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Hannes Eckstein

Pomponio Gaurico und die leoninen


Krieger: Physiognomik als Paradigma
This essay examines how Pomponio Gaurico’s treatise De sculptura, published in 1504,
attempted to establish a new visual language for sculptors based on physiognomic trea-
tises handed down from antiquity. By including physiognomics among the fundamental
elements of disegno, the young writer expanded its potential from a system of interpre-
tation to a means of representation. It will be argued that the most significant pattern
to arise from this new approach was the idealised leonine warrior that originated in the
typified equestrian statues of Donatello and Verrocchio, and culminated in sculptures
executed by Gaurico’s friends Tullio Lombardo and Andrea Riccio – presumably under
the impression of his ideas.
Keywords: physiognomics; sculpture; Renaissance; Pomponio Gaurico

Nicht erst seit Foucault und Blumenberg gilt die Noch zentrale Publikationen jüngster Zeit fal-
Renaissance als »Zeitalter der Ähnlichkeiten«, len zuweilen dieser Gefahr anheim: Der 2020
in dem unermüdlich nach einer »Lesbarkeit der erschienene, beeindruckend gelehrte Katalog
Welt« gesucht wurde.1 Die Wirkmacht der unter- zur Ausstellung Le corps et l’âme de Donatello à
schiedlichen Schemata, die das Bedürfnis nach Michel-Ange: Sculptures italiennes de la Renais-
universeller Welterklärung entwerfen ließ, kann sance des Louvre und des Castello Sforzesco in
bis anhin nur erahnt werden. Ein in jüngster Zeit Mailand widmet sich aufs Ausführlichste dem
vertieft untersuchtes Denkmuster ist die Physio- Verhältnis von Körper und Seele in der Kunst der
gnomik, das vermeintliche Wissenssystem, an- italienischen Renaissance, wobei die Physiogno-
hand dessen versucht wurde, vom körperlichen mik durchweg als relevanter Faktor impliziert
Erscheinungsbild eines Menschen auf seine in- wird. Gleichwohl unterlassen es die Autorinnen
neren Eigenschaften zu schließen.2 Basierend und Autoren, die anatomische Gestaltung der
auf antiken Quellen und dadurch scheinbar le- Exponate auf mögliche Korrelationen zu kon-
gitimiert, waren die nach heutigen Maßstäben kreten historischen Schriftquellen dieser Pseu-
wissenschaftlich nicht falsifizierbaren Glau- dowissenschaft zu überprüfen.4
benssätze allgegenwärtig. Sie fungierten sowohl Das älteste vollständig erhaltene Traktat, das
als (angeblich) präzis definierte Theoreme der der Physiognomik eine produktive Rolle im
humanistischen Gelehrten wie auch als gesell- künstlerischen Schaffensprozess zuschreibt, ist
schaftlich verankerter, alltagsweltlicher Refe- De sculptura von Pomponio Gaurico (ca. 1480–
renzschatz der Laien. Während über die zentrale 1530).5 Erschienen 1504 in Florenz, wurde die
Rolle dieser »Disziplin« in der Welterfahrung Abhandlung in Form und Inhalt entscheidend
des Quattro- und Cinquecento mittlerweile ein durch ihren Entstehungsort Padua beeinflusst.
gewisser Konsens herrscht, wurden ihre poten- Gaurico war Student an der dezidiert neo-aris-
tiellen Anwendungsfelder insbesondere in und totelisch orientierten Philosophischen Fakultät
von der Kunstgeschichte lange unterschätzt.3 der dortigen Universität und hatte Zugang zu

68 https://doi.org/10.1515/zkg-2024-1006

Open Access. © 2024 the author(s), published by De Gruyter. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.
zahlreichen physiognomischen Schriften, da- gung (Quintilian und Cicero: dispositio) sowie
runter Ausgaben der in den vorangehenden die abschliessende Ausführung (Quintilian
Jahrhunderten verfassten Texte der gebürtigen und Cicero: elocutio).8 Dieses Konzept wird nun
Paduaner Pietro d’Abano und Giovanni Michele übertragen auf die statuaria, also die Disziplin
Savonarola.6 Ungeachtet seines jungen Alters der Herstellung dreidimensionaler Figuren, mit
verfügte der Autor nicht nur über einen breiten besonderem Augenmerk auf den Bronzeguss
kulturellen Wissensschatz, sondern er stand laut (sculptura).
eigenen Angaben auch in engem Kontakt mit Den drei Arbeitsschritten des Rhetors stellt
lokalen Kunstschaffenden, die ihm Einblicke in Gaurico in seiner ansonsten fast ausschließ-
ihre Denk- und Arbeitsweisen ermöglichten. lich auf Latein verfassten Abhandlung jeweils
Eröffnet wird das als fiktiver Dialog im Stile einen griechischen Terminus gegenüber, den er
Ciceros angelegte Traktat durch grundsätzliche sogleich selbst übersetzt. Von Interesse ist hier
Überlegungen zur Wertigkeit des Berufs des ausschließlich die erste Einheit, die inventio, der
sculptor. In diesen Passagen finden sich mit der in De sculptura die agogikē (lat. ductoria, in der
Forderung nach Aufwertung und entsprechen- Übersetzung von Heinrich Brockhaus »Treiben«,
der Gleichstellung des bildnerischen Schaffens also die den Prozess eröffnende Idee) entspricht.
mit den artes liberales bereits die bedeutendsten Diese eher intellektuelle, geistige Tätigkeit un-
Argumentationsstränge des Textes zusammen- terteilt Gaurico in die graphikē (lat. designatio,
gefasst. Da eine derartige Nobilitierung gemäß die Formbestimmung) und die psychikē (lat.
Gaurico nur durch einen idealen, also hoch- animatio, für Brockhaus die »Beseelung«).9 Die
gebildeten Künstler zu erreichen ist, definiert entstehende Zweiteilung künstlerischer Arbeit
er einen solchen am Ende des Kapitels. Voraus- erinnert an den Dualismus der florentinischen
gesetzt wird eine breit gefächerte Expertise in und der venezianischen Malereikonzeption. Die
zahlreichen Wissensgebieten, wobei De sculp- designatio (graphikē), in ihrer Funktion wie das
tura ein autonomes Lehrgebäude mit verschie- disegno, konkurriert gemäß dieser Analogie mit
denen Disziplinen ausarbeitet, unter denen der der animatio (psychikē), in ihrer Funktion wie
antiquarischen Bildung (im Sinne der Antiken- das colore. Da bei Bronzegüssen des Veneto um
kenntnis) die höchste Wichtigkeit beigemessen 1500 einem potentiellen Farbauftrag eher unter-
wird. Eine willkürlich scheinende Auflistung geordnete Bedeutung zugemessen wurde, über-
einzelner Attribute römischer Kaiser und anti- nimmt für Gaurico die animatio die Funktion
ker Heroen unterstreicht als Abschluss des Pas- der Individualisierung, die das idealisierte (bzw.
sus zu ars und artifex die hohen Erwartungen an idealisierende) disegno ergänzt. André Chastel
den kulturellen Referenzschatz.7 und Robert Klein ordneten ihr »toute partie
Im zweiten Hauptteil von De sculptura ent- non-scientifique de l’imitation de la nature« zu
wirft Gaurico eine komplexe Struktur aus und betrachteten die designatio somit als deren
Theorien, deren Kenntnis dem Gelingen jeder Gegenpol, als ganz grundsätzliches Wissenssys-
künstlerisch wertvollen Statue unabdinglich sei. tem, dem eine mathematische, beinahe absolute
Entsprechend der Tradition der antiken Traktate Wahrheit zugrunde liegt.10
zur Rhetorik – unübersehbar sind die Parallelen Obwohl Gaurico zunächst behauptet, dass die
zu Quintilians Institutio oratoria und Ciceros designatio nur die Proportionslehre (Kapitel II ,
De oratore – entsteht bei Gaurico ein Kunstwerk De symmetria) und die Optik (Kap. I V, De per-
stets durch eine vorbereitende Planung und spectiva) umfasse, erscheint in der Abfolge des
mentale Vorarbeit (bei den römischen Rednern Schriftwerks die Physiognomik als dritte Wis-
die inventio), eine systematisierende Bereitle- senschaft zwischen den genannten Disziplinen.

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Dem Abschnitt kommt eine besondere Rolle zu, ihnen entsprechenden charakterlichen Kodie-
da er als ein bereits vorgängig von der Hauptfigur rungen. Gaurico gibt dies unverhohlen zu, wobei
geschriebenes, separates Traktat präsentiert sich die für das Traktat ungewöhnlich konkrete
wird. Gaurico lässt einen nicht näher definierten Nennung seiner Vorläufer aus einem Legitimati-
Knaben auftreten, der De physiognomonica auf onsbedürfnis ergibt: »Und damit Ihr nicht etwa
Wunsch der anwesenden Gesprächsteilnehmer dem zu wenig erfahrenen Jüngling nur geringen
vorliest. Der durch den Akt des Vortrags auf die- Glauben schenkt, so haltet nicht den Pomponius
selbe diegetische Ebene gebrachte, aber in seiner für den Gewährsmann in diesem Punkte, son-
Disposition merklich vom restlichen Werk ab- dern die angesehensten der alten Philosophen,
weichende Textteil besteht aus einem Katalog Aristoteles und Adamantius.« 14
von »dem Körper anhaftenden Zeichen, ver- Analog der Reihenfolge in den Werken des
mittelst derer wir« nach Gauricos eigenen ein- vermeintlichen Aristoteles (hier in der Folge
führenden Worten »auf die Eigenschaften der als »Pseudo-Aristoteles« bezeichnet) und des
Seele schließen«.11 Adamantius evaluiert Gaurico zuerst die unter-
Von eminenter Bedeutung und in dieser kon- schiedlichen Physiognomien der Menschen aus
kreten Formulierung ohne Präzedenzfall ist das den Regionen, die in der griechischen Antike be-
die Ausführungen einleitende und der Merk- kannt waren. Die vermeintlich wissenschaftlich
malsliste vorgestellte Plädoyer zugunsten der legitimierten, da auf klimatische Bedingungen
Physiognomik. Sie sei – abgesehen von den Vor- referierenden Behauptungen dieses Abschnittes
teilen im Alltagsleben, die erst an zweiter Stelle sind aufgrund ihres (süd)eurozentristischen
erwähnt werden – besonders für den Bildhauer Suprematismus aus heutiger Perspektive höchst
unverzichtbar. Bei der bildlichen Darstellung irritierend. Dasselbe gilt für den folgenden, ge-
von Verstorbenen könne dieser nämlich aus radewegs in abstrusem Maße misogynen Para-
den überlieferten »Charakterzügen« und den grafen zum Leib-Seele-Verhältnis bei den zwei
bekannten Taten von Personen aus vergangenen damals anerkannten Geschlechtern. Die hier
Zeiten darauf schließen, wie jene ausgesehen relevanten, weil bedeutend ausführlicheren
haben.12 Zu der im Alltagsleben erprobten ana- Passagen betreffen schließlich den physiogno-
lytischen, also den Menschen deutenden Physio- mischen Zeichenkatalog der einzelnen Körper-
gnomik tritt hier also eine synthetische Variante, teile. Wie der Text von Adamantius eröffnet
die selbst Bilder von Menschen zu entwerfen De physiognomonica seine Taxonomie mit den
vermag.13 Augen, welche das Fenster zur Seele darstellten.
Gaurico verweist auf die lange Tradition der Dass die Ausführungen in der antiken Schrift
erkenntnisreichen Wissenschaft der Physiogno- wesentlich detaillierter ausfallen als bei ihrer
mik, wobei er die Liste seiner sich mit der Mate- neuzeitlichen Adaption, ist unter anderem be-
rie beschäftigenden Vorgänger mit der Nennung dingt durch Gauricos zurückhaltende Auf-
von Aristoteles und Adamantius abschließt. In nahme der Säfte- oder Temperamentenlehre,
seiner Essenz besteht Gauricos De physiognomo- welche Aspekte wie die Feuchtigkeit der Augen
nica tatsächlich zu weiten Teilen aus einer Über- deuten lassen würde.15
setzung der beiden altgriechischen Original- Nach den Augen folgen in De sculptura die
quellen, deren ältere heute nicht dem Stagiriten anderen Teile des Kopfes von den Haaren bis zur
selbst, sondern nur seinem Umfeld zugeschrie- Nase, dem Mund und den Ohren. Inmitten der
ben wird. Von Adamantius übernimmt Gaurico klar voneinander abgegrenzten Passagen zu den
sowohl den Aufbau des Textes als auch nahezu jeweils präzise beschriebenen Organen ist ein
den gesamten Katalog an Körperteilen und den halber Abschnitt dem Gesichtsausdruck (vul-

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tus) gewidmet. Dies geschieht ungeachtet der einen Menschen als schön empfindet. Da die
Tatsache, dass dieser im Gegensatz zu den ana- Subjektivierung der Kunstwerke im Sinne der
tomischen, festen Teilen eine unbeständige und Mimesis erst anschließend im Arbeitsschritt der
viel schwieriger zu definierende Erscheinung animatio erfolgt, dienen die physiognomischen
darstellt. Nach der Behandlung der restlichen, Taxonomien weder der imitatio des individuel-
dem Kopf und Gesicht in ihrer Relevanz unter- len Ausdrucks (um Gauricos Begriff zu verwen-
geordneten Körperteile vom Hals bis zu den den) noch als variable Option des persönlichen
Füßen beschließen Thesen zur Hautfarbe das Stils. Im Gegenteil werden sie im Gedanken-
Kapitel. Zu jeder anatomischen Ausformung gebäude von De sculptura zu einer Art wissen-
listet Gaurico entsprechende charakterliche Ei- schaftlichem Zeichensystem, das allumfassend
genschaften auf, kombiniert mit Analogien zu Geltung besitzt.
Tieren. So führt er etwa aus, dass Menschen mit In der Theoriestruktur von De sculptura ent-
schwärzlichen und mäßig hohlen Augen tapfer spricht jeweils ein zu erfassendes Element einer
und großherzig seien, da auch Löwen solche bestimmten Darstellungswissenschaft: Den
Augen besäßen. Tiefliegende Augen hingegen Körper vermisst die symmetria, den Raum ab-
stammten vom Affen und wiesen auf einen hin- zubilden hilft die perspectiva und zum Über-
terhältigen, zum Lügen neigenden Charakter mitteln der Eigenschaften der Seele dient die
hin. Andere Abschnitte verzichten auf anima- physiognomonica. 18 Anhand einer späteren
lische Referenzen und beschränken sich auf Ausgabe des Werks lässt sich rekonstruieren,
Grundregeln: Die schmale Stirn sei ein Indiz dass sein Autor ursprünglich einen Abschnitt
für Rohheit, eine flache für Dummheit, eine aus der pseudo-aristotelischen Quelle über die
zu große für Trägheit, eine zu kleine für Unbe- Zähne übersetzt hatte, dieser aber in der editio
ständigkeit.16 princeps von 1504 keine Aufnahme fand. Ferner
Obschon den meisten dieser Bewertungen ausgelassen wurden Stellen zur Stimm- und Be-
anatomischer Erscheinungsformen eine analogi- wegungsdeutung, die notabene für einen sculp-
sche Sinnhaftigkeit zugeschrieben wird, führen tor mit wenig Zweckmäßigkeit verbunden wären.
sie doch früher oder später immer zum Idealbild Ulrich Reißer wertet auch deswegen das System
eines gewissen Mittelmaßes, einer Moderation Gauricos als Weiterentwicklung der Überlegun-
der individuellen Ausprägung. Was Gaurico gen von Bartolomeo Facio aus dem Jahr 1456, in
anstrebt, ist schlussendlich eine mediocritas im welchen dieser die Malerei und die Dichtung in
positiven Sinne. Um eine solche zu definieren, Bezug auf ihre Schwierigkeit, das Innenleben ei-
bedient er sich neben der Physiognomik auch nes Menschen abzubilden, gleichstellte. Gaurico
der Proportionslehre, eine Vorgehensweise, die präsentiert als Lösungsansatz nun seine »wis-
er Varro oder Vitruv entlehnt. Die Einheit der senschaftliche Dreiteilung« der korrekten Figu-
Körpervermessung ist bei Gaurico das Gesicht, renzeichnung in Bezug auf die Skulptur. Wäh-
wobei etwa die Länge des idealen Körpers aus rend Facio die expressio als individualisierenden
deren neun besteht. Obwohl wie erwähnt De Faktor, als Ausdruck der Lebendigkeit der Figur
physiognomonica als separates Buch im Buch sieht, nennt der Text in seiner Nachfolge die ani-
präsentiert wird, ist somit der Zusammenhang matio als Imitation des Wirklichen, welches als
mit dem vorangehenden Kapitel De symmetria Phänomen zwangsläufig individuell und dem-
gegeben.17 Auf Grundlage der mathematisch- zufolge lebendig sei. Die animatio gelingt dort
wissenschaftlichen wie auch kunsttheoretischen nur in Ergänzung zur designatio, die als grund-
designatio-Lehrsätze wird der Leserschaft er- sätzliche Planung der inventio einer Idealstruk-
klärt, warum sie eine Figur und demnach auch tur des Werkes entspricht.19

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Referenzen der Physiognomik: durch aus, dass sich Gaurico kein eigenes Urteil
Gaurico, Donatello und Verrocchio über die Statue anmaßt. Im Gegenteil verweist
er relativ distanziert auf das Monument vor der
Die an dieser Stelle nur auf das Wesentlichste Basilika di Sant’Antonio, »das ja von unüber-
zusammengefassten, sich im Original durch troffener Vollendung sein soll«.20 Diese Referenz
eine wohl absichtlich komplizierte Fachter- ist zudem Teil einer Suggestivfrage, ob wirklich
minologie auszeichnenden Theorien lassen das Bronzewerk Donatellos oder nicht doch eine
im Traktat wenig Raum für die Besprechung rein schriftlich überlieferte, ansonsten verlorene
tatsächlich realisierter Kunstwerke. Zwei der Pferdestatue der Antike eindrucksvoller sei: »Ich
wenigen Beispiele zu den im Quattrocento aus- bitte Euch, nehmt Ihr etwa kräftigeres Leben an
geführten Reiterstandbildern des Gattamelata Donatellos Pferde (der Gattamelata-Statue) wahr
von Donatello (Abb. 1, 2) und des Bartolomeo […] als an jenem, das der Dichter, mein Lands-
Colleoni von Andrea del Verrocchio (Abb. 3, 4) mann, mit folgenden Versen beschreibt […].« 21
seien hier aufgrund ihrer repräsentativen Ver- Obwohl der Erzähler das zweitgenannte Werk
weiskraft für die gesamte Abhandlung bespro- ausschließlich durch eine Ekphrase Statius’
chen. Die Erwähnung des Werks zu Ehren des kennt, beschreibt er es in der Folge lebhafter als
verstorbenen Condottiere Erasmo di Narni (ge- das Paduaner Monument. Dass Gaurico das zu
nannt Gattamelata) zeichnet sich zunächst da- Beginn von De sculptura postulierte Primat der

1 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi), 2 Donatello (Donato di Niccolò di Betto Bardi), Rei-
Reiterstandbild des Gattamelata, 1443–1453, Bronze, terstandbild des Gattamelata (Detail: Kopf), 1443–1453,
360 × 390 × 120 cm. Piazza del Santo, Padua Bronze, 360 × 390 × 120 cm. Piazza del Santo, Padua

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3 Andrea del Verrocchio, Reiterstandbild des Bartolomeo 4 Andrea del Verrocchio, Reiterstandbild des
Colleoni, 1480–1488, Bronze, 395 × 380 cm. Campo Santi Bartolomeo Colleoni (Detail: Kopf), 1480–1488,
Giovanni e Paolo, Venedig Bronze, 395 × 380 cm. Campo Santi Giovanni e
Paolo, Venedig

Bildhauerei gegenüber den anderen Künsten in Qualitäten seines Werks als moralischer und
Tat und Wahrheit bezweifelt und er sich eher intellektueller Idealmensch aufgeführt wird.
ein dialektisches Verhältnis von Schrift und Die Vorbildfunktion des Künstlers beruht auf
Skulptur wünscht, verdeutlicht die Bezugnahme der Wiederaufnahme der antiken Form – der
auf Phidias, der seinen berühmten olympischen Gattamelata ist eines der ersten freistehenden
Zeus gemäß der Beschreibung in der Illias ange- Reiterdenkmäler aus Bronze seit der Antike –
fertigt habe. Das legendäre Vorbild legitimiert und der tugendhaften Gelehrsamkeit. Diese
für Gaurico die sehr präzisen Vorgaben zur Ge- Aspekte sind für den Verfasser von De sculp-
staltung idealer Kunstwerke. Dem Studenten tura wichtiger als die Statue selbst, welche nur
der Philosophie und antiken Sprachen scheinen nominell Erwähnung findet. Expressis verbis
der Schaffenskraft von Worten keine Grenzen gelobt wird hingegen Donatellos Priorisierung
gesetzt, während die Skulptur zwangsläufig im der Zeichnung, verstanden als Theoriegerüst
Realen verhaftet bleiben muss. Die Lösung findet analog der eigenen designatio.23 Zu den Elemen-
sich in einer »Intellektualisierung« der statuaria ten der Zeichnung gehört bei Donatello nun im
und einer Veranschaulichung des in die Kunst- Besonderen auch die Physiognomik. Mit größter
werke eingegangenen Bildungsgutes, oder, wie Wahrscheinlichkeit folgte der Künstler bei der
Di Stefano Gaurico paraphrasiert: »[N]on può Gestaltung seines formal aus der Antike über-
esserci scultura senza cultura letteraria, e nep- nommenen Reiterstandbilds dem aus derselben
pure cultura letteraria senza scultura.« 22 Zeit stammenden Schema des Löwentypus,
Diese Denkweise erklärt, warum Donatello der Schablone für die Darstellung eines vor-
an anderer Stelle der Abhandlung ungeachtet bildlichen Kriegers.24 Es ist anzunehmen, dass
der verhaltenen Würdigung der ästhetischen hinter dem Gattamelata zwar ein akribisches

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und eigenständiges Interesse am einzigartigen An anderer Stelle heißt es, mutige Menschen
Erscheinungsbild des porträtierten Menschen seien an ihrem harten Haar, ähnlich dem von
steckte, dieses aber auf Ebene der Bedeutungs- Löwen oder Wildschweinen, zu erkennen. Zum
zuschreibung in universelle Werte überführt Gesamteindruck gehöre schließlich der düstere,
wurde. Man vergleiche die pseudo-aristote- entschlossene Blick, der als Ausdruck von Zorn,
lische Beschreibung des löwenhaften Wesens Stolz, Kühnheit und Mut gelte, aber auch cle-
mit dem Aussehen der Statue (Abb. 2): mentia (sinngemäß Milde, Großmut) und Treue
erkennen lasse.26
Denn er hat ein Maul von guter Größe; ein ziem- Ausführungen zur Komplexität der dargestell-
lich viereckiges, nicht zu knochiges Gesicht; die ten Großmut finden sich in der ersten modernen
obere Kinnlade nicht hervorstehend, sondern der Untersuchung des Löwentypus, einem Aufsatz
unteren gleichgestellt; die Nase eher dick als dünn; Peter Mellers zu heroischen Porträt­statuen aus
dunkelbraune, tiefliegende Augen, die nicht sehr dem Jahr 1963.27 Meller arbeitete darin sorgfältig
rund, aber auch nicht zu oval und von mittlerer die in den antiken Quellen erwähnte Doppeldeu-
Größe sind; Augenbrauen von guter Größe; eine tigkeit der leoninen Darstellung aus. Während
viereckige Stirn, die in der Mitte leicht vertieft ist, Donatello seinem Reiterstandbild die Zeichen
sich aber an der unteren Stirnseite zu den Augen- der magnanimitas gegeben habe, trage der vor-
brauen und zur Nase hin wie eine Wolke vorwölbt. genannte Colleoni von Verrocchio in der eindeu-
Oben an der Stirn entlang der Nase hat er nach tigen Nachfolge des Gattamelata das Löwenge-
außen gedrehte Haare wie eine Tolle; einen mittel- sicht als Signum von Kraft und Wildheit (Abb. 4).
großen Kopf […].25 Meller führte, wie später auch Dietrich Erben,
aus, dass Verrocchio mit der Statue primär ei-
Am Ende der Schilderung seines Äußeren wird nen Condottiere als definierten Menschentypen
der Löwe im Hinblick auf seine inneren Eigen- seiner Zeit darstellte, dem er erst in zweiter Linie
schaften charakterisiert. Er sei freigiebig, groß- die stark typisierten Gesichtszüge Colleonis gab.
herzig und den Sieg liebend, sowohl beständig Wie dem Werk in Padua liegt auch dem auf der
als auch gerecht und denjenigen, denen er ver- Piazza Santi Giovanni e Paolo in Venedig errich-
bunden ist, liebevoll zugetan. Sowohl die dün- teten Reiterstandbild eine kommemorative und
nen, herabgezogenen Lippen, bei denen die zugleich propagandistische Funktion zugrunde,
Oberlippe an den Mundwinkeln über die Un- indem es sowohl den Verstorbenen als auch die
terlippe hängt, als auch die rundliche, stumpfe durch ihn verkörperte militärische Potenz der
Nasenspitze zeugten von seiner stolzen Seele. Republik ehren sollte.28
Den Zorn wiederum offenbarten die aufgebläh- Anders als den Gattamelata, den er nur im-
ten Nasenflügel, wie auch die finstere Stirn, wie plizit als zu wenig lebendig – da womöglich zu
sie neben Löwen auch bei Stieren üblich sei. Der schemenhaft – tadelt, kritisiert Gaurico das
beschriebene physiognomische Typus zeichnet »rohe« Pferd des Colleoni ausdrücklich. Er
sich im Übrigen durch eine robuste körperliche spricht damit das Problem eines potentiellen
Konstitution aus. So gelten als Merkmale des Abrutschens ins Karikatureske durch Über-
Löwen ein aufrechter, breiter Körperbau, kraft- treibung des idiosynkratischen Ausdrucks an:
volle Schultern, große und mächtige Gliedma- »Doch in maßvoller Weise und nicht wie der es
ßen, sowie ein weich gerundeter Brustkorb und gemacht hat, der neulich den Colleoni vor San-
nicht zu ausladende Hüften. Weiterhin charak- Paolo aufstellte. Denn dieser hat das Pferd so
teristisch seien der flache Bauch und eine glatte, roh nachgemacht, dass es ganz das Aussehen
ebenmäßige Muskulatur von Nacken bis Waden. eines gehäutet Pferdes bekommen hat.« 29 Auch

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5 Antonio Rizzo und Werkstatt, Denkmal des Giovanni 6 Giovanni Bellini, Bildnis eines Condottiere (Giovanni
Emo (Detail), um 1493, Kalkstein, 217 × 75 × 46 cm. Musei Emo?), 1475–1485, Öl auf Holz, 51 × 37 cm. National Gal-
Civici, Vicenza lery of Art, Washington

Colleonis Hakennase scheint zu wenig ideal für nen großen, nicht allzu sehr geöffneten Mund.
Gaurico. Die knapp ein Jahrzehnt nach Fertig- Schließlich zeigen auch der flache Bauch, die
stellung des Reiterstandbildes in De physio- gemäßigten Hüften, die anmutigen Beine und
gnomonica festgehaltenen Charakteristika des der weiße matte Teint an, dass ihr Kompilator
mutigen, großherzigen Löwen zielen eher auf die kompakte und idealisierte Figuren antikischer
mediocritas: Breite Schultern und eine kräftige Prägung bevorzugt.30 Eine zu expressive, zu na-
Brust zeugten laut der Schrift von der Kraft der turalistische Ästhetik verfehlte den Grundsatz
Seele; fixierende Augen und mittelgroße Köpfe um die Selektion der einzelnen perfekten Ele-
mit symmetrischen Gesichtern, gesetzt auf einen mente aus der Natur. Gaurico und das Frühwerk
»festen«, nicht zu dünnen und nicht zu dicken Donatellos bis und mit dem Gattamelata waren
Hals, fänden sich bei mutigen, vernünftigen und eher dem Ideal der mediocritas verpflichtet, ge-
großherzigen Menschen. Einen Löwencharakter mäß dem die Proportionen der Statue im besten
erkenne man an braunen, nicht zu tiefliegenden Falle nur leicht verschoben werden sollten, um
Augen, unbeweglichen Augenlidern und einem in physiognomischer Wahrnehmung ein be-
feuchten, nicht fliehenden Blick mit großen deutsames Äußeres zu vermitteln. Beim Werk
Pupillen. Wie das Tier müsse der Mann eine ro- Verrocchios sind die physiognomischen Marker
buste Nase und eine gleichförmige, rechteckige weniger subtil. Die brachiale Muskelkraft des
Stirn aufweisen, dazu schmale Lippen und ei- Pferdes und der intensive Ausdruck, jenseits jeg-

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licher naturnaher Expressivität, überlagern die Mit diesen Erkenntnissen muss der in De sculp-
Verkörperung von Großmut und Kraft. tura formulierte Anforderungskatalog an den
Anhand der leoninen Condottieri beschreibt idealen sculptor neu gelesen werden. Gauricos
Gottfried Boehm den subtilen Unterschied Forderung, mittels Skulpturen so komplexe In-
zwischen semantisch konnotierten Typen und halte wie Charakter, erbrachte Heldentaten, den
Karikaturen. Er betont, dass der Ausdruck eines konkreten Lebensabschnitt und sogar Sinnbild-
Gesichts jenseits von Schmähbildern nie nur ein lichkeiten zu antiken Tugenden zu übermitteln,
charakteristisches Merkmal, sondern viele ein- würde die daraus resultierenden Figuren infla-
zelne Zeichen aufweise, die »in die gleiche Rich- tionär mit Attributen überladen und durch die
tung zeigen«.31 So dürfe in einer verständlichen kombinierten Zeichenkorpora der Antike und
Figur nicht nur der Blick etwas aussagen wollen, Frühen Neuzeit das Ebenmaß der Werke unter-
sondern er müsse etwa mit den Augen, dem wandern. Um dies zu verhindern, bleibt einzig
Mund und den Brauen in Akkordanz vereint eine Verlagerung der Bedeutungskonstitution
sein. Es stellt sich also die Frage, welche Aus- auf den repräsentierten Körper an sich. Die Phy-
drucksgehalte mit der Idee der Charaktermitte siognomik, ergänzt durch die Pathognomik, die
vereinbar sind. Die Darstellungen des Giovanni die Affekte und Bewegungen eines Menschen
Emo etwa, einem anderen zu jener Zeit vielpor- sinnbildlich zu deuten verspricht, dient somit als
trätierten Condottiere (Abb. 5, 6), verbindet die Zeichenlehre im semiotischen System neben der
Tatsache, dass sie sich neben der kostbaren Be- Proportions- und Perspektivlehre nicht nur der
kleidung des Porträtierten auf ein einziges Mittel Darstellung, sondern sie trägt zur Erläuterung
der Informationsvermittlung beschränken: das von Kontext und Inhalt bei. Die mediocritas
Gesicht. Anne Markham Schulz konnte nach- des Kunstwerks abseits der markierten Körper-
weisen, wie dabei das biologisch-anatomische stellen bewahrt dabei das angemessene Ethos
Aussehen dem Typus untergeordnet wurde.32 und Pathos der Figur und stellt sicher, dass der
Die typisierte Darstellung überlagert das Werk Fokus auf dem dargestellten Menschen selbst
ganz ohne allegorisierende Attribute, sodass verbleibt. Gauricos Leitsatz, durch physiogno-
für spätere Betrachter und Betrachterinnen sein misch markierte Statuen könne das Wesen Ver-
Bildnischarakter opak und eine Identifikation storbener wieder sichtbar gemacht werden, muss
der Person entsprechend schwierig werden. Die somit unter dem Eindruck der beiden nicht mit
Individuen Gattamelata, Colleoni und Emo ver- Begleitfiguren oder übermäßigem heraldischen
schwinden – um mit Hans Belting zu sprechen – Beiwerk geschmückten und dennoch referenziell
hinter der Maske des finster blickenden Condot- komplexen Condottieri-Denkmäler entstanden
tieres mit leoninen Zügen, sie werden sozusagen sein.
zur Personifikation ihrer eigenen gesellschaftli- In den Darstellungen des Gattamelata und –
chen Rolle.33 mit Ausnahme der Lippen und der Nase – auch
Behandelt wurden in diesem Kontext größ- des Colleoni akkumulieren sich sämtliche Cha-
tenteils bildnisähnliche oder zumindest nicht rakteristika, die in den (pseudo-)aristotelischen
in eine historia eingebettete Einzelfiguren. Fällt Texten den Löwen umschreiben. Während die
bei diesen – wie bei einem freistehenden Monu- kommemorative Suggestivkraft der Figuren-
mentalstandbild naheliegend – ferner der nar- zeichnung dem Credo in De sculptura entspricht,
rative Bezugsrahmen weg, in welchem sich die stellt sich im Hinblick auf die geforderten Spe-
Dargestellten durch Handlungen auszeichnen zifikationen der statuaria das Problem der
könnten, wird der (Löwen-)Charakter nur durch übermäßigen Typisierung.34 Gaurico schreibt
Gesichtszüge, Ausdruck und Statur vermittelt. keine fixen Typen vor, sondern präsentiert ein

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differenziertes Zeicheninventar, das komplexere Gaurico musste beim Verfassen seines Texts
Darstellungen von Individuen ermöglichen die physiognomische Sinnbildlichkeit von Do-
soll. Anschaulich gemacht wird diese Präferenz natellos und Verrocchios Reiterstandbildern
durch eine Abweichung Gauricos von der einen als Referenz gedient haben. Weder der Gatta-
seiner Hauptquellen, der pseudo-aristotelischen melata noch der Colleoni vermochten es jedoch,
Physiognomonica. Die dort viel Raum einneh- ihn gänzlich sowohl von ihrer narrativen Aus-
menden Kategorisierungen der Äußerlichkeiten drucksform als auch ihrer stilistischen Gestal-
je nach Art Mann – aufgeführt sind u. a. Neider, tung zu überzeugen. Deshalb erarbeitete sich
Herrschsüchtige, Feiglinge – finden keine Auf- Gaurico eigene dispositive Strategien für Sta-
nahme in De sculptura. Möglich, dass es dem tuen, die allen seinen Erwartungen entsprachen.
frühneuzeitlichen Traktatisten bei einer solch Dem jungen Traktatisten war dabei bewusst,
vereinfachenden Klassifizierung an Tugenden dass die komplexe Semantik der Körper-Geist-
wie der amphibolia (griech. für Zweifel, hier Korrelation gewisser Anpassungen bedurfte, um
im Sinne von Mehrdeutigkeit) oder varietas für die konkrete Umsetzung in eine Bildsprache
(im Sinne der Vielfalt) mangelte, die für die fruchtbar zu werden. Wie Zeuxis in Kroton, der
gewünschte Nobilitierung der Bildhauerkunst verschiedene Schönheitsmerkmale seiner Mo-
unverzichtbar waren.35 Hätte Gaurico starre Fi- delle neu kompilierte, hätten sich Kunstschaf-
gurentypen für die statuaria etabliert, wäre eine fende einzelner Elemente aus den vorhandenen
nuancierte ikonografische Aufladung der Werke Lehren bedienen müssen, um ein praktikables
mittels eines selbstständigen, noch zu ent- Zeichenrepertoire zu schaffen.37 Anhand aus-
wickelnden und in seinen einzelnen Einheiten gewählter Beispiele kann nachvollzogen werden,
austausch- und kombinierbaren Referenzsys- wie Gaurico und die Künstler in seinem Umfeld
tems vorweggenommen worden. Eine Pluralität eine solche Synthese zu erzielen versuchten.
an charakterologischen Einheiten, basierend auf
den Universalwerten der designatio, kam diesem
Ziel eher entgegen. Während die meisten Aus- Das Netzwerk der Physiognomik:
führungen seiner antiken Quellen konkordant Gaurico, Tullio Lombardo und Il Riccio
sind (in allen Texten finden sich großmütige
Löwen, majestätische Adler und rasende Wild- Der in De sculptura mit den höchsten Lobprei-
schweine), beschreiben der Pseudo-Aristoteles sungen gewürdigte Bildhauer ist Tullio Lom-
und Adamantius nahezu identische Indikatoren bardo. Dessen handwerkliche Meisterschaft und
von sowohl klugen und treuen, aber auch klugen stark antikisierender Stil lassen den Autoren
und bösartigen Hunden. Bei Letzteren über- vom »größten aller Sculptoren, die je eine Zeit
wiegt sogar die negative Konnotation, da sie gesehen hat«, sprechen.38 Die in der Folge auf-
»leicht zu erzürnen« seien.36 Es darf die These richtig geschilderte Verbundenheit zwischen
gewagt werden, dass Gaurico derartige Wider- Gaurico und dem weitaus älteren Tullio legt
sprüche nicht störten. Das Hauptaugenmerk nicht nur einen gemeinsamen Austausch über
des jungen Humanisten lag auf seinem eigenen Kunst, sondern auch eine ähnliche Empfäng-
Beitrag zum Kanon der physiognomischen Lite- lichkeit für antike Theoreme und Ideale nahe.
ratur unter kunsttheoretischen Paradigmen, mit Schnittpunkte des Schaffens der beiden Freunde
besonderer Betonung der die Kunst durch ihre finden sich vermutlich nicht nur in der perspek-
Wissenschaftlichkeit nobilitierenden designatio, tivischen Anlage von Tullios Reliefs des Heiligen
die konstituierenden Vorrang gegenüber der Antonius in der Basilica Sant’Antonio in Padua,
animatio hat. sondern vor allem in den nach Vorstellungen

Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024 77


rocchio. Die große Auslastung des von der Ven-
dramin-Familie Erkorenen verzögerte jedoch
den Beginn der Arbeiten; sein vorzeitiger Tod
1488 beendete schließlich das Vorhaben. Auf
der Suche nach Ersatz lenkte das eben fertig-
gestellte Grabmal von Vendramins Vorgänger,
Pietro Mocenigo, die Aufmerksamkeit der Auf-
traggeber auf die Familie der ursprünglich aus
Norditalien stammenden Lombardo. Ermolao
Barbaro, Vendramins Neffe und betraut mit der
inhaltlichen Ausgestaltung des Memorials, ver-
sprach sich von Tullio, dem jüngsten Sohn der
Lombardi, das eigenständigste, prachtvollste
Resultat. Für das ikonografische Programm war
Barbaro gleich selbst besorgt, stand er doch als
Professor der aristotelischen Philosophie an der
Universität in Padua in bester Verbindung zu
den Lehrern Gauricos und den antiquarisch in-
teressierten Künstlerkreisen.40
Im von Barbaro geplanten und von Tullio aus-
geführten Monumentalwerk trifft in innovativer
Synthese die Form eines antiken Triumphbogens
auf ein christliches Paradiestor. Der scheinbar
7 Tullio Lombardo und Werkstatt, Grab des Dogen schlafende Andrea liegt zentral auf einem To-
Andrea Vendramin, 1490–1505, Marmor, ca. 700 cm hoch. tenbett, getragen von personifizierten Tugen-
Santi Giovanni e Paolo, Venedig
den und umgeben von Schildträgern in stark
typisierter Erscheinung. Die Figuren sind weit
der Physiognomik gestalteten Figuren des Bild- davon entfernt, bloße Anhängsel der Architek-
hauers.39 Semantisch aufgeladen sind etwa die tur zu sein; sie zeigen sich vielmehr eigenständig
Anatomien der Statuen im Grabmal des Do- und nahezu freistehend. Dies gilt im Besonde-
gen Andrea Vendramin (Abb. 7), einem frühen ren für die beiden Krieger, die als Vendramins
Höhepunkt in der Karriere des Lombardo. Ur- Grabwächter fungieren (Abb. 8, 9). Während der
sprünglich geschaffen für den Altarraum in liegende Doge nur halb ausgefertigt und im Ge-
Santa Maria dei Servi, befindet es sich heute in samtwerk wenig prominent erscheint, sind seine
Santi Giovanni e Paolo in unmittelbarer Nähe Wachen prägnant im Ausdruck und von Kopf bis
zum Reiterdenkmal des Colleoni. Fuß mit bedeutsamen Details ausgeschmückt.
Andrea Vendramin, verstorben 1478, gilt als Die Figuren tragen antike Rüstungen, in denen
einer der reichsten und mächtigsten Männer Markham Schulz das »first accurate revival
des frühneuzeitlichen Venedigs. Nicht viele of Roman imperial parade cuirass« der Neu-
Künstler kamen für den prestigeträchtigen Auf- zeit sieht. Sie stehen emblematisch für die Ver-
trag seines Grabes in Frage. Einer von ihnen schmelzung zeitgenössischen Ausdrucks und
war, in Anbetracht des sich in der Herstellung klassischer Ausstattung in Tullios Werk.41
befindlichen, großen Erfolg versprechenden Der stark idealisierte, aus frontaler Perspek-
Colleoni-Denkmals, der Florentiner Ver- tive rechts positionierte Krieger ohne Helm

78 Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024


8 Tullio Lombardo, Krieger ohne Helm, 1490–1505, 9 Tullio Lombardo, Krieger mit Helm, 1490–1505,
Marmor, 162 cm hoch. Grab des Dogen Andrea Marmor, 162 cm hoch. Grab des Dogen Andrea
­Vendramin in Santi Giovanni e Paolo, Venedig ­Vendramin in Santi Giovanni e Paolo, Venedig

(Abb. 8) folgt dem Typus der Figur des Adam, die heitsideal als den leoninen Insignien. Die sehr
ursprünglich eines der wichtigsten Elemente des aufrechte Positur des Wächters ist wohl einem
Monuments darstellte und sich heute im Metro- antiken Apoll entlehnt, sei es nun jenem des
politan Museum of Art befindet.42 Beider kurze Wiener Musen-Sarkophags (damals aufgestellt
Torsi, breite Nacken und der ihnen gemeinsame in der Villa Giustiniani oder S. M. Maggiore in
melancholische Blick ergänzen die für Tullios Rom) oder dem ungleich berühmteren im va-
Figuren eigentümliche Haarpracht und die auf- tikanischen Belvedere. Das Ethos der Statue ist
fallend viereckigen Gesichter. Insbesondere jedoch ein grundsätzlich anderes als das eines
bei der ansonsten durch die Locken, die tieflie- erhabenen Gottes. Der ins Leere schweifende
genden, geraden Augenbrauen und den breiten Blick und die nur leicht geöffneten Lippen drü-
Kiefer eindeutig dem Löwentypus zugehörigen cken die nach innen gerichtete, weltabgewandte
Kriegerfigur entsprechen die vollen Lippen Trauer über den Verlust des Verstorbenen aus.
und straffen Wangen mehr einem generell auf Konsequenter wird die Formel des leonin
Symmetrie und Ebenmaß beruhenden Schön- kühnen Kraftmenschen vom Krieger zur Lin-

Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024 79


ken fortgeführt (Abb. 9). Sein fokussierter, ent- kriegers« Ausdrucksstudien in Form von Men-
schlossener und im Vergleich zu seinem leicht schenköpfen, abschreckenden Dämonen und
melancholischen Gegenpart viel düsterer Blick vor allem Löwengesichtern.44 Markham Schulz
entspricht exakt der Beschreibung des Pseudo- erkennt außerdem mit Perseus (mit Medusa,
Aristoteles, ebenso wie die großen Pupillen rechts) und Herkules (mit Deianeira, links) zwei
und zusammengezogenen Augenbrauen. Auch antike Archetypen des Löwenmannes in den
die auffällige Kopfbedeckung scheint auf diese Tondi über den Kriegern.45
Quelle zu verweisen. Wie bereits erwähnt, ist in In Anbetracht aller beschriebenen histori-
der Physiognomonica das starke, harte Haar, wie schen Kontexte und gestalterischen Elemente
es dem Wildschwein eigen sei, ein Zeichen für lassen sich die Figur des »Wildschweinkriegers«,
Mut und Wildheit.43 Tullio kombinierte in seiner ihre düstere Stirnfaltung, die aufeinander-
Figur also zwei verschiedene Mensch-Tier-Ana- gepressten Lippen und ihr hervorstehendes Kinn
logien. Unterstrichen werden die Zuschrei- kaum mehr anders lesen denn als eine Referenz
bungen durch die Bekleidung, die neben dem auf Verrocchios Colleoni. Tullio macht sich die
Wildschwein als Helm auch eine konkrete Aus- stark durch ihren Ausdruck definierte Figuren-
schmückung mit Löwenmotiven aufweist. Wäh- zeichnung des Künstlers, der ursprünglich auch
rend der helmlose Wächter den Markuslöwen das Vendramin-Grabmal hätte ausführen sollen,
als Zeichen Venedigs auf dem Brustpanzer trägt, zu eigen, und führt sie näher an ein antikisches
alternieren auf den Riemen oder Medaillons des Ebenmaß heran. Da der weniger zornig-kühne
angedeuteten Cingulums des »Wildschwein- Wächter zur Rechten als Personifikation der
zweiten antiken leoninen Tugend, der Großmut,
gelesen werden kann, bilden die beiden Krieger
im Zusammenspiel mit den zahlreichen Aus-
schmückungen antiker und christlicher Prove-
nienz den ganzheitlichen Referenzrahmen des
Grabmals. Es wird von einer Repräsentation des
Reichtums, der kriegerischen Tugend und staat-
licher Macht zu einem Denkmal mit intellek-
tuellem Anspruch. Charaktereigenschaften, die
vom Publikum mit dem Toten assoziiert werden
sollten, sind nicht an dessen eigenem Körper ab-
lesbar, sondern durch physiognomische Merk-
male delegiert an seine Begleitfiguren.
Im oben angesprochenen Netzwerk von
Künstlern und Gelehrten der Paduaner Uni-
versität figuriert auch der von Gaurico als inti-
mer Vertrauter bezeichnete und insbesondere
wegen seiner antiken Kennerschaft gelobte An-
drea Briosco, genannt Il Riccio.46 Zahlreiche
Figuren von Tullio Lombardo und Riccio weisen
Ähnlichkeiten in ihrer physiognomischen Ge-
staltung auf. Mehrere Forscherinnen erkennen
10 Il Riccio (Andrea Briosco), Mantelteilung des Heiligen
Martin, 1512–1520, Bronze, 74 × 54 cm. Galleria Giorgio etwa im Heiligen Martin in Riccios Manteltei-
Franchetti alla Ca’ d’Oro, Venedig lung-Relief von 1512–1520 (Abb. 10), das ebenso

80 Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024


wie das Vendramin-Grab für die Kirche Santa korrekt wiederzugeben habe. Im Rahmen der
Maria dei Servi entstand und sich heute in der vom Künstler geforderten umfassenden Bil-
Ca’ d’Oro befindet,47 eine Adaption des rechten dung erscheint die Notwendigkeit eines realen
Kriegers von Tullio. Offenkundige Zeichen dafür Erfahrungsschatzes, um die unterschiedliche
seien sowohl die Bekleidung (man vergleiche die Ausrüstung und variable Stimmung des Tieres,
Rüstungen) als auch die ideal-melancholische abhängig davon, ob man in den oder aus dem
Löwengestalt der Figuren. Das Referenzmuster Krieg reite, darstellen zu können. Das komplexe
komplettiert schließlich die Haltung des Pferdes Thema des Erfassens von Bewegung und die
all’antica, die dem Gattamelata und dem Col- Frage nach ikonografischem Gehalt erreichen in
leoni folgt.48 De sculptura also nicht nur monumentale Me-
Eine konkrete Umsetzung von Gauricos phy- morialwerke, sondern auch die ursprünglich als
siognomischen Lehrsätzen in Riccios Schaffen »Gebrauchsgegenstände« konzipierten Klein-
vermutet Norberto Gramaccini. Ausgehend von bronzen in antiker Form.52
der sowohl bibliophilen wie kunstbegeisterten
Gesellschaft an der Paduaner Universität und
ihrem Umfeld untersucht er bestimmte Werke Löwengesichter und antiquarische
von Riccio und Gaurico, die als wechselseitige Bildung: Gauricos mögliche Rezeption
Inspirationsquellen gedient haben mögen.49 So
präsentierte er 1985 im Katalog der Frankfurter Das Vorhaben Gauricos, die Skulptur aufzuwer-
Ausstellung Natur und Antike in der Renaissance ten, traf im intellektuell-künstlerischen Umfeld
als Veranschaulichung seiner Thesen den Schrei- der Universität Padua und bei den in der Stadt
enden Reiter (Abb. 11):50 tätigen Künstlern auf fruchtbaren Boden. Das
Ausmaß möglicher Kollaborationen zwischen
Die relativ große Nase, die in scharf herausgear- Humanisten und Bildhauern, zwischen Schreib-
beitete Nasenf lügel und in tiefeingeschnittene stube und Werkstatt, ist heute in der Forschung
Falten zu den Mundwinkeln hinunter übergeht, noch erstaunlich unterbewertet. Da die gebil-
die Augenbrauen, die sich zur Nasenwurzel hin zu
Wülsten verdicken, und der direkte, scharfe Blick
der Augen nehmen Züge der »Löwengleichheit« an,
die Plutarch Lysipps Porträt von Alexander dem
Großen attestiert hatte. […] Diese am Aussehen
und dem Charakter des Löwen entwickelten phy-
siognomischen Kriterien erlangten jedoch in der
Renaissance, vor allem im Hinblick auf die Ideali-
sierung von Condottieri-Porträts, neue Aktualität,
und sind in ihrer künstlerischen Umsetzung be-
sonders gut an Verrocchios Colleoni-Reiterstand-
bild zu beobachten.51

Riccios Schreiender Reiter ist neben einer skulp-


turalen Umsetzung der in De sculptura fest-
gehaltenen leoninen Muster auch die Erfüllung
11 Il Riccio (Andrea Briosco), Schreiender Reiter,
von Gauricos Forderung, ein sculptor müsse 1500–1510, Bronze, 33,5 × 33 cm (max. Breite). Victoria and
wissen, wie er unterschiedliche Reithaltungen Albert Museum, London

Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024 81


deten Auftraggebenden, meist Nachkommen die Physiognomik transkribierenden Autors und
von Mitgliedern der gesellschaftlichen Elite, in des sie ausführenden Künstlers zu sehen.
den für sie ausgefertigten Memorialwerken von Wiederholt trifft man in der Literatur auf
Vornherein die Repräsentation einer je nach Sta- nachvollziehbare Mutmaßungen, der Figuren-
tus typisierten Persona erwarteten, lag gerade entwurf Tullios habe illustre Folgewerke nach
bei Grabmalen die Integration von physiogno- sich gezogen. Da Michelangelo im Herbst 1494
mischer Bildsprache nahe. War, wie im Falle von Venedig und im konkreten Fall auch S. M. dei
mythologischen Gestalten oder allegorisch zu Servi besuchte, hat für Alison Luchs der grim-
lesenden Begleitfiguren, von den Dargestellten mige Gesichtsausdruck des helmtragenden
kein verbindliches Aussehen überliefert, entfiel Kriegers im Vendramin-Grab die vergleichbare
sogar die Aussöhnung zwischen semantisiertem Mimik des David inspiriert. Valeria Cafà und
Rollengesicht und anatomischer Wiedergabe. In Luke Syson verweisen auf die frappanten Ähn-
der rein nach kanonisiertem Schema konzipier- lichkeiten sowohl zwischen Tullios Adam und
ten Gestalt wurde somit die körperliche von ei- Michelangelos Bacchus, entstanden zwei Jahre
ner assoziativen Identifikation ersetzt. nach dem Aufenthalt des Buonarroti in der Sere-
Inwiefern dabei die Künstler vor zahlreichen nissima, als auch zwischen dem venezianischen
darstellerischen Problemen standen, zeigt sich an Werk und dem Florentiner David.53 Es konnte
den Kontroversen um Stil und Ausdruckskraft vorstehend ausgeführt werden, wie Gaurico
der zeitlich vor De sculptura entworfenen Werke. seine Forderung, Botschaften in Statuen sollen
Die Dualismen von standardisierten Typen und über das Gesicht, den Körper und den Ausdruck
individueller Ausgestaltung, von Idealbildern vermittelt werden, mit dem Wunsch einer eben-
und Normabweichungen, fanden ihren Nieder- mäßigen, proportional komplexen Gestaltung in
schlag auch in Gauricos Theorien. Nur wenige antikischem Stil kombiniert hat. Michelangelos
Porträtskulpturen erfüllten den im Traktat im- David mit seiner körperlichen Perfektion und ei-
plizierten Anspruch, weder in simple Verein- ner erst bei genauerer Betrachtung des Gesichtes
fachung noch übertriebene Expressivität zu ver- erkennbaren Aggressivität und Entschlossenheit
fallen. Gauricos Forderung nach referenzieller entspricht solch einem neuen physiognomischen
Komplexität einer Statue zeigt sich auch in seiner Modell, das hier als idealgestaltiger Löwentyp
Rezeption des Oeuvres der Familie Lombardo. bezeichnet werden soll. Eine Besonderheit dieses
Obschon ganz der idealen mediocritas entspre- Typus wäre die im Vergleich zu anderen Werken
chend, die in De sculptura stets als Gipfel aller wie dem Gattamelata stärkere Idealisierung, die
Tugend durch die Zeilen dringt, sind Tullios mo- darauf zurückzuführen sein könnte, dass keine
numentale Werke in antiker Bildsprache physio- kürzlich verstorbene, sondern eine historisch-
gnomisch lesbar. Auch bei ihnen wird – vielleicht biblische Person dargestellt wurde.54
unter Einfluss des Gaurico – eine wichtige Funk- Michelangelo ist nachweisbar mit physiogno-
tion von Skulpturen, nämlich das Konstituieren mischen Traktaten in Berührung gekommen.55
von Bedeutung jenseits simpler Hilfsmittel wie Zu groß sind zudem die Übereinstimmungen
Inschriften oder Attributen, durch die Physio- des David mit den leoninen Merkmalen des
gnomik übernommen. Bei den Kriegerstatuen Pseudo-Aristoteles und Adamantius, als dass
des Vendramin-Grabes gelang es, durch körper- sie auf bloßem Zufall beruhten. Insbesondere
liche Merkmale komplexe, in den antiken Quel- der entschlossene Blick, die Zornesfalte über
len teils komplementäre, teils sich widerspre- der Nasenwurzel, das viereckige Gesicht und die
chende Sachverhalte zu vermitteln. Es liegt nahe, Haare scheinen nahezu deckungsgleich umge-
in ihnen das Resultat einer Zusammenarbeit des setzt. Sowohl De sculptura wie auch der David

82 Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024


wurden im Jahr 1504 fertiggestellt. Während eine omnipräsenten Funktion der Welterklärung
Beeinflussung reine Spekulation bleiben muss, auch als verbindlichen Lehrsatz der künst-
offenbaren sich doch deutliche Analogien der lerischen Figurendarstellung zu etablieren, war
bildhaften, physiognomischen Weltsicht hinter wohl rein lokaler Erfolg beschieden. Inwiefern er
den beiden Werken. aber die seit Jahrhunderten virulenten Muster in
Die Transformation der Physiognomik von antisemitischen, misogynen oder rassistischen
einer Deutungswissenschaft in eine kanonisierte Karikaturen begleitet oder befördert hat, harrt
Bildsprache, in einen Faktor der Bedeutungs- noch der eingehenden Untersuchung.
konstitution im Darstellungsprozess zeigt sich
in diachroner Betrachtung als visionär. Berühmt
wurden etwa die Illustrationen zu Giambattista HANNES ECKSTEIN ist wissenschaftlicher Mit-
Della Portas De humana physiognomonia aus arbeiter der Abteilung Frühe Neuzeit am Kunsthis-
den 1580er Jahren, die Mensch-Tier-Vergleiche torischen Seminar der Universität Basel. Im Rahmen
Charles le Bruns aus dem 17. und selbstver- seines Dissertationsprojekts zu De sculptura von
ständlich Johann Lavaters Physiognomische Pomponio Gaurico untersucht er, wie Gauricos Aus-
Fragmente zur Beförderung der Menschenkennt- führungen zur Physiognomik einerseits gesellschaft-
niss und Menschenliebe aus dem 18. Jahrhundert. liche Wahrnehmungshorizonte des Quattro- und
Gauricos Versuch, die Physiognomik unabhän- Cinquecento gespiegelt und andererseits Resonanz
gig von ihrer bereits in der Renaissance umstrit- in den Kunstwerken ihrer Zeit gefunden haben. |
tenen, jedoch in der alltäglichen Wahrnehmung E-Mail: hannes.eckstein@unibas.ch

1 Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966, 46 Ausdruckstheorie der Renaissance: Der Einfluss cha-
(»l’âge de la ressemblance et de la similitude«); Hans rakterologischer Lehren auf Kunst und Kunsttheorie
Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1997.
1981. 4 Siehe z. B. Le corps et l’âme de Donatello à Michel-
2 Siehe Martin Porter, Windows of the Soul: Physio- Ange: Sculptures italiennes de la Renaissance (Ausst.-
gnomy in European Culture 1470–1780, Oxford 2005; Kat. Paris, Louvre; Mailand, Castello Sforzesco), hg.
Lisa Devriese (Hg.), The Body as Mirror of the Soul: von Marc Bormand, Beatrice Paolozzi Strozzi und
Physiognomy from Antiquity to the Renaissance, Leu- Francesca Tasso, Paris 2020, 162, Nr. 44 (Inès Villela-
ven 2021. Besonders zur antiken Physiognomik siehe Petit), 280, Nr. 84 (Peta Motture).
Simon Swain (Hg.), Seeing the Face, Seeing the Soul: 5 Konsultiert wurden die folgenden Editionen: Pompo-
Polemon’s Physiognomy from Classical Antiquity to nio Gaurico, De sculptura, hg. und übers. von Hein-
Medieval Islam, Oxford 2007. rich Brockhaus, Leipzig 1886; idem, De sculptura, hg.
3 Vgl. Lorne Campbell, Renaissance Portraits: European und übers. von André Chastel und Robert Klein, Genf/
Portrait-Painting in the 14th, 15th and 16th Centuries, Paris 1969; und idem, De sculptura (Le arti sorelle, 1),
New Haven/London 1990, 27 (»indeed the principles hg. und übers. von Paolo Cutolo, Neapel 1999.
of physiognomy seem to be of limited relevance to the 6 Zu diesen Schriften siehe Sarah Kathryn Matthews,
study of portraiture«); Gottfried Boehm, Bildnis und Matter over Mind: Pietro d’Abano (d. 1316) and the
Individuum: Über den Ursprung der Porträtmalerei Science of Physiognomy, Ph.D. Dissertation, Univer-
in der italienischen Renaissance, München 1985, 92 sity of Iowa 2015 (insbesondere als Erweiterung und
(»Diese Fälle direkten Einflusses physiognomischer Aktualisierung von Joseph Ziegler, Physiognomy,
Lehre auf die Porträtmalerei sind selten«); Claudia Science, and Proto-Racism, 1200–1500, in: Miriam
Schmölders, Das Vorurteil im Leibe: Eine Einführung Eliav-Feldon, Benjamin Isaac und Joseph Ziegler
in die Physiognomik, Berlin 1995, 109 (»Untersuchun- [Hg.], The Origins of Racism in the West, Cambridge
gen über die Frage etwa, ob Dürer oder andere Maler 2009, 181–199, und Joseph Ziegler, Skin and Character
seiner Zeit von der Physiognomik gelernt haben, sind in Medieval and Early Renaissance Physiognomy, in:
negativ ausgegangen«). Für eine grundlegende Gegen- Micrologus 13, 2005, 511– 535); Johannes Thomann,
argumentation siehe Ulrich Reißer, Physiognomik und Studien zum »Speculum physionomie« des Michele

Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024 83


Savonarola, phil. Diss., Universität Zürich 1997. Schon in der Kunst siehe vor allem Raymond Klibansky,
Savonarolas Traktat enthält einen kunstheoretischen Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn and Melan-
Exkurs zur Behandlung der Körpermaße durch choly: Studies in the History of Natural Philosophy, Re-
Maler und Bildhauer (Kap. B 5 lit. W gem. Thomann), ligion and Art, London 1964, bes. 97–123, und Piers D.
jedoch ist dieser nicht systematisiert wie bei Gaurico. Britton, (Hu)moral Exemplars: Type and Tempera-
7 Gaurico/Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 121–150. Da Gau- ment in Cinquecento Painting, in Jean A. Givens et
ricos ursprüngliche Einteilung nicht typografisch al. (Hg.), Visualizing Medieval Medicine and Natural
gekennzeichnet ist und sich nur inhaltlich äußert, History, 1200–1500, Aldershot 2009, 177–204.
meint ›Kapitel‹ hier die thematisch zusammengehö- 16 Gaurico/Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 186.
renden Textpassagen. 17 Ebd., 154.
8 Bei Gaurico fehlen natürlich memoria und actio der 18 Gaurico selbst verweist auf diese Tatsache: »Comper-
fünf officia oratoris, vgl. Nadia J. Koch, Rhetorik und tum enim habemus lineamenta omnia ex ipsa corpo-
Kunsttheorie in der Antike, in: Wolfgang Brassat rum symmetria, ex optice, et ex physiognomonica
(Hg.), Handbuch Rhetorik der Bildenden Künste sumi« (ebd., 168). Mit dem Begriff lineamenta meint
(Handbücher der Rhetorik, 2), Berlin 2017, 111–124, der Autor nicht nur die Umrisse der Figur, sondern
hier 115–116, 122. auch alle grafischen Mittel, die zu dieser Formung
9 Gaurico/Brockhaus 1886 (wie Anm. 5), 10, 58. beitragen und Teil der graphikē sind.
10 Gaurico/Chastel/Klein 1969 (wie Anm. 5), 23. 19 Reißer 1997 (wie Anm. 3), 160. Zum vergleichbaren
11 Gaurico/Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 170 (»[…] qua Konzept der Pathognomik, deren Lehrsätze ver-
ex iis quae corpori insunt signis, animorium etiam sprechen, die Seele anhand der Spuren von Affekten
qualitates denotamus«; dt. Übers. nach Gaurico/ und Bewegungen lesbar zu machen und die verwandt
Brockhaus 1886 [wie Anm. 5], 153). In Gaurico/Chas- sind mit der Idee der antiken Rhetoriklehre, durch
tel/Klein 1969 (wie Anm. 5), 128, sind für »corpori animierte Redegestaltung auch das Publikum zu
insunt signis« die weniger semiotischen und mehr bewegen, siehe etwa Alberti und dessen Konzept der
auf den Charakter bezogenen, auch körperlich kon- »Affektkonkordanz« (ebd., 106–109; Leon Battista
notierten »traits qui appartiennent au corps« gewählt Alberti, De pictura [1464], in: idem, Das Standbild.
(statt etwa »signes«). In Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 171, Die Malerei. Grundlagen der Malerei, hg. von Oskar
ist von den »caracteristiche del corpo« die Rede. Bätschmann et al., Darmstadt 2000, 194–315, hier 262,
12 Gaurico/Brockhaus 1886 (wie Anm. 5), 155 (»eorum 270) oder Leonardos Moti-Lehre (Flavio Caroli, Storia
moribus«, ebd., 154). Physiognomik bedeutet hier somit della fisiognomica: Arte e psicologia da Leonardo
die Referentialität der Physiognomie, also der äusseren a Freud, Mailand 1995, 26–29; Leonardo da Vinci,
Erscheinung eines Menschen, zum Charakter, der seine Trattato della pittura, Codex Urbinas Latinus 1270, in:
Handlungen leitet. Vgl. Gaurico/Chastel/Klein 1996 Leonardo da Vinci, Treatise on Painting, übers. und hg.
(wie Anm. 5), 115: Weil die Skulptur die Darstellung von A. Philip McMahon, Princeton, 1956, Bd. 1, 149–
menschlicher Körper ist, entspricht die Physiognomik 152, § 396–410, und 154–157, § 418–425). Zu bedenken
der Wissenschaft zur Darstellung der immateriellen sind auch Aristoteles’ Ausführungen zu Ethos und
Eigenschaften. Aus dieser Stelle des Traktats wird Pathos in den Büchern der Rhetorik und der Poetik.
jedoch nicht genau klar, ob nicht eher dargestellt wird, 20 Gaurico/Brockhaus 1886 (wie Anm. 5), 123. »[…]
wie die Verstorbenen hätten aussehen können. ipsum Donatelli equum, quo nihil quidem perfectius
13 Vgl. Sabine Vogt, Physiognomisches Denken in der esse volunt« (Gaurico/Cutolo 1999 [wie Anm. 5], 144).
griechischen Kunst und Literatur, in: Aristoteles, 21 Gaurico/Brockhaus 1886 (wie Anm. 5), S123. »Amabo
Physiognomonica (Werke, 18.6) hg. von Sabine Vogt, vos, nunquid vivaciorem intelligetis ipsum […] an
Berlin 1999, 45–107, hier 45. hunc qui conterranei mei poetae versibus sic expri-
14 Gaurico / Brockhaus 1886 (wie Anm. 5), 163. »Ac mitur?« (Gaurico/Cutolo 1999 [wie Anm. 5], 144).
ne minitula forte fides habeatur parum experto 22 Elisabetta Di Stefano, Pomponio Gaurico e l’estetica
adolescenti, existimes velim huius rei auctorem non della scultura, in: Luigi Russo (Hg.), La nuova estetica
Pomponium, sed gravissimos olim philosophos italiana, Kongressakten des Centro Internazionale
Aristotelem atque Adamantium« (Gaurico/Cutolo Studi di Estetica, Supplementa 9, Palermo 2001, 9–22,
1999 [wie Anm. 5], 176). Gaurico verweist außerdem hier 15. Für das wortreichere Original siehe Cutolo/
korrekterweise darauf, dass es sich beim Text von Gaurico 1999 (wie Anm. 5), 142. Gespiegelt wird hier
Adamantius um eine Abschrift eines verlorenen selbstverständlich Horaz’ ut pictura poesis.
Traktats des Rhetors Polemon aus dem zweiten Jahr- 23 Siehe Gaurico/Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 224 (»[…]
hundert n. Chr. handelt. de ea parte, quam maximam putavit Donatellus,
15 Ian Repath, The Physiognomy of Adamantius the designacionem […]«).
Sophist, in: Swain 2007 (wie Anm. 2), 487–548, hier 24 Vgl. nebst den nachfolgenden Ausführungen vor al-
499. Zur Temperamentenlehre und ihrer Rezeption lem die frühneuzeitliche Rezeption des Gattamelata

84 Zeitschrift für Kunstgeschichte 87, 2024


in Francesco Bocchi, L’eccellenza del San Giorgio di H. 2, 213–240. Nahegelegt wird dies ebenso durch die
Donatello: Dove si tratta del costume, della vivacità vom idealen Künstler geforderten Eigenschaften eu-
e della Bellezza di detta statua [1571], Florenz 1584 phantasíotos und kataleptikós, siehe Gaurico/Cutolo
(Neuabdruck in Trattati d’Arte del Cinquecento fra 1999 (wie Anm. 5), 138 und 140.
Manierismo e Controriforma, hg. von Paola Barocchi, 36 Pseudo-Aristoteles 1999 (wie Anm. 25), 26.
3 Bde., Bari 1960–1962, Bd. 3, 127–194). 37 Gaurico erwähnt die antike Anekdote (Gaurico /
25 Pseudo-Aristoteles, Physiognomonica, in: Vogt 1999 Cutolo 1999 [wie Anm. 5], 222). Vgl. Boehm 1985 (wie
(wie Anm. 13), S. 9–32, hier 22. Anm. 3), 94.
26 Ebd., 23. Vgl. auch die Ausführungen Adamantius’ 38 Gaurico/Brockhaus 1886 (wie Anm. 5), 251. »Nostris
bei Swain 2007 (wie Anm. 2), 268, 270. vero temporibus scalpendo marmore insignes habiti:
27 Peter Meller, Physiognomical Theory in Renaissance […], Antonius Crispus, quicum vobis fuit familia-
Heroic Portraits, in: Millard Meiss (Hg.), Studies ritas, Petrus Insubres, Tullius atque Antonius eius
in Western Art: Acts of the Twentieth International filii. Sed ne ego Tullium praeterierim illaudatum?
Congress of the History of Art, 4 Bde., Princeton 1963, Equidem ni vererer visum iri amicitiae, non verae
Bd. 2, 53–69. laudi datum iudicium de illo meum, dicerem profecto
28 Ebd., 66; Dietrich Erben, Bartolomeo Colleoni: Die sculptorum omnium, quos illa inquam viderit aetas
künstlerische Repräsentation eines Condottiere im praestantissimum, neque indignis ornaretur honori-
Quattrocento, Sigmaringen 1996, 152. bus« (Gaurico/Cutolo 1999 [wie Anm. 5], 250).
29 Gaurico/Brockhaus 1886 (wie Anm. 5), 221. »[…] qui 39 Vgl. Sarah Blake McHam, La bottega dei Lombardo
Coleonum ad Pauli nuper posuit: ille enim, ita ut ai- alla cappella di Sant’Antonio e la teoria di Pomponio
unt, cruditer equum imitatus est, ut non aliud quam Gaurico, in: Andrea Guerra et al. (Hg.), I Lombardo:
denudati equi facies videatur« (Gaurico/Cutolo 1999 Architettura e scultura a Venezia tra ‘400 e ‘500, Vene-
[wie Anm. 5], 222, 224). dig 2006, 225–240, hier 232.
30 Siehe Gaurico/Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 178, 180, 182, 40 Vgl. Alison Luchs, Tullio Lombardo and Ideal Por-
186, 188, 192, 194, 196, und 198. trait Sculpture in Renaissance Venice, 1490 –1530,
31 Boehm 1985 (wie Anm. 3), 58. Cambridge 1995, 43; Kerstin Grein, Studien zur Anti-
32 Anne Markham Schulz, A Portrait of Giovanni Emo kenrezeption im Werk Andrea Riccios (Symbolische
in the National Gallery of Art, in: Studies in the His- Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme,
tory of Art 9, 1980, 7–11, hier 10. 50), Münster 2018, 215.
33 Hans Belting, Faces: Eine Geschichte des Gesichts, 41 Anne Markham Schulz, The Sculpture of Tullio Lom-
München 2013, bes. 68–70, 120–127. bardo, London 2014, 60.
34 Der so entstandene, anhand fester Kriterien um- 42 Ursprünglich flankiert wurde der Doge vom Adam
rissene Typus leoniner Prägung ist in weiteren Aus- und einer leider verlorenen Eva. Die beiden biblischen
arbeitungen vor allem aus der zweiten Hälfte des 15. Stammeltern wurden aufgrund ihrer monumentalen
Jahrhunderts überliefert. Da sie von in De sculptura Nacktheit im 19. Jahrhundert aus den Nischen neben
erwähnten Künstlern stammen und große Rezeption den Säulen, in die sie von Tullio platziert worden wa-
erfuhren, kann davon ausgegangen werden, dass ren, entfernt und durch die beiden bis dahin auf den
Gaurico zumindest Reproduktionen von ihnen Außenpodesten des Grabmals stehenden Krieger-
kannte. Zu den physiognomisch lesbaren Figuren in statuen ersetzt.
den Oeuvres von Leonardo und Verrocchio siehe bes. 43 Pseudo-Aristoteles 1999 (wie Anm. 25), 14. Siehe auch
Francesco Caglioti, Andrea del Verrocchio e i profili Swain 2007 (wie Anm. 2), 643. Vgl. Gaurico/Cutolo
di condottieri antichi per Mattia Corvino, in: Italy 1999 (wie Anm. 5), 196: Harte Haare seien Zeichen für
and Hungary: Humanism and Art in the Early Renais- Rauheit.
sance, Florenz 2011, 505–551; Michael W. Kwakkel- 44 Luchs sieht in Anbetracht der 13 Editionen, die
stein, Leonardo da Vinci’s Grotesque Heads and the zwischen 1472 und 1500 vom Werk des Pseudo-
Breaking of the Physiognomic Mould, in: Journal Aristoteles in Venedig publiziert wurden, auch die
of the Warburg and Courtauld Institutes 54, 1991, ausdrucksstarken Gesichter auf den Gürtelschnallen
127–136; und Elizabeth A. Eisenberg, A Verrocchio der Rüstungen im Kontext der Physio- bzw. Patho-
Sculpture as a Source for Leonardo and Raphael: The gnomik. Sie seien summarischer Ausdruck der
Evidence of Drawing, in: Master Drawings 57, 2019, Geisteshaltungen der Soldaten, rangierend von Wut,
H. 1, 5–32. Aggression und Verzweiflung bis zu Stolz und Hoff-
35 Zur amphibolia siehe Gaurico / Cutolo 1999 (wie nung (Luchs 1995 [wie Anm. 40], 47).
Anm. 5), 220; Diletta Gamberini, Rappresentare le 45 Markham Schulz 2014 (wie Anm. 41), 65.
lacerazioni dell’animo: Archetipi letterari dell’am- 46 Vgl. Gaurico/Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 246, 254.
phibolía di Pomponio Gaurico, in: I Tatti: Studies in 47 Siehe auch das Doppelporträt Tullios in der Ca’
the Italian Renaissance of Harvard University 23, 2020, d’Oro als weiteres Beispiel für einen idealisierten

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Löwenkrieger, ergänzt durch eine physiognomisch seum Alter Plastik), hg. von Herbert Beck und Peter
markierte Personifikation weiblicher Tugend bzw. C. Bol, Frankfurt a. M. 1985, 198–225, hier 220).
Schwäche: Markham Schulz 2014 (wie Anm. 41), 73– 51 Ebd., 382, Nr. 78 (Norberto Gramaccini). Im Katalog
74. In S. M. dei Servi befand sich außerdem Rizzos wird die Entstehung des Schreienden Reiters um 1510
Monument des Giovanni Emo, siehe hier Abb. 5. vermutet. Grein datiert 1500–1505 (siehe Grein 2018
48 Siehe Andrea Riccio: Renaissance Master of Bronze [wie Anm. 40]), Abb. 177 [Anhang]).
(Ausst.-Kat. New York, Frick Collection), hg. von De- 52 Vgl. Gaurico/Cutolo 1999 (wie Anm. 5), 140.
nise Allen und Peta Motture, New York 2008, 153–155, 53 Siehe Luchs 1995 (wie Anm. 40), S. 48; Valeria Cafà
Nr. 9 (Denise Allen); Grein 2018 (wie Anm. 40), 110. und Luke Syson, Adam by Tullio Lombardo, in: Metro-
Ein weiteres Beispiel wäre Riccios Terracottaskulptur politan Museum Journal 49, 2014, H. 1, 8–31, hier 27.
des St. Cantianus (heute in der Kirche San Canziano, 54 Der vermutlich pseudo-aristotelische Löwencha-
Padua). Auch diese Figur besitzt keine Attribute au- rakter von Michelangelos David gilt spätestens seit
ßer ihrem Schwert; allein die Löwenphysiognomik David Summers, David’s Scowl [1978], in: William
vermittelt die Grossmut. Wallace (Hg.), Michelangelo: Selected Scholarship in
49 Zur Perspektiv- und Proportionslehre Gauricos und English, Garland 1995, 311–321, als etablierter Stand-
Riccios Reliefs im Santo siehe auch Denise Allen, Ric- punkt. Siehe z. B. Loren Partridge, Art of Renaissance
cio’s Bronze Narratives: Context and Development, Florence, Berkeley 2009, 116.
in: Allen/Motture 2008 (wie Anm. 48), 15–40, hier 55 Francisco de Holanda, der – in welchem Umfang
21–22. Riccio sei aber eher von Mantegna und den auch immer – mit Michelangelo in Kontakt stand,
Paduaner Werken der Lombardi-Brüder beeinflusst erwähnt Gaurico und dessen vorbildhafte Physio-
worden als direkt von Gauricos Traktat. gnomik-Schrift in den Quatro dialogos da pintura
50 Norberto Gramaccini, Das genaue Abbild der Natur: antigua (Kap. XIX), bezeugt aber nichts über Michel-
Riccios Tiere und die Theorie des Naturabgusses seit angelo und seine Quellen. Siehe David Summers,
Cennino Cennini, in: Natur und Antike in der Renais- Michelangelo and the Language of Art, Princeton 1981,
sance (Ausst.-Kat. Frankfurt a. M., Liebieghaus – Mu- 380.

Abbildungsnachweis: 1 © 2023 Encyclopædia Britannica / Ivan Vander Biesen / Dreamstime.com. — 2 © 2023


ARTKAREL . — 3, 7 Wikimedia Creative Commons (Foto: Didier Descouens). — 4 Reproduziert nach Andrew But-
terfield, The Sculptures of Andrea del Verrocchio, New Haven/London 1997, Abb. 236. — 5 Reproduziert nach Anne
Markham Schulz, A Portrait of Giovanni Emo in the National Gallery of Art, in: Studies in the History of Art 9, 1980,
11. — 6 Wikimedia Creative Commons / The Yorck Project (2002), 10.000 Meisterwerke der Malerei, Directmedia. —
8, 9 Reproduziert nach Valeria Cafà und Luke Syson, Adam by Tullio Lombardo, in: Metropolitan Museum Journal 49,
2014, H . 1, 18. — 10 Wikimedia Creative Commons (Foto: Wolfgang Moroder). — 11 © Victoria and Albert Museum,
London.

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