Sie sind auf Seite 1von 5

Skizzen zu einer erkenntniskritischen und erfahrungsorientierten

Philosophie im Anschluss an Walter Benjamin

(Bezugnehmend besonders auf die erkenntnistheoretische Vorrede zum


Ursprung des deutschen Trauerspiels, über Sprache überhaupt und die
Sprache des Menschen, Programm einer künftigen Philosophie)

Nach Benjamin ist es die erste Aufgabe der Philosophie,


die Ideen des Denkens (Paradigmen?) darzustellen in Abgrenzung
von einzelwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung und künstlerischer Praxis.
Die allgemeinste Voraussetzung von Erfahrung ist Sein,
konkrete Voraussetzung aller Erfahrung und Erkenntnis Dasein.
Der Begriff Erfahrung umfasst sowohl die Alltagserfahrung des menschlichen
Subjekts in seiner (Um) welt, wie die experimentell
kontrollierte Erfahrung der Einzelwissenschaften.
Erkenntnis ist artikulierte Erfahrung, die sich in Sprache ausdrückt.
Als formalisierte Sprache spielt die Mathematik in den Naturwissenschaften
eine besondere Rolle.
Der Wissenschaftler, der Philosoph und der Künstler entwickeln jeweils
unterschiedliche Sprachen zur Artikulation ihrer jeweiligen Erfahrung.
Diese unterschiedlichen Bereiche müssen genau unterschieden werden,
um eine Sprachverwirrung zu vermeiden. Dies kann nur geschehen bei
sorgfältiger Übersetzung der verschiedenen Sprachmuster zwischen den
unterschiedlichen Bereichen. Die Bereiche der Wissenschaft, Philosophie
und Kunst sind nicht deckungsgleich mit den traditionell unterschiedenen
Bereichen der Philosophie (Logik,Ethik, Aesthetik) nach Kants
Unterscheidung von reiner Vernunft, praktischer Vernunft und Urteilskraft.
Erfahrung geschieht vorwiegend zufällig, Erkenntnis vollzieht sich vorwiegend
intentional. Das Instrumentarium der Erfahrung sind Ideen, das der
Erkenntnis Begriffe. Insofern bleibt Erkenntnis immer eine Teilmenge von
Erfahrung. Im Bereich der Erkenntnis werden Ideen zu Hypothesen, die der
Überprüfung durch kontrollierte Erfahrung bedürfen, um durch Erkenntnisse
den Fundus des Wissens zu bilden. Insofern stehen Erfahrung und
Erkenntnis in einer dialektischen Wechselwirkung.
Der Beginn der philosophischen Aufklärung ist nicht mit der Ideenlehre
Platons anzusetzen, sondern mit der Namen -Gebung durch Adam (vgl.
Walter Benjamin, über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen:
„Die Sprache eines Wesens ist das Medium, in dem sich sein geistiges
Wesen mitteilt. Der ununterbrochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die
ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom
Menschen zu Gott. Der Mensch teilt sich Gott durch den Namen mit, den er
der Natur seinesgleichen (im Eigennamen)gibt, und der Natur gibt er den
Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfängt (vernehmendes
Erlauschen hta), denn auch die ganze Natur ist von einer namenlosen
stummen Sprache durchzogen, dem Residuum des schaffenden
Gotteswortes, welches im Menschen als erkennender Name und über dem
Menschen als richtendes Urteil schwebend sich erhalten hat. Die Sprache der
Natur ist einer geheimen Losung zu vergleichen, die jeder Posten dem
nächsten in seiner eigenen Sprache weitergibt, der Inhalt der Losung aber ist
die Sprache des Postens selbst. Alle höhere Sprache ist Übersetzung der
niederen, bis in der letzten Klarheit sich das Wort Gottes entfaltet, das die
Einheit dieser Sprachbewegung ist.“)

Die geschichtliche Erfahrung der Menschheit hat ihre sprachliche Deutung


insgesamt bisher in den Begriffen Gott, Mensch, Welt gefunden. Mit dem
Adam der Genesis endet die Traumphase der Menschheit, die sich in den
Mythen der Völker ausgesprochen hat.
In der Aufklärung durch die griechische Philosophie beginnt sich die Deutung
der menschheitlichen Erfahrung in den Begriffen Gott, Mensch, Welt von
Jonien bis Jena herauszukristallisieren. Mit Hegel endet die spekulative
Phase der Philosophie. Nach Franz Rosenzweig hat die Philosophie in ihrer
bisherigen Geschichte drei Phasen durchgemacht, die die drei Begriffe als
Erkenntnis des Alls unterschiedlich konfigurieren:
Eine kosmologische (griechisch/lateinisch), eine theologische
(christlich/jüdisch/islamisch), eine anthropologische (idealistisch). Auguste
Comte unterteilt die Geschichte des menschlichen Denkens in eine
theologisch-mythologische, eine metaphysische und eine positive Phase. Mit
der positiven Phase lässt er die Entwicklung der Erfahrungs-wissenschaften
(kontrollierte Erfahrung) beginnen. Seit Kants Erkenntniskritik ist das Ende
der klassischen Metaphysik eingeläutet, mit der Physik werden die
Erfahrungswissenschaften dominant, die sich mit Galilei und Newton von der
Philosophie emanzipieren, obwohl noch Newton seine physikalischen
Erkenntnisse als philosophisch interpretiert. Mit Feuerbach, Marx und Engels
wird das Hegelsche System „vom Kopf auf die Füße" gestellt und mit dem
dialektischen und historischen Materialismus zur Grundlage
naturwissenschaftlicher, gesellschaftswissenschaftlicher und ökonomischer
Forschung gemacht.
Kants Kritik der reinen Vernunft, der praktischen Vernunft und der Urteilskraft
findet durch Hermann Cohen eine Neuformulierung (Neokantianismus), die
die Bereiche der Philosophie in Logik, Ethik und Aesthetik unterteilt und mit
der Neubestimmung von Kants Begriff der Erfahrung einen Neuansatz des
Denkens ermöglicht jenseits von Pantheismus, Atheismus und
Agnostizismus.

„Schläft ein Lied in allen Dingen,


Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.“(Eichendorff)

Die Zeilen von Eichendorffs „Wünschelrute“ umschreiben auf poetische


Weise ziemlich genau,
was Benjamin in seinen Reflexionen über Erfahrung und Erkenntnis, Sprache
und Musik als Brennpunkt anpeilt. Allerdings ermöglicht der philosophische
Ansatz Benjamins eine empirisch-rationale Präzisierung dieser Idee.
Im Klangspektrum des Kosmos, von den Planeten bis zu den Elementen der
Materie ist das Webmuster der Welt/Schöpfung erkennbar. Es bedarf nicht
der Hypothese des Urknalls, um das schaffende Urwort Gottes der Bibel
erfahren zu können. Nada Brahma - die Welt ist Klang konnten schon die
alten indischen Weisen in der heiligen Silbe OM singen. Von Pythagoras bis
Kepler versuchten Wissenschaftler in Zahlenproportionen das Klangspektrum
zu definieren und mathematisch zu erschließen. Leibniz definierte die Musik
als eine Art unbewussten Zählens der Seele. Die „Melodie der Schöpfung“
enthält
nach heutiger Erkenntnis viele Teilspektren, die der Erfahrung des Menschen
nicht unmittelbar zugänglich sind. Die akustische Wahrnehmung des
Menschen begrenzt sich auf das Teilspektrum 16 bis maximal 20000 Hertz.
Zwar lassen sich andere Teilspektren in diesen Frequenzbereich
transponieren, die „stumme Sprache der Dinge“ ist übersetzbar in die hörbare
Sprache des Menschen. Aber dies ist nur ein Teilaspekt der „Sprache des
Kosmos“, in der sich nach kabbalistischer Auffassung der Name Gottes
verbirgt, der sich in der Tora - verschlüsselt - offenbart.
Im Kontakt mit Gerschom Scholem hat Benjamin von sprachtheoretischen
Spekulationen der kabbalistischen Tradition erfahren, deren
wissenschaftliche Erkundung das Lebenswerk Scholems ausmacht. Für
Benjamin klingen
diese Spekulationen zusammen mit den Erkenntnissen des Physikers Johann
Wilhelm Ritter, der gestützt auf Entdeckungen Chladnis und Oersteds zu
ähnlichen Schlussfolgerungen kommt. Zusammen mit Keplers Berechnungen
und Theorien zur „Harmonie der Welt“ eröffnet sich hier ein weites
Forschungsfeld zur Entschlüsselung der Sprache der Dinge, deren
Perspektive Benjamin sprachlich bündig auf den Punkt bringt.
Erkennbar intensiv hat sich Benjamin mit Kant, Cohen und Rosenzweig
auseinander gesetzt. Auch wenn die Spuren dieser Auseinandersetzung nur
als Hinweise in seinen eigenen Abhandlungen und Fragmenten sich mühsam
auffinden lassen, sind die Verbindungslinien evident. Allerdings gelingt es
Benjamin, deren komplexe Sprach- und Denkgebilde auf die Grundtatsachen
zurück zu führen, ohne dabei reduktionistisch zu verfahren.
Benjamin imaginiert das Bild einer Erfahrungs - orientierten Philosophie, das
in seinen Arbeiten und Fragmenten aufblitzt, aber nirgendwo systematisch
entwickelt erscheint. Einen Fingerzeig, in welcher Richtung er sich die
Entwicklung eines solchen Konzeptes vorstellte, geben die beiden in der
erkenntnistheoretischen Vorrede zum Trauerspiel prominent
hervorstechenden Begriffe Mosaik und Traktat.
Wie das Mosaikbild ein Gesamtbild aus vielen bunt - farbigen Bruchstücken
aufleuchten lässt, so sah Benjamin in der Philosophie die Darstellung der
Wahrheit aus vielen korrekt gefertigten unterschiedlichen Traktaten bzw.
Essays evident werden. Daher legte er auch soviel Wert darauf, im Essay die
Einzelerkenntnisse möglichst präzise herauszuarbeiten, ohne einen Vorgriff
auf die endgültige Wahrheit zu beanspruchen. Wie Benjamin zu den Begriffen
Mosaik und Traktat anmerkt, stammen die damit verbundenen Vorstellungen
aus dem Mittelalter, das ein klares Bewusstsein von der Geschöpflichkeit des
Menschen und den damit verbundenen Grenzen seiner Fähigkeiten hatte.
Die Demut und Bescheidenheit des Mittelalters war im Zuge der neuzeitlichen
Renaissance und Aufklärung schrittweise einem prometheischen
Selbstbewusstsein gewichen, das der Natur mit Mitteln der Technik zu Leibe
rückte, im Optimismus der Zähmung und Steuerung der Naturkräfte
vorläufig triumphierte und im „Tod Gottes“ ihren Sieges-Hymnus fand.
Benjamins Ansatz teilt diesen Optimismus nicht mehr. Er thematisiert im
Rückgriff auf Konzepte der „adamitischen Sprache“ den Horizont der
Geschöpflichkeit des Menschen neu und weist der Philosophie eine
unterscheidende Mittelstellung zwischen der stummen Sprache der Natur, die
angemessen übersetzt werden will, und dem Geschwätz der babylonischen
Sprachverwirrung in den Einzelwissenschaften, die ideologiekritisch im
Interesse nachhaltiger Erkenntnisgewinnung durchleuchtet werden muss.
Wenn er die künftige Aufgabe der Philosophie als Erkenntniskritik und
Metaphysik umschreibt, so zielt er damit auf die Dialektik von Lehre und Kritik
ab, in der sich die Dialektik von Erfahrung und Erkenntnis spiegelt.
Die Dogmatik der Lehre als geronnene Erfahrung bedarf immer wieder der In-
Frage-Stellung durch neue Erkenntnis, die Parteilichkeit für die einmal
erkannte Wahrheit muss neuen Einsichten immer neu sich öffnen.
Da die Wahrheit nach seinem Verständnis sich unmittelbar evident bezeugt
und keiner weiteren Begründung bedarf, dem Aufweis /Beweis in der
sinnlichen Erfahrung entsprechend, kann es Aufgabe der Erkenntnis nur sein,
transparent für die Wahrheit zu werden.
Da Benjamin sich schwerpunktmäßig als Sprachwissenschaftler ausweist,
hat in seiner Gedankenwelt die Untersuchung der Dimensionen der Sprache
obersten Rang. Dies verdeutlicht sich besonders im Schlusskapitel der
Abhandlung zum Trauerspiel, wo er der Musik als der universalen Sprache
der Menschheit die letzten Spuren der adamitischen Ursprache zuweist, die
in den lebendigen Sprachen und dem Geschwätz der nachbabylonischen
Sprachverwirrung nur schwer herauszufiltern sind, während die Natur
sprachlich verstummt und nur in vielstimmiger Klage vernehmbar wird.

Das könnte Ihnen auch gefallen