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Emil Angehrn
RoteReihe
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Klostermann
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Emil Angehrn · Sein Leben schreiben
Emil Angehrn
KlostermannRoteReihe
für Monique
Originalausgabe
5. Vermittelte Erinnerung:
Die Wiedergewinnung des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . 87
5.1 Von der unmittelbaren zur vermittelten Erinnerung . . . . 87
(a) Das gemeinsame Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
(b) Der Umweg der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
5.2 Mittelbare Vergegenwärtigung (I):
Spurensuche, Zurückgehen, Wiedererleben . . . . . . . . . . . 93
5.3 Mittelbare Vergegenwärtigung (II):
Sprache als Ausdruck und Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
9. Leidenserinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
9.1 Aporien der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
(a) Ohnmacht des Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
(b) Die Herausforderung des Negativen . . . . . . . . . . . . . . . 158
(c) Leiden und Versagung des Erinnerns . . . . . . . . . . . . . . . 161
9.2 Notwendigkeit der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
9.3 Wege und Umwege der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
(a) Unfreie Erinnerung und Wiederholung . . . . . . . . . . . . . 169
(b) Durcharbeiten – Lesen und Schreiben des Vergangenen . 172
(c) Rettende Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
(c1) Der Anspruch des Vergangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
(c2) Die Darstellung des Nicht-Darstellbaren . . . . . . . . . . . . . . . 181
(c3) Das Zeugnis des Nicht-Bezeugbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Einleitung
Die Frage nach der Erinnerung
»wie eine Offensive vorbereiten, es ertragen wie die Qual der Ermüdung,
wie eine Ordensregel auf sich nehmen und wie eine Kirche erbauen, ihm
folgen wie einer ärztlichen Weisung, es überwinden wie ein Hindernis,
erobern wie eine Freundschaft, hegen und pflegen wie ein Kind, es schaf-
fen wie eine Welt.«2
und das Vergangene nicht mehr einholen, sein Werk nicht mehr ver-
wirklichen zu können:
»Ich hatte gelebt wie ein Maler, der einen Weg hinaufgeht, unter dem ein
See sich breitet, dessen Anblick ihm ein Vorhang aus Felsen und Bäumen
verdeckt. Durch eine Lücke erblickt er ihn; er hat ihn ganz und gar vor
sich; er greift zu seinem Pinsel. Doch schon kommt die Nacht, in der man
nicht mehr malen kann und über der sich kein neuer Tag erheben wird.«3
Menschliches Leben gilt als die höchste Form des Lebens. Dies nicht
einfach deshalb, weil in ihm das Lebendige seine höchsten Fähig-
keiten entwickelt und seine höchste Gestalt ausbildet, weil sich das
Leben im Menschen von der Bewegtheit des Natürlichen zum Leben
des Geistes erhebt. Genauer liegt die Steigerung darin, dass sich im
Menschen der Grundzug des Lebens, selbstbezügliche Bewegung
zu sein, in neuer Form ausprägt. Menschliches Sein hat Teil an der
spezifischen Prozessualität, welche das Leben als solches ausmacht
und die sich durch Selbstbezüglichkeit auszeichnet, als eine Bewe-
gung, die aus sich kommt und auf sich selbst gerichtet ist. In basaler
Form ist die Reflexivität diejenige des Lebens, das sich selbst bejaht
und das Leben will. Das dem Leben immanente Streben ist eines, das
nicht nur auf irgendwelche Ziele und Leistungen gerichtet ist, son-
dern in reflexiver Form nach der Erhaltung, ja, Steigerung des Le-
bens selbst strebt. In der klassischen Naturphilosophie ist diese Pro-
zessform als teleologische gefasst worden, als zweckmäßige Gerich-
tetheit der Naturwesen, die in ihrem Aufbau und ihrer Bewegung,
im Einschlagen von Wegen, Koordinieren der Teile und Verwenden
von Mitteln auf ein Ziel, zuletzt auf das Sein des Lebendigen selbst
gerichtet sind. Durch ihre gestaltende und synthetisierende Kraft
strukturieren Lebewesen die Funktionsweise des Organismus und
dessen Entwicklung in der Zeit. Wenn auch menschliches Dasein an
der funktionalen Selbstregulierung und selbstbezüglichen Dynamik
des Lebendigen teilhat, so besteht die Steigerung, welche die höhere
Seinsform des Menschen kennzeichnet, nicht in einer bloßen Opti-
mierung der Selbstregulierung und dynamischen Potenzierung des
Lebens. Vielmehr geht es darum, dass der Selbstbezug des Lebens
18 I. Die Zeit des Lebens
Menschliches Leben ist, wie tierisches Leben, für sich seiendes Le-
ben. Es ist nicht nur ein objektiver, final strukturierter Prozess und
auch nicht nur ein funktional-selbstbezüglicher, auf das Wohl und
Weiterbestehen des Organismus gerichteter, ihm zugute kommender
Verlauf. Es ist für sich in dem Sinne, dass es dem lebenden Subjekt
explizit gegeben ist, als Gegenstand vor Augen steht, so dass es sich
bewusst auf sein Leben beziehen, sich zu ihm verhalten kann. Dieses
bewusste Verhalten zu seinem Leben hat eine theoretische und eine
praktische, eine kognitive und eine voluntative Dimension. Mensch-
liches Leben ist von Beginn an ein sich spürendes, sich gewahren-
des, sich selbst erfahrendes Leben. Phänomenologische Beschrei-
bungen haben die basale Selbstaffektion und Selbstwahrnehmung
aufgezeigt, die dem lebendigen Existieren je schon innenwohnt. Die
Intentionalität, die das Merkmal bewussten Lebens bildet, geht nicht
auf im Gerichtetsein auf äußere Gegenstände, sondern enthält im-
mer auch das Für-das-Subjekt-Sein dieses Bezugs; Bewusstsein von
etwas geht mit dem zumindest impliziten Bewusstsein seiner selbst
einher. Darüber hinaus aber gibt es das ausdrücklich dem eigenen
Selbst, der seelischen Befindlichkeit und dem eigenen Körper zu-
gewandte Bewusstsein, wie es namentlich in einer von der Leib-
lichkeit ausgehenden Analyse betont wird. Das Lebendigsein des
Menschen ist nicht nur ein objektiver Befund, sondern verbindet
sich von vornherein mit dem subjektiven Zustand des Bewusst-Seins,
des Wachseins als Basis jeder spezifizierenden Selbstwahrnehmung
und Verhaltensweise.
Jenseits der Basis der Bewusstheit und elementaren Selbstwahr-
nehmung – die im Wesentlichen ein Erkennen im Modus der Passi-
vität, des Erlebens und Affiziertwerden ist – ist menschliches Leben
kognitiv auf sich bezogen, indem es Wege der expliziten Erkundung
seiner selbst beschreitet. Es sind Wege der Erforschung, der Inter-
pretation und des Bemühens um Verständnis, auf denen das Leben
mit sich selbst vertraut wird, sich in seiner strukturellen Verfassung
wie seiner je besonderen Bestimmtheit kennenlernt. Zur menschli-
1. Das sich verstehende Leben 19
1.3 Selbstbeschreibung
4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S.12 (der Mensch als das Seiende,
»… dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«).
5 Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltver
stehen – Kunst, München / Wien: Hanser 2001, S. 15.
6 Dieter Henrich, Endlichkeit und Sammlung des Lebens, Tübingen:
Mohr-Siebeck 2009, S. 59 f.
1. Das sich verstehende Leben 21
Schriftsteller realisiert, für den nach Claude Simon der Sinn nichts
Vorgegebenes ist, das er dem Publikum zu zeigen und weiterzugeben
hätte, sondern etwas, das er im Laufe seiner Arbeit in der Sprache
erzeugt, deren Resultat unendlich reicher als die anfängliche Inten-
tion ist. Es ist eine Arbeit, deren Unwegsamkeiten Simon in seiner
Nobelpreis-Rede ähnlich beschreibt wie sie Proust geschildert hatte:
»L’écrivain progresse laborieusement, tâtonne en aveugle, s’engage
dans des impasses, s’embourbe, repart – […] toujours sur des sables
mouvants.«7 Doch nicht nur die Mühsal, sondern ebenso die emi-
nente Macht der sprachlichen Vergegenwärtigung, die Ausdruck wie
Entdeckung und schöpferische Gestaltung ist, tritt uns im Werk des
Schreibens entgegen. Sie nähert die Leitidee der Selbstverständigung
dem Motiv der Selbstbeschreibung an.
11 Vgl. Gernot Böhme, Ich-Selbst. Über die Formation des Selbst, München:
Fink 2012, S. 55–102; Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte
als philosophisches Problem, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007; Kurt Rött-
gers, »Die Erzählbarkeit des Lebens«, in: Rolf Kühn / Hilarion Petzold (Hg.),
Psychotherapie & Philosophie. Philosophie als Psychotherapie?, Paoderborn:
Junfermann 1992, S. 181–199.
1. Das sich verstehende Leben 27
sinnung auf das Vergangene und dem Ausgriff auf das Ganze. Wenn
die narrative Form ihr Grundgerüst ist, so ist der Rückblick ihre
originäre Blickrichtung; der retrospektive Vorgriff bildet die Kern-
struktur des narrativen Satzes14, das Präteritum ist die Zeitform der
Erzählung.15 Lebensbeschreibung handelt von Vergangenem, ihr
Antrieb und ihre Leistung liegen nicht zuletzt im Widerstand gegen
das Vergehen und Entschwinden des Lebens. Sie hält für die Gegen-
wart fest, was nicht mehr da ist; sie sucht, gräbt aus, rekonstruiert,
was teils im Gedächtnis und in Dokumenten niedergelegt ist, teils
unsichtbar und abwesend ist, sich der Vergegenwärtigung entzieht.
Lebensbeschreibung ist Ausdruck des Bedürfnisses, sich in seinem
Leben zu sammeln, sich im Zusammenhang seines Lebens als gan-
zem zu erkennen. Der Wunsch, sich in seinem Leben gegenwärtig
zu werden, ist Movens des Schreibens des Lebens. Rilke spricht von
der Notwendigkeit, das »Diktat des Lebens« nachzuschreiben.16 Die
Rede vom Diktat und Nachschreiben spielt darauf an, dass es etwas
zu hören, zu lesen gilt, dass das Leben selbst spricht und einen Sinn
transportiert, der vom Diktatschreiber in Wahrheit aber nicht nur
registriert und transkribiert, sondern zur Sprache gebracht, in seiner
Bedeutung entfaltet und herausgestellt werden muss. Dem Bedürfnis
des Menschen, sein Leben zu schreiben, korrespondiert die Notwen-
digkeit des Lebens, artikuliert zu werden und eine Sprache zu finden.
Menschen leben so, dass sie sich zugleich ihr Leben erzählen. Die
Reflexivität menschlichen Lebens erstreckt sich über das Gewahr-
werden seiner selbst und das Sich-über-sich-Verständigen hinaus auf
das Erinnern und Sicherzählen. Sein Leben erzählen, aus seinem Le-
ben erzählen ist nicht eine äußere Zutat zum Leben, sondern inneres
Moment einer Lebensform. Wenn Selbstverständigung als prakti-
sche Orientierung originär zukunftsgerichtet ist, so ist die narrative
Selbsterfassung ursprünglich dem Vergangenen zugewandt; zugleich
ist sie auf das Ganze geöffnet, mit der unabgeschlossenen singulä-
ren Geschichte des Selbst befasst. Das Schreiben des Lebens kann
ebenso offen sein wie das Leben selbst, wie dies bei Tagebüchern der
Fall ist, welche ein Leben nachdenkend begleiten, oder bei Werken,
die ins Offene, Unabschließbare gehen.17 Solches Schreiben geht in
das Leben selbst ein und kann dem Leben zugutekommen. Auch
wenn dies nicht in dem Sinne der Fall sein muss, dass der einzelne
gleichsam antizipierend als Historiograph seiner selbst sein Leben
führt, sondern er sich über sein gegenwärtiges Handeln und Erleben
verständigt und sich rückblickend seines Lebens vergewissert, kann
diese Reflexion zum inneren, substantiellen Element seines Lebens
werden. Lebensbeschreibung wird Teil der Bewegung des Lebens
selbst. Sie partizipiert an dessen Offenheit und unterliegt zuletzt
seiner Endlichkeit. Der Versuch, aufzeichnend sich selbst und sein
Leben einzuholen, vollzieht sich im Leben und in der Zeit des Le-
bens, steht selbst im Wettlauf mit der Zeit.18 Erst am Ende könnte
der Mensch seine Lebensbilanz ziehen, über sein Leben und dessen
Gelingen Rechenschaft ablegen, wie wir nach Aristoteles das Glück
eines Menschen erst nach seinem Tod beurteilen können. Auch
Rilke spitzt seine Forderung dahingehend zu, »das ganze Diktat
des Daseins bis zum Schluss nachzuschreiben; denn es möchte sein,
dass erst der letzte Satz jenes kleine, vielleicht unscheinbare Wort
enthält, durch welches alles mühsam Erlernte und Unbegriffene sich
gegen einen herrlichen Sinn hinüberkehrt.«19 Indessen bleibt dieser
Ausgriff, ob er nun mit einer versöhnlichen oder einer ängstigenden
Vision verbunden sei, in der Schwebe, bleibt der Wunsch, das Leben
»auf seinem letzten Stand zu ertappen«, so Christa Wolf, »ein unstill-
bares, vielleicht unerlaubtes Verlangen«.20 Dem Menschen verbleibt
das von Proust beschriebene Gefühl der Dringlichkeit, die Angst,
in der Selbstbeschreibung und Erfassung seines Lebens zu spät zu
kommen. Auch dieses Gefühl, Kehrseite der nicht zu schließenden
Offenheit, gehört zur existentiellen Verfassung des Lebens und sei-
nes Fürsichwerdens.
17 Vgl. Franz Dodel, Nicht bei Trost – a never-ending Haiku, 3 Bände, Biel:
Edition Haus am Gern 2004 (weitergeführt in: Nicht bei Trost: Heiku, end
los, Wien: Edition Korrespondenzen 2008, 2011, 2014). Ein anderes Modell
eines das Leben begleitenden Schreibens findet sich bei Christa Wolf, Ein
Tag im Jahr. 1960–2000, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008 (weitergeführt
in: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. 2001–2011, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2013).
18 Siehe unten Kap. 7.3.
19 Rainer Maria Rilke, Briefe, a. a. O.
20 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 354.
2. Leben in der Zeit
Zeit ist dem Menschen so fundamental wie die Sehnsucht nach der
Freiheit von der Zeit. Der Urgegensatz zwischen der Zeit und ihrem
Anderen weist in die ältesten Ursprünge der Denkgeschichte zurück.
Für klassische Metaphysik ist das wahrhafte Sein ein zeittranszen-
dentes Sein, jenseits des Entstehens, des Wandels und des Verge-
hens. Schon Parmenides, wichtigster Wegbereiter metaphysischen
Denkens, beschreibt das Seiende als eines, das weder war noch sein
wird, sondern jetzt, zusammen, ganz, eins ist1: Reine Gegenwart ist
das absolut Andere der Zeit, jenseits des Flusses des Werdens und
Veränderns, der Zerstreuung ins Gewesene und Noch-nicht-Seiende.
Zeit erscheint als Negativum, als Seinsmangel. Was zeitlich ist, was
in der Zeit existiert, ist nur in defizitärer Weise seiend.
Dieses Spannungsverhältnis, das in der Philosophie in seinen
ontologischen und logischen Konsequenzen durchmessen wird, af-
fiziert von vornherein das menschliche Leben. Der Mensch lebt in
der Zeit, er ist glücklich in der Zeit und er leidet unter der Zeit, er
sehnt sich nach dem Jenseits der Zeit. Im Folgenden soll die Frage
nach der Zeit in dieser existentiellen Bedeutung, nicht ihrer meta-
physischen und epistemologischen Weite verhandelt werden. Indes-
sen ist auch in dieser eingeschränkteren Perspektive relevant, dass
die systematische Dichotomie zwischen der Zeit und ihrem Ande-
ren keine einfache ist und der gängige Begriffsgegensatz von Zeit
und Ewigkeit das in Frage stehende Verhältnis nicht abschließend
beschreibt. Jenseits der zeitlichen Prozessualität lassen sich unter-
schiedliche Gegeninstanzen auseinanderhalten: die reine Zeitlosig-
Wenn wir nach der Zeit des Lebens, dem Zeiterleben im mensch-
lichen Dasein fragen, so wird eine Unterscheidung relevant, die in
Zeittheorien oft als Grundraster fungiert: die Unterscheidung von
subjektiver und objektiver Zeit. In unserem Zusammenhang inter-
essiert die Differenz nicht im Blick auf die prinzipielle Frage nach
der Konstitution, dem ontologischen Ort der Zeit. Es gibt, auch im
Raum der Existenz, die Zeit, die mein Erleben strukturiert, mein
Zurückblicken auf Erlebtes und mein Entwerfen und Hoffen trägt,
und es gibt die Zeit, die unabhängig von meinem Tun, meinem Ver-
weilen und Drängen verläuft, für dieses einen Grund und Rahmen,
je nachdem eine Gegendynamik bildet. Immer steht die innere Zeit-
lichkeit des Lebens im Verhältnis zu einer Zeit, die nicht nur aus
dem Leben kommt, nicht in seiner Macht, zumal der des einzelnen
Lebewesens, steht.
Zu dieser basalen Differenz kommt eine zweite hinzu, welche
die Auffassungsweise des Zeitlichen betrifft. Seit der ältesten theo
retischen Reflexion wird dieses nach zwei unterschiedlichen Ras-
tern thematisiert, der Differenz von Vergangen – Gegenwärtig – Zu-
künftig und dem Schema von Früher – Gleichzeitig – Später. Es ist
bemerkenswert, dass sich diese beiden Begriffsraster schon früh –
etwa in den klassischen Zeitabhandlungen bei Platon, Aristoteles,
Augustinus – finden und durch die Tradition hindurchziehen, in
neueren Diskussionen meist im Anschluss an einen Vorschlag von
McTaggart3 als A-Reihe und B-Reihe bezeichnet; bemerkenswert
ist auch, dass gerade in der neueren Diskussion die Frage ihres Ver-
hältnisses aufgeworfen wird, wobei ihre gegenseitige Nicht-Redu-
zierbarkeit zum Thema wird. Von Interesse in unserem Kontext ist
das Verhältnis zur ersten Differenz von objektiver und subjektiver
Zeit. Zwischen ihnen besteht keine einfache Analogie, sofern beide
Raster von Früher – Gleichzeitig – Später und Vergangen – Gegen-
wärtig – Zukünftig innerhalb des subjektiven Auffassens und Arti-
kulierens zum Tragen kommen: Wir strukturieren die Zeit unseres
Lebens und vergegenwärtigen Phasen unseres Lebens nach beiden
Relationen. Doch sind sie beide nicht in gleicher Weise subjektbezo-
gen: Während die erste die relative Position von Ereignissen in einem
Abfolgeverhältnis unabhängig vom Erleben bezeichnet und im Ver-
lauf der Zeit unverändert bleibt, definiert sich die zweite im Bezug
zu einem gegenwärtigen Referenzpunkt, idealiter dem Standpunkt
subjektiven Erlebens und Auffassens, und verschiebt sich mit dessen
Voranschreiten in der Zeit. Erlebnisse der frühen Kindheit bleiben
immer hinter denen des Jugendlichen zurückliegend, während des-
sen nahe Zukunft dem Älteren zur Vergangenheit wird.
Die Dualität der Auffassungsweisen gehört mit zur Grundstruk-
tur existentieller Zeitlichkeit. Ihre lebensweltliche Relevanz hat sie
darin, dass sie das subjektive Erleben in Polarität zu einer nicht aus
dem Subjekt kommenden, nicht (nur) in ihm verorteten Temporali-
tät setzt. Es ist eine Polarität, die das Leben in der Zeit von Grund
auf affiziert und die sich über die genannten Relationen hinaus er-
streckt. Der Mensch bezieht sich in der Zeitlichkeit seines Lebens
zugleich auf die Zeit der Welt, die Naturzeit wie die geschichtliche
und soziale Weltzeit. Lebenszeit und Weltzeit4 bilden ein Verhältnis,
welches das menschliche Leben umfängt und es zugleich in seinem
Inneren betrifft und strukturiert, wie der Mensch generell mit der
Welt kommuniziert, Gehalte und Formen der Sinnbildung aus der
Welt aufnimmt und in sie hinein entwirft. Es ist eine Beziehung, in
welcher unterschiedliche Zeitgefäße, Rhythmen und Verlaufsfigu-
ren ineinander spielen und nebeneinander laufen, sich verschränken
und sich gegeneinander sperren. Jenseits der Weltzeit kann sich das
Leben auf eine der Sukzession enthobene Ordnung beziehen, das
Verhältnis von Innerzeitlichem und Überzeitlichkeit eröffnen. Auch
dieser Bezug kann als innere Dimensionalität des Selbst erschlossen,
im Entwurf des Lebens verankert werden, das sich auf eine höhere
Zeit hin öffnet.5
Hier und Jetzt und sind handelnd oder erwartend auf Kommendes
gerichtet; diese zeitliche Substruktur ist im körperlichen Tätigsein,
im sozialen Interagieren, im Schreiben eines Buchs oder im Mu-
sikhören (Paradigma der Zeitanalyse) gleichermaßen vorausgesetzt
und an der Gestaltung des jeweiligen Gegenstandes beteiligt. Zu-
letzt wird die Konstitution des Subjekts selbst, sofern dieses nicht
nur abstrakter Bezugspunkt der Erscheinung der Dinge, sondern für
sich seiendes Selbst ist, in ihrer temporalen Dichte und Verweisung
sichtbar. Die Temporalstruktur durchdringt das Subjekt und seine
Welt in gleicher Weise.
Das Hauptgewicht der existentiellen Reflexion gilt nicht der
allgemeinen Struktur, sondern den einzelnen Dimensionen dieses
zeitlichen Ausgespanntseins. Es sind drei Ausrichtungen, die ihre
Konkretisierung in unterschiedlichen Haltungen und Verhaltens-
weisen finden und mit denen sich je eigene Leitideen und Probleme
verbinden.
In seiner ersten, ursprünglichen Haltung scheint menschliches
Leben der Zukunft zugewandt. Seine Dynamik ist die einer teleolo-
gischen Gerichtetheit. Leben ist eine vorwärts drängende Bewegung;
als strebender und handelnder ist der Mensch auf Ziele gerichtet, die
vor ihm liegen. Kognitive, affektive, praktische Haltungen schreiben
sich dieser Gerichtetheit ein. Als erwartendes, planendes, antizipie-
rendes, aber auch hoffendes, fürchtendes Lebewesen hat der Mensch
die Zukunft in allen möglichen Gestalten vor sich: als offene oder ge-
schlossene, bekannte oder verdeckte Zukunft, als erfüllende oder be-
drohliche, als von ihm selbst herbeizuführende oder ihm entgegen-
kommende, über ihn hereinbrechende Zukunft. Wenn der Mensch
für die Existenzphilosophie ein sich selbst verstehendes und sich
interpretierendes Wesen ist, so ist er dies in erster Linie darin, dass
er sich auf seine Möglichkeiten hin entwirft und sich von ihnen her
begreift. Sich aus der Macht seines Könnens verstehen heißt sich mit
Bezug auf die Zukunft, auf seine Zukunft hin verstehen. Indessen
ist die Zukunft nicht in seine Hände gelegt. So fundamental wie das
Ausgreifen und Sichentwerfen ist die Erfahrung des Nichtverfügens,
des Nichtkönnens und der Ohnmacht. Doch ebenso kann ihm die
Zukunft als Verheißung entgegenkommen, als Raum der Utopien
und Wünsche geöffnet sein. Emphatische Konzepte nehmen eine
Zukunft in den Blick, auf welche das Subjekt nicht ausgreifen und
die es nicht vorhersehen kann, sondern die ihm entgegenkommt
und sich ihm öffnet – gleich dem Anderen, den ich nicht erwarten
36 I. Die Zeit des Lebens
kann und der auf mich zukommt.6 Sich nicht von seinem Grund
und Ursprung her zu verstehen, sondern vom Ausstehenden und
Entgegenkommenden, den latenten Tendenzen und den nach vorne
drängenden Bewegungen her, ist die Umkehrung, die Ernst Bloch
im Prinzip Hoffnung fordert.
In so vielfältiger Gestalt wie die Zukunft erscheint die Vergangen-
heit im Leben des Menschen. Sie eröffnet ihm Möglichkeiten und
sie engt ihn ein, sie trägt ihn in seinem Sein und sie drückt ihn nie-
der. Sie legitimiert ihn und klagt ihn an, sie ist Quelle der Befreiung
und lähmende Macht. In allen Formen gehören das Vergangenheits-
bewusstsein, das bewahrende Gedächtnis, die vergegenwärtigende
Erinnerung zum menschlichen Leben. Je nach dem Charakter des
Vergangenen, den Erfordernissen der Gegenwart und der seelischen
Disposition der Menschen gewinnt Erinnerung für sie einen ver-
schiedenen Stellenwert. Dem hohen Lied der Memorialkultur steht
die soziale Marginalisierung, zuweilen die polemische Verbannnung
des Gedächtnisses gegenüber. Für den einzelnen wie für die Gesell-
schaft kann beides zum vitalen Bedürfnis werden, die Vergangen-
heit aufzuarbeiten und kritisch zu durchleuchten, aber auch mit ihr
zurecht zu kommen, sie ruhen zu lassen, sich von ihr frei zu ma-
chen. Worauf das Bedürfnis geht, kann gleichzeitig zur Belastung,
zur existentiellen Herausforderung werden. Der Rückblick und die
Besinnung können Gegenstand der Freude und des Stolzes, aber
auch der Scham und der Trauer sein. Auch erkenntnismäßig findet
der Bezug zum Vergangenen in variierenden, teils entgegengesetzten
Formen statt. Die Vergangenheit kann uns bedrängen, in unseren
Alltag eindringen, sie kann uns transparent vor Augen stehen, aber
auch verdeckt und verborgen sein, sich dem Erinnern hartnäckig
verschließen.
Gegenüber den beiden Zeitekstasen ins Gewesene und Künftige
erscheint die Gegenwart zunächst wie der neutrale Bezugspunkt,
der nichtthematische Boden der Zeitreflexion. Indessen verbinden
sich auch mit ihr genuine Zeitvorstellungen, denen sowohl ontologi-
sche wie anthropologische Bedeutung zukommt. Zwischen Vergan-
genheit und Zukunft erscheint Gegenwart als Schwelle und Über-
gangspunkt, als der flüchtige, nicht festzuhaltende Augenblick des
Nach allen drei Dimensionen kann das Leben in der Zeit gelin-
gen oder misslingen. Es kann zur erstrebten Fülle und Selbstgegen-
wart führen – oder leer sein, dem Menschen entgleiten, die Präsenz
in Abwesenheit verkehren. Zeit fordert den Menschen heraus, im
Denken wie im Leben. Kaum etwas ist in vergleichbarer Mannig-
faltigkeit und vielfältigerer Wertung in den kulturellen Zeugnissen
der Menschheit, in Dichtung, Sinnsprüchen und Theorien beschrie-
ben und bedacht worden. Für die theoretische Reflexion gilt Zeit
spätestens seit dem berühmten Satz des Augustinus als ein Rätsel
par excellence; sie ist jedem selbstverständlich und doch von kei-
nem verstanden.7 Für das praktische Leben ist sie Gegenstand des
Glücks wie der Not, Freiheit und Zwang, »unser Erzfeind und un-
ser innigster Freund«.8 Zeit gehört zu den Grundbedingungen des
Daseins und stellt gleichzeitig ein Problem, eine existentielle Her-
ausforderung für den Menschen dar. Mit ihr zurechtzukommen, in
der Zeit glücklich zu werden, versteht sich nicht von selbst. Nicht
nur sind Alltagsphänomene wie Zeitdruck und Zeitknappheit in der
modernen Gesellschaft allgegenwärtig geworden. Nicht nur tritt
das Leiden an der Zeit in psychopathologischen Phänomenen in
Erscheinung. Allgemeiner ist gerade in neueren Theorien die Ne-
7 Augustinus, Confessiones XI, 14: »Was ist Zeit? Wenn mich niemand
fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.«
8 Jean Améry, Über das Altern. Revolte und Resignation, Stuttgart: Klett-
Cotta 1968, S. 16.
2. Leben in der Zeit 39
gativität der Zeit, die seit den ältesten Klagen über die Flüchtigkeit
des Lebens und die Sterblichkeit des Menschen zu Wort gekommen
ist, als grundsätzliches Problem der menschlichen Existenz aufge-
worfen worden.
Im Verhältnis zur Zukunft manifestiert sie sich in der Unfähig-
keit, sein Leben zu entwerfen und seine Zukunft zu gestalten. Der
Schwund der Kraft, sein Leben zu organisieren und temporal zu
strukturieren, der das Lebensgefühl in seiner ganzen Weite affizieren
kann, untergräbt hier die elementare Lebenskraft, die uns nach vorne
wirft, uns die Initiative ergreifen und tätig sein lässt. Das Versiegen
der Kraft, Neues hervorzubringen und Kommendes in die Hand
zu nehmen, vertieft sich zur Unfähigkeit, die Zukunft aufzuschlie-
ßen, ja, sich selbst der Zukunft zu öffnen. Der Mensch steht vor
einer versperrten oder einer unbestimmt-leeren Zeit; zuletzt geht er
des Zukunftsraums als solchen, der dynamisch-offenen Gerichtet-
heit der Existenz selbst verlustig. Das von der Existenzphilosophie
beschriebene Vorauslaufen des Daseins, das Sichentwerfen in den
Raum der Möglichkeiten kann aufgrund der Schwäche des Subjekts,
aber auch der Widerständigkeit der Welt erschwert, gegebenenfalls
verunmöglicht werden. Die Selbstlähmung des Handelns spiegelt
sich in der Implosion der Zeit wider. Das Gewicht des Vergangenen
überlagert die Zukunft, hält diese in der Starre des Gewesenen, den
Ketten der Wiederholung gefangen.
In anderer Weise kann die Immobilität und Entzeitlichung die
Gegenwart selbst durchdringen. Was idealiter als erfüllte Aktuali-
tät, als höchste Verdichtung erstrebt wird, zerfällt zum Stillstand
der Zeit, zur toten Leere. Es ist eine Gegenwart ohne kommunika-
tiven Austausch mit dem Gewesenen und dem Kommenden, eine
auf sich fixierte und starre, substanzlose Präsenz, weder in sich le-
bendig noch sich übersteigend in den Fluss des Lebens hinein. Es
ist eine Zeit, die nicht vergehen will, die nicht als lebendig-bewegte
Zeit erfahren wird. Pascal, Kierkegaard und Heidegger haben die
Langeweile als menschliche Grundbefindlichkeit geschildert, als je-
nen Zustand, in welchem sich die Monotonie des linearen Verlaufs
mit der Wesenlosigkeit der Existenz im Vakuum der entseelten Zeit
verschränkt. In der Depression wird dieser Zustand als seelisches
Leiden erfahren, wobei hier wie beim Zerfall der Zukunft die Frage
im Raum steht, wieweit die pathologische Form gegenüber dem
normalen Leben ein strukturell Anderes ist oder nur eine graduelle
40 I. Die Zeit des Lebens
Steigerung verkörpert und auf den Begriff bringt, was der conditio
humana als solcher wesensmäßig innewohnt.9
Nicht zuletzt findet die Blockierung des Zeitlichen im Verhält-
nis zum Vergangenen statt. Belastend wird sie dort erlebt, wo das
Vergangene die Gegenwart in ihrem Bann hält, statt von ihr ver-
flüssigt, kognitiv und praktisch angeeignet zu werden. Die Unfä-
higkeit zur erkenntnismäßigen Durchdringung und kritischen Ver-
arbeitung, das Versagen der Kraft zur temporalen Synthese und
narrativen Strukturierung zeigen sich auch hier als Symptome einer
subjektiven Ohnmacht, die ihr Pendant, teils ihren Grund, in der
Übermacht und repressiven Verstellung des Vergangenen selbst ha-
ben kann. Gerade mit Bezug auf Vergangenheit wird das existenti-
elle Problem der Zeit, die Schwierigkeit, im Vergehen mit sich eins
sein zu können, unmittelbar erfahren und vielfältig thematisiert; die
Sehnsucht und Aporie des Erinnerns sind ebenso lebensweltliche
Motive wie Angelpunkte der gesellschaftlichen und wissenschaft-
lichen Gedächtniskultur. Jede Befassung mit dem Vergangenen ist
von vornherein mit dem Problem des Entzugs ihres Gegenstandes
konfrontiert, dessen Unzugänglichkeit nicht nur durch äußere Di-
stanz, Fremdheit oder Komplexität bedingt ist, sondern ebenso der
Abwehr, aber auch der Verschließung und Selbstverhüllung geschul-
det sein kann. Die Arbeit des Gedächtnisses hat immer auch und in
unterschiedlicher Weise mit dessen Grenze, mit dem Nichterinner-
baren und dem Nichterinnernkönnen zu tun.
Nach allen drei Hinsichten steht das Mit-sich-Einswerden in
der Zeit in Frage. Dass das Selbst in seinem Rückblick und seinem
Ausgespanntsein in die Zukunft sich selbst gegenwärtig sein kann,
wird durch die Zeit ermöglicht, aber auch bedroht oder verhindert.
Ganzseinkönnen in der Zeit ist ein prekärer, ungesicherter Zustand.
Die Negativität des Zeiterlebens umfasst unterschiedliche Aspekte,
die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen: die Immobilität und
Starrheit des Nichtvergehens, die Leere und Gestaltlosigkeit des
Jetzt, die Verschlossenheit und Undurchdringlichkeit der Zukunft,
die Last und Fessel des Vergangenen, aber ebenso das unaufhalt-
same Fließen, das Entgleiten der Zeit und das Sichverlieren in ihr,
die Knappheit und Befristetheit der Zeit, das Schwinden des Zusam-
menhalts und die Zerstreuung im desintegrierten Zeitfeld.
Aufs Ganze gesehen scheint es sinnvoll, im vielgestaltigen Be-
reich temporaler Organisation drei Kristallisationspunkte heraus-
zuheben. Ein erster bildet sich um den Gegensatz von Sammlung
und Zerstreuung. Dass wir uns im Fluss der Zeit abhanden kommen,
uns im Vergangenen nicht finden, uns in der Leere und Diffusion
der Gegenwart verlieren, in der dunklen Zukunft nicht erkennen,
sind akut erlebte Bedrohungen des Selbst in der Zeit. Dagegen ver-
langt das Leben, das im Zeitlichen zu sich kommen will, die innere
Sammlung, welche den wechselseitigen Zusammenhalt der Erleb-
nisse und Prozesse und deren Einswerden mit dem Selbst begründet.
Der zweite Kern des Zeitlichen liegt im Widerstreit von Vergehen
und Bewahren. Darin artikuliert sich die Urerfahrung der Tempo-
ralität. Menschen sind mit dem Vergehen aller Dinge konfrontiert
und der Vergängnis ihrer selbst ausgesetzt. Die radikalste Drohung
des Selbstverlusts liegt in der Sterblichkeit; die erste Gegenwehr ge-
gen die Not der Zeit liegt im Festhalten des Gewesenen. Das Ideal
der erfüllten Präsenz behauptet sich als erstes gegen die Auflösung
aller Dinge, gegen ihr Entgleiten ins Nicht-mehr-Sein. Dieser Wi-
derstand überlagert sich schließlich mit dem dritten Kristallisations-
punkt des Zeitlichen, der Dynamik von Gestaltung und Entformung.
Das Festhalten des Zeitlichen ist kein abstraktes Anhalten und Fi-
xieren, sondern ein strukturierendes Gestalten. Die Verwandlung
von Zeit in Sinn, die exemplarisch in der narrativen Organisation
geleistet wird, verleiht der verlaufenden Zeit die Konsistenz, die sie
erinnerungsfähig macht.
So konvergieren die drei Fluchtlinien in einem gemeinsamen Fo-
kus, die vereinigende Sammlung, das bewahrende Festhalten, die
gestaltende Strukturierung der Zeit. Sie bilden drei Knotenpunkte
der Erinnerung, die als ganze eine tätige Aneignung der Zeit und
ein Sichfinden des Menschen in der Zeit realisiert. Wenn Hegel die
»Ohnmacht des Lebens« darin sieht, dass in ihm »was anfängt und
was Resultat ist, auseinanderfallen«, so ist es erst die Erinnerung, die
über diese Unzulänglichkeit des bloß Lebendigen hinauskommt und
42 I. Die Zeit des Lebens
Alle Probleme des Umgangs mit der Zeit werden im Alter verschärft
erfahren. Man könnte das Alter zu den von Karl Jaspers bespro-
chenen Grenzsituationen zählen, in denen die Grundverfassung des
menschlichen Daseins exemplarisch hervortritt.12 Für das Alter be-
trifft dies das Schwinden der Zeit ebenso wie die Herausforderung,
sein Leben zu gestalten und sich darin gegenwärtig zu werden, eine
Herausforderung, die mit voranschreitender Lebenszeit dringlicher
und schwieriger zugleich wird. Entsprechend kommt dem Akt des
Erinnerns, der sich dieser Herausforderung stellt, gesteigerte Rele-
vanz zu. Es ist zu verdeutlichen, worin diese Verschärfung besteht
und was sie für das Problem der Erinnerung bedeutet.
Verschärft ist als erstes das Vergehen der Zeit; dies durch den
zweifachen Umstand, dass immer weniger Lebenszeit übrig bleibt
und dass das Verrinnen der Zeit immer unaufhaltsamer, endgültiger
14 Marcel Proust, A la recherche du temps perdu III, a. a. O., S. 932 (dt. Bd. 7,
S. 354 f.).
15 Vgl. Jean Améry, Über das Altern, a. a. O., S. 81.
16 Ebd. S. 77.
17 Ebd. S. 111 ff.
18 Vgl. Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar
nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung, Köln: Kiepenheuer & Witsch
2009, S. 110, 229, 231 (»Die Vorstellung, dass diese Welt gelöscht sein wird,
dass die geliebten Menschen weg sein werden, dass man all die Schönheit
dieser Erde nicht mehr sehen wird, ist einfach kaum zu ertragen«), 247.
2. Leben in der Zeit 45
Positiven verschränkt sich die Erfahrung des Alters mit der Her-
ausforderung der Zeit und dem Interesse des Erzählens und Sich-
Erzählens. In den Blick kommen Leitbilder, die sich jener Negati-
vität der Zeit wie deren Radikalisierung im Alter entgegenstellen:
Bilder des erfüllten, befriedeten Alters wie des Ganzseinkönnens
und Zusichkommens in der Zeit. Ihren umfassenden Horizont bil-
det die Erinnerung.
II.
Die Kunst der Erinnerung
3. Die Aneignung des Vergangenen
Erinnerung ist die Gegenkraft zur Ohnmacht des Lebens. Sie wi-
dersetzt sich dem Verrinnen der Zeit, sie hält Vergangenes fest und
befestigt den Zusammenhalt des Gewesenen mit dem Jetzt. Ihre
erste Tat ist das Bewahren, ihr tiefster Impuls der Widerstand gegen
das Vergehen. »Nichts ist vergessen und niemand ist vergessen«, so
lautet das erste Bekenntnis des historischen Gedächtnisses – gegen
das Zunichtewerden des Vergänglichen, sein Unsichtbar- und Un-
wirklichwerden, sein Entschwinden aus der Welt der Menschen. Der
Satz – eine Zeile der russischen Lyrikerin Olga Bergholz – steht für
ein Versprechen und eine Forderung angesichts des Abgrunds der
Zerstörung und des gewaltsamen Verstummens1 – unter anderen
Umständen auch für eine Beschwörung angesichts des verdrängten
Gedächtnisses.2 Auch losgelöst von solchen Bezügen kann er als
Leitidee der Historie dienen, deren Grundhaltung, vorgängig zu
allen besonderen Zwecken des Gedenkens, der Pietät des Bewah-
rens3 entstammt und deren treibendes Motiv durch den Wunsch,
1 Die zum Leitmotiv gewordene Zeile stammt aus der Zeit der Belagerung
Leningrads und steht auf dem Gedenkstein des Piskarowskoje-Friedhofs in
Leningrad.
2 Für die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja »ersetzte«
die Zeile, die alle im Herzen trugen, in der Nachkriegszeit »die Erinnerung
im ganzen Land, man entging ihr nicht, denn sie wurde zur Prophezeiung,
mit ihrer offenbaren Wahrheit und den versteckten Lügen«: Vielleicht Esther,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013, S. 40.
3 So definiert Nietzsche die Haltung der von ihm so genannten ›antiquari-
schen‹ Historie: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Sämt-
liche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und
50 II. Die Kunst der Erinnerung
dass Vergangenes nicht auf immer vergangen sei, bestimmt ist. Als
idealen Fluchtpunkt solchen Erinnerns hat man die Unvergäng-
lichkeit alles Vergänglichen4 bezeichnet. Menschliches Leben strebt
danach, Leben zu erhalten und weiterzuführen. Sein ursprüngliches
Wollen gilt dem Leben, seine ursprüngliche Abwehr der Erosion,
die der inneren Schwäche des Lebens, aber auch der auflösenden
Macht der Zeit geschuldet ist. Es geht in dieser Abwehr nicht nur
um das simple Vorübersein, um den einfachen temporalen Sachver-
halt, dass etwas, was einst war, jetzt nicht mehr ist. Es geht zugleich
um den substantielleren Verlust, dass etwas, das einst wirklich und
Teil des Lebens war, sich in Nichts aufgelöst hat, dass etwas, um
das es den Menschen ging und das dem Leben wichtig war, seine
Bedeutung verloren hat, nicht mehr die Gegenwart prägt und eine
Zukunft eröffnet; es geht darum, dass ein vergangenes Erlebnis,
eine vergangene Tat nichtig geworden ist. In gewisser Weise ist das
Zunichtewerden durch den Gang der Zeit nicht nur ein späteres
Nicht-mehr-Sein, sondern wirkt es zurück, löst es das Vergangene
selbst in seinem Sinn und Gewesensein auf. Dass etwas umsonst
war, dass es gar nicht wirklich war, ist die tiefste Angst, die Urangst
im Erleben der Vergänglichkeit aller Dinge. Weit davor entfernt,
nur unserem Bewusstsein zu entschwinden, vergessen zu werden
und auf immer vergessen zu sein, droht Vergangenes an ihm selbst
dem Nichtsein, der Nichtigkeit anheimzufallen. »Vergänglichkeit
und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern des Vergessens« – so
umschreibt Christa Wolf den Horror vor dem Vergessen und den
unaufhaltsamen Verlust, gegen den sie anschreibt.5 Die Kultur des
Gedächtnisses ist kein bloßes Dispositiv im Raster der Temporali-
tät, keine bloße Gegenbewegung zur Urprozessualität alles Seien-
den. Sie ist ein ursprünglicher Protest gegen das Vergehen und das
Bemühen um eine Rettung, die dem Leben, der Welt, dem Selbst
zugute kommen will.
Der erste Reflex jenes Horrors vor dem Vergessen, jener Urangst
vor dem Entschwinden ist das Festhalten. Alles aufschreiben, damit
es nicht verloren geht, damit nichts ohne Zeugnis und ohne Spu-
ren bleibt, so lautet das erste Gebot des Gedächtnisses. Wenn die
Pflicht des Nichtvergessens und das fundamentale Interesse des Er-
innerns im kulturellen Diskurs in vielfältiger Weise mit den Inhalten
des Gedächtnisses, der Unerledigtheit dessen, was nicht preisgege-
ben werden darf, verschränkt wird6, so gibt es vorgängig dazu den
elementaren Widerstand gegen das Vergehen und das Vergessen als
solches. Dennoch ist das Gebot des Festhaltens und Aufschreibens
erst eine abstrakte Anweisung, ein leerer Reflex, der nur unzuläng-
lich auf die Frage nach dem Wozu der Erinnerung antwortet. Alles
niederschreiben, alles registrieren ist kein Ideal, kein inneres Ziel
des historischen Sinns. Es entspräche in seiner Formalität dem, was
Arthur C. Danto als Zerrbild einer ›Idealen Chronik‹, einer simulta-
nen und integralen Registrierung von allem, was geschieht, gezeich-
net hat7 – das Gedächtnis als eine Art universaler Festplatte, auf der
alles Reale protokolliert und als Dokument niedergelegt wäre. Es
wäre eine leere Verdoppelung, die offenkundig nicht nur der Praxis
der Historie, sondern auch dem lebendigen Interesse, das wir am
Erinnern nehmen, fremd ist. Zur Historie gehört nicht nur die kon-
stitutive Selektivität, die aus der Vielfalt der Daten eine bestimmte
Geschichte konfiguriert, wie schon alles Wahrnehmen und Spre-
chen unhintergehbar perspektivisch ist. Zum Erinnern gehört da-
rüber hinaus der konstitutive Bezug zum Subjekt, für welches die
Vergegenwärtigung des Vergangenen ihr bestimmtes Profil und ihre
lebensweltliche Relevanz gewinnt.
Zum Tragen kommt die wesensmäßige Reflexivität von Ge-
schichte und Gedächtnis, als Vergangenheitsbezug von einem, um
dessen Vergangenheit – und um das es im Vergangenheitsbezug –
geht. Idealtypisch ist dies die Erinnerung von Subjekten, die sich
auf ihre Geschichte besinnen, ihren Lebenweg abschreiten und
nachzeichnen; analog wie beim Individuum findet dieser Rückbe-
zug beim Kollektiv statt. Zwar ist die selbstbezügliche Perspektive
nicht alternativelos und noch weniger in sich geschlossen. Es gibt
gute Gründe, auch in der Geschichte von Subjekten gerade die ob-
8 Sigmund Freud, »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva«, in:
Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 51972, Bd. VII, S. 29–125;
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972,
Bd. IV, S. 400 f.
9 Vgl. Paul Ricœur, »La fonction herméneutique de la distanciation«, in:
Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II, Paris: Seuil 1986, S. 101–117.
10 Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte
und jüdisches Gedächtnis, Berlin: Wagenbach 1996.
3. Die Aneignung des Vergangenen 53
11 Seneca, De brevitate vitae. Von der Kürze des Lebens, 10.2–5, Stuttgart:
Reclam 1977, S. 31.
12 Stellvertretend Georg Christoph Lichtenberg: »Man sollte alle Menschen
gewöhnen, von Kindheit an in große Bücher zu schreiben […] Was für ein
Vergnügen würde es mir sein, jetzt meine Schreibbücher alle zu übersehen.
Seine eigene Naturgeschichte!«: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Pro-
mies, Bd. 1: Sudelbücher 1, München: Hanser 1968, S. 654 f. (J 26).
54 II. Die Kunst der Erinnerung
13 Vgl. Gernot Böhme, Ich-Selbst. Über die Formation des Subjekts, Mün-
chen: Fink 2012, S. 95.
14 Christa Wolf, Ein Tag im Jahr, a. a. O., S. 9.
3. Die Aneignung des Vergangenen 55
Solche Erinnerung greift auf das Leben als ganzes aus, um darin sich
selbst gegenwärtig zu werden, sich zu erkennen und seinem Leben
eine bestimmte Gestalt zu geben. Es ist ein Zurückholen und Wie
deraneignen dessen, was uns ohne Gedächtnis unaufhaltsam ent-
gleitet, was wir selbst verlassen, zunehmend aus uns abgedrängt ha-
ben, was sich uns verbirgt und uns schrittweise fremd geworden
ist. Es ist ein Wiederaufnehmen des Lebens von seinem Anfang her,
ein Wiedererwecken dessen, was uns und sich selbst abhanden ge-
kommen ist, was sich vielleicht nie entwickelt hat und sich nie zu
eigen war, ein Nachholen des nicht gelebten Lebens, wie es in der
Kindheitserinnerung aufscheinen kann.16 Solche Aneignung voll-
zieht sich nicht im Immediatismus einer Selbstpräsenz im Gewe-
senen, sondern in einer produktiven Neukonstellierung des durch
den Lebensverlauf gestifteten biographischen Zusammenhangs. Sie
ist der Umweg, über welchen sich die erkenntnismäßige Erschlie-
ßung und reflexive Aneignung des Lebens vollzieht. Das Schreiben
des Lebens ist das konkrete Medium der entziffernden Lektüre, der
in der Rückschau durchgeführten Hermeneutik des Selbst. In ihr
verschränkt sich die temporale Synthesis, welche die Ohnmacht des
Bevor wir die Stadien der ins Auge gefassten schreibenden Selbst-
einholung des Lebens näher ins Auge fassen, seien vorausgreifend
grundlegende Dimensionen benannt, in denen Erinnerung sich voll-
zieht. Eine fundamentale Unterscheidung, welche die Gedächtnis-
theorien durchzieht, ist die zwischen subjektiven und objektiven
Anteilen im Erinnerungsprozess – zwischen Äußerlichkeit und In-
nerlichkeit, Gedächtnisspeicher und Erinnerungsakt, Sedimentie-
rung von Spuren und Wiedererkenntnis. In der deutschen Sprache
lässt sich die Polarität mit der Distinktion von Gedächtnis und Er-
innerung assoziieren, wobei ›Gedächtnis‹ zum Teil eher im Sinne
des Archivs, des Raums und Trägersubstrats der Reminiszenz, teils
eher im Sinne der vorhandenen Quellen und objektivierten Spu-
ren verstanden wird. In dieser Bedeutung figuriert die Unterschei-
dung in einer der ältesten Gedächtnistheorien, in der aristotelischen
Schrift De memoria et reminiscentia, als Unterscheidung zwischen
dem Niederschlag des vergangenen Erlebens in einem Erinnerungs-
bild, das uns passiv gegenwärtig ist, und dem aktiven Vollzug des
Wiedererinnerns als erneuerter Wahrnehmung dessen, wovon wir
in unserem Gedächtnis das Zeugnis bewahren.21 Mit der Relation
von mneme und anamnesis verbindet Aristoteles die Frage, die sich
auch außerhalb des erinnerungspsychologischen Kontextes stellt,
wie nämlich eine anwesende Affektion für ein Abwesendes, ein Ge-
genwärtiges für ein Vergangenes stehen kann. Aristoteles’ Antwort
führt über den Bild-Charakter der uns innewohnenden Vorstellung;
in einem weiteren Horizont verbindet Paul Ricœur damit den Rät-
selcharakter der Spur, die zugleich als Wirkung und Zeichen (»un
effet signe«)22 auf ihren Ursprung bezogen ist. Indem er den Begriff
der Spur, der bei verschiedenen Autoren – Husserl, Freud, Derrida,
Lévinas – einen zentralen Stellenwert besitzt, nach den Haupttypen
der kortikalen, psychischen und dokumentarischen Spur diversifi-
ziert und in den Räumen der Neurologie, der Psychologie und der
des Gedächtnisses deponieren (wie die »Mauern und Quais, der As-
phalt, die Sammlungen und der Schutt, die Gatter und Squares« zum
Erkennungszeichen von Paris werden). Nicht die Kette von Ereig-
nissen, sondern die Konstellierung von Objekten, das Versunken-
sein in eine Dingwelt fundiert dann den Raum gelebten Erinnerns.27
Dabei geht es, wie Benjamin in einer Reflexion über »Ausgraben
und Erinnern« festhält, nicht einfach um das punktuelle Fixieren
der Dinge und Orte, sondern um die »sorgsamste Durchforschung«
der Schichten, in denen die Residuen und Dinge abgelagert sind, die
Nachzeichnung des Umgrabens und Findens, das sich der verschüt-
teten Vergangenheit nähert, um sie zum Sprechen zu bringen und in
Bildern auferstehen zu lassen. Wahrhafte Erinnerung gilt nicht nur
dem Fundobjekt, sondern gleichermaßen dem Grabungsbericht und
»dem, der sich erinnert«.28
Räumlichkeit ist Paradigma der Äußerlichkeit, und dies in zwei-
facher Hinsicht, als das in sich und gegenseitig Äußerliche, die Di-
mension des partes extra partes, und als das dem Subjekt gegenüber
Andere und Äußere. Die Räumlichkeit und Materialität des Erin-
nerns steht für die Dimension der Zerstreuung und Zersplitterung
wie für das dem Subjekt Fremde und Unerkannte, das Abwesende
und Undurchdringliche; sie ist der Raum des Bruchstückhaften, der
Splitter und Trümmer, die vergessen und bezugslos nebeneinander
liegengeblieben sind, doch unversehens aus ihrer Bedeutungslosig-
keit auftauchen, Erinnerungen heraufrufen und zu Knotenpunkten
einer lesbaren Geschichte mutieren können. Dekonstruktion hat die
Figuren der Verräumlichung, der Spaltung und Abdrift generell als
Gegenkonzepte zur ganzheitlichen Kontinuität des Sinns stark ge-
macht, die Medialität und Äußerlichkeit anstelle der Innerlichkeit
subjektiven Meinens und Nachvollziehens als Raum der Bedeutung
expliziert. Sinngenese und Verstehen transzendieren den Binnen-
raum des Selbstbezugs, und dieses Überschreiten gewinnt im Feld
von Gedächtnis und Erinnerung ein besonderes Profil und Gewicht.
Die Dialektik von subjektiver und objektiver Verortung tan-
giert die Herkunft wie den Akt der Reminiszenz. Es gibt Bilder,
die auftauchen, Dinge, Stimmen und Atmosphären, die an etwas
27 Ebd. S. 490.
28 Walter Benjamin, »Ausgraben und Erinnern«, in: Denkbilder, Gesam-
melte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, Band IV.1, S. 305–438,
hier S. 400 f.
3. Die Aneignung des Vergangenen 63
mung einer Melodieform dazugehört; das Beispiel lässt sich auf ver-
schiedene Wahrnehmungs- und Verstehensvollzüge – das Erfassen
einer Rede, einer Bewegung, einer Filmsequenz – übertragen, die
zeitlich verfasst sind und nicht in der Aktualität des Hier und Jetzt
aufgehen können. Husserls klassische Analyse bezieht sich auf den
Nahhorizont, innerhalb dessen die Konstitution eines konkreten
Wahrnehmungsgegenstandes nicht ohne den Schatten des Nicht-
mehr-Gegenwärtigen, des Soeben-Wahrgenommenen – und korre-
lativ der antizipierten Fortführung des Erlebens – zustandekommt.
Indes könnte man die Struktur auch zeitlich ausweiten und sie auf
die nicht-thematische Anwesenheit des Vergangenen im größeren
Zeitradius anwenden, auf die Art und Weise, wie ein erfreuliches
oder trauriges Erlebnis von heute früh auf mein jetziges Empfin-
den und Tun abfärbt, wie ein gestriger Misserfolg noch unbewältigt
und psychisch anwesend ist, wie meine Lebensgeschichte, letztlich
die umfassendere Geschichte, der ich zugehöre, mein Wollen und
Handeln prägen, in mein Selbstgefühl und mein Weltverhältnis ein-
gehen. Dieser impliziten, nicht-aktualisierten Präsenz des Vergange-
nen steht die thematische Wieder-Vergegenwärtigung entgegen, die
das Erinnern im normalen Verständnis ausmacht. Hier kommt das
weite Feld der eigentlichen Erinnerungsarbeit in den Blick, die sich
in mannigfachen Formen, in unterschiedlichen Medien vollzieht und
den Untersuchungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Ge-
dächtnisforschung bildet. Es ist der Rahmen, innerhalb dessen die
Fragen nach der angemessenen Methode, nach den Schwierigkeiten
und Problemen, dem existentiellen Interesse, den sozialen und kul-
turellen Funktionen der Erinnerung aufgeworfen und kontrovers
debattiert werden.
In unserem Zusammenhang werden diese Fragen, die auch den
Horizont der vorliegenden Untersuchung bilden, in einem enge-
ren Fokus ins Auge gefasst. Sie interessieren im Blick auf die ein-
gangs umrissene Idee einer lebensgeschichtlichen Erinnerung, das
Wunschbild einer gelingenden Lebensbeschreibung, wie sie Marcel
Proust am Ende seiner Erzählung in ihrem Versprechen und ihren
Schwierigkeiten umreißt. Diese Idee soll im Folgenden schrittweise
konkretisiert werden.
Auszugehen ist vom Ideal einer erfüllten Gegenwart, wie sie
Proust exemplarisch im Aufbrechen der Vergangenheit im Jetzt in
Erlebnissen der mémoire involontaire beschreibt und wie sie ihm
als utopische Richtschnur einer gelingenden Lebenserinnerung vor
66 II. Die Kunst der Erinnerung
ugen steht. Es ist eine Erinnerung, die sich durch den Charakter
A
des Unwillkürlichen von der methodischen Gedächtnisarbeit, durch
die erfüllte Aktualität von der abgeschwächten Präsenz der Reten-
tion unterscheidet. Es ist eine lebensweltlich vertraute Erinnerungs-
form, die nicht auf jene singulären, emphatischen Augenblicke be-
schränkt sein muss, welche Proust in berühmten Passagen vergegen-
wärtigt, sondern die im Alltagsleben der meisten, sei es flüchtig und
schwach, zuweilen aufscheinen kann und über fließende Übergänge
mit den anderen Gedächtnisformen des nichtthematischen Inneseins
und des bewussten Vergegenwärtigens verbunden ist.
Gegenläufig zur spontanen Erinnerung steht sodann die reflek-
tierte Bemühung um ein Wiederfinden und Rekonstruieren des Ver-
gangenen zur Diskussion. Es geht um jene große Arbeit, vor de-
ren Unermesslichkeit Prousts Erzähler zurückschreckt und die der
Autor Proust beharrlich in Angriff nimmt. Zu verdeutlichen sind die
Wege und Umwege, welche die Erinnerung einzuschlagen hat, die
Aufarbeitung des Vergangenen und die Vermittlung des Ausdrucks,
über welche der Mensch sein Leben aneignen und in seinem Leben
sich selbst gegenwärtig werden kann. Zu reflektieren sind ebenso die
Widerstände und Schwierigkeiten, die sich der Erinnerung entgegen-
stellen und die nicht nur der temporalen Entrückung, sondern dem
Unerledigtsein und der Unabgegoltenheit des Vergangenen selbst
entstammen. Vor dem Hintergrund der Wege und Hindernisse ist
abschließend die Frage zu vertiefen, worin das eigentliche Interesse
der Lebensbeschreibung liegt, was das Ziel einer im Ganzen ge-
lingenden Erinnerung ausmacht und wie sich in ihr das Ideal einer
Selbstpräsenz im Leben verwirklicht.
4. Unwillkürliche Erinnerung:
Die Präsenz des Vergangenen
4.1 Plötzlichkeit
7 Ebd., S. 576.
8 Ebd., S. 577 f., 591 f.
9 Ebd., S. 588, 578.
10 Ebd., S. 592, 596.
11 Ebd., S. 593.
12 Ebd., S. 600.
13 Ebd., S. 573.
4. Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 71
»An diesem 3. August 1920 hörte ich Hammerschläge, die während des
Bruchteils einer Sekunde genau jene Hammerschläge sind, die etwa 1880,
um den 15. August herum, in Cette beim Aufbau der Jahrmarktbuden zu
vernehmen waren. – Der Schlag von heute trifft auf das Holz vor 40 Jah-
ren. […] Ich sah die Platanen, die Hölzer, die Planken, die Esplanade –
die Langeweile, den Markt – Ich war wieder dort. […] Etwas, woran ich
nicht dachte, was ich nicht mehr besaß, was sich verflüchtigt hatte und
für immer hätte fort sein können, ist wiederauferstanden.«14
Walter Benjamin stellt sich allgemein die Frage, ob der Begriff des
déjà-vu
»eigentlich glücklich und die Metapher, welche allein dem Vorgang an-
gemessen ist, nicht viel besser dem Bereiche der Akustik zu entnehmen
wäre. Man sollte von Vorfällen reden, welche uns betreffen wie ein Echo,
zu dem der Ruf, der Hall, der es erweckte, irgendwann im Dunkel des
verflossnen Lebens ergangen scheint. Dem entspricht, wenn wir nicht
irren, dass der Chock, mit welchem Augenblicke als schon gelebt uns
ins Bewusstsein treten, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt.«15
es sich erinnert; nach Platon sind dies die Ideen, welche die Seele
vor der Geburt geschaut hat und als deren Verkörperung sie die
erscheinenden Dinge erfasst. Lernen ist Anamnesis.19 Erkenntnis
fängt wie das Verstehen nicht aus dem Nichts an; erkennen kann
nur, wer schon etwas erkannt hat, Verstehen setzt nach der These
der Hermeneutik je ein Vorverständnis voraus. Erinnerungstheorie
betont diesen Konnex nach der Gegenseite: Erinnerung ist Erbli-
cken von etwas, das man bereits kennt, das man wieder-erkennt, eine
Kognition als Re-kognition. Mit Nachdruck hat Paul Ricœur das
Ineinander zwischen einem starken Erkenntnisbegriff und einem
emphatischen Erinnerungskonzept herausgestellt. Über das Nichts-
verloren-Geben und mechanische Reproduzieren hinaus zielt die
Leitidee des Gedächtnisses auf jenes »kleine Wunder der glückli-
chen Erinnerung«, das im Urerlebnis des Erkennens und Wieder
erkennens liegt.20 Wiedererkenntnis, für Ricœur »der Gedächtnisakt
par excellence«21, meint jenseits der Vergegenwärtigung jenes volle
Präsentwerden, in welchem sich etwas offenbart und als es selbst
zu erkennen gibt, die identifizierende Erschließung, die auf ein Ge-
meintes oder früher Geschautes zurückverweist – das »Wunder des
Gedächtnisses«, das sich im plötzlichen Gewahrwerden der Gegen-
wart eines Abwesenden realisiert und sich im freudigen Ausruf »Sie
ist es! Er ist es!« äußert.22 Gewissheit, Erkenntnis, Gegenwärtigkeit
verschmelzen im Akt der Reminiszenz.
Die Erkenntnis, welche die mémoire involontaire ereignishaft
realisiert, zeichnet sich von seiten des Bewusstseins wie des Ge-
genstandes aus. Die Helligkeit ist eine des subjektiven Bewusst-
seins wie der entgegenkommenden Manifestation der Dinge. So
undurchsichtig sich die unwillkürliche Erinnerung in ihrer Moti-
vation und Ergriffenheit sein mag, ist sie doch von einem »Zustand
heller Wachheit«23 begleitet, einer gesteigerten Selbstpräsenz, die mit
der intensiven Präsenz bei der Welt, der Lebhaftigkeit der Vergegen-
wärtigung einhergeht. Die Direktheit des Wieder-Erlebens, meint
Botho Strauß, ist jenseits des nachträglichen Suchens und struktu-
rierten Berichtens. »Akute Erinnerung kennt kein ›Weißt du noch?‹,
sondern nur Damals-Unmittelbarkeit, Damals-Überwältigung«, sie
bleibt der bewussten Rekonstruktion entzogen: »Kontinuität der
Darstellung, der Erzählung ist dem rohen, unberechenbaren Affekt,
dem Anfall oder Anspruch von ›verlorener Zeit‹, etwas durchaus
Unangemessenes«.24 Im unvermittelten Wieder-Erkennen wird der
Gegenstand, das Vergangene selbst gegenwärtig, nicht ein Abbild
oder eine Vorstellung von ihm. Erinnern ist ein Wiedergewinnen
nicht der Gedächtnisspuren, sondern der Wahrnehmung dessen,
wovon wir Spuren und Zeichen in uns haben, ein Erkennen des
Originals, der Sache selbst. Gleichzeitig ist dieses potenzierte Wie-
der-Erfassen des Gegenstandes eine Bekräftigung des Subjekts in
seiner Identität über die Zeit. Die Anwesenheit des ursprünglichen
Erlebnisses überlagert sich mit der Präsenz dessen, der ich damals
war: Die heraufgerufenen Bilder des Vergangenen haben die Macht,
aus meinem gegenwärtigen Ich »vermittels einer mit der damali-
gen identischen Empfindung unversehens den Knaben, den Jüng-
ling wiederzuerschaffen, der sie gesehen hatte.«25 Das Ergriffensein
durch die unwillkürliche Erinnerung ist ein integrales Gegenwär-
tigwerden dessen, worauf sie sich bezieht, wie des sich erinnernden
Subjekts selbst. Diese privilegierte Präsenz, die auch die besondere
Erkenntnis des Erinnerns ausmacht, schließt konstitutiv die Zeit-
differenz ein, als Anwesenheit eines Abwesenden, Gegenwärtigkeit
eines einstmals Erlebten. Gerade darin liegt nach Proust das Ge-
heimnis jener Gegenwart, nach welcher Erinnerung sich sehnt, ja,
in gewisser Weise der Sehnsucht selbst, die nach einer Erfüllung
verlangt, in der wir schon waren – »denn die wahren Paradiese sind
die Paradiese, die man verloren hat«.26
Die Selbstpräsenz im Wieder-Erkennen ist nach zwei Linien
zu verdeutlichen: als Gegegenwärtigkeit des Vergangenen und als
Glückserfahrung des gelingenden Erinnerns.
4.3 Gegenwärtigkeit
26 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 264 (fr. III, S. 870)
27 Paul Ricœur, Parcours de la reconnaissance, a. a. O., S. 202.
28 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 271 (fr. III, S. 875).
76 II. Die Kunst der Erinnerung
einen anderen Zustand versetzt, der als eine Art Ekstase, eine Entrü-
ckung, eine besondere Weise höchsten Glücks erlebt wird. Wenn wir
in diesem Erleben zunächst den temporalen Kern, die Gegenwär-
tigkeit des Vergangenen herausstellen, lassen sich darin beide Seiten
näher ins Auge fassen: das Nichtvergangensein des Gewesenen und
das Erleben der reinen Gegenwart.
Dass das Vergangene nicht einfach vergangen und entschwunden,
in Nichts aufgelöst, sondern noch da ist, ist die eine Seite des Ur
erlebnisses der mémoire involontaire. »Prousts Roman«, schreibt
Stephan Grätzel, geht aus von der »Entdeckung eines Unvergange-
nen, von dem zufälligen Finden einstiger Subjektivität, die unver-
gangen ist«, und stellt als ganzer »den Versuch dar, diese Entdeckung
zu systematisieren und Unvergangenes verfügbar zu machen.«29 Das
Unvergangensein des Gewesenen ist gewissermaßen die Basisschicht
seiner Gegenwärtigkeit. Vergangenes bleibt, als Vergangenes, erhal-
ten und ist als nicht-vergangenes in unserem Leben und in der Welt
weiterhin anwesend. In gewisser Weise kann man sagen, dass die Er-
innerung nicht dem Vergangenen, sondern dem Unvergangenen gilt,
dem, was aus der früheren Zeit als unerledigt verblieben ist, etwa
als »unaufgelöster Rest an Emotionen und Gewissheiten, die gerade
nicht passé sind, sondern sich, ob willkommen oder nicht, immer
wieder melden.«30 Gleichzeitig ist dieses unvergangene Vergangene
eines, von dem wir nicht einfach Spuren und Zeichen besitzen, die
wir zu dechiffrieren und auszulegen haben, sondern das uns als es
selbst, an seinem Ort, ja, paradox formuliert, in seiner Zeit begegnet.
Die unwillkürliche Erinnerung ist das eigentümliche Erlebnis, das
uns die Türe zum Vergangenen an ihm selbst aufmacht, wo dieses
selbst sich uns öffnet, wo es in seiner Ursprünglichkeit, seiner Ori-
ginalität uns entgegenkommt. Dieser Begegnung haftet ein hoher af-
fektiver Wert an. Sie antwortet einem ursprünglichen Verlangen der
Erinnerung, einer Sehnsucht in der Suche nach der verlorenen Zeit,
die ebenso sehr der Begegnung mit dem originalen Erleben und der
damaligen Welt wie mit dem eigenen Selbst gilt und deren Erfüllung
in jenes besondere Glück des Erinnerns eingeht.
Allerdings tritt das Unvergangene nicht nur in dieser affirmativen,
beglückenden Gestalt in das Leben der Menschen ein. Neben dem
29 Stephan Grätzel, Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und Ver
gessen, Freiburg / München: Alber 1993, S. 132.
30 Ebd., S. 25.
4. Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 77
4.4 Glück
Dieses »Rätsel des Glücks« aufzulösen, ist die »feste Absicht« und
das beharrliche Unterfangen des Erzählers in Prousts Roman.34 Die-
selbe Frage stellt sich der Interpretation, nicht allein des Romans,
sondern vorrangig des Phänomens selbst. Was macht die Erinne-
rung begehrenswert, wieso suchen Menschen nach der verlorenen
Zeit, was macht das Interesse, das innerste Verlangen der Erinnerung
aus? Diese Frage, die sich als Leitfrage auch durch die vorliegende
Untersuchung hindurchzieht und auf die am Ende, im Rückblick
auf die Wege der Erinnerungsarbeit im Ganzen zurückzukommen
ist, kommt hier zunächst in einer eingeschränkten Perspektive in
den Blick. Sie interessiert mit Bezug auf jene spezielle Form des Ge-
dächtnisses, die Proust als mémoire involontaire beschreibt – die al-
lerdings, wie eingangs skizziert, gewissermaßen als Leuchtstern über
der Landschaft des Erinnerns strahlt und auch als Glückserlebnis
ein Höchstes scheint und als Fluchtpunkt der Sehnsucht die Bemü-
hungen des Gedächtnisses leitet. Wieweit sie, als spezielle Form des
Glücks, diese übergreifende Funktion auszufüllen vermag, wird zu
34 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 259 f. (fr. III, S. 867).
4. Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 79
fragen sein. Zuerst aber stellt sich die Frage, wieso und in welcher
Hinsicht Erinnerung zum Ziel eines Strebens und Ort des Glücks
werden kann. Wir können uns zum Einstieg an Prousts eindringli-
cher Beschreibung orientieren.
Es ist ein außergewöhnlicher Zustand von höchster Intensität,
in den sich sein Erzähler, »vor Glück erbebend«, beim plötzlichen
Wieder-Hören eines Geräuschs, Wieder-Berühren eines Stoffs ver-
setzt fühlt und der ihn dazu drängt, »den Grund jener Seligkeit, je-
ner Art von Gewissheit« zu suchen, welche diesen Erlebnissen in-
newohnen.35 Worin, so fragt er, liegt das Geheimnis dieser Beglü-
ckung, warum haben ihm die durch das Geschmackserlebnis der
Madeleine hervorgerufenen »Bilder von Combray und von Venedig
[…] so viel Freude gegeben«, dass sie ihm »selbst den Tod gleich-
gültig erscheinen« ließen?36 Die Richtung, in der er eine Antwort
auf diese Fragen sucht, zielt auf das Allgemeine im Besonderen: In
der Erinnerung, der Wiederkehr derselben Empfindungen und Le-
benssituationen meint er nicht nur das Einst im Jetzt, sondern die
wahre Wirklichkeit, das allgemeine Wesen zu erfassen, das über das
Einzelereignis und seine Erscheinung hinausweist und zuletzt die
Zeit selbst transzendiert:
Daraus, so meint er, erklärt sich selbst das Schwinden der Sorge um
den Tod, da er im Moment dieses Erlebens als außerzeitliches We-
sen existierte, unberührt von den Wechselfällen des Schicksals. Es ist
ein analoges Hinausgehen über das Einzelne, worin er die genuine
Leistung des Schriftstellers sieht, der, »wie das Leben es tut, in zwei
Empfindungen etwas Gemeinsames aufzeigt und so ihre gemein-
den. Die Utopie des Erinnerns will »an das Unerreichbare rühren,
an jene stets zurückweichenden Fernen, von denen man auf Erden
immer nur die Richtung kennt«46. In sinnfälliger Weise verbindet
Proust – wie im Anschluss an ihn Adorno – dieses Hinaussein mit
dem Zauber des Namens, dem Klang der Namen von Familien und
Orten, die im Hören und Erinnern des Kindes über die umgebende
Welt und ihre alltäglichen Realitäten hinausweisen, auf die mit allen
anderen Lebewesen »unvergleichlichen«, in eine andere Welt ent-
rückten Vorfahren der Guermantes47, auf Dörfer, deren glücksver-
heißende Namen sie zum Ort der Sehnsucht werden lassen.48 Es
wird darauf zurückzukommen sein, inwiefern in diesem Erlebnis
die von Proust betonte Transzendenzbewegung mit dem Glücksver-
sprechen des Erinnerns verflochten ist. Festzuhalten ist der originäre
Bezug auf die Vergangenheit als Ort der Frühe, der Kindheit, der
Jugend. Gedächtnis und Erinnerung interessieren nicht einfach als
zeitüberspannende Registratur und Zurückgehen zu einem frühe-
ren Zeitpunkt. Das Vergangene kommt als Dimension der Herkunft,
aber auch des offenen Ausgriffs und der ausstehenden Zukunft in
den Blick.
Die Lebenserinnerung, in welche Proust die Suche nach der ver-
lorenen Zeit einschreibt, unterscheidet sich von der gleichsam epo-
chenindifferenten historiographischen Rekonstruktion, die sich
unterschiedlichen Perioden und Zeiträumen zuwendet. Es geht um
eine Besinnung auf die Frühe, auf Ursprung, Anfang und Werden
eines Lebens, das sich in sich sammelt und sich in seiner Entste-
hung und seinem Werden, aber auch seinem Sichentgleiten gegen-
wärtig wird. Es ist getragen von den Ahnungen, den Ängsten und
den Hoffnungen des Kindes und des Jünglings, es begegnet sich in
dem, was es erstrebte und was ihm widerfahren ist.49 Das Ineinander
von Erkenntnis und Wiedererkenntnis kommt in der Erinnerung
dort paradigmatisch zum Tragen, wo diese in reflexiver Anwendung
dem Subjekt selbst zugekehrt ist, wo sie ein Sich-Finden und Sich-
Wiederfinden in der Zeit begründet. Solche Wiedererkenntnis ist
46 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 6: Die Flüch
tige, a. a. O., S. 407 (fr. III, S. 693).
47 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 243 (fr. III, S. 856).
48 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1966, S. 364.
49 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 32 (fr. III, S. 27).
4. Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 83
50 Für Michael Theunissen bildet sie eine der Weisen, in denen der Mensch
die entfremdende Herrschaft der Zeit überwindet: Negative Theologie der
Zeit, a. a. O., S. 62 f.
51 Augustinus, Confessiones X. 8,12.
52 Thomas Klinkert, Bewahren und Löschen. Zur Proust-Rezeption bei Sa
muel Beckett, Claude Simon und Thomas Bernhard, Romania Monacensia
Band 48, Tübingen: Günter Narr 1966, S. 36. – Ursula Link-Heer spricht
in diesem Zusammenhang von einem »gnadenhaften Inspirationserlebnis«:
Prousts ›A la recherche du temps perdu‹ und die Form der Autobiographie.
Zum Verhältnis fiktionaler und pragmatischer Erzähltexte, Amsterdam: B. R.
Grüner 1988, S. 248.
4. Unwillkürliche Erinnerung: Die Präsenz des Vergangenen 85
Es wird nach der Erkundung der Linien und Schichten der Arbeit
des Gedächtnisses auf diese Frage zurückzukommen sein. Das nach
Ricœur die mannigfachen Gestalten des individuellen und kultu-
rellen Gedächtnisses übergreifende Ideal einer mémoire heureuse53
meint mehr als die Erfüllung der methodischen Normen historischer
Rekonstruktion. Er steht für eine Leitvorstellung des gelingenden
Lebens selbst. Sie zu explizieren bedeutet nicht nur die Natur des
Glücks aufzuhellen, welches dem Erinnern innewohnt, sondern sich
darüber zu verständigen, in welcher Weise Erinnerung und mensch-
liches Leben überhaupt in ihrem Wesen verschränkt sind.
1 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 301, 306 (fr. III,
S. 895, 899).
88 II. Die Kunst der Erinnerung
brachte kann sie für das Natürliche und aus sich Werdende stehen,
als vollendete Kunst kann sie die Mühsal des Machens und die Spu-
ren des Hervorbringens tilgen und das Sich-selbst-Manifestierende
sehen lassen; als Gesetztes und Vermitteltes kann sie zum Ort der
neuen Unmittelbarkeit werden.2 Wenn es zur Aufgabe der Kunst
gehört, uns die Welt neu sehen zu lassen und uns im Medium der
Selbstbeschreibung auch über unsere eigenen Erfahrungen, unsere
Meinungen und Gefühle Klarheit gewinnen zu lassen, so geht eine
besondere Leistung, auch eine besondere Utopie der künstlerischen
Produktion dahin, uns in der Zeit wiederzufinden und im Vergange-
nen mit uns eins zu werden. Auch wenn solche Selbstpräsenz nicht
im Modus des plötzlichen Hineinversetzwerdens in andere Zeiten
und Räume zustandekommt, wie es sich in herausgehobenen Sinnes
erlebnissen ereignet, kann doch das Ideal der Gegenwärtigkeit als
Telos der historischen Besinnung fungieren. Sich gegen den Fluss
des Entschwindens im Vergangenen einzuholen ist ein Verlangen,
das die erinnernde Lebensbeschreibung zuinnerst beseelt.
Viele Autoren haben Prousts Suche nach der verlorenen Zeit als
Leitmotiv ihres Schaffens aufgenommen und seine Frage reformu-
liert, wie auf dem Wege der darstellend-reflektierenden Entfaltung
ein Analogon jener ursprünglichen Fülle und Gegenwart zu errei-
chen sei. Das Vorbild der Recherche übt eine unverkennbare Faszi-
nation auf vergleichbare Bemühungen aus, sein Leben narrativ anzu-
eignen und sich dem unablässigen Entgleiten und Zunichtewerden
der Zeit zu widersetzen. Vorbild ist Prousts Roman sowohl in der
exemplarischen Instanziierung der Gegenwärtigkeit im unwillkürli-
chen Gedächtnis wie in der emphatischen Formulierung jenes künst-
lerisch-literarischen Projekts und schließlich in dessen unvergleich-
licher Verwirklichung in einem umfassenden Lebenswerk.
Als erstes ist es die nicht selbstverständliche Konvergenz des Ziels,
die vielen an Proust orientierten literarischen Bemühungen um das
Vergangene ihr Gepräge gibt. Sie unterscheiden sich darin von der
historischen Forschungspraxis, die in der Erkundung von Monu-
menten und Archiven frühere Ereignisse und Entwicklungen durch-
dringt und ein Verständnis unserer Zeit aus ihrer Herkunft erarbei-
tet. Nicht gegenständliche Informationen zu einem entschwundenen
Einst, nicht bezugslose Kenntnisse aus einem fernen Kontinent und
sedimentierte Spuren eines abgestorbenen Lebens interessieren die
rückschauende Lebensbeschreibung. Deren Antrieb und Zuwen-
dung gilt dem damals Erlebten in seiner originalen Gegenwart, dem
früheren Geschehen als einem Unvergangenen, das in der verbor-
genen Tiefe des Lebens bewahrt ist und als nicht-vergangenes her-
aufgerufen und zum Leben erweckt werden soll. Jenseits der Suk-
zession der mechanischen Zeit, des Außer- und Nacheinander der
sich ablösenden Episoden und Bewegungen geht es um eine innere
Gemeinsamkeit, eine Kopräsenz der Zeiten in einer intensiven Ge-
genwart. Indem sie daran partizipiert, teilt die Lebensbeschreibung
ein Wesenselement der unwillkürlichen Erinnerung, in welcher ein
Vergangenes unversehens auftaucht und als es selbst, als ein einst-
mals Erlebtes und Reales in das aktuelle Hören und Sehen einbricht.
Es ist ein Element, das der Erinnerung als solcher innewohnt, sofern
diese – nach einer Beschreibung von Stephan Grätzel – die Ahnung
von einem Unvergangenen in sich trägt, das sie wiedererlangen will:
als Ahnung von einem früheren Jetzt, bei dem wir dabei waren, aber
auch von einem fernen Selbst, einer unvergangenen Subjektivität, als
die wir selbst inmitten der Dinge waren und unser Leben führten.3
Beides wird zum Gegenstand der Sehnsucht, deren Ursprünglich-
keit und Stärke eben darin liegt, dass sie nicht auf die Wiederkunft
irgendeines Geschehens, die Erweckung eines objektiven Ereignis-
ses in seinem originalen Ansichsein, sondern auf das Ferne als das
Eigene, das unvergangene Selbst geht. Erinnerung strebt nicht ein-
fach nach der kognitiven Einholung und erklärenden Strukturierung
früherer Taten und Geschehnisse, sondern nach der Ver-Gegenwär-
tigung eines Vergangenen als eines einst Gegenwärtigen, Anwesen-
den und Erlebten, und sie gewinnt eine besondere Eindringlichkeit
dort, wo sich die Suche nach der verlorenen Zeit mit der Besinnung
auf das Leben und dem Schreiben seines Lebens verschränkt.
Ungezählte literarische Werke lassen dieses Streben als treibendes
Motiv erkennen. Die Geschichte der Autobiographie versammelt
Werke aus allen Zeiten und Kulturen, die in vielfältigsten Varian-
ten Zeugnis vom Bedürfnis ablegen, sein Leben beschreibend ein-
3 Stephan Grätzel, Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und Ver
gessen, a. a. O., S. 140, 172 f.
90 II. Die Kunst der Erinnerung
Frage, die verlorene Zeit zurückzuholen und in ihr sich selbst wie-
derzufinden. Es ist ein Problem, das sein Echo nicht nur in der von
Prousts Erzähler beschworenen eminenten Schwierigkeit seines
Vorhabens findet, sondern das sich auch in der literarischen Form
des Proustschen Romans widerspiegelt. In diesem, so Thomas Klin-
kert, ist die Paradoxie der »erzähllogisch unmöglichen Aufhebung
der Mittelbarkeit« durchaus mitreflektiert.7 Einen Reflex findet die
Aporie, »die außerdiskursive Erfahrung« des plötzlichen Aufschei-
nens des Vergangenen »in ein diskursives Kunstwerk umsetzen«8 zu
müssen, im oszillierenden Arrangement der Perspektiven des erin-
nernden, erzählenden und schreibenden Subjekts, näherhin in der
Integration des Erinnerungsakts in die erinnerte Zeit (der Fusion
von erinnerndem und erinnertem Ich) bei gleichzeitiger Ausblen-
dung des Schreib- und Erzählakts.9 Es kann an dieser Stelle nicht
um die literaturwissenschaftliche Analyse dieser – auch im Kontrast
zu anderen autobiographischen Texten aufschlussreichen – Kons-
tellation gehen, sondern nur um den bemerkenswerten Umstand,
dass das gedächtnistheoretische Problem, das Prousts Konzept der
mémoire involontaire aufwirft, in seinem eigenen Werk einen mehr-
schichtigen Ausdruck findet. In der Sache interessiert die Frage, wie-
weit die beiden Erinnerungsformen einander fremd oder verwandt
sind, auf welchem Weg trotz der strukturellen Differenz eine Ein-
holung jenes Ziels auch auf dem Umweg einer methodischen Ge-
schichtsforschung und erzählenden Darstellung möglich ist.
Beeindruckend ist, mit welchem Nachdruck zahlreiche Autoren
die Distanz der originären Erinnerung zum Geschichtenerzählen
unterstreichen. Dabei kann der Akzent der Distanzierung unter-
schiedlich sein, entweder das Ungenügen des Erzählens zugunsten
einer anderen Form historischer Reminiszenz herausstreichen oder
seine Andersartigkeit gegenüber der ursprünglichen Erinnerung be-
tonen. Auf Ersterem beharrt Claude Lanzmann, wenn er sich un-
nachgiebig dagegen wehrt, das Menschheitsereignis des Holocaust
im Format von Hollywoodfilmen und TV-Unterhaltung zu verge-
genwärtigen. Die singuläre Negativität von Leiden und Erniedri-
17 Patrick Modiano, L’herbe des nuits, Paris: Gallimard 2012, S. 40, 114, 118,
124; vgl. das Interview: www.gallimard.fr/Media/Gallimard/Entretien-ecrit/
Entretien-Patrick-Modiano-L-herbe-des-nuits.
18 Patrick Modiano, L’herbe des nuits, a. a. O., S. 131, 12, 14.
5. Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 95
soll man, wie kann man die Zeit erzählen, so lautet die obstinat wie-
derkehrende Leitfrage. Solches Erzählen, so die Antwort, lebt als
erstes von der Rückkehr: vom bewussten Zurückgehen in vertraute
Lebenswelten, ins Dorf, in dem man aufgewachsen ist, zu Szenen
der Kindheit, die man in sich aufgenommen hat, in Landschaften,
mit denen man groß geworden ist und deren Veränderung man er-
lebt hat. Solches Zurückgehen heißt, in der Imagination oder auch
der realen Rückkehr, Situationen erneut durchleben, Atmosphä-
ren und Gefühle auf sich einwirken lassen, aufs Neue in den Wald
hineingehen, die Zimmer eines Hauses durchsuchen, durch Straßen
schlendern, die voller Erinnerungsbilder, voller Anklänge an Erleb-
tes und Erzähltes, an Geliebtes und Gefürchtetes, an bekannte und
fremde Menschen sind. Oft bedarf es des geduldigen, mehrmaligen
Durchstreifens eines alten Quartiers, bevor verwischte Spuren ans
Licht treten und verschlossene Register sich öffnen.19 Es ist ein Zu-
rückgehen, das einerseits mit der Tätigkeit des Sammlers paktiert,
der verlassene Gegenstände erwirbt, sie ordnet und pflegt und die
in ihnen kristallisierten Geschichten konserviert20, andererseits sich
als ein Insichgehen vollzieht, als ein Werden zu dem Kind, dem sich
die Welt öffnet und das ihre verwirrenden, faszinierenden Eindrücke
in sich aufnimmt, als ein Zurücktasten und Sich-zurück-Fühlen, als
ob wir wieder dort, wieder dabei wären. Es ist einerseits ein Fest-
halten und Bewahren dessen, was sich auflöst und entschwindet, an-
dererseits ein Sich-selbst-Zurückversetzen in die ursprüngliche Zeit
des Geschehens und Erlebens. In bunter Vielfalt und anschaulicher
Nähe beschreibt Kurzeck Szenen solcher Begegnung mit Menschen
und Orten, aber auch die iterierten, wie in sich kreisenden Bewe-
gungen des Zurückblickens und wiederholten Suchens und Durch-
laufens. Es ist wie das Anrennen gegen das Vergehen der Zeit, ein
28 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 294 (fr. III, S. 890).
29 Vgl. Ricœurs Situierung der narrativen Konfiguration zwischen der
vorausgehenden lebensweltlichen Präfigurierung und der nachträglichen
Refigurierung in der Lektüre und Rezeption: Paul Ricœur, Temps et récit.
Tome I, Paris: Seuil 1983, S. 85 ff., 116 f.
5. Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 99
zeichen vom Wirklichen selbst »in uns eingegraben, nicht von uns
eingezeichnet« sind.30 Doch sind es nicht stumme Prägungen, son-
dern Zeichen, die zu uns sprechen und die wir in ihrer Bedeutung,
als Schrift des Lebens lesen und interpretieren, als Text neu- und
weiterschreiben. Nach beiden Seiten wird der Konnex von Lesen
und Schreiben in der Texttheorie herausgestellt. Während die Rezep-
tionsästhetik das Lesen als ein Schreiben, als kreatives Mitkonstitu-
ieren des Textes expliziert, betont die Dekonstruktion das Schreiben
als ein Lesen, als reproduzierendes Erschließen und Um-Schreiben
einer je schon vorausgehenden, in Gang befindlichen Einschreibung.
So unterstreicht auch Proust, dass die schreibende Erschließung des
Buchs des Lebens keine rezeptiv-passive, sondern eine aktiv-kon
struktive Tätigkeit ist, eine in sich zurückkehrende Selbstverständi-
gung und kreative Selbstexplikation, in welcher wir durch nieman-
den vertretbar sind und die als Lektüre wie als Ausdruck gleicher-
maßen hindernisreich ist – eine Lektüre als »Schöpfungsakt, bei dem
kein anderer uns ersetzen oder auch nur mit uns zusammenwirken
kann. Wie viele wenden sich denn auch vom Schreiben ab!«31 Und
doch ist es eben diese Selbstfindung, der das tiefste Interesse, das
Verlangen des Schreibens gilt.
Sein Leben schreiben ist nicht ein Modus des gegenständlich re-
gistrierenden Festhaltens. Vielmehr ist es eine Form des Sich-zu-
sich-Verhaltens. Es ist ein Akt der Selbsterkundung und des Aus-
drucks seiner selbst. Selbstbeschreibung ist darin ein ursprüngliches
Sprachverhalten, verweist auf jenen Ursprung des Sprechens, der
im Ausdrucksverhalten liegt. Sprache ist ein Sichäußern des Lebens,
ein Zur-Sprache-Bringen des Denkens und Seins. Als Ausdruck ist
sie nicht Reduplikation eines Vorliegenden, schon Erkannten in ei-
nem anderen Medium, sondern ein originäres Suchen und Finden,
welches dem Gedanken erst seine Bestimmtheit verleiht und unser
Leben in konkreter Gestalt gegenwärtig werden lässt. Sprechen ist
Formgebung, in der Erforschung der Welt wie des eigenen Lebens.
Sich-Ausdrücken entspricht einem ursprünglichen Bedürfnis des
Lebendigen, als ein Prozess, in welchem das Lebendige sich nach
außen wendet, in die Äußerlichkeit tritt und gleichzeitig sich selbst
aneignet und sein Leben gestaltet. Es ist ein Bedürfnis, das in ähnli-
cher Weise die künstlerische Produktion und ebenso das Schreiben,
30 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 278 (fr. III., S. 880).
31 Ebd., S. 277 (fr. III, S. 879).
100 II. Die Kunst der Erinnerung
32 Christa Wolf (mit Bezug auf Günter Grass), Rede, dass ich dich sehe.
Essays, Reden Gespräche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, S. 45 f.
33 Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor. Erinnere Dich! Jüdische Ge
schichte und jüdisches Gedächtnis, a. a. O., S. 55 f.
34 Vgl. Georg Simmel, »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, in:
Gesamtausgabe, hg. v. O. Rammstadt, Frankuft am Main: Suhrkamp 1989 ff.,
Bd. 14, S. 385–416.
5. Vermittelte Erinnerung: Die Wiedergewinnung des Vergangenen 101
worden ist, so haben andere in ihr die »Kunst des Umwegs« erkannt,
auf welchem das Leben über die Äußerung zu sich zurückkehrt und
mit sich eins wird.35 So kann auch die Sprache, kulturelle Äußerung
par excellence, diese Kunst des Umwegs praktizieren und als Or-
gan des Gedächtnisses jene Gegenwart wieder einholen, auf welche
Erinnerung von jeher aus ist.
Die Anschlussfrage ist, in welcher sprachlichen Form solche Er-
innerung typischerweise oder bevorzugterweise artikuliert wird, in
welcher Form die Selbsteinholung zustande kommt. Historie und
Gedächtniskultur werden in unterschiedlichsten Weisen der metho-
dischen Forschung und sprachlichen Darstellung realisiert, und es
herrscht alles andere als Einvernehmen darüber, welches der Weg der
wahren, der richtigen, der lebensgemäßen Historie sei. Aus dieser
weit ausgreifenden Debatte ist an dieser Stelle nur eine Grundoption
zu nennen, die in der Auseinandersetzung um Geschichte zentral
ist und auch im Blick auf das Schreiben des Lebens sich aufdrängt.
Es ist die Frage, ob wir die verlorene Zeit über die Versenkung in
einzelne Erlebnisse, die ausführliche Vergegenwärtigung besonde-
rer Orte, bedeutender Themen und Lebensstationen zurückgewin-
nen – oder über den narrativen Bogen einer Lebenserzählung, die
den Lauf der Zeit und des Lebens, wenn auch selektiv und forma-
tiert, ausbreitet. Während Peter Kurzecks eindringliches Bemühen,
seine Zeit und Gegend zu erzählen, sich dem ersten Weg verpflichtet,
um in detaillierten, insistierenden Annäherungen bestimmte Orte
und biographische Situationen festzuhalten und wieder aufleben zu
lassen, bildet Prousts Werk ein Paradigma des aufs Ganze ausgrei-
fenden erzählenden Lebensbildes. Generell ist die Erzählung, auch
wenn in neueren Strömungen zum Teil zurückgedrängt, als allge-
meinster Rahmen historischer Repräsentation bzw. der Darstellung
temporaler Zusammenhänge herausgestellt und reflektiert worden.
Dies gilt in besonderer Weise für den erinnernden Selbstbezug. Sein
Leben schreiben heißt sein Leben erzählen. Zu zeigen ist, wieweit
uns die Logik der Erzählung über den Wunsch, die Möglichkeiten,
aber auch die Schwierigkeiten, sein Leben zu schreiben, Aufschluss
verleiht.
Erzählung ist eine Sprachform, die sich durch eine spezifische Struk-
tur- und Einheitsbildung auszeichnet. Ihr allgemeinstes Kennzeichen
ist die Verschränkung von logischer und temporaler Ordnung. Die
Erzählung geht nicht auf in der puren Sukzession, dem Nacheinan-
der von Ereignissen und Erlebnissen, und sie erschöpft sich ebenso
wenig in einer systematischen (kausalen, funktionalen, sinnhaften)
Korrelierung der Fakten und Umstände. Sie artikuliert eine Abfolge,
in welcher Späteres sich zugleich in bestimmter Weise auf Früheres
zurückbezieht, Früheres auf Späteres vorausweist, und über diesen
Bezug eine bestimmte Konstellation sich herstellt, eine bestimmte
Sache entsteht. Dabei kann der Bezug von verschiedenster Art sein,
als Relation zwischen einer Intention und ihrer Ausführung, zwi-
schen Anfang und Abschluss, Bewegung und Abbruch (oder Weiter-
führung, Umkehr), Erwartung und Erfüllung (oder Enttäuschung).
Immer geht es darum, dass etwas seinem Sinn nach in bestimmter
Weise auf Früheres bzw. Späteres bezogen wird, so dass sich über
sie eine Geschichte erzählen lässt. Die Geschichte enthält als Mini-
malgerüst die Triade von Anfang, Mittelteil und Schluss, wobei diese
Struktur in mannigfacher Weise gestaltet, verzögert und beschleu-
nigt, verschachtelt und wiederholt werden kann. Ihre Konsistenz
und Erzählbarkeit verdankt sich weder der temporalen Synthesis
noch der logischen Neben- und Unterordnung für sich genommen,
sondern deren konkreter Verkettung, worin ein Späteres als Erfolg
oder Misserfolg, Entfaltung oder Katastrophe ein neues Licht auf
das Frühere wirft. Ein Ereignis im Nachhinein als Beginn einer Ge-
106 III. Das erzählte Selbst
schichte – als Geburt eines Genies, als Anfang eines Konflikts – oder
im Rückblick als Antwort auf ein Problem – als krisenhaften Ab-
bruch, als glücklichen Ausgang – beschreiben, heißt es unter einer
Beschreibung auffassen, die seinem aktuellen Sein nicht zur Gänze
zu entnehmen ist, sondern aus der Verschränkung der Zeiten resul-
tiert. Diese Basalform des Sprechens und Darstellens bildet einen
Grundbestand aller Kulturen, der in seiner vielfachen Gestaltung
und kulturellen Praxis Gegenstand weit ausgreifender, multidiszip-
linärer Forschung ist. Erzählung ist ein weltweit verbreitetes Muster
der Weltbeschreibung, der Kommunikation und der Orientierung;
sie ist in den Kulturen der Menschheit verankert und in der sozia-
len Alltagswelt omnipräsent. An dieser Stelle interessiert sie in ihrer
lebensweltlichen Relevanz, im Verhältnis des Menschen zu seinem
Leben und zu seiner Vergangenheit: als ein privilegiertes Medium, in
welchem Erinnerung sich vollzieht und der Mensch versucht, sich
selbst einzuholen und die verlorene Zeit wiederzufinden. Erzählung
ist in besonderer Weise mit der Zeitlichkeit des Selbst verschränkt.
In eindringlichen Analysen hat Paul Ricœur die narrative Grund-
lage von Zeit und Selbst herausgearbeitet. Leitend ist die Hypothese,
dass sich Zeitlichkeit nicht im direkten Zugang der phänomenologi-
schen Beschreibung adäquat erschließen lässt, sondern der Vermitt-
lung über den indirekten Diskurs der Erzählung bedarf.1 Fassbar
wird die Zeit, indem sie im Medium der Erzählung in bestimmter
Weise gestaltet wird, und sie wird dies, indem sie jenseits der bloßen
Chronologie als Raum des Sinns erfahren, als bestimmte Sinnfigur
einer Erfahrung, einer Episode oder einer Geschichte gegenwärtig
wird. Darin begegnet die Erzählung jener Schwierigkeit, die Ricœur
als erste Aporie der Zeittheorie reflektiert und die im Auseinander-
klaffen zwischen der Innen- und der Außendimension des Zeitli-
chen, der wechselseitigen Verdeckung von erlebter und objektiver
Zeitform besteht. »Die erzählte Zeit schlägt wie eine Brücke über die
Kluft, welche die Spekulation zwischen der phänomenologischen
und der kosmologischen Zeit unablässig vertieft.«2 Die Vermittlung
von Innen und Außen, die generell als Grundlage von Zeichen und
Symbol fungiert und die Sinnhaftigkeit des Ausdrucks wie des Ver-
stehens begründet, ist Voraussetzung der konkreten Erfahrung der
Zeit wie des Lebens. Menschliches Leben wird lesbar in Gestalt der
1 Paul Ricœur, Temps et récit. Tome III: Le temps raconté, a. a. O., S. 349.
2 Ebd., S. 351 f.
6. Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 107
Geschichten, die man von ihm erzählt.3 Wie die Zeit nicht über die
formale Anordnung von Zeitpunkten und Relationen des Früher
und Später, welche das Gerüst der Messung bilden, in ihrer Zeitqua-
lität fassbar wird, so ist sich das Selbst nicht in seiner unmittelbaren
Präsenz, in der Innerlichkeit des Beisichseins erkennbar, sondern
erkundet sich auf dem Weg der Lebensgeschichte und legt sich in
der Erzählung seiner selbst aus. Erzählung ist eine paradigmatische
Form, in welcher das Selbst sich artikuliert und der Mensch sich über
sich selbst verständigt. Im Ausgang von ihr stehen Formen und Kri-
terien des Selbstseins zur Diskussion.
Eine naheliegende Beschreibung geht dahin, die Erzählung als
Gefäß der Identitätsbildung zu fassen. Der Zusammenhang von Er-
innerung und Selbstwerdung4 findet sich idealtypisch in der nar-
rativen Lebensdarstellung realisiert. Seine Geschichte zu erzählen
heißt sich darüber klar zu werden oder jemandem darüber Auskunft
zu geben, wer man ist. Die Geschichte steht für die Person.5 Un-
ter vielfältigsten Facetten ist dieser Zusammenhang in der literatur-,
geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung exploriert und
diskutiert worden. Seinen Nukleus sieht Paul Ricœur in der durch
die Erzählung geleisteten Vermittlung von Einheit und Vielheit. Die
narrative Entfaltung ermöglicht es, über die Antinomie zwischen der
substantiellen Identität des Subjekts und der Verschiedenartigkeit
der Zustände und Episoden hinauszukommen und die Einheit einer
Geschichte als die Sinneinheit, mittels deren ein Selbst seine Identität
findet, vor Augen zu stellen. Um diesen Zusammenhang aufzuhellen,
schlägt Ricœur vor, zwei Identitätsbegriffe auseinanderzuhalten, die
er anhand der Konzepte der Selbigkeit und der Selbstheit (mêmeté /
ipséité, idem / ipse, same / self) bestimmt.6 Im Spiel ist auf der einen
Seite die abstrakte Identität des Subjekts, welches, als dasselbe, das
Referenzsubjekt der unterschiedlichen Szenerien und Wechselfälle
einer Geschichte bildet. Es ist die numerische Identität, wie sie in
Frage steht, wenn es darum geht zu wissen, ob wir unter variie-
3 Paul Ricœur, »Die narrative Identität«, in: Allgemeine Zeitschrift für Phi-
losophie 2013, S. 205–216, hier S. 205.
4 Siehe oben 3.3.
5 Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch
und Ding [1953], Wiesbaden: Heymann 21976; Hermann Lübbe, Geschichts
begriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel:
Schwabe 1977; Emil Angehrn, Geschichte und Identität, a. a. O.
6 Paul Ricœur, Temps et récit. Tome III: Le temps raconté, a. a. O., S. 355.
108 III. Das erzählte Selbst
7 Ricœur bezeichnet sie u. a. als Differenz von substantieller und narrati-
ver Identität (ebd.); doch lässt sie sich, in anderer Lesart, durchaus innerhalb
der narrativen Identität, als Distinktion unterschiedlicher Identitätstypen im
erzählenden Geschichtsbezug verorten (siehe oben 3.3, vgl. E. Angehrn, Ge
schichte und Identität, a. a. O., S. 233–340). Im Besonderen scheinen zwei von
Ricœur vorgenommene schwerpunktmäßige Zuordnungen nicht zwingend:
die Korrelation von retrospektiver und prospektiver Selbstbeziehung (u. a.
in den Modi des Erinnerns und Versprechens) mit den Aspekten von Selbig-
keit und Selbstheit sowie mit den Seiten des theoretischen und des prakti-
schen Selbstverhältnisses (Parcours de la reconnaissance, a. a. O., S. 163–197).
Auch der Rückblick tangiert die praktische Identität (wie in Phänomenen der
Scham und der Reue) und bringt die Subjektfunktion des verantwortlichen
Subjekts zum Tragen, und auch im Vorgriff bildet die – ungesicherte – Sel-
bigkeit die Grundlage der praktischen Selbst-Funktion.
6. Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 109
12 Vgl. dazu Sebastian Knell, Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Phi
losophie verlängerter Lebensspannen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015,
S. 193–226.
112 III. Das erzählte Selbst
13 Vgl. Sebastian Knell, Die Eroberung der Zeit, a. a. O., S. 201 f., 212, 218 f.
14 Vgl. Dieter Thomä, »Vom Nutzen und Nachteil der Erzählung für das
Leben«, in: Karen Joisten (Hg.), Narrative Ethik: Das Gute und das Böse
erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband 17, Berlin: Aka-
demie Verlag 2007, S. 75–97.
6. Zeit und Erzählung: Selbstfindung in der Zeit 113
in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt.«16 Sie ist Ur-
bild des Verstehens, sofern das Sichselbstverstehen eine Idealform
des Verstehens ist und in der »Selbstbesinnung des Menschen über
seinen Lebensverlauf« sowohl eine exemplarische sinnhaft-tempo-
rale Einheitsbildung wie eine enge Überlagerung von realem Pro-
zess und reflexiver Darstellung (deren Geschäft »schon durch das
Leben selber halb getan« ist) stattfindet.17 Historisch hat man in der
modernen Autobiographik einen Reflex des sich emanzipierenden
neuzeitlichen Individuums gesehen, dessen Artikulation zugleich
Zeugnis von der Verunsicherung und Krisenhaftigkeit des Subjekts
ablegt, während die idealisierende Formgebung umgekehrt proble-
matische Züge des bürgerlichen Subjekts trägt.18
Man kann die autobiographische Konstruktion als Ausdruck ei-
nes Willensakts verstehen, eines beharrlichen »Versuchs, der Erin-
nerung die Vergangenheit abzuverlangen« und sich von der Zufäl-
ligkeit des sporadischen Gedächtnisses zu befreien.19 Der Wille ist
nicht nur einer zur Einholung des Vergangenen, sondern zur biogra-
phischen Prägnanz, zu einer Durchdringung von Leben und Werk,
in welcher man sowohl Tendenzen zur Transformation des Lebens
ins Kunstwerk wie zur Finalisierung des Lebens auf seine darstel-
lende Reprise hin ausmachen kann – dergemäß nicht nur der große
Schriftsteller »gewissermaßen für seine Autobiographie« lebt20, son-
dern allgemein, nach Brechts Satz, »das Leben, gelebt als Stoff einer
Lebensbeschreibung«, an Bedeutung gewinnt.21 Es ist insgesamt die
Intention eines Sichfindens in seiner Vergangenheit, das ebensosehr
ein Erforschen wie ein Hervorbringen, ein Sicherkunden wie Sich
erschaffen ist. Autobiographie ist in einem prägnanten Sinn nicht
ein Beschreiben, sondern ein Schreiben des Lebens. Dabei stellt die
22 Vgl. Christa Wolf, Rede, dass ich dich sehe, a. a. O., S.77 ff.
23 Vgl. Emil Angehrn, »Selbstverständigung und Selbsttäuschung. Zwischen
Selbstsein und Selbstverfehlung«, in: Emil Angehrn / Joachim Küchenhoff
(Hg.), Selbsttäuschung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017.
24 So betont Y. H. Yerushalmi im Zusammenhang des jüdischen Gedächtnis-
ses, dass dieses »letzten Endes nur ›geheilt‹ werden kann, wenn die Gruppe
selber Heilung findet«, wobei er anfügt: »Doch angesichts der Wunden […]
wird der Historiker bestenfalls zum Pathologen, doch kaum zum Arzt«:
Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor. Erinnere Dich!, a. a. O., S. 100.
116 III. Das erzählte Selbst
1 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 264 (fr. III, S. 870 f.).
118 III. Das erzählte Selbst
7.1 Der Ausgriff auf das Ganze und das Vorlaufen zum Tod
9 Ebd., S. 236.
10 Ebd., S. 266.
11 Lew Tolstoi, Der Tod des Iwan Iljitsch, Köln: Anaconda 2008.
12 Søren Kierkegaard, »An einem Grabe«, in: Gesammelte Werke, Düssel-
dorf / Köln: Eugen Diederichs 1952, 13. und 14. Abteilung: Vier erbauliche
Reden 1844 / Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845, S. 173–205, hier
S. 178.
13 John Williams lässt in seinem Roman Stoner die akribische Beschreibung
eines vom Sterbenden erlebten Sichzurückziehens und Erlöschens in solche
gesteigerte Selbstpräsenz münden: »Eine Sanftheit umgab ihn, eine Mattig-
keit legte sich auf seine Glieder, und ein Gefühl der eigenen Identität über-
kam ihn mit plötzlicher Kraft; er fühlte ihre Macht. Er war er selbst, und er
wusste, was er gewesen war« (John Williams, Stoner, München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 2013, S. 348).
122 III. Das erzählte Selbst
das Vorlaufen zum Tode für Heidegger zum Angelpunkt der eigent-
lichen Existenz wird, so bildet der Gedanke des Todes – nicht der all-
gemeinen Sterblichkeit, sondern des je eigenen, mir bevorstehenden,
unvertretbaren Todes – für Kierkegaard die Grundlage der Lebens-
kraft und des Ernstes, der jeden Tag unendlich wertvoll macht und
ihn so leben lässt, als wäre er der letzte.14 Gleichsam spiegelbildlich
zum Vorlaufen in den Tod lässt sich die Durchdringung von Leben
und Tod auch als Vorfallen des Todes ins Leben, als Gegenwart des
Todes im Leben erfahren. Michael Theunissen hat das Leben, das
im Vorschein des Todes vollzogen wird, anhand der sokratischen
Formel einer Einübung ins Sterben ausgelegt und diese konkret als
Vorwegnahme des Abschieds vom Leben, als abschiedliches Leben
charakterisiert, in welchem er zugleich ein Kennzeichen des wahr-
haft menschlichen Lebens erkennt.15 Es ist ein Ernstnehmen nicht
nur des Sterbens als des letzten – unter Umständen schmerzlichen,
angstvollen, betreuungsbedürftigen – Lebensabschnitts, sondern
der existenziellen Bewegung hin zum Erlöschen und zum eigenen
Nichtmehrsein. Im Abschiednehmen von den Lebenden, von sich
selbst und vom Leben durchdringt der Tod das Leben als ganzes.
Nun ist diese Doppelbewegung des Vorlaufens und Zurück-
kommens nicht nur für den existentiellen Lebensvollzug, sondern
in anderer Hinsicht ebenso für dessen reflexive Selbstbeschreibung
von Belang. Vom Tode her wird das Leben geführt und erzählt. Zur
Utopie jener Selbsteinholung, die dem Erzähler des Lebens vor-
schwebt, gehört nicht nur das von Proust beschworene Einswerden
in der Intensität des Augenblicks, sondern ebenso der Wunsch des
Sichgegenwärtigwerdens in seinem Leben als ganzem. Die konsti-
tutive Retrospektivität, die der episodischen Erzählung innewohnt,
prägt die Lebenserzählung als solche und bedingt ihren Ausgriff aufs
Ganze: Zu dessen Pointe gehört, dass er nicht nur den Ausblick ins
Nichtsein, sondern ebenso den Rückblick und die Gegenwärtigkeit
des Ganzen eröffnet. Der Tod ist eine Grenze und zugleich eine Er-
möglichung der Lebenserzählung. Auflösung und Ganzheit stehen
in antagonistischem Widerspruch und in geheimnisvoller Verbin-
dung. Das eigentümliche Ineinander von Ende und Vollendung bil-
14 Søren Kierkegaard, »An einem Grabe«, a. a. O., S. 186, 199; vgl. Rainer
Marten, Endlichkeit, Freiburg / München: Alber 2013, S. 158 f.
15 Michael Theunissen, »Die Gegenwart des Todes im Leben«, in: ders.,
Negative Theologie der Zeit, a. a. O., S. 197–217.
7. Selbsterzählung und Endlichkeit 123
wird, dass der Prozess des Sterbens als solcher ins Zentrum rückt
und der Umgang mit Schmerzen und Ängsten an die Stelle des letz-
ten Abschiednehmens tritt, dass das Sterben in einer Überblendung
von Innen- und Außensicht bis ins Erlöschen und letzte Dunkel
hinein eine Sprache findet.
Verwiesen sei auf literarische Werke, die sich dieser Herausforde-
rung stellen und die aus verschiedener Perspektive vom Zu-Ende-
Gehen und Sich-zu-Ende-Erzählen Zeugnis ablegen, wobei die Sub-
jektstelle zwischen Autor, Ich-Erzähler und Romanheld ebenso os-
zillieren kann wie die Sprachform zwischen romanhafter Erzählung,
registrierendem Protokoll, tagebuchartigen Aufzeichnungen, reflek-
tierender Besinnung und antizipiertem Nachruf auf sich selbst18.
Zum Teil sind es Beschreibungen aus der auktorialen Außensicht,
die sich gleichzeitig um eine Vermittlung der Erlebensdimension des
Helden und seines Sichverhaltens zur Sterblichkeit und zum eigenen
Tod bemühen, Nachzeichnungen des Sichzurückziehens und Ver-
abschiedens, bis hin zum Erlöschen des Bewusstseins und Überge-
hen ins Nichtmehrsein.19 Es sind wie tentative Überschreitungen der
Grenze zwischen externem Bericht und Selbstnarration, zum Teil
gleichsam stellvertretend weiter- und zu Ende geführte Selbsterzäh-
lungen von Sterbenden.20 Andere, eindringliche Zeugnisse stammen
von Autoren, die mit der Diagnose einer tödlichen Erkrankung kon-
frontiert sind und von ihrer letzten Lebensphase Rechenschaft able-
gen, reflektierend über sich und ihr Leben, über Krankheit und Tod,
Verzweiflung und Hoffnung – Berichte, die zum Teil bis in die letzte
Phase des selbst bestimmten Lebens hinein weitergeführt werden,
um am Ende editorisch anderen anvertraut zu werden.21 Klassische
nicht das Grauen, das Erbarmen all dieser Tode erlebt? Allen Todes? Auch
die Brüderlichkeit, die er ins Spiel brachte?«
25 So Patrick Modiano im Interview mit Iris Radisch, in: Iris Radisch,
Lebensendgespräche, Reinbek: Rowohlt 2015, S. 266.
26 Dieter Henrich, ›Sterbliche Gedanken‹. Dieter Henrich im Gespräch mit
Alexandru Bulucz, Frankfurt am Main: Edition Faust 2015, S. 9.
7. Selbsterzählung und Endlichkeit 127
Die Bedrohung, die auf dem Schreiben seines Lebens durch die
schwindende Zeit liegt, stand Prousts Erzähler von Beginn an vor
Augen. Ausdrucksstark ist sie im Bild vom Maler eingefangen, der
endlich den freien Blick auf die vor ihm liegende Landschaft ge-
winnt und zum Pinsel greift – kurz bevor die Nacht einbricht, in der
nichts mehr sichtbar ist und ȟber der sich kein neuer Tag erheben
wird.«27 »Sprich jetzt, bevor es zu spät ist«, hat in ähnlichem Geist
Paul Auster sein erzählendes Ich gemahnt.28 Das Bewusstsein der
Endlichkeit ist nicht nur eine Grundlage des Ausgriffs auf das Ende,
sondern ebenso eine Infragestellung dieses Ausgriffs. Es ist eine Be-
drohung, die nicht nur das Erreichen der abschließenden Ganzheit,
sondern den fortlaufenden Prozess der Selbsteinholung untermi-
niert. Schon während wir schreiben, haben wir das Gefühl, uns zu
entgleiten, uns im Fluss des Lebens nicht einholen zu können und
auch in der fortgesetzten, rastlosen Anstrengung des Weiterschrei-
bens unser Ziel nicht zu erreichen, ihm nicht näherzukommen. Es ist
die Last des Zeitdrucks, der den Menschen in vielfältigsten Beschäf-
tigungen gefangen hält, ihn mit dem Gefühl des Nichtankommens,
des Nichtgelingens, der Vergeblichkeit bedrängt. Dieses Erlebnis,
das ihn in der Arbeit und im sozialen Handeln heimsuchen kann
und das in gewisser Weise als Leiden am Verrinnen der Zeit dem
Leben als solchem innewohnt29, erhält eine besondere Intensität in
der Bemühung, schreibend die Wirklichkeit einzufangen und das
eigene Leben zur Sprache zu bringen.
Die Schriften von Peter Kurzeck, in denen uns markante Aus-
prägungen der Erinnerungs- und Schreibarbeit begegnet sind, verlei-
hen auch der Erfahrung der Zeitnot beredten Ausdruck. Sie kommt
sowohl als Mühsal der Hast und Zeitknappheit wie als Sehnsucht
nach Ruhe und Stillstand, schließlich als Erfahrung des Entzugs, des
Verspätetseins und Sichverfehlens zur Sprache.
Als geradezu existentielle Bedrängnis erlebt der Schreibende die
Not, mit der davoneilenden Zeit mitzuhalten, sie durch Beharrlich-
keit und Beschleunigung des Erzählens einzuholen. »Schreib wei-
27 Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, a. a. O., S. 508 (fr. III, S. 1035).
28 Paul Auster, Winterjournal, a. a. O., S. 7.
29 Vgl. oben 2.4.
128 III. Das erzählte Selbst
ter! Beeil dich!«30 ruft er sich zu, »nicht aufgeben, nie! Jeden Tag
weiter, so lang es auch dauern mag«, »am liebsten schreiben und
schreiben und keine Pause«, »schreiben, als ob das Exekutionskom-
mando schon unterwegs«, »noch nicht! Stört jetzt nicht! Muss hier
erst noch zuende!«31 Das Verfolgtsein, Gehetztsein durch die Zeit
überlagert sich mit dem Verlangen, ja, inneren Zwang, alles einzu-
sammeln, alles zu beschreiben, es gegen sein Entgleiten festzuhalten,
vor dem Verschwinden zu retten. Gerade mit Bezug auf das eigene
Leben wird das unablässige Entschwinden der vertrauten Welt und
Verblassen der Erinnerungen schmerzlich erfahren. Mit dem Ver-
lust geht auf der Gegenseite die ungestillte Sehnsucht einher, »man
könnte irgendwann irgendwas einmal in Ruhe, in aller Ruhe«32 zu
Ende bringen, der tiefe, unablässig enttäuschte Wunsch, »wenigs-
tens während ich schreibe, soll sie stehenbleiben, die Zeit«.33 Alle
Anstrengung, die Zeit einzuholen, den Wettlauf mit ihr zu gewin-
nen, bleibt mit Vergeblichkeit geschlagen. Immer mehr schwindet
das Vertrauen, dass die Beschreibung überhaupt zu einem Ende
kommt, das Buch je fertig wird34; immer kürzer wird die Zeit, im-
mer mehr verspäten wir uns uns selbst gegenüber: »Je länger ich
schreibe, umso mehr in Verzug, sagte ich. Mit dem Leben genauso.
Rund um die Uhr. Wie soll man das aushalten?«35 Die schreibende
Selbsteinholung entgleitet sich, wird zur zunehmenden Entfernung
von sich, Schreiben zu einem »wachsenden Verlustgeschäft, das man
aber unbedingt immer weiter in Gang halten muss. So lang wie
möglich.«36 Die Zeit läuft ab, doch der Schreibende kann nicht an-
ders als mit allen Kräften verzweifelt danach streben, mit ihr Schritt
zu halten, getragen von der utopischen Hoffnung, ohne welche er
nicht schreiben kann, die Zeit letztlich einzuholen und sein Werk
zu vollenden – »beim Schreiben oder im Gehen wie von weit her
eine Ahnung […] dass es am Ende doch fertig wird, das Buch, und
ich wäre gerettet.«37
Wir haben hier nicht nur mit der Not der Endlichkeit zu tun,
die sich an einem nie abzuschließenden, nie vollendeten Werk ab-
arbeitet, wie wir in allem Tun und Streben nie zur restlosen Ver-
wirklichung unserer Pläne, nie zur vollständigen Erfüllung unserer
Wünsche kommen. Sondern es ist wie ein abgründigeres Verfehlen,
das Sichverfehlen eines Lebens, das immer im Aufschub bleibt, nie
im Jetzt sich gegenwärtig und mit sich eins wird, das immer über
sich hinausgewiesen, vom Gefühl begleitet ist, noch nicht das wahre,
eigentliche Leben zu sein, welches erst noch kommen muss. Die-
ses den Lebensvollzug bedrängende Verfehlen hat seinen Reflex in
einer Erinnerungsarbeit, in der uns das Vergangene entgleitet und
uns nie in ihm präsent werden lässt, weil das Heraufholen und ge-
staltende Vergegenwärtigen des Gewesenen sich selbst in der Zeit,
gegen die Zeit vollzieht. Sein Leben zu schreiben steht in ungelös-
ter Spannung zum Gesetz der Zeit: zu der immer weiter sich ent-
fernenden, im Dunkel sich verlierenden Vergangenheit, aber auch
zur inneren Zeitlichkeit des nie mit sich einigen Lebens und des
Schreibens selbst. Dabei kann sich zwischen dem Leben und dem
Schreiben ein Spannungsverhältnis eigener Art auftun. Während
sich der Schreibakt von sich aus an einer Teleologie der Vollendung
und geschlossenen Form ausrichten kann, konfrontiert das Leben
im Maße seines Voranschreitens zunehmend mit der Einsicht in die
unausweichliche Nichtvollendung. Norberto Bobbio sieht solche
Alterseinsicht im Zeichen des melancholischen Bewusstseins »um
das Unerreichte und das nicht mehr Erreichbare«, als Klarheit da-
rüber, »dass der Weg nicht nur nicht vollendet ist, sondern dass dir
auch keine Zeit mehr bleibt, ihn zu vollenden.«38 Es gehört, so Odo
Marquard, zu den – nicht resignativen, sondern versöhnenden, von
Illusionen befreienden – Erfahrungen des Alterns, dass wir, ineins
mit dem Schwinden der Zukunft, mit der Aussicht vertraut werden,
aber steht gerade die Ausrichtung auf das Feste und Bestimmte im
Zeichen der Täuschung und Verdrängung, liegt die Herausforderung
vielmehr darin, im Offenen und Bodenlosen zurechtzukommen und
ohne Abstützung auf letzte Gründe Orientierung zu finden. Solche
Antagonismen durchziehen den Streit um das richtige Denken und
Leben von Beginn bis heute.
Wenn das Motiv des uneinholbaren Anfangs zum Teil mit beson-
deren, ›abgründigen‹ Themen und aporetischen Fragen – dem An-
fang der Zeit, dem Ursprung des Bösen – verknüpft ist, so wird es
in anderen Konzepten als generelles Strukturmerkmal des mensch-
lichen Seins und Denkens herausgestellt. Für die Dekonstruktion
steht es im Horizont eines Verstehens und Sinngeschehens, das je
schon unterwegs ist und nie zur abschließenden Formulierung und
Deckung mit sich gelangt. Auch wenn historische Schöpfungen auf
singulären Stiftungsakten – Neugründungen, Erfindungen, Revolu-
tionen – aufruhen können, setzen sie nicht im schlechthin Bezugs-
losen, vom absoluten Nullpunkt an, sondern schließen an voraus-
gehende Sinnprozesse an, die sie aufnehmen, umstürzen, neu inter-
pretieren. Auch wenn sie radikale Neuerungen und unableitbare
Kreationen enthalten, sind sie untergründig mit vorausgehenden
Prozessen und Konstellationen verbunden, von ihnen her ermög-
licht und auf den Weg gebracht. Um ein Ereignis in seiner Dichte,
auch in seiner Gebrochenheit und Vieldeutigkeit zu begreifen, müs-
sen wir über die nächsten Ursachen hinaus-, hinter seine Anfänge
und Vorstadien zurückgehen; um eine unverständliche Handlung,
einen dunklen Text aufzuhellen, müssen wir verdeckte Vorausset-
zungen, Gründe und Abgründe sondieren, von denen her wir nicht
nur der Genese einer Gestalt, sondern auch den Gründen und We-
gen ihrer Verdeckung und Verzerrung nachgehen. Solche Tiefen
analyse ist namentlich in der Konfrontation mit unverständlichen
Äußerungen, mit fremden Kulturen, mit pathologischen Verhaltens-
formen verlangt. Doch weist sie auf einen Zug im Sinnprozess, der
auch in der normalen Kommunikation, im alltäglichen, aber auch
wissenschaftlichen oder dichterischen Sprechen und Rezipieren rele-
vant sein kann. Es geht dem Verstehen und Deuten nicht nur darum,
das ursprünglich Gemeinte eines Textes, das reine Signifikat eines
Werks zu identifizieren. Abgründiger ist der Umgang mit einer Sinn-
produktion, die sich selbst nicht transparent und ihrer selbst nicht
sicher ist, sondern erst in der Äußerung, im Suchen nach dem rich-
tigen Ausdruck Bestimmtheit finden und die Kluft zwischen Mei-
8. Das unerledigte Vergangene 137
nen und Sagen schließen muss. In uns selbst, aber auch im Anderen
gehen wir hinter Intentionen und Artikulationen zurück, um die
Bedeutung eines Tuns oder Sagens zu erschließen, wobei der Weg
des Äußerns wie des Verstehens in bestimmten Fällen ein kontu-
rierter mit Anfang und Ende, in anderen aber ein unbestimmt-offe-
ner Weg ohne vorbestimmte Grenze, ohne Urstiftung und ohne ab-
schließende Artikulation des Sinns sein kann. Hermeneutik insistiert
darauf, dass das Bedeutungspotential eines Symbols unerschöpflich,
dass der Gang einer Verständigung unendlich sein kann.
Der Uneinholbarkeit des Anfangs begegnen wir nicht nur in
herausgehobenen Konstellationen der Urgründe und Letztprinzi-
pien, sondern im weiten Feld der Zeitlichkeit des Lebens. Erinne-
rung hat, neben klaren Anfängen und reproduzierbaren, der Besin-
nung zugänglichen Daten mit verdeckten, abgründigen, entzogenen
Vergangenheiten zu tun. Sie werfen erneut die Frage auf, wie sich die
konkrete Arbeit des Gedächtnisses im Netz des menschlichen Le-
bens vollzieht, in welcher Weise die sich entziehende Vergangenheit
gleichwohl ein Gegenstand, ja, ein treibendes Motiv und ein tragen-
der Grund des Erinnerns sein kann. Dazu haben wir den Entzug des
Vergangenen in einer Gestalt zu betrachten, in der er sich gewisser-
maßen noch radikalisiert, vertieft findet.
3 Vgl. Emil Angehrn, »Das Vergangene, das nie gegenwärtig war. Zwi-
schen Leidenserinnerung und Glücksversprechen«, in: Emil Angehrn / Jo-
achim Küchenhoff (Hg.), Das unerledigte Vergangene. Konstellationen der
Erinnerung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2015, S. 175–205; in den fol-
genden Abschnitten sind stellenweise Ausführungen aus diesem Text über-
nommen.
138 IV. Die Zukunft des Vergangenen
Das Gegenwärtige als wahrhaft Seiendes verbindet sich mit der Idee
des Identischen, als welches Parmenides das Seiende im Gegensatz
zum Nichtseienden auffasst und zum Kriterium wahrer Erkenntnis
macht: des sich selbst Gleichen, Unveränderlich-Unwandelbaren,
des in seiner Bestimmtheit Festgelegten, Unvermischten und Be-
grenzten, mit welchem sich im Weiteren Vorstellungen des Voll-
ständigen und Vollendeten verknüpfen, des erfüllten Ganzen, aber
auch des mit sich Einigen, auf sich Bezogenen und in sich Bleiben-
den, sich nicht in anderem Verlierenden und Entfremdenden. Die
räumlich-zeitliche Doppelvalenz, die die arche als Herkunft und
Grund charakterisierte, kennzeichnet die affirmativen wie die nega-
tiven Umschreibungen des Seienden als des wahrhaft Gegenwärti-
gen. Der Begriff der Spur verkörpert paradigmatisch diese zweifache
Verortung eines im Raum Anwesenden, welches zugleich Überbleib-
sel und Zeichen eines Abwesenden und zeitlich Vergangenen ist, eine
Doppelverortung, die sich in der multidimensionalen Typologie der
Spur6 weiter diversifiziert. Sie überlagert sich mit den ontologisch-
seinsmäßigen Bestimmungen der Gegenwärtigkeit.
Dies ist für die Rede von einem Vergangenen, das nie gegenwär-
tig war, von unmittelbarem Belang. Für sich genommen, scheint die
Formulierung unverständlich, auch wenn sie in vertrauten Kontex-
ten des Erinnerns und Erzählens begegnet. Ernst Blochs Ausblick
auf eines, das »allen in die Kindheit scheint und worin noch nie-
mand war«7, variiert diese Figur ebenso wie der verspielte Buchtitel
von Joachim Meyerhoff »Wann wird es endlich wieder so, wie es
nie war«8 oder Marcel Prousts Annäherung an Erinnerungen, die
nicht einstige Empfindungen, sondern eine neue, unerhörte Wahr-
heit in sich bergen, die es aufzudecken gilt – durch Bemühungen
der gleichen Art, »wie man sie unternimmt, um sich an etwas zu
erinnern, ganz als ob unsere schönsten Ideen Melodien glichen, die
uns wieder einfielen, ohne dass wir sie je gehört hätten, und die
Erinnerung gründet darin, dass nichts von dem, was war, verloren
ist. Das Leitmotiv des historischen Gedenkens: Nichts ist verges-
sen und niemand ist vergessen, steht nicht nur für eine Forderung
und ein tiefes Verlangen. Es artikuliert eine Überzeugung davon,
dass nichts von dem, was war, schlechthin untergegangen, nichtig
geworden ist. Auch das entzogene Vergangene, das – uns Späteren
und sich selbst – Entzogene, das Nicht-gegenwärtig-Gewesene ist
mit dem zeitlichen Vergehen nicht schlicht ins Nichtsein versunken.
Es ist als Vergangenes ein weiterhin in bestimmter Weise Seiendes,
Anwesendes, Dauerndes. Paul Ricœur rekurriert auf Heideggers
Begriff der ›Gewesenheit‹, um im Vergangen-Sein nicht das Nicht-
mehr-Sein, sondern das einstige Gewesen-Sein herauszustreichen,
welches sich nicht aufgelöst hat. Erinnerung hat damit zu tun, dass
das Vergangene nicht einfach nicht mehr ist, dass wir im Erinnern
in einem komplexen, zu präzisierenden Sinne mit einem Unvergan-
14 Schlussvers aus Der Tor und der Tod, in: Hugo von Hofmannsthal, Sämt-
liche Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Rudolf Hirsch et al., Frankfurt am
Main: Fischer 1975–1991, Bd. III, S. 61–80, hier: S. 80.
15 Walter Benjamin, Walter, »Die Aufgabe des Übersetzers«, Gesammelte
Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, Bd. IV.1, S. 9–21; Jacques
Derrida, »Des tours de Babel«, in: Psyché. Inventions de l’autre, Paris: Ga-
lilée 1987, S. 203–235.
8. Das unerledigte Vergangene 143
19 Vgl. Christina von Braun, »Stille Post. Das Sagen und Versagen der Er-
innerung«, in: Martin Heinze u. a. (Hg.), Sagbar – Unsagbar. Philosophi
sche, psychoanalytische und psychiatrische Grenzreflexionen, Berlin: Parodos
2006, S. 55–70.
20 Nicolas Abraham / Maria Torok, Kryptonymie: Das Verbarium des
Wolfsmanns. Vorangestellt »Fors« von Jacques Derrida, Frankfurt am Main:
Ullstein 1979, S. 39.
21 Jacques Derrida, »Fors«, a. a. O., S. 23, 53, 39.
22 Thomas Khurana, »Unvordenkliche Nachwirkung. Anmerkungen zur
Zeitlichkeit der Latenz«, in: Stefanie Diekmann / Thomas Khurana (Hg.),
8. Das unerledigte Vergangene 145
»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen«, schreibt
Christa Wolf.32 Das unvergangene Vergangene ist es, das zur Erin-
nerung kommt. Gerade auch das abgedrängte, verschlossene Ver-
gangene, so hat sich gezeigt, ist nicht einfach entschwunden. Es ist,
auch wenn es sich dem Gedächtnis verweigert, als abwesendes anwe-
ter uns lassen – die konkrete Art und Weise, wie wir der Zukunft
ihre Richtung und konkrete Gestalt geben. Vergangenheitsbezug
und Zukunftsbezug sind nicht getrennte Dimensionen der zeitlichen
Existenz, sondern im Innersten ineinander verschränkt. Sie sind es
prinzipiell in ihrer zeitlich-intentionalen Struktur, und sie sind es in
spezifischer Weise durch den Inhalt und die Last des Vergangenen,
an dem Erinnerung sich abarbeitet.
Die Dialektik von Vergangenheits- und Zukunftsbezug wirft ein
Licht zurück auf die eigentümlichen Figuren des entzogenen Ver-
gangenen: des Vergangenen, das nie gegenwärtig gewesen ist, des
Vergangenen, das in Wahrheit nicht vergangen, das unvergangen ist.
Wenn dieses in der Erinnerung auf eine Zukunft hin aufgeschlossen
wird, so geht damit eine rückwirkende Verwandlung einher. Der
Entzogenheit und Nichtpräsenz, gewissermaßen Irrealität des Ge-
wesenen antwortet seine nachträgliche Realwerdung, seine retro-
spektive Konstitution. Das Stichwort der Nachträglichkeit ist zu
einem Leitkonzept kultur- und geschichtstheoretischer Reflexion
geworden. Sein locus classicus ist die sogenannte Wolfsmann-Ana-
lyse von Sigmund Freud.38 Die Pointe der darin vorgeführten Nach-
träglichkeit liegt darin, dass es nicht um eine bloße Neubeschreibung
des Vergangenen geht, wie es der retrospektiven Logik historischer
Wahrnehmung überhaupt entspricht, sondern um eine Umordnung
und Neuinterpretation von Material, das zwar als Erinnerungsspur
im Subjekt abgelagert ist, das aber zum Zeitpunkt des Ereignisses
nicht verstanden und deshalb auch nicht wirklich erlebt werden
konnte, in diesem Sinne psychisch gar nicht real, nicht gegenwärtig
gewesen ist. Dieses Material erfährt später, wenn das Subjekt zur Er-
fassung seines Bedeutungsgehalts in der Lage ist, eine »Umordnung
nach neuen Beziehungen, eine Umschrift«39, wobei das exemplari-
sche Terrain solcher Neukonstellierung die Sexualität ist, worin die
Organreifung die reale Voraussetzung wirklicher Erfahrung und des
darin gründenden Verstehens bildet.40 Nachträglichkeit meint dann
nicht einfach einen Aufschub des Erlebens und Handelns (wie die
Dass sich das Vergangene dem Gedächtnis entzieht, ist dem Alltags-
verständnis vertraut und scheint nicht in besonderer Weise erklä-
156 IV. Die Zukunft des Vergangenen
1 Ricœur (La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 53) verweist auf die
aristotelische These, wonach die Zeit, Prinzip des Entstehens und Verge-
hens, »an und für sich genommen eher Ursache des Verfalls« ist (Aristoteles,
Physik IV.12, 221 a–b, vgl. 222 b).
9. Leidenserinnerung 157
und verdrängen die alten; auch wenn wir annehmen, dass sie sich alle
irgendwie im Substrat des Gedächtnisses niederschlagen, gelangen
sie nicht alle in den Aufmerksamkeitshof des Bewusstseins, werden
nicht alle registriert und ebensowenig unbegrenzt für die Wieder-
erweckung bewahrt. Ihre wechselseitige Verdrängung und der in-
terne Zerfall ihrer Spuren entziehen sie zum großen Teil der späteren
Rückkehr. Das Gedächtnis ist nicht eine virtuell unendliche Fest-
platte. Neben solchen von Psychologie und Neurologie erforschten
intrinsischen Grenzen gibt es Behinderungen der Erinnerung, die
durch die Eigenart des Gegenstandes bedingt sind. Sie können da-
rin liegen, dass der Gegenstand sich aufgrund seiner strukturellen
Beschaffenheit der kognitiven Repräsentation und narrativen Verge-
genwärtigung verweigert, oder sie können damit zu tun haben, wie
das Subjekt das Vergangene affektiv erlebt und auf es reagiert, nach
ihm verlangt oder es abwehrt und verdrängt.
Nach einem verbreiteten Urteil stellt die Veränderung der
menschlichen Lebenswelt einen wesentlichen Grund für den Nie-
dergang der kollektiven Erinnerungs- und Erzählkultur dar. Die
moderne, industriell-mechanische Welt, aber auch der postmodern
zersplitterte, diffus gewordene Lebensraum erschweren das Sichfin-
den und Heimischwerden des Menschen in seiner Welt. Das abstrakt
und fremd gewordene Gehäuse der Zivilisation hat sich abgelöst
von den erfahrungsgesättigten Lebensformen, die wir sinnhaft ge-
stalten, in Geschichten vergegenwärtigen und von Generation zu
Generation weitergeben. Es ermangelt der Konkretheit der zwi-
schenmenschlichen Beziehungen und biographischen Verläufe, die
den Boden für erlebte Erfahrungen und darin wurzelnde Erinne-
rungen bilden. Wie Erinnerung nicht in der mechanischen Regis-
trierung und Reproduktion von Daten aufgeht, ist sie nicht durch
ein seinem Leben entfremdetes, zum Teil eines Funktionsgefüges
degradiertes ›Subjekt‹ zu leisten. Die existentielle Erlebensqualität,
die das Leben und die Erfahrung erzählbar macht, kann durch die
Fremdheit der Welt, aber auch die innere Verkümmerung des Le-
bens ausgehöhlt werden. Das wirtschaftlich-technische System und
die anonymisierte Existenz, so die Diagnose, sperren sich gegen die
narrative Form- und Einheitsbildung wie gegen die lebensweltliche
Sinnstiftung. Von beiden Seiten wird der Impuls, aber auch die Mög-
lichkeit einer Selbstvergegenwärtigung in seinem Leben und seiner
Geschichte untergraben.
158 IV. Die Zukunft des Vergangenen
Es liegt nahe, dass solche Negativität sich nicht nur dem Begriff,
sondern ebenso der Erinnerung entzieht. Dies nicht nur deshalb,
weil das Nicht-Verstehbare, im Extrem Nicht-Repräsentierbare erst
recht der mentalen Präsenz und sprachlichen Ver-Gegenwärtigung
verschlossen bleibt. Vielmehr kommt der Grund jenes Entzugs, die
erlebte Negativität, mit Bezug auf die Memoria verstärkt zum Tra-
gen. Modellhaft zeigt sich dies im psychoanalytischen Kontext am
Phänomen der Verdrängung. Das von der Psychoanalyse beschrie-
bene Unbewusste meint ja nicht einfach eine bestimmte Zone des
Seelischen, einen der Bewusstheit vorgelagerten Raum. Das Unbe-
wusste steht für ein Diesseits intentionaler Präsenz, das zu einem
solchen gemacht worden ist. Es geht nicht auf im nicht-aufhellbaren
Horizont des expliziten Tuns und Meinens, es ist mehr als das von
der Phänomenologie beschriebene Nicht- und Vorthematische, wel-
ches der bewussten Intention zugrundeliegt und nur je graduell, nie
zur Gänze in diese einholbar ist. Solche Nicht-Bewusstheit, wie sie
dem blinden Fleck im Schauen, der leiblichen Situiertheit oder der
nicht-abschließbaren Selbstreflexion anhaftet, ist strukturell bedingt
und unhintergehbar. Demgegenüber ist das Unbewusste, auch wenn
es seinerseits zur menschlichen Seinsverfassung gehört, ein Entstan-
denes und Gemachtes, ein aus der Bewusstheit Ausgeschlossenes,
Abgedrängtes. Verdrängt aber ist es aufgrund seines Negativitätsin-
dexes, sofern die Realisierung des mit der verdrängten Vorstellung
korrelierten Triebs mit Unlust verbunden wäre; ja, die retrospek-
tive Vergegenwärtigung des Schmerzhaften – Schuldhaften, Ängs-
tigenden – wird selbst zum Anlass des Leidens und fällt demselben
Reflex der Abwehr anheim. Schematisch formuliert, kann ein be-
stimmtes Erlebnis dem Bewusstsein nicht präsent werden, weil es
nicht bewusst werden soll, weil es nicht sein soll: Die Aversion vor
dem Nichtseinsollenden ist die Schwelle der Bewusstwerdung wie
der Wiedervergegenwärtigung.
Zwar kennt das normale Seelenleben auch das umgekehrte Be-
dingungsverhältnis, sind uns beide Bezüge vertraut: Sowohl dass
unglückliche wie dass glückliche Ereignisse mit besonderer Plas-
tizität und Hartnäckigkeit in unserem Gedächtnis haften bleiben,
wird durch Erfahrungen des Alltags bezeugt. Ciceros Satz Cui pla
cet obliviscitur, cui dolet meminit7 verweist darauf, dass uns ein
angenehmes Ereignis wieder entfallen kann, während ein schmerz-
14 Ebd., S. 487.
15 Ebd., S. 513 f., 516.
16 Primo Levi, Ist das ein Mensch?, Frankfurt am Main: Fischer 1961.
17 Bogoljub Sijakovic, »On Sacrifice and Memory«, in: Philotheos. Interna-
tional Journal for Philosophy and Theology 1 (2001), S. 288–293.
18 Vladimir Jankélévitch, Verzeihen?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006,
S. 58 ff.
164 IV. Die Zukunft des Vergangenen
Dass Erinnern notwendig ist, ist der Erfahrung des Leidens ebenso
unumstößlich wie die Unmöglichkeit des Sprechens: »Se taire est
interdit, parler est impossible« – so lautet das schlichte Bekennt-
nis von Elie Wiesel im Gespräch mit Jorge Semprun.22 Dass gerade
das Leiden nach dem Erinnern verlangt, scheint der Menschheitsge-
schichte eingeschrieben und ist im Rückblick des 20. Jahrhunderts
in besonderer Weise aufdringlich geworden. Bündig hält der Gulag-
Überlebende Warlam Schalamow die Maxime seines Jahrhunderts
und seines eigenen Lebens fest: »An das Böse sich vor dem Guten er-
innern. An alles Gute sich hundert Jahre erinnern, an alles Schlechte –
zweihundert.«23 Dabei drängt sich die Notwendigkeit des Erinnerns
dem Bewusstsein in unterschiedlicher Weise auf: als ursprüngliche
Pflicht, als Dynamik und treibende Kraft, als fundamentales Verlan-
gen. In all dem steht sie in Korrespondenz zur versagten Erinnerung,
stellt sie zu dieser, zu der in ihr erfahrenen Negativität eine Reak-
tion und eine Antwort dar: Der Tiefe der Zerstörung antwortet die
Unnachgiebigkeit der Forderung nach einem rettenden Gedächtnis.
Sie ist zum einen eine Forderung im Sinne des Sollens, als Pflicht
und abzutragende Schuld, welche die Nachgeborenen gegenüber
den früheren Generationen, auch gegenüber der eigenen Vergan-
genheit auf sich nehmen. Geschichte, bemerkt Ricœur, ist »ein
Friedhof nicht gehaltener Versprechen«, die wachzuhalten und de-
ren Erfüllung einzuklagen zu den Pflichten des historischen Geden-
kens gehört.24 Wieweit im eigentlichen Sinne von einer Pflicht der
Erinnerung gesprochen werden kann, ist Gegenstand kontroverser
Debatten um die historische Kultur (bis hinein in Fragen der Ge-
setzgebung), namentlich im Umgang mit der Leidensgeschichte von
Völkern und der erdrückenden Opferbilanz von Eroberungen und
Die Frage ist erneut, auf welche Weise Erinnerung möglich ist und
faktisch vollzogen wird. Die Eindringlichkeit der Frage liegt darin,
dass sie unter Prämissen der Negativität gestellt ist – unter Bedin-
gungen des entzogenen, verdunkelten, verschütteten Vergangenen,
als Frage nach der Vergegenwärtigung des Nichtrepräsentierbaren,
nach dem Ausdruck des Nichtsagbaren, nach der Wiederkehr des
Nichterinnerbaren. In jeder denkbaren Verschärfung ist der Entzug
der Präsenz angesichts des Grauens thematisch geworden, als radi-
kale Verunmöglichung ebenso wie als strikte Untersagung des Bildes
und des Worts. Der Schrecken und das Leid waren zuletzt dadurch
gesteigert, dass sie zur Sprach- und Gedächtnislosigkeit verdammt,
durch sie ins Abgründige vertieft wurden. Die Erinnerung ist als
gefährliche unterdrückt, als schmerzhafte verdrängt, als unerlaubte
verbannt worden. Das Verdikt ihrer Unmöglichkeit jedoch hat die
Forderung und das Verlangen nach ihr nicht untergraben, sondern
nur umso spürbarer gemacht.
31 Sigmund Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909), in:
Gesammelte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 51972, Bd. VII, S. 243–377,
hier: S. 355.
32 Vgl. Christina von Braun, »Stille Post. Das Sagen und Versagen der Er-
innerung«, a. a. O., S. 67 ff.
9. Leidenserinnerung 171
Die Frage ist, wie aus diesem Potential, wo es nicht den Kern
einer organischen Entfaltung, sondern die selbst zurückgedrängte
Tiefenschicht eines unterdrückten Vergangenen bildet, Erinnerung
hervorgehen kann. Die Frage ist, wie Erinnerung als Leidenserinne-
rung die Verdeckung, Verschließung des Vergangenen durchbrechen
kann. Ein Leitbegriff der Antwort, die Sigmund Freud auf diese
Frage gibt, lautet »Durcharbeiten«.35
Zentral ist darin das Motiv der Arbeit. Es weist auf eine bewusste,
beharrliche, auch mühselige Tätigkeit, die sich in vielfältigen Ope-
rationen der Erforschung, Dokumentation und Darstellung um die
Wiedergewinnung des entzogenen Vergangenen bemüht. Durch
arbeiten meint einerseits das schrittweise Erarbeiten und kognitive
Durchdringen des komplexen und dunklen Bestands an Spuren,
Zeugnissen und Überresten. Historische Erinnerung ist nicht ein
organisches Hervorkommen des Verborgenen, ein Auftauchen des
Gewesenen in die Präsenz des Gedächtnisses, sondern bedarf der
langwierigen, facettenreichen Arbeit am Material, das den Fundus
historischer Forschung bildet. Durcharbeiten meint andererseits
eine Arbeit, welche auf Widerstand stößt und sich an Hemmnissen
und Gegenkräften abarbeitet. Sie hat mit Widerständen von seiten
des Gegenstandes ebenso wie des Subjekts, des historischen Materi-
als wie der – als Akteure, Opfer oder Zuschauer – involvierten Sub-
jekte der Geschichte zu tun. Gerade im autobiographischen Schrei
ben trifft es auf die im Subjekt selbst wurzelnde, aus ihm kommende
Abwehr. Nach all diesen Hinsichten geht es der Gedächtnisarbeit
darum, das Unausgesprochene dennoch zur Sprache zu bringen, die
Verschließungen aufzusprengen und die verkrypteten Botschaften
zu lesen. Als bezeichnende Leitmetaphorik dieser Erkundung hat
sich die von Freud verwendete der Archäologie gezeigt. Es gilt ver-
schüttete Fundamente auszugraben und ans Licht zu bringen, Frag-
mente zu ergänzen und zerstreute Splitter zur Konfiguration eines
Gebäudes oder einer Geschichte zu fügen. Die Metaphorik ver-
schränkt sich mit der von der Hermeneutik des Verdachts formu-
35
Sigmund Freud, »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«, in: Gesam-
melte Werke, Frankfurt am Main: Fischer 61973, Bd. X, S. 126–136.
9. Leidenserinnerung 173
37 Christa Wolf, Rede, dass ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche, a. a. O.,
S. 46, vgl. 79.
38 Ebd., S. 46.
39 Ebd., S. 75.
40 Ebd., S. 75.
41 Heraklit, Fragment B 123.
42 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 462, vgl. 530.
43 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 97.
9. Leidenserinnerung 175
chem Sinne hier von Verantwortung zu sprechen ist. Man könnte sie
zunächst dahingehend verstehen, dass Erinnerungsblockaden durch
Erlebnisse von Scham und Schuld bedingt und in diesem Sinne selbst
indirekt verschuldet sind, in der Verantwortung des Subjekts stehen.
Offenkundig aber erschöpfen sich die Aporien des Gedächtnisses
nicht in solchen Konstellationen, betreffen sie neben dem began-
genen ebenso das erlittene Übel, neben dem Bösen die Erfahrung
des Leidens; gerade im Fall der kollektiven Geschichte, so Ricœur,
bildet die Erfahrung von Not und Gewalt einen Wesenszug histo-
rischen Geschehens und Erinnerns.44 Verantwortlich ist der Mensch
hier nicht für den Grund des Entzogenseins des Gedächtnisses, son-
dern allenfalls, in gewisser Weise, für die Art des Erinnerns, sofern
er für sie bei aller Einschränkung ›zuständig‹ bleibt. Insofern lässt
sich in diesem Kontext auch der Rede von einer Erinnerungspflicht
eine bestimmte Bedeutung beilegen. Von einer solchen kann nicht
nur im ethischen Sinne der Gerechtigkeit gegenüber Anderen, der
Schuld gegen die Vorgänger oder der Gedächtnispflicht gegenüber
den Opfern gesprochen werden.45 Nach einer basaleren, psycholo-
gischen Hinsicht steht die Auseinandersetzung mit dem Negativen
als solche in Frage.
Hier kommt der Begriff der Trauerarbeit in spezifischer Bedeu-
tung zum Tragen, sofern er ein produktives, befreiendes Verhältnis
zum Vergangenen enthält und sich der Melancholie als regressivem
Verhaftetsein im Gewesenen entgegensetzt.46 Trauerarbeit meint ein
Sicheinlassen auf Leiden und Verlust, mit welchem sich zugleich ein
Akzeptieren und eine Ablösung verbinden. Sie widersetzt sich darin
dem narzißtischen Verbleiben im Einssein47 ebenso wie sie sich vom
pathologischen Zwang der Wiederkehr, der obsessiven Tyrannei des
Gedächtnisses befreit.48 Wird hierin der therapeutische Effekt eines
›Durcharbeitens‹ fassbar, welches zugleich vom Vergangenen ent-
lastet und befreit, so lässt sich nach anderer Hinsicht ebenso die
negativistische Tiefenschicht der Trauerarbeit herausstellen. Eric
L. Santner, der – in Anknüpfung an Alexander und Margarete Mit-
44 Ebd., S. 95.
45 Ebd., S. 108 f.
46 Ebd., S. 106; Eric L. Santner, Stranded Objects. Mourning, Memory, and
Film in Postwar Germany, Cornell University Press, S. 2 f.
47 Eric L. Santner, Stranded Objects, a. a. O., S. 2 f.
48 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 109 f.
176 IV. Die Zukunft des Vergangenen
52 Erich Fried, »Kleines Beispiel« in: Gedichte, Stuttgart: Reclam 2010, S. 14:
»Auch ungelebtes Leben geht zu Ende / zwar vielleicht langsamer wie eine
Batterie / in einer Taschenlampe / Aber das hilft nicht viel: / Wenn man (sagen
wir einmal) / diese Taschenlampe / nach so- und so vielen Jahren anknipsen
will / kommt kein Atemzug Licht mehr heraus / und wenn Du sie aufmachst
/ findest Du nur Deine Knochen / und falls du Pech hast auch diese / schon
ganz zerfressen / Da hättest Du genau so gut / leuchten können.«
178 IV. Die Zukunft des Vergangenen
53 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge.
Homo sacer III, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 56.
54 Georges Perrec, W ou le souvenir d’enfance, Paris: Gallimard, collection
»L’imaginaire« 1993, S. 63.
55 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1966, S. 19.
56 Andere theoretische und literarische Paradigmen ließen sich nennen, wie
sie beispielsweise den Werken von Primo Levi, Jorge Semprun, Imre Kertesz
zugrundeliegen.
9. Leidenserinnerung 179
den Begriff der Geschichte gefunden.57 Deren Kern bildet die For-
derung, die traditionelle Historie durch eine Kultur der Leidens
erinnerung abzulösen. Nicht die Einfühlung in die Sieger, sondern
die Solidarität mit den Besiegten und Opfern der Geschichte soll die
Grundlage historischer Besinnung sein.
Entscheidend ist, dass es darin um mehr als eine politische Stel-
lungnahme, eine Umkehrung der leitenden Wertvorstellungen his-
toriographischer Praxis geht. Die postulierte Umkehrung greift in
die Logik des Geschichtlichen selbst ein, sofern sie unmittelbar mit
dem realen Zustandekommen von Geschichte verflochten ist. Die
Herrschenden sind nicht nur die sozial Überlegenen, sondern zu-
gleich diejenigen, die von sich aus die Macht haben, Lebensverhält-
nisse zu prägen, sichtbare Spuren, Monumente und Dokumente zu
hinterlassen und der Selbstbeschreibung einer Zeit wie der Wahr-
nehmung des Vergangenen ihren Stempel aufzudrücken. Sie sind mit
anderen Worten diejenigen, welche die Macht haben, Geschichte zu
machen. Geschichte machen heißt auch Geschichte schreiben, nicht
allein die realen Verhältnisse, sondern auch ihr Gedächtnis und ihre
Darstellung prägen, welche umgekehrt nicht nur dokumentarischer
Niederschlag und Reproduktion des ›wirklichen‹ Geschehens, son-
dern dessen eigenes, konstitutives Moment sind. Sie sind Medium
einer reflexiven Verständigung, welche die bestimmte Identität und
Ausrichtung einer Zeit und historischen Konstellation mit ausmacht.
Wenn sich in dieser Identitätsbildung die realen Machtverhältnisse
abbilden, so bedeutet dies umgekehrt, dass die Machtlosigkeit der
Opfer mit der Ohnmacht gepaart ist, die eigene Geschichte und
historische Identität zu gestalten. Historie als Leidensgeschichte zu
schreiben heißt dann auch, sich nicht allein dem faktischen Ver-
lauf und Wirkungszusammenhang zu verpflichten, sondern ver-
gebliche Kämpfe und unerfüllte Sehnsüchte ernst zu nehmen, dem
nicht gerächten Unrecht Sprache zu verleihen und den Erniedrigten
ihre Würde zurückzugeben. Das Nichtgeschehene, Nicht-Zustan-
degekommene zu bedenken heißt Geschichte gegen den Strich zu
bürsten, sie gegen ihre Schwerkraft, die weithin die Schwerkraft der
Macht ist, zu lesen. In vielfältiger Weise kommt darin ein ›Vergan-
genes, das nicht gegenwärtig war‹, zu Wort – das kein schlicht Ir
reales ist, sondern eines, das in dem Gewesenen war und wirkt und
dern des Vergangenen und der Toten; ihr eignet eine rückwirkende
Kraft, die nicht eine der bloßen Neubeschreibung, sondern der Ret-
tung ist: Uns Heutigen, meint Benjamin, die wir »auf der Erde er-
wartet worden« sind, ist »wie jedem Geschlecht, das vor uns war,
eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Ver-
gangenheit Anspruch hat.«61 In emphatischen Formulierungen, die
sich an der Grenzlinie zwischen revolutionärem Marxismus und
eschatologischem Messianismus bewegen und die rettende Erinne-
rung durchaus in die Nähe der Erlösung rücken,62 bekräftigt Benja-
min die Überzeugung von einer Nicht-Abgeschlossenheit des Ver-
gangenen, in welcher die Triebkraft des Erinnerns gründet und aus
welcher der Appell an die Nachgeborenen ergeht. Auf der Nicht-
Abgeschlossenheit des unterdrückten, entzogenen Vergangenen zu
insistieren heißt, über die »Erweckung eines noch nicht bewussten
Wissens vom Gewesnen« die »ungeheuren Kräfte der Geschichte«
freizumachen, die in »der klassischen Historie gebunden liegen.«63
61 Ebd., S. 694.
62 Ebd., S. 693: »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch
den sie auf die Erlösung verwiesen wird«; vgl. Das Passagen-Werk. Erster
Band, a. a. O., S. 600.
63 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Erster Band, a. a. O., S. 572, 578.
182 IV. Die Zukunft des Vergangenen
Formen fassbar, wie sie Agamben in den von Michel Foucault do-
kumentierten Einweisungsregistern von Gefängnissen sieht, wo die
Macht, indem sie den Menschen »durch Infamie brankmarkt«, ihn
gleichzeitig »der Nacht und dem Schweigen entreißt«, zwar nicht
sein »Antlitz« aufleuchten lässt, doch seinen »leeren Platz« bekun-
det.74 Eine andere Figur wäre der von Emmanuel Lévinas beschrie-
bene Hund Bobby, der den Zug der sich zur Arbeit schleppenden
jüdischen Kriegsgefangenen bei ihrer Rückkehr erwartet und sie als
einziger durch sein frohes Gebell begrüßt: »Für ihn – das war un-
bestreitbar – waren wir Menschen.«75 Es geht darum, die Autorität
und Verantwortung des Zeugen in Anspruch zu nehmen und im
Zeugnis jene Grenze des Sagens und Nicht-Sagenkönnens zu über-
schreiten. Es geht darum, die Zerstörung des Zeugnisses und des
Zeugens – den Hohn der SS: »Keiner von euch wird übrigbleiben,
um Zeugnis abzulegen, aber selbst wenn einer davonkommen sollte,
würde ihm die Welt nicht glauben«76 – zu widerlegen und »jene Iso-
lierung des Überlebens vom Leben«, die Kluft der Lebenden von
den Toten zu widerrufen.77 Agamben fasst die äußerste Grenze des
Zeugnisses ins Auge, das nicht von etwas – »von der Gaskammer
oder von Auschwitz« –, sondern für jemanden – »für den Musel-
mann« – Zeugnis ablegt und darin »von einer Unmöglichkeit zu
sprechen her spricht«: ein Zeugnis, das in einem radikalen Sinn nicht
geleugnet werden kann.78 –
74 Ebd., S. 124.
75 Emmanuel Lévinas, »Nom d’un chien ou Le droit naturel«, in: Difficile
liberté. Essais sur le judaisme, Paris: Albin Michel 1963/1976, Le livre de
poche, biblio essais, S. 213–216, hier S. 216.
76 Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, a. a. O., S. 7.
77 Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, a. a. O., S. 137.
78 Ebd., S. 143.
186 IV. Die Zukunft des Vergangenen
Kindheitserinnerung ist nicht nur ein Fall, sondern eine Urform von
Erinnerung. Sie unterscheidet sich nicht einfach durch ihren Ge-
genstand von anderen Erinnerungen wie Schulerinnerungen, Reise
erzählungen oder Kriegsberichten. Sie bildet ein Modell und eine
Urzelle des Erinnerns, sofern die Kindheit selbst ein Ursprung des
Lebens und des Erinnerns ist. An die Kindheit zurückdenken, von
seiner Kindheit erzählen heißt mehr als vergangene Ereignisse re-
gistrieren und vergegenwärtigen. Es heißt zu einem Anfang zurück-
kehren. Kindheitserinnerung ist Ursprungsbesinnung. Sie ruft ein
Ältestes herauf, das dem Leben voraus- und zugrundliegt und das
190 IV. Die Zukunft des Vergangenen
als selige Urzeit ebenso wie als ursprüngliche Trennung oder initi-
ales Leid dem Leben seine Prägung gibt und das Gedächtnis dessen,
was wir sind, bestimmt. Die Kindheitserinnerung deckt wirkungs-
reiche Erlebnisse und tiefe Erfahrungsschichten auf, die im späteren
Leben vielleicht verborgen und verkannt waren, doch lebendig und
wirksam geblieben sind, die als Resonanzraum unseres Weltbezugs
fungieren und möglicherweise spätere Ängste und Verletzbarkei-
ten bedingen oder umgekehrt Offenheit und Unerschrockenheit in
unserem Charakter und Verhalten ermöglichen.1 Nicht ein zeitlich
Erstes, sondern ein Ursprüngliches und Grundlegendes kommt in
den Blick. Es interessiert dessen Bedeutung für die Selbsterfassung
des Lebens.
Indessen ist die Kindheit noch in einem anderen Sinn Ursprungs-
dimension der Erinnerung. Sie ist nicht nur aus heutiger Sicht das
Älteste, Fluchtpunkt der Rückschau und Initialpunkt der Rekons-
truktion. Sie ist in sich selbst ein Ort der Gedächtnisbildung, nicht
nur ein Gegenstand, sondern ein Grund und Ursprung der Erinne-
rung. Auf Erlebnisse der Kindheit nehmen wir nicht einfach Bezug
als auf ein weit entrücktes, frühes Geschehen, wie wir im Fernglas,
an unserem Ort verbleibend, einen Berggipfel auf große Distanz ins
Auge fassen und betrachten können. Die Kindheit ist eine Lebens-
phase, in welcher wir Eindrücke aufnehmen und gleichsam horten,
Erlebnisse festhalten und sich sedimentieren lassen, Vergangenheiten
in der Welt und in uns selbst ausbilden. Der Anfang des Lebens ist
auch Anfang des Zeiterlebens, des Bewahrens und Vorausschauens,
des Erinnerns und Erwartens. Wenn wir uns später auf die Kind-
heit besinnen, so ist sie uns nicht ein von außen betrachtetes Damals,
sondern ein aus der damaligen Situation erlebtes Hier und Jetzt. Wir
»An seinem Hoftor ein Bauer, den du schon lang kennst. Von Kind auf.
Schon eh und je. Ein Nachbar. Da muss man dann, sagte ich, unbedingt
eine Weile stehenbleiben.« Und man denkt an die zurück, die man ge-
kannt hat, »und sobald man nur an sie denkt, gleich fangen sie zu spre-
chen an«. Man hört die alten Stimmen und Klänge, »von heute, von
gestern und vorgestern. Und auch die aus den Jahren davor«, »Schule,
Lehrstelle, Arbeit. Nicht nur Staufenberg, auch die zuständige Kreis-
stadt, ganz Gießen muss mir unentwegt in meinem Kopf hineinreden«,
»meine ganze Kindheit lang. Und das Dorf all diese Jahre. Und davor die
Stimmen in den Flüchtlingslagern und Viehwaggons, die außer mir kei-
ner mehr weiß. Und noch weiter zurück der helle Morgenklang in den
Stadtgärten von Tachau in Böhmen«, »von dem mir oft ist, dass ich ihn
jetzt noch manchmal beim Aufwachen höre oder gern hören würde oder
er hätte eben erst aufgehört«.5
Der Anfang des Lebens und Erinnerns ist auch Anfang des Sichver-
lierens. Der Wunsch des Kindes, die Dinge zu sehen, zu hören und
sich zu merken, ist nicht nur Ausdruck vitaler Neugier, er ist auch
das Pendant des Bewusstseins des Vergehens. Mit dem bewussten
Erleben entsteht zugleich das Gefühl des Vorübergehens und Ent-
schwindens, das Bewusstsein der Flüchtigkeit und das Bedürfnis des
Festhaltens. Es ist ein Gewahrwerden des Vergessens und Verlierens,
das die Fülle des Gegenwärtigseins in der Welt und Einsseins mit
sich aushöhlt und das sich mit der geheimen Sehnsucht nach Still-
stand assoziiert, mit dem Wunsch nach Wiederholung, nach dem
Noch-einmal, der Bewahrung.6 Auch das Entgleiten der Welt, die
Zum Gegenstand der Sehnsucht wird Kindheit als erlebte Fülle des
Glücks. In vielfältigen Formen lassen literarische Beschreibungen
und biographische Reminiszenzen diese Fülle aufleben. Sie kommt
als sinnliche Präsenz in allen Dimensionen der Erfahrung zur Spra-
che, im Duft des frischen Heus, im hellen Licht des Sommermorgens,
im Klang der Schmiede, im Läuten der Glocken, in der Wärme der
muss hellauf glücklich gewesen sein. Doch was rührt tiefer: das helle
Glück der ersten Fahrradtour, endlich ein Fahrradbesitzer zu sein, oder
das Glück, es noch einmal zu spüren?«15
18 Elias Canetti, Die gerettete Zunge, Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 9.
198 IV. Die Zukunft des Vergangenen
nung bleiben, was aber fragil war und vom Scheitern und Entbeh-
ren abgelöst wurde: Eben daraus bildet sich das Gedächtnis des-
sen, worauf die Sehnsucht geht. Eine exemplarische Kristallisation
findet solches Glücksversprechen in der Erinnerung an Orte und
Namen, wie sie Adorno bei Proust geschildert sieht, aber auch mit
eigenen Kindheitserinnerungen verbindet – im »Glück etwa, das
Namen von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reu-
enthal, Monbrunn. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in
dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das
Versprochene zurück wie der Regenbogen.«19 Es ist ein Glück, das
er ausdrücklich mit der Chiffre des Zuhauseseins verknüpft, wie er
nach der Rückkehr aus dem Exil anlässlich eines Urlaubs in Amor-
bach in einem Brief an seine Mutter bezeugt: »Es ist schließlich doch
das einzige Stückchen Heimat, das mir blieb.«20
Wenn Heimat, die in solcher Weise den Raum der Kindheit und
das Fundament des Lebens bildet, exemplarisch in Landschaft und
Dorf verkörpert scheint, so kann ihr Ort ebenso die Großstadt, eine
›Berliner Kindheit‹21 sein, aber auch eine Wohnung, ein verstecktes
Zimmer, ein Flur:
terlosen Gang mit sieben geschlossenen Türen rechts und links. Kehrte
ich dort nicht ein von Zeit zu Zeit, in dieses Asyl des Kindes, und liefe
ein paarmal trampelnd auf und ab, an der Großmutter vorbei, die sich
gebrechlich an den Stöcken dahinschleppt und mahnt, dass ich sie nicht
umschmeiße, so besäße ich gar nichts Unverletzliches mehr.«22
Entscheidend dafür, dass die Herkunft zum Boden und Fundus des
Lebens wird, ist die Konkretheit der Sinneseindrücke und Erleb-
nisse, der räumlichen Verhältnisse und menschlichen Begegnungen.
Darin liegt umgekehrt, dass die Abstraktheit und Anonymität der
Umwelt eine Erschwernis dieses Zuhauseseins bedeutet, welches
ebenso durch biographische Entwurzelung, Migration, Trennung
grundlegend bedroht oder vollends vernichtet sein kann. Auch dem
entspricht ein Topos im Narrativ der Suche nach der verlorenen
Herkunft, als Reise der Heimkehr nicht in der Zeit, sondern im
Raum, in der Begegnung mit versperrten Wegen, verschwundenen
Straßen, enteigneten Gebäuden.23 Der reale Verlust der Herkunft
kann zur bleibenden Last des Lebens werden. Rückkehr als Heim-
kehr ist keine umstandslose Rückwendung, kein ungehindertes Zu-
rückgehen im Raum, in der Zeit, im Leben. Die Mühsal der Ge-
dächtnisarbeit kann durch die interne Beschwerlichkeit der Lebens-
besinnung und materialen Durchdringung des Vergangenen, aber
ebenso die realen Umstände der Kindheit bedingt sein. Umgekehrt
aber ist durch diese nicht schon vorherbestimmt, wie weit jemand
seiner Kindheit, seiner Heimat und Vergangenheit verlustig geht
oder in dieser seinen Hort hat und zu sich selbst zu finden vermag;
dies hängt gleichermaßen von der Bewegtheit und dem Potential
des Lebens ab. Ob wir eine Heimat hatten, ist keine bloße Frage des
Damals, sondern auch des Danach, der Macht der Erinnerung: »Im-
mer erst nachträglich weißt du, du warst ein Leben, ein Jahr, einen
Tag, einen Abend lang einmal geborgen, gerettet, in Sicherheit.«24
Wie Vergangenheit überhaupt, gewinnen Kindheit und Heimat ihre
lebensweltlichen Konturen im Medium der nachträglichen Präsenz.
30 Ebd., S. 40.
31 Peter Kurzeck, Ein Kirschkern im März, Frankfurt am Main / Basel:
Stroemfeld 2004, S. 15, 39, 103 passim.
32 Adorno verweist auf den illusionären Charakter jener »Frische des Zum
ersten Mal«: »Wer solche Frische zu restituieren trachtet, wird Opfer der
Illusion, die jene selbst schon war«: Theodor W. Adorno, Mahler. Eine mu
sikalische Physiognomik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1960, S. 188.
202 IV. Die Zukunft des Vergangenen
Es ist eine Form des tiefen Vergessens, in welchem uns nicht ver-
gangene Realitäten, sondern vergangene Möglichkeiten, die vergan-
gene Zukunft entgleiten. Botho Strauß bezeichnet das Gedächtnis
in diesem Sinne geradezu als eine »Variable der Sehnsucht«, sofern
Erinnerung bevorzugterweise auf jene Zeiten zurückblickt, in de-
nen die Erlebnisse noch mit Ahnungen und Versprechen erfüllt sind
und gleichsam in sich ein Potential bergen, das sie dem Gedächtnis
überantwortet: Es sind, so meint Strauß, »vor allem die Stunden
erhöhter Erwartung in der Kindheit, die stärker als andere Erinne
rungen stiften«.39 So ist auch die Glückserinnerung, wo sie das Bild
der Kindheit trägt, nicht einfach Wiederkehr einer Erfüllung, son-
dern Nachhall einer Sehnsucht und eines ursprünglichen Verspre-
chens. In das Bild des Kindheitsglücks fügt Jean Paul das »gegen-
standslose Sehnen« nach den »himmlischen Gütern des Lebens« ein,
»die noch unbezeichnet und farblos im tiefen weiten Dunkel des
Herzens lagen«, jene frühe »Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand
noch keinen Namen trägt«.40 So bedeutet, die Kindheit wieder zu
erfahren, auf der einen Seite die Offenheit und Erwartung des Kin-
des, das Vertrauen, mit der es in die Zukunft blickt, erneut zu er-
leben, auf der anderen Seite aber auch das Entgegenkommen der
Dinge und Sichöffnen der Welt wieder zu erfahren, jene »feierliche
Vorabendstille« zu hören, in der diese Präsenz sich vorbereitet und
das Kommen sich ankündigt.41 Das Glücksversprechen macht die
Substanz jener ältesten Glückserinnerung aus, der Horkheimer und
Adorno die Kraft zur kritischen Diagnose und tätigen Subversion
zutrauen. Nicht die vollzogene, sondern die bevorstehende – wenn
auch je verschobene, ins Unbestimmte verlegte – Erfüllung macht
den Glückskern der Rückschau aus.
Der Vorgriff des Versprechens und Verlangens reflektiert sich in
dem, worum es dem Kampf gegen das Vergessen geht. Emphatische
42 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 5: Die
Gefangene, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 32 f. (fr. III, S. 27).
43 Ebd., S. 590 (fr. III, S. 412).
44 Walter Benjamin, Aufzeichnungen 1933–1939, in: Gesammelte Schriften
VI, a. a. O., S. 523.
10. Glückserinnerung 207
47 Michael Theunissen, »Zeit des Lebens«, in: Negative Theologie der Zeit,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 299–317, hier S. 313.
48 Christa Wolf, Kindheitsmuster, a. a. O., S. 498.
49 Dass die faktische Vergangenheit nur eine mögliche Realisierung neben
anderen ist, erwägt Søren Kierkegaard in Philosophische Brocken. De omni
bus dubitandum est, Zwischenspiel, in: Gesammelte Werke, Zehnte Abtei-
lung, Düsseldorf / Köln: Eugen Diederichs 1952, S. 68–85.
50 Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, München: Hanser 2004, S. 29.
51 Literarisch findet sich das Motiv in Werken von Max Frisch gestaltet,
etwa in Biografie (1967) und Triptychon (1978).
210 IV. Die Zukunft des Vergangenen
liche Gründe: auf der einen Seite die Unverfügbarkeit der je schon
entschwundenen Ganzheit, das Überschießende des ursprünglichen
Begehrens und initialen Versprechens, auf der anderen Seite die Ur-
verdrängung des Nichtseinsollenden, aber auch die Nichterfüllung,
Nichtrealisierung des Unterdrückten. Die Zukunftsverwiesenheit
des Vergangenen assoziiert sich im einen Fall mit dem utopischen
Ausgriff des Begehrens und Hoffens, im anderen mit der Korrek-
turbedürftigkeit des Beschädigten und der Erlösungsbedürftigkeit
des Leidens. Der Entzug ist teils einer positiven Unerreichbarkeit,
teils der negativen Unerträglichkeit und verdrängenden Abwehr ge-
schuldet.
Schematisch gesehen, scheint der ›positive‹ Entzug fundamen-
taler als der ›negative‹, die Nichtsagbarkeit der Vollendung prinzi-
pieller als die Uneinholbarkeit der Versagung, wie umgekehrt das
Glücksstreben grundlegender ist als die traumatische Verletzung. In
Wahrheit steht diese Asymmetrie selbst in Frage. Zur Verfassung
des Daseins zählen auch Kontingenz und Endlichkeit, Vulnerabili-
tät und Bedrohtheit. Auch das Ausgeliefertsein, nicht nur die Sehn-
sucht geht in die humane Grenzerfahrung ein. Nicht umsonst hat
die Existenzphilosophie die Angst zum Kern der Konfrontation des
Menschen mit sich selbst gemacht; noch tiefergehend gehören auch
die Nichterlöstheit, das Böse und das Leiden zum unvordenklichen
Grund des Menschseins. Die Frage ist, was die Kopräsenz der ge-
genläufigen Transzendenz im menschlichen Sein für dieses bedeutet.
Inwiefern haben das Hinaussein der Glücksutopie und die Unvor-
denklichkeit des Mangels miteinander zu tun?
Die Idee der Erlösung, die nach Benjamin den Fluchtpunkt der kri-
tischen Historie bildet, ist in einer Vorstellung vom Glück angelegt,
»die aufs tiefste von der Zeit unseres Lebens« tingiert und durch die
»Luft, die wir geatmet«, die »Menschen, die mit uns gelebt haben«53,
geprägt ist, durch die Erinnerung an die Erfüllung, die andere uns
geschenkt, das Vertrauen, das sie uns ermöglicht haben, aber ebenso
die Erinnerung an Not und Leiden, die wir überwunden haben.
Glück, sagen Adorno und Horkheimer, entfaltet sich am aufgeho-
benen Leid.54 Der Ausgriff aufs Positive erhebt sich im Ausgang vom
Negativen und erhärtet sich im Durchgang durch die Kritik. Gleich-
zeitig wurzelt er im Gedächtnis einer ursprünglichen Verheißung,
verweist die zukunftsgerichtete Utopie auf das fernste Vergangene.
Die Kraft des Historischen gründet in vergangener Hoffnung und
nichterfülltem Verlangen. Deshalb ist die Erinnerung subversiv ge-
gen das Bestehende, das mit der Verdrängung der Geschichte, auch
der Abwehr der »Lockung der Natur«55 paktiert. Das Einbrechen
der Geschichte in die Immanenz des Gleichen ist kritische Nega-
tion, befreiender Vorgriff und untergrabende Erinnerung zugleich.
Wie die Kritik am Leiden vom Überschuss des Glücksversprechens
zehrt, auch wo dieses keine Artikulation gefunden hat, antwortet
historische Sinnbildung umgekehrt auf Defiziterfahrungen, zu de-
ren Bewältigung sie beiträgt. »Leiden gebiert Sinn« – in diese Formel
fasst Jörn Rüsen die kulturelle Dialektik von Sinn und Sinnentzug,
die den geschichtlichen Umgang mit unbegriffenem Leiden trägt.56
Auch die biographische Konstruktion der Lebensgeschichte kann
therapeutische Funktionen erfüllen, einen heilenden Umgang mit
Verletzungen ermöglichen und Trauerarbeit am irreversiblen Ver-
lust leisten. Der Ausblick auf die Wiederherstellung von Ganzheit
verbindet sich mit der Reflexion auf das Leiden und der Erinne-
rung an das fernste Glück. Ursprüngliche Angst und Abwehr und
fundamentale Sehnsucht und Ahnung überlagern sich in der in sich
gedoppelten Erinnerung.
stitutive Verweisung beider Seiten mit Bezug auf die Zeitstruktur des
Erlebens wie das Verhältnis von Bewusstsein und Unbewusstem ex-
plizieren; Stephan Grätzel hat sie mit einem Viktor von Weizsäcker
entlehnten Begriff als »Gestaltkreis« beschrieben.3 Leben vollzieht
sich im Spannungsbogen des Zeiterlebens zwischen dem Herauf-
kommen des Neuen und dem Sichverlieren und Sichauflösen, zwi-
schen Gestaltung und Entformung, Hervortreten in die Sichtbar-
keit und Verflüchtigung. Jedes Bewusstwerden muss anderes über-
lagern, ins Nichtbewusste zurückdrängen, jede Entbergung geht mit
einer Verdeckung von anderem, aber auch einer partiellen Selbst-
verhüllung einher. In ähnlicher Weise überlagern und durchdringen
sich Prozesse des Erinnerns und Vergessens, jenseits des einfachen
Musters der sukzessiven Ablösung der temporalen Bewusstseins-
felder. Abrupte, spontane Erinnerungen können das allmähliche
Entschwinden und Vergessen durchbrechen, Ausblendungen und
Verdrängungen können etwas langfristig einkapseln und erhalten.4
Wichtig ist im vorliegenden Kontext, komplementär zum An-
liegen und zur Mühsal des Gedächtnisses die eigenständige Inten-
tion und Prozedur des Vergessens hervorzuheben, als Moment eines
Umgangs mit der Vergangenheit, der uns sowohl Orientierung und
Sicherheit verleiht wie uns von der Last des Gewesenen befreit, uns
mit dem Vergangenen zurechtkommen lässt. Gerade in Konfronta-
tion mit Negativem, als Unrechts- und Leidenserinnerung erschöpft
sich die Aufgabe des Gedenkens nicht im Festhalten und erneuten
Vergegenwärtigen. Sie schließt im Individual- wie im Kollektivge-
dächtnis Akte des Durcharbeitens, aber auch des Verzeihens und
Versöhnens ein, deren Fluchtpunkt nicht nur die integrale Aneig-
nung des Gewesenen, sondern ebenso das befriedete Vergessen ist.5
In welcher Weise und zu welchen Anteilen Momente des Aufrech-
nens oder Erlassens, der Strafe, der Rechtfertigung oder der Gnade,
des Nichtvergessenwollens oder der Bewältigung in einen gelin-
genden, befreienden Umgang mit der Vergangenheit eingehen, ist
3 Vgl. Stephan Grätzel, Organische Zeit. Zur Einheit von Erinnerung und
Vergessen, a. a. O., S. 14, 30 f.
4 Ebd., S. 122.
5 Vgl. Harald Weinrich, Gibt es eine Kunst des Vergessens?, Basel: Schwabe
1996, S. 35 ff.; ders., Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München:
Beck 2005; vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte
Grundlage humaner Verhältnisse, München: Fink 2013; Paul Ricœur, La
mémoire, l’histoire, l’oubli, a. a. O., S. 593–657.
222 V. Erinnerung und Selbstfindung
10 Paul Celan in einer Äußerung gegenüber Walter Jens, zitiert nach: Barbara
Wiedemann, Paul Celan – Die Goll-Affäre. Dokumente zu einer ›Infamie‹,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 533.
11 Kurt Röttgers, »Die Erzählbarkeit des Lebens«, in: Rolf Kühn / Hilarion
Petzold (Hg.), Psychotherapie & Philosophie. Philosophie als Psychothera
pie? Paderborn: Junfermann 1992, S. 181–199, hier S. 194.
226 V. Erinnerung und Selbstfindung
Dass das Leben Wiederholung sei, ist ein Leitgedanke, der oft im
Anschluss an Søren Kierkegaards frühe Abhandlung Die Wiederho
lung formuliert worden ist. Kierkegaard nimmt darin ausdrücklich
Bezug auf den Gedanken der Erinnerung, den er in seiner Zeitrich-
tung umwendet: Wiederholung und Erinnerung sind nach ihm »die
gleiche Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung; denn wes-
sen man sich erinnert, das ist gewesen, wird rücklings wiederholt;
wohingegen die eigentliche Wiederholung sich der Sache vorlings
erinnert«.12 Was in dieser eigenartigen Wechselbeziehung zum Aus-
druck kommt, ist die Zeitlichkeit der menschlichen Existenz, ge-
nauer die Art und Weise, wie Menschen sich bewusst zum Ganzen
ihres zeitlichen Daseins verhalten, indem sie die Aneignung der Ver-
gangenheit und den Selbstentwurf in die Zukunft aufeinander bezie-
hen. In dieser Verknüpfung distanziert sich Kierkegaards Verständ-
nis der Wiederholung von der platonischen Anamnesis, die ganz
dem Vergangenen zugewandt ist und als metaphysische Rückschau
einem in sich Vollendeten und Abgeschlossenen gilt. Im Gegensatz
dazu geht es hier um eine auf künftige Selbstverwirklichung aus-
greifende Erinnerung, einen Zukunftsentwurf, der die vergangene
Selbstprojektion wiederholt und tätig umsetzt.
Wenn die Existenz als Setzung von Neuem aus einem vergan-
genen Entwurf kommt und eine vorausgehende Gerichtetheit auf-
nimmt, so schöpft sie nicht einfach aus dem Gedächtnis als einem
festen Bestand, sondern wurzelt zugleich im Unabgegoltenen und
offenen Potential des Vergangenen. Sie bedenkt das Vergangene auf
seine Zukunft hin, die gleichermaßen die Gegenwart durchdringt.
Um den Zukunftsbezug des Gewesenen, sein Verlangen nach Zu-
kunft wie seine Zukunftsmächtigkeit, zu erkunden, ist seine eigene
Vergangenheit zu erschließen: dasjenige, mit bezug worauf es selbst
eine Zukunft war. Als Wiederholung gründet das Leben nicht nur
in artikulierten Selbstentwürfen, sondern auch in Urerfahrungen,
die es nicht bewusst heraufruft, aus denen heraus es aber Orientie-
rung und Sicherheit in seinem Ausgriff gewinnt. Es können Erfah-
rungen der Angst, aber auch der Geborgenheit und des Zutrauens
sein, ursprüngliche Bewegungen des Zurückweichens und Fliehens,
Nichts und niemand ist vergessen, nichts von dem, was zu mei-
nem Leben gehörte, auch von dem, was darin unterdrückt war und
unbewältigt geblieben ist, ist dem Vergessen und dem endgültigen
Nicht-Verstehen überantwortet. »Nicht umsonst gelebt haben« –
dies ist die Parole des Gedenkens, die zugleich besagt: »Alles hat
Sinn, nichts geschieht umsonst«.5 Nichts verloren zu geben meint
nicht nur die Gegenwehr gegen das zeitliche Entgleiten, sondern
in gleicher Weise gegen den Sinnentzug. Etwas bewahren heißt für
es einstehen, seinen Sinn retten. Erinnerung, die sich im Kreis der
Selbstvergewisserung bewegt, schreibt sich in den Horizont einer
ursprünglichen Sinnbejahung und Affirmation des Lebens ein. In ihr
vergewissert sich das Subjekt des Sinnzusammenhangs, in welchem
sein Leben steht und sich entfaltet.6 Das Vertrauen in den Sinn der
Existenz und in die Kraft des Verstehens bildet die unabdingbare
Grundlage erkennender Erinnnerung. Sie ist für diese keine bloß
vorausgesetzte Prämisse, sondern eine hermeneutische Ressource,
die in der Erinnerungsarbeit selbst aktiviert und erzeugt, aus ihr
gewonnen wird. Nicht zuletzt geschieht dies in der angeführten
Verflechtung von Leidens- und Glückserinnerung: Der Wille zur
Erinnerung, der sich im Widerstand gegen das Leiden und die Sinn-
losigkeit behauptet, bewährt sich als eine Macht der Gewinnung von
Sinn und Erfüllung, deren Widerstandskraft ihrerseits in der Praxis
des Erinnerns wurzelt und von der Sehnsucht und dem Glücksver-
sprechen zehrt, die dem Gedächtnis innewohnen.
In alledem geht es um eine basale Affirmativität, die nicht eine
bestimmte sinnhafte Ausrichtung, eine teleologische Lebensdeutung
auf ein Ideal oder einen höheren Zweck hin enthält. Es geht um
das grundsätzliche Jasagen, das bei aller Brüchigkeit und Hinfällig-
keit des Lebens sowohl die Grundlage der Erinnerung bildet wie es
in ihr seine Stütze findet. Es ist eine affirmativ-responsive Tiefen-
schicht, die noch der Erinnerung an das Unglück vorausliegt und vor
der umfassenden, nihilistischen Sinnleugnung schützt. Nicht um-
sonst haben emphatische Konzepte die Verwandtschaft des Geden-
kens mit dem Danken betont, die aus der Erinnerung erwachsende
Dankbarkeit dafür, dass die Selbstverständigung über das Ganze des
5 Ebd., S. 83.
6 Vgl. Dieter Henrich, Versuch über Kunst und Leben – Subjektivität,
Weltverstehen, Kunst, a. a. O., S. 200 f.; ders., Endlichkeit und Sammlung des
Lebens, a. a. O., S. 59, 63 ff.
12. Das wiedergefundene Selbst 231
Solche Erinnerung steht als Einholung des eigenen Lebens und Weg
der Selbstfindung zur Diskussion. Es war an früherer Stelle vom
grundsätzlichen Problem einer Selbsteinholung die Rede, die sich in
der Zeit und im Wettlauf mit der Zeit vollzieht.9 Es ist ein Problem,
das sich im Blick auf das zweifache Ziel ergibt, das Ganze des Lebens
vor sich zu bringen und in ihm auf sich selbst zu treffen, sich selbst
zu erkennen. Von alters her ist das Dilemma erörtert worden, dass
man das Ganze nur von außen überblicken, das gesamte Leben nur
nach dessen Ablauf erzählen und beurteilen kann. Ein autobiogra-
phischer Bericht, der das Leben bis zu seinem Ende erzählen wollte,
müsste im Prinzip den Standpunkt eines Nachrufs einnehmen und
mit der temporalen auch die auktoriale Binnenperspektive über-
schreiten.10 Einen anderen Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet
das virtuelle Ausgreifen aufs Ganze, so das von Heidegger bedachte
›Vorlaufen‹ zum Tode, dem es indes um mehr als eine temporale
Ausweitung geht. Vielmehr interessiert die existentielle Konfron-
tation mit dem Ende, die auf das Leben zurückwirft und dieses in
seiner Tiefe, seinem Ernst erfassen lässt. Ähnlich beschreibt Kierke
gaard das ›Umschiffen‹ des Daseins als Vorbedingung dafür, dass der
Mensch sein wirkliches, selbst gewähltes Leben führt.11 Nur vom
Ganzen her und damit in gewisser Weise von außen, indem er aus
dem Binnenverlauf der Existenz heraustritt, kommt der Mensch aus
seinem Leben auf sich selbst zurück, vermag er in seinem Leben sich
selbst zu ergreifen, sich selbst zu erkennen. Erinnern ist ein Modus
dieses Heraustretens und Zu-sich-Kommens.
12 Günther Bittner, »Bin ›ich‹ mein Erinnern?«, in: Ders. (Hg.), Ich bin mein
Erinnern. Über autobiographisches und kollektives Gedächtnis, Würzburg:
Königshausen & Neumann 2006, S. 57–70, hier S. 64.
234 V. Erinnerung und Selbstfindung
und wirft die Frage auf, worin das Geheimnis dieser emotionalen In-
volviertheit besteht. Warum interessieren uns Erinnerungen, warum
berühren sie uns, warum rühren sie uns an?13 Proust selbst hat die
besondere Resonanz der unwillkürlichen Reminiszenzen, um de-
ren Aufklärung sein Held sich bemüht, damit begründet, dass wir
durch sie ins Zeitlose enthoben werden und in der konkreten, sin-
gulären Empfindung an einem Allgemeinen teilhaben, das Wesen der
Dinge erkennen.14 Man mag darin einen Aspekt jenes »Rätsels des
Glücks«15 der Erinnerung sehen; als Wiedererkenntnis hat diese we-
sentlich mit der Transzendierung des Hier und Jetzt zu tun. Indessen
scheint es weniger die Annäherung an ein ontologisch Allgemeines
denn die Nähe zum einmaligen früheren Erleben zu sein, welche die
besondere Faszination des Sicherinnerns und die Anhänglichkeit an
das Vergangene ausmacht. Dass dasjenige, was wir damals gesehen
und gehört haben, dasjenige, was wir selbst einst waren, uns heute
nahe und greifbar, dass es an ihm selbst gegenwärtig ist, berührt
uns und macht die eigentümliche Qualität und emotionale Färbung
des Erinnerns aus. Gegenwart und Selbstgegenwart sind wesentliche
Bestandteile des wiedergefundenen Selbst.
gegenwärtigen zu wollen. Nicht dass ich das Leben als ganzes vor
mir habe, sondern dass ich in ihm auf mich selbst stoße, es als das
meine aneigne, ist die Utopie des Heimischwerdens in seinem Le-
ben. Das »kleine Wunder der glücklichen Erinnerung«16 meint jenes
volle Präsentwerden, in dem sich etwas offenbart und gegenwärtig
wird. Das Sich-selbst-Wiederfinden in der wiedergefundenen Zeit
ist nicht Reduplikation eines früheren Besitzes oder einer einstigen,
verlorenen Selbstpräsenz, sondern erst ein originäres Finden und
Sich-Finden.
Indessen sind die Leitvorstellungen der Selbsteinholung und der
Selbstgegenwart im Leben nicht ohne Zwiespalt. Als Fluchtpunkt
der Sehnsucht des Erinnerns hat sich ein Ideal der Gegenwärtigkeit
gezeigt, das ein in sich gedoppeltes ist: ein Ideal der Gegenwart des
Vergangenen im Jetzt und des Sich-Gegenwärtigseins des Subjekts
in seinem Leben. Dabei haftet der Idee der Gegenwart eine innere
Ambivalenz an. Auf der einen Seite meint sie ein positives Ideal,
zeitlich wie seinsmäßig: ein Ideal der Erfüllung, der reinen Manifes-
tation und des Einsseins-mit-sich, jenseits allen Mangels und aller
Abwesenheit. Auf der anderern Seite assoziieren sich mit ihr Bilder
der Leere und des Stillstands, Gegeninstanzen zum Leben als offener
Bewegung und ungestilltem Verlangen. Das Leben zu bejahen heißt
nicht nur nach der letzten Erfüllung zu streben, sondern auch diese
Offenheit zu bejahen, nicht vom Begehren abzulassen17, das jede Be-
friedigung transzendiert und die Selbstkoinzidenz fortwährend auf-
schiebt. Eine volle Selbsteinholung als abschließendes Einswerden
wäre als Erlöschen des Begehrens ein Ende des Lebens selbst. Diese
Dynamik bildet auch den Nerv der Lebenserzählung und Lebens-
erinnerung. Wenn diese dem Sichfinden in seinem Leben zugrunde-
liegt, so erschöpft sie sich nicht in der Vergegenwärtigung vergan-
gener Fakten und Ereignisse. Die Sehnsucht gilt dem Einswerden
nicht nur mit dem, was wir waren und erlebt haben, sondern auch
mit dem, was wir gar nicht waren, sondern nur sein wollten, wonach
wir uns gesehnt haben. Das Unerledigte, das nichtgelebte Leben ist
Triebkraft des Lebens wie des Gedächtnisses, das unerfüllte Seins-
verlangen liegt der Existenz wie der Erinnerung zugrunde. So ist
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Namenregister
Abraham 144 Bobbio 129
Adichie 194 Böhme 26, 54
Adorno 82, 140, 159, 164, 178, Bozzaro 40, 42
186, 190, 197 f., 200 f., 203– Braun 144, 170
205, 211 f. Brecht 114
Agamben 178, 183–185
Altwasser 124 Canetti 197
Améry 38, 44 Cassirer 101
Apel 178 Celan 178, 225, 231
Aragon 164 Cicero 160
Aristoteles 29, 32 f., 60, 118.,
146, 156, 178, 202, 236 Danto 28, 51, 97
Assmann 56, 63 Debray 140
Augustinus 33, 38, 84, 173, de Man 176
200, 202 Derrida 36, 60, 138, 142, 144,
Auster 116, 127 147, 150, 222
Descartes 223
Baumgartner 50 Dilthey 24, 113 f., 119
Benjamin 52, 61 f., 69–72, 142, Dodel 28
158, 176, 178–181, 198, 201,
206, 211 f., 214, 224 Eliot 140
Bergson 73, 88, 134
Bergholz 49 Foucault 185
Bernet 147, 158 Freud 52, 60 f., 150, 158, 169,
Bienenstock 51, 166 172, 190
Bieri 24 Frevert 63
Bittner G. 80, 233 Fried 177
Bittner, R. 80, 234 Friese 56
Blankenburg 227 Frisch 209
Bloch 36, 139, 146, 196 f.,
200–202, 211, 213 Gagnebin 237
Blumenberg 34 Goethe 200
Namenregister 255
Gottlob 56 Küchenhoff 149
Grätzel 76, 89, 116, 171, 221 Kurzeck 90, 94–96, 116, 127–
Grass 173 129, 191–193, 195, 199, 201,
Greisch 237 205
Grondin 237
Lacan 144, 235
Habermas 190 Lacoue-Labarthe 119
Hartman 213 Lanzmann 77, 91, 162, 181–
Hegel 41 f., 148, 166 183
Heidegger 19 f., 37, 39, 120– Lesch 124
122, 134, 141, 231 f. Levi 163, 178, 183–185
Henrich 20, 54 f., 126, 230 f. Lévinas 36, 60, 135, 138, 159,
Heraklit 174 185
Herrndorf 124, 192 Lichtenberg 53
Heym 124, 232 Liebsch 165
Hiob 159 Link-Heer 84
Hofmannsthal 142 Löwith 145
Holdenried 113 Lübbe 107, 145
Horkheimer 164, 195, 200,
203, 205, 212 Mahler 204
Husserl 60, 64 f., 138 Marquard 129 f.
Marten 122
Jankélévitch 163 Mautz 123–125
Jaspers 42 McTaggart Ellis MacTaggart 33
Jay 195 Mendes-Flohr 213
Jean Paul 90, 174, 196, 205 Mercier 209
Johnson 69 Merleau-Ponty 138, 171
Meyerhoff 139
Kant 223 Micali 40
Kertesz 178 Mitscherlich 63, 175 f.
Kettner 71 Mittag 56
Khurana 144 f. Modiano 27, 94 f., 126
Kierkegaard 39, 121 f., 145, Mörike 198
209, 226, 232 Mosès 224
Klinkert 84, 91, 119 Musil 110
Kluge 198
Knell 111 f. Nabokov 69, 74, 93, 141, 167 f.,
Kodalle 221 191, 193, 195
Koselleck 63, 210 Neruda 213
Kristéva 143 Nietzsche 49, 159
256 Namenregister