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Visionen dichterischen

›Mündigwerdens‹:
Poetologische Perspektiven
auf Robert Musil, Rainer
Maria Rilke und Walter
Benjamin

Susan Nurmi-Schomers

MAX NIEMEYER VERLAG


Untersuchungen
zur deutschen
Literaturgeschichte
Band 134
Susan Nurmi-Schomers

Visionen dichterischen
›Mndigwerdens‹
Poetologische Perspektiven auf
Robert Musil, Rainer Maria Rilke
und Walter Benjamin

Max Niemeyer Verlag


T#bingen 2008 n
fr Solvejg, Elias und Malte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet #ber http://
dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-484-32134-2 ISSN 0083-4564

3 Max Niemeyer Verlag, T#bingen 2008


Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG
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Satz: Johanna Boy, Brennberg
Druck und EInband: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1. Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß . . . . . . . . . . . . 10


1.0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.1. Vorboten der Verwirrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
1.1.1. Törleß zwischen ›Ratio und Mystik‹ . . . . . . . . . . . . . . 13
1.1.2. Törleß zwischen Sexualität und Mystik. . . . . . . . . . . . 17
1.1.3. Törleß’ Wirklichkeit: Manifestationen ihres
Doppelgesichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.2. Stationen sexuell-epistemologischer Verwirrung:
Törleß zwischen sexueller Begierde und ›Wissbegierde‹ . . . . . 42
1.2.1. Auf dem Dachboden: Formen der Begierde . . . . . . . . 42
1.2.2. Der ›Kant-Traum‹: Törleß im Widerstreit zwischen
›Sinnlichkeit‹ und ›fremder Klugheit‹ . . . . . . . . . . . . . 51
1.2.3. Eros: Törleß’ mystischer Übungsweg . . . . . . . . . . . . . 69
1.3. Törleß’ Schlussrede im Kontext des Musilschen Oeuvres . . . 77
1.3.1. »Tote und lebendige Gedanken«: das ›Ratioïde‹
und das ›Nicht-Ratioïde‹; Analogie und Gleichnis . . . 78
1.3.2. Ulrich über einige ›Verhaltensweisen‹
des Gleichnisses: Kindheit, ›das Mondnächtige‹ . . . . . 89
1.3.3. Die »dritte Möglichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

2. Rainer Maria Rilke, Puppen und motivisch verwandte


Dichtungen; Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge . . . . . . . 106
2.0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
2.1. Kind und Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
2.1.1. Das Kind im Spannungsfeld zwischen Eins- und
Getrenntsein: Zwei Gedichtinterpretationen . . . . . . . . 107
2.1.2. ›Kinder-Ding‹ und ›Kunst-Ding‹: Rodin . . . . . . . . . . . 123
2.1.3. Puppe, Ding und ›Kunst-Ding‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
2.2. Kind und Gegenüber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

V
2.2.1. Das Gegenüber als Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
2.2.2. Die Geliebte als Gegenüber:
Zwei Gedichtinterpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
2.2.3. Zur unvollendeten Kindheitselegie:
das Judasbaum-Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
2.2.4. Zur unvollendeten Kindheitselegie: das Puppenmotiv 158
2.3. Die ›Puppenseele‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
2.3.1. Die seelische Dimension der Kindheits-Dinge . . . . . . 166
2.3.2. Metamorphosen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
2.3.3. Spiegelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
2.4. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge . . . . . . . . . . . . . 192
2.4.1. Malte im Spannungsfeld zwischen Eins- und
Getrenntsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
2.4.2. Zwischen Eins- und Getrenntsein: die Pariser
Gegenwart der Aufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
2.4.3. Hand- und Spiegelepisode in den Aufzeichnungen . . . 204
2.4.4. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn I . . . . . . . . . . . 213
2.4.5. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn II . . . . . . . . . . 222

3. Visionäre Poetologie. Perspektiven auf Robert Musil,


Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
3.0 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
3.1. Erinnerungspoetiken: Rainer Maria Rilke und
Walter Benjamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
3.1.1. Kindheitsvergegenwärtigung: Walter Benjamins
Berliner Kindheit um 1900 und gedichtete Kindheit
bei Rainer Maria Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
3.1.2. ›Poetiken der Vergegenwärtigung‹: Rilke,
Benjamin, Proust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
3.1.3. Dialektik des Vergessens – Dialektik der
Vergegenwärtigung: zum Telos Rilke’schen und
Benjamin’schen Erinnerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
3.2. Steine im Mosaik: Versuch einer Traditionsfindung . . . . . . 275
3.2.1. Rückblicke: Hölderlins (erinnerungs-)poetologisches
Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
3.2.2. Benjamins frühe Sprachkritik im Kontext
der ›kulturdialektischen Methode‹ des Spätwerks . . . . 295
3.2.3. Gefäße des Erinnerns: Rilkes Puppen aus
Proustscher / Benjamin’scher Perspektive . . . . . . . . . 306

VI
3.2.4. Zur ›Frage der Darstellung‹: Wege zum
›bildnerischen und intellektuellen Ganzen‹ . . . . . . . . . 315

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
Sekündärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

VII
VIII
Einleitung

Manch eine Apologetik der Dichtung attestiert dieser ein utopisches Po-
tential. Man beschwört das dichterische Wort als eine göttliche oder gott-
ähnliche Kraft, eine schöpferische; man lobt es als heilende oder rettende
Kraft, als harmonisierende oder versöhnende, spricht ihm eine Wirklichkeit
spiegelnde, oder gar erst erzeugende Kraft, eine Zauberkraft zu. Der Glaube
an die wie auch immer geartete Kraft bzw. Macht des Poetischen, eine
›poetische‹ Seinsweise, eine ›poetische‹ Wahrnehmungs-, Auffassungs-, Aus-
drucks-, ja Erkenntnisweise – je nach der Form, die eine solche Apologetik
annimmt – liegt den verschiedensten theoretisch formulierten Vorstellun-
gen einer utopischen Potentialität des dichterischen Wortes zu Grunde.
Diese wird aber nicht nur in der Theorie ausgelotet, sondern auch in der
Dichtung selbst. Nicht von ungefähr erfolgt Reflexion über Dichtung in
der Dichtung – und das heißt in streng poetologischem Sinne in Form
von Dichtung – häufig dort, wo dieser eine besonders große Wirkkraft
bescheinigt wird: seit dem Sturm und Drang immer wieder, bei Hölderlin
etwa, in der Romantik (wohl nirgends so häufig wie dort). Allerdings findet
auch das Gegenteil einer solchen Zuversicht in der Kraft, ja der Macht
des dichterischen Wortes poetologischen Ausdruck: Vor dem Hintergrund
des Holocaust etwa sind Urteile über die Wirkungslosigkeit, die Unan-
gemessenheit oder gar ›Unanständigkeit‹ des dichterischen Wortes gefällt
worden. In die Entstehungszeit des Musil’schen und Rilke’schen Oeuvres
fällt die Sprachkrise von Hofmannsthals fiktivem Lord Chandos, dessen
›Epoche machender‹ Brief die Aporie einer Dichtung zwischen Macht und
Ohnmacht der Sprache darlegt, – wenn nicht zu sagen, vorführt, bedient
sich der Briefschreiber doch einer eindringlichen poetischen Sprache, um
seine Sprachnot in Worte zu fassen. Dieser Brief verbindet – für das frühe
20. Jahrhundert paradigmatisch – die beiden Komponenten einer poeto-
logischen Dichtung, nämlich das diskursive Reflektieren über Sprache und
Dichtung in der Dichtung, und dichterische Selbstreflexion in genuin poe-
tischer Gestalt: in der Fiktion, in Metaphern, in Gleichnissen und anderen
der Dichtung zur Verfügung stehenden, ihr eigentümlichen Mitteln, die

1
auf das ihnen innewohnende Moment der dichterischen Selbstreferentiali-
tät oft nicht explizit verweisen.
Beide in dieser Arbeit zunächst fokussierten Dichter sind in diese lange,
hier nur an Hand von Einzelmomenten skizzierte Tradition einer poeto-
logischen Dichtung einzureihen insofern (aber nicht nur), als sie in dis-
kursiver wie poetischer Form über die Aufgabe bzw. dieses Potential der
Dichtung reflektieren. Das Besondere an ihrer Poetologie liegt aber in der
geradezu programmatischen Betonung der Bedeutung von Entwicklung:
der Entwicklung nämlich, die vollzogen werden muss, um diese Aufgabe
zu erfüllen. Die zwei Hauptkomponenten dieser in starkem Maße poeto-
logischen Dichtung scheinen sich gegenseitig zu bedingen: Der dichterisch
formulierte Entwicklungsgedanke determiniert ein Stück weit die ›Bestim-
mung‹, die Dichtung jeweils erhält, und umgekehrt prägt das jeweilige
Dichtungsverständnis das dichterisch beschworene dichterische Entwick-
lungsideal. Nicht zuletzt durch die Koppelung des einen mit dem anderen
Gegenstand poetologischer Reflexion erhalten die in Musils und Rilkes
Werken evozierten Visionen dichterischen ›Mündig-Werdens‹ teleologi-
schen Charakter: Das Dichtungsideal, dem man sich jeweils verschreibt,
erscheint als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der wiederum im Zei-
chen eines bestimmten Telos steht.
Signifikanterweise weisen die hier behandelten Werke bemerkenswerte
Affinitäten zu Traditionen visionären Dichtens und Denkens im weites-
ten Sinne des Wortes auf. Diese betreffen einerseits die Struktur des Ent-
wicklungsgedankens, der einer jeden solchen ›Tradition‹ innewohnt – als
Konstituens ihrer visionären Ausrichtung –, und andererseits die Vision,
die jede hier erörterte Dichtung auf eigene Weise formuliert: eine wie auch
immer geartete Einheitsvision. In dieser Vision gründet denn auch ein we-
sentliches Moment der bemerkenswerten Affinität zwischen Robert Musil
und Rainer Maria Rilke. Das Exponieren der Dichtung als Instrument, sie
in Erfüllung gehen zu lassen: hierin besteht die Apologetik der Dichtung,
die hier Ausdruck findet.
Hier wird es also weniger um die ›Existenzberechtigung‹ der Dich-
tung an sich gehen. Wie der Titel dieser Arbeit signalisiert, richtet sich
das Augenmerk vielmehr darauf, wie Dichtung diesen beiden Autoren zu
Folge überhaupt erst entstehen kann, – Dichtung, die ihr volles, ihr mit
allem Nachdruck attestierte utopisches Potential realisiert. Die Aufgabe
besteht zunächst darin, Entwicklungsparadigmen zu identifizieren, die dem
dichterischen Wort eine teleologische Dimension verleihen and dabei Weg
und Ziel dichterischen ›Mündig-Werdens‹ im Sinne eines gewissen dichte-

2
rischen (Selbst)-Verständnisses und – um vorzugreifen – eines auf partiku-
läre Weise erhobenen Universalitätsanspruchs vorschreiben. Wohlgemerkt
erhalten die poetologischen Dichtungen, die solche Paradigmen entwerfen,
gleichermaßen eine ›vor-schreibende‹ Funktion: Im Laufe der poetologisch-
poetischen Reflexion ›findet‹ das Telos erst Ausdruck; es entfaltet sich erst
in Folge eines Entwicklungsprozesses, an dessen Ende das interpretatorisch
zu erschließende Entwicklungsparadigma Anspruch auf quasi-universelle
Gültigkeit erhebt. Diese Dynamik soll im Gang der Interpretation offen-
gelegt werden.
Diese Arbeit wird sich also zunächst mit Werken von Robert Mu-
sil und Rainer Maria Rilke befassen, die solche Entwicklungsparadigmen
entwerfen und diese in Hinblick auf ihre Implikationen für poetologische
Sinnbezüge betrachten. Es gilt, wichtige Konstituenten der klassischen
Moderne – sofern sie von diesen Autoren vertreten wird – auszumachen
und zugleich zu erkunden, inwiefern diese Texte gewisse literarisch-geistige
Traditionen ›fortschreiben‹. Gerade das Aufspüren einer visionär zu nen-
nenden Poetologie im Musil’schen und Rilke’schen Werk wirft die Frage
nach einer etwaigen Traditionsverbundenheit auf, die der kritischen Be-
leuchtung bedarf.
Allerdings kann der Versuch, Rilkes und Musils Oeuvre im Sinne der
Leitthesen dieser Arbeit literarisch und ideengeschichtlich zu kontextuali-
sieren, ohne die intensive Auseinandersetzung mit Texten, die sich nicht
ohne weiteres der Interpretation erschließen, kaum gelingen. Als besonders
wichtig erweist sich eingehende Deutungsarbeit dort, wo der aufzudecken-
de poetologische Gehalt sich nicht in diskursiver, sondern in ›uneigent-
licher‹ Weise artikuliert. In Robert Musils Roman Die Verwirrungen des
Zöglings Törleß kommen beide Aspekte einer selbstreflexiven Dichtung zum
Vorschein, ja sie vermischen sich zum Teil auf sehr reizvolle Weise. Eine
Hauptaufgabe meiner Interpretation bestand darin, die zwei Dimensionen
eines poetologischen Sprechens in Musils Roman – das Diskursive und das
in ›rein‹ poetischer Weise sich Vermittelnde – in Bezug zu setzen.
Die Form, die Entwicklung in Musils Verwirrungen annimmt, ist be-
merkenswert. Paradoxerweise zeigt sie sich im wesentlichen in einer einzi-
gen, in der Adoleszenzzeit angesiedelten Episode. Die Eigenwilligkeit, die
Partikularität der Darstellung in diesem im weitesten Sinne des Wortes als
›Entwicklungsroman‹ zu bezeichnenden Werk besteht nicht zuletzt darin,
dass Musils ›großes‹ Thema (das im später verfassten Mann ohne Eigen-
schaften einen weit größeren Raum beansprucht als hier) schon Ausdruck
findet in dieser prägnanten Episode. Dies macht wohl die ›List‹ aus, von

3
der in Robert Musils Kommentar zum Roman die Rede ist. Als solche
bezeichnet Musil nämlich seinen Protagonisten: Törleß sei, so der Autor,
»[v]erhältnismäßig einfaches und darum bildsames Material für die Gestal-
tung von seelischen Zusammenhängen, die im Erwachsenen durch zuviel
andres kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt«. (8, 997).1 Nimmt
man das Wort von ›seelischen Zusammenhängen‹ wörtlich, so kann man es
auf die Form, die Musils ›großes Thema‹ hier erhält, beziehen: Der Dualis-
mus zweier Erkenntnisprinzipien bzw. zweier Weisen, in der Welt zu sein,
der ›eingefasst‹ wird in der doppelgliedrigen Formel des ›Ratioïden‹ und
des ›Nicht-Ratioïden‹, manifestiert sich in dieser Entwicklungsgeschichte in
Form einer Verschränkung sexueller und epistemologischer ›Verwirrungen‹
– so die These, die ich im Folgenden an Hand einer eingehenden Interpre-
tation des Romans erörtern werde. Als ›List‹, die sich aus der Dynamik ei-
nes bestimmten krisenhaften, weil im Zeichen einer in mehrfachem Sinne
›doppelgesichtigen Wirklichkeit‹ stehenden Entwicklungsmoments speist,
erhält Törleß, wenn man so will, epische Größe. Er nimmt es mit den
großen Themen auf, die auch Ulrich immer wieder beschäftigen werden.
Seine Geschichte ist jedoch weniger eine Erfahrungs- als vielmehr eine
Erkundungsgeschichte, in der die Struktur des seine Welt, seine Wirklich-
keit bestimmenden Dualismus gewissermaßen phänomenologisch erforscht
wird.
Versteht man Musils Roman – wie dieser ihn an einer Stelle bezeich-
net – als »Bildungsroman einer Idee«2, so kann Törleß’ ›Diagnose‹ einer
doppelgesichtigen Wirklichkeit als die Idee identifiziert werden, die zum
Gegenstand dieses ›Bildungsromans‹ im Musil’schen Sinne wird. Hierin
kommt eine Eigenart der Musil’schen Auseinandersetzung mit dem oben
genannten Einheitsgedanken – als Antwort auf den von Törleß diagnos-
tizierten Dualismus – zum Ausdruck, nämlich eine ausgeprägte Tendenz
zum Essayistischen, zur ›Gedankenprosa‹, die die Verwirrungen in große
Nähe zu einigen thematisch verwandten Essays rücken lässt; diese werden
denn auch für meine Interpretation des Romans herangezogen. Aber in
dem Maße, in dem dieser Roman über das Essayistische – und sei es noch
so kunstvoll ausgeführt – hinausgeht, wird er zu mehr als einer reinen
›Ideengeschichte‹, auch zu mehr als einer vom Akt der phänomenologi-
schen Reflexion determinierten Erkundungsgeschichte. In der ›List‹, von

1 Robert Musil, Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Ham-
burg 1978, Bd. 8, 996f.
2 Werke 7, 831.

4
der Musils Selbstkommentar spricht, will heißen: in der kunstvollen Ver-
schränkung von Törleß’ sexuellen und epistemologischen ›Verwirrungen‹,
wie sie im fiktiven Geschehen des Romans eingebettet erscheinen, liegt
die Kunst, die den Deutungswillen herausfordert. Diese Untersuchung
wird sich aber nicht auf Musils ersten Roman und die für seine Deutung
relevanten Essays beschränken. Gerade auf Grund der großen Affinität
zwischen dem kleinen Prosawerk, das hier im Mittelpunkt steht, und dem
großen, unvollendeten, in dem ein Erwachsener an die Stelle der ›relativ
einfachen‹, ›bildsamen‹ Gestalt des Adoleszenten tritt, wird zum Grund-
sätzlichen auch der große ›Entwurf‹ einbezogen. Unter anderem sind im
Kontext dieser Arbeit Ulrichs Kindheitserinnerungen von Bedeutung; als
nicht minder aufschlussreich erweist sich seine Gleichnistheorie, die in
einem ganz besonderen Bezug steht zu der Frage nach der Form, die Ent-
wicklung im Werk dieses Autors annimmt.
Der poetologische Gehalt Rilke’scher Dichtung ist weitaus weniger im
Diskursiven zu suchen als die Musil’sche, erfolgt dichterische Selbstrefle-
xion bei diesem Autor doch vornehmlich in der Weise des ›uneigentli-
chen‹, dabei höchst eindringlichen poetischen Sprechens. Das zeigt meine
Auseinandersetzung mit den zwei Texten, die im Zentrum dieser Arbeit
stehen: der Essay Puppen und Rilkes einziges längeres Prosawerk, Die Auf-
zeichnungen des Malte Laurids Brigge. Aber auch die anderen Dichtungen,
die zum Gegenstand meiner Rilke-Interpretation werden, unterscheiden
sich in vielerlei Hinsicht von den hier interpretierten Werken Robert
Musils. Die Untersuchung setzt bei der Interpretation einer Reihe von
Gedichten an, darunter »Vor Weihnachten« und »Requiem auf den Tod
eines Knaben«, in denen eine Dialektik von »Eins- und Getrenntsein« in
ganz unterschiedlicher Gestalt zum Vorschein kommt, – dies die Struktur,
die ein jedes der hier behandelten Werke Rilkes prägt, so auch eine Reihe
von Dichtungen, in deren Mittelpunkt die Figur der Puppe steht, der
Rilke den bereits erwähnten Essay mit dem lakonischen Titel widmete.
Dieser Essay, der trotz seines Reichtums an werkimmanenten Bezügen
bisher wenig Beachtung gefunden hat, offenbart bei näherer Analyse seine
weitreichende Bedeutung für zentrale ›Rilke’sche‹ Themen und Paradig-
men. Nicht zuletzt die bereits erwähnte dialektische Struktur, die sich aus
Rilkes ausgeprägtem Polaritätsdenken speist, manifestiert sich in der ›Phä-
nomenologie‹ der Puppe auf eindringliche Weise. Was dieses Phänomen
birgt, wird unter Bezugnahme auf die verschiedensten, in diesem Zusam-
menhang bedeutsamen Dichtungen ›aufgedeckt‹, darunter einige, die sich
mit ›Kinder-Dingen‹ befassen. Aber es gibt auch andere, mit diesem Essay

5
motivisch verwandte Dichtungen, – nicht zuletzt die unvollendete Kind-
heitselegie –, die im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit erhellend
sind. Erst das Lesen dieser Texte als aufeinander verweisender Dichtungen
fördert die vielen ›intratextuellen‹ Bezüge und damit auch den ›Sinn‹ der
›Gesamttextur‹ zu Tage. In der Erschließung solcher weit verästelten, ein
differenziertes Verständnis des Puppenessays ermöglichenden motivischen
Zusammenhänge besteht, wie ich meine, eine zentrale Leistung dieser Ar-
beit, erweist sich dieser bis dato wenig gelesene Essay letztlich – so meine
These – als der verborgene Kern Rilke’scher Poetologie. Im Puppenessay
erfolgt Entwicklung in Form der sich wandelnden Beziehung des Kindes
zur Puppe und der des Erwachsenen zu dem ›aufgewachsenen‹ Spielzeug,
wobei die seinerzeit sehr bekannten Wachspuppen von Lotte Pritzel als
Inspirationsquelle für den Essay dienten. Wie sich der Pritzel-Verehrer in
einem Brief bekennt, habe der »unter dem Vorwand einer Puppenerinne-
rung« geschriebene Essay »vom Ureigensten« gehandelt.3
Die Bezüge, die sich wiederum zwischen dem Puppenessay und Rilkes
Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge herstellen lassen, – dies auch ein
Werk, in dem die Erfahrung von ›Eins- und Getrenntsein‹ im Zentrum
steht –, verleihen Rilkes brieflichem Bekenntnis poetische Glaubwürdig-
keit. Eine wesentliche Affinität zwischen diesen beiden Dichtungen besteht
in der ähnlichen Einheitsvision und der Bedeutung, die der Dichtung –
als Ergebnis eines seitens des Dichtenden zu vollziehenden Entwicklungs-
prozesses – für die Erfüllung dieser Vision zukommt. Der poetologische
Gehalt der Aufzeichnungen gelangt teils im Gestus diskursiven Reflektierens
über die eigene dichterische Entwicklung des Aufzeichnenden zum Aus-
druck, teils in Form von poetisch durchdrungenen Visionen und Gleich-
nissen, die – wie die mehr oder weniger diskursiven Reflexionen auch –
sich als interpretationsbedürftig erweisen. Der poetologische Gehalt der
vom Puppenmotiv geprägten Dichtungen artikuliert sich gleichermaßen in
Teilmomenten; erst durch das ›Zusammenlesen‹ der einzelnen Dichtungen
und Fragmente, in denen das Puppenmotiv Eingang findet, lässt er sich
kohärent erschließen, entfaltet er seine ganze Wirk- und Aussagekraft.
Im dritten Kapitel dieser Arbeit wird es darum gehen, Musils und Ril-
kes ›Visionen dichterischen Mündigwerdens‹ vor einen erweiterten Hori-
zont zu stellen, den der Blick auf Walter Benjamins Erinnerungspoetik und
die hiermit zu verknüpfende Sprach-, Erkenntnis- und Historismuskritik

3 Rainer Maria Rilke: Briefe. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung


mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim, Ffm. 1987; hier II, 464.

6
eröffnet. Benjamins Auseinandersetzung mit Erinnerung, Dichtung und
Geschichte im Kontext seiner Berliner Kindheit um 1900 und der Thesen
Über den Begriff der Geschichte sowie seine Proust-Rezeption, die sich als
Reaktion auf neue – dichterisch wie philosophisch formulierte – Theorien
über Formen und Funktionen des Erinnerns begreifen lässt, bilden den
Ausgangs- bzw. Angelpunkt für die Erforschung überraschender Affinitäten
zwischen zwei nicht ohne weiteres als wesensverwandt betrachteten Dich-
tern und Essayisten. Die unerwartete Verwandtschaft zwischen Benjamin
und Rilke, die sich bald abzeichnet, lässt sich mit der Formel ›Poetik der
Vergegenwärtigung‹ erfassen. Es gilt, ihre jeweilige Formulierung sowie die
mit ihr verbundenen Visionen zu beleuchten.
Die erweiterte Kontextualisierung der hier untersuchten Werke setzt
sich im zweiten Teil des dritten – und zugleich letzten – Kapitels dieser Ar-
beit fort. Hier wird der Versuch unternommen, die zunehmend komplexen
Zusammenhänge zwischen Dichtern und Dichtungen und den darin zum
Ausdruck gelangenden visionären Poetologien zu benennen und erforschen
im Sinne einer mehrdimensionalen (aber gezwungenermaßen punktuellen
und kursorischen) ›Traditionsfindung‹, wobei diese Formel einerseits auf
die Etablierung sowie das Fortschreiben einer wie auch immer gearteten
Tradition seitens der hier behandelten Dichter gemünzt ist, sich anderer-
seits jedoch auf die zuletzt gestellte Aufgabe dieser Arbeit bezieht: das ›Zu-
sammentragen‹ von Momenten einer in Folge der Interpretationsarbeit sich
herauskristallisierenden Tradition. Die Ecksteine des hier vorgenommenen
Erkundungsprozesses bilden Friedrich Hölderlins Erinnerungspoetik und
die (post-)moderne Rezeption ihres reifen Ausdrucks in den ›Späthymnen‹
durch Benjamins Freund und Kritiker Theodor W. Adorno in seinem
programmatischen Aufsatz mit dem Titel »Parataxis. Zur späten Lyrik Höl-
derlins«. Diese ›Kampfschrift‹ soll hier als eine Art Katalysator dienen für
die Auseinandersetzung mit bei Musil, Rilke und Benjamin entdeckten
Tendenzen zur Anknüpfung an eine große poetologische Tradition sowie
dem ästhetischen Erneuerungswillen, den das jeweilige Werk vor diesem
Hintergrund in je unterschiedlicher Weise an den Tag legt.
Hierbei verdichtet sich das Bild einer auf Ganzheit gerichteten visionä-
ren Poetologie: ein Bild, das die Erinnerungspoetiken Hölderlins, Rilkes
und Benjamins zu Aspekten der besagten ›nachzustiftenden‹ Tradition zu-
sammenfügt. Um ihre Konturen zu schärfen, wird die auf das Thema dieser
Arbeit enggeführte Beschäftigung mit Hölderlins Poetik des Erinnerns als
traditionsstiftendem Moment und ihrer ›späten‹ Rezeption durch Adorno
um zwei weitere Hölderlin-Exegesen ergänzt: Jochen Schmidts Studie mit

7
dem Titel Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. »Friedensfeier« – »Der
Einzige« – »Patmos«4 und Eric L. Santners Friedrich Hölderlin. Narrative
Vigilance and the Poetic Imagination.5 Aus den drei teils opponierenden, teils
gleichgesinnten, sich auf jeden Fall gegenseitig ergänzenden – und beleuch-
tenden – Lesarten entsteht ein multi-perspektivischer Blick auf Hölderlin,
der einen fruchtbaren Bezugsrahmen für abschließende Einsichten in poe-
tologische Visionen bzw. visionäre Poetologien liefert. Schmidt präsentiert
eine präzise Reformulierung der idealistischen Lesart Hölderlin’scher Spät-
hymnik, gegen die Adorno mit (post-)modernem Bewusstsein ›anschreibt‹;
Santner wiederum setzt dieser Interpretation eine alternative, von neuen
Prämissen ausgehende entgegen. Der ›Exegetenstreit‹, der sich aus der
Gegenüberstellung dieser drei Deutungsansätze formulieren lässt, liefert
wesentliche Kategorien für die Auseinandersetzung mit Rilke und Ben-
jamin, aber auch Musil, wobei Benjamin, als Fortschreiber und zugleich
Überwindenwollender der besagten visionär-poetologischen Tradition, ei-
ne nicht auflösbare Ambivalenz an den Tag legt: Der Bestrebung nach
einer Totalität schaffenden Erinnerungspoetik sowie nach einer Ganzheit
verheißenden essayistisch-dichterischen Form – die als Zwitterform sich
bereits synthesewillig zeigt – steht Benjamins Historismuskritik und die
Formulierung der mit ihr einhergehenden ›kulturdialektischen Methode‹
entgegen, die nicht zuletzt als Mittel gegen das nach Totalität strebende
Systemdenken der idealistischen Tradition dargeboten wird.
Indem Adorno ganz im Sinne eines solch ›methodischen‹ Bemühens
gegen das als idealistisch zu bezeichnende Dichtungs- und Geschichts-
verständnis angeht, das Hölderlins späten Hymnen bis heute ein- bzw.
zugeschrieben wird, bietet sein nicht zuletzt zu heuristischen Zwecken her-
angezogener Hölderlin-Aufsatz einen fruchtbaren und spannungsreichen
Ausgangspunkt für die Ortung der drei hier zu untersuchenden Dichter
bezüglich eines ganzen Spektrums an epochenspezifischen und, wie die
Untersuchung vornehmlich zeigen will, in starkem Maße verschränkten
Themen. Dieses Spektrum reicht von poetischen Formen und Funktionen
des Erinnerns über Sprach-, Erkenntnis- und Historismuskritik bis hin
zur ›Frage der Darstellung‹, wie diese sich insbesondere bei Musil und
Benjamin stellt. Um mit Letzterem zu reden, sucht der abschließende,
gewissermaßen rondohaft angelegte Teil dieser Arbeit, ein ›intellektuelles
und bildnerisches Ganzes‹ zu entwerfen im Sinne der hier vorgenommenen

4 Darmstadt 1990.
5 New Brunswick 1986.

8
›Traditionsfindung‹. Diese umfasst mehrere Momente: im Hinblick auf die
hier zu untersuchenden Dichter die hypostasierte ›Einfindung‹ in eine (er-
innerungs-)poetologische Tradition und die ›Er-findung‹ neuer, visionärer
Poetologien; auf Seite der Verfasserin das Ausfindigmachen vielschichtiger
bedeutsamer Affinitäten mittels der hier dargelegten Lese- und Gedanken-
gänge, die versuchen, die Konturen einer noch ›freizulegenden‹ Tradition
zu umreißen.

9
1. Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

1.0. Einleitung

Vordergründig stellt Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß (1910)


eine Art Entwicklungsroman dar: einen, wohlgemerkt, der sich auf eine
Schlüsselepisode im Reifeprozess des Protagonisten und die hiermit ver-
knüpften ›Momente der Verwirrung‹ fokussiert. Diese ›Momentaufnahme‹
eines ›verwirrten‹ Adoleszenten liefert die Perspektive, aus der die zurück-
gelegte sowie die anvisierte – dichterische – Entwicklung des Zöglings an-
gezeigt wird. Aber der Roman will mehr: Er wird bald zum Vehikel einer
umfassenden erkenntniskritischen Auseinandersetzung, die über Törleß’
eigene, lebensaltersspezifische und situationsbedingte ›Verwirrungen‹ weit
hinausweist. Dies besagt tendenziell schon der Kommentar des Autors zu
seiner Gestalt. Wie dieser schreibt:

Der Sechzehnjährige […] ist eine List. Verhältnismäßig einfaches und darum
bildsames Material für die Gestaltung von seelischen Zusammenhängen, die im
Erwachsenen durch zuviel andres kompliziert sind, was hier ausgeschaltet bleibt.
Ein Zustand hemmungsschwacher Reagibilität. Aber die Darstellung eines Un-
fertigen, Versuchenden und Versuchten ist natürlich nicht selbst das Problem,
sondern bloß Mittel, um das zu gestalten oder anzudeuten, was in diesem Un-
fertigen unfertig ist. Sie und alle Psychologie in der Kunst ist nur der Wagen,
in dem man fährt; […]. (8, 997)1

Allerdings ist bei derartigen Selbstkommentaren2 Vorsicht geboten. Und


in der Tat: So austauschbar, wie Musil meint, dürfte das gewählte Sujet

1 Robert Musil: Gesammelte Werke. Hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg
1978, Bd. 8, 996f. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Band- und Sei-
tenzahl der zitierten Passagen aus den Essays und Reden sowie aus dem Mann ohne
Eigenschaften stehen hinter der zitierten Passage in Klammern. Die hier zitierten
Passagen aus den Verwirrungen des Zöglings Törleß (in Band 6 dieser Ausgabe)
werden lediglich mit der in Klammern gesetzten Seitenzahl versehen.
2 Weitere Selbstkommentare Musils zu den Verwirrungen sind in den Tagebüchern
zu finden. In: Robert Musil: Tagebücher; Aphorismen, Essays und Reden. Hrsg.

10
als Mittel zum erklärten Zweck nicht sein, zeigt sich doch die in den Ver-
wirrungen ausgetragene Auseinandersetzung auf so enge Weise mit Törleß’
situations- und altersspezifischen ›Verwirrungen‹ verstrickt, dass man in
Törleß kein so beliebiges Vehikel sehen darf, keinen so beliebigen ›Wagen,
in dem man fährt‹.
Gegenstand dieser im Mann ohne Eigenschaften erneut aufgegriffenen
Auseinandersetzung, – dort facettenreich beleuchtet und vertieft –, ist der
von Elisabeth Albertsen auf den Begriff gebrachte Dualismus von ›Ratio
und Mystik‹,3 in denen Musil die »Pole der Zeit« sah (Tb 237), und die
Möglichkeit einer Überwindung dieses Dualismus durch eine ›heil-volle‹
Versöhnung der konträren Erkenntnismodi und -ziele, die diese beiden
›Pole‹ bestimmen.4 Wenn man Musils geistigen Standort auf der Werkstufe
der Verwirrungen ›zwischen Mach und Maeterlinck‹ ansiedelt – so eine
weitere, auf sein Werk gemünzte Formel5 –, bringt man auf anschauliche
Weise den, man muss fast sagen, unfreiwillig dualistischen Charakter seines
Denkens zum Ausdruck, der sich im von Törleß geführten Kampf mit
dem ›Doppelsinn‹ der Wirklichkeit widerspiegelt: Während Ernst Mach
hier als Vertreter eines radikal positivistischen Zeitgeists herhalten muss,6
dient Maurice Maeterlinck als Verkörperung eines ›mystischen‹.7 Musils
dualistische Sicht auf die Wirklichkeit kommt in der Konstatierung zwei-

von Adolf Frisé, Hamburg 1976. Im Folgenden werden die Seitenzahlen der
aus den Tagebüchern zitierten Passagen anschließend an die zitierte Passage in
Klammern nach der Kürzel »Tb« angeführt. Siehe in diesem Zusammenhang
unter anderem Tb 143, Tb 171f. und Tb 216.
3 Elisabeth Albertsen: Ratio und ›Mystik‹ im Werk Robert Musils, München
1968, 11.
4 Den epochenspezifischen Charakter eines solchen Dualismus thematisieren u.a.
Roger Willemsen und Wolfdietrich Rasch. Siehe Roger Willemsen: Das Exi-
stenzrecht der Dichtung. Zur Rekonstruktion einer systematischen Literatur-
theorie im Werk Robert Musils, München 1984, 31, und Wolfdietrich Rasch:
»Der Mann ohne Eigenschaften. Eine Interpretation des Romans«. In: Renate v.
Heydebrand (Hrsg.): Robert Musil, Darmstadt 1982, 54–119, hier 71.
5 Jan Aler: »Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach. Robert Musils litera-
risch-philosophische Anfänge«. In: Fritz Martini (Hrsg.): Probleme des Erzäh-
lens in der Weltliteratur. Festschrift für Käte Hamburger zum 75. Geburtstag,
Stuttgart 1971, 266–290.
6 Musil promovierte mit einer Untersuchung über Mach. Die 1908 fertiggestellte
Arbeit trägt den Titel Beiträge zur Beurteilung der Lehren Machs.
7 Es ist wichtig hervorzuheben, dass Musil keineswegs Machs Wissenschaftsver-
ständnis pauschal ablehnt. Vielmehr bezieht sich seine Kritik darauf, dass Mach
Teilwahrheiten zu einem allumfassenden Denksystem erhebt. Vgl. Yvon Des-
portes: »Vergleichende Untersuchungen eines Stils und einer Philosophie: Ein
Werk Musils aus der Sicht Machs«. In: Renate v. Heydebrand (Hrsg.): Robert

11
er entgegengesetzter Erkenntnisprinzipien zum Ausdruck: eines ›ratioïden‹
und eines ›nicht-ratioïden‹. Um diese polaren Termini strukturiert sich
Musil’sche Erkenntniskritik, wie sie sich in den Verwirrungen wie im Mann
ohne Eigenschaften artikuliert. Der Widerstreit zwischen den opponierenden
Erkenntnismodi, zwischen den ›Wirklichkeiten‹, die sie ›auf den Begriff
bringen‹, liegt Törleß’ ›Verwirrungen‹ zu Grunde. Hieraus resultieren die
epistemologischen und ästhetischen Probleme, mit denen der Verwirrte
sich in verschiedentlicher Weise auseinandersetzt.
Genau genommen kommt Törleß bei seinem fortwährenden Ringen
mit diesen Problemen – dargelegt zuletzt in aller diskursiver Ausführlich-
keit in seiner Rede vor dem Lehrerkollegium am Ende des Romans – zu
keiner auch nur vorläufigen Lösung. Er benennt lediglich die ›Fronten‹,
schafft erst das Problembewusstein, legt das Fundament für weiterführende
essayistisch-dichterische Reflexionen. Erst Ulrichs ›reifere‹ Auseinanderset-
zung mit den von Törleß offen gelassenen Fragen, die nicht zuletzt im
Rahmen seiner ›Gleichnistheorie‹ neu formuliert werden, zeigen nämlich,
wohin die Musil’sche Diskussion um Wege aus einem starren Dualismus
letztlich führt. Aus diesem Grund wird der letzte Abschnitt dieser Unter-
suchung die von Törleß in seiner Schlussrede vor dem Lehrerkollegium
zur Sprache gebrachten Themen in den Kontext von Ulrichs vielfältigen
Ausführungen über das Gleichnis stellen, wodurch auch der thematisch
enge Bezug zwischen Musils Erstlingsroman und seinem unvollendeten
Lebenswerk evident wird.8 Aber Törleß leistet nicht nur die ›Vorarbeit‹,
auf der Ulrich im späteren Werk aufbauen wird, um zu einer zumindest
vorläufigen Antwort auf die Musil’sche Grundfrage zu kommen. Es wäre
verkürzt, Törleß (nur) als etwas unbeholfenen Vorreiter Ulrichs zu sehen,
denn es erweist sich als bedeutsam, dass die besagte erkenntnistheoreti-

Musil, Darmstadt 1982, 281–295, hier 287, und Aler: Zögling zwischen Maeter-
linck und Mach, 238.
8 In Hinblick auf das Verhältnis zwischen beiden Romanen vgl. Musils Brief
an Viktor Zuckerkandl (den Lektor im Hermann-Fischer Verlag, auf den die
Rechte auf den Mann ohne Eigenschaften übertragen worden waren) aus dem
Jahre 1938, der rückblickend konstatiert: »[…] das Werk […] und das ist nicht
der M.o.E. allein, sondern in einem eigentlich nur unwesentlich geringeren
Grade gehören auch der Törleß, die Vereinigungen und die Schwärmer dazu,
nebenbei die drei Frauen, die Dummheit und die Rilkerede. Das ist nicht altes
Eigentum, das einer ungern wegwirft, das sind auch nicht Stationen meiner
Dichtung, sondern ihre Teile, aus denen sich eine Auffassung der Dichtung
aufbaut […].« (Zitiert in Ernst Kaiser/ Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine
Einführung in das Werk, Stuttgart 1962, 72.)

12
sche Grundfrage zunächst im Kontext von Törleß’ spezifischer Situation
gestellt wird: der Situation eines Menschen, der fast noch Kind, aber auch
schon fast erwachsen ist. So gehen die ersten beiden Abschnitte dieser
Untersuchung der Frage nach, welche Relevanz Törleß’ altersspezifische
Lebenssituation für diese in Form von ›Verwirrungen‹ formulierte Grund-
frage letztlich erhält, und das will heißen: inwiefern der Sechzehnjährige
vielleicht doch keine ›List‹ darstellt.

1.1. Vorboten der Verwirrungen

1.1.1. Törleß zwischen ›Ratio und Mystik‹


Schon in den ersten Seiten der Verwirrungen manifestiert sich in aller Deut-
lichkeit der Dualismus zwischen ›Ratio und Mystik‹, der Törleß im Verlauf
des Romans so stark beschäftigen wird. Die beiden ersten Erzähleinheiten,
die Abschiedsszene am Bahnhof und der vom Erzähler gelieferte Rück-
blick auf Törleß’ früheres Heimweh, inszenieren gewissermaßen die Kon-
trapunktik zweier opponierender Weltbilder, deren zumindest vorläufige
Unversöhnbarkeit Törleß’ ›Verwirrungen‹ auslösen wird. Die einleitende
Passage des Romans dient dazu, Törleß’ emotional-geistige Situation zu
Beginn seiner ›Verwirrungen‹ szenisch und sprachlich zu veranschaulichen.
Die Szenerie des Geschehens wird zum Ausdruck der inneren Verfassung
des Verwirrten. Wie es heißt, haben für Törleß »Gegenstände und Men-
schen […] etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich […]« (7).
Dieses Gefühl drückt sich auch in der Statik und Unpersönlichkeit des
Erzählgestus im ersten Absatz aus, und es schlägt sich zudem im homo-
genen, und dadurch monoton wirkenden Sprachrhythmus nieder, erzeugt
vor allem durch die parataktische Grundstruktur der Textpassage und
die Parallelkonstruktionen: »Machten es diese traurigen Farben, machte
es das bleiche, kraftlose […] Licht […]«; »[v]on Zeit zu Zeit […] trat
der Bahnhofsvorstand aus seinem Amtszimmer heraus, sah mit der glei-
chen Wendung des Kopfes die weite Strecke hinauf […], zog […] so-
dann seine Taschenuhr hervor, schüttelte den Kopf, […] verschwand.«
(7) Dieser Sprachstruktur entspricht die Optik der Szene. Diese wird von
»vier parallele[n] Eisenstränge[n]« beherrscht, zu denen weitere Parallel-
linien hinzukommen in Form der »von dem Abdampfe in den Boden
gebrannte[n]« Striche (7) an deren Seite. Die zur Bahnhofsrampe führende
Straße und die Reihen von ›traurigen‹ Akazienbäumen setzen das optische
Motiv fort. Dazu der »breite[…], festgestampfte[…] Streifen zwischen

13
Schienenstrang und Gebäude« (7). Auf diese Weise stilisiert sich die Sze-
nerie zu einem leblosen Raster; alles ist »schmutzig«, »dunkel«, »bleich«,
»kraftlos«. Der Boden um die Straße herum ist »zertreten«, und auch der
Streifen, auf dem die Menschen promenieren, ist »festgestampft«; all dies
zeigt etwas ›Festgefahrenes‹ im übertragenen Sinne an.
Kontrapunktisch hierzu der anschließende Bericht von Törleß’ an-
fänglichem, »fürchterlichem, leidenschaftlichem Heimweh« (8), das er
in Briefen an die Eltern thematisiert hatte. Die Vorgänge jener inneren
Welt, die Törleß im Akt des Briefeschreibens erschafft – wie es heißt,
»(hob sich etwas) wie eine Insel voll wunderbarer Sonnen und Farben
[…] in ihm aus dem Meer grauer Empfindungen heraus, das ihn Tag um
Tag kalt und gleichgültig umdrängte« (8f.) –, werden denn auch mit dem
»schattenhafte[n], bedeutungslose[n] Geschehen im Internat kontrastiert,
das Törleß als »gleichgültige Stationen wie die Stundenziffern eines Uhr-
blattes« (8) erlebt. Während die Uhr – als mechanistisches Messinstru-
ment – den ›ratioïden‹ Erkenntnismodus repräsentiert, stehen die Briefe
im Dienste eines ›nicht-ratioïden‹ Erkenntnismodus; in Törleß’ Phantasie
zumindest fungieren sie als »goldene […] Schlüssel«, mit denen er »das
Tor von wunderbaren Gärten öffnen werde«. Schließlich entzieht sich das
in diesen Schreibversuchen thematisierte Phänomen – die vermeintliche
Sehnsucht nach den Eltern – dem rationalen Zugriff, denn der eigentliche
Gegenstand dieser Sehnsucht lässt sich nicht einmal benennen. Es wird
für Törleß lediglich erkennbar, dass diese Sehnsucht etwas »viel Unbe-
stimmteres und Zusammengesetzteres« (9) darstellt, als er zunächst meinte,
»[d]enn der ›Gegenstand dieser Sehnsucht‹, das Bild seiner Eltern, war
darin eigentlich gar nicht mehr enthalten« (9), so der Erzähler. Vielmehr
erhalten die Eltern den Charakter eines Vorwands; ihr Bild – und darin
besteht seine eigentliche Funktion – rief

eine[n] grenzenlose[n] Schmerz in [Törleß] empor, dessen Sehnsucht ihn züch-


tigte und ihn doch eigenwillig festhielt, weil ihre heißen Flammen ihn zugleich
schmerzten und entzückten. Der Gedanke an seine Eltern wurde ihm hiebei
mehr und mehr zu einer bloßen Gelegenheitsursache, dieses egoistische Leiden
in sich zu erzeugen, das ihn in seinen wollüstigen Stolz einschloß wie in die
Abgeschiedenheit einer Kapelle, in der von hundert flammenden Kerzen und
von hundert Augen heiliger Bilder Weihrauch zwischen die Schmerzen der sich
selbst Geißelnden gestreut wird.--- (9)

Es handelt sich hier um eine Art ästhetisch-mystische Ekstase mit negativen


(narzisstischen) Vorzeichen, die zwar über das Bild der Eltern – als greifba-
ren ›Gegenstand der Sehnsucht‹ – ›ver-mittelt‹ wird, ihre Kraft aber offen-

14
sichtlich nicht aus diesem Bild schöpft, sondern aus einer ›höheren‹ Quelle:
Hinter Törleß’ Heimweh nach den Eltern verbirgt sich die Sehnsucht nach
›mystisch‹ zu nennender Vereinigung, wie auch immer sich diese gestal-
ten mag.9 Seine Eltern stellen nicht den eigentlichen Gegenstand seiner
Sehnsucht dar, sondern sie erhalten Vorwandcharakter. Törleß’ Erfahrung
mit dem Heimweh und die von ihm veranlassten Schreibversuche erhalten
also den Charakter einer ›mystischen‹ Vorübung, die den Schreibenden
auf ein zukünftiges, wahrlich mystisch zu nennendes Vereinigungserlebnis
vorbereiten soll.10 Insofern ist es nur allzu verständlich, dass das Nachlassen
des Heimwehs Törleß keine Erleichterung verschafft, sondern vielmehr als
Verlust erlebt wird:

Als dann sein ›Heimweh‹ weniger heftig wurde und sich allgemach verlor, zeigte
sich diese seine Art auch ziemlich deutlich. Sein Verschwinden führte nicht eine
endlich erwartete Zufriedenheit nach sich, sondern ließ in der Seele des jungen
Törleß eine Leere zurück. Und an diesem Nichts, an diesem Unausgefülltsein
in sich erkannte er, daß es nicht eine bloße Sehnsucht gewesen war, die ihm
abhanden kam, sondern etwas Positives, eine seelische Kraft, etwas, das sich in
ihm unter dem Vorwand des Schmerzes ausgeblüht hatte. (9f.)

Zwischen der ›Keimzeit‹, der Phase des von Törleß erlittenen Heimwehs
also, und einer zu erwartenden Erfüllungszeit legt sich eine Zeit der inne-
ren Leere, in der »diese Quelle einer ersten höheren Seligkeit« (10) zunächst
›versiegt‹. In dieser befindet sich Törleß zum Zeitpunkt des Romangesche-
hens:

Zu dieser Zeit verloren sich die leidenschaftlichen Spuren der im Erwachen


gewesenen Seele wieder aus seinen Briefen, und an ihre Stelle traten ausführliche
Beschreibungen des Lebens im Institute und der neugewonnenen Freunde.

9 Musil wird oft angeführt als Kardinalbeispiel für eine ›moderne‹, und das heißt
›gottlose‹ Mystik, so etwa von Hans Dieter Zimmermann in seinem Aufsatz
»Die Entstehung der Moderne aus dem Geiste der Mystik«, die – so der Un-
tertitel – »[m]ystische Tendenzen in Philosophie und Kunst eines ›atheistischen‹
Jahrhunderts« untersucht (in: Wolfgang Böhme: Mystik ohne Gott? Tendenzen
des 20. Jahrhunderts, Karlsruhe 1982, 9–58). In seinem Aufsatz mit dem Titel
»Der schauende Mensch. Ein Vergleich mystischer Erfahrung im Mittelalter
und heute« konstatiert Dieter Mieth »den Rückzug in die Form«, wobei »die
Gestalt gegen den Gehalt, die Form gegen den Inhalt reklamiert« werde (in:
Wolfgang Böhme: Mystik ohne Gott?, 71–85; hier 83). Dem entspricht zwei-
felsohne eine moderne Tendenz zur Ästhetisierung des ›Mystischen‹, auch bzw.
gerade im Werk Musils.
10 Zu Törleß’ Heimweh äußert sich Musil in den Tagebüchern. Siehe insbeson-
dere Tb 961.

15
Er selbst fühlte sich dabei verarmt und kahl, wie ein Bäumchen, das nach der
noch fruchtlosen Blüte den ersten Winter erlebt. (10)

Diese Entwicklung schlägt sich in Törleß’ Schreibversuchen nieder. Wäh-


rend zu Zeiten seines Heimwehs die Briefe an die Eltern als ›goldene
Schlüssel‹ zu ›wunderbaren Gärten‹ zelebriert wurden, schreibt Törleß
jetzt »hier und da eine kleine Erzählung«, hat, wie der Erzähler berichtet,
begonnen,

ein romantisches Epos zu dichten. In der Erregung über die Liebesleiden seiner
Helden röteten sich dann seine Wangen, seine Pulse beschleunigten sich und
seine Augen glänzten.
Wie er aber die Feder aus der Hand legte, war alles vorbei; gewissermaßen nur
in der Bewegung lebte sein Geist. Daher war es ihm auch möglich, ein Gedicht
oder eine Erzählung wann immer, auf jede Aufforderung hin, niederzuschrei-
ben. Er regte sich dabei auf, aber trotzdem nahm er es nie ganz ernst, und die
Tätigkeit erschien ihm nicht wichtig. Es ging von ihr nichts auf seine Person
über, und sie ging nicht von seiner Person aus. Er hatte nur unter irgendeinem
äußeren Zwang Empfindungen, die über das Gleichgültige hinausgingen, wie
ein Schauspieler dazu des Zwanges einer Rolle bedarf. (13)

Äußerlicher Aktivismus – »nur in der Bewegung«, nicht aber in der Kon-


templation »lebte sein Geist« – ist jetzt die Triebfeder seiner dichterischen
Versuche. Wie wichtig die Kontemplation für die ›mystische‹ Erfahrung
ist, betont Musil in den Tagebüchern sowie im Mann ohne Eigenschaften.
Die Empfindungen, die den noch kindlichen Törleß zumindest ansatzwei-
se für eine solche Erfahrung empfänglich gemacht hatten, weichen jetzt
solchen, die lediglich zu »Reaktionen des Gehirns« erklärt werden:

Das aber, was man als Charakter oder Seele, Linie oder Klangfarbe eines Men-
schen fühlt, jedenfalls dasjenige, wogegen die Gedanken, Entschlüsse und
Handlungen wenig bezeichnend, zufällig und auswechselbar erscheinen, […]
dieser letzte, unbewegliche Hintergrund, war zu jener Zeit in Törleß gänzlich
verloren gegangen. (13f.)

Dieser »letzte, unbewegliche Hintergrund« geht wohl deswegen verloren,


weil Törleß in eine ganz vom Prinzip des ›Ratioïden‹ beherrschte Welt
geraten ist, die Welt des Konvikts als Bildungsinstitution.11 Der Anfang des

11 Gabriele Dreis geht ausführlich auf Musils Schulkritik ein. Musil referierend
kontrastiert sie die »zu eindeutigen Formen gerinnende, die ›tote Pädagogik‹«
mit der »›lebendigen‹«, deren Zielperspektive es sei, »so Musil, nicht Verfesti-
gung, sondern Verhinderung jeder Verfestigung zu betreiben […]«; nicht »›das
Verwirklichen‹, vielmehr ›das Nichtverwirklichte‹ (MoE 275)« sei »als universale

16
Romans, der dem Leser diese Welt präsentiert, setzt am Krisenpunkt an: an
dem Punkt nämlich, an dem für Törleß die zuvor ›messbare‹ Welt beginnt,
ihre ›unmessbare‹ bzw. ›unermessliche‹ Dimension (wieder) zu entfalten.
Die dadurch heraufbeschworene Krise wird an Hand eines Gleichnisses
veranschaulicht. Den Weg vom Bahnhof haben die Schüler inzwischen
zurückgelegt. Am Schulort angekommen laufen sie in zwei Reihen Rich-
tung Stadt:

Törleß sah nicht rechts noch links […], – und so fühlte er es: als ob es so sein
müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese Bewegung –
Schritt für Schritt – auf dieser einen Linie, auf diesem einen schmalen Streifen,
der sich durch den Staub zog, einfing und zusammenpreßte.
Als sie an einer Kreuzung stehen blieben, wo ein zweiter Weg mit dem ihren
in einen runden, ausgetretenen Fleck zusammenfloß, und als dort ein morsch-
gewordener Wegweiser schief in die Luft hineinragte, wirkte diese, zu ihrer
Umgebung in Widerspruch stehende, Linie wie ein verzweifelter Schrei auf
Törleß. (16)

Der morsch gewordene Wegweiser scheint einen zweiten Weg zu markie-


ren, der von diesem festgetretenen abweicht.

1.1.2. Törleß zwischen Sexualität und Mystik


Wodurch wurde aber die Krise, die die ›Verwirrungen‹ dieses jungen
Zöglings ausmacht, nun ausgelöst? Meines Erachtens gibt der Text eine
eindeutige Antwort auf diese Frage. Seit der Zeit, als die »Quelle einer
ersten höheren Seligkeit« (10) versiegt war, hatte nämlich »die beginnen-
de Geschlechtsreife [angefangen], sich dunkel und allmählich in [Törleß]
emporzuheben« (12) – und zwar bis kurz vor den Punkt, an dem sexuelle
Regungen als solche wahrgenommen werden. Das Harren an der Schwelle
zum manifesten sexuellen Impuls erzeugt eine Spannung, die Törleß als
ein bald sehnsuchtsvolles, bald verängstigtes Warten auf »etwas Überra-
schendes, noch nie Gesehenes« (17) erlebt, – so Törleß’ Reaktion auf den
Anblick der derben Bauersfrauen und fast nackten Kinder, denen er und
seine Freunde auf dem Weg vom Schulort in die Stadt begegnen. Wäh-
rend die erotisch aufgeladene Atmosphäre von Törleß’ Freunden als solche
erkannt wird, bleibt Törleß im Unklaren darüber, wodurch die von ihm

Prozessorientierung« anzusehen. Gabriele Dreis: »›Ruhelose Gestaltlosigkeit des


Daseins‹. Pädagogische Studien zum ›Rousseauismus‹ im Werk Robert Musils,
München 1992, 183.

17
erlebte Spannung verursacht wurde, auch wenn er nahe daran ist, die Si-
tuation richtig zu erkennen:

Er blickte mit so brennenden Augen durch die kleinen Fenster und winkligen,
schmalen Torwege in das Innere der Häuser, daß es ihm beständig wie ein feines
Netz vor den Augen tanzte.
Fast nackte Kinder wälzten sich in dem Kot der Höfe, da und dort gab der Rock
eines arbeitenden Weibes die Kniekehlen frei oder drückte sich eine schwere
Brust straff in die Falten der Leinwand. Und als ob all dies sogar unter einer
ganz anderen, tierischen, drückenden Atmosphäre sich abspielte, floß aus dem
Flur der Häuser eine träge, schwere Luft, die Törleß begierig einatmete.
Er dachte an alte Malereien, die er in Museen gesehen hatte, ohne sie recht zu
verstehen. Er wartete auf irgend etwas, so wie er vor diesen Bildern immer auf
etwas gewartet hatte, das sich nie ereignete. Worauf …? … Auf etwas Über-
raschendes, noch nie Gesehenes; auf einen ungeheuerlichen Anblick, von dem
er sich nicht die geringste Vorstellung machen konnte; auf irgend etwas von
fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit; das ihn wie mit Krallen packe und von
den Augen aus zerreiße; auf ein Erlebnis, das in irgendeiner noch ganz unklaren
Weise mit den schmutzigen Kitteln der Weiber, mit ihren rauhen Händen, mit
der Niedrigkeit ihrer Stuben, mit … mit einer Beschmutzung an dem Kot der
Höfe … zusammenhängen müsse … . (17f.)

Den nur erahnten Hintersinn dieser Bilder – seien es die Bilder der Hin-
terhöfe, die der Blick durch einrahmende Fenster und Torwege gewisser-
maßen ›komponiert‹, seien es die alten Malereien in Museen – versucht
Törleß zu begreifen, und dabei zeigt sich bald, dass das sich andeuten-
de erotische Moment einen Vorwand darstellt; das Gefühl, »[a]uf etwas
Überraschendes, noch nie Gesehenes« (17) zu warten, wird zwar durch die
erotische Spannung der Situation ausgelöst – und durch Törleß’ Unfähig-
keit, die sexuelle Natur seines Affekts zu erkennen noch gesteigert –, aber
das Warten bezieht sich letztlich auf etwas anderes, die konkrete Situation
Transzendierendes. Wie es in Form eines ›Gedankenzitats‹ heißt, in dem
man eine Abwandlung des eingangs angebrachten Maeterlinck-Mottos un-
schwer identifizieren kann, ist es für Törleß
etwas ganz Stummes, – ein Würgen in der Kehle, ein kaum merkbarer Gedan-
ke, und nur dann, wenn man es durchaus mit Worten sagen sollte, käme es so
heraus; aber dann ist es auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen
Vergrößerung, wo man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge,
die gar nicht da sind … . Dennoch war es zum Schämen. (18)

Die beiden Momente, die für Törleß’ Freunde zumindest überdeutliche


›Bauersfrauerotik‹ und das Ungreifbare, Unbeschreibliche, auf das diese
hinzuweisen, das über diese hinauszuweisen scheint, vermischen sich. Da-

18
her Törleß’ Gefühl, man sehe Dinge, die gar nicht da sind, wenn man
versuche, ›es‹ mit Worten zu sagen, denn die Worte beziehen sich auf die
unterschwellig erotischen Empfindungen, die der Anblick der Bauersfrauen
auslöst, während mit ›es‹ der dahinter bzw. darüber liegende, ›eigentliche‹
Gegenstand der erwartungsvollen Sehnsucht gemeint ist. So wie die Eltern
nur die ›Gelegenheitsursache‹ für Törleß’ Heimweh darstellten, fungieren
die Bauersfrauen hier nur als eine Art ›Gelegenheitsursache‹ für eine letzt-
lich nicht sexuelle, sondern ›höhere‹ Form der ›Begierde‹, deren Qualität
sich eben nicht in Worte fassen lässt. Die spöttische Frage Reitings, »›Hat
das Bubi Heimweh?‹« (18), zeigt sich in diesem Kontext als hintersinnig:
Sie stellt einen Zusammenhang zwischen dem Warten auf dieses ›es‹ und
Törleß’ anfänglichem Heimweh her. Indem man in der nächsten Erzähl-
einheit die Rede auf das »geheimnisvolle[…], bizarre[…] Dämmern des
esoterischen Buddhismus« (19) bringt, dem Beinebergs Vater sich verschrie-
ben habe, scheint man den Weg weisen zu wollen, der die Erfüllung einer
›höheren‹ Sehnsucht verspricht: den Weg der mystischen Kontemplation,
– auch wenn es sich hier nur um eine Art Pseudomystik Arnheim’scher
Manier handelt.
Die von Törleß erlebte Diskrepanz zwischen dem »kaum merkbare[n]
Gedanke[n]« (18) und den Worten, derer man sich bedient, um diesen
zu artikulieren, lässt sich darauf zurückführen, dass der Gedanke sich auf
den eigentlichen Gegenstand des Wartens bezieht, während die Worte im
Bereich des Fassbaren bleiben (müssen) und sich daher an den vorder-
gründigen Anlass für das Gefühl spannungs- und erwartungsvollen War-
tens orientieren, sprich: die latent erotische Situation. Das von Törleß
formulierte Paradoxon, – dies signifikanterweise eine Neuformulierung des
Maeterlinck’schen Mottos –, entpuppt sich letztlich als Scheinparadoxon,
denn der wirkliche Grund für die von Törleß bemerkte Diskrepanz ist die
Vermengung zweier Formen des Wartens »auf etwas Überraschendes, noch
nie Gesehenes«: einerseits auf das Manifestwerden eines noch nicht zum
Bewusstsein gelangten sexuellen Impulses, andererseits auf das, was man
vorläufig als die mystische Schau bezeichnen könnte.
So wie es in der Episode mit den Bauersfrauen letztlich nur vorder-
gründig um Sexuelles zu gehen scheint, das sexuelle Moment also Vor-
wandcharakter erhält, erlebt Törleß den Unterricht in der Schule als eine
Art Ersatzhandlung, die seine ›Wissbegierde‹ nicht zu stillen vermag. Wie
Törleß sich Beineberg gegenüber äußert:
›Von alldem, was wir den ganzen Tag lang in der Schule tun, – was davon
hat eigentlich einen Zweck? Wovon hat man etwas? Ich meine etwas für sich

19
haben, – du verstehst? Man weiß am Abend, daß man wieder einen Tag gelebt
hat, daß man so und so viel gelernt hat, man hat dem Stundenplan genügt, aber
man ist dabei leer geblieben, – innerlich meine ich, man hat sozusagen einen
ganz innerlichen Hunger … .‹ (23)

Auch hier führt der Erkenntnisdrang über das vordergründige Ziel hinaus
und äußert sich in Form eines Wartens auf etwas Unbestimmtes bzw. Un-
bestimmbares. Törleß spricht vom »›ewige[n] Warten auf etwas, von dem
man nichts anderes weiß, als daß man darauf wartet … .‹« (23).
Es ist bedeutungsvoll, dass an dieser Stelle im Café-Gespräch zwischen
Törleß und Beineberg die Dämmerung einsetzt, »[…] jener Augenblick
intensivster Stille, der stets dem völligen Dunkelwerden kurz vorangeht«,
und in dem die »Formen, welche sich immer tiefer in die Dämmerung
gebettet hatten, und die Farben, welche zerflossen, […] für Sekunden still
zu stehen, den Atem anzuhalten (schienen)« (23)12, und dass in Törleß jetzt
eine Kindheitserinnerung auftaucht, die sich immer wieder ins Bewusstsein
drängt, wenn es dämmert:

›Höre, Beineberg,‹ sprach Törleß, ohne sich zurückzuwenden, ›es muß während
des Dämmerns immer einige Augenblicke geben, die ganz eigener Art sind. So
oft ich es beobachte, kehrt mir dieselbe Erinnerung wieder. Ich war noch sehr
klein, als ich um diese Stunde einmal im Walde spielte. Das Dienstmädchen
hatte sich entfernt; ich wußte das nicht und glaubte es noch in meiner Nähe zu
empfinden. Plötzlich zwang mich etwas aufzusehen. Ich fühlte, daß ich allein
sei. Es war plötzlich so still. Und als ich um mich blickte, war mir, als stünden
die Bäume schweigend im Kreise und sähen mir zu. Ich weinte; ich fühlte mich
so verlassen von den Großen, den leblosen Geschöpfen preisgegeben … . Was ist
das? Ich fühle es oft wieder. Dieses plötzliche Schweigen, das wie eine Sprache
ist, die wir nicht hören?‹ (23f.)

Im Wesentlichen besteht dieses Kindheitserlebnis in der Erahnung einer


sich ex negativo manifestierenden Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die pa-
radoxerweise mittels einer ›Sprache des Schweigens‹ zum Ausdruck kom-
me. Die Erscheinung dieser Wirklichkeit wurde von einem Versinken der
Formen, einem Stillstehen der zerflossenen Farben begleitet bzw. bedingt;
sie ging also mit einem Vereinheitlichungsprozess einher, der die Konturen
der Dinge am helllichten Tag aufhob. Die Dämmerung, wie Törleß sie
erlebt, hat eine enge Affinität zu dem, was im Mann ohne Eigenschaften

12 Man vergleiche die hier evozierte Stimmung mit der, die die »Atemzüge eines
Sommertags« im Mann ohne Eigenschaften beschwört (4, 1240).

20
das ›Mondnächtige‹ genannt wird, das uns noch beschäftigen wird.13 Das
Entscheidende an diesem in der Kindheit oft wiederkehrenden Erlebnis
ist Törleß’ Gefühl, wenn nicht zu sagen Gewissheit, er »(lausche) auf ein
ernstes Geheimnis und […] (blicke) mitten in noch unbeschriebene Be-
ziehungen des Lebens«, was er aber »nur für einen Augenblick« aushalten
könne. (24) Hierin ähnelt dieses Gefühl dem später erfahrenen ›Heimweh‹
und dem beim Anblick der Bauersfrauen ausgelösten Gefühl, auf »etwas
Überraschendes, noch nie Gesehenes« zu warten; es bildet das Paradigma
für viele andere Erfahrungen, die Törleß im Laufe seiner ›Verwirrungen‹
machen wird.14
Das Gefühl der Einsamkeit, das sich bei Törleß’ Beschreibung der
Dämmerung zunächst in den Vordergrund gedrängt hatte, erweist sich
bei näherer Reflexion jedoch als etwas Nebensächliches, nämlich als die
Folge von »dieser zu hohen Anforderung,« »mitten in noch unbeschriebe-
ne Beziehungen des Lebens zu blicken« (24), der er sich nicht gewachsen
fühlt: »Er fühlte: hierin liegt etwas, das jetzt noch zu schwer für mich ist,
und seine Gedanken flüchteten zu etwas anderem, das auch darin lag, aber
gewissermaßen nur im Hintergrunde und auf der Lauer: Die Einsamkeit.«
(24) Die Einsamkeit erfüllt eine zum Teil ähnliche Funktion wie später das
vermeintliche Heimweh: Beide lenken vom eigentlichen ›Geheimnis‹ ab,
stellen gewissermaßen vorgeschobene Gefühle dar. Aber das, wovon sie ab-
lenken, empfindet Törleß lediglich als »noch zu schwer« für sich (Hervorhe-
bung der Vf.); er meint also, zu gegebener Zeit sich dem Geheimnis nähern
zu können. An dieser Stelle eröffnet sich eine für die in diesem Roman
fokussierte Art von Reifung entscheidende Entwicklungsperspektive.15

13 Siehe Abschnitt 1.3.2. dieser Arbeit.


14 Kindheit kann im Sinne Albertsens als ›utopische Region‹ verstanden werden,
in der erste Erfahrungen dieser Art gemacht werden. Vgl. Albertsen: Ratio und
Mystik, 42: »Musil ist mit untrüglicher Witterung den feinsten Spuren des un-
theologischen mystischen Erlebens in jenen utopischen Regionen nachgegangen,
und zwar von Anfang an […]. Die früheste Spur führt zurück in die Kindheit.«
Allerdings scheint Albertsen den geradezu zwingenden Bezug zwischen Kind-
heitserfahrungen dieser Art und jenen, die noch auf sich warten lassen, nicht
zu erkennen. Dieser Aspekt wird im Folgenden vertieft.
15 Die Antizipation einer noch nicht erfüllbaren Sehnsucht ist ein Konstituens von
Törleß’ Erfahrung wie von der Erfahrung, die Malte in Rilkes Aufzeichnungen
macht: Malte wartet darauf, von Gott geliebt zu werden, aber wie es heißt:
»Der aber wollte noch nicht.« Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hrsg. vom
Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn,
Frankfurt/Mn. 1987, VI, 946. Vgl. hierzu Ulrich: »Ich glaube nicht, daß Gott
da war, sondern daß er erst kommt.« (3, 1022)

21
Im Folgenden wird die Qualität des »Allein- und Verlassensein[s]« (24),
der im Hintergrund lauernden Einsamkeit in Form einer ausgedehnten,
interpretationsbedürftigen Phantasie charakterisiert. Jene »Welt für sich«
(24), d.h. die Welt der Dunkelheit, die nach Anbruch der Dämmerung
in Erscheinung tritt, wird zunächst als ein »Schwarm schwarzer Feinde«
erlebt, der »über die Erde gekommen [war] und […] jede Spur von [den
Menschen] auslöschte« (24). Worüber sich Törleß aber eher gefreut habe,
denn er »mochte in diesem Augenblick die Menschen nicht, die Großen
und Erwachsenen […] Er war gewöhnt, sich dann die Menschen wegzu-
denken« (24). In seiner Phantasie verwandelt sich die Nacht in ein »leeres,
finsteres Haus« und er, Törleß, solle
nun von Zimmer zu Zimmer suchen, – dunkle Zimmer, von denen man nicht
wußte, was ihre Ecken bargen, – tastend über die Schwellen schreiten, die keines
Menschen Fuß außer dem seinen mehr betreten sollte, bis – in einem Zimmer
sich die Türen plötzlich vor und hinter ihm schlössen und er der Herrin selbst
der schwarzen Scharen gegenüberstünde. (24)

Törleß’ Phantasiereise ins Innere des leeren, finsteren Hauses, die in der
Begegnung mit der Herrin der schwarzen Scharen kulminiert, scheint die
zwei Komponenten seiner gespannten Antizipation zu einem Gleichnis zu
verschmelzen: Das unheimliche Fremde in der Gestalt der Herrin kann
zum einen als gottähnliches Gegenüber verstanden werden, das Haussze-
nario dementsprechend als mystische Vereinigungsphantasie.16 Für diese
Deutung spricht die ungeheuere Potenz der Gestalt und das Motiv des
einsam betretenen, hermetischen Zimmers, in dem der Phantasierende der
fremden Gestalt auf einmal gegenüber steht. Aber das unheimliche Fremde

16 Carl Niekerk deutet diese Episode psychoanalytisch und behauptet, hier ge-
linge es Törleß, »sich eine matriarchalische Welt herbeizuphantasieren – ei-
ne narzißtische Welt, in der er und das Primärobjekt (fast) allein sind. Das
Exotisch-Fremde fungiert als Projektionsfläche eines erotischen Verlangens. […]
Ein solches Verlangen wird allerdings von unverkennbar ödipal zu deutenden
Kastrationsängsten (die Anwesenheit einer dritten Instanz sichtbar im Bilde der
›schwarzen Eunuchen‹) überschattet«, so Niekerk (Foucault, Freud, Musil, 555).
Auch unabhängig von den Bedenken, die man meines Erachtens solchen ideo-
logischen Interpretationen gegenüber hegen muss, vermengt Niekerk hier zwei
für die Psychoanalyse konstitutive theoretische Konstrukte: den (hier mit dem
Begriff der frühkindlichen Symbiose verbundenen) Primärnarzissmus und den
Ödipuskomplex. Wollte man in der »Herrin selbst der schwarzen Scharen« eine
›symbiotische‹ Muttergestalt sehen, – und das halte ich für eine mögliche Lesart
dieser Passage –, so müsste die Deutung jedoch wesentlich differenzierter unter
Berücksichtigung des Textes in all seiner dichterischen Komplexität ausfallen.

22
nimmt eine weibliche Gestalt an und erscheint als solche auch als Objekt
der – noch nicht entfachten – sexuellen Begierde. Im Folgenden perso-
nifiziert Törleß die »Art der Einsamkeit, seit man ihn damals im Stiche
gelassen hatte – im Walde, wo er so weinte«. Wie es heißt, hatte sie

für ihn den Reiz eines Weibes und einer Unmenschlichkeit. Er fühlte sie als
eine Frau, aber ihr Atem war nur ein Würgen in seiner Brust, ihr Gesicht ein
wirbelndes Vergessen aller menschlichen Gesichter und die Bewegungen ihrer
Hände Schauer, die ihm über den Leib jagten … . (25)

Dadurch verstärkt sich die erotische Dimension der Herrin-Gestalt, aber


zugleich werden ihr weitere Attribute eines gottähnlichen Gegenübers ver-
liehen: Das sich nun entfaltende Szenario erhält Elemente einer mystischen
Vereinigung mit einem überwältigenden Gegenüber, wobei die ›Unmensch-
lichkeit‹ der Erscheinung aufzufassen ist als das Menschenunähnliche17 des
göttlichen Gegenübers, dessen Vereinigung mit dem Phantasierenden an-
gezeigt wird durch das ›Einverleiben‹ des fremden Atems und die Auslö-
schung aller ›menschlichen Gesichter‹ angesichts des Einen. Aber es enthält
auch Elemente einer beängstigenden ersten erotischen Begegnung mit dem
anderen Geschlecht, – daher die Rede vom »Reiz eines Weibes« und von
Bewegungen der fremden Hände, sprich: Liebkosungen.
Bemerkenswert ist die Wendung, die Törleß’ Reflexionen jetzt nehmen:
Im Folgenden erfährt die Phantasie, die Törleß’ Dämmerungseinsamkeit
anschauliche Gestalt verleiht, eine zunehmende Erotisierung. Wie es heißt,
habe er diese Phantasie gefürchtet, weil er »ihrer ausschweifenden Heim-
lichkeit bewußt« gewesen sei; »[…] der Gedanke, daß solche Vorstellungen
immer mehr Herrschaft über ihn gewinnen könnten, beunruhigte ihn«.
(25) Jetzt steht nicht mehr das mystische Gegenüber hinter der Frauen-
gestalt der Phantasie. Vielmehr erscheint diese eindeutig als Sexualobjekt
und verbindet sich in Törleß’ Phantasie mit der erotisierten Gestalt der
Bozena, – oder auch des Beineberg. Schließlich hatte Törleß am Anfang
desselben Gesprächs mit Beineberg an dessen Hände, an deren »fingern-
de[…] Beweglichkeit« denken müssen, daran, dass sie »doch eigentlich
das Schönste« an seinem Freund seien (21). Gerade an ihnen habe sich

17 Vgl. hierzu den Begriff der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ im Kontext der Tradition
der ›negativen Theologie‹, der weiter unten ausführlich erörtert wird. Gerhart
Baumann stellt diesen Begriff in einen ästhetischen Kontext und eröffnet hier-
mit einen neuen, ebenso eigenwilligen wie fruchtbaren Ausblick auf diese sonst
theologisch gedeutete Formel. Gerhart Baumann: Robert Musil. Ein Entwurf,
Freiburg/Br. 1997, 130.

23
»der größte Widerwille [konzentriert]. […] Sie hatten etwas Unzüchti-
ges an sich« (21). So Törleß in Gedanken. Das Unzüchtige an Beineberg
scheine sich »[i]n den Händen […] anzusammeln und […] von ihnen wie
das Vorgefühl einer Berührung auszustrahlen, das Törleß einen ekligen
Schauer über die Haut jagte« (21). Törleß muss feststellen: »[…] schon zum
zweitenmal an diesem Tag« habe sich »etwas Geschlechtliches unvermutet
und ohne rechten Zusammenhang zwischen seine Gedanken [gedrängt].«
(21) Der »eklige Schauer«, den »das Vorgefühl einer Berührung« Törleß
»über die Haut [jagen]« lässt, erscheint jetzt wieder in Form des Schauers,
den die Bewegung der Frauenhände auslösen, wenn sie in der Phantasie
Törleß »über den Leib jagen«.
Eine fast wortwörtliche Kongruenz zwischen der Beineberg geltenden
Vorstellung und der Einsamkeitsphantasie ist festzustellen. Dass solche
letztlich erotischen Vorstellungen und Phantasien als eine Art Ersatz die-
nen für den Blick »mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Le-
bens«, dem Törleß sich (noch) nicht gewachsen fühlt, legen die weiteren
Beobachtungen des Erzählers über Törleß’ Dämmerungsphantasien nahe:
Solche Phantasien werden aufgefasst als »Reaktion auf [jene] Augenblicke,
wo er empfindsame Erkenntnisse ahnte, die sich zwar in ihm schon vor-
bereiteten, aber seinem Alter noch nicht entsprachen« (25). Also sind jene
»empfindsame[n] Erkenntnisse« wohl das, was ein solcher Blick ergeben
würde. Vor diesen flüchtet Törleß zwar, aber, wie der Erzähler zu berichten
weiß, erweist sich Törleß’ »Vorliebe für gewisse Stimmungen«, womit in
erster Linie das durch die Dämmerung hervorgerufene Einsamkeitsgefühl
gemeint ist, als »die erste Andeutung einer seelischen Entwicklung, die sich
später als ein Talent des Staunens äußerte« (25). Mit diesem »Talent des Stau-
nens« meint der Erzähler Törleß’ »Fähigkeit«, wenn nicht zu sagen Zwang,

Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst häufig so zu empfinden, daß er


dabei das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als einer un-
erklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft hatte. Sie schienen
ihm zum Greifen verständlich zu sein und sich doch nie restlos in Worte und
Gedanken auflösen zu lassen. Zwischen den Ereignissen und seinem Ich, ja
zwischen seinen eigenen Gefühlen und irgendeinem innersten Ich, das nach
ihrem Verständnis begehrte, blieb immer eine Scheidelinie, die wie ein Horizont
vor seinem Verlangen zurückwich, je näher er ihr kam. Ja, je genauer er seine
Empfindungen mit den Gedanken umfaßte, je bekannter sie ihm wurden, desto
fremder und unverständlicher schienen sie ihm gleichzeitig zu werden, so daß
es nicht einmal mehr schien, als ob sie vor ihm zurückwichen, sondern als ob
er sich selbst von ihnen entfernen würde, und doch die Einbildung, sich ihnen
zu nähern, nicht abschütteln könnte.

24
Dieser merkwürdige, schwer zugängliche Widerspruch füllte später eine weite
Strecke seiner geistigen Entwicklung, er schien seine Seele zerreißen zu wollen
und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem. (25f.)

In Törleß’ »Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständlichkeit als


einer unerklärlichen, nie völlig zu rechtfertigenden Verwandtschaft«, das
er »Ereignisse[n], Menschen, Dinge[n], ja sich selbst« gegenüber hegt,
entdeckt man ein mystisches Erfahrungsparadigma, das die Tradition der
›negativen Theologie‹18 als Modell der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ formu-
liert.19 Dieses sei »in seiner Dynamik als zentral für das mystische Denken«

18 Siehe Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik


der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989, 5. Den Zusammen-
hang zwischen Mystik und ›negativer Theologie‹ erörtert Alois M. Haas, indem
er konstatiert, Mystik sei aus systematischer Sicht als eine »›manière de parler‹«
zu verstehen (so C. Hersent in: In D. Dionysii de mystica theologia librum
[1626], zit. in: Michel de Certeau: La fable mystique I: XVIe-XVIIe siècle, 2.
Auflage, Paris 1987, 132; siehe Alois M. Haas: Mystik im Kontext, München
2004, 84.) »Insgesamt handelt es sich um eine Rhetorik des Exzesses, in die die
negative Theologie mit aller Schärfe eingegangen ist«, so Haas. »Mit Dionysios
gesprochen: Die Mystik enthält in sich die positive Redeweise (via cataphatica,
positiva) als eine symbolische Theologie, die sie – aus tieferer Einsicht, dass
Gott in keiner Weise und genügend ausgesprochen werden kann – durch die
via apophatica (negativa) konterkariert, bis dahin, dass Gott als das ›Nichts‹
(aller ihn einengenden Aussagen) bezeichnet werden kann.« Allerdings nennt
Haas noch eine dritte Redeweise, denn dieser von den Vertretern der ›negativen
Theologie‹ verfolgte »Weg der Gottesbezeichnung wird nochmals transzendiert
durch die via excellentiae (hyperoché), in der Gott das Bejahte und Verneinte
im Übermaß zugesprochen wird, was dann zu dem führen wird, was Blumen-
berg als ›Sprengmetaphorik‹ charakterisiert hat.« Haas: Mystik im Kontext,
84f.; siehe Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/
Mn. 1998, 178ff. Schon habe Dionysius Areopagita, wie Haas an anderer Stelle
ausführt, »systemtheoretisch die drei entscheidenden Redeweisen über Gott –
die kataphatische (bejahende), die apophatische (verneinende und unähnliche
Ähnlichkeiten positiv berücksichtigende) und die eminente (die Gott alles im
Übermaß zusprechende) differenziert – und damit eine grundlegende theologi-
sche Diskurslehre [entworfen], hinter welche die theologische Reflexion nicht
mehr zurückkehren kann«. Haas: Mystik im Kontext, 117. Aufschluss über die
›negative Theologie‹ geben unter anderem Michael A. Sells: Mystical Languages
of Unsaying, Chicago 1994; Denys Turner: The Darkness of God: Negativity in
Christian Mysticism, Cambridge 1995, und Deirdre Carabine: The Unknown
God – Negative Theology in the Platonic Tradition: Plato to Eriusgena, Lou-
vain 1996.
19 Haas verweist auf die weitreichende Bedeutung dieses Paradigmas für die Äs-
thetik, und zwar bis in die Moderne hinein. Er schreibt: »Die dionysische
Lehre von den unähnlichen Ähnlichkeiten und ihrer ästhetischen Wirkkraft
hat sich über Johannes Scotus (Eriugena) (810–877) und Hugo von St. Viktor
(1096–1141) machtvoll ins Abendland verbreitet. Untergründig war diese Lehre

25
anzusehen, so Martina Wagner-Egelhaaf. Demnach ist »Gott […] so sehr
verschieden von allen menschlichen Begriffen und Vorstellungen, daß er
nur über das Bewußtsein seiner Andersheit erfaßt werden kann. Anders ge-
sagt: Gottes Unähnlichkeit ist seine Ähnlichkeit, und seine Ähnlichkeit ist
immer seine Unähnlichkeit.«20 Törleß macht diese Erfahrung der ›unähn-
lichen Ähnlichkeit‹ nun nicht in Hinblick auf Gott, sondern in Hinblick
auf »Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst«; hier erscheint also ein im
christlichen Kontext entstandenes, mystisches Paradigma in säkularisierter
Form:21 »Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst« treten an die Stelle
Gottes als Objekt einer solch mystisch zu nennenden Erfahrung.

eine ästhetische Befreiung der Kunst vom Zwang der Naturnachahmung; sie
öffnete sich ins Geistige und bekam darüber hinaus die adäquaten Mittel, das
Geistige im künstlerischen Paradox der unähnlichen Ähnlichkeit zu spiegeln.
Untergründig hat dieses Prinzip die Kunst, auch die bildende, immer wieder
in ihrem Widerspruchscharakter geprägt und ihr Leistungen ermöglicht, die
über ihr mimetisches Vermögen weit hinausgingen. Noch Hugo Ball hat mit
großer Zustimmung das dionysische Konzept in seinem Byzantinischen Christen-
tum referiert, Kurt Flasch hat dieses Lob in Zusammenhang mit Balls DADA-
Gegenwelt gebracht. Mit Recht scheint mir, da sich alle widerspenstige oder
geistig orientierte Kunst über untergründige Kanäle mit diesem neuplatonisch
gedachten Konzept einer übers Unähnliche hergestellten Ähnlichkeit als einem
die Zeiten überdauernden Darstellungsprinzip verbunden erweist.« Haas: My-
stik im Kontext, 146.
20 Siehe Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 5. Die Tradition der negativen
Theologie reicht weit zurück. Man vergleiche die Formel des vierten Lateran-
konzils: »Quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo nota-
ri, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda.« Zit. in Wagner-Egelhaaf:
Mystik der Moderne, 16. Vgl. auch Pseudo-Dionysus: »Als Ähnlicher, sofern
er Echo, Widerhall und Nachbilder begründet, und als Unähnlicher, sofern ge-
rade hierbei nichts ihm selbst jemals wirklich gleichen kann.« Pseudo-Dionysus
Areopagita: Namen Gottes, IX, 1, 129; zit. in Wagner-Egelhaaf: Mystik der
Moderne, 16. Überhaupt wohnt der von der Tradition der ›negativen Theo-
logie‹ gesetzten Gottesvorstellung ein hohes Potential für das Paradoxe inne.
Wie der bereits zitierte, sehr frühe Vertreter dieser Tradition schreibt: »Sowohl
durch Kenntnis als auch durch Unkenntnis erkennen wir Gott. Es gibt von ihm
geistiges Begreifen, Verstehen, Wissen, Berührung, Sinneswahrnehmung, Mei-
nung, Vorstellung, Benennung und alles andere, und dennoch wird er weder
begriffen, noch erklärt, noch genannt. Er ist nichts des Seienden, aber er wird
auch in keinem Seienden erkannt. Er ist ›alles in allem‹ [1 Kor 15,28] und doch
nichts irgendworin, er wird aus allem von allem erkannt und doch wieder aus
nichts von irgendwem. Zu Recht sagen wir dies über Gott, und aufgrund von
allem Seienden wird er in Übereinstimmung mit allem, dessen Ursache er ist,
gepriesen.« Pseudo-Dionysius Areopagita: Die Namen Gottes, übersetzt von
Beate Regina Suchla, Stuttgart 1988, 80 (872A).
21 Albertsens auf Ulrich bezogene Worte könnte man auch auf Törleß beziehen: Man
gewinne den Eindruck, so Albertsen, »als verwandle sich der Gottesglaube bei

26
Eine wesentliche Komponente der mystischen Erfahrung qua Gottes-
schau besteht im Gefühl der Unbeschreiblichkeit dieser Erfahrung seitens
des Schauenden. So auch Törleß in Bezug auf »Ereignisse, Menschen, Din-
ge«: Wie es heißt, »schienen (sie) ihm zum Greifen verständlich zu sein
und sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen«.22
Wie Wagner-Egelhaaf bemerkt, gehört das Erleben der Unzulänglichkeit
der Sprache, das Geschaute in Worte zu ›fassen‹, unweigerlich zur mys-
tischen Erfahrung23; »die mystische Wahrheit [werde] verstellt durch das,
was Meister Eckhardt ›eigenschaft‹ nennt«; sie hindere »den Menschen
an der Erkenntnis der Wahrheit, weil sie sich in Form von Bildern, Vor-
stellungen und Begriffen zwischen die Gottheit und die Seele schiebt«.24

Ulrich unter der Hand in eine nur psychische Funktion, als sei Religion eine
rein innerlich bleibende Fähigkeit des Bewußtseins.« Jedoch scheint Albertsen
sich selbst ein Stück weit zu widersprechen, wenn sie zugleich konstatiert, Musil
gehöre »nicht zu jenen ›Dichtern‹, die aus Mythos-Kult und Tiefenpsychologie
eine neue Ersatzreligion bauen. Wenn das mystische Streben nach Musil auch
innerweltlich bleibt – die Realität läßt in der Immanenz Transzendenz ahnen,
[…]« Albertsen: Ratio und Mystik, 41 bzw. 40.
22 Vgl. Alois M. Haas’ allgemeines Fazit diesbezüglich: »Die Geschichte der christ-
lichen Mystik wird durch das ganze Mittelalter hindurch von der Spannung,
in welche das Gottesbild durch seine prinzipielle, alles um- und übergreifende
Nichtreproduzierbarkeit gerückt ist, nicht mehr loskommen.« Haas: Mystik im
Kontext, 117.
23 Dies ein vielerorts thematisierter Aspekt der Mystik, der im Zeichen eines ›mo-
dernen‹ sprachkritischen Bewusstseins ein besonderes Gewicht erhält. Vgl. u.a.
Hans Dieter Zimmermann: Der babylonische Dolmetscher. Zu Franz Kafka
und Robert Walser, Frankfurt 1985, 290ff. Vgl. auch die wichtigen Schriften
von Fritz Mauthner: Wissen und Worte (in: Beiträge zu einer Kritik der Spra-
che [1901/1902], neu aufgelegt: Leipzig 31923, Bd. 3, Kap. VIII) und Gustav
Landauer: Skepsis und Mystik (1903) (neuaufgelegt: Wetzlar, 1978).
24 Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 8. Vgl. Jochen Schmidt: Ohne Eigen-
schaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff, Tübingen 1975. Vgl. Haas’
Einschätzung der fundamentalen Bedeutung göttlicher ›Eigenschaftslosigkeit‹ in
der Tradition christlicher Mystik: »Gott ist unaussagbar, und er wird deswegen
häufig auch im Christentum das Nichts genannt, das man in einer ersten Ana-
lyse als das Nichts aller ihn einengenden und auf eine seiner Eigenschaften hin
fixierenden Aussagen deuten kann.« Haas: Mystik im Kontext, 89. Vgl. auch
Heinrich Seuses berühmtes Wort vom ›Austreiben der Bilder durch Bilder‹:
»Aber doch, daz man bild mit bilden us tribe, so will ich dir hie biltlich zoegen
mit glichnusgebender rede, als verr es denn múglich ist, von den selben bildlo-
sen sinnen, wie es in der warheit ze nehmen ist, und lang red mit kurzen worten
beschliessen. – Aber doch, um Bilder durch Bilder auszutreiben, will ich dir hier
mit gleichnishaften Worten bildlich zeigen, soweit es denn möglich ist, wie das
von den unbildlichen Gedanken in Wahrheit zu verstehen ist, und die lange
Rede mit kurzen Worten beschließen.« In: Heinrich Seuse: Deutsche Schriften

27
Zwar drängt es den mystisch Schauenden zum Versuch, seine Erfahrung
Gottes in Sprache zu bringen – davon lebt eine lange Tradition mysti-
scher Bekenntnisliteratur –, doch der Versuch scheitert am grundsätzlichen
Unvermögen der Sprache, dieser unmittelbaren und nicht vermittelbaren
Erfahrung beizukommen.25 Wie Wagner-Egelhaaf in Bezug auf Mauthner
und Landauer sagt:

Die auf ihrer Unangemessenheit beruhende Unverbindlichkeit der sprachli-


chen Zeichen, die immer neue Signifikanten dem unerreichbaren und damit
in die absolute Negativität eingehenden Signifikat zuordnet, läßt die mysti-
sche Wahrheit als Wortkunst, als Spiel einander ablösender (Be-)Deutungen
erscheinen.26

Ulrich zitierend schreibt Wagner-Egelhaaf lapidar: »Gott ist der ›irratio-


nale Rest‹ (5, 1874), der jenseits der Prädikation bleibt, diese aber zugleich
motiviert.«27 Wie Albertsen konstatiert: »Gott […] ist die große Unbe-
kannte in einer Gleichung, die es noch zu lösen gilt.«28
Törleß hatte die Erfahrung gemacht, dass Ereignisse, Menschen, Dinge
»sich doch nie restlos in Worte und Gedanken auflösen zu lassen [schei-
nen]«. Die »Scheidelinie, die wie ein Horizont vor seinem Verlangen zu-
rückwich, je näher er ihr kam«, markiert die Grenze, über die der Signi-
fikant aufgrund seiner grundsätzlichen ›Unangemessenheit‹ nicht hinaus
kommt, hinter der das Signifikat, sei es Gott, Ding oder Mensch, immer
bleiben wird – letztlich unerreichbar. Törleß macht sogar die Erfahrung,
dass der Versuch, »seine Empfindungen mit […] Gedanken [zu umfas-

im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte. Hrsg.


von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907 (Neudruck: Frankfurt/Mn. 1961, 190f., zit.
in: Haas: Mystik im Kontext, 118.
25 Allerdings muss man unterscheiden zwischen der oft konstatierten Unmög-
lichkeit, ›Gott‹ – oder allgemeiner gesagt, das Objekt mystischer Ekstase – zu
›benennen‹, und dem Schreiben über mystische Erfahrungen im weiteren Sinne
des Wortes. Wie Brosthaus scharfsinnig beobachtet, ist Ulrichs Beschreibung
des Zustands, in den er anlässlich des Erlebnisses mit der Frau des Majors
gekommen war, »diskursiv durchdrungen«. Es entstehen hierbei »reiche Ge-
dankenverhältnisse; der erzählerische Anteil des Erlebnisses – so unmittelbar es
auch erscheinen mag – ist von gedanklichem Interesse erfaßt und überdeckt.«
Brosthaus: Entwicklung des aZ, 393.
26 Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 61.
27 Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 61 bzw. 131.
28 Albertsen: Ratio und Mystik, 40. Allerdings meint Albertsen, der Ausdruck
›Gott‹, scheine »bei Musil oft als Verlegenheitslösung zu stehen, […]«. Ebenda,
40.

28
sen]«, diese »desto fremder und unverständlicher« erscheinen lässt.29 Das
Bemühen um die gedankliche Erfassung dieser Empfindungen lässt die
Kluft zwischen beidem um so größer werden.30 »Dieser merkwürdige,
schwer zugängliche Widerspruch«, so der Erzähler, »füllte später eine wei-
te Strecke seiner geistigen Entwicklung, er schien seine Seele zerreißen zu
wollen und bedrohte sie lange als ihr oberstes Problem« (26).31
In Walter Haugs eminent wichtigem Beitrag zur »Grundlegung einer
Theorie des mystischen Sprechens«, der die von Seiten der negativen Theo-
logie entwickelte, auf die mystische Unio gemünzte Formel der ›unähnli-
chen Ähnlichkeit‹ eingehend auf Gehalt und letztliche, auch sprachliche
Implikationen hin untersucht, findet man die paradox erscheinende Dy-
namik beschrieben, die Törleß’ oben dargelegtem Dilemma innewohnt.
Haug schreibt:

[…] je stärker man den Aspekt der Ähnlichkeit betont, um so mehr führt
dies zu einem Anschauen Gottes in der Welt; je stärker man die Differenz
betont, um so mehr erscheint die Welt als ein Arsenal von Zeichen für eine
transzendente Wirklichkeit. Die Erfahrung Gottes in der Welt bzw. über die
Welt bewegt sich also in einer Spannung zwischen den Polen der absoluten
Identität und der absoluten Differenz. Und dies, da der Mensch in seinem
Antworten sich auf den sprachlichen Aspekt einlassen muß, mit einem Gefälle
zur Differenz hin.32

29 Vgl. Walter Haugs Kommentar zu Mechthilds »prospektiv« entworfenem »Weg


zur Unio«: »Je stärker [sie] prospektiv denkt, um so dringlicher geht sie spre-
chend auf die Differenz zu, die als radikale Trennung gesucht und erlitten wird.
Das Gespräch versteht sich hier als Kontaktnahme, die ihr Ziel nicht erreicht,
wobei es gerade dies zu seinem Thema machen muß und will.« Walter Haug:
»Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens«. In: Kurt Ruh
(Hrsg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg
1984, Stuttgart 1986, 494–508; hier 505.
30 Diese unüberbrückbare Kluft vermittelt Heinrich Seuse im Leben des seligen
Heinrich Seuse: (Zweiter Teil, Kapitel 53): »Meine Tochter, nun merke […],
daß alle diese Bilder und Erklärungen der bildlosen Wahrheit ebenso fern und
ungleich sind wie ein schwarzer Mohr der schönen Sonne; und das kommt von
der formlosen, unerkennbaren Einfachheit ebendieser Wahrheit.« In: Heinrich
Seuse: Deutsche mystische Schriften, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen
und herausgegeben von Georg Hofmann, Düsseldorf 1966, 199.
31 Walter Haugs auf Johannes Scotus (Eriugena) gemünztes Wort von der Mystik
als »Sich-selbst-Denken des Modells der unähnlichen Ähnlichkeit« könnte in
diesem Kontext womöglich Anwendung finden. Haug: »Theorie des mystischen
Sprechens«, 502.
32 Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 496.

29
Zeichnet sich Gott im Sinne Eckhart’scher Mystik dadurch aus, dass Schaf-
fen und Sprechen identisch sind, so »fallen beim antwortenden Menschen«,
so Haug,

Denken und Sein, Sprache und Gegenstand auseinander. Deshalb stößt er,
wenn er auf Gott zugehen will, auf den Widerspruch der unähnlichen Ähnlich-
keit. […] Da der Weg [zu Gott] sich […] als ein sprachlicher Akt darstellt, dem
diese Identität von Sprechen und Sein gerade fehlt, muß die Sprache sich im
Sprechen zurücklassen. Dabei läßt sie zugleich die Gegenständlichkeit zurück,
auf die sie sich bezieht. Diese Gegenständlichkeit vermittelt zunächst über die
Sprache den Aspekt der Ähnlichkeit; indem man sich aus ihm löst, bewegt man
sich auf die Differenz zu. Damit ist die Struktur einer Bewegung vorgezeichnet,
über die das mystische Sprechen die Ähnlichkeit in die radikale Unähnlichkeit
umbricht, d.h. die Welt und sich selbst aufhebt.33

Haug erkennt dieses Paradigma als grundlegend für die auf Gott ausge-
richtete »Wirklichkeitserfahrung und -darstellung« an: »Man kann dies in
allen Bereichen und auf allen Ebenen [solcher Erfahrung] durchspielen«,
so Haug; »[i]m Prinzip sind alle Oppositionen der endlichen Wirklich-
keit in die Dynamik dieses Modells und damit in den mystischen Prozeß
überzuführen.«34 Wie Haug aber betont, handele es sich hierbei um kein
»dialektisches Modell«:

Die Gegenpositionen meinen nicht den schlichten Gegensatz, sondern sie ste-
hen stets für das radikal Andere. Die vielberedeten mystischen Antithesen sind
streng genommen keine solchen. Es geht vielmehr in jedem Fall um den Um-
schlag aus dem Bereich der Ähnlichkeit in die absolute Differenz.35

Soll die im Zeichen Eckhart’scher Mystik definierte Formel der ›unähnli-


chen Ähnlichkeit‹ auf Törleß’ höchstens im Sinne einer ›säkularen‹ Mystik
zu betrachtende Erfahrung und gedankliche Erfassung von »Ereignisse[n],
Menschen, Dinge[n]« Anwendung finden, so nur unter Berücksichtigung
der veränderten Vorzeichen eines solchen zweischrittigen Prozesses. Eines
steht jedenfalls fest: Manifestiert sich hierin ein doppelter Dualismus –
Gedanke versus Empfindung bzw. Ähnlichkeit versus Unähnlichkeit –, so
ist letzterer auf der Versprachlichungsebene zu fassen, ähnlich wie bei der
von Haug beschriebenen Dynamik. Erst der Versuch, Empfindungen in
Gedanken, sprich: in Worte zu fassen, stiftet ›Verwirrung‹ und lässt Törleß’

33 Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 496.


34 Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 496 bzw. 497.
35 Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 497.

30
Welt doppelgesichtig erscheinen. Inwiefern und auf welche Weise sich die
aus einer langen mystischen Tradition hervorgegangene Formel der ›un-
ähnlichen Ähnlichkeit‹ auf Törleß’ Dilemma letztlich beziehen lässt, wird
der weitere Verlauf der Untersuchung zeigen.

1.1.3. Törleß’ Wirklichkeit: Manifestationen ihres Doppelgesichts


Die von Törleß empfundene Doppelgesichtigkeit der Wirklichkeit prägt alle
bedeutsamen Erfahrungen, die er im Laufe seiner ›Verwirrungen‹ macht.36
Im Folgenden sollen drei Phänomene, in denen die – Törleß’sche – Wirk-
lichkeit ihr Doppelgesicht manifestiert, herausgenommen und auf diese
Qualität hin näher betrachtet werden: erstens das Konvikt als eine Art
Wirklichkeit im Kleinen, das sich in die ›zwei Welten‹ des Instituts und
der Dachkammer aufspaltet, zweitens die Gestalt des Basini, und drittens
ein Phänomen, das im Kontext von Törleß’ ›Verwirrungen‹ eine Schlüs-
selbedeutung erhält und deswegen im Brennpunkt stehen wird, nämlich
das Unendliche, wie es sich Törleß eines Nachmittags beim Blick durch
die Wolken offenbart.
Zunächst präsentiert sich die für heimliche Treffen zwischen Törleß,
Beineberg und Reiting benutzte Dachkammer, die als Hauptschauplatz des
äußeren wie des inneren Geschehens im Roman dient, als Gegenwelt zur
bürgerlichen Welt des Konvikts. Wie es heißt, fühlt sich Törleß

gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: Einer solid bürgerlichen, in der


schließlich doch alles geregelt und vernünftig zuging, wie er es von zu Hause
her gewohnt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut
und ungeahnter Überraschungen. Die eine schien dann die andere auszuschlie-
ßen. (41f.)

Törleß’ ›zwei Welten‹ manifestieren sich also in Form des vom ›ratioïden‹
Bildungsideal determinierten Konvikts und der »ungeahnte[…] Überra-
schungen« verheißenden Dachkammer. Die Dachkammer erinnert mit
ihren vielen Kulissen und Zwischenwänden sowie dem obligatorischen
Revolver an ein Theater – zumal sie zur Aufbewahrung alter Theaterku-
lissen benutzt wird. Durch ihre Attrappenhaftigkeit erhält sie also Züge
einer Pseudowelt. Aber angesichts der vom Institut vermittelten Pseudo-

36 Vgl. in diesem Zusammenhang Ingrid Witners Ausführungen zur »doppelten


Zeitorientierung« im Roman. In: »Zeitperspektive in Robert Musils Die Verwir-
rungen des Zöglings Törleß. In: Modern Austrian Literature 12 (1980), 47–68, hier
51.

31
vernunft – die Törleß im Laufe seiner ›Verwirrungen‹ als solche zu erken-
nen meint –, erweist sich die Dachkammer als wirkliches Gegenstück zur
schulischen Welt. Institut und Dachkammer dürften als ironische Zerr-
formen der zwei vom Prinzip des ›Ratioïden‹ bzw. des ›Nicht-Ratioïden‹
determinierten Welten zu verstehen sein, um deren Versöhnung es Törleß
vornehmlich gehen wird.37
Für Törleß besteht auch eine potentielle Verbindung zwischen den
›zwei Welten‹, die Institut und Dachkammer zunächst verkörpern. Es sei
nämlich möglich, denkt er, nachdem er erkannt hat, welche dunklen Re-
gungen sich im Menschen verbergen,
daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher allein gekannt hatte, ein Tor
zu einer anderen, dumpfen, brandenden, leidenschaftlichen, nackten, vernich-
tenden führe. Daß zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem
durchsichtigen und festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau
und Familie bewegt, und anderen, Herabgestoßenen, Blutigen, ausschweifend
Schmutzigen, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden, nicht
nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden
Augenblick überschreitbar aneinanderstoßen … . (46f.)

So tut sich ein erster gedanklicher Brückenschlag auf, der die potentielle
Versöhnbarkeit der zunächst völlig getrennt erscheinenden ›zwei Welten‹
aufleuchten lässt.
Eine zweite Manifestation der doppelgesichtigen Wirklichkeit ent-
deckt Törleß in der Gestalt des Basini, der in Hinblick auf sein Vergehen
»Problematische[s], Fragwürdige[s]« aufwirft, über das man »noch nach-
denken müsse« (53), während ihn Törleß auch »verständlich, alltäglich«
nennt und seine »klaren Konturen« bemerkt (53). »War nicht«, fragt sich
Törleß, »als er sich vorhin Basini vorgestellt hatte, hinter dessen Gesicht
ein zweites, verschwimmendes gestanden?« (60) Basinis zwei Gesichter hat-
te Törleß schon wahrgenommen, bevor er von seinem Vergehen erfuhr. An
ihnen hatte er die Erfahrung von »Ähnlichkeiten und unüberbrückbaren
Unähnlichkeiten zugleich« gemacht: »All das war nun in einem Menschen
verkörpert, wirklich geworden. Dadurch ging die ganze Sonderbarkeit auf
diesen Menschen über. Dadurch rückte sie aus der Phantasie ins Leben
und wurde bedrohlich …« (61) Törleß wird klar, dass Basini »bestimmt sei,
auch für ihn eine wichtige und bereits unklar erkannte Rolle zu spielen«
(61). Basini erweist sich bald als der Schlüssel zu Törleß’ Krise.

37 Vgl. in diesem Zusammenhang die in den Tagebüchern gemachten schulkriti-


schen Bemerkungen Musils, v.a. T 668f. und T 671.

32
In Beinebergs philosophischen Reflexionen und in Törleß’ Erlebnis der
Unendlichkeit ist eine erste Antwort auf die Frage nach Basinis besonde-
rer Bedeutung zu finden, die in der darauf folgenden Dachkammerszene
noch evidenter wird. Beinebergs Diskurs, Törleß’ Unendlichkeitserlebnis
und die dramatische Szene in der Dachkammer mit Basini als zentralem
Akteur stehen alle im Zeichen einer säkularisierenden Rezeption mystischer
Traditionen. Unmittelbar bevor Törleß der zwei Gesichter Basinis gewahr
wurde, hatte Beineberg Rechenschaft abgelegt über sein Vorhaben, Basini
zu quälen. Dieses hatte er an Hand einer (pseudo)-mystischen Philosophie
zu rechtfertigen versucht. Der Mensch sei »an zwei Fäden geknüpft« (59)
– man vergleiche Törleß’ ›zwei Welten‹ – und er, Beineberg, sei gewillt,
»dem zweiten Faden (zu folgen)« (59), will heißen, den Weg der mysti-
schen Erleuchtung zu gehen. Mittels einer fragwürdigen Argumentation
legitimiert Beineberg seine Absicht, Basini zu quälen, und zwar als Weg,
den ›ersten Faden‹ zu ›zerreißen‹, was notwendig sei, um dem zweiten
folgen zu können:

Solche Menschen wie Basini […] bedeuten nichts – eine leere, zufällige Form.
Die wahren Menschen sind nur die, welche in sich selbst eindringen können,
kosmische Menschen, welche imstande sind, sich bis zu ihrem Zusammen-
hange mit dem großen Weltprozesse zu versenken. Diese verrichten Wunder
mit geschlossenen Augen, weil sie die gesamte Kraft der Welt zu gebrauchen
verstehen, die in ihnen gerade so ist wie außer ihnen. Aber alle Menschen, die
bis dahin dem zweiten Faden folgten, mußten den ersten vorher zerreißen. Ich
habe von schauerlichen Bußopfern erleuchteter Mönche gelesen, und die Mittel
der indischen Heiligen sind ja auch dir nicht ganz unbekannt. Alle grausamen
Dinge, die dabei geschehen, haben nur den Zweck, die elenden nach außen
gerichteten Begierden abzutöten, welche, ob sie nun Eitelkeit oder Hunger,
Freude oder Mitleid seien, nur von dem Feuer abziehen, das jeder in sich zu
erwecken vermag. (59)

Indem er sein (angebliches) Mitleid mit Basini unterdrücke, überwinde er


»die elenden nach außen gerichteten Begierden«, in diesem Fall eben das
Mitleid, so Beineberg. Nur so könne er ›die Seele schauen‹, und »[…] wem
es ganz gelingt, seine Seele zu schauen, für den löst sich sein körperliches
Leben, das nur ein zufälliges ist; es steht in den Büchern, daß solche direkt
in ein höheres Reich der Seelen eingingen« (60). Letztlich will Beineberg
die geplante Tortur geradezu als Opfer verstanden wissen:
›Gerade daß es mir schwer fällt, Basini zu quälen, […] ist gut. Es erfordert
ein Opfer. Es wird reinigend wirken. Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu
lernen, daß das bloße Menschsein gar nichts bedeutet, – eine bloße äffende,
äußerliche Ähnlichkeit.‹ (60)

33
Wenn Beineberg von einer »bloße[n] äffende[n], äußerliche[n] Ähnlichkeit«
des »bloße[n] Menschsein[s]« spricht, meint er wohl: mit dem Heiligen.
Erst durch die Überwindung der »elenden nach außen gerichteten Begier-
den« erhalte der Mensch, so die Implikation, eine wirkliche, d.h. ›innere‹
Ähnlichkeit mit Gott. Auch hier begegnen wir also dem Phänomen der
unähnlichen Ähnlichkeit. Beineberg geht aber nicht vom grundsätzlichen,
immerwährenden Zusammenhang und Widerspruch zwischen Ähnlichkeit
und Unähnlichkeit aus, der im Sinne der negativen Theologie die Bezie-
hung zwischen Gott und Mensch konstituiert, sondern postuliert eine nur
äußerliche Ähnlichkeit und somit letztlich eine Unähnlichkeit zwischen
›Mensch‹- und ›Gottsein‹ auf einer niedrigen und eine wohl ›innerlich‹
zu nennende Ähnlichkeit zwischen beiden auf einer höheren, Körper und
Sinne hinter sich lassenden Stufe. Sein Rezept ist entsprechend einfach und
einleuchtend: den ›ersten Faden zerreißen‹. Er pervertiert mystisches Ge-
dankengut, indem er meint, einen anderen Menschen quälen zu müssen,
um selbst »in ein höheres Reich der Seelen [eingehen]« (60) zu können.
Aber obwohl Beinebergs Erleuchtungslehre eine Zerrform mystischer Spi-
ritualität darstellt, liefert er immerhin die Kategorien, mit denen Törleß in
Hinblick auf Basini operiert. In seiner Vorstellung tritt Basini sozusagen
an die Stelle Gottes als Verkörperung der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ sowie,
in Anlehnung an dieses Paradigma, als Verkörperung einer zweigesichtigen
Wirklichkeit, wie auch immer diese aussehen mag.
Im Laufe der Verwirrungen wird die ganze Tragweite der Beziehung zwi-
schen Törleß und Basini ersichtlich. Zunächst einmal verknüpft sich diese
Wahrnehmung Basinis auf undurchsichtige Weise mit Törleß’ Erfahrung
des Unendlichen, wie es sich ihm an jenem Nachmittag im Park offenbart,
prägen doch beide Momente die gleiche – bald paradigmatische Bedeutung
annehmende – ›unähnliche Ähnlichkeit‹, die gleiche ›Zweigesichtigkeit‹.
Signifikanterweise erfolgt Törleß’ Unendlichkeitserlebnis inmitten der Auf-
regung über Basinis Vergehen, das auch Anlass gab zu Beinebergs oben
erörterten Überlegungen.
Kurz nach dem Gespräch mit Beineberg war Törleß im Park spazieren
gegangen und hatte sich ins Gras gesetzt. Wie wir lesen, »blinzelte« er gera-
de unbestimmt träumend zwischen den sich entblätternden Kronen zweier
vor ihm stehender Bäume hindurch«, als er »plötzlich bemerkte […], –
und es war ihm, als geschähe dies zum ersten Male, – wie hoch eigentlich
der Himmel sei. Es war ein Erschrecken. Gerade über ihm leuchtete ein
kleines, blaues, unsagbar tiefes Loch zwischen den Wolken« (62). Gerade
die räumliche Begrenzung des Himmels durch die diesen einrahmenden

34
Bäume bzw. Wolken – dadurch ist nur ein kleiner Ausschnitt für Törleß
sichtbar – lässt den Himmel seine ganze Unbegrenztheit offenbaren. Indem
seine ›horizontale‹ Dimension vor den Augen des Schauenden verringert
erscheint, erweitert sich dessen vertikale Dimension um so mehr. Die phy-
sische Begrenzung führt nur zu einer Verstärkung der ›metaphysischen‹
Entgrenzung. Der »fortwährend weiter, ins Unendliche« sich zurückzie-
hende Himmel, der ›vertikale‹ Himmel also, hat zum einen Ähnlichkeit
mit dem begrenzten, ›horizontalen‹, unterscheidet sich aber zugleich von
ihm insofern, als er auf Grund seiner Tiefendimension für das menschliche
Auge nicht fass- bzw. erfassbar ist: In seiner Unendlichkeit unterscheidet er
sich von der Begrenztheit des durch zwei Bäume bzw. Wolken abgesteck-
ten, ›horizontalen‹ Himmels. Vor dem thematischen Hintergrund dieses
›Verwirrung‹ stiftenden Erlebnisses lässt sich die Beziehung zwischen ›ver-
tikalem‹ und ›horizontalem‹ Himmel in Analogie setzen zur Beziehung
zwischen Gott und Mensch, die im Sinne der negativen Theologie eine
der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ ist: So wie der ›endliche‹ Himmel in einer
Hinsicht den ›unendlichen‹ nachbildet, bildet der ›endliche‹, will heißen,
begrenzte Mensch Gott – als das Unendliche, Unbegrenzte –, nach, aber
hinsichtlich ihrer Transzendenz unterscheiden sich der ›unendliche‹ Him-
mel und Gott vom ›endlichen‹ Himmel, dem ›endlichen‹ Menschen. Hier-
in gründet ihre Unähnlichkeit.
Die Vergleichbarkeit zwischen Törleß’ Unendlichkeitserlebnis und der
mystischen Gotteserfahrung erstreckt sich auch auf den Versuch, eine sol-
che Erfahrung in Worte zu fassen. So wie der Mystiker beim Versuch,
seiner Gotteserfahrung sprachlichen Ausdruck zu verleihen, dabei immer
wieder feststellen muss, dass er mit Worten nur annähernd an das Erleb-
nis heranreicht, das Erlebnis selbst sich jedoch nicht sprachlich ›greifen‹
lässt, gelingt es auch Törleß nicht, sich des immer weiter in die Ferne sich
zurückziehenden Himmels zu bemächtigen. Dies hatte er versucht, und
zwar zunächst mit Hilfe einer imaginierten Leiter, dann mit Blicken. Wie
es heißt: »Ihm war, als müßte man da mit einer langen, langen Leiter hin-
einsteigen können.« (62) Aber, – so zeigt sich die grundlegende Paradoxie
des Erlebnisses erneut –,
je weiter er hineindrang und sich mit den Augen hob, desto tiefer zog sich der
blaue, leuchtende Grund zurück. Und es war doch, als müßte man ihn einmal
erreichen und mit den Blicken ihn aufhalten können. Dieser Wunsch wurde
quälend heftig.
Es war, als ob die aufs äußerste gespannte Sehkraft Blicke wie Pfeile zwischen
die Wolken hineinschleuderte und als ob sie, je weiter sie auch zielte, immer
um ein weniges zu kurz träfe. (62)

35
Die sprachkritische Dimension dieser Vergleiche liegt nah. Blicke und Pfei-
le stehen hier für Worte bzw. Begriffe, mittels derer das Phänomen erfasst
werden soll.38 Die Erfahrung der ›Un-zuläng-lichkeit‹ des Wortes hatte
Törleß bereits in Bezug auf die »Ereignisse, Menschen, Dinge« gemacht,
gegenüber denen er »das Gefühl sowohl einer unauflöslichen Unverständ-
lichkeit als einer unerklärlichen […] Verwandtschaft hatte«. Hier war von
einer »Scheidelinie« die Rede, »die wie ein Horizont vor seinem Verlangen
zurückwich, je näher er ihr kam« (25). Törleß spürt die Kluft zwischen der
Erfahrung des Unendlichen und den Worten, die diese Erfahrung sprach-
lich einholen sollen:
›Freilich gibt es kein Ende‹, sagte er sich, ›es geht immer weiter, fortwährend
weiter, ins Unendliche.‹ Er hielt die Augen auf den Himmel gerichtet und sagte
sich dies vor, als gälte es die Kraft einer Beschwörungsformel zu erproben. Aber
erfolglos; die Worte sagten nichts, oder vielmehr sie sagten etwas ganz anderes,
so als ob sie zwar von dem gleichen Gegenstande, aber von einer ganz anderen,
fremden, gleichgültigen Seite desselben redeten. (62f.)

Ähnlich Törleß’ früherer Versuch, das ›Überraschende‹, ›noch nie Gesehe-


ne‹, ›ganz Stumme‹ in Worte zu fassen: »[…] ›aber dann ist es‹«, so Törleß,
»›auch nur mehr entfernt ähnlich, wie in einer riesigen Vergrößerung, wo
man nicht nur alles deutlicher sieht, sondern auch Dinge, die gar nicht
da sind … .‹« (18).
Den Begriff des Unendlichen hatte Törleß zunächst nur als blutleeren
Terminus aus dem Mathematikunterricht gekannt; das Wort hatte sich
bisher nur von seiner ›ratioïden‹ Seite gezeigt:

Er hatte sich nie etwas Besonderes darunter vorgestellt. Es kehrte immer wieder;
irgend jemand hatte es einst erfunden, und seither war es möglich, so sicher
damit zu rechnen wie nur mit irgend etwas Festem. Es war, was es gerade in der
Rechnung galt; darüber hinaus hatte Törleß nie etwas gesucht. (63)

Auf einmal offenbart sich dem Verwirrten eine zweite, sprich: die ›nicht-
ratioïde‹ Dimension dieses Wortes:

Und nun durchzuckte es ihn wie mit einem Schlage, daß an diesem Worte et-
was furchtbar Beunruhigendes hafte. Es kam ihm vor wie ein gezähmter Begriff,
mit dem er täglich seine kleinen Kunststückchen gemacht hatte und der nun
plötzlich entfesselt worden war. Etwas über den Verstand Gehendes, Wildes,
Vernichtendes schien durch die Arbeit irgendwelcher Erfinder hineingeschlä-

38 Vgl. in diesem Zusammenhang Willemsen: Existenzrecht der Dichtung, 147.

36
fert worden zu sein und war nun plötzlich aufgewacht und wieder furchtbar
geworden. Da, in diesem Himmel, stand es nun lebendig über ihm und drohte
und höhnte. (63)

Im Zuge dieser epiphanen Erkenntnis erhält das Phänomen der Unend-


lichkeit, wie zuvor Basini, zwei Gesichter. Zum einen stellt es eine Ab-
straktion dar, der man sich zum Rechnen bedienen kann, solange man
im Bereich logischer, nach Musil ›ratioïder‹ Denkstrukturen bleibt. Zum
anderen enthält es aber »[e]twas über den Verstand Gehendes, Wildes, Ver-
nichtendes«, worin für Törleß sein ›wahres‹ Wesen liegt. Das implizierten
jedenfalls Törleß’ Gedanken; mit dem »gezähmte[n] Begriff könne man
lediglich »seine kleinen Kunststückchen« machen, während das, was von
ihm »hineingeschläfert worden« sei, das weitaus größere Wirkungs- (und
Bedrohungs-)Potential entfalte.39
Die Unendlichkeitserfahrung wird zum Paradigma für die Art, wie Tör-
leß »Ereignisse, Menschen, Dinge, ja sich selbst« im Ganzen erlebt:

Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als et-
was Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher
Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz
Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte.
Gewiß: es gibt für alles eine einfache, natürliche Erklärung, und auch Törleß
wußte sie, aber zu seinem furchtsamen Erstaunen schien sie nur eine ganz äuße-
re Hülle fortzureißen, ohne das Innere bloßzulegen, das Törleß wie mit unna-
türlich gewordenen Augen stets noch als zweites dahinter schimmern sah. (64)

Das gilt für Beineberg und Reiting, und in besonderem Maße für Basini
und »die Vorstellung dessen, was mit dem geschah«, – eine Vorstellung,
die Törleß signifikanterweise »völlig entzweigerissen« hatte (63). Diese Vor-
stellung

[…] war bald vernünftig und alltäglich, bald von jenem bilderdurchzuckten
Schweigen, das allen diesen Eindrücken gemeinsam war, das nach und nach in
Törleß’ Wahrnehmung gesickert war und nun mit einem Male beanspruchte,
als etwas Wirkliches, Lebendiges behandelt zu werden; genau so wie vorhin die
Vorstellung der Unendlichkeit. (63f.)

Das ›Wilde‹, ›Lebendige‹, das ›über den Verstand Gehende‹, das Törleß
hinter den alltäglichen und vernünftigen Erscheinungen vermutet, meint

39 Vgl. in diesem Zusammenhang Albertsens Ausführungen über den Prozess und


die Konsequenzen der Begriffsbildung und die positive Komponente des (noch)
nicht begrifflich Erfassten in: Albertsen: Ratio und Mystik, 66f.

37
er schon längst zumindest erahnt zu haben. Es ist etwas, von dem er sich
bedroht fühlt:

Törleß fühlte nun, daß es ihn von allen Seiten umschloß. Wie ferne, dunkle
Kräfte hatte es wohl schon seit je gedroht, aber er war instinktiv davor zurück-
gewichen und hatte es nur zeitweilig mit einem scheuen Blick gestreift. Nun
aber hatte ein Zufall, ein Ereignis seine Aufmerksamkeit verschärft und darauf
gerichtet, und wie auf ein Zeichen brach es nun von allen Seiten herein; eine
ungeheure Verwirrung mit sich reißend, die jeder Augenblick aufs neue weiter
breitete. (64)

Das Gefühl, eine andere Dimension – die des Unendlichen – zu erahnen,


ähnelt dem, auf »etwas Überraschendes, noch nie Gesehenes« zu warten,
das sich beim Anblick der Bauersfrauen eingestellt hatte, und es ähnelt
auch dem Gefühl, »auf ein ernstes Geheimnis« zu lauschen, das sich bei
Anbruch der Dämmerung breitmachte. Ich hatte konstatiert, dass sich
hinter jenem zu ›belauschenden‹ Geheimnis zum einen die Erfahrung der
sexuellen Vereinigung, zum anderen die der unio mystica verbirgt. Auch das
Unendlichkeitserlebnis erhält diese beiden Komponenten. Wenn Törleß
sagt, er sei vor den »ferne[n], dunkle[n] Kräften […] zurückgewichen«,
die das Unendliche in sich berge, erinnert das an seine Scheu vor der
»Verantwortung, mitten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens
zu blicken«, die er »nur für einen Augenblick [habe] aushalten können«, so
dass »seine Gedanken […] zu etwas anderem, das auch darin lag, [flüch-
teten]« (24).
Ich hatte diese Passage dahingehend ausgelegt, dass mit dem Blick »mit-
ten in noch unbeschriebene Beziehungen des Lebens« die Erfahrung der
mystischen Einheit mit dem Anderen gemeint sei, und dass das andere,
»das auch darin lag«, sich als sexuelle Vereinigungsphantasie identifizie-
ren ließ. Die Kette von Erinnerungen, die das Unendlichkeitserlebnis bei
Törleß auslöst, stellt denn auch einen deutlichen Zusammenhang mit der
Dämmerungseinsamkeit her, die eine solche Phantasie evoziert hatte, denn
Törleß muss jetzt an »jene Kindheitserinnerung« denken, »in der die Bäu-
me so ernst und schweigend standen wie verzauberte Menschen«. Auch
die Tatsache, dass Törleß »den Himmel riesig und schweigend auf sich
herunterstarren [fühlt]«, verknüpft das Unendlichkeitserlebnis mit dem
ursprünglichen Dämmerungserlebnis, bei dem »die Bäume schweigend
im Kreise« gestanden und ihm zugesehen hatten (24). Törleß’ nächster
Einfall – »jene Gedanken bei Bozena« – lässt die erotische Dimension
des Dämmerungserlebnisses sichtbar werden. Danach kommt ihm »jener
Augenblick der Stille im Garten vor den Fenstern der Konditorei« in den

38
Sinn, »ehe sich die dunklen Schleier der Sinnlichkeit niedersenkten«. Als
Nächstes fallen ihm Beineberg, Reiting und Basini ein; auch sie erscheinen
in einem erotischen Licht. Das ›Fremde‹, ›Unwirkliche‹, das Törleß »oft
während des Bruchteils eines Gedankens« an ihnen empfindet, dürfte ihre
Geschlechtlichkeit sein, die Törleß abwehrt, indem er dies zu etwas ›Frem-
dem, Unwirklichem‹ macht. Im Laufe des Gesprächs in der Konditorei
hatte Törleß Beinbergs schöne und zugleich ›unzüchtige‹ Hände bemerkt,
und es hatte sich daraufhin »etwas Geschlechtliches unvermutet […] zwi-
schen seine Gedanken [gedrängt]« (24). In den »dunkle[n] Kräften«, vor
denen Törleß »instinktiv [zurückweicht]«, kann man also – auf einer Ebene
zumindest – nach außen projizierte sexuelle Impulse sehen, die auf einmal
über ihn ›hereinbrechen‹, »eine ungeheure Verwirrung mit sich reißend«,
wie es heißt (64), zumal mit dem »Zufall« – dem »Ereignis«, das »seine
Aufmerksamkeit verschärft und darauf gerichtet« hatte – der Vorfall mit
Basini gemeint ist.
Es ist signifikant, dass Törleß’ Gefühl des völligen ›Entzweigeris-
senseins‹ sich gerade in der »Vorstellung dessen, was mit [Basini] geschah«,
manifestiert: Diese sei einerseits »bald vernünftig und alltäglich« gewesen,
andererseits »von jenem bilderdurchzuckten Schweigen, das allen diesen
Eindrücken gemeinsam war« (63f.). Im ›bilderdurchzuckten Schweigen‹
verbergen sich auch Törleß’ abgewehrte sexuelle Regungen. Man erinnere
sich an die Bauernhöfe, die Törleß als eine Reihe von Bildern erlebte, alten
Malereien ähnlich. Vor solchen Bildern stehend war ihm das Gefühl über-
kommen, »auf irgend etwas von fürchterlicher, tierischer Sinnlichkeit«, zu-
dem auf »etwas ganz Stummes« zu warten (17f.). Dieses »bilderdurchzuckte
[…] Schweigen, das allen diesen [in den oben aufgezählten Erinnerungen
und Einfällen enthaltenen] Eindrücken gemeinsam war […] und nun mit
einem Mal beanspruchte, als etwas Wirkliches, Lebendiges behandelt zu
werden« (63f.), entpuppt sich also auf einer Ebene als Ausdruck sexueller
Inhalte.40 In ihm manifestiert sich eine zuvor verschlossene Dimension der
Wirklichkeit, die sich Törleß eröffnet, aber nur ansatzweise. Die in diesem
Zusammenhang geübte Sprachkritik – wie es heißt, scheint die »einfache,
natürliche Erklärung nur eine ganz äußere Hülle fortzureißen, ohne das
Innere bloßzulegen« (64) – resultiert aus dem allmählichen Sichtbarwer-

40 In der, wenn man so will, ›Doppelbesetzung‹ des »bilderdurchzuckten Schwei-


gens« als (latent) sexuellen und mystischen Moments (vgl. die bereits erwähnte
mystische Dimension dieser Formel) begegnet man erneut der vielerorts kon-
statierten Verquickung von Mystik und Sexualität.

39
den einer zuvor verschlossenen Dimension der Wirklichkeit, die sich aber
(noch) der vollständigen Erkenntnis des Verwirrten entzieht.
Entsprechend dem Doppelgesicht solcher Geheimnisse, auf die Törleß
›lauscht‹, kann das Wort vom ›bilderdurchzuckten Schweigen‹ jedoch auch
mystisch gelesen werden,41 eignet es sich doch als Formel zur Charakteri-
sierung der ›um-schreibenden‹ Versprachlichung mystischer Gotteserfah-
rungen, wie sie eine reiche Bekenntnistradition vorführt – eine Traditi-
on, im Übrigen, mit der Musil bestens vertraut war. In der Formel eines
›bilderdurchzuckten Schweigens‹ findet man die beiden Konstituenten
eines mystischen Sprechens vereinigt: die Notwendigkeit, in Gleichnissen
zu reden und das letztliche Versagen der Sprache im ›Angesicht‹ Gottes.
In Verbindung mit dem Wort vom ›bilderdurchzuckten Sprechen‹ äußert
Törleß einen sprachkritischen Gedanken, der das fundamentale Paradoxon
des mystischen Sprechens in etwa formuliert: »Immer aber ist es so, daß
das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, un-
verständlich und verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken
zu unserem bleibenden Besitze fesseln wollen.« (65)
Beim Aussprechen dieses Paradoxons fällt Törleß eine Szene aus der
Kindheit wieder ein, in der ihm die Diskrepanz zwischen unmittelbarem
und sprachvermitteltem Erleben bewusst geworden war:

Ihm fiel ein, daß er einstens, als er mit seinem Vater vor einer jener Landschaf-
ten stand, unvermittelt gerufen hatte: o es ist schön, – und verlegen wurde, als
sich sein Vater freute. Denn er hätte ebenso gut sagen mögen: es ist schrecklich
traurig. Es war ein Versagen der Worte, das ihn da quälte, ein halbes Bewußt-
sein, daß die Worte nur zufällige Ausflüchte für das Empfundene waren.
Und heute erinnerte er sich des Bildes, erinnerte sich der Worte und deutlich
jenes Gefühles zu lügen, ohne zu wissen, wieso. (65)

Törleß sucht nach einer neuen Sprache, nach Möglichkeiten, das Erleben
erfassbar zu machen, sprich: nach dem, was den mystisch Bekennenden
vornehmlich beschäftigt: »Er hatte das Bedürfnis, rastlos nach einer Brücke,
einem Zusammenhange, einem Vergleich zu suchen – zwischen sich und
dem, was wortlos vor seinem Geiste stand.« (65)

41 Zur Bildhaftigkeit des mystischen Sprechens vgl. Hermann Kunisch (Hrsg.):


Ein Textbuch aus der altdeutschen Mystik, Hamburg 1958, 11. Vgl. Ulrichs
Rede in Bezug auf die Qualität kontemplativer Entrückungserlebnisse, vom
»Geheimnis [einer] betäubenden, tief vertrauten Bildwerdung« (B 54a.), zitiert
in Brosthaus: Entwicklung des aZ, 429.

40
In Hinblick auf Musil’sche Erkenntniskritik könnte man aber auch
sagen, hierin äußere sich Törleß’ Bedürfnis, zwei Erfahrungsweisen, und
folglich ›zwei Welten‹ – die auf ›ratioïde‹ und ›nicht-ratioïde‹ Weise erfahr-
baren – zu verbinden, zu integrieren. »Brücke«, »Vergleich« sind die ersten,
tentativen Lösungsformeln, die diesem Bemühen gelten. Auf dem Wege
›ratioïden‹ Erkennens allein sei keine ›restlose Einsicht‹ zu erlangen, so der
Sinn folgenden Gleichnisses: »Es war, als ob er [Törleß] eine unaufhörliche
Division durchführen müßte, bei der immer wieder ein hartnäckiger Rest
heraussprang […].« (65) Beim Erlebnis der Unendlichkeit des Himmels
erwies sich der mathematische Begriff des Unendlichen denn auch als un-
fähig, das Phänomen hinreichend zu erfassen. Erkenntniskritisch betrachtet
verweist der »hartnäckige[…] Rest«, der »immer wieder […] heraussprang«,
auf die Dimension der Wirklichkeit, die sich dem ›ratioïden‹ Zugriff ver-
sperrt; im Sinne einer mystischen Lesart liegt es nahe, hierin ein Gott
geltendes Gleichnis zu sehen, wobei der »hartnäckige […] Rest« Gott in
seiner Menschenunähnlichkeit und somit Unfassbarkeit darstellt.
Angesichts der Erkenntnis, dass es ihm nicht gelingen kann, dem Him-
mel sein ›Geheimnis‹ zu ›entreißen‹, stellt sich bei Törleß »das Gefühl
einer tiefen Einsamkeit« ein, das an die zuvor geschilderte, als Kind erlebte
Einsamkeit im Walde anklingt, wobei der Himmel hier an Stelle der Bäu-
me tritt: »Der Himmel schwieg. Und Törleß fühlte, daß er unter diesem
unbewegten, stummen Gewölbe ganz allein sei, er fühlte sich wie ein klei-
nes lebendes Pünktchen unter dieser riesigen, durchsichtigen Leiche.« (66)
Während er als Kind aus einem Gefühl der Überforderung heraus – aus
Scheu vor der »Verantwortung, mitten in noch unbeschriebene Beziehun-
gen des Lebens blicken« zu müssen – in die im Hintergrund ›lauernde‹ Ein-
samkeit geflüchtet war, wird die hier erlebte, ähnlich geartete Einsamkeit
durch ein Gefühl der Unfähigkeit verursacht, – der Unfähigkeit, in solche
Beziehungen überhaupt Einblick zu bekommen, veranschaulicht durch das
Licht, das »einen milchigen Schimmer« annimmt und »wie ein bleicher
kalter Nebel vor seinen Augen [tanzt]« (66).
Während das Himmelslicht an Wärme und Lebendigkeit verliert, regt
sich aber die Mauer. Sie ist es jetzt, die »sich über ihn [beugt …] und ihn
schweigend [ansieht]«. Aber dieses Schweigen ist belebt: »Von Zeit zu Zeit
kam ein Rieseln herunter, und ein unheimliches Leben erwachte in der
Wand.« (66) Törleß wird des Lebens gewahr, das die Mauer in sich birgt:
»Neben ihm, in einem feuchten, düsteren Winkel wucherte Huflattich und
spreitete seine breiten Blätter zu phantastischen Verstecken den Schnecken
und Würmern.« (66) Im Anblick der unerreichbaren Tiefe des Himmels

41
wendet sich Törleß dem Leben in der Mauer zu, das er jetzt als »das einzig
Lebendige in einer zeitlosen schweigenden Welt … . .« (66) wahrnimmt.
Lebendig wohl deshalb, weil es keine ›Verwirrung‹ stiftet: Törleß muss sich
ihm nur zuwenden, und es erschließt sich dem Betrachtenden sogleich.
Wenn es heißt, »der helle Tag (schien) selbst zu einem unergründlichen
Versteck geworden zu sein, und das lebendige Schweigen umstand Törleß
von allen Seiten« (66), scheint hiermit der Weg in eine diesseitige Unend-
lichkeit gewiesen zu werden, eine Unendlichkeit, die sich in der tageshellen
Natur offenbart.42

1.2. Stationen sexuell-epistemologischer Verwirrung:


Törleß zwischen sexueller Begierde und ›Wissbegierde‹

1.2.1. Auf dem Dachboden: Formen der Begierde


In der Szene auf dem Dachboden, in der Basini auf qualvolle Weise zur
Rechenschaft gezogen wird für sein Vergehen, – so der äußere Anlass für
die an ihm ausgeführten sadistischen Exerzitien –, kulminiert die äußere
Handlung des Romans. Zugleich stellt sie einen Höhepunkt der inneren
Handlung dar und lässt Törleß’ ›Verwirrungen‹ in ihrer ganzen Komple-
xität erscheinen. Es lohnt sich also, diese Szene eingehend zu betrachten.
Zunächst zum Geschehen selbst: Anfangs wartet Törleß, aus der Beob-
achterposition heraus, auf das Erscheinen Basinis. Dem Befehl Reitings
und Beinebergs, auf dem Dachboden zu erscheinen, war dieser gefolgt.
Während Basini sich auf die Mitte des Raumes zubewegt, legt Beineberg
eine Blendlaterne frei, – die einzige Lichtquelle im Raum –, und die Dun-
kelheit wird von einem »Kegel tanzenden Staubes« unterbrochen, in dessen
Feld Basini dann eintritt: »[…] im nächsten Augenblicke tauchte in der
breiten Basis des Lichtkegels das – in der zweifelhaften Beleuchtung asch-
fahle – Gesicht Basinis auf.« (69) Wie zu einer Photographie erstarrt die
Erscheinung: »Basini lächelte. Lieblich, süßlich. Starr festgehalten, wie das
Lächeln eines Bildes, hob es sich aus dem Rahmen des Lichtes heraus.« (69)
Törleß wird von diesem Anblick in Beschlag genommen. Die Erscheinung
fixiert sich vor seinem inneren Auge. Er ist so sehr davon gebannt, dass er

42 Vgl. in diesem Zusammenhang Brosthaus’ Thematisierung der Lichtsymbolik


im Mann ohne Eigenschaften, besonders in Bezug auf die ›Atemzüge eines Som-
mertags‹ (Brosthaus: Entwicklung des aZ, 410ff.).

42
»das Zittern seiner Augenmuskeln« (69) fühlt. Es folgen Gewalttaten, die
Laterne kippt um, jetzt beleuchtet die Laterne nicht mehr Basini, sondern
»ihr Licht [fließt] verständnislos und träge zu Törleß’ Füßen über den
Boden hin … .« (69).43 Damit verfinstert sich der Schauplatz der äußeren
Handlung, so dass Törleß, der bisher seine ganze äußere und innere Auf-
merksamkeit auf die Erscheinung Basinis gerichtet hatte, die daraufhin
einsetzenden sadistischen Handlungen lediglich akustisch verfolgen kann.
Der »viehische[n] Lust mit hinzuspringen und zuzuschlagen« gibt sich Tör-
leß nicht hin; vielmehr liegt »[ü]ber seinen Gliedern […] mit schwerer
Hand eine Lähmung« (69f.). Statt zu horchen, was mit Basini passiert,
schaut Törleß jetzt dem Licht zu, »das sich zu seinen Füßen in einer Lache
er[gießt]« (70). Dem Richtungswechsel der Blendlaterne folgend, – die
nun nicht mehr das äußere Geschehen um Basini, sondern Törleß selbst
bzw. seine Füße beleuchtet –, lenkt Törleß seine Aufmerksamkeit jetzt auf
sich selbst:

Dabei beobachtete er sich selbst. Aber so, als ob er eigentlich ins Leere sähe und
sich selbst nur wie in einem undeutlichen Schimmer von der Seite her erfaßte.
Nun rückte aus diesem Unklaren – von der Seite her – langsam, aber immer
sichtlicher ein Verlangen ins deutliche Bewußtsein. (70)

Das immer stärker werdende Verlangen zieht »ihn […] auf die Knie; auf
den Boden«, treibt »ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen«, er fühlt
»durch den nackten Leib hindurch sein Herz gegen das Holz schlagen«
(70). Törleß muss schließlich »[z]u seinem Befremden [erkennen]«, »daß
er sich in einem Zustande geschlechtlicher Erregung« (70) befindet, eine
Tatsache, die er jetzt folgendermaßen reflektiert:
Es ging von den Augen aus, – das fühlte er nun, – von den Augen aus wie
eine hypnotische Starre zum Gehirn. Es war eine Frage, ja eine … nein, eine
Verzweiflung … oh es war ihm ja bekannt …: die Mauer, jener Gastgarten,
die niederen Hütten, jene Kindheitserinnerung … dasselbe! dasselbe! … ›Ist

43 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bedeutung, die Licht im Mann


ohne Eigenschaften erhält. Brosthaus weist auf die leitmotivische Verwendung
der Lichtsymbolik in diesem Roman hin, auf die allmähliche ›Aufhellung‹, die
»das Erlebnis der Geschwister zum taghellen mystischen Augenblick« begleitet,
wobei »die verschiedenen Modifikationen des Lichts symbolische Funktionen
[annehmen]. […] dabei erscheint das Licht in verschiedenen formalen Aggre-
gatzuständen; – metaphorisch, gleichnishaft, im Vergleich oder als wirkliches
Licht; es ist Lampenlicht oder das Licht der Gestirne; es ist ein Leuchten der
Gegenstände, unsichtbar sichtbare Helligkeit, seelische Erleuchtung, Glanz der
Erkenntnis oder ›verklärtes‹ Gefühl.« Brosthaus: Entwicklung des aZ, 408f.

43
es nicht wie ein Auge?‹ sagte er und wies auf den über den Boden fließenden
Lichtschein. (70f.)

Das diffuse Gefühl, »[e]s ging von den Augen aus«, bezieht sich wohl zu-
nächst auf Basini, überträgt sich aber bald auf den Lichtschein selbst: »›Mir
ist dieses Licht‹«, sagt Törleß, »›wie ein Auge. Zu einer fremden Welt. Mir
ist, als sollte ich etwas erraten. Aber ich kann nicht. Ich möchte es in mich
hineintrinken … .‹« (71)44 Er spürt schließlich »›[e]in Bedürfnis, sich in
dieser Licht-Lache zu wälzen, – auf allen vieren, ganz nah in die staubigen
Winkel zu kriechen, als ob man es so erraten könnte … .‹« (71). Törleß
ahnt, dass er in Ansätzen einer ›zweiten Welt‹ gewahr geworden ist, die
seinen Kameraden verschlossen geblieben ist bzw.

daß er diese Ereignisse mit einem Sinne mehr in sich aufnahm als seine Ge-
fährten.[…] Er wußte es ja schon ganz genau, daß für ihn etwas aufgespart
war, das immer wieder und in immer kürzeren Zwischenräumen ihn mahnte;
eine Empfindung, die für die anderen unverständlich war, für sein Leben aber
offenbar große Wichtigkeit haben mußte.
Nur was diese Sinnlichkeit dabei zu bedeuten hatte, wußte er nicht, aber er
erinnerte sich, daß sie eigentlich schon jedesmal dabei gewesen war, wenn die
Ereignisse angefangen hatten, nur ihm sonderbar zu erscheinen, und ihn quäl-
ten, weil er hiefür keinen Grund wußte. (71)

Die ganze Episode ist in höchstem Maße hintersinnig. Letztlich dient das
äußere Geschehen nur als Vorwand für das Geschehen auf Törleß’ innerer
Bühne. Zuvor hatte Törleß in Basini die Verkörperung einer zweigesichti-
gen Wirklichkeit gesehen. Aber Basini fungierte nicht nur in sich als Kon-
kretisierung einer dualistischen Wirklichkeit, sondern übernahm in Bezug
auf Törleß die Rolle des Du, des Anderen. Im Sinne der gleichlautenden,
aus der Tradition der negativen Theologie stammenden Formel war Basi-
ni aufgrund seiner ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ gewissermaßen an die Stelle
Gottes getreten: In Törleß’ Empfinden ist Basini ihm ähnlich und unähn-
lich zugleich. Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit Törleß bot sich Basini als

44 Zwei Bezüge lassen sich hier herstellen. Zum einen scheint der Text auf christ-
liche Ikonographie anzuspielen, d.h. auf den seit dem 15. Jahrhundert geläufigen
Topos des Auges Gottes, das in Darstellungen oft von einem Strahlenkranz
umgeben ist und als Symbol göttlicher Allwissenheit erscheint; vgl. Lexikon für
Theologie und Kirche. Hrsg. von Walter Kasper, Freiburg 1993, Band I; zum
anderen spielt der Text wohl auf erkenntnistheoretische und mystische Vorstel-
lungen göttlicher Erleuchtung an, auf deren Vielfalt ich hier aber nicht eingehen
kann. Vgl. Werner Beierwaltes: »Erleuchtung« (in: Historisches Wörterbuch der
Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 2, Darmstadt 1972, 712–717).

44
Identifikationsfigur, als ›Doppelgänger‹ an; aufgrund seiner Unähnlichkeit
wiederum verkörperte Basini das fremde Gegenüber, das Andere, – aber
auch: den Anderen.
In der Dachbodenszene wird diese Beziehung zwischen Basini und
Törleß in Szene gesetzt. Törleß’ Wahrnehmung der beleuchteten Gestalt
Basinis inszeniert eine Art mystische Gottesschau in hochgradig profani-
sierter Form, bei der das schauende Subjekt der Ähnlichkeit und Unähn-
lichkeit des Gegenübers zugleich gewahr wird. Dieser Akt wird aber nicht
vollzogen, denn in Folge der Handgreiflichkeiten auf der äußeren Bühne
kippt die Laterne um. Das Licht fließt jetzt in Törleß’ Richtung, »[sickert]
in die Fugen zwischen den Balken und erstickt […] in einem staubigen,
schmutzigen Dämmern« (70). Dies signalisiert einen Richtungswechsel von
der objektgerichteten – hier profanisierten – ›Gottesschau‹ zur Selbstschau,
zur ›Selbstbelichtung‹. Was nun einsetzt, ist denn auch ein entsprechender
Prozess, bei dem Törleß, der Bewegung des Lichtes folgend, allmählich
Selbsterkenntnis erlangt. Wenn es heißt, das Licht habe sich zunächst
»zu seinen Füßen in einer Lache [ergossen]«, so entspricht dies Törleß’
Empfinden, »als ob er eigentlich ins Leere sähe und sich selbst nur wie
in einem undeutlichen Schimmer von der Seite her erfaßte«. Allmählich
rückt Törleß aber – bildhaft gesprochen – ins Zentrum des Blickfelds, will
heißen, in den Schein der Blendlaterne, und das Subjekt erlangt Kenntnis
vom eigentlichen innerpsychischen Geschehen. Törleß wird der sexuellen
Begierde bewusst, die er Basini gegenüber spürt: »Nun rückte aus die-
sem Unklaren – von der Seite her – langsam, aber immer sichtlicher ein
Verlangen ins deutliche Bewußtsein.« (70) Im Bild von der »mächtige[n]
Blutwelle«, mit der Törleß sein Verlangen, das »daherflutend den Kopf
benommen« habe, vergleicht, wird eine implizite Parallele zwischen Licht-
flut und Blutwelle gezogen. Die Verbindung zwischen Törleß und dem
Sexualobjekt Basini wird mittels einer Blutwelle, die zwischen Törleß und
der idealisierten, sprich: die Stelle Gottes einnehmenden Gestalt des Basini
mittels einer ›Lichtwelle‹ hergestellt. Auch hier kommt es, wie bei den
bereits gedeuteten Erlebnissen ähnlicher Art, zu einer Verquickung von
sexuellem ›Vereinigungs‹-Trieb und Sehnsucht nach mystischer Vereini-
gung.45 Diese manifestierte sich bereits in Törleß’ Bedürfnis, sich in dieser

45 Die mystische Sprache erhält mitunter eine stark erotisierte Komponente. Tho-
mas Pekar geht dezidiert psychoanalytisch vor und betrachtet »Augenlust und
Augenblick« – dies der Titel des Kapitels über Die Verwirrungen in seiner Musil-
Monographie – aus der Perspektive der Triebproblematik. In Bezug auf die

45
Licht-Lache »zu wälzen«. Der eigenwillige Neologismus ›Licht-Lache‹ lässt
natürlich an eine Blutlache denken.
Dass Törleß’ Erlebnis auf dem Dachboden letztendlich in einer Art
mystischer Schau kulminiert, legen Törleß’ anschließende Reflexionen
nahe. »Es ging von den Augen aus« – so Törleß’ unmittelbare Reaktion
darauf, dass »es« ihn »wieder hinunter[zog]« (70). Zwar ist hierin zunächst
ein sexueller Impuls zu sehen, den Törleß schon vorher wahrgenommen
hatte: »Es trieb ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen«, hieß es.
Zunächst dürften also die Augen, von denen »es« ausgehe, Basinis sein;
Törleß scheint ausdrücken zu wollen, dass sie eine erotische Wirkung auf
ihn ausüben: eine erotische ›Ausstrahlung‹ haben, die ihn sexuell erregen.
Aber auf einmal redet er nicht mehr von ›den Augen‹, sondern von einem
einzigen, und meint damit das Licht: »›Ist das nicht wie ein Auge?‹ sagte
er und wies auf den über den Boden fließenden Lichtschein.« (71) Dieser
zweite Bezug erweist sich als der wesentliche; Törleß kann bald in aller
Klarheit artikulieren: »›Mir ist dieses Licht wie ein Auge. Zu einer fremden
Welt.‹« (71)
Die Welt, die dieses Licht erschließen soll, dürfte jene ›zweite Welt‹
sein, die in der Dämmerungseinsamkeit, aber auch beim Anblick der Bau-
ersfrauen sich ansatzweise kundtat. Das suggeriert auch der gestammelte
Einfall in Zusammenhang mit Törleß’ Versuch zur Beschreibung der be-
sonderen Wirkung, die ›jenes Auge‹ auf ihn ausübe: »Es war eine Frage,
ja eine … nein, eine Verzweiflung … oh es war ihm ja bekannt …: die
Mauer, jener Gastgarten, die niederen Hütten, jene Kindheitserinnerung
… dasselbe, dasselbe!‹« (71) Auch jetzt, wie bei diesen früheren, bald ero-
tischen, bald mystischen Erlebnissen, bleibt es bei einer Ahnung: »›Mir

Dachbodenszene schreibt er: »Trieb und gesteigerte Wahrnehmung sind hier


durch das Augenmotiv miteinander verbunden. Durch das Zurückdrängen sei-
ner Triebregungen, die bei Reiting und Beineberg im Schlagen ihren Ausdruck
findet, gelingt Törleß eine außerordentliche Wahrnehmungssteigerung, die ihn
– im Nadelöhr des Augenblicks – bis an einen mystischen Erfahrungsraum
heranführt.« (Pekar: Sprache der Liebe, 50) Der Verweis auf einen »mystischen
Erfahrungsraum« wird nicht weiter vertieft, ebenso wenig wie andere eingestreu-
te Verweise ähnlichen Inhalts. Dabei scheint mir die Verbindung zwischen sexu-
eller und (eher ersehnter bzw. imaginierter als vollzogener) mystischer Erfahrung
für die Dachbodenszene von konstitutiver Bedeutung zu sein, so dass man das
Augenmerk auf das Zusammenspiel dieser beiden Erfahrungen richten sollte,
will man der Komplexität des Geschehens beikommen. Meines Erachtens ist ein
psychoanalytischer Deutungsansatz hier wenig fruchtbar, wenn nicht zu sagen,
irreführend, will man die Bedeutung dieser Szene für den Roman als Ganzes
erschließen.

46
ist, als sollte ich etwas erraten. Aber ich kann nicht.‹« (71) So weiß Törleß
nicht, wie er Einblick in diese fremde Welt erlangen soll. Er spürt jeden-
falls das Bedürfnis, das Licht in sich »hinein[zu]trinken«, »›sich in dieser
Lache zu wälzen, – auf allen vieren, ganz nah in die staubigen Winkel zu
kriechen, als ob man es so erraten könnte … .‹« (71). In Törleß’ Erlebnis
auf dem Dachboden offenbart sich ihm, wenn auch nur in Ansätzen, der
›zweite‹ Weg, den der schräg in die Luft ragende Wegweiser markiert hatte:
der mystische. In diesem Kontext wird der von der Blend-Laterne erzeugte,
Törleß wie das Auge zu einer fremden Welt vorkommende Lichtschein zur
Repräsentanz des göttlichen Lichtes, das in der mystischen Schau erblickt
wird.46 Wenn Törleß den Impuls spürt, dieses Licht in sich ›hineintrin-
ken‹, sich in der ›Licht-Lache‹ wälzen zu wollen, erinnert das an die Sehn-
sucht manch eines Mystikers, er möge sich in Gott ›auflösen‹.47
Überhaupt scheint die Episode das in Szene zu setzen, was Plotin als
Vorgang der in die mystische Einung mündenden ›Selbstdurchlichtung‹
beschreibt. Zur Entstehungszeit der Verwirrungen hatte Musil die einschlä-
gige Stelle bei Plotin exzerpiert:

›Bei der intellektuellen Anschauung sieht der Intellekt die intellegiblen [sic!]
Objekte mittels des Lichts, das auf sie das Ur-Eine ausgießt und beim Anschau-
en dieser Objekte sieht es in Wahrheit das intelligible Licht. Aber sobald es
seine Aufmerksamkeit den belichteten Objekten zuwendet, sieht es nicht ganz
rein das Prinzip, das sie erhellt; wenn es dagegen die Objekte vergißt, welche
es betrachtet, u. nur die Klarheit anschaut, die diese sichtbar macht, sieht es
das Licht selbst u. das Prinzip des Lichts. Aber nicht außer sich betrachtet der
Intellekt das intelligible Licht. Er gleicht darin dem Auge, das ohne äußeres
[…] Licht […] wahrzunehmen, plötzlich von einer Klarheit getroffen wird, die

46 Vgl. hierzu Brosthaus’ Ausführungen über die Lichtsymbolik im Mann ohne


Eigenschaften. Der ›andere Zustand‹ werde in Beschreibungen häufig »als ein
auf einen äußersten Helligkeitsgrad gesteigertes Licht« charakterisiert, »das sich
mithin zum Paradoxon steigert. So heißt es an einer Stelle: »›[…] das Au-
ge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles […].‹« (3, 751) Wie Brosthaus
ausführt, ergebe sich »eine Steigerung von anfänglich schwacher Helligkeit bis
zur äußersten Verklärung der Welt und Allgegenwart des Lichts.« Brosthaus:
Entwicklung des aZ, 409f.
47 Vgl. stellvertretend für eine vielfältige Metaphorik Bernhard von Clairvauxs Ab-
handlung (in englischer Übersetzung) On Loving God. Die höchste Stufe einer
Annäherung an Gott besteht darin, ihn um sich selbst willen zu lieben. »When a
feeling of this kind is experienced, the soul, drunk with divine love, forgetful of
self, and seeming to be a broken vessel, goes completely into God, and cleaving
to God becomes one spirit with him.« Bernard of Clairvaux: Treatises II (The
Steps of Humility, On Loving God), Cistercian Fathers Series 13, Kalamazoo,
Michigan 1974, 1.

47
ihn selbst eignet, oder von einem Strahle, der aus ihm selbst hervorquillt […]
oder wenn es unter dem Drucke der Hand das Licht gewahrt, das es in sich hat.
Dann sieht es, obwohl es nichts Äußeres sieht; es sieht sogar mehr als in jedem
andern Augenblick, denn es sieht das Licht. Die andren Objekte, die es vordem
sah, indem es davon erleuchtet ward, waren nicht das Licht selbst. Desgleichen,
wenn der Intellekt das Auge irgendwie vor andren Objekten schließt, um sich
auf sich selbst zu beschränken, so sieht er, in dem er nichts sieht, nicht ein
fremdes Licht in fremden Formen leuchten, sondern sein eigenes Licht.‹48

Den Prozess der ›Selbstdurchlichtung‹, wie ihn Plotin hier beschreibt,


scheint die vordergründig banale Handlung auf dem Dachboden insze-
nieren zu wollen. Das zeigt die Bewegung der Blend-Laterne. Gilt seine
Aufmerksamkeit zunächst den, um Plotin zu zitieren, »belichteten Objek-
ten«, – in diesem Fall Basini –, ›vergisst‹ er die Objekte bald. Dieses Ab-
wenden von den Objekten signalisiert das Umkippen der Laterne, dessen
Licht jetzt Törleß selbst, oder zumindest seine Füße, beleuchtet: Die Welt
der Objekte ist jetzt von Dunkelheit verhüllt. Um mit Plotin zu reden,
»sieht« Törleß »das Licht selbst und das Prinzip des Lichts«, zumindest
annäherungsweise. Eine wirkliche ›Selbstdurchlichtung‹ im Sinne Plotins,
worin der Intellekt »dem Auge [gleicht], das ohne äußeres […] Licht […]
wahrzunehmen, plötzlich von einer Klarheit getroffen wird, die ihm selbst
eignet, oder von einem Strahle, der aus ihm selbst hervorquillt«, und somit
den Weg zur mystischen Einung bahnt, in Folge der »die Beziehung von
Sehen und Gesehenem, Denken und Gedachtem, Leuchten und Erleuchte-
tem endlich in den identifizierenden Grund Eines Aktes zurückgenommen
wird«,49 gelingt Törleß hier nicht. Hier betreibt er lediglich Vorübungen.
Zu einer Aufhebung der Polarität zwischen schauendem Subjekt und ge-
schautem Objekt kommt es nicht.50

48 Tb 135 (Heft 24: 1904/1905).


49 Vgl. Beierwaltes: »Erleuchtung«, 714.
50 Meister Eckhart scheint diese Möglichkeit grundsätzlich in Abrede zu stellen,
wenn er die Asymmetrie des Bespiegelungsverhältnisses zwischen Gott und dem
Menschen herausstellt. In einer eindrucksvollen Predigt schreibt er: »Es fragt
sich, wo das Sein eines Abbildes am eigentlichsten sei: im Spiegel oder in dem,
wovon es ausgeht? Es ist eigentlicher in dem, wovon es ausgeht: Ich habe ein
Bild, ich gebe ein Bild ab, und ich mache mir ein Bild. Solange der Spiegel un-
verändert meinem Gesicht gegenübersteht ist mein Bild darin; fiele der Spiegel
hin, dann zerfiele dieses Bild. Das Sein des Engels abhängt davon ab [sic!], daß
ihm die göttliche Vernunft gegenübersteht, in der er sich erkennt. ›Gleichsam
ein Morgenstern mitten im Nebel‹. Ich wende mich dem Wörtchen ›quasi‹ zu,
das heißt ›gleichsam‹, das nennen die Schüler in der Schule ein Ad-verb: ein
Bei-Wort. Das ist, was ich in allen meinen Predigten behandle. Das Allereigent-

48
Aber statt in eine Art (profanisierte) mystische Schau zu münden, un-
terstreicht das Geschehen signifikanterweise die Bedeutung Basinis gerade
in seiner Funktion als (Sexual)-Objekt. Schon in Beinebergs Konzept wur-
de Basini funktionalisiert: Beineberg wollte ihn als Mittel zur Läuterung
auf dem ›mystischen‹ Weg der purgatio, illuminatio und perfectio51 benutzen.
Die sadistischen Handlungen, die im Dunkeln vollzogen werden, dienen
laut Beinebergs Beteuerungen genau diesem Zweck. Und für Törleß wird
er im Laufe des Geschehens erneut zum Sexualobjekt. Schließlich ist das
Erkennen, zu dem die ›Selbstdurchlichtung‹ Törleß verhilft, kein Erkennen
Gottes, sondern ein Erkennen seiner sexuellen Erregung, die dem zuvor
›belichteten Objekt‹ gilt. Hier manifestiert sich in aller Komplexität die
Verquickung von Wissbegierde und sexueller Begierde, die sich als ein

lichste, was man von Gott sagen kann, das ist ›das Wort‹ und ›die Wahrheit‹.
Gott nannte sich selber ein Wort. Der heilige Johannes schrieb: ›Im Anfang war
das Wort‹ [Io 1,1], und das bedeutet, daß der Mensch ein Bei-Wort zu diesem
Wort sein soll. […] Es gibt einmal das geschaffene Wort – das ist der Engel
und der Mensch und alle Schöpfung. Es gibt weiterhin das gedachte und ge-
schaffene Wort, mit dem ich es vermag, Abbilder in mir zu schaffen. Außerdem
gibt es ein Wort, das ungeschaffen und ungedacht ist. Das entäußert sich nie,
sondern es ist immer in dem der es spricht; es ist immer in einem Empfangen
begriffen im Vater, der es spricht und es bleibt in ihm.« Meister Eckhart: Deut-
sche Predigten. Eine Auswahl auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe
und der Reihe »Lectura Eckhardi«, herausgegeben, übersetzt und kommentiert
von Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2001, Predigt Q9, 55;57. Die sprachkritische
Dimension Törleß’scher ›Verwirrung‹ ist eher mit dieser Ausformung mysti-
schen Gedankenguts als mit dem Plotin’schen Identitätsgedanken vereinbar.
Allerdings entwickelt Eckhart ein ähnliches auf Identität basierendes Szenario,
wenn auch auf der Prämisse der völligen Auflösung des ›Geschaffenen‹, sprich:
der menschlichen Existenz, wenn er predigenderweise schreibt: »Der Mensch,
der sich […] im Willen Gottes gründet, der will nichts anderes, als was Gott
ist und was Gottes Wille ist. […] Er ist frei und aus sich selbst herausgegangen,
und von allem, was er empfangen kann, muß er frei sein. Wenn mein Auge
die Farbe sehen soll, dann muß es von aller Farbe frei sein. Wenn ich blaue
oder weiße Farbe sehe, dann sieht sie in dasjenige in meinem Auge hinein, das
da die Farbe sieht. Was da hineinsieht, ist dasselbe, das mit dem Auge gesehen
wird. Das Auge, in dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, in dem Gott mich
sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein
Erkennen und ein Lieben. Der Mensch, der so in Gottes Liebe steht, der soll
sich selbst tot sein und allen geschaffenen Dingen, so daß er auf sich selbst so
wenig achtet wie auf einen, der tausend Meilen weg ist. Der Mensch bleibt in
der Ausgeglichenheit und bleibt in der Einheit und bleibt sich ganz gleich; ihn
wandelt keine Ungleichmäßigkeit an. Dieser Mensch muß sich selbst und alle
Welt zurückgelassen haben.« Meister Eckhart: Deutsche Predigten, Predigt Q
12, 67.
51 Vgl. Beierwaltes: »Erleuchtung«, 716.

49
konstitutives Element aller Törleß’schen Verwirrungen herausschält.52 Tör-
leß’ sexuelle und epistemologische ›Verwirrungen‹ sind denn auch nicht
auseinander zu dividieren. Nirgendwo im Roman zeigt sich dies so deutlich
wie in Törleß’ ›Kant-Traum‹ – wie er im Folgenden genannt wird. Dieser
Traum, und was der Träumende dazu empfindet und denkt, birgt den
Schlüssel zum Verständnis der von Törleß erlittenen sexuell-epistemologi-
schen Krise und thematisiert dabei eine weitere Dimension des Dualismus,
der dieser Krise zu Grunde liegt.

52 Interessant in diesem Zusammenhang ist Andrew Webbers Interpretation des


Romans: »Sense and Sensuality in Musil’s Törless«. In: German Life and Letters
41:2 (January 1988), 107–130. Webber konstatiert »[a] correlation of sexual desire
and the quest for ontological sense: the quest motivated by what might be called
epistemological desire, tracing its course in the domain of language […] the
unholy marriage of philosophy and sexuality is forged inwardly by the meshing
of Törleß’s intellectual enterprise and his sexual needs.« (107f.) Webber geht
aber nicht auf den meines Erachtens offensichtlichen Bezug dieser Thematik
zur mystischen Tradition ein, sondern liefert eine rein psychoanalytische Lesart.
Seiner These nach obliegen Törleß’ sexuelle Begierde und ›Wissbegierde‹ dem
von Freud beschriebenen Mechanismus der Verschiebung; darin liege ihre para-
digmatische Affinität: »The common character of the different orders of desire
lies in the element of deferral which invariably separates the subject from his
ostensible objects.« (108) In diesen Kontext stellt Webber das in verschiedenen
Varianten anklingende Motiv der Unendlichkeit: »The correlation of sexual
and epistemological desire is constructed around the recurrent references to
the infinite perspective […] adumbrated in the form of the endless railway
tracks […] sustained thereafter by such key motifs as the problem of imaginary
numbers, the inability of the eye to encompass the infinity of space, and the
perpetually retreating horizon as a metaphor for the bounds of perception.«
(108) Nach Webber gilt die menschliche Begierde dem »wahren Objekt«, in
seinen Worten ist sie »bound to strain eternally after the true object, even as this
remains inimical to desire’s grasp« (108). Webber konstatiert die konstitutive
Unerreichbarkeit dieses ›wahren Objekts‹ und folgert: »[…] it is thus the fate
of desire to be lodged in objects which are mere metonymic representations of
its true object. The metonymic object, by dint of its partitive or virtual nature,
is bound to disappoint, and thus to deploy desire perpetually beyond it.« (108)
Dieses Phänomen macht Webber an Törleß’ Beziehung zu Basini paradigma-
tisch fest: »This is the paradigm established in Törleß’s ›desire‹ for Basini: ›sein
Begehren sättigte sich niemals an ihm, sondern wuchs zu einem neuen, ziellosen
Hunger über Basini hinaus‹ (T 109).« (108) Das ›wahre‹ Objekt stellt in dieser
Lesart Törleß’ Mutter dar. Sie sei das begehrenswerte, aber eben unerreich-
bare Sexualobjekt seiner vom Ödipalkonflikt determinierten Begierde. Stellt
man Webbers psychoanalytische Lesart der hier gebotenen mystischen Lesart
gegenüber, so ist interessant festzustellen, dass Basini, als zumindest vorläufiges
bzw. vordergründiges Objekt der Begierde, in beiden Fällen Vorwandcharakter
erhält: im einen Fall als Ersatz für die unerreichbare Mutter, im anderen als
Ersatz für den unerreichbaren Gott bzw. das unerreichbare Ur-Eine.

50
1.2.2. Der ›Kant-Traum‹: Törleß im Widerstreit zwischen ›Sinnlichkeit‹
und ›fremder Klugheit‹
Bevor ich mich mit dem ›Kant-Traum‹ sowie den ihn begleitenden Emp-
findungen und Gedanken des Träumenden befasse, empfiehlt es sich, Tör-
leß’ Auseinandersetzung mit den imaginären Zahlen kurz zu betrachten,
wurde doch seine – wohlgemerkt flüchtige – Kant-Lektüre durch sie moti-
viert. Törleß’ Beschäftigung mit den imaginären Zahlen resultierte daraus,
dass es dem Schüler nicht gelungen war, das vom Licht der Blendlaterne
Verborgene zu ›erraten‹. Er hofft nun, im Unterricht und speziell in der
»Geschichte mit den imaginären Zahlen« »etwas von dem angedeutet [zu]
finden«, was er sucht (73). Die imaginären Zahlen erweisen sich aber bald,
wie der mathematische Begriff des Unendlichen, als sehr begrenzt. Sie sind
zwar zur Durchführung funktionaler rechnerischer Operationen fähig, –
das auch mit durchaus greifbaren Anwendungsmöglichkeiten –, Törleß
stört sich jedoch an der Tatsache, dass die Rechnungseinheit Wurzel aus
minus 1 letztlich eine mathematisch-logische Unmöglichkeit darstellt, die
von den Mathematikern nicht weiter problematisiert wird. Er reflektiert
diesen Sachverhalt:

Aber bleibt nicht trotzdem etwas ganz Sonderbares an der Sache haften? […]
In solch einer Rechnung sind am Anfang ganz solide Zahlen, die Meter oder
Gewichte oder irgend etwas anderes Greifbares darstellen können und wenig-
stens wirkliche Zahlen sind. Am Ende der Rechnung stehen ebensolche. Aber
diese beiden hängen miteinander durch etwas zusammen, das es gar nicht gibt.
Ist das nicht wie eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler vorhanden
sind und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde? Für
mich hat so eine Rechnung etwas Schwindliges; als ob es ein Stück des Weges
weiß Gott wohin ginge. Das eigentlich Unheimliche ist mir aber die Kraft, die
in solch einer Rechnung steckt und einen so festhält, daß man doch wieder
richtig landet. (74)53

Für Törleß werden die imaginären Zahlen, wie sie in der Mathematik
verwendet werden, zum Sinnbild für das, was im Mann ohne Eigenschaften
als Denkmodus der ›Eindeutigkeit‹, man könnte auch sagen: des ›Ratioï-
den‹, bezeichnet wird. Das Rechnen mit ihnen führt zwar zu folgerichtigen

53 Hinter der abgegriffenen, und daher für gewöhnlich sinn-los erscheinende Re-
dewendung »weiß Gott wohin«, verbirgt sich die Andeutung einer Antwort auf
Törleß’ Frage an; man vgl. Maltes Begegnung mit dem blinden Zeitungsver-
käufer in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Malte sagt: »Mein Gott,
[…] so bist du also.« Das Wort ›Gott‹ ist hier wörtlich zu nehmen.

51
Ergebnissen, diese aber tangieren eine entscheidende Dimension der Wirk-
lichkeit nicht,54 nämlich das, was der Modus des ›Gleichnisses‹ alleine zu
erfassen vermag.55 Törleß’ Metapher drückt dies in einem topographischen
Modell aus. Wie er sagt, geht der Weg zwischen den beiden ›Eckpfeilern‹
der ›ratioïden‹ Denkweise »weiß Gott wohin«,56 will heißen: Er führt in
den Bereich des ›Nicht Ratioïden‹, dem man mit wie auch immer gearte-
ten mathematischen Operationen nicht beikomme.57 Törleß’ anfänglicher
Versuch, sich über das Wesen der imaginären Zahlen Klarheit zu ver-
schaffen, endet mit Enttäuschung, da sein zu dieser Sache befragter Lehrer
sich lediglich auf »mathematische Denknotwendigkeiten« beruft, sich als
Mathematiker von solchen Fragestellungen nicht angesprochen fühlt und
diese in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie, wie sie durch Kant
vertreten wird, verweist.

54 Ironischerweise entpuppen sich die sogenannten, für Törleß verheißungsvoll


klingenden »transzendenten Faktoren« in der Mathematik als keineswegs über-
sinnlich.
55 Allerdings: So ›eindeutig‹ verhält es sich mit der Mathematik nicht. Im Mann
ohne Eigenschaften, wenn im 2. Kapitel der »heiligen Gespräche« von einer »Reise
an den Rand des Möglichen«, von einem »›Grenzfall‹, wie das Ulrich später
nannte«, die Rede ist, heißt es, sie erinnere »an die Freiheit, […] mit der sich
die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen.«
(3, 761) Hier dringt die Mathematik, indem sie sich »des Absurden bedient«
– dies eine weniger spezifische Formulierung für das, was mit den imaginären
Zahlen passiert –, in den Bereich des ›Nicht Ratioïden‹ vor und erweist sich
somit als nicht rein ›ratioïd‹ ausgerichtet, wie die Episode in den Verwirrungen
nahelegt. Stark ›ratioïd‹ geprägt ist allerdings das mathematische Verständnis
des Lehrers.
56 Meines Erachtens geht Rossbacher zu weit, wenn er in diesem Kontext, in An-
spielung auf eine Phrase aus dem Mann ohne Eigenschaften, von »den noch nicht
erwachten Absichten Gottes« redet, die »eine so wichtige Dimension des von
Musil später so benannten ›Möglichkeitssinnes‹ bilden.« (Karlheinz Rossbacher:
»Mathematik und Gefühl. Zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Tör-
leß«. In: Sigurd Paul Scheichl und Gerald Sieg [Hrsg.]: Österreichische Literatur
des 20. Jahrhunderts, Akten der Jahrestagung 1982 der französischen Universitäts-
germanisten. Innsbruck 1986, 127–140; hier 133.) Zwar dürfte die Redewendung
nicht in ihrer abgedroschenen Alltagsbedeutung alleine gemeint sein, aber diese
lässt der mitschwingende Verweis auf eine wie auch immer geartete transzendente
Dimension ein Stück weit ironisch erscheinen.
57 Was den Stellenwert der Mathematik im Werk Musils betrifft, konstatiert Al-
bertsen, selbst diese sei »bereit, ins Irrationale umzuschlagen. Höchste Luzidität
kann in Dunkelheit stürzen, ins ganz Unaussagbare. Aus der Überhelligkeit
einer gesteigerten Intellektualität führt offenbar ein neuer Weg ins Geheimnis.
Das Denken mündet dort, wo es ganz rein, ganz hell, ›fieberhell‹ wird, in die
Mystik.« (Albertsen: Ratio und Mystik, 37.) Für Törleß’ Erfahrung mit der
Mathematik gilt dies aber nicht.

52
Aber die Kant-Lektüre am folgenden Tag verläuft nicht glücklicher als
die Unterredung mit dem Mathematiklehrer. Beim Lesen des sofort be-
sorgten Werkes, von dem Törleß sich eine erhellende Wirkung verspricht,
verzweifelt er »vor lauter Klammern und Fußnoten«; ihm ist, »als dre-
he eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubwindungen aus
dem Kopfe« (80). Das gedanklich Festlegbare, wofür die mathematischen
Begriffe und Kants »Klammern und Fußnoten« stehen, erfasst in Törleß’
Vorstellung gerade das Endliche, Begrenzte, das Unwesentliche. Wie er es
ausdrückt:

›In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich geordnet; nun aber ist
mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und wenn ich an die bestimmten
Stellen komme, so ist es wie eine Lücke dazwischen, durch die man in eine
unendliche, unbestimmte Weite sieht.‹ (81f.)

Im von Törleß verwendeten Vergleich ist die Topologie des bereits


thematisierten Unendlichkeitserlebnisses wieder zu entdecken: Die vertikale,
will heißen unendliche Dimension des Himmels offenbart sich in der Lücke
zwischen zwei Wolken. Dieselbe Struktur weist auch das Sinnbild auf, das
Törleß zur Charakterisierung des Rechnens mit imaginären Zahlen benutzt
hatte: Anfang und Ende der Rechenoperation vergleicht er mit Anfangs-
und Endpfeiler einer Brücke, die selbst nicht vorhanden, d.h. nicht greifbar
ist und sich so unserer ›ratioïden‹ Kenntnis entzieht. In diesem Klima der
Verwirrung kommt es zu Törleß’ Traum.
Dieser Traum wird von einer Szenerie eingeleitet, die stark an die im
Zeichen des ›Ratioïden‹ stehende Eingangsszene des Romans erinnert. So
wie am Anfang des Romans »die Gegenstände und Menschen« für Törleß
»etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich« hatten (7), erhal-
ten die »Atemzüge der Schlafenden« jetzt etwas ähnlich Mechanisches.
Die Atemzüge der einzelnen Mitschüler lassen sich nicht unterscheiden
von den vielen anderen »gleichmäßigen, gleichruhigen, gleichsicheren,
die sich wie ein mechanisches Werk hoben und senkten« (84). Die unter
den nur halb heruntergelassenen Vorhang hindurchscheinende Nachthelle
und die aufgesprungene Vorhangschnur, die »in häßlichen Windungen
herunter[hing], während ihr Schatten auf dem Boden wie ein Wurm durch
das helle Viereck kroch« (84), erlebt Törleß im Gegensatz hierzu als etwas
Animistisch-Bedrohliches. »Dies war alles von einer beängstigenden, gros-
tesken Häßlichkeit« (84), befindet Törleß. Um sich dieser Empfindung zu
erwehren, versucht er, »an etwas Angenehmes zu denken«. Er denkt an die
vorausgehende Diskussion mit Beineberg, aus der er seines Erachtens als

53
Sieger hervorgegangen war. Dieser Gedanke löst einen Sprechgesang aus,
der sich in seinem Kopf festsetzt und sich gewissermaßen verselbständigt:
Hat er denn noch etwas zu erwidern gewußt?. Ja oder nein? …
Aber dieses: ja oder nein? schwoll in seinem Kopfe an wie aufsteigende Blasen
und zerplatzte, und ja oder nein? … ja oder nein? schwoll es immer und immer
wieder an, unaufhörlich, in einem stampfenden Rhythmus, wie das Rollen eines
Eisenbahnzuges, wie das Nicken von Blumen an zu hohen Stengeln, wie das
Klopfen eines Hammers, das man durch viele dünne Wände hindurch in einem
stillen Hause hört … . (84)

In der Phantasie geht diese rhythmische Bewegung bald auf den Körper
über. Schließlich »schien es sein eigener Kopf zu sein, der da nickte, auf
den Schultern rollte, oder im Takte auf und niederschlug … .« (84). Durch
die Abwehr der »beängstigenden, grotesken Häßlichkeit« der wurmähnli-
chen Vorhangschnur wird Törleß selbst zu einem mechanischen Gebilde.
Der Schlaf macht diesem Zustand ein Ende. Und mit ihm kommt
der interpretationsbedürftige Traum, der auf Törleß’ Auseinandersetzung
mit Kant und den imaginären Zahlen antwortet. Diese war auch der Ge-
genstand jener Unterredung mit Beineberg gewesen. Der Traum selbst ist
relativ kurz und besteht aus einer einzigen Traumsequenz:
Da kamen … weit vom Rande her … zwei kleine, wackelnde Figürchen – quer
über den Tisch. Das waren offenbar seine Eltern. Aber so klein, daß er für sie
nichts empfinden konnte.
Auf der anderen Seite verschwanden sie wieder. (84f.)

Im Traum erscheinen sodann zwei neue Figuren, der Mathematikprofessor


und, wie es sich bald herausstellt, die karikierte Erscheinung Kants mit
einem »sehr, sehr dicken Buch unter dem Arm, das halb so hoch war wie
er selbst« (85).
Und Törleß hörte die piepsige Stimme seines Lehrers sagen: Wenn dem so sein
soll, finden wir das Richtige auf Seite zwölf, Seite zwölf verweist uns weiter
an Seite zweiundfünfzig, dann gilt aber auch das, was auf Seite einunddreißig
bemerkt wurde, und unter dieser Voraussetzung … . Dabei standen sie über das
Buch gebückt und griffen mit den Händen hinein, daß die Blätter stoben. Nach
einer Weile richteten sie sich wieder auf, und der andere streichelte fünf- oder
sechsmal die Wangen des Professors. Dann kamen sie abermals ein paar Schritte
vorwärts, und Törleß hörte von neuem die Stimme, genau so, wie wenn sie im
Mathematikunterricht einen Bandwurm von Beweis abfingerte. Solange, bis der
andere wieder den Professor streichelte. (85)

Bald erkennt Törleß die Identität der zweiten Gestalt im Traum: »Dieser
andere …? […] Trug er nicht einen Zopf? Und etwas altertümliche Klei-

54
dung? Sehr altertümliche? Seidene Kniehosen sogar? War das nicht …? Oh!
Und Törleß wachte mit einem Schrei auf: Kant!« (85)
Wenden wir uns zunächst dem Traum selbst zu. Hier geht es um Be-
ziehungen: erstens um die Beziehung zwischen Törleß und seinen Eltern,
zweitens um die zwischen Törleß und den beiden im Traum agierenden
Gestalten und drittens um die Beziehung dieser beiden Gestalten zueinan-
der. Das Erscheinen der Eltern als »zwei kleine, wackelnde Figürchen« im
Traum drückt in der bildhaften Weise des Traums ihre schwindende Be-
deutung für Törleß aus. Sie sind »so klein« geworden, »daß er für sie nichts
empfinden konnte«. Während aber die Verkleinerung der Eltern im Traum
eine Zurücknahme emotionaler Bindung an sie anzeigt, bedeutet die Ver-
kleinerung bzw. Verniedlichung der beiden mit dem Buch hantierenden
Gestalten etwas anderes. Indem der Mathematikprofessor im Traum eine
piepsige Stimme erhält, wird er sozusagen ›abgekanzelt‹. Ebenso der ande-
re, den Törleß im Nachhinein als Kant identifiziert: Im Verhältnis zum
überproportional großen und schweren Buch – es handelt sich hierbei
vermutlich um die Abhandlung Kants, die Törleß am Tag zuvor hatte lesen
wollen – ist er eine etwas lächerliche Erscheinung, zumal in seiner his-
torischen Aufmachung. Indem der Träumende den Mathematikprofessor
und dessen Autoritätsinstanz klein macht, fällt er auch ein entsprechendes
Urteil über ihren Denkansatz. Schließlich hatte der Mathematikprofessor
Törleß zuvor bitterlich enttäuscht, denn Törleß’ Lehrer hatte sich als un-
fähig erwiesen, in die Geheimnisse der Mathematik einzudringen. Dieser
Aspekt des Traums scheint relativ leicht ›entschlüsselbar‹ zu sein.
Etwas komplexer ist die Beziehung der beiden Gelehrten zueinander.
Diese erhält eine erotische Färbung. Wie es heißt, habe die Kant-Gestalt
»fünf- oder sechsmal die Wangen des Professors [gestreichelt]«. Auch hier
scheinen sich sexuelle Begierde und ›Wissbegierde‹ zu verquicken: Schon
im Zusammenhang mit dem Gespräch über die imaginären Zahlen war
vom »tägliche[n] Konkubinat [des Professors] mit der Mathematik« die
Rede (79). Der Mathematikprofessor habe, – so Törleß’ verheißungsvolle
Phantasie –, Zugang zu einem »versperrten Garten« (75). Während der Un-
terredung mit dem Mathematikprofessor hatte Törleß im Arbeitszimmer
vergeblich nach »irgendwelchem Ausdrucke« gesucht »für die fürchterli-
chen Dinge, die darin gedacht wurden« (76). Kurzum: All diese Vorstel-
lungen erhalten eine zum Teil offene, zum Teil nur angedeutete erotische
Komponente, – wie das, worauf Törleß beim Anblick der Bauersfrauen
wartete, was er in der Dämmerung spürte, angesichts des unendlichen
Himmels erahnte.

55
Aber noch ein Element des Traumes fügt die für Törleß’ Verwirrungen
konstitutiven Aspekte der Sexualität und der Epistemologie zusammen,
und zwar das Bild des »Bandwurm[s] von Beweis«, den die Stimme des
Professors ›abfingert‹ (85), ein Bild, das in der Reiteration des Traumes
angeführt wird, um die Stimme des Lehrers zu charakterisieren: »Törleß
hörte von neuem die Stimme, genau so, wie wenn sie im Mathematikun-
terricht einen Bandwurm von Beweis abfingerte.«58 Das Bild ist eigenwillig.
Zunächst will es wohl heißen, der vom Mathematikprofessor ausgeführte
Beweis sei mit einem Bandwurm zu vergleichen – man denke dabei an die
Redewendung ›Bandwurmsatz‹ –, weil aufwendig und langwierig, so dass er
mehrere Schritte benötige. Im ›Abfingern‹ des Bandwurms seitens des Ma-
thematikprofessors ist wohl die bildhafte Darstellung einer mehrschrittigen
Beweisführung zu sehen.59 Das Bild ist schon in sich suggestiv. Wenn es

58 Auf dieses Bild geht Götze in seiner Interpretation gar nicht ein, obwohl der
Traum den Mittelpunkt seiner Untersuchung bildet. Siehe die nachfolgende
Fußnote.
59 Meines Erachtens spielt der Autor hier mit Elementen der Freud’schen Traum-
deutung, stellt doch das ›Übersetzen‹ abstrakter Vorgänge in eine bildhafte Spra-
che einen wichtigen Bestandteil der ›Traumarbeit‹ im Freud’schen Sinne dar,
wie in seiner genau ein Jahrzehnt vor Erscheinen der Verwirrungen veröffent-
lichten Traumdeutung dargelegt wird. Inwieweit Musil mit Freuds damals bereits
veröffentlichten Werken vertraut war, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen.
Die Kritiker sind in diesem Punkt uneinig. Karl Corino schreibt diesbezüg-
lich: »Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Verwirrungen könnten einige der
Denkbilder Freuds Musil zwar bekannt gewesen sein; gelesen hatte er Freud, so
nimmt man an, um diese Zeit noch nicht.« (Karl Corino: »Ödipus oder Orest?
Robert Musil und die Psychoanalyse«. In: Uwe Baur / Dietmar Goltschnigg
[Hrsg.], Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften. Grazer Musil-Symposion
1972, München/Salzburg 1973, 126.) Johannes Cremerius behauptet, Musil habe
sich sein Leben lang mit der Psychoanalyse beschäftigt (Vgl. »Robert Musil.
Das Dilemma eines Schriftstellers vom Typus ›poeta doctus‹ nach Freud«. In:
Psyche 33 [1979], 734–772.) Gerd Müller schreibt diesbezüglich, es wäre »ver-
wunderlich, wenn [Musil] nicht schon« zur Zeit der Entstehung der Verwirrun-
gen »die damals Aufsehen erregenden Schriften I. Blochs [Beiträge zur Ätiologie
der psychopathia sexualis, 1902/ 03] sowie die Traumdeutung Sigmund Freuds
von 1900 und dessen Drei Abhandlungen zur Sexual-Theorie gelesen hätte. Zwar
fehlen hierüber exakte Angaben Musils. Es lässt sich aber andererseits Kenntnis
dieser Quellen erschließen.« (Gerd Müller: Dichtung und Wissenschaft. Stu-
dien zu Robert Musils Romanen Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Der
Mann ohne Eigenschaften, Uppsala 1971, 27). Vgl. auch Margret Kaiser-el-Safti:
»Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit« (in: Hans-Georg Pott [Hrsg.]:
Robert Musil. Dichter, Denker, Journalist, München 1993, 126–171). Wenn
Carl Niekerk behauptet, in der Forschung habe sich mittlerweile »die Tendenz
durchgesetzt […] den Törleß-Roman als kongeniale Vorwegnahme bzw. unab-
hängige Rekonstruktion der Psychoanalyse zu lesen« (Carl Niekerk: »Foucault,

56
aber unmittelbar danach heißt, in Bezug auf das Traumgeschehen selbst:
»Solange, bis der andere wieder den Professor streichelte«, scheint der Text
eine Parallelität zwischen der quasi-erotischen Traumhandlung und der für
den Vergleich herangeführten herstellen zu wollen, wobei das Streicheln
der Wangen in Korrelation zum Abfingern des Bandwurms (von Beweis)
zu setzen ist; Sprechen und Streicheln entsprechen sich.60 Zunächst ergibt
eine solche Korrelation keinen tieferen Sinn; sie verweist lediglich auf die
bereits bemerkte andeutungsweise erotische Dimension der Interaktion
zwischen der Kant-Figur und dem Mathematikprofessor sowie auf Tör-
leß’ Tendenz zur ›Erotisierung‹ von Erkenntnisvorgängen. Stellt man die
beiden Traumaspekte in einen größeren Kontext, gewinnen sie jedoch in
ihrer gegenseitigen Bezogenheit zunehmend an Sinn.
Ich komme nun erneut auf den Erzählabschnitt zu sprechen, der dem
Traum unmittelbar vorausging. Im Mittelpunkt standen hier die im Mond-
licht leuchtende Vorhangschnur und die Phantasien und Ängste, die ihr
Anblick bei Törleß auslöste.61 In seiner Phantasie hatte der Schatten der
Vorhangschnur die Gestalt eines Wurms angenommen (84). Und Törleß
erinnert die wurmähnliche Schnur im Viereck des Mondlichts wiederum
an die Blutspur, die der verletzte Basini im Lichtkreis hinterlassen hatte
in jener Nacht der Züchtigung. Wie es damals hieß, hatten die Blutstrop-
fen »einen roten, wie ein Wurm sich windenden Weg [gezeichnet]« (72).
Somit ergibt sich einen Zusammenhang zwischen dem Traum und der
sadistischen Handlung, die Törleß sexuell erregt hatte. Es liegt nahe, ange-
sichts der vielen Verknüpfungen zwischen den Einfällen beim Einschlafen,
dem Traum und dem homoerotischen Geschehen auf dem Dachboden

Freud, Musil. Macht und Masochismus in den Verwirrungen des Zöglings Törleß«
(in: ZfdPh 116:4 [1997], 545–566, hier 549), ohne wohlgemerkt entsprechende
Untersuchungen anzuführen, verwechselt er vermutlich die von verschiedener
Seite angebotenen psychoanalytischen Lesarten des Romans, die dazu neigen,
aus Törleß eine psychoanalytische Fallstudie zu machen, mit dem Text selbst.
Siehe etwa Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, München
1989, und Karl Heinz Götze: »›Halb gedacht und halb geträumt‹. Der Traum in
Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (in: Cahiers d’Etudes Germaniques
33 [1997], 119–135), um nur zwei zu nennen, sowie Niekerks eigene Untersu-
chung, insbesondere S. 555 und 559f..
60 Vgl. Götze: Traum, 126. Er spricht von einer »deutliche[n] Sexualisierung der
Beziehung zwischen »Mathematikprofessor« und »Kant«. Ich meine, es handelt
sich hierbei eher um eine angedeutete Sexualisierung der Beziehung.
61 Götze berücksichtigt solche Elemente nicht – wie ich meine, zum Nachteil
seiner Interpretation.

57
die wurmähnliche Schnur als Repräsentanz für Basini zu deuten.62 Wenn
es Törleß so vorkommt, »als liege dort [im Viereck] eine Gefahr gekettet«
(86), dann gilt dieser Affekt wohl der Erscheinung in der Bedeutung, die
sie als Basini-Repräsentanz fur ihn erhält. Törleß ist denn auch erleich-
tert, dass er die Schnur »aus seinem Bette heraus, wie durch Gitterstäbe
geschützt, […] betrachten könne« (86). Signifikanterweise löst der Traum
denn auch, wie es heißt, »eine sinnliche Regung« in Törleß aus, »die ihm
aber als solche gar nicht mehr zu Bewußtsein kam«, aber auf jeden Fall »in
irgendeiner durchaus unerkennbaren, aber sehr nachdrücklichen Weise mit
Basini verknüpft war« (87).63
Wurmähnliche Schnur und Bandwurm (von Beweis) sind im weite-
ren Kontext des Traumgeschehens, der die Vor- und ›Nach‹-bereitung des
Traumes selbst mit einschließt, zu sehen; sie stehen in einem vielschichti-
gen Bezug zueinander. Anlass zu meinen Überlegungen über Törleß’ von
der Schnur ausgelöste Assoziationen gab die Feststellung einer gewissen
Korrelation zwischen dem Streicheln der Wangen im Traum und der im
Vergleich verwendeten Metapher des ›Abfingerns‹ eines ›Bandwurms von
Beweis‹. Vor dem Hintergrund der Assoziationen, die die wurmähnliche
Schnur bei Törleß auslöst, verstärkt sich die Korrelation zwischen die-

62 Das tut auch Webber. Vgl. »Sense and Sensuality«, 123f. Er nennt ihn an einer
Stelle »a mere metonym [of Basini]«, an anderer Stelle »[a] phallic fetish« (125).
Webber stellt auch diese Szene in den Kontext der frühen Sexualtheorie Freuds
und schreibt dem Wurm die Funktion eines Fetisch zu, denn »the normal
object« – will heißen Basini – werde ersetzt durch »a metonymic substitute
which is inadequate to the satisfaction of the normal ›Sexualziel‹« (123f.). Web-
ber hatte schon befunden, dass auch Basini nicht das ›eigentliche‹ ›Sexualziel‹
Törleß’ darstelle, sondern selbst als eine Art Ersatzobjekt fungiere. Er konsta-
tierte somit Basinis »purely preliminary status as object of desire« und liefert als
Beleg hierfür die Tatsache, dass »Törleß’s perception of him is always limited
to […] fetishistic forms«, wobei er die von Freud postulierten und von Musil
selbst in einem späteren Essay (Ansätze zu einer neuen Ästhetik, 1925) erörterten
psychischen Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung meint. Dagegen
ist Zweierlei einzuwenden: Zum einen ist die Tatsache, dass etwas im Traum
dem Mechanismus der Verdichtung oder Verschiebung unterworfen wird, kein
Beweis für dessen geringe psychische Bedeutung für den Betreffenden, sondern
eher für das Gegenteil: seine affektive Bedeutung wird gerade dadurch beschei-
nigt. Zum anderen zeigt sich Törleß an zwei Stellen in vollem Maße seiner Basi-
ni geltenden sexuellen Impulse bewusst, die in keiner Weise abgewehrt werden.
Vgl. S. 70 und 96.
63 Webbers These lautet: »[…] the worm obliquely sustains the presence of the
sexual object during Törleß’ fantasy in the later scene, allowing the motivation
of his arousal, but not requiring him to recognise the identity of the motivating
object.« »Sense and Sensuality«, 124.

58
sen beiden ›Handlungen‹ (im einen Fall einer Traum-Handlung, im an-
deren einer irrealen, sich aus der von Törleß verwendeten Metapher zur
Charakterisierung der Stimme im Traum ergebenden). Die Vermutung
liegt nahe, dass für den Träumenden der ›abgefingerte Bandwurm‹ eine
Phallusrepräsentanz darstellt; suggeriert wird, – wenn auch nur mittelbar,
und zwar großteils über die Törleß’ Traum begleitenden Einfälle –, ein
homoerotischer Akt, bei dem die Kant-Figur und der Mathematikprofes-
sor als Repräsentanzen für Törleß und Basini agieren. Bei dieser an der
Praxis der psychoanalytischen Traumdeutung angelehnten Interpretation
unterstelle ich Musil, unter dem Eindruck frisch rezipierter psychoanaly-
tischer (Traumdeutungs)-Theorien und mit überaus regem dichterischem
Kalkül einen für diese Dichtung äußerst ›produktiven‹, da nach Freud-
scher Traumdeutungspraxis sinnträchtigen Traum konstruiert zu haben,
der, – einmal dechiffriert –, Törleß’ ›Verwirrungen‹ für den Leser ein Stück
weit ›entwirrt‹. Meines Erachtens soll die Traumsequenz – die Traumdar-
stellung zusammen mit den vorausgehenden und nachgestellten Einfällen
des Träumenden – dazu dienen, das vom Mathematikprofessor vertrete-
ne Wissenschaftsverständnis und die ihm entsprechende epistemologische
Orientierung sowie die hiermit zu korrelierende Form der Sexualität aus
Törleß’scher Perspektive zu charakterisieren. Demnach drückt sich hierin
eine Spielart des Dualismus aus, der Törleß fortwährend beschäftigt, und
zwar in der Gestalt einer Opposition zwischen ›erotischer‹ ›Sinnlichkeit‹
und einer genital ausgerichteten Sexualität. Törleß selbst stellt eine solche
Opposition her, indem er sich gegenüber den beiden Männchen im Traum
abgrenzt, und zwar in Hinblick auf die Inhalte bzw. die Art ihrer ›Einsicht-
nahme‹. Im Traum bzw. in dessen im Erzählakt vollzogener Rekonstrukti-
on geschieht dies durch Verkleinerung und Karikierung. Nach dem Traum
erfolgt dies über einen an das Traumgeschehen anknüpfenden Einfall, der
das im Traum agierende Männchen mit dem vom Mondlicht beleuch-
teten Viereck am Boden des Schlafsaals in Verbindung bringt. Wie es
heißt:

Dieses wutzlige kleine Männchen, von dem er geträumt hatte, wie gierig es die
Seiten unter den Fingern jagte! Und das Viereck dort unten? Ha, ha. Ob so
gescheite Männchen wohl je in ihrem Leben so etwas bemerkt haben? Er kam
sich unendlich gesichert gegen diese gescheiten Menschen vor, und zum ersten
Male fühlte er, daß er in seiner Sinnlichkeit – denn daß es diese sei, wußte er
nun schon lange – etwas hatte, das ihm keiner zu nehmen vermochte, das auch
keiner nachzumachen vermochte, etwas, das ihn wie eine höchste, versteckteste
Mauer gegen alle fremde Klugheit schützte. (87)

59
Zunächst sei festgehalten: Das Viereck stellt einen Gegenstand der Er-
kenntnis dar, für den die Männchen im Traum, im Gegensatz zu Törleß,
›keinen Sinn‹ haben; wie Törleß – durchaus selbstgefällig – meint, könne
dieser nur auf dem Weg der ihm eigenen ›Sinnlichkeit‹ erschlossen wer-
den.
In der Kontrastierung von ›Sinnlichkeit‹ und ›fremder Klugheit‹ kann
ein Ausdruck des Törleß’ ›Verwirrungen‹ inhärenten Dualismus von ›Ratio
und Mystik‹ gesehen werden. In der Darstellung des Traumes inszeniert
sich dieser Dualismus gewissermaßen als Kampf, bei dem beide ›Pole‹ sich
abwechselnd Geltung verschaffen. Mal scheint sich die ›Sinnlichkeit‹ be-
haupten zu können gegenüber der ›fremden Klugheit‹.64 Die »höchste,
versteckteste Mauer« – die in Bezug zu setzen ist zu Törleß’ Mauererlebnis
in seiner Bedeutung als (immanent)-mystischer Erfahrung – bietet einen
zuverlässigen Schutz gegen den Geltungsanspruch des ›ratioïden‹ Erkennt-
nisprinzips, das in der Bildersprache des Traumes lächerlich gemacht wird.
Das kleine Männchen stöbert ›gierig‹ in den Seiten des Buches. Es beugt
sich der Autorität dieses Wissens, ohne ihm ›gewachsen‹ zu sein. Das deu-
tet sich im Missverhältnis zwischen dem Buch und den Tragenden an, die
»bei jedem Schritte […] stehen [blieben] und […] das Buch auf die Erde
[legen] mussten« (85).
Allerdings zweifelt Törleß mitunter an seiner Überlegenheit gegenüber
den Männchen im Traum und ihrer ›fremden Klugheit‹. Versteht man das
kleine Männchen im Traum als Autoritätsfigur, mit der er in der Frage
nach dem ›wahren‹ Weg zur Erkenntnis rivalisiert, so kann man das plötz-
liche Anwachsen des Männchens dahingehend deuten, dass es dadurch
seine ›wahre Größe‹ zeigt und sich auf diese Weise dem Träumenden
gegenüber doch noch zu behaupten vermag. Schließlich versieht ihn der
Träumende mit »einem unerbittlichen Gesicht«; wie es heißt: Jedes Mal,
wenn das Männchen »riesig zu wachsen« scheint, »[zuckte] es wie ein elek-
trischer Schlag schmerzhaft von Törleß` Gehirn durch den Körper« (87).
Bemerkenswerterweise erleidet Törleß aber nicht den Schmerz einer kör-
perlichen Verletzung; was Törleß Schmerz bereitet ist das Gefühl, »noch
immer vor einem verschlossenen Tore stehen [zu müssen]« (87), zu dem

64 Vgl. in diesem Kontext Albertsens auf den Mann ohne Eigenschaften bezogene
Unterscheidung zwischen einer ›sensibel‹ zu nennenden Ekstase und einer mo-
torischen. »Nur dort, wo die niedere erotische Ekstase [….] vermieden wird,
kann Sinnlichkeit mystisch fruchtbar werden«, so Albertsen: Ratio und Mystik,
49.

60
in seiner Vorstellung das Männchen, und mit ihm die ›fremde Klugheit‹,
vielleicht doch den richtigen Schlüssel besitzt. Dem entspricht die zuvor
gehegte Vorstellung, der Mathematikprofessor müsse den Schlüssel zum
»versperrten Garten« in der Hand halten. Im Bild vom verschlossenen Tor
aktiviert sich die erotische Dimension des Traumes bzw. ihrer sprachlichen
Rekonstruktion wieder. Betrachtet man die Beziehung zwischen Mathe-
matikprofessor und Kant-Figur im Traum als eine sexuelle, will heißen,
als eine durch den Träumendenden sexualisierte im Sinne einer genital
ausgerichteten Sexualität, so besagt diese Vorstellung, dass der mit dieser
Form von Sexualität zu korrelierende Erkenntnismodus den Schlüssel zur
›wahren‹ Erkenntnis besitze.
Diesem Bild setzt Törleß bald ein anderes, ähnliches gegenüber, um
seine nach dem Aufwachen aus dem Traum empfundene »zärtliche Stim-
mung« zu beschreiben, die ausgelöst wird von einer – »in irgendeiner […]
Weise mit Basini [verknüpften]« – »sinnliche[n] Regung«, so Törleß. Sie
sei wie jene, die »um die Weihnachtszeit in einem Hause herrscht, wo die
Kinder wissen, dass die Geschenke schon da sind, aber noch dort hinter
der geheimnisvollen Tür versperrt, durch deren Fugen man nur hie und da
einen Strahl vom Lichterglanze dringen sieht« (88).65 Dieses Bild, das über
die »zärtliche Stimmung« – dies der Tenor des Vergleichs – indirekt mit
Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ in Verbindung gebracht wird, kontrastiert mit dem
Bild vom versperrten Garten: hier geheimnisvolle Tür, dort verschlossenes
Tor. Die konträre, gegenseitige Bezogenheit dieser beiden Bilder ist kon-
stitutiv für die auszumachende Opposition von Sexualität und ›Sinnlich-
keit‹. Das hinter der Tür Verborgene ist der ›Gegenstand‹ ›nicht-ratioïden‹
Erkennens. Es liegt im »Lichterglanze« eine göttliche Präsenz, will heißen:
eine transzendente Welt ist zu vermuten, der wir eben »nur hie und da«,
in Form einzelner Strahlen, gewahr werden.
Und doch erschöpfen sich solche Bilder genauso wenig wie das Viereck
im Mondlicht oder das Erlebnis auf dem Dachboden in einem solchen ein-
deutigen Dualismus. Vielmehr zeichnen sich diese – allesamt und in ähn-
licher Weise doppeldeutigen Manifestationen Törleß’scher ›Verwirrung‹
– dadurch aus, dass sie sich einer klaren Polarisierung entziehen. Dass die
Szene auf dem Dachboden Elemente einer mystischen Schau bzw. ›Selbst-
beleuchtung‹ aufwies, wurde oben gezeigt. Diese Szene entfaltete aber auch
eine eindeutig erotische Komponente. Das Nebeneinander(be)stehen die-

65 Man vergleiche in diesem Kontext Rilkes Gedicht »Vor Weihnachten 1914«, das
im folgenden Kapitel analysiert wird.

61
ser konträren Dimensionen der Dachbodenszene wurde festgehalten, eine
Tendenz zur Verquickung von Erotik und Epistemologie diagnostiziert. In
Bezug auf Törleß’ Erleben des Vierecks im Mondlicht lässt sich nun ein
ähnliches Phänomen feststellen. Zunächst war die sich durch das Viereck
hindurchschlängelnde Schnur – so meine Deutung des Traumes und der
mit ihm verbundenen Einfälle – sexuell besetzt: Sie war sowohl mit Basini
als auch mit der Kant-Figur in Bezug zu setzen und stellte eine Verbin-
dung zwischen dem sexuellen Geschehen auf dem Dachboden und der
latent erotischen Handlung im Traum her. Indem Törleß das Viereck
im Anschluss an den Traum zum Exempel für ein Objekt der Erkenntnis
erhebt, das, wie er meint, lediglich auf dem Weg der ihm eigenen ›Sinn-
lichkeit‹ erfasst werden könne, aktiviert er jedoch eine zweite Verbindung
zum Geschehen auf dem Dachboden, sprich: zu einer Dimension dieses
Geschehens, nämlich der mystischen. Die Ahnungen und Verwirrungen,
die Törleß immer wieder heimsuchen, scheinen unweigerlich zwei Dimen-
sionen aufzuweisen: eine sexuelle im Sinne einer erwachsenen, genital de-
terminierten Sexualität, und eine (wie auch immer geartete) mystische und,
in Korrespondenz hierzu, ›sinnliche‹ im Törleß’schen Sinne. Das Schillern,
das Törleß hinter der Oberfläche der Wirklichkeit bzw. in Bezug auf Basini
wahrnimmt, dürfte sich hierauf zurückführen lassen.
Dass Törleß zum Zeitpunkt seiner ›Verwirrungen‹ unmittelbar vor der
Manifestation erster eindeutig sexueller Impulse steht, ist kein Zufall. Es
liegt nah, die dualistische Sicht auf die Dachbodenszene und die Traumse-
quenz – beides Episoden, die von Törleß’ Bewusstsein stark geprägt sind –,
als das Produkt entwicklungsbedingter ›Verwirrung‹ zu betrachten. Törleß
steht an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenendasein. Letzteres
steht im Zeichen einer genital determinierten Sexualität und des ›ratioïden‹
Denkens, während die Welt, die Törleß gerade verlässt, in Beziehung ge-
setzt wird zu einer anderen Welt ›jenseits‹ der Erwachsenenwelt; der Weg
dorthin vermittelt jene ›Sinnlichkeit‹, die Törleß bereits als kleines Kind
erlebte. Auf diese Sinnlichkeit, die ihn sporadisch überfällt, etwa in der
Dämmerung, aber auch im Anschluss an den Traum, beruft sich Törleß,
wenn es darum geht, sich gegen die Männchen mit ihrer ›fremden Klug-
heit‹ abzusetzen. Das Erleben einer ›dezentrierten‹ Sinnlichkeit kontrastiert
mit der genital ausgerichteten Sexualität der Männchen im Traum; Ers-
teres manifestiert sich im »Bewußtsein, wie sein [Törleß’] Körper an allen
Stellen von der milden, lauwarmen Leinwand des Bettes berührt wurde«
(86). Offenbar sieht Törleß in diesem Gefühl den Gegensatz zu dem, was
der Schatten jener wurmähnlichen Vorhangschnur im Mondlicht verkör-

62
pert, denn indem er der liebkosenden Qualität der Bettdecke gewahr wird,
fühlt er sich veranlasst, – als wolle er Kontraste setzen –, zum »fahle[n]
Viereck auf dem Estrich«, auf dem »jener gewundene Schatten« noch
»hindurch[kroch]« (86), hinzuschauen.
Das Empfinden einer dezentrierten Sinnlichkeit – »[i]n seiner Haut,
rings um den ganzen Körper herum« – ruft sodann ein Erinnerungsbild in
ihm hervor, das aus den Tagen stammt, »als er noch Kleidchen trug und
noch nicht in die Schule ging« und Zeiten hatte, »da in ihm eine ganz
unaussprechliche Sehnsucht war, ein Mäderl zu sein« (86). Wie Törleß im
Nachhinein konstatiert, »[saß] diese Sehnsucht […] nicht im Kopfe, – oh
nein, – auch nicht im Herzen, – sie kitzelte im ganzen Körper und jagte
rings unter der Haut umher« (86). Es scheint sich hier um eine Art andro-
gyne Sinnlichkeit zu handeln, denn, wie es heißt, »wußte [Törleß] damals
nichts von der Bedeutung körperlicher Unterschiede, und er verstand es
nicht, warum man ihm von allen Seiten sagte, er müsse nun wohl für
immer ein Knabe bleiben« (86).66 Wenn er jetzt »zum ersten Male wieder
etwas Ähnliches (spürte), […] nur so rings unter der Haut umher«, das
»Körper und Seele zugleich zu sein schien«, ein »Jagen und Hasten, das sich
tausendfältig, wie mit samtenen Fühlfäden von Schmetterlingen an seinem
Körper stieß« (86), so scheint eine schon in frühen Kindheitstagen erlebte
Form der dezentrierten Sinnlichkeit jetzt wiederzukehren.
In solchen Einfällen nimmt die androgyn-kindliche ›Sinnlichkeit‹ eine
weibliche Qualität an. Diese wird der als männlich dargestellten Sexualität
entgegengesetzt, die die Traumfiguren verkörperten. Törleß erfährt diese
›dezentrierte‹ Form von Sinnlichkeit als etwas Weibliches und identifiziert
sich mit dem kleinen Mädchen, dessen Arroganz »fühlt, daß sie sich jeden
Augenblick in irgendein furchtbar tiefes Versteck in dem kleinen Körper

66 Das Dezentrierte der von Törleß erfahrenen ›Sinnlichkeit‹ kann mit dem Zu-
ständlichen einer ›weiblich‹ zu nennenden Form von Liebe, wie sie im Mann
ohne Eigenschaften charakterisiert wird, korreliert werden. Ulrich spricht von
der Liebe, »die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer
einen Zustand bildet!« (3, 801) Vgl. in diesem Zusammenhang Brosthaus: Ent-
wicklung des aZ, 416f. Im Mann ohne Eigenschaften gehört Meeressymbolik
neben vegetabilen Metaphern und Gleichnissen zu Ausdrucksweisen für das
Prinzip des Weiblichen. Vgl. Brosthaus: Entwicklung des aZ, 419. Die überaus
interessante Gender-Problematik muss hier leider unberücksichtigt bleiben, da
eine Behandlung der vielen diesbezüglichen Fragen, die die untersuchten Texte
aufwerfen, den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde. Hier besteht ein
klares Forschungsdesiderat.

63
zurückziehen könne … .« (86).67 Dieser Gedanke lässt Törleß wiederum,
entsprechend der Kontrapunktik von Männlichem und Weiblichem, die
diese Einfälle und Empfindungen prägen, an das »wutzliche kleine Männ-
chen« denken, gegen das er »sich unendlich gesichert« vorkommt (87), weil
er »in seiner Sinnlichkeit […] etwas hatte, das ihm keiner zu nehmen ver-
mochte, das auch keiner nachzumachen vermochte, etwas, das ihn wie eine
höchste versteckteste Mauer gegen alle fremde Klugheit schützte« (87).68
Törleß’ Vorstellung einer »höchsten verstecktesten Mauer« steht in Be-
zug zum vorherigen Mauererlebnis, das Törleß’ Bewusstsein für das im
Verborgenen sich regende Leben geschärft hatte. So war ihm »der helle Tag
[…] zu einem unergründlichen Versteck geworden […] und das lebendige
Schweigen umstand [ihn] von allen Seiten« (66). Diese Erfahrung stand im
Zeichen einer Art ›immanenter‹ Mystik, so die hier nahegelegte Deutung.
Törleß selbst stellt den Bezug zwischen Mauer und Mauer implizit her,
denn der Gedanke an die »höchste versteckteste Mauer« löst einen interes-
santen Einfall bei ihm aus: »Ob so gescheite Männchen wohl je in ihrem
Leben […] unter einer einsamen Mauer gelegen und bei jedem Rieseln
hinter dem Mörtel erschrocken sind, als ob etwas Totes da Worte suche,
um zu ihnen zu sprechen?« (87) Diese Einfälle und Überlegungen münden
in eine Apologie der Sinnlichkeit, die Törleß der ›fremden Klugheit‹ dieser
Männchen entgegensetzt:

67 Ich kann Niekerks psychoanalytisch orientierter Erklärung für Törleß’, wie er


sagt, »weibliche Position«, nicht folgen. Er deutet sie als »Kompromißbildung«,
die es Törleß erlaube, »an einer sexuellen/geschlechtsspezifischen Identität fest-
zuhalten, zugleich aber die strengen Forderungen der ›männlichen‹ Identität, der
väterlichen Ordnung zu umgehen«. (Niekerk: »Foucault, Freud, Musil«, 560;
siehe auch 556.) Meines Erachtens ist seine Interpretation ein Paradebeispiel für
eine pseudo-psychoanalytische Herangehensweise, die den wesentlichen Aspekt
des Gegenstands ihrer Untersuchung außer Acht lässt, nämlich seine dichteri-
sche Dimension. Stattdessen reduziert sich der Text in Folge der Interpretation
auf ein Gerippe, dem man eine vereinfachte, geradezu zweckentfremdete Theo-
rie überstülpt.
68 Jan Alers Interpretation dieser Stelle geht in eine ganz andere, für mich kaum
nachvollziehbare Richtung. Auf der Prämisse einer Gleichsetzung von ›Sinn-
lichkeit‹, wie sie Törleß an den Tag legt, und ›Sensualität‹ kommt er zunächst
zu dem Schluss, Törleß sei »in dreifachem Sinne ein geborener ›Sensualist‹«
(Aler: Zögling zwischen Maeterlinck und Mach, 256), und zwar wohl im Sinne
des Mach’schen Sensualismus, obwohl der Terminus nicht weiter differenziert
wird. Daraus leitet Aler die angeblich »antiintellektualistische Tendenz seines
[Törleß’] geistigen Verhaltens« ab.

64
Ob sie wohl je so die Musik, die der Wind in den herbstlichen Blättern anfacht,
gefühlt haben, – so durch und durch gefühlt haben, daß dahinter plötzlich ein
Schreck stand, … der sich langsam, langsam in eine Sinnlichkeit verwandelte?
Aber in eine so merkwürdige Sinnlichkeit, die mehr wie ein Flüchten und dann
wie ein Auslachen ist. Oh, es ist leicht, gescheit zu sein, wenn man alle diese
Fragen nicht kennt … . (87)69

Dass an dieser Stelle das kleine Männchen »immer wieder […] riesig zu
wachsen [scheint]«, ist signifikant, scheint sich damit der ›sexuelle‹, sprich
›ratioïde‹ Weg zur Erkenntnis – man bemerke die über das Bild der Mauer
erfolgende, erneute Verquickung der sexuellen mit der epistemologischen
Thematik – dem ›sinnlichen‹, sprich ›nicht-ratioïden‹ gegenüber zu be-
haupten, seine Legitimität einklagen zu wollen. Jetzt meldet sich aber die
androgyn-kindliche Sinnlichkeit wieder, mit der Törleß sich identifiziert:
»[…] das eben, was noch im Augenblick vorher die warmen Schläge sei-
nes Blutes weggedrängt hatten«; das Gefühl »rings um den ganzen Körper
herum«. Dieses Gefühl »erwachte dann wieder, und eine wortlose Klage
flutete durch Törleß’ Seele […]« (87).
Der Dualismus, der sich in Törleß’ Einfällen zum Traum manifestiert,
entzieht sich letztlich einer klaren Strukturierung, und das liegt daran,
dass Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ nun nicht mehr in kindlicher Reinform be-
steht; ihr ist Sexuelles beigemengt, das Geltung verschaffen will. Dieses
zentrale Moment Törleß´scher ›Verwirrung‹ bedingt die oben analysier-
te Sprachdynamik, die Törleß’ Traumrekonstruktion entfaltet. Bei seiner
Suche nach einem Weg aus der ›Verwirrung‹ kann Törleß zwar auf die
kindlichen Erfahrungen zurückgreifen, die ihm einen ›mystisch-sinnlichen‹
Weg vermitteln, aber er ist zugleich im sexuellen Reifeprozess begriffen.
Die Dynamik dieser Situation prägt Törleß’ Beziehung zu Basini. Dieser

69 Stellt man diese Dichotomie einer bei Meister Eckhart auszumachenden ent-
gegen, die nicht zwischen ›Sinnlichkeit‹ und Ratio unterscheidet, sondern, wie
Grace Jantzen in ihrer Studie zu Power, Gender and Christian Mysticism (Cam-
bridge 1995) ausführt, zwischen »the inferior rational faculty, which is conjoined
with the senses, and the superior rational faculty, which is formed directly by
God and which is the highest part of the soul« (Jantzen: Power, Gender, My-
sticism, 118f.), so sieht man, wie weit Musils Törleß von diesem einflussreichen
Verbreiter mystischen Gedankenguts entfernt ist. Wie Jantzen erörtert, steht
Eckhart für die intellektbetonte Mystik des Mittelalters. Eckhart sei »famous
for his theme of the Vinkelîn, or spark of the soul. From the way in which
Eckhart develops the idea of this spark of the soul, we can see both parallels and
contrasts with Dionysian speculative or intellectual mysticism, rather than an
affective stance. Eckhart is focused upon rationality and right knowing, rather
than upon love or desire. […]« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 118f.

65
fungiert nicht nur als ›Vorwand‹ im Sinne des vorläufigen Objekts einer
mystischen Erfahrung, sondern die mystische Erfahrung, die Törleß mit-
tels dieser schillernden Gestalt gemacht haben will bzw. meint machen zu
können, entpuppt sich als Vorwand für die von Törleß letztlich gemachte
sexuelle Erfahrung.70 Törleß’ Fall zeigt uns: Zwischen kindlich/androgyner
›Sinnlichkeit‹ und mystischer Ekstase kann keine direkte Brücke geschlagen
werden; die im Zeichen des ›Ratioïden‹ stehende Sexualität verlangt, wenn
man so will, ihr Recht.71 Wie sich zeigen wird, spielen solche Relationen

70 Unterstellt man Törleß ein solches ›doppeltes Spiel‹, so lassen sich seine ›my-
stischen‹ Exerzitien jedoch nicht der Tradition eines auf ›erotischer‹ Sehnsucht
basierenden Strebens nach Vereinigung zuordnen, wie sie etwa von Bernhard
von Clairvaux – in Abgrenzung zu Meister Eckhart – vertreten wird. Über
Bernhard von Clairvauxs, wenn man so will, ›erotische‹ Schule der Mystik
schreibt Jantzen: »The vocabulary of erotic yearning, the hunger for the presence
of the beloved and for sexual consummation, of bliss and contentment is the
weft on which Bernard’s sermons are woven. In Bernard, too, there is ecstacy,
but it is an ecstasy not of an intellect transcending itself but of a love fulfilled.
A concentration on this side of Bernard’s writing could portray him as a mystic
made in the image of modern romanticism. But if the weft of his sermons is
the vocabulary of erotic love, the warp is a sharp denial of the body as having
any part in it. The love with which the soul is to seek God is to be purely
spiritual; the desire and passion and consummation are not to be thought of as
in any sense engaging actual bodiliness and sexuality.« Jantzen: Power, Gender,
Mysticism, 128. In Bezug auf weibliche Mystikerinnen des Mittelalters berich-
tet Jantzen allerdings: »With [these] women there is a direct, highly charged,
passionate encounter […]. The sexuality is explicit, and there is no warning
that it should not be taken literally.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 133.
Wohlgemerkt gilt dieses ›encounter‹ aber Jesus Christus; es stellt sich also auf
ein ganz anderes Fundament als das, worauf Törleß’ Liebelei beruht.
71 Im Sinne Eckhart’scher Mystik hat eine solche Opposition genau genommen
keine Gültigkeit, geht es hier nicht um ein ekstatisches Vereinigungserlebnis,
sondern um ein intellektuell zu nennendes Erkennen. Wie Jantzen ausführt,
basiert das mystische Erlebnis Eckhart’scher Provenienz auf ›knowing‹. Bezug
nehmend auf die in Hinblick auf Musils Törleß besonders problematisch er-
scheinende, aber hier nicht näher erläuterbare Genderthematik schreibt Jantzen:
»[…] there is that in humans which is god-like and hence akin rather to being
than to nothing. This is what Eckhart designates as ›the spark of the soul‹, […]
using his characteristically gendered language: ›The spark of the intellect, which
is the head of the soul, is called the husband [or man] of the soul, and is none
other than a tiny spark of the divine nature, a divine light, a ray and an imprint
of the divine nature. (Eckhart 1979: 229).‹ […] insofar as [this spark] is most
aptly describable as knowing, it is the same as God, whose being Eckhart has
characterised as knowing. From this Eckhart draws startling conclusions: ›His
causing me to know and my knowing are the same thing. Hence his knowing is
mine, just as what the teacher teaches and what the pupil is taught are one. And
because his knowing is mine and because his substance, his nature, and his being

66
und Spannungen eine entscheidende Rolle für Ulrichs Forderung nach
einer ›taghellen Mystik‹.72
In der Verquickung der sexuellen mit der epistemologischen The-
matik in Musils Verwirrungen scheint sich ein Spannungsmoment in
grundsätzlicher Weise zu verschieben, das eine lange Tradition christ-
licher Mystik kennzeichnet. Während man innerhalb dieser Tradition
vom Konkurrieren einer intellekt- mit einem affektbetonten Mystik,
einer ›rationalen‹ mit einer im weitesten Sinne des Wortes erotischen
Form der Gottesannäherung sprechen kann, erfolgt hier in der Gegen-
überstellung einer ›männlichen‹, und das heißt genital ausgerichteten
›Sexualität‹ mit einer ›weiblichen‹, nicht genital zentrierten – will heißen:
schlechthin ›dezentrierten‹ – ›Sinnlichkeit‹ eine Dichotomisierung anderer
Art, aus der eine Neudefinierung grundsätzlicher, miteinander kontrastie-
render Erkenntnismodi hervorzugehen scheint, die sich aber als anknüpfbar
an alternative Formen mystischen Erkennens erweisen, da die Tradition
christlicher Mystik sowohl einen intellektuellen als auch einen affektiven
Weg zur ›Gotteserfahrung‹ für denkbar hält. Problematisch ist hierbei
die Korrelation der als ›männlich‹ identifizierten ›Sexualität‹ mit ratioïder
Denktätigkeit und der als ›weiblich‹ identifizierten ›Sinnlichkeit‹ mit einer
Art mystischer Intuition, scheint es doch, als ob hierdurch eine ganze Di-
mension mystischen Strebens ausgeschaltet werden soll. Die Fokussierung
der als weiblich zu betrachtenden ›Sinnlichkeit‹ auf die »versteckteste Mau-
er« als Gegenstand quasi-mystischer Schau führt eine radikale Reduzierung

are mine, I am the Son of God. (1986: 328)‹ The spark of the soul, the imago dei,
is that which knows God with divine knowledge, and thus participates in the
divine nature or is one with God.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 120.
72 Interessant in diesem Zusammenhang ist die von Jantzen konstatierte Zusam-
menführung einer intellekt- und einer affektbetonten mystischen Tradition nach
Dionysius und Eckhart, etwa bei »Bonaventure and, especially, the anonymous
fourteenth-century English writer of The Cloud of Unknowing. In each of them
and many others like them, the mystical ascent to God is seen in terms of the
mind and its progress, but that progress is a progress not of pure intellect, but
also of love: love and knowledge enable each other. In The Cloud, in particular,
the ›unknowing‹ of Dionysius is itself a term for love, and is contrasted sharply
with knowledge, which, true to Dionysius’ teaching, can never be adequate to
the reality of God.« Jantzen: Power, Gender, Mysticism, 132. Tendenzen in
diese Richtung werden aber schon bei Origen und Eckhart festgestellt: »[…]
those like Origen and Eckhart who spoke most in terms of union of the mind
with the mind of God did not usually speak of this as without love. On the
contrary, it is the intellectual love of God which is union with God.« Jantzen:
Power, Gender, Mysticism, 143.

67
des Spektrums mystischer Erfahrung herbei, die auch einer Absage an die
göttliche Dimension solcher Erfahrung und einer endgültigen Hinwen-
dung zur ›säkularen‹ Mystik gleichkommt. Signifikanterweise versteht Fritz
Mauthner die »gottlose Mystik«73 – so eine epochale Formel, die auch für
Musil’sche Mystik anwendbar erscheint – als mehr oder weniger tentative
Reaktion auf eine »bankrotte[…] ›Wissenschaft‹«, spricht Mauthner doch
von der (zunächst zumindest) aus Verlegenheit vorgenommenen Flucht
aus der besagten,

in allen letzten Fragen bankrotten ›Wissenschaft‹ in das eingestandene Nichtwis-


sen, aus dem Reiche der Vernunft in das innere Jenseits des Übervernünftigen,
aus dem Markttreiben der Wortwechsler in die Geborgenheit und Verborgen-
heit der Mystiker. In die letzte Einheit, in welche kein Unterschied mehr be-
steht zwischen meinem Ich und der übrigen Natur, in welcher die Welt oder
die Natur nur einmal da ist, in welcher ein Tautropfen, eine Tanne, ein Tier
oder irgendein anderes Ich, wie z.B. das meinige, nur das gleiche Recht eines
Gefühles hat, ein Traum, ein Werk der Sehnsucht ist, oder eine Illusion und
dennoch das einzig Wirkliche.74

Wie Mauthner im Folgenden »mit heiterer Selbstsicherheit« verlautbart:

Und wenn ich diese durchaus nicht verstiegene Mystik, diesen meinen mysti-
schen Monismus […] auch noch gottlos nenne, so muß ich also bekennen, daß
ich an dem alten Worte Mystik einen Bedeutungswandel verübt und doch einen
langsam werdenden Bedeutungswandel vollendet habe.75

Was Mauthner als provisorischen Notbehelf hinstellt,76 wird von Törleß


idealisiert, wenn auch zaghaft, ohne den Brustton innerster Überzeugung.
Aber es gilt, den ›sinnlichen‹ Weg in aller Konsequenz gedanklich – wie
körperlich – durchzuexerzieren.

73 Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, 4 Bände,


Stuttgart/Berlin 1922–23, Bd. 1, Vorwort, V.
74 Mauthner: Atheismus, Bd. 4, 427.
75 Mauthner: Atheismus, Bd. 4, 427f.
76 »[…] ich möchte diejenigen, die mir vertrauen, auf die helle und kalte Höhe
führen, von welcher aus betrachtet alle Dogmen als geschichtlich gewordene
und geschichtlich vergängliche Menschensatzungen erscheinen, die Dogmen
aller positiven Religionen ebenso wie die Dogmen der materialistischen Wis-
senschaft, auf die Höhe, von welcher aus übersehen Glaube und Aberglaube
gleichwertige Begriffe sind. Wie ich zwischen den Zeilen des niederreißenden
Buches aufbauend zu bieten suche, mein Kredo also, ist eine gottlose Mystik,
die vielleicht für die Länge des Zweifelweges entschädigen wird.« Fritz Mauth-
ner: Atheismus, Bd. 1, Vorwort, V.

68
1.2.3. Eros: Törleß’ mystischer Übungsweg
Dass Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ – eine als androgyn-kindliche zu bezeichnende
– ihm den Weg zur ›mystischen‹ Schau bahnen soll, deuteten seine vom
Traum ausgelösten Reflexionen an. Dass Basini hierbei eine Schlüsselrolle
zukomme, auch. Seine Gedanken über solche Zusammenhänge will Törleß
anschließend zu Papier bringen, und zwar in Form eines Traktats mit dem
Titel De natura hominum. Gerade jener »unbestimmten Sinnlichkeit«, die
er zuletzt erfahren und mit der »zärtliche[n] Stimmung […] um die Weih-
nachtszeit« (88) verglichen hatte, versucht er schreibend beizukommen:
Wenn all die Erfahrungen, in denen jene merkwürdige Sinnlichkeit sich
eingestellt habe, wenn »das alles geordnet, Faktum für Faktum aufgezeich-
net sein werde, […] werde sich auch die richtige, verstandesgesetzmäßige
Fassung von selbst ergeben« (88), so hofft er. Und doch ergeht es Törleß
dabei »wie einem Fischer […], der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß
ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstren-
gungen nicht vermag, sie ans Licht zu heben« (88). Ihm ist, als habe er
»einen Sinn mehr […] als die anderen, aber einen nicht fertig entwickelten,
einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar macht, aber nicht funktioniert« (89).
Törleß stellt fest, dass sein Sinn für eine hinter der alltäglichen, verständli-
chen Wirklichkeit liegende ›zweite Welt‹ sich in Zusammenhang mit Basi-
ni erst richtig bemerkbar gemacht habe: »Diese Veränderung begann, wenn
ich mich genau erinnere, mit Basinis …« (89) Törleß spricht nicht ganz
aus, was er denkt. Gemeint sind aber, wie Törleß’ weitere Überlegungen
zeigen, »die Erniedrigungen […], die Basini erlitten hatte« (90). Törleß
identifiziert Basini als das zumindest vorläufige Objekt seiner ›sinnlichen
Regung‹ und versucht, die Qualität des von Basini ausgelösten Gefühls zu
charakterisieren:

Eigentlich war es ja immer nur ein und dasselbe Gefühl gewesen. Und ganz
eigentlich überhaupt kein Gefühl, sondern mehr ein Erdbeben ganz tief am
Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem doch die ganze
Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen selbst der stürmischsten
Gefühle daneben wie harmlose Kräuselungen der Oberfläche erscheinen. (90)

Was er hierbei erlebt, vermag Törleß aber nicht in Worte zu fassen, denn
die Erfahrung entzieht sich dem sprachlichen Zugriff. Dieses Phänomen
kennt Törleß schon; er hatte bereits versucht, dieses an Hand mehrerer
Gleichnisse zu beschreiben. So auch jetzt. Wie er meint, verfüge er
zur Ausdeutung dieser Woge, die den ganzen Organismus überflutete, nur über
die Bilder […], welche davon in seine Sinne fielen, – so wie wenn von einer

69
unendlich sich in die Finsternis hinein erstreckenden Dünung nur einzelne
losgelöste Teilchen an den Felsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen,
um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken. (90)

Was Törleß hier schildert, ist ein bildhaftes Sehen. Mehr als die Worte
vermögen die Bilder annäherungsweise das auszudrücken, was ›am Grunde
erzittert‹, obwohl auch ihre Ausdruckskraft beschränkt ist.77 Anklänge an

77 Das bildhafte Sprechen über Gott bzw. über die ersehnte oder bereits erlebte
Vereinigung als vom Mystiker bevorzugten Weg der Versprachlichung eines
Erlebnisgehalts, – sofern es versucht, und davon gehe ich aus, bildhafte Ent-
sprechungen für diesen zu formulieren –, problematisiert Dionysius Areopagita
ganz entschieden im Sinne der ›negativen Theologie‹: »Wenn es nun zutrifft,
dass die Negationen bei den göttlichen Dingen wahr, die positiven Aussagen
hingegen der Verborgenheit der unaussprechlichen Geheimnisse unangemessen
sind, dann folgt, daß bei den unsichtbaren Gegenständen die Darstellung durch
Ausdrucksformen ohne jegliche Analogie eher die passende ist. Es ehren also
die geheiligten Darstellungen der Worte die himmlischen Gliederungen und
schänden sie nicht, wenn sie sie durch Gestalten ohne jede Analogie darstellen,
indem sie dadurch aufzeigen, daß sie allem Stofflichen in unvorstellbarer Wei-
se entrückt sind. Daß darüber hinaus auch unser Denken die abweichenden
unter den Gleichartigkeiten eher [zu höherer Betrachtungsweise] emporführen,
wird, glaube ich, kein Vernünftiger bestreiten.« Pseudo-Dionysius Areopagita:
Über die himmlische Hierarchie, übersetzt von Günter Heil, Stuttgart 1986, 32
(140D–141A). Wie Alois M. Haas diese Stelle liest, wolle damit gesagt sein, dass
»die Vermittlung zum Geistigen hin durch die ›sogenannten ungleichartigen
Gleichartigkeiten‹ ungleich besser gewährleistet [sei] als durch ähnliche Ähn-
lichkeiten«. Haas: Mystik im Kontext, 145. Wie Haas etwas weiter unten kon-
statiert: »Die nicht analogen Analogien werden in dieser apophatischen Sicht
zu besonders hervorragenden Mitteln der Darstellung des Göttlichen. Damit
ist nicht nur der Weg frei zur Erfahrung der Einheit mit Gott in der diesem
Vorgang entsprechenden vornehmen Verhüllung, sondern vor allem auch offen
für die ganze Breite der Darstellungsmöglichkeiten für das Göttliche unter dem
Anschein seines Gegenteils […] Das heißt, dass die äußersten Möglichkeiten
der Aussage über das Göttliche auch die wirkkräftigsten zu sein vermögen.«
Haas: Mystik im Kontext, 146. In diesem Zusammenhang ist Walter Haugs
Unterscheidung zwischen einer metaphorischen und einer ontologischen An-
näherung an Gott aufschlussreich. Wie Haug schreibt, pflegte man »angesichts
d[er] Austauschbarkeit« der für das Sprechen über Gott bemühten Referenzsy-
steme »von Metaphorik zu sprechen«. Hier sei aber »Vorsicht geboten. Denn
zunächst ist festzuhalten, daß etwa das Licht oder die Höhe keine Metaphern
Gottes sind, sondern daß Gott in gewisser Weise das Licht und die Höhe ist:
›in gewisser Weise‹ heißt, daß er es zugleich in höherem Maße nicht ist. Die
Erfahrung und Darstellung anhand der Struktur der unähnlichen Ähnlichkeit
ist damit fundamental von der Darstellungsform der Metapher unterschieden.
Wenn man die Aussage ›Gott ist Licht‹ metaphorisch versteht, so heißt das, daß
bestimmte Qualitäten Gottes im Bild des Lichtes anschaulich gemacht werden
können: […] Die ontologische Erfahrung Gottes im Licht dagegen eröffnet
keinen solchen Horizont […] Sie zielt vielmehr auf die Differenz zwischen

70
das dem Roman vorangestellte Motto sind in diesem Gleichnis zu ent-
decken. Es erinnert aber auch an das zuvor entworfene Gleichnis, mit dem
Törleß die vom Traum ausgelöste »sinnliche Regung« zu charakterisieren
versuchte. Da war von einem »hinter der geheimnisvollen Tür« sich ver-
bergenden Lichterglanz die Rede, von dem man »hie und da« einen Strahl
durch die Fugen« dringen sieht (88). Auch wenn die Topologie eine jeweils
andere ist, wollen beide Gleichnisse demselben Gefühl Ausdruck verleihen,
nämlich der Basini geltenden ›sinnlichen Regung‹.
Also dient Basini hier gewissermaßen als Vermittler der quasi-mysti-
schen Schau, die Törleß erfährt. Aber die Bilder, die jetzt vor Törleß’
inneres Auge treten, geben nicht wirklich das wieder, was in der Finsternis
liegt:

Diese Eindrücke waren […] unbeständig, wechselnd […]. Nie konnte Törleß
sie festhalten, denn wie er genauer zusah, fühlte er, daß diese Repräsentanten
an der Oberfläche in gar keinem Verhältnis zu der Wucht der dunklen, unge-
hobenen Masse standen, die zu vertreten sie vorgaben. (90)

Das Objekt der quasi-mystischen Schau, Basini, erweist sich als genauso
vorläufig wie die Bilder, mittels derer diese Erfahrung zum Ausdruck ge-
langen soll:
Nie ›sah‹ er Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit irgen-
deiner Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer
solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es
in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und
nie gelang es ihm im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen.
Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Ki-
nematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch
eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das
man empfängt, hunderte von – für sich betrachtet ganz anderen – Bildern
vorbeihuschen. (90f.)

Aber erst die konkrete sexuelle Beziehung zum vermeintlichen Objekt der
Begierde zeigt Törleß, dass Basini »nicht mehr als ein stellvertretendes und
vorläufiges Ziel [seines] Verlangens« gewesen sei (109). Man stelle also er-
neut fest: Basini hat in doppeltem Sinne Vorwandcharakter. Zum einen
stellt er das ›nur vorläufige Ziel‹ der von Törleß ersehnten mystischen

dem endlich Lichthaften und dem ewig Lichthaften.« Wie Haug weiter unten
bemerkt, bildet »die Sphäre des Konkreten schlechthin« eine »weitere Einbruch-
stelle des Metaphorischen«. Haug: »Theorie des mystischen Sprechens«, 499.

71
Schau dar und ist als solches auch nur ein Zeichen; alle hier zitierten,
von Törleß bemühten Bilder thematisieren einen Prozess persistierender
Signifikation, der nie zum Ziel führt, und Basini ist Teil dieses Signifi-
kationsprozesses. Sein Vorwandcharakter zeigt sich auch darin, dass die
eine ihm zugeschriebene Funktion die andere überdeckt, von ihr ablenkt:
Als ›Übungsobjekt‹ im Dienste mystischer Exerzitien tritt das ›Sexualob-
jekt‹ in den Hintergrund, aber als Letzteres führt Basini Törleß’ sexuelle
Reifung und den hiermit einhergehenden Eintritt in eine vom Prinzip des
›Ratioïden‹ wie des ›Nicht-Ratioïden‹, von ›Sexualität‹ wie ›Sinnlichkeit‹
determinierte Welt herbei. Als doppelsinnige Gestalt repräsentiert Basini
die ›doppelgesichtige‹ Welt, die diese konträren Bezugsgrößen ergeben.
Auf einer Ebene eröffnet der Roman jedoch eine Möglichkeit, Sexua-
lität und ›Sinnlichkeit‹, Ratio und Mystik in den Dienst eines ›höheren‹,
›harmonisierten‹ Zieles zu stellen. Dass die menschliche Liebe im platoni-
sierenden Sinne die Vorstufe zu einer höheren Form der Liebe darstellen
kann, zeigt nämlich die Episode mit der Schauspielerin, die Törleß in
Folge des »mehr seelischen als körperlichen«, vom Gedanken an Basini
ausgelösten »Fiebers« (91) wieder einfällt. Auf einer Italienreise mit seinen
Eltern hatte Törleß sich in diese verliebt. Sie bekam er jedoch nie zu
Gesicht; er hatte lediglich ihrem Gesang – in einer ihm unverständlichen
Sprache – am offenen Fenster gelauscht. Gerade die Tatsache, dass er die
Schauspielerin nie sah, ihre Sprache nicht verstand, ließ sie zur Brücke
werden für die ersehnte transzendente Erfahrung:
[…] er empfand die Leidenschaft der Melodien wie Flügelschläge großer dunk-
ler Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seiner Seele zog.
Es waren keine menschlichen Leidenschaften mehr, die er hörte, nein, es waren
Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu
alltäglichen Käfigen. (91f.)

In der Liebe zur Schauspielerin kann sich Törleß mit einem der über-
menschlichen Leidenschaft fähigen Wesen identifizieren, wie es die dunk-
len Vögel des Vergleichs verkörpern: Er kann »die Linien fühlen […], die
ihr Flug in seiner Seele [zieht]«, er vereint sich mit diesen übermenschli-
chen Wesen. Dass die Schauspielerin hierbei eine Vorwandfunktion erfüllt,
zeigt sich darin, dass Törleß

in dieser Erregung (nie) an die Personen denken (konnte), welche […] jene Lei-
denschaften agierten; versuchte er sie sich vorzustellen, so schossen augenblicks
dunkle Flammen vor seinen Augen auf oder unerhört gigantische Dimensionen,
so wie in der Finsternis die menschlichen Körper wachsen und menschliche
Augen wie die Spiegel tiefer Brunnen leuchten. Diese düstere Flamme, diese

72
Augen im Dunkel, diese schwarzen Flügelschläge liebte er damals unter dem
Namen jener ihm unbekannten Schauspielerin. (92)

Das menschliche Liebesobjekt vermittelt eine transzendente Liebeserfah-


rung, mündet in die Schau einer höheren Macht, mit der Törleß sich ein
Stück weit identifizieren kann, nämlich, indem er die Linien im Innern
fühlt, die die Flügelschläge der großen dunklen Vögel – als Verkörperung
dieser Macht – ziehen, vor deren überwältigenden Dimensionen, vor deren
Andersartigkeit er aber nur staunen kann:
Ein Gedanke preßte Törleß am ganzen Körper zusammen. Sind auch die Er-
wachsenen so? Ist die Welt so? Ist es ein allgemeines Gesetz, daß etwas in uns
ist, das stärker, größer, schöner, leidenschaftlicher, dunkler ist als wir? Worüber
wir so wenig Macht haben, daß wir nur ziellos tausend Samenkörner streuen
können, bis aus einem plötzlich eine Saat wie eine dunkle Flamme schießt, die
weit über uns hinauswächst? … . Und in jedem Nerv seines Körpers bebte ein
ungeduldiges Ja als Antwort. (92)

Der Künstler ist derjenige, dem eine solche Saat gelingt. Das weiß der
Erzähler (Törleß hingegen noch nicht), der anschließend meint: »[Törleß]
kam sich unter all dem wie ein Auserwählter vor. Wie ein Heiliger, der
himmlische Gesichte hat; – denn von der Intuition großer Künstler wußte
er nichts.« (92)
Auch wenn das Licht, das in Folge dieser Reflexionen noch einmal »in
seinem Innern […] zu sprühen [scheint]« (92), bald erlischt, ist sich Törleß
jetzt sicher, dass er den ›zweiten Weg‹ wählen muss, denn er ist überzeugt,
»daß er selbst schon nahe der Lösung seiner Rätsel stehe« und »daß er
auf die Hilfe philosophischer Bücher verzichten müsse« (92). So erweisen
sich auch seine eigenen Schreibversuche als vergebens, denn das Ergebnis
ist nur »eine Reihe von grämlichen, längst bekannten Fragezeichen, ohne
daß jener Augenblick wieder erwacht wäre, in dem er zwischen ihnen hin-
durch wie in ein von zitternden Kerzenflammen erhelltes Gewölbe geblickt
hatte« (93). Statt schreibend die Tür zu suchen, »die hinüberführe« (92),
beschließt sich Törleß, »so oft als möglich, immer und immer wieder die
Situationen zu suchen, welche jenen für ihn so eigentümlichen Gehalt in
sich trugen« (93): Situationen, in denen sich eine Art sinnliche Regung ein-
stellt wie die von der Erinnerung an die Schauspielerin ausgelöste. Dabei
stellt der Erzähler fest: »[…] besonders häufig ruhte sein [Törleß’] Blick
auf Basini.« (93) Der von Basini ausgehende Reiz ist eindeutig erotischer
Natur, ist es doch »ein Reiz«, so Törleß, »wie wenn man in der Nähe ei-
nes Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen
kann« (93).

73
Wenn Törleß sich für den ›zweiten Weg‹ entscheidet, bedeutet das
allerdings nicht, dass er die Gültigkeit jener philosophischen Bücher in
Abrede stellt. Vielmehr
[überkommt] ihn eine gewisse Beschämung darüber, daß er sich an seinem
ursprünglichen Vorsatze, aus dem Buche, das ihm sein Lehrer gezeigt hatte,
sich die vielleicht doch darin enthaltene Erklärung zu holen, so vorbeigedrückt
hatte. (93)

Eine grundsätzliche Verunsicherung macht sich breit. Im einen Moment


scheint der von ihm gewählte Weg der richtige zu sein. In dem Moment
aber, in dem er an das Buch denkt, – gemeint ist die Abhandlung Kants –,
gerät er ins Wanken:
Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstande, mit dem Gefühle, daß die also
verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen werde. Sowie aber der Ge-
danke an das Buch auftauchte, nagte ein feinzahniger Zweifel an dieser Ruhe,
eine Ahnung, daß er Unnützes tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen
Niederlage. (93)

So versucht Törleß, das eine mit dem anderen zu verbinden, eine Synthese
zweier Erkenntnismodi anzustreben, wenn auch auf sehr äußerliche, unbe-
darfte Weise, so dass der Versuch misslingen muss:
Es war zum ersten Male wieder das gewisse Buch, und Törleß hatte sich die
Situation sorgsam so ausgedacht gehabt: Vorne saß Basini, hinten er, mit den
Augen ihn festhaltend, sich in ihn hineinbohrend. Und so wollte er lesen. Nach
jeder Seite sich tiefer in Basini hineinsenkend. So mußte es gehen; so mußte er
die Wahrheit finden, ohne das Leben, das lebendige, komplizierte, fragwürdige
Leben, aus den Händen zu verlieren …
Aber es ging nicht. Wie immer, wenn er sich etwas allzu sorgfältig vorher aus-
dachte. Es war zu wenig unvermittelt und die Stimmung erlahmte rasch zu einer
zähen, breiigen Langeweile, die sich eklig an jeden der viel zu absichtlich immer
wieder erneuten Versuche klebte. (95)

Genauso wenig, wie es Törleß gelingt, konkurrierende Erkenntnisprin-


zipien zu versöhnen, genauso wenig gelingt es ihm, die alltägliche Welt
mit der Sphäre zu verbinden, die sich mittels der Liebe zur Schauspielerin
für einzelne Augenblicke offenbart hatte. Im Zuge der sich anbahnenden
sexuellen Beziehung zu Basini muss Törleß noch einmal daran denken,
wie unvereinbar das »warme[…] und helle[…] Leben der Lehrsäle« und
das »ganz andere[…] Leben« in der Kammer sind (105). Sein Versuch, die
beiden ›Leben‹ gefühlsmäßig zu kontrastieren, erhärtet nur den Eindruck
ihrer Unvergleichbarkeit und somit auch Unvereinbarkeit. Wie es heißt,
ergeht es ihm dabei

74
wie einem, der Nahes mit Fernem vergleichen will: er erhaschte nie die Er-
innerungsbilder beider Gefühle zugleich, sondern jedesmal ging wie ein leiser
Knacks zwischendurch ein Gefühl, wie es im Körperlichen etwa den kaum
merkbaren Muskelempfindungen entspricht, die das Einstellen des Blickes be-
gleiten. (105f.)

Aber Törleß thematisiert nicht nur den Gegensatz zweier Erkenntnisprin-


zipien, die diese beiden Orte verkörpern, sondern auch den Gegensatz
zwischen einer menschlichen und einer das Menschliche transzendierenden
Sphäre; das »ganz andere Leben«, wie es die Dachkammer im Kleinen
repräsentiert, und nicht das »Leben der Lehrsäle« stellt das Tor zur ver-
borgenen Dimension der Wirklichkeit dar.
Wie Törleß meint erkennen zu können, eröffnet lediglich die ›Sinnlich-
keit‹ »[die] Türe, die hinüberführ[t]« (92). Was aber das Maeterlinck’sche
Motto und die ihrem Sinn nach mit ihm verwandten Gleichnisse bekla-
gen, versteht Törleß jetzt als durch das Wesen des Menschlichen bedingte
Notwendigkeit:
[…] es kommt immer einfach, unverzerrt, in natürlichen, alltäglichen Pro-
portionen, was von ferne so groß und geheimnisvoll aussieht. So als ob eine
unsichtbare Grenze um den Menschen gezogen wäre. Was sich außerhalb vor-
bereitet und von ferne herannaht, ist wie ein nebliges Meer voll riesenhafter,
wechselnder Gestalten; was an ihn herantritt, Handlung wird, an seinem Leben
sich stößt, ist klar und klein, von menschlichen Dimensionen und menschlichen
Linien. Und zwischen dem Leben, das man lebt, und dem Leben, das man
fühlt, ahnt, von ferne sieht, liegt wie ein enges Tor die unsichtbare Grenze,
in dem sich die Bilder der Ereignisse zusammendrücken müssen, um in den
Menschen einzugehen. (106)

Törleß konstatiert, dass das hinter jener Tür Verborgene der Vermittlung
bedarf, um vom Menschen ›er-kannt‹ zu werden, sei es durch Sprache,
die im Sinne des Maeterlinck-Mottos »die Bilder der Ereignisse« auf ein
menschliches Maß reduziert, sei es durch ein menschliches Objekt der
Begierde.
Wenn in Törleß eine auf Basini gerichtete »mörderische Sinnlichkeit
[…] erwacht«, die den »triebhaften Wunsch« erzeugt, »aufzustehen und
zu Basini hinüberzugehen«, muss der Verwirrte zugleich feststellen, »daß
die Grausamkeit und Sinnlichkeit in ihm gar kein rechtes Ziel hatte« (97),
und er fragt sich, »in welcher Weise sich denn seine sinnliche Erregung
an [Basini] befriedigen [sollte]« (97). Vordergründig scheint die Antwort
ganz einfach zu sein: indem er eine sexuelle Beziehung zu Basini eingeht.
Das tut er auch. Und der Anblick des nackten Basini lässt Törleß auch
erfahren, »was Schönheit sei«. Allerdings eine menschliche, und keine gött-

75
liche. Wenn Törleß also fragt, »in welcher Weise […] sich […] seine Erre-
gung an [Basini] befriedigen [solle]«, fragt er zugleich grundsätzlich nach
Möglichkeiten, die Sehnsucht nach ›Menschenfernem‹ im Körperlichen
zu stillen.78 Diese Überlegungen bestätigen den Vorwandcharakter seines
Sexualpartners:

Aber man darf auch wirklich nicht glauben, daß Basini in Törleß ein richtiges
und – wenn auch noch so flüchtig und verwirrt – wirkliches Begehren erregte.
Es war allerdings etwas wie Leidenschaft in Törleß erwacht, aber Liebe war
ganz gewiß nur ein zufälliger, beiläufiger Name dafür, und der Mensch Basi-
ni nicht mehr als ein stellvertretendes und vorläufiges Ziel dieses Verlangens.
Denn wenn sich Törleß auch mit ihm gemein machte, sein Begehren sättigte
sich niemals an ihm, sondern wuchs zu einem neuen, ziellosen Hunger über
Basini hinaus. (109)

Selbst die körperliche Dimension der Begegnung mit Basini erweist sich
aber als unwesentlich für die Kultivierung der Form von ›Sinnlichkeit‹, um
die es hier letztlich zu gehen scheint. Wie es heißt, war das

übrige des Begehrens […] schon längst […] dagewesen. Es war die heimliche,
ziellose, auf niemanden bezogene, melancholische Sinnlichkeit des Heranreifen-
den, welche wie die feuchte, schwarze, keimtragende Erde im Frühjahr ist und
wie dunkle unterirdische Gewässer, die nur eines zufälligen Anlasses bedürfen,
um durch ihre Mauern zu brechen. (109)

78 Für Törleß stellt die Erfahrung der – wohlgemerkt erotisch gefärbten – Schön-
heit in menschlicher Gestalt nicht das erhoffte Verbindungsglied zu einer gött-
lich zu nennenden dar. Anders etwa Gregor von Nyssa, von dem Alois M. Haas
schreibt: »Dass die höchste Form der Gotteserfahrung für Gregor von Nyssa
in einem Schauen in Nicht-Schauen besteht, lässt aus der unüberschaubaren
Schönheit und Grenzenlosigkeit Gottes ungeahnte Antriebe einer Dynamik
frei werden, deren Inhalt das Verlangen und Begehren nach einem Ruhepunkt
in der ewigen Schönheit ist: ›Diese Erfahrung scheint mir ein Erfülltsein der
Seele von einer Liebe zum wesenhaft Schönen zu sein. Die Seele wird in ihrer
Hoffnung ständig von einem Anblick der Schönheit zum nächsten fortgeris-
sen, in ihrem Verlangen immer vom schon Erreichten zum noch Verborgenen
entzündet. Wenn also der glühende Liebhaber der Schönheit das, was sich ihm
immer zeigt, als ein Bild des Ersehnten empfangen hat, so verlangt er danach,
vom Urbild selbst erfüllt zu werden. Und das will die verwegene Forderung, die
alle Gipfel des Verlangens ersteigt: an der Schönheit nicht nur in irgendwelchen
Spiegeln und Gleichnissen, sondern von Angesicht zu Angesicht teilzuhaben.
Die göttliche Stimme erfüllt diese Bitte dadurch, dass sie diese abschlägt, indem
sie mit wenigen Worten einen unermesslichen Abgrund zeigt.‹« Gregor von
Nyssa: Der Aufstieg des Moses, übersetzt von Manfred Blum, Freiburg i. Br.
1963, 112 (401D). zit. in Haas: Mystik im Kontext, 116.

76
Diese »Sinnlichkeit des Heranreifenden« lässt sich noch weiter zurückver-
folgen; sie ist mit der Sinnlichkeit verwandt, die Törleß schon in frühen
Kindheitstagen erlebte, als er im Walde zurückgelassen wurde. Wie wir
erfahren, diente Basini lediglich als Objekt, »an dem [Törleß’] unbestimmt
schweigende Träume Gestalt gewannen« (110). Törleß’ Begierde verwandelt
sich bald in Ekel:

[…] die ungewissen Schatten seiner Illusionen machten einer kalten, stumpfen
Helle Platz, seine Seele schien zusammenzuschrumpfen, bis nichts mehr übrig
blieb als die Erinnerung an ein früheres Begehren, das ihm unsagbar unverstän-
dig und widerwärtig vorkam. (110)

In Folge der Entmystifizierung verliert Basini denn auch sein schillern-


des Wesen, seine Faszination. Er verkörpert nicht mehr die zweigesichtige
Wirklichkeit, wird nicht mehr als Pforte zu einer zweiten Welt erlebt,
sondern rückt in die »kalte[…], stumpfe[…] Helle« der alltäglichen Welt.
Auch wenn Törleß die sexuelle Beziehung zu Basini noch weiter aufrecht-
erhält, das Maß an Ausschweifung sogar zunimmt, ist sie ihrer metaphy-
sischen Dimension entledigt; mit der Entmystifizierung Basinis tritt sein
Vorwandcharakter deutlich zu Tage.
So erlebt Törleß nur Erleichterung, als der Skandal um Basini auf-
gedeckt wird und die Trennung herbeiführt. Basini wird vom Konvikt
entfernt; Törleß verlässt es freiwillig, um ins Elternhaus zurück zu kehren.
Aber nicht ohne vorher eine Bilanz über seine im wesentlichen Maße durch
Basini ausgelösten ›Verwirrungen‹ zu ziehen.

1.3. Törleß’ Schlussrede im Kontext des Musil’schen Oeuvres

Törleß’ Rede vor dem versammelten Lehrerkollegium zieht einen vorläu-


figen Schlussstrich unter seine ›Verwirrungen‹. Aber die dadurch entfachte
Diskussion endet hier nicht. Obwohl Musil in der Folgezeit sich neuen
Themen zuwendet und auch stilistisch neue Wege einschlägt, bilden die
Verwirrungen im Hinblick auf das Gesamtwerk den ersten Teil eines anhal-
tenden bzw. immer wieder aufgenommenen Diskurses, der einen großen
Raum in den später verfassten Reden und Essays sowie im Mann ohne
Eigenschaften einnimmt. So gesehen sind Die Verwirrungen, darin speziell
Törleß’ Schlussrede, als eine Art erste Bestandsaufnahme zu werten, bei der
die großen Musil’schen Themen und Fragestellungen eine vorläufige For-
mulierung erfahren und ins Feld der weiteren Reflexion entlassen werden.

77
Zu diesen gehört erstens das, was Törleß den Dualismus von ›toten‹ und
›lebendigen‹ Gedanken nennt und die mit diesem verknüpfte, zumindest
teilweise dualistische Beziehung zwischen Analogie und Gleichnis, zweitens
das Wesen des ›Gleichnisses‹ im Sinne der Ulrich’schen Gleichnistheorie
– die gewissermaßen durch einschlägige Erfahrungen des jüngeren Törleß
vorbereitet wird –, und drittens die Frage nach Möglichkeiten zur Synthese
dessen, was Törleß als die ›zwei Gesichter‹ der Wirklichkeit bezeichnen
würde. Dieser Themenkreis soll in diesem abschließenden Abschnitt reflek-
tiert und der innere Bezug der Verwirrungen zu Musils großem Roman auf-
gezeigt werden; eine auf die Themen dieser Untersuchung zugeschnittene
Synopse Musil’scher Grundpositionen soll den Rahmen hierfür schaffen.
Insbesondere der Blick auf die Qualität, die Kindheit vor dem Hintergrund
von Ulrichs Gleichnistheorie und in Verbindung mit dem Phänomen des
sogenannten ›Mondnächtigen‹ erhält, wird zur Auseinandersetzung mit
Wesen und Bedeutung der ›Rilke’schen‹ Kindheit überleiten und dabei
ein wichtiges Konstituens der bemerkenswerten, vielschichtigen Affinität
zwischen Musil und Rilke thematisieren.

1.3.1. »Tote und lebendige Gedanken«: das ›Ratioïde‹ und das


›Nicht-Ratioïde‹; Analogie und Gleichnis
Bevor Törleß aus der Obhut der Lehranstalt entlassen wird, fordert man
ihn auf, über den Vorfall mit Basini Rechenschaft abzulegen. Der Vorge-
ladene redet aber, zur Enttäuschung und Verwirrung der Lehrer, an der
realen Begebenheit vorbei und nutzt stattdessen die Gelegenheit, um hier
ein Fazit über seine eigenen ›Verwirrungen‹ zu ziehen. Zur Sache gefragt,
antwortet Törleß:
Es gibt gewisse Sachen, die bestimmt sind, gewissermaßen in doppelter Form
in unser Leben einzugreifen. Ich fand als solche Personen, Ereignisse, dunkle,
verstaubte Winkel, eine hohe, kalte, schweigende, plötzlich lebendig werdende
Mauer … . (134)

Törleß stammelt etwas über »imaginäre Zahlen, […]«, der Mathematikleh-


rer »hüstelt« und bezichtigt den Schüler »einer wahren Manie« für »solche
Dinge […], welche gewissermaßen eine Lücke in der Kausalität unseres
Denkens […] zu bedeuten [scheinen]« (135). Worauf Törleß erwidert: »Ja.
Ich sagte, daß es mir an diesen Stellen scheine, wir könnten mit unserem
Denken allein nicht hinüberkommen, sondern bedürften einer anderen,
innerlichen Gewißheit, die uns gewissermaßen hinüberträgt.« (135) Dies
die Erkenntnis, die er durch die Begegnung mit Basini gewonnen habe:

78
»Daß wir mit dem Denken allein nicht auskommen, fühlte ich auch an
Basini.« (135) Die Lehrer greifen diesen Gedanken gerne auf, ohne zu ah-
nen, in welch eigenwilligem Sinne sie gemeint ist; sie wollen darin eine
metaphysische Aussage herausgehört haben, die sich mit vertrauten religi-
ösen Inhalten in Einklang bringen lässt. Doch hier enttäuscht sie Törleß
wieder, das sei es auch nicht, was er meine, und beginnt stattdessen mit
einer ersten, längeren, wie er fühlt, »siegesbewußten« Formulierung dessen,
was »erst undeutlich und quälend, dann leblos und ohne Kraft in ihm
gewesen war« (136).
Was folgt, ist die Darlegung eines Musil’schen Kerngedankens, wie er
im Mann ohne Eigenschaften ausführlich thematisiert wird. Törleß führt
aus:

Denn mit den Gedanken ist es eine eigene Sache. […] Man kann eine geniale
Erkenntnis haben, und sie verblüht dennoch, langsam, unter unseren Händen,
wie eine Blume. Die Form bleibt, aber die Farben, der Duft fehlen. Das heißt,
man erinnert sich ihrer wohl Wort für Wort und der logische Wert des gefun-
denen Satzes bleibt völlig unangetastet, dennoch aber treibt er haltlos nur auf
der Oberfläche unseres Inneren umher und wir fühlen uns seinethalben nicht
reicher. […]
Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken. Das Denken, das sich an der beschie-
nenen Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachge-
zählt werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu sein. Ein Gedanke, den
man auf diesem Wege trifft, bleibt gleichgültig wie ein beliebiger Mann in der
Kolonne marschierender Soldaten. Ein Gedanke, – er mag schon lange vorher
durch unser Hirn gezogen sein, wird erst in dem Moment lebendig, da etwas,
das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so daß wir
seine Wahrheit fühlen, jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der
von ihm aus ins durchblutete, lebendige Fleisch riß … . Eine große Erkenntnis
vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in
dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf
dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt. (136f.)

Törleß’ Ausführungen stellen eine präzis formulierte Kritik des ›Ratioïden‹


dar – des Prinzips der »Eindeutigkeit«, wie Ulrich es ausdrücken würde –
und artikulieren dabei eine Apologie des ›Nicht-Ratioïden‹ – auch wenn
Törleß dieses Wort nicht in den Mund nimmt – als zweiten geistigen
Prinzips, das in jedem ›lebendigen‹ Gedanken mitwalte.79

79 Allerdings darf man – sofern man Törleß mit seinem Urheber gleichsetzt – aus
solchen Worten keine Apologie des Antirationalismus herleiten. Vgl. Barbara
Neymeyrs wiederholten Verweis auf Musils kritische Haltung »der antirationa-
listischen Position« gegenüber, »die den Verstand als ›zersetzend‹ desavouiert«.

79
Die hier erörterten Gedanken lassen sich in Musils Essays sowie im
Mann ohne Eigenschaften weiter verfolgen. Was hier im Kern bereits ausfor-
muliert erscheint, erhält begriffliche Präzisierung in dem etwa ein Jahrzehnt
später veröffentlichten, zur Ortung des geistigen Standpunkts des Autors
wichtigen Aufsatz »Skizze der Erkenntnis des Dichters« (1918). Was Törleß
wertend »tote und lebendige Gedanken« nennt, ist in der dort aufgestellten
Polarität von ›Ratioïdem‹ und ›Nicht-Ratioïdem‹ wiederzuerkennen, die
zunächst die Form einer Polarität von Wissenschaft und Kunst annimmt:
»Man versteht das Verständnis des Dichters zur Welt am besten, wenn
man von seinem Gegenteil ausgeht: Das ist der Mensch mit dem festen
Punkte a, der rationale Mensch auf ratioïdem Gebiet […]« (8, 1026). »Die-
ses Gebiet umfaßt«, so Musil,

alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln Zusammenfaß-


bare, vor allem also die physische Natur; […] Es ist gekennzeichnet durch eine
gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wiederholung,
durch eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander, sodaß sie sich
auch in schon früher ausgebildeten Gruppen von Gesetzen, Regeln und Begrif-
fen gewöhnlich einfügen […]. Vor allen Dingen aber schon dadurch, daß sich
die Tatsachen auf diesem Gebiet eindeutig beschreiben und vermitteln lassen.
[…] Man kann sagen, das ratioïde Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen
und der nicht in Betracht kommenden Abweichung; vom Begriff des Festen als
einer fictio cum fundamento in re. (8, 1026f.)

Törleß leidet unter der konstatierten Vorherrschaft dieser ›ratioïden‹ Geis-


teshaltung, die die ›Wirklichkeit‹ seinem Empfinden nach auf ein zwar
stimmiges, aber »totes« logisches Gerüst reduziert: »Die Form bleibt, aber
die Farben, der Duft fehlen«, so Törleß.80 Der rein ›ratioïden‹ Erkenntnis

Barbara Neymeyr: »Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus: Zur Ambivalenz


der Gesellschaftskritik in seinen Essays« (in: ZfdPh 115: 4 [1996], 576–607, hier
595).
80 Aus Musils Aufsatz aus dem Jahre 1921 mit dem Titel Geist und Erfahrung. An-
merkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, in dem
er Spengler zitiert: »Zerlegen, definieren, ordnen, nach Ursache und Wirkung
abgrenzen kann man, wenn man will. Das ist eine Arbeit, das andre ist eine
Schöpfung. Gestalt und Gesetz, Gleichnis und Begriff, Symbol und Formel
haben ein sehr verschiedenes Organ. Es ist das Verhältnis von Leben und Tod,
von Zeugen und Zerstören, das hier erscheint. Der Verstand, der Begriff tötet,
indem er ›erkennt‹. Er macht das Erkannte zum starren Gegenstand, der sich
messen und teilen läßt. Das Anschauen beseelt. Es verleibt das Einzelne einer
lebendigen innerlich gefühlten Einheit ein.« (8, 1051) Die geistige Nähe Musils
– und Törleß’ – zu Spengler ist hierin evident. Ähnlich Musils eigene Reflexion:
»Wir können eine großartige Erkenntnis nicht in uns festhalten, sie welkt dahin,

80
fehlt aber nicht nur das Lebendige, die Sinnlichkeit. Sie hält nicht einmal
einer nach ›ratioïden‹ Kriterien unternommenen Überprüfung ihres Wahr-
heitsgehalts stand, denn, wie Musil konstatiert:

Zu unterst schwankt auch hier der Boden, die tiefsten Grundlagen der Mathe-
matik sind logisch ungesichert, die Gesetze der Physik gelten nur angenähert,
und die Gestirne bewegen sich in einem Koordinatensystem, das nirgend einen
Ort hat. Aber man hofft, […] das alles noch in Ordnung zu bringen […]. (8,
1027)

Törleß’ Unbehagen bezüglich der imaginären Zahlen ist auf diese Tatsache
zurückzuführen, darauf nämlich, dass selbst solche mit den Denkoperati-
onen des ›ratioïden‹ Erkenntnisprinzips scheinbar problemlos erfassbaren
Gebiete wie die Mathematik letztlich auf einem unsicheren Fundament
fußen. Wendet man das ›ratioïde‹ Prinzip beispielsweise auf den Bereich
der Ethik an, so wird seine nur begrenzte Legitimität erst recht evident.
Musil äußert sich sehr kritisch zur Tendenz seiner Zeit, das, was er als
›Ethik‹ im eigentlichen Sinne bezeichnet, auf einen Kanon von Sentenzen
einer normativen ›Moral‹ zu reduzieren:

Auch auf moralischem Gebiet […] werden in das Unbestimmte die erstarrenden
Caissons der Begriffe gesenkt, zwischen denen sich ein Raster von Gesetzen,
Regeln und Formeln spannt. Der Charakter, das Recht, die Norm, das Gute,
der Imperativ […]. (8, 1027)

Am Beispiel der Ethik lokalisiert Musil die Übergänge vom Gebiet des
›Ratioïden‹ zu dem des ›Nicht-Ratioïden‹:

Die heute noch herrschende Ethik ist ihrer Methode nach eine statische, mit
dem Festen als Grundbegriff. Aber da man auf dem Weg von der Natur zum
Geiste gleichsam aus einem starren Mineralienkabinett in ein Treibhaus voll
unausgesprochener Bewegung getreten ist, erfordert ihre Anwendung eine sehr
komische Technik der Einschränkung und des Widerrufs […]. ›Du sollst nicht
töten‹, […] sucht man die einheitliche rationale Formel dafür, so wird man
finden, daß sie einem Sieb gleicht, bei dessen Anwendung die Löcher nicht
weniger wichtig sind als das feste Geflecht.
Denn hier hat man längst nicht-ratioïdes Gebiet betreten […]. (8, 1027f.)

Von hier aus kommt Musil zu einer der wichtigsten Unterscheidungen


zwischen den nach Törleß »tote[n] und lebendige[n] Gedanken«, die zu

verknöchert und unversehens bleibt uns nichts in Händen, als das armselige,
logische Gerüst der Idee.« (Tb 17)

81
einer Klärung der Zuständigkeit und Aufgabe von Wissenschaft und Kunst
führt, wie Musil sie versteht. Er schreibt:

War das ratioïde Gebiet das der Herrschaft der ›Regel mit Ausnahmen‹, so ist
das nicht-ratioïde Gebiet das der Herrschaft der Ausnahmen über die Regel.
Vielleicht ist das nur ein gradueller Unterschied, aber jedenfalls ist er so polar,
daß er eine vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden ver-
langt. Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem Gebiet, die Gesetze
sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind unbeschränkt
variabel und individuell. […] [Es ist] das Gebiet der Reaktivität des Individuums
gegen die Welt und die anderen Individuen, […] das Gebiet der Werte und
Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der
Idee. Ein Begriff, ein Urteil sind im hohen Grade unabhängig von der Art ihrer
Anwendung und von der Person; eine Idee ist in ihrer Bedeutung in hohem
Grade von beiden abhängig, sie hat immer eine nur occasionell bestimmte
Bedeutung und erlischt, wenn man sie aus ihren Umständen loslöst. (8, 1028)

Demnach ist das Prinzip des ›Nicht-Ratioïden‹ zugleich das Prinzip des
Lebendigen, wie es sich im individuellen, dem Lebenszusammenhang an-
haftenden, konkreten Fall äußert, der nicht dem für die Formulierung
von Gesetzen nötigen Prozess der Abstraktion unterworfen wurde. Musils
sehr griffige, in der Skizze der Erkenntnis des Dichters verwendete Formel
zur Erfassung der antinomischen Beziehung zwischen dem ›Ratioïden‹ und
dem ›Nicht-Ratioïden‹, wonach Ersteres unter der Herrschaft der »Regel
mit Ausnahmen«, Letzteres unter »der Herrschaft der Ausnahmen über
die Regel« stehe, bildet die erkenntnistheoretisch-ästhetische Basis für eine
weitere, sehr wichtige Unterscheidung, nämlich die zwischen dem Gesetz
der Analogie im Sinne induktiver Wissenschaftstheorien und dem Gleich-
nis im Ulrich’schen Sinne.
In seiner Gegenüberstellung des ›ratioïden‹ und des ›nicht-ratioïden‹
Gebiets definiert Musil Ersteres als Geltungsbereich der Begriffe und Urtei-
le, Letzteres als den der ›Idee‹. Für den einen sei das Prinzip der Dauer und
der Gesetzmäßigkeit, die sich aus der Überführung stofflichen Lebens in
die Abstraktion des Regelfalls ergibt, maßgebend. Auf dem anderen walte
hingegen das Prinzip (wenn man dieses Wort in diesem Zusammenhang
überhaupt verwenden kann) der Flüchtigkeit und Willkür, wie das bunte
Leben es vorschreibt: »Auf diesem Gebiet ist das Verständnis jedes Urteils,
der Sinn jedes Begriffs von einer zarteren Erfahrungshülle umgeben als
Äther, von einer persönlichen Willkür und nach Sekunden wechselnden
persönlichen Unwillkür« (8, 1028).
Entsprechend unterschiedlich ist auch die ›ratioïde‹ und die ›nicht-
ratioïde‹ Weise, an die ›Tatsachen‹ heranzugehen. Auf dem Gebiet des

82
›Nicht-Ratioïden‹ seien die Tatsachen »und darum ihre Beziehungen […]
unendlich und unberechenbar« (8, 1028). »Dieses ist das Heimatgebiet des
Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft«, so Musil.

Während sein Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner
Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet,
ist hier von vornherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungs-
möglichkeiten kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusam-
menhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Gescheh-
nisabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den
inneren Menschen erfinden. […] Psychologie gehört in das ratioïde Gebiet […].
Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die seelischen Motive und mit
ihnen hat die Psychologie nichts zu tun. (8, 1029)

An dieser Stelle wird deutlich ausgesprochen: Hier Kunst (Dichtung),


dort Wissenschaft, hier mannigfaltige Beziehungen, die sich nicht in die
›Zwangsjacke‹ logischer Gesetze bringen lassen, dort – zumindest der An-
spruch auf – möglichst eindeutige Beziehungen. Um mit Ulrich zu spre-
chen, hier ›Gleichnis‹, dort ›Eindeutigkeit‹. Man könnte auch sagen: Hier
Gleichnis, dort Gleichung. In der hier vorgeschlagenen Formel kommt auf
anschauliche Weise zum Ausdruck, dass die beiden Gebiete bei aller Pola-
rität einen gemeinsamen Nenner haben.81 In seinem 1911 veröffentlichten
Aufsatz Das Unanständige und Kranke in der Kunst kommt Musil auf diesen
Aspekt zu sprechen. Kunst
heißt etwas darstellen: seine Beziehung zu hundert andern Dingen darstellen;
weil es objektiv nicht anders möglich ist, weil man nur so etwas begreifbar und
fühlbar machen kann, … . wie ja auch wissenschaftliches Verständnis nur durch
Vergleichen und Verknüpfen entsteht, wie menschliches Verstehen überhaupt
entsteht. (8, 979)

81 Ulrich weist auf die Verwandtschaft des Begrifflichen mit dem Gleichnishaften
hin: »Ich will schweigen von den genauen, meß- und definierbaren Eindrük-
ken, aber alle anderen Begriffe, auf die wir unser Leben stützen, sind nichts als
erstarren gelassene Gleichnisse.« (2, 574) Er beschreibt den Prozess, bei dem
das ursprünglich noch lebendige Gleichnis zum erstarrten Gleichnis, also zum
›Begriff‹ wird, als »eine Art Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen
Saftes« (2, 365) und zeigt, wie das Gleichnis sozusagen zweckentfremdet und in
den Dienst des ›Ratioïden‹ gestellt wird: »Ein solches Mittel, das die Seele zwar
tötet, aber dann gleichsam in kleinen Konserven zum allgemeinen Gebrauch
aufbewahrt, ist seit je ihre Verbindung mit der Vernunft, den Überzeugungen
und dem praktischen Handeln gewesen, wie sie alle Moralen, Philosophien und
Religionen erfolgreich durchgeführt haben.« (2, 186)

83
Der Unterschied liegt darin, dass der Prozess des »Verknüpfens und Ver-
gleichens« ein jeweils anderes Ziel verfolgt.82 Allerdings sind die beiden
hier angepeilten Ziele diametral entgegengesetzt, denn der Wissenschaft-
ler unterwirft seinen Gegenstand dem analytischen Prozess der indukti-
ven Erkenntnisfindung in der Hoffnung, von den Einzelfällen aus Ge-
setze formulieren zu können, während der Künstler darum bemüht ist,
neue Beziehungen freizulegen oder gar herzustellen in einem Prozess der
›Wirklichkeits‹-Erweiterung bzw. -›Eroberung‹, – so Musils Auftrag an die
Dichtung.83 Im Aufsatz von 1911 formuliert er es so:

Freilich, die Kunst stellt nicht begrifflich, sondern sinnfällig dar, nicht Allge-
meines, sondern Einzelfälle, in deren kompliziertem Klang die Allgemeinheiten
ungewiß mittönen, und während bei dem gleichen Fall ein Mediziner für den
allgemeingültigen Kausalzusammenhang sich interessiert, interessiert sich der
Künstler für einen individuellen Gefühlszusammenhang, der Wissenschaftler für
ein zusammenfassendes Schema des Wirklichen, der Künstler für die Erweite-
rung des Registers von innerlich noch Möglichem und darum ist Kunst auch
nicht Rechtsklugheit, sondern – eine andere. Sie legt die Personen, Regungen,
Geschehnisse, die sie bildet, nicht allseitig, sondern einseitig dar. […] Kunst
zeigt, wo sie Wert hat, Dinge, die noch wenige gesehen haben. Sie ist erobernd,
nicht pazifizierend. (8, 980f.)

Allerdings sollen die hier zitierten Passagen aus Musils essayistischem


Werk nicht den Eindruck erwecken, als handele es sich bei der wiederholt
vorgenommenen Gegenüberstellung von Wissenschaft und Kunst um die
Aufstellung einer krassen Polarität, denn im idealen Fall bewege sich die
Kunst, so Musil, in einem Zwischenbereich, in dem sowohl das ›Ratioïde‹
als auch das ›Nicht-Ratioïde‹ zur Geltung komme; sie strebe nach einer
Synthese der beiden Pole: »Kunst ist ein Mittleres zwischen Begrifflichkeit

82 Vgl. den Tagebucheintrag: »rat. – nicht rat. / Auf beiden Gebieten gibt es Be-
griffsbildung u. Nichtbegriffsbildung / Nur kommt dabei etwas andres heraus.
/ Also 2 Gebiete und 2 Methoden. / Ich kann das nr. ›lebendig‹ betrachten und
vergleichend, kausal erklärend .. also rational.« (Tb 658)
83 Musil verlangt allerdings, dass man über den Zweck des »Verknüpfens und
Vergleichens« im Klaren ist und die zwei Anwendungsbereiche des analogischen
Prinzips nicht miteinander vermengt. Vgl. Musils diesbezügliche Reflexion, die
eine Kritik am ›heutigen Geist‹ enthält: »Die Beziehung zw. dem Traum u.
dem, was er ausdrückt, ist eine Analogie mit mannigfacher Übereinstimmung.
Nimmt man eine Analogie u. gestaltet sie aus, so entstehen Traum und Dich-
tung. Legt man die Aufmerksamkeit auf die Übereinstimmungen, so entsteht
Genauigkeit u Wissen. Der heutige Geist trennt das nicht, tut weder das eine,
noch das andere, sondern etwas Gemischtes; er nimmt eine Analogie, wie sie
ist, u. behandelt sie als Wahrheit.« (Tb Register, Anm. 44, 599)

84
und Konkretheit«, heißt es aphoristisch im fiktiven Dialog des Dichters
mit sich selbst von 1913 mit dem Titel Über Robert Musils Bücher (8, 998).
Musil hält die ausschließliche Herrschaft der Ratio bzw. des Gefühls für
das eigentlich Schädliche und verlangt, – um seine Kritik an den Ro-
mantikern der ›älteren Schule‹ zu zitieren84 –, mehr als ein ›Schwelgen in
Gefühlen‹: »[…] das Gefühl an und für sich ist an Qualitäten arm […];
was der Dichter an großen Gefühlen schafft, ist ein Ineinandergreifen von
Gefühl und Verstand« (8, 1000), konstatiert Musil, oder, wie er sich aus-
drückt: »Hält man sich hierin klar, so verfällt man nicht der Legende von
den angeblich großen Gefühlen im Leben, welchen Quell der Erzähler nur
zu finden und seine Töpfchen darunter zu stellen hat« (8, 1000).
Die Kunst, wie Musil sie im idealen Falle versteht, bildet keinen Ge-
genpol zur Wissenschaft; für Musil tut dies vielmehr die Metaphysik. Im
Aufsatz von 1912 mit dem Titel Das Geistliche, der Modernismus und die
Metaphysik steckt er die Zuständigkeitsbereiche der Wissenschaft und der
Metaphysik folgendermaßen ab:

[…] die Wissenschaft hat nur für das Wiederkehrende im Wechsel, nicht aber
für das Einmalige, die vereinzelten Ereignisse Organ und Interesse, und schon
daß ein Stein von einem bestimmten Dach fällt, bleibt für sie eine bloße Tat-
sache, ein Zufall, dessen Struktur sie nicht weiter untersuchen kann, […] (8,
990)85

Laut ihres Selbstverständnisses und angesichts des ihr zur Verfügung ste-
henden Instrumentariums hat also die Wissenschaft im Musil’schen Sinne
sich nicht mit dem Einzelfall zu befassen, sondern mit dem Musterfall,
oder, wie es an anderer Stelle heißt, mit dem Durchschnittsfall.86 Meta-

84 In einem Tagebucheintrag schreibt Musil: »Die Neuromantik unserer Zeit sieht


die Gefahr des einseitig berücksichtigten Gefühlslebens ein; sie weiß daß die
tatenlose Gefühlsschwelgerei die Schmarotzerpflanze war, die der älteren Ro-
mantik die Lebenskraft aussaugte.« (Tb 163). Dabei sei »das Ideal der Roman-
tik«, ganz im Sinne Musils selbst, »die richtige Mengung von Bewußtem und
Unbewußtem«. (Tb 138f.)
85 Vgl. den Tagebucheintrag über John Stuart Mills: »A System of Logic, Ratioci-
native and Inductive« (1848): »über Zufall: Mill (Logik Buch III, Kap 17): Alles
geschieht nach Gesetzen. Zufällig heißen Ereignisse, deren Umstände wir nicht
völlig kennen…« (Tb 464). Und zu Husserl: »[…] Wahrscheinlichkeiten als
Grundmaße aller Richtigkeit […] es wäre denkbar, daß eine gewisse Höhe der
Wahrscheinlichkeit das ist, was wir Gewißheit nennen[…]« (Tb 119).
86 Hierzu Jörg Kühne: Das Gleichnis. Studien zur inneren Form von Robert
Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, Tübingen 1968: »[Für das wis-
senschaftlich-systematische Denken] gilt der einzelne Fall nur als Teil einer

85
physische Systeme wiederum, die versuchen, auf den Prämissen und der
Methodik der Wissenschaften aufzubauen, verfehlen damit unweigerlich
ihr Ziel, so Musil:

[…] sowie man die Grenzen überschreitet, die die Wissenschaft sich selbst ge-
zogen hat, wird man wenig Erkenntnis erzielen und alle Metaphysiken sind
schlecht, weil sie ihren Verstand falsch verwenden. Sie setzten seinen Ehrgeiz
an die ihm widernatürliche Aufgabe, das Jenseits als wirklich zu erweisen, statt
es […] überhaupt erst ›möglich‹ zu machen. (8, 991)

Hierin wurzelt auch Musils Kritik an der Mystik seiner Zeit, wie er sie etwa
in Rathenaus Abhandlung Zur Mechanik des Geistes verkörpert sieht; diese
Schrift liefert ihm das Stichwort für seinen 1914 veröffentlichten Aufsatz
Anmerkung zu einer Metapsychik. Nach einer Beschreibung des mystischen
Zustands, wie ihn Rathenau darstellt, – und zwar einer, die weitgehend
mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmt –, problematisiert Musil
Rathenaus Intention, »aus diesem Zustand heraus eine Philosophie […]
schreiben [zu wollen]« (8, 1018). Trotz lobender Worte über »das Wagnis
[…] von mehr als gewöhnlichem Verdienst« (8, 1019) fällt Musils Urteil
über dieses Unterfangen letztendlich sehr negativ aus. Er schreibt:
Bei der Ausführung fehlte jedoch – das Erlebnis und an Stelle der Gefühlsmy-
stik trat eine rationale. Diese Verschiebung ist absolut typisch für alle systema-
tischen Versuche auf diesem Gebiet. Von der seelischen Berührung bleibt dann
nur das anstrengende Festhalten einiger in intimsten Augenblicken gebildeter
Begriffe, zwischen die alles übrige mit einem Geist interpoliert wird, der natur-
gemäß außer trance ist und sich von dem wissenschaftlichen Verstand eigentlich
nur dadurch unterscheidet, daß er auf dessen Tugenden der Methodik und

kollektiven Identität, die den Namen ›Durchschnitt‹ bzw. ›Wahrscheinlichkeit‹


trägt; dort gilt der einzelne Fall nur als erstarrtes Gleichnis seiner Möglichkeiten.
Und so wenig wie der ›Durchschnittsmensch‹ etwas Wirkliches sein kann, da
es dieses ›Gespenst‹ gewissermaßen nur als ›Kollektivum tantium‹ gibt, so hat
dort ›der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch,
das ungeschriebene Gedicht seines Daseins‹ (I, 251) keine Wirklichkeit, da er
eine Idee ist.« (Kühne, Gleichnis, 59f.) Kühne zieht sodann eine einleuchtende
Parallele zu den imaginären Zahlen, die Törleß’ Unbehagen sehr verständlich
macht: »Das Gespenstische an diesem Phänomen ist nun, daß es einerseits gar
nicht existiert, andererseits sich aber mit ihm rechnen läßt, ähnlich wie mit den
imaginären Zahlen […] Wie dort den Zögling Törleß, so beschäftigt es hier
Ulrich, daß sich als Lösung solcher Aufgaben mit imaginären Größen stets die
sogenannte Wirklichkeit ergibt, gerade auch die historische Wirklichkeit und
das historische Geschehen.« (Kühne: Gleichnis, 60) Hieran sieht man erneut,
wie eng und in welcher Komplexität die verschiedenen Themenbereiche im
Werk Musils miteinander verflochten sind.

86
Genauigkeit verzichtet. […] Wird überdies ein schwieriger innerer Zustand
mit Gewalt festgehalten, wie es hier zur Zentrierung der Einfälle immer wieder
nötig ist, so entsteht hinter der Aufmerksamkeitsspannung ein gewisses Vaku-
um der Gefühle und der seelische Gehalt verläuft sich. […] Wir Deutschen
haben – außer dem einen großen Versuch Nietzsches – keine Bücher über den
Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens. Künstlerisches
und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht. Die Fragen
einer Mittelzone zwischen beiden bleiben ungelöst. (8, 1019)

Diese Kritik an Rathenaus Versuch, eine Art »Mechanik des Geistes« zu


entwerfen, enthält in essayistischer Form im Wesentlichen dieselbe Bot-
schaft, die das (Maeterlinck’sche) Motto zum ersten Roman vermittelt.
Das Erlebnis lässt sich mit den Denkstrukturen des Wissenschaftlers nicht
erfassen. Eine »Zentrierung der Einfälle«, die zu ihrer Systematisierung
benötigt wird, lässt ein »Vakuum der Gefühle« entstehen; »der seelische
Gehalt verläuft sich«. Im letzten Satz der oben zitierten Passage ist aber
ein utopisches Moment enthalten, denn es heißt: »Künstlerisches und wis-
senschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht.« (Hervorhebung
der Vf.) Im Aufsatz Der mathematische Mensch von 1913 spricht Musil hoff-
nungsvoll von »geistige[n] Energien«, die »noch nie da waren«, und stellt
die ersehnte Synthese zwischen Ratio und Gefühl bzw. zwischen Ratio und
Mystik in Aussicht:

Es ist töricht, zu behaupten, daß das alles um ein bloßes Wissen gehe, denn das
Ziel ist längst schon das Denken. Mit seinen Ansprüchen auf Tiefe, Kühnheit
und Neuheit beschränkt es sich vorläufig noch auf das ausschließlich Rationale
und Wissenschaftliche. Aber dieser Verstand frißt um sich und sobald er das
Gefühl erfaßt, wird er Geist. (8, 1007f.)

Wer diese ›Geistwerdung‹ herbeiführen soll, sagt Musil auch unmissver-


ständlich: »Diesen Schritt zu tun, ist Sache der Dichter.« (8, 1008)87 Für
denjenigen, der den Bereich des ›Wissens‹ transzendieren will, um den

87 Vgl. hierzu Neymeyr: »Skeptischer Fortschrittsoptimismus«, 593ff.. Neymeyr


spricht von der »utopische[n] Totalität des Senti-mentalen« und der Rolle, die
dem Dichter bei der Realisierung einer solchen Totalität zukommt. Musils dies-
bezügliche Gedanken referierend schreibt sie: »Der Geist erhält insofern einen
qualitativen Primat vor dem Verstand, als Musil ihn auf eine Transzendierung
purer Rationalität zurückführt, die dann erfolgt, wenn der Verstand ›das Gefühl
erfaßt‹ (1007). Der progressive Charakter der Kunst manifestiert sich nicht allein
in Musils modernem Erzählkonzept, demzufolge das Erzählen (als ein keines-
wegs nur reaktiver und reproduktiver Vorgang) sich ›an Gefühlserkenntnisse
und Denkerschütterungen heranzuschleichen‹ versucht (1324), sondern kommt
auch in Musils These zum Ausdruck, es sei ›Sache der Dichter‹, den Schritt vom

87
Bereich des ›Denkens‹ im Musil’schen Sinne zu betreten, ist »die Realität,
die man schildert, stets nur ein Vorwand«. So Robert Musil über Robert
Musil. Sein Verständnis der dichterischen Praxis formuliert Musils alter
ego hier folgendermaßen:

Und die Entwicklung will, daß die Schilderung der Realität endlich zum die-
nenden Mittel des begriffsstarken Menschen werde, mit dessen Hilfe er sich an
Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranschleicht, die allgemein
und in Begriffen nicht, sondern nur im Flimmern des Einzelfalls – vielleicht:
die nicht mit dem vollen rationalen und bürgerlich geschäftsfähigen Menschen,
sondern mit weniger konsolidierten, aber darüber hinausragenden Teilen zu
erfassen sind. Ich behaupte, daß Musil solche erfaßt – […]. (8, 997)

Die hier fallenden Schlüsselbegriffe lauten »Gefühlserkenntnis« und »Den-


kerschütterung«. In diesen beiden – in Bezug zueinander wohlgemerkt
asymmetrischen – Wortzusammensetzungen drückt Musil die Forderung
nach einer Synthese von Ratio und Gefühl aus; diese – keineswegs neue,
keineswegs nur von Musil’scher Seite erhobene – Forderung bildet die
Basis für sein Dichtungsverständnis. Hier, wie vielerorts, wo solche und
ähnliche Forderungen laut werden, wird der Künstler dazu bestimmt, die
gewünschte Synthese herbeizuführen.
Wie eine solche Synthese aus Musil’scher Perspektive letztlich ausse-
hen mag, ist im Kontext dieser Arbeit das Interessante. Die Musil’sche
Lösung fußt auf der polaren Beziehung zwischen Analogie und Gleichnis.
Im Aufsatz von 1913 mit dem aufschlussreichen Titel Analyse und Synthese
geht Musil dem Zusammenhang zwischen Analogie und Gleichnis, oder,
um meine Formel zu verwenden, zwischen Gleichung und Gleichnis nach.
Er schreibt:
Nachdenkende Menschen sind immer analytisch. Dichter sind analytisch. Denn
jedes Gleichnis ist eine ungewollte Analyse. Und man versteht eine Erschei-
nung, indem man erkennt, wie sie entsteht oder wie sie zusammengesetzt ist,
verwandt, verbindbar mit andren ist. Man kann natürlich ebenso gut sagen,
jedes Gleichnis ist eine Synthese, jedes Verstehen ist eine. Natürlich; es sind
zwei Hälften der gleichen Handlung. (8, 1008)

Im Aufsatz Skizze zur Erkenntnis des Dichters stellt Musil eine klare Polari-
tät auf: hier Analogie – dies ein wichtiges methodisches Operativ für die
induktiv-deduktiven Naturwissenschaften –, dort Gleichnis – ein essenti-

Verstand zum Geist zu vollziehen (1007f.).« Neymeyr: »Skeptischer Fortschritts-


optimismus«, 595.

88
elles dichterisches ›Operativ‹. In dieser zentralen Schrift hatte es in Bezug
auf das ›nicht-ratioïde‹ Gebiet geheißen, »die Tatsachen dieses Gebiets und
darum ihre Beziehungen« seien »unendlich und unberechenbar« (8, 1028).
Im ›Nicht-Ratioïden‹ sei »von vornherein der Unbekannten, der Gleichun-
gen und der Lösungsmöglichkeiten kein Ende« (8, 1029), – weswegen es als
»das Heimatgebiet des Dichters« anzusehen sei. Dessen ›Widerpart‹ hin-
gegen sei »zufrieden, wenn er zu seiner Berechnung so viele Gleichungen
aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet« (8, 1029). Im Sinne der ›exak-
ten‹ Wissenschaften gilt es, möglichst zwingende Gleichungen aufzustellen:
ohne »hartnäckigen Rest«, wie Törleß sich ausdrückt (65). Das analogische
Prinzip, dichterisch umgesetzt, soll die entgegengesetzte Funktion erfüllen:
neue Gleichungen schaffen. Wie man bereits lesen konnte, sei hier die Auf-
gabe, »immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable
zu entdecken«. Ferner: »Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen,
lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen
erfinden« (8, 1029). Um es auf eine verkürzte Formel zu bringen, dient das
analogische Prinzip zum einen dem Erfassen, zum anderen dem ›Erfinden‹
von Zusammenhängen.

1.3.2. Ulrich über einige ›Verhaltensweisen‹ des Gleichnisses88:


Kindheit, ›das Mondnächtige‹
Wenden wir uns, diese Erörterungen vor Augen haltend, Ulrichs Reflexio-
nen über das Gleichnis im Mann ohne Eigenschaften zu. In einer Schlüssel-
passage sinniert Ulrich über die zwei Dimensionen des Gleichnisses: zum
einen »die feste Welt« – so Musil in seiner Rilke-Rede –, zum anderen die
Welt des »Gefühls«. Wie Ulrich schreibt, war ihm »[d]ie Beziehung«, die

88 Auf Grund der Notwendigkeit, mich an die für die spezifische Themenstellung
dieser Arbeit besonders relevanten Aspekte zu halten, wird hier zwischen Ulrichs
romanimmanenten Ausführungen über das Gleichnis und den essayistischen
bzw. aphoristischen Äußerungen seines Autors nicht unterschieden. Ich verweise
aber auf Jörg Kühnes interessante und romanpoetologisch wichtige Differen-
zierung einer dreifachen Gestalt bzw. Funktion des Gleichnisses, die er zusam-
menfassend wie folgt erörtert: »In der dreifachen Gegebenheit des Gleichnisses
als Stilphänomen, als immanenter Begriff und als Reflexion des immanenten
auf den transzendentalen Bereich des Romans darf man eine Wiederholung der
dreifachen Identität des ästhetischen Subjekts sehen, die sich zusammensetzt aus
der Figur, dem ›Erzähler‹ und dem Autor.« (Kühne: Gleichnis, 35)

89
zwischen einem Traum und dem, was er ausdrückt, besteht, […] bekannt, denn
es ist keine andere als die der Analogie, des Gleichnisses, die ihn schon des öfte-
ren beschäftigt hatte. Ein Gleichnis enthält eine Wahrheit und eine Unwahrheit,
für das Gefühl unlöslich miteinander verbunden. Nimmt man es, wie es ist, und
gestaltet es mit den Sinnen, nach Art der Wirklichkeit aus, so entstehen Traum
und Kunst, aber zwischen diesen und dem wirklichen, vollen Leben steht eine
Glaswand. Nimmt man es mit dem Verstand und trennt das nicht Stimmende
vom genau Übereinstimmenden ab, so entsteht Wahrheit und Wissen, aber man
zerstört das Gefühl. Nach Art jener Bakterienstämme, die etwas Organisches in
zwei Teile spalten, zerlegt der Menschenstamm den ursprünglichen Lebenszu-
stand des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und
in die glasige Atmosphäre der Ahnung, Glaube und Künstlichkeit. (2, 581f.)

In Ulrichs Ausführungen entspricht der logischen Komponente des Gleich-


nisses die ›Wahrheit‹: will heißen, das auf ›ratioïde‹ Weise Erschließbare,
eindeutig Sagbare. Reduziert man den bildhaften Ausdruck auf das »genau
Übereinstimmende«, also auf das, was sich in eine mathematisch-logische
Gleichung bringen lässt, so zerstört man aber den zweiten – genauso wich-
tigen, wenn nicht gar wichtigeren – Bestandteil des Gleichnisses, nämlich
das Gefühl. Allein genommen weise diese zweite Komponente aber eine
ähnliche Begrenztheit auf, denn, wie es heißt, steht zwischen »Traum und
Kunst […] und dem wirklichen, vollen Leben […] eine Glaswand«: An
›das wirkliche‹, volle Leben kommen auch Kunst und Traum nicht ganz
heran.
Das Gleichnis selbst, sofern es noch keinem Spaltungsvorgang unter-
worfen wurde, stellt aber eine Synthese dar. Ulrich unterhält die Vor-
stellung eines »ursprünglichen Lebenszustand[s]« des Gleichnisses, darin
idealiterweise »eine Wahrheit und eine Unwahrheit […] miteinander ver-
bunden« seien, und zwar »für das Gefühl unlöslich«. Das will heißen: In
seinem »ursprünglichen Zustand« fungiert das Gleichnis als Paradigma für
die ersehnte Einheit von ›Ratioïdem‹ und ›Nicht Ratioïdem‹. Erst in Folge
der Zerlegung des Gleichnisses durch den Menschen »in die feste Materie
der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre der Ahnung,
Glaube und Künstlichkeit« werde diese ›natürliche‹ Einheit aufgehoben89
– zumindest aus der Perspektive des analytisch denkenden Menschen, der
sie im Akt des Denkens gemäß der Natur dieser Tätigkeit spaltet. Es geht

89 Vgl. Ulrichs Äußerung: »Bedenke bloß, daß jedes Gleichnis für den Verstand
zweideutig, aber für das Gefühl eindeutig ist. Wem die Welt bloß ein Gleichnis
ist, der könnte also wohl, was nach ihren Maßen zwei ist, nach den seinen als
eins erleben.« (4, 1160)

90
Ulrich aber nicht darum, den hier beschriebenen analytischen Prozess rück-
gängig zu machen. Die Zukunftsgerichtetheit von Ulrichs Überlegungen
kommt in der nachfolgenden Vision zum Ausdruck:

Es scheint, daß es dazwischen keine dritte Möglichkeit gibt; aber wie oft endet
etwas Ungewisses erwünscht, wenn man ohne viel Überlegen damit beginnt!
Ulrich hatte das Gefühl, in dem Gassengewirr, durch das ihn seine Gedanken
und Stimmungen so oft geführt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz zu stehen,
von dem alles ausläuft. (2, 582)

Ulrichs Reflexionen erhellen schlagartig die Dynamik des Musil’schen


Gleichnisses. Seinen Ausführungen zufolge kristallisieren sich nämlich
drei Stufen heraus, auf denen das Gleichnis eine jeweils andere Gestalt
annimmt. In seinen Reflexionen ist von einem »ursprünglichen Lebenszu-
stand des Gleichnisses« die Rede, worin die Trennung zwischen ›Ratioï-
dem‹ und ›Nicht-Ratioïdem‹ noch nicht vollzogen wurde. Auf einer zwei-
ten Stufe erfolgt die von Ulrich beklagte Zerlegung des »ursprünglichen
Lebenszustand[s] des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und
Wahrheit und in die glasige Atmosphäre der Ahnung, Glaube und Künst-
lichkeit«. Auf der dritten Stufe soll sich die von Ulrich anvisierte ›dritte
Möglichkeit‹90 auftun: Auf dieser Stufe müsse es möglich werden, dass »ei-
ne Wahrheit und eine Unwahrheit« – wieder! – »miteinander verbunden«
werden, jedoch auf der Grundlage einer vorausgegangenen Zerlegung des
Gleichnisses in seine beiden Bestandteile.
Ulrich sieht den »ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses« (un-
ter anderem) in der Kindheit verkörpert. Im Mann ohne Eigenschaften wird
Kindheit nämlich – teils explizit, teils implizit – zur Sphäre des noch nicht
›zerlegten‹ Gleichnisses. An einer Stelle, wo Agathe »an eine wunderliche
Krankheit erinnert [wird], der sie als Kind verfallen war« (3, 726), und den
damit zusammenhängenden Erinnerungen nachgeht, heißt es:
Freilich wußte sie von allen diesen Erinnerungen nicht, ob sie von der Wirklich-
keit herrührten oder eine Erdichtung des Fiebers seien. ›Wahrscheinlich wird
daran bloß merkwürdig sein,‹ – dachte sie unmutig – ›daß sich diese Bilder
in mir so zwischen Wahrheit und Einbildung erhalten konnten, ohne daß ich
daran etwas Ungewöhnliches gefunden habe!‹ (3, 726)

90 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Mystische Tradition im Werk Robert Musils. Mar-


tin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 1975,
151.

91
Hier zeigt sich die Kindheit als Sphäre, in der die Bilder den Prozess der
Zerlegung in »die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die
glasige Atmosphäre der Ahnung, Glaube und Künstlichkeit« noch nicht
erfahren haben. Hier können ›Wahrheit‹ und ›Einbildung‹ widerspruchs-
los nebeneinander bestehen.91 Die ›Scheidelinie‹ zwischen dem Gebiet des
›Ratioïden‹ und des ›Nicht-Ratioïden‹, der Törleß im späteren Alter so
qualvoll bewusst wird, tritt hier gar nicht erst in Erscheinung.
Vor diesem Hintergrund wird eine Schlüsselpassage im Mann ohne Ei-
genschaften in ihrer ganzen Tragweite verständlich. Es handelt sich um die
Stelle, an der Ulrich sich an seine Kindheit erinnert und die Qualität seiner
damaligen Erlebnisweise zu charakterisieren sucht:

›Wenn ich mich an meine früheste Zeit erinnere, so möchte ich sagen, daß
damals Innen und Außen kaum noch getrennt waren. Wenn ich auf etwas zu
kroch, kam es auf Flügeln zu mir her; und wenn sich etwas ereignete, das uns
wichtig war, so wurden davon nicht etwa bloß wir erregt, sondern die Dinge
selbst begannen zu kochen. Ich will nicht behaupten, daß wir dabei glücklicher
gewesen sind als später. Wir besaßen uns ja noch nicht selbst; eigentlich waren
wir überhaupt noch nicht, unsere persönlichen Zustände waren noch nicht
deutlich von denen der Welt abgeschieden.‹ (3, 902)

In der von Ulrich beschworenen Welt unterhält das Subjekt eine in hohem
Maße empathische Beziehung zu den Dingen. Wenn das Subjekt auf etwas
›zukriecht‹, kommt das Ding, wie in Erwiderung des vom Subjekt ausge-
henden Impulses, ihm entgegen. In Ulrichs Erinnerung erhalten die Dinge
denn auch einen menschlichen Charakter, werden doch kindliche Affekte
auf sie übertragen, die sie ›beseelt‹ erscheinen lassen: Sie ›kochen‹ genauso
wie das Kind selbst, wenn etwas geschieht, das die kindliche Seele bewegt.
Im Falle Ulrichs resultiert das Gefühl, sich ›noch nicht selbst besessen‹ zu
haben, aus der fehlenden Grenzziehung zwischen Subjekt und Objekt,
die eine Ausbildung »persönliche[r] Zustände« voraussetzt. Mit Blick auf
Ulrichs Gleichnistheorie kann man zudem konstatieren: Erst klare Subjekt-
Objekt-Verhältnisse ermöglichen eine ›Zerlegung‹ des Gleichnisses. Hier
wird deutlich, wie stark Ulrichs Gleichnistheorie sich mit entwicklungs-
psychologischen Vorstellungen verknüpft, ohne dass es zu mehr als einer
schematischen Anwendung zu dichterischen Zwecken kommt.92

91 Vgl. Albertsen: Ratio und Mystik, 46ff.


92 Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Ulrichs Reflexionen hier lediglich
wiedergegeben bzw. nachvollzogen werden; darin spiegelt sich keine wissen-
schaftlich ernst zu nehmende entwicklungspsychologische Theorie. Es würde

92
Im Sinne der Ulrich’schen Entwicklungspsychologie bewirkt die im
Laufe der Zeit erworbene Fähigkeit zur Subjekt-Objekt-Differenzierung
paradoxerweise eine Selbstentfremdung seitens des Subjekts. Denn weil
das Kind sich selbst noch nicht ›besitzt‹, erfährt es auch (noch) nicht die
Art von ›Selbstentfremdung‹, die beim Erwachsenen in Folge der Ausbil-
dung seines ›Ich-Seins‹ eintritt. Gerade durch den Erwerb der Fähigkeit
zur ›Selbst-Reflexion‹ erscheint dem Erwachsenen nicht nur die Umwelt als
Objekt, sondern er kommt sich selbst – ein Stück weit – objekthaft vor,
oder, wie Ulrich es ausdrückt:

›[In der Kindheit waren] unsere Gefühle, unsere Willnisse, ja wir selbst waren
noch nicht ganz in uns darin. Noch sonderbarer ist, daß ich ebensogut sagen
könnte: waren noch nicht ganz von uns entfernt. Denn wenn du dich heute,
wo du ganz im Besitz deiner selbst zu sein glaubst, ausnahmsweise einmal fragen
solltest, wer du eigentlich seist, wirst du diese Entdeckung machen. Du wirst
dich immer von außen sehn wie ein Ding. […] Mit aller Beobachtung wird es
dir höchstens gelingen, hinter dich zu kommen, aber niemals in dich. Du bleibst
außer dir, was immer du unternimmst, und es sind davon gerade nur jene we-
nigen Augenblicke ausgenommen, wo man von dir sagen würde, du seist außer
dir. Zur Entschädigung haben wir es allerdings als Erwachsene dahin gebracht,
bei jeder Gelegenheit denken zu können ›Ich bin‹, falls uns das Spaß macht. Du
siehst einen Wagen, und irgendwie siehst du schattenhaft dabei auch: ›ich sehe
einen Wagen‹. Du liebst oder bist traurig und siehst, daß du es bist. In vollem
Sinn ist aber weder der Wagen, noch ist deine Trauer oder deine Liebe, noch
bist du selbst ganz da.« (3, 902)

Mit der Ausbildung der Reflexionsfähigkeit geht auf jeden Fall der Ver-
lust des anfangs erfahrenen Einheitsgefühls einher, ob dies die Beziehung
zwischen Ich und Welt oder die des Selbst ›mit sich selbst‹ betrifft. Wie
es heißt:
Nichts ist mehr ganz so da, wie es in der Kindheit einmal gewesen ist. Sondern
es ist alles, was du berührst, bis an dein Innerstes verhältnismäßig erstarrt, sobald
du es erreicht hast eine ›Persönlichkeit‹ zu sein, und übriggeblieben ist, umhüllt
von einem durch und durch äußerlichen Sein, ein gespenstiger Nebelfaden der
Selbstgewißheit und trüber Selbstliebe. Was ist da nicht in Ordnung? Man hat
das Gefühl, irgend etwas wäre noch rückgängig zu machen! Man kann doch
nicht behaupten, daß ein Kind anders erlebe als ein Mann! Ich weiß keine ent-
scheidende Antwort darauf, wenn es auch diesen und jenen Gedanken darüber

den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte man Musils Verhältnis zu Freud
hier vertiefen.

93
geben mag. Aber seit langem habe ich es in der Weise beantwortet, daß ich die
Liebe zu dieser Art Ichsein und dieser Art Welt verloren habe.‹ (3, 902f.)

Was Ulrich beklagt, ist der Verlust des stark vom ›nicht-ratioïden‹ Prin-
zip determinierten Bewusstseins, das in den hier zitierten Überlegungen
mit dem kindlichen quasi gleichgesetzt wird, und die dementsprechende
Vorherrschaft des vom ›ratioïden‹ Prinzip determinierten erwachsenen Be-
wusstseins, das aus dem Kind eine ›Persönlichkeit‹ macht, oder, um mit
Agathe zu sprechen, einen »Mensch[en] mit Eigenschaften« (4, 1280). So
wird der Mensch zu einer Art Fiktion im negativen Sinne: zu dem, was
Kühne in Anlehnung an Ulrich den »prototypische[n] ›Seinesgleichen‹-
Mensch[en] nennt als einen, »der nie sich selbst gleicht, sondern immer
nur ›seinesgleichen‹ gleicht, das heißt dem Durchschnitt, in dem er gewis-
sermaßen eine halb objektive Identität hat […]«.93 In ähnlichem Sinne
sinniert Ulrich:

Offenbar ist unsere Haltung inmitten der Wirklichkeit ein Kompromiß, ein
mittlerer Zustand, worin sich die Gefühle gegenseitig an ihrer leidenschaftli-
chen Entfaltung hindern und ein wenig zu Grau mischen. Kinder, denen diese
Haltung noch fehlt, sind darum glücklicher und unglücklicher als Erwachsene.
(2, 573)

Indem man sich ›festlegt‹, tritt man aus dem kindlichen ›Schwebezustand‹
heraus, einem Zustand, den der Ich-Erzähler in Musils Erzählung Die Am-
sel auf sehr anschauliche Weise beschreibt:

Denn siehst du, daß unser Kopf haltlos ist oder in nichts ragt, daran sind wir
gewöhnt, denn wir haben unter den Füßen etwas Festes; aber Kindheit, das
heißt, an beiden Enden nicht ganz gesichert sein und statt der Greifzangen von
später noch die weichen Flanellhände haben und vor einem Buch sitzen, als ob
man auf einem kleinen Blatt über Abstürzen durch den Raum segelt. Ich sage
dir, ich reichte wirklich nicht mehr unter dem Tisch zur Erde.« (7, 561)

Auch die Erzählung Das verzauberte Haus beschwört das Kind als etwas
ganz Offenes im positiven Sinne einer noch nicht ›festgelegten Persön-
lichkeit‹:

Kinder haben noch keine Seele. Auch die Toten haben keine Seele. Sie sind
noch nichts oder sie sind nichts mehr, sie können noch alles werden oder alles
gewesen sein. Sie sind wie Gefäße, die Träumen Form geben, sie sind Blut, mit
dem sich die Wünsche der Einsamen lebendig schminken. (6, 147)

93 Kühne: Gleichnis, 60.

94
Das Erwachsenwerden führt also dazu, so der Tenor dieser Texte, dass
der Mensch sich ›fixiert‹. Die Dinge der Erscheinungswelt, die Ulrich nur
für »Gleichnisse«, also lediglich für mögliche Manifestationen einer vielge-
staltigen Wirklichkeit hält, erstarren dementsprechend zu fixierten Objek-
ten. Somit steht das Erwachsenendasein im Zeichen des ›Seinesgleichen
geschieht‹, die Kindheit in positiver Abhebung hiervon im Zeichen des
›Möglichkeitssinnes‹. Man könnte aber auch sagen: des Gleichnisses, ma-
nifestiert sich der ›Möglichkeitssinn‹ doch – wie ein bekanntes bon mot von
Ulrich bezeugt –, vornehmlich im Gleichnis:

Oft kam Ulrich alles, was Agathe und er unternahmen, oder was sie sahen
und erlebten, nur wie ein Gleichnis vor. Dieser Baum und jenes Lächeln sind
Wirklichkeit, weil sie die sehr bestimmte Eigenschaft haben, nicht bloß Illusion
zu sein; aber gibt es nicht viele Wirklichkeiten? […] Jede Ordnung ist irgend-
wie absurd und wachsfigurenhaft, wenn man sie zu ernst nimmt, jedes Ding
ist ein erstarrter Einzelfall seiner Möglichkeiten. Aber das sind nicht Zweifel,
sondern es ist eine bewegte, elastische Unbestimmtheit, die sich zu allem fähig
fühlt. (5, 1508f.)

Dem Erleben jeder ›zu ernst genommenen‹ Ordnung als »irgendwie ab-
surd und wachsfigurenhaft« entspricht Ulrichs Gefühl, alles, was einem als
Erwachsenem übrigbleibe, sei ein »gespenstiger Nebelfaden der Selbstge-
wißtheit«. In einer solchen ›Ordnung‹ manifestiert sich die »Grundverhal-
tensweise der Eindeutigkeit«, die »das nicht Stimmende vom genau Über-
einstimmenden« trennt, aber mit verheerenden Folgen, denn, wie Ulrich
im Zusammenhang der Gleichnisdiskussion bemerkt:

Hat man aber an einem Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von
dem getrennt, was nur Schaum ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit
gewonnen und den ganzen Wert des Gleichnisses zerstört; diese Trennung mag
darum in der geistigen Entwicklung unvermeidlich gewesen sein, doch hatte
sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, des-
sen innerste Kräfte und Geister sich während dieses Vorgangs als Dampfwolke
davonmachen. Es läßt sich heute manchmal nicht der Eindruck abweisen, daß
die Begriffe und Regeln des moralischen Lebens nur ausgekochte Gleichnisse
sind, um die ein unerträglich fetter Küchendampf von Humanität wallt […]
(2, 593f.)

Dieser Verhaltensweise der Eindeutigkeit, die in einseitiger Ausprägung


zu begrifflicher Starre führt, steht die Verhaltensweise des Gleichnisses ge-
genüber, will heißen: »die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum
herrscht, […] die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der

95
Dinge in den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht« (2, 593), so
Ulrich.94
Ich hatte festgestellt, dass für Ulrich die Kindheit eine solche Sphäre
darstellt, eben eine Sphäre, in der die ›Verhaltensweise des Gleichnisses‹
vornehmlich walte. Eine zweite, im Zeichen des Gleichnisses stehende
Sphäre stellt für Ulrich ›das Mondnächtige‹ dar.95 Welche Affinität ›das
Mondnächtige‹ mit der Kindheit hat, zeigen Ulrichs diesbezügliche Re-
flexionen. In einem Gespräch mit Agathe über Mondnächte liefert Ulrich
zunächst eine lapidare Definition des Gleichnisses und beschreibt in die-
sem Kontext die Art und Weise, wie die ›Wirklichkeit‹ sich im Gleichnis,
– will heißen im ›intakten‹, nicht im ›zerlegten‹ Gleichnis –, gebärdet:
›[…] was bedeutet ein Gleichnis? Ein wenig Wirkliches mit sehr viel Über-
treibung. Und doch wollte ich schwören, so wahr es unmöglich ist, daß die
Übertreibung sehr klein und die Wirklichkeit fast schon ganz groß gewesen
ist!‹ (4, 1084)

Der Erzähler stellt dann die Affinität dieser ›Wirklichkeit‹ mit der »aben-
teuerlich veränderten in Mondnächten« her. Man müsse sich

das ganz Unglaubliche vergegenwärtigen, daß sich auf einem Stück Erde wirk-
lich alle Gefühle wie verzaubert ändern, sobald es aus der leeren Geschäftigkeit
des Tags in die empfindungsvolle Körperlichkeit der Nacht taucht! Nicht nur
schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden
Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue
Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt
Nachbarsinn. Alle Versicherungen drücken nur ein einziges flutendes Erlebnis
aus. Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme,
und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr, sondern jedes ist die

94 Eine solche Polarisierung erscheint problematisch zum Beispiel vor dem Hinter-
grund von Nietzsches Kritik an der Metapher: »Was ist also Wahrheit? Ein be-
wegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine
Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,
übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke
fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von
denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgegrenzt und
sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun
als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.« Friedrich Nietzsche:
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (in: Friedrich Nietzsche:
Werke in 3 Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta, München 1956, Bd. III, 314).
Droht den Gleichnissen nicht auch tendenziell dieses Schicksal der Eingewöh-
nung?
95 Vgl. in diesem Kontext etwa solche romantischen Dichtungen wie die Eichen-
dorffs.

96
unvergleichliche Geburt des Geistes aus dem Dunkel, die der Mensch in einem
neuen Gedanken erfährt. So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des
Unwiederholbaren. Er hat die Natur des Gesteigerten. […] Jede Mitteilung ist
eine neidlose Teilung. Jedes Geben ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig
verflochten in die Erregung der Nacht. […] das Ich behält in diesen Nächten
nichts zurück, keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst, kaum eine Erin-
nerung; das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein.
(4, 1084f.)

Diese Schilderung der Erfahrungen einer Mondnacht verbindet die prä-


genden Elemente des Gleichnishaften und der Kindheit, wie Ulrich sie
darstellte. Es herrscht hier das »nicht Stimmende«; nicht der »Eigensinn«
der Worte ist hier wirksam, sondern deren »Nachbarsinn« und damit das
utopische Potential der Sprache. Die ›ratioïd‹ determinierte Sprache der
›Eindeutigkeit‹ hat hier keine Gültigkeit, denn an der »Brust der Nacht« ist
»kein Wort falsch und keines wahr«. Die »Natur des Unwiederholbaren«,
die »jeder Vorgang in Mondnächten« besitze, hatte der Essayist Musil als
wesentliches Attribut der auf ›nicht-ratioïde‹ Weise erfahrenen Wirklich-
keit genannt. Der Einheit stiftende Charakter der Mondnacht wird durch
die in der oben zitierten Passage verwendeten Bilder explizit: »Die Nacht
schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme […]«. Will
heißen: Sie hebt alle Grenzen auf und setzt somit das ›ratioïde‹ Denken
außer Kraft, das sich auf Differenzierung, auf Analyse ausrichtet.
Die Affinität zwischen dem ›Mondnächtigen‹ und Ulrichs Vision der
Kindheit basiert nicht zuletzt auf der beiden Sphären gemeinsamen Ten-
denz zur Grenzenlosigkeit. Ulrich selbst betont die Affinität dieser beiden
Sphären, wenn er sagt, er sei als Kind »so weich wie Luft in einer Mond-
nacht […]« (2, 575) gewesen. Wie in Ulrichs Vision der Kindheit waltet
in der Mondnacht eine ausgeprägt empathische Beziehung zwischen Kind
und Welt, die eine starre Polarität von Subjekt hier und Objekt dort gar
nicht erst aufkommen lässt. So wie in Ulrichs Beschreibung des Kindes-
daseins gehen im ›Mondnächtigen‹ Mensch und Ding aufeinander zu, ›be-
strahlen‹ sich gegenseitig: »Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes
Geben ein Empfangen.« Der Mensch »behält […] nichts zurück, keine
Verdichtung des Besitzes an sich selbst«, sondern es entsteht stattdessen
»eine grenzenlose Selbstlosigkeit«.96 Das besondere Verhältnis des Kindes

96 Vgl. in diesem Zusammenhang den von Musil zitierten Satz Stifters, den er
in William Sterns 1928 verfaßter Psychologie der frühen Kindheit (Leipzig 51929)
findet: »Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, daß

97
zu seinen Spielsachen, von dem Ulrich wiederholt spricht, kann in diesen
Kontext gestellt werden und ist vor diesem Hintergrund als eine Grenzen
auflösende Teilnahme am Wesen des stummen Gegenübers zu verstehen.
Einmal spricht Ulrich von der großen Liebe zu einer Reihe von papiernen
Zirkustieren, die er als Kind aus einem Zirkusplakat ausschnitt, und be-
zeichnet die Beziehung zu ihnen als »ein dauerndes Hinübergezogenwerden
in diese bewunderten Geschöpfe« (3, 689).97
Das Wesentliche an der Kindheit und am ›Mondnächtigen‹ scheint
darin zu bestehen, dass der Mensch in diesen ›Sphären‹ die Erfahrung der
Grenzenlosigkeit macht. Ulrichs Charakterisierung des ›Mondnächtigen‹
mündet in die verheißungsvolle Vision einer allumfassenden ›Erotisierung‹
der Welt98:

[…] diese Nächte sind voll des unsinnigen Gefühls, daß etwas geschehen wer-
de, wie es noch nie dagewesen sei, ja wie es sich die verarmte Vernunft des
Tages nicht einmal vorstellen könne. Und nicht der Mund schwärmt, sondern
der Körper, vom Kopf bis zu den Füßen, ist über dem Dunkel der Erde und
unter dem Licht des Himmels in eine Erregung eingespannt, die zwischen zwei
Gestirnen schwingt. Und das Flüstern mit den Gefährten ist voll einer ganz
unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern
die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich
enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und
von unseren Sinnen berührt wird. (4, 1085)

Es gibt deutliche Anzeichen für die mystische Qualität dieses Erlebens. Die
»verarmte Vernunft des Tages« ist hier ausgeschaltet. Um mit Ulrich zu
reden: »nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper«, will heißen, auch
die Sprache, deren Organ der Mund ist, kommt hier nicht zum Einsatz,
sondern der Körper, der hier die Form eines einzigen, allumfassenden,
dabei aber auch überindividuellen Sinnesorgans erhält. Der mystische Weg
– das wusste auch Törleß – ist der sinnliche. In diesem Zusammenhang
gewinnt die Art von Sinnlichkeit, die Törleß erlebt und mit der ›fremden

es Wälder gewesen sind, die außerhalb von mir waren.« (Zitiert in: Albertsen:
Ratio und Mystik, 159.) Vgl. Rilkes Begriff des ›Weltinnenraums‹.
97 Vgl. Clarissas Beschreibung einer ähnlichen Erfahrung, die allerdings wahnhaf-
ten Charakter erhält: »Dann steht man – wie soll ich das sagen? – wie geschält
zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist.
Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewach-
sener Zwilling verbunden.« (2, 659)
98 Wobei die Welt bzw. Nacht, die in nicht-sexuellem Sinne erotisiert wird, in der
Bildersprache des Textes immer wieder mütterliche Elemente erhält.

98
Klugheit‹ der Männchen im Traum kontrastiert, an Bedeutung. Eine den
ganzen Körper erfassende Sinnlichkeit korrespondiert mit der kosmische
Dimensionen erhaltenden Erregung des davon gänzlich erfassten Körpers,
– einer Erregung, die den Mund ›außer Kraft‹ setzt.
Diese Vision enthält denn auch verschiedene Vereinigungsmomente.
Ein erstes besteht in der Begegnung zwischen Himmel und Erde, die eine
›schwingende‹ Erregung erzeugt. Die erotische Ausdrucksweise suggeriert
ein Streben nach Vereinigung. Der Körper desjenigen, der ›eingespannt‹
ist in die ›Erregung, die zwischen diesen zwei ›Gestirnen‹ ›schwingt‹,
›schwärmt‹, weil er von diesen nach Vereinigung strebenden Schwingun-
gen erfasst wird. Auch die Begegnung mit den ›Gefährten‹ steht im Zei-
chen der Vereinigung, ist doch das Flüstern, mittels dessen man mit dem
Gegenüber kommuniziert, »voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die
nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die
Empfindung Dringenden überhaupt«. Der Einzelne entledigt sich seiner
persönlichen, will heißen, der ihn von den anderen unterscheidenden und
somit trennenden ›Sinnlichkeit‹, so dass alle dieselbe ›Flüstersprache‹ spre-
chen, die vereinheitlichende Flüstersprache, die Sinnessprache des »in die
Empfindung Dringenden überhaupt«. Dieser Vorgang bereitet das dritte
und letzte Vereinigungsmoment vor: die gegenseitige Berührung, die Um-
armung von Ich und Welt, denn jene Sinnlichkeit ist nichts anderes als
»die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere
Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird«. In der erotischen
Vorstellung, der Mensch berühre mit seinen Sinnen die Welt, wird der in
die Sphäre des ›Mondnächtigen‹ getretene Mensch zum Liebespartner der
Welt. Ich und Welt bilden damit eine ähnliche Konstellation wie zuvor
Himmel und Erde und werden von einer ähnlichen Erregung, von einem
ähnlichen Streben nach Vereinigung ergriffen. Die Sinnlichkeit, die den
Weg zu einer solchen zumindest potentiellen Vereinigung bahnt, erfährt
der Mensch zuerst – das sagt uns Törleß – in der Kindheit, und, nachdem
ihm die Fähigkeit zum Erleben einer solchen Sinnlichkeit sonst abhanden
gekommen ist, vielleicht noch in Mondnächten.99 Das ist die Art von
Sinnlichkeit, die Törleß meinte erlebt, verloren und zumindest ansatzweise
wiedergewonnen zu haben, und die er der im Zeichen des Logos stehenden
›fremden Klugheit‹ der Männchen im Traum gegenüberstellte.100 Ulrichs

99 Auf die mythologische Dimension solcher Vorstellungen verweise ich, ohne auf
sie hier eingehen zu können.
100 Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass eine rein psychoanalytische Lesart

99
vornehmliches Interesse gilt der ›Aufhebung‹ des Dualismus, den Törleß’
›Kant-Traum‹ ins Szene setzt, und zwar durch Realisierung einer ›dritten
Möglichkeit‹, die Sinnlichkeit und Logos zu ›vereinigen‹ vermag.

1.3.3. Die »dritte Möglichkeit«


Musils – und Ulrichs – Devise heißt also nicht ›Zurück zum Ursprung‹.
Ulrich folgt nicht dem Aufruf seiner Romanfigur Hans Sepp, wenn die-
ser verkündet: »Wir alle sollten Kinder sein!« (2, 554) und dieser Sentenz
Nachdruck verleiht, indem er ihr eine in wahrhaft Rousseau’scher Ma-
nier vorgetragene Kindespanegyrik folgen lässt.101 Für Ulrich steht eines

des Kant-Traums viel zu kurz greift. Törleß’ ›Sinnlichkeit‹ ist auf jeden Fall
auch in einen mythologischen und einen mystischen Kontext zu stellen; ferner
dürften andere Zeitgenossen Musils einen durchaus großen Einfluss auf seine
Vorstellung einer solchen Sinnlichkeit ausgeübt haben; u.a. ist Ludwig Klages
an dieser Stelle zu nennen. Um dieses Thema erschöpfend zu behandeln, müsste
man Musils theoretische Reflexionen über Sexualfragen eingehend untersuchen
und die gebotene, zumindest partielle Abgrenzung gegenüber den ihm bekann-
ten psychoanalytischen Sexualtheorien vornehmen bei gleichzeitiger Berücksich-
tigung anderer Einflüsse. Gerade angesichts der Tatsache, dass Musils Werke
sich offenbar als dankbarer Gegenstand für psychoanalytisch orientierte Deu-
tungsansätze anbieten, die aber leider sowohl die dichterische Dimension seiner
Werke als auch den differenzierten gedanklichen Kontext ihrer Entstehung nur
allzu oft ignorieren, lässt sich hier ein Forschungsdesiderat erkennen.
101 Vgl. 2, 554. Diese steht offensichtlich in ironischer Brechung zur Gesinnung des
Erzählers wie des Autors des Romans und enthält auch – freilich in persiflierter
Form – Anklänge an die von Musil als überspannt gewertete Kindesverehrung
seiner Zeitgenossin Ellen Key. Ihre Gedanken werden an mehreren Stellen der
Tagebücher rezipiert, und zwar gerade zur Entstehungszeit der Verwirrungen.
Musil notiert sich: »Trotzdem ihr Aufsatz mich auf das tiefste beeinflußte,
kommt jetzt eine gewisse Ernüchterung. Ihre Grundidee – mehr Seele, oder
überhaupt Seele – ist ausgezeichnet […] Darüber hinaus versagt sie jedoch. Was
Seele ist, und wie Seele zu pflegen ist, steckt voll Widersprüche.« Sie verlange
»Lebensandacht«, »Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Natur« Aber: »Welches
sind die Menschen in denen dieses Zusammengehörigkeitsgefühl stark entwik-
kelt ist[?]« Ihre Vorbilder seien »die Typen vom reinen Toren, die sich in Lite-
ratur und Geschichte ziemlich häufig finden […] bezüglich des Kindes hat sie
aber in einem Punkt recht: Hingabe an den Augenblick, Aufgehen im Spiel der
Kräfte. Dies kann dem Erwachsenen beneidenswert vorkommen. Vorbildlich
kann es ihm aber nicht sein, da man eine complicirte Konstitution nicht auf
eine einfachere zurückschrauben kann. Auch dem trägt Key keine Rechnung.
Bedenklicher wird sie aber da, wo sie versucht, die Vorzüge des Kindes auf den
Erwachsenen zu übertragen. Da ist nicht mehr von Lebensandacht im Sinne ei-
nes Göthe die Rede, sondern von dem Pantheismus jener einfachen Menschen,
denen das Herz schwerer ist als der Kopf. Key polemisiert gegen die Vernunft.«
(Tb 168f.)

100
fest: Nicht in einer Art wiedergefundener Kindheit lässt sich die anvisierte
›dritte Möglichkeit‹ verwirklichen. Ulrich stellt die Kardinalfrage: Lässt sie
sich überhaupt verwirklichen, und wenn ja, wie, wo und wann? Tentative
Antworten auf diese Frage lauten: in der ›taghellen Mystik‹ bzw. in der
Dichtung. Man könnte zunächst meinen, Ulrich sehe im Dichter eine Art
wiedergeborenes Kind, bezeichnet er an einer Stelle das Gedicht und die
Kindheit doch als vergleichbare, weil mit dem Gleichnis (in ursprüngli-
chem Sinne) verwandte ›Verhaltensweisen‹:

›Aber hast du nicht bemerkt: in allen diesen Verhaltensweisen, von denen wir
gesprochen haben, im Traum, im Mythos, Gedicht, Kindheit und selbst in
der Liebe, ist der größere Anteil des Gefühls doch durch einen Mangel an
Verständigkeit erkauft, und das heißt: durch einen Mangel an Wirklichkeit?‹
(3, 906)

Musil macht aber bald klar, dass er den Dichter keinesfalls in dieser Weise
betrachtet: »[Der Dichter] ist weder der ›Rasende‹, noch der ›Seher‹, noch
›das Kind‹, noch irgendeine Verwachsenheit der Vernunft.« (8, 1029) Um
als Vorbild für den Dichter dienen zu können, fehlt dem Kind, wie dem
›Rasenden‹, eine unentbehrliche Komponente, eine, die sich nur im Über-
maß schädlich auswirkt, nämlich: die Ratio. Der Dichter
verwendet auch gar keine andre Art und Fähigkeit des Erkennens als der ratio-
nale Mensch. Der bedeutende Mensch ist der, welcher über die größte Tatsa-
chenkenntnis und die größte Ratio zu ihrer Verbindung verfügt: auf dem einen
Gebiet [des Ratioïden] wie auf dem andern [des Nicht Ratioïden]. (8, 1029)

Oder, wie Musil sich im Essay Analyse und Synthese äußert:

Sie wissen, daß ein Mensch, um suggestives Vorbild zu sein oder ein Kunstwerk
zu schaffen, noch andere Eigenschaften braucht als Denken und moralische
Phantasie, aber sie vergessen, daß man ihm diese hinzuwünschen und nicht das
Denken ihm ausreden muß. (8, 1008)

Was das Gleichnis betrifft, geht es doch schließlich darum, das eine – das
›Ratioïde‹ – mit dem anderen – dem ›Nicht-Ratioïden‹ – zu verbinden.
Das Gleichnis in seinem »ursprünglichen Lebenszustand« fällt der Über-
macht des Gefühls anheim und ist von daher unfähig, die Wirklichkeit
in ihrer vollen Dimension zu erfassen. Die Zerlegung des Gleichnis-
ses in die zwei Bestandteile des »nicht Stimmende[n]« und des »genau
Übereinstimmende[n]« mündet auf der einen Seite in »Künstlichkeit«, auf
der anderen in eine »Verhärtung« der nur als Möglichkeit gedachten Er-
scheinungen dieser Welt, d.h. in den begrifflichen Starrsinn.

101
Ulrich hofft eben auf eine »dritte Möglichkeit« (2, 582), die den Men-
schen aus dem Stadium des zerlegten Gleichnisses in den – utopischen
– Zustand des, wenn man so will, ›synthetischen‹ Gleichnisses führen soll.
Der Weg führt also nicht zur Kindheit zurück, sondern, – und dies gilt
für Törleß wie für Ulrich –, über die Stufe der Analyse, des ›zerlegten
Gleichnisses‹. Wie Törleß verharrt auch Ulrich auf der Stufe des ›zerlegten
Gleichnisses‹. Die Anklänge an das von Törleß immer wieder beklagte
Dilemma sind unüberhörbar:

Seine Entwicklung hatte sich offenbar in zwei Bahnen zerlegt, eine am Tag
liegende und eine dunkel abgesperrte, und der ihn umlagernde Zustand ei-
nes moralischen Stillstands, der ihn seit langem und vielleicht mehr als nötig
bedrückt hatte, konnte von nichts anderem als davon kommen, daß es ihm
niemals gelungen war, diese beiden Bahnen zu vereinen. (2, 593)

Letztlich versteht Ulrich die Zerlegung des Gleichnisses in das »nicht Stim-
mende« und das »genau Übereinstimmende« als notwendigen Schritt vom
ursprünglichen, und das heißt zugleich unreflektierten Gleichnis zum ›syn-
thetischen‹ hin. Er bekennt: »Ohne Zweifel ist das, was man die höhere
Humanität nennt, nichts als ein Versuch, diese beiden großen Lebens-
hälften des Gleichnisses und der Wahrheit miteinander zu verschmelzen,
indem man sie zuvor vorsichtig trennt.« (2, 593)102
Was Törleß angeht: Er befindet sich mitten in diesem zweiten Stadium,
aber die Zeit naht, in der die ersten Zeichen einer »dritten Möglichkeit«
sich auch ihm kundtun werden. In seiner Schlussrede sagt er zunächst:

›Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe.
Alle Dinge; auch die Gedanken. Heute sind sie dieselben wie gestern, wenn ich
mich bemühe, einen Unterschied zu finden, und wie ich die Augen schließe,
leben sie unter einem anderen Lichte auf.‹ (137)

102 Für das ›synthetische‹ Gleichnis gilt wie für den ›anderen Zustand‹ bzw. die
›taghelle Mystik‹: die Differenzierung zweier opponierender Komponente. Rich-
ard E. Hartzell definiert den ›anderen Zustand‹ dementsprechend als »the state
of simultaneous participation in and cognition of the limitless totality of being
[…], (»The Three Aproaches to the ›Other‹ State in Musil’s Mann ohne Eigen-
schaften.« In Colloquium Germanica 10 [1976/77], 204–219; hier 205.) Siehe
auch Goltschnigg: »Die ›taghelle Mystik‹ hat wie der ›andere Zustand‹ vieles mit
dem ekstatischen Erlebnis der Unio mystica gemein; sie soll sich jedoch »in der
Taghelle der ständigen Kontrolle durch den Verstand vollziehen.« (Goltschnigg:
Mystische Tradition, 49); vgl. auch Ingrid Drevermann: »Wirklichkeit und
Mystik. Eine Untersuchung des ›anderen Zustands‹ in Robert Musils Roman
Der Mann ohne Eigenschaften«. In Sibylle Bauer/Ingrid Drevermann: Studien zu
Robert Musil, Köln/Graz 1966, 123–242; hier 213.

102
Immerhin ist es Törleß gelungen, in Folge seiner ›Verwirrungen‹ die ›zwei
Welten‹ bzw. ›Weltbilder‹103 des ›Gleichnisses‹ und der ›Wahrheit‹ vorsich-
tig voneinander zu ›trennen‹:

›Nein, ich irrte mich nicht, wenn ich von einem zweiten, geheimen, unbeach-
teten Leben der Dinge sprach! Ich – ich meine es nicht wörtlich, – nicht die
Dinge leben, nicht Basini hatte zwei Gesichter, – aber in mir war ein zweites,
das dies alles nicht mit den Augen des Verstandes ansah. So wie ich fühle, daß
ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in mir beim
Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles
in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann,
ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist
… .‹ (137)

Die hierdurch entstehende dualistische Weltsicht auszuhalten fällt Törleß


aber schwer und wird als »das Eigentliche, das Problem« erkannt:

Diese wechselnde seelische Perspektive je nach Ferne und Nähe, die er erlebt
hatte. Dieser unfaßbare Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen je
nach unserem Standpunkte plötzliche Werte gibt, die einander ganz unver-
gleichlich und fremd sind … . (139)104

Wenn es dann heißt:

Dies und alles andere, – er sah es merkwürdig klar und rein – und klein. So
wie man es eben am Morgen sieht, wenn die ersten reinen Sonnenstrahlen den
Angstschweiß getrocknet haben und Tisch und Schrank und Feind und Schick-
sal wieder in ihre natürlichen Dimensionen zurückkriechen (139f.),

103 Denn, wie Ulrich präzisiert, gebe es nicht »zwei Welten«, sondern »zwei Welt-
bilder«. So das Fazit eines Gesprächs mit Agathe: »[Agathe:] ›… wenn ich dich
recht verstanden habe, bist du doch sicher, daß es zu jedem Gefühl zwei Welten
gibt und daß es von uns abhängt, in welcher wir leben wollen!‹« Ulrich: »›Zwei
Weltbilder! Aber nur eine Wirklichkeit! In ihr kann man allerdings vielleicht auf
die eine wie die andere Art leben. Und dann hat man scheinbar auch die eine
oder die andere Wirkl. vor sich.‹« In Bezug auf die ›Welt‹, die die mystische Er-
fahrung erschließt, sagt Ulrich: »Man glaubt, daß die Menschen ein Geheimnis
sei, durch das wir in eine andere Welt eintreten; sie ist aber nur, oder sogar, das
Geheimnis in unserer Welt anders zu leben.« (4, 1279)
104 Das Gleichnis erweist sich als das Medium, das die zunächst für unversöhnlich
gehaltenen Perspektiven – die »Ähnlichkeiten und unüberbrückbaren Unähn-
lichkeiten zugleich« – in eine sinnvolle, aber die inhärente Zwiespältigkeit der
Komponente nicht nivellierende Relation zu bringen vermag. Ulrich: »[…] wo
die Dinge die gleichen sind, dawider aber auch ganz verschieden sind, und
aus der Ungleichnis des Gleichen wie aus der Gleichnis des Ungleichen zwei
Rauchsäulen aufsteigen….» (1, 145) Man vergleiche in diesem Zusammenhang
die mystische Formel der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹.

103
so mag das zunächst wie ein ›Sieg der Vernunft‹105 aussehen. Dieser er-
weist sich aber letztlich als Scheinsieg, denn obwohl Törleß »nun wußte,
zwischen Tag und Nacht zu scheiden – wie es heißt, war »[…] nur ein
schwerer Traum […] verwischend über diese Grenzen hingeflutet, und er
schämte sich dieser Verwirrung« –, bleibt »eine leise, grüblerische Müdig-
keit zurück« sowie

die Erinnerung, daß es anders sein kann, daß es feine, leicht verlöschbare Gren-
zen rings um den Menschen gibt, daß fiebernde Träume um die Seele schlei-
chen, die festen Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen, – auch
diese Erinnerung hatte sich tief in ihn gesenkt und strahlte blasse Schatten
aus. (140)

Während Törleß neue Sicherheit und Zuversicht daraus schöpft, dass er


nun weiß, »zwischen Tag und Nacht zu scheiden«, und sich somit auf sei-
nen analytischen Verstand verlässt, weiß er auch, wie prekär die von diesem
›Organ‹ gezogenen Grenzen sind, beschwört die Erinnerung doch im Bild
der »leichtverlöschbare[n] Grenzen«, des Zernagens der »festen Mauern«,
die es »rings um den Menschen gibt«, die potentielle Auflösung solcher
Grenzen. Dass Törleß, indem er sich daran erinnert, nicht nur rückwärts,
sondern auch vorwärts schaut, dass die Vision der »leichtverlöschbare[n]
Grenzen« auch in die Zukunft weist, besagen die Worte, mit denen seine
›Verwirrungen‹ ausklingen:

[…] diese Wortlosigkeit fühlte sich köstlich an, wie die Gewißheit des befruch-
teten Leibes, der das leise Ziehen der Zukunft schon in seinem Blute fühlt. Und
Zuversicht und Müdigkeit mischten sich in Törleß…. (140)

Schließlich stellt die von Törleß am Ende der ›Verwirrungen‹ erreichte


Fähigkeit, »zwischen Tag und Nacht zu scheiden«, das Problem erst in

105 Symptomatisch für diese Interpretationsrichtung ist der Aufsatz von Elisabeth
Stoff: »Musils ›Törless‹: Inhalt und Form« (in: Robert Musil. Hrsg. v. Renate
v. Heydebrand, Darmstadt 1982, 207–249). Sie schreibt: »In seiner Schlußrede
gibt es keine Bilder mehr; deren Aufgabe ist erfüllt,… Vergleiche [sind] … ein
Vehikel des Gedankens, und sie verschwinden aus Törleß’ Denken erst ganz am
Ende, als er zu einer Art prosaischer Klarheit gelangt.« (226ff.) Man muss schon
stutzig werden bei Stopps Behauptung: »Einzig der Mathematiklehrer gibt […]
eine treffende, nüchterne Diagnose […] dieses Falles.« (276) Auch Desportes’
eigenwillige Interpretation tendiert in diese Richtung. Für ihre Grundthese,
Törleß erlange allmählich eine ›wissenschaftliche‹ Einstellung im Sinne Machs
und werde letztlich sogar zum ›Retter‹ der Wissenschaft (vgl. 291f.), liefert sie
meines Erachtens keine überzeugenden Belege.

104
seiner ganzen Tragweite dar, sie bildet erst den Ausgangspunkt für die
eigentliche Aufgabe, die der reifere Ulrich sich stellt, – wenn auch nicht
erfüllt –, nämlich, die »beiden Bahnen«, die »am Tag liegende« und die
»dunkel abgesperrte […], zu vereinen« (2, 593).

105
2. Rainer Maria Rilke, Puppen und motivisch
verwandte Dichtungen; Die Aufzeichnungen
des Malte Laurids Brigge

2.0. Einleitung

Viele Dichtungen Rainer Maria Rilkes zeugen von seinem Interesse an


Kind und Kindheit. Ein bestimmter Aspekt dieses komplexen Themen-
und Motivkreises, dessen Spuren man vom Früh- bis ins Spätwerk hinein
verfolgen kann, wird zum Brennpunkt für die folgende Untersuchung: das,
was man die Dialektik von ›Eins- und Getrenntsein‹ nennen könnte. Diese
Formel schält das Gemeinsame an so unterschiedlichen Dichtungen wie
den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, der unvollendeten Kindheits-
elegie und dem Essay Puppen heraus, die im Zentrum dieser Untersuchung
stehen werden. In einem Brief an Lou Andreas-Salomé verrät Rilke selbst,
welchen Stellenwert die kleine, letztgenannte Schrift mit dem lakonischen
Titel für ihn erhält, dieses, wie er meint, »ahnungslos Hingeschriebene«,
»unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd«
(RBr II, 464).1 Während für Rilke die Puppenerinnerung zum ›Vorwand‹
für das ›Ureigenste‹ wird, avanciert für das Kind die Puppe selbst – so der
Essayist in Puppen – zum »Maß und Kennzeichen [der] Umwelt«. (VI,
1070) Gewissermaßen liefert die Puppengestalt ein ›Maß und Kennzeichen‹
des Rilke’schen Kindes. Die Bedeutung dieses zunächst unscheinbar anmu-
tenden Essays für grundlegende poetologische Fragestellungen, die sich auf
dem Wege der Kindheitsthematisierung vermitteln, wurde bis dato kaum
erkannt. Diese auszuarbeiten – auch über die Grenzen des Rilke’schen

1 Zur Zitierweise: Die Quelle von Zitaten aus den folgenden Standardausgaben
der Werke Rilkes werden hinter dem jeweiligen Zitat in Klammern angege-
ben:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung
mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Ffm. 1987 (Abkürzung: Rö-
misch I, II, III usw. für Band, gefolgt von Seitenzahl)
Rainer Maria Rilke: Briefe. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung
mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim, Ffm. 1987 (Abkürzung RBr,
Römisch I, II, III für Band, gefolgt von Seitenzahl).

106
Oeuvres, Rilke’scher Poetologie hinweg – wird zu einer Hauptaufgabe die-
ser Arbeit im Ganzen.
In den Umkreis dieses Motivs gehört auch die unvollendete Kindheitse-
legie. Wie sich zeigen wird, erhellen sich Essay und Elegie gegenseitig. Auf
Grund der vielfachen motivischen und poetologischen Verflechtungen, die
die zentrale Thematik dieser Untersuchung erfährt, wird die Behandlung
der einschlägigen Dichtungen nicht der Chronologie ihrer Entstehung fol-
gen; vielmehr wurde es der Logik eines weit verästelten motivisch-themati-
schen Bezugskomplexes überlassen, den Gang der Interpretationsarbeit zu
bestimmen. So beginnt diese Studie zu Rilke mit einem den fokussierten
Themenkreis vorbereitenden Blick auf Gedichte aus dem ›Krisenjahr‹ 1914,
dem Jahr der ›Wendung‹, in dem auch Puppen verfasst wurde. Als Näch-
stes tritt die 1920 verfasste unvollendete Kindheitselegie auf den Plan, auf
deren Interpretation die eingehende Beschäftigung mit dem Puppenessay
folgt, bevor zum Schluss die früheste, meistrezipierte dieser Dichtungen,
die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, vor dem Hintergrund der zuvor
geleisteten Interpretationsarbeit erneut gelesen wird.

2.1. Kind und Ding

2.1.1. Das Kind im Spannungsfeld zwischen Eins- und Getrenntsein:


Zwei Gedichtinterpretationen

»Vor Weihnachten 1914« (1915)


1
Da kommst du nun, du altes zahmes Fest,
und willst, an mein einstiges Herz gepreßt,
getröstet sein. Ich soll dir sagen: du
bist immer noch die Seligkeit von einst
und ich bin wieder dunkles Kind und tu
die stillen Augen auf, in die du scheinst.
Gewiß, gewiß. Doch damals, da ichs war,
und du mich schön erschrecktest, wenn die Türen
aufsprangen – und dein wunderbar
nicht länger zu verhaltendes Verführen
sich stürtze über mich wie die Gefahr
reißender Freuden: damals selbst, empfand
ich damals dich? Um jeden Gegenstand
nach dem ich griff, war Schein von deinem Scheine,
doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand

107
ein neues Ding, das bange, fast gemeine
Ding, das besitzen heißt. Und ich erschrak.
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
Und wenn es auch zum Eigentum verführte,
noch war es keins. Noch haftete ihm nicht
mein Handeln an; mein Mißverstehn; mein Wollen
es solle etwas sein, was es nicht war.
Noch war es klar
und klärte mein Gesicht.
Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,
noch war es nicht das Ding, das widerspricht.
Da stand ich zögernd vor dem wundervollen
Un-Eigentum . . . . .
2
(. . . . . . . . . Oh, daß ich nun vor dir
so stünde, Welt, so stünde, ohne Ende
anschauender. Und heb ich je die Hände
so lege nichts hinein; denn ich verlier.

Doch laß durch mich wie durch die Luft den Flug
der Vögel gehen. Laß mich, wie aus Schatten
und Wind gemischt, dem schwebenden Bezug
kühl fühlbar sein. Die Dinge, die wir hatten,
(oh sieh sie an, wie sie uns nachschaun) nie
erholen sie sich ganz. Nie nimmt sie wieder
der reine Raum. Die Schwere unsrer Glieder,
was an uns Abschied ist, kommt über sie.)
3
Auch dieses Fest laß los, mein Herz. Wo sind
Beweise, daß es dir gehört? Wie Wind
aufsteht und etwas biegt und etwas drängt,
so fängt in dir ein Fühlen an und geht
wohin? drängt was? biegt was? Und drüber übersteht,
unfühlbar, Welt. Was willst du feiern, wenn
die Festlichkeit der Engel dir entweicht?
Was willst du fühlen? Ach, dein Fühlen reicht
vom Weinenden zum Nicht-mehr-Weinenden.
Doch drüber sind, unfühlbar, Himmel leicht
von zahllos Engeln. Dir unfühlbar. Du
kennst nur den Nicht-Schmerz. Die Sekunde Ruh
zwischen zwei Schmerzen. Kennst den kleinen Schlaf
im Lager der ermüdeten Geschicke.
Oh wie dich, Herz, vom ersten Augenblicke

108
das Übermaß des Daseins übertraf.
Du fühltest auf. Da türmte sich vor dir
zu Fühlendes: ein Ding, zwei Dinge, vier
bereite Dinge. Schönes Lächeln stand
in einem Antlitz. Wie erkannt
sah eine Blume zu dir auf. Da flog
ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft.
Und war dein Blick zu voll, so kam ein Duft,
und war es Dufts genug, so bog ein Ton
sich dir ans Ohr . . . Schon
wähltest du und winktest: dieses nicht
Und dein Besitz war sichtbar am Verzicht.
Bang wie ein Sohn ging manches von dir fort
und sah sich lange um, und sieht von dort
wo du nicht fühlst, noch immer her. O daß
du immer wieder wehren mußt: genug,
statt: mehr! zu rufen, statt Bezug
in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche?
Schwächliches Herz. Was soll ein Herz aus Schwäche?
Heißt Herz-sein nicht Bewältigung?
Daß aus dem Tier-Kreis mir mit einem Sprung
der Steinbock auf mein Herzgebirge spränge.
Geht nicht durch mich der Sterne Schwung?
Umfaß ich nicht das weltische Gedränge?
Was bin ich hier? Was war ich jung?
(II, 95–98)

»Requiem auf den Tod eines Knaben« (1915)

Was hab ich mir für Namen eingeprägt


und Hund und Kuh und Elephant
nun schon so lang und ganz von weit erkannt,
und dann das Zebra –, ach, wozu?
Wer mich jetzt trägt,
steigt wie ein Wasserstand
über das Alles. Ist das Ruh,
zu wissen, daß man war, wenn man sich nicht
durch zärtliche und harte Gegenstände
durchdrängte ins begreifende Gesicht?

Und diese angefangnen Hände –


Ihr sagtet manchmal: er verspricht . . .
Ja, ich versprach, doch was ich Euch versprach,
das macht mir jetzt nicht bange.
Zuweilen, dicht am Hause, saß ich lange

109
und schaute einem Vogel nach.
Hätt ich das werden dürfen, dieses Schaun!
Das trug, das hob mich, meine Augenbraun
waren ganz oben. Keinen hatt ich lieb.
Liebhaben war doch Angst – , begreifst du, dann
war ich nicht wir
und war viel größer als ein Mann
und war
als wär ich selber die Gefahr,
und drin in ihr
war ich der Kern.

Ein kleiner Kern; ich gönne ihn den Straßen,


ich gönne ihn dem Wind. Ich geb ihn fort.
Denn daß wir alle so beisammen saßen,
das hab ich nie geglaubt. Mein Ehrenwort.
Ihr spracht, ihr lachtet, dennoch war ein jeder
im Sprechen nicht und nicht im Lachen. Nein.
So wie ihr alle schwanktet, schwankte weder
die Zuckerdose, noch das Glas voll Wein.
Der Apfel lag. Wie gut das manchmal war,
den festen vollen Apfel anzufassen,
den starken Tisch, die stillen Frühstückstassen,
die guten, wie beruhigten sie das Jahr.
Und auch mein Spielzeug war mir manchmal gut.
Es konnte beinah wie die andern Sachen
verläßlich sein; nur nicht so ausgeruht.
So stand es in beständigem Erwachen
wie mitten zwischen mir und meinem Hut.
Da war ein Pferd aus Holz, da war ein Hahn,
da war die Puppe mit nur einem Bein;
ich habe viel für sie getan.
Den Himmel klein gemacht, wenn sie ihn sahn,–
denn das begriff ich frühe: wie allein
ein Holzpferd ist. Daß man das machen kann:
ein Pferd aus Holz in irgend einer Größe.
Es wird bemalt, und später zieht man dran,
und es bekommt vom echten Weg die Stöße.
Warum war das nicht Lüge, wenn man dies
›Pferd‹ nannte? Weil man selbst ein wenig
als Pferd sich fühlte, mähnig, sehnig,
vierbeinig wurde – (um einmal ein Mann
zu werden?) Aber war man nicht
ein wenig Holz zugleich um seinetwillen
und wurde hart im Stillen
und machte ein vermindertes Gesicht?

110
Jetzt mein ich fast, wir haben stets getauscht.
Sah ich den Bach, wie hab ich da gerauscht,
rauschte der Bach, so bin ich hingesprungen.
Wo ich ein Klingeln sah, hab ich geklungen,
und wo es klang, war ich davon der Grund.

So hab ich mich dem Allen aufgedrängt.


Und war doch Alles ohne mich zufrieden
und wurde trauriger, mit mir behängt.
Nun bin ich plötzlich ab-geschieden.
Fängt
Ein neues Lernen an, ein neues Fragen?
Oder soll ich jetzt sagen,
wie alles bei euch ist? – Da ängst ich mich.
Das Haus? Ich hab es nie so recht verstanden.
Die Stuben? Ach da war so viel vorhanden.
. . . . . Du Mutter, wer war eigentlich
der Hund?
Und selbst, daß wir im Walde Beeren fanden,
erscheint mir jetzt ein wunderlicher Fund
..........................
Da müssen ja doch tote Kinder sein,
die mit mir spielen kommen. Sind doch immer
welche gestorben. Lagen erst im Zimmer,
so wie ich lag, und wurden nicht gesund.

Gesund.... Wie das hier klingt. Hat das noch Sinn?


Dort, wo ich bin,
ist, glaub ich, niemand krank.
Seit meinem Halsweh, das ist schon so lang –

Hier ist ein jeder wie ein frischer Trank.

Noch hab ich, die uns trinken, nicht gesehen


...........................
(II, 104–107)

Das Gedicht »Vor Weihnachten 1914« (1915) thematisiert die Faszination,


die das Weihnachtsfest auf das kleine Kind ausübt, wobei das anthropo-
morphisierte Fest zum Du der lyrischen Apostrophe wird.2 Der Erwachse-

2 Vgl. Rilkes Brief an Clara Rilke vom 19. Dezember 1906, in dem er schreibt:
»Du weißt […] was mir in meiner frühen Kindheit Weihnachten war; selbst
dann noch, als die Militärschule mir ein wunderloses, hartes, unbegreiflich bos-
haftes Leben so glaubhaft vortäuschte, daß mir keine andere neben jener un-

111
ne beklagt den Verlust dieser einstigen Faszination, der einstigen Betörung
durch das Weihnachtsfest, dessen affektiv erlebte Qualität in der Erinne-
rung als ein einziges Glänzen, ein einziger Schein erhalten wurde. Eine
Affinität zwischen »Vor Weihnachten 1914« und dem ›Weltinnenraum‹-
Gedicht »Es winkt zu Fühlung [...]« , das die Vereinigung von Mensch und
Natur in der Herstellung eines Allbezugs besingt, verrät schon der Anfang
des ersten Gedichts durch die motivische Parallele mit dem letzten Vers
des letzteren, und diese Parallele ist signifikant. Dort heißt es: »Geliebter,
der ich wurde: an mir ruht / der schönen Schöpfung Bild und weint sich
aus.« (II, 93) Dieselbe Umkehrung der Ich-Welt-Perspektive als Ausdruck
gegenseitiger Durchdringung prägt den einleitenden Bildkomplex in »Vor
Weihnachten 1914«:

Da kommst du nun, du altes zahmes Fest,


und willst, an mein einstiges Herz gepreßt,
getröstet sein [...]
(II, 95)

Allerdings spricht das lyrische Ich diesmal aus dem Bewusstsein der Ge-
trenntheit heraus, so dass das Bild nicht, wie in »Es winkt zu Fühlung
[...]«, der Ekstase der Vereinigung von lyrischem Ich und Natur Ausdruck
verleiht, sondern einer wehmütigen Feststellung des verlorengegangenen
Einsseins von Kind und Weihnachtsfest gleichkommt. So wie dort »der
schönen Schöpfung Bild« sich an den Schultern des lyrischen Ichs ›aus-
weint‹, sucht auch hier das Weihnachtsfest Trost beim lyrischen Ich, ap-
pelliert aber an sein »einstiges Herz«, d.h. an das Herz des Kindes, das für
Zauber und Glanz des Weihnachtsfestes grenzenlos empfänglich war. Da-
her möge das lyrische Ich wieder »dunkles Kind« werden und »die stillen
Augen auf[tun]«, in die das Weihnachtsfest scheint (II, 95).
Die Lichtmetaphorik suggeriert das im ›Weltinnenraum‹-Gedicht be-
schworene Erleben mystischen Einsseins. Nur war in »Es winkt zu Füh-
lung [...]« die Natur der Schauplatz dieser Vereinigung, während hier
der Vorgang in ein anderes, sehr eigenwilliges Idiom verlegt wird: Das

verschuldeten Wirklichkeit möglich schien; selbst dann noch war Weihnachten


wirklich und war das, was mit einer Erfüllung herankam, die über alle Wünsche
hinausging, und wenn es über die äußersten letzten nie noch gewünschten hin-
aus war, dann begann es erst recht, dann faltete es, das bisher gegangen war,
Flügel aus und flog, flog, bis es nicht mehr zu sehen war und man nur noch
die Richtung wußte, in dem großen fließenden Licht.« RBr I, 149.

112
Weihnachtsfest erhält die Funktion, die in der Naturmystik der Natur
zukommt; ihm wird der Platz zugewiesen, den in der christlichen Mystik
Gott einnimmt: Es stellt das ›Ziel‹ der unio mystica dar. Dabei bilden die
Augen des Kindes den Raum, in den der alles überflutende Glanz des
Festes eingeht; sie sollen diesen Glanz empfangen. Das Kind wird zum
Medium für das Weihnachtsfest; in ihm findet das Fest die größtmögli-
che Resonanz, entfaltet es seine größte Strahlkraft. Diese ist denn auch so
groß, dass sie das Kind geradezu ›blind‹ macht für die Gegenstände seiner
Umwelt – »[...] Um jeden Gegenstand / nach dem ich griff, war Schein
von deinem Scheine« (II, 96). Die Anlehnung an die Tradition mystischer
Erlebnisberichte ist hier unverkennbar.
Auf dem Höhepunkt der in der Erinnerung beschworenen Ekstase der
Vereinigung von Kind und Weihnachtsfest folgt jedoch die entscheidende
Veränderung. Plötzlich verwandelt sich der zuvor alles überflutende Glanz
des Festes in ein Instrument der Differenzierung:
doch plötzlich ward aus ihm und meiner Hand
ein neues Ding, das bange, fast gemeine
Ding, das besitzen heißt [...]
(II, 96)

Indem das Kind anfängt, die Dinge zu berühren, hebt sich der blendende
Schein von ihnen ab und legt sie frei, so dass das Kind sie erkennen und
erfahren kann. Das Kind ›be-greift‹ im wörtlichen wie im übertragenen
Sinne. Damit schwindet aber auch das ursprüngliche Gefühl des Eins-
seins, und für einen flüchtigen Augenblick vor dem ›Inkrafttreten‹ des
›Besitz ergreifenden‹ Erwachsenenbewusstseins verfügt das Kind über die
Fähigkeit, die Vorzüge beider Erlebnisweisen zu verbinden, des sich all-
mählich entwickelnden Differenzierungsvermögens und des Bewusstseins
einer undifferenzierten, durch das gegenseitige Durchdringen von Ich und
Welt gekennzeichneten Ganzheit, in der Wille – das, was das ›Besitz er-
greifende‹ Erwachsenenbewusstsein bedingt – noch nicht ›in Kraft tritt‹.
Dieser Zustand wird beschrieben wie folgt:
[...] Und ich erschrak.
O wie doch alles, eh ich es berührte,
so rein und leicht in meinem Anschaun lag.
Und wenn es auch zum Eigentum verführte,
noch war es keins. Noch haftete ihm nicht
mein Handeln an; mein Mißverstehn; mein Wollen
es solle etwas sein, was es nicht war.
(II, 96)

113
Noch sind Spuren der Strahlkraft erhalten – »Noch war es klar / und klärte
mein Gesicht«. Die Dinge haben sich noch nicht in ihrer Abgelöstheit, in
ihrer ganzen Dinghaftigkeit offenbart:

Noch fiel es nicht, noch kam es nicht ins Rollen,


noch war es nicht das Ding, das widerspricht.
Da stand ich zögernd vor dem wundervollen
Un-Eigentum . . . . .
(II, 96)

Das lyrische Ich sehnt sich nach dieser ersten Zeit des reinen Anschauens
zurück, die mit der später sich anbahnenden Zeit des Berührens, Begrei-
fens, Besitzens stark kontrastiert wird:

(. . . . . . . . . Oh, daß ich nun vor dir


so stünde, Welt, so stünde, ohne Ende
anschauender. Und heb ich je die Hände
so lege nichts hinein; denn ich verlier.
(II, 96)

In der nächsten Strophe wird der sehr starke Bezug zu »Es winkt zu Füh-
lung [...]« offenkundig. In »Vor Weihnachten 1914« erklingt das Motiv, das
für das ›Weltinnenraum‹-Gedicht von so grundlegender Bedeutung ist, in
fast identischer Ausformung wieder: »Doch laß durch mich wie durch die
Luft den Flug / der Vögel gehen [...].« (II, 96)3 Dort hieß es: »[...] Die

3 Der bereits zitierte Brief Rilkes an Clara Rilke vom 19. Dezember 1906 gibt
Aufschluss über den nicht ohne Weiteres erkennbaren Zusammenhang zwischen
Weihnachts- und Vogelmotiv. Hier charakterisiert Rilke Weihnachten, das er,
von der Gegenwart aus betrachtet, als »ein immerwährendes, ewiges [Fest]« er-
lebt, »zu dem das innere Gesicht sich hinwenden kann, sooft es seiner bedarf«,
als eine Gestalt, die im Laufe der sich steigernden Antizipation seitens des auf
sie Wartenden »Flügel aus[faltete] und flog, flog, bis es nicht mehr zu sehen war
und man nur noch die Richtung wußte, in dem großen fließenden Licht« (RBr
I, 151; 149). Überhaupt sieht Rilke im Verhältnis des Vogels zum ›Weltraum‹
eine geradezu ideale Beziehung. Seiner Sehnsucht nach einem ›innigeren‹ Ver-
hältnis zur Welt bzw. zur Natur verlieh er in einem Brief vom 20. Februar 1914
Ausdruck, wo er nämlich die »ganz besondere Gefühlsvertraulichkeit« bemerkt,
die der Vogel zur Außenwelt habe, und die daher rühre, dass »sein Nest [...]
ja fast ein von der Natur ihm bewilligter äußerer Mutterleib« sei, – weswegen
er singe, »als sänge er in seinem Innern«. Zwar werde dem »Menschlichen viel
zugewonnen durch die Hineinverlegung des ausreifenden Lebens in einen Mut-
terleib: denn er wird um so viel mehr Welt, als draußen die Weltbeteiligung
an diesen Vorgängen einbüßt«, – will heißen, es entstehe dadurch eine Art In-
nenraum, der dem Vogel fehle –, aber letztlich schreibt Rilke der »Kreatur« das

114
Vögel fliegen still durch uns hindurch [...].« (II, 93) Aber was in »Es winkt
zu Fühlung [...]« als erfüllt erscheint, wenn auch nur für die Dauer eines
Augenblicks, bleibt in »Vor Weihnachten 1914« wehmütige Sehnsucht:

[...] Laß mich, wie aus Schatten


und Wind gemischt, dem schwebenden Bezug
kühl fühlbar sein [...]
(II, 96)

Und in der Rückschau erlebt der Erwachsene die Dinge so, als habe er sie
in Mitleidenschaft gezogen, als habe er ihnen den ursprünglich gegebenen,
›reinen Bezug‹ geraubt:

[...] Die Dinge, die wir hatten,


(oh sieh sie an, wie sie uns nachschaun) nie
erholen sie sich ganz. Nie nimmt sie wieder
der reine Raum. Die Schwere unserer Glieder,
was an uns Abschied ist, kommt über sie.)
(II, 96f.) 4

Der dritte und letzte Teil des Gedichts beginnt mit dem Appell an das
eigene Herz: »Auch dieses Fest laß los, mein Herz [...].« Dies signalisiert
ein Abschiednehmen von der Ekstase des anfangs besungenen Einsseins,
– allerdings ein Abschiednehmen, so die Implikation des Wortes »Auch«
in diesem Zusammenhang –, das in ähnlicher Form bereits wiederholt ge-
leistet wurde, als sei dies eine Erfahrung, die man immer wieder mache(n

größere Maß an »Innigkeit« zu, denn dieses »Nicht-im-Leibe-Herangereiftsein«


bringe es mit sich, dass die Kreatur »eigentlich den schützenden Leib nie verläßt.
(Lebenslang ein Schoßverhältnis hat)« (RBr II, 449). Vgl. die Stelle in der 8.
Duineser Elegie, wo es heißt: »O Seligkeit der kleinen Kreatur, / die immer bleibt
im Schooße, der sie austrug; / o Glück der Mücke, die noch innen hüpft, / selbst
wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist Alles.« Hier schreibt der Dichter dem
Vogel eine »halbe Sicherheit« zu (I, 715f.).
4 Das sind romantische Klänge, wie man sie aus Wordsworths »Intimations of
Immortality« kennt. Dort heißt es in Bezug auf das heranwachsende Kind:
»Full soon thy soul shall have her earthly freight, / And custom lie upon thee
with a weight, / Heavy as frost, and deep almost as life!« (Wordsworth: »In-
timations«, Poetical Works, 461; 460). Damit kontrastierend Wordworths in
demselben Gedicht verwendetes Bild des Neugeborenen als »trailing clouds of
glory« (ebenda, 460). Hier scheint sich Rilke der neuplatonischen Vorstellung
zu verschreiben, wonach die Schwere des Diesseits dem Heranwachsenden in
zunehmendem Maße anhaftet und im Bewusstsein vom Tode kulminiert, wobei
sich diese Schwere in der Vorstellung dieses Gedichts auf die von uns berührten
Dinge überträgt.

115
müsse). Unter seelischem Schmerz wird das lyrische Ich der Getrenntheit
von Ich und Welt gewahr. Das Kind erfährt die ›Wendung‹ im Sinne der
8. Duineser Elegie:5 »[...] Und drüber übersteht, / unfühlbar, Welt [...].«
(II, 97) Nach dieser ›Wendung‹ bezieht das Kind die Position des Gegen-
überseins; das ›Da-Sein‹ spaltet sich in Subjektives und Objektives auf. Im
Idiom des Gedichts inszeniert sich dieser Bewusstseinswandel seitens des
Kindes unter anderem als Wandel in seiner Beziehung zu den Engeln.

[...] Was willst du feiern, wenn


die Festlichkeit der Engel dir entweicht?
Was willst du fühlen? [...]
(II, 97)

In Folge der ›Wendung‹ kann das Kind nicht mehr an den Festen der
Engel teilnehmen, d.h. es erfährt nicht mehr die Ekstase des Einsseins mit
diesen allumfassenden Wesen; nun wird der Engel zum überwältigenden
Gegenüber, vor dessen ›stärkerem Dasein‹, dessen ›Schönheit‹, wie wir aus
der 1. Duineser Elegie wissen, der Mensch zu ›vergehen‹ droht. Plötzlich hat
der Mensch an dessen Glanz nicht mehr Teil; er wird seiner Schranken
bewusst: »O wie dich, Herz, vom ersten Augenblicke / das Übermaß des
Daseins übertraf.« (II, 97) Dem Kind, das nun zu einem kleinen Gefäß
mit eigenen Konturen geworden ist, droht die Überwältigung durch das
»Übermaß des Daseins«, und es muss ›abwinken‹, sich ›beschränken‹:

[...] Schon
wähltest du und winktest: dieses nicht.
Und dein Besitz ward sichtbar am Verzicht.
(II, 98)

Es muss einsehen, dass es nicht das nötige ›Fassungsvermögen‹ hat, um die


Welt grenzenlos in sich aufzunehmen:

[...] O daß
du immer wieder wehren mußt: genug,
statt: mehr! zu rufen, statt Bezug
in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche?
Schwächliches Herz [...]
(II, 98)

5 Dort heißt es: »[...] schon das frühe Kind / wenden wir um und zwingens, daß
es rückwärts / Gestaltung sehe [...]« (I, 714).

116
Es muss einsehen, dass ihm das ursprünglich gegebene Gefühl des Allbe-
zugs verloren gegangen ist.
Das Gedicht endet mit einer eindringlichen, in die Vergangenheit und
die Zukunft zugleich projizierten Sehnsucht nach (Wieder-)Erlangung die-
ses Vermögens: dass es einem trotz des ›schwächlichen Herzens‹ möglich
werde, den ›gespanntesten Bezug‹ herzustellen, nämlich den zwischen Ich
und Gestirn:6

Daß aus dem Tier-Kreis mir mit einem Sprung


der Steinbock auf mein Herzgebirge spränge.
Geht nicht durch mich der Sterne Schwung?
Umfaß ich nicht das weltische Gedränge?
Was bin ich hier? Was war ich jung?
(II, 98)

Dies ist aber nur möglich, wenn der Mensch ein eigenes ›Herzgebirge‹
hat, will heißen, nachdem er seines Getrenntseins gewahr geworden ist,
sich darin sozusagen eingerichtet hat und somit zum wirklichen Gegen-
über geworden ist. Darin besteht die Rückwärts-Vorwärts-Orientierung
dieser poetischen Vision: Von der ursprünglichen Erfahrung des ›Welt-
innenraums‹ gespeist, entwirft das lyrische Ich auf der Stufe der vollzoge-
nen Individuation, – wenn man so will, der ›Herzwerdung‹ –, die Utopie
einer Wiederherstellung des Allbezugs in Gestalt eines sternischen, im
Rilke’schen Sinne ›figuralen‹ Bezugs.7
Das »Requiem auf den Tod eines Knaben« (1915) greift wesentliche
Themen und Motive des früheren Gedichts erneut auf und geht insbeson-
dere auf die Beziehung des Kindes zu den Dingen, vor allem zu seinem
Spielzeug, ein. Wie »Vor Weihnachten 1914« ist das Gedicht monologisch
bzw. verkappt dialogisch angelegt, wobei das verstorbene Kind die Familie
(zum Teil nur die Mutter) anruft. Formal eigenartig und signifikant ist die
Tatsache, dass das »Requiem« – der Titel lässt also eine Totenklage durch
einen Dritten erwarten – aus dem Mund des toten Knaben selbst gespro-
chen wird und in einer Art fast heiterer Rückschau auf die Zeit vor dem
Tod besteht. Man beachte die temperamentvolle, rhythmische Bewegung

6 Vgl. Beda Allemann, der die ›Gespanntheit‹ der Figur als eines ihrer wichtig-
sten Merkmale angibt. Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein
Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes, Pfullingen 1961, 276; vgl. auch
277ff..
7 Vgl. Allemann: Zeit und Figur. Allemann erörtert die paradigmatische Bedeu-
tung des Sternbildes für die Rilke’sche Figur.

117
der ersten Strophe, die begleitet wird vom Eindruck frischer Unmittelbar-
keit; das Gedicht setzt salopp an mit der Frage: »Was hab ich mir [...]?«
und vermittelt mit seiner parataktischen Struktur kindliche Unbedarftheit.
Mit diesem Kunstgriff wird unterstrichen, dass dem Kind das für den Er-
wachsenen charakteristische Bewusstsein des Todes als einer jähen Zäsur
fehlt, dass er den Tod zwar als Übergang erlebt, gewissermaßen als Einzug
in ein fremdes Land, nicht aber als ein Ende. Diese formale Eigenschaft
verleiht dem Gedicht seine besondere Wirkung.
Besonders interessant für den Gegenstand dieser Arbeit ist die Art, wie
das lyrische Ich in der Rückschau die ihn zu Lebzeiten umgebenden Din-
ge betrachtet. Weil die Familie dem Kind keinen psychischen Halt gibt,
werden ihm die Dinge zu Fixpunkten in einer schwankenden Welt. An
ihnen kann das Kind sich orientieren:

So wie ihr alle schwanktet, schwankte weder


die Zuckerdose, noch das Glas voll Wein.
Der Apfel lag. Wie gut das manchmal war,
den festen vollen Apfel anzufassen,
den starken Tisch, die stillen Frühstückstassen,
die guten, wie beruhigten sie das Jahr.
(II, 105)

Hier erhalten die Dinge also einen ausgesprochen positiven Wert im Ge-
gensatz zu den Dingen in »Vor Weihnachten 1914«, die durch uns ›be-
schwert‹ werden und uns im Gegenzug zum ›Besitzergreifen‹ verführen,
wodurch sich die Ekstase des ursprünglichen Allbezugs verflüchtigt.
Das Verhältnis des verstorbenen Knaben zum Spielzeug gestaltet sich
etwas anders:

Und auch mein Spielzeug war mir manchmal gut.


Es konnte beinahe wie die andern Sachen
verläßlich sein; nur nicht so ausgeruht.
(II, 105f.)

Während die Alltagsdinge die Außenwelt konturieren, hat das Spielzeug


eine Sonderstellung. Es nimmt seinen Platz zwischen Subjekt und Objekt,
zwischen Kind und Ding, Innen und Außen ein: »So stand es in beständi-
gem Erwachen / wie mitten zwischen mir und meinem Hut.« (II, 106)
Als Objekte der Außenwelt fördern die Spielsachen die Individuation
des Kindes. Sie dienen, wie die Alltagsdinge, zur Konturierung der Welt,
und das Kind setzt sich mit ihrer Andersartigkeit auseinander. Aufgrund
der hochgradig empathischen Beziehung des Kindes zum Spielzeug gehört

118
dieses aber auch bis zu einem gewissen Grad der Innensphäre des Kindes
an und erlaubt es diesem, seine Sehnsucht nach symbiotischem Einssein
im Spiel auszuleben. Das zeigt sich an der Beziehung des Kindes zum
Holzpferd besonders eindrücklich. Kind und Pferd wirken aufeinander ein.
Indem das Kind für das Pferd »[d]en Himmel klein [macht]«, nimmt es in
Einfühlung seines Wesens dessen verengte Perspektive ein Stück weit ein
und imaginiert sich bald selbst als Holzpferd: man fühlte sich selbst »[...]
ein wenig / als Pferd [...] mähnig, sehnig, / vierbeinig [...]« (II, 106). Die
Identifikation geht so weit, dass das Kind fast erstarrt:

[...] Aber war man nicht


ein wenig Holz zugleich um seinetwillen
und wurde hart im Stillen
und machte ein vermindertes Gesicht?
(II, 106)

Das Pferd hingegen »bekommt vom echten Weg die Stöße«, ihm wird
gewissermaßen menschliches Leben eingehaucht.8 In diesem Ineinander-
fließen von Kind und Pferd klingt die Erfahrung des ›Weltinnenraums‹
in neuer poetischer Gestalt an, – allerdings in erheblich reduzierter Form
gegenüber der Vision in »Es winkt zu Fühlung [...]«. Nicht Kind und
Welt bzw. Natur schlechthin vereinen sich hier, sondern eben Kind und
Holzpferd. Diese Erfahrung stellt aber die Vorstufe zur allumfassenden
Durchdringung von Mensch und Natur dar, wie sie im ›Weltinnenraum‹-
Gedicht evoziert wird.9 Das zeigt die nächste Strophe, in der sich diese
größere Dimension eröffnet:

8 Interessant ist in diesem Kontext Salingers Vermutung, das Rilke’sche Holz-


pferdmotiv sei von Jakob Wassermanns Caspar Hauser (1908) beeinflusst. Dort
heißt es: »[Caspar Hauser] hatte ein weißes Pferdchen aus Holz, ein namenloses,
regungsloses Ding und gleichwohl etwas, in dem sein eignes Dasein sich dunkel
spiegelte. Da er die lebendige Gestalt in ihm ahnte, hielt er es für seinesgleichen,
und in den matten Glanz seiner künstlichen Augenperlen war alles Licht der
äußerlichen Welt gebannt.« (Jakob Wassermann: Caspar Hauser, Stuttgart 1908,
23.) Rilke und Wassermann kannten sich; letzterer soll sogar für die Figur des
Thalmann in der Erzählung Ewald Tragy Pate gestanden haben. Siehe Herman
Salinger: »Rilkes ›Requiem auf den Tod eines Knaben‹. In: Monatshefte 47
(1955), 81–88; hier 87f. Im Laufe dieser Interpretation dürfte die Bedeutsamkeit
des hier verwendeten Spiegelungsmotivs ersichtlich werden, was aus dieser mo-
tivischen Entsprechung mehr als nur eine oberflächliche Konvergenz macht.
9 Hermann Kunisch stellt eine Affinität in der Vorstellung des ›Weltinnenraums‹
zu der des ›entwerdens‹ in der mittelalterlichen Mystik her, wobei Ersteres »als
das Gewinnen des ›Offenen‹, des ›reinen Bezugs‹» zu verstehen sei. Der Zu-

119
Jetzt mein ich fast, wir haben stets getauscht.
Sah ich den Bach, wie hab ich da gerauscht,
rauschte der Bach, so bin ich hingesprungen.
Wo ich ein Klingen sah, hab ich geklungen,
und wo es klang, war ich davon der Grund.
(II, 106)

Die Anklänge an »Es winkt zu Fühlung [...]« sind unverkennbar. Dort


heißt es:

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.


Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
(II, 93)10

Die im »Requiem« kurz auflebende Ekstase verflüchtigt sich aber gleich


wieder, und in der plötzlichen Bewusstwerdung seiner Getrenntheit klagt
das lyrische Ich:

So hab ich mich dem Allen aufgedrängt.


Und war doch Alles ohne mich zufrieden
und wurde trauriger, mit mir behängt.
(II, 106)

stand des ›Offenen‹ verwirkliche sich unter anderem in der Kindheit. (Her-
mann Kunisch: »Das Problem der Mystik beim späten Rilke«. In: Die andere
Welt. Aspekte der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Festschrift
für Hellmuth Himmel zum 60. Geburtstag, Bern/München 1979, 192.) Aller-
dings impliziert die Erfahrung von ›Weltinnenraum‹ kein einfaches Wegfallen
der Schranken zwischen Ich und Welt, sondern sie beinhaltet eine konzeptio-
nell schwer fassbare perspektivische Inversion. Marcel Kunz bemerkt, Rilkes
›Weltinnenraum‹ sei deswegen so schwer zu fassen, »weil er ein Äußeres als
inneren Raum denkt, weil das Ich als Raum gedacht ist, der sich um die ganze
Umwelt spannt. Anders gesagt: weil die Umwelt ins Ich eingestaltet ist«. Die
Erlebensweise lasse sich in etwa so beschreiben: »Ich sehe hinaus, finde mein
Eigenes im äußeren Raum, doch gleichzeitig vollzieht sich in mir, das ich als
Äußeres wahrzunehmen glaube.« (Marcel Kunz: Narziß. Untersuchungen zum
Werk R.M. Rilkes, Bonn 1970, 109.) In der Formel des ›Weltinnenraums‹ finde
man letztlich die Vorstellung einer tieferen Einheit zwischen Ich und Welt,
zwischen Geist und Natur, wobei der Dichtung die Aufgabe zukomme, »auf das
›gemeinsame‹ Leben« zu verweisen, das sich in der Erfahrung »einer Korrelation
zwischen Phänomenen der Außenwelt und Seelenzuständen des Ich« manife-
stiert, so Manfred Engel (Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien und die moderne
deutsche Lyrik. Zwischen Jahrhundertwende und Avantgarde, Stuttgart 1986,
96).
10 Hier taucht auch der Hut auf als Repräsentant des Außen.

120
Dies auch die Klage des Kindes in »Vor Weihnachten 1914« in Reaktion auf
den fast identischen Vorgang. Auf die Evozierung des ›Weltinnenraums‹
folgt die Ernüchterung der Getrenntheit: »Die Dinge, die wir hatten, [...]
nie erholen sie sich ganz. [...] Die Schwere unserer Glieder / [...] kommt
über sie.« (II, 96f.)
In der Bewegungslinie, die die beiden hier behandelten Gedichte
zeichnen, findet man eine Progression von der ursprünglichen Erfahrung
des Einsseins über das schmerzliche Bewusstsein der Getrenntheit bis hin
zur futurisch-visionären Erfahrung der gegenseitigen Durchdringung von
Mensch und Natur in der (Wieder)-Aufhebung der Subjekt-Objekt-Po-
larität.
Doch zurück zum »Requiem«. Das Fallen der Schranken zwischen In-
nen und Außen manifestiert sich ferner in der Versöhnung des verstor-
benen Knaben mit dem Tod. Von dieser Versöhnungshaltung gespeist
ist die ausklingende Vision des Gedichts, in der kindliche Naivität sich
mit einer in höchstem Maße poetischen Fähigkeit des lyrischen Ichs zur
Versinnbildlichung des Todes vermischt:

Hier ist ein jeder wie ein frischer Trank

Noch hab ich, die uns trinken, nicht gesehen


.........................
((II, 107)

Diese Schlussvision enthält mystische Züge. In der mystischen Bekenntnis-


literatur findet man mancherorts das Motiv des Trinkens und Getrunken-
werdens als Versinnbildlichung des Aktes der Vereinigung des Menschen
(als Getrunkenen) mit Gott (als Trinkendem). Der Mensch ›verflüssigt‹
sich sozusagen und kann so von Gott aufgesogen werden: Sein Saft fließt in
den unsichtbaren Adern des Einen weiter. Einer solchen mystischen Lesart
entspricht auch die grammatische Eigenart des Schlussverses: Das Subjekt
der Handlung, die Trinkenden, – man beachte die Mehrzahl! – wird nur
indirekt, im Nebensatz, genannt. Der elliptische Hauptsatz lässt es aus.
Soll darin die Unbenennbarkeit des Ziels mystischer Vereinigung zum Aus-
druck gebracht werden? Soll das Geheimnisvolle, das für den Menschen
Unfassbare an der vom Kind antizipierten Gestalt in der irritierenden Vor-
stellung einer Mehrzahl von Trinkenden zum Ausdruck kommen?
Der ursprüngliche Schluss des »Requiems« entwirft auch ein mystisch
zu nennendes Vereinigungsszenario. Auf der ›unbeschienenen Seite des
Lebens‹ erfährt der Knabe eine Verwandlung; es erfolgt ein gegenseitiges

121
Durchdringen von Kind und Engel, das vom Chor der Engel feierlich
verkündet wird:
Da geht von ihm der Schwingen erstes Wehen
und wie es weich in unsre Stürme drang
ist er in uns, sind wir in ihm geschehen
(II, 439)

Genau das vermag, so der Klageruf der 1. Duineser Elegie, der Erwachse-
ne nicht. Die nächste Strophe verdeutlicht den mystischen Charakter des
Geschehens:
Wehen, nicht Worte nur Wehen
keine Spur mehr von Dingen.
Nur ein Durchdringen. Nur ein Geschehen
Ein Gelingen von Sternen
und ich Knabe mitten darin.
(II, 439)

Bezüge zum Gedicht »Vor Weihnachten 1914« drängen sich hier auf. Der
Knabe wird in die konturenlose Welt, die in der ersten Strophen von »Vor
Weihnachten 1914« beschworen wird, versetzt, eine Welt, in der es »nur
Wehen«, keine Worte gibt. Allerdings, – und darin liegt der Unterschied
zum ähnlichen Szenario im anderen Gedicht –, ist hier keine ursprüngliche
Welt gemeint; vielmehr liegt die hier evozierte Sphäre jenseits der Dinge;
sie transzendiert den Logos: Es gibt »keine Spur mehr von Dingen« (Her-
vorhebung d. Vf.).
In »Vor Weihnachten 1914« signalisierte die Konturierung der Din-
ge den Einbruch des vom Logos determinierten Individuationsprinzip in
die ›weltinnenraumähnliche‹ Sphäre der frühen Kindheit. Die Verse »Ein
Gelingen von Sternen / und ich Knabe mitten darin« rufen den Schluss
von »Vor Weihnachten 1914« in Erinnerung mit seinem eigenwilligen Bild
des Steinbocks, der auf das »Herzgebirge« des Kindes springen möge. Das
lyrische Ich des »Requiems« fragt: »Geht nicht durch mich der Sterne
Schwung? / Umfaß ich nicht das weltische Gedränge?« (II, 98) Hier ›gelin-
gen‹ die Sterne, so die Vision. Was in »Vor Weihnachten 1914« in der Spra-
che der Sehnsucht, im Konjunktiv, gehalten wird, erscheint hier ähnlich
potentiell, d.h. in der Form eines Utopie verheißenden Fragens. Aber die
Topologie des Sternmotivs gestaltet sich hier anders als im erstgenannten
Gedicht, denn der Knabe bildet nicht den einen ›Bezugspunkt‹ einer ›figu-
ralen‹ Sternenkonstellation zusammen mit einem zweiten, sternischen ›Be-
zugspunkt‹, wie in »Vor Weihnachten 1914« Kind und Steinbock, sondern

122
ist »mitten darin«, d.h. ist in »der Sterne Schwung« bzw. ›umfasst‹ diesen.
Während ich feststellte, dass für das Gelingen der sternischen Verbindung
des Kindes mit dem Steinbock der Besitz eines eigenen ›Herzgebirges‹ un-
erlässlich war und den Bezugscharakter der Verbindung bedingte, geht
mit der hier beschriebenen Verwandlung die Preisgabe des ›eigenen Stand-
punktes‹ einher.11 Es scheint, als wäre die Individuation hier ein Stück weit
rückgängig gemacht bzw. gänzlich überwunden. Das »Requiem« scheint
sagen zu wollen: Am ehesten gelingt eine solche Verwandlung beim Kind,
dessen Hände ›erst angefangen waren‹, das also in die Tiefen der konturier-
ten Welt noch gar nicht erst ganz eingetaucht war. Für den verstorbenen
Knaben des »Requiems« war das ganze Ausmaß der Entzweiung, die das
Leben des Erwachsenen so stark prägt, gar nicht erst spürbar geworden.

2.1.2. ›Kinder-Ding‹ und ›Kunst-Ding‹: Rodin


In seiner Rodin-Monographie hatte Rilke einige Jahre vor Niederschrift
des »Requiems« im Kontext einer Apologie des Dinges als Fundament der
Kunst über den prägenden Einfluss geschrieben, den die »Kinder-Dinge«
auf die psychische Entwicklung des Menschen ausüben:
Gedenken Sie, ob es irgend etwas gab, was Ihnen näher, vertrauter und nötiger
war, als so ein Ding. Ob nicht alles – außer ihm – imstande war, Ihnen weh
oder unrecht zu tun, Sie mit einem Schmerz zu erschrecken oder mit einer
Ungewißheit zu verwirren? Wenn Güte unter Ihren ersten Erfahrungen war
und Zutraun und Nichtalleinsein – verdanken Sie es nicht ihm? War es nicht
ein Ding, mit dem Sie zuerst Ihr kleines Herz geteilt haben wie ein Stück Brot,
das reichen mußte für zwei? (V, 208f.)

Hier beschreibt Rilke eine empathische Beziehung wie die des Knaben
im »Requiem« zum Holzpferd. Der Erwachsene soll in eine ähnliche Be-
ziehung zu den Dingen treten wie die, in der das Kind zu den ›Kinder-
Dingen‹ steht:

Sie erinnern sich dessen [der Kinder-Dinge] kaum mehr, und es wird Ihnen
selten bewußt, daß Sie auch jetzt noch Dinge nötig haben, die, ähnlich wie
jene Dinge aus der Kindheit, auf Ihr Vertrauen warten, auf Ihre Liebe, auf Ihre
Hingabe. Wie kommen diese Dinge dazu? Wozu sind überhaupt Dinge mit uns
verwandt? Welches ist ihre Geschichte? (V, 209)

11 Eine eigenwillige Formulierung dieses Gedankenkomplexes findet man im klei-


nen Aufsatz Urgeräusch, auf den ich noch zu sprechen kommen werde.

123
Die herausragende Bedeutung der ›Kinder-Dinge‹ für die psychische Ent-
wicklung des Kindes erläutert Rilke einige Zeilen weiter unten ausführlicher:

In den Legenden der Heiligen haben Sie später eine fromme Freudigkeit gefun-
den, eine selige Demut, eine Bereitschaft, alles zu sein, die Sie schon kannten,
weil irgend ein kleines Stück Holz alles das einmal für Sie getan und auf sich
genommen und getragen hatte. Dieser kleine vergessene Gegenstand, der alles
zu bedeuten bereit war, machte Sie mit Tausendem vertraut, indem er tausend
Rollen spielte, Tier war und Baum und König und Kind, – und als er zurück-
trat, war das alles da. Dieses Etwas, so wertlos es war, hat Ihre Beziehungen
zur Welt vorbereitet, es hat Sie ins Geschehen und unter die Menschen geführt
und mehr noch: Sie haben an ihm, an seinem Dasein, an seinem Irgendwie-
Aussehn, an seinem endlichen Zerbrechen oder seinem rätselhaften Entgleiten
alles Menschliche erlebt bis tief in den Tod hinein. (V, 209)

Das in dieser Passage nicht näher bestimmte Ding12 erhält einen ähnli-
chen Stellenwert wie das Spielzeug im »Requiem«; ihm kommt eine Mitt-
lerfunktion zu. Dadurch, dass es die »Beziehung [des Kindes] zur Welt
vorbereitet«, bildet es eine Art Brücke, über die man zur Welt gelangt. An
ihm macht das Kind erste Erfahrungen; es findet in ihm »alles Menschli-
che« vorweggenommen, sogar bis ins letzte Geheimnis, – »bis tief in den
Tod hinein«. Dieselbe Empathie, die das Verhältnis des Knaben zu seinem
Spielzeug auszeichnete, finden wir auch hier, nur mit umgekehrten Vor-
zeichen. Hatte der Knabe dem Holzpferd zuliebe »[d]en Himmel klein
gemacht«, so schreibt hier Rilke, das kleine Stück Holz habe »alles das
einmal für [uns] getan und auf sich genommen und getragen«. Während
die ›Kinder-Dinge‹ der Sehnsucht des Kindes nach Vereinigung mit dem
wie auch immer gearteten Gegenüber nachkommen, fördern sie gleichzei-
tig behutsam seine Individuation. Das besagt auch Rodin.
Im Zuge der oben zitierten, rühmenden Worte über die Kindheits-
Dinge reflektiert Rilke, auch wenn das Wort selbst nicht fällt, ebenfalls
über die Entstehung des ›Kunst-Dings‹. Man habe »[s]ehr früh schon [...]
Dinge geformt, mühsam, nach dem Vorbild der vorgefundenen natürli-
chen Dinge« (V, 210). Zunächst Handwerkliches, Gebrauchsgegenstände:
»[...] man hat Werkzeuge gemacht und Gefäße, und es muß eine seltsame
Erfahrung gewesen sein, Selbstgemachtes so anerkannt zu sehen, so gleich-
berechtigt, so wirklich neben dem, was war.« (V, 210) Im ersten Teil der

12 In seiner Interpretation dieser Stelle geht Steiner stillschweigend davon aus, dass
hier explizit die Puppe gemeint ist. Der Text liefert aber kein eindeutiges Indiz
hierfür. Vgl. Jacob Steiner: »Motiv der Puppe«, 141.

124
Rodin-Monographie hatte Rilke die Plastik als »schlichte Dingwerdung
ihrer [der Menschen] Sehnsüchte und Ängste« (V, 145) bezeichnet. Hier
skizziert er eine Art Genese des Dinges; die ›Dingwerdung‹ wird in Paral-
lele zur ›Ichwerdung‹ des Menschen gesetzt:

Da entstand etwas, blindlings, in wilder Arbeit und trug an sich die Spuren
eines bedrohten offenen Lebens, war noch warm davon, – aber kaum war es
fertig und fortgestellt, so ging es schon ein unter die Dinge, nahm ihre Gelas-
senheit an, ihre stille Würde und sah nur noch wie entrückt mit wehmütigem
Einverstehen aus seinem Dauern herüber. (V, 210)

Das Bild suggeriert den Vorgang der Geburt und der später erfolgenden
›Wendung‹ im Sinne der 8. Duineser Elegie. Erst »noch warm« von den
»Spuren eines bedrohten offenen Lebens« – man denkt an ein neugebore-
nes Kind – gerät das Ding bald zum Gegenüber seines Urhebers, – wenn
man so will, der Mutter, die es geboren hat. Es wird, wie das Kind der
8. Duineser Elegie, zum Du, das in Folge seiner ›Individuation‹ sich ›ver-
selbständigt‹ hat. Ästhetisch gesprochen steht diese ›Dingwerdung‹ für die
Loslösung des Dinges aus der Abhängigkeit vom Menschen bzw. vom
Künstler und somit vom Vergänglichen. Aus der ›Dingwerdung‹ wird
›Kunst-Dingwerdung‹:

Dieses Erlebnis war so merkwürdig und so stark, daß man begreift, wenn es
auf einmal Dinge gab, die nur um seinetwillen gemacht waren. Denn vielleicht
waren die frühesten Götterbilder Anwendungen dieser Erfahrung, Versuche,
aus Menschlichem und Tierischem, das man sah, ein Nicht-Mitsterbendes zu
formen, ein Dauerndes, ein Nächsthöheres: ein Ding. (V, 210)

Dieses Ding, das im Unterschied zum Menschen dem ›Hinschwinden‹


entkommt, soll aber, entsprechend der Funktionsbestimmung der Plastik
im ersten Teil des Vortrags, etwas sein, »darin man das wiedererkannte was
man liebte und das was man fürchtete und das Unbegreifliche in alledem«
(V, 210). Wie das Spielzeug im »Requiem« bezieht auch das ›Kunst-Ding‹
eine Mittel- bzw. Mittlerposition: »Und das Ding selbst, das, ununter-
drückbar, aus den Händen eines Menschen hervorgeht, ist [...] zwischen
Gott und Mensch, selbst nicht schön, aber lauter Liebe zur Schönheit und
lauter Sehnsucht nach ihr.« (V, 211) In struktureller Entsprechung zum
Spielzeug, das »zwischen mir und meinem Hut steht«, – so die poetische
Formel des »Requiems« –, steht das ›Kunst-Ding‹ zwischen uns und Gott.
Insofern lässt sich die Beziehung des Kindes zu den Kindheits-Dingen
und die des Künstlers, hier des Bildhauers, zum ›Kunst-Ding‹ auf dasselbe,
topologisch strukturierte Paradigma zurückführen.

125
2.1.3. Puppe, Ding und ›Kunst-Ding‹
Vor den Hintergrund des »Requiems« und der Rodin-Studie, in denen den
Kindheitsdingen eine durchweg positive Funktion attestiert wird, sei die
Puppe des Puppenaufsatzes gestellt, die mit den anderen Spielsachen, den
anderen ›Kinder-Dingen‹ stark kontrastiert. Die in diesem Essay geleistete
›Phänomenologie‹ der Puppe lässt sich hier in drei Oppositionen skizzie-
ren, deren Negativglied jeweils die Puppe bildet. Anhand einer dreifachen
Kontrastierung von Puppe mit Ding, Puppe mit ›Kunst-Ding‹ und Puppe
mit Spiegel-Gegenüber soll das Wesen der Puppe zunächst ex negativo be-
stimmt werden.
Man könnte Oppositionalität und Paradoxie zu den Kompositionsprin-
zipien des Puppenaufsatzes erklären, die auch den im Laufe des Diskurses
erfolgenden Umschlag der negativen in eine zumindest potentiell positi-
ve Phänomenologie determinieren. Schon die Rahmenstruktur des Essays
begründet seinen Kontrastcharakter: Die rückschauenden Reflexionen des
Essayisten über die Puppe von einst, die Kindheitspuppe, sind eingebettet
in eine Betrachtung der ›er-wach-senen‹ Puppen aus der Sammlung der
Lotte Pritzel, an denen sich eine der Kindheit geltende ›Exkavationsar-
beit‹ entfacht. Auch diese Wachspuppen werden gleich eingangs durch
eine Negation charakterisiert. Wie der Essayist feststellt, haben sie »alle
Unwirklichkeiten ihres eigenen Lebens angetreten« (VI, 1063). Damit wird
impliziert, dass auch die ›Puppenkindheiten‹ von einer Unwirklichkeit ge-
prägt waren, denn nach der Logik des Essays steht die Kindheitspuppe in
demselben Verhältnis zur Wachspuppe wie das mittels seiner Beziehung
zur Puppe beschriebene Kind zum Essayisten.13 Die Unwirklichkeit der

13 Ebrechts Verständnis von Puppe und Puppenseele als Identifikationsfiguren


für Rilke und / oder Personen aus seinem Umkreis ist äußerst problematisch.
Ebrecht schreibt etwa: »›Benvenuta‹ [Magda von Hattingberg] war für Rilke [...]
eine Puppenseele, aber eine, von der er zugleich die Erlösung und die Auflösung
der Puppenhaftigkeit erhoffte. Deshalb wollte er in ihr das Kind sehen, das sich
für ihn opfern mußte, um seine puppenhafte Existenz zu überwinden.« (Angeli-
ka Ebrecht: »Rettendes Herz und Puppenseele. Zur Psychologie der Fernliebe in
Rilkes Briefwechsel mit Magda von Hattingberg«. In: Anita Runge / Lieselotte
Steinbrügge [Hrsg.]: Die Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte
des Briefes, Stuttgart 1991, 147–171; hier 166) Hier wird so viel – auch Wider-
sprüchliches – in die Puppe und die Puppenseele ›hineingelesen‹, dass Ebrecht
dem poetischen Phänomen Puppe gar nicht gerecht wird. Sie läuft Gefahr,
diese Figuren zu beliebig einsetzbaren Repräsentanten für etwas der Dichtung
Externes zu instrumentalisieren; meines Erachtens bedarf es einer ›Phänome-
nologie‹ der Puppe und mit ihr der Puppenseele (die ich hoffe, durch meine

126
Kindheitspuppe manifestiert sich am anschaulichsten im Puppenblick, der
sogleich an Hand einer paradoxen Formel charakterisiert wird: Die Puppe
sei nämlich »nur im Augenaufschlag einen Moment wach, dann sofort
mit den unverhältnismäßigen berührbaren Augen offen hinschlafend [...]«.
(VI, 1064) Die offenen Augen schützen äußerste Wachheit vor, aber in
Wirklichkeit ist die Puppe ›blind‹ für ihre Umgebung. Der Puppenblick
kann als stellvertretend für das Wesen der Puppe schlechthin betrachtet
werden: Er täuscht Bewusstsein nur vor, so wie die Puppe als ganze Ge-
stalt nur vortäuscht, dem Kind ein wirkliches Gegenüber zu sein. Ferner
stellt der Essayist fest, die Puppe sei »undurchdringlich und in diesem
äußersten Zustand von vorweggenommener Dickigkeit unfähig, auch nur
einen Tropfen Wasser an irgend einer Stelle einzunehmen« (VI, 1064).
Auch in dieser Hinsicht hebt sie sich in negativer Weise von den anderen
Kindheits-Dingen ab, denen man das Gegenteil attestiert: Empfänglich-
keit, Durchdringbarkeit. Das erkläre sich, so der Essayist, »durch ihr [der
anderen Dinge] schönes Eingewöhntsein ins Menschliche« (VI, 1066).
Die anderen Kindheits-Dinge scheinen – »wenn man sie nur liebt« – am
Leben des Menschen teilzunehmen. In dem Maße, in dem der Mensch
eine Beziehung zu ihnen entwickelt, werden sie geradezu ›beseelt‹. Man
überlege sich,

wie dankbar Dinge sonst für Zärtlichkeiten sind, […] selbst die härteste Abnut-
zung noch als eine zehrende Liebkosung anschlägt, unter der sie zwar schwin-
den, aber gleichsam ein Herz annehmen, das sie umso stärker durchdringt,
jemehr [sic!] ihr Körper nachgiebt (: fast werden sie dadurch in einem höheren
Sinne sterblich und können jene Wehmut mit uns teilen, die unsere größte
ist –);…(VI, 1065)

Im »Requiem« wie hier in Bezug auf die anderen Kindheits-Dinge wird


der Akzent auf den empathischen Charakter der Beziehung des Kindes
zum Spielzeug gelegt. Gerade dies scheint für die Beziehung des Kindes
zur Puppe nicht zu gelten. Diese kann nicht im Sinne des Essays ›ins
Menschliche eingewöhnt‹ werden.
Es ist wohl die fundamentale Eigenschaftslosigkeit der Puppe, ihre inne-
re Gestaltlosigkeit sozusagen, die verhindert, dass Kind und Puppe, dieses
bare Menschenimitat, eine Beziehung eingehen wie Kind und Holzpferd.
Die Beziehung des Kindes zur Puppe steht unter dem Zeichen der Pro-

Interpretationsarbeit geliefert zu haben), um diese Figur in ihrer eigenwilligen


Identität, und das heißt nicht-instrumentalisierten Gestalt, zu erfassen.

127
jektion des Eigenen statt der Interaktion zweier eigenwilliger Gestalten.14
Die Interpretation des Gedichts »Vor Weihnachten 1914« hatte gezeigt,
dass der Mensch ein eigenes ›Herzgebirge‹ braucht, um eine in Allemanns
Sinne figurale Konstellation mit dem Steinbock des Firmaments bilden zu
können, und so müssen die Dinge auch einen Eigenwillen, eine Eigenge-
stalt besitzen, um in einen ›wirklichen‹ Bezug zum Kind treten zu können.
Als Projektion und Imitat des Kindes erfüllt die Puppe diese Konditionen
nicht. Deswegen wirft man ihr auch vor, sie sei »so bodenlos ohne Phanta-
sie« (VI, 1067). Der Zusammenhang zwischen ihrem Abbildcharakter und
der ihr bescheinigten Phantasielosigkeit wird in der Kontrastierung mit
der Marionette deutlich: »[...] die Marionette hat nichts als Phantasie. Die
Puppe hat keine und ist genau um so viel weniger als ein Ding, als die Ma-
rionette mehr ist.« (VI, 1069) Beide sind auf der konzeptionellen Ebene als
Abbilder des Menschen zu verstehen, nur dass die Puppe den Anspruch des
Mimetischen weitgehend erfüllt, während sich die Marionette ein hohes
Maß an Stilisierung und Eigenwilligkeit herausnimmt. Ihr Höchstmaß an
Phantasie ist darauf zurückzuführen. Der Puppe fehlt gerade diese frucht-
bare Diskrepanz. Dadurch wirkt sie eintönig und phantasielos. Wie die
in der äußeren Gestalt ›unvollkommenen‹ Spielsachen – »der Kopf eines
Kaspars, der nicht umzubringen war, ein halbzerbrochenes Pferd« –, die
»von Natur häßlich und dürftig« und gerade »deshalb voll eigener Ansich-
ten« waren, hebt sich die Marionette positiv von der Puppe ab, die wie ein
Parasit nur »den unaufhörlichen Goldregen unserer Erfindung« (VI, 1068)
kennt.15 Die Puppe wird letztlich zum »halben Gegenstand« degradiert (VI,
1070). Angesichts dieser durchgehend negativen Kontrastierung der Puppe
mit den anderen Kindheitsdingen bzw. mit den Dingen überhaupt könnte
man die Puppe zu einer Art ›Anti-(Kinder)-Ding‹ erklären.
Vom ›Kunst-Ding‹ scheint sich die Puppe auf gleichermaßen oppo-
sitionelle Weise abzuheben. Das zeigt ein Vergleich mit der Sphinx, die
geradezu als ›Kunst-Ding‹ in idealer Form betrachtet werden kann, deren
vollendete Gestalt Rilke denn auch sehr beeindruckte, wie er in einem Brief
vom 20. 1. 1907 an Clara Rilke anlässlich ihrer bevorstehenden Ägypten-
reise zum Ausdruck bringt. Rilke schreibt:

14 Vgl. Steiner, der die Kinderpuppen als »Projektion des eigenen Ichs« im Sinne
von »Abfall unseres Selbsts« bezeichnet. Steiner: »Motiv der Puppe«, 138.
15 Hierin dürfte auch eine latente Kritik an der mimetischen Kunst und die Apo-
logie einer aussparenden, andeutenden Ästhetik herauszulesen sein.

128
Wir stellen Bilder aus uns hinaus, wir nehmen jeden Anlaß wahr, weltbildend
zu werden, wir errichten Ding um Ding um unser Inneres herum –: hier aber
war eine Wirklichkeit, die sich von außen in diese Züge warf, die nichts als Stein
sind. Die Morgen von Jahrtausenden, ein Volk von Winden, der Aufstieg und
Niedergang unzähliger Sterne, der Sternbilder großes Dastehen, die Glut dieser
Himmel und ihre Weite war da und war immer wieder da, einwirkend, nicht
ablassend von der tiefen Gleichgültigkeit dieses Gesichtes, so lange, bis es zu
schauen schien, bis es alle Anzeichen eines Schauens genau dieser Bilder aufwies,
bis es sich aufhob wie das Gesicht zu einem Innern, darin alles dies enthalten
war und Anlaß und Lust und Not zu alledem. Und da, in dem Augenblick,
da es voll war von allem Gegenüber und geformt von seiner Umgebung, war
ihm auch schon der Ausdruck hinausgewachsen über sie. Nun wars, als ob
das Weltall ein Gesicht hätte, und dieses Gesicht warf Bilder darüber hinaus,
bis über die äußersten Gestirne hinaus, dorthin, wo nie noch Bilder gewesen
waren. (RBr I, 155f.)

Bei aller formeller Ähnlichkeit der beiden Gestalten Puppe und Sphinx –
im weiteren Sinne ›Plastiken‹, bei denen das Antlitz dominiert – kann es ei-
ne radikalere Gegensätzlichkeit kaum geben. Die Puppe bildet die negative
Folie, vor der die Sphinx sich positiv abhebt. Denn der Sphinx werden alle
wesentlichen Qualitäten zugeschrieben, derer die Puppe entbehrt. Zweifels-
ohne stellt die Sphinx eine potenzierte Form des ›Kunst-Dings‹ dar,16 die
mit der Puppe als nur ›halbem Gegenstand‹ umso stärker kontrastiert.
Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Gestalten spiegelt sich in der gan-
zen Topologie des im Brief entworfenen Bilderkomplexes. Während das
Kind sich der Puppe als Projektionsobjekts bedient, in das es seine eige-
nen Affekte verlagert, sie also als Projektion seines Inneren dient,17 erhebt
sich die Sphinx in der hier beschriebenen Transformation zur Projektion
einer höheren Wirklichkeit, einer »Wirklichkeit, die sich von außen« –
also aus entgegengesetzter Richtung – »in diese Züge warf«. Die steinerne

16 Diese formell als ›Kunst-Ding‹ einzustufende Plastik bezeichnet Allemann als


»ein[en] Vorbegriff der Figur«. Allemann: Zeit und Figur, 225.
17 Stephens nennt sie in diesem Sinne »eine Funktion der Subjektivität, eine Pro-
jektion des Ich«. Anthony Stephens: »Rilkes Essay Puppen und das Problem
des geteilten Ich«. In: Käte Hamburger (Hrsg.): Rilke in neuer Sicht, Stuttgart
1971, 159–72; hier 167f.. Obwohl es Angelika Ebrecht gelingt, einige wesentliche
Momente der Puppenmotivik biographisch zu beleuchten, vernachlässigt sie im
diagnostischen Eifer deren poetische Dimension und lässt sich dazu verleiten,
den Essay zu ›pathologisieren‹. Wie sie die Ergebnisse ihrer Untersuchung zu-
sammenfassend präsentiert: »Briefe wie Puppen waren für [Rilke] Medien seines
Narzißmus und zugleich des Verlangens, ihn zu überwinden.« Rilke habe sich
die Briefpartner – wie das Kind die Puppe – »mit Macht an[geeignet] und
seinem Größenselbst [untergeordnet]«. Ebrecht: »Rettendes Herz«, 168.

129
Sphinx ist zunächst genauso undurchdringlich, genauso gleichgültig wie
die Puppe, aber es haben, so Rilke, die Sternbilder auf ihr Gesicht »so
lange [eingewirkt], bis es zu schauen schien, bis es alle Anzeichen eines
Schauens genau dieser Bilder aufwies«. In der Verwandlung von äußerster
Undurchdringlichkeit in höchste Aufnahmefähigkeit wird die Sphinx zu
einer Art Spiegel, der im Akt des Schauens die in sich hineingenommenen
Bilder zurückprojiziert.18 Dagegen die Puppe, deren leerer Blick im krassen
Gegensatz steht zum potenzierten Blick der Sphinx: die Augen der Puppe
sind »wohl kaum imstande zu unterscheiden, ob das mechanische Lid auf
ihnen liegt, oder jener andere Gegenstand, die Luft« (VI, 1064), geschweige
denn, einen solchen fruchtbaren Bezug zum Weltraum herzustellen.
Die Positiv-Negativ-Entsprechung der beiden Gestalten erstreckt sich
auch auf den nächsten Schritt in der Transformation der Sphinx zur Quasi-
Figur. Denn »in dem Augenblick da es voll war von allem Gegenüber und
geformt von seiner Umgebung, war ihm auch schon der Ausdruck hinaus-
gewachsen über sie«. Die Durchdringung der Sphinx mit Weltraum löst
eine gegenseitige, sich stets steigernde Bewegung aus, wobei die Bilder im
Prozess von Spiegelung und Widerspiegelung in immer höhere Dimensi-
onen vorzudringen scheinen, bis sie in Bereiche vorstoßen, »wo nie noch
Bilder gewesen waren«. Eine Wechseldynamik wird in Gang gesetzt, die in
eine für den Menschen kaum fassbare Potenzierung mündet.19 Dagegen die
Puppe, an die wir »unsere lauterste Wärme verschwenden« oder, – um das
drastischere Bild in einem der Entwürfe zur unvollendeten Kindheitselegie
zu zitieren –, die mit den in sie hineinprojizierten Anteilen des Kindes
›abstürzt‹. Diese Gegensätzlichkeit zeigt sich auch in einer Gegenüberstel-
lung des ›Kunst-Dings‹, wie es die Rodin-Studie charakterisiert, und der
Puppe. Das ›Kunst-Ding‹ löst sich zwar auch von seinem Urheber, dem
Menschen, ab, sieht aber »aus seinem Dauern herüber« und bietet dem
Menschen noch Halt, indem es sich in »ein Nicht-Mitsterbendes« verwan-
delt. Die Puppe dagegen, die sich auch ›verselbständigt‹, bedeutet nicht
stellvertretendes Aufgehobensein im Unvergänglichen, sondern ›Verrat‹
und ›Abbruch‹.

18 Diesem Motiv begegnet man erneut im Gedicht »Welt war in dem Antlitz
[...]«.
19 Zur Sphinx-Figur bemerkt Engel, in ihrem Gesicht nehme »alles Amorphe im
Menschlichen eine so gültige Form an, daß diese gewissermaßen zur Formung
schlechthin geworden ist, die den unerreichbaren transzendenten Gesetzmäßig-
keiten der Sterne das Gleichgewicht hält.« (Engel: Duineser Elegien, 231.)

130
Es zeigt sich ein weiterer Kontrast: Während die Beziehung des Kin-
des zu den Kindheits-Dingen im Akt eines Teilens im Sinne gegenseitiger
Durchdringung verkörpert wird und somit die Beziehung des Künstlers
zum Kunst-Ding und der Sphinx zum Weltraum präfiguriert,20 bedeu-
tet ›Teilen‹ bei Kind und Puppe Aufspaltung: statt einer ›Verdoppelung‹,
sprich Potenzierung des Daseins, ein Halbieren unter Anheimgabe unseres
›Kostbarsten‹: »unsere[r] Wärme«.
In ihrer Funktion als Gegenüber des Kindes in oppositioneller Entspre-
chung zur Sphinx als Gegenüber des Weltraums gründet aber die eigent-
liche Bedeutung der Puppe, auch wenn sie hier ihre negativste Wirkung
zu entfalten scheint. In der späteren Dichtung Rilkes spielt das Gegenüber
eine bedeutende Rolle schlechthin. An der Beziehung des Kindes zur Pup-
pe in ihrer Funktion als Gegenüber entzündet sich auch die Kindheitsthe-
matik im Werk Rilkes in ihrer ganzen Komplexität.

2.2. Kind und Gegenüber

2.2.1. Das Gegenüber als Spiegel


In dem oben beschriebenen Beziehungsparadigma erwies sich die Sphinx
als ideale Spiegelungsinstanz, die die in sie hineinprojizierten Bilder aus
dem Weltraum zurückprojizierte, so dass in Folge der wechselseitigen
Durchdringung und Potenzierung der Kräfte immer weitere Dimensio-
nen der ›Wirk-lichkeit‹ sich eröffneten. So wird die Sphinx zum idealen
Gegenüber im Rilke’schen Sinne. In starkem Kontrast hierzu wurde die
Puppe des Puppenaufsatzes und der unvollendeten Kindheitselegie als eine
Art ›Anti-Spiegel‹ identifiziert, die mit den in sie hineinprojizierten Affek-
ten des Kindes ›abstürzt‹, statt sie in potenzierter Form wiederzugeben.
Der Essay Puppen enthält weitere Indizien für den Anti-Spiegel-Charakter
dieses kindlichen Gegenübers.

20 In der Nebeneinanderstellung dieser drei Beziehungen zeigt sich eine interessan-


te Entwicklung. Während für das ›Kunst-Ding‹ in Rilke’schem Sinne die Fähig-
keit, sich letztlich vom Menschen abzulösen und so Autarkie zu erlangen, von
wesentlicher Bedeutung ist, weil es sein ›Dauern‹ über das Menschliche hinaus
ermöglicht, erweist sich das Moment der Interaktion, das in der Beziehung des
Kindes zu den Kindheitsdingen besonders ausgeprägt war, als entscheidender
Bestandteil der schon quasi-›figuralen‹ Beziehung der Sphinx zum Weltraum.

131
Die der Puppe attribuierten Eigenschaften der Scheinhaftigkeit und der
Hohlheit erweisen sich als negative Äquivalente konstitutiver Eigenschaften
des idealen Spiegels im Rilke’schen Sinne. Scheinhaftigkeit steht gegen
potenzierten Widerschein, Hohlheit gegen transzendente Fülle. Denn der
Rilke’sche Spiegel in Idealform stellt eine reflektiv-rezeptive Instanz dar,
die ›aufhebt‹ – in zweifachem Sinne – und wiedergibt zugleich.21 Und
doch macht der Essayist des Puppenaufsatzes die Puppe zum Gleichnis
Gottes, indem er sie bezeichnet als »die erste, die uns jenes überlebensgroße
Schweigen antat, das uns später immer wieder aus dem Raume anhauchte,
wenn wir irgendwo an die Grenze unseres Daseins traten«. (VI, 1068f.)
Und er fährt fort: »Ihr gegenüber […] erfuhren wir zuerst [...] jenes Hohle
im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht
die ganze, sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Abgründe
hinüberhübe« (VI, 1969).
Ich möchte die Bedeutung dieses Bildes an Hand eines motivischen
Vergleichs veranschaulichen. Ich rufe zum einen das Spiegelsonett aus den
Sonetten an Orpheus in Erinnerung mit seiner Beschwörung des Spiegels
als »Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben / erfüllten Zwischenräume
der Zeit« (Sonett II.3, I, 752). Ferner die 9. Duineser Elegie, wo es heißt:
»Zwischen den Hämmern besteht / unser Herz [...]« (I, 719).22 In diesen
zwei Motiven wie im Wort von der Puppe geht es um die ›Zwischenräu-
me‹ der Zeit. Im Spiegelsonett schafft der Spiegel, der aus lauter Löchern
besteht, erst den ›eigentlichen‹ Raum, den Raum ›gesteigerten Daseins‹. In
struktureller Parallele zu diesem Motiv steht dann die Wendung in der 9.
Duineser Elegie, bei der die Hämmer des Herzens in etwa den imaginierten
›Löchern‹ des Spiegels entsprechen. Dieses Bild stellt den zeitlichen Bezug
sogar direkt her, denn die Hämmer darf man wohl als ein Schlagen des
Herzens, aber auch auf der metaphorischen Ebene als ein Schlagen der
chronometrischen Zeit verstehen. Dabei passiert das ›Eigentliche‹ ›zwischen
den Hämmern‹. In beiden Fällen erhält der ›Zwischenraum‹ eine sehr posi-
tive Bedeutung. Im Spiegelsonett entfaltet das Motiv seine ganze Tragweite
erst in der Übertragung auf die ästhetische Sinnebene: Der Zwischenraum,
den der Spiegel schafft, ist letztlich als Metapher für den dichterischen

21 Vgl. Kunz: Narziß, 33.


22 Siehe hierzu Kunz: Narziß, 29ff. Vgl. auch Stoljars knappe, aber hervorragende
Erläuterungen zum Spiegelsonett (Margret Stoljar: »Mirror and Self in Symbo-
list and Post-Symbolist Poetry«. In: MLR 85: 2 [1990], 362–72; hier 371f..)

132
›Raum‹ zu verstehen,23 in dem das Gespiegelte die zu spiegelnde Welt
transzendiert. Der Spiegel erhöht das von ihm Aufgenommene, indem er
es im selektiv-ästhetischen Prozess der Spiegelung – man kann lesen: der
Kunstwerdung – in Bilder verwandelt.24 Aus Realität wird ›Wirk-lichkeit‹,
wobei der Glanz des Spiegels die ›Wirk-kraft‹ von Letzterem versinnbild-
licht.25 Folglich wird die im Spiegelraum wirksame Zeit als die Chronizität
transzendierende, ›wirkliche‹ Zeit hingestellt.
Wenn es also von der Puppe heißt, »[i]hr gegenüber erfuhren wir zuerst
[...] jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn
ihn dann nicht die ganze, sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses,
über Abgründe hinüberhübe« (VI, 1069), so schält sich ein auf Oppositio-
nen aufbauender Motivzusammenhang zwischen diesem Bild und den zwei
oben angeführten heraus, der mehrfache Parallelen in der Struktur der ein-
zelnen Motive aufweist. In den ›Zwischenräumen der Zeit‹ bzw. im ›Herz-
raum‹ zwischen den Herzschlägen ist der Raum des ›wahren‹ Bezugs zu
finden; schließlich erhält das Herz seit der programmatischen ›Wendung‹
(das gleichnamige Gedicht wurde kurz nach Puppen geschrieben) ausdrück-
lich die Funktion einer ›Bezug‹ stiftenden Instanz. Auf der strukturellen
Ebene verbindet das Bild der »Herzpause«, von der in Puppen die Rede ist,
die beiden Motive aus Sonett und Elegie. Das Bild der ›Herzpause‹ erhält
denselben räumlichen Charakter, wie ihn das Spiegelmotiv im Sonett be-
sitzt, nur, dass sie keinen ›aufhebenden‹, d.h. rezeptiv-reflektorischen Raum
darstellt, sondern zum Abgrund erklärt wird, über den man von der Natur
›hinübergehoben‹ werden muss.
Während also die Zwischenräume der Zeit – der Spiegel – wie der
›Herzraum‹ zwischen den Herzschlägen Bezug stiften, einen Raum dar-
stellen, in dem ›gesteigertes Dasein‹ waltet, stellt sich der Raum, den wir
mittels der Puppe erleben, als das genaue Gegenteil heraus. Das scheint
den Anti-Spiegel-Charakter der Puppe zu bestätigen. Dem entspricht die
äußere Gestalt der Puppe wie ihre psychische Funktion für das Kind.
Schließlich ist sie doch, wie der Essay anfangs betont, der Inbegriff einer
Scheinexistenz im negativen Sinne; sie ist Dasein vorgaukelnde Attrap-
pe. Um die Charakterisierung des Essayisten zu zitieren: Sie gleicht einer

23 Vgl. Allemann: Zeit und Figur, 135f.


24 Vgl. Allemann: Zeit und Figur, 145.
25 In seiner Verwendung des Spiegelmotivs schöpft Rilke natürlich aus einer lan-
gen, letztlich auf Platon zurückgehenden Tradition. Mich wird hier aber ledig-
lich die spezifisch Rilke’sche Qualität des Motivs beschäftigen.

133
»oberflächlich bemalte[n] Wasserleiche«, die auf den aufwallenden Affekten
des Kindes ›hochgeschwemmt‹ und als ›Abfall‹ zurückgelassen wird, sobald
sich das Kind wieder beruhigt. Sie ist also weit davon entfernt, wie der
ideale Spiegel einen rezeptiv-reflektorischen Innenraum zu bilden, der das
Aufgenommene in sich hineinnimmt und dort auf- und emporhebt im
übertragenen Sinne.26 Die bereits bemerkte Undurchdringlichkeit der Pup-
pe – sie sei »unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgend einer Stelle
einzunehmen« (VI, 1064) – ist auch in diesem Sinne zu verstehen. Sie ist
weder rezeptiv noch reflektorisch. Statt Glanz des geläuterten Widerscheins
zu erzeugen, vermittelt sie Mattheit, Stumpfheit. Man beschreibt sie als
»jenes beschäftigungslose Geschöpf«, das »sich schwer und dumm zu sprei-
zen« pflegt (VI, 1068). In ihrer psychischen Funktion als Projektionsobjekt
für das Kind nimmt sie den Charakter eines Scheingegenübers an, das in
keine ›verhaltende‹ Beziehung zum Kind tritt, wie es das ideale Gegenüber
tut,27 sondern nur vortäuscht, ein solches zu sein, wobei die unvermeid-
liche ›Ent-täuschung‹ umso gravierendere Folgen für das Kind hat. Die
Puppe entlarvt sich, so der Essay, als Falle, als »grausige[r] Fremdkörper,
an den wir unsere lauterste Wärme verschwendet haben« (VI, 1067).
Ich kehre zurück zum Ausgangspunkt für den Vergleich zwischen Pup-
pe und Spiegel. Das Bild von der Puppe als Gestalt, an der wir »jenes
Hohle im Gefühl, jene Herzpause« erfahren, enthält die Andeutung eines
potentiellen, für Rilkes Dichtung charakteristischen Umschlags der mate-
riellen, äußerst negativ bestimmten Puppengestalt in eine transzendente,
wenn auch wieder zunächst negativ bestimmte: Was gerade erst zum hal-
ben Gegenstand degradiert worden war, wird doch zum Gleichnis für Gott
als einer von jenen, die »vor allem dadurch berühmt geworden sind, daß
sie uns anschwiegen« (VI, 1068). Hierin deutet sich das erst am Schluss des
Essays in vollem Umfang realisierte, positive Potential der Puppe an.28 Die
Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern die Puppe auch im positiven

26 Vgl. Kunz: Narziß, 33; 36.


27 Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
28 Anthony Stephens vergleicht das Schweigen der Puppe mit dem Warten vor der
Puppenbühne in der 4. Duineser Elegie. (Stephens: »Problem des geteilten Ich«,
166.) Meines Erachtens leidet seine Deutung darunter, dass er es versäumt, die
Puppengestalt des Essays von der der Elegien zu unterscheiden. Bei der Puppe
in beiderlei Gestalt gehe es darum, so Stephens, »sich mit ihrem völligen Mangel
an jeglichem menschlichen Gehalt zu identifizieren, [...] diesem Nichtsein des
Ich, [...] eine dieser ›Herzpausen‹ mit absoluter Redlichkeit auszuhalten – in
der Hoffnung, dadurch die verlorene ›Einigkeit‹ des Ich wiederzugewinnen«
(ebenda, 166f.). Dadurch wird die Puppe zum absoluten Nichts erklärt, das das

134
Sinne eine gewisse Spiegelfunktion annimmt, kann erst in Zusammenhang
mit der Deutung des letzten Teils des Essays erfolgen.
Für das Motiv des Gegenübers als Spiegel des Ichs, das in Rilkes Werk
vielerorts dichterische Gestaltung findet, liefert Ovids Narziss-Mythos das
Paradigma, auch wenn das Sujet, das Rilke – und nicht nur ihn – be-
schäftigt, in seinem Werk entscheidende Eigenimpulse erhält.29 Auch bei
eingreifenden Veränderungen des Motivs bleibt aber die Ovidsche Gestalt
Bezugspunkt für die Rilke’sche Narzissgestalt als diejenige, die sich in das
vermeintliche Gegenüber im Quell – in ihr Spiegelbild – verliebt: die trotz
– oder gar wegen – der späten Erkenntnis, dass es sich bei dieser Erschei-
nung um ihr Abbild handelt, von Sehnsucht nach ihr verzehrt wird und
daran stirbt. Der Spiegel in Form des Quells bildet die wichtigste Kom-
ponente des Mythos, für Narziss den existentiellen Bezugspunkt. Narziss
und Spiegel gehören unweigerlich zusammen.
Hatte ich eine zunächst vorläufige Korrespondenz zwischen Puppe und
Spiegel konstatiert, so will ich jetzt eine heuristische Gleichung aufstellen,
die im Folgenden auf ihre Validität hin überprüft werden soll: Das Kind
verhält sich zur Puppe wie Narziss zum Spiegel (sprich zum Quell).30 Die
anzunehmende Ähnlichkeit dieser beiden Beziehungskonstellationen soll
es ermöglichen, die Bedeutung des Gegenübers im allgemeineren Sinne zu
erörtern. Zunächst ist festzuhalten: Die Spiegelung des Narziss im Wasser
führt zu einer Verdoppelung seiner Gestalt. Ihr entspricht in etwa die
Verdoppelung, die das Kind in der Begegnung mit der Puppe erfährt.
Wie der Essay sagt, veranlasst die Puppe das Kind zur Spaltung seines
»Wesen[s ...] in Teil und Gegenteil«. So wie Narziss sein Gegenüber selbst
schafft, zu dem er dann eine Beziehung aufzunehmen versucht, schafft sich
das Kind selbst ein ›Gegenteil‹: die Puppe. Die unvollendete Kindheits-
elegie beschreibt, wie »das Kind an dem neidlos / drüben geschaffenen

Kind nicht ›re-flektiert‹, sondern auf sich selbst ›zurückwirft‹. Gerade in der
Elegie kann ich eine solch negative Bestimmung der Puppe nicht ausmachen.
29 Unter anderem schrieb Rilke zwei gleichnamige Gedichte, die einen direkten
Bezug zur Narziss-Gestalt herstellen (›Narziß‹, II, 56, und ›Narziß‹, II, 56f.), auf
die ich aber nicht näher eingehen werde, da es der Rahmen dieser Untersuchung
nicht erlaubt, sie in der gebotenen Differenziertheit zu behandeln.
30 Die mir bekannten Interpretationen des Puppenmotivs gehen auf den Bezug der
Puppe zu den beiden für Rilkes Dichtung wesentlichen Motiven Spiegel und
Narziss höchstens marginal bzw. indirekt ein. Auch wenn Rilke keine explizite
Verknüpfung dieser Motive vornimmt, treten bei einer sorgfältigen Lektüre
der einschlägigen Texte Hinweise auf verborgene motivische Verflechtungen zu
Tage, die es hier zu beleuchten gilt.

135
Du sich erprobte und abhob – / und sich erfuhr, seine Kräfte an zwei
verteilend« (II, 459). Als Verdoppelung des Selbst stellt das auf diese Weise
geschaffene Gegenüber aber kein qualitativ zu unterscheidendes Du dar,
sondern lediglich eine ›Zweitausgabe‹ des Gespiegelten selbst. Dass die
auf diese Weise erzeugte ›Reproduktion‹ eine Reduktion des Gespiegelten
darstellt, wird im Vorspann des Mythos an der Figur der Echo gezeigt, die
dazu verdammt wird, stets das von Narziss zuletzt Gesprochene zu wieder-
holen. Stumpfsinniges Mimen tritt an die Stelle des Dialogs.
Dass für das Kind die Puppe erst die Vorstufe zu einem dialogfähigen
Gegenüber darstellt, wird im Essay explizit zum Ausdruck gebracht. Die
Puppe ist nicht willig bzw. fähig, dem Kind zu erwidern. Die Verweigerung
gehört zu ihrem Wesen. Für Narziss wie für das Kind bleibt denn auch
die Begegnung mit dem Scheingegenüber unbefriedigend. So wie Narziss
seine Liebe an sein Spiegelbild ›verschwendet‹, »verschwendet« das Kind an
der Puppe seine »lauterste Wärme«. Der Puppenaufsatz zeichnet die Puppe
implizit als hohlen – statt ›erfüllten‹, idealen – Spiegel, zu dem das Kind
eine ›narzisstische‹ Beziehung im Sinne des Ovidschen Mythos aufnimmt.
Der Essay spricht nämlich von »diesem stillhaltenden Mannequin«, an dem
wir »die erste flaumige Seide unseres Herzens in Falten […] legen« (VI,
1067). Um diesen Hohlraum legt das Kind sein Kostbarstes, – eben jene
»erste flaumige Seide [seines] Herzens«. In diesem Spiegelraum ›besteht
unser Herz‹ – um das Wort der 9. Duineser Elegie zu zitieren – eben nicht,
sondern das Kind droht, in den Abgrund ›abzustürzen‹, den die Puppe
schafft, wie die Entwürfe zur unvollendeten Kindheitselegie überdeutlich
zum Ausdruck bringen. Ebenso wenig kann Narziss’ Herz in der Begeg-
nung mit seinem Abbild ›bestehen‹. Im Gegenteil, gerade diese Begegnung
führt seinen ›Herz‹-Tod herbei.
Indem er das plötzliche Umschlagen jener Verdoppelung des Selbst in
seinen Gegenteil, in einen ›Fremdkörper‹, thematisiert,31 verlässt Rilke den
Rahmen der mythischen Vorlage, die die Basis für den hier angestellten
Vergleich zwischen Narziss und Quell einerseits und Kind und Puppe
andererseits lieferte, denn das Fremdheitsgefühl, das sich beim Kind ein-
stellt seinem ›Puppenspiegelbild‹ gegenüber, wird im Ovid’schen Mythos
nicht thematisiert.32 Spiegelungsvorgänge, wie sie bei Rilke in verschiede-

31 An der entsprechenden Stelle der unvollendeten Kindheitselegie wird die Puppe


bezeichnet als »die gute, das eben / zärtliche Spielzeug, […] [das], umarmt noch,
schon fremdlings / schrecke« (II, 459).
32 Im Puppenmotiv sieht Stephens »zwei grundlegende Erlebnismöglichkeiten«

136
ner dichterischer Gestalt zu finden sind, bergen immer die Gefahr eines
Umschlagens von Identifikation in schroffe Gegenüberstellung; das zeigt
sich am prägnantesten in der Spiegelepisode der Aufzeichnungen.
Am Motiv der verschwendeten Liebe bzw. Wärme zeigt sich wiederum
der Kontrast zwischen der Spiegelung des Narziss im Quell bzw. des Kindes
in der Puppe einerseits und der Selbstbespiegelung des Engels andererseits.
In der 1. Duineser Elegie werden die Engel nämlich als in sich zurückschöp-
fende Spiegel beschworen, als »Spiegel: die die entströmte eigene Schön-
heit / wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz« (I, 689). Darin besteht
die Besonderheit des Engels: Statt sein Innerstes zu veräußerlichen, sich,
wie die Menschen, zu ›verausgaben‹, zu verflüchtigen, vermag er, dieses zu
bewahren, wieder zu schöpfen, denn Spiegel und Gespiegeltes bilden eine
Identität. Das Kind dagegen ›investiert‹ sein seelisches ›Vermögen‹ – so das
Bild in Puppen – in eine Attrappe und verlangt eine ›Kostenaufstellung‹
seiner seelischen ›Ausgaben‹. Er verlangt zu erfahren, »Posten für Posten,
wofür sie [die Puppe] unsere Wärme eigentlich gebrauche, was aus diesem
ganzen Vermögen geworden sei.« (VI, 1068) Um in dieser Bildsphäre zu
bleiben, bekommt der Engel beim ›Wiederschöpfen‹ des Entströmten ›den
vollen Betrag‹ zurück, ja gewissermaßen ›mit Zinsen‹, heißt es doch in der
2. Duineser Elegie:

[...] Fangen die Engel


wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes,
oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig
unseres Wesens dabei? [...]
(I, 690)

Während die Spiegelung des Kindes durch die Puppe letztlich in Aufspal-
tung und Verlust der in die Puppe projizierten ›Hälfte‹ mündet, und die
des Engels in einem ewigen Kreislauf autarker Selbstbespiegelung besteht,
entwirft Rilke in den Gedichten aus dem Umkreis: Spiegelungen (II, 181f.) ein
drittes Beziehungsmuster. Es geht dort um die fruchtbare Beziehung, die
die Frau – im Gegensatz zum Mann – zum Spiegel aufzunehmen vermag.

– »Fremdheit« und »Beteiligung« – zum Vorschein kommen, die beide ihren


Ursprung in der Kindheit haben. (Stephens: »Problem des geteilten Ich«, 159
bzw. 162.) Das Motiv der Fremdheit im hier verwendeten Sinne ist mit dem
der ›Verdrängung‹ in Verbindung zu bringen, wie sie Rilke im wichtigen Brief
vom 8. November 1915 verwendet. Vgl. auch die erst nach Rilkes Tod verfasste
Schrift Das Unbehagen in der Kultur von Sigmund Freud, die einen Zusammen-
hang zwischen Primärnarzissmus und ›Entfremdung‹ herstellt.

137
Für sie bedeutet Verdoppelung durch den Spiegel nicht Aufspaltung, son-
dern Vervollkommnung: »Der Frauen Dürsten nach sich selber stillts.«
Erst in der Verdoppelung, die die Spiegelung vollzieht, wird Ganzheit
hergestellt: »Sie [die Frauen] müssen doppelt sein, dann sind sie ganz.« (II,
181) Sich Spiegelnde und Gespiegelte gehen eine komplementäre Bindung
ein, die zu einem erhöhten Dasein führt:

Oh, tritt, Geliebte, vor das klare Glas,


auf daß du seist. Daß zwischen dir und dir
die Spannung sich erneue und das Maß
für das, was unaussprechlich ist in ihr.

Gesteigert um dein Bild: wie bist du reich.


(II, 181f.)

Hier erfüllt der Spiegel die ihm im Spiegelsonett zugedachte ideale Funkti-
on. Anders beim Mann. »Wir«, so das männliche lyrische Ich des Gedichts,
»fallen in der Spiegel Glanz / wie in geheimen Abfluß unseres Wesens;«
die Frauen »aber finden ihres dort: sie lesens« (II, 181). Das Kind des Pup-
penaufsatzes ist in dieser Hinsicht dem männlichen Subjekt gleichzusetzen,
für den der Spiegel den »geheimen Abfluß unseres Wesens« darstellt. Die
Puppe liege, so der Essay, »tiefer von Natur, so konnten wir unmerklich
gegen sie abfließen« (VI, 1070). Allerdings wohnt diesem Bild ein positives
Moment inne, denn wir konnten uns auch »in ihr [der Puppe] sammeln«.
Zwar findet das Kind sein Wesen in der Puppe nicht so deutlich widerge-
spiegelt wie die Frau beim Anblick ihres Spiegelbildes, die ihr Wesen im
Spiegel ›lesen‹ kann, aber das Kind kann »die neuen Umgebungen in ihr
erkennen«, – »wenn auch ein wenig trübe« (VI, 1070).
Das Spiegelmotiv in seiner ganzen Kontradiktorik manifestiert sich
in diesem Bildkomplex des Essays in aller Deutlichkeit. Hier werden der
Puppe andeutungsweise die positiven Attribute eines rezeptiven Spiegels
bescheinigt; sie fungiert als bewahrender Raum, als aufsammelndes Gefäß,
das verhindert, dass das Kind ›verfließt‹.33 Die Vorstellung der Gefäßhaftig-
keit des Spiegels hat Rilke oft formuliert. Die hier verwendete Wasserme-
taphorik untermauert aber auch die Verknüpfung zwischen Spiegel- und
Narzissmotiv. Auch sei angemerkt, dass – tiefenpsychologisch gesprochen
– in der Vorstellung der Puppe als eines vor dem Verfließen bewahrenden

33 Vgl. in diesem Kontext die Etymologie des Wortes ›Balg‹, wie sie am Ende der
Interpretation des Puppenessays erörtert wird.

138
Gefäßes diese eine Ich-stärkende Funktion erhält. Schließlich prägen auch
Bilder des ›Verfließens‹ – das zeigte schon die Interpretation des »Requi-
ems«, – nicht selten mystische Vereinigungsvisionen. Alle diese Kompo-
nenten des Spiegelmotivs in seiner Rilke’schen Eigenart scheinen in das
Puppenmotiv selbst einzufließen.

2.2.2. Die Geliebte als Gegenüber: Zwei Gedichtinterpretationen


Nachdem sich signifikante strukturelle Entsprechungen in der Beziehung
des Kindes zur Puppe und des Narziss zum Quell herauskristallisierten,
soll jetzt die für den Menschen wohl bedeutendste Form des Gegenübers
näher angeschaut werden: die Gestalt der (bzw. des) Geliebten. Auch diese
Beziehungskonstellation und die Art, wie sie in Rilkes Dichtung Eingang
findet, prägt das Puppenmotiv fundamental. Eine nähere Betrachtung die-
ser Beziehung, wie sie in zwei Gedichten Rilkes thematisiert wird, soll die
Konturen der Puppengestalt deutlicher erscheinen lassen und zu einem
näheren Verständnis ihrer Bedeutung für die Kindheitsthematik im Werk
dieses Dichters beitragen. Zunächst die Texte:

<An die Erwartete>


.....
komm wann du sollst. Dies alles wird durch mich
hindurchgegangen sein zu deinem Atem.
Ich habs, um deinetwillen, namenlos
lang angesehen mit dem Blick der Armut
und so geliebt als tränkst du es schon ein.

Und doch: bedenk ichs, daß ich dieses, mich,


Gestirne, Blumen und den schönen Wurf
der Vögel aus nachwinkendem Gesträuch,
der Wolken Hochmut und was nachts der Wind
mir antun konnte, mich aus einem Wesen
hinüberwandelnd in ein nächstes, – daß
ich eines nach dem andern, denn ich bins,
bin was der Tränke Rauschen mir im Ohr
zurückließ, bin der Wohlgeschmack, den einst
die schöne Frucht an meinen Lippen ausgab,–
daß ich dies alles, wenn du einmal da bist,
bis rückwärts zu des Kindes niederm Anblick
in Blumenkelche, da die Wiesen hochstehn,
ja bis zu einem Lächeln meiner Mutter
das ich vielleicht, gedrängt von deinem Dasein,
annehme wie Entwendetes–, daß ich

139
dann unerschöpflich Tag und Nacht soviel
entbehrend angeeignete Natur
hingeben sollte–, wissend nicht, ob das
was in dir aufglüht Meines ist: vielleicht
wirst du nur schöner, ganz aus eigner Schönheit
vom Überfluß der Ruh in deinen Gliedern,
vom Süßesten in deinem Blut, was weiß ich,
weil du dich selbst in deiner Hand erkennst,
weil dir das Haar an deinen Schultern schmeichelt,
weil irgendetwas in der dunkeln Luft
sich dir verständigt, weil du mich vergißt,
weil du nicht hinhörst, weil du eine Frau bist:
wenn ichs bedenke, wie ich Zärtlichkeit
getaucht ins Blut, ins nie von mir erschreckte
lautlose Herzblut so geliebter Dinge
...........
...........
(II, 388f.)

»Welt war in dem Antlitz [...]«

Welt war in dem Antlitz der Geliebten– ,


aber plötzlich ist sie ausgegossen:
Welt ist draußen, Welt ist nicht zu fassen.

Warum trank ich nicht, da ich es aufhob,


aus dem vollen, dem geliebten Antlitz
Welt, die nah war, duftend meinem Munde?

Ach, ich trank. Wie trank ich unerschöpflich.


Doch auch ich war angefüllt mit zuviel
Welt, und trinkend ging ich selber über.
(II, 168)

Das Fragment gebliebene Gedicht <An die Erwartete> thematisiert die


Beziehung des Liebenden in der Gestalt eines männlichen lyrischen Ich,
das der Ankunft der Geliebten harrt, die wohl als visionäre Idealgestalt
vorzustellen ist. Die lange zweite Strophe dieses Gedichtfragments besteht
aus einem einzigen, nie zu Ende geführten Satz. Die Ankunft der Geliebten
wird in eine unbestimmte zukünftige Dimension projiziert. Die Geste der
Beschwörung bestimmt die ganze Struktur, den Tenor des Gedichts. Darin
ähnelt es dem Spiegelsonett, das mit der Vision des erwarteten Eindringens
Narziss’ in die »enthaltenen Wangen« der Schönsten ausklingt. Anklänge
an den ursprünglichen Schluss des »Requiems« mit seiner Vereinigungsvi-

140
sion sind auch herauszuhören, nur stellt sich im »Requiem« als vollzogen
dar, was in diesem anderen Gedicht erst antizipiert und ersehnt wird. In
der ersten Strophe des Gedichts <An die Erwartete> entdeckt man auch
Elemente des Narziss-Motivs, – man beobachte dabei die zwei für dieses
Motiv konstitutiven Gesten des Schauens und des Trinkens. Zum Auftakt
des Gedichts der einladende Appell:

komm wann du sollst. Dies alles wird durch mich


hindurchgegangen sein zu deinem Atem.
Ich habe, um deinetwillen, namenlos
lang angesehen mit dem Blick der Armut
und so geliebt als tränkst du es schon ein.
(II, 388)

Der Sprechende kann als eine kurz vor der ›Klärung‹ und ›Lösung‹ ste-
hende Narzissgestalt verstanden werden; darin ähnelt er dem Narziss des
›Spiegelsonetts‹ aus den Sonetten an Orpheus, dessen Verwandlung nicht
im Zentrum des Gedichts steht, sondern erst, eher unvermittelt, in den
Schlusszeilen angedeutet wird. Hier ist der Leser dem Akt der Vereinigung
zwischen dem narzisshaften lyrischen Ich und der erwarteten Geliebten –
der ›Schönsten‹ – näher gerückt. Im Vokabular des Spiegelsonetts mag die
hier verheißene ›Klärung‹ und ›Lösung‹ bedeuten, dass es dieser Narzissge-
stalt bald gelingen wird, ›Weltinnenraum‹ herzustellen.34 Wie in »Es winkt
zu Fühlung [...]« die Vögel »still / durch uns hindurch [fliegen]«, wird hier
alles bald durch ihn »hindurchgegangen sein«.
Die zweite Strophe führt diese Vereinigung von Innenraum und Welt-
raum in einer Reihe von Bildern vor. Dabei ›wandelt‹ der Sprechende »aus
einem Wesen in ein nächstes [hinüber]«. Das Verb ›hinüberwandeln‹, bei
dem beide Bedeutungen des Verbes ›wandeln‹ aktiviert werden, suggeriert
einen einzigen dynamischen Akt der allmählichen Assimilation der Außen-
welt seitens des lyrischen Ich. In der erwarteten Herstellung des Allbezugs
zwischen Ich und Welt verheißt die Vision auch eine Konvergenz aller
Lebensalter des lyrischen Ich. So wird die Kindheit auf dem ›Wandelweg‹
des Sprechenden heraufbeschworen und in den Prozess der Assimilation

34 Als »der klare gelöste Narziß«, der von der Schönen aufgenommen wird, fungiert
die Narzissgestalt des Spiegelsonetts sozusagen als das ›Objekt‹ der Vereinigung.
Als Eindringendem hingegen wird ihm eindeutig die aktive Rolle zugewiesen; er
erscheint so als Subjekt des Vorgangs. So ist man einer Versöhnung bzw. einer
Auflösung der Subjekt-Objekt-Polarität sehr nahe, wie sie im ›Weltinnenraum‹
erfolgt.

141
miteinbezogen; das lyrische Ich ›wandelt‹ »bis rückwärts zu des Kindes
niederm Anblick / in Blumenkelche, da die Wiesen hochstehn«. Man be-
achte, die Perspektive des Kindes diktiert den Blickwinkel dieser Verse: Die
Augen des Kindes sind auf derselben Höhe wie die Blumenkelche, so dass
es unmittelbar in deren Inneres hineinschauen kann.
Der Raum, den dieses Gedicht entwirft, kann man als den Raum des
Spiegels, als ›Zwischenraum der Zeit‹ betrachten, will sagen, den Raum der
›senkrechten‹ Zeit, in der Zukunft und Vergangenheit zusammenfallen.35
Erzeugt wird der ›Zwischenraum‹-Charakter des ›Gedichtraums‹ durch die
Dehnung des ›Augenblicks‹ der bereits beschriebenen, perpetuierten Antizi-
pation. Der erste Vers endet unmittelbar vor dem Verb, das uns sagt, was
sich in der hier projizierten Zukunft bzw. ›Zusammen‹-Kunft vollziehen
wird. Die Verseinteilung erzeugt beim Leser dieselbe Antizipationshaltung,
die das lyrische Ich einnimmt, und lässt den Rest des Gedichts zur Fortset-
zung dieser fortwährenden Erwartung werden. Das Gedicht bewegt sich in
einem Raum zwischen Verheißung und Vollzug. Nicht zuletzt in diesem
Sinne ist die Situation als ›narzisstisch‹ im Sinne des Ovid’schen Mythos
zu bezeichnen.36
Für das Gelingen der hier evozierten Vereinigung von Weltraum und
Innenraum ist das Schauen, das ›lange Ansehen‹ entscheidend, denn die
›Verinnerlichung‹ gelingt mittels dieses Schauens. Die auf diese Art ›auf-
genommenen‹ Bilder werden zum ›Getränk‹, das die Geliebte wiederum
in sich ›aufnehmen‹ soll. Im mythischen Bild des Quells, vor dem Narziss
harrt, deuten sich diese beiden Arten an, das Gegenüber zu erfahren: indem
man es schaut, und indem man es ›trinkt‹. Schließlich will Narziss sich ge-
wissermaßen an seinem Bild ›stillen‹.37 In diesem Gedicht erfährt die Nar-
zissgestalt aber eine entscheidende Transformation, eine neue, Rilke’sche
Färbung. Denn sie erscheint hier nicht im sprichwörtlichen Sinne als in
sich selbst Verliebte, sondern ihre ›narzisstische‹ Liebe gilt dem Weltraum.
Der Geliebten wiederum will das lyrische Ich den im Prozess der Assimila-
tion angeeigneten Weltraum vermitteln, indem es sich mit ihr vereinigt. In
der gegenseitigen Durchdringung von Welt- und Innenraum ›klärt‹ es sich,

35 Siehe Allemann, der die Formel ›senkrecht stehende Zeit‹ prägte (Zeit und
Figur, 297).
36 Vgl. hierzu Kunz’ Charakterisierung der ›narzisstischen‹ Situation (Kunz: Nar-
ziß, bes. 1ff.).
37 Dass der reale Versuch, das Bild im Quell zu trinken, gleichzeitig sein Ver-
schwinden bedeuten würde, gehört wesentlich zum Dilemma des Ovid’schen
Narziss.

142
›löst‹ es sich auf, und »dies alles« soll im Augenblick der Vereinigung in die
Geliebte übergehen. Man erinnere sich an das Bild der ›uns Trinkenden‹
am Ende des »Requiems«.
Diese Vorstellung ist aber auch mit großer Angst besetzt. Der Spre-
chende fürchtet, die von ihm »unerschöpflich Tag und Nacht soviel / ent-
behrend angeeignete Natur« werde der Geliebten übergeben, ohne dass er
weiß, wie er sagt, »[...] ob das / was in dir aufglüht Meines ist: [...]« (II,
389). Er befürchtet, er könne in der Geliebten ganz und gar aufgehen,
sich restlos auflösen, ohne eine Spur zu hinterlassen, höchstens nur sehr
mittelbar etwas bewirkend: »[...] vielleicht / wirst du nur schöner, ganz
aus eigner Schönheit«. In der adverbialen Bestimmung »ganz« negiert sich
sogar noch diese letzte Möglichkeit der Selbsterhaltung.
Die Ankunft der Geliebten wird nicht zu einer Begegnung des lyri-
schen Ich mit einem Du. Stattdessen wird dieses sehr bald die Position des
Gegenüberseins aufgeben, so dass der letzte Schritt des bereits initiierten
Assimilationsprozesses geschehen kann, – nur diesmal wird es selbst assi-
miliert, und zwar von der Geliebten. Über diese als Medium fungierende
Narzissgestalt wird die Geliebte die Natur trinkend sich aneignen. Die
Beziehung zwischen Narzissgestalt und Geliebter in diesem Gedicht ist
in ihrer Struktur der der ›figuralen‹, wie sie in der Beziehung zwischen
Sphinx und Weltraum präfiguriert ist, diametral entgegengesetzt. Bedin-
gung für die ›figurale‹ Beziehung ist bei allem Potential zur gegenseitigen
Durchdringung das Gegenüberstehen und -›bestehen‹ der beiden beteilig-
ten Beziehungs-›Koordinaten‹. In der Sternenkonstellation, die das ideal-
typische Muster für die ›Figur‹ abgibt,38 folgt jeder Stern seiner eigenen
Bahn; jeder wird zum Gegenüber des anderen. Nur so können sie sich
gegenseitig bespiegeln, wie es Sphinx und Weltraum tun.39 Die Begegnung

38 Im Sternbild bzw. vielmehr in der Sternenkonstellation findet man die Rilke’sche


›Figur‹ auf ideale Weise ›kon-figur-iert‹. Vgl. Allemann: Zeit und Figur, 70ff.
39 Bei der Sphinx war vornehmlich das Antlitz in den Bespiegelungsprozess ein-
bezogen. Auch beim Menschen ist es das Antlitz, das zur Spiegelfläche wird.
Allemann konstatiert, in Rilkes Werk stelle »das Gesicht schon von früh an
die eigentliche Stelle des menschlichen Austausches mit dem Weltraum« dar.
Man vergleiche das Gesicht des Dichters, das zum »eigentliche[n] Gegenpol des
unfaßlichen Nacht-Raums« wird (Allemann: Zeit und Figur, 218). Darin steckt
natürlich die Vorstellung einer Übersetzung des Unfasslichen in dichterische
Bilder, eines Heranholens von uns transzendierenden Sphären durch die Dich-
tung. Doch ist es bezeichnend, dass bei Rilke solche Beziehungen, bei denen die
beiden ›Fixpunkte‹ der Konstellation ihre Position des Gegenüberseins behalten,

143
zwischen Liebendem und Geliebter im Gedicht <An die Erwartete> wird
zu einer Art Einverleibung des Einen durch die Andere.
Die hier erörterte Motivik geht in das erst 1924 geschriebene Gedicht
»Welt war in dem Antlitz der Geliebten [...]« ein. Hier erhält das Antlitz
der Geliebten die rezeptiv-reflektorische Qualität des idealen Spiegels inso-
fern, als es wie ein Gefäß fungiert, das ›Welt‹ in sich ›sammelt‹ und diese
wiederum ›reflektiert‹, wobei es eine mediale Funktion dem Liebenden
gegenüber erhält.40 Hier, wie im Gedichtfragment <An die Erwartete>,
erfolgt die Vermittlung von Welt über die Geliebte: In der Metaphorik
des Gedichts, die der von <An die Erwartete> stark ähnelt, erfährt der
Liebende Welt nicht, indem er in das Antlitz der Geliebten schaut, sondern
indem er aus ihm ›trinkt‹; die rezeptive und reflektorische Funktionen des
Spiegels – hier in Form vom Antlitz der Geliebten – lassen sich hier nicht
mehr auseinanderdividieren.41
Das lyrische Ich dieses Gedichts nimmt die Perspektive desjenigen ein,
für den ein solcher rezeptiv-reflektorischer Spiegel nicht mehr vorhanden

nicht unter Menschen hergestellt werden, sondern bevorzugterweise zwischen


Mensch und Raum.
40 Vgl. Rilkes Bild vom Antlitz der Götter, dem wir uns von hinten nähern, als
träten wir in den Hohlraum einer Maske, und zwar so, »daß unsere Antlitz und
das göttliche Gesicht in dieselbe Richtung hinausschauen« (RBr II, 511). Rilke
fragt dann folgerichtig: »[...] und wie sollen wir demnach aus dem Raum, den
der Gott vor sich hat, auf ihn zutreten?« (Ebenda, 511.) Vgl. in Kontrast hierzu
das Antlitz im Gedicht »Welt war in dem Antlitz [...]«, das dem Geliebten
gegenüber erscheint und dabei eine Spiegelfunktion erhält. Die Begegnung mit
Gott bzw. den Göttern gestaltet sich ungleich schwerer.
41 Peter Pors Interpretation der Aufzeichnungen fokussiert sich auf das »Emblem
des ›Gesicht[s]‹« – als in allen möglichen Gestalten und Kontexten des Romans
auftretenden Motivs – das er als »Emblem des Negativen bzw. der Leere« deutet.
Eine solche »Leere« meint er auch in den »geschriebenen Worte[n] des Textes«
entdecken zu können; er spricht von »›Signalworte[n]‹ der Leere«. (Peter Por:
»›Hyperbel [des] Weges‹ und ›Inschrift [des] Daseins‹«: Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge.« In: Colloquia Germanica 31 [1998], 117–53; hier 118.) Wie
Por behauptet, wohlgemerkt ohne dies am ›geschriebenen Wort‹ zu verdeutli-
chen: »Das alleinige und einzige Thema des Romans [...] ist nichts geringeres
als die stete Konstruktion der Leere selbst, des Nichts [...].« Die Kohärenz des
Textes werde »durch Antinomien hervorgebracht, die in keine Synthese gefaßt
werden können« (121). Abgesehen davon, dass ein solches Pauschalurteil der
Komplexität des Textes in keiner Weise gerecht zu werden vermag, übersieht
Por, um beim Beispiel des Gesichts anzusetzen, die Zweidimensionalität des
Rilke’schen Gesichts, sein utopisches Potential in seiner Funktion als rezeptiv-
reflektorischem Spiegel. In dieser Funktion stellt es kein »Emblem [...] der Lee-
re« dar; vielmehr verheißt es, wenn man so will, eine ›Utopie der Fülle‹. Das
Gesicht der Puppe etwa erhält eine solche Zweidimensionalität.

144
ist. Der plötzliche Umschlag, von dem berichtet wird – »aber plötzlich ist
sie [Welt] ausgegossen:« – beschreibt die als gewaltsam empfundene Tren-
nung von der Geliebten, infolge der ›Welt‹ sich auf einmal dem Zugriff
des Sprechenden entzieht, und das heißt: die Position des Gegenüberseins
bezogen hat: »Welt ist draußen, Welt ist nicht zu fassen.«
In der zweiten, den Verlust dieser ›innigen‹ Beziehung zur Geliebten
und damit zugleich zur ›Welt‹ beklagenden Strophe taucht dann das Motiv
des Trinkens auf. Es kommt Trauer auf über das zunächst phantasierte
Versäumnis, man habe die Möglichkeit, Welt auf diese Weise zu ›verin-
nerlichen‹, nicht wahrgenommen:

Warum trank ich nicht, da ich es aufhob,


aus dem vollen, dem geliebten Antlitz
Welt, die nah war, duftend meinem Munde?
(II, 168)

Doch dann besinnt sich das lyrische Ich:

Ach, ich trank. Wie trank ich unerschöpflich.


Doch auch ich war angefüllt mit zuviel
Welt, und trinkend ging ich selber über.
(II, 168)

und in einem ›Rilke’schen‹ Umschlag erkennt es auf einmal, dass der be-
klagte Verlust nicht von der Geliebten verursacht wurde, sondern auf die
eigene Begrenztheit zurückzuführen ist. Auf einmal nimmt das lyrische Ich
selbst die Gestalt eines Gefäßes an, das »mit zuviel / Welt« angefüllt wird
und diese nicht mehr ›zu fassen‹ vermag. Der mehrdeutige Ausdruck ›zu
fassen‹ kommt dem Sinn dieser Verse entgegen: Das ›Fassungsvermögen‹
des Menschen ist begrenzt. Nicht einmal der durch die Geliebte vermit-
telte Allbezug bleibt auf Dauer aufrechterhalten. Irgendwann ›läuft‹ das
begrenzte Gefäß ›über‹: »trinkend ging ich selber über« heißt es hier. Das
besagte auch »Vor Weihnachten 1914«, wo es hieß:

[...] O daß
du immer wieder wehren mußt: genug,
statt: mehr! zu rufen, statt Bezug
in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche?
(II, 98)

Um ›Bezug‹ in sich ›reißen‹ zu können, müsste der Mensch als ›Gefäß‹ die
Dimension eines Abgrundes entfalten. Aber er hat ja nur ein ›schwächliches

145
Herz‹. Für den begrenzten Menschen wird ein Übermaß an ›Welt‹ bzw.
›Bezug‹ zur Bedrohung, gegen dessen Ansturm er sich schützen muss.
Um den Bogen zur Puppen- und Kindheitsthematik zu spannen: Für
das bald begrenzte, in der Sprache der 8. Duinese Elegie ›gewendete‹ Kind
gewährt die Puppe den benötigten Schutz, und zwar in zweifachem Sin-
ne. »Sie [die Puppe] erwiderte nichts, so kamen wir in die Lage, [...] uns
gewissermaßen durch sie die Welt, die unabgegrenzt in uns überging, vom
Leibe zu halten.« (VI, 1067). Die Puppe bildet also eine Art Damm, der
den Ansturm von ›Welt‹ abhält, die in das Kind einzudringen droht.42
Sie steht zwischen Kind und Welt ähnlich dem Spielzeug im »Requiem«,
das, wie das lyrische Ich sagt, »zwischen mir und meinem Hut« steht.43
Aufgrund dieser Zwischenstellung erfüllt sie aber eine zweite Schutzfunk-
tion: Sie verkörpert nämlich ein erstes annehmbares Gegenüber, vor dessen
Dasein das Kind nicht ›zu vergehen‹ droht. Im Puppenaufsatz wird auf
die Unfähigkeit des Kindes, eine Beziehung zu einem echten Gegenüber
einzugehen, ausdrücklich hingewiesen, lautet doch ein Kernsatz des Essays:
»Der einfachste Verkehr der Liebe ging schon über unsere Begriffe hinaus,
mit einer Person, die etwas war, konnten wir unmöglich leben und han-
deln [...]« (VI, 1067).
Die Puppe stellt also kein authentisches, aber als solches zugleich be-
drohliches Gegenüber dar. Genauso wenig gehört sie zu den Dingen im
eigentlichen Sinne. Darin gründet ihre letztendliche Fremdheit, der das
Kind in einem Augenblick der Offenbarung gewahr wird: »Aber wir begrif-

42 Stephens bezeichnet die Notwendigkeit des Kindes, ›sich die Welt vom Leibe
zu halten‹, als »Zwang«: »Im idealen Stande der Kindheit finden sich dagegen
solche Schranken nicht«, behauptet er und setzt Kindheit und ›Weltinnenraum‹
gleich, indem er fortfährt: »Sie finden sich auch nicht in der ›transzendenten
Subjektivität‹ des ›Weltinnenraums‹.« (Stephens: »Problem des geteilten Ich«,
165.) Hierbei bleibt die Tatsache unberücksichtigt, dass ›die Kindheit‹ keinen
homogenen Zustand darstellt, sondern im Gegenteil in einem fortwährenden
Entwicklungsprozess besteht. In der Behandlung der Kindheit als gleichbleiben-
den Zustands sehe ich auch das Hauptproblem bei Manfred Kochs Interpreta-
tion der Aufzeichnungen: ›Mnemotechnik des Schönen‹. Studien zur poetischen
Erinnerung in Romantik und Symbolismus, Tübingen 1988.
43 Die meisten Literaturwissenschaftler, die sich mit Rilkes Puppenessay ausein-
andersetzen, u.a. Eva-Maria Simms und Angelika Ebrecht, sehen in der Puppe
ein ›Übergangsobjekt‹ im Sinne David Winnicotts. Obwohl es verlockend ist,
eine solche Theorie auf den Essay anzuwenden, greift der psychoanalytische
Ansatz hier zu kurz, beleuchtet er doch höchstens Teilaspekte des ›Phänomens‹
Puppe; seine poetische Gestalt, sein poetologischer Gehalt, und das heißt das
Wesentliche am Phänomen der spezifisch Rilke’schen Puppe bleibt von einer
solchen Psychologisierung weitgehend unberührt.

146
fen bald«, heißt es, »daß wir sie [die Puppe] weder zu einem Ding noch zu
einem Menschen machen konnten, und in solchen Momenten wurde sie
uns zu einem Unbekannten, und alles Vertrauliche, womit wir sie erfüllt
und überschüttet hatten, wurde uns unbekannt in ihr.« (VI, 1070) Somit
bedeutet der plötzlich Umschlag innigster Vertrautheit in schroffe Fremd-
heit, wie Puppen und die unvollendete Kindheitselegie ihn gleichermaßen
darstellen, nicht bloß eine Trennung der Welt in Subjekt und Objekt, wie
sie im Gedicht »Welt war in dem Antlitz [...]« vollzogen wird. Denn nach
dieser Trennung geht die Beziehung des lyrischen Ich zur Geliebten nicht
verloren, sondern sie gewinnt lediglich eine neue Struktur: ›Welt‹ ist zwar
›ausgegossen‹, aber sie ist noch da, ›draußen‹, wenn auch nicht ›zu fassen‹
im Sinne des Vereinigungsszenarios, das das Gedicht zunächst beschwört.
Die Geliebte wird zum Gegenüber. Aufgrund des Surrogatcharakters der
Puppe ist der durch die Entfremdung verursachte Verlust gravierender:
»Gefüllt mit der Hälfte des Daseins« – so die unvollendete Kindheitsele-
gie – ›bricht‹ die Puppe ›ab‹.
Sobald aber der Schreibende anfängt, die Puppe in all ihrer verräteri-
schen Fremdheit wahrzunehmen, eröffnet sich eine neue Dimension ihres
Wesens:
Daß wir dich aber dann doch nicht zum Götzen machten, du Balg, und nicht
in der Furcht zu dir untergingen, das lag daran, will ich dir sagen, daß wir dich
gar nicht meinten. Wir meinten etwas ganz anderes, Unsichtbares, das wir über
dich und uns, heimlich und ahnungsvoll, hinaushielten, und wofür wir beide
gleichsam nur Vorwände waren, eine Seele meinten wir: die Puppenseele. (VI,
1070)44

Wenn der Essayist die Puppe in ihrer stofflichen Gestalt als ›Vorwand‹
bezeichnet, so ist er wach für die möglichen, vom konkreten Ausdruck ab-
leitbaren Bedeutungsnuancen dieses Wortes. Als eine Art Sperre zwischen
Kind und Welt stellt sie gewissermaßen eine ›Vor-Wand‹ dar, sie bildet

44 In ihrer in starkem Maße psychoanalytisch orientierten Deutung des Pup-


penessays stellt Eva-Maria Simms dieses in den Kontext von Freuds Narziss-
mustheorie und seinen Reflexionen über das Unheimliche. Simms sieht in der
Puppe eine ganz und gar negative Gestalt, die die Interpretin gewissermaßen
psychopathologisiert. Sie schreibt: »[...] the doll [...] embodies the victory of
death and destruction over the life of the organism – the archetypal image of
primary masochism.« (Eva-Maria Simms: »Uncanny Dolls: Images of Death in
Rilke and Freud« in: New Literary History 27 [1996], 663–677; hier 676.) Den
Umschlag, den die Puppengestalt im Laufe des Essays erfährt, lässt Simms außer
Betracht.

147
eine ›Wand‹, die ›vor‹ die noch schwach entwickelten Ich-Grenzen des
Kindes, sprich die ›Wand‹ des Kindes-Ichs gestellt wird. ›Vor-Wand‹ ist
sie auch als Ersatzobjekt, als Surrogat für das eigentliche Liebesobjekt, sei
es Mutter oder Geliebte, d.h. für die zu starke »Person, die etwas war«.45
Wie der Puppenessay sagt, sind aber Kind und Puppe »beide […] nur Vor-
wände« (Hervorhebung der Vf.). Hinter diesen Vorwänden ist also nach
der ›wirklichen‹ Beziehung zwischen Kind und Puppe zu suchen. Diese
Suche führt einerseits zur unvollendeten Kindheitselegie und andererseits
zum Schluss des Puppenaufsatzes hin, wobei diese beiden Texte bei aller
thematischen und motivischen Affinität letztlich unterschiedliche poetische
›Antworten‹ auf die Frage geben, – Visionen entwerfen, wenn man so
will –, die man vorsichtig als eine figurale und eine mystische bezeichnen
könnte.46 Zunächst wende ich mich der unvollendeten Kindheitselegie zu,
die im Hinblick auf den hier erörterten Themenkomplex näher untersucht
werden soll.

2.2.3. Zur unvollendeten Kindheitselegie: das Judasbaum-Motiv


Die unvollendete Kindheitselegie entstand 1920, einige Jahre nach Nieder-
schrift des Essays Puppen und der beiden in diesem Kontext bedeutsamen
Gedichte »Vor Weihnachten 1914« und »Requiem auf den Tod eines Kna-
ben«. Trotz des zeitlichen Abstands zu diesen Werken der früheren Jahre
zeigt die hierin wieder aufgegriffene Puppenmotivik die Nähe der Elegie
zu ihnen. Nicht nur in Bezug auf die Motivik gewinnt man den Eindruck
einer großen Nähe der Elegie zu diesen früheren, Kind und Kindheit the-
matisierenden Dichtungen. Die Elegie blieb Fragment. Signifikant ist dabei
die Tatsache, dass Rilke die letzte Fassung hinter Vers 45 abbrechen lässt,
also unmittelbar, bevor das Puppenmotiv Eingang findet ins Gedicht.47

45 Die Puppe ist auch ›Vorwand‹ im poetologischen Sinne, wie der eingangs zi-
tierte Brief Rilkes an Lou Andreás-Salomé zeigt (RBr II, 464).
46 Allemann schreibt: »Auf dieses Äußerste hin [die ›figurale‹ Dichtung] ist die
ganze Spätdichtung Rilkes vom Abschluß des ›Malte‹ an unterwegs[...] Man
müßte die Gestalten der künftigen Geliebten, des Engels, aber auch der Puppe
in ihren allmählichen Auskristallisierungen konsequent unter diesem Gesichts-
punkt betrachten, um ihren eigentlichen poetologischen Sinn zu bestimmen.«
(283) Dazu möchte ich beitragen.
47 Wenn Steiner in seiner Besprechung der Elegie die Puppe »als wichtigstes Mo-
tiv« bezeichnet, »auf das hin das ganze Gedicht angelegt ist« (Steiner: »Motiv
der Puppe«, 143), so berücksichtigt er wohl nicht diesen Aspekt ihrer Entste-
hungsgeschichte.

148
Zudem gibt es vier in die letzte Fassung nicht aufgenommene Entwürfe,
die als Einschübe zwischen einzelne Verse gedacht waren, und drei davon
handeln von der Puppe. Ob das Puppenmotiv letztlich fallen gelassen wer-
den sollte oder nicht, sei dahingestellt.
Ästhetische Gründe für eine Streichung des Puppenmotivs lassen sich
erahnen. Die Elegie besitzt nämlich eine prononcierte Heterogenität so-
wohl der Form als auch der Motivik. Die erste Strophe (Verse 1–20) wird
von der Perspektive des Erwachsenen diktiert; der Sprecher, der an ein
unbestimmtes Du appelliert, nimmt die gnomische Haltung ein. Mit der
zweiten Strophe erhält die Elegie unvermittelt eine dramatische Form.
Ansätze eines Dialogs zwischen dem Sprechenden und einer Mutterge-
stalt entstehen, wobei diese in Form der direkten Rede zum lyrischen Ich
spricht. Die dritte Strophe besteht in einer Erwiderung ihrer Worte durch
das lyrische Ich, wobei die gnomische Geste des Eingangs wieder aufge-
nommen wird. Nach der dritten Strophe erfolgt ein zeitlicher Perspekti-
venwechsel: Mit der Thematisierung der Angst, die einen Leitgedanken
der wichtigen fünften Strophe bildet, wird die Kindheit in das Präsens der
aktualisierten Inszenierung geholt. Das Gedicht führt die erste Begegnung
des Kindes mit der Angst vor Augen und lässt den Leser die Stimmung
des Szenarios und die durch sie ausgelösten Affekte unmittelbar spüren.
Diese Strophe enthält die zwei wesentlichen Motive der Elegie, die in
ihrer jeweils extrem verdichteten Form weit über sich hinausweisen: den
Judas-Baum und die Puppe. Letztere wird dann auch zum dichterischen
Gegenstand der abschließenden, unvermittelt abbrechenden Strophe. Das
Elegiefragment in der heutigen Form setzt also mit einem rückschauenden
Loblied auf die Kindheit und ihre nie nachlassende Bedeutung für den
Menschen im Erwachsenenleben an und richtet als Nächstes den Blick auf
die pränatale Zeit, die bald eine fast mythische Färbung erhält, um dann
zum Schauplatz der Kindheit zu gelangen. In der Anrufung der Puppe
in der Schlussstrophe beschwört die Elegie von diesem Standort aus eine
sich ins Transzendente steigernde Vision, die, wie die Elegie selbst, mit
einem jähen Abbruch endet. Soweit die vordergründige Bewegungslinie
der Elegie.
In dieser Interpretation will ich einen etwas ungewöhnlichen Weg
einschlagen und sofort beim Motiv des Judas-Baumes ansetzen, das auch
den Schwerpunkt dieser Interpretation bilden wird, um von diesem aus
zur Puppe einerseits, zum Anfang des Gedichts andererseits zu gelangen.
Die Ergebnisse der Interpretation werden die Vorzüge dieses Verfahrens
deutlich machen.

149
Der Kontext, in den das Judas-Baum-Motiv gestellt wird, bildet das
ins Mythisch-Traumhafte, Surreal-Expressive gleitende Kindheitsszenario,
das die erste vom Kind gemachte Erfahrung der Angst in starken Bildern
ausmalt. Die Angst wird dabei zu einem nicht näher spezifizierten Kon-
kretum, das »Zugluft [...] herein[zuckt] durch die Fugen« und das Kind
»[v]om Rücken [an]huscht [...] überm Spielen«, um ihm dann »Zweitracht
ins Blut [zu zischeln]« (II, 458f.).48 Auf dieses Szenario folgen dann die
dunklen Verse, die mich noch beschäftigen werden:

[...] die raschen Verdachte, es würde


immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer
irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal
alle verbindbar, des Daseins, – und alle zerbrechlich.
(II, 459)

Die Inszenierung, bei der die Angst als Hauptagens fungiert, wird fortge-
setzt unter Anführung des uns hier interessierenden Motivs:

Und schon spaltet sie an, im Rückgrat, des Willens


Gerte, daß sie gegabelt, ein zweifelnder Ast am
Judas-Baume der Auswahl wachsend verholze.
(II, 459)

Mit diesen Versen schließt die Elegie dann auch in der letzten Fassung
ab, – vor der Einführung des scheinbar völlig neuen Motivs der Puppe.
Kraft seiner Profilierung erhält dieses Motiv also eine Schlüsselstellung im
Gedicht und beansprucht folglich unsere besondere Aufmerksamkeit. In
den mir bekannten Interpretationen wird dem Judas-Baum keine hervor-
ragende Bedeutung beigemessen.49 Ich möchte hier eine vielleicht etwas

48 Romano Guardini weist darauf hin, dass hier »das Bild des Paradieses herauf-
spielt, in welchem die Schlange den Menschen mit Gott und eben damit mit
sich selbst entzweit«, fügt aber hinzu, – und darin pflichte ich ihm bei –, »daß
Schlange und Entzweiung des Gedichts vom Geschehen des Paradieses eben-
so weit entfernt sind, wie Rilkes Kundtun von der Botschaft Jesu«. (Romano
Guardini: »›Kindheit‹. Interpretation eines Elegienfragments von Rainer Maria
Rilke«. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge 1 [1960], 185–210;
hier 199.) Die zum Schluss gewagte, lediglich den Wert einer nicht weiter ausge-
führten Arbeitshypothese erhaltende Korrelation zwischen Angst und Schlange,
Puppe und Weib, Kind und Adam erscheint mir weit hergeholt. (Ebenda, 209;
vgl. auch Steiner: »Motiv der Puppe«, 145.)
49 Steiner lässt ihn ganz unerwähnt; Guardini fasst sich in seinen diesbezügli-
chen Bemerkungen sehr allgemein und sieht im Judasbaum zunächst nur den

150
kühne Deutung dieses Motivs zur Diskussion stellen, die sehr bald das
Terrain des Textes verlässt, aber als Ausgangspunkt für eine, wie ich meine,
schlüssige Deutung dieses stellenweise doch sehr dunklen Elegiefragments
dient, und somit auch zu einem tieferen Verständnis des Puppenmotivs
und mit ihm der Kindheitsthematik in seiner größeren, auch poetologi-
schen Dimension beitragen kann.
In der Verwendung des Judas-Baumes an dieser Stelle ist kein beliebiges
oder undifferenziert-evokatives Bild zu sehen. Im Wissen um die beson-
deren Merkmale dieses Gewächses erhärtet sich vielmehr die Vermutung,
dass eine sehr bewusste Wahl gerade dieses Baumes vorgenommen wur-
de, der hier einen vielschichtigen Verweisungskomplex schafft. Die Angst,
die, vom Winde vorangetrieben, über den Rücken des spielenden Kindes
huscht und »des Willens Gerte« »im Rückgrat« des Kindes »[an]spaltet«,
das Kind also in Ansätzen zweiteilt, bewirkt letztlich, dass der Wille des
Kindes – im Bild der Gerte – sich gabelt und in dieser Form verholzt,
wobei »ein zweifelnder Ast am Judas-Baume der Auswahl« wächst. Aus der
grünen, biegsamen, monolithischen Gestalt der Gerte wird also ein Judas-
Baum, der sich verzweigt. Zwei für den Judas-Baum charakteristische Ei-
genschaften sind für ein Verständnis dieses Bildkomplexes von besonderer
Bedeutung: Zum einen ist wohl Bezug zu nehmen auf eine Zierform der
Gattung, bei der die rosa- bis purpurroten Blüten vor den Blättern erschei-
nen. Hier vollzieht sich gewissermaßen eine Umkehrung des ›natürlichen‹
Wachstumsprozesses, der ›natürlichen‹ Zeitfolge, – auch wenn dies, wie

undifferenzierten Baum, – »für Rilke überhaupt ein Baum des Daseins«. Es


gehe hierbei »um das Schlimme im Dasein« (Guardini: »›Kindheit‹«, 200). Das
Spezifikum, die Tatsache, dass es sich hierbei um den Judas-Baum (Cercis sili-
quastrum) handelt, stellt er in den biblischen Kontext: »Der ›Judasbaum‹ wächst
um die Adria wild und trägt den Namen des Verräters, weil seine lilafarbenen
Blütchen wider die Ordnung vor den Blättern erscheinen.« (Ebenda, 200). Den
Bezugspunkt sieht Guardini also im Verrat als Manifestation des »Schlimme[n]
im Dasein«. Diese Interpretation erscheint mir in zweierlei Hinsicht fragwürdig.
Zum einen gibt es eine ganze Reihe von Gewächsen, bei denen die Blüten vor
den Blättern erscheinen, – Forsythie, Winterjasmin, Magnolie, um nur einige
zu nennen –, so dass von einer biologischen Ordnung, gegen die dieser Baum
verstoße, nicht die Rede sein kann. Zum anderen scheint mir die Interpretation
zu allgemein gefasst; der (zu erwartende) zwingende Bezug zum dichterischen
Kontext bleibt unbeleuchtet. Guardini nennt zwar eine botanische Eigenart
dieses Baumes, bezieht sie aber, außer um die volkstümliche Etymologie dessen
Namens zu erörtern, in seine Interpretation der Elegie nicht mit ein. Aber
gerade die botanischen Eigenarten dieses Baumes sind hier, wie ich behaupte,
besonders signifikant und sinnstiftend.

151
bereits vermerkt wurde, keine botanische Seltenheit darstellt. Dass dieser
Umstand so etwas wie Täuschung oder Verrat suggeriert, spiegelt sich im
volkstümlichen Namen des Baumes wieder, der sich auf die biblische Ge-
stalt des Judas bezieht: als Verräter Jesu, der den Gottessohn verrät und
verkauft, indem er ihn küsst. Hinter der Geste des Kusses steht nicht das,
was eine solche Geste für gewöhnlich signalisiert, sondern dahinter verbirgt
sich Verrat; der Kuss ist Täuschung.
Als zweiter signifikanter Aspekt dieses Bildes ist die botanische Eigenart
zu nennen, dass aus dem alten Holz des Judas-Baumes oft sogenannte
›Schmetterlingsblüten‹ hervorbrechen. Diese für die Ordnung der Hül-
senfrüchtler charakteristischen Blüten sind kelchförmig und bestehen aus
fünf verschiedenartigen Blumenblättern, wobei das größte die sogenannte
›Fahne‹ bildet mit je einem ›Flügel‹ und einem ›Schiffchen‹ an jeder Seite.50
Die Frucht besteht aus einer in zwei Hälften aufspringenden Hülse oder
in einer Gliederhülse, die zwei Teilstücke mit je einem Samen enthält.
Zu solchen Fruchtarten gehören beispielsweise Erbse, Linse, Bohne und
Erdnuss. Bedeutsam an diesem Katalog botanischer Merkmale ist also, dass
solche Blüten aus dem alten Holz sprießen, und dass die Frucht zweigeteilt
ist. Auch hier ist eine Abweichung vom üblichen Wachstumsprozess zu
vermerken, denn die Blüten entstehen aus altem Holz.
Wenden wir uns jetzt der Anfangsstrophe der unvollendeten Elegie zu
und lesen vor diesem Hintergrund:

Laß dir, daß Kindheit war, [...]


[...] nicht widerrufen vom Schicksal;
selbst den Gefangenen noch, der finster im Kerker
[...] verdirbt,
hat sie heimlich versorgt bis ans Ende [...]

50 Meyers Neues Lexikon, 21973, Bd. 19, 273. Man vergleiche die Stelle, wo es
heißt: »die raschen Verdachte, es würde immer ein Teil nur später ergreiflich
sein, immer irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal alle verbindbar, des
Daseins«. An Hand dieser Information lässt sich diese ansonsten nicht näher
erklärbare Angabe von fünf Stücken erhellen, und es erhärtet sich die Annahme,
dass Rilke hier ganz gezielt die Gestalt des Judasbaumes mitsamt seinen botani-
schen Eigenarten im Auge hatte und dessen Spezifikum auf der symbolischen
Sinnebene des Gedichts wirksam wird, wenn auch dieser Zusammenhang für
den botanikunkundigen Leser nicht ohne Weiteres herstellbar ist. Guardini
deutet diese Stelle als Ausdruck eines Zerfallens des Daseins in ein zeitliches
Nacheinander, bietet aber keine Erklärung für die genaue Angabe von ›fünf
Stücken‹ (Guardini: »›Kindheit‹«, 199f.). Im Verlauf der Deutung der Kind-
heitselegie werde ich eine Lesart dieser Passage zur Diskussion stellen.

152
[...] ihm selbst
fruchtet die Kindheit. Reinlich
in der verfallnen Natur hält sie ihr herzliches Beet.
Nicht, daß sie harmlos sei; der behübschende Irrtum,
der sie verschürzt und berüscht, hat nur vergänglich
getäuscht.
(II, 457)

In den soeben erörterten Zusammenhang der Judasbaumsymbolik ge-


stellt erhellen sich diese Verse zunehmend. So wie aus dem alten Holz
des Judas-Baumes Schmetterlingsblüten hervorsprießen, so sprießen auch
aus dem Erwachsenen (selbst dem Gefangenen oder Kranken) Blüten her-
vor.51 Das ›Beet‹ der Kindheit ist »in der verfallnen Natur«, d.h. im ›alten
Holz‹ des Erwachsenen, zu finden. Man kann die Schmetterlingsblüte als
»de[n] behübschende[n] Irrtum« auffassen, der die Kindheit »verschürzt
und berüscht«, auch wenn im Text kein expliziter Hinweis in diese Rich-
tung ausfindig zu machen ist, denn beim real existierenden Gewächs er-
scheinen die Blüten vor den Blättern, also ›irrtümlich‹. Diese Blüte soll
wohl der Kindheit als Schutzhülle dienen; sie ›verschürzt‹ und ›berüscht‹
sie,52 erweist sich jedoch als ›vergängliche Täuschung‹ (man sei an das mit
dem Judasbaum verknüpfte Motiv des Verrats erinnert), die die Kindheit

51 Ist es ein Zufall, dass diese Blüten ›Schmetterlingsblüten‹ heißen? Man denke
an die zweite, erst am Schluss des Puppenessays aktivierte Bedeutungsebene der
›Puppe‹ (siehe Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit).
52 Guardini liefert eine bedenkenswerte Interpretation dieser Stelle, für die er An-
haltspunkte in der Biographie des Dichters zu finden glaubt. Sie stützt sich auf
eine frühe Erinnerung des kleinen René, der »wenn er wegen irgendeiner Unart
die Mutter erzürnt hatte und sie versöhnen wollte, im Kleid eines kleinen Mäd-
chens mit ›Schürze und Rüschen‹ an die Tür klopfte« (Guardini: »›Kindheit‹«,
188). Guardini bezieht die zur Diskussion stehende Passage der Elegie auf diese
Kindheitserinnerung und deutet sie dementsprechend: »Die Verse sprechen von
törichten Müttern, die ihre Kinder ›behübschen‹ und ins Klein-Behütete ver-
packen. So zu tun, sei aber ein Irrtum, der ›nur vergänglich täuscht‹, denn die
Illusion dauere nicht lange.« (Ebenda, 188) Zunächst sei dahingestellt, welche
Validität diese auf die Biographie des Dichters sich stützende Auslegung hat.
Das Entscheidende an einer derartigen Deutung bleibt von Guardini jedenfalls
unausgesprochen, nämlich, dass der kleine Junge als Mädchen verkleidet wird –
›verschürzt und behübscht‹. Darin bestünde wohl der Irrtum, und nicht in der
bloßen Tatsache, »daß Mütter ihre Kinder ›behübschen‹ und ins Klein-Behütete
verpacken«. Ich halte einen zweischichtigen Bezugskomplex für denkbar, wobei
autobiographische Momente in den Motivkomplex mit eingehen und eine pri-
vate Sinnebene bilden. Diese Praxis kennt man aus den Duineser Elegien. Vgl.
Steiner, der diese Verse auch in Bezug zur Biographie des Dichters setzt (Steiner:
»Motiv der Puppe«, 134).

153
zwar beschönigt, – Rilkes Formulierung nach ›behübscht‹, sich in Falten
und Rüschen um sie legt –, aber nicht in der Lage ist, die Schutzlosigkeit
der Kindheit dauerhaft zu vertuschen. Die zarten Blüten täuschen einen
Schutz lediglich vor. Hier erschließt sich aber auch eine zweite Sinnebene,
denn in diesem Bild erhält die Kindheit die Gestalt einer Frucht, die nicht
einfach von diesen Schmetterlingsblüten eingehüllt wird, sondern vielmehr
aus ihnen hervorgeht. Statt Blüte zu sein, stellt die Kindheit die Frucht
dar. So wird die Kindheit paradoxerweise zur späten Frucht, zur Frucht,
die erst der Erwachsene trägt.
Die dritte Strophe der Elegie gibt nähere Auskunft über die Gestalt
dieser Frucht, die auch vom Bild des Judas-Baumes bestimmt ist. Wie wir
lasen, zieht die Angst über das Kind her und spaltet »des Willens Gerte«
»im Rückgrat [des Kindes] an«. Somit macht sie aus ihm eine zumindest
andeutungsweise zweiteilige Gestalt. Dieser entspricht wiederum die Form
der Hülsenfrucht, die die Schmetterlingsblüte hervorbringt: eine Frucht,
die in einer in zwei Hälften aufspringenden Hülse besteht bzw. sich aus
zwei Teilstücken mit je einem Samen zusammensetzt. Eine solche Frucht
dient hier als Sinnbild für das Kind, das gezwungenermaßen aus der »träch-
tigen Eintracht« des Mutterschoßes in die »Zwietracht« der Welt entlassen
wird. War der Keim in der »Vor-Welt« des Mutterleibes noch »heil«, also
ganz, so »erlernt sich auf einmal im Abschluß, den das Menschliche schafft,
das undichte«, – die Angst (II, 458). Und diese »[...] zischelt / Zwietracht
ins Blut [...]« (II, 459), spaltet also den Keim in zwei Teile. So eindeutig
sind allerdings die Verhältnisse nicht, denn auch die ›Vor-Welt‹ bietet
dem Keim keinen wirklichen Schutz: »die Hände der Hütung lügen, die
schützenden«, denn sie sind »selber gefährdet« (I, 458); die »Vor-Welt« des
Mutterleibes stellt nicht nur Schutz, sondern auch Gefahr dar, so wie die
Schutz versprechenden Blüten des Judas-Baumes durch ihre hochgradi-
ge Verletzbarkeit und Vergänglichkeit diesen eben nur ›vergänglich [vor]
täuschen‹, lediglich ein »behübschender Irrtum« sind. An diesem bereits
›zwiespältigen‹ Ort entsteht das Kind; »[d]as innige Kindsein / steht wie die
Mitte in ihr« – der Gefährdung – »sie aus-fürchtend, furchtlos« (II, 458).
Diese Formulierung muss man sich wohl räumlich vorstellen: Das Kind
›fürchtet‹ die Gefährdung ›aus‹, wie das Embryo den ganzen Innenraum des
Mutterleibes allmählich ausfüllt, aber paradoxerweise »furchtlos«. Sollen die
Worte ›aus-fürchtend‹ und ›furchtlos‹ vielleicht das nicht explizit verwen-
dete Wort ›Frucht‹ evozieren, von dem das Wort ›Furcht‹ phonologisch
durch das Vertauschen von lediglich zwei Buchstaben entfernt ist? Durch
dieselbe einfache Operation würde ›fürchtend‹ zu ›früchtend‹. In der bald

154
assoziierten Verbindung der beiden semantischen Felder drückt sich in ver-
dichtetster Form die Zwiespältigkeit der Schutz gewährenden bzw. Gefahr
bringenden ›Vor-Welt‹ aus.53 Schließlich stellt die Frucht schon in sich eine
paradoxal anmutende Verbindung von Leben und Tod dar.54 Diese aus
der üblichen Sicht des Erwachsenen widerstrebenden Prinzipien konver-
gieren in der Gestalt der Frucht, die ›sonnig‹ und ›erdig‹ ist zugleich.55 In
diesem Sinne ist die Frucht schon von ihrem Wesen her doppeldeutig: In
der ›Vor-Welt‹ wird sie aber in ihrer Zwiespältigkeit zusammengehalten.56
Hier greift Rilke ein beliebtes, nach dem Prinzip der organischen Analogie
gebildetes Motiv der Romantik auf, aber während das knospenhafte – statt
fruchtähnliche! – Kind in seiner romantischen Einkleidung als Inbegriff
heilen Eingehens in die Natur, ja heilen Aufgehens in der Natur gilt, wird

53 Hans-Jost Frey argumentiert vor dem Hintergrund der 8. Duineser Elegie mit
der ihr zentralen Vorstellung des ›Offenen‹. Solche Adjektive wie ›harmlos‹,
›schutzlos‹, ›furchtlos‹, ›zeitlos‹ und ›namenlos‹ seien nicht als Verneinungen
aufzufassen, sondern im wertneutralen Sinne als Ausdruck einer grundsätzlichen
Gegensatzlosigkeit, die die Kindheit, als eine Form des Offenen, auszeichne:
»Das mit Kindheit Gemeinte läßt sich nicht in das System der Gegensätze ein-
gliedern [...], sondern es ist außerhalb aller Gegensätze, von ihnen unbetroffen,
[...].« Somit ist die Kindheit auch »außerhalb des Kräftesystems von Gefahr und
Schutz«. (Hans-Jost Frey: Der unendliche Text, Frankfurt/Mn. 1990, 190 bzw.
191.) Für Frey ergeben sich die im Text enthaltenen scheinbaren Paradoxien
erst, wenn man die Position des Gegenüberseins einnimmt. Er markiert diesen
Perspektivenwechsel mit dem Aufkommen der Angst, die sich »im Abschluß
[erlernt]«. Meines Erachtens macht Frey denselben Fehler wie einige andere der
hier zitierten Rilke-Exegeten, die sich mit der Kindheitsthematik befassen, wenn
sie nämlich in der Kindheit einen einheitlich ›offenen‹ Zustand sehen, statt sie
als dynamischen Prozess zu begreifen, in Folge dessen sich der entscheidende
Perspektivenwechsel vollzieht, der das Erwachsenenbewusstsein prägt. In der 8.
Duineser Elegie heißt es doch: »[...] denn schon das frühe Kind / wenden wir
um und zwingens, daß es rückwärts / Gestaltung sehe, nicht das Offne, [...]« (I,
714), und auch hier ist es das Kind, dem man »Zwietracht ins Blut [zischelt]«.
54 Über die Früchte sagt Allemann, man begegne ihnen in Rilkes Werk »als Fi-
guren der Vollzähligkeit, [...] nicht nur als Symbole des reifen Lebens, sondern
ebensosehr als Zeichen aus dem Totenreich«. Allemann fährt fort: »Die reife
Frucht ist geradezu die Bestätigung des fortwährenden Austauschs zwischen
beiden Bereichen« (Allemann: Zeit und Figur, 194); sie wird in I.14 der Sonette
an Orpheus in diesem Sinne als »Zwischending« bezeichnet. Vgl. Rilkes Brief
an Lotte Hepner vom 8. November 1915: »[...] blüht ein Baum, so blüht so gut
der Tod in ihm wie das Leben, [...].« (RBr II, 514)
55 Siehe Sonette an Orpheus, I.13 (I, 739); Allemann: Zeit und Figur, 195.
56 In der Gestalt der zweiteiligen Frucht, deren Zwiespältigkeit sich schon in der
ursprünglichen Gestalt manifestiert, finden wir auf geradezu paradigmatische
Weise die oppositionelle Spannung vorgebildet, die vielen der Rilke’schen Mo-
tive zu Grunde liegt.

155
das Motiv hier in einer entscheidenden Hinsicht abgewandelt: Das Kind
hängt nicht wie eine Knospe ›am Baume der Natur‹, sondern steht von
Anfang an im Spannungsfeld zwischen Einheit und Getrenntheit, enthält
selbst die Spaltung in sich, denn in der Struktur der (Hülsen-)Frucht ist
die Zweiteilung bereits angelegt.
Vor diesem interpretatorischen Hintergrund seien die folgenden, bereits
erwähnten Verse der unvollendeten Kindheitselegie wieder in Erinnerung
gerufen. Das lyrische Ich spricht von den »[...] raschen Verdachte[n], es
würde / immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer / irgend ein
Stück, fünf Stücke, nicht einmal / alle verbindbar, des Daseins, – [...]« (II,
459). Diese Verse gewinnen an Bedeutung, wenn man die zwei Jahre vor
Entstehung der Elegie verfasste Schrift Urgeräusch zur Hand nimmt. Dient
die Frucht des Judasbaumes als Zeichen für eine Zweiteilung des Bewusst-
seins, so deuten die hier genannten »fünf Stücke«, die zunächst mit den
fünf Blättern der Schmetterlingsblüte korreliert wurden, die ›Fünfteilung‹
der Sinneswahrnehmung an, die Rilke in negativem Sinne als symptoma-
tisch für unsere kulturell bedingte, ›desintegrative‹ Wahrnehmungsweise
betrachtet. Im kleinen Aufsatz Urgeräusch lobt er nämlich die arabische
Dichtung, »an deren Entstehung die fünf Sinne einen gleichzeitigeren und
gleichmäßigeren Anteil zu haben scheinen«, wobei ihm im Kontrast hierzu
auffällt, »wie ungleich und einzeln der jetztige europäische Dichter sich
dieser Zuträger bedient« (VI, 1090). Dabei sei »das vollendete Gedicht«
darauf angewiesen, »daß die mit fünf Hebeln gleichzeitig angegriffene Welt
unter einem bestimmten Aspekt auf jener übernatürlichen Ebene erschei-
ne«, – »eben [der] des Gedichts« (VI, 1091).
Im weiteren Verlauf dieser Schrift kontrastiert Rilke den Liebenden und
den Dichter und konstatiert, der Liebende sei »auf das Zusammenwirken
seiner Sinne angewiesen [...], von denen er doch weiß, daß sie nur in je-
ner einzigen gewagten Mitte sich treffen, in der sie, alle Breite aufgebend,
zusammenlaufen und in der kein Bestand ist«, er sich also »unversehens in
die Mitte des Kreises gestellt fühlt, [...] wo das Bekannte und das Unerfaß-
liche in einem einzigen Punkte zusammendringt, vollzählig wird und Besitz
schlechthin, allerdings unter Aufhebung aller Einzelheit« (VI, 1091f.). Dem
Dichter hingegen »muß das vielfältige Einzelne gegenwärtig bleiben, er ist
angehalten, die Sinnes-Ausschnitte ihrer Breite nach zu gebrauchen« (VI,
1092). Bei ihm sei nicht die Konzentration auf einen Punkt – Aufhebung
der ›Fünfteilung‹ in der Mitte des Kreises – gefragt, sondern Ausdehnung
eines jeden einzelnen Sinnes, wobei der idealdichterische Akt darin bestün-
de, den »Sprung durch die fünf Gärten in einem Atem« zu schaffen (VI,

156
1092). Dabei werde der Dichter »der Abgründe gewahr [...], die die eine
Ordnung der Sinnlichkeit von der anderen scheiden« (VI, 1092).
Was Rilke hier beschreibt, ist eine topologisch anders geartete Variante
des Gegensatzes zwischen Allbezug und Getrenntsein, der sich bisher – wie
im Folgenden – in Form einer polar aufgebauten Topologie äußerte: Allbe-
zug, der in dieser Schrift alleine dem Liebenden widerfährt, heißt zugleich
Aufhebung des Differenzierungsvermögens und damit auch der Identität;
in der Mitte des Kreises ist »kein Bestand«. Getrenntsein bedeutet auf
der symbolischen Ebene der hier verwendeten Topologie fortwährendes
Auseinanderklaffen der einzelnen Wahrnehmungsweisen, bedingt durch
das fortwährende Sich-Weiten des Kreises, an dessen Peripherie die fünf
Sinne sich in immer größeren Abständen voneinander befinden, so dass
der diese verbindende ›Sprung‹ über immer weitere Abgründe führt. Im
Bild der »fünffingrige[n] Hand seiner [des Künstlers] Sinne«, die er »zu
immer regerem und geistigerem Griffe entwickelt« (VI, 1092), wird aber
suggeriert, dass eine solche Verbindung zumindest möglich ist, bilden doch
die einzelnen Finger Teile ein-und-derselben Hand.
Im Suchen nach einer Lösung des in Urgeräusch zu Tage tretenden
Dilemmas, wie es denn zu einer bewusst erlebten Synthese der fünf Sinne
kommen könne, kehrt Rilke in seiner kleinen Schrift zum Ausgangspunkt
des Gedankengangs zurück. Er beschwört das als Synthese dieser fünf Sinne
– »fünf Stücke« – imaginierte ›Urgeräusch‹, das seiner Vision nach ertönen
würde, wenn man eine Grammophonnadel über den menschlichen Schädel
fahren ließe. Dieser seltsamen, quasi-technischen Lösung steht der utopi-
sche Sprung des Dichters durch die ›fünf Gärten‹ gegenüber. Im ersteren
Fall handelt es sich gewissermaßen um eine ›zentripetale‹ Synthese, stellt
man sich das auf die im Essay beschriebene Art erzeugte ›Urgeräusch‹ als
akustische Wiedergabe der auf dem menschlichen Schädel zusammenlau-
fenden Sinneseindrücke vor, wobei an dieser ›Reproduktion‹ das Bewusst-
sein des Menschen paradoxerweise nicht beteiligt wäre. Im anderen Fall
könnte man von einer ›zentrifugalen‹ Synthese an der äußersten Peripherie
des menschlichen Wahrnehmungshorizonts sprechen, die dem Menschen
– bzw. speziell dem Dichter – äußerste Bewusstheit und Gestaltungskraft
abverlangte.57 Dass Rilke die ›einfachere‹, ›technische‹ Lösung nicht zu

57 Frey kommentiert dieses Dilemma, wie es sich als poetologisches Problem in


der unvollendeten Kindheitselegie äußert: »Der Abschluß [und mit ihm »Un-
terscheidung, Abgrenzung und Auswahl«] muß angestrebt werden, damit das
Offene sagbar wird, das im Gesagtsein aufhört, offen zu sein, weshalb die starre

157
Ende denkt, geschweige denn ausprobiert, zeigt, welche Form der Synthese
er anvisiert, auch wenn sie sich laut Kindheitselegie – zunächst zumindest
– nicht verwirklichen lässt, fragt doch die Elegie, ob alle ›fünf Stücke‹
überhaupt ›verbindbar‹ seien. Beide mit der botanischen Eigenart des Ju-
dasbaumes in Verbindung zu bringenden Spaltungsmomente, Zweiteilung
wie Fünfteilung, thematisieren mittels eines entsprechenden topologischen
Schemas das Spannungsgefüge Allbezug versus Eigentümlichkeit. Es ist
signifikant, dass in der unvollendeten Kindheitselegie das Puppenmotiv
unmittelbar an das Judasbaummotiv anknüpft. Dieses zweite für die Elegie
konstitutive Motiv soll jetzt vor dem spezifischen Hintergrund der hier
erörterten, mit ihm verbundenen Symbolik betrachtet werden.

2.2.4. Zur unvollendeten Kindheitselegie: das Puppenmotiv

< Unvollendete Elegie >

Laß dir, daß Kindheit war, diese namenlose


Treue der Himmlischen, nicht widerrufen vom Schicksal;
selbst den Gefangenen noch, der finster im Kerker verdirbt,
hat sie heimlich versorgt bis ans Ende. Denn zeitlos
hält sie das Herz. Selbst den Kranken,
wenn er starrt und versteht, und schon giebt ihm das Zimmer nicht mehr
Antwort, weil es ein heilbares ist –, heilbar
liegen seine Dinge umher, die fiebernden, mit-krank,
aber noch heilbar, um den Verlorenen –: ihm selbst
fruchtet die Kindheit. Reinlich
in der verfallnen Natur hält sie ihr herzliches Beet.
Nicht, daß sie harmlos sei; der behübschende Irrtum,
der sie verschürzt und berüscht, hat nur vergänglich getäuscht.
Nicht ist sie sichrer als wir, und niemals geschonter;
keiner der Göttlichen wiegt ihr Gewicht auf. Schutzlos
ist sie wie wir, wie Tiere im Winter, schutzlos.
Schutzloser: denn sie erkennt die Verstecke nicht. Schutzlos
so als wäre sie selber das Drohende. Schutzlos

Begrifflichkeit wieder aufgerissen und damit die Möglichkeit des Sagens un-
tergraben wird. Die Rede des Gedichts steht – geschieht – im Zeichen eines
unaufhebbaren Konflikts.« (Frey: Der unendliche Text, 200.) Wenn das aber
stimmt, so muss das von Frey für die Aufgabe der Elegie gehaltene »sprachliche
Gelingen von Kindheit in der Außerkraftsetzung des Gegenüberseins« (ebenda,
200) Utopie bleiben. Demselben Dilemma begegnet man in der Antinomie
zwischen mystischem Erleben und mystischem Sprechen.

158
wie ein Brand, wie ein Ries’, wie ein Gift, wie was umgeht
nachts im verdächtigen Haus, bei verriegelter Tür.

Denn wer begriffe nicht, daß die Hände der Hütung


lügen, die schützenden –, selber gefährdet: wer darf denn?
». . . Ich!« –Welches Ich? – »Ich, Mutter, ich darf. Ich war Vor-Welt.
Mir hats die Erde vertraut, wie sie’s treibt mit dem Keim,
daß er heil sei. Abende, o, des Vertrauens, wir regneten beide,
leise und mailich, die Erde und ich in den Schooß uns.
Männlicher! ach, wer beweist dir die trächtige Eintracht,
die wir uns fühlten. Dir wird die Stille im Weltall
niemals verkündet, wie sie sich schließt um ein Wachstum. . . .«

Großmut der Mütter, Stimme der Stillenden, – dennoch!


Was du da nennst, das ist die Gefahr, die ganze
reine Gefährdung der Welt –, und so schlägt sie in Schutz um,
wie du sie rührend erfühlst. Das innige Kindsein
steht wie die Mitte in ihr, sie aus-fürchtend, furchtlos.

Aber die Angst! Sie erlernt sich auf einmal im Abschluß,


den das Menschliche schafft, das undichte. Zugluft
zuckt sie herein durch die Fugen. Da ist sie. Vom Rücken
huscht sie es an überm Spielen, das Kind, und zischelt
Zwietracht ins Blut –, die raschen Verdachte, es würde
immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer
irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal
alle verbindbar, des Daseins –, und alle zerbrechlich.
Und schon spaltet sie an, im Rückgrat, des Willens
Gerte, daß sie gegabelt, ein zweifelnder Ast am
Judas-Baume der Auswahl wachsend verholze.
Wie nur besticht sie die Puppe, die gute, das eben
zärtliche Spielzeug, daß es, umarmt noch, schon fremdlings
schrecke –. Mit sich nicht, nicht mit dem armen, verzeihlichen Fremdsein,
nein: mit der Neigung des Kinds, mit dem, was es annahm.
Annahm in langen Tagen des Zutrauns, in den unzählbaren
Stunden geständigen Spiels, da das Kind an dem neidlos
drüben geschaffenen Du sich erprobte und abhob –
und sich erfuhr, seine Kräfte an zweie verteilend,
seinen ihm selbst so neuen nachwachsenden Vorrat.

Fernen des Spieles! Da gab sich die fruchtende weiter


selig erfindender fort, als im spätesten Nachwuchs,
weit über Enkel hinaus –, die getroste Natur!
Freundin des Todes, denn in der leichten Verwandlung
wuchs sie ihn hundertmal durch . . . O Puppe,
fernste Figur –, wie die Sterne am Abstand

159
sich zu Welten erziehn, machst du das Kind zum Gestirn.
Ist es dem Welt-Raum zu klein: Raum der Gefühle
spannt ihr erstaunt zwischen euch, den gesteigerten Raum.

Aber auf einmal geschiehts . . . Was? Wann? –


Namenlos, Abbruch –
Was? – der Verrat . . . gefüllt mit der Hälfte des Daseins
will sie nicht mehr, verleugnet, erkennt nicht.
Starrt mit geweigertem Aug, liegt, weiß nicht; nicht einmal
Ding mehr – – sieh, wie die Dinge
sich schämen für sie,
.....
(II, 457–60)

Die Elegie stellt das Puppenmotiv in den Kontext der Entzweiung des Kin-
des durch die Angst. Gerade die Puppe sei, so die Elegie, für die spaltende
Kraft der Angst besonders empfänglich:

Wie nur besticht sie die Puppe, die gute, das eben
zärtliche Spielzeug, daß es, umarmt noch, schon fremdlings
schrecke [...]
(II, 459)

Die Anklänge an Puppen sind nicht zu überhören. Im essayistischen Werk


fungiert die Puppe als eine Art Projektionsobjekt, wenn man will, als eine
Art alter ego, in das das Kind Teile seines Selbst hineinverlagert. Das besagt
noch deutlicher die Elegie. Sie spricht von dem, »was es [das Spielzeug]

[...] annahm.
Annahm in langen Tagen des Zutrauns, in den unzählbaren
Stunden geständigen Spiels, da das Kind an dem neidlos
drüben geschaffenen Du sich erprobte und abhob –
und sich erfuhr, seine Kräfte an zweie verteilend,
seinen ihm selbst so neuen nachwachsenden Vorrat.
(II, 459)

Als ego und alter ego bilden Kind und Puppe zunächst eine Einheit. Die
so charakterisierte Beziehung des Kindes zur Puppe findet sich also im
Bild der zweiteiligen Frucht exemplifiziert. Die (Hülsen)-Frucht furcht sich
zwar ein, die Teile bleiben aber zusammen. Sie ist gekennzeichnet durch
Zwiespalt in der Einheit. Die in die andere Hälfte verlagerten Anteile des
Kindes laufen aber Gefahr, der potentiellen Aufspaltung der Frucht zum
Opfer zu fallen und dem Kind verloren zu gehen. So gesehen verkörpert
die Frucht das Spannungsverhältnis zwischen Eins- und Getrenntsein. In

160
der (Hülsen)-Frucht scheinen beide Prinzipien gleichermaßen vertreten zu
sein. Die Sehnsucht nach Zwiefalt in der Einheit, nach Einheit in der
Zwiefalt, die in der Gestalt des ›siamesischen‹ Zwillingspaares Ulrich und
Agathe im Mann ohne Eigenschaften bzw. in Törleß’ mystisch angehauchter
Formel der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ zum Ausdruck kommt,58 manifestiert
sich hier auf sehr anschauliche Weise im Bild der zweiteiligen Frucht.59
Das Problem besteht nun darin, dass sich das Kind mit der Puppe
auf Grund ihres ›Zwischending‹-Charakters nicht wirklich vereinigen, aber
auch nicht in Relation zu ihr die Position eines wirklichen Gegenübers
beziehen kann. So ist die Beziehungskonstellation, die beide zusammen
bilden, illusionär.

Fernen des Spieles! Da gab sich die fruchtende weiter


selig erfindender fort, als im spätesten Nachwuchs,
weit über Enkel hinaus –, die getroste Natur!
Freundin des Todes, denn in der leichten Verwandlung
wuchs sie ihn hundertmal durch . . . O Puppe,
fernste Figur –, wie die Sterne am Abstand
sich zu Welten erziehn, machst du das Kind zum Gestirn.
Ist es dem Welt-Raum zu klein: Raum der Gefühle
spannt ihr erstaunt zwischen euch, den gesteigerten Raum.
(II, 459)

In der Scheinvereinigung nehmen Kind und Puppe bald kosmische Di-


mensionen an, bald übersteigen sie sogar diese und schaffen »den gestei-
gerten Raum«. Plötzlich kommt aber der Umschlag, die Frucht bricht
entzwei: Die Projektion des Kindes spaltet sich ab und nimmt die ihr
zugewiesenen Ich-Anteile mit sich in den Abgrund. Das Kind empfindet
diesen Umschlag so, als sei ihm »die Hälfte des Daseins« plötzlich abhan-
den gekommen.60

58 Vgl. Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 4ff.


59 Schließlich entstehen auch siamesische Zwillinge dadurch, dass eine Frucht sich
›einfurcht‹. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Stilisierung, die dieses
Bild durch Musil erfährt. Biologisch gesprochen können siamesische Zwillinge
nämlich nur gleichgeschlechtlich sein. In Musils Version kommen Anklänge
an Platons Vorstellung eines sich in eine männliche und eine weibliche Hälfte
aufspaltenden Ganzen hinzu (siehe das Symposion). Für Musils Bild ist diese
Abweichung von der biologischen Vorlage von entscheidender Bedeutung.
60 Um noch einmal auf das Motiv der siamesischen Zwillinge zurückzukommen:
So wie der Tod des einen den Untergang des anderen bedeutet, empfindet
das Kind den Verlust dieser abhanden gekommenen Hälfte als existentielle
Bedrohung. Man vergleiche in diesem Kontext Rilkes brieflich festgehaltene

161
Was aber weder die Elegie noch der Aufsatz ausspricht: Die Puppe, die
sich scheinbar verselbständigt und das Kind ›verrät‹ – man erinnere sich
an das Judas-Baum-Motiv –, fällt deswegen »in den Abgrund«, wie es in
einem Entwurf zur Elegie heißt (II, 460), weil das Kind sein Interesse an
ihr plötzlich verliert: Es wächst aus dem Puppenalter heraus.61
Welche Bedeutung hat hierbei das visionär-transzendente Moment am
Anfang der letzten Strophe? Es bleibt noch zu fragen, ob bzw. inwiefern

Charakterisierung seiner Relation zur Figur des Malte in einem Brief vom 28.
12. 1911. Dort scheinen nämlich Bildelemente der Puppenmotivik auf. Enthält
das Beziehungsparadigma Kind-Puppe etwa Aspekte der Beziehung Rilkes zu
seinem Geschöpf der Aufzeichnungen? Rilke selbst fragt, ob dieses darin nicht
untergeht, um ihm, dem Dichter, »den Untergang zu ersparen« (RBr I, 300). Im
Bilderkomplex des Briefes wird das Buch zur »hohe[n] Wasserscheide«, Malte
zum »Untergegangene[n]« und Rilke selbst zum Überlebenden (ebenda, 300).
Da aber »alles Gewässer nach der alten Seite abgeflossen ist«, geht Rilke »in eine
Dürre hinunter«, d.h. er bleibt seelisch, geistig ›ausgetrocknet‹ zurück, wobei
es ihm vorkommt, als habe »der andere, Untergegangene« – sprich Malte –
»[ihn] irgendwie abgenutzt, [...] mit den Kräften und Gegenständen [seines]
Lebens den immensen Aufwand seines Untergangs betrieben [...], sich mit der
Inständigkeit seiner Verzweiflung alles angeeignet« (ebenda, 300). Hierin sind
Anklänge an die Puppenmotivik mit ihrer ähnlichen Topologie ausfindig zu ma-
chen. Die andere ›Hälfte‹, Malte, die zumindest teilweise als Projektionsfigur für
den Dichter fungiert, ›eignet sich alles an‹ und ›geht‹ damit ›unter‹, den Dichter
verarmt zurücklassend, wobei die ›Wasserscheide‹ das Moment der Entzweiung
markiert. Dem Brief zufolge wirkt sich die Abspaltung der dichterischen Gestalt
des Malte von der Gestalt des Dichters nachhaltig auf das Erleben des Letzte-
ren aus. Die Brüchigkeit, die dieser Verlust erzeugt, wird auf die Objektwelt
übertragen und beeinträchtigt Rilkes Wahrnehmung dieser Welt auf gravierende
Weise. Er schreibt: »[...] kaum scheint mir ein Ding neu, so entdeck ich auch
schon den Bruch daran, die brüske Stelle, wo er [Malte] sich abgerissen hat.«
61 Vgl. Steiner: »Motiv der Puppe«, 143. Guardini betont das Angewiesensein des
Spielzeugs auf das Kind. Es sei »daraufhin gemacht, daß es im Phantasiegesche-
hen des Spiels jeweils das werde, was das spielende Kind will. Geschieht das
nicht, fällt es aus dem Bezug heraus, in seine empirische Realität zurück, dann
ist es überhaupt nichts Deutliches mehr« (Guardini, »›Kindheit‹«, 206). Aller-
dings scheint diese Deutung in Widerspruch zu stehen zu einer im Gespräch
mit Magda von Hattingberg gemachten Äußerung Rilkes über die Pritzel’schen
Puppen. In Reaktion auf ihr Entsetzen über die ›Unnatur‹ dieser »wie Nach-
bildungen opiumkranker oder irrsinniger Menschen« anmutenden Wachspup-
pen – so ihre Charakterisierung – erwidert Rilke: »›Ein Spielzeug wird abge-
braucht, wird schlecht, [...] sage nicht, daß das Schlechtsein eines Spielzeuges
etwas Unschuldiges sei; bedarf es nicht der ganzen grenzenlosen Unschuld der
Kinder, um all das Verdorbene, Schmutzige an ihm ein für allemal schuldlos
zu erhalten? Wenn du dir vorstellst, ein solches Ding hätte sich in den Händen
Erwachsener entstellt und verdorben, du würdest unermeßliches Grauen davor
empfinden‹.« (Magda von Hattingberg: Rilke und Benvenuta, Wien 21947, 203;
vgl. Steiner: »Motiv der Puppe«, 138ff.)

162
Kind und Puppe eine potentiell figurale Beziehung miteinander bilden.
Genauso wenig wie das lyrische Ich des Gedichtfragments <An die Erwar-
tete> eine ›figurale‹ Beziehung zur erwarteten Geliebten realisieren kann,
lässt sich eine solche Beziehung zwischen Kind und Puppe herstellen; die
Vision, die eine solche evoziert, bleibt Vision. Denn schließlich verkörpert
das ›figurale‹ Gegenüber – das drückt sich etwa in der ›figuralen‹ Konstella-
tion Dichter-Nachtraum aus – das uns ›Fremde‹, zu dem wir aber in eine
Relation ›gespannten Bezugs‹ treten.62 Hier gibt es letztlich nur projektive
Identifikation oder schroffe Fremdheit; der ›gespannteste Bezug‹ lässt sich
nicht herstellen.63 Dass Allemann gerade diese beiden Gestalten, künftige
Geliebte und Puppe, zu Paradigmen des ›figuralen‹ Gegenübers erhebt,
leuchtet demnach nicht ein.64 Die ›figurale‹ Beziehung gründet weder auf

62 In der Sternenkonstellation drückt sich die oppositionelle Qualität solcher ›fi-


guralen‹ Visionen aus. Zwar soll dabei der Mensch bzw. der Dichter einen
Bezug zum Sternbild herstellen, aber dieser Bezug entsteht nur durch Wah-
rung der beiden ›Bezugs‹-Punkte. In dieser Hinsicht hat die figurale Begegnung
des Dichters mit dem Weltraum eine Affinität zur mystischen Erfahrung, die
nach Wagner-Egelhaaf in ihrer allgemeinsten Form als ein Einholen des ›ra-
dikal Anderen‹ im mystischen Vereinigungsprozess zu verstehen ist (Wagner-
Egelhaaf: Mystik der Moderne, 2), – nur dass in der figuralen Beziehung eine
die Gegensätze auflösende Vereinigung nicht erfolgt. Im Gegenteil, ihr wohnt
eine prononcierte Wechseldynamik inne: Allemann konstatiert, dass »nicht nur
das Sternbild vom Dichter angeschaut werden will, sondern, dass es um einen
Wechselbezug geht, daß die Figur des Sternbilds erst dort ihren dichterischen
Sinn erfüllt, wo sie ihrerseits voll Bezug zum anschauenden Dichter ist und von
sich aus gleichsam anschaut« (Allemann: Zeit und Figur, 76). Der Stern bildet
das ideale Gegenüber insofern, als es dem Menschen das ›Maß des weitesten
Abstands‹ gibt. Gleichzeitig unterhält Rilke auch die Vorstellung einer Über-
windung dieses Abstands in Form einer Überwindung der Schranken zwischen
Innen und Außen. In diesem Sinne berichtet Rilke 1912 von einem Erlebnis, das
er in Spanien hatte, »da mir [...] ein in gespanntem langsamem Bogen durch
den Weltenraum fallender Stern zugleich (wie soll ich das sagen?) durch den
Innen-Raum fiel: der trennende Kontur des Körpers war nicht mehr da.« (Brief
vom 14. Januar 1919. In: RBr II, 571)
63 Vgl. Engel, der konstatiert, dass auf Grund der narzisstischen Qualität der Be-
ziehung des Kindes zur ungleichwertigen Puppe Rilkes neues »Ethos des Be-
zugs« hier nicht eingelöst werden kann. Das gelte im Übrigen auch für die
Elegien, die »von dieser Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Praxis geprägt«
seien (Engel: Rilkes Elegien, 144f.).
64 Er schreibt: »Das neue Gegenüber, das aus der Krise am Beginn des Spätwerks
hervorgeht, ist figural bestimmt. Das gilt schon für die erwartete, künftige Ge-
liebte der Zeit um 1912, es gilt für den gleichzeitig seine endgültige Gestalt
erlangenden Engel wie für die ihm verwandte Puppe, die dann 1920 ausdrück-
lich ›fernste Figur‹ genannt wird, weil sie mit dem spielenden Kind einen Dop-
pelstern bildet und ihm das ›Maß des Abstands‹ in die Hand gibt. Was die

163
Nahsein noch auf Fernsein allein, sondern lebt von der Spannung, die aus
dem Nah- und Fernsein zugleich entsteht. Dem Kind kann nicht, wie dem
Dichter, das Sternbild das ›Maß des Abstands‹ geben, vermag das Kind
doch nicht in der Beziehung zu einem solchen ›Gegenüber‹ zu ›be-stehen‹,
wie der Puppenessay statuiert. Dass der Steinbock »auf [sein] Herzgebirge
spränge«, so »Vor Weihnachten 1914«, bleibt unerfüllter, vielleicht auch
unerfüllbarer Appell. So fragt die 4. Duineser Elegie:

Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt


es ins Gestirn und giebt das Maß des Abstands
ihm in die Hand? [...]
(I, 699)

Die Antwort lautet: die Puppe.65 Als ›unechtes‹ Gegenüber ist sie natürlich
weit davon entfernt, es dem Sternbild nachzumachen. Schließlich könnte
man den ›gespanntesten Bezug‹, den die Figur idealiterweise herstellt, auch
als Formel zur Charakterisierung der idealen (reifen) Liebesbeziehung zwi-
schen zwei ebenbürtigen Partnern benutzen, zu der das Kind des Puppen-
aufsatzes sich eben als unfähig erweist, – so ›unrilkisch‹ eine solche Betrach-
tungsweise auch sein mag.66 Das erklärt auch die Tatsache, dass die figurale
Überhöhung der Puppe-Kind-Konstellation mit Entzweiung, in ›Abbruch‹
und Verrat endet. Hier herrscht das Prinzip des Entweder-Oder: entweder
projektive Identifikation oder unversöhnliche Fremdheit. Eine Synthese
beider Momente wird als noch einzulösende Utopie hingestellt.67

Puppe für das Kind, ist der Engel für den Dichter: das weiteste, maß-gebende
Gegenüber, das in seiner Unbedingtheit die künftige Geliebte noch übertrifft.
Diese neuen Gestaltungen des in den Stern-Abstand gestellten Gegenübers sind
keine Kunst-Dinge mehr. Sie sind in die Spannung bezogen und dadurch ›ge-
borener‹.« (Allemann: Zeit und Figur, 275.)
65 Entschieden ablehnen muss ich Engels Interpretation dieser Stelle, die er para-
phasierend folgendermaßen liest: »[...] wer verdeutlicht uns die Erlebnisweise
des Kindes so, daß wir begreifen, wie unendlich verschieden sie von der unseren
ist? (Engel: Rilkes Elegien, 158) Zweifelsohne ist hier etwas gemeint, das zum
Kind in direkte Beziehung tritt und ihm seinen ›Platz‹ zeigt. Es geht sicher nicht
darum, dass dem Leser als einem Dritten etwas vermittelt wird.
66 Rilkes eigene Schwierigkeiten, eine verbindliche intime Beziehung aufrechtzuer-
halten, sind biographisch wie in Äußerungen des Betroffenen reichlich belegt.
67 Wagner-Egelhaaf meint, der »grundsätzliche Dualismus« im Werk Rilkes wie
Musils lasse »nur einen doppelten Reflexionsmodus zu, nie die Einheit [...]
Malte und der Mann ohne Eigenschaften werden an dieser Einheit, die nicht zu
haben ist, verzweifeln« (Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 60; vgl. Steiner:
»Motiv der Puppe«, 144).

164
Allemann hat einen Katalog der für die Figur maßgeblichen Kompo-
nenten aufgestellt, und es ist aufschlussreich, zu heuristischen Zwecken
die Puppe auf die Frage hin zu betrachten, inwiefern sie diesen Krite-
rien gerecht bzw. eben nicht gerecht wird. Unter anderem ist von der
»raumbildende[n], respektive raumsteigernde[n] Kraft [der Figur] und
ihr[em] muldigen Charakter«, von ihrem »Spannungs- und Bezugs-Cha-
rakter« die Rede. Zudem wird der »Bewegungs-Charakter« der Figur her-
vorgehoben, »der sich auch in ihren scheinbar statisch-plastischen Ausprä-
gungen durchsetzt«.68 In Anbetracht der hier benannten Grundzüge der
idealtypischen Figur scheint es sich bei der Puppe um eine weitere Oppo-
sition zu handeln; sie scheint eine Art ›Anti-Figur‹ darzustellen. Denn in
Puppen werden gerade ihre Undurchdringlichkeit, ihre Starre und Stumpf-
heit, ihre Oberflächlichkeit akzentuiert, – alles Eigenschaften, die mit den
soeben genannten Attributen der Figur kontrastieren.69 Die Erhöhung,
die sie am Ende der unvollendeten Kindheitselegie erfährt, ist nicht von
Dauer. Ihre potentielle Figuralität wird nur visionär angedeutet; letztlich
findet sie zur anfänglichen Undurchdringlichkeit zurück: »Sie starrt mit
geweigertem Aug«.
Soll die Puppe tatsächlich in eine ihre stoffliche Gestalt transzendieren-
de Dimension erhoben werden, so ist offensichtlich, dass die unvollendete
Kindheitselegie eine solche Verwandlung keinesfalls als bereits vollzogen
hinstellt. Stattdessen inszeniert sie die De-Illusionierung des Kindes in Be-
zug auf die Puppe aufs Eindrücklichste. Eine solche Erhöhung erfährt die
Puppe erst im letzten Teil des Puppenaufsatzes, auf den sich das Augen-
merk im Folgenden richten wird. Hier dürfte auch die Antwort zu der in
der unvollendeten Kindheitselegie unbeantwortet gelassenen Frage nach
dem Verbleib der sich abspaltenden ›Hälfte‹ des Kindes zu finden sein.

68 Allemann: Zeit und Figur, 114.


69 Durch ihre Starre kontrastiert die Puppe auch mit dem ›Kunst-Ding‹, das
keineswegs als statisch zu denken ist, sondern dessen Schönheit sich »aus der
Empfindung des Ausgleichs all [der] bewegten Flächen untereinander« ergibt
(V, 157).

165
2.3. Die ›Puppenseele‹

2.3.1. Die seelische Dimension der Kindheits-Dinge


Auf den ersten, längeren Teil des Essays, der eine Art Phänomenologie
der Puppe entwickelt, folgen zwei sehr kurze Abschnitte, die die seelische
Dimension der Kindheits-Dinge beleuchten. Der erste widmet sich der
›Seele‹ einiger Spielsachen, der zweite der ›Puppenseele‹. Auch im Ver-
hältnis dieser Spielsachen zur jeweiligen ›Ding-Seele‹ und der Puppe zur
›Puppenseele‹ schlägt sich die oppositionelle Grundstruktur des Essays nie-
der. Und die Unterschiede in der Relation der anderen Spielsachen zur
jeweiligen ›Dingseele‹ und der Puppe zur ›Puppenseele‹ sind signifikant.
Diese Kontraste sollen jetzt ausgearbeitet werden.
Zunächst ruft der Schreibende die »[g]roße mutige Seele des Schaukels-
pferds« an (VI, 1070), die er als »Wellenbadschaukel des Knabenherzens«
apostrophiert und als »stolze, glaubwürdige, fast sichtbare Seele« charakte-
risiert. (VI, 1070f.) Auch ist von der »überzeugte[n] Seele der Trambahn«
die Rede, »die in uns fast überhandnehmen konnte, wenn wir nur mit
einigem Glauben an unsere Wagen-Natur in der Stube herumfuhren« (VI,
1071). Ferner von der »einfältig gefällige[n] Seele des Balls«, von der »Seele
im Geruch der Dominosteine« und der »unerschöpflichen Seele des Bil-
derbuchs«, der »Seele der Schultasche«, und schließlich von der »taube[n]
Trichterseele der braven kleinen Blechtrompete«. Alle diese seien »leutselig
und beinah greifbar« (VI, 1071). Dagegen die Puppenseele: »Nur du, [...]
von dir konnte man nie recht sagen, wo du eigentlich warst.« (VI, 1071)
Die ›Seelen‹ der hier angerufenen Kindheits-Dinge unterscheiden sich
von der Puppenseele darin, dass sie in weitgehendem Einklang mit der
äußeren Gestalt des betreffenden Dinges stehen. Die hier beobachtete,
weitreichende Konvergenz von Form und Inhalt kann zum wesentlichen
Merkmal dieser Kindheits-Dinge erklärt werden. Deswegen sei die Seele
des Schaukelpferds »fast sichtbar«, daher seien die Seelen all dieser Dinge
»beinah greifbar«, denn sie gehen sozusagen in die Gestalt dieser Dinge
ein. In der Genitivmetapher, die die Seele des Schaukelpferds als »Wellen-
badschaukel des Knabenherzens« charakterisiert, wird in Folge der meta-
phorischen Verknüpfung von Schaukel und Knabenherzen ein hohes Maß
an Empathie zwischen Kind und Kindheits-Ding suggeriert. Dasselbe gilt
für die Seele der Trambahn, die, ähnlich dem Holzpferd im »Requiem«,
in das Kind geradezu ein- bzw. übergeht und es dabei fast überwältigt. Im
Bild der »taube[n] Trichterseele« der Blechtrompete wird eine weitgehende

166
Identifikation zwischen Seele und Erscheinung impliziert, denn, wie der
Essay sagt, ist die Seele wie die Blechtrompete selbst trichterförmig.
Wohl nicht von ungefähr werden in diesem Zusammenhang zwei
Kindheits-Dinge angeführt, die eine zentrale symbolische Bedeutung, letzt-
lich auch eine ›figurale‹ Dimension im Werk Rilkes annehmen, nämlich
das Schaukelpferd (als Variante der am anderen Ort zur Figur erhobenen
Schaukel) und der Ball. Das Schaukelpferd zeichnet sich unter anderem
dadurch aus, dass es »die Mauern, die Fensterkreuze, die täglichen Hori-
zonte zum Schwanken« bringt, »als rüttelten schon die Stürme der Zu-
kunft an diesen überaus vorläufigen Übereinkünften, die im Anstehn der
Nachmittage etwas so Unüberwindliches annehmen konnten« (VI, 1071).
Das dürfte als Bild für die ›innovative‹ Perspektive des Kindes zu verstehen
sein, von der sich die Perspektive des Erwachsenen negativ abhebt: Sein
festgefahrenes Koordinatensystem legt die Horizonte durch ›Übereinkunft‹
fest. Indem diese von Kind und Puppe ›zum Schwanken‹ gebracht werden,
proben sie sozusagen den Aufstand gegen erstarrte Denkstrukturen. Mit
der Aufhebung dieses starren Koordinatensystems geht allerdings ein viel
bedeutsamerer Perspektivenwechsel einher: Die Schranken zwischen Leben
und Tod fallen.
Um diesen Aspekt des Schaukelpferdmotivs zu verstehen, bedarf es ei-
nes Blickes auf das mit ihm verwandte Schaukelmotiv. Das Gedicht ›Zu-
eignung an M...‹ widmet sich der Schaukel und verleiht ihr eine figurale
Gestalt. In der Topologie dieses Gedichts zeichnet die Bewegungslinie der
Schaukel die untere Hälfte eines in der Imagination um die obere Hälfte zu
ergänzenden, vollständigen Kreises nach. Die untere, sichtbare Hälfte des
Kreises, der in seiner Vollständigkeit von der Schaukel – sprich: vom Her-
zen des Menschen – nicht gezeichnet werden kann, ist dem Leben zuzuord-
nen, die obere, unsichtbare Hälfte dem Tod.70 Erst der ganze Kreis stellt
das vollständige ›Da-Sein‹ dar. Dem Schaukelnden in ›Schaukel des Her-
zens […]‹ gelingt es sogar für einen Moment, den Kreis fast zu vollenden:

[...] Aber von Endpunkt zu Endpunkt


meines gewagtesten Schwungs nehm ich ihn schon in Besitz:
Überflüsse aus mir stürzen dorthin und erfülln ihn,
spannen ihn fast [...]
(II, 255)

70 Vgl. Kunz, der die obere Hälfte dem (Spiegel)-»Raum der Unbetretbarkeit« zu-
ordnet (Kunz: Narziß, 99f.) in starker Anlehnung an Allemann. Vgl. Allemann:
Zeit und Figur, 205f.

167
In Puppen gelingt es dem Kind, in identifikatorischer Verbindung mit der
Schaukelpferdseele die Grenzen zwischen Leben und Tod zu sprengen, auf
die ›unbeschienene Seite des Lebens‹ zu gelangen und in den Bereich des
Todes vorzudringen: »Ach wie rissest du einen, Schaukelpferdseele, hinaus
und hinüber ins unaufhaltsam Heldische, wo man heiß und glorios unter-
ging mit der schrecklichsten Unordnung in den Haaren« (VI, 1071). Der
untergehende Held stellt bekanntlich eine symbolische Gestalt im Werk
Rilkes dar, die die Haltung der Offenheit gegenüber der ›unbeschienenen
Seite des Lebens‹ verkörpert.71 An dieser Stelle des Textes wird das Kind
implizit mit der Puppe kontrastiert: Die »flutendsten Gefühle« des Kindes,
die als solche Grenzen auflösend wirken, werden in der Puppe, in die sie
hineinprojiziert werden, »zur Masse, [...] zu einer perfiden, gleichgültigen
Unzerbrechlichkeit« (VI, 1071). Sie erstarren.
In der Pendelbewegung der Schaukel kann man aber auch, begreift man
diese als die perpetuierte Bewegung auf Etwas zu und von diesem Etwas
wieder weg, – wobei im oben genannten Gedicht dieses Etwas die ›köstli-
chen Früchte‹ des Baumes sind –, eine Konfiguration ständigen Alternie-
rens zwischen weitmöglichster Nähe und weitmöglichster Ferne sehen. In
dieser Eigenschaft bietet sich die Schaukel, wie Marcel Kunz scharfsinnig
bemerkt, als ›narzisstisches‹ Symbol an, d.h. als Bild für den ›Lebensraum
des Narziss‹. Im ständigen Alternieren zwischen Nah- und Fernsein lasse
sich zumindest immer wieder für einen Augenblick erreichen, was auf Dau-
er nicht möglich ist: das Ankommen, das in Kunz’ Narziss-Paradigma einer
Vereinigung mit dem Spiegelbild gleichkommt. Bei der Schaukel gehe es
»einzig darum, [...] diese Augenblicke des [fast Erreichten] zu wiederholen«.
Das leiste die Schaukel »im immer wieder erneuten möglichen Nahesein«.72
Dass es hier, wie Kunz betont, ȟberhaupt nicht um ein Erreichen, sondern
um das mögliche Nahesein am ›immer zu Hohen‹, um das ›fast‹-Erreichen
geht«,73 wird verständlich, wenn man bedenkt, dass das Ankommen die
Vernichtung der eigenen Existenz bedeutet. Kunz beschreibt das Narziss’

71 Ja, der Rilke’sche Held suche geradezu den Untergang, »seine eigentliche Ge-
burt, weil er erst in dieser äußersten Möglichkeit seines Daseins zu seinem ei-
gentlichen Sein, zur Existenz durchstößt«, so O.F. Bollnow (Rilke: Stuttgart
1951, 213). Kunisch sagt vom Rilke’schen Helden, er habe »allen ›Untergang‹
schon hinter sich« und werde deswegen in der 6. Duineser Elegie »zu einer der
exemplarischen Gestalten der Freiheit, die ihren Ort außerhalb des Schicksals
und des Gegenübers gewonnen hat« (Kunisch: »Problem der Mystik«, 199).
72 Vgl. Kunz: Narziß, 104.
73 Kunz: Narziß, 98.

168
Situation inhärente Paradoxon so: »Narziss verharrt vor dem ›noch nicht‹
erreichten Gegenüber, er weiß aber, dass dieses Gegenüber im Augenblick
der Vereinigung ›nicht mehr‹ sein wird.«74 Das Gegenüber wird deswegen
›nicht mehr‹ da sein, weil Narziss selbst im Zuge der ›Vereinigung‹ unter-
gehen wird. In dieser Topologie, die die Bewegung der Schaukel entwirft,
konfiguriert sich der Widerstreit zwischen der Sehnsucht nach Vereinigung
und nach Getrenntsein. Das Gedicht stellt also eine eindeutige Polarität
auf; den beiden ›Enden‹ entsprechen gleichwertige bzw. in gleichem Maße
ausgeprägte Bestrebungen: nach Nah- und Fernsein, nach Eins- und Ge-
trenntsein. Beides bereitet (halbe) Lust.75
Die Genitivmetapher, die den Auftakt zur »Zueignung an M« bildet, –
»Schaukel des Herzens« –, wie jene zweigliedrige Genitivmetapher, die den
zweiten Teil des Puppenaufsatzes einleitet, korreliert Schaukel und Herz.
Schließlich schien die auf ihren Bewegungsablauf reduzierte Schaukel das,
um Malte zu zitieren, ›äußere Äquivalent‹ eines psychischen Dramas zu
bilden. Insofern leuchtet es ein, wenn sie mittels dieser Zueignung und
Essay gemeinsamen Metapher dem Herzen gleichgesetzt wird. Das Kindes-
herz bietet sich in besonderem Maße als Analogon an, denn der psychische
Standort des Rilke’schen Kindes ist in der Mitte zwischen Vereinigung
(bzw. Allbezug) und Getrenntsein anzusiedeln, zwischen den beiden »En-
den des Seils, diese[n] Hälften der Lust«, wie es in der Zueignung heißt.
Bezieht man das Schaukelmotiv speziell auf den Puppenaufsatz, so kann
man konstatieren: Die Seele des Schaukelpferds ist deswegen »glaubwür-
dig«, »fast sichtbar«, weil in ihrer Bahnlinie Seelisches eine äußere Form,

74 Kunz: Narziß, 94.


75 Insofern halte ich Kunz’ Betonung der Sehnsucht nach Nähe, – es gehe »einzig
darum, [...] diese Augenblicke des [fast Erreichten] zu wiederholen« (Kunz:
Narziß, 104) –, für einseitig. Ausgewogener ist Kunz’ Interpretation der Am-
bivalenz in der Geste gleichzeitiger Werbung und Abwehr in der 7. Duineser
Elegie, wo es heißt: »Glaub nicht, daß ich werbe. / Engel, und würb ich dich
auch! Du kommst nicht. / Denn mein Anruf ist immer voll Hinweg, [...]« (I,
713). Er interpretiert die Zweideutigkeit des Satzes »Anruf ist immer Hinweg«,
der zwei kontradiktorische Lesarten des Wortes ›Hinweg‹ ergibt, – die eine mit
der Betonung auf der ersten Silbe (›Hìnweg‹), die andere mit der Betonung auf
der zweiten (›Hinwég‹) –, als gewollte Ambivalenz. Nimmt man ein solches
Changieren der semantischen Bestimmung dieses Wortes wahr, so scheint es die
figurale Bewegung der Schaukel zu kopieren. Vgl. die etwas anders ausfallende
Topologie Kochs in Bezug auf die Bedeutung der Kindheitserinnerungen in den
Aufzeichnungen, bei der Kindheit und Erwachsenenalter sozusagen als die beiden
›Bezugspunkte‹ einer ähnlichen ›Hin- und Herbewegung‹ identifiziert werden
(siehe Koch: Mnemosyne, 249).

169
eine Ausdrucksform findet. Die Tatsache, dass das Schaukelpferd ein äu-
ßeres Äquivalent für das Kindesherz darstellt, begründet die empathische
Beziehung zwischen dem Kind und diesem Spielzeug. Seelischer ›Gehalt‹
und äußere ›Gestalt‹ könnten kaum eine engere Verbindung eingehen als
hier in der Verknüpfung von Kindesherz und Schaukelpferd.
Konnte hier die Schaukelpferdseele als ›äußeres Äquivalent‹ des Kinder-
herzens, der Kinderseele identifiziert werden, so scheint die »einfältige Seele
des Balls« (VI, 1071) ein weiteres solches Äquivalent darzustellen. Auch
der Ball verfügt über ein Potential an ›Figuralität‹, das Rilke sich in einer
Reihe von dichterischen Zeugnissen zu Nutze macht, am eindrücklichsten
im mustergültigen ›Ding-Gedicht‹ »Der Ball« aus den Neuen Gedichten.
Ist für die Schaukel bzw. das Schaukelpferd als Figur die Pendelbewegung
von konstitutiver Bedeutung, so ist es beim Ball die Bewegung des Steigens
und Fallens, die sein ›figurales‹ Potential ausmacht. Auch hier werden die
Konturen des Immanenten und Transzendenten figural nachgezeichnet,
auch hier wird die Möglichkeit einer Interaktion dieser beiden Sphären
suggeriert. Auf Grund seiner besonderen Charakteristika ist der Ball aber
auch dazu prädestiniert, ein ›Kindheits-Ding‹ im idealen Sinne zu werden.
Er ist, wie das Gedicht »Der Ball« sagt:

zu wenig Ding und doch noch Ding genug,


um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten:
[...]
(I, 639)

Somit nimmt er eine ähnliche Zwischenstellung ein – zwischen der In-


nenwelt des Subjekts und der Außenwelt der Objekte – wie das Spielzeug
im »Requiem«, wie die Puppe. Als »doch noch Ding« gehört er halb der
Außenwelt an, als »zu wenig Ding« halb einer nicht näher spezifizierten
›Innenwelt‹, aber es besteht nicht die Gefahr, so das Gedicht, dass er »un-
sichtbar plötzlich in uns ein[...]gleiten« würde. Man erinnere sich an die
Furcht des Kindes, die Welt könnte »unabgegrenzt in uns über[gehen]«
(VI, 1067).76

76 Vgl. Allemann, der diese Stelle in genau umgekehrtem Sinne auffasst: »[...] die
Substanz des Balls hält sich noch in der Dingwelt, der Außenwelt, aber die
Möglichkeit, daß sie plötzlich unsichtbar ins Innere träte, ist bereits unmittelbar
gegeben« (Allemann: Zeit und Figur, 60). Wie mir scheint, ist die Aussage des
Gedichts eindeutig: Der Ball ist »doch noch Ding genug, um nicht [...] in uns
einzugleiten« (Hervorhebung d. Vf.).

170
Ein Gedicht aus dem Zyklus »Im Kirchhof zu Ragaz Niedergeschriebe-
nes« widmet sich dem Ball-Motiv und setzt es in spezifischen Bezug zum
Kind. Die Idee hinter dem Gedicht mit dem Titel »Das (nicht vorhan-
dene) Kindergrab mit dem Ball« ist sehr einfach: Als Grabfigur, d.h. als
Erinnerungsmal an das Kind, eigne sich statt des herkömmlichen Kreuzes
vielmehr der Ball, dieses »kleine[...] Ein-mal-eins / des Todes«. Der Spre-
chende im Gedicht, der das fiktive Kind anredet, beschwört:

[...] es liege der Ball,


den du, zu werfen, dich freutest,
– einfacher Niederfall –

in einem goldenen Netz


über der tieferen Truhe.
(II, 172)

Das Gedicht schafft eine ähnlich extensive Identifikation zwischen Kind


und Ball wie die in Puppen hergestellte Identifikation zwischen Kind und
Schaukelpferd(seele). Die Phänomenologie des Balles wird vom begrenzten
Horizont des Kindes aus erfasst. Die Dimensionalität, die er im Ball-Ge-
dicht der Neuen Gedichte77 als Gleichnis für die Wechseldynamik von Im-
manenz und Transzendenz erhält, reduziert sich hier entscheidend; er wird
zum »kleine[n] Ein-mal-eins / des Tods« (Hervorhebung der Vf.). Dem
entspricht auch der engere Bewusstseinshorizont des Kindes. Es wird zwar
wegen seiner Fähigkeit zur Integration von Leben und Tod gerühmt, die-
se Fähigkeit ist aber nicht erworben, sondern liegt im Entwicklungsstand
seines Bewusstseins begründet. Die vom Erwachsenen erlittene Spaltung
des Daseins in Leben und Tod wieder aufzuheben gestaltet sich weitaus
schwieriger. In Entsprechung zur oben zitierten Formel könnte man den
Ball, sofern er sich auf die Existenz des Erwachsenen bezieht, als ›das große
Ein-mal-eins des Todes‹ bezeichnen.
Obwohl Puppen keinen expliziten Vergleich zwischen Kind und Ball an-
stellt, tut dies das zu Ragaz niedergeschriebene Gedicht. Denn der Tod des
Kindes wird mit dem »einfache[n] Niederfall« des Balles verglichen. Das
Motiv erfährt hier eine Zurücknahme der transzendenten Dimension, die
in der Attribuierung des Kindesballs in Puppen als ›einfältig‹ und ›gefällig‹
– man beachte hierin den zweifachen Anklang an ›fallen‹ – auch angedeutet
zu sein scheint. Wo es also, wie in »Der Ball«, um die Beziehung des Er-

77 Siehe u.a. die Interpretation von Engel in: Rilkes Elegien, 116ff.

171
wachsenen zu diesem Gegenstand geht, wird die sich im Bewegungsablauf
des geworfenen Balls manifestierende Transzendenz-Immanenz-Polarität
besonders stark akzentuiert, – Wurf, Wende, Fall –, während beim Ball,
der die Funktion eines Analogons zum Kind erhält, die Bewegung des
Fallens und die anschließende Ruhe das dichterische Bild bestimmen. In
seinem goldenen Netz ruhend bildet der Ball das tote Kind in »der tieferen
Truhe« nach, – beide »befolgen dasselbe Gesetz«. Zum einen hängt das
natürlich mit der Allegorisierung des Balls in diesem Gedicht zusammen.
Sein »einfacher Niederfall« soll für den Kindestod stehen. Das ist aber
noch nicht alles. Auch in Puppen wird in der Gestaltung des Ballmotivs
die Betonung nicht auf Bewegung und Wechseldynamik gelegt, wie im
Ball-Gedicht der Neuen Gedichte, sondern eben auf die ›Gefälligkeit‹ und
›Einfältigkeit‹ des Balls, und das in einem Kontext, in dem der Tod gar
nicht thematisiert wird. Die Ausgestaltung des Ballmotivs im spezifischen
Kontext der Kindheitsthematik, die die Polarität des Motivs in den Neuen
Gedichten vermissen lässt, dient der engeren Verknüpfung von ›Form‹ und
›Gehalt‹, von ›Gestalt‹ (des Balls) und ›Seele‹ (des Kindes): Für das Kind
hat ein solcher Dualismus zwischen Immanenz und Transzendenz eben
keine Relevanz.
Obwohl in Puppen der Ball nicht, wie das Schaukelpferd, mit der Pup-
pe explizit kontrastiert wird, ergibt ein Vergleich dieser beiden Gestalten
bald auch ein oppositionelles Verhältnis. Wie die Puppe fungiert hier auch
der Ball für den Menschen allgemein, so das letzte Gedicht aus der Trilogie
»Im Kirchhof zu Ragaz Niedergeschriebenes«, als eine Art Projektionsob-
jekt, – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne:

Wir werfen dieses Ding, das uns gehört,


in das Gesetz aus unserm dichten Leben,
[...]
Da schwebt es hin und zieht in reinem Strich
die Sehnsucht aus, die wir ihm mitgegeben –,
(II, 173)

Indem wir den Ball werfen, ›projizieren‹ wir also unsere Gefühle – »die
Sehnsucht« – aus uns hinaus: hier in den Ball, dort in die Puppe hinein.
Als Projektionsobjekt unserer Gefühle unterscheiden sich Puppe und Ball
aber grundlegend in Hinblick auf das, was mit diesen Gefühlen geschieht.
Beim Ball ist die ›Rückkehr‹ gesichert. Bei der Puppe dagegen nicht: »ge-
füllt mit der Hälfte des Daseins« stürzt sie ab. Der Ball »zieht in reinem
Strich / die Sehnsucht aus«, zieht also die »ihm mitgegebene[n]« Gefühle

172
in die Höhe, »sieht uns zurückgeblieben, wendet sich / und meint, im Fall,
der zunimmt, uns zu heben«. Sein Fallen ist zugleich ein Steigen. Der Ball
zieht uns mit herauf; es kommt zu einer uns ›erhöhenden‹ Interaktion mit
ihm, – allerdings erst im Erwachsenenalter, denn der Ball der Kindheit ist,
wie wir sehen konnten, ›einfältig‹ und ›gefällig‹.
Zusammenfassend halte ich fest: Die beiden hier beleuchteten und in
den größeren dichterischen Kontext gestellten Kindheits-Dinge, das Schau-
kelpferd und der Ball, zeichnen sich durch weitgehende Übereinstimmung
zwischen Form und Gehalt, Gestalt und Seele aus, und stehen, auf je
eigene Weise, in einem identifikatorischen Verhältnis zum Kind. Dagegen
zeichnet sich die Puppe durch eine besonders markante und deutungsbe-
dürftige Diskrepanz zwischen der äußeren Gestalt und der ›Seele‹ aus, die
im Gegensatz zur ›sichtbaren‹ Schaukelpferdseele auf weite Strecken hin
unsichtbar bleibt. Dieser ›Puppenseele‹ ist der letzte Abschnitt des Essays
gewidmet. Sie wird auch ins Zentrum der folgenden Überlegungen ge-
stellt.

2.3.2. Metamorphosen
»O Puppenseele, die Gott nicht gemacht hat [...]«, so der Auftakt zum
letzten Abschnitt des Essays. Wie haben wir uns diese »von einer unbe-
sonnenen Fee launisch erbetene, von einem Götzen mit Überanstrengung
ausgeatmete Dingseele« vorzustellen, die »wir alle […] erhalten haben und
aus der keiner sich völlig zurücknehmen kann« (VI, 1073)? Zu denken ist
an eine der Materie anhaftende Schicht oder Sphäre der Seele, wenn man
so will, eine äußere Gestalt der Seele, die im Idealfall – wie beim Ball oder
Schaukelpferd – mit der inneren weitgehend im Einklang steht. Ich hatte
bereits konstatiert, die Puppe erfahre einen solchen Einklang nicht, sie sei
Opfer einer un-›heil‹-vollen Spaltung in Stoffliches und Seelisches. So ist
wohl die eigentliche Seele, die in der Lage wäre, die Ebene des materiellen
›Puppendings‹ zu transzendieren und, in der visionären Vorstellung der
unvollendeten Kindheitselegie, mit dem Kind eine ›figurale‹ Beziehung
einzugehen, »nie recht getragen worden«. Sie ist, so der Essay, »immer
nur, beschützt von allerhand altmodischen Gerüchen, in Aufbewahrung«
gewesen, – »wie die Pelze im Sommer« (VI, 1073).
An dieser Stelle tritt der Essayist in die erzählerische Gegenwart und
erinnert sich an die Pritzelschen Wachspuppen. Auf sie bezieht sich das
folgende Szenario, das eine bislang höchstens unter der Oberfläche mit-
schwingende Bedeutungsebene des Wortes ›Puppe‹ ins Spiel bringt, deren

173
symbolischer Gehalt im ausklingenden Bilderkomplex des Essays zur vollen
Entfaltung gelangt:

[...] siehe, da sind nun in dich die Motten gekommen. Zu lange hat man
nicht mit dir gerührt, nun schüttelt dich eine Hand, besorgt und mutwillig zu-
gleich, – sieh sieh, da flattern aus dir alle die kleinen wehleidigen Falter hervor,
unbeschreiblich sterbliche, die im Augenblick, da sie zu sich kommen, schon
anfangen, von sich Abschied zu nehmen. (VI, 1073)

Eine zweite lexikalische Bedeutung des Wortes ›Puppe‹ wird aktiviert und
zum Bildspender für dieses Gleichnis am Schluss des Essays: die Puppe in
ihrer zoologischen Bedeutung als »in völliger Ruhestellung in einer Hülle
befindliche[r] Insektenlarve im letzten Entwicklungsstadium, in dem sie
sich zum geschlechtsreifen Insekt entwickelt«.78 Eine Verknüpfung die-
ser Verwendung des Wortes ›Puppe‹ mit dem Spielzeug der Kindheit fin-
det auf der Bildebene statt. Demnach ist die ›Puppenseele‹ wohl in der
Wachspuppe zu finden, in der sie ›präserviert‹ wurde. Man wittert hier
ein Wortspiel. Wo es heißt, die Pritzelschen Wachspuppen seien »die Er-
wachsenen zu jenen [...] Puppen-Kindheiten« (VI, 1064), so lese man ›die
Er-wachs-enen‹. Diese ›er-wachs-enen‹ Puppen sind »in Aufbewahrung«
gewesen und haben Motten bekommen. Wenn man die Puppen aus ihrer
Glasvitrine herausnimmt und ihnen die Hand schüttelt, flattern »alle die
kleinen wehleidigen Falter[n]« hervor. Dass die Falter, von denen hier die
Rede ist, von Motten herstammen, ist signifikant, denn im Gegensatz zum
traditionell positiv besetzten Schmetterling gilt die Motte als Schmarotzer.
Das Bild, das aus Motten Falter macht, suggeriert also eine zweischichtige
Metamorphose: die Gestalt verändernde Verwandlung der Mottenlarve in
die Motte und die Erhöhung der Motte zum Falter, sprich zum Schmet-
terling.79 Dem entspricht die Aufspaltung der Puppe in ›Puppending‹ und

78 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim/Wien/


Zürich 1980. Da es mir bei den folgenden Anmerkungen zur Puppe in ihrer
zoologischen wie kulturgeschichtlichen Bedeutung darum geht, gewisse für die
Interpretationsarbeit relevante Sachverhalte auf möglichst transparente Weise zu
vermitteln, begnüge ich mich hierbei weitgehend mit knappen, aber natürlich
auch zum Teil sehr vereinfachten Darstellungen, wie sie die hier zitierten Lexika
liefern.
79 Zoologisch gesprochen besteht allerdings kein qualitativer Unterschied zwischen
Motte und Schmetterling. Erstere bilden eine Untergruppe der Schmetterlin-
ge. Auf der konnotativ-symbolischen Ebene ist aber die Motte im allgemeinen
negativ, der Schmetterling im allgemeinen positiv besetzt. Siehe Brockhaus En-
zyklopädie, Mannheim 191991, Bd. 15, 144.

174
›Puppenseele‹80 und die damit einhergehende negative respektive positive
Bestimmung der beiden Entitäten.
Im nächsten Absatz wird dieses Bild weiter entfaltet, und es werden
zusätzliche Anhaltspunkte für die Deutungsarbeit geliefert:

So haben wir dich am Ende recht zerstört, Puppenseele, indem wir dich in
unseren Puppen zu pflegen meinten; sie waren wohl schon die Larven, die dich
aus-fraßen-, da erklärt es sich auch, daß sie so dick und so träge waren und daß
an sie keine Nahrung mehr anzubringen war. (VI, 1073)81

Ein eigenwilliges Bild. Man stelle sich die ›Puppenseele‹ als die stoffliche
Umgebung für die Larve, d.h. für das ›Puppending‹, vor. Indem aber die
Larven ihren ›Nährstoff‹ assimilieren, höhlen sie die Seele aus: Diese wird
›aus-gefressen‹. Zu diesem Bild ist Dreierlei zu bemerken: Erstens zeigt
sich hier in aller Deutlichkeit die pejorative Bestimmung des ›Puppen-
dings‹. Das wurde an Hand des Mottenbilds bereits angedeutet. Denn
Motten fressen mit Vorliebe die kostbarsten Stoffe. Im übrigen gibt es auch
Schmetterlingsarten, die Wachs fressen.82 Somit erhält das ›Puppending‹
den Charakter eines Schädlings, eines Parasiten, der das Kostbarste, die
Seele, ›aus-frisst‹. Das führt zum zweiten Punkt: Hier erfolgt eine eigen-
willige Umkehrung des gängigen Bildes zur Darstellung solcher Dualismen
von Geist bzw. Seele und Materie. Hier wird nämlich die ›Puppenseele‹
zur Hülle erklärt, während man das ›Puppending‹ ins Innere verlegt: in
die Sphäre, wo herkömmlicherweise das Seelische angesiedelt wird. Und
drittens: Die im ersten Teil des Essays ausgearbeiteten Charakteristika der
Puppe, darunter ihre Undurchdringlichkeit und ihre Trägheit, werden im
Nachhinein auf diese zweite Bedeutungsebene übertragen und von hier aus
erklärt. Die Puppe sei deswegen »so dick und so träge gewesen«, so un-
empfänglich für jegliche Nahrung, ob psychischer, geistiger oder seelischer
Natur, weil sie sich an der Puppenseele bereits ›vollgefressen‹ habe.
Betrachten wir die zoologische Ebene: Das Wort ›Larve‹ bezeichnet
zum einen das »frühe Entwicklungsstadium bestimmter Tiere, das im Hin-

80 Rilke selbst verwendet den Ausdruck ›Puppending‹ nicht. Er wird im Folgen-


den verwendet, um die stoffliche Gestalt der Puppe von der ›Puppenseele‹ zu
unterscheiden.
81 Angelika Ebrechts Deutung dieser Passage veranschaulicht meines Erachtens,
wie sehr man am poetischen Gehalt des Essays ›vorbeiredet‹, wenn man ihn als
Symptom für eine wie auch immer geartete psychische Störung seines Verfassers
betrachtet. Siehe Ebrecht: »Rettendes Herz«, 166.
82 Siehe Der kleine Pauly. Lexikon der Antike, München 1975, Bd. V, 20.

175
blick auf die Gestalt [u. Lebensweise] von der endgültigen, ausgewachsenen
Gestalt [u. Lebensweise] stark abweicht«.83 Die Larve, d.h. die Raupe, die
in der Gestalt sich tatsächlich von der des Schmetterlings stark unterschei-
det, ›verpuppt‹ sich, nistet sich ein und entwickelt im Kokon allmählich
ihre Endgestalt. Sie schlüpft und wird zum Schmetterling. Die Ähnlichkeit
zwischen dem aus Fäden gesponnenen Kokon und der aus Stoff gefer-
tigten Puppe liegt auf der Hand. Dabei ist die Puppe im zoologischen
Sinne – gemeint ist eine Insektenlarve im letzten Entwicklungsstadium –
»fast stets eine Reliefpuppe (Pupa obtecta): Die Gliedmaßen des künftigen
Falters sind reliefartig erkennbar«.84 Demnach kann die Puppe als eine
verschleierte Vorform des ausgewachsenen Schmetterlings gesehen werden,
die die letzte Phase der Metamorphose andeutet, denn sie ist reliefartig. Im
zoologischen Sinne erhält der Kokon in Analogie zum ›Puppending‹, d.h.
zur stofflichen Hülse, ›Vorwand‹-Charakter; er bildet eine ›Vor-Wand‹ für
den im Stadium der Metamorphose begriffenen Schmetterling, die seine
zukünftigen Konturen in ungenauer Weise durchschimmern lässt.85 Im
Übrigen stammt der Begriff ›Metamorphose‹, der gerne im übertragenen
Sinne als Synonym für seelisch-geistige Verwandlungsvorgänge verwendet
wird, aus der Insektenkunde.
Wiederum sei darauf hingewiesen, dass das Wort ›Larve‹ ursprünglich
eine ganz andere Bedeutung hatte, von der die zoologische Bezeichnung
abgeleitet wurde. Im späten Mittelalter bedeutete ›larve‹ ›Gespenst, Maske‹,
aus dem Lateinischen ›larva‹, wiederum abgeleitet von ›lar‹: Schutzgeist.86
Die ›Laren‹ waren altrömische Schutzgeister der Familie, deren Abbildun-
gen (in Form von Statuetten oder Reliefs) in einem Schrein im Innern des
Hauses aufgestellt wurden.87 In Anspielung auf diese Figuren steht ›Larve‹

83 Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim/Wien/Zü-


rich 1980.
84 Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden 171973, Bd. 16, 757.
85 Man darf allerdings nicht vergessen, dass bei Rilke der Begriff ›Vorwand‹ sich
auf eine ganze Reihe von Motiven und Gestalten bezieht, auf die eine sol-
che spezielle Bedeutungsnuance nicht zutrifft. Die Bedeutung dieses Begriffs
erschöpft sich also nicht in dieser auf einen spezifischen Kontext bezogenen
Deutung.
86 Vgl. auch: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. von Hubert Cancik
und Helmuth Schneider, Stuttgart/Weimar 1999, Bd. VI, 1156. Bezogen auf die
Welt der römischen Antike heißt es: »Das Wort [›larva‹] bezeichnet auch eine
Maske, die die Züge eines Gespenstes hat [...].«
87 Siehe Der neue Pauly, Bd. VI, 1149; siehe auch Meyers Neues Lexikon, 21973,
Bd. 8, 371 bzw. Brockhaus Enzyklopädie; Mannheim 191991, Bd. 13, 87.

176
denn auch für ›Maske‹ im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, wobei
das Wort im letzteren Fall eine weitgehend pejorative Bedeutung erhält:
›das Gesicht hinter einer Larve verstecken‹, ›eine Larve tragen‹ im Sinne
von ›nicht das wirkliche Wesen zeigen‹ werden als mögliche Verwendun-
gen des Wortes angegeben. Schließlich entsteht das Adjektiv ›larviert‹ im
Sinne von ›versteckt‹, ›verborgen‹, das in der Medizin zur Beschreibung
verborgener und versteckter Krankheiten benutzt wird: »Die Depression
ist in diesem Stadium larviert.«88
Die Laren waren Rilke mit Sicherheit ein Begriff, hieß doch sein erster,
1896 veröffentlichter Gedichtzyklus Larenopfer. Stellt man das Wort ›Larve‹
in diesen etymologischen Kontext, so kommt es zu einer bemerkenswerten
Verdichtung und Verquickung der verschiedenen Bildelemente und -ebe-
nen des Puppenmotivs. Ein Vergleich zwischen Larenstatuette bzw. Laren-
relief und Puppe in Hinblick auf die Tatsache, dass beide Abbildungen des
Menschen darstellen, ergibt dieselbe Negativ-Positiv-Kontrastierung, wie
sie in der Gegenüberstellung der Puppe mit ähnlichen Vergleichsobjekten
durchweg festgestellt wurde. Die Larenabbildungen sind wohl der Kate-
gorie des ›Kunst-Dings‹ zuzuordnen, während die Puppe hier als ›Anti-
Kunstding‹ bezeichnet wurde. Es steht Maske im erhöht-ästhetischen Sinne
gegen Maske im abwertenden Sinne: Als Larve verstelle die Puppe den
Blick auf das Wesentliche, sie sei als ›Vor-Wand‹ im negativen, wirklich-
keitsverfälschenden Sinne zu verstehen. Letztlich enthält die semantische
Bestimmung des Wortes ›Larve‹ mitunter Elemente des Heimtückischen,
das der Puppe auch bescheinigt wird, am deutlichsten in der unvollen-
deten Kindheitselegie, wo sie als Verräterin des Kindes hingestellt wird.
Ein geistesgeschichtliches Detail sei noch angemerkt. Dass zu altrömischen
Zeiten die Abbildungen der Laren in einem Schrein standen, lässt einen an
die Pritzelsche Wachspuppensammlung denken, die in einer Vitrine oder
Ähnlichem ausgestellt wurde.

88 Siehe Duden: Das große Wörterbuch, 8, 2024. Interessant ist in diesem Zusam-
menhang der in den Städten Mittelitaliens gepflegte Kult der ›lares publici‹, wie
er im Neuen Pauly beschrieben wird als drei Tage andauerndes Fest, das an den
Straßenkreuzungen bei den Larenkapellen stattfand. Wie berichtet wird, hängt
jede Familie an den Straßenkreuzungen »so viele wollene Puppen und Bälle auf,
wie Freie bzw. Sklaven im Haus wohnten. [...] Den Laren opferte man Kuchen
[...], Knoblauch und Mohnköpfe.« (Der neue Pauly, Bd. VI, 1148.) In Bezug
auf den Kult der ›lares privati‹ liest man unter anderem: »Als Zeichen des Endes
ihrer pueritia (›Kindheit‹) weihten die Bräute [den Laren] die Puppe, die Bälle,
das Haarnetz und die Binde der Brust [...].« Ebenda, 1149.

177
Für eine Deutung dieser Zusammenhänge, die dem Leser zu einem
besseren Verständnis des letzten, entscheidenden Abschnitts des Essays
verhelfen soll, bedarf es aber noch eines weiteren Blickes auf die kultur-
geschichtlichen Hintergründe der hier relevanten Motive. In der Regel
wurden die Laren – als Schutzgeister der Familie – und der Genius – als
Schutzgeist und »göttliche Verkörperung der im Mann wirksamen zeugen-
den Kraft«89 – zusammen abgebildet.90 Ferner erfährt man, dass seit dem
17. Jahrhundert »v[or] a[llem] in der Kunst die Bez[eichnung] Genien als
Gattungsname auf männl[iche] und weibl[iche] Flügelgestalten übertra-
gen« wurde.91 Schließlich erhält die Bezeichnung ›Genius‹ in ihrer allge-
meinen Verwendungsform die Bedeutung von »höchste[r] schöpferische[r]
Geisteskraft« bzw. sie steht für einen Menschen, der solche besitzt. Ein
letztes kulturgeschichtliches Faktum sei noch angeführt. Über die Kultur-
geschichte des Schmetterlings wird berichtet:

Im Altgriechischen wurde das Wort Psyche (Seele) auf Nachtfalter übertragen.


Man dachte sich die Seelen der Verstorbenen als kleine geflügelte Wesen, die
an den Gräbern herumfliegen. [...] In der christlichen Symbolik ist der Schmet-
terling einerseits Sinnbild eines flatterhaften Wesens von vergehender Schönheit
und kurzer Lebensdauer, andererseits Sinnbild der Auferstehung.92

Dieser kleine Ausflug in die Symbolgeschichte des Schmetterlings kann


wichtige Anhaltspunkte für die Interpretation des Puppenmotivs liefern.
Es lässt sich eine Vielfalt von Verbindungslinien zum Bilderkomplex in
Puppen feststellen.
Der Selbstvorwurf des Sprechenden in Puppen, wonach wir, die Men-
schen, die Puppenseele »recht zerstört [hätten], indem wir [sie] in un-
seren Puppen zu pflegen meinten«, besagt, dass wir ›Puppenseele‹ und
›Puppending‹ für Eines hielten und die ›Puppenseele‹ in die Gestalt des
›Puppendings‹ projizierten, indem wir sie immer dort suchten, anriefen,
indem wir so taten, als ob sie darin sei. Diese Aussage bestätigt die oben
formulierte Deutung, die die Puppe zum Projektionsobjekt für das Kind
erklärte. Die ›Puppenseele‹ erweist sich demnach als unsichtbarer Träger all

89 Brockhaus, 191991, Bd. 8, 300.


90 Siehe Der neue Pauly, Bd. IV, 915ff; siehe auch Brockhaus, 191991, Bd. 8, 300.
Dort liest man: »Auf pompejan[ischen] Wandgemälden ist der G[enius] des
Hausherrn in der Gestalt eines am Hausherd opfernden Mannes dargestellt,
mit Füllhorn und Schale und meist inmitten zweier Laren.« (300)
91 Brockhaus, 8, 300.
92 Brockhaus, 171973, Bd. 16, 757.

178
der authentischen Kindheitsgefühle, die der Puppe anvertraut wurden, als
Träger all der authentischen Kindheitserlebnisse, die die Puppe als ständige
Begleiterin des Kindes ›miterleben‹ durfte. Letztlich kommt es also zu einer
Entsprechung von Kinderseele und ›Puppenseele‹. Die Puppenseele verkör-
pert den ›präservierten‹ Geist der Kinderzeit, der sich als das ›Eigentliche‹
hinter der ›Vor-Wand‹ ›entpuppt‹.93
Aber obwohl das ›Puppending‹ als Larve im abwertenden Sinn sich pa-
rasitär und heimtückisch verhält und als solche das Kostbarste, d.h. die au-
thentischen Erlebnisse der Kinderzeit und die damit verbundenen Gefühle
zu zerstören droht, erfüllt es doch auch eine positive Funktion in seiner
›Laren‹-haftigkeit. Man entsinne sich der Tatsache, dass im altrömischen
Denken die Laren den Genius umgeben, d.h. dass sie als Schutzgeister der
»höchste[n] geistige[n] Schöpferkraft« fungieren. Ich schrieb dem ›Puppen-

93 Im Einklang mit dieser Deutung ist eine im Gespräch mit Magda von Hatting-
berg über die Pritzel’schen Puppen fallende Äußerung, die gemacht wurde in
Reaktion auf ihren Gedanken, die Puppe sei doch »die Vertraute ihrer Kindheit«
gewesen, der sie ihre »Nöte und Erlebnisse« erzählt habe, die alles verstanden
habe. »›Das lag aber nur an dir‹» – so Rilke – »›denn du meintest eine Seele, die
Puppenseele. Du hast in deiner Schöpferfreude ihr deine eigene Seele gegeben
und dann war sie in ihr – durch dich.« (von Hattingberg: Rilke und Benvenuta,
203f.) Unter Bezugnahme auf dieses Gespräch kommt Steiner zu dem Ergebnis
– ganz im Sinne von Stephens –, dass die Puppenseele weder im Kind noch in
der Puppe zu orten sei, sondern »im reinen Bezug zwischen Puppe und Ich«
liege. Sie werde von uns deswegen »zerstört«, weil wir sie »in der vergänglichen
Stofflichkeit des ›Weniger-als-ein-Ding‹» sehen und »nicht im reinen Bezug«
(Steiner: »Motiv der Puppe«, 141). Worin dieser ›reine Bezug‹ bestehen soll, sagt
Steiner hier nicht. Darüberhinaus überzeugt diese Argumentation nicht, denn
wenn die Puppenseele tatsächlich im ›reinen Bezug‹ ist, kann sie wohl kaum
dadurch ›zerstört‹ werden, dass wir sie im ›Puppending‹ zu sehen meinen. Wenn
Steiner behauptet, die Wachspuppen der Lotte Pritzel seien »die wahre Gestalt
dieses in der Puppe materialisierten Scheinverhältnisses« (ebenda, 141), so ver-
fehlt er die Komplexität dieser Gestalt, deren Vielschichtigkeit erst durch die
Aktivierung der zweiten Bedeutungsebene des Wortes ›Puppe‹ konstituiert wird.
Etwas weiter unten bezeichnet Steiner den Bezug zwischen Puppe und Kind als
rein, aber nur, insofern als diese »als zwei Seiende [erscheinen], die ursprüng-
lich getrennt sind und einander nicht überfordern (konkret gesprochen: indem
das Kind sich der Dinghaftigkeit der Puppe bewußt ist [...]« (ebenda, 144). Es
scheint mir jedoch äußerst problematisch, die Puppe als vom Kind getrenntes
›Seiendes‹ betrachten zu wollen, konstatierte ich doch das Angewiesensein der
Puppe auf das Kind als das, was ihr ihre besondere Bedeutung erst verleiht.
Genauso wenig dürfte ihre ›Dinghaftigkeit‹ die Basis für ihren Bezugscharakter
darstellen, erwies sie sich doch, so meine Interpretation, als ›Anti-Ding‹. Und
sie kann keinesfalls als »gleichberechtigtes menschliches Gegenüber« gewertet
werden (ebenda, 144).

179
ding‹ eine ähnliche, durchaus positive Schutzfunktion zu. Sie sei, so die
Deutung dieser Arbeit, eine Schutzmauer um das noch sehr Ich-schwache
Kind gewesen, die verhinderte, dass damals »die Welt unabgegrenzt in
[es] überging«, hätte diese doch das verletzliche Kind überflutet und zer-
stört. Auch in diesem veränderten metaphorischen Kontext drückt sich
die Zwischenstellung der Puppe aus. Bei aller Unvollkommenheit bietet
sie dem Kind den nötigen Schutz vor dem Außen. Sie dient aber auch als
zumindest vorläufiger Ort, vorläufiges Gefäß zur Aufbewahrung von in sie
Hineinprojiziertem, ihr Anvertrautem aus der Innenwelt des Kindes, das
zu gegebener Zeit preisgegeben wird.
Das scheint auch das ausklingende Bild zu suggerieren. Aus der ›er-
wachs-enen‹ Puppe »flüchtet dieses neue scheue Geschlecht hervor und
flattert durch unser dunkles Gefühl« (VI, 1073). Dieses Geschlecht, die
»kleinen wehleidigen Falter«, sind als die metamorphosierten Gefühle und
Erlebnisse aus der Kinderzeit vorzustellen, die in der Preisgabe durch den
nur allzu unvollkommenen Beschützer, das ›Puppending‹, in höchstem
Maße gefährdet sind. Es sind »unbeschreiblich sterbliche, die im Augen-
blick, da sie zu sich kommen, schon anfangen, von sich Abschied zu neh-
men« (VI, 1073). Ja, sie grenzen gar ans Unhörbare, »man möchte sagen,
daß es kleine Seufzer sind, so dünn, daß für sie unser Ohr nicht mehr
ausreichte«. Auch ans Unsichtbare, denn »sie erscheinen, schwindend, an
der schwankendsten Grenze unseres Gesichts« (VI, 1073).
Diese Falter können letztlich als die präservierte und verwandelte Seele
des Kindes gedeutet werden, im Einklang mit der Tradition der Schmetter-
lingssymbolik, die den Schmetterling zum Sinnbild für die Seele bzw. die
Psyche macht.94 »Man dachte sich die Seelen der Verstorbenen als kleine

94 Falter und Puppenseele des Puppenaufsatzes werden von seinen Interpreten auf
ganz unterschiedliche Weise ›dechiffriert‹. Manch eine Interpretation erscheint
doch sehr beliebig. Stephens identifiziert die Falter erst als »memories of our
loss of faith in the harmony of self and world« (»Puppenseele und Weltin-
nenraum«, 70f.). Im nächsten Zug werden sie poetologisch interpretiert und
als »the negative feelings and insights which are contained in the essay itself«
(ebenda, 71) gesehen, um dann in einem zuletzt entworfenen historischen Mo-
dell zur Repräsentanz für »the more modern experiences and attitudes which
have virtually destroyed it [die Puppenseele]«, wobei diese »the Romantic vision
of the relatedness of ›Innen- und Außenwelt‹» symbolisiere. In diesem Sinne
verkörpere die Puppenseele ein Prinzip, das man sonst unter dem Begriff des
›Weltinnenraums‹ kennt (ebenda, 72). Durch das dem Puppenmotiv inhärente
Moment der Gespaltenheit scheine Rilke aber das romantische Element in sei-
nem Werk zu attackieren, während er es im Begriff des ›Weltinnenraums‹ bejahe
(siehe auch ebenda, 74f.). So betrachtet Stephens ›Puppenseele‹ und ›Weltin-

180
geflügelte Wesen, die an den Gräbern umherfliegen«, berichtet man über
die Todesvorstellungen der Altgriechen.95 Überträgt man diese Vorstellung
auf das in Puppen entworfene Bild, so könnte man sagen, die Seele des
›gestorbenen‹ Kindes in uns, sprich die ›Puppenseele‹, flattere aus dem
›Grab‹ der Kindheit, aus dem ›Puppending‹, hervor. Ohne aber zu bleiben,
denn ihre Zeit ist vorbei. Nur um ›aufzuerstehen‹ und erneut zu vergehen:
»Denn dies allein beschäftigt sie: hinzuschwinden« (VI, 1073). Es wurde
erwähnt, dass der Schmetterling als Bild in die christliche Symbolik von
Tod und Auferstehung eingeht, dass er auch »Sinnbild eines flatterhaf-
ten Wesens von vergehender Schönheit und kurzer Lebensdauer« sei. Die
Falter in Puppen suchen auch nicht das Bleiben, suchen kein Gefäß, das,
wie die Puppe, sie aufsammeln und bewahren möge. Aber das Vergehen
will ihnen auch nicht recht gelingen, sie finden »keinen Untergang in ih-
rer anstehenden Wollust, die nicht Zufluß noch Abfluß hat« (VI, 173).
Die Kindheitsgefühle und -erinnerungen sind zwar kaum sichtbar, kaum
vernehmbar, doch schwinden sie nicht ganz. Nur in der ausklingenden
Vision, in Form einer noch nicht erfüllten Sehnsucht, wird ihr endgültiger
Untergang beschworen. »Es ist, als verzehrten sie sich nach einer schönen
Flamme, sich falterhaft hineinzuwerfen (und dann müßte der augenblick-
liche Geruch ihres Aufbrennens uns mit grenzenlosen, niegewußten Ge-
fühlen überfluten).« (VI, 1073f.)96
Diese Vision bedient sich eines in der literarischen Tradition der Mystik
gängigen Bildes, das die Vereinigung mit Gott zu veranschaulichen sucht:

nenraum‹ gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille: »Rilke offers both a
Romantic and a psychological understanding of the same phenomenon and by
giving it two different names, avoids having to reconcile the one with the other.«
(Ebenda, 75.) Ob die hier aneinander gereihten Dechiffrierungsversuche, die
zusammengenommen eine zum Teil heterogene, und damit auch widersprüch-
liche Deutung ergeben, dem Text gerecht werden, bleibt fraglich. Ich vermisse
hier die Einbindung der Deutung in die Topologie des Motivs als Ganzes. Will
sie sinnvoll erscheinen, so muss meines Erachtens eine solche Deutung Larve,
Motten, Falter und ›Puppenseele‹ in eine einleuchtende, die zweite, zoologi-
sche Dimension des Motivs mitberücksichtigende Relation stellen. Vielmehr
scheint Stephens, – auch wenn Einzelaspekte seiner Deutung einleuchten –,
dem Text eine etwas konstruierte allegorische Bedeutung überzustülpen, deren
Einzelelemente beliebig bestimmt werden je nach der intendierten Aussage des
Interpreten.
95 Brockhaus Enzyklopädie, Leipzig/Mannheim 201996, Bd. 17, 582.
96 Für Stephens’ Lesart des letzten Satzes des Essays, der in seinen Augen die
Motten mit den Pritzel’schen Puppen gleichsetzt (Stephens: »Puppenseele und
Weltinnenraum«, 71), kann ich keine Anhaltspunkte im Text finden.

181
das Aufgehen des Selbst im alles überflutenden Licht bzw. im aufzehrenden
Feuer.97 Zu diesem Bild kommt aber eine spezifisch Rilke’sche Kompo-
nente hinzu, die dem Moment der Vereinigung einen ganz anderen, in der
mystischen Tradition nicht zu findenden Sinn verleiht. Statt in der Preis-
gabe des Selbst Vereinigung mit Gott: plötzliche, augenblickliche Preisgabe
der aus der Kinderzeit stammenden »grenzenlosen, niegewußten Gefühle«,
die uns ›überfluten‹, so wie das Licht Gottes den Mystiker überflutet, eine
augenblickliche Vereinigung der Lebenszeiten also, von Kinderzeit und
Erwachsenenalter, ein Aufblitzen der ›senkrecht stehenden‹ Zeit.
Bevor ich diesen Gedanken weiter verfolge, sei auf eine eigenwillige
Variation über das Motiv des im Kerzenlicht verbrennenden Falters ver-
wiesen, das den Gegenstand von Rilkes kleiner, in französischer Sprache
verfasster Schrift Petit Carnet darstellt. Sie enthält wesentliche Elemente der
Kindheits- und Puppenmotivik, ohne dass der Text – außer etwa hinsicht-
lich eines Vergleichs – eine explizite Verbindung zu diesem Themenkreis
herstellen würde. Gesprochen wird traditionsgemäß von der ›unfassbaren
Pracht‹, die der Falter im Augenblick vor seinem Tod entfaltet, wobei
er mit einer Dame verglichen wird, der auf dem Weg zum Theater ein
Missgeschick passiert. Nur, dass der Falter wohl ohnehin nicht ange-
kommen wäre, denn wo gäbe es auch das Theater für solch vergängliche
Zuschauer, fragt sich der Schreibende. Hierin zeigt sich ihre Affinität zu
den Faltern des Puppenessays. Wie die Puppe in Puppen erhält sie aber
auch ›Vorwand‹-Charakter, vergleicht der Text doch unter Fortsetzung des

97 Vgl. Goethes Gedicht »Selige Sehnsucht« aus dem West-östlichen Divan: » In


der Liebesnächte Kühlung, / Die dich zeugte, wo du zeugtest, / Überfällt dich
fremde Fühlung, / Wenn die stille Kerze leuchtet. / Nicht mehr bleibest du
umfangen / In der Finsternis Beschattung, / Und dich reißet neu Verlangen
/ Auf zu höherer Begattung. / Kommst geflogen und gebannt, / Und zuletzt,
des Lichts begierig, / Bist du, Schmetterling, verbrannt. / Und so lang du das
nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der
dunklen Erde.« In: Goethes Werke. Hrsg. von Erich Trunz, Hamburg11 1978,
Bd. II, 18f. Bezüglich der Schmetterlingsmetaphorik bei Goethe schreibt Christa
Dill: »Höchste Sehnsucht ist die ›Selige Sehnsucht‹, die nach völliger Hingabe,
nach ›Selbstopfer‹ verlangt; sie erfüllt sich in der höchsten Form der Liebe. Ihr
Symbol ist der ›Flammentod‹. So wie nach alter orientalischer Überlieferung
der ›Schmetterling‹ oder die ›verliebte Mücke‹ von der Kerze gebannt, geflogen
kommt und ›des Lichts begierig‹ sich liebend in der Flamme verzehrt, so strebt
der Mensch, dieser ›trübe Gast auf der dunklen Erde‹, aus der ›Finsternis Be-
schattung‹, die ihn ›umfangen hält‹, nach ›höherer Begattung‹.« (Christa Dill:
Wörterbuch zu Goethes West-östlichem Divan, Tübingen 1987, XLV; vgl. auch
329f. und 269.)

182
Theatermotivs ihre Flügel mit einem doppelten, vor ›irgendein Gesicht‹
gehaltenen Fächer. Transparent, wie die Flügel sind, lassen sie das von
ihnen verhüllte Gesicht durchschimmern, so wie in der Insektenwelt die
Larve die Gestalt des sich verwandelten Schmetterlings in Umrissen andeu-
tet. Die Bildelemente des Puppenmotivs tauchen hier in einer veränderten
Konfiguration auf; der Zusammenhang der einzelnen Elemente in diesem
Kontext bleibt dunkel.
Das Stück endet mit einem Bild, das Anklänge an die zur Charakteri-
sierung der Beziehung zwischen Kind und Puppe verwendeten Metaphorik
enthält, nur dass es hier um die Beziehungskonstellation Gott-Falter geht.
Gott habe sich in dem Falter erschöpft, sich ›verausgabt‹ und werfe ihn in
die Flamme (man merke hierbei, dass das traditionelle Bild eines aktiven
Sich-in-die-Flamme-Stürzens sich in ein passives In-die-Flamme-Gewor-
fen-Werden verwandelt), um ein wenig von seiner Kraft zurückzugewin-
nen: wie ein Kind, das seine Sparbüchse aufbricht.98 Überträgt man diese
Komponente des Bildes auf die Puppenmotivik, so könnte man übersetzen:
Das Kind wirft die aus der ›Puppenseele‹ hervor flatternden Falter in die
Flamme, um ein wenig von der an die Puppe ›verschwendeten‹ ›Wärme‹
wiederzugewinnen. Der Text bedient sich derselben Bildersprache wie der
Puppenaufsatz, wenn es um die ›Kostenaufstellung‹ geht, die das Kind für
seine ›Ausgaben‹ verlangt. Es wollte ja wissen, was die Puppe mit seinem
ganzen ›Vermögen‹ gemacht habe. Wenn der Gott dieses poème en prose
letztlich mit dem Kind verglichen wird, das seine Sparbüchse aufbricht, um
die dort aufbewahrten ›Schätze‹ wieder an sich zu nehmen, so erfährt das
traditionelle Motiv eine weitere Umkehrung. Gott und mystisches Subjekt
vertauschen die Rollen: Gott ist hier derjenige, der vom Aufbrennen des
Falters ›profitiert‹. Der Vergleich zwischen der kleinen Schrift Petit Carnet
und dem Essay Puppen zeigt, dass erstere in verdichteter Form wesentliche
Elemente der Puppenmotivik vorweg nimmt und somit einerseits zu einem
angemessenen Verständnis des Puppenessays beiträgt, andererseits durch
den Bezug zu dieser transparenteren Dichtung selbst durchsichtiger wird
für den Leser. Ihre poetischen Bilder gleichen Hieroglyphen, die sich mit
Hilfe des Puppenessays entziffern lassen, die aber auch kraft ihrer poeti-
schen Prägnanz eine neue Bedeutungsdimension des Essays eröffnen.

98 Vgl. meine Anmerkungen zu Goethes Gedicht »Selige Sehnsucht«.

183
2.3.3. Spiegelungen
Die Vereinigungsvision am Ende des Puppenessays wurde als ein Auf-
blitzen der ›senkrecht stehenden‹ Zeit interpretiert: Allemann und Kunz
hatten den Spiegel zum paradigmatischen Geltungsbereich der ›senkrecht
stehenden‹ Zeit, der »temporale[n] Fülle« erklärt,99 in der Vergangenheit
(Kindheit), Zukunft (Tod) und Gegenwart sich als ein Gleichzeitiges of-
fenbaren. Auf Grund seiner Phänomenologie wird der Spiegel im Werk
Rilkes zum Sinnbild für die wechselseitige Projektion von Ich und Welt,
für die gegenseitige Durchdringung von Innen- und Weltraum, die Ril-
kes Erfahrung von ›Weltinnenraum‹ zu Grunde liegt. Ein Gedichtentwurf
für Erika Mitterer aus den letzten Lebensjahren des Dichters zeigt eine
wohl visionär zu nennende Umkehrung der Verhältnisse, einen Prozess
der ›Verinnerlichung‹ nach vorausgegangener ›Veräußerlichung‹, den das
Gedicht »Vor Weihnachten 1914« im Sinne einer Kontaktaufnahme mit
der Außenwelt und eines Austretens aus der symbiotischen Einheit, also
einer Konturierung von Innen versus Außen vorführt. Dieser Gedichtent-
wurf führt eine Art ›Verinnerlichung‹ von Welt herbei, bei der die zuvor
geleistete Bewegung auf die Welt zu umschlägt, das Ich sich die Welt
›einverleibt‹:

Flammen schlagen einwärts, Wege rollen


sich in dein Nach-Innen-gehen ein,
Blumen stürzen in die Wurzelknollen,
und der trinken will, vergießt den Wein,
weil sein Mund aus Erde stammt [...]
(II, 507)

Auch hier die mystische Geste des Trinkens.100 Auch hier das Spiegelmotiv:
»Spiegelbilder deiner Pfeile flogen / in die glatte Spiegelfinsternis«. Was in
die Welt zuvor hinausprojiziert wurde – ›deine Pfeile‹ – wird zurückproji-
ziert, nach innen genommen und darin von einer Art unsichtbaren – daher
›finsteren‹ – Spiegel aufgenommen. Das Innen wird zur Projektionsfläche
für das Außen.101 Zu den in diesem Entwurf enthaltenen Bildern gehört

99 Allemann: Zeit und Figur, 255.


100 Vgl. Kunz: Narziß, 121.
101 Zum Verständnis dieses Gedichts vgl. Kunz’ Charakterisierung des ›Weltinnen-
raums‹ als eine Art zweifache Inversion. Speziell zu diesem Gedicht vermerkt er:
»Ich vergieße den Wein nicht anstatt ihn zu trinken, sondern indem ich ihn trin-
ke. Weil mein Mund aus Erde stammt, ist das Trinken des Weins gleichzeitig
ein Ausgießen in die Erde. Der Wein kehrt durch das Trinken zum Ursprung

184
nun auch eines, das uns besonders interessieren dürfte. Etwas weiter unten
heißt es:

Kinderspielzeug in der Bodenkammer


klopft noch einmal, innen überschwemmt,
mit dem Puls des Kindes, oh Totenhammer!
[...]
(II, 507)

Anklänge an verschiedene Bilder zur Beschreibung der Puppe sind er-


kennbar, zum einen an das Gleichnis, das die Puppe zur »oberflächlich
bemalte[n] Wasserleiche« macht, »die sich von den Überschwemmungen
unserer Zärtlichkeit heben und tragen ließ« (VI, 1067). Allerdings ist dort
die Überschwemmung draußen, während sie hier im Gedicht für Erika
Mitterer innen erfolgt. Man rufe auch ein in den ersten Seiten des Essays
angeführtes Motiv in Erinnerung, das die ›erwachsenen‹ Puppen folgen-
dermaßen charakterisiert:

Sind nun hier die Erwachsenen zu jenen, von echten und gespielten Gefühlen
überpflegten Puppen-Kindheiten? Sind hier ihre, in menschlich übersättigte
Luft flüchtig hineingespiegelten Früchte? Die Scheinfrüchte, deren Keime nie
zu Ruhe kamen, bald von Tränen fast fortgewaschen, bald der glühenden Dürre
der Wut ausgesetzt, oder der Öde des Vergessenseins; eingepflanzt in die weich-
ste Tiefe einer sich maßlos versuchenden Zärtlichkeit und hundertmal wieder
herausgerissen [...]. (VI, 1064)102

In diesen Bildern, dem Bild des ›innen überschwemmten‹ Kinderspielzeugs


aus dem Entwurf für Erika Mitterer und dem hier zitierten aus Puppen,
geht es um dasselbe Phänomen: Das Spielzeug spiegelt die in es hinein-
projizierten Seelenregungen des Kindes zurück, wozu es gewissermaßen
genötigt wird, und zwar dadurch, dass es von den Gefühlen des Kindes
›überschwemmt‹, ›überpflegt‹ wurde. Nur, dass man im Fall der Puppe das
Spielzeug dafür verantwortlich macht: Das ›Puppending‹ ist »so dick und
träge« gewesen, weil es sich an der ›Puppenseele‹, sprich der Kindesseele

zurück, zur Erde, in der er gewachsen ist.« Kunz stellt den ›erhörten‹ Narziss in
diesen Kontext, der »die Bereitschaft zum Verströmen [hat], weil er weiß, daß
alles wieder sein eigen wird« (Kunz: Narziß, 121 bzw. 117).
102 Rilke selbst beschreibt diese Puppen als »dem Einsehen, den Teilnehmungen,
der Lust und dem Kummer des Kindes entwachsen«. (Zit. in Kunz: Narziß,
139.) Insofern sind sie aus ihrer Projektionsfunktion, die im Wort vom ›Einse-
hen‹ des Kindes zum Ausdruck kommt, entlassen.

185
›vollgefressen‹ habe. Im Übrigen ist auch die ›menschliche‹ Luft ›über-
schwemmt‹, – ›übersättigt‹.
Im hier zur Diskussion stehenden Entwurf ist die Zurückspiegelung
ins Unsichtbare, d.h. in die akustische Dimension überführt: Das Spiel-
zeug pocht wie das Herz des Kindes. Die Identifikation von Spielzeug und
Kind, die sich im »Requiem« in der empathischen Beziehung des Knaben
zum Holzpferd, in Puppen in der Verbindung zwischen Kind und Schaukel
bzw. Kind und Ball und auf einer höheren Ebene in der hier gedeuteten
Entsprechung zwischen Puppenseele und Kindesseele manifestiert, nimmt
fast absolute Formen an; das »Kinderspielzeug [...] klopft [...] mit dem Puls
des Kindes«. Allerdings ist hier keine transzendente Dimension angedeu-
tet. Im Gegenteil: Das Klopfen des Herzschlages wird als »Totenhammer«
apostrophiert; es mutet wie eine mahnende Erinnerung an die Vergänglich-
keit an. Hier macht der Herr, um das Gedicht ›Die Worte des Herrn an
Johannes auf Patmos‹ zu zitieren, keine ›Pause‹; die metrische Zeit behält
ihre volle Gültigkeit.103 Anders die unvollendete Kindheitselegie. Sie be-
singt die Kindheit, »[d]enn zeitlos hält sie das Herz« (II, 457). Anders auch
die visionäre Zurückspiegelung des in die Puppe Hineinprojizierten im
Puppenessay. Zwar stellt der Erwachsene kein ideales Spiegel-Gefäß dar,
denn die »menschlich übersättigte Luft« dürfte genauso undurchdringlich
sein wie anfangs die Puppe. Aber sie ist noch durchlässig genug, um zu
ermöglichen, dass die »Scheinfrüchte«, sprich die ›er-wachs-enen‹ Puppen,
deren ›Keime‹, d.h. die Puppen der Kinderzeit, in uns damals nie richtig
Wurzeln schlagen konnten, »flüchtig« in uns »hineingespiegelt« werden.
Entsprechend erscheint in der unvollendeten Kindheitselegie die Kindheit
als Frucht, aber als sehr späte, erst im Erwachsenenalter heranreifende:
Dem Erwachsenen erst »fruchtet die Kindheit« (II, 457).
Mehr als ›flüchtig hineingespiegelt‹ werden wollen diese Scheinfrüchte
aber auch nicht. Sie wollen ›hinschwinden‹, suchen einen Untergang ohne
›Zufluss‹ und ›Abfluss‹, wie der Schluss des Essays deutlich macht. Denn
nur so, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick, können sie ihre
ganze Kraft entfalten, können sie uns mit den in ihnen aufbewahrten,
»grenzenlosen, niegewußten Gefühlen überfluten«.

103 Vgl. »Die Worte des Herrn an Johannes auf Patmos« (vollständiger Entwurf),
II, 443.

186
Man könnte Maltes Wort vom ›Wiederleisten der Kindheit‹104 verste-
hen als den Versuch, die »kleine[n] Seufzer« dieser aufflatternden ›Pup-
penseele‹ zu vernehmen, einen flüchtigen Blick von ihrer Gestalt »an der
schwankendsten Grenze unseres Gesichts« zu erhaschen, bevor sie schon
»von sich Abschied nehmen« konnte. In diesem Sinne sind wohl die in den
Insel-Almanach auf das Jahr 1914 eingeschriebenen Verse für Lotte Pritzel
zu verstehen, die auf ihre Wachspuppen Bezug nehmen:

Hinschwindende ganz leicht, eh sie vergehen,


zurückzuhalten mit ein wenig Wink,
aus Abschiednehmen und Nicht-wiedersehen
ein Ding zu machen, so, daß dieses Ding
verschwendend lächelt und sich auf den Zehen
hinüberhebt um dem, was schon verging,
leis beizuwohnen (: Rosen und Ideen –)
(II, 212)

Meines Erachtens sind diese Verse poetologisch zu lesen. Sie formulieren


einen Auftrag: Man möge die ›hinschwindenden‹ Kindheitsgefühle ›zu-
rückhalten‹, um aus ihnen »ein Ding zu machen«, ein Ding, das »ver-
schwendend lächelt« und in der Lage ist, »dem, was schon verging, / leis
beizuwohnen«. Diese auf den ersten Blick sehr rätselhaft anmutenden Ver-
se enthalten drei auf ›dieses Ding‹ zu beziehende Identifikationsmomente,
die den in ihnen vorgebrachten Auftrag verständlich machen. Aufgrund des
Adressaten dieser Verse sowie einiger im Text enthaltener Anspielungen auf
den Schluss des Puppenessays stellt sich zunächst eine Identifikation zwi-
schen Ding und Wachspuppe her. Das zeigt sich unter anderem darin, dass
»dieses Ding« anthropomorphisiert wird, dass es »verschwendend lächelt
und sich auf den Zehen / hinüberhebt«. Situativ wie vom Text her bedingt
ist ferner eine Identifikation zwischen Ding und Rose zu konstatieren:
Rilke hatte Lotte Pritzel anlässlich dieser Eintragung mit einer Sendung
Rosen bedacht. Das dritte Identifikationsmoment lässt sich nur mittelbar

104 Judith Ryan beleuchtet die autobiographische Dimension dieser Forderung. Sie
schreibt: »Lou [Andreas Salomé] encouraged him to ›work through‹ his memo-
ries of childhood along the model of the Freudian analysis technique that was
beginning to capture her attention. His novel [...] was in part the result of this
effort.« Judith Ryan: Rilke, Modernism and the Poetic Tradition, Cambridge
1999, 12. Es wäre sicherlich verfehlt (und dies tut Ryan auch nicht), die Kind-
heitsdarstellung in den Aufzeichnungen auf ein solches Bemühen zu reduzieren.

187
herstellen, es scheint aber das tragende zu sein: ›dieses Ding‹ meint letztlich
das Gedicht.105
Die Rose stellt bei Rilke eine ideale Gestalt dar, denn sie bildet Innen
und Außen, Gefäß und Inhalt zugleich. Indem sie das höchste Maß an
Entsprechung zwischen Innen und Außen erreicht, kann sie wiederum als
Sinnbild für den ›Weltinnenraum‹ verstanden werden. In seiner Deutung
von Rilkes Grabspruch arbeitet Marcel Kunz die ›narzisstische‹ Qualität der
Rilke’schen Rose heraus. Zunächst konstatiert er die Ähnlichkeit zwischen
Gefäß, Rose, Spiegel und Auge, deren tertium comparationis in ihrer – zum
Teil potenzierten – Rezeptivität gründe.106 Die Verbindung zwischen Rose
und Augenlid stellt die Metaphorik des Grabspruchs her:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,


Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.
(II, 185)

Auf diese metaphorische Verquickung von Rose und Augenlid nimmt


Kunz Bezug, wenn er folgert:

105 Vgl. das Gedicht »Spanische Trilogie« aus dem Jahre 1913, in dem man dieselbe
Wendung findet. Dort heißt es: »Aus dieser Wolke [...] / aus diesem Bergland
[...] / aus diesem Fluß [...] / aus mir und alledem ein einzig Ding / zu machen
[...]«, und nach Aufzählung weiterer potentieller Vereinigungsmomente insistie-
render: »[...] aus den Fremden [...] / [...] und mir und mir / ein Ding zu ma-
chen [...]« (II, 43f.). Lawrence Ryan stellt die im weiteren Verlauf des Gedichts
thematisierte Uneinlösbarkeit dieser mannigfaltigen Vereinigungsvision seitens
des Dichters in den Kontext einer »Krise des Romantischen«. Er konstatiert:
»[...] es fehlt gerade die sich im Fremden erkennende und potenzierende Sub-
jektivität, es fehlt gerade der (romantische) Einklang des Empirischen und des
Transzendentalen: Im Verlangen nach einer Vermittlung, die sich eben nicht
als Vermittlung einstellen will, bekundet sich das Krisenhafte dieses Gedichts.«
(Lawrence Ryan: »Die Krise des Romantischen bei Rainer Maria Rilke«, in
Wolfgang Paulsen: Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen
Literatur, Heidelberg 1969, 130–51; hier 138.) Auch im Kontext der Puppenmo-
tivik erhält die Forderung, »ein Ding zu machen« – ganz im Sinne der »Spani-
schen Trilogie« –, utopischen Charakter, aber sie erscheint nicht als unerfüllbar,
sondern lediglich als noch nicht erfüllt. Unbeantwortet bleiben muss die Frage,
wie die hier genannten ›Ideen‹ zu verstehen sind. Steiner sieht in ihnen die
Verkörperung des Vergänglichen (Steiner: »Motiv der Puppe«, 143), aber diese
Deutung scheint mir weit hergeholt.
106 Kunz: Narziß, 54.

188
Wie sich das Lid als ›schonendes Etui‹ über das Auge schiebt und somit alles
einschließt, was das Auge aufgenommen hat, so sind auch die Rosenblätter
schützende Gegenform. Daß aber die Rosenblätter [...] nicht ein Auge ein-
schließen, sondern die weiter innen liegenden Rosenblätter, darin besteht der
›reine Widerspruch‹; Sie schließen nur sich selbst ein, sie sind ›wie von Talen
ausgefüllte Talen‹ (II, 418) und somit narzißtisch. Sie haben die Funktion, etwas
zu umgeben, einzuschließen, aber diese Funktion richtet sich nicht nach außen,
sondern zurück auf das eigene Wesen.107

Insofern ist die Rose, wie der Engel, eine ›selbst-reflexive‹, aber auch
›selbst-rezeptive‹ Gestalt: So wie der Engel »Gespiegelte[n] und Spiegel
zugleich« darstellt, sind bei der Rose »die Blätter Form und Gegenform
zugleich«.108
Gewissermaßen bilden Kind und Puppe ›Form und Gegenform‹ einer
solchen ›narzisstischen‹ – reflektorisch-rezeptiven – Gestalt. Als Projektion
des Kindes spiegelt die Puppe das in sie Hineinprojizierte, und als ›Vor-
Wand‹, als äußere, das Kind umgebende Schale, die den Einbruch des
Außen in seine verletzbaren Grenzen verhindert, gleicht die Puppe den
äußeren Blättern der Rose, die für die formgleichen inneren, d.h. für das
Kind, eine Schutzmauer bilden und es auch vor dem Verfließen, der Ich-
Auflösung bewahrt, in Rilkes Diktion ›verhält‹.
Letztlich verweist aber das ›Ding‹ dieser Verse auf das Gedicht als
Produkt der in Puppen beschriebenen Metamorphose. Der Dichter er-
hält den Auftrag, die in metamorphosierter Form aufflatternden und im
Feuer des Niedergangs preisgegebenen Gefühle und Erlebnisse der Kind-
heit ›zurückzuhalten‹ und ›ein Ding‹, also ein Gedicht daraus zu machen.

107 Kunz: Narziß, 55.


108 Kunz: Narziß, 55. Die ›Narzisshaftigkeit‹ der Rose im idealen Sinne bringt Rilke
in einem Brief vom 15. Dezember 1906 zum Ausdruck, in dem er rühmend
schreibt: »[...] was aber an also Unsagbarem, an von uns nie Genommenem und
doch uns nicht Verlorenem in ihr [der Rose] war, das blieb in ihr, nicht mehr
gefährdet nun, sicher, heimgekehrt, [...] gesammelt, [...] von nichts zurückge-
halten, aber doch ohne Neigung auszuströmen, gleichsam ganz beschäftigt mit
dem Genuß des eigenen Gleichgewichts.« (Rainer Maria Rilke: Briefe aus den
Jahren 1906 bis 1907, Leipzig 1930, 129, zit. in Kunz: Narziß, 15.) Vgl. auch
Wagner-Egelhaaf, die die mystagogische Schrift des Nikolaus von Kues zitiert,
worin Gott als »das absolute Sehen« bezeichnet wird, wobei in der Formel ›visio
Dei‹ Gott »zugleich als Sehender und Gesehener« erscheine (so Walter Schulz,
zit. In: Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 12). Die »Beziehung von Sehen
und Gesehenem« sei »in den einheitsstiftenden Grund eines Aktes der Selbst-
durchlichtung« zurückzuführen, so ein alter mystischer Gedanke. Vgl. ebenda,
13.

189
Auf der komplexen metaphorischen Ebene dieser Verse stehen Puppe,
Ding, Rose als Explizites und Spiegel und Gedicht als Implizites in einem
weitgehend identifikatorischen Verhältnis zueinander, wobei Puppe und
›Ding‹ nur durch einen Schritt der Verwandlung voneinander entfernt
sind. Das Gebot, dieses Ding möge »verschwendend lächel[n] und sich....
hinüberhebe[n], um dem, was schon verging, / leis beizuwohnen«, stellt
einen motivischen Bezug zum ›Spiegelsonett‹ her, das den Spiegel als »des
Raumes Verschwender« bezeichnet. Als Raum der Verwandlung stellt der
Spiegel bei Rilke schließlich »eine wichtige Metapher für den Ort des Ge-
dichts« dar, »der selbst nichts anderes als ein Ort der Verwandlung ist«, so
Allemann.109 Wenn aus den ins Menschliche ›hineingespiegelten Früchten‹
der Kindheit ein Ding, ein Gedicht gemacht wird, das selber eine Ver-
wandlung darstellt, so wäre von einer zweistufigen Metamorphose zu spre-
chen. Auf die Verwandlung der Kindheitserfahrungen und -gefühle durch
die Erinnerungsarbeit, die sie in metamorphosierter Form wieder auftau-
chen, ›aufflattern‹ lässt, folge eine zweite, im Dichterischen einzulösende,
in der es erst zu einer Suspension der chronologischen zur Herstellung der
›senkrecht stehenden‹ Zeit auf der Ebene der dichterischen Reflexion kom-
me, die im ›Zwischenraum‹-Charakter der ›Kinder-Zeit‹ präfiguriert war.110
Dem entspricht Rilkes in einem Brief an Nora Purtscher-Wydenbruch
vom 11. August 1924 festgehaltene Vorstellung von der Gleichzeitigkeit
allen Geschehens, die der Mensch auf einer tiefer liegenden Bewusstseins-
stufe wahrnehmen könne: »Ich habe seit meiner frühesten Jugend die
Vermutung empfunden [...], daß in einem tieferen Durchschnitt dieser
Bewußtseinspyramide« – dessen »Spitze« in Rilkes Vorstellung »unser ge-
bräuchliches Bewußtsein [bewohnt]« –

uns das einfache Sein könnte zum Ereignis werden, jenes unverbrüchliche
Vorhanden-Sein und Zugleich-Sein alles dessen, was an der oberen ›norma-
len‹ Spitze des Selbstbewußtseins nur als ›Ablauf‹ zu erleben verstattet ist. Eine

109 In diesem Zusammenhang setzt er die poetologische Bedeutung von Spiegel


und Rose explizit gleich: »Spiegel und Rose stimmen ihrem poetologischen Sinn
nach in allem Wesentlichen überein.« (Allemann: Zeit und Figur, 136.)
110 Wie wir sehen konnten, erhält die Dichtung bei Musil eine ähnlich synthetisie-
rende Funktion. Das gilt im Übrigen auch für Hofmannsthal. In seinem 1906
gehaltenen Vortrag Der Dichter und seine Zeit heißt es, der Dichter schaffe »aus
Vergangenheit und Zukunft, aus Tier und Mensch und Traum und Ding, aus
Groß und Klein, aus Erhabenem und Nichtigem die Welt der Bezüge«. (Hugo
von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Hrsg. v. Bernd
Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Ffm. 1978/80, VIII, 68.)

190
Gestalt anzudeuten, die Vergangenes und noch nicht Entstandenes einfach als
Gegenwärtigkeit letzten Grades aufzufassen fähig wäre, ist mir schon, seinerzeit,
im ›Malte‹ Bedürfnis gewesen, und ich bin überzeugt, daß diese Auffassung
einem wirklichen Zustande entspricht, mag er auch durch alle Vereinbarungen
unseres ausgeübten Lebens widerrufen sein. (RBr III, 871f.)

Wie innig selbst der Erwachsene noch mit der Puppe verbunden ist, zeigt
eine briefliche Äußerung Rilkes Lou Andréas-Salomé gegenüber. Im Brief,
in dem er im Übrigen das soeben fertiggestellte Gedicht ›Wendung‹ an-
kündigt, schreibt Rilke:
Aber ist es nicht furchtbar, daß man ahnungslos so etwas hinschrieb, unter
dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd, und dann
die Feder rasch fortlegt, um das Gespensthafte noch einmal unbegrenzt, ja wie
noch nie auszuleben, bis einem jeden Morgen der Mund dürr war vom Werg
mit dem man, Balg durch und durch, angefüllt war, bis in ihn herauf? (RBr
II, 464)

Rilke beschreibt hier eine vollkommene Identifikation des ›Ureigensten‹


mit der Puppe. Das ›Gespensthafte‹, das ihr anhaftet, nimmt vom mit
ihr verbundenen Erwachsenen Besitz; er wird fast ›überschwemmt‹ vom
Werg, von der nur allzu stofflichen Füllung der Puppe und wird dabei
»Balg durch und durch«.
Abschließend und zusammenfassend eine mehr als lexikalische Anmer-
kung: Bemerkenswerterweise liegen im Bedeutungsreichtum des Wortes
›Balg‹ die wesentlichen Komponenten der Rilke’schen Puppenmotivik
verborgen. ›Balg‹ bedeutet zum einen »ausgestopfter Rumpf einer Puppe«,
aber auch, in Anspielung auf diese Verwendungsform, »[unartiges, schlecht
erzogenes] Kind«.111 Im Lexikon erfolgt also eine Gleichsetzung von Puppe
und Kind, der ihre in Puppen konstatierte identifikatorische Beziehung ent-
spricht. ›Balg‹ bedeutet aber auch »Hülse (von Hülsenfrüchten)«112; dadurch
stellt das Wort eine semantische Verbindung zwischen Puppen- und Ju-
dasbaummotiv her. ›Balg‹ bedeutet ferner ›Gefäß‹ im Sinne von »Schlauch,
eigtl. ›die zum Aufbewahren von Flüssigkeiten abgestreifte Tierhaut‹«.113
Man erinnere sich an die der Puppe attribuierte Gefäßartigkeit. Schließlich

111 Duden: Das große Wörterbuch, I, 295.


112 Wahrig: Deutsches Wörterbuch, 247.
113 Wahrig: Deutsches Wörterbuch. Es handelt sich hierbei vor allem um Zie-
genbalg. Grimms Wörterbuch nennt in diesem Kontext speziell den ›Wein-
schlauch‹. (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, München
1984, I, 1084.)

191
ist die ins Altgermanische zurückzuverfolgende Verwandtschaft zwischen
›Balg‹ und ›Ball‹ im Sinne von ›ausgestopftem‹ bzw. ›geschwollenem‹ Ge-
genstand noch zu erwähnen.114 Auf der exegetischen Ebene hatte die Lektü-
re des Puppenessays zusammen mit zwei dem Ball gewidmeten Gedichten
Entsprechungen zwischen ›Kindesbalg‹ und Ball respektive ›Puppenbalg‹
und Ball statuiert. Angesichts der etymologischen Vernetzung des im oben
zitierten Brief als Synonym für die Puppe verwendeten Ausdrucks ›Balg‹
erweist sich der ›Vorwand‹-Charakter der Puppe als immens schillernd; das
›Ureigenste‹ kleidet sich in vielerlei Gestalt ein.

2.4. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Ich wende mich jetzt Rilkes großem Prosawerk, den Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge, zu. Ich habe dieses viel gelesene literarische Zeugnis
Rilkche’schen Interesses am Kind absichtlich ans Ende dieser Untersu-
chung gestellt, um es einerseits vor dem Hintergrund des facettenreichen
Bezugskomplexes, der sich aus der Deutung weniger bekannter Dichtun-
gen ergaben, neu lesen zu können. Andererseits sollen die Aufzeichnungen
einen Bezugsrahmen für einen Blick auf essentielle Aspekte Rilke’scher
Poetologie liefern. Die Beschäftigung mit den Aufzeichnungen wird also
von einer doppelten Aufgabenstellung bestimmt.

2.4.1. Malte im Spannungsfeld zwischen Eins- und Getrenntsein


Die erste auf Maltes Kindheit gerichtete Aufzeichnung handelt vom ›eige-
nen‹ Tod seines Großvaters väterlicherseits. Die Art, wie Christoph Detlevs
Ableben geschildert wird, und die Haltung, die Malte als Aufzeichnender
zum Erzählten einnimmt, ist bemerkenswert. Dieser Tod wird sich wäh-
rend Maltes Kindheit ereignet haben; womöglich wird Malte sogar Zeuge
der langen Sterbenszeit gewesen sein. Diese erste, der Kinderzeit geltende
Erzählung besitzt jedoch nicht den Charakter einer Kindheitserinnerung;
sie wird in keiner Weise von der Perspektive des sich erinnernden Kindes
gefärbt. Im Gegenteil: Sie hebt sich von den ersten eigentlichen, dichterisch
wiedergegebenen Kindheitserinnerungen, von denen Malte einige Seiten

114 Vgl. Wahrig: Deutsches Wörterbuch; Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörter-


buch, Berlin 221989; Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm,
I, 1083f.; 1090f.

192
später erzählt (und die sich unter anderem mit dem Tod des Großvaters
mütterlicherseits befassen) in stilistischer wie in perspektivischer Hinsicht
auf sehr markante Weise ab.115 Obwohl die Erzählung über den ›eigenen‹
Tod des Briggeschen Großvaters formal von Maltes Stimme eingeleitet
wird – »Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah
man es an, daß er einen Tod in sich trug« –, eignet sich der Aufzeich-
nende sehr bald den Gestus eines Kohärenz und Kontinuität stiftenden
auktorialen Erzählers an, der die Ereignisse mit Beobachtungsgabe und
Urteilsvermögen zu einem sinnvollen und poetisch durchdrungenen Gan-
zen fügt. Der Erzählduktus gleicht nicht dem eines erinnerenden Subjekts.
›Man‹ und ›es‹ finden häufige Verwendung, die passiven Verbformen do-
minieren. Zu dem durch solche formalen Mitteln erzeugten Ton passen
die Allgemeingültigkeit beanspruchenden Reflexionen über den Tod, die
im Mittelpunkt dieser Aufzeichnung stehen.
Dass dieser Tod vom Aufzeichnenden nicht wirklich erinnert wird, ver-
rät die unmittelbar darauf folgende Aufzeichnung, in der Malte denn auch
über seine Erinnerungslosigkeit klagt und mit ihr das Gefühl, die Kindheit
verloren zu haben: »Hätte man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber
wer hat die? Wäre die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muß
man alt sein, um an all das heranreichen zu können.« (VI, 721) Diese Fest-
stellung bestätigt, was der Erzählgestus der vorausgehenden Aufzeichnung
bereits signalisierte: Die Kindheit steht in keinem lebendigen Zusammen-
hang zur Gegenwart des Aufzeichnenden. Der Tod des Großvaters wird

115 Martens wie Fülleborn geht von einer homogenen Erzählhaltung in den der
Kindheit gewidmeten Aufzeichnungen aus. Dem widersprechen schon die bei-
den hier erwähnten, äußerste Heterogeneität im Erzählerischen aufweisenden
Abschnitte (siehe Lorna Martens: »Autobiographical Narrative and the Use of
Metaphor: Rilke’s Techniques in Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«.
In: Studies in Twentieth-Century Literature 9 [1984/85], 229–249; hier 245).
Fülleborn spricht in diesem Sinne vom ein »Erzählkontinuum« herstellenden
»epischen Legato« der »Reproduktion vergangenen Daseins« im Gegensatz zum
»Stakkato der Pariseindrücke« (Ulrich Fülleborn: »Form und Sinn der Aufzeich-
nungen des Malte Laurids Brigge,« in: Hartmut Engelhardt [Hrsg.]: Materialien zu
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/Mn.
1974, 175–198; hier 187). Die äußerste Heterogeneität des erzählenden Ichs lässt
es zu einem solchen ›Erzählkontinuum‹ nicht kommen. Von einer »strenge[n]
Wahrung der einheitlichen Perspektive des Tagebuchschreibers« (ebenda, 190),
die Fülleborn gar für die Aufzeichnungen als Ganzes geltend machen will, kann
hier erst recht nicht die Rede sein. Fülleborn widerspricht sich selber, wenn er
später in den Aufzeichnungen »eine aperspektivische Welt mit offenen Horizon-
ten« sehen will (ebenda, 196).

193
als eine Art Historie behandelt, losgelöst vom erzählenden Subjekt. Wenig
später bekennt sich Malte aber programmatisch, im wohlbekannten poeto-
logischen Credo, zur Bedeutung der Erinnerungen für den dichterischen
Prozess. Wie es heißt:
[...] Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh ge-
nug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte
sehen, Menschen und Dinge, [...] Man muß zurückdenken können an Wege
in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und Abschiede, die
man lange kommen sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, [...]
an Kinderkrankheiten [...]. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erin-
nerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man
muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die
Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick
und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterschieden von uns selbst, erst
dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines
Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht. (VI, 724f.)

Die ›vorgesehene‹ Verwandlung, bei der Erinnerungen erst in Vergessen-


heit geraten (müssen), bevor wir sie in veränderter Form zurückgewinnen
können, und zwar so, dass sie wirklich in uns eingehen, von uns ›verin-
nerlicht‹ werden,116 ähnelt der im wenige Jahre später verfassten Puppen-
aufsatz beschriebenen: Gefühle und Erfahrungen des Kindes gehen in die
Puppe ein und werden aufbewahrt, um sich in der Begegnung mit der
›er-wachs-enen‹ Puppe in metamorphosierter Form preiszugeben. Bei aller
Differenz in der Qualität der hier verglichenen Vorgänge soll die in beiden
Fällen erfolgende Wiederbegegnung mit Gefühlen und Erfahrungen aus
der Kindheit der Dichtung zu Gute kommen. Die für Lotte Pritzel ge-
schriebenen Verse fordern dazu auf, aus den ›Hinschwindenden‹ ein ›Ding‹

116 Man stelle Huyssens Beurteilung der ›Erinnerungsarbeit‹ in den Aufzeichnun-


gen dieser Selbstaussage des Dichters gegenüber. In Malte sieht Huyssen ein
Ich-schwaches und folglich nicht mit dem nötigen Reizschutz ausgerüstetes
Opfer der modernen Großstadt, deren Reizen Malte restlos ausgeliefert sei, so
dass sie wie ein Sprengkörper die Kindheit ›exkavieren‹. Entsprechend negativ
fällt Huyssens Wertung der dadurch hochgetriebenen ›Brocken‹ aus, die als
»fragments in the narrative« erscheinen (Andreas Huyssen: »Paris/Childhood:
The Fragmented Body in Rilkes Notebooks of Malte Laurids Brigge«. In: Andreas
Huyssen und David Bathrick [Hrsg.]: Modernity and the Text: Revisions of
German Modernism, New York 1989, 113–41; hier 134). Dieses Bild wendet
Huyssen letztlich auf seine ästhetische Beurteilung des Werkes an. Hier habe
Rilke seine eigene Kindheit »in bits and pieces« ›ausgespuckt‹. Huyssen wider-
spricht sich selbst aber, wenn er qualifizierend hinzufügt: »even though he does
so in an aesthetically highly controlled way«.

194
zu machen. Ich las: ein Gedicht. In den Aufzeichnungen ist explizit vom
»erste[n] Wort eines Verses« die Rede. Diese lange poetologische Reflexi-
on schließt mit der mehrfach wiederholten Frage »Ist es möglich, daß...«,
die in der Art einer liturgischen Formel mit dem mehrfach wiederholten
»Ja, es ist möglich« beantwortet wird. Inhaltlich geht es bei diesem im
Einzelnen sehr heterogenen Fragenkatalog um Maltes Schreckensvision
einer defizienten Wirklichkeitserfahrung. Vielleicht sei man bisher »an der
Oberfläche des Lebens geblieben« (VI, 727), argwöhnt er, die Vergangen-
heit sei vielleicht ›falsch‹ gewesen. Diese Furcht wird zum Movens für sein
Schreiben. »Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von
Möglichkeit hat, – dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen.«
(VI, 728) Sein Fazit: er werde »schreiben müssen, das wird das Ende sein:
[...]«. (VI, 728)
Unmittelbar, nachdem Malte diesen Entschluss fasst, kommt es zur ers-
ten Kindheitserinnerung im eigentlichen Sinne. Der erste Schreibversuch
gilt vornehmlich der Kindheit. Die Art, wie Malte von ihr jetzt erzählt,
unterscheidet sich auch grundlegend von der Weise, auf die er den Tod des
Kammerherrn dargestellt hatte. »Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß
ich damals gewesen sein«, heißt es im tonangebenden Auftakt zu diesem
Erzählabschnitt, der signalisiert, dass es sich hier mehr um ein ahnendes
Zurücktasten in die Vergangenheit handelt als um die autoritative Wie-
dergabe einer wohlgeordneten Geschichte. Die hier verwendete Ich-Form
und solche qualifizierenden Zusätze wie ›ich weiß nicht...‹, ›so scheint es
mir...‹, ›wie ich vermute...‹ und Ähnliches unterstreichen diesen Charak-
ter. Wie- und Als-ob-Vergleiche finden häufige Verwendung, ebenso der
Konjunktiv. Auch die Kohärenz der vorausgehenden Erzählung fehlt hier.
Maltes Erinnerung an das Haus seines Großvaters mütterlicherseits ist von
einem prononciert fragmentarischen Bewusstsein determiniert.117 Das Haus
erscheint in vollkommen desintegrierter Form wieder:

117 Bei Malte diagnostiziert Huyssen eine allgemeine Tendenz zur fragmentarischen
Wahrnehmung, auch im Erwachsenenalter: »Malte does not see holistically.«
(Huyssen: »Paris/Childhood«, 118.) Die Tendenz der Aufzeichnungen zur El-
lipse, die in Hoffmanns Analyse durch das Unterdrücken mehrerer Glieder
in der »empirischen Kausalkette« eines Bilderkomplexes erzeugt werde (Ernst
Fedor Hoffmann: »Zum dichterischen Verfahren in Rilkes Die Aufzeichnungen
des Malte Laurids Brigge«. In: Hartmut Engelhardt [Hrsg.]: Materialien zu Rainer
Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/Mn. 1974,
214–245; hier 216), vermittelt erzähltechnisch die von Malte erlebte »Brüchigkeit
der scheinbar selbstverständlichen Sinnzusammenhänge« (ebenda, 216f.).

195
So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein
Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein
Stück Gang, das diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich, als Frag-
ment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut, [ ] (VI, 729)

Affektiv und bewusstseinsmäßig erscheint das erinnerte Bild des Brahe-


schen Anwesens als Produkt der frühesten Kindheit. Dieses Bild wird von
der Struktur der Erinnerung geprägt. Dem entspricht die organische Meta-
phorik, die verwendet wird, um den Eindruck zu vermitteln, der das Innere
des Hauses auf Malte gemacht haben soll. Dieser erwähnt »die Zimmer,
die Treppen, die mit so großer Umständlichkeit sich niederließen, und
andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut
in den Adern« (VI, 729). Das Gefühl des Fragmentarischen wird noch
dynamisiert durch den Vergleich dieses ›ver-bildlichten‹ Hauses mit einem
hinunter fallenden, am Boden aufschlagenden Gegenstand: »Es ist, als wä-
re das Bild dieses Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt
und auf meinem Grunde zerschlagen.« (VI, 729) Die vielen Hinweise auf
solche zu Bruch gehenden Gegenstände in den Aufzeichnungen bestätigen
die psychische Bedeutung dieses Motivs. Das völlig Desintegrative dieses
Bildes zeigt, vor welche Aufgabe Malte sich gestellt sieht. Es signalisiert
eine inkohärente Kindheit, die es erst zu integrieren, ›zu leisten‹ gilt. Al-
lerdings stellt diese Erinnerung bereits einen Fortschritt dar gegenüber der
Erzählung vom Tod des Briggeschen Großvaters, denn daran war Malte als
sich erinnerndes Subjekt nicht wirklich beteiligt. Dieser erste Schreibver-
such, der sicher nicht zufällig der Kindheit gilt, kommt einem Gehversuch
gleich, der zwar sehr unbeholfen wirkt, aber den richtigen Weg weist.
Im Gegensatz zum Braheschen Haus im Ganzen, das in Maltes Erin-
nerung wie zerstückelt da liegt, wird dessen Esssaal rückblickend als Ein-
heit erlebt: »Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur
jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten.«
(VI, 729) Bedeutsam ist hierbei, dass der Saal sich weniger in Form ei-
nes Bildes überliefert, – im als ›Träger‹ von Erinnerungen bevorzugten
visuellen Medium also –, als vielmehr in Form eines Affekts; er ist ›im
Herzen‹, im Innersten des Ich, erhalten. Demzufolge entzieht er sich auch
Maltes Bemühen um eine Beschreibung seiner Physiognomie. »Ich habe
diesen Raum niemals bei Tage gesehen«, behauptet Malte. (VI, 729) Dem
widerspricht die im vorausgehenden Satz gemachte Angabe, man habe sich
dort »zum Mittagessen« versammelt. Dieser Widerspruch deutet darauf
hin, dass die innere Vorstellung des Raumes, wie sie in Maltes Rückschau
evoziert wird, in starkem Maße von kindlichen Phantasien und Affekten

196
geprägt ist und dadurch ein Stück weit zu einer Art Phantasiegebilde wird.
Maltes sich fortsetzender Versuch, diesen Raum zu beschreiben, erhärtet
dies: »Dieser hohe, wie ich vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er
saugte mit seiner dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz aufgeklärten
Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz
dafür zu geben.« (VI, 730) Die Fensterlosigkeit des erinnerten Raumes,
seine Gewölbtheit und »dunkelnde [...] Höhe«, die »niemals ganz aufge-
klärten Ecken« (VI, 730) legen es nahe, hierin eine Art Körperinnenraum
zu sehen. Der erinnerte Raum verwandelt sich in Maltes Phantasie in eine
lebendige Gestalt, die »alle Bilder aus einem heraus [zu saugen]« droht
(VI, 730). Entsprechend dieser Phantasie spricht Malte rückblickend bzw.
vielmehr rückfühlend von einer Art innerer Lähmung, die in ein Gefühl
der beinahen Selbstauflösung mündet: »Man saß da wie aufgelöst; völlig
ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie
eine leere Stelle.« (VI, 730) Der damals erlebte »vernichtende Zustand«
der Willens- und Besinnungslosigkeit, der dem Kind »fast Übelkeit verur-
sachte, eine Art Seekrankheit« (VI, 730), suggeriert eine Art Ich-schwachen
Schwebezustand, der ausgesprochen negativ erlebt wird.118
Bezeichnenderweise ist es der Vater, der dem kleinen Kind in dieser
Situation Halt gibt. Malte konnte diese Seekrankheit, wie er berichtet, »nur
dadurch [überwinden], daß ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß
das Knie meines Vaters berührte« (VI, 730). Der Vater liefert dem Kind
erste Außenkoordinate, an denen es sich in der Not orientieren kann. Die
hier angedeutete Vater-Mutter-Polarität manifestiert sich in markanterer
Form in der Gegensätzlichkeit der Briggeschen und der Braheschen Welt,
die sich wiederum in der bereits vermerkten Differenz der Erzählhaltung
in Bezug auf den Tod des Briggeschen Großvaters einerseits und das Bra-
hesche Anwesen andererseits erkennbar macht: Ein distanzierter, auktori-
aler, die zeitlichen Verhältnisse klar ordnender Erzählduktus steht gegen
einen von Maltes Affekten durchdrungenen, die räumlichen und zeitlichen
Konturen verwischenden Gestus einer vorsichtig zurücktastenden, inner-

118 Dass Malte auch in Bezug auf Gegenwartserfahrungen über solche Gefühle
berichtete, stützt die gelegentlich aufgestellte These einer grundsätzlichen ›Ich-
Schwäche‹ des Aufzeichnenden, so neuerdings von Huyssen (»Paris/Child-
hood«). Vgl. auch Speirs’ Deutung des Saalerlebnisses (Ronald Speirs: »Ganzheit
und Bruchstückhaftigkeit in Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«.
In: Herbert Herzmann / Hugh Ridley [Hrsg.]: Rilke und der Wandel in der
Sensibilität. Essen 1990, 133–145.) Die Relevanz einer solchen ›Diagnose‹ bleibt
allerdings fragwürdig.

197
lich stattfindenden Spurensuche.119 Dem entspricht auch das Zeitverhältnis
des Großvaters mütterlicherseits: »Die Zeitfolgen spielten durchaus keine
Rolle für ihn«, er habe »das Zukünftige mit demselben Eigensinn als ge-
genwärtig« empfunden (VI, 735). War für den Großvater Brigge der Tod
ein lange im voraus geplanter und ausgiebig zelebrierter Abschluss, so war
er für den Großvater Brahe »ein kleiner Zwischenfall, den er vollkom-
men ignorierte« (VI, 735). Im vielfache Gestalt annehmenden Gegensatz
zwischen dem Briggeschen und dem Braheschen Prinzip manifestiert sich
auf anschauliche Weise die Polarität von Eins- und Getrenntsein, die, wie
meine These lautet, auch die Kindheitsthematik der Aufzeichnungen in ent-
scheidender Weise strukturiert.

119 Walter H. Sokel verwies schon auf die Bedeutung der »Gegenüberstellung der
beiden Geschlechter«. Er meint, in der »Brahe-Sphäre« manifestiere sich die Idee
des ›Weltinnenraums‹. Das ›Brahesche‹ sei »das Prinzip der Austauschbarkeit,
des Ineinanderfließens der Formen und Zeitstadien, der Ununterscheidbarkeit,
des alle Grenzen Zerfließen-Lassens«. Das ›Briggesche‹ hingegen äußere sich
im »Prinzip der unaustauschbaren Individualität, des ›Eigenen‹» (Walter H.
Sokel: »Zwischen Existenz und Weltinnenraum: Zum Prozeß der Ent-ichung
in Malte Laurids Brigge.« In: Fritz Martini [Hrsg.]: Probleme des Erzählens in
der Weltliteratur. Festschrift für Käte Hamburger zum 75. Geburtstag am 21.
September 1971, Stuttgart 1971, 212–233; hier 212 bzw. 214.) Sokel macht diese
Polarität aber nicht an der divergierenden Erzählhaltung fest. Allerdings ent-
hält die Erzählung über den Tod des Briggeschen Großvaters ein symbiotisches
Moment, das Huyssen als Symptom der vielerorts beobachteten »crisis of boun-
daries« wertet: »[...] The description of the chamberlain’s body growing larger
and larger and welling out of the dark blue uniform [...] already contains the
same images of uncontrollable body growth and violent deformation that haunt
Malte in his various Paris encounters [...]«. (Huyssen: »Paris/Childhood«, 120.)
Sokels Deutung nach muss dies aber keinen Widerspruch bedeuten, denn er
meint, letztlich träfen sich die beiden oben genannten Prinzipien: »Unser zu-
tiefst eigenes, das Briggesche, ist zugleich das, was unser Ich auflöst, entgrenzt
und dem Braheschen Allbezug öffnet. Die aus den Tiefen des Körpers und
der Seele hervordrängende und die bürgerlich-autonome Persönlichkeit völlig
überwältigende ›Krankheit‹ ist das Bild dieses paradoxen Prozesses, der das Ich
zum Weltbezug erweitert, indem er es als bloßes Ich zerstört[...] Gerade die
Briggesche Konzentration auf die Authentizität des ›Eigenen‹ läßt uns, wenn tief
und konsequent genug durchgeführt, zum Braheschen Bereich vorstoßen, wo
sich unser Eigenstes von dem alle Zeitdimensionen übersteigenden Sein nicht
mehr unterscheidet.« (Sokel: »Existenz und Weltinnenraum«, 232f.)

198
2.4.2. Zwischen Eins- und Getrenntsein: die Pariser Gegenwart der
Aufzeichnungen
Nach diesem ersten Wiedereintauchen in die frühe Kindheit wenden sich
Maltes Aufzeichnungen der Pariser Gegenwart erneut zu. Der ›Sehen-Ler-
nende‹ setzt das Bemühen fort, das er sich am Anfang der Aufzeichnungen
vorgenommen hatte, aber die Qualität des ›Sehens‹ hat sich verändert. Vor-
her bestand es in einem angestrengten Ringen um Objektivierung, das sich
in der anfänglichen, eigenwilligen, durch die Knappheit und Kargheit des
Ausdrucks nüchtern wirkenden Zeichnung seiner Pariser Umwelt demons-
trierte. Jetzt verwandelt sich der Akt des Sehens in ein hochgradig empathi-
sches ›Hineinsehen‹ in die Menschen und Gegenstände.120 Diese neue Art
zu ›sehen‹ prägt Maltes Mauererlebnis, bei dem die freigelegte Innenseite
eines abgerissenen Wohnhauses wie eine ›Offenbarung‹ über den Vorbei-
laufenden kommt.121 So wie er sich vorher mit den ›Fortgeworfenen‹ iden-
tifiziert hatte, entsteht jetzt eine Art identifikatorisches Verhältnis zwischen
Malte und diesem, wenn man so will, entblößten Wohnhaus, das in der
Beschreibung des ›Sehen-Lernenden‹ entsprechend anthropomorphisiert
wird. Die Abortrohre werden mit dem menschlichen Verdauungstrakt in
eins gesetzt: Durch den Raum »kroch in unsäglich widerlichen, wurmwei-
chen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne
der Abortröhre«, heißt es (VI, 749). »Das zähe Leben dieser Zimmer hatte
sich«, wie Malte sich ausdrückt, »zusammengekrochen« (VI, 750). Dass
die Wände abgerissen worden waren, ist höchst signifikant, fallen doch
dadurch nicht nur buchstäblich, sondern auch in symbolischem Sinne die
Schranken zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt bzw.
zwischen Malte als Beobachtendem und der Mauer als Beobachtetem:122

120 Vgl. Judith Ryan: »›Hypothetisches Erzählen‹: Zur Funktion von Phantasie und
Einbildung in Rilkes Malte Laurids Brigge«. In: Jahrbuch der deutschen Schiller-
gesellschaft 1971, 341–374; hier 348f.
121 Hans Schwerte sieht hierin die Manifestation einer »existentielle[n] Angst des
Gesichtsloswerdens« und spricht von der offen liegenden Innenseite des Hau-
ses als »ohne Raumgesicht«, als »entkörperte Mauer«, als »Hohlform«. (Hans
Schwerte: »Maltes Angst. Zu Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«.
In: Sprachkunst 25 [1994], 309–319; hier 312.) Aber drückt diese Innenseite des
Hauses nicht viel mehr aus als die abgerissene Fassade? ›Hohl‹ ist sie im Sinne
von ›ausdruckslos‹ bzw. ›gehaltlos‹ ganz und gar nicht. Im Gegenteil: Malte
kann an ihr ganze Lebensgeschichten ›ablesen‹. Angesichts der Bedeutung, die
die Innenseite des Hauses hier erhält, greift die Gleichsetzung von Menschen-
gesicht und Außenmauer nicht.
122 Vgl. Huyssen: »Paris/Childhood«. Fülleborns Charakterisierung der abgerisse-

199
Maltes ›Erkennen‹ der Mauer kommt einer Selbsterkenntnis gleich; die
Mauer wird zu einer Art zweitem Ich: »Ich erkenne das alles hier, und
darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.« (VI,
751)123 In einer Reihe von Begegnungen, bei der Malte in eine – wohlge-
merkt einseitige – empathische Beziehung zum Gegenüber tritt, setzt sich
diese Tendenz fort, so etwa in der Begegnung mit dem Sterbenden in der
Crémerie oder dem Veitstänzer. Hier erzeugt hochgradige Identifikation
den Impuls zur aktiven Hilfeleistung: Stellvertretend für den Veitstänzer
empfindet Malte tiefe Scham und versucht daher, dessen Leiden zu ka-
schieren; dem Medizinstudenten mit der Augenlidschwäche wiederum
hätte er seinen Willen gern ›ausgeliehen‹.124
Beim Besuch in der Salpetrière, dem Krankenhaus, in dem Malte sich
wegen eines unklaren nervösen Leidens behandeln lassen will, wird die
Spannung zwischen Eins- und Getrenntsein, zwischen Integration und
Fragmentierung erneut thematisiert, aber nun rückt Zweiteres in den Vor-
dergrund. Maltes Schilderung der im Krankenhaus beobachteten Men-
schen zeugt von einer fragmentierenden Wahrnehmungsweise. Er spricht
von einem Kind, das die Beine »an sich gepreßt [hält], als müßte es von
ihnen Abschied nehmen« (VI, 759), von Verbänden, die den Kopf eines
Mädchens »umzogen, bis nur noch ein einziges Auge da war, das nieman-
dem mehr gehörte« (VI, 759f.), von einer vereinzelten Hand, »die keine
mehr war« und von einem Bein, »das aus der Reihe herausstand«. (VI,
760.)125 Auch die akustische Wahrnehmung ist von dieser Zerstückelungs-
tendenz geprägt, es melden sich nur noch von ihren Urhebern losgelöste
Schreie und Stimmen (VI, 763). Ein von der anderen Seite einer Trenn-
wand herüber strömendes Lallen ruft eine Erinnerung an die sehr frühe
Kindheit wach: »Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte:

nen Häuserwand als Verkörperung einer »fremde[n], amorphe[n] Wirklichkeit«


kann ich nicht folgen, werden doch die Spuren, die sie hinterlässt, von Malte
wie eine Schrift gelesen, die die Geschichte des Hauses in verdichteter Form
wiedergibt. Spätestens durch Maltes ›Exegese‹ erfährt sie eine ästhetische Ge-
staltung.
123 Vgl. Ryan: Hypothetisches Erzählen, 348f. Der epiphane Charakter des Maue-
rerlebnisses als »sich intuitiv herstellender Bezug zwischen Außen und Innen«
ist evident. Vgl. Engel: Rilkes Elegien, 111.
124 Das Ausmaß dieser Identifikationstendenz lässt sie meines Erachtens zu mehr
werden als nur »Übungen der Phantasie«, wie Ryan es formuliert (Ryan: Hy-
pothetisches Erzählen, 350).
125 Solche »imagery of the fragmented body« bildet den Ausgangspunkt für Huys-
sens Interpretation der Aufzeichnungen. Vgl. Huyssen: »Paris/Childhood«, 116.

200
da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir
das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag:
das Große.« (VI, 764)
In Maltes Beschreibung ›des Großen‹, dies eine eigenwillige, zunächst
sehr dunkel anmutende Kindheitserinnerung, äußert sich, wie ich mei-
ne, auf besonders eindrückliche Weise die hier auszumachende Polarität
zwischen Eins- und Getrenntsein. »Jetzt wuchs es [das Große] aus mir
heraus wie eine Geschwulst«, schreibt Malte, »wie ein zweiter Kopf, und
war ein Teil von mir, obwohl es doch gar nicht zu mir gehören konnte,
weil es so groß war. Es war da, wie ein großes totes Tier, das einmal, als
es noch lebte, meine Hand gewesen war oder mein Arm.« (VI, 765) Diese
Phantasie verleiht der vielerorts ausgemachten Dynamik der Opposition
zwischen Eins- und Getrenntsein oder, um mit Manfred Engel zu reden,
zwischen ›Beteiligung‹ und ›Fremdheit‹,126 eine präzise bildliche Gestalt.
Dabei wird ›das Große‹ einerseits als zu Malte gehörig erlebt, als etwas,
was aus ihm herauswächst und somit, wie er selbst sagt, »ein Teil von
[sich]« sei. Zugleich gebärdet sich ›das Große‹ jedoch in seiner ganzen
Fremdheit, die in erster Linie bedingt ist durch seine Überdimensionalität:
»[...] es [konnte] doch gar nicht zu mir gehören [...], weil es so groß war«,
so Malte. In seiner Fremdheit erscheint Malte ›das Große‹ nicht mehr als
etwas Lebendiges – wenn auch Pathologisches –, sondern als etwas Totes,
aber ihm früher Zugehöriges.
Die Ambivalenz, mit der das Phänomen behaftet ist, lässt ›das Große‹
im nächsten Zug jedoch ›wiederbelebt‹ werden: In der Phantasie wird jetzt
eine körperliche Verbindung zwischen Malte und ›dem Großen‹ erneut
hergestellt, wie am Anfang der Passage, wo es – als wachsende Geschwulst
– in vitalistischer Gestalt erschien: »Und mein Blut ging durch mich und
durch es [das Große], wie durch einen und denselben Körper.« (VI, 765)
Aber auf diese Vereinigungsvision folgt gleich die Einsicht in die Begrenzt-
heit des eigenen Körpers: »[...] mein Herz mußte sich sehr anstrengen, um
das Blut in das Große zu treiben: es war fast nicht genug Blut da. Und das
Blut trat ungern ein in das Große und kam krank und schlecht zurück.«
(VI, 765) Diese Einsicht beeinträchtigt die immer wieder ansetzende Ver-
einigungsvision; sie kann sich nur in Form eines pathologischen Ereignis-
ses geltend machen: ›Das Große‹ erscheint als Geschwulst; das Blut des
phantasierenden Kindes wird in Folge der Verbindung mit ›dem Großen‹

126 Siehe Manfred Engel: Rilkes Elegien.

201
»schlecht und krank«. Die Vorstellung, es sei »fast nicht genug Blut da«,
um ›das Große‹ (mit) zu versorgen, kommt einer Einsicht gleich, nämlich,
dass es für den Menschen sehr schwer, wenn nicht unmöglich sei, Allbezug
herzustellen, oder, um das lyrische Ich des oben besprochenen Gedichts
»Vor Weihnachten 1914« zu zitieren, »[...] Bezug / in dich zu reißen [...]«
(II, 98). Wie es hieß:

[…] O daß
du immer wieder wehren mußt: genug,
statt: mehr! zu rufen, statt Bezug
in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche?
Schwächliches Herz […]
(II, 98)

Angesichts der Unmöglichkeit einer Vereinigung mit ›dem Großen‹ wird


die phantasierte Verbindung zu diesem für Malte letztlich zur Bedrohung:
»Aber das Große schwoll an und wuchs mir vor das Gesicht wie eine
warme bläuliche Beule und wuchs mir vor den Mund, und über meinem
letzten Auge war schon der Schatten von seinem Rande.« (VI, 765) Es
ist kein Sprechen, kein Sehen mehr möglich. Das von dieser Phantasie
erzeugte Gefühl der Bedrohung affiziert Malte in einem solchen Maße,
dass er in der Außenwelt nicht mehr zurecht kommt. Er flüchtet aus dem
Krankenhaus und kommt dabei an denselben elektrischen Bahnen vorbei,
die am Anfang der Aufzeichnungen omenhaft durch seine Stube zu rasen
schienen. Auf ihren Tafeln stehen Namen, die Malte nicht kennt. Er ver-
liert vollkommen die Orientierung: »Ich wußte nicht, in welcher Stadt ich
war [...].« (VI, 765). Der Malte der Pariser Gegenwart wird in den Bann
dieser unheimlichen Vision des ›Großen‹ gezogen.
In der darauf folgenden Aufzeichnung reflektiert Malte aus einer etwas
größeren psychischen Distanz über Erinnerungen an die Kindheit. Durch
Nichtigkeiten ausgelöst hebe
sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang an
einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte, tauchen
empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und verdrängen
Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine
ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu oftem
Erinnern. (VI, 766)

Dieses Bild suggeriert, dass der Mensch zwei Vergangenheiten, zwei Kind-
heiten habe: eine, über die man durch das Wieder-in-Erinnerung-Rufen
verfügen könne, also eine dem Bewusstsein ohne Weiteres zugängliche,

202
und eine zweite, nie bewusst erfahrene, die, um Maltes Bild zu zitieren,
an dieser vordergründigen Kindheit hänge »wie nasser Tang an einer ver-
sunkenen Sache«.127 Maltes Verhältnis zu dieser ›zweiten‹ Kindheit ist von
Ambivalenz geprägt:

Wie ein Ding, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt,
geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlusts, ganz als ob es bei irgend
jemandem in Pflege gewesen wäre –: so liegt da und da auf meiner Bettdecke
Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle verlorenen Ängste sind wieder
da. (VI, 766f.)

Zwar ist diese Kindheit »wie neu«, nicht so ›abgenutzt‹ wie die verfügbaren
Erinnerungen, von denen schon die Rede war, aber auch voller Ängste.
Wie die Erinnerung an ›das Große‹ im Krankenhaus zeigte, hat das Be-
drohungspotential der Kindheitserinnerungen nichts an Macht eingebüßt:
»Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und
ich fühle, daß sie immer noch so schwer ist wie damals und daß es nichts
genützt hat, älter zu werden.« (VI, 767). Bei aller Negativität dürfte diese
zweite, verborgene Kindheit Gefühle und Erinnerungen enthalten, die den
»niegewußten Gefühle[n]« ähneln, die uns, so die Vision des Puppenauf-
satzes, beim Aufbrennen der kleinen Falter »überfluten«.
Welchen Sog die Sehnsucht nach Allbezug auf Malte ausübt, wird ihm
bald bewusst, als er mitten in Paris die »Existenz des Entsetzlichen in jedem
Bestandteil der Luft« erkennt. Die krasse Wirklichkeit dieser modernen
Großstadt bedrängt Malte so sehr, dass er letztlich meint, es sei vielleicht
»[b]esser [...], du wärest in der Dunkelheit geblieben und dein unabge-
grenztes Herz hätte versucht, all des Unterscheidbaren schweres Herz zu
sein« (VI, 776f.). Allerdings verrät die Formulierung »schweres Herz«, dass
Malte sich im Klaren ist über die Unmöglichkeit, eine solche Phantasie zu
realisieren. Das eigene, abgegrenzte Herz ist ein zu kleines Gefäß, als dass
es in der Lage wäre, »all des Unterscheidbaren schweres Herz zu sein«.
Genau das zeigte Maltes Wiederbegegnung mit ›dem Großen‹. Letztlich

127 Koch weist auf die Zweidimensionalität der erinnerten Zeit bei Rilke hin
und zieht eine Parallele zu Benjamin und Proust. Benjamin zufolge zerstöre
»[d]as ›zweckverhaftete Erinnern‹ des wachen, kontrollierten Bewußtseins [...]
die unablässig gewobenen ›Ornamente des Vergessens‹ [...] Diesen bild- und na-
menlosen Teppich des vergangenen Lebens zu heben« sei »die Anstrengung des
dichterischen Prozesses« (Koch: Mnemosyne, 224). Auch bei Proust finde man
eine »Verachtung der jederzeit abrufbaren Erinnerungsbilder, die [...] nichts
vom eigentümlichen Leben der Vergangenheit bewahren« (ebenda, 243). Vgl.
Kapitel 3.3.3. dieser Arbeit.

203
erscheint Malte die Begrenzung zu akzeptieren; wie es heißt: »Nun hast du
dich zusammengenommen in dich, siehst dich vor dir aufhören in deinen
Händen, ziehst von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein Ge-
sicht nach.« (VI, 777) Malte erfährt auch das Beruhigende einer derartigen
Begrenzung. Er schreibt: »Und in dir ist beinah kein Raum; und fast stillt
es dich, dass in dieser Engheit in dir unmöglich sehr Großes sich aufhalten
kann; dass auch das Unerhörte binnen werden muß und sich beschränken
den Verhältnissen nach.« (VI, 777)
Maltes erste Kindheitserinnerungen thematisieren den Widerstreit zwi-
schen der Sehnsucht nach Unbegrenztheit und der Einsicht in die Notwen-
digkeit der Begrenzung. Paradoxerweise war diese – das zeigte die Interpre-
tation des Gedichts »Vor Weihnachten 1914« – die conditio sine qua non
für die Herstellung des wirklichen Bezugs zum wie auch immer gearteten
Gegenüber. Der Weg der Verschmelzung mit dem Anderen bleibt ver-
wehrt. Die Position des ›Gegenüberseins‹, mit der Malte sich hier allmäh-
lich anfreundet, determiniert die letzten beiden, zugleich bedeutendsten
Kindheitserinnerungen, von denen die Aufzeichnungen berichten. Signi-
fikanterweise handeln beide von Spiegelungserlebnissen, deren Topologie
bedingt ist von der Identität des Aufzeichnenden als Gegenüber.

2.4.3. Hand- und Spiegelepisode in den Aufzeichnungen


Motivisch und topologisch nimmt die Episode mit der Hand, eine von
Maltes markantesten Kindheitserinnerungen, die Spiegelepisode, – das
Schlüsselerlebnis seiner erinnerten Kindheit –, vorweg. Denn das illusi-
onäre Erlebnis mit der Hand, das, wie Malte zu berichten weiß, »weit
zurückliegt in meiner Kindheit« (VI, 792), handelt, wie letztere Episode,
von einem Spiegelungsvorgang. Das kleine Kind, das beim Malen nach
dem herunter gefallenen Stift sucht, erfährt, wie aus der entgegengesetz-
ten Richtung eine Hand auf seine im Dunkel tastende sich zubewegt, als
sei es die eigene, im Spiegel kopierte, – nur, dass diese illusionäre Hand
»eine größere, ungewöhnlich magere« war. (VI, 795) In der wenig später
erzählten Verkleidungsszene wird Malte ein zweites Mal mit einem Spie-
gelbild konfrontiert – diesmal mit dem realen, vom Pfeilerspiegel erzeug-
ten. Bei aller Differenz – im einen Fall die imaginierte bzw. halluzinierte
Spiegelung eines Körperteils, der in seiner ›Spiegelgestalt‹ offensichtliche
Differenzen zum Original aufweist, im anderen eine reale Spiegelung der
ganzen Gestalt – weisen die beiden Kindheitserinnerungen signifikante Pa-
rallelen auf. Beiden Spiegelungsvorgängen geht eine Entfremdung voraus.

204
In der Episode mit der Hand war das Körpererleben unmittelbar vor der
Begegnung mit der anderen Hand stark beeinträchtigt gewesen. Wie Malte
sich erinnert: »[...] die zu lange eingehaltene knieende Stellung hatte meine
Glieder dumpf gemacht; ich wußte nicht, was zu mir und was zum Sessel
gehörte.« (VI, 794) Auch das Sehvermögen war extrem beeinträchtigt: »[...]
noch ganz begeistert für die Farben auf dem weißen Papier, vermochten
meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen, wo mir
das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich bange war, daran zu sto-
ßen.« (VI, 794) Wie schon an anderer Stelle sind auch hier die Identität
gewährenden Funktionen weitgehend außer Kraft gesetzt: das Gefühl für
die eigenen Konturen – hier gehen sie in die des Sessels über – sowie für
die der Objekte. In diesem Zustand erlebt Maltes Körper eine Fragmen-
tierung, seine Hand verselbständigt sich und gebärdet sich wie ein Fremd-
körper:
[...] für meine unwillkürlich angestrengten Augen [wurde] das Dunkel nach
und nach durchsichtiger [...]; ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte
Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein Wassertier, da unten bewegte
und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es
kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da
unten so eigenmächtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beob-
achtet hatte. (VI, 794f.)

Man erinnere sich an Maltes Evokation einer »Zeit der anderen Auslegung«
(VI, 756), die Vision einer Hand, die, wie er sagt, »weit von mir sein« und
»Worte schreiben [wird], die ich nicht meine«.
Maltes späteres Erlebnis vor dem Spiegel wird von einem ähnlichen,
zum Teil in denselben Bildern dargestellten Entfremdungsgefühl begleitet.
Zum einen wird dieses Gefühl zunächst dadurch begünstigt, dass Mal-
te verkleidet vor den Spiegel tritt, und zum anderen dadurch, dass der
Spiegel auf Grund seiner Physiognomie ein verfremdendes Spiegelbild
entwirft, denn es handelt sich, wie bereits erwähnt wurde, um einen be-
sonderen Spiegel, und zwar um einen »schmalen Pfeilerspiegel, der aus
einzelnen ungleich grünen Glasstücken zusammengesetzt war« (VI, 803).
Maltes Erscheinen vor dem Spiegel wird einem Sprechen gleichgesetzt.
Man erinnere: Bei Rilke wird der Spiegelungsvorgang häufig zur Meta-
pher für den dichterischen Prozess. Diesem Bild entsprechend besteht also
der Spiegelungsvorgang in der wie auch immer gearteten Wiedergabe der
›eingegebenen‹ Worte. Die Wirkung dieses fragmentierten und somit auch
selbst wieder fragmentierenden, trüben Pfeilerspiegels wird mittels dieser
Metaphorik beschrieben:

205
Ach, wie man, zitterte drin zu sein, und wie hinreißend war es, wenn man es
war. Wenn da etwas aus dem Trüben heraus sich näherte, langsamer als man
selbst, denn der Spiegel glaubte es gleichsam nicht und wollte, schläfrig wie er
war, nicht gleich nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber schließlich mußte
er natürlich. (VI, 803)

Das Produkt dieses nicht ›mimetischen‹, d.h. nicht gleich ›nachsprechen-


den‹ Spiegels mutet entsprechend befremdlich an:

[...] nun war es etwas sehr Überraschendes, Fremdes, ganz anders, als man es
sich gedacht hatte, etwas Plötzliches, Selbständiges, das man rasch überblickte,
um sich im nächsten Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine gewisse
Ironie [...]. (VI, 803)

Bei aller Befremdlichkeit ist es aber noch Malte, der das Bild ›eingibt‹, das
Bild ›diktiert‹: »Wenn man aber sofort zu reden begann, sich zu verbeugen,
wenn man sich zuwinkte, [...] so hatte man die Einbildung auf seiner Seite,
[...]« (VI, 804) – so wie er in der Episode mit der Hand vor Eintritt des
Spiegelungserlebnisses im wörtlichen Sinne dabei gewesen war, ein Bild zu
malen. Man denke hierbei an die besagte Vision einer ›Zeit der anderen
Auslegung‹, seine Prophezeiung: »[...] diesmal werde ich geschrieben wer-
den. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird« (VI, 756). Im einen
Fall ist Malte der ›einbildende‹, im anderen der ›Eindruck‹. Die als Utopie
beschworene Verschränkung der Subjekt-Objekt-Perspektive in der Vision
einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ bahnt sich hier in der Spiegelepisode
an. Provoziert wird sie dadurch, dass Malte sich verkleidet: »Ich lernte
damals den Einfluß kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht
ausgehen kann,« erinnert er sich. »Kaum hatte ich einen dieser Anzüge
angelegt, mußte ich mir eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam;
daß er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine
Einfälle vorschrieb;...« (VI, 804) Plötzlich ›schreibt‹ die Tracht das Bild –
die ›Einbildung‹, den Eindruck – ›vor‹. Vorher war Malte der ›Vorsagende‹.
Jetzt, wie auch in der Vision einer selbständig dichtenden Hand, verselb-
ständigt sich die vor dem Spiegel gestikulierende – d.h. ›redende‹ – Hand
auf einmal: »[...] meine Hand [...] war durchaus nicht meine gewöhnliche
Hand; sie bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich
selber zu [...]« (VI, 804) Die Ähnlichkeit im Erleben der eigenen Hand
als einer Art Fremdkörper im positiven Sinne in der Vision einer ›Zeit
der anderen Auslegung‹ wie im negativen Sinne in der Hand-Episode ist
offensichtlich. Allerdings behält das Subjekt in der Spiegelepisode noch die
Kontrolle. Der in der Vision prophezeite Umschlag von Subjekt in Objekt
bleibt zunächst aus: »Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, daß

206
ich mich mir selber entfremdet fühlte; [...].« (VI, 804) Vielmehr bestärken
sie Malte in seinem Selbstgefühl: »[...] im Gegenteil, je vielfältiger ich mich
abwandelte, desto überzeugte wurde ich von mir selbst. Ich wurde kühner
und kühner [...].« (VI, 804)
Dann aber wird die Gestalt vor dem Spiegel immer unwirklicher und
bedrohlicher. Malte legt sich nämlich eine Maske auf, die er zugleich be-
zeichnenderweise ein ›Gesicht‹ nennt; es war fast so, als habe er das eigene
Gesicht gegen die Maske ausgetauscht, denn »es legte sich fast über mei-
nes«, so Malte; »der Rand der Maske« war »fast ganz verdeckt« (VI, 806).
Das will heißen: Die Tatsache, dass es sich um eine Maskierung, eine Il-
lusion handelt, wird kaschiert. Paradoxerweise ›leuchtet‹ dem Spiegel diese
Erscheinung aber gleich ›ein‹: »Der Spiegel gab es auch augenblicklich wie-
der, es war zu überzeugend.« (VI, 806)128 Wenn Malte gleich darauf sagt, es
gelte »zu erfahren, was ich eigentlich sei« (VI, 806), so beziehen sich seine
Worte nur vordergründig auf die Kostümierung, auf das, was die Verklei-
dung darstellen soll. Die Worte haben auch eine hintersinnige, existentielle
Bedeutung: Malte fragt nach der eigenen Identität, verkörpert durch die
unkostümierte Erscheinung, die es nicht vermocht hatte, den Spiegel gleich

128 Peter Por scheint das ›falsche Gesicht‹ im Spiegel als eine Art Chiffre für den
Text selbst zu nehmen. Wie er schreibt, sind »die Aufzeichnungen, die Bilder
und die Worte alle a limine als verfehlt und inauthentisch verfaßt [...], da sie
alle als falsche Maske gesetzt werden, [...].« (Por: »Hyperbel«, 122) Pors Fazit:
»Kein Ereignis, kein Bild, keine Person und letzten Endes auch kein Wort ist
authentisch, [...] alle bleiben sie verfehlt, sind inauthentische ›Signalworte‹ [...]
inauthentische ›Spuren‹ (so Derrida, aber vor ihm wieder Rilke selbst), die sich
stets konstruieren und dekonstruieren.« (Pors: »Hyperbel«, 124) Zunächst sei
angemerkt: Por setzt hier die Derrida eigene Verwendung des Wortes ›Spuren‹
mit ihrer konventionellen, und das heißt in diesem Kontext auch Rilke’schen
Verwendung gleich – mit Sinn entstellender Wirkung. Meine Hauptkritik an
Pors, wie ich meine, sehr tendenziöser These richtet sich gegen die Behauptung
der Inauthentizität des Textes, besteht doch ein Hauptthema der Aufzeichnungen
im Ringen um die authentische Erfahrung und ihren dichterischen Ausdruck,
signalisiert im lakonischen »Ich lerne sehen« oder in der für Maltes dichterisches
Selbstverständnis wichtigen Reflexion, infolge der es heißt: »Man muß Erinne-
rungen haben [...]. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat.
[...] Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden
in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns
selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste
Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.« (VI, 724f.)
Por beruft sich auf Judith Ryans Begriff des »hypothetischen Erzählens«, um sei-
ne These zu untermauern; dabei scheint er, (irrtümlicherweise) den Ryan’schen
Begriff ›hypothetisch‹ mit dem von ihm verwendeten – ›inauthentisch‹ – gleich-
zusetzen.

207
zu ›überzeugen‹. Hier reaktiviert sich die metaphorische Analogie zwischen
Reden und Sich-vor-dem-Spiegel-Bewegen. Mit der Maske verkleidet »wä-
re [es] gar nicht nötig gewesen, sich viel zu bewegen; diese Erscheinung war
vollkommen, auch wenn sie nichts tat« (VI, 806). Im Bemühen, die hinter
der Maske versteckte, eigene Identität geltend zu machen, greift Malte er-
neut zur gestischen Sprache: »[...] so drehte ich mich ein wenig und erhob
schließlich beide Arme: große, gleichsam beschwörende Bewegungen, das
war, wie ich schon merkte, das einzig Richtige.« (VI, 806)
Doch gerade der Versuch, dem Spiegel ›einzureden‹, dass er es sei, der
vor ihm stand, führt die Katastrophe herbei. In seiner kostümierten Un-
beholfenheit wirft Malte einen kleinen Tisch um, der bezeichnenderweise
voll ist mit »wahrscheinlich sehr zerbrechlichen Gegenständen«, die her-
unterfallen und ›entzwei‹ gehen. Das Motiv des Zerschlagens, Zerschellens
von niederfallenden Gegenständen kennt man aus anderen Zusammen-
hängen, wo es Maltes Gefühl der Fragmentierung anzeigt. So auch hier.
Der verzweifelte Versuch Maltes, sich »irgendwie aus [der] Vermummung
hinauszuzwängen«, ist eine Inszenierung des Kampfes um die Wahrung
bzw. Rettung der eigenen Identität. Doch statt Rettung erlebt Malte das
genaue Gegenteil. Malte berichtet:

[Dabei] nötigte er [der Spiegel] mich, ich weiß nicht womit, aufzusehen und
diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche mon-
ströse Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen meinen Willen; denn
jetzt war er der Stärkere, und ich war der Spiegel. (VI, 808)

Dieses Überwältigtwerden durch das Spiegelbild steigert sich sogar noch bis
zur völligen Auslöschung der eigenen Identität: »Eine Sekunde lang hatte
ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann
war nur noch er: es war nichts außer ihm.« (VI, 808) Selbst nachdem das
Kind sich vom Spiegel entfernt hat, bleibt die Umkehrung der Verhältnisse
noch bestehen: »Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stieß
überall an, er kannte das Haus nicht, er wußte nicht wohin.« (VI, 808)
Schließlich wird Malte noch die Stimme genommen: Niemand hört seine
Schreie.129 Dann verliert er das Bewusstsein. Er beschreibt, wie er zum
Schluss »dalag wie ein Stück in allen den Tüchern, rein wie ein Stück« (VI,

129 Wagner-Egelhaaf meint, in dieser Szene »[w]esentliche Strukturmerkmale einer


unio mystica« entdecken zu können: »das Überwältigtwerden wider Willen, das
Grauenvolle des Alleinseins mit dem Gott, die völlige Auslöschung des Ichs«
(Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne, 84).

208
809).130 Die Inversion, die zu einer Überwältigung des sich Spiegelnden
durch das Spiegelbild führte, scheint von einer zweiten Inversion begleitet
zu werden, die das Subjekt Malte zum Objekt, zu einem ›Stück‹ macht.
Die von Malte beschworene, eine ›Zeit der anderen Auslegung‹ einläu-
tende, utopische Umkehrung der Subjekt-Objekt-Perspektive und die mit
ihr einhergehende Auflösung der Sprache erfährt in seinem Erlebnis mit
der Hand und dem Spiegel ihr negatives Pendant. Die Sprachlosigkeit,
in die Maltes Begegnung mit der zweiten Hand ihn stürzt, erlebt er als
äußerst qualvoll: »Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war
nicht auszudrücken, so daß es einer begriff. Gab es Worte für dieses Er-
eignis, so war ich zu klein, welche zu finden.« Allerdings bekommt er bald
Angst, diese Worte »könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal da
sein«, wobei er es als Zwang empfunden hätte, »sie dann sagen zu müssen«,
– das »schien [ihm] fürchterlicher als alles« (VI, 796). Was in der Vision
einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ als ein einziger zu bejahender Vorgang
erscheint – Auflösung der Sprache bei gleichzeitigem Umschlag von Sub-
jekt in Objekt –, zerlegt sich hier in seine beiden Momente, wobei beide
als bekämpfenswert erscheinen: erst das Erleben der Sprachlosigkeit, dann
die Furcht vor dem Erleben eines Diktiertwerdens von der Wirklichkeit,
und zwar in äußerst bedrängender Weise: »Das Wirkliche da unten noch
einmal durchzumachen, [...] zu hören, wie ich es zugebe, dazu hatte ich
keine Kraft mehr.« (VI, 796) Schließlich, und darauf muss mit Nachdruck
hingewiesen werden, bleibt es in der Spiegelepisode nicht bei einer Um-
kehrung der Subjekt-Objekt-Perspektive, sondern das in der erinnerten
Phantasie zum Objekt gemachte Kind wird von dem zum Subjekt gewor-
denen Spiegel erst übermannt, dann vernichtet. Es bleibt Maltes Phantasie
nach nur noch das Andere.
Ein Vergleich der Spiegelmotivik, wie sie sich hier und in Verbindung
mit dem Puppenmotiv manifestiert, kann für die Interpretation der Auf-
zeichnungen fruchtbar sein. Bei der Interpretation des Puppenmotivs stellte
sich heraus, auf welch komplexe Weise die Motive Spiegel und Gegenüber
in Rilkes Dichtung ineinander übergreifen. Der Spiegel bzw. das Gegen-
über, soweit dieses eine Spiegelfunktion inne hatte, wurde zum Ort der
Verwandlung, in dem die in ihn ›hineingegangenen‹ Bilder in ihrer ›höhe-

130 Ryan sieht hierin, wie in der Hand-Episode auch, eine »Verselbständigung der
Phantasie, die von dem Kinde nicht durch das Erzählen gebannt werden kann«
(Ryan: Hypothetisches Erzählen, 359). Die Schreie eines in Panik geratenen
Kindes als ein ›Erzählen‹ zu betrachten (vgl. 359), leuchtet mir aber nicht ein.

209
ren‹, die Temporalität überwindenden Wirklichkeit zurückgespiegelt wer-
den; so seine eigentliche Bestimmung, wie das Spiegelsonett sie statuiert.131
In der Vorstellung einer in zweifachem Sinne ›aufhebenden‹ Wirkung des
Spiegels kommen Rezeptivität und Reflexivität als die beiden Konstituen-
ten seines Wesens zur Geltung. Insofern es als Spiegel fungiert, übernimmt
das Gegenüber eine ähnliche, doppelte Aufgabe. In diesem Sinne erhielt
die Puppe verschiedene, wenn auch eingeschränkte Spiegelfunktionen. Der
Spiegel der Aufzeichnungen hingegen gebärdet sich zunächst als rein dest-
ruktive Instanz. Dem entspricht seine Eigenart: Dieser trübe, durch seine
Zerstückelung den zu Spiegelnden desintegrierende Spiegel kann weder
reflektorisch noch rezeptiv wirken im oben erläuterten Sinne.
Fast ausnahmslos richtet sich das Augenmerk der Malte-Interpreten auf
die Spiegelepisode, der ein zentraler Stellenwert im Roman beigemessen
wird, aber oft bald vergessen bzw. gar nicht erst beachtet wird die fragmen-
tierte Gestalt des Spiegels.132 Obwohl er keine im idealen Sinne rezeptiv-
reflektorische Funktion erfüllt, kann der Pfeilerspiegel paradoxerweise, und
zwar gerade auf Grund seiner besonderen Physiognomie, den Anspruch
auf ›Wirk‹-lichkeit erheben, denn obwohl der Pfeilerspiegel auf Ulsgaard
ein optisches ›Trugbild‹ der Desintegration entwirft, entspricht dieses der
subjektiven Wahrnehmung der Desintegration seitens des Aufzeichnenden.
Deswegen wird sein verzerrtes Spiegelbild zur ›Wirklichkeit‹ und er, Malte,

131 Das auf Oppositionen aufbauende Denken Rilkes manifestiert sich besonders
deutlich in Bildern, die sich am Phänomen der Spiegelung im weiteren Sinne
ausrichten. In Bezug auf Rilkes Ästhetik zeigt sich dies etwa im Wort von der
Kunst als »Inversion der Welt« (RBr I, 269), oder in der auf die Aufzeichnungen
bezogenen Vorstellung des Abwesenden als das, was Malte »den Schlüssel der
Dinge gibt«: »[...] jedes verlangt seinen Gegensatz, der erst seine wahre Bedeu-
tung enthüllt.« (Äußerungen Rilkes im Gespräch mit Maurice Betz, zitiert in:
Maurice Betz: »Über die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. In: Hartmut
Engelhardt [Hrsg.]: Materialien zu Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge, Frankfurt/Mn., 1974, 157–172; hier 160.) Angesichts solcher
Formulierungen ist unschwer zu verstehen, warum Rilke das Spiegelmotiv so
gern und oft aufgreift. Vgl. hierzu de Man: Allegories, 40; 43. So gesehen ge-
winnt das berühmte Wort von den Aufzeichnungen als »eine[r] hohle[n] Form,
[...] ein[em] Negativ«, dessen »Ausguß [...] vielleicht Glück, Zustimmung; –
genaueste und sicherste Seligkeit [wäre]« (RBr II, 511) an Sinn. Man vergleiche
dabei Maltes eigenen, ausbleibenden ›Schritt zur Seligkeit‹. Das Buch wird ge-
wissermaßen zum Spiegel im negativen Sinne, der aber für »die positive Figur,
die man daraus gewönne« (ebenda, 511) unabdingbar sei. Vgl. auch Kunz: Nar-
ziß, 51f.; 63.
132 Huyssen widmet diesem Detail gebührende Aufmerksamkeit. Vgl. »Paris/Child-
hood«, 129.

210
zum ›Spiegel‹. Durch die perfekte Kostümierung – »der Rand der Mas-
ke [war ...] fast ganz verdeckt« – ist die Illusion besonders gelungen. Sie
›überzeugt‹ sofort den Spiegel. Vorher hatte dieser, seiner fragmentarischen
Physiognomie gemäß, »nicht gleich nachsprechen [wollen], was man ihm
vorsagte« (VI, 803). Jetzt wird kraft der ›Vollkommenheit‹ der ›Er-schein-
ung‹ die desintegrative Wirkung des Spiegels aufgehoben: »Der Spiegel gab
[Maltes kostümierte Gestalt] augenblicklich wieder […].« (VI, 806) Die
Macht der illusionären, weil subjektiv nicht empfundenen, sondern nur
mittels einer Maske realisierten Ganzheit in der Gestalt des kostümierten
Kindes führt eine Integration des real fragmentierten Spiegels herbei. Die-
ser ›spricht‹ auf die Ganzheit verheißende Erscheinung Maltes gleich ›an‹.
Der ›ganze‹ Malte wird zum Ganzheit erzeugenden ›Spiegel‹ des Spiegels
mit einer ›heilenden‹ Wirkung. Die objektiv gegebene Fragmentierung des
Pfeilerspiegels einerseits und die subjektiv gegebene Fragmentierung des
Kindes andererseits werden gleichermaßen durch ein illusionäres Bild der
Integration aufgehoben – zumindest für die Dauer des Spiegelungsvor-
gangs. Die real gegebene Brechung der optischen Erscheinung des Kindes
im Pfeilerspiegel und die imaginierte ›Brechung‹ des Ichs im subjektiven
Empfinden Maltes werden aber im Akt der Spiegelung nicht mehr wahr-
genommen. Ein solches ›Zurechtrücken‹ der Verhältnisse erfolgt erst im
Moment des Umschlags, in dem Malte des fragmentierten Ich hinter dem
Kostüm gewahr wird, das mittels seiner hilflosen Gebärdensprache auf
sich aufmerksam zu machen versucht, aber, statt sich verständlich machen
zu können, bei der schlagartig sich einstellenden Umkehrung der Pers-
pektive selbst »ein Bild, nein, eine Wirklichkeit« ›diktiert‹ bekommt. (VI,
808) Malte erlebt diese Wirklichkeit als ›fremd‹ und ›monströs‹, aber in
Wahrheit entspricht sie seinem eigenen Empfinden der Fragmentierung.
In Anbetracht der Diskrepanz zwischen optischer bzw. psychischer Realität
und Illusion, die dem Spiegelungsvorgang zu Grunde liegt, wohnt diesem
Vorgang ein zutiefst ironisches Moment inne.133

133 Lorna Martens interpretiert diesen Vorgang als reine Steigerung der ›Falschheit‹
der Erscheinung, berücksichtigt dabei aber nicht die unverkennbare Wechsel-
dynamik zwischen Spiegel und Kind. In ihrem Deutungsmodell scheint eine
solche Diskrepanz zwischen optischer Erscheinung des Spiegelbilds und subjek-
tivem Empfinden des sich Spiegelnden keine Rolle zu spielen. Vgl. Lorna Mar-
tens: The Diary Novel, New York 1985, 160. In ihrer Interpretation der Szene
vor dem Spiegel wird Ryan dieser Wechseldynamik genauso wenig gerecht, sieht
sie doch darin lediglich, wie in der Hand-Episode auch, eine »Verselbständigung

211
Der Pfeilerspiegel symbolisiert aber auch Maltes Situation schlechthin.
Er ist ein ›schlechter‹, weil fragmentierender Spiegel, der genauso wenig wie
die verschiedenen Personen in der Pariser Gegenwart der Aufzeichnungen
der Aufgabe eines idealen ›Spiegels‹ für Malte gerecht zu werden vermag:
Maltes hochgradig empathische Einfühlung in verschiedene Gestalten der
Pariser Gegenwart bleibt einseitig; es kommt zu keiner Widerspiegelung.
Solche Gestalten erhalten den Charakter reiner Projektionen. Sie sind, wie
die historischen Figuren im zweiten Teil des Romans auch, nur sehr not-
dürftige ›Vokabeln seiner Not‹. 134

der Phantasie, die von dem Kinde nicht durch das Erzählen gebannt werden
kann« (Ryan: Hypothetisches Erzählen, 359).
134 An dieser Stelle möchte ich mich mit einer Malte-Interpretation auseinander-
setzen, die ein neues Licht auf den Roman wirft und im Kontext der hier
besprochenen Thematik besonders relevant ist. Martens erklärt die mehrfache
metaphorische ›Spiegelung‹ zum Kompositionsprinzip des Romans. Ihr Kern-
satz: »Malte is a first-person narrative that is structured like a metaphor – where
Malte himself [...] figures [...] as the ›absent‹ subject of his book [...] as the
›unnamed‹ subject of metaphor« (Martens: Autobiographical Narrative, 243).
Diese Technik der ›metaphoric mirroring‹ gewährleiste »the truth of his [Mal-
tes] visions [...] Malte gains authority as a first person narrator by turning from
self-description to oblique self-representation, and from referential to figurative
language [...] Malte acquires authority as a visionary, as the author of the novel’s
creative re-seeings« (ebenda, 245). Indem Martens Malte zum ›visionary‹, zum
›Wieder-Sehenden‹ erklärt, impliziert sie in Folge ihrer symbolischen Bestim-
mung des Rilke’schen Spiegels (vgl. ebenda, 230ff.), dass Malte selbst der Spiegel
ist, der auf kreative Weise ›wiedersieht‹, sprich sich widerspiegelt. Aber als »the
›absent‹ subject of his book« ist Malte Martens’ Argumentation nach auch der
zu spiegelnde Gegenstand. Dadurch entfällt, wie Martens völlig richtig bemerkt,
»the questionable enterprise of self-objectification«. Wenn man im Roman eine
solche ›narzisstische‹ Spiegelstruktur ausmachen will – ein Ausdruck, den Mar-
tens nicht verwendet, der mir aber dafür treffend erscheint –, dürfte aber »[t]he
exemplary quality of Malte’s experiences«, die laut Martens mittels der ›meta-
phorical mirroring‹ gewährleistet werde, in Frage gestellt sein, denn Spiegel und
zu Spiegelnder beziehen sich immer nur aufeinander. In diesem Sinne kommt
die Interpretin denn auch letztlich zum Urteil: »The whole narrative could be
conceived as a catachresis for the self, for which there exists no proper expressi-
on« (ebenda, 245). Eine der Hauptschwierigkeiten bei Martens’ Deutung liegt
wohl darin, dass sie den Text gegen das Genre des literarischen Selbstporträts
abgrenzen will. »There is a striking absence of anything resembling self-portrai-
ture in Malte«, schreibt sie (ebenda, 245). Als Beispiel hierfür führt Martens
die Kindheitserinnerungen an und behauptet: »When Malte does talk about
himself, for example, his childhood, he describes universal experiences.« Ebenda,
245. Gerade das stimmt, wie hier hoffentlich gezeigt werden konnte, nur sehr
bedingt. Martens formuliert keine Begriffsbestimmung des literarischen Selbst-
porträts, aber ohne diese bleibt ihre Argumentation letztlich unbefriedigend. Sie
scheint aber von der Prämisse auszugehen, dass der sich selbst Porträtierende

212
2.4.4. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn I
Anders die am Ende der Aufzeichnungen eingeführte Geschichte vom Ver-
lorenen Sohn. Im Folgenden gilt es, zwei in sich stimmige, aber auch
konkurrierende Lesarten dieser ›Legende‹ – so Maltes Redeweise – darzule-
gen, um die Intention hinter der eigenwilligen Umdichtung des biblischen
Gleichnisses und deren visionär-Rilke’schen Gehalt zu beleuchten. Die ers-
te Lesart setzt beim facettenreichen Spiegelmotiv an, das ihre Komplexität
nicht zuletzt aus der Einbindung in die besagte, ans Ende der Aufzeichnun-
gen gestellte ›Nacherzählung‹ bezieht.
Malte, den Knaben des »Requiems«, das in der Gestalt des Kindes sich
meldende lyrische Ich in der dritten Strophe der Vierten Duineser Elegie
und den Verlorenen Sohn verbindet die Tatsache, dass ihre Familien ei-
nen ›schlechten‹ Spiegel abgeben.135 Bei Malte drückt sich das in einem
grundsätzlichen Gefühl des Missverstandenwerdens aus sowie zeichenhaft
im Pfeilerspiegel. Der Knabe des »Requiems« fühlt sich in ähnlicher Weise

einen nicht einzulösenden Anspruch auf die Objektivierbarkeit des Selbstbild-


nisses erhebt, und stellt diesem die Authentizität verbürgende, ›metaphorische
Spiegelung‹ gegenüber. Aber worin besteht ein solcher Selbstbespiegelungspro-
zess, wie ihn Martens Vorstellung nach die Aufzeichnungen darstellen, anders
als in einer – durchaus einleuchtenden – Form des Selbstporträtierens? Indem
Martens die Aufzeichnungen zu einer Kette von sich gegenseitig widerspiegelnden
Signifikanten erklärt, zu einer, wie sie sagt, »hall of significations« oder »hall
of mirrors«, verzichtet sie auf den Anspruch auf Allgemeingültigkeit insofern,
als der Bezug auf ein Signifikat fehlt, der den ›narzisstischen‹ Kreis aufbrechen
würde. Das Rilke-Kapitel in Martens’ Monographie The Diary Novel und der im
selben Jahr erschienene Rilke-Aufsatz sind über weite Strecken hinweg inhaltlich
fast identisch, aber in einem wesentlichen Punkt weicht die eine Behandlung
von der anderen ab. In The Diary Novel konstatiert Martens nämlich: »[Malte]
derives his authority from the implicit abilitiy to hold up the mirror away
from himself – to show the invisible its face. In doing so he turns the mirror
of representation away from the self.« (Martens: Diary Novel, 171) Während
die Interpretin hier behauptet, im Roman werde Malte – als »the ›unnamed‹
subject of metaphor« – gespiegelt, heißt es im Aufsatz derselben Autorin, Malte
halte dem Unsichtbaren einen Spiegel hin. Diese signifikante Differenz in der
Deutung wird von Martens nicht kommentiert. Die Interpretin scheint hierbei
aber einer von Ryan diagnostizierten Hauptschwierigkeit der Textlektüre zu er-
liegen. Ryan bemerkt: »Rilke’s novel is fraught with a basic indecision, whether
the problem he addresses is that everything is subjective [...] or that there is no
boundary between subject and object.« (Judith Ryan: »Validating the Possible:
Thoughts and Things in James, Rilke, and Musil«. In: Comparative Literature
40: 4 [1988], 305–317; hier 312.)
135 Den überwältigenden, vorwiegend negativen Einfluss der Familie auf das Kind
thematisiert das Gedicht »Dauer der Kindheit« (II, 290f.).

213
isoliert: »Denn daß wir alle so beisammen saßen, das hab ich nie geglaubt«
(II, 105). Die Familie wirkte nicht Ich-bildend, Konstanz und Dauer ver-
mittelnd, sondern ›schwankt‹ (II, 105). Und das Kindes-Ich der Vierten
Duineser Elegie spricht von dem »kleinen Anfang Liebe« zur Familie, »[...]
von dem ich immer abkam, / weil mir der Raum in eurem Angesicht, / da
ich ihn liebte, überging in Weltraum, / in dem ihr nicht mehr wart [...]«.
In dieser Variation des Motivs, dem wir im Gedicht »Welt war in dem
Antlitz [...]« auch begegneten, vermag der Blick der Familie als potentielles
Spiegel-Gefäß den Weltraum nicht in sich zu halten. In einem Bild, das
stark an den fragmentierenden Pfeilerspiegel der Aufzeichnungen erinnert,
wird zum Ausdruck gebracht, wodurch »Der Auszug des verlorenen Soh-
nes« – so der Titel eines 1906 geschriebenen Gedichts – motiviert war,
nämlich durch die ›falschen‹ Bilder, die seine Familie ihm vermittelt: Die
Familie sei »wie das Wasser in den alten Bornen«, das »uns zitternd spiegelt
und das Bild zerstört;« (I, 491f.). Die Bewegung des Wassers fragmentiert
den in ihm sich Spiegelnden ähnlich wie der aus kleinen, dazu noch trüben
Glasstücken zusammengesetzte Spiegel das sich in ihm spiegelnde Kind.
Die destruierende Wirkung dieses ›Spiegels‹ wird hier explizit zum Aus-
druck gebracht: das Bild des Verlorenen Sohnes wird »zerstört«.
Stellvertretend für Malte zieht der Verlorene Sohn aus, um einen Spie-
gel zu suchen, der ihn als Ganzheit wiedergibt, so jedenfalls das Wort
vom Spiegel, das wir suchen.136 Schließlich sagt Malte selbst gegen Ende
der Aufzeichnungen: »[…] Wir suchen einen Spiegel, [...]« (VI, 920). Ich
konstatierte, dass für das Kind die Liebe zum Gegenüber, zum Du als
getrennter Entität eine Bedrohung darstellt. Die Puppe bot sich daher als
›liebbares‹, weil ›unechtes‹ Gegenüber an, das das Kind nicht durch ihre
potentiell zerstörerische Gegenliebe in Bedrängnis brachte. Dieses unvoll-
kommene ›Liebesobjekt‹ eignete sich demzufolge am besten, den Individu-
ationsprozess des Kindes behutsam zu fördern. Was eine reife Liebe aus-
macht, ist natürlich die Fähigkeit zu Liebe und Gegenliebe seitens zweier
›ebenbürtiger‹ Gegenüber. Das Rilke’sche Liebespaar als Abstraktum, wie
es vor allem in den Duineser Elegien, aber auch in den Aufzeichnungen cha-
rakterisiert wird, entspricht aber nicht einem solchen Liebesmodell.
Das scheint auch die in den Aufzeichnungen vorgenommene, auf der
Vorstellung einer ›intransitiven‹ Liebe basierende Unterscheidung zwischen
Liebender und Geliebtem (bzw. Liebendem und Geliebter) zu bestätigen,

136 »[…] Wir suchen einen Spiegel, [...].« (VI, 920)

214
bei der die bzw. der Geliebte zum gefährdeten Objekt einer vereinnahmen-
den Liebe wird. »Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß
sie sich überstünden und Liebende würden. Um die Liebenden ist lauter
Sicherheit« (VI, 924), so die Devise der Aufzeichnungen. Eines steht fest:
Für Malte ist das Lieben dem Geliebtwerden vorzuziehen. Sein Fazit lautet:
»Geliebtsein heißt aufbrennen.« (VI, 937) Liebe eines Anderen wird zu et-
was, das es zu überstehen gilt, der man standhalten muss. In diesem Sinne
Maltes für uns alle gesprochenes Gebet: »[...] laß uns die Nacht überstehen.
Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe.« (VI, 926) Eine ›reife‹,
›symmetrische‹ Liebe zwischen zwei Erwachsenen findet man hier weder
in verwirklichter noch in utopischer Form. Stattdessen entwirft der Text
eine als Ideal zu verstehende Form der Liebe, in der es der – wohlgemerkt
weiblichen – Liebenden gelingt, das Objekt ihrer Liebe zu überwinden,
d.h. zu transzendieren in der Erfahrung einer ›intransitiven‹ Liebe, die sie
vor der schädlichen Gegenliebe ihres ›Liebesobjekts‹ bewahrt.137 Das einzi-
ge ›Liebesobjekt‹, von dem man »keine Gegenliebe [...] zu fürchten« (VI,

137 Vor diesem Hintergrund gewinnt für mich Martens’ These, in den Aufzeich-
nungen zeige Rilke »how strength and vulnerability are implicit in the ideas
of seeing and being seen« (»Autobiographical Narrative«, 230) an Sinn, wobei
Sehen und ›strength‹ (im Sinne von der Fähigkeit zu »artistic vision«) einerseits
und Gesehen-Werden und ›vulnerability‹ andererseits korreliert werden (ebenda,
232). Im nächsten Schritt ihrer Argumentation korreliert Martens Sehen versus
Gesehen-Werden mit Lieben versus Geliebtwerden (ebenda, 232). Nach dersel-
ben Logik ist also die Position des Liebenden die stärkere. Allerdings scheint
hierin eine eher äußerliche Stärke zu bestehen, die nicht Maltes Ziel ist. Der
Umschlag von ›Gesehen-‹ bzw. ›Geliebt-Werden‹ in Sehen und Lieben berei-
tet wiederum einen zweiten Umschlag vor, bei dem das Subjekt wieder zum
Objekt wird. Im Sinne der Vision einer ›Zeit der anderen Auslegung‹ deutet
sich dieser letztendliche Umschlag an, nach dem Malte nicht mehr schreiben,
sondern geschrieben werden wird. Ebenso weist das Ende des Romans auf eine
futurische Dimension hin, in der Malte wieder zum Geliebten wird – dies-
mal zum Geliebten Gottes. Letztlich geht es also darum, die göttliche Liebe
›bestehen‹ zu lernen. In ihrer Deutung der Heimkehr des Verlorenen Sohnes
verfolgt Martens diese Entwicklung nur bis zur zweiten Stufe dieses dreifachen
Umschlags hin: »His return shows that he has overcome the danger of being a
passive object, whether of love or of vision [...] he now has an identity that can
no longer be altered by the gaze of others.« Ebenda, 233. In ihrer Untersuchung
zu Rilke in The Diary Novel identifiziert Martens zwar drei Momente – das
Sehen bzw. Gesehen-Werden, das Lieben bzw. Geliebt-Werden und das Spie-
geln bzw. Gespiegelt-Werden –, indem sie schreibt: »The power of the artist,
then, is the power not to become the one in the mirror (a symbol of weakness)
but, rather, to make present, make visible, what others cannot see« (ebenda,
163), aber auch hier bleibt das futurische Moment unberücksichtigt, das Maltes
Bespiegelungsvision innewohnt. Vgl. die sehr ausführliche und differenzierte

215
937) habe, sei Gott, denn er stelle keinen Liebesgegenstand dar, »sondern
nur eine Richtung der Liebe«, so Malte. (VI, 937) Gott allein verzichte –
zunächst zumindest – auf Gegenliebe. In diesem Sinne spricht Malte von
der »Zurückhaltung dieses überlegenen Geliebten« (VI, 937).138
Vor diesen gedanklichen Hintergrund wird die biblische Gestalt des
Verlorenen Sohnes gestellt, dessen Geschichte Malte als »die Legende des-
sen [...], der nicht geliebt werden wollte« (VI, 938), bezeichnet. Er sei
fortgegangen, so Maltes eigenwillige Deutung, »um keinen in die entsetz-
liche Lage zu bringen, geliebt zu sein« (VI, 941). Er habe »jedesmal mit
Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher Angst um die
Freiheit des andern« geliebt. (VI, 941) In der Qualität seiner Liebe, bei
der er ›seine ganze Natur‹ ›verschwendet‹ – und dass es in Rilkes Text
vornehmlich um die Liebe des Sohnes und nicht des Vaters geht, ist ein
Aspekt der noch zu thematisierenden Verkehrung des Gleichnisses, die im
Roman erfolgt –, erinnert der Verlorene Sohn an die Gestalt des Narziss
im Fragment <An die Erwartete>, der in Antizipation der Vereinigung
an die bevorstehende ›Hingabe‹ »[...] so viel entbehrend angeeignete[r]
Natur« (II, 389) denken muss. Nur dass hier die Narzissgestalt in der ent-
gegengesetzten Position ist, d.h. sich in der Vereinigung mit der Geliebten
aufzulösen droht, also das Schicksal des ›aufbrennenden‹ Geliebten erleiden
wird, während der Verlorene Sohn Rilke’scher Provenienz eher den verein-
nahmenden Liebhaber darstellt, der langsam lernen muss, »den geliebten
Gegenstand mit den Strahlen seines Gefühls zu durchscheinen, statt ihn
darin zu verzehren« (VI, 941). Auch hierin äußert sich die Eigenwillig-
keit der Rilke’schen Gestalt gegenüber der biblischen. Als ihm ein solches
›Durchscheinen‹ schließlich gelingt, bereitet es ihm »Entzücken, durch die
immer transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die
sie seinem unendlichen Besitzenwollen auftat« (VI, 941).139 Obwohl dies
einen Fortschritt darstellt gegenüber der anfänglich zerstörerischen Kraft
seiner Liebe, kommt es hier zu keiner Begegnung mit einem Du; viel-

Behandlung dieses Themenkomplexes in: Gertrud Höhler: Niemandes Sohn.


Zur Poetologie Rainer Maria Rilkes, München 1979.
138 Hinter dieser Vorstellung entdeckt man einen gewissen Bezug zum Dichter
selbst. Vgl. den Brief vom 10. Januar 1912 an Lou Andreas-Salomé, in dem es
unter anderem um das Ideal der ›Zurückhaltung‹ im zärtlichen Umgang mit
anderen geht (RBr I, 310).
139 In diesem Zusammenhang ist Rilkes Brief an Lotte Hepner vom 8. November
1915 interessant (RBr II, 510–516); er wird weiter unten in Augenschein genom-
men.

216
mehr werden diejenigen, auf die der Verlorene Sohne seine Liebe richtet,
gleichsam zu Fenstern, durch die hindurch der Liebende zwar »die Weiten
zu erkennen« vermag, nicht aber das ›Objekt‹ seiner Liebe.140 Aber auch
die Geliebten üben nicht die idealiter zu erwartende Wirkung auf den
Liebenden aus, der »nächtelang weinen [muß] vor Sehnsucht, selbst so
durchleuchtet zu sein« (VI, 941), dem dies aber nie widerfährt. Denn sie
›strahlen‹ nur sehr unvollkommen ›zurück‹, was er ›ausstrahlt‹, will heißen,
sie sind höchstens sehr unvollkommene Spiegel: »O, trostlose Nächte, da er
seine flutenden Gaben in Stücken wiederempfing, schwer von Vergänglich-
keit. Wie gedachte er dann der Troubadours, die nichts mehr fürchteten
als erhört zu sein.« (VI, 941) Die Affinität zwischen dem Verlorenen Sohn
und dem Rilke’schen Narziss macht sich hier erneut bemerkbar. Wie der
Verlorene Sohn ›liebte‹ Narziss »was ihm ausging, wieder ein« (II, 56), aber
für ihn wie für den Verlorenen Sohn bleibt das ›Wiedereinlieben‹ – im
Gegensatz zum ›Zurückströmen‹ des Engels – unbefriedigend. Und im Bild
der »in Stücke[n]« wieder empfangenen »flutenden Gaben« klingt Maltes
Spiegelerlebnis an: So wie die unvollkommene Geliebte die Gaben – auf
der hier eingeschalteten Bildebene das Antlitz – des Verlorenen Sohnes
›in Stücken‹ zurückgibt, so erlebt Malte auch, wie der Pfeilerspiegel seine
Gestalt in fragmentierter Form ›re-flektiert‹. Daraus erklärt sich »sein [des
Verlorenen Sohnes] Entsetzen, erwidert worden zu sein« (VI, 942).
So hört der Verlorene Sohn auf zu lieben, bis »noch einmal das an-
wachsende Nichtanderskönnen seines Herzens« über ihn kommt. Dann

140 In diesem Bild kommt es zu einer Konvergenz von Spiegel- und Fenster-Symbol
in der Vorwegnahme eines Motivs, das in Rilkes Spätwerk einen zentralen Platz
einnimmt. Allemann bemerkt, dass »beim späten Rilke das Spiegel-Symbol mit
dem ebenso wichtigen Fenster-Symbol beinah identisch« ist (Allemann: Zeit
und Figur, 139) und belegt dies mit der Stelle eines Gedichts aus dem franzö-
sischen fenêtre-Zyklus, »wo ›fenêtre‹ und ›glace‹ gleichgesetzt werden: ›glace,
soudain, où notre figure semìre / melée à ce qu’on voit à travers‹; [...]« (II, 259;
588; Allemann: Zeit und Figur, 139). Er deutet diese Konvergenz als Akt, in dem
»sich eigenes Spiegel-Bild und durch das Spiegel-Fenster gesehene Landschaft
zu einer bedeutsamen Metapher des Raumes [vereinigen], in welcher Welt und
Ich sich durchdringen« (ebenda, 139). Darunter stelle man sich ein Fenster vor,
durch das hindurch das Subjekt in eine Landschaft hinaus schaut und aufgrund
einer optischen Täuschung, einer Art ›Montage‹, die geschaute Landschaft und
die Reflexion des eigenen Antlitzes gleichzeitig wahrnimmt. Dem entspricht
eine durchaus alltägliche Erfahrung, die hier zur Metapher für die Erfahrung
der Durchdringung von Ich und Welt wird. Die Gestalten, denen die Liebe
des Verlorenen Sohnes gilt, werden hier zu reinen Vehikeln für eine solche
Erfahrung.

217
beginnt er »die lange Liebe zu Gott«, diesmal in der Hoffnung »auf Er-
hörung« (VI, 943). Denn er meint, dass dieser »zu lieben verstünde mit
durchdringender, strahlender Liebe« (VI, 943). In dieser Vorstellung wird
Gott zum Gegenüber in absolut vollendeter Form, mit dem zusammen
der Verlorene Sohn den ›gespanntesten Bezug‹ herstellen will. Das besagt
das hier verwendete Bild, in dem es heißt: Während der Verlorene Sohn
»sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen
gewohntes Gefühl Gottes äußersten Abstand«. So wie der Steinbock den
›Bezugspunkt‹ darstellt für das lyrische Ich in »Vor Weihnachten 1914«,
stellt Gott hier den »äußersten Abstand« für den Verlorenen Sohn dar, der
nötig ist, um ›gespanntesten Bezug‹ herzustellen. Dort verkörperte sich der
Akt der ›Bezugsetzung‹ im Sprung des Steinbocks auf das ›Herzgebirge‹
des lyrischen Ichs. Anklänge dieser Vision finden sich auch hier in einer
aufwärts gerichteten ›figuralen‹ Bewegung, die einen Bezug des Verlorenen
Sohnes zum Nachtraum stiftet, und einer abwärts gerichteten, die Herz
(des Verlorenen Sohnes) und Erde verbindet. Es kamen nämlich Nächte,
»da er meinte, sich auf ihn [Gott] zuzuwerfen in den Raum; Stunden voller
Entdeckung, in denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu tauchen,
um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines Herzens« (VI, 943). Dass
solche ›figuralen‹ Bezüge, wie sie durch die evozierte ›Liebesbeziehung‹
zwischen Gott und dem Verlorenen Sohn verkörpert werden, letztlich in
bzw. von der Dichtung hergestellt werden, suggeriert der Satz, der auf
diese Vision folgt: »Es war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und
fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten.« (VI, 943) Allerdings sei es sehr
schwer, sich dieser Sprache zu bemächtigen: Es könne »ein langes Leben
darüber hingehen [...], die ersten, kurzen Scheinsätze zu bilden, die ohne
Sinn sind« (VI, 944). Für das Dichten gilt dasselbe wie für das Lieben:
Man muss daran arbeiten. Der Verlorene Sohn »vergaß Gott beinah über
der harten Arbeit, sich ihm zu nähern, [...].« (VI, 944)141
Statt zu versuchen, unmittelbar mit Gott in Beziehung zu treten, richtet
sich der Blick des Verlorenen Sohnes nach innen,142 in die erinnerte, nicht
recht vergegenwärtigte Vergangenheit. Er beschließt, »das Wichtigste«, frü-

141 Hierin sieht Wagner-Egelhaaf eine mystische Praxis: Der Verlorene Sohn nähere
sich der Liebe Gottes »auf dem ›eigenschaftslosen‹ Weg der Mystik« (Wagner-
Egelhaaf: Mystik der Moderne, 106).
142 Vgl. in Kontrast hierzu das Stundenbuch, von dem Rilke einmal sagte, es sei »ein
Versuch [gewesen], die unmittelbarste Gottesbeziehung herzustellen, ja sie, aller
Überlieferung zum Trotz, dem Augenblick abzuringen« (in einem Brief vom 3.
Februar 1921 an Rudolf Zimmermann [RBr II, 658]).

218
her nicht ›Geleistete‹, das nur ›Durchwartete‹ ›nachzuholen‹. Gemeint ist
die Kindheit, die

ihm, je ruhiger er sich besann, desto ungetaner vor[kam]: »[...] alle ihre Erin-
nerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und daß sie als vergangen
galten, machte sie nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich
auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte.
(VI, 945)

Das ›Wiederleisten‹ der Kindheit wird so zur vornehmlichen Arbeit an der


Liebe zu Gott, die Beziehungen der Kindheit zu Präfigurationen der noch
herzustellenden Beziehung zu ihm. Rufen wir die Stelle aus dem Pup-
penaufsatz in Erinnerung, an der ein eigenwilliger Vergleich zwischen der
Puppe und dem Schicksal bzw. Gott aufgestellt wird: »[...] das Schicksal,
ja Gott selber [sind] vor allem dadurch berühmt geworden [...], daß sie
uns anschweigen« (VI, 1068).143 Die Puppe sei nämlich »die erste [gewe-
sen], die uns jenes überlebensgroße Schweigen antat, [...]« (VI, 1068f.).
So gesehen präfiguriert die Beziehung des Kindes zum unvollkommenen
Spiegel-Gegenüber in der Gestalt der Puppe die Beziehung des Verlorenen
Sohnes zum vollkommenen Spiegel-Gegenüber in der Gestalt Gottes.144
An dieser Stelle sei angemerkt: Die scheinbare Korrelierbarkeit dieser zwei
Bespiegelungsmomente lässt Gott und Puppe eine gleichwertige Funkti-
on zukommen, die es noch zu problematisieren gilt. Die Beziehung zum
vollkommenen Spiegel-Gegenüber ist in einer futurischen Dimension zu
vollziehen, die sich erst nach der Heimkehr des Verlorenen Sohnes und
der ›geleisteten‹ Arbeit an der Kindheit eröffnen wird. Das gilt aber auch
für die Vision einer ›figuralen‹ Beziehung zwischen Kind und Puppe in der

143 Die Puppe definiert sich über fehlende Handlungen: das Nicht-Sehen, Nicht-
Lieben, Nicht-Sprechen, usw., während Gott über noch fehlende, aber in ei-
ner futurischen Dimension erfolgende Handlungen definiert wird: über das
Noch-Nicht-Sehen, das Noch-Nicht-Lieben, das Noch-Nicht-Sprechen usw.
Als Noch-Nicht-Sehender manifestiert er sich in Form des blinden Zeitungs-
verkäufers. Darauf weist Martens hin: »A blind man is the epitome of someone
who cannot return the viewer’s gaze [...] looking at a blind man is like looking
at God«. Martens: »Autobiographical Narrative«, 238. Genau das meint Malte,
wenn er in Bezug auf den blinden Zeitungsverkäufer sagt: »Mein Gott, [...] so
bist du also.« Vgl. Höhler: Niemandes Sohn.
144 Vgl. in diesem Zusammenhang Martens’ These: »He [Malte] holds a mirror up
to God.« (Martens: »Autobiographical Narrative«, 239.) Man denke auch an den
Ikonenmaler des Stundenbuchs, der zu Gott sagt: »Ich will dich immer spiegeln
in ganzer Gestalt,« (I, 260). Vgl. hierzu Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne,
69.

219
unvollendeten Kindheitselegie, bei der »das Kind zum Gestirn« gemacht
wird; dieser entspricht die Sehnsucht des Verlorenen Sohnes danach, »sich
auf [Gott] zuzuwerfen in den Raum« (VI, 943).145
Die oppositionell-komplementäre, ›horizontal‹ wie ›vertikal‹ ausgerich-
tete Struktur der an der Kindheitsthematik beteiligten Topoi kommt hier
in aller Deutlichkeit zum Vorschein. In der Vision der vollendeten Liebe
Gottes zum heimgekehrten Sohn wird eine Vergangenheit und Zukunft
zusammenfügende ›Gleich-Zeitigkeit‹ in Aussicht gestellt: Dass die Kind-
heitserinnerungen »als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig« (VI,
945). Diese antizipierte Aufhebung der historischen Zeit korrespondiert
wiederum mit der zeitlichen Qualität der Kindheit, wie sie in der Vierten
Duineser Elegie charakterisiert wird, »da hinter den Figuren mehr als nur /
Vergangenes war und vor uns nicht die Zukunft« (I, 699). Wo Kindheit
›wiedergeleistet‹ wird, kommt es zu einer Versöhnung der Oppositionen,
zu einer (Wieder)herstellung von Ganzheit – so Maltes Hoffnung.146 Das

145 In welch interessantem Zusammenhang Figur und ›intransitive‹ Liebe stehen,


deutet eine briefliche Äußerung Rilkes an, die die ›figurale‹ Beziehung zu einem
Notbehelf zu machen scheint für jemanden, der die Begegnung mit dem Du
scheut. Rilke schreibt: »[...] ich bin so übertrieben empfindsam, und wenn ein
Auge auf mir ruht, so lähmts mich schon an einer Stelle. Ich möchte immer
wieder nur die Gestirne auf mir verweilen wissen, die aus ihrer Weite alles auf
einmal sehen, im ganzen, und so keines binden, vielmehr alles freilassen in
allem...« (aus einem Brief an Clara Rilke vom 4. September 1908; RBr I, 233).
146 Die schonungslose Kritik de Mans an Rilkes Dichtung setzt bei dessen An-
spruch auf eben solche (Wieder)herstellung von Ganzheit in der Dichtung an;
de Man glaubt, Rilkes ›messianischen‹ Auftrag an die Dichtung, der in einer
solche Totalität schaffenden Versöhnung komplementärer Oppositionen be-
stehe, als leeres Versprechen, wenn nicht zu sagen, in der Dichtung selbst sich
offenbarende List decouvrieren zu können. Die ›Einheit‹, die Rilkes ›figurale‹
Dichtung zu stiften verspricht, erweise sich letztlich, so de Mans Unterstellung,
als rhetorisches Konstrukt ohne Wahrheitsanspruch. Das belegt de Man durch
Anführung eines der Sonette an Orpheus (I, 494), in dem eine ›sternische‹ Ver-
bindung im Vordergrund steht. Dieses Sonett »reduces the unified totality to a
mere illusion of the senses, as trivial and deceiving as the optical illusion which
makes us perceive the chaotic dissemination of the stars in space as if they were
genuine figures[...] ›Auch die sternische Verbindung trügt‹: the imaginary lines
that make up actual as well as fictional constellations [...] are mere deceit, false
surfaces. The final affirmation, ›Das genügt‹, especially when compared to the
fervent promises that appear in other poems, seems almost derisive«. (de Man:
Allegories, 53f.) Dass de Man bei seiner vernichtenden Kritik des Rilke’schen
Oeuvres sich weitgehend auf die frühe Lyrik stützt, die sich als dankbare An-
griffsfläche bot, schmälert den Wert seines Urteils ganz erheblich. De Man hat
auch die frühe Lyrik im Auge, wenn er pauschalisierend konstatiert: Mit dem
Primat des Signifikanten über das Signifikat gehe eine »priority of lexis over

220
›Schauspiel‹ der 4. Duineser Elegie läutet einen solchen Prozess ein: »[...]
Dann entsteht / aus unsern Jahreszeiten erst der Umkreis / des ganzen
Wandelns [...]« (I, 699). Am Schluss wird die Puppe des Puppenaufsatzes,
die ›abgestürzte‹ Hälfte des Kindes, in ihrer verwandelten Gestalt für einen
Augenblick mit ihm wieder vereint, indem sie uns »mit niegewußten Ge-
fühlen überflutet« (VI, 1073f.). Und Malte, der seinen Spiegel sucht, weil er
ohne ihn als ›Hälfte‹ herumgehen muss,147 wird vielleicht – das deutet der
Schluss der Aufzeichnungen vorsichtig an – seinen Spiegel finden. Obwohl
die parabolische Ebene der Erzählung nicht explizit verlassen wird, liegt es
nah, das Ende der Geschichte vom Verlorenen Sohn als das Ende von Mal-
tes Geschichte zu lesen: als die Geschichte eines Heimgekehrten, der sich
vorgenommen hat, die ›durchwartete Kindheit‹ nachzuholen und, indem
er sich dieser Aufgabe widmet, sich auf die Begegnung mit demjenigen
vorbereitet, der ihm als Spiegel Ganzheit statt Fragmentierung vermitteln
soll, indem er ihn in einen Ganzheit stiftenden Bezug setzt.
Letztlich soll die Wiederbegegnung des Kindes mit der Puppe wie Mal-
tes imaginierte Begegnung mit Gott dem Ganzheit stiftenden Dichten zu
Gute kommen. Aus der Zusammenkunft von Kind und ›er-wachsen-er‹
Puppe möge ein ›Ding‹, ein Gedicht hervorgehen, das »dem, was schon
verging, leis bei[wohnt]«, sprich Leben und Tod zumindest ansatzwei-
se zusammenbringt. In den Aufzeichnungen verheißt die Herstellung ei-
ner Beziehung, eines Bezugs zu Gott letztlich die Eröffnung einer neuen
sprachlichen Dimension; Malte soll dadurch Zugang zu einer »herrlichen
Sprache« erhalten. Man sei an seine frühere Vision einer ›Zeit der anderen
Auslegung‹ erinnert, in der er in Folge einer Verschränkung der Subjekt-
Objekt-Perspektive zum passiven Vollzieher einer ›herrlichen‹ – will sagen,
einer ›Herr-lichen‹? – Dichtung wird. Man denke hierbei an die Analogie,
die in der Spiegelepisode hergestellt wird zwischen dem Akt des Sich-
Artikulierens und dem des Sich-Spiegelns. In der Vision einer ›Zeit der an-
deren Auslegung‹ heißt es, Malte werde zum ›sich wandelnden Eindruck‹.
Im Sinne dieser Gleichsetzung: Der Geschriebene wird zum Gespiegelten.
Möge Gott der imaginäre Spiegel sein, der diesen ›Eindruck‹ verwandelt.

logos« einher: »Rilke’s totalizations are the outcome of poetic skills directed
towards the rhetoric potentialities of the signifier.« (Ebenda, 45.) Eine solche Re-
duktion münde schließlich in weitgehend sinnentleerte Euphonie. Wenn man
von dieser Warte aus sich ein Urteil über die spätere, ›figurale‹ Lyrik erlaubt,
wird es am Eigentlichen vorbeigehen.
147 Siehe VI, 756.

221
So lautet eine, wie ich meine, kohärente und einleuchtende Lesart der
›Legende‹ vom Verlorenen Sohn, die auch die Grundlage für eine in sich
stimmige poetologische Vision mit klarem Telos liefert. Und doch drän-
gen sich Widersprüche auf, die die Plausibilität dieser Lesart ernsthaft in
Frage stellen.148 Die nähere Analyse einer Reihe von teils schon zitierten
Aufzeichnungen wirft ein anderes Licht auf die Schlussparabel und legt
somit eine konträre Lesart nahe; diese wiederum lässt die soeben dem Text
entnommene poetologische Vision korrekturbedürftig erscheinen.

2.4.5. Die Geschichte vom Verlorenen Sohn II


Einerseits stellt die ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn die Kulmination einer
dichterischen Praxis dar, die den zweiten Teil der Aufzeichnungen domi-
niert, nämlich, die Geschichten anderer – sei es der Pariser Nachbarn, sei es
historischer Gestalten –, ›nachzuerzählen‹.149 Gewissermaßen wird solchen
Figuren – dem Nachbaren Nikolaj Kusmitsch, Karl dem Kühnen und
manchen mehr – ein Innenleben ›angedichtet‹ im Sinne der hochgradig
empathisierenden ›Sehweise‹, die Malte im Laufe seines Pariser Aufent-
halts entwickelt. Als ›Vokabeln seiner Not‹ werden sie zu Schreibanlässen
mit potentiellem Spiegelungscharakter. Diese ›Nacherzählungen‹ zeigen
eine sich langsam wandelnde dichterische Praxis an: in Folge dichterischer
›Sehübungen‹ werden im Pariser Stadtbild anzutreffende Phänomene zu-
nehmend ›verinnerlicht‹; zuletzt diktiert fast gänzlich die Innenansicht
historisch überlieferter bzw. auf der Straße ›geschauter‹, dichterisch ange-
eigneter Figuren. Anknüpfend an diese Schreibpraxis eignet Malte letztlich
eine weder historisch noch gegenwärtig anzutreffende Figur mitsamt ›ih-

148 Wie die zweite hier dargebotene Lesart der Geschichte vom Verlorenen Sohn
in aller Deutlichkeit zeigt: angesichts der Umdeutungstätigkeit Maltes wird
das scheinbare Telos am Ende der Aufzeichnungen, die Aussicht auf Bespiege-
lung durch Gott, stark in Frage gestellt. Wie das diesbezügliche Fazit Gertrud
Höhlers lautet, plant »Rilke selbst diese ›Arbeit‹ auf Gott hin konsequent ohne
Ankünfte. [...] Wenn der Dichter im Schluß des ›Malte‹ von der ›stillen, ziel-
losen Arbeit‹ spricht, so ist dies die genaue Entsprechung zu seinen Entwürfen
für die gegenstandslose Liebe. Gott, als bloße ›Richtung‹, wird niemals zum
Aufenthalt für den emporstrebenden Künstler. Auch als Ziel wäre er ein Halt,
eine endgültige Begrenzung für den ›Arbeitenden‹. [...] Es entsteht somit das
widersprüchliche Ergebnis, dass die Arbeit – oder ›Liebe‹ – auf Gott hin per
definitionem eine Arbeit ins Unendlich ist, die Gott gar nicht erreichen will.«
Höhler: Niemandes Sohn, 138.
149 An einer Stelle schreibt Malte: »Ich könnte einfach die Geschichte meiner Nach-
baren schreiben; das wäre ein Lebenswerk.« (VI, 864)

222
rer‹ Geschichte an: wohlgemerkt eine von Jesu ›erdichtete‹. Diesem letz-
ten Schreibakt wohnt ein zweifaches Identifikationsmoment inne: Malte
schreibt sich gewissermaßen in die Rolle Jesu (ein) wie in die von Jesu
›erdichtete‹ Figur; an Identifikationspotential übertrifft keine der bisher bei
Maltes Schreibübungen vorgenommenen ›Aneignungen‹ die ›umgedich-
tete‹ Gestalt des Verlorenen Sohnes. Dieser Bezug bestimmte auch die
erste hier gebotene Lesart dieser letzten ›Nacherzählung‹. Diese erweist sich
als Knotenpunkt, in dem sich eine mehrgliedrige Gleichung bündelt: Se-
hen und Gesehen-Werden; Spiegeln und Gespiegelt-Werden; Lieben und
Geliebt-Werden; (Um)-Schreiben und (Um)-Geschrieben-Werden, so die
sich gegenseitig bedingenden Komponente einer komplexen Poetik, die die
letzten Aufzeichnungen entfalten.
Wie auch immer die Gleichung ›gelöst‹ wird: Im Sinne einer zwei-
ten, hier darzulegenden Lesart der ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn im
Kontext der ›voraus-gesetzten‹ Aufzeichnungen spielt ›Gott‹ eine letztlich
sehr undurchsichtige Rolle, ebenso die Vision einer ›herr-lichen‹ Dichtung,
die Malte zum ›Geschriebenen‹ bzw. ›Gespiegelten‹ einer höchsten Instanz
machen soll. Nun gilt es, Verhältnisse zu klären im Sinne der oben auf-
gestellten Gleichung, Verhältnisse, woraus sich eine poetologische Vision
ableiten lässt, die mit der soeben ausgemachten konkurriert. Zunächst wird
es darum gehen, ›fremde‹, von Malte gewürdigte, erwogene und geprüfte
›Lösungen‹ der allwichtigen Gleichung, denkbare Alternativ-Visionen zu
erkennen und charakterisieren. Im Prozess der konstruktiven Abgrenzung
gegenüber solchen fremden Visionen offenbart sich womöglich der poeto-
logische Hintersinn der letzten Schreibübungen des Aufzeichnenden, nach
deren Absolvierung Malte es sich vornimmt, die Kindheit ›wiederzuleisten‹,
– dies die Voraussetzung, so Malte, für jeden weiteren Schreibversuch. Bei
der Betrachtung dieser letzten Schreibübungen will ich zunächst das bereits
thematisierte, für die abschließenden Aufzeichnungen zentrale Motiv der
Liebe ins Zentrum rücken und den Blick auf einen, wie ich meine, maß-
geblichen ›Lösungskomplex‹ richten, der zur abschließenden, vom Ver-
lorenen Sohn handelnden ›Nacherzählung‹ hinführt. Dieser betrifft zwei
Liebende: Abelone und Bettine von Arnim.
Maltes Begegnung mit den schwärmerischen Liebesbekenntnissen Bet-
tine von Arnims liefert ihm das Vorbild für eine ideale Form von Lie-
be, die nicht zufällig einem Dichter gilt. Von Arnims Briefroman Goethes
Briefwechsel mit einem Kinde (1835) wird Malte eines Sommernachmittags
zum Vorlesen in die Hände gelegt. Abelone bittet ihn, nicht die – teils
›verbrieften‹, teils erfundenen – Antworten des vergötterten Dichters zu

223
rezitieren, sondern die an ihn gerichteten Briefe der Liebenden. Während
sie selber einen davon vorliest, kommt es Malte so vor, »als würde [ihm]
feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen« (VI 896). Das später
in seinen Besitz tretende Buch – eine Art Vermächtnis, wenn man so will
– vermittelt ihm eine von Abelone gewissermaßen ›vorbereitete‹150 Gestalt:
die Verkörperung einer idealen Liebe. Durch eine ins Maßlose gesteigerte
Liebe hat Bettine, wie Malte sich ausdrückt,
mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt. [...] Überall hat sie
sich ganz weit ins Sein hineingelegt, zugehörig dazu, und was ihr geschah, das
war ewig in der Natur. [...] Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist
nicht die Erde noch warm von dir, und die Vögel lassen noch Raum für deine
Stimme. Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne deiner
Nächte. Oder ist nicht die Welt überhaupt von dir? (VI, 897)

Die Liebe dieser Raum einnehmenden und dabei ins Absolute sich stei-
gernden Gestalt, die – Gott ähnlich – die Sterne zu ihren macht, die Welt
zu ihrer, gilt aber – zunächst zumindest – einem bestimmten Gegenstand:
dem Dichter ihrer Verehrung, der für Malte die »Grenze seiner Größe«
darin zeigt, dass er diese ihm »auferlegt[e]« Liebende »nicht bestanden«
hat. Wie Malte schreibt:

Was heißt es, daß er nicht hat erwidern können? Solche Liebe bedarf keiner
Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört sich selbst. Aber de-
mütigen hätte er sich müssen vor ihr in seinem ganzen Staat und schreiben was
sie diktiert, mit beiden Händen, wie Johannes auf Patmos, knieend. (VI, 898)

In Maltes Vorstellung verbindet sich Bettines Liebe nämlich, obwohl


»Lockruf und Antwort in sich« und daher auf keine Erwiderung angewie-
sen, idealiterweise mit einem Auftrag an den Geliebten: das zu »schreiben«,
was sie, die Liebende, »diktiert«. Der explizit hergestellte Vergleich zwi-
schen dem in diesem Sinne beauftragten Dichter und Johannes auf Patmos
ist vielsagend. Wie es in Bezug auf den ›Autor‹ der apokalyptischen Schrift
heißt: »Es gab keine Wahl dieser Stimme gegenüber, die ›das Amt der
Engel verrichtete‹; die gekommen war, ihn einzuhüllen und zu entziehen
ins Ewige hinein.« (VI, 898) Nichts Geringeres als das finale Kapitel der
Menschheitsgeschichte – als Heilsgeschichte von Jesus Christus –, Johan-
nes auf Patmos diktiert, ohne Wahl und Widerrede, liefert die Vorlage – so
wohl der höchst problematische Sinn des von Malte angestellten Vergleichs

150 Wie es heißt, war Abelone »wie eine Vorbereitung auf sie [Bettine]« (VI,897).

224
– für das ideale Szenario, das in der Begegnung zwischen dem geliebten
Dichter und der Liebenden sich eben nicht erfüllt, und zwar mangels der
Bereitschaft bzw. der Fähigkeit des Dichters, diese den ganzen Weltraum
ergreifende, geradezu Absolutes vermittelnde Liebe zu ›bestehen‹. Wie Mal-
te weiter unten bemerkt, besteht das »namenlose Leid der Liebe« darin,
dass von der Liebenden »verlangt wird«, die ins Unermessliche strebende
»Hingabe zu beschränken« (VI, 899).151
Die miteinander korrelierten Schreibszenarien erhalten jeweils eine te-
leologische Dimension, aber diese haben wenig gemein: Prophezeiungen
über den Jüngsten Tag und dichterische Evokationen, die man in der Ze-
lebrierung von ›Weltinnenraum‹ wiederfindet; beides wird zwar von einer
›höheren‹ Instanz ›diktiert‹, aber in ganz unterschiedlicher Weise von ganz
unterschiedlich gestalteten. Vorausgedeutet wird letzteres, als nur potentiell
möglich hingestelltes, da vom Geliebten nicht vollzogenes Schreibszenario
durch die Beschreibung des Nachmittags, an dem Malte das Buch Bettines
zum ersten Mal aufschlägt. Beschworen wird ein aus »Millionen kleinen
ununterdrückbaren Bewegungen sich [zusammensetzendes] Mosaik über-
zeugten Daseins«, darin »die Dinge [...] ineinander (schwingen) hinüber
und hinaus in die Luft«, deren »Kühle [...] den Schatten klar (macht)«, und
die Sonne »zu einem leichten, geistigen Schein«. So erscheint der Garten,
als gebe es hierin »keine Hauptsache; alles ist überall, und man müßte
in allem sein, um nichts zu versäumen« (VI, 895). Ulrichs Vision eines
im Zeichen des ›anderen Zustands‹ stehenden Sommertags erscheint hier
gewissermaßen vorgezeichnet. Der Sommertag, der das von Malte als Po-
tentialität evozierte Schreibszenario vorzeichnet, steht unter der Regie einer
zukünftig Liebenden; gerühmt wird Abelones Sehnsucht, »ihrer Liebe alles
Transitive zu nehmen« in der (noch zu gewinnenden) Erkenntnis – so die
bereits zitierte Formel –, dass »Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein
Liebesgegenstand« (VI, 937). Wie es heißt, sei am Rande dieser Aufzeich-
nung notiert: »(Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit
unerschöpflichem Öle, Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)«
(VI, 937) Wie Malte schreibt, ist es »gleichwohl möglich, daß Abelone in

151 In einem Brief an Lotte Hepner vom 8. November 1915 redet Rilke im Kontext
der »großen Fragendynastien« von der persistierenden Unzulänglichkeit unseres
Liebens als einer der »ersten unmittelbarsten, ja genau genommen einzigen Auf-
gaben«, denen »wir […] so neulinghaft ratlos, so zwischen Schrecken und Aus-
rede, so armsälig gegenüberstehen«, wobei der Malte Laurids Brigge – »diese[s]
unter der tiefsten inneren Verpflichtung geleistete Buch« – sich nicht zuletzt
dieser Frage stelle (RBr II, 510f.).

225
späteren Jahren versucht hat, mit dem Herzen zu denken, um unauffällig
und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen«. Das Chandos-Wort,
hier wörtlich zitiert,152 verweist auf die poetologische Vision hinter dieser
Vorstellung.
Sofern sie es schaffen, ihrer Liebe »alles Transitive zu nehmen« (VI 937),
gelingt Bettine wie Abelone möglicherweise eine ›reine Herzenssprache‹,
aber eben eine intransitive, auf keinen Gegenstand gerichtete: kein Signi-
fikat erreichende. Um mit Lord Chandos zu reden, geht es hierbei um den
Ausdruck eines »entzückende[n], schlechthin unendliche[n] Widerspiel[s]«,
bei dem es dem ›mit dem Herzen Denkenden‹ bzw. Sprechenden vermöge,
in »gegeneinanderspielende[...] Materien« »hinüberzufließen«, »in ein neu-
es, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein (zu) treten«.153 Die Intran-
sitivität der idealen Liebe ermögliche ein solches Denken und Sprechen,
so die Folgerung, die man aus diesem intertextuellen Bezug ziehen kann.
Chandos’ Beschwörung eines »neue[n ...] Verhältnis[ses] zum ganzen Da-
sein, Ulrichs Evokation des ›Mondnächtigen‹ und des dieser Sphäre zuge-
hörigen Gleichnishaften, Maltes und Ulrichs Sommertagsvisionen sprechen
alle dieselbe Sprache: nach Malte die der ideal, da ›intransitiv‹ Liebenden.
Allerdings benötigt solche Liebe einen Gegenstand; das zeigt jeden-
falls das Beispiel Bettine. Die Liebe der Bettine von Arnim, die Abelone
zunächst ›vorbereitet‹ (letztlich womöglich sogar übersteigt), transzendiert
zwar ihren vorläufigen Gegenstand, aber sie braucht diesen als Vorwand
für das Eigentliche. In einem Brief an Sidonie Nádherny von Borutin vom
24. September 1908, in dem es um Bettine und ihre unerwidert gebliebene
Liebe geht, pflichtet Rilke seiner Adressatin zunächst bei, die ihrerseits
gemeint hatte, »dass sie [Bettine] ihre große große Liebe ohne jede Hülfe
von außen, so ganz vervollkommnete«.154 Die Bedeutung des Vorwands
kleinredend schreibt Rilke ganz im Sinne Nádherny von Borutins:

[...] fassen, nehmen, in sich halten kann ja keiner solche Liebe; sie ist so vollends
zum Weitergeben bestimmt über jeden hinaus; sie braucht den Geliebten nur,
damit er ihr den äußersten Schwung gäbe für ihren weiteren Kreislauf zwischen
den Sternen. [...]155

152 Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«. In: Sämtliche Werke XXXI. Hrsg. von
Ellen Ritter, Frankfurt/Mn. 1991, 45–55; hier 52.
153 Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, 52.
154 Rainer Maria Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin. Hrsg. von Bern-
hard Blume, Frankfurt/Mn. 1973, 79.
155 Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin, 79.

226
Erneut richtet sich Rilkes Aufmerksamkeit auf den (vermeintlichen) Ge-
genstand solcher Liebe, den Dichter:

Aber diese Aufgabe, diesen ungeheueren, mehr als nur persönlichen Anspruch
hat vielleicht keiner der von großen Liebenden Geliebten bestanden. Sie waren
alle zu befangen in der eitlen Konvention ihrer Männlichkeit; sie hielten alle
noch die Liebe für ein Ding zu zwein, für die kleine Beruhigung, die zwischen
Finden und Trennung liegt.156

Rilke erwägt die Möglichkeit, es den großen – wohlgemerkt weiblichen –


Liebenden gleichzutun und das Lieben im intransitiven Sinne zu erlernen:

Erst wir lernen langsam weiter und werden vielleicht eines Tages die Sappho
verstehen und die Worte der Diotima, die sie dem Sokrates bei Plato zu sagen
hat. Aber ohne es zu ahnen, haben das die großen liebenden Frauen immer
gewußt und gelebt und haben die Leidens- und Seligkeitsüberlieferung dieser
einsamen Liebe weitergegeben, die die einzige ist, die ihren Namen verdient;
auch sie geht (die das, was bei allen, nachläßig genug, Liebe heißt) auf einen
anderen zu; aber plötzlich, wie ein Vorwand, ist er fortgenommen, sobald das
unendliche Gefühl seinen weitesten Kreis beschreibt und keiner Stütze mehr
braucht.157

Kurzum: alles umfasst. Welche Position Malte zu dieser auch in den ›eige-
nen‹ Aufzeichnungen gedanklich erprobten poetologischen Vision letztlich
einnimmt, inwiefern sich seine eigene von dieser letztlich absetzt, welche
Probleme mit einer solchen ›Selbst-Positionierung‹ einhergehen, zeigt sich
auf chiffrenhafte Weise in einer Aufzeichnung, die zunächst ›deplaziert‹
erscheint: in der vom blinden Zeitungsverkäufer handelnden. Die wich-
tigen Sinnbezüge, die sie bei näherem Hinsehen im Kontext der ›Legen-
de‹ vom Verlorenen Sohn liefert, kann als eindrucksvoller Beleg für die
planvolle Anordnung der Aufzeichnungen gesehen werden. In der soeben
besprochenen Aufzeichnung ging es um eine anscheinend schwer erfüllbare
sowie schwer erwiderbare, aber dafür nicht minder verherrlichte Form der
Liebe, die exemplarisch vorgeführt wurde. Die in diesem Fall zwingende
Verknüpfung der Liebes- mit der Dichtungsthematik ergab eine mögliche
›Lösung‹ der oben aufgestellten, mehrgliedrigen Gleichung, eine Lösung,
die Lieben bzw. Geliebt-Werden mit Schreiben bzw. Geschrieben-Werden
verschränkt – mit zwingenden Konsequenzen, d.h. Handlungsvorgaben
für den Dichter.

156 Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin, 79.


157 Rilke: Briefe an Sidonie Nádherny von Borutin, 79.

227
Wenn Maltes Aufmerksamkeit sich endlich auf die unscheinbare, da am
Straßenrand kauernde, fast unhörbare, da nur mit einem »Rest von Stim-
me« versehene Gestalt des Zeitungsverkäufers lenkt – wie es heißt, ist die
Stimme »nicht anders als ein Geräusch in einer Lampe oder im Ofen oder
wenn es in eigentümlichen Abständen in einer Grotte tropft« (VI, 900) –
so ergreift ihn auch hier der empathisierende Eifer, mit dem er so vielen
Gestalten seiner Umgebung begegnet: Er beschäftigt sich sogleich damit,
sich ihm vorzustellen, will heißen, er unternimmt »die Arbeit, ihn einzu-
bilden«. Wie Malte schreibt: »Denn ich mußte ihn machen wie man einen
Toten macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine Bestandteile; der
ganz und gar innen zu leisten ist.« (VI, 900) Wie Malte bekennt, hilft es
ihm hierbei »ein wenig [...], an die vielen abgenommenen Christusse aus
streifigem Elfenbein zu denken, die bei allen Althändlern herumliegen«.
Gewissermaßen ›stehen‹ diese ›Modell‹ für die Einbildungsarbeit, aber, wie
Malte meint, denke er an sie »wahrscheinlich nur, um eine gewisse Nei-
gung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt, und den trost-
losen Bartnachwuchs im Wangenschatten und die endgültig schmerzvolle
Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks« (VI, 900f.). Die Begegnung mit
dem blinden Zeitungsverkäufer ist von einer »Feigheit, nicht hinzusehen«
geprägt (Hervorhebung der Vf.), was die Tendenz zur Empathisierung
noch verstärkt und die Einbildung noch ›innerlicher‹ macht. Dies bringt
Malte so weit, wie er von sich sagt, »daß das Bild dieses Mannes sich
schließlich oft auch ohne Anlaß stark und schmerzhaft in mir zusammen-
zog zu so hartem Elend, daß ich mich, davon bedrängt, entschloß, die
zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch die auswärtige Tatsache
einzuschüchtern und aufzuheben« (VI, 901). Der Blick nach außen soll die
Einbildung korrigieren und ihr die innerliche Wirkkraft nehmen.
Der Anblick dieser Gestalt lässt Malte aber sofort erkennen, dass seine
Vorstellung »wertlos« ist, so sehr übersteigt die äußere Erscheinung in ih-
rem Elend das innen geleistete Bildnis. Wie Malte schreibt:

Die durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschränkte Hingegebenheit sei-


nes Elends übertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner
Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite seiner
Lider ihn fortwährend zu erfüllen schien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht,
der eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs. Möglicherweise hatte er
Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele hinzu als täglich
das amorphe Gefühl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand sich ab-
nutzte. Ich war stehngeblieben, und während ich das alles fast gleichzeitig sah,
fühlte ich, daß er einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche
Halsbinde; sie war schräg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und

228
was den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen
Band. Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist kleinlich, daß ich
sie behalten habe. Ich will nur sagen, daß sie an ihm waren wie das Weicheste
auf eines Vogels Unterseite. [...] Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so
bist du also. Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und
habe keinen je verlangt, denn welche ungeheuere Verpflichtung läge in deiner
Gewissheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier
hast du Wohlgefallen. (VI 902f.)

Diese letzte große Epiphanie liefert alle Komponente für die hier auszulo-
tende mehrgliedrige Gleichung – Sehen und Gesehen-Werden bzw. Nicht-
Sehen und Nicht-Gesehen-Werden; Spiegeln und Gespiegelt-Werden;
Lieben und Geliebt-Werden; (Um)-Schreiben und (Um)-Geschrieben-
Werden. Im lakonischen Satz »Mein Gott, so bist du also« konzentriert sich
Maltes ganze Ambivalenz dieser Gestalt gegenüber. Zunächst scheint Malte
hier den christlichen Gott anzurufen, der sich ihm in der Gestalt eines
blinden Zeitungsverkäufers offenbart. Indem Malte aber die vielen – tief-
sinnigerweise – bei Althändlern zum Kauf angebotenen Christusfiguren zur
Hilfe nimmt beim Versuch, sich diese Gestalt ›einzubilden‹, – angeblich,
um eine gewisse Kopfneigung, »im Wangenschatten« vergessene Barthaare
und die verschlossenen Augen innerlich zu (re)konstruieren, –, werden die
Christus-Abbilder zu Mittlerfiguren für die eigene Einbildungsarbeit: eine
Arbeit, die einem ›selbstgemachten‹, und somit nicht mehr christlichen
Gott im eigentlichen Sinne gilt. Liest man Maltes Ausspruch »Mein Gott,
so bist du also« ganz wörtlich, so erweist sich diese wie eine Nebensächlich-
keit erwähnte Zuhilfenahme als äußerst signifikant, denn auf diese Weise
kehrt Malte den göttlichen Schaffensprozess um: Nicht der Mensch werde
nach dem Bilde Gottes geschaffen, sondern der ›falsche‹ Gott nach dem
Bilde des Menschen; der Mensch spiegele sich nicht in Gott, sondern um-
gekehrt. Die Menschengestalt, die Malte ›Modell steht‹, ist aber ein Abbild
des Mensch gewordenen Gottessohnes. Eine derartige Vorstellung von der
›Einbildungsarbeit‹ pervertiert die Mittlerfunktion, die der christlichen Ge-
stalt Jesu zugeschrieben wird, und zwar gleich in zweifacher Hinsicht, denn
erstens erscheint Jesus hier nicht als Gott vermittelnde Menschengestalt,
sondern er dient als Vermittler dichterischer Einbildung, und zweitens
machen diese von Menschenhand angefertigten Abbilder aus Elfenbein
Gott zu etwas Sekundärem, etwas ›Nachgebildetem‹.158

158 Im bereits erwähnten Brief an Lotte Hepner vom 8. November 1915 entwik-
kelt Rilke eine Vorstellung von Gott bzw. Göttern – wie es heißt, solle die

229
Diese Aufzeichnung aktiviert auch den Aspekt des (Nicht)-Sehens
und des (Nicht)-Gesehen-Werdens, der eine wichtige Komponente der
hier aufgestellten mehrgliedrigen Gleichung darstellt. Erscheint nicht der
christliche Gott in Gestalt des Zeitungsverkäufers als ›blinder Spiegel‹, der
den Blick des Menschen nicht zu erwidern vermag und ihm somit kein
›vollkommener‹ Spiegel sein kann? Als elende Straßengestalt präsentiert
sich Gott ferner als derjenige, der auf menschliche Liebe angewiesen ist,
als derjenige, der menschlicher Aufmerksamkeit bedarf, um zu bestehen
und nicht umgekehrt; schon in einem ganz trivialen, aber existentiellen
Sinne trifft dies zu, denn er ist auf das Geschäft mit den Passanten ange-
wiesen, ist darauf angewiesen, dass sie ihn bemerken, wenn er überleben
will. Und doch, trotz aller anscheinenden Überlegenheit gegenüber der
am Straßenrand kauernden Gestalt gelingt es Malte letztlich nicht, die-
sen Zeitungsverkäufer in zufriedenstellendem Maße ›einzubilden‹, ihm ein

Adressatin auf jeden Fall »Über-Sinnliches« annehmen – als Projektion des


Menschen, als ›herausgestellten‹ Anteil des Menschlichen und somit diesem
grundsätzlich zugehörig, als eine von diesem ausgehenden Entität. Er schreibt:
»Verständigen wir uns darüber, daß der Mensch seit seinen frühesten Anfängen
Götter gebildet hat, in denen da und dort nur das Tote und Drohende und
Vernichtende und Schreckliche, die Gewalt, der Zorn, die überpersönliche Be-
nommenheit, enthalten waren, verknotet gleichsam zu einem dichten bösartigen
Zusammengezogensein: das Fremde, wenn Sie wollen, aber in diesem Fremden
schon gewissermaßen zugegeben, dass man es gewahrte, ertrug, ja anerkannte
um einer gewissen, geheimnisvollen Verwandtschaft und Einbeziehung willen:
man war auch dies, nur, daß man vor der Hand mit dieser Seite des eigenen
Erlebens (Hervorhebung der Vf.) nichts anzufangen wußte; sie waren zu groß,
zu gefährlich, zu vielseitig, sie wuchsen über einen hinaus, zu einem Übermaß
an Bedeutung an; es war unmöglich, neben den vielen Zumutungen des auf
Gebrauch und Leistung eingerichteten Daseins, diese unhandlichen und unfaß-
lichen Umstände immer mitzunehmen; und so kam man überein, sie ab und zu
hinauszustellen. – Da sie aber Überfluß waren, das Stärkste, ja eben zu Starke,
das Gewaltige, ja Gewaltsame, das Unbegreifliche, oft Ungeheuere–: wie wollen
sie nicht, an einer Stelle zusammengetragen, Einfluß, Wirkung, Macht, Überle-
genheit ausüben? Und zwar nun von Außen. Könnte man die Geschichte Gottes
nicht behandeln als einen gleichsam nie angetretenen Teil des menschlichen
Gemütes, einen immer aufgeschobenen, aufgesparten, schließlich versäumten,
für den eine Zeit Entschluß und Fassung da war, und der dort, wohin man ihn
verdrängt hatte, nach und nach zu einer Spannung anwuchs, gegen die der An-
trieb des einzelnen, immer wieder zerstreuten und kleinen verwundeten Herzens
kaum noch in Frage kommt.« (RBr, 511f.) Vor diesem Hintergrund erscheint die
Suche nach Gott – als ›Spiegel‹ – als die Suche nach einem verlorenen Anteil des
Menschlichen; das Ganzheitstelos, das Maltes Bespiegelungsvision innewohnt,
steht demnach im Zeichen einer hermetischen bzw. narzisstischen Poetologie
im Sinne meiner hier angestellten Überlegungen.

230
Bildnis zu ›diktieren‹, denn die äußere Wirklichkeit dieser Figur übertrifft
bei Weitem die innen ›geleistete‹. Malte wird gezwungen, genau hinzu-
sehen, um die Gestalt in ihrem Wesen zu erfassen. Maltes dichterisches
Versagen kündigt sich hier an. Während es dem ›Sehen-Lernenden‹ beim
Anblick einer Mauer geglückt war, ein nicht mehr intaktes Hausesinnere
in Folge der sofort einsetzenden Einbildungsarbeit ›auszumalen‹, verblasst
Maltes Vorstellungskraft angesichts der starken Wirklichkeit dieser Er-
scheinung.
Hier tut sich eine grundsätzliche Ambivalenz auf, zumal die Aufzeich-
nung in so unmittelbarem Zusammenhang mit dem Preisgesang auf Betti-
nes Liebe und der Beschwörung einer dieser Form von Liebe entsprechen-
den poetologischen Vision steht. Evoziert wurde das Bild eines Dichters,
der mit beiden Händen das schreibt, – bildet –, was ihm diktiert wird. Das
›Einsehen‹, das ›Einbilden‹ als ein zwar auf Empathie angewiesener, aber
im Innern des Einbildenden sich vollziehender Prozess, der der ›eingese-
henen‹ Figur ihr Bildnis ›diktiert‹, steht gegen ein Diktiert-Werden vom
Gegenüber, sei es von der auf ideale Weise Liebenden (Bettine), von einer
höheren Quelle letztendlicher Erkenntnis (der diktierenden Instanz der
apokalyptischen Schrift Johannens) oder von einer übermächtigen Wirk-
lichkeit. Soll nicht aus der Tatsache, dass die besagte übermächtige Wirk-
lichkeit hier als Gott identifiziert wird, die Kapitulation der dichterischen
Einbildungskraft (im Rilke’schen Sinne) angesichts dieser mächtigen Prä-
senz herausgelesen werden? Maltes dichterisches Projekt, die Geschichten
anderer zu erzählen – will heißen: ›umzuschreiben‹ –, scheint gegen die
Gefahr des ›Geschrieben-Werdens‹ durch diese ›höhere‹ Instanz angehen
zu wollen: Er selbst will der Schreibende – und das heißt zuletzt der Um-
schreibende – sein: trotz andernorts gemachter, gegenteiliger Beteuerungen.
Wie prekär die angestrebte Position ist, zeigte die Episode vor dem Spiegel
auf geradezu paradigmatische Weise, zeugte sie doch von der grundsätz-
lichen ›Umkehrbereitschaft‹ solcher scheinbar polarer Verhältnisse: einer
›Umkehrbereitschaft‹, die womöglich in einer grundsätzlichen Ambivalenz
in Bezug auf das dichterische Selbstverständnis gründet.
Bedeutsam in diesem Kontext ist ein Selbstkommentar Rilkes zum
Malte-Buch, zu entdecken in dem bereits zitierten Brief an Lotte Hepner
aus dem Jahr 1915, in dem wir lesen:

Ich habe schon einmal [...] zu schreiben versucht, daß ich [das Malte-Buch]
selbst manchmal wie eine hohle Form, wie ein Negativ empfände, dessen alle
Mulden und Vertiefungen Schmerz sind, Trostlosigkeiten und weheste Einsicht,
der Ausguß davon aber, wenn es möglich wäre einen herzustellen (wie bei einer

231
Bronze die positive Figur, die man daraus gewönne) wäre vielleicht Glück,
Zustimmung; – genaueste und sicherste Seligkeit. (RBr 511)

Entspricht das Ausgießen der hohlen Form etwa dem Moment des ›Ge-
schrieben-Werdens‹, das nach einer ›Umkehrung der Verhältnisse‹ erfolgt?
Wenn ja, gibt Malte – als Aufzeichnender, will heißen: fiktiver Architekt
des Werkes – die Form jedoch vor; Positiv und Negativ sind somit nur
als Kehrseiten eines einzigen ›Autors‹ zu denken. Signifikanterweise scheint
der Brief diese poetologische Aussage in einen direkten Bezug zum an-
schließenden Ansinnen über Gott bzw. Götter setzen zu wollen. Rilke
schreibt:

Wer weiß, [...] ob wir nicht immer sozusagen an der Rückseite der Götter
herantreten, von ihrem erhaben strahlenden Gesicht durch nichts, als durch sie
selber getrennt, dem Ausdruck, den wir ersehnen, ganz nah, nur eben hinter
ihm stehend – aber was will das anderes bedeuten, als daß unser Antlitz und
das göttliche Gesicht in die selbe Richtung hinausschauen, einig sind; und wie
sollen wir demnach aus dem Raum, den der Gott vor sich hat, auf ihn zutreten?
(RBr II, 511)

Liefert der an der »Rückseite der Götter« Herantretende die ›hohle Form‹,
die dem Antlitz Gottes bzw. denen der Götter mit Konturen versieht?
Wenn sich der Dichter bzw. der Mensch schlechthin sich Gott von hin-
ten nähert, dann ist es aber unmöglich, so die Schlussfolgerung, die Rilke
selbst zieht, »aus dem Raum« auf Gott »zu[zu]treten«, den er »vor sich
hat«. Es fragt sich: Wie ist das im Brief formulierte Szenario mit der im
Dichterischen beschworenen, (auch) auf die Beziehung des Menschen zu
Gott gemünzte Vision ›gespanntesten Bezugs‹ vereinbar, der ›äußersten Ab-
stand‹ voraussetzt? Widersprüche in der Vision, eventuell auch Differenzen
zwischen poetischen Stimmen und der persönlichen Stimme des Dichters
tun sich auf, die sich nicht ohne Weiteres versöhnen lassen.
Eines steht jedenfalls fest: Der Weg Abelon’scher Liebe, die der Lieben-
den zum Status einer diktierenden Instanz verhilft, bleibt Malte versperrt,
so schon die – nicht unproblematische – gender-spezifische Vorstellung,
die seine Poetik der Liebe entfaltet.159 Der letzte Teil der Aufzeichnungen,
der ›Legende‹ vom Verlorenen Sohn gewidmet, setzt mit der eindeutigen
Aussage an: »Man wird mich schwer davon überzeugen, dass die Geschich-
te des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt

159 Hier, wie bei Musil, würde eine dem Thema würdige Diskussion den Rahmen
dieser Arbeit sprengen. Hier wäre viel zu tun.

232
werden wollte.« So wird der zwingende Zusammenhang zwischen dieser
letzten ›Vokabel seiner Not‹ und der Liebesthematik eindeutig hergestellt.
Hier ist Maltes dichterisches Selbstverständnis, seine eigene poetologische
Vision zu suchen, denn keine der im Vorausgehenden entfalteten stellt
eine brauchbare Basis für seine dichterische Praxis dar. Indem er das bi-
blische Gleichnis vom Verlorenen Sohn ›zitiert‹, zeigt Malte eine weitere
Vision an, aber eine, die angesichts der ›Korrektur‹ der Vorlage wohl mit
Vehemenz abzulehnen ist: eine, die den Dichter zum ›Nachgeborenen‹
bzw. ›Nachgebildeten‹ einer ersten, ihn ›diktierenden‹ Instanz erklärt. Im
Kontext der Geschichte vom Verlorenen Sohn ist Maltes lakonischer Satz
»Mein Gott, so bist du also« und seine hierin zum Ausdruck kommen-
de Vorstellung von ihm noch weiter zu differenzieren, deutet doch das
hier verwendete Possessivpronomen darauf hin, – die Abgedroschenheit
der Formulierung lenkt von ihrer großen Bedeutung ab –, dass Malte
beansprucht, ›seinen‹ Gott ›selbst zu schaffen‹: sich selbst ›einzubilden‹.
Allerdings: Im Sinne einer möglichen, oben formulierten Auslegung des
bereits zitierten Briefes an Lotte Hepner stellt das Finden und ›Erfinden‹
Gottes keinen Widerspruch dar.
Obwohl der Puppenessay im Sinne einer auf Selbstbespiegelung aus-
gelegten Poetologie in leisen Analogiesetzungen Gott zu einem blinden,
stummen Gliedermann macht, der ›angefüllt‹ wird mit Selbsterfahrenem
des kindlichen – zukünftig dichtenden – Gegenübers, scheint die hier und
in motivisch verwandten Dichtungen letztlich entfaltete poetologische Vi-
sion einen Weg aus dem ›Spiegelkabinett‹ in Aussicht stellen zu wollen,
und zwar insofern, als der im Puppenessay beschworene Spiegelungsakt
nicht die Kulmination der hier entwickelten poetologischen Vision dar-
stellt, sondern vielmehr erst die Voraussetzung für den eigentlichen dichte-
rischen Akt bildet: das ›Ding-Machen‹. Wie dieses ›Ding‹ – dieses Gedicht
– auszusehen hat, bleibt jedoch dunkel; ob diese Vision einen Weg aus der
Selbstbespiegelung weist oder das ›Ding-Machen‹ sie überhöhen und voll-
enden soll, verrät die vom Puppenmotiv diktierte Dichtung nicht. Ob man
in dieser einige wenige Jahre nach Niederschrift der Aufzeichnungen entfal-
teten Vision den Versuch sehen soll, die zwei Dimensionen ›Malte’schen‹
Dichtens – eine, wenn man so will, narzisstisch-hermetische und eine der
Welt zugewandte – zu versöhnen, bleibt letztlich unbeantwortbar. Ist das
›Ding‹ – das Gedicht – als Produkt ›reiner‹ Selbstbespiegelung zu denken,
als ›Lockruf und Antwort in sich‹, als Dichtung, die ›sich selbst erhört‹, –
so ein im anderen Zusammenhang fallendes Wort? Ist ›das Ding‹ etwa im
Sinne des hier zitierten Briefes an Lotte Hepner als die positive Figur zu

233
denken, die aus der »hohlen Form« – der im allzu Menschlichen harren-
den Dichtung – vielleicht gewonnen werden könnte: das, was »genaueste
und sicherste Seligkeit« (RBr II, 511) verspricht, aber wohlgemerkt auf der
Grundlage eines ›inversen‹ Bezugs zum ›Negativ‹, das die Form ›vor-gibt‹?
(RBr II, 511)
Oder stellt das ›Ding-Machen‹ nicht vielmehr einen Schritt aus dem
Raum absoluter Selbstbespiegelung dar, vollzieht es nicht einen Prozess,
der in etwa Cézanne’scher réalisation im Sinne Rilke’scher Cézanne-Ver-
ehrung gleichkommt? In Bezug auf den diesem Maler ›angedichteten‹
künstlerischen Auftrag schreibt Rilke: »Das Überzeugende, die Dingwer-
dung, die durch sein [Cézannes] eigenes Erlebnis an dem Gegenstand bis
ins Unzerstörbare hineingesteigerte Wirklichkeit, das war es, was ihm die
Absicht seiner innersten Arbeit schien [...].«160 Man könne fühlen, wie
die »Gegenwart« seiner Bilder »sich zusammentu[e] zu einer kolossalen
Wirklichkeit«.161 In dieser Cézanne zugeschriebenen Vorstellung tut sich
eine denkbare Schnittstelle zwischen einer der Welt zugewandten Dichtung
und der vielerorts in variationsreicher Weise evozierten hermetischen auf.
Die über das Puppenmotiv entwickelte poetologische Vision scheint das
scheinbar Unmögliche zumindest denkbar zu machen: dass das Gedicht,
das als ›Lockruf und Antwort in sich‹ sich selbst ›erhöht‹ und jenes, das
sich vornimmt, die Wirklichkeit – um mit Rilke dem Briefschreiber zu
reden – »zu sehen und auszusagen sachlich wie ein Cézannesches Ding«162,
letztlich eins werden könnten. Die Komplexität einer in vielerlei Gestalt
zum Ausdruck gelangenden visionären Poetologie, die nicht ohne Wider-
sprüche und paradoxe Momente auskommt, lässt verschiedene Deutungs-
ansätze zu, die im Zuge einer erweiterten Kontextualisierung Rilke’scher
Poetologie im letzten Kapitel dieser Arbeit eingehender in Betracht gezogen
werden sollen.

160 Brief an Clara Rilke vom 9. Oktober 1907. In: Rbr I, 177.
161 Brief an Clara Rilke vom 13. Oktober 1907. In: RBr I, 187.
162 Brief an Clara Rilke vom 1. November 1907. In: Gesammelte Briefe in sechs
Bänden. Hrsg. v. Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber, Leipzig 1936–1939, III, 8.

234
3. Visionäre Poetologie. Perspektiven auf Robert Musil,
Rainer Maria Rilke und Walter Benjamin

3.0 Einleitung

Wie eingangs angekündigt, wird es im dritten und letzten Kapitel dieser


Untersuchung einerseits darum gehen, die im Laufe der Analyse immer
komplexer gewordenen Zusammenhänge zu bündeln und präzisieren, wäh-
rend andererseits eine Erweiterung des Blickfeldes vorgenommen wird. Die
Fokussierung auf Walter Benjamins Erinnerungspoetik und die mit ihr
verknüpfte Sprach- und Historismuskritik bildet den Ausgangspunkt für
eine Kontextualisierung ›visionärer‹ Poetologie der klassischen Moderne
in eine noch zu bestimmende dichterisch-ästhetische Tradition, als deren
Eckpunkte ich im Sinne der nachfolgend dargelegten Interpretations- und
Gedankengänge Friedrich Hölderlins Spatwerk und dessen Adorno’sche
Rezeption setzen möchte. In einem ersten Schritt soll ein wichtiges Mo-
ment der Rilke’schen poetologischen Dichtung – die aus ihr herzuleitende
Erinnerungspoetik – unter veränderten Vorzeichen in Augenschein genom-
men werden, und zwar, wie bereits angezeigt, im Lichte von Walter Benja-
mins eigenwilliger, aber für die Entwicklung moderner Ästhetik und Poetik
nicht minder bedeutsamer Auseinandersetzung mit Erinnerung, Dichtung
und Geschichte. Seine Berliner Kindheit um 1900 und die Proust-Rezeption
werden erste Anhaltspunkte für die Erforschung bisher verdeckter Affini-
täten zwischen zwei ›visionären‹, aber ansonsten nicht als wesensverwandt
erkannten Dichtern liefern, bevor das Thema Erinnern bei Benjamin und
Rilke aus einer erweiterten Perspektive noch einmal betrachtet wird, die
der ganzen Tragweite der jeweils entfalteten Vision dichterischen ›Mündig-
Werdens‹ gerecht wird.
In einem zweiten Schritt sollen die hier behandelten Autoren und Wer-
ke in den bereits benannten, rückwärts wie vorwärts gerichteten poetolo-
gischen Kontext gestellt werden; Hölderlins Poetologie des Erinnerns und
Theodor W. Adornos Rezeption ihrer dichterischen Formulierung in den
sogenannten ›Vaterlandshymnen‹ des Spätwerks, ergänzt um zwei weitere,
von Jochen Schmidt und Eric L. Santner angebotene Lesarten, erweisen

235
sich hierbei als besonders ›leitfähige‹ Momente eines punktuellen, aber,
wie ich meine, nicht minder aussagekräftigen Kontextualiserungsversuchs.
Dieser verspricht nämlich, wichtige Koordinaten für eine abschließende
literarhistorische Ortung der visionären poetologischen Perspektiven zu
liefern, die Musil, Rilke und Benjamin – auf je eigene, aber, wie man er-
kennen wird, bemerkenswert sinnesverwandte Weise – entfalten. Unerwar-
tete Konvergenzen tun sich dabei auf; Aufbrüche in noch nicht entdeckte
Richtungen zeichnen sich ab. So rückt etwa Rilkes Puppengestalt erneut
ins Blickfeld. Benjamins ›kulturdialektische Methode‹ erfährt durch die
Sicht auf die frühe Sprachkritik – inspiriert durch Adornos eigenwillige
Hölderlindeutung – neuen Sinn. Musils Erkenntniskritik erfährt eine neue
Kontextualisierung. Der angekündigte »Versuch einer Traditionsfindung«
ist hier als doppelsinnig zu verstehen: als den hier behandelten Autoren
unterstellter Versuch, an bestehende Traditionen anzuknüpfen bzw. neue
zu gründen sowie als Versuch der Verfasserin, solche Momente der ›Tra-
ditionsfindung‹ auf- bzw. nachzuspüren.

3.1. Erinnerungspoetiken: Rainer Maria Rilke und


Walter Benjamin

3.1.1. Kindheitsvergegenwärtigung: Walter Benjamins Berliner Kindheit


um 1900 und gedichtete Kindheit bei Rainer Maria Rilke
In Notizen zu seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte opponiert Wal-
ter Benjamin gegen den Historismus, dem »das Schema der Progression
in einer leeren und homogenen Zeit« zu Grunde liege, indem er eine Ab-
sage an ihre »drei wichtigsten Positionen« erteilt, – »Bastionen«, die sich
gegenseitig stützen: »die Idee der Universalgeschichte«, die Vorstellung,
»Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse« (»das epische Moment« al-
so), und »Einfühlung in den Sieger«. Letzteres Moment begünstige eine
bestimmte Art von Geschichtsepisierung: die ›fest-geschriebene‹ Geschich-
te des Unterdrückers erzeuge ein ›Scheinkontinuum‹, das wiederum ein
Konstituens eines universalgeschichtlichen Konstrukts darstelle.1 Benjamins

1 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann u. Her-


mann Schweppenhäuser, Ffm 21989, I, 1240f.; vgl. I, 1236. Im Folgenden werden
alle aus dieser Ausgabe zitierten Stellen mit Bandnummer und Seitenzahl hinter
dem Zitat in Klammern angegeben. Wie Heinz Eitam bemerkt: »Das integrative
Moment dieser drei Bastionen ist die Vorstellung von einem zeitlichen Konti-

236
bekannter Appell im Kampf gegen den Historismus lautet: »Geschichte
‚gegen den Strich [...] bürsten« (I, 697), und das bedeutet, das ›Unter-
drückte‹ im Akt des ›Eingedenkens‹ ›vergegenwärtigen‹. In Notizen zum
Passagen-Werk spricht Benjamin in Anspielung auf Kants Kritik der reinen
Vernunft von einer »kopernikanische[n] Wendung in der geschichtlichen
Anschauung«. Wie er schreibt:

[...] man hielt für den fixen Punkt das ›Gewesene‹ und sah die Gegenwart
bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich
dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene zum dialektischen Umschlag,
zum Einfall des erwachten Bewußtseins werden.« (V 490f.)

Dies erfolgt Benjamins Vorstellung nach in Form von Bildern, die sich uns
plötzlich im Akt des ›Eingedenkens‹ ›einstellen‹.2
Bei Benjamins messianischer Vorstellung einer Erlösung dessen, was die
Geschichtsschreibung des ›Siegers‹ ignoriert, unterdrückt, abgedrängt hat,
spielt der Akt des Erinnerns eine entscheidende Rolle, erfolgt doch eine
solche Erlösung durch das Eingedenken nicht überlieferter Momente aus
der Vergangenheit. Dem Begriff des Fortschritts – als Konstituens des His-
torismus – stellt Benjamin den der ›Aktualisierung‹ gegenüber und bezeich-
net die »Überwindung des Begriffs des ›Fortschritts‹ und des Begriffs der
›Verfallszeit‹« als »nur zwei Seiten ein und derselben Sache« (V, 575). Bei
aller offensichtlichen Differenz zwischen Benjamins Vorstellung einer dia-
lektischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit und den auf Musil und
Rilke gemünzten Formulierungen eines dialektischen Entwicklungsgedan-
kens, – einer Differenz, die sich auch eindeutig in Benjamins vehementer
Absage an den Begriff des Fortschritts manifestiert, wie er gerade durch die
Idee der Universalgeschichte propagiert wird –, weisen diese in mancher
Hinsicht sehr konträren Vorstellungen eine doppelte Gemeinsamkeit auf.
Diese besteht erstens in der Formulierung eines Erlösungsgedankens, und
zweitens in der hiermit verknüpften Entfaltung einer Einheitsvision. Aber
so wie ›Erlösung‹ (von der hier nur in einem theologisch unspezifischen
Sinne des Wortes gesprochen werden kann) eine jeweils andere Bedeutung
annimmt, erhält auch die jeweilige Vorstellung von Einheit eine je andere
Gestalt: Im Sinne der oben untersuchten, als ›dialektisch‹ zu bezeichnenden
Entwicklungsparadigmen bedeutet sie Aufhebung von Entzweiung in einer

nuum.« Heinz Eitam: Discrimen der Zeit. Zur Historiographie der Moderne
bei Walter Benjamin, Würzburg 1992, 413.
2 Vgl. I, 1242f..

237
wie auch immer gearteten ›gespannten Einheit‹, während bei Benjamin der
Einheitsgedanke, wie er in der eigenwilligen Vision einer ›Apokatastasis‹3
formuliert wird, zwar bemerkenswerterweise auch einen dialektischen Vor-
gang voraussetzt, – einen Vorgang, der bestimmt wird von der Dynamik
von Profilierung und Negation, – aber letztlich auf das ›Einbringen‹ der
»ganzen[n] Vergangenheit« in die Gegenwart abzielt, und das heißt auch
des zuvor ›vergeblich‹, ›rückständig‹, ›abgestorben‹ Erscheinenden. Wie
Benjamin schreibt:

Kleiner methodischer Vorschlag zur kulturgeschichtlichen Dialektik. Es ist sehr


leicht, für jede Epoche auf ihren verschiednen ›Gebieten‹ Zweiteilungen nach
bestimmten Gesichtspunkten vorzunehmen, dergestalt daß auf der einen Seite
der ›fruchtbare‹, ›zukunftsvolle‹, ›lebendige‹, ›positive‹, auf der anderen der ver-
gebliche, rückständige, abgestorbene Teil dieser Epoche liegt. Man wird sogar
die Konturen dieses positiven Teils nur deutlich zum Vorschein bringen, wenn
man ihn gegen den negativen profiliert. Aber jede Negation hat ihren Wert an-
dererseits nur als Fond für die Umrisse des Lebendigen, Positiven. Daher ist es
von entscheidender Wichtigkeit, diesem, vorab ausgeschiednen, negativen Teile
von neuem eine Teilung zu applizieren, derart, daß, mit einer Verschiebung des
Gesichtswinkels (nicht aber der Maßstäbe!) auch in ihm von neuem ein Positi-
ves und ein anderes zu Tage tritt als das vorher bezeichnete. Und so weiter in
infinitum [sic], bis die ganze Vergangenheit in einer historischen Apokatastatis
in die Gegenwart eingebracht ist. (V, 573)

Wie ich bereits betonte, unterscheidet sich in starkem Maße die Prämis-
se, von der her ein solcher Mechanismus gefordert wird, und das, was
hiermit bezweckt wird, von den Prämissen und dem jeweiligen Telos der
oben untersuchten Entwicklungsparadigmen. Signifikant im Kontext die-
ser Arbeit ist jedenfalls die Rolle, die das Erinnern für die Formulierung
solcher Einheits- und Erlösungsgedanken spielt, wie sie einerseits im Werk
von Rainer Maria Rilke, zum Teil auch bei Robert Musil, andererseits bei
Walter Benjamin zu Tage treten.4

3 Auf diesen Begriff geht H.D. Kittsteiner ausführlich ein. (»Walter Benjamins Hi-
storismus«. In: Norbert Bolz / Bernd Witte [Hrsg.]: Passagen. Walter Benjamins
Urgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1984, 163–197; hier 169–171).
4 Auf den komplexen Aspekt der Mnemosyne und der Memoria kann ich im
Rahmen dieser Arbeit meist nur punktuell, d.h. in Form von Anmerkungen
eingehen, in denen ich auf ganz wesentliche Zusammenhänge mit dem Thema
dieser Arbeit verweise. Einige der wichtigsten Arbeiten zu diesem Themen-
komplex sind: Aleida Assmann / Jan Assmann / Christof Hardmeier: Schrift
und Gedächtnis, München 1983; Aleida Assmann / Dietrich Harth (Hrsg.):
Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt/
Mn. 1991; Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des

238
In Benjamins autobiographischem Prosawerk Berliner Kindheit um 1900
verwirklicht sich die Vorstellung einer in die Gegenwart ›einfallenden‹ Ver-
gangenheit in den sehr privat anmutenden, allemal von persönlicher Erin-
nerung geprägten Bildern von Gewesenem aus der Kindheit, in denen, so
Benjamin in der Formulierung des überpersonalen Anspruchs seines Wer-
kes, »die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich
niederschlägt«5, und die, wie Benjamin hofft, »befähigt [sind], in ihrem
Innern spätere geschichtliche Erfahrung zu präformieren« (BK, 9). In der
Einbettung von Privatem, Individuellem in einer gesamtgesellschaftlichen
Dimension manifestiert sich der innere Zusammenhang zwischen den The-
sen Über den Begriff der Geschichte und Benjamins Sammlung autobiogra-
phischer Vignetten.6 Die Bilder, auf die das Vorwort zur Berliner Kindheit
Bezug nimmt, sind solche – und darin besteht das Eigentümliche, – die
beim ›Einfallen‹ in die Gegenwart in einem ganz bestimmten Sinne ›lesbar‹,
d.h. in Sprache gebracht werden, und zwar nicht alleine im Sinne der noch
zu erörternder Vorstellung von ›Geschichtsschreibung‹ als einem ›Lesen
des Textes der Vergangenheit‹.7 Das Spezifikum der Berliner Kindheit, das

kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Anselm Haverkamp / Renate Lach-


mann (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern, Frankfurt/Mn. 1999; Harald
Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997. Vgl. auch
speziell zu Benjamin Stéphane Moses: »Eingedenken und Jetztzeit. Geschichtli-
ches Bewußtsein im Spätwerk Walter Benjamins«. In: Haverkamp / Lachmann
(Hrsg.): Memoria, 385–405.
5 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert, mit einem Nach-
wort von Theodor W. Adorno, Frankfurt/Mn. 1987, 9. Im folgenden verweisen
die in Klammern gesetzte Kürzel »BK« und Seitenzahl auf zitierte Stellen aus
diesem Werk.
6 Auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem individuellen und dem
kulturellen bzw. kollektiven Gedächtnis wirft sich hier auf. Siehe insbesondere
die bereits genannten Arbeiten von Aleida Assmann zu diesem Thema. Vgl. in
Hinblick auf das Passagen-Werk, in dem das Augenmerk auf das kollektive Be-
wusstsein im Kontext einer von Benjamin entworfenen »geschichtsepistemolo-
gischen Traumtheorie« gerichtet wird, Burkhardt Lindner: »Das Passagen-Werk,
die Berliner Kindheit und die Archäologie des ›Jüngstvergangenen‹«. In: Bolz /
Witte (Hrsg.): Passagen, 27–48; hier insbesondere 42ff..
7 Man vergleiche in diesem Kontext Aleida Assmanns Ausführungen »Zur Me-
taphorik der Erinnerung« (in Assmann / Harth: Mnemosyne, 13–36); Assmann
identifiziert und analysiert verschiedene Gedächtnis-Metaphern, darunter die
»Schrift-Metaphern: Buch, Palimpsest, Spur« (18). In Benjamins Vorstellung
erscheint nicht das Gedächtnis, sondern die zu erinnernde Vergangenheit selbst
in Form eines Buches, eines Textes. Assmann verweist auf die Nähe solcher
Metaphorik zu einer bestimmten räumlichen Gedächtnismetapher, nämlich der
Bibliothek (18; siehe auch 14ff.). Im von Assmann konstatierten Totalitätscha-
rakter der das Gedächtnis verkörpernden Bibliothek bzw. des kanonisierten Bu-

239
Eigentümliche an der Art, wie hier Bilder aus der Vergangenheit ›gelesen‹
werden, liegt an der besonderen Wahrnehmungsweise des Kindes.8 Ist für
das Kind die Welt »hell in Anschauung«, so ist jedoch erst der Erwachse-
ne in der Lage, die Bilder zu ›lesen‹, d.h. zu deuten: »dem Erwachsenen
werden die Zeichen deutlich, die ihm das Gedächtnis bewahrte«.9 Die
vielen impliziten und expliziten Als-ob-Vergleiche, die Gleichnisse, die den
Charakter vieler der Miniaturen prägen, sind Elemente einer Bilder ›les-
bar‹ machenden Sprache, die der bildhaften Erlebnisweise des Kindes am
ehesten gerecht zu werden vermag.10

ches (als »Transformation der Bibliothek«) – »Das beiden gemeinsame Prinzip


ist die Totalität, die Kopräsenz und Vollständigkeit der vielfältigen Elemente«
(18) – findet man Aspekte eines (noch zu erörternden) ›Telos der Fülle‹, das
Benjamins utopischer Vorstellung nach durch ein ›Lesen‹ der Vergangenheit
eingelöst werden kann.
8 In anderer Hinsicht bestimmt sie, so Susan Buck-Morss, Benjamins Erkennt-
nisansatz im Passagen-Werk, »mit dem er an die ausrangierten, übersehenen
Phänomene des neunzehnten Jahrhunderts herangeht«, und zwar insofern als
Kinder Benjamins Beobachtung nach »die von den Erwachsenen geschaffene
präformierte Welt weniger spannend finden als deren Abfallprodukte« und
»sich zu den anscheinend wertlosen, absichtslosen Dingen hingezogen« fühlen.
(Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-
Werk, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/Mn. 1993, 318.) In diesen, so
Benjamin in den Notizen zum Passagen-Werk, »bilden [die Kinder] die Werke
der Erwachsenen weniger nach, als daß sie Stoffe sehr verschiedener Art durch
das, was sie im Spiel daraus verfertigen, in eine neue, sprunghafte Beziehung
zueinander setzen« (IV, 93). In der Berliner Kindheit und Benjamins Vorstellung
von Geschichts-›Schreibung‹ findet man zwei wichtige Momente einer solchen
Begeisterung für die Wahrnehmungsweise des Kindes wieder: das Moment eines
›sprunghaften‹ In-Beziehung-Setzens von Verschiedenem und die Zuwendung
zum anscheinend Wertlosen hin, beides Momente, die sich Benjamin zufolge
im kindlichen Spiel vollziehen. Vor diesem Hintergrund erhält die Aufgabe, die
Benjamin sich mit dem Projekt Berliner Kindheit stellt, eine besondere Bedeu-
tung gegenüber anderen Formen der Geschichts-›Schreibung‹. Wie Susan Buck-
Morss bemerkt, ist für Benjamin »die Fähigkeit [der Kinder] zu revolutionärer
Umgestaltung von vornherein vorhanden«. (Buck-Morss: Dialektik des Sehens,
321f.)
9 Christiaan L. Nibbrig: »Das déjà vu des ersten Blicks. Zu Walter Benjamins
Berliner Kindheit um neunzehnhundert«. In: DVjs 47 (1973), 711–730; hier 716.
Vgl. Lindner: Passagen-Werk, 31f.: »[...] das Kind stellt sich in Bildern, die sich
ihm nachhaltig einprägen, Einsichten vor, die erst später, in der Rückerinne-
rungsarbeit, deutbar werden.«
10 Ich verweise hierbei auf die Bedeutung, die für Benjamin die »Gabe, Ähnlichkeit
zu sehen« (II, 210), erhält, dies ein Konstituens des ›mimetischen Vermögens‹.
Diese Gabe wird dem Kinde in besonderem Maße zugeschrieben. Wie Benja-
min im gleichnamigen Aufsatz aus dem Jahre 1933 schreibt: »Dieses Vermögen
hat [...] eine Geschichte, und zwar im phylogenetischen so gut wie im ontoge-

240
Und doch stellen solche Vergleiche bzw. Gleichnisse bereits ›Gelesenes‹
dar, sind ein Produkt des In-Sprache-Fassens des einstigen, unvermittelt
bildhaften Erlebens durch den erwachsenen Dichter bzw. dessen »erwach-
tes Bewußtsein«.11 Für die Berliner Kindheit gilt in besonderer Weise das
folgende, auf das ›Lesen‹ von Vergangenheit gemünzte Gleichnis Benja-
mins:
Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr [...]: die
Vergangenheit habe in [solchen Texten] Bilder niedergelegt, die man denen
vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden.
›Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das
Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen.‹ (I, 1238)12

›Bilder lesen‹ heißt in diesem Werk vielerlei. Zum einen geht es hierbei
darum, die »entstellte Welt der Kindheit« (BK, 59), – das, was man als
ein fruchtbares Missverstehen von Gesten, Eindrücken, Geräuschen, oft
Worten bezeichnen könnte, – in ihrer Entstelltheit offen zu legen. Es heißt
mitunter auch Denkkategorien anzulegen, die rätselhaften Erfahrungen
von einst nachträglichen Sinn geben, deren Bedeutung bloßlegen. Aber
es heißt auch, Worte der einst irrtümlicherweise in sie hineingelesenen
Bedeutung zu berauben, wie es beim Namen einer gewissen Lehrerin ge-
schieht, dessen Buchstaben für das Kind den Charakter von Hieroglyphen
erhalten hatten.13 ›Bilder lesen‹ heißt hier zudem, ähnlich wie bei Ulrich
bezüglich seiner Kindheitserinnerungen, das In-Sprache-Bringen von einst
›stillschweigenden Affinitäten‹. Einmal spricht Ulrich zum Beispiel von
der großen Liebe zu einer Reihe von papiernen Zirkustieren, die er als
Kind aus einem Zirkusplakat ausschnitt, und bezeichnet die Beziehung
zu ihnen als »ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten
Geschöpfe«.14 An einer Stelle spricht der Autor der Berliner Kindheit von
der Gabe [des Erwachsenen], »Ähnlichkeiten zu erkennen«, und sieht darin
»nichts als ein schwaches Überbleibsel des [kindlichen] Zwangs, ähnlich

netischen Sinne. Was letzteren angeht, ist das Spiel in vielem seine Schule. Das
Kinderspiel ist überall durchzogen von mimetischen Verhaltensweisen; [...].«
(II, 210) Zu diesem Themenkomplex vgl. Buck-Morss: Dialektik des Sehens,
319ff..
11 Vgl. Benjamin,VI, 491.
12 Dass Benjamin an dieser Stelle von Bildern eines Textes spricht, belegt meines
Erachtens den sprachlichen Charakter des Benjaminschen Bildes, wie es im
Kontext der hier beleuchteten Thematik zu verstehen ist. Im übrigen ist aber
auch der bildhafte Charakter der Benjaminschen Sprache zu betonen.
13 Vgl. Nibbig: Berliner Kindheit, 717.
14 Musil: Werke 3, 689.

241
zu werden und sich zu verhalten«. Es kommt vor, daß das Kind sich ›an
Farben verliert‹ (BK, 70), oder die Farbe der Landschaft annimmt (BK,
70). Eine solche Gabe bestimmt die Beziehung zu Schmetterling, Fisch-
otter, aber auch Gardinen, Türen. Ganz im Sinne der oben besprochenen
Dichtungen Rilkes, die sich mit den Kindheitsdingen befassen, kann bei
Benjamin von einem »Ähnlichwerden als Bedingung der Weltaneignung«
gesprochen werden.15
Zu den ›Bildern‹, denen visuelle Eindrücke zu Grunde liegen – hierzu
gehört neben den an Schauplätzen der Kindheit ›gesammelten‹ Eindrücken
auch Sprache, insofern als sie sich als geradezu haptische Zeichensprache
gebärdet –, gesellen sich Geräusche. Und Geräusche sind es, die die an-
fangs beschworene Erfahrung des Einsseins von Ich und Welt der Loggien
vermitteln. Im Vorwort zur Berliner Kindheit konstatiert Benjamin, »der
Bilder« – und das heißt auch der ›Bilder‹ der Geräusche – »in denen die
Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich nieder-
schlägt« »harren noch keine geprägten Formen, wie sie im Naturgefühl
seit Jahrhunderten den Erinnerungen an eine auf dem Lande verbrachte
Kindheit zu Gebote stehen« (BK, 9). Evoziert wird »[d]er Takt der Stadt-
bahn und des Teppichklopfens«, der das Kind »in den Schlaf [wiegt]«. Zu
den akustisch wahrgenommenen Koordinaten einer ›Traumwelt‹ kommen
die visuellen hinzu. Beides übt einen formativen Einfluss auf die Erinne-
rungskraft aus, mit deren Hilfe dieser Welt eines Tages dichterisch wieder-
begegnet werden soll. Wie es heißt:
Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken,
verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit.
Nichts kräftigte die meine inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen
Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die
Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. (BK, 9)

Der »Blick in Höfe«, so der später zurückkehrende Dichter, ›kräftigte‹ die


(»noch zarte«) Erinnerung an die Kindheit denn auch ›inniger‹ als alles
andere: Er ruft die Erlebnisweise ›inniger‹ Teilhabe an der Umgebung von
einst hervor. Vor dem geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Hin-
tergrund der Berliner Kindheit wird die individualpsychische Erfahrung von
Einssein aber auch zum Sinnbild für eine epochal bedingte Erfahrung von
Geborgenheit.

15 Nibbrig: Berliner Kindheit, 719; vgl. auch Buck-Morss: Dialektik des Sehens,
319ff..

242
Im Vorwort zur Berliner Kindheit betont Benjamin, dass »die biogra-
phischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung
sich abzeichnen«, in seinem Werk »ganz zurücktreten«, um das »Gefühl
der Sehnsucht« nach einer unwiederbringlichen Zeit, aber auch nach einem
für den Dichter bald unwiederbringlichen Ort »durch die Einsicht, nicht
in die zufällige biographische sondern in die notwendige gesellschaftliche
Unwiederbringlichkeit des Vergangenen in Schranken zu halten« (BK, 9).
Nichtsdestotrotz wird die Berliner Kindheit von der Geste einer privaten
Suche geprägt, der Geste eines geradezu nostalgischen Aufsuchens von
Schauplätzen und Dingen, an denen die Bilder aus der Kindheit ›haften‹,
derer der Erinnernde sich im Akt der Artikulation ›habhaft‹ zu werden
hofft.16 Dies besagte bereits das in den Eingangszeilen der ersten Minia-
tur fallende Wort vom »Blick in Höfe«. Dieser Blick steht für die vielen
anderen ›Rück-Blicke‹ und das erneute Vernehmen von Geräuschen, die
die Erinnerung des Dichters an die Berliner Kindheit ›kräftigen‹. Solche
visuellen Eindrücke, solche Geräusche fügen sich jedoch keiner zeitlichen
Anordnung. Genauso wenig ergeben Benjamins Berliner Miniaturen eine
zwingende Reihenfolge.17
In diesem Zusammenhang ist eine Notiz Benjamins zu den Thesen Über
den Begriff der Geschichte signifikant, die von der Qualität des sogenannten
unwillkürlichen (im Unterschied zum willkürlichen) Erinnerns handelt.
Ersteres »bietet sich«, so Benjamin, »nie ein Verlauf dar sondern allein
ein Bild. (Daher die ›Unordnung‹ als der Bildraum des unwillkürlichen
Eingedenkens)« (I, 1243).18 Hierin deutet sich die überaus wichtige Frage

16 Vgl. Benjamins Berliner Chronik, die, um vorzugreifen, eine ähnliche Metapho-


rik verwendet wie Proust, um das Wesen des Gedächtnisses zu erfassen: »[...]
das Gedächtnis [ist] nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit [...]
sondern deren Schauplatz. Es ist das Medium des Erlebten wie das Erdreich das
Medium ist, in dem die toten Städte verschüttet liegen. Wer sich der eigenen
verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein
Mann, der gräbt.« (VI, 486) Vgl. Nibbrig: Berliner Kindheit, 713. Vgl. auch Elisa-
beth Gülich: »Zur Metaphorik der Erinnerung in Prousts A la recherche du temps
perdu«. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 75 (1965), 51–74.
Benjamin hatte zusammen mit Franz Hessel Teile der Recherche übersetzt.
17 Es gab mindestens drei von Benjamin autorisierte Fassungen der Schrift. Bezüg-
lich der Reihenfolge der einzelnen Abschnitte siehe »Editorisches Postskriptum«,
BK, 114f.
18 Man vergleiche Prousts auf das Phänomen der noch zu erörternden ›mémoire
involontaire‹ gemünzte Metapher der geologischen Schichtung als Ordnungs-
prinzip für Eindrücke und Erfahrungen, die von späteren überlagert werden
(vgl. A la recherche du temps perdu, Paris 1987–1989, IV, 614). Vgl. Rainer War-

243
nach Formen des Erinnerns sowie nach der Verfügbarkeit von Erinnerun-
gen an. Diese prägt Prousts Erinnerungsbegriff wie Benjamins von Proust
stark beeinflusste Auseinandersetzung mit diesem Thema. Und sie wird zur
Leitfrage beim nun folgenden Bemühen, Benjamins und Rilkes ›Poetiken
der Vergegenwärtigung‹ auf wichtige Affinitäten hin zu untersuchen.

3.1.2. ›Poetiken der Vergegenwärtigung‹: Rilke, Benjamin, Proust


In Maltes Reflexion über das, was für Erinnerungen ›auftauchen‹, wenn
man im Erwachsenenalter bestimmte, in der Kindheit bereits durchge-
machte Krankheiten noch einmal bekommt, gelangt die Vorstellung zweier
voneinander zu unterscheidender Formen des Erinnerns sehr anschaulich
zur Darstellung. Mit den relativ leicht zugänglichen Erinnerungen in Form
von alten Gesten, alten Gewohnheiten, die sich im Krankheitsfall erneut
›einstellen‹

[...] hebt sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daran hängt wie nasser
Tang an einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte,
tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und ver-
drängen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt,
ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu
oftem Erinnern. Wie ein Ding, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner
Stelle liegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlusts, ganz als ob es
bei irgend jemandem in Pflege gewesen wäre – : so liegt da und da auf meiner
Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle verlorenen Ängste
sind wieder da. (VI, 766f.)

Die Stelle ist bedeutsam nicht nur für ein Verständnis der Qualität, die das
Erinnern in den Aufzeichnungen erhält, sondern auch in Hinblick auf das,
was Rilke’sches und Benjamin’sches Erinnern verbindet. Dass es für Malte
zwei Formen des Erinnerns gibt, drückt sich im Bild einer ›versunkenen
Sache‹ aus, an der wiederum »ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen« hängt:
»wie nasser Tang«. Die ›Sache‹ selbst ist dem Bewusstsein relativ verfügbar;
es bedarf lediglich eines Auslösers, um sich ihrer (wieder) bewusst zu wer-
den. Und sie ist, im Gegensatz zu dem, was an ihr hängt, greifbar. Solche
Erinnerungen sind (immer) ›wieder holbar‹ und, insofern als sie die Form
von Gesten und Gewohnheiten annehmen, wiederholbar, aber als solche sind
sie wohlgemerkt »müde von zu oftem Erinnern«. Das, was in Maltes Bild

ning: »Vergessen, Verdrängen und Erinnern in Prousts A la recherche du temps


perdu«. In: Haverkamp / Lachmann, 160–194; hier 162.

244
an derart ›wieder-holbaren‹ ›Sachen‹ haftet, entzieht sich dem Zugriff des
Bewusstseins so stark, dass es, einmal an die Oberfläche des Bewusstseins
aufgetaucht, wie etwas Fremdes anmutet. In der von Malte entwickelten
Bildersprache nehmen solche Erinnerungen eine fast materielle Qualität
an. Wie er schreibt: »[...] so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlo-
renes aus der Kindheit und ist wie neu.« ›Neu‹ heißt hier unbekannt, noch
nie erfahren, weil dem Bewusstsein nie zuvor verfügbar geworden. Deswe-
gen gibt sich das »Verlorene[...] aus der Kindheit« anfangs nicht als Teil
von Maltes Leben zu erkennen, sondern erscheint in Form von fremden
Leben, die das ›wirklich Gewesene‹, und dies heißt das der Erinnerungs-
kraft verfügbar Gewordene ›verdrängen‹. Dass das in völlige Vergessenheit
Geratene letztlich doch zu Malte gehört, drückt sich aus im Gefühl, dieses
sei »bei irgend jemandem in Pflege gewesen«: also doch ursprünglich dem
eigenen Erfahrungs-›Schatz‹ zugehörig.
Betrachten wir Maltes Schlüsselreflexion noch einmal im Kontext der
Proust’schen Differenzierung zweier Formen des Erinnerns: der mémoire
volontaire und der mémoire involontaire.19 In Prousts Romanzyklus wird
die Tätigkeit der mémoire volontaire an einer Stelle mit dem Blättern in
einem Bilderbuch verglichen:20 Die Bilder, die man willentlich ›abrufen‹
kann, zeichnen sich durch ihre Verfügbarkeit aus. Sie sind festgehalten und

19 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die bereits erwähnte, überaus auf-
schlussreiche Untersuchung von Rainer Warning, die in Prousts Romanzyklus
zwei konkurrierende Poetiken ausfindig macht: neben der in dieser Dichotomie
zum Vorschein kommenden, die der unwillkürlichen Erinnerung »alle roman-
tischen Konnotationen der Authentizität, der Integrität und Totalität« verleiht
(184f.) gebe es eine diese Poetik ›dekonstruierende‹: eine »Poetik der Flüchtig-
keit, der Kontingenz und des Perspektivismus« (161), die sich manifestiert in
der im Roman vermittelten »negative[n] Erfahrung einer Diskontinuität, die
nicht in Kontinuität, eines Suchens, das nicht in Finden, eines Unwissens, das
nicht in Wissen überführt wird: einer Erinnerung also, der totalisierende Kraft
versagt bleibt« (161). Diese mache sich, so Warning, an den Albertine geltenden
Erinnerungen fest: »In Albertine disparu ist [die Erinnerung] zum Schockerleb-
nis entauratisiert, womit zugleich der Authentizitätsbegriff dekonstruiert wird.«
(185) Was Warning nicht berücksichtigt, ist die Tatsache, dass die zweite Poetik,
die »Poetik der Flüchtigkeit«, sich in verschriftlichten Erinnerungen des bereits
erwachsenen Marcel manifestiert, während die auf der Vorstellung eines ›to-
talisierenden‹ Erinnerungsvermögens basierende Poetik, – diese die »offizielle«
Poetik der mémoire involontaire (184) – im Zeichen der Kindheitserinnerungen
steht. Ich halte dies für bedeutsam.
20 ›Certes, on peut prolonger les spectacles de la mémoire volontaire qui n’engage
pas plus des forces de nous-même que feuilleter un livre d’images.‹ (Recherche
VI, 453) Vgl. Assmann: Metaphorik der Erinnerung, 18ff..

245
disponabel. Wie Benjamin sie in seinem Aufsatz über Baudelaire charakte-
risiert, sind sie »dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig«.21 Die Tätigkeit
der mémoire involontaire hingegen erfolgt in Form von spontanen Einfäl-
len, infolgedessen aus dem Bewusstsein Entschwundenes sich auf einmal
vergegenwärtigt.22 Solche Einfälle sind aber schwer zu greifen und schwer
festzuhalten. Überdies laufen sie Gefahr – anders als die von der mémoire
volontaire abruf- und archivierbaren –, sich gleich zu verflüchtigen. Für
Prousts alter ego Marcel haften sich solche unwillkürlichen Erinnerungen
an affektiv geladenen Dingen, an Bildern, Gerüchen und Geräuschen. Der-
art affektiv Aufgeladenes löst denn auch das unverhoffte Wiedererkennen
in glücklichen Augenblicken aus.23 Zwar ist es möglich, hat man einmal
über Dinge, Bilder, Gerüche und Geräusche Zugang zu ›Verlorenem‹ aus
der Vergangenheit gefunden, dieser Erinnerungen samt alledem, was sich
hiermit verbindet, im Prozess des Schreibens habhaft zu werden.24 Es bleibt

21 Über einige Motive bei Baudelaire, I, 610.


22 Interessant in diesem Kontext ist Assmanns Kontrastierung der Form, die Er-
innerung bei Proust und Wordsworth annimmt: »Was Wordsworth [...] von
einem Autor wie Proust trennt, ist die methodische Heranzüchtigung der Erin-
nerung zu einer poetisch kreativen Kraft. Diese ›Muse der Erinnerung‹ läßt der
Macht des kontingenten Einfalls, des unwillkürlichen Impulses, der erratischen
Verknüpfung (fast) keinen Raum. Sie ist ein kontrolliertes poetisches Verfah-
ren, man könnte sagen: eine Form der Ekstase-Technik. In der Recollection
verschränken sich Memoria und Imaginatio.« Assmann: Wunde der Zeit, 376.
23 Die Bedeutung dieser Sinne für das Erinnern in Prousts Roman hebt Harald
Weinrich hervor. Er konstatiert: »Bei [Proust] sind die Augen nicht mehr die
bevorzugten Boten des Gedächtnisses. Er nennt daher das von ihm verschmähte
Vernunftgedächtnis auch Augengedächtnis: une mémoire de l’intelligence et des
yeux.« (In einem Brief an Antoine Bibesco vom November 1912, zit. in Wein-
rich: Lethe, 191). Auch das somatische Gedächtnis – »mémoire du corps« – spielt
beim unwillkürlichen Erinnern eine wichtige Rolle. Für Proust gelte, so Wein-
rich, »die allgemeine somatische Gedächtnisregel, daß man sein Gedächtnis in
den Rippen, in den Knien und in den Schultern hat« (Weinrich: Lethe, 191).
Siehe insbesondere den Anfang von Du côté de chez Swann. Auf die Bedeutung,
die das motorische Gedächtnis für Henri Bergsons Gedächtnistheorie hat (siehe
Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper
und Geist, Jena 1908, 71ff.), kann ich hier lediglich kurz verweisen. Bezüglich
der unterschiedlichen Form, die Erinnerung für Malte annehmen kann, ste-
hen Erinnerungen, die über das somatische Gedächtnis vermittelt werden, eher
im Zeichen des ›Abrufbaren‹ als des Willkürlichen. Vgl. die Aufzeichungen, VI,
766.
24 Angesichts der Qualität der Proust’schen mémoire involontaire, die Harald Wein-
rich als ›poetisches Gedächtnis‹ tituliert (im Gegensatz zum ›Vernunftsgedächt-
nis‹), nimmt Weinrich vom Begriff der ›Mnemotechnik‹ Abstand. Von einem
›Mechanismus‹, den man bemüht, um den Erinnerungen beizukommen, die

246
jedoch dem Zufall überlassen, ob man den Dingen, Bildern, Geräuschen
und Gerüchen wiederbegegnet, die alleine im Stande sind, einen solchen
Prozess in Gang zu setzen.25
Wesentliche Momente der von Proust gemachten Unterscheidung zwi-
schen der mémoire volontaire und der mémoire involontaire sind in Maltes
Reflexionen über die zwei Formen des Erinnerns zu entdecken. Der einen
Form entspricht in etwa die Proustsche mémoire volontaire (auch wenn
sie des erneuten Krankseins bedarf, um ›aktiviert‹ zu werden). Was auf
diesem Weg ›vergegenwärtigt‹ wird, erscheint auf Grund seiner grund-
sätzlichen Verfügbarkeit »müde von zu oftem Erinnern«, während das,
was sich dem Zugriff des willentlichen Erinnerns entzieht, sprich: sich
unwillkürlich vergegenwärtigt, eine »ausgeruhte, neue Kraft« an den Tag
legt. Die ›aufblitzenden‹, ihre Kraft aus dem Unbekannten, dem Neuen
sich speisenden Erinnerungen sind die ›poesiefähigen‹. Es ist das – wie auch
immer zu verstehende – ›unwillkürliche Erinnern‹, das Prousts and Rilkes
Poetiken die Vergegenwärtigung prägt.26
In seinem Essay mit dem Titel Zum Bilde Prousts spricht Benjamin
in Bezug auf Prousts A la recherche du temps perdu vom »Weben seiner
[Marcels] Erinnerung«, von der »Penelopearbeit des Eingedenkens« als das,
worauf es dem erinnernden Autor angekommen sei. Unter Anspielung auf
die mythische Figur der Penelope, die, der Heimkehr des Odysseus har-

»ein bißchen Teegebäck, das Klappern eines Löffels gegen den Tellerrand, [...
den] Benzingeruch eines Automobils« auslösen – dies »die trivialen Botenstoffe
dieses neuen und poetischen Gedächtnisses« –, könne man nicht reden. Wie
Weinrich schreibt: »Eine ›Kunst‹ im Sinne der Gedächtniskunst und eine ›Tech-
nik‹ im Sinne der Mnemotechnik ist immer ein vernunftgesteuertes Verfahren.«
Im Hinblick auf »l’édifice immense du souvenir«, das Prousts Romanwerk zu
Grunde liege, solle man eher von einer »›Mnemopoetik‹ sprechen, die ganz
andere Valenzen hat« (Weinrich: Lethe, 189).
25 Dass es eines solchen Zufalls bedarf, um diesen Prozess in Gang zu setzen,
macht die Vergangenheit ›unkontrollierbar‹, dies ein Attribut, das Warning
gerne für Prousts ›inoffizielle‹ ›Poetik der Flüchtigkeit‹ in Anspruch nehmen
möchte als etwas, das aus dem Nicht-mehr-Funktionieren des »Zusammenspiels
von defizienter Erinnerung und Neuschöpfung« resultiere. (Warning: Vergessen,
174.) Wie ich meine, muss man den Kontrast zwischen den zwei von Warning
identifizierten Poetiken nicht künstlich verschärfen (wozu Warning meines Er-
achtens neigt), um sie als konkurrierende, aber eben zusammenspielende Prin-
zipien von Prousts Romanzyklus zu erkennen.
26 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Gérard Genettes Identifizierung
einer jüdisch-christlichen Heilsgeschichte als Basis für Prousts vom Begriff der
mémoire involontaire determinierte Erinnerungspoetik. Siehe Gérard Genette:
Figures, Paris 1966, 65ff..

247
rend, tagsüber am Leichentuch für den Schwiegervater webt, um die Freier
abzuhalten, nachts dieses jedoch wieder auftrennt, um sich am nächsten
Tag wieder mit demselben Vorwand die Freier vom Leib halten zu kön-
nen, fragt sich Benjamin, ob man nicht »besser von einer Penelopearbeit
des Vergessens [Hervorhebung der Vf.] reden« solle. »Steht nicht«, fragt er
sich

das ungewollte Eingedenken, Prousts mémoire involontaire dem Vergessen viel


näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird? Und ist dies Werk sponta-
nen Eingedenkens, in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel
ist, nicht vielmehr ein Gegenstück zum Werk der Penelope als sein Ebenbild?
Denn hier löst der Tag auf, was die Nacht wirkte. An jedem Morgen halten
wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fransen den Teppich des
gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns gewoben hat, in Händen. Aber jeder
Tag löst mit dem zweckgebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckver-
haftetem Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. Darum hat
Proust am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im verdunkelten Zimmer
bei künstlichem Lichte all seine Stunden ungestört dem Werk zu widmen, von
den verschlungenen Arabesken sich keine entgehen zu lassen. (II, 311)

In diesem Gleichnis wird der gewobene Teppich zum Sinnbild für das
Kunstwerk, dessen Struktur paradoxerweise nicht von Erinnerungen vor-
gegeben wird (d.h. von willentlich abrufbaren Erinnerungen), sondern viel-
mehr von dem, – so Benjamins Bestimmung der mémoire involontaire in
seinem Aufsatz Über einige Motive bei Baudelaire –, »was nicht ausdrücklich
und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erleb-
nis‹ widerfahren ist«.27 Daraus ist der ›Zettel‹, die Kette, das Gerüst des
Teppichs gemacht, um das die spontanen Erinnerungen an dieses nicht
bewusst ›Erlebte‹ sich flechten. Die Nacht wird zur Sphäre, in der solche
Erinnerungen ›einfallen‹: Erinnerungen, die sich bei Tageslicht ›bis auf ein
paar Fransen‹ wieder verflüchtigen. Das willentliche Erinnern, der Tages-
sphäre zugehörig, arbeitet gegen das Flechtwerk, das Produkt der nächtli-
chen ›Einfälle‹ ist. In Benjamins Bild steht das ›zweckverhaftete Erinnern‹
in einem antagonistischen Verhältnis zum spontanen Erinnern, aus dem
das Kunstwerk geflochten wird. Es verdrängt die Ornamentik, die »ver-
schlungenen Arabesken«, die das spontane Eingedenken nachts flicht. Fest-
gehalten werden können diese nur, indem man sie in Sprache bringt.28

27 »Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich
und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹
widerfahren ist.« (I; 613)
28 Vgl. Bettine Menke: »Was ›geschieht‹ in der Textur der Erinnerung und aus

248
Wendet man Benjamins im Baudelaire-Aufsatz formulierte Bestim-
mung der mémoire involontaire auf das legendäre Madeleine-Erlebnis an,
soll das Madeleine-Erlebnis also die Voraussetzungen erfüllen, die es zu
einer mémoire involontaire macht, so muss das erste Kosten der Madeleine
ein unbewusster Vorgang gewesen sein. Dies wird allerdings von Benja-
mins Freund und Kritiker Adorno in Frage stellt, wenn er in Antwort auf
Benjamins Ausführungen schreibt:

Das ungemein schwierige Problem liegt bei der Frage der Unbewußtheit des
Grundeindrucks, die notwendig sein soll, daß dieser der mémoire involontaire
und nicht dem Bewußtsein zufällt. Kann man von dieser Unbewußtheit wirklich
reden? War der Augenblick des Schmeckens der Madeleine, aus dem Prousts
mémoire involontaire hervorgeht, in der Tat unbewußt? Es will mir scheinen,
daß in dieser Theorie ein dialektisches Glied ausgefallen ist und zwar das des
Vergessens. Das Vergessen ist in gewisser Weise die Grundlage für beides, für
die Sphäre der ›Erfahrung‹ oder mémoire involontaire, und für den reflektori-
schen Charakter, dessen jähe Erinnerung selber das Vergessen voraussetzt.29

Ich kann hier nicht erörtern, wie eine Adorno’sche ›Dialektik des Verges-
sens‹ im Sinne dieses Briefes auszusehen hätte. Eines sei jedenfalls festzu-
halten. Plakativ ausgedrückt: ohne Vergessen kein (jähes) Erinnern.30 Man

ihr ›auftaucht‹, ist die ›gebrechliche‹ ›neue‹ Wirklichkeit des ›Bildes‹. Die Tex-
turen verdichten sich zu einer sekundären Gegenständlichkeit als Bild. Diese
im/als Bild gewonnene Gegenständlichkeit ist Abschluß gegen ein unendliches
Oszillieren der Verschränkungen und deren ornamentalen Figuren. Das ›Bild‹
unterbricht das Oszillieren, die Verschiebungen und Vexationen des Gewebes
seiner Verschränkungen; sie sind in ihm fixiert, ›festgestellt‹.« Bettine Menke:
Sprachfiguren. Name – Allegorie – Bild nach Walter Benjamin, München 1991,
333.
29 Brief von Adorno an Benjamin vom 29.2.1940. In: Theodor W. Adorno, Wal-
ter Benjamin. Briefwechsel 1928–1940. Hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt/Mn.
1994, 417.
30 Harald Weinrich geht auf die Dynamik von Vergessen und Erinnern ausführ-
lich ein, unter anderem im Kontext der Poetik und Dichtung von Baudelaire,
Mallarmé und Valéry. »Sans oubli on n’est que perroquet.« (»Ohne Vergessen
ist man nur Papagei.»), so eine von Weinrich zitierte Sentenz Valérys (aus Ca-
hiers 1894–1945; zit. in: Weinrich: Lethe, 182.) Die ›Wiederholungskritik‹, die
diese Sentenz zum Ausdruck bringe – wie Valéry schreibt: »L’esprit abhorre
la répetition.« – gehe mit der radikalen Forderung einher, »bei allen Tätigkei-
ten des Geistes ›mit dem Anfang anzufangen‹.« Im Sinne dieser Ausführungen
kommt dem Vergessen eine wichtige Funktion zu: ein ›lebendiges‹ Gedächtnis
zu schaffen: »Auch das Gedächtnis muß vom Anfang her gedacht werden.«
(Weinrich: Lethe, 182) Im Zusammenhang der Themenstellung dieser Arbeit
ist Michel Beaujours Verweis auf André Bretons Manifeste aus dem Jahr 1924
interessant. Beaujour konstatiert, dieses sei »hostile to ›memory‹, in all relevant

249
vergleiche folgende Notiz Benjamins zum Passagen-Werk: »Damit ein Stück
Vergangenheit von der Aktualität betroffen werde, darf keine Kontinuität
zwischen ihnen bestehen.« (V, 587) Das, was eine solche Kontinuität auf-
löst, ist das Vergessen.31 Adorno hält dies denn auch für das entscheidende
Moment und nicht die Frage, ob das, was erinnert wird, ursprünglich
»mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden« oder nicht. Wenn ich im Folgenden
in Anspielung auf Adornos Einwand von einer ›Dialektik des Vergessens‹
spreche, dann zunächst in diesem reduzierten Sinne als Formel für ein
dialektisches Paradigma, das ich dem in dieser Arbeit zuvor diskutierten
gegenüberstellen möchte.32
In seiner Antwort auf Adornos Brief insistiert Benjamin – wie ich
meine, nicht ganz überzeugend – auf dem unbewussten Charakter des
ursprünglichen Erlebnisses. Er entgegnet dem Einwand Adornos, indem
er schreibt:

Die kindliche Erfahrung des Geschmacks der Madeleine, die Proust eines Tages
involontairement wieder ins Gedächtnis tritt, war in der Tat unbewußt. Nicht
wird es der erste Bissen in die erste Madeleine gewesen sein. (Kosten ist ein Be-
wußtseinsakt.) Wohl aber wird das Schmecken unbewußt in dem Maße als der
Geschmack vertrauter wurde. Das ›Wiederschmecken‹ des Herangewachsenen
ist dann, natürlich, bewußt.33

Wie Henning Teschke bemerkt, hatte Benjamin gute Gründe, an dieser


Vorstellung festzuhalten; sonst ginge nämlich

senses of the word«, und macht dabei auf »the ambivalence of Breton’s poetics«
aufmerksam, »[which] becomes apparent when one realizes that the manifesto is
suffused with a poignant nostalgia for the wasted potentialities of childhood«.
Beaujour zitiert dabei Breton, wenn er schreibt: »The mind that delves into sur-
realism lives again rapturously the best part of its childhood.« Beaujours Fazit:
»This is tantamount to confessing that automatism was in effect a specialized
mnemonic device which enabled the poet to step back at will into the euphoria
of childhood.« Michel Beaujour: »Memory in poetics«. In: Haverkamp / Lach-
mann: Memoria, 9–17; hier 10f..
31 Um vorzugreifen: Dass das Vergessen einen Vorgang darstellt, dem ein Moment
der Verwandlung innewohnt, muss betont werden. Man vergleiche in diesem
Zusammenhang Bettine Menkes auf Benjamins Proust-Essay bezogenes Wort
vom »Werk des Vergessens«. Menke schreibt: »Der Begriff des Vergessenen
benennt hier nicht ein substantielles, sondern ein strukturelles Moment der
Textu(r)alität.« (Menke: Sprachfiguren, 341)
32 Adorno würde eine solche Dialektik in den Zusammenhang einer »Theorie
der Verdinglichung« weiter reflektieren, so sein Brief an Benjamin. Adorno,
Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, 417f.
33 Brief von Benjamin an Adorno vom 7.5.1940. In: Briefwechsel 1928–1940, 426.

250
die entscheidende Differenz von willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung
als Dialektik von Altem und Neuem, die ins Zentrum der Ästhetik Prousts
führt, verloren. Ein Vergessen in allem Gewahren, ein Unsichtbares in allem
Sichtbaren, ein Abwesendes in allem Anwesenden zu lozieren, heißt jeden Au-
genblick hin auf das, was in ihm für das Ich nicht gegenwärtig wurde, zu öff-
nen.34

Dies ist auch für Benjamins geschichtsphilosophischen Erlösungsgedanken


von konstitutiver Bedeutung, der bestimmt ist vom Telos eines integralen
Bildes der Vergangenheit, das wiederum der Gegenwart eine Zukunftsper-
spektive eröffnet: Jede Gegenwart
bleibt [...] auf einen zukünftigen Moment bezogen, der das Nichtgesehene als
Bild in der Virtualität des Vergangenen entdeckt. Das integrale Bild eines Au-
genblicks übersteigt das Abbild, welches das Bewußtsein von ihm, als er real
vorfiel, davon trug, bei weitem.35

Vor diesem gedanklichen Hintergrund ist es in der Tat notwendig, an


der Vorstellung festzuhalten, dass das, was sich im Akt des Eingedenkens
einstellt, ursprünglich unbewusst war. So wird das Vergessen – das zeigte
sich im Gleichnis des Teppichs, dessen Zettel aus Vergessenem besteht –
paradoxerweise zu einem Vergessen des nie bewusst und ganz Wahrge-
nommenen. Oder, wie Teschke sagt, paradoxerweise »zur Bedingung von
Erfahrung«,36 aber einer im ›Einfall‹ der unwillkürlichen Erinnerung erst
gemachten. Solche ›Einfälle‹, solche Bilder »waren nie gewesen, bevor sie
erinnert wurden«.37
Man vergleiche die Qualität solcher Einfälle mit dem scheinbar Unbe-
kannten, das in der Bildersprache von Rilkes Malte als Seetang erscheint,
der an einer versunkenen Sache auf einmal auftaucht. Es ist, wie Mal-
te sagt, »wie neu«, ja »neuer fast als zur Zeit des Verlustes«. Das Wort
›Verlust‹ impliziert ehemaligen ›Besitz‹; diese Passage wirft also, wie ich
bereits andeutete, dasselbe Paradoxon auf wie Benjamins Vorstellung vom
Vergessen nie gesehener Bilder, verkörpert doch das, was an der ›Sache‹
dranhängt wie nasser Tang, »Leben, von denen man nie erfahren hätte«,
aber eben Leben, die einen Teil des eigenen Lebens darstellen. Das ›Ding‹,
das plötzlich daliegt, ist ›nie Erfahrenes‹ aus der eigenen Kindheit.

34 Henning Teschke: Proust und Benjamin: Unwillkürliche Erinnerung und dia-


lektisches Bild, Würzburg 2000, 26.
35 Teschke: Proust und Benjamin, 26.
36 Teschke: Proust und Benjamin, 26.
37 Teschke: Proust und Benjamin, 26.

251
In seinem Proust-Essay schreibt Benjamin über die Qualität der »frei-
steigenden Gebilde der mémoire involontaire« und bezeichnet sie dabei als
»zum guten Teil isolierte, nur rätselhaft präsente Gesichtsbilder« (II, 323).
Deswegen müsse man, um
dem innersten Schwingen in [Prousts] Dichtung sich wissend anheimzugeben,
in eine besondere und tiefste Schichte dieses unwillkürlichen Eingedenkens sich
[...] versetzen, in welcher die Momente der Erinnerung nicht mehr einzeln, als
Bilder, sondern bildlos und ungeformt, unbestimmt und gewichtig von einem
Ganzen so uns Kunde geben wie dem Fischer die Schwere des Netzes von
seinem Fang. Der Geruch, das ist der Gewichtssinn dessen, der im Meere der
temps perdu seine Netze auswirft. Und seine Sätze sind das ganze Muskelspiel
des intelligiblen Leibes, enthalten die ganze, die unsägliche Anstrengung, diesen
Fang zu heben. (II, 323f.)

Einiges an dieser Passage ist im Kontext der vorliegenden Arbeit bemer-


kenswert. Als Erstes verweise ich auf die Ähnlichkeit zwischen Benjamins
Bild des Fischers, dem die Schwere des Netzes von der verborgenen Prä-
senz eines gewichtigen, aber unbestimmten Fangs kundtut, und einem in
Musils Verwirrungen verwendeten: einem Bild zur Beschreibung des von
Törleß gemachten Versuchs, dem Phänomen jener ›für Verwirrung sorgen-
den‹ ›unbestimmten Sinnlichkeit‹ ›verstandesgesetzmäßig‹ beizukommen.
Wie es hieß, ergeht es Törleß dabei »wie einem Fischer [...], der zwar am
Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen
ist, aber trotz aller Anstrengungen nicht vermag, sie ans Licht zu heben«.38
Es kommt ihm so vor, als habe er »einen Sinn mehr [...] als die anderen,
aber einen nicht fertig entwickelten, einen Sinn, der da ist, sich bemerkbar
macht, aber nicht funktioniert« (6, 89). Im Laufe meiner Interpretation
der Verwirrungen hatte ich hierin Anklänge an das dem Roman vorange-
stellte Motto entdeckt: das Maeterlinck’sche Wort, das im Kontext einer
im Roman thematisierten Sehnsucht nach mystischer Vereinigung die Un-
erreichbarkeit Gottes – als ›Gegenstand‹ einer solchen Vereinigung – auf
dem Wege des Bewusstseins thematisiert. Dazu bedürfe es eines anderen
Sinnes, über den Törleß zwar in rudimentärer Form verfüge, der aber
(noch) nicht ›funktioniere‹, so der Text. Ich hatte in diesem Bild aber
auch den Ausdruck für keimende sexuelle Regungen eines Heranreifenden
gesehen, die (noch) nicht ins Bewusstsein vorgedrungen und daher auch
nicht ›verstandesgesetzmäßig‹ zu fassen seien. Die Verwirrungen enthalten

38 Musil: Werke 6, 88.

252
eine ganze Reihe weiterer Metaphern, die sich in diesem doppelten Sinne
auslegen lassen. Ich möchte aber bei diesem Bild verweilen, weil es so weit-
reichende Korrespondenzen mit dem von Benjamin verwendeten aufweist
und zudem in einem sinnstiftenden Bezug zu der oben zitierten Reflexion
Maltes über die zwei Formen des Erinnerns steht.
Wie ich bereits konstatierte, entspricht der in Maltes Reflexion aufge-
stellten Entgegensetzung von ›immer wieder geholten‹, dem Bewusstsein
mehr oder weniger verfügbaren Erinnerungen, die als solche »müde sind
von zu oftem Erinnern«, und unbekannten, sich plötzlich ›einstellenden‹
Prousts bzw. Benjamins Unterscheidung zwischen mémoire volontaire und
mémoire involontaire. In Benjamins Bild stellt der gewichtige Fang den ver-
muteten Schatz an (nur) unwillkürlich Erinnerbarem dar, dessen Existenz
man an der Schwere des Fischernetzes erkennt, das aber zu heben – ganz
und gar ans Licht zu heben – auch die Kunst der Poesie nicht schafft.
Ihre (will heißen Prousts) fast unerschöpfliche Mühe gelte jedoch diesem
Versuch, so Benjamin.39 Wenn dieser den ›Gewichtssinn‹ (will heißen:
den Sinn, der empfänglich ist für einen solch gewichtigen Fang) dem Ge-
ruchssinn gleichsetzt, spielt er auf das in Prousts Romanzyklus zelebrierte
Madeleine-Erlebnis an. Der Geruchssinn ist denn auch eines der bevor-
zugten Organe, mit Hilfe derer der Proust’sche Erinnernde auf der Suche
nach der temps perdu ›angeln geht‹.40
Nun steht das Musil’sche Bild des Fischernetzes im Rahmen einer an-
ders gearteten Dichotomie; es ist nämlich vor dem Hintergrund der Ent-

39 Rainer Warning behauptet, »die Poetik der ›mémoire involontaire‹« kenne »Ver-
sprachlichung als Problem nicht«: »Das Erinnerte ist gegeben als ›réel retrouvé‹
und harrt nur noch der sprachlichen Fixierung.« (Warning: Vergessen, 171.)
Die Erinnerungen an Albertine, die im Zeichen der zweiten, wenn man so
will, subversiven Poetik des Romans stehen, entziehen sich der Semiotisierung,
so Warning (171). Wie ich meine, übersieht Warning das Element des Flüch-
tigen, des schwer Einholbaren, das sich in Marcels unwillkürlichen Erinnerun-
gen manifestiert – wie ich vermute, im Interesse einer möglichst eindeutigen
Kontrastierung der zwei in Prousts Romanzyklus ausgemachten Poetiken. Auch
die unwillkürlichen Erinnerungen Marcels, die im Dienste der – um mit War-
ning zu reden – ›offiziellen Poetik‹ des Romanzyklus stehen, entziehen sich ein
Stück weit der ›Semiotisierung‹, der Törleß in Bezug auf das ›tief am Grunde
Erzitternde‹ auch nicht gelingt. Im übrigen erinnert diese räumliche Metaphorik
an die geologische Metaphorik in Prousts Roman: Beides siedelt das sich der
Sprache Entziehende in der Tiefe an.
40 Vgl. in diesem Zusammenhang Peter Szondi: »Hoffnung im Vergangenem.
Über Walter Benjamin«. In: Peter Szondi: Satz und Gegensatz. Sechs Essays,
Frankfurt/Mn. 1964, 79–97; hier 89.

253
gegensetzung eines ratioïden und eines nicht-ratioïden Erkenntnismodus
bzw. zweier durch den einen bzw. den anderen erschließbaren Daseinswei-
sen zu erfassen. Aber diese Dichotomie weist signifikante Ähnlichkeiten
mit der von Benjamin bzw. Rilke – oder vielmehr Malte – aufstellten auf.
Überdies ist diese wie jene mit einer Wertung behaftet. In den Verwirrun-
gen formuliert sich diese besonders deutlich in einigen mit dem Gleichnis
vom Fischernetz verwandten Bildern, die einer Zelebrierung des ›Nicht-Ra-
tioïden‹ gleichkommen und dabei frappante motivische Ähnlichkeiten mit
Benjamins auf die Erinnerungsthematik gemünzte Bildlichkeit aufweisen.
Man vergleiche das Musil’sche Bild von der »sich in die Finsternis hi-
nein erstreckenden Dünung«, von der »nur einzelne losgelöste Teilchen
an den Felsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen, um gleich
darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken« (90), mit
Benjamins Bild vom Fischernetz. Und man bedenke dabei, dass Benja-
min im Bild des Teppichs die mémoire involontaire der Nacht zuordnet.
Ähnlich in Gehalt und Topologie Musils Bild vom Erdbeben »ganz tief
am Grunde, das gar keine merklichen Wellen warf und vor dem doch
die ganze Seele so verhalten mächtig erzitterte, daß die Wellen selbst der
stürmischsten Gefühle daneben wie harmlose Kräuselungen der Oberfläche
erscheinen« (6, 90). Das Wesentliche, das Wahrhafte, das Wirkliche ist das
Versunkene, das dem Licht, der Oberfläche, dem Bewusstsein Abgekehrte:
sei es als nicht willentlich ›Abrufbares‹ oder sprachlich nicht Benennbares.
An einer Stelle spricht Benjamin selbst von Prousts A la recherche du temps
perdu als dem Ergebnis einer »Versenkung des Mystikers« (II, 310). Im
Gleichnis vom Fischernetz, das Benjamin verwendet, um dieses Werk zu
charakterisieren, klingt denn auch die mystische Vorstellung an, wonach
erst mit dem Ausschalten des vom Willen gesteuerten Bewusstseins – man
vergleiche Benjamins Wort vom ›zweckverhafteten Erinnern‹ – sich der
Weg für die unio mystica öffne. Ulrichs Beschwörung des ›Mondnächti-
gen‹ als Sphäre des ›Nicht-Ratioïden‹ passt zum beiderseitigen Zelebrieren
dessen, was sich der willkürlichen Geistestätigkeit entzieht, der Ratio un-
zugänglich bleibt.
Doch zurück zu Benjamins Gleichnis vom Fischer mit dem gewich-
tigen Fang, das mit folgendem Satz schließt: »Und seine [Prousts] Sätze
sind das ganze Muskelspiel des intelligiblen Leibes, enthalten die ganze,
die unsägliche Anstrengung, diesen Fang zu heben.«41 Diese poetologi-

41 Zum Bilde Prousts, II, 323.

254
sche Aussage scheint das ›Heraufholen‹ des Schatzes an alledem, was mit
dem unwillkürlich Erinnerten verbunden ist, zum Auftrag zumindest der
Proust’schen Dichtung zu deklarieren. Das Bild, das Benjamin benutzt,
um diesen Auftrag zu formulieren, scheint zunächst in Widerspruch zu
stehen zu der Natur eines solchen Auftrags, denn den unwillkürlichen
Erinnerungen selbst kommt man per definitionem mit noch so kraftvollem
›Muskelspiel‹ nicht bei. Benjamin meint wohl auch hiermit nicht das Mo-
ment des Erinnerns selbst, sondern den Prozess des Nachspürens solcher
Erinnerungen und des hiermit einhergehenden In-Sprache-Bringens all der
daran geknüpften Erinnerungen, die aus dem Bereich der unwillkürlichen
Erinnerung Zugang finden sollen zum Bewusstsein.42 Malte benutzt Voka-
beln zur Beschreibung des ihm selbst gestellten Auftrags, die einen ähnli-
chen Prozess suggerieren. Das Wort vom ›Wiederleisten‹ der Kindheit, aber
auch das Reden über die »harte[...] Arbeit« (VI, 944), die Malte angesichts
eines solchen Auftrags bevorstehe, lässt die ›noch nie Erfahrenem‹ aus der
Kindheit geltende Erinnerungsarbeit, – eine Arbeit, die bei solchen ›verlo-
renen Besitztümern‹ ansetzt wie den auf der Bettdecke plötzlich entdeckten
–, zu einer Art »Muskelspiel des intelligiblen Leibes« werden. Bezogen
auf Marcels extensiven Versuch, einem (flüchtigen) Geruch ›auf die Spur‹
zu kommen, veranschaulicht dieses Bild den nie sich erschöpfenden, da
nie das Ziel ganz erreichenden Prozess der Signifikation, einen Prozess,
der eben unsäglich anstrengend ist, bei dem ein solches ›Muskelspiel‹ ir-
gendwann an die Grenzen des Sagbaren, sprich Erinnerbaren gerät. Solche
Metaphorik eignet sich ebenso gut dazu, Törleß’ nur bedingt erfolgreiche
Suche nach Wegen aus der Verwirrung zu charakterisieren.

3.1.3. Dialektik des Vergessens – Dialektik der Vergegenwärtigung:


zum Telos Rilke’schen und Benjamin’schen Erinnerns
Solche Vokabeln erfassen aber weder das Wesentliche am dichterischen
Geschehen, das in das Telos der Aufzeichnungen münden soll, noch das
Wesentliche an der poetologisch determinierten Vision, die die Puppen-
motivik entfaltet. Rilkes, aber auch Benjamins ›Poetik der Vergegenwär-
tigung‹ wohnt ein Moment inne, das dem Erinnern – welcher Art auch
immer – geradezu widerstrebt: das Vergessen. Auch dieses verlangt gebüh-

42 Bezüglich des komplexen Zusammenhangs von Erinnerungen und deren ›Ver-


schriftlichung‹, den ich hier nur streifen kann, siehe u.a. Menke: Sprachfiguren,
333ff..

255
rende Aufmerksamkeit. Im Kontext solcher Visionen gewinnt das Wort
von einer ›Dialektik des Vergessens‹ einen neuen, Adornos anfängliche
Verwendung der Formel transzendierenden Sinn. Ich komme in diesem
Kontext auf das poetologische Credo zurück, das Malte in einer relativ frü-
hen Aufzeichnung verlautbart. Wie es heißt, bezogen auf seine bisherigen
dichterischen Produkte:

[...] Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug),
– es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen,
Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die
Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich
auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können an Wege in unbekannten
Gegenden, an unerwartete Begegnungen und Abschiede, die man lange kommen
sah, – an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt sind, [...] an Kinderkrankheiten,
die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an
Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer
überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch dahinrauschten und mit allen
Sternen flogen, – [...] Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte, von
denen keine der andern glich, an Schreie der Kreißenden und an leichte, weiße,
schlafende Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei Sterbenden muß
man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen
Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, daß
man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und
man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn
die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns,
Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst,
erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort
eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht. (VI, 724f.)

Der Stoff, aus dem Verse ›gemacht‹ werden, sind also die Erinnerungen an
frühere eigene Erfahrungen sowie an die anderer: nicht nur anderer Men-
schen, sondern auch Vögel, Blumen. Das Vergessen solcher Erfahrungen
ist Maltes Credo nach notwendig, um sie »Blut [...] in uns« werden zu
lassen, »Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden
von uns selbst«. Zunächst kann von einer ›Dialektik des Vergessens‹ im
Sinne von Adornos auf Proust gemünztem Wort die Rede sein, und zwar
insofern als es sich hierbei um ein Vergessen von bewusst Erfahrenem, von
Erfahrungen, an die man »zurückdenken können (muss)«, und das heißt
eben auch ›zurückdenken kann‹. Aber Vergessen bedeutet hier mehr als
nur die ›systembedingte‹ Voraussetzung für ein dialektisch determiniertes
Erinnern; vielmehr stellt es einen Verwandlungsprozess dar: »Die Erinne-
rungen selbst sind es noch nicht«, so Malte. Was Malte beschreibt, wenn
er fordert, diese mögen »Blut werden in uns, Blick und Gebärde«, ist eine

256
Art Assimilation von Erfahrungen und Erinnerungen an Erfahrungen, die
zu einer Zurücknahme ihrer bewusstseinsmäßigen Verfügbarkeit führt.43
In dieser Hinsicht ähneln sie jenen Erinnerungen, die mit dem Begriff der
mémoire involontaire zu erfassen sind. In diesem Sinne Maltes Worte: »[...]
man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen.«
Wie bei Proust sind solche Erinnerungen, auf die man warten muss, der
Stoff, aus dem Dichtung entsteht. Aber Malte eigentümlich ist eben die
Vorstellung, dass daraus Dichtung erst werden kann, wenn solche Erinne-
rungen einen Verwandlungsprozess vollzogen haben: Erst dann »kann es
geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses
aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.«44 In der Vorstellung von
dichterischer Entwicklung in der Form, die sie in den soeben erörterten
Reflexionen Maltes annimmt, manifestiert sich das Vereinigungstreben,
das Maltes Pariser Zeit und den danach eingeschlagenen Weg zur dichteri-
schen Reife bestimmt: Nicht nur die eigenen Erfahrungen von einst sollen
›einverleibt‹ werden, sondern auch die anderer. Maltes mittels der Empa-
thie erfolgende ›Assimiliation‹ einer Reihe von Gestalten während seines
Pariser Aufenthalts entspricht dem Appell, in den Maltes Credo mündet.
Anklänge an die Evokation von ›Weltinnenraum‹ werden laut, wenn Malte
zudem fordert, man müsse »fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde
wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen«. Verkürzt
gesagt: Diese Gebärde soll zur eigenen werden. Erst dann steht »das erste
Wort eines Verses auf«.
Der Puppenessay und die mit ihm verwandten Dichtungen entfalten
eine ähnliche ›Dialektik des Vergessens‹, aber eine gegenüber der in Mal-

43 In der Forderung, Erfahrungen mögen »Blick und Gebärde« werden, findet


man die Vorstellung einer Art Verleiblichung von Erfahrungen. Diese stellt das
Gegenteil der Vorstellung eines somatischen Gedächtnisses dar, an das Erfah-
rungen verknüpft sind, die im Zuge der Wiederkehr bestimmter körperlicher
Bewegungen bzw. Befindlichkeiten erinnert werden. In Prousts Romanzyklus
löst z.B. Marcels Wahrnehmung der unebenen Pflastersteine des Baptisteriums
von San Marco eine Erinnerung auf diese Weise aus. (vgl. Recherche IV, 451).
44 Wie ich meine, betont Harald Weinrich zu sehr den Zeitfaktor als Motor
der Verwandlung im Prozess des Vergessens und unwillkürlichen Erinnerns
bei Proust. Vgl. Weinrich: Lethe, 193. Die von Weinrich vorgenommene Ver-
knüpfung des »willkürlich-banalen Gedächtnis[ses]« mit dem »unwillkürlich-
poetischen«, wobei Ersteres sich durch »dauerhaftes Vergessen« in Letzteres
verwandele, scheint mir nicht gegeben zu sein. Vgl. Weinrich: Lethe, 193.

257
tes Credo sich manifestierenden sogar gesteigerte. Sie findet Gestalt in
Bildern, die das Telos der dichterischen Entwicklung in den Aufzeichnun-
gen bestimmen: allen voran das Bild des Spiegels, der Bespiegelung. Die
Steigerung einer ›Dialektik des Vergessens‹ in den der Puppe gewidmeten
Dichtungen betrifft Form und Bedeutung, die das Moment der Verwand-
lung dabei erhält, und diese wiederum drückt sich aus in der Form und
Bedeutung, die Spiegelung hierbei annimmt. Das wesentliche Moment in
der Entwicklung, die der Verfasser des Puppenessays und die Puppe seiner
Kindheit in ihrer Beziehung zueinander erfahren, ist die Verwandlung in
der Qualität der rezeptiv-reflektorischen Funktion, die die Puppe für das
Kind erhält. Die ›Dialektik des Vergessens‹, die der Puppenmotivik und
den ihr gewidmeten Dichtungen innewohnt, betrifft diese Verwandlung.
Stellte die Puppe in Form eines ›Puppen-Dings‹ als prekäre Projektions-
fläche für Regungen, Gefühle, Erlebnisse des Kindes einen unzuverlässigen
Spiegel dar, der im Moment der unvermeidlichen, weil entwicklungsbe-
dingten Entzweiung – des ›Wendens‹ des Kindes im Sinne der 8. Duine-
ser Elegie – ›mit der Hälfte des Daseins abstürzt‹, so vermag die Puppe
nach einer Zeit des Vergessens – eines Vergessens, das Erfahrenem aus
der Kindheit und mit ihm der Puppe selbst gilt –, in der verwandelten
Form der ›Puppen-Seele‹ die ›Scheinfrüchte‹ der Kindheit in den Erwach-
senen ›flüchtig hinein- bzw. zurückzuspiegeln‹. Verkörpern die Falter, die
für einen Augenblick vernommen werden, bevor sie für immer Abschied
nehmen, die bald wieder hinschwindenden Erinnerungen an in der Kind-
heit Erfahrenes und Gefühltes, so verkörpert die Larvenzeit die Zeit des
Vergessens: die Zeit zwischen dem entwicklungsbedingten, sich plötzlich
einstellenden Desinteresse am stummen Gegenüber als vorläufigem Gefäß
für Projiziertes und der Wiederbegegnung mit der Puppe in ›er-wach-sener‹
Gestalt, wenn der Mensch, der Dichter reif ist für den Rückblick, die
Rückspiegelung: die Herstellung, wenn auch nur flüchtig, von ›gespann-
testem Bezug‹ mit der in idealem Sinne rezeptiv-reflektorischen Gestalt
der Puppe. Benjamin hegt die Vorstellung, dass ›dialektische‹ Bilder »erst
in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen«. Die ›Jetztzeit‹, in der
solche Bilder ›aufblitzen‹, ist die »Zeit der Wahrheit« (V, 577f.). Für solche
›dialektischen‹ Bilder, die in Benjamins Vorstellung eines Tages auf einmal
›lesbar‹ werden, gilt dasselbe wie für die Falter: sie ›blitzen‹ »auf Nimmer-
wiedersehen im Moment [ihrer] Erkennbarkeit« ›auf‹. Die Wahrheit, die
diese Bilder verkörpern, ist »vergänglich«: »ein Hauch [rafft] sie dahin« (I,
1247). Auch wenn er sich einem anderen Telos verschreibt und das Wort
›Wahrheit‹ eine entsprechend andere Bedeutung erhält als bei Rilke: Ihre

258
Visionen von Vergegenwärtigung weisen einige weitgehend vergleichbare
Konstituenten auf.45
Bei aller Differenz in Bezug auf Telos und Gehalt dieser Vorstellung
weisen Benjamins und Rilkes Visionen auffällige Parallelen auf, entfalten
sie doch eine ähnliche Dialektik von Vergessen und Vergegenwärtigung.
Doch auch die Divergenzen sind signifikant. Die Tatsache, dass die ›er-
wachs-ene‹ Puppe in Rilkes Essay eine ganz andere Gestalt besitzt als die
Puppe aus der Kindheit deutet auf wesentliche Unterschiede in der Form,
die das Erinnern als ein Wiederbegegnen mit den Kindheits-Dingen bzw.
den Schauplätzen der Kindheit bei Benjamin und Rilke mitunter annimmt.
Oft ›liest‹ Benjamin Kindheitserinnerungen an den realen ›Dingen‹ seiner
Kindheit ab – den Loggien, der Siegersäule, der Markthalle. Es gibt denn
auch viele aufsuchbare Kindheits-›Dinge‹, – ›Denkmäler‹ an die Kindheit,
darunter auch Denkmäler im wörtlichen Sinne wie die Siegessäule –, die
durch das kreative Missverstehen des Kindes eine neue, von der eigentüm-
lichen Perspektive des Kindes determinierte Semantik entwickeln.46 Die

45 Vgl. in diesem Zusammenhang Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augen-


blick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/Mn. 1981.
46 Vgl. Assmanns Ausführungen zu räumlichen Gedächtnis-Metaphern in: Ass-
mann: Metaphorik der Erinnerung, 14ff. Signifikant in diesem Zusammenhang
ist Assmanns Unterscheidung zwischen »räumlich orientierten« und »zeitlich
orientierten Gedächtnismetaphern«. Sie schreibt: »Wo Gedächtnis im Hori-
zont des Raumes konstituiert wird, steht die Persistenz und Kontinuität der
Erinnerungen im Vordergrund; wo das Gedächtnis im Horizont der Zeit kon-
stituiert wird, stehen Vergessen, Diskontinuität und Verfall im Vordergrund.
An die Stelle einer durch technische und materielle Supplemente gesicherten
Stabilität tritt die prinzipielle Unverfügbarkeit und Plötzlichkeit der Erinnerun-
gen. Sie spiegeln nicht mehr Gewußtes und Bekanntes wider, sondern werden
zum Einfallstor für das Neue.« (22) Insofern als die Schauplätze und Dinge der
Kindheit Stabilität sichernde ›materielle Supplemente‹ darstellen, machen sie die
Erinnerungen an diese Zeit jederzeit verfügbar: Man muß sie nur aufsuchen. In
Assmanns Charakterisierung zeitlich orientierter Gedächtnismetaphern erkennt
man die Konstituenten von Benjamins messianischem, fast wortgleich formu-
liertem Erinnerungsbegriff; signifikanterweise nimmt Assmann diese Unter-
scheidung im Kontext ihrer Ausführungen über eschatologische Erinnerung vor.
Ich kann auf das, was die Schauplätze und Dinge der Kindheit von ›materiellen
Supplementen‹ im Sinne Assmanns unterscheidet, hier nicht eingehen, aber das
Nachdenken darüber wirft zwei kritische Fragen auf, die ich auf Grund der ge-
botenen Fokussierung der Erinnerungsthematik auf die Themenstellung dieser
Arbeit unbeantwortet lassen muss: Die eine betrifft das Verhältnis von indivi-
duellem und kollektivem Gedächtnis in der Konzeption und Durchführung des
Projekts Berliner Kindheit, die andere das Wesen von Erinnern in diesem Werk:
inwiefern es konform ist mit Benjamins messianischer Vorstellung von Erin-
nerung, für die, wie noch erörtert wird, das Moment der Diskontinuität, der

259
›entstellte‹ Bedeutung solcher steinernen Denkmäler, sprich festgehalte-
ner kollektiver Erinnerungen, kann später nachvollzogen, am betreffenden
Denkmal erneut ›abgelesen‹ werden. Aspekte einer solchen am ›Inventar‹
der realen Kindheits-Dinge orientierten Dichtung sind auch bei Rilke zu
finden, unter anderem in manchen der hier behandelten Dichtungen.
Rilkes Puppenessay speist sich jedoch, wie der Dichter selbst in einem
Brief verrät, aus einem ›Vorwand‹: den bizarr anmutenden erwachsenen
Frauengestalten der Pritzelschen Puppensammlung. Dieser ›Vorwand‹
nimmt Verwandlung vorweg, versteht der Dichter diese Gestalten doch
als ›aufgewachsenes‹ Kinderspielzeug. Dem Benjamin’schen ›Lesen‹ der
Dinge und Schauplätze, an denen Kindheit sich festmachte, fehlt diese
Dimension. Dem Telos, das diesem Akt des ›Lesens‹ zu Grunde liegt, auch.
Allerdings steht Benjamins Vorstellung eines ›Lesens‹ der Vergangenheit
durchaus im Zeichen der Verwandlung, wohnt ihr doch – wie noch zu
zeigen ist – ein Verwandlungsmoment inne, das sich als konstitutiv für
seine geschichtsphilosophischen Gedanken erweist. Doch zurück zu Ril-
kes Puppenessay. Das, woran man im Sinne dieses Textes Kindheit hätte
›ablesen‹ können, verliert im Zuge seiner Verwandlung zunehmend an
Materialität. Es bleiben nach der Metamorphose lediglich »kleine Seufzer«
übrig, die »so dünn sind, daß für sie unser Ohr nicht mehr ausreichte«.47
Verwandlung heißt letztlich (nur allzu) flüchtiges Gestalt-Annehmen von
nie zuvor bewusst erlebten Gefühlen aus der Kindheit. Wie es in der Vision
des Puppenessays heißt: im Moment des fast gleichzeitigen Aufstehens und
Hinschwindens der Falter, ihres sich Verzehrens in der Flamme »müßte
der augenblickliche Geruch ihres Aufbrennens uns mit grenzenlosen, nie-
gewußten Gefühlen überfluten«.48
In dieser Vorstellung eines plötzlichen Wahrnehmens ›niegewusster Ge-
fühle‹ erkennt man zwei wesentliche Momente der mémoire involontaire,
wie sie Benjamin auffasst: die Qualität des Noch-nie-(bewusst) Erfahrenen
und die des plötzlichen Aufblitzens. Ich erinnere in diesem Kontext an

Plötzlichkeit und das Neue konstitutiv sind. Vgl. in diesem Kontext Warning,
der in räumlichen Metaphern, die das Phänomen der Proust’schen mémoire in-
volontaire fassen, auch die »zeitliche Sukzessivität von Eindrücken« ausgedrückt
findet. Die Verfügbarkeit von solchen räumlich ›gelagerten‹ Erinnerungen wird
hinfällig, wenn die ›Fundorte‹ in Vergessenheit geraten; solche Erinnerungen
erfahren aber im quasi-religiösen Sinne eine ›resurrection‹, so Warning, die sie
›neu‹ macht. (Warning: Vergessen, 162.)
47 Rilke: Werke VI, 1074.
48 Rilke: Werke VI, 1074; Hervorhebung der Vf..

260
das Vorbild für unwillkürliches Erinnern im Proust’schen Sinne, nämlich
das von einem Geruch ausgelöste Madeleine-Erlebnis. Stellt man dieses
Erlebnis in den Kontext dieses visionären, vom Puppenessay entfalteten
Bildes, so kommt das Divergierende an der Qualität, die das Erinnern
jeweils erhält, in sehr anschaulicher Weise zum Vorschein. In Bezug auf
Proust hatte Benjamin geschrieben: »Der Geruch, das ist der Gewichtssinn
dessen, der im Meere der temps perdu seine Netze auswirft.«49 In der
Madeleine-Episode nimmt der Geruchssinn die Spur auf: Er wittert etwas,
das aber, weil »bildlos und ungeformt, unbestimmt«, sich schlecht fassen
lässt. Aber indem das ganze »Muskelspiel des intelligiblen Leibes« bemüht
wird, versucht man, dem beizukommen: ›Dem‹ heißt hier die Erfahrung
einer in der Kindheit gekosteten Madeleine-Torte und die zuvor verlo-
rengegangenen Erinnerungen an Kindheitstage, die man mit dem Genuss
dieses Gebäcks verknüpfte. In der Rilke’schen Vision transportiert der Ge-
ruch der aufbrennenden Falter ›grenzenlose‹ Gefühle der Kindheit, die uns
›überfluten‹: niegewusste, weil nicht bewusst erlebte bzw. erlebbare Gefühle
des Einsseins von Ich und Welt. Diese Vision führt eine augenblickliche
Vereinigung der Lebenszeiten herbei; ein Bezug zwischen Einst und Jetzt
wird durch die Vergegenwärtigung der unbewussten Erfahrung von Eins-
sein hergestellt, aber diese Vergegenwärtigung erfolgt wohlgemerkt durch
die Erinnerung an eine solche Erfahrung vom Standpunkt des ›gewendeten‹
Erwachsenen aus. Die ›senkrechte Zeit‹ blitzt auf.50

49 Zum Bilde Prousts, II, 323.


50 Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit. Auf den komplexen Aspekt der Zeit, der für
Benjamins und Prousts wie für Rilkes Dichten und Denken von besonderer
Bedeutung ist, kann ich hier nicht ausführlich eingehen. An dieser Stelle möchte
ich aber einige, wenn auch etwas verkürzt erscheinende, so doch anregende
Bemerkungen Peter Szondis anführen, die das Thema in Bezug auf Differenzen
zwischen Benjamins und Prousts Verhältnis zur Zeit und zur Vergangenheit
umreißen. Wie Szondi resümiert: »Proust sucht die Vergangenheit, um in deren
Koinzidenz mit der Gegenwart [...] der Zeit zu entrinnen, und das heißt vor
allem: der Zukunft, ihren Gefahren und Drohungen, deren letzte der Tod ist.
Benjamin dagegen sucht in der Vergangenheit gerade die Zukunft.« Und noch
knapper: »Proust horcht auf den Nachklang der Vergangenheit, Benjamin auf
den Vorklang der Zukunft, die seitdem zur Vergangenheit geworden ist.« (Szon-
di: »Hoffnung im Vergangenen«, 88f.) Was Rilke betrifft, ist die Vorstellung des
Todes als der ›anderen Hälfte‹ des Lebens und somit als in die Dimension eines
erweiterten Zeithorizonts einzuschließender Erfahrung zentral. Vgl. in diesem
Sinne das oben betrachtete Gedicht »Zueigung an M«.

261
»Daß die Kindheitserinnerungen als vergangen galten, machte sie na-
hezu zukünftig:«51 Dieser Satz Maltes kann im Sinne des dialektischen
Dreistufenschemas gedeutet werden: das sich in den Aufzeichungen mani-
festiert. Gleichermaßen ›spiegelt‹ die ›nie gewusste‹ Erfahrung von Einssein
in der Kindheit im Sinne des einen oben erörterten Deutungshorizonts
die teleologische Vision einer Bespiegelung durch Gott, Einssein in Form
›gespanntesten Bezugs‹, ›vor‹.
In den Aufzeichnungen wie im Puppenessay und den mit ihm motivisch
verwandten Dichtungen wird der Spiegel zum Sinnbild für Eins- wie für
Getrenntsein. Das zeigte diese Interpretation, wie ich meine, in aller Deut-
lichkeit: Vereinigung mit dem Gegenüber, ob in Form identifikatorischer
Projektion oder der Herstellung ›gespanntesten Bezugs‹, erfolgt an diesem
›Ort‹ genauso wie Fragmentierung. In Maltes Vorstellung der Familie als
›schlechten Spiegels‹ sowie bei seinem Erlebnis vor dem Pfeilerspiegel wird
der Spiegel zum Ort der Fragmentierung. Aber der Spiegel ist nicht nur
ein Ort, an dem Bezug zwischen Ich und Gegenüber, Ich und Welt, auch
Selbstbezug hergestellt oder zerstört wird, sondern auch, wie bereits erör-
tert wurde, der Geltungsbereich der ›senkrecht stehenden Zeit‹: der Zeit,
in der Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart sich als ein Gleichzeitiges
offenbaren.52 An dieser Stelle ist noch ein Blick auf Proust zu werfen, in
dessen Werk Ich, Zeit und Erinnerung in einem dynamischen Verhältnis
erscheinen. Indem durch spontanes, unwillkürliches Erinnern Vergangenes
in die Gegenwart ›transportiert‹ wird, stellt sich eine Identität von Gegen-
wart und Vergangenheit her, eine innere Zeit, die alleine vermag – indem
sie immer wieder hergestellt wird –, das Ich zu konstitutieren. Proust setzt
die Macht des Gedächtnisses – als etwas, das Identität schafft – der des
Vergessens gegenüber, die allmählich die in uns überlebende Vergangen-
heit und dadurch auch die Basis für eine Ich-konstituierende innere Zeit
zerstört.53

51 Rilke: Werke VI, 945.


52 Vgl. Abschnitt 2.3.2. dieser Arbeit.
53 Warning sieht die Ich-konstituierende Wirkung der Poetik der mémoire invo-
lontaire eher durch die mit dieser ›rivalisierende‹ ›Poetik der Flüchtigkeit‹ unter-
miniert. Sein Resümee: »Genau dort, [...] wo mit der Erhöhung der Zeit zum
Individuationsprinzip der Schlußstein der idealistischen Poetik zu gewinnen
scheint, drängen sich all die Merkmale jener konkurrierenden Poetik in den
Vordergrund, die die narrative Praxis selbst bestimmt. Die leere Temporalität
unendlicher Projektionen, an die das Ich sich verausgabt, konfligiert mit der
euphorischen Erfahrung einer in der Innerlichkeit sedimentierenden und die
Kontinuität einer Lebensgeschichte garantierenden Zeit.« (Warning: Vergessen,

262
In Prousts Werk steht das, was H.R. Jauß bezogen hierauf das »Dop-
pelspiel zwischen erinnerndem und erinnertem Ich«54 nennt, im Dienst
eines Einholens von Vergangenem in die Gegenwart, wodurch eine solche
innere Zeit erzeugt wird. Bei Proust dient ein solches Doppelspiel dazu,
die Identität des erinnernden Ichs zu konstituieren, d.h. erkennbar zu ma-
chen. Aus dieser Möglichkeit bezieht die Proust’sche Dichtung ihre Legi-
timation. Für Proust gilt: Erinnern heißt Schreiben, und Schreiben heißt
›Ich-Erfahrung‹. Allerdings muss diese Erfahrung immer wieder von neuem
gemacht werden: durch erneutes Erinnern, erneutes Schreiben. Bei Rilke
konvergiert das Erinnern in Form eines Überflutet-Werdens von ›niege-
wussten Gefühlen‹ beinahe mit dem dichterischen Akt selbst, der diese
Erfahrung in Sprache ›fassen‹ soll. Das suggeriert die Vision, die die Verse
für Lotte Pritzel entfalten. In dieser Vision von in Dichtung verwandeltem
Gespiegeltem, das selbst, als etwas Verwandeltes, Vergangenheit, Zukunft
und Gegenwart zu etwas Gleichzeitigem macht und dem Dichtenden eine
zumindest augenblickliche Auflösung der Entzweiung bzw. Fragmentie-
rung ermöglicht, und zwar in der Erfahrung ›gespanntesten Bezugs‹, laufen
alle Aspekte, die Spiegelung in den hier behandelten Dichtungen Rilkes
entfalten, zusammen, und diese bestimmt auch den hierin zum Ausdruck
gelangenden Entwicklungsgedanken. Die Differenz zwischen ›nicht mit
Bewusstsein erlebtem‹ Einssein vor der Erfahrung der Entzweiung und der
Erfahrung ›gespanntesten Bezugs‹ jenseits dieser determiniert den dialekti-
schen Charakter solcher Entwicklung.
Eine solche Dialektik liegt auch dem in Musils Werk ausgemachten
Verhältnis zwischen den ›Sphären‹ der Kindheit, des ›Mondnächtigen‹,
des ›ursprünglichen Gleichnisses‹ einerseits und dem visionären Zustand
›tagheller Mystik‹, dem ›anderen Zustand‹, dem ›synthetischen‹ Gleichnis
andererseits zu Grunde. In Törleß manifestiert sich eine solche rückwärts-
vorwärts-gerichtete Erfahrung in Törleß’ Erleben der Dämmerung, das
sich infolge des Hereinbrechens erster sexueller Regungen vergegenwärtigt:
Im Mann ohne Eigenschaften erschließen sich solche Ahnungen von dem,
was war und sein könnte, durch Aktivierung der Erinnerung an die Qua-

193) Im Festhalten Prousts an der Widersprüchlichkeit zweier konkurrierender


Prinzipien, das des Flüchtigen und Kontingenten einerseits, das des Ewigen
andererseits kann, so Warning, »eine Aporie moderner Kunst« gesehen werden,
die Prousts Werk womöglich bewusst nicht auszulösen versucht. (Vgl. 193)
54 H.R. Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu,
Heidelberg 1970, 54.

263
lität kindlichen Erlebens nach Ulrichs Wiederbegegnung mit der zuvor in
Vergessenheit geratenen ›siamesischen Zwillingsschwester‹ Agathe. Solches
Erinnern löst den Impuls nach ›Wiedervereinigung‹ mit der Schwester aus.
Aber signifikanterweise ginge in das ersehnte Ereignis – sollte es je eine
tragbare Form finden – die Erfahrung der Gespaltenheit mit allem, was
diese beinhaltet, mit ein.
Man kann festhalten: Entwicklung, wie sie sich in Musils und Rilkes
hier behandelten Dichtungen darstellt, erhält eine Art Doppeldeterminati-
on. An diesen Dichtungen lässt sich eine Dialektik der Bewusstwerdung wie
des Vergessens ablesen. Als Bewusstwerdungsprozess obliegt Entwicklung
einer polaren, auf die Aufhebung eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses abzie-
lenden Dynamik, wie sie in Törleß’ sexuell-epistemologischen ›Verwirrun-
gen‹, Maltes Spiegelungserlebnissen und -visionen und der Puppenmotivik
in je unterschiedlicher Gestalt zum Vorschein kommt. Die ›Dialektik des
Vergessens‹, wie sie sich bei Proust und Benjamin manifestiert, operiert
nicht nach einem solch polaren Prinzip; Totalität gestaltet sich im von
Benjamin formulierten geschichtsphilosophischen Telos, in dessen Kontext
seine Auseinandersetzung mit Prousts Romanpoetik zu stellen ist, nicht in
Form der Auflösung bzw. Aufhebung einer Subjekt-Objekt-Polarität, son-
dern vielmehr in einer Vision der Fülle: der möglichst vollständigen ›Ret-
tung‹ von Vergangenem vor dem Mechanismus des Vergessens bzw. des
Unterdrückens, aber eines Vergessens, eines Unterdrückens, aus dem eine
solche ›Rettung‹ neue Kraft bezieht. Hierin liegt die dialektische Kraft des
Vergessens in Benjamin’schem Sinne. Diese rückwärts-vorwärts-gerichtete
Vision formuliert Henning Teschke, wenn er schreibt: »Als Vollendung
des Unvollendeten wird Ursprung zu Zielbegriff und Zukunft. Und selig,
weil einzig dann das ewige Nocheinmal Erfüllung, hymnisch wäre.«55 Wie
Benjamin schreibt: »Der jüngste Tag ist eine rückwärts gewandte Gegen-
wart.« (I, 1232) Aber die Formel einer ›Dialektik des Vergessens‹ beherbergt
nicht nur die Vision von Fülle, von (fast) restloser Vergegenwärtigung der
Vergangenheit. Als eine Art Komplementärprinzip zu einer Dialektik der
Bewusstwerdung, wie sie auch in den hier behandelten Werken Musils und
Rilkes zum Ausdruck kommt, bedeutet das Vergessen in diesen Dichtun-
gen auch und zunächst ein Verlorengehen der Fähigkeit, Ich und Welt als
eins zu erleben, eine Fähigkeit, die im Akt des Erinnerns zumindest flüch-
tig wiederhergestellt wird: in durch das Vergessen verwandelter Form.

55 Teschke: Proust und Benjamin, 27.

264
Bei aller Differenz im Gehalt, den Benjamins Telos der Fülle und das
im Werk Musils und Rilkes formulierte Telos ›gespannter‹, und das heißt
auf Polarität aufbauender Einheit erhalten, sind signifikante Gemeinsam-
keiten zu entdecken. Zunächst ist der Rückbezug auf die Vergangenheit
zu nennen, der in den Dichtungen, in denen das Erinnern eine wichtige
Rolle spielt, sich schon alleine aus diesem Aspekt ergibt. Im Erinnern dieser
Art öffnet sich die Möglichkeit, im Vergangenen ein ›Vor-Bild‹ für das
Zukünftige zu finden. Man denke dabei auch an Rilkes unvollendete, der
Kindheit gewidmete Elegie, die diese als ›späte Frucht‹ evoziert.56
Die Frage nach der Erfüllbarkeit solcher Visionen wie der von Benja-
min, Rilke, Musil beschworenen stellt sich hier, und die Antwort auf diese
Frage verweist auf eine weitere Gemeinsamkeit. In Benjamins »kleine[m]
methodischen Vorschlag zur kulturgeschichtlichen Dialektik«, der Vor-
stellung eines schrittweisen Einbringens der ganzen Vergangenheit in die
Gegenwart »in einer historischen Apokatastasis« (V, 573), ist die Unerfüll-
barkeit sogar in der Methode selbst angelegt, bleibt doch nach endlosem
Teilen immer wieder ein kleiner Rest von Nicht-Eingeholtem übrig. Die
Dichtungen von Musil und Rilke, die die Vision ›gespannter Einheit‹ ent-
falten, entlassen den Leser, ohne eine vergleichbare ›Methode‹ zur Einlö-
sung einer solchen Vision überhaupt bereitgestellt zu haben. Ulrichs Ver-
suche in dieser Richtung erhalten ausdrücklich experimentellen Charakter.
Malte ist am Ende der Aufzeichnungen weit davon entfernt, seinen Spiegel
zu finden, und man weiß nicht, wie das ›Ding‹ beschaffen sein muss, das
im Gedicht festhält, was sonst im Bild des Puppenessays ›hinschwinden‹
würde. Lediglich in Ulrichs Gleichnistheorie deutet sich eine ›Methode‹
an, die gegebenenfalls eine Einlösung der Törleß vorschwebenden Vision
herbeiführen könnte.
In der Vorstellung, der Dichtung komme die Aufgabe zu, im Augen-
blick der ›Vergegenwärtigung‹ von Vergangenem bereits wieder ›Hin-
schwindendes‹ zu ›retten‹, gründet eine wesentliche Gemeinsamkeit zwi-
schen den Visionen eines Benjamin und eines Rilke. Bedeutsam dabei ist
die Rolle, die man der Sprache bei der Verwirklichung solcher Visionen zu-
weist. In Anrufung eines dem herkömmlichen entgegengesetzten, sich dem
Primat der Diskontinuität57 verschreibenden Fortschrittsbegriffs schreibt
Benjamin, die Kunst, »die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum

56 Vgl. Abschnitt 2.3.3. dieser Arbeit.


57 Vgl. I, 1236: »Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinuum.[...] Auf-
gabe der Geschichte ist, der Tradition der Unterdrückten habhaft zu werden.«

265
Fortschritt ansah«, könne »dessen echter Bestimmung dienen«. Und er
erläutert: »Fortschritt ist nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern
in seinen Interferenzen zu Hause; dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten
Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.«58 Was er mit
dem ›wahrhaft Neuem‹ wohl meint, ist das dialektische Bild – das »wahre
Bild der Vergangenheit«. Wie er schreibt, »huscht [dieses] vorbei«.

Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehn im Moment seiner Erkennbarkeit eben
aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. Seiner Flüchtigkeit dankt es, wenn
es authentisch ist. In ihr besteht seine einzige Chance. Eben weil diese Wahrheit
vergänglich ist und ein Hauch sie dahinrafft, hängt viel an ihr. Denn der Schein
wartet auf ihre Stelle, der sich mit der Ewigkeit besser steht.59 (I, 1247)

An anderer Stelle heißt es in Bezug auf solche die Vergangenheit ›retten-


den‹ Bilder: »Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen
wird, läßt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar
verlornen [sich] vollziehen.«60 Eindeutig ist Benjamins Aussage bezüglich
solcher Bilder: »Nur dialektische Bilder sind echte [...] und der Ort, an dem
man sie antrifft, ist die Sprache.«61 Dass die Dichtung (auch im weiteren
Sinne des Wortes) der Gefahr eines Hinschwindens von in die Gegenwart
eingeholter Vergangenheit, – welche Form dies auch annehmen mag –, ab-
zuwenden vermag, indem sie das sonst ›unrettbar Verlorene‹ ›lesbar‹ macht,
aus ihm eben ein ›Ding‹, ein Gedicht macht, ob in Benjamin’schem Sinne
oder im Sinne der Puppenmotivik: Dichtung kann fast keine zwingendere
Legitimation erhalten.
Die wesentlichen Momente, die die Puppenmotivik bei Rilke entwi-
ckelt, entdeckt man in dem hier erörterten Gedankenkomplex. Eines davon
ist die augenblickliche Erscheinung der Falter, die im Vorgang der Meta-
morphose aus ›Altem‹ ›wahrhaft Neues‹ machen, »Noch-nicht-bewußtes-
Wissen« (Benjamin) ›lesbar‹ machen. In diesem Zusammenhang erhält der
Gefäßcharakter der Puppe einen neuen Sinn, dessen Erörterung ein (vorher
angekündigter) Blick auf die Form erfordert, die die Verwandlung von
Vergessenem infolge der Vergegenwärtigung bei Benjamin erhält. In Ben-
jamins Vorstellung einer Vergegenwärtigung von Vergangenem bedeutet
Verwandlung eine »zunehmende [...] Verdichtung (Integration) der Wirk-

58 Benjamin: Werke V, 593.


59 Benjamin: Werke I, 1246.
60 Benjamin: Werke V, 592; vgl. Werke I.3, 1247f..
61 Benjamin: Werke V, 577; vgl. u.a. Menke: Sprachfiguren, 333ff., die Benjamins
Bildbegriff in sehr differenzierter Weise erörtert.

266
lichkeit, [...] in der alles Vergangene (zu seiner Zeit) einen höheren Aktu-
alitätsgrad als im Augenblick seines Existierens erhalten kann«. Es ist von
einer »dialektische[n] Durchdringung und Vergegenwärtigung vergangner
Zusammenhänge« die Rede.62 Für die Puppenmotivik gewinnt diese Aus-
sage Bedeutung, wenn man sie in den Kontext einer Reflexion Benjamins
über Proust und die mémoire involontaire stellt. Dort heißt es: »[...] ein er-
lebtes Ereignis ist endlich, [...] ein erinnertes schrankenlos, weil nur Schlüs-
sel zu allem was vor ihm und zu alles was nach ihm kam.«63 Bezogen auf
das, was die ›Puppen-Seele‹ im Akt des Erinnerns preisgibt, heißt dies: das,
was sich ›ansammeln‹ konnte, was nicht ›abfloss‹, sammelt sich zu neuem
Sinn, zu einem neuen Sinnzusammenhang, der bei der Rückspiegelung ins
Menschliche freigesetzt wird bzw. ›aufblitzt‹. Bemerkenswerterweise wären
hierin Aspekte eines Telos der Fülle zu entdecken.
Auch Benjamins Vorstellung, dass solche Bilder eine bestimmte Zeit ab-
warten müssen, um in dieser Weise in Erscheinung treten zu können, um
»zur Lesbarkeit zu gelangen«, findet man in etwas anderer Gestalt schon bei
Rilke. Im Puppenessay fällt der Zeitpunkt, an dem ›Vergegenwärtigung‹
von Vergangenem erfolgt, der Metaphorik des Essays nach mit der Been-
digung der Larvenzeit, dem Moment der ›Entpuppung‹ zusammen; die
Larvenzeit ist die Zeit zwischen dem ›Wenden‹ des Kindes und dem Punkt,
an dem es als Erwachsener der Puppe wiederbegegnet. Für Benjamin gibt
es unzählige ›Konstellationen‹ zwischen Gegenwart und auf monadische
Weise ›rettbarer‹ Vergangenheit, die ›lesbare‹ Bilder erzeugen können:

Nicht so ist es, daß das Vergangene sein Licht auf das Gegenwärtige oder das
Gegenwärtige sein Licht auf das Vergangene wirft, sondern Bild ist dasjenige,
worin die Vergangenheit mit der Gegenwart zu einer Konstellation zusam-
mentritt. [...] Diese Bilder kommen, wie man weiß, unwillkürlich. Historie
im strengen Sinn ist also ein Bild aus dem unwillkürlichen Eingedenken, ein
Bild, das im Augenblick der Gefahr dem Subjekt der Geschichte sich plötzlich
einstellt.64

Die ›Konstellation‹, die erzeugt wird von Benjamins Berliner Kindheit und
dem »Augenblick der« – nur allzu realen – »Gefahr«, in der sich Benja-
min zum Zeitpunkt der Niederschrift befand, ist also nur eine von vielen

62 Benjamin: Werke V, 495.


63 Benjamin: Werke II, 312.
64 Benjamin: Werke I, 1242f..

267
möglichen, die zusammen auf die Einlösung eines Telos der Fülle, wenn
man so will, ›hinarbeiten‹.65
Es gibt Gründe anzunehmen, dass die ›Konstellation‹, die Rilkes Pup-
penessay herstellt, auch nur eine von vielen möglichen darstellt, dass sich
Dichten nicht, um in Benjamin’scher Weise zu sprechen, im ›Festhalten‹
dieser einen Konstellation erschöpft, sondern dass es viele solche ›Zusam-
menkünfte‹ von Vergangenem und Gegenwart geben kann.66 In Maltes

65 Aleida Assmann identifiziert in Benjamins »visionäre[m] Projekt einer ›politi-


schen Geschichtstheologie‹« zwei Formen des Gedächtnisses: das eschatologi-
sche, das »auf die messianische Zukunft oder die große Wende hin ausgerichtet
ist«, und das ›animatorische‹, das »punktuell den Kurzschluß (im Wortsinne)
zwischen Vergangenheit und Gegenwart [inszeniert]«. Benjamins Projekt »chan-
giert«, so Assmann, »zwischen eschatologischer und animatorischer Erinnerung.
Mit dem Gewicht, das [Benjamin] in den aktuellen historischen Gegenwarts-
moment legt, distanziert er sich von den zeitüberspannenden Heilsgeschichten,
wird er zeitüberspringend, punktuell, forciert er die blitzartige Erinnerung als
eine Deutungsenergie, die das Verlorene, Erstarrte, Tote zu neuem geschicht-
lichem Leben erwecken kann« (Assmann: »Metaphorik der Erinnerung, 30f.).
Ich sehe zwei mögliche Gründe für eine solche Distanzierung von den »zeit-
überspannenden Heilsgeschichten«: zum einen Benjamins Orientierung an der
jüdischen Vorstellung des ›Eingedenkens‹, durch das »jede Sekunde die kleine
Pforte [wird], durch die der Messias treten kann«. (Benjamin: Werke I, 1252),
zum anderen seine Ablehnung der marxistischen Vorstellung der ›Erlösung‹ als
›unendlicher Aufgabe‹, wodurch »sich die leere und homogene Zeit sozusagen in
ein Vorzimmer [verwandelte], in dem man mit mehr oder weniger Gelassenheit
auf den Eintritt der revolutionären Situation warten konnte« (Benjamin: Werke
I, 1231).
66 Vgl. in diesem Zusammenhang die von Benjamin auf Proust gemünzte Unter-
scheidung zwischen einer ›grenzenlosen‹ und einer ›verschränkten‹ Zeit (Ben-
jamin: Werke II, 320), wobei letztere die Qualität der ›Ewigkeit‹, »in welche
Proust Aspekte eröffnet«, bestimme. Auf diesen Aspekt von Benjamins Proust-
Rezeption geht Klaus-Peter Philippi ausführlicher ein. (Klaus-Peter Philippi:
»›Für die Katz‹?. Robert Walsers Text Der Tänzer und das paradoxe Glück
der Kunst«. In: Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70.
Geburtstag, Tübingen 1992, 107–143) Vgl. auch Philippis dem Aspekt der Zeit
geltende Ausführungen zu Benjamins Baudelaire-Studie, die die Benjamin’sche
Vorstellung von ›Vergegenwärtigung‹ in ihrem Bezug zum Begriff der ›ver-
schränkten‹ Zeit verdeutlichen: Über die Vorstellung einer Gegenwart, »in der
die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist«, schreibt Philippi, es sei
»durchaus die Qualität des mystischen ›Nu‹, [...] die Benjamin hier beruft,
aber als innergeschichtlich festgeschriebene Modalität des Erfahrens; nicht als
Einbruch einer all- und übermächtigen Transzendenz, sondern als blitzartig
aufleuchtendes Sichtbarwerden einer von der Geschichte (der Moderne) aufge-
deckten Möglichkeit der Vergangenheit« (148). Interessant in diesem Kontext
sind Kittsteiners Ausführungen über die »Geschichtsverfallenheit des Historis-
mus« und ihre »geschichtstheologische Kehrseite«. In Bezug auf Leopold von
Ranke, mit dessen Geschichtsverständnis Kittersteiner das Benjamins kontra-

268
Vorstellung tritt die Vergangenheit in ein solches Verhältnis zur Gegenwart
in Form des »ersten Wort[es] eines Verses«, das in einer »sehr seltenen
Stunde«, so Malte, »in ihrer [der Erinnerungen] Mitte aufsteht«.67 An die-
ser Stelle sei vermerkt: Auch die Erfahrung des Einsseins von Ich und Welt,
die in verwandelter Form das erste Wort eines solchen Verses hervorrufen
könnte, ist nicht dem Kind vorbehalten. Solche zu vergegenwärtigenden
Erinnerungen gelten auch bestimmten (hochgradig empathischen) Erfah-
rungen des ›gewendeten‹ Menschen, die diesem das Gefühl einer Einheit
von Ich und Welt vermitteln, wie zum Beispiel das Fühlen-Können, »wie
die Vögel fliegen«, und das Wissen »mit welcher [Gebärde] die kleinen
Blumen sich auftun am Morgen«. Solche Erfahrungen steigen mit dem
›Aufstehen eines dichterischen Wortes‹ verwandelt auf, bilden Verse wie
die folgenden im Gedicht ›Weltinnenraum‹: »Wie erkannt / sah eine Blu-
me zu dir auf. Da flog / ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft.«68
Maltes Credo nach schaffen nicht nur solche Erfahrungen, – Erfahrungen
von Einssein –, Dichtung. Nichtsdestotrotz entnimmt man den Aufzeich-
nungen sowie den anderen, hier besprochenen Dichtungen Rilkes die fast
unermessliche Bedeutung solcher Erfahrungen für diesen Dichter. Ich
erinnere in diesem Zusammenhang an Rilkes briefliche Äußerung zum
Puppenessay:

[I]st es nicht furchtbar, daß man ahnungslos so etwas hinschrieb, unter dem
Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd, und dann die
Feder rasch fortlegt, um das Gespensthafte noch einmal unbegrenzt, ja wie
noch nie auszuleben, bis einem jeden Morgen der Mund dürr war vom Werg

stiert, schreibt der Autor: »[...] weil er sich jenseits der Vielfalt des histori-
schen Geschehens einen davon unberührten Gott vorbehält, kann er [...] eine
Erlösung nicht in der Geschichte, sondern nur von der Geschichte denken.«
(Kittsteiner: Historismus, 171.) Die ›verschränkte‹ Zeit, die Benjamins Methode
der ›Geschichtsschreibung‹ hervorruft, stellt eine Art Erlösung in der Geschichte
– wenn nicht zu sagen, durch die Geschichte – dar. In Benjamins vehementer
Kritik an der Erhebung der ›Erlösung‹ zum ›Ideal‹ seitens der Sozialdemokraten
(siehe I, 1231, wie oben zitiert) kommt dies deutlich zum Ausdruck: dass die
›Rettung‹ nicht jenseits der Zeit, sondern in der Zeit zu suchen ist. In diesem
Zusammenhang ist die jüdische Vorstellung, jeder Augenblick könne zu einer
›kleinen Pforte‹ werden, »durch die der Messias treten kann (I, 1252, wie oben
zitiert), bedeutsam; vgl. Benjamins Wort von einer »Bresche in der Zeit« (IV,
268). Vgl. auch Eitams Feststellung der ›Geschichtsgebundenheit‹ der Monade
in Benjaminschem Sinne. Eitam: Discrimen der Zeit, 430.
67 Rilke: Werke VI, 725.
68 Rilke: Werke II, 98.

269
mit dem man, Balg durch und durch, angefüllt war, bis in ihn herauf? (RBr
II, 464)

Ist zwar die Puppenerinnerung ein ›Vorwand‹, eine Möglichkeit unter


anderen, einer zu vergegenwärtigenden Erfahrung von früher Gestalt zu
geben, so doch ein »vom Ureigensten handelnd[er]«. Das bezeugt die
brieflich festgehaltene Reaktion des Dichters auf die Gestalt, die dieser
Vorwand im Puppenessay ›abgibt‹. Dieser Reaktion wohnen wesentliche
Momente eines von der Dynamik des Vergessens und unwillkürlichen
Erinnerns bestimmten dialektischen Geschehens, wie es im Puppenessay
›inszeniert‹ wird, inne: Im Puppenessay vermittelt sich »das Gespensthafte«
von damals »noch einmal unbegrenzt«; dieses wird aber in der Erinnerung
»wie noch nie aus[gelebt]« (Hervorhebung der Vf.). Hierin erkennt man
wesentliche Qualitäten des unwillkürlichen Erinnerns, die diese Form des
Erinnerns in Prousts Dichtung und ihrer Rezeption durch Benjamin er-
hält. Rilkes briefliche Äußerung ist auch bemerkenswert insofern, als es
seinem Bekenntnis nach im Laufe des Dichtens zu einer Projektion von
Puppe – und zwar von ›Puppen-Ding‹ – auf ihr Gegenüber, den Dichter,
gekommen ist: Man war »jeden Morgen dürr [...] von Werg, mit dem
man, Balg durch und durch, ausgefüllt war«. Eine solche identifikatorische
Beziehung hatte Rilke auch, so ähnliche Äußerungen, zur Figur des Malte
Laurids Brigge entwickelt.69
Hierin zeigt sich das Wesentliche an solchen modernen Erinnerungs-
poetiken wie den hier betrachteten: die vornehmliche Bedeutung der in-
dividuellen Erfahrung. In ihrer Kontrastierung zwischen dem Begriff der
Memoria und der subjektiven Erinnerung, wobei die eine »eine ars, ein
Regelsystem«, die andere »eine vis, eine individuelle Naturkraft« darstelle,
konstatiert Assmann: letztere erscheine in Form »einer immer schwerer

69 In einem Brief vom 28. 12. 1911 fragt sich Rilke, ob Malte nicht untergehe,
um ihm, dem Dichter, »den Untergang zu ersparen« (RBr I, 300). Im Bilder-
komplex des Briefes wird das Buch zur »hohe[n] Wasserscheide«, Malte zum
»Untergegangene[n]« und Rilke selbst zum Überlebenden (ebenda, 300). Da
aber »alles Gewässer nach der alten Seite abgeflossen ist«, geht Rilke »in eine
Dürre hinunter«, d.h. er bleibt seelisch, geistig ›ausgetrocknet‹ zurück, wobei
es ihm vorkommt, als habe »der andere, Untergegangene« – sprich Malte –
»[ihn] irgendwie abgenutzt, [...] mit den Kräften und Gegenständen [seines]
Lebens den immensen Aufwand seines Untergangs betrieben [...], sich mit der
Inständigkeit seiner Verzweiflung alles angeeignet« (ebenda, 300). Die Ähnlich-
keit mit Erfahrungen, die das Kind mit der Puppe im Puppenessay macht, ist
frappant.

270
verfügbaren individualisierenden ›Erinnerung‹«. Dies sei ein Begriff, der
sich mit ›Subjektivität‹ und ›Schrift‹ verbinde. »An die Stelle des Regis-
trier- und Thesaurier-Verfahrens der Memoria ist die aktive Kraft der
Erinnerung getreten«, so Assmann.70 Damit tritt die Bedeutung des Kol-
lektivgedächtnisses hinter der des Individualgedächtnisses zurück. Nicht
nur am Puppenessay und den mit ihm verwandten Dichtungen sowie an
den Aufzeichnungen und Maltes hierin formuliertem dichterischem Credo
zeigt sich die Bedeutung der (individuellen) Erfahrung – und mit ihr der
Erinnerung – für die Ästhetik der Moderne. Auch im Werk eines Dichters
und Denkers, der die individuelle Erfahrung für das Projekt einer epo-
chalen Geschichts-›Schreibung‹ in Anspruch nimmt und sein Augenmerk
dabei auf das Kollektive zu richten scheint, hebt sich letztlich der Stel-
lenwert der genuin individuellen Erfahrung hervor. So unpersönlich sich
die Aufgabenstellung der Berliner Kindheit im Vorwort auch formulieren
mag: Dieses Werk speist sich aus den eigentümlichen Erfahrungen des
erinnernden Dichters.71
Dieses Werk steht, wenn man so will, im Zeichen des ›mimetischen
Vermögens‹ des Kindes, was bedeutet: die »Gabe, Ähnlichkeit zu sehn«
(II, 210). Wie Benjamin schreibt, stellt eine solche Gabe »ein Rudiment
des ehemals gewaltigen Zwanges [dar], ähnlich zu werden und sich zu
verhalten«.72 Ein solcher Zwang hatte den Dichter der Berliner Kindheit als
Kind beherrscht, so das Bekenntnis Benjamins.73 Und wie Benjamin an
anderer Stelle schreibt: »Erfahrung[en] sind gelebte Ähnlichkeiten.«74 Für
den Erinnerenden der Berliner Kindheit und den erinnernden ›Mann ohne
Eigenschaften‹ wie für viele von Rilkes Figuren, letztlich auch für Rilke
selbst, beruht Erfahrung auf dem ›Ausleben‹ von Ähnlichkeiten, und das
Dichten gilt nicht zuletzt der Beschwörung noch nicht bewusst wahrge-
nommener Ähnlichkeiten bzw. dem Heraufbeschwören von in Vergessen-
heit geratenen Erfahrungen des Ähnlichwerdens. Die Einheitsvisionen Mu-
sils, Rilkes und Benjamins speisen sich aus Erfahrungen von Ähnlichkeit
bzw. Identifikation, wenn auch in je anderer Weise. Für Benjamin ›schreibt

70 Assmann: Wunde der Zeit, 359.


71 Klaus-Peter Philippi konstatiert, Benjamin habe versucht, »gegenüber dem all-
gemeinen Erfahrungsverlust der Moderne [...] an einem emphatischen Begriff
der Erfahrung festzuhalten« (›Für die Katz‹?, 143f.).
72 Benjamin: Werke II, 210.
73 Vgl. Seite 293 dieser Arbeit.
74 Benjamin: Werke VI, 88.

271
sich‹ Geschichte nicht, indem Kausalverknüpfungen ›festgestellt‹ werden,
sondern, indem man Ähnlichkeiten herstellt. Wie er schreibt:

Kein größerer Irrtum als Erfahrung im Sinne der Lebenserfahrung nach dem
Schema derjenigen konstruieren zu wollen, die den exakten Naturwissenschaf-
ten zugrunde liegt. Nicht die im Lauf der Zeiten festgestellten Kausalverknüp-
fungen, sondern die Ähnlichkeiten, die gelebt wurden, sind hier maßgebend.
(VI, 88f.)75 (Hervorhebung der Vf.)

Benjamins Vergegenwärtigungspoetik besagt, dass ein jedes »unwieder-


bringliches Bild der Vergangenheit [...] mit der Gegenwart zu verschwin-
den droht, die sich nicht als in ihm gemeint [erkennt]« (I, 695; Hervorhe-
bung der Vf.). Die Erfahrung der Ähnlichkeit bildet also die Basis für eine
Vergegenwärtigung von Vergangenem. Ulrichs Vision eines synthetischen
Gleichnisses liegt auch das Prinzip der Ähnlichkeit zugrunde – wohlgemerkt
der Ähnlichkeit in der Differenz, ein Prinzip, das sich im Benjamin’schen
Begriff der ›Konstellation‹ manifestiert. Diese ergeben sich nämlich – um
mit Rilke zu reden und dabei den Sinn seiner Worte etwas abzuwandeln –,
aus ›gespannten Bezügen‹.76 Wie Ulrichs Gleichnis bedürfen solche Kon-
stellationen der sprachlichen Vermittlung. Heinz Eitam spricht in diesem
Sinne von »syn-taktische[n] Konstellation[en], die sprachlicher [...] Natur
sind«.77
Dass die Vergegenwärtigung von Vergangenem im Zeichen der Er-
fahrung steht, drückt sich aber nicht nur in der Verknüpfung vom expo-
nierten, für dieses Geschehen konstitutiven Prinzip der Ähnlichkeit mit
Benjamins Erfahrungsbegriff aus, sondern es äußert sich auch in der Be-
stimmung von Vergegenwärtigung als ›monadischem‹ Prozess.78 Bezüglich
der Qualität von Erinnerung, die von einem solchen Primat der Erfahrung
bestimmt wird, kann man mit O.G. Oexle konstatieren: Das Erinnern
hat sich nicht nur »aus den Bezügen der Metaphysik gelöst«, hat (wie

75 Vgl. in diesem Zusammenhang Benjamins Beschäftigung mit Baudelaire und


seinem Begriff der correspondances.
76 Vgl. Benjamins Notizen zum Passagen-Werk: »[...] jedes Jetzt ist das Jetzt einer
bestimmten Erkennbarkeit. In ihm ist die Wahrheit mit Zeit bis zum Zer-
springen geladen.« (V, 578) Vgl. auch V, 595: »Wo das Denken in einer von
Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das
dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. […] Sie ist [...] da zu
suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten
ist.«
77 Eitam: Discrimen der Zeit, 446.
78 Vgl. V, 594.

272
auch der Erfahrungshorizont des Erinnernden) den »Bezug zur ontischen
Realität verloren«,79 – einen Bezug, den Maltes Spiegelungsvision, die Er-
innerungspoetik des Puppenessays und Törleß’ quasi-mystische Übungen
wieder herzustellen versuchen –, sondern sich im wesentlichen aus dem
Raum des Kollektivs zurück in eine Sphäre genuin individueller Erfahrung
zurückgezogen. Um kurz auf Rilke und seine identifikatorische Beziehung
zur Puppe zurückzukommen: Ist die Puppenerinnerung ein ›Vorwand‹, so
ein »vom Ureigensten handelnd[er]«.
Dem Prinzip des ›Ureigensten‹ steht in den hier betrachteten Dich-
tungen und Poetiken – und das ist das Paradoxe daran – ein Totalitäts-
prinzip gegenüber, das der jeweils entfalteten Einheitsvision zu Grunde
liegt. Die Aporie, die sich aus diesen widerstrebenden Prinzipien ergibt,
lässt sich nicht ohne Weiteres auflösen. In Rilkes ›Ureigenstem‹ stellt sich
das ›Vollendete‹ nämlich nicht dar. Bei diesem Dichter bildet die höchst
individuelle Erfahrung von Ähnlichkeit in Form wie auch immer gearteter
identifikatorischer Beziehungen zwar die Basis für die Herstellung der er-
sehnten Einheit, aber gelingt dieses, so in Form einer ›Konstellation‹ zweier
in einen Bezug ›eingespannter‹ Gegenüber, die Rilkes totalisierendem Po-
laritätsdenken zufolge zur Wirklichkeit wird: zur Wirklichkeit schlechthin.
Letztlich bedeutet das aber eine Reduktion ›unserer aller‹ Wirklichkeit auf
einen solch verabsolutierten ›gespanntesten Bezug‹. Benjamins ›Telos der
Fülle‹ wohnt ein Totalitätsprinzip inne, das ebenso problematisch ist wie
das Rilke’sche, aber die Gründe für die Unerfüllbarkeit der im Zeichen
dieses Prinzips stehenden Visionen, die Benjamin und Rilke ›vorschweben‹,
sind so verschieden wie die Visionen selbst. Einer potentiellen Einheit,
die aus unendlich vielen Erfahrungen besteht, die aber nie alle ›eingeholt‹
werden können,80 steht eine, wenn nicht verhinderte, – eine durch die
Unfähigkeit, »Bezug in [sich] zu reißen«81 verhinderte –, so doch in der
oben erörterten Weise reduktionistische Einheit gegenüber, die als solche

79 O.G. Oexle: »Die Gegenwart der Lebenden und der Toten – Gedanken über
Memoria«. In: Karl Schmid (Hrsg.): Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, Frei-
burg 1985, 101.
80 Vgl. Benjamins Anmerkungen zum Aufsatz Über den Begriff der Geschichte: »Die
ewige Lampe ist ein Bild echter historischer Existenz. Sie ist das Bild der erlö-
sten Menschheit – der Flamme, die am jüngsten Tage entzündet wird und ihre
Nahrung an allem findet, was sich jemals unter Menschen begeben hat.« (I, 1239;
Hervorhebung der Vf.)
81 Vgl. »Vor Weihnachten 1914«: »O daß / du immer wieder wehren mußt: genug,
/ statt: mehr! zu rufen, statt Bezug / in dich zu reißen, wie der Abgrund Bäche?
/ Schwächliches Herz. Was soll ein Herz aus Schwäche?« (II, 95–98)

273
dem erhobenen Anspruch auf Totalität nicht wirklich gerecht wird. Um
diesem Anspruch zu genügen, müßte man ›gespanntesten Bezug‹ mit dem
›idealen‹ Gegenüber herstellen: mit Gott. »Der aber wollte noch nicht«, so
der lakonische Schluss der Aufzeichnungen.82 Allerdings würde, wenn dieser
›wollte‹, Malte nicht mehr schreiben, sondern nur noch ›geschrieben wer-
den‹; sein dichterisches Credo, das der Apologie einer ›Erfahrungsdichtung‹
gleichkommt, würde also außer Kraft gesetzt werden.
Das tröstliche Fazit, das man angesichts solcher Aporien ziehen könn-
te, lautet: Gerade von der Nichteinlösbarkeit solcher Einheitsvisionen lebt
letztlich die Dichtung derer, die diese Visionen dichterisch beschworen
haben. Der letzte Rest an noch nicht Eingeholtem, den die von Benjamin
vorgeschlagene »kulturdialektische Methode« zur Herstellung der Apokata-
stasis hinterlässt, sichert die Existenz und Legitimierbarkeit einer Dichtung,
die auf dem Primat der Erfahrung beruht, bis in alle Ewigkeit. Dieses
Primat vereitelt aber zugleich die Erfüllung des Anspruchs, den eine solche
Dichtung erhebt. Ähnlich verhält es sich mit den Visionen, die Musils
und Rilkes Dichtungen entfalten: Diese wollen in der Dichtung eingelöst
werden – so die poetologische Prämisse, die hier aufgestellt wird –, doch
in der hier ›geübten‹ Form von Dichtung können sie zwar beschworen,
nicht aber verwirklicht werden. Lapidar ausgedrückt: Dadurch wird der
Weg zum Ziel. Würde es Törleß denn gelingen, den Dualismus, der seine
›Verwirrungen‹ verursacht, ganz aufzuheben, fände Malte seinen Spiegel,
so würden sie damit ›ihrer‹ Dichtung die Grundlage entziehen. Löste sich
die Forderung, die die Verse für Lotte Pritzel aussprechen, wirklich ein,
will sagen, gelänge dem Dichter die Herstellung ›gespanntesten Bezugs‹
im Sinne einer einmaligen, absoluten ›Aufhebung‹ der zuvor erfahrenen
Entzweiung, so würde das Gedicht, das dieses Moment ›fest-hält‹, zu ei-
nem ›poem to end all poems‹. Was für das mystische Sprechen gilt, trifft
auch hier zu: Das noch nicht Vereinigte bzw. nicht ganz oder nicht mehr
Vereinigte ist der Geltungsbereich dieser Dichtung. Die individuelle Erfah-
rung, auf der sie beruht, lässt sich von einem totalisierenden Prinzip nicht
vereinnahmen. Hierin liegt wohl der Grund, warum die hier betrachteten
Dichtungen sich auf das Beschreiben von (imaginierten) Wegen zur Ein-
lösung der jeweils entfalteten Einheitsvision, – und das heißt von Wegen
dichterischen ›Mündig-Werdens‹ – verlegt haben, statt zu versuchen, die
ersehnte Einheit selbst ›hervorzu-rufen‹.

82 Rilke: Werke VI, 946.

274
3.2. Steine im Mosaik: Versuch einer Traditionsfindung

3.2.1. Rückblicke: Hölderlins (erinnerungs-)poetologisches Erbe


Ähnlich wie Törleß’ sexuell-epistemologische Verwirrungen, die aus der in-
dividuellen Erfahrung eines einzelnen Adoleszenten erwachsen, aber dabei
geradezu universelle Aporien aufwerfen, für die der Autor im monumen-
talen ›Folgeroman‹ ›globale‹ Lösungsversuche anbietet, erheben Rilkes und
Benjamins visionäre Erinnerungspoetiken, obschon sie in starkem Maße
auf dem Individuellen zu fußen scheinen, einen bereits bemerkten, da be-
merkenswerten, je anders einzulösenden Totalitätsanspruch. Am Eingang
einer letzten Reihe von – wenn man so will – rondohaft ausladenden und
auf bereits Erörtertes rekurrierenden Betrachtungen möchte ich bei dieser
Erkenntnis ansetzen und an dieser Stelle im Sinne des angekündigten Zieles
des dritten und letzten Kapitels dieser Arbeit einen bestimmten historischen
Kontextualisierungsversuch vornehmen: Rilkes, mehr noch aber Benjamins
Erinnerungspoetik soll punktuell in Bezug zur wohl emphatischsten Apolo-
getik dichterischen Erinnerns gesetzt werden, die in der deutschsprachigen
Literatur bis dato formuliert wurde: der Hölderlin’schen.
Es kann hier nicht darum gehen, die vielen Facetten dieser vielerorts
und in variierenden Formen zum Ausdruck gebrachten Erinnerungspoetik
zu erörtern, sei es in solch theoretischen Schriften wie »Über die Verfah-
rensweise des poetischen Geistes« (»Wenn der Dichter einmal...«)83 oder
dem Homburgischen Fragment »Das Werden im Vergehen« (»Das un-
tergehende Vaterland«...)84, sei es in Gedichten aus allen Werkstufen –
am komplexesten und auch dunkelsten wohl in den beiden dem Thema
Erinnern ausdrücklich gewidmeten ›letzten Hymnen‹ »Mnemosyne« und
»Andenken«85 –, sei es in Hölderlins einzigem Roman, Hyperion.86 Wenn
aber, wie diese Texte auf je unterschiedliche Weise bezeugen, das – wohlge-
merkt – dichterische Erinnern eine nicht zu unterschätzende Rolle für Höl-

83 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beissner, Band IV.1,
Stuttgart 1961, 241–265.
84 Hölderlin: Werke IV.1, 284–287.
85 In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beissner, Band
II.1, Stuttgart 1951, 188f. und 197f.. Als Hölderlins ›letzte Hymnen‹ – so die von
Jochen Schmidt in seiner Studie aus dem Jahr 1970 verwendete Bezeichnung –,
die sich beide dem Thema Erinnern widmen, ragen diese beiden Gedichte her-
vor.
86 In: Friedrich Hölderlin: Sämtiche Werke. Hrsg. von Friedrich Beissner, Band
III, Stuttgart 1957, 14–160.

275
derlins Poetik und seine in starkem Maße poetologisch geprägte Dichtung
spielt, dann nicht zuletzt, – so eine traditionsreiche, gut zu belegende The-
se –, kraft seiner Kapazität zur Bildung eines geschichtlichen Bewusstseins.87
Dies wird vielerorts als die wohl vornehmlichste Aufgabe ›Hölderlin’schen‹
Erinnerns und zugleich als die höchste Legitimation seiner dichterischen
Praxis gewürdigt.88 Der erinnernde, und das heißt auch erinnerungsfähige
Dichter als Garantor bzw. Erzeuger eines in welchem Sinne auch immer
gemeinten und benötigten geschichtlichen Bewusstseins89 spielt nicht zu-

87 Vgl. Helmut Hühn, der in Bezug auf »Das untergehende Vaterland...« auf die
von Bachmaier bereits betonte Schlüsselstellung der Erinnerung im Entwurf ver-
weist, und zwar als Agens, das zur Ausbildung »des geschichtlichen Bewußtseins
im Übergangsgeschehen« benötigt wird. Helmut Hühn: Mnemosyne. Zeit und
Erinnerung in Hölderlins Denken, Stuttgart 1997, 128; vgl. Helmut Bachmaier:
»Hölderlins Erinnerungsbegriff in der Homburger Zeit«. In: Christoph Jam-
me / Otto Pöggeler: Homburg vor der Höhe der deutschen Geistesgeschichte,
Stuttgart 1981, 131–160. Siehe auch Andreas Thomasberger: »Erinnerung – ihre
konstituierende Bedeutung für Bewußtsein und Sprache bei Hölderlin«. In:
Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge 42 (1992), 312–325.
88 In seiner theoretischen Schrift Ȇber die Verfahrensweise des poetischen Gei-
stes« weist Hölderlin dem Erinnern keine geringere Aufgabe als die der Ver-
mittlung von Geist und Stoff zu. Läuft der Geist Gefahr, differenzlose Einheit
bis hin zur »leeren Unendlichkeit« anzustreben, so droht dem Stoff, »in eine
Unendlichkeit isolirter Momente« zu zerfallen. Angesichts dieser zweifachen
Gefahr besteht die »lezte Aufgabe« des »poetische[n] Geist[es]« darin – so Höl-
derlin – »beim harmonischen Wechsel einen Faden, eine Erinnerung zu haben«
(»Wenn der Dichter einmal...«: Werke IV.1, 87). Die Erinnerung dient der
fortwährenden Vergegenwärtigung des Geistes. Sie sorgt dafür, dass »der Geist
nie im einzelnen Momente, und wieder einem einzelnen Momente, sondern in
einem Momente wie im andern fortdauernd, und in den verschiedenen Stim-
mungen sich gegenwärtig bleibe [...]« (Werke IV.1, 251). Wie Fabian Stoermer
diese Argumentation zusammenfasst, kommt der Erinnerung der Aufgabe zu,
»Synthesis in der Zeit« zu schaffen; sie »weist [sich] als Medium aus, das über
die Doppelperspektive des ›zeitlichen Mangels‹ (will heißen: Ermangelung der
Zeit als Differenz) und des ›Mangels der Einigkeit‹ hinausführen kann«. Fabian
Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion der Erinnerung. Über Gadamer,
Derrida und Hölderlin, München 2002, 281; Hölderlin: Sämtliche Werke II,
83f..
89 Die Frage nach dem Geschichts- und somit auch Erinnerungsverständnis des
jeweiligen Interpreten ist in der Tat entscheidend. Das Spektrum reicht von
platonisch-anamnetischen über Hegelianisch-idealistische bis hin zu real-histo-
rischen und dekonstruktivistischen Modellen. Eine der vornehmlichsten Auf-
gaben, die Fabian Stoermers Untersuchung sich stellt, ist die enge Verbindung
zwischen der Hermeneutik (Gadamerscher Provenienz) und einem anamne-
tischen Erinnerungsmodell aufzuzeigen. In der Hermeneutik finden wir »ein
Denken der Erinnerung ausgehend vom anamnetischen Erinnerungsbewusst-
sein, das als Re-Präsentation einer vergangenen Gegenwart innerhalb einer li-

276
letzt in Hölderlins sogenannten geschichtsphilosophischen Hymnen eine
herausragende Rolle. Das poetische Argument dieser Dichtung, wie es etwa
Jochen Schmidt in seiner Untersuchung dieser kanonischen Texte inter-
pretatorisch nachvollzieht – stellvertretend gewissermaßen für eine große
hermeneutische Tradition –, bildet einen wichtigen Ausgangs- und Be-
zugspunkt für Adornos programmatischen Aufsatz »Parataxis. Zur späten
Lyrik Hölderlins« und somit auch für die hier vorgenommene Perspekti-
vierung visionärer Poetologie in der klassischen Moderne. Es gilt, Schmidts
Friedensfeier-Exegese etwas näher zu betrachten.
Jochen Schmidt hat eine transparente, einleuchtende und einflussrei-
che Studie der »geschichtsphilosophischen Hymnen« Friedrich Hölderlins
vorgelegt,90 darin er diese als reifen poetischen Ausdruck des deutschen
Idealismus würdigt. Seine idealistische Lesart der Friedensfeier konzent-
riert sich auf das, was er als »[d]as beherrschende Gesamtbild« der Hymne
identifiziert, nämlich den »zum ›Geist der Welt‹ gewordene(n) ›Vater‹«,
der »sich zur Erde (neigt), um den Frieden zu feiern«.91 Wie Schmidt
plausibel herausarbeitet: »Er [der Vater] ist der Fürst des Friedensfestes.
Der Dichter sorgt bei diesem Fest für ›Kränze‹ und ›Mahl‹ und spricht
die Einladungen aus [...].«92 Besonders interessant an Schmidts textnaher

nearen Zeit, als Transzendenz der Zeit in die Gleichzeitigkeit eines Chronotops
oder als dialektische Erfahrung der Zeit als Vermittlung verstanden wird«, so
Stoermer (Hermeneutik und Dekonstruktion, 15). An anderer Stelle greift er
diesen Gedanken wieder auf, indem er schreibt: »Da Gadamer die Aufgabe
der Hermeneutik als Vermittlung zur totalen Gegenwärtigkeit bestimmt, ist
es kein Zufall, dass er schließlich mit der Platonischen ANAMNESIS eine
starke Konzeption der Erinnerung als Plausibilitätsressource der Hermeneutik
in Anspruch nimmt« (Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion, 18). Dem
Gadamer’schen Erinnerungsbegriff setzt er einen Derridianischen entgegen, der
vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen »Befragung des Wertes der Präsenz
in all ihren Formen« seitens der dekonstruktivistischen Philosophie betrachtet
wird. Deren Gegenformel lautet: »Gedächtnis als Möglichkeit der Wiederho-
lung als Wiederholung«, so Stoermer (Hermeneutik und Dekonstruktion, 116).
In diesem Kontext kann ich lediglich andeuten, in welch starkem Maße lite-
rarische Deutungsansätze und Erinnerungstheoreme sich gegenseitig bedingen,
so auch in den kontrastreichen, hier noch zu erörternden Deutungsansätzen
Jochen Schmidts, Theodor W.Adornos und Eric L. Santners.
90 Hölderlins geschichtsphilosophische Hymnen. »Friedensfeier« – »Der Einzige« –
»Patmos« (Darmstadt 1990). Schmidt zitiert die Hymnen nach der Großen
Stuttgarter Ausgabe, herausgegeben von Friedrich Beissner. Die in meinem Text
gemachten Verweise auf Hölderlins Späthymnen entsprechen der Zitierweise
von Jochen Schmidt.
91 Schmidt: Hymnen, 61.
92 Schmidt: Hymnen, 61.

277
Deutung der Friedensfeier ist die dem Dichter zugewiesene Rolle. Höl-
derlin entwickele eine »Konzeption von der geschichtlichen Aufgabe des
Dichters, dessen antizipierendes Bewußtsein den Vollendungszustand der
Allversöhnung zu imaginieren und damit in spezifisch dichterischer Weise
zu induzieren [vermöge]«.93 Fabian Stoermer folgt Schmidt in etwa, wenn
er, Bezug nehmend auf die »Vision der Präsenz«, die die Friedensfeier aus-
zeichne, den Dichter – qua erinnernde Instanz – als entscheidendes Agens
im Prozess der anvisierten Allversöhnung implizit würdigt. Die Friedensfei-
er »nähert sich weiter als irgend ein anderes Gedicht Hölderlins der Vision
einer erinnernden Versammlung der Geschichte in die Allgegenwart des
Göttlichen«, so Stoermer.94 Schmidt stellt Hölderlins Hymne eindeutig in
die große Hegelianische Tradition, indem er hierin die triadische Struktur
idealistischen Entwicklungsdenkens ausmacht, entdeckt er doch in Höl-
derlins Hymne das Motiv einer »dem Zustand ursprünglich-reiner Natur«
zukommenden »Einfalt«, die letztlich »als eine geschichtlich und insofern
geistig vollendete wiedergewonnen« werde.95 ›Einfalt‹ ist hier das eine er-
kennbare Telos, ›Totalität‹ das andere, denn, wie Schmidt den »endzeitli-
chen Festtag« einleuchtend auffasst, erscheine dieser als »Symbol der sich
erst aus der endzeitlichen Überschau ergebenden Möglichkeit zur geistigen

93 Schmidt: Hymnen, 61.


94 Allerdings fügt er hinzu: »[...] und hält doch in der Zeit des Zeichens inne.«
Die »Zeit des Zeichens« wird als Dimension, oder ›Heimat‹ der erinnernden
(dichterischen) Instanz identifiziert. Diese sei zugleich ›Erfüllungszeit und -ort‹
der im Gedicht evozierten Vision. Hierin folgt Stoermer Schmidts Ortung des
in Friedensfeier zelebrierten Ereignisses in den diesseitigen Raum, allerdings
mit einer anderen Akzentuierung. Fabian Stoermer: Hermeneutik und Dekon-
struktion, 314. Diese Annäherung an Schmidts ›Idealismus-konforme‹ Deutung
nimmt sich allerdings stark zurück, sobald Stoermer die Friedensfeier – »das
großartige Tableau einer erinnernden Versammlung von Geschichte am ›Abend
der Zeit‹« – in den Kontext des Gedichts »Andenken« stellt. Er vermerkt, wie
in Friedensfeier »die bruchlose Erfüllung dieses Anspruchs« letztlich »versagt«
und sieht hierin Ansätze einer Krise der Hölderlin’schen Erinnerungspoetik, die
sich in der Ambivalenz der Haltung zum Erinnerungsvorgang in »Andenken«
manifestiere. Er fragt sich nämlich, inwiefern das Gedicht den »Erinnerungs-
vorgang als Aufstieg zu einem höchsten, allumfassenden Bewusstsein konzipiert;
oder ob [es] nicht, indem es eine Verlusterfahrung und die Abwesenheit von
Kommunikation ins Gedächtnis ruft, noch mit seiner berühmten Schlusszeile
[...] einem gemäßigteren Modell poetischer Erinnerung folgt«. Stoermer: Her-
meneutik und Dekonstruktion, 21. Vgl. die Ausführungen zu Santners Deutung
von »Andenken« weiter unten.
95 Schmidt: Hymnen, 68.

278
Integration alles geschichtlichen Einzelgeschehens in ein Gesamtbild«.96
Er fährt fort:

Am Ende der Zeit entfaltet deshalb der oberste Gott ein ›Zeitbild‹ (V. 94). Es
ist zugleich ›sein Bild‹ (V. 87): Bild der obersten Gottheit selbst. [...]
Im unabgeschlossenen Geschichtsprozeß ist noch kein ›Bild‹ möglich, weil die
Konturen noch nicht feststehen. [...] erst aus dem abgeschlossenen Ganzen her-
aus kann sich der Einzelne seinen Ort in der Geschichte bestimmen und damit
zu einem vollendeten Selbstbewußtsein gelangen. [...] der Geschichtsprozeß [ist]
auch ein Bewußtseinsprozeß.97

Im dichterischen Wort vom ›Hören des Werks‹ (V. 29) sieht Schmidt das
»erst am Ende der Geschichte« stehende Ereignis, nämlich den Moment,
in dem das »Bewußtsein von der sinnvollen Ganzheit der Geschichte« sich
einstelle.98 In diesem Prozess spielt der Dichter, wie bereits bemerkt, eine
privilegierte Rolle, zeichnet er sich doch durch ein »geradezu antizipato-
risches Gespür« aus, »kann er als erster das nahende Vollendungsstadium
wahrnehmen«; aus diesem Grund »ist er als erster und in besonderem Maße
zum geschichtebildenden Bewußtsein fähig«, so Schmidt.99 Wie dieser be-
tont, ist der so konzeptualisierte Geschichtsprozess nicht utopisch gedacht,
sondern chialistisch bzw. eschatologisch. Nicht jenseits der Geschichte,
in einem transzendenten und als solchem nie wirklich zu erreichendem
Zeit-Raum erfolgt die antizipierte Versöhnung, sondern weltimmanent.
»Gerade die chiliastische Hereinnahme des Vollendungsstadiums in den
Raum der diesseitigen Geschichte gibt einen der entscheidenden Anstöße
für die geschichtsphilosophisch säkularisierende Spekulation des deutschen
Idealismus«, so Schmidt, der Hölderlins Friedensfeier als den »größte[n]
dichterische[n] Ausdruck dieses [chiliastischen] Denkens und, neben He-
gels Versöhnungsphilosophie«, auch als »das anspruchsvollste philosophi-
sche Zeugnis« bezeichnet.100

96 Schmidt: Hymnen, 82.


97 Schmidt: Hymnen, 82.
98 Schmidt: Hymnen, 82; Hervorhebung der Vf.. Bernhard Böschenstein be-
schreibt die Friedensfeier als einen »Text, der (wie kein anderes Gedicht Höl-
derlins) Totalität darstellen will«, der – gerade deswegen? – »[n]icht als das
Zeugnis eines Geschehenen, sondern eines zuletzt doch noch Erhofften, niemals
Aufgebbaren [...] gelesen werden und seine Wirkung erhalten (kann)«. Bernhard
Böschenstein: »Das Gastmahl am Abend der Zeit. Zu Hölderlins ›Friedensfeier‹.
In: ›Der du von dem Himmel bist‹. Über Friedensgedichte. Hrsg. v. W. Böhme,
Karlsruhe 1984, 60–69; hier 60.
99 Schmidt: Hymnen, 83
100 Schmidt: Hymnen, 87f.. Mit Blick auf die Schlussstrophen des Gedichts unter-

279
Schmidt entfaltet im Wesentlichen zwei teleologische Dimensionen
– ›Einfalt‹ und ›Totalität‹. Er hebt letztere hervor, indem er auf eine
der, wie er meint, »fremdartigsten Vorstellungen« im Text zu sprechen
kommt, nämlich jene, »daß am Ende der Zeit alles geschichtlich Gewesene
wiederkommt«.101 Er zitiert dabei Origines‹ Lehre von der »apokatastasis
panton, von der versöhnenden ›Wiederbringung aller Dinge‹ am Weltende«
und sieht hierin »das Grundmuster für das zentrale endzeitliche Geschehen
in der ›Friedensfeier‹«.102 Dabei verwandele sich Sukzession in Simultanei-
tät, Aufeinanderfolge in Gleichzeitigkeit. Erst in diesem Moment

am Ende der Geschichte (kommt) alles einzelne, das in ihr gewirkt hat, wahrhaft
zu sich selbst [...], weil es erst im Ganzheitshorizont seines eigenen Stellenwerts
im Ganzen der Geschichte, und das heißt: seiner wahren Identität, inne zu
werden vermag.103

So weit Jochen Schmidts Hölderlin-Interpretation.


Hier ist nicht der Ort, um eine differenzierte Lektüre von Hölderlins
epochaler Friedensfeier vorzunehmen. Hier ist auch nicht der Platz für eine
ausladende Diskussion über die Rolle, die dem dichterischen Erinnern im
Werk Hölderlins zukommt. Was in diesem Zusammenhang interessiert,
ist zum einen die exegetische Tradition, die Hölderlins Erinnerungspoetik
in den Kontext seiner Rolle als dichtenden Nachvollziehers der idealisti-
schen Philosophie stellt und dabei das Bild Hölderlins sowie die mit ihm
verknüpfte Apologetik dichterischen Erinnerns und erinnernder Dichtung
nachhaltig geprägt hat, sind zum anderen Momente des Dissenses, der
sich aus derselben poetologischen Dichtung speist und unterschiedliche
Lesarten derselben provoziert.
Der Titel von Adornos programmatischem Aufsatz liefert schon das
Schlüsselwort für seine Auseinandersetzung mit dem ideengeschichtlich
gesättigten Hölderlinbild, das er vorfindet und zu bekämpfen sucht:
»Parataxis«.104 Dies ist das Stichwort für eine Verlagerung des ideellen

streicht Peter Szondi wiederum die utopische Dimension der hier entfalteten
Vision. Der »Zeitpunkt des allversammelnden Festtags, den die Hymne be-
schwörend fast schon in die Gegenwart hineingehoben hat«, erscheine »doch in
seinem wahren, nämlich utopischen Wesen«: »das futurische Moment tritt nun,
da sich der Dichter von seinem Gedicht gleichsam entfernt, deutlich hervor«.
Szondi: Einführung in die Hermeneutik, 402.
101 Schmidt: Hymnen, 92.
102 Schmidt: Hymnen, 93.
103 Schmidt: Hymnen, 93; Hervorhebung der Vf..
104 Von Adornos Attacke auf Heideggers Hölderlinexegese will ich hier absehen,

280
Schauplatzes, die auch den Gang meiner Erörterungen vorübergehend
vom Topos des dichterischen Erinnerns ablenken wird. Adorno bereitet
seine gewissermaßen ›gegen den idealistischen Strich gebürstete‹ Lesart der
kanonischen Hölderlintexte vor, indem er sich auf Benjamins Begriff des
›Gedichteten‹ bezieht als das »der Philologie sich entziehende Moment«.
»Das Dunkle an den Dichtungen, nicht, was in ihnen gedacht wird, nö-
tigt zur Philosophie«, so Adorno.105 Das, was »emphatisch wahr« ist, das
»›mehr als bloß Gemeinte‹«, das, was das »Gefüge« eines Gedichts, »die
Totalität seiner Momente«, den »›ästhetischen Schein‹« übersteigt, findet
Adorno in der »Konfiguration der Momente, die, zusammengenommen,
mehr bedeuten, als das Gefüge meint« und was uns zeigt, »[w]ie mäch-
tig die Sprache, dichterisch gebraucht, über die bloß subjektive Intention
des Dichters hinausschießt«.106 ›Intention‹ heißt hier idealistischer Hy-
pertext, denn illustriert wird das Prinzip des ›Gedichteten‹ an einer vom
Identitätsdenken geprägten Hölderlin’schen ›Vaterlandshymne‹ – bzw.
zunächst an einer bestimmten sprachlichen »Konfiguration«, die eine, so
Adorno, antithetische statt eine synthetisierende Struktur schafft. In dieser
Struktur sieht Adorno eine Gegenbewegung zur Diskursivität der späten
›Vaterlandshymnen‹.107 Adorno ordnet den ›manifesten‹ Ausdruck idealisti-
schen Einheitsdenkens in den Hymnen dem Bereich des ›Intentionalen‹ zu,
den er nicht leugnen, jedoch ›kleinreden‹ will. Indem er das ›Gedichtete‹
der manifesten »subjektiven Intention« des Textes entgegensetzt, meint
er das, was er als diskursiven Sinnüberschuss betrachtet, aus dem Weg
räumen zu können, um die »wahrhafte« – und das heißt parataktische
Struktur der späten Hymnik freilegen zu können. Indem er sozusagen
die ›Unterseite‹ der Hölderlin’schen Hymne nach oben kehrt, schickt sich
Adorno an, Literaturgeschichte neu zu schreiben.108

obwohl sie viel Raum in seinem Aufsatz beansprucht. Adorno bezichtigt Heide-
gger einer »billige[n] Heroisierung des Dichters als des politischen Stifters« und
opponiert »wider den [von Heidegger kultivierten] irrationalistischen Dogmatis-
mus und den Ursprungskult«, sprich: gegen einen Interpretationsansatz, der aus
(individual-)geschichtlicher Erinnerung ontologische Seinsanamnese macht.
105 Theodor W. Adorno: »Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins«. In: ders.: Noten
zur Literatur III, Frankfurt am Main, 1974, 450.
106 Adorno: »Parataxis«, 451.
107 Vgl. Adorno: »Parataxis«, 451.
108 In etwa zeitgleich spricht Szondi von einer in der letzten Strophe durchbrechen-
den »Gegenkraft, die alles in Frage zu stellen scheint«. Peter Szondi: Einführung
in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/Mn. 1975, 340.

281
Nicht zuletzt die in Adornos Parataxis-Aufsatz zu Tage tretende Kop-
pelung einer Idealismuskritik mit einer Sprachkritik macht diesen im
Kontext der vorliegenden Untersuchung so interessant. Diese erfolgt über
eine Diskussion über den Gebrauch von Abstrakta in Hölderlins Spät-
dichtung, deren profilierte Stellung in den nach 1800 verfassten Texten
bemerkt wird. Indem er erneut auf dem oppositionellen Verhältnis von
›Gedankenlyrik‹ und ›Gedichtetem‹ insistiert, schreibt Adorno über die
Späthymnen: »Vorweg ähneln sie einladend dem Medium der Philosophie,
die freilich, wenn sie ihre Idee des Gedichteten verbindlich faßte, gerade
vor der Kontamination mit gedanklichem Material in der Dichtung zu-
rückschrecken müßte.«109 Aus Adornos Sicht dienen »die Hölderlin’schen
Abstrakta« weder einem philosophischen Programm, noch öffnen sie sich
einer ontologischen (sprich: Heideggerschen) Bestimmung. Sie sind:
so wenig wie Leitworte Evokationen von Sein unmittelbar. Ihr Gebrauch wird
determiniert von der Brechung der Namen. [Hervorhebung der Vf.] In diesen
bleibt stets ein Überschuß dessen, was sie wollen und nicht erreichen. Kahl,
in tödlicher Blässe verselbständigt er sich gegen sie. Die Dichtung des späten
Hölderlin polarisiert sich in die Namen und Korrespondenzen hier, dort die
Begriffe. Ihre allgemeinen Substantive sind Resultanten: sie bezeugen die Diffe-
renz des Namens und des beschworenen Sinnes. Ihre Fremdheit, die wiederum
erst der Dichtung sie einverleibt, empfangen sie dadurch, dass sie von ihrem
Widerpart, den Namen, gleichsam ausgehöhlt wurden. Sie sind Relikte, capita
mortua dessen an der Idee, was nicht sich vergegenwärtigen lässt: noch in ihrer
anscheinend zeitfernen Allgemeinheit Male eines Prozesses. Als solche aber so
wenig ontologisch wie das Allgemeine in der Hegelschen Philosophie. Eher
haben sie, nach deren Tenor, ihr eigenes Leben, und zwar kraft ihrer Entäuße-
rung von der Unmittelbarkeit. Hölderlins Dichtung will die Abstrakta zu einer
Konkretion zweiter Potenz zitieren.110

In der hier propagierten, ›anti-diskursiven‹ Poetik findet man Anklänge


an die seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit zunehmender
Eindringlichkeit erhobene Klage über die Defizienz der begrifflichen Spra-
che. Hofmannthals Lord Chandos wird zum eminentesten Zweifler an
der Signifikationskraft der Begriffe überhaupt, und Musils Törleß stimmt
in diesen sprachkritischen Diskurs ein. Wie Adorno über fünfzig Jahre
später konstatiert, ist die Sprache »vermöge ihres signifikativen Elements,
des Gegenpols zum mimetisch-ausdruckhaften, an die Form von Urteil
und Satz und damit an die synthetische Funktion des Begriffs« gekettet,

109 Adorno: »Parataxis«, 463.


110 Adorno: »Parataxis«, 463f.

282
– dies eine Funktion, die Adorno überaus pejorativ wertet, ohne ihre Not-
wendigkeit leugnen zu können. Wie er kampflos einräumen muss, sei es
Hölderlin lediglich gelungen, die »traditionelle Logik der Synthesis [..] zart
(zu suspendieren)«.111 In seiner ›re-vidierenden‹ Lektüre Hölderlins setzt
Adorno also nicht bei den Begriffen selbst an, die naturgemäß der »Lo-
gik der Synthesis« entspringen und daher dieser nicht entrinnen können,
sondern bei der Anordnung bzw. Konfiguration der Abstrakta. Hier lässt
er sich von Walter Benjamins Begriff der ›Reihe‹ inspirieren und zitiert
seine Interpretation der Friedensfeier, wonach »um die Mitte des Gedichts
Menschen, Himmlische und Fürsten, gleichsam abstürzend aus ihren alten
Ordnungen zueinander gereiht sind«.112 Die hier entfaltete Vision deutet et-
was viel Radikaleres als ›zarte Suspendierung‹ der »traditionellen Logik der
Synthesis« an: Sie birgt ein ikonoklastisches Moment, das den im Zeichen
des Idealismus zum Helden stilisierten Dichter betrifft sowie die Dichtung,
die ihn hervorbringt und angeblich so emphatisch feiert. In Benjamins Be-
griff der Reihe ist unschwer eine Korrelation zu dem von Adorno verfoch-
tenen parataktischen Prinzip zu erkennen, das in Hölderlins Dichtung – so
Adorno – immerzu gegen die hypotaktische Grundstruktur der Dichtung
opponiere. Wie Adorno schreibt, »fallen als kunstvolle Störungen« [der
»kühn durchgebildete(n) hypotaktische(n) Konstruktionen«] Parataxen auf,
welche der logischen Hierarchie subordinierender Syntax ausweichen«.113
Hölderlin ziehe es »unwiderstehlich [...] zu solchen Bildungen«.114
Weitaus emphatischer als in seiner Interpretation der Friedensfeier oppo-
niert Adorno hinsichtlich seiner Lektüre des »Einzelnen« (zweite Fassung)
gegen Schmidts Idealismus-konforme Hermeneutik und profiliert dabei
die bereits der Hymne Friedensfeier attribuierten »kunstvolle[n] Störungen«
»kühn durchgebildeter hypotaktischer Konstruktionen«. Hierin meint Ad-
orno einen Angriff gegen den vermeintlichen Grundgedanken dieses zum
Kanon einer idealistischen Literatur zu rechnenden Textes zu entdecken
und setzt in seiner Deutung einer Passage dieses Textes zum Plädoyer für
eine anti-idealistische Lesart an.115 Er schreibt:

111 Adorno: »Parataxis«, 471.


112 Vgl. Adorno: »Parataxis«, 471; Hervorhebung der Vf.
113 Adorno: »Parataxis«, 471.
114 Adorno: »Parataxis«, 471.
115 Die Verse lauten: »[...] Seit nämlich böser Geist sich / Bemächtiget des glükli-
chen Altertums, unendlich, / Langher währt Eines, gesangsfeind, klanglos, das
/ in Maasen vergeht, des Sinnes gewaltsames[...]« Hölderlin: Werke II.1, 159;
vgl. Adorno: »Parataxis«, 472.

283
Die Anklage gegen die Gewalttat des sich zum Unendlichen gewordenen und
sich vergottenden Geistes sucht nach einer Sprachform, welche dem Diktat
von dessen eigenem synthesierenden Prinzip entronnen wäre. Daher das abge-
sprengte ›Diesmal‹; die rondohaft assoziative Verbindung der Sätze; die zweimal
verwendete, vom späten Hölderlin überhaupt begünstigte Partikel ›nämlich‹.
Sie rückt folgerungslose Explikation anstelle eines sogenannten gedanklichen
Fortgangs. Das verschafft der Form ihren Vorrang über den Inhalt, auch den
gedanklichen. Er wird ins Gedichtete transportiert, indem die Form ihm sich
anbildet und das Gewicht des spezifischen Moments von Denken, der syntheti-
schen Einheit, herabmindert. Derlei von der Fessel wegstrebende Gefüge finden
sich an Hölderlins erhobensten Stellen [...]116

Die eindeutige Privilegierung von Form über Inhalt, die Adorno hier vor-
nimmt, kommt einer programmatischen Privilegierung des Parataktischen
über das ›Hypotaktische‹ gleich, die jetzt nicht mehr als eine quasi-subver-
sive, gegen die manifeste Intention des Dichters arbeitende, vom Prinzip
des nicht willentlich gesteuerten ›Gedichteten‹ bestimmte Dimension des
Textes aufgefasst, sondern als überaus willentliches ›Störungsmanöver‹ ge-
deutet wird. Das Besondere und Entscheidende an dieser Argumentation
ist die Rolle, die der Sprache selbst in der im Parataxis-Aufsatz hypostasier-
ten dichterischen Entwicklung Hölderlins zugeschrieben wird. Diese the-
matisiert Adorno im Anschluss an seiner Patmos-Interpretation wie folgt:
Der geschichtsphilosophische Rhythmus, der den Sturz der Antike und das Er-
scheinen Christi zusammenfügt, wird unterbrechend markiert durch das Wort
›Oder‹; dort, wo das Bestimmteste genannt ist, die Katastrophe, wird diese
Bestimmung als vorkünstlerisch, als bloß gedanklicher Inhalt, nicht in fester Ur-
teilsform behauptet, sondern gleich einer Möglichkeit vorgeschlagen. Der Verzicht
auf prädikative Behauptung nähert ebenso den Rhythmus einem musikalischen
Verlauf an, wie er den Identitätsanspruch der Spekulation mildert, die sich an-
heischig macht, Geschichte in ihrer Identität mit dem Geist aufzulösen.117

›Prädikation‹ und ›Urteil‹ sind hier die Schlüsselwörter und müssen als
im Wesentlichen synonym gedacht werden. Die konstitutive Rolle, die
das dialektische Identitätsdenken Hölderlin’scher Provenienz sprachlichen
Operationen zuschreibt, deutet sich im Fragment »Urtheil und Seyn« an,
wo der Akt der Prädikation als Teil eines triadisch-dialektischen Prozesses
aufgefasst wird, der dem dialektischen Gang der Geschichte strukturell
gleichgesetzt wird. Hölderlin schreibt:

116 Adorno: »Parataxis«, 472.


117 Adorno: »Parataxis«, 472f.; Hervorhebungen der Vf..

284
Urteil ist im höchsten und strengstem Sinne die ursprüngliche Trennung des
in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects,
diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die
Ur=Theilung.118

Aber Adorno fasst den Akt des ›Urteilens‹ nicht im Sinne Hölderlins als
›Ur-Theilung‹ auf; vielmehr versteht er ihn als eine ›Identität‹ schaffende
Operation, – wobei der Begriff ›Identität‹ wohlgemerkt einen überaus ne-
gativen Sinn erhält. Adornos Angehen gegen den »Identitätsanspruch der
(idealistischen) Spekulation«119 äußert sich letztlich in Form einer Kritik
an der prädikativen Sprache als einer Sprache der Gewalt. Grammatische
Strukturen, die eine solche prädikative Funktion erfüllen, identifiziert Ad-
orno als Instrumente einer solchen Gewalt, als Vehikel gewaltsamer Iden-
tifikation. In ähnlichem Sinne ist Adornos Angehen gegen die »Logik der
Synthesis«, deren »zarte Suspendierung« in Hölderlins Friedensfeier zeleb-
riert wird, zu verstehen. Adornos Angriff auf die ›prädizierende‹ Sprache
als Sprache der Vereinnahmung und der Gewalt geht einher mit der be-
sagten ›Chiffrierung‹ des Begriffes ›Hypotaxis‹ und – in einem weiteren
Schritt – mit einer Übertragung der Kritik an diesem Phänomen auf eine
als hypotaktisch gedachte Form der Narrativität, die Geschichte zu einem
mit homogenem, moralischem Sinn angefüllten Kontinuum macht. Zu-
nächst interessiert hier letzterer Gedankengang: die Stilisierung des Begriffs
›Hypotaxis‹ und dessen Ummünzung in eine kritische Kategorie, die für
Adornos Idealismus- (und Historismus-)Kritik dienstbar gemacht werden
soll.
In Hinblick auf Adornos rhetorischen Feldzug gegen die Tradition, als
deren dichterischer Repräsentant Hölderlin hoch geschätzt wird, ist eine
wenige Jahre vor dem Erscheinen von Schmidts Studie entstandene Höl-
derlin-Interpretation interessant: Eric L. Santners Monographie mit dem
Titel Friedrich Hölderlin. Narrative Vigilance and the Poetic Imagination
(1986). Die Beschäftigung mit ihren Hauptthesen ist hier insofern frucht-
bar, als sie sich einerseits von Hayden Whites metahistorischem Ansatz
inspiriert und sich andererseits geradezu als Konsequenz dieser theoreti-
schen Orientierung Adornos im Parataxis-Aufsatz dargelegter Hölderlin-
Exegese verpflichtet zeigt. Eingangs schon bekundet Santner die Absicht,

118 »Urtheil und Seyn«. In: Hölderlin: Werke 4.1, 216; vgl. Eric L. Santner: Fried-
rich Hölderlin: Narrative Vigilance and the Poetic Imagination, New Brunswick
1986, 46.
119 Adorno: »Parataxis«, 473.

285
Hölderlins ›soteriologische‹ Geschichtsvision, seine besondere Version
der ›Heilsgeschichte‹ außen vor zu lassen und den Blick auf »moments
of opposition to that vision« zu richten.120 Nicht zuletzt im Hinblick auf
Benjamins Historismus-Kritik und die von ihr mitbedingte Erinnerungs-
poetik sind Santners von der Beschäftigung mit Hölderlin inspirierte, aber
über sein Werk hinausweisende Reflexionen über das narrative Prinzip
schlechthin äußerst aufschlussreich. Santner schreibt: »I shall understand
narrative as that cultural modality« – eine, die sich wohlgemerkt nicht auf
»real narratives« beschränkt –, »in which the ›side-by-sideness‹ of events
in time – time’s ›parataxis‹ – is ›redeemed‹ [...] transmuted into an image
of continuity and belonging together within the unity of a narratological
form«. Kurzum: Santner versteht ›narrative‹ als »the force that transforms
a moment in time into the structural moment of a whole […]«.121 Anders
ausgedrückt stellt Narration »(the) transformation of the contiguous into
the continuous«122 oder, um mit Frank Kermode zu reden: die Verwand-
lung von chronos in kairos dar, wodurch »that which was conceived of
as simply successive becomes charged with past and future« – dies eine
›synthetische‹ Leistung der narrativen Imagination, die die Zeit besiege
bzw. erlöse.123
Hayden Whites Theorie über den Zusammenhang zwischen Narrativi-
tät und Historiographie, auf die sich Santner bei seiner Hölderlin-Deutung
stützt, ist in diesem Kontext erhellend. In der Geschichte der europäischen
Historiographie erkennt White eine Entwicklung von einer radikal ›realisti-

120 Santner: Narrative Vigilance, ix. Dies tut er aber gerade, indem er das narrative
Element der Hölderlin’schen ›Heilsgeschichte‹ im Kontext einer allgemeinen
Kritik an narrativer Geschichtsschreibung problematisiert.
121 Santner: Narrative Vigilance, 4.
122 Santner: Narrative Vigilance, 5; vgl. Roman Jakobson: »Linguistics and Poetics«.
In: T.A. Sebeok (Hrsg.): Style in Language, Cambridge, Mass. 1960, 350–377;
hier 370f..
123 Frank Kermode: The Sense of an Ending: Studies in the Theory of Fiction
(Oxford 1967, 46); vgl. Santner: Narrative Vigilance, 4f.. Kermode unterscheidet
die Begriffe chronos und kairos folgendermaßen: »[…] chronos is ›passing time‹
or ›waiting time‹ – […] and kairos is the season, a point in time filled with
significance, charged with a meaning derived from its relation to the end.«
In Bezug auf die christliche Heilsgeschichte, die dieser Unterscheidung Sinn
verleiht, spricht Kermode von kairoi als »historical moments of intemporal
significance«. »The divine plot is the pattern of kairoi in relation to the End.
[…] The notion of fulfilment is essential; the kairos transforms the past, validates
Old Testament types and prophecies, establishes concord with origins as well
as ends.« Kermode: Sense of an Ending, 47f.; vgl. Santner: Narrative Vigilance,
4ff.

286
schen‹ Darstellung der Zeit in frühen historiographischen Formen – Anna-
len und Chroniken – , die er als »paratactical and endless« bezeichnet, hin
zu einer »clear hypotactic ordering of [...] events«.124 Nach White ist dies
eine Entwicklung, die in der christlichen Heilsgeschichte kulminiert.125 Wie
M.H. Abrams bereits überaus systematisch gezeigt hat,126 liefert die christli-
che Heilsgeschichte das narrative Muster für triadische Geschichtsmodelle,
die Muster individueller Bewusstseinsentwicklung zum Paradigma für kol-
lektive Entwicklungsprozesse, und somit auch Geschichte im allgemeinen
erheben. Als ›hypotaktisch‹ strukturierte Muster werden solchen Prozes-
sen zwei Hauptmerkmale zugeschrieben: »closure« (Geschlossenheit) und
»moral meaning« (moralischer Sinn). Wie White argumentiert, verspricht
narrative Geschlossenheit eine bestimmte Wahrnehmung der Abfolge von
Ereignissen. Für den Betrachter werde diese als »icon of a comprehensible
finished process« erkennbar.127 Moralischer Sinn setzt Geschlossenheit vor-
aus. Und Geschlossenheit benötigt wiederum Narrativität. Diese

casts its light back over the events originally recorded in order to redistribute
the force of a meaning that was immanent in all the events from the beginning.
[…] the plot of a narrative imposes a meaning on the events that comprise its
story level by revealing at the end a structure that was immanent in the events
all along.128

Was sich uns als »comprehensible finished process« anbietet, wird als eine
Art »moral drama« verstanden: »The demand for closure in the historical
story is a demand […] for moral meaning.«129
Eric L. Santner bezieht sich auf die von White aufstellte Parataxis-Hy-
potaxis-Opposition, wenn er Hegels Phänomenologie des Geistes die Gestalt
eines monumentalen, mit einem Maximum an Sinn erfüllten narrativen
Textes attribuiert

in which the sharp edges of the ›This‹ and the ›Here-and-Now‹, that is, that
which ›sense certainty‹ perceives as merely side-by-side, is absorbed into the

124 Hayden White: »The Value of Narrativity in the Representation of Reality«. In:
W.J.T. Mitchell (Hrsg.): On Narrative, Chicago 1981, 1–23; hier 8.
125 Vgl. White: »Narrativity«, 8.
126 M.H. Abrams: Natural Supernaturalism: Tradition and Revolution in Romantic
Literature, London 1971. Vgl. auch Karl Löwith: Meaning in History, Chicago
1949; dt.: Weltgeschichte und Heilsgeschehen, zuerst Stuttgart 1953.
127 Hayden White: Tropics of Discourse: Essays on Cultural Criticism, Baltimore
1978, 86; vgl. Santner: Narrative Vigilance, 8.
128 White: »Narrativity«, 19.
129 White: »Narrativity«, 20.

287
unified plot of the ›Homecoming of World Spirit‹. As such it would exhibit a
maximum force of meaning in Barthes’ sense.

Hierbei beruft sich Santner auf Roland Barthes’ These, wonach

[d]ie Kraft des Sinns [...] von seinem Systematisierungsgrad ab(hängt): der
stärkste Sinn ist der, dessen Systematisierung eine große Zahl von Elementen
umfasst, bis es so aussieht, als würde er alles Bemerkenswerte der Welt über-
decken.130

Barthes’ Beobachtung weist auf die Logik hinter der ›hypotaktischen‹ nar-
rativen ›Strategie‹ hin, die Santner mit White in soteriologischen ›Nar-
rationen‹ nach heilsgeschichtlichem Muster meint erkennen zu können,
– dies eine Strategie, die zur Herstellung eines absoluten Maximums an
(moralischem) Sinn eingesetzt werde. In Jochen Schmidts Lesart stellt
Hölderlins Friedensfeier eine solche maximalen moralischen Sinn liefernde
›soteriologische Narration‹ dar, deren zwei teleologische Parameter einem
solchen ›hypotaktischen‹ Strukturierungsprinzip entsprechen: ›Einfalt‹ und
›Totalität‹.
In diesem theoretischen Kontext ist Benjamins programmatischer Auf-
satz Über den Begriff der Geschichte interessant, der im Angriff gegen die
»drei Bastionen des Historismus« – »die Idee der Universalgeschichte«, die
Vorstellung, »Geschichte sei etwas, das sich erzählen lasse«, und »Einfüh-
lung in den Sieger« – Whites kritisches Hinterfragen historiographischer
Praxis gewissermaßen vorwegnimmt. Benjamins Spätwerk schickt sich an,
dem Mechanismus ›hypotaktisch‹ sich strukturierender Historiographie in
Whites Sinne ein alternatives Modell entgegenzusetzen, das eher auf Ge-
schichtslesung denn auf Geschichtsschreibung aus ist. Diesem Modell liegt
denn auch ein anti-narrativistischer Impuls zu Grunde.
Signifikanterweise belegt Eric L. Santner die These, wonach sich in
Hölderlins ›letzten Hymnen‹ »Mnemosyne« und »Andenken« möglicher-
weise ein (noch zu charakterisierender) Paradigmawechsel vollzieht, nicht
zuletzt mit Hinweisen auf eine zunehmende Lockerung ›hypotaktischer‹
Ordnungsstrukturen zugunsten einer parataktischen Syntax, die im Dien-

130 »La force du sens dépend de son degré de systématisation: le sens le plus fort est
le sens dont la systématisation englobe un nombre élevé d’éléments, au point de
paraître recouvrir tout le notable du monde [...]«. Roland Barthes: S/Z, Paris
1970, 160; deutsche Übersetzung von Jürgen Hoch, Frankfurt am Main 1976,
154.

288
ste eines eher assoziativen Organisationsprinzips stehe.131 In seiner Analyse
geht die von ihm konstatierte »relaxation of the diction and design of the
verse« mit einem »letting go of narrative vigilance and [a] turn toward the
present, toward the concrete particulars surrounding us« einher. Wie er
schreibt: »[...] shards of the narrative of redemption begin to be modulated
into the consolations of Tageszeichen«.132 Santner korreliert die weitgehende
Abwendung von ›hypotaktischer‹ Narrativik in Form einer allumfassenden
Heilsgeschichte, wie sie Friedensfeier zelebriert, mit dem von ihm hyposta-
sierten Wandel in Hölderlins Verständnis von Wesen und Bedeutung dich-
terischen Erinnerns. Wie er konstatiert: »[the] ›new spirit‹ which begins to
inform Hölderlin’s poetic voice demands that we reevaluate the concept
of memory in Hölderlin’s later poems«; »Andenken« und »Mnemosyne«
»suggest« – so Santner – »that Hölderlin was himself engaged in such
a reevaluation133. Diese Revision gelte eben der idealistischen Auffassung
dichterischen Erinnerns als Instrument eines totalisierenden geschichtlichen
Bewusstwerdungsprozesses. Auf der Werkstufe dieser beiden Hymnen habe
der Dichter »the dangers of narrative vigilance« erkannt – dies Santners
Formel für hypotaktisch strukturierte, idealistisch orientierte Narrativik –,
»which is itself really a kind of obsessive memory«. Wie er schreibt:

This form of memory attempts to hold within its ken the entirety of history,
understood as the history of Spirit in its east-west migration. This is a Hegelian

131 Die Identifikation sprach-struktureller mit geschichtsphilosophischen ›Struktu-


ren‹ wird weiter unten problematisiert.
132 Santner: Narrative Vigilance, 126.
133 Der kritische Aspekt dieser Gedichte in Bezug auf Wesen und Potential dichte-
rischen Erinnerns wird verschiedentlich herausgearbeitet. Wie Fabian Stoermer
bemerkt, »scheinen die Gedichte gemeinsam ein Dyptichon zu bilden, in dem
die Doppeldeutigkeit der Erinnerung als Abstieg zur Trauer und Aufsteig zu
einem überschwänglichen Bewusstsein in zwei einzelnen Tableaus festgehalten
wird«. Im Sinne dieser These arbeitet Stoermer verschiedene Polaritäten heraus:
»Auf der einen Seite (»Mnemosyne«) die Anspielung auf den mythologischen
Ursprung der Dichtung aus der Erinnerung, Mnemosyne als Mutter der Mu-
sen, aber auch der deutliche Hinweis auf die Gefährdung des Dichterischen im
›Zeichen‹, auf der anderen Seite die Anspielung von der Erinnerung zum Den-
ken, An-Denken.« Stoermer: Hermeneutik und Dekonstruktion, 335. Siehe auch
Claudia Kalász: »‚Mnemosyne – Die Zerstörung der poetischen Erinnerung«. In:
dies.: Hölderlin. Die poetische Kritik instrumenteller Vernunft, München 1988,
138–162, die eine Krisis der Hölderlinschen Erinnerungspoetik in dieser späten
Hymne ausmacht, sowie Cyrus Hamlin: »Die Poetik des Gedächtnisses. Aus
einem Gespräch über ›Andenken‹«. In: Hölderlinjahrbuch 1984/85, 119–138. Vgl.
auch Dieter Henrich: Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken
zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986, 185.

289
notion of memory: the absolute memory of Absolute Spirit. It is memory in the
sense of the total historical overview, the Totaleindruck.134

Oder, wie Santner diese Form des Erinnerns auch weniger hegelianisch,
sprich allgemeiner charakterisiert, es gehe hierbei um

intellektuelle Anschauung, a certain kind of memory [...] that attempts to trace


and hold within the ken of an ›intellectual intuition‹, the unbroken plot line of
a singular, sacred story from its arche to its telos.135

Wie Santner konstatiert: »›Andenken‹ gives us an opportunity to explore


the workings of this other kind of memory.«136
Indem er dieses Gedicht als Lokus des hypostasierten Paradigma-
wechsels in der Poetik und Praxis dichterischen Erinnerns bei Friedrich
Hölderlin identifiziert, setzt Santner der ›traditionellen‹ Interpretation des
Gedichts, wie er sie in Jochen Schmidts Essay mustergültig formuliert
findet, 137 – dies eine Interpretation, die, so Santner, ›Hegelianizes‹ Höl-

134 Santner: Narrative Vigilance, 126f..


135 Santner: Narrative Vigilance, 128.
136 Santner: Narrative Vigilance, 128.
137 Jochen Schmidt: Hölderlins letzte Hymnen: »Andenken« und »Mnemosyne«,
Tübingen 1970. Der Kern dieser Interpretation, die Santner als Negativfolie für
die eigene Interpretation dient, lässt sich in etwa folgendermaßen zusammenfas-
sen. Wie Schmidt in Bezug auf »Andenken« schreibt, findet der Dichter »sein
endgültiges ›Bleiben im Leben‹ nicht in naiver Ruhe [...], sondern [er habe] das
Bleibende aus der Souveränität eines höchsten Bewußtseins selbst dichterisch zu
stiften« – »und dazu vermag er nur in der Wachheit des Andenkens zu gelangen«
(Schmidt: Letzte Hymnen, 22). Weiter unten beschreibt Schmidt »das dich-
terische ›Andenken‹« als einen »Bewußtseinsprozeß«, wobei das Bewusstsein,
»das sich schließlich herausbildet, [...] die Epochen seines Werdens (übergreift),
indem es sie in einem höheren Zusammenhang aufhebt – in der Vorstellung
von der All-Einheit des Lebens. [...] Das dichterische ›Stiften‹ des Bleibenden
ist also weder Fixierung des in der Realität schon Vorhandenen, noch faktische
Neuschöpfung von ›Sein‹, sondern Darstellung kraft eines höchsten, allumspan-
nenden Bewußtseins. [...] Insofern das Bewußtsein des Dichters die Form des
Absoluten gewonnen hat, dichtet er sub specie aeternitatis, stiftet er Bleibendes«.
So schreitet Hyperion letztlich, im Sinne des »Ziel[s] des Romans«, »zum erin-
nernden Dasein des dichterischen Eremiten, in dessen Bewusstsein sich die gül-
tige Totalvorstellung des Lebens vollzogen hat«, so Schmidt in Letzte Hymnen,
40f.. Das Telos dichterischen Erinnerns, das sich Schmidts Ansicht nach aus
Hyperion herauskristallisiert, deckt sich mit dem, das er aus der letzten Strophe
der ›Hymne‹ »Andenken« heraushört. Wie der Interpret schreibt: »Hyperion
wird also zum Dichter, als er jenes souveräne Bewußtsein erreicht, das am Ende
des Gedichts ›Andenken‹ der Grund für die dichterische Stiftung des Bleiben-
den ist. Und auch Hyperions Bewußtseinsbildung [...] erfährt ihre Vollendung
erst in der Erinnerung, im ›Andenken‹ [...].« Schmidt: Letzte Hymnen, 42.

290
derlin and transforms the poem, as it were, into a manifesto of narrative
vigilance«138 –, eine neue Lesart entgegen, die sich auf eine ›neue Stimme‹,
gekoppelt mit der bereits angedeuteten neuen Form dichterischen Erin-
nerns, beruft. Signalisiert werde diese ›neue Stimme‹ durch »the presence
of purely private memories that remain, so to speak, ›unredeemed‹«; »[...]
the personal recollections of Bordeaux are not assimilated here to any meta-
physical narrative or philosophical argument.« Und Santner fährt fort:

Hölderlin has admitted into his poetry a new kind of memory. Memory is here
no longer that hyperconscious process so typical of some of his other hymns
(and which some critics would still like to see here) whereby the poet would
construct, and construct anew, the sacred narrative of the life of Spirit; memory
is here not the activity of an absolute consciousness or even a consciousness
striving toward any sort of total or totalizing (over-) view. Rather than attain-
ment of the Totaleindruck, the sort of memory which the poem enacts represents
a release from the vigilance that had kept the poet searching for such a totalizing
overview.139

Der nächste Schritt in Santners Argumentation ist bemerkenswert. Wie


er schreibt: »The poem gives us, rather, perhaps one of the first lyrical ex-
amples of what would later come to be known as mémoire involontaire.«140
Ausgehend von einer Aufgabe des philosophischen »Totaleinddrucks« und
einer Subjektivierungs-, Lyrisierungs- und Privatisierungstendenz dichte-
rischen Erinnerns in »Andenken« bietet Santner eine alternative Deutung
der berühmten gnomischen Schlusszeilen des Gedichts an: »Was bleibet
aber, stiften die Dichter.«141 Wie er schreibt:

Might it be that ›bleiben‹ does not signify abiding, permanence, that is, that
which transcends the flux of time, but rather what remains, in the sense of what
is left over – ›Was übrigbleib‹, ›Was zurückbleibt‹ – once we have descended

138 So Santner: Narrative Vigilance, 128.


139 Santner: Narrative Vigilance, 133.
140 Santner: Narrative Vigilance, 133. Als Anzeichen einer solchen Form des Erin-
nerns hebt Santner die Formulierung »Noch denket das mir wohl« hervor, die er
als Ausdruck einer passiven Form des Erinnerns deutet. Zudem verweist er auf
Hölderlins neues dichterisches Interesse an sinnlichen Erfahrungen, an denen
der Geruchs- und Geschmackssinn beteiligt seien. Obwohl er die Formulierung
»Noch denket das mir wohl« als gängige Schwäbische Redeweise erkennt, deutet
er die Verwendung dieser passiven Konstruktion als Ausdruck einer ›neuen‹,
unkontrollierbaren Form des Erinnerns. Siehe Santner: Narrative Vigilance, 134.
Inwieweit Hölderlin hier lediglich seiner Mundart treu bleibt bzw. Bedeutendes
in die Formulierung hereinzulesen ist, bleibt offen.
141 Hölderlin: Werke II.1, 189.

291
from the »hohe Straß« and let go of narrative vigilance? Given the new sort of
memory that is enacted in the poem, [...] can we not understand these final
lines as signifying Hölderlin’s acceptance of a more modest poetic task? This
task would be to name what memory grants us to remember, to name what
has held our gaze, the things we have watched, cared for, and loved. [...] I am
suggesting, then, that along with this more modest understanding of ›bleiben‹,
we revise our understanding of ›stiften‹. Rather than instituting and consecrating
world-historical monuments, the poet gives to us those images, those ›Andenk-
en‹, which gather into their fold the fragile essence of a human experience. [...]
›Was bleibet aber stiften die Dichter‹ loses, in this view, the sense that poetry
stands at the pinnacle of a hierarchy and sublates, in the sense of Aufhebung,
the ›lesser‹ modes of existence still somehow caught up in the fragmentariness
of concrete particulars. The promise of poetry, of Hölderlin’s poetry, what it
can grant – ›stiften‹ – thus is considerably more fragile and delicate than we
had previously imagined. The poet, in a very special sense, bears witness, and
says: ›I have seen this.‹142

Folgt man Santners These einer »[reevaluation of] the concept of me-
mory in Hölderlin’s later poems« in »Andenken«, so zeichnet Hölderlins
Erinnerungspoetik auf der Höhe ihrer monumentalen, d.h. totalisieren-
den Formulierung und dichterischen Realisierung den Weg ins Private,
Individuelle vor, das Rilkes und Benjamins Erinnerungspoetiken bei allen
Verabsolutierungstendenzen eigen ist. Ihren ›Visionen‹ haftet eine ähnliche
Ambivalenz an wie der Hölderlin’schen: eine, die sich nicht auflöst: Ril-
kes im Puppenessay entfaltete Vision einer durch Erinnern vermittelten,
idealen Dichtung baut zwingender Weise auf dem ›Ur-eigensten‹ auf; das
erinnerungspoetische Programm, das Benjamin in der Berliner Kindheit for-
muliert, wird im Individuellen auf überzeugende Weise eingelöst, während
seine Anwendbarkeit im Kollektiven zweifelhaft erscheint.143 Stellt man
sich auf den Standpunkt, erst ›Fleisch und Blut‹, sprich: sinnliche (Alltags-)
Erfahrungen verleihen dem dichterischen Erinnern eine genuin poetische
Qualität, so scheint dies eine Erkenntnis zu sein, die Hölderlin durch-
exerziert: im Gang durch das Streben nach dem ›Totaleindruck‹ mittels
totalisierenden Erinnerns hindurch zum partikulären Ein- und Ausdruck
im Rahmen der ›Tageszeichen‹ mittels eines ins Individuelle zurückgenom-
menen Erinnerns.

142 Santner: Narrative Vigilance, 136f..


143 Die Übertragbarkeit individueller Erinnerungsmodelle, etwa des psychoanaly-
tischen, auf ein Kollektiv-Subjekt bleibt fragwürdig. Dies gilt insbesondere für
das Passagen-Werk. Von einer Erörterung dieser Problematik muss ich aber hier
absehen, da sie den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

292
Bemerkenswerterweise verwahrt sich Adorno in seinem Parataxis-Auf-
satz gegen die von Santner propagierte These, wonach Hölderlins (Erinne-
rungs-)Poetik eine allmähliche Subjektivierungstendenz aufweise. Gerade
durch Anrufung des Parataktischen meint er diese These entkräften zu
können. Dass Adorno implizit gegen diesen Deutungsansatz opponiert,
bedeutet aber nicht, dass er sich der monumentalisierenden Lesart ver-
schreibt, die Hölderlin’schem Erinnern das ganze Gewicht der Geschichte
aufbürdet. Im Gegenteil: Adornos Parataxis-Aufsatz nimmt eine dezidierte
Kritik an der »Idee der Universalgeschichte« vor, die sich signifikanterweise
in Sprachkritik kleidet. Adorno übt seine Kritik am dialektisch-idealisti-
schen Identitätsdenken, aus dem sich ein solches Geschichtsmodell speist,
am Werk als dessen dichterischem ›Organ‹, um zu zeigen, wie auf dem
Wege der Parataxis dieses, wie er behauptet, im Hypotaktischen heimische
Denken letztlich ausgehöhlt werde. Das »Gereihte«, das »als Unverbunde-
nes schroff nicht weniger denn gleitend« sei,144 wird zur bestimmenden
ästhetischen Kategorie der Ästhetik des Parataktischen, die Adorno hier
privilegiert. Wenn er von der »tektonischen Form« spricht, der Hölder-
lin »absichtsvoll sich beugte«, dann nur, um im nächsten Zug den Blick
auf die »subkutane, unmetaphorisch komponierte« zu lenken, die Adorno
meint freigelegt zu haben.145. In dieser Art von Sprach- und Idealismuskri-
tik erscheint die ›prädizierende‹ Sprache als Instrument der Subordination
– sprich der hypotaktischen Sinnbildung bzw. Sinnordnung –, der die
›Offenheit‹ einer reihenden, d.h. nicht subordinierenden Sprache gegen-
überstehe. Als eine Dichtung, die weder als Erlebnis- noch als Gedan-
kenlyrik verstanden werden darf, so Adorno,146 erhoffe sich Hölderlins
Dichtung »leibhafte Gegenwart von der Konstellation der Worte und zwar
eben einer, die nicht ihr Genügen hat an der Urteilsform. Diese nivelliere,
als Einheit, die in den Worten liegende Vielfalt«.147 Als paradigmatisch
für eine auf Wortkonstellationen aufbauende Sprache zitiert Adorno die
erste Elegie aus »Brot und Wein«, die, wie er meint, die »einfachen und
allgemeinen Worte« nicht

restituiert [...], sondern [...] sie aneinander(fügt) auf eine Weise, welche ihre
eigene Fremdheit, [...] umschafft zum Ausdruck von Entfremdung. Solche Kon-

144 Adorno: »Parataxis«, 473.


145 Adorno: »Parataxis«, 470.
146 »[...] seine Dichtung (kann) weder dem dichterisch gewählten Wort noch der le-
bendigen Erfahrung naiv mehr vertrauen«, heißt es. Adorno: »Parataxis«, 473.
147 Hervorhebung der Vf..

293
stellationen spielen ins Parataktische hinüber, auch wo es, der grammatischen
Form oder der Konstruktion der Gedichte nach, noch nicht ungeschmälert
sich hervorwagt.148

Wie Adorno aber ohne Weiteres einräumt:

Die parataktische Auflehnung wider die Synthesis hat ihre Grenze an der syn-
thetischen Funktion von Sprache überhaupt. [...] Deren Einheit (die von Spra-
che festgehaltene Synthesis) zu brechen, wäre dieselbe Gewalttat, welche die
Einheit verübt.149

Wie es weiter unten heißt: »Einen Stand von Freiheit erwartet Hölderlin
nur durchs synthetische Prinzip hindurch, von dessen Selbstreflexion.«150
Bei Hölderlin werde aber »die Gestalt der Einheit [...] so abgewandelt,
[...] daß die Einheit selber anzeigt, sie wisse sich als nicht abschlußhaft«.151
Die implizite Sprachkritik, die Hölderlin durch diese Aussage ›angedichtet‹
wird, macht Adorno im weiteren Verlauf seiner Argumentation explizit,
nämlich wenn er behauptet: »Hölderlins Sprachkritik bewegt sich [...]
in der Gegenrichtung zum Subjektivierungsprozeß.«152 Nicht »subjektive
Ausdruckslyrik«, keine intentionale Sprache, sondern »rationaler Kontrolle
entrückte Korrespondenzen« bestimmten Hölderlins späte Lyrik.153
Die Tatsache dass und die Art wie Adorno sich anschickt, Hölderlins
späte Dichtung ›gegen den Strich zu bürsten‹, macht den Katalysatoreffekt
aus, den der Parataxis-Aufsatz für meine abschließenden Betrachtungen
über den Gegenstand dieser Untersuchung liefert. Im Laufe von Adornos
gegen die ›Hypotaxis‹ einer vom Einheitsdenken inspirierten, teleologisch
determinierten ›Narration‹ opponierendem Aufsatz avanciert der gramma-
tische Begriff ›Parataxis‹ zu einer Art programmatischen Formel, die in den
Dienst einer neuen ›parataktischen‹ Poetik gestellt wird. Für die Perspek-
tivierung auf Robert Musil und Walter Benjamin, die ich nun vornehmen
möchte, spielt Adornos Strategie, Sprachreflexion bzw. Sprachkritik mit
Traditionskritik und der eigenen Neupositionierung im gespannten Ver-
hältnis zur problematisierten Tradition zu verbinden, eine wichtige Rolle,
denn auf dem Wege der Adorno’schen Hermeneutik und poetologischen

148 Adorno: »Parataxis«, 473.


149 Adorno: »Parataxis«, 476.
150 Adorno: »Parataxis«, 484.
151 Adorno: »Parataxis«, 477.
152 Adorno: »Parataxis«, 477f..
153 Adorno: »Parataxis«, 481.

294
Argumentation kann der Zugang zu ähnlich gelagerten Bezugssystemen bei
Benjamin und Musil erleichtert werden. Dieser Weg der weiteren Reflexi-
on führt zunächst zu Walter Benjamins frühem sprachkritischen Traktat.

3.2.2. Benjamins frühe Sprachkritik im Kontext der ›kulturdialektischen


Methode‹ des Spätwerks
Benjamins frühe Schrift aus dem Jahr 1916 mit dem Titel Über Sprache
überhaupt und über die Sprache des Menschen erweist sich als interessant
im Kontext der hier geführten Diskussion, insbesondere in Verbindung
mit Törleß’ Sprachkritik, die hier erneut ins Blickfeld gerückt werden soll.
Gewissermaßen erscheinen Benjamins frühe Sprachreflexionen als eine
Widerlegung der Sprachskepsis, die Törleß in mannigfacher Weise zum
Ausdruck bringt, liest sich die sechs Jahre nach Erscheinen von Musils
Roman veröffentlichte Abhandlung doch geradezu wie die Formulierung
einer Gegenvision dessen, was Wesen und Aufgabe der Sprache sei.
Die Sprachphilosophie des frühen Benjamin setzt bei einer Verwer-
fung der Prämisse an, die Törleß stillschweigend akzeptiert, nämlich, dass
Sprache ein Instrument darstellt, das als solches sich darauf beschränken
muss, sich in Mittelbarkeit zu üben – ob auf der Ebene der Beziehung
zwischen Signifikat und Signifikant, der Törleß’ Sprachkritik vornehmlich
gilt, oder auf der intralinguistischen Ebene der Prädikation, auf die sich
Benjamins Kritik zunächst richtet. Als Erstes attackiert Benjamin die als
›bürgerlich‹ bezeichnete Sprachauffassung, wonach die Sprache eine prä-
dikative Funktion erfülle, und er setzt der ›Mittelbarkeit‹ einer solchen
Sprache die ›Unmittelbarkeit‹ einer sich selbst mitteilenden Sprache entge-
gen. Er enthebt sich der Schwierigkeiten, die sich zwangsläufig ergeben,
wenn Sprache als Funktion der Prädikation bzw. der Signifikation gedacht
wird, indem er unter Anwendung eines sehr weitgefassten Sprachbegriffs
Sprache mit »geistigem Wesen«154 gleichsetzt, das seiner Vorstellung nach
nicht umhin kann, sich mitzuteilen. Benjamin betrachtet Sprache weder
als Identität bzw. Identifikation schaffendes Instrument155 noch als Ver-
weissystem. Törleß hadert mit der Unfähigkeit der Sprache, ihre Funktion
als Verweissystem adäquat zu erfüllen. Der junge Benjamin hingegen ver-
wirft diese funktionelle Sprachauffassung schlechthin. Für ihn ist Sprache

154 Benjamin: Werke II.1, 141.


155 Weiter unten wird diese Auffassungsweise, wie sie von Adorno geprägt wird,
erläutert und problematisiert.

295
nicht Instrument der Vermittlung, sondern sie ist Mitteilung selbst, ist
Ausdruck. Auf die selbstgestellte Frage – »Was teilt die Sprache mit?« –
antwortet Benjamin:
Sie teilt das ihr entsprechende geistige Wesen mit. Es ist fundamental zu wis-
sen, daß dieses geistige Wesen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch
die Sprache. Es gibt also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den
meint, der durch diese Sprachen sich mitteilt. [...] Das geistige Wesen ist mit
dem sprachlichen identisch, nur sofern es mitteilbar ist. Was an einem geistigen
Wesen mitteilbar ist, das ist sein sprachliches Wesen. Die Sprache teilt also das
jeweilige sprachliche Wesen der Dinge mit, ihr geistiges aber nur, sofern es
unmittelbar im sprachlichen beschlossen liegt, sofern es mitteilbar ist.
Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen klarste Erschei-
nung ist aber die Sprache selbst. Die Antwort auf die Frage: was teilt die Sprache
mit? lautet also: Jede Sprache teilt sich selbst mit. Die Sprache dieser Lampe z.B.
teilt nicht die Lampe mit (denn das geistige Wesen der Lampe, sofern es mit-
teilbar ist, ist nicht die Lampe selbst), sondern: die Sprache-Lampe, die Lampe
in der Mitteilung, die Lampe im Ausdruck. 156

Benjamin kommt dem Einwand tautologischen Argumentierens zuvor,


indem er dezidiert konstatiert: »[...] das, was an einem geistigen Wesen
mitteilbar ist, ist seine Sprache. Auf diesem ›ist‹ (gleich ›ist unmittelbar‹)
beruht alles.«157 Im nächsten Zug begründet Benjamin die aus seiner Sicht
unbezweifelbare Legitimität menschlichen Benennens fern jeder Sprach-
skepsis, wie sie etwa Törleß oder Lord Chandos formulieren, und zwar
indem er deklariert, das Benennen sei konstitutiv für das »geistige Wesen«
des Menschen:
Der Mensch teilt sein eignes geistiges Wesen in seiner Sprache mit. Die Sprache
des Menschen spricht aber in Worten. Der Mensch teilt also sein eignes geistiges
Wesen (sofern es mitteilbar ist) mit, indem er alle anderen Dinge benennt.158

Benjamins Fazit lautet: »Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, daß er
die Dinge benennt.« (143) Letztlich entfaltet sich hier eine theologische Ar-
gumentation, die den Namen zum »Erbteil der Menschensprache« werden
lässt und diese wiederum in Bezug zur göttlichen Offenbarung setzt.
Ich kann hier diese bemerkenswerte Argumentation nicht weiter pro-
blematisieren. Von besonderer Bedeutung im Kontext der vorliegenden
Untersuchung ist die Art, wie Benjamin die menschliche Sprache aus den
Nöten defizitiärer Signifikation befreit. Dies tut er, indem er sich der theo-

156 Benjamin: Werke II.1, 142.


157 Benjamin: Werke II.1, 142.
158 Benjamin: Werke II.1, 143.

296
logisch verbürgten Vorstellung einer vollkommenen, und als solcher, wenn
man so will, ›krisenfesten‹ Sprache verschreibt – wie es heißt: »Der Mensch
allein hat die nach Universalität und Intensität vollkommene Sprache.«159 –
und diese von einer »bürgerlichen« Sprachauffassung absetzt, die Sprache
als Instrument betrachtet, eingebettet in einem operativen Subjekt-Prädi-
kat-Verhältnis. Die »Unhaltbarkeit und Leere« dieser Auffassung160 besteht
für ihn in den ihr zugeschriebenen Prämissen. Sie besagen, so Benjamin:
»Das Mittel der Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr
Adressat ein Mensch.«161 Dagegen setzt Benjamin seine Vorstellung einer
auf unmittelbarer Mitteilbarkeit beruhenden Sprache. Die andere – seine
– Sprachauffassung – kenne »kein Mittel, keinen Gegenstand und keinen
Adressaten der Mitteilung. Sie besagt: im Namen teilt das geistige Wesen
des Menschen sich Gott mit«.162 Indem Benjamin den Begriff der göttlichen
Offenbarung anführt, legt er das Fundament für ein Sprachverständnis, das
dem Törleß’schen diametral entgegengesetzt erscheint. Beklagte Törleß die
Unfähigkeit sprachlicher Signifikationsprozesse, in die Tiefe zu dringen, an
das zu Bezeichnende heranzureichen, – so Törleß’ topologische Redeweise
–, so wendet sich Benjamin dem »Widerstreit des Ausgesprochenen und
Aussprechlichen mit dem Unaussprechlichen und Unausgesprochenen«163
zu, dem Törleß sich ausgesetzt sieht, löst diesen aber argumentativ auf.
Zunächst konstatiert er, in etwa Törleß’ Position wiedergebend: »In der
Betrachtung dieses Widerstreites sieht man in der Perspektive des Unaus-
sprechlichen zugleich das letzte geistige Wesen.« Er fährt aber fort und
konstatiert:

Nun ist es klar, daß in der Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen
Wesen dieses Verhältnis der umgekehrten Proportionalität zwischen beiden be-
stritten wird. Denn hier lautet die Thesis: je tiefer, d.h. je existenter und wirk-
licher der Geist, desto aussprechlicher und ausgesprochener [...] die Beziehung
zwischen Geist und Sprache zur schlechthin eindeutigen zu machen, so daß
der sprachlich existenteste, d.h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnan-
teste und Unverrückbarste, mit einem Wort: das Ausgesprochenste zugleich
das reine Geistige ist. Genau das meint [...] der Begriff der Offenbarung, wenn
er die Unantastbarkeit des Wortes für die einzige und hinreichende Bedingung
und Kennzeichnung der Göttlichkeit des geistigen Wesens, das sich in ihm

159 Benjamin: Werke II.1, 145.


160 Benjamin: Werke II.1, 144.
161 Benjamin: Werke II.1, 144.
162 Benjamin: Werke II.1, 144.
163 Benjamin: Werke II.1, 146.

297
ausspricht, nimmt. Das höchste Geistesgebiet der Religion ist (im Begriff der
Offenbarung) zugleich das einzige, welches das Unaussprechliche nicht kennt.
Denn es wird angesprochen im Namen und spricht sich aus als Offenbarung.
Hierin aber kündigt sich an, daß allein das höchste geistige Wesen, wie es in
der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache in ihm beruht,
während alle Kunst, die Poesie nicht ausgenommen, nicht auf dem allerletzten
Inbegriff des Sprachgeistes, sondern auf dinglichem Sprachgeist, wenn auch in
seiner vollendeten Schönheit, beruht.164

Diese Einschränkung der menschlichen Sprache ist aber keine qualitative,


aus der man etwa eine Sprachlosigkeit des Menschen im Angesicht Got-
tes im Sinne der negativen Theologie oder ›säkularisierter Mystik‹ herlei-
ten könnte, sondern der Unterschied ist ein gradueller.165 Wie Benjamin
schreibt: »Die Unendlichkeit aller menschlichen Sprache bleibt immer
eingeschränkten und analytischen Wesens im Vergleich mit der absolut
uneingeschränkten und schaffenden Unendlichkeit des Gotteswortes.«166
Kurzum: das menschliche Wort benennt, während das göttliche Wort
schafft.
Kraft einer solchen graduellen Unterscheidung zwischen göttlicher Of-
fenbarung und menschlichem Benennen167 vermag Benjamin die Probleme
zu umgehen, die Törleß’ Sprachkrise bedingen, Probleme, die mit Törleß’
Befürchtung zusammenhängt, Sprache stelle lediglich ein willkürliches Zei-
chensystem dar. Gegen ein derartiges Sprachverständnis richtet sich Ben-

164 Benjamin: Werke II.1, 146f..


165 Vgl. Benjamin, der in Zusammenhang mit seiner Kritik an der ›bürgerlichen‹
Sprachauffassung schreibt: »Mißverständlich ist aber auch die Ablehnung der
bürgerlichen durch die mystische Sprachtheorie. Nach ihr nämlich ist das Wort
schlechthin das Wesen der Sache. Das ist unrichtig, weil die Sache an sich kein
Wort hat, geschaffen ist sie aus Gottes Wort und erkannt in ihrem Namen nach
dem Menschenwort.« (Benjamin: Werke II.1, 150.)
166 Benjamin, II.1, 149; Hervorhebung der Vf..
167 Vgl. Benjamins Ausführungen über die Frage der Übersetzung in diesem Auf-
satz: »[...] jede höhere Sprache (mit Ausnahme des Wortes Gottes) [kann] als
Übersetzung aller anderen betrachtet werden. [...] Die Übersetzung der Sprache
der Dinge in die des Menschen ist nicht nur Übersetzung des Stummen in
das Lauthafte, sie ist die Übersetzung des Namenlosen in den Namen. Das ist
also die Übersetzung einer unvollkommenen Sprache in eine vollkommenere,
sie kann nicht anders als etwas dazu tun, nämlich die Erkenntnis.« Benjamin:
Werke II.1, 151. Letztlich hegt Benjamin also die Vorstellung gradueller Unter-
schiede nebst qualitativen, aber das Setzen qualitativer Unterschiede zwischen
der Menschensprache und dem göttlichen Wort führt nicht zur Erfahrung der
Sprachlosigkeit, die Törleß in quasi säkular-mystischem Sinne ansatzweise er-
lebt.

298
jamins scharfe Kritik. Er bekämpft die »bürgerliche[...] Ansicht, [...] daß
das Wort zur Sache sich zufällig verhalte, daß es ein durch irgendwelche
Konvention gesetztes Zeichen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei«.168
Wie er selbst konstatiert: »Die Sprache gibt niemals bloße Zeichen.«169 Dass
wir meinen, das Wort solle »etwas mitteilen (außer sich selbst)«, bezeichnet
Benjamin als den »Sündenfall des Sprachgeistes: Das Wort als äußerlich
mitteilendes, gleichsam eine Parodie des ausdrücklich mittelbaren Wortes
auf das ausdrücklich unmittelbare, das schaffende Gotteswort, [...]«.170 Im
Kontext seiner auf der biblischen Genesis aufbauenden Kritik an einer
›äußerlich mitteilenden‹ Sprache unterscheidet Benjamin zwischen der
überaus positiv bewerteten nennenden Sprache der Unmittelbarkeit und
der urteilenden Sprache, die aus dem besagten »Sündenfall des Sprachgeis-
tes« resultiere. Merkmale letzterer (der ›bürgerlichen‹ Sprache) sind ihre
Mittelbarkeit (und somit auch ihre »bloße« Zeichenhaftigkeit), der Verlust
eines seligen In-sich-selbst-Ruhens und ihr Hang zur Abstraktion. Infolge
dieses ›Sündenfalls‹ habe der Mensch »die Unmittelbarkeit in der Mittei-
lung des Konkreten, den Namen« verlassen und sei »in den Abgrund der
Mittelbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen Wortes«, sei
»in den Abgrund des Geschwätzes« verfallen.171 Dieser Prozess sei mit einer
»Abkehr von jenem Anschauen der Dinge« einhergegangen, die zu einer
›Verwicklung‹ der Dinge und folglich auch einer Verwirrung der »Zeichen«
geführt habe. Die Konsequenz sei eine »Überbenennung« der Dinge – eine
Ȇberbenennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und (vom
Ding aus betrachtet) allen Verstummens«.172 Der Impuls, die Dinge ›spre-
chen zu lassen‹, der Lord Chandos auf dem Höhepunkt seiner Sprachkrise
erfasst, erhält im Kontext einer solchen Diagnose neue Bedeutung.
Konstitutiv für Benjamins frühe Sprachtheorie ist die radikal abwerten-
de Perspektive auf die ›bürgerlich‹-richtende Sprache der Mittelbarkeit und
das Insistieren auf der nennenden Sprache der Unmittelbarkeit, die analog
zur biblischen Schöpfungsgeschichte konzipiert wird. In diesem Rahmen
evoziert Benjamin eine ›gottgegebene‹, will heißen in der Sprache Gottes
erzeugte Identität zwischen Wort und Name, die jedoch im ›Ausgesproche-
nen‹, d.h. in den Dingen, verloren geht, denn, wie Benjamin schreibt: »Die

168 Benjamin: Werke II.1, 150.


169 Benjamin: Werke II.1, 150.
170 Benjamin: Werke II.1, 153.
171 Benjamin: Werke II.1, 154.
172 Benjamin: Werke II.1, 155.

299
Natur aber ist stumm.« Benjamins Vorstellung nach ist die ›stumme‹ Natur
auf das Benennen durch den Menschen angewiesen, der als Benennender
»selig« war »im reinen Sprachgeist«. Erst die Aneignung einer prädizieren-
den Sprache und der hiermit einhergehende Verlust eines solchen »reinen
Sprachgeist[es]« verurteilt die Dinge zu »tote[r] Objektivität«.173 Die Ar-
gumentation, die Benjamin in seinem frühen Traktat konsequent zu Ende
denkt, fasst Michael Bröcker konzis zusammen, wenn er schreibt:

Mit dieser ontischen Abwertung der Materie ›beginnt ihre andere Stummheit,
die wir mit der tiefen Traurigkeit der Natur meinen‹ (II,/I, 155). Indem der
stummen Natur wieder Sprache verliehen, d.h. indem sie im Namen erkannt
wird, restituiert sich die ursprüngliche Einheit. Deshalb ist der Begriff einer
vor-prädikativen Erfahrung verbunden mit dem des Glücks. Selig wäre ein Le-
ben, das die auf der Subjekt-Objekt-Trennung beruhenden Unterscheidung des
propositionalen Wissens nicht kennt.174

Benjamins frühes Traktat über die Sprache diagnostiziert das Problem,


ohne aber mögliche Lösungen zu liefern. Letztlich mündet Benjamins In-
sistenz auf der Nichtigkeit einer prädizierenden Sprache und der durch
sie erzeugten Diskursivitität in die Entwicklung von Strategien, mittels
derer man der »Frage der Darstellung« (I/I 207) begegnen kann. Ohne in
nostalgische Sehnsucht nach ursprünglicher ›Sprachseligkeit‹ zu verfallen,
versucht Benjamin, die Gefahren einer ›richtenden‹ Sprache zu bannen.
Benjamins Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen Fragestellun-
gen führt zur Entwicklung der bereits thematisierten »kulturdialektische[n]
Methode« und der mit ihr verknüpften Erinnerungspoetik, die sich erst im
Spätwerk voll entfaltet. Wie eine direkte Antwort auf die im frühen sprach-
philosophischen Aufsatz geschilderte Situation muten einige eher skizzierte
als ausformulierte Gedankengänge an, die im Umkreis der Thesen Über
den Begriff der Geschichte formuliert werden, und zwar in mehrfacher Vari-
ation. Unter der Überschrift »Das dialektische Bild« schreibt Benjamin:

[...] Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des Lebens
zugrunde liegt. ›Was nie geschrieben wurde, lesen‹ heißt es bei Hofmannsthal.
Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.)
{Die Vielheit der Historien ist der Vielheit der Sprachen ähnlich. Universalge-
schichte im heutigen Sinn kann immer nur eine Art von Esperanto sein. Die
Idee der Universalgeschichte ist eine messianische.}

173 II/I, 154; vgl. Michael Bröcker: »Sprache«. In: Michael Opitz und Erdmut Wi-
zisla: Benjamins Begriffe, Frankfurt/Mn. 2000, Bd. II, 740–773; hier 750.
174 Bröcker: »Sprache«, 750.

300
{Die messianische Welt ist die Welt allseitiger und integraler Aktualität. Erst in
ihr gibt es eine Universalgeschichte. Aber nicht als geschriebene, sondern als die
festliche begangene. Dieses Fest ist gereinigt von aller Feier. Es kennt keinerlei
Festgesänge. Seine Sprache ist integrale Prosa, die die Fesseln der Schrift ge-
sprengt hat und von allen Menschen verstanden wird (wie die Sprache der Vögel
von Sonntagskindern). – Die Idee der Prosa fällt mit der messianischen Idee
der Universalgeschichte zusammen (die Arten der Kunstprosa als das Spektrum
der universalhistorischen – im ›Erzähler‹ [...].}175

Diese im Notizenkonvolut des Nachlasses versteckten Gedanken sind be-


merkenswert, stellen sie doch einen emphatischen Bezug zwischen Ben-
jamins »kulturdialektische[r] Methode«, seiner Erinnerungspoetik, seiner
Historismuskritik und seiner Sprachkritik her. Die »kulturdialektische Me-
thode« einer auf Apokatastasis zielenden Geschichtslesung, die nach dem
Prinzip der ›Aktualisierung‹ von Vergangenem in Form von erinnernder
Konstellationsbildung operiert, wird der Geschichtsschreibung entgegenge-
stellt, deren Nichtigkeit in diesem Kontext aus der Nichtigkeit der ›rich-
tenden‹ Sprache hergeleitet wird, in der sie sich formuliert. In einer ähnlich
lautenden Passage greift Benjamin das Wort von der Vielheit der Sprachen
– als Symptom für die Herrschaft einer urteilenden, und als solchen de-
naturierten Verstandessprache – auf und schreibt in Bezug auf die »Sorte
von Esperanto«, mit der man sich zu helfen versuche:
Es kann ihr nichts entsprechen, eh die Verwirrung, die vom Turmbau zu Babel
herrührt, geschlichtet ist. Sie setzt die Sprache voraus, in die jeder Text einer
lebenden oder toten ungeschmälert zu übersetzen ist. Oder besser, sie ist diese
Sprache selbst.176

Es folgt, wie in der oben zitierten Passage, die Evokation der »Idee der
Prosa selbst, die von allen Menschen verstanden wird wie die Sprache
der Vögel von Sonntagskindern«.177 In diesen Worten klingen reichhal-
tige Bezüge an: »Historien« im herkömmlichen Sinne werden Sprachen
gleichgesetzt, die man wohl im Geiste des frühen sprachphilosophischen
Traktats als ›richtende‹ Sprachen verstehen darf. In einem weiteren Schritt
wird Universalgeschichte im herkömmlichen Sinne einer Universalsprache
gleichgesetzt. Als Behelfskonstruktion, die auf dem selben Fundament fußt
wie die unzähligen prädizierenden Sprachen, die in sie einfließen, erweist
sich diese aber als genauso nichtig wie die einzelnen Sprachen, aus denen

175 Benjamin: Werke I.3, 1238.


176 Benjamin: Werke I.3, 1239.
177 Benjamin: Werke I.3, 1238.

301
sie sich als Vermittlungssprache im Zustand der post-prädikativen Sprach-
verirrung speist. Als eine Sprache der Schrift ist die Urteils-, die Verstan-
des-, die ›bürgerliche‹ Sprache abzulehnen, und die Geschichtsschreibung,
die sich ihrer als Instrument bedient, auch. Wenn Benjamin eine andere,
messianische Art der Universalsprache evoziert und dabei betont, diese
werde nicht geschrieben, sondern festlich begangen, so scheint er eine dich-
terische Praxis zu meinen, die sich keiner Sprache bedient, sondern eine
Sprache hervorruft – will heißen: eine »integrale Prosa«. Es fragt sich, ob
nicht in der Absage an »Festgesänge« ein Bezug zur narrativen Geste der
idealistischen Universalgeschichtsschreibung zu sehen ist, die in Hölderlins
späten Vaterlandshymnen kulminiert.
Aber wie bereits konstatiert wurde, kündigt Benjamin die Idee einer te-
leologisch determinierten Universalgeschichte nicht einfach auf. Vielmehr
setzt er – in einer äußerst aufschlussreichen Notiz aus dem Umkreis der
Thesen Über den Begriff der Geschichte – der idealistischen Universalge-
schichte im Sinne eines fortschrittsgläubigen Historismus seine bereits er-
örterte Vision einer messianischen Universalgeschichte entgegen, die mittels
seiner ›kulturdialektische[n] Methode‹ herbeigeführt werden soll. Im selben
Notizenkonvolut wird eine signifikante Verbindung zwischen dieser auf
›Apokatastasis‹ abzielenden ›Methode‹ und einem weiteren Konstituens der
Benjamin’schen Erinnerungspoetik hergestellt. Benjamin schreibt:

Das dialektische Bild ist ein Kugelblitz, der über den ganzen Horizont des
Vergangnen läuft.
{Vergangnes historisch artikulieren heißt: dasjenige in der Vergangenheit erken-
nen, was in der Konstellation eines und desselben Augenblickes zusammentritt.
Historische Erkenntnis ist einzig und allein möglich im historischen Augenblick.
Die Erkenntnis im historischen Augenblick aber ist immer eine Erkenntnis von
einem Augenblick. Indem die Vergangenheit sich zum Augenblick – zum dia-
lektischen Bilde – zusammenzieht, geht sie in die unwillkürliche Erinnerung
der Menschheit ein.}
{Das dialektische Bild ist zu definieren als die unwillkürliche Erinnerung der
erlösten Menschheit.}178

In dieser fragmentarischen, d.h. ›unfertigen‹ Formulierung konvergieren


wesentliche Aspekte der Erinnerungspoetik, der Historismuskritik und der
Sprachkritik des späten Benjamin, deren teils explizite, teil aus weiteren
Formulierungen herzuleitende Verknüpfung erneut Fragen und Probleme
aufwirft. Die Formulierung selbst ist ungenau und widersprüchlich. Die

178 Benjamin: Werke I.3, 1233.

302
Vision einer unbegrenzten Zahl an Augenblicken, die in der unendlichen
Summe so etwas wie ›Apokatastasis‹ erzeugen soll, erscheint hier auf einen
Augenblick, auf ein ›dialektisches Bild‹ reduziert, das mit einer einzigen
»unwillkürlichen Erinnerung« der ganzen (»erlösten«) Menschheit korre-
liert wird. Bemerkenswert ist nicht nur die generalisierende, reduktionis-
tische Tendenz dieser Formulierung, sondern in erster Linie die Übertra-
gung einer individualpsychologischen Kategorie auf ein Kollektiv – auf das
Kollektiv schlechthin, wenn nicht zu sagen, auf die erlöste Menschheit. Be-
merkenswert ist ferner die implizite, etwas widersprüchliche Verbindung,
die zwischen einem ›unwillkürlichen‹ Ereignis und der Anwendung einer
(›kulturdialektischen‹) Methode hergestellt wird, suggeriert doch das Wort
›Methode‹ keineswegs das unkontrollierbare Geschehen, das das ›unwill-
kürliche Erinnern‹ dem Proustschen Wortgebrauch nach darstellt. Aber ge-
rade in diesen beiden bemerkenswerten Aspekten der obigen Formulierung
drückt sich das Wesentliche am ›kulturdialektischen‹ Aktualiserungsprozess
aus, der hier beschrieben wird: der Ansatz zu einer Neukonzipierung eines
Begriffes, den Benjamin von Proust übernommen hatte sowohl in Hinblick
auf das, was unter ›unwillkürlich‹ verstanden wird, als auch in Bezug auf
die Instanz, der solch ›unwillkürlich‹ Erinnertes zuteil werden soll.
Wie bereits weiter oben angemerkt wurde, erscheint die Übertragung
einer individual-psychischen Form von Erinnern auf kollektive Vorgänge,
die in den Horizont einer messianischen Universalgeschichte gestellt wer-
den, problematisch.179 Im Hinblick auf die Phrase »Vergangenes historisch
artikulieren« schreibt Thomas Weber in Bezug auf Benjamins Erfahrungs-
begriff:

Erfahrung ist ein Artikulationsbegriff, wobei Artikulation im doppelten Sinne


als Verknüpfung und als Ausdruck zu verstehen ist. Erfahrung ist eine Dimensi-
on menschlicher Praxis, in der Selbst- und Weltverhältnis derart artikuliert sind,
dass das Weltverhältnis als Selbstverhältnis und umgekehrt das Selbstverhältnis
als Weltverhältnis artikulierbar wird.180

In der Tat scheint für Benjamin das Moment der Verknüpfung von indi-
viduell und kollektiv Erlebtem nicht nur die Voraussetzung für den Aus-

179 Bemerkenswerterweise entspricht sie methodisch dem Vorgehen des späten


Freud, zum Beispiel in Totem und Tabu (1912/13).
180 Thomas Weber: »Erfahrung«. In: Michael Opitz und Erdmut Wizisla: Benja-
mins Begriffe, Frankfurt/Mn. 2000, Bd. 1, 230–259; hier 236.

303
druck von Erfahrung darzustellen, sondern diese schlechthin zu bedingen.
Wie Benjamin am anderen Ort schreibt:

Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte


der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion.
Die Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen [...] führten die Verschmelzung
zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses immer von neuem durch.
Sie provozierten das Eingedenken zu bestimmten Zeiten und blieben Handha-
ben desselben auf Lebenszeit. Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken
verlieren so ihre gegenseitige Ausschließlichkeit.181

Im Kontext individuell-kollektiver ›Erfahrung‹ lässt Benjamin das ›will-


kürliche‹ Eingedenken zu einem positiven Moment werden. Anders als
im rein individuell-persönlichen Bereich – dem alleinigen Geltungsbereich
der Proust’schen mémoire volontaire – stellt das willkürliche Eingedenken
im individuell-kollektivem Rahmen keine »Registratur«, keine »Domes-
tizierung« bewusster Erinnerungen dar, die diese daran hindern würden,
»in die Erfahrung (einzugehen)«, weil sie durch die Registrierfähigkeit des
Bewusstseins bereits ›erschöpft‹ wären.182 Vielmehr ermöglicht die Ver-
knüpfung der individuellen Geschichte mit der des Kollektivs »Erfahrung
im strikten Sinn«; durch sie kann »echte historische Erfahrung« überhaupt
erst entstehen, – so Benjamin.183 Indem er Prousts Begriffspaar für seine
»kulturdialektische Methode« dienstbar macht, geht er gegen den »aus-
weglos privaten Charakter« von Erinnern in einer Gesellschaft an, die
aus Benjamins Sicht traditionslos geworden ist. Indem Proust signalisiert,
»›Die Erlösung ist meine private Veranstaltung‹«184, kündige er die »Ver-
kümmerung der Erfahrung« im gesellschaftlich-historischen Sinne an, sagt
Benjamin, der diese aus der »Trennung von individueller und kollektiver
Erinnerung« hervorgehen sieht. 185
Wie Benjamin meint, weist seine Vision den Weg aus dieser Misere.
Er sieht die Traditionspflege – wobei diese der Pflege einer Kultur des
›Eingedenkens‹ in etwa gleichkommt – als Möglichkeit, das Phänomen
des unwillkürlichen Erinnerns aus seiner exklusiv-privaten Funktionsbe-
stimmung zu befreien und für das Kollektiv, will sagen: die Menschheit als
Ganzes dienstbar zu machen. Wie er mit überaus kritischem Tenor meint,

181 Benjamin: Werke I.2, 611.


182 Benjamin: Werke I.2., 615; vgl. Weber: »Erfahrung«, 240.
183 Benjamin: Werke I.2, 641f.; vgl. Weber: »Erfahrung«, 241.
184 Benjamin: Werke I.2, 643.
185 Benjamin: Werke I.2., 613; Weber: »Erfahrung«, 240.

304
trage der von Proust gemünzte Begriff mémoire involontaire »die Spuren der
Situation, aus der heraus er gebildet wurde. Er gehört zum Inventar der
vielfältig isolierten Privatperson«.186 Auf diese Feststellung folgt das oben
zitierte Loblied auf die Kulte und Feste, die das willkürliche Erinnern aus
der Isolation führen und eine »Verschmelzung der beiden Materien des
Gedächtnisses herbeiführen« sollen. In einer Notiz zu den Thesen Über den
Begriff der Geschichte setzt Benjamin die so verstandene Traditionspflege –
als »Diskontinuum des Gewesenen« – der Historie – als »Kontinuum der
Ereignisse« – entgegen. Unter der Überschrift »{Problem der Tradition I}
/ Die Dialektik im Stillstande« schreibt er:
(Grundlegende Aporie: ›Die Tradition als das Diskontinuum des Gewesnen im
Gegensatz zur Historie als dem Kontinuum der Ereignisse.‹ – ›Mag sein daß die
Kontinuität der Tradition Schein ist. Aber dann stiftet eben die Beständigkeit
dieses Scheins der Beständigkeit die Kontinuität in ihr.‹)
(Grundlegende Aporie: ›Die Geschichte der Unterdrückten ist ein Diskontinu-
um.‹ – ›Aufgabe der Geschichte ist, der Tradition der Unterdrückten habhaft
zu werden.‹)
Weiteres zu diesen Aporien: ›Das Kontinuum der Geschichte ist das der Un-
terdrücker. Während die Vorstellung des Kontinuums alles dem Erdboden
gleichmacht, ist die Vorstellung des Diskontinuums die Grundlage echter
Tradition.‹187

Hier wird klar, welch geradezu zwingender Zusammenhang zwischen ›Tra-


dition‹ (als Vehikel kollektiven ›Eingedenkens‹), Individual- und Kollek-
tiverinnern (willkürlichem wie unwillkürlichem), Erfahrung (als Produkt
des Zusammenspiels von Tradition und Erinnern) und der Historismus-
kritik in Benjamins Spätwerk hergestellt wird. Bei aller systemischer Ko-
härenz, die diese Ingredienzen der Benjamin’schen ›kulturdialektischen
Methode‹ ergeben, wird Diskontinuität zum entscheidenden Parameter
erklärt. Diese ist jedoch nicht als Gegensatz zu Kontinuität zu denken,
schafft sie doch paradoxerweise die Voraussetzung für ein neues ästheti-
sches Ordnungsprinzip, das sich augenblicklicher, sich immer neu und
anders einstellender ›Konstellationen‹ bedient.
Adorno deklariert die »Hölderlin’schen Korrespondenzen«, wie er sie in
der späten Lyrik des Dichters entdeckt, als Ergebnis des Hölderlin attri-
buierten »parataktischen Verfahrens«; dieser mit poetologischer Intention

186 Benjamin: Werke II.2, 611.


187 Benjamin: Werke I.3, 1236.

305
vollzogene, strategische Akt mutet wie die dichterische Umsetzung von
Benjamins ›kulturdialektischer Methode‹ an. Adorno schreibt:

Im tiefsten Verhältnis zum parataktischen Verfahren stehen die Hölderlinschen


Korrespondenzen, jene plötzlichen Beziehungen antiker und moderner Schau-
plätze und Figuren. [..] Zeiten durcheinander zu schütteln, Entlegenes und
Unverbundenes zu verbinden, das dem Diskursiven entgegengesetzte Prinzip
solcher Assoziationen mahnt an die Reihung grammatischer Glieder.188

Adorno scheint in Hölderlins Hymnen ein Alternativprogramm entdeckt


zu haben, das sich der oben erörterten Aporie entledigt: der Frage nach
dem ›Stellen-Wert‹ – nach Lokus, Funktion und Tragweite – dichterischen
Erinnerns: seiner kollektiven bzw. individuellen Ausrichtung, seines abso-
luten bzw. bedingten Auftrags.

3.2.3. Gefäße des Erinnerns: Rilkes Puppen aus Proust’scher /


Benjamin’scher Perspektive
Doch kehren wir – rondohaft – noch einmal zu Rilke und seinem Pup-
penessay zurück. Wenn ich nun einige Stränge der zuletzt angestellten
Überlegungen zusammenführe, möchte ich mich einer offen gebliebenen
Frage widmen: der Frage nach dem Doppel-Charakter der Puppe, ihrer
Aufspaltung in ›Puppen-Ding‹ und ›Puppen-Seele‹. Wie ich meine, bietet
die von Proust und nach ihm Benjamin vorgenommene Unterscheidung
zwischen ›mémoire volontaire‹ und ›mémoire involontaire‹ den Schlüssel
für eine Erklärung dieser merkwürdigen Konstruktion, – eine mögliche
Erklärung, die in der Puppe des Essays eine äußerst komprimierte Chiff-
re erkennen lässt, deren Bedeutungspotential in verschiedene Richtungen
ausstrahlt. In seiner Schrift Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter
des Hochkapitalismus beleuchtet Benjamin die Unterscheidung zwischen
›willkürlichem‹ und ›unwillkürlichem‹ Erinnern unter anderem im Kontext
von Theodor Reiks bzw. Sigmund Freuds Traumtheorie, die er knapp und
konzis folgendermaßen umreißt:

Die Ausführungen, in denen Reik seine Theorie des Gedächtnisses entwickelt,


bewegen sich zum Teil ganz auf der Linie von Prousts Unterscheidung zwischen
dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Erinnern. ›Die Funktion des Ge-
dächtnisses‹, heißt es bei Reik, ›ist der Schutz der Eindrücke; die Erinnerung
zielt auf ihre Zersetzung. Das Gedächtnis ist im Wesentlichen konservativ, die

188 Adorno: »Parataxis«, 479.

306
Erinnerung ist destruktiv.‹ Den fundamentalen Satz von Freud, welcher diesen
Ausführungen zugrunde liegt, formuliert die Annahme, ›das Bewußtsein ent-
stehe an der Stelle der Erinnerungsspur‹. Es ›‚wäre also durch die Besonderheit
ausgezeichnet, daß der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in allen anderen psy-
chischen Systemen eine dauernde Veränderung seiner Elemente hinterläßt, son-
dern gleichsam im Phänomen des Bewußtswerdens verpufft‹. Die Grundformel
dieser Hypothese ist, ›daß Bewußtsein und Hinterlassung einer Gedächtnisspur
für dasselbe System miteinander unverträglich sind‹. Erinnerungsreste sind viel-
mehr ›oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang
niemals zum Bewußtsein gekommen ist‹. Übertragen auf Prousts Redeweise:
Bestandteil der mémoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich
und mit Bewußtsein ist ›erlebt‹ worden, was dem Subjekt nicht als ›Erlebnis‹
widerfahren ist.189

Benjamins Ausführungen über Freuds Theorie des Erinnerns stehen aber


in einem weiteren Kontext, und die hier entfaltete Argumentation wird im
Lichte der Freud’schen Erinnerungstheorie verständlicher. Im Laufe dieser
Argumentation stellt Benjamin einen Zusammenhang zwischen mémoire
involontaire, Aura und Erfahrung auf der einen Seite her, während er auf
der anderen mémoire volontaire mit dem ›Verfall‹ von Aura und – um
eine andernorts angebrachte Vokabel zu zitieren – »Verkümmerung der
Erfahrung« korreliert. Hierbei liefert er zwei miteinander verzahnte ›Defi-
nitionen‹ für den Begriff, auf den es hier vor allem ankommt: den Begriff
der ›Aura‹. Wie er schreibt, entsprechen der ›Aura‹ eines Gegenstandes zum
einen die »in der mémoire involontaire beheimatet[en]« Vorstellungen, die
»sich um [diesen] Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben«.
Weiterhin entspricht »die Aura am Gegenstand« – so Benjamin – »ei-
ner Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des
Gebrauchs als Übung absetzt«.190 Als Nächstes wird ein Zusammenhang
zwischen dem Phänomen des Photographierens, einer Ausdehnung der
Tätigkeit des willkürlichen Erinnerns und einer Einbüße an ›Übung‹ in
diesem eigenwilligen Sinne konstatiert. Wie es heißt:

Die auf der Kamera und den späteren entsprechenden Apparaturen aufgebauten
Verfahren erweitern den Umfang der mémoire volontaire; sie machen es mög-
lich, ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzu-
halten. Sie werden damit zu wesentlichen Errungenschaften einer Gesellschaft,
in der die Übung schrumpft.191

189 Benjamin: Werke I.2, 612f..


190 Benjamin: Werke I.2, 644.
191 Benjamin: Werke I.2, 644.

307
Eine implizite Analogie zwischen der ›destruktiven Kraft‹ des Erinnerns im
Sinne Freud’scher Theoriebildung und jener des photographischen ›Fest-
haltens‹ von ›Erlebnissen‹ – im pejorativen Sinne dieser Benjamin’schen
Vokabel – wird gezogen: Destruktiv ist diese Kraft deshalb, so Benjamin,
weil durch sie den Erlebnissen die Möglichkeit genommen wird, zu ›Erfah-
rungen‹ zu werden. Die Wiederholbarkeit des willkürlich Erinnerten als ein
allzeit Verfügbares, allzeit Abrufbares wird mit einer nur bedingt kontrol-
lierbaren Form von Wiederholung und Wiederholbarkeit kontrastiert, die
sich aus dem ›Gebrauchscharakter‹ der Gegenstände ergibt, – einer Form
von Repetition, die »Erfahrung im strikten Sinn« erst möglich macht, und
zwar Repetition, die idealiter durch Traditionspflege gesichert wird. Zuvor
hatte Benjamin konstatiert:
Erfahrung [ist] eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben.
Sie bildet sie weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gege-
benheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewußten Daten, die im Gedächtnis
zusammenfließen.192

Die Metapher, der sich Benjamin hier bedient, um die ihm vorschwebende
Prozess der ›Erfahrungsbildung‹ zu beschreiben, ist bemerkenswert. Etwas
weiter unten, wo Benjamin auf Prousts ›Entdeckung‹ des unwillkürlichen
Erinnerns zu sprechen kommt und Proust folgt, indem er dieses überaus
affirmativ als eine Art Heilmittel gegen den Verdruss ݊rmlicher Erinnerun-
gen‹ erkennt, schreibt Benjamin: »[...] ehe der Geschmack der madeleine
[...] ihn eines Nachmittags in die alten Zeiten zurückbefördert habe«, sei
Proust

auf das beschränkt gewesen, was ein Gedächtnis ihn in Bereitschaft gehalten
habe, das dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig sei. Das sei die mémoire vo-
lontaire, die willkürliche Erinnerung, und von ihr gilt, daß die Informationen,
welche sie über das Verflossene erteilt, nichts von ihm aufbehalten.193

Als eine Art vorläufiges Fazit seiner Ausführungen über Formen des Erin-
nerns zitiert Benjamin zustimmend den folgenden Proust’schen Satz: »›So
steht es mit unserer Vergangenheit. Umsonst, daß wir sie willentlich zu
beschwören suchen; alle Bemühungen unserer Intelligenz sind dazu nichts
nutze.‹«194 Um dann in seinen eigenen Worten fortzufahren:

192 Benjamin: Werke I.2, 608.


193 Benjamin: Werke I.2, 610; Hervorhebung der Vf..
194 Benjamin: Werke I.2, 610.

308
Darum steht Proust nicht an, zusammenfassend zu erklären, das Verflossene
befinde sich ›außerhalb des Bereichs der Intelligenz und ihres Wirkungsfeldes
in irgendeinem realen Gegenstand . . . In welchem wissen wir übrigens nicht.
Und es ist eine Sache des Zufalls, ob wir auf ihn stoßen, ehe wir sterben, oder
ob wir ihm nie begegnen.‹ Es ist nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob
der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung
bemächtigen kann.195

In einem Punkt gibt Benjamin dem ›Entdecker‹ des willkürlichen Erin-


nerns recht; in einem anderen erhebt er kritische Bedenken. Während
er, wie Proust, das ›Verflossene‹ in »realen Gegenständen« sucht – ein-
drucksvollstes Zeugnis davon ist wohl das quasi-enzyklopädische Passagen-
Werk –, beklagt Benjamin den Rückzug der Erinnerungstätigkeit – des
unwillkürlichen Geschehens – in den privaten Bereich, denn, wie er gleich
hinzufügt: »Diesen ausweglos privaten Charakter haben die inneren An-
liegen des Menschen nicht von Natur. Sie erhalten ihn erst, nachdem sich
für die äußeren die Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimiliert zu
werden.«196 Diese Äußerung, die eine fundamentale Kritik an Prousts ›pri-
vatistischer‹ Erinnerungspoetik birgt, wird verständlicher, stellt man sie in
den Kontext der zuvor zitierten Gedanken über die Bedeutung von Kulten,
Ritualen und dergleichen für eine Zusammenführung des individuellen mit
dem kollektiven Eingedenken. Das Ideal einer solchen ›Amalgamierung‹
des Individuellen mit dem Kollektiven wird im Laufe der Baudelaire-Stu-
die wiederholt und in wechselnden Nuancen formuliert.
Doch möchte ich mein Interesse auf das richten, worüber Proust und
Benjamin sich einig sind: die These, wonach »das Verflosssene sich [...]
in irgendeinem realen Gegenstand (befindet)«. Wie mir scheint, ist die-
se These von zentraler Bedeutung für Prousts wie für Benjamins Erinne-
rungspoetik. Unter Reaktivierung der zuvor verwendeten Metapher des
Fließens, die die Tätigkeit einer unbewussten, Erfahrung bildenden Instanz
charakterisieren sollte, meint das »Verflossene« jetzt zum einen – gemäß
manch umgangsprachlichem Gebrauch – das Vergangene, die Vergangen-
heit. Zugleich und konkreter meint es aber auch potentiell in Erfahrung
verwandelbare Erlebnisse (im Sinne Benjamin’schen Sprachgebrauchs), de-
nen aber eine solche Verwandlung versagt bleibt, wenn sie vom ›schlechten‹
Behälter aufgefangen werden, der sie nicht ›aufzubehalten‹ vermag, d.h.,

195 Benjamin: Werke I.2, 610; Hervorhebung der Vf..


196 Benjamin: Werke I.2, 610.

309
wenn sie über das willkürliche Erinnern quasi – um im Bild zu bleiben –
›entleert‹ werden.
Mit Blick auf Rilkes Puppenmotivik verweise ich auf frappante Über-
einstimmungen in der Bildersprache, der sich Benjamin zur Charakterisie-
rung des willkürlichen und des unwillkürlichen Erinnerns bedient, und der
vom Puppenessay entfalteten. Nach meiner Deutung des Essays diente die
Puppe als ›Gefäß‹ für in sie hineinprojizierte Kindheitserlebnisse. Im einen
Fall erwies sie sich bald als schlechtes ›Gefäß‹, das mit Angeeignetem aus
dem Leben des kindlichen Gegenübers ›abstürzte‹, im anderen jedoch als
intaktes, das das Angeeignete sicher aufbewahrte und zu gegebener Zeit
preisgab. Ich will nun versuchen, Benjamins auf opponierende Formen des
Erinnerns gemünzte Metaphorik auf Rilkes Puppenmotivik zu übertragen:
Das ›Puppen-Ding‹ – als ›schlechtes‹ Gefäß – wäre demnach als eine Art
›Funktionär‹ willkürlichen Erinnerns zu denken, während die ›Puppen-
Seele‹ – als ›gutes‹ Gefäß – sich mit der Tätigkeit des unwillkürlichen
Erinnerns korrelieren ließe. Wenn wir Benjamins in der Baudelaire-Studie
vorgenommene, kritische Auseinandersetzung mit der Photographie etwas
näher anschauen, treten motivische Parallelen zu Tage, die Rilkes Puppe
in diesem neuen Licht noch intensiver beleuchten und dabei ein gemein-
sames Fundament von Rilkes und Benjamins Erinnerungspoetiken erkenn-
bar werden lassen.
Im Abschnitt »Über einige Motive bei Baudelaire« der Baudelaire-
Studie kommentiert Benjamin die von Proust beanstandete »Dürftigkeit«,
den »Mangel an Tiefe in den Bildern [...], die ihn die mémoire volontaire
von Venedig vorlegt«, und er zitiert Proust, wenn er meint, »beim bloßen
Wort ›Venedig‹ sei ihm dieser Bilderschatz ebenso abgeschmackt wie eine
Ausstellung von Photographien vorgekommen«.197 Benjamin greift die von
Proust gezogene Analogie zwischen Photographie und mémoire volontaire
auf und erweitert sie, indem er Bilder, die »aus der mémoire involontaire
auftauchen«, mit solchen ›dürftigen‹, ›abgeschmackten‹ aus dem Fundus
der mémoire volontaire kontrastiert. Er schreibt:

Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der mémoire involon-
taire auftauchen, darin sieht, daß sie eine Aura haben, so hat die Photographie
an dem Phänomen eines ›Verfalls der Aura‹ entscheidend teil. Was an der Da-
guerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche mußte emp-
funden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereinblicken in den Apparat,
da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick

197 Benjamin: Werke I.2, 646.

310
zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert
zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird [...], da fällt
ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.198

Beide von Benjamin beschriebene Phänomene – zum einen die fast tödli-
che Weigerung, den Blick des Gegenübers zu erwidern, zum anderen die
mit der Erfahrung der Aura erfüllte Erwiderung des Blickes – finden wir
im Rilke’schen Puppenmotiv ausgestaltet, wo sie in einem ähnlich dua-
listischen Verhältnis auftreten. Weitere Reflexionen über den Gegensatz
zwischen willkürlichem und unwillkürlichem Erinnern fügen der oben aus-
gemachten motivischen Kongruenz eine zusätzliche Dimension hinzu. In
meiner Rilke-Deutung arbeitete ich komplexe Zusammenhänge zwischen
zwei Motiven heraus, die im Kontext dieser Benjamin-Lektüre noch einmal
besonderes Gewicht erhalten: Antlitz und Gefäß. Wie ich zeigen konnte,
ziehen sich Verknüpfungen dieser beiden Chiffren wie ein roter Faden
durch eine ganze Reihe von Dichtungen aus dem Umkreis des Puppen-
Essays hindurch. Der Gehalt dieser beiden Chiffren näherte sich durch
zunehmende Verdichtung zusehends an.
Die Puppe erhält die ungeheure Bedeutung für den Essayisten des ihr
gewidmeten Essays durch ihren Blick. Ihre Beziehung zum kindlichen Ge-
genüber wird von der Erwiderung bzw. Nicht-Erwiderung des kindlichen
Blickes bestimmt. Als ›schlechtes‹ Gefäß verkörpert die Puppe eine solche
Verweigerung; als ›gutes‹ leistet sie die Erwiderung und erfüllt somit ihre
vornehmlichste Aufgabe für das kindliche Gegenüber. Nun hatte ich vor-
geschlagen, Blick und Gefäß – ähnlich wie bei Benjamin – als Chiffren
für Erinnerungsformen und –prozesse zu lesen und die Gleichsetzung von
Blick und Behälter, die Benjamin in seinen Reflexionen über die zwei
Formen des Erinnerns gedanklich vollzieht, auf Rilkes Puppenmotivik zu
übertragen. Nehmen wir die oben zitierte Passage aus der Baudelaire-Stu-
die wieder ins Visier. Dort korrelierte Benjamin den fast tödlichen, weil
›leeren‹ Blick der Kamera mit der mémoire volontaire als einem, wenn man
so will, ›entleerenden‹ Mechanismus, der aus dem Stoff potentieller Erfah-
rung ›dürftige‹, ›abgeschmackte‹ Bilder fabriziert, während er den erwidern-
den Blick einer anderen Art von Bild gleichsetzte – einem Bild erfüllt von
der »Erfahrung der Aura«. Um diese hermeneutische Engführung auf den
Begriff zu bringen: In der im Puppenessay konstruierten Dualität zwischen
›Puppen-Ding‹ und ›Puppen-Seele‹ verkörpert das ›Puppen-Ding‹ die tödli-

198 Benjamin: Werke I.2, 646.

311
che Verweigerung, die Nicht-Erwiderung des Blickes, wodurch Angeeigne-
tes aus dem Gegenüber nicht ›aufbehalten‹ wird, wohingegen die ›Puppen-
Seele‹ dem Benjamin’schen Ideal eines Zurückblickenden entspricht, der
dem Gegenüber die »Erfahrung der Aura in ihrer Fülle« zukommen lässt.
In diesem Kontext sei an Benjamins Satz erinnert, wonach »die Aura am
Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung (entspricht), die sich an
einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt«.
Wendet man diese Maxime auf Rilkes Puppenmotivik an, so fügen
sich ihre Ingredienzen zu einem kohärenten Bild, das eine tiefgründige
Affinität zwischen Rilkes und Benjamins Erinnerungspoetiken aufscheinen
lässt. In der Sprache des Puppenessays heißt dies: Als ›Übergangsobjekt‹
zwischen Ich und Welt fungiert die Puppe als ›Übungsgegenstand‹, der als
solcher einen Gebrauchsgegenstand im besten Sinne des (Benjamin’schen)
Wortes darstellt. Sie dient der Bildung von Erfahrung. Als Orientierungs-
und Bezugspunkt, auf den im Laufe der Kinderzeit permanent rekurriert
wird, schafft sie ›Tradition‹ im privaten – wenn auch nicht im kollekti-
ven – Sinne des Wortes. Aber sie kann potentiell zwei unterschiedliche
Gestalten annehmen. Erscheint sie lediglich als Artefakt aus der Kindheit,
als sterile Konserve ohne weitere Bedeutung für den Erwachsenen, so wird
sie zum ›Archiv‹ für erfahrungsleere Erinnerungen im pejorativen Sinne
des Wortes. Wird sie als den Blick erwiderndes Gegenüber wahrgenom-
men, so erhält sie den Status eines auratischen Gegenstandes, der dem
Angeblickten »die Erfahrung der Aura in ihrer [ganzen] Fülle« zukommen
lässt. Wie ich meine, bietet diese – freilich sehr schematische – Deutung,
die im übrigen dem Puppenessay eine ›subkutane‹ Kritik an der ›neuen
Kunst‹ der Photographie implizit unterstellt, eine plausible Erklärung für
das doppelgesichtige Puppenmotiv.
Im Kontext des Benjamin’schen Aurabegriffs lässt sich die Puppenmoti-
vik noch aus einem anderen Winkel beleuchten. ›Projektion‹ und ›Fremd-
heit‹ waren die Vokabeln, derer ich mich bediente, um die Rilke’sche Pup-
pe in ihrer zwiespältigen Gestalt zu erfassen. Diese Vokabeln erwiesen sich
auch als fruchtbar für die Kontextualisierung des Puppenessays in Benja-
mins Diskurs über Photographieren und Erinnern, für den unter anderem
der Aurabegriff sich als konstitutiv zeigte. In diesem Diskurs beschreibt
Benjamin die »Erfahrung von Aura« als einen Prozess der Projektion und
Rückprojektion. Wie es heißt:

Die Erfahrung der Aura beruht [...] auf der Übertragung einer in der mensch-
lichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten
oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glauben-

312
de schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit
dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen. Die Funde der mémoire
involontaire entsprechen dem.199

Diese romantisch anmutende Vorstellung versieht das Aura erfahrende


Subjekt mit einer wesentlichen Rolle insofern, als es die Instanz darstellt,
die die in Augenschein genommene Erscheinung »mit dem Vermögen
belehn[t], den Blick aufzuschlagen«. Gemeint ist allerdings kein narziss-
tisches Projektionsverhältnis. Im Gegenteil: Wie es im Folgenden heißt,
»entfallen« die »Funde der mémoire involontaire« »der Erinnerung, die
sie sich einzuverleiben sucht«. Sie »stützen […] einen Begriff der Aura,
der die ›einmalige Erscheinung einer Ferne‹ in ihr begreift«.200 Benjamin
schreibt diesen Austausch des ›Nicht-Identischen‹, der wohlgemerkt vom
›belehnenden‹ Subjekt initiiert wird, der Tätigkeit des unwillkürlichen Er-
innerns zu und sieht in der »Belehnung« letztlich einen »Quellpunkt der
Poesie«.201 Zuvor – im Kontext seiner Kritik an der Photographie – hatte er
die Geltungsbereiche des willkürlichen und unwillkürlichen Erinnerns ab-
gesteckt. Wie er konstatierte: »Die Photographie mag sich unbehelligt die
vergänglichen Dinge zu eigen machen, die ein Anrecht ›auf einen Platz in
den Archiven unseres Gedächtnisses‹ haben, wenn sie dabei nur haltmacht
vor dem ›Bezirk des Ungreifbaren, Imaginativen‹; vor dem der Kunst, in
dem nur das eine Stätte hat, ›dem der Mensch seine Seele mitgibt‹.«202
Demnach können wir folgern: ›Belehnung‹ bedeutet so viel wie ›etwas
die (menschliche) Seele mitgeben‹. Bei Benjamin formuliert sich also auf
verästeltem Wege die Vorstellung eines Zusammenwirkens von einem ›die
Seele mitgebenden‹ Menschen, dem, was »der Mensch seine Seele mitgibt«,
das jedoch nicht ›einverleibt‹ wird, unwillkürlich Erinnerbarem und Kunst.
Die Fremdheit – als Aspekt des (nur) unwillkürlich Erinnerbaren – mar-
kiert ein auf Austausch angelegtes, aber Nicht-Identität wahrendes Projek-
tionsverhältnis zwischen Belehnendem und Belehntem, und sie prägt somit
auch die Kunst, die aus ihr idealiterweise hervorgeht. Das sind zugleich die
Parameter, die Rilkes am Puppenmotiv entfaltetes erinnerungspoetisches
Programm ausmachen, mit dem entscheidenden Unterschied aber, dass der
Mensch »seine Seele« hier einem einzigen Ding ›mitgibt‹: einem menschli-
chen ›Abbild‹ aus Leinen und Watte. Die ›Belehnung‹, die hier stattfindet,

199 Benjamin: Werke I.2, 646f.


200 Benjamin: Werke I.2, 647.
201 Benjamin: Werke I.2, 647.
202 Benjamin: Werke I.2, 644f.

313
ist quasi narzisstisch präfiguriert. Vorläufig kann man also konstatieren:
Die aus Rilkes Puppenessay herauskristallisierbare Erinnerungspoetik und
Benjamins aus vielen verschiedenen Quellen ›zusammengelesene‹ weisen
eine ganze Reihe wesentlicher Affinitäten auf, unterscheiden sich aber
in der soeben erörterten Hinsicht, nämlich insofern als ›Belehnung‹ in
Benjamin’schem Sinne sich potentiell auf Mensch, Ding und Natur er-
streckt, während sie in Rilkes Puppenessay einem menschenabbildenden
Ding bzw. ›Kunst-Ding‹ vorbehalten bleibt, das nur kraft seiner Men-
schenähnlichkeit mit der Seele des Menschen ›belehnt‹ werden kann. Dass
andere Dichtungen Rilkes das Feld des ›Belehnbaren‹ wesentlich erwei-
tern, ändert wenig an der Argumentation, die der Puppenessay für sich
genommen entwickelt. Hier manifestiert sich besonders deutlich die in
Rilkes Werk auszumachende Tendenz zur Verabsolutierung der Beziehung
zwischen einem Subjekt und einem dieses wie auch immer spiegelnden
Gegenüber. Beim Versuch, Art und Ausmaß der Affinität zwischen Ril-
ke und Benjamin auszuloten, etwa, um gewisse literarhistorische Kon-
tinuitäten auszuarbeiten, Traditionen zu identifizieren, aus denen beide
gemeinsam schöpfen bzw. die durch ihre Dichtung neu belebt werden,
wiegen solche Differenzen unter Umständen schwerer auf als ausgemachte
Gemeinsamkeiten.
Um die Differenz in Art und Umfang des ›Belehnbaren‹ zu relativieren,
möchte ich aber abschließend auf eine noch nicht ausreichend gewürdigte
Eigenschaft der ›er-wachsenen‹ Puppen der Lotte Pritzel hinweisen, von
denen der Puppenessayist sich bekanntlich inspirieren ließ. Diese stellen
keine kindgemäßen Stoffpuppen dar, sondern präsentieren sich als hoch-
gradig stilisierte, bizarr anmutende Frauengestalten. Sollen wir uns sie als
erwachsene Pendants zu Puppen aus der Kinderstube vorstellen, so muss
ihre radikale Transformierung geradezu beunruhigend wirken; so erschei-
nen sie, als hätten sie – losgelöst vom kindlichen Gegenüber – all die
Jahre ein unkontrolliertes und unkontrollierbares Eigenleben geführt. So
scheint auch deren Kapazität für narzisstische Projektion an eine Grenze zu
geraten; ein Potential für Fremdheit im Verwandten hingegen, – dies die
Voraussetzung für ›Belehnung‹ im Benjamin’schen Sinne –, tut sich hier
auf. Diese Komponente der Puppenmotivik zeigt womöglich eine gewisse
›Metamorphose‹ der im Zeichen von Projektion und absolutem Bezug ste-
henden Dichtung an. Die Veränderung kann womöglich gelesen werden
als eine Modifikation der verabsolutierten Bespiegelungsvision, mit der die
Aufzeichnungen im Sinne einer Lesart zumindest ausklingen. So zeigt sich
die im Puppenessay entwickelte Erinnerungspoetik als anschlussfähig für

314
neue Impulse, neue Visionen, wie sie Benjamin entfaltet und dichterisch
wie essayistisch formuliert.

3.2.4. Zur ›Frage der Darstellung‹: Wege zum ›bildnerischen


und intellektuellen Ganzen‹
In diesen Schlussbemerkungen will ich an den Gedanken einer von Rilke
und Benjamin in vielerlei Hinsicht geteilten poetologischen Vision fest-
halten und das Gemeinsame über das Trennende stellen. Hier will ich
aber auch Adorno und Musil in die Frage nach möglichen Affinitäten
und Traditionszugehörigkeiten einbeziehen, und zwar, indem ich zum ei-
nen auf Adornos Parataxis-Ästhetik als Sprachkritik rekurriere sowie einen
wichtigen Aspekt von Benjamins früher Sprachkritik aufgreife und dessen
Weiterentwicklung verfolge, um ihn letztlich mit Blick auf Musils visionäre
Poetologie in den Kontext Benjamin’schen und Rilke’schen Erinnerns zu
stellen. Dieser lässt sich als die »Frage der Darstellung« umreißen, so die
Formel, mit der Benjamin die »[e]rkenntniskritische Vorrede« zu seinem
Ursprung des deutschen Trauerspiels eröffnet.203
In seinem frühen sprachkritischen Traktat hatte Benjamin eine Visi-
on von Sprache als Mitteilung der ›prädizierenden‹ Sprache ›bürgerlicher‹
Diskursivität entgegengesetzt und – folgt man der Argumentation dieser
Arbeit – sie im Spätwerk in Form einer Art »integraler Prosa« in seinem
eher skizzierten als ausformulierten erinnerungspoetischen Programm mit
historismuskritischem Impuls eingebettet. Adornos Hölderlin-Aufsatz ope-
rierte mit einem linguistischen Begriff, woraus er eine gewissermaßen iko-
noklastische Hölderlinexegese herleitete. Hier kämpfte – ganz im Geiste
des ›linguistic turn‹ – eine ›parataktische‹ gegen eine ›idealismuskonforme‹,
will heißen ›hypotaktische‹ Lesart an. Der von Adorno inszenierte, auf
scheinbar linguistischem Boden ausgefochtene Richtungskampf erhielt sei-
ne Selbstlegitimation durch die These, nicht erst im Interpretationsgang,
sondern schon im dichterischen Prozess selbst versuche eine Ästhetik des
Parataktischen sich gegenüber einem hypotaktischen Dichtungsprinzip zu
behaupten; der Dichter lasse sich mal vom Gedanken leiten, mal überlas-
se er sich dem Impuls des ›Gedichteten‹. Ich möchte die hier benutzten
linguistischen Begrifflichkeiten hinterfragen, indem ich einen kritischen
Blick auf Adornos im Anschluss an Benjamin geführten Kampf gegen eine

203 Benjamin: Werke I.1, 207.

315
Sprache der ›Prädikation‹ werfe unter Berücksichtigung bereits formulier-
ter, ähnlich skeptischer Urteile.
In einer unlängst erschienenen Monographie mit dem Titel The Persi-
stance of Subjectivity analysiert Robert B. Pippin204 Adornos tendenziösen
Gebrauch des linguistischen Terminus ›predication‹ in Hinblick auf des-
sen Bedeutung für seine Philosophie des ›Nicht-Identischen‹. Wie Pippin
einleuchtend argumentiert, speist sich Adornos Kritik an der prädikativen
Sprache aus seiner Animosität gegenüber dem sogenannten Identitätsden-
ken, das auf einer Ebene zumindest einer Kritik an der begrifflichen Spra-
che selbst gleichkommt. »[A]ccording to Adorno«, so Pippin,
what is basically going wrong [...] amounts to a kind of logical confusion be-
tween the status of concepts, or universals, and their relation to instances, or
particulars. This, in the simplest sense, is what [Adorno] means by identity
thinking: a regimentation of our experience of particulars such that they are
identified by attending only to their conceptually salient aspects, whether these
be common markers or common similarities to a paradigmatic instance. Ele-
ments of experience that do not ›fit‹ what we might conceptually require of
them are systematically ignored, even ›suppressed‹, in a way Adorno often links
not with a mistake or simple confusion but with ›domination‹ (Herrschaft) or
compulsion, force (Zwang), as if simply thinking in a distorted or simplifying
way like this amounts to an exercise of power [...].205

In Adornos Geschichts- und Gesellschaftskritik meint Pippin eine reduk-


tionistische Ablehnung von »discursive practices and normatively con-
strained conduct best codified and defended in German Idealism« zu er-
kennen, die Adorno als »explicans for everything from bourgeois hypocrisy
to maldistribution of resources to the ›coldness‹ of ›the administered world‹«
diene, wobei solche ›diskursiven Praktiken‹ mit dem pauschalen Begriff der
Prädikation erfasst werden. Wie Pippin schreibt: »Adorno can give the
impression that he thinks of all predication as a form of identification, as if
he has simply confused the ›is of predication‹ with the ›is of identity‹.« Be-
zug nehmend auf Anke Thyens Beitrag zu diesem Thema schreibt Pippin:

Adorno should have distinguished between ›identifying‹ and ›identity‹ thinking;


successfully being able to determine one object as not another is in that sense
to have identified it, but that need not mean that the object itself need be
exclusively ›identified‹ with such determining predicates and certainly need not
mean that the object be identified with its conceptually determining markers,

204 Robert B. Pippin: The Persistance of Subjectivity, Cambridge 2005.


205 Pippin: Persistance of Subjectivity, 102f..

316
whatever that could mean. Likewise with distinctions between ›identifying as‹
and ›identifying with‹, and so on.206

In ähnlicher Weise hatte Thyen Adornos emphatische Verteidigung des


›Nicht-Identischen‹ von der linguistischen Seite her analysiert und titulierte
den mit großer Beschwörungskraft, aber, wie sie meinte, wenig Substanz
versehenen Begriff – »das Nichtidentische bei Adorno [ist] kein Begriff,
sondern nur ein Begriffssymbol: eine Leerstelle für einen Begriff«207 – als
»eine logische Metapher« und nahm dabei Adornos Feindlichkeit gegen-
über der vermeintlich ›prädizierenden‹ Sprache unter die Lupe, indem sie
schrieb:
Daß das principium identitatis der Logik, Tautologien, aber auch nichttriviale
Identitätsbehauptungen vom Typus ›Der Morgenstern ist der Abendstern‹ und
analytische Sätze ununterschieden als Exemplifikationen von Identität vorkom-
men, mag man noch akzeptieren. Schwieriger wird dies, wo [Adorno] auch Sub-
sumtionen, Klassifikationen, ja sogar einfache prädikative Urteile als Beispiele
für die Ausgrenzung des Nichtidentischen präsentiert. [...].208

Pippin pflichtet Thyen bei, wenn letztere behauptet, dass Adorno:

nie zwischen ›Etwas identifizieren als . . .‹ und ›Etwas identifizieren mit . . .‹


unterscheidet. Zunächst werden alle Redeformen, in denen nicht gegen das
logische Identitätsprinzip verstoßen wurde, als Beispiele notwendigerweise iden-
tifizierenden Denkens ausgegeben, um sie dann sämtlich als bloße Identitäts-
behauptungen unter generellen Tautologienverdacht zu stellen. Selbst wenn es
zuträfe, dass alle Deklarativsätze Identifikationen von etwas als etwas repräsen-
tieren, wird in ihnen doch nicht bloß Identität ausgesagt.209

Thyens bissiges Fazit lautet:

Was sich als immanente Kritik der Logik identifizierenden Denkens versteht, ist
häufig nur Gesellschaftstheorie in logisch-philosophischem Sprachgewand. Die
Logik und die Logiker selbst brauchen sich dann nicht angesprochen zu fühlen.
Genau dieses theoretische Defizit aber ist als undurchschautes der Grund für
die quasi-ästhetische Aura des ›Nicht-Identischen‹.210

206 Pippin: Persistance of Subjectivity, 105.


207 Anke Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichti-
dentischen bei Adorno, Frankfurt/Mn. 1989, 70.
208 Thyen: Negative Dialektik, 70.
209 Thyen: Negative Dialektik, 72.
210 Thyen: Negative Dialektik, 72.

317
Im Rahmen dieser Arbeit – zumal in diesen abschließenden Bemerkun-
gen – kann ich natürlich nicht auf Adornos Negative Dialektik und das
mit der Propagierung ihrer gedanklichen und praktischen Umsetzung
einhergehende Plädoyer für die Wahrung bzw. ›Rettung‹ des ›Nicht-
Identischen‹ eingehen. Nur eines sei angemerkt: Im Tenor Adorno’scher
Argumentation in einem Werk, das gegen die idealistische Tradition an-
schreibt, ohne deren Parameter aufzugeben, manifestieren sich Wertvor-
stellungen, die die hier zur Diskussion stehenden sprachlichen, psycho-
logischen und ästhetischen Phänomene betreffen. In Adornos Absage an
die ›prädizierende‹ Sprache in der Negativen Dialektik und Benjamins in
ähnlichem Geiste formulierter in seinem frühen Traktat über die Spra-
che des Menschen drückt sich ein diffuses Unbehagen an fundamentalen
Sprachoperationen aus, wodurch Erfahrungen und Erkenntnisse ›auf den
Begriff‹ gebracht, wodurch Dinge und Phänomene mit ›Namen‹ versehen
werden, wodurch unterschiedliche Erfahrungen und Erkenntnisse ›auf
einen gemeinsamen Nenner gebracht‹ werden. Adorno benutzt das Wort
›Prädikation‹ pauschalisierend zur Benennung all solcher, oft sehr kom-
plexer und linguistisch differenzierungsbedürftiger Operationen. In Ador-
nos ideologisch aufgeladener Verwendung dieses ›leeren Begriffs‹ bedeutet
Prädikation letztlich Urteil, Vereinnahmung, Gewalt, – Urteil nicht im
Hölderlin’schen Sinne als Moment der ›Ur-Teilung‹, sondern umgekehrt
als Moment gewaltsamer ›Identifikation‹. Das, was in Folge solcher ›Prä-
dikation‹ geopfert zu werden droht – das ›Nicht-Identische‹ –, wird zum
hohen, ›rettungswerten‹ Gut erklärt. Wie Pippin meint, lasse sich Adornos
Argument auf eine relativ triviale Geste reduzieren, die besagt: »›remem-
ber the forgotten non-identical‹«.211 Diese provokant banale Formel ruft
Assoziationen an Benjamins neue Form der Geschichtsschreibung, will
heißen, Geschichtslesung hervor.
›Parataxis‹ – ein weiterer linguistischer Terminus, der sich zum über-
strapazierten Begriff der ›Prädikation‹ hinzugesellt – avanciert zu einem in
ähnlicher Weise ideologiebesetzten ›Sprachgewand‹, hinter dem sich das
vermeintliche Allheilmittel für eine vom Identitätsdenken regierte Sprache,
vom Identitätsdenken diktierte dichterische Tradition verbirgt – dies eine
Tradition, aus deren Mitte, in deren ›reifem Ausdruck‹ Elemente einer
neuen, parataktischen Sprache, einer neuen, parataktischen Dichtung ent-
steht, die mittels Reihung Verzicht auf prädizierende Gewalt übt, so Ador-

211 Pippin: Persistance of Subjectivity, 105.

318
nos Hölderlininterpretation. In einem ebenso ideologiebesetzten ›Sprachge-
wand‹ gekleidet erscheint die ›Hypotaxis‹ als Sprachoperation, die solcher
prädizierenden Gewalt eben nicht entsagt. An solchen – wohlgemerkt
hochgradig metaphorisierten – Termini, die ihre rein linguistische Bedeu-
tung weiter hinter sich lassen, knüpft sich Eric Santners Hölderlinexegese
an, der es gelungen war, die Ansätze von Theodor W. Adorno und Hayden
White in einer Weise zu verbinden, dass Benjamins Historismuskritik aus
einer neuen Perspektive neu gelesen werden konnte.
In solchen Vokabeln wie ›Parataxis‹, ›Hypotaxis, ›Prädikation‹ äußern
sich formellhaft ganz bestimmte Wertvorstellungen, und in diesem Sin-
ne erfüllen sie eine nützliche Anzeigefunktion. Mittels der Formel des
›Hypotaktischen‹ lässt sich, wie bereits erörtert, der von Benjamin the-
senweise bekämpfte Historismus in ein neues Licht rücken, während die
Adorno’sche Formel des ›Paratakischen‹ mit Gewinn angewandt werden
kann, um wichtige Nuancen der Art von Geschichtslesung hervorzuhe-
ben, die Benjamin im Spätwerk propagiert. Erinnern teilt sich in zwei
Formen auf, wobei die eine, das willkürliche Erinnern (wiederum als
Analogon der Photographie), mit der ›prädizierenden‹ Sprache korreliert
wird, das unwillkürliche hingegen mit einer (nicht näher charakterisier-
ten) Bildersprache oder Sprache des Bildes. Die ›neue Kunst‹, die sich hier
ankündigt, ist parataktisch geprägt, speist sich aus dem unwillkürlichen
Erinnern, entfaltet eine nicht-prädikative ›Bildersprache‹ und steht – bei
aller Rede von ›Belehnung‹ und Verwandtnis – im Zeichen des Nicht-
Identischen statt einer mit ›Gewalt‹ herbeigeführten Identität. So könnte
die vereinfachte Devise lauten, mittels derer man diese neue, poetologisch
entfaltete Ästhetik erfassen könnte.
Doch kommen wir noch einmal auf Robert Musil zu sprechen. Ador-
nos Kritik an der Prädikation betrifft verschiedene nicht klar differenzierte
Vorgänge, darunter zwei wesentliche Dimensionen der Sprache, die von
konstitutiver Bedeutung sind für Törleß’ bzw. Musils eigene Sprachkritik:
Signifikationsprozesse und das Operieren mit Begriffen. In seiner Agitation
gegen die Gewalt der begrifflichen Sprache dürfte Adorno in Musil einen
sympathisierenden Vorreiter gesehen haben, fällt Musils Urteil über das
vom Begriff beherrschte Gebiet des ›Ratioïden‹ bei ähnlicher Fundierung
ähnlich negativ aus, ist doch, wie er meint, »alles wissenschaftlich Syste-
matisierbare, in Gesetze und Regeln Zusammenfassbare« – der Stoff des
Begrifflichen also –
durch eine gewisse Monotonie der Tatsachen, durch das Vorwiegen der Wie-
derholung, durch eine relative Unabhängigkeit der Tatsachen voneinander (ge-

319
kennzeichnet), sodaß sie sich auch in schon früher ausgebildeten Gruppen von
Gesetzen, Regeln und Begriffen gewöhnlich einfügen [...].212

Und wie es weiter heißt:

Vor allen Dingen aber schon dadurch, dass sich die Tatsachen auf diesem Ge-
biet eindeutig beschreiben und vermitteln lassen. [...] Man kann sagen, das
ratioïde Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht
kommenden Abweichung.213

Der von Musil aufgestellte Dualismus des ›Ratioïden‹ und des ›Nicht-
Ratioïden‹ beinhaltet solche Kontraste wie den zwischen »der Herrschaft
der Regel mit Ausnahmen« und der Herrschaft der »Ausnahmen über die
Regel«, zwischen Begriff und Urteil auf der einen Seite und ›Idee‹ auf der
anderen, zwischen den bereits erwähnten »toten« und »lebendigen« Ge-
danken. Ich subsumierte das Gegensätzliche an solchen Oppositionspaaren
unter der Formel ›Gleichung versus Gleichnis‹.214
›Ratioïdes‹ Denken wird von Musil als ein »sich an der beschienenen
Oberfläche« bewegendes charakterisiert, »das jederzeit an dem Faden der
Kausalität nachgezählt werden kann«215: In dieser Formulierung und ähn-
lichen klingt Prousts Charakterisierung der mémoire volontaire als einer
Art Verwalter jederzeit verfügbarer, vollkommen ›beleuchteter‹ und illu-
minierbarer Reminiszenzen an – Reminiszenzen, die aber dem Erinnern-
den so ›dürftig‹ und ›abgeschmackt‹ erscheinen wie dem Essayisten Musil
die ›toten‹ Gedanken, – Gedanken, nämlich, die so »gleichgültig (bleiben)
wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschierender Soldaten«.216 Jene
dem Bereich des ›Nicht-Ratioïden‹ zuzuordnenden ›lebendigen‹ Gedanken
bedürfen, wie das unwillkürliche Erinnern auch, »etwas, das nicht mehr
Denken, nicht mehr logisch ist, [...] so daß wir seine Wahrheit fühlen,
jenseits von aller Rechtfertigung, wie einen Anker, der von ihm aus ins
durchblutete, lebendige Fleisch [reißt...]«.217 Wie Musil bemerkt, mögen
solche Gedanken »schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein«,
aber sie werden »erst in dem Moment lebendig«, da das, was »nicht mehr
Denken« ist, »zu [ihnen] hinzutritt«.218 Wie das unwillkürlich Erinnerte

212 Musil: Werke 8, 1026.


213 Musil: Werke 8, 1026f.
214 Siehe Kapitel 1.3.1. dieser Arbeit.
215 Musil: Werke 8, 136.
216 Musil: Werke 8, 136.
217 Musil: Werke 8, 136.
218 Musil: Werke 8, 136f.

320
handelt es sich hierbei um etwas, das im Verborgenen bereits existiert und
wirkt, etwas aber, das nicht durch gedankliche Anstrengung ›abgerufen‹
werden kann.
Törleß’ Sprachkrise war weitgehend vom mit Qual vernommenen Un-
vermögen der rein begrifflichen Sprache bedingt, solche Gedanken ›verfüg-
bar‹ zu machen, an die Oberfläche zu holen, restlos zu beleuchten. Die Sig-
nifikationskraft dieser Art von Sprache erwies sich als fundamental begrenzt
und – um in der topologischen Redeweise des Romans zu bleiben – als
unfähig, in die Tiefe zu dringen. So wie die mémoire involontaire bei Proust
und Benjamin einen hohen Wert erhält gegenüber der durch Registrier-
und Reproduzierbarkeit gekennzeichneten mémoire volontaire und kraft
ihrer Fähigkeit, ›Schätze‹ aus der Tiefe hochzuholen – und sei es auf noch
so flüchtige Weise – dem Geltungsbereich der Kunst zugeordnet wird, so
– bei Musil – das auf ›nicht-ratioïdem‹ Wege Erfahrbares auch. Die ›Tat-
sachen‹, die sich auf diesem Gebiet dartun, die Beziehungen, die sie hier
eingehen, seien »unendlich unberechenbar« – wie unwillkürlich Erinnertes,
mag man hinzufügen. So gilt dieses Gebiet Musil als »das Heimatgebiet
dies Dichters«.219 Zwar spricht Musil auch in diesem Zusammenhang von
›Urteil‹, ›Begriff‹ und ›Vernunft‹, aber mehr noch von ›Flüchtigkeit‹ und
›Willkür‹. Er schreibt: »Auf diesem [Gebiet] ist das Verständnis jedes Ur-
teils, der Sinn jedes Begriffs von einer zarteren Erfahrungshülle umgeben
als Äther, von einer persönlichen Willkür.«220 Im Wort vom »Heimatgebiet
des Dichters«, vom »Herrschaftsgebiet seiner Vernunft«221 wird die Aufgabe
des Dichters in Abgrenzung zu dem auf dem Gebiet des ›Ratioïden‹ Täti-
gen folgendermaßen bestimmt:

Während sein Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner
Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet,
ist hier von vornherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungs-
möglichkeiten kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusam-
menhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Gescheh-
nisabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den
inneren Menschen erfinden. [...].222

Und doch verschreibt sich Musil keinem starren Dualismus, der einem
der beiden Geltungsbereiche alleinige ›Herrschaft‹ einräumt. Vielmehr

219 Musil: Werke 8, 1029.


220 Musil: Werke 8, 1028f.; Hervorhebung der Vf.
221 Hervorhebung der Vf.
222 Musil: Werke 8, 1029.

321
sieht seine Vision – ohngeachtet einer nicht zu leugnenden Privilegierung
des ›Nicht-Ratioïden‹ – eine Synthese des einen mit dem anderen, des
›ratioïden‹ mit dem ›nicht-ratioïden‹ Erfahrungs- und Erkenntnismodus
vor. Anders als bei Prousts Kontrastierung der mémoire volontaire mit der
mémoire involontaire, die lediglich letztere Form des Erinnerns für ›poe-
siefähig‹ erklärt, formuliert Musil keine strikte Trennung etwa zwischen
Formen der Erkenntnis, die »tote« bzw. »lebendige« Gedanken hervor-
bringen. Wie er schreibt:

Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns,
zur anderen Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem
ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte
sitzt.223

Zwar überwiegt in diesem Bild der im Dunkel harrende Anteil solcher


Erkenntnisse, aber der illuminierte Gedanke hat durchaus seinen Platz,
seine Funktion. Was dies betrifft, ist Musils Vision weitaus versöhnlicher
als die eines Proust oder Benjamin. So verwundert es auch nicht, dass
Musils Ulrich zumindest theoretisch versucht, den widerstrebenden »Ver-
haltensweisen des Gleichnisses«, aus denen einerseits »Traum und Kunst«,
andererseits »Wahrheit und Wissen« entstehen,224 zu einer Synthese zu
verhelfen. Nichtsdestotrotz spricht Musil in seiner Rolle als Advokat des
›nicht-ratioïden‹ Prinzips letztlich eine lautere Sprache. Was Musil sich
vornimmt, ist nur möglich, wo keine unerschütterbar feste Ordnung dik-
tiert, wo keine »Zentrierung der Einfälle« um der Systematisierung willen
verlangt wird, sondern vielmehr Platz da ist für eine den ›Möglichkeitssinn‹
ermöglichende ›Dezentrierung‹.
In Benjamins Reflexionen über den »Begriff des Traktats – Erkenntnis
und Wahrheit« in der »Erkenntniskritische[n] Vorrede« zum Ursprung des
deutschen Trauerspiels (1928) klingen Musil’sche Visionen an. Schon die
Vokabeln, mit denen Benjamins poetologisch argumentierende Apologie
des Traktats operiert, korrelieren weitgehend mit den von Musil bemüh-
ten. Ich hatte konstatiert, dass Benjamins Insistieren auf der Nichtigkeit
einer prädizierenden Sprache und der durch sie erzeugten Diskursivität mit
der Suche nach Strategien einherging, die die quintessentielle »Frage der
Darstellung«225 lösen sollten. Die Vorrede zum Trauerspielbuch widmet

223 Musil: Werke 8, 137.


224 Musil: Werke 2, 581f..
225 Benjamin: Werke I.1, 207.

322
sich genau dieser Frage. Wie Benjamin gleich zum Auftakt konstatiert,
liege es nicht »in der Gewalt des bloßen Denkens«, Abgeschlossenheit im
Sinne einer glücklichen Lösung dieser Frage zu erreichen. Wie Musil be-
ruft sich Benjamin auf die Mathematik, um aber, wie Musil auch, dem
Rechnen ›mit festen Größen‹, dem Lösen eindeutiger, restlos ›aufgehender‹
Gleichungen eine Form von Geistestätigkeit gegenüberzustellen, die im
Gegensatz zur mathematischen die ›Frage der Darstellung‹ nicht umgehen
kann. Wie Benjamin argumentiert, belege es die Mathematik »deutlich,
[...] daß die gänzliche Elimination des Darstellungsproblems [...] das Sig-
num echter Erkenntnis ist«; »gleich bündig« stelle sich aber »ihr Verzicht auf
den Bereich der Wahrheit, den die Sprachen meinen, dar« (Hervorhebung
der Vf.). Der »Synkretismus«, dem sich die vom »Systembegriff« bestimmte
Philosophie »zu bequemen« drohe, suche »die Wahrheit in einem zwischen
Erkenntnissen gezogenen Spinnennetz einzufangen [...] als käme sie von
draußen her zugeflogen«. Wie Benjamin programmatisch verkündet, müs-
se die Philosophie aber, wolle sie »nicht als vermittelnde Anleitung zum
Erkennen, sondern als Darstellung der Wahrheit das Gesetz ihrer Form
bewahren, [...] der Übung dieser ihrer Form, nicht aber ihrer Antizipation
im System Gewicht (beilegen)«.226 ›Wahrheit‹, im Gegensatz zu ›Erkennt-
nis‹, nähert man sich demnach durch Einübung in die der Darstellung von
Wahrheit gemäße Form, und diese – ›propädeutische‹ – Form heißt: ›Trak-
tat‹. In der »[e]rkenntniskritischen Vorrede« zum Trauerspielbuch wird
diese Übungsform poetologisch bestimmt, sprich: in Form eines ›Traktats
über das Traktat‹. Wie Benjamin ausführt, bleiben Traktate

die Bündigkeit einer Unterweisung [...] versagt. Nicht weniger entraten sie der
Zwangsmittel des mathematischen Beweises. […] Darstellung ist der Inbegriff
ihrer Methode. Methode ist Umweg. Darstellung als Umweg – das ist denn der
methodische Charakter des Traktats.227

Darstellung als Umweg und Umweg als methodischer Charakter des


Traktats: Diesen Leitgedanken erläutert Benjamin ausführlich, wenn er
schreibt:

Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention [Hervorhebung der Vf.] ist
sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an,
umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen
ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unter-

226 Benjamin: Werke I.1, 208.


227 Benjamin: Werke I.1, 208.

323
schiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes
folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die
Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik.228

Benjamins ausgedehnter Vergleich des Traktats mit einem Mosaik ver-


sieht sein Modell mit klaren metaphorischen Konturen. »Wie bei der
»Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so
bangt auch philosophische Betrachtung nicht um Schwung«, so Benja-
min. »Aus Einzelnem und Disparatem« trete das Mosaik zusammen, und
gerade deswegen könnte »nichts [...] mächtiger die transzendente Wucht,
sei es des Heiligenbildes, sei’s der Wahrheit lehren«.229 Das diskursiver
Intention sich entziehende Kompositionsprinzip – hierin sind Anklänge an
eine Adorno’sche Ästhetik des ›Gedichteten‹ zu entdecken –, die aus- und
zurückholende Rhythmik des Gedankenflusses zeitigt die entscheidende
›Wahrheitsfindung‹. Wie Benjamin schreibt:

Der Wert von Denkbruchstücken ist um so entscheidender, je minder sie un-


mittelbar an der Grundkonzeption sich zu messen vermögen und von ihm hängt
der Glanz der Darstellung im gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der
Qualität des Glasflusses. Die Relation der mikrologischen Verarbeitung zum
Maß des bildnerischen und des intellektuellen Ganzen spricht es aus, wie der
Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sach-
gehalts sich fassen läßt.230

Als ›Form der Darstellung‹ vereinigt das Mosaik – dies ein Vorbild für das
Traktat bzw. eine ihm verwandte Kunstart – das Moment intentionslosen
Fließens mit der Verfestigung zu einem ›Ganzen‹: einem ›bildnerischen und
intellektuellen Ganzen‹.
Das Traktat wird von Benjamin als »eine eigenbürtige prosaische Form«
gepriesen – man erinnere sich an das späte Wort von der »integralen Prosa«
–, dessen Gegenstand »die Ideen« seien. Diese begreift er, wie in seiner frü-
hen sprachkritischen Abhandlung auch, als ein Sich-Selbst-Darstellendes.
Diese kategoriale Bestimmung der ›Idee‹ liefert das Fundament für die
Benjamins Argumentation tragende Dichotomie: ›Wahrheit‹ versus ›Er-
kenntnis‹. Wie er zunächst konstatiert:

Wenn Darstellung als eigentliche Methode des philosophischen Traktats sich


behaupten will, so muß sie Darstellung der Ideen sein. Die Wahrheit, verge-

228 Benjamin: Werke I.1, 208.


229 Benjamin: Werke I.1, 208.
230 Benjamin: Werke I.1, 208.

324
genwärtigt im Reigen der dargestellten Ideen, entgeht jeder wie immer gearteten
Projektion in den Erkenntnisbereich.231

Wie Musil problematisiert Benjamin den festen Charakter dessen, was zum
›Gegenstand‹ der Erkenntnis wird:

Erkenntnis ist ein Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch, daß
er im Bewußtsein – und sei es transzendental – innegehabt werden muß. Ihm
bleibt der Besitzcharakter.232

Erkenntnis als Besitz setzt Vermittlung voraus. ›Wahrheit‹ hingegen ist


per definitionem kein Vermitteltes. Als »Darstellung ihrer selbst« ist ihr die
Methode »als Form mit ihr gegeben«.233 Darstellung, verstanden in die-
sem Sinne, bleibt also von der Art epistemologischer, wenn man so will,
›begriffs-stütziger‹ Sprachkritik, die Törleß umtreibt, gänzlich unberührt,
denn Benjamins wichtige Unterscheidung zwischen Erkenntnis als episte-
mologischer und Wahrheit als ontologischer Kategorie wird mit einer ex-
plizit platonischen ›Ideenlehre‹ hinterlegt, die den sprachkritischen Zugriff
im Sinne Törleß´scher Sprachverwirrung von vornherein ausschließt. Als
Form, die sich selbst darstellt, »eignet [Wahrheit]«, so Benjamin,
nicht einem Zusammenhang im Bewußtsein, wie die Methodik der Erkenntnis
es tut, sondern einem Sein. Immer wieder wird als eine der tiefsten Intentionen
der Philosophie in ihrem Ursprung, der Platonischen Ideenlehre, sich der Satz
erweisen, daß der Gegenstand der Erkenntnis sich nicht deckt mit der Wahr-
heit. Erkenntnis ist erfragbar, nicht aber die Wahrheit. Die Erkenntnis richtet
sich auf das Einzelne, auf dessen Einheit aber nicht unmittelbar. Die Einheit
der Erkenntnis – wenn anders sie bestünde – wäre vielmehr ein nur vermit-
telt, nämlich auf Grund der Einzelkenntnisse und gewissermaßen durch deren
Ausgleich, herstellbarer Zusammenhang, während im Wesen der Wahrheit die
Einheit durchaus unvermittelt und direkte Bestimmung ist. Dieser Bestimmung
als einer direkten ist es eigentümlich, nicht erfragt werden zu können. [...] Als
Einheit im Sein und nicht als Einheit im Begriff ist die Wahrheit außer aller
Frage.234

Um mit Musil zu reden: Erkenntnis gründet im »wissenschaftlich


Systematisierbare[n]«; dieses Produkt einer Denkoperation stellt das »in
Gesetze und Regeln Zusammenfassbare«235 dar, wohingegen ›Wahrheit‹

231 Benjamin: Werke I.1, 209.


232 Benjamin: Werke I.1, 209.
233 Benjamin: Werke I.1, 209.
234 Benjamin: Werke I.1, 209f..
235 Musil: Werke 8, 1026.

325
sich aller Begriffsbildung entzieht. Benjamins in der Vorrede zum Ursprung
des deutschen Trauerspiels gelieferte Antwort auf die ›Frage der Darstellung‹
deckt sich mit dem prädikationsfeindlichen Sprach- und Dichtungsver-
ständnis, das seine frühe Abhandlung Über Sprache überhaupt und über
die Sprache des Menschen entwickelt, aber in der späteren Schrift hat die
»Lösung des Darstellungsproblems« eine konkrete Form angenommen:
Der Benjamin des Trauerspielbuchs deklariert das Traktat als einzige der
(Selbst-Darstellung von) Wahrheit adäquate Übungsform. Mittels dieser
hat die menschensprachliche Annäherung an ›Wahrheit‹ als ›Sein der Ideen‹
versuchsweise zu erfolgen.
So präskriptiv dieser Leitgedanke anmuten mag, so frei soll die Form
seiner Umsetzung ausfallen. Ganz im Sinne Musil’schen Essayismus soll
die »intermittierende Rhythmik« des Traktats »Lösungsmöglichkeiten« ent-
werfen, Lösungsmöglichkeiten, die »kein Ende« nehmen. Um das bekannte
Musil’sche Wort noch einmal zu bemühen, geht es darum, »immer neue
Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken«,236
im ›Reigen‹ einer ausladenden Form sprachlich durchzuexerzieren.237 Ver-
sprachlichung erfolgt hierbei aber nicht in Form permanenter Iteration; sie
bedeutet kein wiederholt müdes Ansetzen zu immer neuen, begriffslastigen
Signifikationsprozessen, die ›zu kurz greifen‹ im Sinne Törleß’schen Unbe-
hagens an einer defizitär-prädikativen Sprache.
Benjamins Traktat, wie Musils bzw. Ulrichs Gleichnis, kommt eine
spielerische, aber nicht minder bedeutsame Aufgabe zu, die sich im Rahmen
einer Vielzahl von wertenden Dichotomien stellt, allen voran die wichtige
Unterscheidung zwischen Begriff bzw. Urteil und ›Idee‹. Ganz im Sinne
Benjamins weist Musil Begriff und Urteil dem Geltungsbereich des ›Ra-
tioïden‹, die ›Idee‹ der Sphäre des ›Nicht-Ratioïden‹ zu. Ferner opponiert
›Vernunft‹ gegen ›Willkür‹, das durch logisches Denken Erfassbare gegen
›Wahrheit‹, das Berechenbare gegen das Unberechenbare, das ›tote‹ gegen
das ›lebendige‹ Denken, das (restlos) Illuminierbare gegen das nur spora-
disch und punktuell sich bemerkbar machende, nur intuitiv zu erahnende
Verborgene ›am Grund des Daseins‹, – so der Dualismus, der sich in Mu-
sils Dichtung und Essays immer wieder abzeichnet. Überspitzt gesagt: Die
Urteils- bzw. Begriffsbildung bedient sich der prädikativen Sprache und
steht im Zeichen des ›bloßen Denkens‹ (als ›gewaltsamen‹ Instruments) 238

236 Musil: Werke 8, 1029.


237 Musil: Werke 8, 1029.
238 Vgl. Benjamin: Werke I.1, 207.

326
bzw. des ›Ratioïden‹; den ›Ideen‹ kann sich der Mensch bzw. vielmehr der
menschliche Sprachsinn höchstens versuchsweise nähern: auf dem Wege
des Gleichnisses – so Musil – bzw. des Traktats – so Benjamin.
Obwohl Törleß’ bzw. Ulrichs poetologische Vision eine Synthese des
›Ratioïden‹ und des ›Nicht-Ratioïden‹ ›vor-sieht‹, ähnelt Ulrichs Antwort
auf die ›Frage der Darstellung‹ in ganz wesentlichen Momenten der von
Benjamin im Trauerspielbuch bereitgestellten: ›experimentelle‹ Dichtung
im Zeichen einer, wenn man so will, ›platonisierenden‹ Ideenlehre. Aller-
dings erreicht diese »Lösung des Darstellungsproblems« Musils Leser durch
die Brechung eines fiktiven, ›mit-denkenden‹ Protagonisten hindurch, und
bei Benjamin stellt sie das frühe Fazit einer Auseinandersetzung dar, die
den Autor im Spätwerk unter veränderten Vorzeichen noch bzw. wieder
umtreiben wird. Nicht zuletzt die »intermittierende Rhythmik« eines wie-
derholten Ansetzens zur Beantwortung der quintessentiellen ›Frage der
Darstellung‹ prägt ja Benjamins späte Reflexionen über die ›kulturdialek-
tische Methode‹.
Der oben formulierte Katalog an Dichotomien, der das Musil’sche Rin-
gen mit der ›Frage der Darstellung‹ gewissermaßen auf den Punkt bringt,
entspricht der Frage nach Formen des Erinnerns. Dies zeigt sich auf ex-
emplarische Weise im Bild des Fischernetzes, das Musil zur Zelebrierung
des ›Nicht-Ratioïden‹ und der mit ihm korrelierten Sphäre, Benjamin zum
Ausloten des dichterischen Potentials unwillkürlichen Erinnerns diente.
Die frappanten Parallelen in der Wesensbestimmung von ›Erkenntnis‹
und ›willkürlichem‹ Erinnern einerseits, zwischen ›Wahrheit‹ und ›unwill-
kürlichem‹ Erinnern andererseits, sowie das im Hinblick auf Musil, Ril-
ke, Proust und Benjamin konsensfähige Verdikt über die differerierende
Wertigkeit der jeweiligen Größen, das in allen Fällen – ob implizit oder
explizit – zugunsten von ›Wahrheit‹ und ›unwillkürlichem‹ Erinnern ausge-
sprochen wird, sind, wie ich meine, keine zufälligen oder nur punktuellen
Erscheinungen. Die hier beleuchteten Erinnerungspoetiken weisen dem
›unwillkürlichen Erinnern‹ durchweg einen ähnlich positiven, poetologisch
wichtigen Stellenwert zu wie Benjamin und Musil dem nach ›Wahrheit‹
statt ›Erkenntnis‹ trachtenden ›Sprach-Sinn‹. Die Korrespondenzen zwi-
schen den von Musil und Benjamin ausgewiesenen (dichterischen) Wegen
zur ›Wahrheitsfindung‹ – die die Grenzen zwischen Poesie und Reflexion
fallen, ja, sie eins werden lassen – , und den erinnerungspoetischen Pro-
grammen, die sich aus den hier zur Diskussion gestellten Quellen ›her-
auslesen‹ ließen, sind vielfältig und weitreichend. Es liegt nahe, die ›Frage
der Darstellung‹ und das gleichermaßen poetologisch bestimmte Sinnieren

327
über Formen des Erinnerns als Varianten eines einzigen, großen, für die
hier versuchsweise (re-)konstruierte Tradition konstitutiven Anliegens zu
betrachten, – mit allen Konsequenzen für die Art, wie man ihre dichte-
rischen Zeugnisse deutet. So gesehen formieren sich die Einzelmomente
dieses meines (doppelsinnigen) Versuchs einer Traditionsfindung – Erin-
nerungspoetiken, Sprach-, Erkenntnis- und Historismuskritik und die mit
diesen verknüpften poetologischen Visionen bzw. visionären Poetologien
– zu Facetten eines dichten, aber auch weit verästelten Bezugskomplexes,
in dem jede einzelne einen integralen Ausdruckswert erhält. Um Benjamins
bildhafte Formel zu borgen: das in dieser Arbeit Dar- und Ausgelegte fügt
sich wie ›Mosaiksteine‹ zu einem Ganzen, das sich aber offen hält für den
›Fluss‹ erneuter Reflexion.
Am Schluss dieser letzten Betrachtungen möchte ich noch einmal –
quasi im Sinne eines Epilogs – auf einen gemeinsamen Nenner der hier
erkundeten visionären Poetologien zu sprechen kommen: auf das (wie auch
immer geartete bzw. formulierte) Streben nach Vereinigung – und zwar
mit der Intention, bei aller Komplexität vielfältiger hier erforschter Bezüge
eine gewisse Engführung vorzunehmen, um die Konturen einer teils auf
Gleichgesinntheit, teils auf Komplementarität, teils auf diametrale Oppo-
sitionalität beruhenden Tradition zu ziehen und dabei gewisse kritische
Fragen (noch einmal) zu stellen, die ich ›ins Offene‹ entlassen möchte.
In diesem Sinne will ich bei Robert Musil ansetzen und den Blick erneut
auf die Musil’sche Mystik, wie sie vor allem in den Verwirrungen des Zög-
lings Törleß Ausdruck findet, richten und dabei eine bereits aufgeworfene,
aber in seinem kritischen Gehalt nicht ausreichend bewogene Frage noch
einmal erörtern. Zu fragen ist nach dem Stellenwert ›mystischen‹ Vereini-
gungsstrebens, wie es in diesem Werk, – und unter etwas veränderten Vor-
zeichen im Mann ohne Eigenschaften –, thematisiert wird. Die noch offen
gebliebene Frage lässt sich auf verschiedene Weisen stellen. So etwa: Ähnelt
Musil’sche Mystik der ›gottlosen Mystik‹ eines Fritz Mauthner, und wenn ja,
besteht nicht Grund zum Zweifel an der ›Redlichkeit‹ Musil’scher ›Mystiker‹
in Bezug auf ihr Streben nach ›mystischer‹ Vereinigung? Will heißen: Muss
nicht Musil’sche Mystik, wie Mauthners ›gottlose‹, als Notbehelf verstanden
werden: als Notbehelf für eine ›bankrott‹ gewordene Wissenschaft, die eine
defizitäre (Begriffs)-Sprache generiert bzw. von einer solchen getragen wird,
und wenn ja, decouvriert sich das ›eigentliche‹ Anliegen der Musil’schen Aus-
einandersetzung mit Formen mystischer Erfahrung nicht letztlich als ein rein
erkenntnis- und sprachkritisches? Anders gefragt: Bedienen sich Musil’sche
›Mystiker‹ nicht ›Gott‹ in seiner ›Unsagbarkeit‹ als eine Art Prüfstein für eine,

328
um mit Mauthner zu reden, als ›abgewertete‹ Währung empfundene Sprache,
und wird nicht die sprachmystische Tradition, die sich in genuiner Weise
und mit enormer intellektuell-bildhafter Zugkraft mit der Sprachnot erzeu-
genden Differenz Gottes auseinandersetzt, dabei in den Dienst einer wissen-
schaftlichen Erkenntniskritik gestellt, die vom ›hohen Kurs‹ ihrer ›Währung‹,
sprich ihrer ›poetischen‹ Ausdruckskraft zu profitieren hofft? Kurzum: Ist die
visionäre Vereinigungspoetologie Musil’scher Provenienz nicht letztlich von
diesseitsgerichteten epistemologischen Fragestellungen durchdrungen?
Womöglich liefert aber die von der negativen Theologie inspirierte Tradi-
tion christlicher Mystik auch ein anderes Paradigma, das Musil für seine In-
tentionen dienstbar zu machen versteht: eines, das Wege einer intellektuellen
mit denen einer im weitesten Sinne des Wortes affektiven Gottesannäherung
– um mit Grace Jantzen zu reden, ›knowing‹ mit ›loving‹ – verbindet. Meine
auf den Törleß gemünzte Formel ›sexueller-epistemologische Verwirrungen‹
legt diese Möglichkeit nahe. Aber auch in diesem Fall gälte das dichterische
Interesse weniger der Auslotung einer – zweidimensionalen – mystischen
Praxis; vielmehr lieferte das duale mystische Paradigma die Legitimation
für eine auf Dualität der Darstellung basierende Dichtung, sprich: für eine
philosophisch-poetische Dichtung. Liest man den Mann ohne Eigenschaften
als eine Reihe von auf poetischem Felde durchgeführten Gedankenexperi-
menten, zu denen nicht zuletzt das ins Zeichen einer ›taghellen Mystik‹ ge-
stellte Erproben des ›anderen Zustands‹ gehöre, so läge diesem ›Projekt‹ eine
tiefgründige Ironie inne, diente doch sein Telos – der ›andere Zustand‹ – zur
Legitimation der Dichtungsweise, die zu dessen versuchsweiser Einlösung
entwickelt wird. Letztlich ›heiligte‹ der erklärte, aber vermeintliche Zweck die
Mittel: das intellektuell-bildhafte bzw. diskursiv-poetische ›Sprechen‹. Übt
die intellektuell-affektive Mystik nicht vornehmlich die Faszination einer
zweidimensionalen Erkundungspraxis aus, in der sich die Praxis Musil’schen
Dichtens spiegeln kann? Beide hier ausgemalte Szenarien sind denkbar; in
beiden Fällen kommt der Thematisierung mystischen Vereinigungsstrebens
eine sekundäre Bedeutung, wenn nicht zu sagen, eine Art Alibi-Funktion
zu.
Während Musil’sche Mystik unter dem Verdacht der ›Zweckentfrem-
dung‹ steht, finden sich bei Benjamin, der ebenfalls sprach- und erkennt-
niskritisches Terrain betritt and dabei die ›Frage der Darstellung‹ aufwirft,
überraschende Berührungspunkte mit der mystischen Tradition, die Musil
bei seinen Erkundungen derselben Frage bemüht. Ich begnüge mich hierbei
mit einem punktuellen Verweis auf das überraschende und aufschlussreiche
Anklingen der frühen Sprachphilosophie Benjamins an die sprachorientierte

329
Mystik Eckhardtscher Provenienz. Indem Benjamin in seiner frühen Ab-
handlung Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen nicht
dem Menschen, wohl aber dem Menschenwort ›Beiwort-Charakter‹ attestiert
und diesem das göttliche Wort als ›Sein‹ gegenüberstellt, nimmt er eine qua-
si-Eckhardt’sche Position ein. Wie eine Kernaussage des Mystikers lautet:

Ich wende mich dem Wörtchen ›quasi‹ zu, das heißt ›gleichsam‹, das nennen die
Schüler in der Schule ein Ad-verb: ein Bei-Wort. Das ist, was ich in allen mei-
nen Predigten behandle. Das Allereigentlichste, was man von Gott sagen kann,
das ist ›das Wort‹ und ›die Wahrheit‹. Gott nannte sich selber ein Wort. Der
heilige Johannes schrieb: ›Im Anfang war das Wort‹ [Io 1,1], und das bedeutet,
daß der Mensch ein Bei-Wort zu diesem Wort sein soll. [...] Es gibt einmal
das geschaffene Wort – das ist der Engel und der Mensch und alle Schöpfung.
Es gibt weiterhin das gedachte und geschaffene Wort, mit dem ich es vermag,
Abbilder in mir zu schaffen. Außerdem gibt es ein Wort, das ungeschaffen
und ungedacht ist. Das entäußert sich nie, sondern es ist immer in dem der
es spricht; es ist immer in einem Empfangen begriffen im Vater, der es spricht
und es bleibt in ihm.239

Man vergleiche den Benjamin des frühen sprachphilosophischen Trak-


tats:

Nun ist es klar, daß in der Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen
Wesen dieses Verhältnis der umgekehrten Proportionalität zwischen beiden be-
stritten wird. Denn hier lautet die Thesis: je tiefer, d.h. je existenter und wirk-
licher der Geist, desto aussprechlicher und ausgesprochener [...] die Beziehung
zwischen Geist und Sprache zur schlechthin eindeutigen zu machen, so daß
der sprachlich existenteste, d.h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich Prägnan-
teste und Unverrückbarste, mit einem Wort: das Ausgesprochenste zugleich
das reine Geistige ist. Genau das meint [...] der Begriff der Offenbarung, wenn
er die Unantastbarkeit des Wortes für die einzige und hinreichende Bedingung
und Kennzeichnung der Göttlichkeit des geistigen Wesens, das sich in ihm
ausspricht, nimmt. Das höchste Geistesgebiet der Religion ist (im Begriff der
Offenbarung) zugleich das einzige, welches das Unaussprechliche nicht kennt.
Denn es wird angesprochen im Namen und spricht sich aus als Offenbarung.
Hierin aber kündigt sich an, daß allein das höchste geistige Wesen, wie es in
der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache in ihm beruht,
während alle Kunst, die Poesie nicht ausgenommen, nicht auf dem allerletzten

239 Meister Eckhart: Deutsche Predigten. Eine Auswahl auf der Grundlage der
kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi«, herausgegeben,
übersetzt und kommentiert von Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2001, Predigt
Q9, 55;57.

330
Inbegriff des Sprachgeistes, sondern auf dinglichem Sprachgeist, wenn auch in
seiner vollendeten Schönheit, beruht.240

Die so formulierte ›Frage der Darstellung‹ steht im Zeichen eines ontologi-


schen Sprachverständnisses; im Kontext der mystischen Lehre von der ›un-
ähnlichen Ähnlichkeit‹ verknüpfen sich mystische Vereinigungsvisionen und
Sprachkritik – als konstitutive Komponente der in dieser Weise gestellten
Frage – auf geradezu zwingende Weise.241
Verweilen wir noch kurz beim erkenntniskritischen Moment der von
Musil und Benjamin auf ähnliche Weise erörterten ›Frage der Darstellung‹,
so kann man in Bezug auf den dritten hier untersuchten Dichter feststel-
len: Rilke’sche Vereinigungsvisionen wie die hier untersuchten, mitunter als
›mystisch‹ zu bezeichnenden weisen kein erkenntniskritisches Interesse im
engeren Sinne des Wortes auf. Sie sind vielmehr ›produktorientiert‹. Denn
die beiden hier ›nachvollzogenen‹ poetologischen Visionen – die Malte’sche
wie die im Puppenessay formulierte – verbindet Eines: Die ersehnte Vereini-
gung zielt letztlich darauf ab, ein ästhetisches Werk zu generieren, und zwar
ein im Rahmen absoluten Selbstbezugs harrendes, so der Eindruck, der sich
letztlich trotz Erwägung alternativer Szenarien verfestigt. ›Vereinigung‹ stellt
keinen vermeintlichen Zweck dar, sondern sie präsentiert sich als das Mittel
zum Zweck: die ästhetische Erfüllung reinen, ›gespanntesten‹ Selbstbezugs.
Auch hier erhalten dichterisch beschworene Vereinigungsvisionen eine Se-
kundärfunktion, aber eben eine für den anvisierten (dichterischen) Prozess
integrale.
Insbesondere was die hier erkundeten Erinnerungspoetiken betrifft, lesen
sich die von Benjamin formulierten, hier erörterten visionären Vereinigungs-
visionen wie Inversionen Rilk’scher, und zwar insofern, als Benjamin im
Zuge der Ausarbeitung seiner für diese Poetik konstitutiven ›kulturdialek-
tischen Methode‹ gegen die Verabsolutierung des individuellen Erfahrungs-
und Erinnerungshorizonts angeht, indem er diesen in einen kollektiven zu
überführen sucht. Der ›große Wurf‹, dem dies gelingen sollte, musste im
Fragmentzustand abgebrochen werden. Benjamins Berliner Kindheit um 1900
zeigt aber (hochpoetische) Wege zur zumindest ansatzweisen Umsetzung des
unvollendet gebliebenen Vorhabens.

240 Benjamin: Werke II.1, 146f..


241 Dies zeigte Walter Haugs »Theorie des mystischen Sprechens« auf überzeugende
Weise.

331
Ich möchte meine Untersuchung mit einer Benjamin’schen ›Gegenvision‹
Rilke’scher Vereinigungs- bzw. Bespiegelungspoetik beschließen, um im ex-
akt bemessenen ›Konträren‹ die terra comparationis der hier ausgeloteten Tra-
dition textnah zu illustrieren. Man kann womöglich behaupten: Nirgendwo
findet Benjamins Vision eines auf Gewinnung von Totalität abzielenden kol-
lektiven Erinnerns so einprägsamen poetischen Ausdruck wie in der Miniatur
»Der Fischotter« in seiner Berliner Kindheit um 1900. Erinnert wird in diesem
Text, wie der Dichter als Kind vor dem »Zwinger des Fischotters« stand,
»häufig, endlos wartend, vor dieser unergründlichen und schwarzen Tiefe,
um irgendwo den Otter zu entdecken« (BK, 44). Das Kind erhascht kaum
je einen Blick des Tieres, und wenn es denn »endlich (gelang),« so Benjamin,
»war es sicher nur für einen Nu, denn augenblicklich war der gleißende
Insasse der Zisterne wieder von neuem in der nassen Nacht verschwunden«
(BK, 44). Der erinnernde Dichter weiß zwar, dass es »in Wahrheit [...] keine
Zisterne (war), in der man den Otter hielt«, aber, wie er sich besinnt, war
es ihm immer, wenn er »in sein [des Otters] Wasser blickte, [...] als stürze
Regen in alle Gullis der Stadt, nur um in dieses Becken zu münden und sein
Tier zu speisen« (BK, 44). In der Imagination des Kindes, dichterisch evoziert
im vom Erinnerungsgedanken durchdrungenen Spätwerk, war der Fischotter
»ein verwöhntes Tier [...] dem die leere, feuchte Grotte mehr als Tempel
denn als Zufluchtsstätte diente. Es war das heilige Tier des Regenwassers«
(BK, 44). Der Dichter fragt sich, ob das ›heilige‹ Tier »in diesen Abwässern
und Wässern sich gebildet habe oder von seinem Strömen und von seinen
Rinnseln sich nur speise«. Jedenfalls sei es »[i]mmer […] aufs äußerste be-
schäftigt [gewesen], so als wenn es in seiner Tiefe unentbehrlich sei«, und
das Kind »hätte liebe, lange Tage die Stirne an sein Gatter legen können,
ohne [sich] an ihn sattzusehen,« worin es »seine heimliche Verwandtschaft
mit dem Regen (bewies)« (BK, 44).
In der Metaphorik dieser Miniatur gleicht der kollektiv erlebte Regentag
einem kleinen Mädchen, das sich »den Scheitel unter diesen grauen Kamm«
beugt und sich die Haare von dessen »feinen oder groben Zähnen [...] lang-
sam Stunden und Minuten strähn[en]« lässt, bevor der strömende Regen in
die Gullis stürzt, um letztlich in die ›Zisterne‹ des Fischotters ›einzumün-
den‹. Im stundenlangen Belauschen des Regens von der Geborgenheit der
elterlichen Wohnung aus liegt die persönliche Erfahrung, die sich als solche
dem Regen ›mitteilt‹, um beim Fischotter in ein tiefgründiges Erinnerungs-
gefäß zu gelangen, – so die poetische Vision, die sich hier entfaltet. Über
das Bild des kleinen Mädchens – als metaphorische Entsprechung des von
einem Großstadtkollektiv erlebten Regentags – verbindet sich das Persönli-

332
che mit dem Kollektiven. So schafft der poetische Text die (metaphorische)
Grundlage für die Konzipierung einer Art kollektiver mémoire involontaire,
wie es Benjamins poetologisch formulierte, im weitesten Sinne des Wortes
dichterisch einzulösende Vision vorsieht. Wenn der zurückblickende Dichter
von ›seiner Zukunft‹ spricht, die ihm vom Regen ›zugerauscht‹ wird, »wie
man ein Schlaflied an der Wiege singt« (BK, 45), schwingen verheißungsvolle
Erwachensvisionen mit, die einer ganzen, zu ›erlösenden‹ Menschheit gelten,
einer Menschheit, die immerzu auf das ›Heraufschießen‹ des »schwarze[n],
gleißende[n] Leibe[es]« des Fischotters aus dem ›Tempel‹ der kollektiven,
wie Regenwasser ›aufgefangenen‹ Erfahrung wartet, die das Tier ›bildet‹ bzw.
nährt. Bei aller Beschwörungskraft der in Miniaturform versuchten Formu-
lierung und schrittweisen Einlösung eines poetischen Programms, einer visi-
onären Poetologie, bleibt das Dilemma Benjamin’schen Dichtens ungelöst:
Die kollektive Erfahrung vermittelt sich höchstens in Form einer Idee, wenn
auch einer auf ›bildhaft-intellektuelle‹ Weise formulierten, aber es ist eine,
die angesichts des mit enormer Ausdruckskraft im Poetischen vollzogenen
persönlichen Erinnerns verblasst. Hierbei gilt wie für alle drei in dieser Ar-
beit betrachteten Dichter und Dichtungen: Die quintessentielle ›Frage der
Darstellung‹ behält ihre Dringlichkeit.
Mit Blick auf diese Untersuchung als Ganzes könnte man im Rekurs auf
zwei der Hölderlin’schen Erinnerungspoetik geltende Formeln auch sagen:
Am Ende bleibt die Aporie bestehen, die sich ergibt aus dem Konkurrieren
eines allseits erhobenen Anspruchs auf den – wie auch immer ›gedachten‹ –
›Totaleindruck‹ mit einer ›im Zeichen von Tageszeichen‹ florierenden dichte-
rischen Praxis.

333
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