Sie sind auf Seite 1von 20

Hochschule für Musik und Tanz, Köln

Unter Krahnenbäumen 87
50668 Köln

Richard Brenner
Großfach Musik mit Schwerpunkt IP
Matr.-nr.: 106300
Hochschulsemester: 6
SS 2017

Hausarbeit vorgelegt zum Seminar:


"Musiktheaterpädagogik" bei Frank Rohde

Szenische Interpretation als erfahrungsorientierte


Auseinandersetzung mit Puccinis Oper 'Madama
Butterfly' unter besonderer Berücksichtigung des
künstlerisch- kreativen Arbeitsmoments
Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung.............................................................................................1
2 Was ist Szenische Interpretation?.......................................................3
3 Erweiterung der Szenischen Interpretation hin zum vollwertigen
künstlerischen Prozess............................................................................5
4 Madama Butterfly.................................................................................8
5 Szenische Interpretation von Madama Butterfly ................................9
1 Übersicht und Vorüberlegungen......................................................9
2 Einfühlung/ Entwicklung szenischer Motive...................................11
3 Szenische Interpretation ...............................................................13
4 Beispiele für die Integration künstlerischer Arbeitsweisen............17
6 Schlusswort........................................................................................19

2
1 Einleitung

„Das Theater ist die tätige Reflexion des Menschen über sich selbst.“

(Novalis)

In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch unternommen werden die


Potenziale der Szenischen Interpretation im Bezug auf künstlerische Arbeits-
haltungen zu untersuchen und diese im Besonderen an Giacomo Puccinis
Oper 'Madama Butterfly' zu betrachten.

Während meiner eigenen Schulzeit als auch während diverser absolvierter


Schulpraktika konnten mich die Eindrücke der aus dem Kreis der Szenischen
Interpretation entspringenden Verfahren (wie beispielsweise der Standbilder) -
sowohl als Interpretierender als auch Hospitierender - nicht gänzlich
überzeugen. Diese eigens erlebte Schulpraxis als auch der ein oder andere
hierzu publizierte Unterrichtsentwurf erwecken mir oft den Eindruck
überkonzeptionelle Herangehensweisen zu sein, welche zwar grundsätzlich
erhebliches Potenzial in sich bergen, in der Praxis allerdings oft sehr
uninspiriert, grau und schablonenhaft exerziert werden.

Ausgehend von dieser Erfahrung und vielfältiger Anregungen durch das von
mir zu diesem Thema besuchten Seminars möchte ich in diesem Sinne auch
der Frage nachgehen, wie sich der Prozess der Szenischen Interpretation so
anregend und inspiriert wie möglich gestalten lässt, sodass bei den
Ausführenden ein wirklicher Bildungssprozess zum Inhalt und über diesen
hinaus iniziiert werden kann.

Nach meiner Überzeugung ist hierbei vor Allem der gemeinsame Blickwinkel
auf die szenischen Potenziale von Bedeutung. Wenn es gelingt, dass der
künstlerische Anspruch in der Auseinandersetzung mit dem Material im
Vordergrund steht, der Prozess 'an sich' für beide Seiten spannend wird und
hierauf bezogene Ambitionen geweckt werden, gehe ich davon aus, dass alle
weiteren pädagogischen Ziele 'en passant' als Nebeneffekt erreicht werden
können.

Um etwaigen Abwehrtendenzen zuvorzukommen soll in unserem Falle auch

1
der Brückenschlag zwischen dem in von der Lebenswelt der Schüler -
musikalisch als auch dramaturgisch - sehr weit entfernten Inhalt des
Musiktheaters hin zu deren Lebenswelt/- identität gewagt werden.

2 Was ist Szenische Interpretation?

Grundsätzlich handelt es sich bei der Szenischen Interpretation um einen


erfahrungspädagogischen Ansatz zur alternativen Aneignung von Inhalten des
Musik- und Literaturunterrichts welcher in den späten 1980er Jahren an der
Universität in Oldenburg auf Basis der Methoden des Szenischen Spiels
entwickelt wurde.1
Man begegnet ihr im Allgemeinen vor Allem in Schulen, Opernhäusern aber
beispielsweise auch in der Sozialarbeit.
Szenische Interpretation bedeutet laut Ingo Scheller im weitesten Sinne„ …
Handeln in den vom Text vorgegebenen oder angedeuteten Rollen und
Situationen“2(wobei dies in unserem Sinne um den vorgegebenen
musikalischen Kontext erweitert werden kann). Hierbei wird sich vielfältigster
methodischer Subkonzeptionen wie dem szenischen Lesen, kollektiven vs.
individuellen Sing-, Geh- und Sprechhaltungen, den (vorher erwähnten)
populären Standbilder, Haltungen, szenischer Improvisation, Tanzen,
Choreographie/Inszenierung, etc... bedient um den Spielenden die
Erfahrunspotenziale von Texten/ Dramen zugänglich zu machen.
Die 'Szene' kann hierbei als eine räumlich und zeitlich begrenzte soziale
Situation angesehen werden, in welcher Menschen mit „Intentionen und
Erwartungen, Wahrnehmungen und Gefühlen körperlich und sprachlich (inter-)
agieren und sich wechselseitig zueinander in Beziehung setzten.“3
In der Szenischen Interpretation wird ganzheitlich gearbeitet, da man in ihr ein
komplexes, polyästhetisches - also von vielen Sinnen wahrgenommenes -
szenisches Geschehen aufnimmt in welchem laut Hilarion Petzold „senso-
motorische, atmosphärisch- affektive und ikonisch- perzeptive Erfahrungen
synästhetisch zu einem ganzen verbunden werden.“ 4
1 WIKIPEDIA (2017): Szenische Interpretation.
https://de.wikipedia.org/wiki/Szenische_Interpretation (31.12.2017).
2 SCHELLER, INGO (2004): Szenische Interpretation. Theorie und Praxis eines handlungs- und

erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II. Seelze- Velber. S.48.


3 Ebd., S.22
4 PETZOLD, HILARION (1993): Integrative Therapie. Modelle, Theorien und Methoden für eine
2
Deutlich ist, dass die vielen Ebenen auf welchen Erfahrungen gemacht und
somit vielschichtige Bildungsprozesse initiiert werden können hier eine
wesentliche Erweiterung des bisherigen Aneignungsprozesses bedeuten.
Desweiteren kann die Szenische Interpretation als Teil der systemisch-
konstruktivistischen Pädagogik nach Kersten Reich gedeutet werden.
Demnach wird hier nicht nur die bloße Rekonstruktion und Speicherung von
Inhalten sondern vielmehr auch die Konstruktion und Dekonstruktion von
Bedeutungen fiktionaler Realität als pädagogisches Ziel formuliert. 5 Sie grenzt
sich somit vom „darstellenden Spiel, von Musik und Bewegung, von der
Ausübung von Bewegungsliedern, […], von Psychodrama und anderen
Verfahren...“6 - welche die genannte Konstruktion/ Dekonstruktion nicht
beinhalten - ab.
Eine Besonderheit der szenischen Interpretation liegt also darin, dass die
Bedeutung eines Werkes nicht im verbalen Diskurs 'herausgefunden' wird,
sondern man diese vielmehr in einem dynamisch- ganzheitlichen Prozess und
im lebhaften Austausch mit den individuellen Lebenserfahrungen gemeinsam
konstruiert und dekonstruiert. Die anleitende Pädagogin gibt hierbei nur die
Spielregeln bzw. den Rahmen vor in welchem diese Aneignungsprozesse
stattfinden denn die konstruierte Bedeutung selbst. 7
Über diesen im besten Falle immer weiter in die Tiefe gehenden,
(hinter)fragenden künstlerischen Prozess wird ein enormes Potenzial für
Selbst- und Welterkenntnis über die Auseinandersetzung mit dem konkreten
Inhalt hinaus gelegt. Eine Kernkompetenz welche in jedwedem weiteren
Lebenslauf von Bedeutung sein kann.

schulenübergreifende Psychotherapie, Bd. II, 1-3. Paderborn. S.649


5 REICH, KERSTEN (2002): Systemisch- konstruktivistische Didaktik. Eine allgemeine
Zielbestimmung. In: VOSS, REINHARD (Hrsg.): Die Schule neu erfinden. Neuwied, Kriftel:
Luchterhand, S.70-91
6 BRINKMANN, RAINER O. / KOSUCH, MARTIN / STROH, WOLFGANG MARTIN (2010):
Methodenkatalog der Szenischen Interpretation von Musik und Theater, S.8
7 Ebd., S.8
3
3 Erweiterung der Szenischen Interpretation hin zum
vollwertigen künstlerischen Prozess

Der Gedanke Szenische Interpretation als Ausgangspunkt für fortführende


künstlerische Prozesse zu sehen dürfte gerade in deren Verwendung als
pädagogisches Verfahren im Musikunterricht naheliegen, da an selbigen ja
auch der grundsätzlichen Anspruch an die Vermittlung künstlerisch-
praktischer Kernkompetenzen (im Sinne der Produktion) gestellt wird. 8

Die Einbettung in einen kreativen Prozess ist quasi ein natürliches Moment
der Methode, arbeiten doch viele Choreographen, Künstler heute im ersten
Schritt mit Techniken wie sie auch in der Szenischen Interpretation
Verwendung finden, wie beispielsweise gebundene Improvisationsformen mit
welchen ein zur Transformation geeignetes Material generiert werden kann.

Der Aspekt der Dekonstruktion im Sinne Kersten Reichs steht hier


exemplarisch als beiden Bereichen gemeinsames Bindeglied zwischen
künstlerischer Praxis und konstruktivistischer Pädagogik.

Vielmehr geht es bei der Dekonstruktion vor allem um die Auslassungen,


die möglichen anderen Blickwinkel, die sich im Nachentdecken der
Erfindungen anderer oder in der Selbstgefälligkeit der eigenen Erfindung
so gerne verstellen. Je mehr auf klare Linearität und Kausalität in der
Wissenschaft gesetzt wird, um so mehr wird der Dekonstruktivist
verabscheut, weil er zirkulär denkt und alles durcheinander bringt. Er ist
jener respektlose Chaot, der das System verstört, weil er bei den
selbstverständlichsten Funktionsweisen innehält und dumme Fragen
stellt. Sehr oft ist die Wissenschaft dann zu dumm, um darauf antworten
zu können. In einer konstruktivistischen Didaktik aber sollen alle zu
Dekonstruktivisten werden können, um dann in den Zirkel der
Konstruktion und Rekonstruktion zurückzufinden 9

Genauso gehört es zum Wesen der Kunst die reguläre Ordnung


durcheinanderzubringen, neue, ungewohnte Verbindungen herzustellen und
damit für selbstverständlich gegebene Verhältnisse zu hinterfragen. Der
chinesische Künstler Sun Xun erklärte beispielsweise: „A questioning system
as a parallel world - this is my art.“10

Auch Bertold Brecht machte im Rahmen seines 'epischen Theaters' auf die
Eigenschaft von Irritation im Theater aufmerksam. Für ihn ermöglichen

8 QUA-LiS NRW(2017):
https://www.schulentwicklung.nrw.de//lehrplaene/upload/klp_SI/GY/musik/KLP_GY_MU.pdf
(31.12.2017)
9 REICH, KERSTEN (2002), S.86
10 YOUTUBE (2017): https://www.youtube.com/watch?v=tDcNftMKqQM (31.12.2017)
4
Verfremdungseffekte (sogenannte V-E ffekte) Kritik, indem sie das
'Selbstverständliche' auffällig machen.

Es handelt sich hierbei, kurz gesagt, um eine Technik, mit der


darzustellenden Vorgängen zwischen Menschen der Stempel des
Auffalenden, des der Erklärung Bedürftigen, nicht Selbstverständlichen,
nicht einfach Natürlichen verliehen werden kann. Der Zweck des Effekts
ist, dem Zuschauer eine furchtbare Kritik vom gesellschaftlichen
Standpunkt zu ermöglichen.11

Dekonstruktion stellt somit einen grundsätzlichen Bildungsprozess zur


Auseinandersetzung mit und zur Aneignung von Realität dar.

Im Umkehrschluss hat sich die Szenische Interpretation bereits innerhalb


künstlerischer Produktionen als erfolgreicher Ansatz bewährt, wie folgender
Abschnitt zeigt:

Die Methoden der Szenischen Interpretation werden häufig auch bei der
Einstudierung von Musiktheateraufführungen durch Kinder und
Jugendliche eingesetzt. Aufgrund des erfahrungsorientierten und
konstruktivistischen Konzepts werden dabei die SpielerInnen aus dem
Status der „unmündigen“ Figuren, die ein Regisseur handhabt, zu
kreativen ProduzentInnen. Im Idealfall produzieren sie nicht nur die
Inszenierung, sondern auch das Stück selbst. […] Motor für den Einsatz
der Szenischen Interpretation ist die Arbeitshaltung: Professionelle
künstlerische Arbeit und die Perspektiven von Jugendlichen auf das Werk
durchdringen sich.12

Der Schritt von der Pädagogik in die Kunst ist also bereits vollzogen. Ich
postuliere, dass man es auch wagen darf bzw. sollte, die Kunst zurück in die
Szenische Interpretation in der regulären pädagogischen Kontexte wie die
Schule eine ist zurück zu holen, wo es ggf. noch nicht der Fall ist.

Als Inspirationsquelle hinsichtlich Methodik und Arbeitshaltung können


logischerweise primär alle szenischen Kunstformen wie Theater, Musiktheater,
Tanz oder Performance dienen. Auch die hierzu von Martin Kosuch verfasste
Arbeit zu seiner Konzeption an der 'Jungen Oper' Stuttgart sollte von Interesse
sein.13

Grundsätzlich gilt, umso kreativer und künstlerischer der Prozess sein darf
umso offener und freier kann die Vorstellung sein wie eine konkrete Szene
aussehen kann, da eigene Prämissen und Maßstäbe Verwendung finden. Da
die Szenische Interpretation viel daraus schöpft dass die individuellen

11 HERRIG, THOMAS A. / HÖRNER, SIEGFRIED (2012): Darstellendes Spiel und Theater.


Paderborn, S.230
12 BRINKMANN, RAINER O. / KOSUCH, MARTIN / STROH, WOLFGANG MARTIN(2010), S.66
13 Ebd., S.67
5
Erfahrungsschätze und Konstitutionen der Teilnehmer aktiviert werde 14, dürfte
ebendiese Freiheit als begünstigender Faktor wirken, da die Formen in
welchen sich diese manifestieren können vielfältiger sein dürfen und der
Gesamtbereich an Möglichkeiten sich vergrößert.

Binnendifferenzierung besitzt so auf mehreren Ebenen – sowohl hinsichtlich


der Passung mit den persönlichen Stärken und Schwächen als auch der
individuellen Qualität der Umsetzung - mehr Raum um sich zu entfalten, da es
eben nicht die 'eine' richtige szenische Darstellung eines Inhalts als
wahrgenommenes Ziel gibt.

Gleichermaßen fordert ein immer freier werdender kreativer Umgang mit dem
thematischen Material die LeiterIn heraus dass die Gruppe das eigentliche
Werk nicht aus den Augen verliert. Es stellt sich also die Frage, ab wann die
grundsätzlichen Aspekte der Szenischen Interpretation- wie zB. die konkreten
Rollen- Personifizierung/ Einfühlung während des Spiels- nicht mehr gegeben
sind.

4 Madama Butterfly

Die 1904 uraufgeführte Oper 'Madama Butterfly' zählt heute zu einer der
populärsten und meistgespielten Opern Giacomo Puccinis (1885- 1924)
weltweit.15
Die tragische Geschichte beginnt damit, dass der amerikanische Marineoffizier
Pinkerton, welcher sich während seines Aufenthaltes in Japan die 15- jährige
Geisha Cio-Cio San (alias Butterfly) verliebt, eine Beziehung mit ihr eingeht
und sie heiratet. Für den Amerikaner ist das ganze eine unterhaltsame und
exotische Affäre, die junge Geisha jedoch sieht darin den Anfang einer
ernsthaften Beziehung. Nach Pinkertons Abreise kurz nach der Vermählung
verbleibt Cio-Cio San schwanger im gemeinsamen Haus zurück, wo sie in den
kommenden Jahren den gemeinsamen Sohn mit alleiniger Hilfe durch ihre
Hausangestellte Suzuki großzieht und in ständiger Erwartung Pinkertons
Rückkehr verharrt. Als Pinkerton schließlich mit einem Schiff wiederkehrt und
Butterfly vom Doppelleben Pinkertons, welcher mitsamt seiner neuen
14 SCHELLER, INGO (1998): Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin, S.13
15 ARD(2017): https://www.planet-
wissen.de/kultur/asien/geishas/pwiemadamebutterflygeishaaufderopernbuehne100.html
6
amerikanischen Frau angereist ist, erfährt, bricht für sie die Welt zusammen.
Gedemütigt und voller Schmerz begeht sie mit dem Dolch ihres Vaters
Harakiri.
Zwei weitere Figuren welche sich symmetrisch zu den Liebenden anordnen
sind für das Drama essentiell. Auf der einen Seite die bereits erwähnte Suzuki
welche eine mütterlich-fürsorgliche Rolle gegenüber Butterfly einnimmt,
gleichzeitig aber in ihrem Dienste steht. Und auf der anderen Seite der
amerikanische Konsul Sharpless der die väterliche Komponente ersetzt und
als moralische Instanz zwischen Pinkerton und Cio-Cio San vermittelnd
ersucht die dramatische Entwicklung abzuwenden.
Laut dem Regisseur Anthony Minghella handele es sich bei dem Werk
beinahe um ein 'Monodrama', da alle Elemente und Figuren um Cio-Cio San
angeordnet sind.16
Butterflys Entwicklung bringt sie von freudiger Erwartung über endloses Hoffen
und dessen dramatischer Enttäuschung bis hin zur stillen Akzeptanz des für
ihre persönliche Integrität erforderlichen Suizids.

5 Szenische Interpretation von Madama Butterfly

1Übersicht und Vorüberlegungen


Wie bereits in der Einleitung angedeutet möchte ich der Frage nachgehen
inwiefern man innerhalb der Szenischen Interpretation in einem dynamisch-
künstlerischen Prozess eine Verknüpfung mit der Lebenswelt der Schüler und
sich hierdurch auch eine größere Passung/Identifikations- und
Interessepotential erschließen könnte.

Meine in dieser Arbeit angesetzte Grundidee hinsichtlich der Initiierung eines


künstlerisch- dynamischen Prozesses innerhalb der Szenischen Interpretation
ist es den klassische Methodenkatalog im ersten Schritt als eine Art
'Materiallabor' zu verstehen wobei das Kernkonzept der Szenischen
Interpretation als konzeptueller Gesamtrahmen dennoch durchweg erhalten
bleibt. Als 'Ausgangsmaterial' mit welchem dann im weiteren Verlauf
gearbeitet wird dienen konkrete szenische oder gestische Motive aber auch
16 METROPOLITAN OPERA: https://www.metopera.org/metoperafiles/education/Educator
%20Guides/Ed%20Guide (31.12.2017)
7
die weniger konkret- greifbar im Prozess gemachten inneren Erkenntnisse,
emotionale Haltungen und Vorstellungswelten.

Von den klassischen fünf Phasen der Szenischen Interpretation -


1.Vorbereitung, 2. Einfühlung, 3. szenisch-musikalische Arbeit, 4. Ausfühlung,
5. Reflexion17 - möchte ich mich vor Allem mit Phase zwei und drei
beschäftigen, da hier die szenische Hauptarbeit geschieht.

Die beschriebenen Überlegungen und Ideen beziehen sich nicht auf eine
spezifische Klassenstufe oder Schülerkonstellation, jedoch ist ein gewisses
Abstraktionsvermögen und differenziertes Einfühlen gefragt, welches uns das
Szenario eher in Klassen ab der Mittelstufe sinnvoll ansiedeln lässt.

Beachten sollte man auch folgende Überlegungen hinsichtlich der


Einfühlungsprozesse und des Umgangs mit Abwehrtendenzen der Schüler:

„Einfühlendes Verstehen und die damit verbundenen Interpretations- und


Lernprozesse sind ungewöhnlich und können, wo sie auf fremde, verpönte
oder abgewehrte Verhaltensweisen stoßen, Widerstand produzieren.“ 18

Gerade bei einem so weit von der aktuellen Kultur der Jugendlichen entfernten
Feld wie dem Musiktheater dürfte die größte Schwierigkeit im Hinblick auf die
Szenische Interpretation also die Bereitschaft der Teilnehmer sein sich in diese
Musik- und Rollen-Einfühlung einzulassen. (Dass das grundsätzliche
Einfühlungsvermögen der Schüler normalerweise kein Hindernis darstellt
zeigt, dass die Einfühlung in Videospiele, Rollenspiele, oder imaginäre
Filmwelten alltäglich gelingt.)

Diese Bereitschaft ist aber essentiell um die gewünschten Erfahrungsprozesse


zu durchleben. Deshalb ist ein Verfahren welches von maximaler Annäherung
zur aktuellen Kultur und der subjektiven Welterfahrung der Schüler ausgeht
meiner Meinung nach die einzige Möglichkeit zu dem in der Einleitung
angesprochenen 'Brückenschlag'. Je nach individuellen psychologischen
Mechanismen werden die Schüler möglicherweise früher oder später auf dem
Weg hin zur 'originalgetreuen' Auseinandersetzung mit Madama Butterfly
innerlich aussteigen. Im besten Falle könnte aber ein durchweg kohärenter
'Kontakt' bestehen bleiben und ein ganzheitlicher Bildungsprozess hierdurch
begünstigt werden.

17 BRINKMANN, RAINER O. / KOSUCH, MARTIN / STROH, WOLFGANG MARTIN(2010), S.9


18 SCHELLER, INGO (2004), S.50
8
Aus diesem Grunde verlegen wir die Handlung des Dramas in unsere heutige
Zeit. Hierin kann man sich die Handlung in folgenden Ansätzen transformiert
sehen:

Die Szene mit der wir uns beschäftigen befindet sich im Mittelteil des zweiten
Aktes und beinhaltet die hoch ausdrucksstarke Soloarie von Butterfly '….?'.
Die noch unwissend auf Pinkerton wartende Butterfly bekommt in ihrer
Wohnung Besuch von Sharpless, welcher ihr eine Sms/ What's App von
Pinkerton zeigt. In dieser ersucht Selbiger Sharpless darum sie darauf
vorzubereiten, dass er ggf. nicht wiederkomme. Butterfly durchlebt in
verschiedenen Phasen zuerst Euphorie und Hoffnung, dann Schock,
Resignation um ganz am Schluss wieder in die Hoffnung ihn mittels der
Information über seine noch unwissende Vaterschaft wiedergewinnen zu
können zu flüchten. Desweiteren könnte imaginiert werden, dass der Kontext
des militärischen Auslandseinsatzes Pinkertons mit dem eines freiwilligen
sozialen Jahrs oder Ähnlichem dargestellt wird. Demnach hätte beispielsweise
Pinkerton wieder zurück in seiner Heimat seine alte Jugendliebe
wiedergetroffen und Sharpless könnte ein Mitarbeiter einer sozialen
Organisation sein, bei welcher Pinkerton sein FSJ absolviert hatte.

2Einfühlung/ Entwicklung szenischer Motive


Bei der Einfühlung müssen laut Ingo Scheller

bewusste, halb- oder vorbewusste Erlebnisse, Gefühle, Lebensentwürfe


und Handlungsmuster aktiviert und auf die Figuren übertragen werden. Im
einzelnen sind das sinnliche Wahrnehmungen und die damit verbundenen
Empfindungen, Körper- und Sprechhaltungen.19

Wir gestalten den Einfühlungsprozess schrittweise von einem offenen,


abstrakteren Rahmen - welcher über den größeren Deutungsspielraum die
subjektiven Projektionen der Schüler in höherem Maße herausfordert - hin zu
konkreteren und gebundeneren Situationen, wo sich der Projektionsspielraum
verengt. Hierdurch können erste allgemeinere Empfindungen, Bilder, etc. sich
schrittweise differenzieren, korrigieren oder gar transformieren. Gleichzeitig
verringert man das Potenzial für vorschnelle schablonenhafte Assoziationen
und erreicht im besten Falle eine durchgehende Verknüpfung mit den
interpersonellen Entsprechungen.
19 BRINKMANN, RAINER O. / KOSUCH, MARTIN / STROH, WOLFGANG MARTIN(2010), S.18
9
Wir beginnen damit, dass die Schüler mit geschlossenen Augen (Kopf auf
verschränkte Arme) die Musik unserer Szene hören. Beim ersten Mal soll
einfach nur zugehört und den Assoziationen freien Lauf gelassen werden.
Dieses erste Mal ist wichtig um einen ganz freien von Fixierungen auf
mögliche Erwartungshaltungen der LeiterIn gelösten Zugang zu ermöglichen.
Beim zweiten Mal wird dann der Auftrag gegeben die inneren Empfindungen
und eventuellen Bilder in drei Begriffen zu fassen und jeweils auf einem Blatt
zu notieren. Diese drei Begriffe stellen nun sozusagen ein Kondensat der
ersten spontanen Eindrücke dar. Zu jedem Begriff werden jetzt in Form einer
Mindmap drei weitere damit zusammenhängende Assoziationen, Bilder,
Emotionen oder auch sogar persönliche Erlebnisse notiert (oder gemalt)
werden. Diese Zettel sind, um die Wahrung der persönlichen Schutzräume zu
gewährleisten, nicht für die Arbeit in der Gruppe bestimmt.

Während ein weiteres Mal die Musik erklingt, werden eine Reihe von Fragen
zu den in der Musik vorkommenden Personen beantwortet mit deren Hilfe
fiktive Charakterisierungen derer und Vorstellungen des möglichen Kontext
der Szene erstellt werden.

Die Fragen könnten lauten: Ist es draußen oder drinnen? Wie sieht es dort
aus? Ordentlich oder chaotisch? Ärmlich oder Wohlhabend? Wie ist die
Stimmung? Wie sehen die Personen aus? Wie groß sind sie? Was tragen sie
für Kleidung? Wie sehen die Gesichter aus, die sie machen? Wie ist ihr
Verhältnis zueinander? Stehen sie nah beieinander oder entfernt? Etc...

Anschließend werden die Ergebnisse zum ersten Mal in der Klasse


zusammengetragen. Hierzu werden die drei Hauptbegriffe an der Tafel
gesammelt und gemeinsam versucht diese auf eine Reihe von Begriffen zu
reduzieren und ein erster kollektiver Austausch findet statt.

Der Einfühlungsprozess hat bisher nur innerlich und kognitiv stattgefunden,


was wir im kommenden Schritt nun in die körperlich- räumliche Dimension
erweitern werden.

Auf der Basis der drei persönlichen Begriffen und ein paar Vorgaben durch die
LeiterIn werden die Schüler nun dazu angeleitet körperliche Ausdrucksformen
derer zu finden. Hierzu nimmt sich jeder Schüler einen seiner 3 Begriffe für
den er am spontansten Bewegungen assoziiert und beginnt zuerst frei
Bewegungen und Haltungen auszuprobieren, die diesem entsprechen.
10
Inspiriert von Methoden der gebundenen Tanzimprovisation (wie
beispielsweise nach Rudolf von Laban) kann nun von Seiten der SpielleiterIn
mittels verbaler Angaben die einzelnen Schüler innerhalb der Gruppe dazu
angeregt werden mittels Variations- und Transformations, ggf. auch
Interaktionsprozesse zu differenzierten und individuellen Bewegungen/
Haltungen zu finden. Um das Prinzip der Szenischen Interpretation aufrecht zu
erhalten sollten die Aufforderungen allerdings keine konkreten Bewegungen/
Haltungen suggerieren.

Beispiele hierfür sind: Vergrößere oder Verkleinere deine Bewegung! Gehe ins
absolute Extrem! Übertrage einen Aspekt auf ein anderes Körperteil! Reagiere
innerhalb deiner individuellen Haltung auf die der Anderen! Mache das genaue
Gegenteil! Achte nur auf deine Empfindung und lasse deinen Bewegungen
freien Lauf! Etc.

Dies kann in mehreren Etappen nun mit weiteren Assoziationen, Begriffen


oder Bildern durchgeführt werden - für unsere Szene bieten sich als relevante
Bilder: Rotkehlchen, Liebespicknick, 'arme Person streift bettelnd durch die
Stadt' (alles symbolisch aufgeladene Bilder aus der Oper) an um schließlich
ein Bewegungsrepertoire zu entwickeln auf welches später zurückgegriffen
werden kann.

Die Schüler haben diese körperlich-gestischen oder symbolischen Motive


vollkommen aus sich und der Auseinandersetzung mit der Musik heraus
gebildet, was das Potential dafür erhöht, dass sich die Schüler im weiteren
Verlauf persönlich involviert fühlen.

Nun kann mittels diverser Verfahren ein zunehmend konkretes Kennenlernen


der Oper und seiner Personen angeleitet werden.

3Szenische Interpretation
Zum Einstieg in die Hauptphase der Szenischen Interpretation sollte nun eine
grobe Heranführung an die Handlung von Madama Butterfly erfolgen.

Hierin kann man sich die Handlung in folgenden Ansätzen transformiert sehen:

Die Szene mit der wir uns beschäftigen befindet sich im Mittelteil des zweiten
Aktes und beinhaltet das hoch ausdrucksstarke Duett zwischen Pinkerton und

11
Butterfly. Die noch unwissend auf Pinkerton wartende Butterfly bekommt in
ihrer Wohnung Besuch von Sharpless, welcher ihr eine Sms/ What's App von
Pinkerton zeigt. In dieser ersucht Selbiger Sharpless darum sie darauf
vorzubereiten, dass er ggf. nicht wiederkomme. Butterfly durchlebt in
verschiedenen Phasen zuerst Euphorie und Hoffnung, dann Schock,
Resignation um ganz am Schluss wieder in die Hoffnung dadurch zu flüchten,
ihn mittels der Information über seine noch unwissende Vaterschaft
wiedergewinnen zu können. Desweiteren könnte man imaginieren, dass der
Kontext des militärischen Auslandseinsatzes mit dem eines freiwilligen
sozialen Jahrs oder Ähnlichem dargestellt wird. Demnach hätte zum Beispiel
Pinkerton wieder zurück in seiner Heimat seine alte Jugendliebe
wiedergetroffen und Sharpless könnte ein Mitarbeiter einer sozialen
Organisation sein, bei welcher Pinkerton sein FSJ absolviert hatte.

Das vielfältige und dramatisch-offenliegende emotionale Moment dieser Szene


lässt sie zu einem ergiebigen Feld für Erfahrungsprozesse werden.

Nachdem nach der beschriebenen Einfühlungseinheit nun ein persönlicher


Bezugspunkt im Rahmen der Musik entwickelt wurde, folgen nun weitere -
hier nicht näher beschriebene - Einfühlungsmethoden welche Schritt für Schritt
eine Einfühlung in den von uns im Vorfeld transformierten Handlungskontext
vollziehen. Die benötigten Rollen (Sharpless, Suzuki, Butterfly) werden jetzt
tatsächlich von den Schülern personifiziert erkundet.

Die SpielerInnen sind nun in der Lage die Szene im klassischen Szenischen
Spielen darzustellen - wozu die Gruppe nun allgemeine Informationen zur
Szene als auch das entsprechend umgeschriebene Libretto (dieses
Umschreiben den Schülern zu beauftragen könnte auch ein interessanter
Aspekt sein) erhalten haben - als auch die individuellen körperlichen Motive
abzurufen. Diese Grundlage befähigt nun in einen gemeinschaftlichen
interaktiven und kreativen Forschungsprozess einzutauchen in welchem unter
Anleitung der LehrerIn die Möglichkeiten des vorgegebenen Rahmens
erkundet, Aspekte in Frage gestellt und verfremdet werden, etc. Also eine
wirklich differenzierte künstlerisch- szenische Arbeit in Gang kommen kann.

Hier wird die Ebene stereotypisierter Darstellungen/Entsprechungen verlassen


und die im Inneren wachgerufenen Empfindungen, Vorstellungen etc. können
sich im Wechselspiel schärfen, gegenseitig abgrenzen, ausdifferenzieren,

12
bekräftigen oder revidieren. Diese Arbeit wird sowohl aus Perspektive der
selbst Spielenden als auch der beobachtenden Rolle heraus durchlebt.
Hieraus erfolgt eine weitere wechselseitige Dynamik, da ich aus Elementen
welche ich bei meinen Mitschülern beobachten kann für mein eigenes Spiel
und meine gedankliche Haltungen Impulse erhalte, Material hierdurch ggf.
weiterentwickele, meinen Erfahrungsraum erweitere und hiermit wiederum
Andere inspiriere.

Diese Hauptarbeit soll jetzt innerhalb folgendes Szenarios geschehen:

Es werden Gruppen aus bis zu zehn Spielenden gebildet. Drei Schüler (für
Butterflys Sohn kann ein Gegenstand exemplarisch statthalten) stellen die
Originalszene auf ihre Art und Weise dar, wobei die restlichen Spielenden eine
komplementäre oder ergänzende Ebene des nicht personifizierten und
symbolischen Ausdrucks um die Szene herum beleben.

In Gruppenarbeit wird innerhalb eines ersten Schritts dem klassischen


Szenischen Spiel entsprechend eine individuelle Form für die Darstellung des
eigentlichen Ablaufs der Szene gefunden wobei die darstellenden Personen
auch den jeweiligen Text sprechen.

Im zweiten Schritt wird die Gruppe nun herausgefordert die komplementäre


Symbolebene zu entwickeln, in welcher beispielsweise Stimmungen, das
gedankliche oder emotionale Innenleben einer Figur, Vorstellungen,
Vergangenheit oder Zukunft als auch abstrakte Bewegungsvorgänge ihren
Platz finden dürfen. Diese Ebene könnte grundsätzlich in Kategorien wie
Entsprechend, Erweiternd, Interagierend oder auch Kontrastierend gedacht
werden. In ihr spiegelt sich im direktesten Sinne, dass was Ingo Scheller als
'Metakommentar' beschreibt.20

In dieser szenischen Ebene sollen nun bewusst die früher entwickelten


Haltungen, Bewegungen, etc. innerhalb eines von der LeiterIn gesetzten
richtungsweisenden Szenarios (wie beispielsweise im nächsten Kapitel
besprochen) Verwendung finden, wie jedoch genau bleibt offen.

Zur Erarbeitung dieser Abschnitte hat jede Gruppe auch einen weiteren Zettel
welches den Prozess mit W-Fragen stützen/führen kann und Bedarf aufgrund
seiner hohen kreativen Anforderung sicherlich der individuellen Betreuung
durch die SpielleiterIn.
20 SCHELLER, INGO (2004), S.23-24
13
Diesen Abschnitt könnte grob als Konstruktive und Rekonstruktive Phase
bezeichnet werden, da die zwei Thesen Reichs „Wir erfinden unsere
Wirklichkeit“Fußnote fehlt und „Wir entdecken unsere Wirklichkeit“ vorwiegend
zutreffen.21

Wenn die groben Entwürfe der einzelnen Gruppen fertig sind, werden diese
vor den Anderen präsentiert, gemeinsam reflektiert, kommentiert, verändert
und probiert. Kreative Formungsprozesse, Szenisches Interpretieren und
Reflektion greifen in diesem Abschnitt ineinander. Ein Offener Prozess kommt
in Gange in welchem die Haltungen (auch „Abwehrhaltungen“ 22),
unterschiedlichen Vorstellungen von Rollen, verkörperten Emotionen, Art der
Darstellung, Abläufe und die Verknüpfung all dieser Elemente im dynamischen
Austausch bewegt werden und sich Differenzen prozesshaft aushandeln.

Dieser Abschnitt ist meiner Meinung nach essentiell, da in ihm wiederum der
dekonstruktive Aspekt - der da lautet „Wir verstören unsere Wirklichkeit“ 23 -
Betonung findet, welcher in alltäglichen Denkprozessen in der Regel am
wenigsten verbreitet ist.

Hier kommt es nun auf die geschickte Anleitung der SpielleiterIn an um die
entscheidenden Impulse für die Weiterentwicklung zu geben und den Prozess
konstruktiv zu führen. Entscheidend ist hier wieder, nicht selber Regie zu
führen, sondern den Schülern Anstöße hin zur selbstständigen Erkennung und
Nutzung der Potenziale zu geben. Konkrete Bilder sollten also nur beispielhaft
gegeben werden.

Hinsichtlich der Form der mündlichen Reflexion sollten sowohl für die
anleitende Person als auch für die Schüler gewisse Richtlinien klar sein.
Nämlich, dass

die Bewertungskategorien „gut“ und „schlecht“ […] keine Rolle spielen


werden. […] Bewertende Kommentare sollten sie dagegen vermeiden.
Überhaupt müssen sie darauf bestehen, dass Beobachtetes nur
beschrieben, demonstriert und interpretiert, nicht aber einer Wertung
unterzogen wird, denn dadurch würden Rechtfertigungszwänge und
Ängste entstehen, die sich nachteilig auf den Interaktionsprozess
auswirken.24

Dies bedeutet auch, dass es kein 'schlechter' oder 'besser' zwischen der
Ausgangsszene und der/den veränderten Version(en) gibt, also der gerade
21 BRINKMANN, RAINER O. / KOSUCH, MARTIN / STROH, WOLFGANG MARTIN(2010), S.8
22 SCHELLER, INGO (2004), S50
23 BRINKMANN, RAINER O. / KOSUCH, MARTIN / STROH, WOLFGANG MARTIN(2010), S.8
24 SCHELLER, INGO (2004), S.260
14
beschriebene Prozess unbedingt als 'Forschungslabor' denn als ein auf eine
finale Aufführungsversion bezogener 'Probenprozess' wahrgenommen wird.

Außerdem sollte Rücksicht darauf genommen werden, dass innerhalb der


kollektiven Struktur der Szene immer ein Spielraum existiert, der es den
Spielenden ermöglicht einen individuellen Interpretationsansatz anzubringen.
So wie es beispielsweise die Idee 'Alle SpielerInnen der Symbolebene gehen
langsam mit ihrem persönlichen Ausdruck für 'Betteln' auf die Kernszene zu'
erlaubt.

4Beispiele für die Integration künstlerischer Arbeitsweisen


Im folgenden möchte ich beispielhaft die Verwendung gängiger
Theaterkonzepte an unserer Szene darstellen.

Wir wollen uns hier im besonderen auf die Verarbeitung gewisser


Schlüsselbegriffe durch die in diesem Fall kommentierende Symbolebene
beziehen. Hier soll das bekannte 'chorische Sprechen' als auch das
sogenannte 'Wörterkneten' Verwendung finden.

Den Schülern wird hier die Anregung gegeben, parallel zur Szene ein
Stimmengewirr aus den – in der Einfühlung behandelten - Begriffen zu bilden
und selbige auch körperlich zu interpretieren. Dieses 'Wörterkneten' hat ein
Stimmengewirr zur Folge, in welchem jeder Spieler ein Wort zugeordnet
bekommt, „dass er dann immerfort in gleicher Lautstärke wiederholt“. 25

Gleichzeitig sollen bestimmte selbstgewählte Schlüsselbegriffe des Librettos


dann in Form des 'chorischen Sprechens' aus einem Impuls heraus von der
ganzen Gruppe gemeinsam gesprochen werden.

Vorgaben dieser Art setzten einen Rahmen der den Ideen Richtung verleiht,
lassen aber auch gleichzeitig einen großen Spielraum zur individuellen
Auslegung offen. Wie die Schüler die Begriffe aussprechen, in Bewegung
umsetzten oder wie die 'Stimmengewirr'-Gruppe sich zu der Szene verhält
bleibt zu entscheiden. Bewegen sich die Personen frei oder vielleicht auf die
Szene zu? Findet Interaktion statt und wenn ja, wie und wo? Wann und wo
können Begriffe gewechselt werden? Gibt es Verstörungen im Sinne einer
Nichtpassung zwischen Begriff und Bewegung oder Begriff und Szene? Was
25 HERRIG, THOMAS A. / HÖRNER, SIEGFRIED (2012), S.114
15
passiert im Moment des chorischen Sprechens? Wird das Wort von allen
genau gleich oder mit Verzögerung und Variation ausgesprochen? Etc.

Die Szene kann mit der Idee des Wörterkneten aufgrund seiner
Vielschichtigkeit und hohen Informationsdichte besonders interessant und
dynamisch werden.

Eine weitere Idee welche in nahezu allen Formen eine gelungen Anwendung
finden kann ist 'Zeitlupe und Zeitraffer' als Verfremdungseffekt einzusetzen. 26

Der Vorteil liegt hier darin, dass diese Techniken den Schülern i.d.R. aus
diversen Medien heute bekannt und deshalb leichter zu initiieren sind.

Dies stellt auch einen sehr sicheren Weg dar, die Szene im Sinne unserer
'Dekonstruktion' zu Verstören. Elemente die aus dem allgemeinen Zeitfluss
herausfallen bekommen auf einmal ein besonderes Gewicht. Eine weitere
Gestaltungsebene öffnet sich in welcher Kontrastierungseffekte - zum Beispiel
zwischen SpielerInnen die Zeitlupe und denjenigen die Zeitraffer ausführen -
und vielfältige Interaktionspotenziale möglich werden.

Solange das Spiel immer auf Hinblick der szenischen Kontexts reflektiert
werden kann, sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.

6Schlusswort

Theoretisch bietet die Szenische Interpretation ein großes Spektrum


verheißungsvoller Bildungsprozesse. 27 Ob diese sich auch wirklich entfalten
können, liegt, wie bei so vielen Methoden, an einer besonders kompetenten
und einfühlenden Anleitung seitens des Pädagogen, die gerade bei solch
offenen und vielschichtigen Verfahren umso mehr Gewicht erhält.

Man kann hoffen, dass die Schüler über das kreative Arbeiten sich neue
grundsätzlich konstruktive Haltungen wie forschende, hinterfragende und
potenzialorientierte Blickwinkel gegenüber den Dingen ihres Lebens und sich
selber als fortwährenden Selbstbildungsprozess erschließen können. Die
besondere Rolle der dekonstruktiven Anteile wurde bereits hervorgehoben.

Bei welchem thematischen Material nun welche ergänzenden kreativ-


26 Ebd., S.135
27 SCHELLER, INGO (2004), S.75- 76
16
konzeptionellen Ansätze mit welchem Verfahren der klassischen Szenischen
Interpretation kombiniert werden kann und sollte - wie auch der künstlerische
Prozess selber - dem jeweiligen spezifischen Kontext (individuelle
Gruppenpotenziale, Stimmung, Werk, Musik, etc...) entsprechend entschieden
werden. Es gilt also die Grundidee immer wieder neuen Gegebenheiten
flexibel anzupassen.

Grundsätzlich hoffe ich mit dieser Arbeit anleitenden Pädagogen Mut zu


machen die Grenzen der Szenischen Interpretation hinsichtlich ihrer
konstruktivistischen Potenziale auszuloten und sich auf den für sie
gleichermaßen spannenden und bildenden Komplex kreativer
Aneignungsmethodik einzulassen. Mut wird hier gebraucht um immer wieder
spontan mit den Entwicklungen innerhalb der Gruppe umgehen zu können
und selber im Vorfeld nicht genau zu wissen, in welchen Formen sich diese
manifestiert. Es gilt sich mit den Schülern auf eine gemeinsame systemisch-
dynamische Forschungsreise einzulassen, in welcher sich ein Großteil der
fachlichen Deutungshoheit der PädagogIn entzieht.

17
Literaturverzeichnis

1)SCHELLER, INGO (2004): Szenische Interpretation. Theorie und Praxis eines handlungs-
und erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II. Seelze- Velber
2)SCHELLER, INGO (1998): Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis. Berlin
3)BRINKMANN, RAINER O. / KOSUCH, MARTIN / STROH, WOLFGANG MARTIN
(2010): Methodenkatalog der Szenischen Interpretation von Musik und Theater
4)HERRIG, THOMAS A. / HÖRNER, SIEGFRIED (2012): Darstellendes Spiel und Theater.
Paderborn
5)PETZOLD, HILARION (1993): Integrative Therapie. Modelle, Theorien und Methoden für
eine schulenübergreifende Psychotherapie, Bd. II, 1-3. Paderborn
6)KLÖCKNER, LYDIA (2012): http://www.zeit.de/studium/uni-leben/2012-11/Manfred-
Spitzer-Lernmythen (31.12.2017).
7)REICH, KERSTEN (2002): Systemisch- konstruktivistische Didaktik. Eine allgemeine
Zielbestimmung. In: VOSS, REINHARD (Hrsg.): Die Schule neu erfinden. Neuwied,
Kriftel: Luchterhand, S.70-91
8)QUA-LiS NRW(2017):
https://www.schulentwicklung.nrw.de//lehrplaene/upload/klp_SI/GY/musik/KLP_GY_MU.
pdf (31.12.2017)
9)YOUTUBE (2017): https://www.youtube.com/watch?v=tDcNftMKqQM (31.12.2017)
10)ARD(2017): https://www.planet-
wissen.de/kultur/asien/geishas/pwiemadamebutterflygeishaaufderopernbuehne100.html
(31.12.2017)
11)METROPOLITAN OPERA: https://www.metopera.org/metoperafiles/education/Educator
%20Guides/Ed%20Guide (31.12.2017)

18

Das könnte Ihnen auch gefallen