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dieren auf das Totum als Ankunft und Heimat hervorbringend. Der
schon zitierte Satz von dem, was uns nicht an der Wiege gesungen
worden ist, zeigt auch das Befreiende, Revolutionäre, Selbstergreifende
und durch und durch Optimistische der blochschen Spekulationen
über das Neue.
Johan Siebers
Objektive Phantasie
Man kann sagen, dass Bloch die bisher als die drei Hauptbedeutungen
des Begriffs Phantasie in der Philosophiegeschichte beschriebenen
Richtungen in seinem Denken weiter bearbeitet und in einer originel-
len und innovativen Weise wiedergibt. Was er Objektive Phantasie
nennt, spielt in seinem Gesamtwerk eine zentrale Rolle und kann
nicht nur als Bestandteil seiner Ontologie, sondern auch als „Kreu-
zungsknoten“ zwischen seinem ästhetischen und seinem politischen
Denken betrachtet werden.
Der Begriff der Objektiven Phantasie zieht sich durch sein gesamtes
Werk, von seinem Erstling, dem expressionistisch geschriebenen Geist
Objektive Phantasie 420
Das Totum, das von der großen Kunst gezeigt wird, ist die poli-
tisch-kulturell-historische Situation ihrer jeweiligen Epoche. Diese
Epoche ist aber keine Protagonistin, sondern befindet sich „am Hori-
zont“: Von diesem Horizont aus strahlt sie wie eine Sonne, die weit
weg, aber präsent ist. Von hier aus erfasst sie die Ereignisse und Ele-
mente in ihrer Tendenz und Latenz. Das Ganze, das von der Objek-
tiven Phantasie erfasst wird, ist im Endeffekt die Zukunft der Real-
möglichkeit: die Latenz und Tendenz. Es ist kein geschlossenes,
stagnierendes, sondern ein noch-nicht-vollendetes Ganzes.
Aber wenn die Welt unvollendet ist, wie kann dann ein Kunst-
werk vollendet sein? Was wäre sonst das Korrelat der Phantasie in der
Welt? Wenn das Kunstwerk den Weltprozess widerspiegelt, muss es
also auch etwas Unvollendetes sein. „Die Tiefe der ästhetischen Voll-
endung bringt selber das Unvollendete in Gang“ (PH 254). Diese
Nicht-Vollendung hat natürlich mit der technischen Fertigkeit des
Künstlers nichts zu tun, denn solche Fertigkeit ist in jedem großen
Kunstwerk vorausgesetzt (vgl. ebd., 253f.). Dieses Unvollendet-Sein
besteht in einem Sachcharakter des Objektes: in seiner Materie (die
Welt ist unvollendet – also ist auch die Materie unvollendet). Was
Bloch später in den Philosophischen Aufsätzen betonen wird, ist schon
im Prinzip Hoffnung dargelegt: Die ästhetische Phantasie hat die Welt
als Korrelat, wenn sie sich fragmentarisch (wie die Welt selbst es ist)
ausdrückt. „Und deshalb ist jeder künstlerische, erst recht jeder religiö-
se Vor-Schein nur aus dem Grund und in dem Maße konkret, als ihm
das Fragmentarische in der Welt letzthin die Schicht und das Material
dazu stellt, sich als Vor-Schein zu konstituieren“ (ebd., 255).
Für Bloch hat also die Phantasie ein Korrelat in der Welt. Blochs
Position ist stark und einzigartig, auch weil die Phantasie oft als Flucht
aus der Realität gesehen wurde und wird. Als Flucht aus der Realität
wird die Phantasie manchmal auch von Bloch gesehen, aber nur wenn
sie nicht konkret und objektiv ist. Im Prinzip Hoffnung behauptet er,
dass sowohl „der flache Empirist“ („Fetischist der sogenannten Tatsa-
chen“), als auch „der überschwängliche Schwärmer“ (der „die Dinge
überfliegt“) „äußerlich, oberflächlich, abstrakt“ (ebd., 256) bleiben.
Das Reale ist nicht etwas ganz Vollendetes oder träge Materie, wie der
Empirist sagt, für den die „sogenannte Tatsachenwelt nicht als flie-
ßende Prozesswelt verstanden […]“ wird (PA 29). Andererseits ist aber
das Reale doch facettiert, aber es ist nicht willkürlich oder so bildsam,
wie der Träumer möchte. Obwohl der Überfliegende „einem höherem
Menschentyp“ zugehört (denn er akzeptiert die Dinge nicht, sondern
425 Objektive Phantasie
er will sie ändern), bleiben diese beide Figuren für Bloch ohne Ver-
mittlung mit der Welt: Daraus resultiert ihrer beider Niederlage.
Ein extremes (wahrscheinlich das berühmteste) Beispiel des welt-
fremden Träumers ist Don Quichotte. Dieser „einsame Narr […] war
unter den unbedingten Träumern der unbiegsamste“ (PH 1216); und
erregt am meisten Mitleid. Aus den Büchern, die er las, entsprang sein
„Glaube des Unbedingten“ (ebd., 1218). Dieser Glaube blendet ihn
und lässt ihn die Realität nur durch seine starren mentalen Schemata
interpretieren. Diese Schemata sind dem Realen vermittlungslos ent-
gegengesetzt. Don Quichottes Glaube ist also antiquarisch-utopisch.
Einerseits will er die Welt verändern und eine bessere Zukunft schaf-
fen, andererseits nimmt er die mittelalterliche Kultur als Vorbild: Eine
verschwundene Welt, deren Regeln in Don Quichottes Zeit nicht
mehr gelten. Aus diesem unvermittelten Verhältnis zwischen Traum
und Welt, zwischen Antizipation und Vergangenheit entstand eine
„Karikatur der Utopie – sich selbst ein Pathos, anderen eine Komik,
praktisch eine Prügelgeschichte des abstrakt Unbedingten. […] [Und
stellt] wegen seines abstrakten Idealismus, die Karikatur eines phan-
tasma bene fundatum und seines konstitutiven Inhalts [dar]. Der In-
halt ist Güte, ja Goldenes Zeitalter, wie Don Quichotte selber sagt,
aber der Weg dazu hin geschieht hier mittels der tollsten und geprü-
geltsten Abstraktionen, die die Welt kennt. Darin, in diesem Zusam-
menstoß besteht Don Quichottes Irrsinn, daraus stammt sein traurig-
komisch Schicksal“ (ebd., 1224). Hierzu muss bemerkt werden, dass
die Figur des Narren eine lange Tradition in Bezug auf die Phantasie
hat (siehe die oben genannte zweite Hauptbedeutung des Wortes b.).
Bei Bloch muss man aber immer daran erinnern, dass die Objektive
Phantasie sich von „bloßer Phantasterei eben dadurch unterscheidet,
dass nur erstere ein Noch-Nicht-Sein erwartbarer Art für sich hat, das
heißt, nicht in einem Leer-Möglichen herumspielt und abirrt, sondern
ein Real-Mögliches psychisch vorausnimmt“ (ebd., 164).
Don Quichotte ist eine extreme Figur. Auch unter diesem Ge-
sichtspunkt könnte er wieder als Verkörperung eines Aspektes der
Phantasie gesehen werden, die für Bloch eminent ist. Es handelt sich
um ihre Fähigkeit, die Möglichkeiten ins Extreme zu treiben, damit
sie klarer zu sehen und zu analysieren sind. Dieser Aspekt der Phanta-
sie spielt nicht nur in Blochs ästhetischem, sondern auch in seinem
politischen Denken eine zentrale Rolle.
In der Welt gibt es nach Bloch latente Möglichkeiten, die noch
nicht herausgebracht wurden. Die Objektive Phantasie übertreibt
Objektive Phantasie 426
Welt“ verändert und sogar erschafft. Die Phantasie ist sozusagen die
offizielle Architektin der konkreten Utopie. Sie entwirft Projekte in
unterschiedlichen Phasen der Konstruktion. Wenn sie in einem ersten
Moment „die Idee gibt“ – wenn sie Modelle und Hypothesen skiz-
ziert, wie die Welt verändert und neu gestaltet werden kann – kommt
sie auch in einem zweiten Moment ins Spiel; nämlich dann, wenn es
darum geht, die Idee auf die Wirklichkeit anzuwenden. Die Phantasie
ist also kein Vorrecht der Künstler, sondern notwendiges Instrument
auch für die Politiker. Die Produkte der Objektiven Phantasie (u. a.
Kunstwerke, aber auch gesellschaftliche Projekte oder Vorstellungen)
sind an sich realisierbar, wenn die Gesellschaft latente Elemente
(Hoffnungs- und Erwartungsinhalte) unterstützt und auf ihre Ziele
hin ausrichtet. Auf diese Weise kann nach Bloch eine Gesellschaft
entworfen und strukturiert werden, die den Bedürfnissen und Wün-
schen der Menschen entspricht und in diesem Sinn höchst demokra-
tisch sein kann. Deswegen ist „das Organon der psychischen Utopie,
des auf konkret Neues subjekthaft bezogenen Noch-Nicht-Bewußten,
wie des Noch-Nicht-Gewordenen psychisch repräsentiert, […] weni-
ger abgelegen, es ist die Politik“ (ebd., 126).
In diesem Zusammenhang übernimmt die Phantasie bei Bloch
eine revolutionäre Rolle, indem sie die Gesellschaft völlig neu ordnen
will. Schon im Prinzip Hoffnung behauptet Bloch, dass „das revolu-
tionäre Interesse“ die Verlängerungen der Phantasie, die in der Kunst
und in den Wachträumen allgemein zu sehen sind, kennen soll, damit
es die Weltverbesserung nach der konkreten Möglichkeit sowohl in
der Theorie als auch in der Praxis entsprechend gestalten kann (vgl.
PH 107). Die Entscheidung, die Phantasievorstellungen als bloßen
Vor-Schein zu belassen oder sie mit den Tendenzen und Latenzen der
Geschichte zu verbinden, wird aber nicht in der Kunst, sondern in der
Gesellschaft getroffen (vgl. PH 249). Die Gesellschaft kann also der
Geschichte eine Richtung geben, Tendenzen und Latenzen unterstüt-
zen, Hemmungen überwinden oder Probleme lösen, so dass der Vor-
Schein der Kunst und Tagträume im Leben immer präsenter werden –
d. h. nicht nur als Potentialitäten, sondern in actu wirken können.
Denn der Mensch spielt im Weltprozess eine wichtige Rolle, indem er
aktiv und bewusst dessen Richtung beeinflussen kann. In diesem Sinn
soll Politik für Bloch als „Kunst des Möglichen“ verstanden werden
(vgl. PM 409–418) – d. h. als die Kunst, die die Tendenzen und La-
tenzen an jenes Ende treibt, das dem Bild einer besseren Welt mehr
entspricht, so dass die Distanz zwischen Objektiver Phantasie und
Objektive Phantasie 428
konkreter Realität immer kleiner wird. Denn „Kunst ist ein Laborato-
rium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten“ (PH 249; vgl.
Wiegmann 1976, 108–112; 115–118 u. Mazzini 2010, 52–65).
Aber wie kann eine Kenntnis der Phantasievorstellungen gewon-
nen werden? Und auf welche Art und Weise kann man zwischen Phan-
tasterei und objektiver Phantasie unterscheiden? Dies sind Schlüssel-
fragen in Blochs Philosophie, denn sie betreffen seine ganze Ontologie
und deren Konsequenzen für sein politisches Denken. Ein wichtiges
Element, das im Prinzip Hoffnung und auch in den Philosophischen
Aufsätzen intensiv behandelt wird, kann für die Beantwortung dieser
Fragen von Nutzen sein: Das Verhältnis zwischen Noch-Nicht-Be-
wusstem und Noch-Nicht-Gewusstem (das wiederum zum Noch-
Nicht-Gewordenen führt).
Im Gegensatz zu Freud (vgl. PH 55ff., vor allem PA 84ff.) be-
hauptet Bloch, dass es auch eine Art von Unbewusstem (das er „das
Vorbewusste“ nennt) gibt, bei dem nicht erinnert, sondern antizipiert
wird. Bloch denkt, „das Noch-Nicht-Bewußte selber muss seinem Akt
nach bewußt, seinem Inhalt nach gewußt werden […], bewußt-gewußt
als utopische Funktion. Deren Inhalte repräsentieren sich zunächst in
Vorstellungen, und zwar wesentlich in denen der Phantasie“
(PH 163). Es gibt also Aspekte und Inhalte, die man irgendwie kennt,
indem sie noch-nicht-bewusst sind. Damit man sich ihrer bewusst
werden kann, ist es aber notwendig, sie sich vorzustellen. Diese Vor-
stellungen gehören in den Bereich der Objektiven Phantasie (und
nicht der Phantasie im Allgemeinen) immer dann, wenn sie nicht nur
erinnert werden – d. h. wenn sie nicht „lediglich gewesene Wahrneh-
mungen reproduzieren“ (wie eine große philosophische Strömung in
der Begriffsgeschichte der Phantasie behauptet hat: siehe a.). Blochs
Neuerung diesbezüglich besteht in der Betonung der Zukunft, der
Latenzen und Tendenzen der Geschichte, die einen Anteil Zukunft
enthalten und in Form von konkreter Möglichkeit antizipieren. Denn
das „Noch-Nicht-Bewußte insgesamt ist die psychische Repräsentation
des Noch-Nicht-Gewordenen in einer Zeit und ihrer Welt, an der
Front der Welt“ (PH 143). Die so verstandene Phantasie entnimmt
Vorstellungen vom Noch-Nicht-Bewussten und hilft deswegen dem
Menschen, sich der Latenz- und Tendenzinhalte bewusst zu werden
(vgl. Bloch, J. R. 1995, 207–219). „Noch-Nicht-Bewußtes wird durch
Gewußtsein ausgeführt, nicht zerschlagen, und wird es gewußt gemacht, so
ist das Bewußtsein um Inhalte bereichert, die vorher nie manifest, nur
latent in ihm waren“ (PA 129). Die Phantasie ist für Bloch eine „Be-
429 Objektive Phantasie
Der Wille ist so nicht unbegrenzt, sondern mit dem Realen vermittelt,
„mit objektiver Allianz“ (PA 175). Er bezieht sich auf keine abge-
schlossene Welt, sondern auf den „Prozess der vermittelten Neuheit“,
die „Dialektik des Sprungs zum Neuen“ (ebd., 176f.). Diese notwen-
dige Vermittlung mit den Real-Möglichkeiten ist u. a. eine Garantie
gegen Illusionen (so dass man nicht planen kann, die Welt in einer
beliebigen Weise zu verändern, wenn konkrete, als Latenz schon-
präsente Möglichkeiten nicht vorhanden sind) und auch gegen be-
wusste oder unbewusste Manipulationen derjenigen, die Führungs-
und Verantwortungsrollen in der Politik bekleiden. „Und ausschließ-
lich hängt die Hauptsache aller Hauptsachen vom Anteil des subjekti-
ven Faktors als einem voluntaristischen ab: nämlich die Verwirklichung
der objektiv-realen Möglichkeiten, damit sie, soweit sie schlechte sind,
tunlichst gesperrt, soweit sie gute sind, tunlichst befördert werden und
nicht brachliegen“ (ebd., 549). Dieser Aspekt bringt uns wieder zu
den gesellschaftlichen und auch politischen Implikationen der Objek-
tiven Phantasie zurück.
Das Ziel des Willens ist letztlich das „Reich der Freiheit“, das
„Regnum Humanum“. Nach diesem Ziel strebt letztlich die Objektive
Phantasie. Es ist das „Ding an sich“. Wie bereits erwähnt, ist die Phan-
tasie objektiv, wenn sie sich an ein Objekt wendet. Dieses Objekt ist
für Bloch präsent nicht nur, wenn es er-scheint (wie die „Tatsachenfeti-
schisten“ behaupten), sondern auch wenn es noch nicht da ist (man
könnte sagen: „vor-scheint“). Denn „Erkenntnis, sagt Engels, ist keine
Abbildung von Tatsachen, sondern von Prozessen; ist doch die gesam-
te Welt ein noch anhängiger Prozeß“ (ebd., 624), und deswegen ist
das „Ding an sich“ nur in Form eines Vor-Scheins zu kennen. „Also
entschiedenst ist dies detektivische Wissen um die Dinge, wie sie sind,
einig mit dem antizipatorischen, wie sie sein können“ (ebd., 625) –
das Wissen um das, was Bloch das „Plus ultra der Philosophie“
(LdM 69–73) nennt. „Vermittelte Antizipation und Objektive Phan-
tasie geben uns und dem Weltprozeß das plus ultra des Heimkom-
mens seiner Ausdrucksgestalten, Auszugsgestalten“ (PA 131).
Im Experimentum Mundi verbindet Bloch die Idee der Objektiven
Phantasie direkt mit der Stoa und betont, dass „Phantasia bei den
Griechen nicht Einbildungskraft, sondern mehr oder minder treffende
Vorstellung bedeutet. Die kataleptische Phantasie ist danach eine,
worin im Akt des Urteilens und in seinem Gegenstand eine sich
gleichsam begegnende Gleichheit am logischen Werk ist. Dergestalt,
daß wahre Vorstellungen die sind, in denen das Subjekt das Objekt
431 Objektive Phantasie
und ebenso das Objekt das Subjekt antrifft und ergreift, eine Berüh-
rung, die bei Erkenntnis und Erkanntem als Disparatem nicht stattha-
ben könnte“ (EM 56). Diese Verbindung (oder, mit Blochs Worten:
„Umarmung“) von Subjekt und Objekt ist der Schlüssel, um die Rolle
und Bedeutung der Objektiven Phantasie in Blochs Philosophie fest-
zustellen. Objektive Phantasie bedeutet nach Bloch keine Abbildung
eines Objektes (wie es in der Philosophiegeschichte oft gesagt wurde),
sondern eine „Fortbildung“ des Objektes selbst in seiner Zukunftsdi-
mension: „Als eines, das seine Sache auch überholen kann, in ihrer
Schwimmrichtung, versteht sich“ (ebd., 62f.). Sie kann sozusagen die
Potentialitäten des Objektes verlängern und ist keine Durchsetzung,
keine gewalttätige Änderung seiner Natur oder Essenz, sondern eine
seiner möglichen Entwicklungen. Das Subjekt „greift“ das Objekt
nicht (also: keine Be-greifung), sondern „umarmt“ es. Die Verhältnisse
zwischen Subjekt-Objekt sind also hier keinem Wettkampf und keiner
Hierarchie zuzuordnen, sondern bilden eine „Wechselwirkung“ – eine
gegenseitige Hilfe, Mitwirkung und Mitarbeit. Aus der pantheisti-
schen Stoa, deren Lebensideal eine Übereinstimmung mit der Natur
suchte, stammt nach Bloch der Begriff der Objektiven Phantasie: „Das
war […] bedeutet mit dem Begriff der Phantasia katalÒptikÒ als einer
gegenseitigen Ergreifung von Subjekt und Objekt oder Ich und Welt,
im gleichen Akt des Erkennens“ (ebd., 64). Von dieser Philosophie-
strömung nimmt Bloch Elemente, die gegen eine manchmal zu oft
auftauchende Tendenz zur Selbstreferenzialität oder zum Solipsismus
dienen. Die Objektive Phantasie ist in diesem Sinne eine verbindende
Umarmung zwischen Subjekt und Objekt. Denn sie ist keine Vorstel-
lung von Einzelgegenständen, sondern etwas, das eine Verbindung mit
der Welt hat oder sucht.
Es genügt also nicht, etwas zu hoffen, zu visualisieren, zu träumen,
damit es realisiert wird: das wäre eine abstrakte, keine Objektive Phan-
tasie. Nach Bloch enthält auch die abstrakte Phantasie einen Teil von
Subversivität, denn sie visualisiert eine Welt, die anders als die vor-
handene Welt ist. Man ist sozusagen mit den Dingen nicht zufrieden,
wie sie sind, und man will sie ändern. Diese Änderung wird aber kon-
kret-möglich erst dann, wenn es eine Übereinstimmung mit der „Re-
aldialektik der Welt“ (ebd., 64) gibt. „Vollziehen der Träume gelingt
eben nicht in einem bloß feststellenden Abbilden des Gegebenen im
Gedanken, dazu hilft erst ein vermehrendes Fortbilden durch den
Gedanken, der sich allerdings, sehr wohl verstanden, in der Schwimm-
richtung von Tendenz zu Latenz, also im möglichen Met-hodos der
Objektive Phantasie 432
Welt halten muß“ (ebd., 66). Hier ist wichtig daran zu erinnern, dass
das Wort ƫ̽ƧƮƣƮƲ [méthodos] auf bedeutungsvolle Weise aus meta
(ƫƤƳƠ, ‚was jenseits bringt‘) und hodos (̋ƣ̓Ʊ, ‚Weg‘) komponiert ist.
Es gibt also hier keine getrennte res cogitans und res extensa, keine un-
abhängigen Welten. Subjekt und Objekt sind – im realen Prozess –
miteinander verbunden und voneinander abhängig. Die Idee einer
Phantasie als Irrtum und Flucht aus dem Realen würde an dieser Stelle
nicht passen, denn Objektive Phantasie verbindet sogar das Subjekt
mit dem Objekt: „An dieser Stelle erscheint die eigentlichste, die me-
taphysische Brücke der Entsprechungen zwischen erkennendem Sub-
jekt und fortbildend treu erkanntem Objekt“ (ebd., 66). In der Objek-
tiven Phantasie bei Bloch entsprechen die Intentionen des Subjektes
den Tendenzen des Objektes. Hier ist auch eine starke, fast pantheisti-
sche Verbindung und Korrespondenz zwischen dem Mikrokosmos des
Menschen und dem Makrokosmos der Welt festzustellen, indem die
Objektive Phantasie ihre effektive, fast essenzielle Verbindung zeigt. In
diesem Sinne weist Blochs Position Ähnlichkeiten mit dem Denken
Plotins und den Philosophen der Renaissance auf. Im Menschen vib-
riert die Hoffnung und sind utopische Inhalte durch Tagträume und
Vor-Schein-Erscheinungen z. B. in Kunstwerken sichtbar: Diese Ele-
mente sind auch in der Welt (als Latenz) präsent.
Der Mensch spielt diesbezüglich eine aktive Hauptrolle, indem er
mit seiner Arbeit die Welt verändern kann. Er kann also durch die
Theorie und durch die Praxis bewusst den Weltprozess beeinflussen
und auch nach seinen Intentionen richten. Deswegen ist es für Bloch
absolut notwendig, dass Objektive Phantasie nicht als Phantasterei
verstanden wird. Denn sie ist eine Erkenntnismethode, die durch
nichts Anderes ersetzt werden kann. Objektive Phantasie ist also nicht
nur ein ästhetisches Vermögen, sondern auch eine politische Waffe.
„Keine andere ‚Phantasie‘ besteht marxistisch zu Recht als die künstle-
risch genaue, als die wissenschaftlich gelenkte und konkret vorgreifen-
de. Diese allerdings besteht marxistisch zu höchstem Recht; in der ex-
akten Kunst, in der allemal reichen Philosophie. Denn der Marxismus
steht so wenig gegen echte Phantasie (als eine, die der Tendenz, vor
allem der Latenz des Geschehens zugeordnet ist), daß er ihr die Welt
zum ersten Mal als mögliches Korrelat gezeigt hat“ (PA 53). Durch
Objektive Phantasie zeigt sich, dass die marxistische Theorie nicht
abstrakt ist. Die Praxis, die die Welt nicht nur interpretieren, sondern
verändern will, findet in der Objektiven Phantasie ihre Rechtferti-
gung, wenn nicht ihre Kraft. Wenn Wünsche des Menschen Vorgriffe
433 Objektive Phantasie
Blochs Idee der Objektiven Phantasie ist bisher von der akademischen
Philosophie noch kaum untersucht worden. Die objektive, „wissen-
schaftliche Phantasie“ (TE 105) könnte aber einen wichtigen Beitrag
zu mehreren Bereichen einbringen. In einer interkulturellen Philoso-
phie würde z. B. diese „Ratio des Irrationalen“ (Gespräche 222) dabei
helfen, jenseits der westlich-traditionellen Trennung zwischen Ra-
tionalität und Irrationalität, einen vorurteilsloseren Austausch mit
anderen Formen von Denken zu ermöglichen. Was gerade in den
postkolonialen, postmodernen, feministischen oder queer-Debatten
diskutiert wird, würde mit einer neuen Perspektive bereichert. In
Erbschaft dieser Zeit wird von Bloch behauptet, dass die Vernunft
mehrere Stufen und Weisen haben kann, zu „funktionieren“ und sich
„auszudrücken“. Es gibt Viele Kammern im Welthaus. In ihnen gibt es
noch viele Elemente, die von der dominanten Denk- oder Lebenswei-
se marginalisiert werden. Es besteht die Gefahr (vor allem in einer
globalisierten Welt), dass sie verloren gehen oder vergessen werden.
Um eine Homogenisierung der Welt zu verhindern, förderte Bloch
die Nutzung der Objektiven Phantasie, die heute auch „interkulturelle
Phantasie“ genannt werden könnte. Dazu gehört „eine Skizze, weni-
ger: ein kleiner Katalog“, den er 1928 verfasst hat, „sehr unvollständig
und wissentlich ungeordnet. Ein Katalog des Ausgelassenen, jener Inhal-
Prozess 434
Silvia Mazzini
Prozess