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Nicht erst seit Foucault und Blumenberg gilt die Noch zentrale Publikationen jüngster Zeit fal-
Renaissance als »Zeitalter der Ähnlichkeiten«, len zuweilen dieser Gefahr anheim: Der 2020
in dem unermüdlich nach einer »Lesbarkeit der erschienene, beeindruckend gelehrte Katalog
Welt« gesucht wurde.1 Die Wirkmacht der unter- zur Ausstellung Le corps et l’âme de Donatello à
schiedlichen Schemata, die das Bedürfnis nach Michel-Ange: Sculptures italiennes de la Renais-
universeller Welterklärung entwerfen ließ, kann sance des Louvre und des Castello Sforzesco in
bis anhin nur erahnt werden. Ein in jüngster Zeit Mailand widmet sich aufs Ausführlichste dem
vertieft untersuchtes Denkmuster ist die Physio- Verhältnis von Körper und Seele in der Kunst der
gnomik, das vermeintliche Wissenssystem, an- italienischen Renaissance, wobei die Physiogno-
hand dessen versucht wurde, vom körperlichen mik durchweg als relevanter Faktor impliziert
Erscheinungsbild eines Menschen auf seine in- wird. Gleichwohl unterlassen es die Autorinnen
neren Eigenschaften zu schließen.2 Basierend und Autoren, die anatomische Gestaltung der
auf antiken Quellen und dadurch scheinbar le- Exponate auf mögliche Korrelationen zu kon-
gitimiert, waren die nach heutigen Maßstäben kreten historischen Schriftquellen dieser Pseu-
wissenschaftlich nicht falsifizierbaren Glau- dowissenschaft zu überprüfen.4
benssätze allgegenwärtig. Sie fungierten sowohl Das älteste vollständig erhaltene Traktat, das
als (angeblich) präzis definierte Theoreme der der Physiognomik eine produktive Rolle im
humanistischen Gelehrten wie auch als gesell- künstlerischen Schaffensprozess zuschreibt, ist
schaftlich verankerter, alltagsweltlicher Refe- De sculptura von Pomponio Gaurico (ca. 1480–
renzschatz der Laien. Während über die zentrale 1530).5 Erschienen 1504 in Florenz, wurde die
Rolle dieser »Disziplin« in der Welterfahrung Abhandlung in Form und Inhalt entscheidend
des Quattro- und Cinquecento mittlerweile ein durch ihren Entstehungsort Padua beeinflusst.
gewisser Konsens herrscht, wurden ihre poten- Gaurico war Student an der dezidiert neo-aris-
tiellen Anwendungsfelder insbesondere in und totelisch orientierten Philosophischen Fakultät
von der Kunstgeschichte lange unterschätzt.3 der dortigen Universität und hatte Zugang zu
68 https://doi.org/10.1515/zkg-2024-1006
Open Access. © 2024 the author(s), published by De Gruyter. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.
zahlreichen physiognomischen Schriften, da- gung (Quintilian und Cicero: dispositio) sowie
runter Ausgaben der in den vorangehenden die abschliessende Ausführung (Quintilian
Jahrhunderten verfassten Texte der gebürtigen und Cicero: elocutio).8 Dieses Konzept wird nun
Paduaner Pietro d’Abano und Giovanni Michele übertragen auf die statuaria, also die Disziplin
Savonarola.6 Ungeachtet seines jungen Alters der Herstellung dreidimensionaler Figuren, mit
verfügte der Autor nicht nur über einen breiten besonderem Augenmerk auf den Bronzeguss
kulturellen Wissensschatz, sondern er stand laut (sculptura).
eigenen Angaben auch in engem Kontakt mit Den drei Arbeitsschritten des Rhetors stellt
lokalen Kunstschaffenden, die ihm Einblicke in Gaurico in seiner ansonsten fast ausschließ-
ihre Denk- und Arbeitsweisen ermöglichten. lich auf Latein verfassten Abhandlung jeweils
Eröffnet wird das als fiktiver Dialog im Stile einen griechischen Terminus gegenüber, den er
Ciceros angelegte Traktat durch grundsätzliche sogleich selbst übersetzt. Von Interesse ist hier
Überlegungen zur Wertigkeit des Berufs des ausschließlich die erste Einheit, die inventio, der
sculptor. In diesen Passagen finden sich mit der in De sculptura die agogikē (lat. ductoria, in der
Forderung nach Aufwertung und entsprechen- Übersetzung von Heinrich Brockhaus »Treiben«,
der Gleichstellung des bildnerischen Schaffens also die den Prozess eröffnende Idee) entspricht.
mit den artes liberales bereits die bedeutendsten Diese eher intellektuelle, geistige Tätigkeit un-
Argumentationsstränge des Textes zusammen- terteilt Gaurico in die graphikē (lat. designatio,
gefasst. Da eine derartige Nobilitierung gemäß die Formbestimmung) und die psychikē (lat.
Gaurico nur durch einen idealen, also hoch- animatio, für Brockhaus die »Beseelung«).9 Die
gebildeten Künstler zu erreichen ist, definiert entstehende Zweiteilung künstlerischer Arbeit
er einen solchen am Ende des Kapitels. Voraus- erinnert an den Dualismus der florentinischen
gesetzt wird eine breit gefächerte Expertise in und der venezianischen Malereikonzeption. Die
zahlreichen Wissensgebieten, wobei De sculp- designatio (graphikē), in ihrer Funktion wie das
tura ein autonomes Lehrgebäude mit verschie- disegno, konkurriert gemäß dieser Analogie mit
denen Disziplinen ausarbeitet, unter denen der der animatio (psychikē), in ihrer Funktion wie
antiquarischen Bildung (im Sinne der Antiken- das colore. Da bei Bronzegüssen des Veneto um
kenntnis) die höchste Wichtigkeit beigemessen 1500 einem potentiellen Farbauftrag eher unter-
wird. Eine willkürlich scheinende Auflistung geordnete Bedeutung zugemessen wurde, über-
einzelner Attribute römischer Kaiser und anti- nimmt für Gaurico die animatio die Funktion
ker Heroen unterstreicht als Abschluss des Pas- der Individualisierung, die das idealisierte (bzw.
sus zu ars und artifex die hohen Erwartungen an idealisierende) disegno ergänzt. André Chastel
den kulturellen Referenzschatz.7 und Robert Klein ordneten ihr »toute partie
Im zweiten Hauptteil von De sculptura ent- non-scientifique de l’imitation de la nature« zu
wirft Gaurico eine komplexe Struktur aus und betrachteten die designatio somit als deren
Theorien, deren Kenntnis dem Gelingen jeder Gegenpol, als ganz grundsätzliches Wissenssys-
künstlerisch wertvollen Statue unabdinglich sei. tem, dem eine mathematische, beinahe absolute
Entsprechend der Tradition der antiken Traktate Wahrheit zugrunde liegt.10
zur Rhetorik – unübersehbar sind die Parallelen Obwohl Gaurico zunächst behauptet, dass die
zu Quintilians Institutio oratoria und Ciceros designatio nur die Proportionslehre (Kapitel II ,
De oratore – entsteht bei Gaurico ein Kunstwerk De symmetria) und die Optik (Kap. I V, De per-
stets durch eine vorbereitende Planung und spectiva) umfasse, erscheint in der Abfolge des
mentale Vorarbeit (bei den römischen Rednern Schriftwerks die Physiognomik als dritte Wis-
die inventio), eine systematisierende Bereitle- senschaft zwischen den genannten Disziplinen.
1 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi), 2 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi), Rei-
Reiterstandbild des Gattamelata, 1443–1453, Bronze, terstandbild des Gattamelata (Detail: Kopf), 1443–1453,
360 × 390 × 120 cm. Piazza del Santo, Padua Bronze, 360 × 390 × 120 cm. Piazza del Santo, Padua
Bildhauerei gegenüber den anderen Künsten in Qualitäten seines Werks als moralischer und
Tat und Wahrheit bezweifelt und er sich eher intellektueller Idealmensch aufgeführt wird.
ein dialektisches Verhältnis von Schrift und Die Vorbildfunktion des Künstlers beruht auf
Skulptur wünscht, verdeutlicht die Bezugnahme der Wiederaufnahme der antiken Form – der
auf Phidias, der seinen berühmten olympischen Gattamelata ist eines der ersten freistehenden
Zeus gemäß der Beschreibung in der Illias ange- Reiterdenkmäler aus Bronze seit der Antike –
fertigt habe. Das legendäre Vorbild legitimiert und der tugendhaften Gelehrsamkeit. Diese
für Gaurico die sehr präzisen Vorgaben zur Ge- Aspekte sind für den Verfasser von De sculp-
staltung idealer Kunstwerke. Dem Studenten tura wichtiger als die Statue selbst, welche nur
der Philosophie und antiken Sprachen scheinen nominell Erwähnung findet. Expressis verbis
der Schaffenskraft von Worten keine Grenzen gelobt wird hingegen Donatellos Priorisierung
gesetzt, während die Skulptur zwangsläufig im der Zeichnung, verstanden als Theoriegerüst
Realen verhaftet bleiben muss. Die Lösung findet analog der eigenen designatio.23 Zu den Elemen-
sich in einer »Intellektualisierung« der statuaria ten der Zeichnung gehört bei Donatello nun im
und einer Veranschaulichung des in die Kunst- Besonderen auch die Physiognomik. Mit größter
werke eingegangenen Bildungsgutes, oder, wie Wahrscheinlichkeit folgte der Künstler bei der
Di Stefano Gaurico paraphrasiert: »[N]on può Gestaltung seines formal aus der Antike über-
esserci scultura senza cultura letteraria, e nep- nommenen Reiterstandbilds dem aus derselben
pure cultura letteraria senza scultura.« 22 Zeit stammenden Schema des Löwentypus,
Diese Denkweise erklärt, warum Donatello der Schablone für die Darstellung eines vor-
an anderer Stelle der Abhandlung ungeachtet bildlichen Kriegers.24 Es ist anzunehmen, dass
der verhaltenen Würdigung der ästhetischen hinter dem Gattamelata zwar ein akribisches
Colleonis Hakennase scheint zu wenig ideal für nen großen, nicht allzu sehr geöffneten Mund.
Gaurico. Die knapp ein Jahrzehnt nach Fertig- Schließlich zeigen auch der flache Bauch, die
stellung des Reiterstandbildes in De physio- gemäßigten Hüften, die anmutigen Beine und
gnomonica festgehaltenen Charakteristika des der weiße matte Teint an, dass ihr Kompilator
mutigen, großherzigen Löwen zielen eher auf die kompakte und idealisierte Figuren antikischer
mediocritas: Breite Schultern und eine kräftige Prägung bevorzugt.30 Eine zu expressive, zu na-
Brust zeugten laut der Schrift von der Kraft der turalistische Ästhetik verfehlte den Grundsatz
Seele; fixierende Augen und mittelgroße Köpfe um die Selektion der einzelnen perfekten Ele-
mit symmetrischen Gesichtern, gesetzt auf einen mente aus der Natur. Gaurico und das Frühwerk
»festen«, nicht zu dünnen und nicht zu dicken Donatellos bis und mit dem Gattamelata waren
Hals, fänden sich bei mutigen, vernünftigen und eher dem Ideal der mediocritas verpflichtet, ge-
großherzigen Menschen. Einen Löwencharakter mäß dem die Proportionen der Statue im besten
erkenne man an braunen, nicht zu tiefliegenden Falle nur leicht verschoben werden sollten, um
Augen, unbeweglichen Augenlidern und einem in physiognomischer Wahrnehmung ein be-
feuchten, nicht fliehenden Blick mit großen deutsames Äußeres zu vermitteln. Beim Werk
Pupillen. Wie das Tier müsse der Mann eine ro- Verrocchios sind die physiognomischen Marker
buste Nase und eine gleichförmige, rechteckige weniger subtil. Die brachiale Muskelkraft des
Stirn aufweisen, dazu schmale Lippen und ei- Pferdes und der intensive Ausdruck, jenseits jeg-
(Abb. 8) folgt dem Typus der Figur des Adam, die heitsideal als den leoninen Insignien. Die sehr
ursprünglich eines der wichtigsten Elemente des aufrechte Positur des Wächters ist wohl einem
Monuments darstellte und sich heute im Metro- antiken Apoll entlehnt, sei es nun jenem des
politan Museum of Art befindet.42 Beider kurze Wiener Musen-Sarkophags (damals aufgestellt
Torsi, breite Nacken und der ihnen gemeinsame in der Villa Giustiniani oder S. M. Maggiore in
melancholische Blick ergänzen die für Tullios Rom) oder dem ungleich berühmteren im va-
Figuren eigentümliche Haarpracht und die auf- tikanischen Belvedere. Das Ethos der Statue ist
fallend viereckigen Gesichter. Insbesondere jedoch ein grundsätzlich anderes als das eines
bei der ansonsten durch die Locken, die tieflie- erhabenen Gottes. Der ins Leere schweifende
genden, geraden Augenbrauen und den breiten Blick und die nur leicht geöffneten Lippen drü-
Kiefer eindeutig dem Löwentypus zugehörigen cken die nach innen gerichtete, weltabgewandte
Kriegerfigur entsprechen die vollen Lippen Trauer über den Verlust des Verstorbenen aus.
und straffen Wangen mehr einem generell auf Konsequenter wird die Formel des leonin
Symmetrie und Ebenmaß beruhenden Schön- kühnen Kraftmenschen vom Krieger zur Lin-
1 Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, 46 Ausdruckstheorie der Renaissance: Der Einfluss cha-
(»l’âge de la ressemblance et de la similitude«); Hans rakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie
Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1997.
1981. 4 Siehe z. B. Le corps et l’âme de Donatello à Michel-
2 Siehe Martin Porter, Windows of the Soul: Physio- Ange: Sculptures italiennes de la Renaissance (Ausst.-
gnomy in European Culture 1470–1780, Oxford 2005; Kat. Paris, Louvre; Mailand, Castello Sforzesco), hg.
Lisa Devriese (Hg.), The Body as Mirror of the Soul: von Marc Bormand, Beatrice Paolozzi Strozzi und
Physiognomy from Antiquity to the Renaissance, Leu- Francesca Tasso, Paris 2020, 162, Nr. 44 (Inès Villela-
ven 2021. Besonders zur antiken Physiognomik siehe Petit), 280, Nr. 84 (Peta Motture).
Simon Swain (Hg.), Seeing the Face, Seeing the Soul: 5 Konsultiert wurden die folgenden Editionen: Pompo-
Polemon’s Physiognomy from Classical Antiquity to nio Gaurico, De sculptura, hg. und übers. von Hein-
Medieval Islam, Oxford 2007. rich Brockhaus, Leipzig 1886; idem, De sculptura, hg.
3 Vgl. Lorne Campbell, Renaissance Portraits: European und übers. von André Chastel und Robert Klein, Genf/
Portrait-Painting in the 14th, 15th and 16th Centuries, Paris 1969; und idem, De sculptura (Le arti sorelle, 1),
New Haven/London 1990, 27 (»indeed the principles hg. und übers. von Paolo Cutolo, Neapel 1999.
of physiognomy seem to be of limited relevance to the 6 Zu diesen Schriften siehe Sarah Kathryn Matthews,
study of portraiture«); Gottfried Boehm, Bildnis und Matter over Mind: Pietro d’Abano (d. 1316) and the
Individuum: Über den Ursprung der Porträtmalerei Science of Physiognomy, Ph.D. Dissertation, Univer-
in der italienischen Renaissance, München 1985, 92 sity of Iowa 2015 (insbesondere als Erweiterung und
(»Diese Fälle direkten Einflusses physiognomischer Aktualisierung von Joseph Ziegler, Physiognomy,
Lehre auf die Porträtmalerei sind selten«); Claudia Science, and Proto-Racism, 1200–1500, in: Miriam
Schmölders, Das Vorurteil im Leibe: Eine Einführung Eliav-Feldon, Benjamin Isaac und Joseph Ziegler
in die Physiognomik, Berlin 1995, 109 (»Untersuchun- [Hg.], The Origins of Racism in the West, Cambridge
gen über die Frage etwa, ob Dürer oder andere Maler 2009, 181–199, und Joseph Ziegler, Skin and Character
seiner Zeit von der Physiognomik gelernt haben, sind in Medieval and Early Renaissance Physiognomy, in:
negativ ausgegangen«). Für eine grundlegende Gegen- Micrologus 13, 2005, 511– 535); Johannes Thomann,
argumentation siehe Ulrich Reißer, Physiognomik und Studien zum »Speculum physionomie« des Michele