tempo-
ralität. Menschen sind mit dem Vergehen aller Dinge konfrontiert
und der Vergängnis ihrer selbst ausgesetzt. Die radikalste Drohung
des Selbstverlusts liegt in der Sterblichkeit; die erste Gegenwehr ge-
gen die Not der Zeit liegt im Festhalten des Gewesenen. Das Ideal
der erfüllten Präsenz behauptet sich als erstes gegen die Auflösung
aller Dinge, gegen ihr Entgleiten ins Nicht-mehr-Sein. Dieser Wi-
derstand überlagert sich schließlich mit dem dritten Kristallisations-
punkt des Zeitlichen, der Dynamik von Gestaltung und Entformung.
Das Festhalten des Zeitlichen ist kein abstraktes Anhalten und Fi-
xieren, sondern ein strukturierendes Gestalten. Die Verwandlung
von Zeit in Sinn, die exemplarisch in der narrativen Organisation
geleistet wird, verleiht der verlaufenden Zeit die Konsistenz, die sie
erinnerungsfähig macht.
So konvergieren die drei Fluchtlinien in einem gemeinsamen Fo-
kus, die vereinigende Sammlung, das bewahrende Festhalten, die
gestaltende Strukturierung der Zeit. Sie bilden drei Knotenpunkte
der Erinnerung, die als ganze eine tätige Aneignung der Zeit und
ein Sichfinden des Menschen in der Zeit realisiert. Wenn Hegel die
»Ohnmacht des Lebens« darin sieht, dass in ihm »was anfängt und
was Resultat ist, auseinanderfallen«, so ist es erst die Erinnerung, die
über diese Unzulänglichkeit des bloß Lebendigen hinauskommt und
42 I.  Die Zeit des Lebens

die Zerstreuung der Zeit überwindet, dem Menschen ein strukturier-


tes Leben in der Zeit ermöglicht.10 Es ist eine zweifache Kraft, die
in dieser Stabilisierung zusammenwirkt, die Kraft des erinnernden
Festhaltens gegen den Sog des Vergehens und die Kraft der – tem-
poralen, narrativen, sinnhaften – Strukturierung des Lebens, in wel-
chem der Mensch sich findet und bei sich sein kann. Erst kraft der
Formgebung wird Erinnerung zur Potenz der Bewahrung (wie nach
Hegel erst die sittliche Schöpfung dem »Verschlingen der Zeit« ein
Ziel und Ende gesetzt hat11). In gestaltender Erinnerung setzt sich
der Mensch mit der ursprünglichen Herrschaft der Zeit auseinan-
der, mit dem Zerfallen und Vergehen der Welt und seiner selbst. In
zugespitzter Weise findet die Erfahrung dieser Herrschaft in einer
besonderen Phase des Lebens statt, in der Begegnung mit dem Alter,
dem Sterben, dem Tod. Auf sie ist ein Blick zu werfen, bevor die
Gegenmacht der Memoria zur Sprache kommt.

2.4  Alter und Sein zum Tode

Alle Probleme des Umgangs mit der Zeit werden im Alter verschärft
erfahren. Man könnte das Alter zu den von Karl Jaspers bespro-
chenen Grenzsituationen zählen, in denen die Grundverfassung des
menschlichen Daseins exemplarisch hervortritt.12 Für das Alter be-
trifft dies das Schwinden der Zeit ebenso wie die Herausforderung,
sein Leben zu gestalten und sich darin gegenwärtig zu werden, eine
Herausforderung, die mit voranschreitender Lebenszeit dringlicher
und schwieriger zugleich wird. Entsprechend kommt dem Akt des
Erinnerns, der sich dieser Herausforderung stellt, gesteigerte Rele-
vanz zu. Es ist zu verdeutlichen, worin diese Verschärfung besteht
und was sie für das Problem der Erinnerung bedeutet.
Verschärft ist als erstes das Vergehen der Zeit; dies durch den
zweifachen Umstand, dass immer weniger Lebenszeit übrig bleibt
und dass das Verrinnen der Zeit immer unaufhaltsamer, endgültiger

10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der


Geschichte, in: Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1970, Bd. 12, S. 104.
11 Ebd., S. 102.
12 Vgl. zum Folgenden Claudia Bozzaro, Das Leiden an der verrinnenden
Zeit, a. a. O., S. 101.
2.  Leben in der Zeit 43

wird. Ja, vielen scheint die Zeit immer schneller vorüberzugehen,


nicht wegen der Annäherung an das bevorstehende Ende, sondern
wegen der schwindenden Lebensdynamik, der zunehmenden Mo-
notonie des Verlaufs. In eigenartiger Metamorphose wandelt sich die
Beschleunigung des potenzierten Tätigseins in den Sog des Leerwer-
dens und Entgleitens. Einhergehend mit dem Verlust der Lebens-
kraft scheint der Zeitmangel, das Bewusstsein der begrenzten Frist
akuter, es fehlt mit der Initiative auch die Zeit für eine Gestaltung
der Zukunft. Immer mehr Pläne müssen unerfüllt bleiben, am Ende
droht, wie Proust befürchtete, auch die Zeit zum Lebensrückblick
dem Menschen zu entgleiten. Der Wettlauf mit der Zeit tangiert
nicht nur inhaltliche Lebensprojekte, sondern ebenso die refle-
xive Bemühung um ein Zurechtkommen mit seiner Lebenszeit, die
Verfügbarkeit von Sinnressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten.
Paral­lel zum realen Entschwinden verschärft sich das Bewusstsein
der sich entziehenden Zeit; das Leiden entspringt der existentiellen
Zeitnot wie ihrem lastenden Gewahrwerden. Die Verknappung der
Zeit überlagert sich mit ihrer Unumkehrbarkeit, der Endgültigkeit
des Lebensverlaufs, die ein Neubeginnen, eine korrigierende Wie-
derholung untergräbt. Mit dem Alter, so Thomas Rentsch, »radika-
lisiert sich die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens«, intensiviert
sich die Erfahrung der Endlichkeit, die nicht nur die Begrenztheit
der verbleibenden Zeit und Lebenskraft bedeutet, sondern auch
die zunehmende Unabänderlichkeit, die Unaufschiebbarkeit der
gesetzten Frist und Endgültigkeit der geronnenen Lebensgestalt.13
Das Bewusstsein der nicht-realisierten Vorhaben verbindet sich mit
den unterlassenen Möglichkeiten und verpassten Chancen in einer
Schließung der Zukunft, welche der Gegenwart ihr Lebenspoten-
tial entzieht.
In solcher Wahrnehmung treten allgemeine Züge der Zeitlichkeit
des Lebens hervor, die erst der alternde Mensch in ihrer Stringenz er-
fährt. Erst ihm werden die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen,
die Endlichkeit und Irreversibilität der Zeit zum unabweisbaren Teil
des eigenen Lebensvollzugs, wie generell erst der alternde Mensch
das Problem des Alters, auch das des Todes, in seiner existentiel-

13 Vgl. Thomas Rentsch, »Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische


Ethik der späten Lebenszeit«, in: Thomas Rentsch / Morris Vollmann (Hg.),
Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen, Stuttgart: Reclam
2012, S. 189–205, hier S. 197, 203.
44 I.  Die Zeit des Lebens

len Tragweite erfasst. Erst die »grausame Entdeckung« des eigenen


Alterns, so Proust, macht deutlich, dass das Alter »von allen Wirk-
lichkeiten vielleicht diejenige ist, von der wir im Leben am längsten
eine rein abstrakte Vorstellung haben.«14 Aufdringlich wird dieses
Bewusstsein im Erleben des körperlichen Verfalls, aber ebenso in der
Dissoziation von einer Welt, die zunehmend nicht mehr die eigene
ist. In eindringlichen Passagen hat Jean Améry Linien dieser Erfah-
rung ausgezogen, Phänomene der sozialen Vereinsamung ebenso
wie des kulturellen Alterns beschrieben, des Nicht-mehr-Verstehens
von Techniken und Kommunikationsformen, auf welche sich einzu-
lassen der alte Mensch, ohne Hoffnung auf wirkliche Partizipation,
gleichwohl genötigt ist. Es sind Erfahrungen der Emigration aus ei-
ner Welt, die nicht mehr die eigene sein wird (wie selbst die respekt-
vollen jungen Zuhörer dem gealterten Sartre »seine letzten Lebens-
jahre rauben – durch die bloße Tatsache ihres Jungseins und ihres
Hinausschreitens in eine Welt, die ihnen und nur ihnen gehört«).15
Ausgeschlossen aus der Welt, vorausgreifend von der Gesellschaft
verabschiedet wird »nur, was die Zeichen des Nichts schon auf der
Stirn trägt.«16 Der Entzug der Zukunft ist Kehrseite des inneren
Verlusts, den das Alter körperlich und seelisch austrägt. Darin über-
lagert sich das Schwinden der Zeit mit dem Nahen des Todes, jener
schlechthinnigen Negativität, die in der Logik des Lebens keinen
Ort zu haben scheint und sich der verstehenden Assimilation wi-
dersetzt.17 Es ist das Gewahrwerden des unwiderbringlichen Ver-
lusts, das Stehen vor dem Nichts und Verlieren seiner Welt und der
geliebten Menschen, das auch vom Todkranken und Sterbenden als
Erschütterung, als tiefe Angst und unüberwindlicher Schmerz erlebt
werden kann.18 In der Konfrontation mit ihm wie mit dem Erleben
(und den äußeren Symptomen) des Alterns ist der Mensch zweifach
herausgefordert, sowohl im Bemühen um Sinn wie im praktischen

14 Marcel Proust, A la recherche du temps perdu III, a. a. O., S. 932 (dt. Bd. 7,
S.  354 f.).
15 Vgl. Jean Améry, Über das Altern, a. a. O., S. 81.
16 Ebd. S. 77.
17 Ebd. S. 111 ff.
18 Vgl. Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar
nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln: Kiepenheuer & Witsch
2009, S. 110, 229, 231 (»Die Vorstellung, dass diese Welt gelöscht sein wird,
dass die geliebten Menschen weg sein werden, dass man all die Schönheit
dieser Erde nicht mehr sehen wird, ist einfach kaum zu ertragen«), 247.
2.  Leben in der Zeit 45

Verhalten: zwischen sinnhafter Integration und Entfremdung, be-


jahender Anerkennung und Revolte. Im Alter sich selbst zu sein
verlangt den diffizilen Ausgleich zwischen Würde, Endlichkeit und
Lebenswillen.
Wenn wir diese Konstellation auf unser Leitthema zurückbezie-
hen, so geht es um die Frage, wieweit in der Situation des Alters
das Leben in der Zeit gelingen kann. Zunächst scheinen im Maße
der verschärften Zeitnot die Bedingungen eines gelingenden Selbst-
seins in zweierlei Hinsicht erschwert. Auf der einen Seite verliert
die Selbsteinholung, um deren Möglichkeit sich schon Proust ange-
sichts der entschwindenden Zeit geängstigt hatte, ihren Raum und
ihr lebenszeitliches Fundament. Das Hinausschieben des Alters,
Verdrängen des Todes, welches die natürliche Haltung des tätigen
Lebens prägt, setzt sich im Fernhalten der Lebensreflexion ins Al-
ter hinein fort. Auf der anderen Seite verbindet sich das Altern mit
der Erosion jener Lebenskraft, die zugleich mit der Sinngebung zur
temporalen Strukturierung der Existenz befähigt. Es ist der Ver-
lust der lebensweltlichen Quellen, deren der Mensch zur narrati-
ven Synthetisierung und inhaltlichen Gestaltung seines Welt- und
Selbstbezugs, zur Aneignung seiner Lebenszeit bedarf. So geht er
der Zeit auf zwei Ebenen zugleich verlustig, auf der Ebene der sich
real entziehenden, sich verflüchtigenden Zeit ebenso wie seiner ei-
genen Fähigkeit, die konkrete Ordnung der Lebenszeit zu stiften,
Kommendes aufgehen zu lassen und Vergangenes zu vergegenwär-
tigen. Das Junktim zwischen der Kraft des Bewahrens und jener des
Gestaltens, das die Erinnerungsarbeit durchzieht, bestätigt sich in
ihrem Absterben. Zugleich mit der Zeit schwindet das Vermögen
der temporalen und sinnhaften Strukturierung. In dieser Überlage-
rung verhärtet sich das Schwinden der Zeit, wird es zum unwieder-
bringlichen Verlust, strahlt es zuletzt auf das Leben als ganzes aus,
welches brüchig, leer wird, dem Menschen nicht mehr in lebendiger
Gegenwart zueigen ist.
Der sich vertiefenden Negativität des Zeitlichen antwortet die
Gegenutopie einer wiedergefundenen Zeit, welche nicht nur ver-
gangene Zeiten, sondern die innere Macht der Lebensform wieder-
gewinnen will. Dem Entschwinden der narrativen Kraft steht der
Wunsch eines weitergeführten, zur Vollendung geführten Erzählens,
eines Sicherzählens bis ans Ende gegenüber.19 Im Negativen wie im

19 Vgl. unten Kap. 7.


46 I.  Die Zeit des Lebens

Positiven verschränkt sich die Erfahrung des Alters mit der Her-
ausforderung der Zeit und dem Interesse des Erzählens und Sich-
Erzählens. In den Blick kommen Leitbilder, die sich jener Negati-
vität der Zeit wie deren Radikalisierung im Alter entgegenstellen:
Bilder des erfüllten, befriedeten Alters wie des Ganzseinkönnens
und Zusichkommens in der Zeit. Ihren umfassenden Horizont bil-
det die Erinnerung.
II.
Die Kunst der Erinnerung
3.  Die Aneignung des Vergangenen

3.1  Der Widerstand gegen das Vergessen

Erinnerung ist die Gegenkraft zur Ohnmacht des Lebens. Sie wi-
dersetzt sich dem Verrinnen der Zeit, sie hält Vergangenes fest und
befestigt den Zusammenhalt des Gewesenen mit dem Jetzt. Ihre
erste Tat ist das Bewahren, ihr tiefster Impuls der Widerstand gegen
das Vergehen. »Nichts ist vergessen und niemand ist vergessen«, so
lautet das erste Bekenntnis des historischen Gedächtnisses – gegen
das Zunichtewerden des Vergänglichen, sein Unsichtbar- und Un-
wirklichwerden, sein Entschwinden aus der Welt der Menschen. Der
Satz – eine Zeile der russischen Lyrikerin Olga Bergholz – steht für
ein Versprechen und eine Forderung angesichts des Abgrunds der
Zerstörung und des gewaltsamen Verstummens1 – unter anderen
Umständen auch für eine Beschwörung angesichts des verdrängten
Gedächtnisses.2 Auch losgelöst von solchen Bezügen kann er als
Leitidee der Historie dienen, deren Grundhaltung, vorgängig zu
allen besonderen Zwecken des Gedenkens, der Pietät des Bewah-
rens3 entstammt und deren treibendes Motiv durch den Wunsch,

1 Die zum Leitmotiv gewordene Zeile stammt aus der Zeit der Belagerung
Leningrads und steht auf dem Gedenkstein des Piskarowskoje-Friedhofs in
Leningrad.
2 Für die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja »ersetzte«
die Zeile, die alle im Herzen trugen, in der Nachkriegszeit »die Erinnerung
im ganzen Land, man entging ihr nicht, denn sie wurde zur Prophezeiung,
mit ihrer offenbaren Wahrheit und den versteckten Lügen«: Vielleicht Esther,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013, S. 40.
3 So definiert Nietzsche die Haltung der von ihm so genannten ›antiquari-
schen‹ Historie: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Sämt-
liche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und
50 II.  Die Kunst der Erinnerung

dass Vergangenes nicht auf immer vergangen sei, bestimmt ist. Als
idealen Fluchtpunkt solchen Erinnerns hat man die Unvergäng-
lichkeit alles Vergänglichen4 bezeichnet. Menschliches Leben strebt
danach, Leben zu erhalten und weiterzuführen. Sein ursprüngliches
Wollen gilt dem Leben, seine ursprüngliche Abwehr der Erosion,
die der inneren Schwäche des Lebens, aber auch der auflösenden
Macht der Zeit geschuldet ist. Es geht in dieser Abwehr nicht nur
um das simple Vorübersein, um den einfachen temporalen Sachver-
halt, dass etwas, was einst war, jetzt nicht mehr ist. Es geht zugleich
um den substantielleren Verlust, dass etwas, das einst wirklich und
Teil des Lebens war, sich in Nichts aufgelöst hat, dass etwas, um
das es den Menschen ging und das dem Leben wichtig war, seine
Bedeutung verloren hat, nicht mehr die Gegenwart prägt und eine
Zukunft eröffnet; es geht darum, dass ein vergangenes Erlebnis,
eine vergangene Tat nichtig geworden ist. In gewisser Weise ist das
Zunichtewerden durch den Gang der Zeit nicht nur ein späteres
Nicht-mehr-Sein, sondern wirkt es zurück, löst es das Vergangene
selbst in seinem Sinn und Gewesensein auf. Dass etwas umsonst
war, dass es gar nicht wirklich war, ist die tiefste Angst, die Urangst
im Erleben der Vergänglichkeit aller Dinge. Weit davor entfernt,
nur unserem Bewusstsein zu entschwinden, vergessen zu werden
und auf immer vergessen zu sein, droht Vergangenes an ihm selbst
dem Nichtsein, der Nichtigkeit anheimzufallen. »Vergänglichkeit
und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern des Vergessens« – so
umschreibt Christa Wolf den Horror vor dem Vergessen und den
unaufhaltsamen Verlust, gegen den sie anschreibt.5 Die Kultur des
Gedächtnisses ist kein bloßes Dispositiv im Raster der Temporali-
tät, keine bloße Gegenbewegung zur Urprozessualität alles Seien-
den. Sie ist ein ursprünglicher Protest gegen das Vergehen und das
Bemühen um eine Rettung, die dem Leben, der Welt, dem Selbst
zugute kommen will.
Der erste Reflex jenes Horrors vor dem Vergessen, jener Urangst
vor dem Entschwinden ist das Festhalten. Alles aufschreiben, damit

Mazzino Montinari, München / Berlin / New York: de Gruyter / dtv, Bd. 1,


S. 265 ff.
4 Vgl. Hans-Rudolf Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik
und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1972, S. 324.
5 Christa Wolf, Ein Tag im Jahr. 1960–2000, Frankfurt am Main: Suhrkamp
2008, S. 10.
3.  Die Aneignung des Vergangenen 51

es nicht verloren geht, damit nichts ohne Zeugnis und ohne Spu-
ren bleibt, so lautet das erste Gebot des Gedächtnisses. Wenn die
Pflicht des Nichtvergessens und das fundamentale Interesse des Er-
innerns im kulturellen Diskurs in vielfältiger Weise mit den Inhalten
des Gedächtnisses, der Unerledigtheit dessen, was nicht preisgege-
ben werden darf, verschränkt wird6, so gibt es vorgängig dazu den
elementaren Widerstand gegen das Vergehen und das Vergessen als
solches. Dennoch ist das Gebot des Festhaltens und Aufschreibens
erst eine abstrakte Anweisung, ein leerer Reflex, der nur unzuläng-
lich auf die Frage nach dem Wozu der Erinnerung antwortet. Alles
niederschreiben, alles registrieren ist kein Ideal, kein inneres Ziel
des historischen Sinns. Es entspräche in seiner Formalität dem, was
Arthur C. Danto als Zerrbild einer ›Idealen Chronik‹, einer simulta-
nen und integralen Registrierung von allem, was geschieht, gezeich-
net hat7 – das Gedächtnis als eine Art universaler Festplatte, auf der
alles Reale protokolliert und als Dokument niedergelegt wäre. Es
wäre eine leere Verdoppelung, die offenkundig nicht nur der Praxis
der Historie, sondern auch dem lebendigen Interesse, das wir am
Erinnern nehmen, fremd ist. Zur Historie gehört nicht nur die kon-
stitutive Selektivität, die aus der Vielfalt der Daten eine bestimmte
Geschichte konfiguriert, wie schon alles Wahrnehmen und Spre-
chen unhintergehbar perspektivisch ist. Zum Erinnern gehört da-
rüber hinaus der konstitutive Bezug zum Subjekt, für welches die
Vergegenwärtigung des Vergangenen ihr bestimmtes Profil und ihre
lebensweltliche Relevanz gewinnt.
Zum Tragen kommt die wesensmäßige Reflexivität von Ge-
schichte und Gedächtnis, als Vergangenheitsbezug von einem, um
dessen Vergangenheit – und um das es im Vergangenheitsbezug –
geht. Idealtypisch ist dies die Erinnerung von Subjekten, die sich
auf ihre Geschichte besinnen, ihren Lebenweg abschreiten und
nachzeichnen; analog wie beim Individuum findet dieser Rückbe-
zug beim Kollektiv statt. Zwar ist die selbstbezügliche Perspektive
nicht alternativelos und noch weniger in sich geschlossen. Es gibt
gute Gründe, auch in der Geschichte von Subjekten gerade die ob-

6 Darauf ist unten (Kap. 8) zurückzukommen; vgl. Myriam Bienenstock


(Hg.), Devoir de mémoire? Les lois mémorielles et l’Histoire, Paris: Éditions
de l’éclat 2014.
7 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1974, S. 241 ff.
52 II.  Die Kunst der Erinnerung

jektiven Spuren und gegenständlichen Sedimentierungen als Fakto-


ren des Werdegangs und der historischen Prägung ernst zu nehmen
und herauszuarbeiten. Nicht umsonst hat Sigmund Freud die Ar-
chäologie als Leitmetapher für die Sondierung der Tiefenschichten
und Entwicklungsformen der Seele gewählt, und Walter Benjamin
hat im gleichen Geiste das Erdreich, »in dem die alten Städte ver-
schüttet liegen«, als Bild für das in der Sprache aufbewahrte Ge-
dächtnis verwendet.8 In historisch-vergangenheitsbezogener Erkun-
dung ist die Integration der Außenperspektive, das Sichabarbeiten
an dem, was nicht vom Subjekt kommt und ihm nur partiell zugäng-
lich ist, grundlegend für die Erschließung des Selbst. Gleichwohl
bleibt auch die objektivierend-distanzierende Betrachtung an das
Selbstverhältnis zurückgebunden, bildet sie einen – wesentlichen –
Umweg auf dem Wege der Selbstverständigung.9 Erinnerung geht
nicht im Raster der retrospektiven Rekonstruktion objektiver Fak-
ten und Prozesse auf. Auch die Geschichts- und Gedächtniskultur
hat ihren primären Fokus nicht notwendig in der wissenschaftlichen
Erforschung vergangener Zeiten und Geschehnisse. Ihr Interesse
und ihre Leistung können ebenso, wie Y. Yerushalmi mit bezug auf
die jüdische Erinnerungskultur festhält, auf die Verständigung über
den ›Sinn‹ der Geschichte, die interpretierende Selbstsituierung in
der Zeit gerichtet sein.10 Der Sinn aber ist nicht ein objektives Inte-
grationsschema in der Konfigurierung der Teile eines Ganzen (wie
in der Beschreibung der Funktion eines Mechanismus), sondern die
Deutungsperspektive, unter welcher Subjekte Geschehnisse in ih-
rer Lebensrelevanz durchdringen und als Teil des Lebens – ihres
Lebens – aneignen.

8 Sigmund Freud, »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva«, in:
Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 51972, Bd. VII, S. 29–125;
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972,
Bd. IV, S. 400 f.
9 Vgl. Paul Ricœur, »La fonction herméneutique de la distanciation«, in:
Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris: Seuil 1986, S. 101–117.
10 Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte
und jüdisches Gedächtnis, Berlin: Wagenbach 1996.
3.  Die Aneignung des Vergangenen 53

3.2  Das Lesen des Lebenswegs

So gelangen wir von der Erinnerung zurück zur Beschreibung des


Lebens. Den Weg des Lebens zu gehen, ihn weiter zu gehen, ihn
als durchlaufenen gegenwärtig zu halten und ihn erinnernd zu wie-
derholen, sind die auseinandertreibenden Zeitformen, in denen es
dem Menschen in seinem Leben um sein Leben geht. Dass unter
ihnen der Erinnerung ein herausgehobener Stellenwert zukommt,
hängt zuallererst damit zusammen, dass in ihr das Leben zu einer
besonderen Präsenz für sich selber gelangt. Seneca hat dies in seinen
Reflexionen über die Kürze des Lebens im Kontrast zur inneren
Unruhe der ›Beschäftigten‹ betont, welche »keine Zeit haben, auf
Vergangenes zurückzublicken« und ihr Leben in der verrinnenden
Zeit »in einen Abgrund« entschwinden sehen: Demjenigen aber,
der »alle Phasen seines Lebens ruhig zu durchlaufen vermag«, wird
die Erinnerung zu einem dauernden, »heiligen und geweihten Teil«
der Zeit, in welchem »alle Tage aus der Vergangenheit g­ egenwärtig
werden.«11
In ungezählten Varianten spiegelt sich das Pathos dieser Selbst-
präsenz in den Zeugnissen der Tagebücher und Sudelbücher wider,
in den Familienalben und Gruppenerzählungen, Lebensnotaten und
Weblogs, in denen Millionen ihr tägliches Leben artikulieren, es an-
deren präsentieren und in den unermesslichen Speicher des Inter-
net, das Gedächtnis der Menschheit einschreiben.12 Dabei geht es
um mehr als um das temporale Festhalten gegen die Verflüchtigung
des Geschehens und das Zerrinnen der Zeit. Zumal die deskriptiv-
narrative Niederschrift steht im Dienste einer Kontinuitätssicherung
und inneren Strukturierung, die auf der Bedeutsamkeit der Episoden,
ihrem Ort im Leben der Menschen beharrt und darin mit der eigenen
Gestalt- und Einheitsbildung des Lebens kommuniziert, an welche
sie anschließt, die sie überformt und ablöst, auf die sie zurückwirkt.
Schon das Leben selbst kann in dieser Sicht als eine Art »Biogra-

11 Seneca, De brevitate vitae. Von der Kürze des Lebens, 10.2–5, Stuttgart:
Reclam 1977, S. 31.
12 Stellvertretend Georg Christoph Lichtenberg: »Man sollte alle Menschen
gewöhnen, von Kindheit an in große Bücher zu schreiben […] Was für ein
Vergnügen würde es mir sein, jetzt meine Schreibbücher alle zu übersehen.
Seine eigene Naturgeschichte!«: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Pro-
mies, Bd. 1: Sudelbücher 1, München: Hanser 1968, S. 654 f. (J 26).
54 II.  Die Kunst der Erinnerung

phie-Arbeit« erscheinen13, als ein Zusammenfügen der »Zeit-Stü-


cke«, »hinter unserem Rücken«, aber wie »nach unserem geheimen
Bedürfnis«, »spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger«
als wir es vermocht hätten, so dass sie sich unvermerkt in »gelebte
Zeit«, vielleicht in ein Schicksal, »jedenfalls in einen Lebenslauf« ver-
wandeln.14 Diesen erinnernd heraufzurufen, ihn neu zu gestalten und
gegenwärtig werden zu lassen ist ein privilegiertes Medium der Be-
zugnahme auf sein Leben und der Begegnung mit sich selbst.
Jenseits der temporalen Kontinuität und synthetisierenden Struk-
turierung geht es dem Erinnern um einen Selbstbezug, in welchem
das Subjekt seiner selbst gewahr wird. Erinnerung ist ein Gang der
Selbsterkenntnis, des Vertraut- und Bekanntwerdens mit sich, wel-
cher vielfältigen Wegen, Umwegen und Wendungen folgt und die
Schranken der externen Beobachtung wie der Introspektion über-
steigt. Es ist ein Weg der Annäherung, der nicht eindeutig ist und
nicht offen gebahnt vor Augen liegt, sondern in vielen Operatio-
nen der indirekten Erschließung, der erklärenden Rückführung und
des konstruktiven Entwerfens Horizonte des Verstehens aufspannt,
Bilder schafft und Sinnformen erprobt. Wie historische Erkennt-
nis generell das Durchdringen komplexer Verflechtungen voraus-
setzt, so ist historische Selbstverständigung mit der Vielschichtigkeit
und Dunkelheit des Selbst konfrontiert. Sich über seine Geschichte
kennenlernen heißt auch sich mit Zonen der Fremdheit und Un-
übersichtlichkeit auseinandersetzen: Erinnerungsarbeit ist auch ein
Sichabarbeiten an dem, was sich der Erinnerung, dem Verstehen,
der sinnhaften Integration entzieht. Gerade das Eigene kann uns
fremd, in besonderer Weise verdeckt und undurchdringlich sein.
Doch ungeachtet der Widerspenstigkeit ihres Gegenstandes bleibt
Erinnerung grundlegend durch die Intention des Verstehens und
des Sich-über-sich-Verständigens geleitet. Erinnerung ist ein Bemü-
hen um Aneignung und Selbstwerdung, eine Gegenwehr dagegen,
dass Vergangenes, das Teil unserer selbst ist, uns undurchschaut und
äußer­lich bleibe. Auch wenn sie den Umweg über das Andere und
die historische Objektivität nimmt, ist Erinnerung im Ganzen ein
Zusichkommen und Sichselbsterfahren. Sie kommt, wie Dieter Hen-
rich formuliert, der »Sammlung des Lebens« zugute, indem sie »auf

13 Vgl. Gernot Böhme, Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts, Mün-
chen: Fink 2012, S. 95.
14 Christa Wolf, Ein Tag im Jahr, a. a. O., S. 9.
3.  Die Aneignung des Vergangenen 55

alles, was Lebensbedeutung hatte, zurückkommt, um an ihm festzu-


halten« und ihm Eingang »in das ›Innere‹, das Zentrum des eigenen
Lebens« zu verschaffen, »von dem her sich die Lebensbedeutung
des Erinnerten aufbaut und bemisst.«15 Dieses Insichgehen ist eine
Komplementärbewegung zum Zurückgehen in der Zeit und Herauf-
holen des Vergangenen in die Präsenz. Das Zueigenmachen des Ge-
wesenen, des Vergessenen und Entschwundenen, ist eine Dimension
der Überwindung äußerer und innerer Fremdheit. Die temporale
Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen, die sinnhafte Strukturierung
und Gestaltung, die lebensweltliche Aneignung und die historische
Selbstverständigung sind ebensoviele Facetten der Erinnerung als
integrativem Moment des Lebensvollzugs.

3.3  Ganzheit und Identität

Solche Erinnerung greift auf das Leben als ganzes aus, um darin sich
selbst gegenwärtig zu werden, sich zu erkennen und seinem Leben
eine bestimmte Gestalt zu geben. Es ist ein Zurückholen und Wie­
der­aneignen dessen, was uns ohne Gedächtnis unaufhaltsam ent-
gleitet, was wir selbst verlassen, zunehmend aus uns abgedrängt ha-
ben, was sich uns verbirgt und uns schrittweise fremd geworden
ist. Es ist ein Wiederaufnehmen des Lebens von seinem Anfang her,
ein Wiedererwecken dessen, was uns und sich selbst abhanden ge-
kommen ist, was sich vielleicht nie entwickelt hat und sich nie zu
eigen war, ein Nachholen des nicht gelebten Lebens, wie es in der
Kindheitserinnerung aufscheinen kann.16 Solche Aneignung voll-
zieht sich nicht im Immediatismus einer Selbstpräsenz im Gewe-
senen, sondern in einer produktiven Neukonstellierung des durch
den Lebensverlauf gestifteten biographischen Zusammenhangs. Sie
ist der Umweg, über welchen sich die erkenntnismäßige Erschlie-
ßung und reflexive Aneignung des Lebens vollzieht. Das Schreiben
des Lebens ist das konkrete Medium der entziffernden Lektüre, der
in der Rückschau durchgeführten Hermeneutik des Selbst. In ihr
verschränkt sich die temporale Synthesis, welche die Ohnmacht des

15 Dieter Henrich, Endlichkeit und Sammlung des Lebens, Tübingen: Mohr


Siebeck 2009, S. 51.
16 Vgl. Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin / Weimar: Aufbau Verlag 1976,
S. 14 ff.,
56 II.  Die Kunst der Erinnerung

auseinanderfallenden Lebens überformt, mit der Verständigung über


sich, in welcher das Subjekt seine Bestimmtheit und Ganzheit findet.
Ein Leitbegriff, unter dem das Ineinander von Selbstwerdung und
Erinnerung zur Diskussion steht, ist der Begriff der Identität. Men-
schen gewinnen über die Erinnerung ihre Identität. Geschichte gilt
als Substrat der Identitätsbildung, der Herausbildung der jeweiligen
Gestalt und Eigenheit, Historie als Medium der Vergewisserung, der
Darstellung und interpretativen Konstruktion eigener und fremder
Identität. Allerdings sind solche Formulierungen so explikations-
bedürftig wie der Begriff selbst. Der Zusammenhang von Erinne-
rung und Identität ist unter vielfachen Facetten im Feld der Sozial-,
Kultur- und historischen Wissenschaften zum Thema geworden.17
An dieser Stelle soll indes nicht vom breitgefächerten kulturwissen-
schaftlichen Diskurs, sondern von formalen Unterscheidungen aus-
gegangen werden, die sich im Kontext der Philosophie mit dem Be-
griff verbinden. Als basale Unterscheidung fungiert normalerweise
die zwischen numerischer und qualitativer Identität.18
Die numerische Identität steht für die Unterscheidung des einen
von anderen seiner Art, die heraushebende ›Identifikation‹ des Ein-
zelnen unter anderen. Dass Menschen durch Geschichte ihre unver-
wechselbare Besonderheit erwerben, dass sie sich erinnernd ihrer
Singularität, ihres Unterschiedenseins von anderen vergewissern, ist
ein Grundgedanke der historischen Kultur, der sich in deren Me-
thodologie widerspiegelt; die neukantianische Gegenüberstellung
von Natur- und Geschichtswissenschaft ordnet der letzteren das

17 Stellvertretend sei auf die vier Bände Erinnerung, Geschichte, I


­ dentität 1,
2, 3, 4 (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998) der Forschungsgruppe des Bie-
lefelder Zentrums für interdisziplinäre Forschung (Jörn Rüsen) zur Histo-
rischen Sinnbildung verwiesen: Erzählung, Identität und historisches Be­
wusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, hg. von
Jürgen Straub; Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zu­
gänge zum Geschichtsbewusstsein, hg. von Jörn Rüsen und Jürgen Straub;
Identitäten, hg. von Aleida Assmann und Heidrun Friese; Die Vielfalt der
Kulturen, hg. von Jörn Rüsen, Michael Gottlob und Achim Mittag.
18 Vgl. Emil Angehrn, Geschichte und Identität, Berlin / New York 1985,
S. 231–340. – Eine andere Unterscheidung ist die von Paul Ricœur als Leit-
differenz der ›narrativen Identität‹ herausgearbeitete Dialektik von Selbig-
keit und Selbstheit (mêmeté-ipséité, idem-ipse): Paul Ricœur, Temps et récit,
Tome III: Le temps raconté, Paris: Seuil 1985, S. 352–358; Soi-même comme
un autre, Paris: Seuil 1990, S. 167–180; Parcours de la reconnaissance. Trois
études, Paris: Éditions Stock 2004, S. 163–214; siehe unten Kap. 6.1.
3.  Die Aneignung des Vergangenen 57

Interesse am Individuellen (Rickert) beziehungsweise die individu-


alisierende Betrachtung (Windelband) zu. Auch Gesellschaften und
kulturelle Gebilde spezifizieren sich im Laufe der Zeiten und wer-
den durch das, was ihnen geschieht und was auf sie einwirkt, in ihrer
Eigen­art geprägt. Für zeitlich existierende Entitäten hat die ›Indi-
viduation‹ – neben der vorgegebenen, etwa genetischen Singulari-
tät – wesentlich mit der durchlaufenen und angeeigneten G ­ eschichte
zu tun.
Diese Unterschiedenheit von anderen ist in klassischen Debat-
ten zur personalen Identität eng mit der Identität-über-die-Zeit ver-
woben, mit der Frage, ob jemand über die Zeiten hinweg derselbe
geblieben ist, beziehungsweise der Frage, inwiefern zwei zeitlich
auseinanderliegende Konfigurationen Instanzen desselben – dessel-
ben Staats, derselben Tradition – sind. Die Selbigkeit (entsprechend
der basalen Wortbedeutung von identitas, idem) steht ihrerseits in
privilegiertem Konnex mit Geschichte und Erinnerung, sofern sie
auf deren spezifische Selbstbezüglichkeit verweist. Im Sich-Erin-
nern an eigenes Tun und Erleben begegnet sich der Mensch in sei-
ner unvertretbaren Selbigkeit: Er selbst ist es, der die Frage nach
der Vergangenheit stellt, der sich in verblassten Erinnerungen an
seine Kindheit, in verlorenen Hoffnungen, erlebten Freuden, über-
standenen Schmerzen wieder erkennt, sich darin als er selbst gegen-
wärtig wird. Was in moralischer Hinsicht, im Blick auf Schuld und
Verantwortung, von offenkundiger Relevanz ist, ist ebenso für das
allgemeine, affektive Betroffensein durch die eigene Geschichte als
Geschichte meiner selbst von Belang. Auch wenn Erinnerung und
Gedächtniskultur sich nicht im Bezug auf das Eigene erschöpfen,
sondern gerade im Verhältnis zum Anderen und Fremden eine genu-
ine Dringlichkeit besitzen können, kommt ihnen im Selbstbezug des
Selben eine spezifische Gestalt und ein besonderes Interesse zu. Der
Mensch hat nicht einfach eine Geschichte, er hat seine Geschichte,
die ihn betrifft und die er erzählt.
Komplementär zur numerischen steht die qualitative Identität zur
Diskussion. Sie steht für die Gleichheit verschiedener Individuen
derselben Art beziehungsweise die Identifikation von etwas ›als et-
was‹ (als Exemplar einer Spezies, Träger einer Berufsrolle). Nicht
wer (von allen) wir sind, sondern was bzw. wie wir durch die Ge-
schichte geworden sind, als was wir uns erinnernd erkennen, steht
in Frage. Erinnerung gilt hier, jenseits der Individualität und der
Selbigkeit über die Zeit, dem inhaltlichen Reichtum dessen, wozu
58 II.  Die Kunst der Erinnerung

Menschen im Laufe ihres Lebens geworden sind. Das Interesse des


Erinnerns gilt nicht der abstrakten Vergewisserung des Unterschie-
denseins von anderen und Mit-sich-Identischseins, sondern demje-
nigen, was wir im Durchlaufen unserer Geschichte erfahren, getan
und erlitten haben, was wir als Resultat dieses Prozesses geworden
sind. Es ist das Interesse an einer materialen Aneignung der Ge-
schichte, die unter ganz verschiedenen Kriterien wahrgenommen
und beurteilt werden kann: im Blick auf den Wert der Erlebnisse und
Taten, auf die Verknüpfung der Episoden unseres Werdens, die Ge-
stalt oder Brüchigkeit des Lebenslaufs, die Entwicklung und Gerich-
tetheit, Konsistenz oder Widersprüchlichkeit der Geschichte. Im
Spiel ist dabei sowohl die inhaltliche Seite des Gedächtnisses, das
zur Grundlage historischer Selbsterkenntnis wird, wie der Form­
aspekt der erinnerten Geschichte, die zwischen Schlüssigkeit und
Zerstreuung, Ganzheit und Fragmentierung oszillieren kann. Es ist
eine offene Frage, wieweit wir zum einen uns mit den Phasen unserer
Geschichte identifizieren können, wieweit wir vergangene Hand-
lungen und Widerfahrnisse mit unseren Wünschen und Werten, mit
unserem Selbstbild in Übereinstimmung bringen, sie als eigene aner-
kennen und als Teil unseres Selbst integrieren können, zum anderen
aber auch, in welcher Weise die Geschichte einen Zusammenhang
bildet und zur Grundlage eines gelingenden Selbstverhältnisses im
Ganzen des Lebens wird. Die Rede von geschichtlicher Identität
bezieht sich zumeist auf diese ›qualitative‹ Seite, auf die Frage, wie
jemand durch seine Geschichte geprägt worden ist, von ihr seine
Eigenart, seinen Charakter erhalten hat.
Bei alledem drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis zwi-
schen der Geschichte und dem Subjekt, das durch sie bestimmt wird,
näher zu fassen ist. Gibt es eine Identität des Subjekts, welche der
Geschichte voraus- und zugrundeliegt, oder bildet erst der Sinnzu-
sammenhang der erzählten Geschichte den Rückhalt und Kern der
personalen Identität? Lassen sich die Einheit der Geschichte und die
Identität dessen, von dem die Geschichte handelt, auseinander hal-
ten? Wenn diese Trennung bei Artefakten und historisch-kulturellen
Gebilden (romantische Kunst, deutsche Nation, literarische Figu-
ren) vielfach obsolet scheint, so erweist sie sich bei Personen und
Kollektiven als uneindeutig und durchaus klärungsbedürftig. Sie ver-
weist auf die grundsätzliche Frage, in welcher Weise überhaupt eine
Geschichte einem Geschichtsträger ›zukommt‹, inwiefern sie ›seine‹
Geschichte ist. Wenn wir idealtypisch bei der Person als Geschichts-
3.  Die Aneignung des Vergangenen 59

›Subjekt‹ ansetzen, so ist ihr die Geschichte als dasjenige zugehö-


rig, das von ihr bewirkt, von ihr erlitten, von ihr vergegenwärtigt
wird. Der Geschichte vorausliegend ist das Subjekt hier zunächst
insofern, als es mit einem raum-zeitlich bestimmten, körperlichen
Substrat verbunden ist, das nicht als solches durch die Wendun-
gen der Geschichte generiert wird. Offen hingegen ist, in welcher
Weise die Identität des Subjekts, sofern sie nicht in der numerischen
Identität des Körpers aufgeht, sondern das konkrete Unter­schieden-
und Sosein der Person meint, mit der Gestalt und der Einheit einer
Geschichte verflochten ist. Sozialpsychologische wie sprach- und
erzähltheoretische Argumente sprechen für eine starke Interferenz
beider Seiten, die Ricœur auf die Formel bringt, dass »die Identität
der Geschichte die Identität der Person ausmacht«.19
Allerdings ist es möglich, diesen Zusammenhang nach beiden da-
rin enthaltenen Schritten kritisch zur Diskussion zu stellen: im Blick
auf die Verflechtung zwischen Selbstsein und Lebensgeschichte wie
auf den Konnex von faktischem Lebenslauf und erzählter bzw. er-
zählbarer Geschichte.20 Es steht außer Frage, dass eine Phänome-
nologie des Selbst auch Dimensionen des Selbstverhältnisses zu er-
schließen hat, die nicht auf die Lebensganzheit ausgespannt sind
und ihren Impuls nicht aus der Kraft der Erinnerung beziehen. Und
ebenso kann eine Analyse der existentiellen Zeitlichkeit und Ge-
schichtsaneignung auch unabhängig von der bestimmten Form der
narrativen Lebensbeschreibung durchgeführt werden. Die Einheit
des Lebenslaufs geht nicht auf in der erzählten Geschichte. Entspre-
chend nimmt die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang nicht
von einer Philosophie des Selbst und liegt ihr demonstrandum nicht
in der strengen Hinführung vom Selbst über die Erinnerung zur
Lebenserzählung. Vielmehr setzt sie bei deren Verschränkung, bei
der Sehnsucht nach Erinnerung und dem Wunsch der Lebensbe-
schreibung an, um deren interne Motivkonstellation aufzuhellen.
Gleichwohl gehört es zur leitenden Intuition und zum Duktus der
vorliegenden Untersuchung, die nicht-kontingente Verbindung die-
ser Schichten und Motive des Selbstseins aufzuzeigen. Sie soll in der
konkreten Erkundung dessen, was Erinnerung ist und was sie leistet,
schrittweise hervortreten.

19 Paul Ricœur, Soi-même comme un autre, a. a. O., S. 175.


20 Zum Folgenden: László Tengelyi, »Paul Ricœur und die Theorie der nar-
rativen Identität«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 201, S. 263–279.
60 II.  Die Kunst der Erinnerung

3.4  Räume und Formen der Erinnerung

(a) Objektive und subjektive Erinnerung

Bevor wir die Stadien der ins Auge gefassten schreibenden Selbst-
einholung des Lebens näher ins Auge fassen, seien vorausgreifend
grundlegende Dimensionen benannt, in denen Erinnerung sich voll-
zieht. Eine fundamentale Unterscheidung, welche die Gedächtnis-
theorien durchzieht, ist die zwischen subjektiven und objektiven
Anteilen im Erinnerungsprozess – zwischen Äußerlichkeit und In-
nerlichkeit, Gedächtnisspeicher und Erinnerungsakt, Sedimentie-
rung von Spuren und Wiedererkenntnis. In der deutschen Sprache
lässt sich die Polarität mit der Distinktion von Gedächtnis und Er-
innerung assoziieren, wobei ›Gedächtnis‹ zum Teil eher im Sinne
des Archivs, des Raums und Trägersubstrats der Reminiszenz, teils
eher im Sinne der vorhandenen Quellen und objektivierten Spu-
ren verstanden wird. In dieser Bedeutung figuriert die Unterschei-
dung in einer der ältesten Gedächtnistheorien, in der aristotelischen
Schrift De memoria et reminiscentia, als Unterscheidung zwischen
dem Niederschlag des vergangenen Erlebens in einem Erinnerungs-
bild, das uns passiv gegenwärtig ist, und dem aktiven Vollzug des
Wiedererinnerns als erneuerter Wahrnehmung dessen, wovon wir
in unserem Gedächtnis das Zeugnis bewahren.21 Mit der Relation
von mneme und anamnesis verbindet Aristoteles die Frage, die sich
auch außerhalb des erinnerungspsychologischen Kontextes stellt,
wie nämlich eine anwesende Affektion für ein Abwesendes, ein Ge-
genwärtiges für ein Vergangenes stehen kann. Aristoteles’ Antwort
führt über den Bild-Charakter der uns innewohnenden Vorstellung;
in einem weiteren Horizont verbindet Paul Ricœur damit den Rät-
selcharakter der Spur, die zugleich als Wirkung und Zeichen (»un
effet signe«)22 auf ihren Ursprung bezogen ist. Indem er den Begriff
der Spur, der bei verschiedenen Autoren – Husserl, Freud, Derrida,
Lévinas – einen zentralen Stellenwert besitzt, nach den Haupttypen
der kortikalen, psychischen und dokumentarischen Spur diversifi-
ziert und in den Räumen der Neurologie, der Psychologie und der

21 Aristoteles, Parva Naturalia II: De memoria et reminiscentia, Berlin:


Akademie Verlag 2004.
22 Paul Ricœur, Temps et récit, Tome III: Le temps raconté, Paris: Seuil 1985,
S. 219.
3.  Die Aneignung des Vergangenen 61

Geschichte verortet, erweitert er den objektiven Charakter des Er-


innerns über die Bewusstseinsdimension hinaus.23
Unter mehrfachen Hinsichten haben die Kulturwissenschaften
die materielle, gegenständliche Seite des Gedächtnisses zur Geltung
gebracht. Verwiesen sei auf die von Sigmund Freud verwendete Me-
taphorik der Archäologie, die ihm als Bild dafür dient, »dass im
Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann,
dass alles irgendwie erhalten bleibt, und unter geeigneten Umstän-
den […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann«, ähnlich wie
die archäologische Grabung in der verborgenen Tiefe einer Stadt
deren Vorstadien, Wandlungen, Konstruktionen und Zerstörun-
gen sichtbar macht.24 Das konnotationsreiche Bild des Verschüt-
tens, Verdeckens und Aufbewahrens im Erdreich, des Ausgrabens
und Rekonstruierens lässt sich in Kontexten des Psychischen, So-
zialen und Geschichtlichen mit Assoziationen des Zertrümmerns
und Zerfallens, aber auch des Zurechtrückens und Refigurierens in
die Erinnerungsdynamik einzeichnen. Walter Benjamin hat in seiner
Berliner Chronik, in welcher er Erinnerungsbruchstücke aus den
Kindheits- und Jugendjahren versammelt, die Metapher des Aus-
grabens aus dem Erdreich übernommen und in eine umfassendere
topographische Schematik eingefügt, als deren Hintergrund man
auf die klassische, in die Antike zurückreichende topographische
Methode der ars memoriae verweisen kann. Erinnerung macht sich
nach Benjamin fest an Orten und Räumen, sie beleuchtet »weniger
die Bilder der Menschen als die der Schauplätze«.25 Anstelle der Zeit-
und Ablauffiguren, welche den Fluss des Erinnerns modellieren,
dominieren Raster der Räumlichkeit und Äußerlichkeit, in denen
das Gedächtnis seine Bezugnahme und Formbildung verankert. In
Überlagerung mit der Idee des Erdreichs assoziiert das topographi-
sche Gedächtnis gleichzeitig »die Verbindung mit den Toten dieses
Bodens«, die Kultur des Totengedenkens.26 Nach anderer Hinsicht
verknüpft es sich mit Aspekten sinnlicher Materialität, die den Er-
lebnissen und Begegnungen ihre Färbung geben und sie im Speicher

23 Paul Ricœur, Parcours de la reconnaissance, a. a. O., S. 182 f.; vgl. La mé­


moire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 16–18, 538 ff.
24 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke,
Frankfurt am Main: Fischer 51972, Bd. XIV, S. 421–516, hier S. 424.
25 Walter Benjamin, Berliner Chronik, in: Gesammelte Schriften, a. a. O.,
Bd. VI, S. 465–519, hier S. 490 f.
26 Ebd., S. 489.
62 II.  Die Kunst der Erinnerung

des Gedächtnisses deponieren (wie die »Mauern und Quais, der As-
phalt, die Sammlungen und der Schutt, die Gatter und Squares« zum
Erkennungszeichen von Paris werden). Nicht die Kette von Ereig-
nissen, sondern die Konstellierung von Objekten, das Versunken-
sein in eine Dingwelt fundiert dann den Raum gelebten Erinnerns.27
Dabei geht es, wie Benjamin in einer Reflexion über »Ausgraben
und Erinnern« festhält, nicht einfach um das punktuelle Fixieren
der Dinge und Orte, sondern um die »sorgsamste Durchforschung«
der Schichten, in denen die Residuen und Dinge abgelagert sind, die
Nachzeichnung des Umgrabens und Findens, das sich der verschüt-
teten Vergangenheit nähert, um sie zum Sprechen zu bringen und in
Bildern auferstehen zu lassen. Wahrhafte Erinnerung gilt nicht nur
dem Fundobjekt, sondern gleichermaßen dem Grabungsbericht und
»dem, der sich erinnert«.28
Räumlichkeit ist Paradigma der Äußerlichkeit, und dies in zwei-
facher Hinsicht, als das in sich und gegenseitig Äußerliche, die Di-
mension des partes extra partes, und als das dem Subjekt gegenüber
Andere und Äußere. Die Räumlichkeit und Materialität des Erin-
nerns steht für die Dimension der Zerstreuung und Zersplitterung
wie für das dem Subjekt Fremde und Unerkannte, das Abwesende
und Undurchdringliche; sie ist der Raum des Bruchstückhaften, der
Splitter und Trümmer, die vergessen und bezugslos nebeneinander
liegengeblieben sind, doch unversehens aus ihrer Bedeutungslosig-
keit auftauchen, Erinnerungen heraufrufen und zu Knotenpunkten
einer lesbaren Geschichte mutieren können. Dekonstruktion hat die
Figuren der Verräumlichung, der Spaltung und Abdrift generell als
Gegenkonzepte zur ganzheitlichen Kontinuität des Sinns stark ge-
macht, die Medialität und Äußerlichkeit anstelle der Innerlichkeit
subjektiven Meinens und Nachvollziehens als Raum der Bedeutung
expliziert. Sinngenese und Verstehen transzendieren den Binnen-
raum des Selbstbezugs, und dieses Überschreiten gewinnt im Feld
von Gedächtnis und Erinnerung ein besonderes Profil und Gewicht.
Die Dialektik von subjektiver und objektiver Verortung tan-
giert die Herkunft wie den Akt der Reminiszenz. Es gibt Bilder,
die auftauchen, Dinge, Stimmen und Atmosphären, die an etwas

27 Ebd. S. 490.
28 Walter Benjamin, »Ausgraben und Erinnern«, in: Denkbilder, Gesam-
melte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, Band IV.1, S. 305–438,
hier S. 400 f.
3.  Die Aneignung des Vergangenen 63

erinnern; weithin hat Erinnerung mehr mit spontaner Assoziation


als einem intendierten Zurückholen aus der Zone des Abwesenden
zu tun. Auch thematisch geht Erinnern nicht im Sicherinnern auf,
sein Modell ist nur zum Teil das individuelle, bewusste Zurückden-
ken an eigenes Tun und selbst Erlebtes. Entgegen der psychologi-
sierenden Orientierung am Wieder-Erleben früherer Widerfahrnisse
und Handlungen – dem »landläufigen Erinnerungsbegriff«29 – fin-
det Erinnerung ihr wahres Potential, ihre wirkliche Tiefe jenseits
des Rückbezugs auf ein früheres, subjektives Erleben; ebensowenig
ist sie – gegen eine von vielen geteilte Meinung30 – auf das Erinnern
des Individuums zu beschränken. Nicht zuletzt ist die Schwierig-
keit des Erinnerns, der Widerstand gegen das Wiederaufleben ver-
drängter Ereignisse gerade im Falle des kollektiven Gedächtnisses
prägnant fassbar.31 Auch das dem Bewusstsein Entzogene, doch dem
Unbewussten Eingeschriebene, das als Residuum im nichtpsycholo-
gischen Gedächtnis der Kultur Dokumentierte, im kollektiven Sein
und Verhalten Verkörperte konstituiert das Substrat, aus welchem
Erinnerungsarbeit ihre Ressourcen, ihr Material und ihren Impuls
bezieht. Erinnerung ist nicht nur ein Insichgehen der Person, son-
dern ein Teilhaben an der Geschichte und dem gemeinsamen Fun-
dus, aus denen heraus Subjekte ihre Identität gewinnen. In vielfäl-
tiger Auseinandersetzung mit der Objektivität, Äußerlichkeit und
Andersheit ist Erinnerung nicht ein Wiederholen und Wiedererle-
ben, sondern eine Aneignung von etwas, das einem noch gar nicht
zu eigen war. Es gehört zur Macht und Größe des Erinnerns, sich
in dem erkennen, aus dem finden zu können, was über das Eigene
hinausgeht.

29 Michael Theunissen, Reichweite und Grenzen der Erinnerung, Tübingen:


Mohr Siebeck 2001, S. 9 (mit Bezug auf den Satz von Aleida Assmann: »Was
nicht zuvor erlebt, erfahren wurde, kann später nicht erinnert werden«, in:
Aleida Assmann / Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsverses­
senheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten, Stuttgart: Deutsche
Verlags-Anstalt 1999, S. 35).
30 Prominent vertreten etwa durch Reinhard Koselleck: »Es gibt keine kol-
lektive Erinnerung, wohl aber kollektive Bedingungen möglicher Erinne-
rungen« (in: »Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangen-
heiten«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2000,
S. 19–32, hier: S. 20).
31 Ein klassisches Zeugnis ist das Buch von Alexander und Margarete Mit-
scherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens,
München: Piper 1967.
64 II.  Die Kunst der Erinnerung

(b) Formen der Erinnerung

Neben den Räumen interessieren die Gestalten und Prozessformen


des Erinnerns. Psychologische, neurologische und kulturwissen-
schaftliche Analysen haben dazu unterschiedliche Differenzierun-
gen vorgenommen und vielfältigste Modelle erarbeitet; sie können
hier nicht unser Thema sein. Als Grundlage für das Folgende seien
nur zwei grundlegende Unterscheidungen festgehalten, die das le-
bensweltliche Feld der Erinnerung strukturieren.
Die erste ist die Differenz zwischen spontan aufkommenden
und intentional herbeigeführten Erinnerungen. Es gibt auf der ei-
nen Seite das Aufblitzen von Erinnerungsbildern, die durch äußere
Anlässe provoziert, durch Stimmungen und Dispositionen in uns
hervorgerufen werden, durch unbekannte Ursachen aus dem Dun-
kel emergieren. Auf der Gegenseite gibt es das bewusste Bemühen
um Erinnerung, von mnemotechnischen Memorierungsübungen bis
zur lebensgeschichtlichen Erinnerungsarbeit und zu komplexen his-
torischen Forschungen. Beides gehört zu der Art und Weise, wie
Vergangenheit im Leben der Menschen anwesend wird, wie Vergan-
genes in das Heute einbricht, wie es in der Rückschau aufgesucht
und gefunden wird. Beide Wege überkreuzen und überlagern sich,
die methodische Arbeit des Gedächtnisses kann durch das plötzliche
Hervortreten von Bildern vergangener Zeiten unterbrochen werden,
sich in Wechselwirkung mit diesen vollziehen, in ihrem Dienst ste-
hen und durch sie vorangebracht werden.
Die andere Unterscheidung ist die von Edmund Husserl exem-
plarisch herausgearbeitete Differenz zwischen dem Nachhall der
implizit noch anwesenden, stufenweise sich abschwächenden Ein-
drücke des Vergangenen und der gezielten Wiederherstellung und
bewusstseinsmäßigen Erneuerung früherer Ereignisse und Erfah-
rungen: zwischen ›Retention‹ und ›Reproduktion‹, ›primärer‹ und
›sekundärer‹ Erinnerung, zwischen der sich sukzessiv entziehenden
Gegenwärtigkeit des Einst und seiner reflexiven Ver-Gegenwärti-
gung.32 Husserl expliziert das Spezifische der retentionalen Erin-
nerung am Beispiel des Melodiehörens, wo das Nachklingen und
Noch-Präsent-Haben erklungener Töne konstitutiv zur Wahrneh-

32 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins


(1893–1917), Husserliana Band X, Den Haag: Martinus Nijhoff 1966, S.  19–
72.
3.  Die Aneignung des Vergangenen 65

mung einer Melodieform dazugehört; das Beispiel lässt sich auf ver-
schiedene Wahrnehmungs- und Verstehensvollzüge – das Erfassen
einer Rede, einer Bewegung, einer Filmsequenz – übertragen, die
zeitlich verfasst sind und nicht in der Aktualität des Hier und Jetzt
aufgehen können. Husserls klassische Analyse bezieht sich auf den
Nahhorizont, innerhalb dessen die Konstitution eines konkreten
Wahrnehmungsgegenstandes nicht ohne den Schatten des Nicht-
mehr-Gegenwärtigen, des Soeben-Wahrgenommenen – und korre-
lativ der antizipierten Fortführung des Erlebens – zustandekommt.
Indes könnte man die Struktur auch zeitlich ausweiten und sie auf
die nicht-thematische Anwesenheit des Vergangenen im größeren
Zeitradius anwenden, auf die Art und Weise, wie ein erfreuliches
oder trauriges Erlebnis von heute früh auf mein jetziges Empfin-
den und Tun abfärbt, wie ein gestriger Misserfolg noch unbewältigt
und psychisch anwesend ist, wie meine Lebensgeschichte, letztlich
die umfassendere Geschichte, der ich zugehöre, mein Wollen und
Handeln prägen, in mein Selbstgefühl und mein Weltverhältnis ein-
gehen. Dieser impliziten, nicht-aktualisierten Präsenz des Vergange-
nen steht die thematische Wieder-Vergegenwärtigung entgegen, die
das Erinnern im normalen Verständnis ausmacht. Hier kommt das
weite Feld der eigentlichen Erinnerungsarbeit in den Blick, die sich
in mannigfachen Formen, in unterschiedlichen Medien vollzieht und
den Untersuchungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Ge-
dächtnisforschung bildet. Es ist der Rahmen, innerhalb dessen die
Fragen nach der angemessenen Methode, nach den Schwierigkeiten
und Problemen, dem existentiellen Interesse, den sozialen und kul-
turellen Funktionen der Erinnerung aufgeworfen und kontrovers
debattiert werden.
In unserem Zusammenhang werden diese Fragen, die auch den
Horizont der vorliegenden Untersuchung bilden, in einem enge-
ren Fokus ins Auge gefasst. Sie interessieren im Blick auf die ein-
gangs umrissene Idee einer lebensgeschichtlichen Erinnerung, das
Wunschbild einer gelingenden Lebensbeschreibung, wie sie Marcel
Proust am Ende seiner Erzählung in ihrem Versprechen und ihren
Schwierigkeiten umreißt. Diese Idee soll im Folgenden schrittweise
konkretisiert werden.
Auszugehen ist vom Ideal einer erfüllten Gegenwart, wie sie
Proust exemplarisch im Aufbrechen der Vergangenheit im Jetzt in
Erlebnissen der mémoire involontaire beschreibt und wie sie ihm
als utopische Richtschnur einer gelingenden Lebenserinnerung vor
66 II.  Die Kunst der Erinnerung

­ ugen steht. Es ist eine Erinnerung, die sich durch den Charakter
A
des Unwillkürlichen von der methodischen Gedächtnisarbeit, durch
die erfüllte Aktualität von der abgeschwächten Präsenz der Reten-
tion unterscheidet. Es ist eine lebensweltlich vertraute Erinnerungs-
form, die nicht auf jene singulären, emphatischen Augenblicke be-
schränkt sein muss, welche Proust in berühmten Passagen vergegen-
wärtigt, sondern die im Alltagsleben der meisten, sei es flüchtig und
schwach, zuweilen aufscheinen kann und über fließende Übergänge
mit den anderen Gedächtnisformen des nichtthematischen Inneseins
und des bewussten Vergegenwärtigens verbunden ist.
Gegenläufig zur spontanen Erinnerung steht sodann die reflek-
tierte Bemühung um ein Wiederfinden und Rekonstruieren des Ver-
gangenen zur Diskussion. Es geht um jene große Arbeit, vor de-
ren Unermesslichkeit Prousts Erzähler zurückschreckt und die der
­Autor Proust beharrlich in Angriff nimmt. Zu verdeutlichen sind die
Wege und Umwege, welche die Erinnerung einzuschlagen hat, die
Aufarbeitung des Vergangenen und die Vermittlung des Ausdrucks,
über welche der Mensch sein Leben aneignen und in seinem Leben
sich selbst gegenwärtig werden kann. Zu reflektieren sind ebenso die
Widerstände und Schwierigkeiten, die sich der Erinnerung entgegen-
stellen und die nicht nur der temporalen Entrückung, sondern dem
Unerledigtsein und der Unabgegoltenheit des Vergangenen selbst
entstammen. Vor dem Hintergrund der Wege und Hindernisse ist
abschließend die Frage zu vertiefen, worin das eigentliche Interesse
der Lebensbeschreibung liegt, was das Ziel einer im Ganzen ge-
lingenden Erinnerung ausmacht und wie sich in ihr das Ideal einer
Selbstpräsenz im Leben verwirklicht.
4.  Unwillkürliche Erinnerung:
Die Präsenz des Vergangenen

Das literarische Urbild der Erinnerung verdanken wir Marcel Proust.


Nicht nur steht der Titel seines Jahrhundertwerks À la recherche du
temps perdu für eine Utopie der Menschheit im Umgang mit Zeit
und Vergänglichkeit. In mehrfacher Hinsicht enthält sein Roman
eine klassische Auseinandersetzung mit dem Thema Erinnerung. Er
zeichnet eines der eindringlichsten Bilder vollendeter Erinnerung, er
unternimmt eine ausführliche Reflexion über das Wesen und Ge-
heimnis des Erinnerns, er schildert die Motivation, das Zögern und
den Entschluss des Erzählers zur schreibenden Selbsteinholung sei-
nes Lebens und er steht, als Meisterwerk der Weltliteratur, selbst
für eines der profiliertesten Zeugnisse des Schreibens im Dienste
der Erinnerung.
Als ein Idealbild des Erinnerns gilt die mémoire involontaire –
Inbegriff von Intensität und Fülle, einer vollständigen Verschmel-
zung der Zeiten, eines höchsten Ergriffenseins und eigentümlichen
Glücks. Im erzählenden Lebensbericht wie in der reflektierenden
Rückschau des beginnenden Schriftstellers beschreibt Proust mit
großem Nachdruck das überwältigende Erlebnis der unwillkürli-
chen Erinnerung. Es lohnt sich, Strukturmerkmale dieses Erlebens
herauszustellen, um das Themenfeld der Erinnerung zu erkunden.
Zu seinen markanten Kennzeichen gehören die Plötzlichkeit des
Sich-Ereignens, das Aufmerken und Wiedererkennen, der Stillstand
der Zeit und die Gegenwärtigkeit des Vergangenen, das Involviert-
sein und die Glückserfahrung des Subjekts. Im Blick auf die so cha-
rakterisierte Erinnerung ist die Frage aufzunehmen, in welchem Sinn
die mémoire involontaire als Fluchtpunkt und idealer Maßstab der
Gedächtnisarbeit überhaupt fungieren kann oder eher als ein Typus
des Erinnerns neben anderen zu gelten hat.
68 II.  Die Kunst der Erinnerung

4.1 Plötzlichkeit

Als unwillkürliche zeichnet sich Erinnerung zuallererst durch den


Charakter des Geschehens und passiven Erlebens aus. Die unwill-
kürliche Erinnerung ist eine nicht vom Subjekt auf den Weg ge-
brachte und gesteuerte, eine nicht intendierte, nicht aktiv gesuchte
Erinnerung. Bilder tauchen aus der Vergangenheit auf, die ungerufen
plötzlich vor Augen stehen, unreguliert und chaotisch in unser Den-
ken und Handeln einbrechen. Unversehens sind wir zurückversetzt
in ein früheres Erlebnis, in einen vertrauten Raum, zu einer Begeg-
nung, in eine Atmosphäre, die uns umfangen hat, eine Empfindung,
die wir verspürt haben. Das berühmteste Beispiel, Prousts Episode
der madeleine1 – das rätselhafte, unvermittelte Entrücktwerden in
eine andere Welt beim Kosten eines Gebäcks, das der Erzähler als
Kind bei seiner Tante genossen hatte – verweist auf ein signifikante
Eigenart solcher Erlebnisse, ihre dichte sinnliche Qualität. Gerade
die ältesten Sinne, Geruch und Geschmack, sind bevorzugte Medien
solcher Erfahrungen, in denen längst vergessene Empfindungen auf-
geweckt werden, die uns unvermittelt in andere Räume und Zeiten
versetzen, etwa beim Betreten eines altvertrauten Gebäudes, in dem
wir seit vielen Jahren nicht mehr waren. Doch auch die anderen
Sinne sind Träger solcher Reminiszenz, das leise Erklingen eines ver-
gessenen Kinderlieds, das unvermutete Sichöffnen einer Landschaft
im Nebel. Es sind sinnlich verankerte Gedächtnisweisen, die ihre
verborgene Wurzel nach Proust geradezu im Körper haben können
und darin über jedes bewusstseinsmäßige Erinnern hinaus wirksam
sind – wie »ein unwillkürliches Gedächtnis der Glieder«, die »voll
von schlummernden Erinnerungen« sind.2
Die Unwillkürlichkeit dieser Gedächtnisform betrifft sowohl das
zeitlich unvermittelte Eintreten bestimmter Eindrücke, das plötz-
liche Aufblitzen von Erinnerungsbildern, wie deren thematische
Unverfügbarkeit, das Sichöffnen von Inhalten, die dem bewussten
Gedächtnis verborgen sind und deren Wiederkehr wir nicht be-
stimmt antizipieren und intendieren können, die wir aber, wie bei
vergessenen Gerüchen, schlagartig erkennen, als etwas uns Bekann-

1 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Tome I, a. a. O., S. 43–48


(dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Unterwegs zu Swann,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 66–72).
2 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 9 f. (fr. III, S. 699).
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 69

tes realisieren. Die Plötzlichkeit radikalisiert einen im Alltagserle-


ben vertrauten Zug der Erinnerungen, die unkontrolliert, eigenwil-
lig auftreten, sich entziehen, uns entgleiten können.3 Sie zerreißt
das Kontinuum der dahinfließenden Zeit, stellt uns in eine absolute,
beziehungslose Gegenwart, in welcher Neues, Unerwartetes sich
ereignet und in das Leben einbricht.4 Es ist wie ein Heraustreten aus
der Zeit und gleichzeitig ein Erfasstwerden durch ein Vergangenes,
ein Heraufkommen von Eindrücken, ein spontanes Sichauftun einer
Welt. Es ist ein Erinnerungsmodus, der literarisch wie theoretisch
bearbeitet und reich instrumentiert worden ist.
Eindringlich schildert Vladimir Nabokov den Moment, wo das
tastende Sichannähern des Gedenkens – »als müsste der Geist, um
dorthin zurückzugelangen, lautlos wie ein barfüßiger Verlorener
Sohn herantreten, der schwach ist vor Erregung« – durch die he-
reinbrechende Szenerie vergangener Erlebnisse abgebrochen wird,
wo unversehens »ein Knopf berührt wird, und ein Sturzbach von
Lauten zum Leben erwacht: Stimmen, die alle zugleich reden, eine
Walnuss, die geknackt wird, das Klappern eines Nussknackers, den
man achtlos weiterreicht, dreißig menschliche Herzen, deren regel-
mäßiges Klopfen das meine übertönt.«5 Walter Benjamin hat dieses
Lebendigwerden des Vergangenen, um welches sich wahre Historie
bemüht, die nicht einfach Faktisches perpetuiert, sondern das un-
erschlossene Potential und Unabgegoltene im Gewesenen erweckt,
im Konzept des dialektischen Bildes gefasst. Es ist eine der prägnan-
testen Ausformulierungen, die diese Erinnerungsfigur zugleich im
geschichtsphilosophischen Horizont vertieft und in ihrer bewahren-
den, rettenden Potenz zum Tragen bringt.
Das dialektische Bild ist nach Benjamin »ein aufblitzendes«6, in
welchem Vergangenes sprunghaft im Gegenwärtigen aufscheint,

3 So zeichnet Uwe Johnson die Charaktereigenschaft der »Katze Erinne-


rung«: »Unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender
Gesell, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält«: Jahres­
tage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1970–1983, Bd. 2 (1971), S. 670.
4 Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, Freiburg i. Br.: Alber
2014, S. 46 ff.
5 Vladimir Nabokov, Erinnerung sprich. Wiedersehen mit einer Autobio­
graphie, Deutsch von Dieter E. Zimmer, Gesammelte Werke, Band XXII,
Reinbek: Rowohlt 1991, S. 232.
6 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Erster Band, Gesammelte Schrif-
ten, Band V.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 591.
70 II.  Die Kunst der Erinnerung

»das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation


zusammentritt«.7 Diesem plötzlichen Aufscheinen eignet eine sin-
guläre kognitive Potenz: Der Augenblick, der den homogenen Fort-
gang aufsprengt, ist ein »Jetzt der Erkennbarkeit«, in welchem die
Wirklichkeit aus ihrer Tiefe durchdrungen wird und die Dinge »zur
Lesbarkeit kommen«.8 Lesbar wird die Geschichte, die sich in ih-
nen kondensiert und zugleich verbirgt, die verdrängte Vergangen-
heit ebenso wie die unterdrückte Zukunft, in deren Horizont eine
geschichtliche Situation in ihrer unverkürzten Wahrheit, ihrem An-
spruch wie ihrer Entstellung transparent wird. In Frage steht eine
historische Betrachtung, die auf der »Unabgeschlossenheit der Ge-
schichte« beharrt und gerade im Aufsprengen der Faktenkette »die
ungeheuren Kräfte der Geschichte freimacht, die im ›Es war einmal‹
der klassischen Historie gebunden liegen«.9 Die Plötzlichkeit des
Bildes assoziiert sich mit der Sprengkraft subversiven Erkennens,
welches den Gegenstand in seiner Bedrohtheit erfasst und sich seiner
»Rettung«10 verschreibt. Die Wahrheit des Gewesenen muss erst zur
Manifestation gelangen, das Unfertige, Unerledigte muss richtig­
gestellt, in sein Recht gebracht werden. Wahres Gedenken verge-
genwärtigt Vergangenes nicht nur im einstigen Gewesen- und heu-
tigen Nichtmehrsein, sondern ebenso, ja, grundlegender in seinem
Nochnichtsein, seiner wesensmäßigen Zukunftsverweisung, aus der
uns »wie der Wind einer kommenden Frühe anweht« und Neues
heraufkommt.11 Solche der Zukunft zugewandte Anamnesis aber ist
eine, die nicht einer Fortschreibung der Sukzession der Zeiten er-
wächst, sondern dem Einbrechen des Anderen, der Plötzlichkeit des
aufscheinenden Bildes entspringt. Doch auch wo dessen Erweckung
nicht von einer Kraft der Korrektur, gar »Erlösung«12 getragen ist,
wo nicht das Beschädigte wiederhergestellt und »die ganze Vergan-
genheit in einer historischen Apokatastasis in die Gegenwart einge-
bracht ist«13, kommt jenem Bild eine Erkenntnismacht sui generis
zu, die das unwillkürliche Gedächtnis in seinem Kern konstituiert.

7 Ebd., S. 576.
8 Ebd., S. 577 f., 591 f.
9 Ebd., S. 588, 578.
10 Ebd., S. 592, 596.
11 Ebd., S. 593.
12 Ebd., S. 600.
13 Ebd., S. 573.
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 71

4.2  Erkenntnis und Wiedererkenntnis

Die unwillkürliche Erinnerung ist die paradigmatische Realisierung


eines déjà-vu. Im Gegensatz zum bloßen Phantasiebild, zur einfa-
chen Assoziation handelt es sich um die Vergegenwärtigung von
etwas, das in unzweifelhafter Gewissheit als schon Gesehenes, als
schon Erlebtes präsent wird. Dem widerspricht nicht, dass dieses
Erleben, wie in Prousts klassischen Beispielen, zunächst rätselhaft
diffus bleiben, dass sein Gegenstand der Identifikation entzogen sein
kann; der Charakter der Wiederholung, der Wiederkehr eines Frü-
heren steht unabhängig davon außer Frage. Der Begriff des déjà-vu
steht generell für das psychische Phänomen dieses Aufmerkens und
Realisierens auch außerhalb der Fokussierung auf das Visuelle; er
verweist allgemein auf das Gefühl, eine Situation schon erlebt, eine
Empfindung schon gehabt zu haben. Neben den genannten Fällen
der Geschmacks- oder Geruchserinnerung sind analoge Phänomene
im Visuellen, Taktilen und Akustischen auszumachen, in denen das-
selbe Gefühl der Identität sich einstellt.
Paul Valéry berichtet von einem Hörerlebnis:

»An diesem 3. August 1920 hörte ich Hammerschläge, die während des
Bruchteils einer Sekunde genau jene Hammerschläge sind, die etwa 1880,
um den 15. August herum, in Cette beim Aufbau der Jahrmarktbuden zu
vernehmen waren. – Der Schlag von heute trifft auf das Holz vor 40 Jah-
ren. […] Ich sah die Platanen, die Hölzer, die Planken, die Esplanade –
die Langeweile, den Markt – Ich war wieder dort. […] Etwas, woran ich
nicht dachte, was ich nicht mehr besaß, was sich verflüchtigt hatte und
für immer hätte fort sein können, ist wiederauferstanden.«14

Walter Benjamin stellt sich allgemein die Frage, ob der Begriff des
déjà-vu

»eigentlich glücklich und die Metapher, welche allein dem Vorgang an-
gemessen ist, nicht viel besser dem Bereiche der Akustik zu entnehmen
wäre. Man sollte von Vorfällen reden, welche uns betreffen wie ein Echo,

14 Paul Valéry, Cahiers / Hefte, Bd. 3, Frankfurt am Main: Fischer 1989,


S. 436. (zit. nach Matthias Kettner, »Das Konzept der Nachträglichkeit in
Freuds Erinnerungstheorie«, in: Psyche, 53. Jahrgang, Heft 4, April 1999,
Stuttgart: Klett-Cotta, S. 309–342, hier S. 324).
72 II.  Die Kunst der Erinnerung

zu dem der Ruf, der Hall, der es erweckte, irgendwann im Dunkel des
verflossnen Lebens ergangen scheint. Dem entspricht, wenn wir nicht
irren, dass der Chock, mit welchem Augenblicke als schon gelebt uns
ins Bewusstsein treten, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt.«15

Auch Marcel Proust beschränkt sich nicht auf das Geschmacks­


erlebnis der madeleine, sondern beschreibt mit gleicher Emphase
das eigentümliche, zunächst ebenso unverstandene, Glücksgefühl
beim Anblick der Kirchtürme von Martinville16, aber auch die
Sehnsucht und die alten Wünsche, welche Geräusche und Düfte
des Frühlings in ihm erwecken.17 In allen Registern sinnlichen Affi-
ziertseins geschieht jene originäre Wiederkehr alter Eindrücke, j­ enes
Eintauchen in eine ehemals erlebte Welt. Man mag, neben der sinnli-
chen Tiefe der Geruchs-, Geschmacks- und Tastempfindungen, ein
bestimmtes Privileg des Akustischen in dem von Benjamin hervor-
gehobenen responsiven Bezug von Ruf und Echo sehen, worin ein
Laut ursprünglich als zurückkommender begegnet und die Emp-
findung als Wiederkehr erfahren wird. Ein anderer besonderer Zug
liegt in der Verschränkung des sinnlichen Eingenommenwerdens
und diachronen Erlebens, wie es exemplarisch im (Wieder-)Hören
von Musik stattfindet, die nach Botho Strauß »widerstandslos den
Strom der Erinnerung« leitet und »ohne jedes Gedenken ein Damals
in Echtzeit« heraufzurufen vermag.18
Es wäre ein reiches Feld phänomenologischer Analysen, den ver-
schiedenen Formen unwillkürlichen Erinnerns in ihrer aisthetischen
Vielfalt nachzugehen. An dieser Stelle interessiert der gemeinsame
strukturelle Zug der Wiederkehr und Wiederholung. Er liegt einer
besonderen Weise des Erkennens zugrunde. Dass Erkenntnis zu­
innerst mit Erinnerung verknüpft ist, hat in klassischer Weise Platon
ausgeführt. Damit ein Haben von Eindrücken, jenseits des Registrie-
rens von Sinnesdaten, ein wirkliches Erkennen begründet, welches
etwas ›als etwas‹ identifiziert, muss es das Gegebene in Relation zu
einem Vorgegebenen, schon Gekannten setzen können, an welches

15 Walter Benjamin, Berliner Chronik, in: Gesammelte Schriften, a. a. O.,


Bd. VI, S. 465–519, hier S. 518.
16 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Tome I, a. a. O., S. 180
(dt. Bd. 1, S. 260).
17 Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Tome III, a. a. O., S. 410 ff.
(dt. Bd. 5, S. 587 ff.).
18 Botho Strauß, Herkunft, München: Hanser 2014, S. 70.
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 73

es sich erinnert; nach Platon sind dies die Ideen, welche die Seele
vor der Geburt geschaut hat und als deren Verkörperung sie die
erscheinenden Dinge erfasst. Lernen ist Anamnesis.19 Erkenntnis
fängt wie das Verstehen nicht aus dem Nichts an; erkennen kann
nur, wer schon etwas erkannt hat, Verstehen setzt nach der These
der Hermeneutik je ein Vorverständnis voraus. Erinnerungstheorie
betont diesen Konnex nach der Gegenseite: Erinnerung ist Erbli-
cken von etwas, das man bereits kennt, das man wieder-erkennt, eine
Kognition als Re-kognition. Mit Nachdruck hat Paul Ricœur das
Ineinander zwischen einem starken Erkenntnisbegriff und einem
emphatischen Erinnerungskonzept herausgestellt. Über das Nichts-
verloren-Geben und mechanische Reproduzieren hinaus zielt die
Leitidee des Gedächtnisses auf jenes »kleine Wunder der glückli-
chen Erinnerung«, das im Urerlebnis des Erkennens und Wieder­
erkennens liegt.20 Wiedererkenntnis, für Ricœur »der Gedächtnisakt
par excellence«21, meint jenseits der Vergegenwärtigung jenes volle
Präsentwerden, in welchem sich etwas offenbart und als es selbst
zu erkennen gibt, die identifizierende Erschließung, die auf ein Ge-
meintes oder früher Geschautes zurückverweist – das »Wunder des
Gedächtnisses«, das sich im plötzlichen Gewahrwerden der Gegen-
wart eines Abwesenden realisiert und sich im freudigen Ausruf »Sie
ist es! Er ist es!« äußert.22 Gewissheit, Erkenntnis, Gegenwärtigkeit
verschmelzen im Akt der Reminiszenz.
Die Erkenntnis, welche die mémoire involontaire ereignishaft
realisiert, zeichnet sich von seiten des Bewusstseins wie des Ge-
genstandes aus. Die Helligkeit ist eine des subjektiven Bewusst-
seins wie der entgegenkommenden Manifestation der Dinge. So
undurchsichtig sich die unwillkürliche Erinnerung in ihrer Moti-

19 Platon, Phaidon 72 e – 76 d.


20 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 556; Parcours de
la reconnaissance, a. a. O., S. 198 ff.
21 Paul Ricœur, Parcours de la reconnaissance, a. a. O., S. 200; Ricœur ope-
riert mit dem Begriff reconnaître / reconnaissance, in welchem die unter-
schiedlichen Konnotationen des Erkennens, Anerkennens und Wieder­erken­
nens zum Tragen kommen (u. a. im Anschluss an Henri Bergson, Matière et
mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris: Alcan 1903, S.88 f.:
»L’acte concret par lequel nous saisissons le passé dans le présent est la re­
connaissance«).
22 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 644; Parcours de
la reconnaissance, a. a. O., S. 200.
74 II.  Die Kunst der Erinnerung

vation und Ergriffenheit sein mag, ist sie doch von einem »Zustand
heller Wachheit«23 begleitet, einer gesteigerten Selbstpräsenz, die mit
der intensiven Präsenz bei der Welt, der Lebhaftigkeit der Vergegen-
wärtigung einhergeht. Die Direktheit des Wieder-Erlebens, meint
Botho Strauß, ist jenseits des nachträglichen Suchens und struktu-
rierten Berichtens. »Akute Erinnerung kennt kein ›Weißt du noch?‹,
sondern nur Damals-Unmittelbarkeit, Damals-Überwältigung«, sie
bleibt der bewussten Rekonstruktion entzogen: »Kontinuität der
Darstellung, der Erzählung ist dem rohen, unberechenbaren Affekt,
dem Anfall oder Anspruch von ›verlorener Zeit‹, etwas durchaus
Unangemessenes«.24 Im unvermittelten Wieder-Erkennen wird der
Gegenstand, das Vergangene selbst gegenwärtig, nicht ein Abbild
oder eine Vorstellung von ihm. Erinnern ist ein Wiedergewinnen
nicht der Gedächtnisspuren, sondern der Wahrnehmung dessen,
wovon wir Spuren und Zeichen in uns haben, ein Erkennen des
Originals, der Sache selbst. Gleichzeitig ist dieses potenzierte Wie-
der-Erfassen des Gegenstandes eine Bekräftigung des Subjekts in
seiner Identität über die Zeit. Die Anwesenheit des ursprünglichen
Erlebnisses überlagert sich mit der Präsenz dessen, der ich damals
war: Die heraufgerufenen Bilder des Vergangenen haben die Macht,
aus meinem gegenwärtigen Ich »vermittels einer mit der damali-
gen identischen Empfindung unversehens den Knaben, den Jüng-
ling wiederzuerschaffen, der sie gesehen hatte.«25 Das Ergriffensein
durch die unwillkürliche Erinnerung ist ein integrales Gegenwär-
tigwerden dessen, worauf sie sich bezieht, wie des sich erinnernden
Subjekts selbst. Diese privilegierte Präsenz, die auch die besondere
Erkenntnis des Erinnerns ausmacht, schließt konstitutiv die Zeit-
differenz ein, als Anwesenheit eines Abwesenden, Gegenwärtigkeit
eines einstmals Erlebten. Gerade darin liegt nach Proust das Ge-
heimnis jener Gegenwart, nach welcher Erinnerung sich sehnt, ja,
in gewisser Weise der Sehnsucht selbst, die nach einer Erfüllung

23 Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich, a. a. O., S. 61, vgl. S. 95 (»Mir ein


Stück Vergangenheit lebhaft zu vergegenwärtigen, ist eine Beschäftigung, der
ich mein Leben lang mit dem größten Eifer nachgegangen bin, und ich habe
Grund zu glauben, dass diese fast krankhafte Wachheit meines Erinnerungs-
vermögens ein ererbter Charakterzug ist.«).
24 Botho Strauß, Herkunft, München: Hanser 2014, S. 62, 89.
25 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 5: Die Ge­
fangene, a. a. O., S. 32 (fr. III, S. 27).
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 75

verlangt, in der wir schon waren – »denn die wahren Paradiese sind
die Paradiese, die man verloren hat«.26
Die Selbstpräsenz im Wieder-Erkennen ist nach zwei Linien
zu verdeutlichen: als Gegegenwärtigkeit des Vergangenen und als
Glückserfahrung des gelingenden Erinnerns.

4.3 Gegenwärtigkeit

Der eigentliche Kern der unwillkürlichen Erinnerung ist die Gegen-


wart des Vergangenen. Das plötzliche Entrücktwerden in eine an-
dere Welt ist Kehrseite des Herankommens dessen, was ferne ist, was
einst war. Auf einmal schwindet die Distanz, das Gefälle der Zeiten
und Räume, wird das Abwesende im Hier und Jetzt anwesend. Es
geht nicht einfach darum, ein Fernes und Ehemaliges aufzufinden,
im Zurückgehen in den Speicher der Memoria ein verlorenes Bild,
ein verschüttetes Erlebnis an seinem Ort wiederzufinden, sondern
es jetzt in seiner Lebendigkeit, in seinem Hiersein zu erfahren. Darin
sieht Ricœur »das tiefste Paradox der Erinnerung: Das Vergangene
ist ›gleichzeitig‹ mit der Gegenwart, die es gewesen ist.«27 Es ist eine
Kopräsenz der Zeiten, wie sie in außergewöhnlichen Situationen er-
lebt wird, etwa im mythischen Ritual, welches einen Gründungsakt,
ein säkulares Ereignis als gegenwärtiges vollzieht. Es geht nicht nur
um das Sichtbarmachen eines Verdeckten, das Sichöffnen eines La-
tenten, sondern um ein Aktualwerden, eine Verlebendigung dessen,
was untergegangen, vergessen, tot war. Marcel Proust spricht gera-
dezu von einer »Auferstehung des Vergangenen«, die der Protago-
nist seines Romans in höchster Eindringlichkeit durchlebt: »Diese
Wiederauferstehungen der Vergangenheit«, meint er, »sind so all-
umfassend«, dass wir den Boden unter den Füßen verlieren würden,
wenn sie länger als einen Augenblick dauerten, da sie uns ganz und
gar der Gegenwart entreißen und unsere Augen nötigen, entfernte
Ufer zu betrachten, unsere Nasen, den Duft fremder Stätten einzu-
atmen, unsere Person als ganze, zwischen fernen Regionen und dem
Hier zu taumeln.28 Es ist eine Verwandlung, die nicht nur die äußere
Szenerie verrückt, sondern den Menschen im Innersten trifft, ihn in

26 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 264 (fr. III, S. 870)
27 Paul Ricœur, Parcours de la reconnaissance, a. a. O., S. 202.
28 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 271 (fr. III, S. 875).
76 II.  Die Kunst der Erinnerung

einen anderen Zustand versetzt, der als eine Art Ekstase, eine Entrü-
ckung, eine besondere Weise höchsten Glücks erlebt wird. Wenn wir
in diesem Erleben zunächst den temporalen Kern, die Gegenwär-
tigkeit des Vergangenen herausstellen, lassen sich darin beide Seiten
näher ins Auge fassen: das Nichtvergangensein des Gewesenen und
das Erleben der reinen Gegenwart.
Dass das Vergangene nicht einfach vergangen und entschwunden,
in Nichts aufgelöst, sondern noch da ist, ist die eine Seite des Ur­
erlebnisses der mémoire involontaire. »Prousts Roman«, schreibt
Stephan Grätzel, geht aus von der »Entdeckung eines Unvergange-
nen, von dem zufälligen Finden einstiger Subjektivität, die unver-
gangen ist«, und stellt als ganzer »den Versuch dar, diese Entdeckung
zu systematisieren und Unvergangenes verfügbar zu machen.«29 Das
Unvergangensein des Gewesenen ist gewissermaßen die Basisschicht
seiner Gegenwärtigkeit. Vergangenes bleibt, als Vergangenes, erhal-
ten und ist als nicht-vergangenes in unserem Leben und in der Welt
weiterhin anwesend. In gewisser Weise kann man sagen, dass die Er-
innerung nicht dem Vergangenen, sondern dem Unvergangenen gilt,
dem, was aus der früheren Zeit als unerledigt verblieben ist, etwa
als »unaufgelöster Rest an Emotionen und Gewissheiten, die gerade
nicht passé sind, sondern sich, ob willkommen oder nicht, immer
wieder melden.«30 Gleichzeitig ist dieses unvergangene Vergangene
eines, von dem wir nicht einfach Spuren und Zeichen besitzen, die
wir zu dechiffrieren und auszulegen haben, sondern das uns als es
selbst, an seinem Ort, ja, paradox formuliert, in seiner Zeit begegnet.
Die unwillkürliche Erinnerung ist das eigentümliche Erlebnis, das
uns die Türe zum Vergangenen an ihm selbst aufmacht, wo dieses
selbst sich uns öffnet, wo es in seiner Ursprünglichkeit, seiner Ori-
ginalität uns entgegenkommt. Dieser Begegnung haftet ein hoher af-
fektiver Wert an. Sie antwortet einem ursprünglichen Verlangen der
Erinnerung, einer Sehnsucht in der Suche nach der verlorenen Zeit,
die ebenso sehr der Begegnung mit dem originalen Erleben und der
damaligen Welt wie mit dem eigenen Selbst gilt und deren Erfüllung
in jenes besondere Glück des Erinnerns eingeht.
Allerdings tritt das Unvergangene nicht nur in dieser affirmativen,
beglückenden Gestalt in das Leben der Menschen ein. Neben dem

29 Stephan Grätzel, Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und Ver­
gessen, Freiburg / München: Alber 1993, S. 132.
30 Ebd., S. 25.
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 77

beruhigenden Nichtvergangensein des Einst, das in gewisser Weise


an der Utopie der Unvergänglichkeit des Vergänglichen partizipie-
ren lässt, gibt es ein Nichtvergehen, das als einengend, als lähmend
oder bedrückend erfahren wird. Dies kann im Erleben der Gegen-
wart der Fall sein, als Starre der Zeit, die nicht vergeht, als Leere der
Langeweile, die sich in pathologischen Fällen zum seelischen Leiden
vertieft. Ebenso kann das Nichtvergehen im Bezug zum Vergange-
nen hervortreten, in der Last einer nicht bewältigten Geschichte,
­eines verdrängten, nicht vergessenen Unrechts, in der persistie-
renden Verletzung oder der zwanghaften Wiederholung. Hier ver-
schränkt sich das Nichtvergehen mit einem Nichtvergessenkönnen,
das zum Gegenteil des befreienden Erinnerns wird. Überlebende
des Holocaust geben Zeugnis von einer Vergangenheit, die nicht
vergehen will, gerade auch dort, wo sie nicht in der Lage sind, ihre
Geschichte zu vergegenwärtigen oder zum Ausdruck zu bringen.
Claude Lanzmann, der in seinen Werken eindrücklichste Zeugnisse
dieses lastenden Verstummens und Erstarrens – aber auch der ge-
gen sie geleisteten Arbeit des Gedächtnisses – versammelt, bringt
den Kern dieser lebenslangen Auseinandersetzung auf die prägnante
Formel, dass die Zeit für ihn »nie aufgehört hat, nicht zu vergehen«.31
Es wird an späterer Stelle auf dieses Motiv als Angelpunkt der Lei-
denserinnerung zurückzukommen sein. Im vorliegenden Kontext
fungiert es als Kontrapunkt zu jenem positiven Unvergangensein,
das in der unwillkürlichen Erinnerung als Grund und Komplemen-
tärmoment der Präsenz erfahren wird.32
Die Erfahrung der Präsenz ist mehr als das Jetzt-Sein. Sie ist, als
Moment des unwillkürlichen Erinnerns, verbunden mit dem Er-
lebnis des Plötzlichen, des Einbrechens reiner Gegenwärtigkeit in
den Fluss des Geschehens und Dahinlebens, mit dem Erlebnis des
wachen Beisichseins und des intensiven Seins-in-der-Welt.33 Gegen-

31 Claude Lanzmann, La Tombe du divin plongeur, Paris: Gallimard 2012,


S. 26, 487.
32 Einen Gegentypus des unwillkürlichen Erinnerns nennt Lanzmann mit
Verweis auf ein ehemaliges Mitglied des Auschwitzer Sonderkommandos,
das bei der Erzählung zusammenbricht: »Die Vergangenheit stand mit sol-
cher Gewalt wieder auf, dass jede Distanz schwand, es war eine reine Gegen-
wart, das eigentliche Gegenteil der Erinnerung« (La Tombe du divin plon­
geur, a. a. O., S. 517). Eine ähnliche Reminszenz kann im mythisch-rituellen
Wiedererleben des Schreckens einer Urszene stattfinden.
33 Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, a. a. O., S. 46 ff.
78 II.  Die Kunst der Erinnerung

wärtigkeit meint eine gesteigerte Seinsform, die einerseits temporal


bestimmt ist, als reine Gegenwart jenseits des Sich-Entgleitens und
des Noch-Ausstehens, andererseits quasi-räumlich als das zweifa-
che Anwesendsein bei sich und bei der Welt, in Selbstgegenwart und
Weltpräsenz. Gegenwart ist mehr als eine der Zeitdimensionen be-
ziehungsweise der Tempusformen, sie hat mit der Idee eines integra-
len, erfüllten Seins zu tun und paktiert mit dem emphatischen Seins-
begriff, mit dem sie die beginnende Metaphysik verband. Gegenwär-
tigsein heißt in einem starken Sinn Wirklichsein. Von der erfüllten
Gegenwart aus ist die Kontinuität der Zeiten und das Ganze der Zeit
gedacht. Zwischen der Gegenwart und der Nicht-Gegenwart des
Gewesenen und Kommenden, zwischen Anwesenheit und Abwe-
senheit besteht keine symmetrische Negation, sondern eine seinsmä-
ßige Hierarchie. Die Gegenwärtigkeit, in welcher vergangene Erleb-
nisse im unwillkürlichen Gedächtnis gegeben sind, lässt uns die Welt
und uns selbst erfahren und an jenem rätselhaften Glück teilhaben,
dem die Sehnsucht des Erinnerns gilt.

4.4 Glück

Dieses »Rätsel des Glücks« aufzulösen, ist die »feste Absicht« und
das beharrliche Unterfangen des Erzählers in Prousts Roman.34 Die-
selbe Frage stellt sich der Interpretation, nicht allein des Romans,
sondern vorrangig des Phänomens selbst. Was macht die Erinne-
rung begehrenswert, wieso suchen Menschen nach der verlorenen
Zeit, was macht das Interesse, das innerste Verlangen der Erinnerung
aus? Diese Frage, die sich als Leitfrage auch durch die vorliegende
Untersuchung hindurchzieht und auf die am Ende, im Rückblick
auf die Wege der Erinnerungsarbeit im Ganzen zurückzukommen
ist, kommt hier zunächst in einer eingeschränkten Perspektive in
den Blick. Sie interessiert mit Bezug auf jene spezielle Form des Ge-
dächtnisses, die Proust als mémoire involontaire beschreibt – die al-
lerdings, wie eingangs skizziert, gewissermaßen als Leuchtstern über
der Landschaft des Erinnerns strahlt und auch als Glückserlebnis
ein Höchstes scheint und als Fluchtpunkt der Sehnsucht die Bemü-
hungen des Gedächtnisses leitet. Wieweit sie, als spezielle Form des
Glücks, diese übergreifende Funktion auszufüllen vermag, wird zu

34 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 259 f. (fr. III, S. 867).
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 79

fragen sein. Zuerst aber stellt sich die Frage, wieso und in welcher
Hinsicht Erinnerung zum Ziel eines Strebens und Ort des Glücks
werden kann. Wir können uns zum Einstieg an Prousts eindringli-
cher Beschreibung orientieren.
Es ist ein außergewöhnlicher Zustand von höchster Intensität,
in den sich sein Erzähler, »vor Glück erbebend«, beim plötzlichen
Wieder-Hören eines Geräuschs, Wieder-Berühren eines Stoffs ver-
setzt fühlt und der ihn dazu drängt, »den Grund jener Seligkeit, je-
ner Art von Gewissheit« zu suchen, welche diesen Erlebnissen in-
newohnen.35 Worin, so fragt er, liegt das Geheimnis dieser Beglü-
ckung, warum haben ihm die durch das Geschmackserlebnis der
Madeleine hervorgerufenen »Bilder von Combray und von Venedig
[…] so viel Freude gegeben«, dass sie ihm »selbst den Tod gleich-
gültig erscheinen« ließen?36 Die Richtung, in der er eine Antwort
auf diese Fragen sucht, zielt auf das Allgemeine im Besonderen: In
der Erinnerung, der Wiederkehr derselben Empfindungen und Le-
benssituationen meint er nicht nur das Einst im Jetzt, sondern die
wahre Wirklichkeit, das allgemeine Wesen zu erfassen, das über das
Einzelereignis und seine Erscheinung hinausweist und zuletzt die
Zeit selbst transzendiert:

»Das Wesen, das dann in mir diesen beglückenden Eindruck empfand,


empfand ihn in dem, was er zu einem früheren Zeitpunkt und jetzt an
Gemeinsamem hatte, was er an Außerzeitlichem hatte; es war ein Wesen,
das nur dann in Erscheinung trat, wenn es aufgrund einer solchen Identi-
tät zwischen Gegenwart und Vergangenheit in das einzige Lebenselement
versetzt wurde, in dem es existieren und die Essenz der Dinge genießen
konnte, das heißt außerhalb der Zeit.«37

Daraus, so meint er, erklärt sich selbst das Schwinden der Sorge um
den Tod, da er im Moment dieses Erlebens als außerzeitliches We-
sen existierte, unberührt von den Wechselfällen des Schicksals. Es ist
ein analoges Hinausgehen über das Einzelne, worin er die genuine
Leistung des Schriftstellers sieht, der, »wie das Leben es tut, in zwei
Empfindungen etwas Gemeinsames aufzeigt und so ihre gemein-

35 Ebd., S. 267, 264 (übers. E. A.) (fr. S. 871 f.).


36 Ebd., S. 259 f. (fr. S. 867).
37 Ebd., S. 265 (übers. E. A.) (fr. S. 871).
80 II.  Die Kunst der Erinnerung

same Essenz freilegt« und »den Zufälligkeiten der Zeit« entzieht.38


Deswegen kann die Kunst berufen sein, jene ursprüngliche Leistung
der unwillkürlichen Erinnerung im Medium der methodischen Ar-
beit weiterzuführen und zu überhöhen, weil sie seit Beginn an der-
selben vertiefenden Aneignung des Lebens teilhat.
So formuliert, scheint sich Prousts Selbstauslegung einer tradi-
tionellen metaphysischen Sichtweise zu nähern. Als entscheidend
für die kognitive wie praktisch-affektive Zielrichtung erscheint der
zweifache Schritt zum Allgemeinen und zur Zeittranszendenz, letz-
tere bezüglich des Erkenntissubjekts wie des Erkannten. Nun ist
es, unabhängig davon, wie man diese Ausrichtung an ihr selbst be­
urteile, nicht per se einsichtig, dass sie uns Zugang zu einem höheren
Glückszustand bieten kann oder dass dank ihrer die Erinnerung mit
einem besonderen Glückserleben verbunden sein soll.39 In gängi-
gen Beschreibungen wird dieses ebensosehr mit augenblicksartigen
Erlebnissen verbunden, und auch die Erinnerung kann gerade am
Einzigartigen ihren Wert und ihren Reiz haben. Es scheint nötig, die
Ausrichtung auf das Überzeitlich-Allgemeine duch weitere Merk-
male zu ergänzen, wie sie andere Autoren, aber auch Proust selbst,
zur Sprache bringen.
Ein erstes ist das schon früher genannte Moment der Wirklichkeit.
In der Plötzlichkeit der unwillkürlichen Erinnerung verbinden sich
in eigentümlicher Form die Extreme des subjektiven Ergriffenseins
und der objektiven, unverfügbaren Wirklichkeit. Es ist auf der ei-
nen Seite das Erlebnis des subjektiven, leiblichen Berührtseins, das
Ergriffenwerden durch die hereinbrechenden Gedächtnisbilder, auf
der anderen die Begegnung mit einem Wirklichen, das in schlagarti-
ger Präsenz vor Augen steht.40 Es ist eine Spannweite, die unabhän-
gig von der Erinnerungsproblematik mit der Glückserfahrung, aber
auch anderen herausgehobenen Erlebnisformen, etwa der Kunst,
verbunden ist.41 Glück und Gelingen sind konstitutiv mit dem Ele-

38 Ebd., S. 292 (fr. S. 889).


39 Vgl. Rüdiger Bittner, »Warum rühren uns Erinnerungen?«, in: Günther
Bittner (Hg.), Ich bin mein Erinnern. Über autobiographisches und kollek­
tives Gedächtnis, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 71–78, hier
S. 73 ff.
40 Vgl. Hermann Schmitz, Phänomenologie der Zeit, a. a. O., S. 46–54.
41 Vgl. Robert Spaemann, »Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben«
in: Günther Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cann-
statt: 1978, S. 1–20.
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 81

ment des Ereignisses und unverfügbaren Geschehens assoziiert und


gerade darin nicht auf Weisen der Freude oder der Lust rückführbar,
die wir selbst hervorrufen oder steuern können.42 Glück wird nicht
gemacht, es stellt sich ein. Ebenso ist Glück jenseits eines subjek-
tiven Zustandes erlebter Befriedigung oder der neurologisch fest-
stellbaren oder beeinflussbaren Verfassung des Organismus; auch
die künstlich gesteigerte Euphorie eines bewusstlosen, in sich ver-
schlossenen Subjekts ermangelt des Weltbezugs, dessen ein authenti-
sches Glückserleben bedarf. Dass die Welt sich öffne, dass die Dinge
zu uns sprechen, ist die Erfüllung, auf welche das Glücksverlangen
gerichtet ist. Eine analoge Begegnung mit dem Wirklichen charak-
terisiert das unwillkürliche Erinnern als solches. In ihm kommuni-
zieren wir nicht nur mit Erinnerungsbildern, die aus dem Gedächt-
nisspeicher in uns aufsteigen, sondern mit der damaligen Welt selbst,
mit dem einstigen Erleben, mit der Person, die wir waren. Es ist
gleichzeitig ein Hinausgehen aus sich und Hineingeworfensein in
die Welt und ein Zurückgehen in die Tiefe des eigenen Erlebens und
Gewordenseins. Im Erinnern, so Proust, spüren wir »die Freude, das
Wirkliche wiedergefunden zu haben«43, ein Wirkliches, auf welches
die Erinnerung aus ist und das zuletzt nicht irgendeine ontologische
Wahrheit über das All, sondern das eigene Leben ist. Es ist »unser
wahres Leben«, mit dem uns die Erinnerung wie die Kunst in Be-
rührung setzen – »die Wirklichkeit, wie wir sie erlebt haben, wie sie
aber doch von dem, was wir glauben, so erheblich abweicht, dass
wir ein derart starkes Glück empfinden, wenn uns ein Zufall die
wirkliche Erinnerung verschafft«44, »jene Wirklichkeit, deren wahre
Kenntnis wir vielleicht bis zu unserem Tod versäumen und die doch
ganz einfach unser Leben ist.«45
In Erinnerung und Kunst des Lebens ansichtig werden heißt
nicht eine Realität vergegenwärtigen, die wir gegenständlich fest-
stellen und vermessen könnten. Jenes wahre Leben meint eine Wirk-
lichkeit jenseits des unmittelbar Greifbaren und Entgegenkommen-

42 Vgl. Emil Angehrn, »Glück und Gelingen«, in: Emil Angehrn / Bernard


Baertschi (Hg.), Die Philosophie und die Frage nach dem Glück / La philo­
sophie et la question du bonheur (Studia philosophica, vol. 56/1997), Bern /
Stuttgart / Wien: Haupt 1997, S. 125–138.
43 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 277 (übers. E. A.)
(fr. III, S. 879).
44 Ebd., S. 279 f. (fr. S. 881).
45 Ebd., S. 301 (fr. S. 895).
82 II.  Die Kunst der Erinnerung

den. Die Utopie des Erinnerns will »an das Unerreichbare rühren,
an jene stets zurückweichenden Fernen, von denen man auf Erden
immer nur die Richtung kennt«46. In sinnfälliger Weise verbindet
Proust – wie im Anschluss an ihn Adorno – dieses Hinaussein mit
dem Zauber des Namens, dem Klang der Namen von Familien und
Orten, die im Hören und Erinnern des Kindes über die umgebende
Welt und ihre alltäglichen Realitäten hinausweisen, auf die mit allen
anderen Lebewesen »unvergleichlichen«, in eine andere Welt ent-
rückten Vorfahren der Guermantes47, auf Dörfer, deren glücksver-
heißende Namen sie zum Ort der Sehnsucht werden lassen.48 Es
wird darauf zurückzukommen sein, inwiefern in diesem Erlebnis
die von Proust betonte Transzendenzbewegung mit dem Glücksver-
sprechen des Erinnerns verflochten ist. Festzuhalten ist der originäre
Bezug auf die Vergangenheit als Ort der Frühe, der Kindheit, der
Jugend. Gedächtnis und Erinnerung interessieren nicht einfach als
zeitüberspannende Registratur und Zurückgehen zu einem frühe-
ren Zeitpunkt. Das Vergangene kommt als Dimension der Herkunft,
aber auch des offenen Ausgriffs und der ausstehenden Zukunft in
den Blick.
Die Lebenserinnerung, in welche Proust die Suche nach der ver-
lorenen Zeit einschreibt, unterscheidet sich von der gleichsam epo-
chenindifferenten historiographischen Rekonstruktion, die sich
unter­schiedlichen Perioden und Zeiträumen zuwendet. Es geht um
eine Besinnung auf die Frühe, auf Ursprung, Anfang und Werden
eines Lebens, das sich in sich sammelt und sich in seiner Entste-
hung und seinem Werden, aber auch seinem Sichentgleiten gegen-
wärtig wird. Es ist getragen von den Ahnungen, den Ängsten und
den Hoffnungen des Kindes und des Jünglings, es begegnet sich in
dem, was es erstrebte und was ihm widerfahren ist.49 Das Ineinander
von Erkenntnis und Wiedererkenntnis kommt in der Erinnerung
dort para­digmatisch zum Tragen, wo diese in reflexiver Anwendung
dem Subjekt selbst zugekehrt ist, wo sie ein Sich-Finden und Sich-
Wiederfinden in der Zeit begründet. Solche Wiedererkenntnis ist

46 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 6: Die Flüch­
tige, a. a. O., S. 407 (fr. III, S. 693).
47 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 243 (fr. III, S. 856).
48 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1966, S. 364.
49 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 32 (fr. III, S. 27).
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 83

nicht Reduplikation eines früher Gekannten, sondern ein ursprüng-


liches Finden und Sichfinden in der wiedergefundenen Zeit. Das ori-
ginäre Glückserlebnis, nach dessen Grund Prousts Erzähler forschte,
ist essentiell mit diesem Sichfinden in der Zeit, diesem Sich-selbst-
Begegnen in der Ferne, im Dort und im Vergangenen verknüpft.
Nicht die abstrakte Allgemeinheit oder Zeitüberwindung, sondern
das Sich-Wiederfinden am alten, vertrauten Ort, das Wiedererken-
nen von Personen, mit denen wir gelebt haben, von Atmosphären,
in denen wir heimisch waren, ist dasjenige, dem die Suche nach der
verlorenen Zeit gilt, wobei sich dieses Wiederfinden mit der Ge-
wissheit verbindet, dass uns diese Begegnung eine authentischere,
tiefere Erkenntnis des eigenen Selbst gewährt als die unmittelbare
Selbstpräsenz. Die utopische Sehnsucht der Reminiszenz zielt nicht
abstrakt auf ein Jenseits der Vergänglichkeit, sondern auf das kon-
krete Mit-sich-Einswerden im Damals. Sie steht im Dienst eines
emphatischen Selbstseins, das gleichursprünglich ein Sichfinden und
Ganzwerden ist und als solches jenem Glück des unwillkürlichen
Erinnerns zugrunde liegt.

4.5  Unwillkürliche Erinnerung als Modell und Maßstab?

Dieses Glück, so zeigte sich, ist eine Erfüllung besonderer Art. Es


charakterisiert eine Erinnerung, die sich durch ihre Intensität und
Fülle, ihre herausgehobene Kraft des Erkennens und Wiedererken-
nens sowie ihre besondere Weise, Vergangenes in der Gegenwart
aufscheinen zu lassen, auszeichnet. Diese Erinnerung fungierte ge-
wissermaßen als Leitstern der Suche nach der verlorenen Zeit. Doch
ist klar, dass sie nicht mit der Erinnerung schlechthin konvergiert,
ebenso wenig wie die von Proust beschriebene Seligkeit der Ent-
rückung mit dem Glück der Ethik und des guten Lebens zusam-
menfällt. Nicht nur hat die in Psychologie, Geschichtswissenschaft
und Kulturtheorie ausgebreitete Gedächtnis- und Erinnerungspro-
blematik ihren Fokus nicht im unwillkürlichen Erinnern, sondern
in unterschiedlichsten Prägungen der Memoria vom Archiv über
Memorierungstechniken zum kritischen Geschichtsdiskurs. Auch
die autobiographische Wendung des Zurück- und Insichgehens
beinhaltet jenseits der punktuellen Selbstkoinzidenz über die Zeit
hinweg die mühsame Arbeit der Rekonstruktion und Artikulation
der eigenen Lebensgeschichte. Dennoch scheint unleugbar, dass die
84 II.  Die Kunst der Erinnerung

mémoire involontaire nicht einfach eine Sonderform des Erinnerns


neben anderen darstellt. Ihr kommt als Erlebensform eine genu-
ine Faszination zu, und sie hat einen speziellen Rang im Umgang
des Menschen mit der Zeitlichkeit seines Lebens, als ein Urbild der
Überwindung des Vergehens, ja, der Zeit selbst, als Vermittlung von
Zeit und Ewigkeit.50 Sie steht nicht berührungslos neben den ela-
borierten Formen der individuellen und sozialen Gedächtniskultur
und kann mit gewisser Berechtigung als Ausgangspunkt einer Er-
kundung der ›Gefilde und weiten Hallen‹51 der Memoria dienen. Für
Proust bildet sie einen Initialpunkt und ein bleibendes Movens der
Erinnerungsarbeit, und sie gibt dieser einen regulierenden Flucht-
punkt vor, mit dem sich die drängende Frage verbindet, ob und wie
es möglich sein wird, auf ganz anderen, umständlichen Wegen jene
Selbstpräsenz einzuholen, derer der Erzähler in seinem Leben mehr-
fach unversehens teilhaftig geworden ist.
Die Frage ist, in welchem Verhältnis die unwillkürliche Erinne-
rung – mit ihren Kennzeichen der Plötzlichkeit, der (Wieder-)Er-
kenntnis, der Gegenwärtigkeit und des Glücks – zur Erinnerungs-
problematik im Ganzen steht, inwiefern sie als Motiv und treibende
Kraft, aber auch als Modell und Maßstab des gelingenden Erinnerns
überhaupt fungieren kann. In Prousts Recherche, so Thomas Klin-
kert, fungiert sie nicht einfach als eine Erinnerungsform sui gene-
ris, sondern als Ausgangspunkt und Basis der Gedächtnisarbeit im
Ganzen: Es ist das »Zufallsgeschenk der mémoire involontaire«, das
die »Erinnerungsblockade« aufbricht und, indem sich die punktuelle
Reminiszenz lebensgeschichtlich ausweitet, eine »die Totalität der
Vergangenheit aus ihrer Latenz befreiende Bewegung« auszulösen
vermag.52 Doch bleibt die Frage, wie eine solche Dynamik zustande
kommt, und zuvor, wie sich die spontane Erinnerung zur Form der

50 Für Michael Theunissen bildet sie eine der Weisen, in denen der Mensch
die entfremdende Herrschaft der Zeit überwindet: Negative Theologie der
Zeit, a. a. O., S. 62 f.
51 Augustinus, Confessiones X. 8,12.
52 Thomas Klinkert, Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Sa­
muel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard, Romania Monacensia
Band 48, Tübingen: Günter Narr 1966, S. 36. – Ursula Link-Heer spricht
in diesem Zusammenhang von einem »gnadenhaften Inspirationserlebnis«:
Prousts ›A la recherche du temps perdu‹ und die Form der Autobiographie.
Zum Verhältnis fiktionaler und pragmatischer Erzähltexte, Amsterdam: B. R.
Grüner 1988, S. 248.
4.  Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 85

reflektierten Erinnerungsarbeit verhält. Die Frage betrifft die Seite


des Vollzugs wie des Ziels, den Ansatz und das Vorgehen der Er­
innerung ebenso wie ihre Erfüllung und ihr Glück.
Was die Struktur des Erinnerungsvollzugs angeht, so liegen Di-
vergenzen und Affinitäten auf der Hand: Während die Plötzlich-
keit ein Merkmal des unwillkürlichen Erinnerns ist, das eine klare
Differenz zur methodischen Gedächtnisarbeit markiert, bilden die
Wiedererkenntnis und die Gegenwärtigkeit des Vergangenen kon­
stitutive Momente der Reminiszenz, die in der unwillkürlichen Er-
innerung in schlagartiger Präsenz und vollendeter Gestalt realisiert
sind, doch ebenso für die langwierige Gedächtnisarbeit als Ziel und
Richtschnur dienen können. Es wird im Durchgang durch die ver-
schiedenen Formen, im Verfolgen der Wege und Umwege der Er-
innerung zu prüfen sein, inwiefern diese auf eine integrale Resti-
tution des Vergangenen abzielt und wieweit sie eine solche zu er-
reichen vermag. Gerade das klare Bewusstsein der Andersartigkeit
des Er­innerungs­vorgangs und des Abstands von jener reinen Ver-
Gegenwärtigung des Abwesenden gibt der Frage der Erinnerung
ihre i­nnere Gespanntheit.
Was die Seite des Ziels angeht, bleibt gleichermaßen zu verdeut-
lichen, in welchem Maße das Interesse und intrinsische Streben der
Erinnerung mit jener Sehnsucht nach dem Ursprung und dem Eins-
werden zur Deckung kommt oder von ihr her zu denken ist. Die
Explikation der Methoden und Wege der Erinnerung ist von der
Verständigung über deren Motive und Ziele, von der Frage nach dem
Wozu, dem anthropologischen Bedürfnis und dem lebensweltlichen
Ort der Erinnerung nicht abzulösen. Evidenterweise ist die histori-
sche und autobiographische Auseinandersetzung mit dem Vergan-
genen nicht als ganze von jenen überschwänglichen Utopien und
jenem ursprünglichen Begehren getragen, wie sie in der unwillkür-
lichen Erinnerung oder der Besinnung auf das Glücksversprechen
der Kindheit durchscheinen. Gleichwohl ist auch hier zu prüfen, ob
in diesen nicht eine existentielle Tiefenschicht berührt ist, welche der
Beschäftigung mit Geschichte generell, dem Bemühen um Rückge-
winnung der eigenen Vergangenheit im Besonderen zugrundeliegt.
Komplementär zum Anliegen und treibenden Impuls interessiert
schließlich die Zielvorstellung, das leitende Bild einer sich vollen-
denden, gelingenden Erinnerung. Das Glück der mémoire involon­
taire lässt offen, wieweit von seinem Kern her auch die Erfüllung, auf
welche Erinnerung im Ganzen aus ist, ihre ideale Bestimmung findet.
86 II.  Die Kunst der Erinnerung

Es wird nach der Erkundung der Linien und Schichten der Arbeit
des Gedächtnisses auf diese Frage zurückzukommen sein. Das nach
Ricœur die mannigfachen Gestalten des individuellen und kultu-
rellen Gedächtnisses übergreifende Ideal einer mémoire heureuse53
meint mehr als die Erfüllung der methodischen Normen historischer
Rekonstruktion. Er steht für eine Leitvorstellung des gelingenden
Lebens selbst. Sie zu explizieren bedeutet nicht nur die Natur des
Glücks aufzuhellen, welches dem Erinnern innewohnt, sondern sich
darüber zu verständigen, in welcher Weise Erinnerung und mensch-
liches Leben überhaupt in ihrem Wesen verschränkt sind.

53 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 537, 556, 643 ff.


5.  Vermittelte Erinnerung:
Die Wiedergewinnung des Vergangenen

5.1  Von der unmittelbaren zur vermittelten Erinnerung

(a) Das gemeinsame Ziel

Mittels der Kunst einzuholen, was die unwillkürliche Erinnerung


spontan gewährte, stand Prousts Erzähler als Ziel vor Augen. Das
Schreiben seines Lebens soll jene ursprüngliche Präsenz, jenes Glück
erleben lassen, deren wir im unmittelbaren Einswerden mit dem
Vergangenen teilhaftig werden. Es macht nach Proust geradezu die
»Größe der wahren Kunst« aus, uns jene Wirklichkeit erfassen zu
lassen, die uns so vielfach entgleitet und »die doch ganz einfach un-
ser Leben ist«; ja, das Kunstwerk gilt ihm als »das einzige Mittel, die
verlorene Zeit wiederzufinden.«1 So erscheint die mémoire involon­
taire nicht einfach als eine besondere Form des Gedächtnisses neben
anderen, die sich durch ihre Plötzlichkeit und Eindringlichkeit aus-
zeichnet, sondern als eine Erfüllung, die der Gedächtniskultur im
Ganzen als Norm und Leitziel eingeschrieben ist. Die Sehnsucht, die
Kluft der Zeiten zu überwinden, das Ferne im Hier und Jetzt anwe-
send werden zu lassen und das Vergangene erneut zu durchleben, im
Gedenken mit sich und den Dingen eins zu werden, diese Sehnsucht
findet in der unwillkürlichen Erinnerung ihre exemplarische Erfül-
lung. Es gehört zur eigentümlichen, paradoxen Macht der Kunst, an
eben jenes heranreichen und jenes verwirklichen zu können, was ihr
strukturell entgegengesetzt ist. Als das vom Menschen Hervorge-

1 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 301, 306 (fr. III,
S. 895, 899).
88 II.  Die Kunst der Erinnerung

brachte kann sie für das Natürliche und aus sich Werdende stehen,
als vollendete Kunst kann sie die Mühsal des Machens und die Spu-
ren des Hervorbringens tilgen und das Sich-selbst-Manifestierende
sehen lassen; als Gesetztes und Vermitteltes kann sie zum Ort der
neuen Unmittelbarkeit werden.2 Wenn es zur Aufgabe der Kunst
gehört, uns die Welt neu sehen zu lassen und uns im Medium der
Selbstbeschreibung auch über unsere eigenen Erfahrungen, unsere
Meinungen und Gefühle Klarheit gewinnen zu lassen, so geht eine
besondere Leistung, auch eine besondere Utopie der künstlerischen
Produktion dahin, uns in der Zeit wiederzufinden und im Vergange-
nen mit uns eins zu werden. Auch wenn solche Selbstpräsenz nicht
im Modus des plötzlichen Hineinversetzwerdens in andere Zeiten
und Räume zustandekommt, wie es sich in herausgehobenen Sinnes­
erlebnissen ereignet, kann doch das Ideal der Gegenwärtigkeit als
Telos der historischen Besinnung fungieren. Sich gegen den Fluss
des Entschwindens im Vergangenen einzuholen ist ein Verlangen,
das die erinnernde Lebensbeschreibung zuinnerst beseelt.
Viele Autoren haben Prousts Suche nach der verlorenen Zeit als
Leitmotiv ihres Schaffens aufgenommen und seine Frage reformu-
liert, wie auf dem Wege der darstellend-reflektierenden Entfaltung
ein Analogon jener ursprünglichen Fülle und Gegenwart zu errei-
chen sei. Das Vorbild der Recherche übt eine unverkennbare Faszi-
nation auf vergleichbare Bemühungen aus, sein Leben narrativ anzu-
eignen und sich dem unablässigen Entgleiten und Zunichtewerden
der Zeit zu widersetzen. Vorbild ist Prousts Roman sowohl in der
exemplarischen Instanziierung der Gegenwärtigkeit im unwillkürli-
chen Gedächtnis wie in der emphatischen Formulierung jenes künst-
lerisch-literarischen Projekts und schließlich in dessen unvergleich-
licher Verwirklichung in einem umfassenden Lebenswerk.
Als erstes ist es die nicht selbstverständliche Konvergenz des Ziels,
die vielen an Proust orientierten literarischen Bemühungen um das
Vergangene ihr Gepräge gibt. Sie unterscheiden sich darin von der
historischen Forschungspraxis, die in der Erkundung von Monu-
menten und Archiven frühere Ereignisse und Entwicklungen durch-

2 Henri Bergson, Denker der Unmittelbarkeit, attestiert gerade einem


»kühnen Romandichter« die Fähigkeit, unter dem Gewebe der Worte die
»unendliche Durchdringung« der Elemente ahnen zu lassen, durch die wir
»uns selbst wiedergegeben« werden: Henri Bergson, Sur les données immé­
diates de la conscience, Paris: Librairie Félix Alcan 1920, S. 101.
5.  Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 89

dringt und ein Verständnis unserer Zeit aus ihrer Herkunft erarbei-
tet. Nicht gegenständliche Informationen zu einem entschwundenen
Einst, nicht bezugslose Kenntnisse aus einem fernen Kontinent und
sedimentierte Spuren eines abgestorbenen Lebens interessieren die
rückschauende Lebensbeschreibung. Deren Antrieb und Zuwen-
dung gilt dem damals Erlebten in seiner originalen Gegenwart, dem
früheren Geschehen als einem Unvergangenen, das in der verbor-
genen Tiefe des Lebens bewahrt ist und als nicht-vergangenes her-
aufgerufen und zum Leben erweckt werden soll. Jenseits der Suk-
zession der mechanischen Zeit, des Außer- und Nacheinander der
sich ablösenden Episoden und Bewegungen geht es um eine innere
Gemeinsamkeit, eine Kopräsenz der Zeiten in einer intensiven Ge-
genwart. Indem sie daran partizipiert, teilt die Lebensbeschreibung
ein Wesenselement der unwillkürlichen Erinnerung, in welcher ein
Vergangenes unversehens auftaucht und als es selbst, als ein einst-
mals Erlebtes und Reales in das aktuelle Hören und Sehen einbricht.
Es ist ein Element, das der Erinnerung als solcher innewohnt, sofern
diese – nach einer Beschreibung von Stephan Grätzel – die Ahnung
von einem Unvergangenen in sich trägt, das sie wiedererlangen will:
als Ahnung von einem früheren Jetzt, bei dem wir dabei waren, aber
auch von einem fernen Selbst, einer unvergangenen Subjektivität, als
die wir selbst inmitten der Dinge waren und unser Leben führten.3
Beides wird zum Gegenstand der Sehnsucht, deren Ursprünglich-
keit und Stärke eben darin liegt, dass sie nicht auf die Wiederkunft
irgendeines Geschehens, die Erweckung eines objektiven Ereignis-
ses in seinem originalen Ansichsein, sondern auf das Ferne als das
­Eigene, das unvergangene Selbst geht. Erinnerung strebt nicht ein-
fach nach der kognitiven Einholung und erklärenden Strukturierung
früherer Taten und Geschehnisse, sondern nach der Ver-Gegenwär-
tigung eines Vergangenen als eines einst Gegenwärtigen, Anwesen-
den und Erlebten, und sie gewinnt eine besondere Eindringlichkeit
dort, wo sich die Suche nach der verlorenen Zeit mit der Besinnung
auf das Leben und dem Schreiben seines Lebens verschränkt.
Ungezählte literarische Werke lassen dieses Streben als treibendes
Motiv erkennen. Die Geschichte der Autobiographie versammelt
Werke aus allen Zeiten und Kulturen, die in vielfältigsten Varian-
ten Zeugnis vom Bedürfnis ablegen, sein Leben beschreibend ein-

3 Stephan Grätzel, Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und Ver­
gessen, a. a. O., S. 140, 172 f.
90 II.  Die Kunst der Erinnerung

zuholen, in der »Selberlebensbeschreibung«4 sich selbst und seine


Zeit zu finden. Stellvertretend sei auf ein Werk der letzten Jahre
hingewiesen, das sich in einer hartnäckigen, geradezu obsessiven
Anstrengung des Festhaltens und immer wieder neu ansetzenden
Aufschreibens dem Versuch widmet, »die ganze Zeit von damals
bis jetzt«, »die ganze Gegend«, in der das Leben spielte, zu erzählen,
»und alles herbeizureden, was nicht mehr ist.«5 Die Bücher von Peter
Kurzeck, namentlich der unabgeschlossene Romanzyklus Das alte
Jahrhundert, illustrieren sowohl die beharrliche Disziplin des nie
zum Ende kommenden Schreibens wie den tiefen Wunsch, die Zeit
anzuhalten, den Ort der Kindheit wiederzufinden und zuletzt, wenn
das Schreiben gelänge, im Leben geborgen, gerettet zu sein.6 In der
unablässigen Notier- und Schreibarbeit äußert sich das Bedürfnis, ja,
wird es geradezu in Szene gesetzt, sowohl die tiefgreifende Verän-
derung der Landschaft zu erfassen und diese gegen ihr Verschwin-
den festzuhalten wie sich der eigenen Identität, des Selbst, das man
war und geworden ist, zu vergewissern. Es ist ein Sich­abarbei­ten an
der Flucht der Zeit, das sich dem Verlust der Welt und des eigenen
Selbst widersetzt.

(b) Der Umweg der Kunst

Wenn viele Autoren der Spur des Proustschen Erzählers gefolgt


(oder ihm auf seinem Weg vorausgegangen) sind, so bleibt ihr Un-
ternehmen immer der Schwierigkeit ausgesetzt, die Proust überdeut-
lich zum Ausdruck bringt. Wie kann es gelingen, sich im Medium
der bewussten, reflektierten Gedächtnisarbeit jenem Glück der un-
willkürlichen Erinnerung anzunähern, an jener Gegenwärtigkeit des
Selbst im Vergangenen teilzuhaben? Zwischen der unmittelbaren
Selbstpräsenz und der vermittelten Rekonstruktion des Vergange-
nen scheint eine unüberbrückbare Kluft zu bestehen. Die Hetero­
genität der Bewusstseinsformen stellt die Konvergenz des Ziels in

4 So der von Jean Paul geprägte Begriff: Selberlebensbeschreibung [Frag-


ment, posthum 1826], in: Sämtliche Werke, hg. von Norbert Miller, Abtei-
lung I. Sechster Band, München: Hanser, München 1963.
5 Peter Kurzeck, Vorabend, Frankfurt am Main / Basel: Stroemfeld / Roter
Stern 2011, S. 690, 791 passim.
6 Peter Kurzeck, Übers Eis, Basel / Frankfurt am Main: Stroemfeld / Roter
Stern 1997, S. 37, 289.
5.  Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 91

Frage, die verlorene Zeit zurückzuholen und in ihr sich selbst wie-
derzufinden. Es ist ein Problem, das sein Echo nicht nur in der von
Prousts Erzähler beschworenen eminenten Schwierigkeit seines
Vorhabens findet, sondern das sich auch in der literarischen Form
des Proustschen Romans widerspiegelt. In diesem, so Thomas Klin-
kert, ist die Paradoxie der »erzähllogisch unmöglichen Aufhebung
der Mittelbarkeit« durchaus mitreflektiert.7 Einen Reflex findet die
Aporie, »die außerdiskursive Erfahrung« des plötzlichen Aufschei-
nens des Vergangenen »in ein diskursives Kunstwerk umsetzen«8 zu
müssen, im oszillierenden Arrangement der Perspektiven des erin-
nernden, erzählenden und schreibenden Subjekts, näherhin in der
Integration des Erinnerungsakts in die erinnerte Zeit (der Fusion
von erinnerndem und erinnertem Ich) bei gleichzeitiger Ausblen-
dung des Schreib- und Erzählakts.9 Es kann an dieser Stelle nicht
um die literaturwissenschaftliche Analyse dieser – auch im Kontrast
zu anderen autobiographischen Texten aufschlussreichen – Kons-
tellation gehen, sondern nur um den bemerkenswerten Umstand,
dass das gedächtnistheoretische Problem, das Prousts Konzept der
mémoire involontaire aufwirft, in seinem eigenen Werk einen mehr-
schichtigen Ausdruck findet. In der Sache interessiert die Frage, wie-
weit die beiden Erinnerungsformen einander fremd oder verwandt
sind, auf welchem Weg trotz der strukturellen Differenz eine Ein-
holung jenes Ziels auch auf dem Umweg einer methodischen Ge-
schichtsforschung und erzählenden Darstellung möglich ist.
Beeindruckend ist, mit welchem Nachdruck zahlreiche Autoren
die Distanz der originären Erinnerung zum Geschichtenerzählen
unterstreichen. Dabei kann der Akzent der Distanzierung unter-
schiedlich sein, entweder das Ungenügen des Erzählens zugunsten
einer anderen Form historischer Reminiszenz herausstreichen oder
seine Andersartigkeit gegenüber der ursprünglichen Erinnerung be-
tonen. Auf Ersterem beharrt Claude Lanzmann, wenn er sich un-
nachgiebig dagegen wehrt, das Menschheitsereignis des Holocaust
im Format von Hollywoodfilmen und TV-Unterhaltung zu verge-
genwärtigen. Die singuläre Negativität von Leiden und Erniedri-

7 Thomas Klinkert, Bewahren und Löschen, a. a. O., S. 43.


8 Ebd., S. 53 (vgl. S. 106: »jene irreduzible Differenz zwischen der zeichen-
losen Evidenzerfahrung der mémoire involontaire und ihrer semiotischen
Umsetzung«).
9 Ebd., S. 46, 54.
92 II.  Die Kunst der Erinnerung

gung sperrt sich gegen die befriedende Integration in die chrono-


logische Ordnung und narrative Form.10 Verlangt ist eine grundle-
gend andere Weise, »das Vergangene als Gegenwärtiges aufzuerwe-
cken, es in einer zeitlosen Aktualität wiederherzustellen«, jenseits
des Erzählens von Geschichten und Pflegens von Erinnerungsbil-
dern (souvenirs).11 Geht es hier um eine Divergenz aufgrund des
besonderen Inhalts und Status des Gegenstandes, so in anderen Fäl-
len um das generelle Auseinanderdriften von lebendigem Erinnern
und erzählender Vergegenwärtigung. »Wer seine Erinnerungen er-
zählt«, insistiert Botho Strauß, »befindet sich nicht im Zustand der
Er­inne­rung«, in jenem Zustand der Überwältigung durch ein ori-
ginales Damals, wie es sich spontan einstellt oder durch bestimmte
Sinnesempfindungen, etwa musikalische Hörerlebnisse, jenseits je-
des Erinnerungsakts heraufgerufen werden kann.12 Historische Re-
konstruktion ist als »anachronistisches Wissen« durch den Verlust
des gelebten Inne­seins gekennzeichnet und in die Nachträglichkeit
retro­spektiver Erforschung und Formbildung verbannt.13 Der af-
fektiven Intensität des plötzlichen Gegenwärtigwerdens bleibt sie
unangemessen, wie umgekehrt dieses gleichsam zurückgedrängt
werden muss, um den Raum der kognitiven Aneignung zu öffnen;
ja, es bedarf dazu nach Strauß einer »Zähmung der Erinnerung«,
die nicht als lebendige in die Erzählung eingehen kann: »Fügt sich
Erinnerung, so schwindet sie schon.«14 Es ist eine zweifache Inad-
äquanz, welche die historische Reflexion von der unwillkürlichen
Erinnerung trennt: einerseits der Abstand der nachträglichen Ver-
gegenwärtigung von der ursprünglichen Kopräsenz der Zeiten, an-
dererseits die Heraus­lösung des Erzählers aus dem erlebensmäßigen
Involviertsein in das Vergangene. Dieses ist im strengen Sinne nur
dem damaligen Subjekt offen, nicht in gleicher Weise einem Beob-
achter zugänglich oder einem Dritten mitteilbar. Die verlorene Zeit,
das verlorere Selbst sind die eigenen, die ich mit keinem teilen kann.15
Das originäre Präsenzerlebnis, dessen wir in der unwillkürlichen
Erinnerung teilhaftig werden, ist der willentlichen Erinnerung nicht

10 Claude Lanzmann, La tombe du divin plongeur, a. a. O., S. 489 f., 502 f.;


siehe unten Kap. 9.
11 Ebd., S. 513.
12 Botho Strauß, Herkunft, a. a. O., S. 62, 70.
13 Ebd., S. 71.
14 Ebd., S. 89.
15 Vgl. ebd., S. 90.
5.  Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 93

verfügbar, durch historische Erkundung und narrative Ausbreitung


nicht herstellbar. In gewisser Weise verkümmert die Vergangenheit,
wenn sie in der Erzählung nach außen gebracht, als gegenständliches
Gebilde nach den eigenen Formprinzipien der Erzählung entfaltet
wird. Die Bestandteile unseres Lebens, mit deren individueller Ge-
stalt und Färbung wir im Innersten verbunden sind, verlieren ihre
Nähe, wenn sie in Episoden eines Romans transformiert werden. Sie
sind fortan ›dem Roman enger zugehörig als dem früheren Selbst‹,
so dass, wie Vladimir Nabokov in seinem Lebensbericht bezeugt,
der Mensch in ihm sich geradezu gegen den Romanschriftsteller em-
pört, wenn er verzweifelt versucht, das Gewesene in seiner Origina-
lität gegen die Veräußerung zu retten.16 Der Hiatus zwischen den Be-
wusstseins- und Darstellungsformen scheint unhintergehbar, so dass
zugleich fraglich wird, wieweit ihnen in der Tat eine gemeinsame
Sehnsucht nach Einholung der Zeit und Wiederfinden seiner selbst,
zuletzt eine identische Glücksvorstellung als Leitidee innewohnen
kann. Gegen die vorschnelle Angleichung von Leben und Erzäh-
lung ist von der Sperrigkeit der Lebensgeschichte gegen die narrative
Verlaufsform ebenso auszugehen wie von der Diskrepanz zwischen
der unvermittelten Präsenz und der methodisch-rekon­struk­tiven
Gedächtniskultur. Gleichwohl darf die Differenz nicht zur Bezie-
hungslosigkeit verfestigt werden. Zu eindeutig, zu emphatisch sind
die Zeugnisse des Wunsches nach Wiedergewinnung der verlorenen
Zeit in der historischen Erinnerung, in der Selbstbesinnung, in der
Lebensbeschreibung. So bleibt die Frage erneut und grundsätzlich
aufzunehmen, in welcher Weise, auf welchen Wegen die vermittelte
Erinnerung zustandekommt und inwiefern es ihr gelingen kann, sich
jener Erkenntnis, jener Überwindung des Vergehens und jener Er-
füllung anzunähern, die in der unwillkürlichen Erinnerung so ein-
drucksvoll erlebt werden.

5.2 Mittelbare Vergegenwärtigung (I):


Spurensuche, Zurückgehen, Wiedererleben

Das Vergangene selbst wiederzufinden verlangt, die Kluft zwischen


den historiographisch tradierten Inhalten und dem damaligen Er­

16 Vladimir Nabokov, Erinnerung sprich. Wiedersehen mit einer Autobio­


graphie, a. a. O., S. 121.
94 II.  Die Kunst der Erinnerung

leben schließen zu können. Die Frage ist, ob es Methoden der Erfor-


schung, Techniken der Erinnerung gibt, die eine indirekte Erschlie-
ßung der Vergangenheit in ihrem originalen Gewesensein ermögli-
chen. Unterschiedliche Wege zu diesem Ziel sind in Theorie, histo-
rischer Praxis und Erinnerungsliteratur beschrieben und beschritten
worden. Sie stehen für das Bemühen, Spuren zu eruieren und zu
sichern, Dokumente zu lesen und zu interpretieren, Residuen zu
erhalten, Dinge sprechen zu lassen und vergangene Zeiten darstel-
lend zur Sprache zu bringen. Beinahe in mimetischer Annäherung
an Prousts unwillkürliche Erinnerung stellt uns Patrick Modiano ein
literarisches Schreiben vor Augen, in welchem er wie in einer Art
Tagtraum durch die Straßen von Paris schlendert, worin sich alte
Eindrücke und gegenwärtige Erlebnisse, Orte und Zeiten ineinan-
der schieben und die Stadt ihm wie zu einem »großen Palimpsest«
wird, in welchem nichts vollständig verschwunden ist und die alten
Einschreibungen in späteren Überschreibungen lesbar werden. Es
geht nicht nur um eine Rückkehr zu den alten Orten und Ereignis-
sen selbst, sondern um das Entziffern eines chiffrierten Textes, wie
das Entziffern einstmals gesendeter Morsezeichen, worin vieles, was
damals unsichtbar und verworren blieb, zwanzig Jahre später ins
Licht rückt und verstehbar wird.17 Es gibt, meint Modiano, keinen
anderen Weg, um die Zonen des Vergessens zu durchdringen und je-
nes Erleben wiederzufinden, als in bestimmte Straßen und Quartiere
zurückzukehren und dort, wie auf der Lauer, einen Nachmittag zu
verweilen. Ähnlich wie Prousts Erzähler berichtet er von der eigen-
tümlichen Empfindung auf solchen Promenaden und bei solchem
Verweilen, wenn er wie einem nicht gealterten anderen Ich, einem
Zwilling begegnet, der in allem weiter lebt, oder wenn er »wie eine
Art Klick, jenen leichten Schwindel spürt«, der uns »jedesmal er-
greift, wenn sich in der Zeit ein Spalt auftut«, ein Spalt, durch den
gleitend wir »alles, unberührt« wiederfinden könnten.18
Zur Illustration solcher Rückkehr sei erneut auf das Werk von
Peter Kurzeck verwiesen, das in eindringlicher Weise das Anliegen
einer Wiedererweckung entschwundener Zeiten verfolgt und sich
zugleich reflexiv mit der Not des Erinnerns auseinandersetzt. Wie

17 Patrick Modiano, L’herbe des nuits, Paris: Gallimard 2012, S. 40, 114, 118,
124; vgl. das Interview: www.gallimard.fr/Media/Gallimard/Entretien-ecrit/
Entretien-Patrick-Modiano-L-herbe-des-nuits.
18 Patrick Modiano, L’herbe des nuits, a. a. O., S. 131, 12, 14.
5.  Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 95

soll man, wie kann man die Zeit erzählen, so lautet die obstinat wie-
derkehrende Leitfrage. Solches Erzählen, so die Antwort, lebt als
erstes von der Rückkehr: vom bewussten Zurückgehen in vertraute
Lebenswelten, ins Dorf, in dem man aufgewachsen ist, zu Szenen
der Kindheit, die man in sich aufgenommen hat, in Landschaften,
mit denen man groß geworden ist und deren Veränderung man er-
lebt hat. Solches Zurückgehen heißt, in der Imagination oder auch
der realen Rückkehr, Situationen erneut durchleben, Atmosphä-
ren und Gefühle auf sich einwirken lassen, aufs Neue in den Wald
hinein­gehen, die Zimmer eines Hauses durchsuchen, durch Straßen
schlendern, die voller Erinnerungsbilder, voller Anklänge an Erleb-
tes und Erzähltes, an Geliebtes und Gefürchtetes, an bekannte und
fremde Menschen sind. Oft bedarf es des geduldigen, mehrmaligen
Durchstreifens eines alten Quartiers, bevor verwischte Spuren ans
Licht treten und verschlossene Register sich öffnen.19 Es ist ein Zu-
rückgehen, das einerseits mit der Tätigkeit des Sammlers paktiert,
der verlassene Gegenstände erwirbt, sie ordnet und pflegt und die
in ihnen kristallisierten Geschichten konserviert20, andererseits sich
als ein Insichgehen vollzieht, als ein Werden zu dem Kind, dem sich
die Welt öffnet und das ihre verwirrenden, faszinierenden Eindrücke
in sich aufnimmt, als ein Zurücktasten und Sich-zurück-Fühlen, als
ob wir wieder dort, wieder dabei wären. Es ist einerseits ein Fest-
halten und Bewahren dessen, was sich auflöst und entschwindet, an-
dererseits ein Sich-selbst-Zurückversetzen in die ursprüngliche Zeit
des Geschehens und Erlebens. In bunter Vielfalt und anschaulicher
Nähe beschreibt Kurzeck Szenen solcher Begegnung mit Menschen
und Orten, aber auch die iterierten, wie in sich kreisenden Bewe-
gungen des Zurückblickens und wiederholten Suchens und Durch-
laufens. Es ist wie das Anrennen gegen das Vergehen der Zeit, ein

19 Vgl. Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 949 f.; Patrick Modiano, Dora


Bruder, Paris: Gallimard 1997, S. 13.
20 Anschaulich schildert Kurzeck diese Haltung in ihrer Affinität zur Er-
innerung (Vorabend, a. a. O., S. 215 f.): »Man kriegt nirgends Ersatzteile her.
Gerade deshalb muss er das alte Zeug kaufen, muss es auslösen, retten, be-
wahren, zurückkaufen und sich darum kümmern, damit es nicht ganz ver-
schwindet. Bringt jedesmal etwas mit heim und muss das alles reinigen, re-
parieren, in die Reih machen, muss es heilen und trösten und pflegen. Immer
mehr von dem alten Zeug. Als ob es die Zeit selbst ist, die Zeit und die Er-
innerung an die Zeit, die immer wieder mühsam herbeigeschafft und wieder
hergestellt und erneuert werden muss.«
96 II.  Die Kunst der Erinnerung

unablässiges Sichwehren gegen das Entgleiten dessen, was war, und


dessen, was wir selbst waren. Es ist ein Sichwehren, das nicht zum
Abschluss kommt und doch nicht von seinem Begehren ablassen
kann, das von der Hoffnung des Rettens, des Einholens und Sich-
findens getragen und weitergetrieben ist.
Komplementär zur Bewegung des Zurückgehens kommt das
vorausweisende Offensein des Gewesenen, das Vorausgreifen und
Hinausschauen zum Tragen. Zurückblendend, als ob wir selbst als
Kind durch die Straßen gingen, evoziert Erinnerung ein Dabeisein,
das sich im Moment des Erlebens selbst der Welt zuwendet, sie in
sich aufnimmt, sich das Gehörte und Gesehene merkt und gewisser-
maßen für künftiges Wiederkommen bereithält. Sich alles merken,
wird in Kurzecks erinnernden Beschreibungen zum Pathos des le-
bensgeschichtlichen Erfahrens, zu einer gewissermaßen rückproji-
zierten Haltung des intensiven Aufnehmens und vorausgreifenden
Bewahrens. Es ist wie eine Stiftung des Gedenkens in der Gegenwart,
ein Sichsträuben gegen das Vergehen nicht erst ex post, sondern
im Moment des Erlebens selbst. Kurzeck macht sie an Momenten
der kindlichen Neugier, des Herumstehens, Zuschauens, Gaffens
fest, die ihr Echo in späteren Akten des Zurückgehens, des Stehen-
bleibens, Sichumdrehens, Nachschauens haben.21 Das nachträgli-
che Wiederfinden und Aufschreiben hat sein Fundament in einer
Lebensform, die von vornherein vom Interesse am Festhalten, am
künftigen Erinnern bewegt ist – alles einsammeln, festhalten, uns mit
allem beladen, was wir sehen und erleben, »als ob wir hier gehen,
damit wir das einmal wiederfinden in unsrem Gedächtnis«.22 Es ist
ein ursprüngliches Bedürfnis, wie ein Zwang und eine eigentümliche
Pflicht, die der Erzähler spürt, wieder und wieder über die Straßen
und Plätze zu gehen, sich alles zu merken, damit es nicht im Ver-
gessen der Leute untergeht23, ein Gefühl, das nicht erst im späteren
Aufschreiben da ist, sondern im Moment des Erlebens selbst aufbre-
chen kann: »Manchmal merkt man, das wird jetzt ein Augenblick,
an den man sich sogar noch im nächsten Leben erinnert. Erst nur
ein Augenblick und vielleicht dann der ganze Tag so. Oft Wochen
sogar. Und dann später ist einem, als ob die Zeit immer noch da.«24

21 Ebd., S. 744, vgl. 853, 858.


22 Peter Kurzeck, Übers Eis, a. a. O., S. 259, 301.
23 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 858.
24 Ebd., S. 853.
5.  Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 97

Zum Ausdruck kommt in solchen Beobachtungen eine Schicht


des bewussten Lebens, die dieses zutiefst in seiner Zeitlichkeit ver-
ankert und es als Ganzes mit der Dynamik des Erinnerns und Ver-
gessens verschränkt. Zwar ist der Grundzug der Memoria durch die
Retrospektive definiert und die Logik der Erinnerung primär durch
Akte der Rückschau und nachträglichen Ver-Gegenwärtigung, der
Wieder-Erinnerung bestimmt. Doch ist es eine interessante, auch
in der phänomenologischen Analyse bestätigte Beobachtung, dass
das Erinnerungsphänomen jenseits dieser Lokalisierung das zeit-
liche Erleben als ganzes durchdringt, auch die Verwiesenheit des
aktuellen Erlebens auf den antizipierten Rückblick einschließt. Das
Futurum II, das nach der Existenzphilosophie den Selbstentwurf
grundiert – ich bin, der ich gewesen sein werde, als den ich mich
dereinst rückblickend beschreiben werde –, formuliert auch ein Mo-
ment des Erinnerungswesens Mensch, das in dem ganz in der Ge-
genwart aufgehenden Wahrnehmen und Sich-Merken zugleich den
Grund der Erinnerung legt.25 Das intensive Offensein und Dabeisein
reflektiert sich im zurückkehrenden Erleben und Stehenbleiben, ei-
nem Anhalten der Zeit, in welchem die Dinge anfangen zu sprechen,
in einem immer wieder Anschauen, Sortieren und Umsortieren der
Bilder im Kopf, einem Schreiben, das die Vergänglichkeit durch-
dringt und danach verlangt, das Entschwundene ins Jetzt zu holen
und die Zeit zum Stillstand zu bringen.26 Der antizipierte Rückgriff
ist das Pendant zum retrospektiven Vorgriff, der ein Vergangenes im
Ausgriff auf Späteres beschreibt und nach Danto das Grundgerüst
der erinnernden Erzählung bildet. Dieser Zirkel der Verweisungen
bildet den Raum, in dem man einen Augenblick, einen Morgen, ei-
nen Tag in aller Ausführlichkeit beschreibt, »als ob man ihn wieder
und wieder erlebt«27, den Raum, in dem wir Erinnerung sprachlich
entfalten im Versuch, alles herbeizureden und festzuhalten, immer
weiterzureden und weiterzuschreiben, die Zeiten und die Welten
zu erzählen.

25 Vgl. Emil Angehrn, »Die unabschließbare Erinnerung. Der Kreis des


Lebens und die Zukunft des Vergangenen«, in: Stefan Berg / Hartmut von
Sass (Hg.), Regress und Zirkel. Figuren prinzipieller Unabschließbarkeit:
Architektur – Dynamik – Problematik, Hamburg: Meiner 2016, S. 56–73.
26 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 744, 997; Übers Eis, a. a. O., S. 294.
27 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 67.
98 II.  Die Kunst der Erinnerung

5.3 Mittelbare Vergegenwärtigung (II):


Sprache als Ausdruck und Reflexion

Sprache bildet das Medium, in welchem die konkrete Vergegenwär-


tigung des Vergangenen stattfindet. Sprache ist nicht das einzige,
aber das bevorzugte Instrument dieser Vergegenwärtigung. Sie ist
dies dank der ihr eigenen Mächtigkeit, als das vielseitigste, differen-
zierteste und weitreichendste Mittel des menschlichen Selbst- und
Weltverhältnisses, als Organon des Denkens und des Ausdrucks, der
Darstellung und der Kommunikation. Sie ist das Element, in wel-
chem die willentliche Gedächtnisarbeit der unwillkürlichen Erinne-
rung nacheifert. In der Sprache findet die vermittelte Annäherung
an jene unmittelbare Selbstpräsenz statt, die der Suche nach der ver­
lorenen Zeit als Fluchtpunkt vor Augen steht.
Als sprachlich vermittelt zeigt sich nicht erst die darstellende Ver-
gegenwärtigung, sondern schon die Erschließung des Lebens. Dar-
auf verweist mit Nachdruck Proust selbst, wenn er, gleichsam The-
oreme aus späteren Diskussionen vorwegnehmend, das Schreiben
als Übersetzen charakterisiert und auf die Verschränkung von Lesen
und Schreiben abhebt. Der Schriftsteller, der sein Leben schreiben
will, übersetzt einen Text, den er in sich selbst liest, so dass er »dieses
wesentliche Buch, dieses einzig wahre Buch«, an dem ihm gelegen
ist, »nicht im landläufigen Sinn erfinden, sondern, da es in jedem von
uns bereits existiert, übersetzen muss.«28 Wenn wir in uns schauen
und vergangene Erlebnisse, Gefühle, Handlungen vergegenwärtigen,
so begegnen wir nicht nur Bildern, Stimmungen und Eindrücken,
sondern Erzählungen, Geschichten und Deutungen. Das Erinnern
und Niederschreiben fängt nicht von einem Nullpunkt an, sondern
schreibt sich in einen Prozess des Artikulierens und Sichauslegens
ein, in welchem das Leben für sich selbst sinnhafte Gestalt annimmt
und erzählbar wird.29 In sich hineinhören, auf sein Leben zurück-
schauen ähnelt einer Arbeit des Entzifferns und Transkribierens,
mittels deren wir den Sinn jener einzigen Wirklichkeit erkunden,
die unser Leben ist. Denn jenes innere Buch, das »mühsamer zu
entziffern ist als jedes andere«, ist auch das einzige, dessen Schrift-

28 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 294 (fr. III, S. 890).
29 Vgl. Ricœurs Situierung der narrativen Konfiguration zwischen der
voraus­gehenden lebensweltlichen Präfigurierung und der nachträglichen
Refigurierung in der Lektüre und Rezeption: Paul Ricœur, Temps et récit.
Tome I, Paris: Seuil 1983, S. 85 ff., 116 f.
5.  Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 99

zeichen vom Wirklichen selbst »in uns eingegraben, nicht von uns
eingezeichnet« sind.30 Doch sind es nicht stumme Prägungen, son-
dern Zeichen, die zu uns sprechen und die wir in ihrer Bedeutung,
als Schrift des Lebens lesen und interpretieren, als Text neu- und
weiterschreiben. Nach beiden Seiten wird der Konnex von Lesen
und Schreiben in der Texttheorie herausgestellt. Während die Rezep-
tionsästhetik das Lesen als ein Schreiben, als kreatives Mitkonstitu-
ieren des Textes expliziert, betont die Dekonstruktion das Schreiben
als ein Lesen, als reproduzierendes Erschließen und Um-Schreiben
einer je schon vorausgehenden, in Gang befindlichen Einschreibung.
So unterstreicht auch Proust, dass die schreibende Erschließung des
Buchs des Lebens keine rezeptiv-passive, sondern eine aktiv-kon­
struk­tive Tätigkeit ist, eine in sich zurückkehrende Selbstverständi-
gung und kreative Selbstexplikation, in welcher wir durch nieman-
den vertretbar sind und die als Lektüre wie als Ausdruck gleicher-
maßen hindernisreich ist – eine Lektüre als »Schöpfungsakt, bei dem
kein anderer uns ersetzen oder auch nur mit uns zusammenwirken
kann. Wie viele wenden sich denn auch vom Schrei­ben ab!«31 Und
doch ist es eben diese Selbstfindung, der das tiefste Interesse, das
Verlangen des Schreibens gilt.
Sein Leben schreiben ist nicht ein Modus des gegenständlich re-
gistrierenden Festhaltens. Vielmehr ist es eine Form des Sich-zu-
sich-Verhaltens. Es ist ein Akt der Selbsterkundung und des Aus-
drucks seiner selbst. Selbstbeschreibung ist darin ein ursprüngliches
Sprachverhalten, verweist auf jenen Ursprung des Sprechens, der
im Ausdrucksverhalten liegt. Sprache ist ein Sichäußern des Lebens,
ein Zur-Sprache-Bringen des Denkens und Seins. Als Ausdruck ist
sie nicht Reduplikation eines Vorliegenden, schon Erkannten in ei-
nem anderen Medium, sondern ein originäres Suchen und Finden,
welches dem Gedanken erst seine Bestimmtheit verleiht und unser
Leben in konkreter Gestalt gegenwärtig werden lässt. Sprechen ist
Formgebung, in der Erforschung der Welt wie des eigenen Lebens.
Sich-Ausdrücken entspricht einem ursprünglichen Bedürfnis des
Lebendigen, als ein Prozess, in welchem das Lebendige sich nach
außen wendet, in die Äußerlichkeit tritt und gleichzeitig sich selbst
aneignet und sein Leben gestaltet. Es ist ein Bedürfnis, das in ähnli-
cher Weise die künstlerische Produktion und ebenso das Schreiben,

30 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 278 (fr. III., S. 880).
31 Ebd., S. 277 (fr. III, S. 879).
100 II.  Die Kunst der Erinnerung

im Besonderen das Schreiben des Lebens durchzieht. Der Autor,


der seine literarischen Figuren aus seiner Lebenswirklichkeit nimmt,
»die er, wie jeder Autor, ausbeuten muss«, vollzieht sein Schreiben
als umfassenden Selbstfindungsprozess, in welchem »Erzählen und
Enthüllen und Zweifeln und Nachdenken und Über-sich-selbst-Re-
den« sich in mannigfacher Weise durchdringen.32 Es ist ein Schreiben,
in dem sich das Entfalten von Erinnerungen mit dem Spüren und Er-
tasten der eigenen Befindlichkeit, der Suche nach dem Unausgespro-
chenen und der reflektierenden Verständigung über sich überlagert.
Im Ganzen zeigt sich solches Sprechen und Schreiben als ein
Modus des Zusichkommens, in welchem idealiter jenes Beisichsein,
das den Brennpunkt der unwillkürlichen Erinnerung ausmachte, auf
indirektem Wege zurückgewonnen, das verlorene Selbst wiederge-
funden wird. Sprache ist nicht der einzige Träger solcher inten­tio­
nal herbeigeführten Unmittelbarkeit. Die rituelle Wiederholung
mythischer Ursprünge ist eine exemplarische Wiederbelebung von
Gründungsgeschehnissen oder kosmischen Konflikten, ein sinnlich-
körperliches, szenisches Durchleben des Vergangenen in ursprüng-
licher Präsenz. Zu solcher elementarer Reminiszenz stellen Histo-
rie und Geschichtsforschung den strukturellen Gegenpol dar, nicht
auf Evokation und Identifikation, sondern auf Repräsentation und
diskursive Bearbeitung gerichtet.33 Allerdings muss dies nicht hei-
ßen, dass Geschichtsschreibung und sprachliches Gedenken jenes
Ziel verabschiedet haben. Vielmehr gehört es zur eigenen Utopie der
Sprache, sich im Vergangenen zu finden und jenes Einswerden mit
den Dingen und mit sich zu realisieren, das ihr unausweichlich zu
entgleiten scheint. Auch der Historiker, nicht nur der Dichter oder
der Zermonienmeister ruft das Vergangene herauf, stellt das Ge-
dächtnis eines Volks wieder her. Sprache gehört zu jenen kulturellen
Praktiken, mittels deren Individuen und Gesellschaften sich äußern,
sich über sich und die Welt verständigen und ein Bild der Dinge und
ihrer selbst hervorbringen. Wenn Kultur in der Sozialkritik zum
Teil als Sphäre der Äußerlichkeit und Entfremdung34 gebrandmarkt

32 Christa Wolf (mit Bezug auf Günter Grass), Rede, dass ich dich sehe.
­Essays, Reden Gespräche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, S. 45 f.
33 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor. Erinnere Dich! Jüdische Ge­
schichte und jüdisches Gedächtnis, a. a. O., S. 55 f.
34 Vgl. Georg Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in:
Gesamt­ausgabe, hg. v. O. Rammstadt, Frankuft am Main: Suhrkamp 1989 ff.,
Bd. 14, S. 385–416.
5.  Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 101

worden ist, so haben andere in ihr die »Kunst des Umwegs« erkannt,
auf welchem das Leben über die Äußerung zu sich zurückkehrt und
mit sich eins wird.35 So kann auch die Sprache, kulturelle Äußerung
par excellence, diese Kunst des Umwegs praktizieren und als Or-
gan des Gedächtnisses jene Gegenwart wieder einholen, auf welche
Erinnerung von jeher aus ist.
Die Anschlussfrage ist, in welcher sprachlichen Form solche Er-
innerung typischerweise oder bevorzugterweise artikuliert wird, in
welcher Form die Selbsteinholung zustande kommt. Historie und
Gedächtniskultur werden in unterschiedlichsten Weisen der metho-
dischen Forschung und sprachlichen Darstellung realisiert, und es
herrscht alles andere als Einvernehmen darüber, welches der Weg der
wahren, der richtigen, der lebensgemäßen Historie sei. Aus dieser
weit ausgreifenden Debatte ist an dieser Stelle nur eine Grundoption
zu nennen, die in der Auseinandersetzung um Geschichte zentral
ist und auch im Blick auf das Schreiben des Lebens sich aufdrängt.
Es ist die Frage, ob wir die verlorene Zeit über die Versenkung in
einzelne Erlebnisse, die ausführliche Vergegenwärtigung besonde-
rer Orte, bedeutender Themen und Lebensstationen zurückgewin-
nen – oder über den narrativen Bogen einer Lebenserzählung, die
den Lauf der Zeit und des Lebens, wenn auch selektiv und forma-
tiert, ausbreitet. Während Peter Kurzecks eindringliches Bemühen,
seine Zeit und Gegend zu erzählen, sich dem ersten Weg verpflichtet,
um in detaillierten, insistierenden Annäherungen bestimmte Orte
und biographische Situationen festzuhalten und wieder aufleben zu
lassen, bildet Prousts Werk ein Paradigma des aufs Ganze ausgrei-
fenden erzählenden Lebensbildes. Generell ist die Erzählung, auch
wenn in neueren Strömungen zum Teil zurückgedrängt, als allge-
meinster Rahmen historischer Repräsentation bzw. der Darstellung
temporaler Zusammenhänge herausgestellt und reflektiert worden.
Dies gilt in besonderer Weise für den erinnernden Selbstbezug. Sein
Leben schreiben heißt sein Leben erzählen. Zu zeigen ist, wieweit
uns die Logik der Erzählung über den Wunsch, die Möglichkeiten,
aber auch die Schwierigkeiten, sein Leben zu schreiben, Aufschluss
verleiht.

35 Ernst Cassirer, »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«,


in: ders., Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur
und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth, Leipzig:
Reclam 1993, S. 32–60, hier S. 47.
III.
Das erzählte Selbst
6.  Zeit und Erzählung:
Selbstfindung in der Zeit

6.1  Narrative Identität

Erzählung ist eine Sprachform, die sich durch eine spezifische Struk-
tur- und Einheitsbildung auszeichnet. Ihr allgemeinstes Kennzeichen
ist die Verschränkung von logischer und temporaler Ordnung. Die
Erzählung geht nicht auf in der puren Sukzession, dem Nacheinan-
der von Ereignissen und Erlebnissen, und sie erschöpft sich ebenso
wenig in einer systematischen (kausalen, funktionalen, sinnhaften)
Korrelierung der Fakten und Umstände. Sie artikuliert eine Abfolge,
in welcher Späteres sich zugleich in bestimmter Weise auf Früheres
zurückbezieht, Früheres auf Späteres vorausweist, und über diesen
Bezug eine bestimmte Konstellation sich herstellt, eine bestimmte
Sache entsteht. Dabei kann der Bezug von verschiedenster Art sein,
als Relation zwischen einer Intention und ihrer Ausführung, zwi-
schen Anfang und Abschluss, Bewegung und Abbruch (oder Weiter-
führung, Umkehr), Erwartung und Erfüllung (oder Enttäuschung).
Immer geht es darum, dass etwas seinem Sinn nach in bestimmter
Weise auf Früheres bzw. Späteres bezogen wird, so dass sich über
sie eine Geschichte erzählen lässt. Die Geschichte enthält als Mini-
malgerüst die Triade von Anfang, Mittelteil und Schluss, wobei diese
Struktur in mannigfacher Weise gestaltet, verzögert und beschleu-
nigt, verschachtelt und wiederholt werden kann. Ihre Konsistenz
und Erzählbarkeit verdankt sich weder der temporalen Synthesis
noch der logischen Neben- und Unterordnung für sich genommen,
sondern deren konkreter Verkettung, worin ein Späteres als Erfolg
oder Misserfolg, Entfaltung oder Katastrophe ein neues Licht auf
das Frühere wirft. Ein Ereignis im Nachhinein als Beginn einer Ge-
106 III.  Das erzählte Selbst

schichte – als Geburt eines Genies, als Anfang eines Konflikts – oder
im Rückblick als Antwort auf ein Problem – als krisenhaften Ab-
bruch, als glücklichen Ausgang – beschreiben, heißt es unter einer
Beschreibung auffassen, die seinem aktuellen Sein nicht zur Gänze
zu entnehmen ist, sondern aus der Verschränkung der Zeiten resul-
tiert. Diese Basalform des Sprechens und Darstellens bildet einen
Grundbestand aller Kulturen, der in seiner vielfachen Gestaltung
und kulturellen Praxis Gegenstand weit ausgreifender, multidiszip-
linärer Forschung ist. Erzählung ist ein weltweit verbreitetes Muster
der Weltbeschreibung, der Kommunikation und der Orientierung;
sie ist in den Kulturen der Menschheit verankert und in der sozia-
len Alltagswelt omnipräsent. An dieser Stelle interessiert sie in ihrer
lebensweltlichen Relevanz, im Verhältnis des Menschen zu seinem
Leben und zu seiner Vergangenheit: als ein privilegiertes Medium, in
welchem Erinnerung sich vollzieht und der Mensch versucht, sich
selbst einzuholen und die verlorene Zeit wiederzufinden. Erzählung
ist in besonderer Weise mit der Zeitlichkeit des Selbst verschränkt.
In eindringlichen Analysen hat Paul Ricœur die narrative Grund-
lage von Zeit und Selbst herausgearbeitet. Leitend ist die Hypothese,
dass sich Zeitlichkeit nicht im direkten Zugang der phänomenologi-
schen Beschreibung adäquat erschließen lässt, sondern der Vermitt-
lung über den indirekten Diskurs der Erzählung bedarf.1 Fassbar
wird die Zeit, indem sie im Medium der Erzählung in bestimmter
Weise gestaltet wird, und sie wird dies, indem sie jenseits der bloßen
Chronologie als Raum des Sinns erfahren, als bestimmte Sinnfigur
einer Erfahrung, einer Episode oder einer Geschichte gegenwärtig
wird. Darin begegnet die Erzählung jener Schwierigkeit, die Ricœur
als erste Aporie der Zeittheorie reflektiert und die im Auseinander-
klaffen zwischen der Innen- und der Außendimension des Zeitli-
chen, der wechselseitigen Verdeckung von erlebter und objektiver
Zeitform besteht. »Die erzählte Zeit schlägt wie eine Brücke über die
Kluft, welche die Spekulation zwischen der phänomenologischen
und der kosmologischen Zeit unablässig vertieft.«2 Die Vermittlung
von Innen und Außen, die generell als Grundlage von Zeichen und
Symbol fungiert und die Sinnhaftigkeit des Ausdrucks wie des Ver-
stehens begründet, ist Voraussetzung der konkreten Erfahrung der
Zeit wie des Lebens. Menschliches Leben wird lesbar in Gestalt der

1 Paul Ricœur, Temps et récit. Tome III: Le temps raconté, a. a. O., S. 349.
2 Ebd., S. 351 f.
6.  Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 107

Geschichten, die man von ihm erzählt.3 Wie die Zeit nicht über die
formale Anordnung von Zeitpunkten und Relationen des Früher
und Später, welche das Gerüst der Messung bilden, in ihrer Zeitqua-
lität fassbar wird, so ist sich das Selbst nicht in seiner unmittelbaren
Präsenz, in der Innerlichkeit des Beisichseins erkennbar, sondern
erkundet sich auf dem Weg der Lebensgeschichte und legt sich in
der Erzählung seiner selbst aus. Erzählung ist eine paradigmatische
Form, in welcher das Selbst sich artikuliert und der Mensch sich über
sich selbst verständigt. Im Ausgang von ihr stehen Formen und Kri-
terien des Selbstseins zur Diskussion.
Eine naheliegende Beschreibung geht dahin, die Erzählung als
Gefäß der Identitätsbildung zu fassen. Der Zusammenhang von Er-
innerung und Selbstwerdung4 findet sich idealtypisch in der nar-
rativen Lebensdarstellung realisiert. Seine Geschichte zu erzählen
heißt sich darüber klar zu werden oder jemandem darüber Auskunft
zu geben, wer man ist. Die Geschichte steht für die Person.5 Un-
ter vielfältigsten Facetten ist dieser Zusammenhang in der literatur-,
geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung exploriert und
diskutiert worden. Seinen Nukleus sieht Paul Ricœur in der durch
die Erzählung geleisteten Vermittlung von Einheit und Vielheit. Die
narrative Entfaltung ermöglicht es, über die Antinomie zwischen der
substantiellen Identität des Subjekts und der Verschiedenartigkeit
der Zustände und Episoden hinauszukommen und die Einheit einer
Geschichte als die Sinneinheit, mittels deren ein Selbst seine Identität
findet, vor Augen zu stellen. Um diesen Zusammenhang aufzuhellen,
schlägt Ricœur vor, zwei Identitätsbegriffe auseinanderzuhalten, die
er anhand der Konzepte der Selbigkeit und der Selbstheit (mêmeté /
ipséité, idem / ipse, same / self) bestimmt.6 Im Spiel ist auf der einen
Seite die abstrakte Identität des Subjekts, welches, als dasselbe, das
Referenzsubjekt der unterschiedlichen Szenerien und Wechselfälle
einer Geschichte bildet. Es ist die numerische Identität, wie sie in
Frage steht, wenn es darum geht zu wissen, ob wir unter variie-

3 Paul Ricœur, »Die narrative Identität«, in: Allgemeine Zeitschrift für Phi-
losophie 2013, S. 205–216, hier S. 205.
4 Siehe oben 3.3.
5 Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch
und Ding [1953], Wiesbaden: Heymann 21976; Hermann Lübbe, Geschichts­
begriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel:
Schwabe 1977; Emil Angehrn, Geschichte und Identität, a. a. O.
6 Paul Ricœur, Temps et récit. Tome III: Le temps raconté, a. a. O., S. 355.
108 III.  Das erzählte Selbst

renden Perspektiven, zu verschiedenen Zeitpunkten mit derselben


Sache, demselben Individuum zu tun haben. Auf der anderen Seite
geht es darum, dass eine Person als subjektives Selbst in ein Ver-
hältnis zu seiner Geschichte tritt, sie als eigene durcharbeitet, für
sie Verantwortung übernimmt oder sich kritisch mit ihr auseinan-
dersetzt und sich in der Aneignung der Geschichte über sich selbst
verständigt. Zum einen geht es um die formelle, unveränderliche Sel-
bigkeit, welche der Geschichte zugrundeliegt, zum anderen um die
inhaltliche, sich verändernde Bestimmtheit des über die Geschichte
sich konkretisierenden Selbst. Es ist eine – begrifflich verschieden
spezifizierbare7 – Dualität, die sich als Polarität im Verhältnis zur
Vergangenheit, im Erzählen des Lebens ausmachen lässt. In der Ge-
schichte verändern wir uns und bleiben wir dieselben. Ohne sich
durchhaltende Identität desjenigen, um dessen Geschichte es geht,
zerfiele diese in disparate Phasen und Teile; und ohne sich verän-
dernde inhaltlich-sinnhafte Bestimmung bliebe sie leer und würde
nicht zur zeitlichen Gestalt des konkreten Selbst.
Sowohl die Kontinuität des Selben wie die Subjektfunktion des
Selbst sind im Umgang mit Geschichte nicht je schon gegeben und
von sich aus gesichert. Nach beiden Seiten kann der Mensch sich ab-
handen kommen; literarische Fiktionen und pathologische Störun-
gen führen – intendierte oder unfreiwillige – Explorationen dieses
Raums zwischen Selbstfindung und Selbstverlust vor. Selbigkeit und
Selbstheit werden als fragile Momente des zeitlichen Daseins durch
die narrative Konstruktion stabilisiert und dem konkreten Existenz-
vollzug zugeeignet. Dabei kann das Verhältnis beider Seiten selbst
zur Diskussion stehen, etwa als Frage, wieweit historische Identität

7 Ricœur bezeichnet sie u. a. als Differenz von substantieller und narrati-
ver Identität (ebd.); doch lässt sie sich, in anderer Lesart, durchaus innerhalb
der narrativen Identität, als Distinktion unterschiedlicher Identitätstypen im
erzählenden Geschichtsbezug verorten (siehe oben 3.3, vgl. E. Angehrn, Ge­
schichte und Identität, a. a. O., S. 233–340). Im Besonderen scheinen zwei von
Ricœur vorgenommene schwerpunktmäßige Zuordnungen nicht zwingend:
die Korrelation von retrospektiver und prospektiver Selbstbeziehung (u. a.
in den Modi des Erinnerns und Versprechens) mit den Aspekten von Selbig-
keit und Selbstheit sowie mit den Seiten des theoretischen und des prakti-
schen Selbstverhältnisses (Parcours de la reconnaissance, a. a. O., S. 163–197).
Auch der Rückblick tangiert die praktische Identität (wie in Phänomenen der
Scham und der Reue) und bringt die Subjektfunktion des verantwortlichen
Subjekts zum Tragen, und auch im Vorgriff bildet die – ungesicherte – Sel-
bigkeit die Grundlage der praktischen Selbst-Funktion.
6.  Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 109

ihren Schwerpunkt in der Permanenz des Subjekts oder der integra-


tiven Kraft der Geschichtsaneignung findet (wobei der Rückzug des
Selbst auf die bloße Selbigkeit gerade als »identitäre Versuchung«8
erscheinen kann). In der Geschichte mit sich eins zu werden umfasst
die Identitätskonstitution nach beiden Hinsichten.
Unter variierenden Perspektiven hat Paul Ricœur das Zusam-
menspiel der komplementären Aspekte narrativer Subjektkons-
titution beleuchtet: als Dialektik des Selbst zwischen der »unbe-
weglichen Identität des idem« und der »beweglichen Identität des
ipse« ebenso wie als umfassendere Überkreuzung der in der sinn-
haften Konfiguration hervorgebrachten narrativen Kohärenz und
der aus den Wechselfällen der Geschichte resultierenden Diskor-
danz.9 Schließlich greift sie aus auf die Durchdringung von Prozess
und Substrat. Die Geschichte und dasjenige, von dessen Werden
sie handelt, sind zuletzt nicht voneinander abgelöst. Bedeutsam ist
dabei die Beobachtung, dass das Ineinander zwischen dem Selbst
und seiner prozessualen Entfaltung nicht ein für allemal und nicht
nur auf einer Ebene stattfindet. Sie hat an der »dreifachen Mime-
sis« teil, als welche Ricœur die narrative Strukturierung der Zeit
expliziert.10 Im Zentrum steht die narrative Konfiguration, mittels
welcher wir in der Lebenserzählung unsere Identität finden und her-
vorbringen. Solche Erzählung aber setzt nicht im leeren Raum, von
einem Nullpunkt an, sondern schließt an vorausgehende Prägungen,
an partikulare Erzählungen wie die generelle narrative Imprägnie-
rung unserer Lebenswelt an. Der Kon-figuration einer Geschichte
liegt eine narrative Prä-figuration voraus, und sie wird auf der Ge-
genseite in einer Re-figuration aufgenommen, einer Lektüre und
reflexiven Deutung, welche das Erzählen des Lebens in Akten der
Rezeption, des Weiterschreibens und Neuausrichtens weiterführt.
Es ist der vielschichtige Kreislauf der artikulierend-interpretieren-
den Selbst- und Weltbeschreibung, wie sie das menschliche Leben
im Ganzen trägt und durchdringt. Die in neueren Diskussionen
vielfach betonte interpretative Konstitution des Wirklichen ist in

8 Paul Ricœur, Parcours de la reconnaissance, a. a. O., S. 170.


9 Ebd., S. 163–170, hier S. 166; vgl. ders., Temps et récit. Tome III: Le
temps raconté, a. a. O., S. 355; Soi-même comme un autre, Paris: Seuil 1990,
S.  167–180; »Die narrative Identität«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philo-
sophie 2013, S. 205–216.
10 Paul Ricœur, Temps et récit. Tome I, Paris: Seuil 1983, S. 85–136.
110 III.  Das erzählte Selbst

grundlegender Weise narrativ verfasst. Unser Verstehen der Welt,


der anderen und unserer selbst ist in erheblichem Maße ein Verste-
hen von Erzählungen und Erzählfragmenten – von expliziten und
impliziten, umfassenden oder fragmentierten, abgebrochenen und
kaum angefangenen Erzählungen, die immer im Ineinandergreifen
von Zeitgestalt und Sinnbildung das Wirkliche erlebbar, verstehbar
und mitteilbar machen. Die narrative Verfasstheit des menschlichen
Seins erschöpft sich nicht in der artikulierten (auto-)biographischen
Vergegenwärtigung des Lebenslaufs, sondern durchdringt die viel-
fältigsten Schichten und Facetten des individuellen wie des sozialen
Lebens. Von besonderer Prägnanz und Bedeutung aber ist sie im
Bezug auf das personale Selbst. Sie bildet eine Folie für die Verstän-
digung über Formen und Kriterien der Selbstbesinnung und der ge-
lingenden Lebensführung.

6.2  Narrative Kohärenz und Lebensbeschreibung

Eine Minimalkomponente der narrativen Identitätsbildung bildet


das Nacheinander in der Zeit. Die Episoden des Lebens in ihrer
Abfolge wahrnehmen, sie in ihrem Nacheinander erzählen zu kön-
nen, stellt eine erste Ordnungsleistung und eine elementare Basis
des Einswerdens mit sich in seinem Leben dar – wie Robert Musil
seinen Mann ohne Eigenschaften sinnieren lässt: »Wohl dem, der
sagen kann ›als‹, ›ehe‹ und ›nachdem‹! Es mag ihm Schlechtes wi-
derfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben:
sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeit-
lichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm
die Sonne auf den Magen.«11 Die Sukzession wird in der Erzählung
ergänzt durch anspruchsvollere Integrationsformen, die aus dem in-
haltlichen Aufeinander-Verweisen des Früher und Später, der Ge-
staltung sinnhafter Handlungs- und Ereigniskomplexe resultieren.
Eine Geschichte konstruieren heißt Zeit in Sinn transformieren. Das
Leben erzählen heißt entwerfen und erproben, wie unterschiedliche
Lebenserfahrungen und Geschehnisse zueinander und wie sie zum
Subjekt ›passen‹, wie sie sich unter sich zu verstehbaren Konstella-
tionen fügen und als gegliederter Teil des Lebens aneignen lassen.
Bestimmend für solche Formgebung ist ein Kriterium der Kohä-

11 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, 650.


6.  Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 111

renz, das sowohl als intrinsisch narratives Prinzip, als Auszeich-


nung einer gelingenden Erzählung, wie als inhaltlich-lebensweltliche
Zusammengehörigkeit der Teile eines Lebensganzen zum Tragen
kommt. Diese Zusammenhangsbildung kann erzähltechnisch wie
praktisch verschieden spezifiziert sein. Sie kann vorrangig logisch
oder praktisch, ästhetisch oder funktional geprägt, sie kann stärker
oder schwächer, homogen oder in sich disparat sein. Es gibt her-
ausgehobene Leitvorstellungen – der Vollständigkeit und Ganzheit,
der gerichteten Zweckmäßigkeit und rationalen Schlüssigkeit, der
ästhetischen Stimmigkeit oder moralischen Integrität – , die mit nar-
rativen Mustern verwoben sein, darin aber auch zur Überforderung
und Selbsttäuschung in der erzählenden Selbstvergegenwärtigung
führen können. Es ist wichtig festzuhalten, dass auch unabhängig
von holistischen, teleologischen oder normativen Überhöhungen
narrative Muster als Formen gelingender Synthesis im Leben und
seiner Darstellung wirksam sein können.
Die Verschränkung zwischen dem Erzählen und der Ausrichtung
auf ein gelingendes Leben lässt sich auf beiden Ebenen der Lebens-
führung wie der reflexiven Lebensbeschreibung herausstellen.12 So-
wohl die innere Form einer Lebensgeschichte wie die Weise ihrer
Vergegenwärtigung lassen sich auf ihre narrative Struktur hin durch-
leuchten und darin mit eudämonistischen Perspektiven verknüp-
fen. Die sinnhafte Verbindung der Phasen einer Lebensgeschichte
kann als wichtiger Bestandteil des Lebensglücks erfahren werden,
wie umgekehrt das Auseinanderdriften und Zerbrechen von Plänen
und Orientierungen dem Streben nach Sinn und Erfüllung zuwider-
läuft. Neben der objektiven narrativen Gestalt kann die subjektiv
entworfene oder rückblickend konstruierte Kohärenz die existen-
tielle Befindlichkeit beeinflussen und zur Richtgröße des Lebens
werden. Dabei kann solche Einheitsbildung ihr Schwergewicht in
der Erreichung der wesentlichen Ziele oder in der Gerichtetheit als
solcher haben, sie kann ihren Maßstab in der Vollständigkeit oder
der stringenten Gestalt haben, sie kann aufs Ganze ausgreifen oder
sich auf bestimmte Episoden oder besondere Dimensionen der Exis-
tenz konzentrieren. Nicht jeder Mensch findet in derselben Form
der Lebensführung, im gleichen Muster der Lebenserzählung seine

12 Vgl. dazu Sebastian Knell, Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Phi­
losophie verlängerter Lebensspannen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015,
S. 193–226.
112 III.  Das erzählte Selbst

Erfüllung. Sein Interesse kann dem großen diachronen Bogen, aber


auch einzelnen Facetten und ihrer mikroskopischen Durchdringung
gelten. Wie bei der Glücksorientierung, kann die Prägung der nar-
rativen Lebensgestaltung mit dem Charakter und Persönlichkeits-
typus grundlegend variieren.13 Gemeinsam zugrundeliegend bleibt
das Bedürfnis nach Aneignung und Vergegenwärtigung des Lebens,
für welche die Narration ein allgemeinstes Raster bereithält und in
deren Gelingen der Mensch ein eigentümliches Glück erfährt. Es
ist ein Glück, das konstitutiv mit Erinnerung, Sinnerfahrung und
Selbstfindung verbunden ist.
Allerdings ist der narrative turn nicht ohne Einspruch geblie-
ben.14 So omnipräsent die Erzählung in der Lebenswirklichkeit wie
in den kulturellen Zeugnissen der Völker ist, so undeutlich, teils
problematisch scheint ihr genauer Ort in der menschlichen Ver-
ständigung und Selbstverständigung. Bedenken gegen die These,
dass die Erzählung das idealtypische Gefäß der Verständigung über
uns und unser Leben bildet, betreffen zum einen das grundsätzli-
che Junktim von Leben und Erzählung, die Frage, wieweit sich das
Leben tatsächlich von seiner narrativen Verfassung her beschreiben
und reflektieren lässt, zum anderen die genannten Tendenzen zur
Überforderung, die teleologischen oder totalisierenden Projektio-
nen, welche im Assoziationsraum narrativer Konstruktion auftreten
(und einen etablierten Kritikpunkt gegen klassische Geschichtsphi-
losophie bilden). Unabhängig von solchen der menschlichen Realität
in­adäqua­ten Überhöhungen wendet sich ein anderer, prinzipiellerer
Einwand gegen das der Erzähllogik immanente (beziehungsweise in
sie hineing­elesene) Handlungsmodell. Die Lebenswirklichkeit nach
der Korrelation von Motiv und Handlung, Ziel und Mittel aufzu-
fassen, die Biographie nach dem Modell eines Lebensplans zu ent-
werfen scheint seinerseits auf einer unzulässigen Idealisierung zu
beruhen. Indessen ist festzuhalten, dass solche Schematisierungen
in Wahrheit weder der Erzählung noch der Geschichte genuin zu-
gehörig sind; sie überhöhen nicht primär, sondern verkennen das,
was eine erzählbare Geschichte ausmacht. Nicht Handlungsver-

13 Vgl. Sebastian Knell, Die Eroberung der Zeit, a. a. O., S. 201 f., 212, 218 f.
14 Vgl. Dieter Thomä, »Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das
Leben«, in: Karen Joisten (Hg.), Narrative Ethik: Das Gute und das Böse
erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 17, Berlin: Aka-
demie Verlag 2007, S. 75–97.
6.  Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 113

läufe, sondern Ereignisstränge werden erzählt; berichtet wird nicht,


was einer tut, sondern was ihm geschieht. Gerade im Geflecht der
Geschehnisse und Erfahrungen eine strukturierte Ordnung, eine
temporal-sinnhafte Form auszumachen, macht den Kern der nar-
rativen Kohärenz aus. Sie kann ausgebildet, weitergesponnen, ver-
ändert oder optimiert werden, ohne dass die Handlungsteleologie
den Maßstab der literarischen oder lebenspraktischen Formgebung
bilden müsste. Eine Geschichte kann unabhängig von allen Absich-
ten und Erwartungen zum Raum des Lebens und Gegenstand des
Erinnerns werden. Die narrative Faktur des Lebens ist in ihrem ei-
genen, unabhängigen Profil für die Lebenserfahrung und Lebens-
beschreibung von Belang.

6.3  Autobiographische Selbstfindung

Im vorliegenden Zusammenhang interessiert die Erzählung als Me-


dium erinnernder Selbstfindung. Sie steht nicht primär unter sprach-
und literaturtheoretischen Aspekten und auch nicht einfach im Blick
auf die grundsätzliche narrative Verfasstheit der Existenz zur Dis-
kussion. Das besondere Augenmerk gilt der Selbsteinholung des
Lebens auf dem Wege der Erinnerung. In Frage steht, wieweit es
dem Menschen gelingt, über den Umweg der Lebensbeschreibung
jene Selbstgegenwart einzuholen, die sich ihm in der unwillkürlichen
Erinnerung auftat. Erzählung als selbstbezügliche, rückblickende
Lebensbeschreibung, als Autobiographie, dient dem zweifachen Ziel
der Selbstfindung und der Wiedererlangung der verlorenen Zeit.
Autobiographie ist ein paradigmatisches kulturelles Muster der
Selbstfindung. Sie fungiert als Weg der kognitiven Selbsterforschung
ebenso wie des praktischen Zu-sich-Kommens und Einswerdens-
mit-sich. Die populäre Verbreitung der Kunst der Lebensbeschrei-
bung, die ›Demokratisierung‹ der Autobiographie15 legt Zeugnis ab
vom Bedürfnis, das sich mit solcher Vergegenwärtigung verbindet.
In ihrer elaborierten Form bildet sie ein Modell literarischer Pro-
duktion ebenso wie der Hermeneutik; Wilhelm Dilthey sieht in der
»Selbstbiographie« die »höchste und am meisten instruktive Form,

15 Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart: Reclam 2000, S. 250; vgl.


das Internetprogramm zum Schreiben der Lebensgeschichte www.meet-my-
life.net.
114 III.  Das erzählte Selbst

in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.«16 Sie ist Ur-
bild des Verstehens, sofern das Sichselbstverstehen eine Idealform
des Verstehens ist und in der »Selbstbesinnung des Menschen über
seinen Lebensverlauf« sowohl eine exemplarische sinnhaft-tempo-
rale Einheitsbildung wie eine enge Überlagerung von realem Pro-
zess und reflexiver Darstellung (deren Geschäft »schon durch das
Leben selber halb getan« ist) stattfindet.17 Historisch hat man in der
modernen Autobiographik einen Reflex des sich emanzipierenden
neuzeitlichen Individuums gesehen, dessen Artikulation zugleich
Zeugnis von der Verunsicherung und Krisenhaftigkeit des Subjekts
ablegt, während die idealisierende Formgebung umgekehrt proble-
matische Züge des bürgerlichen Subjekts trägt.18
Man kann die autobiographische Konstruktion als Ausdruck ei-
nes Willensakts verstehen, eines beharrlichen »Versuchs, der Erin-
nerung die Vergangenheit abzuverlangen« und sich von der Zufäl-
ligkeit des sporadischen Gedächtnisses zu befreien.19 Der Wille ist
nicht nur einer zur Einholung des Vergangenen, sondern zur biogra-
phischen Prägnanz, zu einer Durchdringung von Leben und Werk,
in welcher man sowohl Tendenzen zur Transformation des Lebens
ins Kunstwerk wie zur Finalisierung des Lebens auf seine darstel-
lende Reprise hin ausmachen kann – dergemäß nicht nur der große
Schriftsteller »gewissermaßen für seine Autobiographie« lebt20, son-
dern allgemein, nach Brechts Satz, »das Leben, gelebt als Stoff einer
Lebensbeschreibung«, an Bedeutung gewinnt.21 Es ist insgesamt die
Intention eines Sichfindens in seiner Vergangenheit, das ebensosehr
ein Erforschen wie ein Hervorbringen, ein Sicherkunden wie Sich­
erschaffen ist. Autobiographie ist in einem prägnanten Sinn nicht
ein Beschreiben, sondern ein Schreiben des Lebens. Dabei stellt die

16 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswis­


senschaften, hg. von Manfred Riedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970,
S. 246.
17 Ebd., S. 247.
18 Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 2., aktualisierte und erwei-
terte Auflage, Stuttgart / Weimar: Metzler 2005.
19 Ebd., S. 13.
20 Ebd., S. 48; vgl. das bündige Diktum von Mr. Carson in der Fernsehserie
Downton Abbey (Episode 4.4, 2013): »The business of life is the acquisition
of memories.«
21 Bertold Brecht, Me-ti. Buch der Wendungen, in: Gesammelte Werke,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, Bd. 12, S. 548.
6.  Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 115

reflexive Wendung der Auseinandersetzung mit dem eigenen Ver-


gangenen vor besondere Herausforderungen. Sie ist mit Erfahrun-
gen von Schmerz und Scham konfrontiert und hat sich an den darin
wurzelnden Verdeckungen und hartnäckigen Verstellungen abzu-
arbeiten. Sie verlangt, sich der besonderen Fremdheit des Eigenen
auszusetzen, sich in die Untiefen des Gedächtnisses zu versenken
und Abgedrängtes und Uneingestandenes zur Sprache zu bringen.22
Wenn Selbstsein und Selbstverständigung sich generell der Heraus-
forderung durch Tendenzen der Selbsttäuschung und Selbstverfeh-
lung zu stellen haben, so trifft dies auch und in spezifischer Weise
für das Sichverstehen im Medium der Erinnerung und Lebenserzäh-
lung zu.23 Sein Leben zu erzählen und anderen darzustellen ist der
Versuchung ausgesetzt, nicht nur anderen, sondern sich selbst etwas
vorzumachen, sich von der Last der rückhaltlosen Selbst­erfor­schung
und Selbstaufklärung zu befreien. In die Verworrenheit des Selbst
einzudringen, jene Untiefen des Vergangenen zu durchleuchten und
anzueignen bedarf des Willens zur Verständigung, aber auch der
Ausdauer, der Zeit zur Reifung, die nicht nur eine der literarischen
Produktion, sondern des Lebens und des existentiellen Zurechtkom-
mens ist.24 Gleichzeitig aber ist die selbstbezügliche Gedächtnis­
arbeit auf eine besondere Helle des Wiedererkennens, eine spezifi-
sche Intensität der Gegenwärtigkeit gerichtet.
Das Gelingen der Erzählung bemisst sich nicht allein an Kriterien
der Vollständigkeit und Kohärenz, sondern ebenso an der Sehn-
sucht nach der verlorenen Zeit. Erzählen verkörpert das Verspre-
chen der wiedergefundenen Zeit. Es steht darin nicht allein für die
negative Seite des Kampfs gegen die Vergänglichkeit und gegen das
Vergessen, sondern ebenso für die affirmative Utopie der Gegen-
wärtigkeit und Selbstpräsenz. Nach Proust wäre die erfüllte Erin-
nerung eine, in welcher die verblassten Bilder wieder aufgehellt, das
entschwundene Vergangene in seiner ursprünglichen Lebendigkeit

22 Vgl. Christa Wolf, Rede, dass ich dich sehe, a. a. O., S.77 ff.
23 Vgl. Emil Angehrn, »Selbstverständigung und Selbsttäuschung. Zwischen
Selbstsein und Selbstverfehlung«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff
(Hg.), Selbsttäuschung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017.
24 So betont Y. H. Yerushalmi im Zusammenhang des jüdischen Gedächtnis-
ses, dass dieses »letzten Endes nur ›geheilt‹ werden kann, wenn die Gruppe
selber Heilung findet«, wobei er anfügt: »Doch angesichts der Wunden […]
wird der Historiker bestenfalls zum Pathologen, doch kaum zum Arzt«:
Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor. Erinnere Dich!, a. a. O., S. 100.
116 III.  Das erzählte Selbst

wiedererweckt, wiederbelebt würde; Erzählen wäre die Kunst, »den


Verlust von Originalität wieder wettzumachen«.25 Es ist keine leere
Selbstpräsenz und Identitätsgewissheit, sondern ein emphatisches
Sich-Finden und Sich-gegenwärtig-Werden im Gewesenen. Im Akt
des Schreibens und Erzählens selbst kann dieses Wiedererlangen
der Gegenwart erlebt werden.26 Es ist ein Zurückgehen ins Vergan-
gene auf der Suche nach der verlorenen Zeit und nach uns selbst,
eine Selbsteinholung als Wiedergewinnung dessen, was war, was wir
erlebt haben und was wir selbst waren. Solches Zurückgehen und
Rückgewinnen vollzieht sich selbst in der Zeit, mit dem Lauf der
Zeit und gegen das Verrinnen der Zeit. Erzählen bekräftigt seine
Hoffnung, wiederholt sein Versprechen im Wettlauf mit der Zeit,
im Widerstand gegen die Zeit und in der Ungewissheit, sein Ziel zu
erreichen – wie Paul Auster seinen Lebensbericht Winterjournal
eröffnet: »Sprich jetzt, bevor es zu spät ist, und hoffentlich kannst
du so lange sprechen, bis nichts mehr zu sagen ist.«27 Der Versuch,
jenes überschwängliche Versprechen einzulösen, begegnet Schwie-
rigkeiten mannigfacher Art.

25 Stephan Grätzel, Organische Zeit, a. a. O., S. 123.


26 Vgl. Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 69: »Beim Erzählen, sobald man
anfängt zu sprechen, ist immer Gegenwart. Jetzt.«
27 Paul Auster, Winterjournal, Reinbek: Rowohlt 2013, S. 7.
7.  Selbsterzählung und Endlichkeit:
Das Problem der narrativen Selbsteinholung

»Große Schwierigkeiten« erwartet Prousts Erzähler bei der Durch-


führung seines Vorhabens. Die stufenweise Vergegenwärtigung des
Vergangenen sollte sein Leben vor ihm ausbreiten und zuletzt sich
jener unmittelbaren Präsenz des Vergangenen annähern, die sich
dem unwillkürlichen Gedächtnis spontan eingestellt hatte.1 Die
Schwierigkeiten, auf welche solche Lebenserzählung stößt, sind von
mehrfacher Art, entsprechend der Zielvorstellung, der sie folgt, aber
auch der konstitutiven Endlichkeit, die dem menschlichen Existenz-
vollzug wie seiner reflexiven Selbsterfassung innewohnt.
Das Ziel ist eines der emphatischen Gegenwärtigkeit. Es ist das
Ziel eines lebendigen Gegenwärtigwerdens früherer Zeiten ebenso
wie des Sich-selbst-Findens und Sich-selbst-Gegenwärtigwerdens
in seinem Leben. Die Utopie solcher Präsenz konfrontiert mit zwei
strukturellen Problemen, welche Grenzen ihrer Realisierung mar-
kieren. Das eine ist der Materie des Erinnerns, der Unverfügbarkeit
des Selbst und Nicht-Transparenz des Lebens geschuldet, welche
die Aufarbeitung der zerstreuten Ereignisse und verblassten Er­inne­
rungen zur nie vollendeten Aufgabe werden lässt. Das andere be-
trifft den Akt des Erinnerns in der Aporetik einer bewusst erstreb-
ten, indirekten Wiedergewinnung der Unmittelbarkeit. Wenn die
Erzählung von der Sehnsucht nach Identität getragen ist, so sperrt
sich ihre Form gegen solche Selbstkoinzidenz. Das intendierte Neu-
erleben des ursprünglichen Geschehens widerstreitet nicht nur der
unumkehrbar fortschreitenden Zeit, sondern konfrontiert mit dem
strukturellen Paradox der künstlerischen Hervorbringung des Un-
mittelbaren, der Überlagerung von gewollter und spontaner Erinne-
rung. Allerdings sind solche Paradoxien nicht einfach als begriffliche

1 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 264 (fr. III, S. 870 f.).
118 III.  Das erzählte Selbst

Widersprüche und Indizien der Nichtexistenz abzutun. Sie stehen


für Spannungsverhältnisse, welche die Erinnerung wie die künstle-
rische Produktion durchherrschen.
Sie verschränken sich mit Schwierigkeiten der Selbsteinholung,
die durch die Zeitlichkeit und Endlichkeit des Lebens bedingt sind.
Es sind Probleme der Selbsteinholung eines wesentlich zeitlichen
Daseins, die sich selbst in der Zeit, unter der Herrschaft der Zeit
vollzieht. Wenn die Selbsterzählung vom Verlangen bestimmt ist,
sich in der Erinnerung zu finden und im Ganzen seines Lebens mit
sich eins zu werden, so widersetzt sich die Zeitlichkeit solcher Voll-
endung in reiner Präsenz. Dieses Problem lässt sich nach einer drei-
fachen Hinsicht spezifizieren. Zum einen bleibt menschliches Leben
an ihm selbst unvollendet, ohne abschließende Ganzheit und De-
ckung mit sich (7.1). Zum anderen vollzieht sich die narrative Ver-
Gegenwärtigung des Lebens in unhintergehbarer Nachträglichkeit,
bleibt ihr der Abschluss, die Selbstidentität versagt (7.2). Schließlich
steht die Erzählung selbst unter dem Gesetz ihres Gegenstandes,
vollzieht sie sich im Wettlauf mit der Zeit, im nie einholbaren Auf-
schub und Entzug (7.3). Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkei-
ten ist zu verdeutlichen, in welcher Weise die erinnernde Erzählung
dem Menschen einen Weg zur Aneignung seines Lebens öffnet.

7.1  Der Ausgriff auf das Ganze und das Vorlaufen zum Tod

Eine Fluchtlinie des Wunsches, in der Lebenserzählung sich selbst


gegenwärtig zu werden, zielt auf das Ganzsein in seinem Leben. Es
ist der Wunsch, auf sein Leben als ganzes auszugreifen, die Fülle des
verfließenden Lebens im Jetzt zurückzugewinnen, im Vergehen der
Zeit mit sich eins, ganz zu sein. Solche Ganzheit aber, die als Regu-
lativ eines vollendeten Kunstwerks dienen kann, scheint im fließen-
den, vergehenden Leben nicht zu erreichen, wie sie auch der Lebens­
erzählung notwendig entzogen ist – der Selbsterzählung eines selbst
im Leben stehenden, sich in seinem Leben suchenden Menschen.
Schon Aristoteles meinte, dass wir erst nach dem Ende des Lebens
darüber urteilen können, ob es glücklich oder unglücklich war. So-
lange der letzte Atemzug nicht getan, das letzte Wort nicht gespro-
chen ist, sind wir nicht vor den Wechselfällen des Lebens geschützt
und nicht dagegen gefeit, dass das Leben einen anderen Ausgang
nehmen und als ganzes eine andere Färbung, eine andere Qualität
7.  Selbsterzählung und Endlichkeit 119

annehmen kann. An Solons Rat, »auf das Ende zu sehen«, um das


Leben zu beurteilen, schließt Aristoteles die Frage an, ob einer nicht
nur gut gelebt haben, sondern auch glücklich gestorben sein muss,
um glücklich heißen zu dürfen, ja, ob nicht sogar das Glück und
Unglück seiner Nachkommen und Freunde auf sein Leben zurück-
schlägt.2 Was Aristoteles mit Bezug auf das gelingende Leben und
dessen immanenten Ganzheits- und Erfüllungsanspruch als Prob-
lem (aporia)3 aufwirft, lässt sich analog im Hinblick auf die sinnhafte
Gestaltung und das Verständnis des Lebens geltend machen. Eine
vollständige, das Leben in seiner Ganzheit versammelnde Autobio-
graphie scheint ein widersprüchliches Unterfangen, das im strengen
Sinne erst post mortem möglich wäre (womit sich die ›biographische‹
in eine ›thanatographische‹ Perspektive wandelt, in welcher der Tod
zum »heimlichen, dezentrierten Zentrum des Textes« wird).4
Sein Leben erzählen ist eine konstruktive Sinnbildung, die wir
im Nachhinein, rückblickend vollziehen. Wilhelm Dilthey hat das
Begreifen des Lebens als ein Zusammenhangsverstehen definiert und
dabei die »Bedeutung« der Teile vom »Sinn« des Ganzen unterschie-
den.5 Auch wenn wir nicht an der terminologischen Distinktion als
solcher festhalten (die auch Dilthey nicht strikt durchhält), ist der
Doppelakzent von Interesse, der mit ihr im sinnhaften Auffassen des
Lebens gesetzt ist. Es geht diesem einerseits darum, die Bedeutung
eines Ereignisses mit bezug auf anderes, den Stellenwert einer Hand-
lung oder einer Episode in einem weiteren Kontext zu reflektieren,
auf der anderen Seite darum, eine Geschichte oder Epoche als ganze
auf ihren Sinn, ihren Gehalt, ihre Aussage hin zu lesen. Eine solche
Lektüre des Lebensverlaufs stellt wie die Glücksdiagnose vor die
Option, das Ganze und das Ende ins Auge zu fassen, um das Leben
in seiner Richtung, in dem, worum es ihm geht und was in ihm auf
dem Spiel steht, ergründen und beschreiben zu können.
Die aporetische Struktur solcher Beschreibung liegt in der un-
gelösten Spannung zwischen der Binnenperspektive der erfahrenen
Lebensbedeutsamkeit und der Außenperspektive der interpretieren-

2 Aristoteles, Nikomachische Ethik I.11, 1100 a 11, 1101 a 16–23.


3 Ebd., 1100 a 21.
4 Thomas Klinkert, Bewahren und Löschen, a. a. O., S. 22 ff. (mit Bezug auf
Philippe Lacoue-Labarthe, Le Sujet de la philosophie, Paris: Flammarion
1979, S. 266).
5 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes­
wissenschaften, a. a. O., S. 242–246, 286–292.
120 III.  Das erzählte Selbst

den Beschreibung, wobei letztere ihrerseits die Polarität des antizi-


pierenden Ausgriffs auf das Ganze und der retrospektiven Deutung
übergreift.6 Die basale Kluft zwischen Lebensvollzug und Erzäh-
lung, gelebtem und erzähltem Leben, die für jede Phase des Lebens-
laufs gilt, vertieft sich im Bezug auf das Lebensganze. Sich auf sein
Leben als ganzes zu beziehen, um in seinem Licht ein Bild seiner
selbst zu gewinnen und mit sich zurechtzukommen, verlangte im
Idealfall, auf das Ende, den ausstehenden Abschluss vorzugreifen,
um von ihm her dem Lebensverlauf sein bestimmtes Profil zu geben,
ihn in seiner sinnhaften Struktur zu erfassen. Es ist gewissermaßen
die Projektion einer abschließenden Erzählung seiner selbst. Auch
wenn der Ausgriff auf eine endgültige Selbstbeschreibung durch die
Lebensrealität unablässig durchbrochen wird, bleibt er als Flucht-
punkt im Prozess der Selbstverständigung erhalten. Die Nicht-Ab-
schließbarkeit der rückschauenden Selbstdeutung bleibt mit dem
zukunftsgerichteten Selbstentwurf wie mit der projizierten Gesamt-
schau verschränkt.
Indessen geht es in alledem um mehr als ein Strukturgefüge von
Innen- und Außensicht, von Vorgriff und Rückschau, wie es sich
mit Bezug auf die integrale Wahrnehmung eines komplexen Gegen-
standes konturieren ließe. Es geht um die zwiefältige Selbstwahrneh-
mung eines Lebens, das sich selbst wesentlich in der Zeit vollzieht
und sich darin existentiell in ein Verhältnis zu seinem Ganzsein und
seinem Ende setzt. Der Ausgriff auf den Abschluss ist zugleich der
Vorblick auf den Tod. Sich auf sein Leben als ganzes beziehen heißt
sich mit dem eigenen Vergehen, mit seiner Sterblichkeit auseinan-
dersetzen. Das Problem der Lebenserzählung überschneidet sich
mit der an früherer Stelle angesprochenen Problematik des Alters,
des Sterbens, des Seins zum Tode.7 Die Idee der Ganzheit steht für
eine narrative Richtschnur und existentielle Herausforderung glei-
chermaßen. Im Horizont der Daseinsanalytik hat Martin Heidegger
diesen Zusammenhang pointiert herausgestellt und das »Vorlaufen
in den Tod« als jene privilegierte Bewusstseins- und Verhaltensform
beschrieben, in der wir mit dem Ganzen unserer Existenz zu tun
haben.8 Es geht darin um mehr als eine temporale Ausweitung auf
das Ganze. Rein zeitlich hebt sich die Totalisierung selbst auf, be-

6 Vgl. Dieter Thomä, Erzähle dich selbst, a. a. O., S. 84.


7 Siehe oben 2.4.
8 Martin Heidegger, Sein und Zeit, §53, Tübingen: Niemeyer 101963.
7.  Selbsterzählung und Endlichkeit 121

deutet das »Erreichen der Gänze des Daseins im Tode« zugleich


den Verlust des Seins; das Dasein, an welchem »schlechthin nichts
mehr aussteht«, ist in eins damit nicht mehr seiend, sein Zu-Ende-
Kommen ist nicht Vollendung, sondern Zerstörung.9 Nur in dem
sich vorweg seienden Offensein für den Tod kann der Mensch sei-
nem Dasein als ganzem begegnen, eröffnet sich ihm die Möglichkeit
eines »Ganzseinkönnens«.10 Die Angst ist jene abgründige Befind-
lichkeit, in der wir – im Gegensatz zur Furcht vor einer bestimmten
Bedrohung – mit der Haltlosigkeit im Ganzen, dem Entzug aller
Bestimmtheit, dem Nichts konfrontiert werden. Von diesem ›Vor-
laufen‹ in die Möglichkeit des Nichtseins zurückzukommen auf den
Lebensvollzug heißt im Bewusstsein der Sterblichkeit seine Existenz
zu führen.
In vielen philosophischen und literarischen Texten ist diese Dop-
pelbewegung, diese Verschränkung von Leben und Tod zum Thema
geworden. Tolstoi berichtet vom Sterben des Iwan Iljitsch, dem sich
am Lebensende die erschütternde Einsicht auftut, dass er falsch ge-
lebt, sein Leben verfehlt hat11; Kierkegaard schildert den existentiel-
len Rückschlag solcher Einsicht in der Erzählung vom Jüngling, der
in der Nacht zum neuen Jahr davon träumt, ein Greis zu sein, der
auf sein vergeudetes Leben zurückschaut, um am Morgen aus seinen
Ängsten aufzuwachen nicht bloß zu einem neuen Jahre, sondern zu
einem neuen Leben.12 Mit dem Ende, wo es bewusst erlebt oder vor-
weggenommen wird, kann sich ein tiefes Innewerden seiner selbst
verbinden13, welches auf das Leben ausstrahlt, wie eine Nahtod­
erfahrung das Selbstverständnis eines Menschen erschüttern und sei-
nem Leben eine neue Richtung und innere Klarheit geben kann. Wie

9 Ebd., S. 236.
10 Ebd., S. 266.
11 Lew Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, Köln: Anaconda 2008.
12 Søren Kierkegaard, »An einem Grabe«, in: Gesammelte Werke, Düssel-
dorf / Köln: Eugen Diederichs 1952, 13. und 14. Abteilung: Vier erbauliche
Reden 1844 / Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, S. 173–205, hier
S. 178.
13 John Williams lässt in seinem Roman Stoner die akribische Beschreibung
eines vom Sterbenden erlebten Sichzurückziehens und Erlöschens in solche
gesteigerte Selbstpräsenz münden: »Eine Sanftheit umgab ihn, eine Mattig-
keit legte sich auf seine Glieder, und ein Gefühl der eigenen Identität über-
kam ihn mit plötzlicher Kraft; er fühlte ihre Macht. Er war er selbst, und er
wusste, was er gewesen war« (John Williams, Stoner, München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 2013, S. 348).
122 III.  Das erzählte Selbst

das Vorlaufen zum Tode für Heidegger zum Angelpunkt der eigent-
lichen Existenz wird, so bildet der Gedanke des Todes – nicht der all-
gemeinen Sterblichkeit, sondern des je eigenen, mir bevorstehenden,
unvertretbaren Todes – für Kierkegaard die Grundlage der Lebens-
kraft und des Ernstes, der jeden Tag unendlich wertvoll macht und
ihn so leben lässt, als wäre er der letzte.14 Gleichsam spiegelbildlich
zum Vorlaufen in den Tod lässt sich die Durchdringung von Leben
und Tod auch als Vorfallen des Todes ins Leben, als Gegenwart des
Todes im Leben erfahren. Michael Theunissen hat das Leben, das
im Vorschein des Todes vollzogen wird, anhand der sokratischen
Formel einer Einübung ins Sterben ausgelegt und diese konkret als
Vorwegnahme des Abschieds vom Leben, als abschiedliches Leben
charakterisiert, in welchem er zugleich ein Kennzeichen des wahr-
haft menschlichen Lebens erkennt.15 Es ist ein Ernstnehmen nicht
nur des Sterbens als des letzten – unter Umständen schmerzlichen,
angstvollen, betreuungsbedürftigen  – Lebensabschnitts, sondern
der existenziellen Bewegung hin zum Erlöschen und zum eigenen
Nichtmehrsein. Im Abschiednehmen von den Lebenden, von sich
selbst und vom Leben durchdringt der Tod das Leben als ganzes.
Nun ist diese Doppelbewegung des Vorlaufens und Zurück-
kommens nicht nur für den existentiellen Lebensvollzug, sondern
in anderer Hinsicht ebenso für dessen reflexive Selbstbeschreibung
von Belang. Vom Tode her wird das Leben geführt und erzählt. Zur
Utopie jener Selbsteinholung, die dem Erzähler des Lebens vor-
schwebt, gehört nicht nur das von Proust beschworene Einswerden
in der Intensität des Augenblicks, sondern ebenso der Wunsch des
Sichgegenwärtigwerdens in seinem Leben als ganzem. Die konsti-
tutive Retrospektivität, die der episodischen Erzählung innewohnt,
prägt die Lebenserzählung als solche und bedingt ihren Ausgriff aufs
Ganze: Zu dessen Pointe gehört, dass er nicht nur den Ausblick ins
Nichtsein, sondern ebenso den Rückblick und die Gegenwärtigkeit
des Ganzen eröffnet. Der Tod ist eine Grenze und zugleich eine Er-
möglichung der Lebenserzählung. Auflösung und Ganzheit stehen
in antagonistischem Widerspruch und in geheimnisvoller Verbin-
dung. Das eigentümliche Ineinander von Ende und Vollendung bil-

14 Søren Kierkegaard, »An einem Grabe«, a. a. O., S. 186, 199; vgl. Rainer
Marten, Endlichkeit, Freiburg / München: Alber 2013, S. 158 f.
15 Michael Theunissen, »Die Gegenwart des Todes im Leben«, in: ders.,
Nega­tive Theologie der Zeit, a. a. O., S. 197–217.
7.  Selbsterzählung und Endlichkeit 123

det einen Knotenpunkt der Existenz ebenso wie der vorausgreifend-


rückschauenden Vergegenwärtigung seiner selbst.

7.2  Das ganze Leben erzählen

Dieses Ineinander nimmt konkrete Gestalt an in den Versuchen, sein


Leben als Ganzes zu vergegenwärtigen, es bis zum Ende zu erzäh-
len.16 Es sind scheinbar paradoxe Versuche, vergebliche Anstrengun-
gen, sich dem Gesetz der Zeit zu entziehen – und doch Formen, wel-
che der Berührung zwischen Leben und Tod, der Grenzerfahrung
des Endens und Übergehens Ausdruck verleihen. Der Tod selbst,
so heißt es zwar, lässt sich nicht erzählen, keiner hat ihn erlebt und
davon Kunde gegeben; er ist, so Wittgenstein, »kein Ereignis des Le-
bens. Den Tod erlebt man nicht.«17 Dennoch handeln Erzählungen
von ihm, wird über ihn erzählt, wird von ihm her erzählt. Er ist in
Erzählungen anwesend, weil er Teil des Lebens ist, seinen Schatten
auf das Leben wirft, weil die Lebenden sich zu ihm verhalten. Es
sind Erzählungen über das Leben und aus dem Leben heraus, das
im Schatten des Todes steht, sich im Fernhorizont oder auch in der
Naherwartung des Endes abspielt. Es mag scheinen, dass es kein
Problem aufwirft, vom Sterben und Tod aus der Außenperspektive,
mit Bezug auf das Lebensende anderer zu erzählen, während das
autobiographische Schreiben hier an eine unüberschreitbare Grenze
stößt. Indessen ist diese Differenz, für sich genommen unumstöß-
lich, nur die halbe Wahrheit. Idealtypische Erzählungen über das
Leben und Sterben anderer nehmen in irgendeiner Weise zugleich
auf die Erlebensperspektive der handelnden und leidenden Perso-
nen Bezug, integrieren deren Selbst- und Weltwahrnehmung in die
Optik der Narration. Mit Bezug auf Erzählungen vom Lebensende,
das eine strikte Perspektivenkonvergenz ausschließt, führt diese Ver-
schränkung zu Konstellationen eigener Art, sei es, dass die erlebte
Annäherung an das Ende bis zum letztmöglichen Punkt mitverfolgt

16 Vgl. zum Folgenden Emil Angehrn, »Sich zu Ende erzählen? Möglich-


keiten und Grenzen einer erzählerischen Annäherung an das eigene Lebens-
ende«, in: Simon Peng-Keller / Andreas Mautz (Hg.), Sterbenarrative. Her­
meneutische Erkundungen des Erzählens am und vom Lebensende, Berlin:
De Gruyter 2017.
17 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.4311.
124 III.  Das erzählte Selbst

wird, dass der Prozess des Sterbens als solcher ins Zentrum rückt
und der Umgang mit Schmerzen und Ängsten an die Stelle des letz-
ten Abschiednehmens tritt, dass das Sterben in einer Überblendung
von Innen- und Außensicht bis ins Erlöschen und letzte Dunkel
hinein eine Sprache findet.
Verwiesen sei auf literarische Werke, die sich dieser Herausforde-
rung stellen und die aus verschiedener Perspektive vom Zu-Ende-
Gehen und Sich-zu-Ende-Erzählen Zeugnis ablegen, wobei die Sub-
jektstelle zwischen Autor, Ich-Erzähler und Romanheld ebenso os-
zillieren kann wie die Sprachform zwischen romanhafter Erzählung,
registrierendem Protokoll, tagebuchartigen Aufzeichnungen, reflek-
tierender Besinnung und antizipiertem Nachruf auf sich selbst18.
Zum Teil sind es Beschreibungen aus der auktorialen Außensicht,
die sich gleichzeitig um eine Vermittlung der Erlebensdimension des
Helden und seines Sichverhaltens zur Sterblichkeit und zum eigenen
Tod bemühen, Nachzeichnungen des Sichzurückziehens und Ver-
abschiedens, bis hin zum Erlöschen des Bewusstseins und Überge-
hen ins Nichtmehrsein.19 Es sind wie tentative Überschreitungen der
Grenze zwischen externem Bericht und Selbstnarration, zum Teil
gleichsam stellvertretend weiter- und zu Ende geführte Selbsterzäh-
lungen von Sterbenden.20 Andere, eindringliche Zeugnisse stammen
von Autoren, die mit der Diagnose einer tödlichen Erkrankung kon-
frontiert sind und von ihrer letzten Lebensphase Rechenschaft able-
gen, reflektierend über sich und ihr Leben, über Krankheit und Tod,
Verzweiflung und Hoffnung – Berichte, die zum Teil bis in die letzte
Phase des selbst bestimmten Lebens hinein weitergeführt werden,
um am Ende editorisch anderen anvertraut zu werden.21 Klassische

18 Vgl. Stefan Heym, Nachruf, München: Bertelsmann 1988.


19 Vgl. Philip Roth, Jedermann, München: Hanser 2006; Philip Roth, Exit
Ghost, München: Hanser 2008; John Williams, Stoner, a. a. O.
20 Eine eigentümliche, zweistufige Stellvertretung findet sich im Roman
von Volker Harry Altwasser, der vom Sterben des deutschen Schriftstellers
Bruno Frank (1887–1945) erzählt, der an seinem letzten Manuskript Cham­
fort erzählt seinen Tod – zu Ende arbeitet: Glückliches Sterben. Volker Harry
Altwassers Roman über Bruno Franks Bericht, in dem Chamfort seinen Tod
erzählt, Berlin: Matthes & Seitz 2014.
21 Vgl. Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 2013; Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Him­
mel gar nicht sein! Köln: Kiepenheuer und Witsch 2009; Fritz Zorn, Mars,
München: Kindler 1977. Vgl. dazu Walter Lesch, »Theologisch-ethische An-
näherungen an aktuelle Erzählungen des eigenen Sterbens«, in: Simon Peng-
7.  Selbsterzählung und Endlichkeit 125

und neuere Werke entfalten ein facettenreiches, vielschichtiges Bild


des menschlichen Verhaltens zum Lebensende und der reflexiven
Durchdringung des Lebensganzen. Immer bleibt die Schwelle des
Todes als eine Grenze narrativer Vergegenwärtigung solchen Texten
immanent, im Blick auf die personale Unvertretbarkeit des Sterbens
ebenso wie auf den zeitlichen Vollzug des Hinübergehens, von dem
noch kein Zurückgekehrter berichtet hat.
Indessen braucht diese Grenze, die auch in der existenzphiloso-
phischen Fokussierung auf das unvertretbar-eigene Sein zum Tode
kontrovers diskutiert wird, nicht als letzte, unverrückbare Schranke
bestehen zu bleiben. Mit Nachdruck hat Paul Ricœur deutlich ge-
macht, dass ein Perspektivenwechsel von der deskriptiven zur han-
delnd-teilnehmenden Einstellung diese Grenze zu überschreiten
vermag. Die Überwindung des eigentlichkeitstheoretischen Solip-
sismus im solidarischen Begleiten anderer ist gerade im Blick auf das
narrative Erkunden des Lebens bis zum Ende, das ›Lebendigsein bis
in den Tod‹ von Belang.22 Während aus der Beobachter-Perspektive,
welche vom Zustand des Sterbenden implizit auf dessen künftiges
Totsein vorgreift, der Tod nicht wirklich erfasst werden kann, eröff-
net die solidarische Anteilnahme sehr wohl einen authentischen Zu-
gang zum Sterbenden und zum Sterben.23 Ricœur verweist in diesem
Zusammenhang auf Beschreibungen von Jorge Semprun, der vor
dem Hintergrund eigenen Erlebens im Konzentrationslager Witt-
gensteins Verdikt mit Entschiedenheit verwirft und nachdrücklich
auf der Möglichkeit beharrt, den fremden Tod erleben zu können
und im Hindurchgegangensein durch das Sterben in die Zone des
Lebens und des Erzählens zurückzugelangen.24 Das Anteilnehmen

Keller / Andreas Mautz (Hg.), Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundun­


gen des Erzählens am und vom Lebensende, a. a. O.
22 Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, suivi de Fragments, Préface d’Olivier
Abel, Postface de Catherine Goldenstein, Paris: Seuil 2007 (dt.: Lebendig bis
in den Tod: Fragmente aus dem Nachlass, Hamburg: Meiner 2011).
23 Ebd., S. 45 ff.
24 Jorge Semprun, Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1995, S. 230: »Er stirbt weiter, er dringt weiter ein in die Ewigkeit des Todes.
Und da erinnere ich mich an Ludwig Wittgenstein. ›Der Tod ist kein Er-
eignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht‹, hat dieser Idiot Wittgenstein
geschrieben. Aber ich hatte den Tod von Morales erlebt, ich war im Begriff
ihn zu erleben. So wie ich vor einem Jahr den Tod von Halbwachs erlebt
hatte. Und hatte ich nicht ebenso den Tod des jungen deutschen Soldaten
erlebt, der La Paloma sang? Den Tod, den ich ihm gegeben hatte? Hatte ich
126 III.  Das erzählte Selbst

an der Grenzerfahrung des Anderen, an seinem Leiden und Sterben


ist wie ein Analagon jenes Vorlaufens zum Tod, von dem zurückkeh-
rend der Raum der Erzählung auf das Ganze hin sich öffnet.
All dies sind unterschiedliche Weisen, wie das Ende im Verlauf
präsent sein kann und der Mensch darin sich selbst, seinem Leben
als ganzem gegenübertritt. Die existentiellen Formen, wie das Le-
ben auf den Tod gerichtet ist, von ihm her erlebt und geführt wird,
bilden gleichsam das praktische Pendant zu der mit Aristoteles ins
Auge gefassten Lebensbeurteilung vom Ende her, die als Analogon
der umfassenden Lebensbeschreibung fungierte. Sein Leben als gan-
zes zu erzählen und darin die narrative Rückschau mit dem Ausblick
auf das Ganze zu verbinden erschien als die paradoxe, im Prinzip
undurchführbare Herausforderung, die der Lebenserzählung den-
noch vorschweben kann und von ihr in unterschiedlicher Weise auf-
genommen wird. Der Wunsch, im Alter zur Selbsttransparenz und
abschließenden Sinngebung zu gelangen, »am Ende das Ganze auf
einmal zu sehen«25, bleibt lebendig ungeachtet seiner Überforderung
und seiner Nichteinlösung. In den auf das Ende ausgreifenden Wer-
ken tritt uns der Ernst des Bemühens um eine integrale Selbsteinho-
lung ebenso entgegen wie die strukturelle Grenze ihrer Realisierung.
Sie weisen auf ein Zu-Ende-Gehen, das ein Vollenden und Erlöschen
zugleich ist, sowohl des Lebens wie des Sichausdrückens und Sagens,
versinnbildlicht in der Figur jenes Zen-Meisters, der »im Prozess des
Todes seine letzte Kalligraphie schreibt.«26
Nun ist der Ausgriff auf das Ganze, das Bis-zum-Ende-Erzählen
nicht die einzige Grenze, an der sich die narrative Vergegenwärti-
gung des Lebens abarbeitet. Die andere liegt darin, dass diese sich
selbst in der Zeit vollzieht, dass sie der schwindenden Frist, dem
Zerrinnen der Zeit ausgesetzt ist.

nicht das Grauen, das Erbarmen all dieser Tode erlebt? Allen Todes? Auch
die Brüderlichkeit, die er ins Spiel brachte?«
25 So Patrick Modiano im Interview mit Iris Radisch, in: Iris Radisch,
Lebens­endgespräche, Reinbek: Rowohlt 2015, S. 266.
26 Dieter Henrich, ›Sterbliche Gedanken‹. Dieter Henrich im Gespräch mit
Alexandru Bulucz, Frankfurt am Main: Edition Faust 2015, S. 9.
7.  Selbsterzählung und Endlichkeit 127

7.3  Der Wettlauf mit der Zeit

Die Bedrohung, die auf dem Schreiben seines Lebens durch die
schwindende Zeit liegt, stand Prousts Erzähler von Beginn an vor
Augen. Ausdrucksstark ist sie im Bild vom Maler eingefangen, der
endlich den freien Blick auf die vor ihm liegende Landschaft ge-
winnt und zum Pinsel greift – kurz bevor die Nacht einbricht, in der
nichts mehr sichtbar ist und ȟber der sich kein neuer Tag erheben
wird.«27 »Sprich jetzt, bevor es zu spät ist«, hat in ähnlichem Geist
Paul Auster sein erzählendes Ich gemahnt.28 Das Bewusstsein der
Endlichkeit ist nicht nur eine Grundlage des Ausgriffs auf das Ende,
sondern ebenso eine Infragestellung dieses Ausgriffs. Es ist eine Be-
drohung, die nicht nur das Erreichen der abschließenden Ganzheit,
sondern den fortlaufenden Prozess der Selbsteinholung untermi-
niert. Schon während wir schreiben, haben wir das Gefühl, uns zu
entgleiten, uns im Fluss des Lebens nicht einholen zu können und
auch in der fortgesetzten, rastlosen Anstrengung des Weiterschrei-
bens unser Ziel nicht zu erreichen, ihm nicht näherzukommen. Es ist
die Last des Zeitdrucks, der den Menschen in vielfältigsten Beschäf-
tigungen gefangen hält, ihn mit dem Gefühl des Nichtankommens,
des Nichtgelingens, der Vergeblichkeit bedrängt. Dieses Erlebnis,
das ihn in der Arbeit und im sozialen Handeln heimsuchen kann
und das in gewisser Weise als Leiden am Verrinnen der Zeit dem
Leben als solchem innewohnt29, erhält eine besondere Intensität in
der Bemühung, schreibend die Wirklichkeit einzufangen und das
eigene Leben zur Sprache zu bringen.
Die Schriften von Peter Kurzeck, in denen uns markante Aus-
prägungen der Erinnerungs- und Schreibarbeit begegnet sind, verlei-
hen auch der Erfahrung der Zeitnot beredten Ausdruck. Sie kommt
sowohl als Mühsal der Hast und Zeitknappheit wie als Sehnsucht
nach Ruhe und Stillstand, schließlich als Erfahrung des Entzugs, des
Verspätetseins und Sichverfehlens zur Sprache.
Als geradezu existentielle Bedrängnis erlebt der Schreibende die
Not, mit der davoneilenden Zeit mitzuhalten, sie durch Beharrlich-
keit und Beschleunigung des Erzählens einzuholen. »Schreib wei-

27 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 508 (fr. III, S. 1035).
28 Paul Auster, Winterjournal, a. a. O., S. 7.
29 Vgl. oben 2.4.
128 III.  Das erzählte Selbst

ter! Beeil dich!«30 ruft er sich zu, »nicht aufgeben, nie! Jeden Tag
weiter, so lang es auch dauern mag«, »am liebsten schreiben und
schreiben und keine Pause«, »schreiben, als ob das Exekutionskom-
mando schon unterwegs«, »noch nicht! Stört jetzt nicht! Muss hier
erst noch zuende!«31 Das Verfolgtsein, Gehetztsein durch die Zeit
überlagert sich mit dem Verlangen, ja, inneren Zwang, alles einzu-
sammeln, alles zu beschreiben, es gegen sein Entgleiten festzuhalten,
vor dem Verschwinden zu retten. Gerade mit Bezug auf das eigene
Leben wird das unablässige Entschwinden der vertrauten Welt und
Verblassen der Erinnerungen schmerzlich erfahren. Mit dem Ver-
lust geht auf der Gegenseite die ungestillte Sehnsucht einher, »man
könnte irgendwann irgendwas einmal in Ruhe, in aller Ruhe«32 zu
Ende bringen, der tiefe, unablässig enttäuschte Wunsch, »wenigs-
tens während ich schreibe, soll sie stehenbleiben, die Zeit«.33 Alle
Anstrengung, die Zeit einzuholen, den Wettlauf mit ihr zu gewin-
nen, bleibt mit Vergeblichkeit geschlagen. Immer mehr schwindet
das Vertrauen, dass die Beschreibung überhaupt zu einem Ende
kommt, das Buch je fertig wird34; immer kürzer wird die Zeit, im-
mer mehr verspäten wir uns uns selbst gegenüber: »Je länger ich
schreibe, umso mehr in Verzug, sagte ich. Mit dem Leben genauso.
Rund um die Uhr. Wie soll man das aushalten?«35 Die schreibende
Selbsteinholung entgleitet sich, wird zur zunehmenden Entfernung
von sich, Schreiben zu einem »wachsenden Verlustgeschäft, das man
aber unbedingt immer weiter in Gang halten muss. So lang wie
möglich.«36 Die Zeit läuft ab, doch der Schreibende kann nicht an-
ders als mit allen Kräften verzweifelt danach streben, mit ihr Schritt
zu halten, getragen von der utopischen Hoffnung, ohne welche er

30 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 815.


31 Peter Kurzeck, Übers Eis, a. a. O., S. 178
32 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 168.
33 Peter Kurzeck, Übers Eis, a. a. O., S. 294.
34 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 824.
35 Ebd., S. 872.
36 Ebd., S. 945. – Drastisch beschreibt Laurence Sterne diesen Verzug im
Schreiben, welches immer mehr hinter dem Leben zurückbleibt, so dass ich,
»je mehr ich schriebe, desto mehr zu schreiben hätte. […] Ich mag schreiben
wie ich will und mich noch so rasch in die Mitte der Dinge stürzen […], –
ich werde doch niemals mich selbst einholen, und wenn ich aufs äußerste
gepeitscht und gejagt würde«: Leben und Meinungen von Tristram Shandy
Gentleman, Frankfurt am Main: Insel 1982, S. 306 f.
7.  Selbsterzählung und Endlichkeit 129

nicht schreiben kann, die Zeit letztlich einzuholen und sein Werk
zu vollenden – »beim Schreiben oder im Gehen wie von weit her
eine Ahnung […] dass es am Ende doch fertig wird, das Buch, und
ich wäre gerettet.«37
Wir haben hier nicht nur mit der Not der Endlichkeit zu tun,
die sich an einem nie abzuschließenden, nie vollendeten Werk ab-
arbeitet, wie wir in allem Tun und Streben nie zur restlosen Ver-
wirklichung unserer Pläne, nie zur vollständigen Erfüllung unserer
Wünsche kommen. Sondern es ist wie ein abgründigeres Verfehlen,
das Sichverfehlen eines Lebens, das immer im Aufschub bleibt, nie
im Jetzt sich gegenwärtig und mit sich eins wird, das immer über
sich hinausgewiesen, vom Gefühl begleitet ist, noch nicht das wahre,
eigentliche Leben zu sein, welches erst noch kommen muss. Die-
ses den Lebensvollzug bedrängende Verfehlen hat seinen Reflex in
einer Erinnerungsarbeit, in der uns das Vergangene entgleitet und
uns nie in ihm präsent werden lässt, weil das Heraufholen und ge-
staltende Vergegenwärtigen des Gewesenen sich selbst in der Zeit,
gegen die Zeit vollzieht. Sein Leben zu schreiben steht in ungelös-
ter Spannung zum Gesetz der Zeit: zu der immer weiter sich ent-
fernenden, im Dunkel sich verlierenden Vergangenheit, aber auch
zur inneren Zeitlichkeit des nie mit sich einigen Lebens und des
Schreibens selbst. Dabei kann sich zwischen dem Leben und dem
Schreiben ein Spannungsverhältnis eigener Art auftun. Während
sich der Schreibakt von sich aus an einer Teleologie der Vollendung
und geschlossenen Form ausrichten kann, konfrontiert das Leben
im Maße seines Voranschreitens zunehmend mit der Einsicht in die
unausweichliche Nichtvollendung. Norberto Bobbio sieht solche
Alterseinsicht im Zeichen des melancholischen Bewusstseins »um
das Unerreichte und das nicht mehr Erreichbare«, als Klarheit da-
rüber, »dass der Weg nicht nur nicht vollendet ist, sondern dass dir
auch keine Zeit mehr bleibt, ihn zu vollenden.«38 Es gehört, so Odo
Marquard, zu den – nicht resignativen, sondern versöhnenden, von
Illusionen befreienden – Erfahrungen des Alterns, dass wir, ineins
mit dem Schwinden der Zukunft, mit der Aussicht vertraut werden,

37 Peter Kurzeck, Übers Eis, a. a. O., S. 289.


38 Norberto Bobbio, »Vom Alter – De senectute«, in: Thomas Rentsch /
Morris Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grund­
lagen, Stuttgart: Reclam 2012, S. 186.
130 III.  Das erzählte Selbst

bald »ohne Rücksicht auf Vollendungen am Ende« zu sein, »an je-


nem Ende, das kein Ziel ist«.39
In diesem Spannungsverhältnis bleibt das Schreiben zugleich aus-
gespannt auf das Ziel einer Überwindung der Zeit, gerichtet auf eine
Selbsteinholung, die das Vergehen auf die Gegenwärtigkeit hin tran-
szendiert: auf die Gegenwart des Vergangenen, die Selbstpräsenz des
Lebens, die Gegenwärtigkeit seiner selbst.

39 Odo Marquard, »Theoriefähigkeit des Alters«, in: Philosophie des Statt­


dessen, Stuttgart: Reclam 2000, S. 135–139, hier S. 135 f.
IV.
Die Zukunft des Vergangenen
8.  Das unerledigte Vergangene

8.1  Der Entzug des Vergangenen

Sein Leben erinnernd zu vergegenwärtigen ist ein ursprünglicher


Wunsch des Menschen. Es ist ein Wunsch, dessen Verwirklichung
auf Probleme verschiedener Art stößt. Zu diesen gehört die Schwie-
rigkeit, auf dem Weg der Gedächtnisarbeit jene Unmittelbarkeit des
Beisichseins zurückzugewinnen, die der Sehnsucht des Erinnerns
innewohnt, ebenso wie die Mühe, des Vergangenen überhaupt hab-
haft zu werden, es aus dem Vergessen zu befreien und erkennend zu
durchdringen. Als gewissermaßen noch grundlegender haben sich
die Probleme gezeigt, die der Zeitlichkeit der Existenz entspringen
und die sowohl das Entgleiten des Vergangenen wie die Schwierig-
keit des Ausgreifens auf das Lebensganze betreffen, zuletzt die ei-
gene Temporalität des Erinnerns und Schreibens, das sich im Wett-
lauf mit der Zeit selbst entgleitet, das seinen Gegenstand nie umfas-
send vor sich bringt und für sich selbst ohne Vollendung bleibt. Der
Entzug des Vergangenen vertieft sich im Sichentgleiten des Schrei-
bens, seinem vergeblichen Bemühen um Einholung des Gegenstan-
des. Die Frage ist, wie angesichts dieses zweifachen Entzugs Erinne-
rung möglich ist, wie das Projekt des Sichschreibens gelingen kann.
In Wahrheit wird sich zeigen, dass Erinnerung nicht nur trotz
des Entzugs des Vergangenen, sondern auf der Grundlage dieses
Entzugs zustande kommt. Das Vergangene, um das sich Erinne-
rung bemüht, ist nicht einfach ein anderswo, an einem anderen Ort
und in einem anderen Zeitsegment lokalisierter Gegenstand, den
wir durch Zurück- und Umhergehen an seiner Stelle aufzufinden
und in den Blick zu nehmen hätten. Vielmehr gehört sein Entzogen-
sein konstitutiv zu seiner Natur. Es ist als Vergangenes wesensmäßig
ein Nicht-Anwesendes, ein der Präsenz – im zweifachen, räumlich-
134 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

zeitlichen Sinn – Entzogenes, und es wird gerade in dieser Nicht-


Gegenwart, als nicht aktuell Seiendes und uns nicht Gegenwärtiges,
zum Gegenstand des Erinnerns; ja, es ist diese Nicht-Gegenwart, die
als Grund seiner Erinnerbarkeit fungiert. Um diese eigentümliche
Verschränkung aufzuhellen, haben wir zunächst die Seite des Ent-
zogenseins, der Nichtpräsenz des Vergangenen näher zu betrachten.
Dabei haben wir ein tieferes Entzogensein in den Blick zu nehmen
als jenes Zurückweichen, jenes Sichentfernen aus dem Lichtkegel der
Gegenwart, das nach gängigem Verständnis alles Zeitliche bestimmt.
Der chronologischen Linearität des Auftretens, Hierseins und Ver-
schwindens korrespondiert in diesem Bild der gegenläufige Weg des
Erinnerns, das aus der Gegenwart ins Vergangene zurückgeht, um
in den ›weiten Hallen‹ des Gedächtnisses den entschwundenen Din-
gen und Geschehnissen nachzuforschen. Nach diesem Bild ist das
Vergangene nicht grundsätzlich nicht oder nicht-präsent, sondern
gewissermaßen nur anderswo, an einer anderen Stelle des zeitlichen
Kontinuums, welches sich von der Vergangenheit über die Gegen-
wart in die Zukunft – oder aus Sicht des Prozesses vom Kommenden
über das Jetzt ins Gewesene – erstreckt. Die paradoxe Rede von einer
Lokalisierung auf der Zeitlinie ist Indiz der von vielen vermerkten
Problematik der konventionellen, verräumlichend-objektivierenden
Zeitanschauung (die Bergson als phänomenfremd, Heideg­ger als
vulgären Zeitbegriff kritisiert). Der Entzug des Vergangenen muss
anders denn als räumlich-zeitliche Entfernung gefasst werden. Wir
können nicht einfach durch Zurückgehen mit dem, was einst war,
gleichzeitig werden. Das entzogene Vergangene kann nicht einfach
durch Zurückblicken, Zurückgreifen und Heraufbringen in die
Gegen­wart eingeholt werden. Es ist der Erinnerung u ­ neinholbar.
Die Idee einer Uneinholbarkeit des Vergangenen ist in der Ge-
schichtsreflexion in verschiedenen Figuren reflektiert worden. Sie
begegnet im Temporalen als der nie wettzumachende Entzug, der
nicht nur, wie im Vorausgehenden beleuchtet, den Wettlauf mit der
zerrinnenden Zeit prägt, in welchem wir immer hinter dem nach
vorne enteilenden Leben zurückbleiben. Es ist ein Entzug, der auch
die Rückkehr zum Vergangenen unterminiert, das nie erreicht wird,
sondern immer zurückliegt, je schon entschwunden ist. Es ist ein
Entzug, der die Erinnerung aushöhlt, das Vergangene zu einem
grundsätzlich nicht in Gegenwart zu Überführenden, Nicht-Erin-
nerbaren macht. Es geht um ein Vergangenes, das nicht ins Licht ge-
rückt und identifizierend erkannt, repräsentiert werden kann, eine
8.  Das unerledigte Vergangene 135

›unvordenkliche‹ Vergangenheit (Schelling), ein Vergangenes jenseits


des Erinnerns, ›un passé immémorial‹ (Ricœur, Lévinas). Oftmals
amalgamieren sich dabei die temporalen Konnotationen mit begrün-
dungstheoretischen, überlagert sich der zeitliche Entzug mit einem
strukturellen. Das Zurückgehen zum Ältesten und Anfänglichen
kommt so wenig zum Abschluss wie die Suche nach dem tiefsten
Grund und letzten Ursprung.
Seit den ältesten Ursprungsspekulationen durchdringen sich
diese divergierenden Sichtweisen auf das Erste, die im philosophi-
schen Begriff der arche (Anfang, Grund, Ursprung) ebensowenig
auseinandergehalten sind wie in den abstrakten Chiffren des Ers-
ten und Letzten. Ähnlich reflektieren und verschränken sich die
Facetten der Uneinholbarkeit zwischen dem unvordenklichen An-
fang und dem je zugrundeliegenden Fundament, dem Grund als
Abgrund, als ›Urgrund‹ oder ›Ungrund‹ (Schelling).1 Die Auseinan-
dersetzung der sich herausbildenden Metaphysik mit dem Mythos,
die den Hauptstrang des abendländischen Denkens trägt, hat nicht
zuletzt mit dem Oszillieren der Ursprungsvorstellung, genauer der
Abwehr des offenen, uneinholbaren Ursprungs zu tun. Während
klassische Metaphysik auf feste Erstprinzipien rekurriert und al-
les Sein und Verstehen in identifizierbaren Anfängen und absolut
letzten, nicht weiter rückführbaren Ursprüngen (der Wesensform,
dem ersten Beweger, dem höchsten Zweck) begründet, inszeniert
der Mythos das Hervorgehen von allem aus dem unergründlichen
Chaos, dem Ungestaltet-Unendlichen.2 Der festen Form steht das
Formlose, dem Bestimmten das Unbestimmte als Grund aller Dinge
gegenüber. Mit diesen fundamentalphilosophischen Gegensätzen
verbinden sich sowohl wertmäßige und affektiv-emotionale wie the-
oretisch-erkenntnismäßige Oppositionen. Für das metaphysische,
traditionell vorherrschende Denken bildet das Bestimmungslose
und Grenzenlos-Diffuse ein Negativum, das als Bedrohung wahr-
genommen wird und von dem her keine lebensweltliche Sicherheit
und keine klare Erkenntnis möglich sind. Für die Gegenposition

1 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über


das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden
Gegenstände, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg: Meiner 1997, S. 78 ff.
2 Vgl. Emil Angehrn, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des
Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996; Die Frage nach dem Ursprung.
Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, München:
Fink 2007.
136 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

aber steht gerade die Ausrichtung auf das Feste und Bestimmte im
Zeichen der Täuschung und Verdrängung, liegt die Herausforderung
vielmehr darin, im Offenen und Bodenlosen zurechtzukommen und
ohne Abstützung auf letzte Gründe Orientierung zu finden. Solche
Antagonismen durchziehen den Streit um das richtige Denken und
Leben von Beginn bis heute.
Wenn das Motiv des uneinholbaren Anfangs zum Teil mit beson-
deren, ›abgründigen‹ Themen und aporetischen Fragen – dem An-
fang der Zeit, dem Ursprung des Bösen – verknüpft ist, so wird es
in anderen Konzepten als generelles Strukturmerkmal des mensch-
lichen Seins und Denkens herausgestellt. Für die Dekonstruktion
steht es im Horizont eines Verstehens und Sinngeschehens, das je
schon unterwegs ist und nie zur abschließenden Formulierung und
Deckung mit sich gelangt. Auch wenn historische Schöpfungen auf
singulären Stiftungsakten – Neugründungen, Erfindungen, Revolu-
tionen – aufruhen können, setzen sie nicht im schlechthin Bezugs-
losen, vom absoluten Nullpunkt an, sondern schließen an voraus-
gehende Sinnprozesse an, die sie aufnehmen, umstürzen, neu inter-
pretieren. Auch wenn sie radikale Neuerungen und unableitbare
Kreationen enthalten, sind sie untergründig mit vorausgehenden
Prozessen und Konstellationen verbunden, von ihnen her ermög-
licht und auf den Weg gebracht. Um ein Ereignis in seiner Dichte,
auch in seiner Gebrochenheit und Vieldeutigkeit zu begreifen, müs-
sen wir über die nächsten Ursachen hinaus-, hinter seine Anfänge
und Vorstadien zurückgehen; um eine unverständliche Handlung,
einen dunklen Text aufzuhellen, müssen wir verdeckte Vorausset-
zungen, Gründe und Abgründe sondieren, von denen her wir nicht
nur der Genese einer Gestalt, sondern auch den Gründen und We-
gen ihrer Verdeckung und Verzerrung nachgehen. Solche Tiefen­
analyse ist namentlich in der Konfrontation mit unverständlichen
Äußerungen, mit fremden Kulturen, mit pathologischen Verhaltens-
formen verlangt. Doch weist sie auf einen Zug im Sinnprozess, der
auch in der normalen Kommunikation, im alltäglichen, aber auch
wissenschaftlichen oder dichterischen Sprechen und Rezipieren rele-
vant sein kann. Es geht dem Verstehen und Deuten nicht nur darum,
das ursprünglich Gemeinte eines Textes, das reine Signifikat eines
Werks zu identifizieren. Abgründiger ist der Umgang mit einer Sinn-
produktion, die sich selbst nicht transparent und ihrer selbst nicht
sicher ist, sondern erst in der Äußerung, im Suchen nach dem rich-
tigen Ausdruck Bestimmtheit finden und die Kluft zwischen Mei-
8.  Das unerledigte Vergangene 137

nen und Sagen schließen muss. In uns selbst, aber auch im Anderen
gehen wir hinter Intentionen und Artikulationen zurück, um die
Bedeutung eines Tuns oder Sagens zu erschließen, wobei der Weg
des Äußerns wie des Verstehens in bestimmten Fällen ein kontu-
rierter mit Anfang und Ende, in anderen aber ein unbestimmt-offe-
ner Weg ohne vorbestimmte Grenze, ohne Urstiftung und ohne ab-
schließende Artikulation des Sinns sein kann. Hermeneutik insistiert
dar­auf, dass das Bedeutungspotential eines Symbols unerschöpflich,
dass der Gang einer Verständigung unendlich sein kann.
Der Uneinholbarkeit des Anfangs begegnen wir nicht nur in
heraus­gehobenen Konstellationen der Urgründe und Letztprinzi-
pien, sondern im weiten Feld der Zeitlichkeit des Lebens. Erinne-
rung hat, neben klaren Anfängen und reproduzierbaren, der Besin-
nung zugänglichen Daten mit verdeckten, abgründigen, entzogenen
Vergangenheiten zu tun. Sie werfen erneut die Frage auf, wie sich die
konkrete Arbeit des Gedächtnisses im Netz des menschlichen Le-
bens vollzieht, in welcher Weise die sich entziehende Vergangenheit
gleichwohl ein Gegenstand, ja, ein treibendes Motiv und ein tragen-
der Grund des Erinnerns sein kann. Dazu haben wir den Entzug des
Vergangenen in einer Gestalt zu betrachten, in der er sich gewisser-
maßen noch radikalisiert, vertieft findet.

8.2  Das Vergangene, das nie gegenwärtig war

In den Blick kommt die eigentümliche Figur, in welcher das Vergan-


gene nicht nur uns, sondern sich selbst entzogen, nicht nur für uns,
sondern für sich selbst uneinholbar ist. Ihren pointierten Ausdruck
findet sie in der Rede von einem »Vergangenen, das nie gegenwärtig
gewesen ist« (un passé qui n’a jamais été présent).3 Es ist eine para-
doxe, irritierende Formulierung, die zu widerrufen scheint, was dem
normalen Zeitverständnis als das Selbstverständlichste gilt: dass das
Vergangene zwar heute entschwunden, doch einstmals gegenwär-

3 Vgl. Emil Angehrn, »Das Vergangene, das nie gegenwärtig war. Zwi-
schen Leidenserinnerung und Glücksversprechen«, in: Emil Angehrn / Jo-
achim Küchenhoff (Hg.), Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der
Erinnerung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015, S. 175–205; in den fol-
genden Abschnitten sind stellenweise Ausführungen aus diesem Text über-
nommen.
138 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

tig, wirklich gewesen ist. Bemerkenswert ist, dass die Formel in


eigen­artiger Koinzidenz bei Autoren wie Maurice Merleau-Ponty,
­Jacques Derrida und Emmanuel Lévinas wiederkehrt. Sie kommt
jeweils in herausgehobener Stellung, im Kontext grundlegender Fra-
gen und Anliegen dieser Theorien zur Sprache.
Für Merleau-Ponty geht es um die phänomenologische Erhellung
des konkreten, inkarnierten Subjekts, das seinen Ursprung nie zur
Gänze einholen kann und in der radikalen Selbstbesinnung auf eine
Schicht vorreflexiver Selbst- und Welterfahrung stößt, e­ inen »fonds
irréfléchi«, der dem Bewusstsein wie ein »ursprünglich Vergange-
nes, ein Vergangenes, das nie gegenwärtig gewesen ist«, voraus­
liegt.4 Derrida bezieht sich in der Sondierung dieser inneren An-
dersheit des Subjekts auf das von der Psychoanalyse herausgearbei-
tete Unbewusste, in welchem er – anders als in Husserls Konzept
der Pro­tention und Retention – nicht eine modifizierte, vergangene
oder künftige Präsenz sieht, sondern »ein ›Vergangenes‹, das nie
gegenwärtig gewesen ist und es nie sein wird«; zugleich verweist er
auf Lévinas, der mit der Formel eines Vergangenen, das nie gegen-
wärtig war, zuletzt die absolute Alterität: die des anderen Subjekts,
­beschreibt.5
Signifikant ist, dass immer die strukturelle Beziehung in eine
temporale eingezeichnet wird, dass der uneinholbare Grund, die
nichtintegrierbare Andersheit als Urvergangenes fungiert – gleich-
sam nach dem Urbild des Vorübergegangenseins jenes absolut An-
deren, des Gottes, der nicht von Angesicht zu sehen ist, sondern von
dem allenfalls eine nachträglich zu entziffernde ›Spur‹ bleibt. Nicht
zufällig ist der Begriff der Spur (bei Derrida zur ›Urspur‹ radika-
lisiert) bei verschiedenen Autoren zur Chiffre für den je zurück-
liegenden, nicht in Gegenwärtigkeit zu überführenden Ursprung
geworden, mehrfach in Gegenwendung zu der als Metaphysik der
Präsenz und Identitätsphilosophie kritisierten klassischen Ontolo-
gie. Die Gegenwärtigkeit, welche dem Vergangenen, auch dem Sei-
enden schlechthin, abgesprochen wird, ist eine emphatische Präsenz,
die im Kreis unter­schiedlicher Konnotationen des wahrhaft Seien-
den steht, wie es der Metaphysik seit Beginn als Richtschnur gilt.

4 Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris: Galli-


mard 1945, S. 280.
5 Jacques Derrida, »La différance«, in: Marges de la philosophie, Paris:
­Minuit 1972, S. 1–30, hier S. 21 f.
8.  Das unerledigte Vergangene 139

Das Gegenwärtige als wahrhaft Seiendes verbindet sich mit der Idee
des Identischen, als welches Parmenides das Seiende im Gegensatz
zum Nichtseienden auffasst und zum Kriterium wahrer Erkenntnis
macht: des sich selbst Gleichen, Unveränderlich-Unwandelbaren,
des in seiner Bestimmtheit Festgelegten, Unvermischten und Be-
grenzten, mit welchem sich im Weiteren Vorstellungen des Voll-
ständigen und Vollendeten verknüpfen, des erfüllten Ganzen, aber
auch des mit sich Einigen, auf sich Bezogenen und in sich Bleiben-
den, sich nicht in anderem Verlierenden und Entfremdenden. Die
räumlich-zeitliche Doppelvalenz, die die arche als Herkunft und
Grund charakterisierte, kennzeichnet die affirmativen wie die nega-
tiven Umschreibungen des Seienden als des wahrhaft Gegenwärti-
gen. Der Begriff der Spur verkörpert paradigmatisch diese zweifache
Verortung eines im Raum Anwesenden, welches zugleich Überbleib-
sel und Zeichen eines Abwesenden und zeitlich Vergangenen ist, eine
Doppel­ver­ortung, die sich in der multidimensionalen Typologie der
Spur6 weiter diversifiziert. Sie überlagert sich mit den ontologisch-
seinsmäßigen Bestimmungen der Gegenwärtigkeit.
Dies ist für die Rede von einem Vergangenen, das nie gegenwär-
tig war, von unmittelbarem Belang. Für sich genommen, scheint die
Formulierung unverständlich, auch wenn sie in vertrauten Kontex-
ten des Erinnerns und Erzählens begegnet. Ernst Blochs Ausblick
auf eines, das »allen in die Kindheit scheint und worin noch nie-
mand war«7, variiert diese Figur ebenso wie der verspielte Buchtitel
von Joachim Meyerhoff »Wann wird es endlich wieder so, wie es
nie war«8 oder Marcel Prousts Annäherung an Erinnerungen, die
nicht einstige Empfindungen, sondern eine neue, unerhörte Wahr-
heit in sich bergen, die es aufzudecken gilt – durch Bemühungen
der gleichen Art, »wie man sie unternimmt, um sich an etwas zu
erinnern, ganz als ob unsere schönsten Ideen Melodien glichen, die
uns wieder einfielen, ohne dass wir sie je gehört hätten, und die

6 Vgl. Ricœurs Unterscheidung (oben 3.4(a)) zwischen der geschriebenen,


dokumentarischen Spur der Historiker, der psychischen bzw. Erlebensspur
der Psychologie und Phänomenologie und der zerebralen Spur der Neuro-
wissenschaften (La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 16–18, 538 ff.).
7 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1959,
S. 1628.
8 Joachim Meyerhoff, Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war, Köln:
Kiepenheuer & Witsch 2013.
140 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

wir uns nun bemühten zu hören und aufzuzeichnen«.9 Ähnlich be-


richtet Leo Tolstoi von Träumen und Erlebnissen der Kindheit, als
das Klavierspiel seiner Mutter in ihm teils leuchtend-freudige, teils
traurig-bedrückende Gefühle hervorrief, die Ähnlichkeit hatten mit
Erinnerungen – »aber mit Erinnerungen woran? Mir war, als erin-
nerte ich mich an etwas, was niemals gewesen war.«10 Adorno spricht
von den Erinnerungsspuren des kindheitlichen Glücks, das »erst als
verlorenes zum Glück wird, das es so nie war«, Thomas S. Eliot vom
Widerhall der Schritte in der Erinnerung, »den Gang entlang, den
wir niemals beschritten«.11
Im Paradoxen all dieser Formulierungen, in der Wiederkehr eines
nie Dagewesenen, im Widerschein eines nie Gesehenen, im Echo ei-
nes nie Gehörten – in alledem wird fassbar, dass die Figur eines nie
gegenwärtig gewesenen Vergangenen nicht schlicht in ihrer wörtli-
chen, rein zeitlichen Bedeutung zum Tragen kommt. Sie meint nicht
ein Vergangenes, das schlechthin nicht war, sondern eines, das nicht
gegenwärtig war, das nicht zur Manifestation, zur Verwirklichung
gekommen ist. Es geht um ein Vergangenes, das im Impliziten und
Verhüllten verblieben ist, das verdeckt, zurückgedrängt, unterdrückt
war, das nicht zur Aussage seiner selbst, zur Eindeutigkeit und vol-
len Präsenz gelangt ist. Solches zum Brennpunkt des Gedenkens zu
machen heißt in der Tat sich an eines erinnern, das sich selbst ent-
zogen, für sich selbst abwesend war – und dennoch nicht einfach
inexistent, sondern undeutlich und dunkel, fremd, unwirklich da
war. Es ist, meint Régis Debray im Blick auf die kreisende Erinne-
rungsbewegung bei Jorge Semprun, wie ein Vergangenes, das erst
in der Wiederkehr wirklich wird – »wie wenn man immer erst am
Ende den Anfang entdeckte«, immer erst »mit Verspätung in seinem
eigenen Leben anlangte.«12 Umkreist wird ein Vergangenes, das im
Zeitpunkt des Geschehens in gewisser Weise ›noch nicht‹ war, das
erst im Nachhinein wirklich und wahrnehmbar geworden ist. Vla-

9 Marcel Proust, Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 275


(fr. III, S. 878).
10 Leo Tolstoi, Kindheit und Jugend: Kindheit – Knabenjahre – Jünglings­
zeit. Autobiographische Notizen, Düsseldorf: Artemis & Winkler 2008, S. 42.
11 Theodor W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Frank-
furt am Main: Suhrkamp 1960, S. 187; Thomas S. Eliot, The Four Quartets
I: Burnt Norton.
12 Régis Debray, »Semprun en spirale«, in: Jorge Semprun, Exercices de sur­
vie, Introduction de Régis Debray, Paris: Gallimard 2012, S. 9–13, hier S. 11.
8.  Das unerledigte Vergangene 141

dimir Nabokov stellt sich in seiner autobiographischen Besinnung


die Frage, ob ihm nicht während all der Jahre, da er als Kind mit
der Gouvernante in seinem Elternhaus zu tun hatte, irgend etwas
Wesentliches an ihr »völlig entgangen war«, das er »erst gewahren
konnte, als die Dinge und Wesen, die ich in der Sicherheit meiner
Kindheit am meisten geliebt hatte, zu Asche geworden« waren.13
Das Vergangene birgt Elemente und Schichten in sich, die sich
nicht erst im Nachhinein dem Blick entziehen, sondern die von
vornherein, in ihrer eigenen Zeit verstellt, sich selbst undurchdring-
lich, in gewisser Weise unwirklich waren – und die dennoch für das
Gedächtnis von zentraler Bedeutung sind. Ihnen gilt ein grundlegen-
des Interesse der Erinnerung, auch wenn sie unerkannt, nicht iden-
tifiziert sind, gar nicht intentional anvisiert werden können. Diesen
Knotenpunkt des Gedächtnisses, der eine eigentümliche Schwierig-
keit wie einen – zunächst ebenso verdeckten, verkannten – Impuls
des Erinnerns umschließt, gilt es aufzuhellen. Zu begreifen ist, wie
der Entzug des Vergangenen gleichzeitig ein Sich-Darbieten, wie er
Antrieb und Quelle einer Offenbarung sein kann.

8.3  Das Nichtgeschriebene lesen

Erinnerung gründet darin, dass nichts von dem, was war, verloren
ist. Das Leitmotiv des historischen Gedenkens: Nichts ist verges-
sen und niemand ist vergessen, steht nicht nur für eine Forderung
und ein tiefes Verlangen. Es artikuliert eine Überzeugung davon,
dass nichts von dem, was war, schlechthin untergegangen, nichtig
geworden ist. Auch das entzogene Vergangene, das – uns Späteren
und sich selbst – Entzogene, das Nicht-gegenwärtig-Gewesene ist
mit dem zeitlichen Vergehen nicht schlicht ins Nichtsein versunken.
Es ist als Vergangenes ein weiterhin in bestimmter Weise Seiendes,
Anwesendes, Dauerndes. Paul Ricœur rekurriert auf Heideggers
Begriff der ›Gewesenheit‹, um im Vergangen-Sein nicht das Nicht-
mehr-Sein, sondern das einstige Gewesen-Sein herauszustreichen,
welches sich nicht aufgelöst hat. Erinnerung hat damit zu tun, dass
das Vergangene nicht einfach nicht mehr ist, dass wir im Erinnern
in einem komplexen, zu präzisierenden Sinne mit einem Unvergan-

13 Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobio­


graphie, a. a. O., S. 154.
142 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

genen, einem nicht-vergehenden Vergangenen zu tun haben. Dabei


kommt nicht eine abstrakte Überzeitlichkeit oder Unzeitlichkeit ins
Spiel. Vielmehr interessiert ein wesentlich mit Geschichte und Er-
innerung verschränktes Nicht-Vergangensein, das in unterschiedli-
cher Gestalt im sozialen oder individuellen Gedächtnis zum Tragen
kommt – als unaufgelöster Rest, verbleibende Spur, Unerledigtes
und Unabgeschlossenes, als eines, das nicht vergehen kann, uns als
Vergangenheit heimsucht.
Das solcherart entzogene und doch verharrende Vergangene ist
Gegenstand von Erinnerung. Deren Herausforderung liegt darin,
es trotz seiner Verschlossenheit gegenwärtig werden zu lassen, in
seinem Sein zu explizieren, in seiner Bedeutung auszulegen. Ver-
schiedene Theorien haben Weisen des Umgangs mit dem verdeckten,
abwesenden oder fehlenden Sinn als integrative Formen unseres Ver-
stehens der Welt und unserer selbst dargelegt. Es gehört zu den Ein-
sichten der Hermeneutik wie der Alltagskommunikation, dass wir,
um eine Äußerung in ihrem vollen Gehalt zu begreifen, nicht nur
das Gesagte und explizit Formulierte, sondern auch das Nichtausge-
sprochene, das Untergegangene und Verschwiegene zu erfassen und
zu bedenken haben. Der Vers von Hugo von Hofmannsthal »Was
nie geschrieben wurde, lesen«14 ist in diesem Sinne als Chiffre eines
Zurückgehens hinter das ausdrücklich Gesagte rezipiert worden, ei-
nes Zurückgehens, das sichtbar machen soll, was im Text angelegt,
doch nicht zum Ausdruck gekommen ist, was je nachdem gerade
als Lücke in ihm enthalten ist, als Sinnbruch den Fluss des Verste-
hens hindert. Die Methode der Dekonstruktion will eine Lektüre
praktizieren, welche feste Sinngefüge aufbricht und den Sinn von
Dokumenten auch jenseits des bewussten Sagens von den Rändern
her, aus materiellen Substraten und zerstreuten Splittern, im Brüchi-
gen und Fehlenden erschließt. Walter Benjamin und Jacques Derrida
haben unter dem Leitbegriff der Übersetzung ein Erkunden von
Texten postuliert, das diese ergänzend weiterschreibt und in dem,
was sie nicht zu sagen vermochten, zum Ausdruck bringt.15 In sol-

14 Schlussvers aus Der Tor und der Tod, in: Hugo von Hofmannsthal, Sämt-
liche Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Rudolf Hirsch et al., Frankfurt am
Main: Fischer 1975–1991, Bd. III, S. 61–80, hier: S. 80.
15 Walter Benjamin, Walter, »Die Aufgabe des Übersetzers«, Gesammelte
Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, Bd. IV.1, S. 9–21; Jacques
Derrida, »Des tours de Babel«, in: Psyché. Inventions de l’autre, Paris: Ga-
lilée 1987, S. 203–235.
8.  Das unerledigte Vergangene 143

chen Zugangsweisen durchdringen sich in signifikanter Weise Modi


der Produktion und der Rezeption, der Lektüre und des Schrei-
bens. Im Besonderen kommt das Wechselspiel im Umgang mit der
Vergangenheit zum Tragen, in einem erinnernden Schreiben bezie-
hungsweise schreibenden Erinnern, welches sich immer auch mit
verstummten Stimmen, mit verschütteten Monumenten und unles-
bar gewordenen Schriften auseinanderzusetzen hat. Das partielle
oder gänzliche Entgleiten des einst Offenkundigen, verschärft im
Selbstentzug des Gewesenen, gehört zu den Ausgangsbedingungen
der Beschäftigung mit früheren Zeiten. Ungeachtet des Entzogen-
seins ist ernst zu nehmen, dass Vergangenes gerade auch als Nicht-
Präsentes und Nie-gegenwärtig-Gewesenes Teil dessen ist, was wir
sind und was wir als Gedächtnis in uns tragen. Jorge Semprun ver-
gleicht solche Vergangenheit mit einem belichteten, aber nie entwi-
ckelten Film – als »unveröffentlichte Erinnerung« von Bildern, die
sich einst kristallisiert haben und existent sind, auch wenn niemand
sie je gesehen haben wird.16 Auch das nicht gegenwärtig Gewesene,
das nicht Gesagte, nicht Geschriebene geht in die Substanz und die
Textur unseres Lebens ein.
Dessen Lesbarkeit stützt sich auf mehr als die manifest sinnhaften
Schichten und Verweisungen. Psychoanalyse, kritische Sozialwis-
senschaft und Sprachwissenschaft zeichnen nach, wie sich im Text
des Lebens sinnhafte und zeichenmäßige Verkettungen verflech-
ten, semantische und semiotische Bezüge überlagern, wie Mecha-
nisches und Geistloses in der Dynamik und im Bedeutungsgewebe
des Lebens wirksam wird.17 Einer literalen Lektüre bleibt dessen
Text rätselhaft, durchsetzt mit spröden Signifikanten, unentschlüs-
selbar wie Hieroglyphen für den Unkundigen.18 Davon, dass diese
nichtsdestoweniger affektiv und bedeutungsmäßig aufgeladen, nicht
mechanische Signale sind, legt ihre Wirkungskraft Zeugnis ab, wenn
sie als vererbte und tradierte – ähnlich transgenerationalen Sympto-
men – auch ohne Entschlüsselung lebensweltliche Folgen zeitigen,
die nach einer sinnhaften Verständigung verlangen. Es ist wie ein

16 Jorge Semprun, Schreiben oder Lesen, Frankfurt am Main: Suhrkamp


1995, S.210.
17 Vgl. Eric L. Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens. Betrachtun­
gen zu Freud und Rosenzweig, Zürich: diaphanes 2010, S. 40; Julia Kristéva,
Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.
18 Vgl. Eric L. Santner, Zur Psychotheologie des Alltagslebens, a. a. O., S. 59.
144 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

unter­schwelliger, unterirdischer Sinnprozess, dessen Botschaften


wie im Kinderspiel ›Stille Post‹ unerkannt und verschlossen wei-
tergegeben werden und möglicherweise eben darin ein Gedächtnis
von hoher Lebendigkeit stiften.19 Die geheime Schrift verkörpert wie
eine geheime Kraft, stiftet eine verborgene, dem Bewusstsein entzo-
gene Kontinuität, die das Erinnern sowohl ermöglicht wie erschwert
und zugleich dringlich macht.
Eine ausdrucksstarke Metaphorik für diese im Verborgenen ope-
rierende Verkettung bietet das Bild der Krypta. Die verbergende
Einschließung, Verkryptung, ist Entzug der Sichtbarkeit und zu-
gleich Bewahrung und Transport aus dem Vergangenen in die Zu-
kunft. Derrida interpretiert die Krypta im Kontext tiefenpsycholo-
gischer Prozesse als den Ort, an dem ein Ereignis, das »stattgehabt
hat, ohne stattgehabt zu haben, ohne präsent gewesen zu sein«, ver-
schlossen und tradiert wird.20 Sie steht für ein Grabmal, in welchem
ein Vergangenes der Symbolisierung entzogen und unversehrt be-
wahrt wird, wie ein »lebendiger Toter, ein Toter, den man am L ­ eben
halten möchte, aber als Toten«, eine Verhüllung, in deren Kern ei-
nes, »das nie gegenwärtig gewesen sein wird«, geborgen ist, von
dem nur die Spur und »befremdliche Anamnese« des Nichtgewese-
nen verbleibt.21 In anderen Beschreibungen wird die eigentümliche
Seinsweise des Verborgen-Anwesenden, das sich der Manifestation
ebenso entzieht wie es ihrer harrt und nach ihr drängt, in den Ras-
tern der Latenz und der Möglichkeit gefasst. Latent ist nicht einfach
das Verborgene oder Ungegenwärtige. Das Latente, so eine Formu-
lierung von Thomas Khurana, ist als Abwesendes zugleich »mit ei-
ner gewissen Form von Akutheit und Aktualität versehen, die es der
Gegenwart unterliegen lässt, ohne dass es ihr im strikten Sinne an-
gehörte«, ein Fehlendes, das auf eine kommende Präsenz verweist.22
Khurana illustriert dies mit Lacans Konzept der Verdrängung, die

19 Vgl. Christina von Braun, »Stille Post. Das Sagen und Versagen der Er-
innerung«, in: Martin Heinze u. a. (Hg.), Sagbar – Unsagbar. Philosophi­
sche, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen, Berlin: Parodos
2006, S. 55–70.
20 Nicolas Abraham / Maria Torok, Kryptonymie: Das Verbarium des
Wolfsmanns. Vorangestellt »Fors« von Jacques Derrida, Frankfurt am Main:
Ullstein 1979, S. 39.
21 Jacques Derrida, »Fors«, a. a. O., S. 23, 53, 39.
22 Thomas Khurana, »Unvordenkliche Nachwirkung. Anmerkungen zur
Zeitlichkeit der Latenz«, in: Stefanie Diekmann / Thomas Khurana (Hg.),
8.  Das unerledigte Vergangene 145

nicht ein »in einer vergangenen Gegenwart selbst registriertes Vor-


kommnis« meint, sondern einen latenten Vorgang, der sich erst im
Symptom, in der Wiederkehr des Verdrängten manifestiert: Das La-
tente steht nicht nur im Zeichen der vollzogenen Verhüllung, son-
dern des noch nicht Realisierten, wie ein Ȇberbleibsel des Kom-
menden, Spur einer Zukunft«.23
In solchen Umschreibungen konkretisiert sich, in welchem Sinne
das Vergessene und Entzogene nicht einfach entschwunden, sondern
unerkannt anwesend und im Leben und der Geschichte wirksam ge-
blieben ist. Für die Bestimmung seines ontologischen Status legt sich
klassischerweise die Kategorie der Möglichkeit nahe. In unterschied-
lichen Modalitäten hat historische Verständigung, entsprechend den
variierenden Verwendungen des Begriffs, mit Möglichkeiten zu tun.
Für Kierkegaard ist die Besinnung darauf wichtig, dass das faktisch
Gewordene kein Notwendiges, sondern ein Kontingentes ist, das
eine Möglichkeit unter anderen verkörpert und auch anders hätte
sein können24; Paul Valéry stellt das imaginative Interesse für die
noch unverwirklichten Möglichkeiten geradezu in Opposition zum
Faktengedächtnis und Rückblick auf vergangene Tatsachen.25 Im Be-
sonderen ist die Unterscheidung von passiver und aktiver Möglich-
keit für die Beschreibung der Seinsart des entzogenen Vergangenen
von Belang. Als ein Vergangenes, das trotz seiner Verhülltheit und
Nichtpräsenz in der Erinnerung evoziert, im Handeln reaktualisiert
werden kann, kommt ihm die Möglichkeit, wirklich zu sein und
artikuliert zu werden, als passive Möglichkeit zu. Es geht um die
Möglichkeit (dynamis), wie sie seit Aristoteles am Beispiel von Di-
positionalprädikaten (›brennbar‹, ›wasserlöslich‹) analysiert worden
ist. Das Verdrängte kann wiederkehren, der Knoten kann durch-
schlagen, das mit Stummheit Geschlagene zum Ausdruck erweckt
werden. Es ist ein Nichtseiendes, dem das Sein als eine Virtualität

Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff, Berlin: Kadmos 1993, S. 142–147,


hier S. 143.
23 Ebd., S. 144, 146.
24 Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken. De omnibus dubitandum
est: Zwischenspiel, Gesammelte Werke, Zehnte Abteilung, Düsseldorf / Köln:
Eugen Diederichs Verlag 1952, S. 68–82; zur Kontingenz als Grundkategorie
des Historischen vgl. Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichts­
interesse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel: Schwabe 1977.
25 Karl Löwith, Paul Valéry. Grundzüge seines philosophischen Denkens,
Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1971, S. 89 f.
146 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

innewohnt, die durch externe Faktoren provoziert, durch entspre-


chende Umstände entfaltet werden kann. ›Möglich‹ in diesem Sinne
ist es nach Aristoteles, sofern dem Wirklichwerden seiner Potenz
unter den entsprechenden Bedingungen nichts entgegensteht26; nur
Brennbares kann durch die Flamme entzündet werden. Nur ein La-
tentes, nicht ein schlechthin Untergegangenes und Nichtseiendes
kann im Gedächtnis wiedererweckt werden.
Indessen erschöpft sich die Potentialität des entzogenen Vergan-
genen nicht in der passiven (Re-)Aktivierbarkeit. Ihm wohnt in typi-
schen Konstellationen eine aktive Dynamis, eine Kraft inne, die von
sich aus nach Öffnung und Wiederkehr strebt. Die Vergangenheit
ist nicht nur, auch als verschüttete und verstummte, den Wegen und
Anstrengungen der Reminiszenz zugänglich, sie birgt in sich selbst
ein Zukunftspotential, das sie nach vorne, zur Offenbarung drängt.
Eine solche Dynamik bestimmt das Leben in vielen Gestalten. Ernst
Bloch hat in ihr das Grundgesetz allen Seins ausgemacht, das auch
das Sein der Menschen und den Gang der Geschichte durchherrscht.
Die »Ontologie des Noch-Nicht«, das Nach-vorne-Streben, das
Tendieren des Gewesenen ins Kommende bildet nach ihm den tiefs-
ten Grund im Tun und Erleiden der Menschen.27 In Gegenrichtung
zur metaphysischen Besinnung auf die ältesten Ursprünge bestimmt
die »Dämmerung nach vorne«28 die Verfassung eines Denkens, das
zum Grund aller Dinge geht. Ausdrücklich verschränkt Bloch diese
Denkfigur mit Konstellationen des Erinnerns und historischen Da-
seins, in denen nicht zufällig Figuren des Verschlossenen als des
noch Ungewordenen und noch nicht Bewussten wiederkehren.
Es geht um ein Vergangenes, in welchem das Hautpgewicht nicht
dem real Gewordenen und Vollendeten, sondern der vorenthalte-
nen Präsenz, dem Ungelungenen, Uneingelösten und Ausstehenden
zukommt. Im Zentrum steht ein Vergangenes, in welchem ein nie ge-
genwärtig Gewesenes zum Fluchtpunkt des Erinnerns wird und aus
dem »viel ungewordene Zukunft aufrufend entgegenkommt«.29 Das
Drängende, Zukunftsträchtige dieser Prozessualität wird von Bloch

26 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX.4, 1047 a 24–26.


27 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1959,
S. 12.
28 Ebd., S. 131.
29 Ebd., a. a. O., S. 8, 131 f., 148 passim; Ernst Bloch, Tendenz – Latenz –
Utopie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 291.
8.  Das unerledigte Vergangene 147

in historische und politische ebenso wie in psychologisch-psycho-


analytische Begriffe eingeschrieben. In deren Horizont geht es etwa
darum, das Unbewusste aus der archetypisch-regressiven Veranke-
rung zu befreien und in eine zukunftsgerichtete, emanzipatorische
Kraft zu verwandeln. Exemplarisch lässt sich diese Stoßrichtung
auch im psychoanalytischen Grundbegriff des Triebs herausstellen,
in welchem sich die aktive Kraft mit der gehemmten Manifestation
überlagert und darin eine dem entzogenen Vergangenen verwandte
Struktur verkörpert. Es ist, so die Lesart von Rudolf Bernet, eine mit
einer Privation (steresis) behaftete aktive dynamis: die »drängende
Gegenwart eines Könnens in Ermangelung der Realisierung«, die
noch-nicht-vollzogene, aufgeschobene Verwirklichung eines Mög-
lichen.30 Psychoanalytische Konzepte stehen exemplarisch für die
unauflösbare Durchdringung der Dynamik des Lebens mit Prozes-
sen der Zurückdrängung und Verdeckung.
Alle diese Konzepte interessieren in unserem Kontext als Varia-
tionen jener Grundfigur, die sich im entzogenen Vergangenen nie-
derschlägt. Die Strukturanalogie zwischen ihnen ist keine äußerliche
und kontingente, sondern gründet in der Affinität der Sache. Das
eigentümliche Sein eines Vergangenen, das nicht gegenwärtig war,
geht nicht auf in dessen besonderer temporalen Verfassung. Diese
ist erneut auf die Frage hin zu durchdringen, warum und in wel-
cher Weise das Vergangene, als entzogenes, Erinnerung zugleich
begründet und erschwert, ermöglicht und herausfordert. Es ist, zu-
gespitzt formuliert, die Frage, wie die Nicht-Präsenz »Kern und
letzter Grund jeden Diskurses«31, so auch der Erinnerung sein kann.

8.4  Das unvergangene Vergangene

»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen«, schreibt
Christa Wolf.32 Das unvergangene Vergangene ist es, das zur Erin-
nerung kommt. Gerade auch das abgedrängte, verschlossene Ver-
gangene, so hat sich gezeigt, ist nicht einfach entschwunden. Es ist,
auch wenn es sich dem Gedächtnis verweigert, als abwesendes anwe-

30 Rudolf Bernet, Force – Pulsion – Désir. Une autre philosophie de la psy­


chanalyse, Paris: Vrin 2013, S. 9, 20.
31 Jacques Derrida, »Fors«, a. a. O., S. 37 f.
32 Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin: Aufbau-Verlag 1976, S. 9.
148 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

send, unvergangen. In der Krypta wird die tote Vergangenheit ein-


geschlossen, der Sichtbarkeit entzogen und konserviert. Die Suche
nach der verlorenen Zeit ist auch eine nach der bewahrten, nicht-ver-
gangenen Zeit. Das Sichverhüllen, Sichzurücknehmen ist selbst eine
Form des Verharrens, das Vergessen ein Medium des Bewahrens;
Ricœur beschreibt das ›tiefe Vergessen‹ der ältesten Ursprünge, als
Bezug auf das Unvordenklich-Unerinnerbare, geradezu als Figur der
mémoire profonde.33 Das Vergangene, das nicht vergeht, figuriert
in positiven wie negativen, in befreienden wie lastenden Bezügen
in der Dynamik des Erinnerns. Es kann das Vergangene sein, von
dem wir nicht loskommen, das wir nicht verarbeiten und integrieren,
damit auch nicht ins Gewesensein entlassen können, die Permanenz
einer Vergangenheit, die uns nicht freilässt, ähnlich der lähmenden
Gegenwart, in welcher die Zeit nicht vergehen will. Solche Phäno-
mene sind im individuellen Erleben wie im Sozialen beschrieben
worden, als Leiden an der verharrenden, leeren Zeit, als zwanghafte
Wiederholung des Gleichen in der sich ins Unbegrenzte fortpflan-
zenden Rache34, aber auch als Heimsuchung durch die Vergangen-
heit infolge einer unbewältigten gesellschaftlichen und politischen
Geschichte35; zum Teil kann das Nicht-vergehen-Lassen gerade zu
einem Angelpunkt im politischen Streit über den richtigen Umgang
mit der Vergangenheit werden.36 Es kann aber auch ein nicht-verge-
hendes Vergangenes sein, das die Gegenwart trägt, das sich von sich
aus in eine Zukunft hinein öffnet, an diese appelliert, sie heraufruft.
Das unvergangene Vergangene kann nicht nur lähmender Stillstand,
sondern auch Triebkraft des Erinnerns und Handelns sein.
Dies ist namentlich dort der Fall, wo sowohl der Entzug wie das
Nicht-Vergehen des Gewesenen dessen Unabgeschlossenheit und

33 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 571 f.; Das Rätsel


der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen: Wallstein
2000, S. 133 ff.
34 Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke in
zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, § 102.
35 Paul Ricœur (La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 581) verweist auf
bezeichnende Buchtitel von Henry Rousso: Vichy. Un passé qui ne passe pas,
Paris: Fayard 1994; La Hantise du passé, Paris: Textuel 1998.
36 Vgl. im Kontext des ›Historikerstreits‹ die gegen den Anspruch einer
kritischen Aufarbeitung der Geschichte formulierte Intervention von Ernst
Nolte »Vergangenheit, die nicht vergehen soll« (FAZ, 6. Juni 1986).
8.  Das unerledigte Vergangene 149

Unerledigtheit geschuldet sind.37 In vielen Umschreibungen kommt


diese dynamische Offenheit zur Sprache, als uneingelöstes, unabge-
goltenes Potential im Vergangenen, als Korrektur- und Ergänzungs-
bedürftigkeit des Faktischen, als Streben nach Richtigstellung und
Gerechtigkeit, als Verlangen nach Erlösung. Es ist ein Bewegungs-
impuls, der der Gesetzlichkeit des Lebens, aber auch der affektiven
Besetzung und normativen Wertung des Vergangenen innewohnen
kann, ein Impuls, der als wirkende Kraft, als ethische Forderung
oder als Hoffnung und vitales Begehren zum Tragen kommt. Im
Vergangenen ist etwas Defizitäres, Unfertiges und Mangelhaftes, das
nach Erfüllung, etwas Entstelltes und Verkehrtes, das nach Revision
verlangt. In ihm ist etwas Unterdrücktes, das der Befreiung bedarf.
Es ist ein unverarbeiteter Rest im eigenen Leben, aber auch in der
Welt, der dazu auffordert, das Gefüge des Gewesenen aufzubrechen
und die Vergangenheit neu zu gestalten, sie auf eine Zukunft hin zu
öffnen.
In solcher Transformation radikalisiert und konkretisiert sich,
was dem historischen Gedenken als Anliegen vor Augen stand. Sich
um die Vergangenheit zu kümmern, sich alles zu merken und es fest-
zuhalten, um es nicht dem Nichtsein und Vergessen preiszugeben,
Erinnerung zu pflegen im Interesse an der Unvergänglichkeit des
Vergänglichen – solche Fluchtlinien der Gedächtniskultur erhalten
im Umgang mit der unerledigten, verdrängten Vergangenheit ihre
besondere Dringlichkeit. Vergangenes zu ›retten‹ hat seine Stärke
und sein Pathos darin, nicht einfach Gewesenes in seinem einstigen
Sein festzuhalten, sondern es lebendig werden zu lassen, es über-
haupt erst gegenwärtig, wirklich werden zu lassen. Rettung dieser
Art vollzieht sich im Modus des Aufbrechens und Transformierens
der verfestigten Gestalt: Der schematische Gegensatz von revolutio-
närer und konservierender Historie wird in eine Dialektik überführt,
in welcher die Pietät des Bewahrens sich erst in der Gegenkraft des
Veränderns erfüllt. Wenn generell gilt, dass die Vergangenheit nicht
ein für allemal feststeht, sondern immer neu geschrieben werden
muss, um ihren Ort im Leben der Menschen zu finden, so ist eine
solche Neu- und Umgestaltung im Falle des unerledigten Vergan-
genen in besonderer Weise gefordert. Gerade sie ist – entgegen der
Meinung, dass wir nur das Künftige formen und das Gewesene hin-

37 Vgl. Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff (Hg.), Das unerledigte Vergan­


gene, a. a. O.
150 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

ter uns lassen – die konkrete Art und Weise, wie wir der Zukunft
ihre Richtung und konkrete Gestalt geben. Vergangenheitsbezug
und Zukunftsbezug sind nicht getrennte Dimensionen der zeitlichen
Existenz, sondern im Innersten ineinander verschränkt. Sie sind es
prinzipiell in ihrer zeitlich-intentionalen Struktur, und sie sind es in
spezifischer Weise durch den Inhalt und die Last des Vergangenen,
an dem Erinnerung sich abarbeitet.
Die Dialektik von Vergangenheits- und Zukunftsbezug wirft ein
Licht zurück auf die eigentümlichen Figuren des entzogenen Ver-
gangenen: des Vergangenen, das nie gegenwärtig gewesen ist, des
Vergangenen, das in Wahrheit nicht vergangen, das unvergangen ist.
Wenn dieses in der Erinnerung auf eine Zukunft hin aufgeschlossen
wird, so geht damit eine rückwirkende Verwandlung einher. Der
Entzogenheit und Nichtpräsenz, gewissermaßen Irrealität des Ge-
wesenen antwortet seine nachträgliche Realwerdung, seine retro-
spektive Konstitution. Das Stichwort der Nachträglichkeit ist zu
einem Leitkonzept kultur- und geschichtstheoretischer Reflexion
geworden. Sein locus classicus ist die sogenannte Wolfsmann-Ana-
lyse von Sigmund Freud.38 Die Pointe der darin vorgeführten Nach-
träglichkeit liegt darin, dass es nicht um eine bloße Neubeschreibung
des Vergangenen geht, wie es der retrospektiven Logik historischer
Wahrnehmung überhaupt entspricht, sondern um eine Umordnung
und Neuinterpretation von Material, das zwar als Erinnerungsspur
im Subjekt abgelagert ist, das aber zum Zeitpunkt des Ereignisses
nicht verstanden und deshalb auch nicht wirklich erlebt werden
konnte, in diesem Sinne psychisch gar nicht real, nicht gegenwärtig
gewesen ist. Dieses Material erfährt später, wenn das Subjekt zur Er-
fassung seines Bedeutungsgehalts in der Lage ist, eine »Umordnung
nach neuen Beziehungen, eine Umschrift«39, wobei das exemplari-
sche Terrain solcher Neukonstellierung die Sexualität ist, worin die
Organreifung die reale Voraussetzung wirklicher Erfahrung und des
darin gründenden Verstehens bildet.40 Nachträglichkeit meint dann
nicht einfach einen Aufschub des Erlebens und Handelns (wie die

38 Sigmund Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Gesam-


melte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 41972, Bd. XII, S. 27–157.
39 Brief an W. Fließ vom 6.12.1896.
40 Freud untersucht den pathogenen Traum eines vierjährigen Kindes in sei-
nen Beziehungen zur Urszene (deren Zeuge es mit anderthalb Jahren war):
Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, a. a. O., S. 64, Fn 4.
8.  Das unerledigte Vergangene 151

kanonische englische Übersetzung deferred action nahelegt), son-


dern eine tatsächliche retrospektiv-retroaktive Formierung des Ver-
gangenen auf der Basis sowohl der sedimentierten Spuren realer Vor-
gänge wie einer bewusst oder unbewusst vollzogenen Erinnerungs-
arbeit, die eine bedeutungsmäßige Umbesetzung wie eine erlebens-
mäßige Aneignung impliziert.
Neuere Theorien haben diese ex-post-Konstitution von der Ge-
genseite mit der Ursprungslosigkeit des Gegenwärtigen assoziiert
und darin das Diktum vom Vergangenen, das nie präsent war, ver-
schärft: Auch das jetzt Seiende und Beginnende ist nie im vollen
Sinne gegenwärtig, ganz es selbst und aus sich selbst. Immer er-
wächst es einem Vorausliegenden, jedes Sagen hat an einem vor-
ausgehenden Hören teil, auf das es antwortet, es kommt aus einem
älteren Sagenwollen, das es weiterführt und transformiert. Nie fängt
es schlechthin von vorne an: Schreiben heißt einen verdeckten Text
lesen und um-schreiben; immer schon haben wir mit Transkriptio-
nen, nie mit dem schlechthinnigen Ursprung, dem absoluten Ori-
ginal zu tun. Jeder vermeintliche Anfang, so radikalisiert Derrida
den Gedanken, ist in Wahrheit eine Wiederholung, das Erste immer
schon ein Zweites; erst im Nachhinein wird der Anfang als Anfang
konstituiert, »alles beginnt mit der Reproduktion«. 41 Es gibt im
strengen Sinne kein sich selbst präsentes Bewusstsein und keinen
gegenwärtigen Text, wie es keinen sich einst gegenwärtig gewesenen
vergangenen Text gibt.42 Die Abkehr vom Ursprungsdenken spiegelt
sich in der Unterlaufung des emphatischen Begriffs der Gegenwart,
welche das Vergangene wie das Jetzt unterminiert.
Die Logik solcher Nachträglichkeit affiziert nicht nur die Schöp-
fung und Tradierung symbolischer Gegenstände, exemplarisch die
Produktion und Rezeption von Texten, welche im Medium der Lek-
türe und Deutung zu den konkreten Kulturgebilden werden, als
welche sie in der Geschichte ihren Ort finden; sie bestimmt gleicher-
maßen das lebensweltliche Verhältnis zur Geschichte und den real-
historischen Verlauf selbst. Dieser geht nicht auf in einer linear fort-
schreitenden Bewegung, sondern vollzieht sich in einem Geflecht
von Prozessen der Hervorbringung, Gestaltung und Auflösung, der
Verschränkung und Trennung, worin Geschehnisse und Zeiten auf-
einander bezogen und neu konfiguriert werden. Dabei überlagern

41 Jacques Derrida, L’écriture et la différence, Paris: Seuil 1967, S. 314.


42 Ebd., S. 313 f.
152 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

sich voraus- und zurückgreifende Bezüge, in denen das gegenwär-


tige Geschehen Künftiges bedingt und Konflikte und Poten­tiale aus
dem Vergangenen zum Tragen bringt. Historiographie zeichnet sol-
che Verflechtungen nach, welche die geschichtliche Realität prägen,
und nimmt ihrerseits Relationierungen vor, welche die Zeiten ver-
schränken und Nicht-präsent-Gewesenes gegenwärtig werden las-
sen und Nicht-Realisiertem geschichtliches Sein verleihen. Dabei
ist die historiographische Darstellung nicht einfach eine kognitive
Aneignung und symbolische Vergegenwärtigung, sondern ein eige-
nes, konstitutives Moment des geschichtlichen Seins. Erinnerung
geht in die reale historische Existenz ein, die wesensmäßig reflexiv
verfasst, auf den Gang der Zeiten bezogen ist, wobei zu ihrer Refle-
xivität, spiegelbildlich zur Retrospektive, zuletzt der Ausgriff auf
das Kommende gehört, in welchem aktuelle Weichenstellungen sich
einschreiben und sich ›niedergeschlagen haben werden‹. Nicht nur
Vergangenes, auch Gegenwärtiges erscheint gleichsam im Zeichen
der Nachträglichkeit.
In mehrfacher Weise verweist die Auseinandersetzung mit dem
Vergangenen auf das Künftige, verknüpfen sich Erinnerung und An-
tizipation, Gedenken und Erwartung. Dabei hat der Zukunftsbezug
selbst ein zweifaches Gesicht, als selbsttätiger Ausgriff und Offen-
heit für das Entgegenkommende, als eigenes Gerichtetsein ›nach
vorne‹ und als Begegnung mit dem, was ›von vorne‹ auf uns zu-
kommt. Dem zwiefältigen Gegebensein des Vergangenen, welches
sich uns darbietet und sich uns entzieht, steht auf der Gegenseite ein
zweifaches Sein und Gegenwärtigwerden des Kommenden gegen-
über. Im Geflecht unterschiedlicher Präsenzen artikuliert sich die
wesenhafte und vielschichtige Bezogenheit des Vergangenen auf die
Zukunft. Erinnerung verbleibt nicht in sich, in der Zuwendung zu
dem, was war. Gerade die Besinnung auf das entzogene Vergangene
hat mit Nachdruck dessen unterdrückte, doch konstitutive Verwei-
sung auf das Zukünftige herausgestellt.
Um diese Beziehung präziser zu fassen, ist es nun wichtig, sie in
ihrer inhaltlichen Konkretisierung in den Blick zu nehmen. Die Art
des Zukunftsbezugs ist nicht losgelöst davon, zu welcher Vergan-
genheit Erinnerung zurückkehrt und wie sie sich auf diese bezieht.
Es hängt vom Gegenstand und der Art der Erinnerung ab, ob ihr
ein Zukunftsbezug im Modus der Forderung, des Verlangens, des
Versprechens oder der Erwartung korrespondiert. Eine basale Diffe-
renzierung lässt sich mit zwei gleichsam gegenläufigen Formen ver-
8.  Das unerledigte Vergangene 153

binden, in denen die Figur eines Vergangenen, das nie gegenwärtig


war, zum Tragen kommt. Das eine Mal geht es um ein Vergangenes,
dessen Negativität sich der Vergegenwärtigung widersetzt, das an-
dere Mal um einen Ursprung, dessen Fülle alles Erleben transzen-
diert. Wir können sie idealtypisch den Formen der Leidenserinne-
rung und der Glückserinnerung zuordnen. Sie sind im Folgenden
zunächst je für sich zu betrachten und dann in ihrer Verschränkung
und gemeinsamen Erschließungskraft für die Form und existentielle
Bedeutung der Erinnerung zu beleuchten.
9. Leidenserinnerung

Leidenserinnerung und Glückserinnerung verkörpern in paradig-


matischer Weise die Problematik des Erinnerns. Diese entfaltet sich
unter drei Aspekten. Zum einen geht es um die Schwierigkeit des
Erinnerns, die sich im Extrem zur Unmöglichkeit und Blockierung
der Erinnerung verhärtet. Das entzogene Vergangene ist ein Nicht-
Erkennbares, ein Nicht-Repräsentierbares, Nicht-Erinnerbares.
Mit diesem Entzug geht zum anderen, in bezeichnender Verschrän-
kung, ein akutes Bedürfnis nach Erinnerung einher: ein Verlangen
danach, die verlorene Zeit wiederzufinden, ein Interesse daran, das
Vergangene zu vergegenwärtigen und anzueignen. Als Drittes ver-
binden sich damit spezifische Formen der Reminiszenz, Wege, auf
denen das entzogene Vergangene gleichwohl zur Gegenwart gelangt
und das Anliegen des Erinnerns sich realisiert. In der Verflechtung
der drei Problemdimensionen wird sichtbar, in welcher Weise das
entzogene Vergangene nicht nur ein Hindernis, sondern zugleich
­einen Motivationsgrund der Erinnerung bildet und einen Weg des
Er­innerns öffnet. Zur Eigentümlichkeit dieser Konstellation gehört,
dass sie sich in zwei lebensweltlich diametral entgegengesetzten Ver-
sionen entfaltet und in je eigener Weise spezifiziert, in den Formen
der Leidenserinnerung und der Glückserinnerung. Die Analyse ih-
rer Gemeinsamkeit und Differenz gibt einen Einblick in den Grund,
in das Interesse und in die Herausforderung der Erinnerung.

9.1  Aporien der Erinnerung

(a) Ohnmacht des Gedächtnisses

Dass sich das Vergangene dem Gedächtnis entzieht, ist dem Alltags-
verständnis vertraut und scheint nicht in besonderer Weise erklä-
156 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

rungsbedürftig. Vielmehr entspricht es der Gesetzlichkeit des Le-


bens und ist der Schwäche des Gedächtnisses ebenso geschuldet wie
dem Abnützungs- und Auflösungseffekt, dem alles Zeitliche unter-
worfen ist. Alles, was entsteht, vergeht. Alles Lebendige geht unum-
kehrbar seinem Ende entgegen. Menschliches Leben steht unter der
Herrschaft der Zeit, deren elementarste Macht die der Zerstörung
ist, welche sich auf die Spuren allen Geschehens und Erlebens aus-
wirkt, die nach und nach abgenutzt, verwischt und unlesbar werden,
schließlich ganz verschwinden. Wenn die Zeit an sich ebenso ein
Element des Dauerns und Bewahrens ist, so tendiert doch ihre pri-
märe Schwerkraft nach der Seite der Auflösung und des Entschwin-
dens.1 Wie die Formierung eines Stoffs, seine individualisierende
Prägung gleichsam gegen Widerstand der Materie eingraviert wird,
so schwächt sie sich mit dem Nachlassen der Gestaltungskraft im
Laufe der Zeit ab. Im Maße der temporalen Entfernung verblassen
die Konturen, breiten sich Dunkelheit und Konfusion aus, werden
Erinnerungen undeutlich, entgleiten sie dem retrospektiven Blick.
Soweit entspricht der Entzug des Vergangenen einer Grundtendenz
des Lebens, die sich in der Asymmetrie zwischen Erinnern und Ver-
gessen äußert, im naturwüchsigen Zerfall der Gedächtnisreste, gegen
welchen die mühsame Arbeit des Gedächtnisses aufgerufen, je nach-
dem zur Pflicht erhoben wird – zur Pflicht gegenüber sich selbst und
seinem Leben wie gegenüber der Sache oder den Personen, denen
das Gedenken gilt. Die Kultur des Gedächtnisses behauptet sich im
Widerstand gegen eine je schon wirkende Zersetzung und Auflösung,
die sich gewissermaßen einer universalen Bewegung der Nivellie-
rung, des Verlusts aller natürlichen und kulturellen Formbildung
einschreibt. Der Kampf der Erinnerung artikuliert sich aus der Ge-
genwehr, der Defensive heraus.
Nun entstammen die Schranken und Probleme des Erinnerns
nicht allein der zerstörerischen Macht der Zeit. Sie können einer
Schwäche des Erinnerns selbst, einem Unvermögen des Subjekts,
aber auch der Beschaffenheit des Gegenstandes der Erinnerung ge-
schuldet sein. Das subjektive Gedächtnis ist von begrenzter Aufnah-
mefähigkeit und Erhaltungsungskraft. Neue Eindrücke überlagern

1 Ricœur (La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 53) verweist auf die
aristotelische These, wonach die Zeit, Prinzip des Entstehens und Verge-
hens, »an und für sich genommen eher Ursache des Verfalls« ist (Aristoteles,
Physik IV.12, 221 a–b, vgl. 222 b).
9.  Leidenserinnerung 157

und verdrängen die alten; auch wenn wir annehmen, dass sie sich alle
irgendwie im Substrat des Gedächtnisses niederschlagen, gelangen
sie nicht alle in den Aufmerksamkeitshof des Bewusstseins, werden
nicht alle registriert und ebensowenig unbegrenzt für die Wieder-
erweckung bewahrt. Ihre wechselseitige Verdrängung und der in-
terne Zerfall ihrer Spuren entziehen sie zum großen Teil der späteren
Rückkehr. Das Gedächtnis ist nicht eine virtuell unendliche Fest-
platte. Neben solchen von Psychologie und Neurologie erforschten
intrinsischen Grenzen gibt es Behinderungen der Erinnerung, die
durch die Eigenart des Gegenstandes bedingt sind. Sie können da-
rin liegen, dass der Gegenstand sich aufgrund seiner strukturellen
Beschaffenheit der kognitiven Repräsentation und narrativen Verge-
genwärtigung verweigert, oder sie können damit zu tun haben, wie
das Subjekt das Vergangene affektiv erlebt und auf es reagiert, nach
ihm verlangt oder es abwehrt und verdrängt.
Nach einem verbreiteten Urteil stellt die Veränderung der
menschlichen Lebenswelt einen wesentlichen Grund für den Nie-
dergang der kollektiven Erinnerungs- und Erzählkultur dar. Die
moderne, industriell-mechanische Welt, aber auch der postmodern
zersplitterte, diffus gewordene Lebensraum erschweren das Sichfin-
den und Heimischwerden des Menschen in seiner Welt. Das ­abstrakt
und fremd gewordene Gehäuse der Zivilisation hat sich abgelöst
von den erfahrungsgesättigten Lebensformen, die wir sinnhaft ge-
stalten, in Geschichten vergegenwärtigen und von Generation zu
Generation weitergeben. Es ermangelt der Konkretheit der zwi-
schenmenschlichen Beziehungen und biographischen Verläufe, die
den Boden für erlebte Erfahrungen und darin wurzelnde Erinne-
rungen bilden. Wie Erinnerung nicht in der mechanischen Regis-
trierung und Reproduktion von Daten aufgeht, ist sie nicht durch
ein seinem Leben entfremdetes, zum Teil eines Funktionsgefüges
degradiertes ›Subjekt‹ zu leisten. Die existentielle Erlebensqualität,
die das Leben und die Erfahrung erzählbar macht, kann durch die
Fremdheit der Welt, aber auch die innere Verkümmerung des Le-
bens ausgehöhlt werden. Das wirtschaftlich-technische System und
die anonymisierte Existenz, so die Diagnose, sperren sich gegen die
narrative Form- und Einheitsbildung wie gegen die lebensweltliche
Sinnstiftung. Von beiden Seiten wird der Impuls, aber auch die Mög-
lichkeit einer Selbstvergegenwärtigung in seinem Leben und seiner
Geschichte untergraben.
158 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

(b) Die Herausforderung des Negativen

Solche und verwandte Diagnosen sind in der Sozial- und Kultur-


geschichte seit mehr als einem Jahrhundert geläufig. Sie wären im
Einzelnen zu konkretisieren und in ihrer aktuellen Triftigkeit, ge-
rade auch im Blick auf die These der verlorenen Geschichte und
blockierten Erinnerung, kritisch zu prüfen. Im engeren Fokus un-
serer Leitfrage ist ein besonderer Akzent von Belang. Entscheidend
sind nicht die strukturelle Veränderung und der systemische Cha-
rakter der Welt, sondern die erlebte Negativität dessen, was sich
der Erinnerung widersetzt. Der Widerstand gilt den schmerzhaften,
bedrohlichen Ereignissen, denen ein Mensch ausgesetzt ist und die
sein Selbstschutz aus einer vertieften erlebensmäßigen Aneignung
abzudrängen sucht. Wenn Walter Benjamin davon berichtet, dass
die Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg verstummt aus dem Felde
kamen, eines Vermögens beraubt, das den Menschen das basalste
schien: Erfahrungen zu machen und sein Leben zu erzählen2, so
liegt die Ursache solchen Verstummens im Erlebten selbst, im Schre-
cken, in der Gewalt und der Angst, die sich dagegen sperren, narrativ
vergegenwärtigt und in den aktuellen Lebenshorizont integriert zu
werden. Es sind Erfahrungen, die nicht sinnhaft verarbeitet werden
können, deshalb in gewisser Weise auch nicht im Vollsinn des Wor-
tes ›erlebt‹ werden können und sich a fortiori der nachträglichen Ar-
tikulation verweigern. Wenn in Freuds Exempel das Sinndefizit der
Urszene mit der noch nicht erfolgten Organreife des Kleinkindes
gekoppelt ist, so potenziert sich der Sinnentzug dort, wo das Erlebte
sehr wohl in seiner negativen Valenz erlebensmäßig präsent ist, doch
als solches das Subjekt in seinen Sinnressourcen überfordert und
Widerstand und Abwehr hervorruft. In zugespitzter Form ist dies
aus traumatischen Erfahrungen bekannt, in denen akutes Leiden
sich mit der Nichtrepräsentierbarkeit verschränkt und die Sprach-
und Sinnferne zum konstitutiven Merkmal, ja, zum eigenen Teil der
erfahrenen Negativität wird.3 Das sprachlose, stumme Leiden ist

2 W. Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Less­


kows«, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1977, S. 438–465.
3 Rudolf Bernet, »Das traumatisierte Subjekt«, in: Matthias Fischer / Burk-
hard Liebsch / Hans-Dieter Gondek (Hg.), Vernunft im Zeichen des Frem­
den. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 2001, S. 225–252.
9.  Leidenserinnerung 159

wie das sinnlose, nicht-rationalisierbare Leiden ein vertieftes Leiden:


Die Sprach- und Sinnlosigkeit potenziert die Negativität und wird
selber existentiell, als Leiden sui generis, erfahren.
Wir stoßen in solchen Beschreibungen auf einen allgemeineren
Problemzusammenhang, der die Denkgeschichte im ganzen durch-
zieht. Er betrifft die Nichtverstehbarkeit des Negativen, die Irrita-
tion und Provokation der Vernunft durch die Tatsachen des sinn-
losen und ungerechten Leidens, des Bösen, die Konfrontation mit
Krankheit und Tod. Hiobs Klage über sein Schicksal, Voltaires Em-
pörung über die Zerstörungen des Erdbebens von Lissabon, Ador-
nos Erinnerung an Auschwitz sind exemplarische Formen des Pro-
tests gegen ein fundamental Negatives, das wir in keiner Weise rati-
onal begreifen, in unser sinnhaftes Selbst- und Weltverständnis inte-
grieren können. Sowohl als malum physicum wie als malum morale,
als erlittenes Übel wie als Böses, ist reale Negativität ein Stein des
Anstoßes und ein begriffliches Problem für die philosophische Tra-
dition gewesen. Theodizee und Geschichtsphilosophie stellen sich
den Fragen nach der Vernunft in der Geschichte und der Rechtfer-
tigung Gottes angesichts der Übel in der Welt. Wenn namentlich der
Ursprung des Bösen das Denken mit seiner Grenze konfrontiert, so
zeigt sich die Auseinandersetzung um das Leiden von nicht gerin-
gerer Virulenz; Theodor W. Adorno sieht im physischen Schmerz
die unnachgiebige Absage an jeden Versuch der Rationalisierung4,
für Emmanuel Lévinas steht das unschuldige Leiden für die Sinn-
verweigerung schlechthin.5 Dabei kommt nicht nur eine kategoriale
Verstehensgrenze, sondern die von Nietzsche formulierte Einsicht
zum Tragen, dass nicht einfach das Leiden, sondern »die Sinnlosig-
keit des Leidens« das eigentlich Unerträgliche ist (von dessen Fluch
sich die Menschheit nach ihm durch die Erfindung von Religion und
Moral befreite).6 Die Sinngrenze, der Sinnabgrund wird selbst als
eines erfahren, das dem Leben in seinem fundamentalen Verlangen
nach Glück und Sinn zuwiderläuft.

4 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp


1966, S. 356.
5 Emmanuel Lévinas, »La souffrance inutile«, in: Entre nous. Essais sur le
penser-à-l’autre, Paris: Grasset 1991, S. 100–112, hier S. 103 f., 110 f.
6 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Sämtliche Werke, Bd.5,
a. a. O., 411 f.
160 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Es liegt nahe, dass solche Negativität sich nicht nur dem Begriff,
sondern ebenso der Erinnerung entzieht. Dies nicht nur deshalb,
weil das Nicht-Verstehbare, im Extrem Nicht-Repräsentierbare erst
recht der mentalen Präsenz und sprachlichen Ver-Gegenwärtigung
verschlossen bleibt. Vielmehr kommt der Grund jenes Entzugs, die
erlebte Negativität, mit Bezug auf die Memoria verstärkt zum Tra-
gen. Modellhaft zeigt sich dies im psychoanalytischen Kontext am
Phänomen der Verdrängung. Das von der Psychoanalyse beschrie-
bene Unbewusste meint ja nicht einfach eine bestimmte Zone des
Seelischen, einen der Bewusstheit vorgelagerten Raum. Das Unbe-
wusste steht für ein Diesseits intentionaler Präsenz, das zu einem
solchen gemacht worden ist. Es geht nicht auf im nicht-aufhellbaren
Horizont des expliziten Tuns und Meinens, es ist mehr als das von
der Phänomenologie beschriebene Nicht- und Vorthematische, wel-
ches der bewussten Intention zugrundeliegt und nur je graduell, nie
zur Gänze in diese einholbar ist. Solche Nicht-Bewusstheit, wie sie
dem blinden Fleck im Schauen, der leiblichen Situiertheit oder der
nicht-abschließbaren Selbstreflexion anhaftet, ist strukturell bedingt
und unhintergehbar. Demgegenüber ist das Unbewusste, auch wenn
es seinerseits zur menschlichen Seinsverfassung gehört, ein Entstan-
denes und Gemachtes, ein aus der Bewusstheit Ausgeschlossenes,
Abgedrängtes. Verdrängt aber ist es aufgrund seines Negativitätsin-
dexes, sofern die Realisierung des mit der verdrängten Vorstellung
korrelierten Triebs mit Unlust verbunden wäre; ja, die retrospek-
tive Vergegenwärtigung des Schmerzhaften – Schuldhaften, Ängs-
tigenden – wird selbst zum Anlass des Leidens und fällt demselben
Reflex der Abwehr anheim. Schematisch formuliert, kann ein be-
stimmtes Erlebnis dem Bewusstsein nicht präsent werden, weil es
nicht bewusst werden soll, weil es nicht sein soll: Die Aversion vor
dem Nichtseinsollenden ist die Schwelle der Bewusstwerdung wie
der Wiedervergegenwärtigung.
Zwar kennt das normale Seelenleben auch das umgekehrte Be-
dingungsverhältnis, sind uns beide Bezüge vertraut: Sowohl dass
unglückliche wie dass glückliche Ereignisse mit besonderer Plas-
tizität und Hartnäckigkeit in unserem Gedächtnis haften bleiben,
wird durch Erfahrungen des Alltags bezeugt. Ciceros Satz Cui pla­
cet obliviscitur, cui dolet meminit7 verweist darauf, dass uns ein
angenehmes Ereignis wieder entfallen kann, während ein schmerz-

7 Cicero, Pro Murena 20.


9.  Leidenserinnerung 161

liches, belastendes in uns haften bleibt; nach Nietzsche besteht die


Urform, dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis zu machen, geradezu
darin, ihm etwas einzubrennen, was nicht aufhört weh zu tun.8 Doch
sind hier offenkundig nicht nur divergierende affektiv-wertmäßige
Besetzungen, sondern auch unterschiedliche Vernetzungen im Le-
benskontext und Weisen des Verbleibens im Vergangenen und der
Wiedererweckung von Erinnerungen im Spiel. Unverkennbar aber
besitzt die unwillkürliche Abwehr dessen, was wir nicht wollen und
nicht ertragen können, dessen, was uns schmerzt, beschämt oder
ängstigt, eine genuine Funktion der Verdeckung und der Abdrän-
gung aus dem Raum des Bewussten. Das Erleben akuter Angst, das
Erleiden von körperlichem oder seelischem Schmerz, das Gewahr-
werden von Schuld fungieren in je eigener Weise als Hemmnisse der
mentalen Präsenz und verbalen Artikulation. Sie rücken das Vergan-
gene weg, dichten es ab, machen es zu einem Nichtmemorierbaren.
Solche Zusammenhänge haben ihre Evidenz nicht nur für die in-
dividuelle Lebensgeschichte. Sie bestimmen ebenso den Raum des
kollektiven Gedächtnisses, der öffentlichen Geschichte und his-
torischen Kultur. Der Widerstand gegen das Wiederaufleben ver-
drängter Ereignisse, gegen das Aufreißen alter Wunden tritt uns im
Falle des kollektiven Gedächtnisses mit besonderer Prägnanz entge-
gen. Nach nationalen Katastrophen und sozialen Erschütterungen
kann der Kampf um Erinnerung zu einem dringenden Anliegen im
Dienste der Versöhnung und Reintegration, der Wiedergewinnung
der eigenen Identität werden. Es ist dieser Bereich, der den Haupt-
bezugspunkt wichtiger Untersuchungen zur Herausforderung des
historischen Gedächtnisses bildet. Darin kommen auf der einen Seite
der verschärfte Vergangenheitsentzug, die verhärteten Grenzen der
Erinnerung und Aporien des Gedächtnisses zur Sprache. Auf der
Gegenseite werden Ressourcen und Formen einer befreienden, ret-
tenden Leidenserinnerung erkundet.

(c) Leiden und Versagung des Erinnerns

Gerade im Rückblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit


ihrem totalitären Schrecken, im Besonderen auf die Shoah, nimmt
die dem individuellen Leiden anhaftende Stummheit und Erinne-

8 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, a. a. O., S. 295.


162 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

rungsblockade eine extreme Gestalt an. Sie manifestiert sich in trans-


generationalen Traumata, in Leidenserfahrungen, die unerkannt und
unthematisiert weitergegeben und in pathologischen Symptomen
ausagiert werden. Dem Bemühen um das Nichtdargestellte und
Nichtdarstellbare in der Erfahrung absoluten Leidens und zerstö-
render Gewalt hat Claude Lanzmann nicht nur seine lebenslange
künstlerische Arbeit, sondern auch eingehende gedankliche Ausei-
nandersetzungen gewidmet. Sein singuläres Werk Shoah steht pa-
radigmatisch für den Versuch, dem Nichtdarstellbaren Ausdruck
zu verleihen. Sein Gegenstand ist das Unerinnerbare, l’immémorial,
jenes »unmenschliche Ereignis«, das in seinem Grauen wie »in ein
entferntes Sternensystem, ein quasi legendenhaftes in illo tempore,
wie außerhalb der menschlichen Dauer« verbannt ist.9 Dabei geht
es Lanzmann im Umgang der Nachgeborenen mit dem Holocaust
nicht allein um eine faktische Verunmöglichung des Erinnerns, son-
dern, tiefer, auch um ein Verbot, ein Tabu; ja, er sieht im Versuch,
die gewaltsame Entmenschlichung und den massenhaften Tod zu
verstehen und medial darzustellen, geradezu einen Skandal und ein
Unrecht an den Opfern.10 Sein Werk ist von der festen Überzeu-
gung getragen, dass es hier wie ein Bilderverbot, un interdit de la
représen­tation11 gibt, das in Filmen und Fernsehserien wie Schind­
lers Liste und Holocaust gebrochen wird. Der absolute Schrecken,
der Tod ist im Medium der normalen Sprache und des gewohnten
Bildes nicht einzuholen, nicht zu vermitteln und nicht weiterzuge-
ben. Die abgründige Nichtverstehbarkeit schlägt sich in der rigoro-
sen Nichtrepräsentierbarkeit nieder und bewirkt eine ebenso strenge
Nichterinnerbarkeit: Der Holocaust, so Lanzmann, gehört nicht in
die Ordnung der Erinnerungen, wie es Andenken an vergangene
Taten und Erlebnisse sind.12 Die Konfrontation mit der absoluten
Negativität, mit der nackten Gewalt, dem Tod, erweckt diese wie zu
einer halluzinatorischen Präsenz, die, zwar als »reine Gegenwart«,
das genaue »Gegenteil der Erinnerung« und ihrer narrativen Ent-
faltung ist.13 Was als Wunschbild der Lebenserzählung aufschien:
das Stillstehen der Zeit und Einswerden mit dem Vergangenen im

9 Claude Lanzmann, La tombe du divin plongeur, a. a. O., S. 487 f.


10 Ebd., S. 489, vgl. 503.
11 Ebd., S. 536 f.
12 Ebd., S. 514.
13 Ebd., S. 516.
9.  Leidenserinnerung 163

Jetzt, wird im Angesicht des Schreckens in negativer Verkehrung


real: Während der vieljährigen Arbeit an Shoah, so Lanzmann, er-
eignete sich ein eigentümliches »Anhalten der Zeit«, in welchem die
Zeit »nie aufgehört hat, nicht zu vergehen«14, und gerade in der Wie-
derbegegnung mit Erlebnissen äußersten Leidens – wie im Zeugnis
eines Überlebenden des Sonderkommandos – findet der gewaltsame
Einbruch des Vergangenen in die Gegenwart, die »Auferweckung
des Vergangenen« in einer »zeitlosen Aktualität« statt.15 Es ist eine
Gegenwart, die nicht der erfüllten, sondern der lähmend-stillgestell-
ten Zeit nahekommt, welche sich der narrativen Verflüssigung wie
der sprachlich-artikulierenden Repräsentation verweigert.
Die intime Verstrickung zwischen dem Leiden und der Versa-
gung des Erinnerns kommt in einer äußersten Form dort zum Tra-
gen, wo das Vergangene nicht nur aufgrund seiner Negativität dem
Gedächtnis entzogen ist, sondern gewissermaßen im nachhinein der
Irrealisierung, der Zerstörung anheimfällt. Dies ist dort der Fall, wo
Leiden im nachhinein zur Sinnlosigkeit verurteilt, in seiner Absur-
dität festgeschrieben wird. Zur Extremform der in den Konzentra-
tionslagern vollzogenen Destruktion gehört, dass Individuen nicht
nur gequält und vernichtet, sondern gleichsam als leidende Men-
schen ausgelöscht und real negiert wurden; Primo Levi beschreibt
jene äußerste Form der Entmenschlichung, in welcher die Körper
nicht einmal mehr zur Artikulation des Leidens, zur Empfindung
der Sinnlosigkeit in der Lage sind.16 Dasselbe geschieht, wenn das
Gedächtnis des Leidens gewaltsam unterdrückt wird. Das Opfer
vergessen heißt erneut zu töten, es seiner Sinnlosigkeit zu überlas-
sen, ja, sein Recht auf Sinn zu leugnen: Gewalt ist Bestreitung des
Anspruchs auf Sinn noch des Leidens und erfolglosen Kampfs.17 So-
gar die Amnestie, die einen Weg versöhnenden Vergessens bahnen
soll, kann in anderer Sicht als Unrecht an den Opfern und Gewalt
wahrgenommen werden, welche die Deportierten und Massakrier-
ten vollends dem Nichts ausliefert, vor dem sie allein das unversöhn-
liche Gedenken rettet.18

14 Ebd., S. 487.
15 Ebd., S. 513 f., 516.
16 Primo Levi, Ist das ein Mensch?, Frankfurt am Main: Fischer 1961.
17 Bogoljub Sijakovic, »On Sacrifice and Memory«, in: Philotheos. Interna-
tional Journal for Philosophy and Theology 1 (2001), S. 288–293.
18 Vladimir Jankélévitch, Verzeihen?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006,
S. 58 ff.
164 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Potenziert wird diese Leugnung der Würde und des Lebenssinns


in der damnatio memoriae, der Auslöschung aus dem Gedächtnis:
Der Fluch, der »den alten Juden als ärgster Fluch galt: nicht ge-
dacht soll deiner werden«19, das Auslöschen der Spuren, das Ver-
weigern des Gedenkens und Verbot des Namens sind Bestrebun-
gen des restlosen Ausschlusses aus der Gemeinschaft der Menschen,
aber auch aus der Zeit und der Geschichte. Die ›Nachträglichkeit‹
verkehrt sich hier von einer der (Re-)Konstitution zu einer der Zer-
störung; das Paradox der ex-post-Genese radikalisiert sich zu dem
einer Auflösung, die nicht ein Entstandenes destruiert, sondern es
im Nachhinein zu einem Nicht-Gewesenen macht. Nicht ein Le-
bender wird zum Sterben verurteilt; durchgestrichen wird, dass er
gelebt hat. Es ist eine Gewalt an den Toten, die diese zur Endgültig-
keit des ­Todes verdammt. Das Erinnerungsverbot ist ein Erlösungs-
verbot. Es ist dieser wahre Schrecken des Todes, der nach Ricœur
im Ausrottungswerk der Lager zutage getreten ist.20 Jorge Semprun
schildert ein Hindurchgegangensein durch die Zone des Todes, das
nicht in die Auferstehung mündet, sondern im Gegenteil zunächst
die er­innernde Auferweckung des Vergangenen untersagt, wie das
von ihm zitierte Gedicht von Louis Aragon Chanson pour oublier
­Dachau (mit dem Schlussvers Ne réveillez pas cette nuit les dor­
meurs) anklingen lässt.21 Wie die Sinnlosigkeit das Leiden potenziert,
so die Versagung des Gedenkens und der nachträglichen Versöh-
nung. Die nicht nur erlittene, sondern dekretierte Versagung bis hin
zur Auslöschung des Namens ist ein Zunichtemachen des Vergange-
nen, das zuletzt auch das Weiterleben brüchig macht.
Umso dringlicher wird angesichts dieser Radikalisierungen des
Vergangenheitsentzugs die Frage, auf welchen Wegen, in welchen
Formen gleichwohl der Toten gedacht, ihr Gedächtnis wachgehal-
ten werden kann.

19 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung,


Frankfurt am Main: Fischer 1988, S. 226.
20 Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, Paris: Seuil 2007, S. 61.
21 Jorge Semprun, Schreiben oder Leben, a. a. O., S. 219 ff.
9.  Leidenserinnerung 165

9.2  Notwendigkeit der Erinnerung

Dass Erinnern notwendig ist, ist der Erfahrung des Leidens ebenso
unumstößlich wie die Unmöglichkeit des Sprechens: »Se taire est
interdit, parler est impossible« – so lautet das schlichte Bekennt-
nis von Elie Wiesel im Gespräch mit Jorge Semprun.22 Dass gerade
das Leiden nach dem Erinnern verlangt, scheint der Menschheitsge-
schichte eingeschrieben und ist im Rückblick des 20. Jahrhunderts
in besonderer Weise aufdringlich geworden. Bündig hält der Gulag-
Überlebende Warlam Schalamow die Maxime seines Jahrhunderts
und seines eigenen Lebens fest: »An das Böse sich vor dem Guten er-
innern. An alles Gute sich hundert Jahre erinnern, an alles Schlechte –
zweihundert.«23 Dabei drängt sich die Notwendigkeit des Erinnerns
dem Bewusstsein in unterschiedlicher Weise auf: als ursprüngliche
Pflicht, als Dynamik und treibende Kraft, als fundamentales Verlan-
gen. In all dem steht sie in Korrespondenz zur versagten Erinnerung,
stellt sie zu dieser, zu der in ihr erfahrenen Negativität eine Reak-
tion und eine Antwort dar: Der Tiefe der Zerstörung antwortet die
Unnachgiebigkeit der Forderung nach einem rettenden Gedächtnis.
Sie ist zum einen eine Forderung im Sinne des Sollens, als Pflicht
und abzutragende Schuld, welche die Nachgeborenen gegenüber
den früheren Generationen, auch gegenüber der eigenen Vergan-
genheit auf sich nehmen. Geschichte, bemerkt Ricœur, ist »ein
Friedhof nicht gehaltener Versprechen«, die wachzuhalten und de-
ren Erfüllung einzuklagen zu den Pflichten des historischen Geden-
kens gehört.24 Wieweit im eigentlichen Sinne von einer Pflicht der
Erinnerung gesprochen werden kann, ist Gegenstand kontroverser
Debatten um die historische Kultur (bis hinein in Fragen der Ge-
setzgebung), namentlich im Umgang mit der Leidensgeschichte von
Völkern und der erdrückenden Opferbilanz von Eroberungen und

22 Jorge Semprun / Elie Wiesel, Se taire est impossible, Editions Mille et une


nuits / Arte Editions 1995, S. 17.
23 Warlam Schalamow: Die Auferweckung der Lärche. Erzählungen aus
Kolyma 4, Berlin: Matthes & Seitz 2011, S. 335.
24 Paul Ricœur, »Quel éthos noveau pour l’Europe?«, in: Peter Koslow-
ski (Hg.), Imaginer l’Europe, Paris: Le Cerf 1992, S. 109–116, hier S. 112;
Burckhard Liebsch, Die (gebrochenen) Versprechen der Moderne und die
Zukunft der Geschichte. Zur Geschichtsphilosophie Ricœurs – mit Blick auf
Kant, Levinas und Derrida, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2013,
S. 299–320, hier S. 302.
166 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Kriegen. Es sind Fragen nach der »gerechten« Erinnerung (ähnlich


dem Problem des gerechten Kriegs): Fragen nach ethischer Verbind-
lichkeit in der Auseinandersetzung mit eigener oder fremder Schuld,
nach historischer Verantwortung im Austragen oder Korrigieren
der Konsequenzen sozialer und politischer Macht, nach Anerken-
nung und Leugnung historischer Fakten (Genozide), Fragen nach
den Kriterien und Zielvorstellungen der geforderten Gedächtnisar-
beit (Protest gegen Unrecht, Offenhaltung uneingelöster Ansprüche,
Wiederherstellung beschädigter Identitäten etc.); zur Diskussion ste-
hen Stringenz, Gehalt und normativer Grund des Erinnerungsge-
bots.25 Viel spricht dafür, ein solches Gebot als politisch-kulturelle
Verbindlichkeit (im Sinne der Hegelschen Sittlichkeit), nicht im en-
gen Sinne als moralische Pflicht zu fassen.26 Gleichzeitig variieren
die Adressaten und Bezugspersonen der Erinnerungspflicht – von
den spurlos untergegangenen Märtyrern der Geschichte, den recht-
und zeugnislos verstummten Opfern von Unrecht und Gewalt über
die heimat- und herkunftlosen Mitmenschen zu den noch ungebo-
renen, entwurzelten Nachkommen.
Besonderes Gewicht kommt dem Gedächtnis der Opfer, der Be-
siegten und ruhmlos Untergegangenen in der Geschichte zu. Er­inne­
rung verschränkt sich hier mit der Idee einer Wiedergutmachung, sei
es auch nur der Restitution menschlicher Würde und des Nichtver-
gessens. Strukturanalog verhält es sich im Fall unerfüllter Wünsche
und nicht-realisierter Vorhaben, enttäuschter Hoffnungen und ge-
brochener Versprechen, wo nicht genuin normative Forderungen,
doch offene Intentionen und gerichtete Prozesse im Spiele sind, die
aus dem Vergangenen auf das noch Unverwirklichte ausgreifen, ei-
nen Appell an die Zukunft richten. Die Logik der Forderung wird
hier durch die Dynamik des Prozesses überformt, der gegen das
Festgeschriebensein des Faktischen auf der Unabgeschlossenheit des
Vergangenen beharrt. Im Zeichen des Leides, der Rache und des
Rechts, aber auch der Trauer und der Sehnsucht drängt das Vergan-
gene über sich hinaus, bemächtigt es sich der Gegenwart und weist

25 Vgl. Myriam Bienenstock (Hg.), Devoir de mémoire? Les lois mémorielles


et l’Histoire, Paris: Éditions de l’éclat 2014; Myriam Bienenstock, »Gibt es
eine Pflicht zur Erinnerung? Überlegungen zu einer Debatte in Frankreich«,
in: Alain Partrick Olivier / Elisabeth Weisser-Lohmann (Hg.), Kunst – Reli­
gion – Politik, München: Fink 2013, S. 267–284.
26 So die Stellungnahme von Myriam Bienenstock in den vorgenannten
Publi­kationen.
9.  Leidenserinnerung 167

ins Kommende. In elementarer Form ist es die perpetuierte Macht


des Vergangenen, welche das Leben nicht loslässt, wie in der von
Ricœur beschriebenen zwanghaften Heimsuchung durch das Ver-
gangene (la hantise du passé)27. In anderer Form geht es um Konti-
nuitäten, die sich aus dem Bewusstsein von Katastrophen, dem Pro-
test gegen Unrecht herausbilden oder der Aufwertung unterdrückter
und marginalisierter Dimensionen der offiziellen Geschichte (All-
tagsgeschichte, Geschlechtergeschichte) entstammen. Immer sind
es Elemente des Vergangenen, die nicht nur der Verdeckung und
Verschließung, sondern auch dem Aufbrechen, der Umwertung und
der Neugestaltung der Geschichte zugrunde liegen. Das Ungelebte
und Unverwirklichte ist nicht nur Defizit, sondern auch produktives
Potential. Dasselbe Vergangene kann Last, Hemmung und Antrieb
des Erinnerns sein.
Neben dem Ethos des Gedächtnisses und der Dynamik des Un-
abgeschlossenen wirkt das subjektive Verlangen des Festhaltens
und des Zurückkehrens, die Sehnsucht nach dem Gewesenen als
Triebkraft der Erinnerung. Es ist das Bedürfnis nach Selbstfindung,
nach Einswerden mit dem, was wir einmal waren – und vielleicht
tiefer noch mit dem, was wir nie waren, was wir nicht werden und
nicht vollenden konnten, wonach wir unwissentlich strebten.28 Es
ist die Sehnsucht nach den entschwundenen Möglichkeiten, nach
dem nichtgelebten Leben, die uns nach vorne ins tätige Leben und
gleichermaßen ins Andenken des irreversibel Vergangenen treibt.
Sie kann sich mit dem Gewahrwerden des Untergangs einer Welt,
des Entschwindens eines Zeitalters assoziieren und durch dieses Be-
wusstsein verstärkt werden, wie dies Vladimir Nabokov von seiner
Mutter berichtet, die ihn als Kind mit der Ermahnung »Vergiss mir
das nicht!« auf Schönheiten seiner Umgebung hinwies, »als fühle
sie, dass in wenigen Jahren der greifbare Teil ihrer Welt untergehen
würde«, und damit auch in ihm den »Sinn für die Spuren der Zeit«
und die außergewöhnliche Anhänglichkeit an die Vergangenheit –
»diese fast krankhafte Wachheit meines Erinnerungsvermögens« –

27 Siehe oben Kap. 8; Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O.,


S.  581; Henry Rousso, La Hantise du passé, a. a. O.
28 Vgl. Varujan Vosganian, Buch des Flüsterns, Wien: Paul Zsolnay Ver-
lag 2013, S. 7: »Ich bin vor allem das, was ich nicht vollenden konnte. Das
wahrhaftigste der Leben, die ich führe, wie ein an seinem Ende verknotetes
Schlangenknäuel, ist das nichtgelebte Leben.«
168 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

erweckte.29 Die Tatsache des Untergegangenseins einer Kindheits-


welt, auch des eigenen Verbanntseins aus ihr, nährt den Wunsch
nach Rückkehr – »nicht der großen Heimkehr, die es niemals geben
wird, sondern des unausgesetzten Traums von ihr während der lan-
gen Jahre des Exils.«30 Dieses der menschlichen Lebensform einge-
schriebene Interesse am Erinnern kann im Falle der Erinnerung an
eigenes oder fremdes Leiden eine besondere Intensität annehmen.
Es verbindet sich, wie beim Exil, mit dem Wunsch nach Rückkehr
und Wiederherstellung – nach Heilung des Versehrten und Wieder-
erlangung der Ganzheit, nach dem Wiederfinden des Verlorenen.
Der Leitstern einer Suche nach der verlorenen Zeit, welche sich
nicht im Temporalen erschöpft, ist die umfassende Chiffre retten-
der Erinnerung.

9.3  Wege und Umwege der Erinnerung

Die Frage ist erneut, auf welche Weise Erinnerung möglich ist und
faktisch vollzogen wird. Die Eindringlichkeit der Frage liegt darin,
dass sie unter Prämissen der Negativität gestellt ist – unter Bedin-
gungen des entzogenen, verdunkelten, verschütteten Vergangenen,
als Frage nach der Vergegenwärtigung des Nichtrepräsentierbaren,
nach dem Ausdruck des Nichtsagbaren, nach der Wiederkehr des
Nichterinnerbaren. In jeder denkbaren Verschärfung ist der Entzug
der Präsenz angesichts des Grauens thematisch geworden, als radi-
kale Verunmöglichung ebenso wie als strikte Untersagung des Bildes
und des Worts. Der Schrecken und das Leid waren zuletzt dadurch
gesteigert, dass sie zur Sprach- und Gedächtnislosigkeit verdammt,
durch sie ins Abgründige vertieft wurden. Die Erinnerung ist als
gefährliche unterdrückt, als schmerzhafte verdrängt, als unerlaubte
verbannt worden. Das Verdikt ihrer Unmöglichkeit jedoch hat die
Forderung und das Verlangen nach ihr nicht untergraben, sondern
nur umso spürbarer gemacht.

29 Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich, a. a. O., S. 47 f., 95.


30 Ebd., S. 124.
9.  Leidenserinnerung 169

(a) Unfreie Erinnerung und Wiederholung

In einer ersten, verzerrten Gestalt dringen sie dort durch, wo Er­


innerung auch im Zeichen ihrer Unmöglichkeit stattfindet. Die Ver-
sagung der Erinnerung bedeutet nicht, dass das Vergangene in kei-
nerlei Weise da wäre. Auch die äußerste Negativität ist in der Tiefe
des Erlebens bewahrt und im Gegenwärtigen verdeckt anwesend. In
bestimmten Formen ereignen sich gleichsam Ersatzvollzüge des Er-
innerns, in denen Früheres tradiert und unbewusst verarbeitet wird,
verdrängte Erlebnisse unerkannt hervorbrechen, in aktuelles Han-
deln und Sprechen eingehen. Sigmund Freud hat die Spannweite die-
ser Formen im Aufsatz Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten
(1914) ausgebreitet. Es gibt Weisen des Handelns, die an die Stelle
des Erinnerns treten, in gewisser Weise das zu Erinnernde verde-
cken und in den Hintergrund drängen, zugleich aber dessen Anlie-
gen vertreten und von seinem Impuls getragen sind. Das von Freud
beschriebene Agieren und Ausagieren bringt dasjenige, worum es
in einem Konflikt, in einem Begehren, einem Schamerlebnis geht,
zum Tragen, ohne es zur Sprache zu bringen und einer verstehen-
den Verarbeitung zugänglich zu machen. Der Wiederholungszwang
lässt alte Erfahrungen in einem Verhalten wieder aufleben, das sich
scheinbar aktuellen Motivationen verdankt. Das Nichterkennen des
Verdrängten bedeutet gleichzeitig, dass der Erinnerungs- und Wie-
derholungscharakter des Symptoms verkannt bleibt.
Gleichwohl kann dieses eine Funktion für die vitale Auseinander-
setzung mit ungelösten Lebensproblemen erfüllen, kann es die un-
erkannte, misslingende Bewältigung älterer Erfahrungen sein. Auch
die Verdrängung ist eine Art des Reagierens, in gewisser Weise auch
des Zurechtkommens mit dem Leiden, eines Erträglichmachens, das
allerdings ohne wirkliche Lösung bleibt, gegebenenfalls das Leiden
vertieft und sich in Ausweglosigkeit verstrickt. Generell ist ernst-
zunehmen, dass auch das Verdrängen, wie das Vergessen, eine Art
der Erinnerung, zumal des Festhaltens und eine Basis der Wieder-
kehr ist. Die Verdrängung erschöpft sich nicht im Unsichtbar- und
Unhörbarmachen, sondern ist Teil einer psychischen Dynamik, die
ebenso das Nachdrängen wie die Wiederkehr des Verdrängten in
Form der Träume und Symptome einschließt. Darin ist mehr als
die triebbestimmte Dynamik am Werk, die auf die Befriedigung ei-
nes unbewussten Wunsches zielt und in welcher das Verschlossene,
Nichtrealisierte zum Ausdruck drängt. Es ist auch ein Bedürfnis
170 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

nach Äußerung und Verständnis, wie es dem Leben überhaupt in-


newohnt und neben den bewussten Lebensformen auch die unbe-
wussten Strebungen durchdringt. Zum ursprünglichen Bedürfnis
des Menschen gehört es, in der Erfüllung seines Wollens Sinn zu
finden, mit sich ins Reine zu kommen und sein Tun und Erleben in
einen sinnhaften Zusammenhang stellen zu können; dem Konnex
von Leiden und Sinnlosigkeit korrespondiert auf der Gegenseite die
Verschränkung von Streben und Verstehenwollen. In der Krank-
heitsgeschichte vom Kleinen Hans exponiert Freud in paradigma-
tischer Form diesen Zusammenhang, der auch der Wiederkehr des
Verdrängten zugrundeliegt: »Was so unverstanden geblieben ist, das
kommt wieder; es ruht nicht, wie ein unerlöster Geist, bis er zur
Lösung und Erlösung gekommen ist.«31 Wie mit dem Ausschluss
der Erinnerung das Versagen der Lösung, der Erlösung einherging,
so weist Freud auf die abgründige Verbindung beider gerade im
Modus ihres ausstehenden Vollzugs. Die von Ricœur und Rousso
beschriebenen Formen der ›Heimsuchung‹ durch das Vergangene
demonstrieren das Unfreie solcher Reminiszenz, die, wie das nicht
durchdrungene Vergangene, selbst zum Zwang und zur Last wird.
Das Vergangene, das nicht vergeht, wird zum Gehäuse jenes Entzugs,
der sich dem befreienden Gedächtnis widersetzt.
Indessen sind auch in ihm Spuren eines Potentials sichtbar ge-
worden, die als Grundlage der Erinnerung fungieren. Die ungelös-
ten Fragen und nicht bewältigten Probleme sind Elemente einer
Beunruhigung, die weiter treibt.32 Das Nichtrealisierte, nie gegen-
wärtig Gewordene ist gleichzeitig Möglichkeit und Potenz eines
Ungewordenen. Exemplarisch manifestiert es sich in abgebroche-
nen, misslungenen Entwicklungen, erfolglosen Bemühungen um
Gestalt und Ausdruck. Ihnen nachgehen heißt eine nichtgeschehene
Geschichte schreiben. Es heißt in einer Bewegung die immanente
Tendenz wahrnehmen und sie auf etwas hin lesen, was sich in ihr
nicht durchgesetzt, sich nicht geoffenbart hat. Dies ist in besonderer
Weise bei organischen Bildungen fassbar, deren Prozessualität von
einer Teleo­logie gesteuert ist, doch in ihrer Durchsetzung durch

31 Sigmund Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909), in:
Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 51972, Bd. VII, S. 243–377,
hier: S. 355.
32 Vgl. Christina von Braun, »Stille Post. Das Sagen und Versagen der Er-
innerung«, a. a. O., S. 67 ff.
9.  Leidenserinnerung 171

interne oder externe Faktoren gestört und behindert sein kann. In


diesem Sinne kann eine verstehende Pathologie sich darum bemü-
hen, Krankheiten auf den auch in ihnen wirksamen, doch verzerr-
ten Lebens- und Gestaltungswillen hin zu erfassen und Symptome
auf das hin zu begreifen, was sie ›sagen wollen‹. Auch im gestörten
Verhalten, so Viktor von Weizsäcker, gilt es eine Selbstaffirmation
des Lebens und die nicht gelingende und nicht verstandene Lö-
sung eines Lebensproblems zu erkennen.33 Verwandt ist der Zugang
phänomenologischer Beschreibungen, die sich in der Untersuchung
existentiellen Verfehlens und pathologischer Verzerrungen über die
Gerichtetheit der Existenz verständigen, wie dies etwa Merleau-
Ponty vorführt, wenn er in den (kognitiven, sprachlichen, sozialen)
Defiziten eines Gehirnverletzten aus dem ersten Weltkrieg ex nega-
tivo entziffert, worin der lebensweltliche Sinn menschlichen (nor-
malen) Verhaltens besteht.34 Den Sinn des Lebens vom Scheitern
her zu erfassen, ist das spiegelbildliche Pendant zum Bemühen, das
Unterdrückte in seinem Gehalt zu erschließen und das Verfehlen in
seiner verdeckten Bedeutung zu begreifen. Ein integrales Verstehen
verlangt, die nicht-artikulierte Form aus ihrer Verschlossenheit, ih-
rer Irrealität zu befreien und zum aktualen Teil des Lebens werden
zu lassen. Solche ›rettende‹ Vergegenwärtigung potenziert sich im
Modus der Erinnerung. Vergangenes, das nicht gegenwärtig war,
soll gewissermaßen nachträglich dem realen Leben integriert, Teil
des gestalteten Lebensvollzugs werden. Das ungelebte Leben als
wirkende Kraft der Existenz, die Sehnsucht nach dem Einswerden
nicht nur mit dem einst Erlebten, sondern auch dem nicht-Erlebten
und nicht-Gelebten sind Tiefenschichten des Erinnerns und Sich-
entwerfens zugleich.

33 Viktor von Weizsäcker, »Medizin und Logik«, in: Gesammelte Schriften


7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 334–365, hier S. 355 ff.; Pathoso­
phie, Gesammelte Schriften, Bd. 10, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005,
S. 161, 258. Vgl. Stephan Graetzel, »Die Bedeutung der Philosophie für das
Verständnis von Krankheit«, in: Joachim Heil (Hg.), Dimensionen Prakti­
scher Philosophie. Texte zur philosophischen Ethik und Anthropologie, Lon-
don / Kirchentellinsfurt 2004, S. 127–139; ders., »Philosophie et médecine
dans l’anthropologie médicale en Allemagne au XXe siècle«, in: J.-P. Pierron
(dir.), Introduction à l’herméneutique médicale: L’interprétation médicale.
Une dialectique de l’expliquer et du comprendre, Paris: Vrin 2011, S. 137–144.
34 Maurice Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris: Galli-
mard 1945.
172 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Die Frage ist, wie aus diesem Potential, wo es nicht den Kern
einer organischen Entfaltung, sondern die selbst zurückgedrängte
Tiefenschicht eines unterdrückten Vergangenen bildet, Erinnerung
hervorgehen kann. Die Frage ist, wie Erinnerung als Leidenserinne-
rung die Verdeckung, Verschließung des Vergangenen durchbrechen
kann. Ein Leitbegriff der Antwort, die Sigmund Freud auf diese
Frage gibt, lautet »Durcharbeiten«.35

(b) Durcharbeiten – Lesen und Schreiben des Vergangenen

Zentral ist darin das Motiv der Arbeit. Es weist auf eine bewusste,
beharrliche, auch mühselige Tätigkeit, die sich in vielfältigen Ope-
rationen der Erforschung, Dokumentation und Darstellung um die
Wiedergewinnung des entzogenen Vergangenen bemüht. Durch­
arbeiten meint einerseits das schrittweise Erarbeiten und kognitive
Durchdringen des komplexen und dunklen Bestands an Spuren,
Zeugnissen und Überresten. Historische Erinnerung ist nicht ein
organisches Hervorkommen des Verborgenen, ein Auftauchen des
Gewesenen in die Präsenz des Gedächtnisses, sondern bedarf der
langwierigen, facettenreichen Arbeit am Material, das den Fundus
historischer Forschung bildet. Durcharbeiten meint andererseits
eine Arbeit, welche auf Widerstand stößt und sich an Hemmnissen
und Gegenkräften abarbeitet. Sie hat mit Widerständen von seiten
des Gegenstandes ebenso wie des Subjekts, des historischen Materi-
als wie der – als Akteure, Opfer oder Zuschauer – involvierten Sub-
jekte der Geschichte zu tun. Gerade im autobiographischen Schrei­
ben trifft es auf die im Subjekt selbst wurzelnde, aus ihm kommende
Abwehr. Nach all diesen Hinsichten geht es der Gedächtnisarbeit
darum, das Unausgesprochene dennoch zur Sprache zu bringen, die
Verschließungen aufzusprengen und die verkrypteten Botschaften
zu lesen. Als bezeichnende Leitmetaphorik dieser Erkundung hat
sich die von Freud verwendete der Archäologie gezeigt. Es gilt ver-
schüttete Fundamente auszugraben und ans Licht zu bringen, Frag-
mente zu ergänzen und zerstreute Splitter zur Konfiguration eines
Gebäudes oder einer Geschichte zu fügen. Die Metaphorik ver-
schränkt sich mit der von der Hermeneutik des Verdachts formu-

35
Sigmund Freud, »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«, in: Gesam-
melte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 61973, Bd. X, S. 126–136.
9.  Leidenserinnerung 173

lierten Methode, der gemäß ein gleichsam zweistufiges Verstehen am


Werk ist, das einerseits die innere Bedeutung eines Symptoms, eines
Ereignisses oder Verhaltens erschließen, andererseits die Ursache
und Modalität seiner Verstellung begreifen will. Wie die Archäologie
im Abtragen der Trümmer- und Erdschichten zugleich den Prozess
der Zerstörung und Verhüllung durchdringt, soll das ›Durcharbei-
ten‹ die seelischen, sozialen und historischen Verschüttungen auf-
decken und auf das in ihnen Geborgene hin durchsichtig machen.
Je nachdem welche Prozesse zur Verdeckung geführt haben, welche
Kräfte in ihr gewirkt haben und gegebenenfalls weiterhin tätig sind,
ist die Erinnerungsarbeit auf ganz unterschiedliche Vorkehrungen,
Umwege und Operationen angewiesen, um dasjenige, was in der
Geschichte unsichtbar gemacht, aus ihr eliminiert worden ist, wieder
vernehmbar zu machen und als Teil der historischen Wirklichkeit
zu rekonstituieren.
Solche ›archäologische‹ Grabung in die Untiefen der Geschichte
und des eigenen Selbst bedeutet, sich den Widerständen auszuset-
zen, sie anzugehen, ihnen selbst Widerstand zu leisten. Wenn zu
den ersten Konnotationen der Erinnerungsarbeit die Mühsal ge-
hört, so meint diese nicht nur die Beschwerlichkeit des Freilegens
verwischter Spuren und Durchdringens verhärteter Residuen. Sie
liegt im Besonderen in den Schwierigkeiten der Selbstfindung und
in der Widerständigkeit des Negativen, im Sichabarbeiten an uns
selbst und an dem, was sich unserem Sein und Wollen widersetzt.
»Ich mühe mich an mir selber ab (laboro in me ipso): mein eigen Ich
ward mir zum Boden der Mühsal, und ich bestelle ihn mit vielem
Schweiß« – so beschreibt Augustinus sein Bemühen um das Rätsel
des Gedächtnisses.36 Dass das In-sich-Gehen und Eintauchen in die
Selbsterforschung anstrengend und hindernisreich ist, liegt nicht nur
daran, dass die Räume der memoria unermesslich weit und abgele-
gen sind, sondern dass ich in ihren Tiefen auf Schmerzvolles und
Beschämendes stoße und als erstes die Abwehr, die ich selbst gegen
dessen Erweckung leiste, überwinden muss.
Christa Wolf beschreibt, wie Günter Grass, dessen Werke We-
sentliches zur Aufarbeitung einer dunklen nationalen Vergangenheit
beigetragen hatten, erst nach langen Jahren in diesen Erinnerungs-
strom auch jenes »Unaussprechliche« der persönlichen Geschichte
einzubringen imstande war, das er sich nach eigenem Zeugnis nur

36 Augustinus, Confessiones X, XVI, 25.


174 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

»in Schüben« und »zögerlich« eingestehen konnte, nämlich dass er


»unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem
Verbrechen hatte«, das »nicht verjähren« wollte und weiterhin auf
ihm lastete.37 Die Grabungsarbeit hatte scheinbar alles bis auf den
Grund freigelegt – doch »ein Rest blieb, es war noch nicht alles
gesagt.«38 Diesem Ungesagten und Nichtsagbaren sich zu nähern,
heißt jener Last des Vergangenen sich auszusetzen. Generell, so
Wolf, ist das Gedächtnis in vielfacher Weise mit Emotionen – mit
Angst, Freude, Scham, Hilflosigkeit, Entsetzen, Trauer, Schuld – ver-
woben, an welche »die Erinnerung sich klammert und von denen sie
sich durch die Zeit tragen lässt.«39 Auch wenn die affektive Beset-
zung nach beiden Seiten ausschlagen kann – als Rückkehr ins Para-
dies (Jean Paul) oder Verhaftetsein in dem, was wir »lieber vergessen
würden, nämlich den achten Kreis der Hölle« (George Tabori)40 –,
gilt ein bemerkenswerter Primat der Gedächtnisarbeit dem Nega-
tiven. Erinnern hat mit einer Gegenkraft zu tun, die nicht nur der
Verfalls- und Auflösungstendenz allen Lebens, sondern einem Wi-
derstand entstammt, den es zu überwinden gilt. Was Heraklit von
der Natur sagte41, könnte man von der Vergangenheit sagen: dass
sie dazu neigt, sich zu verbergen – wie wenn es eine ursprüngliche
Angst gäbe, aus der Verborgenheit hervorzukommen und sich zu
offenbaren. Vergangenes erzählend in die Geschichte einzuholen
heißt zugleich, entzogene Lebensgebiete von dieser Angst zu be-
freien, »schreibend den Rückzug der Angst betreiben«.42
Die von mehreren Autoren herausgestellte Affinität zwischen Er-
innerungsarbeit und Trauerarbeit lässt Züge dieser negativistischen
Grundschicht des Gedächtnisses hervortreten. Nach Paul Ricœur
weist die Akzentuierung des Charakters der Arbeit darauf hin, dass
wir hier nicht nur mit Erinnerungsstörungen, denen wir unterliegen,
sondern mit Problemen, für die wir selbst verantwortlich sind, zu
tun haben; auch die therapeutische Anweisung des Durcharbeitens
kann als Indiz dafür gelesen werden.43 Man mag sich fragen, in wel-

37 Christa Wolf, Rede, dass ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche, a. a. O.,
S. 46, vgl. 79.
38 Ebd., S. 46.
39 Ebd., S. 75.
40 Ebd., S. 75.
41 Heraklit, Fragment B 123.
42 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 462, vgl. 530.
43 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 97.
9.  Leidenserinnerung 175

chem Sinne hier von Verantwortung zu sprechen ist. Man könnte sie
zunächst dahingehend verstehen, dass Erinnerungsblockaden durch
Erlebnisse von Scham und Schuld bedingt und in diesem Sinne selbst
indirekt verschuldet sind, in der Verantwortung des Subjekts stehen.
Offenkundig aber erschöpfen sich die Aporien des Gedächtnisses
nicht in solchen Konstellationen, betreffen sie neben dem began-
genen ebenso das erlittene Übel, neben dem Bösen die Erfahrung
des Leidens; gerade im Fall der kollektiven Geschichte, so Ricœur,
bildet die Erfahrung von Not und Gewalt einen Wesenszug histo-
rischen Geschehens und Erinnerns.44 Verantwortlich ist der Mensch
hier nicht für den Grund des Entzogenseins des Gedächtnisses, son-
dern allenfalls, in gewisser Weise, für die Art des Erinnerns, sofern
er für sie bei aller Einschränkung ›zuständig‹ bleibt. Insofern lässt
sich in diesem Kontext auch der Rede von einer Erinnerungspflicht
eine bestimmte Bedeutung beilegen. Von einer solchen kann nicht
nur im ethischen Sinne der Gerechtigkeit gegenüber Anderen, der
Schuld gegen die Vorgänger oder der Gedächtnispflicht gegenüber
den Opfern gesprochen werden.45 Nach einer basaleren, psycholo-
gischen Hinsicht steht die Auseinandersetzung mit dem Negativen
als solche in Frage.
Hier kommt der Begriff der Trauerarbeit in spezifischer Bedeu-
tung zum Tragen, sofern er ein produktives, befreiendes Verhältnis
zum Vergangenen enthält und sich der Melancholie als regressivem
Verhaftetsein im Gewesenen entgegensetzt.46 Trauerarbeit meint ein
Sicheinlassen auf Leiden und Verlust, mit welchem sich zugleich ein
Akzeptieren und eine Ablösung verbinden. Sie widersetzt sich darin
dem narzißtischen Verbleiben im Einssein47 ebenso wie sie sich vom
pathologischen Zwang der Wiederkehr, der obsessiven Tyrannei des
Gedächtnisses befreit.48 Wird hierin der therapeutische Effekt eines
›Durcharbeitens‹ fassbar, welches zugleich vom Vergangenen ent-
lastet und befreit, so lässt sich nach anderer Hinsicht ebenso die
negativistische Tiefenschicht der Trauerarbeit herausstellen. Eric
L. Santner, der – in Anknüpfung an Alexander und Margarete Mit-

44 Ebd., S. 95.
45 Ebd., S. 108 f.
46 Ebd., S. 106; Eric L. Santner, Stranded Objects. Mourning, Memory, and
Film in Postwar Germany, Cornell University Press, S. 2 f.
47 Eric L. Santner, Stranded Objects, a. a. O., S. 2 f.
48 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 109 f.
176 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

scherlich49 – die Gedächtniskultur von der deutschen Nachkriegs-


gesellschaft bis zur Postmoderne im Zeichen der Trauerarbeit liest,
vergleicht diese mit der von Walter Benjamin und Paul de Man ana-
lysierten Aufgabe des Übersetzens, die im Horizont der De­kon­
struktion als Arbeit an einem in sich defizitären Ursprung, einem
nicht-ursprünglichen Original erscheint.50 Übersetzung wie Erinne-
rung sind Bemühungen, etwas zur Sprache zu bringen, das an ihm
selbst brüchig, unvollendet, nicht-präsent ist. Beide laborieren an
einem ursprünglichen Verlust, und die Forderung der Trauerarbeit
geht dahin, diesem Verlust entgegenzuarbeiten, ihn auszugleichen
und gleichzeitig mit ihm zurechtzukommen.
Wenn wir dies auf unser Leitthema zurückbeziehen, so kommt
eine Erinnerung in den Blick, welche die unterdrückte Vergangen-
heit in ihrer Negativität ernst nimmt und ihr zugleich beisteht, sie
als entzogene bewahrt und kommenden Generationen weitergibt,
für eine künftige Verlebendigung bereithält. Dazu setzt Erinnerung
Techniken einer indirekten Lektüre und Darstellung der Geschichte
ins Werk. In mannigfachen Abwandlungen sind Metaphern des Le-
sens und Schreibens als Interpretamente historischer Reflexion
reflektiert worden. Schrift und Text sind naheliegende, gleichsam
natür­liche Chiffren dessen, worum es der Erinnerung geht, sowohl
dessen, womit sie zu tun hat und was sie erforscht, wie dessen, was
sie selbst leistet und hervorbringt. Menschliche und natürliche Ge-
schehnisse, im Besonderen auch Katastrophen, traumatische Ereig-
nisse und Unrechtserfahrungen schreiben sich in das soziale Ge-
dächtnis, aber ebenso in die unmittelbare Textur des politischen und
kulturellen Lebens ein, in welcher sie sich auch als ungelesene und
nicht verstandene kristallisieren, diffundieren und über Generatio-
nen fortspinnen.51 Erinnerung hat solche verborgenen Zeichen zu
entziffern und virtuelle Archive aufzuschließen, die ihren Gehalt
nicht aussprechen und dennoch lesbar sind, zumal mit dem An-
spruch und der Forderung nach Lesbarkeit auftreten. Die Entziffe-
rung hat ihr Telos in der explizierenden Artikulation, ihr idealtypi-

49 Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern.


Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: Piper 1967.
50 Eric L. Santner, Stranded Objects, a. a. O., S. 26 f., 152 f.
51 Moishe Postone / Eric Santner (Hg.), Catastrophe and Meaning. The
Holo­caust and the Twentieth Century, University of Chicago Press: Chi-
cago Ill. 2003, S.12 f.
9.  Leidenserinnerung 177

sches Gefäß im Schreiben der Geschichte. Sie mündet in eine Schrift,


die ihrerseits zum Gegenstand von Lektüre und Rekonstruktion
wird, dies sowohl im Medium der auslegenden Rezeption, Ergän-
zung und Konkretisierung des Textes wie der im Laufe der Tradie-
rung immer wieder neu aufgenommenen, weitergeführten und sich
verändernden Schreibung der Geschichte.
Geschichte und historische Sinnbildung haben ihren Ort in ei-
ner Dialektik von Schrift und Lektüre, die sich über einen mehr-
stufigen Prozess des Schreibens und Lesens entfaltet, dessen Ele-
mentarzelle schematisch vier Stufen umfasst: das Sich-Niederschla-
gen, Sich-Ein­prägen der realen Verhältnisse und Ereignisse in der
Lebensform und dem Gedächtnis der Menschen, die Erforschung
und aus­legende Erschließung der Spuren und Dokumente, die his-
toriographische Formgebung im Festhalten und Schreiben der Ge-
schichte, die kulturelle Rezeption und interpretierende Aneignung
der Historie. Im Gefüge dieser verschachtelten, iterierten und sich
überlagernden Prozesse vollzieht sich jene Auseinandersetzung mit
dem Negativen, welche die Herausforderung des Gedenkens an Not
und Leiden ausmacht. Hier geht es um das Aufdecken von Spu-
ren und Dechiffrieren von Symptomen, das Vernehmen des Unter-
drückten und Zurechtrücken des Verstümmelten, das Auferwecken
des Abgestorbenen. Es geht darum, das ungelebte Leben ins Offene
zu bringen, es als das in der faktischen Lebensrealität Unterdrückte
und gleichwohl Wirksame zu erkennen und ihm gleichzeitig selbst
zum Ausdruck, idealiter zur Entfaltung zu verhelfen. Es geht um
eine Verlebendigung, die vom Ungelebten zehrt und ihm gleichzeitig
zu Hilfe kommt, es vor der Erschöpfung, dem gänzlichen Abster-
ben bewahrt und in der Aktualisierung gleichsam am Leben erhält,
denn – so die eigentlich Bedrohung, der Kältetod der Geschichte –
»auch ungelebtes Leben geht zu Ende« (Erich Fried).52 Die Aufgabe
des Erinnerns und Zur-Sprache-Bringens ist nicht in einem singulä-
ren Schreibakt, nicht ein für allemal zu leisten.

52 Erich Fried, »Kleines Beispiel« in: Gedichte, Stuttgart: Reclam 2010, S. 14:
»Auch ungelebtes Leben geht zu Ende / zwar vielleicht langsamer wie eine
Batterie / in einer Taschenlampe / Aber das hilft nicht viel: / Wenn man (sagen
wir einmal) / diese Taschenlampe / nach so- und so vielen Jahren anknipsen
will / kommt kein Atemzug Licht mehr heraus / und wenn Du sie aufmachst
/ findest Du nur Deine Knochen / und falls du Pech hast auch diese / schon
ganz zerfressen / Da hättest Du genau so gut / leuchten können.«
178 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Im Ganzen geht es darum, demjenigen, was ohne Ausdruck ge-


blieben ist, eine Sprache zu verleihen. Es geht darum, das nicht Ge-
sagte und Nichtsagbare dem Reich des Sprechens zurückzugewin-
nen. Offengelegt wird in solcher Rettung die Nicht-Selbstverständ-
lichkeit der Sprache. Von seinem Ansatz her markiert das Ernst-
nehmen des Verstummens, der gewaltsamen Sprachzerstörung einen
Einspruch gegen das sprachphilosophische Dogma, wonach Men-
schen von Natur aus sprechende, immer schon kommunizierende
Lebewesen sind (Aristoteles, Karl-Otto Apel): Gegen die anthropo-
logische oder transzendentalphilosophische These der unhintergeh-
baren Sprache stellt Auschwitz, so Giorgio Agamben, die radikale
Widerlegung dar.53 Sich diesem Sprachentzug trotz allem zu stellen,
sich gegen ihn zu stellen ist das Pathos des Lesens und Schreibens:
Denn das Nichtgesagte, das »Unsagbare ist in der Schrift nicht ver-
graben, es ist vielmehr das, was sie ausgelöst hat.«54 Es auszuspre-
chen – »gegen Wittgenstein zu sagen, was nicht sich sagen lässt«55 –
ist jene Grenzbegehung der Sprache, die Adorno der Philosophie,
der Kunst, der Lyrik zuweist. Es definiert gleichermaßen die Sprache
der Erinnerung, welche vollbringen soll, was bei Celan aufscheint:
die Sprachlosigkeit zu überwinden und die Nicht-Sprache des Todes
dem Sprechen zurückzugewinnen.

(c) Rettende Erinnerung

(c1) Der Anspruch des Vergangenen

Am Beispiel dreier paradigmatischer Modelle sollen Formen und


Wege rettender Erinnerung ausgeleuchtet werden.56 Eine der strin-
gentesten Ausführungen hat diese in Walter Benjamins Thesen Über

53 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge.
Homo sacer III, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 56.
54 Georges Perrec, W ou le souvenir d’enfance, Paris: Gallimard, collection
»L’imaginaire« 1993, S. 63.
55 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1966, S. 19.
56 Andere theoretische und literarische Paradigmen ließen sich nennen, wie
sie beispielsweise den Werken von Primo Levi, Jorge Semprun, Imre Kertesz
zugrundeliegen.
9.  Leidenserinnerung 179

den Begriff der Geschichte gefunden.57 Deren Kern bildet die For-
derung, die traditionelle Historie durch eine Kultur der Leidens­
erinnerung abzulösen. Nicht die Einfühlung in die Sieger, sondern
die Solidarität mit den Besiegten und Opfern der Geschichte soll die
Grundlage historischer Besinnung sein.
Entscheidend ist, dass es darin um mehr als eine politische Stel-
lungnahme, eine Umkehrung der leitenden Wertvorstellungen his-
toriographischer Praxis geht. Die postulierte Umkehrung greift in
die Logik des Geschichtlichen selbst ein, sofern sie unmittelbar mit
dem realen Zustandekommen von Geschichte verflochten ist. Die
Herrschenden sind nicht nur die sozial Überlegenen, sondern zu-
gleich diejenigen, die von sich aus die Macht haben, Lebensverhält-
nisse zu prägen, sichtbare Spuren, Monumente und Dokumente zu
hinterlassen und der Selbstbeschreibung einer Zeit wie der Wahr-
nehmung des Vergangenen ihren Stempel aufzudrücken. Sie sind mit
anderen Worten diejenigen, welche die Macht haben, Geschichte zu
machen. Geschichte machen heißt auch Geschichte schreiben, nicht
allein die realen Verhältnisse, sondern auch ihr Gedächtnis und ihre
Darstellung prägen, welche umgekehrt nicht nur dokumentarischer
Niederschlag und Reproduktion des ›wirklichen‹ Geschehens, son-
dern dessen eigenes, konstitutives Moment sind. Sie sind Medium
einer reflexiven Verständigung, welche die bestimmte Identität und
Ausrichtung einer Zeit und historischen Konstellation mit ausmacht.
Wenn sich in dieser Identitätsbildung die realen Machtverhältnisse
abbilden, so bedeutet dies umgekehrt, dass die Machtlosigkeit der
Opfer mit der Ohnmacht gepaart ist, die eigene Geschichte und
historische Identität zu gestalten. Historie als Leidensgeschichte zu
schreiben heißt dann auch, sich nicht allein dem faktischen Ver-
lauf und Wirkungszusammenhang zu verpflichten, sondern ver-
gebliche Kämpfe und unerfüllte Sehnsüchte ernst zu nehmen, dem
nicht gerächten Unrecht Sprache zu verleihen und den Erniedrigten
ihre Würde zurückzugeben. Das Nichtgeschehene, Nicht-Zustan-
degekommene zu bedenken heißt Geschichte gegen den Strich zu
bürsten, sie gegen ihre Schwerkraft, die weithin die Schwerkraft der
Macht ist, zu lesen. In vielfältiger Weise kommt darin ein ›Vergan-
genes, das nicht gegenwärtig war‹, zu Wort – das kein schlicht Ir­
reales ist, sondern eines, das in dem Gewesenen war und wirkt und

57 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Gesammelte Schriften,


a. a. O., Band I.2, S. 691–704.
180 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

darin ebenso auf Künftiges ausgreift, in das aktuale Geschehen von


Geschichte eingeht.
Mit Nachdruck hält Benjamin daran fest, dass historisches Ge-
denken nicht den festgeschriebenen Fakten, sondern den offenen
Potentialen der Geschichte gilt. Den Zwangszusammenhang des
Geschehens aufzusprengen, die Immanenz des Realen auf ein An-
deres hin zu öffnen, das Wirkliche in den Raum des Möglichen zu
rücken ist Bedingung wahrer Erkenntnis. Dem Einwand, dass ein
solches Ansinnen, das in sozialkritischer Hinsicht mit Bezug auf die
Gegenwart plausibel ist, im Blick auf das irreversibel Vergangene
zum Widerspruch gerät, antwortet Benjamin mit Verweis auf die
genuine Kraft historischen Erkennens, die darin gründet, dass »Ge-
schichte nicht allein eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine
Form des Eingedenkens ist«. Das Eingedenken aber kann, »was die
Wissenschaft ›festgestellt‹ hat«, modifizieren, »das Abgeschlossene
(das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie;
aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet,
die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig
wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versu-
chen dürfen.«58 Diese transzendierende Kraft verbindet Benjamin
mit besonderen Dispositionen historischer Erkenntnis und Kon-
struktion: Nicht die positivistische Faktentreue und lineare Nach-
zeichnung, sondern das spontane »Aufblitzen« des »unwiderbringli-
chen Bildes« des Vergangenen vermag dieses in seiner Abgründigkeit
zu erhellen und in ihm »den Funken der Hoffnung anzufachen«.59
Gefordert ist eine grundlegend andere Art der Erforschens und
Schreibens von Geschichte, welche dem Vergangenen in der Kon-
figuration der Brüche und Fragmente nachgeht und die Oberfläche
und Geschlossenheit des Faktischen auf eine befreiende Aneignung
der Geschichte hin zu durchbrechen vermag. Sie bezieht ihre in-
nerste Kraft daraus, dass es ihr nicht allein um ein Anliegen der
lebenden und künftigen Generationen, sondern der unterdrückten
Vergangenheit und der »gewesenen Geschlechter« geht, mit denen
uns eine »geheime Verabredung« verbindet.60 Emanzipatorische Ge-
schichtsaneignung ist nicht nur eine zugunsten der Lebenden, son-

58 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Erster Band, Gesammelte Schrif-


ten Bd. V.1, Frankfurt am Main: 1982, S. 589.
59 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 695.
60 Ebd., S. 694.
9.  Leidenserinnerung 181

dern des Vergangenen und der Toten; ihr eignet eine rückwirkende
Kraft, die nicht eine der bloßen Neubeschreibung, sondern der Ret-
tung ist: Uns Heutigen, meint Benjamin, die wir »auf der Erde er-
wartet worden« sind, ist »wie jedem Geschlecht, das vor uns war,
eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Ver-
gangenheit Anspruch hat.«61 In emphatischen Formulierungen, die
sich an der Grenzlinie zwischen revolutionärem Marxismus und
eschatologischem Messianismus bewegen und die rettende Erinne-
rung durchaus in die Nähe der Erlösung rücken,62 bekräftigt Benja-
min die Überzeugung von einer Nicht-Abgeschlossenheit des Ver-
gangenen, in welcher die Triebkraft des Erinnerns gründet und aus
welcher der Appell an die Nachgeborenen ergeht. Auf der Nicht-
Abgeschlossenheit des unterdrückten, entzogenen Vergangenen zu
insistieren heißt, über die »Erweckung eines noch nicht bewussten
Wissens vom Gewesnen« die »ungeheuren Kräfte der Geschichte«
freizumachen, die in »der klassischen Historie gebunden liegen.«63

(c2) Die Darstellung des Nicht-Darstellbaren

Ein zweites Paradigma ist von Claude Lanzmann in seinem filmi-


schen und literarischen Werk künstlerisch ausgeführt und theo­re­
tisch reflektiert worden. Es gilt dem Kampf gegen die Nicht-Dar-
stellbarkeit, Nicht-Sagbarkeit jenes absolut Negativen, das in der
nackten Gewalt, dem absoluten Schrecken des Holocaust aufge-
brochen war. Es ist, wie oben vermerkt, eine unüberschreitbare
Grenze der Darstellung, die sich angesichts der Einzigartigkeit und
Un­ermess­lichkeit des Geschehens geradezu in ein Tabu verwandelt,
zu einem Verbot der Repräsentation vertieft. Sich in der ungeschütz-
ten Konfrontation mit dem Tod gegen dieses Verbot zu wehren und
das Nicht-Zeigbare gleichwohl sehen zu lassen, die Sprache dort zu
restituieren, wo sie radikal zerstört war, ist die abgründige Heraus-
forderung an die Erinnerung. Gefordert ist eine Vergegenwärtigung,
die das Nichterinnerbare in das Gedenken einholt. Sie bedarf nach

61 Ebd., S. 694.
62 Ebd., S. 693: »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch
den sie auf die Erlösung verwiesen wird«; vgl. Das Passagen-Werk. Erster
Band, a. a. O., S. 600.
63 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Erster Band, a. a. O., S. 572, 578.
182 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Lanzmann einer neuen Form, die mit den traditionellen Mustern


der Narration und Verbildlichung bricht, welche den Abgrund des
Bösen in den Raum des Vergleichbaren integrieren und in der Ver-
gegenständlichung gewissermaßen entmächtigen. Die Frage ist, in
welcher Weise die »Unlesbarkeit«64 des Vergangenen durchdrungen
und das Abwesende sinnhaft erschlossen werden kann.
Das Mittel, dessen solche Reminiszenz sich bedient, wird von
Lanzmann zunächst negativ, durch die Opposition zu gängigen
Formen sprachlich-figurativer Darstellung definiert. Kein Roman,
kein Film kann das originale Ereignis vor unserem Geiste auferwe-
cken, es unseren Augen und Ohren gegenwärtig werden lassen. Vor
dem absoluten Grauen werden Geschwätzigkeit und Bilderflut zum
Hohn und zur Verstellung. Ja, umgekehrt scheint es geradezu ein
Nicht-­Sehen und Nicht-Zeigen, ein Nicht-Hören und Nicht-Spre-
chen, welches der Evokation des Entzogenen dient – »Blindheit«
wird zum Organ der »Hellsichtigkeit«, »Schweigen« zur »ursprüng-
lichsten Weise des Worts«.65 Dabei geht es nicht um ein schlichtes
Nichtsagen und Nichtzeigen, sondern um ein indirektes Bekunden,
in welchem das Verdeckte in seinem eigensten Licht aufscheint und
ein Analogon jener Gegenwärtigkeit des Abwesenden eintritt, wie
sie sich der mémoire involontaire manifestierte. Solche indirekte
Unmittelbarkeit realisiert Lanzmanns Filmarbeit im beharrlichen
Sprechenlassen der Zeugen und Zurückgehen zu den Orten des Ge-
schehens: Dem Verstummen in all seine Rückzugsorte nachzuspü-
ren, nicht abzulassen vom Weiterfragen und »alles zur Sprache zu
bringen, alles erzählen zu lassen, ohne die Kamera im Augenblick
des Schmerzes abzuwenden«, so lautet die Devise des Hervor­rufens
des Verborgenen.66 Nicht der Autor wird darin sprechend, sondern
der Zeuge und über ihn zuletzt das Geschehen, das Vergangene
selbst. Das Nicht-Sprechen des Autors bedeutet gleichermaßen den
Verzicht auf das Kommentieren, Verstehen und Erklären: »Was die
Darstellung betrifft, so habe ich nur dies gemacht: darstellen«67, das
heißt sprechen lassen: die Personen, die Opfer, die Zeugen, die Täter,
die Orte, die Landschaften. »Auf die Übermittlung allein kommt es
an«, der »kein Verständnis, kein wahres Wissen vorausgeht« und die

64 Claude Lanzmann, Le divin plongeur, a. a. O., S. 26.


65 Ebd., S. 489, 503.
66 Ebd., S. 549.
67 Ebd., S. 549.
9.  Leidenserinnerung 183

durch keine soziologische, psychologische oder ökonomische Er-


klärung begründet wird.68 Der Umweg der Erinnerung, wie ihn der
achtstündige Film Shoah beschreitet, ist durch die außergewöhnli-
che Intensität des langwierigen, unermüdlichen Nachfragens und
Erforschens, Zurückgehens und Ausleuchtens gekennzeichnet, de-
ren unbeirrbare Zuwendung die Sache selbst zum Sprechen bringt.
Zugleich ist es die Prägnanz der Darstellung, die Authentizität der
Zeitzeugen, die Eindringlichkeit der Worte, der Atmosphären und
Orte, die dazu verhelfen, das verschlossene Nicht-Repräsentierbare
in seiner Gewalt und seiner Helle zu öffnen und anwesend werden
zu lassen. Auf diese Weise will das Werk der eminenten Forderung
antworten, die von der Sache selbst ausgeht und das Gedächtnis
des Leidens zur »Pflicht, zum Auftrag und zur heiligen Hinterlas-
senschaft der Menschheit macht«.69 Die Auferstehung des Vergan-
genen, die in Augenblicken plötzlicher Überwältigung die Zeugen
heimsuchen kann, strahlt in anderer Weise auf das Werk als ganzes
aus, das zum Medium des Nichtvergehens, des Präsentwerdens des
entzogenen Vergangenen in zeitloser Gegenwart wird.

(c3) Das Zeugnis des Nicht-Bezeugbaren

In einer nochmals verschärften, dritten Version wird die indirekte


Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen bei Giorgio Agamben zum
Thema.70 Gegenstand des Gedenkens ist jene letzte Form des Lei-
dens und der Entmenschlichung, die in Gestalt der von Primo Levi
beschriebenen ›Muselmänner‹ in Auschwitz auftritt und in anderer
Weise durch Mitglieder der ›Sonderkommandos‹ verkörpert wird:
jener Todgeweihten, die sich in der Zone des Todes aufhalten und
dazu verurteilt sind, nicht zu überleben, damit auch nicht vom eige-
nen Leiden und vom erlebten Schrecken Zeugnis ablegen zu können.
Hier wird die Aporie des Erinnerns total, angesichts der radikalen
Negativität eines Leidens, das am Ende mit der gänzlichen Auflö-
sung der menschlichen Lebensform, der Zerstörung des Empfindens
und Sprechens und der Auslöschung des Gedächtnisses einhergeht.
Es sind Menschen, die durch eine Erfahrung hindurchgehen, die

68 Ebd., S. 490, 511.


69 Ebd., S. 509.
70 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, a. a. O.
184 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

sie nicht festhalten, nicht mitteilen können, von der es im strengen


Sinn kein Dokument, keine Zeugenschaft geben kann. Nicht die
Überlebenden, welche durch Geschicklichkeit oder glückliche Um-
stände dem Tod entronnen sind, sind die wirklichen Zeugen, betont
Levi, da sie »den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben.
Wer ihn berührt, wer die Gorgo erblickt hat, konnte nicht mehr zu-
rückkehren, um zu berichten«, ja, er hatte in Wahrheit schon vor
dem Ableben die Fähigkeit der Beobachtung und des Ausdrucks
verloren.71 Es ist wie eine Verschärfung der oben genannten struk-
turellen Unmöglichkeit, vom eigenen Sterben zu berichten,72 einer
Unmöglichkeit, die hier nicht einfach in der Gesetzlichkeit des Ster-
bens, sondern in einer gewaltsamen, von außen kommenden Zerstö-
rung alles Menschlichen wurzelt. Im Fluchtpunkt der Erinnerung
steht hier ein Unbezeugbares, von dem nur die Untergegangenen
selbst, jene, »die kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hät-
ten ablegen können«, die »vollständigen Zeugen« sind.73 Zwar ist
an den Einspruch von Jorge Semprun zu erinnern, dass wir in der
solidarischen Begleitung sehr wohl das Erleben eines Sterbenden
mit-vollziehen können, von dem sich auch im nachhinein Zeugnis
ablegen lässt; doch bleibt Tatsache, dass die frontale Konfrontation
mit dem eigenen Tod, das Dem-Tod-ins-Auge-Schauen (›die Gorgo
erblicken‹) zuletzt nicht mit anderen teilbar, anderen mitteilbar ist.
Wenn dieser Zug konstitutiv zum normalen Sterben gehört, so er-
hält er eine ganz andere Brisanz, eine potenzierte Negativität im
Falle des gewaltsam verordneten, in extremer Form vollstreckten
Todes, dessen radikale Einsamkeit dem Sterben eine neue Qualität
verleiht, den Abgrund des Leidens vertieft. Hier wird das Zeugnis-
geben vom Unbezeugbaren zur unbeirrten Forderung, seine Versa-
gung zum Skandalon.
Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Erinnerung stoßen in
ungeminderter Härte aufeinander. Als verbleibender Weg des Er-
innerns bleibt das Zeugnis des entsubjektivierten Subjekts, des ent-
menschlichten Menschen. Dass auch darin eine Evokation des Men-
schen und seiner versagten Würde stattfindet, ist in jenen paradoxen

71 Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München: Deut-


scher Taschenbuch Verlag 1993, S. 85; Giorgio Agamben, Was von Auschwitz
bleibt, a. a. O., S. 29.
72 Siehe oben, Kap. 7.2.
73 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, a. a. O., S. 30.
9.  Leidenserinnerung 185

Formen fassbar, wie sie Agamben in den von Michel Foucault do-
kumentierten Einweisungsregistern von Gefängnissen sieht, wo die
Macht, indem sie den Menschen »durch Infamie brankmarkt«, ihn
gleichzeitig »der Nacht und dem Schweigen entreißt«, zwar nicht
sein »Antlitz« aufleuchten lässt, doch seinen »leeren Platz« bekun-
det.74 Eine andere Figur wäre der von Emmanuel Lévinas beschrie-
bene Hund Bobby, der den Zug der sich zur Arbeit schleppenden
jüdischen Kriegsgefangenen bei ihrer Rückkehr erwartet und sie als
einziger durch sein frohes Gebell begrüßt: »Für ihn – das war un-
bestreitbar – waren wir Menschen.«75 Es geht darum, die Autorität
und Verantwortung des Zeugen in Anspruch zu nehmen und im
Zeugnis jene Grenze des Sagens und Nicht-Sagenkönnens zu über-
schreiten. Es geht darum, die Zerstörung des Zeugnisses und des
Zeugens – den Hohn der SS: »Keiner von euch wird übrigbleiben,
um Zeugnis abzulegen, aber selbst wenn einer davonkommen sollte,
würde ihm die Welt nicht glauben«76 – zu widerlegen und »jene Iso-
lierung des Überlebens vom Leben«, die Kluft der Lebenden von
den Toten zu widerrufen.77 Agamben fasst die äußerste Grenze des
Zeugnisses ins Auge, das nicht von etwas – »von der Gaskammer
oder von Auschwitz« –, sondern für jemanden – »für den Musel-
mann« – Zeugnis ablegt und darin »von einer Unmöglichkeit zu
sprechen her spricht«: ein Zeugnis, das in einem radikalen Sinn nicht
geleugnet werden kann.78 –

Die drei Modelle rettender Erinnerung stehen nicht isoliert neben-


einander. Sie repräsentieren Aspekte und idealtypische Ansätze, die
sich in konkreten Darstellungen überlagern und verschränken kön-
nen: das Beharren auf der Nicht-Abgeschlossenheit des Leidens und
dem Anspruch des unterdrückten Vergangenen, das insistierende Er-
kunden des Nicht-Repräsentierbaren anhand der Orte des Gesche-
hens und in den Erzählungen der Beteiligten und Zeugen, das Zeug-
nis-Ablegen vom Unbezeugbaren und für die aus dem Gedächtnis
Ausgeschlossenen, zum stummen Leiden und Sterben Verdammten.

74 Ebd., S. 124.
75 Emmanuel Lévinas, »Nom d’un chien ou Le droit naturel«, in: Difficile
liberté. Essais sur le judaisme, Paris: Albin Michel 1963/1976, Le livre de
poche, biblio essais, S. 213–216, hier S. 216.
76 Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, a. a. O., S. 7.
77 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, a. a. O., S. 137.
78 Ebd., S. 143.
186 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

In all dem geht es um die subversive Kraft eines Gedächtnisses, das


im Gedenken des Untergangs, aus »dem, was h ­ inab musste«, Hoff-
nung zu schöpfen und die »Spuren des Anderen« aufleuchten zu
lassen vermag.79 Leidenserinnerung wird als eine Er­inne­rung prä-
sent, die sich am entzogenen Vergangenen, dem erlittenen Negativen,
dem ungelebten Leben abarbeitet und es dem Leben zurückgewinnt.
Sie ist nun in ein Verhältnis zu setzen zu jener anderen, unter umge-
kehrten Vorzeichen stehenden Form des Gedächtnisses: der Erinne-
rung des Glücks. Es bleibt zu sehen, wieweit beide für alternative
Prägungen oder für eine gemeinsame Grundfigur, ein gemeinsames,
ursprüngliches Interesse des Erinnerns stehen.

79 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 368, 394.


10. Glückserinnerung

10.1  Leidenserinnerung und Glückserinnerung

Wenn wir den Blick vom Leidensgedenken zur Glückserinnerung


wenden, so interessiert im Rahmen der verfolgten Themenstellung
nicht einfach der Wechsel des Gegenstandes beziehungsweise seiner
wertend-affektiven Besetzung. In den Blick kamen beide Gedächt-
nisformen als unterschiedliche Modalitäten, sich auf ein unerledig-
tes, unabgeschlossenes Vergangenes zu beziehen, im Extrem auf ein
Vergangenes, das nie real geworden, nie gegenwärtig gewesen ist. Zur
Diskussion stand eine Erinnerung, der das Vergangene in gewisser
Weise entzogen bleibt, wobei die divergierende Ausrichtung des Er-
innerns mit einer unterschiedlichen Modalität der Nichtpräsenz des
Gewesenen korreliert ist: als Verdrängung eines abgewehrten Nega-
tiven, als Nichteinholbarkeit eines Vorgängig-Umfassenden. Kom-
plementär zur vielschichtigen Auseinandersetzung mit geschichtli-
cher Negativität kommt die Erinnerung an glückliche Ereignisse und
Lebensphasen in den Blick.
Im Spiel sind Residuen und Spuren des Vergangenen, die im Ge-
gensatz zu den ängstigenden und belastenden Reminiszenzen nicht
abgewehrt werden, sondern zu denen wir uns hingezogen fühlen,
denen die Erinnerung gerne folgt. Allerdings haben wir nicht eine
einfache Dichotomie des Vergangenheitsbezugs vor uns. Es hat sich
gezeigt, dass sowohl dem Angenehmen und Erfreulichen wie dem
Schmerzlichen und Bedrohlichen eine privilegierte, besondere Ge-
dächtnisfunktion zukommt. Beglückende wie erschütternde Erleb-
nisse bleiben anders als gewöhnliche Alltagsereignisse im Gedächt-
nis haften. Zudem ist auch die Glückserinnerung nicht nur die um-
standslose Reproduktion eines Gewesenen und Erlebten, sondern
ein Prozess, in welchem sich Präsenz und Nichtpräsenz, Entzug und
188 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Erscheinen in komplexer Weise ablösen und durchdringen. Auch die


Glückserinnerung ist, trotz ihres emotionalen Vorzugs, keine spon-
tane, ungehinderte Ver-Gegenwärtigung eines Vergangenen. Auch
sie kann mit der Aporie des Erinnerns, der Unverfügbarkeit des
Einst konfrontiert werden, auch sie vollzieht sich als umständliche
Arbeit des Gedächtnisses, ist auf Wege und Umwege der Suche nach
der verlorenen Zeit verwiesen. Es bleibt genauer zu bestimmen, wie
diese Wege verlaufen und in welchem Sinne auch hier die Sehnsucht
nach dem Vergangenen mit dessen Entzogenheit zusammenspielt,
um dann zu verdeutlichen, in welcher Weise Glücks- und Leidens­
erinnerungen sich sowohl voneinander entfernen wie zu einem ge-
meinsamen Ziel konvergieren, und schließlich zu fragen, was diese
Konstellation über das Rätsel der Erinnerung und deren Ort im
menschlichen Leben aussagt.
Um diesen Fragen nachzugehen, ist ein auffallendes Merkmal der
Asymmetrie beider Erinnerungsformen festzuhalten und sodann
der Typus der Glückserinnerung in einer bestimmten Weise einzu-
schränken. Leidens- und Glückserinnerung unterscheiden sich nicht
nur durch die emotionale Qualität, sondern durch eine bestimmte
Verschiebung im Subjektbezug. Die vorausgehenden Beschreibun-
gen haben deutlich gemacht, dass die Schwierigkeit, eine belastende
Vergangenheit aufzuarbeiten, sowohl das individuelle wie das soziale
Gedächtnis affizieren kann; die Parallele zwischen persönlicher und
gesellschaftlich-politischer Aneignung der Geschichte kann gera-
dezu als Interpretament für beide Seiten fungieren. Demgegenüber
hat Glückserinnerung einen unverkennbaren Schwerpunkt auf sei-
ten des Einzelnen. Zwar gibt es auch die kollektive Beschwörung
des glücklichen Anfangs und der heilen Urwelt. Die Vision eines
ursprünglichen Paradieses mit anschließender Verfalls- oder Kata­
strophen­geschichte bildet geradezu ein klassisches Muster religiöser
und mythischer Geschichtskonstruktionen; auch eine entmytholo-
gisierte Historie kann vom segensreichen Gründungsgeschehen oder
von der guten alten Zeit berichten, sie als (tragendes oder bedrohtes)
Fundament und Kontrastfolie der Gegenwart heraufrufen. Dennoch
scheint der Urtyp einer emphatischen Glückssehnsucht unstrittig
dem Rückblick auf die je eigene, persönliche Vergangenheit zu gel-
ten. Glückserinnerung hat ihren Nukleus und ihr ursprüngliches
Terrain in der individuellen Rückschau auf sein Leben.
Darin aber zielt sie nicht einfach auf irgendwelche glückhaften
Konstellationen und Ereignisse, auf herausgehobene Erlebnisse und
10.  Glückserinnerung 189

erfolgreiche Taten im Lebensverlauf. Im Zentrum der Glückserin-


nerung steht nicht so sehr die gelingende Durchführung verfolgter
Pläne und Verwirklichung gehegter Wünsche, ihr Horizont ist nicht
so sehr die Zeit der Reife und der Vollendung. Ihren idealtypischen
Fokus bilden der Anfang und die Frühzeit des Lebens: Erinnerun-
gen an glückliche Zeiten sind typischerweise mit Bildern der Kind-
heit, der Jugend verbunden; Kindheit und Jugend erscheinen in der
Helle des entschwundenen Glücks. Zwar ist diese Verbindung kei-
neswegs notwendig. Wir kennen ebenso das Bild des frühen Leids,
das Motiv der ursprünglichen Verletzung, die auf das Ganze des
Lebens ausstrahlt. Auch dies ist eine originäre Chiffre der Erinne-
rung; auch das Leidensgedächtnis hat eine typische Ausformulie-
rung im Gedenken des kindlichen Unglücks. Dessen ungeachtet
aber scheint von seiten der Glückserinnerung eine primäre Affini-
tät hin zur Kindheit zu bestehen. Die Figur des Kindheitsglücks ist
ein lebensweltlich wie literarisch verwurzelter, verbreiteter Topos
der Lebensnarration. Für das Folgende soll er den Leitfaden einer
näheren Analyse der Glückserinnerung, ihrer Grundlagen und trei-
benden Motive abgeben. Glückserinnerung kommt im Ausgang von
der Kindheitserinnerung, schwerpunktmäßig als Kindheitserinne-
rung zur Sprache. Die Engführung soll dazu verhelfen, das Profil
der Glückserinnerung zu schärfen und darin die Frage nach dem
Sinn der Lebensbeschreibung unter einem bestimmten Aspekt zu
vertiefen.

10.2  Modell Kindheitserinnerung

(a) Lebensanfang und Ursprung der Erinnerung

Kindheitserinnerung ist nicht nur ein Fall, sondern eine Urform von
Erinnerung. Sie unterscheidet sich nicht einfach durch ihren Ge-
genstand von anderen Erinnerungen wie Schulerinnerungen, Reise­
erzählungen oder Kriegsberichten. Sie bildet ein Modell und eine
Urzelle des Erinnerns, sofern die Kindheit selbst ein Ursprung des
Lebens und des Erinnerns ist. An die Kindheit zurückdenken, von
seiner Kindheit erzählen heißt mehr als vergangene Ereignisse re-
gistrieren und vergegenwärtigen. Es heißt zu einem Anfang zurück-
kehren. Kindheitserinnerung ist Ursprungsbesinnung. Sie ruft ein
Ältestes herauf, das dem Leben voraus- und zugrundliegt und das
190 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

als selige Urzeit ebenso wie als ursprüngliche Trennung oder initi-
ales Leid dem Leben seine Prägung gibt und das Gedächtnis dessen,
was wir sind, bestimmt. Die Kindheitserinnerung deckt wirkungs-
reiche Erlebnisse und tiefe Erfahrungsschichten auf, die im späteren
Leben vielleicht verborgen und verkannt waren, doch lebendig und
wirksam geblieben sind, die als Resonanzraum unseres Weltbezugs
fungieren und möglicherweise spätere Ängste und Verletzbarkei-
ten bedingen oder umgekehrt Offenheit und Unerschrockenheit in
unserem Charakter und Verhalten ermöglichen.1 Nicht ein zeitlich
Erstes, sondern ein Ursprüngliches und Grundlegendes kommt in
den Blick. Es interessiert dessen Bedeutung für die Selbsterfassung
des Lebens.
Indessen ist die Kindheit noch in einem anderen Sinn Ursprungs-
dimension der Erinnerung. Sie ist nicht nur aus heutiger Sicht das
Älteste, Fluchtpunkt der Rückschau und Initialpunkt der Rekons-
truktion. Sie ist in sich selbst ein Ort der Gedächtnisbildung, nicht
nur ein Gegenstand, sondern ein Grund und Ursprung der Erinne-
rung. Auf Erlebnisse der Kindheit nehmen wir nicht einfach Bezug
als auf ein weit entrücktes, frühes Geschehen, wie wir im Fernglas,
an unserem Ort verbleibend, einen Berggipfel auf große Distanz ins
Auge fassen und betrachten können. Die Kindheit ist eine Lebens-
phase, in welcher wir Eindrücke aufnehmen und gleichsam horten,
Erlebnisse festhalten und sich sedimentieren lassen, Vergangenheiten
in der Welt und in uns selbst ausbilden. Der Anfang des Lebens ist
auch Anfang des Zeiterlebens, des Bewahrens und Vorausschauens,
des Erinnerns und Erwartens. Wenn wir uns später auf die Kind-
heit besinnen, so ist sie uns nicht ein von außen betrachtetes Damals,
sondern ein aus der damaligen Situation erlebtes Hier und Jetzt. Wir

1 Jürgen Habermas unterstreicht die Bedeutung der Kindheitserfahrung für


das geistige Profil von Theodor W. Adorno (der »die Alternative von Kind-
heit und Erwachsenwerden nie akzeptiert« habe): »Urgeschichte der Subjek-
tivität und verwilderte Selbstbehauptung« (1969), in: Politisch-philosophische
Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 167–179,
hier S. 170. – Adorno seinerseits verweist auf »Freuds insistente Betonung
der Notwendigkeit, dass das Bewusstsein von der eigenen Kindheit wieder-
gefunden werden müsste« – gegen den psychoanalytischen Revisionismus
und das Credo des Pragmatismus, demgemäß »la recherche du temps perdu
est du temps perdu« (Theodor W. Adorno, Die revidierte Psychoanalyse, in:
Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, Band 8, S. 20–41,
hier S. 23, 34).
10.  Glückserinnerung 191

verbleiben nicht im Heute, wenn wir sie ver-gegenwärtigen. Zu ihr


zurückgehen heißt in sie hineingehen, sie wieder-erleben. Dies gilt in
gewisser Weise für jedes lebendige Erinnern, in welchem ein genui-
nes ›Sich-Erinnern‹ – nicht nur die gegenständliche Appräsentation
vergangener Eindrücke – stattfindet und wir eines früheren Erlebens
innewerden. Doch ist dieses Zurückgehen, Sich-Zurückversetzen
im Falle der Kindheitserinnerung von besonderer Art. Wieder zum
Kind werden, bedeutet sich auf jene Frühzeit einlassen, in der noch
vieles offen war, vieles erwartet wurde. Es bedeutet, jenes Anfangen
erneut durchleben, aus dem ein Leben Gestalt angenommen hat, je-
nes Zum-ersten-Mal wiederfinden, das in dem, was wir geworden
sind und heute sind, zuweilen anklingt, verborgen durchscheint. Es
bedeutet in herausgehobenen Fällen, zu jener frühen Zeit der Auf-
merksamkeit, des Sich-Merkens und Memorierens zurückkehren,
die wir in der Retrospektive mit dem anfänglichen Erleben verbin-
den und die wie eine Grundschicht aller späteren Rückkehr und
Erinnerungsbemühung bildet.2
In solcher Kindheitserfahrung hat Erinnerung einen stiftenden
Anfang und eine bleibende Ressource. Eindringlich hat Peter Kur-
zeck die Erinnerungsschlaufen gezeichnet, in denen wir im Zurück-
schauen wieder zum Kind werden und erneut in jenes Stehenbleiben,
Zuschauen, Aufmerken hineinkommen, das uns als Kind in der Ge-
genwart der Dinge hat aufgehen lassen und dessen wir womöglich
erst jetzt gewahr werden.3 Entsprechend trägt das nachträgliche, in-
tentionale Gedächtnis Züge dieses Verweilens und Sich-Zuwendens
an sich – wenn wir an die alten Orte zurückkehren, sie immer wieder
aufsuchen, »als ob wir nicht nur die Zeit, sondern dazu auch uns
selbst suchen müssen«.4 Kurzeck schildert die Rückkehr ins Dorf
der Kindheit, das Gehen durch die alten Straßen, das Auftauchen
alter Bilder, das Hören der Stimmen von ehemals:

»An seinem Hoftor ein Bauer, den du schon lang kennst. Von Kind auf.
Schon eh und je. Ein Nachbar. Da muss man dann, sagte ich, unbedingt
eine Weile stehenbleiben.« Und man denkt an die zurück, die man ge-
kannt hat, »und sobald man nur an sie denkt, gleich fangen sie zu spre-

2 Vgl. die Beschreibungen bei Vladimir Nabokov (Erinnerung, sprich,


a. a. O. S. 28 f., 47 f.) und Peter Kurzeck (Vorabend, a. a. O. passim).
3 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 625.
4 Ebd., S. 585.
192 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

chen an«. Man hört die alten Stimmen und Klänge, »von heute, von
gestern und vorgestern. Und auch die aus den Jahren davor«, »Schule,
Lehrstelle, Arbeit. Nicht nur Staufenberg, auch die zuständige Kreis-
stadt, ganz Gießen muss mir unentwegt in meinem Kopf hineinreden«,
»meine ganze Kindheit lang. Und das Dorf all diese Jahre. Und davor die
Stimmen in den Flüchtlingslagern und Viehwaggons, die außer mir kei-
ner mehr weiß. Und noch weiter zurück der helle Morgenklang in den
Stadtgärten von Tachau in Böhmen«, »von dem mir oft ist, dass ich ihn
jetzt noch manchmal beim Aufwachen höre oder gern hören würde oder
er hätte eben erst aufgehört«.5

Es sind wie Rituale der Wiederbegegnung, in denen sich ein Analo-


gon dessen ereignet, was sich in der mémoire involontaire spontan
einstellt, sozusagen eine bewusste, methodische Gedächtniskunst
auf den Spuren des Kindheitserlebens und frühen Erinnerns. Das
initiale Aufnehmen, Bewahren und Wiederkehren schreibt sich ein
in das weiterfließende, sich entfernende und auf sich zurückkom-
mende Leben.

(b) Ursprünglicher Verlust und Sehnsucht

Der Anfang des Lebens und Erinnerns ist auch Anfang des Sichver-
lierens. Der Wunsch des Kindes, die Dinge zu sehen, zu hören und
sich zu merken, ist nicht nur Ausdruck vitaler Neugier, er ist auch
das Pendant des Bewusstseins des Vergehens. Mit dem bewussten
Erleben entsteht zugleich das Gefühl des Vorübergehens und Ent-
schwindens, das Bewusstsein der Flüchtigkeit und das Bedürfnis des
Festhaltens. Es ist ein Gewahrwerden des Vergessens und Verlierens,
das die Fülle des Gegenwärtigseins in der Welt und Einsseins mit
sich aushöhlt und das sich mit der geheimen Sehnsucht nach Still-
stand assoziiert, mit dem Wunsch nach Wiederholung, nach dem
Noch-einmal, der Bewahrung.6 Auch das Entgleiten der Welt, die

5 Ebd., S. 744, 872, 891–893.


6 Vgl. Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 2013, S. 7: »Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter,
aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit
gerichtet. […] immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und
fast jeden Morgen hoffe ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal
wiederholen.«
10.  Glückserinnerung 193

Ahnung vom drohenden Untergang der vertrauten Umgebung kann


zum Grund für die Anhänglichkeit an das Gewesene, zum Kataly-
sator der Sorge um das Aufzeichnen und Festhalten werden.7 Doch
der eigentliche Verlust, dem die Angst gilt, ist nicht das Schwinden
bestimmter Erinnerungen und Erlebnisse, sondern das Verlieren
dieser anfänglichen Präsenz selbst. Es ist das in der Kindheit selbst
erwachende Bewusstsein des unwiederbringlichen Vorübergehens,
des »verlorenen Königreichs« – »dass man dann kein Kind mehr ist
und auch nie mehr eins sein wird«. Dabei gehört zur Abgründigkeit
dieses Verlierens, dass es, wie ein Urvergessen, nicht darüber Aus-
kunft geben kann, »was das sein könnte, was man vielleicht einmal
vergessen hat«, »womöglich vor Jahren schon«; nur dass es jetzt
uns und der Welt fehlt, macht die unumstößliche Verlustgewissheit
aus: »Und was fehlt, fehlt für immer. Als Kind verloren gegangen.«8
In der Tiefe der Trauer um das Vergangene liegt, jenseits des Feh-
lens von diesem und jenem, der Verlust der Ursprünglichkeit, des
anfänglichen Beisichseins und Seins in der Welt. Nach langen Jah-
ren des Exils, schreibt Vladimir Nabokov, ist seine Erinnerung an
die untergegangene Welt nicht durch den für viele Emigranten vor-
rangigen Schmerz um Land und Besitz, sondern durch einen tiefe-
ren Verlust bestimmt: »Die Sehnsucht, die ich all diese Jahre lang
gehabt habe, ist das hypertrophische Bewusstsein einer verlorenen
Kindheit.«9 Es ist eine Kindheit, deren Erinnerung vom »Gefühl
von Sicherheit, Wohlbehagen und Sommerwärme« durchdrungen ist
und die ihm nicht, wie anderen, in frühesten Jahren geraubt worden –
oder gar von Beginn an versagt geblieben –, doch durch den späteren
Gang der Ereignisse und die Brüche des Lebens abhanden gekom-
men ist.10 Die fehlende Kontinuität lässt die Kindheit zurücktreten
und verblassen, vom aktuell geführten Leben abfallen. Der Wechsel
der Orte, der Wandel der Zugehörigkeiten und Zukunftspläne lässt
die Vergangenheit Stück für Stück diffus werden, sich verdunkeln,
im Nichts versinken. Auch unabhängig von äußeren Umstürzen und
Neuerungen wirkt der auflösende Effekt der Zeit als solcher auf
das sukzessive Sichverlieren und Entschwinden aus dem Gedächt-
nis hin. Zurückliegende Zeiten verhüllen sich wie hinter Schleiern,

7 Vgl. Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich, a. a. O., S. 47 f.


8 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 941; vgl. S. 62.
9 Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich, a. a. O., S. 92.
10 Ebd., S. 96.
194 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

entgleiten unmerklich der Gegenwart und dem Raum der Retenti-


onen. Dabei schließen sich die lebhafte Vergegenwärtigung und das
Bewusstsein des Schwindens, die Trauer um das Vergessen nicht aus.
Auch in ihrer »leuchtenden Strahlkraft« kann Erinnerung »ein Ge-
fühl unwiederbringlichen Verlusts« in sich tragen.11 Diese zweifache
Gestimmtheit, welche die Erinnerung an wichtige Geschehnisse in
unserem Leben – eine Geburt, eine Begegnung, den Beginn einer
Liebe – durchdringt, kann gleichermaßen die Lebenserinnerung als
ganze prägen.
Kindheit, Ursprung des Erinnerns und der Wiederkehr, ist auch
Ort des ursprünglichen Verlusts. Die verlorene Kindheit ist Urmo-
dell der verlorenen Zeit, die Sehnsucht nach der Kindheit ein inners-
ter Kern der Suche nach der verlorenen Zeit. Nicht, weil die Kind-
heit das Erste und Älteste ist, sondern weil sie für den Grund und
das Ganze des Lebens steht. Aus der Kindheit heraus gewinnt der
Mensch den Begriff des Lebensganzen, um das es ihm in erinnernder
Selbsteinholung geht. Aus der Kindheit heraus gewinnt er das Ver-
langen und das Vertrauen, auf das Ganze auszugreifen, aus ihr heraus
kommt ihm die Sehnsucht, den verlorenen Ursprung wiederzuge-
winnen. Die Relevanz dieses Gedankens für die Erinnerungsproble-
matik gewinnt ihr spezifisches Profil im Horizont der Glücksfrage.
Worauf aber geht die Kindheitserinnerung, wenn sie im Zeichen der
Glückserinnerung steht? Worin liegt der Kern des Verlusts, wohin
weist die Sehnsucht, wenn sie dem Glück der verlorenen Kindheit
gilt? Unterschiedliche Aspekte sind hier zu nennen.

10.3  Der Ort der Kindheit in der Lebenserinnerung

(a) Glück und ursprüngliche Fülle

Zum Gegenstand der Sehnsucht wird Kindheit als erlebte Fülle des
Glücks. In vielfältigen Formen lassen literarische Beschreibungen
und biographische Reminiszenzen diese Fülle aufleben. Sie kommt
als sinnliche Präsenz in allen Dimensionen der Erfahrung zur Spra-
che, im Duft des frischen Heus, im hellen Licht des Sommermorgens,
im Klang der Schmiede, im Läuten der Glocken, in der Wärme der

11 Chimanda Ngozi Adichie, Americanah, Frankfurt am Main: Fischer 2014,


S. 595.
10.  Glückserinnerung 195

Sonne. In ein »wahres Paradies der Augen- und Tasteindrücke« sieht


sich Vladimir Nabokov durch die frühesten Erinnerungen zurück-
geleitet.12 In allen Registern folgt Peter Kurzeck den Eindrücken der
Sinne, die zwischen heute und damals oszillieren: »Heu am Weg-
rand«, »so süß riecht das Heu, dass man davon gleich sorglos wird.
Genau wie früher manchmal als Kind«; »die Lerchen hört man«,
»vorhin hat ein Kuckuck gerufen«, »Stimmen aus dem Garten und
Stimmen aus einem offenen Fester«, »einen Zug hört man fahren.
Und das war alles schon einmal. Weich und sanft ist die Luft und
voller Erinnerungen.«13 Wie Proust die unwillkürliche Erinnerung
auf die einnehmende Macht der Sinneserfahrung abstützt, gehört
deren Intensität zu jener privilegierten Präsenz, mit der das Kind in
seiner Welt aufgeht und an der das Verlangen nach Rückkehr parti-
zipieren will.14 Sie stiftet eine Gegenwärtigkeit, die im Erleben selbst
das Vergehen übersteigt und die Zeittranszendenz des Erinnerns
begründet. Die erfüllte Gegenwart ist jenseits des Zeitflusses, in der
– realen oder projizierten – Fülle des Anfangs ebenso wie in der Ko-
präsenz der Zeiten im Gedächtnis. Die rituelle Wiederholung, die
ein Gründungsgeschehen erneut durchleben lässt, das wiederkeh-
rende Hören und Schauen sind Aktualisierungen eines ursprüngli-
chen Tuns und Erlebens, in welchem das Leben wurzelt und jenes
frühe Beisichsein Wirklichkeit wird, das dem Leben als Wunsch der
Wiederkehr erhalten bleibt. Anschaulich beschreibt Botho Strauß
ein solches Glückserlebnis:

»Nach bestandener Aufnahmeprüfung in die Sexta ging mein Vater mit


mir ins einzige Fahrradgeschäft […] Es war eine laue Luft, frühe Wärme
im Mai, und wenn dir an einem solchen Tag der sehnlichste Wunsch er-
füllt wird, ein eigenes Fahrrad, dann bleibt etwas von seinem Duft, seiner
Wärme bei dir hängen. Dazu das Geleit, die stützende Hand des Vaters,
denn er führte den unsicher kurvenden Radler auf der Taunus-Lahnseite
flußab über die schlaglochreiche Straße von Ems-Welt nach Nievern. Ich

12 Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich, a. a. O., S. 27.


13 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 73, 161, vgl. 935, 985.
14 Max Horkheimer bezeichnet es in der Vorlesung vom 24. April 1945 an
der Columbia University geradezu als Aufgabe der Philosophie, die »durch
die spätere Sozialisation verdunkelte« Erinnerung an die sinnlich-mimetische
Wahrnehmung »der Kindheit wachzurufen« (zit. nach Martin Jay, Dialekti­
sche Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für
Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt am Main: Fischer 1976, S. 316).
196 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

muss hellauf glücklich gewesen sein. Doch was rührt tiefer: das helle
Glück der ersten Fahrradtour, endlich ein Fahrradbesitzer zu sein, oder
das Glück, es noch einmal zu spüren?«15

›Hellauf glücklich‹ im Augenblick und ›es noch einmal zu spüren‹


sind die Pole, zwischen denen die Kindheitserinnerung als Glücks­
erinnerung spielt, als Erinnerung an jenes »Idyllenreich« der frühen
Wünsche und Freuden, in die wieder einzutauchen, die aufs Neue
zu erleben der Mensch sich zurücksehnt.16
Indessen ist die anfängliche Fülle nicht schlicht ein Zustand der
Vollendung. Sie ist es nicht, sofern zu ihr der Aspekt der Überfülle
gehört. Sie ist eine Erfüllung, der nichts fehlt, die aber darin nicht
zu ihrem Ende und ihrem Abschluss kommt. Sie ist vielmehr ein
Reichtum, der unermesslich, ein Potential, das unerschöpflich ist.
Sie birgt mehr in sich als sie aktual realisiert, als sie zu artikulieren
und auszusprechen vermag. Zu ihrer Erlebensqualität gehört die
Erwartung und das Versprechen künftiger Erfüllung, die Erfahrung
einer Kraft, die anderes vermag, der unbestimmte Traum eines Kom-
menden. Kindheitserinnerung erweckt eine Welt, in deren Licht und
Klang auch das Warten und stumme Sehnen vernehmbar ist und die
erfüllte Gegenwart mit ausmacht.

(b) Heimat und Geborgenheit

Erinnert wird Kindheit als Heimat und Geborgenheit. Unter dieser


Beschreibung macht sie Ernst Bloch zum letzten Fluchtpunkt der
Hoffnung: Seine große Abhandlung Das Prinzip Hoffnung endet
mit dem Ausblick auf »etwas, das allen in die Kindheit scheint und
worin noch niemand war: Heimat«.17 Die eigentümliche Verschrän-

15 Botho Strauß, Herkunft, München: Carl Hanser Verlag 2014, S. 76.


16 Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, a. a. O., S. 1061; vgl. S. 1079: »Am
meisten griff in mich die Querpfeife durch einen melodischen Gang in der
Höhe ein. Wie oft sucht’ ich nicht diesen Gang vor dem Einschlafen, wo die
Phantasie das Griffbrett oder die Tastatur verklungner Töne am leichtesten
handhaben kann, wieder zu hören und wie bin ich dann so selig, wenn ich
ihn wieder höre, so innig-selig als ob die alte Kindheit wie ein Tithon un-
sterblich geworden bloß mit dem Tone und damit spräche zu mir!«
17 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1959,
3. Bd., S. 1628.
10.  Glückserinnerung 197

kung der ganz der Zukunft zugewandten, nach vorne drängenden


Einstellung des Hoffens mit dem Rückblick auf die älteste Vergan-
genheit hat ihre Stringenz darin, dass der Rückblick einem gilt, das
noch nicht real geworden, in dem noch keiner wirklich gewesen
ist, das aber nach Blochs prägnantem Wort »allen in die Kindheit
scheint«. Als Heimat steht die Kindheit für etwas, das Geborgenheit
schenkt, das dem Kind Sicherheit verleiht und sein Hinausgehen in
das Leben ermöglicht. Auch darin liegt ein Aspekt des Glücks der
Kindheit, das nicht im Erfülltsein von Wünschen aufgeht. Heimat
haben heißt Aufgehobensein in einem Anderen, Zugehörigsein, Zu-
hausesein in einer Welt, die mich umfängt und trägt. Die Sehnsucht
nach der Kindheit ist Suche nach dem ursprünglichen Getragensein
und Geschütztsein, aber auch nach dem ursprünglichen Bei-sich-
selbst-Sein im Anderen. Zahlreiche literarische Zeugnisse verbin-
den die erinnernde Rückkehr mit der Heimkehr, dem Nach-Hause-
Finden. Es ist Heimkehr zu einem Grund, aus dem das Leben Kraft
und Stabilität gewinnt.
Heimat heißt mit seiner Welt vertraut zu sein. Es meint Vertraut-
heit mit einer Umgebung, im Dorf oder in der Stadt, in einer Land-
schaft, mit Familie und Freunden, in einer bestimmten Lebensform
mit Arbeitstagen und Feiern. Was dem ›Heimweh‹ seine Färbung
und seinen Inhalt gibt, ist durch prägende Erlebnisse und Erinne-
rungen an Orte und Situationen bestimmt, vor deren Hintergrund
ein Glückserlebnis als Wiederkehr, Erleben von Vertrautem, seit je
Erstrebtem erfahren werden kann. Dass im kindlichen Erleben das
ganze Leben, noch implizit und verschlossen, enthalten sein kann,
macht seinen unerschöpflichen Reichtum aus, der sein Glücks­poten­
tial und den Fundus des späteren Erlebens bildet. »Alles, was ich
später erlebt habe«, schreibt Elias Canetti in der Rückschau auf den
Ort seiner Kindheit, »war in Rustschuk schon einmal geschehen«.18
Wie das kindliche Aufgehobensein in einem Raum des Gebens und
Empfangens das Urvertrauen stiftet, das den Erwachsenen zum Frei-
sein und Sicheinlassen auf die Welt befähigt, so bleibt das Nach-
klingen frühen Glücks die Basis für den utopischen Ausgriff. Mit
Nachdruck hat Adorno die Reminiszenz des Glücks als die Res-
source beschrieben, von welcher der Widerstand gegen die Zerstö-
rung des Lebens in der modernen Welt zehrt. Es ist die Erinnerung
an etwas, was das Kind erlebt hat, von dem ihm Spuren, eine Ah-

18 Elias Canetti, Die gerettete Zunge, Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 9.
198 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

nung bleiben, was aber fragil war und vom Scheitern und Entbeh-
ren abgelöst wurde: Eben daraus bildet sich das Gedächtnis des-
sen, worauf die Sehnsucht geht. Eine exemplarische Kristallisation
findet solches Glücksversprechen in der Erinnerung an Orte und
Namen, wie sie Adorno bei Proust geschildert sieht, aber auch mit
eigenen Kindheitserinnerungen verbindet – im »Glück etwa, das
Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reu-
enthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in
dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das
Versprochene zurück wie der Regenbogen.«19 Es ist ein Glück, das
er ausdrücklich mit der Chiffre des Zuhauseseins verknüpft, wie er
nach der Rückkehr aus dem Exil anlässlich eines Urlaubs in Amor-
bach in einem Brief an seine Mutter bezeugt: »Es ist schließlich doch
das einzige Stückchen Heimat, das mir blieb.«20
Wenn Heimat, die in solcher Weise den Raum der Kindheit und
das Fundament des Lebens bildet, exemplarisch in Landschaft und
Dorf verkörpert scheint, so kann ihr Ort ebenso die Großstadt, eine
›Berliner Kindheit‹21 sein, aber auch eine Wohnung, ein verstecktes
Zimmer, ein Flur:

»Andere haben Landstriche und Nachbarschaften, Dörfer, Städte, Stra-


ßen, Meere zur Heimat. Ich einzig diesen Flur, den mageren engen fens-

19 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, a. a. O., S. 364.


20 Theodor W. Adorno, Briefe und Briewechsel, Bd.5: Briefe an die Eltern
1939–1951, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 535 f. (Brief vom 24. Sep-
tember 1950). – Ähnlich erkennt er in einem Gedicht von Eduard Mörike
(»Auf einer Wanderung«) »das Bild jenes Glücksversprechens, wie es noch
heute am rechten Tag von der süddeutschen Kleinstadt dem Gast gewährt
wird«, »das Gefühl der Wärme und Geborgenheit«, das in Mörikes Gedicht
aber »kein Glück im Winkel« meint, sondern »die Utopie der nächsten
Nähe« mit jener »der äußersten Ferne« verknüpft (»Rede über Lyrik und
Gesellschaft«, in: Noten zur Literatur, Gesammelte Schriften 11, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1974, S. 48–68, hier S. 61). Alexander Kluge kommen-
tiert dies so, dass Adorno »Glück in der Kinderzeit kennengelernt hat oder
meint, es kennengelernt zu haben« und sich das »nie wieder ausreden« ließ.
(»Es gibt kein richtiges Leben im falschen«. Theodor W. Adorno. Philosoph,
Soziologe und Kritiker, Film von Henning Burk und Martin Lüdke, Hes-
sischer Rundfunk / Westdeutscher Rundfunks 1989: https://www.youtube.
com/watch?v=OMrtcGBFdMA).
21 Vgl. Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Ge-
sammelte Schriften, Band IV.1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 235–
304.
10.  Glückserinnerung 199

terlosen Gang mit sieben geschlossenen Türen rechts und links. Kehrte
ich dort nicht ein von Zeit zu Zeit, in dieses Asyl des Kindes, und liefe
ein paarmal trampelnd auf und ab, an der Großmutter vorbei, die sich
gebrechlich an den Stöcken dahinschleppt und mahnt, dass ich sie nicht
umschmeiße, so besäße ich gar nichts Unverletzliches mehr.«22

Entscheidend dafür, dass die Herkunft zum Boden und Fundus des
Lebens wird, ist die Konkretheit der Sinneseindrücke und Erleb-
nisse, der räumlichen Verhältnisse und menschlichen Begegnungen.
Darin liegt umgekehrt, dass die Abstraktheit und Anonymität der
Umwelt eine Erschwernis dieses Zuhauseseins bedeutet, welches
ebenso durch biographische Entwurzelung, Migration, Trennung
grundlegend bedroht oder vollends vernichtet sein kann. Auch dem
entspricht ein Topos im Narrativ der Suche nach der verlorenen
Herkunft, als Reise der Heimkehr nicht in der Zeit, sondern im
Raum, in der Begegnung mit versperrten Wegen, verschwundenen
Straßen, enteigneten Gebäuden.23 Der reale Verlust der Herkunft
kann zur bleibenden Last des Lebens werden. Rückkehr als Heim-
kehr ist keine umstandslose Rückwendung, kein ungehindertes Zu-
rückgehen im Raum, in der Zeit, im Leben. Die Mühsal der Ge-
dächtnisarbeit kann durch die interne Beschwerlichkeit der Lebens-
besinnung und materialen Durchdringung des Vergangenen, aber
ebenso die realen Umstände der Kindheit bedingt sein. Umgekehrt
aber ist durch diese nicht schon vorherbestimmt, wie weit jemand
seiner Kindheit, seiner Heimat und Vergangenheit verlustig geht
oder in dieser seinen Hort hat und zu sich selbst zu finden vermag;
dies hängt gleichermaßen von der Bewegtheit und dem Potential
des Lebens ab. Ob wir eine Heimat hatten, ist keine bloße Frage des
Damals, sondern auch des Danach, der Macht der Erinnerung: »Im-
mer erst nachträglich weißt du, du warst ein Leben, ein Jahr, einen
Tag, einen Abend lang einmal geborgen, gerettet, in Sicherheit.«24
Wie Vergangenheit überhaupt, gewinnen Kindheit und Heimat ihre
lebensweltlichen Konturen im Medium der nachträglichen Präsenz.

22 Botho Strauß, Herkunft, a. a. O., S. 42.


23 Vgl. Verena Stössinger, Bäume fliehen nicht, Alpnach: Martin Walliman
2012.
24 Peter Kurzeck, Übers Eis, a. a. O., S. 37
200 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

(c) Anfang und Offenheit

Hier verschränkt sich die Kindheitserinnerung mit der eigenartigen


Figur eines Vergangenen, das nie gegenwärtig war. Erinnerung, wie
sie hier ins Auge gefasst ist, gilt nicht vergangenen Fakten, wel-
che registriert und festgehalten werden, sondern demjenigen, was
im Vergangenen (noch) nicht real geworden ist, was in ihm nicht
festgeschrieben, sondern offen, möglich war. »Nicht um Konser-
vierung der Vergangenheit, sondern um Einlösung der vergangenen
Hoffnung ist es zu tun«, schreiben Horkheimer und Adorno – ge-
gen ein Bewahren, welches das Vergangene gerade zerstört, statt es
wachzuhalten und »als Lebendiges zu erretten«.25 Erinnerung, die in
die Tiefe geht, ist von der Suche nach etwas geleitet, das hinter das
Erlebte und Erkannte zurückreicht, wie von der Sehnsucht »nach
etwas Unbekanntem«, schreibt Augustinus, »das ich nie erfahren
oder so völlig vergessen habe, dass ich nicht einmal mich erinnere, es
vergessen zu haben«.26 In ähnlichem Sinn hat Ricœur die Erinnerung
an das ›unvordenkliche‹ Vergangene mit dem ›tiefen Vergessen‹ zu-
sammengebracht.27 Was im vorliegenden Kontext zusätzlich in den
Vordergrund rückt, ist der Aspekt der Neuheit und Offenheit, der
diesem Vergangenen eignet und der gerade im Biographischen, im
Rückblick auf die Kindheit eine originäre Bedeutung besitzt. Die
Wehmut des Rückblicks gilt einer Zeit des Leben, in welcher noch
so vieles möglich war, wo der junge Mensch noch unterwegs war,
die Zukunft mit offenen Möglichkeiten und Verheißungen vor ihm
lag. Christa Wolf weist auf das sonderbare Gefühl beim Betrachten
alter Fotografien der eigenen Eltern hin – »zu denken, dass sie alle
Ende Zwanzig, Anfang Dreißig waren! Und dass es eine Zeit gab, in
der das Leben vor ihnen lag.«28 Der Wunsch nach ewiger Jugend ist
nicht ein Bedürfnis nach unbegrenzter Dauer, sondern die Sehnsucht
nach der Zeit des Anfangens und des Erlebens von Neuem, wie sie
im Vorspiel des Faust beredten Ausdruck findet: »So gibt mir auch
die Zeiten wieder, da ich noch selbst im Werden war, […] da Ne-
bel mir die Welt verhüllten, die Knospe Wunder noch versprach.«29

25 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung,


a. a. O., S. 5, 39.
26 Augustinus, Confessiones X, 20.
27 Siehe oben Kap. 8.4.
28 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 41
29 Ernst Bloch zitiert die Verse in Das Prinzip Hoffnung, a. a. O., S. 135.
10.  Glückserinnerung 201

Wenn es generell zum Sensorium der historischen Wahrnehmung


gehört, im Gewesenen nicht nur das Realisierte und Bewirkte, son-
dern den offenen Prozess, den Hof der Virtualitäten zu erfassen, so
besitzt diese Ausrichtung in der Lebensbeschreibung eine besondere
Qualität. Sie verbindet sich darin sowohl mit der Idee der Freiheit
wie mit dem Pathos des Anfangens und des Neuen. Mit jedem Kind
öffnet sich ein neuer Lebensweg, ein anderer Blick auf die Dinge.
Mit jeder Geburt strahlt die Welt in neuem Licht, sprechen die Dinge
eine andere Sprache, mit jedem Neugeborenen fängt die Welt neu
an. Zugleich nimmt Erinnerung im frühen Leben die Nicht-Festge-
legtheit der Freiheit und das Potential des noch nicht verwirklichten
Könnens wahr – nicht zuletzt die offene, unabschließbare Zeit, die
im Verlauf des Lebens schrumpft und sich immer mehr einengt. Des-
halb, meint Ernst Bloch, kennt der alte Mensch »Rückkehrwünsche
zu einer Jugend«, die vielleicht an Ort und Stelle eher als etwas noch
Mangelhaftes empfunden werden konnte, in welcher er aber zumin-
dest »die viele Zeit« zurückwünschen wird, »die er mit zwanzig Jah-
ren vor sich hatte«, den »Zauber der langen Hintergründe«, »den
das Leben damals noch für ihn besaß«.30 Beides ist im Gedächtnis
des Ursprungs und des Anfangens bedeutsam, das Motiv der un-
ableitbaren Neuheit und die Gerichtetheit ins Offene. In typischen
Bildern werden Kindheitserinnerungen mit der Helle des Morgens,
der ersten Frühlingstage assoziiert, wenn die Natur erwacht und
alles frisch, noch neu ist und anfängt zu sprechen.31 Walter Ben-
jamin verknüpft das historische Gedenken mit einem Aufbrechen
des Gewesenen in seiner Ursprünglichkeit, die lebendige Erinne-
rung mit einem Innewerden, in dem sich etwas wie zum ersten Male
ereignet. Im Rückblick auf sein Leben wie im historischen Einge-
denken bedeutet lebendige Erinnerung nicht nur die retrospektive
Gestalt­gebung, sondern idealiter auch ein Erkennen, in dem etwas
aus seinem Ursprung, in seinem ersten Anfangen gegenwärtig wird,
auch wenn diese Anfänglichkeit selbst keine schlechthinnige, nur
eine partielle war.32 Als Erkennen ist solche Erinnerung ein Wie-

30 Ebd., S. 40.
31 Peter Kurzeck, Ein Kirschkern im März, Frankfurt am Main / Basel:
Stroem­feld 2004, S. 15, 39, 103 passim.
32 Adorno verweist auf den illusionären Charakter jener »Frische des Zum
ersten Mal«: »Wer solche Frische zu restituieren trachtet, wird Opfer der
Illusion, die jene selbst schon war«: Theodor W. Adorno, Mahler. Eine mu­
sikalische Physiognomik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960, S. 188.
202 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

dererkennen, auch wenn sein Gegenstand ein noch nie Gesehenes,


Nicht-Gehörtes – oder im Sinne Augustins Urvergessenes – ist und
eben darin in seiner Anfänglichkeit präsent wird.
Neben der Offenheit des Möglichen kann der Anfang die posi-
tive Potentialität des Fortgangs in sich bergen. Der Anfang ist nicht
bloße Unbestimmtheit, er ist auch Kraft und Macht des Kommen-
den. Auch die Rücksicht darauf leitet die Logik des Erinnerns. Als
eine Instanz des unerledigten Vergangenen hatte sich das nicht ak-
tualisierte, unterdrückte Vermögen gezeigt. Das ungelebte Leben ist
ein Vergangenes, das im realen Leben wie im rettenden Gedächtnis
erweckt und zur Gegenwärtigkeit befreit werden kann. Das Ver-
gangene, das nie gegenwärtig war, ist dann nicht nur negativ, als ein
Fehlen, sondern als eine produktive Potenz im Spiel. Sie ist nicht nur
in den Raum der Möglichkeiten hinein geöffnet, sondern greift von
sich aus auf ein Kommendes aus. Auch dieser Vorgriff kommt im
Horizont der Glückserinnerung in spezifischer Weise zum Tragen.

(d) Versprechen und Verlangen

Entzogen, nicht gegenständlich fixierbar ist das Vergangene als Ge-


genstand der Abwehr wie des Verlangens. In beiden Grundmoda-
litäten des praktischen Verhaltens, in negativer wie positiver Ein-
stellung, entzieht sich der Gegenstand der identifizierenden Be-
stimmung. Was Bloch von der Heimat sagt – ›worin noch niemand
war‹ –, lässt sich analog vom ursprünglichen Glück sagen. Dass das
Glück sich der Festlegung entzieht, ist nicht nur aus den Wünschen
des Märchens bekannt, sondern auch dem ältesten philosophischen
Nachdenken über das Glück vertraut: Als abschließender Endzweck
schießt die eudaimonia gemäß der aristotelischen Ethik über jede
bestimmte inhaltliche Zwecksetzung und Erfüllung hinaus. Glück
ist nicht nur nicht machbar, sondern auch nicht in der intentio recta
intendierbar; es ist nicht etwas, das wir ins Auge fassen und be-
wirken können, sondern etwas, das sich einstellt, wenn unser Tun
und Leben sinnvoll ist. Ob wir mit einem bestimmten Lebensplan,
durch eine erbrachte Leistung oder in einem veranstalteten Vergnü-
gen glücklich werden, zeigt sich im Nachhinein. Auch dem Glück
haftet eine Form der oben betrachteten Nachträglichkeit an. Gleich-
wohl ist seine Zeitdimension nicht allein die der vollendeten Zu-
kunft, der gemäß ich in meinem Tun und Erleben mein Glück erlangt
10.  Glückserinnerung 203

(oder verfehlt) haben werde. Ebenso grundlegend ist der Rückgriff,


das Sich-Abstützen auf ein früheres Wollen und die Vergewisserung
in dem, wonach wir eigentlich, je schon strebten. Es ist eine Verge-
wisserung, die sich nicht umstandslos aus dem Vergleich mit einem
anvisierten Ziel ergibt, sondern eine retrospektive Selbsterkundung
meint, die ihrerseits ein reflexives Zurückblenden, gegebenenfalls
in ein uneinholbar Vorausliegendes enthält. Weil das Glücksstre-
ben nicht irgendwelche Absichten und Realisierungen, sondern den
Menschen in seinem ursprünglichsten Wollen und als ganzen betrifft,
ist es aus dieser tiefsten, ältesten Verwurzelung zu begreifen. Das
Glücksstreben gewinnt seine Ausrichtung und seine Kraft aus einer
ursprünglichen Glückserinnerung.
»Die Erinnerung des fernsten und ältesten Glücks«33 – so um-
schreiben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eine Leit-
idee, an der sich die Zivilisationskritik der Dialektik der Aufklä­
rung ausrichtet. Sie steht für ein ursprünglich Begehrtes, das von
der herrschenden Ratio unterdrückt und verdrängt wird und in der
Kritik am entfremdeten Leben als Gegenbild und normativer Maß-
stab aufscheint. Dass das Glück als Gegenstand einer Erinnerung in
den Blick kommt, ist nicht mit einer präzisen temporalen Verortung
verbunden, sondern zunächst einfach damit, dass es dem jeweiligen
Wollen und Beschließen vorausliegt, als eines, das die Richtung un-
seres Strebens bereits bestimmt, auf das hin wir schon unterwegs
sind. Damit stimmt handlungstheoretisch überein, dass wir uns zum
Glücklich-sein-Wollen nicht erst entscheiden müssen, sondern im-
mer schon entschieden haben, wobei im eigentlichen Sinne nicht
von einer Entscheidung, sondern nur einer vorgängigen Gerichtet-
heit die Rede sein kann. So ist auch jene Erinnerung des ݊ltesten
und fernsten Glücks‹ nicht das Wieder-Erinnern, Wiedererkennen
eines einst Erlebten, sondern das Sich-Zurückversenken in ein ers-
tes Streben, eine ursprüngliche Sehnsucht, eine seit je sich entzie-
hende Erfüllung. Es scheint in der menschlichen Natur verankert,
im menschlichen Zeiterleben angelegt, dass Sehnsucht, auch wo sie
sich ins Unendliche nach vorne projiziert, im Innersten mit dem
Gedanken der Rückkehr verwoben ist. Umgekehrt zeigt sich Erin-
nerung im Innersten mit einer Sehnsucht verschränkt, die über die
Rückkehr zu bestimmten Ereignissen und Erlebnissen hinausweist.

33 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung,


a. a. O., S. 71.
204 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

In eindringlicher Weise sieht Adorno die Verflechtung von Er-


innerung und Glück, Sehnsucht und Trauer in späten Kompositi-
onen von Gustav Mahler, namentlich dem Lied von der Erde und
den letzten Sinfonien, gestaltet. Hier verschränken sich die »Erinne-
rungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob allein um ihretwillen
zu leben sich lohnte«, mit dem unverrückbaren Bewusstsein davon,
dass jenes ursprüngliche Glück »verloren ist und erst als verlorenes
zum Glück wird, das es so nie war«.34 Es ist eine Motivkonstel-
lation, in welcher Adorno eine Affinität zwischen Mahlers Musik
und der um die gleiche Zeit entstandenen Recherche von Marcel
Proust wahrnimmt, zwischen zwei Künstlern, »die nichts vonein-
ander wussten und sich kaum verstanden hätten«.35 Das besondere
Potential und die Kraft ihrer Reminiszenz liegt darin, dass sie nicht
vergangenen Fakten aus der frühen Zeit, sondern einer Jugend gilt,
in der »unendlich Vieles als Versprechen des Lebens, als antizipier-
tes Glück wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde, durch
die Erinnerung hindurch, erkennt, dass in Wahrheit die Augenbli-
cke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind«.36 Umso
intensiver durchdringen sich Verlangen und Schmerz in einer »Ab-
schied nehmenden Musik«, die den »langen Blick« vom Unwieder-
bringlichen nicht abzuziehen vermag.37 Weder das Festhalten des
Vergangenen um seiner selbst willen noch die sich in sich versen-
kende Trauer, sondern das Gedenken des unwiederbringlich Ent-
schwundenen um des Lebens willen trägt die Erinnerung.
Literarische Werke haben das Motiv in vielfältigen Beschreibun-
gen gestaltet. In Christa Wolfs Kindheitsmuster begegnet es uns als
Trauer nicht nur um die entschwundenen Erlebnisse, sondern die
vergessenen Hoffnungen und Erwartungen:

»Worum weinst du jetzt?« – »Du weinst um alles, was einmal vergessen


sein wird – nicht erst nach dir und mit dir zusammen, sondern solange
du da bist und von dir selbst. Um das Schwinden der hochgespannten
Erwartungen. Um den allmählichen, doch unaufhaltsamen Verlust jener
Verzauberung, die Dinge und Menschen bisher gesteigert hat und die das
Älterwerden ihnen entzieht. […] Um das Schrumpfen der Neugier. Die

34 Theodor W. Adorno, Mahler, a. a. O., S. 187.


35 Ebd., S. 188.
36 Ebd., S. 196.
37 Ebd., S. 216.
10.  Glückserinnerung 205

Schwächung der Liebesfähigkeit. Das Nachlassen der Sehkraft. Die Er-


drosselung der heftigsten Wünsche. Das Ersticken ungebändigter Hoff-
nung. […] Um das Versagen von Geschmack und Geruch und, so un-
glaublich es sein mag, um den unvermeidlichen Verfall der Sehnsucht.«38

Es ist eine Form des tiefen Vergessens, in welchem uns nicht ver-
gangene Realitäten, sondern vergangene Möglichkeiten, die vergan-
gene Zukunft entgleiten. Botho Strauß bezeichnet das Gedächtnis
in diesem Sinne geradezu als eine »Variable der Sehnsucht«, sofern
Erinnerung bevorzugterweise auf jene Zeiten zurückblickt, in de-
nen die Erlebnisse noch mit Ahnungen und Versprechen erfüllt sind
und gleichsam in sich ein Potential bergen, das sie dem Gedächtnis
überantwortet: Es sind, so meint Strauß, »vor allem die Stunden
erhöhter Erwartung in der Kindheit, die stärker als andere Er­inne­
rungen stiften«.39 So ist auch die Glückserinnerung, wo sie das Bild
der Kindheit trägt, nicht einfach Wiederkehr einer Erfüllung, son-
dern Nachhall einer Sehnsucht und eines ursprünglichen Verspre-
chens. In das Bild des Kindheitsglücks fügt Jean Paul das »gegen-
standslose Sehnen« nach den »himmlischen Gütern des Lebens« ein,
»die noch unbezeichnet und farblos im tiefen weiten Dunkel des
Herzens lagen«, jene frühe »Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand
noch keinen Namen trägt«.40 So bedeutet, die Kindheit wieder zu
erfahren, auf der einen Seite die Offenheit und Erwartung des Kin-
des, das Vertrauen, mit der es in die Zukunft blickt, erneut zu er-
leben, auf der anderen Seite aber auch das Entgegenkommen der
Dinge und Sichöffnen der Welt wieder zu erfahren, jene »feierliche
Vorabendstille« zu hören, in der diese Präsenz sich vorbereitet und
das Kommen sich ankündigt.41 Das Glücksversprechen macht die
Substanz jener ältesten Glückserinnerung aus, der Horkheimer und
Adorno die Kraft zur kritischen Diagnose und tätigen Subversion
zutrauen. Nicht die vollzogene, sondern die bevorstehende – wenn
auch je verschobene, ins Unbestimmte verlegte – Erfüllung macht
den Glückskern der Rückschau aus.
Der Vorgriff des Versprechens und Verlangens reflektiert sich in
dem, worum es dem Kampf gegen das Vergessen geht. Emphatische

38 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 392.


39 Botho Strauß, Herkunft, a. a. O., S. 34.
40 Jean Paul, Selbsterlebensbeschreibung, a. a. O., S. 185, 204
41 Peter Kurzeck, Vorabend, a. a. O., S. 985.
206 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Erinnerung gilt der Rettung jenes Zukunftshorizonts, der dem Le-


ben im Fortschreiten der Zeit verloren geht. Ausdrücklich situiert
Marcel Proust die Erweckungsmacht der mémoire involontaire im
Rahmen dieser gleichsam potenzierten Wiederkehr: der zurückge-
holten Gegenwärtigkeit nicht nur der einstigen Erlebnisse, sondern
des ehemals Kommenden und Bevorstehenden. Ein alter Geruch
lässt den Protagonisten seines Romans »in der Freude seit langem
aufgegebener Hoffnungen« in vergangene Jahre zurücktauchen42;
die wie von einem Begehren getragenen Klänge und Düfte des Früh-
lings kehren ihm nicht als »Erinnerung an alte Eindrücke, sondern
an ein altes Verlangen« wieder.43 Es ist die alte Hoffnung, das ver-
gessene Verlangen, in welche uns das unwillkürliche Gedächtnis zu-
rückversetzt, in deren Zeit und Zukunftsraum es uns entrückt. Dass
sich dieser verdunkelt, verschließt, ist der tiefste Entzug, der sich im
Entgleiten der Vergangenheit ereignet. Entzogen ist zuletzt nicht das
Vergangene, sondern das Kommende, die untergegangene Zukunft.
Umgekehrt liegt das rettende Potential – und die wahre Heraus-
forderung – der Erinnerung darin, nicht vergessene Fakten, son-
dern vergessene Zukunft wieder auferstehen zu lassen. Womit wir
in historischer Besinnung zu tun haben, sind Ereignisse, die nicht
in sich abgeschlossen sind, deren Sein und Wahrheit sich erst in ih-
rer Zukunft offenbart. Der Engel der Geschichte, den Benjamin in
den Thesen Über den Begriff der Geschichte und dem enigmati-
schen Fragment Agelisaus Santander auftreten lässt, verschweißt
die Rückschau mit dem Sog der Zukunft und umgekehrt »die Ver-
zückung des Einmaligen, Neuen, noch Ungelebten mit jener Se-
ligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten«; er hat
»auf keinem Wege Neues zu hoffen als auf dem der Heimkehr«.44
Die Wiederholung, welche der Erinnerung innewohnt, ist keine Re-
duplikation dessen, was stattfand, sondern die radikale Freisetzung
dessen, was im Vergangenen in Frage stand, in ihm als Möglichkeit
anstand. Die Seligkeit der Kindheit hat ihr Geheimnis in dem, was
noch nicht war und doch als Vorgriff ›in die Kindheit scheint‹. Ver-
sprechen, Verlangen, Hoffnung sind lebensweltliche Charakteristika

42 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 5: Die
Gefan­gene, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 32 f. (fr. III, S. 27).
43 Ebd., S. 590 (fr. III, S. 412).
44 Walter Benjamin, Aufzeichnungen 1933–1939, in: Gesammelte Schriften
VI, a. a. O., S. 523.
10.  Glückserinnerung 207

solchen Erinnerns. Die Herausforderung liegt darin, in ihnen das


wahre Potential der Memoria zu erkennen.

10.4  Nachholende Erinnerung

Erinnerung ist Besinnung auf ein Vorausliegendes, aus dem Späte-


res hervorgeht, in welchem Späteres gründet. Das je Zurück- und
Zugrundeliegende, das sich der fixierenden Rückschau als uneinhol-
barer, ›unvordenklicher‹ Ursprung entziehen kann, wird in Bildern
des Grundes, der Herkunft, der Heimat gegenwärtig. Mit ihnen as-
soziieren sich im Fall der Kindheits- und Glückserinnerung Vorstel-
lungen der ursprünglichen Einheit und Unversehrtheit, in welcher
Menschen mit sich eins und zugleich in einem Umfassenderen ge-
borgen, in einem Größeren aufgehoben sind. Erinnerung wird darin
zum Ort eines ursprünglichen Begehrens, Ausdruck einer Sehnsucht
nach Einheit und Ganzheit. Sie ist Verlangen nach einer Wieder-
Gewinnung der Identität, einer Rückkehr zum Urzustand – und
darin Ausdruck eines ebenso unhintergehbaren Mangels, einer un-
vordenklichen Entzweiung und eines ursprünglichen Verlusts. Die
Suche nach der verlorenen Einheit ist ebenso fundamental wie die
nach der verlorenen Zeit. Die psychoanalytische Theorie hat das al-
lem Leben innewohnende Begehren als Antwort auf eine basale Ver-
sagung, eine Urtrennung interpretiert, wie auch Menschheitsmythen
die conditio humana im Ausgang von einem ursprünglichen Abfall
von der Einheit, als Folge einer Ursünde schildern. Der Verlust des
Paradieses, so ›unvordenklich‹ wie das ursprüngliche Glück, bildet
den Hintergrund der Geschichte als des nie vollendeten Wegs der
Selbstwerdung. Die Menschen sind immer schon aus dem Paradies
vertrieben, je schon auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Al-
les Handeln, alles Sprechen, alles Schaffen ist Teil der Bemühung,
den ursprünglichen Mangel zu überwinden, mit sich eins, in sich
ganz zu werden.
Solche Bemühung ist nicht nur getrieben durch ein anfängli-
ches Fehlen, sondern getragen durch einen ursprünglichen Grund.
Der Mensch will sich wiederfinden als derjenige, der er schon war,
voran­kommen auf dem Weg, auf dem er schon unterwegs ist. Darin
ist Erinnerung Moment der Selbstwerdung. Die Bildung des Selbst
kommt aus einer Herkunft, deren sie zur Orientierung, aber auch
als Ressource bedarf, als Ressource nicht nur an Motivation und
208 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Kraft, sondern an Sinn. Das Zuhausesein und der Lebensreichtum,


in denen Kindheitserinnerung idealiter gründet, ist Erfahrung e­ ines
Entgegenkommens von Sinn, eines Sichöffnens der Welt, aus dem
heraus Menschen ihr Leben führen und aus dem heraus das Leben
ihnen erzählbar wird. Das Glücksversprechen ist ein Sinnverspre-
chen – nicht Versprechen eines bestimmten oder höheren Sinns, son-
dern der Sinnhaftigkeit der Welt und des In-der-Welt-Seins über-
haupt. Es ist eine Sinnhaftigkeit, die, wie das Glück, fragil ist, die be-
droht sein kann und oft genug real erschüttert und zunichte gemacht
wird. Nichtsdestoweniger bleibt die Erinnerung an Erlebnisse der
Stimmigkeit, des Sichentsprechens und des Beisichseins-im-Ande-
ren eine Quelle des Zutrauens und des Ausgreifens auf Sinn im ei-
genen Tun und Hervorbringen, im Geben und Empfangen. Solche
Erinnerung ist dem Typus der Hermeneutik verwandt, den Paul
Ricœur als »Sammlung des Sinns« beschreibt und der sinnkriti-
schen »Hermeneutik des Verdachts« entgegensetzt.45 Ursprüngli-
che Glückserfahrungen und Glückserwartungen tragen – ähnlich
großen Symbolen – einen Sinnüberschuss in sich; sie in der Erinne-
rung zu revitalisieren heißt sie in dieser Potentialität, diesem inneren
Reichtum anzueignen. Auch im Umgang mit dem nicht-vollendeten,
ausstehenden Vergangenen steht die Gedächtnisarbeit im Dienste
einer Sammlung, einer Rettung des Sinns, aus der heraus das Leben
sich gegenwärtig und mit sich eins werden kann.46
Exemplarisch wird diese ursprüngliche Fülle, sei es als Verspre-
chen und Verlangen, in Formen des unwillkürlichen Gedächtnisses
erlebt. In ihnen lässt sich erfahren, was es heißt, das Potential eines
Vergangenen noch einmal wirklich werden zu lassen und im Ein-
bruch des Gewesenen ins Jetzt die Gegenwärtigkeit des Lebens zu
erfahren. Michael Theunissen hat die mémoire involontaire gera-
dezu nach dem Modell des Präsentwerdens eines nicht gegenwär-
tig gewesenen Vergangenen ausgelegt und in der Wiedererinnerung,
jenseits der Dichotomie von Wahrnehmung und Reproduktion, eine
Erinnerung ausgemacht, die selbst Wahrnehmung ist, »eine nach-
geholte, nicht wiederholte Wahrnehmung, die Wahrnehmung des
einst nicht Wahrgenommenen. Was wir einst nicht wahrnahmen, das
haben wir vor allem nicht erlebt und letztlich ebensowenig gelebt.

45 Paul Ricœur, Le conflit des interprétations, Paris: Seuil 1969; cf. De


l’interprétation. Essai sur Freud, Paris: Seuil 1965, S. 35.
46 Vgl. Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, a. a. O., S. 81 f.
10.  Glückserinnerung 209

Unwillkürliche Erinnerung meint so im Grunde ein Leben nicht


gelebten Lebens.«47 Die Idee einer ›nachholenden‹ Erinnerung, die
das nicht-gelebte Leben gegenwärtig werden, es erst leben lässt, ist
eine ausdrucksstarke Konkretisierung der Ver-Gegenwärtigung ei-
nes nicht präsent Gewesenen. Christa Wolf spricht in ähnlichem
Sinne davon, »ungelebtes Leben nachzuleben, oder ›aufzuleben‹«
(wie man »einen Aktenberg aufarbeitet«).48 Es ist ein Wiedergewin-
nen von etwas, das einem noch gar nicht zu eigen war, das Sichfin-
den in einem, in dem man noch nicht war, die Rückgewinnung einer
verlorenen Identität.
Dass das faktisch Gewesene nicht das volle Sein dessen realisiert,
was unterwegs und im Werdenden angelegt war, ist dem Lebens-
rückblick vertraut.49 Biographische Selbstbesinnung kann auf die
beunruhigende Frage stoßen, mit der Pascal Mercier im Nachtzug
nach Lissabon seinen Helden konfrontiert: »Wenn es so ist, dass
wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist –
was geschieht mit dem Rest?«50 Faktisch haben wir im Rückblick
mit dem Endgültigwerden des je Geschehenen, der Unabänderlich-
keit der kontingenten Geschichte zu tun, und das Bedürfnis, un-
sere Identität gestalten zu können, mag den Wunsch motivieren, die
Umumkehrbarkeit der Ereignisse zu suspendieren und die Weichen
unseres Tuns und Werdens neu und anders zu stellen.51 Es wäre ein
Anlaufen gegen das Gesetz der Zeit und gegen die Grundbedingun-
gen der Existenz. Doch wäre es ein Anlaufen, das innerhalb der-
selben Zwangsläufigkeit, derselben Grundstruktur des biographi-
schen Prozesses verbleibt und nur diesen neu durchlaufen, ihn an-
ders lenken möchte. Tiefer gehend ist jene andere Sehnsucht, die sich
der Ausschließlichkeit des Faktischen verweigert und das Nicht-
gewesene ins Sein bringen, das Nichtgelebte zum Leben erwecken
möchte. Sie zehrt vom Überschießenden jenes Versprechens, das

47 Michael Theunissen, »Zeit des Lebens«, in: Negative Theologie der Zeit,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 299–317, hier S. 313.
48 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 498.
49 Dass die faktische Vergangenheit nur eine mögliche Realisierung neben
anderen ist, erwägt Søren Kierkegaard in Philosophische Brocken. De omni­
bus dubitandum est, Zwischenspiel, in: Gesammelte Werke, Zehnte Abtei-
lung, Düsseldorf / Köln: Eugen Diederichs 1952, S. 68–85.
50 Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, München: Hanser 2004, S. 29.
51 Literarisch findet sich das Motiv in Werken von Max Frisch gestaltet,
etwa in Biografie (1967) und Triptychon (1978).
210 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

in der Erinnerung des ältesten Glücks, der verlorenen Heimat be-


schlossen war. Nachholende Erinnerung greift aus auf eine restitutio
in integrum, die ein Ganzwerden und Einswerden mit sich jenseits
der bestimmten Identifikation meint. Indem sie die vergangene Zu-
kunft, die Zukunft des Vergangenen zum Tragen bringt, schließt sie
an ein konstitutives Moment historischer Wahrnehmung52 an und
schreibt das befreiende Potential rettender Erinnerung in die Ver-
fassung des Lebens ein.

10.5  Zwischen Leidenserinnerung und Glücksversprechen

(a) Die zweifache Unabgegoltenheit

In zweifacher Gestalt hat Erinnerung mit dem unabgegoltenen Ver-


gangenen zu tun: als unbewältigtes Leiden und ausstehendes Glück.
Leidenserinnerung und Glückserinnerung sind zwei Modalitäten,
in denen Vergangenes sich der identifizierenden Festschreibung, der
Wahrnehmung und direkten Vergegenwärtigung entzieht, zwei For-
men, in denen Erinnerung nicht in der Reproduktion eines bestimm-
ten Ereignisses oder Erlebens aufgeht. Es sind zwei Weisen, in denen
Erinnerung im Gewesenen die Nicht-Abgeschlossenheit herausstellt,
der Zukunftsverweisung nachgeht. Die eigentümliche Konstellation
der gleichzeitigen Gemeinsamkeit und Divergenz wirft die Frage
auf, was dieser Koinzidenz zugrunde liegt und was diese über die
Stellung der Erinnerung im Leben aussagt.
Markant ist zunächst die Divergenz im gegenständlichen Kor-
relat des Erinnerns, in seiner affektiven Besetzung wie dem Modus
seiner Nichtpräsenz und Uneinholbarkeit. Die Erinnerung ist auf
einen Gegenstand gerichtet, dem im einen Fall ein ursprüngliches
Streben, im anderen eine fundamentale Abwehr gilt; er ist mit ba-
salen existentiellen Haltungen, teils einem grundlegenden Begeh-
ren, teils einer elementaren Angst, einer Flucht verbunden. Damit
korreliert der unterschiedliche Status und existentielle Ort: Scheint
Glückssehnsucht eine Grundbedingung des Daseins, so Leidens-
erfahrung ein kontingentes Faktum der Geschichte. Entsprechend
haben die Nichtfestlegbarkeit und Nichterinnerbarkeit unterschied-

52 Vgl. Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschicht­


licher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.
10.  Glückserinnerung 211

liche Gründe: auf der einen Seite die Unverfügbarkeit der je schon
entschwundenen Ganzheit, das Überschießende des ursprünglichen
Begehrens und initialen Versprechens, auf der anderen Seite die Ur-
verdrängung des Nichtseinsollenden, aber auch die Nichterfüllung,
Nichtrealisierung des Unterdrückten. Die Zukunftsverwiesenheit
des Vergangenen assoziiert sich im einen Fall mit dem utopischen
Ausgriff des Begehrens und Hoffens, im anderen mit der Korrek-
turbedürftigkeit des Beschädigten und der Erlösungsbedürftigkeit
des Leidens. Der Entzug ist teils einer positiven Unerreichbarkeit,
teils der negativen Unerträglichkeit und verdrängenden Abwehr ge-
schuldet.
Schematisch gesehen, scheint der ›positive‹ Entzug fundamen-
taler als der ›negative‹, die Nichtsagbarkeit der Vollendung prinzi-
pieller als die Uneinholbarkeit der Versagung, wie umgekehrt das
Glücksstreben grundlegender ist als die traumatische Verletzung. In
Wahrheit steht diese Asymmetrie selbst in Frage. Zur Verfassung
des Daseins zählen auch Kontingenz und Endlichkeit, Vulnerabili-
tät und Bedrohtheit. Auch das Ausgeliefertsein, nicht nur die Sehn-
sucht geht in die humane Grenzerfahrung ein. Nicht umsonst hat
die Existenzphilosophie die Angst zum Kern der Konfrontation des
Menschen mit sich selbst gemacht; noch tiefergehend gehören auch
die Nichterlöstheit, das Böse und das Leiden zum unvordenklichen
Grund des Menschseins. Die Frage ist, was die Kopräsenz der ge-
genläufigen Transzendenz im menschlichen Sein für dieses bedeutet.
Inwiefern haben das Hinaussein der Glücksutopie und die Unvor-
denklichkeit des Mangels miteinander zu tun?

(b) Zweifache Erinnerung

Es ist bezeichnend, dass Autoren, die mit Emphase sowohl das


Motiv der Leidenserinnerung wie die Idee des Glücksversprechens
thematisieren – wie Adorno, Benjamin, Bloch – , sich gleichzeitig
der Frage nach der Verschränkung beider zuwenden. Zunächst ist
festzuhalten, dass sich Glücks- und Leidenserinnerung in seltsamer
Weise berühren, sofern sie in analoger Weise über die Faktizität des
Erinnerten hinausgehen und dessen Hof des Möglichen, Latenten,
Geforderten ernst nehmen. Die unausgeführten Verheißungen, un-
eingelösten Hoffnungen sind solche des gewaltsam Unterdrückten
und Entrechteten ebenso wie der kindlichen Ahnung vom Glück.
212 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Die Idee der Erlösung, die nach Benjamin den Fluchtpunkt der kri-
tischen Historie bildet, ist in einer Vorstellung vom Glück angelegt,
»die aufs tiefste von der Zeit unseres Lebens« tingiert und durch die
»Luft, die wir geatmet«, die »Menschen, die mit uns gelebt haben«53,
geprägt ist, durch die Erinnerung an die Erfüllung, die andere uns
geschenkt, das Vertrauen, das sie uns ermöglicht haben, aber ebenso
die Erinnerung an Not und Leiden, die wir überwunden haben.
Glück, sagen Adorno und Horkheimer, entfaltet sich am aufgeho-
benen Leid.54 Der Ausgriff aufs Positive erhebt sich im Ausgang vom
Negativen und erhärtet sich im Durchgang durch die Kritik. Gleich-
zeitig wurzelt er im Gedächtnis einer ursprünglichen Verheißung,
verweist die zukunftsgerichtete Utopie auf das fernste Vergangene.
Die Kraft des Historischen gründet in vergangener Hoffnung und
nichterfülltem Verlangen. Deshalb ist die Erinnerung subversiv ge-
gen das Bestehende, das mit der Verdrängung der Geschichte, auch
der Abwehr der »Lockung der Natur«55 paktiert. Das Einbrechen
der Geschichte in die Immanenz des Gleichen ist kritische Nega-
tion, befreiender Vorgriff und untergrabende Erinnerung zugleich.
Wie die Kritik am Leiden vom Überschuss des Glücksversprechens
zehrt, auch wo dieses keine Artikulation gefunden hat, antwortet
historische Sinnbildung umgekehrt auf Defiziterfahrungen, zu de-
ren Bewältigung sie beiträgt. »Leiden gebiert Sinn« – in diese Formel
fasst Jörn Rüsen die kulturelle Dialektik von Sinn und Sinnentzug,
die den geschichtlichen Umgang mit unbegriffenem Leiden trägt.56
Auch die biographische Konstruktion der Lebensgeschichte kann
therapeutische Funktionen erfüllen, einen heilenden Umgang mit
Verletzungen ermöglichen und Trauerarbeit am irreversiblen Ver-
lust leisten. Der Ausblick auf die Wiederherstellung von Ganzheit
verbindet sich mit der Reflexion auf das Leiden und der Erinne-
rung an das fernste Glück. Ursprüngliche Angst und Abwehr und
fundamentale Sehnsucht und Ahnung überlagern sich in der in sich
gedoppelten Erinnerung.

53 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, a. a. O., S. 600.


54 Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung,
a. a. O., S. 70.
55 Ebd., S. 119, 181, 226.
56 Jörn Rüsen, »Sinnverlust und Transzendenz – Kultur und Kulturwissen-
schaft am Anfang des 21. Jahrhunderts«, in: ders. / Friedrich Jaeger (Hg.),
Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 3: Themen und Tendenzen,
a. a. O., S. 533–544, hier S. 542.
10.  Glückserinnerung 213

Die zweifache Ausrichtung bedeutet einerseits eine Verkettung


und untrennbare Durchmischung im Erinnern, das immer an bei-
dem partizipiert. »Weder reines Licht noch Schatten in den Erin-
nerungen« – mit dem Wort des chilenischen Dichters Pablo Ne-
ruda charakterisiert Christa Wolf die eigentümliche, gebrochene
Gestimmtheit im Umgang mit dem Vergangenen.57 Auch für Ernst
Bloch wurzelt die nach vorne drängende Phantasie auf der zweifa-
chen Durchdringung des Gewesenen und Kommenden »in empör-
tem Leid, in der Dankbarkeit des Glücks«.58 Andere Autoren setzten
auf eine intimere Durchdringung beider Momente in der Ausein-
andersetzung mit dem Scheitern und Leiden, auf das Moment der
Hoffnung, das der Klage und dem Protest selbst unabdingbar inne-
wohnt – Mendes-Flohr spricht von lament’s hope59 – und das seine
Stütze wesentlich in der eigenen Anstrengung des Erinnerns, in der
Macht der Kunst und genuinen Kraft des Schreibens hat. Gerade
im Umgang mit den extremen Katastrophen der Menschheit gilt es,
im Äußersten die Bemühung um Sinn – G. Hartmann spricht von
Making sense of Auschwitz60 – aufrechtzuerhalten und den Kampf
gegen den Feind der Hoffnung, das Vergessen, zu führen.61 Die Ver-
knüpfung der Trauer und des Protests mit der Hoffnung setzt nicht
so sehr auf ein dialektisches Umkippen der äußersten Negation
in ihr Gegenteil als vielmehr auf die Intensität der Klage und des
Schreis des Leidens selbst, aber ebenso die Kraft des Ausdrucks und
der erinnernden Gestaltung als solche. In ihr soll die Endgültigkeit
des Vergangenen bestritten, seine Heillosigkeit widerrufen werden;
in ihr soll der Raum geöffnet werden, in dem das Vergangene sich
auftut und uns aus der Vergangenheit die »ungewordene Zukunft«
entgegenkommt.62

57 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 392.


58 Ernst Bloch, Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1985, S. 119.
59 Paul Mendes-Flohr, »Lament’s Hope«, in: Moishe Postone / Eric Santner
(Hg.), Catastrophe and Meaning. The Holocaust and the Twentieth Cen­
tury, Chicago: The University of Chicago Press Books 2003, S. 250–256; vgl.
S. 252: »In the Jewish tradition lamentation is intimately linked with hope.«
60 Geoffrey Hartman, »Holocaust and Hope«, in: M. Postone / E. Santner
(Hg.), Catastrophe and Meaning, a. a. O., S. 232–249, hier S. 240.
61 Paul Mendes-Flohr, »Lament’s Hope«, a. a. O., S. 252.
62 Ernst Bloch, Tendenz – Latenz – Utopie, a. a. O., S. 291.
214 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

Wir sind im Vorausgehenden der These Walter Benjamins be-


gegnet, dass es zur quasi-theologischen Auszeichnung des histori-
schen Eingedenkens gehört, diese Öffnung zu vollziehen und die
Geschichte des Leidens als unerledigte, unabgeschlossene zu bewah-
ren.63 Bemerkenswert ist im gegenwärtigen Kontext die Asymmetrie,
die Benjamin mit dieser Macht des Erinnerns verbindet, welche »das
Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das
Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen« zu ma-
chen vermag.64 Die Asymmetrie entspricht in gewisser Weise dem
oben vermerkten ungleichen Status, wonach das Glücksstreben zur
konstitutiven Verfassung der Existenz zählt, während das Leiden in
ihr als faktische Beschränkung und kontingentes Geschehen vor-
kommt. In diesem Sinne wäre das Glücksstreben von Natur aus ein
nicht abschließbares Gerichtetsein, während das Erleiden von Un-
glück, Gewalt und Unrecht ein irreversibles und unkorrigierbares
Lebensereignis darstellt. Indessen hat sich gezeigt, dass diese unglei-
che Zuordnung selbst zu hinterfragen ist und auch die Endlichkeit,
das Böse und das Leiden als Merkmale der conditio humana zu gel-
ten haben. In gleicher Weise ist auch für die konträren Prägungen
des Unabgeschlossenen an der Spiegelung beider Seiten festzuhalten:
Neben der Offenheit des Glücksstrebens gehört auch die Unabge-
schlossenheit des Leidens wesentlich zur geschichtlichen Lebens-
form des Menschen. Das Nicht-Abgeschlossensein, der Vorschein
und das Entgegenkommen des Neuen, die Zukunftsfähigkeit und
Zukunftsbedürftigkeit auch des Gewesenen und Vergessenen – all
dies macht die menschliche Existenz als solche und im Ganzen aus,
auch wenn die Unabgeschlossenheit in beiden Fällen unterschied-
lich spezifiziert und je anders begründet, ihre Asymmetrie nicht
schlechthin aufgehoben ist. Menschliche Erinnerung hat im Ganzen
mit einem Vergangenen zu tun, das durch das Gesetz der Zeit ein
unabänderlich Geschehenes und unwiderruflich Vergangenes ist und
das zugleich in existentieller Hinsicht ein Moment des Unerledigten,
ein unvergangenes Vergangenes in sich enthält.
Dass Leidenserinnerung und Glückserinnerung nicht in zwei
Welten, in zwei sich fremde Grundoptionen des Geschichtsbezugs
auseinanderfallen, hat seinen Grund darin, dass beide für die Zeit-
lichkeit der Existenz gleichermaßen fundamental sind, beide das

63 Siehe oben 9.3(c1).


64 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, a. a. O., S. 589.
10.  Glückserinnerung 215

Selbst in seinem Innersten betreffen. Wie die Grundaffekte der


Angst und des Begehrens das menschliche Sein mit ausmachen, ja,
beide letztlich nicht voneinander abgelöst sind, so entstammen die
entgegengesetzten Formen des Erinnerns einem Grund, sind sie ei­
ner Geschichte zugehörig. Der Schrecken vor dem unvordenkli-
chen Chaos und die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück stehen
sich nicht berührungslos und fremd gegenüber. Angst und Begeh-
ren haben einen gemeinsamen Fokus: die Sorge um das Selbst. Wie
beides in die Aneignung des Lebens eingehen kann, hat in bewegen-
der Weise Jorge Semprun beschrieben. Beim plötzlichen Aufbrechen
von Bildern der Konzentrationslager, denen er zuvor in einer Strate-
gie bewusster Amnesie ausgewichen war, realisiert er ihren Ort im
Innersten seiner selbst:

»Erinnerungen, die ebenso zu mir gehörten, ebenso natürlich waren –


trotz ihrer Unerträglichkeit – wie die Bilder der Kindheit. Oder wie die
des jugendlichen Glücks aller möglichen Initiationen: in die Brüderlich-
keit, die Lektüre, die Schönheit der Frauen.«65

Der hinausgeschobene Entschluss, das Vergangene schreibend anzu-


eignen und sich den »tödlichen Reichtümern« des eigenen Lebens zu
stellen, ist ein Bekenntnis zum eigenen Selbst.66 Das Ich gewinnt sich
wieder in einem Schreiben, das der Begegnung mit dem Tod ebenso
wenig ausweicht wie dem Lebensdrang und dem Verlangen – »im
belebenden Schmerz eines unerschöpflichen Gedächtnisses, dessen
verschüttete, entwertete Reichtümer mir jede neue Zeile enthüllte«.67
Leidenserinnerung und Glückserinnerung treffen sich im Wi-
derstand gegen das Vergessen und Selbstvergessen, als Wege der
Selbstwerdung in der Gestaltung der Zeit und dem Gegenwärtig-
werden einer unterdrückten oder nie zur Präsenz gelangten Vergan-
genheit. Das unvergangene, unerledigte Vergangene, das sich einer
umstandslosen Rückkehr und Vergegenwärtigung als Hindernis in
den Weg gestellt hatte, hat sich gleichzeitig als Grund, als Ermög-
lichung und Antrieb der Erinnerung erwiesen. Es lässt zugleich er-
kennen, inwiefern es dieser nicht einfach um eine strukturelle In-
tegration der Zeiten und die Aneignung einer Geschichte geht, die

65 Jorge Semprun, Schreiben oder Leben, a. a. O., S. 236.


66 Ebd., S. 267.
67 Ebd., S. 271.
216 IV.  Die Zukunft des Vergangenen

hinter die registrierten Ereignisse zurück- und über sie hinausweist.


Ebenso geht es um die sinnhafte Durchdringung, um das Verständ-
nis der Geschichte und des eigenen Seins. Das Zurückgewinnen der
entzogenen Vergangenheit geht einher mit einem Sichabarbeiten an
den Grenzen des Verstehens, einer Aneignung der verdunkelten
Zonen der Existenz. Die Erinnerungsarbeit ist zugleich Restitution
des Sinns und Rückgewinnung der Integrität des Lebens. Als ihren
Fluchtpunkt sieht Paul Ricœur geradezu eine »Rechtfertigung der
Existenz«68, wie sie auch im Horizont der von Benjamin umkreisten
›rettenden‹ Anamnese, der dem historischen Gedächtnis zugemute-
ten Erlösungskraft aufscheint. Es ist eine Aufgabe, die der Arbeit der
Erinnerung zuletzt gerade in der abgründigen Konvergenz zwischen
Leidensgedächtnis und Glücksversprechen zugewiesen ist.

68 Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, a. a. O., S. 79.


V.
Erinnerung und Selbstfindung
11.  Die wiedergefundene Zeit

Sein Leben zu schreiben, war der überschwängliche Wunsch des


Protagonisten von Marcel Proust. Sein Leben schreiben ist eine her-
ausgehobene, selbstbezügliche Form der Erinnerung. Die Arbeit der
Erinnerung, die eine Grundlage der Kultur und ein leitendes Mo-
tiv des menschlichen Lebens bildet, wehrt sich gegen das Vergehen
aller Dinge und sucht Gewesenes gegen den Fluss der Zeit festzu-
halten, Vergangenes wieder gegenwärtig werden zu lassen. Erinne-
rung als Lebensbeschreibung ist der Versuch, sich in seinem Leben
einzuholen, mit sich in der Aneignung seines Lebens eins zu wer-
den. Im Vorausgehenden hat sich gezeigt, inwiefern das Vergangene
– als entschwundenes – ein Problem und zugleich – als unerledigtes,
unvergangenes – einen Grund und einen Antrieb dieser Selbstein-
holung bildet. Deren Interesse lässt sich durch ein zweifaches Ziel
definieren: das Vergangene zu vergegenwärtigen und sich selbst in
seinem Leben zu finden. Es ist gewissermaßen ein doppelter Flucht-
punkt, auf den die Lebensbeschreibung als Modus der Erinnerung
gerichtet ist: die Selbstfindung in seinem Leben und die Aneignung
seiner Geschichte. Die wiedergefundene Zeit und das wiedergefun-
dene Selbst stehen für zwei im Innersten verknüpfte Bestimmungen
der gelingenden Erinnerung.

11.1  Erinnern und Vergessen

Erinnern versteht sich nicht von selbst. Gegen die »Pseudo-Evi­


denz«1, dass Vergangenes sich der Retrospektion umstandslos dar-
biete, bedarf es der Umständlichkeiten der Kunst der Erinnerung,
um Gewesenes im Leben gegenwärtig werden zu lassen. Erinnern

1 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 453.


220 V.  Erinnerung und Selbstfindung

steht im Geflecht und Wechselspiel mit dem Vergessen. Das Ent-


schwinden aus dem Aufmerksamkeitshof des Bewusstseins und aus
dem bewahrenden Gedächtnis ist nicht nur ein Zurück- und Weg-
rücken auf der Zeitskala oder ein Zunichtewerden durch die voran-
schreitende Zeit. Vergessen ist Teil des Lebens, ein eigener Lebens-
vollzug, kein intentional vollzogener und willentlich regulierbarer
Prozess, doch ein Vollzug, der in seiner vitalen und psychischen
Funktion ernstzunehmen und in seiner Verflechtung mit dem Erin-
nern aufzuhellen ist. Wenn das Ethos des Gedächtnisses seinen Aus-
druck im Versprechen findet, niemanden und nichts zu vergessen,
so ist darin die enge Durchdringung beider im menschlichen Leben
ausgesprochen. Im Konkreten bestehen zwischen Erinnern und Ver-
gessen vielfältige Beziehungen, vollzieht sich ihr Zusammenspiel in
einer komplexen Dynamik. Weder Erinnern noch Vergessen sind
einsinnige, eindeutige Vollzüge. Beide realisieren sich in verschie-
denartigen Modalitäten, in denen das Loslassen und Festhalten, das
Verlieren und Wiederfinden eine variierende lebensweltliche Stellung
besitzt. Es gibt das verdrängende und verletzende, aber ebenso das
befriedete und versöhnende Vergessen, es gibt das konservierende
und stabilisierende, aber auch das verändernde und subversive Er­
innern. Vergessen kann sich naturhaft ereignen, wider Willen ein-
treten, es kann sich mit dem intentionalen Vergessenlassen und Ver-
gessenwollen, mit dem Verzeihen verbünden2, es kann sich als Folge
des Aufarbeitens und Bekennens einstellen – und es kann durch
ebensoviele Dispositionen und Handlungen erschwert, unfreiwillig
verhindert werden. Beide, Vergessen und Erinnern, können belas-
tend oder befreiend, schmerzhaft oder glückbringend sein. Wenn
Nietzsche die Lebensfeindlichkeit der historischen Gedächtniskul-
tur anprangert und dagegen die Kunst des Vergessens hochhält, so
betonen andere den lebendigen Kreislauf, in welchem beide Voll-
züge in­einander­spielen und das Vergessen auch als Form des Erhal-
tens, das Erinnern als Weg des Verabschiedens fungiert.
Unstrittig ist, dass beide Vollzüge für die Existenz wesentlich
sind, dass menschliches Leben an beidem teilhat. Es würde durch die
totale Amnesie untergraben, durch die universale Speicherung, den
Schrecken des Nichtvergessenkönnens gelähmt. Man kann die kon­

2 Paul Ricœur beschließt seine große Abhandlung La mémoire, l’histoire,


l’oubli mit einem Epilog über »Le pardon difficile«: La mémoire, l’histoire,
l’oubli, a. a. O., S. 593–657.
11.  Die wiedergefundene Zeit 221

stitutive Verweisung beider Seiten mit Bezug auf die Zeitstruktur des
Erlebens wie das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem ex-
plizieren; Stephan Grätzel hat sie mit einem Viktor von Weizsäcker
entlehnten Begriff als »Gestaltkreis« beschrieben.3 Leben vollzieht
sich im Spannungsbogen des Zeiterlebens zwischen dem Herauf-
kommen des Neuen und dem Sichverlieren und Sichauflösen, zwi-
schen Gestaltung und Entformung, Hervortreten in die Sichtbar-
keit und Verflüchtigung. Jedes Bewusstwerden muss anderes über-
lagern, ins Nichtbewusste zurückdrängen, jede Entbergung geht mit
einer Verdeckung von anderem, aber auch einer partiellen Selbst-
verhüllung einher. In ähnlicher Weise überlagern und durchdringen
sich Prozesse des Erinnerns und Vergessens, jenseits des einfachen
Musters der sukzessiven Ablösung der temporalen Bewusstseins-
felder. Abrupte, spontane Erinnerungen können das allmähliche
Entschwinden und Vergessen durchbrechen, Ausblendungen und
Verdrängungen können etwas langfristig einkapseln und erhalten.4
Wichtig ist im vorliegenden Kontext, komplementär zum An-
liegen und zur Mühsal des Gedächtnisses die eigenständige Inten-
tion und Prozedur des Vergessens hervorzuheben, als Moment eines
Umgangs mit der Vergangenheit, der uns sowohl Orientierung und
Sicherheit verleiht wie uns von der Last des Gewesenen befreit, uns
mit dem Vergangenen zurechtkommen lässt. Gerade in Konfronta-
tion mit Negativem, als Unrechts- und Leidenserinnerung erschöpft
sich die Aufgabe des Gedenkens nicht im Festhalten und erneuten
Vergegenwärtigen. Sie schließt im Individual- wie im Kollektivge-
dächtnis Akte des Durcharbeitens, aber auch des Verzeihens und
Versöhnens ein, deren Fluchtpunkt nicht nur die integrale Aneig-
nung des Gewesenen, sondern ebenso das befriedete Vergessen ist.5
In welcher Weise und zu welchen Anteilen Momente des Aufrech-
nens oder Erlassens, der Strafe, der Rechtfertigung oder der Gnade,
des Nichtvergessenwollens oder der Bewältigung in einen gelin-
genden, befreienden Umgang mit der Vergangenheit eingehen, ist

3 Vgl. Stephan Grätzel, Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und
Vergessen, a. a. O., S. 14, 30 f.
4 Ebd., S. 122.
5 Vgl. Harald Weinrich, Gibt es eine Kunst des Vergessens?, Basel: Schwabe
1996, S. 35 ff.; ders., Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München:
Beck 2005; vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte
Grundlage humaner Verhältnisse, München: Fink 2013; Paul Ricœur, La
mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 593–657.
222 V.  Erinnerung und Selbstfindung

nicht schematisch zu entscheiden, sondern abhängig von konkreten


Inhalten ebenso wie von der eigenen Identität und von Prozessen
des wechselseitigen Anerkennens und Aushandelns. Die Geschichte
präsentiert uns ganz verschiedene Konstellationen solcher Verflech-
tung von Erinnerungs- und Vergessensmomenten, die in einer Phä-
nomenologie der Geschichts- und Gedächtniskultur auszubreiten
wären. Im Rahmen unserer Themenstellung, deren vorrangiges Inte-
resse der Seite des Gedächtnisses gilt, bleibt abschließend festzuhal-
ten, in welcher Weise Erinnerung und Lebensbeschreibung zustande
kommen und wie sie in ein gelingendes Leben eingehen.

11.2  Erinnerung als Wiederholung

(a) Wiederkehr und Wiedererkenntnis

Erinnerung ist Wiederkehr in der Zeit. Vergangenes kehrt wieder, es


kommt zurück ins Jetzt, es wird aufs Neue gegenwärtig. Dies ist das
idealtypische, äußerliche Schema des Erinnerungsverlaufs. Was im
Speicher des Gedächtnisses bewahrt ist, als Überrest und Spur mit
anderem koexistiert, tritt im Erinnern wieder ein in den Raum des
Bewusstseins und des Erlebens. Wiederkehr ist ein Zweites, das ein
Erstes voraussetzt, das Gegenwärtigwerden von etwas, was schon
da war, was schon erlebt wurde, schon getan wurde. Emphatische,
ursprungskritische Konzepte insistieren auf der Fundamentalität der
Wiederholung, darauf, dass alles Wiederholung, immer schon ein
Zweites, eine Kopie oder Replik ist und auf der Basis eines Voraus-
gehenden existiert, dass nichts ein absolut Erstes und Ursprüngli-
ches ist. Kein Handeln, kein Erkennen, kein Existieren fängt vom
Nullpunkt, aus dem Nichts an. Derridas Satz »Alles beginnt mit der
Reproduktion«6 ist die komprimierte Formel dieses Sachverhalts.
Sie bedeutet mit der Bestreitung der radikalen Erstheit zugleich
eine Aushöhlung der Ideen der vollendeten Gegenwart und reinen
Selbstidentität: Immer schon kommen wir aus einem Vergangenen
und bleiben auf es verwiesen, nie können wir die Kluft zwischen
Gewesenem und Gegenwärtigem in reiner Selbstkoinzidenz schlie-
ßen. Eine solche wäre gleichsam eine Implosion, die mit dem span-

6 Jacques Derrida, L’écriture et la différence, a. a. O., S. 314; siehe oben


Kap. 8.4.
11.  Die wiedergefundene Zeit 223

nungsgeladenen Aufschub zwischen Soeben und Sogleich auch das


präsente Sein seiner Substanz beraubte, das wirkliche Gegenwärtig-
Sein unterminierte. In allem Sein und Tätigsein findet eine Univer-
salisierung der Wiederholungsstruktur statt.
Nun kann das Ineinander von Sein und Wiederholung nach der
einen oder anderen Richtung akzentuiert sein, als erneutes Präsent-
werden des Gewesenen im Jetzt oder als zurückgehendes Wieder­
erkennen des Vergangenen. Das zweite artikuliert jenen Vollzug, der
die Erkenntnis als Wieder-Erkenntnis im Herzen der Erinnerung
festmacht.7 Als ihr Urmodell hat sich die platonische Anam­nesis ge-
zeigt, der gemäß alles Lernen und Erkennen im Tiefsten ein Erinnern
ist (beziehungsweise ein Erinnern voraussetzt): Wie wüssten wir,
was es ist, das wir da sehen und erfahren, wenn wir es nicht schon
gesehen und erkannt hätten? Für Platon ist es die Ideenschau, die
solches Erkennen ermöglicht: Ohne ein Wissen davon, was die Be-
stimmung des Menschen, die reine Form des Dreiecks, die Idee des
Guten ist, wären wir nicht in der Lage, die Gegenstände und Phä-
nomene, mit denen wir in der Alltagswelt zu tun haben, zu klassifi-
zieren und identifizierend zu erkennen. Wenn Platon solches Wis-
sen, das dem konkreten Erkennen vorausliegt, einer Schau der Seele
vor ihrer Vereinigung mit dem Körper überantwortet, so ist es bei
Descartes eine dem Individuum mit der Geburt mitgegebene, ›ein-
geborene Idee‹ (idea innata), bei Kant ein rein begriffliches, nicht
temporales ›Apriori‹, das diese vorgängige Bedingung der Erkennt-
nis sichert.
Interessant ist dabei die strukturelle Nähe zum genannten Kon-
zept Derridas: Wie sich dort die je schon stattfindende Wiederho-
lung als unerkannte hinter dem scheinbar Anfänglich-Ursprüng-
lichen verbirgt, so ist die anamnesis des vorgeburtlichen Wissens
eine unbewusste Erinnerung und verkannte Prämisse des Erken-
nens. Erinnerung wird als ein Akt der Rückkehr und Wiederholung
aufgewiesen, der sich in der Tiefe, unterhalb der bewussten Repro-
duktion vollzieht. Sie tritt gleichsam an die Stelle des entzogenen
Ursprungs, als eine selbst ursprüngliche, unhintergehbare Wieder-
holung. Bemerkenswert ist desgleichen die Verwandtschaft mit der
von Proust beschriebenen mémoire involontaire: Das unvermittelte
Aufleuchten eines Bildes, das Wieder-Hören eines Klangs, Spüren ei-
ner Empfindung kristallisiert sich um den Kern eines déjà-vu – déjà-

7 Vgl. oben Kap. 4.2.


224 V.  Erinnerung und Selbstfindung

senti, déjà-ouï, déjà-vécu – , in welchem sich Erkennen zuletzt als


ein Wieder-Erkennen manifestiert. Nur deshalb offenbart sich dem
wahrnehmenden Subjekt schlagartig ein Ort, eine Szenerie, weil im
Innersten des Erlebens ein altes Empfinden sich öffnet, ein verges-
senes Erlebnis durchscheint. Die Intensität und Verzauberung, die
der unwillkürlichen Erinnerung anhaftet, hängt an dieser Wieder-
kehr, wenn ein Altes wie durch einen Schleier erneut hervortritt, als
es selbst auf der Bühne unseres Bewusstseins, im Raum unsereres
Erlebens anwesend ist und uns berührt, nicht als bloße Kopie oder
Zeichen eines Ehemaligen erkannt wird. Auch das Geheimnis des
Erzählens besteht darin, Welten zu schaffen und Personen wie im
Original auftreten zu lassen, aber auch Vergangenheiten auferstehen
zu lassen, Totes wieder lebendig zu machen.
In diesem Sinne bildet die Wiederholung als Wiedererkenntnis
ein Element nicht nur der mémoire involontaire, sondern des Er-
innerns überhaupt. Paul Ricœur hat im Wieder-Erkennen geradezu
den Nukleus und das eigentliche Schlüsselerlebnis der Erinnerung
ausgemacht: Die Wiederkehr eines ursprünglichen Erlebens, einer
einstigen Begegnung, die in sich die Bürgschaft der Wahrheit und
Gegenwärtigkeit trägt, ist nach ihm der innerste Kern und das Urer-
lebnis des gelingenden, glücklichen Erinnerns.8 Auch das Wieder-
Erkennen hat etwas von der plötzlichen Offenbarung, der überwäl-
tigenden Gewissheit an sich, welche die unwillkürliche Erinnerung
begleitet. Etwas von deren Evidenzmoment bleibt der Wieder-Er-
kenntnis erhalten, auch wo diese sich graduell-allmählich, stufen-
weise einstellt; es hängt am Element des ›Wieder‹ und ist mit der
Wiederholung, der Re-Identifizierung als solcher gegeben. Mit der
Wiederholung ereignet sich ein Zweifaches, die Begegnung mit dem
Ursprünglichen und das Wirklichwerden in der Gegenwart. Es ge-
hört zur Utopie der Erinnerung, etwas in seiner Ursprünglichkeit,
seiner Neuheit, wie wenn es zum ersten Mal wäre, zu entdecken –
und wieder-zu-erkennen.9

8 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 556; Parcours de


la reconnaissance, a. a. O., S. 198 ff.; siehe oben Kap. 4.2.
9 Stéphane Mosès sieht dieses Motiv bei Benjamin vertieft: »Das Ursprüng-
liche ist das, was als absolut Neues entdeckbar und zugleich als etwas seit
jeher Existierendes wiedererkennbar ist«: »Ideen, Namen, Sterne. Zu Wal-
ter Benjamins Metaphorik des Ursprungs«, in: Ingrid Scheurmann / Konrad
Scheurmann (Hg.), Für Walter Benjamin: Dokumente, Essays und ein Ent­
wurf, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 183–192, hier S. 185.
11.  Die wiedergefundene Zeit 225

Dass etwas erst in der Wiedererkenntnis wirklich erkannt ist, hat


sein Pendant in den Phänomenen, in denen etwas erst in der Wie-
derholung wirklich stattfindet, wirklich ist. Wie nach Celan erst
»Wiederbegegnung Begegnung … zur Begegnung macht«10, betont
die Psychoanalyse, dass erst in der Wiederkehr des Verdrängten die
Verdrängung als Prozess erfahrbar wird, in gewisser Weise real statt-
findet. Dabei betrifft die konstitutive Nachträglichkeit nicht nur das
reale Geschehen, sondern auch seine Vergegenwärtigung; die Wie-
derholung geht, wie in die Geschichte, so auch in die Historie ein.
Geschichten werden erzählt und wiedererzählt, sie lagern sich im
narrativen Geflecht ab, sie werden aus diesem entnommen und wei-
tergesponnen und bilden in dieser Selbstbezüglichkeit die Reflexi-
vität der historischen Lebenswelt: »Nur die Wiederholbarkeit«, so
Kurt Röttgers, »macht die Geschichte«, und »eine Geschichte, die
nicht weitererzählt werden kann, ist gar keine Geschichte«.11 Die
zugespitzte Formulierung artikuliert einen Wesenszug der Seins-
weise von Geschichten, der auch für die Lebenserzählung gilt, die
das Leben iterierend begleitet und nicht ein für allemal vollzogen
und abgeschlossen wird – der allerdings in gewisser Spannung zum
intentional verfolgten, mehr oder weniger methodisch durchgeführ-
ten Projekt des Schreibens seines Lebens steht. Dessen narrativer
Duktus scheint idealtypisch eher für einen einmalig durchgeführten,
linear angelegten und auf einen Abschluss gerichteten Akt zu stehen,
doch ohne dass dies notwendige Voraussetzungen für die Logik der
Selbsterzählung und die Intention der erzählenden Selbsteinholung
wäre. Bestehen bleibt, dass das iterative Element in die Reflexivität
des Lebensvollzugs wie des Lebensausdrucks und der Selbstverge-
genwärtigung des Lebens eingeht. Von der Wiedererkenntnis, die
das Herzstück des Erinnerns bildet, strahlt Wiederholung aus auf
den mit der Erinnerung wesenhaft verschränkten Existenzvollzug
als solchen.

10 Paul Celan in einer Äußerung gegenüber Walter Jens, zitiert nach: Barbara
Wiedemann, Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 533.
11 Kurt Röttgers, »Die Erzählbarkeit des Lebens«, in: Rolf Kühn / Hilarion
Petzold (Hg.), Psychotherapie & Philosophie. Philosophie als Psychothera­
pie? Paderborn: Junfermann 1992, S. 181–199, hier S. 194.
226 V.  Erinnerung und Selbstfindung

(b) Leben als Wiederholung

Dass das Leben Wiederholung sei, ist ein Leitgedanke, der oft im
Anschluss an Søren Kierkegaards frühe Abhandlung Die Wiederho­
lung formuliert worden ist. Kierkegaard nimmt darin ausdrücklich
Bezug auf den Gedanken der Erinnerung, den er in seiner Zeitrich-
tung umwendet: Wiederholung und Erinnerung sind nach ihm »die
gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wes-
sen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt;
wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings
erinnert«.12 Was in dieser eigenartigen Wechselbeziehung zum Aus-
druck kommt, ist die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz, ge-
nauer die Art und Weise, wie Menschen sich bewusst zum Ganzen
ihres zeitlichen Daseins verhalten, indem sie die Aneignung der Ver-
gangenheit und den Selbstentwurf in die Zukunft aufeinander bezie-
hen. In dieser Verknüpfung distanziert sich Kierkegaards Verständ-
nis der Wiederholung von der platonischen Anamnesis, die ganz
dem Vergangenen zugewandt ist und als metaphysische Rückschau
einem in sich Vollendeten und Abgeschlossenen gilt. Im Gegensatz
dazu geht es hier um eine auf künftige Selbstverwirklichung aus-
greifende Erinnerung, einen Zukunftsentwurf, der die vergangene
Selbstprojektion wiederholt und tätig umsetzt.
Wenn die Existenz als Setzung von Neuem aus einem vergan-
genen Entwurf kommt und eine vorausgehende Gerichtetheit auf-
nimmt, so schöpft sie nicht einfach aus dem Gedächtnis als einem
festen Bestand, sondern wurzelt zugleich im Unabgegoltenen und
offenen Potential des Vergangenen. Sie bedenkt das Vergangene auf
seine Zukunft hin, die gleichermaßen die Gegenwart durchdringt.
Um den Zukunftsbezug des Gewesenen, sein Verlangen nach Zu-
kunft wie seine Zukunftsmächtigkeit, zu erkunden, ist seine eigene
Vergangenheit zu erschließen: dasjenige, mit bezug worauf es selbst
eine Zukunft war. Als Wiederholung gründet das Leben nicht nur
in artikulierten Selbstentwürfen, sondern auch in Urerfahrungen,
die es nicht bewusst heraufruft, aus denen heraus es aber Orientie-
rung und Sicherheit in seinem Ausgriff gewinnt. Es können Erfah-
rungen der Angst, aber auch der Geborgenheit und des Zutrauens
sein, ursprüngliche Bewegungen des Zurückweichens und Fliehens,

12 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, in: Gesammelte Werke, 5. und


6. Abteilung, Düsseldorf / Köln: Eugen Diederichs 1955, S. 3.
11.  Die wiedergefundene Zeit 227

doch auch des Glücksstrebens und Sichentwerfens, aus denen aktu-


elles Tun hervorgeht. In seiner Dynamik und Gerichtetheit schließt
menschliches Leben an ein Unterwegssein an, aus dem heraus es sich
findet und zugleich Wege des Neuen öffnet.
Gleichsam spiegelbildlich zur Rückschau findet das Auf-sich-
Zurückkommen in der Wendung nach vorne statt, wenn der Mensch
sich von der Zukunft her versteht, wie es Sartres Satz ›Ich bin, der
ich sein werde‹ anzeigt und wie es andere Autoren potenziert in das
Futurum II einzeichnen, dem gemäß ich bin, der ich gewesen sein
werde, und mein Selbstbild auf das hin öffne, wie man mich der-
einst beschreiben, beschrieben haben wird. Die Doppelbewegung
des Voraus­springens in die Zukunft und Zurückkommens in das
Jetzt ist nach Wolfgang Blankenburg die komplementäre, ebenso
grundlegende Bewegung in der Genese des Selbst wie das Sichfinden
im Gedächtnis. Wie das Selbst des Menschen »aus seiner Vergangen-
heit hervorwächst«, kommt es »aus der Zukunft auf ihn zu«.13 Eine
besondere Version dieses Rückschlags der Antizipation findet in
dem früher angesprochenen Vorlaufen zum Tode14 statt, in welchem
der Ausgriff nicht einem Entwurf, sondern der Konfrontation mit
dem Ende entstammt, von dem her das Zurückkommen eine beson-
dere Eindringlichkeit annimmt und die Existenz in ihrer Tiefe und
Ganzheit tangiert.
Im Geflecht dieser Bezüge zeichnet sich die umfassende Figur ei-
ner Selbstwerdung ab, die sich gleichermaßen in der Erinnerung wie
der zukunftsgerichteten Selbstverwirklichung und des Ausblicks auf
das Ende vollzieht. Dabei entgleitet ihr die volle Selbstpräsenz in
beiden Zeitekstasen, in der Uneinholbarkeit des ersten Ursprungs
wie im iterierten Aufschub der abschließenden Deckung, zuletzt in
der Nichterfülltheit der Gegenwart selbst, die weder aus sich kommt
noch in sich bleibt. Im Selbstentzug und der iterativen Tiefenstruk-
tur des Daseins bestätigt sich die existentielle Bedeutung der Erinne-
rung für die menschliche Existenz. Darin löst sich das Kreisförmige
der Wiederholung von der zyklischen Wiederkehr des Gleichen ab,
wie sie das mythische Schicksal beherrscht, aber auch lebensweltlich

13 Wolfgang Blankenburg, »Futur-II-Perspektive in ihrer Bedeutung für die


Erschließung der Lebensgeschichte des Patienten«, in: ders., Psychopatholo­
gie des Unscheinbaren. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Martin Heinze, Ber-
lin: Parodos 2007, S. 235–252, hier S. 236.
14 Siehe oben Kap. 7.1.
228 V.  Erinnerung und Selbstfindung

als lähmender Zwang und Leere sich auswirken kann.15 Vielmehr


ist es eine befreiende Kreisbewegung, die als Rückkehr-in-sich ein
Sich-Finden im Kommenden trägt und deren Struktur der Wieder-
kehr im Zeichen der Unabgeschlossenheit des Sinns steht, in dessen
Medium menschliches Leben sich expliziert und sich zu eigen wird.

15 Vgl. Emil Angehrn, »Die unabschließbare Erinnerung. Der Kreis des


Lebens und die Zukunft des Vergangenen«, a. a. O.
12.  Das wiedergefundene Selbst

12.1  Nichts ist verloren

Die Idee eines glücklichen Gedächtnisses (mémoire heureuse) bil-


det den Fluchtpunkt, auf den hin Paul Ricœur die vielfältigen For-
men des Erinnerns vereint, die er in seiner Abhandlung La mémoire,
l’histoire, l’oubli ausbreitet.1 Es ist eine Idee, welche die Konnota-
tionen einer wiedererkennenden, integrierenden, befriedeten, ver-
söhnten Erinnerung versammelt, die der Phänomenologie des Ge-
dächtnisses als »Leitstern«2 dient. Sie meint, als glückliche Erinne-
rung, nicht die im Vorigen umschriebene Glückserinnerung, son-
dern umfasst in gleicher Weise das Gedächtnis des Leidens und der
Vergeblichkeit. Vielmehr meint sie die glückende, die im emphati-
schen Sinne gelingende Erinnerung, dies nicht im formellen Sinne
einer adäquaten und umfassenden Vergegenwärtigung des Vergan-
genen, sondern als ein Gelingen mit Bezug auf den Menschen, der
über die Erinnerung sich selbst findet und die sinnhafte Aneignung
seiner Geschichte vollzieht. Insofern nähert sie sich doch auch ei-
nem Glücksversprechen an, als Figuration des Glücks, welches die
Erinnerung verheißt und dessen die Menschen im Erinnern teilhaf-
tig werden.3
Ihr erstes Moment ist durch den Grundgedanken des historischen
Gedenkens definiert, dass »nichts von dem, was war, verloren ist«.4

1 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 537, 556, 643 ff.


2 Ebd., S. 643.
3 »Mémoire heureuse, mémoire apaisée, mémoire réconciliée, telles serai-
ent les figures du bonheur dont notre mémoire fait vœu pour nous-même et
pour nos proches«: ebd., S. 646.
4 Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, a. a. O., S. 82.
230 V.  Erinnerung und Selbstfindung

Nichts und niemand ist vergessen, nichts von dem, was zu mei-
nem Leben gehörte, auch von dem, was darin unterdrückt war und
unbewältigt geblieben ist, ist dem Vergessen und dem endgültigen
Nicht-Verstehen überantwortet. »Nicht umsonst gelebt haben« –
dies ist die Parole des Gedenkens, die zugleich besagt: »Alles hat
Sinn, nichts geschieht umsonst«.5 Nichts verloren zu geben meint
nicht nur die Gegenwehr gegen das zeitliche Entgleiten, sondern
in gleicher Weise gegen den Sinnentzug. Etwas bewahren heißt für
es einstehen, seinen Sinn retten. Erinnerung, die sich im Kreis der
Selbstvergewisserung bewegt, schreibt sich in den Horizont einer
ursprünglichen Sinnbejahung und Affirmation des Lebens ein. In ihr
vergewissert sich das Subjekt des Sinnzusammenhangs, in welchem
sein Leben steht und sich entfaltet.6 Das Vertrauen in den Sinn der
Existenz und in die Kraft des Verstehens bildet die unabdingbare
Grundlage erkennender Erinnnerung. Sie ist für diese keine bloß
vorausgesetzte Prämisse, sondern eine hermeneutische Ressource,
die in der Erinnerungsarbeit selbst aktiviert und erzeugt, aus ihr
gewonnen wird. Nicht zuletzt geschieht dies in der angeführten
Verflechtung von Leidens- und Glückserinnerung: Der Wille zur
Erinnerung, der sich im Widerstand gegen das Leiden und die Sinn-
losigkeit behauptet, bewährt sich als eine Macht der Gewinnung von
Sinn und Erfüllung, deren Widerstandskraft ihrerseits in der Praxis
des Erinnerns wurzelt und von der Sehnsucht und dem Glücksver-
sprechen zehrt, die dem Gedächtnis innewohnen.
In alledem geht es um eine basale Affirmativität, die nicht eine
bestimmte sinnhafte Ausrichtung, eine teleologische Lebensdeutung
auf ein Ideal oder einen höheren Zweck hin enthält. Es geht um
das grundsätzliche Jasagen, das bei aller Brüchigkeit und Hinfällig-
keit des Lebens sowohl die Grundlage der Erinnerung bildet wie es
in ihr seine Stütze findet. Es ist eine affirmativ-responsive Tiefen-
schicht, die noch der Erinnerung an das Unglück vorausliegt und vor
der umfassenden, nihilistischen Sinnleugnung schützt. Nicht um-
sonst haben emphatische Konzepte die Verwandtschaft des Geden-
kens mit dem Danken betont, die aus der Erinnerung erwachsende
Dankbarkeit dafür, dass die Selbstverständigung über das Ganze des

5 Ebd., S. 83.
6 Vgl. Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben – Subjektivität,
Weltverstehen, Kunst, a. a. O., S. 200 f.; ders., Endlichkeit und Sammlung des
Lebens, a. a. O., S. 59, 63 ff.
12.  Das wiedergefundene Selbst 231

­ ebens die Kraft zur Abwehr der umfassenden Negation gewährt.7


L
Positiv ausformuliert wird das Festhalten am Sinn als eine Recht-
fertigung des Lebens, analog der von Theodizee und Geschichts-
philosophie verantworteten Rechtfertigung der Welt.8 Immer geht
es um eine Rechtfertigung und Sinnbejahung, die sich in kritischer
Auseinandersetzung mit Erfahrungen des Übels und Phänomenen
des Scheiterns vollzieht und in ihnen zu bewähren hat: weder um
eine dogmatische Positivitätsthese noch eine verharmlosende Einge-
meindung oder verdrängende Leugnung des Negativen. Es geht um
ein Festhalten am Sinn im Modus des Trotzdem als einer immanen-
ten Prämisse auch des Versagens und der Kritik. Anthropologisch
kann man dieses Festhalten auf das Urvertrauen zurückführen, das
in den Anfängen der Subjektbildung angelegt wird, das zwar kein
ontologisches Apriori, sondern eine genetisch erzeugte Disposi-
tion ist, die aber für jedes konkrete Wollen und Handeln ein immer
schon Vorausliegendes, eine fundamentale Supposition bildet. Ver-
stehensmäßig kann man damit jene hermeneutische Grundoption
verbinden, die im Gegenzug zu der von Ricœur beschriebenen Her-
meneutik des Verdachts ein basales Vertrauen in die Sinnhaftigkeit
der Welt und die Möglichkeit des Verstehens voraussetzt, wie es in
jeder Verständigung, in jedem Sagen und Hören als Vorbedingung
impliziert ist.
Erinnerung, wie sie in der Lebensbeschreibung praktiziert wird,
ist eine Besinnung auf das Leben, der es wesenhaft um den Sinn des
Lebens, um die Möglichkeit, sich in seinem Leben zu finden und
sich mit seinem Leben zu identifizieren, geht. Solche Aneignung
setzt eine ursprüngliche Affirmation des Lebens voraus, sie würde
durch eine prinzipielle Negierung selbst in Frage gestellt, in ihrem
Vollzug desintegriert. Die Intention der Erinnerung ist wie der Wille
zur Verständigung die unerlässliche Voraussetzung des sinnhaften
Selbst- und Weltverhältnisses. Das Verstehen verlangt die Präsup-

7 Dieter Henrich, Endlichkeit und Sammlung des Lebens, a. a. O., S. 89. –


Zahlreiche Autoren heben die sprachliche Affinität hervor, so Paul Celan:
»Denken und Danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ur-
sprungs. Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von:
›gedenken‹, ›eingedenk sein‹, ›Andenken‹, ›Andacht‹« (Rede bei der Entge-
gennahme des Bremer Literaturpreises, in: Gesammelte Werke, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1986, Bd. 3, 185); ähnlich Martin Heidegger (Was heißt
Denken? Tübingen: Niemeyer 1954, S. 91–95).
8 Vgl. Paul Ricœur, Vivant jusqu’à la mort, a. a. O., S. 79.
232 V.  Erinnerung und Selbstfindung

position des Sinns wie diese das Verstehen-Wollen voraussetzt. Er-


innern, wie Sprechen und Hören, konstituiert den Sinn des Lebens
ebenso wie es auf ihn baut, ihn als entgegenkommenden aufnimmt,
gestaltet und aneignet.

12.2  Selbsteinholung und Selbsterkenntnis

Solche Erinnerung steht als Einholung des eigenen Lebens und Weg
der Selbstfindung zur Diskussion. Es war an früherer Stelle vom
grundsätzlichen Problem einer Selbsteinholung die Rede, die sich in
der Zeit und im Wettlauf mit der Zeit vollzieht.9 Es ist ein Pro­blem,
das sich im Blick auf das zweifache Ziel ergibt, das Ganze des Lebens
vor sich zu bringen und in ihm auf sich selbst zu treffen, sich selbst
zu erkennen. Von alters her ist das Dilemma erörtert worden, dass
man das Ganze nur von außen überblicken, das gesamte Leben nur
nach dessen Ablauf erzählen und beurteilen kann. Ein autobiogra-
phischer Bericht, der das Leben bis zu seinem Ende erzählen wollte,
müsste im Prinzip den Standpunkt eines Nachrufs einnehmen und
mit der temporalen auch die auktoriale Binnenperspektive über-
schreiten.10 Einen anderen Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet
das virtuelle Ausgreifen aufs Ganze, so das von Heidegger bedachte
›Vorlaufen‹ zum Tode, dem es indes um mehr als eine temporale
Ausweitung geht. Vielmehr interessiert die existentielle Konfron-
tation mit dem Ende, die auf das Leben zurückwirft und dieses in
seiner Tiefe, seinem Ernst erfassen lässt. Ähnlich beschreibt Kierke­
gaard das ›Umschiffen‹ des Daseins als Vorbedingung dafür, dass der
Mensch sein wirkliches, selbst gewähltes Leben führt.11 Nur vom
Ganzen her und damit in gewisser Weise von außen, indem er aus
dem Binnenverlauf der Existenz heraustritt, kommt der Mensch aus
seinem Leben auf sich selbst zurück, vermag er in seinem Leben sich
selbst zu ergreifen, sich selbst zu erkennen. Erinnern ist ein Modus
dieses Heraustretens und Zu-sich-Kommens.

9 Siehe oben, Kap. 7.


10 Damit spielt Stephan Heyms zu Lebzeiten publizierter autobiographi-
scher Nachruf, mit dem »der geneigte Leser« in Ermangelung eines echten
Nachrufs »vorliebnehmen« möge: Stephan Heym, Nachruf, München: Ber-
telsmann 1988, S. 844.
11 Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, a. a. O., S. 4 f.
12.  Das wiedergefundene Selbst 233

Die Selbstbegegnung im Erinnern realisiert exemplarisch die von


Ricœur betonte Wieder-Erkenntnis. In der wiederkehrenden Welt,
im Wieder-Erleben eines Tuns oder Erleidens wird der Mensch sei-
ner selbst gewahr, wird er sich selbst gegenwärtig. Die Selbstpräsenz
als erneut erlebte Gegenwärtigkeit seiner selbst an einem bestimm-
ten Ort, in einer bestimmten Lebenssituation macht den Kern des-
sen aus, worum es der Sehnsucht der Erinnerung geht. Deren Ver-
langen gilt nicht einfach der Rückkehr alter Bilder, der Erkenntnis
einer untergegangenen Welt, wie sie ein Leitinteresse historischer
Arbeit bildet. Es gilt dem eigenen Sein am vertrauten Ort, dem Sein
bei den Dingen und mit Menschen, die wir gekannt haben, dem Le-
ben in der vergangenen Welt. Erinnerung zielt auf die Begegnung
mit dem früheren Ich wie mit der einst erlebten Welt. Diese Be-
gegnung hat nicht nur einen herausgehobenen kognitiven, sondern
existentiellen und affektiven Wert. Erkenntnismäßig hat sie etwas
von der Unfehlbarkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins an sich.
Das überwältigende Erlebnis, sich in einer Landschaft der Kindheit,
einer verdrängten Lebenskrise oder vergessenen Glückserfahrung
wiederzufinden, ist von gleicher Intensität und Unbezweifelbarkeit
wie aktuelle Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen. Wenn wir
einen alten Schmerz wieder empfinden, uns vor einer bestimmten
Bedrohung wieder finden, so ist der Wahrheitsanspruch solcher
Erinnerung weder auf Zeugnisse und Argumente angewiesen noch
durch sie zu widerlegen.12 Das Moment der Wieder-Begegnung und
des Sich-wieder-Findens artikuliert ein Motiv, das auch jenseits der
Erlebenserinnerung, in der nicht auf eigenes Erleben rückführba-
ren Gedächtnisarbeit einen idealen Fluchtpunkt, eine Art regulatives
Prinzip bilden kann. Es steht für die Dichte des Erinnerns und der
historischen Erkenntnis als einer Wieder-Erkenntnis, in welcher ein
Vergangenes in seiner Ursprünglichkeit gegeben ist und sich zeigt.
Wo Erinnerung aber mit dem eigenen Leben und einstigen Erleben
zu tun hat, findet diese Begegnung in gesteigerter Deutlichkeit und
Direktheit statt.
Neben der kognitiven öffnet sich darin die affektiv-lebenswelt-
liche Dimension des Erinnerns. Sie weist von ferne auf jenes Glück,
das sich Prousts Erzähler vom Schreiben seines Lebens versprach,

12 Günther Bittner, »Bin ›ich‹ mein Erinnern?«, in: Ders. (Hg.), Ich bin mein
Erinnern. Über autobiographisches und kollektives Gedächtnis, Würzburg:
Königshausen & Neumann 2006, S. 57–70, hier S. 64.
234 V.  Erinnerung und Selbstfindung

und wirft die Frage auf, worin das Geheimnis dieser emotionalen In-
volviertheit besteht. Warum interessieren uns Erinnerungen, ­warum
berühren sie uns, warum rühren sie uns an?13 Proust selbst hat die
besondere Resonanz der unwillkürlichen Reminiszenzen, um de-
ren Aufklärung sein Held sich bemüht, damit begründet, dass wir
durch sie ins Zeitlose enthoben werden und in der konkreten, sin-
gulären Empfindung an einem Allgemeinen teilhaben, das Wesen der
Dinge erkennen.14 Man mag darin einen Aspekt jenes »Rätsels des
Glücks«15 der Erinnerung sehen; als Wiedererkenntnis hat diese we-
sentlich mit der Transzendierung des Hier und Jetzt zu tun. Indessen
scheint es weniger die Annäherung an ein ontologisch Allgemeines
denn die Nähe zum einmaligen früheren Erleben zu sein, welche die
besondere Faszination des Sicherinnerns und die Anhänglichkeit an
das Vergangene ausmacht. Dass dasjenige, was wir damals gesehen
und gehört haben, dasjenige, was wir selbst einst waren, uns heute
nahe und greifbar, dass es an ihm selbst gegenwärtig ist, berührt
uns und macht die eigentümliche Qualität und emotionale Färbung
des Erinnerns aus. Gegenwart und Selbstgegenwart sind wesentliche
Bestand­teile des wiedergefundenen Selbst.

12.3  Die Selbstgegenwart im Leben

Die Selbstgegenwart, zu der uns die Erinnerung verhilft, in welcher


wir uns selbst nahe sind, mit uns in Berührung kommen, ist mehr
als eine punktuelle Selbstvergewisserung, ein Sichversenken im ei-
genen Selbst. In Berührung kommen wir nicht nur mit uns, sondern
mit unserem Leben. Und auch hier ist es mehr als das Innewerden
in herausgehobenen Episoden, sei es eines Glücks oder Unglücks,
eines Anfangs oder Wandels. Es ist ein Innewerden seiner selbst, das
idealiter auf das Ganze ausgreift. Der innerste Wunsch der Lebens-
beschreibung ist, sich in seinem Leben als ganzem gegenwärtig zu
werden, ohne dass dies bedeutet, das Leben in seiner Vollständigkeit,
vom Anfang her und auf das Ende hin, in seiner materialen Fülle ver-

13 Vgl. Rüdiger Bittner, »Warum rühren uns Erinnerungen?«, in: Günther


Bittner (Hg.), Ich bin mein Erinnern, a. a. O., S. 71–78.
14 Siehe oben, Kap. 4.4.
15 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 259 f. (À la recherche
du temps perdu, Tome III, a. a. O., S. 867).
12.  Das wiedergefundene Selbst 235

gegenwärtigen zu wollen. Nicht dass ich das Leben als ganzes vor
mir habe, sondern dass ich in ihm auf mich selbst stoße, es als das
meine aneigne, ist die Utopie des Heimischwerdens in seinem Le-
ben. Das »kleine Wunder der glücklichen Erinnerung«16 meint jenes
volle Präsentwerden, in dem sich etwas offenbart und gegenwärtig
wird. Das Sich-selbst-Wiederfinden in der wiedergefundenen Zeit
ist nicht Reduplikation eines früheren Besitzes oder einer einstigen,
verlorenen Selbstpräsenz, sondern erst ein originäres Finden und
Sich-Finden.
Indessen sind die Leitvorstellungen der Selbsteinholung und der
Selbstgegenwart im Leben nicht ohne Zwiespalt. Als Fluchtpunkt
der Sehnsucht des Erinnerns hat sich ein Ideal der Gegenwärtigkeit
gezeigt, das ein in sich gedoppeltes ist: ein Ideal der Gegenwart des
Vergangenen im Jetzt und des Sich-Gegenwärtigseins des Subjekts
in seinem Leben. Dabei haftet der Idee der Gegenwart eine innere
Ambivalenz an. Auf der einen Seite meint sie ein positives Ideal,
zeitlich wie seinsmäßig: ein Ideal der Erfüllung, der reinen Manifes-
tation und des Einsseins-mit-sich, jenseits allen Mangels und aller
Abwesenheit. Auf der anderern Seite assoziieren sich mit ihr Bilder
der Leere und des Stillstands, Gegeninstanzen zum Leben als offener
Bewegung und ungestilltem Verlangen. Das Leben zu bejahen heißt
nicht nur nach der letzten Erfüllung zu streben, sondern auch diese
Offenheit zu bejahen, nicht vom Begehren abzulassen17, das jede Be-
friedigung transzendiert und die Selbstkoinzidenz fortwährend auf-
schiebt. Eine volle Selbsteinholung als abschließendes Einswerden
wäre als Erlöschen des Begehrens ein Ende des Lebens selbst. Diese
Dynamik bildet auch den Nerv der Lebenserzählung und Lebens-
erinnerung. Wenn diese dem Sichfinden in seinem Leben zugrunde-
liegt, so erschöpft sie sich nicht in der Vergegenwärtigung vergan-
gener Fakten und Ereignisse. Die Sehnsucht gilt dem Einswerden
nicht nur mit dem, was wir waren und erlebt haben, sondern auch
mit dem, was wir gar nicht waren, sondern nur sein wollten, wonach
wir uns gesehnt haben. Das Unerledigte, das nichtgelebte Leben ist
Triebkraft des Lebens wie des Gedächtnisses, das unerfüllte Seins-
verlangen liegt der Existenz wie der Erinnerung zugrunde. So ist

16 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 556.


17 Vgl. Lacans Maxime »ne pas céder sur son désir«: Jacques Lacan,
L’Éthique de la psychanalyse (1959–1960), Le séminaire, livre 7, Paris: Seuil
1986, S. 368 f.
236 V.  Erinnerung und Selbstfindung

auch die Gegenwart, die solchem Wiederfinden vorschwebt, mehr


als das Präsentwerden eines Fernen und einstmals Gewesenen. Es ist
die Sehnsucht nach einem Einswerden mit sich in einer Geschichte,
die sich in die Offenheit des Lebens einschreibt. Als Lebensbeschrei-
bung kann der Erinnerung eine Spannung innewohnen zwischen der
Ausrichtung auf eine vollendete Darstellung und der Teilhabe am
nicht vollendbaren Leben, zwischen dem idealiter abschließbaren –
wenn auch nie zum Ende kommenden – Werk und der nicht-schließ-
baren Bewegtheit des Lebens. Die Spannung vertieft sich durch die
innere Polarität des Lebens selbst, das als wesensmäßig offenes zu-
gleich einem Ende entgegen geht, das keine Vollendung birgt. Die
Selbstfindung im Leben und in der Erinnerung vollzieht sich unter
Bedingungen einer nicht überwindbaren Endlichkeit.
Zuletzt sind die Unabschließbarkeit des Werks wie die Konfron-
tation mit dem Zu-Ende-Gehen zu integrieren in die affirmative
Unvollendetheit des Lebens, in welchem der Mensch sich auf sich
selbst bezieht. Es ist ein Sichfinden in seinem Leben, das sich im
Rückblick wie im Ausblick entfaltet und das dem ursprünglichen
Streben nach Ganzsein und Glück entspringt. Das Glück, das Proust
exemplarisch in Momenten der mémoire involontaire, des erfüllten
Einsseins mit sich im Vergangenen evoziert, ist nicht solchen heraus-
gehobenen Augenblicken vorbehalten, sondern steht als Leitstern
über der Arbeit des Gedächtnisses als solchen. Was die vollendete
Selbstkoinzidenz verspricht, soll in anderer Weise im Vollzug des
Schreibens, der Erinnerung, des Lebens erfahren werden. Erinne-
rung dient der Aneignung des Lebens in eins mit dem Vollzug des
Lebens. Sie ist nicht bloß nachträgliche Reflexion und äußere Zutat,
sondern innerer Teil eines Lebensvollzugs, der zum Anfang zurück-
geht, auf das Ende zugeht. Die ›glückliche Erinnerung‹ steht im Ho-
rizont der Frage nach dem Glück des Lebens, nach dem gelingenden
Leben. Dessen Vollendung liegt nach Aristoteles nicht in einem Ziel
oder Resultat, sondern in der Qualität eines Vollzugs, in welchem
das Streben des Menschen sich erfüllt und der Mensch in seinem
Leben sich gegenwärtig wird. Es ist ein Vollzug, der auf eine Ver-
gangenheit zurückblickt und auf ein Ende ausgreift, in dem sich die
Vollendung mit dem Zu-Ende-Gehen überlagert, die Erfüllung mit
dem Abschied einhergeht. Das Glück im Vollzug, nicht seinem Ab-
schluss anzusiedeln heißt das Unterwegssein zum Ort der Existenz
und der sie begleitenden, in sie eingehenden Erinnerung zu machen.
Es heißt, das Leben in seinem Unvollendetsein, das Schreiben des
12.  Das wiedergefundene Selbst 237

Lebens in seiner Unabgeschlossenheit zur Dimension der mémoire


heureuse zu machen. Es heißt im unvollendeten Leben die Gegen-
wärtigkeit des Lebens und seiner selbst zu finden. Der Wunsch, sein
Leben zu schreiben, hat sein Telos nicht notwendig und nicht allein
im vollendeten Werk, wie es uns in exemplarischer Verwirklichung
bei Marcel Proust begegnet. Gerade sofern die Lebenserinnerung
nicht nur eine Besinnung auf das Leben, sondern ein eigener, kon­
stitu­tiver Teil des Lebens, ein Moment des Lebensvollzugs selbst ist,
ist sie durch dessen Endlichkeit mit gezeichnet. Sie steht, wie das
Leben, im Zeichen des Unvollendetseins. Paul Ricœur hat seiner
schon mehrfach herangezogenen großen Untersuchung La mémoire,
l’histoire, l’oubli als Abschluss eine epilogartige Reflexion angefügt:
»Sous l’histoire, la mémoire et l’oubli. / Sous la mémoire et l’oubli,
la vie. / Mais écrire la vie est une autre histoire. / Inachèvement.«18
Die Erinnerungsarbeit wird zuletzt auf das Leben und das Schreiben
des Lebens zurückgeführt und ineins mit diesen der Unvollendetheit
übergeben. Unstrittig will der Schlussakzent der Nicht-Vollendung
nicht die vorausgehende Emphase der Gedächtniskultur mindern
und nicht den Glücksanspruch des Erinnerns widerrufen. Im Leben
und seiner Nichtgeschlossenheit zu sich zu finden ist das Verspre-
chen, das dem Verlangen, sein Leben zu schreiben, vor Augen stand.

18 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 657. Vgl. dazu:


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Namenregister

Abraham 144 Bobbio 129
Adichie 194 Böhme  26, 54
Adorno  82, 140, 159, 164, 178, Bozzaro  40, 42
186, 190, 197 f., 200 f., 203– Braun  144, 170
205, 211 f. Brecht 114
Agamben  178, 183–185
Altwasser 124 Canetti 197
Améry  38, 44 Cassirer 101
Apel 178 Celan  178, 225, 231
Aragon 164 Cicero 160
Aristoteles  29, 32 f., 60, 118.,
146, 156, 178, 202, 236 Danto  28, 51, 97
Assmann  56, 63 Debray 140
Augustinus  33, 38, 84, 173, de Man  176
200, 202 Derrida  36, 60, 138, 142, 144,
Auster  116, 127 147, 150, 222
Descartes 223
Baumgartner 50 Dilthey  24, 113 f., 119
Benjamin  52, 61 f., 69–72, 142, Dodel 28
158, 176, 178–181, 198, 201,
206, 211 f., 214, 224 Eliot 140
Bergson  73, 88, 134
Bergholz 49 Foucault 185
Bernet  147, 158 Freud  52, 60 f., 150, 158, 169,
Bienenstock  51, 166 172, 190
Bieri 24 Frevert 63
Bittner G.  80, 233 Fried 177
Bittner, R.  80, 234 Friese 56
Blankenburg 227 Frisch 209
Bloch  36, 139, 146, 196 f.,
200–202, 211, 213 Gagnebin 237
Blumenberg 34 Goethe 200
Namenregister 255

Gottlob 56 Küchenhoff 149
Grätzel  76, 89, 116, 171, 221 Kurzeck  90, 94–96, 116, 127–
Grass 173 129, 191–193, 195, 199, 201,
Greisch 237 205
Grondin 237
Lacan  144, 235
Habermas 190 Lacoue-Labarthe 119
Hartman 213 Lanzmann  77, 91, 162, 181–
Hegel  41 f., 148, 166 183
Heidegger  19 f., 37, 39, 120– Lesch 124
122, 134, 141, 231 f. Levi  163, 178, 183–185
Henrich  20, 54 f., 126, 230 f. Lévinas  36, 60, 135, 138, 159,
Heraklit 174 185
Herrndorf  124, 192 Lichtenberg 53
Heym  124, 232 Liebsch 165
Hiob 159 Link-Heer 84
Hofmannsthal 142 Löwith 145
Holdenried 113 Lübbe  107, 145
Horkheimer  164, 195, 200,
203, 205, 212 Mahler 204
Husserl  60, 64 f., 138 Marquard  129 f.
Marten 122
Jankélévitch 163 Mautz 123–125
Jaspers 42 McTaggart Ellis MacTaggart  33
Jay 195 Mendes-Flohr 213
Jean Paul  90, 174, 196, 205 Mercier 209
Johnson 69 Merleau-Ponty 138, 171
Meyerhoff 139
Kant 223 Micali 40
Kertesz 178 Mitscherlich  63, 175 f.
Kettner 71 Mittag 56
Khurana  144 f. Modiano  27, 94 f., 126
Kierkegaard  39, 121 f., 145, Mörike 198
209, 226, 232 Mosès 224
Klinkert  84, 91, 119 Musil 110
Kluge 198
Knell  111 f. Nabokov  69, 74, 93, 141, 167 f.,
Kodalle 221 191, 193, 195
Koselleck  63, 210 Neruda 213
Kristéva 143 Nietzsche  49, 159
256 Namenregister

Nolte 148 Semprun  125, 140, 143, 164 f.,


178, 184, 215
Parmenides  31, 37 Seneca 53
Pascal 39 Sijakovic 163
Peng-Keller 123–125 Simmel 100
Perrec 178 Simon 23
Petrowskaja 49 Spaemann 80
Platon  33, 73, 223 Sterne 128
Postone 176 Stößinger 199
Proust  9–12, 23, 29, 38, 43–45, Straub 56
65–68, 71 f., 75 f., 79–84, Strauß  72, 74, 92, 195 f., 199,
87 f., 91, 94, 98 f., 101, 115, 205
117, 122, 127, 139, 195, 198,
204, 206, 219, 223, 233 f., Tabori 174
236 f. Taylor 19
Tengelyi 59
Radisch 126 Theunissen  32, 40, 63, 84, 122,
Rentsch 43 208 f.
Rickert 57 Thomä  26 f. , 112, 120
Ricœur  9, 52, 56, 59–61, 73, Tolstoi  121, 140
75, 86, 98, 106–109, 125, 135, Torok 144
139, 141, 148, 156, 164 f.,
167, 170, 174 f., 208, 216, Valéry  71, 145
219 f., 224, 229–231, 235, Voltaire 159
237 Vosganian 167
Rilke  28 f.
Rorty  23 f. Wagner-Egelhaaf 114
Roth 124 Weinrich 221
Röttgers  26, 225 Weizsäcker  171, 221
Rousso  148, 167, 170 Wiesel 165
Rüsen  56, 212 Williams 121
Windelband 57
Santner  143, 175 f. Wittgenstein  123, 125, 178
Sartre 227 Wolf  29, 50, 54 f., 100, 115,
Schalamow 165 147, 173 f., 200, 204, 209, 213
Schapp 107 Worms 237
Schelling 135
Schlette 34 Yerushalmi  52, 100, 115
Schlingensief  44, 124
Schmitz  69, 77, 80 Zorn 124

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