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Berlin So, Mai 3rd 2020, 15:19
Lebenswelt
Bezugsrahmen, Kontexte
»Zunächst und vor allem ist Lebenswelt ein transzendentaler Begriff«
(ThL 79). Das bedeutet, dass das, was dieser Begriff bezeichnet, in
den Kontext einer Philosophie gehört, die a priori untersucht, wie
Bewusstsein und Wirklichkeit, Erkenntnis und Welt in sich verfasst
und miteinander verbunden sind. Was zunächst und vor allem auf
diese Weise zu verstehen ist, schließt spätere und andere Formen
nicht aus: »Denn selbstverständlich gibt es empirische Lebenswel
ten« (LuW 53): Aber das sind eben »erst sekundäre Sachverhalte«
(ThL 79), die man ohne den primären, nämlich transzendentalen,
gar nicht angemessen zu begreifen vermag. Diese Rang- und Er
kenntnisfolge zu verkennen nennt Blumenberg das »Lebenswelt
mißverständnis« (LuW 7-68). Dass er sich vorgenommen hat, es
aufzuklären und den systematischen Ort der Lebenswelt-Thematik
in der transzendentalen Phänomenologie wieder zu verdeutlichen,
macht die Schwierigkeit seines Unternehmens verständlich.
Das ist indes erst die Außenseite seiner Theorie der Lebenswelt.
Deren Innenseite ist die Ausarbeitung eines Begriffs von Lebens
welt, wie es ihn in der Phänomenologie immer schon hätte geben
müssen, aber faktisch nicht gegeben hat. »Das ›Lebensweltmißver
ständnis‹ ist nicht nur eine Sache der anderen und der Späteren,
[…] es ist konstitutiv für die Entstehungsbedingungen von Begriff
und Thematik, für Husserls eigene Schwierigkeiten« (LuW 17).
Um den Anfang von Theorie und phänomenologischer Philoso
phie nicht voluntaristischer Unerklärbarkeit zu überlassen, sondern
rational einsichtig zu machen, hätte Husserl zeigen müssen, wie die
Lebenswelt »als ihre immanente Konsequenz aus sich heraus« zu
so etwas führt wie theoretische Einstellung, Begriffe, Logik, Wis
senschaft. »Dies allerdings wäre die Lösung gewesen, die Husserl
auf Grund seiner genetischen Logik hätte finden können und müs
sen. Er hat sie aus Furcht vor einem Anthropologismus verfehlt«
(ThL 76 f.).
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Es ist für Blumenbergs Umgang mit Husserl signifikant, dass er,
wo immer es geht, an dessen Selbstkritik anschließt, sie aufnimmt
und weiterführt. Schon Husserls Einführung der Lebenswelt-
Thematik (in den 1920er Jahren) steht für Blumenberg »in einem
selbstkritischen Zusammenhang« (ThL 128). So geht es Blumen
berg insgesamt um die Fortsetzung des Prozesses der »autochtho
nen Selbstverdeutlichung« der Phänomenologie (LuW 30 Anm. 12)
über das von Husserl Geleistete hinaus. Denn »wie jede andere
Hauptgestalt aus der Geschichte der Philosophie ist auch Husserl
nicht die Reindarstellung der immanenten Möglichkeiten des von
ihm begründeten und geformten Denkens« (LuW 33). In Sachen
Lebenswelt führt das zu dem Vorhaben, »den immanent-systema
tischen Sollwert von ›Lebenswelt‹« zu eruieren (LuW 17). Nicht
zufällig führt Blumenberg in seine Texte eine ›ideale‹ Figur namens
»der Phänomenologe« ein. Das ist weder Husserl noch Blumen
berg, sondern, über beide hinaus, die Verkörperung des »Sollwerts«
dessen, der die Phänomenologie zur »Reindarstellung« ihrer Mög
lichkeiten führen würde. Der phänomenologisch beschreibende
Autor Blumenberg stellt sich uns nicht als isolierter Urheber neuer
Einsichten dar, sondern als verbundener, wenn nicht gar verpflich
teter Fortsetzer eines Werkes, das andere angefangen und wieder
andere weiterzuführen haben.
Ein Problem, das sich Husserl durch seine Methode der phä
nomenologischen Reduktion eingehandelt hat, bringt ihn – und
Blumenberg – in ein Konkurrenzverhältnis zu Martin Heidegger.
Reduktion bedeutet: Absehen von der Existenz der Dinge und
der Welt, um ihre Essenz, ihr Wesen, zu Gesicht zu bekommen.
Aber das war leichter gesagt als getan. Denn wer der Reduktions
vorschrift genügen wollte, musste verstanden haben, was das ist,
wovon abzusehen war: Existenz. Die Bedeutung des Wortes ›ist‹
zu klären ist Sache der Logik. Heidegger hatte mit der ›Seinsfra
ge‹ dieses Thema aufgenommen und Existenz als Seinsweise des
Daseins bestimmt. Nach Blumenberg entsprach Heideggers »Frage
nach dem ›Sinn von Sein‹ der in der Phänomenologie fälligen Frage
nach dem ›Wesen der Existenz‹« (LuW 46). So gerät Husserl mit
seinem Unternehmen, alle Fragen der Logik mit dem Anfang bei
der Lebenswelt zu beantworten, auch in der Thematik der Existenz
in eine »Rivalität« (LuW 52) mit Heideggers Existenzphilosophie.
»Die Existenz ermöglicht zu verstehen, was ›Existenz‹ bedeutet.
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[…] Das war es, was mit ›Lebenswelt‹ aufzuholen war, […] um
nicht einer Phänomenologie Raum gegen die Phänomenologie zu
lassen« (LuW 20 f., 41). Das ist es, was auch Blumenberg mit ›sei
ner‹ Lebenswelt tut.
Texte
Von grundlegender Bedeutung sind der erste Teil von Lebenszeit
und Weltzeit mit dem Titel »Das Lebensweltmißverständnis« und
der dritte Teil, der die »Urstiftung« behandelt. Wie die in dem
Band Theorie der Lebenswelt aus dem Nachlass herausgegebenen
Texte zeigen, hat sich Blumenberg kontinuierlich mit dem Thema
auseinandergesetzt. Besonders hervorzuheben sind der zuerst 1963
erschienene Aufsatz »Lebenswelt und Technisierung unter Aspek
ten der Phänomenologie«, den Blumenberg später auch in Wirk-
lichkeiten in denen wir leben aufgenommen hat (W 7-54; ThL 181-
224), sowie der zuerst auf Englisch erschienene Aufsatz »Lebenswelt
und Wirklichkeitsbegriff« aus dem Jahr 1972 (ThL 157-180). In den
anderen großen Monographien wird die Lebenswelt zumeist nicht
ausdrücklich zum Thema gemacht.
Alltägliche Lebenswelt
Lebenswelt situiert Blumenberg an drei ›Orten‹, die sich alle durch
eine Relation zur Geschichte definieren: »prähistorische, subhis
torische und posthistorische Lebenswelt« (LuW 65). Es gibt einen
Fortbestand dessen, was doch schon hinter uns liegt. Der Grund
dafür ist ein doppelter, nämlich »daß die Destruktion der Lebens
welt niemals vollendet« und »ihre Restruktion gegenläufig ständig
in Gang befindlich« ist (LuW 63 f.). Selbstverständlichkeit ist nicht
restlos verloren, und sie stellt sich immer wieder neu ein. So ist
eine »final-posthistorische« Lebenswelt denkbar, in der alles wieder
so selbstverständlich geworden wäre, wie es ehedem gewesen sein
muss.
Ungleich wichtiger aber ist die »alltäglich-subhistorische Le
benswelt« (LuW 65). Sie zu würdigen ist ein Zug gegen Heidegger.
Denn dieser hatte mit dem Gegensatz von Eigentlichkeit und All
täglichkeit Letztere in eine zwielichtige Position gebracht. So Blu
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menberg gereizt über Heideggers »Alltäglichkeit«: »Inmitten eines
von hochgestochenen Vokabeln angeschwollenen Jargons reüssierte
diese Prägung von ausgesprochener Biederkeit.« Wegen der Nähe
zu Husserls Vokabular sieht er hier die Gefahr, »daß die Lebenswelt
in ihrem kulturkritischen Gebrauch zu einer Wunschwelt degene
riert« (ThL 37 f.).
»Die Lebenswelt ist nicht identisch mit der Alltagswelt; aber die
Alltagswelt ist eine Lebenswelt« (ThL 55). Das »Lebensweltmißver
ständnis« besteht gerade auch darin, die bunte Mannigfaltigkeit
dessen, was tagein, tagaus um uns herum geschieht, mit der Le
benswelt insgesamt gleichzusetzen. »Das Erzmißverständnis«, das
der Verwechslung von Alltag und Lebenswelt zugrunde liegt, ist
eines zugunsten der materialen Fülle, des Reichtums an Inhalten.
Selbst in der Phänomenologie liegt dieses Missverständnis nahe,
wenn gedacht wird, »das Formale als das ›nur‹ solche verstoße ge
gen den Urschrei der phänomenologischen Empörung: Zu den
Sachen!« (LuW 25) Die Lebenswelt hat aber wesentlich diesen for
malen, funktionalen Charakter; sie zu thematisieren erfordert, »alle
Bezüge auf spezifische Dinglichkeiten und kulturelle Ausstattun
gen abzuschalten« (LuW 65). Die Folge ist äußerste »Dürftigkeit«:
»Kataloge von ausgezeichnetem Inventar der ›Lebenswelt‹ kann es
also nicht geben« (LuW 25, 68); sie ist »eine Welt, in der alles ge
lingt, weil alles nicht sehr viel ist« (ThL 126).
Gleichwohl gibt es die »alltäglich-subhistorische Lebenswelt«;
sie ist »unter uns (das ›unter‹ im doppelten Sinn)« (LuW 25). ›All
täglichkeit‹ kann eben auch eine Weise der Regelung des Lebens
bedeuten, die völlig dicht und selbstverständlich ist. So zu leben
heißt dann, »weiterer Regelungen nicht zu bedürfen, keine Ent
scheidungen ausstehen zu haben. Regelungsunbedürftigkeit muß
als Kennzeichen der prototypischen Lebenswelt […] angesehen
werden« (LuW 64; Hervorhebung M. S.). Was in der phänomeno
logischen Sozialphilosophie und in den phänomenologisch inspi
rierten Sozialwissenschaften als »Alltagsleben« oder »everyday life«
analysiert wird – etwa bei Alfred Schütz oder Erving Goffman, die
Blumenberg aber nie erwähnt –, zielt gleichsam auf den Grenzwert,
der philosophisch von Belang ist. »Daher ist es keinesfalls abwegig,
›Alltäglichkeit‹ als fortgeführte, mitgeführte, unterlaufende Le
bensweltlichkeit zu beschreiben« (LuW 64). Und obgleich die Le
benswelt, die für den Phänomenologen bedeutsam ist, Geschichte
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wesentlich ausschließt – sie eben nur ›vor‹, ›unter‹ oder ›nach‹ sich
hat –, nähert sich die ›Alltagsgeschichte‹ der Lebenswelt in dem
Maße, wie die Wandlungen in dieser Geschichte dem Bewusstsein
der Individuen und Generationen gleichermaßen entzogen sind.
Unser Alltagshandeln ist indes nicht allein durch unreflektierte
Handlungsabläufe bestimmt, sondern von technischen Prozessen
durchsetzt und getragen. Nun gewinnt aber die »jeder Besinnung
und jedes Zögerns unbedürftige Auslösung von Funktionen« selbst
lebensweltlichen Charakter. Diese Einsicht bewahrt die Phäno
menologie davor, das »gefällige Gegenspiel von Lebenswelt und
technischer Welt« mitzumachen (LuW 64). Diese Entgegensetzung
verkennt den Beitrag, den die Technisierung – unbeschadet ihres
Beitrags zur Destruktion von Lebenswelt – zur Wiederherstellung
und Anreicherung von Lebenswelt erbringt (→ Technik). Das
›unbedachte‹ Ingangsetzen und ›automatische‹ Ablaufen techni
scher Prozesse lässt ein stets wachsendes Segment der technischen
Welt selbstverständlich werden. Technisierung ist ein Prozess, wel
cher die »Tendenz auf finale Lebensweltlichkeit« nicht nur betreibt,
sondern auch beschleunigt (LuW 64).
Literatur
Barbara Merker, »Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Zwischen Lebenswelt
und Absolutismus der Wirklichkeit«, in: Franz Josef Wetz, Hermann
Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumen-
berg, Frankfurt/M. 1999, S. 68-98.
Philipp Stoellger, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metapho-
rologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer
Horizont, Tübingen 2000.
Manfred Sommer
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